22 Panik Stories
HEYNE-ANTHOLOGIEN
BAND NR. 62
Jacques Antoine/Pierre Bellemare: »Die Würgemaschine«
aus DIE WÜ...
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22 Panik Stories
HEYNE-ANTHOLOGIEN
BAND NR. 62
Jacques Antoine/Pierre Bellemare: »Die Würgemaschine«
aus DIE WÜRGEMASCHINE – WAHRE SCHAUERGESCHICHTEN
© 1978 by Paul Zsolnay Verlag, Wien-Hamburg
Wladimir Odojewski: » Das Hohnlachen der Toten«
aus DAS GESPENST UND ANDERE SPUKGESCHICHTEN
© der deutschen Übersetzung by Aufbau-Verlag, Berlin und Weimar
Stefan Grabiriski: »Auf der Spur«
aus DAS ABSTELLGLEIS
© by Insel Verlag, Frankfurt/M.
Jean Ray: »Vetter Passeroux«
aus DIE GASSE DER FINSTERNIS
© by Insel Verlag, Frankfurt/M.
Karl Hans Strobl: »Der Kopf«
aus UNHEIMLICHE GESCHICHTEN
© by Albert Langen – Georg Müller Verlag GmbH , München
Diethard van Heese: »Mutters Hand «
aus NEUE GESCHICHTEN DES GRAUENS
© by Universitas Verlag, Berlin
Gustav Meyrink: »Der Untergang«
aus DES DEUTSCHEN SPIESSERS WUNDERHORN
© by Albert Langen – Georg Müller Verlag GmbH , München
Printed in Germany 1979
Umschlaggestaltung: Atelier Heinrichs, München
Gesamtherstellung: Friedrich Pustet, Regensburg
ISBN 3-453-45035-3
Inhalt
Pierre Bellemare / Jacques Antoine Die Würgemaschine Dick Donovan Eine Schreckensnacht Wladimir Odojewski Das Hohnlachen der Toten Bram Stoker Die Squaw Villiers de l’Isle-Adam Das Geheimnis des Schafotts Karl Hans Strobl Der Kopf Edgar Allen Poe Die Scheintoten Jean Ray Vetter Passeroux Honore de Balzac Der Kriminalrichter Prosper Merimee Das blaue Zimmer Stefan Grabiriski Auf der Spur
H. P. Lovecraft Kühle Luft Diethard van Heese Mutters Hand Guy de Maupassant Wer weiß Gustav Meyrink Der Untergang Ambrose Bierce Exekution auf der Owl-Creek-Brücke Werner Gronwald Der schwarze Wolfshund Vance Aandahl Sylvesters Rache Hermann Harry Schmitz Der Blinddarm – ein Fluch! Robert Bloch Der Zauberlehrling C. F. Hoffman Im Wasserbecken Marquis de Sade Im Kloster Sainte-Marie-des-Bois
Die Angst ist kein Endzustand: sie steht über der Vernunft, der Urteilskraft und dem Verständnis. Sie ist die Verzweif lung vor einem Weg, den unübersteigbare Gegenstände uns versperren, sie ist die erste Reaktion der Seele vor dem Nichts, das hervorgetreten ist. Man kann verstehen, wie man zur Angst hinkommt, aber damit hat man die Angst selber noch nicht begriffen. Wenn sie, manchmal, Form annimmt, dann nur, weil wir, in unserer Unwissenheit gegenüber dem Abstrakten, ihr eine verleihen, und wenn diese abstoßend ist, dann ist das nur der Gebrechlichkeit unserer Sinne zuzuschreiben. Jean Ray, 1943
Die Würgemaschine von Pierre Bellemare / Jacques Antoine Pierre Bellemare, Jahrgang 1929, erhielt 1955 im Rund funk seine große Chance, als Jacques Antoine, Programm direktor von Tele-Monte-Carlo, ihm die Sendereihe »Sie sind wunderbar« übertrug. In kürzester Zeit profilierte sich Bellemare als erstklassiger Berichterstatter. Ein überwäl tigendes Echo hatte seine über die Grenzen Frankreichs hinaus berühmt gewordene Sendereihe »Außerordentliche Kriminalfälle«, die seit 1975 läuft. Bellemare und Antoine veröffentlichten ihre Rundfunktexte in zwei Bänden. Eine Auswahl der interessantesten Fälle ist 1978 in deutscher Übersetzung herausgekommen. Eine recht sonderbare Geschichte hat sich im Oktober 1950 in Villefranche-sur-Mer zugetragen. Madame Kurer ist eine hochgewachsene blonde Frau von etwa vierzig Jahren. Sie hat ihr Haar zu einem strengen Knoten aufgesteckt und trägt meist ein schwarzes, schlich tes Kostüm. Sie verkörpert den Typ der erfolgreichen Ge schäftsfrau. Wer sie näher kennt, weiß, daß sie außerdem eine vollkommene Ehefrau und liebevolle Mutter ist. An diesem Samstag ist sie mit Jacques Labatut, einem ihrer Mieter, verabredet. Der Mann hat ihr für die Villa, die sie ihm vermietet hat, sechs Millionen alte Francs geboten. Sie weiß nichts über ihn, außer, daß er in einem Transport unternehmen beschäftigt ist. Pünktlich zum vereinbarten Termin parkt Madame Kurer 9
ihren Wagen vor der vermieteten Villa, die nur einige Hundert Meter von ihrem eigenen Haus entfernt liegt. Monsieur Labatut kommt ihr entgegen, führt sie in den Sa lon und bietet ihr Platz an. Labatut ist ein gutaussehender Vierziger, klein, adrett gekleidet, mit ernstem Gesichtsaus druck. Er wirkt vertrauenerweckend. Kurz überfliegt er den Kaufvertrag, den ihm Madame Kurer vorlegt und unter schreibt, ohne weitere Fragen zu stellen. Madame Kurer läßt ihre Augen unauffällig über die billige Einrichtung des Wohnzimmers gleiten. Ihr Mieter hat diesen Blick bemerkt und entschuldigt sich für die Unordnung im Zimmer. Seine Frau, erklärt er, sei im Augenblick verreist. Deshalb sei das Haus jetzt ein wenig vernachlässigt. Madame Kurer steckt ihr Exemplar des Vertrages in die Handtasche und steht auf, um sich zu verabschieden. Sie hat es eilig. Sie will noch Einkäufe in der Stadt erledigen. Deshalb hat sie bereits für den kurzen Weg hierher das Au to benützt. Sie ist schon an der Türe, als Monsieur Labatut sie bittet, noch einen Blick in die Garage zu werfen. Einige Reparaturen und Anschaffungen seien dort nötig. Der Kaufvertrag sieht vor, daß die Instandsetzung der Garage noch der früheren Besitzerin obliegt. Vom Garten aus bie tet sich den beiden ein wunderschöner Blick auf die Bucht von Villefranche-sur-Mer. Das Wetter ist herrlich. Als Madame Kurer an der offenen Tür eines Schuppens vorübergehen will, macht Labatut eine rasche Bewegung und versetzt ihr einen Stoß. Die Frau deutet nicht einmal die Geste einer Abwehr an, sie schreit auch nicht, so groß ist ihre Überraschung. Sie verliert das Gleichgewicht und schlägt hart auf dem Boden auf. Sofort schließt sich die 10
Türe hinter ihr. Entsetzt bemerkt sie, daß die Tür keine Schnalle hat und zudem gepolstert, also schalldicht ist. In panischer Angst beginnt Madame Kurer zu schreien. In der Tür öffnet sich ein Spalt. Die Mündung eines Revol vers wird sichtbar. Hinter der Waffe erscheint das Gesicht Monsieur Labatuts. Er lächelt ironisch: »Sie konnten sich gewiß bereits davon überzeugen, daß es keinen Sinn hat, zu schreien. Damit ihre Familie sich keine Sorgen macht, möchte ich Sie bitten, daheim anzurufen!« Diese Worte machen Madame Kurer erschauern. Sie be greift, daß alles geplant war, sogar der Telefonanruf. Denn der Apparat steht bereit. Sie überlegt blitzschnell: Der An ruf ist vielleicht eine Chance, dem offenbar Geistesgestör ten zu entkommen. Sie muß nur ihrem Mann daheim zu verstehen geben, daß ihr Mieter sie in diesen Verschlag gesperrt hat. Sie greift nach dem Hörer, aber Labatut scheint ihre Gedanken erraten zu haben und entsichert lä chelnd seinen Revolver. So geht das also nicht. Aber wenn sie abends nicht nach Hause kommt, wird sich ihr Mann Sorgen machen. Es ist nicht ihre Art, fortzubleiben, ohne vorher etwas zu sagen. Monsieur Kurer wird die Polizei verständigen und seine Frau suchen lassen. Die Villa ist nahe dem Haus. Man wird Madame Kurer also bald finden. Ihr Entschluß ist gefaßt. Sie wird nicht telefonieren. Labatut ist deswegen nicht böse und hält ihr durch den Türspalt Schreibblock und Füllfeder hin. Der Revolver bleibt auf sie gerichtet, während sie nach dem Diktat ihres Kerkermeisters den folgenden Brief schreibt: 11
Ich bin in der Nähe von Cannes und habe eine Autopanne. Kann leider nicht telefonieren (die nächste Telefonzelle ist weit entfernt und ich bin zu müde, um zu Fuß hinzugehen). Hoffe, Sonntag abend wieder daheim zu sein. Paß gut auf Toutou auf! Germaine. Madame Kurer ist immer noch einigermaßen zuversicht lich. Sie bemerkt zu Labatut, daß der Brief sofort als er preßt erkannt werden wird, weil ihr Auto ja, für jeden sichtbar, vor seinem Haus steht. Labatut belehrt sie eines besseren: ihr Auto sei bereits vor einer halben Stunde von einer Freundin, die Madame Kurer wie eine Schwester ähnle, weggebracht worden. Madame Kurer ist sprachlos. Der ganze Anschlag wurde anscheinend sehr sorgfältig vorbereitet. Sie will wissen, aus welchem Grund Labatut sie hier eigentlich festhält. Ohne ihr darauf zu antworten, schließt Labatut sorgsam den Türspalt. Madame Kurer überlegt. Wenn Labatut sogar eine Doppelgängerin aufge trieben hat, um das Auto wegzubringen, muß er diesen Überfall bis ins kleinste Detail vorbereitet haben. Es wäre eine Illusion, würde Madame Kurer glauben, man werde sie bald und leicht finden. Labatut hat sicherlich auch daran gedacht, die Polizei irrezuführen. Madame Kurer hat jedes Zeitgefühl verloren. Aber nach ihrer Müdigkeit zu schließen, muß es bereits Nacht sein. Trotz ihrer Erschöpfung kann sie nicht einschlafen. Das ist nicht verwunderlich. Der Ort, an dem sie sich befindet, ist geeignet, ihre Angst noch zu steigern. Warum wohl hat 12
Labatut Erkundigungen über sie eingezogen, sogar den Namen ihres Hundes in Erfahrung gebracht, und wozu die se Inhaftierung? Sie ist nicht so reich, daß der Gedanke an Lösegeld das Motiv für die Entführung geliefert haben könnte. Sie kann auch nicht glauben, daß ein sexueller Be weggrund im Spiel ist. Zur Not könnte sie sich zwar vor stellen, daß ein Mann ihr Gewalt antun will, aber wenn das der Fall wäre, hätte Labatut das doch längst getan, und au ßerdem stimmt eine solche Absicht kaum zu den genau durchdachten Vorbereitungen. Madame Kurer muß trotz allem eingeschlafen sein, denn plötzlich weckt sie ein Geräusch. Labatut erscheint in der Türöffnung. Mit vor Angst weitaufgerissenen Augen blickt ihm die Frau entgegen. Sie achtet weniger auf die Tasse mit Milchkaffee in seiner rechten Hand als auf das eigenar tige Gerät, das er in der linken trägt: Es ist dies ein flacher, runder Metallgegenstand von ungefähr zwanzig Zentimeter Durchmesser, aus dem ein dünnes Kabel hervorkommt. Das Kabel bildet eine Schlinge. Stolz hält Labatut den selt samen Gegenstand in die Höhe. Mit Freude am Detail er klärt er, wie der Apparat, den er erfunden hat, funktioniert. »Ein kleiner Apparat, der alle Fesseln und Stricke der Welt aufwiegt. Er tötet bei der geringsten Bewegung, beim er sten Schrei.« Damit Madame Kurer begreift, wie dieses Wunder der Technik im Ernstfall funktioniert, legt er ihr die Schlinge um den Hals und befestigt die Metallplatte mit einer Schnur an ihrem Rücken. Der Apparat ist in Gang gesetzt. Wenn ihr das Leben lieb ist, darf Madame Kurer jetzt keine unvorsichtige Be 13
wegung machen. Labatut entfernt sich. Aus dem fernen Wohnzimmer der Villa hört die Frau undeutliche Wortfetzen und Gelächter. Ach ja – ihr Entführer hat erwähnt, daß er sonntags oft Freunde zum Mittagessen einlade. Labatut hat seine Höllenmaschine nicht zu Unrecht ge lobt. Sie ist in mechanischer Hinsicht ein wahres Wunder werk. Das Gerät besteht aus dem Magazin eines amerikani schen Maschinengewehrs und einer Feder, die das Kabel spannt und so den Durchmesser der Schlinge regelt. Die Feder wird von einem Bolzen gehemmt, der sich bei der geringsten Erschütterung lösen würde. Die Schlinge um schließt scharf den Hals des Opfers. Wenn die Hemmung der Feder durch den Bolzen aufhört, zieht sich die Schlinge bis auf den Durchmesser eines Fingers zusammen. Des weiteren macht ein eingebautes Uhrwerk den Mechanismus perfekt. Das Uhrwerk bewirkt, daß sich die Schlinge ganz allmählich verengt. Der Apparat ermöglicht also zwei ver schiedene Tötungsweisen: die rasche Strangulation durch die Lösung des Bolzens, und die langsame durch das Uhr werk. Obwohl die übermüdete Madame Kurer kaum noch ihre Augen offen halten kann, wagt sie nicht einzuschlafen. Sie hält sich bewegungslos wie eine Statue. In jedem Augen blick muß sie befürchten, daß die »Würgemaschine«, deren Schlinge ihren Hals umschließt, sie tötet. Natürlich hat sie nach dem ersten lähmenden Schrecken versucht, sich des teuflischen Apparates zu entledigen. Aber sie mußte sehr bald feststellen, daß jeder Versuch, sich zu befreien, töd lich wäre. Sie kann nicht einmal mehr ihre Finger zwischen 14
das Kabel und ihren Hals zwängen. Die Schlinge sitzt zu fest und würde, löste sich der empfindliche Bolzen, das Opfer gleichzeitig erwürgen und ihm die Finger abschnei den. Madame Kurer ist bereits völlig apathisch, als Labatut wieder auftaucht. Er hat eine Flasche und zwei Gläser mit gebracht, um ihr, wie er bemerkt, einen Aperitif anzubieten. Obwohl ihr Folterknecht ihr versprochen hat, sie wäh rend der Nacht von der Halsschlinge zu befreien, fühlt sie sich kaum erleichtert. Sie wird nämlich am nächsten Mor gen wieder die »Würgemaschine« tragen müssen. Der nächste Tag ist ein Montag. Labatut legt Madame Kurer aufs neue die Schlinge um. Er verspricht baldige Be freiung. Vorerst aber müsse die Dame sich als Mann ver kleiden. Labatut hat zwei Anzüge mitgebracht, einen grau en und einen blauen. Das Opfer darf sich einen davon aus suchen. Madame Kurer hat verständlicherweise kein Auge für Schnitt und Farbe der Anzüge. Sie zieht einen der bei den aufs Geratewohl an. Labatut bindet ihr ein Tuch um den Hals, um die Schlinge zu verdecken. Dann bringt er die Dame zu seinem Auto und befiehlt ihr, sich flach auf die Rücksitze zu legen. Er stellt das Uhrwerk der »Würgema schine« ein und erklärt: »In zwei Stunden ungefähr würden Sie stranguliert sein. Aber keine Angst! Ich werde Sie vor her befreien!« Er fährt vorsichtig, vermeidet Schlaglöcher und rasche Bremsmanöver, um den Mechanismus der Würgemaschine nicht auszulösen. Sie fahren nach Nizza. In der Stadt ange kommen, setzt sich Labatut zu Madame Kurer auf den Rücksitz. Er entschärft den Mechanismus für die wenigen 15
Minuten, in denen sie wieder ihre eigenen Kleider anziehen muß. Er hält sie dabei mit dem Revolver in Schach. Dann schaltet er das Uhrwerk wieder ein und zwingt sein Opfer, einen Schuldschein über 1.200.000 alte Francs zu unter schreiben. Wenige Minuten später hält er auf dem Magen ta-Platz. Madame Kurer, nun bereits völlig apathisch, er kennt ihren eigenen Wagen, der neben dem Gehsteig ge parkt ist. Sie muß einsteigen. Dann geht es in Richtung Cannes weiter. Bei Golfe-Juan halten sie neben einem Hotel. Labatut bestellt zweimal Frühstück und ein Zimmer. Die ganze Zeit über läuft das Uhrwerk der teuflischen Maschine. Von Mi nute zu Minute zieht sich die Schlinge enger um Madame Kurers Hals. Sie kann kaum noch atmen. Im Hotelzimmer stellt Labatut den Mechanismus wieder auf Null. Sein Op fer ist am Ende seiner Kräfte. Labatut zwingt es, zu Hause anzurufen, »um die Familie zu beruhigen«. Während Ma dame Kurer mit ihrem Mann spricht, spürt sie, wie die Schlinge bereits in ihr Fleisch schneidet. Alles läuft planmäßig ab. Labatut hat sein Opfer nur deshalb hierhergebracht, um die fingierte Panne und den Brief, der am Vortag abgeschickt wurde, im nachhinein glaubhaft zu machen. Von Golfe-Juan fahren sie nach Niz za zurück und Labatut setzt Madame Kurer vor einer Bank ab. Gemäß Labatuts Anweisung löst sie dort ihr Konto auf und händigt dem Erpresser 50.000 alte Francs aus. Den ganzen Vormittag über versucht ihr Entführer, den von ihr unterschriebenen Schuldschein einzulösen. Aber er erreicht weder den Bankdirektor noch den Notar Madame Kurers. 16
Schließlich sitzen Entführer und Entführte in einem kleinen Restaurant bei La Turbie. Großzügig bestellt Laba tut zwei Schlemmer-Menüs. Seine Gefangene rührt die ser vierten Speisen kaum an. Sooft sie mit der Gabel das Essen berührt und einen Bissen zum Mund führt, muß sie be fürchten, daß der teuflische Apparat sich ausklinkt und sie stranguliert. Links und rechts plaudern die Gäste fröhlich. Sie haben keine Ahnung von dem Drama, das sich am Ne bentisch abspielt. Labatut ist sehr verärgert, weil er den Schuldschein nicht einlösen konnte. Nach dem Essen aber hat er eine neue Idee. Madame Kurer wird ihm statt des Geldes ihren Wa gen überschreiben. Zynisch macht er sie darauf aufmerk sam, daß sie dabei ohnehin ein gutes Geschäft mache. Aber ein handgeschriebener Kaufvertrag? Labatut winkt die Saalchefin herbei und bittet sie, das Manuskript in zweifa cher Ausfertigung für ihn auf der Schreibmaschine zu tip pen. Leider gibt es in der Direktion des Restaurants keine Schreibmaschine. Labatut ist um einen Ausweg nicht ver legen. Er erinnert sich, daß es in der Nähe ein Polizeikom missariat gibt. Einer der Beamten wird sicherlich so freundlich sein, das Schriftstück zu tippen. Durch die Ver mittlung der freundlichen Saalchefin hält Labatut bald dar auf einen Vertrag in Händen, der allen Vorschriften ent spricht. Dann läßt Labatut sein Opfer wieder in den Wagen steigen und bringt es zu einem verlassenen Parkplatz. Er bedankt sich höflich für das Auto, entschärft und löst das Halseisen und erklärt Madama Kurer für frei. Er macht sie noch darauf aufmerksam, daß er nicht zögern werde, sie umzubringen, wenn sie von ihrem Abenteuer etwas erzähle. 17
Dann fährt er davon, Madame Kurer steht wie betäubt. Hat sie geträumt? Nein. Ihre Finger fühlen noch deutlich die Striemen an ihrem Hals. Wie aber wird sie diese unbegreif liche Geschichte jemandem glaubhaft machen können? Ihr Erlebnis hört sich denn auch so eigenartig an, daß der Poli zeiwachtmeister sich nur zögernd mit ihr auf den Weg zur Villa macht. Eine zarte, zerbrechlich wirkende Frau öffnet. Es ist Madame Labatut, die soeben heimgekehrt ist. Sie hat das Wochenende in Nizza verbracht. Ihr Mann ist nicht zu Hause, aber sie gestattet dem Beamten gerne, sich im Hau se umzusehen. Der Beamte findet den Schuppen mit den gepolsterten Wänden und der schnallenlosen Tür. Madame Labatut sagt dem Gendarmen, daß ihr Mann alsbald ein treffen müsse. Gleich darauf ist Labatut auch schon da. Er lacht laut, als ihm der Beamte den Grund seines Kommens nennt und einen Blick in Labatuts Auto wirft. Es sei der ehemalige Wagen Madame Kurers, erst kürzlich gekauft. Eilfertig holt Labatut den Kaufvertrag aus dem Handschuhfach. Über Sinn und Zweck der »Würgemaschine«, die der Poli zist im Kofferraum entdeckt, fällt Labatuts Erklärung dann schon stockender aus … Wir werden nie erfahren, wieso ein bisher unbescholte ner, friedfertiger und scheinbar nicht geistesgestörter Bür ger eine solche Wahnsinnstat aushecken und so dilettan tisch zu Ende bringen konnte – denn Labatut erhängte sich in seiner Zelle. Strangulation war offenbar seine fixe Idee.
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Eine Schreckensnacht von Dick Donovan Unter dem Pseudonym Dick Donovan schrieb der engli sche Journalist und Kriminalschriftsteller Joyce Emmerson Muddock (1843-1934) zahllose Kurzgeschichten und vikto rianische Detektivromane. Als Sonderkorrespondent der Londoner Zeitungen »Daily News« und »Hour« unternahm er ausgedehnte Reisen durch Asien und Europa. Unter sei nem eigenen Namen veröffentlichte er an die 70 Bücher, weitere 70 unter dem viel bekannteren Pseudonym Dick Donovan. Noch populärer als seine Detektivromane war jedoch der endlose Strom von Kurzgeschichten, die über viele Jahre hinweg regelmäßig in »The Strand« erschienen. »Eine Schreckensnacht« ist dem Band »Tales of Terror« (1899) entnommen. Bleak Hill Castle »Mein lieber alter Freund, bevor Du England in Richtung Ferner Osten verläßt, möchte ich Dich noch an die Einlö sung eines alten Versprechens erinnern. Du hast mir vor einiger Zeit nämlich zugesagt, daß ich fest damit rechnen könne, ein oder zwei Wochen in Deiner Gesellschaft zu verbringen. Wie Du Dir vielleicht vorstellen kannst, habe ich die Flausen meiner Studentenzeit längst über Bord ge worfen und die entzückendste Frau der Welt geheiratet. Wir sind vor nunmehr sechs Monaten vor den Traualtar getreten und seither den lieben langen Tag nur noch glück lich. Bleak Hill Castle ist ganz nach unserem Herzen. Es 19
wird mit unwiderstehlicher Macht Deine romantische Na tur entfachen und all Deine künstlerischen Talente wecken. Das Gebäude ein Schloß zu nennen, mag irgendwie anma ßend klingen, aber meines Wissens ist es seit seiner Errich tung vor mehr als zweihundert Jahren immer Schloß ge nannt worden. Hester ist von dem Schloß entzückt, und wenn einer von uns beiden abergläubisch wäre, so könnten wir jede Stunde des Tages Geister sehen oder hören. Natür lich haben wir, wie es sich für ein veritables englisches Schloß gehört, auch ein Spukzimmer, obwohl mir eher scheint, daß nichts Schrecklicheres als Ratten darin spuken. Wie auch immer – es ist ein pittoreskes und höchst seltsa mes Zimmer, einer von jenen düsteren Räumen, in denen es unbedingt spuken sollte, falls nicht bereits ein Geist dar in haust. Aber ich zweifle nicht daran, alter Freund, daß Du für uns einen solchen ausfindig machen wirst, denn Du hast immer, wenn ich mich recht erinnere, eine ausgeprägte Vorliebe für das Unheimliche und Gespenstige gehegt, und Du wirst auch sicherlich nicht vergessen haben, wie Du Dich über mich geärgert hast, wenn ich Dich dann und wann wegen Deines freimütig eingestandenen Glaubens an das Okkulte und Übernatürliche verspottete. Wie froh warst Du immer, wenn sich eine Gelegenheit ergab, über die ›unerklärlichen Phänomene des Psychischen‹ zu spre chen! Ich halte es für durchaus möglich, daß auch Du Dei ne Jugendirrtümer längst abgelegt hast. Wie dem auch sei: Komme recht bald und sei versichert, daß wir Dich aufs herzlichste willkommen heißen werden, Dein alter Freund Dick Dirckman.« 20
Diesen Brief erhielt ich von einem Freund, mit dem ich gemeinsam das College besucht hatte. Dick hatte dann spä ter ein beträchtliches Vermögen geerbt, das ihn in die Lage versetzte, endlich seinen Neigungen nach Herzenslust le ben zu können, vor allem seiner leidenschaftlichen Liebe für ein Leben auf dem Lande. Obwohl Dick und ich von Natur aus sehr verschieden waren, verband uns doch im mer eine tiefe Zuneigung. Dick verkörperte im besten Sin ne das, was man einen aufrechten, geradlinigen und prakti schen Menschen nennt. Er pflegte häufig zu sagen, daß er niemals etwas glaube, das er nicht sehen könne, und wenn er etwas sehe, so sei er deswegen noch lange nicht bereit, es ohne weiteres als Wahrheit anzuerkennen, bevor er es nicht gründlich untersucht habe. Kurz, Dick war weder ro mantisch noch poetisch. Handfeste Tatsachen zog er alle mal dem vor, was nur die Fantasie zu erahnen vermag; er war, ganz allgemein gesprochen, ›eine unempfängliche Na tur‹. Fast vier Jahre lang hatte ich meinen Freund aus den Augen verloren, während ich als Tutor und Reisebegleiter eines zartbesaiteten jungen Adeligen durch Europa streifte. Sein früher Tod hatte mich wieder in den Stand der Freiheit versetzt, aber ich war erst nach England zurückgekehrt, als man mir eine lukrative Stellung in Indien angeboten hatte, die ich kurzerhand anzunehmen beschloß. Aller Wahr scheinlichkeit nach würde ich mehrere Jahre abwesend sein. Bei meiner Rückkehr nach England hatte ich Dick einen Brief geschrieben, in dem ich von meiner neuen Stellung berichtete und meine Befürchtung zum Ausdruck brachte, 21
daß wir uns wohl kaum noch sehen würden, wenn er nicht für ein oder zwei Tage in die Stadt kommen könnte. Drin gende Erledigungen ließen mir vor der Abreise nur noch wenig Zeit. Daß Dick inzwischen verheiratet war, hatte ich erst sei nem Brief entnommen, und ich gestehe, daß ich ziemlich neugierig war, die junge Dame endlich kennenzulernen, die er mit so großem Erfolg eingefangen hatte. Dick war nie der Typ gewesen, auf den Frauen fliegen, und schon in un serer Studienzeit hatte sich bei mir die Ansicht durchge setzt, daß er zum Junggesellen geradezu prädestiniert sei. Und nun war Dick wider Erwarten verheiratet und lebte in einer jener entfernten ländlichen Gegenden, wo sich die meisten Städter zu Tode langweilen. Ich zögerte also nicht, Dicks herzliche Einladung anzu nehmen, und beschloß, ein paar Tage von der mir noch verbleibenden Zeit bei ihm zu verbringen. Umgehend teilte ich Dick meinen Entschluß mit und schrieb ihm auch, an welchem Tag und zu welcher Stunde ich abreisen würde. Bleak Hill Castle liegt in einer malerischen Landschaft von Wales. An dem verabredeten Tag ließ ich mich im Raucherabteil des Zuges, der zwischen London und dem Nordwesten verkehrt, bequem nieder. Es war Mai, und als ich gegen Abend noch bei Tageslicht in dem Bahnhof nahe dem Schloß ankam, wo Dick mich mit einem zweirädrigen Einspänner erwartete, war ich der einzige Passagier. Er be grüßte mich herzlich und robust, gab der handsamen klei nen Stute die Zügel, nachdem sein Diener mein Gepäck im Wagen verstaut hatte, und fuhr schnell die Landstraße ent lang. Es war schon dunkel, als wir nach einer Fahrt von 22
acht Meilen durch die kräftige Landluft unser Ziel erreich ten, weshalb es mir nicht vergönnt war, das Äußere von Bleak Hill Castle genauer zu betrachten. Das Innere des Schlosses indes ließ auf keinerlei Unfreundlichkeit schlie ßen. Es war bequem, warm und hell erleuchtet. Ich folgte dem Mädchen durch einen laut widerhallen den Korridor und über eine breite Treppenflucht zu mei nem Schlafzimmer, einem großen, behaglich eingerichteten Raum. Im Kamin prasselten Holzscheite, denn es war un geachtet der Jahreszeit in dieser bergigen Gegend noch empfindlich kühl. Nachdem ich hastig meine Kleider ge wechselt hatte, beeilte ich mich, in das Speisezimmer zu gelangen, wo Mrs. Dirckman mich mit derselben Herzlich keit willkommen hieß wie kurz zuvor ihr Mann. Sie war eine außerordentlich hübsche, sehr elegante kleine Frau, das genaue Gegenteil ihres großen, stämmigen, bäuerlich derb aussehenden Mannes. Ein paar Nachbarn hatten sich eingefunden, um mich kennenzulernen und dem köstlichen Dinner zuzusprechen. Als nach dem Dinner Kaffee und Zigarren gereicht wur den, schien es ganz natürlich, daß sich unser Gespräch dem Wohnsitz des Gastgebers zuwandte. Man wollte mir, dem Fremden im hiesigen Distrikt, mit einigen Informationen aushelfen. Selbstverständlich war das, was ich im Verlauf des Gesprächs zu hören bekam, recht sprunghaft und unzu sammenhängend, aber ich erfuhr immerhin, daß Bleak Hill Castle ursprünglich einer walisischen Familie gehört hatte, die in dem Ruf stand, daß sich ihre männlichen Mitglieder allein durch Extravaganz und Spielleidenschaft auszu zeichnen wüßten. Das Schloß hatte aufregende Zeiten hin 23
ter sich, und man erzählte sich viele erschreckende Ge schichten von Bleak Hill Castle, Geschichten von Falsch heit und Schmach, Tod und dunklen Verbrechen. Eine die ser Geschichten rankte sich um das geheimnisvolle Ver schwinden von Frau und Tochter eines jungen Sprößlings dieses Hauses, dessen Lebenslauf recht düster gewesen war. Seine Frau war um vieles älter als er, und man nahm allgemein an, daß er sie nur ihres Geldes wegen geheiratet hatte. Seine Tochter, ein Mädchen von zwölf Jahren, litt unter epileptischen Anfällen. Plötzlich verschwanden Frau und Tochter. Zuerst schien niemand sonderlich überrascht, dann aber versuchten ein paar Neugierige herauszufinden, wohin sich die beiden Verschwundenen begeben hätten. Die Leute auf dem Land klatschen gern, und so kam es bald zu Gerüchten. Mr. Greeta Jones, so hieß der Mann, mußte sich bezüglich des Aufenthaltes seiner Frau und sei ner Tochter einem strengen Verhör unterziehen. Mr. Jones aber, von Natur aus grämlich und eigensinnig, begnügte sich mit der brüsken Aussage: »Sie sind nach London ge fahren.« Man fand diese Aussage wenig glaubhaft, da niemand etwas von der Abreise gehört oder gesehen hatte. Nichtsde stoweniger hielt es niemand, so unglaublich dies auch scheinen mag, für notwendig, auf einer weiteren Untersu chung zu bestehen, und einige Wochen später verließ Mr. Jones die Gegend und fuhr nach London, wie zweifelsfrei festgestellt wurde. Für lange Zeit blieb Bleak Hill Castle fest verschlossen. Schon bald flüsterten sich die Leute rau nend zu, daß man im Schloß seltsame Geräusche gehört und gespenstische Gestalten gesehen hätte, es könne da 24
wohl nicht mit rechten Dingen zugehen, und es dauerte nicht lange, da glaubte jedermann, daß es in dem Schloß spuke. Man braucht nur Gespenster mit dem Namen eines alten Schlosses in Verbindung zu bringen, und schon ist es um seinen Ruf geschehen. So verhielt es sich auch mit Bleak Hill Castle, das fortan jeder zu meiden bestrebt war. Das Schloß verwandelte sich mehr und mehr in eine Ruine und diente nur noch Schmugglern als Zufluchtsort. Schließlich erfuhr der nüchterne, praktisch gesinnte Dick Dirckman über einen Londoner Agenten von dem Schloß, sah es sich sogleich an, fand Gefallen daran und kaufte es für ein Butterbrot. In kurzer Zeit baute er die halb verfalle nen Gebäude zu einem ansehnlichen Landsitz um, und dorthin brachte er seine Braut. Das war die Geschichte von Bleak Hill Castle, wie ich sie an jenem denkwürdigen Abend nach dem Dinner in groben Umrissen der angeregten Unterhaltung entnehmen konnte. Am nächsten Tag sah ich, daß der Landsitz wirklich so romantisch war, wie ihn mir mein Gastgeber beschrieben hatte. Er war außerordentlich schön gelegen, und von sei nen Fenstern aus hatte man einen herrlichen Ausblick auf die Landschaft und das Meer. Wir sahen uns das Schloß an, und Dick fand besonderen Gefallen daran, mir jeden Win kel und jede Ecke zu zeigen, während er ständig von der Schönheit des Ortes im allgemeinen und von den Vorzügen des Landlebens im besonderen sprach. Warum er sich den Spaß bis zuletzt aufhob, mir das sogenannte Spukzimmer zu zeigen, habe ich nie erfahren, aber es war so. Als er die 25
schwere Tür öffnete und mir den Raum zeigte, lächelte er ironisch und sagte: »Nun gut, alter Freund, hier residiert unser Gespenst. Und da ich der Ansicht bin, daß ein Landsitz dieser Art sein Spukzimmer haben sollte, habe ich diesen Raum bis her unberührt gelassen. Aber ich brauche dir ja nicht erst zu sagen, daß ich die Gespenstergeschichten für albernes Geschwätz halte.« Das Zimmer fesselte meine Aufmerksamkeit so sehr, daß ich meinem Freund nicht sofort antwortete. Es war zweifellos das größte Schlafzimmer im Schloß und unter schied sich in seinem Aussehen und seiner Atmosphäre ganz erheblich von allen anderen Räumen. Die Wände wa ren mit dunkler Eiche getäfelt, der Fußboden bestand aus poliertem Eichenholz. Ich sah einen tiefen, V-förmigen, durch die winkelige Bauweise des Gemäuers geformten Erker, der an jeder Seite Fenster mit rhombischen Scheiben hatte, unter denen schwere hölzerne Sitztruhen mit alten Eisenschlössern standen. In einer Ecke gewahrte ich ein großes Holzbett, mit schweren Stoffen bekleidet. Der Rest des Mobiliars läßt sich nicht beschreiben – mit einem Wort, der Raum war so malerisch, daß in meiner Fantasie sogleich alle nur denkbaren dramatischen, unheimlichen und schrecklichen Situationen Gestalt annahmen. Da war ein riesiger Kamin, auf dem ein Paar wuchtiger, verrosteter Bronzehunde stand. Ein Blick aus dem Fenster enthüllte die schönste Aussicht. Meine Fantasie war entflammt, meine künstlerische Sensibilität auf geradezu unwidersteh liche Weise stimuliert. Erst jetzt antwortete ich meinem Freund: 26
»Ich mag dieses Zimmer, Dick. Macht es dir etwas aus, wenn ich es beziehen würde?« Er lachte. »Auf mein Wort, du bist immer noch ein überaus exzen trischer Zeitgenosse, aber wenn du unbedingt deine kom fortable Unterkunft um dieser modrigen, zugigen, schäbi gen alten Rumpelkammer willen aufgeben willst –mir soll es reicht sein. Wie auch immer« – hier zuckte er mit den Schultern – »über Geschmack läßt sich nicht streiten. Ich werde meine Diener anweisen, das Bett in Ordnung zu bringen, Feuer anzumachen und dein Gepäck herbeizu schaffen.« Ich bekenne freimütig, daß ich mich gern von romanti schen Neigungen leiten lassen, und so war ich froh, meinen Willen durchgesetzt zu haben. Ich liebte das Alte, alte Ge schichten, alte Legenden, alte Möbel und alles, was sich über das geistlose Niveau des allzu Gewöhnlichen erhob. Ich war entzückt, daß dieses alte Zimmer den Charakter des Einzigartigen bewahrt hatte. Als die hübsche kleine Mrs. Dirckman von unserer Verein barung erfuhr, sagt sie mit einem Lachen, das ihre Nervosi tät nicht verbergen konnte: »Ich bedauere, daß Sie in dem elenden Zimmer schlafen wollen. Es macht mich schaudern, denn es scheint alles andere als behaglich zu sein. Vielleicht wissen Sie, daß ich dazu neige, den umlaufenden Gerüchten eine gewisse Be deutung beizumessen, obwohl Dick mich eine kleine dumme Gans schilt und über mich lacht. Ich würde nicht für eine Krone aus purem Gold in dem Zimmer schlafen. 27
Aber ich hoffe, daß Sie sich darin wohl fühlen werden und sich nicht durch grauenhafte Erscheinungen zu Tode er schrecken lassen.« Ich beeilte mich, meiner Gastgeberin zu versichern, daß ich mich ganz bestimmt sehr behaglich darin fühlen würde und – was die Erscheinungen beträfe – mich nicht so leicht ins Bockshorn jagen lassen würde. Den Rest des Tages verbrachte ich damit, die Gegend um das Schloß herum zu inspizieren. Nach dem Dinner spielte ich mit Dick bis ein Uhr nachts Billard, dann zog ich mich zur Nachtruhe zurück. Als ich mein Spukzimmer betrat, sah ich, daß man inzwischen alle Anstrengungen gemacht hatte, dem Raum ein heiteres, gemütliches Ausse hen zu geben. Auf dem Fußboden lagen einige Teppiche, ein oder zwei moderne Sessel waren dazugekommen, und im Kamin prasselten Holzscheite. Für den Fall, daß es mich noch nach einem Nachttrunk gelüstete, standen auf einem kleinen Tisch nahe dem Kamin ein silberner, mit heißem Wasser gefüllter Krug und eine alte Karaffe mit Whisky, daneben Zitrone und Zucker. Eine große Dank barkeit für die Aufmerksamkeit und Umsicht meiner Gast geber erfüllte mich. Nachdem ich mich meiner Schuhe und meines Anzugs entledigt hatte, zog ich mir einen Stuhl an den Kamin heran und stopfte mir eine letzte Pfeife, um noch ein paar Züge zu rauchen, bevor ich mich zu Bett be gab. Diese Gewohnheit beruhigt mich und sorgt für einen erholsamen Schlaf. Ich zündete also meine Pfeife an und verfiel ins Grübeln, als plötzlich etwas sehr Merkwürdiges geschah. Sanft wurde mir die Pfeife von meinen Lippen genommen und auf den Tisch gelegt – im selben Augen 28
blick vernahm ich ein Geräusch, das sich wie das Seufzen eines Menschen anhörte. Für einen kurzen Augenblick war ich verwirrt. Träumte ich oder war ich wach? Aber da lag die Pfeife auf dem Tisch, und ich hätte jeden feierlichen Eid geschworen, daß sie von unsichtbaren Händen dorthin gelegt worden war. Ich geriet, wie man sich vorstellen kann, in immer tiefe re Verwirrung. Zum erstenmal in meinem Leben war ich mit einem übernatürlichen Phänomen in Berührung ge kommen. Nach kurzer Selbstprüfung gelangte ich jedoch zu dem Schluß, daß mich meine eigenen Sinne genarrt hat ten. Es war durchaus möglich, daß ich in einem traumähn lichen Zustand die Pfeife selbst auf den Tisch gelegt hatte. Nach diesen Überlegungen entledigte ich mich meiner Kleider, blies die beiden Kerzen aus und sprang ins Bett. Obwohl ich gewöhnlich gut schlief, schien mich diesmal der Schlaf zu meiden. Ich lag noch lange wach und dachte über viele Dinge nach. In das wechselnde Spiel meiner Ge danken drang allmählich die Symphonie der Natur – die monotone Brandung des Meeres am entfernten Strand und der dunkle Baß des Windes, der gelegentlich zu schreck lich schrillen Obertönen anschwoll. Von seiner Lage her war das Schloß schutzlos allen Winden preisgegeben. Das stete Dröhnen der Brandung und des Windes schläferten mich langsam ein. Wie lange ich geschlafen hatte, weiß ich nicht, aber plötzlich erwachte ich. Es schien mir, als hätte sich ein Strom eiskalten Wassers über mein Gesicht ergos sen. Ein undefinierbarer Schrecken ließ mich im Bett auf fahren, dann trafen meine Augen auf einen gespenstischen, furchtbaren Anblick. 29
Ich erstarrte vor Schreck. Eine grauenhafte Faszination schlug mich so in ihren Bann, daß es mir unmöglich war, meine Augen abzuwenden. Ein entsetzlicher Zauber lähmte mich. Meine Glieder waren wie erstarrt, meine Augen brannten, mein Mund war ausgedörrt und trocken, meine Zunge geschwollen. Der lähmende Anblick spannte mei nen Nerven aufs äußerste an und stellte meine Gesundheit auf eine harte Probe. In der Luft zwischen Fußboden und Decke, umhüllt von einem zitternden, nebelhaften Licht – so unheimlich, daß die Kraft der Worte nicht ausreichen würde, es zu be schreiben – schwebten der Kopf und die Brüste einer Frau. Ihr Gesicht war in einem unerträglichen Ausdruck verstei nerten Schreckens paralysiert, das lange schwarze Haar wirr und aufgelöst, die Augen schienen aus dem Kopf he rauszuspringen. Aber das war noch nicht alles. Zwei Gei sterhände wurden sichtbar. Die Finger der einen waren un lösbar in dem schwarzen Haar verschlungen, die andere Hand packte ein Messer mit langer Klinge und stach damit hauend, schneidend und reißend tief in die entblößte weiße Kehle der Frau ein. Das Blut spritzte aus den klaffenden Wunden, färbte die Phantomhand rot und floß in einem stetigen Strom auf den Eichenboden, wo ich es tropfen, tropfen, tropfen hörte, bis mein Kopf zu bersten drohte und ich nahe daran war, wahnsinnig zu werden. Dann sah ich das unmißverständliche Zeichen des Todes auf dem Ge sicht der Frau erscheinen. Kurz darauf schleuderten die teuflischen Hände die zerstückelten Überreste weg, und ich vernahm von irgendwoher ein Kichern, das tiefste Befrie digung verriet: Ich schwöre, daß ich dieses Kichern hörte. 30
Das Licht verflüchtigte sich, die Vision von Verbrechen und Tod war verschwunden, aber immer noch hielt mich der Zauber gefangen. Ich war in Schweiß gebadet und ver suchte zu schreien, aber kein Ton entrang sich meinen trockenen, brennenden Lippen; meine Zunge versagte ihren Dienst. Hätte ich mich nur einen Fingerbreit bewegen kön nen, so wäre der Bann gebrochen gewesen, aber ich war unfähig, meiner Regungslosigkeit zu entrinnen. Es war ein Alptraum hellwachen Entsetzens, und ich schaudere auch heute noch, wenn ich mir die Ereignisse ins Gedächtnis zurückrufe. Aber die schreckliche Erscheinung – denn nur um eine solche konnte es sich handeln – hatte noch nicht ihren Hö hepunkt erreicht. Aus der Dunkelheit hatte sich nochmals ein schwacher, phosphoreszierender Schimmer geschält, in dessen Mitte der Leichnam eines jungen Mädchens mit aufgeschlitzter, blutender Kehle schwebte. Rotes Blut rann über sein Nachthemd, als die grausamen, blutverschmierten Geisterhände wieder erschienen, nach dem Mädchen grif fen, es hochhoben und fortzerrten. Dann verschwand die Erscheinung, und eine dritte tauchte auf. Diesmal glaubte ich in ein düsteres, modriges Kellerloch zu blicken. Jener lähmende Schrecken, der mein Blut zum Gefrieren brachte, steigerte sich noch, als ich die Hände damit beschäftigt sah, ein Loch in die Wand am Ende des Gewölbes zu schaufeln. Ich sah, wie die Geisterhände die blutbesudelten Körper der Frau und des jungen Mädchens hochhoben und in das Loch in der Wand warfen, um sie dann einzumauern. All diese Dinge sah ich genauso, wie ich sie beschrieben habe, und ich schwöre feierlich, daß ich die Wahrheit und nur die 31
Wahrheit sage, wie ich sie vor dem Richterstuhl des Höch sten zu verantworten habe. Es war eine Vision von Verbrechen, eine Vision von er bärmlichem, verdammenswertem, gnadenlosem Mord. Wie lange das alles dauerte, weiß ich nicht. Die Wissenschaft hat uns gelehrt, daß Träume, die Jahre zu umspannen scheinen, oft nur wenige Sekunden dauern, und die weni gen Augenblicke, die einem Ertrinkenden noch bleiben, reichen aus, um sein ganzes Leben vor seinen Augen abrol len zu lassen. Deshalb halte ich es auch für möglich, daß meine Vision nur Sekunden gedauert hat, aber für mich schienen es Stunden und Jahre zu sein, eine ganze Ewig keit. Mit diesem letzten Höhepunkt des Dramas von Blut und Tod war auch der Bann gebrochen; ich warf meine Arme in die Höhe und sprang mit einem wilden Schrei aus dem Bett. Ich erinnerte mich jeder Einzelheit der gespen stischen Erscheinung, und doch war es mir, als hätte mich ein schrecklicher Alptraum heimgesucht. Noch nie hatte ich mich so krank und elend gefühlt. Nichtsdestoweniger sah ich alles ganz deutlich vor mir. Im Kamin leuchtete unter einem Haufen rotglühender Asche immer noch die Glut, in der Ferne brandete das Meer, und der Wind heulte mit einem schauerlich geisterhaften Ton um das Haus. Getrieben von einem unwiderstehlichen Impuls, der mich zu gehorchen zwang, lief ich zur Tür, drückte die Klinke nieder und starrte durch die geöffnete Tür auf den langen dunklen Korridor hinaus. Ein Seufzen drang an mein Ohr, ohne Zweifel ein menschliches Seufzen, das alle Tiefen des Leidens ausdrückte und mir mit eisiger Hand ans Herz griff. Ich schauderte zurück und war schon nahe 32
daran, die Tür wieder zu schließen, als aus der Dunkelheit die lichtumflossene Gestalt einer Frau auftauchte. Ihr Ge wand war blutverschmiert, ihr Haar aufgelöst. Sie wandte mir ihr totenbleiches Antlitz zu, aus dem mich bittende Augen anflehten, während sie mit dem Zeigefinger ihrer linken Hand abwärts deutete, und mir mit der rechten winkte. Ich konnte nicht anders, als ihr zu folgen, wohin sie mich auch führen mochte. Ich konnte ihr ebensowenig widerstehen, wie eine unbefestigte Nadel der Anziehungs kraft eines Magneten widerstehen kann. Ich folgte der Erscheinung, nur mit einem Nachthemd bekleidet und barfüßig, den Korridor entlang, die breite Eichentreppe hinunter und den hinteren Teil des Gebäudes durchquerend, bis ich vor einer schweren verriegelten Tür stand. In diesem Augenblick verschwand das Geisterbild, und ich lenkte meine Schritte wie ein Traumwandler zu rück in mein Schlafzimmer. In der Tat weiß ich nicht mehr, wie ich dorthin gelangte, auch erinnere ich mich nicht, wie ich mich zu Bett begab. Stunden später erwachte ich bei hellem Tageslicht. Der Schrecken der vergangenen Nacht kam mit überwältigender Kraft zurück und machte mich schwach und krank. Dennoch schaffte ich es irgendwie, die Morgentoilette hinter mich zu bringen, bevor ich fluchtar tig das Spukzimmer verließ. Es war ein wunderschöner Morgen. Die Sonne schien strahlend, und in den Bäumen und Hecken sangen die Vö gel. Während ich auf dem Rasen vor dem Haus in seltsa mer Aufregung auf und ab schritt, fragte ich mich immer wieder, ob die Ereignisse der vergangenen Nacht irgendwie von Bedeutung seien. 33
In diesem Augenblick kam mein Gastgeber heraus. Er erstarrte sichtlich, als er mich sah. »Hallo, alter Freund. Was ist los mit dir? Du sieht etwas mitgenommen aus. Du hast doch nicht etwa eine böse Nacht hinter dir?« »Ich habe in der Tat eine schlimme Nacht verbracht.« »Hast du etwas gesehen?« fragte er mit nachdenklichem Ernst. »Ja.« »Zum Teufel! Das meinst du doch nicht wirklich!« »Ich meine es wirklich. Eine Nacht des Schreckens liegt hinter mir, eine Nacht, die ich um alles in der Welt nicht noch einmal erleben möchte. Aber laß uns zuerst das Früh stück einnehmen, dann werde ich dir zu erklären versu chen, was mich so erschüttert hat. Du kannst dann selbst beurteilen, was an meinem Traum dran ist – oder wie im mer du es zu benennen liebst.« Wortlos gingen wir in das Frühstückszimmer, wo meine reizende Gastgeberin mich begrüßte, aber auch ihr fiel mein verändertes Aussehen sofort auf. Angst und Besorg nis zeigten sich in ihrem Gesicht. Ich versicherte ihr, daß ich eine ruhelose Nacht hinter mir hätte und mich nicht be sonders wohl fühle, aber meine Worte schienen sie nicht zu besänftigen. Ich war einfach nicht in der Verfassung, das reichhaltige Frühstück zu genießen, und meine Gastgeber zeigten wieder Anzeichen einer unbestimmbaren Angst und drängten mich, ihnen den Grund meiner Qual zu nen nen, was ich dann auch tat. Dick war weit davon entfernt, über mich zu lachen, wie ich es erwartet hatte. Er wurde sogar ungewöhnlich nach 34
denklich und sagte plötzlich: »Entweder handelt es sich um eine wilde Ausgeburt dei ner Fantasie, oder es ist wirklich etwas dran. Die Tür, zu der dich der Geist dieser Frau geführt hat, liegt am Ende einer Flucht steinerner Stufen, die zu einem Gewölbe un terhalb des Gebäudes hinabführen. Ich habe niemals die Neugierde verspürt, dieses Gewölbe zu betreten, obwohl ich einmal bis zum Ende der Stufen hinabgestiegen bin. Aber der Ort erinnerte mich in so schauerlicher Weise an ein Grab, daß ich die Tür verriegelt und seitdem nie mehr geöffnet habe.« Ich antwortete ihm, daß jetzt wohl die Zeit gekommen sei, nochmals in das Gewölbe hinunterzusteigen. Daraufhin fragte mich Dick, ob ich ihn begleiten würde, und ich er widerte, daß ich dazu natürlich bereit sei. So ließ er denn seinen Gärtner rufen, und nach einigem Suchen fanden wir endlich den Schlüssel, aber auch mit diesem Schlüssel war die Tür nur unter größten Schwierigkeiten zu öffnen. Schloß und Schlüssel waren vom Rost der Jahre zerfressen. Als wir die glatten, schlüpfrigen Stufen hinabstiegen, jeder von uns mit einer Kerze in der Hand, begrüßte uns ein wi derlicher Modergeruch. Eine kalte, dumpfe Atmosphäre durchdrang den Ort. Die Stufen führten in ein mächtiges Gewölbe, das offenbar einen großen Teil des Unterge schosses einnahm. Die Decke war bogenförmig gerundet und durch Ziegelpfeiler abgestützt. Der Boden bestand aus schlammiger Naturerde. Obwohl in den Wänden Luftschlitze angebracht waren, drohte uns der ansteckende Mo dergeruch zu überwältigen. 35
Während wir die weiträumigen Kellergewölbe erforsch ten, fanden wir heraus, daß es einen Luftschacht gab, der bis unter das Dach führte, aber mit verrotteten alten Schachteln und ähnlichem Unrat verstopft war. Nachdem der Gärtner das Gerumpel beiseite geräumt hatte, konnten wir über uns den blauen Himmel sehen. Wir setzten unsere Untersuchungen fort und entdeckten in einer Wandnische einen Haufen Ziegelsteine und ver trockneten Mörtel. Unter anderen Umständen hätte eine solche Entdeckung wohl kaum unseren Verdacht erregt, aber in diesem Fall geschah es: Wir prüften die Wände mit argwöhnischem Interesse, bis wir überzeugt waren, daß vor noch nicht allzu langer Zeit ein ziemlich großer Hohlraum in der Wand ausgefüllt worden war. Eine grauenhafte Fas zination zog uns mit magischen Kräften zu dem neuen Mauerwerk hin. Die Gedanken, die mir durch den Kopf gingen, während ich mit kritischem Interesse eingehend die Mauer einer Prüfung unterzog, spiegelten sich in den Ge sichtern meiner Begleiter wider. Wir sahen einander an, und jedem verriet irgendein unerklärlicher Instinkt, was sich im Geist des anderen abspielte. »Mir scheint, wir stehen vor einem Mysterium«, be merkte Dick feierlich. In all den Jahren unserer Bekannt schaft habe ich ihn nie so ernsthaft gesehen. Gewöhnlich sprach aus seinen Zügen ein gutgelaunter Zynismus, aber jetzt glich er eher einem Richter, der im Begriff steht, das Todesurteil über einen auf frischer Tat ertappten Sünder zu fällen. »Wenn mir nicht meine eigene Fantasie einen Possen spielt, so stehen wir wirklich vor einem Mysterium«, ant 36
wortete ich. »Mh! Das ist seltsam«, murmelte Dick vor sich hin. »Sie wissen ja, Sir, daß seit einiger Zeit merkwürdige Gerüchte im Umlauf sind«, sagte der Gärtner. »Und bevor Sie kamen und das Schloß kauften, pflegten viele Leute von hier zu sagen, daß sie seltsame Dinge in Bleak Hill Castle gesehen hätten. Ich selbst habe diesen Geschichten keinen Glauben geschenkt, aber vielleicht enthalten sie doch ein Körnchen Wahrheit.« Dick ergriff einen halben Ziegel und begann, die Wand damit abzuklopfen, die vor nicht allzu langer Zeit zuge mauert worden war. Ein hohler Ton hallte uns entgegen. »Auf mein Wort, alter Freund«, rief mein Gastgeber aus, »ich fange langsam an, etwas Unheimliches zu spüren.« Er bemühte sich um ein zaghaftes Lächeln. »Ich will gehenkt werden, wenn ich nicht ebenso abergläubisch bin wie du.« »Du kannst mich abergläubisch nennen, wenn es dir be liebt, aber entweder habe ich gesehen, was ich gesehen ha be, oder meine Sinne haben mir übel mitgespielt. Wie dem auch sei – laß es uns überprüfen.« »Wie?« »Indem wir einen Teil der neuen Mauer herausbrechen.« Aus Dicks Lachen war alle Fröhlichkeit verschwunden, als er mich fragte: »Was erwartest du zu finden?« Ich zögerte noch, es ihm zu sagen, und so antwortete er sich selbst: »Vermoderte Gebeine, wenn dein Nachtge spenst dich nicht getäuscht hat.« »Vermoderte Gebeine«, sprach ich ihm wie unter Zwang nach. 37
»Gärtner, haben Sie ein Brecheisen bei Ihrem Werk zeug?« fragte Dick. »Ja, Sir.« »Dann holen Sie es bitte.« Der Gärtner entfernte sich. »Höchst merkwürdig«, fuhr Dick fort, nachdem er einen Blick durch den weiträumigen, dämmrigen Keller gewor fen hatte. »Aber auf mein Wort und um dir die Wahrheit zu sagen – ich schäme mich ein bißchen, abergläubischen Re gungen nachgegeben zu haben. Ich bin überzeugt, du wirst bald herausfinden, daß dich deine Einbildung zum Narren gehalten hat. Ich fürchte, deine Gespensterfantasien werden uns der Lächerlichkeit preisgeben.« Bevor ich auf diesen Vorwurf einging, konnte ich nicht umhin, Dick daran zu erinnern, daß sogar Wissenschaftler zugegeben haben, daß es gewisse Phänomene gibt, die sich mit den bekannten Gesetzen nicht erklären lassen. Dick zuckte mit den Schultern und sagte bewußt gleich gültig: »Vielleicht – vielleicht ist es so.« Er stopfte Tabak in seine Pfeife, zündete sie an und rauchte mit einer Nervo sität, die ich an ihm gar nicht gewohnt war. Der Gärtner schien eine Ewigkeit fortgewesen zu sein, als er nach zehn Minuten wieder zurückkam. Er brachte ein Brecheisen und eine Spitzhacke mit und begann auf Dicks Geheiß hin die Wand einzureißen. Er schlug einen Ziegel stein heraus, stemmte das Brecheisen in das Loch und brach einen größeren Brocken heraus. Aus der Öffnung drang ein so ekelerregender Geruch, daß wir uns instinktiv zurückzogen. Wir schauderten. Ich sah, wie die Pfeife von Dicks Lippen fiel, aber er bekam sie schnell wieder in den 38
Griff und paffte so heftig, daß eine dicke, unbewegliche Rauchwolke in der Luft hing. Er hob eine der Kerzen vom Boden auf, die wir dort abgestellt hatten, näherte sich dem aufgerissenen Loch und hielt die Kerze so, daß ihr Licht in die Öffnung fiel. Einen Augenblick später sprang er mit einem Aufschrei zurück. »Mein Gott! Der Geist hat nicht gelogen« , rief er aus. Sein Gesicht war weiß wie ein Bettlaken. Auch der Gärtner und ich sahen in das Loch und prallten erschrocken zurück – in der Maueröffnung lagen vermoderte menschliche Skelette. »Diese schreckliche Entdeckung muß gründlich unter sucht werden«, sagte Dick. »Komm, laß uns gehen.« Wir brauchten kein zweites Mal aufgefordert zu werden und waren heilfroh, diesen Ort des Grauens zu verlassen und in die frische, sonnendurchglühte Landluft zurückzu kehren. Wir fühlten uns, als wären wir soeben einer eiskal ten Grabkammer entronnen. Eine halbe Stunde später fuhren Dick und ich in die nahe Stadt, um die Behörden über die schreckliche Entdeckung zu informieren. Die folgende Untersuchung der Polizei förderte zwei Skelette zu Tage. Der Gerichtsmediziner ließ nicht den Schatten eines Zweifels daran, daß es sich bei den Leichenfunden um die sterblichen Überreste einer Frau und eines Mädchens handelte, beide Opfer eines brutalen Mordanschlages. Natürlich erwies es sich notwendig, weitere Nachfor schungen anzustellen, und die Polizei setzte alles daran, Beweismaterial zu sammeln, um die Identität der Ermorde ten zu klären. Unsere Entdeckung gab den seit vielen Jahren hier um 39
laufenden Gerüchten selbstverständlich neue Nahrung. Mehr und mehr konzentrierte sich das allgemeine Interesse auf das seltsame Verschwinden von Frau und Tochter des letzten Schloßbesitzers, Greeta Jones. Jones hatte, wie man sich erinnerte, sein ganzes Vermögen verspielt und eine viel ältere Dame geheiratet, die ihm eine an epileptischen Anfällen leidende Tochter gebar. Als das Mädchen zwölf Jahre alt war, verschwand es zusammen mit seiner Mutter – nach London, wie der Mann damals bei der Untersu chung aussagte. Dann verließ auch er die Gegend, und die Leute küm merten sich nicht weiter um ihn. Seither war ein Viertel jahrhundert vergangen, und Bleak Hill Castle hatte so manche Veränderung erlebt, bevor es Dick Dirckman übernahm. Je genauer man sich die Geschichte von Greeta Jones betrachtete, desto klarer wurde, daß es sich bei den Funden im Keller nur um die Leichen seiner Frau und Tochter handeln konnte. Es bestand nicht der geringste Zweifel, daß diese beiden Unglückseligen auf brutale und barbarische Weise ermordet worden waren. Die Frage war nur, wer der Täter war, der sie ermordet hatte. Wie sich herausstellte, führte Jones, nachdem er Wales verlassen hatte, in London ein ausschweifendes Leben. Ei nes Nachts war er in betrunkenem Zustand von einer Kut sche angefahren und so ernsthaft verletzt worden, daß er noch auf dem Weg ins Hospital starb. Jones nahm das schreckliche Geheimnis mit in sein Grab. Aber konnte es wirklich einen vernünftigen Zweifel daran geben, daß er das Verbrechen begangen hatte? Es bestand nämlich Grund zu der Annahme, daß er Frau und Tochter tatsächlich mit 40
eigenen Händen ermordet und dann mit Hilfe eines gedun genen Seemannes die beiden Leichen im Keller eingemau ert hatte. Man erinnerte sich daran, daß ein Seemann na mens Howell Williams häufig das Schloß besucht hatte und plötzlich in den Besitz einer für ihn beträchtlichen Geld summe gelangt war. Einige Wochen lang trank er schwer, dann packte er seine wenigen Habseligkeiten zusammen, und gab vor, nach Kalifornien auszuwandern. Alle Versu che, seine Spur wiederzufinden, verliefen im Sand. So viel über das grausame Verbrechen. Was die Um stände betraf, die zu seiner Entdeckung führten, so ist es äußerst merkwürdig, daß ausgerechnet ich dazu ausgewählt worden war, es ans Licht zu bringen – warum, kann und will ich nicht erklären. Ich habe die Tatsachen so geschil dert, wie sie sich ereigneten, und überlasse es anderen, das Rätsel zu lösen. Es überraschte mich nicht sehr, daß Mrs. Dirckman durch die schreckliche Entdeckung einen Schock erlitt. Sie erklärte ihrem Mann, daß sie entweder in geistige Umnach tung fallen oder aber sterben würde, wenn sie noch länger in dem Schloß bleiben müßte. Und so verließ der arme Dick, der seine reizende kleine Frau über alles liebte, das Schloß, das nun wieder zur Rui ne verfiel, bis es schließlich ganz abgerissen wurde und modernen Gebäuden Platz machen mußte. Was mich selbst betrifft, so erschütterte mich die Schreckensnacht in einer Weise, daß mein Haar vorzeitig grau wurde. Wenn ich an das Grauen dieser Nacht zurückdenke, überfällt mich auch heute noch ein Schaudern, und ein unaussprechliches Ge fühl der Angst quält mich. 41
Das Hohnlachen der Toten von Wladimir Odojewski Einem alten russischen Adelsgeschlecht entstammend, machte sich Wladimir Odojewski (1803-1869) bereits in den dreißiger Jahren einen Namen als Literat, Philosoph und Musikkritiker. Er beschäftigte sich intensiv mit Mystik, mittelalterlicher Kabbalistik, Alchemie und studierte die deutsche idealistische Philosophie und Romantik. Über seine phantastischen Erzählungen vom Typus »Das Hohn lachen der Toten« sagte der Kritiker Belinski: »Ihr Ziel ist es, in der schlafenden Seele Abscheu hervorzurufen gegen die tote Wirklichkeit, gegen die flache Prosa des Lebens, und die heilige Sehnsucht zu wecken nach jener hehren Wirklichkeit, deren Ideal ein kühnes Leben voller Men schenwürde ist.« Der Herbststurm heulte, der Fluß war über die Ufer getre ten, auf den breiten Straßen schwankten die Laternen hin und her; sie warfen lange Schatten, die sich bewegten; bald sah es so aus, als stiegen die dunklen Dächer, Basreliefs und Fenster in die Höhe, bald schienen sie sich wieder zu senken. In der Stadt herrschte noch reges Leben, Passanten drängten sich auf den Gehsteigen, schöne Frauen, die sich verspätet hatten, verhüllten ihre Gesichter und schlugen dann wieder den Schal zurück, als sei der Sturm an allem schuld, sie wandten sich um und blieben stehen; eine Schar junger Männer folgte ihnen und dankte lachend dem Wind für seine Unhöflichkeit, gesetzte Leute verurteilten die ei 42
nen wie die anderen und gingen weiter, insgeheim bedau ernd, daß es für sie bereits zu spät war, dergleichen zu tun; Räder ratterten bald rasch, bald träge übers Pflaster, der Klang von Leiern lag in der Luft; und aus all diesen ver schiedenartigen einzelnen Bewegungen entstand eine ge meinsame, durch die dieses seltsame, aus Menschenbrüsten und Steinen gefügte Ungeheuer, Großstadt genannt, atmete und lebte. Der Himmel jedoch war klar; drohend und reg los harrte er vergebens eines Blicks, der sich zu ihm erho ben hätte. Da brauste von der durch heranflutendes Wasser aufge quollenen Brücke her wie ein Wirbel eine prächtige elegan te Kutsche heran, die eigentlich aussah wie alle anderen Kutschen, dennoch etwas an sich hatte, was die Passanten nötigte, stehenzubleiben und einander zu sagen: »Sicher sind dies junge Leute!«, worauf ihre Blicke noch lange mit dümmlicher Freude dem Gefährt folgten. In der Kutsche saß eine junge Frau mit einem glänzen den Stirnband zwischen den schwarzen Locken, das mit einzelnen Rosenknospen besetzt war, sie trug einen him melblauen Samtmantel, und über dem Antlitz der Schönen wogte eine breite Seidenspitze, die, aus ihrer dunklen Hülle hervordrängend, einem jener luftigen Gebilde glich, mit denen Maler die Porträts ihrer verführerischen Damen ver schleiern. Neben ihr saß ein Mann in mittleren Jahren mit einem Gesicht, das weder durch äußerliche Häßlichkeit noch durch seelische Schönheit in Erstaunen versetzte, weder anzog noch abstieß. Es hätte Sie nicht verdrossen, wären Sie diesem Mann in einem Salon begegnet, doch gewiß 43
wären Sie zwanzigmal an ihm vorübergegangen, ohne ihn zu bemerken, Sie hätten ihm kein einziges von Herzen kommendes Wort gesagt, und in seiner Gegenwart hätten Sie jenes Gefühl gefürchtet, das unwillkürlich tief aus der Seele steigt und einen so lange quält, bis man ihm endlich nachgegeben hat. Kurzum, in einem Augenblick ange strengter Geistesarbeit hätte dieser Mann Sie beunruhigt, wäre es Ihnen in seiner Gegenwart unbehaglich gewesen, und in einem Augenblick der Inspiration hätten Sie ihn am liebsten zum Fenster hinausgeworfen. Erschreckt von den Wogen des wütenden Flusses und dem schauerlichen Heulen des Windes, blickte die schöne Frau bald zum Fenster hinaus, bald preßte sie sich furcht sam an ihren Gefährten; der beruhigte sie mit jenen abge schmackten Wendungen, die der kalte Kleinmut bereits vor langer Zeit ersann, die ohne Überzeugung geäußert und gleichmütig aufgenommen werden. Indessen näherte sich die Kutsche rasch einem hell erleuchteten Haus, an dessen Fenstern beim fröhlichen Rhythmus von Ballmusik Schat ten vorüberhuschten. Plötzlich hielt die Kutsche, getragener Gesang ertönte, purpurfarbenes Licht erhellte die Straße, einige Männer mit Fackeln kamen, und hinter ihnen schwankte langsam ein Sarg. Die Schöne blickte hinaus. Da riß ein heftiger Wind stoß das vereiste Leichentuch von dem Verstorbenen, und ihr schien, der Tote hebe sein blaugefrorenes Antlitz zu ihr empor und blicke sie mit jenem starren Lächeln an, mit dem Tote die Lebenden verhöhnen. Die Schöne schrie auf und preßte sich in höchster Erregung an die Innenwand der Kutsche. 44
Früher einmal hatte die schöne Frau diesen jungen Mann gesehen. Was heißt gesehen! Sie hatte ihn gekannt, hatte die zartesten Regungen seiner Seele gekannt, jedes noch unausgesprochene Wort, jeden verborgenen Zug in seinem Gesicht, sie hatte all das gekannt und verstanden; doch da mals bildete eine jener menschlichen Meinungen, die die Leute als ewige, notwendige Basis für das Familienglück bezeichnen, der sie Genie, Tugend, Mitgefühl und gesun den Verstand opfern, für einige Monate eine unüberwindli che Schranke zwischen der Schönen und dem jungen Mann. Und das Mädchen fügte sich. Sie gab nicht ihrem Gefühl nach, nein, sie erstickte den heiligen Funken, der sich in ihrer Brust entzündet hatte, und als sie gefallen war, beugte sie sich dem Dämon, der in der Welt Glück und Ruhm verteilt, und der Dämon pries ihren Gehorsam, ver schaffte ihr eine »gute Partie« und nannte ihre Berechnung Tugend, ihre Unterwürfigkeit Klugheit, ihre optische Täu schung Stimme des Herzens; und die Schöne war fast stolz auf sein Lob. Doch die Liebe des Jünglings barg alles, was im Men schen heilig und schön ist, in ihrem stürmischen Feuer leb te er wie die wohlriechende Aloe unter den Strahlen der Sonne; und vertraut waren dem Jüngling jene Minuten, da der Atem leidenschaftlich über den Gedanken hinwegfegt, jene Minuten, in denen Jahrhunderte leben, da Engel das Geheimnis der menschlichen Seele ergründen und die my stischen Keime künftiger Geschlechter furchtsam lauschen, was das Schicksal ihnen beschied. Ja, viel Zukunftsträchtiges war in diesem Gedanken, in diesem Gefühl. Vermochte der Jüngling jedoch damit das 45
träge Herz der weltlichen Schönen zu rühren, das mehr und mehr erkaltete durch Rücksicht auf den guten Ton? Ver mochte er damit ihren Verstand zu betören, der unaufhalt sam von jenen Richtern der öffentlichen Meinung verwirrt wurde, die die Kunst erlernt haben, andere nur an sich selbst zu messen, jedes Gefühl zu berechnen, einen jeden Gedanken danach zu beurteilen, was sie zufällig selber er lebten, die Poesie allein nach dem, was sie einbringt, den Glauben nach der Politik, die Zukunft nach der Vergan genheit? Und alles wurde der Verachtung preis gegeben – die selbstlose Liebe des Jünglings und die Kraft, die sie er weckte … Die Schöne nannte ihre Liebe ein Spiel der Phantasie und die qualvollen Leiden des Jünglings eine vorübergehende Krankheit des Geistes, das Flehen seiner Blicke eine poetische Laune, die gerade Mode war. Alles war der Verachtung preisgegeben, alles war vergessen. Durch alle Qualen gekränkter Liebe, gekränkter Hoffnung, gekränkter Eigenliebe führte ihn die Schöne … Was ich hier wortreich erzählt habe, huschte in einem einzigen Augenblick durch das Herz der Schönen, als sie den Leichnam erblickte. Schrecklich schien ihr der Tod des Jünglings – nicht der Tod des Leibes, nein! Die Züge sei ner verzerrten Antlitzes erzählten die entsetzliche Ge schichte eines anderen Todes. Wer weiß, was mit dem jun gen Mann geschah, als in der Kälte des Leidens die Saiten auf dem harmonischen Instrument seiner Seele erstarrten und rissen, als er erschöpft war und zerquält von einem Leben im Verborgenen, als seine Seele sich verzehrte beim vergeblichen Kampf und, erniedrigt, doch unbesiegt, hohn 46
lachend selbst den Zweifel verwarf – den letzten heiligen Funken der sterbenden Seele. Vielleicht rief sie aus der Hölle alle Ausgeburten des Lasters herbei, vielleicht be griff sie die Süße der Hinterlist, die Wonne der Rache, den Vorteil der unverhohlenen, schamlosen Gemeinheit, viel leicht hatte der Jüngling, nachdem sein Herz im Gebet ent flammt war, alles Gute im Leben verflucht. Vielleicht hatte all sein Streben, dessen Bestimmung war, im Leben eine heilige Tat zu vollbringen, sich nun der Wissenschaft vom Laster zugewandt und seine Weisheit aus eben der Kraft geschöpft, aus der es einst die Wissenschaft vom Guten hätte schöpfen sollen; vielleicht war sein Streben, das be stimmt war, den Stolz der Erkenntnis mit der Demut des Glaubens zu versöhnen, nur darauf gerichtet, bittere, wür gende Reue mit dem Augenblick des Verbrechens zu ver schmelzen … Die Kutsche blieb stehen. Nur mühsam vermochte die bleiche, zitternde Schöne die Marmorstufen hinaufzuge hen, obzwar die ironischen Bemerkungen des Gatten ihre ermatteten Kräfte weckten. Nun ist sie im Saal, sie tanzt, doch das Blut steigt ihr in den Kopf; die hölzerne Hand, die sie in den Kreis der Tanzenden zieht, gemahnt sie an jene feurige Hand, die sich einst verkrampfte, kaum daß sie die ihre berührte, das sinnlose Getöse der Ballmusik ruft ihr jenes Flehen in Erinnerung, das sich der Brust des leiden schaftlichen Jünglings entrang. In der Menge huschen Gesichter vorüber, bei der fröhli chen Weise des Kontertanzes werden Tausende von Intri gen gesponnen und entsponnen, schmeichlerische Stern schnuppen kreisen um einen Eintagskometen, untertänig 47
verneigt sich ein Verräter vor seinem Opfer, hier hört man ein belangloses Wort über einen langjährigen wohldurchdachten Plan, dort gleitet ein verächtliches Lächeln über ein reizendes Gesicht und läßt einen flehenden Blick zu Eis erstarren, hier schleichen dunkle Sünden umher, und tri umphierende Niedertracht trägt stolz den Stempel des Verworfenseins zur Schau … Plötzlich ein Geräusch – die Schöne dreht sich um und sieht: Da flüstern einige miteinander, andere laufen rasch aus dem Raum und kommen zitternd zurück … Von allen Seiten ertönt der Schrei: »Das Wasser! Das Wasser!« Sie stürzen zu den Türen, doch es ist bereits zu spät. Die ge samte untere Etage ist überflutet. Am anderen Ende des Saales spielt noch die Musik, dort tanzt man noch, dort spricht man noch über die Zukunft, denkt noch an die ge stern begangene Gemeinheit und an die, die man morgen begehen müßte, dort sind noch Leute, die an gar nichts denken. Doch bald dringt die schreckliche Kunde auch in den letzten Winkel, die Musik bricht ab, alles gerät in Verwirrung. Warum erbleichen die Gesichter? Warum beißt dieser zungenfertige Redner auf einmal die Zähne zusammen? Warum beginnt der mürrische Held da so zu stammeln? Warum läuft diese hochmütige Dame diese bis zum Gürtel mit Schmuck behängte Blondine, davon? Wonach fragt dieser elegante Herr, den sonst selbst ein zufälliger Blick zu beleidigen schien? Also gibt es auf der Welt doch noch etwas außer Ihren täglichen Intrigen, Ränken und Spekula tionen, meine verehrten Herrschaften? Aber nein! Unnüt zes Geschwätz! Alles geht vorüber! Morgen ist auch wie 48
der ein Tag! Dann kann man das einmal Begonnene fort setzen, den Gegner stürzen, den Freund betrügen, sich ei nen neuen Posten ergaunern! Hören Sie nur: Da versichern einige Heißsporne, die viel weniger als alle anderen an Le ben oder Tod dachten, die Gefahr sei nicht so groß, gleich werde das Wasser fallen, sie lachen, scherzen und schlagen vor, weiter zu tanzen und Karten zu spielen, ja sie freuen sich über die Gelegenheit, bis zur kommenden Nacht zu sammenzubleiben, und versichern, in dieser Zeit werden Sie nicht das geringste Unbehagen verspüren. Und sehen Sie nur: In diesem Raum stehen Tafeln, edler Wein schäumt in Kristallgläsern, alle Gaben der Natur liegen für Sie auf goldenen Platten bereit; was macht es schon, daß um Sie herum das Gestöhn von Sterbenden ertönt, Sie sind ja kluge Leute und haben Ihr Herz daran gewöhnt, sich nicht von dergleichen kleinmütigen Regungen beunruhigen zu lassen. Doch Sie hören nicht zu, Sie zittern – kalter Schweiß steht auf Ihrer Stirn, Sie sind entsetzt. Und wahr haftig – das Wasser steigt und steigt, Sie öffnen das Fenster und rufen um Hilfe, doch nur das Pfeifen des Sturms ist die Antwort, und weißschäumende Wogen stürzen, wütenden Tigern gleich, zu den hell erleuchteten Fenstern herein. Ja, es ist in der Tat entsetzlich. Einen Augenblick noch, und die eleganten rauchfarbenen Kleider Ihrer Frauen werden bis auf den letzten Faden durchnäßt sein. Einen Augenblick noch, und das, was Sie so erfreulich aus der Masse heraus hob, wird Ihr Gewicht nur noch schwerer werden lassen und Sie auf den kalten Grund hinabziehen. Schrecklich! Schrecklich! Wo sind nur die allmächtigen Mittel der Wis senschaft, die die Kräfte der Natur verhöhnen? Verehrte 49
Herrschaften, unter Ihrem Atem ist die Wissenschaft er starrt. Wo sind die großmütigen Menschen, die bereit sind, Opfer zu bringen, um den Nächsten zu retten? Verehrte Herrschaften, Sie haben sie in den Boden gestampft, jetzt können sie sich nicht mehr erheben. Wo ist die Berge ver setzende Kraft der Liebe? Verehrte Herrschaften, Sie haben sie in Ihren Umarmungen erstickt. Was bleibt Ihnen noch? Der Tod, der Tod, ein schrecklicher, langsamer Tod! Aber fassen Sie Mut – was ist schon der Tod? Sie sind doch ver nünftige Menschen mit klarem Verstand. Gewiß – Sie ha ben die Sanftmut der Taube verachtet, dafür sind Sie so klug wie die Schlange geworden; kann denn etwas, woran Sie während all Ihrer ausgeklügelten schlauen Überlegun gen nie im Traum gedacht haben, so wichtig sein? Rufen Sie Ihren Scharfsinn zu Hilfe, erproben Sie am Tod Ihre gewohnten Mittel, versuchen Sie, ob man ihn nicht durch schmeichlerische Rede betrügen, ob man ihn bestechen oder am Ende gar verleumden, ob er nicht Ihren vieldeuti gen, unerbittlichen Blick begreifen könne. Alles vergebens! Schon wanken die Wände, ein Fenster ist eingebrochen, dann noch eins, das Wasser strömt herein, erfüllt den Saal, und da ist in dem Durchbruch etwas riesengroßes Schwar zes aufgetaucht … Bedeutet das vielleicht die Rettung? Nein, einen schwarzen Sarg hat es in den Saal getragen – ein Toter ist gekommen, die Lebenden zu besuchen und sie zu seinem Festmahl zu laden. Und schon sind die Kerzen zischend erloschen, Wogen peitschen übers Parkett, heben alles hoch und stürzen es um: Bilder, Spiegel, Vasen mit Blumen – alles vermischt sich, alles birst, alles wirbelt her um; bisweilen taucht aus den peitschenden Wogen ein er 50
schrockenes Gesicht auf, ein durchdringender Schrei er tönt, doch beides verschlingt der Strudel, nur der offene Sarg schwimmt oben, stößt bald an eine kostbare, heil ge bliebene Statue, bald prallt er wieder zurück in die Mitte des Saales … Vergebens fleht die Schöne um Hilfe und ruft ihren Gat ten – sie spürt, wie ihr Kleid am Körper klebt, wie schwer es geworden ist und sie in die Tiefe zieht … Plötzlich stür zen krachend die Wände ein, die Decke bricht auseinander, und die Wogen tragen den Sarg und alles, was im Saal ge wesen ist, hinaus ins unermeßliche Meer … Alles ver stummt, nur der Wind heult und treibt rauchfarbene Wölk chen am Mond vorüber, dessen Licht von Zeit zu Zeit wie ein blauer Blitz den grausamen Himmel und den unerbittli chen Abgrund erhellt. Der offene Sarg rast darüber hinweg, und hinter ihm her ziehen die Wellen die schöne Frau. Sie sind allein inmitten des tobenden Elements: sie und der To te, der Tote und sie; es gibt keine Hilfe, es gibt keine Ret tung! Ihre Glieder sind steif, sie hat die Zähne fest zusam mengebissen, ihre Kräfte sind erschöpft, fast besinnungslos greift sie nach dem Sargrand, der Sarg neigt sich, der Kopf des Toten berührt das Haupt der Schönen, kalte Tropfen fallen von seinem Antlitz auf das ihre, in seinen erstarrten Augen liegen Vorwurf und Hohn. Erschüttert läßt sie den Sarg wieder los, doch getrieben von unwillkürlicher Liebe zum Leben, faßt sie aufs neue danach – und wieder neigt sich der Sarg, und das Antlitz des Toten ragt über dem ih ren, wieder fallen kalte Tropfen herab; und ohne den Mund zu öffnen, sagt der Tote unter lautem Lachen: »Sei gegrüßt, Lisa, du kluge, vernünftige Lisa!«, und eine unüberwindli 51
che Kraft zieht die Schöne in die Tiefe. Sie spürt: Salzwas ser umspült ihre Zunge, dringt zischend in ihre Ohren, das Hirn platzt, die Augen sind geblendet; der Tote aber reckt sich über ihr, und sie vernimmt sein schallendes Gelächter: »Sei gegrüßt, Lisa, du kluge, vernünftige Lisa!« Als Lisa zur Besinnung kam, lag sie in ihrem Bett, Sonnen strahlen vergoldeten den grünen Vorhang; in wuchtigen Sesseln saßen ihr böse gähnender Mann und der Doktor, sie sprachen miteinander. »Belieben Sie zu sehen«, sagte der Doktor, »das ist doch ganz klar: Jede starke seelische Erregung, die von Zorn, Krankheit, Schreck oder trauriger Erinnerung herrührt, jede solche Erregung wirkt unmittelbar aufs Herz, das Herz wiederum wirkt auf die Hirnnerven, die, im Verein mit äu ßeren Kräften, deren Harmonie zerstören, dann gerät der Mensch in einen halb traumhaften Zustand und sieht eine eigene Welt, in der die eine Hälfte der Gegenstände der wirklichen Welt angehört, die andere Hälfte jedoch einer Welt im Innern des Menschen …« Ihr Gatte hörte längst nicht mehr zu. Indessen begegne ten sich auf der Freitreppe zwei Männer. »Nun, wie geht es der Fürstin?« fragte der eine. »Was soll schon sein? Launen einer Dame! Sie hat uns nur mit ihrer Ohnmacht den Ball verdorben! Ich bin sicher, es war nichts als Verstellung, sie wollte lediglich Aufsehen unter den Gästen erregen.« »Ach, schilt sie nicht!« wandte der erste ein. »Vermut lich kriegt die Ärmste ohnehin ihr Teil von ihrem Mann ab. Das hätte übrigens jeden verdrossen. Ich hab ihn noch nie 52
in so guter Laune gesehen wie gestern. Stell dir vor, in ei ner Viertelstunde hatte er fünftausend gewonnen, und wenn nicht …« Die beiden entfernten sich. Etwa ein Jahr nach dieser Ohnmacht auf dem Ball bei den B. sagte ein Herr in mittleren Jahren zu einer Dame: »Ach, wie freue ich mich, daß ich Sie hier treffe! Ich habe eine Bitte an Sie, Fürstin. Sind Sie morgen abend zu Hause?« »Weshalb interessiert Sie das?« »Ich wurde gebeten, Ihnen einen jungen Mann vorzustel len, der bemerkenswert sein soll …« »Um Gottes willen«, wehrte die Dame ab. »Verschonen Sie mich mit diesen bemerkenswerten jungen Leuten, mit ihren Träumen, Gefühlen und Gedanken! Wenn man mit ihnen spricht, muß man nachdenken, was man sagt, und Denken langweilt und beunruhigt mich. Das habe ich be reits allen meinen Bekannten klargemacht. Bringen Sie mir Menschen ohne Prätensionen, die unterhaltsam von allerlei Klatsch, von Bällen und Abendgesellschaften erzählen und von sonst nichts; über die werde ich mich sehr freuen, ih nen stehen meine Türen stets offen …« Ich halte es für meine Pflicht, zu bemerken, daß diese Dame die Fürstin war und der Herr, der mit ihr sprach, ihr Gatte.
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Die Squaw von Bram Stoker Der in Dublin geborene irische Erzähler Bram Stoker (1847-1912) wurde mit seinem mehr als zwanzigmal ver filmten und in viele Sprachen übersetzten Vampir-Roman »Dracula« (1897) weltberühmt. Stoker war zunächst Staatsangestellter, daneben Journalist und Theaterkritiker, später Sekretär und Manager des prominenten englischen Shakespeare-Darstellers Henry Irving, für den er zweiund zwanzig Jahre arbeitete. In dieser Zeit veröffentlichte er seine ersten Romane. Die meisten seiner Werke verraten Stokers Herkunft aus der Schauerromantik, es sind Erzäh lungen aus dem Übersinnlichen, ein Gruselkabinett effekt voll verflochtener Horrormotive, aber Stoker schrieb auch einige Kriminalromane. »Die Squaw« ist in dem posthum erschienen Band »Dracula’s Guest and Other Weird Ta les« (1914) enthalten. Nürnberg war damals weniger überlaufen als heutzutage. Irving hatte den Faust noch nicht gespielt, und der breiten Masse des reiselustigen Publikums war die alte Stadt kaum dem Namen nach bekannt. Da meine Frau und ich eben die zweite Woche unserer Hochzeitsreise begonnen hatten, legten wir natürlich Wert darauf, in Gesellschaft weiterzu reisen. Und als auf dem Frankfurter Bahnhof ein fröhlicher Unbekannter erschien – Mr. Elias P. Hutcheson aus Isthmi an City, Nebraska, wie sich später herausstellte –, der bei läufig bemerkte, er wolle das verrückteste alte Nest von 54
ganz Europa besichtigen, habe aber inzwischen die Über zeugung gewonnen, daß so lange Reisen ohne Begleitung geeignet seien, selbst intelligente und aktive Bürger in die Trübsinnigenabteilung eines Irrenhauses zu bringen, rea gierten wir auf diesen ziemlich deutlichen Wink und schlu gen ihm vor, er möge sich uns anschließen. Amelia und ich stellten später übereinstimmend fest, daß wir beide die Ab sicht gehabt hatten, zurückhaltend und sogar ein wenig zö gernd zu antworten, um nicht allzueifrig zu wirken, was kein Kompliment für unsere junge Ehe gewesen wäre. Je denfalls kam es schließlich doch zu dem gewünschten Er gebnis, und Elias P. Hutcheson schloß sich uns an. Amelia und ich zogen sogleich einen höchst angeneh men Vorteil aus dieser Tatsache; anstatt uns zu streiten, wie wir es bisher getan hatten, stellten wir nun fest, daß der nüchterne Einfluß eines Dritten nur bewirkte, daß wir jede Gelegenheit ausnützten, um unbeobachtet in Ecken und Winkeln zu schäkern. Amelia war von dieser Erfahrung so beeindruckt, daß sie seitdem jedem befreundeten jungen Ehepaar geraten hat, einen Bekannten mit auf die Hoch zeitsreise zu nehmen. Nun, wir ›machten‹ Nürnberg gemeinsam und hatten viel Freude an den komischen Bemerkungen unseres trans atlantischen Freundes, der geradewegs aus einem Roman hätte stammen können, wenn man seine merkwürdige Aus drucksweise und seine wunderbaren Abenteuergeschichten in Betracht zog. Als letzte Sehenswürdigkeit der Stadt ho ben wir uns die Burg auf, und am Morgen des Tages, den wir für diesen Zweck bestimmt hatten, spazierten wir nach Osten, die Stadtmauer entlang. 55
Die Burg erhebt sich auf einem Felsen hoch über der Stadt, und ein unglaublich tiefer Graben schützt ihre Nordflanke. Nürnberg hat das Glück gehabt, nie geplündert worden zu sein; wäre es je dazu gekommen, wäre die Stadt wohl kaum so vollendet wie heutzutage. Der Stadtgraben steht seit Jahrhunderten unbenutzt und enthält jetzt allerlei Gärten, deren Bäume teilweisebeträchtlich hoch sind. Wäh rend wir über die Stadtmauer gingen, ohne uns in der hei ßen Julisonne übermäßig zu beeilen, blieben wir oft stehen, um die Aussicht zu bewundern, die an eine Landschaft von Claude Lorraine erinnert. Hatten wir uns dort satt gesehen, betrachteten wir stets mit neuer Begeisterung die Stadt selbst mit ihren eigenartigen Giebeln, den großen Ziegel dächern und den unzähligen Dachfenstern und Erkern. Et was zu unserer Rechten erhoben sich die Türme der Burg, und noch näher ragte der grimmige Folterturm auf, der zu den interessantesten Sehenswürdigkeiten dieser Stadt zählte. Seit Jahrhunderten wird die Tradition der Eisernen Jung frau von Nürnberg als Beispiel dafür überliefert, zu wel chen Grausamkeiten der Mensch fähig ist; wir hatten uns lange vorgenommen, sie zu besichtigen, und hier war end lich ihr Zuhause. Als wir wieder einmal rasteten, lehnten wir uns über die Stadtmauer und sahen nach unten. Der Garten schien fünf zehn oder zwanzig Meter tiefer zu liegen; zu beiden Seiten erstreckte sich der graue Wall, bis ein Knick in Bastion und Kontereskarpe ihn unseren Blicken entzog. Büsche und Bäume wuchsen auf der Krone, und darüber erhoben sich die schönen alten Häuser der Stadt. Die Sonne schien heiß, und wir hatten es nicht eilig, sondern blieben noch stehen 56
und lehnten an der Brüstung. Genau unter uns bot sich ein lieblicher Anblick – eine große schwarze Katze lag in der Sonne ausgestreckt, während ein hübsches schwarzes Kätzchen um sie herumtollte. Die Mutter bewegte ihren Schwanz, damit das Kätzchen damit spielen konnte, oder sie erhob sich und schob es spielerisch beiseite, um es zu neuen Spaßen zu reizen. Die beiden spielten unmittelbar am Fuß der Mauer, und Elias P. Hutcheson glaubte ihr Spiel zu fördern, als er sich bückte und einen mittelgroßen Stein von der Mauer aufhob. »Sehen Sie!« sagte er dabei. »Ich lasse ihn in die Nähe des Kätzchens fallen, und beide werden sich wundern, wo her der Stein gekommen ist.« »Oh, seien Sie nur vorsichtig!« rief meine Frau aus. »Sie könnten das niedliche kleine Ding treffen!« »Nicht ich, Ma’am«, erwiderte Elias. »ich bin so zart wie eine Maine Kirsche. Gott segne Sie, ich würde das ar me kleine Tierchen ebensowenig treffen, wie ich ein Baby skalpieren würde. Und darauf können Sie Ihre verschie denartigen Socken verwetten! Sehen Sie selbst, ich lasse ihn weit draußen fallen, damit er sie nur ja nicht trifft!« Mit diesen Worten streckte er den Arm über die Brüstung und ließ den Stein in die Tiefe fallen. Vielleicht gibt es eine Anziehungskraft, die größere Dinge auf kleine ausüben, oder – was wahrscheinlicher klingt – der Wall war an dieser Stelle nicht ganz lotrecht, ohne daß wir es von oben bemerkt hatten; jedenfalls fiel der Stein mit einem schrecklichen Plumpsen, das die heiße Luft zu uns hinauftrug, auf den Kopf des Kätzchens und zerschmetterte ihn auf der Stelle, so daß das kleine Gehirn 57
hervorquoll. Die schwarze Katze warf einen raschen Blick nach oben, und wir sahen ihre feurigen grünen Augen eine Sekunde lang auf Elias P. Hutcheson gerichtet; dann wand te sie ihre ganze Aufmerksamkeit wieder dem Kätzchen zu, dessen winzige Gliedmaßen nur noch leise zitterten, wäh rend ein dünner roter Strahl sich aus der klaffenden Wunde ergoß. Mit einem erstickten Schrei, wie ihn vielleicht auch ein menschliches Wesen ausgestoßen hätte, beugte sie sich über das Kätzchen, leckte seine Wunden und klagte dabei leise. Dann schien sie plötzlich zu erkennen, daß ihr Junges tot war, und sie sah wieder zu uns auf. Ich werde diesen An blick nie vergessen, denn sie wirkte wie eine leibhaftige Verkörperung des Hasses. Ihre grünen Augen erglühten in einem schrecklichen Feuer, und ihre scharfen weißen Zäh ne blitzten zwischen den blutigen Lippen; sie knirschte mit den Zähnen, und ihre Krallen waren an jeder Pfote ausge streckt. Dann sprang sie den Wall hinauf, als hoffe sie uns zu erreichen, aber als der Schwung nachließ, fiel sie wieder zurück und sah nun noch entsetzlicher aus, denn sie fiel auf das Kätzchen und beschmierte so ihren schwarzen Pelz mit Gehirn und Blut. Amelia wurde schwach, und ich mußte sie von der Brüstung wegführen. In der Nähe stand eine Bank unter einer Platane, und ich ließ sie dort Platz neh men, bis sie sich wieder erholt hatte. Dann ging ich zu Hutcheson zurück, der unbeweglich an der Mauer stand und die wütende Katze unter sich betrachtete. Als ich ihn erreichte, sagte er: »Nun, ich schätze, das ist das wildeste Tier, das ich je gesehen habe – bis auf eine Apachensquaw, die es auf ein 58
Halbblut namens ›Splinters‹ abgesehen hatte, weil er ihren Sprößling auf seine Art behandelt hatte, nur um zu zeigen, daß er wußte, wie sie seine Mutter mit Feuer gemartert hat ten. Die Squaw trug ständig den gleichen wilden Ausdruck auf dem Gesicht. Sie verfolgte Splinters über drei Jahre lang, bis ihn die Krieger endlich erwischten und ihr auslie ferten. Es heißt, daß kein Mann, ob Weißer oder Rothaut, jemals so langsam unter den Martern der Apachen gestor ben ist. Ich habe sie nur einmal lächeln sehen – als ich sie umgelegt habe. Ich kam damals gerade noch rechtzeitig ins Lager, um Splinters Ende mitzuerleben, aber er war ganz einverstanden damit. Er war ein harter Bursche. Der Teufel soll mich holen, aber ich habe ein Stück Haut von einem seiner Häutepfähle mitgenommen und mir eine Brieftasche daraus machen lassen. Sie steckt jetzt hier!« Bei diesen Worten schlug er sich auf die Brusttasche seiner Jacke. Während er erzählte, setzte die Katze ihre verzweifelten Bemühungen fort, den Wall zu erklimmen. Sie nahm einen Anlauf und rannte auf die Mauer zu, wobei sie gelegentlich unglaubliche Höhen erreichte. Sie schien sich nichts aus dem schweren Fall zu machen, der unweigerlich folgte, sondern unternahm jeden Versuch mit neuer Energie; ihr Aussehen wurde nach jedem Sturz schrecklicher. Hutche son war ein gutherziger Mann – meine Frau und ich hatten Gelegenheit gehabt ihn im Umgang mit Menschen und Tie ren zu beobachten –, und er schien wegen des unglaubli chen Zorns besorgt zu sein, in den sich die Katze hineinge steigert hatte. »Das arme Tier scheint ganz verzweifelt«, meinte er kopfschüttelnd. »Halt! Halt! Du armes Ding, alles war nur 59
ein Unfall – aber das bringt dir natürlich dein Junges nicht zurück. Hör zu, das hätte ich absichtlich nicht einmal für tausend getan! Das beweist nur, wie tolpatschig ein Mann sein kann, wenn er zu spielen versucht! Anscheinend bin ich zu unbeholfen, um selbst mit einer Katze zu spielen. Hören Sie, Colonel …« – in seiner großzügigen Art ging er recht freigebig mit Titeln um – »Ihre Gattin ist mir doch hoffentlich wegen dieses unglücklichen Zwischenfalls nicht böse? Sie müssen mir glauben, daß er bestimmt nicht beabsichtigt war!« Er ging zu Amelia hinüber, um sich weitschweifig zu entschuldigen, und sie beeilte sich in der Güte ihres Her zens, ihm zu versichern, daß sie selbstverständlich alles für einen bedauerlichen Unfall halte. Dann kehrten wir alle an die Brüstung zurück und sahen nach unten. Als die Katze Hutcheson aus den Augen verloren hatte, war sie an die gegenüberliegende Grabenseite zurückgewi chen und hockte nun dort wie sprungbereit. Als sie ihn er blickte, sprang sie tatsächlich in so blinder Wut, daß man darüber hätte lachen können, wäre es nicht so erschreckend wirklich gewesen. Die Katze machte keinen Versuch, die Mauer zu erklettern, sondern sprang einfach auf Hutcheson los, als könnten Haß und Wut ihr Flügel verleihen, auf de nen sie die Entfernung zwischen ihnen zurücklegen konnte. Amelia zeigte sich als echte Frau besorgt und sagte mit warnender Stimme zu Elias: »Oh, Sie müssen sehr vorsichtig sein! Das arme Tier würde Sie zu töten versuchen, wenn es hier wäre; aus sei nen Augen spricht reine Mordlust.« Er lachte jovial. »Verzeihung, Ma’am«, sagte er dann, 60
»aber ich mußte einfach lachen. Stellen Sie sich nur vor, daß ein Mann, der mit Grizzlybären und Rothäuten ge kämpft hat, sich vorsehen soll, daß er nicht von einer Katze ermordet wird!« Als die Katze ihn lachen hörte, veränderte sich ihr Be nehmen auffällig. Sie ließ von der Mauer ab, setzte sich wieder neben ihr totes Junges und begann es abzulecken, als lebe es noch. »Seht ihr!« sagte ich. »Der Einfluß eines wirklich star ken Mannes. Selbst dieses Tier in seiner Wut erkennt die Stimme seines Herrn und gehorcht ihr!« »Wie eine Squaw!« lautete Elias P. Hutchesons einziger Kommentar, als wir auf der Stadtmauer weitergingen. Von Zeit zu Zeit blickten wir in den Graben hinab und sahen dabei immer wieder die Katze unter uns. Zunächst war sie noch zu dem toten Kätzchen zurückgekehrt, aber als die Entfernung größer wurde, packte sie es am Nackenfell und trug es so mit sich. Wieder einige Zeit später sahen wir sie allein; sie hatte den Kadaver offenbar irgendwo versteckt. Diese hartnäckige Verfolgung machte Amelia Sorgen, und sie wiederholte ihre Warnung mehr als einmal; aber der Amerikaner lachte stets belustigt und sagte schließlich, als er sah, daß sie sich wirklich Sorgen machte: »Hören Sie, Ma’am, Sie dürfen sich von einer Katze nicht ängstigen lassen. Ich bin nicht wehrlos, das können Sie mir glauben!« Dabei schlug er auf die Pistolentasche seiner Hose. »Bevor ich zulasse, daß Sie sich ängstigen, erschieße ich das Tier auf der Stelle und lasse es darauf ankommen, daß die Polizei einem amerikanischen Bürger Schwierigkeiten zu machen versucht, weil er entgegen den 61
Bestimmungen Waffen trägt.« Bei diesen Worten sah er über die Brüstung, aber die Katze zog sich fauchend in ein Blumenbeet zurück, wo sie unseren Blicken verborgen war. Hutcheson fuhr fort: »Sehen Sie, das Tier weiß tat sächlich besser als mancher Christ, wie man bei guter Ge sundheit bleibt. Ich vermute, daß wir die Katze nicht wie der zu Gesicht bekommen! Sie können darauf wetten, daß sie jetzt zu ihrem toten Jungen zurückläuft und es in aller Ruhe privat bestattet!« Amelia wollte nichts mehr sagen, damit er nicht aus falsch verstandener Freundlichkeit seine Drohung wahr machte und die Katze erschoß; wir gingen schweigend wei ter und überquerten die kleine Holzbrücke, die zu dem Durchgang führte, von dem aus der steile Weg zwischen Burg und dem fünfeckigen Folterturm begann. Als wir die Brücke erreichten, sahen wir wieder die Katze unter uns, die mit erneuter Wut die steile Mauer zu erklettern suchte. Hutcheson sah lachend auf sie herab und rief ihr zu: »Leb wohl, altes Mädchen! Tut mir leid, daß ich deine Gefühle verletzt habe, aber das gibt sich im Lauf der Zeit! Adieu!« Und dann ließen wir den langen düsteren Torbo gen hinter uns und erreichten die Burg. Als wir nach unserer Besichtigung dieses schönen alten Gebäudes, das nicht einmal unter den wohlgemeinten An strengungen moderner Restauratoren gelitten hat – obwohl die vor vierzig Jahren restaurierten Stellen noch strahlend weiß waren –, schienen wir den unangenehmen Zwischen fall dieses Morgens fast vergessen zu haben. Die alte Lin de, deren knorrigen Stamm neun Jahrhunderte geformt ha ben, der tiefe Ziehbrunnen, den Gefangene aus dem Fels 62
gehauen haben, und die herrliche Aussicht von der Mauer, wo wir fast eine Viertelstunde lang die Glocken der Stadt hörten – dies alles hatte dazu beigetragen, uns den unglück lichen Vorfall vergessen zu lassen. Wir waren an diesem Morgen die einzigen Besucher des Foltertums – das behauptete jedenfalls der alte Kustos –, und da wir alles zu unserer Verfügung hatten, konnten wir die Einrichtung nach Herzenslust betrachten. Der Kustos sah in uns die einzige Einnahmequelle dieses Tages und war deshalb bereit, alle unsere Wünsche zu erfüllen. Der Folterturm ist in der Tat ein unheimlicher Ort, obwohl ihn inzwischen Tausende von Besuchern mit neuem Leben er füllt haben; der Staub der Jahrhunderte hat sich hier überall gesetzt, und die Dunkelheit und die schrecklichen Erinne rungen scheinen auf eine Weise Besucher anzusprechen, die selbst die pantheistische Seele eines Philo oder Spinoza befriedigt hätte. Die untere Kammer, durch die wir den Turm betraten, war unvorstellbar finster; selbst der Sonnenschein, der durch die offene Tür hereinfiel, schien von den dicken Mauern aufgesogen zu werden und zeigte uns nur unver putztes Mauerwerk, das mit einer dicken Staubschicht, aber auch hier und da mit großen dunklen Flecken bedeckt war, die von Schmerz und Leid hätten berichten können. Wir stiegen gern die staubbedeckte Treppe hinauf, und der Ku stos ließ dabei die äußere Tür offen, weil die eine Kerze in einem Halter an der Wand für unsere Augen nur ungenü gendes Licht gab. Als wir durch die Falltür in einer Ecke der oberen Kammer hinaufstiegen, drückte Amelia sich so dicht an mich, daß ich deutlich ihr Herz klopfen spürte. Ich 63
muß allerdings zugeben, daß mich ihre Angst nicht über raschte, denn dieser Raum war noch unheimlicher als der untere. Hier gab es mehr Licht, das aber nur dazu diente, die schreckliche Umgebung klarer hervortreten zu lassen. Die Erbauer des Turms hatten offenbar beabsichtigt, daß nur jene, die bis zum obersten Stockwerk vordrangen, die Freuden des Lichts und des Ausblicks genießen sollten. Wir hatten von außen gesehen, daß sich dort Fensterreihen befanden – wenn auch von mittelalterlicher Kleinheit –, aber unterhalb wiesen die Mauern nur wenige enge Schlit ze auf, wie es bei Festungen oft der Fall ist. Einige dieser Schießscharten, die nur über Leitern erreichbar waren, be leuchteten den Raum, ohne daß der Himmel von irgendei nem Punkt aus sichtbar gewesen wäre. Auf Gestellen und an den Wänden lagen und standen unordentlich aufgereiht eine größere Anzahl von Richt schwertern, große Zweihänder mit breiten Klingen und scharfen Schneiden. Daneben standen einige Richtblöcke, auf die zum Tode Verurteilten ihr Haupt gelegt hatten; hier und dort zeigten sich auf ihrer Oberfläche tiefe Kerben, wo der Richtstahl bis ins Holz gefahren war. Überall in der Kammer waren die verschiedensten Folterwerkzeuge auf gehäuft, bei deren Anblick sich einem das Herz im Leibe umdrehte: Stühle voller Eisenspitzen, die sofort heftige Schmerzen bereiteten; Stühle und Liegen mit abgerundeten Knöpfen, deren Pein geringer zu sein schien, obwohl sie im Lauf der Zeit ebenso entsetzlich wirksam waren, Leibgürtel, Stiefel, Handschuhe und Halskragen, die sich alle beliebig zusammendrücken und verkleinern ließen; Stahlkörbe, in 64
denen der Kopf des Opfers langsam zu Brei gequetscht werden konnte, falls sich dies als notwendig erwies: Wäch terhaken mit langem Griff und scharfer Klinge, die nur schnitt, wenn Widerstand geleistet würde – übrigens eine Spezialität des Nürnberger Polizeisystems; und viele, viele andere Gerätschaften, mit denen Menschen Menschen fol terten. Amelia wurde bei diesem Anblick recht schwach, fiel aber zum Glück nicht in Ohnmacht, sondern setzte sich nur versehentlich auf einen Folterstuhl, von dem sie sofort wieder aufsprang, während sie einen Schreckensschrei aus stieß. Wir gaben beide vor, sie sei nur erschrocken, weil sie fürchtete, ihr Kleid sei staubig geworden oder gar an den Stacheln hängengeblieben, und Mr. Hutcheson pflichtete uns freundlich lächelnd bei. Aber das wichtigste Objekt in dieser Schreckenskammer war die sogenannte Eiserne Jungfrau, die fast im Mittel punkt des Raumes stand. Dabei handelte es sich um eine Maschine mit den ungefähren Umrissen einer weiblichen Gestalt; sie wäre allerdings kaum zu erkennen gewesen, hätte der Gießer sich nicht die Mühe gemacht, ihr ein an genähert weibliches Gesicht zu geben. Die Maschine war über und über mit Rost und einer dicken Staubschicht be deckt; wo sich die Taille hätte befinden sollen, war ein Ring an der Vorderfront der Figur angebracht, und von die sem Ring aus führte ein Seil zu dem an der Decke hängen den Flaschenzug. Der Kustos zog an dem Seil und zeigte uns, daß das Vorderteil der Eisernen Jungfrau wie eine Tür in Angeln hing; dabei erkannten wir, daß in ihrem Inneren kaum Platz für einen erwachsenen Mann zu sein schien, da die Wände so dick waren. Auch die Tür war dick und 65
schwer, so daß der Kustos alle Kraft aufwenden mußte, um sie zu öffnen, obwohl der Flaschenzug ihm die Arbeit er leichterte. Dazu kam noch, daß die Tür offenbar absichtlich so aufgehängt war, daß sie durch ihr Gewicht nach unten sank und sich schloß, sobald der Zug am Seil nachließ. Die Innenseite war mit Rost bedeckt – nein, es war mehr als das, denn bloßer Rost hätte sich nicht so tief in die Eisenwände eingefressen! Erst als das Innere der Tür sichtbar wurde, erkannten wir den ganzen teuflischen Zweck dieser Maschine. Hier waren mehrere lange Eisendorne – massiv, mit quadratischem Querschnitt, unten breit, aber spitz zulaufend – so ange bracht, daß die oberen die Augen des Opfers, die unteren jedoch Herz und Eingeweide durchbohren mußten, sobald sich die Tür schloß. Dieser Anblick war zuviel für die arme Amelia; sie wurde ohnmächtig, und ich mußte sie ins Freie tragen und dort auf eine Bank setzen, bis sie sich wieder erholt hatte. Daß der Anblick sie ins Mark getroffen hatte, zeigte sich später an der Tatsache, daß mein ältester Sohn noch heute ein entstellendes Muttermal auf der Brust trägt, das nach Überzeugung der Familie die Eiserne Jungfrau von Nürnberg darstellt. Als wir in die Kammer zurückkehrten, stand Hutcheson noch immer vor der Eisernen Jungfrau; er hatte offenbar darüber nachgedacht und teilte uns nun das Ergebnis seiner Überlegungen in einer Art Monolog mit: »Nun, ich schätze, daß ich etwas dazugelernt habe, wäh rend Madame ihre Ohnmacht überstanden hat. Anschei nend sind wir auf unserer Seite des großen Wassers hinter der Zeit zurück. Draußen in der Prärie waren wir der Mei 66
nung, die Rothäute seien uns überlegen, sobald es darum ging, einem Menschen das Leben ungemütlich zu machen; aber ich glaube, daß die Leutchen, die im Mittelster für recht und Gesetz zu sorgen hatten, doch eine Nummer bes ser waren. Die Spitzen der Dorne sind noch immer scharf genug, obwohl die Kanten durch das zerfressen sind, was früher an ihnen geklebt haben muß. Vielleicht wäre es gar keine schlechte Idee, ein paar Spielsachen dieser Art nach Hause zu schicken und in die Reservate mitzunehmen, um den Rothäuten und ihren Squaws am praktischen Beispiel vorzuführen, wie sehr ihnen die Zivilisation der Alten Welt doch überlegen ist. Am besten stelle ich mich selbst eine Minute oder länger in den Kasten, damit ich sehe, wie ei nem darin zumute ist!« »O nein, nein!« bat Amelia. »Das ist zu schrecklich!« »Für einen forschenden Verstand ist nichts zu schreck lich, nehme ich an, Ma’am. Ich habe schon eine Nacht in einem toten Pferd verbracht, während das Präriefeuer in Montana über mich hinwegfegte – und ein andermal habe ich in einem toten Büffel geschlafen, als die Komanchen auf dem Kriegspfad waren, und ich keine Lust hatte, meine Karte bei ihnen abzugeben. Ich habe zwei Tage in einem eingebrochenen Stollen im Billy-Broncho-Goldbergwerk in New Mexico zugebracht, und ich bin einer von vier Män nern gewesen, die drei Tage lang eingeschlossen waren, als der Caisson beim Bau der Fundamente der Buffalo-Brücke zur Seite rutschte. Ich habe noch nie eine Gelegenheit zu seltsamen Erlebnissen ausgelassen und will nicht jetzt da mit anfangen!« Wir sahen, daß er nicht von dem Versuch abzubringen 67
war, deshalb sagte ich: »Schön, beeilen Sie sich, alter Kna be, damit Sie es hinter sich bringen! « »Einverstanden, General«, erwiderte er gelassen, »aber ich schätze, daß wir noch einige Vorbereitungen zu treffen haben. Meine Herren Vorgänger, die dort in dem Blechka sten stehen mußten, haben sich nicht freiwillig dazu ge meldet – das dürfen Sie mir glauben! Und ich vermute, daß sie fein säuberlich verschnürt worden sind, bevor es zum großen Knall kam. Ich möchte alles originalgetreu sehen, deshalb muß ich mich erst richtig herrichten lassen. Glauben Sie nicht auch, daß der alte Knabe hier irgend wo einen alten Strick auftreibt, mit dem er mich laut Mu ster verschnüren kann?« Mit diesen Worten wandte Hutcheson sich auch an den alten Kustos, der ungefähr verstand, was der Fremde gesagt hatte – allerdings vermutlich nur in groben Zügen, ohne den amerikanischen Akzent und die phantasievollen Bilder würdigen zu können –, und jetzt den Kopf schüttelte. Seine Ablehnung wirkte wenig überzeugend und war offensicht lich leicht zu umgehen. Der Amerikaner drückte ihm ein Goldstück in die Hand und sagte: »Nehmen Sie das, Part ner! Das ist mein Einsatz, und Sie brauchen keine Angst zu haben. Sie sollen schließlich nicht bei einer Hochzeit mit Seilers Tochter mithelfen!« Der Kustos brachte von irgendwoher ein dünnes Seil zum Vorschein und begann Hutcheson damit zu fesseln. Als Arme und Oberkörper unbeweglich waren, sagte der Amerikaner: »Augenblick, Richter! Ich schätze, daß ich zu schwer bin, als daß sie mich in den Kasten schleppen könnten. 68
Lassen Sie mich noch hinübergehen, dann dürfen Sie auch die Beine festbinden!« Während er sprach, trat er rückwärts in die Öffnung, die eben groß genug für einen Mann seiner Größe war. Amelia beobachtete ihn furchtsam, schien aber nichts dazu sagen zu wollen. Dann beendete der Kustos seine Arbeit, so daß Hutche son nun absolut hilflos und bewegungsunfähig an seinem Platz verharren mußte. Er schien damit jedoch sehr zufrie den zu sein, und das versteckte Lächeln, das stets auf sei nem Gesicht lag, zeigte sich nun, als er sagte: »Diese Eva hier ist aus der Rippe eines Zwerges ge macht, schätze ich! Ein ausgewachsener Bürger der Verei nigten Staaten hat wahrhaftig nicht viel Platz darin. Damals in Idaho haben wir sogar unsere Särge größer gemacht. Schön, Richter, jetzt lassen Sie die Tür ganz langsam her unter. Ich möchte wissen, wie man sich fühlt, wenn die Dorne allmählich auf die Augen zukommen!« »O nein, nein, nein!« rief Amelia fast hysterisch aus. »Das ist zu schrecklich! Diesen Anblick kann ich nicht er tragen! … Ich kann nicht! Ich kann nicht!« Aber der Ame rikaner blieb unbeirrt. »Hören Sie, Colonel«, meinte er, »warum machen Sie nicht einen kleinen Sparziergang mit Madame? Ich möchte ihre Gefühle um keinen Preis der Welt verletzen, aber da ich schon einmal hier bin und acht tausend Meilen zurückgelegt habe, wäre es doch fast zuviel verlangt, auf das Erlebnis zu verzichten, nach dem ich mich so gesehnt habe, nicht wahr? Immerhin hat man nicht oft die Gelegenheit, sich als Eingemachtes zu fühlen! Ich und der Richter hier sind gleich fertig, und dann kommen 69
Sie zurück, und wir lachen alle zusammen!« Auch diesmal triumphierte die Entschlossenheit, die auf Neugier beruht, und Amelia blieb zitternd neben mir stehen und umklammerte meinen Arm, während der Kustos das Seil Zoll für Zoll ablaufen ließ. Hutcheson strahlte förm lich, als er die Bewegung der Dorne mit den Augen ver folgte. »Na!« sagte er. »Seitdem ich New York verlassen habe – und das ist schon einige Zeit her –, habe ich mich nicht mehr so amüsiert. Von der Prügelei mit dem französischen Matrosen abgesehen, die auch kein Kinderspiel war, habe ich nicht viel Vergnügen auf diesem zahmen Kontinent gehabt, wo es weder Bars noch Indianer gibt und wo kaum ein Mann bewaffnet ist. Langsam mit dem Seil, Richter! Wir haben es nicht eilig! Ich möchte etwas für mein Geld sehen!« Der Kustos mußte etwas von dem Blut seiner Vorgän ger, die in diesem Turm ihre schreckliche Arbeit verrichtet hatten, in den Adern haben, denn er bewegte die Tür mit absichtlich quälender Bedachtsamkeit, die Amelia nach fünf Minuten – die Tür hatte sich kaum zweieinhalb Zoll bewegt – nicht mehr ertrug. Ich sah, daß sie blaß wurde, und spürte, daß sie meinen Arm weniger fest umklammer te. Ich hielt nach einem Platz Ausschau, wohin ich sie not falls legen konnte, und als ich mich wieder nach ihr um drehte, stellte ich fest, daß sie einen Punkt links hinter der Eisernen Jungfrau anstarrte. Ich folgte ihrem Blick und ent deckte dort die schwarze Katze. Ihre grünen Augen leuch teten im Halbdunkel der Kammer wie Warnlaternen, und ihre Farbe wurde noch durch das Blut vertieft, mit dem 70
Schnauze und Pelz beschmiert waren. Ich rief laut: »Die Katze! Vorsicht, die Katze!«, denn in diesem Au genblick sprang sie mit einem Satz vor die Maschine. Jetzt sah sie einem triumphierenden Dämon gleich. Ihre Augen blitzten zornig, der Pelz sträubte sich, bis ihre Größe sich verdoppelt zu haben schien, und ihr Schwanz zuckte unge duldig wie der eines Tigers, der seine Beute vor sich sieht. Als Elias P. Hutcheson sie erblickte, lächelte er belustigt, und seine Augen funkelten schalkhaft, während er zu mir sagte: »Der Teufel soll mich holen, wenn die Squaw nicht vol le Kriegsbemalung trägt! Seien Sie so freundlich, sie zu verjagen, falls sie es auf mich abgesehen hat, denn der Boß hat mich so wunderbar gefesselt, daß ich keinen Finger rühren kann! Langsam, Richter! Lassen Sie das Seil nicht los, sonst bin ich geliefert!« In diesem Augenblick wurde Amelia vollends ohnmäch tig, und ich mußte ihr einen Arm um die Taille legen, da sie sonst zu Boden gesunken wäre. Als ich noch so mit ihr beschäftigt war, sah ich, wie sich die schwarze Katze zum Sprung duckte, und sprang rasch auf, um das Tier hinaus zutreiben. Aber sie flog bereits mit einem heiseren Fauchen in der Kehle förmlich durch die Luft – nicht auf Hutcheson zu, wie wir alle erwartet hatten, sondern geradewegs ins Ge sicht des alten Kustos. Ihre Krallen rissen und fetzten so wütend, wie man es gelegentlich auf chinesischen Darstel lungen zorniger Drachen sieht, und während ich sie noch wie erstarrt beobachtete, erfaßte eine von ihnen das Auge des armen Mannes, riß es und die halbe Wange dazu auf 71
und hinterließ dort eine breite rote Spur, wo das Blut aus jeder Ader zu quellen schien. Mit einem entsetzten Aufschrei, der rascher als selbst die Schmerzen kam, sprang der Mann zurück und ließ das Seil aus der Hand gleiten, das die Eisentür zurückhielt. Ich warf mich darauf, kam jedoch zu spät, denn das Seil schlängelte sich unheimlich schnell durch die Rollen des Flaschenzugs, und die schwere Masse des eisernen Vorderteils sank durch ihr eigenes Gewicht herab. Als die Tür sich schloß, konnte ich einen letzten Blick auf das Gesicht unseres unglücklichen Begleiters werfen. Er schien vor Schreck erstarrt zu sein. Seine Augen starrten voller Entsetzen unbeweglich geradeaus, als sei er betäubt, und von seinen Lippen kam kein Laut. Und dann taten die Dornen ihr Werk. Das Ende kam barmherzigerweise rasch, denn als ich die Tür aufriß, wa ren sie so tief eingedrungen, daß sie in den Knochen des Schädels festsaßen, den sie zerschmettert hatten. Wir zogen ihn aus seinem eisernen Gefängnis, bis er der Länge nach mit einem schrecklichen Geräusch gefesselt zu Boden krachte, wobei er das Gesicht nach oben drehte. Ich eilte zu meiner Frau, nahm sie in die Arme und trug sie hinaus, denn ich fürchtete um ihren Verstand, wenn sie aus ihrer Ohnmacht erwachte und diesen Anblick vor sich hatte. Ich legte sie draußen auf die Bank und rannte zurück. Der Kustos lehnte an der Wand und stöhnte vor Schmer zen, während er sich ein rotbeflecktes Taschentuch an die Augen drückte. Und auf dem Kopf des Amerikaners, des unglücklichen Elias P. Hutcheson, hockte die schwarze Katze und 72
schnurrte laut, während sie das Blut aufleckte, das aus sei nen durchstoßenen Augenhöhlen tropfte. Niemand wird mich grausam nennen, weil ich ohne Überlegung eines der alten Richtschwerter ergriff und sie auf der Stelle zweiteilte.
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Das Geheimnis des Schafotts von Villiers de l’Isle-Adam »Ich habe den Ehrgeiz, für den alten Namen meines glor reichen Geschlechts den einzigen wahren Ruhm zu errin gen, den unsere Zeit zu geben vermag: den eines großen Schriftstellers.« Jean-Marie Mathias Philippe-Auguste Comte de Villiers de l’Isle-Adam (1838-1889) hat in der Tat erreicht, was er sich noch als Unbekannter vorgenom men hatte: einer der bedeutendsten französischen Schrift steller des 19. Jahrhunderts zu werden. Stets auf der Suche nach einer die Wirklichkeit als Trugbild entlarvenden Spi ritualität, beschäftigte sich Villiers Zeitlebens mit Okkul tismus, Theosophie und Freimaurerei. Wie E. T. A. Hoff mann und E. A. Poe war er ein literarischer Pionier im Neuland des Unbewußten, zugleich ein Verfluchter, ein »Poet maudit« der Schwarzen Romantik, auch darin Poe verwandt, Seine »grausamen Geschichten« erschienen 1904 erstmals in deutscher Sprache. Die kürzlich stattgefundenen Hinrichtungen erinnern mich an eine ganz ungewöhnliche Geschichte, die ich hier mit teile. Es war am Abend des 5. Juni 1864, gegen sieben Uhr, als der Dr. Edmond-Desire Couty de la Pommerais, den man vor kurzem erst von der Conciergerie nach la Roquet te gebracht hatte, mit der Zwangsjacke bekleidet in der für die zum Tode Verurteilten bestimmten Zelle saß. Schwei gend und starren Auges vor sich hinstierend lehnte er sich 74
an die Rücklehne seines Stuhles. Der Schein einer auf dem Tische stehenden Kerze fiel auf sein bleiches, kalt dreinse hendes Gesicht. Zwei Schritte vor ihm stand, an die Mauer gelehnt, ein Wärter, der ihn unausgesetzt beobachtete. Fast alle Gefangenen werden dazu gezwungen, eine be stimmte Tagesarbeit zu verrichten, von deren kargem Lohn die Gefängnisverwaltung zuerst die Kosten für das Lei chentuch bestreitet, das sie nicht zu liefern braucht. Nur die zum Tode Verurteilten sind laut Verordnung von dieser Verpflichtung entbunden. Der Gefangene war einer von denen, die sich nicht in die Karten sehen lassen, man las in seinem Blicke weder Furcht noch Hoffen. Er war 34 Jahre alt, brünett, von mittlerer Größe und auffallend schlank gewachsen, das Haar an seinen Schläfen fing in letzter Zeit leicht zu ergrauen an. Seine Augen hat ten einen nervösen Ausdruck und waren halb von den Li dern bedeckt, seine Stirn war die eines Denkers. Seine Stimme hatte einen trockenen gedämpften Klang. Seine Hände waren lang und nervös. Sein Gesicht trug den ge messenen Ausdruck eines selbstbewußten Mannes. Seine Manieren waren von einer gewissen einstudierten Eleganz; – so war die äußere Erscheinung des Verurteilten. Man erinnert sich gewiß, daß bei den letzten, an der Seine stattgefundenen Schwurgerichtsverhandlungen des Herrn Lachaud diesmal nicht gelungen war, den dreifachen Ein druck zu zerstören, den die Anklage, die Debatten und end lich der Strafantrag des Staatsanwaltes, Herrn Oskar de Vallees auf die Geschworenen gemacht hatten. Herr de la Pommerais war angeklagt worden, aus habsüchtigen Grün 75
den und mit voller Überlegung eine ihm befreundete Dame – Frau de Pauw – durch überstarke Digitalisdosen vergiftet zu haben, und da die Geschworenen ihn schuldig befanden, war er nach dem Code Napoleon zur Strafe der Enthaup tung verurteilt worden. An dem Abend jenes 5. Juni 1864 wußte er noch nicht, daß sein Revisionsgesuch, sowie die Bitte seiner Verwand ten um eine Audienz bei dem Kaiser, bei der sie dessen Gnade anrufen wollten, abschlägig beschieden war. Sein Verteidiger war glücklicher gewesen, und hatte Zutritt bei Seiner Majestät erlangt, aber der Kaiser hatte ihn nur zer streut angehört. Selbst der ehrwürdige Abbe Crozes, der vor jeder Hinrichtung in die Tuilerien eilte, um Gnade für den Verurteilten zu erflehen, war ohne Antwort zurückge kehrt. Hieß es aber auch wirklich nicht die Todesstrafe ab schaffen, wenn man sie unter solchen Umständen nicht zur Anwendung brachte? Es mußte ein Exempel statuiert wer den. Da nach der Ansicht des Gerichtshofes von einer Wiederaufnahme des Prozesses keine Rede sein konnte und man die Bestätigung des Urteils jeden Augenblick er wartete, wurde Herr Hendreich davon benachrichtigt, daß man den Verurteilten am neunten des Monats, morgens um fünf Uhr seinen Händen übergeben würde. Plötzlich ertönte das Geräusch der von den Schildwa chen aufgesetzten Gewehrkolben von den Steinquadern des zu der Zelle führenden Ganges. Der Schlüssel knirschte in dem rostigen Schlosse; die Türe öffnete sich; Bajonette schimmerten in dem Halbdunkel; der Direktor der Roquet te, Herr Beauquesne erschien von einem Besucher beglei tet, auf der Schwelle. 76
Herr de la Pommerais erhob den Kopf und erkannte bei dem ersten Blicke in diesem Gaste den berühmten Chirur gen Armand Velpeau. Auf einen Wink des Direktors ging der Wächter hinaus. Nach einer stummen Vorstellung zog auch Herr Beauques ne sich zurück, die beiden Kollegen befanden sich allein und blickten einander forschend ins Auge. Schweigend bot La Pommerais dem Arzte seinen eige nen Stuhl an und setzte sich selbst auf die Pritsche, von der die Schläfer meist jäh aus dem Schlafe auffahren. Da es ziemlich dunkel war, trat der große Arzt dicht zu dem … Kranken heran um ihn besser beobachten und mit leiser Stimme mit ihm plaudern zu können. Velpeau hatte um jene Zeit das sechzigste Jahr erreicht. Er stand auf der Höhe seines Ruhmes, war Erbe des Sessels Larreys im Institut und der erste und bedeutendste Profes sor der chirurgischen Klinik von Paris. Seine Arbeiten zeichneten sich durch ihre überzeugende Klarheit und ihre lebendige Darstellung aus und hatten ihn zu einer Leuchte der pathologischen Wissenschaft gemacht, auch als Prakti ker galt er für eine der hervorragendsten Autoritäten des Jahrhunderts. Nach einem Momente frostigen Schweigens begann er: »Mein Herr,« sagte er, »unter uns Ärzten muß man über flüssiges Beileid vermeiden. Außerdem bin ich an einem unheilbaren Drüsenleiden erkrankt, das unfehlbar in zwei, höchstens zweiundeinhalb Jahren meinen Tod herbeiführen muß. Wenn also die verhängnisvolle Stunde für mich auch etwas später erscheint, wie für Sie, so rechne ich mich nichtsdestoweniger zu den zum Tode Verurteilten. Ich 77
möchte daher ohne weitere Umschweife von dem reden, was mich hierherführt.« »Nach diesen Worten zu schließen, ist meine Lage – verzweifelt, Doktor?« unterbrach ihn La Pommerais. »Man fürchtet es,« antwortete Velpeau einfach. »Ist meine letzte Stunde bestimmt?« »Ich weiß es nicht; aber da noch nichts über Ihr Schick sal bekannt geworden, können Sie mit Sicherheit noch auf einige Tage rechnen.« La Pommerais wischte mit dem Ärmel der Zwangsjacke den kalten Schweiß von seiner kahlen Stirn. »Wohlan denn. Ich bin bereit, ich war es schon; je eher, desto besser.« »Da bis jetzt wenigstens noch nichts über Ihr Schicksal bekannt geworden ist, ist der Vorschlag, den zu machen ich hierher gekommen bin, selbstredend nur ein bedingungswei ser. Wenn Sie begnadigt werden sollten, um so besser! … Wenn nicht …« Der große Chirurg hielt inne. »Wenn nicht? …« fragte La Pommerais. Ohne zu antworten, griff Velpeau in die Tasche, zog ein kleines chirurgisches Besteck heraus, öffnete es und nahm eine Lanzette daraus, mit der er den Ärmel von La Pommerais Jacke am linken Handgelenk leicht ritzte und dann den Puls des jungen Verurteilten fühlte. »Herr de la Pommerais,« fragte er dann. »Ihr Puls verrät mir, daß Sie eine seltene Kaltblütigkeit und Festigkeit be sitzen. Die Mitteilung, die ich Ihnen zu machen habe und die unter allen Umständen geheim bleiben muß, betrifft eine Bitte, die selbst einem Arzte von Ihrer Energie und der 78
so tief in die Geheimnisse der Wissenschaft eingedrungen ist, der sich längst von jeder Todesfurcht frei gemacht hat, dennoch wie eine Extravaganz, vielleicht sogar wie ein verbrecherischer Hohn erscheinen könnte. Aber ich denke, wir kennen einander. Sie werden daher meine Worte in reifliche Erwägung ziehen, selbst, wenn Sie sich zuerst da von sehr peinlich berührt fühlen sollten.« »Ich sage Ihnen meine volle Aufmerksamkeit zu, mein Herr,« antwortete La Pommerais. »Sie wissen,« begann Velpeau wieder, »daß es eine der interessantesten Aufgaben der modernen Physiologie ist, festzustellen, ob nachdem der Kopf von dem Körper ge trennt ist, noch eine Spur von Gedächtnis, von Empfinden oder Gefühl in dem Hirne eines Menschen existiert.« Bei dieser unerwarteten Einleitung zitterte der Verurteil te, dann sich fassend, fragte er vollkommen ruhig: »Als Sie zu mir hereinkamen, Doktor, beschäftigte ich mich gerade mit diesem Problem, das, wie Sie zugeben werden, für mich ein doppelt interessantes ist.« »Sind Sie bekannt mit den über diese Frage geschriebe nen Arbeiten von Seumering, Sue, de Sedillot und de Bi chat, bis zu den Modernen?« »Ja, gewiß. Ich habe sogar der Sezierung der Überreste eines Hingerichteten beigewohnt.« »Ach! Gehen wir darüber fort. Haben Sie von dem chir urgischen Standpunkte aus eine ganz genaue Vorstellung von der Guillotine und ihren Wirkungen?« La Pommerais warf einen langen, forschenden Blick auf Velpeau und antwortete dann kalt: »Nein, mein Herr.« 79
»Ich habe heute noch diese Maschine auf das gewissen hafteste und genaueste untersucht,« fuhr unentwegt Vel peau fort, »und ich muß zugeben, daß sie ein vollkomme nes Instrument ist. Das herabfallende Beil-Messer wirkt gleichzeitig als Si chel und als Hammer und zerschneidet den Hals des Delin quenten in einer Drittelsekunde. Der Enthauptete kann un ter dem blitzartig niedersausenden gewaltigen Schlage ebensowenig einen Schmerz empfinden, wie der Soldat im Felde, dessen Arm plötzlich von einer Kugel weggerissen wird. Der Mangel an Zeit macht jedes Empfinden null und nichtig.« »Es gibt aber vielleicht einen Nachschmerz. Es bleiben zwei dem gesunden Fleische jäh beigebrachte große Wun den. Ist es nicht Julia Fortenelle, die, indem sie ihre Gründe dafür angibt, fragt, ob nicht gerade diese Schnelligkeit schmerzlichere Folgen hat, als die Hinrichtung durch das Schwert oder das Beil?« »Auch Berard spricht eine solche Vermutung aus,« ant wortete Velpeau. »Ich jedoch habe die feste Überzeugung und ich stütze mich auf mehr als hundert Fälle und meine ganz besonde ren Beobachtungen, daß in demselben Augenblick, wo der Kopf vom Rumpfe getrennt wird, sofort jedes Schmerzge fühl vollständig verlischt. Das plötzliche Stocken des Herzschlages, das auf der Stelle durch den jähen Verlust von vier bis fünf Liter Blut eintritt, das oft ein Meter weit im Umkreise umherspritzt, dürfte auch die Ängstlichen nach dieser Richtung hin beru higen. Was die unbewußten Zuckungen des Körpers be 80
trifft, dessen Lebensprozeß so jäh unterbrochen wurde, so sind die kein Zeichen vorhandenen Schmerzgefühles, so wenig, wie es das Zucken eines abgeschnittenen Beines ist, dessen Nerven und Muskeln sich zusammenziehen, wobei man aber nicht leidet. Ich behaupte, daß das nervöse Fieber der Ungewißheit, die Feierlichkeit der fatalen Vorbereitun gen, das jähe Erwecktwerden aus dem Morgenschlummer, das einzig Schreckliche und Quälende dieser Zeremonie sind. Von der Exekution selbst empfindet man nichts, der vermeintliche Schmerz dabei ist ein eingebildeter! Was! Wenn schon ein heftiger Schlag gegen den Kopf nicht nur nicht empfunden wird, sondern sogar keine Erinnerung hinterläßt, wenn eine einfache Verletzung der Wirbelsäule vorübergehende Gefühlslosigkeit erzeugt, dann sollte das Abschlagen des Kopfes, das Durchschneiden des Rückgra tes, die Unterbrechung der organischen Verbindung zwi schen Herz und Gehirn nicht hinreichen, in einem mensch lichen Wesen jedes Empfinden, auch das leiseste Schmerz gefühl zu zerstören? Es ist unmöglich, daß es anders sein sollte! Sie wissen das so gut wie ich.« »Ich hoffe sogar, daß ich es besser weiß, mein Herr,« antwortete La Pommerais. »Auch ist es in Wirklichkeit durchaus nicht der große körperliche Schmerz, der ja bei dieser furchtbaren Katastrophe kaum empfunden, schon durch den jäh eintretenden Tod erstickt wird. Nein, das, was ich fürchte, ist etwas ganz anderes.« »Wollen Sie versuchen, mir es klar zu machen, was es ist?« fragte Velpeau. »So hören Sie denn,« sagte La Pommerais nach kurzem Schweigen. »Es steht fest, daß die Organe des Gedächtnis 81
ses und des Willens, falls sie sich in denselben Gehirnflü geln befinden, wie wir dies z. B. bei dem Hunde konstatiert haben, von dem durchschneidenden Messer nicht berührt werden. Ich weiß von einer ganzen Reihe zweifelhafter und höchst beunruhigender Fälle, die dies bestätigen und die es mir unmöglich erscheinen lassen, daß ein Enthaupteter so fort nach der Hinrichtung das Bewußtsein vollständig ver lieren könne. Die Legende erzählt, daß der vom Rumpfe abgetrennte Kopf, wenn er gleich nach der Exekution ange redet wird, den Fragenden anschaut. Und das sollte eine unwillkürliche Bewegung der Nerven, eine sogenannte Re flex-Bewegung sein? Eitle Worte! Erinnern Sie sich jenes Falles, wo in der Klinik in Brest der Kopf eines Matrosen Fünfviertelstunden, nachdem er vom Rumpfe abgetrennt war, durch eine heftige Bewegung der Kiefern einen dazwischen gesteckten Bleistift entzwei biß? Das aber ist nur ein Beispiel unter tausend. Die einzi ge Frage, um die es sich hier handeln könnte, wäre also doch nur, festzustellen, ob nach dem Aufhören der Häma tose (Blutbereitung) das, was ich das Ich des Menschen nennen will, noch auf die Muskeln des ausgebluteten Kop fes wirken könne?« »Das Ich lebt nur in den ganzen ungeteilten Körper des Menschen,« sagte Velpeau. »Das Rückenmark ist nur eine Verlängerung des kleinen Gehirnes,« erwiderte Herr de la Pommerais. »Wo also ist der Sitz des menschlichen Geistes? Wer vermag es zu ent hüllen? Ehe acht Tage vorüber sind, werde ich es gewiß erfahren – und wieder vergessen haben.« »Es hängt vielleicht von Ihnen ab, daß die Menschheit 82
ein- und für allemal über diesen Punkt aufgeklärt wird,« antwortete Velpeau langsam und sein Auge fest auf den Verurteilten richtend. »Um gerade heraus zu reden, ist das der Grund, weshalb ich hierher gekommen bin. Ich bin hier als Abgesandter unserer bedeutendsten Kol legen der Fakultät von Paris. Sie sehen hier ein vom Kaiser gezeichnetes Schreiben, das mir freien Zutritt zu Ihnen ver schafft hat. Es enthält eine weitgehende Vollmacht, die so gar, wenn es notwendig sein sollte, hinreichen würde, Ihre Hinrichtung aufzuschieben.« »Erklären Sie sich deutlicher, ich verstehe Sie nicht mehr,« antwortete La Pommerais bestürzt. »Nun denn, Herr de la Pommerais, im Namen der Wis senschaft, die uns beiden so unendlich teuer ist, und deren Märtyrer nicht zu zählen sind, spreche ich hier zu Ihnen. Obwohl die Voraussetzung, daß das zwischen uns zu ver einbarende Abkommen ausführbar sein sollte, mir wenig stens mehr als zweifelhaft erscheint, komme ich dennoch, um von Ihnen den größten Beweis von Energie und Mut zu erbitten, den ein Mensch zu leisten fähig ist. Wenn Ihr Gnadengesuch verworfen werden sollte, werden Sie als Arzt in der Lage sein, sich der peinlichsten Operation un terwerfen zu müssen, die es überhaupt gibt. Es würde eine unschätzbare Bereicherung des menschlichen Wissens be deuten, wenn ein Mann wie Sie in den Versuch willigen wollte, uns nach der Exekution eine Mitteilung zukommen zu lassen, obwohl, selbst wenn Sie den besten Willen dazu hätten, diese Probe abzulegen, es beinahe gewiß ist, daß das Resultat ein negatives sein würde. Aber – vorausge setzt, daß ein solcher Versuch Ihnen nicht schon im Prinzip 83
lächerlich erscheint – wäre damit immerhin eine Chance gegeben, die moderne Physiologie in wunderbarer Weise aufzuklären. Solche Gelegenheit müßte ergriffen werden und in dem Falle, daß es möglich wäre, daß Sie nach Ihrer Hinrichtung noch ein Zeichen der Intelligenz mit uns wechselten, würden Sie sich einen Namen machen, vor dessen wissenschaftlichem Ruhme die Erinnerung an Ihren sozialen Fehltritt völlig verloschen würde.« »Ach,« murmelte La Pommerais, der leichenblaß ge worden, mit entschlossenem Lächeln, »ach! Ich fange an zu verstehen. Wirklich! Michelot lehrt uns, daß durch die Hinrichtungen das Geheimnis der Verdauung enthüllt wor den sei! Also – welcher Art würde das von Ihnen versuchte Experiment sein? Galvanische Strömungen? Reiz der Au genwimpern? Blut-Injektionen? Aber aus all diesem läßt sich wenig schließen.« »Es versteht sich von selbst, daß, sobald die traurige Ze remonie vollzogen ist, Ihre Überreste friedlich in der Erde ruhen werden und daß keines unserer Skalpelle sie berüh ren würde. Nein, aber sobald das Messer herabgefallen, werde ich Ihnen gegenüber an der Maschine stehen. Der Henker wird so schnell wie möglich Ihren Kopf meinen Händen übergeben. Dann aber – das Experiment ist eben seiner Einfachheit wegen von so großer Bedeutung – werde ich Ihnen in das Ohr rufen: Herr de la Pommerais, einge denk der zu Ihren Lebzeiten zwischen uns getroffenen Ver abredung, können Sie in diesem Augenblick dreimal das Lid ihres rechten Auges aufheben und wieder senken, wäh rend Sie das andere Auge weit geöffnet haben? Wenn in jenem Momente, abgesehen von etwaigen anderen Zuc 84
kungen Ihres Gesichts, Sie uns durch dieses dreimalige Augenzwinkern beweisen könnten, daß Sie mich gehört und verstanden, daß kraft Ihrer Energie und Ihres Gedächt nisses Sie Herr der das Augenlid in Bewegung setzenden Muskeln, des Nervs des Jochbeins und der Bindehaut sind, so würden Sie hierdurch der Wissenschaft einen wesentli chen Dienst leisten und unsere bisherigen Erfahrungen um stoßen. Und ich bitte Sie, nicht daran zu zweifeln, daß ich Sorge dafür tragen werde, daß Ihr Namen der Nachwelt nicht als der eines Verbrechers, sondern als eines Helden der Wissenschaft erhalten bleibt.« Herr de la Pommerais schien von dieser ungewöhnlichen Bitte tief ergriffen zu sein; er blickte den Chirurgen ernst und mit weit geöffneten Augen an und verharrte einige Minuten in tiefem bewegungslosem Schweigen. Dann er hob er sich, ging in Nachdenken verloren langsam in seiner Zelle auf und nieder und schüttelte dann traurig den Kopf. »Die furchtbare Gewalt des Schlages wird es mir un möglich machen. Mir scheint, daß die Verwirklichung Ih res Planes die menschliche Kraft übersteigt,« sagte er. »Außerdem behauptet man, daß die Lebenskraft der Guil lotinierten nicht die gleiche sei. Indessen kommen Sie am Tage der Hinrichtung wieder, mein Herr. Ich werde Ihnen dann darauf antworten, ob ich bereit bin, diese schreckliche und vielleicht trügerische Probe abzulegen. Wenn nicht, so rechne ich auf Ihre Diskretion und, nicht wahr, Sie werden Sorge dafür tragen, daß mein Kopf in dem dazu bestimm ten zinnernen Eimer ruhig verbluten kann.« »Auf baldiges Wiedersehen, Herr de la Pommerais,« sagte Velpeau, ebenfalls aufstehend, »überlegen Sie sich 85
die Sache.« Beide grüßten einander. Einen Augenblick später verließ Dr. Velpeau die Zelle, der Wächter trat ein, und der Verurteilte streckte sich resi gniert auf seiner Pritsche aus, um zu schlafen oder nachzu denken. Vier Tage später, um ½ 5 Uhr morgens, kamen die Herren Beauquesne, der Abbe Crozes, Herr Claude und Potier, Beamte des kaiserlichen Gerichtshofes, in die Zelle. – Jäh aus dem Schlafe auffahrend erkannte Herr de la Pommerais sofort, daß die verhängnisvolle Stunde erschienen sei; sehr bleich erhob er sich von seinem Lager und kleidete sich rasch an. Dann sprach er etwa zehn Minuten lang leise mit dem Abbe Crozes, der ihn schon öfter im Gefängnisse be sucht hatte. Es ist bekannt, daß dieser heilige Mann eine begeisterte Frömmigkeit und eine hingebende Menschen liebe besaß, durch die es ihm gelang, den Verurteilten in ihrer letzten Stunde Trost und Beistand zu bringen. In dem Augenblick, da La Pommerais dann Dr. Velpeau eintreten sah, wandte er sich ihm zu und sagte leise: »Ich habe mir’s eingeübt, sehen Sie her.« Und während das Urteil verlesen wurde, hielt er das rechte Auge geschlossen, während er mit dem weit geöff neten linken den Chirurgen fest anschaute. Die Toilette war rasch beendet. Man bemerkte, daß das bei andern Verurteilten beobachtete Phänomen des Weiß werdens der Haare, sobald die Schere sie berührte, sich nicht vollzog. Als dann der Geistliche ihm mit leiser Stim me einen von seiner Frau an ihn gerichteten Abschiedsbrief 86
vorlas, stürzten heiße Tränen aus den Augen des Verurteil ten, die der Abbe mit zarter Hand mit dem aus dem Hemde des Verurteilten geschnittenen Fetzen abtrocknete. Als er dann mit über die Schultern geworfenem Überrocke zum Gehen bereit stand, hörte man seine Handfesseln. Er wies das ihm angebotene Glas Branntwein zurück, und die trau rige Eskorte setzte sich in Bewegung. Als man das Portal des Gefängnisses erreicht hatte, fiel der Blick des Verur teilten auf seinen Kollegen, Dr. Velpeau, er begrüßte ihn und fragte sehr leise: »Sogleich! und – leben Sie wohl.« Die eisernen Türflügel öffneten sich plötzlich und rollten weit auf. Ein frischer Morgenwind wehte in das Gefängnis. Der Tag hatte eben zu grauen begonnen; der große Platz des Gefängnishofes streckte sich weit hin, er war von einem doppelten Kordon Kavallerie umgaben. Gegenüber, auf zehn Schritte Entfernung, sah man einen Halbkreis beritte ner Gendarmen, die beim Erscheinen des traurigen Zuges den Säbel aus der Scheide zogen. Im Hintergrunde stand das Schafott. In einiger Entfernung davon bemerkte man die Vertreter der Presse, die achtungsvoll den Hut abnah men. Aber ganz in der Ferne, hinter den den Raum abschlie ßenden großen Bäumen bemerkte man das unruhige Hinund Herwogen und das Murmeln des neugierigen Volkes, das die ganze Nacht auf den Beinen gewesen, um Zeuge des schrecklichen Schauspiels zu sein. Auf den Dächern und an den Fenstern der Wirtshäuser und Kneipen sah man Mädchen in zerknitterten farbigen Seidenkleidern, mit 87
blassen verwachten Gesichtern; einige von ihnen hatte noch das Champagnerglas in der Hand. Neben ihnen tauch ten übernächtig aussehende Herren im Abendanzug auf; sie alle beugten sich weit vor und ließen keinen Blick von dem traurigen Vorgange. – Die Schwalben aber wiegten sich zwitschernd in der reinen Morgenluft und flogen hierhin – dorthin. Mit den beiden drohenden emporgestreckten Armen, zwischen denen man das Funkeln des letzten Sternes er blickte, hob sich die Silhouette der Guillotine scharf und schwarz gegen den Horizont ab. Bei diesem schrecklichen Anblicke zitterte der Verurteil te, er faßte sich jedoch sehr rasch wieder und ging festen Schrittes der Maschine zu. Ruhig bestieg er die auf die Plattform führenden Stufen. Den versinkenden Stern ver dunkelnd schimmerte das furchtbare dreieckige Messer in seinem schwarzen Rahmen. Vor dem verhängnisvollen Brette angelangt, küßte La Pommerais zuerst das Kruzifix und dann eine seiner eigenen Haarlocken, die der Abbe Crozes aufgehoben hatte und ihm nun entgegenhielt. »Für Sie!« sagte er leise. Die Umrisse der fünf auf dem Schafott befindlichen Personen waren deutlich erkennbar. In diesem Augenblicke herrschte eine so fürchterliche Stille, daß das Geräusch eines zerbrechenden Astes, der ganz in der Ferne der Last eines Neugierigen nachgab, und ein häßliches La chen bis zu der traurigen Gruppe vernehmbar wurde. Als dann die Uhr, deren letzten Schlag La Pommerais nicht mehr vernehmen sollte, die sechste Stunde verkündete, bemerkte La Pommerais, ihm gerade gegenüberstehend und sich mit einer Hand auf die Plattform stützend, seinen 88
Kollegen Velpeau, der ihn scharf beobachtete. Er sammelte sich einen Augenblick und schloß die Augen. Rasch spielte der Hebel, der Knopf gab nach, das Messer stürzte herab. Ein furchtbarer Stoß erschütterte die Plattform. Die Pferde der Gendarmen bäumten sich. Das Echo des entsetzlichen Schlages vibrierte noch in der Luft, als sich der Kopf des Enthaupteten bereits in den unerbittlichen Händen des Chi rurgen befand und seine Hände, seine Manschetten und Kleider mit Blut überströmte. Es war ein finsteres, entsetzlich bleich aussehendes Ant litz, das mit drohend zusammengezogener Stirn, weit auf gerissenen Augen und geöffnetem Munde Velpeau anstarr te. Das Kinn am äußersten Ende der unteren Kinnlade war beschädigt worden. Velpeau beugte sich rasch über den Kopf und rief ihm die verabredete Frage in das rechte Ohr. So abgehärtet die ser Mann auch war, so erfaßte ihn doch ein kalter Schau der, als das Lid des rechten Auges sich senkte, während das linke ihn weit geöffnet anschaute. »Im Namen Gottes,« rief Velpeau, »wiederholen Sie dieses Zeichen noch zweimal!« Wie unter einer kolossalen Anstrengung zuckten die Wimpern, aber das Augenlid erhob sich nicht zum zweiten Male. In wenig Sekunden war das Gesicht kalt, steif und unbeweglich geworden. Es war vorbei. Dr. Velpeau gab das tote Haupt in Herrn Hendreichs Hände zurück, der es, wie dies die Sitte ist, zwischen die Beine des Verurteilten legte. Der große Chirurg badete seine Hände in einem der gro ßen zum Abwaschen des Schafotts bestimmten Wasserei 89
mer. Die Menge um ihn verlief sich, ohne ihn zu erkennen und Notiz von ihm zu nehmen. Schweigend trocknete er sich die Hände. Dann, langsamen Schrittes und mit ernster nachdenkli cher Stirn begab er sich zu seinem Wagen, der an dem Ein gang des Gefängnisses auf ihn wartete. Als er hineinstieg, bemerkte er den Armen-Sünderkarren, der in scharfem Trabe den Weg zum Mont-Parasse entgegenrollte.
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Der Kopf von Karl Hans Strobl Was da in der tiefen Finsternis der Mitternacht von einer weißen, leuchtenden Hand auf das Papier gekritzelt wird, ist eine jener phantastischen Spukgeschichten, die den österreichischen Schriftsteller Karl Hans Strobl (1877 1946) bekannter gemacht haben als seine heute weitgehend vergessenen zeitgeschichtlichen und historischen Romane und Erzählungen. Neben Meyrink und Ewers ist Strobl ei ner der eigenwilligsten Vertreter der phantastischen deut schen Literatur in diesem Jahrhundert. Es war ganz finster im Zimmer … alle Vorhänge zu … kein Lichtschimmer von der Straße und ganz still. Mein Freund, ich und der Fremde hielten uns an der Hand, krampfhaft und bebend. Es war eine fürchterliche Angst über uns … in uns … Und da … kam eine weiße, hagere, leuchtende Hand durch die Finsternis auf uns zu und begann an dem Tisch, an dem wir saßen, mit dem bereit liegenden Bleistift zu schreiben. Wir sahen nicht, was die Hand schrieb, doch wir fühlten es in uns …gleichzeitig … wie wenn es mit feuri gen Buchstaben vor unseren Augen gestanden hätte … Es war die Geschichte dieser Hand und des Menschen, dem sie einst gehört hatte, was da in der tiefen Finsternis der Mitternacht von der weißen, leuchtenden Hand auf das Papier gekritzelt wurde:
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… – Wie ich die mit rotem Tuch ausgeschlagenen Stufen hinanschreite … da … wird es mir doch etwas eigentüm lich ums Herz. In meiner Brust schwingt etwas hin und her … ein großes Pendel. Die Räder der Pendelscheibe sind aber haarscharf wie Rasiermesser und wenn das Pendel im Schwingen meine Brustränder berührt, fühle ich dort einen schneidenden Schmerz … und eine Atemnot, daß ich laut röcheln möchte. Aber ich beiße die Zähne zusammen, daß kein Laut hervor kann und balle meine auf dem Rücken gefesselten Fäuste, daß unter den Nägeln das Blut hervor spritzt. Jetzt bin ich oben. – Alles ist in schönster Ordnung; nur auf mich wird noch gewartet. – Ich lasse mich ruhig im Nacken rasieren und bitte dann um die Erlaubnis, zum Volke zum letztenmal sprechen zu dürfen. Sie wird mir gewährt … Wie ich mich umwende und die endlose Menge übersehe, die da dichtgedrängt, Kopf an Kopf, um die Guil lotine herumsteht, alle diese blöden, stumpfsinnigen, ver tierten, teils philisterhaft-neugierigen, teils lüsternen Ge sichter, diese Masse von Menschen, dieser verzehntausend fachte Hohn auf den Namen Mensch – da kommt mir die ganze Sache so lächerlich vor, daß ich laut auflachen muß. Doch da sehe ich die Amtsmienen meiner Henker sich in strenge Falten legen … verdammte Frechheit von mir, die Sache so wenig tragisch zu nehmen … ich will die guten Leute nicht noch mehr reizen und beginne schnell meine Ansprache: »Bürger«, sage ich, »Bürger, ich sterbe für euch und für die Freiheit. Ihr habt mich verkannt, ihr habt mich verurteilt … aber ich liebe euch. Und als Beweis meiner Liebe hört 92
mein Testament. Alles, was ich besitze, sei euer. Hier …« Und ich wende mich mit dem Rücken gegen sie und ma che eine Gebärde, die sie nicht mißdeuten können … … Ringsum ein Brüllen der Entrüstung … ich lege schleunigst und mit einem Seufzer der Erleichterung mei nen Kopf in die Höhlung … ein sausendes Zischen … ich fühle nur ein eisiges Brennen im Hals … mein Kopf fällt in den Korb. Dann ist mir, wie wenn ich den Kopf unter Wasser ge steckt und die Ohren voll davon hätte. Dunkel und verwor ren dringen die Geräusche der Außenwelt zu mir, ein Summen und Brummen ist in den Schläfen. Auf dem gan zen Querschnitt meines Halses habe ich das Gefühl, wie wenn dort Äther in großen Mengen verdunstete. Ich weiß, mein Kopf liegt im Weidenkorb – mein Kör per oben auf dem Gerüst, und doch habe ich das Gefühl der vollständigen Trennung noch nicht; ich fühle, daß mein Körper leise strampelnd auf die linke Seite gesunken ist, daß meine auf dem Rücken gefesselten, geballten Fäuste noch leicht zucken und die Finger sich krampfhaft aus strecken und zusammenziehen. Ich fühle auch, wie das Blut aus dem Halsstumpf strömt und wie mit dem entströ menden Blut die Bewegungen immer schwächer werden und auch mein Gefühl für den Körper immer schwächer und dunkler, bis es mir unterhalb des Halsabschnittes im mer finsterer wird. Ich habe meinen Körper verloren. In der vollständigen Finsternis vom Halsabschnitt ab wärts spüre ich auf einmal rote Flecke. Die roten Flecke sind wie Feuer in schwarzen Gewitternächten. Sie fließen 93
auseinander und breiten sich aus wie Öltropfen auf einer stillen Wasserfläche … wenn sich die Ränder der roten Flecke berühren, dann spüre ich in den Augenlidern leichte elektrische Schläge, und meine Haare auf den Kopfe sträu ben sich. Und jetzt beginnen sich die roten Flecke um sich selbst zu drehen, rascher, immer rascher … eine Unzahl brennender Feuerräder, glutflüssige Sonnenscheiben … es ist ein Rasen und Wirbeln, daß lange Feuerzungen hinten nachlecken und ich die Augen schließen muß … ich fühle die roten Feuerräder aber noch immer in mir … zwischen den Zähnen steckt es mir wie trockener glaskörniger Sand in allen Fugen. Endlich verblassen die Flammenscheiben, ihr Drehen wird langsamer, eine nach der andern erlischt, und dann wird es für mich von meinem Halsabschnitt ab wärts zum zweitenmal finster. Diesmal für immer. Über mich ist eine süße Mattigkeit gekommen, ein ver antwortungsloses Sich-gehen-lassen, meine Augen sind schwer geworden. Ich öffne sie nicht mehr, und doch sehe ich alles um mich her. Es ist, als ob meine Augenlider aus Glas und durchsichtig geworden wären. Ich sehe alles wie durch einen milchweißen Schleier, über den sich zarte, blaßrote Adern verästeln, aber ich sehe klarer und größer als damals, als ich noch meinen Körper hatte. Meine Zunge ist lahm geworden und liegt schwer und träge wie Lehm in meiner Mundhöhle. Mein Geruchsinn aber hat sich tausendfach verfeinert, ich sehe die Dinge nicht nur, ich rieche sie, jedes anders, mit seinem eigenen, ihm eigentümlichen Geruch. In dem weidengeflochtenen Korb unter dem Fallbeil der Guillotine liegen außer dem meinen noch drei andere Köp 94
fe, zwei männliche und ein weiblicher. Auf den rotgefärb ten Wangen des Frauenkopfes kleben zwei Schönheitspflä sterchen, in dem gepuderten, hochauffrisierten Haar steckt ein goldener Pfeil, in den kleinen Ohren zwei zierliche, diamantgeschmückte Ohrringe. Die Köpfe der beiden Männer liegen mit dem Gesicht nach abwärts in einer La che von halbgetrocknetem Blut, quer über den Schädel des einen zieht sich eine alte, schlechtverheilte Hiebwunde, das Haar des anderen ist schon grau und spärlich. Der Frauenkopf hat die Augen verkniffen und rührt sich nicht. Ich weiß, daß sie mich durch die geschlossenen Au genlider betrachtet … So liegen wir stundenlang. Ich beobachte, wie die Son nenstrahlen an dem Gerüst der Guillotine aufwärts rücken. Es wird Abend, und mich beginnt zu frieren. Meine Nase ist ganz steif und kalt, und die Verdunstungskälte auf mei nem Halsquerschnitt wird unangenehm. Auf einmal ein wüstes Gejohle. Es kommt näher, ganz nahe, und plötzlich fühle ich, wie eine kräftige Faust mei nen Kopf mit rohem Griff bei den Haaren faßt und aus dem Korbe zieht. Dann spüre ich, wie ein fremder, spitziger Gegenstand in meinen Hals eindringt – eine Lanzenspitze. Ein Haufe trunkener Sansculotten und Megären hat sich über unsere Köpfe gemacht. In den Händen eines kräftigen, baumlangen Menschen mit einem roten, aufgedunsenen Gesicht schwankt die Lanze mit meinem Haupt auf der Spitze hoch über der ganzen wilderregten, brüllenden und schreienden Menge auf dem Platz. Ein ganzer Knäuel von Männern und Weibern ist über die Verteilung der Beute aus den Haaren und Ohren des 95
Frauenkopfes in Streit geraten. Sie wälzen sich wild durchund übereinander – ein Kampf mit Händen und Füßen, mit Zähnen und Nägeln. Jetzt ist der Kampf zu Ende. Keifend und schreiend fah ren sie auseinander, jeder, der ein Stück davonträgt, von einem Haufen neidischer Genossen umdrängt … Der Kopf liegt am Boden, entstellt, beschmutzt, mit den Spuren der Fäuste überall, die Ohren zerrissen von dem gewaltsamen Ruck, mit dem sie die Ringe an sich genom men haben, die sorgfältige Frisur zerzaust, die gepuderten Strähne des dunkelblonden Haares im Straßenstaub. Der eine Nasenflügel von einem scharfen Instrument zer schlitzt, auf der Stirn die Zeichen eines Stiefelabsatzes. Die Augenlider sind halb geöffnet, die gebrochenen, glasigen Augen stieren geradeaus. Endlich bewegt sich die Volksmenge vorwärts. Vier Köpfe stecken an langen Spießen. Gegen den Kopf des Mannes mit den grauen Haaren richtet sich vornehmlich die Wut des Volkes. Der Mann muß besonders mißliebig gewesen sein. Ich kenne ihn nicht. Sie speien ihn an und werfen ihn mit Kotklumpen. Jetzt trifft ihn eine Handvoll Straßenkot derb am Ohr … was ist das? hat er nicht ge zuckt? leise, unmerklich, nur mir wahrnehmbar, nur mit einem Muskelband? Die Nacht bricht herein. Man hat uns Köpfe nebenein ander auf die eisernen Gitterstäbe eines Palastgitters aufge steckt. Ich kenne auch den Palast nicht. Paris ist groß. Auf dem Hof lagern bewaffnete Bürger um ein mächtiges Feuer herum … Straßenlieder, Witze, brüllendes Gelächter. Der Geruch von gebratenem Hammelfleisch dringt zu mir her 96
über. Das Feuer verbreitet einen Duft nach kostbarem Ro senholz. Die wilden Horden haben die ganze Einrichtung des Schlosses in den Hof geschleppt und verbrennen nun Stück für Stück. Jetzt kommt ein zierliches, elegant ver schnörkeltes Sofa an die Reihe … aber sie zögern, sie wer fen das Sofa nicht ins Feuer. Ein junges Weib mit kräftigen Zügen, in einem vorn offenen Hemd, das die vollen, festen Formen der Brust zeigt, spricht unter lebhaften Handbewe gungen auf die Männer ein. Will sie sie bereden, ihr das kostbare Stück zu überlas sen, hat sie plötzlich Lust bekommen, sich als Herzogin zu fühlen? Die Männer zögern noch immer. Das Weib deutet auf das Gitter, auf dessen Spitzen unse re Köpfe stecken, und dann wieder auf das Sofa. Die Männer zögern – endlich stößt sie sie beiseite, reißt einem der Bewaffneten den Säbel aus der Scheide, kniet nieder und beginnt mit kräftigen Armen mit Hilfe der Klinge aus dem Rahmenholz des Sofas die kleinen, email köpfigen Nägel, mit denen der schwere Seidenstoff an das Holz gespannt ist, herauszuziehen. Die Männer helfen ihr jetzt. Nun zeigt sie wieder auf unsere Köpfe. Einer der Männer nähert sich mit zögernden Schritten dem Gitter. Er sucht. Jetzt klettert er an den eisernen Stä ben empor und holt den mißhandelten, geschändeten Frau enkopf herab. Ein Grauen schüttelt den Mann, aber er handelt wie un ter einem Zwange. Es ist, als ob das junge Weib dort beim Feuer, das Weib im roten Rock und vorn offenen Hemd 97
mit ihren wildlüsternen Raubtierblicken alle die Männer um sich herum beherrschte. Mit steifem Arm trägt er den Kopf bei den Haaren zum Feuer hin. Mit einem wilden Aufschrei der Lust packt das Weib den toten Kopf. Wirbelnd schwingt sie ihn an den langen Haaren zweimal, dreimal über das hochaufflammende Feu er. Dann kauert sie nieder und nimmt den Kopf auf den Schoß. Wie liebkosend streicht sie einigemale über die Wangen … im Kreise um sie haben sich die Männer nie dergelassen … und nun hat sie mit einer Hand einen der kleinen, emailköpfigen Nägel, mit der anderen einen Hammer ergriffen, und mit einem kurzen Hammerschlag hat sie den Nagel bis an den Kopf in den Schädel einge trieben. Wieder ein kurzer Hammerschlag, und wieder ver schwindet einer der Nägel in dem dichten Frauenhaar. Dazu summt sie ein Lied. Eines jener furchtbaren, wol lüstigen, seltsamen, altertümlich-zauberhaften Volkslieder. Die blutigen Scheusale um sie her sitzen still und schre ckensbleich und starren mit furchtsamen Augen aus dunk len Höhlen auf sie hin. Und sie hämmert und hämmert und treibt Nagel auf Nagel in den Kopf und summt dazu im Hammerschlagtakt ihr altes, seltsames Zauberlied. Plötzlich stößt einer der Männer einen gellenden Schrei aus und springt auf. Die Augen sind weit vorgequollen, vor dem Mund steht der Geifer … er wirft die Arme nach rückwärts, dreht den Oberkörper wie im schmerzlichen Krampf nach rechts und links, und aus seinem Mund drin gen gellende, tierische Schreie. 98
Das junge Weib hämmert und singt ihr Lied. Da springt ein zweiter vom Boden auf, heulend und mit den Armen um sich schlenkernd. Er reißt einen Brand aus dem Lagerfeuer und stößt sich damit vor die Brust – wieder und immer wieder, bis seine Kleider zu glimmen beginnen und ein dicker, stinkender Qualm sich um ihn verbreitet. Die andern sitzen starr und bleich und hindern ihn nicht an seinem Beginnen. Da springt ein dritter auf – und jetzt faßt der gleiche Taumel auch die andern. Ein betäubender Lärm, ein Krei schen, Johlen, Schreien, Brüllen, Heulen, ein Durcheinander von Bewegungen, von Gliedmaßen. Wer fällt, bleibt liegen … auf seinem Körper stampfen die anderen weiter … In dieser Orgie des Wahnsinns sitzt das junge Weib und hämmert und singt … Nun ist sie fertig, und nun hat sie den über und über mit den kleinen, emailköpfigen Nägeln beschlagenen Kopf auf eine Bajonettspitze gesteckt und hält ihn hoch über die heulende, springende Masse empor. Da reißt jemand das Feuer auseinander, die Scheiter werden aus der Glut ge zerrt und verlöschen funkensprühend in dunklen Winkeln des Hofes … es wird finster … nur einzelne brünstige Schreie und wildes Toben, wie von einem furchtbaren Handgemenge – ich weiß, alle diese wahnsinnigen Männer, diese wilden Bestien haben sich jetzt über das eine Weib geworfen, mit Zähnen und Klauen … Vor meinen Augen wird es schwarz. Blieb mir mein Bewußtsein nur so lange, um all das Greuliche zu sehen … es dämmert … dunkel und unbe stimmt, wie das scheidende Licht an trüben Winternach 99
mittagen. Es regnet auf meinen Kopf. Kalte Winde zausen mein Haar. Mein Fleisch wird locker und schwach. Ist das der Beginn der Verwesung? Dann geht mit mir eine Veränderung vor. Mein Kopf kommt an einen andern Ort, in eine finstere Grube; aber dort ist es warm und still. In mir wird es wieder heller und bestimmter. Noch viele andere Köpfe sind mit mir in der finstern Grube. Köpfe und Körper. Und ich merke, Köpfe und Körper haben sich gefunden, so gut und so schlecht es gehen will. Und in dieser Berührung haben sie wieder ihre Sprache gefunden, eine leise, unhörbare, gedachte Sprache, in der sie miteinander sprechen. Ich sehne mich nach einem Körper, ich sehne mich dar nach, endlich einmal diese unerträgliche Kälte an meinem Halsabschnitt, die schon fast ein heißes Brennen geworden ist, loszuwerden. Aber ich spähe vergebens. Alle Köpfe und Körper haben sich gefunden. Mir bleibt kein Körper übrig. Doch endlich, nach langem, mühseligen Suchen fin de ich einen Körper … zu unterst, bescheiden in einer Ecke … einen Körper, der noch keinen Kopf hat – einen Frauen körper. Etwas in mir sträubt sich gegen eine Verbindung mit diesem Körper, aber mein Wunsch, meine Sehnsucht siegt, und so nähere ich mich – von meinem Willen bewegt – dem kopflosen Rumpf und sehe, wie auch er meinem Kopf entgegenstrebt – und nun berühren sich die beiden Schnitt flächen … Ein leichter Schlag, das Gefühl einer leisen Wärme. Dann tritt vor allem eines hervor: Ich habe wieder einen Körper. Aber seltsam – nachdem das erste Empfinden des Wohl 100
behagens vorüber ist, spüre ich den gewaltigen Unterschied meiner Wesenshälften … es ist, als ob ganz verschiedene Säfte sich begegnen und mischen. Säfte, die miteinander nichts Gleichartiges haben. Der Frauenkörper, dem mein Kopf nun aufsitzt, ist schlank und weiß und hat die mar morkühle Haut der Aristokratin, die Wein- und Milchbäder nimmt und kostbare Salben und Öle verschwendet. Doch an der rechten Brustseite, über die Hüfte und einen Teil des Bauches eine sonderbare Zeichnung – eine Tätowierung. In feinen, überaus feinen blauen Punkten, Herzen, Anker, Arabesken und immer wiederkehrend ineinander ver schlungen und verschnörkelt die Buchstaben J und B. – Wer mag das Weib wohl gewesen sein? Ich weiß, ich werde das einmal wissen – bald! Denn es entwickelt sich aus dem unbestimmten Dunkel der Körper lichkeit unterhalb meines Kopfes eine Umrißlinie. – Unklar und verschwommen haftet schon die Vorstellung meines Körpers in mir. Aber von Minute zu Minute wird diese Vorstellung deutlicher und bestimmter. Dabei dieses schmerzhafte Durchdringen der Säfte meiner Wesenshälf ten. Und plötzlich ist es mir, als ob ich zwei Köpfe hätte – und dieser zweite Kopf – ein Frauenkopf, – blutig, entstellt, verzerrt, – ich sehe ihn vor mir – über und über mit den kleinen, emailköpfigen Nägeln vollgeschlagen. Das ist der Kopf, der zu diesem Körper gehört – zugleich mein Kopf, denn ich fühle in meinem Schädeldach und Gehirn deutlich die Hunderte von Nagelspitzen, ich möchte aufbrüllen vor Schmerzen. Alles um mich versinkt in einem roten Schlei er, der, wie von heftigen Windstößen hin- und hergezerrt, durcheinanderwogt. 101
Ich fühle es jetzt, ich bin Weib, nur mein Verstand ist männlich sicher. Und jetzt steigt aus dem roten Schleier ein Bild auf … ich sehe mich vor mir in einem mit verschwen derischer Pracht ausgeschmückten Zimmer. Ich liege in weichen Teppichen eingegraben … nackt. Vor mir, über mich gebeugt ein Mann mit den harten, rohen Zügen des Mannes aus den untersten Schichten des Volkes, mit den arbeitsharten Fäusten, der wetterbraunen Haut des Matro sen. Er kniet vor mir und sticht mit einer spitzen Nadel seltsame Zeichnungen in mein weiches Fleisch. Das schmerzt und bereitet doch eine seltsame Art von Wollust … ich weiß, der Mann ist mein Geliebter. Da zieht ein kurzer, nadelscharfer Schmerz meinen Kör per zu einer zuckenden Wonne zusammen. Ich schlinge dem Mann meine weißen Arme um den Hals und ziehe ihn zu mir herab … und küsse ihn und lege seine harten, schwieligen Hände auf meine Brust und meine Schultern und küsse ihn wieder in einer taumelnden Raserei und um klammere ihn und ziehe ihn fest an mich, daß er atemlos stöhnt. Jetzt habe ich ihn mit den Zähnen bei der braunen Gur gel gepackt, bei dieser Gurgel, die ich so liebe und deren Anblick mir schon oft Verzückungen bereitet hat, meine Zunge streichelt diese Gurgel mit feuchter Liebkosung … und jetzt – und jetzt muß ich die Zähne in das braune, harte Fleisch drücken – ich kann nicht anders – ich muß zubei ßen … und ich beiße … ich beiße … aus seinem Stöhnen wird ein Röcheln … ich fühle, wie der Mann in meinen Armen sich windet und krampfhaft zuckt … aber ich lasse nicht los … Der Körper wird schwer – schwer … ein war 102
mer Strom läuft an meinem Körper herab. Der Kopf sinkt ihm hinten über – ich lasse ihn aus meinen Armen gleiten – mit dumpfem Schlag fällt er rücklings in den weichen Tep pich … aus seinem zerbissenen Hals quillt ein dicker Blut strom. – Blut, Blut überall, auf den weichen, weißen Eis bärfellen, an mir … überall. Ich fange an zu schreien … heiser und rauh dringen die Laute aus meiner Kehle. Die Kammerzofe stürzt herein, sie muß nicht weit gewesen sein, vielleicht vor der Tür im Ne benzimmer … hat sie gelauscht? … einen Augenblick bleibt sie wie starr, bewußtlos, dann wirft sie sich wortlos über den Körper des toten Mannes … wortlos und tränen los … sie vergräbt ihr Gesicht an seiner blutüberströmten Brust – nur die Fäuste seh’ ich sie ballen. Nun weiß ich alles … Und dann sehe ich noch ein Bild … Wieder sehe ich mich und bin es doch selbst zugleich, die in dem hölzernen Karren sitzt, der zur Guillotine fährt. Dann stehe ich oben auf dem Gerüst und hebe mein Auge zum letztenmal zur Sonne, und wie ich mich langsam wen de, da fällt mein Blick auf ein junges Weib, das sich ganz nach vorn, in die erste Reihe gedrängt hat … sie … die Ge liebte des Mannes, der das Werkzeug meiner Wollust war … mit blassem, zuckendem Gesicht, in rotem Rock und bloßem Hemd und flatterndem Haar … ihre Augen glühen wild, wie die eines Raubtieres, feucht wie von verhaltenem Weh und lüstern, wie vor einer großen Freude. Da hebt sie die geballten Fäuste vors Gesicht, und ihr Mund bewegt sich … sie will sprechen, mich verhöhnen, beschimpfen, doch sie kann nur schreien – gebrochen und unverständlich 103
… denn lege ich mein Haupt unters Fallbeil. Ich weiß nun alles. Ich weiß, wessen Kopf es war, der in der Nacht vor dem lodernden Lagerfeuer einer gräßlichen Rache über das Grab hinaus zum Opfer diente – ich weiß auch, wer das junge Weib war, das in derselben Nacht im dunkeln Palast hofe von den entfesselten Bestien zerrissen, zerfleischt, zerdrückt wurde … in meinem Kopf schmerzen die Hun derte von Nagelspitzen … ich bin an diesen Körper gebun den … an diesen Körper voll furchtbarer Erinnerungen und gräßlicher Schmerzen, an diesen sündhaften, schönen Kör per, der alle Höllenpforten durchwandert hat. Diese furchtbare Zwiespältigkeit meines Wesens zerreißt mich … oh nicht mehr lange … ich fühle ein weiches Nachlassen aller Glieder, ein Weichwerden und Loslösen der Fleischteile … ein Schwammigwerden und Verflüssi gen aller inneren Organe … die Auflösung beginnt. Bald wird mich, mein edles zweispaltiges Ich die Nacht umfangen – die Nacht der Verwesung … die Körper wer den auseinanderfallen – der Geist wird frei werden – Und die Hand hörte auf zu schreiben und verschwand.
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Die Scheintoten von Edgar Allen Poe Sein Leben lang war Edgar Allen Poe (1809-1849) von der Angst gepeinigt, lebendig begraben zu werden. Für ihn gab es auf Erden nichts Fürchterlicheres – und man kann sich nichts Scheußlicheres vorstellen: Die Wahrheit ist seltsa mer als alle Dichtung. »Man kann in der Tat kaum einen Friedhof umgraben, ohne Skelette zu finden, die zu den grauenvollsten Mutmaßungen führen müssen.« Noch grau envoller als diese Mutmaßungen aber ist das gräßliche Schicksal eines lebendig Begrabenen – ein Thema, das Poe mit zwanghafter Unerbittlichkeit verfolgte. Wenn er hier, aus eigener und aus fremder Erfahrung, die quasidoku mentarische Geschichte von Scheintoten erzählt, so glaubt er die Wahrheit zu berichten: Grabesphantasie von be klemmender Realität, Qualen, die er selbst erlitten hatte. Es gibt gewisse Themen, die stets das größte Interesse er regen, aber zu schaurig sind, als daß man sie zum Gegen stand einer Erzählung machen dürfte. Der bloße Romancier darf sie nicht zu seinem Stoff wählen, wenn er nicht Gefahr laufen will, zu beleidigen oder abzuschrecken. Man kann sie schicklicherweise nur behandeln, wenn ihnen die ernste Majestät der Wahrheit heiligend und schützend beisteht. Wir schaudern zum Beispiel in schmerzlichster Wollust, wenn wir Berichte lesen über den Übergang über die Bere sina, über das Erdbeben von Lissabon, über die Pest in London, über das Blutbad in der Bartholomäusnacht, über 105
den Erstickungstod der hundertundzwanzig Gefangenen in dem schwarzen Loch zu Kalkutta. Doch immer ist es die Tatsache an sich – die Wirklichkeit, die Geschichte –, die unser Interesse weckt. Wären diese Begebenheiten Erfin dungen, sie würden nur unseren Abscheu erregen. Ich habe einige wenige große und in ihrer Art teilweise großartige Schrecklichkeiten aus der Geschichte erwähnt; und es ist sowohl die Tragweite wie die besondere Art der betreffenden Begebenheiten, die unsere Phantasie so leb haft erregt. Ich brauche dem Leser wohl nicht zu versi chern, daß ich aus der langen, schaurigen Liste menschli chen Elends Einzelfälle hätte herausgreifen können, bei denen die Leiden noch qualvoller waren als bei irgendei nem dieser ungeheuren beklagenswerten Ereignisse, die so zahlreiche Opfer forderten. In der Tat: die tiefste Tiefe von Elend, das Äußerste an Qual trifft immer den einzelnen, nicht eine Anzahl von Menschen. Das unheimliche Schmerzensübermaß des Todeskampfes muß der Mensch einzeln ertragen, nie wird es der Masse der Menschen zu teil; und dafür wollen wir einem gnädigen Gott danken. Lebendig begraben zu werden, ist ohne Zweifel die gräßlichste unter den Qualen, die das Schicksal einem Sterbenden zuteilen kann. Und daß dies oft, sehr oft ge schieht, wird kein Nachdenkender leugnen können. Die Grenzlinien, die das Leben vom Tod trennen, sind immer schattenhaft und unbestimmt. Wer vermag zu sagen, wo das eine endet und das andere beginnt? Wir wissen, daß es Krankheiten gibt, bei denen ein vollkommener Stillstand jeder sichtbaren Lebensfunktion eintreten und bei denen dieser Stillstand doch nur eine Unterbrechung genannt wer 106
den kann. Es sind lediglich Pausen, in denen der unbe greifbare Mechanismus seine Tätigkeit einmal aussetzte. Eine gewisse Zeit verläuft, und irgendein geheimnisvolles Prinzip, das wir nicht kennen, setzt das magische Getriebe wieder in Bewegung. Die silberne Saite hatte ihre Spann kraft noch nicht verloren, noch war der goldene Bogen auf immer untauglich! Aber wo war indessen die Seele? Abgesehen von dem aprioristischen Schluß, daß solche Ursachen solche Wirkungen hervorbringen müssen –, daß in den nicht abzuleugnenden Fällen pausierender Lebens funktion natürlicherweise dann und wann verfrühte Be gräbnisse stattfinden müssen –, abgesehen davon haben Ärzte und Erfahrungen bewiesen, daß solche Beerdigungen in der Tat stattgefunden haben. Wäre es nötig, so könnte ich auf der Stelle wohl hundert erwiesene Fälle anführen. Ein ganz besonders bemerkenswerter, dessen Einzelheiten manchem meiner Leser noch frisch im Gedächtnis sein werden, ereignete sich vor nicht allzulanger Zeit in Balti more und erregte ein peinliches, heftiges und weitgehendes Aufsehen. Die Frau eines hochgeachteten Bürgers – eines namhaften Advokaten, der auch Mitglied des Kongresses war – wurde von einer plötzlichen unerklärlichen Krank heit befallen, bei der die geschicktesten Ärzte nicht aus noch ein wußten. Nach vielem Leiden starb sie oder wurde vielmehr für tot erklärt. Niemand ahnte oder hatte auch nur den geringsten Grund zu der Annahme, daß sie nicht wirk lich tot sei. Ihr Körper wies alle Kennzeichen des Todes auf. Das Gesicht verfiel und schrumpfte zusammen, die Lippen zeigten die gewöhnliche Marmorblässe, die Augen 107
waren glanzlos. Keine Spur von Wärme war mehr wahr nehmbar, der Herzschlag hatte vollständig ausgesetzt. Drei Tage lag der Körper aufgebahrt, und eine steinerne Lei chenstarre war eingetreten. Dann nahm man eiligst die Be erdigung vor, weil das, was man für Verwesung hielt, ra sche Fortschritte machte. Die Tote wurde in der Familiengruft beigesetzt, die nun drei Jahre unberührt blieb. Nach Ablauf dieser Zeit wurde sie wieder geöffnet, um einen anderen Sarg aufzunehmen – doch ach! Welch gräßlicher Schlag harrte des Gatten, der selbst die Grabstätte öffnete! Als er den Riegel der Tür, die sich nach außen öffnete, zurückschob, sank ihm klappernd ein weiß umhülltes Ding in die Arme. Es war das Skelett seiner Frau in ihrem noch nicht verfaulten Leichentuch. Bei der nun folgenden sorgfältigen Untersuchung stellte es sich heraus, daß sie zwei Tage nach dem Begräbnis wie der zu Bewußtsein gekommen sein mußte, daß ihre ver zweifelten Anstrengungen im Sarge wohl bewirkt hatten, daß er von seinem Ständer auf den Fußboden gefallen und zerbrochen war, so daß sie selbst aus ihm heraussteigen konnte. Eine Lampe, die man zufällig mit Öl gefüllt in der Gruft gelassen hatte, wurde leer vorgefunden, doch konnte dies auch die Folge von Verdunstung sein. Auf der ober sten Stufe, die in das Totengemach führte, lag ein Stück von dem Sarg, mit dem sie, in der Hoffnung gehört zu werden, gegen die eiserne Tür geschlagen haben mochte. Wahrscheinlich wurde sie alsbald ohnmächtig oder starb vor Schrecken. Als sie niedersank, hakte sich dann ihr Lei chentuch in einigen nach innen stehenden Eisenstücken fest. So blieb sie und verweste stehend. 108
Im Jahre 1810 ereignete sich in Frankreich ein Fall von vorzeitigem Begräbnis, dessen nähere Umstände die Rich tigkeit der Behauptung, daß die Wahrheit seltsamer als alle Dichtung ist, von neuem beweisen. Die Heldin dieser Ge schichte ist ein Fräulein Victorine Lafoucade, ein junges Mädchen aus reicher, vornehmer Familie und von großer Schönheit. Unter ihren zahlreichen Anbetern befand sich auch ein gewisser Julien Boßnet, ein armer Literat oder Journalist, der in Paris lebte. Seine Talente und seine Lie benswürdigkeit schienen die Aufmerksamkeit der Erbin auf ihn gelenkt und ihm ihre Liebe erworben zu haben. Ihr Standesbewußtsein bestimmte sie aber endlich doch, ihn abzuweisen und einen Herrn Renelle, einen Bankier und geschickteren Literaten zu heiraten. Nach der Hochzeit wurde sie von ihrem Gatten vernachlässigt, ja, vielleicht sogar mißhandelt. Nachdem sie einige elende Jahre an sei ner Seite dahingelebt hatte, starb sie, wenigstens glich ihr Zustand so sehr dem Tod, daß er jeden, der sie sah, täusch te. Sie wurde begraben – nicht in einer Gruft, sondern in einem gewöhnlichen Grab auf dem Kirchhof ihres Heimat dorfes. Verzweifelt und noch voll von der Erinnerung an seine ehemalige tiefe Zuneigung reist der erste Liebhaber aus der Hauptstadt in die entfernte Provinz, in der das Dorf liegt, mit dem romantischen Vorsatz, den Leichnam auszugraben und sich die üppigen Locken der Toten anzueignen. Er fin det das Grab, gräbt um Mitternacht den Sarg aus, öffnet ihn und will gerade das Haar abschneiden, als sich die gelieb ten Augen öffnen: Man hatte die Dame lebendig begraben! 109
Das Leben war noch nicht vollständig entwichen, und die Zärtlichkeiten ihres ehemaligen Geliebten hatten sie wohl aus der Lethargie, die man fälschlich für den Tod gehalten hatte, erweckt. Er brachte sie in wahnsinniger Freude in seine Wohnung im Dorf und wandte alle Stärkungsmittel an, die ihm – er war in der Medizin ziemlich bewandert – nützlich erschienen. Kurz und gut, die Totgeglaubte kam wieder vollständig zum Leben. Sie erkannte ihren Retter und blieb so lange bei ihm, bis sie ihre frühere Gesundheit vollständig wiedererlangte. Sie hatte kein Herz von Stein, und dieser letzte Beweis von Liebe genügte, um es zu er weichen. So schenkte sie es dem Boßnet. Zu ihrem Gatten kehrte sie nicht zurück, sie hielt ihre Wiederauferstehung geheim und floh mit ihrem Geliebten nach Amerika. Nach zwanzig Jahren kehrten beide nach Frankreich zu rück, überzeugt, daß die Zeit das Aussehen der Dame so verändert habe, daß ihre Freunde sie nicht wiedererkennen würden. Doch täuschten sie sich; Herr Renelle erkannte bei dem ersten Zusammentreffen seine Frau wieder und mach te seine Ansprüche geltend. Sie weigerte sich, dieselben anzuerkennen; die Gerichte sprachen sich zu ihren Gunsten aus, indem sie erklärten, daß die eigentümlichen Umstände sowie die lange, inzwischen verflossene Zeit die Ansprü che des Mannes ungültig gemacht hätten – nicht nur mora lisch, sondern auch juristisch. Das Leipziger Journal für Chirurgie – eine Autorität auf seinem Gebiet – brachte einmal einen Bericht über einen höchst betrüblichen ähnlichen Vorfall. Ein Offizier der Artillerie, ein Mann von mächtigem 110
Körperbau und bester Gesundheit, wurde von einem scheu enden Pferd abgeworfen und erlitt eine schwere Kopfwun de, die ihn sofort bewußtlos machte. Doch schien direkte Gefahr nicht vorhanden, da der Schädelbruch nur ein un bedeutender war. Der Verletzte wurde mit Erfolg trepa niert. Man ließ ihn zur Ader und wandte auch sonst alle Erleichterungsmittel an. Allmählich jedoch verschlimmerte sich sein Zustand, er sank in Betäubung und anhaltende Erstarrung, so daß man ihn zuletzt für tot ansah. Das Wetter war warm, und vielleicht war dies der Grund, daß er mit eigentlich unschicklicher Hast auf einem der öffentlichen Kirchhöfe begraben wurde. Das Begräbnis fand am Donnerstag statt. An dem darauffolgenden Sonn tag wurde der Kirchhof wie gewöhnlich von einer zahlrei chen Volksmenge besucht, und gegen Mittag entstand un ter den Leuten eine ungeheure Aufregung, weil ein Bauer erklärte, er habe, als er auf dem Grab des Offiziers geses sen, ganz deutlich eine Erschütterung des Bodens gefühlt, als kämpfe unten jemand ganz verzweifelt, um herauszuge langen. Anfänglich schenkte man den Behauptungen des Man nes wenig Glauben, aber das offenbare Entsetzen und die Hartnäckigkeit, mit der er diese wiederholte, übten endlich ihre Wirkung auf die Menge aus. Man verschaffte sich schleunigst Spaten, und das oberflächlich bereitete, gar nicht tiefe Grab war bald so weit geöffnet, daß der Kopf seines Bewohners zutage kam. Er war scheinbar tot, doch saß er fast aufrecht in dem Sarg, dessen Deckel er bei sei nen wütenden Befreiungsversuchen zum Teil aufgestoßen hatte. 111
Er wurde sofort in das nächste Spital gebracht, wo man ihn als noch lebend, obgleich in asphyktischem Zustand befindlich, erklärte. Nach einigen Stunden kam er langsam zu sich, erkannte Personen aus seiner Bekanntschaft und erzählte in abgerissenen Sätzen von seiner Todesangst und Qual im Grabe. Aus dem, was er sagte, ging hervor, daß er nach dem Begräbnis noch länger als eine Stunde das Bewußtsein ge habt hatte, er lebe noch, und dann erst in den Zustand der Empfindungslosigkeit versank. Das Grab war nachlässig und mit besonders poröser Erde zugeworden worden, so daß immerhin ein wenig Luft hindurchdrang. Er hörte die Tritte der Menge über sich und wollte sich deswegen be merkbar machen. Es schien ihm, sagte er, als habe ihn der Trubel auf dem Kirchhof aus einem tiefen Schlaf geweckt, doch kaum war er vollständig erwacht, als ihm auch das Bewußtsein seiner gräßlichen Lage aufging. Der Patient befand sich also, wie gesagt, in relativ gün stigem Zustand, und es war die beste Hoffnung vorhanden, daß er sich vollständig wieder erholen würde; da wurde er das Opfer quacksalberischer Experimente. Man wandte nämlich die Volta’sche Säule bei ihm an, und er verschied in einem jene ekstatischen Paroxismen, welche die An wendung der Elektrizität manchmal herbeiführt. Da ich gerade von der Volta’schen Säule spreche, kommt mir ein wohlbekannter außerordentlicher Fall ins Gedächtnis, wo sich ihre Wirkung als ausgezeichnetes Mit tel bei den Wiederbelebungsversuchen erwies, die man mit einem jungen Londoner Advokaten anstellte, der schon zwei Tage im Grab gelegen hatte. Auch dieser Fall – er 112
geschah im Jahre 1831 – erregte überall, wo er besprochen wurde, das außerordentlichste Aufsehen. Ein Herr Edward Stapleton war anscheinend an einem typhösen Fieber gestorben, das von einigen abnormen Symptomen begleitet gewesen war, die die Neugier der Ärzte erregt hatten. Nach seinem scheinbaren Tode wurden die Freunde ersucht, ihn sezieren zu lassen, doch willigten sie nicht ein. Wie es nun bei solchen Weigerungen öfters geschieht, beschlossen die Ärzte, den Körper heimlich aus zugraben und die Sezierung im Verborgenen und in aller Muße vorzunehmen. Man setzte sich mit leichter Mühe mit ein paar Leichenräubern in Verbindung, von denen London damals wimmelte, und in der dritten Nacht nach dem Be gräbnis wurde der scheinbare Leichnam aus seinem acht Fuß tiefen Grab wieder ausgegraben und in das Operati onszimmer eines Privathospitals gebracht. Als bei einem ziemlich großen Schnitt in den Unterleib das frische, unverweste Aussehen des Körpers auffiel, be schloß man, Gebrauch von der galvanischen Batterie zu machen. Ein Experiment folgte dem anderen, und die ge wohnten Wirkungen traten ein, ohne daß etwas Auffälliges zu bemerken gewesen wäre, als daß die Konvulsionen ein paarmal in ganz außerordentlich hohem Grade an das wirk liche Leben erinnerten. Es war schon spät in der Nacht, der Tag begann zu dämmern, und man entschloß sich, zur Sektion selbst über zugehen. Ein Student jedoch wollte noch eine von ihm auf gestellte Theorie erproben und bestand darauf, den elektri schen Strom noch einmal auf die Brustmuskeln spielen zu lassen. Man machte einen tiefen Schnitt und führte schnell 113
einen Draht in die Wunde. Da stieg der Patient mit einer eiligen, aber absolut nicht krampfhaften Bewegung vom Tisch, trat in die Mitte des Zimmers, blickte ein paar Sekunden unbehaglich umher – und sprach. Was er sagte, war nicht verständlich, doch sprach er jedenfalls Worte aus, da man deutliche Silbenbil dung vernahm. Dann fiel er schwer zu Boden. Einige Sekunden lang standen die Anwesenden ganz schreckerstarrt – doch bald brachte die Dringlichkeit des Falles sie in den Besitz der vollen Geistesgegenwart zu rück. Es war offenbar, daß Herr Stapleton noch am Leben, wenn jetzt auch ohnmächtig war. Durch Anwendung von Äther wurde er vollständig zu sich gebracht und erlangte bald seine Gesundheit wieder. Seinen Angehörigen gab man ihn jedoch erst dann zurück, als keine Gefahr für ei nen Rückfall mehr zu befürchten war. Ihr Erstaunen, ihre Freude und ihr Entzücken kann man sich kaum vorstellen! Das Schaudererregende, Merkwürdige dieses Falles ist jedoch das, was Herr Stapleton selbst erzählte. Er erklärte, daß er keinen Augenblick vollständig fühllos gewesen – daß er, wenn auch nur dumpf und verworren, von allem Bewußtsein gehabt habe, was man mit ihm vornahm, von dem Augenblick an, in dem ihn die Ärzte für tot erklärten, bis zu dem, wo er im Spital ohnmächtig zu Boden sank. »Ich lebe noch«, das waren die unverständlichen Worte, welche er, als er den Seziersaal erkannte, im Übermaß des Entsetzens hatte aussprechen wollen. Es wäre mir ein leichtes, noch viele solcher Geschichten hier anzuführen, aber ich stehe davon ab, da wir ihrer, wie 114
gesagt, nicht bedürfen, um die Tatsache festzustellen, daß verfrühte Begräbnisse stattfinden. Und wenn wir uns daran erinnern, wie selten es in unserer Macht steht – die Natur der Sache macht dies ja leicht begreiflich –, dergleichen Ereignisse zu entdecken, dann müssen wir sogar anneh men, daß sie häufig vorkommen. Man kann in der Tat kaum einen Kirchhof umgraben, ohne Skelette in Stellun gen zu finden, die zu den grauenvollsten Mutmaßungen führen müssen. Wahrhaftig, grauenvoll ist solch eine Mutmaßung, noch grauenvoller aber das Schicksal eines lebendig Begrabe nen. Man kann wohl ohne weiteres behaupten, daß kein Unfall ein solches Übermaß körperlicher und seelischer Qualen mit sich bringt als das Lebendig-begraben-Werden. Der unerträgliche Druck auf die Lungen – die erstickenden Ausdünstungen der feuchten Erde – die peinigende Enge der Totenkleider – die rauhe Umarmung der schmalen Ru hestätte – die schwarze, undurchdringliche Nacht – die Stille, die wie ein Meer über dem Unglückseligen zusam menschlägt – die unsichtbare, aber gefühlte Gegenwart des ewigen Siegers Tod –, alles dies und dazu die Erinnerung an die freie Luft und das Gras über einem, an teure Freun de, die uns zu retten eilen würden, wüßten sie bloß von un serem Schicksal, und die Gewißheit, daß sie es nie, nie wissen werden, daß der wirkliche Tod hoffnungslos unser Teil geworden ist. Alles dies muß das noch klopfende Herz mit solch gräßlichem, unerträglichem Grausen erfüllen, daß auch die kühnste Phantasie vor seiner Ausmalung zurück schaudert. Wir kennen auf Erden nichts Fürchterlicheres – und können uns nichts Scheußlicheres ausdenken; und so 115
wecken denn alle Erzählungen, die an dieses Thema an knüpfen, ein tiefes Interesse, ein Interesse, das bei der hei ligen Furchtbarkeit des Themas ganz besonders durch die Überzeugung verstärkt wird, daß die Wahrheit berichtet wird. Was ich nun zu erzählen habe, weiß ich wirklich und gewiß – weiß ich aus eigener Erfahrung. Seit mehreren Jahren war ich Anfällen jener merkwürdi gen Krankheit unterworfen, die die Ärzte, mangels eines bezeichnenderen Namens, Katalepsie genannt haben. Ob gleich die unmittelbaren und mittelbaren Ursachen, ja so gar die Diagnose des Übels noch immer nicht festgestellt, noch immer Geheimnis sind, so kennt man doch seine äu ßeren wesentlichen Erscheinungen zur Genüge. Variatio nen scheinen nur bezüglich der Heftigkeit der Erkrankung vorzukommen. Zuweilen liegt der Patient nur einen Tag lang, oft auch noch kürzere Zeit in einem lethargischen Zu stand. Er ist ohne Empfindung und äußerlich vollkommen bewegungslos, doch ist noch ein schwacher Herzschlag bemerkbar; eine ganz geringe Wärme bleibt sowie ein leichter Anflug von Farbe auf den Wangen; und bringt man einen Spiegel an die Lippen, so kann man eine langsame, schwache, ungleiche Lungentätigkeit wahrnehmen. Ande rerseits kann die Erstarrung aber auch Wochen – ja Monate lang anhalten, und selbst die genaueste Untersuchung und die stärksten medizinischen Mittel können keinen materiel len Unterschied zwischen dem Zustand des Leidenden und dem, was wir Tod nennen, konstatieren. Gewöhnlich wird ein solcher Unglücklicher nur dadurch vor dem Lebendigbegraben-Werden gerettet, daß seine Freunde wissen, daß 116
er öfter dergleichen Anfällen unterworfen ist, und deshalb mit Recht mutmaßen, der Tod sei noch nicht eingetreten – oder dadurch, daß man beobachtet, wie die Verwesung all zu ersichtlich nicht eintritt. Glücklicherweise macht die Krankheit nur gradweise Fortschritte. Schon die ersten An zeichen sind charakteristisch und unzweideutig. Die Anfäl le werden allmählich ausgeprägter, und jeder folgende dau ert länger als der vorhergehende. Dies bewahrt die Kranken hauptsächlich vor dem Lebendig-begraben-Werden. Der Unglückselige, dessen erster Anfall schon die Heftigkeit eines seiner späteren hätte, würde diesem Schicksal wohl kaum entgehen. Mein Krankheitsfall wich in keinem wesentlichen Punkt von denen ab, die man in medizinischen Schriften erwähnt findet. Zuweilen versank ich ohne scheinbare Ursache all mählich in eine halbe Ohnmacht, und in diesem schmerzlo sen Zustand, in dem ich mich nicht bewegen noch sprechen noch denken konnte, aber immerhin noch ein dunkles Be wußtsein vom Leben und von der Gegenwart der Personen, die mein Bett umstanden, hatte, blieb ich, bis die Krisis der Krankheit mir ganz plötzlich wieder den Gebrauch meiner sämtlichen fünf Sinne wiedergab. Zu anderen Zeiten ergriff mich die Krankheit jäh und unerwartet. Mir wurde übel, eine Taubheit legte sich auf meine Glieder, ich fröstelte. Dann ergriff mich ein Schwin del und warf mich plötzlich nieder. Und nun war wochen lang alles schwarz, leer und stumm – die ganze Welt sank mir in ein Nichts. Die vollständige Vernichtung kann nicht mehr sein als dieser Zustand. Aus solchen Anfällen er wachte ich jedoch im Vergleich zu der Plötzlichkeit, mit 117
der sie kamen, nur sehr langsam. Und so langsam wie dem freund- und heimatlosen Bettler, der die lange, öde Winter nacht hindurch die Straßen durchirrt, so langsam, so zö gernd, so befreiend strahlte auch mir das Licht der rück kehrenden Seele wieder zu. Abgesehen von diesen Krampfanfällen schien mein all gemeiner Gesundheitszustand ein guter; ich bemerkte nie, daß meine Krankheit ihn in irgendeiner Weise beeinflußte, wenn man nicht eine Idiosynkrasie in meinem gewöhnli chen Schlaf aus ihr herleiten will. Wenn ich aus dem Schlummer erwachte, konnte ich nie auf einmal wieder die Herrschaft über meine Sinne antreten, sondern blieb stets noch mehrere Minuten lang verwirrt und verlegen, da mich meine gedanklichen Fähigkeiten, besonders das Erinne rungsvermögen, verlassen zu haben schienen. Körperliche Leiden hatte ich nicht zu erdulden, dagegen eine Unendlichkeit an Seelenqualen. Meine Phantasie be schäftigte sich nur noch mit Leichen. Ich sprach nur noch von Würmern, von Gräbern und Grabinschriften. Ich verlor mich in Grübeleien über den Tod, und der Gedanke, zu früh begraben zu werden, setzte sich fast als Gewißheit in meinem Kopf fest. Das Gespenst der Gefahr, die mich be drohte, verfolgte mich Tag und Nacht. Am Tage war die Qual solcher Vorstellungen schon groß, in der Nacht fast übermenschlich. Wenn die Dunkelheit ihre grauen Fittiche über die Erde breitete, ließ mich das Grausen über meine Gedanken erbeben – wie die Trauerwedel auf einem Lei chenwagen zittern. Konnte meine Natur das Wachen nicht länger ertragen, so überließ ich mich nur nach hartem Kampf dem Schlaf, denn mich schauderte bei dem Gedan 118
ken, mich erwachend vielleicht in einem Grabe wiederzu finden. Und fiel ich endlich in Schlaf, so versank ich in ei ne Welt gespenstischer Traumgestalten, die meine Grabes idee mit riesigen schwarzen Fittichen beschattete. Von den unzähligen Greuelszenen, die ich im Traum schauen mußte, will ich nur eine einzige erzählen. Es war mir, als sei ich in einen Starrkrampfanfall von ungewöhn lich langer Dauer und Heftigkeit versunken. Plötzlich be rührte eine eisige Hand meine Stirn, und eine ungeduldige, kaum verständliche Stimme flüsterte die Worte: »Steh auf!« in mein Ohr. Ich setzte mich aufrecht. Die Dunkelheit war undurch dringlich. Ich konnte die Gestalt dessen, der mich geweckt hatte, nicht erkennen. Ich konnte mich weder der Zeit erin nern, zu der ich in die Erstarrung versunken war, noch hat te ich eine Vorstellung von dem Ort, an dem ich mich be fand. Und während ich noch regungslos saß und mich be mühte, meine Gedanken zu sammeln, ergriff die kalte Hand zornig die meine, schüttelte sie heftig, und die Stim me sagte wieder: »Steh auf! Befahl ich dir nicht, aufzustehen?« »Und wer«, fragte ich, »bist du?« »Ich habe keinen Namen in den Regionen, die ich jetzt bewohne«, antwortete die Stimme trauervoll. »Ich war sterblich, nun bin ich zum Leben eines Dämons erwacht; ich war unbarmherzig, nun bin ich barmherzig; du fühlst, daß ich schaudere. Meine Zähne klappern, während ich rede, doch nicht weil die Nacht kalt ist –diese Nacht ohne Ende. Aber die Gräßlichkeiten sind unerträglich. Wie kannst du ruhig schlafen? Ich finde keine Ruhe vor dem 119
Schrei dieser großen Todesqualen. Diese Seufzer sind mehr, als ich ertragen kann. Auf! Auf! Komm mit mir in die äußere Nacht, ich will dir die Gräber enthüllen. Ist dies nicht ein Schauspiel voll Weh? – Sieh hin!« Ich sah hin; die unsichtbare Gestalt, die noch immer mein Handgelenk umklammert hielt, hatte die Gräber der ganzen Menschheit sich öffnen heißen, und aus jedem kam der schwache, phosphoreszierende Glanz der Verwesung hervor, so daß ich in die verborgensten Höhlen schauen und die leichentuchumhüllten Körper in ihrem trüben, fei erlichen Schlaf bei den Würmern erblicken konnte. Aber ach! Die wirklichen Schläfer waren millionenfach seltener als die, die nicht schlummerten; ein schwaches Kämpfen ging durch ihre Reihen, eine irre, matte Rastlosigkeit; und aus den Tiefen zahlloser Gruben kam ein trauervolles Ra scheln der Gewänder der Begrabenen; und ich sah, daß ei ne ungeheure Zahl derer, die regungslos zu ruhen schienen, die starre steife Lage, in der man sie begraben, verändert hatte. Und während ich noch schaute, sagte die Stimme wieder zu mir: »Ist das nicht – O Gott, ist das nicht ein erbarmungswür diger Anblick?« Doch ehe ich noch ein Wort der Erwide rung finden konnte, hatte die Gestalt meine Hand losgelas sen, der Lichtschein verlosch; die Gräber schlossen sich mit plötzlicher Gewalt, während verzweifelte Schreie aus ihnen hervortönten: »Ist das nicht – O Gott, ist das nicht ein erbarmungswürdiger Anblick?« Solche schrecklichen nächtlichen Phantasien dehnten ih ren unheilvollen Einfluß auch auf meine wachen Stunden aus. Meine Nerven wurden zerrüttet, ich lebte in beständi 120
gem Entsetzen. Nicht mehr reiten wollte ich, nicht Spazie rengehen, noch überhaupt das Haus verlassen. Zum Schluß wagte ich überhaupt nicht mehr, mich aus der unmittelba ren Gegenwart derer zu entfernen, die um meine Anfälle wußten, nur damit ich nicht, sollte sich wieder ein Anfall einstellen, begraben würde, ehe man meinen wirklichen Zustand erkannt hätte. Ich mißtraute der Pflege und Treue meiner liebsten Freunde und fürchtete, daß sie mich bei einer Erstarrung von vielleicht ungewöhnlich langer Dauer doch für tot ansehen würden. Ich ging sogar so weit, anzu nehmen, daß sie einen längeren Anfall mit Freuden als Ge legenheit begrüßen würden, mich und damit die Mühe, die ich ihnen bereitete, endgültig loszuwerden. Vergeblich be mühten sie sich, mich durch die feierlichsten Versprechun gen zu beruhigen. Sie mußten mir mit den heiligsten Eiden schwören, daß sie mich unter keinen Umständen begraben lassen würden, bis die Zersetzung so weit vorgeschritten wäre, daß jede Erhaltung ausgeschlossen war. Und selbst dann noch ließ sich meine Todesangst durch keine Vernunftgründe, keinen Trost beschwichtigen. Ich traf zahlreiche Vorsichtsmaßre geln. Unter anderem ließ ich die Familiengruft so umän dern, daß sie von innen leicht zu öffnen war. Der leiseste Druck auf einen langen Hebel, der weit in das Grab hinein ragte, verursachte, daß die Eisentüren weit aufflogen. Au ßerdem waren Vorkehrungen getroffen, daß Luft und Licht freien Zutritt hatten, und im übrigen waren in unmittelbarer Nähe des Sarges, der mich einst beherbergen sollte, pas sende Gefäße zur Aufnahme von Speise und Trank befe stigt worden. Der Sarg selbst war warm und weich gefüttert 121
und mit einem Deckel geschlossen, der nach demselben Prinzip wie die Grufttür gebaut und mit Sprungfedern ver sehen war, die ihn bei der schwächsten Bewegung im Sar ge aufspringen ließen und die eingeschlossene Person in Freiheit setzten. Überdies war an der Decke des Gewölbes eine große Glocke aufgehängt, deren Seil, wie abgemacht wurde, durch ein Loch in den Sarg geführt und an der Hand des Leichnams befestigt werden sollte. Doch ach! Was vermag alle Vorsicht gegen das Schicksal? Nicht einmal diese so wohl erdachten Sicherheitsmaßregeln genügten, einen Bedauernswürdigen, zu diesem Los Vorherbestimm ten, von den Höllenqualen des Lebendig-BegrabenWerdens zu retten. Es kam wieder einmal eine Zeit, in der ich – wie es schon oft geschehen – fühlte, daß ich aus vollständiger Bewußtlosigkeit zu einem ersten schwachen Gefühl des Daseins zurückkehrte. Langsam, mit schildkrötenhafter Langsamkeit kam das schwache graue Dämmern meines geistigen Tages herauf. Eine starre Unbehaglichkeit. Ein apatisches Ertragen dumpfen Schmerzes. Keine Furcht – keine Hoffnung – kei ne Bewegung. Dann, nach langer Pause, ein Sausen in den Ohren; dann, nach längerer Zeit, eine prickelnde oder ste chende Empfindung in den Extremitäten; dann eine scheinbar endlose Zeit genußreicher Ruhe, während derer die erwachenden Gefühle sich zu Gedanken formen woll ten; dann ein kurzes Zurücksinken ins Nichtsein; dann ein plötzliches Zusichkommen. Endlich ein leichtes Zucken des Augenlides, und gleich darauf der elektrische Schlag eines tödlichen, endlosen Schreckens, der das Blut aus den 122
Schläfen zum Herzen peitschte. Und nun der erste Versuch, wirklich zu denken. Und dann die erste Anstrengung, sich zu erinnern. Ein teilweiser, vorübergehender Erfolg. Bis schließlich das Erinnerungsvermögen so weit wiederherge stellt war, daß ich mir meines Zustandes bewußt wurde. Jedenfalls fühlte ich, daß ich nicht aus einem gewöhnlichen Schlaf erwachte. Und es wurde mir klar, daß ich wieder einen meiner Anfälle gehabt hatte. Da aber schlug wie ein Ozean das Bewußtsein einer grauenvollen Gefahr über mir zusammen, die geisterhafte Idee beherrschte mich wieder. Einige Minuten blieb ich regungslos. Warum? Ich konnte den Mut nicht finden, auch nur eine einzige Bewegung zu machen. Ich wagte es nicht, mich von meinem Schicksal zu überzeugen, und doch flüsterte irgend etwas in meinem Herzen mir die Gewißheit zu. Eine Verzweiflung, wie sie keine andere Art menschlichen Elendes hervorbringen kann, trieb mich endlich dazu, ein Augenlid zu öffnen. Es war dunkel – undurchdringlich dunkel um mich. Ich wußte, daß der Anfall vorüber – ich wußte, daß die Krise längst vorbei war. Ich wußte, daß ich den Gebrauch meines Sehvermögens vollständig wiederer langt hatte, und doch war alles dunkel, undurchdringlich dunkel, die äußerste, lichtloseste, undurchdringlichste Nacht! Ich versuchte zu schreien, meine Lippen und meine tro ckene Zunge bewegten sich mit krampfhafter Anstrengung; doch kein Ton entrang sich meinen Lungen, die wie von einer Bergeslast bedrückt nach Luft schnappten und zu zer reißen drohten. Als ich bei dem Versuch, zu schreien, die Kinnbacken 123
bewegen wollte, hatte ich gefühlt, daß man sie, wie bei To ten üblich, umbunden hatte. Ich fühlte ferner, daß ich auf etwas Hartem lag und etwas Ähnliches mich an den Seiten drückte. Bis jetzt hatte ich noch nicht gewagt, ein Glied zu rühren, nun aber warf ich meine Arme, die ausgestreckt mit gekreuztem Handgelenk dagelegen hatten, heftig in die Höhe. Sie stießen sich an einem festen, hölzernen Gegen stand, der sich über meinem ganzen Körper, vielleicht in der Höhe von sechs Zoll, ausdehnte. Nun konnte ich nicht länger zweifeln, daß ich in einem Sarg war. Aber da erschien mir in all dem grenzenlosen Elend ein süßer Hoffnungsengel – ich dachte an meine Vorsichts maßregeln. Ich wand mich und machte krampfhafte An strengungen, den Deckel zu öffnen – er war nicht zu bewe gen. Ich suchte an meinen Handgelenken nach dem Gloc kenseil – es war nicht zu finden. Da entfloh mein Tröster für immer, und gräßliche Verzweiflung fiel mich an, ich bemerkte, daß die Polster fehlten, die ich für meinen Sarg hatte herrichten lassen, und dann drang plötzlich der starke, eigentümliche Geruch feuchter Erde in meine Nase. Nein, ich konnte mich nicht mehr betrügen – ich lag nicht in der Gruft. Ich war während meiner Abwesenheit von zu Hause bei Fremden in Starrkrampf verfallen. Wann oder wie? Dessen entsann ich mich nicht mehr; und sie hatten mich wie einen Hund begraben, in einen gewöhnlichen Sarg ein genagelt und tief, tief und auf ewig in ein gewöhnliches, unbekanntes Grab verscharrt. Als diese fürchterliche Überzeugung über mich gekom men war, versuchte ich noch eins: zu schreien; und es ge lang mir. Ein langer, wilder, anhaltender Schrei oder viel 124
mehr ein tierisches Gebrüll der Todesangst durchdrang die Reiche der unterirdischen Nacht. »Hallo, hallo, was soll das?« antwortete mir eine unwil lige Stimme. »Zum Teufel, was ist denn los?« hörte ich eine zweite. »Heraus mit ihm!« meinte eine dritte. »Was fällt Ihnen ein, hier wie eine wilde Katze zu heu len?« fragte eine vierte; und dann fühlte ich mich gepackt und ohne weitere Umstände ein paar Minuten lang von ein paar ziemlich rauhbeinig aussehenden Gesellen derb hin und her geschüttelt. Sie weckten mich nicht aus dem Schlaf, denn ich war, als ich schrie, schon völlig erwacht, sie gaben mir nur den vollen Besitz meines Gedächtnisses wieder. Das Abenteuer ereignete sich in Virginia, in der Nähe von Richmond. In Begleitung eines Freundes hatte ich einen kleinen Jagdausflug den James River hinab unternommen. Eines Nachts hatte uns ein Sturm überrascht; die Kajüte einer kleinen Schaluppe, die mit Mutterboden beladen im Fluß vor Anker lag, gewährte uns Schutz und Obdach. Wir richteten uns, so gut es ging, ein und übernachteten auf dem Boot. Ich schlief in einer der beiden Kojen – und das Aussehen einer solchen auf einer kleinen Schaluppe von sechzig bis siebzig Tonnen brauche ich wohl nicht weiter zu beschreiben. In meinem Schlupfwinkel befand sich nicht das geringste Bettzeug. Er maß an der breitesten Stel le achtzehn Zoll, und die Entfernung zwischen Boden und Decke betrug auch nicht mehr. Nur mit großer Schwierig 125
keit hatte ich mich in diesen Raum hineingezwängt. Den noch war ich in einen gesunden Schlaf gesunken; und mei ne ganze Vision – sie war weder ein Traum noch ein Alp – war nur die natürliche Folge meiner Lage, meines gewöhn lichen Ideenganges und der Schwierigkeit, die es mir, wie schon bemerkt, bereitete, beim Erwachen sofort meine Sin ne beherrschen und mein Gedächtnis befragen zu können. Die Männer, die mich schüttelten, gehörten zur Mannschaft des Schiffes. Der Erdgeruch kam von dessen Ladung her, und die Bandage um mein Kinn bestand aus einem seide nen Taschentuch, das ich mir, mangels einer gewohnten Nachtmütze, um den Kopf gebunden hatte. Die Qualen jedoch, die ich erlitten hatte, kamen denen eines lebendig Begrabenen vollständig gleich – sie waren gräßlich, grauenvoll gewesen. Doch aus ihnen erwuchs mir unsagbar viel Gutes, denn gerade ihr Übermaß hatte den wohltätigsten Einfluß auf meinen Seelenzustand. Ich ge wann mehr Herrschaft über mich, überließ mich nicht mehr so sehr meinen Gedanken und mehr meinem gesunden Ge fühl. Ging viel aus und machte reichlich körperliche Übun gen. Atmete aus vollem Herzen die freie Himmelsluft und begann an anderes als nur den Tod zu denken. Meine me dizinischen Bücher schaffte ich ab, ›Buchan‹ verbrannte ich und las keine ›Nachtgedanken‹ mehr, keine Kirchhofsnoch Gespenstergeschichten, keine extravaganten Erzäh lungen – wie diese hier! Kurz, ich wurde ein neuer Mensch und begann, wie ein Mensch zu leben. Von dieser denk würdigen Nacht an verabschiedete ich auf immer meine Grabesphantasien, und mit ihnen verschwand auch meine 126
Katalepsie, die vielleicht mehr ihre Wirkung als ihre Ursa che war. Es gibt Augenblicke, in denen diese Welt selbst dem Auge des nüchternsten Betrachters eine Hölle scheinen muß; doch die Phantasie des Menschen führt ihn zu keiner Katharsis, mit der er es wagen darf, all ihre Abgründe zu erforschen. Ach, die unheimliche Schar der Todesschrec ken sind doch nicht bloß Phantasien, aber wir müssen sie, wie die Dämonen, die den Afrasiab den Oxus hinab beglei teten, schlafen lassen, wenn sie uns nicht verschlingen sol len – wir müssen sie schlafen lassen, wenn wir nicht zugrunde gehen wollen!
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Vetter Passeroux von Jean Ray Der flämische Schriftsteller Jean Ray, eigentlich Raymun dus Joannes Maria de Kremer (1887-1964), gehört zu den wichtigsten Autoren der traditionellen Phantastik in diesem Jahrhundert. Zusammen mit so berühmten Phantasten wie Poe und Lovecraft zählt er zu den unbestrittenen Meistern des literarischen Horrors. In Deutschland wurde sein Schaffen erst sehr spät und nur in einer spärlichen Aus wahl bekannt. Im Herzen Angst, Im Sinn Verwirrung.
Mit blut’ger Schrift steht überall vermerkt mein Frevel.
Gilbert Am Sonntag Quadrigesima erhob sich Jo Gellert in weni ger trüber Laune als gewöhnlich. Vor ihm lag die Fasten zeit, vierzig quälende Tage, die Plage der Fastenspeisen und des reizlosen Schmorbratens. Was aber konnte der feiste Junge in dieser feuchten und windigen Kleinstadt im Westen, die von der Frühmette bis zum Nachtgebet von Glockengeläute widerhallte, anders unternehmen, als sich den derben Freuden der Tafel hinzu geben? Gewöhnlich hörte er beim Aufwachen das Summen des Wasserkessels in der Ferne und roch den verführerischen Duft brutzelnder Eier, doch an diesen Tagen frommer Ent haltsamkeit wußte er, daß ihn auf dem groben Leinentisch 128
tuch nur ein Glas Buttermilch, eine Schnitte Schwarzbrot und ein säuerliches Kompott erwartete. Heute, Sonntag, wurde die harte Vorschrift offenbar ein klein wenig gemildert, denn er hatte am vorigen Abend in der dunklen Küche die tragische Silhouette eines frisch ausgenommenen Kaninchens gesehen, dessen blutige Gliedmaßen durch Weichholzstäbchen auseinandergehal ten wurden. Mit Hilfe von unreinem Regenwasser und widerlich rie chender Schmierseife machte er eilig ein wenig Toilette, stieg einige wurmstichige Holzstufen hinunter, dann noch ein paar andere hinauf, ging durch Korridore und fühlte sich endlich behaglicher in dem riesigen Speisezimmer im Erdgeschoß. Er war nur einmal, und das war schon so manches Jahr her, für kurze Zeit in Paris gewesen, wo ihn ein Mentor im Priestergewand in Museen und Kirchen geführt hatte. Im Louvre war er vor Rembrandts »Der Philosoph in Gedan ken« stehengeblieben und hatte ausgerufen: »Aber der hat ja unser Speisezimmer gemalt!« Das war der einzige bleibende Eindruck, den Paris bei ihm hinterlassen hatte, und er dachte mit Vergnügen daran, während er den großen, wohlvertrauten Raum betrachtete. Der Vordergrund lag im Dunkel und Halbdunkel; nur durch ein an der Hinterwand befindliches Fenster mit Aus sicht auf die Straße riß ein grelles Licht eine Spalte in die mächtige Dunkelheit. Die Wendeltreppe, über die er nach unten gekommen war, stieg in steilen Windungen zu einer geheimnisvollen Höhe empor; unter einem Mauerabsatz entsprang ein durch 129
ein Pförtchen abgeschlossener Gang, und dort stützten un nötige Pfeiler ein Gott weiß woher stammendes, dunkles Gebälk; das Ganze war architektonisch unvertretbar. Auf dem schönen Eichentisch stand zu seiner Freude ein weniger frugales Frühstück als gewöhnlich; Milchkaffee, Garnelen, dünne Mischbrotschnitten mit dünnem But teraufstrich und einer Spur Quittengelee. Er verzehrte alles bis zum letzten Krümchen und stellte sich dabei vor, wie sein Sonntag ablaufen würde: Messe in der St.-Jakobs-Kirche, Freundschafts- und Höflichkeitsbe such bei Herrn Pias, dem Küster, der ihm trotz der Fasten zeit ein wenig Wein aufwarten würde; Zum Mittagessen Kaninchenbraten mit Schalotten, Zitronensoufflé. Zur Ves per einen trockenen Napfkuchen, mit Sondererlaubnis der Diözese. Zur Abendandacht: eine Partie Whist zu einem Sou pro Stich bei Tante Mathilde, dann Abendessen, des sen Anordnung wieder von der Laune des Dienstmädchens abhing. Und so verlief der Tag auch tatsächlich. Jo gewann fünfzehn Sous beim Whist zum großen Ärger einer gewissen Dame Corneels, die sich für den Verlust durch Anisplätzchen und Nußlikör entschädigen ließ; und Tante Mathilde, die ihm riet, so bald wie möglich ein jun ges, braves, gepflegtes, reiches, frommes und für zahlrei che Mutterschaften geeignetes junges Mädchen aus bester Familie zu heiraten, antwortete er mit vagen zustimmenden Gebärden. In wahrscheinlich ausgezeichneter Laune und erstaun lich uneingedenk der Fastenvorschrift, hatte ihm Catherine zum Abendessen eine Aalpastete und ein Hühnchen, zart wie ein Maienlächeln, serviert. 130
Jo hatte seine Pfeife mit gutem holländischem Tabak ge stopft und fing wieder an, das Leben schön zu finden, als die Glocke im tiefen Dunkel der Diele erklang. Es war eine Sturmglocke, die in früheren Jahrhunderten von Servitenmönchen aus Italien gegossen worden war. Sie dröhnte noch, als der von dem alten Diener Barnabe hereingeführte Besucher aus dem Dunkel auftauchte und sich in der hellen Zone der Doppeldochtlampe sehen ließ. »Ich bin es, Jo, Vetter Passeroux!« Fast wäre die lange Goudapfeife den Lippen des Rau chers entglitten. »Der Vetter Pacome Passeroux!« Jo Gellerts Mutter war Französin, eine Passeroux aus Nantes. Sie wissen ja, die Reederfamilie Passeroux, die seinerzeit mit den Gellerts im Norden in geschäftlicher Verbindung standen. »Mein Gott«, stotterte Jo, als er die Sprache wiedergefunden hatte, »nimm doch Platz, fühle dich wie zu Hause. Möchtest du etwas essen?« »Danke. Der Schlangenfraß, den man mir zu Mittag vor gesetzt hat, während man die Lokomotive von irgendwo weit her holte, die mich hierher brachte, genügt mir für den heutigen und vielleicht auch noch für den morgigen Tag. Was gibt es denn in deinem Schnapskeller Gutes?« Jo Gellert zählte nicht ohne einen gewissen Stolz auf: »Schiedam, Anisette aus Bordeaux, Orangenbitter, finni scher Kümmel, Originalrum aus Curacao …« »Natürlich – mit dem Whisky füllt man das Konfekt, und auch die einfachste Fine de Champagne ist so selten wie ein Kalb mit sechs Beinen. Dann gib mir also einen Rum, und spare nicht zu sehr beim Eingießen!« 131
»Es ist schon lange her, seit ich zum letztenmal von dir Nachricht hatte«, sagte Jo Gellert, während er ein hohes geschliffenes Kelchglas mit bernsteinfarbenem Likör füllte. »Im Frühjahr werden es zwölf Jahre«, sagte der Vetter lachend und reichte ihm die Hand. Dabei beugte er sich vor, und der Lampenschein fiel voll auf sein Gesicht. Gellert wich zurück, was der andere merkte. »Sehr schön bin ich nicht, wie?« fragte er grinsend. »Das verdanke ich der Verruga, einer ekelhaften Krank heit, die man mitunter in den Tropen bekommt und die ei nem schlimmer als Ratten das Gesicht zerfrißt. Nun ja, du wirst mich wohl so ertragen müssen, wie ich bin, Vetter Johann!« Er war abscheulich mit seinem kahlen, braun und rotvio lett brandigen Schädel, den entzündeten, triefenden und geröteten Augen, einem riesigen zahnlosen Mund und dem aufwärts gekrümmten Kinn, das mit seiner blatternarbigen Nase fast zusammenstieß Jo bemerkte, daß ihm das linke Ohr fehlte. »Gehen die Geschäfte gut!« fragte er, der wirklich schon nicht mehr wußte, was er sagen sollte. »Wenn du damit die Geldfrage meinst, kannst du ohne Sorge sein; ich besitze genug, um ein Drittel von deinem verdammten Städtchen und das Gewissen sämtlicher Ein wohner zu kaufen. Sonstige Geschäfte …« Er brach ab, um sein Glas zu leeren, mit einer gebieteri schen Gebärde befahl er seinem Vetter, es wieder anzufül len. Jo stellte keine Fragen über die »sonstigen Geschäfte«, denn er konnte sich keine anderen als solche, die mit Geld zusammenhingen, vorstellen; jedenfalls war er nun beru 132
higt; er hatte gefürchtet, er werde irgendwelche dunklen Geschichten über Darlehen mit problematischen Rückzah lungen anhören müssen. »In medias res«, fuhr Vetter Pacôme fort. »Ich nehme an, Jo, du hast das Küchenlatein, das du bei den guten Pa tern gelernt hast, nicht völlig vergessen. Also brauche ich meine Zeit nicht mit der Verfassung von Reden zu vergeu den. Du wohnst in einer winzigen Kleinstadt, die kaum auf den Landkarten verzeichnet ist, und das eben gefällt mir.« »Ich verstehe«, antwortete Gellert, der gar nichts verstand. »Wer sollte mich denn hier suchen? Und wer würde mich in diesem Haus finden, das so dunkel ist wie ein Maulwurfsbau, ha?« »Du willst doch nicht sagen, daß du dich versteckst«, fragte Jo besorgt. »Doch, das sage ich und danke dir, daß du es so schnell begriffen hast. Als Kind warst du nicht besonders aufge weckt. Du hast im Lauf der Jahre Fortschritte gemacht, mein Lieber.« »Die Polizei …« begann Gellert. »Zum Teufel mit der Polizei, mit der habe ich nichts zu schaffen; im Gegenteil, die würde mir ein Heer von Bullen zur Verfügung stellen, wenn ich den Wunsch danach zum Ausdruck brächte. Ääh … will sagen, deine Türen schlie ßen doch gut, will ich hoffen?« Gellert lächelte bei dem Gedanken an die schweren Si cherheitsketten, die dreifachen Schlösser und die eisenge panzerten Türen, die seinen Besitz und seine Person 133
schützten, doch im nächsten Augenblick war er schon wie der besorgt und ängstlich. »Allerdings«, fuhr Passeroux fort, »würde das alles wahrscheinlich nicht viel nützen. Alles hängt davon ab, ob er mich hier finden würde.« »Er?« fragte Jo. »Ein Duck!« antwortete der Vetter. »Das heißt auf englisch Ente.« »Nun ja, so nennt man sie. Hast du eine Landkarte von Ozeanien bei der Hand?« Jo besaß ein geographisches Lexikon, das dem Zweck entsprach. Passeroux legte den Finger auf den punktierten Wende kreis des Steinbocks und fuhr damit langsam nach Norden. »Vorbei an den Gesellschafts-Inseln, hier liegen die Ge fährlichen und etwas höher die Marquesas. Bleiben wir zwischen den beiden.« »Ich sehe da bloß Fliegenschiß«, sagte Gellert. »Es sind nur schäbige kleine Atolle, die man in einer Viertelstunde durchläuft; die meisten sind unbewohnt, denn auf ihnen wächst nicht mal genug, eine Handvoll Hündchen acht Tage lang zu ernähren. Aber diese Insel hier, oder vielleicht ist es die dort, wird von ganz seltsamen Burschen bewohnt, das wage ich zu sagen. Stell dir Knirp se vor. Dreikäsehochs, nun ja, eine Art Pygmäen, häßlich, daß es dem Teufel vor ihnen grausen würde, mit Schwimmhäuten an Händen und Füßen wie Enten; daher nennt man sie Ducks.« »Das ist tatsächlich seltsam«, stimmte Gellert zu. »Ich habe den Bestand meiner Brigg ›La Belle Nantaise‹ 134
auf See bei ihrem verdammten Atoll aufs Spiel gesetzt, weil ich wußte, daß diese Stinker ausgezeichnete Taucher sind und die geschicktesten Perlenfischer der ganzen Welt … Ich muß sagen, sie haben mich sehr gut aufgenommen.« Nach diesen ein wenig heftig geäußerten Worten trank Passeroux wieder etwas Rum und zeigte sich einigermaßen mißmutig. Er fuhr in seiner Erzählung fort: »Einer von ihnen, ein gewisser Uga-Hoo, das bedeutet ›der Gerechte‹, besaß Perlen, so groß wie Murmeln und von unvergleichlichem Glanz; er hatte drei Kokosnüsse voll damit, also ein unglaubliches Vermögen, weigerte sich jedoch hartnäckig, sie zu veräußern. Er sagte, er bewahre sie als Weihegeschenk für weiß Gott welche Halunken, die seine Meeresgötter waren. Ich bot ihm tonnenweise prima Schund an, aber er blieb bei seiner mit höflich bedauernden Worten geäußerten Weigerung. ›Ohne die Perlen fahre ich von hier nicht weg!‹ schwor ich, ›und wenn ich die Ducks bis zum letzten Mann er schlagen müßte.‹ Zum Glück mußte ich nicht so weit ge hen. Uga-Hoo war glücklicher Vater eines Mädchens, das ein bißchen weniger häßlich war als die anderen, ach … sie war im Grunde nicht so übel, die kleine Hexe. Es kostete mich ein paar Ballen Kattun, einen Wecker und einige Halstücher, um sie an Bord zu locken. Kaum war sie dort, schloß ich sie in eine Kabine ein und ließ ih rem Vater sagen, daß ich seine Tochter als Geisel an Bord hätte und sie nur freigeben würde, wenn er mir seine Perlen überließe. 135
Und da kam es zu dem albernen Drama. Das freche Stück, das keinerlei Neigung für die Einzel haft verspürte, nicht mal in einer mit allem modernen Komfort versehenen Kabine, schraubte eine Luke auf und sprang entschlossen ins Meer. Wir sahen sie behende wie ein Fisch zur Küste schwim men, und sie war nur mehr ein paar Taulängen davon ent fernt, als neben ihr eine riesige Dreiecksflosse auftauchte. Ich glaube, der Hai schlang sie auf einen Bissen hinunter … Am nächsten Morgen kam Uga-Hoo, ganz seltsam aufge macht, zu mir an Bord; er sah aus wie ein Gürteltier. An geblich war das die Galakleidung der großen Inselpriester, der Zauberer. Er verfluchte mich und sagte mir in Pidgin-Englisch die häßlichsten Dinge, die man sich nur vorstellen kann. Da war er aber an den Falschen geraten. Ich hatte in meiner Wut darüber, ein so wundervolles Geschäft verpaßt zu haben, etwas über den Durst getrunken. Uga-Hoo spie mir ins Gesicht. Das war mir zuviel: ich griff nach der er sten Waffe, die sich in Greifweite befand. Zufällig war es eines der schrecklichen Hackmesser, eine Art Machete, rasiermesserscharf, wie man sie verwendet, um sich auf den Inseln einen Weg durch die Dschungel zu bahnen. Ich ließ es durch die Luft wirbeln und schlug damit nach Uga-Hoo. Oh … die Ducks sind ganz kleine Menschen, das habe ich schon gesagt, und sie haben so schlanke Taillen wie Tänzerinnen. Dort traf ich ihn, und er wurde prompt entzweigeschnit 136
ten; hier der Rumpf und dort die Beine! Wir warfen ihn den Haifischen zu, die sich daran gütlich taten, und dann setzen wir sofort die Segel, denn schließ lich waren die Knirpse mehr oder weniger englische Unter tanen.« »Entzweigeschnitten und von den Haien gefressen«, sag te Jo Gellert. »Vor dem wirst du doch nicht flüchten, Pa come?« »Doch gerade vor dem«, knurrte der Seemann, und sein Gesicht verzerrte sich gräßlich. Nachdem er dann noch Schlag auf Schlag zwei Gläser Rum geleert hatte, fuhr er mit dumpfer und heiserer Stim me fort: »Es war eines Abends in Frisco. Ich wohnte im Califor nian und machte ein wenig Toilette, ehe ich ins Restaurant ging. Plötzlich höre ich ein seltsames Geräusch im Bade zimmer: klapp … klapp! … als ob eine große Ente dort umherpatschte. Ich gehe nachsehen … Ach, Gott, mein Blut gefror mir in den Adern; ein greulicher, kleiner, beinloser Krüppel planschte in der Badewanne, deren Wasser rot von seinem Blut war. Ich erkannte Uga-Hoo, jedoch in einem unendlich schauerlichen Zustand, zu einem Scheusal für ein anatomi sches Museum mit kaum noch erkennbaren menschlichen Formen geworden. In seinem zerfetzten Kopf leuchteten riesige weiße Emailaugen über einem grinsenden Tigermaul. Er rief mit grauenerregender Stimme meinen Namen, und dann roch ich seinen Verwesungsgestank … Puah! 137
Ich flüchtete, hörte ihn jedoch in seinem ekelhaften Pid gin kläffen: ›Wie ich … Wie ich … Zerschnitten, gefressen, ver fault!‹« »Pacome«, unterbrach ihn Gellert, »das war doch bloß eine Vision, wenn auch gewiß eine sehr unangenehme.« »Eine Vision, du Unseliger!« schrie der Seemann. »War te nur auf die Fortsetzung! Wir waren auf der Fahrt nach Europa, da kamen, auf ho her See im Atlantik, meine Leute verlegen und ungehalten zu mir und erzählten, daß die Rahen und das Tauwerk der Brigg blutbeschmiert seien und abscheulich stänken; sie weigerten sich, die Segelmanöver auszuführen, wenn das so weiterginge. Es bedurfte vieler Drohungen und Verspre chungen meinerseits, um eine regelrechte Meuterei zu vermeiden. Zweimal jedoch sah ich im Mondschein das entsetzliche Schindluder, das sich’s am Fockmast bequem machte; es blickte mich mit seinen weißen Augen an, und ich hörte trotz heiseren Windgeheuls und Segelrauschens die ewige entsetzliche Leier: ›Wie ich … Wie ich … Zerschnitten, gefressen, verfault.‹« »Auch das ließe sich durch eine Vision, eine Sinnesver wirrung erklären«, glaubte Gellert sagen zu müssen. Passeroux zog verächtlich und wortlos die Schultern hoch. »Und dann in Lissabon; das scheußliche Ding hatte uns inzwischen in Frieden gelassen, und ich schöpfte allmäh lich Hoffnung. Auf dem Heimweg nach einer kleinen Feier mit Freun den sah ich im Lichte einer Laterne an einer Straßenecke 138
den Beinlosen auf dem Gehsteig sitzen. Kaum hatte ich ihn erblickt, stieg mir ein entsetzlicher Gestank in die Nase und verursachte mir Übelkeit. Ich wollte umkehren, hatte aber keine Zeit mehr dazu; er flog mir mit einem phantastischen Sprung wie eine Katze ins Gesicht. Ich spürte, wie seine scharfen Nägel meine Wangen und Lippen zerfetzten, und scheußliche Flüssigkeit über mich spritzten.« »Dann am nächsten Tag hat es begonnen«, schrie Passe roux. »Mein Kopf war angeschwollen wie ein Kürbis, rie sige Furunkel sproßten auf meiner Haut, ich schrie unter entsetzlichen Schmerzen. ›Das ist die Verruga‹, erklärte der Marinearzt, man stell te mein Schiff unter Quarantäne, und ich mußte längere Zeit in der schauderhaften Isolierabteilung des Hospitals verbringen.« »Und seither?« fragte Gellert ängstlich. »Ich habe ihn in Nantes wiedergesehen, am Kai, von der Ferne, aber er näherte sich mir nicht. Einige Tage später spürte ich zu Hause plötzlich seinen Gestank, doch er tauchte nicht auf. Da flüchtete ich wie ein Dieb, in der Hoffnung, er werde mich hier, in diesem verlorenen Nest, nicht finden.« »Wenn man dir glauben darf«, sagte Gellert langsam, »wäre dieses … hm! … dieses Ding … Nun, es fällt mir schwer, ein solches Wort zu gebrauchen: ein Gespenst!« Passeroux antwortete nicht. »Ich glaube nicht an Gespenster«, erklärte Jo Gellert sentenziös. »Übrigens kann unsere Religion die Existenz 139
derartiger Wesen nicht anerkennen.« Da sprach aus Passeroux die tiefste Verzweiflung: »Und wenn Gott sich vielleicht von mir abwendet, wenn er mich bereits jetzt dem Grauen der Hölle preisgibt?« Jo Gellert senkte den Kopf und spürte, wie eine tiefe Angst in ihm aufstieg. Die kleine Stadt nahm Pacome Passeroux trotz seines wi derwärtigen Äußeren freundlich auf, denn sie wußte, daß er reich war. Er wurde bei Tante Mathilde empfangen, welche sich im stillen vornahm, eine würdige Ehefrau für ihn zu suchen, die bereit wäre, seine Häßlichkeit zu übersehen. Er machte die Bekanntschaft des Küsters Pias, der ihn zum Wein ein lud und Catherine, durch seine üppigen Trinkgelder besto chen, vergaß die Fastenregeln und bereitete ihm delikate Speisen, die ihm köstlich schmeckten. Die Wochen verstrichen in völligem Frieden; das mißge stalte kleine Gespenst schien den Zufluchtsort seines Opfers nicht zu kennen. Doch eines Tages anfangs April machte Jo Gellert eine Entdeckung, die ihn beunruhigte. Am Ende seines Gartens befand sich ein kleiner Teich, in dessen Mitte auf einem Felssockel ein Springbrunnen angebracht war. Auf dem Weg zu den Fliedersträuchen, die eine frühzei tige Blüte versprachen, vernahm Jo ein seltsames, plät scherndes Geräusch. Er sah aber nichts Ungewöhnliches, außer einigen Flecken auf der alten Wasserstatue, die ihm vorkamen wie geron 140
nenes Blut. Seinem Vetter sagte er kein Wort. Eine Tage später überraschte ihn, als er zum Frühstück nach unten ging, auf der Treppe eine heftige Zugluft. Er fand Catherine im Speisezimmer, wo sie, trotz des scharfen Windes, der draußen wehte, bei weit geöffneten Fenstern und Türen hantierte. »Was für ein Gestank!« rief sie ärgerlich. »Als ich he reinkam, dachte ich, ich müßte in Ohnmacht fallen.« Jo sagte nichts, doch sein Blick heftete sich entsetzt auf die weiße Tischdecke einer Anrichte, wo er soeben einen klaren, überaus merkwürdigen Abdruck bemerkt hatte; den einer kleinen Hand mit Spatenfingern und Schwimmhäu ten, wie von einem Entenfuß. Er ließ ihn eilig verschwinden, bevor das Dienstmäd chen ihn bemerkte, sprach jedoch auch davon zu niemand, um die im Herzen von Passeroux wiedergekehrte Ruhe nicht zu stören. Übrigens sollte der Seemann, zumindest auf dieser Erde, nicht mehr seinen Seelenfrieden einbüßen; dafür sorgte das Schicksal. Der Mai war gekommen, die ersten Rosen blühten, und das Städtchen, das eine Südbrise erwärmte, zeigte ein lä chelndes Antlitz. Pacome Passeroux, der sich dem kindlich tugendhaften Milieu von Tag zu Tag besser anpaßte, gefielen die bläßli chen Freuden des friedlichen Städtchens. Er fand Vergnü gen an den Nachmittagstees der alten Zieräffchen, interes sierte sich für die Wohltätigkeit der eifrigen Damen, rauchte langstielige Goudapfeifen, las die Predigten Gorters und trank in der Kneipe mit den Leuten vom Hafen. 141
Und am liebsten hätte er, als der Flieder- und Rosenmo nat kam, mit den jungen Leuten zusammen gesungen: »Es ist der Monat Marias, der schönste Monat im Jahr! …« Jo Gellert hatte diesen vom Grauen verfolgten Mann mehr, als er sich hätte vorstellen können, liebgewonnen, so daß er seine Häßlichkeit gar nicht mehr sah. Eines Morgens ließ er sich von der Sonnenwärme und der wilden Freude der Schwalben verlocken und forderte den Vetter, auf, sei ne ernsten Bücher beiseite zu legen und mit ihm einen Spa ziergang über Land zu machen. »Drei Kilometer quer über eine Heide, so blumenge schmückt wie eine Braut«, schlug er vor, »und am Ende gibt es ein ausgezeichnetes kleines Gasthaus.« Der Himmel glänzte wie Glimmerstein, in der warmen Luft summten die Bienen und in der Ferne, am Horizont, dröhnte der tiefe Baß der See. »Alles Glück liegt im Frieden«, sagte Gellert, der sich irgendwie erinnerte, diesen süßlichen Aphorismus irgend wo gelesen zu haben. »Richtig«, sagte Passeroux ernst, »und es tut mir nur leid, daß ich das erst so spät begriffen habe.« Wie immer, vermieden sie es, von dem grausigen Aben teuer zu sprechen. Sie gingen die eingleisige Eisenbahnstrecke entlang, welche zwei unbedeutende Hafenstädte verband und von einem kleinen Bummelzug mit der Geschwindigkeit einer Spielzeugbahn befahren wurde. Weder Gellert noch Passeroux sahen den Zug heran kommen, der übrigens auf dem größten Teil seiner Strecke in einem Graben fuhr. Plötzlich stieß Jo einen Warnruf aus. 142
»Achtung, Pacome … Achtung!« Der Zug kam mit ungewohnter Schnelligkeit auf sie zu, die Lokomotive spie Dampf, Rauch und halbverbrannte Kohlenstückchen. »Achtung!« Die Warnung war rechtzeitig erfolgt und Passeroux hätte sich noch retten können. Er tat es nicht. Gellert sah ihn aufrecht zwischen den Schienen stehen, die Arme zum Himmel erhoben, das Gesicht der dröhnen den Masse zugewandt, die den Boden erzittern ließ. Er sah die verzweifelte Gebärde des Lokomotivführers, der sich aus dem Führerstand beugte und unhörbare Rufe ausstieß, doch er sah auch etwas Unförmiges und dennoch entsetz lich Menschliches, das den konisch nach oben ragenden Rauchfang der Lokomotive umklammert hielt. Bremsen knirschten, der Dampf des Rückwärtsgangs pfiff verzweifelt; Männer in blauen Monteuranzügen liefen das Gleis entlang, und Gellert hörte entsetzte Rufe: »Um Himmels willen, deckt ihn doch zu … Er wurde entzweigeschnitten!« Der Rumpf auf einer Seite, die Beine auf der anderen, das war das letzte Bild, das Gellert von seinem Vetter im Gedächtnis behielt. Man brachte die Leiche in die Hütte eines Hirten auf der Weide; gegen Abend war sie in einem derartigen Zustand der Auflösung und verbreitete einen so schrecklichen Ge stank, daß man sie mit ungelöschtem Kalk bedecken muß te.
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Jo Gellert war nicht wenig erstaunt, als er einige Zeit nach der Beisetzung erfuhr, daß Pacome Passeroux ihn zu sei nem Universalerben eingesetzt hatte. Sein Kummer, der echt war, wurde dadurch nicht geringer, im Gegenteil, denn es gesellte sich ihm nun eine gerührte Dankbarkeit zu. Nach der Verlesung des Testaments brauchte er mehrere Stunden, um sich zu erholen, so gewaltig war die Erb schaft, und noch lange hallte die Aufzählung der phantasti schen Summen in seinen ungläubigen Ohren nach. »Millionen … noch und noch Millionen.« Die Zeit verging. Gellert änderte nichts an seiner bishe rigen Lebensweise. Sein neu erworbenes Vermögen er schreckte ihn ein wenig, und er sorgte sich um seinen See lenfrieden, den vorher nichts gestört hatte. Er hatte dem großzügigen Verblichenen, zum Teil auch aus Dankbarkeit, eine Art Kult gewidmet, indem er dessen Lieblingsbücher ehrfurchtsvoll hütete, seine Pfeifen in ei nem Glasschrank verwahrte, den er am liebsten wie ein Grab mit Blumen geschmückt hätte. Ein Jahr war verstrichen. Am Sonntag Quadrigesima galt beim Erwachen sein er ster Gedanke Passeroux. »Heute vor einem Jahr kam er zu mir und bat mich um Zuflucht«, sagte er sich, indem er verstohlen eine Träne fortwischte. Er ging in seinem Gedenken so weit, daß er Catherine auftrug, die gleichen Speisen zu bereiten wie an dem Tag vor einem Jahr: das gleiche Mittagessen, bestehend aus Kaninchenbraten und einem Zitronensoufflé, das gleiche Abendessen mit der Aalpastete und dem zarten Hühnchen. 144
Er verzeichnete im Geist die Ähnlichkeit der beiden Ta ge: Den Geschmack des spärlichen Weins beim Küster Pias, den des trockenen Napfkuchens, der ihm um vier Uhr zum Tee serviert wurde, die fünfzehn Sous, die er wieder beim Whist mit Tante Mathilde gewann, und die zügellose Art, wie sich die Dame Corneels mit Anisplätzchen und Nußlikör bediente. Abends nahm er vor der Doppeldochtlampe Platz und zündete seine mit holländischem Tabak gestopfte Pfeife an. »Es war genauso ein Abend wie dieser«, murmelte er. »Ich glaube, ein leichter Regen peitschte gegen die Fenster. Um diese Zeit läutete die Glocke …« Es läutete. Es läutete Sturm und erfüllte die schwere Luft in dem dunklen alten Haus. Jo Gellert sprang mit einem Schreckensschrei hoch … Ob er wohl plötzlich im Schein der Lampe auftauchen würde, er, der Vetter Passeroux, mit seinem abscheulichen Gesicht, um von ihm Rum zu verlangen und eine unglaub liche Geschichte zu erzählen? Es war aber der alte Barnabe, der zornerfüllt hereinkam. »Entschuldigen Sie, Herr … Das sind sicher schlimme Gassenjungen, die zum Spaß an den Häusern klingeln. Ich werde mich bei Herrn Bürgermeister beschweren. Es ist wirklich unausstehlich!« Jo Gellert holte Atem und trat dann großzügig für die schlimmen Jungen ein. »Ach was, sie sind jung und tun im Grunde nichts Bö ses.« Ihm war eine große Last vom Herzen gefallen, und er öffnete, wie um diese erfreuliche Entspannung zu feiern, 145
seinen Likörkeller, entnahm ihm eine Karaffe und goß sich ein volles Glas ein. Es war Rum. Den trank er nie, und diese neuerliche Ähnlichkeit mit Passeroux beunruhigte ihn ein wenig. Dennoch, und wahr scheinlich in Erinnerung an ihn, leerte er das Glas, fand den Geschmack des Likörs angenehm und trank noch ei nes. Da er an starke Schnäpse nicht gewöhnt war, spürte er einen leichten Schwindel, der ihm zu Kopf stieg. Er ließ seine Pfeife ausgehen, sank noch tiefer in den Samtfauteuil und schlief ein. Es war ein leichter Schlaf, denn das schwache Geräusch von umgeschlagenen Buchseiten weckte ihn. Jo las nur wenig, und die Bände kamen selten aus sei nem Bücherschrank; doch nun traute er seinen Augen kaum, denn auf dem leeren Tisch, auf dem vorher nur die Lampe und der Aschenbecher gestanden hatten, lag ein of fenes Buch. Gellert erkannte es sofort: es waren Gorters Sermons. »Unmöglich«, murmelte er und dachte, er sei noch im Halbschlaf, doch alsbald folgte der ersten Überraschung eine zweite, ebenso beunruhigende. Seine Pfeife war ausgegangen; dennoch strichen feine bläuliche Rauchschwaden um die Lampe. »Unmöglich«, wiederholte er, und fuhr fort. »Ich rauche nicht, meine Pfeife ist kalt.« In diesem Augenblick fiel sein ahnungsloser Blick auf das Glasschränkchen, und fast empfand er einen Schock: es stand offen. 146
Er zählte mechanisch die Pfeifen aus weißen Ton; es wa ren sechs … eine fehlte. Vor ihm, auf der anderen Seite des Tisches, stand der Armstuhl, auf dem Vetter Passeroux jeden Abend gesessen hatte und den Jo zu entfernen verboten hatte. Zuerst glaubte er, weil die Lampe den Fauteuil im Halb dunkel ließ, eine sitzende Gestalt darin zu erkennen, doch das war gottlob unrichtig. »Das wird mich lehren, Rum zu trinken«, sagte er end lich. Eine letzte beruhigende, doch leider vergebliche Bemer kung. Aus dem Hintergrund des Raums drang ein entsetzlicher Gestank zu ihm, eine schauderhafte Fäulniswelle, welche die Luft so verdichtete, daß sie zum Ersticken wurde und seine Kehle vergiftete. Er hatte noch die Kraft, sich zu erheben und, den Atem anhaltend wie ein Taucher, zur Treppe zu laufen, in sein Zimmer zu eilen und sich darin fest einzuschließen. Dann lauschte er keuchend. Zuerst herrschte Stille, eine unheimliche tiefe Stille in dem schlafenden Haus, dann setzte in der Ferne ein nicht erkennbares Geräusch ein. Es dauerte einige Zeit, bis es deutlicher wurde, doch jetzt war es klar. Es war das mühselige Hinaufsteigen eines schlaffen Dings, das sich mit matten Stößen über die Stu fen bewegte, als ob ein ungeheurer Schwamm sich daran gemacht hätte, zu leben und zu wandern. Es stieß mit einem ekelhaften Geräusch gegen die ver schlossene Tür, und plötzlich pfiff ein stinkender Hauch 147
durch das Schlüsselloch und wurde zu einer Stimme. »Wie ich … Zerschnitten … Gefressen … Verfault!« Ach, diese Stimme! Jo Gellert hätte sein Leben dafür gegeben, sie in einem Inselkauderwelsch quäken zu hören, doch nein … Oh, mein Gott! Nein! … Es war die Stimme von Pacome Passeroux. Am nächsten Morgen kam Barnabe sehr früh, um ihn zu wecken. »Sehen Sie doch Herr, was ich soeben vor der Schwelle am Eingang gefunden habe. Catherine und ich glauben, es könnte der Mann hingelegt haben, der gestern abend klin gelte, aber sehen konnte man ihn in der Dunkelheit nicht.« Es waren drei große bis zum Rand mit riesigen Perlen angefüllte Kokosnüsse. Die Krankheit, die Jo Gellert hinwegraffen sollte, begann ohne vorangehende Symptome. Eines Morgens im Mai er wachte er und fand sein Gesicht von Blasen bedeckt, die noch vor Eintreffen des Arztes zu eitern begannen. Eine Stunde später schwamm er geradezu in Eiter und Exsuda ten. Nach einer Woche fiel ihm ein Ohr ab und sein ent blößter Schädel bekam braune und purpurrote Flecken. Er bot einen entsetzlichen Anblick, und sogar seine treu en Bediensteten konnten sich ihm wegen des grauenhaften Geruchs, den sein Körper ausströmte, nicht nähern. Die Spezialisten aus Leyden und Amsterdam traten, nachdem sie sein abstoßendes Krankenlager verlassen hatten, zu ei ner Beratung zusammen. 148
»Haben Sie die seltsame Mißbildung der Hände be merkt? Haben Sie die Häute gesehen, die zwischen seinen Fingern wachsen, so daß sie aussehen wie Entenfüße?« »Und was sagen Sie zu der sonderbaren Milchkaffeefar be, welche die Haut annimmt? Mein Wort, man könnte ihn für einen Mischling oder einen Malaien halten!« Tante Mathilde, die den Mut aufbrachte, ihren Neffen zu besuchen, rief aus: »Aber das ist er ja nicht? Das ist ein Neger!« Er starb nach drei Wochen und war, erklärten die Arzte, so verfault wie eine Leiche, die seit mehreren Monaten im Grab gelegen hätte. Als man die Leiche aufhob, um sie in den Sarg zu legen, brach sie in der Kreuzgegend entzwei.
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Der Kriminalrichter von Honore de Balzac Mit seinem vielbändigen, unvollendet gebliebenen Romanwerk »Die menschliche Komödie« schuf Balzac (1799 1850) in zwanzigjährigem rastlosem Schaffen das gewalti ge epische Kolossalgemälde eines halben Jahrhunderts. In über 80 Bänden – geplant waren 137 Bände – wagte er sich an eine literarische Gesamtdarstellung der Gesell schah seiner Zeit. Er begründete damit den soziologischen Realismus im modernen Roman. Balzac indes war Realist und Visionär zugleich, ein Schriftsteller, der auch die un sichtbaren Wirklichkeiten jenseits der sinnlich erfahrbaren Wirklichkeit auszuloten versuchte. Ein Beispiel dafür ist »Der Kriminalrichter«, eine von Balzacs mystischen Ge schichten, die in einer Zeit entstanden sind, als er eine »Comedie du diable« als Gegenstück zu seiner »Comedie humane« plante. Pierre Leroux war ein armer Pferdeknecht in der Nähe von Beaugency. Wenn er den ganzen Tag damit zugebracht hatte, die drei Pferde zu leiten, mit denen gewöhnlich sein Karren bespannt war, und er dann des Abends in den Bau ernhof zurückkehrte, auf dem er diente, so verzehrte er sein Abendbrot mit den übrigen Knechten, ohne dabei viel zu sprechen, zündete dann eine Laterne an und begab sich in das Hängebett, welches in einer Ecke des Stalles ange bracht war. Seine Träume waren nicht sehr verwickelt und erweck 150
ten kein besonderes Interesse. Gewöhnlich beschäftigte er sich im Traum nur mit seinen Pferden. Einmal erwachte er plötzlich durch die Anstrengungen, die er machte, um das Stangenpferd wieder auszuhängen, das über die Kette ge treten war; ein anderes Mal hatte sich die Blässe in den Leitriemen verwickelt. Eines Nachts träumte ihm, daß er an seine Peitsche eine ganz neue Schweppe geknüpft habe, die Peitsche aber dennoch nicht klatschen wollte; dieser Traum setzte ihn in eine so lebhafte Aufregung, daß er nach dem Erwachen sogleich nach der Peitsche griff, die er gewöhn lich neben sich liegen hatte, und daß er, um sich zu über zeugen, ob er nicht des schönsten Vorrechts eines Fuhr manns verlustig geworden sei, während der Stille der Nacht aus Leibeskräften zu klatschen begann. Bei diesem Lärmen geriet der ganze Stall in Aufregung; die erschreck ten Pferde sprangen empor, drängten sich gegeneinander, keilten und wieherten und hätten beinahe ihre Halfter zer rissen. Pierre Leroux beruhigte indes durch einige besänfti gende Worte den Lärm, und jeder schlief wieder ein. Das war nun das merkwürdigste Ereignis in seinem ganzen Le ben, und er erzählte es jedesmal, wenn ein Gläschen Branntwein seine Zunge gelöst hatte und ein geduldiger Zuhörer vorhanden war. Zu gleicher Zeit beschäftigten Träume von ganz anderer Art den Herrn Desalleux, den Substituten des Generalpro kurators beim Kriminalgericht von Orleans. Da er mit Glanz einige Aufträge des Ministeriums ausgeführt hatte, so glaubte er, daß er zu jedem Verwaltungsamt befähigt sei, und sah sich in seinen nächtlichen Erscheinungen meist schon als Siegelbewahrer. Besonders feierte aber sein Geist 151
Triumphe der Rednerkunst bei Nacht, wenn er sich den ganzen Tag mutig in den Schranken abgekämpft hatte. Der Ruhm der d’Aguesseau und anderer großer Redner aus den schönen Zeiten der parlamentarischen Registratur genügte für ihn noch nicht, vielmehr ging er in die fernste Vergan genheit zurück bis zu den Wundern der Beredsamkeit eines Demosthenes, den er zu erreichen und zu übertreffen ge dachte. Mächtig durch die Kraft der Rede zu werden, das war seine Hoffnung, um derentwillen er sich aller anderen Gedanken der Jugend entschlug. Eines Tages befanden sich diese beiden Naturen einan der gegenüber, nämlich die des Pierre Leroux, welcher sich kaum um einen Grad über das Vieh erhob, und die des Herrn Desalleux, der sich bis zum höchsten Spiritualismus emporgeschwungen hatte. Es handelte sich zwischen ihnen um einen winzigen Kampf: Herr Desalleux, der auf seinem Richterstuhl saß, verlangte infolge einiger unbedeutender Anzeichen das Haupt des Pierre Leroux, welcher eines Mordes angeklagt war, und Pierre Leroux verteidigte sei nen Kopf gegen das Verlangen des Herrn Desalleux. Ungeachtet des bemerkenswerten Mißverhältnisses der Kräfte, die den beiden Kämpfern von der Vorsehung zuge teilt waren, ungeachtet der Dazwischenkunft der menschli chen Einrichtungen, welche die Gleichheit noch mehr durch den Ausspruch der Geschworenen stören mußten, wäre dennoch der Angeklagte wegen Mangel an Beweisen allem Anschein nach den Händen des Henkers entgangen; allein gerade die ungenügenden Beweise der Anklage bo ten Gelegenheit, eine außerordentliche Beredsamkeit zu zeigen, die zur Erfüllung der schönen Hoffnungen des 152
Herrn Desalleux außerordentlich behilflich sein mußte. Da er nichts versäumte, was seiner Zukunft nützen konnte, so brachte er es nicht über sich, diese Gelegenheit ungenutzt vorübergehen zu lassen. Überdies zeigte sich noch ein ungünstiger Umstand für den armen Pierre Leroux. Einige Tage vor Beginn des Pro zesses hatte der junge Substitut in Gegenwart mehrerer lie benswürdiger Frauen, die sich die Freude machten, beim Prozeß zugegen zu sein, die feste Überzeugung geäußert, daß er von der Jury ein Verdammungsurteil erlangen wer de; nun ist es aber begreiflich, in welche mißliche Lage er sich gebracht hätte, wäre ihm diese Verurteilung fehlge schlagen und hätte Pierre Leroux seinen Kopf auf den Schultern behalten, um dadurch zu beweisen, daß die Wor te des Substituten keinesfalls allmächtig wären. Daher tadle man den Beamten nicht; war er nicht durchaus überzeugt, so machte er sich nur um so mehr Verdienste, daß er über zeugt schien und sich beredt zeigte, wie sich seit einem Jahrhundert niemand vor den Schranken von Orleans be redt gezeigt hatte. Oh, warum wart ihr nicht zugegen, um zu sehen, wie die armen Herren Geschworenen bis in das Innerste ihrer Herzen erschüttert wurden, als ihnen in einer schönen und wohlklingenden Rede das entsetzliche Ge mälde der in ihren Grundpfeilern erschütterten Gesellschaft vorgehalten wurde; als ihnen bewiesen wurde, wie sich alle gesellschaftlichen Bande lösen würden, wenn man Pierre Leroux freisprechen wollte! Warum wart ihr nicht zugegen, um die höflichen Lobsprüche anzuhören, welche der Ver teidiger und der Ankläger einander machten, als der An walt des Angeklagten das Wort ergriff und bewies, daß er 153
nicht umhin könne, dem glänzenden Rednertalent des Sub stituten seine Huldigungen darzubringen! Warum habt ihr es nicht gehört, wie der Präsident des Gerichtshofes mit denselben Glückwünschen seine Worte begann, so daß man fast hätte glauben mögen, es handele sich darum, in einer Akademie den Preis der Beredsamkeit zuzuerkennen, keineswegs aber darum, einen Mann um das Leben zu bringen! Ihr hättet jedenfalls sehen können, wie eine Men ge prachtvoll gekleideter Damen der Schwester des Herrn Desalleux ihre Glückwünsche darbrachten, während in ei ner etwas fernen Ecke sein alter Vater im Übermaß seines Glückes weinte, da er den Sohn und unvergleichlichen Redner sah, welchem er das Leben gegeben hatte. Etwa sechs Wochen nach dieser allgemeinen Familien freude bestieg Pierre Leroux mit dem Scharfrichter einen Karren, der auf ihn an der Tür des Gefängnisses von Orle ans wartete. Sie begaben sich miteinander nach dem Platz von Martroie, auf welchem die Hinrichtungen vorgenom men werden. Pierre Leroux bestieg mit der größten Ruhe die Treppe des Schafotts. Als er die letzten Stufen erreicht hatte, erglänzte der strahlende Stahl des Schwertes der Ge rechtigkeit in der Sonne, und er schien wanken zu wollen, als er diesen Schein erblickte. Der Scharfrichter nahm ihn aber mit der höflichen Besorgnis eines Wirts, der seine Gä ste zu empfangen weiß, beim Arm, um ihn zu unterstützen und auf den Boden der Guillotine niederzulegen; dort fand Pierre Leroux den Greffier des Kriminalgerichts, der er schienen war, um das Protokoll der Hinrichtung aufzuneh men, und die Gendarmen, denen es oblag, darauf zu ach ten, daß die öffentliche Ordnung bei der Berichtigung sei 154
ner Rechnung nicht gestört werde, sowie auch die Hen kersknechte, die, weit entfernt, das Sprichwort von der Grausamkeit zu bestätigen, vielmehr eine Gefälligkeit oh negleichen gegen Leroux zeigten und sich mühten, ihm die sanfteste Lage unter dem Messer zu verschaffen. Eine Mi nute später hatte Pierre Leroux seinen Kopf bereits verlo ren, und das alles war mit einer solchen Gewandtheit aus geführt worden, daß mehrere von denen, die erschienen waren, um dem Schauspiel beizuwohnen, sich gezwungen sahen, ihre Nachbarn zu fragen, ob die Sache schon abge macht sei, und dann unter einem Schwur beteuerten, daß es nicht der Mühe wert gewesen sei, um einer solchen Klei nigkeit willen aus dem Hause zu gehen. Drei Monate waren verflossen, seit man den Kopf und den Körper des Pierre Leroux in einer Ecke des Kirchhofs begraben hatte, und allem Anschein nach enthielt die Gru be noch immer seine Gebeine, als eine neue Sitzung der Assisen eröffnet wurde und Herr Desalleux eine neue An klage wegen eines Mordes zu führen hatte. Tags vorher, ehe er das Wort führen sollte, verließ er frühzeitig einen Ball, zu dem er mit seiner ganzen Familie auf einem benachbarten Schloß eingeladen war. Er kehrte allein in die Stadt zurück, um seinen Rechtsfall zu über denken. Die Nacht war finster; ein warmer Wind wehte über die Ebene, während er noch das Rauschen des Festes in den Ohren hatte. Eine große Schwermut ergriff ihn. Er erinner te sich an so manche Leute, die er gekannt hatte und die gestorben waren, und dachte dabei auch an Pierre Leroux, ohne zu wissen, warum. 155
Als er sich der Stadt näherte und die ersten Lichter der Vorstadt in seine Augen fielen, da verschwanden alle diese düstern Gedanken. Als er aber vollends erst vor seinem Schreibtisch saß, von seinen Büchern und Akten umgeben, da dachte er nur noch an seine Rede, die noch glänzender ausfallen sollte als irgendeine seiner früheren gerichtlichen Reden. Sein Anklage-System war fast festgefügt. Beiläufig be merkt ist es eine ziemlich wunderliche Sache, daß man von einem Anklage-System sprechen kann, das heißt, von einer bestimmten Weise, die Tatsachen und Zeugnisse zusam menzustellen, um einen Menschen um seinen Kopf zu bringen, genauso wie man von einem philosophischen Sy stem spricht, das heißt, von einer bestimmten Weise, Gründe oder Sophismen zusammenzustellen, mit deren Hilfe man irgendeine unschuldige Wahrheit, eine morali sche Theorie oder Träumerei siegen läßt. Sein AnklageSystem begann sich schon abzurunden, als die Aussage eines Zeugen, die er noch nicht geprüft hatte, das ganze sichere Gebäude umzustürzen drohte. Er zögerte einige Augenblicke; allein, wie wir gesehen haben, ließ Herr De salleux in seiner Tätigkeit als Kriminalrichter wenigstens ebensooft seine Eigenliebe sprechen wie sein Gewissen. Er nahm seine ganze logische Kraft zu Hilfe und all seinen Wortreichtum, um das ungelegene Zeugnis nicht nur zu widerlegen, sondern es sogar zu einem seiner schönsten Beweise zu machen; nur war diese Arbeit sehr mühselig und dauerte bis spät in die Nacht. Es war drei Uhr; die Lichter, die auf seinem Schreibtisch standen, begannen zu verlöschen und verbreiteten nur noch 156
einen schwachen Schein. Die Arbeit war indes zu dringend, und er steckte daher neue Lichter auf, ging einige Male im Zimmer auf und ab und setzte sich dann in seinen Armstuhl, indem er sich an dessen Rücken anlehnte. Während er in dieser Haltung sei nen Gedanken nachhing, schaute er durch ein Fenster nach den Sternen, die am Himmel glänzten. Während seine Bli cke an dem Fenster hinabglitten, begegneten sie plötzlich zwei starren Augen, die ihn anblickten; er glaubte, daß der Widerschein der Lichter diese Erscheinung in den Fenster scheiben hervorbringe, und gab den Lichtern eine andere Stelle; die Erscheinung zeigte sich ihm jedoch jetzt nur um so deutlicher. Da es ihm nicht an Herz fehlte, bewaffnete er sich mit einem Stock, der einzigen Waffe, die er zur Hand hatte, und öffnete das Fenster, um sich zu überzeugen, wer der Unbescheidene sei, der ihn zu einer solchen Stunde be obachtete. Das Zimmer, das er bewohnte, war in einem der oberen Stockwerke, und die Wände des Hauses boten kein Mittel, um an ihnen hinauszuklimmen; in dem schmalen Raum zwischen dem Fenster und dem Balkon konnte sich kein Gegenstand seinen Blicken entziehen, und dennoch sah er nichts. Er dachte abermals, daß er von einer jener Fantasien ergriffen sei, welche durch Sinnestäuschungen bei Nacht hervorgebracht werden, und ging lachend an sei ne Arbeit zurück. Noch hatte er nicht zwanzig Zeilen ge schrieben, als er hörte, daß sich in einem dunklen Winkel seines Zimmers irgend etwas bewegte; dadurch wurde er abermals aufgeregt, denn es war doch wohl nicht anzu nehmen, daß einer seine Sinne nach dem andern ihn täuschte. Er sah in den Winkel, in dem er das Geräusch ge 157
hört zu haben glaubte, und schaute aufmerksam hin; da er blickte er einen schwärzlich aussehenden Gegenstand, der sich ihm in ungleichen Sprüngen etwa in der Weise einer Elster, näherte. Je mehr die Erscheinung in seine Nähe kam, desto häßlicher erschien sie ihm; denn sie nahm auf die deutlichste Weise die Gestalt eines Menschenkopfes an, der von seinem Rumpf getrennt war und von Blut tropfte; als endlich der Kopf mit einem schweren Sprung sich zwi schen seine beiden Lichter auf die Schriften seines Akten stoßes setze, da erkannte er die Züge des Pierre Leroux, der ohne Zweifel gekommen war, um ihn zu belehren, daß bei einem Juristen das Gewissen mehr wert sei als die Bered samkeit. Er unterlag einem untilgbaren Eindruck des Schreckens und wurde ohnmächtig; am folgenden Tag fand man ihn bewußtlos auf seinem Stuhl, während ein Blutspur durch sein ganzes Zimmer bis auf den Schreibtisch und die Aktenhefte ging; man dachte, daß er von einem Nasenblu ten ergriffen worden sei, er hütete sich, dieser Meinung zu widersprechen. Es wäre überflüssig, wollten wir noch be merken, daß er nicht im Stande war, das Wort zu führen, und daß alle seine rednerischen Vorbereitungen sich als vergeblich erwiesen. Viele Tage vergingen, ehe die Erinnerung an jene schreckliche Nacht aus seinem Gedächtnis schwand. Lange war es ihm unmöglich, im Dunkeln allein zu sein. Da sich indes die Erscheinung nicht wiederholte, so begann nach einigen Monaten der Stolz seines Geistes dem Zeugnis sei ner Sinne die Waage zu halten, und er fragte sich abermals, ob er sich nicht von seinen Sinnen habe täuschen lassen. Um ihre Autorität noch mehr einzuschränken, nahm er 158
auch noch die Meinung seines Arztes zu Hilfe, dem er sein Abenteuer mitteilte. Der Arzt, der vielfach den menschli chen Körper untersucht und über ihn nachgedacht hatte, ohne auch nur eine Spur von dem zu finden, was man unter Seele versteht, war endlich zu einem vollkommenen Mate rialismus gelangt und lachte laut auf, als er die Erzählung von der nächtlichen Erscheinung hörte. Das war vielleicht die beste Weise, seinen Kranken zu heilen; denn indem er auf solche Weise dessen Zweifel ins Lächerliche zu ziehen schien, zwang er gewissermaßen die Eigenliebe des Patien ten, ebenfalls jene Gedanken als lächerlich zu verwerfen. Überdies kann man sich denken, daß es ihm keine große Mühe machte, dem Herrn Desalleux seine Täuschung durch eine übermäßige Anspannung der Gehirnfasern zu erklären, der eine Blutüberfüllung und dann eine Blutung gefolgt sei, die bewirkt habe, daß er sah, was er nicht sah. Kräftig ermutigt durch diese ärztliche Beratung und durch die weisen Bemerkungen des Arztes, die durch keinen Um stand widerlegt wurden, gewann Herr Desalleux allmählich die Heiterkeit seines Geistes und fast alle seine früheren Gewohnheiten wieder, nur arbeitete er jetzt weniger aus dauernd, sondern überließ sich infolge der ärztlichen Ratschläge einigen Zerstreuungen der Welt, die er bisher zu sehr vermieden hatte. Für einen Mann, der seine Ge sundheit aus dem Arbeitszimmer verbannt und in das Be suchszimmer weist, gibt es nur eine Art, seine Lage erträg lich zu machen: Er muß sie nämlich ohne alle Rücksichten akzeptieren, er muß ganz und gar sich von vornherein der Freude widmen. Diejenigen Dinge, die man mit Bewußt sein tut, besitzen einen gewissen fesselnden Reiz und einen 159
gewissen Trost; überdies gibt es vielleicht nicht einen Menschen von einer so vollkommenen geistigen Überle genheit, daß er nicht durch eine Beschäftigung oder Zer streuung, die der Welt angenehm ist, ebenfalls zerstreut werden sollte, es sei denn, daß sein geistiger Hochmut dem im Wege steht. Das weibliche Geschlecht kann in solchen Fällen, wenn man sich im vorsichtig widmet, eine ausgezeichnete Zer streuung gewähren; Herr Desalleux vermochte so gut wie nur irgend jemand, sich diese Zerstreuung zu sichern, denn, ohne von seinen äußeren Vorzügen zu reden, hatte ihn sein rednerischer Ruhm und vielleicht noch mehr der fast gänz liche Mangel an Neid, den er bei Erfolgen anderer bewies, zum Gegenstand der Sehnsucht für manches weibliche Herz gemacht. Es lag jedoch in dem Grundgedanken seines Lebens etwas zu Positives, als daß er der Liebe zu einem Mädchen ohne Bedingungen Platz in seinem Herzen einge räumt hätte. Er berechnete, welches von den Herzen, die sich ihm ergeben zu wollen schienen, bei einer Ehe die meisten Aussichten auf Geld, vorteilhafte Verwandt schaftsverhältnisse und andere gesellige Vorteile ver sprach. Als der erste Teil seines Romans auf solche Weise fixiert war, sah er auch noch ohne Mißvergnügen, daß die Braut, die ihm alle diese Vorteile gewährte, zugleich ein anmutiges, schönes und geistreiches Mädchen war, und er liebte es nun mit allem Feuer, dessen er fähig war, mit der Billigung und Einwilligung seines Vaters und seiner Mutter. Seit langer Zeit hatte Orleans keine hübschere Braut gese hen als die des Herrn Desalleux, seit langer Zeit keine 160
glücklichere Familie als die des Herrn Desalleux, seit lan ger Zeit kein so heiteres und glänzendes Fest wie das seiner Hochzeit. Daher vergaß er an dem Hochzeitsabend für einen Au genblick seine Zukunft und lebte nur der Gegenwart. Als er von einem Anwalt in eine Ecke des Salons geführt war, weil ihm dieser einen Prozeß anempfehlen wollte, blickte er von Zeit zu Zeit nach der Uhr, die dreiviertel auf zwei zeigte; auch hatte er bemerkt, daß schon zweimal die Mut ter der Neuvermählten an sie herangetreten war, um leise mit der jungen Frau zu sprechen, und daß diese nicht nur auf eine schmollende Weise geantwortet hatte, sondern sich auch beim Tanzen sehr zerstreut zeigte. Plötzlich glaubte er während eines Kontretanzes an einem gewissen Zischeln der ganzen Gesellschaft zu bemerken, daß irgend etwas vorgegangen sei. Er blickte nach allen Seiten, wäh rend der Anwalt zu seinem Arger noch immer weiter sprach, und bemerkte jetzt, daß die Plätze leer waren, die während des ganzen Abends von seiner Frau und den Brautführerinnen eingenommen worden waren. Der ernste Gerichtsherr machte es nun wie alle andern Männer: Er verließ schnell den redenden Anwalt und begab sich nach der Tür des Saales, indem er hinter den Tanzenden ent langging, und entwischte dann, während Bediente mit Er frischungen hereintraten, da er glaubte, jetzt von nieman dem beobachtet zu werden; das war jedoch ein großer Irr tum, denn seit die Neuvermählte das Fest verlassen hatte, hatten alle Fräulein von achtzehn bis fünfundzwanzig den jungen Ehemann fortwährend in den Augen behalten. Als er in das eheliche Gemach treten wollte, begegnete er sei 161
ner Schwiegermutter, die es mit den Brautjungfern verließ, deren Gegenwart notwendig gewesen war, um die junge Frau zu Bett zu bringen; auch einige alte Damen hatten es für ihre Pflicht gehalten, sich dem feierlichen Zug anzu schließen. Die Schwiegermutter drückte dem Schwieger sohn herzlich die Hand und sagte einige leise Worte zu ihm; man erkannte, daß sie ihm ihre Tochter anempfehle. Herr Desalleux antwortete mit einigen freundlichen Worten und einem Lächeln; ganz gewiß dachte er in diesem Au genblick nicht an Pierre Leroux. Als er die Tür des Schlafzimmers schloß, lag seine Frau bereits im Bett; infolge einer Anordnung, die ihm wunder lich erschien, waren die Vorhänge des Bettes vorgezogen; kein Geräusch war zu hören. Die Feierlichkeit dieses Schweigens, das unerwartete Hindernis, welches die Vorhänge boten, die zu öffnen eine gewisse Geschicklichkeit erforderte, verdoppelten bei dem Neuvermählten eine Verlegenheit, die um so begreiflicher erscheinen kann, da er sich selten die Gelegenheit gestattet hatte, dergleichen Abenteuer zu bestehen, und daher bei ähnlichen Ereignissen unbeholfen war. Sein Herz pochte heftig, und ein Zittern durchlief alle seine Glieder, als er das bräutliche Gewand und den bräutlichen Schmuck in einer anmutigen Unordnung um sich her liegen sah. Mit bebender Stimme rief er seine Frau. Da er keine Antwort erhielt, so wandte er sich, vielleicht um Zeit zu gewinnen, nach der Tür, überzeugte sich nochmals, daß diese ver schlossen sei, und näherte sich dann dem Bett, um leise den Vorhang zurückzuziehen. Bei dem ungewissen Schein der Nachtlampe, die das 162
Zimmer erhellte, sah er eine wunderliche Erscheinung. Neben seiner Braut, die tief eingeschlafen war, sah er noch einen schwarzbehaarten Kopf, der keineswegs zu ei nem weiblichen Wesen gehörte und lebhaft von dem wei ßen Kopfkissen abstach. War er das Opfer irgendeiner je ner Mystifikationen, die bestimmt sind, die Mysterien der Brautnacht zu stören? Oder hatte ihn ein kühner Usurpator noch vor seiner Krönung entthront? Jedenfalls war sein Stellvertreter sehr wenig besorgt, denn auch er schlief fest wie seine Frau und hatte sich mit dem Gesicht nach der Wand gewendet. Als sich Herr Desalleux über das Bett neigte, um die Züge dieses wunderlichen Gastes zu erken nen, da unterbrach ein langer Seufzer, gleich dem eines erwachenden Menschen, die Stille; zu gleicher Zeit wandte sich der Unbekannte gegen ihn und zeigte ihm die Züge des Pierre Leroux. Als der Jurist zum zweiten Male diese schreckliche Er scheinung sah, hätte er begreifen sollen, daß er sich in sei nem Leben irgendeine böse Handlung hatte zuschulden kommen lassen, wegen der er nun zur Rechenschaft gezo gen wurde. Hätte er sich die Mühe gemacht, sein Gewissen zu befragen, so würde ihm dieses gewiß bald die Art seines Verbrechens verraten haben; war aber die Sache einmal erklärt, was das Beste gewesen wäre, so hätte er nur nötig gehabt, bis zum Morgen zu beten und mit anbrechendem Tag in seine Kirche zu gehen, um eine Messe für die See lenruhe des Pierre Leroux lesen zu lassen; durch diese Sühne und einige Almosen für arme Gefangene hätte er vielleicht die Ruhe seines Lebens wiedererlangt und sich für immer den Schrecknissen entzogen, die ihn verfolgten. 163
Er dachte indes jetzt nur an die Freuden der Brautnacht, nicht aber an eine fromme Handlung. Wünsche erfüllten sein Herz, und er fühlte den Mut, einen offenen Kampf mit dem Gespenst einzugehen, welches ihm seine Braut streitig machte, weshalb er es bei den Haaren zu fassen suchte, um es aus dem Zimmer zu werfen. Als er die Hand ausstreckte, begriff der Kopf seine Ab sicht und fletschte die Zähne; unvorsichtig fuhr Desalleux mit seiner Hand weiter und erhielt einen tiefen Biß; diese Verwundung vermehrte aber noch die Wut des Gatten, er sah um sich und suchte eine Waffe. Er erblickte die Eisenstäbe des Kamins, riß einen der Stäbe heraus und schlug aus allen Kräften auf das Bett ein, wobei er den Toten totzuschlagen und seinen häßlichen Feind zu vernichten versuchte. Allein es ging hier zu wie auf einem Marionettentheater, wenn Polcinell niedertaucht und so den Schlägen entgeht, die für ihn bestimmt sind. Bei jedem Schlag sprang der Kopf auf geschickte Weise zur Seite, so daß der Eisenstab ins Leere traf. Das dauerte so einige Minuten, bis der Kopf endlich über die Schulter sei nes Gegners hinwegsprang und hinter ihm verschwand, ohne daß man ihn irgendwo wiederfinden oder auch nur erraten konnte, wohin er entschwunden war. Als sich Desalleux nach genauen Untersuchungen über zeugt hatte, daß er wirklich Herr des Schlachtfeldes war, wandte er sich wieder seiner Frau zu, die während des Kampfes auf wunderbare Weise ihren Schlaf fortgesetzt hatte, und schickte sich an, von dem ehelichen Bett Besitz zu nehmen, obschon dasselbe in Unordnung geraten war und der Kopf einige Blutspuren auf dem Kissen zurückge 164
lassen hatte. Als er aber die Decke hob, um unter sie zu schlüpfen, da bemerkte er eine große Lache warmen Blu tes, die sein gehässiger Nebenbuhler zurückgelassen hatte und die selbst die Braut benetzte. Länger als eine Stunde mühte er sich ab, das Blut abzutrocknen, das trotz all seiner Anstrengungen nicht weniger werden wollte. Ein Unglück kommt selten allein: Während er durch das Zimmer ging, warf er die Lampe um, die es erhellte, und befand sich nun in einer Dunkelheit, durch die seine Verlegenheit noch vergrößert wurde. Indes ging die Nacht ihrem Ende entge gen, und er hatte sich doch geschworen, ungeachtet aller Hindernisse des Himmels und der Erde seine Ehe zu voll ziehen. Nachdem er auf das feuchte Bettuch zwei oder drei Lagen trocknes Leinenzeug gebreitet hatte und der Mei nung war, daß durch diese das Blut nicht so bald hindurch dringen werde, legte er sich kühn darauf und rief nun seine Braut mit den zärtlichsten Ausdrücken, indem er sie zu wecken versuchte. Diese aber schlief weiter. Nun zog er sie an sich, umschlang sie mit seinen Armen und bedeckte sie mit Küssen; sie aber fuhr fort zu schlafen und schien ge fühllos gegen alle seine Liebkosungen. Was bedeutete das? War es Verstellung? Oder hatte in dieser mysteriösen Nacht ein übernatürlicher Zauber ihre Augen geschlossen? In diesem Augenblick brach der Tag an; er hoffte, daß die ersten Strahlen den bösen Bann lösen würden, dessen Beu te er war, öffnete die Laden und die Vorhänge der Fenster, um das Licht der Morgensonne in das Zimmer einzulassen, und sah nun, warum das Blut nicht hatte versiegen wollen. Im Eifer des Kampfes hatte er, auf den Kopf des Pierre Le roux einschlagend, den Kopf der Geliebten mit dem Eisen 165
stab getroffen, während er jenen zu treffen gedachte; der Hieb war aber auf eine so gewaltige Art geführt, daß sie gestorben war, ohne auch nur einen Seufzer auszustoßen; während er sie betrachtete, floß das Blut noch immer aus einer tiefen Wunde, die er ihr in der linken Schläfe beige bracht hatte. Wir überlassen es den Psychologen, diese Erscheinung zu erklären; als Desalleux aber sah, daß er seine Frau er mordet habe, wurde er von einem ungeheuren Lachkrampf geschüttelt, der noch fortdauerte, als seine Schwiegermut ter an die Tür des Schlafzimmers pochte, um zu erfahren, wie die jungen Eheleute die Nacht zugebracht hätten. Seine grausige Heiterkeit verdoppelte sich, als er die Stimme der Schwiegermutter hörte. Er öffnete ihr, nahm sie in seine Arme und zog sie vor das Bett, damit sie die gräßliche Be scherung betrachte, worauf sich sein Lachen noch verdop pelte, bis endlich alle seine Kräfte erschöpft waren und ein wütendes Schluchzen auf das krampfhafte Lachen folgte. Die arme Mutter stieß einen schrecklichen Schrei aus und wurde dann ohnmächtig. Alle Bewohner des Hauses eilten herbei und wurden Zeugen dieser grausigen Szene. Das Gerücht von dem Vorgefallenen verbreitete sich schnell in der Stadt. Noch am selben Morgen wurde Desal leux auf Befehl des Generalprokurators in das Gefängnis von Orleans abgeführt. Später bemerkte man, daß die Zel le, in welche man in gebracht hatte dieselbe war, welche Pierre Leroux bis zu dem Augenblick seiner Hinrichtung bewohnt hatte. Das Ende des Gerichtsherrn war etwas weniger tragisch als das seines Vorgängers. 166
Die Ärzte erklärten einstimmig, daß er von einer Mono manie und einem wütenden Wahnsinn ergriffen sei. Der Mann, der sich für bestimmt gehalten hatte, die ganze Welt durch seine Rednerkunsj umzuwälzen, wurde nun in das Irrenhaus gebracht und länger als ein halbes Jahr in einer dunklen Zelle an einer Kette gehalten. Da er während der ganzen Zeit kein Zeichen von Wut zeigte, nahm man ihm danach seine Kette und behandelte ihn milder. Als er die Freiheit seiner Bewegungen wiedererlangt hatte, zeigte sich bei ihm eine wunderliche Narrheit, die ihn nicht wieder verließ: Er hielt sich für einen Seiltänzer und tanzte vom Morgen bis zum Abend mit allen Bewe gungen eines Mannes, der mit der Balancierstange auf dem Seil geht. Ein Buchhändler von Orleans hatte den Einfall, einen Band Reden zu sammeln, die er während seiner kurzen rednerischen Laufbahn gehalten hatte. Drei Ausgaben wur den kurz nacheinander verkauft. Der Verleger bereitet in diesem Augenblick die vierte Auflage vor.
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Das blaue Zimmer von Prosper Merimee Der französische Schriftsteller Prosper Merimee (1803 1870) verband in seinem Werk Romantik und Realismus zu einer neuen Einheit. Er begann mit romantischen Lese dramen, wandte sich aber bald der Novellen form zu, die seiner starken schöpferischen Phantasie mehr entsprach. In der Tat verdankt er seinen literarischen Ruf weniger seinen Bühnenspielen und Gedichten als vielmehr seinen Novellen, von denen »Colombo« (1840) und »Carmen« (1845) die bekanntesten sind. Während sich Merimee mit seinem klassizistisch gepflegten, beinahe naturalistischen Erzählstil scheinbar von der romantischen Ästhetik ent fernt, verraten die Wahl seiner Motive, die Vorliebe für exotisches Kolorit und der allen »Schwarzen Romantikern« gemeinsame Hang zum Dunklen, Abseitigen und Phantasti schen seinen romantischen Ursprung. Mit allen Anzeichen der Unruhe wandelte ein junger Mann in der Vorhalle eines Bahnhofes auf und ab. Er trug eine blaue Brille, und obwohl er keinen Schnupfen hatte, tupfte er sich fortwährend mit seinem Taschentuche an der Nase herum. In der Linken hielt er eine schwarze Reisetasche, deren Inhalt, wie sich später herausstellte, aus einem seide nen Hausrock und einer türkischen Hose bestand. Von Zeit zu Zeit ging er zur Eingangstür, spähte auf die Straße hinaus, holte darauf seine Uhr aus der Tasche und warf einen fragenden Blick auf das Zifferblatt der Bahn 168
hofsuhr. Der Zug ging erst in einer Stunde ab; aber es gibt immer Ängstliche, die sich Sorgen machen, zu spät zu kommen. Das war nicht gerade ein Zug, wie ihn eilige Leu te benutzen: ein paar Wagen erster Klasse nur. Es war auch nicht die Stunde, die den Börsenherren nach Abschluß ih rer Geschäfte die Möglichkeit gibt, zu den Tafelfreuden in ihre Landhäuser zurückzufahren. Als die ersten Fahrgäste sich nach und nach einfanden, hätte ein Pariser gleich an ihrem Verhalten den Pächter und den Vorstadtkaufmann erkannt. Dennoch ging jedesmal, wenn ein Wagen vor der Tür hielt, dem jungen Mann mit der blauen Brille das Herz über; die Knie schlotterten ihm; und es fehlte nicht viel, daß die Reisetasche ihm aus der Hand gefallen und ihm die Brille von der Nase gerutscht wäre, die, nebenbei gesagt, sowieso schon völlig schief auf ihr saß. Das wurde schlimmer und schlimmer, bis nach langem Warten, durch ein Seitentürchen und haargenau von der Stelle her, die er bei seiner ständigen Beobachtung gerade nicht ins Auge gefaßt hatte, eine schwarzgekleidete, tief verschleierte Dame erschien, die in der Hand eine braune Ziegenledertasche hielt, die, wie sich in der Folge erwies, einen wundervollen Morgenrock und ein Paar blauer At laspantöffelchen in sich barg. Die Dame und der junge Mann gingen aufeinander zu, wobei sie bald nach rechts und bald nach links, nie jedoch geradeaus sahen. Sie hatten sich glücklich erreicht, gaben einander die Hand und stan den etliche Minuten da, ohne ein Wort über die Lippen zu bringen, bebend, tief atmend, jener herrlich prickelnden Erregung preisgegeben, für die unsereiner ein hundertjäh riges Philosophendasein dahinschenkte. 169
Als sie die Sprache wiedergefunden hatten, sagte die Dame (ich vergaß anzudeuten, daß sie jung und hübsch war): »Leo! Was für ein Glück, Leo! Nie hätte ich Sie unter ihren blauen Brillengläsern wiedererkannt!« »Was für ein Glück!« sagte Leo. »Nie hätte ich Sie unter Ihrem schwarzen Schleier wiedererkannt.« »Was für ein Glück!« sagte sie noch einmal. »Wir wol len uns rasch auf unsere Plätze setzen. Wenn der Zug ohne uns abführe …!« (Und sie drückte ihm tüchtig den Arm.) »Man hat nicht die leiseste Ahnung. Für die andern bin ich in diesem Augenblick längst mit Clara und ihrem Mann nach ihrem Landhause unterwegs, wo ich ihr ›morgen‹ Adieu sagen soll …! Und«, fügte sie lachend hinzu und senkte den Kopf, »vor einer Stunde bereits ist sie abge dampft, und morgen … nach dem ›letzten Abend‹, den ich mit ihr verbracht habe …« (Von neuem drückte sie ihm den Arm) »morgen vormittag gibt sie mich hübsch an der Station ab, wo mich Ursula in Empfang nimmt, die ich zu Tantchen vorausgeschickt habe … Jetzt noch die Fahrkar ten gelöst … Herauszubekommen, wer wir sind – ist un möglich! Aber wenn wir im Gasthof unsere Namen ange ben sollen? Mir ist schon wieder entfallen …« »Monsieur und Madame Duru!« »Hu, nein! Nicht Duru. In unserem Mädchenpensionat war ein Flickschuster, der hieß so.« »Dann eben Dumont …?« »Daumont!« »Klingt auch nicht übel! Aber wir werden gar nicht da nach gefragt werden.« 170
Die Glocke ertönte, die Wartesaaltür ging auf, und die junge Dame, die sich nach wie vor sorgsam in ihren Schleier hüllte, schoß mit ihrem jugendlichen Gefährten auf ein Abteil zu. Zum zweitenmal schepperte die Glocke; die Wagentür wurde geschlossen. »Wir sind allein!« stellten sie aufjubelnd fest. Aber fast im selben Augenblick stieg ein Herr in den Fünfzigern, in schwarzem Anzüge, von ernstem, gelang weiltem Aussehen, zu ihnen in den Wagen ein und ließ sich in einer Ecke nieder. Die Lokomotive pfiff, und der Zug rollte aus dem Bahnhof. Die beiden jungen Menschen setzten sich so weit, wie sie irgend konnten, von ihrem un erwünschten Nachbarn weg und fingen an, leise und, zur Erhöhung der Vorsicht, auf englisch miteinander zu plau dern. »Sir«, unterbrach der Mitreisende ihr Geflüster, in der selben Sprache und mit weit reinerem britischen Tonfall, »falls es Geheimnisse sind, die Sie sich anzuvertrauen ha ben, teilen Sie sich die in meinem Beisein besser nicht auf englisch mit. Ich bin Engländer. Ich bedauere es, wenn ich Sie störe, aber im andern Abteil saß ein einzelner Mann, und ich reise grundsätzlich nicht mit einem einzelnen Manne … Der da hatte dazu noch das reinste Judasgesicht. Und das hier hätte ihn in Versuchung führen können!« Er deutete auf seine Reisetasche, die neben ihm auf dem Polster lag. »Im übrigen, wenn ich nicht schlafe, pflege ich zu le sen.« Tatsächlich machte er den rücksichtsvollen Versuch, ein Schläfchen zu halten. Er klappte seine Tasche auf, holte 171
eine bequeme Reisemütze hervor, setzte sie auf und hielt ein paar Minuten hindurch die Augen geschlossen; dann tat er sie, mit Zeichen von Ungeduld, wieder auf, suchte in seiner Tasche herum nach der Brille, förderte nach ihr ein griechisches Buch ans Tageslicht und begann aufmerksam zu lesen. Beim Hervorholen des Buches hatte er allerhand aufs Geratewohl in die Tasche gepfropfte Dinge erst beisei te räumen müssen. Unter anderem brachte er aus der Tiefe ein ziemlich dickes Bündel englische Banknoten zum Vor schein, legte es auf den Sitz gegenüber, zeigte es, bevor er es wieder in der Tasche verstaute, Leo und fragte ihn, ob man in N. Banknoten wechseln könne. »Wahrscheinlich. Das liegt ja an der Strecke nach Eng land.« N. war der Ort, dem die beiden jungen Menschen gera dewegs zustrebten. N. weist ein recht nettes kleines Hotel auf, in dem man fast nur übers Wochenend absteigt. Es bie tet, so heißt es, freundlichen Aufenthalt und gute Über nachtung. Der Wirt und die Angestellten sind nicht neugie rig, sie haben bei der Nähe von Paris noch nicht diese kleinstädtische Untugend an sich. Der in meiner Geschich te schon mehrfach Leo genannte junge Mann hatte sich be reits einige Zeit vorher diesen Gasthof ohne blaue Brille von innen und außen angesehen, und offenbar hatte auf den Bericht hin, den er davon gab, seine Freundin den lebhaf ten Wunsch empfunden, dort einzukehren. Übrigens war sie an jenem Tage in einer solchen seeli schen Verfassung, daß sie es sogar hinter Gefängniswän den himmlisch gefunden hätte, wenn sie mit Leo zusam men eingeschlossen wäre. 172
Währenddessen ratterte der Zug immer weiter. Der Eng länder las sein Griechisch, ohne auch nur noch einmal den Kopf nach seinen Fahrtgenossen hinzudrehen, die so leise miteinander flüsterten, wie nur Liebesleute es vermögen, um sich zu verständigen. Vielleicht überrasche ich meine Leser nicht mit der Bemerkung, daß sie Liebesleute waren in des Wortes gewichtigster Bedeutung; und das Bedauer liche war nur dabei, daß sie nicht Eheleute waren; und das lag wiederum an bestimmten Gründen, die dagegen spra chen, daß sie es waren. Man langte in N. an. Der Engländer stieg als erster aus. Während Leo noch seiner Freundin half, aus dem Wagen hinabzuklettern, ohne daß mehr als ihre Fußknöchel dabei sichtbar wurden, schwang sich ein Mann auf das Trittbrett des Nachbarabteils hinauf. Er hatte eine fahle, geradezu gelbliche Gesichtsfarbe, hohle, entzündete Augen, war schlecht rasiert, trug, kurzgesagt, die Merkmale an sich, an denen man nicht selten die Verbrecher erkennt. Seine Klei dung war sauber, aber stark abgetragen. Den Rock, der vor längst einmal schwarz gewesen, aber an Rücken und Ell bogen schon recht verschossen war, hatte er bis obenhin zugeknöpft, wahrscheinlich, um eine noch schäbigere We ste darunter zu verbergen. Er machte sich an den Engländer heran und redete ihn in aufdringlich bescheidenem Tone an mit dem Worte: »Uncle …!« »Leave me alone, you wretch!« rief der Angesprochene, während wütende Blitze aus seinen grauen Augen schossen. Und er suchte dabei dem Ausgange näher zu kommen. 173
»Don’t drive me to despair!« erwiderte, weinerlich und fast drohend zugleich, der andere. »Wollen Sie wohl einmal auf meine Tasche aufpassen«, wandte sich der alte Engländer an Leo und warf sie ihm kurzerhand vor die Füße. Dann packte er den Zudringlichen beim Arm, führte oder vielmehr drückte ihn in einen Winkel, von wo aus er nicht gehört zu werden hoffte, und nahm ihn, wie es schien, dort tüchtig ins Gebet. Darauf holte er aus seiner Rocktasche einige Papiere hervor, knitterte sie in der Faust zum Bausch und schob das Ganze, wie es war, dem Men schen in die Hand, der ihn mit Onkel angesprochen hatte. Der Mann nahm alles ohne ein Dankwort an sich und ver zog sich im Nu. In N. gibt es nur ein Hotel; man braucht sich also nicht weiter zu wundern, wenn einige Minuten danach alle Per sönlichkeiten dieser wahren Geschichte sich dort wieder trafen. In Frankreich kann sich jeder, der auf Reisen ist, ein geschmackvoll angezogenes weibliches Wesen am Arm hat und mit ihr ein Hotel aufsucht, mit Sicherheit darauf ver lassen, das beste Zimmer zu bekommen; damit ist wohl hinreichend festgestellt, daß wir das höflichste Volk Euro pas sind. Wenn auch das Zimmer, das man Leo einräumte, das be ste des Hauses war, so wäre es doch vermessen, daraus zu folgern, es sei ausgezeichnet gewesen. Ein umfängliches Nußbaumbett stand darin, mit Vorhängen im Perserstil, an denen man den Anblick der tragischen Historie von Pyra mus und Thisbe in veilchenblauem Aufdruck genoß. Die Wände waren mit einer Tapete beklebt, die eine farben 174
freudige und volkreiche Ansicht von Neapel dem Auge darbot. Leider nur hatten müßige Reisende sämtliche männliche und weibliche Gestalten darauf zusätzlich noch mit Schnurrbärten und Tabakspfeifen ausgestattet; zudem standen im Himmel und auf dem Meere allerhand mit Blei stift geschriebene, nicht gerade geistvolle Dinge in Versen und Prosa zu lesen. Auf solchem Untergrund hingen ein paar Stiche: »Louis-Philippe beim Eidleisten auf die Ver fassung von 1830«, »Erste Begegnung zwischen Julie und Saint-Preux«, »In Erwartung des Glücks« und »Der Ver druß« nach Dubuffe. Dieser Raum hatte den Namen: Das Blaue Zimmer, weil die beiden Plüschsessel zur Rechten und Linken des Kamins mit sogenanntem Utrechter Samt in dieser Farbe bespannt waren; aber seit Menschengeden ken standen sie wohlverhüllt unter grauen Baumwollüber zügen mit roten Paspeln da. Während sich die Hotelmädchen um die Neuangekom mene eifrig bemühten und beflissen waren, ihre Dienste anzubieten, begab sich Leo, der trotz seiner Verliebtheit nicht um seinen gesunden Menschenverstand gekommen war, zur Küche und bestellte das Essen. Er mußte seine ganze Redekunst aufwenden und etliche Bestechungsmittel dazu, um »ein Diner auf Zimmer« zugesichert zu bekom men; aber er bekam doch einen heftigen Schock, als er er fuhr, daß im Hauptspeisesaale – das hieß: neben seinem Zimmer – die Herren Offiziere der 3. Husaren, die gerade die Herren der 3. reitenden Jäger in N. ablösten, sich in den Abendstunden zu einem Liebesmahle zusammenfinden wollten, das wahrscheinlich recht stimmungsvoll und heiter verlaufen werde. Der Wirt versicherte hoch und heilig, daß, 175
von der jedem französischen Soldaten eigenen Munterkeit einmal abgesehn, die Herren Husaren wie die Herren rei tenden Jäger wegen ihrer gemäßigten und feinen Art stadt bekannt seien und daß solche Nachbarschaft für Madame nicht die geringsten Unannehmlichkeiten mit sich bringen würde, zumal die Herren Offiziere die löbliche Gewohnheit hätten, sich von der Tafel noch vor Mitternacht zu erheben. Wie Leo nach dieser beruhigenden Mitteilung, die seine Verwirrung doch nicht restlos behob, dem Blauen Zimmer wieder zustrebte, gewahrte er im Vorbeigehen, daß er sei nen Engländer zum Zimmernachbarn hatte. Die Tür stand offen. Der Engländer saß an seinem Tisch, auf dem ein Glas und eine Flasche standen, und war in die aufmerksa me Betrachtung der Stubendecke vertieft, als zähle er die Fliegen, die sich auf ihr tummelten. »Was macht mir die Nachbarschaft aus!« dachte Leo bei sich. »Der Brite wird bald die nötige Bettschwere haben, und die Husaren wer den vor Mitternacht aufbrechen.« Nach Betreten des Blauen Zimmers war das erste für ihn, sich zu vergewissern, ob die Verbindungstüren auch fest verschlossen waren und auf seiner Seite Riegel hatten. Nach dem Engländer zu war eine Doppeltür vorhanden und dicke Wände. Nach den Husaren hin war die Zwischen wand wohl dünner, aber die Tür war verschließbar und zu zuriegeln. Alles in allem betrachtet, waren dies wirksamere Schranken gegen die Neugierde als die Fenstervorhänge in einem Wagen; und wie viele kommen sich schon in einer Droschke vor aller Welt sicher vor! Es ist wahr: auch die blühendste Einbildungskraft kann sich keinen höheren Glückseligkeitszustand ausmalen, als 176
den zweier verliebter junger Menschenwesen, die nach langem Hangen und Bangen allein, fern aller Mißgunst und Neugier nach Herzenslust einander von vergangenen Lei den erzählen und miteinander die Wonnen vollkommenen Vereintseins auskosten dürfen. Aber der Teufel findet im mer noch Mittel und Wege, seinen Tropfen Wermut in die Schale des Glücks hineinzuträufeln. Johnson* sagt einmal – allerdings nicht als erster, und er hat das von einem alten Griechen –, kein Mensch könne von sich sprechen: ›Heute werde ich glücklich sein!‹ Diese Wahrheit, die schon in altersgrauen Tagen den größten Weisen aufgegangen war, ist gewissen Sterblichen und sonderlich den meisten Liebenden bis auf den heutigen Tag noch nicht bewußt. Während Leo und seine Freundin im Blauen Zimmer ihr ziemlich mäßiges Diner einnahmen, ein paar Happen und Kostproben vom Bankett der reitenden Jäger und Husaren, setzte ihnen die Unterhaltung der Herren im Nachbarsaale reichlich viel dafür zu. Da wurde allerhand Merkwürdiges über Strategie und Taktik vorgetragen, dessen wörtliche Wiedergabe ich schön bleiben lassen werde. Das war eine Folge stark gepfefferter Histörchen, die fast alle ganz hübsch kitzlig waren und die Lachmuskeln derart heftig reizten, daß unser Liebespaar manchmal alle Mühe hatte, nicht mitzulachen. Die Freundin Leos war keine Prü de; aber es gibt Dinge, die man als Frau nicht gerne hört, nicht einmal in trauter Zweisamkeit mit dem geliebten Ironische Anspielung auf das an Mißlichkeiten reiche Le ben und Wirken Samuel Johnsons (1707-1784), des bedeu tenden englischen Satirikers seiner Zeit.
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Mann. Die Lage wurde immerpeinlicher, und als den Her ren Offizieren der Nachtisch aufgetragen wurde, hielt es Leo für am Platze, zur Küche hinunterzugehn und den Wirt höflich zu veranlassen, er möge den Herren vor Augen füh ren, daß sich eine der Ruhe bedürftige Dame nebenan auf hielte und daß man daher von ihrer Ritterlichkeit erwarte, etwas weniger laut zu sein. Der Hotelbesitzer hatte, wie das bei großen Gesell schaftsessen im Hause zu gehen pflegt, den Kopf schwer voll und wußte nicht, auf wen er zuerst hören sollte. Im gleichen Augenblick, als Leo ihm die Botschaft an die Of fiziere mit auf den Weg gab, bestellte ein Kellner bei ihm Champagner für die Husaren und ein Zimmermädchen Portwein für den Engländer. »Ich hab’ ihm gesagt, es wird wohl keiner dasein«, sagte sie im gleichen Atemzuge. »Du bist ein Dämlack! Bei mir gibt’s alle Weine, Port wein, soll er gleich haben! Her mit der Flasche Frucht schnaps, der zu Fünfzehn, und eine Karaffe Kognak!« Nachdem er im Handumdrehen Portwein erzeugt hatte, lief der Wirt in den großen Saal und entledigte sich des Auftrags, den ihm Leo gegeben hatte. Damit beschwor er zunächst ein wütendes Donnerwetter herauf. Danach warf eine Baßstimme, die alle anderen über dröhnte, die Frage auf, von welcher Art Weiblichkeit ihre Nachbarin sei. Es trat mehr oder weniger große Stille ein, und der Wirt gab zur Antwort: »Wirklich, meine Herren, ich weiß nicht recht, was ich darauf sagen soll! Sie ist sehr nett und schüchtern. Die Ma rie sagt, sie habe einen Trauring am Finger. Es wäre schon 178
möglich, daß es eine Neuvermählte ist, die ihre Hochzeits nacht hier verträumen will, wie das oft vorkommt.« »Eine Neuvermählte?« hallte es aus vierzig Männerkeh len. »Sie soll kommen und mit uns anstoßen! Wir wollen auf ihr Wohl die Gläser leeren und den Bräutigam über seine ehelichen Pflichten aufklären!« Auf diese Worte hin ließ sich ein mächtiges Sporenge klirr vernehmen, und unser Liebespärchen überrann ein Schauder bei dem Gedanken, ihr Zimmer würde jeden Au genblick im Sturm genommen werden. Doch plötzlich er hob sich eine Stimme, die der Bewegung Halt gebot. Es war offensichtlich: ein Vorgesetzter sprach da. Er hielt den Offizieren eine kurze Standpauke über ihre Unhöflichkeit und legte ihnen im Befehlstone nahe, sich wieder auf ihre Plätze zu begeben und eine angemessene und gedämpfte Sprechweise anzunehmen. Dann setzte er ein paar Worte hinzu, die zu leise waren, als daß sie vom Blauen Zimmer aus verstanden worden wären. Sie wurden achtungsvoll angehört, aber es entstand dennoch immer wieder eine ge wisse Heiterkeit. Von da ab herrschte im Saal bei den Offi zieren verhältnismäßige Stille, und unser Liebespärchen, das die heilsame Herrschaft der Manneszucht segnete, gab sich nun einem sorglosen Geplauder hin … Allerdings be durfte es, nach soviel Aufregung, einer Weile, um wieder in die zärtliche Stimmung hineinzukommen, die durch die Unruhe, die Verdrießlichkeiten unterwegs und vor allem durch die laute Fröhlichkeit ihrer Nachbarn reichlich ge stört worden war. In solchem Alter ist das freilich noch keine allzu schwierige Sache, und so hatten sie bald alle Unannehmlichkeiten ihrer abenteuerlichen Fahrt wieder 179
vergessen und wandten sich nur mehr der Betrachtung der viel bedenklicheren Mißlichkeiten ihrer Folgen zu. Sie wiegten sich im holden Wahne, mit den Husaren sei es zum Friedensschlüsse gekommen. Leider, leider war es nur ein Waffenstillstand! In dem Augenblick, da die beiden am allerwenigsten darauf gefaßt, da sie Tausende von Mei len dieser Welt unterm wechselnden Mond entrückt waren, gerade da setzten vierundzwanzig Trompeten, von etlichen Posaunen unterstützt, schmetternd ein mit dem allgekann ten französischen Kriegermarsch: ›Unser, unser der Sieg!‹ Wer hält ein solches Sturmgebraus aus? Die armen beiden zärtlich Verliebten waren wirklich zu beklagen … Doch nein, nicht allzusehr; denn zu guter Letzt zogen die Offiziere aus dem Speisesaale ab mit einem feierlichen Vorbeimarsch an der Tür des Blauen Zimmers unter gro ßem Säbelgerassel und Sporengeklirr, wobei einer nach dem andern laut rief: »Gute Nacht, junge Frau Gemahlin!« Damit verhallte al ler Lärm. Nein, ich täusche mich, der Engländer kam auf den Treppenflur heraus und rief: »Kellner, noch eine Flasche von demselben Portwein!« Die Ruhe war wiederhergestellt in dem kleinen Hotel in N. Die Nacht war mild, der volle Mond schien hernieder. Seit undenklichen Zeiten haben Verliebte ihre gemeinsame stille Freude am Anblicke unseres Erdtrabanten. Leo und seine Freundin machten ihr Fenster auf, das auf einen klei nen Garten hinausging, und atmeten mit tiefem Behagen die frische Luft ein, die der Balsamhauch einer Waldreben laube durchduftete. Sie verweilten dennoch nicht allzulange dabei. Ein Mann 180
wandelte gesenkten Kopfes, mit verschränkten Armen, eine Zigarre im Mundwinkel, im Garten auf und ab. Leo war es, als erkenne er in jenem den Neffen des Engländers wieder, der von dem guten Portwein so eingenommen war … Ich bin durchaus kein Freund von unnötigen Einzelheiten, und übrigens sehe ich weder eine Veranlassung dazu, dem Leser alles zu sagen, was er sich selbst leicht vorstellen kann, noch zu erzählen, was sich von Stunde zu Stunde im Hotel in N. abspielte. Ich erwähne also lediglich, daß die Kerze auf dem ungeheizten Kamine des Blauen Zimmers schon über die Hälfte heruntergebrannt war, als aus dem eben noch von Stille erfüllten Gemach des Engländers sich ein sonderbares Geräusch vernehmen ließ, etwa so, wie ein schwerer Körper beim Umstürzen es hervorruft. In dieses Geräusch hinein mischte sich ein nicht minder befremdli ches Gekrach, dem ein erstickter Schrei und etliche unver ständliche Laute, die wie ein Fluch klangen, folgten. Die beiden jungen Bewohner des Blauen Zimmers erbebten. Vielleicht waren sie dadurch jählings aus dem Schlummer geweckt worden. Fast unheimlich mutete die zwei dies Ge räusch an, das sie sich nicht erklären konnten. »Er träumt wohl, unser Engländer«, sagte Leo und gab sich Mühe zu lächeln. Er wollte seine Gefährtin beruhigen, und dabei überrie selte ihn unwillkürlich doch selbst ein Schauer. Zwei oder drei Minuten danach wurde eine Tür nach dem Flur hin, mit großer Vorsicht, wie es schien, aufgemacht und sehr sacht wieder geschlossen. Ein tappender und unsicherer Schritt war zu hören, der allem Anscheine nach unhörbar 181
aufzutreten versuchte. »Verfluchte Spelunke!« entfuhr es Leo. »Ach, es ist das Paradies …!« erwiderte die junge Dame und sank mit ihrem Kopf Leo an die Schulter. »Ich bin sterbensmüde …« Sie seufzte leise und war im Nu wieder eingeschlum mert. Ein berühmter Moralist hat den Ausspruch getan, daß den Männern alle Geschwätzigkeit abgeht, wenn sie kein Verlangen mehr haben. Man braucht sich also nicht zu wundern, daß Leo keinerlei Versuch unternahm, den Faden der Unterhaltung wieder anzuknüpfen oder sich gar über die nächtlichen Geräusche im Hotel in N. auszulassen. Aber ob er wollte oder nicht, der Fall ließ ihm keine Ruhe, und seine Einbildungskraft brachte damit mancherlei Um stände in Zusammenhang, denen er bei anderem Geisteszu stände keine Beachtung geschenkt hätte. Die unheilbrüten de Miene des Neffen seines Zimmernachbarn kam ihm wieder in den Sinn. Haß glomm in dem Blick, den jener seinem Onkel zuwarf, während er fast unterwürfig sprach, zweifellos weil er ihn um Geld anging. Was gab es Leichteres für einen noch jungen und kräfti gen und obendrein verzweifelten Menschen, als vom Gar ten her ins Fenster des Nachbarzimmers hochzuklettern? Überdies war er Mitbewohner des Hotels, da er zu nächti ger Stunde ja noch im Garten umherging. Vielleicht … wahrscheinlich sogar … ganz unzweifelhaft wußte er, daß die schwarze Reisetasche seines Onkels ein dickes Bündel Banknoten in sich barg … Und dieser dumpfe Krach, wie ein wuchtiger Schlag über den kahlen Schädel! … Der er 182
stickte Schrei! … Der schauerliche Fluch! Und anschlie ßend die Schritte! … Dieser Neffe hatte die Miene eines Meuchelmörders … Nur, man mordet nicht in einem Hotel, das von Offizieren wimmelt. Ganz sicher hatte der Englän der, als vorsichtiger Mann, sich eingeriegelt, zumal er den Kerl in der Nähe wußte … Er mußte ihm wohl mißtrauen, weil er nicht mit der Tasche in der Hand ihm hatte nahe kommen wollen … Warum sich so scheußlichen Gedanken hingeben, wenn man so glücklich ist? … So ging es Leo im Kopf herum. Tief verloren in seine Gedanken, die fast wie wirre Traumbilder durch sein Hirn zogen und die näher zu erklären ich mich hüten werde, starrte er unwillkürlich auf die Verbindungstür zwischen dem Blauen Zimmer und dem des Engländers. In Frankreich schließen die Türen schlecht. Zwischen der da und dem Parkettboden klaffte ein Spalt von wenig stens zwei Zentimetern. In diesem Ritz, der im Wider schein des Parketts schwach glänzte, erschien mit einem Male etwas Schwärzliches, Flaches, einer Messerklinge Ähnliches – denn sein vom Licht der Kerze getroffener Rand zeigte eine schmale, helle Linie. Dieses Etwas schob sich langsam einem blauen Atlaspantöffelchen näher, das höchst unbedachtsam bis dicht an jene Tür hingeschleudert worden war. Könnte das irgendein Insekt, so etwas wie ein Tausendfuß sein? … Nein – kein Insekt! Das da hat keine bestimmte Form … Zwei oder drei dieser braunen Gebilde mit ihren schimmernden Lichträndern sind schon ins Zim mer eingedrungen. Ihre Bewegung wird, dank der Neigung des Parkettbodens, immer schneller … Sie kommen rasch voran, sie streifen schon an dem kleinen Pantoffel entlang. 183
Kein Zweifel mehr! Das ist etwas Flüssiges, und diese Flüssigkeit – man sah im Kerzenschein ganz deutlich ihre Farbe – das war Blut! Und während Leo, wie festgebannt, mit Grausen auf diese fürchterlichen Rinnsale hinstarrte, schlief die junge Frau ihren friedlichen Schlaf weiter, und ihr ruhiger Atem umwehte warm Hals und Schulter ihres Geliebten … Wie bedacht Leo war, sofort nach dem Eintreffen im Hotel in N. ans Bestellen des Diners zu gehen, das beweist zur Genüge, daß er Kopf, regen Verstand und Umsicht be saß. Auch in dieser Lage handelte er nicht seiner Wesensart zuwider, die er schon mehrfach erkennen ließ. Er machte keine Bewegung und nahm all seine Geisteskraft zusam men, um angesichts des schrecklichen Unheils, das sich ihm bedrohlich näherte, einen Entschluß zu fassen. Ich kann mir gut vorstellen, daß die Mehrzahl meiner Leser und vor allem meine Leserinnen, aus ihrem heroi schen Vollgefühl heraus, das Benehmen und tatenlose Ver halten Leos unter solchen Umständen sehr mißbilligen werden. Er hätte, wird man mir einwenden, in das Zimmer des Engländers hinüberlaufen und den Mordbuben dingfest machen, allermindestens aber die Glocke ziehen und das Hotelpersonal herbeiläuten müssen. – Darauf möchte ich erst einmal entgegnen, daß in Frankreich in den Hotels die Zimmerglocken nur zur Zierde da sind und daß die Klin gelzüge mit keinerlei metallischem Gerät in Verbindung stehen. Und mit allem gehörigen Ernst, aber auch mit Ent schiedenheit möchte ich hinzusetzen, daß, ist es schon schlimm, einen Engländer neben sich ruhig sterben zu las sen, es doch auch nicht gerade löblich gehandelt ist, eine 184
Frau ihm aufzuopfern, die einem schlummernd mit dem Haupt an der Schulter ruht. Was wäre eingetreten, wenn Leo einen Lärm geschlagen hätte, von dem das ganze Hotel erwacht wäre? Die Gendarmen, der Staatsanwalt und der Gerichtsschreiber wären umgehend am Tatort eingetroffen. Und diese Herren sind von Berufs wegen so neugierig, daß sie noch vor allen Fragen danach, was er gesehen oder ge hört habe, zu allererst einmal folgendes hätten von ihm wissen wollen: »Wie heißen Sie? Ihre Ausweise? Und Madame? Was taten Sie zusammen im Blauen Zimmer? Sie haben sich im Schwurgerichtssaale einzufinden zwecks öffentlicher Aus sage, daß Sie in der Nacht vom soundsovielten um die und die Stunde Zeugen der und der Tat gewesen sind!« Und eben dieser Gedanke an den Staatsanwalt und die Leute vom Gericht war das erste, was sich Leos Geist ge radezu aufdrängte. Im Leben erheben sich mitunter Gewis sensfragen, auf die schwer eine Antwort zu finden ist: Ist es besser, einen unbekannten Reisenachbarn umbringen zu lassen – oder aber eine geliebte Frau um ihren guten Ruf und ins Verderben zu bringen? Es ist unangenehm, vor einem derartigen Problem zu stehen. Der Gewandteste wird schwerlich zu einer Lösung kommen. Leo tat also, was wahrscheinlich auch noch andere an seiner Stelle getan hätten: er rührte sich nicht. Wie festgenagelt starrte er eine lange Weile unverwandt auf das blaue Pantöffelchen und den kleinen roten Bach, der es benetzte, während kalter Schweiß ihm die Schläfen näßte und sein Herz ihm in der Brust zum Zerspringen 185
schlug. Ein Schwarm absonderlicher und gräßlicher Gedanken und Bilder stürmte unablässig auf ihn ein, und eine innere Stimme schrie ihm alle Augenblickeins Bewußtsein: ›In einer Stunde ist alles ans Licht gekommen, und du bist der Schuldige!‹ Doch indes er angestrengt hin und her überleg te: »Was tu’ ich bloß in solcher Zwangslage?« dämmerten ihm endlich ein paar Hoffnungsstrahlen. Er sagte sich schließlich: »Wenn wir aus diesem vermaledeiten Gasthofe wieder hinaus wären, ehe noch ruchbar wird, was sich im Neben zimmer ereignet hat, könnten wir vielleicht unsere Spuren verwischen. Kein Mensch kennt uns hier; mich hat man nur mit der blauen Brille, sie nur verschleiert zu Gesicht be kommen. Wir haben es nur ein paar Schritte weit bis zum Bahn hof, und in einer Stunde wären wir von N. weg.« Als er dann zur Durchführung seiner Abreise den Fahr plan lange studiert hatte, kam er darauf, daß ein Zug nach Paris gegen acht Uhr früh hier durchfuhr. Wenig später schon würde man sich in die unermeßliche Riesenstadt hineinverloren haben, in der so viel Schuldige untertau chen. Wer vermöchte zwei Unschuldige zu entdecken? Aber könnte nicht irgend jemand bereits vor acht Uhr des Engländers Zimmer betreten? Das war die entscheidende Frage. Da er vollkommen überzeugt war, daß für ihn kein ande rer Entschluß übrigblieb, raffte er sich verzweifelt dazu auf, die Erstarrung abzuschütteln, die eine ganze Weile schon sich seiner bemächtigt hatte; aber auf die erste Be 186
wegung hin, die er machte, erwachte seine junge Gefährtin und schloß ihn gleich stürmisch in die Arme. Als sie seine eisige Backe berührte, entfuhr ihr ein kleiner Schrei: »Was ist dir?« fragte sie ihn beunruhigt. »Deine Stirn ist ja kalt wie Marmor?« »Nichts«, erwiderte er mit unsicherer Stimme. »Ich habe ein Geräusch im Zimmer nebenan gehört …« Er machte sich aus ihrer Umarmung frei und schob zu erst den kleinen blauen Pantoffel zur Seite und dann einen der Lehnsessel vor die Verbindungstür, um auf diese Weise seiner Freundin den Anblick der entsetzlichen Flüssigkeit zu entziehen, die aufgehört hatte weiterzusickern und nun als ziemlich breite Lache auf dem Parkett stand. Dann klinkte er die Tür nach dem Flur auf und lauschte ange spannt nach draußen; er wagte sich sogar bis zu der Tür des Engländers hin. Sie war zugesperrt. Im Hotel regte sich schon Leben. Der Tag brach an. Die Pferdeburschen strie gelten im Hofe die Pferde, und vom zweiten Stockwerk stieg ein Offizier sporenklirrend die Treppe hinunter. Er ging an die Beaufsichtigung dieser höchst unterhaltsamen Tätigkeit, die den Pferden weit mehr Vergnügen macht als den Reitern und die, fachmännisch ausgedrückt, »Früh stall« heißt. Leo kehrte ins Blaue Zimmer zurück; und dort setzte er seiner Freundin mit der größten Schonung, auf die Liebe verfallen kann, in Umschreibungen und blumigen Andeu tungen die Lage auseinander, in der sie sich befanden. Gefährlich war: bleiben; gefährlich: zu überstürzt auf brechen, noch weit gefährlicher aber: im Hotel warten, bis das unheilvolle Ereignis im Nebenzimmer entdeckt wäre. 187
Es erübrigt sich, den Schreck zu beschreiben, den diese Eröffnung hervorrief, die Tränen, die darauf folgten, die unsinnigen Vorschläge, die aufs Tapet gebracht wurden. Wie viele Male stürzten die unglückseligen Beiden einan der in die Arme und riefen sich wechselweise zu: »Vergib mir! Verzeih mir!« Jedes hielt sich für den Hauptschuldi gen. Sie gelobten einander fest, miteinander zu sterben; denn die junge Dame hegte nicht den mindesten Zweifel daran, daß sie beide vom Gericht für des Mordes am Eng länder schuldig befunden würden; und weil sie nicht völlig sicher darüber waren, ob ihnen gestattet sein würde, sich noch auf dem Schafott in den Armen zu liegen, erstickten sie einander fast mit Umarmungen und überschütteten sich gegenseitig um die Wette mit Tränen. Nachdem sie einan der viel tolles Zeug und viele zärtliche und herzzerreißende Dinge gesagt hatten, kamen sie schließlich unter tausend Küssen zur Erkenntnis, daß der von Leo ausgesonnene Plan, das heißt: die Abfahrt mit dem Achtuhrzuge, tatsäch lich der einzige ausführbare und beste Ausweg war. Aber noch blieben zwei sterbenslange Stunden zu verbringen. Bei jedem Schritt auf dem Flur erschauerten sie an allen Gliedmaßen. Jedes Stiefelknarren kündigte ihnen die An kunft des Staatsanwalts an. Ihr leichtes Gepäck war im Handumdrehen fertig. Die junge Frau wollte das blaue Pantöffelchen im Kamin verbrennen; aber Leo erraffte den kleinen Schuh, und nachdem er ihn sorglich am Bettvorhang abgewischt hatte, drückte er ihn an die Lippen und steckte ihn dann in die Rocktasche. Er war überrascht, als er fand, ihm entströme ein Vanilleduft; seiner Freundin Parfüm war doch ›Le 188
Bouquet de l’Imperatrice Eugenie‹ … Im Hotel war bereits alles wach. Man hörte Kellner la chen, Zimmermädchen trällern und Offizierburschen die Waffenröcke ihrer Gebieter ausbürsten. Eben hatte es sie ben geschlagen. Leo wollte seine Freundin dazu bewegen, eine Tasse Milchkaffee zu trinken, aber sie erklärte, die Kehle sei ihr wie zugeschnürt, und sie werde beim gering sten Versuch, etwas hinunterzuschlucken, sterben. Im Schutz seiner blauen Brille ging Leo hinab, um seine Rechnung zu begleichen. Der Wirt bat ihn um Entschuldi gung, vielmals um Entschuldigung wegen der großen Un ruhe, die gestern abend geherrscht habe und die er sich immer noch nicht enträtseln könne, da doch die Herren Of fiziere sonst stets so ruhig seien! Leo versicherte ihm, er habe nichts gehört und fabelhaft geschlafen. »Ihr Nachbar auf der andern Seite, beispielsweise«, fuhr der Wirt fort, »dürfte Sie nicht im mindesten gestört haben. Das ist einer, der nicht viel Lärm macht. Der liegt, möchte ich wetten, jetzt noch bis über beide Ohren im tiefsten Schlaf.« Leo stützte sich mit aller Gewalt, um nicht zusammen zuklappen, auf den Kassentisch, und die junge Frau, die nicht von seiner Seite weichen wollte, hielt sich krampfhaft an seinem Arm fest, während sie ihren Schleier vor die Augen zog. »Das ist ein Mylord«, redete der Wirt erbarmungslos weiter. »Bei dem muß alles immer von erster Güte sein. Ein feiner Mann! Aber alle Engländer sind nicht wie der. Hier übernachtete noch einer, ein richtiger Knicker. Dem war alles zu teuer, das Zimmer, das Diner. Der wollte seine 189
Note an mich für hundertfünfundzwanzig Franken loswer den, eine Fünfpfundnote der Bank von England … Wenn die nur auch echt ist! … Warten Sie, mein Herr … Sie müssen sich doch darin auskennen, denn Sie sprachen, wie ich hörte, englisch mit Madame … Ist die echt?« Während er das sagte, hielt er Leo eine Banknote über fünf Pfund Sterling hin. An einer Ecke hatte sie einen klei nen roten Spritzer, über den Leo sofort im Bilde war. »Die ist wohl sicher – echt«, brachte er mit einem Wür gen in der Kehle heraus. »Oh, Sie haben noch viel Zeit!« nahm der Wirt wieder das Wort. »Der Zug kommt hier erst um acht durch, und Verspätung hat er auch immer. – Wollen Sie sich denn nicht setzen, Madame, Sie scheinen etwas mitgenommen …« In diesem Augenblick schob sich rasch ein strammes Zimmermädchen durch die Tür herein. »Schnell, heißes Wasser«, rief sie, »zum Tee für My lord! Bringt auch gleich was zum Aufwischen mit! Er hat die Flasche zerbrochen, und das ganze Zimmer schwimmt.« Bei diesen Worten ließ sich Leo auf einen Stuhl nieder fallen, und seine Gefährtin machte es ebenso. Alle beide wandelte sie eine schier unbändige Lachlust an, und sie mußten sich beherrschen, nicht laut loszuprusten. Die jun ge Frau drückte ihm übermütig die Hand. »Eins steht fest«, sagte Leo zum Wirt, »wir fahren erst mit dem Zweiuhrzug. Machen Sie uns was Gutes zum Mit tagessen!«
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Auf der Spur von Stefan Grabiriski Neben einigen Romanen schrieb der Pole Stefan Grabihski (1887-1936), der wohl bedeutendste Vertreter der Phanta stik in der polnischen Literatur, eine ganze Reihe unheim licher Geschichten, die in mehreren Sammelbänden veröf fentlicht wurden. Als Novellist debütierte er 1906, war bis 1929 Mittelschullehrer und lebte danach, bereits unheilbar krank, in völliger Vereinsamung bei Lemberg, wo er 1936 an Knochen-Tbc starb. 1931 hatte dieser hochbegabte »li terarische Schwarzkünstler« den Literaturpreis der Stadt Lemberg erhalten. Ich erwachte mit bleischwerem Kopf und tödlich erschöpft. Als ich auf die Uhr sah, war es zwölf Uhr mittags. Ich hatte ungewöhnlich lange geschlafen. Im ganzen Haus herrschte Mittagsruhe, schläfrige Er starrung unter der Julihitze. Ich war allein. Der alte Jan hat te sich wie gewöhnlich nach dem Mittagessen auf eine Pfeife zu den Nachbarn begeben und mich der Gnade der Vorsehung überlassen. Mit unsagbarer Mühe legte ich die Hände unter den Kopf und richtete den Blick auf die Zimmerdecke. Schwe re Erschöpfung hing mir in gigantischen Gewichten an Armen und Beinen und erlaubte mir nicht, von der Otto mane aufzustehen. In Gedanken kehrte ich zurück zum Vortag, doch fand ich nichts, was diese wahrhaft homerische Erschlaffung der 191
Glieder hätte hervorrufen können. Ich hatte den Tag ruhig mit dem Grundieren eines Landschaftsbildes verbracht, abends bei Mondlicht einen kleinen Spaziergang durch die Stadt gemacht und war gegen zehn Uhr schlafen gegangen. Weiter nichts. So also kam ich nicht voran. Dahinter steckt etwas ande res. Oder bin ich vielleicht krank? Aber wieso denn? Mein Blick löste sich vom Deckenmosaik und fiel will kürlich auf den in die Zimmermitte gerückten Stahlschirm, mein Hypnoskop. In freien Stunden widme ich mich Studi en auf einem so interessanten Gebiet wie dem der Hypnose und bin schon zu recht vielversprechenden Ergebnissen gelangt, vor allem im Bereich der Selbsteinschläferung. Es genügt, wenn ich ein paar konzentrierte Blicke auf den Schirm werfe, und ich schlafe auf der Stelle ein, um zu der von mir im voraus festgesetzten Stunde zu erwachen. In letzter Zeit jedoch habe ich mit den Versuchen aufge hört, nachdem ich bemerkte, daß sie meinen Organismus nachteilig beeinflußten, denn ich erwachte stets irgendwie unwohl und gewissermaßen deformiert. Trotzdem hatte mich offenbar gestern etwas verlockt, nach längerer Pause wieder ein Experiment zu unterneh men. Jedenfalls mußte ich das vermuten, weil der Schirm mitten im Zimmer stand; gewöhnlich nämlich lehnt er an der Wand. Ein Umstand nur wunderte mich. Ich konnte mich abso lut nicht erinnern, ob ich gestern abend wirklich in das Hypnoskop geschaut hatte. Auf jeden Fall mußte das be reits nach meiner Rückkehr von dem Spaziergang, also nach zehn Uhr nachts geschehen sein. Dabei war das Letz 192
te, woran ich mich vom Vortag erinnerte, der Augenblick, als ich den Umhang abnahm und an den Ständer hängte. Was danach geschehen war, wußte ich nicht mehr. Wahr scheinlich hatte ich irgendwie Lust zur Selbsthypnose be kommen und nicht gezögert, sie zu befriedigen. Alles war also geklärt und der Grund der Erschöpfung einigermaßen verständlich. Es ging nur darum, was ich ei gentlich geträumt hatte und was mit mir in dieser Zeit ge schehen war. Hier hatte mich schon immer eine besondere Vergeßlichkeit irritiert, die mein Gehirn nach dem Erwa chen gefangen hielt: nie konnte ich mich an irgend etwas erinnern. Und die Peripetien der Selbsthypnose mußten manchmal überaus interessant sein. Ich hatte mich davon auf seltsame Weise beinahe zufällig mit eigenen Augen überzeugen können. Als ich eines Morgens erwachte, entdeckte ich zu meiner Verwunderung auf dem Gerüst neben den Staffeleien den Rumpf einer alten Statue. Der Stein war stellenweise be reits verwittert und rissig, trotzdem ließen sich in den mär chenhaft schön geformten Körperlinien noch die Spuren einer Meisterhand erkennen. Zunächst konnte ich absolut nicht feststellen, auf welchem Wege dieser Torso in mein Atelier gelangt war. Ich dachte, vielleicht habe einer mei ner Bekannten mir einen Streich spielen wollen oder Jan sei die Lust angekommen, mich mit diesem Kunstfragment zu beglücken. Doch alle Nachforschungen führten zu nichts; jeder zuckte mit den Achseln und sah mich an wie einen Verrückten … Ich unterzog also den eigenartigen Gegenstand einer 193
gründlichen Untersuchung und kam nach einiger Zeit zu der Überzeugung, daß ich dieses Bruchstück mit dem tra gisch zurückgeworfenen Kopf schon irgendwo gesehen hätte. Als ich vor einigen Jahren in einem abgelegenen Stadtteil an einem alten Park vorbeigekommen war, hatte ich in der Tiefe auf einem halb zerfallenen Sockel die stark verwitterte armlose Statue erblickt, die gerade noch auf recht stand. Dennoch war mir die Arbeit aufgefallen und hatte mich beeindruckt. Eine Zeitlang hatte ich mich sogar mit dem Gedanken getragen, sie zu malen. Dann hatte ich sie völlig vergessen. Wahrscheinlich also war mir im Augenblick der Selbst einschläferung, in diesem letzten Augenblick zwischen Wachsein und Schlaf, das Bild dieser Statue, vielleicht verbunden mit dem Wunsch, sie herzuschaffen, durch den Kopf geschossen. Diesen letzten, fast schon auf der Schwelle des Unbewußten geborenen Gedanken hatte ich wie eine Angelschnur in die neblige Wassertiefe des Schlafs mit hineingenommen, wo er sich auf dem Weg der Autosuggestion in einen unwiderstehlichen Befehl ver wandelt hatte. Ich war hingegangen und hatte die Statue hergebracht. Von der Identität der Statue überzeugte ich mich wäh rend eines Spazierganges, den ich absichtlich bald darauf zu dem erwähnten Park unternahm. Ich fand dort alles wie vor Jahren; doch an der Stelle, wo einst der Torso gestan den hatte, erhob sich jetzt der leere, entblößte Sockel; nur die alles überwuchernden Farnkräuter hüllten ihn in grüne Schleier, als wollten sie schamhaft seine weiße Nacktheit verdecken. 194
Bis heute kann ich jedoch nicht verstehen, wie ich den schweren, steinernen Torso aus dem Park in mein Atelier getragen habe, denn es bedurfte dazu wahrlich der Kräfte eines Riesen. Hier wirkte anscheinend ein rasendes, unbe dingtes Gebot des Inneren, ein kategorischer Imperativ, dem gegenüber es weder Besinnung noch Zögern gibt; alle Kräfte verhundertfachen sich, alle Sehnen spannen sich in wilder Anstrengung, um zu befriedigen, um zu erfüllen, was sich mit glühenden Silben in die Tiefen der Seele ein gebrannt hat; eine unheimliche, nervöse Kraft erhebt sich und rast Hals über Kopf, ohne Weg und Steg, zerbricht, zerschmettert, zerstört, zertritt alles, was sie hindert, und erreicht ihr Ziel außer Atem, bluttriefend, aber triumphie rend … Was mich jedoch an diesem merkwürdigen Geschehnis am meisten beunruhigte, war das zu vermutende Anwach sen jenes letzten, vielleicht ganz flüchtigen Gedankens im Moment des Einschlafens zum Ausmaß eines inneren Be fehls. Alles hing von diesem letzten, fast im Vorflur des Schlafs herumgeisternden Gedanken ab. Schwerfällig erhob ich mich von meinem Lager und be gann mich anzuziehen. Nach einer Weile bemerkte ich er staunt, daß ich meinen guten Anzug anzog statt des ge wöhnlichen, den ich täglich trage. Ob Jan ihn etwa absicht lich für heute bereitgelegt hatte? Soweit ich mich erinnerte, hatte ich ihm keine besonderen Anordnungen erteilt, und gestern hatte ich nirgendwo Besuch gemacht. Vielleicht war er also der Ansicht, mein gewöhnlicher Anzug sei zu abgetragen, es gehöre sich nicht für mich, selbst an einem Werktag mich darin sehen zu lassen. Er ging überhaupt 195
schon recht selbstherrlich mit mir um, der Brave! Ich fühlte mich so zerschlagen, daß ich mich nicht nochmals umkleiden wollte, und zog meinen frisch ange fertigten, rabenschwarzen Gehrock an. Irgendwie war mir unwohl, ein schwer zu beschreiben des Gefühl der Unlust oder des Widerwillens plagte mich seit dem Augenblick des Erwachens; im Mund breitete sich der bittere Geschmack des Ekels aus. Ich ging ein paarmal im Zimmer auf und ab, um die un angenehmen Eindrücke abzuschütteln und das Gleichge wicht wiederzugewinnen. Als ich an dem Spiegel vorbei kam, warf ich unwillkürlich einen Blick hinein und er schrak; ich war leichenblaß, meine Augen leuchteten in erregtem, phosphoreszierendem Glanz, und die Hände führten eigenartige Bewegungen aus. Aufmerksam betrach tete ich sie. Ich hatte sie in Hüfthöhe parallel zu einander vorgestreckt und bewegte nervös die Finger, als ließe ich etwas fallen. Übrigens ertappte ich mich nur für einen Au genblick dabei, denn kaum hatte ich es bemerkt, nahm ich mich fast gewaltsam zusammen und schob die Hände in die Taschen. Etwa ein nervöses Delirium? Im Flur erklangen ein charakteristisches Räuspern und Ziehen an der Pfeife; Jan kehrte von seinem Plausch zu rück. Tatsächlich, gleich darauf trat er bei mir ein, offenbar nicht ganz mit mir zufrieden. »Na, endlich haben Sie sich aufgerafft! Unerhört – bis Mittag zu schlafen! Es ist mir nicht gelungen, Sie zu wec ken. Ein Herr war hier, so ein langer, spindeldürrer. Er hat etwas von Bildern geredet. Ich habe gesagt, Sie schliefen, er solle später kommen. Er aber wollte nicht gehen. Also 196
habe ich versucht, Sie zu rütteln, aber es hat nichts gehol fen, Gott hat Ihnen diese Nacht einen eisernen Schlaf, ei nen steinernen Schlaf gesandt.« »Hast recht, Jan. Ich habe wie tot geschlafen. Aber wes halb zum Teufel hast du meinen Anzug ausgetauscht? Ich habe doch gestern nicht darum gebeten.« Der Alte sah mich erstaunt an, offenbar bemerkte er erst jetzt, daß ich meinen Sonntagsrock trug. »Ich ausgetauscht? Fürwahr, Sie sind wohl schon ganz …« – hier machte er ein eindeutiges Zeichen an der Stirn. »Ich habe nur den gesäubert, den ich morgens auf dem Stuhl vorfand. Wenn da der neue lag, dann ist es eben der neue.« Er brach ab, weil ihm etwas einfiel. »Aber warten Sie mal; ich erinnere mich … gleich, gleich … Ach so, ja, so war es. Gestern abend, das weiß ich ganz genau, hatten Sie den Alltagsanzug mit der Samt jacke an. O ja, so wahr ich bei Sinnen bin. Es kann nicht anders sein, als daß Sie vor dem Schlafengehen den ande ren weggehängt, diesen da für heute herausgelegt und es dann vergessen haben.« Er sprach ruhig wie gewöhnlich, in seinem herzlichen, gutmütig-nörgligen Tonfall. Doch sein Blick ruhte manchmal ein wenig verwundert oder neugierig auf mir. »Nun gut, schon gut. Ja, ich muß offenbar selbst die An züge ausgetauscht haben, obwohl ich nicht weiß warum. Bitte das Frühstück. Sind die Zeitungen da?« »Aber sicher. Gerade hat der Junge sie gebracht. Irgend ein Extrablatt oder Telegramm, weiß der Teufel was, hat er mir auch in die Hand gedrückt. Ich hab’s genommen, weil Sie neugierig sind. Gleich bringe ich alles.« 197
Wenige Minuten später dampfte der Kaffee auf dem Tisch, öffneten die Zeitungen einladend ihre Spalten. Ich trank den Kaffee aus, steckte mir eine Zigarette an und machte mich an die Lektüre. Jenes ungewöhnlich früh, noch vor dem Erscheinen der Morgenzeitungen gedruckte Extrablatt geriet mir in die Hände. Obenan verkündete eine fette Schlagzeile ein sensationelles Ereignis: TRAGISCHER TOD DER COMTESSE W. S. Im Prinzip übergehe ich voller Verachtung sämtliche Arti kel aus dem Bereich der Kriminalistik; ich mag die bluti gen, nach Spital oder Leichenschauhaus riechenden Ein drücke nicht. Auch dieses Mal wollte ich das Extrablatt schon beiseite legen, als mein flüchtig über die schwarzen Buchstabenreihen gleitender Blick an einem Wort hängen blieb. Es war der Name eines Vororts, mit dem mich einige zwar weit zurückliegende, aber recht intensive Erinnerun gen verbanden. Ich nahm also das verachtete Extrablatt und las folgende, knappe Nachricht: Heute nacht geschah auf der Wygnanka ein selt sames, tragisches Ereignis. Gegen Morgen wurde in einem der Schlafzimmer des zum Erbbesitz der Grafen S. gehörenden »Roten Schlosses« die Lei che der Comtesse Waleria aufgefunden. Der Tod war infolge eines treffsicher genau in das Herz geführten Dolchstoßes eingetreten. Andere Wun den oder Verletzungen wurden an dem Körper 198
bisher nicht festgestellt. Der Fall erweist sich als recht dunkel und geheimnisvoll. In unserer Mor genausgabe werden wir ausführlicher darüber be richten. Wie schon gesagt, hatte der Ortsname meine Aufmerksam keit erregt. Es war die erwähnte Wygnanka, eine Art Sied lung oder Vorstadt-Gutshof, eine knappe Meile von der Stadt entfernt. Zwar war ich nur einmal im Leben in dieser Gegend, doch widerfuhr mir damals eine so tiefe Erschüt terung, daß die Verbindung dieses Namens mit einem sen sationellen Ereignis mich zu näherem Einblick in die An gelegenheit bewegte. Mit dem ›Roten Schloß‹ verband mich die Erinnerung an eine schöne Frau, die ich vor Jahren einmal gesehen hat te. War gerade sie das tragische Opfer der vergangenen Nacht? Um Genaueres zu erfahren, nahm ich nun die Morgen ausgabe zur Hand und fand diesen Artikel: GEHEIMNISVOLLES VERBRECHEN! Das furchtbare Verbrechen, das sich heute, in der Nacht vom Mittwoch zum Donnerstag im ›Roten Schloß‹ ereignet hat, trägt den Stempel des Ge heimnisvollen. Nach genauerer Untersuchung des Falles wurde die Möglichkeit eines Selbstmordes ausgeschlossen. Fräulein Waleria S. ist einer rachsüchtigen, verbrecherischen Hand zum Opfer gefallen. Davon zeugen die folgenden grauener regenden Tatsachen. 199
Als Frau Maria S. heute früh gegen 8 Uhr nach eintägiger Abwesenheit in das Schloß zurückkehr te, traf sie am Einfahrtstor fast die gesamte Die nerschaft in sorgenvoller Verwirrung an; alle Ge sichter blickten mit verkappter Angst zu der Her rin auf. Ahnungsvoll fragte Frau S. nach der Ge sundheit ihrer geliebten Tochter Waleria, die sie ausnahmsweise zu Hause gelassen hatte. Da trat im Auftrag aller anderen die alte Kinderfrau Na stusia vor und erklärte mit bebender Stimme, Fräulein Waleria habe entweder verschlafen oder sei, was Gott verhüten möge, erkrankt; sie sei nämlich bis jetzt nicht aus dem Schlafzimmer ge kommen, obwohl sie gestern abend angekündigt habe, sie werde früh aufstehen, um die Mutter zu begrüßen. Niemand habe bisher gewagt, sie zu wecken, sie habe sich im übrigen gestern einge schlossen, und auf anderem Wege könne man nicht in dieses Zimmer gelangen. Die beunruhigte Frau S. eilte sogleich nach oben und rüttelte heftig an der Türklinke des Schlafzimmers ihrer Tochter. Als nach mehreren Versuchen von innen keine Antwort erfolgte, ord nete sie völliges Schweigen an, legte das Ohr an das Schlüsselloch und lauschte auf die Atemzüge der Schlafenden. Doch herrschte drinnen dumpfes Schweigen. Da befahl sie entsetzt die Tür unver züglich aufzubrechen. Als das geschehen war, richtete sich Frau S.’ erster Blick auf das Bett ih rer Tochter. Folgender Anblick bot sich den Au 200
gen der unglücklichen, wie vom Blitz aus heiterem Himmel getroffenen Mutter. Unter einem Teppich weißer Lilien lag Waleria auf dem Rücken, die Hände wie zum Gebet gefal tet. In der Brust, in der Gegend des Herzens steck te der Griff eines Dolches; unter den Blumen auf der Bettdecke, auf einem Stück Hemd an der Brust und auf dem weißen Wollteppich sah man geron nene Blutstropfen. Die Unglückliche schien zu schlafen; die geschlossenen Augen, das stille Ge sicht, die schmerzlosen Züge verliehen ihr das Aussehen einer in tiefen Schlaf Versunkenen. Doch das vom Stahl durchbohrte Herz schlug nicht: im Bett lag eine Leiche. Die Mutter, die schier den Verstand verlor, be nachrichtigte die Polizei; diese entsandte an den Ort des Verbrechens einen Kommissar und Sach verständige. Wie das ärztliche Gutachten ergab, war Fräulein Waleria infolge eines ungewöhnlich zielsicher geführten Stoßes mit einem Dolch von 15 cm Länge in die rechte Herzkammer gestor ben. Durch den starken Stoß ist der Dolch bis zum Griff eingedrungen. Aller Wahrscheinlichkeit nach trat der Tod sofort ein, ohne daß das Opfer erwachte. Das bezeugen die geschlossenen Augen und der heitere Gesichtsausdruck. Die Sachverständigen behaupten, der Anschlag sei erst nach Mitternacht durchgeführt worden, zwischen 2 und 3 Uhr früh. Anschließend begann die Polizei mit der Suche 201
nach dem Verbrecher. Sie stieß sogleich auf un gewöhnliche Schwierigkeiten. In den Vordergrund schob sich vor allem die Frage nach den Motiven. Raub und Gewinnsucht sind entschieden auszu schließen; das Schlafzimmer wie das ganze Schloß fand man völlig unberührt. Also kommen wohl Ra che oder Eifersucht in Betracht. Hier tauchte die Frage auf, ob der Verbrecher eine Frau oder ein Mann sei, eine Frage, auf die bisher niemand eine schlüssige Antwort geben konnte. Die Verstorbene war eine Frau von ungewöhnlicher Schönheit; sie muß zweifellos viele Feindinnen gehabt, aber auch bei mehr als einem Mann den Wunsch, um ihre Hand anzuhalten, geweckt haben. Zunächst meinte man, die Lilien, unter denen man die Leiche fand, würden eine Orientierungs hilfe bieten: ein seltsamer Umstand voll düstere Friedhofsphantasie. Doch blieb die Sache hier auswegslos stecken; die Mehrheit sah darin ein durchtriebenes, zur Ablenkung der Verfolger be nutztes Mittel. Vielleicht hält die Zukunft bessere Erklärungen bereit. Überhaupt müssen wir her vorheben, daß sich in der gesamten grauenerre genden Tragödie des ›Roten Schlosses‹ ein un heimlicher und rätselhafter Zug kundtut. Vor allem weiß man nicht, auf welche Weise der Mörder in Fräulein Walerias Zimmer gelangt ist. Wie die Mutter bei der Untersuchung aussag te, fand sie das Schlafzimmer am Morgen von in nen verriegelt vor. Bei der Abreise hatte sie näm 202
lich ihrer Tochter befohlen, sich für die Nacht ein zuschließen, und sie so von der unten in den Ge sindestuben schlafenden Dienerschaft isoliert. Neben dem Schlafzimmer erstreckt sich eine lange Reihe seit dem Tod des Hausherrn leerstehender Räume. Dort wohnen die Verwandten bei Famili entreffen. In den letzten Tagen war jedoch nie mand zu Besuch anwesend; nur im dem Raum ne ben dem Schlafzimmer der Damen des Hauses schlief in der fraglichen Nacht Fräulein Walerias Kammerzofe Matgorzata, die behauptet, nichts Verdächtiges gehört zuhaben. Einen anderen Ein gang gibt es nicht. Die Fenster fand man morgens genauso geschlossen wie am Abend zuvor. Selbst wenn man annimmt, daß der Verbrecher auf ir gendeine seltsame Weise, vielleicht im Einver nehmen mit jemandem aus der Dienerschaft, in das Schloßinnere gelangt sei, steht man dennoch vor dem ungelösten Rätsel, wie er durch die ver riegelte Tür oder die geschlossenen Fenster in das Schlafzimmer eindrang, ohne Lärm hervorzurufen und damit sein Opfer zu wecken. Hoffen wir jedoch, daß die Geschicklichkeit un serer Polizei die Behörden bald auf die richtige Spur führt und helleres Licht auf diese düstere Af färe wirft. Einen genauen Bericht über die Unter suchung bringen wir in unserer Abendausgabe. Nachdem ich dieses Resümee der Untersuchung ziemlich oberflächlich gelesen hatte, blätterte ich weiter, um das 203
Bild der Ermordeten zu sehen, das man auf der nächsten Seite abgedruckt hatte. Ein Blick auf das Gesicht des Opfers genügte mir, um mich zu überzeugen, daß meine Vermutungen über die Identität der Personen vollauf gerechtfertigt waren. Ich kannte Fräulein Waleria; es war dieselbe Frau, die ich vor zwei Jahren für einen kurzen Augenblick gesehen hatte, ohne ihr je im Leben wieder zu begegnen. Und doch hatte der starke Eindruck, den ich damals empfing, eine unver wischte Spur hinterlassen. Diese Spur war das Bild, das ich, vom Anblick dieser in idealer Weise schönen Frau hingerissen, gleich darauf in wenigen Stunden angespannter schöpferischer Arbeit ge malt hatte. Das Werk war für mich eine Befreiung; nach dem ich das Bild beendet hatte, atmete ich auf und wandte mich freundlicheren Einfällen zu. Die Erinnerung an Wale ria hüllte sich langsam in immer dichtere Schleier, so daß das ganze Erlebnis schließlich wie eine flüchtige Vision aussah. Unter dem Eindruck ihres Todes lebten nun die Erinnerungen wieder auf und weckten das verhallte Echo erneut. Ich zog die Gardinen zur Seite, setzte mich an das Fen ster und studierte aufs genaueste das am Ort des Verbre chens gemachte Porträt. Die Zeichnung war vorzüglich ausgeführt. Obwohl ich die Unglückliche seit zwei Jahren nicht gesehen hatte, ließen ihre mit erstaunlicher Genauig keit wiedergegebenen Züge nicht den Schatten eines Zwei fels. Es war dasselbe Gesicht, das mit der Feinheit seines Schnitts an die asketischen, wie aus Wachs von unbefleck ter Reinheit geformten Ovale heiliger Jungfrauen erinnerte, 204
dieselbe marmorkühle Stirn mit dem Chrisma ungetrübter Heiterkeit. Zu diesem Gesichtsausdruck paßte seltsam die Umkleidung des Kopfes und der Hintergrund des Atlaskis sens, die durch die besondere Anordnung der Falten und Knicke so etwas wie eine breite, weiße Haube bildeten. Die Tote sah aus wie eine über ihre Befreiung von der sündigen Erde erfreute, den Wonnen des Himmels entgegenlächeln de Ordensheilige. Langsam stieg aus dem Andrang der Vermutungen, Kombinationen und Ahnungen das starke, unstillbare Ver langen in mir hoch, den Ort des Verbrechens aufzusuchen. Eine wilde Neugier zog mich auf das umdüsterte Terrain der nächtlichen Tat, trieb mich zur Untersuchung der Situa tion. Ich warf die leichten Stoffstiefeletten ab und suchte un ter der Ottomane nach meinen Schuhen. Wie groß war mein Erstaunen, als ich statt der gewöhnlichen dort die neuen, vor ein paar Tagen erstandenen Lackschuhe hervor holte. Wütend warf ich sie weg und öffnete heftig den Nachtschrank in der Hoffnung, dort mein tägliches Schuh werk zu finden. Doch alles Suchen blieb vergeblich, denn ich fand die Schuhe nicht. Weil ich keine Zeit verlieren wollte, resignierte ich also, zog die eben noch verachteten Lackschuhe an und verließ das Haus durch die zur Straße führende Tür, nachdem ich die Wohnung hinter mir abge schlossen hatte. Eine halbe Stunde später befand ich mich auf der Chaus see, die sich als langes weißes Band zur Wygnanka hinzog. Es war gegen drei Uhr. Das vom Spiel der Sonnenstrah len hervorgehobene malerische Landschaftsbild wider 205
sprach mit seinem Eindruck dem, was ich erwarten mußte; alle Dinge kamen mir unangenehm vertraut vor, alles wirk te unerfreulich bekannt. Dabei plagte mich das Gefühl, als wäre alles falsch und viel zu grell beleuchtet, deshalb ir gendwie anders und nicht richtig. In meiner Vorstellung suchte ich nach anderen Beleuchtungen, um den Dingen ihre ›richtige‹ Stimmung, ihre Seele wiederzugeben. So verblaßten unmerklich die gelbroten Streifen, die die Sonne über die Ackerfurchen breitete, sie wurden bläulich, um schließlich im silbergrünen Mondschein aufzuleuchten. Die Welt verdunkelte sich für eine Weile, wurde tiefblau und glitzerte dann wieder im Licht einer hellen Mondnacht. Plötzlich änderte sich gewissermaßen mein Gang; er hörte auf, eine vom selbstbewußten Willen gesteuerte Be wegungsfolge zu sein, und nahm einen hölzernen, steifen Charakter an; ich ging wie ein Automat. Mit vorgestreck ten Armen schritt ich weiter, die Hand wies auf das Ziel des Weges … Zur Linken breiteten sich in den Dunst von Grummet wiesen gehüllte Kornfelder aus und rauschten im Wind ge heimnisvoll mit ihren Ähren … Zur Rechten erstreckte sich die alte weiße Mauer, erst entlang eines Friedhofs, dann entlang eines Parks oder Gar tens, sie bildete eine einzige, endlose Linie. Schneeballzweige, die über dem brüchigen Gemäuer hingen, schwankten leise im Wind und vertrauten der Nacht die Traurigkeit des Todes an. Vom Sommerhauch gewiegte zarte Weidengerten beweinten an der Mauer das traurige Menschenlos. Ein geduckter Schatten schob sich an der Wand entlang, reckte sich auf, wurde immer länger und 206
verschwand dann im Garten. Trugbilder huschten über die Wand, von der der Kalk abgefallen war. Sie erkannten mich von weitem und riefen mich mit Zeichen herbei. Sie bewegten klappernd ihre riesigen Kinnladen, krümmten die Sperberklauen ihrer zottligen Hände oder liefen voraus und spornten mich zur Nachahmung an – böse, kichernd, un greifbar … Plötzlich dröhnte etwas dumpf und hallend unter meinen Füßen: ich ging über eine Brücke. Dieses einsame Gepolter in der bodenlosen Stille der Welt war so furchtbar, daß ich mich in besessener Angst duckte, mir die Ohren zuhielt, um es nicht länger hören zu müssen, und zu laufen begann. Ich konnte dieses Dröhnen nicht ertragen; es erinnerte mich an etwas Entsetzliches, es war mir nur zu gut bekannt, ob wohl sich Ort und Zeit nicht bestimmen ließen. Ich lief über die Brücke und in eine Pappelallee. Die Bäume wehten majestätisch mit den elastischen Wipfeln und gaben sich das Windgeplauder weiter. Auf schwankenden Beinen rannte ich durch die Allee und blieb an ihrem Ende stehen. Die Nacht verschwand, das gespen stische Mondlicht verlosch, die gierigen Schatten versan ken; ich stand an einem warmen, sonnigen Nachmittag ne ben dem Teich am Schloß. Ungewiß, ob ich nicht schlief oder träumte, wischte ich mir die Augen und ging an der Mauer entlang. Von dieser Seite aus wirkte das Schloß relativ zugänglich; im übrigen schützten es hohe Mauern ringsum. Mit der Chaussee war es durch eine Zugbrücke verbunden, die zur Nacht hochge hoben wurde. Nur hier im Süden lehnte sich die Mauer unmittelbar an die Seitenwand des Schlosses. 207
Hier also konnte wohl der Mörder bis zur halben Höhe des Schlosses gelangt sein. Aber auch so blieb noch eine große völlig glatte Fläche ohne alle Vertiefungen bis zum ersten Fenster. Von tausend Vermutungen ratlos geplagt, ließ ich den Kopf sinken. Mir blieb nichts übrig als anzunehmen, der Verbrecher habe im Zustand ungewöhnlich gesteigerter Fähigkeiten gehandelt, unter dem Druck einer wütend kon zentrierten Nervenkraft, die einen Menschen über glatte Wände vorantreibt, über dem Abgrund im Gleichgewicht hält, die Fenstergriffe von innen bewegt und leicht, leise, unabweislich, hartnäckig wirkt … Ich konnte das Rätsel nicht lösen. Entmutigt kehrte ich, zumal ich in der Nähe einige her umlungernde Individuen beobachtet hatte, die meine Be wegungen neugierig verfolgten, auf die Chaussee zurück und schob mich bald darauf wieder durch die Pappelallee. Die ruhige, reife Sonne schaute durch die in die Ferne wei senden Baumreihen und bezeichnete die Zeit mit Schat tenwürfen. Irgendwo hämmerte ein Specht ausdauernd, verkündete ein Kuckuck Glück. Die goldene, warme fünfte Stunde. Woher kam nur das Trugbild des Mondes? überlegte ich intensiv. Wahrscheinlich hatte ich mich ganz tief eingefühlt in den Seelenzustand des Verbrechers, der nachts beim Mond licht zur Tat schreitet, und seine Qualen nachempfunden. Plastizität und Intensität des Geschehens zeugten nur von meiner Sensibilität. Der quasi wiederholte Ablauf der Er lebnisse des Mörders stützte sich bis zum i-Tüpfelchen auf 208
Ergebnisse, zu denen ich durch die Analyse der in der Zei tung mitgeteilten Fakten gelangt war. Dem Anschein nach war also alles in Ordnung. In der Tiefe jedoch trieben mich halb bewußte, klare, logische, hartnäckige Gedanken um, die alles Lügen straften. Ich tat dennoch, als wäre alles in Ordnung, und freute mich an der Ruhe der ungetrübten Oberfläche. In Wirklichkeit hatte ich genug davon. Die Tragödie auf der Wygnanka zog mich allzusehr und zu persönlich in ihre Strudel, so daß mich die Furcht ankam, ich könnte in ihnen versinken. Schließlich mochte doch all das der Teufel ho len. Was ging mich das an? Es wurde Zeit, sich langsam zurückzuziehen. Doch meine Gedanken bewegten sich auf Umwegen und zielten von seitwärts auf den empfindlichen Punkt. Eine unerträgliche Unruhe senkte stahlkühle Sonden in meine Seele und nahm bereits die Maschen des Netzes auf, als plötzlich ein äußerer Umstand meine Aufmerksamkeit auf etwas anderes lenkte und mir zu meiner Freude nicht ge stattete, die Gedankenverbindung zu vollenden. Als ich bis auf wenige Schritte an die fatale Brücke he rangekommen war, spürte ich, daß ich sie nicht zu über schreiten vermochte. Die Furcht, jenes Dröhnen wieder zu vernehmen, das in dumpfer Erinnerung durch die Sackgassen meines Gehirns irrte, stieß mich heftig zurück. Es blieb nichts anderes üb rig, als die Brücke unten zu umgehen. Ohne zu überlegen, verließ ich die Chaussee und stieg in den zum Glück völlig trockenen Graben. Während ich auf dem mit üppigem Gras bewachsenen Hang hinabging, be 209
merkte ich, daß mir schon jemand zuvorgekommen war. Der Rasen, stellenweise beschädigt und abgetreten, wies deutlich Schuhspuren auf, die beim Herunterklettern am Hang entstanden sein mußten. Weil der Graben zunächst trocken war, rissen die Spuren gleich unterhalb des Hanges ab. Ich entdeckte jedoch ihre Fortsetzung, als ich mich der Brücke näherte, unter der ein Flüßchen hindurchfloß, um sich dann in riesigen Ödflächen zu verlieren. Also hatte auch jemand anderes kurz vor der Brücke die Chaussee verlassen. Eigenartig! Etwa aus denselben Grün den? Die verlockende Möglichkeit veranlaßte mich, die Spu ren weiter zu verfolgen. Nachdem ich das schmale Gewäs ser übersprungen hatte, kehrte ich deshalb nicht auf die Chaussee zurück, sondern bog in Richtung der Spuren ab. Ich sah sie mir genau an und kam zu der Überzeugung, daß sie von Männerschuhen stammten und etwas breiter waren als meine Lackschuhe. Zunächst folgten sie dem Graben parallel zur Chaussee, doch änderte sich die Richtung sehr bald. Die Spur bog nach rechts in die Felder und Ödflächen ab, man konnte sie auf dem lehmigen, feuchten Grund deutlich erkennen. Offenbar hatte es nach einer klaren Nacht gegen Morgen geregnet: die Chaussee war schnell getrocknet, während der tiefer gelegene tonhaltige Boden die Feuchtigkeit bis jetzt bewahrt hatte. Trotz des äußerst beschwerlichen Weges war der Unbe kannte dennoch nicht zur Chaussee zurückgekehrt, sondern durch die leeren, sumpfigen Felder ohne Pfade, Raine oder 210
Wegweiser gestapft, als fände er automatisch die einmal gewählte Richtung. Ich wäre seinem Beispiel nicht gefolgt, wäre nicht die Neugier gewesen, wohin das führe. Sehr bald verwunderte mich die Unregelmäßigkeit der Spur; sie lief nach rechts und wieder nach links, sprang wild zur Seite, beschrieb merkwürdige Zickzackkurven. Schließlich bildete sie ein Knäuel, zu dem sie nach einem weiten Bogen durch die Felder als zu ihrem Ausgangs punkt wieder zurückführte. Ich hatte ein interessantes Rätsel vor mir. Entweder war das die Spur eines Verrückten oder die eines in tiefes Nachdenken versunkenen Menschen. Vielleicht war sein Denken, nachdem es einen Kreisbo gen geschlagen hatte, wieder an der Pforte des gequälten Hirns stehengeblieben; vielleicht hatte eine schlimme Idee den Wanderer gefangen genommen und ihn trotz aller An strengungen nicht aus ihrem Teufelskreis hinausgelassen? Ich stand in einer geheimnisvollen Mitte und schaute vorwärts. Die zu einem Knäuel verknotete Spur streckte sich lang sam und kroch unsicher weiter. Der Besessene hatte end lich den magischen Zirkel überschritten, er hatte sich mit Mühe befreit und strebte nun mit Hilfe seines Willens ge radeaus. Die Wellenförmigkeit der Spuren glättete sich nach und nach, der Schritt wurde männlicher und strebte mit beispielloser Geschwindigkeit auf die Stadt zu. Ich konnte diesen Riesensprüngen nicht folgen, die meh rere Meter auf einmal hinter sich brachten; offensichtlich war dieser Mensch auf der Flucht. Doch ich ließ ihn nicht 211
aus den Augen und folgte ihm dichtauf. Es fiel mir schwer, ich hob die Füße nur noch mühsam. Der sumpfige, nur halb ausgetrocknete Boden klebte an den Schuhen, die sich schnell mit ziegelrotem Lehm über zogen. Traurigkeit überfiel mich. Durch den gequälten Kopf zogen Gedanken wie Nebel schwaden, die der Wind vor sich hertreibt; irgendwelche Lichter, von unbekannten Händen hochgehoben, leuchteten auf und verloschen. In der Ferne lärmte schon die Stadt, verendeten in lang gezogener Klage die Fabriksirenen. Ein trauriger, verklin gender Ton drang zu mir … Ich erkannte ihn. Auf dem Turm der Pfarrkirche blies der Trompeter das Signal zu Ehren der Jungfrau Maria. Eine ernste, ehrwürdige Melo die … Ich sah mich in der engeren Umgebung um. Die Spur strebte jetzt anscheinend der seit langem aus den Augen verlorenen Chaussee zu. Soweit ich mich in der Geogra phie orientieren konnte, hatte ich die Linie der VorstadtBrauereien bereits passiert und näherte mich von den Od flächen her der Stadt. In der Hoffnung, die Spuren würden bald das Feld ver lassen und auf ein Haus zulaufen, ging ich mit verhaltenem Atem weiter. Plötzlich schlug mein Herz heftig. Die Gegend kam mir sehr vertraut vor; ich erkannte die rückwärtigen, nach den Gärten zu gelegenen Seiten der Häuser. Ich beschleunigte meinen Schritt, meine Augen hingen 212
an der seltsamen Spur, ich unterdrückte den Sturm der wild andringenden Gedanken … Da stieß ich auf ein Hindernis. Ich hob die Augen und sah mich vor der Pforte meines eigenen Gartens. Fieberhaft öffnete ich sie und ging hinein. Die Spur wand sich unun terbrochen weiter bis zur Tür meines Hauses. Ich riß an der Tür. Sie war verschlossen. Irgendwelche bis jetzt wie Eisenfeilspäne zerstreute Atome polarisierten sich mit verfluchter Geschwindigkeit, mitgerissen von dem aus der Ferne herankommenden Strom. Ich spürte schon, ich spürte das unerbittliche Nahen der das Chaos ordnenden Welle. Ratlos stand ich eine Zeitlang auf der Schwelle, ohne meinen Blick von den Spuren zu lösen; sie führten auf das Haus zu, und das Haus war verschlossen. Da irrte mein Blick etwas nach links ab, und ich ent deckte eine neue Linie von Abdrücken; eine begann an der Schwelle und lief in den Garten, die andere schien zurück zukehren, kreuzte sich mit der ersten und erreichte den Eingang, aber ganz an der Seite, so daß ich sie zunächst nicht bemerkt hatte. Ich ging der ersten nach in den Garten. An der Hausecke bog sie ab zwischen die Blumenbeete. Plötzlich stutzte ich; die Spur endete an meinem gelieb ten Lilienbeet. Doch meine weißen Blumen fehlten – eine schreckliche Hand hatte sie alle herausgerissen; nur zer brochene Stengel ragten empor. »Das ist er gewesen!« Es trieb mich ins Haus, ins Innere. Ohne den Schlüssel hervorzuholen, stieß ich mit wilder Kraft gegen die Tür, riß 213
sie aus den Angeln und stürzte hinein. Von neuem begann ich etwas zu suchen. Ich öffnete den Schrank, den Schreibtisch, den Tisch, ich sah alle Schubla den und Fächer durch, ich rannte in Jans Kammer und durchwühlte ganze Stöße von Gerumpel, Büchern, Wä sche. Ich fand nichts. Durch Zufall fiel mein Blick auf die geschwärzte Ofen tür. »Dort vielleicht?« Fast riß ich das Blech heraus, gierig tauchten meine Hände in den Schlund. Endlich stieß ich tief, tief drinnen auf etwas Hartes. Ich zerrte, ich riß es heraus … Es war ein kleines Bündel: meine über und über mit rotem Lehm be schmutzten Schuhe und mein Alltagsanzug mit der Samt jacke. Ich wickelte die weiche, zerknüllte Jacke auseinander … »Ja! Ich bin es gewesen!« Sie war mit Walerias Blut bespritzt.
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Kühle Luft von H. P. Lovecraft Auf dem Höhepunkt der grausigen Ereignisse in »Kühle Luft« bemerkt der zutiefst verstörte Ich-Erzähler: »Es gibt Dinge zwischen Himmel und Erden, über die man am be sten nicht zuviel nachdenkt.« Lovecraft selbst hingegen, der sich hinter der Maske des berichterstattenden Redak teurs verbirgt, ein legitimer Nachfolger von Poe und Bier ce, hat sein ganzes Leben ausschließlich über diese Dinge nachgedacht. In den Romanen und Erzählungen dieses ori ginären amerikanischen Phantasten (1890-1937), der erst nach seinem Tod die verdiente Anerkennung fand, feiern nächtliche Gestalten grauenvolle Bacchanalien, türmen sich Berge des Entsetzens, die nicht mehr von dieser Welt sind. Sie haben mich um eine Erklärung dafür gebeten, warum ich mich vor jedem kühlen Luftzug fürchte, warum ich mehr als andere zittere, wenn ich einen kalten Raum betre te, und weshalb es mich zu erschrecken scheint, wenn die Abendkühle die Hitze eines strahlend schönen Sommertags verdrängt. Manche behaupten sogar, daß ich auf Kälte wie andere auf schlechte Gerüche reagiere, und ich bin selbst der letz te, der diese Tatsache bestreitet. Deshalb möchte ich Ihnen die schrecklichste Begebenheit schildern, die mir je wider fahren ist, und es Ihrem Urteil überlassen, ob sie meine Ei genart ausreichend begründet erscheinen läßt. 215
Es ist ein Fehler, sich einzubilden, daß der Schrecken unweigerlich mit Dunkelheit, Stille und Einsamkeit einher gehen müsse. Ich begegnete ihm an einem sonnigen Nachmittag, im Lärm und der Betriebsamkeit einer Welt stadt, in einer heruntergekommenen Pension, deren Besit zerin und zwei kräftige Männer sich damals an meiner Sei te befanden. Im Frühjahr des Jahres 1923 hatte ich einen schlechtbezahlten und eintönigen Job als Redakteur einer kleinen Zeitung in New York angenommen. Da ich nicht sehr viel für Miete ausgeben konnte, zog ich von einer preiswerten Pension in die andere und suchte nach einem Raum, der ausreichend sauber, anständig möbliert und zu dem sehr billig sein sollte. Bald stellte sich heraus, daß ich in jedem Fall unter verschiedenen Übeln eine Wahl treffen mußte, aber nach einigen Wochen stieß ich auf ein Haus in der West Fourteenth Street, das mich weniger als die ande ren abstieß, die ich bereits von innen kennengelernt hatte. Das Haus, ein stattliches vierstöckiges Gebäude aus ro ten Klinkern, war offensichtlich um 1840 herum erbaut worden und mußte damals bessere Zeiten gesehen haben, wie das marmorne Treppenhaus und die getäfelten Wände bewiesen. In den riesigen hohen Räumen, die mit unmögli chen Tapeten und lächerlichen Stukkaturen ausgeschmückt waren, herrschte eine deprimierende Atmosphäre, die von Erinnerungen an eine düstere Vergangenheit geprägt schien; aber die Fußböden waren blankgescheuert, die Bettwäsche wurde einigermaßen regelmäßig gewechselt und das heiße Wasser kam nicht zu oft kalt oder gar nicht aus der Leitung, so daß ich das Haus schließlich als den geeigneten Ort zum Überwintern ansah, bis man im Früh 216
jahr wieder wirklich leben könne. Die Besitzerin, eine fül lige Spanierin mit einem deutlichen Anflug von Bart auf der Oberlippe – ihr Name war übrigens Herrero –, belästig te mich nie mit Klatschgeschichten oder Klagen wegen meiner Angewohnheit, bis in die frühen Morgenstunden zu arbeiten, und die anderen Gäste waren so ruhig und zu rückhaltend, wie man es sich nur wünschen konnte – sie rekrutierten sich fast ausschließlich aus spanischen Ein wanderern, deren Bildungsniveau ein wenig über dem sonst bei diesen Leuten gewöhnlichen Durchschnitt lag. Nur das Rasseln der Straßenbahnen in der belebten Straße unter meinem im dritten Stock liegenden Zimmer erwies sich als eine Belästigung. Der erste Vorfall ereignete sich, nachdem ich etwa drei Wochen in der Pension zugebracht hatte. Eines Tages wur de ich gegen acht Uhr abends auf schwere Tropfen auf merksam, die von der Decke herabfielen, nachdem ich schon vorher einen durchdringenden Ammoniakgeruch wahrgenommen hatte. Ich sah auf und bemerkte einen feuchten Fleck an der Zimmerdecke in der Nähe des Fen sters, der sich zusehends ausbreitete. Da ich die Ursache dieser Belästigung beseitigen wollte, eilte ich ins Erdge schoß hinab, um die Besitzerin davon in Kenntnis zu set zen, und erhielt von ihr die beruhigende Antwort, daß sie schnellstens für Abhilfe sorgen wolle. »Dr. Munoz hat bestimmt wieder einmal seine Chemika lien verschüttet«, erklärte sie mir, während wir gemeinsam die Treppe hinaufeilten. »Er ist so krank, daß er selbst ei nen Arzt gebrauchen könnte – es wird jeden Tag schlim mer –, aber er würde nie zulassen, daß ich einen hole. Er 217
leidet an einer seltsamen Krankheit, denn er muß jeden Tag in einer merkwürdig riechenden Flüssigkeit baden und darf sich nicht aufregen oder gar in Hitze geraten. Seine Zim mer stehen voll mit Flaschen und Maschinen, und er kann nicht mehr als Arzt arbeiten. Aber früher war er berühmt – mein Vater hat in Barcelona von ihm gehört –, und erst vor wenigen Tagen hat er den Arm eines Installateurs ge schient, nachdem der Mann die Kellertreppe hinabgestürzt war. Er geht nie aus, aber mein Sohn Esteban bringt ihm das Essen, die Wäsche, seine Medizin und Chemikalien. Mein Gott, wieviel Salmiakgeist dieser Mann verbraucht, um sich kühl zu halten!« Mrs. Herrero stieg weiter in den vierten Stock hinauf, während ich in mein Zimmer zurückkehrte. Dort wischte ich die Lache auf, die sich auf dem Fußboden gebildet hat te, und öffnete das Fenster, um frische Luft hereinzulassen. Dabei hörte ich die schweren Schritte der Besitzerin über mir, aber sonst drang aus den Räumen über meinem Zim mer kaum jemals ein Laut bis auf das gelegentliche Surren einer Maschine, denn Dr. Munoz trat leise und behutsam auf. Ich dachte einen Augenblick über die seltsame Krank heit dieses Mannes nach und fragte mich, ob sein hartnäc kiges Sträuben gegen den Besuch eines anderen Arztes nicht der Ausdruck einer übermäßigen Exzentrizität sei. Vielleicht hätte ich Dr. Munoz nie kennengelernt, wenn ich nicht plötzlich eine Herzattacke erlitten hätte, als ich an einem Sonntagvormittag an meiner Schreibmaschine saß. Mehrere Ärzte hatten mich eindringlich vor den Gefahren dieser Anfälle gewarnt, deshalb wußte ich, daß ich keine Zeit zu verlieren hatte, und schleppte mich einen Stock hö 218
her, wo ich schwach an eine Tür klopfte. Auf mein Klopfen antwortete eine fragende Stimme in gutem Englisch, die meinen Namen und den Grund meines Kommens zu erfah ren wünschte. Nachdem ich diese Auskunft offensichtlich zur Zufriedenheit erteilt hatte, öffnete sich die Tür rechts neben der, vor der ich wartete. Ein eiskalter Luftzug strich an mir vorüber, so daß ich trotz des heißen Junitags vor Kälte zitterte, als ich den gro ßen Raum betrat, dessen teure und geschmackvolle Ein richtung in krassem Gegensatz zu dem sonst so herunter gekommenen Gebäude stand. Die schweren Mahagonimö bel, die breite Couch, die kostbare Tapete, die Ölgemälde und die riesigen Bücherregale – das alles wirkte eher wie das Studierzimmer eines Gentleman, als wie ein Zimmer in einer schäbigen Pension. Ich sah jetzt, daß der Raum über meinem Zimmer als Laboratorium eingerichtet war, wo die Flaschen und Maschinen Platz gefunden hatten, die Mrs. Herrero mir gegenüber erwähnt hatte. Der Arzt war nicht übermäßig groß, aber in dem schwar zen Maßanzug wirkte er trotzdem stattlich. Sein Gesicht trug einen gebieterischen Ausdruck, den der kurze eisgraue Bart noch erhöhte. Ein altmodischer Kneifer saß vor den dunklen Augen auf einer Adlernase, die der Physiognomie etwas Mohrenhaftes verlieh, in der sonst der keltisch iberische Einschlag dominierte. Sein dichtes Haar, das er in der Mitte gescheitelt trug, ließ vermuten, daß Dr. Munoz in regelmäßigen Abständen von einem Friseur aufgesucht wurde. Die ganze Erscheinung erweckte den Eindruck überragender Intelligenz, die sich mit guter Herkunft und erstklassiger Erziehung vereinte. 219
Trotzdem empfand ich ein innerliches Widerstreben, als ich den Arzt inmitten des eisigen Luftzugs zum erstenmal sah, obwohl seine äußere Erscheinung dazu keinen Anlaß gab. Nur seine blasse Gesichtsfarbe und die Berührung durch die kalten Hände hätten als physische Gründe für diese Empfindung gelten können, aber selbst diese Dinge waren entschuldbar, wenn man die schwere Krankheit des Mannes in Betracht zog. Andererseits konnte auch die merkwürdige Kälte daran schuld sein, die in dem Raum herrschte, denn sie mußte an einem so heißen Tag anomal erscheinen – und das Anomale ruft in uns stets Aversionen, Mißtrauen und Furcht hervor. Aber dieses Widerstreben verwandelte sich bald in Be wunderung, denn das außerordentliche Können des seltsa men Arztes zeigte sich bald sehr deutlich trotz der Eises kälte und des Zitterns seiner blutlosen Hände. Er erkannte mit einem Blick, was mir fehlte, und kümmerte sich sofort um mich, wobei er mit leiser, aber eigenartig hohler und tonloser Stimme versicherte, daß er der erbittertste Feind des Sensenmannes sei und sein Vermögen und seine Freunde im Laufe des lebenslänglichen Experiments verlo ren habe, das er in der Hoffnung unternommen habe, end lich dem Tod Einhalt gebieten zu können. Er sprach unauf hörlich weiter, während er meinen Brustkasten abklopfte und eine Mischung aus mehreren geheimnisvollen Flüssig keiten herstellte, die er aus dem Laboratorium geholt hatte. Offensichtlich empfand er die Anwesenheit eines gebilde ten Mannes als ein willkommenes Novum in dieser schäbi gen Umgebung und sprach unwillkürlich mehr als gewöhn lich, als die Erinnerungen an bessere Zeiten in ihm über 220
mächtig wurden. Seine Stimme klang zwar seltsam, war aber wenigstens beruhigend, und ich konnte nicht einmal erkennen, daß er atmete, während er so gewählt sprach. Er versuchte mich von meinem Anfall abzulenken, indem er von seinen Theo rien und Experimenten erzählte; und ich erinnere mich noch daran, wie er mich taktvoll tröstete und behauptete, daß Wille und Bewußtsein über den Körper triumphieren könnten, so daß ein Mensch sehr wohl mit schweren orga nischen Defekten oder selbst ohne einige der als lebens wichtig bezeichneten Organe existieren könne. Dann mein te er in scherzhaftem Ton, daß er mich eines Tages sogar in die Geheimnisse eines Lebens – oder zumindest einer Art bewußter Existenz – ohne jedes Herz einweihen könne! Seiner Erklärung nach litt er selbst unter verschiedenen Krankheiten, die eine äußerst geregelte Lebensweise be dingten, zu der auch dauernde Unterkühlung gehörte. Jeder deutliche Temperaturanstieg, der längere Zeit hin durch andauerte, konnte für ihn tödlich sein; und die Kälte in seinen Räumen – etwa zehn oder elf Grad Celsius – wur de durch ein Absorptionssystem erzeugt, das mit Ammoni ak als Kühlmittel arbeitete – daher auch das Surren der Maschinen, das ich von meinem Zimmer aus gehört hatte. Nachdem mein Anfall schon nach überraschend kurzer Zeit vorübergegangen war, verließ ich den unbehaglich kühlen Raum als begeisterter und ergebener Schüler des genialen Einsiedlers. In den folgenden Wochen stattete ich ihm häufig Besuche ab, zu denen ich einen dicken Winter mantel anzog, und lauschte hingerissen, wenn er von seiner Forschungsarbeit und deren unheimlichen Ergebnissen be 221
richtete, und zitterte innerlich, wenn ich die seltenen, er staunlich alten Werke in seinen Bücherregalen betrachtete. Im Laufe der Zeit, das muß ich noch hinzufügen, wurde ich übrigens durch seine Kunst fast vollständig von meinem Leiden geheilt. Anscheinend hielt er viel von der Wissen schaft des Mittelalters, denn er glaubte, daß manche der damals gebräuchlichen kryptischen Formeln Stimuli ent hielten, die einzigartige Wirkungen auf ein Nervensystem haben könnten, aus dem das Leben bereits entflohen war. Ich war ehrlich gerührt, als er mir von dem ehrwürdigen Dr. Torres aus Valencia erzählte, der an seinen ersten Ex perimenten teilgenommen und ihn später während der ern sten Erkrankung vor achtzehn Jahren aufopfernd gepflegt hatte, deren Nachwirkungen Dr. Munoz noch heute spürte. Kaum hatte der alte Mediziner seinen Kollegen vor dem Tode gerettet, als er selbst ein Opfer des Sensenmanns wurde, den er so lange und erfolgreich abgewehrt hatte. Vielleicht hatte er sich dabei überanstrengt, denn Dr. Mu noz erklärte mir flüsternd – allerdings ohne Einzelheiten zu erwähnen –, daß dabei eine außergewöhnliche Heilmetho de angewandt worden sei, die gewiß nie die Billigung der konservativen Ärzteschaft gefunden hätte. Im Laufe der folgenden Wochen mußte ich mit Bedau ern feststellen, daß mein neuer Freund in der Tat physisch gesehen immer mehr an Boden verlor, wie schon Mrs. Her rero beobachtet hatte. Er wirkte von Tag zu Tag blasser, seine Stimme wurde noch undeutlicher, die Muskelbewegungen waren weniger perfekt koordiniert, und sein Verstand schien an Wider standsfähigkeit und Initiative zu verlieren. Diese traurige 222
Veränderung blieb ihm selbst keineswegs verborgen, und seine Unterhaltungen mit mir waren von einer grausigen Ironie, die sich auch in seinem Gesicht ausdrückte und in mir etwas von dem leichten Widerwillen wachrief, den ich bei unserer ersten Begegnung empfunden hatte. Plötzlich entwickelte er seltsame Kapricen und begei sterte sich für exotische Gewürze und ägyptischen Weih rauch, bis sein Zimmer wie die Grabkammer eines Pharaos im Tal der Könige roch. Zur selben Zeit steigerte sich sein Bedürfnis nach kalter Luft, so daß er mit meiner Hilfe die Kühlanlage ausbaute, bis er die Temperatur auf fünf oder sechs Grad Celsius und schließlich sogar auf minus zwei Grad senken konnte. Das Badezimmer und das Laboratori um wurden selbstverständlich nicht so stark gekühlt, um das Wasser nicht einfrieren zu lassen und chemische Pro zesse nicht nachteilig zu beeinflussen. Der Bewohner des Nebenzimmers beklagte sich über den eisigen Luftzug, der unter der Verbindungstür hindurch in sein Schlafzimmer drang, deshalb brachte ich gemeinsam mit Dr. Munoz schwere Vorhänge an, um diese Unannehmlichkeit zu be seitigen. Mein Freund schien von einer ständig wachsenden Furcht besessen zu sein, die mir eigenartig erschien, ob wohl ich seine Gründe dafür nicht kannte. Er sprach unauf hörlich vom Sterben, lachte aber nur höhnisch, wenn ich vorsichtige Andeutungen über Begräbnis oder Feuerbestat tung wagte. Alles in allem entwickelte er sich zusehends zu einem unausstehlichen Gesellschafter, aber in meiner Dankbarkeit für meine Heilung konnte ich ihn nicht gut der Fürsorge der Fremden überlassen, von denen er umgeben war, des 223
halb brachte ich jeden Tag seine Räume in Ordnung und versorgte ihn, wobei ich mich in einen schweren Winter mantel hüllte, den ich mir eigens für diesen Zweck gekauft hatte. Ebenso erledigte ich einen Teil seiner Einkäufe für ihn und staunte immer wieder über die zahlreichen Chemi kalien, die er sich aus Drogerien oder Versandhäusern kommen ließ. In seinem Appartement herrschte allmählich eine un heimliche Atmosphäre. Wie ich wohl bereits zu Anfang bemerkte, roch das gesamte Haus muffig, aber seine Zim mer stanken beinahe, trotz des Weihrauchs und der ätzen den Chemikalien, in denen er jetzt immer häufiger badete, wobei er sich nie helfen ließ. Ich vermutete, daß dieser Ge stank etwas mit seiner Krankheit zu tun haben müsse und zitterte bei dem Gedanken an die Natur dieses Leidens. Mrs. Herrero bekreuzigte sich, wenn sie ihn sah, und über ließ ihn uneingeschränkt meiner Fürsorge, nachdem sie ihrem Sohn Esteban jegliche Art von Besorgungen für Dr. Munoz strikt untersagt hatte. Wenn ich vorzuschlagen wag te, daß man vielleicht doch einen anderen Arzt holen sollte, steigerte der Kranke sich förmlich in einen Wutanfall hin ein, obwohl er offensichtlich die Auswirkungen einer hef tigen Gefühlsbewegung fürchtete. Trotz allem schien seine Willenskraft eher zuzunehmen als zu schwinden, während er dem Todesengel noch Widerstand leistete, als dieser ihn bereits ergriffen hatte. Jetzt nahm er auch keine regelmäßi gen Mahlzeiten ein, die er früher nur aus reiner Gewohn heit verzehrt hatte – so war es mir jedenfalls erschienen –, so daß ihn nur noch seine übermenschliche Willenskraft vor dem totalen Zusammenbruch bewahrte. 224
Er schrieb lange Briefe, die er sorgfältig siegelte und mir mit der Bitte übergab, sie nach seinem Tod an gewisse Männer zu schicken, deren Adressen er mir aufgeschrieben hatte – meistens handelte es sich dabei um indische Gelehr te, aber die Liste enthielt auch den Namen eines berühmten französischen Arztes, der schon vor langer Zeit gestorben sein sollte, und über den flüsternd die unwahrscheinlich sten Gerüchte verbreitet wurden. Später verbrannte ich alle diese Briefe ungeöffnet, anstatt sie wie vereinbart abzusen den. Das Aussehen und die Stimme meines unglücklichen Freundes hatten sich geradezu fürchterlich verändert, so daß selbst mir seine Gegenwart fast unerträglich erschien. Eines Tages im September rief sein unerwarteter Anblick einen epileptischen Anfall in einem Mann hervor, der ge kommen war, um seine Schreibtischlampe zu reparieren. Dr. Munoz gab alle notwendigen Anweisungen, mit deren Hilfe ich den Elektriker wieder beruhigen konnte, blieb aber im Badezimmer außer Sicht. Seltsamerweise hatte der Elektriker den Weltkrieg in vorderster Linie mitgemacht, ohne sich jemals so zu erschrecken. Mitte Oktober kam der Schrecken aller Schrecken mit lähmender Plötzlichkeit. Eines Nachts gegen elf Uhr ver sagte die Pumpe der Kühlanlage, so daß innerhalb von drei Stunden der Abkühlungsprozeß mit Hilfe von Ammoniak zum Erliegen kam. Dr. Munoz klopfte heftig auf den Fuß boden seines Zimmers, um mich zu sich zu rufen, und ich arbeitete verzweifelt an der Behebung des Schadens, wäh rend mein Freund in einem Tonfall fluchte, dessen Leblo sigkeit und Heiserkeit sich nicht mit Worten beschreiben lassen. Bald stellte sich jedoch heraus, daß meinen Bemü 225
hungen kein Erfolg beschieden war, deshalb holte ich einen Mechaniker aus einer nahegelegenen Tankstelle herauf, der feststellte, daß ein neuer Kolben gebraucht werde, der erst am nächsten Morgen besorgt werden konnte. Die Wut und Angst des gebrechlichen Eremiten nahm wahrhaft groteske Proportionen an, so daß ich bereits befürchtete, er werde auf der Stelle zusammenbrechen; und schließlich schlug er krampfartig die Hände vor das Gesicht und verschwand im Badezimmer. Als er wieder daraus auftauchte, mußte er sich mühsam vorantasten, denn sein Gesicht war mit Mull binden verhüllt, und ich sah seine Augen nie wieder. Die in dem Appartement herrschende Kälte nahm fühl bar ab, so daß Dr. Munoz sich gegen fünf Uhr morgens wieder in das Bad zurückzog, nachdem er mir den Auftrag gegeben hatte, ihm soviel Eis wie möglich aus Nachtcafes und ähnlichen Lokalen zu beschaffen. Wenn ich von mei nen manchmal enttäuschenden Gängen zurückkehrte und das Eis vor die verschlossene Tür des Badezimmers legte, hörte ich ein ruheloses Plätschern und eine heisere Stimme, die »Mehr – mehr!« verlangte. Schließlich brach ein war mer Tag an, und die Geschäfte öffneten. Ich bat Esteban, mir entweder bei der Beschaffung des Eises behilflich zu sein, während ich den neuen Kolben besorgte, oder den Kolben zu bestellen, damit ich weiterhin Eis heranschaffen konnte, aber der Junge hielt sich an das Verbot seiner Mut ter und weigerte sich hartnäckig. Schließlich heuerte ich einen der Männer an, die auf der Eighth Avenue arbeitslos herumlungerten, und vereinbarte mit ihm, daß er den Patienten mit Eis aus einem Restaurant versorgen sollte, dessen Besitzer ich kannte. Ich machte 226
mich unterdessen auf die Suche nach einem passenden Kolben und einem Monteur, der ihn einbauen konnte. Die se Aufgabe erwies sich als unerwartet schwierig, so daß ich am Ende ebenso heftig wie mein Freund fluchte, während ich vergeblich ein Geschäft nach dem anderen anrief und kreuz und quer durch die Stadt fuhr. Erst gegen Mittag fand ich das lächerliche Stück Metall in einem weit ent fernten Viertel, so daß ich erst um halb zwei Uhr nachmit tags gemeinsam mit zwei kräftigen Monteuren in die Pen sion zurückkehrte. Ich hatte mein Möglichstes getan und hoffte, daß ich rechtzeitig käme. Ich schaffte es nicht. Das Haus befand sich in einem Aufruhr, und das erregte Stimmengewirr wurde nur von dem tiefen Baß eines Priesters übertönt, der ein beschwö rendes Gebet sprach. Schreckliche Dinge lagen in der Luft, und die Bewohner des Hauses beugten sich tief über ihre Rosenkränze, als sie den Gestank wahrnahmen, der aus dem verschlossenen Zimmer des Arztes drang. Der Mann, den ich angestellt hatte, war schreiend und mit irrem Ge sichtsausdruck aus dem Zimmer gestürzt, nachdem er zum zweiten Male eine Ladung Eis abgeliefert hatte. In dem Zimmer selbst herrschte Totenstille, bis auf ein nicht zu beschreibendes langsames Tropfen. Ich beriet kurz mit Mrs. Herrero und den Arbeitern, wo bei ich trotz der Angst, die an mir nagte, dafür stimmte, die Tür aufzubrechen; aber die Besitzerin der Pension holte eine Drahtschlinge aus der Schürzentasche, mit deren Hilfe sie den Schlüssel von der Außenseite umdrehte. Wir hielten uns Taschentücher vor den Mund und betraten den fürchterlichen Raum, den die Nachmittagssonne strahlend erleuchtete. 227
Eine Schleimspur führte von der offenstehenden Tür des Badezimmers zur Eingangstür und von dort aus weiter zu dem Schreibtisch, vor dem sich eine Lache gebildet hatte. Dort lag ein Zettel, auf dem ich einige blindlings hingekrit zelte Worte und Sätze erkannte, zwischen denen Schleimtropfen auf dem Papier hafteten, die nur von der Hand stammen konnten, die diese letzten Worte niedergeschrie ben hatten. Dann führte die Spur zu der Couch und endete dort. Was ich auf der Couch erblickte, kann und will ich hier nicht schildern. Aber ich las den verschmierten Zettel schaudernd durch, bevor ich ein Streichholz entzündete und ihn in Asche verwandelte – und las folgendes, während Mrs. Herrero und die beiden Monteure fluchtartig den schrecklichen Raum verließen und zum nächsten Polizeire vier rasten, um dort das grausige Ereignis zu melden. In dem hellen Sonnenlicht und dem Straßenlärm, der durch das geöffnete Fenster hereindrang, erschienen mir die ent setzlichen Worte fast unglaublich, aber ich muß zugeben, daß ich ihnen damals Glauben schenkte. Ob ich sie auch jetzt noch für wahr halte, weiß ich selbst nicht zu sagen. Es gibt Dinge zwischen Himmel und Erde, über die man bes ser nicht zuviel nachdenkt, und ich kann nur sagen, daß ich den Geruch von Ammoniak hasse und schwach werde, wenn ich einen ungewöhnlich kalten Luftzug verspüre. »Das Ende ist hier«, lautete der hingekritzelte Text. »Kein Eis mehr – der Mann sah mich und rannte fort. Es wird immer wärmer, die Gewebe lösen sich auf. Sie wer den es erraten haben – nach meinen Ausführungen über den Willen, der ein Weiterleben ermöglicht, obwohl die 228
Organe nicht mehr arbeiten. Eine gute Theorie, aber prak tisch nicht durchführbar. Ich hatte nicht mit der fortschrei tenden Alterung gerechnet. Dr. Torres wußte es, aber der Schock brachte ihn um. Er konnte es nicht aushalten, des halb brachte er mich hierher, nachdem er mich vom Tod zurückgeholt hatte. Und die Organe arbeiteten nie wieder. Ich mußte meine Methode anwenden – künstliche Präser vierung – denn ich starb damals vor achtzehn Jahren.«
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Mutters Hand von Diethard van Heese Diethard van Heese, ein junger deutscher Autor, der durch zahlreiche Veröffentlichungen in Zeitschriften bekanntge worden ist, legte 1978 mit dem Band »Neue Geschichten des Grauens« eine Sammlung psychologisch raffinierter Horrorstories vor, die sich oft aus banalen Alltagssituatio nen entwickeln. Plötzlich bricht in das scheinbar so norma le Leben das Unerklärliche ein, das Übermächtige und Un faßbare. Ich erwache langsam aus einem tiefen Schlaf und öffne die Augen. Es ist absolut dunkel um mich herum. Und still. »Mutter!« rufe ich angsterfüllt, kommt mir die Finsternis doch wie ein widerwärtiges Tier vor, das mich in seinen Krallen hält. Es bleibt still – totenstill. »Mutter, mache doch Licht!« Meine Stimme klingt eigenartig dumpf, als läge ich un ter einem dicken Federbett. Ich will die Hände heben, um diese Decke, die mich zu ersticken droht, fortzuschleudern. Doch die Hände bleiben bewegungslos, pelziggelähmt. »Mutter!« schreie ich nun etwas lauter. »So hilf mir doch! Ich ersticke!« Ich lausche. Absolute, grauenhafte Stille. »Mutter?« – Ich höre sie noch nicht einmal atmen. Ist sie schon aufge standen? – »Mutter!!« – Oder ist sie … 230
Ja, Mutter ist tot. Plötzlich fällt es mir wieder ein. Vor zwei Monaten ist sie gestorben. Ich erinnere mich, wie ich ihrem Sarg gefolgt bin. Wie man sie im Familiengrab bei gesetzt hat. Wie ich die Handvoll Erde, die ich auf ihren Sarg werfen sollte, auf den Boden rieseln ließ, um mich dann selber schluchzend und voller Verzweiflung über den Sarg zu werfen. Nein, Mutter kann mir nicht mehr helfen. Keiner kann mich von meiner Angst befreien. Es gibt niemanden, der mir die Decke fortzieht, die so schwer auf mir lastet, daß ich mich nicht bewegen kann, die mir den Atem raubt, die die entsetzliche Stille um mich herum er zeugt und die Dunkelheit. Vater? – Vater ist schon lange tot. Mutter und ich haben früher oft sein Grab besucht, und dann haben wir immer geweint. »Siehst du, mein Kleiner«, hat Mutter mir erklärt, »jetzt sind wir beide allein. Vater ist nicht mehr, Geschwister hast weder du noch ich, Omi und Opi –meine Eltern sind vor Jahren gestorben, und Vaters Eltern durftest du noch nicht einmal kennenlernen. Aber wir zwei werden das Le ben trotzdem meistern, nicht wahr?« Ich habe mit dem Kopf genickt, und Mutter hat mir die Tränen abgewischt. Dann hat sie meine Hand genommen und sie gedrückt, und ich war glücklich. Glücklich, ruhig und zufrieden. Nun ist Mutter tot. Ich habe niemanden mehr, der meine Hand hält und mich tröstet. Ich beginne zu schluchzen, lasse dabei das Bild von Mutter vor meinem geistigen Auge entstehen, sehe, wie sie 231
sich über mich beugt und meine Stirn küßt. »Nicht weinen, mein Kleiner«, vermeine ich ihre Stim me zu vernehmen. »Jetzt ist doch alles wieder gut. Alles – wieder – gut.« Meine Tränen versiegen. Ich seufze ein letztes Mal auf und dabei fällt mir ein ei genartiger Geruch auf. Ein widerwärtig süßlicher Geruch. Es riecht nach fortgeschrittener Verwesung. Der Gestank sticht in die Nase, und ich beginne durch den Mund zu at men. Zu spät. Ich fühle, wie sich mein Magen hebt. Ich würge endlos lange, bis etwas, das einen ekelhaft bitteren Geschmack in meinem Mund hinterläßt, über meine Lippen quillt. Und je mehr ich von dieser bitteren Substanz von mir gebe, um so klarer werde ich. Ich werde hellwach. Der Geschmack in meinem Mund löst eine Erinnerung aus. Mir fallen vierzig weiße, in einem Wasserglas aufgelöste Tabletten ein … Dieser ekelhaft bittere Geschmack in meinem Mund stammt von den Tabletten! Es waren Schlaftabletten der stärksten Sorte. Ich habe sie eingenommen, weil ich sterben wollte. Ich habe sie alle auf einmal hintergewürgt. Ich wollte nicht mehr leben, weil ich Mutters Tod nicht verkraften konnte. Aber ich bin nicht tot! Ich lebe! Die Dosis des Schlafmittels hat nicht ausgereicht, um 232
mich zu töten. Sie ist zu gering gewesen, um mich neben Mutter ruhen zu lassen. Aber wenn ich nicht tot bin, wo befinde ich mich dann? Und warum ist es so still? Und so dunkel? Haben mich die Tabletten taub gemacht? Nein, denn ich habe mich vorhin schreien und schluch zen gehört. Haben sie mich erblinden lassen? Aber dann kommt mir eine Idee, die mich erschauern läßt. Plötzlich ahne ich – weiß ich, wo es dunkel ist, wo es nach süßlicher Verwesung riecht und so schrecklich eng ist! Ich liege in einem Sarg. Man hat mich beerdigt, lebendig begraben. Scheintot begraben! Ich schreie in rasendem Entsetzen auf. Ich merke aber im gleichen Moment, daß mir die Luft fehlt, um noch lau ter und länger zu schreien. Dafür spannen sich endlich meine Muskeln, und ich drücke die über meiner Brust ge falteten Hände voll zitternder Anstrengung nach oben, hebe gleichzeitig die Beine an und berühre sowohl mit den Ze hen, als auch mit den Händen etwas Hartes, Holziges. Meinen Sargdeckel. Aber das tonnenschwere Erdreich über dem Sarg läßt den Deckel nicht um einen Millimeter in die Höhe gehen. Nein, es ist sinnlos. Ich muß versuchen, irgendeinen kla ren Gedanken zu fassen, bevor ich wahnsinnig vor Angst werde, bevor die Kräfte, die mir noch geblieben sind, völ lig erlahmen und bevor mir das Grauen und die verbrauch 233
te Luft die Kehle zudrücken. Ich verharre zitternd und schwitzend, spüre, wie mir abermals Tränen die Wangen herablaufende Tränen des Entsetzens und der Erschöpfung –, und konzentriere mich darauf, Atem und Herz langsamer werden zu lassen. Es dauert lange, bis sich weitere klare, wenn auch qual volle Gedanken einstellen. Es ist ausgeschlossen, daß ich mich selber bei den weni gen mir verbliebenen Kraftreserven aus meinem Grab be freie, ist mein erster Gedanke. Es hat nicht den geringsten Sinn, um Hilfe zu rufen, der zweite. Es wäre selbst dann sinnlos, wenn jemand direkt über mir stünde. Selbst der kraftvollste Schrei wäre nicht in der Lage, das nach meiner Schätzung mindestens zwei Me ter dicke Erdreich über mir zu durchdringen. Der dritte Gedanke kommt ganz unvermittelt und über rascht mich so sehr, daß ich mich aufstöhnen höre: Wenn ich noch nicht erstickt bin, dann habe ich das nur der Tatsache zu verdanken, daß mein Sarg an irgendeiner Stelle undicht ist und das mich umgebende Erdreich so lo cker und porös ist, um genügend Luft speichern zu können. Vielleicht existieren sogar zufällig in mehr oder minder lockerem Boden entstandene Luftkanälchen. Zufällig entstandene Luftkanälchen? Gibt es nicht genügend ekelerregendes Gewürm, das – wie ich mir vorstellen kann – besonders die Erde auf Fried höfen zu schwammiger Luftdurchlässigkeit auflockert? Ich zwinge mich zur Ruhe, halte die Luft an und versu che herauszubekommen, von wo mich irgendein auf eine Bruchstelle im Sarg hinweisender Luftzug berührt. 234
Nein, ich spüre nichts. Dafür höre ich auf einmal etwas. Ich höre es, und eine eisige Hand legt sich auf meinen Hinterkopf. Ich spüre, wie mir das kalte Entsetzen über Nacken, Rücken und Arme streicht, merke, wie mein Herz drei-viermal kurz hintereinander stolpert und wie es mir die Kehle zuschnürt. Ich versuche, das Entsetzen herauszuschreien, doch kein einziger Ton kommt über meine verzerrten Lippen. Das einzige Geräusch ist das widerlich schrille, pfeifende Pie pen links von mir. Das aufgeregte, hungrige Zirpen von Ratten. Ratten also! Ratten graben hier ihre Gänge, die Luftka näle! Die zarten, aber doch in ihrer Schrecklichkeit nicht mehr zu überbietenden Laute kommen näher und näher. Sind nun fast an meinem linken Ohr. Und da weiß ich, wo mein Sarg eine undichte Stelle hat, wo sich vielleicht sogar ein ganzes Brett gelöst hat, das ihnen den Weg freigibt. Gleich – noch wenige Augenblicke, und ich werde ihre winzigen, rasend schnell auf- und zuschnappenden Zähn chen an meinem Ohr fühlen. Ich werde mich gegen diese Teufelsbrut nicht wehren können, weil ich merke, wie mich das Entsetzen wieder zu lähmen beginnt. Und dann werden immer mehr von ihnen in meinen Sarg huschen und mich bei lebendigem Leibe bis auf die Knochen abnagen. Ich spüre bereits das Trippeln winziger Füße an meiner linken Schulter. Kleine Krallen reißen schnell und nadel scharf über meinen Oberarm. Und fühle ich nicht sogar schnell hechelnden warmen Atem an meinem Hals? Ich bäume mich auf, schlage um mich, schnelle wie wild 235
hin und her, als wollte ich alles, was mich quält, auf einmal von mir abschütteln. Und ich brülle dabei, wie ich niemals in meinem Leben lauter gebrüllt habe. Immer wieder krallen sich meine Hände in etwas Wei ches, Warmes, Zappelndes. Oh, nein! Ich bin nicht ge lähmt, wie ich befürchtet habe! Immer wieder packe ich eines der Viecher, drücke zu, bis es mir feucht über das Handgelenk läuft und werfe dann das jeweils schrill im Todeskampf aufquietschende Tier mit aller Kraft von mir, so daß es dumpf gegen den Sarg schlägt. Aber ich habe den schrecklichen Eindruck, daß sie selbst dann noch aktiv bleiben und mir ihre nadelspitzen Zähne ins Fleisch boh ren, wenn ihnen die kleinen Gedärme bereits aus den zer quetschten Leibern hängen. Ich merke plötzlich, daß ich schwach werde, daß ich mich unmöglich weiter ihrem Ansturm wehren kann. Und je mehr mein Widerstand erlahmt, um so stärker meldet sich erneut die verzweifelte Angst. Ich kann nicht mehr, weine ich. Oh, mein Gott, helfe mir doch! Gott, du, guter Herrgott im Himmel, mache diesem Grauen ein Ende! Erlöse mich! Töte mich doch endlich! Ich kann … kann nicht mehr … Aber ich fühle weiterhin diese verdammten Zähne, spüre, wie sie winzige Portionen Fleisch aus meinem Körper reißen, manchmal an einem Dutzend Stellen gleichzeitig. Nein, Gott hilft mir nicht. Vielleicht glaubt auch er, ich sei tot. Gott sieht nicht in die Gräber, denke ich. Er sieht nicht, daß diese tiergewordene Pestilenz mich häppchen weise zerreißt. Noch einmal schaffe ich es, eine dieser erbärmlichen 236
Kreaturen zu ergreifen, habe aber keine Kraft mehr, sie in meiner Hand zu zerquetschen. So drücke ich das laut und schrill zeternde Tier links gegen die Wand des Sarges. Es knackt. Ich spüre, wie die Wand nachgibt. Vor Überraschung lasse ich die sterbende Ratte los, kratze zitternd und su chend an dem Holz entlang, achte gar nicht mehr auf das Stechen der winzigen Zähne in Armen und Beinen und ha be schließlich die Öffnung entdeckt. Sie ist, wie ich schnell herausbekomme, immerhin so groß, daß ich den gesamten Unterarm quer hindurchdrüc ken kann. Sie beginnt dort, wo Seiten- und Vorderwand des Sargs einen Winkel bilden und reicht fast bis zur Höhe meines Magens. Ich nehme noch einmal den letzen Rest meiner Kraft zu sammen und drehe mich auf die linke Seite, dabei gerät eine der Ratten unter meine Hüfte. Ich höre sie regelrecht aufplatzen und spüre mit Ekel, wie etwas KlebrigSchleimiges gegen meinen Oberschenkel spritzt. Dann greife ich mit beiden Händen gleichzeitig nach vorne. Ich greife in eine sich trichterförmig nach hinten verjün gende Mulde, der Trichterhals ist so schmal, daß ich gerade die zusammengepreßten Finger hineinstecken kann. Doch seine Wände geben leicht nach. Vielleicht kann ich mich auf diesem Weg nach oben graben, denke ich, dem Wahnsinn sicherlich schon näher als einer berechtigten Hoffnung. Langsam schiebe ich nun meinen Kopf in die Mulde hinein. Ich achte dabei weniger auf den Schmerz an Schultern 237
und Oberarmen, der daher rührt, daß lange Holzsplitter über meine Haut reißen, als auf diesen um einiges stärker gewordenen süßlichen Geruch. Nun befinde ich mich bereits zur Hälfte in der eigenarti gen Mulde. Meine Hände beginnen wie mechanisch und blindlings in dem Trichterhals, der sicherlich von den Rat ten gegraben wurde, herumzuwühlen. Aber dieser wider wärtige Verwesungsgestank raubt mir immer mehr den Atem. Mir wird sehr schwindelig, und ich weiß auf einmal, daß ich nur noch Minuten, wenn nicht gar nur noch Sekunden zu leben habe. Ich spüre schon nicht mehr die kleinen Zähne und auch nicht mehr die Holzsplitter, die sich in meine Flanken ge bohrt haben. Allein die Angst bleibt. Sie lodert noch einmal auf, brei tet sich in meinem tödlich geschwächten Körper aus, läßt mich ein weiteres Mal meine Fingernägel in den nassen Erdboden vor mir hineinkrallen und meinen Mund zu ei nem lautlosen Schrei öffnen. Gott, nimm mich zu dir! denke ich inständig. Schenke mir endlich Frieden! Quäle mich nicht länger. – Es ist, als würde mir Gott antworten, als ich in diesem Augenblick einige schwere nasse Erdklumpen auf meine Schultern fal len fühle. Aber nein! Der unvorstellbare grauenhafte Gestank, der mir im gleichen Moment wie eine dichte Wolke entgegen schlägt, läßt eher darauf schließen, daß der Satan meinen Kontakt sucht. Ich greife instinktiv dorthin, woher Erdklumpen und be 238
stialischer Gestank stammen und berühre etwas Kaltes, leicht über mir Hin- und Herpendelndes. Als ich das Etwas ein wenig drücke, gibt es wie mürber Gummi nach, und ich spüre, wie etwas Klebriges auf meinen Nacken tropft. Der Gestank macht mir auf einmal nichts mehr aus. Ich atme tief ein, werde ruhig und glücklich. So sehr, daß ich mich auf einmal befreit auflachen höre. Habe ich doch erkannt, was ich da in meiner Rechten halte. Hat mich doch Mutters Hand immer schon getröstet!
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Wer weiß von Guy de Maupassant Von ungestümem Schöpfungsdrang beflügelt, schrieb Mau passant innerhalb der kurzen Zeitspanne von einem Jahr zehnt nahezu dreihundert Novellen, sieben starke Romane, einen Band Reiseschilderungen, einen Band Verserzählun gen, einen Band Bühnenwerke und eine Fülle journalisti scher und essayistischer Arbeiten. Dann versank er jäh in der Dunkelheit geistiger Umnachtung, starb allzu früh an jener unheilbaren Krankheit, deren Keim er schon in sich getragen hatte, als sein Stern am französischen Literatur himmel gerade zu leuchten begann. »Ich bin in das literari sche Leben eingetreten wie ein Meteor, und mein Ausgang wird sein wie ein Donnerschlag.« Mit diesem Wort hat Guy de Maupassant (1850-1893) den Triumph, aber auch die Tragödie seines Lebens auf die kürzeste Formel gebracht. Angeregt durch die Lektüre E. T. A. Hoffmans und E. A. Poes, ließ sich Maupassant immer mehr auch von den Nachtseiten des Lebens inspirieren, eine Neigung, die sich mit fortschreitender geistiger Zerrüttung noch verstärkte und deutliche Spuren in manchen seiner Novellen hinter ließ. I. Mein Gott! Mein Gott! Ich will also endlich zu Papier bringen, was mir widerfahren ist. Aber werde ich es kön nen, werde ich es wagen! Es ist so seltsam, so unerklärlich, 240
so unfaßlich, so verrückt! Wenn ich nicht dessen gewiß wäre, was ich gesehen ha be, bestimmt wüßte, daß in meiner Gedankenkette kein Fehler ist, kein Irrtum in meinen Feststellungen, kein Selbstbelügen in der unbeugsamen Folge meiner Beobach tungen, würde ich glauben, daß ich einfach das Opfer einer Sinnestäuschung geworden bin, der Spielball einer seltsa men Vision. Aber, wer weiß? Ich befinde mich heute in einer Nervenheilanstalt. Ich habe mich freiwillig, aus Vorsicht, aus Angst dorthin bege ben. Ein einziger Mensch nur kennt meine Geschichte: Der Anstaltsarzt. Ich werde sie zu Papier bringen. Ich weiß nicht recht, warum. Vielleicht, um mich davon zu entla sten, denn ich fühle sie wie ein Alpdrücken auf mir. Ich bin immer ein einsamer Mensch gewesen, ein Träu mer, so eine Art alleinstehender Philosoph, ein guter Kerl, der mit wenig zufrieden ist, keine Bitterkeit gegen andere Menschen im Herzen trägt und keinen Haß gegen die Vor sehung. Ich habe immer allein gelebt, wegen einer Art Be fangenheit, die mich überkommt in Gegenwart anderer Menschen. Wie soll ich das erklären? Ich kann’s nicht. Nicht, daß ich andere Leute nicht sehen möchte, nicht gern einmal schwatzte, mit ein paar Freunden äße. Aber wenn ich sie lange an meiner Seite fühle, sogar meine besten Freunde, dann langweilen sie mich, ermüden mich, machen mich nervös, und ich fühle ein immer steigendes, quälen des Bedürfnis, sie gehen zu sehn oder selbst zu gehen, da mit ich allein wäre. Diese Luft ist mehr als ein Bedürfnis, ist eine unwider stehliche Notwendigkeit, Und wenn ich noch länger in Ge 241
genwart dieser Menschen bliebe, wenn ich noch länger ihre Unterhaltung hören müßte, würde ohne Zweifel irgendein Unglück mit mir geschehen. Was für ein Unglück? Wer weiß? Vielleicht nur eine Ohnmacht. Jawohl, wahrschein lich. Ich liebe es so sehr, allein zu sein, daß ich es sogar nicht ertragen kann, andere Menschen in meiner Nähe, unter meinem Dach schlafen zu wissen. Ich kann in Paris nicht wohnen, weil ich unzweifelhaft dort zugrundegehen müßte. Ich stürbe moralisch. Und die riesige Menschenmenge, die um mich herumwimmelt, um mich lebt, verursacht mir, sogar wenn sie schläft, in Körper und Nerven fürchterliche Qualen. Ach, der Schlaf der anderen ist mir noch schreck licher als ihre Gespräche! Und ich kann nie Ruhe finden, wenn ich hinter irgendeiner Mauer ein Leben ahne und fühle, das durch dieses regelmäßige Aussetzen der Gehirn tätigkeit unterbrochen wird. Warum bin ich so? Wer weiß? Vielleicht hat es eine ganz einfache Ursache. Mich ermüdet sehr schnell alles, was nicht in mir selbst vorgeht. Und vielen Leuten geht es genau so wie mir. Es gibt zwei Rassen von Menschen auf der Erde: solche, die andere Leute brauchen, die andere zerstreuen, beschäf tigen, ausruhen, und die Einsamkeit erschöpft, müde macht, wie das Erklimmen eines fürchterlichen Gletschers oder ein Zug durch die Wüste. Und dann solche, die durch andere Menschen im Gegenteil müde gemacht, gelang weilt, gestört, gequält werden, während die Einsamkeit sie beruhigt, sie in Frieden lullt bei der Unabhängigkeit und dem freien Spiel ihrer Gedanken. 242
Im ganzen ist das ein normales, seelisches Phänomen. Die einen sind geschaffen, um draußen zu leben, die ande ren um drin zu leben. Meine Fähigkeit, die Außendinge aufzufassen, ist nur von kurzer Dauer und schnell er schöpft. Sobald sie an ihre Grenzen kommt, empfinde ich im ganzen Körper, in meinem ganzen Wesen ein unerträg liches Unbehagen. Die Folge davon ist, daß ich allerlei leblose Dinge liebe oder liebte. Dinge, die für mich die Bedeutung von leben den Wesen annehmen, und daß mein Haus für mich eine Welt geworden ist oder geworden war, in der ich einsam, untätig lebte mitten unter meinen Besitztümern, Möbeln, kleinen mir gewohnten Gegenständen, die mir so sympa thisch sind wie Gesichter. Ich hatte das Haus allmählich damit gefüllt, geschmückt und fühlte mich da zufrieden, glücklich, wie im Arm einer lieben Frau, deren gewohnte Zärtlichkeit süße, stille Notwendigkeit geworden ist. Ich hatte dieses Haus mitten in einem schönen Garten er richten lassen, ganz abgeschlossen von den Straßen, in der Nähe einer Stadt, in der ich bei Gelegenheit Geselligkeit, die ich manchmal begehrte, zu finden vermocht. Meine Dienerschaft schlief in einem, ein Stück davon entfernten Gebäude mitten im Gemüsegarten, den eine hohe Mauer umzog. Der tiefe Frieden der Nacht, im Schweigen meines Hauses, das ganz versteckt war unter den Blättern der gro ßen Bäume, beruhigte mich so, war mir so lieb, daß ich jeden Abend stundenlang zögerte, mich zu Bett zu legen, um den unvergleichlichen Genuß zu verlängern. Eines Tages hatte man in der Stadt in der Oper Sigurd gespielt. Ich hatte dieses wundervolle, feenhafte Musik 243
drama zum ersten Male gehört, und es hatte mir überaus gefallen. Zu Fuß, schnellen. Schrittes kehrte ich heim, Me lodien, Gedanken im Kopf, schöne Bilder vor Augen. Die Nacht war schwarz, schwarz – so schwarz, daß ich kaum die Landstraße erkennen konnte und mehrmals fast in den Graben gefallen wäre. Vom städtischen Steueramt bis zu mir ist es ungefähr ein Kilometer weit, vielleicht etwas mehr, kurz, etwa zwanzig Minuten zu gehen. Es war ein Uhr morgens, ein Uhr oder halb zwei. Der Himmel vor mir ward etwas heller, der Mond erschien, die traurige Sichel des letzten Viertels. Der Mond im ersten Viertel, der um vier oder fünf Uhr abends aufgeht, ist klar, heiter, silbrig blinkend; aber der, der nach Mitternacht kommt, rötlich, traurig, beunruhigend: es ist der richtige Sabbath-Mond. Alle Nachtwandler müssen diese Beobachtung schon ge macht haben. Das erste Viertel, wenn es schmal ist, nur wie ein Strich, wirft ein freundliches Licht, das das Herz erhei tert, und scharfe Schatten auf die Erde; das letzte Viertel aber strahlt einen kaum merklichen Schein aus, so matt, daß es beinahe keinen Schatten wirft. In der Ferne erblickte ich die dunkle Masse meines Gar tens, und ich weiß nicht, woher mir etwas wie ein unange nehmes Gefühl aufstieg beim Gedanken, dort hinein zu müssen. Ich schritt langsam. Die Luft war mild. Die großen Baummassen sahen wie ein Grabmal aus, unter dem mein Haus begraben lag. Ich öffnete das Tor, trat in die lange Allee von Sykomo ren ein, die nach dem Hause führte, gewölbt wie ein großer Tunnel, schritt durch dunkle Baumgruppen, um Rasenplät ze herum, auf denen Blumenbeete eingebettet lagen unter 244
bleichen Schatten, in der fahlen Finsternis ovale Flecken in unbestimmten Farben. Als ich mich dem Haus näherte, überkam mich eine selt same Bewegung. Ich blieb stehen. Man hörte nichts, kein Windhauch regte sich in den Blättern. Was habe ich denn? dachte ich. Seit zehn Jahren kehrte ich so heim, ohne daß ich je die geringste Unruhe empfunden. Ich hatte keine Angst. Ich habe nie nachts Angst gehabt. Der Anblick ei nes Menschen, eines Landstreichers, eines Einbrechers, eines Diebes hätte mich nur wütend gemacht, und ich hätte ihn ohne Zögern angegriffen. Übrigens war ich bewaffnet. Ich hatte meinen Revolver bei mir. Aber ich berührte ihn nicht, ich wollte diese beginnende Furcht, die in mir wuchs, bekämpfen. Was war es? Nur ein Vorgefühl? Das seltsame Vorge fühl, das sich der Sinne des Menschen bemächtigt, wenn etwas Unerklärliches bevorsteht. Vielleicht. Wer weiß es? Je weiter ich vorwärts schritt, desto mehr überlief es mich. Und als ich an der Mauer meiner weitläufigen Be hausung stand mit den geschlossenen Läden, fühlte ich, daß ich ein paar Minuten warten mußte, ehe ich die Tür öffnete und eintrat. Da setzte ich mich auf eine Bank unter den Fenstern meines Wohnzimmers. Leicht erregt; den Kopf gegen die Wand gelehnt, mit offenen Augen in das Dunkel der Blätter starrend, blieb ich sitzen. Während die ser ersten Augenblicke gewahrte ich nichts Außergewöhn liches um mich herum. Ich hörte in den Ohren etwas sau sen, aber das habe ich öfters. Manchmal ist es mir, als füh ren Züge vorbei, oder ich höre Glocken läuten oder ein Menge hin- und herfluten. 245
Aber bald wurde dieses Sausen vernehmlicher, erkenn barer, deutlicher. Ich hatte mich geirrt. Es war nicht das gewöhnliche Pulsieren der Arterien, das dieses Geräusch im Ohr verursachte, sondern ein sehr eigentümlicher Lärm, ganz unbestimmt jedoch, der, darüber gab es keine Zwei fel, aus dem Innern meines Hauses kam. Ich hörte durch die Mauer dieses unausgesetzte Ge räusch, mehr irgendeine Bewegung als einen Lärm, das unaufhörliche Hin- und Herschieben einer Menge Dinge, als ob man leise alle meine Möbel hin- und herschleppte und an andere Stellen trüge. Lange Zeit hindurch zweifelte ich, ob mein Ohr richtig gehört. Aber als ich es gegen einen der Läden legte, um das seltsame Geräusch in meinem Hause besser zu erkennen, ward ich meiner Sache gewiß, daß da drin bei mir etwas Anormales, Unfaßbares vorging. Ich hatte keine Angst, aber ich war, wie soll ich das ausdrücken, ganz verstört vor Erstaunen. Ich spannte meinen Revolver nicht, ich wußte ja genau, daß ich seiner nicht bedurfte. Ich wartete ab. Ich wartete lange Zeit, konnte keinen Entschluß fassen, sah ganz klar, aber war ängstlich bis zur Tollheit. Ich war tete stehend, lauschte immer auf den stets wechselnden Lärm, der in einzelnen Augenblicken zum Getöse wuchs, das einem ungeduldigen Toben von Wut, von seltsamer Empörung glich. Dann nahm ich plötzlich, in Scham vor mir selbst wegen meiner Feigheit, mein Schlüsselbund, suchte den Schlüssel heraus, den ich brauchte, steckte ihn ins Schlüsselloch, schloß zweimal herum, öffnete die Tür mit aller Kraft, daß der Flügel gegen die Wand flog. 246
Es klang wie ein Gewehrschuß, und auf diesen Knall antwortete in meiner ganzen Wohnung von oben bis unten ein riesiger Lärm. Er kam so plötzlich, war so schrecklich, so ohrenbetäubend, daß ich ein paar Schritte zurückwich und den Revolver zog, obgleich ich ihn noch immer unnö tig wußte. Ich wartete noch einen Augenblick. Und jetzt unter schied ich ein seltsames Hin- und Hertrippeln auf den Stu fen der Treppe, auf dem Fußboden, auf den Teppichen, ein Getrampel nicht von Stiefeln, von menschlichem Schuh werk, sondern von Krücken, von Holz- und Metallkrücken, die wie Cymbals klangen. Und plötzlich gewahrte ich auf der Schwelle meiner Tür einen Stuhl, meinen großen Lehn stuhl, der hin- und herschwankend herabkam. Er ging hin aus in den Garten, andere folgten: die Stühle meines Sa lons, dann die niedrigen Sofas, die sich wie Krokodile auf ihren kleinen Füßen hinschleppten, endlich alle meine Stühle mit Sätzen wie Ziegen und die kleinen Sessel in Sprüngen wie Kaninchen. O welches Entsetzen! Ich glitt ins Gebüsch, blieb dort niedergekauert, indem ich den Auszug meiner Möbel beo bachtete. Denn sie gingen alle fort, eines nach dem ande ren, schnell oder langsam, je nach Größe und Gewicht. Mein Klavier, der große Flügel, kam im Galopp wie ein durchgehendes Pferd vorüber, während die Saiten in sei nem Leibe klirrten. Die kleinen Gegenstände glitten auf dem Sand wie Ameisen hin, die Bürsten, die Gläser, die Schalen, die das Mondlicht wie Leuchtkäfer phosphores zierend machte. Die Stoffe krochen, breit sich hinwälzend, wie Quallen im Meer. Mein Schreibtisch erschien, ein sel 247
tenes Kunstwerk aus dem vorigen Jahrhundert, der alle Briefe enthielt, die ich je bekommen. Die ganze Geschichte meines Herzens, eine alte Geschichte mit vielem, vielem Leid. Und auch alle meine Photographien waren darin. Plötzlich hatte ich keine Angst mehr. Ich stürzte mich auf ihn, packte ihn, wie man einen Dieb packt oder eine Frau, die entflieht. Aber er ging in unwiderstehlicher Fahrt weiter. Trotz meiner Bemühungen, trotz meiner Wut konn te ich nicht einmal seinen Gang verlangsamen. Während ich wie ein Verzweifelter mit jener entsetzlichen Kraft rang, fiel ich zu Boden und schlug auf ihn drein. Da zog er mich mit, schleifte mich auf dem Sande, und schon began nen die Möbel, die ihm folgten, über mich hinwegzuschrei ten, traten mir auf die Beine und verletzten mich. Als ich ihn dann losgelassen, gingen die anderen über mich weg wie eine Kavallerieattacke über den gestürzten Reiter. Endlich konnte ich mich, halb toll vor Entsetzen, aus der großen Allee retten und mich wieder unter den Bäumen verstecken. Und ich sah, wie die kleinsten meiner Besitz tümer, die intimsten, bescheidensten, an die ich am wenig sten dachte, verschwanden. Dann hörte ich in der Ferne in meiner Wohnung, in der es schallte wie in einem leeren Haus, ein gewaltiges Zu schlagen von Türen. Sie fielen in der Behausung ins Schloß von oben bis unten, bis herab zu der Eingangstür, die ich verrückterweise selbst geöffnet. Sie klappte als letzte zu. Da entfloh ich und lief zur Stadt. Erst als ich mich in den Straßen befand und noch ein paar Verspäteten begegnete, kehrte meine Kaltblütigkeit wieder. Ich klingelte an einem Hotel, wo ich bekannt war. Ich klopfte mit den Händen auf 248
meine Kleider, daß der Staub herausflog, und erzählte nur, daß ich mein Schlüsselbund verloren, das auch den Schlüs sel zum Gemüsegarten enthielt, wo in einem Haus für sich die Dienerschaft schlief, hinter der verschlossenen Mauer, die meine Früchte und meine Gemüse vor dem Besuch von Dieben schützte. Bis zu den Augen zog ich die Bettdecke über mich, aber ich konnte nicht schlafen und erwartete den Tagesanbruch, indem ich auf das Klopfen meines Herzens lauschte. Ich hatte Befehl gegeben, sobald es Tag würde, meine Leute zu benachrichtigen. Mein Diener pochte um sieben Uhr früh. Er sah ganz verstört aus: »Diese Nacht ist ein großes Unglück geschehen,« sagte er. »Was denn?« »Man hat das ganze Mobiliar des gnaden Herrn, alles, alles gestohlen, sogar die kleinsten Gegenstände.« Diese Nachricht freute mich. Warum? Wer weiß? Ich war ganz Herr meiner selbst, sicher, mir nichts merken zu lassen, niemandem etwas von dem zu sagen, was ich gese hen hatte, es zu verbergen, es zu begraben in meinem Ge wissen wie ein fürchterliches Geheimnis. Ich antwortete: »Dann sind’s dieselben Leute, die mir meine Schlüssel gestohlen haben. Sofort muß die Polizei in Kenntnis ge setzt werden. Ich stehe auf. In ein paar Augenblicken komme ich nach.« Die Untersuchung dauerte fünf Monate. Man entdeckte nichts; nicht das kleinste Stück meines Hausrates fand man wieder und nicht die geringste Spur von den Dieben. Weiß Gott, wenn ich gesagt hätte, was ich wußte, wenn ich das 249
wirklich gesagt haben würde, hätte man mich mit Sicher heit eingesperrt, nicht die Diebe, sondern mich, den Mann, der so etwas hatte beobachten können. O, ich wußte zu schweigen. Aber ich habe mein Haus nicht wieder eingerichtet. Es war ganz unnütz, die Ge schichte hätte doch immer wieder angefangen. Ich wollte dahin nicht zurückkehren, und ich tat es auch nicht. Ich habe es nicht wiedergesehen. Ich ging nach Paris in ein Hotel. Und ich konsultierte Ärzte über meinen Nervenzustand, der mich seit jener ent setzlichen Nacht sehr beunruhigte. Sie rieten mir, auf Reisen zu gehen, und ich befolgte ih ren Rat. II. Zuerst machte ich einen Ausflug nach Italien. Die Sonne tat mir wohl. Ein halbes Jahr lang irrte ich von Genua nach Venedig, von Venedig nach Florenz, von Florenz nach Rom, von Rom nach Neapel. Dann durchstreifte ich Sizili en, ein Land gleich wunderbar durch Natur wie durch Werke von Menschenhand, Überreste aus der Griechenund Normannenzeit. Ich fuhr nach Afrika hinüber, durch streifte ruhig jene große, gelbe, stille Wüste, wo Kamele, Gazellen, Araber umherirren, wo in der ruhigen, durchsich tigen Luft nichts Übernatürliches liegt, weder bei Nacht noch am Tag. Über Marseille kehrte ich nach Frankreich zurück. Und trotz der Heiterkeit der Provence machte mich der weniger helle Himmel schon traurig. Ich fühlte, als ich den Konti 250
nent wieder betrat, den seltsamen Eindruck eines Kranken, der sich geheilt glaubt und den ein dumpfer Schmerz daran mahnt, daß der Herd des Übels noch nicht verschwunden ist. Dann kehrte ich nach Paris zurück. Nach vier Wochen langweilte ich mich. Es war im Herbst, und ich wollte, ehe es Winter wurde, einen Streifzug durch die Normandie un ternehmen, die ich noch nicht kannte. Ich begann mit Rouen. Acht Tage lang irrte ich aufge kratzt, begeistert, zerstreut durch diese mittelalterliche Stadt, durch dieses erstaunliche Museum von wunderbaren, gotischen Bauwerken. Da, als ich eines Nachmittags gegen vier Uhr in eine seltsame Straße einbog, die ein tintenschwarzer Bach, Eau de Robec geheißen, durchfloß, ward meine Aufmerksam keit, die ganz dem altertümlichen Aussehen der Häuser galt, plötzlich abgezogen durch den Anblick einer Reihe von Trödlerbuden, die Tür an Tür nebeneinander lagen. Jene alten Antiquare hatten ihren Platz wohl gewählt, in der phantastischen Gasse über dem dunkeln Wasserlauf, unter den spitzen Ziegel- und Schieferdächern, auf denen noch die Windfahnen der Vergangenheit stöhnten. In den dunkeln Läden gewahrte man geschnitzte Bahûts, Fayencen aus Rouen, Nevers, Moustiers, bemalte Bildsäu len, eichengeschnitzte Christusfiguren, heilige Jungfrauen, Heilige, Kirchenschmuck, Meßgewänder, Chorröcke, sogar gottesdienstliche Gefäße, ein altes Tabernakel aus vergol detem Holz, das Gott verlassen hatte. O, diese seltsamen Höhlen in diesen hohen Häusern, in diesen großen Häu sern, voll vom Keller bis zum Boden hinauf, angefüllt mit 251
allerlei Gegenständen, deren Dasein beendigt schien, die ihre natürlichen Besitzer überlebten, ihre Jahrhunderte, ihre Zeiten, ihre Moden, um durch neue Generationen aus Neu gierde gekauft zu werden. Meine Vorliebe für solche Gegenstände erwachte wieder in dieser Antiquitätenstraße. Ich ging von Bude zu Bude, übertrat mit zwei Schritten die Brücke aus vier verfaulten Brettern, die man über das übelriechende Wasser von Ro bec gelegt. Da – Herr Gott! Herr Gott! Welch furchtbarer Schreck. In einer Wölbung, vollgestellt mit tausenderlei Gegenstän den, die der Eingang zu sein schien zu den Katakomben eines Kirchhofs alter Möbel, erblickte ich einen meiner schönsten Schränke. An allen Gliedern zitternd, trat ich heran. Ich bebte so, daß ich nicht wagte, ihn anzurühren. Ich streckte die Hände aus, ich zögerte, – aber er war es. Ein ganz einziger Schrank aus der Zeit Ludwigs XIII. für jeden wiederzuerkennen, der ihn nur einmal erblickt. Und indem ich plötzlich meine Augen weiterwandern ließ in die dunkle Tiefe dieser Galerie, sah ich drei meiner Lehnstüh le, mit alter Stickerei überzogen, und dann weiter entfernt noch meine beiden Tische aus der Zeit Heinrichs IL, die so selten waren, daß Leute aus Paris angereist gekommen, um sie zu sehen. Man denke sich, denke sich, wie mich das packte. Zitternd trat ich heran, zu Tode getroffen vor innerer Er schütterung. Aber ich näherte mich doch, denn ich bin tap fer. Ich trat näher, wie ein Ritter in mystischen Sagenzeiten sich einem Zauber näherte. Und Schritt auf Schritt fand ich alles, was mir gehörte: meine Kronleuchter, meine Bücher, 252
meine Bilder, meine Stoffe, meine Waffen, alles, bis auf den Schreibtisch mit meinen Briefen, den ich nicht sah. Ich stieg in niedrige Kellerräume hinab, darauf in höhere Etagen. Ich war allein. Ich rief. Niemand antwortete. Ich war allein, kein Mensch befand sich in diesen weiten, wie ein Irrgarten verschlungenen Gängen dieses Hauses. Es ward Nacht. Ich mußte mich setzen in der Dunkelheit auf einen meiner Stühle, denn ich wollten nicht fort. Ab und zu rief ich: »Heh, Hollah! Ist niemand da!« Ich mochte gewiß eine Stunde so dagesessen haben, da hörte ich Schritte, leichte, langsame Schritte, ich weiß nicht woher. Ich wollte entfliehen. Aber ich nahm mich zusam men, und da gewahrte ich im Nachbarzimmer einen Licht schein. »Wer ist da?« fragte eine Stimme. Ich antwortete: »Ein Käufer.« Es klang zurück: »Ist schon recht spät, um so in den Laden einzudringen.« Ich antwortete: »Ich warte auf Sie seit einer Stunde.« »Sie könnten morgen wiederkommen.« »Morgen werde ich Rouen verlassen haben.« Ich wagte nicht, ihm entgegenzugehen, und er kam nicht. Ich sah nur immer den Schein seines Lichtes, das auf eine Stickerei fiel, auf der zwei Engel über den Leichen eines Schlachtfeldes hinflogen. Sie hatte mir auch gehört. Ich fragte: »Nun, kommen Sie?« Er antwortete: 253
»Ich erwarte Sie hier.« Ich erhob mich und ging zu ihm. Mitten in einem großen Raum stand ein kleiner Mann, ganz klein und dick, dick wie ein Wunder, ein grausiges Wunder. Er hatte einen spärlichen Bart, ungleich, gelblichweiß gesprenkelt, und kein Haar auf dem Kopf. Kein Haar. Wie er sein Licht mit dem ausgestreckten Arm vorhielt, um mich zu erkennen, sah sein Kopf aus wie ein kleiner Mond in diesem weiten Raum, der von alten Möbeln erfüllt war. Das Gesicht war runzlig und gedunsen, die Augen nicht zu erkennen. Ich handelte sogleich um drei Stühle, die mir gehört hat ten, und bezahlte sie sofort sehr teuer, indem ich einfach meine Zimmernummer aus dem Hotel angab. Am anderen Tage vor neun sollten sie da sein. Dann ging ich fort. Er geleitete mich sehr höflich bis zur Tür. Darauf ging ich zum Polizeikommissar, erzählte ihm den Diebstahl meines Mobiliars und die Entdeckung, die ich eben gemacht. Er fragte telegraphisch bei dem Gericht an, das die Diebstahlsache verhandelt hatte, und bat, die Ant wort abzuwarten. Eine Stunde später kam sie. Sie lautete sehr befriedigend für mich. »Ich werde den Mann festnehmen lassen und ihn sofort verhören, denn er könnte Verdacht geschöpft und das, was Ihnen gehört, beiseite gebracht haben. Essen Sie erst und kommen Sie in zwei Stunden wieder, dann wird er hier sein, und in Ihrer Gegenwart werde ich ihn von neuem un erbittlich und genau verhören.« 254
»Sehr gern. Ich danke Ihnen tausendmal.« Ich ging ins Hotel und aß mit mehr Appetit, als ich gedacht hätte. Ich war ganz zufrieden. Man hatte ihn festgenommen! Zwei Stunden später kehrte ich zur Polizei zurück, wo der Beamte mich erwartete. »Ja,« sagte er, als er mich erblickte, »man hat den Mann nicht gefunden. Er hat nicht verhaftet werden können.« »Oh!« Ich sank fast in die Knie. »Aber Sie haben doch das Haus gefunden?« fragte ich. »Gewiß. Es wird sogar überwacht werden, bis er zu rückkehrt. Er ist nämlich verschwunden.« »Verschwunden?« »Verschwunden. Er bringt den Abend gewöhnlich bei seiner Nachbarin, gleichfalls einer Althändlerin, einer Art Wunderhexe, der Witwe Ridon, zu. Sie hat ihn heute abend nicht gesehen und kann nicht sa gen, wo er steckt. Wir müssen bis morgen warten.« Ich ging fort. O Gott, wie traurig verwirrend erschienen mir die Straßen von Rouen. Ich schlief schlecht, mit Alpdrücken jedesmal, wenn ich aufwachte. Aber da ich nicht zu große Eile zeigen wollte und nicht zu unruhig erscheinen, wartete ich, bis es am nächsten Ta ge zehn Uhr war, ehe ich zur Polizei ging. Der Händler war nicht wieder erschienen, sein Laden noch geschlossen. Der Kommissar sagte zu mir: »Ich habe alle erforderlichen Schritte getan. Das Gericht ist in Kenntnis gesetzt. Wir werden zusammen zu dem La den gehen, ihn öffnen lassen, und Sie können mir alles be zeichnen, was Ihnen gehört.« 255
Wir fuhren in einer Droschke hin. Ein paar Polizeibeam te standen schon mit einem Schlosser vor der Tür der Bu de, die geöffnet wurde. Als ich eintrat, sah ich weder meinen Schrank noch mei ne Stühle, noch meine Tische, nichts, nichts von all den Möbeln meines Hauses, nicht ein Stück, während ich am Tage vorher nicht einen Schritt hatte gehen können, ohne auf eines zu stoßen. Der Polizeikommissar war erstaunt und sah mich von der Seite an. »Mein Gott, Herr Kommissar,« sagte ich. »Das Ver schwinden der Möbel fällt auf seltsame Weise mit dem des Händlers zusammen.« Er lächelte: »Das ist richtig. Es war falsch von Ihnen, die Gegen stände, die Ihnen gehörten, zu kaufen und gestern zu be zahlen. Das hat ihn wahrscheinlich stutzig gemacht.« Ich antwortete: »Ich verstehe nur nicht, daß an der Stelle, wo meine Möbel standen, jetzt lauter andere sind.« »Oh,« antwortete der Kommissar, »er hat die ganze Nacht Zeit gehabt und wahrscheinlich noch Helfershelfer. Dies Haus hängt wohl mit den Nachbarhäusern zusammen. Haben Sie keine Angst, ich werde die Sache energisch in die Hand nehmen. Der Räuber soll uns schon nicht entge hen. Wir beobachten den Fuchsbau« … O Gott, O Gott! Wie mein Herz, mein armes Herz schlug … Vierzehn Tage lang wohnte ich in Rouen. Der Mann kam nicht wieder. Weiß Gott! Da bekam ich am sechzehnten Tage morgens von mei 256
nem Gärtner, der mein geplündertes und seitdem leeres Haus bewachte, folgenden seltsamen Brief: »Gnädiger Herr! Ich habe die Ehre, Ihnen mitzuteilen, daß vorige Nacht et was geschehen ist, das kein Mensch begreift, weder die Po lizei noch wir. Alle Möbel ohne Ausnahme, alle, bis auf die kleinsten Gegenstände, sind zurückgekehrt. Das Haus ist ganz genau so wie am Abend vor dem Diebstahl. Man könnte den Kopf verlieren. In der Nacht von Freitag auf Sonnabend ist es geschehen. Die Wege weisen Spuren auf, als ob man alles vom Tor bis an das Haus geschleppt hätte. So war es auch, als sie verschwanden. Wir erwarten den gnädigen Herrn, und ich bin dero er gebenster Diener Philipp Raudin.« Aber ich? Ich? Nein, nein, auf keinen Fall. Ich kehre nicht zurück. Ich brachte den Brief dem Polizeikommissar in Rouen. »Das ist fein gesponnen, alles wieder an Ort und Stelle zu schaffen. Stellen wir uns einfach tot. Wir werden den Kerl schon an einem dieser Tage erwischen.« Aber man hat ihn nicht erwischt. Nein, sie haben ihn nicht erwischt. Und jetzt habe ich Angst vor ihm, als ob er ein wildes Tier wäre, das auf mich losgelassen ist. Er ist nicht aufzufinden. Nicht aufzufinden dieses Mon strum mit dem Mondscheinkopf. Und man wird ihn nie erwischen, er wird nie heimkehren. Was liegt ihm daran? Nur ich kann ihn ja treffen, und das will ich nicht. 257
Ich will’s nicht. Ich will’s nicht. Ich will’s nicht. Und wenn er nun heimkehrt, wenn er wieder in seinen Laden kommt, wer soll ihm denn beweisen, daß die Möbel bei ihm waren? Nur meine Aussage steht gegen ihn, und ich fühle wohl, daß sie verdächtig ist. O Gott, nein, nein, diese Existenz halte ich nicht mehr aus. Und ich könnte das Geheimnis, dessen Zeuge ich ge wesen, nicht mehr verheimlichen. Ich könnte nicht weiter leben, immer in der Angst, daß all die Geschichten noch einmal beginnen möchten. Ich habe den Arzt aufgesucht, der diese Nervenheilan stalt leitet, und habe ihm alles erzählt. Nachdem er lange hin- und hergefragt hatte, sagte er endlich: »Würden Sie wohl einige Zeit hier Aufenthalt nehmen wollen?« »Sehr gern.« »Sie sind doch vermögend?« »Jawohl.« »Wünschen Sie eine Wohnung allein?« »Jawohl.« »Wollen Sie Besuch bekommen?« »Nein, nein, keinen Menschen. Der Mann aus Rouen könnte es wagen, um sich zu rächen, auch hier einzudringen« Und seit drei Monaten bin ich allein, allein, ganz allein. Ich bin so ziemlich ruhig geworden. Nur noch eine Furcht habe ich … Wenn der Antiquar etwa verrückt würde … und man ihn hierher brächte in mein Asyl … Nicht einmal die Gefängnisse sind sicher.
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Der Untergang von Gustav Meyrink Allen psychischen Grenzphänomenen mit leidenschaftli chem Interesse zugewandt, berichtet Gustav Meyrink (1868-1932) immer wieder von eigenen visionären und medialen Erfahrungen, die häufig den Ausgangspunkt für seine dichterischen Arbeiten bilden. Die wesentlichen Punkte seines Schaffensweges markieren Werke, die heute zum klassischen Repertoire der phantastischen Literatur in Deutschland zählen: Die Geschichten »Des deutschen Spießers Wunderhorn« (1913), denen »Der Untergang« entnommen ist, und die großen Romane »Der Golem« (1915), »Das grüne Gesicht« (1916), »Walpurgisnacht« (1917) und »Der weiße Dominikaner« (1921), ferner die sieben Geschichten »Fledermäuse« (1916). Nach dem Krieg fast vergessen, begann in den fünfziger Jahren eine Meyrink-Renaissance, die immerhin bewirkte, daß viele seiner lange vergriffenen Werke neu aufgelegt wurden. Chlodwig Dohna, ein nervöser Mensch, der ununterbro chen – jawohl ununterbrochen – sozusagen mit angehalte nem Atem achtgeben muß, um nicht jeden Moment sein psychisches Gleichgewicht zu verlieren und eine Beute seiner fremdartigen Gedanken zu werden! – Dohna, der mit der Pünktlichkeit einer Maschine kommt und geht, fast nie spricht und sich mit den Kellnern im Klub, um jedes über flüssige Wort zu meiden, nur durch Zettel verständigt, die seine Anordnungen für die kommende Woche enthalten, 259
ausgerechnet der soll krankhaft nervös sein?! Das ist ja rein zum Lachen! »Es muß untersucht werden,« meinten die Herren und beschlossen, um Dohna ein wenig auszuholen, kurzerhand eine Festlichkeit im Klub, der er nicht gut ausweichen konnte. Sie wußten ganz gut, daß ein besonders höfliches und korrektes Benehmen ihn am leichtesten in eine angeregte Stimmung versetzte, und wirklich ging Dohna früher, als man gehofft hatte, aus sich heraus. »Ich möchte so gerne wieder einmal ein Seebad aufsu chen,« sagte er, »wie in früheren Zeiten, wenn ich nur den Anblick der mehr oder weniger nackten Menschen vermei den könnte. Sehen Sie, noch vor fünf Jahren konnte mich ein menschlicher Körper unter Umständen sogar begei stern, – griechische Statuen waren mir ein Kunstgenuß. – Und jetzt? – Seit mir die Schuppen von den Augen gefallen sind, quält mich ihr Anblick wie physischer Schmerz. – Bei den modernen Skulpturen mit den wirbelnden oder über schlanken Formen geht es noch halbwegs, aber ein nackter lebender Mensch ist und bleibt mir das Grauenhafteste, das sich denken läßt. – Die klassische Schönheit ist eine Schul suggestion, die sich vererbt wie eine ansteckende Krank heit. – Betrachten Sie doch einmal eine Hand. Ein widerli cher Fleischklumpen mit fünf verschieden langen, scheuß lichen Stummeln! Setzen Sie sich ruhig hin, schauen Sie so eine Hand an und werfen Sie alle Erinnerungen fort, die daran hängen, – betrachten Sie sie, kurz gesagt, wie etwas ganz Neues, und Sie werden verstehen, was ich meine. Und gar wenn Sie das Experiment auf die ganze menschliche 260
Gestalt ausdehnen! Da faßt einen das Grausen, ich möchte sagen, die Verzweiflung, – eine nagende Todespein. Man fühlt den Fluch der Vertreibung aus dem Paradies am eige nen Fleische. Ja! – Wirklich schön ist eben nur das, was man sich mit Grenzen nicht vorstellen kann, – etwa der Raum; alles andere, begrenzte, selbst der prächtigste Schmetterlingsflügel, ruft den Eindruck der Verkrüppelung wach. – Die Ränder, die Grenzen der Dinge, werden mich noch zum Selbstmorde treiben; sie machen mich so elend, und es würgt mich, wie sie mir in die Seele schneiden. – Bei manchen Formen tritt mich dies Leiden weniger quä lend an, – wie ich schon sagte: bei den stilisierten Linien der Sezession, aber unerträglich wird es bei den natürli chen, die quasi frei wachsen. – Der Mensch! – Der Mensch! Was peinigt einen so beim nackten Menschen?! Ich kann es nicht ergründen. Fehlen ihm Federn oder Schuppen, oder Lichtaustrahlungen? Ich sehe ihn immer wie ein Gerüst vor mir, um das herum die eigentliche Hülle fehlt – leer wie ein Rahmen ohne Bild. – Doch wohin soll ich die Augen geben, die so gar nicht zu dieser Vorstellung passen und so unbegrenzt scheinen?« Chlodwig Dohna hatte sich ganz in dem Thema verlo ren, sprang endlich auf und ging erregt im Zimmer auf und ab und biß dabei nervös an seinen Nägeln. »Sie haben sich wohl viel mit Metaphysik oder Physio gnomik befaßt?« fragte ein junger Russe, Monsieur Petroff. »Ich? Mit Physiognomik? – Nein. Brauche es auch gar nicht. Wenn ich bloß die Hosenbeine eines Menschen an sehe, weiß ich alles über ihn und kenne ihn besser, als er sich selbst jemals kennen wird. 261
Lachen Sie nicht, mein Herr, es ist mein voller Ernst.« Die Frage mußte Dohna immerhin in seinen sich fort spinnenden Grübeleien unterbrochen haben, – er setzte sich zerstreut nieder und empfahl sich plötzlich steif und förm lich von den Herren, die einander befremdet ansahen, aber nicht sonderlich befriedigt schienen: – es war ihnen zu we nig gewesen. Am nächsten Tage fand man Dohna tot vor seinem Schreibtische. Er hatte sich erschossen. Vor ihm lag ein fußlanger Bergkristall mit spiegelnden Flächen und scharfen Kanten. Der Verstorbene war vor fünf Jahren ein fröhlicher Mensch gewesen, der von Vergnügen zu Vergnügen eilte und mehr auf Reisen als zu Hause war. Zu dieser Zeit lernte er in dem Kurorte Levico einen in dischen Brahminen Mr. Lala Bulbir Singh kennen, der in seinen Anschauungen große Umwälzungen hervorbrachte. An den Ufern des regungslosen Caldonazzo-Sees hatten sie oft geweilt, und Dohna hatte mit tiefer Verwunderung die Reden des Inders angehört, der, in allen europäischen Wissenszweigen auf das Gründlichste geschult, dennoch über sie in einer Weise sprach, die erkennen ließ, daß er sie nicht viel höher als Kinderspielzeug achtete. Kam er auf sein Lieblingsthema: die direkte Erkenntnis der Wahrheit, so ging von seinen Worten die er stets in ei nem eigentümlichen Rhythmus aneinander reihte, eine überwältigende Kraft aus, und dann schien es, als ob das Herz der Natur still stände und das unruhige Schilf ge 262
spannt dieser uralten, heiligen Weisheit lausche. Aber auch viele seltsame Berichte erzählte er Dohna, die wie Märchen klangen: von der Unsterblichkeit im Körper und dem geheimen profunden Wissen der Sekte der Paradá. Aus dem Munde dieses ernsten, gelehrten Mannes hör ten sie sich um so wunderbarer und kontrastreicher an. Ge radezu wie eine Offenbarung aber wirkte der unerschütter liche Glauben, mit dem er von einem bevorstehenden Weltuntergange sprach: Im Jahre 1914 werde sich nach einer Reihe schrecklicher Erdbeben ein großer Teil Asiens, der ungefähr dem Um fange Chinas entspricht, allmählich in einen einzigen gi gantischen Krater verwandeln, in dem ein Meer geschmol zener Metallmassen zutage tritt. Die ungeheure glühende Oberfläche würde naturgemäß in kurzer Zeit durch Oxidation allen Sauerstoff der Erde aufsaugen und die Menschheit dem Erstickungstode preis geben. Lala Bulbir Singh hatte die Kenntnis dieser Vorhersage aus jenen geheimen Manuskripten geschöpft, die in Indien einzig und allein einem Hochgradbrahminen zugänglich sind und für einen solchen jeden Zweifel an Wahrheit aus schließen. Was aber Dohna besonders überraschte, war die Erzäh lung, daß ein neuer europäischer Prophet, namens Jan Do leschal, der sich in Prag aufhalte, erstanden sei und die gleiche Kenntnis lediglich aus sich selbst und durch geisti ge Offenbarungen erhalten habe. Wie der Inder steif und fest behauptete, sei Doleschal nach gewissen geheimen Zeichen auf Brust und Stirne die 263
Wiederverkörperung eines Yogi aus dem Stamme der Sikhs, der zur Zeit des Guru Nanak gelebt und jetzt die Mission habe, einen Teil der Menschheit aus dem allge meinen Untergange zu erretten. Er predige, wie vor 3000 Jahren der große Hindulehrer Patanjali, die Methode, durch Anhalten des Atems und gleichzeitige Konzentration der Gedanken auf ein gewisses Nervenzentrum die Tätigkeit der Lungen aufzuheben und das Leben unabhängig von atmosphärischer Luft zu gestal ten. Dohna war sodann in Gesellschaft Lala Bulbir Singhs in die Nähe Prags gereist, um den Propheten in eigener Per son kennen zu lernen. Auf dem Landsitze eines Fürsten fand das Zusammen treffen statt. Niemand, der nicht bereits zur Sekte gehörte oder von Gläubigen eingeführt wurde, durfte die Besitzung betreten. Doleschals Eindruck war noch faszinierender als der des Brahminen, mit dem ihn übrigens eine tiefe Freundschaft verband. Der heiße konvergierende Blick seiner schwarzen Augen war unerträglich und drang wie ein glühender Draht ins Gehirn. Dohna verlor jeden seelischen Halt unter dem überwälti genden Einflüsse dieser beiden Männer. Er lebte wie im Taumel dahin und hielt mit der kleinen Gemeinde die vorgeschriebenen stundenlangen Gebete. – Halb träumend hörte er die rätselhaften ekstatischen Reden des Propheten, die er nicht verstand, und die dennoch wie Hammerschläge in sein Herz fielen und ein quälendes 264
Dröhnen im ganzen Körper hervorriefen, um ihn bis tief in den Schlaf zu verfolgen. Jeden Morgen zog er mit den übrigen auf die Anhöhe des Parkes, wo eine Gruppe Arbeiter unter Leitung des In ders beschäftigt war, ein tempelähnliches achteckiges Ge bäude zu vollenden, dessen Seitenteile ganz aus dicken Glastafeln bestanden. Durch den Boden des Tempels führten mächtige Metallröhren zu einem naheliegenden Maschinenraum. Einige Monate später befand sich Dohna schwer nervenlei dend in Begleitung eines befreundeten Arztes in einem Fi scherdorfe der Normandie als jener sonderbare, sensitive Mensch, dem die Formen der Natur eine ununterbrochene geheimnisvolle Sprache redeten. Sein letztes Erlebnis mit dem Propheten hatte ihn fast getötet, und die Erinnerung daran war bis zu seinem Tode nicht mehr von ihm gewichen. Er war mit Männern und Weibern der Sekte in dem glä sernen Tempel eingeschlossen. In der Mitte der Prophet mit unterschlagenen Beinen auf einem roten Postamente. Sein Bild bricht sich in den acht eckigen Glaswänden, daß es scheint, als sei er in hundert Verkörperungen zugegen. Scheußlicher, stinkender Rauch von verbranntem Bil senkraut wirbelt aus einer Pfanne und legt sich schwer wie die Hände der Qual auf die Sinne. Ein schluchzendes, schlapfendes Geräusch dringt aus dem Boden heraus: Sie pumpen die Luft aus dem Tempel. Erstickende Gase fallen zur Decke herein, in der arm 265
dicke Schläuche münden: Stickstoff – Wie Schlangen des Todes legt sich die schnürende Angst um Hals und Kopf. Der Atem wird röchelnd, das Herz hämmert zum Zer springen. Die Gläubigen schlagen an die Brust. Der Prophet sitzt wie aus Stein gehauen, und alle fühlen sich von seinen star ren schwarzen Augen verfolgt, die ihnen aus den Ecken drohend entgegenspiegeln. Halt, halt! – Um Gottes willen Luft, –Luft! – Ich erstic ke. Alles dreht sich im Wirbel, der Körper verrenkt sich, die Finger krallen sich in die Kehle. Heulende Schmerzen wie der Tod das Fleisch von den Knochen saugt. Weiber werfen sich zu Boden und winden sich im Krämpfe des Erstickens. Die dort reißt sich mit blutigen Nägeln die Brust auf. – In den Spiegeln die schwarzen Augen werden immer mehr und bedecken die Wände. Begrabene Szenen aus dem Leben treten vor die Seele, und wirre Erinnerungen tanzen: Der Caldonazzo-See rauscht wie die Brandung, – Länderstrecken verdunsten, – der See ist ein Meer aus glühendem Kupfer geworden, und grüne Flammen hüpfen über dem Krater. Aus der erstickenden Brust donnert der Herzschlag, und Lala Bulbir Singh fliegt als Geier über die Glut. Dann ist alles zerbrochen, erstickt, geborsten. Noch ein Aufflackern klaren Bewußtseins: Aus den Ec ken spiegelt die statuenhafte Gestalt Doleschals, seine Au 266
gen sind tot, und ein grauenhaftes Lächeln liegt wie eine Maske auf seinem Gesicht. Risus sardonius – das Leichengrinsen –, so nannten es die Alten. Dann schwarze Nacht, ein kalter Windstoß fährt über den Körper. – Eiswogen dringen in die Lungen, und das Schluchzen der Pumpen ist verstummt. Aus der Ferne klingt die rhythmische Stimme Lala Bul bir Singhs: »Doleschal ist nicht tot, er ist in ›Samadhi‹ – der Verzückung der Propheten! –« Das alles hatte Dohnas Innerstes unheilbar erschüttert und die Tore seiner Seele erbrochen. Ja, wenn es einen Schwachen trifft, wirft es ihn um. Und seine Seele ist wund geblieben. Die Erde werde ihm leicht.
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Exekution auf der Owl-Creek-Brücke
von Ambrose Bierce Als eine geheimnisumwitterte Legende ist Ambrose Gwin nett Bierce in die Geschichte der phantastischen Literatur Amerikas eingegangen. 1842 als Sohn eines Farmers in Ohio geboren, verließ der Fünfzehnjährige sein Eltern haus, nahm auf der Seite der Nordstaaten am amerikani schen Bürgerkrieg teil, wurde zweimal verwundet und we gen Tapferkeit zum Major befördert. Nach dem Krieg ar beitete er als Journalist in San Francisco und London, wo er auch seine ersten Bücher veröffentlichte. Bierce war über siebzig Jahre alt, als er in den Wirren des mexikani schen Bürgerkriegs spurlos verschwand. Nicht einmal sein genaues Todesdatum ist bekannt. Mit Sicherheit läßt sich nur sagen, daß er einer der größten Virtuosen der maka bren Phantasie war. 1 Auf einer Eisenbahnbrücke im Norden Alabamas stand ein Mann und sah ins reißende Wasser, das zwanzig Fuß unter ihm vorbeischoß. Die Handgelenke des Mannes waren hin ter seinem Rücken gefesselt. Eine Seilschlinge lag locker um seinen Hals. Sie war an einem kräftigen Querbalken über seinem Kopf befestigt, und die überschüssige Länge des Seils hing bis auf seine Knie hinab. Auf die Eisenbahn schwellen waren ein paar lose Bretter gelegt worden, auf denen er und ein Erschießungskommando standen. Es wa 268
ren zwei Soldaten der Zentralregierung und ein Sergeant, der im Zivilleben Hilfssheriff gewesen sein mochte. Un weit von ihnen stand auf derselben provisorischen Platt form ein bewaffneter Captain in Uniform. An jedem Ende der Brücke stand ein Posten, das Gewehr im Anschlag. Die beiden Männer schien es nichts anzugehen, was in der Brückenmitte geschah. Sie hatten einzig die beiden Enden des Bretts zu bewachen, das auf der Brücke lag. Hinter den Wachtposten war niemand zu sehen. Die Ge leise verliefen etwa hundert Yard schnurgerade im Wald, machten dann eine Biegung und verschwanden. Sicher gab es längs der Schienen noch einen Vorposten. Das andere Flußufer war offenes Gelände – eine sanfte Böschung, die von einer Palisade mit Schießscharten abgeschlossen wur de. Aus einer größeren Öffnung ragte die Rohrmündung einer die Brücke beherrschenden Messingkanone. Auf hal ber Anhöhe zwischen der Brücke und dem Fort war eine Infanteriekompanie als Beobachter in Linie angetreten. Die Soldaten standen Gewehr bei Fuß. Ein Leutnant stand rechts von der Abteilung, stützte die Säbelspitze auf den Boden und hatte die linke Hand auf die rechte gelegt. Ab gesehen von den vier Mann in der Brückenmitte rührte sich nichts. Die Abteilung stand reglos da, hatte die Augen auf die Brücke gerichtet und starrte geradeaus. Die Wachtpo sten waren den Flußufern zugewandt und sahen aus wie Statuen, die zur Brücke gehörten. Der Captain hatte die Arme verschränkt und beobachtete schweigend die Tätig keit seiner Untergebenen. Der Tod ist ein großer Herr, und wenn er sein Erscheinen ankündigt, muß er mit gebühren der Hochachtung empfangen werden, selbst von seinen 269
ständigen Gefährten. Und nach der Militäretikette sind Flinkheit und Stummheit ein Ausdruck des Respekts. Der Mann, der gehenkt werden sollte, war etwa fünfund dreißig Jahre alt. Nach seinen Kleidern zu schließen, war er Zivilist und Plantagenbesitzer. Er hatte ein ansprechendes Gesicht: gerade Nase, energischen Mund, breite Stirn, von der sein langes, dunkles Haar glatt nach hinten gebürstet war und hinter seinen Ohren auf den Kragen seines gutsit zenden Gehrocks fiel. Er trug einen Schnurrbart und einen spitz zugestutzten Backenbart, aber keine Koteletten. Seine Augen waren groß und dunkelgrau und hatten einen freundlichen Blick, den man kaum bei einem Mann erwar tet hätte, dessen Kopf in der Schlinge lag. Ganz offensicht lich war er kein gemeiner Mörder. Aber das Kriegsgericht erstreckt seine Todesurteile auf alle Gesellschaftskreise und macht auch vor einem vornehmen Mann nicht halt. Nachdem die Vorbereitungen beendet waren, traten die beiden Soldaten beiseite und jeder zog die Planke weg, auf der er gestanden hatte. Der Sergeant wandte sich an den Captain, salutierte und stellte sich knapp hinter diesen Of fizier, der seinerseits einen Schritt abrückte. Dadurch blie ben der Verurteilte und der Sergeant auf den beiden Enden desselben Bretts zurück, das auf drei Querschwellen der Brücke ruhte. Das Ende, auf dem der Zivilist stand, berühr te beinahe eine vierte Schwelle. Bisher war das Brett durch das Gewicht des Captains an seinem Platz gehalten wor den. Jetzt stand der Sergeant darauf. Auf einen Wink des Captains würde er beiseite treten, das Brett würde kippen und der Verurteilte zwischen zwei Schwellen nach unten 270
fallen. Eine einfache und wirksame Methode. Die Augen des Verurteilten waren nicht verbunden. Einen Augenblick betrachtete er die unsichere Unterlage, dann wanderte sein Blick weiter zum schäumenden Fluß, der eilig unter seinen Füßen dahinschoß. Er schloß die Augen, um mit seinen letzten Gedanken ganz fest bei seiner Frau und den Kindern zu verweilen. Das Wasser, das golden in der frühen Morgensonne funkel te, die tiefen Nebelschwaden an den unteren Flußufern, das Fort, die Soldaten – das alles hatte ihn abgelenkt. Und jetzt trat eine neue Störung in Erscheinung. Ein nicht zu überhö rendes, unerklärliches Geräusch zwängte sich in sein Be wußtsein. Es war ein lautes, deutliches, metallisches Klop fen, als schlüge ein Schmiedehammer auf einen Amboß. Es dröhnte auch ebenso. Er überlegte, was das Geräusch be deuten mochte und ob es von fern oder nah kam. Er kam nicht dahinter. Es kehrte in regelmäßigen Intervallen wie der, langsam wie Totengeläute. Ungeduldig und angstvoll zugleich wartete er auf jeden neuen Schlag. Die Pausen zwischen den einzelnen Schlägen dehnten sich immer län ger aus. Die Verzögerungen machten ihn verrückt. Je selte ner die Töne wurden, desto lauter und gellender klangen sie. Sie drangen ihm messerscharf in die Ohren. Er fürchte te aufzuschreien. Was er hörte, war das Ticken seiner Uhr. Er öffnete die Augen und sah wieder das Wasser. ›Wenn es mir gelänge, die Handfesseln abzustreifen, könnte ich vielleicht aus der Schlinge schlüpfen und in den Fluß springen‹, überlegte er. ›Dann tauchte ich unter, damit mich ihre Kugeln nicht treffen, schwimme mit kräftigen Stößen ans Ufer, verschwinde im Wald und laufe nach 271
Hause. Mein Haus liegt ja, Gott sei Dank, noch jenseits der Front. Bis zu meiner Frau und den Kindern sind die Solda ten noch nicht vorgestoßen. Während diese Gedanken blitzschnell durch den Kopf des Verurteilten zuckten, nickte der Captain dem Sergeant zu. Der Sergeant trat zur Seite. 2 Payton Farquhar war ein wohlhabender Plantagenbesitzer, der aus einer alten und sehr angesehenen Familie in Ala bama stammte. Als Sklavenbesitzer und Politiker war er naturgemäß Sezessionist und ein überzeugter Konföderier ter. Zwingende Gründe, die hier nicht eigens erwähnt zu werden brauchen, hatten es ihm unmöglich gemacht, der Armee der Südstaatler beizutreten. Er litt unter seiner un freiwilligen Tatenlosigkeit, sehnte sich nach dem abenteu erlichen Leben der Soldaten und wollte seinen Mut bewei sen. Daß eines Tages auch seine Stunde schlagen würde, war seine felsenfeste Überzeugung. Inzwischen tat er, was in seinen Kräften stand. Für die Sache der Südstaatler war ihm kein Dienst zu gering, keine Aufgabe zu gefährlich, wenn sie sich mit dem Charakter eines Zivilisten vereinba ren ließ, der im Grunde seines Herzens Soldat war und sich in gutem Glauben und ohne große Bedenken dem Motto verschrieben hatte, im Krieg und in der Liebe sei jedes Mittel erlaubt. Eines Abends, als Farquhar und seine Frau auf einer Holzbank neben der Einfahrt zur Plantage saßen, kam ein grau gekleideter Soldat angeritten und bat um einen Becher 272
Wasser. Mrs. Farquhar sprang bereitwilligst auf, um ihm eigenhändig die gewünschte Erfrischung zu holen. In ihrer Abwesenheit trat ihr Mann an den staubbedeckten Reiter heran und erkundigte sich angeregt nach den jüngsten Frontereignissen. »Die Yanks reparieren die Bahnen«, sagte der Fremde, »und bereiten einen neuen Angriff vor. Sie haben bereits die Brücke über den Owl Creek erreicht, instand gesetzt und eine Palisade am anderen Ufer errichtet. Der Kom mandant hat überall die Verlautbarung anschlagen lassen, daß jeder Zivilist gehenkt wird, der Sabotage an der Bahn, den Bahnbrücken, Tunnels oder Zügen betreibt. Ich habe den Befehl selbst gesehen.« »Wie weit ist es bis zu dieser Owl-Creek-Brücke?« frag te Farquhar. »Etwa dreißig Meilen.« »Und auf unserer Seite des Flusses stehen keine Solda ten?« »Nur eine Feldwache an der Bahn, eine halbe Meile hin ter der Brücke, und ein einzelner Wachtposten an der Brü cke selbst.« »Angenommen, ein Zivilist käme unbemerkt an der Feldwache vorbei und würde den Wachtposten überwälti gen«, sagte Farquhar lächelnd, »was könnte er damit errei chen?« Der Soldat überlegte. »Ich bin vor einem Monat dort gewesen. Dabei fiel mir auf, daß die letzte Schneeschmelze große Mengen Treibholz an den hölzernen Pier des diessei tigen Brückenendes angeschwemmt hat. Mittlerweile ist es trocken und würde wie Zunder brennen.« 273
Die Dame hatte inzwischen das Wasser gebracht, und der Soldat trank. Er dankte ihr wohlerzogen, verneigte sich vor ihrem Mann und ritt seines Weges. Eine Stunde später, bei Einbruch der Nacht, ritt er neuerlich an der Plantage vorbei und wandte sich nach Norden, woher er gekommen war. Er war ein Agent der Nordstaatler. 3 Payton Farquhar fiel senkrecht durch die Brücke, verlor das Bewußtsein und war so gut wie tot. Eine Ewigkeit spä ter, wie ihn dünkte, riß ihn ein scharfer Druckschmerz am Halse und das Gefühl zu ersticken aus diesem Zustand. Brennende, schneidende Schmerzen schossen von seinem Hals in jede Fiber seines Körpers. Die Schmerzen liefen durch ein ganzes Netz von Verästelungen und durchzuck ten ihn in unvorstellbarrascher Wiederkehr. Sie waren wie pulsierende versengende Feuerstöße. Im Kopf empfand er nur eine ungewohnte Leere. Seine Empfindungen wurden von keinerlei Gedanken begleitet. Der Denkapparat hatte bereits ausgesetzt. Er vermochte nur mehr zu fühlen, und das war unsagbar qualvoll. Er registrierte Bewegung. In eine leuchtende Wolke gehüllt, deren glühender Kern ohne jede materielle Substanz er war, schwang er in weiten Bo gen hin und her wie ein riesiges Pendel. Dann schoß mit gräßlicher Plötzlichkeit und lautem Aufklatschen das Licht rund um ihn nach oben. Es dröhnte fürchterlich in seinen Ohren und alles war kalt und dunkel. Seine Denkfähigkeit war wieder hergestellt. Er wußte, daß das Seil gerissen und er in den Fluß gestürzt war. Die Schlinge schnürte seinen 274
Hals so fest ab, daß kein Wasser in seine Lungen dringen konnte. Auf dem Grund eines Flusses durch Gehenktwer den zu sterben, war eine groteske Vorstellung. Er öffnete die Augen in der Dunkelheit. Über sich sah er einen schwachen Lichtschimmer, aber er war unerreichbar weit. Dabei sank er noch immer, weil das Licht ständig schwä cher wurde, bis er es kaum mehr wahrnahm. Dann ver stärkte es sich und wurde heller, und er wußte, daß er an die Oberfläche getrieben wurde. Das war ihm gar nicht an genehm, weil er sich jetzt ungemein wohl fühlte. ›Gehenkt und ertränkt zu werden, ist nicht mal so übel‹, dachte er. ›Aber ich möchte nicht auch noch erschossen werden. Nein, wirklich nicht. Das wäre ungerecht.‹ Er war sich keiner Anstrengung bewußt, aber ein schar fer Schmerz in den Handgelenken verriet ihm, daß er ver suchte, seine Fesseln zu zerreißen. Er beobachtete den Kampf so gleichgültig, wie ein müßiger Gast den Darbie tungen eines Jongleurs zusehen mochte. Wie er sich plagte! Was für eine großartige, übermenschliche Kraftanstren gung! Eine ausgezeichnete Leistung! Bravo! Der Strick gab nach, seine Arme teilten sich und schwammen nach oben. Im zunehmenden Licht sah er unklar seine Hände. Angeregt beobachtete er, wie erst die eine, dann die andere an der um seinen Hals liegenden Schlinge zerrte. Sie rissen sie los und schoben sie heftig weg. Der Strick schwamm in wellenartigen Bewegungen fort, die an eine Wasserschlan ge erinnerten. »Holt ihn zurück! Holt ihn zurück!« Er glaubte, seinen Händen diesen Befehl zugerufen zu haben, denn kaum hatte sich der Strick gelöst, durchzuckte ihn der gräßlichste Schmerz. Sein Hals tat irrsinnig weh; sein 275
Schädel brannte, das Herz, das ganz schwach geschlagen hatte, tat einen mächtigen Satz und wollte ihm aus dem Mund springen. Sein Körper bäumte sich in unsagbarer Qual auf. Aber seine ungehorsamen Hände kümmerten sich nicht um seinen Befehl. Sie schoben das Wasser mit ra schen, kräftigen Schlägen zurück und zwangen ihn an die Oberfläche. Er spürte, wie sein Kopf aus dem Wasser tauchte. Das Sonnenlicht blendete ihn. Seine Brust weitete sich ruckartig, und mit einem letzten, alles übersteigenden Schmerz füllten sich seine Lungen mit Luft, die er augen blicklich in einem Schrei ausatmete! Jetzt war er wieder im Vollbesitz seiner Sinne. Sie waren sogar übernatürlich geschärft. Der gewaltsame Eingriff in seine Körperfunktionen hatte sie derart verfeinert, daß er Wahrnehmungen machte, die ihm früher unmöglich gewe sen waren. Er spürte die kleinen Wellen an seinem Gesicht und hörte genau, wie sie gegen seine Haut schlugen. Er blickte zum Wald am Flußufer und sah nicht nur jeden ein zelnen Baum, sondern auch die Blätter und die Adern dar in; ja, er erkannte sogar die Insekten auf den Blättern, die Heuschrecken, die schimmernden Fliegen und die grauen Spinnen, die ihre Netze zwischen den Zweigen spannten. Er bemerkte die Prismafarben aller Tautropfen auf einer Million Grashalmen. Das Summen der Mücken, die über dem Fluß tanzten, das Flügelschlagen der Libellen, die Füße der Wasserspin nen, die wie Ruder über das Wasser glitten – sie alle mach ten hörbar Musik. Ein Fisch glitt unter seinen Augen vor bei, und er hörte das Rauschen, mit dem sein Körper das Wasser teilte. 276
Er war flußabwärts aufgetaucht. Im nächsten Augenblick begann die Welt langsam um ihn zu kreisen, und er selbst war ihr Drehpunkt. Er sah die Brücke, das Fort, die Solda ten auf der Brücke, den Captain, den Sergeanten und die beiden Soldaten, die ihn exekutiert hatten. Sie hoben sich als dunkle Schatten vor dem blauen Himmel ab. Sie brüll ten und gestikulierten und zeigten auf ihn. Der Captain hat te die Pistole gezogen, aber er schoß nicht. Die anderen waren unbewaffnet. Ihre Bewegungen waren verzerrt und beängstigend. Plötzlich vernahm er einen scharfen Knall. Wenige Zen timeter vor seinem Kopf schlug etwas aufs Wasser, daß ihm die Tropfen ins Gesicht sprühten. Er hörte einen zwei ten Knall und sah einen der Posten, der sein Gewehr hoch gerissen hatte. Ein blaues Rauchwölkchen stieg aus der Mündung auf. Der Mann im Wasser sah das Auge des Mannes auf der Brücke, das ihn durch das Visier des Ge wehrs anstarrte. Er bemerkte, daß es grau war, und erinner te sich gelesen zu haben, daß graue Augen die schärfsten sind und alle Meisterschützen graue Augen haben. Trotz dem hatte der Posten danebengeschossen. Eine Gegenströmung hatte Farquhar erfaßt und ihn halb herumgedreht. Jetzt lag wieder das bewaldete Ufer gegen über des Forts for ihm. Über das Wasser gellte eine schril le, hohe Stimme in monotonem Sing-Sang. Sie zerschnitt und übertönte alle anderen Geräusche, selbst das Plätschern des Wassers. Obwohl er selbst kein Soldat war, hatte er doch genügend oft Feldlager besucht, um die schreckliche Bedeutung dieses langsamen, abgesetzten Rufens zu ken nen: der Leutnant am Ufer hatte eingegriffen. Kalt und un 277
barmherzig fielen die grausamen Worte: »Abteilung Ach tung! – Gewehr anlegen! – Zielen! – Feuer!« Farquhar tauchte – so tief er nur konnte. Das Wasser to ste wie der Niagarafall in seinen Ohren, aber trotzdem ver nahm er das gedämpfte Grollen der Salve. Er schwamm wieder an die Oberfläche. Sonderbar abgeplattete, glitzern de Metallstücke versanken vor ihm. Manche streiften ihn an Gesicht und Händen, glitten ab und verschwanden. Ei nes rutschte ihm zwischen Kragen und Hals. Es war unan genehm warm, und er fischte es rasch heraus. Er tauchte keuchend auf und sah, daß er lange Zeit unter Wasser gewesen war. Der Fluß hatte ihn ein gewaltiges Stück weitergetragen, der Rettung entgegen. Die Soldaten waren mit dem neuerlichen Laden ihrer Gewehre fast fer tig. Plötzlich funkelten die Ladestöcke in der Sonne, weil sie aus den Läufen gezogen, in der Luft umgedreht und wieder in den Rohransatz geschoben wurden. Wieder schossen die beiden Wachtposten, ohne zu treffen. Das alles sah der Gejagte über die Schulter. Er schwamm jetzt kräftig mit dem Strom. Sein Gehirn war genauso aktiv wie seine Arme und Beine. Er überlegte blitzschnell. ›Der Offizier wird den Fehler des Leuteschinders nicht wiederholen‹, dachte er. ›Man kann einer Salve genauso leicht ausweichen wie einem vereinzelten Schuß. Höchst wahrscheinlich hat er seinen Leuten bereits befohlen, un abhängig voneinander zu schießen. Gott steh mir bei, ich kann ihnen nicht allen ausweichen!‹ Ein fürchterlicher Aufprall wühlte knapp vor ihm den Fluß bis in die Tiefen auf. Eine Wasserwand schob sich vor 278
seinen Kopf, brach sich und prasselte auf ihn hinab. Pru stend rang er nach Luft. Die Kanone hatte auf ihn gezielt. Er schüttelte das Wasser aus seinen Augen und hörte das abgewichene Geschoß durch die Luft sausen. Im nächsten Augenblick krachten und splitterten die Zweige im Wald. ›Das versuchen sie nicht noch einmal‹, dachte er. ›Beim nächstenmal werden sie Kartätschen einsetzen. Ich darf das Rohr nicht aus den Augen lassen. Der aufsteigende Rauch wird mich warnen. Wenn es knallt, ist es schon zu spät.‹ Plötzlich wurde er herumgewirbelt wie ein Wimpel. Das Wasser, die Ufer, der Wald, die in die Ferne gerückte Brü cke, das Fort und die Soldaten – alle waren vermischt und verschwommen. Die Gegenstände unterschieden sich nur durch ihre Farben, durch kreisrunde Farbfetzen. Mehr sah er nicht. Er war in einen Strudel geraten und wurde mit aberwitziger Schnelligkeit herumgedreht, daß ihm schwindlig und übel wurde. Sekunden später wurde er auf den Kies des südlichen Flußufers geschleudert und landete hinter einem vorspringenden Felsblock, der ihn vor seinen Feinden verbarg. Die plötzlich ausgesetzte Bewegung, die Hautabschürfungen an den Händen, brachten ihn wieder zu sich, und er weinte vor Erleichterung. Er grub die Finger in den Sand, streute ihn mit vollen Händen über sich und seg nete ihn. Er sah wie Gold aus, wie Diamanten, Rubine und Smaragde. Es gab gar nichts Schönes, dem dieser Sand nicht ähnelte. Die Bäume am Ufer glichen riesigen Topf pflanzen. Er bemerkte, daß sie in geraden Reihen angesetzt waren. Tief sog er ihren Duft ein. Zwischen den Baum stämmen schimmerte ein sonderbares, rosenrotes Licht, und der Wind spielte in den Ästen wie auf Äolsharfen. Er 279
hatte kein Verlangen, seine Flucht fortzusetzen. Ihm ge nügte es, an diesem zauberhaften Ort zu verweilen, bis er wieder festgenommen wurde. Ein Kugelregen in den Zweigen über seinem Kopf riß ihn aus seinen Träumereien. Der Kanonier hatte ihm auf gut Glück einen Abschiedsgruß nachgesandt. Er sprang auf, rannte über das schräge Ufer und tauchte im Wald unter. Er wanderte den ganzen Tag. Als Kompaß diente ihm die Sonne. Der Wald nahm kein Ende. Nirgends entdeckte er eine Lichtung oder auch nur einen Jägersteig. Er hatte gar nicht gewußt, daß er in einer derart wilden Gegend leb te. Die Entdeckung war ihm unheimlich. Bei Einbruch der Nacht war er erschöpft und hungrig und hatte sich die Füße wund gelaufen. Der Gedanke an seine Frau und die Kinder trieb ihn weiter. Endlich fand er eine Straße, die ihn, wie er wußte, in die gewünschte Rich tung führte. Sie war so breit und gerade wie die Straße ei ner Großstadt. Trotzdem machte sie einen unbenutzten Eindruck. Nirgends waren Felder oder Häuser zu sehen. Nicht das leiseste Hundegebell ließ auf menschliche Be hausungen schließen. Die schwarzen Baumstämme bilde ten links und rechts eine gerade Wand, die am Horizont in einem Punkt endete: wie ein Schulbeispiel für perspektiv gerechtes Sehen. Über dieser Schneise funkelten große goldene Sterne, die sich zu unbekannten Sternbildern zu sammenschlossen. Er war ganz sicher, daß sie nach einem ganz bestimmten System von rätselhafter und unheilvoller Bedeutung angeordnet waren. Zu beiden Seiten raunte es geheimnisvoll im Wald. Mehrmals hörte er ganz deutlich Geflüster in einer unverständlichen Sprache. 280
Sein Hals schmerzte. Er tastete ihn ab und stellte fest, daß er entsetzlich geschwollen war. Bestimmt hatte sich an der Stelle, wo der Strick ihn abgeschnürt hatte, ein dunkler Streifen gebildet. Seine Augen fühlten sich dick angelau fen. Er vermochte sie nicht mehr zu schließen. Schreckli cher Durst hatte seine Zunge aufgetrieben. Um sie etwas zu kühlen, streckte er sie heraus. Wie weich der Rasen auf der unbegangenen Straße gelegen hatte! Aber er spürte keinen Boden mehr unter den Füßen! Trotz seiner Beschwerden mußte er im Gehen einge schlafen sein. Denn plötzlich befand er sich in einer ande ren Umgebung. Vielleicht auch hatten sich nur seine Fie berträume endlich gelichtet. Er steht an der Gartenpforte seines Grundstücks. Alles ist genauso, wie er es verlassen hat, und strahlt in der köstlichen Morgensonne. Also muß er die ganze Nacht marschiert sein. Er stößt die Pforte auf und geht auf dem breiten, weißen Weg auf das Haus zu. Ein Damenkleid blitzt auf. Seine Frau kommt ihm ausge ruht, duftend und strahlend auf der Veranda entgegen. Auf der letzten Stufe bleibt sie wartend stehen und lächelt ihn glückselig an. Sie ist von unvergleichlicher Anmut, und ihre stolze Haltung erfüllt ihn mit Bewunderung. Mit ge öffneten Armen läuft er auf sie zu. Schon will er sie an sich drücken, da trifft ihn im Nacken ein fürchterlicher Schlag. Plötzlich lodert alles in blendend weißem Licht, es folgt ein polternder Einschlag wie von einer Kanone – dann ist von einer Sekunde zur anderen alles dunkel und still! Payton Farquhar war tot. Mit gebrochenem Nacken pen delte sein Leichnam unter den Bohlen der Owl-CreekBrücke sanft hin und her. 281
Der schwarze Wolfshund von Werner Gronwald Es gibt kaum noch deutsche Autoren, die sich ernsthaft auf die Kunst des literarischen Horrors einlassen. Im Gegen satz zu den angelsächsischen Ländern scheint die Tradition der Phantastik hierzulande versiegt zu sein. Werner Gron wald, 1917 in Königsberg geboren, hat eine Reihe knapper Horrorstories geschrieben, die an eben jene Tradition an knüpfen. Der in München lebende Schriftsteller und Über setzer – er debütierte 1947 mit dem Erzählband »Flucht in die Freiheit« – konfrontiert in der Gestalt des schwarzen Wolfshundes den Leser mit Terrorszenen von beklemmen der Dichte. Der Mann ist in selbstmörderischer Absicht vor den Wagen meiner Schwester Rita gesprungen. Ich, Marta Hauser, ha be an dem Unglücksabend auf dem Nebensitz gesessen und alles genau gesehen. Das konnte ich vor Gericht beschwören. Meine Schwe ster ist daraufhin freigesprochen worden, aber sie findet seither keine Ruhe. Denn dieser Hund terrorisiert sie: der große, schwarze Wolfshund des Selbstmörders. Kurz vor dem Unfall haben wir ihn beide deutlich an der Seite des Mannes gesehen. Aber als wir nach dem Aufprall aus dem Wagen sprangen, um uns um den am Boden Liegenden zu kümmern, da war der Hund verschwunden. Angeblich soll der Mann – es war übrigens der durch 282
das Fernsehen sehr bekannte Schauspieler Richard S. – al so Richard S. soll nach Zeugenaussagen nie einen Hund gehalten haben. Meine Schwester hat aber den großen, schwarzen Wolfshund inzwischen mehrmals gesehen – sagt sie. Ich nicht. Vorgestern Nacht habe jedoch auch ich das unheimliche Tier ums Haus herumtappen und leise winseln und heulen hören. Und seither glaube ich an das, was die Wahrsagerin meiner Schwester offenbart hat: Die Seele des Selbstmörders ist im Augenblick seines Todes in den Körper des Wolfshundes geschlüpft. Und deshalb verfolgt das gräßliche Tier meine Schwe ster – erschreckt und ängstigt sie und läßt ihr keine Ruhe mehr. Wir bewohnen ein kleines Einfamilienhaus in der Nähe von München. Meine Schwester ist Lehrerin, und ich bin Abteilungsleiterin in einem nahegelegenen Supermarkt. »Die beiden schrulligen alten Jungfern im Hexenhäusl«, munkeln unsere Nachbarn. Dabei sind wir mit 37 und 39 Jahren doch noch gar nicht so alt! Nein, wir haben zwar große Enttäuschungen mit Män nern hinter uns, aber wir haben beide noch unsere gehei men Träume und Sehnsüchte. Das Schlimme an diesem unverschuldeten Autounfall ist, daß Rita immer so für diesen Schauspieler Richard S. geschwärmt hat. Kein Fernsehspiel hat sie sich entgehen lassen, in dem er mitgespielt hat. In den Wochen nach dem Unglück habe ich immer streng darauf geachtet, daß nicht etwa irgendein Film mit 283
dem Toten über unseren Bildschirm flimmerte. Aber heute abend ist es doch passiert. Als ich ins Zimmer kam, lief der Film schon: irgendeine Kriminalserie, in der Richard S. den Mörder spielte. Rita saß kreidebleich da und starrte wie hypnotisiert auf den Bildschirm. Denn Richard S. in seiner Mörderrolle schlich gerade mit krallenartigen Würgerhänden von hinten an sein ahnungsloses Opfer heran: eine Frau, die vor dem Fernseher saß. Mit einem grauenhaft klingenden Schrei sprang Rita vom Sessel auf, als sie meine Schritte hinter sich hörte. Ich konnte sie nicht festhalten. Mit fast übermenschlicher Kraft riß sie sich los und stürzte aus dem Zimmer und hinaus ins Freie. Ich hinterher. Hinaus in die Novembernacht mit den kalt wallenden Nebelschleiern, die wie Gespensterhände nach mir griffen. »Rita! Rita!« Keine Antwort. Nur das leise Knistern und Rascheln der nächtlichen Geräusche in einem Herbstgarten. Aber dann: Tappende Schritte im welken Laub. In der Lichtbahn aus dem Wohnzimmerfenster sehe ich deutlich den riesigen schwarzen Hund zwischen zwei Büschen da hinhuschen. Oder war es etwa eine tief gebückte schwarze Männer gestalt? Nein: Es war bestimmt diese pantherartige Bestie von einem Wolfshund! Mit einem Male merke ich, daß ich unter meinem Mor genrock nackt bin. Ich erschauere bis tief ins Mark hinein. 284
Aber ich kann doch Rita nicht allein hier draußen bei Nacht und Nebel umherirren lassen! Zaghaft mache ich ein paar Schritte in den Garten hin ein. Die feuchten Zweige der Fliederbüsche streifen wie Totenfinger über meine Haut. Ich erschauere wieder. Plötzlich höre ich aus der Dunkelheit ein Heulen und Kreischen – grauenhafte Laute, die fast mein Blut gefrieren lassen. »Rita!« schreie ich wieder. »Rita!« Quer durch die Büsche und über den Rasen renne ich auf die Gartenpforte zu, die aufs freie Feld hinausführt. Von dorther tönt das schauerliche Heulen und Winseln. Es ist so dunkel. Ich kann fast nichts sehen und stolpere immer wieder über Furchen und Maulwurfshügel. Aber ich höre näher und näher dieses unmenschliche Heulen. Und dazwischen noch etwas anderes: ein langgezogenes Seuf zen und fast lustvolles Stöhnen. Ist das etwa die Stimme meiner Schwester? »Rita!« schreie ich wieder in den Nebel hinein. Da springt er plötzlich vor mir hoch: der riesige, schwar ze Satan von Wolfshund. Einen Moment lang sehe ich deutlich den dunklen, schlanken Schatten. Dazu höre ich einen Laut wie ein dumpfes Raubtiergrollen. Dann ist er verschwunden. Aber vor mir im Gras schimmert hell und reglos Ritas Körper. Sie ist nackt unter dem Morgenrock wie ich. Zit ternd beuge ich mich hinab, taste über ihre Haut. Ich spüre warmes, klebriges Blut an ihrem Hals und richte mich schreiend auf. Was ich in der nächsten Minute getan habe, weiß ich 285
nicht. Ich muß wohl sinnlos im Kreis um meine Schwester herumgelaufen sein. Denn als ich wieder etwas zu mir komme, habe ich meine Hausschuhe verloren, und meine Fußsohlen sind wund von Steinen und Disteln. Rita liegt da wie zuvor. Aber ihr Körper leuchtet jetzt unheimlich phosphoreszierend hell. Die Nebelschleier sind nämlich inzwischen zerrissen, und der Dreiviertelmond sendet seine magischen Strahlen herab. Als ich angstvoll nähertrete, traue ich meinen Augen kaum. Rita scheint zu lächeln! Ihre Kehle ist zerrissen und rot von Blut, aber ihre Lippen sind wie zu einem verzückten Lächeln leicht geöffnet. Während ich noch mit einer Mischung von Grauen und Faszination auf das unheimliche Lächeln hinabstarre, höre ich es wieder: Tapp – tapp – tapp – tapp! Dazu ein heiseres Hecheln! Mein Herz erstarrt! Dort! – Nein, da! – Oder dort? Der schwarze Schatten taucht aus dem Nebel! Augen funkeln mich wie glühende Kohlen an! Meine mühsam bewahrte Beherrschung zerbricht, und ich fliehe schreiend und schluchzend über das Feld. Zurück durch die Gartenpforte, ins Haus hinein – die Tür hinter mir zugeworfen und mich schluchzend dagegengelehnt. Doch der Alptraum nimmt kein Ende. Eine Männer stimme aus dem stillen Haus raunt heiser und hämisch: »Du entgehst mir nicht. Du bist die dritte. Aber du wirst nicht die letzte sein.« Eine Frau kreischt in irrer Todesangst, und ich stürze 286
blindlings ins Zimmer und sehe das von Mordgier verzerrte Gesicht des Selbstmörders! Da verwirrt sich in meinem Geist für kurze Zeit alles und alles. Und als ich wieder zu mir komme, liege ich in diesem Krankenhausbett, und ein Arzt im weißen Kittel sitzt neben mir und redet begütigend auf mich ein. Meine Schwester sei von einem Sittlichkeitsverbrecher erwürgt worden, behauptet wer. Und ich hätte großes Glück gehabt, daß ich dem Unhold entgangen sei. Erwischt? – Ja, man habe ihn gestellt und auf der Flucht erschossen. Ich höre mir das an und sage nichts. Denn ich will ja nicht, daß man mich hierbehält und für verrückt erklärt. Aber ich weiß ganz genau, daß Rita nicht erwürgt wurde! An meinen Fingern habe ich das Blut aus ihrer zer fleischten Kehle gefühlt. Und ich habe auch ihren Mörder gesehen! Morgen darf ich nach Hause gehen, sagt der Arzt. Jetzt nach dem Tod des Mörders hätte ich ja nichts mehr zu be fürchten. Wie unwissend und kurzsichtig auch Ärzte mitunter sind! Nun bin ich wieder daheim. Allein in unserem Haus. Es ist Nacht, und ich habe ein starkes Schlafmittel genommen. Doch mehrmals schrecke ich im Bett hoch, weil ich das vom Mondlicht magisch erhellte Gesicht meiner toten Schwester vor mir sehe. Sie lächelt – sie lächelt immer wieder wie in heimlicher Verzückung. Was hat Rita in den letzten Sekunden ihres Lebens so glücklich gemacht? 287
Ich ertappe mich plötzlich dabei, daß ich auf nackten Sohlen die Treppe hinabschleiche. Meine Finger beben, als ich die Haustür aufschließe und in die Nacht hinauslau sche. Ein Schauer huscht über meinen Körper unter dem dün nen Nachthemd. Deutlich höre ich es: verstohlenes Ra scheln im welken Laub. Eine Eishand des Grauens greift nach meinem Herzen, aber gleichzeitig spüre ich seltsam heißes Entzücken und wildes Drängen in meinem Schoß. Da! Der schwarze Schatten zwischen den Büschen! Werde ich jetzt erfahren, weshalb meine Schwester Rita in ihren letzten Lebenssekunden so glückselig gelächelt hat? Wird auch mich der wunderbar starke Panther des To des mit seinem Glutatem anspringen und zu Boden werfen?
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Sylvesters Rache von Vance Aandahl Sterbend sinnt Sylvester auf Rache: ein ungeheurer Dick wanst, den das eigene Körpergewicht jeden Augenblick zu zermalmen droht. Aber vorher will er noch etwas Böses tun, etwas Verbotenes, Perverses … Das tödliche Finale dieser wahrlich infernalischen Story, die erstmals im ame rikanischen »Magazin of Fantasy and Science Fiction« er schienen ist, läßt auch den abgebrühtesten Leser erschau ern. Sylvester lag im Sterben. Als er achthundert Pfund erreicht hatte, versagten seine Beine den Dienst. Mit zwölfhundert konnte er sich nicht einmal mehr aufsetzen. Nun wog er zweitausend. Ein ungeheurer Fettkoloß, eingeengt und kurzatmig, nackt bis auf eine alte Decke über den Wal speckhüften – so lag er Tag und Nacht flach auf dem Rüc ken und wälzte sich nur gelegentlich mühsam von einer Seite auf die andere. Er haßte sich, und er weinte, als Dr. Fletcher ihm zum Kämmen den Spiegel vorhielt. Er lag in einer tiefen, zwei mal drei Meter großen geka chelten Mulde, die sich in einer Ecke des unterirdischen Labors befand. Die Wanne war mit einem Wasserhahn und einem Abfluß versehen, und die Frau schraubte wie jeden Morgen nach dem Kämmen einen Brauseschlauch an den Wasserhahn, um ihn von seinen Exkrementen zu säubern. »A-a pfui!« lachte sie. »Macht mein Süßer stinki stinki?« 289
Dann überspülte sie ihn mit eiskaltem Wasser, bis er verzweifelt stöhnte, sie solle aufhören. Abrupt drehte sie das Wasser ab und ließ ihn liegen, naß und frierend, allein, nackt und verängstigt. Und er lag im Sterben. Er spürte, wie sein Herz unter der Last ächzte. Wie lange machte die armselige Pumpe noch mit? Einen Monat? Oder handelte es sich nur noch um Ta ge? Wenn Dr. Fletcher ihr Experiment nur abbrechen würde! Mit einer Gewalthungerkur ließ sich sein Leben vielleicht noch retten. Er flehte sie an, immer wieder, aber sie hatte inzwischen völlig den Verstand verloren, und er war wehr los – absolut wehrlos. Er wog eine runde Tonne, und das Gewicht preßte ihn nieder wie die Faust eines Riesen. Syl vester entrang seinen gequälten Lungen ein schwaches Stöhnen. »Nun, womit soll ich dich um acht Uhr füttern, mein Herzchen?« Im gleichen Maße, wie sich ihr Verstand zersetzt hatte, war ihre Stimme anders geworden – ein Singsang, der ab und zu in ein schrilles Kreischen überging. Obwohl er durch die zugeschwollenen Augen kaum etwas außer den Oberkanten der Laborwände und der olivgrünen Decke er kennen konnte, wußte er, daß sie jetzt an ihrem Schreib tisch saß, vermutlich, um den Trauermänteln, die sie letzte Nacht eingefangen hatte noch ein paar Milliliter Lowenicil lin zu entziehen. Er wartete, bis er das Klicken ihrer In strumente hörte (sie spießte die Schmetterlinge einen nach dem anderen auf ein Brett), dann antwortete er. Jedes Wort kostete ihn eine ungeheure Anstrengung. 290
»Bitte, Dr. Fletcher, ich will nicht mehr essen!« »Unsinn, mein Kleines. Um acht ist deine nächste Mahl zeit fällig.« »Ich weiß. Aber ich bin zu dick. Es bringt mich um.« »Schätzchen, du mußt artig essen! Dein Körper braucht fünfzehntausend Kalorien pro Tag.« »Aber …« Plötzlich stand sie da, über den Wannenrand gebeugt. Sie spitzte die Lippen und drohte mit dem Finger. »Liebes, du weißt, daß du um acht Uhr gefüttert wirst – ob du magst oder nicht!« Sylvester haßte dieses Wort ›füttern‹. Aber es hatte kei nen Sinn, mit ihr darüber zu streiten. Acht Monate zuvor war sie ihm als Inbegriff kühler, wissenschaftlicher Logik erschienen. Sie hatte sich einen Namen als Biochemikerin gemacht und ihn als erste Ver suchsperson für ihre Fettleibigkeitsexperimente angeheu ert. Er sollte drei Monate unter ständiger Beobachtung in einem abgelegenen Militärlabor dreißig Meilen südlich von Elko in Nevada verbringen. Sie hatte ihm erklärt, daß die täglichen Lowenicillininjektionen nicht ganz schmerzlos seien und daß er im Laufe des Experiments an die hundert dreißig Pfund zunehmen würde. Dafür bot sie Sylvester 8500 Dollar – genug Geld, um seinen Lebensunterhalt während der nächsten zwei Jahre zu sichern, so daß er in aller Ruhe seine Dissertation über die Entwicklung des Pe trarca-Sonnetts schreiben konnte. Obendrein hatte sie ihm soviel Bier versprochen, wie er nur trinken konnte. Klar, die meisten lehnten so einen Job ab. Aber er wog bereits zweihundertsechzig Pfund und kam zu dem Schluß, daß 291
eine Mastkur auf Dr. Fletchers Kosten bestimmt angeneh mer war als mühseliger Nachhilfeunterricht für achthundert Dollar pro Semester. Anfang Juni war Sylvester dann mit Dr. Fletcher nach Elko geflogen und von dort mit einem Leih-Toyota weiter zu einem Militärstützpunkt aus dem Zweiten Weltkrieg gefah ren. Die Gegend schien völlig verlassen, mit Ausnahme von ein paar Wildkaninchen und Tausenden – nein, Millio nen – von Trauermänteln. Die Schmetterlinge hingen in ganzen Klumpen an Zweigen und Dächern – Nymphen mit dunklen Schwingen, die gleich Rauchwolken aufstiegen, sobald man in ihre Nähe kam. Als Sylvester dann sah, daß Dr. Fletchers Labor in Wirklichkeit eine Waschküche im Keller einer halbverfallenen Kaserne war, und als er die Anordnung von Scheinwerfern, Schläuchen und Injekti onsnadeln über der Wanne entdeckte, da wußte er, daß er einen großen Fehler begangen hatte. Er erklärte, daß er sei ne Brille im Auto vergessen habe – er sei gleich wieder da. Dr. Fletcher zuckte nur die Achseln, aber als er sich ab wandte, in der festen Absicht, mit dem Toyota zu fliehen, spürte er einen harten Schlag am Hinterkopf, und als er wieder zu sich kam, lag er angekettet am Boden der breiten Wanne. Nun, acht Monate später – es war Februar und sehr kalt – waren die Fesseln verschwunden. Sein eigenes Gewicht hielt ihn gefangen. Der scharfe Geruch von Lowenicillin drang ihm in die Nase. Er versuchte die Augen einen Spalt zu öffnen. Die Frau beugte sich über ihn. 292
»Zeit für unsere Medizin, Knuddelchen! Komm, sei ein lieber Junge!« Sylvester knirschte mit den Zähnen und schloß die Au gen. Er wußte, was nun kam. Sekunden später bohrte sich die große Nadel in seine Bauchdecke, mitten durch das Zwerchfell wie eine Tollwutspritze – und er wimmerte los, als ihn der Schmerz überwältigte. Lange Zeit glaubte er, es nicht mehr ertragen zu können; dann erreichte das Loweni cillin die Nervenzentren, und er taumelte schwindelig und erfüllt von Übelkeit durch die schwarzen Kammern seines Gehirns. Er schien in der Leere des Raums zu schweben. Ein riesiges Stück Kirschkäsetorte glitt vorüber wie ein Asteroid. Plötzlich war er umgeben von gewaltigen Portio nen nur aller erdenklichen Leckereien: knuspriger Braten, lockere Zitronenbaisers, feurige mexikanische Salate. Dann fiel er wieder, fiel durch das Dunkel in einen dampfenden Bottich mit Bananenbrei, Kalbsbries, Schinkennudeln und Tapiokapudding. Er klammerte sich an eine gekochte Kar toffel, um nicht einzusinken, aber das Zeug zog ihn in die Tiefe wie Treibsand. Er ging schreiend unter; er erstickte in Essen. Eine widerwärtige Soße lief ihm in die Nasenlöcher, als er versuchte, den Atem anzuhalten. Er ließ sich fallen, immer tiefer, bis zum Boden seiner Kindheit. Da stand er allein, immer allein – allein, wenn die anderen spielten, einen Gedichtband in der einen, eine Tafel Schokolade in der anderen Hand. Seine Klassenkameraden rannten um her. Sie hopsten, hüpften und sprangen, sie schlugen Rad, ja, sie schienen sogar durch die Luft zu schweben wie Schmetterlinge. Wind pfiff um ihre mageren Gestalten, und die dürren Arme und Beine flappten auf und nieder. Sie 293
fegten an ihm vorbei und waren verschwunden. Er stand allein da und schluckte den Spielplatzstaub, den sie aufge wirbelt hatten. Er mußte laufen, mußte sie fangen. Er zog den Kopf ein und ballte die Fäuste vor Entschlossenheit, hob mühsam die Beine. Ihre Spottverse drangen an sein Ohr: »Dickwanst, Dickwanst – fang uns doch, wenn du kannst!
Bist kugelrund, wiegst hundert Pfund!
Mann, bist du ein blöder Hund!«
Er versuchte die Beine höher zu heben, aber das Gewicht war zu groß. Dann konnte er überhaupt nicht mehr laufen, nicht mehr gehen, sich nicht mehr rühren … »Gleich wirst du gefüttert, mein Schätzchen!« Er hob den Kopf. Langsam schüttelte er den Lowenicil lintraum ab. Die Halluzinationen, die unweigerlich auf die Injektion folgten, hielten selten länger als ein paar Minuten an. Sylvester öffnete die Augen, sah, daß sich Dr. Fletcher über ihn beugte. »Nun rate mal, was es heute Feines gibt, mein Schatz? Eine deiner Leibspeisen – Tapiokapudding! Soviel du ha ben möchtest …« Ihre Schritte entfernten sich zur Küche hin. Er versuchte vergebens, die fetten kurzen Finger zu Fäusten zu ballen. Tapioka war am schlimmsten. Sie ließ das Zeug nicht ein mal erkalten, bevor sie ihm den großen Aluminiumtrichter in den Mund schob und Tasse um Tasse einflößte. Einmal, vor einem Monat, hatte Sylvester den Aufstand geprobt. Er hatte die Zähne fest zusammengepreßt, so daß 294
sie ihm den Trichter nicht in den Mund stecken konnte. Dr. Fletcher hatte mißmutig mit den Knöcheln gegen seine Schneidezähne geklopft. Als er nicht nachgab, rammte sie ihm den Trichter mit solcher Gewalt in den Schlund, daß der Gaumen zu bluten begann. Er hatte aufgeschrien und wimmernd den Mund geöffnet. Die erste Tasse, vermischt mit seinem salzigen Blut, hatte wie ein Klumpen Froscheier geschmeckt. »Das Essen kommt!« Ihm lief es bei dem schrillen Klang ihrer Stimme vor Entsetzen kalt über den Rücken. Die Rollen des Servierwagens quietschten unter der schweren Last – ein eiserner Zwei-Gallonen-Kessel, gefüllt bis zum Rand. »Bitte, bitte nicht …« Sie beugte sich über ihn und runzelte die Stirn. Wie im mer flößte ihm ihr ausgemergeltes Gesicht Grauen ein. Die fahlgelbe Haut, die sich von den vorspringenden Backenknochen bis zum Kinn spannte, war an manchen Stellen blutig aufgekratzt. Die Frau hatte überhaupt keine Lippen, nur einen dünnen Schlitz von einem Mund. Ihre Nase erinnerte an einen Raubvogelschnabel, die Augen waren schwarze Höhlen. Der winzige Trauermantel, den sie über der linken Braue eintätowiert hatte, schien gespen stisch zu leuchten. In dünnen, ausgebleichten Strähnen um zottelte das Haar ihr Gesicht. »Ach, Knuddeichen, mußt du dich immer wie ein Baby benehmen!« Er versuchte sich aufzurichten. Plötzlich durchzuckte ein feuriger Schmerz seine Brust. Wogen der Schwärze stiegen 295
ihm heiß in den Nacken, überspülten die Angst, hüllten ihn ein, bis nur noch ein dünner Lichtstrahl in seinem Gehirn zitterte und ihn vor völliger Dunkelheit bewahrte. Endlich ließ der Schmerz nach, und die schwarze Flut verlief sich. Wußte sie, daß er im Sterben lag? Er spürte, wie sein Herzmuskel flatterte, immer schwächer arbeitete. Stöhnend öffnete er den Mund. Das kalte Aluminium berührte seine Zunge, stieß tiefer. Bitterkeit erfaßte ihn. Warum sollte er einfach so ster ben? Er wollte vorher noch etwas Böses tun, etwas Verbo tenes, Perverses. Er wollte sich an ihr rächen. Als der abscheuliche Tapiokaklumpen in seine Mund höhle floß, spie er ihr das Zeug mit aller Kraft ins Gesicht. Es klebte in dampfenden gelben Tropfen auf ihrer ausge trockneten grauen Haut. Im gleichen Moment zerriß sein Herzmuskel. »DU BÖSER BUB!« kreischte sie, während sie sich den heißen Tapiokabrei aus den Augen wischte. Ihr Gesicht schien sich schwarz zu verfärben. War es ihr Zorn? dachte er. Oder schwanden ihm die Sinne? Ihre Fäuste trommelten gegen seinen Kopf – fern und unerheblich, wie Sommerre gen auf einem Patiodach. Und noch weiter weg, so schwach, daß er es kaum wahrnahm, bohrten sich ihre spit zen Ellbogen und Knie in seinen Leib. Sie hatte sich auf ihn geworfen. In diesem Moment kam Sylvester die Erleuchtung. Er setzte zu einer letzten Bewegung an – wälzte sich langsam, aber stetig herum. Dr. Fletcher kreischte auf und versuchte den Wannen 296
rand hochzuklettern. Zu spät. Er hatte sie bereits zwischen seine Fettmassen und die Kacheln gepreßt. Sein Gewicht drückte sie tiefer und tiefer, begrub sie unter Schichten von Speck. Dann, Sekunden später, war es vorbei. Er hörte nicht mehr das halberstickte Schreien.
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Der Blinddarm – ein Fluch! von Hermann Harry Schmitz Kaum eine Literaturgeschichte erwähnt ihn, obwohl der Düsseldorfer Hermann Harry Schmitz (1880-1913) zu den wenigen bedeutenden Satirikern deutscher Zunge gehört. Er war alles andere denn eine rheinische Frohnatur. Seine grotesken Geschichten verraten ein Katastrophenbewußt sein, das nur noch von seinem feinen Gespür für makabre Situationskomik übertroffen wurde. Die Tücke des Objekts feiert in seinem Katastrophenbuch apokalyptische Urständ. Man hat mich in eine Irrenanstalt gesteckt, und ich bin doch wirklich nicht irrsinnig. Bitte, meine Herren Psychia ter, das kann ich doch wohl selbst beurteilen. Dritte reiten de Feldartilleriebrigade – Donaudampfschiffahrtsgesell schaft – Artaxerxes kann ich ohne Silbenstolpern fehlerfrei sagen. Ich meine, das genügt. – Was? Gott ja, ich gebe zu, ich war damals ein wenig heftig. Aber wer die Tragödie meines Lebens kennt, wird mich verstehen. Das Wort Blinddarm soll man in meiner Ge genwart nicht aussprechen! Dann kribbelt es mir in allen Gliedern, und ich kann verdammt unangenehm werden. Aber deswegen gehöre ich noch lange nicht in eine Irren anstalt! Ich bin ein beklagenswertes Opfer der Psychiater. Einst war ich ein Mensch, der glücklich und froh war, seine zweihundertundfünfzig Pfund wog und dessen schwerste Sorge die war, daß um Gottes willen die Poular de zu Mittag weich und köstlich und der Moselwein recht 298
spritzig war. Man nannte mich ein Faultier und einen Tagedieb. Aus Neid natürlich. Ich lebte eben ganz nach meinem Gusto. Und mein Gusto war: nichts tun, gut essen und trinken, schlafen und träumen. Wer sich das nicht leisten konnte, wurde natürlich leicht ein gehässiger Kritiker meines Le benswandels. Gott, ich hatte wirklich auch recht schwere Jahre hinter mir, wo es hieß, für das tägliche Brot zu sorgen. Das war eine üble Zeit. Pfui Teufel, wenn ich daran zurückdenke! Der Kampf ums Dasein ist mir verflucht schwergefallen. Jede Art von Betätigung war mir bei meinem angeborenen Hang zur Beschaulichkeit ein entsetzlicher Greuel. Da kam eines Tages das Glück. Meine Tante Hieronima Ameisenei in Altenbeken starb, und mir fiel aus der Erb schaft eine jährliche Rente von zehntausend Mark zu. Geld verdienen, sich abhasten, Ellenbogen benutzen: diese häßlichen Worte spielten keine Rolle mehr. Ich war frei und unabhängig. Meinen Traum von jeher, die Sehn sucht meines Lebens, mein Dasein fern vom Getriebe der Welt in süßem Nichtstun zu verbringen, sah ich erfüllt. Ich schaffte mir eine Köchin an, um die mich BrillatSavarin beneidet hätte. Herrliche Weine lagen in meinem Keller. Ich besaß ein fabelhaftes Bett und das Wunder ei nes Diwans, geräumig, mit weichen, kosenden indischen Decken belegt. Bis in den Tag hinein schlief ich. Wenn ich mich nicht den Sensationen kulinarischer Genüsse hingab, lag ich rau chend und träumend auf meinem herrlichen Diwan. Oh, ich war vollkommen glücklich zu jener Zeit! 299
Monatelang verließ ich nicht meine Behausung. Ich kam aus dem Pyjama nicht heraus. Meine Splendid Isolation von allen Störungen des All tags, von jedem Mißklang in die Harmonie meiner Tage war vollkommen. Alle wohlmeinenden Bekannten mit Ratschlägen, verdächtigen Altruismen und ehrlicher Freundesentrüstung hatte ich mir allmählich vom Halse geschafft. Man gab mich auf und sprach schlecht von mir. Was kümmerte mich das? Ich hatte den Alltag überwun den. Ich lebte das Vergessen der Miseren des Lebens. Dann platzte eines Tages mein alter Schulfreund Sebald in mein Idyll. Ich hatte ihn seit Jahren nicht gesehen. Es war gegen zwölf Uhr vormittag, ich lag noch im Bett und sann wollüstig darüber nach, welche Leckerbissen mir meine Köchin wohl heute vorsetzen würde. Sebald setzte sich ohne Umschweife an mein Bett und erzählte, er sei Arzt geworden und habe sich in dieser Stadt niedergelassen. Von alten Erinnerungen sprach er dann, leitete allmählich zu mir und meiner Lebensweise über, über die er genau informiert schien, und war auf einmal daran, mir in ernstem vorwurfsvollem Ton mein Leben vorzuhalten. Ich wurde unruhig. Diese Anzapfung paßte mir sehr we nig. Aber Sebald sprach so ehrlich und herzlich. Ich ver suchte ihm wissenschaftlich zu kommen und mein Leben im Hinweis auf die indischen Yogi zu rechtfertigen. Ich hätte die gleichen Maximen: Abrücken von dem Gehaste der Welt und allen Leidenschaften. Sichversenken in Medi tationen und ins Nirwana. Ganz ginge ich natürlich nicht mit den Indern. Asketischen Unfug, Glas und Erde essen, 300
mich mit dem Kopf nach unten aufhängen, auf nägelge spickten Brettern liegen und solche Sachen wies ich als aufgeklärter Mensch natürlich weit von mir. Ich käme ohne diese Gewaltmittel in die göttliche Trance alles Verges sens. Meine Ausführungen machten keinerlei Eindruck auf Sebald. Er schüttelte den Kopf und machte ein recht be denkliches Gesicht. Plötzlich nahm er meine Hand, fühlte den Puls und sah mir prüfend in die Augen. Ich wurde nervös. Ich entzog ihm meine Hand und bat dringend, diese Faxen zu unterlassen. Ob ich Schmerzen im Bauche hätte, in der rechten Seite, fragte er, ohne meinen ablehnenden Einwurf zu beachten. Was sollte das? Ich brauste auf. »Ich habe dich nicht konsultiert. Verschone mich mit ungewünschten Ratschlä gen. Mische dich bitte nicht in mein Leben. Außerdem fin de ich es rücksichtslos und zudringlich, mich mitten in der Nacht zu überfallen. Ich will jetzt meine Ruhe haben.« Sebald erhob, sich verletzt, zuckte mit den Achseln und sagte: »Du tust mir leid, du wirst deinen Unverstand bereu en!« Damit schickte er sich an, das Zimmer zu verlassen. An der Tür drehte er sich noch einmal um: »Wenn du mich brauchst, so telefoniere Amt III, Nummer 3145. Du wirst mich bestimmt brauchen! Adieu!« Was sollte dieser Blödsinn? Plumper Patientenfang! Ich verstand Sebald nicht, früher war er doch der ehrlichste und anständigste Mensch! Auch heute hatte sein Benehmen noch immer etwas Treuherziges. Ich fühlte mich kerngesund. Aß, trank und schlief vor züglich. Schmerzen im Bauch? Keine Spur. 301
Ich ertappte mich plötzlich dabei, wie ich schüchtern an meinem wohlgerundeten Bäuchlein herumzudrücken be gann. In der Tat, wenn ich an eine Stelle in der rechten Sei te kam, glaubte ich ein gelindes Unbehagen zu verspüren! Dummes Zeug. Es war ja auch nicht nötig, am Bauch herumzuklopfen. Dennoch kam eine eigentümliche Unruhe über mich. Das wäre ja schrecklich, wenn ich nun doch tatsächlich krank wäre, ein Leiden in mir trüge! Jetzt, wo ich alles hatte, was mein Herz sich wünschte! Zum erstenmal wollte es mir nicht so recht schmecken, zum erstenmal kam ich auf dem Diwan nicht zur träumeri schen Ruhe. Der quälende Gedanke an eine Krankheit be gann sich in mir festzusetzen. Immer wieder befühlte ich meinen Bauch, und je mehr ich untersuchte und knetete, um so mehr empfand ich dabei, nicht nur an der rechten Seite, sondern überall ausgeprägte Schmerzen. Ich fühlte den Puls, beschaute mich im Spiegel, lief aufgeregt im Zimmer umher. Mit meiner göttlichen Behaglichkeit und Sorglosigkeit war es aus. Meine Köchin war fassungslos: selbst frische Langusten und gebackene Austern ließen mich kalt. Was mochte das für eine Krankheit sein? Ich stöberte im Konversationslexikon herum und fand, daß in der rechten Seite der Blinddarm säße. Ein wahnsinniges Entsetzen packte mich. Blinddarmentzündung? Diese furchtbare Krankheit grassierte ja jetzt allenthalben und forderte un zählige Opfer. Warum sollte mich Sebald eigentlich in ei ner so ernsten Sache täuschen? Mehrere Tage verbrachte ich in qualvollen Reflexionen. Schreckliche Visionen verfolgten mich. Die herrlichsten 302
Leckerbissen ließ ich unberührt. Ich beschaute stundenlang meinen Bauch. Wenn es darin kollerte, zuckte ich jäh zu sammen. Oh, wenn ich nur Klarheit hätte! Ich konnte den grauenhaften Zustand der Ungewißheit nicht mehr ertragen und ließ an Sebald telefonieren. »Ich wußte, daß du dich melden würdest«, begann er überlegen, als er seinen Mantel ablegte. Er untersuchte mich, drückte mit seinen kalten Händen an meinem warmen Bauch herum und nickte an der Stelle in der rechten Seite ernst und bedeutsam mit dem Kopfe. Ich verging vor Angst. »Ja, ja, wie ich dachte! Schwere Blinddarmreizung! Eine Perforation ist jeden Augenblick zu befürchten! Eine sofor tige Operation ist unbedingt geboten? Du hast wohl viel Kirschen mit Steinen gegessen?« Ich hatte seit meiner Jugend keine Kirschen gegessen. »Du wirst einen Kirschkern, Emaillesplitter vom Koch topf oder ein Gummiteilchen vom Verschluß von Mineral wasserflaschen im Wurmfortsatz haben.« Ich trank seit Jahren kein Mineralwasser, und meine Kö chin kochte nur in Reinnickel. »Also, wie gesagt, da muß sofort operiert werden. Jeder Aufschub kann eine tödliche Komplikation zur Folge ha ben.« Grün und gelb wurde es mir vor Augen. Mein ganzes Empfinden lehnte sich auf gegen den Gedanken an eine Operation. Lieber dann schon eingehen, als eine solche Marter ertragen! Mein Heim verlassen? Mich in das Grau en eines Krankenhauses begeben? Niemals. Ich nahm meine ganze Kraft zusammen und schrie: 303
»Scher dich zum Teufel mit deiner Diagnose! ‘raus, ‘raus!« Sebald versuchte, mich in aller Milde und Geduld zu be ruhigen und mir das relativ Harmlose einer Blinddarmope ration, die enorme Geschicklichkeit der heutigen Chirurgen auseinanderzusetzen. Ganz behaglich sei es in einem mo dernen Krankenhaus, und nach der Methode von Professor Weichteil sei die ganze Affäre in acht Tagen erledigt. Ich hatte für nichts ein Ohr. Mit jedem Wort, das Sebald sagte, wuchs mein sinnloser Zorn. Ich sah in Sebald ledig lich den bewußten Störer meines harmonischen Daseins, den Vernichter meines Seelenfriedens, meiner göttlichen Ruhe. Wie ein wildes Tier brüllte ich auf ihn ein. Dann wurde es ihm doch zuviel. »Ich lehne jede Ver antwortung ab«, rief er. »Du tust mir leid in deiner Ver bohrtheit. Mach meinetwegen, was du willst!« Sebald warf die Tür ins Schloß und ging weg. Stundenlang kauerte ich weinend in einer Ecke und stier te vor mich hin. Oder ich irrte wie ein von Gespenstern Verfolgter durch die Wohnung. Oder es packte mich eine wahnwitzige Wut, und ich stürzte mich auf irgendeinen Gegenstand. Eingetretene Schranktüren, zerschlagene Fischgläser und Lampen, zertrümmerte Fenster, Spiegel und Vasen, abgebrochene Stuhlbeine klagten von meinem Wüten. Ich warf mich dem Alkohol in die Arme und trank Kognak aus Biergläsern. Dieser Zustand währte etwa drei Wochen. Ich hatte kei nen Kognak mehr, und meine ganze Einrichtung war zer stört. Da kam ich einen Augenblick zu mir. Das konnte so nicht weitergehen. Dieser entsetzliche Zustand führte zum 304
Wahnsinn. Dabei nahmen die Schmerzen im Bauche im mer mehr zu. Mein Eigensinn war gebrochen. Ich schrie nach Sebald. Sebald war ein guter Kerl und kam. Willenlos und ohne jeden Widerstand ließ ich mich von ihm in einer Droschke in das Krankenhaus des Herrn Pro fessor Weichteil schaffen. Mit großer Freundlichkeit empfing man mich im Kran kenhaus. Ich wurde stutzig. War das bemitleidende Güte, die man einem Aufgegebenen, einem Verlorenen entge genbrachte? Ich mußte Personalzettel ausfüllen. Die neugierigen Ru briken wollten das Unmöglichste wissen. Ob meine Amme eine gute Turnerin gewesen wäre, ob mein Großvater Schuppen auf dem Kopf gehabt hätte, ob in meiner Familie ein Neger wäre. Wildfremde Männer in weißen Mänteln kamen herbei. Sie rochen nach Äther, Karbol, Zigarren und Kognak. Ich mußte mich hinlegen, und sie tasteten mit ernsten Mienen und kalten Händen an meinem Bauch herum. Sie sprachen dann lateinisch mit bedenklichen Gesichtern. Einer klopfte mir auf die Schulter und sagte: »Nur Mut, wird schon wer den!« Ein anderer lachte mich gütig an und sagte leise: »Moribundus.« Von einem breitschulterigen Mann mit brutalen Zügen und Händen wurde ich mit rauher Unerbittlichkeit gewa schen, gebürstet, geseift. Er tat es mit dem Wohlbehagen eines sadistischen Henkers. Als er mein Zimmer betrat, hatte er ein amputiertes Bein bei sich, welches er in die Ecke stellte. Dann legte man mich in ein blütenweißes Bettchen, über 305
dem ein frommes Bild hing. Ich wurde wehmütig und weinte. Die wildfremden Männer in weißen Mänteln kamen wieder und klopften an meinem Bauch herum. Kalte Hände hatten sie noch immer. Plötzlich erschien ein langer Mann mit einem verwahr losten Vollbart, einer Brille und einer schlechtsitzenden Hose. Er war der berühmte Professor Weichteil. Die wei ßen Männer machten ihm respektvoll Platz. Er trat an mein Bett, blickte zerstreut über mich weg und fragte so obenhin: »So, das ist also die Frau mit dem Tu mor?« Vorsichtig bemerkten die Männer, ich wäre männlichen Geschlechtes. Weichteil hob ernst und stumm meine Decke auf, besah sich mein rechtes Bein und erklärte: »Ja, ja, die höchste Zeit, das Bein muß amputiert werden. Gute Nacht.« Die Männer klärten ihn unterwürfig auf, daß es sich wohl nach ihrer bescheidenen Ansicht um eine Ap pendizitis handelte. Der Professor richtete sich auf und sag te fest und bestimmt: »Dann muß der Appendix heraus!« Die weißen Männer neigten demütig, zustimmend die Häupter, und alle entfernten sich. Ich weinte die ganze Nacht. Womit hatte ich dieses gräß liche Geschick verdient? Ich war schon mehr tot wie le bendig. Am nächsten Morgen kam der Professor, gefolgt von den weißen Männern. Er untersuchte natürlich mit kalten Händen meinen Bauch und konstatierte: »Die linke Niere muß ‘raus, muß sofort ‘raus!« Ich richtete mich jammernd mit letzter Kraft auf und stöhnte: »Blinddarm, Blinddarm.« 306
Darauf fiel ich in meine Kissen zurück. Es dauerte eine Weile, bis die weißen Männer Professor Weichteil richtig informiert hatten. Er wollte die Niere nur ungern fallenlas sen. Punkt elf schob mich der Henkersknecht, der mich ge seift hatte, auf einem weiß angestrichenen Krankentrans portwagen in einen großen, hellen Saal. Hier war es scheußlich heiß, und es roch übel nach Chemikalien. An den Wänden standen hohe Glasschränke mit bösartig glän zenden Instrumenten. Eine große Zange fiel mir besonders ins Auge, sie schien mich zu fixieren und ihre Kiefer nach mir zu weiten. Ein riesiges, nach Blut schreiendes Messer ließ mich erzittern. Die weißen Männer hatten sich weiße Mützen aufgesetzt und das ganze Gesicht vermummt. Grause Furcht packte mich. Plötzlich stülpte man mir heimtückisch von hinten etwas über die Nase, ohne daß ich darum gebeten hatte. Ein wi derlich-süßlicher Geruch drang auf mich ein. Ich hörte, wie jemand neben mir sagte: »Drei Mark zwanzig habe ich ge stern im Skat verloren.« Dann noch eine andere Stimme: »War es das linke oder rechte Bein?« Ein gräßlicher Krampf schüttelte mich. Ich wollte schreien. Ich verlor das Bewußtsein. Als ich wach wurde, lag ich in meinem Bett. Eine Kran kenschwester saß neben mir und häkelte etwas, was durch das Klappern der Holzstäbchen immer länger wurde. Ich wollte fragen, ob ich tot wäre, brachte aber keinen Ton heraus. Ich schlief wieder ein. Als ich aufs neue erwachte, saß die Schwester noch immer da und häkelte. Professor Weichteil war ein unbedingter Vertreter der 307
Theorie der schnellen Heilung. Höchstens zwei Tage Bettruhe, dann aber schleunigst aufstehen. Vor allem hieß es jetzt viel Spazierengehen, Turnen, namentlich Hoch sprung schrieb er vor, schwere Lasten tragen. Sich von gu ten Boxern vor den Bauch boxen zu lassen, hielt er für vor züglich nach einer Blinddarmoperation. Alle diese Übun gen fielen mir verflucht schwer. Aber mit dem neuen Le bensmut, der sich allmählich einstellte, wuchs auch meine Energie. Wenn die Methode des Professors nur zu schnel ler Heilung beitrug, nahm ich das Unangenehme gern in Kauf. Leider sollte mir noch ein Mißgeschick passieren, das meinen Austritt aus dem Krankenhaus verzögerte. Bei ei nem Sprung aus der ersten Etage, mit einhundert Kilo schweren Gewichten in der Hand, platzte der Bauch in der Naht und die Gedärme quollen heraus. Sie hingen mir wie aufgegangene Schuhbändel auf die Füße. Ich bemerkte das Unglück erst nicht und bummelte noch durch den Stadtgar ten. Kinder machten mich dann auf die auf die Schuhe baumelnden Eingeweide aufmerksam. Ich gab ihnen saure Bonbons, wurde am gleichen Tag wieder zugenäht mit doppelter Naht und mit Stahldraht, außerdem mit Marken papier verklebt. Die Naht wurde noch, um ein übriges zu tun, mit Zigarrenkistchenbrettern vernagelt. Das hielt, und bald schon konnte ich das Hospital verlas sen. Geschwächt, aber guten Mutes und voll neuer Hoff nungen und Lebensfreude. Meine Köchin hatte meine Wohnung in der alten Heime ligkeit und Bequemlichkeit wieder hergerichtet und die ex quisitesten Zungen- und Gaumengenüsse zu meinem Emp 308
fang vorbereitet. Ich begann, die schlimmen Tage zu vergessen und an ein neues Leben in alter Beschaulichkeit zu glauben. Alles war wie einst, wie in den glücklichen Tagen vor dieser Male fizblinddarmsache. Ich fühlte mich frei und sicher. Das Damoklesschwert war beseitigt: dort war es in dem kleinen Einmachglas. Man hatte mir den Blinddarm im Kranken hause in diesem Glase mitgegeben. Ich stellte ein Leiter chen hinein. Wenn es schlechtes Wetter war, saß der Blinddarm unten, wenn es aber gutes Wetter war, saß er oben. So lebte ich mein Leben einige Wochen lang in meinen alten Gepflogenheiten, wunschlos, weltfern und glücklich. Ich lag eines Tages nach einem allzu reichlichen Mahle auf meinem Diwan. Unruhige Gedanken an meine Blind darmtragödie störten plötzlich mein Sinnieren. War ich nun wirklich gesund? Es war mir eigentlich nicht immer so, wie es hätte sein sollen. Ich fühlte mich häufig beschwert und hatte das Gefühl, daß es in meinem Bauche nicht so recht stimmte. Eine peinliche Sorge um meine Gesundheit quälte mich, die mit jedem Tag stärker wurde. Jede Indisposition geringster Art beschwor die schrecklichsten Vorstellungen und Vermutungen. Ich begann, meinen Körper auf das peinlichste zu kontrollieren. Ich abonnierte auf medizinische Fachblätter. Das hätte ich lassen sollen, es wurde mein Verderb. Denn eines Ta ges fiel mir der Aufsatz des berühmten Chirurgen Profes sors Langebühdel in Jena in die Hände, der unter Beigabe von genauen Statistiken und auf Grund dieser Zahlen nachwies, daß der Prozentsatz der Sterblichkeit unter 309
Blinddarmamputierten erheblich höher wäre als unter nor malen Menschen mit Blinddarm. Weiterhin hätte er ein wandfrei bei strenger Kontrolle und Beobachtung einer großen Anzahl von Operierten konstatiert, daß die Gehirn funktionen durch die Amputation des Appendix in starkem Maße in Mitleidenschaft gezogen würden. Er resümierte seine verblüffende Theorie: Blinddarmamputation bewirkt vorzeitige Sterblichkeit, ferner Irrsinn und in allen Fällen eine außergewöhnliche Schwächung des ganzen Organis mus. Eine Blinddarmoperation wäre ein Verbrechen an der Menschheit. Aber erbrächte auch den Unglücklichen, die sich in ihrem Unverstand hätten operieren lassen, noch Hil fe mit seiner phänomenalen Erfindung des künstlichen Blinddarmersatzes. Langebühdel setzte an Stelle des ampu tierten Darmes einen aus bestem Gummi hergestellten Blinddarm ein. Auf diese Weise würde das Gleichgewicht des Bauchorganismus wieder hergestellt und die Spannung im Nervensystem aufgehoben. Ich brach zusammen unter dieser Eröffnung. Die Sorge um mein Leben wuchs ins Ungeheuere. Eines Tages saß ich im Zuge nach Jena. Professor Lan gebühdel schilderte in den schwärzesten Farben die mir drohende Gefahr. Nach schweren inneren Kämpfen gab ich mich ihm in die Hände und ließ mir in einer komplizierten Operation einen Gummiblinddarm ›Langebühdel‹ einset zen. Sehr geschwächt, übernervös, achttausend Mark leichter, verließ ich nach einigen qualvollen Monaten die Klinik in Jena. Erst nach Monaten begann der Wille zur Beschaulichkeit 310
allmählich die schwarzen, beunruhigenden Reflexionen über meine Gesundheit mehr und mehr zu verdrängen. Ich segelte fast völlig wieder im Fahrwasser köstlicher Harmo nien. Nur selten noch griff ich zu den medizinischen Blättern. Unglücklicherweise mußte mir durch Zufall eines Tages nun doch wieder eine Nummer in die Hände fallen. Ich Unglücklicher! Ich fand einen Artikel des bekannten Ge heimrats Möhrenfeind, der als Unterleibspezialist einen anerkannten Ruf hatte. Er vertrat den gleichen Standpunkt wie Langebühdel über die gefährlichen Konsequenzen ei ner Appendixoperation, bekämpfte aber entschieden, als direkt lebensgefährlich, den Ersatz aus Gummi nach Lan gebühdel. Nur ein Ersatz aus animalischer Materie könnte in Frage kommen. Seine epochale Erfindung: ›Blinddarm ersatz aus Schafsdarm‹ wäre die Lösung dieses Problems. Die Träger von ›Langebühdel‹-Blinddärmen befänden sich in fortgesetzter Lebensgefahr durch die unbedingt eines Tages eintretende Zersetzung des Gummis. Ich warf mich vom Diwan und wälzte mich laut schrei end auf dem Boden herum. Ich flüchtete mich in das Dunkel des Kellers und ver grub mich dort in den Kohlen. So blieb ich drei Tage in Stumpfsinn und völliger Apathie. Dann löste sich plötzlich die Starre. Neue Lebensenergi en regten sich mit Gewalt. Was, jetzt sterben? In den be sten Jahren, mit einer Rente von zehntausend Mark? Hals über Kopf reiste ich, gepeinigt von schrecklichen Ängsten zum Geheimrat Möhrenfeind. Wiederum ließ ich mich überzeugen. Ich sah meine ein 311
zige Rettung und Hoffnung in einem Blinddarm aus Schafsdarm nach Möhrenfeind. Fünf Monate lag ich bei Möhrenfeind. Das kostete acht zehntausend Mark. Gealtert, abgemagert kehrte ich nach Hause zurück. Was war aus mir geworden? Was hatten die Ärzte aus einem sorglosen, glücklichen Menschen gemacht? Ein schreckli cher Haß gegen die ganze Gilde stieg in solchen grübleri schen Stunden mit Macht in mir auf, eine besondere Wut gegen meinen Schulfreund Sebald. Es kamen wohl Tage, an denen ich über köstlichen Ge richten und schönen Weinen meine Sorgen vergaß. Aber immer wieder bekam die Angst um meinen Leib die Ober hand und ließ keine harmonische Behaglichkeit aufkom men. Der Gedanke: war mein Darmersatz nun das Richti ge? quälte mich unausläßlich. Mein böses Geschick mußte mich in den Vortrag des be rühmten amerikanischen Arztes, des Professors W. C. Manhattan Cover-Coat führen. Dieses mein furchtbares Geschick, weh mir! W. C. Manhattan Cover-Coat war eine weltberühmte Appendix-Autorität. Er hatte unlängst die fünfhunderttau sendste Blinddarmamputation vorgenommen und war aus diesem Anlaß zum Ehrenvorsitzenden sämtlicher Blinden anstalten der Welt ernannt worden. Seine Vortragsreise galt einer energischen Propaganda gegen die Theorie der künstlichen Blinddärme. Die Mehrzahl sämtlicher Ärzte ständen hinter ihm. Er führte aus seiner Praxis unzweifelhafte Fälle an, wo die betreffenden Patienten dieser verrückten Erfindung zum 312
Opfer gefallen waren. Er erklärte die Vertreter und Anhän ger dieser Therapie für Mörder. Er hielte es für seine Pflicht als Mensch und Arzt, mit allen Kräften gegen ei-’ nen derartig lebensgefährlichen Irrsinn vorzugehen und das Publikum aufzuklären. Den Voreiligen, die bereits Lange bühdel oder Möhrenfeind in die Hände gefallen waren und diesen Unglücks-Blinddarmersatz mit sich herumschlepp ten, könnte er nur den Rat geben, sofort diese furchtbare Gefahr entfernen zu lassen. Eile wäre unbedingt geboten. Professor W. C. Manhattan Cover-Coat sprach eindrin gend und überzeugend. Wie ein Keulenschlag traf mich diese Eröffnung. Wie ein Blöder irrte ich zwei Tage durch die Stadt. Ich stand am Fluß mit Selbstmordgedanken. Ich ging in den Wald und aß Moos und Rinde. Ich wollte in Höhlen hausen, fand aber keine. Dann trieb mich meine Angst willenlos ins Krankenhaus von Professor Weichteil, ‘raus mit dem Schafsdarm Möh renfeinds! Im Krankenhaus war alles wie damals. Man schob mich nach den bekannten Vorbereitungen auf dem weißlackierten Krankenwagen in den noch immer ungemütlichen Operationssaal. Eine Wut quoll in mir auf gegen die Instrumente, die Ärzte, die Schwestern, die gan ze Umgebung. Das war alles medizinische Materie, und die haßte ich gründlich. Einer von den weißen Männern, der sich mit dem Pro fessor überworfen hatte und in den nächsten Tagen das Spital verlassen mußte, trat an mich heran und flüsterte mir zu, daß ich damals bei der ersten Operation überhaupt 313
nichts am Blinddarm gehabt hätte. Man hätte sich in der Diagnose geirrt. Nichts am Blinddarm gehabt? Die ganzen Aufregungen und Quälereien wegen einer falschen Diagnose dieser Ärz te? Eine sinnlose Wut, ein irrsinniger Jähzorn packte mich. Mein ganzes Leben verhunzt durch diese Nichtswisser! Ehe es sich jemand versah, sprang ich auf, packte ein großes, blitzendes Operationsmesser und erstach den Pro fessor, die weißen Männer und eine Krankenschwester. Ein armer Kranker, der, auf einem Krankenwagen lie gend, auch eine Operation erwartete, bekam in der Aufre gung mehrere Stiche mit. Es war ihm aber egal, da er taub stumm war, außerdem darüber starb. Ich zerschlug noch die Glasschränke, warf die Instru mente zum Fenster hinaus und trank alle Gläser mit Che mikalien aus. Plötzlich wurde ich von hünenhaften Krankenwärtern gepackt und überwältigt. Ich kam in das Irrenhaus, wo ich jetzt noch bin. Ich gebe, zu, ich war ein wenig nervös. Wer wäre das nicht geworden, bitte? Aber irrsinnig bin ich nicht, keines wegs, keineswegs!! Man erwähne nur das Wort ›Blinddarm‹ nicht.
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Der Zauberlehrling von Robert Bloch Robert Bloch, Jahrgang 1917, hat nie ein Hehl daraus ge macht, daß er dem Werk seines älteren Freundes H. P. Lovecraft wesentliche Anregungen verdankt. Schon früh zeigte er großes Interesse an Lovecrafts Veröffentlichungen in »Weird Tales«, wo auch seine ersten eigenen Arbeiten erschienen sind. Der große Erfolg stellte sich mit »Psycho« ein. Bloch ging nach Hollywood und schrieb Drehbücher für Film und Fernsehen. Seine Horror-Stories sind Mei sterwerke der amerikanischen, Weird Fiction. Ich wollte, Sie würden das Licht ausmachen. Es tut mir in den Augen weh. Sie brauchen den Scheinwerfer auch nicht, denn ich werde Ihnen alles erzählen, was Sie wissen wol len. Ich werde Ihnen bestimmt alles sagen – aber schalten Sie das Licht aus! Und noch etwas: Starren Sie mich bitte nicht so an. Wie kann ein Mann denken, wenn Sie alle so dicht um ihn he rumstehen und Fragen stellen. Fragen, Fragen, Fragen … Schon gut, ich bin ja ruhig, ganz ruhig. Ich wollte auch nicht schreien. Es ist nicht meine Art, aus der Rolle zu fallen. Ich bin wirklich nicht unbeherrscht. Sie wissen, daß ich keiner Fliege etwas zuleide tun kann. Was passiert ist, war nur ein Unfall. Es konnte nur ge schehen, weil ich die Macht verloren habe. Sie wissen nichts von dieser Macht nicht wahr? Sie haben noch nichts von Sadini und seiner Gabe gehört, nicht wahr? 315
Ich will Ihnen nichts vormachen, meine Herren; was ich zu sagen habe, ist die reine Wahrheit und nichts als die Wahrheit. Ich kann es beweisen, wenn Sie mir nur zuhören wollten. Am besten werde ich das Ganze von Anfang an erzählen. Wenn Sie doch nur das Licht ausmachen würden … Mein Name ist Hugo. Nein, nichts weiter, nur Hugo. So haben sie mich in dem Heim immer genannt. Seitdem ich denken kann, habe ich in diesem Heim gelebt. Die Schwe stern waren sehr nett zu mir. Die anderen Kinder haben sich häßlich und gemein verhalten. Keiner wollte mit mir spielen. Weil ich einen Buckel habe und schiele, müssen Sie wissen. Aber die Schwestern waren nett. Sie nannten mich nicht ›verrückter Hugo‹ und machten sich über mich lustig, wenn ich mir nichts merken konnte. Sie stießen mich nicht in eine Ecke und verprügelten mich. Ihretwegen habe ich nie zu weinen brauchen. Nein, keine Sorge, ich fühle mich wohl – wirklich. Es ist auch nicht so wichtig, was ich von dem Heim erzählt habe. Denn alles begann erst, nachdem ich weggelaufen war. Wissen Sie, die Schwestern sagten mir eines Tages, daß ich langsam für das Heim zu alt geworden wäre. Sie woll ten daß ich mit dem Arzt woanders hingehen sollte. Ir gendwo aufs Land. Aber Fred – das war einer von den we nigen Jungen, die mich nicht geschlagen haben – sagte mir, daß ich nicht mit dem Doktor gehen sollte. Er sagte, der Platz auf dem Lande wäre schlecht und der Doktor wäre auch schlecht. Er erzählte mir, daß die Fenster dort vergit tert wären und daß der Doktor mich an einen Tisch binden 316
und mir das Gehirn aufschneiden würde. Der Doktor würde mit meinem Gehirn Versuche machen, und ich müßte ster ben. Da habe ich gemerkt, daß mich die Schwestern auch für verrückt hielten, obwohl sie es nie laut gesagt haben. Als ich hörte, daß der Doktor am nächsten Tag kommen sollte, bin ich fortgelaufen. Ich habe mich nachts aus dem Zimmer geschlichen und bin über die hohe Mauer geklettert. Ich weiß nicht, ob Sie hören wollen, was danach ge schah. Ich meine die Zeit, als ich unter der Brücke lebte und Zeitungen verkaufte? Und im Winter war es so bitter kalt … Sadini? Ja, aber er gehört dazu. Ich meine zum Winter und zur Kälte. Denn ich wurde durch die Kälte ohnmäch tig, als ich gerade in der Straße hinter dem Theater war. Und dort fand mich Sadini. Ich kann mich noch genau an den Schnee in der Straße erinnern. Dieser eisige, eisige Schnee schlug mir ins Ge sicht. Ich dachte, ich müßte in der Kälte ersticken; und als ich versank, war ich sicher, daß alles zu Ende wäre. Als ich wieder aufwachte, befand ich mich an einem warmen Ort im Inneren des Theaters. Es war eine Gardero be. Neben mir stand ein Engel und schaute mich an. Ich hielt sie wirklich für einen Engel. Ihre langen golde nen Haare sahen wie die Saiten einer Harfe aus. Sie lächel te, als ich meine Hand danach ausstreckte. »Geht es wieder besser?« fragte sie. »Hier, trinken Sie …« Ich lag auf einer Couch, und sie hielt meinen Kopf, als sie mir etwas Warmes, Herrliches einflößte. »Wie bin ich hierhergekommen?« fragte ich. »Bin ich tot?« 317
»Ich habe es gedacht, als Victor Sie hereingeschleift hat. Aber ich glaube, daß es Ihnen jetzt viel besser geht.« »Victor?« »Victor Sadini. Sagen Sie mir nicht, daß Sie noch nie etwas von dem Großen Sadini gehört haben …« Ich schüttelte den Kopf. »Er ist Zauberer. Er ist gerade auf der Bühne. Du lieber Gott – ich muß mich ja umziehen.« Sie nahm die Tasse fort und richtete sich auf. »Ruhen Sie sich schön aus, bis ich zurückkomme.« Ich lächelte sie an. Das Reden fiel mir schwer, weil sich alles irgendwie drehte. »Wer sind Sie?« flüsterte ich. »Isobel.« »Isobel«, wiederholte ich. Es war ein hübscher Name. Ich flüsterte ihn immer wieder, bis ich einschlief. Ich weiß nicht, wie lange ich geschlafen hatte, bis ich wieder aufwachte, ich meine, bis ich wieder aufwachte und mich gesund fühlte. Zwischendurch muß ich wohl manch mal halbwach gewesen sein, denn ich sah und hörte ab und zu etwas. Einmal sah ich, wie sich ein großer Mann mit schwarzen Haaren und einem schwarzen Schnurrbart über mich beug te. Er hatte schwarze Augen und war auch ganz in Schwarz gekleidet. Ich dachte, es könnte vielleicht der Teufel sein, der mich in die Hölle schaffen wollte. Die Schwestern hat ten uns viel vom Teufel erzählt. Ich fürchtete mich so sehr, daß ich gleich wieder in Ohnmacht fiel. Ein anderes Mal drangen Stimmen zu mir. Als ich die Augen öffnete, sah ich den Mann in Schwarz und Isobel in 318
einer Ecke des Zimmers sitzen. Ich nehme an, daß sie nicht gemerkt haben, daß ich munter geworden war, denn sie unterhielten sich über mich. »Was denkst du, wie lange ich das noch mitmache, Vic?« hörte ich sie sagen. »Ich habe es satt, die Krankenschwe ster für einen heruntergekommenen Strolch zu spielen. Was willst du eigentlich mit ihm anfangen? Du weißt doch nichts über ihn.« »Wir können ihn schließlich nicht wieder in den Schnee werfen, damit er stirbt, nicht wahr?« Der Mann in Schwarz ging im Zimmer auf und ab und fuhr sich unaufhörlich mit der Hand über seinen Schnurrbart. »Sei vernünftig, Lieb ling. Du siehst doch, daß der arme Kerl halb verhungert ist. Papiere hat er auch nicht bei sich. Er ist in Not und braucht Hilfe.« »Dummes Zeug! Ruf einen Krankenwagen. Es gibt im merhin Hospitäler, oder? Du kannst wirklich nicht von mir verlangen, daß ich mich zwischen den Auftritten mit die sem räudigen –« Ich habe nicht verstanden, was sie meinte, was sie sagte. Wissen Sie, sie war so wunderschön. Ich wußte, daß sie nett sein mußte. Das war alles nur ein Irrtum. Vielleicht war ich noch zu krank, um richtig zu hören. Dann bin ich wieder eingeschlafen, und als ich aufwach te, fühlte ich mich wohl und wußte, daß ich mich getäuscht hatte. Denn sie war da, und sie lächelte mich wieder an. »Wie geht’s?« fragte sie. »Wie wäre es mit etwas zu es sen?« Ich konnte sie nur anstarren und lächeln. Sie hatte einen langen grünen Mantel an, der mit silbernen Sternen übersät 319
war. Jetzt gab es überhaupt keinen Zweifel, daß sie wirk lich ein Engel war. Dann kam der Teufel ins Zimmer. »Er ist bei Bewußtsein, Vic«, sagte Isobel. Der Teufel sah mich grinsend an. »Servus, Kamerad. Herzlich willkommen in unserer Mitte! Einen Tag lang oder so habe ich gedacht, daß wir nicht mehr lange Ihre Gesellschaft haben werden.« Ich konnte ihn nur wortlos anstarren. »Was ist los? Erschreckt Sie meine Aufmachung? Das ist auch Ihr gutes Recht, denn Sie wissen ja schließlich nicht, wer ich bin. Ich bin Victor Sadini. Der Große Sadini – Zauberkünstler, wissen Sie?« Da Isobel mich auch anlächelte, mußte wohl alles in Ordnung sein. Ich nickte. »Mein Name ist Hugo«, flüsterte ich. »Sie haben mir das Leben gerettet, nicht wahr?« »Ist schon gut. Verschieben Sie das Reden auf später. Jetzt müssen Sie erst einmal etwas essen und sich noch weiter ausruhen. Sie liegen jetzt hier seit drei Tagen auf dem Sofa, Kamerad. Sie müssen bald wieder zu Kräften kommen, denn das Programm läuft hier nur noch bis Mitt woch. Dann müssen wir nach Toledo hüpfen.« Am Mittwoch war der Vertrag zu Ende, und wir hüpften nach Toledo. Wir hüpften natürlich nicht wirklich, sondern fuhren mit dem Zug. O ja, ich war mit dabei, denn ich war Sadinis neuer Assistent. Damals wußte ich noch nicht, daß er mit dem Teufel im Bunde war. Ich hielt ihn nur für einen netten Mann, der mir das Leben gerettet hatte. Er saß in der Garderobe und er klärte mir alles. Er sagte mir, warum er sich den Schnurr 320
bart hatte wachsen lassen und warum er sich die Haare so kämmte, wie er es tat, und warum er sich immer schwarz anzog. Ich konnte mir gut vorstellen, daß das Publikum so etwas von einem Zauberer erwartete. Dann machte er mir ein paar Tricks vor. Ich staunte sehr. Es waren wundervolle Tricks mit Karten und Münzen. Dann zog er sogar Taschentücher aus meinen Ohren, und aus meinen Taschen lief wirklich und wahrhaftig farbiges Wasser. Als er Sachen verschwinden ließ, fürchtete ich mich vor ihm, aber er beruhigte mich lächelnd, daß das auch nur ein Trick wäre. Am letzten Tag durfte ich bei seinem Auftritt auf der Bühne hinter dem Vorhang stehen. Durch das kleine Loch im Vorhang konnte ich herrliche Dinge sehen. Isobel lag ausgestreckt auf einem Tisch. Dann hob er seinen Zauberstab und Isobel schwebte in der Luft. Sie schwebte. Wirklich und wahrhaftig. Sie fiel auch nicht, als er sie langsam wieder auf den Tisch sinken ließ. Sie lächel te, und das Publikum klatschte begeistert. Dann reichte ihm Isobel nacheinander verschiedene Gegenstände. Erhob sei nen Zauberstab, und die Dinge verschwanden, verwandel ten sich oder explodierten. Vor meinen Augen ließ er einen großen Baum aus einer kleinen Pflanze wachsen. Dann wi ckelte er einen kräftigen Strick um Isobel und steckte sie in eine Kiste. Er hielt eine große elektrische Stahlsäge mit scharfen Zähnen in die Höhe und verkündete, daß er sie jetzt durchsägen würde. Ich wäre beinahe auf die Bühne gestürzt, um das zu ver hindern. Aber da mich die Bühnenarbeiter festhielten und lachten, dachte ich mir, daß auch das ein Trick sein müßte. 321
Als er dann aber den elektrischen Strom einschaltete und anfing, die Kiste zu zersägen, brach mir doch der Schweiß aus sämtlichen Poren. Ich starrte auf ihren Kopf, der aus der Kiste herausragte. Er sägte sie mitten durch. Aber sie lächelte und war überhaupt nicht tot. Dann deckte er ihren Kopf zu und nahm statt der Säge wieder den Zauberstab in die Hand. Und plötzlich sprang sie aus der Kiste heraus und war wieder in einem Stück. Ich hatte noch nie so etwas Wunderbares gesehen. Ich glaube, darum habe ich mich auch entschlossen, mit den beiden zu ziehen. Nach der Vorstellung habe ich mich noch einmal bei ihm dafür bedankt, daß er mir das Leben gerettet hat. Dann sagte ich ihm, wer ich bin und daß ich nicht wüßte, wohin ich gehen sollte, und daß ich gerne für ihn umsonst arbei ten würde – egal was –, wenn ich nur mitfahren könnte. Ich sagte ihm natürlich nicht, daß ich eigentlich nur aus dem Grunde bei ihnen bleiben wollte, um immer in Isobels Nä he sein zu dürfen. Das hätte ihm wahrscheinlich gar nicht gepaßt – und ich glaube, ihr auch nicht. Ich wußte inzwi schen, daß sie seine Frau war. Es war alles reichlich wirr, was ich ihm gesagt hatte, aber er schien mich verstanden zu haben. »Das wäre vielleicht etwas für Sie«, meinte er sinnend. »Wir brauchen jemanden, der sich um meine ganzen Büh nenutensilien kümmert. Wir würden dadurch viel Zeit spa ren. Sie könnten auch immer alles auf- und abbauen.« »Papperlapapp«, schnaufte Isobel. Ich verstand nicht, was sie meinte, aber Sadini sehr wohl. Vielleicht war es eine Art Zaubersprache. 322
»Hugo ist schon in Ordnung«, murmelte er. »Ich brau che wirklich jemanden, Isobel, jemanden, auf den ich mich verlassen kann. Du verstehst schon, was ich meine.« Ihr Gesicht verfinsterte sich. »Hör einmal zu, du Schmierenkomödiant –« »Sachte, sachte, Isobel.« Ihr Gesicht glättete sich unter seinen druchdringenden Blicken, und sie versuchte ein schwaches Lächeln. »Schon gut, Vic, wie du willst. Aber vergiß nie, daß das deine fabelhafte Idee und nicht meine war.« »Abgemacht.« Sadini kam auf mich zu. »Sie kommen mit uns«, sagte er. »Ab sofort sind Sie mein Assistent.« So kam es. Und so war es lange, lange Zeit. Wir waren in Toledo, in Detroit, Indianapolis, in Chicago und Milwaukee und in St. Paul und – was weiß ich, in welchen Städten noch. Für mich waren sie alle gleich. Wenn wir mit dem Zug irgend wo ankamen, fuhren Sadini und Isobel in ein Hotel, wäh rend ich aufpaßte, wie die Gepäckwagen entladen wurden. Ich kümmerte mich darum, daß die Bühnenutensilien (wie Sadini das Gepäck nannte) sorgfältig auf einen Lastwagen geladen wurden. Der Fahrer lud die Sachen vor dem jewei ligen Theater ab, und ich schleppte sie in die Garderobe oder hinter die Bühne. Dann packte ich alles aus. Das war meine Arbeit. Ich schlief im Theater, meist in der Garderobe, und aß mit Sadini und Isobel. Das heißt, meist nur mit Sadini, denn sie schlief sehr lange. Außerdem glaube ich, daß sie sich zu Anfang mit mir geschämt hat. Ich konnte es ihr nicht einmal übelnehmen. So, wie ich mit meinem alten 323
Anzug, dem Buckel und den schielenden Augen aussah! Sadini hat mir nach einer Weile natürlich einen neuen Anzug gekauft. Er, Sadini, war gut zu mir. Er erzählte mir viel von seiner Nummer und seinen Tricks, und er redete auch viel über Isobel. Ich konnte gar nicht verstehen, wie ein so netter Mann solche Sachen über sie sagen konnte. Obwohl sie mich offensichtlich nicht leiden konnte und sich auch von Sadini fernhielt, wußte ich doch, daß sie ein Engel war. Sie war genauso schön wie die Engel auf den Bildern, die uns die Schwestern im Heim immer gezeigt hatten. Es war nur natürlich, daß sich Isobel nicht für so häßliche Leute wie mich oder Sadini, mit seinen schwarzen Augen und seinem schwarzen Schnurrbart, interessieren konnte. Ich konnte gar nicht verstehen, warum sie ihn überhaupt jemals geheiratet hatte, wo sie doch so hübsche Männer wie George Wallace finden konnte. Sie sah George Wallace immer, denn er trat auch in der Show auf, mit der wir herumreisten. Er sang und tanzte, war sehr groß und hatte blonde Haare und blaue Augen. Wenn er auftrat, stand Isobel an der Seite der Bühne und schaute ihm beim Tanzen und Singen zu. Sie unterhielten sich häufig und lachten zusammen. Und eines Tages, als Isobel sagte, sie hätte Kopfschmerzen und würde ins Hotel gehen, sah ich sie beide in George Wallaces Garderobe verschwinden. Ich hätte das vielleicht Sadini nicht erzählen sollen, aber es war mir so rausgerutscht. Er wurde sehr wütend und fragte mir die Seele aus dem Leib. Dann forderte er mich auf, den Mund zu halten und die Augen aufzusperren. Ich weiß jetzt, daß es falsch war, mich darauf einzulas 324
sen, aber damals dachte ich nur daran, daß Sadini immer so nett zu mir war, und daß ich ihm auch einmal einen Gefal len tun müßte. Ich ließ also Isobel und George Wallace nicht aus den Augen. Und eines Tages, als Sadini zwischen den Vorstellungen in die Stadt gefahren war, sah ich, wie sie wieder in Georges Garderobe verschwanden. Ich schlich mich auf Zehenspitzen zu der Tür und guckte durch das Schlüsselloch. Auf dem Gang war niemand, und darum konnte auch niemand sehen, wie ich rot wurde. Denn Isobel lag in George Wallaces Armen und küßte ihn. Dann schob er sie von sich. »Sei gescheit, Schatz, und laß uns hier nicht die Zeit vertrödeln. Wenn der Vertrag abgelaufen ist, gibt es nur noch dich und mich. Wir verduf ten und lassen uns an der Küste nieder und …« »Du hast ein sonniges Gemüt«, sagte Isobel verdrießlich. »Verglichen mit dir bin ich eine Null, Georgie-Boy, aber ich kann immerhin beurteilen, was eine gute Nummer ist und was nicht. Vic ist ein Star. Sein Auftritt ist eine Sensa tion. Du tingelst unter ›ferner liefen‹. Daran wird sich auch nichts ändern. Spaß ist Spaß, aber ich habe keine Lust, bei diesem Geschäft den kürzeren zu ziehen.« »Vic!« George Wallace schnitt eine Grimasse. »Was ist an seiner Nummer schon dran? Ein Schnurrbart und ein paar Kisten mit faulem Zauber. Das kann jeder nachma chen. Ich auch. Gib mir seinen Zauberstab und –« Er zog sie wieder an sich. »Du kennst doch weiß Gott seine gan zen Tricks. Wir – du und ich – könnten doch unsere eigene Nummer aufziehen, Baby. Der Große Wallace und Kom pagnon …« 325
»Georgie!« Sie bewegte sich so schnell, daß ich keine Zeit mehr zum Verschwinden hatte. Sie eilte zur Tür, riß sie auf – und da stand ich. »Was, zum Teufel –« George Wallace kam hinter ihr her. Als er mich sah, hol te er aus, aber Isobel hielt seine Hand zurück. »Laß das«, sagte sie scharf. »Das ist meine Angelegen heit.« Dann lächelte sie mich an, und ich wußte, daß sie mir nicht böse war. »Kommen Sie mit mir, Hugo«, sagte sie, »wir wollen uns ein wenig unterhalten.« Ich werde diese kurze Unterhaltung nie vergessen. Wir saßen ganz allein in der Garderobe. Nur Isobel und ich. Sie hielt meine Hand – ihre Hände waren so zart und weich – und schaute mir in die Augen. Ihre tiefe Stimme klang wie der Sonnenschein oder wie singende Sterne. »Sie wissen jetzt also Bescheid«, sagte sie leise. »Und darum muß ich Ihnen einfach alles erzählen. Ich – ich woll te nicht, daß Sie es jemals erfahren, Hugo – aber jetzt bleibt mir keine andere Wahl.« Ich nickte. Ich starrte auf den Tisch, weil ich nicht wag te, ihr in die Augen zu sehen. Mein Blick fiel auf Sadinis Zauberstab, den langen schwarzen Stab mit der goldenen Kuppe, die glitzerte und funkelte und meine Augen blendete. »Es stimmt, Hugo, das George Wallace und ich uns lie ben. Er will, daß ich mit ihm fortgehe.« »A-ber S-adini ist doch so ein netter Mann«, stotterte ich, »auch, wenn er s-so aussieht « »Wie aussieht?« »Nun ja – als ich ihn zum erstenmal sah, dachte ich, er 326
ist der Teufel, aber jetzt …« Es war, als würde sie tief Luft holen. »Sie haben ihn für den Teufel gehalten, Hugo?« Ich lachte verlegen. »Ja. Wissen Sie, die Schwestern ha ben mir schon gesagt, daß ich keine besondere Leuchte bin. Und weil ich oft nichts verstand, wollten sie an meinem Gehirn herumoperieren. Natürlich nicht die Schwestern. Aber das ist alles Unsinn. Ich habe alle Sinne beisammen. Sie wissen es. Ich habe Sadini nur so lange für den Teufel gehalten, bis er mir erklärt hat, daß alles nur Tricks sind und daß das gar kein echter Zauberstab wäre und daß er Sie auch nicht richtig durchsägt –« »Und das haben Sie ihm geglaubt!« Da habe ich sie angeblickt. Sie saß sehr aufrecht, und ih re Augen schimmerten. »Mein Gott, Hugo, wenn Sie nur wüßten! – Wissen Sie, ich war früher einmal genau wie Sie. Als ich ihn zum er stenmal sah, vertraute ich ihm auch. Und heute bin ich sei ne Sklavin! Und weil ich seine Sklavin bin, kann ich auch nicht fortlaufen. Ich bin seine Sklavin, genauso wie er ein Sklave des – Teufels ist!« Mir fielen vor Schreck fast die Augen aus dem Kopf. Ich bemühte mich krampfhaft, ihren so schwierigen Worten folgen zu können. »Das haben Sie nicht gewußt, nicht wahr? Sie haben ihm geglaubt, als er Ihnen erklärt hat, daß alles nur Tricks wä ren und daß er Spiegel benutzt und daß das nur eine Illusi on wäre, wenn er mich durchsägt, nicht wahr?« »Aber er benutzt doch Spiegel«, stammelte ich. »Packe ich sie nicht immer selber aus und baue sie eigenhändig für 327
ihn auf?« »Damit will er nur die Bühnenarbeiter irreführen«, flü sterte sie. »Wenn es herauskäme, daß er ein echter Zaube rer ist, würde er eingesperrt werden. Haben die Schwestern Ihnen nicht alles vom Teufel erzählt? Und daß ihm viele ihre Seele verkaufen?« »Ja, schon, aber ich dachte eigentlich immer …« »Sie glauben mir doch, Hugo, nicht wahr?« Sie ergriff wieder meine Hand und schaute mir tief in die Augen. »Wenn ich auf dem Tisch liege und er mich langsam in die Höhe gehen läßt, dann ist das keine Zauberei. Und wenn er mich in der Mitte durchsägt, dann sägt er mich wirklich durch. Darum kann ich ihm auch nicht entrinnen. Darum bin ich für immer seine Sklavin.« »Dann muß es der Teufel selber gewesen sein, der ihm den Zauberstab gegeben hat, mit dem er alle Tricks ausfüh ren kann.« Sie nickte und ließ mich nicht aus den Augen. Ich warf wieder einen Blick auf den Zauberstab. Er glit zerte immer noch. Genauso wie ihre Haare und ihre Augen. »Warum kann ich den Zauberstab nicht einfach stehlen?« Sie schüttelte heftig den Kopf. »Das würde nichts nut zen, zumindest nichts, solange er am Leben ist.« »Solange er am Leben ist«, wiederholte ich. »Wenn er allerdings – oh, Hugo, Sie müssen mir helfen! Es gibt nur einen Ausweg – und es wäre keine Sünde – nicht, wenn jemand seine Seele dem Teufel verschrieben hat. Oh, Hugo, Sie müssen mir helfen! Sie werden mir hel fen, nicht wahr?« Sie küßte mich. 328
Sie küßte mich. Wirklich und wahrhaftig! Sie legte ihre Arme um meinen Rücken, und ihr goldenes Haar umhüllte mich. Ihre Lippen waren weich und ihre Augen glänzten. Sie erklärte mir genau, was ich zu tun hatte, und sagte im mer wieder, daß es keine Sünde wäre, weil er doch seine Seele dem Teufel verkauft hätte. Außerdem würde es nie mand erfahren. Ich sagte also: Ja, ich würde es tun. Sie erklärte mir noch einmal genau, wie ich es anzustel len hätte. Und ich mußte es schwören, die Geschichte nie mals und niemandem zu verraten. Egal, was passierte. Selbst dann sollte ich schweigen, wenn etwas schiefgehen sollte und jemand Fragen an mich stellen würde. Ich schwor. Dann wartete ich. Ich wartete auf Sadinis Rückkehr. Und ich wartete, bis die Vorstellung zu Ende war und alle nach Hause gegangen waren. Als Isobel ins Hotel ging, bat sie Sadini, mir beim Zusammenräumen zu helfen, weil ich mich nicht wohlfühl te. Er war sofort dazu bereit. Es verlief alles so haargenau am Schnürchen, wie sie es mir versprochen hatte. Als wir mit dem Abbau begannen, war außer dem Nachtportier kein Mensch mehr im Haus. Und der saß in seinem kleinen Zimmer, das weit entfernt von der Bühne, direkt an der Straße lag. Während Sadini packte, ging ich auf den Gang hinaus, um mich davon zu überzeugen, daß er dunkel und ausgestorben war. Dann ging ich in die Gar derobe, wo Sadini gerade dabei war, die letzten Utensilien zusammenzulegen. Der Zauberstab lag noch unberührt da. Er glitzerte und 329
glitzerte, und ich hätte ihn für mein Leben gern einmal in die Hand genommen, um die Macht zu spüren, die der Teu fel ihm eingehaucht hatte. Aber dafür war jetzt keine Zeit. Denn ich mußte mich hinter Sadini stellen, der sich gerade über eine Kiste beugte. Und dann mußte ich das Stück Bleirohr aus der Tasche ziehen und es einmal, zweimal, dreimal auf seinen Kopf niedersausen lassen. Es gab ein abscheulich knirschendes Geräusch und dann einen dumpfen Fall, als Sadini auf dem Boden zusammen sackte. Ich brauchte ihn jetzt nur noch in die Kiste zu wuchten und – Aber da hörte ich ein anderes Geräusch! Jemand klopfte an die Tür! Als ich erstarrt stehenblieb, rüttelte dieser Jemand an der Klinke. Ich mußte den leblosen Körper schnell in eine Ecke schleifen, damit er nicht gleich zu sehen war. Aber viel Zweck hatte das nicht. Das Klopfen an der Tür wurde hef tiger. Dann hörte ich eine Stimme. »Machen Sie auf, Hugo! Ich weiß, daß Sie da sind!« Was blieb mir anderes übrig, als die Tür zu öffnen? Ich hatte nicht einmal Zeit, das Bleirohr aus der Hand zu legen. Darum versteckte ich es hinter meinem Rücken. George Wallace schoß herein. Ich glaube, er war betrunken. Wie dem auch sei, er sah je denfalls nicht sofort den am Boden liegenden Sadini, sondern starrte nur mich an und fuchtelte aufgeregt mit den Armen. »Hugo – i-ich m-m-muß mit d-dir reden.« Na schön, er war also wirklich betrunken. Die Fahne, die mir entgegen wehte, war beachtlich. Seine Stimme wurde heiser, als er 330
lallend fortfuhr: »S-sie hat es mir gesagt, Das, w-was sie vorhat. S-sie wollte mich betrunken machen – aber ich habe sie über-l-l-listet. Ich bin ihr entwischt. Ich mußte mit d-dir reden, ehe d-du Quatsch machst. S-sie wollte dich an den Galgen bringen. Haargenau. D-du solltest Sadini um die Ecke bringen. Sie wäre zur Po-liz-zei gegangen und hätte alles geleugnet. Jeder kann bestätigen, daß d-d-d-u etwas geistig minderbe-m-mittelt bist. Und wenn du auf der Polizei den Quatsch mit d-dem Teufel ge faselt hättest, hätten sie d-dich gleich dabehalten. Danach wollte s-sie die Nummer an s-sich reißen und mit mir tür men. Junge, ich m-m-mußte dich einfach warnen …« Dann sah er Sadini. Als er auf den zusammengekrümm ten Körper glotzte, schwankte er leicht, und ihm fiel der Unterkiefer herunter. Darum war es ein Kinderspiel für mich, hinter ihn zu treten und mit dem Bleirohr auf ihn einzuschlagen. Einmal, zweimal, zehnmal. Denn ich wußte, daß er gelogen hatte. Er hatte meinen Engel schlechtmachen wollen. Er sollte sie nicht haben und mit ihr weglaufen. Ich hatte das verhindern müssen. Denn ich wußte, daß er in Wirklichkeit gar nicht sie haben woll te, sondern den Zauberstab, den Stab des Teufels, der Macht verlieh. Er gehörte mir! Ich ging zum Tisch, nahm ihn in die Hand und spürte, wie mich die Macht durchrieselte. Als sie hereinkam starrte ich immer noch gebannt auf die goldene Spitze. Sie mußte ihm gefolgt sein, aber sie war zu spät ge kommen. Sie erkannte es, als sie auf seinen gespaltenen Hinterkopf starrte, der wie ein großer roter Mund grinste. Sie erstarrte zur Salzsäule. Aber ehe ich ein Wort sagen 331
konnte, sank sie ohnmächtig zu Boden. Ich stand mit dem Zauberstab in der Hand vor ihr und sah auf sie hinunter. Ich fühlte Mitleid in mir aufsteigen. Mitleid mit Sadini, der in der Hölle schmorte, Mitleid mit George Wallace, der sich dummerweise in die Angelegen heit eingemischt hatte, und Mitleid mit ihr, weil ihre gan zen Pläne gescheitert waren. Als ich wieder den Zauberstab betrachtete, kam mir ein großartiger Gedanke. Sadini war tot und George war tot – aber sie hatte ja immer noch mich. Sie fürchtete sich nicht vor mir – sie hatte mich sogar geküßt! Und ich besaß den Zauberstab. Mir gehörte das Geheim nis der Macht! Jetzt wo sie schlief, konnte ich mich leicht von der Wahrheit überzeugen. Wie sehr würde sie staunen, wenn sie wieder zu sich kommen würde! Ich könnte ihr dann sagen: »Du hast recht gehabt, Isobel, der Stab hat wirklich diese geheimnisvolle Kraft. Von jetzt an werden wir beide zusammen auftreten. Ich habe den Zauberstab – und du brauchst dich nie wieder zu fürchten. Du kannst dich darauf verlassen, daß ich es kann, denn ich habe es schon einmal getan, als du ohnmächtig warst.« Ich hatte keine Zeit zu verlieren, und nichts durchkreuzte meinen Plan. Ich trug sie auf die Bühne hinaus. Ich baute das Zubehör auf. Ich schaltete sogar die Scheinwerfer an. Es war ein eigenartiges Gefühl, alleine im Theater zu sein und sich in die Dunkelheit hinein zu verbeugen. Ich hatte Sadinis Mantel übergeworfen und schaute auf Isobel, die vor mir lag. Mit dem Zauberstab in der Hand war ich ein neuer Mensch: Hugo der Große! Ich war heute nacht, hier in diesem leeren Theater, Hugo 332
der Große. Ich wußte, was zu tun war und wie es zu tun war. Da keine Bühnenarbeiter da waren, hatte ich es auch nicht nötig, die albernen Spiegel aufzustellen. Ich fesselte sie, legte sie in die Kiste, achtete darauf, daß ihr Kopf her ausschaute, und schaltete den Strom an. Die Säge durch schnitt summend das Holz. Plötzlich öffnete sie die Augen und fing laut zu schreien an. Aber ich hatte sie gut verschnürt. Und außerdem brauchte sie wirklich keine Furcht zu haben. Ich zeigte ihr lächelnd den Zauberstab, aber sie hörte nicht auf zu schrei en. Als ich durch das Holz durch war, verstummte sie nach einem letzten gellenden Aufschrei. Die Säge färbte sich dunkelrot und tropfte von Blut. Der Anblick verursachte mir solche Übelkeit, daß ich ganz schnell den Zauberstab hob. Als ich wieder hinuntersah, war alles unverändert. Ich hob den Stab noch einmal. Und es passierte wieder nichts. Irgend etwas war schiefgegangen. In diesem Augenblick wußte ich, daß irgend etwas bei der ganzen Sache nicht funktioniert hatte. Jetzt fing ich an zu schreien. Ich schrie so lange, bis mich der Nachtportier hörte und herbeieilte; und dann ka men Sie und nahmen mich mit. Sie sehen also, es war nichts weiter als ein Unfall. Der Zauberstab funktionierte nicht. Vielleicht hat der Teufel in dem Augenblick, als Sadini starb, die Macht wieder von ihm genommen. Ich weiß es nicht. Ich weiß überhaupt nichts – nur das eine, daß ich müde bin. Würden Sie bitte die grelle Lampe ausschalten? Ich möchte schlafen … 333
Im Wasserbecken von C. F. Hoffman Charles Fenno Hoffman (1806-1884), ein bekannter ame rikanischer Autor und Herausgeber des letzten Jahrhun derts, litt unter der entsetzlichen Angst der Klaustrophobie. Spuren dieser bis zur Obsession gesteigerten Angst finden sich in der abgedruckten Kurzgeschichte. Nachdem er bei einem Duell im Hafen von New York ein Bein verloren hat te, schien ihm die Angst vor geschlossenen Räumen erst bewußt geworden zu sein. Er entwickelte eine regelrechte Reisewut, die ihn vor allem in die weiten, offenen Land schaften des Westens führte. Die Klaustrophobie indes verwirrte seinen Geist immer mehr, bis er schließlich dar an starb. Fast immer kann man an herrlichen Oktobervormittagen die bessere New Yorker Gesellschaft auf dem Dach des Wasserreservoirs beobachten. Ein oder zwei Kutschen war teten dort, und ein halbes Dutzend Mütter, dem Aussehen nach Senatorengattinnen, marschierten mir ihren Kindern entlang der Brüstung, als wir uns neulich dort in der Sonne aalten. Wir beobachteten die jungen Hechte, die am klaren Rand des dunklen Teichs entlangschwammen, und blickten dann wieder auf die abwechslungsreiche und schöne Um gebung, die sich entlang beider Ufer der zwei Flüsse er streckte. »Sie sprechen von Alpheus und Arethusa«, murmelte ein müßiger Student im zweiten Semester, »aber der Croton, 334
der einen Seearm bei Spuyton-Duyvil überschreitet und dann wieder in dieser gestutzten Pyramide sichtbar wird, schlägt das alles. Bei Gott, die Bay dort hinten ist genauso blau, wie das Ägäische Meer auf das Auge Byrons gewirkt haben muß, als er es von der Akropolis her betrachtete. Aber das gemalte Blattwerk auf diesen Klippen! Die Grie chen müssen von einem derartigen pflanzlichen Phänomen inmitten ihrer grauen Olivenhaine geträumt haben, sonst hätten sie niemals ihren Wunsch nach Buntheit in ihrer Landschaft durch die farbenprächtigen Malereien an ihren Marmortempeln ausgedrückt. – Sehen Sie, wie der Hecht dort zugrunde geht, Sir?« »Nein.« »Teufel, seine silberne Flosse blitzt über dem schwarzen Acheron wie eine ruhelose Seele, die hofft, sich aus dem Teich zu erheben.« »Dieser Ort scheint Ihre Phantasie zu beflügeln.« »Ja, wirklich, denn ich habe sehr viel darüber nachge dacht, wo der Fisch gerade zugrunde gegangen ist.« »Ein einsamer Platz zum Nachdenken – die Mitte dieses Reservoirs!« »Sie sehen so aus, als ob sie mir nicht glauben, Sir, aber es ist tatsächlich so. Man kann niemals genau sagen, wenn man nicht dazu herausgefordert wird, in welchen Situatio nen man am besten meditieren kann. Aber ich langweile Sie wohl, oder?« »Aber nein. Doch Sie scheinen diese Stelle genau zu kennen. Ich würde gern wissen, warum diese Leiter dort, die zum Wasser hinunterführt, am Steinwerk festgebunden ist.« 335
»Diese Leiter«, erwiderte der junge Mann, und sein Ge sicht leuchtete bei dieser Frage auf. »Nun, ihre Lage, viel leicht sogar ihre Existenz ist Resultat meiner Meditationen in diesem Reservoir, der Meditationen, über die Sie gerade lächelten. Soll ich Ihnen alles darüber erzählen?« »Ich bitte Sie darum.« »Nun, Sie haben das Schild gesehen, daß es verboten ist, in diesem Reservoir zu angeln. Als ich dieses Verbot las, schien es mir dadurch begründet, daß man das Trinkwasser unserer Bürger nicht mit hineingeworfenen Ködern ver schmutzen sollte. Sicherlich kennen sie die übliche Metho de, Hechte zu fangen, indem man nämlich eine Schlinge aus feinem Draht verwendet. Ich hatte mich jedenfalls ent schlossen, mit diesem Werkzeug den Burschen zu Leibe zu rücken. In einer mondhellen Nacht wollte ich mein Vorhaben ausführen. Eine Stunde, bevor das Gelände für Besucher geschlossen wurde, verbarg ich mich innerhalb der Mauern und war entschlossen, die Nacht oben auf dem Dach zu verbringen. Alles verlief wie gewünscht. Die Nacht war wolkig, doch es waren nur einzelne Wolken, die ab und zu den Mond verdeckten. Ich hatte eine Angelrute bei mir, die bis zum Wasser reichte, und wenn nötig auch noch ein paar Fuß tiefer. An dieser war der Draht befestigt, der ungefähr fünfzehn Inch lang war. Ich stand schon ziemlich lange auf der Brüstung, konnte aber keinen einzigen Fisch entdecken. Die Wolken verur sachten abwechselnd flimmerndes Licht und Schatten, so daß mein Blick dadurch sehr beeinträchtigt wurde. Ich war davon überzeugt, daß ich mein nächtliches Abenteuer völ 336
lig aufgeben müßte, falls es sich noch stärker bewölken sollte. ›Warum sollte ich nicht die abfallende Wand hinun tersteigen und so näher an die Fische herankommen? Denn nur so kann ich hoffen, einen zu erblicken.‹ Die Frage hatte in meinen Gedanken kaum Gestalt ange nommen, als ich auch schon ein Bein über das Eisengelän der schwang. Wenn Sie sich umblicken, dann werden Sie erkennen, daß ungefähr ein halbes Dutzend Gräser hier und da in den Ritzen des Mauerwerkes wachsen. In eine dieser Ritzen setzte ich meinen Fuß und begann so meinen Abstieg. Das Reservoir war voller als jetzt, und nach ein paar Kletter schritten hatte ich den Rand des Wassers erreicht. Ich klammerte mich an der Spalte über mir fest und tastete un ter mir mit dem Fuß, um einen Vorsprung zu finden. In diesem Augenblick veranlaßte mich das Platschen ei nes großen Hechtes, mich umzublicken, wobei die Wurzeln des Grasbüschels, an dem ich mich teilweise festhielt, nachgaben. Sir, in tödlicher Gefahr werden eines Men schen Sinne geschärft. So wahr ich hier sitze, ganz deutlich hörte ich die Glocken der Trinity-Kirche Mitternacht läu ten, als ich im nächsten Moment wieder an die Wasser oberfläche kam. Nun war ich in diesen Steinkessel einge schlossen, in dem ich, und nur der Himmel weiß wie lange, um mein Leben schwimmen mußte! Ich bin ein ausgezeichneter Schwimmer; dies verlieh mir natürlich ein Gefühl der Sicherheit. Als ich fiel stürzte ich von der sich neigenden Böschung fort. Ein paar Schwimm stöße brachten mich wieder an den Rand zurück. Ich be fand mich zwar noch nicht in Sicherheit, aber ich nahm an, 337
daß ich überall die abfallende Wand besteigen könnte. Schließlich war ich ganz sicher, daß es eine Stelle geben mußte, an der meine Hände einen Halt finden würden, selbst wenn ich die Wand zu guter Letzt doch nicht er klimmen könnte. Ich versuchte es zuerst an der nahegele gensten Stelle. Aber die Steigung der Wand war so lotrecht, daß ich mich nicht einmal ein wenig ausruhen konnte, als ich mich gegen sie lehnte. Ich tastete mit Händen und Füßen. Ganz sicher, dachte ich, muß es doch irgendwo eine Spalte ge ben, eine ähnliche wie die, in die das verwünschte Gras seine Wurzeln geschlagen hatte. Aber ich fand keine. Meine Finger wurden wund, als sie immer wieder über den rauhen und unfreundlichen Stein tasteten. Meine Füße glitten von der unter Wasser schlüpf rigen Mauer ab. Und verschiedene Male kam mein Gesicht in schmerzhafte Berührung mit der Wand, wenn mein Fuß genau in dem Moment wieder abglitt, in dem ich glaubte, eine Felsspalte gefunden zu haben, auf der ich stehen könn te. Sir, haben Sie jemals gesehen, wie eine Ratte in einem halbgefüllten Faß ertrank? Wie sie schwimmt und schwimmt und schwimmt, und, nachdem sie immer wieder vergeblich versucht hat, mit ihren Krallen die Wand zu er klettern, starrt sie schließlich auf den oberen Faßrand, als ob sie sich aus dem Wassergefängnis ›herausstarren‹ könn te. Ich dachte an diese armselige Kreatur, dachte daran, wie häufig ich ihre sterbenden Bemühungen beobachtet hatte, als ich ein grausamer Bengel von acht oder zehn Jahren 338
gewesen war. Jungen sind entsetzlich grausam; Jungen, Frauen und Wilde. Alle kindlichen Dinge sind grausam, grausam aus Gedankenlosigkeit und aus einer perversen Erfindungsgabe heraus, obwohl vom Instinkt her so zärt lich. Vielleicht haben Sie es noch nicht beobachtet, aber ein Wilder ist zu einem Kind genauso zärtlich wie ein Jun ge zu seinem Lieblingshund – derselbe Junge, der ein Kätz chen zu Tode quälen kann. In jenem Augenblick mußte ich an die Ratte denken, die in einem halbgefüllten Wasserfaß ertrinkt und wie sie ihren Blick nach oben richtet, wenn sie verzweifelter und verzweifelter wird. Bei diesem Gedan ken warf ich mich auf den Rücken, und so schwimmend starrte ich den Mond an. Wie auch immer man den Mond betrachtet, auf seine Weise wirkt er immer sehr schön; aber für einen Mann, der auf dem Rücken inmitten eines Steintankes schwimmt, dessen tödliche Wände fünfzehn oder zwanzig Fuß zu allen Seiten senkrecht hochragen, ist sein Aussehen von ganz besonderer Art.« (Bei diesen Worten lächelte der junge Mann bitter und schauderte ein wenig zusammen, bevor er schließlich wei tererzählte.) »Als ich das Himmelsgestirn zum letztenmal mit einer Gefühlsregung betrachtet hatte, war gerade ab nehmender Mond. Mary war bei mir; ich hatte sie eines Morgens mit hierher herausgebracht, damit sie einmal den Blick vom Reservoir aus genießen konnte. Sie sagte sehr wenig über die Aussicht, doch als wir über alte kindische Liebschaften sprachen, bemerkte ich, daß ihre frischen Ge sichtszüge mit zärtlichen Erinnerungen an die Vergangen heit behaftet waren, und ich war zufrieden. 339
Über der Landschaft lag damals ein dicker, goldener Schleier, und während sich meine Stimmung in dieser sinn lichen Atmosphäre hob, deutete sie auf den leuchtenden Himmelskörper, wie ein kaum erkennbarer Einschnitt am Himmelsgewölbe wahrnehmbar, und fragte mich, wie lan ge es noch dauern würde, bis die Blätter fielen. Merkwür diges Mädchen! Wollte sie meine freudige Stimmung rü gen, als ob wir kein Recht darauf hätten, glücklich zu sein, während sich die Natur in ihrem Glänze darbot und der kränkliche Mond sich im Mittagslicht verzehrte, als ob all dies nur dazu wäre, uns an die Vergänglichkeit aller Dinge zu erinnern. ›Sie werden sich wieder erneuern‹, sagte ich tröstend zu Mary. ›Und es gibt Einen, der durch alle Jah reszeiten hindurch ein Stelldichein mit dir und der Natur hat, wenn du nur einem von uns treu und wie jetzt ein Kind der Natur bleibst.‹ Tränen traten in ihre Augen; als sie nach einem Taschentuch in ihrer Tasche suchte, erinnerte sie sich an eine Einladung zur Vorführung von Miss Lawsons neuen Herbsthüten, die um zwei Uhr stattfinden sollte! Und an sie, meine wilde, liebe, unberechenbare Mary, dachte ich jetzt. Sicher sind Sie schon über so etwas weit hinaus, Sir. Aber als ich jetzt den Mond betrachtete und auf dem Rücken in seinem gelben Licht schwamm, dachte ich an das gleiche Wesen, dessen Tränen fließen würden, wenn sie von meinem grotesken, doch auch grausamen Schicksal erfuhr. Und wie häufig haben wir über den Schäfer gesprochen, der die feuchten Nächte auf den Hügeln verbrachte und genau wie jetzt ich den scheinenden Mond betrachtete. Wer wird mit ihr bei diesem alten Aberglauben lustig sein? 340
Wer aus unseren Wäldern ohne Legenden wird ihre bis jetzt noch unentdeckten heimsuchenden Geister erwecken? Wer wird mit ihr in forschender Wißbegier die Gesetze der Natur erkunden und das Flüstern von Geschichten aus den Kehlen der stimmlosen Materie hören? Wer lacht fröhlich über die dummen Gedanken von Kleingeistern, die niemals mit der Unendlichkeit der Natur durch eine erschöpfende und alles umarmende Liebe verschmolzen sind, so wie wir es taten? Armes Mädchen! Sie wird niemals wieder einen Gefährten haben! Ah! Für immer ohne Gefährten – bis auf die erregenden Momente einer kurzen Liebelei. Von nun an wird sie leben und die Herzen anderer mit den Schätzen der Liebe füllen, die sie von mir erlernt hat, und dann wird sie, wie Pygma lion, stolz auf die Verkörperungen werden, in die sie eine Gottähnlichkeit hineingelegt hat, bis diese das Geheimnis zurückzuatmen scheinen, was die Seele in Wahrheit nur von einem einzigen erfahren kann. Wie wird sie befürchten, daß der Leichenbeschauer eines ihrer Briefchen in meinen Taschen finden wird. Eiskaltes Schaudern erfüllte mich bei dem Gedanken, wenn ich an den Leichenbeschauer dachte, aber auch deswegen, da Ma ry jetzt meinetwegen Trauer tragen müßte, sollte unsere Verlobung auf diese Weise aufgedeckt werden. Für ein neunzehnjähriges Mädchen ist es nicht gerade schön, zu Beginn ihres zweiten Winters in der Hauptstadt um einen Dahingeschiedenen zu trauern. Das Wasser, wie auch meine bewegungslose Haltung, muß etwas mit meinem Gefühl der Eiseskälte zu tun gehabt haben. Ich glaube, Sie denken, Sir, daß ich meine Ge 341
schichte mit zu großer Leichtfertigkeit erzähle; aber tat sächlich würde ich wahrscheinlich wahnsinnig werden, wenn ich es wagte, mich in die entsetzlichen Gefühle jener Nacht zu vertiefen. Doch ich glaube wirklich, daß ich die meiste Zeit vor Entsetzen außer mir gewesen bin, denn die pulsierenden Gedanken, von denen ich gerade berichtet habe, zermarterten mein Hirn. Aber als ich jetzt langsam wieder ruhiger wurde, riß ich mich zu einer vernünftigen Handlung zusammen. Ich werde an der Ecke beginnen, sagte ich mir, und schwimme die gesamte Einfassung entlang. Ich werde langsam schwimmen und dabei mit den Füßen die Seiten des Reservoirs abtasten. Wenn ich schon sterben muß, dann möchte ich wenigstens bei einer zielgerichteten, wenn auch erschöpfenden Handlung verenden und nicht in blo ßer Untätigkeit beim Warten darauf, bis der Morgen Er leichterung bringen wird, untergehen. Als ich langsam an den Wänden dieses Gefängnisses entlangschwamm, schienen sie immer höher aufzuragen. Aber trotzdem konnte es nicht völlig unmöglich sein, sie zu erklimmen. Während ich meine Kreise schwamm, hatte ich die verschiedensten Gefühle. Schwamm ich im Schatten, so schien es mir drüben im Mondlicht doch angenehmer zu sein. Schwamm ich im Mondlicht, hatte ich die Hoffnung, etwas zu entdecken, wenn ich wieder im Schatten schwamm. Dort, wo sich diese kleinen Wellen treffen, leg te ich mich mehrere Male auf den Rücken, um mich auszu ruhen. Vom Grunde dieses Brunnens her erschienen mir die Sterne ungeheuer glänzend. Sie waren richtige Gefähr ten. In ihrem glänzenden Fest wirkten sie so froh. Und sie 342
hatten so viel Raum, in dem sie sich bewegen konnten. Ich dagegen war allein, bis zur Verzweiflung traurig, in einem fremden Element eingeschlossen und ein einsamer Be trachter ihres verhöhnenden Gesanges. Denn es gab nichts anderes, mit dem ich Zwiesprache halten konnte. Ich drehte mich wieder auf die Brust und vollführte hek tische Schwimmzüge. Die Sterne waren vergessen, der Mond, die ganze Welt, von der auch ich bislang einen Teil gebildet hatte, meine arme Mary – all das war vergessen. Ich dachte nur an den starken Mann, der hier verenden soll te, an mich in meiner starken Männlichkeit, an die starke Lebenskraft meiner aufgehenden Blütezeit, mit unbegrenz ten Möglichkeiten, mit überwachen Sinnen kämpfend, hier mit physischen Hindernissen, die Menschen wie meines gleichen den Untergang gebracht hatten. Dies konnte der Ewige niemals gutheißen! So konnte und würde ich nicht verenden! Mit dieser Überheblichkeit meines Selbstver trauens wurde ich wieder stark und lachte laut auf, als ich auf das Wasser einschlug. Dann stellte sich ein Gefühl des Selbstmitleides ein – ei ner wilden, wilden Reue, des unendlichen Kummers über ein so fürchterliches Schicksal, über eine so schreckliche und herzzerreißende Bestimmung. Wenn Sie wollen, dann lachen Sie über den Widerspruch, Sir, aber ich hatte das Gefühl, daß ich in jenem Moment mein eigenes Leben op fern würde, um einen anderen Zeitgenossen von solch ei nem Ort des Grauens, von so einem traurigen Ende zu erlö sen. In diesem Augenblick schienen sich meine Seele und mein Lebensgeist zu trennen, während abwechselnd ein Teil über das bedauerliche Ende des anderen trauerte. 343
Ich betete, warum oder wofür, weiß ich nicht mehr. Nicht aus Furcht betete ich. Es konnte auch nicht aus Hoff nung sein. Die Tage der Wunder gehören schon lange der Vergangenheit an, und es existierte kein Naturgesetz, durch dessen göttliches Eingreifen ich gerettet werden konnte. Es war nicht ich, der betete: meine Seele betete von sich aus! War die Ruhe, die ich jetzt verspürte, Trägheit? Die Trägheit, die der Erschöpfung eines guten Schwimmers vorausgeht, der vor Auszehrung untergeht und zuletzt den Wellen noch eine Luftblase hinzufügen muß, wenn er unter den Elementen erstickt, die jetzt seine Herrschaft verleug nen? Wenn es so war, welches Glück hatte ich, daß gerade zu diesem Augenblick die Angelrute meine Aufmerksam keit erregte, als sie an mir vorbeiglitt. Im gleichen Augen blick erkannte ich, daß sich ein Fisch in der Drahtschlinge verfangen hatte. Die Rute zitterte, tauchte unter, kam wie der an die Wasseroberfläche und kräuselte das Wasser, als sie wie ein Pfeil von einer Seite des Tankes auf die andere schoß. Schließlich, als sie auf die südliche Ecke des Reser voirs zugetrieben war, schien sich irgendwo das kleine En de verhakt zu haben. Der Messinggriff wurde jedesmal, wenn der Fisch tauchte, zum Mond hochgeschleudert, dann sank er wieder auf Grund seines eigenen Gewichtes, wor aus ich schloß, daß das andere Ende irgendwo festsitzen mußte. Aber der gefangene Fisch, der offensichtlich von der kurzen Drahtschlinge festgehalten wurde, kam mehr mals wieder an die Wasseroberfläche, bevor ich daran dachte, diese Stelle zu suchen. Jetzt ist der Wasserspiegel niedrig und das Wasser ist ei nigermaßen klar. Dort drüben können Sie diesen Sims se 344
hen, Sir, in jener Ecke; daran hatte sich meine Rute ver hakt, als ich den Hecht mit der Hand fing. Ich ließ ihn nicht aus der Drahtschlinge, aber als ich auf dem Sims stand, bediente ich die Angelrute wie ein Berufsangler, als ich den schweren Hecht mit einem Wurf über die eiserne Brü stung schleuderte. Wie ich Ihnen schon sagte, reichte die Angelrute von der Brüstung bis hinunter zum Wasser. Es war eine schwere, starke Barschangel, die ich mir im Büro des ›Spirit of the Times‹ ausgeliehen hatte. Und als ich he rausgefunden hatte, daß der Fisch hinter der Brüstung ge nügend Halt gab, so daß die Angelschnur nicht vom Ge länder abgleiten konnte, um das es sich bei meinem Wurf geschlungen hatte, war es nicht mehr schwer für mich, mit dieser Unterstützung die Mauer zu erklimmen. Die Leiter, die Sie bemerkt haben, ist genau an der Stelle gegen das Eisengeländer gelehnt, an der mir meine Flucht gelang. Und aus Angst vor einem ähnlichen Vorfall haben sie auch eine Leiter an die entsprechende Stelle des anderen Teils des Reservoirs gestellt.« Das hier Berichtete haben wir wörtlich wiedergegeben, so wie es uns ein flüchtiger Bekannter erzählt hat. Obwohl wir in starker Versuchung waren, sie nach dem phantasti schen Stil eines berühmten deutschen Namensvetters ein wenig aufzuarbeiten, so haben wir es doch vorgezogen, daß der Leser sie in ihrer amerikanischen Einfachheit lesen soll.
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Im Kloster Sainte-Marie-des-Bois von Marquis de Sade Der Marquis Donatien-Alphonse-Frangoise de Sade (1740-1814) entstammte einer angesehenen provencali schen Adelsfamilie, wurde Kavallerieoffizier und führte ein derart ausschweifendes Leben, daß man ihn für lange Zeit in die Bastille und schließlich ins Irrenhaus verbannte. Während seiner Haft begann er zu schreiben; mit dersel ben Besessenheit, mit der er sich seinen Ausschweifungen hingegeben hatte. Es entstand ein Werk, das sich wie eine Enzyklopädie des Bösen liest. Die Schwarze Romantik des 19. Jahrhunderts und darüber hinaus steht ganz im Zei chen des »Göttlichen Marquis«, dessen literarischer Rang heute unumstritten ist. Der Roman »Justine«, dem der vor liegende Ausschnitt entnommen ist, erschien im Jahre 1797. Zu diesem Zeitpunkt zählte ich zweiundzwanzig Jahre; ich war kräftig, wenn ich auch zart, ja dünn aussah. Mein Ge sicht wurde zu meinem größten Leidwesen allzuoft geprie sen. Die Tugend, die mir bisher immer nur Schaden ge bracht hatte, tröstete mich doch innerlich. Ich gab die Hoffnung nicht auf, daß die Vorsehung sie endlich einmal ein bißchen belohnen würde, oder mich wenigstens nicht mehr so viel leiden ließ. Erfüllt von neuer Hoffnung und frischem Mut, folgte ich dem Weg bis Sens. Meine Füße waren wundgelaufen und ich hatte heftige Schmerzen zu ertragen. So faßte ich den 346
Entschluß, mir einige Tage der Ruhe zu gönnen. Diesmal wagte ich nicht mehr, jemand zu erzählen, woran ich litt. Ich erinnerte mich der Arzneien, die Rodin für ähnliche Wunden anzuwenden pflegte, kaufte dieselben und behan delte mich selbst. Eine Woche Ruhe schenkte mir meine Gesundheit völlig wieder. Vielleicht hätte ich in Sens eine Stelle finden können, aber ich war von dem Bedürfnis durchdrungen, mich weiter zu entfernen. Ich erkundigte mich nicht einmal nach einer Beschäftigung, sondern wan derte in der Absicht, davon, mein Glück in der Dauphine zu versuchen. In meiner Kindheit hatte ich viel von diesem Land gehört; ich bildete mir oft ein, dort sei das Glück da heim. Sie werden sogleich sehen, wie es mir dort erging. Niemals im Leben haben mich meine religiösen Emp findungen verlassen. Ich verachtete die eitlen Sophismen der belesene Geister; ich hielt sie stets eher für eine Folge der Ausschweifungen als für die Frucht einer echten Über zeugung. Dagegen baute ich auf mein Gewissen und mein Herz; sie waren immer für Argumente und Antworten zur Hand. Manchmal war ich durch mein unglückliches Ge schick gehindert worden, meine religiösen Pflichten zu er füllen; ich holte aber alles wieder nach, sobald sich mir ei ne Gelegenheit dazu bot. Am 7. Juni war ich nach Auxerre abgereist; nie werde ich diese Zeit vergessen. Ich lief ungefähr zwei Meilen, dann spürte ich allmählich die Hitze. Ich beschloß, auf ei nen niederen Hügel zu klettern, der mit einem kleinen Wald bedeckt war. Er lag ein wenig abseits vom Weg. Ich wollte dort den Schatten genießen und einige Stunden schlafen. Auf solche Weise konnte ich ungleich billiger als 347
in einer Herberge der Ruhe pflegen; abgesehen davon, auch in viel größerer Sicherheit als am Rande der Land straße. Ich kletterte also hinauf und setze mich unter eine Eiche. Nach einem leichtbekömmlichen Frühstück, das aus einer Scheibe Brot und einem Schluck Wasser bestand, gab ich mich dem erquickenden Schlummer hin. Ungefähr zwei Stunden dürfte ich in völliger Ruhe geschlafen haben. Als ich erwachte, bereitete es mir eine reine Freude, die Land schaft, die sich vor mir ausdehnte, zu betrachten. Links vom Weg, in der Mitte eines Waldes, der am Horizont ver dämmerte, glaubte ich in schätzungsweise drei Meilen Ent fernung einen bescheidenen Kirchturm zu erblicken. Was für eine tröstliche Einsamkeit, dachte ich, wie sehr ich die Menschen dort drüben beneide! Wahrscheinlich wohnen dort einige Schwestern oder vielleicht einige Ein siedler, die sich ganz der Religion widmen. Sie leben weit entfernt von der bösen Gesellschaft, in der das Verbrechen ununterbrochen mit der Unschuld kämpft und immer tri umphiert. Es kann kein Zweifel bestehen, daß dort alle Tu genden zu Hause sind. Ich war noch immer in derartige Gedanken vertieft, als ein junges Mädchen in meinem Alter, das eine Herde Scha fe vor sich her trieb, in meinem Blickfeld erschien. Ich er kundigte mich bei ihr nach dem Namen der Kirche. Sie er zählte mir bereitwillig, es handle sich um ein Kloster, in dem vier Eremiten hausten, die durch ihre Frömmigkeit, Keuschheit und Mäßigkeit in weitem Umkreis Ansehen, ja Berühmtheit, genossen. »Wir Bewohner der Umgegend gehen einmal im Jahr 348
dorthin«, sagte das Mädchen. »Wir veranstalten eine Wall fahrt zu dem dortigen Heiligtum der himmlischen Jungfrau, von der jeder fromme Pilger alles erbitten kann, was ihm nottut.« In mir stieg sofort der Wunsch auf, auch zu der Mutter Gottes zu wallfahrten, um Hilfe zu erflehen; also fragte ich das Mädchen, ob es mit mir kommen wolle. Sie antwortete, daß dies leider unmöglich sei, doch sei der Weg zum Klo ster leicht zu finden. Sie zeigte ihn mir sogleich und versi cherte mir, daß der Mönch, der den Posten des Pater Guar dian bekleide, ein besonders ehrwürdiger und heiligmäßi ger Mann, mich gewiß herzlich empfangen würde. Er biete mir sicherlich sogar seine Hilfe an, falls ich irgendwelche Not litte. »Man nennt ihn den heiligen Pater Raphael«, fuhr das Mädchen fort, »er ist an sich italienischer Herkunft, aber er hat immer schon in Frankreich gelebt. Die Einsamkeit hier gefällt ihm so gut, daß er mehrere günstige Angebote des Papstes abgelehnt haben soll. Es ist ein Mann aus guter Familie, mild, hilfsbereit, voll heiligem Eifer und Fröm migkeit. Er wird ungefähr fünfzig Jahre alt sein; alle Leute hierzulande betrachten ihn als einen Heiligen. Die Erzählung der Schafhirtin hatte meinen Wunsch noch verstärkt. Ich wollte nun unbedingt eine Wallfahrt zu diesem Kloster unternehmen und durch Gebet und Buße alle meine Fehler, deren ich mich schuldig gemacht hatte, sühnen. Obwohl ich selbst wahrlich arm war, schenkte ich dem Mädchen eine Münze und begab mich dann auf den Weg nach Sainte Marie desBois; so hieß nämlich das Klo ster. 349
Als ich mich wieder auf der Ebene befand, konnte ich den Turm nicht mehr erblicken. Nur der Wald diente mir zur Orientierung. Ich hatte gar nicht danach gefragt, wie weit entfernt das Kloster war. Ich mußte bald erkennen, daß es ein gehöriges Stück weiter weg lag, als ich ange nommen hatte. Aber nichts konnte mir den Mut schmälern. Ich erreichte endlich den Wald; da es noch ziemlich hell war, faßte ich den Entschluß hineinzuwandern, wobei mich die Hoffnung erfüllte, vor der Dunkelheit noch das Kloster zu erreichen. Ich konnte aber keinerlei menschliche Spuren entdecken, kein einziges Haus, nichts dergleichen. Als Weg diente mir ein Pfad, der nicht gerade häufig benutzt zu werden schien. Ich schlug ihn aufs Geradewohl ein. Schon war ich an die fünf Meilen gelaufen – und ich hat te höchstens mit drei gerechnet. Ich sah immer noch kein Ziel vor mir. Die Sonne war schon im Untergehen, als ich plötzlich eine Glocke läuten hörte, wohl nicht mehr als eine Meile von mir entfernt. Ich schritt geschwind in die Rich tung der Töne, und nach einer Stunde Wegs konnte ich endlich eine Hecke erblicken, hinter der sich das Kloster erhob. Es gibt nichts Wilderes als diese Einsamkeit; kein Haus war weit und breit zu sehen. Die nächste Siedlung mußte rund sechs Meilen entfernt liegen. Ringsumher er streckte sich mehr als drei Meilen dichter Wald. Das Klo ster selbst befand sich in der Tiefe eines Tales; ich mußte lange hinabsteigen, um dorthin zu gelangen. Aus diesem Grund hatte ich auch den Kirchturm nicht mehr sehen kön nen, sobald ich mich auf der Ebene befand. Die Hütte eines Laienbruders, der wohl der Gärtner war, lehnte sich gegen die Mauer. Man mußte dort anklopfen, ehe man ins Kloster 350
hineinging. Ich fragte diesen frommen Einsiedler, ob es erlaubt sei, mit dem Pater zu sprechen. Er fragte, was ich von diesem wolle. Ich deutete ihm an, daß es sich um die Erfüllung einer religiösen Pflicht handle. Ein Gelübde hätte mich in diese Einsamkeit geführt; ich würde gewiß Trost in all meinen Leiden empfangen, wenn ich mich zu Füßen der Heiligen Jungfrau, deren wunderbare Statue in diesem Haus beherbergt werde, werfen könne. Auch würde ich von dem frommen Seelsorger einen seelenstärkenden Zuspruch erhoffen. Der Bruder bot mir an, in seiner Hütte für ein Weilchen auszuruhen. Er ging sofort ins Kloster. Da die Dunkelheit bereits angebrochen sei, wären die Mönche, wie er sagte, beim Nachtmahl. Er brauchte geraume Zeit, ehe er zurück kehrte. In seiner Begleitung befand sich ein zweiter Mönch. »Hier ist Pater Klemens, Mademoiselle«, wandte sich der Laienbruder an mich, »er ist Pater des Hauses. Er möchte sich selbst davon überzeugen, ob es sich lohnt, den Pater Guardian zu rufen.« Pater Klemens war ein Mann von ungefähr fünfundvier zig Jahren, riesig groß, gewaltig dick, mit düster glimmen den Augen. Seine barsche Stimme versetzte mich eher in Zittern und Beben anstatt mich zu trösten. Gegen dieses unwillkürliche Zittern, das sich meiner bemächtigte, ver mochte ich mich nicht zu wehren. Die Erinnerung an alle meine einstigen Mißgeschicke kehrte mit der Gewalt eines Überfalls wieder. »Was wollen Sie?« fragte mich der Mönch in ziemlich hartem Ton. »Ist das die rechte Zeit, um eine Kirche zu be 351
treten? Sie sehen mir ganz nach einer Abenteurerin aus!« »Frommer Mann«, erwiderte ich und verbeugte mich tief, »ich glaubte, es wäre immer die rechte Zeit, um das Haus Gottes zu betreten. Ich komme von weither, angetrie ben von Inbrunst und Frömmigkeit; ich möchte bei Ihnen beichten, wenn das irgendwie möglich ist. Wenn mein Ge wissen sich Ihnen eröffnet hat, werden Sie beurteilen kön nen, ob ich würdig bin, vor der wunderbaren Statue, die Sie in ihrem geheiligten Haus aufbewahren, zu knien.« »Aber jetzt ist keine geeignete Stunde, um zu beichten«, entgegnete der Mönch, anscheinend etwas besänftigt. »Wo wollen Sie die Nacht verbringen? Wir haben keinen Platz, um Sie zu beherbergen. Es wäre besser, wenn Sie erst mor gen kämen.« Daraufhin nannte ich eine Reihe von Gründen, die mich daran hindern würden. Ohne etwas Weiteres zu sagen, be gab er sich zum Pater Guardian. Einige Minuten später hör te ich, wie die Kirche geöffnet wurde. Der Pater Guardian selbst kam mir entgegen, sogar bis in die Hütte des Gärt ners. Er lud mich ein, mit ihm in die Kirche hineinzugehen. Es dürfte am besten sein, wenn ich Ihnen diesen Pater Ra phael sogleich beschreibe. Er mußte wohl so alt sein, wie man mir gesagt hatte, aber auf den ersten Blick hin hätte man ihm keine vierzig Jahre angesehen. Er war schlank und ziemlich groß; seine Gesichtszüge drückten Sanftmut aus und schienen von Geist geprägt zu sein. Er sprach sehr gut französisch, wenn auch mit einem ausländischen Ak zent; im übrigen wirkte er ein wenig gekünstelt und affekt hascherisch – was nicht verwunderlich war, denn sein In neres war grausam und brutal, wovon Sie sich bald über 352
zeugen können. »Mein Kind«, sprach der besagte Mönch in mildem Ton, »obzwar diese Stunde völlig ungeeignet dafür ist und wir auch nicht die Gewohnheit haben, Leute so spät zu emp fangen, werde ich Ihnen trotzdem die Beichte abnehmen. Nachher werden wir sehen, ob sich uns die Möglichkeit bietet, daß Sie hier die Nacht anständig verbringen; morgen früh können Sie dann unsere heilige Statue begrüßen.« Nachdem er das gesagt hatte, ließ der Mönch einige Lampen in der Nähe des Beichtstuhls anzünden, befahl mir, hineinzugehen und schickte den Laienbruder fort. Er schloß eigenhändig alle Türen. Dann ermutigte er mich, ihm meine Sünden mit aller Offenheit anzuvertrauen. Ich hatte mich inzwischen vollständig von dem Schrecken er holt, den mir Pater Klemens eingejagt hatte. Ich kniete mich zu Füßen dieses milden Seelsorgers hin und vertraute mich ihm ganz an. Mit meiner gewöhnlichen Naivität und Vertrauensseligkeit erzählte ich ihm alles, was mich betraf. Ich gestand ihm alle meine Sünden, ich schilderte ihm mein ganzes Unglück. Ich vergaß nichts, nicht einmal das schandbare Kennzeichen, mit dem mich der scheußliche Rodin gebrandmarkt hatte. Pater Raphael lauschte mir mit der größten Aufmerk samkeit; er ließ mich sogar manche Einzelheiten wiederho len und zeigte großes Mitleid und warmes Interesse. Seine Hauptfragen betrafen folgende Punkte: Erstens: Ob es stimme, daß ich ein Waisenkind sei und aus Paris komme. Zweitens: Ob es sicher sei, daß ich keine Verwandten, Freunde oder Gönner habe, an die ich mich gegebenenfalls 353
wenden könne. Drittens: Ob ich nur der Schafhirtin meinen Wunsch an vertraut habe, zum Kloster zu pilgern und ob ich nicht mit ihr vereinbart habe, sie wieder zu treffen. Viertens: Ob es stimme, daß ich Jungfrau sei und erst zweiundzwanzig Jahre alt. Fünftens: Ob es ganz sicher sei, daß mir niemand gefolgt wäre und niemand mich ins Kloster hineingehen gesehen hatte. Nachdem ich seine Fragen befriedigend beantwortet hat te – völlig arglos, wie ich leider war – sagte der Mönch, während er sich erhob: »Nun gut; kommen Sie mein Kind.« Dabei nahm er mich an der Hand. »Es ist zu spät, um heute noch die Hei lige Jungfrau zu begrüßen. Ich werde Ihnen die große Freude zuteil werden lassen, morgen vor der Statue die hei lige Kommunion empfangen zu dürfen. Jetzt aber müssen wir überlegen, wo Sie heute abend essen und schlafen kön nen.« Mit diesen Worten führte er mich zur Sakristei. »Warum soll ich denn«, fragte ich mit einer geheimen Unruhe, die ich nicht unterdrücken konnte, »ins Innere des Hauses kommen, Pater?« »Wohin denn sonst, reizende Wallfahrerin?« antwortete der Mönch und schloß eine der Türen zum Kloster auf, die aus der Sakristei hinausführten; »haben Sie vielleicht Angst, die Nacht mit vier Mönchen zu verbringen? Sie werden schon sehen, mein Engel, wir sind nicht so bigott, wie wir nach außen hin scheinen; wir können durchaus un sere Freude an einem schönen Mädchen haben!« 354
Diese Worte ließen mir einen kalten Schauer über den Rücken rieseln. »Gerechter Himmel«, sprach ich in mei nem Herzen, »soll ich nochmals das Opfer meiner guten Neigungen werden? Wird mein Verlangen, mir am Aller heiligsten der Religion Kraft zu holen, durch einen Verbre cher vereitelt werden?« Indessen schritten wir weiter in die Dunkelheit hinein. Am Ende eines Ganges kam endlich eine Treppe; der Mönch forderte mich auf, vorauszugehen. Er bemerkte wohl, daß ich es nur widerstrebend tat, denn er änderte sofort sein ganzes Verhalten. »Du Dirne!« sagte er wütend, während seine bisher sanf te Stimme einen frechen Ton annahm, »meinst du etwa gar, es sei noch Zeit, um ins Freie zurückzukehren? Dir wird bald ein Licht aufgehen, daß es vielleicht besser für dich gewesen wäre, in eine Räuberhöhle zu geraten als in die Gewalt von uns vier Mönchen!« Der Anlässe, um Angst zu empfinden, gab es derart zahlreiche, daß ich keine Zeit mehr fand, mich von seinen Worten erschrecken zu lassen. Sie waren kaum an mein Ohr gedrungen, als schon neue entsetzenerregende Bilder auf mich einstürmten. Eine Tür öffnete sich, und ich sah um einen Tisch herum drei Mönche und drei Mädchen sit zen, alle sechs Gestalten boten einen Anblick, der an Un anständigkeit kaum noch zu übertreffen war: zwei von den Mädchen waren völlig nackt, während das dritte soeben entkleidet wurde. »Meine Freunde«, rief Raphael, als er hinter mir herein trat, »es fehlte uns gerade eine; da ist sie! Erlaubt mir, daß ich euch ein wirkliches Phänomen vorstelle: Wir haben hier eine Lukrezia, die zugleich auf ihrer Schulter das 355
Kennzeichen der Mädchen mit dem lockeren Lebenswan del trägt!« Ein wüstes Gelächter war die Antwort auf diese seltsame Vorstellung. Klemens, der erste, den ich gesehen hatte, war bereits halb betrunken und schrie, man müsse diese Tatsa chen auf der Stelle allen erklären. Die Notwendigkeit, Ih nen die Leute näher zu beschreiben, bei denen ich mich befand, zwingt mich dazu, hier meinen Bericht zu unter brechen. Ich werde Sie im übrigen nie in Ungewißheit über meine Lage lassen, sondern alles treu schildern. Sie kennen Raphael und Klemens bereits zur Genüge; jetzt muß ich mich mit der Beschreibung der anderen be schäftigen. Antonin, der dritte unter den Mönchen des Klo sters, war ein kleiner Mann, vierzig Jahre alt, dürr, schmal, feurigen Temperaments. Er war einem Stier ziemlich ähn lich, sonst aber so behaart wie ein Bär. Seine Ausschwei fungen und seine Bosheiten waren mit nichts zu verglei chen. Pater Jerome, der Dekan des Hauses, hart und ge walttätig wie Klemens, zählte ungefähr sechzig Jahre. Bla siert schielte er über normales Vergnügen hinweg und war nur noch darauf aus, extravaganten Verderbtheiten nachzu jagen, um noch einen Schimmer von Wollust zu ergattern. Florette war das jüngste Mädchen. Sie stammte aus Di jon, war wohl nicht älter als vierzehn Jahre und gehörte einer reichen bürgerlichen Familie jener Stadt an. Sie war von einem Untergebenen Raphaels entführt worden; der Mönch genoß nämlich großes Ansehen in seinem Orden, war außerdem sehr reich und scheute wahrlich keine An strengung, um seine Leidenschaften nähren zu können. Florette war brünett, hatte sehr schöne Augen und eine 356
ausgeprägte Pikanterie in ihrem Gesichtsschnitt. Cornelia war ungefähr sechzehn Jahre alt und ein recht interessanter Typ. Sie hatte schönes blondes Haar, eine wunderbare Haut und war so wohlgestaltet, daß man sich kaum etwas Hübscheres vorzustellen vermochte. Sie kam aus Auxerre und war die Tochter eines Weinhändlers. Ra phael selbst hatte sie verführt, nachdem er sie insgeheim in eine seiner Fallen zu locken verstanden hatte. Omphale war im Gegensatz zu den beiden anderen be reits eine dreißigjährige Frau, groß gewachsen, freundlich und wohlwollend. Sie besaß einen gutgeformten Körper, ferner herrliches Haar, einen sehr schönen Hals und zärt lich blickende Augen. Sie war die Tochter eines Winzers aus Joigny, von Haus aus ziemlich vermögend und sollte einen Mann heiraten, der sie glücklich zu machen ver sprach, als Jerome die damals Sechszehnjährige ihrer Fa milie auf höchst seltsame Weise entführte. So war also die Gesellschaft beschaffen, unter der ich in Zukunft leben sollte; so sah die schmutzige Kloake aus, an deren Stelle ich alle Tugenden zu finden geglaubt hatte, wie es aller dings auch rechtens angebracht gewesen wäre. Man gab mir, sobald ich mich in dem höllischen Kreis befand, deutlich zu verstehen, daß ich nichts Besseres zu tun hatte, als den Gehorsam meiner Gefährtinnen nachzu ahmen. »Sie können sich hoffentlich gut vorstellen«, sagte Ra phael zu mir, »wie wenig ein Widerstand Ihrerseits in die sem entlegenen Schlupfwinkel Sinn hätte. Ihr böser Stern hat Sie nun einmal hierhergeführt. Sie haben, wie Sie sa gen, schon vielerlei Unglück erduldet; ich nehme an, daß 357
Ihr Bericht stimmt. Inzwischen werden Sie begriffen ha ben, daß Sie dem größten Unheil für ein tugendhaftes Mädchen bisher entgangen sind. Ist das denn normal, in Ihrem Alter noch Jungfrau zu sein? Ist das nicht schon ge radezu ein Wunder, das einfach nicht länger andauern darf? Hier diese Mädchen haben auch Schwierigkeiten gemacht, genau wie Sie, als sie sich gezwungen sahen, uns zu Dien sten zu stehen. Aber genauso, wie Sie bald vernünftig sein werden, haben auch sie sich binnen kurzem unterworfen ; sie haben nämlich gemerkt, daß jedes Widerstreben nur eine unangenehme Behandlung nach sich zieht. Wenn Sie die Lage recht bedenken, in der Sie sich befinden, Sophie, so werden Sie kaum erwarten, daß Sie sich retten können. Überlegen Sie doch, wie verlassen Sie auf der Welt daste hen! Wie Sie selbst sagten, haben Sie weder Verwandte noch Freunde. Ihre jetzige Situation ist so: Sie finden sich in einer Wüste, unbekannt der ganzen Welt, und in der Hand von vier Lebemännern, die gewiß keinerlei Lust zei gen werden, Sie irgendwie zu schonen. Woher wollen Sie also Hilfe erhoffen? Meinen Sie etwa von Gott, zu dem Sie so eifrig beten wollten? In Wirklichkeit ziehen aus Ihrer Frömmigkeit nur andere Menschen Nutzen, um Sie mit größerer Zuverlässigkeit in eine Falle locken zu können. Wie Sie sehen, existiert weder eine göttliche noch eine menschliche Macht, die Sie aus unseren Händen errettet. Es gibt keinerlei Möglichkeit, nicht einmal ein Wunder, um Sie weiterhin in dem Zustand der Tugend zu erhalten, auf den Sie so stolz sind. Nichts wird Sie davor bewahren, in jeglichem Sinn und auf jede Weise das Opfer der schamlo sen Ausschweifungen zu werden, die wir vier mit Ihnen 358
treiben wollen, entkleiden Sie sich also, Sophie. Ihre völli ge und willige Auslieferung soll das Pfand für Wohltaten unsererseits darstellen. Unsere Gutmütigkeit wird aber so fort durch die härtesten und schändlichsten Mißhandlungen ersetzt, wenn Sie sich nicht freiwillig unterwerfen. Wir werden dadurch nämlich verärgert und Sie werden deswe gen noch lange nicht vor unseren Gewalttaten geschützt sein!« Ich verspürte nur allzu deutlich, daß diese fürchterliche Rede mir keinen Ausweg ließ. Jedoch: Wäre ich nicht schuldig geworden, wenn ich nicht das Mittel angewandt hätte, das mir mein Herz diktierte und mir die Natur drin gend befahl? Ich warf mich zu Raphaels Füßen; ich setze wahrlich meine Seelenkräfte ein, um ihn zu bewegen, meine elende Situation nicht auszunutzen. Die bittersten Tränen über schwemmten meine Knie; alles, was mein Gemüt bewegte, drängte weinend zum Ausdruck. Ich wußte damals noch nicht, daß die Tränen für Verbrecher und Wüstlinge einen weiteren Reiz bilden; ich ahnte nicht, daß alles, was ich versuchte, um diese Ungeheuer zu rühren, sie nur noch weiter entflammte. Raphael erhob sich plötzlich wütend. »Pack diese Dirne, Antonin«, knurrte er und runzelte die Stirn; »entkleiden wir sie vor unseren Augen. Auf diese Weise wird sie lernen, daß das Mitleid bei Menschen wie unseresgleichen keinen Platz findet.« Antonin ergriff mich mit harter Faust. Seine Handlungen und Reden wurden nur durch schreckliche Flüche unter brochen. In zwei Minuten hatte er mir die Kleider vom 359
Leib gerissen und ließ mich nackt, den Augen dieser Ge sellschaft ausgesetzt, dastehen. »Das ist ein schönes Mädchen«, sagte Jerome. »Das Kloster soll auf mich niederstürzen, wenn ich seit dreißig Jahren ein schöneres gesehen habe.« »Einen Augenblick«, sagte Pater Guardian. »Laßt uns mit etwas mehr Sinn für Ordnung handeln. Ihr kennt, Freunde, unsere Empfangszeremonien. Sie soll sie alle er dulden, ohne Ausnahme. Während dieser Zeit sollen die anderen drei Frauen sich um uns scharen, um unseren Be dürfnissen entgegenzukommen oder um sie anzureizen.« Sofort bildete sich ein Kreis, und ich wurde in die Mitte gestellt. Über zwei Stunden lang wurde ich geprüft, be trachtet und von diesen vier Wüstlingen betastet. Je nach dem die Prüfung ausfiel, empfing ich von ihnen Lob oder Kritik. »Sie werden gewiß damit einverstanden sein, Madame«, sagte die schöne Gefangene, indem sie an dieser Stelle ih ren Bericht unterbrach (ihre Wangen wurden währenddes sen von tiefer Röte übergossen), »daß ich Ihnen die scham losen Einzelheiten dieser ersten Zeremonie verschweige; ich war nicht nur ihr Zeuge, sondern auch ihr Opfer. Ihre Einbildungskraft soll selbst versuchen, sich vorzu stellen, was alles die Wollust in solchen Fällen Lüstlingen zu diktieren vermag. Sie sollen sich vorstellen, wie die Kerle von meinen Gefährtinnen zu mir kamen, und vergli chen, uns nebeneinander stellten, darüber diskutierten. Auch dann werden Sie wahrscheinlich noch immer eine schwache Vorstellung davon haben, was bei dieser ersten Orgie geschah, die trotz allem harmlos war im Vergleich 360
mit den Schrecken, deren Opfer ich bald noch sein sollte.« »Nun«, sagte Raphael, dessen Begierde unwahrschein lich gereizt und nicht mehr zu beherrschen war, »es wird Zeit, sie aufzuopfern. Jeder von uns soll sich vorbereiten, seine Lieblingsgenüsse bei ihr auszuprobieren.« Der schreckliche Mann legte mich auf ein Sofa, in einer Stellung, die für seine scheußlichen Absichten günstig war; Antonin und Klemens hielten mich fest. Raphael war Ita liener, Mönch und verderbt; er konnte sich ungemein ver gnügen, ohne daß ich meine Jungfräulichkeit verlor. O Höhepunkt der Verwirrung! Man könnte sagen, daß jeder von diesen wüsten Männern sich eine Ehre daraus machte, die Natur bei der Auswahl ihrer Vergnügen zu vergessen. Klemens kam nach vorn; er war verärgert beim Anblick der Infamien seines Oberen. Vielleicht war er auch gereizt durch alles, was er getan hatte, während er uns beobachte te. Er sagte mir, er würde für mich nicht gefährlicher sein als sein Oberer, und daß der Ort, wo er sein Opfer darzu bringen gedenke, auch meine Tugend unangetastet lassen würde. Er ließ mich knien und umarmte mich ganz eng in dieser Haltung. Seine bösen Leidenschaften lebten sich aus an einem Platz, der es mir unmöglich machte, zu klagen während seiner Ausschweifungen. Jerome folgte, sein Tempel war derselbe wie der Rapha els, aber er kam nicht bis zum Heiligtum; glücklich, weil er den Vorhof betrachten konnte, gerührt durch simple Ein zelheiten, deren Obszönität man nicht ausmalen kann, ge lang es ihm nicht, anders zu der Befriedigung seiner Be gierde zu gelangen als durch die grausamen Mittel, deren 361
Opfer ich schon bei Dubourg beinahe geworden und denen ich bei Bressac restlos verfallen war. »Das sind glückliche Vorbereitungen«, sagte Antonin, indem er mich packte. »Komm, Liebling, komm und ich werde an dir die unnatürliche Handlung meiner Mitbrüder rächen. Endlich werde ich die vielversprechenden Erstlingsfriichte pflücken, die mir ihre Zügellosigkeit über läßt.« Aber was für Einzelheiten – lieber Gott – es ist mir un möglich, sie auszumalen. Man könnte sagen, daß dieser Schuft, der schlimmste unter den vier, obwohl er von der Absicht der Natur nicht soweit entfernt war, nur darum einverstanden war ihr näherzukommen und seinen Kult ordnungsgemäßer zu erfüllen, weil er diese weniger ver rückten Ausschweifungen durch alles, was mich am tief sten beleidigen konnte, ersetzte. Manchmal war meine Einbildungskraft durch die Vor stellung gewisser lieblicher Genüsse in Verwirrung gera ten. Ich hielt sie jedoch stets mit Fug und Recht für keusch, wie es dem Wesen Gottes, dem sie ihren Ursprung verdan ken, entsprach. Ich war der Meinung, sie seien uns von der Natur geschenkt worden, um uns Trost auf Erden zu spen den; auch glaubte ich, sie entstammten der Liebe und Zärt lichkeit. Niemals wäre ich auf den Gedanken gekommen, daß die Männer, ebenso wie die wilden Tiere, nur dann Ge fallen daran fanden, wenn sie ihre Gefährtinnen von einem grauenerregenden Abgrund in den anderen stürzten. Leider mußte ich das jetzt erfahren. Ich mußte erfahren, daß die normalen Schmerzen beim Entreißen meiner Jungfräulichkeit die geringsten waren, 362
die ich bei diesem gefährlichen Angriff zu erleiden hatte. Auf dem Höhepunkt seiner Leidenschaft stieß Antonin so schreckliche Schreie aus, vollführte so verletzende und schmerzliche Berührungen überall an meinem Körper und biß mich auf eine Art und Weise, die an die blutige Zärt lichkeit eines Tigers erinnerte, daß ich glaubte, die Beute eines wilden Tieres geworden zu sein, das erst zur Ruhe kommen würde, nachdem es mich gefressen hätte. Als die Schrecknisse ihr Ende erreicht hatten, sank ich ohnmächtig zu Boden. Nach einer Frist, deren Dauer mir unbekannt geblieben ist, kehrte mein Bewußtsein zurück; anscheinend hatte man mir etwas eingeflößt. Eine Welle rasender Qualen durchtobte meine Seele; nichts ist grau samer als der Augenblick eines solchen Erwachens. Ich glaubte den entsetzlichen Gedanken nicht ertragen zu kön nen, daß ich schließlich doch den Schatz meiner Jungfräu lichkeit verloren hatte, für den ich mein Leben hundertmal zu opfern bereit gewesen wäre. Ich wollte einfach nicht glauben, daß ich gerade von jenem, von dem ich am ehe sten Hilfe und moralische Aufmunterung erwartete, ge schändet worden war. Meine Tränen flossen unaufhörlich, mein Jammergeschrei erschallte durch das Kloster. Ich warf mich immer wieder auf den Boden, ich riß mir das Haar büschelweise aus, ich flehte meine Henker an, mir den barmherzigen Tod zu schenken. Die Schurken waren durch die wahrscheinlich häufige Wiederholung solcher Szenen völlig abgestumpft; mein Geschrei schien sie je doch irgendwie zu stören, und sie beschlossen daher, für diesen Abend ihre wüsten Ausschweifungen zu beenden. Omphale wurde gerade beauftragt, mich fortzuführen, 363
als der böse Raphael mich mit neu erwachender Begierde anblickte, und trotz des elenden Zustandes, in dem ich mich befand, sagte er, er wünsche nicht, daß ich davon komme, ehe ich nicht nochmals sein Opfer geworden sei. Kaum hatte er diese Absicht geäußert, war er auch schon dabei, sie auszuführen. Da seine Begierde jedoch noch des Anreizes bedurfte, gelang es ihm erst, sein neues Verbre chen zu vollziehen und die Kraft dafür aufzubringen, nach dem er die schrecklichen Mittel Jeromes angewandt hatte. Was für ein Ausmaß an Ausschweifungen, großer Gott! Wie war es möglich, daß diese Wüstlinge so grausam wa ren, daß sie gerade den Augenblick einer so starken morali schen Krise auswählten, um mich einer so gewaltsamen physischen Prüfung zu unterwerfen? »Um Himmels willen«, sagte Antonin und packte mich auch wieder, »man kann nicht besser handeln, als wenn man dem Vorbild seines Oberen folgt. Nichts ist so pikant wie eine Wiederholung; es wird gesagt, daß der Schmerz zum Vergnügen bereit macht. Ich bin überzeugt, daß dieses schöne Kind mich zum glücklichsten aller Männer machen wird.« Trotz meines Widerstandes, trotz meines Geschreis und meines Flehens wurde ich zum zweitenmal das unglückli che Opfer der unverschämten Begierde dieses Schuftes. Endlich ließ man mich laufen. »Wenn ich keinen Vorschuß genommen hätte, als diese schöne Prinzessin ankam«, sagte Klemens, »würde sie be stimmt nicht davonkommen, ehe sie nicht ein zweitesmal meiner Leidenschaft zu Diensten gewesen wäre. Aber sie verliert nichts beim Warten.« 364
»Dasselbe kann ich ihr versprechen«, sagte Jerome und ließ mich fühlen, wie stark sein Arm war, als ich an ihm vorbeiging. »Aber heute abend laßt uns alle zu Bett ge hen.« Da Raphael auch diese Meinung teilte, fanden die Orgi en ihren Abschluß. Er behielt Florette bei sich, die offen sichtlich die Nacht bei ihm verbrachte. Ich folgte Omphale. Dieser Sultanin, die ja älter als die anderen war, schien überhaupt die Fürsorge für die übrigen Mädchen obzulie gen. Sie geleitete mich also in unser gemeinsames Zimmer, eine Art von quadratförmigem Turm, in dessen Ecke sich je ein Bett für jede von uns vier befand. Einer der Mönche folgte gewöhnlich den Mädchen, wenn sie sich zurückzo gen und verschloß die Tür mit zwei oder gar drei Riegeln. Klemens übernahm an diesem Tag diese Aufgabe. So bald wir drinnen waren, bestand keine Möglichkeit mehr, hinauszugelangen. Es gab keinen anderen Ausgang aus dem Gelaß als eine Nebenkammer, die für unsere leibli chen Bedürfnisse bestimmt war. Das Fenster dort war ver gittert – ebenso wie in dem Zimmer, in dem wir schliefen. Im übrigen waren an Möbelstücken jeweils ein Stuhl und ein Tisch neben dem Bett vorhanden; die Lagerstätte selbst wurde von einem häßlichen Vorhang aus billigem Stoff umrahmt. Daß auch noch einige Holztruhen, ein paar alte Stühle, schon recht durchlöchert, Bidets und ein gemein samer Tisch für unsere Toilettenpflege existierten, merkte ich erst am folgenden Tag. Ich war viel zu sehr in Gedan ken, als ich das erstemal ins Zimmer trat, um etwas zu se hen; ich konnte einzig und allein an mein Leiden denken. 365
»O gerechter Himmel«, rief ich aus. »es ist also vorher bestimmt, daß ich keine tugendhafte Tat begehen kann, ohne daß nicht sofort tiefstes Leid folgt! Habe ich denn etwa falsch gehandelt, als ich in diesem Kloster eine fromme Pflicht erfüllen wollte? Habe ich mit diesem Wunsch den Himmel beleidigt? Ist dies der Lohn, den ich erwarten durfte? Ach, wie unverständlich sind doch die Gesetze der Vorsehung! Entschleiert euren Ablauf für ei nen Augenblick vor meinen Augen, da sonst die Empörung wider euch mein Herz ergreift!« Bittere Tränen und heftiges Schluchzen folgten meinem Verzweiflungsausbruch. Ich war noch tränenüberströmt, als sich bei Tagesanbruch Omphale meinem Schmerzens lager näherte. »Liebe Freundin«, sagte sie, »ich komme, um dir drin gend zu empfehlen, frischen Mut zu fassen. Auch ich habe, wie du, am Anfang geweint, aber jetzt bin ich an alles ge wöhnt; es wird dir gewiß genauso ergehen. Die ersten Au genblicke sind die schlimmsten. Nicht nur der Zwang, ewig die zügellosen Wünsche dieser Wüstlinge zu erfüllen, macht unser Leben so qualvoll, sondern auch der Verlust unserer Freiheit und die grausame Art, mit der wir in die sem schamlosen Haus behandelt werden. Die Unglückli chen fühlen sich ein wenig gestärkt, wenn sie andere gleich ihnen leiden sehen.« Obwohl meine Qualen nicht gering waren, vergaß ich sie doch für einen Augenblick, um mich bei meiner Gefährtin nach den Übeln zu erkundigen, die ich noch zu gewärtigen hatte. »Hör zu«, sprach Omphale und setzte sich an den Rand 366
meines Bettes, »ich werde ganz im Vertrauen mit dir reden; du mußt aber stets daran denken, daß du nie Gebrauch da von machen darfst. Das grausamste unserer Übel, meine liebe Freundin, ist die Ungewißheit unseres Schicksals: Es ist uns einfach unmöglich, in Erfahrung zu bringen, was auf uns wartet, wenn wir eines Tages diesen Ort verlassen. Wir haben so viele Beweise, wie es uns eben möglich ist, sie in dieser Einsamkeit zu beschaffen, daß die Mädchen, die bei den Mönchen gewohnt haben, nie wieder in der Welt erschei nen. Sie selbst drohen uns oft ganz unverhüllt, dieser Ort werde unser Grab. Es vergeht kein Jahr, in welchem nicht zwei oder drei Mädchen verschwinden. Was wird aus ih nen! Werden sie ermordet? Manchmal bestätigen die Mön che es, manchmal verleugnen sie es. Die Wahrheit sieht jedenfalls so aus: Keine von denen, die das Haus verlassen haben und die vorher versprachen, gegen das Kloster An klage zu erheben und sich um unsere Freiheit zu bemühen, hat ihr Versprechen eingelöst. Werden nun die Anklagen beschwichtigt oder sind die Mädchen gar nicht mehr in der Lage sie zu erheben? Fragen wir eine der Neuangekomme nen, was aus den Fortgegangenen geworden ist, können sie nie antworten, denn sie haben nie von ihnen gehört. Was geschieht mit diesen Unglücklichen? Das ist unsere eigentliche Qual, Sophie; das ist die verhängnisschwere Ungewißheit, die den Kern des Leidens unserer unglückli chen Tage ausmacht. Seit vierzehn Jahren befinde ich mich in diesem Haus, und ich habe mehr als fünfzig Mädchen fortgehen sehen. Wo sind sie hingekommen? Warum haben sie alle geschworen, uns zu helfen, und keine einzige hat 367
ihr Wort gehalten? Unsere Zahl ist auf vier festgelegt – ge nauer gesagt: wenigstens für dieses Zimmer hier, wir sind nämlich alle völlig überzeugt davon, daß es noch einen ähnlichen Turm gibt, in dem dieselbe Anzahl von Mädchen haust. Vielerlei im Verhalten der Mönche, mancherlei Re densarten haben uns dies zur Gewißheit werden lassen. Wenn diese Gefährtinnen aber auch tatsächlich existieren, so haben wir sie doch noch niemals gesehen. Einer der wichtigsten Beweise, den wir besitzen, besteht darin, daß wir nie an zwei aufeinanderfolgenden Tagen gerufen wer den; wir wurden gestern gebraucht, heute müssen wir aus ruhen. Mit größter Wahrscheinlichkeit halten diese Wüst linge aber keinen Abstinenztag ein. Im übrigen berechtigt uns überhaupt nichts dazu, einmal in den Ruhestand zu tre ten: Weder das Alter noch verlebte Gesichtszüge, weder Langweiligkeit noch Krankheit. Nichts, gar nichts außer ihrer Laune veranlaßt sie dazu, die verhängnisvolle Entlas sung zu verfügen; ebenso bleibt uns gänzlich verschlossen, welches Geschick sie für uns bedeutet. Ich habe hier eine Frau gesehen, an die siebzig Jahre alt, die erst im vergangenen Jahr fortgegangen ist. Sie war seit beinahe sechzig Jahren hier; während man sie immer be halten hat, konnte ich beobachten, daß mehr als zwölf ent lassen wurden, die gewiß nicht über sechzehn waren. Ich sah, wie ein Mädchen drei Tage nach ihrer Ankunft fortge hen mußte; andere gingen nach einem Monat, wieder ande re nach mehreren Jahren. Über den Entlassungstermin gibt es keine andere Bestimmung, als ihren Willen oder viel mehr ihre Laune. Das Verhalten der einzelnen Mädchen macht auch wenig aus; ich habe manche gesehen, die ver 368
sucht haben, jeden ihrer Wünsche zu erfüllen und die be reits nach sechs Wochen verschwanden; andere, die lang weilig oder halbverrückt waren, blieben dagegen mehrere Jahre. Es ist also überflüssig, einer Neuangekommenen Ratschläge geben zu wollen. Die Laune der Mönche wider spricht einfach jeder Regel; nichts ist sicher bei ihnen. Was nun die Mönche selbst betrifft, so sind sie unter sich nicht sehr verschieden. Raphael ist seit fünfzehn Jah ren hier, Klemens seit sechzehn; Jerome weilt hier seit dreißig Jahren und Antonin seit zehn. Er ist der einzige, den ich kommen sah; er übernahm den Platz eines sechzig jährigen Mönches, der während einer Ausschweifung starb. Raphael ist florentinischer Herkunft und soll allseits gute Beziehungen haben. Erst seitdem er da ist, sichert die Sta tue der wunderbaren Jungfrau den Ruf des Klosters; so kommen die scharfen Zungen nicht auf die Idee, sich näher mit dem zu befassen, was hier vorgeht. Das Haus war al lerdings bereits so eingerichtet, als er kam. Es existiert seit ungefähr achtzig Jahren; man behauptet, es hätten immer schon die gleichen Verhältnisse geherrscht. Alle die Obe ren, die gekommen sind, haben die Regel, die für ihre Ver gnügungen derart günstig ist, beibehalten. Raphael, der ei ner der ausschweifendsten Mönche unserer Zeit ist, kam hierher, weil er davon gehört hatte. Seine Absicht ist, diese geheimen Privilegien aufrecht zu erhalten, solange es ihm nur möglich ist. Wir unterstehen an sich der Diözese Au xerre. Wir wissen nicht, ob der Bischof irgendwie unter richtet ist oder nicht; auf jeden Fall haben wir ihn nie gese hen. Im allgemeinen ist diese Gegend wenig besucht. Au ßer der Zeit der großen Feierlichkeiten, die Ende August 369
stattfinden, erscheinen hier keine zehn Leute im Jahr. Im merhin: Wenn Fremde auftauchen, dann sorgt der Pater dafür, daß sie freundlich empfangen werden; er vermittelt ihnen anhand zahlreicher äußerlicher Gesten den Eindruck von Askese und Frömmigkeit. Die Wallfahrer wandern froh zurück; sie loben das Haus und darum werden diese Schurken immer sicherer! Ihr guter Ruf gründet sich auf die Gutgläubigkeit der Frommen und die Leichtgläubigkeit der Bigotten. Man muß auch wissen, daß die Vorschriften, die unser Verhalten regeln, äußerst streng sind. Es wäre für uns höchst gefährlich, sie zu übertreten, in welchem Punkt es auch sei. Wesentlich ist nun, daß ich dir verschiedene Ein zelheiten mitteilen muß, denn hier gilt es keinesfalls als Entschuldigung, wenn man sagt: ›Straft mich nicht, weil ich dieses Gesetz übertreten habe; ich kannte es nicht.‹ Man muß sich von den Gefährtinnen unterrichten lassen oder von allein daraufkommen. Wir werden nie gewarnt, jedoch für alles bestraft. Das einzige hier angewandte Strafmittel ist die Peitsche. Jeder der vier spielt der Reihe nach den Henker. Jeden Tag übernimmt einer auch die Aufsicht; man nennt ihn den ›Regens des Tages‹. Er ist da für zuständig; die Berichte der Aufseherin des Zimmers entgegenzunehmen; er führt auch die Aufsicht bei den Abendessen, zu denen wir kommen dürfen; er schätzt die Verfehlungen ein und bestraft sie persönlich. Sehen wir uns einmal jede Bestimmung näher an: Wir sind verpflichtet, jeden Tag um neun Uhr morgens aufgestanden und angekleidet zu sein; um zehn Uhr wird uns Brot und Wasser für das Frühstück gebracht! Um zwei 370
Uhr kommt das Mittagessen, das aus einer recht guten Suppe, einem Stück gekochten Fleisch, einem Gemüsege richt, manchmal etwas Obst und einer Flasche Wein für uns vier besteht. Regelmäßig erscheint jeden Tag, sei es Sommer oder Winter, gegen fünf Uhr abends der Regens. Bei dieser Gelegenheit nimmt er Kenntnis von eventuellen Klagen der Zimmerältesten. Sie berichtet über das Verhal ten der Mädchen in ihrem Zimmer, ob sie vielleicht lau nenhaft oder aufsässig gewesen sind, ob sie zu der vorge schriebenen Stunde aufgestanden sind, ob jede genau die Sauberkeitsanordnungen eingehalten hat, ob man ordent lich gegessen hat, ob in irgendeiner Weise von Flucht ge sprochen wurde. Man muß höchst präzis darüber Rechen schaft ablegen, denn es wäre für uns selbst sehr riskant, es nicht zu tun. Danach betritt der Regens des Tages unsere Toiletten kammer und kontrolliert verschiedene Dinge. Sobald er weggegangen ist, bleibt es uns überlassen, zu lesen oder uns zu unterhalten oder zu Bett zu gehen, falls es nicht der Tag ist, an dem wir zur Teilnahme am Abendessen ver pflichtet sind. Wenn wir mit den Mönchen essen müssen, läutet die Glocke, die uns ankündigt, daß es Zeit sei, uns vorzubereiten. Der Regens des Tages kommt selbst, um uns abzuholen, und wir gehen in den Saal, worin du uns gesehen hast. Das erste, was getan wird, ist eine Vorlesung aus dem Heft, in dem alle Verfehlungen eingetragen sind, die begangen wurden, seitdem man zum letztenmal er schienen ist. Zu Beginn kommen die Verfehlungen, die während des Essens selbst begangen wurden: Nachlässig keit irgendwelcher Art, Mißachtungen gegenüber den 371
Mönchen, Mangel an Höflichkeit, an Untertänigkeit, an Reinlichkeit, daraufhin folgt die Liste der Verfehlungen, die während der letzten zwei Tage der Aufseherin gegen über im Zimmer stattfanden. Die Schuldigen treten, der Reihe nach, in die Mitte des Zimmers; der Regens des Ta ges verkündet lauthals ihre Sünde und schätzt die entspre chende Strafe ab. Dann werden sie von der Aufseherin ent kleidet; war es diese selbst, die etwas Falsches getan hat, so straft sie der Regens derart streng, daß es schwerfällt, die übertretene Regel jemals wieder zu vergessen. Die Schur ken sind so raffiniert, daß kaum ein Tag vergeht, ohne daß irgendwelche Bestrafungen stattfinden. Wenn diese Pflicht erfüllt ist, fangen die Orgien an. Es ist nicht möglich, sie in jeder Einzelheit zu beschreiben. Ist es denn überhaupt möglich, daß solche absonderlichen Launen einmal wirklich befriedigt werden? Der entschei dende Punkt besteht darin, sich nie zu weigern, sondern alles vorauszusehen. Auch wenn man so handelt, was selbstverständlich die erste Regel der Klugheit ist, darf man sich nicht in Sicherheit wiegen. Während der Orgien wird zu Abend gegessen. Wir dürfen an dieser Mahlzeit teilnehmen, die natürlich viel feiner und schmackhafter als unsere sonstige ist. Das Bacchanal wird fortgesetzt, sobald die Mönche halb betrunken sind; um Mitternacht trennen wir uns. jeder der Mönche darf eine von uns für die Nacht bei sich behalten. Die anderen Mädchen begeben sich ins Zimmer zurück; wir finden dann eine saubere Kammer vor, die Betten sind gemacht, unsere Kleidung ist in Ordnung gebracht. Der Zerberus, der in unserem Zimmer herrscht, und der 372
uns manchmal als Führer in die Gelasse der Mönche dient, ist ein alter Laienbruder, den du bald kennenlernen wirst. Er ist siebzig Jahre alt, einäugig, hinkend und stumm. Er wird bei der Hausarbeit von drei anderen unterstützt; der eine kocht, der andere hält die Zellen in Ordnung, kehrt überall aus und hilft auch in der Küche; der dritte ist der Pförtner, den du bei deiner Ankunft gesehen hast. Wir dür fen uns niemals an den Bruder wenden, der für uns sorgt; ein einziges Wort zu ihm wäre eine der schwersten Verfeh lungen, die wir zu begehen vermögen. Der Pater Guardian sucht uns manchmal auf. Dann finden einige Zeremonien statt, die du durch Übung lernen wirst und deren Nichtbe achtung als Verbrechen gilt. Der Wunsch, den die Schur ken hegen, geht dahin, immer neue Verfehlungen zu erfin den, um in den Genuß zu kommen, sie zu bestrafen; das läßt die Übertretungen jeden Tag zahlreicher werden. Es geschieht selten, daß Raphael ohne irgendeine geheime Absicht zu uns kommt. Diese Absichten sind immer grau sam; du wirst sehr bald Gelegenheit haben, dich davon zu überzeugen. Wir werden immer streng eingesperrt gehalten und es gibt keine Zeit während des ganzen Jahres, in der es uns erlaubt wäre, an die frische Luft zu gehen; dabei ist das Haus von einem recht großen Garten umgeben. Allerdings weist es keine Gitter auf und man müßte eine Flucht be fürchten; eine solche könnte natürlich sehr gefährlich wer den, denn wenn ein weltliches oder geistliches Gericht die Verbrechen, die hier stattfinden, erfährt, würde bald Ord nung geschaffen werden. Nie dürfen wir die geringste Frömmigkeitspflicht erfüllen; es ist uns verboten, über haupt daran zu denken und davon zu sprechen. Solche Re 373
den sind überhaupt eine der Verfehlungen welche die Höchststrafe nach sich ziehen. Das ist alles, was ich dir sagen kann, meine liebe Ge fährtin; die Erfahrung wird dich den Rest, der noch fehlt, lehren. Fasse Mut, wenn dir das möglich ist, aber verzichte für immer auf die Welt. Es gibt keinen einzigen Beweis dafür, daß ein Mädchen, das aus diesem Haus fortging, sie wiedergesehen hat.« Da dieser letzte Punkt mich unendlich erschreckte, fragte ich Omphale, was sie sich wirklich für Vorstellungen über das Schicksal der entlassenen Mädchen mache. »Warum möchtest du, daß ich dir darauf antworte?« er widerte sie; »jeden Augenblick versucht eine irre Hoffnung diese meine düstere Meinung aufzuhellen. Man wird im Laufe des Vormittags über die Entlassung benachrichtigt, die einem bevorsteht; der Regens des Tages kommt vor dem Mittagessen und sagt zum Beispiel: Omphale, packen Sie Ihre Sachen, das Kloster wird Sie entlassen; ich werde Sie heute gegen Abend abholen. Dann geht er wieder fort. Die Entlassene umarmt ihre Gefährtin nen, verspricht ihnen tausend und abertausendmal, daß sie etwas für sie unternehmen, eine Anklage erheben, überall erzählen werde, was hier geschieht. Die Stunde kommt, der Mönch erscheint, das Mädchen geht und man hört nie mehr etwas von ihr. Wenn gerade der Tag des Abendessens ist, findet es durchaus wie gewöhnlich statt; den einzigen Un terschied, den wir an solchen Tagen bemerken, ist der, daß die Mönche sich viel weniger mit uns beschäftigen, daß sie viel mehr trinken, daß sie uns früher ins Bett schicken und daß keine für die Nacht bei ihnen bleibt.« 374
»Liebe Freundin«, sagte ich zu unserer Ältesten und dankte ihr herzlich für ihre Fürsorge, »vielleicht haben sie es bisher immer nur mit Kindern zu tun gehabt, die nicht die Kraft aufbringen, ihr Wort zu halten. Bist du bereit, daß wir uns gegenseitig ein Versprechen geben? Ich schwöre dir im Namen von all dem, was Heiliges für uns auf Erden existiert, daß ich entweder sterben werde oder die Verbre chen bekanntmache. Versprichst du mir dasselbe?« »Gewiß tue ich das«, sagte Omphale, »aber du kannst ebenso sicher sein, daß solche Versprechen unnütz sind. Mädchen, die älter als du waren, die vielleicht, falls das überhaupt möglich ist, noch empörter waren, die auch den besten Familien der Gegend angehörten und dadurch bes ser gewappnet waren als du – Mädchen also, die buchstäb lich ihr Blut für mich vergossen hätten, konnten ihr Ver sprechen nicht einhalten. Durch diese fürchterliche Erfah rung muß ich unsere Befreiung als eitles Ziel betrachten und kann nicht ernsthaft damit rechnen.« Wir unterhielten uns sodann über den Charakter der Mönche und über unsere Gefährtinnen. »Es gibt in Europa keinen Mann, der gefährlicher als Raphael oder Antonin ist«, meinte Omphale. »Die Falsch heit, die Verrücktheit, die Bosheit, die Lust zum Quälen, die Grausamkeit, die Gottlosigkeit sind ihre grundlegenden Eigenschaften. Man kann ihre Augen nur dann freudig funkeln sehen, wenn sie sich diesen Neigungen hingeben. Klemens wirkt zwar am gewalttätigsten, ist aber dennoch der erträglichste; er ist nur zu fürchten, wenn er sich be trunken hat. Man muß also sorgfältig darauf achten, wie man ihn in diesem Zustand vermeiden kann, denn man 375
würde sonst allerlei riskieren. Was Jerome anbetrifft, so ist er von Natur aus ein bruta ler Mensch: Ohrfeigen, Fußtritte und Faustschläge sind bei ihm ziemlich alltäglich. Wenn jedoch seine Leidenschaften erloschen sind, benimmt er sich sanft wie ein Lamm. Das ist der wesentliche Unterschied zwischen ihm und den bei den ersten, die sich mittels abscheulicher und grausamer Taten dauernd selbst anzustacheln suchen. Über die Mädchen, nun«, fuhr die Zimmerälteste fort, »kann nicht viel gesagt werden. Florette ist noch ein Kind und nicht gerade geistreich; man vermag aus ihr zu ma chen, was man will; Cornelia ist dagegen äußerst empfind lich; nichts vermag sie über ihr Schicksal hinwegzutrö sten.« Nach dieser ausführlichen Unterrichtung fragte ich mei ne Gefährtin, ob es wirklich unmöglich sei, Gewißheit dar über zu erlangen, ob noch ein weiterer Turm existiere, in dem andere Unglückliche, ähnlich uns, eingesperrt gehal ten würden. »Wenn es sie tatsächlich gibt, und ich bin mir darüber so gut wie sicher«, antwortete Omphale, »würde man es ein zig und allein durch irgendeine Unachtsamkeit, eine Nach lässigkeit der Mönche erfahren, vielleicht auch durch den stummen Bruder, der sie wahrscheinlich ebenso pflegen muß, wie es seine Arbeit bei uns ist. Ein solches Wissen wäre aber sehr gefährlich. Wozu sollte es uns im übrigen dienen, in Erfahrung zu bringen, ob wir allein sind oder nicht? Wir können uns sowieso alle zusammen nicht hel fen. Wenn du mich jetzt fragst, was ich für einen Beweis in Händen halte, der diese Vermutung zur ziemlichen Wahr 376
scheinlichkeit werden läßt, dann muß ich dir zunächst sa gen, daß manche ihrer Reden, die ihnen gelegentlich ent schlüpfen, durchaus genügen würden, um gehörigen Ver dacht in der betreffenden Hinsicht zu schöpfen. Außerdem kommt folgendes hinzu: Eines Tages, als ich frühmorgens unterwegs war – ich hatte die Nacht bei Raphael verbrin gen müssen – erblickte ich im gleichen Moment, da ich durch die Tür seiner Zelle trat und er mir folgen wollte, um mich zurückzuführen, ein sehr schönes Mädchen von sieb zehn oder achtzehn Jahren. Sie gehörte einwandfrei nicht zu unserem Turm; der stumme Bruder geleitete sie gerade zu Antonin. Raphael merkte nichts von allem, aber der Laienbruder hatte uns gesehen und schob sie hastig ins Zimmer Antonins. Es gab keinerlei Spektakel, alles blieb ruhig. Ich hätte wahrscheinlich viel aufs Spiel gesetzt, wenn einer der vier etwas erfahren hätte. Es ist also sicher, daß es außer uns hier noch andere Frauen gibt. Da wir nur jeden zweiten Tag mit den Mönchen essen, werden an dem einen Tag wohl die anderen bei ihnen sein; wahrscheinlich sind es genauso viel wie hier.« Omphale hatte kaum zu Ende gesprochen, als Florette eintrat. Sie kam Von Raphael zurück, bei dem sie die Nacht verbracht hatte; sie sagte uns nur guten Tag, als sie merkte, daß wir bereits wach waren. Sie warf sich auf ihr Bett, wo sie bis um neun Uhr blieb, dem Zeitpunkt des all gemeinen Aufstehens. Die zarte Cornelia näherte sich mir; sie weinte, während sie mich anblickte und seufzend sagte: »O liebe Mademoiselle, was sind wir doch für armselige Geschöpfe!« Man brachte uns das Frühstück; meine Gefährtinnen 377
zwangen mich, etwas zu essen. Ich tat es, um ihnen einen Gefallen zu erweisen. Der Tag verging des weiteren ganz ruhig. Um fünf Uhr kam der Regens des Tages, wie es mir Omphale geschildert hatte. Es war Antonin, der mich la chend fragte, wie es mir gehe. Meine Antwort bestand dar in, daß ich den Kopf zu Boden neigte, während sich meine Augen mit Tränen füllten. »Es wird schon gehen, es wird schon gehen«, sagte er kichernd. »Es gibt bestimmt kein Haus in ganz Frankreich, in dem es den Mädchen besser ergeht als hier.« Er führte nun seine Inspektion aus und nahm die Liste der Verfehlungen entgegen. Unsere Zimmerälteste war ein zu gutes Mädchen, um sie sehr lang zu gestalten. Sie sagte oft, daß nichts zu berichten sei. Ehe er uns verließ, näherte sich Antonin mir. Ich zitterte, denn ich dachte, ich würde nochmals das Opfer dieses Un geheuers werden. Da es aber in jedem Augenblick gesche hen konnte, was machte es da schon aus, ob es jetzt oder morgen geschah? Er gab sich jedoch zufrieden mit einigen brutalen Zärtlichkeiten und warf sich auf Cornelia. Er be fahl uns, seiner Begierde zu Hilfe zu kommen, während er handelte. Der Schurke war von Wollust berauscht. Er ver zichtete auf keine Einzelheit, und er beendete seine Hand lungen mit dieser Unglücklichen auf dieselbe Art und Wei se, wie er es am Vorabend mit mir getan hatte, das heißt, mit ganz wohlüberlegten Episoden voll Gewalttätigkeit und Verderbtheit. Diese Gruppenbildungen fanden äußerst häufig statt. Es war beinahe zur Gewohnheit geworden, daß, während ein Mönch sich mit einem der Mädchen beschäftigte, die ande 378
ren drei um ihn standen, um in jeder Hinsicht seine Sinne zu reizen, so daß die Wollust durch jedes Organ ihren Ein tritt fand. Ich erzähle hier absichtlich unsaubere Einzelhei ten, aber ich will nicht wieder darauf zurückommen. Ich habe nicht die Absicht, mich weiter über die Unanständig keit solcher Szenen zu verbreiten. Wenn ich eine beschrei be, so heißt das, alle zu beschreiben. Ich blieb zwar sehr lange in diesem Haus, aber ich will Ihnen nur die wichtig sten Ereignisse erzählen, ohne Sie länger mit den vielfälti gen Einzelheiten zu beschäftigen. Da es nicht unser Tag war, am Abendessen teilzuneh men, ließ er uns in Frieden. Meine Gefährtinnen trösteten mich so gut sie nur konnten, aber nichts vermochte mein Leid zu lindern. Sie bemühten sich umsonst; je mehr sie über ihre Leiden redeten, desto deutlicher spürte ich, wie entsetzlich diese waren. Am folgenden Tag erschien der Pater Guardian, obwohl es nicht sein Aufsichtstag war. Er fragte Omphale, ob ich nicht inzwischen anfinge, mich zu Hause zu fühlen. Ohne auf ihre Antwort zu achten, schritt er zu einer der Truhen in unserem Zimmer und holte mehrere weibliche Kleidungs stücke heraus. »Da Sie nichts bei sich haben«, sagte er, »müssen wir uns wohl damit beschäftigen, Sie anzukleiden. Vielleicht berücksichtigen wir dabei etwas mehr unsere Interessen als Ihre. So sind Sie uns wenigstens keine Dankbarkeit schul dig. Was mich persönlich betrifft, so halte ich alle diese Kleidungsstücke für völlig überflüssig. Ich sehe nicht ein, warum es schlimm sein sollte, wenn wir die Mädchen wie die Tiere herumlaufen lassen. Aber unsere Patres sind 379
schließlich Lebemänner. Sie lieben Luxus und schöne Kleider; man muß sie auch auf diesem Gebiet zufrieden stellen.« Zu guter Letzt warf er mehrere Hauskleider, ein halbes Dutzend Hemden, einige Hüte, Strümpfe und Schuhe auf mein Bett und befahl mir, das alles anzuprobieren. Drei Kleider aus Taft und eines aus indischem Stoff schienen mir zu passen; er erlaubte mir, sie zu behalten. Denn Rest sollte ich mir selbst herrichten. Er erinnerte mich mit bar scher Stimme daran, daß alles dem Kloster gehöre und ich sämtliche Gegenstände hier zu lassen habe im Falle meiner Entlassung. Da diese Szene ihm manche Bilder geboten hatte, die ihn reizten, befahl er mir, mich von allein in die Lage zu bege ben, die ihm paßte, wie ich schon wußte. Ich wollte um Gnade bitten, aber ich sah in seinen Augen die Wut und den Zorn. Ich dachte, der kürzeste Weg wäre wohl, zu ge horchen, und ich nahm die befohlene Haltung ein. Der Wüstling, von den Mädchen umarmt, befriedigte sich, wie es seine Gewohnheit war, auf Kosten der Sitten, der Reli gion und der Natur. Mein Anblick hatte ihn offenbar gereizt, denn er lobte mich während des Abendessens; darauf wurde bestimmt, daß ich die Nacht bei ihm verbringen sollte. Meine Gefähr tinnen zogen sich zurück, während ich in sein Zimmer ge führt wurde. Ich spreche im folgenden nicht mehr über meinen Ekel und meine Leiden, Madame, Sie können sich sicherlich denken, daß sie unvorstellbar schrecklich waren. Die Beschreibung würde vielleicht eintönig werden und 380
wäre schädlich für alles, was ich Ihnen noch zu berichten habe. Raphael hatte eine entzückende Zelle, mit Wollust und gutem Geschmack eingerichtet. Nichts fehlte, was die se Einöde so angenehm wie möglich machen konnte und sich zum Vergnügen eignet. Sobald wir eingesperrt waren, entkleidete sich Raphael und befahl mir, dasselbe zu tun. Lange Zeit ließ er sich zum Vergnügen durch dieselben Mittel reizen, die er nachher als Täter anwandte. Ich kann sagen, daß ich an diesem Abend einen so vollständigen Kurs der Ausschweifungen mitmachte, daß ich wetteifern könnte mit den Mädchen, die so trainiert wie möglich bei solchen unreinen Übungen sind. Nachdem ich Lehrerin geworden war, wurde ich wieder Schülerin, aber es war für mich unmöglich ihn zu behandeln, wie er mich behandelt hatte. Man hatte mich nicht um Nachsicht gebeten; bald mußte ich aber darum mit bitteren Tränen flehen. Er mach te sich aber lustig über meine Bitten, ergriff Vorsichtsmaß nahmen gegen meine Bewegungen und wurde immer grau samer. Als er mich völlig meisterte, behandelte er mich zwei Stunden lang mit einer beispiellosen Strenge. Er be gnügte sich nicht mit den Körperteilen, die dafür bestimmt sind, er berührte alles unterschiedslos. Entgegengesetze Partien, zärtliche Teile, nichts blieb von der Wut meines Henkers verschont. Seine wollüstigen Berührungen paßten sich den schmerzlichen Symptomen an, die seine Augen mit Sorgfalt suchten. »Legen wir uns hin«, sagte er endlich, »vielleicht ist es zuviel für dich, aber noch nicht genug für mich. Man kann bei diesen heiligen Übungen nie müde werden. Dies alles ist nur das Abbild dessen, was man tatsächlich tun möchte.« 381
Im Laufe jener Nacht zwang er mich, die Sklavin seiner verbrecherischen Ausschweifungen zu werden. Ich nutzte einen Augenblick, ihn zu fragen, ob ich erwarten dürfe, eines Tages aus diesem Haus fortzukommen. »Sicherlich«, sagte das Ungeheuer, »gerade so, wie du hier eingetreten bist. Wenn wir vier uns einig sind, daß du in den Ruhestand treten sollst, wirst du bestimmt entlassen werden.« »Aber«, wandte ich in der Absicht ein, mehr zu erfahren, »fürchten Sie nicht, daß manche Mädchen, die jünger und nicht so diskret sind wie ich – ich schwöre Ihnen übrigens, daß ich das immer sein werde – eventuell erzählen könn ten, was hier bei Ihnen geschieht?« »Das ist unmöglich«, sagte der Obere. »Unmöglich?« »Allerdings, daran ist kein Zweifel erlaubt!« »Können Sie mir erklären, wie …« »Nein, das ist unser Geheimnis. Was ich dir aber sagen kann, ist folgendes: Ob du nun diskret bist oder nicht, es wird dir jedenfalls völlig unmöglich sein, darüber zu reden, was hier ge schieht, sobald du einmal draußen bist.« Nachdem er das gesagt hatte, befahl er mir grob, über etwas anderes zu sprechen; ich wagte nicht, weiter in ihn zu dringen. Um sieben Uhr morgens ließ er mich von dem stummen Laienbruder zurückgeleiten. Ich fügte alles, was er mir gesagt hatte, zu dem, was ich von Omphale erfahren hatte und gelangte zu dem überzeugenden Schluß, daß die Meinung unserer Zimmerältesten wahrscheinlich stimmte; es mußte wirklich so sein, daß höchst brutale Mittel gegen 382
die Mädchen, die das Haus verließen, angewandt wurden. Wenn sie niemals darüber sprachen, so gewiß aus dem Grund, weil sie in einen Sarg eingesperrt wurden. Ich zit terte lange Zeit ob dieses schrecklichen Gedankens. Es ge lang mir endlich mit Müh und Not, ihn zu vertreiben; ich schöpfte wieder Hoffnung. Wie meine Gefährtinnen ver suchte auch ich, mich zu betäuben. In einer Woche hatte ich mit allen Mönchen Erfahrungen gesammelt. Während dieser Zeit war es mir schrecklich leicht gewesen, mich davon zu überzeugen, wie viele Aus schweifungen, wie viele Infamien die Mönche der Reihe nach fertigbrachten. Bei allen entzündete sich allerdings, genau wie bei Raphael, die Flamme der Begierde erst bei den Exzessen der Grausamkeit. Man könnte glauben, daß bei allen die Laster des verderbten Herzens die Triebfedern alles anderen waren: nur wenn sie solche Laster ausübten, konnte das Vergnügen entstehen. Antonin war es, der mich am meisten leiden ließ. Es ist unmöglich, sich vorzustellen, wie weit dieser Schurke ging bei der grausamen Ausübung seiner Ausschweifungen, wenn sie ihren Höhepunkt erreichten. Stets wurde er von seinen Lastern getrieben; sie allein bestimmten die Art sei ner Freuden; sie reizten bei ihm die Flamme und sie dien ten dazu, sie zur Vollendung zu bringen, wenn sie sich dem Verlöschen zuneigte. Ich wunderte mich darüber, daß, un geachtet der Methoden, die er anwandte, es nie dazu kam, daß eines seiner Opfer schwanger wurde. Ich fragte unsere Älteste, wie er sich davor schützte. »Indem er im nächsten Augenblick die Frucht zerstört«, sagte Omphale, »die seine Begierde hervorbrachte. Sobald 383
er irgendeine Änderung bemerkt, läßt er uns drei Tage nacheinander sechs große Gläser eines Getränkes schluc ken. Am vierten Tag ist keine Spur seiner Ausschweifun gen mehr übrig. Das ist soeben Cornelia geschehen; das ist mir dreimal passiert. Es entsteht kein Nachteil für unsere Gesundheit, im Gegenteil, man hat den Eindruck, daß es uns nachher besser geht. Im übrigen ist er der einzige, wie du schon festgestellt hast, bei dem man solche Gefahr fürchten muß. Der Wider sinn bei der Begierde der anderen läßt uns auf diesem Ge biet wenigstens nichts befürchten.« Bald darauf fragte mich Omphale, ob es stimme, daß un ter allen Klemens derjenige sei, über den man am wenig sten zu klagen habe. »Ach«, antwortete ich, »inmitten einer Unmenge von Schrecknissen und ekelerregenden Schamlosigkeiten, die uns aus einem Schaudern voll Entsetzen in einen empörten Aufschrei stürzen und umgekehrt fällt es schwer, zu sagen, welcher nun wirklich am wenigsten schlimm ist. Ich habe genug von allem! Ich verlange nur noch danach, draußen zu sein, welches Schicksal auch immer auf mich warten mag.« »Nun, es wäre durchaus möglich, daß deine Wünsche bald erfüllt werden. Du bist nur aus Zufall hierher gekom men, niemand hat mit dir gerechnet. Eine Woche vor dei ner Ankunft hat man jemand entlassen; das geschieht nie mals, wenn man nicht sicher ist, daß der Platz wieder be setzt wird. Die Mönche selbst sind es gar nicht, die immer wieder neue Mädchen beschaffen. Sie haben gutbezahlte Agenten, von denen sie mit Eifer bedient werden. Mir 384
scheint es ziemlich gewiß zu sein, daß bald eine neue ein trifft und daß dadurch deine Träume verwirklicht werden. Im übrigen stehen wir ja am Vorabend der Feierlichkeiten. Es geschieht selten, daß diese Zeit verstreicht, ohne ihnen eine Beute einzubringen. Entweder verführen sie junge Mädchen oder sie sperren einfach welche ein. Bei einer solchen Gelegenheit lassen sie sich selten etwas Schönes entgehen.« Endlich nahte die Zeit der berühmten Feier und ging vorüber. Unsere Vermutung jedoch, daß man die neue Ge fährtin aus den Scharen der Pilger ausgesucht habe, wurde nicht bestätigt. Es konnte natürlich auch so sein, daß je mand für den anderen Serail bestimmt worden war; bei uns geschah jedenfalls nichts Neues. Alles spielte sich während der nächsten Wochen im gewohnten Verlauf ab. Ich weilte bereits sechs Wochen in diesem abscheuli chen Haus, als eines Tages Raphael in unserem Turm er schien; es war erst gegen sechs Uhr morgens. Er sah sehr aufgeregt aus; aus seinen Augen sprach ganz offensichtlich eine Art Verwirrung. Er hieß uns alle, sich vor ihm aufzu stellen; sein Blick ruhte besonders lang auf Omphale. Er schaute immer strenger drein; in zunehmendem Maß zeichnete sich Grausamkeit in seinem Gesicht ab. »Sie haben uns lange genug gedient«, sagte er plötzlich, »unsere Gesellschaft wird Sie entlassen. Ich bringe Ihnen hiermit die Bestätigung. Bereiten Sie alles zur Abreise vor. Ich werde selbst heute abend kommen, um Sie abzuholen!« Nachdem er das gesagt hatte, betrachtete er sie noch ge raume Frist mit demselben Ausdruck und ging dann brüsk aus dem Zimmer. 385
Sobald er draußen war, warf sich Omphale in meine Arme. »Ach«, sagte sie schluchzend, »das ist der Augenblick, den ich ebenso gefürchtet wie ersehnt habe! Was wird nun aus mir, lieber Gott?« Ich unternahm alles, was ich tun konnte, um sie zu beschwichtigen, aber es gelang mir nicht. Sie schwor mir unter immer neuen Beteuerungen, daß sie mit allen ihren Kräften danach streben werde, uns zu befreien und diese Schurken zu verklagen, wenn sie nur die geringste Mög lichkeit habe. Ich konnte keinen Augenblick lang daran zweifeln, daß sie das tatsächlich plante, falls die Sache nicht völlig undurchführbar war. Der Tag ging vorüber wie gewöhnlich; gegen sechs Uhr abends kam Raphael wieder ins Zimmer. »Nun«, sagte er kurz angebunden zu Omphale, »sind Sie bereit?« » Ja.« »Gehen wir, gehen wir schnell!« »Gestatten Sie mir bitte noch, daß ich meine Freundin nen umarme?« »Nein, nein, das ist doch völlig überflüssig«, sagte der Mönch und nahm sie am Arm; »man wartet auf Sie, kom men Sie schnell.« Daraufhin fragte sie, ob sie ihre eigenen Kleider mit nehmen solle. »Nichts, gar nichts«, antwortete Raphael; »es gehört doch alles dem Haus. Sie brauchen es nicht.« Plötzlich änderte sich sein Ton; er sah aus, wie jemand, der zu viel gesprochen hatte. Mit beherrschter Stimme füg 386
te er hinzu: »Alle diese Lumpen werden Sie nicht nötig haben. Sie werden sich neue Kleidung nach Ihrem Maß anfertigen las sen können. Das wird Ihnen viel besser stehen.« Ich bat den Mönch um Erlaubnis, Omphale begleiten zu dürfen, wenigstens bis zur Pforte des Klosters, aber seine einzige Antwort bestand aus einem so harten und wilden Blick, daß ich entsetzt zurückwich und es nicht wagte, meine Bitte zu wiederholen. Unsere unglückliche Gefährtin blickte mich, ehe sie fortging, noch ein letztes Mal mit Augen voll Tränen und Angst an. Sobald sie draußen war, gaben wir Zurückge bliebenen uns dem Schmerz, den uns diese Trennung berei tete, hilflos hin. Eine halbe Stunde später kam Antonin, um uns zum üblichen Abendessen zu holen. Raphael erschien erst eine halbe Stück später. Er sah immer noch sehr aufge regt aus und redete oft in leisem, eindringlichem Ton auf die anderen ein. Insgesamt verlief alles wie an sonstigen Abenden. Viel früher als gewöhnlich entließ man uns in unser Zimmer – gerade so; wie Omphale mir erzählt hatte. Die Mönche hatten viel mehr getrunken als sie bei den gleichen Gelegenheiten sonst zu tun pflegten. Was für ei nen Schluß sollte man aus diesen Anzeichen ziehen? Außer der Bestätigung der Beobachtungen, die schon Omphale gemacht hatte, konnte ich nichts weiter entdecken. Wir haben vier Tage lang auf Nachricht von Omphale gewartet. Einmal dachten wir, daß sie den Schwur, den sie abgelegt hatte, bestimmt einhalten würde; ein andermal waren wir wieder davon überzeugt, daß das furchtbare Schicksal, das über sie verhängt worden war, ihr jede Mög 387
lichkeit raubte, uns nützlich zu werden. Schließlich nahm unsere Verzweiflung überhand und wir ließen jede Hoff nung fahren. Unsere Unruhe wuchs ständig. Am vierten Tag nach der Abreise Omphales mußten wir wieder zum Abendessen kommen, wie es an und für sich die Regel war. Wir waren sehr überrascht, als wir ein neues Mädchen her eintreten sahen; sie erschien zur selben Zeit wie wir, aber durch eine andere Tür. »Darf ich Ihnen, meine Damen, jene vorstellen, die un sere Gesellschaft auserkoren hat, um einem Mangel abzu helfen. Seien Sie doch so freundlich und behandeln Sie die Neueingetretene wie eine Schwester. Versuchen Sie, das Mädchen mit seinem Schicksal zu versöhnen, soweit ihnen das möglich ist. Sophie«, wandte sich dann der Pater Guar dian an mich, »Sie sind jetzt die Älteste der Klasse; ich er nenne Sie zur Aufseherin. Sie kennen die Pflichten, die diesem Posten obliegen; sorgen Sie dafür, daß sie mit strengster Genauigkeit erfüllt werden!« Ich hätte gern abgelehnt, aber das war leider unmöglich. Ich war mein Lebtag lang gezwungen worden, meine Wün sche und meinen Willen den Befehlen böser Menschen aufzuopfern. Ich beugte mich also auch diesmal und ver sprach, alles zu tun, um sie zufriedenzustellen. Daraufhin entfernte man die Schleier, die das Gesicht und die Figur unserer neuen Gefährtin bisher verhüllt hat ten; wir erblickten ein junges Mädchen, das etwa fünfzehn Jahre alt, sehr schön und zart war. Ihre Augen schwammen zwar in Tränen, erschienen uns aber dennoch wunderbar; sie schaute uns an und ich muß gestehen, daß ich mein ganzes Leben lang keinen Blick gesehen habe, der mich 388
mehr erschütterte als dieser. Langes, blondes, gelocktes Haar flutete in breiten Wogen über ihre Schultern. Ihr Mund war knospenfrisch und rot; der Kopf hatte eine edle Haltung und in ihrer ganzen Gestalt lag etwas so Reizvol les, daß es einfach unmöglich war, sie anzuschauen, ohne sich unwillkürlich zu ihr hingezogen zu fühlen. Wir erfuh ren bald von ihr selbst – ich erzähle es hier, um den Zu sammenhang nicht zu verlieren –, daß sie Octavie hieß und die Tochter eines reichen Kaufmanns aus Lyon war. Sie war in Paris erzogen worden und befand sich auf der Rück reise nach Hause; als Begleitung diente ihr eine Erzieherin. Während der Nacht wurden sie zwischen Auxerre und Vernenton überfallen. Man hatte sie mit Gewalt entführt und in dieses Haus geschleppt. Sie wußte nicht, was aus ihrem Wagen und vor allem aus der Frau, die sie begleitet hatte, geworden war. Seit etwa einer Stunde war sie in ei nem niedrigen Gelaß eingesperrt gehalten worden und hat te sich der Verzweiflung hingegeben, als man sie plötzlich holte, um sie zu uns zu bringen. Man hatte noch kein einzi ges Wort mit ihr gesprochen. Unsere vier Wüstlinge, im nächsten Moment schon in Ekstase vor so vielen Reizen, waren nur fähig, sie zu be wundern. Die Macht der Schönheit zwingt zu Respekt. Der schlimmste unter den Schurken verehrt sie irgendwie, und man kann dieses Gefühl nicht ohne Gewissensbisse über winden. Aber Ungeheuer wie diese, mit denen wir zu tun hatten, konnten nicht lange unter solchen Zügeln leiden: »Nun Fräulein«, sagte der Obere, »laßt und sehen, ob Eure anderen Reize denen entsprechen, die die Natur so verschwenderisch auf die Züge ausgebreitet hat.« 389
Da das junge Mädchen verlegen wurde und errötete, oh ne zu verstehen, was man von ihr wünschte, nahm der bru tale Antonin sie beim Arm und redete sie mit Worten an, die ich nicht wiederholen kann, weil sie so unanständig waren: »Wieso verstehen Sie nicht, kleines Dummerchen? Das heißt einfach, daß wir Sie gern nackt sehen möchten.« Neue Tränen, neue Verteidigungsversuche. Klemens pack te sie aber fest und in einer Minute ließ er alles verschwin den, was den schönen Körper dieses entzückenden Ge schöpfes bedeckte. Es war schwierig, zu entscheiden, ob die Reize, die die Anständigkeit bei Octavie versteckte, denen vorzuziehen waren, die die Gewohnheit zu zeigen ihr erlaubte. Sicher lich hat man nie eine weißere Haut, schöner gestaltete Formen gesehen, und eine so große Frische, eine so große Unschuld und Zartheit, die dazu bestimmt waren, die Beute dieser Wüstlinge zu werden. Nur um von Ihnen beschmutzt zu werden, schien die Natur ihr soviel Gunst geschenkt zu haben. Der Kreis bildete sich um sie, und genau, wie es mit mir geschehen war, mußte sie hin und her laufen. Der feurige Antonin besaß nicht die Kraft dazu, sich zu beherrschen; die Opferung verursachte ein grausames Attentat wider diese blühenden Reize. Raphael sah, daß es Zeit war, an ernsthaftere Dinge zu denken. Er selbst war nicht mehr im stande zu warten; er packte das Opfer, legte es hin, wie es ihm besser gefiel. Dabei bat er Klemens, ihm zu helfen. Octavie weinte, doch man hörte nicht darauf. Das Feuer brannte in den Augen des scheußlichen Italieners. Rasch wurde er Herr des Platzes, den er angriff; man könnte sa 390
gen, daß er ihn so genau betrachtete, um den Widerstand besser vorauszuberechnen. Keine List, keine Vorbereitung wurde getroffen. Wenn auch die Diskrepanz zwischen dem Angreifer und der, die sich wehrte, ungeheuer groß war, vollzog er trotzdem die Eroberung. Ein rührender Schrei des Opfers kündigte uns an, daß sie besiegt worden war. Aber nichts konnte ihren stolzen Eroberer rühren. Je mehr sie um Gnade bat, desto mehr gebrauchte er Gewalt. Genau wie es mir geschehen war, wurde die Unglückliche schänd lich benutzt, ohne deswegen aufzuhören, Jungfrau zu sein. »Nie habe ich so schwierig Lorbeeren erobert«, sagte Raphael und stand auf. »Zum ersten Male in meinem Le ben habe ich geglaubt, daß ich einen Mißerfolg erleben würde, auch wenn ich sie pflückte.« »Jetzt werde ich sie nehmen«, sagte Antonin und erlaub te ihr nicht aufzustehen. »Es gibt mehr als einen Riß in der Mauer, und wir haben bisher erst einen einzigen angegrif fen.« Er sprach’s und schritt stolz zum Kampf voran. In einer Minute beherrschte er den Platz. Man hörte neue Klagen. »Gott sei Dank«, sagte dieses schreckliche Ungeheuer. »Ich hätte nicht an den Sieg geglaubt, wenn sie nicht ge schrien hätte. Ich schätze meinen Triumph erst, wenn ich Tränen gesehen habe.« »Wahrlich«, sagte Jerome, der auch mit seinen Waffen vortrat, »ich werde diese günstige Lage nicht verändern; für meine Absichten kann sie nicht besser sein.« Er betrachtete sie, berührte sie, betastete sie, und sofort hörten wir einen schrecklichen Schrei. Der schöne Leib veränderte seine Farbe; ein starkes Rot mischte sich in die 391
Farben der Lilien. Was vielleicht ein Amüsement für die Liebe gewesen wäre, wenn die Mäßigkeit sie geführt hätte, wurde sofort zum Verbrechen gegen ihre Gesetze. Nichts konnte den bösen Mönch mehr aufhalten. Je mehr die Schülerin klagte, desto heftiger wurde er. Alles wurde auf dieselbe Art und Weise behandelt, nichts fand Gnade vor seinen Augen. Bald gab es keinen einzigen Teil dieses schönen Körpers, der nicht die Zeichen der Grausamkeit getragen hätte. Schließlich befriedigte sich das Scheusal an den blutigen Spuren seiner Grausamkeit. »Ich werde viel milder als ihr alle sein«, sagte Klemens und nahm die Schöne in seine Arme. Er drückte einen un reinen Kuß auf den Korallenmund. »Hier ist der Tempel, wo ich mein Opfer darbringen werde.« Wiederholte Küsse auf den entzückenden Mund, der von Venus selbst gebildet zu sein schien, entflammten ihn noch mehr. Er zwang das unglückliche Mädchen zu den Infami en, die ihm Freude bereiten. Das glückliche Organ der Freuden, das süßeste Asyl der Liebe wurde durch Schrec kenstaten beschmutzt. Wie zu befürchten war, verlief der Abend wie alle die anderen Abende, die Sie schon kennen. Die Schönheit, das rührende Alter des jungen Mädchens entflammten diese Schurken noch weiter. Ihre Gewalttaten verdoppelten sich und es war die Sättigung, nicht das Mit leid, die sie dazu brachte, die Unglückliche in ihr Zimmer zurückzuschicken. So bekam sie wenigstens für ein paar Stunden die Ruhe, die sie so sehr benötigte. Ich hätte sie gern getröstet in dieser ersten Nacht, aber ich wurde ge zwungen, sie bei Antonin zu verbringen. Ich kam also 392
selbst in die Lage, Hilfe zu brauchen. Ich hatte das Un glück gehabt, nicht etwa ihm zu gefallen – das Wort wäre hier nicht angebracht –, aber mehr als die anderen die schändliche Begierde dieses Wüstlings zu wecken. Es gab wenig Wochen, in denen ich nicht ein paar Nächte in sei nem Zimmer verbringen mußte. Als wir endlich in unserem Turm waren, suchte ich un sere neue, in Tränen gebadete Leidensgefährtin zu trösten. Ich wiederholte ihr alles, was mir selbst vor kurzem gesagt worden war, um sie zu beruhigen, aber der Erfolg war ebenso gering, wie er es bei mir gewesen war. Es ist wahr lich nicht leicht, jemand über eine derart jähe und schreck liche Änderung des Lebensweges hinwegzutrösten. Dieses junge Mädchen war außerdem sehr fromm und tugendhaft. Ihr ausgeprägtes Gefühl für Ehre ließ sie ihren jetzigen Zu stand noch schmerzlicher empfinden. Allmählich blieb ihr nichts anderes übrig, als sich in ihr Schicksal zu fügen wie wir anderen auch. Ihren Trost in ihrem Unglück bildete die Hoffnung, eines Tages frei zu werden. Omphale hatte wirklich recht gehabt, als sie mir sagte, daß die Länge des Aufenthalts nichts mit der Entlassung zu tun habe. All diese Dinge hingen offensichtlich einzig und allein von den Launen der Mönche ab; vielleicht auch noch von einigen undurchsichtigen Vorgängen, die sich draußen in der Welt abspielten. Man konnte bereits nach einer Wo che entlassen werden oder aber erst nach zwanzig Jahren. Octavie war kaum sechs Wochen bei uns gewesen, als Ra phael eines Tages kam und ihr die bevorstehende Abreise verkündete. Sie gab uns dieselben Versprechen wie Omphale und verschwand wie sie. Niemals haben wir er 393
fahren, was aus ihr geworden ist. Wir warteten ungefähr einen Monat lang auf die Ankunft eines anderen Mädchens. Während dieser Zeit hatte ich wie Omphale die Gelegenheit, mich zu überzeugen, daß wir nicht die einzigen Mädchen waren, die dieses Haus be wohnten. Ein anderes Gebäude enthielt allem Anschein nach dieselbe Zahl wie unseres. Omphale hatte allerdings nur Verdacht schöpfen können. Mein eigenes Abenteuer war überzeugender und konnte unsere Vermutungen end gültig bestätigen. Es verlief folgendermaßen: Ich hatte die Nacht bei Raphael verbringen müssen und trat, der festgelegten Regel nach, um sieben Uhr morgens auf den Gang hinaus. Plötzlich tauchte ein Laienbruder, noch ekelhafter als der unsere, vor mir auf. Ich hatte ihn noch nie gesehen. Ein hochgewachsenes Mädchen zwi schen achtzehn und zwanzig Jahren, die mir recht schön zu sein schien, ja, vielleicht sogar das geeignete Sujet für ein Bild abgegeben hätte, begleitete ihn. Raphael, der mich zurückführen wollte, war noch nicht hier. Da ich genau mit dem Mädchen zusammenprallte, wußte der Bruder nicht, was er tun sollte, um sie vor meinen Augen zu verstecken. »Wohin führen Sie dieses Mädchen?« fragte wütend der Pater Guardian, der auf einmal hinter uns stand. »Zu Ihnen, ehrwürdiger Pater«, sagte der abscheuliche Merkur; »Sie haben vielleicht vergessen, daß Sie es mir gestern abend befohlen haben.« »Ich habe sie für neun Uhr bestellt.« »Für sieben Uhr, sagten Sie mir!« Währenddessen betrachtete ich meine plötzlich entdeck te Gefährtin, die mich ebenfalls verwundert anstarrte. 394
»Nun, jetzt ist schon alles gleich«, knurrte Raphael und brachte mich in sein Zimmer zurück. Das andere Mädchen mußte uns begleiten! »So, Sophie«, sagte er, nachdem er die Tür geschlossen hatte, »dieses Mädchen hat in einem anderen Turm dieselbe Stelle inne, wie Sie in Ihrem. Sie ist auch Zimmerälteste. Ich sehe keinen Nachteil darin, daß sich unsere beiden Ältesten kennenlernen. Damit die Be kanntschaft vollkommener sei, Sophie, werde ich dir unse re Marianne ganz nackt zeigen.« Diese Marianne schien mir ein recht unverschämtes Mädchen zu sein. Sie entkleidete sich sofort. Raphael be fahl mir, seine Begehrlichkeit aufzureizen, und vor meinen Augen unterwarf er sie seinem Lieblingsvergnügen. »Das ist es, was ich von ihr wünschte«, sagte das Scheu sal, nachdem es sich befriedigt hatte. »Es ist genug, daß ich eine Nacht mit einem Mädchen verbracht habe, um mir am Morgen ein anderes zu wünschen. Nichts ist so schwer zu sättigen wie unsere Begehrlichkeit. Je mehr wir ihr ein Op fer darbringen, desto größer wird sie. Obwohl immer unge fähr dasselbe geschieht, träumt man dauernd von neuen Reizen, und der Augenblick, da die Sättigung unsere Be gierde nach der einen auslöschtest schon der Augenblick, da sie sich für eine andere von neuem entflammt. Ihr seid zwei Mädchen, auf die man sich, wie ich hoffe, verlassen kann. Gehen Sie wieder, Sophie, der Laienbruder wird Sie zurückführen.« Ich versprach also, das Geheimnis zu bewahren, wie es von mir verlangt worden war. Jetzt wußte ich ganz sicher, daß wir nicht die einzigen waren, die in diesem Haus der Schrecken gefangen gehalten wurden. 395
In der nächsten Zeit war Octavie ausgewechselt worden. Ein kleines Bauernmädchen, zwölf Jahre alt, frisch und hübsch, aber mit ihr überhaupt nicht zu vergleichen, traf als Ersatz ein, der ihren Platz einnahm. Ich blieb in den fol genden zwei Jahren weiterhin die Zimmerälteste. Florette und Cornelia mußten ebenfalls abreisen. Wie alle schworen auch sie, mir unbedingt eine Nachricht zukommen zu las sen, aber auch ihnen schien es nicht gelungen zu sein. Sie wurden innerhalb kurzer Frist ersetzt. An die Stelle von Florette trat ein Mädchen aus Dijon, fünfzehn Jahre alt und ziemlich dick; ihre Jugend und ihre Frische waren ihre ein zigen Reize. Anstelle von Cornelia kam ein Mädchen aus Autun; sie entstammte einer sehr angesehenen Familie und war au ßerordentlich hübsch. Seit dem Eintreffen des letzteren Mädchens konnte ich allmählich bemerken, daß ich nicht mehr in der launenhaften Gunst der wachsamen Ungeheuer stand; ich befand mich also wahrscheinlich am Vorabend meiner Entlassung. Die Unberechenbarkeit unserer ver derbten Herren ließ mein Herz angstvoll schlagen ob mei nes ungewissen Schicksals. Ich fühlte mit aller Deutlich keit, daß meine Entlassung auch mein Todesurteil bedeute te. Für einen Augenblick erfaßte mich Unruhe. Ich wieder holte: Für einen Augenblick! Konnte ich denn, unglücklich wie ich war, noch am Leben hängen? War für mich nicht der größte aller Glücksfälle der Verlust dieses Lebens? Diese Überlegung tröstete mich. Ich harrte nun der Zu kunft mit einer solchen Gleichgültigkeit, daß ich nicht das geringste unternahm, um die anscheinend verlorene Gunst wiederzugewinnen. Die schlechte Behandlung nahm wei 396
terhin zu. Es verging kaum ein Augenblick, ohne daß man sich über mich beklagte, kein Tag, an dem ich nicht ge straft wurde. Ich betete inständig zum Himmel und wartete auf mein endgültiges Urteil. Vielleicht stand ich schon sehr dicht davor, als die Hand der Vorsehung mich jählings die sem Abgrund entriß – leider, um mich bald darauf in einen neuen zu schleudern. Aber ich will nichts vorwegnehmen. Ich werde Ihnen der Reihe nach erzählen, was geschah und wie wir schließlich aus den Händen dieser Ungeheuer be freit wurden. Auch unter diesen Umständen mußte ich das schreckli che Beispiel des Lasters, das belohnt wird, vor meinen Au gen haben, wie es bis dahin immer in meinem Leben ge schehen war. Es war vorherbestimmt, daß diejenigen, die mich gequält, gedemütigt, gefesselt hatten, vor meinen Blicken stets den Preis ihrer Verbrechen ernten sollten. Die Vorsehung schien mir zeigen zu wollen, wie unnütz die Tugend ist. Es war eine verhängnisvolle Lektion, die für mich keine Verbesserung bedeutete. Und trotzdem, auch wenn ich dieses Mal dem Schwert, das über meinem Kopf hängt, entgehe, werde ich weiterhin die Sklavin Got tes in meinem Herzen bleiben. Eines Morgens erschien auf einmal Antonin in unserem Zimmer, ohne daß wir ihn erwartet hätten. Er gab uns be kannt, daß der ehrwürdige Pater soeben die Nachricht von seiner sofortigen Versetzung erhalten habe. »Und ich«, sagte er, »gehe nach Lyon. Zwei neue Patres werden uns sehr bald in diesem Haus ersetzen; vielleicht werden sie sogar heute noch eintreffen. Wir kennen sie nicht; es ist wohl möglich, daß sie euch auch nach Haus 397
schicken. Es könnte allerdings auch so sein, daß sie euch behalten wollen. Was immer auch euer Schicksal sein mag, ich gebe euch jedenfalls den Ratschlag, den zu befolgen für euch ebensogut sein wird, wie für die Ehre der beiden Brü der, die hierbleiben! Nämlich, die Einzelheiten unseres Be nehmens zu verschweigen! Ihr dürft nur gestehen, was wirklich nicht mehr zu verheimlichen ist.« Eine derart günstige Nachricht versetze uns in eine Stimmung, die es nicht zuließ, daß wir das Verlangen des Mönchs ablehnten. Wir versprachen alles, was er wollte. Er verschwand dann eiligst. Man brachte uns das Abendessen wie gewöhnlich. Ungefähr zwei Stunden später kam der Pater Klemens in unser Zimmer, gefolgt von zwei, sowohl dem Alter, wie dem Aussehen nach ehrwürdigen Ordens leuten. »Sie müssen zugeben, Pater«, sagte der eine zu Kle mens, »daß diese Ausschweifungen entsetzlich sind! Es ist mir einfach unbegreiflich, daß der Himmel sie so lange ge duldet hat.« Klemens zeigte sich mit allem einverstanden; er ent schuldigte sich demütig, weil weder er, noch seine Mitbrü der etwas erneuert hatten. Sie hatten nämlich das Haus in dem Zustand gelassen, in dem sie es vorgefunden hatten. Die Einrichtungsgegenstände und die Einwohner hatten zwar gewechselt, aber sogar diese Mannigfaltigkeit war feste Regel gewesen. »Also gut«, sagte derselbe Pater, welcher der neue Obere zu sein schien – und der es auch tatsächlich war –, »ich will Ihnen ja verzeihen. Aber wir müssen auf dem schnell sten Wege die Spuren dieser abscheulichen Ausschweifun 398
gen austilgen. Jeder redliche Mensch in der Welt muß sich dagegen empören; ich überlasse es Ihnen, sich vorzustel len, was echte Mönche darüber denken, wenn sie davon erfahren würden.« Dann fragte der gleiche Pater, was aus uns werden solle. Jede antwortete, sie möchte am liebsten zu ihrer Familie oder in ihre Heimat zurück. »So soll es auch geschehen, meine lieben Kinder«, sprach der Mönch, »ich werde jeder von euch genügend Geld für die Reise geben. Nur müßt ihr eine nach der ande ren gehen, jeweils mit zwei Tagen Abstand. Außerdem müßt ihr allein und zu Fuß reisen; nie dürft ihr offenbaren, was in diesem Haus geschehen ist.« Wir schworen es. Dem neuen Pater Guardian genügte dieser Schwur noch nicht; er ermutigte uns zum Sakramen tenempfang. Keine von uns lehnte ab. Vor dem Altar ließ er uns nochmals schwören, daß wir immer schweigen wür den und nichts von dem, was sich in dem Kloster zugetra gen hatte, bekanntzumachen. Wenn ich meinen Schwur bei Ihnen scheinbar breche, Madame, so geschieht das aus dem Grund, daß ich mich mehr an den Geist als an den Buch staben des Versprechenshalte, das ich diesem guten Prie ster gab. Er wollte einfach einen Skandal vermeiden. Ich bin davon überzeugt, daß ich Ihnen mit aller Seelenruhe dieses Abenteuer berichten kann ohne den Orden des frommen Mönches insgesamt zu schädigen. Meine Gefährtinnen reisten vor mir ab. Es war uns drin gend geraten worden, ein Zusammentreffen zu vermeiden; wir waren außerdem schon seit der Ankunft des neuen Oberen getrennt worden. So haben wir uns nie wiedergese 399
hen. Ich hatte darum gebeten, nach Grenoble gehen zu dür fen; man gab mir zwei Franc für die Reise. Ich nahm wie der die Kleidung, die ich getragen hatte, als ich ankam; in der Tasche entdeckte ich weitere acht Franc. Überglücklich darüber, endlich diesen entsetzlichen Schlupfwinkel des Lasters verlassen zu dürfen, vor allem auf so bequeme und unerwartete Weise, wanderte ich in den Wald hinein. Ich stieß bald auf die Landstraße nach Auxerre; es war genau derselbe Platz, an dem ich sie verlassen hatte, um mich in diese Hölle zu stürzen. Drei Jahre waren inzwischen ver gangen. Ich war nun also fünfundzwanzig Jahre alt, das heißt, es fehlten noch einige Wochen daran.
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