Weil es mein Herz verlangt Roman von Leni Behrendt
Der Landarzt Albrecht Winard hat in zweiter Ehe die zarte, feine Kar...
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Weil es mein Herz verlangt Roman von Leni Behrendt
Der Landarzt Albrecht Winard hat in zweiter Ehe die zarte, feine Karola Hiltmer, eine arme Waise, geheiratet. Er liebt sie sehr, doch das feinsinnige Wesen wird in der derben
und einfachen Umgebung nur gequält, zumal Winard im Hause der Mutter seiner ersten Frau lebt, die seine beiden kleinen Mädchen zudem verhetzt. Nach einem schrecklichen Auftritt flieht Karola zu ihrer einzigen, ihr bisher unbekannten Tante. Hier wird die junge Karola liebevoll aufgenommen, schenkt der kleinen Ute das Leben. Winard, der nach einem Krankenbesuch zurückkehrt, findet seine Frau nicht mehr vor. Als er sie besucht, erklärt Karola ihm, daß sie nichts mehr von ihm wissen will. Gibt es noch eine Rettung für die große Liebe?
Wir verwenden Papier, das bis zu 70% aus Altpapier besteht. Das ist unser Beitrag zum Umweltschutz. Diese Ausgabe erscheint alle 4 Wochen im Martin Kelter Verlag (GmbH & Co.), Mühlenstieg 16-22, 22.041 Hamburg, Postfach 70 10 09, 22.010 Hamburg Telefon: Sa.-Nr. (040) 68 28 95-0, Telefax (040) 68 28 95 50, Fernschreiber: 213.126 Verantwortlich: Verleger Otto Melchert. Im Verkaufspreis ist die gesetzliche Mehrwertsteuer enthalten. Gesamtherstellung: Norhaven Rotation A/S Für unaufgefordert eingesandte Manuskripte übernimmt der Verlag keine Gewähr. Abgebildete Personen auf dem Umschlag stehen in keinem Zusammenhang mit dem Roman. Diese Ausgabe darf weder in Leihbüchereien verliehen noch in Lesezirkeln geführt oder zum gewerbsmäßigen Umtausch bzw. Wiederverkauf verwendet werden. Printed in Denmark.
Bimmelnd schlängelte sich die Kleinbahn die schmalen Schienen entlang, bis sie wieder eine der vielen Haltestellen erreicht hatte und mit grellem Pfiff und scharfem Ruck stehenblieb. Den beiden Reisenden blieb kaum Zeit auszusteigen, als das Bähnlein sich auch schon wieder prustend und stöhnend in Bewegung setzte. Es war stockdunkel; dazu regnete es in Strömen. »Albrecht, wo bist du?« ließ sich eine ängstliche Stimme vernehmen. »Man kann hier ja nicht die Hand vor den Augen sehen!« Eine Taschenlampe blitzte auf, ihr Schein traf eine weibliche Gestalt, die von einem Regenmantel verhüllt war. »Fürchtest du, daß ich heimlich, still und leise verschwinden könnte?« kam es neckend zurück. »Komm nur und halte dich an meinem Rockzipfel fest. Ich kann dich nicht führen, da ich die Koffer tragen muß.« »Kann das nicht der Kutscher besorgen? Bring mich so lange in den Wartesaal.« »Den gibt es hier nicht, Kindchen. Eine Wellblechbude ist alles, was die Haltestelle an Unterschlupf zu bieten hat.« »Das ist ja entsetzlich! So etwas kenne ich ja noch gar nicht.« »Dafür bist du auch auf dem abgelegensten Lande. Wirst dich hier noch über manches wundern müssen.« »Albrecht, huh – ich trat eben auf etwas. Ich glaube, es war ein Tier!« »Natürlich! Es war sicherlich ein Wolf, wie sie bei uns hier oben frisch und frech herumlaufen«, lachte der Mann herzlich. Er stellte die Koffer hin und hob die leichte Gestalt auf die Arme. »Komm schon, du Hasenherz, bevor du dich noch ganz in Angst auflöst.« Sicher landete die junge Frau dann auf dem Sitz des Wagens, dessen Halbverdeck sie vor dem Regen schützte. Wie ein Kind ließ sie sich von dem Gatten in die Decke hüllen. Und erst als sie warm und gut saß, eilte er in Begleitung des Kutschers davon, um die abgestellten Koffer
zu holen. Dann nahm er neben der, Gattin Platz, die sich beglückt an ihn schmiegte. »Sitzt du auch warm, mein Liebstes?« fragte er zärtlich. »Ja!« »Und fürchtest dich auch nicht mehr?« »Wenn du bei mir bist, niemals. Obgleich die Dunkelheit beängstigend genug ist. Wird der Kutscher uns auch richtig fahren?« »Darauf kannst du dich verlassen. Der alte Klinkeit und sein braver Gaul finden den Weg im Schlaf. Lieber wäre ich ja heute mit dir im Auto gefahren, weil man rascher vorwärts kommt und auch wärmer sitzt. Aber wie mir Klinkeit eben erzählte, ist das einzige Mietauto des Dorfes gerade unterwegs. Wir müssen also auch so zufrieden sein.« »Mir ist es gleich, worin ich fahre. Die Hauptsache ist, daß du bei mir bist«, beteuerte die junge Frau zärtlich. Zwei weiche Arme legten sich um den Hals des Mannes, der seine ihm vor drei Tagen angetraute Frau fest umfaßte. Sie merkten beide nicht, wie der Regen auf das Verdeck des Wagens klatschte und von dort auf die Lederdecke rann. Sie schraken erst aus ihrer seligen Versunkenheit auf, als der Wagen hielt. »Sind wir denn schon angelangt, Klinkeit?« fragte der Mann verwundert. »Jawohl, Herr Doktor. So schnell ist uns die Zeit wohl noch nie vergangen«, kam es schmunzelnd zurück. Lachend stieg der junge Arzt vom Wagen und hob dann seine Frau herab. Ganz fest drückte er sie an sich, bevor er sie behutsam zur Erde gleiten ließ. Klinkeit reichte die beiden Koffer hinunter, und langsam ratterte der Wagen über das holprige Pflaster der Dorfstraße weiter. »Nimm bitte die Taschenlampe, Karola, und geh voran«, bat der Gatte, der sich wieder mit den Koffern belud. »Wir hätten doch lieber bei Tage hier ankommen sollen. Ein Einzug bei Dunkelheit und Regenwetter dazu ist nicht gerade erfreulich.« Karola öffnete die Pforte, durchquerte mit wenigen
Schritten den kleinen Vorgarten und stand dann vor dem Hause, das fortan ihre Heimat sein sollte. Und während Albrecht die Koffer abstellte und die Tür aufschloß, ließ sie den Schein der Taschenlampe über das Gebäude huschen. Sie sah schmucklose, weißgetünchte Mauern, in der Mitte eine Tür und zu beiden Seiten je zwei Fenster. Neben der Tür war ein weißes Emailleschild angebracht, auf dem in schwarzer Schrift ›Doktor Albrecht Winard, praktischer Arzt‹ zu lesen war. Alles in allem war es ein schmuckloses, sehr nüchtern wirkendes Haus, das die junge Frau enttäuschte. Plötzlich, ihr selbst unverständlich, packte sie eine unsinnige Angst, und als Winard nun die Tür öffnete und sie über seine Schulter hinweg in den dunklen Flur schaute, war ihr, als ob etwas Drohendes, Unheimliches sie anspringen wollte. Zitternd schmiegte sie sich an den Gatten, der zu ihr trat und sie in den nun erhellten Flur zog. »Kind, was hast du?« fragte er mit einem besorgten Blick auf ihr blasses Gesicht. »Du zitterst ja am ganzen Körper. Du wirst dich auf der Fahrt doch nicht etwa erkältet haben?« »Albrecht – ich fürchte mich!« stammelte sie hilflos – aber er lachte sie einfach aus. »Wovor denn, du Dummchen? Du bist doch jetzt in deinem Heim, in dem dir bestimmt nichts Böses widerfahren wird. Schade«, er blickte sich unangenehm berührt um. »Wir hätten doch besser mit dem Mittagszug eintreffen sollen, wie es vereinbart war. Wahrscheinlich hat Klinkeit vergessen zu bestellen, daß wir erst abends kommen wollten.« Karola würgte an den Tränen, die ihr im Halse saßen. Und während der Gatte ihr die triefend nassen Überkleider abnahm, sah sie sich ängstlich im Flur um. Der Fußboden bestand aus roten, zum Teil schon recht abgetretenen Ziegeln. Rechts, links und in der Mitte je eine braungestrichene Tür, an der Seite eine sehr schmale, steile
Holztreppe und an der einen weißgetünchten Wand einige Kleiderhaken – das war alles. Winard hatte die Tür zur linken Hand aufgeschlossen und ließ das Licht im Zimmer aufflammen. Langsam trat Karola näher. Nicht eine Spur von Behaglichkeit wies der Raum auf. Karola, die ihre Kindheit und Jungmädchenzeit in einem Hause verbracht hatte, in dem alles von gediegener Vornehmheit gewesen war und die in den letzten beiden Jahren mit ihrer Mutter in einer zwar kleinen, doch schön und behaglich eingerichteten Wohnung gelebt hatte, schaute mit erschrockenen Augen umher. Um ihren Mund zuckte es wie verhaltenes Weinen. Fröstelnd zog sie die Schultern hoch, was Winard veranlaßte, an den weißen Kachelofen zu treten. »Der Ofen ist anscheinend auch schlechter Laune, denn eigentlich müßte es hier wenigstens warm sein.« Sie sah nicht, wie seine Stirn sich umwölkte. »Nun«, fuhr er mit etwas gezwungener Heiterkeit fort, »dann werden wir uns heute an unserer Liebe wärmen. Meine Schwiegermutter mußt du entschuldigen, sie scheint doch angenommen zu haben, daß wir erst morgen kommen würden. Aber du wirst sie noch schätzen lernen, unsere Oma, die dir alle schwere Arbeit hier abnehmen wird.« »Albrecht, du hast doch gewußt – «, begann sie gekränkt. »Daß ich ein zartes, feines und auch ein bißchen verwöhntes Mädchen geheiratet habe, jawohl! Aber gerade so wie es ist, liebe ich es über alle Maßen. Und du, warum hast du mich denn genommen – gerade mich?« »Das weißt du doch, Albrecht.« »Sag’s doch wieder einmal, Liebste – bitte!« »Weil es mein Herz verlangt!« flüsterten die roten Lippen, auf denen dann seine heißen Küsse brannten. Seine Stimme raunte liebe, zärtliche Worte. Und da vergaß die junge, verwöhnte Karola ihre nüchterne Umgebung. Vergaß, daß sie fror – und war glückselig, dem Mann ihrer
Liebe so nahe zu sein und immer bei ihm bleiben zu dürfen. Durch ein schrilles, anhaltendes Klingeln schreckte Karola aus tiefem Schlafe auf. Mit einem Ruck saß sie aufrecht im Bett und sah mit Befremden, wie das Licht aufflammte und der Gatte nach dem Hörer des Fernsprechers griff, der auf dem Nachttisch stand. Er sprach nur wenige Worte, dann sprang er mit einem Satze aus dem Bett. »Albrecht, wo willst du denn hin?« »Zu einer Kranken, Liebling.« »Jetzt, mitten in der Nacht?« »Gewiß doch. Deine kindische Furcht vor dem Alleinsein mußt du endlich lassen«, entgegnete er mit leichter Ungeduld, während er sich eilig ankleidete. Seine Gedanken waren schon bei der erkrankten Frau, die seine Hilfe brauchte. Und so entging es ihm, daß Karola ihn entsetzt ansah. Er hatte bisher nur in liebevollstem Ton zu ihr gesprochen. Und nun – nach so wenigen Ehetagen… Sie warf sich in die Kissen zurück und weinte heiß auf. Mit einem verstohlenen Seufzer trat er zu ihr und strich beruhigend über ihr Haar. »Karola, Liebstes – nun sei einmal ganz vernünftig«, sprach er ihr gut zu. »Du mußt dich damit vertraut machen, daß ich manchmal auch nachts fortgeholt werde. Dafür bin ich doch Arzt. Und ich bin der einzige Arzt hier am Ort, es ist meine Pflicht, dem Rufe der Kranken zu folgen. Du wirst dich auch an meine nächtlichen Krankenbesuche bald so gewöhnt haben, daß du sie überhaupt nicht mehr merkst. Genauso erging es Lydia.« Er drückte einen raschen Kuß auf das blonde Gelock seiner jungen Frau und eilte hinaus, ohne sich um ihr heftiges Schluchzen zu kümmern. Karola starrte ihm enttäuscht nach, und das verwöhnte Geschöpf konnte es nicht fassen, daß es etwas geben könnte, was dem Gatten wichtiger erschien als sie. Sie kam sich unglücklich vor, schluchzte sich in einen unruhigen Schlaf und schreckte auf, als im
Nebenraum gesprochen wurde. Albrecht war immer noch nicht zurück. Bang und schwer schlug Karola das Herz in der Brust. Sie fürchtete sich plötzlich vor allem, worauf sie sich gestern noch gefreut hatte; vor dem Heim des geliebten Mannes und vor seinen Kindern, denen sie fortan die Mutter ersetzen sollte. Eine heftige Sehnsucht nach ihrer erst kürzlich verstorbenen Mutter stieg in ihr auf. Nach dem behaglichen, gepflegten Heim, das sie noch vor wenigen Wochen mit der liebsten und besten aller Mütter geteilt hatte. Ihr tränenverdunkelter Blick schweifte im Zimmer umher und blieb an einem Bild hängen, das eine Frau zeigte. Das muß Lydia sein, schoß es ihr in den Sinn, die erste Frau Albrechts, meine Vorgängerin. Ein wenig ansprechendes Gesicht war es, mit kleinen, ausdruckslosen Augen und einem verkniffenen Zug um den Mund. Es war nicht schwer zu erkennen, daß diese Frau kleinlich und engherzig gewesen sein mußte. Es war natürlich Unsinn – aber Karola war es, als ob der Mund sich jetzt zu einem höhnischen Lächeln verzog und die Augen boshaft zu ihr herabblickten. Schaudernd drückte sie das Gesicht in die Kissen und verharrte so regungslos, bis der Gatte an ihr Bett trat. »Schläfst du noch, Karola?« fragte er behutsam. Da wandte sie ihm ihr blasses, übernächtigtes Gesicht zu. »Du bliebst so lange fort, Albrecht«, klagte sie. »Das klingt ja so sehr kläglich«, lachte er fröhlich. »Und dabei ist das liebe, süße Fraule noch am Leben, kein böser Nachtgeist hat es geholt und verschlungen.« »Dein Spott tut mir weh, Albrecht.« Da lachte er nicht mehr, sondern zog sie liebevoll in die Arme. »Liebstes, wie kann man nur so furchtsam sein. Und wie kann man nur so traurige Augen haben – am vierten Ehetag! Freust du dich denn gar nicht, zu Hause zu sein?« »Doch – ja. Ich muß mich jedoch erst einleben – « »Das wirst du, sobald die Möbel aus deinem Elternhause
hier stehen werden«, tröstete er. »Dann wirst du dich sofort heimisch fühlen. Aber jetzt hopp, heraus aus dem Bett, kleine Langschläferin! Meine Mädel brennen darauf, ihre neue Mutti kennenzulernen. Zieh dich rasch an, nach einer Weile hole ich dich ab.« Karola war nun doch auf ihre nähere Umgebung gespannt. Sie beeilte sich mit dem Ankleiden, so daß sie dem Gatten, der schon nach einer Viertelstunde wiederkam, in das Nebenzimmer folgen konnte, das einen genauso nüchternen und unbehaglichen Eindruck machte wie alles, was sie bisher in diesem Hause gesehen hatte. Am Eßtisch saß eine Frau, die sich bei Karolas Eintritt langsam erhob. Und als die junge Frau der älteren ins Gesicht sah, da wußte sie sofort, daß sie die Mutter ihrer Vorgängerin vor sich hatte. Es war Zug um Zug das Gesicht auf dem Bild – nur älter und der Ausdruck noch verkniffener. »Hier, liebe Mama, bringe ich dir meine Karola«, sagte Albrecht in herzlichem Ton. »Ersetze ihr ein wenig die Mutter, die sie erst vor wenigen Wochen hat hergeben müssen.« Karola ergriff die Hand, die sich ihr widerwillig entgegenstreckte - und die ihr sofort wieder drucklos entzogen wurde. »Hier sind auch die beiden Töchterchen«, erklärte Winard fröhlich, wobei er Karola zwei Mädchen von ungefähr sechs Jahren hinschob. Sie glichen sich so auffallend, daß ein Fremder sie unmöglich auseinanderhalten konnte. Und als der Vater schmunzelnd vorstellte: »Dieses ist die Eleonore, und das die Dorothee«, schüttelte Karola verblüfft den Kopf. »Wie weißt du das denn, Albrecht?« »Ich werde doch meine Kinder kennen!« lachte er herzlich. »Und du wirst sie auch bald unterscheiden lernen, Liebes.« »So – nun begrüßt artig die Mama«, ermunterte er die Zwillinge, die Karola neugierig musterten. Sie hatten etwas in den Augen, das der jungen Frau mißfiel. Sie war von den Kindern überhaupt enttäuscht. Ihr hatten
zwei liebreizende Geschöpfchen vorgeschwebt – und nun standen diese beiden Kleinen vor ihr, die keine Spur von Schönheit aufzuweisen hatten. Hastig bückte Karola sich zu ihnen nieder. »Ihr seid also meine Töchterchen«, sagte sie, so herzlich sie konnte. »Werdet ihr mich auch ein wenig liebhaben?« »Nein!« kam es ohne Zögern aus dem einen Kindermund. »Du bist doch nur unsere Stiefmutter!« »Dorothee!« verwies der Vater den kleinen Naseweis entrüstet. »Ich will nie wieder eine ähnliche Bemerkung hören!« »Aber Albrecht, du wirst doch nicht etwa ernst nehmen, was so ein kleines Kind sagt?« mischte sich nun die Großmutter, Frau Boseit, ein. »Du weißt doch, daß Dorli immer einen vorlauten Mund hat – « »Was du natürlich entschuldigen mußt, Mama«, kam es unwillig zurück. »Das laß die Mädel sich nur gut merken, daß ich jede Dreistigkeit der neuen Mama gegenüber verbiete. Habt ihr mich verstanden, Kinder?« O ja, den Ton verstanden sie gut. Sie wußten auch, daß der Vater ihnen nie mit leeren Drohungen kam, daß er nachdrücklich strafte, wenn sie es verdient hatten. »Frau Boseit sieht mich immer so böse an – und deine Kinder – «, flüsterte Karola eines Tages. »Das bildest du Närrchen dir nur ein«, unterbrach der Mann sie lächelnd. »Meine Schwiegermutter ist wohl nicht sehr liebenswürdig, aber sonst eine prachtvolle Frau. Du wirst dich schon noch mit ihr verstehen – und das mußt du unbedingt, Karola. Ich verdanke dieser Frau so viel, daß ich den Dank in meinem ganzen Leben nicht abtragen kann. Wie rackert sie sich schon allein in der Wirtschaft ab! Keine Ruhe gönnt sie sich, immer ist sie auf dem Posten. Es ist gewiß nicht leicht für sie, hier alles in Ordnung zu halten.« »Es ist aber doch gar nichts in Ordnung hier«, wagte Karola einzuwenden. »Die Zimmer sind so kahl – so – so – « Sie schwieg verlegen unter seinem seltsamen Blick. »Ach so, dir ist es hier nicht fein genug. Ja, Kind, wir sind
leider nicht sehr wohlhabend, das weißt du ja. Du wirst dich schon damit abfinden müssen, die Frau eines schlichten Landarztes zu sein, der verflixt rechnen muß, um allen an ihn gestellten Anforderungen gerecht zu werden«, sagte er merklich kühl. »Albrecht, du verstehst mich falsch.« »Kindchen, ich verstehe dich schon richtig«, wehrte er ab. »Ich weiß wohl, daß unser Haus alles andere als vornehm eingerichtet ist. Schließlich bin ich von meinem Elternhause her auch an mehr Schönheit und Behaglichkeit gewöhnt. Aber es wäre ja töricht, wenn ich mir wegen Dingen, die doch nicht zu ändern sind, das Leben unnötig schwer machen wollte. Ich habe bisher eben das Geld nicht gehabt, um mein Heim elegant einrichten zu können. Ich habe dir ja auch nicht verschwiegen, daß in meinem Hause gerechnet werden muß.« »Das mußte meine Mutter doch auch«, erklärte Karola hastig. »Und es ist auch nicht die Einrichtung des Hauses. Ich kann dir das nicht so erklären, weißt du«, setzte sie verlegen hinzu. »Na, laß nur«, winkte er ab. »Ich werde schon dafür sorgen, daß es bei uns bald besser wird. Wenn meine Schwägerin Malve erst mit ihrem Studium fertig ist und meine Unterstützung nicht mehr braucht, dann steht uns beträchtlich mehr Geld zur Verfügung, das ich dann zuerst zur Verschönerung des Hauses benützen werde. Denn eine Schönheit wie du braucht den entsprechenden Rahmen.« »Albrecht, so ist es doch nicht«, entgegnete sie vorwurfsvoll. »Ich will ja auch mit allem zufrieden sein – wenn mir nur deine Liebe bleibt.« Frau Boseit war in der Küche mit dem Zubereiten des Mittagessens beschäftigt, als die Zwillinge aufgeregt zu ihr gelaufen kamen. »Oma, komm bloß schnell mal sehen, was die Stiefmutter gemacht hat!« schrie Lorli empört. »Wir wollten sehen, was sie im Schlafzimmer so eigentlich macht – und – und – und nun schläft sie und – und das Bild von unserer Mutti
ist mit dem Gesicht nach der Wand gedreht.« Die Kinderstimme zitterte bedenklich. Vier kleine Hände griffen nach der Großmutter und zogen sie zum Schlafzimmer hin. Leise öffnete Dorli die Tür so weit, daß Frau Boseit das Bild sehen konnte. Um den verkniffenen Mund huschte ein böses Lächeln und in den Augen glühte es auf. Behutsam schloß sie die Tür, dann ging sie mit den Mädchen zur Küche zurück, wo sie ihrer Empörung in nicht gerade gewählten Worten Luft machte. Dann ließ sie sich auf den Küchenstuhl fallen, drückte die Schürze vor das Gesicht und brach in lautes Schluchzen aus. Augenblickslang standen die Kleinen mit offenen Mäulchen da. Doch dann liefen sie fast gleichzeitig hinaus und zum Sprechzimmer hin, wo der Arzt gerade den letzten Patienten entließ. »Papa – Papa! Komm bloß einmal schnell nach der Küche!« schrie Lorli aufgeregt. »Dort sitzt die Oma und weint.« »Weil die Stiefmutter das Bild von unserer Mutti umgedreht hat!« schrie Dorli dazwischen. »Mal sachte, Kinder«, verlangte der Vater energisch. »Wenn ihr durcheinander schreit, kann ich nicht klug daraus werden. Was erzählt ihr da für Märchen von einem umgekehrten Bild?« »Wenn du uns nicht glaubst, kannst du ja selber nachsehen«, war Dorli gekränkt. »Die böse Stiefmutter!« »Dorothee, ich verbitte mir diesen Ausdruck!« schrie er das Kind an, das trotzig den Kopf zurückwarf. »Ist sie es etwa nicht, wenn sie das Bild unserer Mutti – « Nun weinte die Kleine, und das war für Lorli das Signal, sofort mitzuweinen. »Nun hau uns bloß noch«, kam es schluchzend aus dem Kindermunde. »Das könnte der Stiefmutter noch so passen! Sie soll wieder weg. Es war viel schöner, als sie noch nicht hier war.«
»Kinder, ich kann und will solche Bemerkungen nicht mehr hören«, verwies der Vater wohl in etwas milderem Ton, doch immer noch ernst und bestimmt. »Die Mama bleibt hier, und ihr werdet artig und lieb zu ihr sein. Wehe, wenn sie über euch Klage führt! Und nun kommt, ich will einmal die Oma sprechen. Aus eurem aufgeregten Gestammel kann ich nicht klug werden. Mama, was ist denn geschehen?« fragte er, als er die Küche betrat und die weinende Frau erblickte. »Du weinst, die Kinder weinen – « »Da soll man nicht weinen, wenn man so etwas erleben muß!« kam es schluchzend hinter der Schürze hervor. »Das hat meine arme Tochter doch gewiß nicht verdient, daß nun ihr Bild –, Ach, ich sehe es schon kommen, es wird hier bald kein Platz mehr für mich sein – wo – wo man das Bild meines armen Kindes so verächtlich abtut.« »Was sprichst du da eigentlich, Mama?« »Komm!« Sie erhob sich und ging Albrecht voran zum Schlafzimmer. Dort öffnete sie leise die Tür und zeigte stumm auf das Bild. Winard warf einen Blick darauf- und wußte nun endlich Bescheid. Ärgerlich biß er sich auf die Lippen, indem er hastig die Tür schloß. »Das mußt du nicht so tragisch nehmen, Mama«, sagte er leise und eindringlich. »Karola hat dich damit bestimmt nicht kränken wollen. Ihr hat wahrscheinlich das Bild an sich nicht gefallen. Es ist auch tatsächlich nicht hübsch.« »Naja«, meinte Frau Boseit, und ihre Lippen wurden noch schmaler. »Wie soll dich das auch kränken? Du hast Lydia eben nie geliebt, während du dieses – Luxusgeschöpf vergötterst.« »Mama, nun werde nicht ungerecht!« fuhr er unwillig auf. »Die ganze Sache ist es nicht wert, daß du dich so sehr darüber erregst. Karola wird dir nachher erklären, daß es ihr gewiß ferngelegen hat, dich zu kränken.« Er strich ihr über die Wange und eilte dann davon, weil die
Flurglocke anschlug. Wahrscheinlich fand ein verspäteter Patient sich ein. Winard kam erst am Abend dazu, seine Frau zu sprechen. Als er sie aufsuchte, sah sie ihm aus klaren Augen entgegen. »Was hast du mit dem Bild Lydias gemacht, du böses Mädchen?« fragte er vorwurfsvoll. »Hast du denn keine Ahnung, wie sehr es meine Schwiegermutter und die Kinder kränken muß, wenn du das Bild einfach umkehrst?« »Es störte mich sehr«, bekannte sie kleinlaut. »Wo ist es jetzt? Hat sie das umgekehrte Bild bemerkt?« »Ja, Karola – und sich bitter darüber gekränkt. Das war sehr unvorsichtig von dir, Liebes. Du kannst die Mama nicht schwerer kränken, als wenn du an ihren Töchtern etwas auszusetzen findest. Und gar noch an Lydia, die nun tot ist. Sie hat für ihre beiden Mädel gehungert, damit sie ihnen eine gute Erziehung zuteil werden lassen konnte; denn das Gehalt, das ihr Mann als kleiner Beamter bezog, war sehr gering. Beide Töchter sollten Ärztin werden, das hatte sie sich nun einmal in den Kopf gesetzt. Lydia war jedoch körperlich viel zu schwach, um das anstrengende Studium überstehen zu können. Sie mußte schon nach dem zweiten Semester damit aufhören.« »Ach so – «, nickte Karola. »So war das. Und da wurde das Geld dann zu deinem Studium verwandt?« »Ja. Mein Vater, der als pensionierter Medizinalrat sein Ruhegehalt bezog und mich davon unterhalten hatte, starb, bevor ich mit dem Studium fertig war. Meine Schwester, die damals gerade kurz vor ihrer Heirat stand, beanspruchte für sich die Möbel, die Wäsche, kurzum die ganze Wohnungseinrichtung. Vermögen war nicht vorhanden – also stand ich vor dem Nichts. Ich hätte mein Studium aufgeben müssen, wenn ich nicht von der Universität her mit Lydia Boseit befreundet gewesen wäre. Sie bot mir ihr Geld an und ich griff zu. Was blieb mir auch anderes übrig? Nun mußte ich natürlich meinen bisherigen Wunsch, einmal Schiffsarzt zu werden, aufgeben, denn gleich nach dem Examen heiratete ich Lydia, und es hieß
nun rasch eine Praxis gründen. Das verschlang so viel Geld, daß auch das Kapital, welches für das Studium meiner Schwägerin Malve bereitlag, angegriffen werden mußte. Da ist es ja nun erklärlich, daß ich ihr Studium jetzt bezahle, daß ich mich überhaupt ihr und ihrer Mutter zu großem Dank verpflichtet fühle.« Karola hatte seiner Erzählung mit Befremden gelauscht. »Sag einmal, Albrecht, warum hast du vorher nie so ausführlich über diese Angelegenheit mit mir gesprochen?« »Erlaube, Karola, ich habe dich über meine Verhältnisse gewiß nicht im unklaren gelassen, obgleich ich damit rechnen mußte, daß du verwöhntes Persönchen Bedenken haben würdest, meine Frau zu werden. Karola, ich will ja schuften und arbeiten von früh bis spät, damit ich dir recht bald ein Leben bieten kann, wie du es von zu Hause gewöhnt bist. Aber ich mußte dich haben – mußte!« Der nächste Tag war ein Sonntag. Der einzige Tag in der Woche, an dem der vielbeschäftigte Arzt sich Ruhe gönnte, sofern es keine schwierigen Krankheitsfälle für ihn gab. Diesen Tag benutzte Winard nun, um Karolas Möbel, die bereits angekommen waren, mit Klinkeits Hilfe aufzustellen. Die bisherigen Möbel wurden auf den Boden gebracht und an ihre Stelle kamen nun die wertvollen, gediegenen Stücke aus Karolas Elternhaus. Bis zum Mittag war die Arbeit geschafft, und die beiden Zimmer waren nicht wiederzuerkennen. Die Dielen waren durch große Teppiche fast verdeckt, und die Wände füllten die schweren, kostbaren Möbel. Auch die passenden Gardinen, gute Bilder und die vielen Kleinigkeiten fehlten nicht, die ein Heim erst behaglich machen. Der Mittagstisch war mit einem feinen Damasttuch, dünnem, teuerem Porzellan und schweren Silberbestecken gedeckt, so daß der Hausherr lachend meinte, daß nun auch immer dementsprechende Mahlzeiten auf den Tisch kommen müßten. Er sah dabei das verkniffene Gesicht seiner
Schwiegermutter nicht - aber Karola sah es, und tiefe Unruhe stieg in ihr auf. Sicherlich war es dieser Frau nicht recht, daß die Möbel der zweiten Frau hier standen, wo einst ihre Tochter gewohnt hatte. Sie sprach darüber mit Albrecht, doch der wehrte lachend ab: »Kleines, hast du eine Ahnung! Stolz ist unsere Oma, daß es nun so wunderschön bei uns ist. Nein, Kind, da verkennst du diese biedere, ehrliche Frau ganz und gar.« Karola war wohl anderer Meinung, allein, sie schwieg, weil sie dem Gatten nicht zeigen wollte, wie unsympathisch ihr Frau Boseit war. Es tat ihr bereits leid, daß sie ihre Möbel hatte kommen lassen, als sie die Kinder mit ihren schmutzigen Schuhen auf den Gobelinstühlen umherklettern sah. Allerdings wurden sie deswegen vom Vater angefahren, was Frau Boseit nun wieder als persönliche Kränkung aufnahm. »Dann können wir ja fortan in der Küche essen, wenn wir uns in dem feinen Zimmer nicht zu benehmen verstehen«, erklärte sie spitz. »Davon kann keine Rede sein, Mama«, gab Winard unwillig zurück. »Die Kinder müssen auf das, was sie nicht richtig machen, unbedingt aufmerksam gemacht werden.« »Bisher hast du an dem Benehmen der Kinder nie etwas auszusetzen gehabt, Albrecht.« »Na ja, ich habe mich vielleicht zu wenig um sie gekümmert.« Wie gottergeben senkte die alte Frau den Kopf – und da tat sie Winard leid. »Mama, ich mache dir doch keinen Vorwurf«, sagte er herzlich. »Zur Kindererziehung gehört nur eine straffere Hand, als du sie für deine geliebten Enkelchen hast. Nun ist aber Karola da, die dich in der Erziehung der Kleinen unterstützen wird.« Karolas Blick suchte die Bilder ihrer Eltern, die jetzt an der Stelle hingen, wo noch vor zwei Tagen Lydias schlechte Aufnahme ihren Platz gehabt hatte. Nie war Karola stolzer
auf ihre Eltern gewesen als jetzt. Zärtlich streichelte sie über die Daunendecke aus schwerer, glänzender Seide, kuschelte sich tiefer in die spitzenbesetzten Kissen – bis ein leises Geräusch sie nach der Tür, die zum Speisezimmer führte, schauen ließ. Dort schob sich soeben ein Frauenkopf durch den Spalt, und gleich darauf hörte sie die Stimme Frau Boseits: »Da kannst du nicht hinein, Marie. Die Gnädige schläft bis zum Mittag.« »Was Sie nicht sagen!« staunte die alte Marie, die Stütze Frau Boseits. »Schämt sich die junge Frau denn nicht? Herrje, bis mittags im Bett liegen! Na so was! Da hätte unser Herr Doktor doch auch wirklich was anderes kriegen können, so wie der aussieht und was der vorstellt. So einen Mann gibt es doch nicht zum zweitenmal zehn Meilen im Umkreis. Wo haben die beiden sich überhaupt kennengelernt?« »Du weißt doch, daß der Herr Doktor einen medizinischen Kursus mitmachte. Als er nun an einem Vormittag zur Klinik ging, wurde eine Frau auf der Straße ohnmächtig. Er kümmerte sich um sie, brachte sie nach Hause. Na – und die Frau hatte eine Tochter.« »Aha!« unterbrach Marie sie mit einem meckernden Lachen. »Da wurde der Herr Doktor eingefangen, weiß schon Bescheid.« Frau Boseit, die endlich einmal Gelegenheit hatte, ihrem Groll auf Karola Luft zu machen, sprach verbissen weiter: »Als ihre Mutter nach einigen Wochen starb, hat er die Tochter geheiratet. Wird sich gefreut haben über die gute Partie. Und der Narr glaubt, daß er sie liebt.« »So hat er Sie gar nicht vorher gefragt«, erkundigte sich Marie in atemloser Spannung. »Mich – gefragt -?« lachte Frau Boseit nun schrill auf. »Kurz vor der Hochzeit bekam ich einen Brief von ihm, in dem er mir so kurz wie möglich mitteilte, daß er sich verheiraten wolle und dann und dann mit seiner jungen Frau hier einzutreffen gedächte. Ich möchte doch zum Empfang alles
ein wenig nett machen. Denk dir bloß, diese Zumutung! Kommt so eine Hergelaufene und setzt sich hier ins warme Nest – « Erschrocken verstummte sie; denn die Tür zum Nebenzimmer wurde nun ganz geöffnet, und in ihrem Rahmen stand Karola, zitternd vor Empörung. »Ich verbitte mir, daß Sie in einem solchen Ton von mir sprechen, Frau Boseit!« »Ach, Sie haben gelauscht? Sieh mal an!« »Das habe ich nicht getan! Diese Frau da hat die Tür einen Spalt geöffnet, da mußte ich ja jedes Wort hören. Und wenn Sie noch einmal – « »Na – und was ist dann?« fragte Frau Boseit, indem sie die Arme in die Seiten stemmte und die junge Frau herausfordernd ansah. Da wandte sich Karola angewidert ab, warf die Tür hinter sich zu und ließ sich schluchzend auf das Bett fallen. Wo war sie hier hingeraten! Was waren das nur für Menschen – ihresgleichen hatte sie ja überhaupt noch nicht angetroffen! Wie sollte sie sich neben den beiden Frauen behaupten? Sie weinte sich in immer tiefere Ratlosigkeit hinein, und so kam es, daß Winard, als er nach Hause kam, seine Frau wieder einmal in fassungslosem Jammer antraf. »Kind, du weinst ja schon wieder!« rief er erschrocken. »Albrecht, ich will fort von hier! Ich kann das Leben hier nicht ertragen!« »Na, höre einmal, Karola! Erzähle mir ausführlich, was dich so erregen konnte.« Also bekam er alles zu hören, was sich in den letzten Stunden zugetragen hatte. Unwillig suchte er seine Schwiegermutter auf und sagte ihr aus tiefem Ärger heraus Worte, die nicht gerade abgewogen waren. »Also merke es dir, Mama, ich will nicht, daß du dich in Dinge mischst, die meine Frau persönlich angehen. Wie wir uns gefunden haben und warum sie meine Frau wurde, das sind Dinge, die meine Frau und mich allein angehen!« schloß er seine kurze, jedoch nachhaltige Rede.
Es war einige Tage vor Weihnachten. Karola saß auf ihrem Fensterplatz und schaute mit traurigen Augen in das Schneetreiben hinaus. Wer die junge Frau in ihren Mädchenjahren gekannt hatte, wäre über ihr jetziges Aussehen entsetzt gewesen. Da war auch nicht mehr von der strahlendschönen, vielumschwärmten Tochter des Majors Hiltmer übriggeblieben. Was man jetzt sah, war eine müde, verbitterte Frau. Die Sehnsucht nach der Mutter wurde immer qualvoller in ihr. Wie gern wäre sie ihr gefolgt. Denn ein Leben, wie sie es jetzt führte, konnte sie unmöglich noch lange ertragen. Nebenan hörte sie die scheltende Stimme Frau Boseits und zog die Schulter fröstelnd empor. Wenn sie doch einmal so keifen wollte, wenn Albrecht zu Hause war. Aber dann klang ihre Stimme sanft und milde. Oh, Karola hatte überhaupt den brennenden Wunsch, daß Albrecht diese Frau nur einmal so sehen würde, wie sie wirklich war, nicht wie sie sich ihm gegenüber gab! Heute nun hatte Karola schon am frühen Vormittag das Bedürfnis, sich niederzulegen, und ein unangenehmes Ziehen in allen Gliedern zwang sie schließlich, diesem Wunsche nachzugeben. Als sie die wärmende Hülle um ihren Körper spürte, durchfuhr sie ein jäher Schreck. Da – da war die Erkenntnis, gegen die sie sich bisher mit aller Macht innerlich aufgelehnt hatte, und flutete ihr mit einer heißen Welle zu Herzen. Was sie noch nicht hatte glauben wollen, dafür sprachen nun alle Anzeichen: sie würde ein Kind haben! »Laß es nicht wahr sein, lieber Gott!« flehte sie mit bebenden Lippen. »Laß es nicht wahr sein, denn das Kind könnte hier nicht glücklich werden! So sehr ich mich in der ersten Zeit meiner Ehe darüber gefreut hätte, jetzt - nein – erspare uns allen das Unglück, lieber, gütiger Himmel!« Karola hatte noch nicht lange so gelegen, als der Gatte ins Zimmer trat. »Du liegst schon wieder?« fragte er mißbilligend. »Kind, ich
kann es einfach nicht begreifen, wie ein Mensch so viel im Bett liegen kann.« Karola nahm sich sofort zusammen, und der alte Trotz war stärker in ihr. Oh, er konnte vieles nicht begreifen! Und sie hatte es längst aufgegeben, ihn vom wahren Sachverhalt im Hause zu überzeugen. Und plötzlich war der feste Entschluß in ihr, den Gatten von ihrem Zustand nichts merken zu lassen, sondern ihn, wenn es nicht anders gehen sollte, darüber zu täuschen, bis - ja, bis sie dieses Haus, das ihr zur Hölle geworden war, verlassen würde. »Ich bringe eine frohe Botschaft«, erzählte Albrecht, wobei er sich auf den Bettrand setzte. »Malve kommt schon Weihnachten nach Hause. Freust du dich, Karola?« Die junge Frau sah, wie sehr ihn diese Nachricht beglückte, und tiefe Bitterkeit stieg in ihr auf. »Ich mich freuen?« fragte sie müde. »Damit bekomme ich doch nur eine Peinigerin mehr.« »Karola, du hast wirklich eine besondere Art, mir jede Freude zu verderben!« schalt er ärgerlich. »Malve wird keinen Menschen quälen. Sie ist das selbstloseste Menschenkind, das ich kenne.« »Dann wundere ich mich nur, daß du sie nicht geheiratet hast«, kam ihre Antwort dumpf und schwer. Er starrte sie augenblickslang an, dann lachte er auf. »Hast recht – es wäre besser gewesen«, sagte er hart und verließ wieder einmal, wie schon so oft, verärgert das Zimmer. Karola sah ihm nach. Wo war die Zeit geblieben, da er ihre Frage anders beantwortet hätte! Dieses beschwörende: ›Weil es verlangt mein Herz‹ – wo war es geblieben? * An einem Abend litt Karola besonders unter Kreuz- und Kopfschmerzen, so daß sie sich entschloß, den Gatten, den sie in seinem Arbeitszimmer wußte, aufzusuchen und ihn um ein Linderungsmittel zu bitten. Als sie jedoch leise die
Tür zu seinem Zimmer öffnete, fand sie außer ihm auch die junge Ärztin darin vor. Sie stand neben Albrecht und hielt seine Schulter umfaßt, während er den Kopf in die Hände stützte. »Wenn ich Karola so richtig gekannt hätte, dann wäre sie nie meine Frau geworden«, hörte Karola ihn müde sagen. »Wir sind in der Ehe beide unglücklich geworden.« Wie gehetzt lief Karola davon, weil sie nicht weiter seine Meinung über sie mit anhören wollte. Und doch wäre es viel besser gewesen, wenn sie noch einige Minuten verharrt hätte. Dann hätte sie auch seine weiteren Worte gehört: »Ihr Unglück ist, daß sie in unsere einfachen Verhältnisse nicht paßt- und meines, daß ich sie noch immer liebe, daß ich nie mehr von ihr loskommen werde, obwohl dieses Nebeneinanderleben mir mehr und mehr zur Qual wird. Ich möchte sie verhätscheln und verwöhnen, wie dieses zarte Geschöpf es durch besondere Umstände von Jugend auf gewohnt ist – und muß statt dessen hart und unerbittlich vorgehen, weil ich schon als Arzt nicht länger dulden kann, daß Karola immer haltloser und teilnahmsloser wird. Ich muß ja auch gegen ihren Trotz und ihre unberechenbaren Launen ankämpfen wie gegen einen bösen Feind – und mußte dafür ihr Vertrauen und ihre Liebe einbüßen. Was ihre Mutter aus übergroßer Liebe und vielleicht übertriebener Nachsicht gefehlt, das muß ich jetzt büßen. Ja, das hätte ich mir schon früher sagen müssen. Aber ich liebte sie eben zu sehr, mein Herz verlangte zu stürmisch nach ihr – das kann vielleicht als Entschuldigung gelten.« Nun, hätte Karola das alles gehört – dann wäre manches wohl anders gekommen. So jedoch mußte sie annehmen, daß sie dem Gatten eine Last war. Wie schon so oft weinte sie sich in den Schlaf und hatte am Morgen ein wahres Grauen vor den vielen Stunden, die für
sie Unbill aller Art bringen würden. Als sie aufstand, hatte sie zuerst einen Ohnmachtsanfall zu überwinden, war also schon müde und matt, bevor sie an die Arbeit ging. Heute wollte es nun der Zufall, daß, als Dorli wieder einmal frech zu Karola war, der Vater hinzukam. Und der fackelte nicht lange, sondern bestrafte den kleinen Bösewicht mit einigen nachdrücklichen Klapsen auf den vorlauten Mund. »Geh, entschuldige dich bei der Mama!« verlangte er streng, was die Kleine auch ohne Widerrede tat. Doch kaum hatte der Vater den Rücken gekehrt, als die Kinder ihre artige Haltung auch schon wieder aufgaben. »Olle Petze!« schrie Dorli wütend, da sie annahm, daß Karola sie beim Vater verklagt habe, weil er doch so unvermutet aufgetaucht war und sie, ohne viel zu fragen, bestraft hatte. Heiße Rachegedanken erwachten in der kleinen Brust der Gemaßregelten. Sie zog die Schwester mit fort, um heimlich mit ihr zu beraten, wie man sich rächen konnte. Allein, sie wurden von Karola bei ihrer Schandtat ertappt. Denn als sie gerade dabei waren, das Bild von Karolas Mutter mit einem Messer kurz und klein zu schneiden, betrat die junge Frau das Zimmer. O ja, die kleinen Schlauköpfe wußten schon, wie sie die verhaßte Stiefmutter am wirksamsten treffen konnten! Karola stand dann auch wie erstarrt da. Ein so heißer Schmerz stieg in ihr auf – und ein so tiefer Groll gegen die rüpelhaften Kinder, daß sie jede Beherrschung verlor und der nächststehenden Lorli ins Gesicht schlug. Der Schlag war gar nicht so hart, wie er gerechtfertigt gewesen wäre - er hatte nur unglücklicherweise die Nase getroffen, aus der dann auch sofort Blut lief. Und das war nun gerade etwas für die kleinen Sünderinnen, das wollten sie so recht ausnutzen! Ein so ohrenzerreißendes Gebrüll aus den kleinen Kehlen stieg auf, daß die Hausbewohner allesamt schreckensbleich ins Zimmer gestürzt kamen.
»Papa, die Stiefmutter hat Lorli so geschlagen, daß Blut kommt!« schrie Dorli. »Und sie hat wirklich nichts getan!« Damit hatte der kleine Schlaukopf ja gar nicht unrecht – Lorli hatte auch wirklich nichts getan, denn der Streich war ja von ihr verübt worden, während Lorli danebengestanden hatte. »Da siehst du es einmal mit eigenen Augen, Albrecht, wie roh sie zu den Kindern ist!« kreischte Frau Boseit. »Das arme Lorli! Sicherlich hat sie ihr das Nasenbein zerschlagen! Zeig doch einmal, mein gutes Kindchen.« Doch die Kleine hielt krampfhaft die Schürze vor das Gesicht, weil sie fühlte, daß die Nase bereits zu bluten aufgehört hatte. Das war nun gar nicht nach ihrem Sinn. Albrecht sagte nichts. Ihm wich nur jeder Blutstropfen langsam aus dem Antlitz. Und nicht weniger blaß war Karola, die sich kaum noch auf den Beinen halten konnte. Nicht ein Wort kam über ihre bleichen Lippen. Mit starren Augen und ausgestreckten Armen wich sie immer weiter vor dem Gatten zurück, der mit erhobener Hand auf sie zuging, um sie zu stützen, weil das geübte Auge des Arztes sofort erkannt hatte, daß die junge Frau nahe am Zusammenbrechen war. Man konnte diese erhobene Hand jedoch auch anders deuten – wie es Dorli tat. Denn die tiefe Stille, die im Zimmer herrschte, wurde von der hellen Kinderstimme unterbrochen: »Hau sie doch, Papa! Uns schlägst du ja auch«, erklang es schadenfroh. Winard trat erschrocken einen Schritt zurück – um dann wieder rasch hinzuzuspringen, weil Karola nun auf das Bett niedersank. Mit einem Ausdruck des Grauens in den weitaufgerissenen Augen wehrte sie seine zugreifenden Hände ab. »Rühr mich nicht an!« schrie sie. »Wenn du mich schlagen würdest - das wäre dann allerdings noch das Letzte – das Allerletzte!« So viel gehetzte Angst, so viel Verzweiflung und Not lag in
dem Schrei, daß selbst die Kinder davon betroffen wurden und sich erschrocken an die Großmutter schmiegten, die schützend ihre Schultern umfaßte. »Karola, Liebstes!« bat der Arzt, seine tiefe Erregung niederzwingend. »Was hast du denn nur! Komm, Kind, erzähle, was geschehen ist. Komm einmal her, Lorli«, wandte er sich dann an die kleine Tochter, die sehr langsam näher trat. Er zog die Schürze von ihrem Gesicht und da diese rot gemustert war, konnte man zur grenzenlosen Enttäuschung der Kinder nur wenig von dem Blut entdecken; selbst die Nase wies keines mehr auf. »Was hast du denn um alles in der Welt! Warum schreist du um nichts das ganze Haus zusammen?« fuhr Albrecht die Kleine nun an. »Ich – ich habe doch – nichts getan, Papa.« »Das werde ich erst einmal feststellen!« unterbrach er die nun jämmerlich Schluchzende. »Die Mama wird mir alles erzählen.« Er wandte sich nun wieder Karola zu, die gar nicht hörte, was er sprach. Der Ausdruck des Grauens in ihren Augen verstärkte sich noch, als er sich ihr behutsam näherte. »Kind, du mußt nun endlich ruhig werden«, sagte er ratlos bei ihrer angstvollen Abwehr. »Wenn du dich von mir nicht berühren lassen willst, dann wird es meine Schwägerin tun. Bitte, Malve«, bat er die Ärztin, die mit tieferblaßtem Gesicht und erschrockenen Augen dem Vorgang gefolgt war. Doch auch sie wehrte Karola mit stummer, aber nachdrücklicher Gebärde ab, so daß sie sich ratlos ansahen. »Nimm die – Kinder fort«, sagte Karola endlich mit müder, tonloser Stimme in die bedrückende Stille hinein. »Ich – will – sie – nicht – mehr – sehen.« Dabei überlief ihre Gestalt ein Zittern, das die Sorge des Arztes noch steigerte. Wie hilfesuchend ging sein Blick durch das Zimmer und blieb dann an dem zerstörten Bild hängen.
»Mein Gott!« murmelte er und griff sich mit beiden Händen an die Stirn. »Das ist es also? Dann allerdings!« Es dauerte eine ganze Weile bis er sich so weit gefaßt hatte, um sich den Kindern zuwenden zu können, die aus Angst förmlich in sich zusammenkrochen. »Wer hat das getan?« fragte er hart und streng. »Ich-«,kam die Antwort sehr kläglich von Dorlis zuckenden Lippen. »Lorli hat bloß dabeigestanden – und gerade sie hat die – die neue Mama so sehr doll gehauen.« »Das nennst du doll gehauen, mein Kind?« lachte der Vater rauh auf. »Nun, ich werde euch später zeigen, wie es ist, wenn man wirklich doll haut. Denn das hier ist kein harmloser Kinderstreich mehr«, und seine zitternde Rechte zeigte auf das zerstörte Bild. »Das ist Bosheit und Niedertracht. Hier wird sich einiges grundsätzlich ändern müssen. Und zwar sofort!« »Albrecht, es sind doch dumme Kinder«, versuchte Frau Boseit ihre Enkel zu entschuldigen. Doch der Schwiegersohn schnitt ihr kurz das Wort ab. »Wir sprechen uns auch noch, Mama.« »Komm, Albrecht, wir müssen jetzt fort«, mahnte Malve leise, aber er winkte unwirsch ab. »Ich gehe nicht früher, als bis ich Karola einigermaßen versorgt weiß. Bitte, Liebstes, lege dich doch wenigstens ins Bett«, bettelte er wie ein Kind, so daß Karola nur, um ihn loszuwerden, die Schuhe abstreifte und sich auf das Bett legte. * Frau Boseit zog ihre Enkelkinder aus dem Schlafzimmer und warf in höchster Erregung die Tür hinter sich ins Schloß. »Na, da könnt ihr Gören ja was erleben!« lachte Marie schadenfroh. »Aber eine gehörige Tracht Prügel habt ihr auch verdient. Ihr seid so frech, daß es manchmal kaum noch zum Aushalten mit euch ist.« »Sei still!« schrie Frau Boseit sie an. »Hilf mir lieber, daß ich mit den Kindern fort komme. Ich muß sie aus dem
Hause bringen, damit der Vater sie heute nicht mehr sieht. Morgen wird sich sein Ärger gelegt haben.« »Aha!« machte Marie verständnisinnig. »Von mir aus kann das schon so gemacht werden. Aber jetzt türme ich, das ist mir heute zu ungemütlich hier.« »Gut – geh – und komm morgen wieder«, entschied Frau Boseit nach einigem Überlegen. Es war vielleicht gut, wenn die Alte, die manchmal sehr schwatzhaft sein konnte, nicht hier war, wenn sie dem Schwiegersohn später ein Märchen erzählte, das sie noch ersinnen mußte. Ihr kam kein Zweifel daran, daß er es ihr auch diesmal glauben würde. Eilig wurden die Kinder angezogen, und schon eine halbe Stunde später lag das Doktorhaus wie ausgestorben da. Karola hatte im Nebenzimmer jedes Wort der Unterhaltung zwischen den Frauen verstanden. Sie hatten ihre Stimmen ja durchaus nicht gedämpft. Nun, ihretwegen brauchte sie die Kinder nicht in Sicherheit zu bringen, sie würde ihnen nie mehr im Wege sein. Aber gut war es für ihr Vorhaben, daß sie allein im Hause war. So konnte sie in aller Ruhe ausführen, wozu sie nach diesem letzten Auftritt entschlossen war. Sie konnte und wollte nicht mehr länger leben. Und wenn sie den unerschütterlichen Willen dazu hatte, dann fand sich im Zimmer eines Arztes immer etwas, das ihr zu diesem Schritt verhalf – auch wenn er alle gefährlichen Dinge noch so fest verschlossen hielt. Wozu gab es ein Beil in der Küche, mit dem man den Medikamentenschrank einschlagen konnte? Es ging alles so leicht, so ganz einfach, das dünne Sperrholz hielt den harten Schlägen nicht lange stand. Prüfend drehte Karola die kleine Flasche mit schmerzstillenden Tropfen in der Hand. Der Inhalt würde gewiß genügen, um sie von der Qual und Pein, die sie seit ihrer Verheiratung hatte erleiden müssen, zu erlösen. Hastig eilte Karola ins Schlafzimmer zurück, wo sie die kleine Flasche vorsichtig auf den Nachttisch stellte. Sie zitterte am ganzen Körper vor Erregung.
Schließlich war es ja nicht so einfach, was sie tun wollte. Sie war doch immerhin erst zwanzig Jahre alt. Aber ihr blieb kein anderer Ausweg. Um sich allein durchs Leben zu schlagen, dazu fehlten ihr jegliche Kenntnisse. Die Mutter hatte sie zwar so erzogen, daß sie sich in der vornehmsten Umgebung tadellos bewegen konnte – aber für das harte, nüchterne Leben war sie zu weich. Ja, wenn sie einen Menschen auf der weiten Welt hätte, zu dem sie jetzt hinfliehen könnte, dann würde sie ihr Leben nicht so wegwerfen. Jäh fiel ihr da die Tante Fritze ein, die Base ihres Vaters, an die sie jahrelang nicht mehr gedacht hatte. Karola kannte diese Tante zwar nicht, hatte nur viel von ihr gehört. Ein ungeschliffenes Mannweib sollte sie sein, ohne Lebensart und Sitte. Dazu sparsam bis zum Geiz, zänkisch und unverträglich. Diese Charakteristik stammte allerdings nicht von Karolas Eltern, die zu vornehme Menschen gewesen waren, als daß sie jemals in so gehässiger Weise hätten über einen Menschen sprechen können. Sie hatten der Tochter immer nur zu verstehen gegeben, daß sie mit der Tante auseinandergekommen wären, da sie zu verschiedene Naturen seien. Dieses vernichtende Urteil stammte vielmehr von Tante Fritzes Schwester. Die lebhafte, redselige Dame hatte manchmal die Eltern Karolas besucht und von ihrer jüngeren Schwester wahre Wunderdinge erzählt. Nun war sie schon einige Jahre tot, und Karola hatte nichts mehr über Tante Fritze gehört. Nur nach dem Tode Frau Hiltmers war ein kurzes Schreiben von der Tante an Karola gekommen, das diese nur flüchtig gelesen und dann zu den andern schwarzumrandeten Briefen in einen kleinen Kasten getan hatte. Dieses Schreiben suchte Karola nun vor und hielt bald darauf den Brief in der Hand. Sollte sie sich feige aus dem Leben stehlen, wo es jetzt noch einen andern Weg für sie gab? Sollte sie diesen vorletzten
Weg nicht erst gehen, bevor sie den allerletzten antrat? Ein Grauen packte sie plötzlich vor der kleinen Flasche, die den Tod für sie barg. Hastig wandte sie sich ab, und es war etwas Unerklärliches, das sie zwang, in fliegender Hast einen kleinen Koffer zu packen. Nur die notwendigsten Dinge, alles andere konnte ihr später nachgeschickt werden. Ihr Blick überflog die vielen eleganten Kleider, die im Schrank hingen und von denen sie in diesem Hause nicht eins zu tragen gewagt hatte, um den hämischen Bemerkungen Frau Boseits und ihres Hausgeistes zu entgehen. Jetzt wählte sie ein Samtkleid und passende Schuhe und Strümpfe. Dann noch rasch den eleganten Pelzmantel, das letzte Geschenk ihrer Mutter, übergezogen, den schicken Hut aufgesetzt – und Karola war zur Flucht gerüstet. Der Rest ihrer früheren Ersparnisse würde reichen, um zur Tante zu gelangen. Wie gut, daß sie so sparsam gewesen – und so wenig Geld ausgegeben hatte. Jetzt war es ihr Retter in höchster Not. Hastig zog sie ihre Handtasche vom Schrank – und da fiel ihr das Bild Albrechts, das oben gelegen hatte, vor die Füße. ›Weil es mein Herz verlangt‹, stand in seiner großen, steilen Schrift quer über das Bild geschrieben. Und als Karola in das Antlitz des Mannes sah, dem sie vor wenigen Monaten voll grenzenlosen Vertrauens in dieses Haus gefolgt war – und der doch so schlecht, so namenlos schlecht an ihr gehandelt hatte, zerbrach etwas in ihr. Hastig legte sie das Bild aus der Hand – und es war Zufall, daß es neben die gefährlichen Tropfen zu liegen kam. Karola merkte es nicht. Sie fieberte förmlich danach, von hier fortzukommen. Sie steckte das Geld in die Handtasche, griff nach dem Koffer und stahl sich wie ein Dieb aus dem Hause, in dem sie nur Leid und Demütigungen erfahren hatte. Nie, nie wieder wollte sie in diese Hölle zurückkehren! Das schwor sie sich in dieser Stunde.
Als Karola dann auf der Dorfstraße stand, kam sie gar nicht erst dazu, darüber nachzudenken, wie sie wohl zur Stadt kommen sollte, um von dort aus ihre Reise mit dem Zug anzutreten; denn ein leeres Mietauto fuhr langsam die Straße entlang. Kurz entschlossen hielt sie es an und fragte den Fahrer, ob er sie zur Stadt mitnehmen wollte, wozu er gern bereit war. Er hatte Hochzeitsgäste aus der Stadt ins Dorf gebracht und war nun froh, daß er nicht leer zurückfahren brauchte. Mit tiefer Befriedigung ließ Karola sich in die Polster sinken. Das schien ja alles besser zu klappen als sie erwartet hatte. Sie hätte es ja auch gar nicht ausgehalten, lange zu Fuß zu gehen, denn jetzt, wo sich die fiebernde Erregung, in der sie sich in der letzten Stunde befunden hatte, zu legen begann, merkte sie erst, wie erschöpft sie war. Wie ein bunter, wirrer Traum kamen ihr die Geschehnisse der letzten Stunden vor. Noch konnte sie sich nicht klar darüber werden, was sie mit dieser Flucht aufgab. Und das wollte sie auch nicht. Erst einmal ruhig werden – ganz ruhig. Erst einmal die nagenden, bohrenden Schmerzen im Rücken und Kopf loswerden. Ach ja – so war es schön, hier so ganz still zu sitzen, nicht von hämischen Blicken verfolgt, von höhnenden Worten gepeinigt. Nicht mehr die scheltende Stimme der Frau Boseit hören, nicht mehr die ungezogenen Kinder um sich haben – und nie mehr den Mann sehen müssen, der sie mit seiner Ungerechtigkeit und seinem harten Willen langsam zerbrochen hatte. Wie eine Tote lag sie in den Polstern, so bleich und regungslos, während es doch in Kopf und Rücken so unbarmherzig bohrte, brannte und stach. Viel zu früh war für Karola die Stadt erreicht. Es packte sie tiefes Grauen vor dem, was nun kommen mußte: die Bahnfahrt, der Weg bis zum Gut der Tante… Ob der Mann vielleicht bereit war, sie bis dorthin zu fahren? Sie sprach mit ihm darüber, er ließ sich den Namen des Gutes nennen, suchte auf der großen Autokarte
danach, und da stellte sich heraus, daß der Ort von hier etwa hundertzwanzig Kilometer entfernt lag. Das war für seinen schweren Wagen ja eine Spielerei, und der Verdienst war gut mitzunehmen. »Ich könnte Sie schon fahren«, meinte er bedächtig. »Aber der Preis für die Fahrt ist hoch.« »Ich zahle ihn gern«, stimmte Karola zu. »Mir liegt nämlich viel daran, heute noch mein Ziel zu erreichen.« »Das können wir auch bequem, gnädige Frau«, nickte der Mann freundlich. »In zwei bis drei Stunden können wir da sein. Dann haben wir gerade Kaffeezeit. Aber wollen Sie nicht erst etwas essen, bevor wir weiterfahren?« fragte er besorgt. »Hier nicht«, wehrte sie hastig ab. »Wenn wir unterwegs ein Gasthaus antreffen, dann wollen wir dort einkehren.« Damit war er zufrieden. Er rechnete aus, was die Fahrt kostete, ließ sich eine Summe darauf zahlen, tankte an der nächsten Tankstelle und fuhr dann mit seinem schweigsamen Gast davon. Karola hatte sich tief in die Polster geschmiegt und duselte vor sich hin. Wenn Tante Fritze sie nun nicht aufnahm? Ach, jetzt nicht daran denken, erst abwarten! Karola schrak zusammen, als der Wagen hielt und der Fahrer sie fragte, ob sie in dem Gasthaus, vor dem sie standen, essen wollte. »Bitte, gehen Sie nur hinein und lassen Sie sich etwas geben, das Sie gern mögen«, sagte Karola hastig. »Und wenn Sie so freundlich sein und mir eine Schnitte Brot und eine Tasse Kaffee an den Wagen bringen würden, wäre ich Ihnen dankbar.« Der Mann schien nicht so recht einverstanden. Als ihn jedoch ein bittender Blick aus den müden, umflorten Augen traf, machte er sich kopfschüttelnd auf den Weg. Nach kurzer Zeit kehrte er mit einer Schinkenschnitte und einer kleinen Kanne Kaffee wieder. Er stellte das Tablett auf den Sitz, ermunterte die junge Frau zum Essen und ging
dann ins Gasthaus zurück, um dort seinen Hunger zu stillen. Es schmeckte ihm entschieden besser als Karola, die an jedem Bissen förmlich würgte und es schließlich aufgab, weiter zu essen. Und als der Mann nach einer Weile wiederkam, brachte er die Kanne nebst Tasse zur Wirtin zurück, das Brot jedoch wickelte er fein säuberlich ein und steckte es in die Seitentasche des Wagens. »Für unterwegs«, sagte er treuherzig. Karola gab ihm das Geld, das er im Gasthaus ausgelegt hatte, und dann ging die Fahrt weiter. Die junge Frau streckte sich auf den Sitz und war bald so fest eingeschlafen, daß der Fahrer sie am Bestimmungsort wecken mußte. »Wir sind angelangt, gnädige Frau«, sagte er verlegen, als er ihre erschrockenen Augen sah, die jedoch nicht ihm galten, sondern alldem, was nun unweigerlich für sie kommen mußte. Rasch verließ sie den Wagen und reichte dem Mann des Rest des Fahrgeldes. »Warten Sie bitte noch ein wenig, ich muß erst wissen, ob ich meine Tante zu Hause antreffe«, sagte sie hastig. Dann schritt sie zögernd auf das Haus zu, das sie in der Dunkelheit des Januarnachmittages nur undeutlich erkennen konnte. Zögernd drückte sie auf den Klingelknopf. Die Tür wurde aufgeschlossen, und Karola stand einem Mädchen in weißer Schürze und Häubchen gegenüber. »Bin ich hier richtig in Allhöfen – und kann ich die Besitzerin sprechen?« fragte Karola mit unsicherer Stimme. »Ich glaube - ja«, kam es zögernd zurück. »Fräulein Hiltmer ist jedenfalls zu Hause. Wollen Sie bitte eintreten und mir vielleicht eine Karte geben?« Karola rief dem Fahrer zu, daß sie ihn nicht mehr brauche, bedankte sich noch dafür, daß er sie so sicher und gut hergebracht hatte und folgte dann dem Mädchen, das sie in eine geräumige Diele führte. Dort suchte sie aus ihrer Handtasche eine Karte hervor, und während sich das
Mädchen damit entfernte, ließ die junge Frau sich in den nächsten Sessel fallen, weil die Füße sie einfach nicht mehr tragen wollten. Ihre Blicke hasteten in dem großen und behaglich ausgestatteten Raum umher. Sie sah wuchtige Möbel, bequeme Polstersessel vor dem riesigen Kamin, schwere Teppiche. Das war die Luft, die sie von Kind auf geatmet hatte. Hier war alles so anheimelnd, so traut… Erschrocken fuhr sie zusammen, als hinter einer der Türen, die es hier reichlich gab, eine Stimme laut wurde. Und gleich darauf stand vor ihr eine Frau, die sie schweigend betrachtete. »Sie können gehen«, hörte Karola dann eine Stimme, die recht gut einem Mann hätte gehören können. Das Mädchen zog sich zurück, und dann fühlte die junge Frau ihre Hände erfaßt und emporgezogen. »Du siehst mir aus, mein Kind, als ob du so allerlei hinter dir hättest«, sprach die Stimme wieder, die trotz ihrer Tiefe etwas ungemein Beruhigendes, Tröstendes hatte. »Tante Fritze – ich – «, würgte Karola hervor. Und dann kamen die Tränen – heftig, unaufhaltsam! Da fragte das energische Fräulein nicht weiter, sondern hob die kinderleichte Gestalt der Nichte auf ihre kräftigen Arme und trug sie in ein kleines, lauschiges Gemach, wo sie ihre Last behutsam auf den Diwan gleiten ließ. »Tante Fritze – ich muß ja – sterben – wenn du mich von dir weist!« schluchzte die verzweifelte junge Frau – und da streichelte die große Hand der Tante beruhigend über das schimmernde Gelock, immer wieder, bis das furchtbare Weinen allmählich verstummte. »Karola, ich sehe dich heute zum erstenmal – kann also nicht wissen, was dich so fassungslos gemacht hat«, sprach die Stimme nun so behutsam und weich, daß die junge Frau aufhorchte. Ihr Blick ging scheu zu dem derben, frischen Gesicht und verfing sich in den klaren, blauen Augen, die bis auf den Grund ihrer Seele zu forschen schienen.
Da warf das angstgequälte junge Weib ihre Arme um den Hals der ihr bis heute fremden Tante, und diese bekam alles zu hören, was die Nichte seit Monaten gepeinigt und gequält hatte. Karola war ja so froh, sich endlich einmal all die Not und Qual vom Herzen reden zu können. Zu Tode erschöpft sank sie dann in die Kissen zurück. Ihre Glieder zitterten vor Erregung. »Und wie bist du nun darauf verfallen, zu mir zu kommen?« fragte das Fräulein behutsam, wobei sie die eiskalten Finger in ihren großen warmen Händen behielt. »Tante Fritze – du bist doch meine einzige Verwandte«, erklärte Karola mit zuckenden Lippen. »Ich wollte mir ja zuerst – das Leben - nehmen. Dann aber fielst du mir ein.« »Und dem Himmel sei Dank dafür!« unterbrach Fräulein Fritze sie inbrünstig. »Müssen dich ja ganz anständig gepeinigt haben, dein sauberer Herr Gemahl und seine Frau Schwiegermutter. Dieser Person meine Meinung zu flöten, das muß mir unser alter Herrgott noch einmal gewähren. Und du, verflogener kleiner Vogel, wirst erst einmal zu Bett gehen und gründlich schlafen. Das ist jetzt am besten für dich. Später wollen wir dann weiter sehen.« »So darf ich also bei dir bleiben, Tante Fritze?« »Welche Frage, Kindchen! Ich werde doch nicht das Kind meines Vetters, meine einzige Blutsverwandte, in den Tod jagen! Denn falls ich dich von mir lasse, läufst du kleines Hasenherz doch kopfüber in den ersten besten Teich. Stimmt’s? Himmel, Kleine, mußt du einen Trottel von Mann haben! Ist es überhaupt möglich, daß ein Mann nicht weiß, was in seinem Hause vorgeht? Und der Mensch besaß den Größenwahn, ein so zartes Treibhauspflänzchen in dieses Haus zu nehmen. Aber nun komm, morgen sprechen wir weiter.« Damit hob sie Karola wieder auf ihre Arme und trug sie hinüber in ihr Schlafzimmer, wo sie die junge Frau wie ein
Kind auskleidete und in ihr Bett legte. »Tante Fritze, ist das dein Bett?« »Ja. Kannst ruhig darin liegen. Es ist sauber, und krank bin ich auch nicht.« »Das glaube ich dir, Tante Fritze. Ich möchte dich nur nicht verdrängen.« »Ach was, ich werde auf dem Ruhebett hier prächtig schlafen. Bin doch nicht ein so zartes, verhätscheltes Püppchen wie du. Wir haben hier ja wohl eine Menge Fremdenzimmer, aber heute und in nächster Zeit möchte ich dich lieber unter meiner Aufsicht behalten.« Karola gab nun jeden Widerstand auf. Sie kam sich wieder so geborgen vor wie in ihrem Elternhaus. Einige Minuten später war sie fest eingeschlafen. Fräulein Fritze nickte zufrieden vor sich hin. Nachdem sie die Lampe ausgeschaltet hatte, schlich sie sich aus dem Zimmer. Die Kleine hatte zwar noch nichts gegessen, aber der Schlaf war der Erschöpften jetzt noch dienlicher als Speise und Trank. Morgen wollte sie das arme Kind um so mehr päppeln und pflegen. »So – «, seufzte sie, als sie in ihrem Arbeitszimmer vor dem Schreibtisch saß. »Nun werde ich einmal dem Herrn Dr. Winard schriftlich mitteilen, was ich auf dem Herzen habe. Bis morgen habe ich womöglich vergessen, was alles das arme, gequälte Kind mir mitgeteilt hat. Und davon ist jedes Wort wichtig als Anklage gegen diesen gewissenlosen Ehemann und Haushaltungsvorstand.« Schon flogen die Finger über die Tasten der Schreibmaschine. Und da das resolute Fräulein Fritze nicht gewohnt war, die Dinge zu umschreiben, sondern sie immer beim richtigen Namen zu nennen, so bekam Winard seine Sünden in unbarmherzig harten Worten auseinandergesetzt. Es war kein Wort erdacht, war alles genauso wiedergegeben wie Karola es geschildert hatte, ganz richtig und wahrheitsgemäß. Und doch wirkte der Inhalt des Briefes so vernichtend, wie Fräulein Fritze es
wünschte. Das energische Fräulein Fritze hätte nur sehen sollen, wie verzweifelt der junge Doktor um die Stunde war, da sie den geharnischten Brief schrieb – sie wäre wohl nicht so unbarmherzig mit ihm ins Gericht gegangen, und der Brief wäre ein wenig freundlicher ausgefallen. Die Kranke hatte nämlich seine Hilfe länger in Anspruch genommen, als vermutet. Und fast um dieselbe Zeit, als Karola das Haus ihrer Tante betreten hatte, war er mit Malve zurückgekehrt. Müde und erschöpft von der verantwortungsvollen, schwierigen Operation, das Herz voll Unruhe um sein junges Weib, hatte er sich nicht einmal Zeit genommen, Hut und Mantel abzulegen, sondern war ins Schlafzimmer geeilt, woher ihn die Schwägerin dann in tiefer Not rufen hörte. Und während er sich mit einem stöhnenden Laut auf das Bett sinken ließ, griff ihre zitternde Rechte nach der Flasche. »Albrecht, so beruhige dich doch, die Tropfen sind ja unberührt«, versuchte sie zu trösten. Doch wie irr sah er zu ihr auf. »Und – wo – ist – Karola – dann -?« Ja, wo war sie? Das ließ sich trotz allen Suchens und Forschens nicht ergründen. Und Winards Unruhe wuchs ins Riesenhafte, als er in Begleitung der Schwägerin sein Arbeitszimmer betrat und den zertrümmerten Schrank sah. »Malve, ich ertrag das einfach nicht!« stöhnte er. »Sie hat sich etwas angetan – es braucht ja nicht durch die Tropfen geschehen zu sein! - Und ich -? Großer Gott, ich trage die Schuld daran! Ich hätte nie vergessen dürfen, wie zart, wie empfindlich sie ist. Hätte sie mit Geduld und Nachsicht behandeln müssen und nicht so streng mit ihr verfahren dürfen.« Während er sich so bitter anklagte, hatte die Ärztin die Medikamente im Schrank mit der darinliegenden Liste verglichen.
»Außer den Tropfen fehlt nichts, Albrecht. Und da sie diese nicht genommen hat – « »Als ob es nicht auch andere Möglichkeiten gäbe!« »Albrecht, man muß doch nicht immer gleich das Ärgste befürchten«, versuchte sie den Mann, dessen fassungsloser Jammer ihr ins Herz schnitt, zu beruhigen. »Sie wird zu Verwandten gefahren sein.« »Sie besitzt ja keine. Wenn dieser Frau etwas passiert ist – das – das überlebe ich einfach nicht!« Malve versuchte immer wieder zu trösten, zu beruhigen. Und solange er sich anklagte, überhaupt noch sprach, war es noch nicht so arg. Schier unerträglich wurd es erst, als er nach Stunden dumpfen Vorsichhinstarrens sein Schlafzimmer aufsuchte und Malve, die mit angstzitterndem Herzen im Nebenzimmer saß, hören mußte, daß er die ganze Nacht im Zimmer umherlief wie ein gefangenes Tier. Frau Boseit war am Abend ohne die Kinder zurückgekehrt. Sie hätte diese ruhig mitbringen können, der Vater vermißte sie gar nicht. Als sie jedoch von der Tochter hörte, daß Karola das Haus verlassen hatte, wurde es ihr recht unbehaglich zumute. Und nachdem sie den Tisch zum Abendessen gedeckt hatte, suchte sie leise ihr Zimmer auf und verbrachte dort die Nacht genauso schlaflos, wie es unten Tochter und Schwiegersohn taten. Am nächsten Tage schlich sie wie das verkörperte böse Gewissen durch das Haus. Sie gebot den Kindern, die sie wieder zurückgeholt hatte, sich ganz ruhig zu verhalten, am besten gar nicht das Zimmer, das sie mit ihnen teilte, zu verlassen. Denn sie fürchtete mit Recht, daß sehr bald ein Gewitter losbrechen würde, an das sie alle ihr Leben lang denken müßten. Allein an dem Tage blieben sie alle noch davon verschont. Es brach erst aus, als der Arzt Fräulein Fritzes Brief in Händen hielt. Da allerdings kam es noch ärger, als Frau Boseit gefürchtet hatte. Mit lauter, zorngeschwellter Stimme las er ihr und
der alten Marie, die er auch herbeigerufen hatte, den Brief vor, und beide konnten trotz aller Ausflüchte nicht ein Wort davon leugnen. Malve jedoch, die ja von dem schändlichen Treiben ihrer Mutter keine Ahnung gehabt hatte, stand todblaß dabei. Und als die Mutter ihr angstgequält die Arme entgegenstreckte, da wandte sie sich schaudernd von ihr ab. »Mutter – so kannst du sein?« fragte sie nur. »Ich – ich habe es doch nur für – dich – getan«, jammerte Frau Boseit fassungslos. »Ich weiß doch, wie du Albrecht liebst – ich wollte ihn doch nur frei machen – für dich – mein Kind! Mein liebes, einziges Kind!« »Hör bloß auf, Mutter!« stöhnte Malve verzweifelt. »Sonst muß ich dich ja – verachten!« Entsetzlich war die Woche, die nun folgte. Sie gingen sich alle aus dem Wege und hatten nur den einen Wunsch, daß dieser unerträgliche Zustand ein Ende nehmen möchte – so oder so. Das tat er denn auch, als Winard das Schreiben eines Anwalts erhielt, in dem dieser kurz mitteilte, daß Frau Karola Winard, geborene Hiltmer, ihn beauftragt hätte, sie in ihrer Scheidungsangelegenheit zu vertreten. Zugleich forderte er den Arzt auf, das Eigentum seiner Frau umgehend zu verpacken und an die beigefügte Adresse zu schicken. Und als dann die Möbel fort waren und an ihrer Stelle wieder die standen, die seine erste Frau ihm in die Ehe gebracht hatte, da hielt es Winard in diesem Hause nicht mehr länger aus. Noch an demselben Tage trat er vor die fassungslosen Frauen mit der Erklärung, daß er verreise – auf wie lange, wisse er selber noch nicht. Ein Kollege von ihm sei bereit, seine Praxis zu übernehmen. Mit ihm zusammen könne Malve dann arbeiten. Nach seiner Rückkehr würde man dann weitersehen. Diese Rückkehr erfolgte jedoch erst nach drei Wochen. Scheu und bedrückt sahen Frau Boseit und Malve dem Mann entgegen, der sich in den wenigen Wochen so
erschreckend verändert hatte. Höflich und kühl erkundigte er sich während der Mahlzeit bei seinem Vertreter, ob er von seiner Arbeit befriedigt wäre, was dieser aufrichtig bejahen konnte. Erst als der Arzt sich zurückgezogen hatte und Winard mit Schwiegermutter und, Schwägerin allein war, begann er mit seinen Eröffnungen, die hauptsachlich Frau Boseit fast erstarren ließen vor Schreck. »Ihr wißt ja, daß es schon immer mein heißer Wunsch gewesen ist, Schiffsarzt zu werden«, begann er ruhig und sachlich. »Ich mußte diesen Lieblingswunsch damals aufgeben, weil meine erste Ehe mich dazu zwang. Mich hielt ja schließlich eine Frau in der Heimat, was jetzt jedoch nicht mehr der Fall ist. Nun glückte es mir durch eine gute Verbindung, eine Anstellung als Schiffsarzt zu erhalten. Ich fahre schon in vier Tagen und werde mindestens ein Jahr fortbleiben.« Bis dahin hatte Frau Boseit seinen Ausführungen mit erschrockenen Augen gelauscht. Doch sie nahmen einen Ausdruck des Entsetzens an, als er nun weitersprach: »Ich lasse euch alles Geld und alle medizinischen Instrumente, die ich mir mit viel Entsagungen angeschafft habe, zurück. So bist du in der Lage, Malve, alles weiterzuführen, wie ich es begonnen habe. Unser Kollege hat sich ja schon bereit erklärt, mit dir zusammenzuarbeiten. Ich kenne ihn. Er ist klug, tüchtig und scheut keine Mühe. Und nun zu den Kindern. Da du die denkbar schlechteste Erzieherin und das noch schlechtere Vorbild für sie bist, Mama, so daß die Kleinen, die sicherlich schon durch Veranlagung zur Bosheit neigen, zu gehässigen Geschöpfen heranwachsen müßten, wenn sie ferner unter deiner Obhut blieben, so sehe ich mich verpflichtet, sie deinem Einfluß zu entziehen. Sie kommen in ein Internat, wo sie sorgfältig erzogen werden.« »Albrecht!« schrie die Frau gepeinigt auf. »Du kannst mir doch die Kinder nicht nehmen! So grausam kannst du
doch nicht sein!« O ja, die Frau wurde für ihr Vergehen sehr, sehr hart bestraft. Die Kinder wurden ihr genommen, die Tochter war auf dem besten Wege, sich ihr zu entfremden. Ganz anders ging es während dieser Zeit im Herrenhause von Allhöfen zu. Da war es fast zu still. Denn bei Karola kamen, da sie jetzt in Ruhe war, die Folgen aller Erregungen nach. Sie fühlte sich so matt und schwach, daß sie an manchen Tagen gar nicht das Bett verlassen konnte. Mit einem stillen, dankbaren Lächeln ließ sie sich die Fürsorge der Tante Fritze gefallen, die so ganz anders war, als deren Schwester sie geschildert hatte. Gewiß, sie konnte manchmal recht unwirsch und polterig sein, aber gerade Karola hatte sehr bald erfahren, ein wie weiches, gütiges Herz sich unter dieser Stachlichkeit verbarg. Ihr ganzes Herz gehörte bald der Tante Fritze, die über die Zuneigung des zarten, liebreizenden Geschöpfes tief beglückt war. Karola legte mit rührendem Vertrauen ihre Zukunft in die Hände dieser tatkräftigen, lebensklugen Tante. Nur wenn diese ihr zuredete, eine Aussprache mit dem Gatten herbeizuführen, weil eine solche für ihre Trennung nur von Nutzen sein könnte, stieß sie bei der sonst so gefügigen Nichte auf hartnäckigen Widerstand. »Nein, Tante Fritze, ich will ihn nicht mehr sehen!« erklärte sie immer wieder fest und bestimmt. »Ich will von ihm geschieden werden, ohne ihn noch einmal zu sprechen.« So wandte Fräulein Fritze sich denn an einen Anwalt, der die Sache ihrer Nichte vertreten sollte. Und so erhielt denn Winard den Brief, in dem ihm die Trennung von seiner Frau angetragen wurde. Daraufhin schrieb er an Karola persönlich. Doch schon der Anblick des Schreibens versetzte die junge Frau in so maßlose Erregung, daß Tante Fritze es ungeöffnet an Winard zurückgehen ließ. In einem Begleitschreiben erklärte sie ihm knapp und klar, daß ihre Nichte sich in einem Zustand völliger Nervenüberreizung befände. Wenn
er seine Schuld nicht noch vergrößern wolle, so möge er sie fortan unbehelligt lassen. Tage darauf traf dann das Schreiben des Anwalts ein, der die Interessen des jungen Arztes vertrat. Er teilte mit, daß sein Klient eine Trennung von seiner Frau mit aller Entschiedenheit ablehne. In klaren Worten setzte er auseinander, daß dessen Schuld seiner Frau gegenüber gesetzlich nicht ausreiche, um eine Scheidung zu erzwingen. Schuld wäre hierfür überhaupt nicht die richtige Bezeichnung. Es wären vielmehr zu verzeihende Fehler, die wiedergutzumachen sein Klient bereit sei. Er wolle seiner Frau in jeder Weise Genugtuung verschaffen, wolle dafür sorgen, daß das, was sie in seinem Hause an Unbill erdulden mußte, sich nie mehr wiederholen würde. Seine Frau möge ihm erst einmal Gelegenheit geben, sich mit ihr auszusprechen. Das wurde natürlich schroff abgelehnt – und so kam denn nach einigen Wochen wieder ein Schreiben desselben Anwalts mit der Mitteilung, daß sein Klient nach wie vor eine Scheidung der Ehe ablehne. Er sei bereit, auf eine Trennung von einem Jahr einzugehen. Das ließe sich leicht durchführen, da er sich für diese Zeit als Schiffsarzt verpflichtet hätte. »Tante Fritze, was sagst du bloß dazu?« fragte Karola, nachdem sie den Brief gelesen hatte, bestürzt. »Ich kann dir nur raten, darauf einzugehen, mein Kind. Da dir der Mut zu einer zweiten Ehe vorläufig vergangen sein dürfte, so ist es ja gleichgültig, ob du für das eine Jahr Frau Winard bleibst oder nicht. Vielleicht kommt er überhaupt nicht mehr wieder oder strebt nach seiner Rückkehr von selber eine Scheidung an. Jedenfalls ist ein Jahr eine lange Zeit, in der allerlei passieren kann.« Also gab Karola die Erklärung ab, daß sie mit dem Vorschlag ihres Gatten einverstanden sei und erhielt darauf von seinem Anwalt ein drittes und letztes Schreiben, in dem es wörtlich hieß:
»Da Herr Dr. Winard wünscht, daß Sie sich nach wie vor als seine Gattin betrachten, hat er sich verpflichtet, für Ihren Unterhalt zu sorgen. Er wird Ihnen vierteljährlich eine Summe anweisen, von der Sie gut leben können. Das Geld können Sie von der Bank, deren Anschrift ich beifüge, abheben. Dort können Sie auch stets die Anschrift Ihres Gatten erfahren, so daß ihn Ihre Mitteilungen immer erreichen können.« Nur, um endlich Ruhe zu haben, ging Karola auch darauf ein, und dann wurde auch wirklich alles still. Aber nicht für lange. An einem Morgen nämlich, als Fräulein Fritze das Zimmer betrat, um ihrem Schützling das Frühstück zu bringen, fand sie die Nichte ohnmächtig im Bett vor. In heller Angst rief sie den Arzt herbei, der jedoch bald wieder zu Fräulein Fritze zurückkehrte. Gleich darauf trat die Tante bei Karola ein. Umständlich setzte sie sich auf den Bettrand, die Nichte dabei so eingehend betrachtend, als sähe sie diese zum erstenmal. »Nun, du kleiner Hubberspatz, ohnmächtig kannst du auch werden? Alle Dinge, die ich kaum vom Hörensagen kenne, führst du mir herrlich vor«, begann sie in ihrer trockenen Art. »Fühlst du dich jetzt wohler?« »Ja. Du hättest deswegen gar nicht den Arzt zu rufen brauchen, Tantchen. Ich habe diese Ohnmachtsanfälle schon öfter gehabt und weiß daher, daß sie immer bald vorübergehen.« »Hm – und was sagte denn dein Mann dazu?« »Der hat mich nie dabei erwischt.« »So – das wäre also zu seiner Berufsehrenrettung gesagt. Sonst hätte ich dir nämlich die Eröffnung machen müssen, daß dein lieber, verflossener Mann nicht nur ein schlechter Gatte, sondern auch ein verflixt schlechter Arzt gewesen ist. Es bleibt trotzdem immer noch verwunderlich genug, daß er dir nicht angemerkt hat, wie es um dich steht. Nun, Karola, muß ich noch weiter sprechen?« »Oh, Tante Fritze – es ist ja so entsetzlich!« stammelte die
junge Frau, blaß bis in die Lippen. »Das pflegt man sonst nicht zu sagen«, meinte das Fräulein trocken. »Aber in diesem Fall bringt die Sachlage erhebliche Schwierigkeiten mit sich, die unsere schönen Pläne über den Haufen werfen. Du wirst dem kleinen Wurm doch nicht den Vater nehmen wollen?« »Ja – und abermals ja!« rief Karola in leidenschaftlicher Heftigkeit. »Soll ich etwa zu Winard zurückkehren, damit nicht nur ich, sondern auch mein Kind den Bosheiten seiner Schwiegermutter und seiner Kinder ausgesetzt sind? Tante Fritze, du hast mir hier eine bleibende Heimat versprochen - und meinem Kind – « »Natürlich auch – das ist doch selbstverständlich«, beschwichtigte die Tante die maßlos erregte Frau. »Aber du darfst nicht vergessen, daß der Mann ebensolche Rechte an sein Kind hat wie du.« »Nein, das Recht hat er verwirkt! Wenn ich tot wäre, dann hätte er ja doch auch nichts von dem Kleinen. Und ich will lieber sterben, als mit meinem Kinde noch einmal in dieses Haus gehen.« Sie brach in fassungsloses Schluchzen aus, und das Fräulein hatte nun wieder große Mühe, ihr Sorgenkind zu beruhigen. »Es hat keinen Sinn, daß wir uns jetzt schon darüber den Kopf zerbrechen«, begütigte sie. »Laß das Würmchen erst einmal da sein, dann beraten wir weiter. Hoffentlich ist es kein Junge, was die Sache erheblich verschlimmern würde. Denn nach den beiden Töchtern wird der Vater auf einen Sohn kaum verzichten wollen.« »Es wird ein Mädchen sein«, behauptete Karola mit solcher Bestimmtheit, daß Tante Fritze nun doch lachen mußte. »Natürlich, du Liliput stehst ja mit unserem lieben Herrgott in besonders gutem Einvernehmen, daher mußt du das ja wissen. Aber zuerst sieh zu, daß du kräftiger wirst. Und nun noch eine Frage: Teilen wir unsere neueste Weisheit deinem Mann mit?«
»Nein, auf keinen Fall!« »Also gut, fügen wir uns deinem kleinen Eisenschädel. Mag der Herr Papa von seinem Kinde erst erfahren, wenn es auf der Bildfläche erschienen ist.« Bis dahin verging noch eine lange Zeit, in der es viel Sorge und unruhige Stunden im Herrenhause von Allhöfen gab. Es stand nicht gut mit der jungen Frau, die trotz sorgfältigster Pflege matt und schwach blieb. Und dazu kam noch, daß sie dem Fräulein Fritze täglich mehr ans Herz wuchs. Sie zitterte förmlich um das wertvolle Leben und machte Karolas Eltern noch über den Tod hinaus die bittersten Vorwürfe. Gewiß, Karola war von Kind an immer kränklich gewesen, hatte auch mehrmals mit schweren Erkrankungen bis auf den Tod zu kämpfen gehabt und hatte dann später durch ihre Anfälligkeit der anderen Jugend in manchem nachstehen müssen. Aber die Fürsorge der Mutter war dann, besonders nach dem Ableben des Vaters, doch viel zu weit gegangen, aus Angst und aus einer übergroßen Liebe zu der zarten Tochter. Sie hatte jedoch dabei nicht bedacht, daß sich im Seelenleben des geliebten Kindes Zwiespältigkeiten entwickeln mußten, wenn das junge Mädchen nach der Gemeinschaft mit der Jugend ihrer Umgebung verlangte, die der heutigen Jugend selbstverständlich ist. Gewiß hatte der Arzt mit seinem Rat zur Vorsicht recht gehabt, aber diese Vorsicht war von der Mutter doch in vielen Fällen übertrieben worden. So hatte sich das junge Mädchen von der Natur vor der anderen Jugend zurückgesetzt gefühlt, und in ihrem zarten Körper war eine unnatürliche Empfindlichkeit groß geworden, wie man sie bei den meisten Menschen findet, die von der Natur vernachlässigt wurden. Tante Fritze sah in diesen Tagen über die Nichte ganz klar. So sehr sie geneigt war, die Schuld an dem ehelichen Zerwürfnis Winard zu geben, so verhehlte sie sich doch auch nicht, daß der Arzt einen schweren Stand bei Karola gehabt hatte, die eigentlich einen Mann hätte heiraten
müssen, der ihr ein Leben bieten konnte, wie sie es von Haus aus gewohnt war. Daran war nun freilich nichts mehr zu ändern. Tante Fritze gehörte nicht zu den Menschen, die unabänderlichen Dingen lange nachhängen, und sie war wohl der glücklichste Mensch unter der Sonne, als an einem Tage im August nach Stunden qualvoller Angst und Not im Herrenhaus ein Mädchen geboren wurde, das der zarten Mutter wohl arg zugesetzt, aber nicht ihr Leben zerstört hatte. »Siehst du, Tante Fritze, es ist doch ein Mädchen«, waren die ersten Worte, die Karola nach der Geburt des Kindes sprach. Ihre Blicke bohrten sich förmlich in das kleine Gesicht des Töchterchens, das da so friedlich in ihrem Arm lag – bis sie dann den Kopf mit einem gequälten Lächeln abwandte. Nun mußte auch die Frage erörtert werden, wie man am besten Winard von der Geburt seines Kindes benachrichtigen könnte. Doch da begehrte Karola mit einer Wildheit auf, über die Fräulein Fritze erschrak. »Nein, nein! Das Kind gehört mir – ganz allein mir! Wage es nicht, Tante Fritze, Winard etwa heimlich zu benachrichtigen – das würde uns scheiden – für immer!« Ja, was blieb dem Fräulein da wohl anders übrig, als nachzugeben? Zumal Karola so krank war, daß jede Erregung sie an den Rand des Grabes bringen konnte. So geschah es denn, daß Winard von der Geburt seiner Tochter nicht benachrichtigt wurde. Mit behutsamen Schritten näherte sich Fräulein Fritze der Stelle des Parkes, an der Mutter und Kind bei schönem Wetter ihr Mittagsschläfchen zu halten pflegten. Mit Rührung sah sie auf das rosige Geschöpfchen, das wie ein holdes Wunder in seinem Wagen schlummerte. Nie hätte sie geglaubt, daß ein kleines Kind so süß, so goldig sein könnte. Oder war die kleine Ute eine Ausnahme? Ihr Blick wanderte zu der jungen Mutter hin, die zart und
fein wie ein Traumbild schlief. Und da ging ein Schatten über das eben noch so frohe Gesicht der Tante. So prächtig das kleine Mädchen gedieh, so sehr verfiel die Mutter. »Ihr fehlt die Willenskraft zum Leben«, hatten die verschiedenen Ärzte, die Tante Fritze zu der Nichte gerufen hatte, erklärt. »Wenn sie die nicht hat, kann ihr der beste Arzt nicht helfen.« Und woran liegt das? Sehnte sie sich nach dem fernen Gatten? Oder hatte all das, was sie in seinem Hause erduldete, sie seelisch so zerbrochen, daß sie sich nie mehr davon erholen konnte? So viele Fragen waren es, mit denen sich das bekümmerte Fräulein beschäftigte – und auf die sie nie eine Antwort fand. Da mußte wohl ein Wunder geschehen, wenn die Nichte ihr erhalten bleiben sollte. Und das Wunder kam – schneller noch, als Tante Fritze gehofft hatte. Sie erkrankte nämlich. Durchaus nicht schwer, nicht einmal bedenklich, doch diese Krankheit wollte sie benutzen, um Karola aus ihrer Teilnahmslosigkeit aufzurütteln. Sie kannte ja deren tiefe Liebe zu ihrem Kinde und die Angst, daß es einmal in die Hände des Vaters oder seiner Angehörigen fallen könnte. Also ließ sie die Nichte an ihr Bett kommen und tat nun wirklich so, als ob ihr letztes Stündlein geschlagen hätte. »Sieh einmal, Karola, wenn ich nun sterben sollte, was wird dann aus Ute?« begann sie eindringlich. »Du kannst und willst nicht mehr gesund werden, ich bin dann auch nicht mehr da, um das kleine Geschöpf zu erziehen – also muß es zum Vater.« Und was ihre liebevollen Ermahnungen und eindringlichen Vorstellungen nicht erreicht hatten, das brachten diese wenigen Worte zuwege. Zuerst ergriff Karola eine bebende Angst, daß die geliebte Tante ihr genommen werden könnte. Sie war nicht zu bewegen, vom Bett zu gehen, so daß Fräulein Fritze sich
schon ganz schlecht vorkam. Sie fürchtete, daß die Nichte sich überanstrengen könnte und kürzte daher ihre Krankheit ab. Sie stand früher auf als ratsam war. Aber was schadete das alles? Diese kurze Krankheit hatte das Wunder, auf das sie immer gehofft hatte, vollbracht. Karola war aus ihrer Gleichgültigkeit dem Leben gegenüber aufgerüttelt. Sie dachte immer wieder mit Grauen daran, wie es sein müßte, wenn ihr heißgeliebtes kleines Mädchen in das Haus seines Vaters kommen würde. Nein, sie mußte gesund werden – mußte! Und da der Wille ja dazu imstande sein soll, Berge zu versetzen, so wirkte er auch bei Karola wahre Wunder. Schon nach einigen Wochen war die junge Frau kaum wiederzuerkennen, und Fräulein Fritze schmunzelte. Sie war schon längst wieder fest auf den Beinen, denn ihrem kerngesunden, abgehärteten Körper konnte so eine kleine Unpäßlichkeit gewiß nichts anhaben. Dazu war sie noch lange nicht alt, noch nicht einmal fünfzig – also gedachte sie noch manch ein Jahr zu leben und zu schaffen. »Der liebe Herrgott wird mir meinen Schwindel hoffentlich nicht übelnehmen und mich zur Strafe dafür nun wirklich ins Jenseits befördern«, meinte sie lachend zu dem Arzt, dem sie ihre kleine List verraten hatte. »Bestimmt nicht, Fräulein Fritze«, bestätigte der ebenfalls lachend. »Ihr Schwindel hat ein Wunder vollbracht, und das ist die Hauptsache. Ganz prächtig hat sich unser junges Frauchen, mit dem es beängstigend genug aussah, in der kurzen Zeit erholt. Da sieht man wieder einmal, was der Wille zum Leben zuwege bringen kann.« Langsam begann man in Allhöfen zu vergessen, daß man vor einigen Wochen noch um das Leben der jungen Mutter gebangt hatte. Zwar mußte Karola sich noch immer schonen, war jedoch schon längst kräftig genug, um sich allein überlassen zu bleiben und für ihr Kindchen zu sorgen. Und je mehr sie sich zumutete, desto kräftiger wurde sie.
Wurde überhaupt viel kräftiger und widerstandsfähiger als je zuvor. Fräulein Fritze sah es mit heimlichem Entzücken. Wie frohlockte sie innerlich, wenn die Nichte Dinge unternahm, die sie früher mit Entsetzen abgelehnt hätte. So vergingen langsam Sommer und Herbst. Und als der November kam und es regnete, was nur vom Himmel kommen konnte, machte Karola an einem Sonntagmorgen beim Frühstück der Tante den Vorschlag, ein Auto anzuschaffen. »Und wer soll fahren?« fragte die Tante lachend. »Ich etwa? Nein, mein Kind! Ich würde vielleicht mit dem Teufel Schlitten fahren, aber an das Steuer einer Benzinkutsche kriegt mich keine Macht der Welt! Und um uns einen Chauffeur zu halten, das tragen unsere Hufen nicht.« »Sie würden es schon tragen«, entgegnete Karola ungerührt. »Aber ein Chauffeur ist gar nicht nötig. Ich würde das Auto steuern.« Fräulein Fritze starrte sie an wie ein Weltwunder. »Du?« fragte sie verdattert, daß die Nichte hellauf lachte und mit diesem übermütigen herzfrohen Lachen das arme Fräulein in immer größere Verwirrung brachte. »Tante Fritze, soll ich einen Spiegel holen?« neckte sie. »Na, laß nur. Ich weiß auch so, daß mein Gesichtsausdruck nicht gerade geistreich zu nennen ist«, nickte sie immer noch fassungslos. »Karola, ich will mich nicht wundern, wenn du mir gleich noch erklärst, daß du in einer Rakete zum Mond zu schießen gedenkst.« »Tantchen, dein Vergleich ist doch ein wenig zu – sprunghaft.« »So sprunghaft wie deine Ansichten, mein Kind«, kam es trocken zurück. »Vor einem Vierteljahr noch wärst du entsetzt gewesen, wenn man dir angeboten hätte, dir ein Auto näher anzusehen – und heute willst du es gar steuern?« »Damals war ich auch krank – und jetzt bin ich gesund!« kam es in leisem Jubel von den frischen Lippen.
Und als müsse sie diese Gesundheit beweisen, dehnte und streckte sie die Arme, wobei sie den schlanken, biegsamen Körper nur so hin und her schnellte. »Gott sei Lob und Dank!« sagte das Fräulein mit Inbrunst. »Nun haben wir es endlich geschafft!« Und wie sie es geschafft hatten! Im Herbst lernte Karola Autofahren, im Winter reiten – und im Frühjahr ging sie bei dem Oberinspektor in die Lehre. Es war gut zu leben auf Allhöfen, wo alles so großzügig und selbstverständlich war, in der Wirtschaft wie im Herrenhause. Überall atmete der Geist des Fräulein Fritze, dieses zwar nicht sehr liebenswürdigen, doch durch und durch ehrlichen und anständigen Menschen. Da war alles sauber und durchsichtig, alles auf festem Grund und nicht auf Tand erbaut. Und es wäre keinem auf Allhöfen eingefallen, ihr jemals den Respekt zu versagen. »Wat onser Frollein Fritze seggt, hat Hand on Foot«, hieß es unter den Leuten. Und daher hielt man alles, was sie sagte und tat, für gut und richtig. Fräulein Fritze hatte sich auch bisher nie einen Luxus erlaubt – das tat sie erst, seit ihre Nichte im Hause war. Karola und ihr Kind – das waren die Schwächen des sonst so resoluten Fräuleins. Die hätten mit den törichtsten Wünschen zu ihr kommen können, sie hätte sie ohne Besinnen erfüllt. Also war es nur ein Glück, daß Karola zu vernünftig und Ute noch zu klein war, um die Tante mit unvernünftigen Wünschen auf die Probe zu stellen. Karola fand ohnehin, daß sie und ihr Kind von der Tante zu sehr verwöhnt würden und stoppte ab, so viel sie konnte. »Laß mich doch, Herzchen«, hatte das Fräulein bei einer Gelegenheit einmal traurig gesagt. »Wozu habe ich so viel Geld zusammengerafft, wenn ich euch nicht eine Freude damit machen kann?« »Wir können dir aber doch nie im Leben vergelten, was du an uns tust, Tante Fritze.« »So – und die Liebe, die ihr mir entgegenbringt – ist die
etwa nichts?« hatte sie da gepoltert. »Die kann man sich für gewöhnlich mit dem größten Geldsack nicht kaufen.« Liebe – allerdings, die brachten ihr die große wie die kleine Nichte in reichem Maße entgegen. Das war schon daraus zu ersehen, wie jetzt die kleine Ute, die auf dem Arm der langsam näherkommenden Kinderpflegerin saß, ungeduldig zu Fräulein Fritze strebte. »Tata, Tatta!« zwitscherte das feine Stimmchen. Und so drückte denn das Fräulein ihren Knotenstock dem Inspektor in die Hand und hob das kleine Mädel auf die Arme. »Bist du auch nicht zu warm angezogen, mein kleiner Schatz?« fragte sie mit einem prüfenden Blick auf die Kleidung des Kindes, die außer weißen Leinenschuhen und kurzen Strümpfen aus einem weißen Spitzenkleidchen und einem leichten Hemdhöschen bestand. »Gut so, Schwester«, nickte sie befriedigt der Pflegerin zu. »Gestern noch hat mir der Arzt auf die Seele gebunden, ich soll streng darauf achten, daß die Kleine bei dieser Hitze nicht zu warm gekleidet ist.« »Warum gerade du, Tante Fritze?« lachte Karola herauf. »Du hast doch weiß Gott an ganz andere Dinge zu denken.« »Das mußt du ja wissen, du Küken«, erfolgte die trockene Antwort. »Wer ist denn nun die Mutter, du oder ich? Dich sieht das Kind ja noch nicht einmal an.« Das klang so recht befriedigt, und Karola lachte in sich hinein. Sie gönnte der Tante ja von Herzen die Liebe ihres Kindes. Langsam näherte sich die Gruppe dem Herrenhaus, das jetzt im vollen Sonnenschein lag. Wie ausgestorben wirkte der langgestreckte, stattliche Bau mit seinen heruntergelassenen Rolläden. »Wir gehen nach der Terrasse, da ist es jetzt schattig und kühl«, bestimmte die Hausherrin. »Zieht euch nicht erst um, das Frühstück wird auch so schmecken. Schön machen könnt ihr euch nachher.« Ohne Widerrede wurde diese Anordnung befolgt. Als sie
die Terrasse betraten, die noch völlig im Schatten lag, stand dort der einladend gedeckte Frühstückstisch mit der Kaffeemaschine darauf. Man ließ sich dann die köstlichen Dinge auch gut schmecken. »Ach so«, lachte Karola zu ihrem Töchterchen hin, das vom Schoß der Tante zu ihr strebte. »Du willst zu mir, weil du hier Schokolade vermutest. Das ist aber nur Schwarzbrot, du kleiner Dummkopf.« Sie hob die Kleine zu sich herüber und hielt ihr eine Schnitte Brot an den Mund, worauf sich das Köpfchen sofort zur Seite wandte. »Mam!« zwitscherte das Stimmchen entrüstet, so daß alle hellauf lachten. »Angeführt, mein Fräulein Tochter!« jubelte Karola, das Kind mit den Armen hochstemmend. Es war ein herzfrohes Bild, diese junge, wunderschöne Mutter mit ihrem nicht weniger schönen Kind. Sie war von ganz besonderem Liebreiz, die kleine Ute, mit den großen strahlenden Blauaugen und den Löckchen wie aus Goldgespinst. Haar und Augen hatte sie von der Mutter, aber das Gesichtchen -? Darin suchte man vergeblich nach einem bekannten Zug. »Sie wird ihrem Vater immer ähnlicher«, hatte Karola einmal zur Tante gesagt und dann die Lippen fest zusammengepreßt, als habe sie schon zuviel verraten. Was war das überhaupt für ein Mann, der diese beiden holden Geschöpfe, die doch ihm gehörten, so lange allein lassen konnte? Wo war er überhaupt? Man hatte schon sehr lange nichts von ihm gehört. Das war ja nicht weiter schlimm, denn Karola schien ihren Gatten schon längst vergessen zu haben. Und die kleine Ute hatte ihn ja nie gekannt. Also vermißten ihn beide nicht. Aber wenn er verschollen blieb – und Karola sich in einen andern Mann verlieben sollte? Heiß und kalt zugleich überlief es Fräulein Fritze, die
gerade diesem Gedanken nachhing. Und es war gewiß kein zufälliger Blick, der den jungen Inspektor bei diesem Gedanken streifte. »Komm, mein Liebchen«, sagte sie hastig, um die Gedanken zu verscheuchen, und streckte die Arme nach dem Kind aus. Es war allen ein Rätsel, woher sie plötzlich die Schokolade nahm, die sie der Kleinen hinhielt. »Die muß Utelein sich erst verdienen«, meldete sich die Pflegerin nun, die sich bescheiden im Hintergrund gehalten hatte. Sie hob das Kind vom Schöße der Mutter, trug es bis zur Ecke der Terrasse und stellte es dort auf die Füße. »Geh, Liebling, hole dir die Schokolade«, sagte sie ermunternd. Und schon setzten sich die drallen Beinchen in Bewegung. Sehr unsicher und wackelnd zwar, doch ohne großen Aufenthalt erreichte das Kind die Tante, die es jubelnd auf die Arme hob. »Mädel, du kannst ja laufen! Wie kommst du eigentlich dazu?« polterte sie, um ihre Rührung zu verbergen. Das Kind erhielt viele Küsse und die Schokolade dazu, und unaufgefordert trippelte es noch einmal den Weg hin und zurück. »Und dabei wird sie doch erst in drei Wochen ein Jahr alt«, bemerkte Frau Fritze stolz. »Das ist aber auch ein Prachtkind! Schwester Gerda, da muß ich Ihnen meine Anerkennung aussprechen«, wandte sie sich an die Pflegerin, die vor Freude über das Lob errötete. »Sie sind wirklich auf dem Posten. Aber nicht das Kind im Laufen überanstrengen«, warnte sie gleich hinterher. »Damit unser Schatz nicht etwa krumme Beinchen kriegt. Das wäre abscheulich!« »Ich passe schon auf, Fräulein Hiltmer«, versprach die Schwester eifrig. Klein-Ute wanderte noch einmal von Arm zu Arm, wobei auch Elard, den sie auch in ihr Herzchen geschlossen hatte, nicht zu kurz kam. »Ote!« jauchzte sie, ihm mit den Händchen in das Gesicht
patschend. Und erst, als Tante Fritze ein Machtwort sprach, reichte er die Kleine der Pflegerin zurück, die mit ihr die Terrasse verließ. »Wie die Kinder seid ihr«, seufzte sie kopfschüttelnd. »Laßt wegen dem kleinen Fratz das Frühstück im Stich. Nun aber rasch gegessen, sonst sitzen wir noch mittags hier.« Sie beendeten nun ihr Frühstück und streckten sich dann in die Liegestühle, die abseits standen. Es war ja Sonntag heute, da konnte man ohne Gewissensbisse faulenzen. Fräulein Fritzes Augen ruhten wieder sinnend auf der Nichte und dem Inspektor, die sich lebhaft unterhielten. Es war ja kaum möglich, daß zwei so prachtvolle Menschen sich gleichgültig bleiben konnten; denn Karola war gewiß eine Frau, die einem Mann das Herz heiß machen konnte. Und Elard sah nicht nur gut aus, er war auch sonst ein Mensch, wie man ihn nicht oft findet. Der Herr Doktor Winard würde sich mit diesem Mann bestimmt nicht messen können. Schade, daß Karola kein Bild von ihm hatte. Fräulein Fritze konnte ihn sich gar nicht recht vorstellen. Aber nach allem, was sie von Karola über ihn gehört hatte, mußte nicht viel mit ihm los sein. Vielleicht war es doch nicht gut, daß sie gerade Elard zur Unterstützung des alten Wederich nach Allhöfen geholt hatte? Es war ja wohl ein sehr tüchtiger Landwirt und daher für das Gut von großem Wert – aber für Karolas Seelenruhe war er entschieden zu gefährlich. Ja, wenn sie geschieden wäre! Einen besseren und lieberen Neffen hätte die Nichte ihr gar nicht bringen können. Aber nun Winard nichts von sich hören ließ… Wahrlich, Fräulein Fritze machte sich um die Zukunft der Nichte viel größere Sorgen als Karola selbst und dachte viel mehr an Winard, als seine Frau es tat. In den nächsten Wochen gab es auf Allhöfen reichliche Arbeit. Man konnte mit dem Schneiden des Roggens beginnen, und so wurde jede Kraft gebraucht. Fräulein Fritze saß wie ein Feldherr auf ihrem Gaul, und ihren scharfen Augen entging nichts. Die beiden Inspektoren und
die Eleven kamen kaum noch aus dem Sattel, und auch Karola konnte schon erhebliche Hilfe leisten. »Bis Utes Geburtstag muß der Roggen unter Dach und Fach sein«, bestimmte Fräulein Fritze. »Und dann wird doppelt gefeiert.« Und da es bis dahin nur noch drei Wochen waren, so mußte man sich wacker dran halten. Am Sonntag darauf, der eine Ruhepause in die emsige Arbeit schob, stand Fräulein Fritze in der Küche, um mit der Mamsell allerlei zu besprechen. Deshalb war sie nicht gerade erfreut, als das Zimmermädchen ihr eine Besuchskarte brachte. »Was ist das für ein Herr?« wollte sie gerade fragen, als ihr das Wort auch schon in der Kehle erstarb. Da sie jedoch gewohnt war, sich zu beherrschen, so merkte niemand etwas von dem, was in ihr vorging. »Ist Frau Winard nicht da?« fragte sie kurz. »Frau Winard ist mit der Kleinen und Herrn Elard zur Stadt gefahren«, meldete sich die Mamsell. »So – dann muß ich ja wohl gehen«, murmelte Tante Fritze mehr für sich und begab sich in die Diele, wo der ebenso unerwartete wie unerwünschte Besucher stand und sich höflich vor ihr verneigte. Fräulein Fritze bat ihn hastig in einen Raum, der mit seinen steifen Möbeln einen recht unpersönlichen Eindruck machte. Und hier saßen sie sich dann gegenüber. Das kann doch unmöglich sein, dachte das Fräulein bestürzt. Dieser elegante, vornehme Weltmann… »Ich nehme an, daß ich die Tante meiner Frau vor mir habe?« hörte sie nun eine dunkle, sehr angenehme Stimme sagen – und da war es ja kein Zweifel mehr, daß sie wirklich Winard vor sich hatte. Augenblicklich panzerte sie sich mit aller Abneigung und allem Groll, die sie gegen diesen Mann hegte. »Meine Nichte ist nicht hier – sie ist zur Stadt gefahren.« »So werde ich warten, bis sie zurückkommt, Tante Fritze«,
erfolgte die verblüffende Antwort, und die resolute Tante war zum erstenmal in ihrem Leben um einen passenden Bescheid verlegen. Einfach Tante Fritze nannte er sie. Dieser Mensch hatte ja eine ganz verflixte Art! Nun, die wollte sie ihm schon noch abgewöhnen. Sie hatte sich mehr als einmal ausgemalt, wie es sein müßte, wenn Winard hier eines Tages auftauchen würde. Hatte sich sogar schon die Worte zurechtgelegt, die sie für ihn haben würde. Nun hielt sie es jedoch für ratsam, zu schweigen – und abzuwarten. Und während sie das tat, musterte sie den Besucher immer wieder verstohlen. Karola hatte doch immer erzählt, daß ihr Gatte in einfachen Verhältnissen lebte. Woher nahm er dann diese auffallend elegante Kleidung? Und wie kam er überhaupt zu diesem sicheren, weltmännischen Auftreten, wie es sonst eigentlich nur einflußreichen Persönlichkeiten eigen ist? »Sie haben mich wahrscheinlich nicht mehr erwartet?« sprach nun wieder die dunkle Stimme, bei der Tante Fritze aufhorchte. Der Mann hatte ja ein Organ, das sich förmlich einschmeichelte – tief, dunkel und warm. »Nein, Herr Doktor, wir haben Sie nicht mehr erwartet«, bestätigte sie kühl, »weil Sie doch länger als ein Jahr ausblieben.« »Soso! Und warum haben Sie es nicht für nötig gehalten, mir die Geburt meiner Tochter anzuzeigen?« »Ja – das hielten wir wirklich für unnötig. Denn ein Mann, der durch sein Verschulden seine Frau an den Rand des Grabes bringt, kann für sein Kind wohl nichts übrig haben.« »Also geben Sie zu, mir die Geburt des Kindes absichtlich verschwiegen zu haben?« »Ja.«
»Das wollte ich nur von Ihnen bestätigt haben. Danke, Tante Fritze.« »Was wünschen Sie eigentlich von meiner Nichte?« fragte das Fräulein nun schroff. »Ich bin gekommen, um meine Frau dorthin zu holen, wohin sie nach Gesetz und Pflicht gehört.« »Da würde ich an Ihrer Stelle doch nicht so siegessicher sein, Herr Doktor«, spottete das Fräulein. »Meine Nichte hat sich nämlich sehr verändert. Von der Karola von einst ist herzlich wenig übriggeblieben. Und wenn Sie annehmen, daß sie Ihnen vor lauter Wiedersehensfreude beseligt in die Arme sinken wird, so werden Sie bitter enttäuscht sein. Sie wird Ihnen im Gegenteil so viel zu schaffen machen, daß diesmal Sie es sein werden, der eine Scheidung anstrebt. Also warum es noch darauf ankommen lassen? Trennen Sie sich kurz und schmerzlos von Ihrer Frau, dann bleibt Ihnen und uns viel Ärger erspart. Meine Nichte und ihr Kind sind nämlich hier an ein Leben gewöhnt, das Sie ihnen nicht bieten können.« »Vielleicht doch«, bemerkte er mit einem Lächeln, das sie stutzig machte. »Nun, das käme ja darauf an«, zuckte sie mit den Achseln. »Meine Nichte ist nämlich die Erbin von Allhöfen. Also, Herr Doktor, kurz heraus: Ich kann und will meine Nichte nicht wieder in Ihr Haus geben. Ich bin es gewesen, zu der sie flüchtete in ihrer größten Not. Hätte sie sich nicht auf mich besonnen, so wäre sie in den Tod gegangen. Ich bin es auch gewesen, die sie später Zoll um Zoll dem Tode abgerungen hat; denn es stand sehr, sehr ernst um Karola, nach der Geburt des Kindes fast noch ernster als vorher. Und da soll ich dulden, daß meine Nichte noch einmal in Ihr Haus kommt, das von einer boshaften Frau und ebenso boshaften Kindern beherrscht wird? Das können Sie doch unmöglich im Ernst verlangen, Herr Dr. Winard.« Aha, das hat gesessen, dachte sie grimmig, als sie das
todblasse Gesicht des Mannes sah. Sie wollte gerade zu einem neuen Hieb ausholen, als sie in der Diele Stimmen hörte. Gleich darauf wurde die Tür geöffnet,und Karola und Elard, der das Kind trug, traten ein. »Tante Fritze, man sagt mir, daß Besuch da ist – « Nun hatte die junge Frau den Gatten erkannt. »Mein Gott - du -?« stammelte sie fassungslos. Unwillkürlich suchte sie nach einem Halt und fühlte sich von einem Arm umschlungen. Ihr Kopf sank gegen die Schulter Elards. Und nun standen sie da, wie zärtliche Gatten, die ihr Kind bei sich haben. Es war ein herzerfreuendes Bild, das die drei Menschen boten – nur dem Mann vor ihnen schien es nicht zu gefallen. Er wurde ebenso blaß wie Karola es war, und seine Zähne bissen aufeinander, daß die Wangenmuskeln spielten. Nur augenblickslang dauerte es, dann hatte Karola sich gefaßt. »Nehmen Sie das Kind bitte mit sich, Herr Elard«, bat sie leise. Doch als er sich anschickte, das Zimmer zu verlassen, trat Winard auf ihn zu und nahm ihm das Kind vom Arm. »Gestatten Sie«, sagte er dabei mit einer Stimme, in der es vor Kälte nur so klirrte. Die Blicke der Männer kreuzten sich. Da wandte Elard sich stumm ab und ging hinaus. Unter den Zurückgebliebenen herrschte unheimliche Stille. Winard hielt sein Töchterchen, das ängstlich von ihm fortstrebte, so weit von sich ab, wie seine Arme reichten. Sekundenlang sah er in das reizende Kindergesicht. »Also du bist meine Tochter«, sagte er langsam und schwer. »Kannst du mir schon sagen, wie du heißt? Schau einmal, dein Papi weiß das noch gar nicht.« »Sie heißt Ute«, sagte Karola nun hastig, indem sie auf den Mann zutrat und nach dem Kind griff. »Sie ist ein wenig scheu – sie fürchtet sich vor Fremden.« »Nun, vor ihrem Vater wird sie sich nicht fürchten«, kam es
gelassen zurück. »Nicht wahr, mein Liebchen, du fürchtest dich nicht vor deinem Papi?« »Ote!« sagte das Stimmchen kläglich. »Nicht Onkel – sondern Papi! Du wirst dir das Wort merken müssen, mein Kleines. Wie alt ist sie überhaupt?« wandte er sich an Karola. »Es ist ja wohl sonderbar, daß ich als Vater danach fragen muß – « »Sie wird am fünften August ein Jahr alt«, unterbrach die junge Frau ihn kühl. »Also in zwei Wochen. Da muß ich dir meine Anerkennung aussprechen, Karola. Ute ist das schönste, gepflegteste Kind, das ich bisher gesehen habe. Auch vom ärztlichen Standpunkt aus betrachtet, darf ich mit einem Lob nicht zurückhalten.« »Dafür kann ich nichts«, wies sie sein Lob schroff zurück. »Das Kind ist gesund und hat außerdem eine ausgezeichnete Pflegerin.« Nun war es ihr doch gelungen, die Kleine von des Vaters Arm zu heben. Glückselig schmiegte das Kind sich an die Mutter, aufgeregt dabei nach dem fremden Mann zeigend. »Ote – Ote!« plapperte der kleine Mund. »Ja, mein Schatz, ein Onkel«, bestätigte Fräulein Fritze nachdrücklich. »Gib mir nur das Kind, Karola, ich gehe mit ihm schon voran.« Doch bevor sich Klein-Ute von der Tante hinausbringen ließ, wollte sie dem Onkel noch ihre neueste Kunst zeigen. Sie strebte von der Tante Arm und lief mit einem entzückend spitzbübischen Lächeln auf den Mann zu, der sie überwältigt in seinen Armen auffing. »Laufen kannst du auch schon, du kleines Süßes du!« sagte er mit seltsam schwankender Stimme. »Du bist ja ein Prachtmädel! Warte einmal, der Papi muß nachsehen, ob er etwas für dein Leckermäulchen hat.« Gleich darauf legte er eine Tafel Schokolade in die ausgestreckten Händchen. »Ote – Ote!« plapperte sie entzückt. »Nicht Onkel, Utelein, sondern Papi!«
»Ote -?« Das klang schon ein wenig zaghaft. »Nein – Papi!« »Pa – pi!« Da war es, das inhaltsschwere Wort, das dem Wortschatz des Kindes nun einverleibt war- und den Mann so ungemein beglückte. Ohne sich um die zürnenden Blicke der beiden Frauen zu kümmern, ließ er das Kind noch einige Male den Namen nachsprechen. Und als dann Fräulein Fritze das Kind endlich wieder auf dem Arm hatte und mit ihm zur Tür schritt, winkte es freudestrahlend zurück, das eben erlernte schwere Wort vor sich hin plappernd. Dann standen sich die Gatten allein gegenüber. »Was willst du hier?« fragte Karola zürnend. »Des Kindes und meine Ruhe stören? Es geht uns gut hier. Wir wollen nie mehr von hier fort. Hörst du – nie!« »Darüber wird mein Kind erst später entscheiden können.« »Wer sagt dir überhaupt, daß es dein Kind ist?« »Karola!« Man sah dem Mann an, wie er sich mit aller Kraft zu beherrschen versuchte. Er mußte erst einige Male schlucken, ehe er weitersprechen konnte. »Komme mir nicht mit derartigen Ausflüchten«, sagte er dann, so ruhig er konnte. »Sie nützen dir nichts, verfehlen bei mir vollkommen ihre Wirkung.« Karola sah, wie seine Hände sich zu Fäusten ballten, wie die Adern an den Schläfen anschwollen. Sie hielt auch seinem drohenden Blick stand – und er war der erste, der den seinen abwandte. »Karola, du hast eine verflixt spitze Zunge bekommen«, sagte er mit einer Stimme, die nicht ganz klar klang. »Ich möchte dir jedoch raten, dir einen andern Ton mir gegenüber anzugewöhnen. Der Einfluß deiner Tante ist anscheinend kein besonders guter.« »Du – versuche es nicht, das Tun meiner Tante zu kritisieren!« rief sie nun zitternd vor Erregung. »Sie ist der beste, wertvollste Mensch, den ich kenne. Wenn sie nicht gewesen wäre, dann stünde ich heute nicht vor dir. Dann
wäre ich längst den Weg gegangen, auf den mich deine Härte und die Niedertracht deiner Schwiegermutter getrieben hatten!« Karola sah, wie aus dem gebräunten Männerantlitz jetzt langsam das Blut wich, und das ließ sie ruhiger werden. »Was willst du überhaupt von mir?« fuhr sie gefaßter fort. »Sollen ich und das Kind etwa wieder in dein Haus zurückkehren und uns von deiner Schwiegermutter und deinen Kindern quälen und peinigen lassen? Dann will ich dir nur sagen, daß ich dieses Martyrium heute nicht mehr so schweigend hinnehmen würde! Es würde hart auf hart gehen, der Streit würde kein Ende nehmen! Hast du denn schon alles vergessen? Ich nicht! Bis an mein Lebensende vergesse ich nicht, was man mir in deinem Hause angetan hat.« »Karola, so kommen wir nicht voran«, erklärte er mit rauher Stimme. »Du hast mir zwar keinen Platz angeboten, aber trotzdem nehme ich ihn mir. Du setzt dich ebenfalls, und nun wollen wir versuchen, wie vernünftige Menschen miteinander zu reden. Das Geschehene kann ich leider nicht mehr aus der Welt schaffen – aber ich kann gutmachen. Und dazu bin ich gekommen, Karola.« »Ach laß doch!« winkte die junge Frau nun müde ab, indem sie sich in einen Sessel sinken ließ. »Ich war so glücklich bis jetzt. Wozu bist du nur gekommen?« »Solltest du das wirklich nicht wissen, Karola?« fragte er leise. »Laß uns doch all das Häßliche nicht mehr aufrühren«, sprach sie weiter. »Laß uns doch auseinandergehen, ohne Streit, ohne Haß. Meine Liebe zu dir ist tot – und du hast mich ja überhaupt nie geliebt. Es würde ja doch nur ein glückloses Nebeneinanderherleben werden und nicht nur ich, sondern auch mein Kind würden maßlos darunter leiden. Das kleine Geschöpf ist in diesem Hause voll Sonne und Frohsinn geboren - und da soll es auch aufwachsen.« »Also so ganz und gar fertig bist du mit mir?« lachte er bitter auf. »Dann allerdings!
Aber sag, Karola – du sprichst immer nur von meiner Schuld. Trugst du denn gar nichts dazu bei, daß die ersten Monate unserer Ehe so voll Kummer und Leid sein mußten?« »Natürlich – auch«, gab sie ehrlich zu. »Geschähe mir jetzt das alles, dann würde ich ganz anders handeln, dann wäre ich erst gar nicht deine Frau geworden. Denn ein so lebensuntüchtiges, verzärteltes Geschöpf, wie ich es damals war, paßte weder zu dir noch in dein Haus. Am allerwenigsten zu deiner Schwiegermutter. Siehst du, Albrecht- und darin liegt nun eben deine Hauptschuld, daß du das wußtest – und mich der Willkür dieser Frau ausliefertest. Du hättest wissen müssen, daß ich ihr nicht gewachsen war.« »Karola, ich kenne ja meine Schuld«, sagte er mühsam und schwer. »Und ich will ja gutmachen. Ein ganzes Leben lang, Karola!« »Nein, Albrecht – ich kann und will nicht mehr zu dir zurückkommen«, wehrte sie müde ab. »Wozu willst du dir mit mir Unfriede und Ärger ins Haus holen? Ich bin jetzt nicht mehr so duldsam wie früher. Ich würde bei dem kleinsten Unrecht, das mir dort widerführe, Himmel und Hölle in Bewegung setzen! Sieh mal, Albrecht – «, sprach sie nun zuredend weiter. »Wenn wir geschieden sind, kannst du ja deine Schwägerin heiraten, die dich innig liebt. Sie ist dir dann außer Mitarbeiterin auch noch Gattin. Wäre das nicht schön für dich? Zwei Töchter hast du doch schon, was kann dir da noch an einer dritten liegen? Ja, wenn Ute ein Junge wäre! Aber was willst du mit drei Töchtern?« Jetzt huschte ein Lächeln über sein blasses Gesicht. »Gib dir keine Mühe, Karola, ich gebe dich und das Kind nicht auf. Und wenn ich ein Dutzend Töchter hätte, so würde ich gerade auf Ute niemals verzichten.« »Gut – so wirst du dazu gezwungen werden!« entgegnete sie trotzig. »Wenn ich es bisher nicht so eilig hatte, von dir loszukommen, so werde ich jetzt alles in Bewegung setzen,
damit es recht bald geschieht. Gottlob ist das Kind noch so klein, daß es mir noch ganz gehört. Dich wird es sobald nicht wiedersehen, denn zwischen Allhöfen und deinem Heim liegt eine weite Strecke.« »Wenn du dich da nur nicht irrst, Karola. Ich bin nämlich seit einigen Wochen der Leiter des Fahrleitschen Sanatoriums.« Karola starrte ihn wie entgeistert an. »Nein - das nicht!« stammelte sie mit farblosen Lippen. »Das wäre ja furchtbar!« »Ja, Kind, da kann ich dir nicht helfen«, sagte der Mann dumpf und schwer. »Glaubst du etwa, daß ich es gewagt hätte, noch einmal vor dich hinzutreten, wenn ich dir nicht mehr bieten könnte als das, woraus du einst geflohen bist? Dann wäre ich ohne weiteres aus deinem und des Kindes Leben verschwunden. Doch da ich nun in der Lage bin, euch ein behagliches Leben zu bieten und – « »Hör auf - hör bloß auf!« rief Karola gequält. »Und wenn du mich in Gold fassen könntest – ich komme nicht zu dir zurück! Ich kann nicht, Albrecht – ich kann wirklich nicht!« »Karola, nun möchte ich ohne jede Umschweife den wahren Grund deiner hartnäckigen Weigerung, zu mir zurückzukehren, wissen«, sagte er drohend. »Steckt ein anderer Mann dahinter?« Karola wollte schon auffahren – dann jedoch blitzte es in ihren Augen auf. »Ja – das ist es!« antwortete sie, und es klang ordentlich erlöst. »Und nun geh, laß es genug sein für heute. Ich muß mit mir ins reine kommen. Wenn es soweit ist, werde ich dich rufen.« »Da könnte ich wohl lange warten«, kam es ironisch von den schmalen Lippen. »O nein, du wirst mir schon gestatten müssen, daß ich dich und mein Kind sehen kann, wenn es mir paßt.«
»Also Kampf?« fuhr sie auf. »Jawohl, mein Kind - Kampf! Und der verspricht interessant zu werden, da wir gleichwertige Gegner sind. Doch jetzt noch eine Warnung, Karola: Laß es dir nie einfallen, auch nur eine Sekunde zu vergessen, daß du meine Frau bist, daß du noch immer meinen Namen trägst!« Noch lange, nachdem er gegangen war, sah Karola das harte, entschlossene Männerantlitz vor sich. Eine riesengroße Angst befiel sie vor der Zukunft. »Nun, ist er endlich fort?« fragte die Tante gespannt, als Karola zu ihr ins Zimmer trat. »Der Mann scheint ja sehr viel auf dem Herzen gehabt zu haben, da er dich so lange aufhielt.« Statt einer Antwort warf sich Karola in einen Sessel und weinte heiß auf. »Ich sage ja, kaum ist dieser Mann aufgetaucht, schon geht der Jammer wieder los!« schalt Fräulein Fritze entrüstet. »Ich hätte dich doch nicht mit ihm allein lassen sollen!« »Laß nur, Tantchen, es ist ja schon vorüber«, begütigte die junge Frau, indem sie sich nachdrücklich die Tränen vom Gesicht wischte. »Ich gedenke ja nicht wieder zu jammern und zu plärren, wie es früher meine Art war. Ich gedenke mich zu wehren bis zum Letzten!« »Recht so!« lobte die Tante. »Wäre ja auch noch schöner, wenn du dich einschüchtern lassen wolltest. Der Herr Doktor scheint so etwas wie den Größenwahn zu haben; man muß ihm energisch entgegentreten.« »Ja, Tante Fritze, das dachte ich mir auch – und deshalb habe ich ihm zuerst auch frisch und frei meinen Standpunkt klargelegt. Aber was dann kam, das hat mich umgeworfen. Und dir wird es genauso ergehen, paß mal auf!« »Daß ich nicht lache, Kindchen! So schreckhaft sind wir nun doch wirklich nicht.« »Nein, Tante Fritze? Auch nicht, wenn ich dir sage, daß Winard der Leiter des Fahrleitschen Sanatoriums ist?«
»Ach, du lieber Gott!« Der Schreck war dem Fräulein so in die Beine gefahren, daß es sich setzen mußte. »Siehst du, so ging es mir auch«, mußte Karola nun wider Willen lachen. »Ja, dann allerdings«, schüttelte Tante Fritze verblüfft den Kopf. »Aber nun möchte ich bloß mal wissen, wie es der Mensch angefangen hat, Leiter dieses berühmten Instituts zu werden. Karola, ich kann mir nicht helfen, dein Mann fängt an, mir zu imponieren.« »Auch das noch, Tante Fritze! Das hat mir gerade noch gefehlt!« »Na, nun nicht gleich so mutlos sein«, versuchte die Tante die niedergeschlagene junge Frau aufzurichten. »Geschieden wirst du trotzdem von ihm. Wir werden uns einen tüchtigen Anwalt suchen, der die Sache fein deichseln wird. Auf dem Kerbholz hat der Herr Doktor genug, davon wäscht ihn auch seine jetzige Würde nicht rein.« Und tatsächlich suchte das resolute Fräulein Fritze, obgleich es in der Erntezeit viel Arbeit für sie gab, einen Anwalt auf, um ihm die Sache ihrer Nichte vorzutragen. Doch zu ihrer grenzenlosen Enttäuschung mußte sie erfahren, daß die Schuld Winards nicht ausreichte, um eine Scheidung gegen seinen Willen herbeizuführen. Den gleichen Bescheid erhielt sie auch noch von verschiedenen anderen Anwälten, die sie zu Rate zog. »Dann suche ich auch noch den letzten auf«, entschied sie mit ungebrochenem Mut. »Er ist mir ja nicht sehr sympathisch, aber er soll in seinem Fach was leisten.« Der Anwalt ließ dann auch den Redestrom Fräulein Fritzes in gelassener Ruhe über sich ergehen. Und erst als sie geendet hatte, lächelte er sein verbindlichstes Lächeln. »Das alles ist mir genau bekannt, mein gnädiges Fräulein. Ich bin nämlich der Anwalt des Herrn Doktor Winard, und ich konnte ihm die feste Versicherung geben, daß seine Schuld für eine Scheidung nicht ausreichend sei. Bedenken Sie, daß der Mann damals noch nicht die Erfahrungen von
heute besaß. Er konnte seine Schwiegermutter nicht durchschauen. Außerdem war er damals überarbeitet, und dazu kommt noch, daß die junge Frau in ihrem damals überreizten Zustand alles viel schwerer genommen hat, als es notwendig gewesen wäre. Und da sie sich dem Gatten ganz und gar entzog, sich in Ablehnung und Trotz hüllte, wie sollte er da klarsehen?« »Da scheint der Herr Doktor meine Nichte ja gehörig bei Ihnen angeschwärzt zu haben«, lachte Fräulein Fritze verärgert auf. »Nein, Fräulein Fritze, da sind Sie im Irrtum«, entgegnete der Anwalt tiefernst. »Ich habe im Gegenteil selten einen Mann von seiner Frau so gut sprechen hören, wie Doktor Winard es tat. Er hat mir das alles auch nicht etwa klipp und klar gesagt, sondern ich habe aus Andeutungen meine Folgerungen gezogen. Manches, worin ich noch nicht ganz klar sah, haben sogar Sie mir mit Ihrer Schilderung vorhin verraten. Er ist ja auch nicht etwa zu mir gekommen, um sich über seine Frau zu beklagen, sondern, um sich die Gewißheit zu holen, daß gesetzlich seine Schuld zu einer Scheidung nicht ausreicht. Er kann also seine Frau zwingen, in sein Haus zurückzukehren. Und wenn ich Ihnen einen guten Rat geben darf, Fräulein Fritze, so beeinflussen Sie Ihre Nichte dahin, daß sie sich mit dem Gatten aussöhnt. Denn der Mann hat mir hart und fest erklärt, daß er seine Frau und sein Kind niemals aufgeben wird. Und der sieht mir nicht danach aus, als ob er sich mit leeren Redensarten abgäbe.« Sehr nachdenklich fuhr Fräulein Fritze nach Hause. Das Herz war ihr schwer, weil sie der Nichte nicht den Bescheid bringen konnte, den sie erhoffte. Sie mußte ihr im Gegenteil dazu raten, sich mit dem Gedanken, die Frau Winards zu bleiben, vertraut zu machen. Tiefblau spannte sich der Himmel über die sonnige Sommerlandschaft. Es war ein Reifen und Blühen, wohin das Auge schaute. »So ein Wetter gehört sich auch zum Geburtstag unseres
kleinen Sonnenstrahls«, nickte Fräulein Fritze befriedigt zu Elard hin, mit dem sie auf der Terrasse saß. »Ich bin gespannt, was meine Nichte für Augen machen wird.« Das sollte sie sofort erfahren, denn Karola kam eben angestürmt und fiel der Tante um den Hals. »Tante Fritze, oh, ich danke dir! Wo hast du nur das wundervolle Kleid aufgetrieben?« »Das ist meine Sache«, schmunzelte das Fräulein. »Die Hauptsache, daß es dir gefällt.« »Gefallen ist gar kein Ausdruck. Wenn es nicht zu abgedroschen wäre, würde ich sagen: Es ist ein Gedicht!« »Hast es ja schon gesagt, Kleine. Ob nun Gedicht oder nicht – mir gefällt es auch. Darum habe ich es ja gekauft.« »Nur deshalb, Tantchen?« »Gewiß doch. Weshalb denn sonst?« Da war wieder der unwirsche Ton, der das gute Herz verbergen sollte und den Karola schon längst nicht mehr fürchtete. Lachend schmiegte sie ihr Gesicht an das der Tante, die mit einer zarten Gebärde über die strahlenden Augen der Nichte strich. »Wo ist unser kleiner Schatz?« fragte sie, um keine Rührseligkeit aufkommen zu lassen. »Der sitzt glücklich unter dem neuen Spielkram. Es ist aber auch gar zuviel – « »Und wird im Laufe des Tages noch viel mehr werden«, unterbrach die Tante sie trocken. »Laß nur erst all die Onkels und Tanten anrücken, dann kannst du morgen hier ein Spielwarengeschäft aufmachen.« So viel wurde es ja nun gerade nicht, aber das kleine Geburtstagskind wurde von den Gästen reichlich bedacht. Es waren nur die vertrauten Freunde und Nachbarn geladen, trotzdem waren eine ganze Anzahl Menschen zusammengekommen. Am Nachmittag trug Karola schon ein geschmackvolles Kleid, doch am Abend, als das eigentliche Fest begann, schmückte sie sich mit dem wundervollen Gewand, das die Tante ihr heute geschenkt hatte.
»Tante Fritze, das Kleid muß doch sehr teuer sein«, meinte sie beklommen, als sich der hauchdünne, duftige Stoff um ihren Körper bauschte. »Das ist doch viel zu kostbar für mich.« »Für meine Erbin kann nichts zu kostbar sein, mein Kind. Grüble nicht so viel, sondern freue dich deines Lebens, solange du kannst.« »Das schon, Tante Fritze. Aber ist es wirklich nötig gewesen, nur wegen Utes Geburtstag?« »Natürlich. Wir haben in den vergangenen Wochen ja genug geschuftet. ›Saure Wochen, frohe Feste‹. So ist es schon immer auf Allhöfen gewesen, und so wird es auch bleiben. Diesen Sonntag haben wir unsere Geburtstagsfeier, einen der nächsten Sonntage unsere Leute ihr Erntefest, dann kommt keiner zu kurz.« »Tante Fritze, was bist du doch für ein wundervoller Mensch!« »Kind, erbarm dich!« wehrte das Fräulein ab und ergriff entsetzt die Flucht. Karola sah ihr lachend nach. Ach, wie schön war doch das Leben! Heute wollte sie wieder einmal so recht von Herzen fröhlich sein. Wollte tanzen, lachen und scherzen mit all den lieben Menschen, die heute zu Gast geladen waren. Sie hatte ja noch so wenig vom Leben gehabt und wollte alles Schöne, was sich ihr nun bot, aus vollem Herzen genießen. Strahlend vor Freude und Erwartung begrüßte sie an der Seite der Tante die Gäste. Mit heimlichem Entzücken ruhte manches Auge auf der jungen Frau, die noch nie so strahlend schön gewesen war wie heute. Im großen Saal des Herrenhauses war die lange Tafel gedeckt. Es sollte bald zu Tisch gebeten werden, als der Hausherrin noch ein Gast gemeldet wurde. »Das hat ja gerade noch gefehlt«, murmelte sie mit einem besorgten Blick auf die Nichte, die in einem Kreis junger Leute stand und seelenvergnügt zu sein schien. Unauffällig pirschte Fräulein Fritze sich an die Gruppe heran und blinzelte Karola zu, die sofort zu ihr trat.
»Fassung bewahren, Kleines!« flüsterte sie hastig. »Winard wird in den nächsten Minuten hier erscheinen.« Damit eilte sie auch schon davon, um den unerwünschten Gast zu begrüßen, während Karola mühsam nach Fassung rang. An diese Möglichkeit, daß er einfach zur Geburtstagsfeier hierherkommen würde, hatte sie nicht im entferntesten gedacht. Sie hatte inzwischen nichts mehr von ihm gehört und angenommen, daß er auf einen Ruf von ihr warten würde. Und nun kam er einfach – uneingeladen. Da trat er bereits ein, sicher und gelassen, mit leichter Verneigung hier und da grüßend, ein Zeichen, daß er hier Bekannte antraf. Unter den Gästen war es plötzlich sehr still. Alle schauten sie voll Spannung auf die äußerst interessante Erscheinung. »Ja, meine Herrschaften, jetzt kommt die große Überraschung des Tages«, sagte Fräulein Fritze mit einer Stimme, die noch nicht einmal zitterte und daher auch nicht die Erregung verriet, in der die Gastgeberin sich befand. »Hier stelle ich Ihnen Herrn Dr. Winard, den Gatten meiner Nichte Karola, vor.« Die Gesichter der meisten Gäste sahen in diesem Augenblick nicht sehr geistreich aus. Wie denn, das war der Mann der Frau Karola? Aber das war ja eine fabelhafte Erscheinung, gar nicht so, wie man sich den Mann immer vorgestellt hatte. Und da munkelte man, daß er seine Frau verlassen hätte? Man sollte doch wirklich nichts mehr auf Gerede geben. Karola, die sich von der Tante nicht beschämen lassen wollte, beherrschte sich meisterhaft. Sie konnte sogar lächeln, als der Gatte zuerst der Tante einige wundervolle Nelken und dann ihr rote Rosen überreichte. Und sehr bereitwillig ging sie darauf ein, als er sie bat, ihn zu der kleinen Tochter zu führen, damit er ihr noch gratulieren konnte. »Ich konnte leider nicht früher kommen«, erklärte er mit
einer Sicherheit, als hätte man ihn hier sehnsüchtig erwartet. »Die Kleine schläft nun wohl schon?« »Das schadet nichts, komm nur«, unterbrach Karola ihn hastig. Sie war froh, daß sie sich eine Weile den prüfenden Blicken der Gäste entziehen konnte. Stumm schritt sie neben ihm die teppichbelegte Treppe hinauf, führte ihn durch einige Zimmer und klinkte dann leise eine Tür auf. Ihre Hand griff nach dem Lichtschalter, und sogleich lag der Raum in gedämpftem Licht. »Ute ist schwer eingeschlafen, weil der heutige Tag ihr allerlei Erregungen gebracht hat. Daher möchte ich kein helles Licht machen. Du wirst sie ja auch so sehen können. Ist alles in Ordnung, Schwester Gerda«, winkte sie der Pflegerin ab, die den Kopf durch die gegenüberliegende angelehnte Tür steckte, worauf sich das Mädchen beruhigt zurückzog. Winard war an das weiße Bettchen getreten und beugte sich über sein Kind, das fest schlief. Sanft fuhr seine Hand über das Köpfchen. »Das Geschenk möchte ich ihr morgen persönlich abgeben, weil ich sehen möchte, was sie für Augen macht«, erklärte er seiner Frau, als er vom Bettchen zurücktrat. Karola preßte die Lippen aufeinander, damit ihr nur kein unbedachtes Wort entschlüpfen konnte; denn schließlich wollte sie am Bett des Kindes keine Meinungsverschiedenheiten austragen. Aber dann, als sie den Gatten in ihr Wohnzimmer geführt hatte, in dem die Möbel aus ihrem Elternhaus standen, stellte sie ihn zur Rede. »Ich wundere mich, woher du den Mut nimmst, heute hier zu erscheinen«, begann sie schroff. »Gehört denn so viel Mut dazu, Karola?« »Ja, der Mut der – Unverschämtheit!« Es sah aus, als wolle er aufbrausen, doch schon hatte er sich bezwungen. »Du mußt deine Worte mehr wägen, bevor du sie bei mir anbringst«, entgegnete er gelassen. »Ich werde mein Kind
sehen, wann ich will, das habe ich dir doch schon vor zwei Wochen gesagt. Und du mußt das, was ich sage, schon ernst nehmen.« Am anderen Tage, man saß gerade in Allhöfen am Kaffeetisch, betrat Winard die Terrasse. Er war mit kleinen Paketen beladen, die er erst zur Seite legte, bevor er die Damen begrüßte. »Entschuldigen Sie, Tante Fritze, daß ich schon wieder hier bin, aber ich möchte meiner Tochter die Geburtstagsgeschenke bringen«, erklärte er mit einer Sicherheit, die immer mehr verblüffte. »Kann ich das Kind sehen?« »Es wird wohl mit der Schwester im Park sein«, gab Tante Fritze Auskunft. »Ich werde sie rufen lassen. Bis dahin trinken Sie wohl eine Tasse Kaffee mit uns?« Er sah nach der Uhr am Handgelenk. »Ich habe zwar nicht lange Zeit, doch ein Weilchen kann ich mich wohl aufhalten.« Tante Fritze versorgte den Gast mit Kaffee und Kuchen und veranlaßte dann, daß die Schwester mit Ute hierherkam. Sie führte auch die Unterhaltung, während Karola kein Wort sprach. Immer wieder gingen ihre Blicke verstohlen zu dem Gatten hin, der heute in seinem hellen Anzug genauso elegant wirkte wie gestern. Sie bemerkte auch Dinge an ihm, die er früher nicht besessen hatte: den Siegelring mit dem kostbaren Stein, die wertvolle Armbanduhr und, als er sich mit Erlaubnis der Hausherrin eine Zigarette anzündete, das schwergoldene Zigarettenetui. Sein Einkommen war jetzt gewiß erheblich, aber er hatte doch zwei Kinder und auch die Schwiegermutter zu unterhalten. Ihr Blick traf sich mit dem der Tante – und da wußte sie, daß diese dieselben Gedanken hatte. »Karola, ich möchte dich bitten, recht bald mit mir nach Hause zu kommen, damit dich die Angestellten dort kennenlernen«, sprach er nun in ihre unerquicklichen
Gedanken hinein. »Nach Hause?« wiederholte sie gedehnt. »Mein Zuhause ist hier.« »Du irrst dich, mein Kind. Das Zuhause der Frau ist an der Seite des Gatten. Auch ist es deine Pflicht, dich um die Zwillinge zu kümmern.« Er hielt inne, denn Karola war so ungestüm aufgesprungen, daß ihre Tasse in Gefahr geriet und nur noch durch sein rasches Zugreifen gerettet werden konnte. Fast schwarz wirkten ihre Augen, die feinen Nasenflügel zitterten nervös. »Ich will mich nicht um die kleinen boshaften Geschöpfe kümmern!« begann sie, doch Winard wehrte mit einer kurzen Handbewegung ab. »Bitte, mäßige dich, Karola!« gebot er scharf. »Ob du willst, spielt hier keine Rolle – du wirst einfach müssen. Es ist deine Pflicht, an meinen Kindern aus erster Ehe Mutterstelle zu vertreten.« »Dazu kannst du mich gewiß nicht zwingen«, sagte sie jetzt ganz ruhig, ganz kalt. »Ich kann deinen Kindern nichts nützen, da ich ihren Ungezogenheiten nie gewachsen sein werde und daher auch nicht erzieherisch auf sie einwirken kann. Außerdem würde mir deine Schwiegermutter wieder entgegenarbeiten. Und das – überhaupt das alles würde ich einfach nicht mehr aushalten!« schrie sie unerwartet auf, daß Winard und Fritze zusammenzuckten. »Tante Fritze, liebe Tante Fritze - so hilf mir doch!« »Nun, nun«, beschwichtigte die Tante, wobei sie die zuckenden, hin- und hertastenden Hände der Nichte mit den ihren einfing. »Du darfst dich doch nicht immer gleich so erregen, Kind. In Ruhe läßt sich doch alles viel besser regeln.« »Ja, Ruhe – wenn Albrecht nur endlich einmal Ruhe geben wollte! Aber jeden Tag ersinnt er etwas Neues, um mich zu quälen. Ich habe ihm schon gesagt: Wenn er mich zwingen will, in sein Haus zu kommen, dann stürze ich mich mit dem Kind in den Weiher!« »Großer Gott, Mädel!« schalt die Tante entrüstet. »Dazu
bist du womöglich noch imstande. Das ist ja ganz beängstigend mit dir! Warum denn gleich in den Weiher! Sieh dir doch zuerst einmal das Haus deines Gatten an – das verpflichtet dich doch zu nichts.« »Das rätst du mir, Tante Fritze – du? Allerdings, dann bin ich ganz und gar verlassen!« »Von verlassen kann hier nicht die Rede sein, du kleines Schaf«, wurde die Tante nun energisch, um ihre Angst und Sorge zu verbergen. »Du weißt ganz genau, wie wir beide zueinander stehen. Ich dulde schon nicht, daß dir auch nur ein Haar gekrümmt wird, darauf kannst du dich heilig verlassen! Also, Herr Doktor, lassen wir das jetzt«, wandte sie sich an Winard, der sich schweigend verhalten hatte. »Sie sehen, daß Karola noch lange nicht über das hinweg ist, was man ihr in Ihrem Hause angetan hat. Wenn sich das auch nur einmal noch wiederholen solle – ich weiß nicht, was dann geschieht.« »Das wird sich nicht wiederholen, Tante Fritze«, erklärte er mit unerschütterlicher Ruhe. »Meine Schwiegermutter ist sehr verändert und wird sich sofort aus dem Haushalt zurückziehen, sobald Karola dort ihre Pflichten übernimmt. Wenn sie es nicht wünscht, wird sie die Frau nie zu sehen bekommen. Meine Kinder sind während meiner Abwesenheit in einem Internat gewesen, wo man sich mit ihrer Erziehung große Mühe gegeben hat. Sie sind jetzt nicht anders als andere Kinder. Also wird es kaum vorkommen, daß sich ihre Ungezogenheiten Karola gegenüber wiederholen. Dann wäre noch meine Schwägerin Malve zu erwähnen, die als Ärztin im Sanatorium tätig ist und in meinem Hause wohnt und verpflegt wird. Und die wird Karola bestimmt nicht zu nahe treten.« Fräulein Fritze kam zu keiner Antwort, da jetzt die Schwester mit der kleinen Ute erschien. Winard packte die Geschenke aus, und da war so ziemlich alles vertreten, was ein Kinderherz erfreuen kann. Die Kleine jubelte dann
auch laut und plapperte in ihrem Kauderwelsch, daß es eine helle Freude war. Und waren es nun die Gaben – oder die Bande des Blutes, die das Kind zu dem Mann hinzogen – das Kind vergaß die Scheu dem fremden Mann gegenüber. Es trippelte auf ihn zu, legte die Ärmchen zutraulich um seinen Hals und hielt ihm das Mäulchen zum Kuß hin. Ganz fest drückte der Mann sein Kind an sich. »Wer bin ich, mein Liebchen?« fragte er leise und zärtlich. »Pa – pi!« erfolgte ohne Zögern die Antwort. Winard barg augenblickslang sein Gesicht an der kleinen Brust, um den Damen die Tränen nicht zu zeigen, die ihm in die Augen stiegen. Und als er dann das Kind behutsam auf die Erde stellte, war sein Gesicht ruhig und kühl wie immer. »Meine Zeit ist jetzt leider um«, erklärte er. Rasch nahm er Abschied von Frau und Kind und folgte dann Fräulein Fritze, die ihm das Geleit zum Wagen geben wollte. Als sie jedoch in der Diele waren, bat sie ihn in ihr Arbeitszimmer. »Herr Doktor, ich möchte Sie bitten, Karola nicht mit solcher Härte zu begegnen«, begann sie ohne Umschweife, nachdem sie Platz genommen hatten. »Wohin soll das fuhren, wenn das Kind öfter solchen Aufregungen ausgesetzt wird? Das halten die zarten Nerven nicht aus.« »Tante Fritze, ich habe mit nervenkranken Menschen täglich zu tun und bin daher imstande, gesunde von kranken Nerven zu unterscheiden«, gab er sehr gelassen zurück. »Was Sie Erregung nennen, ist Trotz und Eigenwillen, die sich bei Ihrer Nachsicht und Güte Karola gegenüber so recht zu voller Stärke entfalten konnten.« »Einen gehörigen Trotzkopf hat sie wohl«, mußte Tante Fritze zugeben. »Aber heute sah das doch so anders aus – « »Gewiß, all das Traurige, das sie in meinem Hause erdulden mußte, wird jetzt wieder aufgewühlt. Da ist es nicht verwunderlich, wenn verletzter Stolz, Bitterkeit und Empörung bei Karola vorläufig noch die Oberhand behalten. Sie ist jetzt blind und taub gegen alles, was ihr bei ruhiger Überlegung einleuchten würde. Und wenn man
sie gewähren läßt, dann verrennt sie sich immer tiefer in Bitterkeit und Haß. Und das will ich nicht und kann ich nicht geschehen lassen! Karola hat mir gesagt, daß sie mich nicht mehr liebt – und das glaube ich ihr. Sie hat mich überhaupt nie geliebt. Denn das Gefühl, das sie für Liebe hielt und das sie veranlaßte meine Frau zu werden, war nichts weiter als eine kleine Neigung – oder gar Gewohnheit. Ich bin wochenlang im Hause ihrer Mutter ein- und ausgegangen.« Nun sah Fräulein Fritze, die schweigend zugehört hatte, den Mann fest an. »Und doch wollen Sie nicht in die Scheidung willigen, Herr Doktor. Was nützt Ihnen eine Frau, die Sie nicht liebt?« »Ich will auf mein Kind nicht verzichten, Tante Fritze. Kinder sind bei Ehescheidungen immer die Hauptleidtragenden. Ich denke nicht an den Augenblick, sondern auch an die Zukunft. Wie soll es werden, wenn Ute heranwächst? Karola würde nach ihrer Scheidung nie von hier fortgehen – und ich werde meinen Posten wahrscheinlich auch nicht mehr verlassen. Also würde das arme Kind später nicht wissen, wohin es gehört.« »Ich glaube, Sie sehen da viel zu schwarz, Herr Doktor«, meinte Fräulein Fritze. »Und außerdem denken Sie zu viel an Ute und zu wenig an Ihre anderen Kinder. Die werden an Karola nie eine Mutter haben. Sie wird den Mädeln nie verzeihen können, was sie durch sie erdulden mußte. Wäre es da nicht besser, wenn Sie den Kleinen eine Mutter geben würden, die sich um sie kümmert und sie auch liebhat? Wie wäre es mit Fräulein Dr. Boseit? Wenn die Dame Sie liebt, dann wird sie bestimmt auch Ihre Kinder lieben, zumal es noch die Kinder ihrer Schwester sind. Sie hätten ein ruhiges Leben, Ihre Kinder würden gut versorgt sein, das wäre doch viel besser für Ihre Angehörigen, als wenn Karola zu Ihnen zurückkäme. Also Herr Doktor, leuchtet Ihnen das denn gar nicht ein?« »Nein, Tante Fritze, ich bin allen Bestechungsversuchen ganz und gar unzugänglich«, entgegnete er hart. »Ich trenne
mich nicht von Karola. Wenn meine älteren Mädel ohne Mutterliebe aufwachsen müssen, so ist das ihr Geschick, weil ihnen der Tod die Mutter genommen hat. Daß Karola sie nicht lieben kann, ist ihr gewiß nicht zu verargen. Das verlange ich ja auch gar nicht. Ich verlange nur, daß sie sich um sie kümmert. Das ist weiter nichts als ihre Pflicht.« »Und Sie werfen meiner Nichte Dickköpfigkeit vor«, seufzte das Fräulein. »Mein lieber Herr Doktor, da geben Sie nur gut acht, daß Sie sich Ihren Schädel nicht zuerst einrennen. Vielleicht wird die Zukunft Sie noch lehren, daß man das Schicksal niemals zwingen kann, und daß Vorsehung spielen wollen immer eine gewagte Geschichte ist.« An einem Sonnabendnachmittag ging Winard mit seiner Schwägerin und den Zwillingen die Hauptstraße der Stadt entlang. Es herrschte ein reges Leben und Treiben, so daß die Fußgänger nur langsam vorwärts kamen. Ein Auto fuhr ganz nahe am Bordstein und stoppte gerade in dem Augenblick, als Winard mit den Seinen vorüberging. Mit einem Blick hatte er die Insassen des Wagens erkannt, und sein Blick traf sich mit dem der Schwägerin. »Karola!« sagte sie erschrocken, indem sie unwillkürlich zur Seite trat. Hastig wollte sie weitergehen, doch der Schwager hielt sie am Ärmel zurück. »Du hast keinen Grund, ihr aus dem Wege zu gehen«, sagte er mit einem finsteren Blick auf die junge Frau, die aus dem Wagen stieg und der Tante heraushalf. Sie schien in bester Laune zu sein, denn ihre Augen lachten und strahlten. »Wie schön sie geworden ist«, flüsterte Malve andächtig. »Sie ist ja kaum wiederzuerkennen.« »Mir war sie früher lieber«, zuckte er mit den Achseln. »Komm, wir wollen ihnen folgen. Eben gehen sie in die Konditorei.« »Ich komme nicht mit, Albrecht.« »Warum denn nicht? Gedenkst du meiner Frau fortan auszuweichen? Das wird sich auf die Dauer nicht gut machen lassen.«
Da senkte sie den Kopf wie gottergeben und folgte ihm. »Tante Malve, wohin gehen wir?« erkundigte sich Dorli schüchtern. »Das wird euch der Vater gleich sagen«, wich sie aus. Und als sie vor dem Eingang der Konditorei standen, sah Winard sich nach den Kindern um. »Ihr werdet gleich die Mama begrüßen«, sagte er. »Ich glaube, ihr wißt Bescheid.« Damit ging er ihnen voran, und die Kinder drängten sich schutzsuchend an Malve, die mitleidig auf sie niedersah. »Ihr braucht ja nur artig zu sein«, tröstete sie mit ihrer warmen Stimme. »Mehr verlangt der Vater nicht von euch.« »Ah, der Herr Doktor!« sagte Tante Fritze rasch gefaßt. »Und das sind wohl die Töchterchen?« »Ja. Und das ist meine Schwägerin, Fräulein Doktor Boseit.« »Also ganz gelehrte Gesellschaft bekommen wir«, plauderte Tante Fritze frisch drauflos, um nur keine schwüle Stimmung aufkommen zu lassen. Doch während sie alle mit Handschlag begrüßte, tat Karola das nicht einmal bei dem Gatten. Kalt und fremd sah sie über sie alle hinweg, als sie auf die Aufforderung der Tante hin an demselben Tisch Platz nahmen. Verschüchtert saßen die Kinder da und erweckten sofort das Mitleid Fräulein Fritzes. Sahen doch ganz niedlich aus, die Mädelchen, wenn sie natürlich auch lange nicht so hübsch waren wie Ute. Gut gepflegt und sorgfältig gekleidet waren sie auch, also war wirklich nichts an den Kleinen auszusetzen. Wie ängstlich sie zu Karola hinsahen. Na, der Herr Papa wird ihnen vorher wohl ordentlich die Wacht geblasen haben! »Ich glaube, euch würde ich nie auseinanderhalten können«, wandte die Tante sich in munterem Ton an die verschüchterten Kleinen. »Wer ist nun Lorli und wer ist Dorli?« »Lorli hat ein schmäleres Gesicht, dunkleres Haar und ist auch ein wenig größer als ihre Schwester«, antwortete der
Vater. »Auch hat sie oberhalb der Stirn eine Narbe.« »Die wird wohl das sicherste Erkennungszeichen sein«, lachte Fräulein Fritze. »Sucht euch nur etwas Feines aus, Mädels. Das Wiedersehen mit der Mama muß doch gefeiert werden.« »Danke«, sagte Lorli schüchtern, indem ein ängstlicher Blick zum Vater hinging. »Den Vater fragen wir heute erst gar nicht«, entschied Fräulein Fritze, die den Blick bemerkt hatte. Sie winkte den Ober herbei, der bald darauf Kuchen und Schokolade für die Kinder und Kaffee für die Erwachsenen brachte. Fräulein Fritze war indes bemüht, ein Gespräch in Gang zu bringen. Und aus diesem Gefühl heraus lud sie die ganze Gesellschaft nach Allhöfen ein. »Vielen Dank, Fräulein Hiltmer. Aber ich glaube, wir würden stören«, wehrte Malve leise ab. »Uns stören? Unsinn! Wir haben gern Besuch, nicht wahr, Karola?« »Gewiß«, kam die Antwort fremd und kalt. »Es ist ja dein Haus, Tante Fritze.« Das Fräulein schnaufte einige Male tief auf - immer ein Zeichen, daß es mit seiner Meinung nicht herausplatzen mochte. Aber ein sehr mißbilligender Blick traf dabei die Nichte, die sich mit einem spöttischen Lächeln tiefer in den Stuhl lehnte. »Morgen ist Sonntag, dann kommen Sie alle schon am Vormittag nach Allhöfen«, schlug Fräulein Fritze vor. »So früh können meine Schwägerin und ich nicht fort«, erklärte Winard. »Wir können uns erst am Nachmittag frei machen.« »Dann kommen die Mädel zuerst allein und später kommen Sie beide nach. Mögt ihr das, Kinder?« »Ohne Tante Malve, bitte nicht«, flehte Dorli. »Nein. Wenn Tante Fritze uns wirklich haben will, dann kommen wir alle um die Kaffeestunde«, entschied Winard. »Abgemacht!« willigte Tante Fritze ein, der es nun doch
schwül zumute wurde. Karola machte so den Eindruck, als dürfe man bei ihr auf alles gefaßt sein. Daher erhob sie sich rasch. »Wir müssen jetzt leider gehen, wenn wir mit unsern Einkäufen fertig werden wollen«, täuschte sie Eile vor. »Morgen sehen wir uns ja wieder.« Diesmal verabschiedete sie sich nicht mit Handschlag. Der nächste Tag brachte dann auch wirklich die neuen Gäste. Die Kinder, die in ihren weißen Kleidchen hübsch und gepflegt aussahen, überreichten den Damen Blumen, während sie für Ute ein kleines Spielzeug mitbrachten. Wie leuchtete es in ihren Augen auf, als sie das Schwesterchen sahen! Es dauerte gar nicht lange, bis die Freundschaft geschlossen war, die allerdings von Ute aus angestrebt wurde. Die Zwillinge wagten es nicht, sich der Kleinen zu nähern. Aber allmählich griffen auch sie nach den Händchen, die ihnen verlangend entgegengestreckt wurden. Doch für alles, was sie taten, holten sie erst die Erlaubnis des Vaters ein. Wenn sie ihn fragend ansahen und er unmerklich nickte, sahen sie darin die Gewährung ihrer stummen Bitte. Nach dem Kaffee durften sie mit der Pflegerin und dem Schwesterchen in den Park gehen. Von dort hörte man hin und wieder Kinderlachen und das Jauchzen der kleinen Ute. Sie schien glückselig zu sein, Spielgefährten zu haben. Die Erwachsenen unterhielten sich indes ruhig und höflich. Selbst Karola bemühte sich heute, weniger schroff zu sein. Später wurde Fräulein Fritze abgerufen und kam bald ärgerlich wieder. »Nun weiß der Kämmerer einmal wieder nicht, welcher Weizenschlag morgen früh in Angriff genommen werden soll«, wandte sie sich an Karola. »Dabei hat ihm Elard den Schlag gezeigt, hat ihm einen langen Vortrag darüber gehalten – « »Den er natürlich wieder einmal vergessen hat«, fiel Karola trocken ein. »Der Rüffel, den er morgen dafür kriegen wird, kann dem Traumseligen gar nichts schaden, wenn nur
nicht die Arbeit darunter leiden würde. Es kann mit dem Mähen nicht so früh begonnen werden wie vorgesehen ist.« »Stimmt auffallend, mein Kind. Und da Elard bis morgen mittag Urlaub hat, so werde ich mich auf den Gaul klemmen.« »Du nicht, Tante Fritze«, wehrte Karola entschieden ab. »Das werde ich tun. Ich war dabei, als Elard mit dem Kämmerer verhandelte, und weiß daher Bescheid. Ihr entschuldigt mich wohl«, wandte sie sich höflich an Winard und Malve. »Ich bin bald wieder hier.« »Weiß Karola denn in der Wirtschaft so gut Bescheid?« erkundigte sich Albrecht, als seine Frau die Terrasse verlassen hatte. »Erstaunlich gut sogar«, nickte Fräulein Fritze stolz. »Sie ist bei dem alten Wederich und Elard in guter Lehre und wird mit den Jahren eine prachtvolle Landwirtin werden. Ja, Karola hat sich herausgemacht, daß es eine wahre Freude ist! Früher ängstlich und zimperlich, jetzt schneidig und beherzt. Das ist meine Schule, Herr Doktor!« »Mir war sie früher lieber«, entgegnete Winard schroff. »Denn schließlich ist Karola ja nicht in der Hauptsache Landwirtin.« »Ach so«, lachte Fräulein Fritze kurz auf. »Ich verstehe. Nun, Herr Doktor, wenn Sie meinen, daß Sie mir meine Nichte so ohne weiteres von Allhöfen entfernen können, dann haben Sie sich aber schwer geirrt. Karola ist meine Erbin und daher ist es erforderlich, daß sie ihren späteren Besitz zu leiten versteht.« »Sie haben mich falsch verstanden, Tante Fritze«, wehrte Albrecht mit leichtem Lächeln ab. »Ich werde Ihnen Karola nie entfremden, denn das haben Sie ja nicht um sie und auch nicht – um mich verdient. Sie soll ihren Pflichten hier ruhig weiter nachgehen, aber sie soll darüber ihre anderen Pflichten nicht vergessen.« »So, so«, brummelte Tante Fritze. »Das ist denn ja was anderes.« »Tante Fritze, wollen wir beide wenigstens nicht
miteinander Frieden schließen?« bat Winard, indem er ihr die Hand entgegenstreckte, die Tante Fritze mißtrauisch ergriff. »Ich habe schon längst Ihr großes, gütiges Herz erkannt und weiß auch, welch großen Einfluß Sie auf Karola haben. Ich schwöre Ihnen, daß ich nichts tun werde, um sie Ihnen zu entfremden. Aber dafür bitte ich Sie auch, mir meine Frau wieder zuzuführen.« »Ja, lieber Herr Doktor, das wird nicht so einfach sein«, nickte sie bekümmert. »Ich kenne mich nämlich selber nicht mehr in Karola aus. Sie ist wohl noch immer zu verbittert, um ruhig und sachlich urteilen zu können. Da kann ich weiter nichts tun, als ihr immer wieder ins Gewissen zu reden und mich ihrem Trotz entgegenzustellen. Und das tue ich schon lange.« Verlegen wich Tante Fritze dem dankbaren Blick aus, der sie aus den grauen Männeraugen traf. »Wollen wir uns einmal nach Karola umsehen«, schlug sie hastig vor, um etwaigen Dankesworten zu entgehen. Sie gingen zum Hof hin und kamen gerade zurecht, um zu sehen, wie Karola am Pferdestall aufsaß. Der rassige Schimmel, den der alte Pferdepfleger kurzweg ›Witte‹ getauft hatte, wollte ein wenig mit seinen Mucken beginnen, doch sehr bald hatte er sich begeben und ging unter der kleinen Faust wie ein Lamm. Karola hatte ihre Zuschauer an der Portaltür entdeckt und ritt zu ihnen hin. »Komm, Witte, zeig schön, was du kannst«, sagte sie zärtlich zu dem Pferd, das sich dann auch nach einigem Widerstreben steil aufrichtete. »Zur Zirkusreiterin fehlt nicht mehr viel«, schmunzelte Fräulein Fritze. Karola senkte die Reitgerte zum Gruß und sprengte dann davon, daß die Erde unter den Pferdehufen nur so flog. »Nanu, Fräulein Doktor, Sie sind ja ganz blaß geworden«, staunte die Tante nach einem Blick in Malves weißes Gesicht. »Ich habe mich erschrocken«, gab sie mit verlegenem
Lächeln zu. »Kann Karola bei den wilden Ritten auch nichts passieren?« »Keine Angst, in der steckt altes Reiterblut. Ihre Vorfahren väterlicherseits waren echte Kavalleristen.« Winard sagte nichts, er hatte nur ein so unruhiges Flackern in den Augen. Als sie auf die Terrasse zurückkehrten, hatten sich dort mittlerweile die Kinder eingefunden. Die Zwillinge hielten Ute an den Händchen und gingen langsam mit ihr auf und ab. Doch als die Kleine Tante Fritze erblickte, strebte sie zu ihr hin. »Nun, mein Schatz, ist das heute schön?« lachte das Fräulein, das Kind auf den Arm hebend. Malve trat langsam näher und griff zögernd nach den Händen der Kleinen. »Wie ähnlich sie meinem Schwager ist«, sagte sie beglückt. »Ob sie sich vor mir fürchtet?« »Na, so furchterweckend sehen Sie bestimmt nicht aus, Fräulein Doktor«, lachte Fritze. »Schau dir einmal die Tante an, du Schelm. Hast du sie lieb?« »Tatta!« plauderte der kleine Mund. Ganz vorsichtig nahm Malve das Kind, als fürchte sie, es zu zerbrechen. Sanft drückte sie das Körperchen an sich. Da trat Winard zu ihnen. »Also habt auch ihr schon Freundschaft geschlossen«, stellte er befriedigt fest. Ute lachte dazu and patschte der Tante ins Gesicht. Dann hatte sie bei dem Vater die Uhr entdeckt. »Papi – ticktack.« »Ja, unsere Tochter liebt die Abwechslung«, nickte Fräulein Fritze und sah mit Vergnügen, wie der Arzt sein Kind auf den Schoß nahm und ihm die Uhr hinhielt. Nach kurzer Zeit erschien Karola wieder. In ihrer Begleitung befand sich Elard. »Nanu, Sie sind schon zurück?« staunte Fräulein Fritze. Bevor er antwortete, bat er, Malve vorgestellt zu werden und begrüßte dann Winard und die Kinder.
»Mich trieb die Unruhe her«, gab er dann Bescheid. »Denn ich ahnte schon, daß es morgen nicht mit dem Mähen klappen würde. Und tatsächlich kam ich auch dazu, als Frau Karola ein Strafgericht abhielt.« »Kann ich mir denken«, schmunzelte Fritze. »Sie hätten gar nicht herzukommen brauchen. Wie Sie sehen, sind wir hier auf dem Posten. Was sagte nun der Sünder zu der Strafrede unserer kleinen Inspektorin?« »Er kratzte sich verlegen den Kopf und brummte: ›Ward schon so sinn, Frau Karola‹. So ist es ja immer mit den Leuten. Was sie uns anderen höllisch krumm nehmen würden, stecken sie von unserm jüngsten Inspektor ohne weiteres ein und schämen sich noch obendrein.« Er lachte und bückte sich zu der kleinen Ute hinab, die auf ihn zugetrippelt kam. Die Händchen wühlten in seiner Rocktasche, bis sie auch glücklich einen Pfirsich gefunden hatten. »Ist so etwas möglich!« wunderte sich Tante Fritze. »Das Kind hat ja eine erstaunliche Spürnase. Wie weiß es, daß Sie den Pfirsich in der Tasche haben?« »Das ist unser Geheimnis, Kleinchen, nicht wahr?« zwinkerte er vergnügt. »Wir beide verstehen uns prachtvoll. Ute ist überhaupt meine große Liebe, ich werde auf sie warten, bis sie heiratsfähig ist.« »Na, ich danke!« wehrte Karola entrüstet ab. »Mit einem Greis gedenke ich meine Tochter denn doch nicht zu verheiraten. Und überhaupt – « »Frau Karola!« drohte er mit einem Blick in ihr spitzbübisches Gesicht. Sie lachte wie ein kleiner Kobold, war überhaupt in so glänzender Laune, wie der Gatte sie noch nie gesehen hatte. Sein Blick verfinsterte sich immer mehr, was jedoch außer Malve niemand zu bemerken schien. Ganz unvermittelt erhob Winard sich und mahnte zum Aufbruch. »So früh schon, Herr Doktor?« bedauerte Tante Fritze. »Ja, die Kinder müssen pünktlich ins Bett.«
Man gab den Gästen bis zum Auto das Geleit. Elard, der neben Karola ging, sagte leise: »Jetzt kann ich ja verraten, weshalb ich hauptsächlich herkam: Mein Bruder hat mich geschickt, um Sie mit Fräulein Fritze nach Werken zu holen. Ich wollte vorhin nur nichts sagen, weil das unhöflich gegen Ihre Gäste gewesen wäre. Sie werden kommen?« »Ohne jede Frage!« »Und Fräulein Fritze?« »Die selbstverständlich auch. Sie wissen doch, daß meine Tante alles tut, was ich will.« Malve und Winard, die voranschritten, hatten jedes Wort verstanden. Besorgt sah die junge Ärztin in des Schwagers Gesicht, das jedoch so unbeweglich war wie gewöhnlich. Nur an der Hand, die sich fest zusammenballte, sah sie, daß er nicht so ruhig war, wie er scheinen wollte. Draußen wartete schon das Auto, ein schwerer Sechssitzer. Daneben stand der Chauffeur in straffer Haltung. Und wieder wunderte Karola sich darüber, woher der Gatte das Geld wohl hatte, um sich einen solchen Wagen leisten zu können. »Kommen Sie alle bald wieder«, lud Tante Fritze die abfahrenden Gäste zu Karolas Ärger ein. Man winkte noch, während der Wagen schon fuhr, dann gingen die Zurückbleibenden langsam in das Haus zurück. Hier übermittelte Elard die Einladung auch Fräulein Fritze. »Wenn meine Nichte Lust hat, dann will ich gern nach Werken fahren«, war die erwartete Antwort. »Und ob ich Lust habe, Tante Fritze! Jetzt beginnt ja erst – « Sie hielt erschrocken inne und sprach den Satz erst zu Ende, als sie mit der Tante allein war. »- der gemütliche Teil des Tages.« »Karola, ich habe Angst um dich«, schüttelte das Fräulein bekümmert den Kopf. »Wie ist es bloß möglich, daß du mit deiner Liebe zu Winard so ganz und gar fertig werden konntest! Ich glaube nun wirklich, daß Winard mit seiner Annahme, du hättest seine Werbung als sogenannten
letzten Strohhalm betrachtet, recht hat.« »Das ist nicht wahr!« fuhr die junge Frau auf. »Ich habe ihn geliebt, als ich ihm in die Ehe folgte. Aber er hat diese Liebe in mir getötet.« »Kindchen, rede doch keinen Unsinn!« lächelte Fritze ungläubig. »Eine echte, wahre Liebe kann ja gar nicht sterben.« »Das mußt du ja wissen, Tante Fritze!« »Jawohl, mein Kind, das weiß ich! Glaubst du, ich bin nicht einmal jung gewesen und habe nicht ein Herz in der Brust gehabt? Aber lassen wir das. Wenn ich Winard wäre, dann würde ich mich so rasch wie möglich von dir scheiden lassen und das Fräulein Doktor heiraten. Sie ist ja nicht hübsch, hat sogar einen kleinen körperlichen Fehler, aber sie ist äußerst sympathisch und scheint ein wertvoller Mensch zu sein.« »Den Vorschlag habe ich ihm ja auch schon gemacht. Wenn er ihn nicht befolgt, dann ist es seine Sache«, war die gereizte Antwort. »Und nun tu mir den Gefallen und verdirb mir nicht die Freude, Tante Fritze. Ich will heute abend tanzen und von Herzen fröhlich sein.« So gram Karola der Tante auch deswegen war, so hielt diese jedoch seit dem Sonntag den Verkehr mit Winard und den Seinen aufrecht. Sie merkte wohl voll Kummer, wie die Nichte sich immer mehr und mehr von ihr zurückzog und nicht mehr das Vertrauen zu ihr besaß wie früher, aber sie war ein viel zu gerechtdenkender Mensch, um alles blindlings gutzuheißen, was die geliebte Nichte tat. Je näher sie Winard nämlich kennen lernte, um so mehr lernte sie ihn schätzen. Und die stille, sanfte Malve hatte sie direkt in ihr Herz geschlossen. Größtenteils war die junge Frau gar nicht dabei, wenn Tante Fritze mit ihren Schützlingen zusammensaß. Es gab ja für sie in der Wirtschaft zu tun. Da war er erklärlich, daß sie nicht ständig bei den Gästen der Tante sitzen konnte. Malves Zeit war natürlich auch ausgefüllt. Doch daß sie sich in Allhöfen einstellte, sobald es ihr möglich war,
darauf bestand Fräulein Fritze. »Sie haben einen so anstrengenden Beruf, Fräulein Doktor, da müssen Sie öfters ausspannen«, erklärte sie energisch. »Sie sind viel zu ernst für Ihre jungen Jahre, etwas Aufmunterung tut Ihnen daher not.« Und Malve kam ja so gern. Sie brachte dann auch jedesmal die Kinder mit, die sich Tage vorher auf die Fahrt nach Allhöfen freuten. Im Herrenhause von Allhöfen war es jetzt lange nicht mehr so gemütlich wie früher. Und daran trug Karola die Hauptschuld. Ihr früher so gutes Einvernehmen mit der Tante war gestört, sie wurden sich fremder mit jedem Tag. Fräulein Fritze litt sehr unter dieser Entfremdung, doch sie tat nichts, um das Vertrauen der Nichte zurückzugewinnen. Sie trug eine gleichmütige Miene zur Schau, obgleich sie sich ernstliche Sorgen um Karola machte. Daß sie tagaus, tagein schlechter Laune war, das störte sie nicht weiter, doch daß sie immer blasser und schmaler wurde, das beängstigte sie. Was mochte sie wohl haben? Ein Leid konnte sie doch nicht drücken. Sogar Winard hielt sich ihr fern, seit sie ihn damals so ohne Grund angefahren hatte. Er war nicht wieder in Allhöfen gewesen. Auch Malve und die Kinder nicht. Also konnte sie sich auch über sie nicht geärgert haben. Vor allem beunruhigte es Fräulein Fritze, daß die Nichte jetzt auffallend viel mit Elard zusammen war. Und so sehr sie es vor der Wiederkehr Winards gewünscht hatte, daß aus Karola und Elard ein Paar werden würde, so sehr fürchtete sie es nun. Am liebsten hätte sie den Inspektor von Allhöfen entfernt. Aber erstens hatte sie keinen Grund, den tüchtigen Beamten zu entlassen, und dann, was würde es nützen, wenn beide sich einig waren? Wenn sie sich sehen und sprechen wollten, würden sie immer einen Weg dazu finden. Ach, Tante Fritze war manchmal schon ganz verzagt!
Warum Winard und die Seinen sich eigentlich nicht mehr sehen ließen? Hatte Karolas Schroffheit sie so sehr gekränkt, daß sie deshalb Allhöfen mieden? Tante Fritze wartete noch eine kurze Zeit ab, dann lud sie Winard, Malve und die Kinder ein. Sie kamen denn auch am Sonntagnachmittag. Fritze erschrak, als sie den jungen Arzt sah. Was hatte der Mann denn? War er etwa krank? Auch Malve war blaß und noch stiller als gewöhnlich, und die Kinder wagten schon gar nicht mehr zu sprechen. Die Begrüßung zwischen Karola und ihrem Gatten war so höflich und unpersönlich, als wären sie sich vollkommen fremd. Malve reichte der jungen Frau mit schüchternem Lächeln die Hand, und die Kinder sahen sie so flehend an, als müßten sie die Stiefmutter für ihr Dasein um Verzeihung bitten. Fräulein Fritze wurde es immer unbehaglicher zumute. Sie wünschte ehrlich, daß nun endlich einmal ein reinigendes Donnerwetter in diese unheimliche Schwüle brechen möchte. Und das kam denn auch, bevor Fräulein Fritze noch so richtig ausgewünscht hatte. Die Kinder waren nach dem Kaffee zu Ute gegangen, aus deren Zimmer man bald darauf lautes Schreien hörte. Schreckensbleich sprangen sie auf und eilten zu dem kleinen Schreihals, der auf der Erde lag und außer sich vor Angst und Schrecken zu sein schien. Neben ihr standen die Zwillinge mit weißen Gesichtern und angstgeweiteten Augen, während die Pflegerin nicht zu sehen war. Und indes Tante Fritze die kleine Ute auf die Arme hob, näherte sich der Vater den beiden Mädels. »Was habt ihr der Ute getan?!« herrschte er sie an. »Vater, wir haben keine Schuld – wir haben wirklich keine Schuld!« jammerte Lorli zitternd vor Angst. »Du lügst!« schrie der Vater zornig. »Nein, Vater, ich lüge nicht – wahrhaftig nicht!« Die Angst der Kinder war so erschütternd, daß Malve sich
leise abwandte und selbst Tante Fritze die Tränen in die Augen schossen. Sie wollte ihrem Herzen gerade so richtig Luft machen, als plötzlich Karola vortrat und die Schulter der Kinder wie schützend umfaßte. »Laß die Mädel in Ruhe!« sagte sie kurz zu Winard, der sich hastig über Stirn und Augen strich. »Du kannst sie doch unmöglich strafen, bevor du den Vorgang kennst. So, Kinder, nun werdet ihr mir erzählen, was vorgefallen ist«, forderte sie die Kleinen auf, die sie wie ein Wunder anstarrten. »Daß ihr nicht lügen werdet, weiß ich, dazu habt ihr viel zu große Angst.« »Nein, Mutti – wir lügen nicht – wir lügen überhaupt nicht mehr«, schluchzte Lorli bitterlich. »Wir wissen es ja, wenn wir lügen, dann müssen wir ins Internat zurück.« »Das werdet ihr niemals«, entgegnete Karola zur grenzenlosen Überraschung der andern. »Sprich nur weiter, Lorli.« »Ja, Mutti – liebe Mutti! Die Ute ist auf den kleinen Stuhl geklettert - und – und wir hatten Angst, sie herunterzuheben – und da – und da – « »Ist sie runtergefallen, natürlich«, nickte Karola. »Das sieht man schon an dem umgekippten Stühlchen. Erzähle einmal, Utelein, wobei hast du dir Wehweh gemacht?« wandte sie sich nun an die kleine Tochter, die auf dem Arm der Tante saß und sich schon längst beruhigt hatte. »Da – da – «, zeigte sie wichtig nach dem umgekippten Stühlchen. »Und wie hast du das gemacht?« Ute strebte vom Arm der Tante, lief zu dem Stuhl, und aus ihren kletternden Bewegungen war klar zu ersehen, wie das kleine Unglück geschehen war. Dabei plapperte sie aufgeregt in ihrem Kauderwelsch. »Siehst du, dafür wirst du einen Klaps bekommen«, sagte Karola streng. »Ich habe dir doch schon so oft verboten, auf das Stühlchen zu klettern.« Doch ehe sie die Drohung wahrmachen konnte, trat
Winard hinzu und hob das Töchterchen auf den Arm. »Tu ihr nichts, Karola«, bat er – und da sah die junge Frau ihn mit einem Blick an, vor dem er den seinen niederschlagen mußte. »So ist es richtig«, sagte sie nur langsam, doch wie wußten alle sofort, was sie damit meinte. Jetzt trat auch die Pflegerin ein, die mit erschrockenen Augen auf die Gruppe schaute. »Schwester Gerda«, sagte Karola in leicht verweisendem Tone, »sie dürfen Ute nicht mehr allein lassen. Sie ist wieder auf den Stuhl geklettert und heruntergefallen. Wenn Sie das noch einmal bemerken sollten, dann sagen Sie mir Bescheid. Dann muß das Kind dafür seine Strafe haben.« »Ich habe nur die Milchflasche geholt.« »Ist schon alles erledigt, Schwester Gerda. Ich weiß ja, daß Sie jetzt doppelt aufpassen werden. So – und nun gebt dem Schwesterchen die Hand«, wandte sie sich an die Mädel. »Es muß jetzt nämlich schlafen gehen.« Schüchtern griffen die Kinder nach den Händchen, die sich ihnen verlangend entgegenstreckten. »Seht ihr, das gute Einvernehmen zwischen euch hat nicht gelitten«, lächelte Karola. Außer der Schwester und Ute gingen nun alle nach dem Wohnzimmer zurück. Karola kümmerte sich nun nicht weiter um die Mädel, die sich ihr auch nicht zu nähern wagten. Es war überhaupt eine Stimmung zwischen den Menschen, die sich schwer beschreiben läßt. Man führte die gleichgültigsten Gespräche mit einer Gründlichkeit, als hinge wer weiß was davon ab. Dabei wagte einer den andern nicht anzusehn. Noch vor dem Abendessen brachen die Gäste auf. Der Abschied war viel flüchtiger als sonst, so daß ein Uneingeweihter hätte annehmen müssen, daß es zwischen diesen Menschen zu Meinungsverschiedenheiten gekommen sei, die sie gegenseitig verärgert hätten.
»Tante Fritze, ist es dir unangenehm, wenn ich mich jetzt zurückziehe?« fragte Karola, als sie mit der Tante allein war. »Ich bin nämlich müde und möchte schlafen gehen.« »Tue das nur, Kind, du siehst erschreckend blaß aus.« Doch kaum war Karola im Bett, als die Tante bei ihr erschien. Sie trug ein Tablett, das mit allerlei guten Dingen bestellt war. »So, ich werde bei dir Abendbrot essen«, lachte sie vergnügt wie schon lange nicht mehr. »Elard ist zur Stadt gefahren, allein schmeckt es mir nicht.« Sie stellte das Tablett auf den Tisch und trat an das Bett der Nichte. Mit einer weichen Gebärde nahm sie das Gesicht der jungen Frau zwischen die Hände und küßte sie fest auf den Mund. »So, mein Kind, das war ich dir schuldig. Du hast dich heute wirklich schneidig benommen.« »Ach, laß doch, Tante Fritze«, wehrte Karola verlegen ab. »Wenn ich nicht dazwischengetreten wäre, dann hättest du es doch getan.« »Allerdings. Aber so war es schöner«, lachte das Fräulein vergnügt. »Hast heute viel gutgemacht, Mädel. Und das freut mich. Ich will stolz auf meine Nichte sein.« »Tante Fritze, wie kannst du nur so viel Aufhebens von einer Selbstverständlichkeit machen. Das ist doch sonst nicht deine Art.« »Das war heute keine Selbstverständlichkeit, Karola. Dein plötzliches Eintreten für die Kleinen, die du bisher überhaupt nicht beachtet hast, wirkte überraschend. Und weil ich dich so genau kenne und weiß, wie schwer du deine Haltung einem Menschen gegenüber änderst, so möchte ich gern wissen, was dich dazu bewogen hat, dich so plötzlich deiner Stiefkinder anzunehmen und für sie einzutreten. – Nun, mein Kind, hast du denn jedes Vertrauen zu deiner Tante verloren?« »Nein, Tante Fritze, nein!« beteuerte sie hastig. »Ich hab dich lieb, das weißt du doch. – Ich – ich habe nämlich damals die Aussprache mit angehört, die du mit Malve
hattest. Habe gehört, wie streng die Kinder jetzt gehalten werden – und nun – und nun – « »Nun tun sie dir leid. Recht so, Mädel, jetzt kenne ich endlich meine warmherzige Karola wieder. Wenn du erst soweit bist, dann wird dir deine Verantwortung und deine Pflicht – « »Tante Fritze! Bitte – ich kann die Worte: Verantwortung und Pflicht schon gar nicht mehr hören«, flehte die junge Frau. »Und doch wirst du sie nicht nur immer wieder hören, sondern endlich ihren Sinn erfassen müssen in seiner schwersten, tiefsten Bedeutung, wenn du dir noch selber frei in die Augen schauen willst«, sprach die Tante unbeirrt weiter. »Wohin sollten wir Menschen wohl kommen, wenn wir, was uns den Worten nach schon unbequem ist, einfach von uns abschieben wollten? Glaube nur nicht, daß es nicht auch in meinem Leben Stunden gegeben hat, in denen ich gegen mein Schicksal gemurrt und geklagt habe. Wo ich heiße, törichte Wünsche hegte, von denen ich doch genau wußte, daß sie nie Erfüllung finden konnten. Langsam, sehr langsam sogar, habe mich zu einer Erkenntnis durchgerungen, die mir zur Richtschnur geworden ist. Ich will dir diese Worte nennen, an denen ich mich immer wieder aufgerichtet habe, wenn es einmal wieder dunkel und trübe in mir aussah: Was ist dein Glück, du Menschenkind? O, glaube doch mitnichten, daß es erfüllte Wünsche sind, es sind erfüllte Pflichten!« * Karola kam auf den Hof geritten, als das Auto Winards gerade vor dem Herrenhause hielt. Rasch saß sie ab und schritt auf den Gatten zu, der sie bereits erspäht hatte und ihr auf halbem Wege entgegenkam.
»Ich sehe dir an, Karola, wie sehr du dich wunderst, mich zu so ungewohnter Zeit hier zu sehen«, begrüßte er sie mit spöttischem Lächeln. »Ich werde dich auch nicht lange aufhalten, will dich nur kurz sprechen.« »Bitte«, entgegnete sie kühl, wobei sie ihm voran ins Haus schritt. Im Wohnzimmer nahmen sie Platz. Doch Winard hielt es nicht lange auf seinem Sitz. Er sprang auf und lief erst einige Male im Zimmer umher, als müsse er noch hinausschieben, was er seiner Frau zu sagen hatte. »Karola«, begann er dann, vor ihr stehenbleibend. »Ich möchte in den nächsten Tagen in meinem Hause ein Fest geben, zu dem ich meine Kollegen und die Beamten des Sanatoriums mit ihren Frauen, soweit sie welche haben, einladen werde. Es werden auch einige Persönlichkeiten der Stadt zugegen sein, mit denen ich Umgang pflegen muß. Da es nun das erste Fest ist, das ich gebe, so möchte ich dich bitten, wenigstens an diesem Abend den Platz einzunehmen, der dir gebührt und auf den du nach Pflicht und Gesetz gehörst. Dabei möchte ich gleich dem Getuschel, das in der Stadt über uns im Umlauf ist, ein Ende setzen. Diese Feste in unserem Hause, die ich dann und wann zu geben verpflichtet bin, werden nie eine reine Freude sein, da ja nicht ein vertrauter Kreis zusammenkommt, wie zum Beispiel im Hause deiner Tante, sondern Gute und Böse durcheinander. Und weil wir daher vielen neugierigen und argwöhnischen Blicken ausgesetzt sein werden, so bitte ich dich, ganz besonders auf deine Haltung zu achten.« »Und weiter?« Er durchquerte wieder einige Male das Zimmer, als müsse er sich für das, was er noch zu sagen hatte, sammeln. »Karola«, sagte er, um vieles unsicherer als vorher, da er nun wieder vor seiner Frau stand. »Ich möchte dich darauf aufmerksam machen, daß du an diesem Abend auch meiner Schwiegermutter begegnen wirst. Sie vertritt doch nun einmal die Hausfrau, und da geht es natürlich nicht
an, daß sie aus der Gesellschaft ausgeschlossen wird. Wie ich ihr ja überhaupt den Platz zu geben gedenke, der ihr in meinem Hause zukommt. Hat sie mir in schweren Zeiten zur Seite gestanden, so soll sie auch die guten mit mir zusammen genießen.« »Ich weiß gar nicht, warum du so viele Worte deswegen machst«, wehrte Karola kühl ab. »Du kannst in deinem Hause doch machen was dir paßt und was du für richtig hältst.« »Nun ja – gewiß. Aber du bist doch meine Frau, der noch größere Rechte in meinem Hause zustehen. Und da dir von meiner Schwiegermutter doch so viel Unbill gekommen ist –« »Lassen wir das!« winkte sie unwillig ab. »Ich bin nicht nachtragend.« »So -?« fragte er nur. Doch dieses eine Wort klang so vielsagend, so inhaltsschwer, daß Karola zusammenzuckte und bis in die Lippen erblaßte. Allein, sie hatte bei ihrer Tante ja so viel gelernt und darunter auch Selbstbeherrschung. »Wann soll das Fest stattfinden?« fragte sie mit einer Gelassenheit, als hätte sie seine Bemerkung gar nicht gehört. »Am 28. September.« Sie sann seinen Worten nach, und dann preßten sich ihre Lippen aufeinander, daß sie nur noch ein schmaler Strich waren. Der 28. September – ihr Hochzeitstag! War es nun Zufall oder Absicht, daß er gerade diesen Tag gewählt hatte? Wie fragend sah sie zu ihm auf und hatte dann auch gleich die Antwort auf ihre stumme Frage. »Ich möchte dir diesen Tag nämlich ein wenig ins Gedächtnis zurückrufen, Karola«, sagte er langsam und schwer. »Ich fürchte, daß du ihn sonst ganz und gar vergessen könntest.« »Daß es nicht geschieht, dafür sorgst du ja schon zur Genüge.«
»Wie soll ich das verstehen, Karola?!« »Genauso, wie es gemeint ist.« Hart und scharf fielen Frage und Antwort. O ja, es waren wirklich zwei gleichwertige Gegner, die sich hier gegenüberstanden. Karola hielt seinem drohenden Blick stand, ohne mit der Wimper zu zucken. Der Mann wandte sich zuerst ab. In seinen Augen war ein Ausdruck, der Karola davor warnte, ihn noch mehr zu reizen. »Ich erwarte dich also in drei Tagen in meinem Hause«, fuhr er in einem Tone fort, der von vornherein jede Ablehnung ausschloß. »Um achtzehn Uhr beginnt das Fest, aber es wäre mir lieb, wenn du dich schon früher einfinden wolltest. Das Kleid, das du an dem Abend tragen sollst, findest du vor; ich wünsche, daß du in meinem Hause nur Sachen trägst, die ich bezahlt habe.« Er schwieg augenblickslang, als erwarte er nun doch eine Auflehnung der Gattin. Doch als sie nur gleichmütig nickte, sprach er weiter: »Außer Tante Fritze werde ich auch Herrn Elard zu dem Fest bitten.« »Er wird bestimmt die Einladung ablehnen«, warf Karola unbedacht ein. Und kaum hatte sie ausgesprochen, als sie diese Worte auch schon bereute. Winard sah sie mit einem scharfen, durchdringenden Blick an, unter dem ihr das Blut ins Gesicht schoß. »So -?« fragte er scharf. »Woher weißt du das denn vorher? Kennst du den Herrn bereits so genau?« »Albrecht, ich verbitte mir das!« fuhr sie erzürnt auf. »Du tust das? Ich glaube, daß eher ich es mir verbitten müßte, daß du dem Manne gestattest, dir wie ein Schatten zu folgen. Das paßt mir schon lange nicht mehr, ich will nicht zum Gespött meiner Mitmenschen werden!« Karola sah ihn mit einem so spöttischen, überlegenen Blick an, daß er Mühe hatte, sich zu beherrschen. »Also du kommst zu dem Fest?« fragte er ablenkend. »Ja.«
»Ich danke dir. Nun möchte ich noch das Kind begrüßen, dann muß ich eilen, daß ich nach Hause komme. Ich habe mir diese Stunde abstehlen müssen.« Sie fanden Ute in ihrem Spielzimmer. Als sie den Vater erkannte, kam sie mit ausgebreiteten Ärmchen entgegengelaufen. Winard hob sie zu sich empor. Und als Karola sah, wie zärtlich er zu dem Kinde sprach, wie nachsichtig er selbst bei einer Unart, die eine Zurechtweisung verdient hätte, lächelte, da fielen ihr unwillkürlich die Zwillinge ein. Dort Strenge bis zur Härte – hier überströmende Zärtlichkeit und Nachsicht bis zur Schwäche. Und doch waren es seine Kinder genauso wie die kleine Ute. Drei Tage später fuhr Karola in das Haus des Gatten. Er hatte ihr den großen Wagen geschickt, was die Tante, die schon im Festkleid war, befriedigte. In diesem Wagen hatte man viel Platz, da brauchte man nicht zu fürchten, daß man mit einem zerdrückten Kleid dort ankam. Elard hatte tatsächlich die Einladung abgelehnt, was Fräulein Fritze außerordentlich befremdete. Sie fragte die Nichte, ob sie den Grund seiner Ablehnung wüßte, doch die schwieg dazu und lächelte. Da sah die Tante Karola sehr mißtrauisch an. Karola hatte Mühe, ihre Erregung zu verbergen. Eine bebende Angst vor den nächsten Stunden wühlte in ihr, die sie zaghaft und unsicher machte. Was sollte überhaupt die ganze Komödie? Nur, um den Menschen keinen Grund zum Gerede zu geben, mußte sie Gastgeberin in einem Hause spielen, das ihr fremd war und mit dem sie nichts zu schaffen haben wollte. Müßte es nicht ein schadenfrohes Gefühl ohnegleichen sein, der Gesellschaft, an deren Meinung dem Gastgeber so viel lag, zu erklären: Seht her, euer Gastgeber hat mich hierhergeholt und mich an einen Platz gestellt, der mir gar nicht mehr zukommt. Und wäre ich nicht freiwillig gekommen, dann hätte er mich dazu gezwungen, wie er
mich ja auch zwingt, eine Ehe anzuerkennen, die schon längst keine mehr ist. Ich möchte laufen, so weit mich meine Füße tragen und muß doch hierbleiben. Muß lächeln und lügen, wo ich weinen möchte und die Wahrheit laut hinausschreien. Ja, dann würde man sich wohl sehr wundern über den Herrn Doktor. In wenigen Minuten schon war das Ziel erreicht. Weich und fast geräuschlos hielt der Wagen vor dem weißen, schloßartigen Gebäude, das mit seinen heruntergelassenen Rolläden wie unbewohnt wirkte. Doch kaum hatten die Damen den Wagen verlassen, als auch schon die großen Lampen über dem Portal aufflammten. Ein Diener eilte die Stufen herab und führte die Besucher in die große Halle, wo der Hausherr ihnen entgegenkam. Artig hieß er zuerst Fräulein Fritze willkommen, dann wandte er sich der Gattin zu, die mit blassem Gesicht und hängenden Armen dastand. »Willkommen in deinem Hause, Karola«, sagte er, wobei er jedes Wort betonte. Mit einer Gebärde, die etwas Besitzergreifendes hatte, zog er ihren Arm in den seinen und führte sie seiner Schwiegermutter zu, die abseits stand. Karola sah nun nach fast zwei Jahren ihre Peinigerin wieder. Aller Groll, den sie gegen diese Frau hegte, stieg mächtig in ihr auf und ließ sie erzittern unter einem zornigen Gefühl. Nie – nie wieder hatte sie mit ihr zusammentreffen wollen – und nun mußte sie hier so ruhig stehen – mußte gar noch lächeln. Und nur, weil dieser harte Mann an ihrer Seite sie immer wieder zwang, gegen ihren Willen und gegen ihr Gefühl zu handeln. Dazu legte sich jetzt noch eine große, feste Hand über ihr zitternden Hände, und Karola mußte auch das dulden, wenn sie den Gatten nicht bloßstellen wollte. Nein, das kann ich nicht ertragen, dachte sie in stiller Verzweiflung. Ich laufe einfach davon. Man kann mich doch nicht zwingen.
Und doch zwang sie etwas: der Blick der Frau, der so groß und flehend an ihr hing. So viel Gram und Schmerz lag darin, daß Karola wider Willen davon berührt wurde. Wenn Albrecht schon so streng zu seinen Kindern war, wie mochte er dann wohl mit dieser Frau umgehen, schoß es Karola durch den Sinn. Ihr damals noch dunkles Haar war wohl nicht umsonst so stark ergraut) und die scharfen Linien in dem müden Gesicht zeugten von Gram und Kummer. Und diese Erkenntnis half Karola, ihren tiefen Groll so weit zu überwinden, das sie Frau Boseit die Hand entgegenstrecken konnte. Das alles dauerte nur wenige Sekunden. Doch die Danebenstehenden, die ja das Verhältnis der Frauen zueinander kannten, hielten bei dieser Begrüßung vor Spannung den Atem an. Und während Winard tief und schwer aufatmete, nickte Fräulein Fritze zufrieden vor sich hin. Ja, ihre Karola, die machte sich! Das würde noch einmal ein Menschenkind werden, auf das man mit Recht stolz sein konnte. Die Begrüßung zwischen Malve und Karola fiel heute schon herzlicher aus, was außer Tante Fritze auch der Hausherr befriedigt bemerkte. Immer fester drückte er den zitternden Frauenarm gegen seine Brust – und Karola mußte es schweigend dulden. Was fiel ihm eigentlich ein, so vertraulich zu sein? Daß sie seiner Aufforderung, in sein Haus zu kommen, gefolgt war, das berechtigte ihn noch lange nicht, sie so vertraut zu behandeln! »Ich werde dich jetzt in dein Zimmer führen, Karola, damit du dich umkleiden kannst«, erklärte der Hausherr nun. Er war schon im Frack und wirkte in dieser Umgebung noch vornehmer, noch eleganter als auf dem Fest in Allhöfen. Die großartige Umgebung bedrückte Karola so ungemein, daß sie fast scheu dem Gatten folgte. Es ging die breite Treppe hinauf, die mit schwellenden Läufern belegt war,
durch eine behaglich ausgestattete Diele, die so anheimelnd wirkte. Winard hielt den Arm Karolas in dem seinen und gab ihn erst frei, als sie in einem Zimmer standen, über dessen Schönheit und Eleganz Karola wohl in helles Entzücken geraten wäre, wenn es ihre Verwirrung und Bestürzung zugelassen hätte. Kostbare Teppiche in lichten Farben, zierliche Sessel, Sofas, Tische und Schreibtisch – alles war so licht und hell wie der ganze Raum, so wundervoll harmonisch und traulich. Die große Glastür war weit geöffnet und ließ den Blick ins Schlafzimmer frei, das dem Wohnzimmer an Schönheit und Eleganz gewiß nicht nachstand. Und überall, wohin nur das Auge schaute, standen in Schalen und Vasen Rosen – tiefdunkle Rosen. »Sieh dich nur gut in unserem Nestchen um«, sprach nun der Gatte in ihre immer größer werdende Verwirrung hinein, wobei er auf das Wort ›unserem‹ eine starke Betonung legte. »Die zweite Tür des Schlafzimmers führt nach deinem Ankleideraum, dort findest du alles, was du brauchst. Kleide dich nur in aller Ruhe um, ich werde dich, kurz bevor die Gäste kommen, von hier abholen.« Die Damen starrten noch immer auf die Tür, die sich schon längst hinter ihm geschlossen hatte. Dann ließ sich Karola überwältigt in den nächsten Sessel fallen. »Tante Fritze – verstehst du das?« fragte sie fassungslos. »Nein, mein Kind – das muß hier einfach nicht mit rechten Dingen zugehen«, erwiderte sie, nicht weniger betroffen als die Nichte. »Das ist ja eine Pracht hier, daß man aus einer Bewunderung in die andere fällt. Wenn dein Mann als Leiter des Sanatoriums auch gut angestellt ist, so können seine Einnahmen doch lange nicht ausreichen, um sich ein solches Heim einzurichten und zu unterhalten. Schon der Anblick der Halle überraschte mich – aber das hier ist einfach überwältigend. Wollen einmal sehen, was hinter dieser Tür ist. Aha, da
geht es auf den Balkon. Und hier?« Sie öffnete die dritte Tür und stieß einen Ruf der Bewunderung aus. »Karola, komm, sieh dir das an! Die Einrichtung muß ein kleines Vermögen gekostet haben«, zeigte sie auf das Herrenzimmer. »Also du befindest dich in den Privatgemächern des Ehepaares Winard«, erklärte sie großartig, wobei es in ihren Augen nur so lachte und blitzte. »Tante Fritze – das – das ist gemein!« stieß Karola heftig hervor. »Nun durchschaue ich auch den ganzen Plan. Albrecht will mir seine Macht beweisen, will mich mit Gewalt zu etwas zwingen, wozu ich mich freiwillig nicht entschließen kann. Sieh dir das doch alles an! Das ist einfach ein trauliches Nestchen für ein harmonisches Ehepaar!« »Allerdings! Und daraus ist klar zu ersehen, daß Albrecht an eine Trennung von dir jetzt weniger denkt denn je. Er ist von einer Beharrlichkeit, an der dein Widerstand langsam aber sicher zerbrechen muß.« »Wenn du dich nur nicht irrst«, entgegnete die junge Frau mit einem sonderbaren Lächeln, das die Tante beunruhigte. »Karola, du wirst es doch nicht auf einen Skandal ankommen lassen?« »Nein, durchaus nicht. Ich möchte mir nicht zum Vorwurf machen lassen, daß ich seinem Ansehen geschadet habe«, gab sie mit einer Ruhe zurück, die Fräulein Fritze höchst unbehaglich war. »Weißt du, mein Kind, du erscheinst mir eigentlich – zu vernünftig«, forschte sie mißtrauisch. »Ist das bei dir vielleicht die vielgenannte Ruhe vor dem Sturm?« »Tante Fritze, es muß dir genügen, wenn ich dir erkläre, daß ich mich heute so benehmen werde, wie es von mir verlangt wird. Ich habe nämlich bei dir unter vielem andern, was mir bis vor zwei Jahren noch fremd war, hauptsächlich eins gelernt: Mich beherrschen.« »Siehst du, Mädel, das freut mich! Dann wird es zwischen
euch beiden hier auch hoffentlich zu einer endgültigen Verständigung kommen. Und das würde mich aufrichtig freuen, Karola. Du weißt ja, daß ich zuerst nicht viel von deinem Manne hielt. Doch je näher ich ihn kennenlerne, um so größere Achtung nötigt mir sein ganzes Verhalten ab.« »Auch daß er mich unter falschen Voraussetzungen in sein Haus gelockt hat?« fragte Karola nun böse. »Kind, damit will er doch nur einen meiner Zweifel, die ich ihm bei unserer ersten Unterredung zu bedenken gab, entkräften. Ich gab ihm nämlich zu verstehen, daß er dir nie ein solches Leben bieten könnte, wie du es in Allhöfen führst. Und er machte nicht viele Worte darum - er handelte, schuf dir hier ein kleines Paradies – « »Ja, um dieses Paradies zu schaffen, hat er wahrscheinlich Schulden gemacht«, unterbrach sie die Tante erregt. »Denn so viel Geld, um das alles hier bar zu bezahlen, kann er sich in den noch nicht einmal zwei Jahren unmöglich verdient haben. Also gibt es nur die eine Möglichkeit, daß er erhebliche Schulden gemacht hat, die er wahrscheinlich nie im Leben wird begleichen können. Es wäre daher viel aufrichtiger gewesen, wenn er mir seine Verhältnisse klargelegt, mich bei der Einrichtung der Wohnung zu Rate gezogen hätte und – « »Um sich bei dir eine gehörige Abfuhr zu holen«, warf die Tante trocken ein. »Du hast doch immer alles, was ihn betraf, weit von dir geschoben, wie sollte er da auch noch mit Klarlegungen und Auseinandersetzungen kommen? Nein, er machte nicht viele Worte, er handelte. Zog dich mit Gewalt hierher, weil er wußte, daß du gutwillig nicht sobald, vielleicht nie kommen würdest. Und da er fest entschlossen ist, seine Ehe aufrechtzuerhalten, so ist es doch nur verständlich, daß er seine Frau in seinem Hause haben will. Dazu ist er schon rein äußerlich gezwungen, denn seine Stellung verlangt auch ein Privatleben, in dem alles klar und durchsichtig ist. Es ist doch nun leider einmal so, daß sich die lieben Nächsten immer darum am
meisten kümmern, was sie am wenigsten angeht.« »Magst recht haben, Tante Fritze. Und deshalb lehne ich mich auch heute nicht auf, sondern werde die Komödie mit Haltung zu Ende spielen.« Sie schritt der Tante, die zufrieden vor sich hinnickte, voran durch das Ankleidezimmer der offenen Tür zu, die zum Ankleideraum führte. »Ah – ein Traum in Grün und Gold«, bemerkte Tante Fritze bewundernd. »Nichts zu machen, dein Mann hat Geschmack, Kleine. Sieh dir nur diesen Tisch an. Darauf fehlt nichts, was eine schöne Frau braucht. Sogar sein Bild hat er dir hingestellt, damit du ihn immer vor Augen hast, wenn du dich schmückst- und ja nicht vergißt, für wen du dich zu schmücken hast. Und diese wundervollen Rosen – « »Tante Fritze, hör bloß endlich auf!« fiel ihr die Nichte unmutig ins Wort. Ein bitterböser Blick streifte die gutgelungene Aufnahme des Gatten. Schien es nicht, als schauten diese grauen durchdringenden Augen mit spöttisch-überlegenem Blick zu ihr hin? Als wollten sie fragen: Was hat dir dein Sträuben genützt? Ich habe dich ja doch nun hier, wohin ich dich haben wollte! Karola preßte die Lippen aufeinander und wandte sich den Dingen zu, die für sie bereit lagen. Es war alles vorhanden, was zu einer Festtagsgarderobe gehörte. Und doch hatte sich wohl nie eine Frau unlustiger zu einem Fest geschmückt, als es Karola tat. Dabei sah sie berückend schön aus in dem duftigen Gewand. Tante Fritze hatte sich unterdessen in der fremden Umgebung umgesehen. Behutsam öffnete sie die schmale Tür, die der breiten, zum Schlafzimmer führenden, gegenüber lag. Sie schaute in einen sehr behaglich eingerichteten Baderaum. »Für die Reinlichkeit ist auch gesorgt!« rief sie der Nichte lachend zu. »Und was liegt nun wohl noch hinter dieser Tür? O, Karola, komm doch einmal rasch her – das ist ja einfach
goldig!« Nicht gerade sehr erfreut eilte die Nichte hinzu und sah über der Tante Schulter hinweg in ein Kinderzimmer, das wirklich ganz allerliebst war. Alles war licht und hell, in weiß und blau gehalten. Der geöffnete Spielschrank ließ allerlei Spielkram sehen. Also war es wohl kein Zweifel, daß dieses Zimmer Ute gehören sollte. Nebenan befand sich noch ein kleines Gemach, das wohl für die Pflegerin des Kindes bestimmt war – und damit war die Wohnung nun wirklich vollkommen. »Nun, Karola, mehr kannst du doch wirklich nicht verlangen«, schmunzelte die Tante. »Dein Mann hat tatsächlich an alles gedacht. Komisch wird es mir ja vorkommen, wenn ich euch nicht mehr bei mir habe – « »Glaube doch das nicht, Tante Fritze!« wehrte die junge Frau hastig ab. »Laß uns jetzt ins Wohnzimmer zurückgehen, damit Albrecht uns darin vorfindet, wenn er kommt.« »Richtig, du bist ja schon angekleidet. Laß dich anschauen, Kind. Einfach bezaubernd! Nun, dein Mann kann mit dir zufrieden sein. Den männlichen Gästen seines Hauses wirst du bestimmt gefallen«, meinte Tante Fritze. Sie folgte lachend der Nichte, die es sehr eilig zu haben schien, ins Wohnzimmer, und kaum hatte sie es betreten, als es klopfte. Auf ihr ›herein‹ erschien jedoch nicht der Hausherr, sondern Malve, die mit verlegenem Lächeln näher trat. »Entschuldigen Sie, daß ich Sie hier aufsuche«, bat sie. Ihre Augen hingen dabei an der jungen Frau, die unter diesem ehrlich bewundernden Blick tief errötete. »Wünschen Sie etwas von mir, Fräulein Doktor?« fragte sie zurückhaltend. »Wünschen nicht, Frau Karola – ich habe eine Bitte. Die Zwillinge möchten Sie so gern sehen. Für eine Minute nur«, setzte sie hastig hinzu, als sie Karolas abwehrende Miene bemerkte. »Weil sie doch kürzlich so lieb zu den Kleinen
waren, wage ich, Sie darum zu bitten.« »Führen Sie mich bitte zu ihnen«, entgegnete die junge Frau nach einigem Zögern. Malve dankte erfreut und schritt den Damen voran bis ans Ende der Diele. Sie wollte die Tür zu dem Zimmer der Mädel öffnen, als eine scharfe, befehlende Stimme sie zögern ließ. »Also nun wißt ihr Bescheid. Ich will nicht noch einmal dahinterkommen, daß ihr eure Tante mit Wünschen belästigt. Wenn ihr etwas haben wollt, dann wendet euch zuerst an mich, ich werde dann entscheiden, ob eure Wünsche töricht oder erfüllbar sind. So hätte ich euch gleich sagen können, daß eure Stiefmutter gar nicht daran denken wird, zu euch zu kommen – « Jetzt hielt Malve es für angebracht, an die Tür zu klopfen und damit den Redestrom der gestrengen Dame zu unterbrechen. Sofort wurde es still, die Tür wurde von innen geöffnet und man stand der Erzieherin der Kinder gegenüber, die hauptsächlich Karola mit grenzenloser Überraschung musterte. Malve stellte die Damen vor. Nein, sie gefiel Karola nicht, diese große, dürre Person. Sie mochte wohl eine gewissenhafte Erzieherin sein – eine zu gewissenhafte sogar-, aber die richtige Betreuerin für die verschüchterten Zwillinge war sie sicherlich nicht. Die konnten diese würdige Dame höchstens fürchten, doch nie Vertrauen zu ihr haben. Sehr empfindlich schien sie auch zu sein, denn sie zog sich mit beleidigter Miene zurück. Wahrscheinlich hatten die beiden fremden Damen sie nicht genügend beachtet. Diese hatten jedoch etwas anderes zu tun, als sich mit dem Fräulein zu beschäftigen. Karolas Blick schweifte befremdet durch das Zimmer, das sehr einfach eingerichtet war, und unwillkürlich verglich sie es mit dem für Ute bestimmten. Ihr Blick traf den der Tante, und da wußte sie, daß Tante Fritze dasselbe dachte. Karola wandte sich den Kindern zu, die sich engumschlungen haltend, im Bett saßen und ihr mit
großen bittenden Augen entgegensahen. Und unter diesen bettelnden, hungrigen Kinderaugen schwand auch der letzte Rest der Abneigung, die Karola den Kleinen entgegengebracht hatte. In ihrer Hand lag es doch, den verschüchterten Kleinen ihr Dasein hell und froh zu machen. Das Schicksal ist schnell zum Vergelten bereit. Wenn es nun einmal alles so wenden wollte, daß es ihrer zärtlich geliebten Ute einmal so ergehen sollte wie diesen Kindern? Sie, Karola, brauchte ja nur zu sterben, Tante Fritze auch – dann war es doch sehr möglich, daß Ute eine Stiefmutter bekam, die ihr so gegenüberstand, wie sie jetzt den Zwillingen! Rasch, als dürfe sie keine Sekunde mehr versäumen, setzte Karola sich zu den Kleinen auf das Bett. »Nun, Mädels, da bin ich«, sagte sie, sich zu einem frischen Ton zwingend. »Habt ihr mir etwas zu sagen?« »Nein«, entgegnete Dorli schüchtern. »Nur sehen wollten wir dich.« »Nur so ein ganz klein bißchen«, fügte Lorli mit zaghaftem Lächeln hinzu. »Das könnt ihr haben, so oft ihr wollt«, ermunterte die junge Frau. »Ihr müßt nur recht oft nach Allhöfen kommen. Wollt ihr das?« Ein eifriges Nicken der Kinderköpfe. »Dann werden wir uns richtig anfreunden.« Wieder das Nicken. »Dann dürft ihr euch aber nicht mehr vor mir fürchten«, sagte Karola herzlich, indem sie ihre Arme um die Kinderkörper legte, über die ein heftiges Zittern lief. »Jetzt fürchten wir uns auch nicht mehr vor dir, liebe Mutti«, beteuerte Dorli leise. »Aber hinter der Tür steht sicherlich Fräulein Dotz und lauscht und – und – « »Was weiter, Dorli? Du kannst ruhig zu Ende sprechen.« »Dann erzählt sie morgen dem Vater, daß wir dich belästigt haben«, flüsterte Lorli nun tapfer weiter. »Und das hat er uns streng verboten.« »Oder wir müssen ins Internat«, schluchzte Dorli
dazwischen. »Dann können wir dich nicht mehr sehen – auch Ute nicht – auch die Tanten nicht. Du glaubst nicht, wie wir uns gesehnt haben.« Karola mußte erst schlucken, bevor sie sprechen konnte. »Kinder, ich habe euch doch neulich schon gesagt, daß ich es nicht dulden werde, wenn der Vater euch ins Internat zurückbringen will«, sagte sie eindringlich. »Und wenn ihr meint, daß euch irgendwie Unrecht geschieht, dann erzählt ihr das fortan mir. Einverstanden?« Zwei Augenpaare sahen sie ungläubig an. »Das dürfen wir, Mutti?« fragte Dorli atemlos. »Dürfen unserer Mutti alles erzählen wie andere Kinder?« »Natürlich, ihr Dummchen. Ihr seid doch jetzt meine Kinder.« »Wie Ute?« »Ja – wie Ute.« »Deine Kinder!« wiederholte Lorli andächtig. Schüchtern streichelte ihre Hand über Karolas Gesicht. »So eine schöne Mutti sollen wir haben?« »Na, höre einmal!« lachte Karola lustig, um keine Rührseligkeit aufkommen zu lassen. »Du machst mich ja eitel! Ich will nicht nur eine schöne, sondern auch eine gute Mutti sein. Aber heute muß ich euch leider verlassen, weil die Gäste bald kommen werden. Morgen hole ich euch nach Allhöfen, dann können wir weiter plaudern.« Karola fühlte sich von vier Kinderarmen umschlungen, fühlte zwei weiche Wangen an den ihren. Was kümmerten sie die fassungslosen Blicke Tante Fritzes und Malves? Sie hatte nur getan, wozu das Gewissen sie trieb – und was sie längst schon hätte tun müssen. Diese Kinder brauchten sie, es war ihre Pflicht, sich um sie zu kümmern. Mochten sie ihr einst viele traurige Stunden bereitet haben, so waren sie schließlich nicht dafür verantwortlich zu machen. Dafür sie nun ein Leben lang zu strafen, wäre hart und ungerecht. Und wurde ihre Überwindung nicht schon allein durch die glänzenden Kinderaugen belohnt?
Sie strich über die blonden Köpfe der Kleinen und verabschiedete sich von ihnen mit dem Versprechen, sie morgen nach Allhöfen kommen zu lassen. Tante Fritze sagte ihnen auch noch einige herzliche Worte, und dann gingen die Damen wieder ins Wohnzimmer zurück. »Nein, dieses Fräulein Dotz gefällt mir nicht«, erklärte Fräulein Fritze, als sie sich in einen Sessel sinken ließ. »Das ist doch eine übriggebliebene Gouvernante, die ins Museum gehört. Daß Albrecht ihr seine Kinder anvertraut, wundert mich.« »Und schlimm ist, daß sie ihn von ihrer Unfehlbarkeit hat so ganz und gar überzeugen können«, nickte Malve mit traurigem Lächeln. »Er glaubt blindlings, was sie sagt, und weiß nicht, wie unrecht er den Kleinen damit oft tut. Mir blutet das Herz – « »Es wird ja alles anders werden«, begütigte Fräulein Fritze. »Denn Karola hat sich ja jetzt endlich davon überzeugen lassen, wie nötig die Kinder sie brauchen.« »O, Frau Karola, die Kleinen würden Ihnen Ihre Fürsorge mit ganzem Herzen danken.« »Das brauchen sie gar nicht«, wehrte die junge Frau verlegen ab. Sie war froh, als nun der Gatte eintrat. »Schon angekleidet, Karola? Das freut mich«, sagte er mit einem bewundernden Blick auf die holde Frau. »Wunderschön bist du, Kind!« »Ich habe ihr auch schon erklärt, daß sie zum mindesten Ihren männlichen Gästen gefallen wird«, lachte Fritze. »Verschling mich nur nicht mit deinen bösen Blicken, Kleine, ich bin ja auch schon ganz still.« Winard zog lächelnd aus seiner Fracktasche ein Etui, das er aufspringen ließ. Karola mußte die Augen schließen vor dem Blitzen und Sprühen des Geschmeides. Abwehrend legte sie die Hände gegen die Brust des Gatten, der ihr das breite Halsband umlegen wollte. »Albrecht, nein – ich mag das nicht!« wehrte sie mit entsetztem Blick. »Soviel ich beurteilen kann, ist der Schmuck echt.«
»Natürlich ist er das«, gab er gelassen zu. »Glaubst du, ich würde es meiner Frau zumuten, unechten Schmuck zu tragen?« »Wo hast du den aber her -?« »Gestohlen habe ich ihn nicht, beruhige dich nur«, lächelte er spöttisch. Karola preßte die Lippen aufeinander, damit ihr kein heftiges Wort entschlüpfen konnte. Am liebsten hätte sie sich ja gegen den Schmuck gewehrt - allein, etwas in den Augen des Gatten warnte sie davor, eine Unbedachtsamkeit zu begehen. Daher ließ sie es schweigend geschehen, daß er ihr den Schmuck um Hals und Arme legte. Aus ihrer ganzen Haltung war aber zu entnehmen, daß sie mit dem Tun des Gatten durchaus nicht einverstanden war, was er jedoch nicht zu bemerken schien. Sonst hätte er nicht mit dieser Sicherheit aus einer Vase die Rose genommen und sie an dem Kleid der Gattin befestigt. »So – nun ist mein Dornröschen fertig«, lächelte er. »Zeige heute etwas weniger deine Dornen – und laß die Rose mehr zur Geltung kommen.« Damit zog er ihren Arm in den seinen und führte sie hinunter in die Festräume. Die schöne Hausfrau empfing an der Seite des Gatten die zahlreichen Gäste, die sich rasch hintereinander einfanden. Ihre Haltung war ohne jeden Tadel, was nicht nur Winard, sondern auch Tante Fritze mit Genugtuung bemerkte. Gottlob, die eigenwillige Kleine schien nun endlich Vernunft annehmen zu wollen, dachte sie befreit. Man mußte zuerst befürchten, daß Albrechts Eigenmächtigkeit, mit der er über seine Frau verfügte, sie vertrotzen würde. Es war eigentlich ein gefährliches Probestück – doch es schien gelungen. Hoffentlich stieg dem Herrn Doktor sein leichter Sieg nicht so in den Kopf, daß er sich zu einer Unbedachtsamkeit hinreißen ließ, die alles wieder zerstören konnte. Denn ganz gewonnen hatte er Karola noch lange nicht. Es steckte noch zu viel Groll in ihr, den jede unbedachte Handlung verstärken konnte. Zwang
vertrug sie nicht, also mußte man sehr vorsichtig vorgehen. Vielleicht würde Karola sich auch von der Umgebung bestechen lassen. Fräulein Fritze mußte sich nämlich immer mehr über den Zuschnitt des Hauses wundern. Sorge stieg in ihr auf, wie Winard diesen großangelegten Haushalt von seinen Mitteln würde bestreiten können. Sollte er also wirklich, nur um Karola zurückgewinnen zu können, ein Leben über seine Verhältnisse führen? Das sah diesem Mann doch eigentlich gar nicht ähnlich. Tante Fritze lernte auch noch eine Dame kennen, die zum Hause gehörte. Sie hatte dem Vorgänger Winards lange Jahre hindurch den Haushalt geführt, und er hatte sie nun für sein Haus verpflichtet, weil er fürchtete, daß Frau Boseit allein nicht zurechtkommen würde. Fritzes Blick suchte die Frau, die Karola so sehr gepeinigt hatte. Sie hatte sich diese eigentlich anders vorgestellt. Wahrscheinlich war es das geschmackvolle Festkleid, das sorgfältig geordnete Haar, das die Frau so würdig erscheinen ließ. Auch älter hatte sie die Frau Boseit geschätzt. Sie konnte nicht viel mehr als fünfzig Jahre zählen. Das Gesicht war noch fast faltenlos und verhältnismäßig frisch. Nur die Augen sahen so matt und müde drein. Das sind Augen, die viel geweint haben, mußte Fritze unwillkürlich denken. Bald waren die Gäste vollzählig versammelt, und es konnte zu Tisch gebeten werden. In einem der drei Festräume war die lange Tafel gedeckt. Und auch hier mußte Tante Fritze nicht nur über die Einrichtung, sondern auch über die prunkvoll gedeckte Tafel den Kopf schütteln. Der Tischherr Karolas war Professor Fahrleit, ein alter weißhaariger Herr mit klugem Gesicht und Augen, die einem bis auf den Grund der Seele schauen konnten. Seine Gattin, die an des Hausherrn Seite saß, war klein und beweglich. Ein Paar gütige Augen schauten aus einem lieben Altfrauengesicht. Diesen Ehrengästen schlossen sich die anderen in bunter
Reihe an. Da waren Hübsche und Häßliche, Gute und Boshafte durcheinander. Hauptsächlich waren die Ärzte und Beamten des Sanatoriums mit ihren Frauen und erwachsenen Kindern vertreten. Die Herren waren fast alle älter als ihr Vorgesetzter, und Tante Fritze konnte sich denken, wieviel Takt und Feingefühl, und wieviel Energie andererseits dazu gehörten, um den Kollegen gegenüber immer so zu erscheinen, wie es Winards Stellung hier verlangte. Immer rätselhafter wurde es ihr, daß der berühmte Professor Fahrleit gerade diesen noch verhältnismäßig jungen Arzt zu seinem Nachfolger bestimmt hatte. Entweder war er wirklich außerordentlich befähigt, oder es sprachen da noch andere Dinge mit, die sie unbedingt ergründen mußte. Es gab überhaupt vieles, was noch geklärt werden mußte. Denn bevor Karola in dieses Haus übersiedelte, mußte sie ganz klar sehen. Sollte Winard Schulden gemacht haben, dann mußten sie eben bezahlt werden. Wozu war denn Karola ihre Erbin? Heute war Tante Fritze so recht von Herzen stolz auf ihre Nichte. Ihre taufrische Schönheit mußte bestechen. Dazu noch die formvollendete Haltung – nun, Winard konnte mit seiner Frau zufrieden sein! »Die Gattin unseres Doktor Winard ist einfach bezaubernd«, hörte sie da ihren Tischherrn, den Bürgermeister der Stadt, sagen. »Das freut mich«, nickte Fräulein Fritze ihm freundlich zu. »Ich bin nämlich so etwas wie eine eitle Mutter und höre gern, wenn das Kind gefällt.« Der Herr lachte herzlich, und schon war man im besten Einvernehmen. Man ließ sich das vorzüglich zubereitete Essen schmecken und unterhielt sich vortrefflich. Es blieb Fräulein Fritze dabei noch Zeit genug, sich gründlich umzusehen. Sie nickte Malve herzlich zu, die ihr schräg gegenübersaß. Sie sah heute viel frischer und angeregter aus als sonst.
Auch Frau Boseit konnte sie genau beobachten. Die alte Dame saß an der Seite eines noch älteren Herrn, der sie gut zu unterhalten schien. Das waren die Menschen, die Tante Fritze am meisten interessierten. Die andern waren ihr fast alle fremd und daher gleichgültig. Nach dem Essen sollte getanzt werden, was hauptsächlich die Jugend, die auch reichlich vertreten war, mit Begeisterung erfüllte. Karola, die auch brennend gern mitgehalten hätte, mußte sich jedoch auf Winards Wunsch viel den Gästen widmen. Hauptsächlich die ältlichen Damen belegten die schöne, junge Hausherrin mit Beschlag, und es war eine Freude anzusehen, mit welcher Ruhe und Sicherheit sie die neugierigen, zum Teil recht taktlosen Fragen beantwortete. Sie atmete auf, als diese schwierigen Herrschaften sich nach und nach empfahlen. Schließlich waren nur noch die jüngeren Gäste anwesend, und da sie fast ohne Ausnahme tanzten, so genügte Karola ihrer Pflicht, indem sie sich unter die Tanzenden mischte. Und da die Herren von ihrer schönen Gastgeberin restlos entzückt waren, so fehlte es ihr an Tänzern nicht. An einem Tisch, von dem aus man den ganzen Trubel bequem übersehen konnte, der Professor und seine Gattin. Sie waren die einzigen alten Herrschaften, die auch noch in vorgerückter Stunde anwesend waren. Winard, der jetzt auch freier war, trat an den Tisch der verehrten Gäste, wo man ihn herzlich Platz zu nehmen bat. »Ruhen Sie sich nur bei uns ein wenig aus, lieber Herr Doktor«, sagte die Dame gütig. »So ein Fest ist für den Gastgeber immer sehr anstrengend.« »Das scheint unsere schöne Gastgeberin nicht zu empfinden«, schmunzelte der Professor. »Schauen Sie nur, wie sie tanzt. Eine helle Freude ist das!« »Ja – sie ist ein holdes, herzensfrohes Menschenkind«, nickte Frau Fahrleit. »Man sollte kaum glauben, daß sie schon Mutter eines Töchterchens ist. Heute sind Sie wohl
glücklich, lieber junger Freund, Ihre kleine Frau endlich hier zu haben.« »Ja, gnädige Frau. Ich glaube, daß nun das Ärgste endlich überstanden ist.« »Wir müssen sehr oft zusammenkommen«, sprach die alte Dame herzlich weiter. »Es ist bei uns Alten doch recht einsam jetzt.« »Wird das Fräulein Tochter nicht bald nach Hause kommen?« erkundigte sich Winard höflich. »Nein, sie mag nicht – es gefällt ihr bei der älteren Schwester anscheinend besser als bei den Eltern«, seufzte die Dame bekümmert. »Das Mädel entfremdet sich uns immer mehr. Kennen Sie meine Jüngste denn, Herr Doktor?« »Nein, ich habe von der jungen Dame nur viel gehört. Sie soll sehr schön sein.« »Ja, schön und eigenwillig.« »Da muß eine Herzensgeschichte dahinter stecken«, bemerkte der Professor. »Das Mädel war in letzter Zeit wie verwandelt.« »Und anstatt sich den Eltern anzuvertrauen, fährt sie fort und läßt uns mit unruhigem Herzen zurück«, nickte Frau Fahrleit betrübt. »Unsere beiden älteren Mädel haben uns zusammen nicht so viel Kummer bereitet wie unsere Jüngste allein.« »Nein, sie zogen nur beide weit von uns fort und heirateten Männer, die uns nicht zusagten«, brummte der alte Herr. »Robert, du mußt nicht ungerecht sein«, ereiferte sich die Gattin. »An unseren Schwiegersöhnen ist doch nichts weiter auszusetzen, als daß sie keine Ärzte sind. Aber vielleicht heiratet Irene einen.« »Darauf bin ich jetzt gar nicht mehr so erpicht«, wehrte er ab. »Es ging mir nur darum, einen Nachfolger für mein Sanatorium zu bekommen. Nun ich aber meinen jungen Freund Winard gefunden habe, bin ich ja aller Sorgen enthoben. Denn einen besseren Nachfolger kann es ja gar nicht für mich geben. – Übrigens, lieber Freund, haben Sie
Ihrer kleinen Frau nun endlich gebeichtet?« »Nein, Herr Professor – « »So sehen Sie zu, daß sie es nicht von anderer Seite erfährt. Das könnte Ihnen am Ende übel ausgelegt werden. So wie ich die kleine Frau nämlich beurteile, ist sie klug und unnachsichtig. Da wird sie sich wahrscheinlich heute schon allerlei Gedanken gemacht haben.« Es traten Bekannte an den Tisch, so daß man das Gespräch abbrechen mußte. Außerdem mußte Winard sich wieder um die anderen Gäste kümmern. Im Tanzsaal stand man beratend beieinander. Es sollte eine Tanzpause eingeschoben und diese mit musikalischen Darbietungen ausgefüllt werden. Da wurde Klavier und Geige gespielt und gesungen. Fast jeder der Anwesenden konnte etwas zum besten geben. Da war es nicht verwunderlich, daß auch die Gastgeberin um ein Lied gebeten wurde. »Ich kann ja gar nicht singen«, wehrte sie sich. »Jedenfalls nicht so, um damit einen Genuß zu bieten.« »Das werden wir nach dem Gesang feststellen«, rief eine kecke Stimme. »Hier wird keine Ausnahme gemacht. Mitgefangen, mitgehangen!« »Er hat recht!« jubelte es ringsum. Karola sah sich hilfesuchend um, als könne ihr von irgendwoher Rettung kommen. Diese hoffte sie endlich bei Frau Fahrleit zu finden, mußte aber zu ihrem Schrecken erkennen, daß gerade die alte Dame herzlicher als die andern um ein Lied bat. »Was soll ich denn singen?« fragte sie kleinlaut. »Wenn ich mir etwas wählen kann, dann das Lieblingslied meiner jüngsten Tochter. Robert, wie geht es doch gleich?« wandte sie sich an den Gatten, der schmunzelnd einige Takte summte. »Verstanden, kleine Frau?« O ja – und wie gut! Ausgerechnet dieses Lied! Aber es blieb ihr nichts anderes übrig, als zu singen. Wenn sie sich damit drücken wollte, daß ihr das Lied unbekannt
sei, dann bekam es Albrecht gar fertig, das Gegenteil zu behaupten. Äußerlich gleichmütig schritt sie zum Flügel. Sie lächelte sogar, als sie davor Platz nahm und mit dem Vorspiel begann. Winard hatte sich so gesetzt, daß er die Sängerin genau beobachten, von den Zuhörern jedoch nicht gesehen werden konnte. Mit schwerem, gequältem Herzen und brennenden Augen schaute er auf die lichte Gestalt am Flügel. Ihr Lied – ihre Liebesweise – wie lange hatte er sie schon nicht mehr gehört! Im Hause ihrer Mutter hatte Karola sie ihm zum erstenmal gesungen und damit sein Schicksal besiegelt. Denn damals war ihm bewußt geworden, daß die kindhafte, zarte Karola Hiltmer sein Herz ganz und gar beherrschte. Und sie würde die Eine, Einzige für ihn bleiben, weil sein Herz so stürmisch nach ihr verlangte. Und ihr Herz? Nein, was dieser rote Mund da sprach, das glaubte ihr Herz nicht mehr. Oder das innige Geständnis galt einem andern! »Ich liebe dich, weil ich dich lieben muß, ich liebe dich, weil es verlangt mein Herz.« verklang die innige Weise. Unter den Zuschauern herrschte eine tiefe Stille, bis dann ein jubelnder Beifall losbrach. Man fand es unerhört, daß man ihnen diesen Genuß so schnöde habe vorenthalten wollen. »Kleine Frau, dieses Lied müssen Sie unserm Muttchen hier oft singen«, schmunzelte der Professor. »Schauen Sie nur, wie ihr die hellen Tränen über die Wangen laufen.« »Ja, so schön habe ich das Lied aber auch noch nie singen hören«, lächelte die alte Dame. »Haben Sie vielen herzlichen Dank dafür, liebe, liebe Frau Karola!« Der jungen Frau war es peinlich, daß man so viel Aufhebens von ihrem Gesang machte. Sie hatte plötzlich ein kaum bezwingbares Verlangen nach Ruhe. Nur eine
kleine Weile ganz still sitzen und nicht zu sprechen brauchen. Doch wohin sie sich auch wandte, überall stieß sie auf frohe, gutgelaunte Gäste, die sich mit ihr unterhalten, mit ihr tanzen wollten. Und sie mußte bei ihnen verweilen, mußte liebenswürdig mit ihnen plaudern. Je mehr es dem Morgen zuging, umso höher stieg die frohe Laune der Gäste. Von den fremden älteren Herrschaften waren nur noch der Professor und seine Gattin anwesend, die anderen waren junge, frohe Leute, die sich da so vergnügt in den Festräumen des gastlichen Hauses tummelten. Karola war eine der begehrtesten Tänzerinnen, so daß es dem Gatten, der ja heute als Gastgeber zurückstehen mußte, erst um die vierte Morgenstunde gelang, sich den ersten Tanz zu sichern. »Ich fürchte, daß du es ein wenig übertreibst, Karola«, sagte er mit einem prüfenden Blick in ihr Gesicht. »Du siehst blaß und müde aus.« »Ich tanze gern«, gab sie herb zurück. »Und wenn du etwa vorhaben solltest, mir das Tanzen zu verbieten, dann will ich dir gleich sagen – « »Kind, wie kann man nur so leicht gereizt sein«, unterbrach er sie mit dem überlegenen Lächeln, das die junge Frau so schlecht vertragen konnte. »Du mußt es dir abgewöhnen, meinen Worten eine falsche Bedeutung beizulegen.« Karola preßte die Lippen aufeinander und schwieg. Wenn er in diesem spöttischen Ton sprach, dann war sie ihm nicht gewachsen, das wußte sie nun schon. Willenlos ließ sie sich von ihm führen und konnte feststellen, daß er so gut und so sicher tanzte wie kein anderer Herr hier. Und dabei war er noch während ihrer Verlobungszeit ein so schlechter Tänzer gewesen, daß sie ihn immer geneckt hatte. Er hatte sich eben verändert – ganz und gar. »Nein, Karola, so rasch wirst du mich nicht los«, wehrte er sich lächelnd, als sie sich nach dem Tanz hastig aus seinem Arm lösen wollte. »Ich muß dich nämlich sprechen, und
die Gelegenheit dazu ist jetzt so günstig wie nie. Wir werden in mein Arbeitszimmer gehen, da sind wir ungestört.« Karola zögerte nur augenblickslang, dann folgte sie ihm. Es war vielleicht ganz gut, wenn es heute zu einer Aussprache kam. In dem großen, hohen Gemach war es feierlich still. Kein Laut drang aus den Festräumen bis hierher. »So, mein Fraule, nun nimm hier Platz und ruhe dich ein wenig von dem Trubel da unten aus«, sagte der Gatte, wobei er sie sanft in einen tiefen Sessel zwang. Seine Stimme klang so zärtlich und weich, wie zu Anfang ihrer Ehe. Doch Karola war durchaus nicht gewillt, in diesem Ton mit ihm zu sprechen. Und als er sich gar auf die Seitenlehne des Sessels setzte, sich tief zu ihr niederbeugte, da entzog sie ihm mit schroffer Gebärde ihre Hände. »Karola, was soll das nun wieder?« fragte er mehr traurig als verletzt. »Gib doch deinen Widerstand auf. Du siehst, er nützt dir gar nichts. Da du nicht freiwillig zu mir kommen wolltest, so habe ich dich mit Gewalt geholt – und nun ich dich einmal hier habe, gebe ich dich nicht mehr wieder her.« »Ach!« entgegnete sie in einem Ton, der ihn aufhorchen ließ. »Und wenn ich nun durchaus nicht bei dir bleiben mag, welche weitere Gewalt gedenkst du dann anzuwenden? Mich einfach einsperren, wie es in alter grauer Zeit die Eheherren mit ihren Frauen taten, wenn sie sich ihrem herrischen Willen nicht fügen wollten, das kannst du ja wohl nicht gut.« »Blieb mir denn eine andere Wahl, Karola? Ich mußte doch eine List anwenden, da du freiwillig noch lange nicht hierhergekommen wärest.« »Allerdings nicht! Aber wer sagt dir, daß ich mir so gewaltsam deinen Willen aufzwingen lasse und mich nun endlich fügen werde?« »Mein Herz, Karola! Mein Herz, das so stürmisch nach dir verlangt!«
»So! Und mein Herz will von allem hier nichts wissen«, entgegnete sie hart. »Ich habe heute diese Komödie hier notgedrungen mitgespielt, weil ich dich vor deinen Gästen nicht bloßstellen wollte. Soviel glaubte ich nämlich dem Vater meines Kindes schuldig zu sein. Aber damit ist es nun auch genug! Ich bitte dich dringend, mich nie wieder vor eine vollendete Tatsache zu stellen, sonst könnte ich dir doch einen Strich durch deine Pläne machen. Ich lasse mich nicht zwingen – niemals!« rief sie nun voller leidenschaftlicher Heftigkeit. »Ich will nicht leben in dieser erlogenen Pracht, die Tante Fritze später bezahlen muß! Ich will nicht!« Sie hielt inne, weil sie bemerkte, wie er hastig auffuhr. »Was sprichst du da?!« stieß er zwischen den Zähnen hervor. »Ich bitte dich, in deiner Rede fortzufahren – « »Ja, das werde ich! Es wundert dich wohl, daß ich mir Gedanken darüber mache«, und sie zeigte mit einer kreisenden Handbewegung ins Zimmer. »Überhaupt um den ganzen Zuschnitt deines Hauses. Das alles kannst du doch unmöglich von deinem Einkommen bezahlt haben. Es würde wohl zu einem sorglosen, behaglichen Leben ausreichen, aber sicher nicht zu einem solchen, wie du es jetzt führst. Ich weiß, du wolltest Tante Fritzes Bedenken, daß du mir ein Leben, an das ich gewöhnt bin, in deinem Hause nicht bieten kannst, entkräften. Deshalb hast du mit dieser Blenderei begonnen. Und du denkst vielleicht: Nun, wozu hat man denn Tante Fritzes Erbin zur Frau? Von der wird man doch verlangen können, daß sie einem das alles hier in die Ehe bringt. Aber so reich ist Tante Fritze denn doch nicht, um dieses Haus mit seiner Einrichtung zu bezahlen. Und wenn du mich deshalb nicht freigeben willst, weil du von ihr die Bezahlung deiner Schulden erhoffst.« »Hör auf – um Gottes willen, hör bloß auf!« stöhnte der Mann, der keinen Blutstropfen mehr in dem verkrampften Antlitz hatte. »Mir graut vor deinen weiteren Ausführungen!
Das also ist deine Auffassung von dem, was ich hier für dich geschaffen habe«, lachte er so rauh und bitter auf, daß Karola nun doch erschrocken zusammenfuhr. »Was bin ich doch für ein Narr, für ein blöder Narr! Hoffte immer noch voll Zuversicht, das wiederzuerwecken, was ich nur verschüttet geglaubt hatte und das in Wirklichkeit längst tot – wahrscheinlich nie vorhanden gewesen ist! Da mußt du schon entschuldigen, wenn diese Erkenntnis mich erschüttert. Laß es dir von andern erzählen, wie es kommt, daß ich mir das alles hier leisten kann – ich kann es nicht – jetzt nicht mehr! Und noch eins, Karola: Was ich dir einmal an Kränkung zugefügt habe – wenn auch gänzlich ungewollt und unbewußt, das hast du mir in dieser Stunde mit Zins und Zinseszins zurückgezahlt. Wenn dir das eine Genugtuung sein kann, dann hast du sie jetzt restlos!« Ehe die junge Frau noch etwas erwidern konnte, hatte er das Zimmer verlassen. Mit großen, erschrockenen Augen starrte sie ihm nach. Was wollte sie eigentlich noch mehr? Sie hatte doch nun erreicht, was sie sich vorgenommen hatte, er war von ihren Worten tief getroffen - noch viel tiefer als sie beabsichtigt hatte. Warum wollte sich jetzt die ersehnte Genugtuung nicht einstellen? An ihrer Stelle hatte sie eher das Gefühl, eine vielleicht nie wiedergutzumachende Dummheit begangen zu haben. Aufs tiefste beunruhigt ging sie in die Festräume zurück, wo die gute Stimmung nicht abgenommen hatte. Sie suchte nach ihrer Tante, um zur Heimkehr zu mahnen, und fand sie endlich mit dem Professor und seiner Gattin in angeregtem Geplauder. »Da bist du ja, Karola«, sagte Tante Fritze vergnügt. »Wir haben gerade von dir gesprochen. Aber was ist dir, Kind? Du bist ja erschreckend blaß. Ist dir nicht gut?« »Doch, Tante Fritze – nur ein wenig heiß – « »Dann setze dich zu uns. Du hast sicherlich zu viel
getanzt.« »Wahrscheinlich«, murmelte Karola, indem sie sich in einen Sessel sinken ließ. Ach, was war das nun wieder für ein Gefühl, das ihr das Herz zusammenpreßte! Sie hätte laut weinen mögen vor Ratlosigkeit und Furcht vor etwas Dunklem, Drohenden, das immer näher zu kommen schien. »Der Peter ist wieder einmal aus Rand und Band«, sagte der Professor da in ihre unerquicklichen Gedanken hinein, wobei er mit einer Kopfbewegung nach einem jungen Mann zeigte, der in der Nähe stand und mit gestreckten Armen die Mädchen abwehrte, die sich lachend um ihn drängten: »Schwor ich mir zu, jetzt ist’s vorbei, ich will von Frauen nichts mehr wissen, von ihren lockend süßen Küssen, denn keine einz’ge war mir treu«, sang er dazu mit großem Stimmaufwand, was die Mädels zu immer übermütigerem Lachen zwang. Es war aber auch zu komisch, diesen langen Jungen mit dem frischen Gesicht und den treuherzigen Augen so klagen zu hören. »Sie haben recht, mein Junge«, sagte da eine kalte Stimme in das Gelächter hinein. »Sie sind es alle nicht wert, daß man noch einen Gedanken an sie verschwendet.« »Hallo, Herr Doktor, das ist doch eine kühne Behauptung! Das dürfen wir nicht auf uns sitzen lassen! Das war ja ganz empörend deutlich!« schrie es entrüstet durcheinander. Doch Winard schritt achselzuckend weiter und nahm einem Diener, der ihm gerade entgegen kam, ein Sektglas vom Tablett, dessen Inhalt er in einem Zuge hinuntertrank. »Mein Gott, was hat er denn nur?« fragte Frau Fahrleit mit erschrockenen Augen ihren Gatten. »So habe ich diesen ruhigen Mann ja noch nie gesehen!« »Augenblick, ich will mal gleich nach ihm sehen«,
beruhigte der alte Herr. Hastig verließ er den Tisch, um schon nach wenigen Minuten zurückzukehren. Sein durchdringender Blick suchte Karola, die darunter abwechselnd errötete und erblaßte. »Liebe kleine Frau, ich glaube, Sie haben Ihrem Gatten da ein wenig zu sehr zugesetzt«, schüttelte er mißbilligend den Kopf. »Er ist ja vollkommen verbittert.« »Das tut mir für den prachtvollen Menschen leid«, meinte Frau Fahrleit mit einem vorwurfsvollen Blick auf Karola. »Hat er dir seinen Kummer erzählt, Robert?« »Nein. Ich habe ihn nie unzugänglicher gesehen als eben. Er bat mich nur, seiner Gattin einiges mitzuteilen. Und das will ich denn auch ohne große Vorreden klipp und klar tun, will mich so kurz fassen wie es nur angeht. Wollen Sie mich anhören, Frau Karola?« Sie nickte nur, weil es ihr jetzt unmöglich war, auch nur einen Laut aus der Kehle zu bringen. Sie war so blaß, daß der Professor sie erst forschend betrachtete, bevor er mit seiner Erzählung begann: »Es war im Frühling dieses Jahres. Meine Frau und ich befanden uns auf einer Auslandsreise. Auf einem Schiff lernten wir den jungen Schiffsarzt Winard kennen, der nicht nur meiner Frau und mir, sondern auch vielen andern Passagieren durch seinen Ernst und seine Zurückhaltung angenehm auffiel. Es war schwer, sich ihm zu nähern, da er sehr zurückgezogen lebte. Später erfuhr ich auch einiges über die Gründe, die ihn dazu veranlaßten. Sie waren eng verknüpft mit seiner Ehe, über die ich Ihnen wohl nichts Neues sagen kann. Neu dürfte Ihnen aber sein, daß Winard sich sehr viel mit seiner Frau beschäftigte, um sich über sie und ihre Handlungsweise klar zu werden. Seine Ansicht, daß an ihrem Verhalten die Nerven ein großes Teil mit schuld gewesen waren, hatte ihn dazu bewogen, sich mit Nervenkrankheiten ganz allgemein zu beschäftigen. Er studierte in seiner Freizeit mit fast verbissenem Eifer die Literatur über dieses Gebiet und ergänzte sie in jeder Hafenstadt, die sein Schiff anlief.
Wenn er nicht bei seinen Kranken war, hielt er sich in seiner Kajüte auf; in der Bar oder bei Bordfesten traf man ihn nie. Aber schließlich gelang es mir doch, ab und zu mit ihm zusammenzukommen, und wir freundeten uns langsam an, als wir uns erst einmal auf dem gemeinsamen Arbeitsgebiet gefunden hatten. Je näher ich Winard kennenlernte, umso besser gefiel er mir, und als ich mich dann überzeugt hatte, wie tief der junge Mediziner bereits in die schwierige Materie dieses speziellen Krankheitsgebietes eingedrungen war, reifte in mir der Entschluß, ihn in mein Sanatorium zu nehmen. Nun stieg unterwegs eine alte Amerikanerin mit ihrer herzkranken Enkelin zu. Sie war mit dem Mädchen von Bad zu Bad gereist, ohne Heilung für das todkranke Herz finden zu können. Und erst als sie jede Rettung auf Heilung aufgeben mußte, kehrte sie mit der Todkranken in die Heimat zurück, damit sie dort sterben konnte. Winard hatte nun die Kranke zu betreuen und tat es in so zarter, verständnisvoller Art, daß die bedauernswerte Florence nur noch ihn um sich haben wollte. Es war rührend zu sehen, mit welcher Liebe das sonst so verzogene, eigenwillige Mädchen an dem ernsten, stillen Mann hing. Und die alte Großmutter, eine widerborstige, knurrige Dame, die nichts weiter auf der Welt liebte als ihre einzige Enkelin, bat den Arzt in rührender Weise, sich dem Mädchen zu widmen so viel er nur konnte. Er tat es, ohne viel Worte zu machen, wie es ja überhaupt seine Art ist. Tat es aus Mitleid und machte damit die arme Kranke und die alte Frau glücklich. Und als er merkte, daß Florence nur noch ganz kurze Zeit zu leben hatte, begleitete er sie auf ihre rührende Bitte auch in ihr Heim. Er füllte mit diesem Samariterdienst seinen Urlaub aus, den er noch nicht ausgenutzt hatte und der ihm ohne weiteres bewilligt wurde. Drei Wochen später starb das Mädchen, und einige Tage darauf auch die Großmutter. Den Tod der heißgeliebten
Enkelin hatte das alte, vierundsiebzigjährige Herz nicht überstehen können. Winard wartete noch die Bestattung der beiden Toten ab und wollte dann still und unbemerkt seines Weges ziehen, als er zu einem Notar gerufen wurde, der ihm die Eröffnung machte, daß die alte Dame ihn zu seinem Haupterben eingesetzt hätte. ›Es ist der Mensch, den meine arme Florence am meisten geliebt hat und soll daher auch ihr Erbe sein‹, stand kurz und bündig in dem hinterlassenen Testament. Winard nahm natürlich die Erbschaft an. Es wäre ja töricht gewesen, sie auszuschlagen, zumal die beiden Damen keine Angehörigen hinterließen- und so wurde der arme Schiffsarzt ein reicher Mann. Auf meine Empfehlung hin war er dann drüben noch ein halbes Jahr in einem bedeutenden Sanatorium praktisch als Nervenarzt tätig, bevor er zu mir kam.« Karola hatte regungslos gelauscht und saß auch noch unbeweglich da, als der Professor seine Erzählung beendet hatte. Die Hände im Schoß verschlungen, den Kopf tief gesenkt, so verharrte sie. »Frau Karola, haben Sie mir zugehört?« sprach der alte Herr sie behutsam an. Nun hob sie den Kopf. »Doch – gewiß – «, entgegnete sie wie abwesend. »Aber warum hat er mir das alles nicht erzählt?« »Tja, das ist nun so ’ne Sache! Sie müssen wissen, liebe Frau Karola, daß er meiner Frau und mir einmal seine Ehegeschichte erzählt hat. Kurz, knapp und klar, wie er ja über alles zu sprechen pflegt. Und als er dann hierherkam und Sie so kalt und ablehnend fand, da hielt er es für ratsam, über sein nicht alltägliches Erlebnis lieber vorerst noch zu schweigen. ›Ich weiß nicht, ob man mir da nicht in meiner Scheidungsangelegenheit einen Strick drehen könnte‹, sagte er wörtlich. ›Und da ich auf meine Frau nicht verzichten kann und will, so werde ich erst über diese Angelegenheit
sprechen, wenn ich sie mir ganz zurückgewonnen habe!‹ Sie hätten nur sehen sollen, mit welchem Eifer er die Wohnung hier eingerichtet hat. Nichts war ihm für Sie gut und kostbar genug. Und erst, als alles so war, wie er es sich gewünscht und gedacht hatte, veranstaltete er dieses Fest, um Sie erst einmal hier zu haben. Es schien ihm zu unserer Freude auch alles zu glücken. Und nun möchte ich nur wissen, was ihn plötzlich so verbittern konnte.« Das hätte Karola ihm sagen können, doch sie preßte die Lippen aufeinander und schwieg. Sie bat nur die Tante, mit ihr nach Hause zu fahren, wozu diese auch sofort bereit war. »Tante Fritze – bitte – quäle mich jetzt nicht mit Fragen«, flehte sie, als sie mit der Tante in ihrem Ankleidezimmer stand. »Ich halte heute keine Auseinandersetzung mehr aus! Morgen – oder später vielleicht - doch heute nicht!« »Ist gut, ich kann ja warten«, entgegnete das Fräulein ruhig. »Aber ich hoffe, daß meine Nichte Vertrauen zu mir haben wird.« »Tante Fritze, das weißt du doch. Zu wem soll ich denn sonst Vertrauen haben, wenn nicht zu dir, die du mir Mutter und Freundin zugleich bist? Doch augenblicklich – nein.« Sie streifte den Schmuck, das Festkleid ab und legte alles behutsam wieder dorthin zurück, wo sie es gefunden hatte. Als sie dann wieder ihre eigenen Kleider trug, da war ihr, als wären seit ihrer Ankunft hier im Hause nicht Stunden, sondern Jahre vergangen. Sie bat die Tante, mit ihr zu kommen, was diese auch tat. »Kind, was man mit dir alles mitmachen muß, das überschreitet schon das Maß des Menschenmöglichen«, brummte das Fräulein, als sie auf der nachtstillen Straße standen. »Und was nun? Sollen wir etwa zu Fuß nach Allhöfen wandern?« »Nein, wir werden in einem Hotel übernachten und morgen früh mit dem ersten Zug fahren.«
»Wird uns ja nichts andres übrigbleiben«, seufzte Tante Fritze. »Da werden die Menschen ja morgen schöne Augen machen! Zum mindesten wird man sich erzählen, daß der Herr Doktor Winard seine Frau mit Anhang bei Nacht und Nebel aus dem Hause gejagt hat.« Fräulein Fritze und ihre Nichte trafen sich erst wieder bei der Mittagstafel. Sie hatten nicht im Hotel übernachten brauchen, denn kaum, daß sie einige Meter gegangen waren, hatte sie das Auto des Doktors eingeholt, und der Fahrer hatte sie rasch und sicher nach Allhöfen gebracht. Also war ihr heimlicher Aufbruch nicht unbemerkt geblieben. An der Tafel herrschte eine Stimmung, die man mit Katerstimmung bezeichnet. Karola war blaß und auffallend still, und auch Elard war sehr niedergeschlagen. Es war ja schon längere Zeit verändert, doch einen so jammervollen Eindruck wie heute hatte er noch nie gemacht. Sollte bei ihm etwa die Ursache für Karolas gestrige Verstörtheit zu suchen sein? War Winard vielleicht dahintergekommen, daß sie Elard liebte? Fräulein Fritze wurde bei diesem Gedanken heiß und kalt. Dann konnte man in Zukunft ja etwas erleben! Winard würde nicht zurücktreten, soviel war sicher. »Was wirst du mit den Zwillingen machen?« fragte sie die Nichte, nachdem Elard sich zurückgezogen hatte. »Du hast ihnen gestern doch versprochen, sie heute hierherkommen zu lassen.« »Ich werde Malve anrufen und sie bitten, mir die Kinder zu schicken.« Das tat sie denn auch sofort und erhielt von der jungen Ärztin das Versprechen, daß sie die Mädchen nach Allhöfen bringen werde. Und um die Kaffeezeit traf sie denn auch mit ihnen ein. »Ich habe bis zum Abend Zeit«, erklärte sie mit zaghaftem Lächeln, als müsse sie sich entschuldigen, daß sie mitgekommen sei. »Das ist vernünftig«, nickte Fritze. »Du bist doch hier zu
Hause, Kind. Und was machen die kleinen Fräulein?« wandte sie sich an die Zwillinge, die neben Karola standen und ängstlich zu ihr aufsahen. »Ist Fräulein Dotz mit eurem Hiersein einverstanden?« »Nein. Aber sie kann ja jetzt nicht mehr so viel sagen, weil die Mutti sich um uns kümmert«, sagte Lorli beglückt. Malve war heute noch stiller und niedergedrückter als gewöhnlich. Und als die Mädel im Zimmer der kleinen Ute spielten, fragte Tante Fritze frei heraus, was sie quäle. »Albrecht ist heute mittag verreist«, berichtete sie leise. »Das ist doch kein Grund zum Traurigsein, Malve«, meinte das Fräulein verwundert. »Die Reise an sich nicht, Tante Fritze. Er war jedoch in einer Verfassung, die zur Sorge Anlaß gibt. So habe ich ihn nur einmal gesehen - damals, als Karola ihn verlassen hatte. Seien Sie mir nicht böse – «, sagte sie mit einem bittenden Blick auf die junge Frau. »Aber ich muß Ihnen einmal sagen, wie schwer Sie Albrecht mit Ihrer Flucht getroffen haben. Und da er seit heute nacht in derselben Verfassung ist, so können Sie es nur sein, die ihm bitter weh getan hat. Karola, er liebt Sie doch so über alle Maßen!« sagte sie beschwörend, als das Antlitz der jungen Frau sich verfinsterte. »Sie sind ihm alles! Für Sie würde er seine Kinder aufgeben – überhaupt uns alle, wenn Sie es von ihm verlangten. Nur Ihretwegen hält er die Zwillinge doch so streng, damit Sie nie mehr Anlaß haben, sich über sie zu ärgern. Meine Mutter hat er so eingeschüchtert, daß sie schon zittert, wenn sie Ihren Namen nur hört – und ich – ich wage mich Ihnen gar nicht erst zu nähern.« »Aber das ist doch Unsinn!« fiel die Tante ihr ins Wort. »Da übertreibt der gute Albrecht ganz gehörig. Karola ist doch schließlich kein Schreckgespenst! Wohin ist er gefahren?« »Der Professor hat ihn mit einem Auftrag fortgeschickt. Er sagte mir, er wolle Albrecht damit auf andere Gedanken bringen. Ich jedoch weiß, daß er genauso unstet und
verbittert zurückkommen wird, denn ich kenne ihn besser als alle andern«, schloß sie leise. »So meinst du, daß er Karola immer noch liebt, daß er die Ehe nicht allein um Utes willen bestehen lassen will?« forschte Tante Fritze mißtrauisch. »Ach, Tante Fritze, seine Liebe ist ja so unsagbar groß und tief«, lächelte Malve traurig und weh. »Wenn er Karola verlieren sollte – ich weiß nicht, wie er das überstehen würde. Karola, Sie sind mir doch nicht böse, daß ich das alles so frei heraus sage?« »Nein«, kam es kurz und abweisend zurück. Hastig erhob sie sich und verließ das Zimmer, die beiden Damen tiefbekümmert zurücklassend. »Also du meinst, Malve, daß Albrecht es nur schwer verwinden würde, wenn Karola ihm genommen werden sollte?« erkundigte das Fräulein sich noch einmal unruhig. »Das würde ein Unglück für uns alle sein, Tante Fritze.« »Und wenn sie nun einen andern liebt?« »Das – das wäre furchtbar!« stammelte die junge Ärztin, blaß bis in die Lippen. »Du weißt, Tante Fritze -?« »Ich mutmaße nur, Kindchen – etwas Bestimmtes weiß ich nicht«, wehrte sie hastig ab. »Ist es – Herr Elard -?« »Ja.« »Großer Gott, wie traurig ist das doch alles!« stöhnte Malve. »Nun, nun«, beschwichtigte Tante Fritze. »Es ist ja noch nichts verloren. Karola ist nicht mehr das weit- und wirklichkeitsfremde Mädchen von früher. Und da sie wohl eigenwillig, nicht aber gewissenlos ist, so wird sie langsam einsehen lernen, daß man eine Ehe nicht so einfach abtun kann. Sie wird ihre Pflichten, die sie damals übernommen hat, erkennen und zu Albrecht zurückkehren.« »Damit wäre Albrecht keineswegs gedient«, lächelte Malve mit zuckenden Lippen. »Ja – dann bin ich mit meiner Weisheit zu Ende«, zuckte das Fräulein mit den Achseln. »Da heißt es jetzt weiter
nichts als abwarten.« Karola kam mit den Zwillingen zurück, die ihre Hand gar nicht mehr loslassen wollten. Es war rührend, mitanzusehen, wie sie langsam zutraulicher wurden. Die verschüchterten Herzchen konnten es wohl immer noch nicht fassen, daß ihre Mutti es plötzlich so gut mit ihnen meinte. »Mutti erlaubt uns, daß wir die Zeit, während Fräulein Dotz in Urlaub geht, bei ihr bleiben«, erzählte Dorli wichtig. »Wann fährt das Fräulein denn?« erkundigte Tante Fritze sich freundlich. »Morgen. Aber wir bleiben heute gleich hier, Mutti hat es uns versprochen.« Wie vertrauend dieses ›Mutti hat es uns versprochen‹ klang, so ohne jeden Zweifel, so voll unerschütterlicher Zuversicht. »Wir bekommen unser Zimmer neben dem Utes«, erzählte Lorli mit glücklichem Lächeln. »Dann können wir unser Schwesterchen immer sehen – und auch unsere Mutti.« »Und was wird der Vater dazu sagen?« fragte Malve leise. »Der Vater?« fragte Lorli, als horche sie in sich hinein. »Nun, der tut gewiß, was die Mutti will.« »Woraus schließt du denn das?« erkundigte Tante Fritze sich lachend. »Weil er die Mutti liebhat«, nickte das Kind ernsthaft. »Lieber noch als die Ute.« »Und das muß dir erst dieses kleine Mädchen sagen«, nickte das Fräulein zur Nichte hin, die heiß errötet war. »Hoffentlich weißt du nun endlich, was du zu tun hast.« Da Karola nicht antwortete, hielt auch Tante Fritze es für ratsam, in Anwesenheit der Kinder diese heikle Angelegenheit nicht weiter zu erörtern. Außerdem kam jetzt Elard hinzu, so daß sowieso jedes vertrauliche Gespräch unterbleiben mußte. Der Mann sah ordentlich vergrämt und verhärmt aus. Und als die Tante einen bangen Blick Malves auffing, da wußte
sie, daß die junge Ärztin ihre Befürchtung, daß Karola und Elard sich liebten, teilte. Und das war ja nun wirklich etwas, worüber man sich schwere Sorgen machen mußte. Wenn Karola den Mann nun wirklich liebte, dann konnte man von ihr nicht verlangen, daß sie ihrer Liebe entsagte und nur aus Pflicht zu Albrecht zurückkehrte. Es war schon ein wahres Kreuz mit dieser Liebe! Fräulein Fritze war ihr schon immer gram gewesen, aber jetzt hatte sie eine förmliche Wut auf diese vielgepriesene Liebe, die so viel Unheil anrichten konnte. Nicht allein, daß sie den Beteiligten bitteres Herzweh brachte, sie machte auch noch denen, die um sie waren, das Leben schwer. Fräulein Fritze mußte erst eine Weile hinausgehen, damit sie nicht das, was sie quälte und ergrimmte, sich vom Herzen polterte. Und das wäre so verkehrt wie möglich gewesen. Als sie nach einer Weile wiederkam, besprachen Malve und Karola die Übersiedlung der Kinder nach Allhöfen. »Es ist besser, wenn die Mädels heute noch mit mir kommen«, schlug die junge Ärztin eben vor. »Schon damit Fräulein Dotz sich nicht übergangen fühlt. Sie ist nämlich sehr empfindlich und nachtragend, was die Kleinen dann später zu spüren bekämen. Außerdem weiß ich nicht, was Albrecht mit dem Fräulein vereinbart hat. Wie er überhaupt die Übersiedlung der Kinder aufnehmen wird.« »Das verantworte ich schon«, meldete sich nun Karola. »Albrecht hat mich mehr als einmal darauf hingewiesen, mich der Kleinen anzunehmen. Und nun ich es tue, kann er doch nichts dagegen haben.« Das mußte auch Malve einsehen, und so erbot sie sich denn, die Kinder am nächsten Tag wieder nach Allhöfen zu bringen. Sie traf auch mit ihnen zur verabredeten Zeit ein, sah jedoch so verärgert aus, wie man das sonst so ruhige Mädchen noch nie gesehen hatte. »Was hat es denn gegeben«, erkundigte Fräulein Fritze sich ahnungsvoll. »Hat Fräulein Dotz etwa Schwierigkeiten
gemacht?« »Sie hat es so arg getrieben, daß die Kinder schutzsuchend zu mir gelaufen kamen«, berichtete sie unmutig. »Sie wagte es sogar, bis in mein Dienstzimmer vorzudringen und mir kurz und bündig zu erklären, daß sie nicht daran dächte, heute ihren Urlaub anzutreten. Der Herr Doktor hätte sie ausdrücklich gebeten, bis zu seiner Rückkehr im Hause zu bleiben, und diesem Wunsche würde sie unter allen Umständen nachkommen. Ich gab mir nun die größte Mühe, der aufgebrachten Dame zu erklären, daß die Mutter der Kleinen deren Übersiedlung nach Allhöfen wünsche und sie daher ohne Bedenken ihren Urlaub antreten könne. Da wurde sie anmaßend und laut, daß ich sie aus dem Zimmer weisen mußte. Und nun weiß ich nicht, was darauf folgen wird«, schloß sie verärgert. »Nichts weiter wird werden, als daß ich diesem anmaßenden Fräulein einmal gehörig die Wacht blasen werde«, versprach Tante Fritze empört. »Die Kinder bleiben hier!« Karola sagte nichts. Sie umfaßte die Schultern der Mädels und zog sie mit sich fort nach dem Zimmer hin, das sie am Vormittag für sie eingerichtet hatte. »O Mutti, so schön sollen wir es haben?« fragte Dorli beglückt. »Das ist ja ebenso schön hier wie bei Ute.« »Ihr seid ja auch meine Kinder«, erklärte Karola lächelnd und sah dann zu, wie die beiden voller Freude von einem Möbelstück zum andern liefen, sie bewunderten und streichelten, als wären sie lebende Wesen. »Karola, wie soll ich Ihnen danken, daß Sie sich so liebevoll der Kleinen annehmen«, hörte sie da neben sich die tränendunkle Stimme Malves. »Ich tue doch nur meine Pflicht – die ich leider etwas zu spät erkannt habe«, wehrte die junge Frau verlegen ab. »Viele trostlose Stunden hätten den Kindern erspart bleiben können, wenn ich mich früher auf meine Pflicht besonnen hätte. Und wenn ich sie anfänglich ein wenig verwöhnen
sollte, so geschieht es nur, um vieles wiedergutzumachen.« Malve konnte sich über dieses Geständnis Karolas heute nicht so freuen, wie es noch vor einigen Tagen der Fall gewesen wäre. Sie mußte an Elard denken. Wie er es wohl auffassen würde, wenn Karola ihm eröffnete, daß sie zu ihrem Gatten zurückkehren wolle? Wie bitter schwer es für die junge Frau selber sein mußte, diesen Weg zu gehen. Und wie wahnsinnig Albrecht darunter leiden würde, wenn er erst dahinter kam, daß seine Frau nur aus Pflicht- und Verantwortungsgefühl zu ihm zurückgefunden hatte. So ist es nun im Leben, dachte sie in stiller Verzweiflung. Wofür der eine sein Herzblut hingeben würde, das achtet der andere für nichts. Mich würde Albrechts Liebe zum glücklichsten Menschen machen - und Karola, die diese Liebe in vollstem Maße besitzt, ist sie ein Hindernis, das ihr den Weg zum Glück versperrt. Das Herz war ihr so bang und schwer, daß oft der Gedanke in ihr aufstieg, einfach ihre Stellung in dem Sanatorium aufzugeben und weit wegzugehen. Aber sie kannte sich und wußte, daß sie es ja gar nicht ohne ihre Lieben aushalten würde; deshalb machte sie erst gar nicht den Versuch, von ihnen zu gehen. Die Kinder fehlten ihr ohnehin schon, und sie brachte jede freie Stunde in Allhöfen zu, um mit ihnen zusammen zu sein. Dort ging es in den nächsten Wochen still und friedlich zu. Draußen hatte das Herbstwetter eingesetzt, und so war es in den mollig durchwärmten Räumen des Herrenhauses doppelt traut und gemütlich. Die Zwillinge verloren allmählich ihre Schüchternheit und schlossen sich immer fester an Karola an. Sie hingen bald mit rührender Liebe an ihrer einst so verhaßten Stiefmutter, die ihnen ihre Anhänglichkeit mit herzlicher Fürsorge um ihr Wohl vergalt. Zuweilen konnten sie schon so fröhlich und unbeschwert sein wie andere Kinder. Wenn etwas ihre kleinen Herzen beengte, dann gingen sie nicht zu Tante Fritze oder Malve, die sie doch auch herzlich liebten,
sondern ihr erster Weg war dann zur Mutter, die auch stets Rat für ihre kleinen Sorgen und Nöte wußte. Wenn Malve den Zwillingen von ihrer Erzieherin erzählte, die tatsächlich ihren Urlaub nicht angetreten hatte, dann lachten die Kleinen. Das Fräulein kam ihnen jetzt wie ein Kinderschreck aus längst vergangenen Tagen vor. Karola und Malve verstanden sich jetzt ausgezeichnet. Sie tauschten schon längst das vertraute Du, worüber Malve sehr beglückt war. Sie hing jetzt mit herzlicher Liebe an der jungen Frau. Von Winard wurde wie auf Verabredung nie gesprochen. Fast vier Wochen war er nun schon fort, ohne an seine Angehörigen geschrieben zu haben. Auch über Elard wagten weder Fritze noch Malve mit Karola zu sprechen. Sie sahen nur voll banger Sorge, wie er mehr denn je die Gesellschaft der jungen Frau suchte. Sie hatten die beiden schon oft in vertrautem Gespräch angetroffen. Elard war dann immer sehr verlegen gewesen, und Karola hatte ein verstecktes Lachen in den Augen gehabt. Da hatte man nun mehr und mehr gehofft, daß sie Elard aufgegeben hatte – und mußte nun wieder diese Vertraulichkeit zwischen ihr und dem Mann ihrer Liebe erleben. Nein, aus Karola konnte man nicht mehr klug werden! Allein, der Mann, der sie an einem Vormittag in trautem Gespräch mit Elard nahe beieinander sitzen sah, so nahe, daß sich ihre Köpfe berührten – der abgerissene Worte aus der geflüsterten Unterhaltung auffing, dem wurde das Verhältnis der beiden Menschen zueinander ganz eindeutig klar. So klar, daß er nicht das Zimmer betrat, wie er gewollt, sondern wie gehetzt das Haus verließ und zur Stadt zurückfuhr. Mit einem frohen Lachen betrat Malve später das Arbeitszimmer ihres Schwagers. »Ich hörte vom Herrn Professor, daß du endlich von deiner Reise zurückgekehrt bist«, begrüßte sie ihn warm und
herzlich. »Sehr lange bliebst du fort, du Böser. Wir haben dich alle schon mit Schmerzen zurück erwartet.« »So – alle?« fragte er in einem Ton, der die junge Ärztin aufhorchen ließ. Und als er ihr nun sein Gesicht voll zuwandte, zuckte sie erschrocken zusammen. Was war denn mit dem Manne geschehen? Sein Gesicht war wie versteinert. Und seine Haltung hatte etwas so Eisiges, Ablehnendes, daß Malve ihn ratlos anstarrte. »Albrecht – bist du – krank?« stotterte sie endlich hervor. »Nein – leider«, erfolgte die sonderbare Antwort. »Aber wenn du mir einen Gefallen tun willst, Kindchen, dann laß mich jetzt allein, damit ich mich umziehen kann. Ich will mich nämlich nach meinen Patienten umschauen.« »Du machst doch einen völlig erschöpften Eindruck, Albrecht. Möchtest du dich nicht zuerst eine Stunde hinlegen?« wagte die junge Ärztin vorzuschlagen. »Nein, danke. Zum Schlafen habe ich jetzt weder Zeit noch das Bedürfnis«, wehrte er kurz ab, so daß Malve nichts übrigblieb, als ihn allein zu lassen. »Habe ich nicht gesagt, daß er nicht froher zurückkehren wird«, murmelte sie draußen mit zuckenden Lippen. »Und nun ist es gar noch viel ärger geworden.« Mit bangem Herzen sah sie seinen Besuchen bei den Patienten entgegen. Mit diesem harten, starren Gesicht konnte er den Kranken doch unmöglich die Beruhigung bringen, die sie von ihrem geliebten Doktor erwarteten. Doch es ging alles gut und glatt. Denn als der Arzt bei den Kranken war, verlor sich die Starrheit seiner Züge sofort. Ruhig und geduldig hörte er sich auch heute die unzähligen Klagen der anspruchsvollen Patienten an, beruhigte und beschwichtigte, fand für alles Rat und Abhilfe, so daß sie ihm verklärt nachsahen, wenn er sie verließ. Verschiedene sehr verwöhnte Kranke überschütteten ihn mit Vorwürfen, als er bei ihnen erschien. Er wäre so sehr lange fort gewesen, das könnten sie unmöglich noch einmal ertragen. Und selbst bei diesen eigenwilligen Kranken fand er die passenden Worte, verlor
bei ihrem kindischen Benehmen nicht einen Augenblick die Geduld. Der Professor, der an diesen Krankenbesuchen teilnahm, schmunzelte vergnügt vor sich hin. »Ist doch ein prachtvoller Kerl, unser Doktor«, sagte er, nachdem Winard sich verabschiedet hatte, zu Malve. »Bei ihm werden selbst die aufsässigsten Kranken fromm wie Lämmer. Er ist aber auch die Ruhe und Gelassenheit in Person, und das ist es, was ihm zu seinem Erfolg als Nervenarzt verholfen hat.« Der alte Herr wäre jedoch sehr betroffen gewesen, wenn er hätte sehen können, wie sein von ihm gelobter Oberarzt sich eben in seinem Arbeitszimmer in einen Sessel sinken ließ. Da war auch keine Spur von Ruhe und Gelassenheit in dem Gebaren des Mannes. Er machte vielmehr den Eindruck eines Menschen, der mit sich und der Welt fertig ist. Blaß und verhärmt war das Gesicht, in dem die Lippen unaufhörlich zuckten. Aufstöhnend drückte er den Kopf in die Hände und verharrte so regungslos, bis ein Klopfen an der Tür ihn aufschrecken ließ. Auf seine Aufforderung betrat Fräulein Dotz das Zimmer. »Herr Doktor, ich muß Sie sprechen.« »Bitte«, zeigte er mit einer einladenden Bewegung auf einen Sessel. Er saß ihr gegenüber so am Schreibtisch, daß sein Gesicht im Schatten lag. »Herr Doktor, ich bin gekommen, um bei Ihnen mein Recht zu suchen«, begann sie ohne Umschweife. »Doch zuerst die Frage: Haben Sie angeordnet, daß die Kinder während Ihrer Abwesenheit nach Allhöfen übersiedeln?« Einige Herzschläge lang blieb die Antwort aus. Winard hatte ja keine Ahnung, daß die Zwillinge nicht im Hause waren, was das anscheinend sehr aufgebrachte Fräulein natürlich nicht zu wissen brauchte. »Selbstverständlich habe ich das angeordnet«, entgegnete er kurz und knapp. »Ich bin doch von allem unterrichtet, was in meinem Hause geschieht.« »Und warum haben Sie mich dann gebeten, meinen
Urlaub erst anzutreten, wenn Sie von der Reise zurückgekehrt wären?« fragte sie nun schwer gekränkt. »Ich saß nun hier allein – « »Entschuldigen Sie bitte, Fräulein Dotz«, unterbrach er sie gelassen. »Es war ein Mißverständnis, das mir leid tut. Die Kinder werden heute noch zurückkehren, und Sie können Ihren Urlaub an Weihnachten antreten.« »Ja – damit wäre ich einverstanden«, erklärte sie gnädig. »Es ist auch höchste Zeit, Herr Doktor, daß die Mädchen zurückkommen. Sie werden in Allhöfen zu sehr verzogen, und ich habe nachher die Mühe, ihnen die Unarten wieder abzugewöhnen. Sie wissen ja, Herr Doktor, daß Eleonore und Dorothee eine straffe Hand brauchen, wenn aus ihnen nützliche Glieder der Menschheit werden sollen.« »Ich kann Ihnen nur noch einmal sagen, daß die Kinder heute noch in Ihre Obhut zurückkehren werden«,erklärte er schon ein wenig ungeduldig. Ja, nun konnte sie wohl gehen. Und sie hatte ihrem gekränkten Herzen doch so recht Luft machen wollen. Aber die Haltung des Mannes nahm ihr nun den Mut dazu. Schwer gekränkt und ganz und gar unzufrieden mit sich und dem Ergebnis der Unterredung verabschiedete sie sich von dem Vater ihrer Zöglinge, der sofort seine Schwägerin zu sich bitten ließ. »Malve, wie kommt es, daß die Zwillinge in Allhöfen sind?« fragte er, als sie eintrat. »Weil Karola es wünschte«, entgegnete Malve tapfer, obgleich ihr das Herz bis zum Halse hinauf schlug. »Die Kleinen sind dort viel besser aufgehoben als hier bei Fräulein Dotz, die viel zu hart und streng mit ihnen umgeht. Sie ist überhaupt ein Mensch, dem man seine Kinder nicht rückhaltlos anvertrauen sollte. Karola meint – « »Was Karola meint, das spielt jetzt keine Rolle mehr«, unterbrach er sie unwillig. »Wem ich meine Kinder anvertraue, das müßt ihr schon mir überlassen. Jedenfalls müssen sie noch heute nach Hause kommen, und ich
möchte dich bitten, sie von Allhöfen abzuholen.« Malve hielt den Kopf tief gesenkt, damit er die Tränen nicht sehen sollte, die ihr in die Augen schossen. Ausgerechnet sie sollte die Kinder holen! »Es will mir fast scheinen, als würde mein treuer Kamerad mich diesmal im Stich lassen?« hörte sie nun seine mahnende Stimme. Ihr Kopf ruckte hoch, so daß er ihr nun frei ins Gesicht sehen konnte, in dem es zuckte und bebte. »Albrecht, die Kinder haben es so gut bei Karola, die ihnen jetzt von Herzen zugetan ist und wie eine rechte Mutter für sie sorgt«, begann sie in eindringlichem Ton. »Du hast deine Frau doch mehr als einmal auf ihre Pflichten, die sie deinen Kindern gegenüber hat, hingewiesen.« »Ja – damals!« lachte er so hart und bitter auf, daß ihr Herz sich in Mitgefühl zusammenzog. »Das liegt alles so fern – so weltenfern! Damals habe ich noch geglaubt und gehofft. Doch heute – « »Mein Gott, Albrecht, was ist denn nur geschehen?« Dieser beschwörende, herzensbange Ton brachte den Mann zur Besinnung. Er fuhr sich über Kopf und Augen und lächelte dünn. Doch dieses Lächeln schnitt Malve noch mehr ins Herz, als vorhin sein zorniges bitteres Lachen. »Es ist nichts weiter geschehen, als das, was vielen Menschen in der Welt geschieht«, war die rätselhafte Antwort. »Es ist zu alltäglich, um noch viele Worte darum zu machen. Nur derjenige, den es trifft, der muß zusehen, daß er an dem harten Bissen, den das Schicksal ihm zu schlucken gibt, nicht erstickt. – Und nun tue mir die Liebe, und frage nicht, Malve. Hole die Kinder her; zeige heute wieder einmal, daß du mein guter, treuer Kamerad bist, auf den ich mich in jeder Lebenslage verlassen kann.« Da wandte die junge Ärztin sich wortlos ab. Doch draußen mußte sie sich gegen die Wand lehnen, um sich zu sammeln. Es war ihr bitterelend zumute. Malve stand in der Tür, die nach dem Spielzimmer der kleinen Ute führte, und sah mit traurigen Augen auf das frohe Treiben, das darin herrschte. Die Kinder lagen
bäuchlings auf dem dicken flauschigen Spielteppich und mittendrin saßen Fritze und Karola, die bemüht war, dem krummbeinigen Dackel ein rotes Höschen anzuziehen, was diesem immer wieder ein entrüstetes Knurren und den Kindern lauten Jubel entlockte. Dann war endlich das schwere Werk geschafft, und Waldi stolzierte im Zimmer umher, halb freudig, halb gekränkt. »Tante Malve, schau nur!« rief Lorli, die die Tante zuerst entdeckt hatte. »Ist der Waldi nicht putzig?« Malve sah in das strahlende Kindergesicht, und ihr Herz zog sich zusammen. Nur einige Worte brauche ich zu sagen – und schon werden die Kinderaugen nicht mehr strahlen, sondern Tränen vergießen, dachte sie gequält. Und gerade ich muß es sein, die den Kleinen diesen Schmerz antun und sie aus diesem sonnigen Heim in ihr ödes Zuhause holen muß. »Malve, was hast du denn, du bist ja ganz erschreckend blaß?« fragte Karola beunruhigt. »Ist etwas mit deiner Mutter geschehen?« Malve winkte müde ab. »Nein, das ist es nicht. Ich soll nur die Kinder – zurückholen.« »Warum denn das?« fragte Tante Fritze, während die Zwillinge die Tante mit erschrockenen Augen anstarrten. »Albrecht verlangt es.« »Albrecht? Ist er denn zu Hause?« »Ja, seit heute vormittag.« »Und warum sollen die Kinder von hier fort?« erkundigte Karola sich nun befremdet. »Den Grund kann ich dir nicht nennen, Karola, da ich ihn selber nicht weiß. Albrecht bat mich nur, die Kleinen in ihr Vaterhaus zurückzuholen – wo sie hingehörten.« Karola biß die Zähne in die Unterlippe und sah grübelnd vor sich hin. Die Kinder eilten auf sie zu und umschlangen sie stürmisch. »Nicht wahr, Mutti, wir brauchen nicht nach Hause zurück?« bettelte Lorli mit Augen und Lippen. »Sag doch dem Vater, daß wir hierbleiben möchten.«
»Dazu muß ich ihn doch erst sprechen.« »Ja, Mutti, das tu nur!« rief Dorli rasch getröstet. »Fahre gleich zu ihm, wir warten hier auf dich.« »Das geht nicht«, schaltete sich jetzt Malve ein. »Ihr müßt mitkommen. Ausdrückliches Gebot des Vaters. Daß ihr das nicht übergehen dürft, wißt ihr doch.« Nun war eine bedrückende Stille im Zimmer, die von Lorlis bitterlichem Weinen unterbrochen wurde. »Tante Malve, warum können wir nicht hierbleiben, bei Mutti, Ute und Tante Fritze? Uns gefällt es doch so gut hier. Kannst du das dem Vater nicht sagen?« sprach Dorli mit bedenklich schwankender Stimme. Und als sie das stumme Kopfschütteln der Tante sah, kamen auch ihr die Tränen. »Kinder, nun weint nicht«, tröstete Karola. »Ihr kommt mit, und ich werde mit euerm Vater sprechen.« Das beruhigte die Kleinen ungemein. Ganz vergnügt fuhren sie mit der Mutter und der Tante zur Stadt. Ihnen wurde erst wieder bang zumute, als sie die weiße Villa betraten. »Nimm dich der Kinder an, Malve«, bat Karola, als sie die Treppe emporstiegen. »Ich will gleich mit Albrecht sprechen.« Ein Zimmermädchen, das gerade durch die Diele ging, konnte den Bescheid geben, daß der Herr Doktor in seinem Arbeitszimmer sei. »Mutti, nicht wahr, du sagst dem Vater, daß wir mit dir nach Allhöfen zurück wollen?« flehte Dorli, die Mutter dabei stürmisch umhalsend. »Ja, Mutti, bitte!« bettelte auch Lorli. »Kinder, wenn ihr mich erwürgt, dann komme ich erst gar nicht zum Vater hin«, scherzte Karola, wobei sie sich aus der festen Umschlingung der Kinderarme löste. »Haltet den Daumen, daß ich den Vater bei guter Stimmung antreffe.« »Kommt jetzt, Kinder«, mahnte Malve, die das alles kaum noch mit ansehen konnte. Da ließen die Kleinen sich von ihr fortziehen, gingen jedoch mehr rückwärts als vorwärts und winkten lebhaft
der Mutter zurück, die so lange vor der Tür, die zu des Gatten Arbeitszimmer führte, stand, bis die Mädchen ihren Augen entschwunden waren. Dann erst klopfte sie an die Tür. Aus dem Zimmer kam keine Antwort, es war nur leise Radiomusik daraus zu hören. Karola klopfte noch einige Male ergebnislos – und dann betrat sie kurz entschlossen das große Gemach. »Niemals darfst du mich, darfst du mich verlassen, niemals will ich einsam sein. Immer will ich dich, will ich dich umfassen, immer will ich dir und du sollst mir verzeihn«, klang eine dunkle, zärtliche Männerstimme aus dem Lautsprecher. Karola schloß leise die Tür, sah sich suchend im Zimmer um und entdeckte den Gatten in einem Sessel am Kamin. Sein Gesicht war ihr halb zugewandt – und eisiger Schrecken erfaßte sie beim Anblick dieses blassen, zerquälten Männerantlitzes. »Immer will ich dich, will ich dich umfassen«, wiederholte die Stimme im Radio, und es schien, als ob die zuckenden Lippen des Mannes im Sessel die Worte des Liedes leise mitsprächen. Karola war zumute, als drücke eine harte Hand ihr das Herz zusammen. Was war hier geschehen? Was hatte diesen sonst so ruhigen, gelassenen Mann so umwerfen können? Zögernd trat sie einige Schritte näher. »Albrecht!« sagte sie behutsam. Der Mann hob den Kopf, als ob er lausche. »Albrecht!« sagte sie noch einmal- und da hob er den Kopf - sprang auf… »Niemals will ich wieder einsam sein«, sang die Stimme aus dem Lautsprecher beschwörend. Ein Griff der festen Männerhand nach dem Radio – das Lied war verklungen.
Und doch schien es, als wäre das ganze Zimmer erfüllt von der traurigen, schwermütigen Männerstimme. Karola spürte bis ins Herz hinein dieses beschwörende: ›Niemals will ich wieder einsam sein!‹ Sie wagte den Mann, der regungslos vor ihr verharrte, nicht anzusehen. Erst als er sprach, zuckte sie zusammen und hob zaghaft den Kopf. Blick ruhte in Blick – forschend, fragend – und nun war es Albrecht, der den seinen zuerst abwandte. In sein Gesicht trat ein Zug eiserner Härte, und seine Gestalt straffte sich, als wolle er einen Kampf austragen. »Was wünschst du von mir?« fragte er ganz ruhig, ganz eisig. »Albrecht, kannst du dir nicht denken, was ich bei dir will?« fragte sie zurück. »Nein! Denn ich wüßte nicht, was wir uns noch zu sagen hätten.« Karola mußte sich zusammenreißen, damit sie vor diesem veränderten Manne nicht die Flucht ergriff. »Ich habe dir noch recht viel zu sagen«, fuhr sie tapfer fort. »Ich möchte dich zuerst einmal bitten, mir deine Kinder einstweilen nach Allhöfen zu geben.« »Nein!« schnitt er ihr kurz und scharf das Wort ab. »Damit die mutterlosen Kinder erst Liebe kennenlernen, um dann wieder zurückgestoßen zu werden in Öde und Leere. Das möchte ich meinen Kindern ersparen. Lieber lasse ich sie ohne Mutterliebe aufwachsen, als daß sie sich später danach krank sehnen.« »Albrecht, was hast du denn nur?« fragte die junge Frau nun entsetzt. »Was sprichst du da überhaupt? Man müßte fast annehmen, daß dir die Sinne verwirrt wären«, setzte sie mit leichtem Grausen hinzu, als sie in seine Augen sah, die eiskalt wirkten, in deren Tiefe es jedoch heiß zu lodern schien. »Kommst du nun, um dich an deiner Rache zu weiden?« schrie er sie unerwartet an. »Oder kommst du, um zu fragen, wie lange es noch dauern kann, bis ich in die
Scheidung einwillige? Du sollst die Scheidung haben, sobald es nur angeht! Doch jetzt geh – geh? Und komme nie mehr wieder!« Karola taumelte einige Schritte zurück, bis sie Halt an der Tür fand. Die Beine zitterten ihr so heftig, daß sie befürchten mußte, zusammenzusinken. Denn was der Mann vor ihr eben gesprochen hatte, war so unfaßlich, daß es einen Menschen schon umwerfen konnte. Sie setzte einige Male zum Sprechen an, bis sie einen Laut aus der Kehle bekam. »Du bist nun plötzlich – mit der – Scheidung – einverstanden -?« rang es sich mühsam von ihren Lippen. »Ja!« Wie ein Peitschenhieb, so kurz und scharf fiel dieses eine Wort, so daß Karola sich unwillkürlich duckte. Sie hatte jetzt nur den einen Wunsch, dem Manne nicht zu zeigen, wie sehr seine Eröffnung sie getroffen hatte. All ihren Stolz, ihren Trotz rief sie zur Hilfe – und die waren es auch, die ihr die nächsten Minuten überstehen halfen. »Dann – ja dann haben wir uns wirklich – nichts mehr zu sagen«, nickte sie ihm zu, der fest wie ein Fels vor ihr stand. Noch einmal umfaßte ihn ihr Blick, als müsse sie sich den Anblick dieser hohen, gestrafften Gestalt einprägen für alle Zeit. Dann wandte sie sich schweigend ab und ging. »Karola!« wollte der Mann rufen, doch er brachte keinen Laut über die farblosen Lippen. Die Augen starrten noch immer auf die Tür, die sich schon längst hinter der jungen Frau geschlossen hatte. Mit einem dumpfen Stöhnen sank er in den Sessel. »Es geht ja vorüber«, murmelte er, als müsse er sich Mut und Trost zusprechen. »Es geht ja alles einmal vorüber.« »Mädel, wie siehst du aus?« fragte Tante Fritze mit einem forschenden Blick in das blasse Gesicht der Nichte, die eben zu ihr ins Zimmer trat. »Wo sind die Kinder?« »Zu Hause.« »Dann ist Albrecht also fest geblieben?« »Ja«, antwortete Karola, indem sie sich setzte. »Albrecht will
sich von mir scheiden lassen.« Das war so einfach, fast gleichmütig gesagt - doch der Tante blieb fast das Herz stehen vor Schreck. »Nun ja«, brummte sie dann vor sich hin. »Was bleibt dem Mann auch anders übrig. Wie ist er nur mit einem Male zu dem Entschluß gekommen?« setzte sie hinzu. »Keine Ahnung«, Karola zuckte mit den Achseln. »Wahrscheinlich haben ihn meine Zweifel so tief erzürnt, daß er eine Trennung von mir wünscht.« Sie gab kurz wieder, was sie ihm damals auf dem Fest gesagt hatte, und Tante Fritze schüttelte mißbilligend den Kopf dazu. »Ja, da hat er auch allen Grund, erzürnt zu sein. Und doch will ich nicht glauben, daß es ihm genügen sollte, dich aufzugeben. Vergiß nicht, mit welcher Bestimmtheit er eine Trennung von dir bisher abgelehnt hat.« »Dann wird eine andere Frau ihn wohl anderen Sinnes gemacht haben«, lachte Karola nervös auf. »Laß nur, Tante Fritze, es ist gut so.« An diese Frau glaubte Tante Fritze nicht. Sie nahm vielmehr an, daß Winard hinter Karolas Liebe zu Elard gekommen sein müßte. Und da sie ihm somit verloren war, gab er sie frei. Für Karola war das ja die beste Lösung – doch für die anderen… »Wie haben die Kinder es aufgenommen, daß sie nicht mit dir kommen durften?« erkundigte sie sich bei der jungen Frau, die still dasaß, und den Kopf in die Hände gestützt hatte. »Ich habe sie nach der Unterredung mit Albrecht nicht mehr gesehen.« »Arme Dinger! Das wird ein schöner Jammer werden. Hast du Albrecht wenigstens noch zu verstehen gegeben, daß die Kleinen bei Fräulein Dotz nicht so gut aufgehoben sind, wie er sich einbildet?« »Nein, dazu kam ich gar nicht. Er war von einer starren Unzugänglichkeit.« »Na ja – nun ist es endlich eingetroffen, was zu befürchten
war«, seufzte das Fräulein. »Das war bei euch eben von vornherein eine verfahrene Geschichte. Ihr hättet euch nie heiraten dürfen, dann wäre euch und anderen Unruhe und Herzeleid erspart geblieben.« »Tante Fritze, höre mit deinen Vorhaltungen auf!« bat die junge Frau gequält. »An mir hat es nicht gelegen. Ich wollte ja den Fehler, den ich mit dieser Heirat gemacht habe, schon im ersten halben Jahre gutmachen. Wenn Albrecht sich jedoch gegen eine Trennung der Ehe bis jetzt so hartnäckig sträubte, dafür kann ich doch nichts.« »Du hast recht«, nickte das Fräulein. »Also wollen wir uns nicht weiter mit der Schuldfrage beschäftigen, sondern zusehen, daß wir nun endlich einmal zur Ruhe kommen. Dieses Hangen und Bangen der letzten Zeit war ja kaum noch zu ertragen. Was wirst du nun in der Scheidungsangelegenheit unternehmen?« »Nichts. Das laß ich Albrecht allein besorgen.« Da stand Tante Fritze nun wieder vor einem neuen Rätsel. Es mußte Karola doch viel daran liegen, sobald wie möglich freizuwerden. Ach, Tante Fritze fand sich in dem Wirrwarr überhaupt nicht mehr zurecht! Es kamen nun Tage, die Leid und Kummer brachten. Karola ging still und niedergedrückt umher, und wenn die Tante Winard auch nur erwähnte, dann fuhr die junge Frau so gereizt auf, daß Fräulein Fritze es schließlich ganz unterließ, von dem Arzt zu sprechen. Elard schien vollends die Sprache verloren zu haben und stürzte sich mit einer Verbissenheit in die Arbeit, daß es manchmal schon beängstigend war. Es lag eine Schwüle in der Luft, wie vor einem schweren Gewitter, und Fräulein Fritze wünschte sehnlichst, daß es sich endlich entladen würde. Wenn damit auch vieles vernichtet werden würde, so gab es doch wiederum klare Luft, in der man wieder frei atmen konnte. Aus dem Winardhause ließ sich keiner hören noch sehen. Und als Tante Fritze die junge Ärztin einmal zufällig in der
Stadt traf, verriet diese ihr, daß Albrecht ihr und den Kindern verboten hätte, nach Allhöfen zu fahren. »Das ist ja noch schöner!« entrüstete sich Tante Fritze. »Du bist doch kein unmündiges Kind mehr, daß der Herr Schwager dir so ohne weiteres etwas verbieten kann.« »Da hast du wohl recht«, gab Malve zu. »Aber ich möchte sein Gebot achten, weil ich ihn nicht reizen will. Er sieht nämlich furchtbar aus, Tante Fritze. Sehr gealtert und erschreckend elend ist er. Dazu von einer unnachsichtigen Härte gegen sich und andere. Wir zittern schon, wenn wir ihn nur sehen.« »Das muß ja dann sehr gemütlich bei euch sein«, meinte das Fräulein trocken. »Was machen die Kinder?« »Ach, Tante Fritze, der Jammer der Kleinen ist kaum noch mit anzusehen. Ihre Sehnsucht nach Allhöfen ist einfach erschütternd.« »Kannst du deinen Schwager denn nicht davon überzeugen, wie unrecht er an seinen Kindern handelt, wenn er sie von Karola fernhält?« »Um Gottes willen!« wehrte Malve ordentlich erschrocken ab. »Ich würde es nie wagen, Karola in seiner Anwesenheit nur zu erwähnen. Ich weiß ja überhaupt nicht, was zwischen ihr und Albrecht es gegeben hat.« »So. Du weißt also wirklich nicht, daß er sich von Karola scheiden lassen will?« Malve wurde so blaß, daß Tante Fritze unwillkürlich den Arm um sie legte, um sie zu stützen. »Das – das habe ich allerdings nicht einmal – geahnt«, stammelte sie mit weißen Lippen. »Dann muß Albrecht dahintergekommen sein, daß Karola Herrn Elard liebt.« »Das ist auch meine Ansicht«, nickte das Fräulein. »Tante Fritze – wie schrecklich ist das doch alles! Darüber kommt Albrecht im Leben nicht hinweg.« »Auch Karola macht mir Sorge«, verriet Tante Fritze bekümmert. »Sie geht durch ihre Tage wie ein Mensch, der keine Hoffnung mehr hat. Und dabei ist der Liebste doch ständig in ihrer Nähe. Aber auch er sieht nicht froh und
glücklich aus. Es scheint keiner den Mut zu haben, diesen unerträglichen Zustand ein Ende zu machen.« »Könntest du nicht einmal mit Karola oder Herrn Elard sprechen?« fragte Malve bang. »Nein, Kind, den Mut dazu besitze ich nicht. Ich habe außerdem das Gefühl, daß ich damit alles nur noch schlimmer machen würde. Es gibt Dinge, an die man nicht rühren darf, die unausgesprochen bleiben wollen. Ich kann daher weiter nichts tun, als abwarten. Einer oder der andere wird schon einmal den Weg zu mir finden – und dann erst wird es Zeit für mich sein, helfend und vermittelnd einzugreifen.« Es war kurz vor Weihnachten, als die junge Ärztin ihren Schwager in seinem Arbeitszimmer aufsuchte. Er war in die Arbeit vertieft und schien über die Störung ungehalten zu sein. »Was wünschst du, Malve?« fragte er kurz. »Ich möchte dich bitten, einmal nach Dorli zu sehen, Albrecht. Sie gefällt mir nicht.« »Wie denn – im Betragen oder gesundheitlich?« erkundigte er sich nun schon interessiert. »Sie ißt schlecht und macht einen müden, lustlosen Eindruck.« »Dann wird eine Krankheit in ihr stecken.« »Nein«, widersprach sie nun leise. »Es ist die Sehnsucht nach Karola.« Nun fuhr Winard auf, und Malve sah mit Schrecken, wie tief er erblaßte, wie seine Hand, die auf dem Schreibtisch lag, sich zusammenballte. »Unsinn!« erklärte er schroff. »Karola hat doch wirklich nichts getan, um sich die Zuneigung der Kinder zu erringen. Sie ist im Gegenteil von einer verletzenden Gleichgültigkeit gewesen. Wie sollte ausgerechnet Dorli, die robustere und nüchternere der Mädchen, Sehnsucht nach ihr haben?« »Es ist aber so«, beharrte Malve. »Karola hatte sich in letzter Zeit der Kinder liebevoll angenommen. Sie hängen an ihr
mit zärtlicher Liebe – mehr als an dir, Albrecht. Ihre Mutter ist jetzt ihr alles, und sie sehnen sich krank nach ihr.« »Entschuldige, wenn ich dir das nicht glaube«, lachte er kurz auf. »Das Wunder müßte ich erst mit eigenen Augen sehen.« »Bitte, du brauchst nur zu den Kindern zu gehen, dann werden sie dir selber sagen, wie sehr sie die Mutter vermissen. Vorausgesetzt, daß du nicht gar zu streng mit ihnen bist. Dann wagen sie nämlich nicht so zu sprechen, wie ihnen ums Herz ist.« Winard fuhr herum, als wolle er etwas sagen, winkte dann jedoch achselzuckend ab. »Gut, ich werde mir das Kind ansehen«, erklärte er kurz. Er schritt der Schwägerin voran nach dem Zimmer der Mädchen, die in einem Bett zusammensaßen und dem Vater mit erschrockenen Augen entgegensahen. »Vater, wir haben nichts verbrochen«, flehte Lorli, bevor er noch sprechen konnte. »Ich komme ja auch nicht, um euch zu strafen«, begütigte er freundlich. »Ich will nur einmal Dorli ansehen. Tante Malve meinte, daß sie krank sei.« Er setzte sich auf das Bett und hob die Kleine zu sich auf den Schoß. »Blaß siehst du aus, Kind. Tut dir etwas weh?« sagte er so herzlich, wie er schon lange nicht mehr mit den Kindern gesprochen hatte. »Nein, weh tut mir nichts, Vater.« »Hinter diesen Worten steht jedoch ein großes Aber, Dorli. Willst du es mir nicht auch noch nennen?« Das hellhaarige Köpfchen senkte sich. »Dann schiltst du wieder, Vater – « »Ich verspreche dir, es nicht zu tun, mein Kind, was du mir auch sagen magst.« »Tante Malve hat doch gesagt, daß wir nie über die Mutti sprechen dürfen, wenn du dabei bist.« Es zuckte in dem verhärmten Männergesicht, und es dauerte Sekunden, bis der Mann sprechen konnte.
»Nun hast du es aber doch getan«, sagte er dann ruhig. »Was ist mit der Mutti?« Das Kind sah den Vater forschend an. Und dann mußte es wohl fühlen, daß er es gut mit ihm meinte, denn es legte die Ärmchen zögernd, doch ganz zutraulich um seinen Hals. »Vater, warum dürfen wir nie mehr nach Allhöfen?« »Dorli, das geht doch nicht. Die Mutti will doch nichts mehr von euch wissen.« »Doch!« widersprach das Kind eifrig. »Wir sind jetzt Muttis Kinder. Sie hat uns jetzt ebenso lieb wie Ute. Das hat sie uns selbst gesagt. Und was Mutti sagt, das ist wahr.« Ein Ausdruck tiefer Qual huschte über das Männerantlitz. »Das hat sich jetzt alles wieder geändert«, kam es so müde, so zerquält über die harten Lippen, daß Malve vor Mitgefühl die Tränen in die Augen traten. »Ihr müßt die Mutti vergessen, Kinder, sie gehört nicht mehr zu uns. Aber Dorli«, mahnte er, als das Kind das Gesicht gegen seine Schulter drückte und bitterlich aufweinte. »Gerade dich habe ich immer für vernünftiger gehalten.« »Ich kann aber nicht vernünftig sein – wenn – wenn das hier – drin so weh tut«, zeigte sie nach dem Herzen. »Bei mir ebenso, Vater«, beteuerte Lorli. Die Kinder ahnten nicht, wie sehr sie den Vater quälten. Doch Malve wußte es und versuchte, die Pein zu verkürzen. »Der Vater wird euch gewiß noch einmal nach Allhöfen fahren lassen«, begütigte sie. »Auch wirklich?« forschte Dorli mißtrauisch. »Wirklich«, bestätigte Malve, wobei sie den Schwager nicht anzusehen wagte. Sie wußte wohl, wie sehr sie ihn erzürnte, aber sie konnte die Kinder jetzt nicht ohne Trost lassen. Und er begann auch gleich mit seinen Vorwürfen, als sie allein waren. »Malve, ich verstehe dich nicht«, schalt er unwillig. »Wie kannst du den Kleinen etwas versprechen, das du nicht halten kannst.«
»Du brauchst ja nur zu gestatten, daß die Kinder nach Allhöfen fahren, alles andere werde ich dann schon auf mich nehmen«, beharrte Malve, die heute erstaunlich hartnäckig war. »Sie glauben dir einfach nicht, daß ihnen die Mutter wieder verloren sein soll. Das werden sie erst tun, wenn sie sich selber davon überzeugt haben.« »Als wenn den Kindern das nicht erspart werden müßte! Malve, für so unvernünftig habe ich dich nie gehalten.« Malve lächelte nur. Mochte er nur tüchtig schelten. Das war besser als seine starre Gleichgültigkeit. Einige Tage später ließ der Professor die junge Ärztin in sein Privatzimmer rufen. Obgleich der alte Herr seinem Oberarzt die Leitung des Sanatoriums vollständig überließ, war er bei seinen Unterärzten immer noch erste Respektperson. So betrat Malve denn mit klopfendem Herzen das Zimmer. Zum Professor befohlen zu werden, bedeutete größtenteils nichts Gutes. Doch als sie das wohlwollende Lächeln in dem klugen Antlitz des Mannes sah, war sie beruhigt. »Da sind wir ja, mein liebes Fräulein Doktor«, sagte er, ihr mit herzlicher Gebärde die Hand entgegenstreckend. Dann ein forschender Blick in ihr Gesicht. »Sie sehen mir auch nicht aus, mein Kind, als wenn Ihnen sehr wohl in Ihrer Haut wäre«, meinte er in seiner geraden Art. »Was ist denn eigentlich los? Sie sind blaßschnäbelig wie ein blutarmes Mägdlein, und Freund Winard sieht aus, als wenn man ihm bald die Augen zudrücken müßte, und die Zwillinge, die ich gestern traf, machen den Eindruck, als ob sie nicht satt zu essen bekämen.« Nun mußte Malve lachen. »So schlimm ist es mit uns, Herr Professor?« »Leider, mein Kind. Nun einmal gebeichtet, was ist da drüben in der Villa los?« Nun senkte Malve den Kopf. »Mein Schwager hat sich entschlossen, sich von seiner Frau – scheiden zu lassen – « »Wie -? Was -? Ist er also doch endlich mürbe geworden?«
»Wahrscheinlich, Herr Professor. Denn jetzt war er es, der seiner Frau die Scheidung angetragen hat.« »Himmel und Hölle, der Mann wütet ja gegen sich selbst!« polterte der alte Herr nun los. »Der will sich von seiner Frau trennen – mit dieser Liebe zu ihr im Herzen? Das hält er nicht aus. Da geht er langsam daran zugrunde. Was sagt denn Frau Karola dazu?« »Das weiß ich nicht, Herr Professor. Ich habe sie lange nicht mehr gesprochen, weil mein Schwager eine Verbindung mit Allhöfen nicht mehr wünscht.« »Dann haben Sie auch Fräulein Fritze nicht gesprochen?« »Ja, einmal zufällig auf der Straße. Sie weiß jedoch ebensoviel oder ebensowenig wie ich, da sie sich scheut, mit ihrer Nichte über deren Eheangelegenheit zu sprechen.« »Sieh mal einer an, die Tante Fritze! So viel Zaghaftigkeit hätte ich ihr nicht zugetraut. Und Ihnen auch nicht, mein liebes Fräulein Doktor. Man macht eine Sache doch nicht besser, wenn man sie einfach totschweigt. Wie denken Sie sich das überhaupt? Sollen wir ruhig mit ansehn, wie der Winard sich langsam zuschanden grämt?« »Wenn ich nur einen Ausweg wüßte, Herr Professor.« »Handeln, Kindchen, einfach handeln! Nicht untätig zusehen und abwarten. Der Winard ist uns und seinen Kranken viel zu unentbehrlich, als daß wir ihn missen könnten. Und wenn er es so weitertreibt, dann sackt er uns eines Tages zusammen. Solch einen zermürbenden Gram halten auf die Dauer die stärksten Nerven nicht aus. Also passen Sie einmal auf, Fräulein Doktor: Ich werde nach Allhöfen fahren und mit der jungen Frau ein offenes und ernstes Wort sprechen. Sie muß sich überwinden und zu ihrem Mann zurückkehren.« »Das wird sie nicht – weil sie einen andern liebt.« »Aha!« nickte der alte Herr. »Jetzt kommt langsam Licht in das rätselhafte Dunkel. So ist also die Sache. Wer ist es?« »Herr Elard.« »Hm – die kleine Frau hat keinen schlechten Geschmack.
Ist mir recht sympathisch, der junge Mann, ich wünsche ihm alles Glück der Erde. Aber auf die Karola muß er verzichten. Die hat Pflichten gegen ihren Mann, seine Kinder und die eigne Tochter. Das muß ihr nur nachdrücklich klargemacht werden. Geht Ihnen das ein, Fräulein Doktor?« »Nein, Herr Professor. Ich traue Karola wohl so viel Pflichtgefühl zu, daß sie verzichten und zu ihrem Mann zurückkehren würde. Aber damit wäre ihm gar nicht gedient. Denn gerade die Erkenntnis, daß seine Frau ihn nicht mehr liebt, hat meinen Schwager veranlaßt, die Scheidung von Karola von sich aus zu betreiben.« Eine Weile war es still zwischen ihnen. Der Professor ging im Zimmer auf und ab. »Tja«, meinte er dann, endlich vor Malve stehenbleibend. »Das ist allerdings eine trübe Geschichte. Und doch darf man die Hoffnung nicht aufgeben. Ich tue es jedenfalls nicht früher, als bis ich mit Frau Karola gesprochen habe.« So kam es denn, daß der alte Herr nach Allhöfen fuhr. »Bringen Sie Grüße vom Weihnachtsmann?« begrüßte Fräulein Fritze den Gast, der zum erstenmal ihr Haus betrat, herzlich. »Wollen mal sehen, Tante Fritze«, schmunzelte er. »Dazu muß ich jedoch erst Frau Karola sprechen.« »Ist im Winardhaus etwas passiert?« »Nein, Sie brauchen nicht so ängstliche Augen zu machen. Den Verhältnissen nach geht es dort ganz gut. – Ah, da sind wir ja schon«, wandte er sich an Karola, die eben eintrat. »Haben Sie ein Stündchen zu einem Plausch mit mir übrig, kleine Frau?« »Gern, Herr Professor.« Sie ging ihm voran in das Besuchszimmer, wo sie Platz nahmen. Karola flimmerte es vor den Augen, so sehr erregt war sie. »Nun, nun«, beschwichtigte der alte Herr, der ihr die Erregung ansah. »Es wird schon nicht so arg werden, Frau Karola. Nehmen Sie an, Ihr Vater säße hier vor Ihnen, um
ein vertrauliches Wort mit Ihnen zu reden. So gut meine ich es nämlich mit Ihnen. Und daher will ich auch nicht lange Vorreden halten, sondern Ihnen klipp und klar erklären, daß man Sie im Winardhaus no nötig braucht wie die liebe Sonne. Ihr Gatte macht mir die größte Sorge. Wenn das so weitergeht, dann kann er nicht mehr lange seinen anstrengenden Beruf ausüben – so fertig ist er. Und nun, liebe Frau Karola, frage ich Sie auf Ehre und Gewissen: Können Sie es vor sich selbst verantworten, einen so prächtigen, tüchtigen Menschen wie Ihren Gatten zugrundegehen zu lassen? Ist es nicht Ihre einfachste Pflicht, da helfend einzugreifen – auch wenn Sie ein Opfer damit bringen müßten? Glauben Sie, kleine Frau, es ist nicht immer die Erfüllung eigner Wünsche, was den Menschen glücklich macht. Das Gefühl, andern Menschen nötig zu sein wie Sonne und Licht, ist doch auch schon Glückes genug. Und Ihr Gatte ist es wirklich wert, daß Sie ihm ein Opfer bringen«, sprach er behutsam weiter, als er es in dem zarten Antlitz zucken und beben sah. »Ich schätze ihn, wie sobald keinen andern Mann – nicht nur als Arzt, sondern auch als Menschen. Er ist mir ans Herz gewachsen wie ein eigner Sohn, auf den ich habe verzichten müssen. Und so gern wie einem Sohn habe ich ihm auch mein Werk in die Hände gelegt, weil ich genau weiß, daß kein anderer als er in der Lage ist, es in meinem Sinne weiterzuführen. Jahrelang habe ich nach diesem Nachfolger gesucht, und nun ich ihn endlich gefunden habe, soll er mir wieder verlorengehen?« Karola hatte ihn ungehindert sprechen lassen. Nun er schwieg, hob sie den Blick. »Geben Sie sich keine Mühe, Herr Professor. Mein Mann hat mich doch von sich gewiesen.« »Aber, aber!« unterbrach der alte Herr sie mit nachsichtigem Lächeln. »So kraß wollen wir das doch nicht sehen. Es ist mir wohl bekannt, daß er Ihnen jetzt die Scheidung anbot, nachdem er sich so lange dagegen gesträubt hat. Doch haben Sie auch schon zu ergründen
versucht, aus welcher Veranlassung heraus er Ihnen dieses Anerbieten gemacht hat? Sie schütteln den Kopf – also stimmt meine Vermutung schon. Und daher müssen Sie erst einmal seinem Verhalten, das Sie verletzt hat, auf den Grund gehen, bevor Sie den Schlußstrich ziehen. Wollen Sie mir das versprechen, Frau Karola?« »Herr Professor, nein – das kann ich nicht!« wehrte sie sich entschieden. »Mein Mann würde mich ja gar nicht anhören, mich vielleicht nicht einmal vorlassen. Sie haben ja keine Ahnung, wie hart und unerbittlich er sein kann.« »Sie müssen es aber versuchen«, beharrte der alte Herr. »Sprechen Sie sich erst einmal mit ihm aus – restlos, ohne Vorbehalt. Oder will es der Trotz nicht zulassen, daß Sie sich dem Mann, der Ihnen die Trennung anbot, noch einmal nähern?« »Ach, der spielt schon lange keine Rolle mehr«, wehrte sie müde ab. »Ich werde auch Ihren Rat befolgen und meinen Mann zu sprechen versuchen. Dann weiß ich wenigstens, woran ich bin und brauche mir nicht das Hirn mit Fragen zu beschweren, die ich mir selber ja doch nicht beantworten kann.« »Das ist tapfer, das freut mich wirklich«, nickte der alte Herr. »Sie sind also doch so, wie ich Sie eingeschätzt habe – und das macht mich ordentlich glücklich. Und nun mache ich Ihnen noch einen Vorschlag: Kommen Sie gleich mit mir. So wichtige Dinge soll man nicht auf die lange Bank schieben.« Auch damit war Karola einverstanden. Sie sagte ihrer Tante Bescheid, die ihren Entschluß nicht genug preisen konnte, und fuhr mit dem Professor zur Stadt. Zuerst war sie auch recht tapfer. Doch als sie die weiße Villa betrat, zitterten ihr die Beine so sehr, daß sie Mühe hatte sich aufrechtzuhalten. Auf Albrechts Aufforderung betrat Karola sein Arbeitszimmer. Er saß am Schreibtisch, der mit Papieren bedeckt war. »Leg das Buch nur hierher, Malve«, sagte er, ohne sich
umzuwenden. »Albrecht, ich bin es.« Da fuhr er herum und stand mit einigen Schritten vor ihr. »Karola, ich habe dich doch gebeten, nicht mehr hierherzukommen«, sagte er mit heiserer Stimme. »Bitte, geh! Ich kann eine lange Auseinandersetzung nicht mehr ertragen!« Karola sah vor sich das verhärmte Männerantlitz, sah die weißen Haare an den Schläfen – und mußte sich zusammenreißen, daß sie vor Erschütterung nicht weinte. »Albrecht – du mußt mich anhören!« »Nein, Karola. Ich kann und will nicht. Ich zürne dir nicht, bin dir auch nicht gram – ich will dich nur nicht mehr sehen.« »Albrecht, weißt du eigentlich, wie beleidigend du bist?« fragte sie jetzt tapfer, obgleich seine eisige Haltung einschüchternd genug wirkte. »Du mußt mir jetzt endlich erklären, warum du mich plötzlich nicht mehr sehen willst.« »Das fragst du noch – das kannst du wirklich fragen?« sagte er nun mit so kalter Ruhe, daß sie erschauerte. »Weil du mich betrogen hast, seit Jahr und Tag betrogen! Und ich Narr hatte auf deine Treue gebaut. Auf deine Liebe nicht – aber auf deine Treue.« Er sah wohl, wie sie zusammenzuckte, wie jeder Blutstropfen aus dem zarten Antlitz wich. Aber er sprach weiter, immer weiter in dieser unheimlichen Ruhe: »Als ich nach meiner Reise dich in Allhöfen besuchen wollte, sah ich dich mit dem – andern. Und wenn alles andere nicht stark genug war, mich unterzukriegen – dieser Anblick, dich Kopf an Kopf mit dem andern zu sehen, dein Lachen, deine vertrauten Worte zu hören, das alles brachte es mit einem Schlage zuwege! Ich will ja nun deinem Glück nicht im Wege stehen, Karola, denn die wahre Liebe will ja doch immer das Glück des geliebten Wesens. Daher will ich ja auch auf dich verzichten. Nur sehen will ich dich nicht mehr – wenigstens längere Zeit nicht. Ist das denn
zuviel verlangt?« Karola war dieser ruhigen, fast monotonen Erklärung mit wachsendem Befremden gefolgt. Und auch nachdem er geendet hatte, schüttelte sie immer noch verständnislos den Kopf. »Willst du jetzt nicht gehen, Karola? Du sollst ja deinen Elard haben.« »Wen?« rief die junge Frau. »Elard?« Doch dann begann sie endlich zu begreifen. Sollte es wirklich möglich sein, daß der sonst so scharfsichtige Mann annahm… Sie trat auf ihn zu und legte die Hände auf seine Schultern. »Nein, Albrecht, du wirst mich nicht früher los, als bis ich ganz klar sehe«, sagte sie fest, als er den Kopf zur Seite wandte und ihre Hände abzustreifen suchte. »Laß mich doch endlich, Karola, ich bin doch auch nur ein Mensch«, stöhnte er gequält. »Was hast du davon, wenn ich nun die Beherrschung verliere und jetzt tue, wozu mein Herz mich treibt? Soll ich mich denn immer mehr vor dir demütigen?« »Albrecht, weißt du, was du bist? Blind!« »Erlaub mal, Karola!« »Blind vor Liebe und Eifersucht«, sprach sie seelenruhig weiter, wobei der Schalk aus ihren Augen nur so blitzte. »Sonst hättest du nämlich sehen müssen, daß Elard mir ein lieber Kamerad ist – nichts weiter. Sein Herz und mein Herz verlangen nach ganz anderen Menschen. Das seine nach Irene Fahrleit, das meine nach – dir-, du sonst so schlauer Mann.« Weiter kam sie nicht, denn ihr Mund war fürs erste von einem anderen verschlossen. Sie konnte sich nicht rühren, so fest hielten die Männerarme sie umschlossen. »Nun laß mich endlich los«, wehrte sie sich dann energisch. »Damit ich dir sagen kann, wie große Arbeit es gekostet hat, die eigenwillige Irene dem nicht weniger eigenwilligen Elard zuzuführen. Sie ist reich, er ist arm. Er will ihr Herr sein, sie will das nicht anerkennen. Wollte es
wenigstens lange Zeit nicht. Bis sie in ihrer Liebe ganz klein wurde und demütig. Vor einigen Tagen hat sie Elard zu sich gerufen, der natürlich sofort zu ihr eilte. So werden sie wohl in nächster Zeit zu den Eltern kommen und Irene wird ihnen den dritten Schwiegersohn ans Herz legen, der kein Arzt ist.« »Karola, du bist einfach unwiderstehlich in deinem Übermut«, sagte der Mann überwältigt. »So kenne ich dich ja noch gar nicht.« »Du kennst mich überhaupt erst wenig«, entgegnete sie nun tiefernst. »Sonst hättest du wissen müssen, daß alles, womit ich dich in letzter Zeit verletzte und kränkte, nur Notwehr war. Ich wollte eben nicht einsehen, daß wir zusammengehören, daß eins ohne das andere niemals glücklich sein kann. Bis auch ich ganz klein wurde.« »Und warum, Liebstes?« bettelte er wie ein Knabe. »Warum hast du nun endlich zu mir zurückgefunden? Sag’s mir doch, wonach ich mich krank gesehnt habe.« Ganz fest zog er das schöne, lachende Geschöpf in seine Arme, ganz nahe war ihm der junge Mund, der nun leise, zärtlich die Worte sprach, die für den Mann das höchste Glück bedeuteten: »Weil es mein Herz verlangt.« »Hm – hm! Also die Karola bleibt heute in ihrem neuen Heim?« schmunzelte Fräulein Fritze am Fernsprecher. »Somit wäre alles in Ordnung?« »In tadelloser Ordnung sogar, Tante Fritze!« kam eine lachende Männerstimme vom anderen Ende. »Sieh mal an, der Herr Doktor kann ja auch herzlich lachen. Da soll noch einer daran zweifeln, daß die Liebe eine Zaubermacht ist! Aber recht so, mein Sohn, so gefällst du mir entschieden besser. Behalte deine Karola nur bei dir, das ist mir sehr lieb, weil ich närrisch verliebte Leute jetzt nicht gebrauchen kann. Es sind nur noch wenige Tage bis Weihnachten. Und wenn man da so unerwartet ein halbes Dutzend Kinder mehr zum Beschenken kriegt, dann gibt es Arbeit, bei der man nicht gestört sein will. Aber
morgen kommt ihr zu mir, mit Kind und Kegel, verstanden?« So kam denn am nächsten Tage eine so lustige Gesellschaft zusammen, wie sie das Herrenhaus von Allhöfen wohl selten beherbergt hatte. Alle waren sie gekommen, sogar Fräulein Dotz und Frau Boseit, die zuerst sehr ärgerlich war. Als jedoch keiner ein böses Wort für sie hatte, wurde sie langsam froher. Und mitten in dem fröhlichen Treiben tummelte sich die kleine Ute. Selbst die gestrenge Erzieherin blieb von den Zärtlichkeiten, mit denen das kleine Sonnengeschöpf im Familienkreis nicht geizte, nicht verschont. Ohne Scheu kletterte das Kind auf den Schoß der würdigen Dame, fuhr unbekümmert mit den ungeschickten Patschhändchen in die kunstvoll hergerichtete Frisur und drückte ihr Mäulchen auf die hagere Wange. Man hielt den Atem an vor Spannung, wie das gestrenge Fräulein diese Vertraulichkeit wohl aufnehmen würde. Und man konnte es kaum fassen, als sie glücklich dazu lachte, dieses abgehackte, ein wenig heisere Lachen, es ließ jedoch vermuten, daß die Erzieherin nicht so verknöchert war, wie es schien. Ute hatte jedenfalls dieses spröde Altjungfernherz im Sturm gewonnen, was hauptsächlich Tante Fritze sehr in Ordnung fand. Die Hausherrin hatte zuerst nicht so recht froh werden können, weil sie immer noch annahm, daß die Liebe Winards, die ihm heute nur so aus den Augen strahlte, einseitig sei. Als Karola jedoch mit spitzbübischem Lächeln von Irene Fahrleit und Elard erzählte, da lachte Fräulein Fritze sich selber aus. »Da nimmt man immer an, daß man nicht auf den Kopf gefallen ist«, bemerkte sie mit schönster Offenheit. »Und nun muß man dahinterkommen, daß man sogar ein Brett davor hat. Du also warst die Vertraute Elards, Karola, und hast das eigensinnige Pärchen zusammengebracht?« »Ja, Irene ist nämlich meine beste Pensionsfreundin. Sie
schrieb mir ihren Liebeskummer. Elard erzählte mir den seinen – ohne daß ich zuerst die Namen der betreffenden Partner kannte. Es war sehr lustig, als ich dahinterkam.« »Und weshalb wußte ich nichts davon?« »Weil ich den beiden das Wort gegeben hatte, über ihre Liebesgeschichte zu schweigen, Tante Fritze.« »Hm – dann allerdings. Und wie gelang es dir nun, die verstockten Gemüter zu erweichen?« »Ich kannte beide und wußte, wo ich hinterhaken mußte. Daß jedoch der Irrtum aufkommen konnte, Elard und ich liebten uns, finde ich zu spaßig.« »Uns war es weniger spaßig zumute«, bemerkte Tante Fritze trocken. »Hast uns Kummer genug gemacht. Und ich, die ich allein bleiben wollte, habe plötzlich eine große Familie, deren Mitglieder mir noch so mancherlei zu schaffen machen werden, wie ich so dunkel ahne.« Dabei lachte ihr die Freude nur so aus den Augen, als sie den Blick über die stattliche Tischrunde schweifen ließ. Überall sah sie in frohe, glückstrahlende Gesichter. Und wenn sie bisher auf die Stunde gewartet hatte, Frau Boseit so mancherlei zu sagen, so unterließ sie es jetzt, da diese Stunde nun da war. Zuletzt blieb Tante Fritzes Blick an den jungen Gatten haften. Was für schöne, stolze Menschenkinder das doch waren! Wenn sie noch erleben könnte… Und Tante Fritze erlebte es. Als im kommenden Jahr die Herbststürme das Herrenhaus von Allhöfen umtobten, wurde darin ein kleiner Knabe geboren, dessen Erscheinen unbeschreibliches Glück hervorrief. Außer dem Vater umstanden die Familienmitglieder staunend das Babybettchen, in dem der so hochwillkommene kleine Erdenbürger schlief. Selbst Fräulein Dotz war noch da. Sie hatte ihr Herz nämlich so sehr an die kleine Ute gehängt, daß Karola es nicht fertigbekommen hatte, das liebearme, alte Mädchen, das so einsam in der Welt stand, aus ihrem Hause zu entfernen. Die Zwillinge wurden da jetzt so durch Liebe
verwöhnt, daß die Strenge ihrer Erzieherin nur ausgleichend wirken konnte. Außerdem war sie jetzt viel nachsichtiger, die kleine Ute hatte das spröde Altjungfernherz ganz und gar umgekrempelt. Ute und Karola – das waren die beiden erklärten Lieblinge der würdigen Dame. Und wenn das kleine Mädchen einer Strafe entgehen wollte, dann brauchte es nur zu Fräulein Dotz zu flüchten, die trat wie ein Zerberus für sie ein. Ja, sie waren alle glücklich geworden, die Bewohner des Winardhauses, in dem sie sich allerdings recht wenig aufhielten. Ihre eigentliche Heimat war Allhöfen; um Tante Fritze scharten sich alle. Sie hatten im Herrenhaus alle ihre eigenen Zimmer, die selten leer standen. Selbst Winard und die junge Ärztin suchten nach ihrer angestrengten Tagesarbeit nicht die weiße Villa auf, sondern kamen meistens nach Allhöfen. Wenn sie im Sanatorium außer ihrer Dienstzeit nötig waren, so erreichten sie es mit dem Auto in einigen Minuten. Im Herrenhause von Allhöfen war auch der kleine Knabe geboren - so hatte Tante Fritze es gewünscht. Jetzt stand sie vor ihm, und ihre Blicke bohrten sich förmlich in das kleine Gesicht. »Das ist ein Hiltmer«, sagte sie endlich mit einer Stimme, die nicht ganz klar klang. »Der wird Karolas Vater nachschlagen.« »Ja, von Albrecht hat er nichts«, bestätigte Malve, die mit glücklichem Lächeln auf den Knaben schaute. »Ich habe ihn jetzt schon so lieb, als wäre er mein eigener«, bekannte sie leise. »Das sieht dir ähnlich«, gab Tante Fritze ebenso leise zurück. »Du etwa nicht? Hast du Karola nicht auch nur so lieb, weil sie das Kind des Mannes ist, dem einst dein Herz gehörte?« »Malve – wie hast du das herausgekriegt?« fragte das Fräulein fassungslos – und da lachte die junge Ärztin hellauf. »Laß nur, Tante Fritze – ich weiß es eben. Und da ich keine
Schwatzliese bin, ist dein Geheimnis gut bei mir aufgehoben.« »Na ja«, brummte Tante Fritze und ging dann leise in das Nebenzimmer, wo Karola lag. Albrecht saß bei ihr und streichelte immer wieder ihre Hände, die so zart und fein auf der Decke lagen. »Karola, ich bin heute der glücklichste Mann der Welt«, sagte er eben mit weicher Stimme. »Mir wird manchmal angst vor dem grenzenlosen Glück, das du mir gibst.« »Ach, Albrecht, das ist ja Unsinn!« lachte Karola ihn an, die erstaunlich munter war. »Unsere Liebe kann uns doch keine Macht der Erde nehmen. Und eine höhere Gewalt – « »Nun rede schon nicht davon«, fiel ihr Tante Fritze, die leise an das Bett getreten war, in ihrer poltrigen Art ins Wort. »Sieh dir mal diesen großen Jungen hier an, der ist müder und blasser als du. Das will nun ein Arzt sein! Er hat sich in den letzten Stunden so unvernünftig betragen, wie es nur anging.« »Du warst wohl sehr ruhig, Tante Fritze, wie?« fragte Winard lächelnd. »Wie bin ich froh, daß alles vorüber und Karola so munter ist! Dazu habe ich jetzt noch einen Jungen, der mein Werk weiterführen wird.« »Halt, halt!« fiel Tante Fritze energisch ein. »Den nächsten Jungen, den kannst du zu deinem Nachfolger heranbilden. Doch dieser gehört mir und Allhöfen. Und wenn ihr wissen wollt warum: Weil es mein Herz verlangt.« -ENDE-