GOLDMANNS WELTRAUM TASCHENBÜCHER Band 0114 Philip E. High • Verbotene Wirklichkeit
Über diesen Roman: Wieder ist durch...
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GOLDMANNS WELTRAUM TASCHENBÜCHER Band 0114 Philip E. High • Verbotene Wirklichkeit
Über diesen Roman: Wieder ist durch die technische Entwicklung ein neues Ziel erreicht: Wissenschaftler haben ein Gerät erfunden, mit dessen Hilfe sich der Mensch jeden Wunsch, jeden Traum erfüllen kann – die Phantasie wird zur Wirklichkeit. Aber das Gerät ist gefährlich. Die Menschen vergessen ihre Umgebung, ihre Familie, ihr Leben, um sich eine Traumwelt zu schaffen, die allein Realität besitzt. Sie werden süchtig – schlimmer als durch Alkohol oder Rauschgift. Nur die Immunen, die den Verlockungen des Geräts nicht erliegen, erkennen die Gefahr. Deshalb wird jeder, der im Besitz eines solchen Gerätes angetroffen wird, von ihnen getötet. Ein einziges Land ist noch frei. In einem Land können die Menschen soviel träumen, wie sie wollen …
PHILIP E. HIGH
Verbotene Wirklichkeit Utopisch-technischer Abenteuerroman
WILHELM GOLDMANN VERLAG MÜNCHEN
Dieses Buch wird unter der Bedingung verkauft, daß es ohne Zustimmung des Verlages weder in Leihbibliotheken eingestellt noch gewerbsmäßig weiterverkauft; vermietet oder auf ähnliche Weise genutzt wird. Die vom Verlag gewählte Ausstattung darf weder durch einen festen Einband noch durch einen besonderen Umschlag noch in sonstiger Weise verändert werden.
Ungekürzte Ausgabe • Made in Germany • I © 1967 by Philip E. High. © 1970 der deutschen Übersetzung by Wilhelm Goldmann Verlag, München. Titel des englischen Originals: Reality forbidden. Ins Deutsche übertragen von Tony Westermayr. Herausgegeben unter wissenschaftlicher Beratung von Dr. Herbert W. Franke. Alle Rechte, auch die der fotomechanischen Wiedergabe, vorbehalten. Jeder Nachdruck bedarf der Genehmigung des Verlages. Umschlagentwurf von Eyke Volkmer. Gesetzt aus der Linotype-Garamond-Antiqua. Druck: PresseDruck- und Verlags-GmbH. Augsburg. WTB 0114 • sp/Ga
1 Der alte Mann war gastfreundlich, wirkte aber ein wenig verschroben. Er setzte ihnen eine geschmacklose Mahlzeit aus ungewürzten Kompreßwürfeln und ungesüßtem Kaffee vor. »Sie sind Flieger, sagen Sie?« »Ja.« Gilliad war höflich, aber zurückhaltend. »Wir sind im Wald abgestürzt.« Der alte Mann schüttelte langsam den Kopf. »Flieger sehen wir heutzutage nicht viele, nicht in dieser Provinz. Ich habe von ihnen gehört, ja, aber nie einen gesehen – das ist doch eine Art Maschine, das Ding, in dem Sie geflogen sind?« »Ja, es ist eine Maschine«, sagte Kendal leise. »Seltsam.« Der weiße Kopf bewegte sich wieder hin und her. »Früher bin ich auch geflogen, manchmal stundenlang, aber nicht in einer Maschine. Jetzt bin ich leider zu alt dafür. Wenn man zu alt wird, verliert man das Interesse.« Er verstummte und schlürfte geräuschvoll seinen Kaffee. »Und das Haus haben Sie durch die Bäume gesehen, sagen Sie?« Gilliad nickte. »Wir haben das Licht gesehen.« »Ah ja, das Licht.« »Ein großes Haus«, meinte Kendal. »Groß und einsam.« »Groß, ja.« Die Tasse kehrte schwankend auf den Unterteller zurück. »Einsam nicht. Sie sind alle hier, aber manchmal kann ich keine Störung vertragen, ein paar reden so viel.« Er wischte sich den Mund sorgfäl5
tig mit einem unsauberen Tuch ab und starrte die beiden mit hellen, wäßrigen Augen an. »Wohin wollen Sie jetzt?« »Zur nächsten Stadt, um Hilfe zu holen.« Kendal sah ihn an. »Stadt? O ja, das wäre Dunsten, vier Kilometer von hier. Sie können zu Fuß hinkommen.« »Gibt es kein Verkehrsmittel?« »Nein, hier läßt sich nie jemand sehen.« »Dann müssen wir eben gehen.« Kendal stand auf. »Danke für das Essen, für Ihre Gastfreundschaft.« »Nichts zu danken, ich habe noch nie Flieger kennengelernt.« Er erhob sich unsicher. »Ich führe Sie hinaus.« »Wir finden schon alleine hinaus, danke.« »Oh, das können Sie nicht. Sie finden alleine herein, aber nicht hinaus, wenn ich Ihnen den Weg nicht zeige.« »Kommt es darauf an?« »Natürlich kommt es darauf an.« Der alte Mann sprach plötzlich schrill und gereizt. »Es gibt einen Weg herein und einen hinaus, einen zum Eintreten und einen zum Fortgehen. Das ist die Ordnung der Dinge, und wir müssen uns daran halten.« Gilliad, der hinter ihm stand, sah Kendal von der Seite an und tippte sich an die Stirn. »Hier.« Der alte Mann öffnete eine Tür in der Rückwand des Raumes. Sie folgten ihm durch einen langen, gewundenen Korridor, in dem es viele Türen gab. An einer der Türen stand, wie Kendal bemerkte, die Aufschrift: ›Ehefrau – Julie‹. Auf einer anderen ›Doris‹ ohne zusätzliche Bezeichnung. Der Korridor machte wieder eine Biegung, und der alte Mann blieb stehen. 6
»Bleiben Sie hier auf der linken Seite, im dritten Zimmer ist ein Tiger.« Gilliad sah Kendal an und zog verzweifelt die Brauen hoch. Als er die Tür mit der Aufschrift ›Tiger‹ erreichte, stieß er verächtlich mit der Fußspitze daran. Man hörte ein Fauchen, und Gilliad schrie auf. Er warf sich nach hinten und schlug die Hände vors Gesicht. »Um Gotteswillen«, stieß er hervor. Unter seinem linken Auge zeigte sich eine Rißwunde, aus der Blut rann. Der alte Mann trat vor. »Ich habe Sie gewarnt. Es tut mir sehr leid, aber ich habe Sie gewarnt.« Er beugte sich vor und betrachtete die Wunde. »Sie ist nicht tief, und Tim hat ganz saubere Krallen, da kann ich Sie beruhigen.« »Ein Tiger im Schlafzimmer.« Gilliad schoß die Zornröte ins Gesicht. »Sie müssen verrückt sein, ein Tiger im Schlafzimmer –« Kendal gab ihm einen Tritt an den Knöchel. »Sei bloß still, du weißt, warum wir hier sind.« Gilliad ballte die Fäuste, gewann aber langsam die Fassung wieder. »Tut mir leid – aber wer hätte das gerade hier erwartet?« »Niemand«, sagte Kendal trocken. »Wir sind in Kanada, nicht in Bengalen.« »Du willst doch wohl nicht behaupten –« »Ich behaupte gar nichts. Wir sind hergekommen, um das festzustellen. Es könnte sich um eine Manifestation handeln.« »Quatsch Manifestation! Ich habe ihn gesehen, und er hat mich im Gesicht gekratzt.« »Schon gut, schon gut, du bist ja auch ein Anfälliger.« Gilliad wurde blaß. 7
»Könnte das – heißt das –?« »Das wissen wir nicht, nicht wahr? Man hat uns ja so wenig gesagt. Wir wissen nur über die Tatsache als solche Bescheid. Die Nebenwirkungen und die eigentliche Funktion sind uns nie erklärt worden.« »Hier.« Der alte Mann schien den Zwischenfall bereits vergessen zu haben und öffnete die Tür. »Sie brauchen nur den Weg zwischen den Bäumen zu nehmen, dann erreichen Sie die Straße. Rechts geht es nach Dunsten.« Im Freien war es kalt, die Dämmerung brach an, am östlichen Himmel zeichneten sich die Umrisse der Bäume ab. Die beiden Männer fröstelten, als sie den schmalen Weg entlanggingen – aber nicht allein der Kälte wegen. Als sie die Straße erreichten, zeigte sich sofort, daß sie seit Jahrhunderten nicht mehr benützt worden war. Sie führte schnurgerade in die Ferne, rissig und von Unkraut überwachsen. Gilliad schaute sich bedrückt um. »Vier Kilometer, was? Das dürften eher vierhundert sein – in welcher Richtung?« »Nach Westen, wenn wir dem Alten glauben wollen.« »Hoffentlich hat der alte Knacker recht. Gehen wir.« Sie machten sich auf den Weg, aber bevor sie hundert Meter zurückgelegt hatten, tauchten hinter den Bäumen ganz unauffällig zwei Männer auf und schlossen sich ihnen an. Sie trugen derbe Kleidung. Beide schienen nicht bewaffnet zu sein, aber sie hatten etwas Amtliches an sich. Der größere der beiden zündete sich eine klobige Pfeife an und betrachtete Kendal von der Seite. »Haben Sie ein bestimmtes Ziel?« »Äh –« Kendal zögerte. »Äh – ja, wir gehen nach Dunsten.« 8
»Woher sind Sie?« »Wir kommen von der anderen Seite der Provinz – aus dem Osten.« »Was haben Sie dort gemacht?« »Wir sind geflogen. Unsere Maschine ist abgestürzt.« »Sie haben also vier Stunden im Irrenhaus verbracht, bis es hell geworden ist?« »Irrenhaus?« Gilliad sah ihn verständnislos an. Der große Mann nahm die Pfeife aus dem Mund. »Der alte Pitcher ist verrückt. Süchtiger dritten Grades. Wir verfrachten unsere Verrückten in die Wildnis.« Er seufzte. »Bei uns gibt es zuviel Platz.« Er verstummte, klopfte die Pfeife an einem Ast aus und steckte sie in die Tasche. »Wohin wollen Sie, sagten Sie?« Gilliad starrte ihn finster an. »Sie stellen ziemlich viele Fragen, finden Sie nicht?« »Tue ich das?« Der Mann lächelte schwach und zog etwas aus der Tasche. »Kommissar Osterly vom Geheimdienst Ontario – zufrieden?« »Wir haben nichts getan, wir –« »Ich möchte wissen, wohin Sie wollen.« »Das haben wir Ihnen doch gesagt, nach Dunsten.« »Ihre Karten sind ein bißchen veraltet – ich kann Ihnen zeigen, wo das einmal gewesen ist.« Er schob die leere Pfeife zwischen die Zähne. »Und Sie kommen aus dem Osten?« »Ja.« Gilliad sah ihn mürrisch an. »Unser Flugzeug ist abgestürzt, wissen Sie, und –« »Ah ja, das Flugzeug. Das haben wir uns angesehen, bevor wir hergekommen sind, sehr interessant. In unserer Provinz wird nicht geflogen, aber wir verstehen ein bißchen was von Metallen – warum so viele Materialschwächen?« 9
»Materialschwächen?« Kendal spürte, wie das Blut aus seinem Gesicht strömte. »Ja, wir haben uns, wie gesagt, das Wrack angesehen. Wir fanden einen zusammengeschmolzenen Klumpen Metall, der mal ein Schwerkraftabweiser gewesen sein könnte, und eine Vielzahl von Gefügedefekten, die bei einem schon geringen Anstoß zur Zerstörung des Geräts führen mußten. Unsere Meinung ist folgende: Wir sehen Sie wie eine Feder in einem Schwerkraftabweiser-Gerät schweben. Als Sie die Baumwipfel berührten, brachen jedoch die ganzen Einzelteile auseinander, wie vorgesehen. Als Absturz wirkte das ziemlich glaubhaft, auch wenn der Schwerkraftabweiser Sie ungefährdet heruntergebracht und sich bei der Landung selbst zerstört hat. Als Sie aus dem ›Wrack‹ kletterten, legten Sie zur Vorsicht noch ein paar Bäume um, aber es ist nicht zu übersehen, daß das Fluggerät nicht für eine Rückkehr gedacht war. Haben Sie dem noch etwas hinzuzufügen oder wollen Sie mich weiterhin für dumm verkaufen?« Kendal sagte gepreßt: »Sind wir festgenommen?« »Sie können es Schutzhaft nennen, wenn Ihnen dann wohler ist.« Er lächelte schief. »Jedenfalls bringen wir Sie zur Einvernahme.« »Mit welcher Begründung?« »In dieser Provinz gibt es keine Flugmaschinen, ob Osten, Westen oder Süden. Sie sind also von außerhalb gekommen. Niemand verläßt diese Provinz, niemand kommt herein – Sie sind Spione.« »Nein, wir –« »Noch dazu ganz armselige Spione. Ihr Geheimdienst ist fünftklassig, Ihre Landkarten sind veraltet, und Ihr Akzent verrät Sie sofort – Sie sind Engländer.« 10
Die beiden Männer sahen einander an, dann zuckte Kendal die Achseln. »Na gut, wir sind Engländer, aber wir wollen hier nicht spionieren, nicht im militärischen Sinn. Wir leben nicht im Krieg mit Ihrem Land.« »Stimmt das tatsächlich? Seit hundertfünfzig Jahren hat es keinen Kontakt mehr gegeben. Wozu sind Sie hier?« »Wir –« Wieder zögerte Kendal. »Wir sind Beobachter. Man hat uns hergeschickt, damit wir nach einer möglicherweise überlebenden Zivilisation suchen.« »Aber Sie schleichen sich ein wie Spione.« »Wir wußten nicht, was uns erwartet, welchen Empfang man uns bereiten würde.« »So?« Osterly stopfte sorgfältig seine Pfeife. »Sie sind wohl nicht sehr beliebt, wie? Ein Ausflug ins Ungewisse ohne Rückfahrkarte scheint mir ein ziemlich verzweifelter Weg.« »Mag sein.« Gilliad hob die Schultern. »Politisch waren wir erledigt. Wir hatten den falschen Politiker unterstützt.« »Pech.« Osterly sog an seiner Pfeife und zündete sie an. »Trotzdem, wenn man Ihnen die Wahl gelassen hat, was man aus den Antworten erraten kann, muß man Ihnen doch auch irgendein Gerät zur Übermittlung von Informationen gegeben haben.« »Hm – ja.« »Bevor Sie es aushändigen – was hätten Sie ermitteln sollen?« »Wir wollten wissen« – Kendal geriet sichtlich ins Schwitzen – »ob eine funktionsfähige Kultur besteht und welche Methoden sie angewendet hat, um die Maschine zu unterdrücken.« 11
»Maschine? Sie meinen die Wunschmaschine?« Er starrte sie an und brach plötzlich in Gelächter aus. »Du lieber Himmel, Mann, die ist hier erlaubt.«
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2 »Erlaubt!« Kendal blieb wie angewurzelt stehen. »Gesetzlich erlaubt?« Er starrte Osterly ungläubig ins Gesicht. Der Mann mußte verrückt sein, oder er hatte seine Frage nicht verstanden. »Die Wunschmaschine – erlaubt?« Osterly schüttelte verwirrt den Kopf. »Kaufen Sie sich selbst eine, wenn wir in der Stadt sind.« Kendal bewegte den Kopf, als wolle er Nebel verscheuchen. Erlaubt! Hier mußten alle wahnsinnig sein, Süchtige dritten Grades; Zivilisation und die Maschine konnten nicht gemeinsam existieren, das lehrte die Geschichte. Allein in England hatte es in elf Monaten acht Millionen Tote gegeben, Mord, Selbstmord, Aufruhr. Daher die M-Polizei, die Spürtrupps. – Kaufen! Erlaubt! Er sagte vorsichtig: »Sprechen wir vom selben Thema?« »Ich denke schon, nur nennen wir sie Traummaschinen.« Kendal lehnte sich an einen Baum. »Ich kann das einfach nicht fassen. Erlaubt! Für meine Ohren klingt das wie – verzeihen Sie – wie Blasphemie.« Osterly paffte Rauch aus dem Mundwinkel. »Hören Sie mal, Freund, England hat sich erhoben und hat gekämpft, stimmt’s? Und gewonnen, ja? Aber wissen Sie, warum es gewonnen hat? Ich will es Ihnen sagen, weil es dort nur vierzig Prozent Süchtige gegeben hat. Hier in Ontario hatten wir eine Süchtigkeit von fünfundneunzig Prozent, bei einer so weit verstreuten dünnen 13
Besiedelung, daß keine Aussicht darauf bestand, die Süchtigen auszusondern oder die Händler zu unterdrücken, wie Sie es zu Hause gemacht haben. Ein alter Spruch sagt, wenn man mit jemandem nicht fertig wird, muß man sich ihm anschließen. Unsere regierenden Vorfahren haben genau das getan; es blieb ihnen nichts anderes übrig. Sie mußten sich entweder der Mehrheit beugen oder sich wegfegen lassen, also beugten sie sich. Eine Zeitlang war es furchtbar. Kein Wunder, wenn praktisch nur fünf Menschen von hundert versuchen mußten, die Zivilisation am Leben zu erhalten.« Gilliad schüttelte den Kopf mit den kurzgeschorenen, schwarzen Haaren. »Ich würde meinen, daß das unmöglich ist.« »Beinahe. Zu einer Zeit hatte sich die Gesamtbevölkerung auf siebenundfünfzigtausend vermindert, aber wir erholten uns langsam. Jetzt sind wir fast wieder auf dem normalen Stand.« »Normal!« Kendals Stimme klang beinahe beleidigend ungläubig. »Hören Sie, junger Mann«, Osterly nahm die Pfeife aus dem Mund und richtete sie wie eine Waffe auf ihn, »Sie kennen sich nicht aus, nicht wahr? Sie sind praktisch unter einer Diktatur aufgewachsen, wo alles, was mit der Traummaschine zusammenhing, ausgenommen der historische Tatbestand, unterdrückt wurde. Wir mußten damit leben. Bei einer Süchtigkeit von fünfundneunzig Prozent bleibt einem nichts anderes übrig. Wenn fünfundneunzig Prozent Ihrer eigenen Landsleute süchtig gewesen wären, rauschgiftsüchtig, meine ich jetzt, hätten Sie sich vor dem gleichen Problem gesehen. Genauso war es, nur ist die Maschine schlimmer als Kokain, Heroin und alles, was Sie noch nennen könnten, und das Al14
lerschlimmste war, daß wir keine Ahnung hatten, wie man dagegen vorgehen mußte. Wir lernten es aber, wir lernten es – mühsam.« »Das behaupten Sie«, meinte Kendal, »aber ich frage mich immer noch, ob wir von derselben Sache sprechen.« »Wirklich?« Osterly zog etwas aus der Tasche. »Und wie würden Sie das hier nennen?« Bevor Kendal antworten konnte, stöhnte Gilliad auf und taumelte zurück. »Stecken Sie es weg, um Gotteswillen, stecken Sie es weg – bitte!« Seine Stimme klang gepeinigt. Osterly steckte den Gegenstand hastig ein. »Ich sehe, daß durch die Gehirnwäsche gute Erfolge bei Ihnen erzielt wurden – woher kommt die Wunde unter Ihrem Auge?« »Es war –« begann Kendal. »Halten Sie den Mund, ich frage ihn – also?« Osterly wirkte plötzlich hart und grimmig. »Ich – ich –« Gilliad geriet in panische Angst. »Die Wahrheit will ich hören, die Wahrheit.« »Es war ein Tiger.« Gilliad spürte, daß er den Tränen nahe war. Osterlys Gesicht schien sich immer weiter auszudehnen, und er fühlte namenloses Entsetzen. »Es war ein schmutziger, großer Tiger im Haus des Alten; er kratzte mich – o Gott, o Gott!« Undeutlich kam ihm zum Bewußtsein, daß ihn seine Beine kaum noch trugen. Osterlys Begleiter stützte ihn. Wie aus weiter Ferne hörte er Kendal schreien: »Es hat keinen Tiger gegeben! Keinen Tiger, verstehen Sie mich! Mein Freund war erschrocken, ich schaute absichtlich in das Zimmer –« »Ruhe.« Langsam kam Gilliad wieder zu sich. 15
Osterly strich sich nachdenklich über das Kinn. »Liegt ja nahe, ein Immuner, ein Anfälliger. Sie sind vielleicht noch unerfahren, aber Ihre Auftraggeber wissen zweifellos, was sie tun.« Kendal, der immer noch zornrot war, sagte: »Und was geschieht jetzt mit uns?« Osterly hob die Schultern. »Darüber habe ich nicht mehr zu bestimmen, das hängt von der Kommission ab. Wenn man Sie nicht als Spione aburteilt, kann man Sie wegen illegalen Grenzübertritts‹ belangen.« Er verstummte, schien zu lauschen, und lächelte schief. »Was halten Sie von einem chirurgischen Eingriff?« Er wartete die Antwort nicht ab. »Das Labor teilt mir eben mit, daß einer immer noch sendet, obwohl ich Ihnen ein Gerät abgenommen habe.« Das Lächeln verwandelte sich in eine Grimasse. »Schalten Sie ab.« Gilliad wich zurück. Er begriff, daß Täuschungsversuche sinnlos waren. »Ich kann nicht.« »Sie können nicht, wie? Wo ist es?« »In meiner Handfläche eingebettet.« »Sendet auch hübsche Bilder, was? Gut, daß Sie den Mund aufgemacht haben, ich hätte sonst vielleicht zum Messer gegriffen.« Er nickte seinem Begleiter zu. »Kümmern Sie sich um den Immunen. Ein Wagen ist unterwegs. Ich schaffe den hier lieber schnell in die Hauptstadt. Abgesehen von den Sendungen kommen eigenartige Berichte herein. Man will ihn dringend vorgeführt haben – los, kommen Sie.« Gilliad versuchte unbewußt, Zeit zu gewinnen. »Was machen wir – gehen wir zu Fuß?« »Lassen Sie die Albernheit, hinter den Bäumen dort steht ein Subjo.« 16
Gilliad zuckte die Achseln. Er hatte keine Ahnung, was ein Subjo war, folgte Osterly aber ohne Widerstand. Sie gingen bis zu den Bäumen. Das Gerät sah wie ein großes Bierfaß aus. Eine Tür öffnete sich, als sie darauf zutraten. Osterly schob ihn hinein. »Setzen Sie sich und halten Sie sich fest.« Gilliad bekam keine Gelegenheit, sich festzuhalten. Als sich die Tür schloß, gab es einen seltsamen bläulichen Blitz, und er krümmte sich zusammen. Vielleicht verlor er das Bewußtsein, denn als er sich aufrichten konnte, wirkte alles wieder normal. »Alles wieder in Ordnung?« Der andere lächelte schwach. »Darauf sollten Sie achten, Sie sind eben über siebenhundert Kilometer mit einer Maschine gesprungen, die es nicht gibt.« Gilliad sah ihn erbost an. »Ist das Ihr kanadischer Humor?« »Ansichtssache. Den Tiger hat es nicht gegeben, aber er zerkratzte Ihnen das Gesicht.« Er runzelte die Stirn. »Ich kann verstehen, daß die Forschungsabteilung einen dringenden Fall aus Ihnen macht. Aber warum schicken Ihre Leute einen so unerfahrenen Mann?« Als er eine halbe Stunde später in ein grell erleuchtetes Labor geführt wurde, zeigte es sich, daß mehrere weißbekittelte Männer ebenso neugierig waren. Man gab ihm einen bequemen Sessel und ein Tablett mit Essen. Während er aß, stellte man ihm beiläufig Fragen. »Wie sieht es heutzutage in England aus?« »Steht London noch?« »Wie heißen Sie?« 17
Die Befragung erfolgte so unauffällig, daß Gilliad nahezu ohne Angst antwortete, bis er versuchte, zurückhaltender zu werden. Erst dann ging ihm auf, daß er das nicht mehr konnte, daß irgend etwas seine Zunge gelockert hatte und Widerstand ausschloß. »Sie haben also jetzt eine Diktatur?« »Zur Sicherheit der Bevölkerung.« »Glauben Sie das im Ernst?« »Nein, aber ich sehe keinen anderen Weg, unsere Sicherheit zu gewährleisten.« »Dabei würden Sie aber, wenn Sie Gelegenheit dazu bekämen, weniger strenge Methoden anwenden?« »Ja.« »Sie sind also, kurz gesagt, liberal?« »Ja.« Gilliad wußte, daß er schwitzte, daß er sich buchstäblich um Kopf und Kragen redete, aber er konnte die Antworten nicht zurückhalten. Undeutlich kam ihm zum Bewußtsein, daß jemand hereingekommen war und ihn an der Hand operiert hatte, aber er spürte keine Schmerzen, und den Anlaß wußte er im Augenblick nicht zu nennen. »Für Ihre Gesellschaft sind Sie also nur ein kleines Sicherheitsrisiko?« »Ja.« »Ein potentieller Verräter?« »Nein, nicht meinem Land, nur dem Regime gegenüber.« Abrupt änderte sich die Verhörmethode. »Sie haben Angst vor der Traummaschine?« »Sie entsetzt mich.« »Sie ist hier erlaubt – was haben Sie dazu zu sagen?« »Es fällt mir schwer, das zu glauben.« »Möchten Sie diese Angst verlieren?« 18
»Nein, ich hätte keine Abwehr, keinen Schutz mehr, ich wäre verwundbar.« »Sie fürchten sich auch vor Drogen, wie Kokain zum Beispiel?« »Ja.« »Würden Sie dann aus Angst nicht zulassen, daß man Ihnen bei einer sehr schmerzhaften Verletzung Kokain einspritzt?« »Das ist etwas anderes.« »Es ist nichts anderes, wir haben gelernt, mit der Maschine umzugehen.« Gilliad hörte sich: ›Blasphemie!‹ schreien, aber niemand schien es zu bemerken. Eine Stimme sagte: »Das ist ein schwerer Fall. Wir werden eine logistische Demonstrationssequenz anwenden müssen.« »Später. Zuerst muß der Hintergrund geklärt sein, dann können wir zur Klassifizierung kommen.« »Glaubt ihr, daß wir hier einen brauchbaren haben?« »Noch zu früh, um das zu beurteilen, aber seine Reaktionen deuten auf Kategorie A plus.« »A plus.« Jemand pfiff ungläubig durch die Zähne. »Und die Engländer haben ihn hinausgeworfen.« »Sie haben ihn aus Angst fortgelassen – aus Angst und Unwissenheit.« Die Stimme wandte sich wieder an ihn. »Trifft es zu, daß man Sie wegen politischer Unzuverlässigkeit auf diese Mission geschickt hat?« »Ich habe den falschen Politiker unterstützt.« »Hatten Sie eine Wahl?« »Es gab zwei Kandidaten für den einen Posten. Ich unterstützte denjenigen, der seinen Ruf verlor.« »Und das ist ein Verbrechen?« 19
»Ja. Erstens war mein politisches Urteil fehlerhaft, zweitens war ich ein Mitarbeiter und damit verdächtig.« »Und dasselbe gilt für Ihren Partner?« »Ja. Man ließ uns die Wahl zwischen einem Tribunal und dieser Mission.« »Erzählen Sie uns, was sich vor dem Sturz dieses Politikers ereignet hat. Versuchen Sie, so zu berichten, als geschehe das jetzt, denken Sie, daß es jetzt passiert – begreifen Sie?« »Ich glaube schon, Sie meinen, ich soll es noch einmal durchleben.« »Genau.« »Tja, wenn ich mich recht entsinne, war ich –« »Sie erleben es jetzt, es geschieht jetzt!« »Ja – ich trinke mit einer Freundin –«
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3 Ja – ja, stimmt, trinken, Alkohol, synthetisch, Güteklasse Zwei, irgendwie hart auf der Zunge und mit seltsam metallischem Nachgeschmack. Offiziell nannte man das Whisky, privat Messingpolitur, aber jeder Alkohol schmeckte gleich. Manda plapperte wie üblich, und er antwortete mechanisch, ohne wirklich aufzupassen. Er fragte sich im Stillen, warum er das Verhältnis beibehielt, vermutlich, weil sie zu einer Gewohnheit geworden war, sicher nicht zu einer Hauptsache, aber das sollte sie auch nicht sein, oder? Sie waren Freunde – du lieber Himmel, wie lange galt jetzt schon diese durchsichtige Ausrede? Sie waren ein Liebespaar, nein, sie pflegten intime Beziehungen, mit Liebe hatte das nichts zu tun. In der Verwaltungsklasse erwartete man von einem Mann, daß er sich eine Geliebte hielt, also tat er es, so einfach war das. Er wandte den Blick von ihrem hübschen, leeren Gesicht ab und starrte die Wand an. Die Wand blinkte ihm Worte entgegen: ›Wachsam sein! Von deiner Wachsamkeit kann die Sicherheit der Bevölkerung abhängen.‹ Er unterdrückte eine Grimasse und wandte sich ab. Auf der anderen Wand leuchteten die Worte auf: ›Die Maschine ist Schmutz. Suchen und zerstören!‹ Nicht einmal in einer Bar kann man dem entgehen, dachte er wütend. Es war doch sicherlich nicht nötig, sich zu solchen Extremen zu versteigen. Man fühlte sich an die erotischen Exzesse der Frühreligionen erinnert. Je21
denfalls war die Wirkung des Heilmittels bereits viel schlimmer als die Krankheit selbst. Sein Gedankengang wurde unterbrochen, als jemand auf ihren Tisch zukam. »Na, Peter, ich dachte, du bist –« »War ich auch.« Kendal blieb stehen und beugte sich vor. »Tut mir leid, daß ich euch beide stören muß, aber wir stehen vor einem Problem.« Er lächelte Manda gezwungen an. »Darf ich ihn kurz entführen, meine Liebe?« Seine Stimme klang ruhig, aber das blonde Haar war zerzaust und sein Gesicht blaß. Gilliad stand auf, entschuldigte sich und folgte Kendal zu einem unbesetzten Tisch in der Ecke. »Wir haben Schwierigkeiten, große Schwierigkeiten.« Kendal setzte sich nicht. »In unserem Sektor ist eine ›Anzapfung‹ festzustellen.« Gilliad spürte, wie seine Gesichtsmuskeln erstarrten. »Schon amtlich?« »Nicht, als ich wegging. Ein Energietechniker, den ich kenne, hat mir einen Tip gegeben.« Gilliad richtete sich auf. »Wir müssen sofort hin.« »Einverstanden, aber ich glaube nicht, daß wir es schaffen können. Es ist irgendwo in Euston B 12.« »Wir müssen es versuchen.« Sie versuchten es. Sie rannten zur Kompreß-Bahn und erreichten sie in achtunddreißig Sekunden. Sie warteten fünfzehn Sekunden auf einen Zug, die Fahrt dauerte sieben, die Liftabfahrt siebenundvierzig, aber als sie ankamen, suchten bereits Spürtrupps. Gilliad lehnte sich an die Wand. Sein Körper schien eiskalt geworden zu sein. »Vielleicht können wir ihnen zuvorkommen«, sagte er ohne Hoffnung. 22
»Du machst natürlich Witze.« Kendals Stimme klang bitter und höhnend. »Teleaugen kontrollieren hier jeden Quadratzentimeter. Wir würden sofort aufgenommen werden. Wenn wir jetzt noch versuchen wollten, Meldung zu machen, würde man uns noch auslachen, wenn wir schon die Hinrichtungskammer betreten.« Gilliad ließ die Schultern hängen. »Gehen wir lieber mit. Vielleicht kommen wir mit einem Verweis davon, wenn wir uns geschickt verhalten.« »Du bist ein unverbesserlicher Optimist, aber wir können es versuchen«, meinte Kendal. Sie gingen weiter. In der Menge der Neugierigen öffnete sich schnell eine Gasse, als man ihre blauen Uniformen sah. Gilliad schaute sich um. Das war also Euston B 12, ein trister Tunnel, zwölf Stockwerke unter der Erde, wo Techniker dritter Klasse, Hausmeister, Öler und ähnliche Arbeiter zu Hause waren. Das Dach des Tunnels war plump bemalt, um den Eindruck zu erwecken, als befinde man sich unter freiem Himmel – vielleicht hatte niemand hier je freien Himmel gesehen. Trotzdem gab es irgendwo hier unten eine ›Anzapfung‹ – jemand hatte einen Energiestrahl angezapft und gewann geringe, aber aufspürbare Energiemengen. Es gab nur einen Grund für eine ›Anzapfung‹ – in Gilliads Magengegend krampfte sich etwas zusammen -. irgendwo in diesem Gebiet benützte jemand eine Maschine. Das Problem dabei war, daß man die verdammten Dinger so leicht zusammenbauen konnte. Eine FibroPrisma-Röhre, ein Harvey-Kondensator und ein paar einfache Schaltungen genügten. 23
Die Spürtrupps in ihren schwarzen Uniformen liefen mit ihren Instrumenten herum und versuchten, die Quelle zu orten. Der Tunnel bestand aus zahllosen Einzelzellen, und ihre Aufgabe war nicht einfach. Ihre deutlich sichtbare Unsicherheit verschlimmerte diese Tatsache noch. Wie lange war diese ›Anzapfung‹ unentdeckt geblieben, und wieviel Zeit hatte der Süchtige gehabt, um sich etwas zu erfinden? Gilliad konnte beinahe verfolgen, was sie dachten. Wo blieben die Roboter? Die verdammten Dinger waren nie da, wenn man sie brauchte. Warum gab man ihnen nicht ein paar zusätzliche Immune? Einer der Uniformierten drehte den Daumen nach unten, und die anderen scharten sich um ihn. Die Zuschauer verliefen sich jedoch schnell, und die beiden Männer konnten den Grund erkennen. M-Polizei traf ein, resolut und grimmig. Die Männer bewegten sich leichtfüßig wie Wildkatzen. Ihre Schenkelhalfter und Schaftstiefel standen in scharfem Gegensatz zu ihren scharlachroten Uniformen. Die Spürtrupps setzten sich wieder in Bewegung, durch das Eintreffen der Polizei noch nervöser geworden. Einer der Techniker stieß mit dem Fuß an eine Zellentür. »Aufmachen zur Inspektion. Routineüberprüfung! – Aufmachen zur Inspektion!« Die Tür blieb geschlossen, und der Mann schaute unsicher über die Schulter. »Aufmachen zur Inspektion«, schrie er. »Aufmachen zur Inspektion, sonst müssen wir uns mit Gewalt Zugang verschaffen.« Sie warteten zehn Sekunden, dann trat einer der Männer mit einem Schneidgerät vor. Gilliad wurde sich der plötzlichen Anspannung be24
wußt. Die anderen Angehörigen des Trupps stellten sich im Halbkreis um die Tür auf, die Waffen im Anschlag. Der Mann mit dem Schneidgerät näherte sich mit offenkundiger Nervosität der Tür. Er beugte sich vor, stellte sich auf die Zehenspitzen, deutlich bereit, bei den geringsten Anzeichen für eine Gefahr zurückzuspringen. Als sich jedoch nichts ereignete, ließ er sich vorsichtig auf ein Knie nieder und schaltete das Schneidgerät ein, sich mit der anderen Hand abstützend. Im nächsten Augenblick schrie er auf, ließ das Schneidgerät fallen und warf sich nach hinten, das linke Handgelenk mit der Rechten umklammernd. »Die Tür, die verfluchte Tür!« Seine Stimme klang erstickt. Gilliad sah mit einem Anflug von Übelkeit, daß die Hand des Mannes blutig und mit Blasen bedeckt war. »Was ist passiert?« fragte Kendal verwirrt. »Bist du bli–« Gilliad biß sich auf die Unterlippe. »Entschuldige, seine Hand sieht scheußlich aus. Ich glaube, die Tür ist fast weißglühend.« Kendal sagte vage: »Oh, ich verstehe«, und verfolgte weiter was geschah. Gilliad kämpfte den Wunsch nieder, ihn zu beschimpfen. Er hätte beinahe gesagt: »Bist du blind?«, war aber zum Glück noch rechtzeitig verstummt, denn Kendal war sozusagen blind. Kendal war ein Immuner; nur direkte Aktionen und das, was er durch natürliche Folgerung daraus schließen konnte, waren für ihn von Bedeutung. Er hatte den Mann natürlich stürzen, sein Handgelenk umfassen sehen und ihn schreien hören, aber den Grund dafür konnte er, weil er ein Immuner war, nicht erkennen. Kendal war einer der wenigen glücklichen Blinden im Reich der Sehenden. 25
Einer der Polizisten trat vor. »Zurück da.« In seiner Hand blitzte etwas auf, und die Tür zerfiel wie ein brennendes Blatt. Ein paar graue, pulvrige Flocken sanken zu Boden, und blauer Rauch kräuselte sich, aber die Tür war verschwunden. In diesem Augenblick hörte Gilliad aus weiter Ferne das dünne, beinahe klagende Heulen von Robotersirenen. »Roboter!« Man seufzte erleichtert auf, und die Angehörigen des Spürtrupps traten zurück. Die Roboter wirkten bei ihrem Eintreffen nicht eindrucksvoll: schwarze, stumpfe Würfel, die durch den Tunnel sausten. Von vorne sahen sie eher wie rasende Särge aus. Sie bogen ab und glitten durch die Türöffnung, ohne die Geschwindigkeit wesentlich zu vermindern. Im Inneren gab es ein kurzes Getümmel, nach einigen Sekunden kam einer der Roboter heraus. In zweien seiner ausfahrbaren Glieder hielt er eine Traummaschine. Es war ein plumpes Gerät ohne Wände oder Behälter, der Mechanismus einfach auf einer Kunststoffplatte kalt aufgeschweißt, aber er funktionierte, war eben noch in Betrieb gewesen; die Prismaröhre glomm noch. Die Zuschauer wichen nervös, beinahe abergläubisch zurück, Tür und Maschine gleichzeitig im Auge behaltend. Ein zweiter Roboter erschien, und jemand taumelte hinter ihm her – ein Mann, dessen Arme von den Roboterfortsätzen festgehalten wurden. Ein junger Mann in schmutzigem weißem Hemd und einer schwarzen Hose. Unrasiert, ungewaschen, fröhlich vor sich hinkichernd wie ein zufriedenes Kind, ohne wahrzunehmen, was um ihn herum vorging. 26
Gilliad starrte in die leeren blauen Augen und erschauerte. Jetzt war noch alles in Ordnung, aber warte nur eine Stunde, warte, bis die Wirkung abklingt, und dann Er hatte keine Zeit, weiter darüber nachzudenken, jemand schrie: »B plus!« und alles rannte los, um sich in Sicherheit zu bringen. Gilliad lief mit. Nur Kendal und die Roboter blieben, wo sie waren. Nachdem Gilliad zwanzig Meter weit gerannt war, stolperte er und fiel zu Boden. Während des Sturzes hatte er den Eindruck, als fauche etwas Riesiges, Schwarzes über ihn hinweg. Er preßte sich zitternd an den Boden, aber es kehrte nicht zurück. Weit vorn im Tunnel schrie ein Mann gellend auf. Energiewaffen ratterten, dann hörte man nur noch angstvolles Stimmengewirr. Vorsichtig hob er den Kopf und sah überrascht, daß mehrere Angehörige des Spürtrupps neben ihm auf der Straße lagen. »Gute Idee, sich hinzuwerfen.« Einer der Männer hatte sich halb aufgerafft. »Sie sind direkt über unsere Füße weggezischt.« Er bemerkte plötzlich Gilliads Uniform und richtete sich hastig auf. »Oh, Verzeihung, Sir – in der Aufregung habe ich das übersehen. Lassen Sie sich aufhelfen, Sir.« Gilliad, dessen linkes Knie stark schmerzte, erlaubte dem Mann, ihm auf die Beine zu helfen. »Was, zum Teufel, war das denn?« »Mir kam es wie ein schmutziges, großes fliegendes Blatt vor, Sir, könnte eine Fledermaus gewesen sein. Gott sei Dank ist der Süchtige noch nicht dabeigewesen, es sich aufzubauen, Sir, ich meine –« Der Satz hörte plötzlich auf, und die stützende Hand wurde zurückgezogen. 27
»Administrator Gilliad?« sagte eine Stimme. »Ja.« »Sie werden zum Verhör verlangt – hier herüber.« Zwei Gestalten in Scharlachrot traten schnell auf ihn zu. »Kommen Sie mit.« Es gab keinen Prozeß, nur die Aufzählung der Anschuldigungen. ›Direkte Schuld‹, da Sie unüberlegt oder absichtlich einen Kandidaten mit bekannt liberalen Neigungen unterstützt haben. ›Schuld durch Nachlässigkeit, da die Sicherheitsbestimmungen so lax angewendet worden waren, daß eine unmittelbare Gefahr für die Gesellschaft heraufbeschworen wurde. Man faßte sofort zusammen. »Schuldig in jeder Beziehung. Angesichts des bisherigen guten Verhaltens ist jedoch entschieden worden, daß Ihnen beiden die Wahl gelassen wird. Sie können, wenn Sie wollen, vor einem Robot-Richter eine öffentliche Verhandlung beanspruchen, oder sich freiwillig für bestimmte geheime Programme zur Verfügung stellen –«
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4 Gilliad öffnete die Augen und fröstelte, ohne zu ahnen, daß er einen kleinen Teil seines Lebens zweimal durchlebt hatte. Die weißbekittelten Männer sagten ihm nicht, daß sie den Ablauf der Ereignisse in einem anderen Raum verfolgt hatten, wo sie durch einen Spezialprojektor dreidimensional übertragen worden waren. Ihre Stimmen klangen kühl, neutral und verrieten keinen Triumph. »Was geschieht, sobald ein Süchtiger gefaßt wird?« »Man hält ihn fest, bis die Wirkung abklingt.« »Und dann?« »Dann –« Gilliad versuchte, die Worte zurückzuhalten oder zu verändern, war aber nicht dazu fähig, »dann wird er durch die Straßen geführt und in einer Hitzekammer öffentlich hingerichtet.« »Reichlich barbarisch, finden Sie nicht?« »Das soll zur Warnung dienen.« »Sie verteidigen das?« »Nein, nein – um Gotteswillen, nein.« »Gut – was geschieht noch?« »Alle seine Freunde, Bekannten und unmittelbaren Verwandten werden auf dieselbe Weise hingerichtet.« »Mit welcher Begründung?« »Erstens Laxheit; jeder Bürger ist der Hüter seines Bruders. Zweitens als Mittäter. Die Maschine oder die Pläne für ihre Konstruktion müssen von jemandem gekommen sein, außerdem kann er sie weitergegeben haben.« 29
»Wie oft kommt so etwas vor?« »Ein- oder zweimal im Jahr, vielleicht.« Einer der Männer nickte. »Sie haben also immer noch Händler, die Händler beschäftigen immer noch erfahrene ›Sucher‹ zur Auffindung von geeigneten Süchtigen, und, was noch wichtiger ist, es muß zahlreiche Verstecke für Konstruktionspläne geben. Um es klar auszudrücken, Sie leben im Krieg.« »Wir bekämpfen den Schmutz eines versklavenden Mechanismus.« »Jetzt zitieren Sie Propaganda. Sind Sie nicht auf den Gedanken gekommen, daß ihr Regime Bedingungen geschaffen hat, unter denen die Konstruktion solcher Mechanismen blühen muß – die Maschine ist ein Gerät zur Flucht vor der Wirklichkeit.« »Sie ist aber auch eine Offensivwaffe, viele gute Leute kommen bei der Beseitigung von Süchtigen um.« »Ihre guten Leute sterben auf einem vom Regime errichteten Altar der Hingabe. Ihr habt Immune, und ihr habt Roboter, aber fünfundneunzig Prozent der Angehörigen eurer Spürtrupps sind Anfällige – warum? Sie brauchen die Frage nicht zu beantworten, das übernehme ich für Sie. Im Krieg muß es Verluste geben, es muß Gefahr geben, weil sonst die Unterstützung durch die Massen ausbleibt und das Regime zusammenbrechen würde.« »Sie sind ein Zyniker.« »Seien Sie nicht oberflächlich, Gilliad, die Tatsachen sprechen für sich selbst. London hält sich an eine Mode, die mit Gradunterschieden auf der ganzen Welt kopiert wird: Konzentriere deine Bevölkerung, zeig eine gemeinsame Front, halte die Maschine fern und die Leute nah genug beieinander, damit sie sich gegenseitig im Auge 30
behalten können. Früher hat es Nationen und Völker gegeben, jetzt gibt es nur noch Städte, zehntausend bewaffnete Lager, wo die Leute so eng zusammengepfercht werden, daß sie sich kaum bewegen können. Das Vereinigte London, die Festung New York, die Bastion Moskau, die Zitadelle Chicago und zahllose andere. Alle verdächtigen insgeheim die anderen, sie seien für die Einführung der Maschine verantwortlich. Sie würden auf den geringsten Vorwand hin einen Krieg beginnen, fürchten aber, daß sie, wenn sie sich aus ihren Festungen wagen, wieder den Wahnvorstellungen durch die Maschine zum Opfer fallen würden.« Gilliad zog die Brauen zusammen und schüttelte den Kopf. »Die Maschine hat die Menschheit in eine ausweglose Lage manövriert.« »So aussichtslos ist sie nicht.« Osterly, der unbemerkt eingetreten war, schlenderte heran und setzte sich auf die Armlehne eines leeren Sessels. Er sog an seiner Pfeife und starrte Gilliad durch den Brauch an. »Gilliad, ich hätte Sie sofort niederschießen sollen, als ich Sie fand.« Er stand auf. »Ich habe nichts gegen Sie persönlich. Den ersten Berichten zufolge schätzt man Sie ziemlich hoch ein, aber ich habe mit den maßgebenden Stellen gesprochen. Man ist nicht begeistert von dem, was Sie übermittelt haben, und es steht fest, daß nicht London allein ihre Sendungen empfangen hat.« »Ich verstehe leider nicht ganz.« »Wenn Sie Godden hier zugehört haben, müßten Sie eigentlich begreifen. Zehntausend Diktaturen, die nach einem Sündenbock suchen, entdecken plötzlich ein Gebiet in Kanada, wo eine freie Gesellschaft existiert, eine Gesellschaft, in der die gefürchtete ›Maschine‹ zugelas31
sen ist. Den Rest können Sie sich selber ausrechnen. Wenn Sie sich ein wenig in Geschichte auskennen – lassen Sie die Maschine weg, beschäftigen Sie sich mit dem Problem der Reaktionen – den Reaktionen einer Diktatur auf eine freie Gesellschaft.« Gilliad spürte Kälte in seinem Inneren. Er begriff nur zu gut. Früher oder später würde jemand Kanada, vor allem Toronto in Ontario einen Besuch abstatten. Vermutlich eine Selbstmordflotte von Flugzeugen, bemannt von fanatischen Freiwilligen. »Es tut mir leid«, sagte er. Er zögerte. »Wann, glauben Sie –?« fragte er mit erstickter Stimme. Osterly hob die Schultern. »Sie können in Wirklichkeit nichts dafür; die drüben müssen irgendwie Lunte gerochen haben, sonst hätte man Sie nicht hergeschickt. Was ihre zweite Frage angeht: Wir rechnen für Propaganda und Konstruktion insgesamt ein paar Monate. Sie werden keine Raketen verwenden, auch keine Nuklearwaffen, weil die anderen Städte zu viele Ortungsgeräte haben.« Er nahm die Pfeife aus dem Mund und lächelte gezwungen. »Man wird Ihnen wohl nie davon erzählt haben, aber eine bestimmte Stadt fing einmal an, sich zu stark zu bewaffnen. Sie wurde zerstört, bevor sie auf halbem Weg war, niemand wollte ein Risiko eingehen, bis hierher und nicht weiter.« Er seufzte und steckte die Pfeife wieder in den Mund. »Das war einmal die höchstgelegene Hauptstadt der Welt; Leute, die das nicht gewöhnt waren, gerieten dort außer Atem. Der Krater, wo sie sich einmal befunden hat, liegt jetzt unter Meeresniveau. Luft gibt es genug, wenn Sie sich die Mühe machen, hinunterzusteigen.« Der Mann namens Godden sagte: »Was fangen wir mit ihm an?« 32
»Machen Sie weiter, er könnte lebenswichtig sein.« »Das ist er, ich habe noch nie ein solches Potential bei einem Menschen gesehen.« »Gut.« Osterly nickte kurz und verließ den Raum. Gilliad sah die Fragesteller an. »Was ist aus meinem Freund Kendal geworden?« »Er ist in Sicherheit, nicht einmal in Haft. Natürlich kann er die Stadt nicht verlassen, aber wir erheben zunächst keine Anklage.« »Und ich?« »Auch bei Ihnen nicht. Andererseits können wir Sie nicht freilassen, noch nicht. Wir brauchen Sie.« »Warum nicht Kendal?« »Kendal ist Immuner. Mit einem Immunen können wir nichts anfangen.« Gilliad sah sie entsetzt an und sprang plötzlich auf. »Eine Maschine! Ihr Halunken, ihr habt eine Maschine verwendet!« Eine weißgekleidete Gestalt trat zur Seite, eine zweite stellte ihm ein Bein, eine dritte schoß mit einer ParaWaffe auf ihn. Gilliad, dem plötzlich die Glieder den Dienst versagten, stürzte zu Boden und blieb liegen. Sie drehten ihn um und sahen auf ihn hinunter. »Ganz schön kräftig, nicht? Die Schultern eines Boxers. Gut, daß wir vorbereitet waren und er ein bißchen hysterisch gewesen ist. Ich möchte mich nicht mit ihm anlegen“ wenn er seine Sinne beisammen hat.« Einer von ihnen beugte sich über ihn. »Bedaure, Gilliad, wir konnten nicht zulassen, daß Sie hier Amok laufen. Verzeihen Sie, daß wir gewisse Wellenlängen der Maschine verwendet haben, aber wir können – wie mit einer gefährlichen Droge – damit umgehen. Wir versichern Ihnen aber, daß keinerlei Suchtge33
fahr besteht.« Er beugte sich tiefer. »Benehmen Sie sich jetzt vernünftig? Wenn ja, blinzeln Sie dreimal.« Gillard starrte sie hilflos an, sah ein, daß Widerstand zwecklos war, und gehorchte. Irgend etwas knackte, das Leben kehrte schmerzhaft in seine Glieder zurück, und man half ihm auf die Beine. »Noch einmal, es tut uns leid.« Er sah sie nicht an. »Ich komme mir besudelt und verseucht vor – der Teufel soll Sie alle holen.« Einer von ihnen lächelte ein bißchen traurig. »Gehirnwäsche und Unwissenheit. Wir heilen Sie.« »Scheren Sie sich zum Teufel.« Der Mann grinste. »Später. Aber Sie werden jetzt müde sein. Wir haben oben ein Zimmer für Sie hergerichtet. Hoffentlich fühlen Sie sich dort wohl.« Das Zimmer erschütterte Gilliad fast ebensosehr wie seine bisherigen Erlebnisse; es war von palastartigen Ausmaßen und hätte mindestens sechs Wohnzellen aufnehmen können. Ein verblüffend großes Fenster erlaubte Ausblick über die kleine Stadt, auf weite Ebenen und einen fernen Gebirgszug. Hier und dort sah man Baumgruppen – Gilliad hatte noch nie in seinem Leben echte Bäume gesehen. Er blieb lange Zeit am Fenster stehen, in Gedanken versunken, bis ihn die Müdigkeit übermannte. Er gähnte, zog sich aus und stieg in das hohe, unglaublich große Bett. Er konnte sich nicht bewußt erinnern, daß er eingeschlafen war, aber als er erwachte, war es dunkel, und das breite Fenster war nur ein schwacher Umriß, der einige Sterne einrahmte. Er reckte sich schlaftrunken und fragte sich, was ihn 34
geweckt hatte – und dann hörte er es – ein wildes, seltsam auf- und absteigendes Heulen. Er bewegte sich wieder, immer noch halb im Schlaf; was, zum Teufel, konnte das sein? Er hatte das seltsame Gefühl, daß er das eigentlich wissen oder sich an das Geräusch erinnern mußte. Er bemerkte andere Geräusche, schrille Pfiffe, schnelle Schritte unten auf der Straße. Eine Männerstimme rief: »Beeilt euch. Heben Sie die Kinder in den Lastwagen, Slazzen.« Er konnte einen Säugling weinen hören, rauhe Stimmen, eine lange Reihe von Lastwagen brummte vorbei, die offensichtlich eilig die Stadt verließen. Das Heulen verklang langsam, und die anderen Geräusche wurden deutlicher. »Stellt euch dort an!« »Keine Panik. Die Evakuierungsfahrzeuge sind unterwegs –« Irgendwo kreischte eine hysterische Frau: »Hilda! Hilda! Ich habe meine Kleine verloren! Hilda! O mein Gott – Hilda, Liebling, wo bist du?« Plötzlich wußte er, was das Heulen gewesen war, und er sprang aus dem Bett. Luftalarm! Alles schien plötzlich Kontur zu gewinnen, das Gespräch vor einigen Stunden, zehntausend Diktaturen, die einen Sündenbock suchen, ›jemand wird Kanada einen Besuch abstatten‹. Es waren aber nicht Monate, sondern nur Stunden gewesen – die Leute hatten sich gewaltig verschätzt. Verzweifelt zog er sich an, stürzte halb angekleidet zur Tür. Sie war verschlossen. Er rannte zum Fenster. Es ließ sich nicht öffnen. Er hämmerte wie wild mit der Faust dagegen. 35
»Laßt mich ’raus! Laßt mich ’raus!« Auf der Straße begann eine Megaphonstimme zu brüllen. Das Echo hallte in den Straßen wider. »Letzte Transporte! Letzte Transporte! Evakuierungstrupps antreten! Null in einer Minute und fünfundvierzig Sekunden. Alle Fahrzeuge starten!« Gilliad schwang einen Stuhl, das Fenster dröhnte hohl unter dem Aufprall, und der Stuhl brach auseinander. Draußen entfernten sich die letzten Fahrzeuge.
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5 Verzweifelt lehnte sich Gilliad an die Wand, fast schon resignierend. Sie hatten ihn vergessen. In der Panik der Evakuierung, hatten sie vergessen, daß in einem der Gebäude ein einzelner Gefangener untergebracht war, der nicht ohne Hilfe entkommen konnte. Müde trat er ans Fenster und starrte in den blauschwarzen Himmel hinauf. Er sah friedlich aus, ein Schleier von Sternen, ein paar Wolkenfetzen. Der Boden schwankte plötzlich unter seinen Füßen, irgendwo blitzte es bläulich-weiß auf, und das Gebäude auf der gegenüberliegenden Straßenseite flammte weiß auf, schwankte, ächzte, während eine gewaltige Detonation sein Trommelfell zu zerreißen drohte. Er krallte sich an der Wand fest, um nicht zu stürzen, wurde sich eines seltsamen schwindelnden Gefühls im Magen bewußt, als gigantische Mauerteile auf das Dach fielen oder in die Straße hinabstürzten. Immer wieder zuckten Blitze auf, die ihn halb blendeten; auf der anderen Seite der Stadt gingen vierzig Gebäude plötzlich in Flammen auf, wie mit Benzin übergossen. Gilliad spürte kalten Schweiß auf seiner Haut; vor Bränden hatte er stets entsetzliche Angst empfunden. Er riß das Bett auseinander und versuchte, mit dem Bettpfosten das Fenster einzuschlagen. Die Scheibe dröhnte, schnellte zurück und prellte sein Handgelenk. Er versuchte es erneut an der Tür, mit noch geringerem Erfolg. Während er sich verzweifelt abmühte, lohten die Gebäude auf der anderen Straßenseite plötzlich auf, und eine Zunge aus brennender Flüssigkeit kroch über die Straße. 37
Gilliad stieg auf einen Stuhl und versuchte, die Decke einzureißen. Im Zimmer zuckte der rote Widerschein der Flammen. Die Decke war ebenso verstärkt; seine verzweifelten Schläge riefen nur ein paar Beulen und Kratzer hervor. Er hörte ein merkwürdiges Knistern, das Fenster zeigte plötzlich zahllose Risse, begann einzuknicken und schließlich wie Gelee herabzutropfen. Er warf sich dagegen, wurde aber von einer Hitzebö zurückgeworfen, die sein Gesicht versengte. Er würde verbrennen – O Gott! O Gott! Ätzender Rauch wirbelte ins Zimmer und versengte seine Lunge. Hustend und keuchend taumelte er herum. Er mußte sterben, er würde verbrennen – Hilfe – Irrsinn – alle fort – er konnte nichts sehen – wo war er? – Heiß, so unerträglich heiß – Wasser, kühles Wasser – verbrennen – Hilfe – um Gottes willen – Hilfe! Stimmen – hier gab es keine Stimmen – alle fort – »Festhalten, Mensch« – die Schmerzen! Feuer verzehrte seine Glieder – »So, ja, schon gut –« »Spritze, schnell!« »Zehn Kubik Collatolin.« »Mein Gott, die Haut löst sich von seinen Armen –« »Abschirmung in Betrieb.« »Gott sei Dank, noch eine Minute, und es wäre zu spät gewesen!« Langsam, ungläubig öffnete Gilliad die Augen; jemand flößte ihm Wasser ein; eine kühle Hand ruhte auf seiner Stirn. »Ihr – ihr habt mich herausgeholt?« »Nein – nein, das haben wir nicht.« Es war eine Frauenstimme, sanft, aber unpersönlich. Er schloß ein paarmal die Lider, um deutlicher sehen 38
zu können. Eine dunkelhaarige Frau in weißem Kittel kniete neben ihm und sah ihm ins Gesicht. »Das begreife ich nicht.« Ihre Miene veränderte sich nicht. »Man wird es Ihnen erklären – sehen Sie sich zuerst einmal um.« Er gehorchte. Weißbekittelte Männer beschäftigten sich mit seinen Armen und Händen, die stark gerötet und mit Blasen übersät waren; andere bemühten sich um seine Füße. »Ihr müßt mich einfach herausgeholt haben.« »Sehen Sie sich um.« Er schaute sich um und erstarrte. Es war dasselbe Zimmer; durch das breite, unbeschädigte Fenster konnte er die Sterne in der beginnenden Dämmerung verblassen sehen. Gegenüber waren die vertrauten Gebäude erkennbar; nirgends Feuer oder Rauch. Das Zimmer selbst sah verwüstet aus, das Bett war zertrümmert, ein Bein herausgerissen, Bruchstücke eines zerschmetterten Stuhls lagen auf dem Boden verstreut, die Decke war mit Kratzern übersät. Er zog die Brauen zusammen, versuchte zu begreifen. »Es war ein Traum?« »So können Sie es im Augenblick nennen – Sie müssen uns erzählen, was Sie erlebt haben.« »Erzählen – ja – ich hörte eine Sirene. Sie weckte mich. Ich glaubte -.« Langsam und stockend erstattete er Bericht. Sie nickten und sahen einander bedeutungsvoll an. Die Ärzte beendeten ihre Tätigkeit an seinen Armen und Beinen, der Schmerz ließ nach, und er fühlte sich schläfrig. Ein Mann kam herein. Er hielt etwas in der Hand. 39
»Schon gefunden. War an der Wand des Hauses gegenüber befestigt.« »Schon Ergebnisse?« »Tja, ich habe es erst oberflächlich untersuchen können, aber ich halte es für eine Emotional-Aufzeichnung, mit historischer Bildspur überlagert, um die beabsichtigte Wirkung zu erzielen. Keine fachmännische Arbeit, verpfuscht, würde ich sagen, aber gut genug, um Resultate zu erzielen.« Er starrte Gilliad an. »Jemand wollte Sie um jeden Preis ins Jenseits befördern.« »Mich?« »Ja, Sie. Jemand, der sich mit Maschinen auskennt, hat eigens eine für Sie aufgebaut, auf Ihre Wellenlänge eingestellt und einen Zerstörungsimpuls ausgesandt.« Gilliad sah ihn teilnahmslos an. Er war schläfrig, so unglaublich schläfrig … Als er wach wurde, saß ein älterer, grauhaariger Mann mit kantigem Kinn am Bett. »Geht es Ihnen besser?« Der Mann wartete die Antwort nicht ab. »Ich heiße Keisler. Der Kürze halber genügt ›Doktor‹, obwohl es, strenggenommen, im medizinischen Sinn gar nicht stimmt. Es bezeichnet einen Beruf – ich bin Fachmann für Traummaschinen. Natürlich mußte ich in Psychiatrie und Neurologie promovieren, aber das sind nicht meine Spezialgebiete, wenn Sie mir folgen können.« Er verstummte, und der breite, schmale Mund hob sich an den Winkeln, als lächle er über einen Witz, den nur er kannte. »Sie sehen schlimm aus, wie? Rißwunde unter dem linken Auge, Hände und Füße nicht zu gebrauchen, Verbrennungen dritten Grades – wie kam es dazu?« »Ich –« Gilliad verstummte. »Ich weiß es nicht genau.« 40
»Sehr weise.« Keisler lächelte wieder. »Sie wissen es und wissen es nicht. Ich bin hier, um es Ihnen zu erklären.« Er griff nach einem Gegenstand auf seinem Schoß, und Gilliad zuckte entsetzt zurück. »Keine Sorge, das ist nur eine Attrappe.« Er öffnete den Kasten an der Seite. »Sehen Sie – leer. Ich habe sie zu Vorführungszwecken mitgebracht.« Er legte sie auf das Bett, wo Gilliad sie sehen konnte. »Wie Sie sehen, ist das nur ein kleiner Kasten mit einer Antenne, damit es echter aussieht. Wenn das Gerät vollständig wäre, könnte ich den kleinen Schalter an der Seite betätigen, und es würde einen elektrischen Impuls aussenden, der bestimmte Regionen Ihres Gehirns reizen würde. Das ist alles, was eine Traummaschine tut, also beschäftigen wir uns jetzt mit den Einzelheiten der Wirkungen dieser Reizung.« Er lehnte sich zurück und faltete die Hände. »Sind Sie schon einmal betrunken gewesen, Mr. Gilliad?« »Ein- oder zweimal. Ich trinke nicht besonders gerne.« »Spielt keine Rolle, Sie kennen die Wirkung. Ohne Zweifel ist Ihnen auch bekannt, wie sich starker Alkoholgenuß über lange Zeit hinweg auswirkt. Es kommt zu Entartungserscheinungen, zu Halluzinationen, zum Delirium tremens. Was uns angeht, so sind die entscheidenden Faktoren die Halluzinationen, der uralte Witz von den weißen Mäusen, die man sieht.« Er beugte sich plötzlich vor. »Denken Sie an weiße Mäuse.« Gilliad runzelte die Stirn. »Na schön, ich denke daran.« »Gut, Sie stellen sie sich vor, aber Sie wissen, daß sie Produkte Ihrer Phantasie sind – der Alkoholiker weiß das nicht. Das Interessante dabei ist, daß beide Gruppen von weißen Mäusen subjektiver Art sind. Der Unterschied besteht darin, daß Sie es wissen, der Alkoholiker aber 41
nicht. Für ihn sind die Mäuse echt, das Subjektive ist zum Objektiven geworden; für ihn sind die Tiere lebende Tatsache.« Er lehnte sich wieder zurück. »Genau das leistet die Maschine. Sie reizt bestimmte Regionen des Gehirns in solchem Maße, daß die subjektiven oder eingebildeten Produkte des Verstandes für den Benutzer zu objektiven werden. Ein Mann wünscht sich eine schöne Frau; er stellt sie sich vor, und für ihn erscheint sie augenblicklich. Ich kann nicht ausdrücklich genug betonen, daß sie nach wie vor nur subjektiv vorhanden ist; niemand sonst kann sie sehen, aber für den Süchtigen existiert sie. Er kann mit ihr sprechen, sie berühren, und, wenn er der entsprechende Typ ist, sie sogar besitzen. Seine körperlichen Reaktionen, Empfindungen und die sexuelle Befriedigung werden genau so sein, als gäbe es sie wirklich. Wenn er andererseits wie ein Vogel fliegen will, wird er, subjektiv gesehen, fliegen. Niemand wird ihn fliegen sehen, aber soweit es ihn angeht, wird er über den Dächern dahinschweben.« Keisler machte eine Pause und sah mit zusammengezogenen Brauen zerstreut vor sich hin. »Diese Erfahrung stellt, wie sie auch aussehen mag, noch keine Süchtigkeit dar. Es interessiert Sie vielleicht zu erfahren, daß von fünf Benutzern nur einer süchtig wird und wir genug gelernt haben, um den potentiell Süchtigen erkennen zu können. Der Suchtgefährdete ist der Mensch mit Problemen, ein Mann, der über seine Verhältnisse lebt, der Mann mit einer untreuen Frau, oder einer, der sich zu viele Sorgen über dies und jenes macht, der unerhörte Liebhaber – kurz gesagt, jeder, der gute Gründe dafür hat, entweder vor sich selbst oder vor seinen Problemen die Flucht ergreifen zu wollen. In der subjektiven Welt, die ihm die auf seine Phantasie eingehende Maschine erschafft, sind seine Probleme 42
gelöst. Selbstverständlich türmen sich die wirklichen Probleme der Welt, sobald die Wirkungen der von der Maschine ausgelösten Reize nachlassen, nur noch höher, und er sucht erneut bei der Maschine Zuflucht – sobald das zur Gewohnheit wird, ist er ein Süchtiger zweiten Grades. Es dauert nicht lange, bis der zweite in den dritten Grad übergeht, wobei der Süchtige überzeugt ist, oder sich einredet, daß die subjektive Welt, die ihm die Maschine erzeugt, die wirkliche Welt ist, und diejenige, aus der er flieht, nur ein Produkt seiner Einbildung. Von diesem Punkt an geht es schnell bergab; er gibt seine Stellung ruf, wäscht und rasiert sich nicht mehr und widmet sein ganzes Leben seiner illusionären Welt. Aus seinen Phantasien taucht er nur kurz auf, um zu essen und seinen körperlichen Bedürfnissen nachzukommen, und im letzten Stadium verzichtet er auch darauf – können Sie mir folgen?« Gilliad nickte eifrig. Er hatte sich völlig in das Thema vertieft. »Der Süchtige wird katatonisch – es kommt zu völliger Kontaktlosigkeit.« Keisler zog die Brauen ein wenig zusammen, war aber offenkundig erfreut. »Danke. Ich wußte nicht, daß Sie mit den Grundlagen der Psychologie vertraut sind.« »Das bin ich eigentlich auch nicht, aber ich war immer ein begeisterter Leser. Romanlektüre war nicht erwünscht, aber technische Informationen konnte man in den Büchereien reichlich bekommen.« »Warum wurde Romanlektüre nicht gewünscht?« »Eine offizielle Erklärung dafür gab es nicht, aber ich kam zu dem Schluß, daß süchtig zu sein schon schlimm 43
genug war, auch ohne den zusätzlichen Reiz der Erfindungsliteratur. Übrigens müssen Sie mir noch etwas erklären: Wieso werden – angesichts Ihrer Behauptung, diese Traumwelt sei subjektiv – so viele Unschuldige in Mitleidenschaft gezogen?« Keisler schmunzelte. »Sie sind schnell, nicht? Darauf komme ich, wenn ich die Entwicklungsgeschichte erklärt habe. Nur Geduld, wir befassen uns auch damit, aber alles hübsch der Reihe nach.«
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6 Keisler lehnte sich zurück und preßte die Fingerspitzen gegeneinander. »Die Traummaschine wurde, wie man sagen könnte, genau im richtigen Augenblick erfunden. Die Großmächte mit ihren veralteten Wirtschaftsstrukturen standen kurz vor der Inflation. Die Nationen waren sich untereinander nicht einig, und zu allem Überfluß hatte jemand das Stekonit entdeckt, das alle Länder wie verrückt horteten. Für den Fall, daß Sie es nicht wissen: Stekonit war für die Brandwaffe das, was die Kernphysik für die Explosionswaffe war. Ein einziger Behälter Stekonit, nicht größer als eine Handgranate, konnte ein sogenanntes ›Radikal-Zündungsfeld‹ schaffen. Dieses Feld brannte in einem Umkreis von siebzig Meilen alles bis auf den Erdboden nieder. Mit vier solchen Behältern hätte man das Vereinigte London glatt von der Landkarte verschwinden lassen können. Schlimmer noch, der Grundstoff war billig und leicht herzustellen, und Möglichkeiten zur rechtzeitigen Entdeckung gab es nicht. In diesem Alptraum der plötzlichen Vernichtung und des finanziellen Ruins, in diesem Hexenkessel von Unsicherheit und Nervosität tauchte die Maschine auf. War es ein Wunder, daß die Masse der Menschen sich darauf stürzte, um wenigstens vorübergehend der Wirklichkeit zu entfliehen? Man würde sowieso sterben oder hungern müssen, was gab es da also noch zu überlegen? Der eigentliche Erfinder – ein gewisser Doktor Melchez – soll das Gerät bei Experimenten mit neuartigen neurologischen Techniken gefunden haben. Die Wahr45
heit ist jedoch, daß die Maschine innerhalb weniger Monate in verschiedenen Teilen der Welt gleichzeitig erfunden wurde.« Keisler machte eine Pause und betrachtete seine Fingernägel. »Man braucht nicht eigens zu betonen, daß die Maschinen und ihre Wirkung sofort als ›Streng geheim‹ eingestuft wurden, aber in der damaligen Welt blieb nichts geheim. Es gab Spionage auf internationaler Ebene, Industriespionage – die großen Konzerne kannten keinerlei Rücksicht – und, als Schlimmstes, Schwarzmarkt-Spionage. Einzelheiten über die Maschine sickerten durch, und Händler im Untergrund stiegen groß ins Geschäft ein. Zunächst wurden die Maschinen insgeheim zu Phantasiepreisen an reiche Leute verkauft, aber die Preise stürzten rasch ins Bodenlose, als immer mehr schwarze Hersteller die Pläne in die Hände bekamen. Innerhalb eines halben Jahres konnte auch der Durchschnittsverdiener auf Schleichwegen ein solches Gerät erwerben. Es gab sogar eine Schwarzhandelsorganisation mit raffiniertem und äußerst wirksamem Ratenzahlungsplan.« Keisler schüttelte betrübt den Kopf. »Als die Regierungen die Gefahr erkannten, war es bereits zu spät. Als man durchzugreifen versuchte, kam es zur Katastrophe. Nachdem die Bedrohung erkennbar geworden war, griffen Süchtige halb von Sinnen zu verzweifelten Maßnahmen, um ihre Maschinen behalten zu können. Sie verbarrikadierten ihre Häuser und griffen fast immer zur Gewalt, sobald von amtlicher Seite versucht wurde, ihnen die Maschinen zu nehmen. Dieser Faktor allein war im Verlauf einer einzigen Woche für siebzigtausend Tote auf der ganzen Welt verantwortlich. Gleichzeitig begannen die Lieferanten, als sie die Preise für ihre Erzeugnis46
se wieder steigen sahen, einen Zweifrontenkrieg. Den ersten führten sie untereinander um den Besitz gewinnbringender Märkte, den zweiten gegen die Beauftragten der Regierungen und die Polizei, die ihren Profit bedrohten. Es gab heftige Straßenkämpfe nicht nur zwischen rivalisierenden Banden, sondern auch zwischen den Streitkräften der Staaten und den Gangstern. Diese Zusammenstöße forderten weitere hunderttausend Tote, und das im gleichen Zeitraum.« Keisler schwieg einen Augenblick und begann, die einzelnen Punkte an den Fingern abzuzählen. »Nur zu Ihrer Information und in geschätzten Zahlen: Viertausend Süchtige waren so verkommen, daß sie verhungerten, weitere achttausend verloren den Verstand und liefen Amok. Vierundzwanzigtausend wurden zu Süchtigen dritten Grades, für die man nichts mehr tun konnte. Regierungen stürzten, die Wirtschaft brach zusammen, und in den Unruhen, die sich daraus ergaben, starben weitere dreißigtausend Menschen. Binnen einem Jahr verminderte sich die Weltbevölkerung um genau ein Viertel. Inzwischen entstanden jedoch die vereinigten Städte, eine Reihe kompakter Festungen, die über die verheerten Länder, die sie früher besessen hatten, herrschten, sie aber nicht kontrollierten. Es waren angstgeschüttelte Städte, die sich hinter endlosen Minenfeldern und automatischen Artilleriestellungen verbargen. Ferngesteuerte Flugzeuge patrouillierten am Himmel, während ihre Radargeräte den Horizont pausenlos nach Angreifern absuchten. Hinter diesen Abwehrlinien begannen die Städte mit der Selbstreinigung. Die Verwaltungen legten eine Unbarmherzigkeit an den Tag, die der Verzweiflung entsprang. Schwarzmarkthersteller, ihr gesamtes Personal und mitbeteiligte Verbrecherbanden wurden massenwei47
se hingerichtet. Ebenso erging es allen Besitzern von Maschinen, die man entdeckte, ihren Verwandten, engen Freunden und Bekannten. Das führte zu Gesamtverlusten, die größer waren als die der letzten beiden Weltkriege zusammengenommen. Solche Methoden hätten die Gefahr gänzlich bannen müssen, sie dienten aber nur dazu, die Verluste knapp unter der Überlebensgrenze zu halten. Irgend jemand verkaufte immer noch Maschinen oder lieferte einfache technische Zeichnungen, nach denen man sie anfertigen konnte. Selbst heute betragen die Verluste der gesamten Städte noch nahezu tausend Personen pro Woche, trotz der gesteigerten Unbarmherzigkeit und Gründlichkeit der einzelnen Verwaltungen. Nur in seltenen Fällen sind die örtlichen Geburtenziffern höher. Das Gesamtbild zeigt, daß die Menschheit langsam, aber unaufhaltsam aussterben wird.« Keisler verstummte, sah Gilliad an und lächelte. »Nur in unserer Provinz steigt die Geburtenziffer; nur in dieser Provinz hat die Menschheit ihre Verluste ausgeglichen und nimmt wieder zu. Hier werden Süchtige überprüft, eingestuft und auf Rationen gesetzt, wie man früher Rauschgiftsüchtige registriert und versorgt hat – und nur hier haben wir Techniken entwickelt, die, in vierzig Prozent unserer Fälle, zu einer anhaltenden Heilung führen. Wir haben die Maschine gesetzlich erlaubt – unter bestimmten medizinischen und psychiatrischen Einschränkungen. Wir haben ihre Auswirkungen studiert und die Maschine in vielen Fällen als Instrument der Wiedergesundung benützt.« Keisler schnalzte mit der Zunge. »Tut mir leid, ich habe schon einen zu großen Sprung gemacht und bin außerdem Ihrer Frage zum Teil ausgewichen. Die Maschinen ließen unangenehme Nebenwirkungen 48
erkennen, als die Städte ihr Reinigungsprogramm begannen. Wie ich Ihnen schon erklärte, ist die subjektive Welt für einen Süchtigen die wirkliche, aber – allgemein gesprochen – ist er für die reale nicht völlig blind. Sobald die Sucht zu einem strafwürdigen Verbrechen wurde, ergreift der Süchtige Abwehrmaßnahmen – imaginäre Abwehrmaßnahmen, gewiß – aber eben doch Abwehrmaßnahmen. Er schafft sich eine Unmenge von Beschützern – und die Maschine läßt sie für ihn wirklich erscheinen. Manche ersinnen sich ganze Armeen, andere einfallsreiche Fallen, gräßliche Ungeheuer, tödliche Gase und so weiter, für den Fall, daß die wirkliche Welt in die illusionäre einzudringen versucht und er zur Hinrichtung geschleppt werden soll. In einem solchen Fall glaubt der Süchtige ernsthaft, seine Beschützer würden ihm helfen.« Keisler räusperte sich und richtete sich auf. »Erst als eine Reihe guter Leute auf ziemlich scheußliche Art zu Tode gekommen war, begannen die Behörden nachzudenken, und bis man damit fertig war, zeigte sich die Wahrheit nur allzu klar. In vielen Fällen kamen die eingebildeten Beschützer dem Süchtigen tatsächlich zu Hilfe. Nein!« Keisler hob hastig die Hand. »Diese Frage dürfen Sie mir nicht stellen, Mr. Gilliad, denn, um ganz offen zu sein, wir haben bislang noch keine befriedigende Antwort darauf gefunden. Manche sprechen zungenfertig, aber ein wenig vage von einem ›bewahrten hypnotischen Sinneseindruck‹, während eine vorsichtigere Richtung naturwissenschaftliche Forschung betreibt. Man geht von der durch die meisten großen Physiker gestreiften Theorie aus, daß das ›Denken Substanz hat‹. Welche Richtung recht hat, vermag ich nicht zu beurteilen, aber eine Tatsache erscheint unausweichlich: Wenn ein süchtiger in fortgeschrittenem Zustand sich zu 49
lange auf ein Abwehrsystem konzentriert, wird dieses Abwehrsystem für einen Anfälligen objektiv.« Er schwieg und sah Gilliad an, als habe er ihm etwas abzubitten. »Sie sind ein paar Stunden bei einem alten Mann namens Pitcher gewesen. Mr. Pitcher ist ein Süchtiger dritten Grades; wir konnten seiner Sucht Einhalt gebieten, ihn aber nicht von seinen Verirrungen heilen. Als Süchtiger erträumte er sich einen Tiger als Haustier; er träumte ihn so lange, daß er jetzt für einen Anfälligen existiert. Kurz gesagt, ein illusionärer Tiger, von dem Sie – als Anfälliger – angegriffen wurden. Durch diesen Angriff erlitten Sie eine psychosomatische Wunde, die sich objektiv in einer echten Wunde äußerte. Aber, Mr. Gilliad, Ihr Freund Kendal hatte recht – es gab in Wirklichkeit keinen Tiger.« Keisler stand auf und begann hinund herzugehen. »Diese Stadt ist nicht aus der Luft angegriffen worden; es hat keine Brände gegeben, aber der subjektive Eindruck von diesen projizierten Bildern war für Ihren Verstand so überwältigend, daß Sie psychosomatische Verbrennungen erlitten, an deren Folgen Sie beinahe gestorben wären.« Gilliad nickte. »Ich verstehe alles, was Sie mir gesagt haben, aber warum sollte mich jemand töten wollen? Ich bin doch nur ein Anfälliger unter vielen.« »Nein.« Keisler blieb plötzlich stehen. »Nein, das sind Sie nicht. Sie sind ein Anfälliger, aber ein einmaliger Fall – wie soll ich mich ausdrücken? Passen Sie auf: Das, was Sie aufgrund Ihrer Gehirnwäsche am meisten fürchten sollten, nämlich, die Gefahr, süchtig zu werden, besteht bei Ihnen überhaupt nicht. Wir haben Sie nicht ohne Grund so eilig hierhergebracht, wissen Sie. Wir haben Sie hergeschafft, weil unsere Ferndiagnose darauf hin50
deutete, daß Sie zwar einerseits anfällig, andererseits aber immun gegen Suchtgefahr sind. Um es kurz zu machen: Sie sind eine Erscheinung, die bei zwanzig Millionen Geburten einmal vorkommt. Wir haben noch einen zweiten Fall in unserer Provinz; wir wissen, daß es noch eine solche Person in der Bastion Moskau gibt und vermuten einen weiteren Fall in der Zitadelle Chicago.« »Was bin ich nun eigentlich genau?« »Genau können wir das nicht sagen. Wir wissen aber, daß Sie jahrelang eine Maschine benutzen, sich jeder Laune Ihrer Phantasie hingeben könnten und trotzdem dabei nicht süchtig werden würden. Vielleicht wären Sie in einer anderen Zeit Schauspieler oder Schriftsteller geworden. Sie besitzen eine Fähigkeit, Distanz zu bewahren, eine Art geistiges Ortungsgerät, das es Ihnen erlaubt, sich damit abzugeben, ohne davon gefangen zu werden – wir können einen Mann wie Sie brauchen.« Gilliad starrte seine verbundenen Arme an. »Sieht nicht danach aus.« »Das war keine faire Probe, Sie waren vorher nicht informiert. Würden Sie sich auf ein einfaches Experiment einlassen?« »Das hängt davon ab, worum es sich handelt.« »Um etwas ganz Einfaches. Ich möchte, daß Sie sich auf den Gedanken konzentrieren, daß Sie keine Angst mehr vor der Maschine haben; versuchen Sie, sich das für dreißig Sekunden einzureden.« Gilliad hob die Schultern. »Meinetwegen, wenn es hilft.« »Fein.« Keisler schaute auf die Uhr. »Los.« Er wartete. »Genügt.« Er bückte sich und hob etwas auf. »Wissen Sie, was das ist?« »Eine Traummaschine.« Gilliad zuckte nicht zurück. 51
»Gut.« Keisler lächelte. »Das ist eine echte, ich habe sie mit dem Fuß eingeschaltet. Entschuldigen Sie die Hinterlist, aber das war der einzige Weg, Ihnen zu beweisen, daß wir gelernt haben, die Maschine zum Guten zu verwenden. Überlegen Sie: Fünfunddreißig Jahre – so alt sind Sie, wie ich höre – Gehirnwäsche in Sekunden ausgelöscht. Nicht übel.«
52
7 Gilliad sah ihn stirnrunzelnd an. »Was nun?« »Jetzt gehen wir einen Schritt weiter. Wie würde es Ihnen gefallen, diese Verbände abzulegen und gesund diesen Raum zu verlassen? Mit Ihrer Mitarbeit und der Maschine hier läßt sich das machen. Eine simple Umkehrung. Passen Sie auf: Es hat keinen Luftangriff gegeben – das wissen Sie inzwischen –, keine Brände. Sie haben keine Verletzungen erlitten. Sie sind demnach völlig gesund und unversehrt. Sie haben keine Brandwunden. Konzentrieren Sie sich nur darauf, auf nichts sonst.« Zwei Minuten später sagte Keisler: »Na gut, lassen Sie sich eine Stunde Zeit, dann holen wir die Ärzte.« Er setzte sich wieder und faltete die Hände. »Gilliad, wenn wieder irgend etwas geschieht, etwas dem Luftangriff Vergleichbares, dann kämpfen Sie dagegen an. Jetzt sind Sie vorbereitet und informiert. Sagen Sie sich, daß das nicht real ist und bekämpfen Sie die Illusion.« »Wer kann mich töten wollen?« »Jemand, der wußte, was Sie sind.« »Darauf bin ich schon selbst gekommen, aber wenn man weiterdenkt, wird es kompliziert. Man hätte mich doch in London beseitigen können, und – noch komplizierter – wieso hatte man jemand, der in Kanada auf mich wartete, wenn doch niemand herein- oder hinausgelassen wird?« Keisler schüttelte den Kopf. »Ich weiß es nicht, der Geheimdienst weiß es nicht, und man macht sich dort enorme Sorgen, das können Sie mir glauben. Natürlich arbeitet man daran, aber wenn 53
man wirklich etwas in Erfahrung gebracht haben sollte, ist bis jetzt jedenfalls nichts zu mir gedrungen.« Gilliad betrachtete seine verbundenen Hände und zog die Brauen zusammen. »Ich möchte mich selbst darum bemühen.« Keisler zog die Brauen hoch. »Ehrgeizig, wie? Sie haben keine Verbindungen hier, bislang keine Erfahrung, und außerdem sind sie offiziell tot.« »Tot!« »Herzanfall. Wir haben das durchsickern lassen. Wenn man Sie noch unter den Lebenden vermutet, würde man es wahrscheinlich erneut probieren.« »Na, danke für die Grabrede.« Gilliad starrte die Verbände an. »Sie haben mich aber mißverstanden. Ich habe kein Talent zum Amateurdetektiv oder Geheimdienstagenten. Ich brauche nur Zeit zum Nachdenken. In meinem Kopf schwirrt eine Idee herum, die ich nie ganz festhalten konnte. Sie beschäftigt mich seit Jahren. Ich brauche nichts als einige wesentliche Tatsachen und ein paar Nachforschungen in den Archiven.« Keisler sagte: »Ah!« und strich sich nachdenklich das Kinn. »Sie besitzen Intelligenz, nach unseren Untersuchungen sogar eine sehr hohe. Die Umstände haben Ihnen nie erlaubt, sie voll zu entwickeln, aber sie ist vorhanden. Ich spreche mit Osterly darüber.« Er streckte den Arm aus und berührte eine bestimmte Stelle in der Wand mit der Fingerspitze. »Zeit für die Ärzte. Wir unterhalten uns später weiter.« Zwei Männer in weißen Kitteln kamen herein und schnitten eilig die Verbände auf. Gilliad spannte die Muskeln an, aber die freigelegte Haut war weiß, normal und unverletzt. 54
»Was habe ich gesagt?« meinte Keisler zufrieden. »Noch ein paar Generationen weiter, dann haben wir das Ganze umgekehrt. Was ein Fluch war, wird zum Segen.« Gilliad, der seine unversehrten Hände angestarrt hatte, hob den Kopf. »Aber nicht, wenn das, was meiner Meinung nach gerade passiert, Ihnen zuvorkommt.« Keislers Augen verengten sich. »Was, zum Teufel, meinen Sie damit?« Gilliad zuckte die Achseln. »Nichts, was ich beweisen konnte. Es paßt nur zu der Idee, die mir im Kopf herumgeht.« »Ich glaube, je eher Sie das mit den Geheimdienstleuten besprechen, desto besser.« »Lassen sie mir ein paar Stunden Zeit – ach ja, und ich hätte gerne etwas zum Schreiben.« »Sie sind übergeschnappt«, sagte Osterly. Seine Zähne knirschten vernehmlich auf dem Mundstück seiner Pfeife. »Mag sein.« Gilliads Stimme klang ausdruckslos. »Sie haben aber immer noch nicht erklären können, woher sie wußten, daß ich hier bin.« »Ihre Behauptung ist kein Beweis!« »Allerdings auch nicht das Gegenteil. Wie ich schon betont habe, waren und sind die Städte von dem Gedanken besessen, die Maschine zu unterdrücken. Sie hier in Kanada haben Ihre Energie darauf verwendet, die Ursachen zu erforschen und nach einem Heilmittel zu suchen. Sie brauchen sich nur zu fragen, wer bei dem ganzen schäbigen Handel den größten Gewinn gemacht hat.« Osterly starrte ihn finster an, war aber offenkundig unsicher und schon halb überzeugt. 55
»Die Lösung erscheint einfach genug. Ich brauche nur im Regierungsarchiv ein paar Unterlagen durchzusehen.« »Das würde ich Ihnen nicht raten. Wenn ich richtig sehe, wird Ihr Interesse alles verraten, und außerdem sind Sie zu wertvoll.« »Sie wollen doch nicht behaupten, daß man gegen mich etwas unternehmen würde?« »Auf eine Wette möchte ich mich nicht einlassen.« »Na gut, ich schicke einen Fremden. Wir haben einen Mann aus dem Osten in amtlicher Eigenschaft hier und geben ihm einen Presseausweis, damit er gedeckt ist.« Er seufzte. »Mr. Cantrell wird mir böse sein, wenn ich seine Zeit vergeude. Ich glaube, er hatte für heute abend eine Verabredung mit einer Blondine.« Gilliad lächelte nicht. »Hoffen wir, daß er es schafft. Sie kennen den nächsten Schritt, wenn es nicht klappt.« »Dazu kommt es sicher nicht«, sagte Osterly, als er ging. Als er zwei Stunden später zurückkam, war sein Gesicht besorgt und grimmig. Er verschwendete keine Zeit mit Entschuldigungen. »Cantrell ist tot.« Gilliad sah ihn an, ohne zu triumphieren. »Wie kam das?« »Er fiel die Treppe hinunter.« Osterly nahm die Pfeife aus der Tasche und starrte sie stirnrunzelnd an. »Drei schäbige Steinstufen. Er rutscht aus und bricht sich das Rückgrat. – Raten Sie mal, wie das passiert ist?« »Sie haben eine Maschine verwendet.« »Das vermuten wir, ja. Wir glauben, sie haben ihn hineingelassen, erlaubt, daß er die Tatsachen ermittelt, um ihn dann umzubringen, als er herauskam.« Er schüttelte 56
den Kopf. »Wir sind blind gewesen, Gilliad, die ganze Welt war blind.« »Nicht blind, nur dazu erzogen, in die entgegengesetzte Richtung, auf die unmittelbare Gefahr zu blicken, statt auf die Ursache.« »Ein Glück, daß wir es rechtzeitig gemerkt haben.« Osterly stopfte langsam seine Pfeife. »Bereit für Stufe Zwei?« »Es war ja meine Idee.« »Das heißt nicht, daß es Ihnen Spaß machen muß. Haben Sie Angst?« »Muß ich das beantworten? Also gut – ja, ich habe Angst.« Osterly grinste schwach. »Wissen Sie was? Ich mag ehrliche Leute.« Er zündete sich die Pfeife an. »Keine Sorge, Sie werden gedeckt, und wir hören alles mit. Wir sehen und hören alles.« »Gut. Vergessen Sie meinen Freund Kendal nicht.« »Alles veranlaßt.« Gilliad zog die Brauen zusammen. »Wenn Sie nur nicht so redeten, als würde ich mich für alle Ewigkeit von ihm verabschieden.« Osterly richtete sich auf. »Sehen wir doch den Dingen ins Gesicht. Es könnte sein, es könnte sehr wohl sein – sind Sie sicher, daß Sie das durchstehen wollen?« Gilliad wandte sich ab und schwieg. Kendal kam lächelnd herein. »Schön, dich zu sehen. Es geht das dumme Gerücht, du seist tot.« »Viel hätte nicht gefehlt.« Gilliad deutete auf einen Sessel. »Einzelheiten später, die Zeit ist knapp. Ich habe eine Verabredung mit den Leuten vom hiesigen Geheimdienst.« 57
»Probleme?« Kendal zündete sich eine Zigarette an. »Ja und nein – kommt darauf an, welche Schlußfolgerungen sie gezogen haben. Ich kann nicht darüber sprechen, tut mir leid.« »Verstehe, aber ich hoffe nur, daß alles gutgeht. Mensch, hier ist es herrlich, wenn man frei herumlaufen darf. Keine M-Polizei, keine Spürtrupps – wie im Himmel.« Er blies den Rauch an die Decke. »Hast du dich wieder ganz erholt?« »Völlig. Wenn du die Wahrheit wissen möchtest, jemand hat versucht, mich umzubringen.« »Was!« Kendal sah ihn verblüfft an. »Jemand hat versucht, mich zu töten.« Gilliad zündete sich ebenfalls eine Zigarette an. »Den hiesigen Fachleuten zufolge bin ich etwas Besonderes.« »Kommt mir ein bißchen eigenartig vor.« Kendal runzelte die Stirn. »Keiner kommt herein, keiner darf hinaus. Selbst wenn du etwas Besonderes wärst, wie du sagst, wer konnte davon wissen?« »Darüber habe ich mir auch den Kopf zerbrochen.« Gilliad betrachtete das glühende Ende seiner Zigarette und hob plötzlich den Kopf. »Nur eine Person wußte Bescheid, und das warst du.« »Ich?« Kendal ließ beinahe seine Zigarette fallen, dann zog er die Brauen zusammen. »Von deiner Art Humor halte ich nicht viel. Das ist nicht komisch, durchaus nicht komisch. Du lieber Himmel, Dave, wir sind seit vielen Jahren befreundet.« »Du warst jahrelang in meiner Nähe. Komisch, wenn ich versetzt wurde, warst du auch an der Reihe.« »Das bildest du dir ein.« »Bilde ich mir auch ein, daß die Immunen die am wenigsten verdächtigten, aber bevorzugtesten Leute in unse58
rer Gesellschaft sind? Bilde ich mir ein, daß Immune stets Stellungen bekleiden, von wo aus sie dirigieren können, ohne sich festzulegen, eine Technik der Grauen Eminenzen, so daß es, wenn etwas schiefgeht, immer der arme Anfällige ist, dem man die Schuld zuschieben kann?« Gilliad starrte ihn an. »Sag mir, Kendal, woran es liegt, daß Immune grundsätzlich in Archiven und statistischen Büros arbeiten? Etwa, damit sie Unterlagen fälschen und so die Tatsache vertuschen können, daß sie ungefähr sechsmal länger als jeder normale Mensch leben?« »Langsam, langsam.« Kendals Stimme klang beruhigend, aber sein Gesicht war gerötet. »Ich glaube, ich läute lieber einem Arzt, alter Junge.« Gilliad lächelte bitter. »Tu das, dann kommt ein Sicherheitsbeamter mit Pistole.« »Ich dachte, du bist mein Freund.« Kendal winkte resigniert ab. »Offenbar ein Irrtum, aber trotz deiner Ansicht tut es mir verdammt leid, daß es so enden muß.« Gilliads Lippen wurden schmal. »Mir auch. Es war eben Pech, daß gerade du mich den anderen Immunen hier hast verraten müssen.« Er schüttelte den Kopf. »Eigentlich sehr einfallsreich, eine Verbindung mit Kanada herzustellen, das gefährlich zu werden droht, und gleichzeitig Gilliad aus dem Weg zu räumen.« »Na hör mal!« Wenn Kendal schauspielerte, tat er es mit großem Geschick. »Woher, zum Teufel, hast du diese verrückten Ideen? Hat dich der Geheimdienst hier bearbeitet?« Gilliad drückte seine Zigarette aus. Leichte Zweifel meldeten sich, aber er mußte weitermachen. 59
»Ich will es dir sagen. Als mein Großvater starb, hinterließ er ein paar alte Schriftstücke, die seinem Großvater gehört hatten. Einer der alten Zettel war unzweifelhaft ein Rezept, das meine Ururgroßmutter in der Zeit vor der Maschine aus der Zeitung ausgeschnitten hatte; es befaßte sich mit der Herstellung von Johannisbeer- und Himbeermarmelade. Auf der Rückseite dieses Ausschnitts sah man die Fotografie eines Mannes, der vor dem alten Parlament steht, unter dem Bild standen die Worte: ›F. Swift, unabhängiger Kandidat für -‹. Mehr konnte man nicht lesen, aber F. Swift besaß eine frappierende Ähnlichkeit mit dir, einschließlich der Warze über der linken Braue.« »Na hör mal.« Kendals Stimme klang beinahe freundschaftlich. »Im Ernst, Dave, du biegst dir die Dinge zurecht, damit sie zu deiner Theorie passen, nicht wahr? Außerdem – warum hast du das nicht schon längst einmal erwähnt?« »Weil ich es für so verrückt hielt, wie du es jetzt hinstellen möchtest. Aber einmal von deiner Person abgesehen: Woher kommen eigentlich alle diese Maschinen oder ihre Konstruktionspläne? Allzu deutlich doch von den Immunen; niemand verdächtigt Immune, die Elite, die vor jeder Versuchung Gefeiten. Sie haben ihr Image erfolgreich aufgebaut, daß jeder sie für die Retter der Menschheit hält.«
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8 Kendal zog die Brauen zusammen. »Sind sie das nicht?« Er beugte sich vor. »Sie haben die Zivilisation am Leben erhalten, als sie zerfiel.« »Durch den Vorschlag, man könne nur überleben, wenn man sich operieren ließe?« Er zündete sich die nächste Zigarette an. »O ja, in Krankenhäusern und Anstalten wurde große Hilfsbereitschaft vorgeführt, aber man mußte ja eine schöne Fassade vorweisen. Ich glaube aber, daß der Geheimdienst auf diese Indizien hin nachforschen würde, wenn man ihn darüber informiert.« »Das hast du also noch nicht getan?« »Wie du schon erwähnt hast, waren wir immer Freunde. Ich wollte dir Gelegenheit geben, dich zu verteidigen.« »Während ein Bewaffneter vor der Tür steht?« »Er ist hier, um mich zu schützen.« »Denk mal an!« Kendal drückte seine Zigarette aus. »Du bist immer ein Dummkopf gewesen. Dumm und sentimental. Du verdienst nicht, am Leben zu bleiben. Keiner von euch Anfälligen verdient es. Du lieber Gott, wenn man –« In diesem Augenblick stürzte krachend ein Teil der Wand ein, und bewaffnete Männer stürmten ins Zimmer. Gilliad, der nach der Waffe griff, die ihm Osterly gegeben hatte, war auf das, was nun folgte, in keiner Weise gefaßt. Mit unglaublicher Geschwindigkeit fuhr Kendal herum, um seinen Angreifern zu begegnen, wie ein Tier die 61
Zähne bleckend. Seine Schultermuskeln wölbten sich, und seine geballte Faust beschrieb einen kurzen Bogen. Der erste Mann, die Waffe im Anschlag, stieß pfeifend den Atem aus, an seinem offenen Mund wölbte sich grotesk eine rötliche Schaumblase, und er stürzte zu Boden. Bevor er noch zum Liegen gekommen war, schleuderte Kendal einen schweren Sessel nach den anderen und riß etwas aus der Tasche. Gilliad warf sich zu Boden, als die Rückenlehne seines Sessels in flammende Teile zerbarst. Ein Blitz zuckte am Fenster auf, und er sah verwirrt, wie die Männer umkippten und sich Kendal durch das Fenster warf. Gilliad sprang auf und rannte zu dem jetzt glaslosen Rahmen. Bis zur Straße waren es drei Stockwerke. Kendal hätte eigentlich regungslos unten liegen müssen, aber das war nicht der Fall. Er raffte sich auf und lief davon, anscheinend unverletzt. Von irgendwoher ertönte ein scharfer Knall, Kendal umklammerte seinen Oberschenkel und brach zusammen. In diesem Augenblick sprangen Männer aus den Eingängen und warfen sich auf die am Boden liegende Gestalt. Metall schimmerte, Handschellen schlossen sich um Hand- und Fußgelenke; jemand tauchte mit einer schweren Kette auf, und man zerrte Kendal hoch. Er wehrte sich noch immer verzweifelt. »Ruhe, verdammt noch mal!« Ein Mann schwang den Pistolenknauf. »Ruhig jetzt!« »Bringt ihn herauf.« Osterly beugte sich zum Fenster hinaus. Sein Gesicht war schweißüberströmt. Er drehte sich um. »Einen Arzt. Wir dürfen nicht zulassen, daß uns der Kerl jetzt wegstirbt. Er ist durch den rechten Oberschenkel geschossen worden.« Man schleppte Kendal herauf und warf ihn in den ein62
zigen, noch unbeschädigten Sessel. Zwei Männer hielten ihn fest, während ein Arzt das Hosenbein aufschlitzte. »Nicht schlimm. Knochen und Arterien unverletzt.« Er beschäftigte sich mit seinen Instrumenten. »Beste Behandlung, Schmerz stillen.« Osterly sog hastig an seiner Pfeife. »Ach ja, nehmen Sie ihm Blut ab und schicken Sie es ins Labor zur Untersuchung – ich frage mich nämlich, ob er überhaupt ein Mensch ist.« Er schüttelte fassungslos den Kopf. »Deeming ist tot, eingedrückter Brustkorb. Campbell hat einen Schädelbruch –« Er drehte sich langsam um, als sei ihm etwas eingefallen. »Danke«, sagte er zu Gilliad. Er drückte ihm die Hand. »Vielen Dank.« Er wandte sich wieder an Kendal. »So, Kendal, Sie werden jetzt den Mund aufmachen und uns etwas vorsingen.« Kendal verengte die Augen, dann lächelte er frech. »Hier ist die erste Strophe.« Er spuckte dem anderen mitten ins Gesicht. Osterly ballte die Fäuste, die Muskeln an seinem Nacken traten hervor, und sein Gesicht verfärbte sich blutrot. Langsam und mit sichtlicher Mühe zwang er sich, nicht die Beherrschung zu verlieren. »Nein«, sagte er leise. »O nein, ich würde mich auf Ihr Niveau begeben, wenn ich Sie schlage.« Er wischte sich den Speichel aus dem Gesicht. »Sie werden trotzdem singen, Mister.« Kendal lachte höhnisch. »Was wollen Sie tun – eine Maschine benützen?« Osterly lächelte kalt. »Bei dem Bemühen, mit Ihrem kleinen Apparat fertig zu werden, sind wir auf eine ganze Reihe interessanter Drogen gestoßen.« Er wandte sich an den Arzt. »Fangen Sie mit Dresselinbarbitrat an.« 63
»Das nützt nichts.« Kendal richtete sich auf, seine Schultern wölbten sich, und eine Kette riß klirrend auseinander. »Es nützt nichts, sage ich Ihnen.« »Ruhe!« Ein Mann preßte die Mündung einer Pistole an Kendals Schläfe. »Hört mir zu, hört mir doch zu.« Er sah blaß und verzweifelt aus. »Ich kann nicht sprechen, keiner von uns kann es, gleichgültig, welche Droge Sie verwenden. Wenn ihr Erfolg habt, bringt ihr mich um.« »Wie traurig.« Der Arzt stieß die Injektionsspritze mit unnötiger Härte in Kendals Handgelenk. Osterly trat näher heran. »Wer oder was sind Sie?« »Ich – ich –« Kendal starrte ihn mit glühenden Augen an und schrie auf. Sein Körper erstarrte und bäumte sich auf; Dampf kam aus seinen Nasenlöchern, sein Schädel schien zu zerfallen. Gilliad lehnte sich zum Fenster hinaus und übergab sich. Als er sich wieder umdrehte, legten Männer mit fahlen Gesichtern die Leiche ohne Kopf vorsichtig auf den Boden. »Die Experten holen, nichts anrühren, Doppelbewachung, bis sie kommen.« Osterly wandte sich verbittert ab. »Was jetzt?« »Jetzt«, sagte Gilliad, »sieht es so aus, als ob die ganze Stadt brennen würde.« »Was!« Osterly eilte zum Fenster und starrte hinaus. Große, schwarze Rauchsäulen stiegen zum Himmel hinauf. »Mein Gott, die Regierungszentrale, die Archive, das Amt für Bevölkerungsstatistik, Provinzverteidigung – Hochburgen der Immunen. Sie ergreifen die Flucht und vernichten das Beweismaterial.« Er steckte die noch rau64
chende Pfeife in die Tasche. »Kendals Tod muß ein Alarmsystem ausgelöst haben, aber damit kommen sie nicht durch. Ich lasse sie abschießen, ich –« »Nein!« Gilliad wußte plötzlich Bescheid und schauderte. »Lassen Sie sie gehen. Sie haben Maschinen, Maschinen, die wir uns nicht vorstellen können. Ihre Leute würden massakriert werden.« Osterly drehte sich um und sah in bitter, aber mit widerwilliger Achtung an. »Danke, vielen Dank, Sie haben recht, verdammt recht. Gott sei uns gnädig! Was wird jetzt passieren?« Weit hinter der Stadt schwebte etwas Silbriges empor, neigte sich und schoß in den Himmel hinauf. Unmittelbar danach folgten ein zweiter und dritter Flugkörper. »Sie hatten also für den Notfall alles vorbereitet. Für sie ist es ja einfach; sie können in jeder Stadt landen. Mit Hilfe der Maschinen können sie die Verteidiger davon überzeugen, daß sie gar nicht plötzlich erschienen sind, die ortsansässigen Immunen werden gefälschte Unterlagen bereit haben, um zu beweisen, daß die Neuankömmlinge schon seit ihrer Geburt dort gelebt haben.« Er verstummte, kramte in seiner Tasche und begann laut zu fluchen. »Das blöde Ding brennt noch. So etwas ist mir noch nie passiert.« Osterly klemmte das Mundstück zwischen die Zähne. »Das bedeutet Krieg, Gilliad, täuschen wir uns nicht. Außerdem können wir die sechs Monate bis zum Angriff auf zwei, vielleicht noch weniger reduzieren.« Er trat stirnrunzelnd vom Fenster zurück. »Von jetzt an ist Ontario eine belagerte Provinz. Wir stehen ganz allein.« Er richtete sich plötzlich auf und grinste Gilliad an. »England stand öfter allein, wir können es auch, oder? Kommen Sie, wir trinken ein Bier.« »Ein Bier!« Gilliad, der in einer streng reglementierten 65
Gesellschaft aufgewachsen war, sah ihn erschrocken an. »Müssen wir nicht einen Bericht auf Band sprechen?« »Wozu?« Osterly tippte auf ein kleines Gerät an seinem Handgelenk. »Alles aufgezeichnet. Die haben das längst aufgenommen. Wenn sie mich brauchen, holen sie mich schon – kommen Sie.« In der fast leeren Bar trank Osterly das Glas in einem Zug aus und bestellte ein zweites. »Mein Gott, das hatte ich dringend nötig – trinken Sie aus.« »Gern.« Gilliad nahm vorsichtig einen Schluck. Das Bier war stark, aber es schmeckte ihm. Er trank sein Glas leer. Auch er hatte das Bier sehr nötig gehabt. Er hob den Kopf. »Angeblich gibt es in dieser Provinz noch einen Anfälligen meiner Art.« Osterly ließ sich das dritte Glas geben und sagte: »Ja – warum?« »Ich möchte ihn kennenlernen.« Osterly, dem das Blut ein wenig in den Kopf gestiegen war, zog die Brauen zusammen. »Es ist kein ›Er‹, sondern eine ›Sie‹«, meinte er. Er beschrieb mit den Händen Kurven. »Sehr reizvoll, aber Sie müßten mit Keisler sprechen.« »Warum?« »Er hat ihr ein Jahr Ruhe verordnet. Sie hätte sich beim Rehabilitationsprogramm beinahe zu Tode gearbeitet, und er mußte sie fast mit Gewalt herausholen. Sie lebt zur Zeit allein in einem Haus zehn Meilen außerhalb der Stadt. Es wird selbstverständlich bewacht, und Sie würden ungefähr zehn Passierscheine brauchen, um hinzukommen.« Er schluckte geräuschvoll und wischte sich mit dem Handrücken den Mund. »Selbst wenn Sie die 66
Passierscheine hätten, könnten Sie Pech haben. Sie hat besondere Vorrechte und könnte sich weigern, Sie zu sehen.« Er schüttelte betrübt den Kopf. »Wahrscheinlich würde sie das auch tun. Zum allgemeinen Bedauern scheint sie für Männer nichts übrig zu haben. Sie ist sehr schüchtern und scheu, wenn Sie mich verstehen.« Gilliad nickte, obwohl er es nicht begriff. »Wie heißt sie?« »Vanessa Stour. Bei den meisten Leuten heißt sie Tessa, aber nur Keisler darf sie so nennen. Sie mag ihn, soweit sie Männer überhaupt leiden kann. Bei den Süchtigen und Geisteskranken ist sie natürlich ein Engel, aber sobald sie gesund sind –« Er sprach den Satz nicht zu Ende. »Ich habe mir gerade gedacht –« begann Gilliad. »Verzeihung.« Osterly berührte eine Stelle seines Jacketts und neigte den Kopf lauschend zur Seite. »Ja – ja, Osterly hier – Mitteilung aus der Zentrale«, flüsterte er Gilliad zu. »Ja, bitte?« Er lauschte lange Zeit, richtete sich schließlich auf und strich über sein Jackett. »Na, das wär’s.« Er starrte Gilliad an. »Der erste Vorbericht aus dem Labor läßt erkennen, daß Kendal zwar ein Mensch war, aber organisch zu abnormaler Stärke und außergewöhnlicher Langlebigkeit manipuliert worden ist. Man nimmt an, daß ein Kunststoffgerät in seinem Schädel eingebettet war, das zwei Zwecken diente. Erstens machte es aus ihm, was er war, einen Immunen. Zweitens war es ein kombiniertes Warn- und automatisches Selbstzerstörungsgerät.« »Und woher hat er das alles?« fragte Gilliad. »Das ist die Schlüsselfrage, nicht wahr?« meinte Osterly. »Wissen Sie was? Wenn ich anfange, mir solche Fragen zu stellen, bekomme ich es mit der Angst zu tun.« 67
Gilliad starrte sein Glas an und spürte, wie er sich innerlich verkrampfte. Auch er hatte Angst – mit welchem Gegner hatten sie es hier zu tun?
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9 Keisler, der an seinem Schreibtisch saß, hob den Kopf, als Gilliad hereinkam. »Ach, ich habe Sie schon erwartet. Osterly rief mich gestern an und erwähnte, daß Sie vielleicht vorbeikommen würden.« Er legte eine lange schwarze Zigarre sorgfältig in einen Aschenbecher. »Tut mir leid, aber die Antwort ist ›Nein‹ – noch nicht.« Er lächelte verstohlen. »Sehen Sie mich nicht so überrascht an. Sie wollen mit Vanessa Stour zusammenkommen, nicht wahr?« Gilliad zog die Brauen ein wenig hoch und sagte: »Warum nicht? Warum kann ich sie nicht sehen?« »Aus zwei Gründen. Erstens: Sie ruht sich aus. Zweitens: Obwohl Sie einen ungewöhnlichen Faktor gemeinsam haben, gibt es keine brauchbare Basis für eine Diskussion. Sie ist eine Expertin auf ihrem Gebiet, Sie sind noch nicht einmal ein Anfänger. Was sie Ihnen auch erzählen würde, für Sie wäre das nur Fachsimpelei. Sie würde ihre Zeit verschwenden und Ihre auch.« »Was soll ich dann tun, verdammt noch mal – promovieren?« Keisler lachte leise in sich hinein und griff nach seiner Zigarre. »Sie müssen mehr über das Thema wissen – weil man Sie einmal als Zielscheibe für Projektionen benützt hat, sind Sie noch lange kein Fachmann.« Gilliad ballte die Fäuste. »Hören Sie, ich will doch nur mithelfen.« »Werden Sie nicht aggressiv. Ich weiß es, und ich versuche Ihnen zu helfen – was halten Sie von einer Sitzung?« 69
»Einer Sitzung?« Gilliad wurde ein wenig blaß. »Sie meinen, ich soll eine dieser verdammten Maschinen benutzen?« »Machen Sie sich nichts vor, Mann. Wie können Sie von einer Sache reden, die Sie noch gar nicht kennengelernt haben?« Er wurde unter, wie ihm schien, schrecklich beiläufigen Bedingungen seinem ersten Versuch unterworfen. Man schloß ihn in ein Zimmer ein, das außer einem Feldbett und einem Tisch mit einer Maschine nichts enthielt. »Schalten Sie einfach ein«, meinte ein unnötig herablassender Techniker. »Zum Aufwärmen braucht sie ein paar Minuten, aber dann können Sie sich einbilden, was Sie wollen, es ist ganz einfach. Keine Angst wegen der Zeit. Ich habe dafür gesorgt, daß das Gerät selbsttätig abschaltet. Für den Anfang genügt eine Stunde – glückliche Träume.« »Tun Sie das oft?« Gilliad wollte plötzlich nicht allein sein. »Ein- oder zweimal in der Woche. Zu uns kommen viele Leute von der Forschungsabteilung, wissen Sie, dann Psychiater, Mediziner und alle möglichen Leute. Wir sind immer beschäftigt. In zehn Minuten kommt nebenan ein Arzt, ich muß mich beeilen. Wie gesagt – glückliche Träume.« Gilliad sah, wie sich hinter ihm die Tür schloß, und er schaute sich verzweifelt um. Er brauchte fünf Minuten, um den Mut aufzubringen, den kleinen Schalter an der Seite des Geräts zu betätigen. Ein paar Minuten zum Aufwärmen – sich etwas einbilden – was wohl? – irgend etwas einfallen lassen – etwas Angenehmes – was war angenehm – nichts fiel ihm 70
ein – irgendwo, weit fort, vielleicht – ja, schon besser – irgendwo in der Ferne – wie diese Koralleninsel, die er in einem alten Film gesehen hatte – ja, das wäre schön – eine schöne, friedliche Insel, weit entfernt von allem – Guter Gott! Die Sonne brannte heiß auf seinen nackten Körper, und der Sand an seinem Rücken fühlte sich weich an. Über ihm schwankten die Blätter einer Palme in der Brise. Er setzte sich auf. Vor ihm tanzte die Sonne auf den kleinen Wellen. Das Meer war von unglaublicher Bläue, aber in der Ferne brach sich die Brandung schäumend an einem unsichtbaren Riff. Er stand langsam auf. Der Wind fächelte sein Haar und streichelte seine Haut. Das ist nicht wirklich, sagte er sich. Es ist nicht wirklich. Es fühlte sich wirklich an. Er ging zum Strand, und die Wellen benetzten seine Füße. Er spürte sogar das leichte Saugen, als das zurückweichende Wasser den Sand zwischen seinen Zehen mitriß. Das Unbewußte muß unglaublich viele Einzelheiten beisteuern, dachte er sachlich. Einzelheiten wie die silbrigen Sandkörner an seiner Haut, die glitzernden Wassertropfen an den Haaren seiner Beine. Ich könnte völlig übergeschnappt sein, dachte er. Ich weiß, daß das eine Halluzination ist, und doch Er hatte eine Stunde Zeit – warum sie nicht genießen? Er hob die Arme und stürzte sich in das blaue, warme Meer, das ein Produkt seiner Phantasie war, wie er wußte. Er tauchte, kam außer Atem empor, schüttelte das Wasser aus seinen Haaren und rieb sich die angenehm brennenden Augen. Er fühlte sich wunderbar; warum 71
nicht wieder untertauchen? Er brauchte den Atem nicht anzuhalten, nicht hier – hier konnte er unter Wasser atmen. Er schwamm, gleichmäßig und mühelos atmend, durch eine kühle, grüne Welt, in der Säulen und Bögen aus rosigen Korallen pastellene und friedliche Schönheit ausstrahlten. Schwärme bunter tropischer Fische begleiteten ihn. Als er später zur Oberfläche auftauchte, stellte er verblüfft fest, daß er hinter den Ohren Kiemen besaß. Er beschloß, sich das zu merken. Ich muß einen streng logischen Verstand haben, sagte er sich. Trotz meiner Einbildungskraft konnte er die unlogische Vorstellung des Atmens unter Wasser ohne eine Vorrichtung dazu nicht akzeptieren. Er schüttelte Tropfen aus dem Haar und dachte: Jetzt will ich fliegen. Er schwebte aus dem Wasser empor, war aber nicht überrascht, als er feststellte, daß ihm gewaltige, weiße, wunderbar geschwungene Flügel gewachsen waren. Auch das merkte er sich. Mitten im Flug wurde das Meer unter ihm plötzlich unwirklich, er sank herunter und sah sich plötzlich wach auf dem Feldbett liegen. Jetzt begriff er vollkommen, wie man nach dieser Maschine süchtig werden konnte. Hier war die Möglichkeit, ganz zu entfliehen. Der Kranke – körperlich oder seelisch Kranke – konnte zu einem vollkommenen Wesen werden. Mit der Maschine konnte man in einer selbstgeschaffenen Welt ein Gott sein. Man konnte Armeen befehligen, unfaßbare Giganten vernichten, sich dem höchsten Streben hingeben oder die brutalsten Triebe befriedigen. In dieser Phantasiewelt subjektiver Vorstellung 72
war jede Perversion ebenso möglich wie die Verwirklichung höchster Ideale. Er sah die Maschine auf dem Tisch stirnrunzelnd und unsicher an. In einem anderen Zeitalter hätte man dergleichen als schwarze Magie bezeichnet. Vielleicht hatte es in der ganz fernen, dunklen Vergangenheit schon einmal eine solche Maschine gegeben. Es konnte sein, daß all die Legenden von Riesen, Feen, Siebenmeilenstiefeln und feuerspeienden Drachen auf ein solches Gerät zurückgingen. Andererseits war der Grundbegriff nicht neu. Der Mensch hatte seit Jahrhunderten und mit allen möglichen Methoden versucht, die Funktion der Geisteskräfte zu beeinflussen – durch Hypnose, durch die verschiedensten Drogen, die meist gefährlich waren, durch Fasten, sogar durch inbrünstiges Gebet. Viele dieser Methoden waren vom Motiv her uneigennützig, weit mehr aber dienten sie der Flucht aus der Wirklichkeit oder dem Bestreben, Macht über die Mitmenschen zu gewinnen. Die Ironie hier bestand jedoch darin, daß die Maschine zwar all diesen Absichten diente – ob sie nun uneigennützig waren oder nicht – die Mehrheit der Benutzer aber gerade durch das Gerät, das sie frei machte, versklavt wurden. Ja, ja, die Gefahr der Süchtigkeit ließ sich vor allem inmitten der allgemeinen Unruhen und der den Menschen drohenden Gefahren verstehen. Er verließ das Zimmer und ging zu Keislers Büro. Der Doktor lauschte aufmerksam, als er von seinen Erfahrungen berichtete. »Gewiß, Mr. Gilliad, die Hinweise auf die Kiemen und Flügel sind bedeutsam. Sie haben genau die entscheidenden Punkte getroffen, die Sie von anderen unterscheiden. Ihr Verstand kann das Unlogische nicht hin73
nehmen, weshalb Ihr Unterbewußtsein gezwungen war, die Mittel zu liefern, mit denen Sie auch subjektiv das Unmögliche leisten konnten. – Das ist die unsichtbare, aber unzerstörbare Barriere, die verhindert, daß Sie süchtig werden, das bewußte Bindeglied zwischen Ihrem Geist und der Wirklichkeit.« Er griff nach seiner Zigarre. »Was haben Sie jetzt vor?« »Ich hätte gerne Ihre Erlaubnis für weitere Sitzungen. Ich habe einen verschwommenen Plan und muß allerhand lernen. Sobald ich fertig bin, wäre ich Ihnen dankbar, wenn Sie meine Aufzeichnungen studieren und mir Ihre Meinung zu meinen Schlußfolgerungen sagen würden.« Gilliad führte insgesamt vierundzwanzig Sitzungen durch; das erste Dutzend diente allein dazu, Erfahrungen zu sammeln. Er war Industriemagnat, Supermann, Abenteurer. Er ritt als sonnenverbrannter Cowboy durch Texas und stellte sich in einer Kneipe einem Revolverduell. Er ritt mit König Artus und stieß einen schwarzen Ritter, der ihn herausgefordert hatte, mit der Lanze vom Pferd. Anschließend suchte er die Bibliothek auf. Seine Bemerkungen, als er sich mit Keisler traf, versetzten diesen in beträchtliche Unruhe. »Der Kampf in der Kneipe war von erschreckender Realität«, sagte Gilliad, »einschließlich der Aufregung, dem Fuselgeruch und dem ätzenden Pulverdampf. Mein eigenes Gefühl der Angst und des Triumphes stimmte genau mit der Situation überein. – In der Bibliothek stellte ich aber fest, daß es den sechsschüssigen Revolver, wie ich ihn verwendete, erst Jahre später gegeben hat. Zu dieser Zeit der amerikanischen Geschichte mußte der 74
Hahn jedesmal mit der freien Hand gespannt werden und spannte sich nicht automatisch nach jedem Schuß, wie bei meiner Waffe. – Noch auffälliger waren die Unstimmigkeiten bei meinem Auftreten als Ritter. Der Helm stammte aus dem dreizehnten Jahrhundert, das Visier aber aus dem vierzehnten, und die übrige Ausrüstung stellte ein buntes Durcheinander dar. Der Harnisch war deutsch und ist in England zu keiner Zeit in Gebrauch gewesen. Die Lanze war im England der Feudalzeit nicht bekannt. – Ich war von der provisorischen Theorie ausgegangen, daß das angeregte Gehirn Anleihen beim Kollektivbewußtsein macht, wenn es gilt, Einzelheiten zu liefern, aber das trifft nicht zu. Es bedient sich nicht nur seines eigenen Wissens, sondern auch seiner eigenen Irrtümer und Fehlinformationen.« Die Berichte über die zwölf letzten Sitzungen veranlaßten Keisler jedoch, sich abrupt aufzurichten, und er betrachtete Gilliads Aufzeichnungen mit dem schockierten Gesichtsausdruck eines Mannes, der nicht sicher ist, ob er sich verlesen oder das Geschriebene mißverstanden hat, oder beides. Er las die Notizen ein zweitesmal, als Osterly hereinkam und sich auf die Schreibtischkante setzte. »Nur nicht klopfen«, meinte Keisler gereizt. »Ich sitze hier nur herum und träume.« »So?« Osterly zündete seine Pfeife an. »Ich habe auch ein bißchen geträumt.« Keisler zog die Brauen zusammen und zuckte die Achseln. »Was ist los?« Er wußte, daß er Osterly nicht hinauswerfen konnte; außerdem waren sie schon lange befreundet. Er wiederholte seine Frage. 75
»Ich weiß nicht recht, ich mache mir einfach Sorgen. Sie wissen ja, wie das Nachdenken bei mir aussieht – ich rauche, trinke Bier, rauche, trinke mehr Bier, und schließlich taucht etwas an die Oberfläche. Was sich da zeigte, gefiel mir nicht – für mein Gefühl sind die Immunen zu schnell und ohne Widerstand geflüchtet.« Keisler erstarrte und sah ihn an. »Sie meinen, es sind welche zurückgeblieben?« »Liegt nahe, nicht wahr? Eine erfahrene Organisation wie diese flieht nicht einfach vor einem potentiell gefährlichen Gegner, ohne Experten zu hinterlassen, die ihr Bericht erstatten können. Die Frage ist: Wie finden wir sie? Alle Unterlagen sind vernichtet, und es gibt keine Möglichkeit, sie von den anderen zu unterscheiden, abgesehen von einer ärztlichen Untersuchung, was zu lange dauern würde.« Er runzelte die Stirn und sog an seiner Pfeife. »Wo würden Sie sich verstecken, wenn Sie ein Immuner wären?« Keisler begriff, daß es sich um eine entscheidende Frage handelte, überlegte lange und hob schließlich den Kopf. »Ich glaube, ich würde mich als Süchtigen zweiten oder dritten Grades ausgeben.«
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10 Osterly nickte. »Zu der Schlußfolgerung bin ich auch gekommen. Wer macht sich schon die Mühe, alle Verrückten zu überprüfen, um herauszufinden, ob es wirklich derselbe Verrückte ist, den man seinerzeit eingeliefert hat?« Er grinste. »Ich. Alle Nervenkliniken in der Provinz werden durchgekämmt – haben Sie noch andere Ideen?« »Viele«, sagte Keisler müde, »aber keinen praktikablen Plan, sie aus ihren Verstecken zu scheuchen.« »Genau mein Problem.« Er starrte düster vor sich hin. Keisler sah ihn an und griff verärgert nach einer Zigarre. Hatte er nicht schon genug zu tun? Gewiß, verständlicherweise hatten Wissenschaft, Medizin und Geheimdienst stets freundschaftlich zusammengearbeitet, aber trotzdem – er betrachtete mißmutig die Aufzeichnungen und zündete sich die Zigarre an – und plötzlich regte sich ein Gedanke; vielleicht versprach das Erfolg … Er schloß kurz die Augen und legte die Zigarre weg. »Ben, ich glaube, ich habe eine Idee.« »Können wir sie verwenden?« meinte Osterly resigniert. »Ich weiß es nicht, aber ich glaube, daß Gilliad einen völlig neuen Weg gefunden hat, mit, wie mir scheint, fast zu vielen originellen Abweichungen.« Er sog den Rauch ein. »Ganz offen gesagt, manches von dem, was er getan hat, und noch mehr, was er tun will, erschreckt mich.« »Besteht irgendein Zusammenhang mit unserem Problem?« 77
»Keine Ahnung. Ich habe ihn noch nicht gefragt, aber vielleicht fällt ihm etwas ein.« Osterly nahm die Pfeife aus dem Mund und stieß ein kleines Rauchwölkchen aus. »Her mit ihm.« »Alles zu seiner Zeit. Sie sollten sich lieber erst anhören, was er getan hat. Alles übrigens ohne Anstoß oder Vorschläge von außen.« Er schwieg einen Augenblick und griff nach den Aufzeichnungen. »Im Verlauf von zwölf Sitzungen hat sich Gilliad einem Programm der Selbstanalyse unterzogen. Als er sich später von Fachleuten analysieren ließ, damit seine Ergebnisse überprüft werden konnten, stellten sie sich nicht nur als völlig richtig heraus, sie waren auch viel zutreffender, tiefgreifender und genauer als alles, was die Fremdanalyse an den Tag brachte.« »Mit der Maschine!« Osterly stand auf und starrte ihn an. »Wie, zum Teufel, hat er das gemacht?« »Er machte sich die Grundlage aller Religionen und aller großen philosophischen Systeme zu eigen. ›Erkenne dich selbst.‹ Mit Hilfe der Maschine versetzte er sich in die verschiedensten Belastungssituationen und achtete auf den Zeitpunkt, zu dem er zu unterliegen begann.« »Wie hat er das angestellt?« fragte Osterly interessiert. »Zuerst versetzte er sich in eine Lage, sagen wir, großer Gefahr, und –« »Aber daraus konnte er sich doch jederzeit durch irgendeinen x-beliebigen Einfall befreien.« »Bitte, unterbrechen Sie mich nicht dauernd – Gilliad befahl seinem Verstand, diesen Fluchtweg zu vergessen, und, was noch erstaunlicher ist, wies sich selbst an, im letzten Augenblick abzuschalten. Kurz gesagt, er konstruierte ein geistiges Sicherheitsventil, das zu vergessen 78
er dann wiederum seinem Verstand befahl. Es gab also im Grunde keinen Ausweg aus der Situation, in die sich Gilliad versetzt hatte.« Osterly setzte sich wieder auf den Schreibtisch und zielte mit dem Pfeifenmundstück. »Das ist ein Durchbruch, Ed, das sehe sogar ich.« Er beugte sich vor. »Holen Sie ihn her.« »Alles zu seiner Zeit, habe ich gesagt. Ich habe einen meiner besten Leute angewiesen, mit ihm zusammenzuarbeiten.« Er schaute auf die Uhr. »In genau fünfzehn Minuten versuchen sie es mit einem Experiment, das Gilliad als ›Stufe Zwei‹ beschreibt – wollen Sie das sehen?« Osterly stand auf. »Kennen Sie jemand, der mich daran hindern könnte?« Er grinste und steckte die Hände in die Hosentaschen. Keisler lächelte versonnen. »Also, gehen wir.« Er öffnete die Tür und ging voraus zu den Laboratorien. Im Versuchsraum waren mehrere Techniker an dem Bildschirm beschäftigt, eine zweite Gruppe drängte sich um einen Projektor. Keisler stellte mit einer Handbewegung vor. »Keldren haben Sie ja schon kennengelernt, glaube ich. Einer meiner beiden Leute. Keldren, erklären Sie Mr. Osterly das Experiment.« Keldren hatte rote Haare und ein schmales, rötliches Gesicht, das besorgt wirkte. »Ich will mich kurz fassen, Sir. Wie Sie wissen, geriet Gilliad nach seiner Ankunft in eine Projektion und wäre beinahe ums Leben gekommen. Jetzt will er das erneut durchmachen, um zu sehen, ob er durch eigene Initiative 79
überleben kann.« Er machte eine Pause und zupfte nervös an seiner Unterlippe. »Er hat eine, vermutlich zutreffende, Theorie entwickelt, wonach sogar ein AnfälligResistenter einer Projektion nicht durch Willenskraft widerstehen kann – die subjektiven Eindrücke sind einfach zu echt und überwinden die innere Überzeugung.« »Und?« »Er glaubt, die subjektive Antwort gefunden zu haben, Sir.« »Sie scheinen aber große Zweifel zu haben.« »Allerdings, Sir. Erstens behält er zuviel für sich und will mir nicht verraten, wie die Lösung aussieht. Zweitens bin ich hineingetappt, Sir. Ich wußte nicht, was er vorhatte.« »Das müssen Sie mir genauer erklären.« Keldren zögerte kurz. »Tja, Sir, er bat mich, die entsetzlichste SubjektivAufzeichnung herzustellen, die mir einfiele. Er ließ durchblicken, daß er sie nur zum optischen Studium auf dem Bildschirm benötige, weshalb ich alle Hemmungen fallenließ. Den wahren Zweck erkannte ich natürlich nicht – der Haken dabei ist, Sir, daß ich viel ausgefallenes Zeug lese und eine blühende Phantasie besitze.« »Es wird aber doch bestimmt Sicherheitsmaßnahmen geben.« »Gewiß, Sir, durch einen Hysteriemesser an Gilliads Körper sind verschiedene Abschaltmöglichkeiten eingebaut, aber trotzdem ist es noch verdammt gefährlich.« Man brachte Stühle herein. Keisler setzte sich. »Sie kennen sich aus, nicht wahr?« sagte er. »Das projizierte Bild wird, komplett mit Ton und Geräuschen, auf dem Wand-Bildschirm gegenüber erscheinen. Sobald die Projektion gesteuert und eingeregelt ist, erscheint Gilliad 80
im Vordergrund. Alle Reaktionen, alle subjektiven Eindrücke von ihm werden uns sichtbar dargestellt.« »Verstehe.« Osterly nahm neben ihm Platz. »Wo ist Gilliad?« »Nebenan – er mag keine Zuschauer.« »Nein.« Keldren beugte sich vor. »Er tritt jetzt – subjektiv, meine ich – in eine Situation, die erfunden zu haben mir Gewissensbisse verursacht.« Er deutete. »Sehen Sie auf den Bildschirm –« Sie schauten hin, und Osterly sagte: »Um Gottes willen, Keldren, woher haben Sie denn eine solche Szene?« Keldren kicherte nervös. »Ich scheine eine gräßliche Einbildungskraft zu haben.« Osterly sah ihn betroffen an. »Das läßt sich nicht bestreiten.« Für Gilliad, der sich im subjektiven Zustand dort tatsächlich befand, war es mehr als ein Produkt der Phantasie, es war Wirklichkeit. Er wußte natürlich, daß die Szene eine Projektion war und konkrete oder objektive Wirklichkeit nicht besaß. Er wußte auch, daß nichts von dem, was er sah und erlebte, außerhalb seiner Einbildung existierte, aber Gefahr bestand trotzdem. Es mochte in dieser imaginären Umwelt Dinge geben, die fähig waren, ihm subjektive oder psychosomatische Verletzungen zuzufügen, die ihrerseits wieder echte körperliche Verletzungen hervorrufen konnten. Die Gefahr oder der Schrecken konnten außerdem so groß sein, daß dauernde Geistesgestörtheit zu befürchten war. Er fröstelte, aber es war nicht kalt, es war heiß hier, drückend schwül, erstickend, und ganz entschieden befand er sich nicht auf der Erde. Keldren hatte seine leb81
hafte Phantasie frei spielen lassen und sich stark auf seine ausgefallene Lektüre gestützt. Gilliad seufzte und straffte die Schultern. Der Schlamm an seinen Füßen gluckste bei jeder Bewegung. Hier schien es nichts als Schlamm zu geben, Schlamm und Tümpel mit fauligem Wasser, bis zu einem unnatürlich nahen Horizont. Eine niedrigstehende, rote und barbarische Sonne glühte am Himmel und tauchte den Schlamm und die Tümpel in blutiges Rot. Sogar die vereinzelt aufsteigenden Dämpfe über der trostlosen Landschaft schimmerten scharlachrot. Gilliad spürte plötzlich ein Zucken in seinen Schenkeln und eine unnatürliche Schwäche in den Knien. Erst jetzt ging ihm auf, daß er vor Angst schlotterte. Wenn Keldren sich an seine Anweisungen gehalten hatte, gab es nicht nur diese Szenerie, sondern er hatte auch noch etwas in sie hineingestellt. – Oh, mein Gott … Das Wesen, das sich langsam über der schwarzen Horizontbegrenzung erhob, besaß einen brutalen, winzigen Schädel auf einem gebogenen, schwanenartigen Hals von der Länge eines Fabrikschornsteins. Der Körper, der ihm nachfolgte, schien fast so groß wie der Planet selbst zu sein, gigantisch, pulsierend und mit wüsten Stacheln besetzt. Das Wesen wankte auf ihn zu, während die gewaltigen Beine Wasser- und Schlammfontänen hochwarfen. Gilliads erster Impuls befahl ihm, sich umzudrehen und die Flucht zu ergreifen, aber eine unerklärliche störrische Ader zwang ihn stehenzubleiben. Das mußte gelöst werden; es mußte eine Antwort geben – konzentrieren! Konzentrieren … In diesem Augenblick schoß pfeifend etwas vom 82
Himmel herab, und ein langer, schimmernder Gegenstand platschte neben ihm in den Schlamm. Keldren, der gebannt auf den Bildschirm starrte, sprang auf. »Moment! Das gehört nicht dazu. Das habe ich nicht eingeplant.« Osterly stieß ihn auf seinen Stuhl zurück. »Hinsetzen und Mund halten.« Sie sahen zu, als Gilliad sich auf den schimmernden Gegenstand stürzte und ihn an die Schulter hob. Es gab einen Blitz, einen zweiten, dritten. In den Flanken des Ungeheuers erschienen große, rauchende Löcher. Es richtete sich auf den Hinterbeinen auf und schlug wild um sich. Immer mehr Löcher wurden sichtbar, plötzlich erschlaffte der lange Hals und fiel wie ein zerschnittenes Seil in sich zusammen. Langsam schienen die vielen Beine nachzugeben, der gigantische Körper legte sich schwerfällig auf die Seite und erstarrte. Der Bildschirm wurde schlagartig dunkel, und die Zuschauer atmeten erleichtert auf. »Mein Gott, er hat es geschafft!« sagte Keisler, halb erleichtert, halb gereizt. »Wie, zum Teufel, ist ihm das gelungen?« Sie drängten sich ins Nebenzimmer, aber Osterly schickte die meisten sofort wieder hinaus. »Streng geheim«, sagte er kühl und schloß die Tür. Er wandte sich an Gilliad. »Wie fühlen Sie sich?« »Nicht gerade auf eine Wiederholung erpicht.« Gilliad zündete sich eine Zigarette an. »Im großen und ganzen ist es mir jetzt klar.« Keisler zog sich einen Stuhl heran. »Bitte, korrigieren Sie mich, wenn ich etwas Falsches sage. Der Projektor lieferte eine 83
bestimmte Situation, die aber, um subjektiv überzeugend wirken zu können, das Gehirn reizen mußte, wie bei einer direkten Sitzung mit der Maschine. Diese Reizung haben Sie dazu benützt, Ihre eigene Phantasievorstellung einzuführen – oder, sagen wir, Ihre vorgestellte Gegenwaffe, wenn Ihnen das lieber ist. Stimmt’s?« Gilliad sog den Rauch tief ein. »Richtig. Keldren hatte sich offenkundig einen fremden Planeten mit einem außerweltlichen Ungeheuer einfallen lassen, also mußte ich mit der klassischen Antwort kontern. Ich war ein Raumfahrer und schickte daher ein dringendes Signal zum Mutterschiff, man solle mich mit einer Waffe versorgen, die zum Glück gerade noch rechtzeitig eintraf.« »Ich komme da nicht mit«, meinte Osterly. »Sie wußten, daß das nicht wirklich war. Warum konnten Sie sich nicht einfach sagen, daß es sich um eine Illusion handelte? Immerhin sind Sie doch resistent.« »Das konnte ich nicht; niemand kann es. Die einzige Lösung besteht darin, eine Suggestion mit einer anderen zu beantworten.«
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11 »Zauber und Gegenzauber.« Keldren zupfte nervös an seinem rechten Ohrläppchen, und seine Stimme schwankte ein wenig vor Erleichterung. »Es tut mir leid, Mr. Gilliad, wirklich.« »Keine Ursache. Sie haben gute Arbeit geleistet.« Osterly machte ein finsteres Gesicht. »So etwas kann er in Zukunft für sich behalten.« Gilliad setzte sich auf und stellte die Füße auf den Boden. »Es wird schlimmer kommen, viel schlimmer.« »Ich verstehe Sie nicht.« »Das sollten Sie eigentlich.« Keisler zündete sich eine seiner langen Zigarren an. »Was, glauben Sie, werden die Immunen tun, wenn sie anfangen – Raketen abfeuern, Hitzebomben abwerfen? Nein, mein Freund, wenn sie angreifen, dann mit einem subjektiven Überfall; sie werden uns mit Projektionen überschütten. Ihre Trugbilder werden in unsere Gehirne eindringen, und wir haben verloren, bevor uns klar wird, was geschehen ist. Bis jetzt ist Dave Gilliad der einzige, der überhaupt eine Lösung gefunden hat.« »Er ist aber auch resistent.« Osterly war blaß geworden. »Stimmt, aber vielleicht kann man den normalen Verstand schulen. Wir werden uns damit befassen müssen.« »Hoffentlich haben Sie recht – und was ist mit dem augenblicklichen Problem?« »Sagen Sie ihm lieber Bescheid.« Keisler versuchte, einen Rauchring zu blasen, es mißlang. 85
»Gut.« Osterly berichtete ausführlich über seinen Verdacht, daß noch eine Spionageorganisation der Immunen bestehe. Gilliad überlegte. »Ich bin eigentlich kein Experte, aber es wird mir immer klarer, daß diese Maschine ein zweischneidiges Schwert ist – könnten Sie die ganze Stadt mit Projektionen überziehen?« »Das könnten wir, aber es wäre verdammt gefährlich.« »Dann bespreche ich das vorher lieber mit den Fachleuten.« Er wandte sich an Keisler. »In groben Zügen würde ich folgendes vorschlagen – damit erreichen wir zwar nicht alles, aber hoffentlich doch eine ganze Anzahl.« Als Gilliad seinen Plan entwickelte und Keisler wiederholt nickte, begann sich Osterly aufzuregen. »Das könnte wirklich funktionieren, Menschenskind!« Er ging ruhelos hin und her. Schließlich stolperte er über einen Gegenstand in der Ecke und begann zu fluchen. »Was ist denn das für ein blödes Ding?« Er rieb sich wütend das Schienbein. Gilliad grinste. »Eine Hantel, wie sie Gewichtheber benützen.« »Was für ein Athlet kann diesen Apparat heben? Das wäre ja einem Elefanten zu schwer. Was steckt dahinter?« Keldren lächelte freundlich. »Bedaure, streng geheim, Mr. Osterly.« Der Geheimdienstmann wurde rot und grinste. »Das habe ich wohl nicht anders verdient, Keldren. Kehren wir zum Thema zurück. Wir könnten das in drei Tagen schaffen.« »Und in vier Tagen, vielleicht, sogar früher, werde ich 86
Ihnen sagen können, was es mit der Hantel auf sich hat«, meinte Gilliad. Er drückte seine Zigarette aus. »Inzwischen könnten wir ganz früh am Morgen anfangen, sagen wir, um sieben Uhr.« Osterly schaute auf die Uhr, nickte und schlug seinen Mantelkragen hoch, um sich vor dem Regen zu schützen. Es war früher Morgen. »Es ist soweit. Hoffentlich klappt es. Ich habe alle verfügbaren Leute eingesetzt, einschließlich der gesamten Polizei und drei Viertel der Streitkräfte.« Gilliad schnippte seinen Zigarettenstummel zur Abfalltonne, verfehlte sie aber. »Es könnte zu Schwierigkeiten kommen.« »Ich habe Befehl gegeben, nicht zu schießen, sondern zu identifizieren und genau auszumachen. Wir fassen Sie, wenn keine unbeteiligten Zuschauer –« Er verstummte. »Da ist einer.« Gilliad, den man vorher eilig instruiert hatte, schaute nicht hin. »Kennen Sie ihn?« »Klar. Energietechniker namens Royce.« Er wartete. »Gut, gehen wir.« George Royce betrat seine kleine Zwei-ZimmerWohnung, ohne zu ahnen, daß man ihn beschattete. Er schaltete den Kaffeespender ein, warf ein Ei und ein paar Scheiben Speck in den Kochautomaten und wartete, bis ihm die Mahlzeit serviert wurde. Er war ein unauffälliger Mann mit formloser Nase und tiefliegenden braunen Augen. Er bewegte sich auf seltsam schlurfende Weise, mit schlaff herabhängenden, langen Armen, stets ein wenig gebückt. Die Schultern wirkten plump, aber kraftvoll. 87
Als der Automat das Essen ausstieß, läutete es an der Tür. Royce fluchte vor sich hin. Wer konnte um diese Zeit –? Er ging zur Tür und öffnete sie. »Mr. Royce?« Osterly zeigte seinen Ausweis. »Entschuldigen Sie die Störung, Routine-Ermittlungen – dürfen wir hereinkommen?« »Wollte eben essen.« Royce ließ sie widerwillig herein. »Beeilen Sie sich.« »Fangen Sie ruhig an«, sagte Osterly. »Ich wollte nur wissen, ob Sie gestern nacht hier draußen etwas von einer Schlägerei bemerkt haben?« »Schlägerei?« Royce kaute. »Da sind Sie bei mir falsch. Ich arbeite nachts und bin erst vor zehn Minuten heimgekommen.« »Sehr schade.« Osterly wandte sich an Gilliad. »Wir haben heute kein Glück. Durch den Regen scheint niemand etwas gehört zu haben.« Er sah Royce an. »Verzeihen Sie die Störung.« Und fügte, ganz beiläufig, hinzu: »Sollten Sie nicht lieber bald die nassen Sachen ausziehen, hm?« Royce schluckte einen Bissen unzerkaut hinunter und zog die Brauen zusammen. »Was reden Sie denn da? Es ist klar und sonnig –« Er verstummte, legte langsam das Besteck weg, stand auf und trat ans Fenster. »So, so.« Seine Stimme veränderte sich auf eigenartige Weise. »Die braven Bewohner unserer Stadt laufen mit Schirmen und Regenmänteln herum, und nirgends, aber wirklich nirgends ist auch nur ein Regentropfen zu sehen.« Plötzlich und mit erschreckender Geschwindigkeit wirbelte er herum und sprang vorwärts. Es gab einen 88
trockenen, knirschenden Laut. Osterly taumelte zur Seite und stöhnte auf. »Tut weh – ja?« Royce lächelte spöttisch. »Bei einem Armbruch soll das meistens so sein, wie ich höre. Mit dieser Hand werden Sie Ihre Waffe nicht mehr ziehen können, wie?« Er zerriß die Tasche und warf die Waffe in eine Ecke. »Das bewahrt Sie vor der Versuchung und einem zweiten Armbruch, ja?« Er lächelte wieder. »Wenn ich Sie nochmals herumjonglieren muß, mache ich es gnädig. Ich zerre einfach an dem gebrochenen Arm. Das schmerzt zwar sehr, aber Sie haben dann immer noch einen gesunden Arm zum Winken.« Er lehnte sich an die Wand und zündete sich eine Zigarette an. »Wollt Ihr Anfälligen plötzlich frech werden?« Er blies den Rauch durch die Nase. »Na schön, den Versuch kann man ja gut benoten. Geklappt hat es. In Wirklichkeit seid ihr aber Amateure. Ein Sonntagsschlag in einem Fünfzehnrundenkampf entscheidet nichts, ein so harmloser Schlag schon gar nicht.« Er sah Osterly von oben bis unten an. »Geheimdienstmitarbeiter, du lieber Himmel!« Er blies ihm Rauch ins Gesicht. »Sie schwitzen ja, Mann; Sie können keine Schmerzen ertragen. Eure Sorte ist nicht aufs Überleben eingerichtet. Als mindere Gattung seid ihr im Absterben begriffen.« Er wandte sich Gilliad zu. »Und Sie, mein Lieber, Sie scheinen den Nerv verloren zu haben. Warum ziehen Sie Ihre Waffe nicht?« Gilliad gab sich große Mühe, das Schwanken seiner Stimme zu verbergen. »Das brauche ich nicht, ich werde auch ohne sie mit Ihnen fertig.« Osterly richtete sich auf. »Um Gottes willen, Dave –« Die Schmerzen in seinem Arm betäubten ihn, aber er mußte Gilliad warnen. »Trei89
ben Sie es nicht zu weit! Sehen Sie denn nicht, daß er nur darauf wartet, uns auseinanderzunehmen?« »Das ist aber sehr ungerecht.« Royce war nahe daran, sich befriedigt die Lippen zu lecken. Er wandte sich wieder Gilliad zu. »Hätten Sie vielleicht die Freundlichkeit, das zu wiederholen?« »Ich sagte, ich werde auch ohne Waffe mit Ihnen fertig.« »Sie prahlen, aber sehr zuversichtlich klingt das nicht – wie stellen Sie sich das denn vor?« Gilliad richtete sich auf. »Zu Ihrer persönlichen Befriedigung: Ich fühle mich auch nicht sehr zuversichtlich, aber in London habe ich ziemlich viel geboxt – ich riskiere es.« »London! Ah ja, deshalb sind Sie mir bekannt vorgekommen. Sie gehören zu den Resistenten, ich erinnere mich. Wie nett von Ihnen, sich auf dem Präsentierteller darzubieten.« Er lachte auf. »Boxen! Was denn noch? Leiden Sie an Größenwahn? Möchten Sie mich mit einer Feder niederschlagen oder mit einer Papiertüte mißhandeln?« Er trat vor, mit hängenden Armen, das Kinn vorgereckt. »Ich tue Ihnen einen Gefallen, Gilliad. Ich warne Sie. Ich bin zehnmal so stark wie Sie, und meine Reflexe funktionieren vielleicht zwanzigmal so schnell. Bevor Sie sich also brüsten, bevor Sie sich und mich mit Ihrem lahmen Heroismus ermüden, bedenken Sie vielleicht, daß ich Ihr Leben mit Daumen und Zeigefinger auslöschen kann. Ich kann Ihnen mit einer Bewegung des Handgelenks einen Arm ausreißen oder Ihnen mit einem Faustschlag den Schädel zertrümmern.« Er trat noch einen Schritt vor. »Man sollte Sie in eine Kiste mit Holzwolle packen, ›Zerbrechlich‹ draufschreiben und eingraben, Gilliad. Nicht nur Sie, alle Anfälligen. Biologisch sind 90
sie auf dem Absterbeetat, verdrängt durch eine überlegene Gattung.« »Auch geistig?« Gilliads Gesicht rötete sich zornig. »Für mich zeigen Sie alle Symptome einer fortgeschrittenen Paranoia.« Royce zog finster die Brauen zusammen. »Sie sind dumm, mein Freund, dumm und undankbar. Sie beantworten meine Warnungen mit einer Beleidigung.« Er lächelte unfreundlich. »Trotzdem neige ich immer noch dazu, Gnade walten zu lassen. Ich lasse Ihnen eine Chance – nicht, daß Sie die verdient hätten. Sie dürfen den ersten Schlag ausführen.« Er reckte Gilliad das Kinn hin. »Los, mein Freund, schlagen Sie zu.« Gilliad schlug zu. Osterly, krank vor Schmerzen, versuchte warnend zu schreien, aber es war schon zu spät. Er sah Gilliads Faust einen kurzen Bogen beschreiben. Es war offenkundig ein Schlag, der’ nur allzu deutlich durch Royces große Nähe behindert wurde und auch nicht wirklich kraftvoll war, aber aus irgendeinem Grund traf er ins Ziel. Osterly sah entgeistert, wie Royce ein wenig taumelte. »Noch einen?« Gilliads Linke schoß vor, dann setzte er einen rechten Haken hinterher. Diesmal geriet Royce nicht nur ins Schwanken. Er stolperte rückwärts, prallte gegen den niedrigen Tisch und klammerte sich verzweifelt daran fest. Tasse, Teller und Besteck rasselten zu Boden. Auf irgendeine Weise gelang es Royce, auf den Beinen zu bleiben; er schüttelte zwei- oder dreimal den Kopf, wischte mit dem Handrücken das Blut aus dem Mundwinkel und richtete sich schließlich ganz auf. Er 91
wirkte halb betäubt und war vor Überraschung beinahe außer sich. »Mein Gott!« sagte er mit gepreßter Stimme. »Das werden Sie mir büßen, Sie gemeiner Kerl. Ich weiß nicht, wie Sie das gemacht haben, aber Sie werden es büßen, bei Gott! Keiner benützt bei mir Hautmetall-Handschuhe, ohne es zu bereuen.« Er sprang vor. Für Osterly war das Tempo der Attacke unfaßlich, aber Gilliad schien ebenso schnell zu reagieren. Er brachte Royce mit drei linken Geraden zum Stehen und setzte einen harten Haken genau auf den Solarplexus. Royce riß den Mund auf, krümmte sich plötzlich zusammen und stürzte schlaff auf den Boden. Gilliad sah auf ihn hinunter und rieb sich die Knöchel. »Supermann«, sagte er beinahe traurig.
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12 Er griff nach einem Stuhl und trug ihn zu Osterly. »Setzen Sie sich lieber hin.« »Danke.« Osterly ließ sich vorsichtig nieder. »Er hat meinen Arm übel zugerichtet – komplizierter Bruch. In meiner rechten oberen Tasche finden Sie eine grüne Ampulle. Brechen Sie die Spitze ab und halten Sie sie mir bitte unter die Nase.« Gilliad tat es, und Osterly atmete tief ein. »Gott sei Dank, jetzt wird mir besser.« Das Blut kehrte langsam in sein Gesicht zurück. Royce stöhnte, rollte sich zur Seite und setzte sich auf. Gilliad wartete, bis er aufgestanden war, dann schlug er wieder zu. Er traf Royce an der Kinnspitze, der Mann sank wieder bewußtlos zu Boden. Osterly unterbrach seine Funkmeldung und sagte: »Wie, zum Teufel, haben Sie das gemacht?« »Das konnten Sie ja sehen. Ich habe ihn niedergeschlagen.« Osterly beendete seine Meldung und schnitt eine Grimasse. »Das weiß ich, Sie Spaßvogel. Wie kommt es, daß Ihre Fäuste nicht abgeprallt oder wie Eierschalen zersplittert sind? Wie kommt es, daß Sie schneller waren als er?« Gilliad lachte. »Tut mir leid, ich wollte Sie nicht ärgern. Jetzt brauche ich die Hantel nicht mehr zu erklären. Ich habe das mit der Maschine erreicht. Wie Sie wissen, wird ein Thema für einen Anfälligen, wenn er sich lange Zeit im93
mer wieder darauf konzentriert, zur Wirklichkeit. Ich hatte das Gefühl, daß es einen mittleren Weg, eine Kompromißlösung geben müßte. Ich konzentrierte mich auf die Tatsache, daß ich, in der Phantasie, genauso stark wie ein Immuner wäre. Dazu nahm ich mir anschließend vor, so stark zu bleiben. Anscheinend beeinflußt der Prozeß die Gesamtheit der im Unterbewußten liegenden Instinkte, denn nach sechs Sitzungen konnte ich die schwere Hantel mit einer Hand stemmen. Das Gewicht liegt übrigens um ein Viertel über dem letzten Weltrekord für beidarmiges Stoßen.« Er lächelte beinahe bescheiden. »Die Reflexe sind offensichtlich auch beschleunigt worden, aber ob ich meine Lebenserwartung gesteigert habe, muß sich erst noch erweisen.« »Verflixt.« Osterlys Miene spiegelte eine seltsame Mischung aus Achtung und Mißbilligung. »Sie haben allerhand riskiert, finden Sie nicht? Sie hätten Ihren Gesamtstoffwechsel auf die Dauer durcheinanderbringen können. Vielleicht haben Sie bestimmte Gehirnregionen für immer geschädigt.« Gilliad hob die Schultern. »Ich stand unter fachmännischer Aufsicht, nur die Idee stammte von mir. Die wissenschaftliche Auswertung läßt erkennen, daß sich jeder dieser Prozedur unterziehen kann.« Bevor Osterly etwas erwidern konnte, stürmten bewaffnete Männer in die Wohnung. »Alles in Ordnung, Sir? Meldung eingetroffen.« »Bis auf einen gebrochenen Arm, ja. Kettet unseren Freund hier an, bevor er zu sich kommt.« Er wartete, bis Royce versorgt war, dann fragte er: »Sind weitere Meldungen da?« »Wir haben siebenundzwanzig Mann aufgescheucht, 94
Sir, aber das Gesamtbild sieht nicht gut aus. Sechs sind entkommen, achtzehn mußten in Notwehr erschossen werden, und drei haben wir lebend gefangen.« Er seufzte. »Das Unternehmen kommt uns teuer zu stehen: Insgesamt neunundsiebzig Tote und zwölf Verletzte. Nicht dazugezählt sind noch einundvierzig Zivilisten, die in der Toronto Street in die Projektion gerieten, als einer der Immunen den Kampf aufnahm. Zum Glück traf ihn einer meiner Leute vom Dach aus, sonst hätte er die ganze Straße demoliert.« Osterly stand schwankend auf. »Bringen Sie mich zu einem Arzt. Er soll mich zusammenflicken. Es gibt allerhand zu tun.« Er grinste Gilliad schief an. »Beim nächstenmal vergewissern wir uns vorher, daß wir die Suppe, die wir uns einbrocken, auch auslöffeln können.« Vier Stunden später besprach Osterly – den Arm in Gips – mit Keisler die Lage. »Auf irgendeine Weise müssen wir die Gefangenen zum Sprechen bringen. Die Frage ist nur – wie? Wenn sie sprechen, sind sie tot, bevor sie etwas Brauchbares von sich geben können. Versuche weisen darauf hin, daß sie auch sterben, wenn wir das Gerät in ihren Schädeln operativ entfernen. Was sollen wir also tun?« Keislers Stirn zerfurchte sich. »Sieht so aus, als – nein – Augenblick – wie hieß er gleich? – Polter? – Pollard?« Er drückte auf eine Stelle seines Schreibtischs. »Hallo, ich brauche die EnzykloAbteilung – ja, gut, rufen Sie zurück.« Er zündete sich eine Zigarre an und paffte bis es an der Schreibtischplatte rötlich zu glühen begann. »Hallo, ist dort – ah, Sie sind’s, Leparn. Gut. Passen Sie auf, das fällt genau in ihr Gebiet. 95
Ich versuche, den amerikanischen Wissenschaftler herauszubekommen, der den Elektronen-Detektor vervollkommnet hat. Geburtsdatum muß vor der Einführung der Maschine liegen, etwa um 2010. Ich glaube, er hieß Polling, bin mir aber nicht sicher.« Leparn schnalzte ein paarmal mit der Zunge und sagte schließlich: »Pollard, glaube ich – nein, bestimmt sogar, Andrew Pollard. Lassen Sie mir zehn Minuten Zeit zum Nachschlagen. Ich glaube, wir haben irgendwo einen kompletten Lebenslauf.« Nach sieben Minuten meldete er sich wieder. »Schon gefunden, komplette Lebensbeschreibung mit technischen Zeichnungen und Beschreibungen –« »Wunderbar, danke«, sagte Keisler. Er wandte sich wieder Osterly zu. »Unsere Freunde werden reden, ohne ein Wort zu sagen.« »Da komme ich nicht mit.« »Passen Sie auf. Um 2040 hat ein elektronisches Genie in den Vereinigten Staaten ein Gerät entwickelt, das man Elektronen-Detektor nannte. Diese Maschine war im Grunde ein Lügendetektor, der weit über das hinausging, was man auf diesem Gebiet sonst erfunden hatte. Um es kurz zu machen: Der Apparat brauchte keine mündliche Antwort, sondern war in der Lage, gefühlsmäßige Reaktionen auszuwerten. Der Verdächtige mußte also nur mit dem Gerät verbunden werden, worauf man ihm Fragen stellte. Es spielte keine Rolle, ob die Fragen beantwortet oder ignoriert wurden, die Gefühlsreaktionen waren dieselben, und die Maschine zeichnete sie auf. Nach dem Verhör wurde das Magnetband herausgenommen und in einen Polizeicomputer Typ G gesteckt, der das Ergebnis der Sitzung interpretierte. Ich will Ihnen ein Beispiel nennen: Nehmen wir an, der Verdächtige hat einen Mord 96
begangen. Die Frage könnte also lauten: ›Haben Sie John Smith umgebracht?‹ Ob der Verdächtige die Frage beantwortet oder nicht, ist gleichgültig. Wenn er sie hört, reagiert er gefühlsmäßig darauf, und die Maschine nimmt das auf. Durch sorgfältige und gründliche Befragung konnte man aber nicht nur das genaue Datum und den Zeitpunkt ermitteln, sondern sogar die verwendete Methode. Das verlangte natürlich viel Arbeit und exaktes Denken, aber die Ergebnisse stimmten. Um noch einmal ein Beispiel zu bringen: Die Fragen könnten lauten: ›Haben Sie ihn erdrosselt, erschossen, erstochen, vergiftet und so weiter? War es am Vormittag, Nachmittag, Abend? Haben Sie ihn aus Gewinnsucht, Rache, Eifersucht umgebracht oder handelten Sie im Auftrag?‹ Sobald das Magnetband in den Computer gesteckt wird, sind die negativen Antworten bereits entfernt. Wir haben es also etwa mit folgendem Ergebnis zu tun.« Keisler griff nach einem Notizblock und begann zu schreiben. Nach ein oder zwei Minuten schob er ihn über den Schreibtisch. Osterly drehte ihn um und las. Frage: Haben Sie John Smith getötet? Antwort: Ja. Frage: Mit welcher Methode? Antwort: Erdrosselung. Frage: Wann? Antwort: Samstagabend, 19. Mai. Frage: Warum? Antwort: Eifersucht.‹ Osterly schob den Block wieder über den Schreibtisch. Seine Hand zitterte ein wenig. »Mein Gott, wenn das klappt, haben wir sie; sie werden auspacken, ohne es zu wissen. Wir können feststel97
len, ob sie Menschen sind oder nicht, woher sie kommen, was sie vorhaben.« »Nur nicht so voreilig«, sagte Keisler hastig. »Um zu präzisen Fragen dieser Art zu gelangen, müßte man ein etwa zehnstündiges, ununterbrochenes Verhör mit genau vorbereiteten Fragen durchführen.« »Könnten Sie den Detektor bauen?« »Wir haben die Beschreibung. Ich zweifle nicht, daß die Techniker ihn in ein, zwei Tagen konstruieren können.« »Dann schicken Sie sie an die Arbeit. Rufen Sie gleich an.« Er stopfte sich die Pfeife und zündete sie mit einer Hand an, während Keisler seinem Wunsch nachkam. Schließlich sagte er: »Haben Sie gehört, wie Gilliad Royce zusammengeschlagen hat?« »Ja.« »Sie glauben nicht, daß sich Gilliad ein wenig übernimmt?« Keisler schüttelte den Kopf. »Er hat nichts getan, ohne sich vorher mit mir zu beraten.« Er lächelte. »Ich weiß, was Ihnen Sorgen macht, diese Superstärke, aber das ist ganz unnötig. Er hat sich unter meiner Aufsicht geheilt. Seine körperlichen Fähigkeiten zu steigern, war für seine Art von Verstand nur eine logische Folge.« »Mißverstehen Sie mich nicht«, meinte Osterly. »Offen gesagt, ich mag ihn, und das hat gar nichts mit der Tatsache zu tun, daß er mir das Leben gerettet hat. Mir kommt er nur – nun ja, zu verwegen vor. Er stürzt sich Hals über Kopf in diese Sache, daß einem die Haare zu Berg stehen können. Überdies liefert er so viele neue Gesichtspunkte, daß ich kaum mitkomme, und dabei ist er doch eigentlich ein Neuling.« 98
»Das war er«, verbesserte Keisler. Er verschränkte die Hände. »Eines wollen wir gleich klarstellen: Gilliad geht Risiken ein, gewiß. Aber das sind – allgemein gesprochen – berechnete Risiken. Er tut nie etwas, ohne sich vorher mit meinem Stab beraten zu haben. Zweitens läßt sich diese Flut von Ideen, die Sie zu stören scheint, recht einfach erklären. Gilliad ist fast sein ganzes Leben lang unterdrückt und behindert worden, er konnte seine beträchtliche Intelligenz gar nicht ins Spiel bringen. In unserer freien Gesellschaft, wo er Fragen stellen durfte und Antworten bekam, entfaltete sich sein Verstand. Die Freiheit wirkte wie Regen auf dürres Land, und sein Gehirn wurde sofort produktiv.« Osterly paffte eine große Rauchwolke in die Luft. »Ich fühle mich etwas erleichtert.« »Gut, genießen Sie das, solange es anhält«, meinte Keisler. »Was soll denn das wieder heißen?« »Wir haben noch andere Probleme, nicht so persönlicher Art, aber viel dringendere. So, wie ich das sehe, haben wir vielleicht noch acht Wochen Zeit, bis wir uns mit dem Rücken zur Wand verteidigen müssen.« Osterly klopfte sorgfältig seine Pfeife aus. »Daran brauchen Sie mich nicht zu erinnern.« »Ich tue es aber, denn wie wir uns in den nächsten Stunden entscheiden, kann Untergang oder Sieg bedeuten. Die Immunen lassen sich auf keine Spielchen ein, wissen Sie. Sie machen keine Gefangenen oder verhandeln über einen Waffenstillstand. Sie werden versuchen, uns auszulöschen.« Osterly zog den Kopf zwischen die Schultern. »Haben Sie Vorschläge?« »Einige.« Keisler zog eine Akte aus dem Schreibtisch. 99
»Erstens sollten wir uns sofort mit einem Schulungsprogramm zur subjektiven Abwehr befassen.« »Subjektive Abwehr?« »Die haben Sie gesehen, als Gilliad sie praktizierte. Wir müssen unseren Leuten beibringen, wie man einem projizierten Bild so begegnet, daß man bei Verstand bleibt.« »Können wir das?« »Wenn uns genügend Zeit bleibt – ja. Die ersten Untersuchungsergebnisse sind ermutigend. Das gilt aber nur für ein Viertel der Bevölkerung. Bei den Süchtigen und Suchtgefährdeten hilft es nichts. Ebensowenig bei den alten und kranken Menschen, bei Kindern und Kleinkindern, die bei einem Projektionsangriff dauernde Schäden erleiden würden.« »Was sollen wir tun?« Osterlys Gesicht wirkte blaß und grimmig. Keisler starrte ihn an. »Wir werden sie in Immune verwandeln müssen«, sagte er.
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13 Er hatte, wie ihm schien, unzählige Kontrollstellen hinter sich gebracht, und seine Ausweise waren von zahllosen Posten mißtrauisch geprüft worden. Nun hatte er einen niedrigen Hügel erklommen und konnte das Haus sehen. Es war ein langes, einstöckiges Holzgebäude vor einer eindrucksvollen Kulisse hoher Fichten. Für Gilliad sah es jedoch unwirklich, überholt und mehr der Tradition als der Realität verhaftet aus. Es war ein großes Gebäude aus Holz, wie sie seit Jahrhunderten nicht mehr gebaut wurden, mit Fensterläden, einer breiten Veranda, und, was das Unglaublichste war, mit einem Kamin, aus dem sich blauer Rauch kräuselte. Sie muß übergeschnappt sein, dachte er verärgert, und stapfte den Kiesweg hinauf und durch einen Garten mit kleinen Rasenstücken, Seerosenteichen und rosenumrankten Lauben. Gras und Teiche waren echt, wie er feststellte. Die Seerosen und Kletterrosen nicht – wenigstens nicht für ihn oder einen Immunen. Er blieb kurze Zeit stehen, um die Rosen zu betrachten, die gut gelungen waren, wie er zugeben mußte. Es mußte viele Stunden intensiver Konzentration gekostet haben, subjektive Blüten von solcher Zartheit zu erzeugen. Er revidierte seine Meinung etwas – übergeschnappt oder nicht, ihre Fähigkeiten zur Konzentration und Veranschaulichung mußten einmalig sein. Als er von den Rosen aufsah, entdeckte er sie. Sie 101
stand auf der Veranda, an einen der Pfosten gelehnt, das Gesicht abgewendet. Der Vorstellung, die er sich von ihr gemacht hatte, entsprach sie ganz und gar nicht. Sie trug eine dunkle Hose und einen weichen Pullover. Sie wirkte nicht kalt und gleichgültig, wie er angenommen hatte. Sie war klein, schlank und fast elfenhaft. Die großen, dunklen Augen standen ein wenig schräg; der Mund war voll, schön geformt und schien gern zu lächeln. Er dachte bei sich, daß sie sowohl nordamerikanische Indianer wie Chinesen als Vorfahren gehabt haben mußte: das schwarze Haar, die … Er rief sich gereizt zur Ordnung, schloß aber einen Kompromiß mit sich. Es war besser, zuerst ein klares Bild zu gewinnen. Er hustete höflich, als er nähertrat. »Entschuldigung –« »Mr. Gilliad?« Ihre Stimme klang leise, sanft und seltsam singend. »Äh – äh – ja«, sagte er hastig und etwas verlegen. »Keisler hat schon erwähnt, daß Sie kommen würden. Ich habe nach Ihnen Ausschau gehalten.« Sie machte nicht den Eindruck, als sei das wirklich der Fall gewesen; sie starrte immer noch in die Ferne. »Wollen Sie nicht hereinkommen?« Sie drehte sich um und ging ins Haus, ohne ihn angesehen zu haben. Er folgte ihr gehorsam, wobei ihm deutlich bewußt war, daß er aus lauter Verlegenheit einen nicht vorhandenen Hut zwischen den Fingern drehte. Sie machte eine vage Geste. »Fühlen Sie sich wie zu Hause. Der Sessel in der Ecke wird am bequemsten für Sie sein, glaube ich. Das Kaminfeuer ist vielleicht anfangs ein bißchen warm, aber am Abend wird es kalt. Dann ist man froh darüber.« 102
»Danke.« Er setzte sich und versuchte, ungezwungen zu lächeln. »Sie werden Hunger haben. Das Essen ist schon fertig. Nein, nicht aufstehen! Wir essen ohne große Förmlichkeiten. An ihrem Sessel ist ein Tablett, schieben Sie es über beide Armlehnen. Ich bringe das Essen mit dem Teewagen herein.« Er gehorchte, wobei ihm der Gedanke kam, daß er eigentlich wie ein Kleinkind in einem hohen Stühlchen aussehen mußte. Kurze Zeit später brachte sie das Essen herein. Sie aßen schweigend. »Kaffee, wenn ich abgeräumt habe?« »Bitte – darf ich rauchen?« »Natürlich.« Sie sah ihn an. »Man hat Ihnen einiges über mich erzählt, das merke ich.« »Na, hm –« »Sie können es ruhig zugeben. Was hat man Ihnen gesagt? Daß mich Männer nicht interessieren? Das ist die übliche Version. Vermutlich haben die Leute recht, aber heißt das, daß wir nicht zusammenarbeiten können?« »Habe ich das gemeint?« Plötzlich war er wieder selbstsicher. »Nein, aber Sie sind vorsichtig und angespannt.« Sie schüttelte langsam den Kopf. »Vielleicht ist es meine Schuld. Ich habe das, was manche Leute ›eine unglückliche Art‹ nennen, also nur eine andere Bezeichnung für kurz angebunden und unhöflich. Das stimmt vermutlich, aber vielleicht können Sie mich so nehmen, wie ich bin.« Er grinste schwach. »Vielleicht habe ich das schon getan.« Sie sah ihm ins Gesicht. 103
»Ich glaube, es würde mir nicht schwerfallen, Sie zu mögen.« Er blies den Rauch in die Luft. »Vorausgesetzt, daß ich den Begriff ›mögen‹ in seiner reinsten Form auslege.« Sie nahm die Bemerkung gelassen hin. »Ja, Sie haben recht.« Sie setzte sich auf die Armlehne seines Sessels und sah ihn nachdenklich an. »Sie sehen nicht sehr sensibel aus. Auf den ersten Blick könnte man Sie für einen Boxer halten. Augen und Mund verraten Sie aber.« Sie lachte leise. »Ja, ja – zu offen, zu persönlich, aber so bin ich auch – leider.« Gilliad lächelte. »Wäre es nicht einfacher, solche Schlüsse dem andern zu überlassen?« Sie nickte. »Gut. Keisler hat mir alles über Sie erzählt und mir die Kopien aller Unterlagen über Ihre Versuche gebracht.« »Einschließlich der Selbstanalyse?« »Alles.« »Und trotzdem waren Sie bereit, mich zu empfangen?« Er war ein wenig rot geworden. »Sie brauchen nicht verlegen zu werden. Ich habe zu lange auf psychiatrischem Gebiet gearbeitet, um schockiert zu sein. Es sind nicht die Einzelfaktoren, die die Persönlichkeit ausmachen. Viele große und bedeutende Männer hatten einen überstarken Sexualtrieb. Was die Persönlichkeit ausmacht, ist die Ausgewogenheit der Faktoren.« »Danke für Ihr Verständnis. Ich muß aber gestehen, daß ich diese Seite meines Charakters nicht ändern würde, selbst wenn ich es könnte. Ich kenne meine Persönlichkeitsstruktur und bedaure gewisse Aspekte ein wenig, möchte aber nichts geändert haben.« 104
Sie lächelte schwach. »Man könnte von Ihnen behaupten, daß Sie von einer Bestrafung nicht genug bekommen können. Sie haben Ihre Schwächen und Exzesse mit enormem Mut ausgelotet, aber die Prüfung Ihrer ausgleichenden Faktoren war nur oberflächlich.« Er seufzte und drückte seine Zigarette aus. »Sie sind ein sanftes Wesen, wie ich schon vermutet habe.« Er schnippte ein Aschenstäubchen vom Jackett und erwiderte ihren Blick. »Sie sind außerdem verängstigt und sehr einsam.« Sie wurde blaß. »Das hat Ihnen Keisler gesagt.« »Keisler hat mir gar nichts gesagt. Angst ist etwas, das man spüren kann, selbst wenn sie durch Direktheit kaschiert wird, und durch das, was Sie Ihre ›knappe Art‹ nennen.« Er stand auf, trat ans Feuer und sah auf sie hinunter. »Wenn wir zusammenarbeiten wollen, müssen wir uns ein gewisses Vertrauen entgegenbringen.« »Ist das ein neuer Trick, Mr. Gilliad? Wenn ja, können Sie sich ihn sparen. Es ist wahr, daß ich Ihre Gefühle verstehe, aber das heißt nicht, daß ich Ihnen helfe!« Gilliad verlor nicht die Beherrschung, sondern lächelte nur. »Miss Stour, entweder präsentieren Sie mir den Schlüssel zu Ihrer Persönlichkeit auf einem Tablett, oder Sie irren sich gewaltig in meiner. Die andere Möglichkeit wäre, daß Sie absichtlich provozieren wollen. Was stimmt?« Sie erstarrte, ihr Gesicht rötete sich, dann sank sie langsam zurück. »Tut mir leid, das habe ich verdient. Entschuldigen Sie.« 105
»Schon vergessen.« Sie schwiegen eine Weile. »Sie sind nervös«, meinte sie dann. »Was ist los?« Er zündete sich wieder eine Zigarette an. »Kurz gesagt, in ein, zwei Monaten wird es Krieg geben. Aller Wahrscheinlichkeit nach – weil wir es mit den Immunen zu tun haben – einen subjektiven Krieg. Da wir die einzigen Anfällig-Resistenten in einem freien Land sind, könnte das Schicksal der gesamten Provinz von uns abhängen.« Sie zog die Brauen zusammen. »Sie reden nicht lange um die Sache herum, nicht wahr?« Sie schüttelte hastig den Kopf und sprach weiter, bevor er etwas erwidern konnte. »Logischerweise macht uns das auch zu bevorzugten Zielen vor dem eigentlichen Angriff.« Sie stand auf. »Man hat schon oft versucht, mich zu töten.« Sie lächelte, äußerlich völlig gelassen, und wechselte das Thema. »Darf ich neugierig sein? Beabsichtigt die Provinz, sich ohne Unterstützung gegen zehntausend Städte zu wehren?« »Ich weiß es nicht.« »Ich nehme an, Sie schließen daraus, daß wir keine große Wahl haben: kämpfen oder sterben oder beides. Ein heldenhaftes Bild, aber mit Heroismus gewinnt man keine Kriege.« Zum erstenmal lächelte sie herzlich. »Ich räume rasch ab. Anschließend können wir uns ernsthaft unterhalten.« Nach einigen Minuten kam sie zurück und setzte sich in den anderen Sessel. »Ich möchte das Problem so darstellen, wie ich es sehe. Wir können allein kämpfen, aber allein werden wir unterliegen. Wir brauchen deshalb ein Wunder oder Verbündete. Das letztere scheint mir am praktischsten.« 106
Er nickte. »Und wir?« Sie lächelte. »Das ist nicht meine Idee, sondern eine Ergänzung der Ihrigen. Unsere Hauptstadt wurde einer Projektion unterworfen. Subjektiv regnete es Bindfaden. Alle Anfälligen zogen ihre Regenmäntel an, aber die restlichen Immunen, von subjektiven Einflüssen nicht betroffen, bemerkten nichts davon und verrieten sich dadurch.« »Also?« »Warum können wir nicht den ersten Schlag führen? Könnten wir nicht Projektionen nach der Festung New York, nach der Zitadelle Chikago oder sogar ins Vereinigte London ausstrahlen? Wir könnten eine Projektion verwenden, die die wahre Lage schildert.« Er erstarrte. Es klang vernünftig, überraschend vernünftig. Eine subjektive Botschaft würde nur von den Anfälligen empfangen werden, die damit Zeit hätten, sich vorzubereiten. Die Opposition dagegen, subjektiven Eindrücken nicht zugänglich, würde nicht bemerken, daß eine Botschaft übermittelt worden war. Die Maschine war, wie er schon einmal festgestellt hatte, ein zweischneidiges Schwert, und bei einer solchen Anwendung waren die Immunen zweifellos im Nachteil. In einem derartigen Fall waren die Immunen so ausgeschlossen wie normale Menschen bei einer Geisterbeschwörung.
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14 »Donnerwetter, das ist gut«, sagte er. »Darf ich die maßgebenden Stellen verständigen?« »Sie halten nichts von Zeitverschwendung, nicht wahr?« »Wir haben nicht viel Zeit – wo ist es?« »Drüben in der Nische – wählen Sie 3 M. Direkte Leitung.« Als er fertig war, ließ er sich ihr gegenüber in den Sessel sinken und zündete sich eine Zigarette an. »Die waren ganz schön aufgeregt.« »Mir geht es genauso, und Sie haben das ganze Verdienst an der Sache mir zugeschoben.« »Es war ja auch Ihre Idee.« Etwas wütend geworden fügte er hinzu: »Wofür halten Sie mich eigentlich?« »Regen Sie sich nicht auf. Das ist eben meine Art, mich zu bedanken. Es war sehr nett von Ihnen.« »So, wirklich?« Er machte ein finsteres Gesicht. Sie schüttelte vorwurfsvoll den Kopf. »Sie werden aber schnell ärgerlich. Dann sehen sie aus wie ein kleiner Junge.« Sie lächelte plötzlich auf eine Weise, die ihr Gesicht von innen her zu erhellen schien. »Entschuldigen Sie bitte, ich glaube, Sie haben ein Anrecht auf eine Erklärung.« Er sagte hastig: »Das ist nicht notwendig. Als ich von Vertrauen sprach, habe ich nicht Ihr Privatleben gemeint.« »Das ist mir klar, aber ich möchte es Ihnen trotzdem erzählen.« Sie seufzte. »Außer Ed Keisler habe ich es keinem gesagt. Kann ich eine Zigarette haben?« Er gab 108
ihr eine, und sie rauchte nervös. »Eigentlich rauche ich gar nicht, aber jetzt – wie fange ich an? Also … Er hieß Gordon; wir glaubten, uns zu lieben. Vielleicht war es wirklich so. Es ist lange her. Eines Tages vergaß er, zu unserer Verabredung zu kommen, dann noch einmal – o nein, keine andere Frau, keine wirkliche. Gordon gehörte zu denjenigen, die man nicht rechtzeitig in die Hände bekam. In einem Schuppen hatte er eine Maschine versteckt. Er wurde zum Süchtigen zweiten Grades, bevor man ihn fand und heilte. Nach einer subjektiven Liebesaffäre sind den Süchtigen die wirklichen Frauen ziemlich gleichgültig, und das war das Ende dieser Geschichte. Nun versuchte ich – zu meiner Schande muß ich gestehen – mit der Maschine aus der Wirklichkeit zu flüchten. Ich wußte, daß ich niemals süchtig werden konnte. So schuf ich mir den Mann meiner Träume. Wir trafen uns immer in einer Rosenlaube und sprachen über Liebe, Kunst, Poesie und die Schönheit der Sterne.« Sie schwieg einen Augenblick. »Eines Tages – in unserer Rosenlaube – legte er die Arme um mich und küßte mich auf eine Weise, die nichts mit Märchen und Romantik zu tun hatte. Theoretisch hätte ich wohl reagieren sollen – nehme ich an. Dies waren schließlich meine grundlegenden Sehnsüchte, meine eigenen körperlichen Bedürfnisse, die sich durch das Unbewußte ausdrückten. Statt dessen stieg ich aus; ich konnte nicht ertragen, was in Wahrheit ich selbst war. Es wäre gefahrlos gewesen. Ich hätte vielleicht eine bestimmte Art von Glück gefunden, aber ich ekelte mich plötzlich vor mir selbst – das war das Ende meiner Phantasiewelt und meines Traummannes. – Etwa ein Jahr später tauchte Todd auf. Nach allem, was wir jetzt wissen, muß er ein Immuner gewesen sein, aber damals ahnte ich nichts davon. Er war ru109
hig, sanft und rücksichtsvoll. Einmal – in diesem Raum, um genau zu sein – tat er mir etwas in mein Glas. Nichts Angenehmes. Eine Kultur, eine mutierte Bakterienkultur, die sich erst nach einigen Monaten zur Bösartigkeit entwickelt hätte. Bis dahin hätte er ungehindert verschwinden können, und kein Verdacht wäre auf ihn gefallen.« Gilliad zog die Brauen zusammen. »Sie haben ihn beobachtet, auf frischer Tat ertappt?« »Ich nicht, der Geheimdienst.« »Sie werden beobachtet!« Sie wurde ein bißchen rot. »Ja, leider.« Sie hob die Hand und ließ sie wieder sinken. »Tag und Nacht. In den Wänden sind außerdem Waffen eingebaut.« »Sie meinen, ich werde unaufhörlich, jede Sekunde, von Waffen bedroht?« »Jede Sekunde. Ungestört bin ich in meinem Schlafzimmer und im Bad, aber die Räume werden kontrolliert, bevor ich eintrete – sonst öffnet sich die Tür nicht.« »Hm, danke. Jetzt fühle ich mich erst richtig zu Hause.« Er lächelte, um der Bemerkung den Stachel zu nehmen. »Ich nehme an, daß man ihn dabei ertappt hat?« Sie nickte. Ihr Gesicht war plötzlich blaß geworden. »Ja, es verfolgt mich immer noch. Er sagte: ›Da auf dem Tisch steht dein Glas‹, und plötzlich krachte es, und ein Blitz zuckte aus der Wand. Einen Augenblick vorher war er noch lächelnd auf mich zugegangen, im nächsten brach er tot zusammen und lag vor meinen Füßen – mein Gott!« Sie schlug die Hände vors Gesicht. Nach einigen Augenblicken atmete sie tief ein und brachte beinahe ein Lächeln zustande. »Verzeihen Sie, es fällt mir immer noch schwer, darüber zu sprechen.« »Sie haben Angst«, sagte er leise. »Sie fürchten nicht 110
die Männer selbst, aber die Assoziationen, die mit ihnen verbunden sind.« »Ich weiß es ja, weiß es vom Verstand her, aber das hilft mir nicht weiter. Sobald mir ein Mann zu nahe kommt, erstarre ich. Ich kann nichts dafür.« Er zündete sich eine Zigarette an. »Schock, es ist ein Schockzustand – das hat man Ihnen doch sicher klargemacht?« Sie nickte. »O ja, man hat es mir gesagt, aber die Sache ist schon so lange her – fast zwei Jahre.« Er betrachtete stirnrunzelnd seine Zigarette. »Sie wissen, daß ich kein Psychologe bin, und außerdem geht es mich nichts an – aber an Ihrer Stelle –« Er verstummte plötzlich verlegen. »Bitte, sprechen Sie weiter.« Sie beugte sich interessiert vor. »Na gut, aber es wird Ihnen nicht gefallen. Ihre medizinischen Berater werden mich vermutlich einen Kopf kürzer machen.« Er stand auf und sah auf sie hinunter. »Geben Sie den Kampf auf, Mädchen; hören Sie auf damit, dem Bild entsprechend leben zu wollen, das Sie sich von Ihrer Person machen. Sie sind ein menschliches Wesen; Sie haben in Krankenanstalten hervorragende Arbeit geleistet; niemand außer Ihnen bezweifelt Ihren Mut oder Ihre Fähigkeit zum Mitleiden.« Sie blickte ihn blaß und angespannt an. »Ich verstehe Sie nicht.« »Dann muß ich mich eben deutlicher ausdrücken. Sie versuchen, dem Bild zu entsprechen, das Sie sich von Ihrer Person geschaffen haben, Sie leben nicht so, wie Sie wirklich sind. Ich wette jede Summe, daß Sie gegen Tränen, Aufregungen, Gefühle – gegen jede natürliche 111
Reaktion angekämpft und alles innerlich aufgestaut haben.« Er beugte sich vor. »Verzichten Sie darauf, lassen Sie sich gehen, weinen Sie sich gründlich aus, schließen Sie sich in ihr Zimmer ein und schreien Sie, bis die Wände einstürzen. Zerreißen Sie ihr Bett in Fetzen und kämpfen Sie nicht gegen ihr Selbstmitleid an. Schwelgen Sie darin, bis es ihnen zum Hals heraushängt. Niemand wird etwas davon wissen, nur Sie; brechen Sie zusammen, bevor die Anspannung Sie zerbricht; nur Sie selbst glauben, daß Sie so verdammt vollkommen und so verdammt beherrscht sein müssen.« Sie starrte ihn mit blassem Gesicht an. »Sie gemeiner Kerl«, sagte sie leise. Eine Träne lief ihr über die Wange. Plötzlich schlug sie beide Hände vors Gesicht und begann zu schluchzen. Er schob die Hand unter ihren Arm und half ihr aus dem Sessel. »Gehen Sie in Ihr Zimmer, Mädchen. Weinen Sie sich aus.« Er führte sie zur Tür, die sich beinahe augenblicklich öffnete und sofort wieder schloß, als sie über die Schwelle getreten war. Er blickte ein paar Sekunden lang die Tür an, zuckte dann die Achseln und begann im Zimmer herumzuwandern. »Die Tür rechts führt ins Gästezimmer«, sagte eine höfliche Männerstimme, die aus der Wand zu kommen schien, mit einem tadelnden Unterton. Er lächelte schwach. »Danke für den Rat«, erklärte er trocken. »Keine Ursache. Alles, was Sie zu ihr gesagt haben, ist aufgezeichnet worden und wird ihren medizinischen Beratern übermittelt. Der Himmel sei Ihnen gnädig, 112
wenn sich in psychologischer Hinsicht Nachwirkungen ergeben.« »Ich habe ein Anrecht darauf, meine Meinung frei zu äußern.« »Mister, Sie wissen gar nicht, wie nahe Sie daran waren, über den Haufen geschossen zu werden. Ohne ihre geheimdienstliche Einstufung lägen Sie jetzt schon flach auf dem Rücken.« Gilliad lachte nur belustigt. »Scharfes Auge auf Schlafzimmertüren, wie? Offensichtlich waren Ihre Vorfahren alles dicke Tanten und alte Jungfern.« Die Wand gab ein Schimpfwort von sich, dann wurde es still. Er ging ins Gästezimmer und zog sich aus. Er konnte der Versuchung nicht widerstehen und probierte, ob sich die Tür öffnen ließ. Sie war, wie er vermutet hatte, abgesperrt. Er sagte zur Wand: »Vielen herzlichen Dank«, legte sich ins Bett und setzte hinzu: »Spaßverderber.« Dann schlief er ein. Wie ihm schien, waren nur ein paar Sekunden vergangen, als er von der gleichen höflichen Stimme aus der Wand geweckt wurde, nur klang sie diesmal nicht vorwurfsvoll, sondern drängend. »Aufwachen, Mr. Gilliad. Wachen Sie auf!« »Ich höre Sie. – Was ist los?« Er war schon aus dem Bett gesprungen und zog sich hastig an. »Wir haben hier Alarmstufe Gelb. Die Ursachen kennen wir nicht. Wir wissen nicht, ob der Angriff direkt oder subjektiv ist, aber da unsere Instrumente verrückt spielen, wird es wohl von beidem etwas sein. Natürlich 113
schließen wir uns ab. Alle Minenfelder und Waffen sind aktiv, aber das genügt vielleicht nicht –«
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15 In der Stadt saß Osterly vor einer Reihe von RufBildschirmen und schwitzte. Plötzlich gab es so viel zu tun. Aus heiterem Himmel hatte man ihm Autorität übertragen. Er war nicht der Typ dafür; er ließ sich gern Zeit und ging bedächtig vor. Jetzt hatte man ihm ohne Vorwarnung so viel Verantwortung aufgeladen, daß er gezwungen war, blitzschnell Entscheidungen zu treffen, denen er instinktiv mißtraute – es blieb keine Zeit, die Dinge vorher zu durchdenken, er mußte einfach ins Blaue hinein handeln und blindlings etwas riskieren. Das setzte ein Selbstvertrauen voraus, das er nicht besaß. Ich bin überfordert, dachte er bedrückt. Diese übermäßige Belastung ist nichts für mich. Wenn man es sich recht überlegt, gehöre ich gar nicht zu. den Fachleuten vom Geheimdienst. Im Grunde bin ich ein Kleinstadtpolizist, zwar von der Kriminalabteilung, aber doch nur ein Polizist. Man verhörte die Immunen, Gruppen von Experten arbeiteten mit sorgfältig ausgedachten Fragen, stellten Kreuzverhöre an – Osterly wartete auf ihre Berichte. Die Labortechniker hatten Projektionen nach Chikago und New York geschickt; sie hatten sich einen Verstärker gebaut und die subjektive Warnung direkt ins Vereinigte London projiziert. Jose Gavant vom Elektronik-Institut hatte einen Helm konstruiert, der – wie man hoffte – ein menschliches Wesen gegen subjektive Angriffe immun machen konnte. Würde er funktionieren, und war er auch für Kinder, Säuglinge und alte Leute zu verwenden? Wie viele konnte man in welcher Zeit herstellen? 115
Osterly kaute am Mundstück seiner Pfeife und zog die Brauen zusammen. Er hatte nicht einmal Keislers Gesellschaft zum Trost. Keisler leitete Instruktorenteams – die Leute waren selbst in einem Blitzkurs geschult worden –, die die Bevölkerung in der Technik der subjektiven Abwehr unterrichten sollten. Die leitenden Stäbe des Militärs, wichtige Leute im Geheimdienst und bestimmte Angehörige der Regierung hatten den Lehrgang bereits absolviert. Auch Osterly, obwohl ihm das Ganze reichlich phantastisch vorkam. Wenn man von einem subjektiven Löwen angefallen wurde, schuf man durch Willenskraft eine subjektive Waffe, um ihn töten zu können. Osterly hatte durch diesen Test den praktischen Beweis für die Methode erhalten, aber seine Zweifel war er nicht losgeworden. Würde er, würde irgend jemand im Ernstfall noch wissen, was zu tun war? Er hatte sich selbst noch gerade zur rechten Zeit erinnert; der Löwe war so verdammt echt gewesen, und die Immunen würden es sich und ihren Gegnern sicherlich nicht so einfach machen, das stand fest. Einer der Bildschirme leuchtete auf, und er drückte auf die Taste. – »Ja?« »Harris vom Nachrichtendienst, Sir. Wir empfangen eine Funknachricht aus der Zitadelle Chikago. Augenblick, wir übermitteln sie. Ein bißchen gestört, aber offensichtlich echt –« Auf dem Bildschirm erschienen Worte ›Rufen Toronto – Ihren Rat befolgt – Immune heftige Reaktion – schwere Kämpfe – danke – wünscht uns Glück – Zitadelle Chikago‹. Osterly stopfte langsam seine Pfeife. Es hatte geklappt, wenigstens in einer Stadt. Die Botschaft war ans Ziel gelangt und hatte zu Aktionen geführt; warum war nicht 116
schon früher jemand auf den Gedanken gekommen? Die Antwort war natürlich, daß alle zu sehr damit beschäftigt gewesen waren zu überleben, und die Immunen hatten die Sache mit ganz besonderem Geschick manipuliert. Er zündete sich die Pfeife an und machte ein finsteres Gesicht. Aber warum Manipulationen, obwohl sie eine Waffe besaßen, mit der sie bei geschickter Verwendung die Gegner innerhalb von zehn Jahren hätten auslöschen können? Irgend etwas stimmte da nicht. Das Bild war noch nicht vollständig. Einer der Bildschirme wurde hell, und eine Stimme sagte: »Verhör beendet, Sir. Wir programmieren jetzt die Computer.« »Warten Sie, bis ich da bin.« Er drückte auf eine Taste. »Brogue, kommen Sie herauf und vertreten Sie mich. Rufen Sie mich, falls etwas geschieht.« In der Computerabteilung hatte man die Daten bereits verfüttert, aber man wartete, bis Osterly die Tür hinter sich geschlossen hatte, bevor man auf die Wiedergabetaste drückte. Ein surrendes Geräusch, der altmodische Computer gab knackende Laute von sich, dann erschien das schriftliche Ergebnis. Frage: Wie heißen Sie? Antwort: Marley. Frage: Warum nennen Sie sich Royce? Antwort: Um meine Identität zu verbergen. Osterly überlegte, wie viele Fragen wohl gestellt worden waren, um zu diesen zwei einfachen Antworten zu kommen.
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Frage: Warum wollten Sie Ihre Identität geheimhalten? Antwort: Das war das gewöhnliche Verfahren. Frage: Taten das alle Immunen? Antwort: Ja. Frage: Wie alt sind Sie? Antwort: Zweihundertachtzehn Jahre. Frage: Wie alt glauben Sie zu werden? Antwort: Etwa dreitausend Jahre. Frage: Wie kam es dazu? Antwort: Ich habe mich einer Sonderbehandlung unterzogen. Frage: Wer hat diese Behandlung durchgeführt? Antwort: Ärzte – ich kenne ihre Namen nicht. Frage: Sind Sie ein Mensch? Antwort: Ja, ich bin ein Mensch, ein höherstehender Mensch. Frage: Sind alle Immunen höherstehende Menschen? Antwort: Ja. Frage: Die Immunen sind eine Organisation? Antwort: Ja. Frage: Um die Weltherrschaft zu erreichen? Antwort: Die haben sie. Frage: Haben Sie eine Regierung? Antwort: Ein Direktorium. Frage: Mit einem Anführer? Antwort: Ja. Frage: Wie heißt er? Antwort: Er ist anonym – wir sind alle anonym. Frage: Steht jemand über dem Führer? Antwort: Ja, der Höchste. Frage: Ist das auch ein Immuner? Antwort: Ich weiß es nicht – ich glaube nicht. Frage: Ist er ein Mensch? 118
Antwort: Ich weiß es nicht – ich glaube nicht. Frage: Ist es ein fremdes Wesen? Antwort: Ich weiß es nicht. Frage: Können Sie es beschreiben? Antwort: Nein, ich habe es nie gesehen. Frage: Was tut es? Antwort: Es ist die Quelle der Macht. Plötzlich endete die Wiedergabe mit ein paar gedruckten Wörtern: ›Daten ausgewertet. Negative Reaktionen dreitausendfünfhundertfünfundsiebzig.‹ »Mein Gott!« sagte jemand entsetzt. »Kein Wunder, daß sie so lange gebraucht haben.« Osterly reagierte nicht darauf. Er war zu sehr von den Antworten in Anspruch genommen, und sie trieben ihm den Schweiß auf die Stirn. Die Immunen waren also eine Organisation von Übermenschen – Anzahl unbekannt. Eine Organisation, die die Welt unter ihre Herrschaft gebracht und ohne viel Mühe praktisch eingesperrt hatte. Dieselbe Organisation verminderte jetzt mit der gleichen zynischen Mühelosigkeit die Bevölkerung – sie verhökerte Traummaschinen und manipulierte kaltblütig die verängstigten und bedrängten Überlebenden. Die Immunen konnten sich Zeit lassen, sie waren praktisch unsterblich. Was Osterly am meisten bedrückte, war der Unbekannte – wer oder was war der oder das Höchste. Eine religiöse Bedeutung hatte das eindeutig nicht, also was war das ›Höchste‹, was? Er unterdrückte ein Schaudern – es mußte etwas Unheimliches sein. Etwas, das einer Gruppe normaler Menschen übernormale Macht verliehen hatte. Ein Wesen, das sie fortgeschrittene Chirurgie gelehrt, ihnen – ver119
mutlich als Gegenleistung für irgend etwas – unglaubliche Stärke und nahezu Unsterblichkeit verliehen hatte. Und ihnen, als sei das noch nicht genug, die teuflischste Methode der Unterwerfung geliefert hatte, die man sich vorstellen konnte. Wahrscheinlich hatte die Anwendung dieser Waffe auch dort ihren Ursprung – die Traummaschine war nichts anderes als eine Apparatur zur Selbstzerstörung. Er hielt einen Augenblick inne und zog die Brauen zusammen. Er spürte, wie er langsam begriff. Es gab keine perfekte Waffe! Noch nie hatte jemand eine Waffe erfunden, die sich nicht auch gegen ihren Erfinder gekehrt hätte. Deshalb wollten die Immunen die AnfälligResistenten so schnell wie möglich loswerden. Vielleicht waren sie am Anfang als Studienobjekte nützlich gewesen, aber jetzt stellten sie eine Bedrohung dar. Man wollte sie beseitigen, bevor sie zuviel erfuhren und lernten. Bei Gilliad war das schon der Fall; er hatte erfolgreich bewiesen, daß die Maschine ein zweischneidiges Schwert war. Wenn er je dazu kommen sollte, sie mit Geschick zu handhaben – du lieber Himmel, dazu durften sie es nicht kommen lassen – oder? Auch der Höchste nicht, wer oder was immer das sein mochte. Er ließ sich mit den Laboratorien verbinden. »Zimmer sechs? Befragung ändern, das Persönliche weglassen. Konzentrieren Sie sich auf das Wesentliche. Ich brauche eine genaue oder geschätzte Zahl der lebenden Immunen und alle verfügbaren Angaben über den Höchsten: Herkunft, Art, Ursprung, alles. Geben Sie das an den Verhörraum weiter. Man soll neue Fragenkomplexe erarbeiten. Äußerst dringend!« Er hatte kaum aufgelegt, als ihn ein neuer Anruf erreichte. »Eben hat sich New York gemeldet, Sir. Die Nachricht 120
lautet: Von den freien Bürgern New Yorks an das freie Toronto – stop – sind tief in Ihrer Schuld – stop – Ihre Botschaft erhalten – stop – Coup geplant und ausgeführt – stop – Immune leisteten heftigen Widerstand – stop – zuerst mit Robotern angegriffen – stop – ihre koordinierte Verteidigung brach zusammen – stop – Überlebende auf der Flucht – stop – mehrere Tausend entkommen – stop – empfehlen alle Flugobjekte abzuschießen, die sich nicht als friedlich zu erkennen geben – stop – Ende.« »Wie haben die das übermittelt – mit Rauchsignalen?« »Nein, Sir, mit dem alten Interkontinental-Peilstrahl. Die Geräte sind seit zweihundert Jahren nicht mehr benützt worden, aber offenbar ist es ihnen gelungen, sie wieder betriebsbereit zu machen. Das Schönste an der Sache ist, daß man da nichts anzapfen kann, weil alles scharf gebündelt ist, Sir. Bei so alten Apparaturen brächte das übrigens sowieso kaum einer fertig.« »Das klingt sehr ermutigend. Was glauben Sie, wie uns London verständigen wird – mit Brieftauben?« Er legte auf. Sie waren nicht mehr allein, sie hatten Verbündete. In Chikago wohnten vermutlich sechs Millionen Menschen, in New York etwa zwölf Millionen, und wenn es dem Vereinigten London gelang, die Immunen in die Flucht zu schlagen, würden weitere zwanzig Millionen auf ihrer Seite stehen. London umfaßte jetzt den gesamten südöstlichen Bereich der britischen Inseln, bis hinunter zur Küste. Seine Überlegungen wurden unterbrochen, als die linke Wand des Labors rot aufglühte. »Achtung! An alle Abwehreinheiten. Alarmstufe Rot – G 3.« G 3! Osterly spürte, wie eine eisige Hand sein Herz umkrampfte. G 3 war der Bungalow von Vanessa Stour. 121
Guter Gott! Natürlich hatten die Immunen nur auf eine solche Gelegenheit gewartet: seine beiden Trumpfkarten an ein und demselben Ort!
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16 Man hätte sie voneinander fernhalten müssen. Jetzt war es zu spät! Man hätte doch annehmen können, daß zweihundert Bewacher und die Minenfelder – aber um einen solchen Angriff würde es sich wohl kaum handeln … Weit eher um eine subjektive Attacke durch ausgebildete Fachleute, deren Wissen über projizierten Tod dort begann, wo die Kenntnisse seiner eigenen Leute aufhörten. Er erteilte die Abwehrbefehle, die ihm selbst sinnlos erschienen. Bis er die Reserven dort einsetzen konnte – was nützte das schon? Bis dahin war alles vorbei. Im Bungalow schrie Gilliad: »Machen Sie die verdammte Tür auf.« »Sie ist offen. Die zum Schlafzimmer des Mädchens auch.« »Sind Waffen im Haus?« »Gegenüber im Wandschrank. Zwei Leston-Pistolen und eine Warrington.« »Ich muß die Warrington nehmen, mit einer Leston kann ich nicht umgehen.« »Aber Vorsicht! Für umbaute Räume ist sie nicht geeignet.« »Zu spät, sich darüber Sorgen zu machen.« Gilliad steckte die Waffe ein. »Was ist los?« »Wir haben eine Anzahl Punkte auf unserem Ortungssystem. Sie sind nicht zu identifizieren.« »Wie weit entfernt?« »Bei der Geschwindigkeit, die sie einhalten, ungefähr drei Minuten.« 123
»Danke.« Er zögerte. »Die Bemerkung von vorhin tut mir leid.« Er ging in das andere Zimmer. Vanessa war schon dort. Sie stand am Tisch. Sie lächelte schwach. »Ist es soweit?« Sie wirkte blaß, aber ruhig. »Für den Fall, daß wir das nicht überleben: vielen Dank. Ich habe mich ausgeweint. Ich weiß nicht, ob das meine Einstellung geändert hat, aber die Spannung hat sich gelöst.« Sie verstummte und legte lauschend den Kopf auf die Seite. »Ich kann etwas hören.« Er konzentrierte sich und hörte wie aus weiter Ferne ein schrilles, hohes Summen, wie von einem Moskitoschwarm. »Wie weit entfernt?« fragte er die Wand. »Noch zwei Minuten, Mr. Gilliad.« Er sah das Mädchen an. »Machen Sie sich fertig, das ist ein subjektiver Angriff.« »Woher wissen Sie das?« »Wenn sie noch zwei Minuten Flugzeit entfernt wären, könnten wir sie nicht hören.« Die Stimme aus der Wand unterbrach ihn. »Mr. Gilliad, wir haben sie auf dem Schirm, unsere Instrumente messen Höhe und Winkel. Wir haben schon zwei Abfangwaffen ausgelöst.« »Spart euch das, das ist eine Projektion, Freunde, ausgestrahlt von Experten. Ihr seht, was ihr sehen sollt, einschließlich der Ausschläge eurer Instrumente.« »Sind Sie ganz sicher?« »Sicher genug, um es beweisen zu wollen.« Er wandte sich an das Mädchen. »Denken Sie konzentriert an folgendes: Die Mauern hier sind bombensicher, ungefähr 124
eineinhalb Meter dick und strahlungsdicht. Dicke Metallpanzer schieben sich bei einem Angriff über die Fenster. Eine Abweisanlage im Dach schützt uns vor Raketen; das Haus ist gasdicht und verfügt über eigene Luftzufuhr –« Die Stimme aus der Wand fuhr dazwischen: »Mein Gott, euer Haus hat sich in Form und Farbe völlig verändert.« »Ich sagte doch, daß es sich um einen subjektiven Angriff handelt. Wir benützen die Reizung durch die Projektion nur dazu, eine Abwehr zu errichten.« »Freut uns für euch. Wir kommen uns hier draußen recht schutzlos vor.« »Dann baut eine Abwehr. Soviel ich weiß, habt ihr den Lehrgang mitgemacht. Stellt euch bombensichere Unterstände in der Art wie dieser hier vor und schafft sie euch.« Es blieb einige Zeit still, dann sagte eine erschrockene, ungläubige Stimme: »Ich habe ein Dach über dem Kopf. Das ist kaum zu fassen. Ich kann hinaufgreifen und es berühren!« »Haben Sie sich den Unterstand bombensicher vorgestellt?« »Vorgestellt? Ich habe darum gebetet, Mann!« »Haben die anderen mitgemacht?« »Walt, mein Kamerad, sagt, wir sähen aus wie die Maginotlinie, was das auch sein mag.« »Fein.« Gilliad bemerkte, daß er ins Schwitzen geraten war. Der Lärm der anfliegenden Maschinen hatte sich zu einem durchdringenden Heulen gesteigert. Er winkte Vanessa. »Verstecken Sie sich hinter dem Sessel. Wenn das vorbei ist, werden sie hereinkommen, um sich zu verge125
wissern, daß wir tot sind. Wenn das nicht der Fall ist, wird es eine Schießerei geben.« Er stellte sich hinter den Tisch. »Beten Sie, daß sie durch diese Tür kommen.« »Ich decke Sie.« Sie stand mit einer kleinen silbernen Waffe neben ihm. »Ich habe gesagt, Sie sollen hinter den Sessel gehen.« »Ich weiß, aber so fühle ich mich sicherer.« Er zuckte die Achseln und ärgerte sich darüber, daß seine Hände zitterten und er das nicht unterdrücken konnte. »Ich habe Angst.« »Ich weiß.« Sie berührte seine Hand mit den Fingerspitzen. »Ich auch, aber ich kann damit umgehen.« Während sie das sagte, gab es ein seltsam knirschendes Geräusch, das sich langsam zu einem unerträglichen Kreischen steigerte. Er erstarrte, spannte die Muskeln an, und im nächsten Augenblick schien ihn ein gigantischer Druck auf den Kopf niederwerfen zu wollen. Das Gebäude erzitterte, ein Bild fiel von der Wand und zersplitterte am Boden. Hinter dem Haus ertönte ein Geräusch, als sei ein ganzer Geschirrschrank umgekippt; langsam verebbte es. Gilliad zählte acht schwere Detonationen, bevor das Dröhnen der Flugzeuge verklang und es still wurde. Er zwang sich jedoch, daran zu denken, daß es keine Flugzeuge und keine Bomben gegeben hatte. Irgendwo dort draußen, in entsprechender Entfernung, bediente eine Gruppe von Immunen eine Traummaschine, um sie glauben zu machen, ein solcher Luftangriff habe wirklich stattgefunden. Er seinerseits hatte dieselbe Reizung dazu benützt, eine geistige Abwehr aufzubauen – einen imaginären bombensicheren Bungalow. 126
Als Immune würden die Gegner bei ihrem Eintreffen seine geistige Abwehr nicht sehen können. Sie würden nicht wissen, daß sich über ihm ein eineinhalb Meter dickes Dach befand, das nur in den Gehirnen der beiden Menschen im Inneren des Gebäudes existierte. Zwei Menschen, die nach Meinung der Immunen von der Realität des Bombenangriffs so überzeugt gewesen sein mußten, daß sie durch ihn umgekommen waren. Er legte die Hand auf die Schulter des Mädchens. »Geben Sie mir Deckung.« Die Tür öffnete sich langsam. Zwei Männer traten ins Zimmer. Sie kamen beinahe lässig herein, die Waffen locker in der Hand. Ganz offensichtlich rechneten sie damit, daß ihre Opfer tot waren. Der zuckende Flammenblitz warf die Männer zurück, wie ein Wasserstrahl aus einem Feuerwehrschlauch. Sie versuchten, die Arme hochzureißen, und verwandelten sich in aufglühende Umrisse, die vor Gilliads Augen zerfielen. Glimmende Fragmente, ein Hitzestoß und Rauch wirbelten durch das Zimmer. Gilliad hustete, rieb sich die brennenden Augen, und im nächsten Augenblick gab die Waffe des Mädchens hinter ihm einen bellenden Laut von sich. Er drehte sich um und sah einen dritten Mann mit weit aufgerissenen Augen zu Boden stürzen. Er riß die Waffe hoch und duckte sich, aber es ließ sich kein Gegner mehr blicken. »Ich glaube, er ist durch die Küche hereingekommen.« Sie kniete immer noch und legte die Waffe mit zitternden Fingern auf den Boden. Plötzlich sank sie zusammen und fiel um. Er fing sie auf, bevor sie auf den Boden stürzte, aber sie schien sofort wieder zu sich zu kommen. 127
»Ich bin etwas durcheinander – ich habe noch nie – einen Menschen getötet.« Sie schauderte und befreite sich aus seinen Armen. »Der Strahl der Waffe verändert die chemische Zusammensetzung des menschlichen Körpers. Es wird einem übel, wenn man das sieht.« Er legte ihr die Hand auf die Schulter. »Mir hat es auch keinen Spaß gemacht, zwei Menschen umzubringen. Machen Sie sich keine Gewissensbisse. Sie haben mir das Leben gerettet.« »Und meins dazu«, sagte sie. »Sie hätten ja auch die Nerven verlieren und danebenschießen können.« Er stand auf und half ihr auf die Beine. »Alles in Ordnung da draußen?« fragte er die Wand. »Prima, dank Ihrem Rat, Mr. Gilliad. Keine Verluste bei uns. Tut uns leid, daß Sie mit den drei Kerlen allein fertig werden mußten. Der Rauch war so dicht, daß wir die Waffen in den Wänden nicht verwenden konnten. Wir hätten irrtümlich Sie erwischen können.« »Schon gut – ach, übrigens – die Maschine ist noch in Betrieb.« »Das haben wir festgestellt. Wir orten sie gerade.« »Passen Sie auf, vielleicht ist noch jemand dort. An Ihrer Stelle würde ich die Gegend erst mal versengen.« »Gute Idee – oh, Mr. Gilliad –« Die Stimme zögerte. »Was die Bemerkungen von vorhin betrifft – Sie tragen mir nichts nach?« »Du lieber Himmel, nein.« »Danke. Ich bin ein bißchen übereifrig gewesen, aber das hat sich gerächt. Den Spitznamen ›Tante‹ Miller habe ich weg – Ah!« In der Ferne gab es einen lauten Knall, dann eine Reihe starker Explosionen. 128
Nach wenigen Sekunden meldete sich die Stimme wieder. »Sie hatten recht – eine Maschine und zwei Techniker. Sie lehnten an einem Baum und rauchten. Wir haben sie beide erwischt.« Zwanzig Minuten später traf Osterly ein, die Pfeife zwischen den Zähnen. »Ich habe schon unterwegs gehört, daß Ihnen nichts passiert ist, aber ich wollte mich selbst davon überzeugen. Wenn das so weitergeht, werde ich bald die schönste Sammlung von Magengeschwüren haben, die die Welt je gesehen hat. Was war los?« Gilliad berichtete kurz. Osterly schüttelte den Kopf. »Sieht so aus, als wären wir der Lösung auf der Spur, aber die letzten beiden Wochen habe ich Blut geschwitzt, das kann ich Ihnen sagen.« Er erzählte Gilliad von dem Verhör. »Ich habe die Methode gewechselt. Kurz bevor ich ging, trafen die ersten Antworten ein. Allem Anschein nach haben die Immunen einen gewählten Anführer, gewählt mit der Begründung, daß er den ersten Kontakt zu dem Höchsten herstellte. Niemand weiß, wer der Höchste ist. Sie wissen nicht, ob es sich um einen Menschen, ein fremdes Lebewesen, eine Gruppe, eine Maschine handelt. Sie wissen nur, daß die ganze Macht von ihm ausgeht, daß das ganze Wissen von ihm stammt. Trotz der Dinge, die er für sie getan hat, fürchten sie ihn gewaltig.« »Könnte Absicht sein. Vielleicht gibt es den Höchsten gar nicht. Vielleicht hat man ihn nur erfunden, damit keiner aus der Reihe tanzt.« »Möglich, aber ich glaube es nicht. Ich –« Osterly ver129
stummte, als sich sein Rufgerät meldete. Nachdem er einige Zeit gelauscht hatte, sagte er: »Sind Sie sicher, daß das echt ist? Bestimmt kein Trick? Na gut, wir riskieren es mal.« Er unterbrach den Kontakt und sah Gilliad müde an. »Man hat ein Flugzeug geortet, das von der Bucht aus anfliegt – es funkt, daß es in friedlicher Absicht kommt. Es behauptet, britischen Ursprungs zu sein.«
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17 Bis die Maschine zu einem geeigneten Landeplatz geleitet worden war, war auch Osterly dort, um sie bei der Landung zu beobachten. Das Flugzeug sieht nicht aus wie ein Trugbild, sondern eher wie ein Museumsstück, das man hastig zusammengeflickt hat, dachte er. Er hätte sich nicht gewundert, wenn einige Teile mit Bindfaden befestigt gewesen wären. Das Flugzeug erzeugte einen höllischen Lärm und wurde offenbar von Staustrahltriebwerken angetrieben. Über dem Landeplatz verstummte jedoch der Lärm, und das Flugzeug fuhr drei Rotore aus, die zwar gräßlich heulten, den Flugkörper aber mühelos herabschweben ließen. Bewaffnete Soldaten umringten das Flugzeug, die Gewehre im Anschlag. Eine Tür öffnete sich. Ein Mann trat heraus und sprang auf den Boden hinunter. Er hob die Hände über den Kopf, grinste dabei aber breit. Osterly fluchte und zwängte sich durch die Absperrung. »Wer, zum Teufel, sind Sie?« Der andere lächelte. »Man könnte mich als Abgesandten bezeichnen. Ich vertrete das Freie Komitee des Vereinigten London – wir sind Ihnen zu großem Dank verpflichtet.« »Sie haben allerhand riskiert, wenn Sie mit diesem Ding geflogen sind.« »Es war schon ein bißchen gefährlich. Ich bin dreimal 131
vom Kurs abgekommen und mußte navigieren wie früher die alten Seeleute. Berechnung nach den Sternen. Klingt einfach, bis man es versucht.« »Warum sind Sie hergekommen? In Ordnung! Sie können die Arme herunternehmen.« »Danke. Wir hielten es für richtig, so schnell wie möglich direkte Verbindung aufzunehmen.« »Die Immunen sind auf der Flucht?« »Ja, aber das Chaos wird noch Monate dauern, und wir haben viele gute Leute verloren.« Osterly runzelte die Stirn. »Das gleiche haben wir aus New York und Chikago gehört. Haben Sie die Immunen nicht überraschen können?« »Überraschen!« Der andere lächelte traurig und schüttelte den Kopf. »Sie wissen nicht richtig Bescheid, nicht wahr? Sie haben hier eine freie Gesellschaftsform und neigen verständlicherweise zu groben Vereinfachungen. Sie glauben, wir haben uns zusammengetan, Pläne geschmiedet, ein Komplott ausgeheckt und uns dann in einer organisierten Revolte erhoben? Keine Spur. Ein paar Gruppen haben sich zwar gebildet, aber im allgemeinen war es ein Kampf einzelner gegen einzelne, als sich die Nachricht verbreitete. Bildlich gesprochen, haben wir den Tempel über unseren eigenen Köpfen eingerissen.« »Ich begreife Sie leider nicht ganz.« »Jede Zivilisation, auch eine Immunen-Zivilisation, ist ein kompliziertes Gebilde; nicht alle Hauptstützen wurden von der Gegenseite gestellt. Sie müssen ja wissen, wie die Immunen vorgehen, sie bevorzugen die Technik der Grauen Eminenzen. Die Anfälligen, die sich an der Macht glaubten, wollten an der Macht bleiben, obwohl sie die Nachricht natürlich auch empfangen hatten. Die 132
Leute an der Spitze, Bezirkschefs, Gebietsverwalter, stimmten in der Mehrheit für die Beibehaltung des alten Prinzips; Polizei und Miliz sind in Gehorsam gedrillt. Offen gesagt, es gab verzweifelte Kämpfe, bei denen sich zu viele Anfällige gegenseitig umbrachten.« Osterly sah ihn verstört an. »Ein Wunder, daß Sie gewonnen haben.« »Gesiegt hat der Haß. Es gab zu viele Grausamkeiten, zu brutale Verfolgungsjagden. Viele Menschen, Männer und Frauen, wurden buchstäblich rasend, als die Wahrheit durchsickerte. Ich habe einen Mann gesehen, der nur mit einer Axt bewaffnet war und wie ein Wahnsinniger auf einen Trupp von zwanzig Polizisten losging. Er hieb fünf von ihnen nieder, bevor man ihn erschießen konnte. Ähnliches kam überall vor. An solchen Einzelaktionen lag es, daß wir die Oberhand gewannen. Die Immunen hatten an ihrer Niederlage selbst schuld: zu viele Ehefrauen, Männer und Söhne waren hingerichtet worden. Es kam zu unglaublichen Heldentaten, die auch die Schwankenden mitrissen. Als ich abflog, begannen die Soldaten gerade in Massen zu desertieren, und einzelne Polizeiverbände weigerten sich, auf die Aufständischen zu schießen.« Osterly nickte betroffen. »Wie heißen Sie?« »Makepeace.« »Sie werden aus Sicherheitsgründen überprüft, Mr. Makepeace, aber davon abgesehen – willkommen in Toronto.« Er starrte das Flugzeug an. »Sie haben wirklich gute Nerven.« Makepeace grinste schief. »Früher vielleicht schon, aber jetzt nicht mehr, nicht nach diesem Flug. Wir hatten natürlich Schwerkraftab133
weiser. Beim Start funktionierte unser Gerät, aber beim Landen wurde es bockig, weshalb wir Rotore benutzen mußten. Das ganze Flugzeug wurde von einer Gruppe Techniker dritter Klasse unter Aufsicht eines Historikers und zweier Fachleute vom Roboterbau zusammengebaut.« Im Bungalow nahmen die Dinge langsam wieder ihre normale Gestalt an, als die Wirkung der Projektionen nachzulassen begann. Die großen, schwärzlichen Krater um das Haus verschwanden, der Boden sah wieder aus wie vorher. Die Befestigungen der Wachtposten verblaßten, und die alten Hütten und Unterstände tauchten wieder auf. Der Bungalow selbst verlor seine Kompaktheit, und Gilliad beobachtete, wie das Bild langsam vom Boden hochschwebte und an seinen angestammten Platz an der Wand zurückkehrte. Er vergaß nicht, daß es in Wirklichkeit diesen Platz nie verlassen hatte, aber eine derart groteske Rückkehr zum Normalen wirkte nicht wenig beunruhigend. Die Leichen waren abgeholt worden, Arbeiter hatten die geschwärzten Stellen und die Flecken beseitigt, aber Gilliad wurde die Erinnerung an den Tod seiner Gegner nicht los. Er goß sich zerstreut ein Glas voll und trank es aus, ohne zu überlegen. Das war erst der Anfang; er mußte sich daran gewöhnen, denn das war erst die Ouvertüre gewesen. »Fühlen Sie sich nicht gut?« Vanessa stand neben ihm und sah ihn fragend an. »Schrecklich.« Er wollte nachschenken, überlegte es sich aber anders. »Wenigstens ist es nicht so schlimm wie die öffentliche Verbrennung in einer Hitzekammer. 134
Dabei mußte man applaudieren, wissen Sie. Es war eine Opferung, ein Brandopfer, um die Rasse von der Sucht zu reinigen … Sprechen wir von etwas anderem.« »Das wollte ich eben tun. Ich möchte mich für Ihren Rat bedanken. Sie haben wirklich recht gehabt, David.« »Schon gut«, sagte er brüsk. Sie lachte leise. »Ich verstehe Sie langsam. Sie bellen, aber Sie beißen nicht.« »Seien Sie nicht so mütterlich – oder sollte ich sagen schwesterlich? Ich bin nicht der Typ dafür.« Er zündete sich eine Zigarette an und wechselte das Thema. »Osterly sagte mir, daß die Immunen einen Führer haben. Ich möchte wissen, wer das ist!« Der Führer der Immunen entsprach vermutlich keiner der Vorstellungen, die man sich von ihm machte. Er hieß Gene Welt – ein Name, den die Provinz Ontario und ihre Verbündeten im Laufe der nächsten Wochen durch fortgesetzte Befragung ermittelten. Er war ein stämmiger, dunkelhaariger Mann mit der eigenartigen Gewohnheit, die Schultern hochzuziehen, so daß man ihn schon oft mit einem Buckligen verwechselt hatte. Seine Kleidung schien ihm nie zu passen und hing lose und schlaff an ihm herunter. Dazu trug er noch einen ungepflegten Spitzbart. Hinter seinem Rücken spotteten seine Gegner über ihn, vor allem wegen seiner nervösen Angewohnheit, ständig die Hände in der Geste des Waschens aneinander zu reiben. Er war nicht aus freiem Entschluß der Führer der Immunen geworden, sondern eher unter allseitigem Druck dazu gezwungen worden. Gene Welt konnte Verbindung mit dem Höchsten aufnehmen; Welt war ein begabter 135
Organisator, ein Intellektueller, ein einfallsreicher Stratege – das Direktorium hatte ihn einfach auf den Thron absoluter Macht gestoßen. Gene Welt fühlte sich auf seinem Posten nicht wohl. Er zog es vor, seine Talente im Verborgenen spielen zu lassen. Er fand Gefallen daran, zu manipulieren, ungesehen zu lenken, die Peitsche durch die Hände anderer zu schwingen. Es gefiel ihm, Menschen wie Schachfiguren zu bewegen, verschlagen, unsichtbar, unbarmherzig zu sein. Als sichtbarer Führer war er exponiert, der Kritik ausgesetzt, er wurde verantwortlich gemacht, und, was das Schlimmste war, zur Rechenschaft gezogen. Das Direktorium wollte immer wissen, warum – wie – wo? Welt haßte das. Er faßte es als Bespitzelung auf. Es kam einem Selbstverrat gleich. Im Augenblick war er außergewöhnlich beunruhigt. Flüchtlinge strömten aus New York, Chikago und London herbei und erzählten Entsetzliches von einer wahnsinnigen und selbstmörderischen Revolution. Trotz persönlichem Heldenmut hatten sie fliehen müssen. Es wurden immer mehr. Sie verlangten Antworten, Vergeltungsmaßnahmen und sofortige Ergebnisse. Aus unbekannten Gründen war bis jetzt noch kein Bericht aus Kanada eingetroffen. Wenn er nur früher geahnt hätte, was sich dort abspielte! Aber wer hätte schon gedacht, daß eine einzige Provinz eines derart riesigen Kontinents in so kurzer Zeit soviel erreichen würde? Natürlich hatte er auch dort seine eigenen Leute, aber das verdammte Störsystem hatte den Austausch von Nachrichten unterbunden. Welt sank an seinem Schreibtisch ein wenig in sich zusammen und rieb sich nervös die Hände. Jeden ’Au136
genblick, jeden Tag konnte irgendein Narr verlangen, daß er sich wieder mit dem Höchsten in Verbindung setzte. Es hatte keinen Sinn, ihnen zu erklären, wie der Höchste funktionierte, keinen Sinn, den Leuten zu sagen, daß … Er fröstelte und gestand sich zum erstenmal ein, daß er sich vor diesen Kontakten fürchtete. Es lag nicht so sehr an den Antworten selbst als an der Art der Formulierung, aus der man eine tiefe Verachtung heraushören konnte. Natürlich waren da keine besondere Betonung, keine Untertöne, kein erkennbarer Sarkasmus, aber ›Du hast mich gefragt, wie eine Bombe gebaut werden kann – stimmt das?‹ ›Ja, aber –‹ ›Und ich habe es dir gesagt, und du hast sie gebaut.‹ ›Ja, aber -‹ ›Und dann hast du sie gezündet, und sie ist explodiert?‹ ›Ja, aber -‹ ›Dann wird alles weitere, was du zu sagen hast, als unwesentlich betrachtet. Du hast mich gefragt, wie man eine Bombe baut. Das habe ich dir erklärt. Sie ist erprobt worden und hat ihren Zweck erfüllt. Was mich betrifft, so bin ich damit meinen Verpflichtungen nachgekommen.‹ Das war die vereinfachte Version eines der Gespräche, die er mit dem Höchsten geführt hatte. Man wurde mit unwiderlegbarer Logik verhöhnt, mit präziser Gleichgültigkeit angestachelt, mit den eigenen Waffen geschlagen. Um das Beispiel noch weiter zu treiben: Wenn man zu betonen versuchte, daß die Bombe einen halben Kontinent in die Luft gesprengt hatte, wurde man einfach mit Logik entwaffnet. 137
›Habe ich dich angewiesen, sie zu zünden? Hast du die Explosionskraft der Bombe bestimmt? Deine Handlungen und dein Mangel an genauen Angaben betreffen meine’ Verantwortung nicht.‹ Zum erstenmal seit vielen Jahren stellte sich Welt die entsetzlichste aller Fragen: Wer war der Höchste? Man trat ein, man sah Licht – grelles Licht – und man hörte eine Stimme, aber wer sprach da eigentlich?
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18 Welts Gedankengang wurde durch Bridgeman, seinen Adjutanten, unterbrochen. Bridgeman legte einen Stapel Berichte auf den Schreibtisch, ließ sich in einen Sessel fallen und betrachtete mürrisch seine Fingernägel. »Verdammt schlecht –« Welt antwortete nicht. Er sah auf die Berichte, dann auf Bridgeman, und versuchte plötzlich zu entscheiden, wen er mehr haßte. Es war nicht so, daß er gegen den Mann direkt etwas gehabt hätte, es war nur, daß ihn seine Gegenwart störte. Das kurzgeschorene Haar, die vorquellenden, nichtssagenden blauen Augen, der kurze, dicke Hals – nach einem Zusammenleben von eineinhalb Jahrhunderten konnte man nicht anders als den Mann hassen. Bridgemans nervöse Schwülstigkeit, die fette Stimme, seine unangenehme Gewohnheit, sich mitten im Satz geräuschvoll zu räuspern, sein unerschöpfliches Repertoire an Banalitäten … Welt seufzte innerlich. So war es doch mit allem, oder etwa nicht? Auch mit seiner letzten Frau, mit der davor, und so weiter. Man wußte nicht nur, was sie sagen würden, sondern auch, wie sie es sagen würden. Man lernte sich so gut kennen, daß das Leben zu einer Reihe endloser und ermüdender Wiederholungen wurde. Plötzlich und auf erschreckende Weise war die Langlebigkeit zu einer Falle geworden. Man fürchtete sich vor dem Sterben und stöhnte unter der Last des Lebens. Die Jahre dehnten sich ohne sichtbares Ziel ins Endlose. Er war mit diesem Gefühl nicht allein, sie alle … 139
Er war mit dem Problem an den Höchsten herangetreten. ›Ihr habt Langlebigkeit verlangt und von mir bekommen.‹ ›Viele von uns leiden an nervösen Beschwerden.‹ ›Habt ihr zu der Zeit, als die Forderung gestellt wurde, nach möglichen Nebenerscheinungen gefragt?‹ ›Nein, wir ahnten nicht, daß -‹ ›Dann liegt der Fehler bei euch, nicht bei mir. Das Thema ist abgeschlossen.‹ Welt fröstelte bei dem Gedanken an diese Gespräche und griff, um sich abzulenken, nach den Berichten. Ihre Lektüre machte ihm kein Vergnügen, die Reaktion der Anfälligen ließ sich nur als verheerend bezeichnen. Es schien unfaßbar, daß derart kurzlebige, minderwertige Wesen solchen Haß empfanden. Manche Taten verrieten Wahnsinn. Das hier, beispielsweise – Chikago, nicht wahr? Ja – irgendein Verrückter, der mit einer Eisenstange zwanzig Polizisten angegriffen hatte. Er hatte vier erschlagen und einen fünften schwer verletzt, bevor man ihn unschädlich machen konnte. Der Angriff auf Kanada mußte vorverlegt werden. Dort lag der eigentliche Unruheherd. Beseitigte man ihn, so konnten sie in aller Ruhe die Städte zurückgewinnen. Seine Gedanken befaßten sich mit Gilliad. Man hätte ihn bei der Geburt töten sollen. Er hatte das vorgeschlagen, war aber von den Wissenschaftlern überstimmt worden. Sie wollten herausfinden, was mit Gilliad los war, wieso er von Natur aus resistent war. Ihre Argumente hatten Gewicht gehabt – angenommen, es kämen noch mehr von seiner Art zur Welt? Fakten mußten beschafft werden. Man mußte diesen Sonderfall studieren, um ihm gewachsen zu sein. Das einzige Problem dabei war, daß sie nichts als Theorien aufgestellt hatten und dazu diesen 140
komplizierten Plan zu seiner Beseitigung, der sie jetzt in solche Schwierigkeiten gebracht hatte. Bridgemann ergriff das Wort. »Das Direktorium beruft für heute abend eine Sondersitzung ein. Klingt nicht gut, was?« »Klingt ausgesprochen dumm. Wir können noch nichts tun.« »Keem scheint anderer Meinung zu sein. Keem ist dafür, daß wir Kanada binnen acht Tagen erledigen.« »Soll er es doch versuchen. Weitreichende Projektionsanlagen brauchen Zeit zur Konstruktion.« »Ha! Daran hat Keem gedacht. Er schlägt vor, das Gebiet mit Kurzstreckensendern zu überschwemmen.« »Na sowas!« Welt zog die Brauen zusammen und zupfte an seinem Bart. Es könnte klappen, warum hatte nicht er selbst daran gedacht? Er spürte, wie Hoffnung in ihm aufkeimte. Vielleicht würde man ihn rügen und absetzen. Dann konnte das Supergehirn Keem in seine Fußstapfen treten – aber das würde er nicht tun, nicht wahr? Niemand würde es tun; niemand wollte den verdammten Posten; niemand wollte einen Sündenbock-Thron. Auf dem Bildschirm in seiner Schreibtischplatte erschien plötzlich eine Nachricht. ›Alle Berichte über Sonderauftrag negativ. Fehlen von Meldüngen deutet darauf hin, daß Beauftragte in Erfüllung ihrer Pflichten gefallen. Operation Gilliad demnach als gescheitert zu betrachten. Gezeichnet: J. Winters, Gebietskommandeur.‹ Bevor Welt Gelegenheit fand, darüber nachzudenken, erschienen weitere Meldungen. ›Taktischer Rückzug aus Zitadelle Chikago trotz wiederholter fanatischer Angriffe erfolgreich abgeschlossen. G. Sherborne, Gouverneur.‹ 141
Welt begann, laut und lange zu fluchen. Was, zum Teufel, dachte sich Sherborne dabei? Er glaubte wohl, Propaganda für eine Zeitung im neunzehnten Jahrhundert verfassen zu müssen. Taktischer Rückzug! Sherborne war besiegt, und den Rest seiner Streitkräfte hatte man zum Teufel gejagt. ›Flugzeug aus Vereinigtem London heute in Toronto gelandet. Zwei große Flugkörper folgen. Vermuten Verbindung Ontario-New York. Kommunikationsträger bisher nicht ermittelt. Agent 10/5.‹ Welt erhob sich halb aus dem Sessel und ließ sich wieder zurückfallen. »Bridgeman!« Sein Gesicht war stark gerötet. Der andere zuckte zusammen. »Sir?« »Sie berufen eine außerordentliche Sitzung des Direktoriums ein, in einer Stunde – verstanden?« »Aber, Sir, eine Stunde ist –« »Eine Stunde, habe ich gesagt! Sie können Mr. Keem auch mitteilen, daß ich beabsichtige, seinen Vorschlag zur Abstimmung zu bringen.« Bei der außerordentlichen Sitzung eine Stunde später wirkte Hubert Keem nicht mehr so selbstsicher. »Es war ein Rat, keine Definition der von uns zu verfolgenden Politik.« Keem war ein großer, glatzköpfiger Mann mit dichten, schwarzen Brauen, die nervös zuckten. »Mir schien es so, als müßten wir möglichst schnell handeln.« Welt starrte ihn finster an. »Gott bewahrte mich vor Schreibtisch-Strategen.« Keems Brauen hüpften auf und ab, er wurde rot. »Ich sehe wirklich keinen Grund –« »Halten Sie den Mund und hören Sie zu«, schrie Welt. 142
Jemand rief ›Ruhe‹, aber ohne rechte Begeisterung, und niemand stimmte mit ein. Welt beachtete die Unterbrechung nicht. »Soviel ich weiß, schlagen Sie vor, Ontario mit Kurzstreckensendern zu überschwemmen?« »Ja, hm, das war eigentlich –« »Wie wollen Sie die Sender hinschaffen? Es ist Ihnen doch hoffentlich klar, daß unsere Luftwaffe nach militärischen Maßstäben überhaupt nicht vorhanden ist? Die wenigen Flugzeuge in unserem Besitz sind Zivilmaschinen und für einen Bombenangriff, auf den das Ganze doch hinausläuft, nicht ausgerüstet. Zweitens: Selbst wenn die Maschinen es wären, wie sollen wir sie an dem Abwehrsystem vorbeibringen, das – wie wir jetzt wissen – Ontarios Grenzen schützt?« Keem blieb die Antwort schuldig, und Welt zerpflückte seinen Plan Punkt für Punkt. »Der Umbau unserer Zivilmaschinen für militärische Zwecke würde acht Wochen länger in Anspruch nehmen als die Vorschläge zur Projektionsoffensive, die bereits im Stadium der Verwirklichung sind. Man müßte eigene Geräte erfinden und bauen, um diese Maschinen gegen das Abwehrsystem zu schützen. Wir haben keine Piloten mit Kampferfahrung, niemanden, der in der Lage wäre, die Operationen zu leiten, und zweifellos sehr wenig Freiwillige für eine derartige Mission. Was das Ehrenwerte Mitglied anscheinend beabsichtigte, war eine Rückkehr in die Vergangenheit. Er möchte, daß wir die Uhr zurückdrehen. Er möchte die großartigen Dinge, durch die wir die Welt erobert haben, abschaffen und erneut seine Zuflucht zu konventionellen Waffen nehmen, was unsere minderwertigen – wenn auch zahlenmäßig überlegenen Gegner – auf ein beinahe gleichbe143
rechtigtes Niveau heben würde.« Er machte eine Pause, zorngerötet und etwas außer Atem. Er war besonders erregt, weil er auf die Idee beinahe selbst hereingefallen wäre. Später natürlich, bei genauerer Überlegung, hatten sich die Fehler nur allzu deutlich gezeigt, aber zu Anfang … »Irgendwelche Fragen?« rief er wütend. Niemand meldete sich, niemand begegnete seinem Blick, aber er spürte, daß sie ihn haßten. Nun ja, das beruhte auf Gegenseitigkeit; jeder haßte, verachtete oder verabscheute irgend jemanden. Er fragte sich kurz, was sie eigentlich zusammenhielt: Angst, ein Gefühl der Überlegenheit, eine allgemeine bösartige Krankheit oder alles zusammen? Das Problem war eben, daß sie sich so verdammt gut kannten. Nichts war verborgen, es gab keine Rätsel, keine Geheimnisse. Das war nicht immer so gewesen. Seine Gedanken kehrten zu der Zeit zurück, als er noch ein junger Mann gewesen war. Tatsächlich jung, nicht die unveränderten Dreiundvierzig der letzten beiden Jahrhunderte. Damals hatte er viel und laut geredet, sich auffällig angezogen und schäumte über vor Ideen. Die meisten seiner Einfälle sollten ihn schnell reich machen und waren ausnahmslos danebengegangen, hatten ihn mit dem Gesetz in Konflikt gebracht oder sich als unausführbar herausgestellt. Schließlich war er gezwungen gewesen, als kleiner Angestellter sein Geld zu verdienen. Er besaß jedoch die Gabe, sich einschmeicheln zu können, und war rasch zu einer Vertrauensstellung aufgerückt. Hier hatte er – dank seiner rechnerischen Begabung – die Bücher so erfolgreich und so phantasievoll gefälscht, daß zwei andere Angestellte wegen Betrugs entlassen 144
wurden, bevor ein Buchprüfer den wahren Schuldigen herausfand. Man sperrte Welt achtzehn Monate ein. Der Richter hatte ihm zwei Jahre gegeben, aber Welt wurde vorzeitig entlassen. Welt war danach jahrelang von einem zwielichtigen Geschäft zum anderen gestolpert, hatte unter der Hand gestohlene Autos verkauft, Spielhöllen aufgezogen und Kneipen geführt. Zu einem richtigen Verbrecher fehlte ihm das Talent und der Mut. Er war eine Randerscheinung der Unterwelt, immer auf dem Sprung, beim ersten Anzeichen von Gefahr das Weite zu suchen. Bei einem solchen Ausweichmanöver, als er das Transportmittel gewechselt hatte, entdeckte er dann … In mancher Beziehung besaß er einen eigenartig methodischen Verstand – so trug er zum Beispiel immer eine Straßenkarte mit sich herum. Er war in einem kleinen Bahnhof aus dem Zug gestiegen, mit einem Omnibus weitergefahren, ausgestiegen und zu Fuß auf einer anderen Straße weitergegangen, auf der reger Verkehr herrschte. Die Strecke, die er gewählt hatte, war etwa sechs Meilen lang und schlängelte sich, einer alten Landstraße folgend, durch waldiges und immer noch schwach besiedeltes Land. Auf halbem Wege war er auf den Nebel gestoßen. Der Nebel schwebte auf einem niedrigen Hügel, wirbelte in sich durcheinander und war von greller roter Farbe. Der Nebel erschreckte ihn, aber ehe er sich umdrehen und die Flucht ergreifen konnte, sagte eine Stimme: »Erschrick nicht. Ich werde dir helfen.«
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19 Welt, immer noch entsetzt, dachte an Aberglauben, an Religion, an Stimmen aus brennenden Büschen, und fragte sich, welche Opfer er wohl bringen müßte, was typisch für ihn war. »Es wäre nicht in deinem eigenen Interesse, zu fliehen.« Die Stimme klang völlig leidenschaftslos und ganz neutral, aber Welt hörte eine Drohung heraus. »Ich habe viel zu geben. Ich bin hier, um zu geben. Allerdings darfst du nicht vergessen, daß du die Folgen deiner Wahl zu tragen hast, wenn sich deine Forderung als unklug herausstellt. Komm.« Zitternd, immer noch mit der inneren Frage, ob er für irgendein bestimmtes und unfaßliches Opfer vorgesehen sei, trat er in den Nebel und sah augenblicklich, daß es gar kein Nebel war. Er fühlte Licht, Raum, er hörte die Stimme – das war alles. »Was willst du?« Die Frage überraschte ihn, und er murmelte etwas Albernes von einem Wunsch – das Gemisch aus Religion und Märchen beeinflußte ihn noch immer. Die Stimme sagte: »Unzureichende Angaben – bitte, genauer.« Er hatte fast eine Stunde gebraucht, um zu entdecken, daß das Ding nicht eine Fee war, die einen Kürbis in eine goldene Kutsche verwandeln konnte. Es war auch keine Gottheit, noch konnte es alberne, völlig unmögliche Wünsche erfüllen, aber es gab etwas – es verschenkte technische Informationen. 146
Merkwürdigerweise hatte sich Welt nie nach dem Grund gefragt. In dem Augenblick, als er begriff, welche Schätze sich da vor ihm auftaten, schwemmte eine Flut von Habgier alle Neugierde hinweg. Sein erster Gedanke war daher darauf gerichtet, diesen Schatz für sich zu behalten, und er verbrachte weitere zwei Stunden damit, eifrig sein Notizbuch vollzukritzeln, während ihm die Stimme Anweisungen für den Bau eines ziemlich einfachen Geräts gab. Welt besaß nur Grundkenntnisse in Elektronik, aber die Stimme war offenkundig nicht nur bereit, sich möglichst verständlich auszudrücken, sondern auch ihn zu schulen. Vier Stunden später gab er sein letztes Geld für einige elektronische Bauteile aus, und eine Stunde danach war er wieder zurück und baute das Gerät nach den einfachen, aber ausreichenden Skizzen in seinem Notizbuch zusammen. Er besaß genug Selbstbeherrschung, um konzentriert arbeiten zu können, aber seine Ungeduld machte seine Hände unsicher und trieb ihm den Schweiß auf die Stirn. Jemand konnte plötzlich vorbeikommen, bevor … Endlich war das Gerät fertig, und er drückte nervös auf die Taste. Kein Laut war zu hören gewesen, aber der wirbelnde rote Nebel war plötzlich verschwunden. Wo er sich befunden hatte, war nur wieder die gewohnte Landschaft. Nichts ließ darauf schließen, daß da etwas gewesen war, das ihm die Erde auf einem silbernen Tablett präsentiert hatte. Welt fühlte eine Welle des Triumphes in sich aufsteigen, einen grenzenlosen Machtrausch. Er war schlau, wirklich schlau; er hatte es immer gewußt, aber dies war 147
die erste Gelegenheit in seinem Leben, es auch zu beweisen. Seine Tat war genial. Er hatte sich ein Strahlenbrechungsgerät erbeten, das das Ding und den Nebel für alle Augen unsichtbar machte. Es gehört ihm, ihm allein, weil niemand es je finden würde. Erschöpft und ausgepumpt kehrte er in die Stadt zurück. Als er sich ausgeruht hatte, begann er Pläne zu schmieden. Welt war nicht dumm. Er erkannte schnell, daß die Masse der technischen Informationen, die ihm die Stimme zur Verfügung stellen wollte, selbst dann sein Fassungsvermögen überstieg, wenn er sie auf die einfachsten Grundbegriffe reduzierte. Es kam deshalb darauf an, verschiedene Wissenschaftler zu finden, die verwerten konnten, was er zu Tage förderte. Die Aufgabe war nicht schwer. Am Rand der Unterwelt gab es Kontaktmöglichkeiten genug, und Welt nützte das aus. Er fand einen wegen Trunksucht stellungslos gewordenen Elektronikfachmann; einen Chirurgen, dem man die Zulassung entzogen hatte, einen Chemiker, der Drogen schluckte, einen Biologen, der sich wegen eines Nervenzusammenbruchs zurückgezogen hatte. Der Mann glaubte Krebs zu haben und fürchtete sich vor einer Operation. Das war nicht viel, aber es war ein Anfang. Wie gesagt, Welt war schlau. Als erstes brachte er eine Antialkohol-Formel heraus, die er dem Chemiker überließ. Dieser verwertete sie und gab das Ergebnis dem Elektronikfachmann als Whisky zu trinken. Der Elektronikfachmann trank das Mittel, trank Whisky, Wodka, Gin und blieb erschreckend nüchtern. Nach vier Wochen war er fast wieder normal. Im Lauf der Zeit wurden alle Beteiligten von ihren 148
körperlichen Gebrechen geheilt, wenn auch nicht von ihren seelischen. Erst dann produzierte Welt ein Gerät, das der Elektroniker zusammenbaute und das sich beim ersten Versuch in Rauch auflöste. Welt lachte nur. Er allein wußte, daß es in dem kurzen Augenblick des Funktionierens seinen Mitarbeitern unbewußte Anweisungen über unauslöschliche Treue zu ihm und auch untereinander eingepflanzt hatte. Die Organisation gehörte nun ihm. Danach konzentrierte er sich darauf, Geld zu verdienen. Auf dem Markt tauchte eine Reihe illegaler Geräte auf, für die man in der Unterwelt Phantasiepreise zahlte. Ein raffiniertes Gerät in Taschengröße zur Aufspürung und Lahmlegung von Alarmanlagen. Ein bleistiftgroßes Schweißgerät, das den stärksten Tresor zu knacken vermochte. Welt fehlte es nicht an Einfällen, aber er fürchtete sich. Auf legitime Weise hätte er mehr Geld verdienen können, aber legale Unternehmen hatten die unangenehme Gewohnheit, Fragen zu stellen. Konkurrierende Konzerne würden wissen wollen, warum eine Gruppe von Versagern auf bestimmten Forschungsgebieten einen derartigen Vorsprung besaß. Reporter würden sich dafür interessieren; nein, das Risiko lohnte sich nicht. Es dauerte aber nicht lange, bis sich die legale Welt in Gestalt der Polizei wegen einer Anzahl unglaublich erscheinender Verbrechen für einen bestimmten kleinen Herstellungs- und Garagenbetrieb zu interessieren begann. Welt wurde informiert, lange bevor die Polizei das Gebäude Tag und Nacht beobachtete, und ergriff Gegenmaßnahmen, die er mit seinen Partnern besprach. »Ich denke an eine Art von hypnotischem Projektor, 149
der die Polizei davon überzeugt, daß sie auf falscher Fährte ist.« Schließlich erschien er mit genauen Angaben für das Gerät, aber bevor es fertig war, entdeckte der Elektroniker, daß noch ändere Möglichkeiten in der Maschine steckten. Er zog den Chirurgen zu, der Chirurg fand einen nicht allzu kleinlichen Neurologen, und man machte sich gemeinsam an die Arbeit. In vier Tagen war die Maschine umgebaut und an einem Mann ausprobiert, den man des Verrats verdächtigte. Der Spitzel wurde süchtig – die erste Traummaschine war gebaut. Es war der Neurologe, der ihre Bedeutung erkannte. »Meine Herren, mit dieser Maschine können wir im Lauf der Zeit die Welt erobern – vorausgesetzt natürlich, daß wir ihr nicht selbst zum Opfer fallen.« Er sah Welt an. »Haben Sie – äh – irgendwelche Freunde, denen etwas einfällt?« »Wir brauchen nur einen Mechanismus, der die Strahlung abschirmt«, sagte der Elektronikfachmann sofort. Welt bekam es. Er bekam auch die Zeit – in Gestalt der Langlebigkeit, und das Ganze geriet ihm außer Kontrolle. Die Mitgliederzahl der Organisation, die er gegründet hatte, ging jetzt in die Millionen, und die Immunen begannen, sich in allen Ländern der Erde einzunisten. Die Sucht wuchs. Welt beobachtete ohne Gewissensbisse, wie die Zivilisation ihrem Untergang entgegensteuerte. Jetzt, als Immuner, besaß er Prestige, jetzt behandelte man ihn mit Achtung. Er wurde von Ministern und Generälen zu Rate gezogen, und das Machtgefühl, das er empfand, drohte, ihn beinahe zu überwältigen. Er verlor jedoch nichts von seiner vorsichtigen 150
Schläue. Nach außen tat er, als kümmere er sich nur um das Wohl der Allgemeinheit. Er war pflichtbesessen und aufopfernd und seinen Mitarbeitern ein leuchtendes Vorbild. Die Leute begannen zu sagen: »Gott sei Dank, daß es die Immunen gibt. Ohne sie wären wir zugrunde gegangen.« Die Organisation dementierte zwar bescheiden, warb aber geschickt für ihre Verdienste um das Gemeinwohl und verriegelte geschickt die Türen des Gefängnisses, in das sie die ahnungslose Menschheit hineingetrieben hatte. »Wann greifen wir an?« Welt merkte, daß ihn jemand anschrie, und zwang sich, mit seinen Gedanken in die Gegenwart zurückzukehren. Angreifen? O ja. Er sagte entschieden: »In genau neun Wochen werden wir eine große Projektionsoffensive starten können.« In diesen neun Wochen blieben jedoch Ontario und seine Verbündeten nicht untätig. Spezialisten und Fachleute aus dem Vereinigten London, aus New York und Chikago strömten in die Provinz, begierig, die kanadischen Erkenntnisse zu verwerten. Die Konstruktionsbeschreibungen für Projektionsanlagen wurden weitergegeben und sofort benutzt. Das Vereinigte London strahlte eine Projektion nach Paris aus, in dem augenblicklich ein gigantischer Aufstand losbrach. Das nächste Ziel war Berlin. Die Immunen waren zwar vorbereitet, erlitten hier aber eine ihrer schwersten Niederlagen. Ihre Exzesse hatten dort das gewohnte Maß noch weit überschritten, und die Deutschen waren bereits zu der Erkenntnis gelangt, daß das Heilmittel schlimmer 151
war als die Krankheit. Zellen von Resistenten waren bereits dreißig Jahre früher entstanden, und es gab eine ganze Anzahl von geheimen Waffenlagern. Die Immunen waren, obwohl sie die Hauptstraßen mit Projektionen bestreichen konnten, nicht auf eine bewaffnete Revolution gefaßt und noch weniger auf einen verhältnismäßig kleinen, aber strategisch sehr geschickten Angriff. Es stimmte zwar, daß die meisten Waffen Jahrhunderte alt waren, aber sie verursachten unverhältnismäßig viel Lärm, und ihre Wirkung auf kurze Entfernung war verheerend. Projektionstechniker wurden von erfahrenen Heckenschützen abgeschossen oder von Sturmtrupps angegriffen, die wie aus dem Nichts auftauchten und sofort wieder verschwanden. Die Verbündeten begannen jedoch auch, der Taktik den Vorzug zu geben. Als nächstes wurde eine kleinere Stadt mit einer Projektion versorgt – Barcelona in Spanien. Hier waren die Immunen nicht sehr gut vorbereitet. Einen Teil der Stadt hatte man zur Festung ausgebaut, in die man sich notfalls flüchten konnte, aber die Verteidigungseinrichtungen waren nicht fertig. Die Spanier zerstörten die Festung in ein paar Stunden durch stillschweigende und einfallsreiche Improvisation. Sie sperrten die Steuerung aller Transportmittel, entfernten die Regler und ließen sie auf die Viertel der Immunen losbrausen. U-Bahnzüge schossen in Kopfbahnhöfe und knallten mit solcher Wucht gegen Prellböcke und leere Waggons, daß sie buchstäblich wie Bomben explodierten. Bevor man an Aufräumungsarbeiten denken konnte, brauste der nächste Zug in das Chaos hinein. In den Straßen sah es genauso aus: Öffentliche Verkehrsmittel, Behördenfahrzeuge und schwere Laster 152
krachten gegen Gebäude oder schoben sich in gigantischen Trümmerhaufen auf den Kreuzungen zusammen. Der Strom fiel aus, überall brannte es, und dann griff die Bevölkerung an: Männer, Frauen und Kinder mit allen Waffen, die sie finden konnten. Ein paar hundert Immunen gelang es, aus der Stadt zu fliehen, das war alles.
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20 Auch auf anderen Gebieten erzielte man Fortschritte. Fachleute aus den befreiten Städten trafen sich zu Besprechungen mit Keisler und anderen Psychiatern. Von den vorhandenen Tatsachen ausgehend begannen sie, ein genaues Bild der Psychologie der Immunen zusammenzutragen. »Diese Leute sind Paranoiker von besonders unerfreulicher Art. In normalen Zeiten würden sie zu den Personen gehören, die anonyme Drohbriefe schreiben, Kinder mißhandeln, Tiere quälen, ihre Mitmenschen verleumden. Versager, die mit sich selbst und der Umwelt verfallen sind und aus Bosheit das Glück anderer zerstören. Außerdem sind sie feige – man denke nur daran, wie ungern sie mit offenem Visier kämpfen. In der einen Hand Heilsalbe, in der anderen die Peitsche.« »Richtig, und in ihrem Charakter liegt auch der Schlüssel zu unserem Überleben. Sie haben uns aus einem einfachen Grund nicht ausgelöscht, weil sie dann auch ihre Existenzberechtigung verloren hätten. Sie könnten niemanden mehr ausbeuten, manipulieren, quälen.« »Ressentiments, Verfolgungswahn.« »Genau. Meiner Meinung nach würden sich diese Leute keinem offenen Kampf stellen, sie würden sich gegenseitig verraten und in Massen ergeben.« »Leider wird es keinen offenen Kampf geben. Wir müssen ihre Kampfweise übernehmen – auf einem subjektiven Kampfplatz, den sie sich selbst aussuchen.« »Vielleicht.« Ein deutscher Experte beugte sich vor. »Mit ein wenig Zeit könnten wir – mein amerikanischer 154
Kollege hier und ich – das Rätsel um diesen Schädelmechanismus der Immunen lösen. Unsere Nachforschungen werden leider durch die Tatsache behindert, daß er einen Zünder enthält. Das heißt, wenn man ihn entfernen oder genauer untersuchen wollte, explodiert er. Wir haben daher mit einer neuen Versuchsreihe begonnen, um ein Projektionsgerät zu entwickeln, das demselben Grundprinzip entspricht, aber eine andere Frequenz benützt. Sollten wir damit Erfolg haben, könnte man den Schutzmechanismus der Immunen umgehen. Einfach ausgedrückt: Unsere immunen Freunde würden plötzlich entdecken, daß sie anfällig geworden sind – jedenfalls unseren Projektionen gegenüber.« Jemand sagte: »Weil wir gerade von Projektionen sprechen, zwei Städte, die wir angepeilt haben, melden sich nicht.« »Wir können nur annehmen, daß diese Städte Erholungsorte für Immune sind, wo es überhaupt keine Anfälligen gibt.« »Wissen wir über den Höchsten schon Näheres?« »Nein, anscheinend handelt es sich dabei um ein Geheimnis, das nur dem Führer der Immunen bekannt ist. Er heißt Welt, wie wir durch unsere Befragungen erfahren haben. Der Name scheint aus dem Holländischen zu kommen, aber wir wissen, daß er ihn mindestens fünfmal gewechselt hat, so daß er nichts besagt.« In anderen Bereichen schritt die Arbeit ebenfalls fort. Von Stunde zu Stunde wurde die Schulung gegen subjektive Attacken verstärkt und erweitert. Als die befreiten Städte ihre Rohstoffvorräte zur Verfügung stellten, wuchs die Anzahl von käfigähnlichen Schutzvorrichtungen für Kinder und andere schwache Bevölkerungsgruppen immer mehr. 155
Im Bungalow waren Gilliad und das Mädchen trotz der strengen Bewachung von Fachleuten geradezu überrannt worden. Als die Wochen vergingen und die Gefahr eines Angriffs immer größer wurde, beschloß man jedoch, sie aus strategischen Gründen und mit Rücksicht auf ihre Sicherheit zu trennen. Für den Fall, daß einer ums Leben kam – sie drückten es nicht so unverblümt aus, aber man konnte es heraushören. Gilliad kehrte in die Hauptstadt zurück, Vanessa wurde in geheime, neuerbaute Labors im Norden gebracht, und eine Woche später … Osterly erwachte und hielt sich an der Bettkante fest – was war das? Er schaute zum Fenster und sah, daß es noch dunkel war. Was, zum Teufel, hatte ihn geweckt? Er griff nach seinem Jackett, kramte nach der Pfeife in der rechten Tasche, und in diesem Augenblick erzitterte und schwankte das Gebäude, wie von einem gewaltigen Erdbeben geschüttelt. Draußen rauschte etwas, brach und stürzte krachend auf die Straße. Weiter entfernt schrie eine angstvolle Stimme: »Beben! Flach hinlegen! Ein Erdbeben!« Osterly hielt sich noch immer am Bett fest, während das Haus schwankte und ächzte. Plötzlich begann die Alarmglocke über seinem Kopf zu schrillen, in der ganzen Stadt heulten Sirenen auf. Subjektiver Angriff! Gut, daß es Gilliad gab. Er war der einzige in der ganzen Stadt, der hier zu unterscheiden vermochte. Zweifellos war er es gewesen, der das Gefahrensignal bemerkt und sofort den Alarmknopf gedrückt hatte. Osterly stellte überrascht fest, daß seine kurze, aber 156
gründliche Schulung automatisch die richtige Reaktion hervorrief. Das Haus besaß verstärkte Grundmauern und war erdbebenfest! Das Schwanken ließ nach und war kaum mehr zu bemerken; das Ächzen in den Mauern hörte auf. Er sprang aus dem Bett und zog sich hastig an. Wenige Augenblicke später stürzte Keisler herein. »Fertig?« »Fertig.« Sie liefen zur Treppe, blieben aber plötzlich stehen, als sie die Tür erreichten. Direkt vor ihnen schoß eine Wasserfontäne aus einem gebrochenen Hauptrohr; die gesamte Straße zitterte, bäumte sich auf, und riesige, gezackte Risse öffneten und schlossen sich wie Münder. Schutt prasselte herunter, ein ganzes Gebäude kippte, brach zusammen und begrub die Straße unter sich. »Was nun?« Osterly zog unruhig die Schultern hoch. Keisler lächelte schwach. »Meine Phantasie sträubt sich einfach gegen Flügel, aber ich habe Bilder von Lufttaxis und ihrer Steuerung gesehen.« »Ich auch«, sagte Osterly. Sie konzentrierten sich. Achtzig Sekunden später rasten sie in dreißig Meter Höhe auf die Zentrale zu. Unter ihnen stürzten Häuser ein, im Westen flackerte Feuerschein. Osterly mußte sich immer wieder die wahren Tatsachen ins Gedächtnis zurückrufen, damit ihn das Schauspiel nicht deprimierte und seinen Abwehrwillen schwächte. Es gab kein Erdbeben. Es gab keine Brände. 157
Ein Gegner projizierte ein Trugbild in sein Gehirn, allerdings so eindringlich, daß die Geschehnisse real wirkten. Also: Es gab kein Lufttaxi. In Wahrheit liefen sie auf normalem Wege zur Zentrale, aber mit der geistigen Vorstellung eines Lufttaxis begegneten sie erfolgreich einem Trugbild, das sie sonst vernichtet hätte. Ein Polizist, auf schlappen, aber durchaus funktionstüchtigen ledrigen Schwingen über den Dächern schwebend, winkte ihnen zu. Erneut erinnerte sich Osterly daran, daß der Polizist nicht flog. Was sie gesehen hatten, war die geistige Abwehr, die der Mann benützte, um sein Gehirn, sein Denken vor dem subjektiven Angriff zu schützen. Solange der Mann glaubte, daß er über dem Erdbeben dahinflog, konnten ihm die Auswirkungen nichts anhaben. »Da drüben sieht es schlimm aus.« Keisler streckte den Arm aus. Osterly starrte in die bezeichnete Richtung und spürte einen Anflug von Angst. Hinter der Stadt erhob sich, schwarz und drohend in der anbrechenden Dämmerung, ein Gebirge, das es dort vorher nie gegeben hatte. Zwei Gipfel spien schwarzen Rauch aus, der an den Rändern rötlich getönt war. In der Zentrale wuchs jedoch seine Zuversicht wieder, als er hörte, wie die Laborleute über das Lautsprechersystem die Stadt und die Provinz warnten: »Achtung, Bürger, Achtung: Beobachter melden drei aktive Vulkane zwanzig Meilen vor der Stadt. Bedenken Sie, daß diese vulkanische Tätigkeit nicht real ist, sondern subjektiv. Trotzdem müssen Sie Abwehrmaßnahmen ergreifen! Stellen sie sich vor, sie trügen hitzeunempfindliche Kleidung. Das wird sie gegen Feuer und 158
glühenden Ascheregen schützen. Die Anzüge haben Sichtscheibe und Visier, dazu ein eigenes Sauerstoffgerät, so daß Sie keine heiße Luft oder vulkanischen Staub einatmen müssen! Ich wiederhole die Empfehlungen für –« Osterly wandte sich verblüfft ab. Diese erst vor kurzem ausgebildeten Leute waren ihm weit voraus. Er ging zur Abteilung, wo die Verluste registriert wurden. »Wie sieht es aus?« »Nicht schlecht, Mr. Osterly. Weitaus besser, als wir vermutet haben. Bis jetzt erst zweiundvierzig Tote und siebenundzwanzig Verletzte.« Osterly hielt kurz den Atem an und seufzte dann tief. Wunderbar. Die Verluste waren nicht erfreulich, aber viel niedriger, als er angenommen hatte. Trotz der Abwehrmaßnahmen hatte man mit mindestens dem Zwölffachen gerechnet. »Wie funktionieren die Käfige?« »Bisher überhaupt keine Verluste. Die Kinder und die alten Leute merken offenbar gar nicht, was los ist.« Aus einem Lautsprecher an der Wand schrie plötzlich eine Stimme: »Achtung, hier Beobachtergruppe; Kegel Nummer Drei eben explodiert. Weißglühender Aschenregen! Kegel Zwei speit Lava. Jetzt geht’s erst richtig los.« Eine zweite Stimme übertönte die erste. »Beobachtergruppe Neun. Eine riesige Flutwelle rollt an, dahinter ein Orkan. Geschätzte Höhe der Flutwelle: vierhundert Meter. Windgeschwindigkeit zwischen hundertzwanzig und hundertfünfzig.« Osterly, der sich die Pfeife in den Mund stecken wollte, erstarrte. Das war das Ende. Es gab Grenzen für das menschliche Vorstellungsvermögen. O Gott! Feuer, Flut und Sturm. Die Immunen gingen eindeutig aufs Ganze. 159
Er bemerkte, daß in einer Ecke heftig diskutiert wurde. Plötzlich trat Gilliad vor und hob die Hand. »Meine Herren, bitte –« Er wartete, bis es still geworden war. »Mr. Hartley, einer unserer Experten aus New York, ist der Meinung, daß wir in zu kleinem Maßstab denken, und ich gebe ihm völlig recht. Der Gegner projiziert ein Bild nationaler Vernichtung. Alle Naturgewalten sind losgelassen. Um dieser Bedrohung Herr zu werden, müssen wir in großem Maßstab denken und mit genauso massiven Kräften erwidern. Wir haben uns daher einstimmig für folgende Maßnahmen entschieden –« In über zweitausend Kilometer Entfernung kontrollierten die immunen Projektionstechniker das einwandfreie Funktionieren ihrer Geräte und warteten. Sie konnten den größten Teil Torontos beobachten, besaßen aber als Immune keine Möglichkeit, das subjektiv projizierte Bild zu sehen. Sie sahen nur das objektive Bild, was wenig tröstlich war. »Hier Schirm sechs – in der East Suffolk Street sind eben zwei Männer tot zusammengebrochen!« »Zwei!« Welt zupfte nervös an seinem Bart. »Nur zwei! Sie müßten wie die Fliegen sterben.«
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21 Andere Meldungen berichteten von Todesfällen in verschiedenen Gebieten der Provinz, aber immer waren es nur zwei oder drei. Welt spürte, wie ihm die Schweißtropfen auf der Stirn standen. Hier stimmte etwas nicht. Hier war etwas ganz und gar nicht in Ordnung. Er schnalzte mit den dünnen, nicht sehr sauberen Fingern. »Es gibt nur eine Art von Leuten, die alles genau beobachten können – bringen Sie mir einen her!« Sie ergriffen den ersten Anfälligen, der ihnen über den Weg lief, und schleppten ihn in Welts Büro. »Setzen Sie sich vor den Schirm und sagen Sie uns, was Sie sehen – alles!« Der Mann starrte den Bildschirm an und riß die Augen auf. »Das ist ja eine Traummaschine, ihr –« Jemand schlug ihm mit der Faust gegen die Schläfe. Der Anfällige stürzte zu Boden. Man hob ihn auf und setzte ihn wieder auf seinen Stuhl. »Sparen Sie sich Ihre Bemerkungen. Sagen Sie uns einfach was Sie sehen, wenn Sie nicht wollen, daß wir Ihnen die Finger wegbrennen – hübsch langsam, einen nach dem anderen.« Der Mann schauderte und beugte sich vor. »Da ist eine Stadt. Sie scheint auseinanderzubrechen – sieht nach einem Erdbeben aus – Gebäude stürzen ein, überall brennt es, die Straßen sind alle aufgerissen.« 161
»Weiter! Weiter!« »In einiger Entfernung stehen drei Vulkane – einer explodiert gerade, und –« »Halt! Mercer, schalten Sie Schirm zehn ein. Was sehen Sie jetzt?« »Ich sehe einen Ozean – eine Welle – eine riesige Welle, und ich kann den Sturm heulen hören –« »Gut, Mercer, Sie können umschalten. Sehen Sie sich das Bild genauer an. Sehen Sie Menschen?« »Ja, da sind Menschen.« »Viele?« »Einige. Keine Menschenmengen.« »Was tun sie?« »Die meisten –« Der Mann zögerte und schluckte krampfhaft. »Die meisten fliegen!« »Fliegen! – Sind Sie verrückt? Hören Sie mal zu! Wir sind nicht zum Spaß hier. Wenn wir einen Komiker brauchen, holen wir uns einen.« Jemand schlug ihm ins Gesicht. »Bleib bei den Tatsachen, verstanden?« »Es ist die Wahrheit.« Plötzlich begann der Mann zu schreien. »Sie haben mich gefragt, was ich sehe, und das habe ich gesagt. Sie fliegen! Fliegen!« »Na, du unverschämter –« »Warten Sie.« Einer der Experten trat vor. »Der Mann sagt vielleicht die Wahrheit.« Er schob die anderen weg und fragte beinahe freundlich: »Wie fliegen sie?« Der Mann sah ihn an. »Einige scheinen Maschinen oder eine Art fliegendes Floß zu haben. Andere –« Er zögerte wieder. »Andere haben Flügel wie Vögel.« »Aha.« Der Experte steckte ihm eine Zigarette zwischen die Lippen. »Was sehen Sie noch?« Über die Schulter sagte er zornig: »Bringt ihm etwas zu trinken 162
und wascht ihm das Gesicht. Herrgott nochmal, zuerst wollt ihr einen Bericht, und dann schlagt ihr ihn so zusammen, daß man fast nichts mehr mit ihm anfangen kann.« Er wandte sich wieder dem Anfälligen zu. »So – erzählen Sie weiter.« »Alle drei Vulkane speien jetzt Feuer. Der ganze Himmel glüht.« »Weiter.« »Irgend etwas passiert. Ich weiß nicht genau, was es ist.« Es entstand eine Pause, als jemand etwas zu trinken brachte. Die Hände des Mannes zitterten so, daß er die Hälfte des Inhaltes verschüttete. Er trank ein paar Schlucke. »Zwischen der Stadt und den Vulkanen ist etwas. Ich kann es nicht erkennen. Es scheint bis zum Himmel hinaufzureichen und dehnt sich aus, soweit ich sehen kann.« »Können Sie es genauer beschreiben?« »Es ist wie ein Vorhang, ein Vorhang aus kleinen blauen Funken. Die ganze Asche, der Rauch und die glühende Lava verschwinden, wenn sie damit in Berührung kommen. Sie können ihn nicht durchdringen.« Der Experte nickte und fuhr sich nervös durch die Haare. Sein Gesicht war aschfahl. »Mercer, noch einmal Schirm zehn.« Zu dem Anfälligen sagte er: »Was sehen Sie jetzt?« »Die Welle, die ich schon erwähnt habe, aber jetzt steht sie fast still.« »Still! Wieso das?« Der Mann schüttelte verwirrt den Kopf. »Es sieht so aus, als würde sie von einem Orkan vorangetrieben, aber ein noch stärkerer Wind kommt von vorn, preßt sie flach, treibt sie zurück, immer weiter zu163
rück. Wasserhosen rasen über das ganze Meer, aber man sieht nichts als Schaum und Brecher.« »Danke.« Der Experte nahm ihm das leere Glas aus der Hand und schleuderte es an die Wand. »Ich glaube Ihnen.« Er starrte die anderen an. »Los, schafft den Kerl hier weg! – Ich brauche etwas zu trinken.« Bevor das Getränk gebracht wurde, stand plötzlich Welt vor ihm. »Was bilden Sie sich eigentlich ein?« Welt rieb sich nervös die Hände, sein Gesicht war gerötet. »Wenn Sie Informationen haben, bin ich der erste, der sie erfährt, verstanden? Erst dann, wenn Sie mir die Information mitgeteilt haben, können Sie Gläser an die Wand werfen und sich aufregen – ist das klar?« Der Experte erstarrte, wurde blaß und sagte: »Ja, Sir.« »Also, was ist los?« Der Experte schluckte und hob die Schultern. »Sehr wohl, Sir. Wenn Sie die Wahrheit hören wollen, bitte. Was der Mann sagt, stimmt. Die Gegner fliegen – über dem Erdbeben.« »Das ist doch absurd!« »O mein Gott – Verzeihung, Sir, ich bin ein bißchen durcheinander. – Ich erkläre es Ihnen. Der Feind benützt die geistige Stimulierung unserer Projektion dazu, Gegenprojektionen zu erzeugen. Kurz gesagt, um ein Bild zu übermitteln, muß erst das Gehirn gereizt werden“ sonst wird es nicht aufgenommen. Ihre Gehirne sind gereizt, aber sie benützen genau diese Reizung dazu, Gegenmaßnahmen zu ergreifen. Zuerst haben sie es sich leicht gemacht. Sie stellten sich vor, sie ›flögen‹ über dem Schauplatz. Jetzt haben sie sich offensichtlich auf Massenkonzentration umgestellt und eine Energiebarriere errichtet.« 164
»Aber eine Barriere in diesem Maßstab ist doch eine wissenschaftliche Unmöglichkeit.« Der Experte atmete tief ein. »Sir, wir können kein Gebirge wachsen lassen. Wir können nicht einen Zauberstab bewegen und drei Vulkane aus dem Zylinder ziehen. Das sind keine echten Vulkane, sondern nur subjektive. Es sind Illusionen, die von unseren Maschinen in die Gehirne der Empfänger projiziert werden – ist Ihnen das klar? Gut. Weiter: Die Energiebarriere ist ebenfalls subjektiv. Sie ist gleichfalls eine Illusion. Eine Illusion allerdings von ausreichender Überzeugungskraft, um unserer Illusion zu begegnen und sie zu überwinden.« Plötzlich schien er die Beherrschung zu verlieren. Er schrie: »Soll ich Ihnen das schriftlich geben oder buchstabieren? Man hat uns besiegt!« Welt starrte ihn an und war über die Nachricht so entsetzt, daß er vergaß, den anderen zu tadeln. »Besiegt! Wir haben doch gerade erst angefangen.« Er leckte sich nervös über die Lippen und rieb sich die Hände. »Wir können die Projektion jederzeit ändern. Wir können hundert Atombomben auf sie abwerfen, die ganze Provinz vom Erdboden vertilgen –« Der Experte preßte die Hände vors Gesicht und schrie verzweifelt: »Lieber Himmel!« Dann schien er sich zusammenzunehmen. »Mr. Welt, wir wissen nicht, wie man eine Atombombe herstellt. Wir können nur die Illusion einer solchen Bombe erzeugen, und unsere Illusion einer Atombombe würde gegen ihre Barriere nichts ausrichten können. Ich kann es nicht klarer ausdrücken, selbst wenn ich in der Babysprache rede!« Welt starrte ihn an, als er die Wahrheit langsam begriff. »Was können wir tun?« 165
Jemand brachte dem Experten ein volles Glas, das er auf einen Zug leerte. »Tun? Wollen Sie die Wahrheit hören, Mr. Welt? Egal, dem Direktorium muß ich sie ja doch sagen. Es wird Ihnen nicht gefallen! Passen Sie auf. Wir werden konventionelle Waffen benützen und eine Armee ausbilden müssen. Die Projektionen sind durch ihre Gegenprojektionen wirkungslos geworden. Wir, als Homo Superior, werden eine Armee aus unseren eigenen Reihen schaffen und ausbilden müssen, um die Entscheidung mit einem zahlenmäßig weit überlegenen Feind auszufechten.« »Ist das die einzige Lösung?« Welts Stimme schwankte ein wenig. »Es ist meine einzige Lösung, Sir. Jede andere Alternative liegt bei Ihnen. Wenn wir diesen Krieg gewinnen wollen, sind Sie der einzige, der uns mit überlegenen Waffen und einer überlegenen Strategie versorgen kann.« Welt erschrak. Überlegene Waffen, überlegene Strategie – o Gott, nicht wieder! Er wußte genau, was der andere meinte, und er wußte, daß ihn das Direktorium voll unterstützen würde. Er würde zum Höchsten gehen müssen, das ließ sich nicht mehr vermeiden. Wenn er es nicht tat, würde man so lange Druck auf ihn ausüben, bis er nachgab. Welt fühlte sich gefangen. Nicht, daß der Höchste je eine Gegenleistung verlangt hätte; es war nur so, daß immer, wenn er sich an ihn wandte – es war die herauszuhörende Verachtung, die Andeutung der Überlegenheit. Am liebsten hätte er sich jedesmal einfach davongeschlichen. Andererseits mochte plötzlich doch eine Gegenleistung verlangt werden. Der Höchste konnte – Welt erschrak. Er fand keine logische Erklärung für sein Entsetzen, aber auf irgendeine Weise hatte ihn die Stim166
me zermürbt, seine Nerven bloßgelegt. Warum? Die Stimme veränderte sich nie, es hatte nie eine Drohung, auch keine versteckte, gegeben, und wenn man es genau nahm, hatte die einzige Rüge nur immer gelautet: ›Deine Forderung hätte genauer beschrieben sein müssen.‹ Welt begriff plötzlich, woher sein Abscheu rührte. Er kam sich dem Höchsten gegenüber minderwertig vor, winzig, hilflos, verächtlich. Bildlich gesprochen trat er wie ein Bettler mit dem Hut in der Hand vor ihn hin, und er hatte das unangenehme Gefühl, daß der Höchste das wußte und ihn deshalb verachtete. Welt erkannte, daß seine Einstellung unlogisch war, aber er konnte es nicht ändern. In letzter Zeit war es sogar immer schlimmer geworden. Nicht, daß das eine Rolle spielte. Eines stand fest: Das Direktorium würde ihn trotzdem zwingen, an den Höchsten heranzutreten. Jetzt ging es auch um ihre Existenz, und er bot als einziger Aussicht auf Rettung. Genau zwei Stunden später war er unterwegs. Niemand versuchte, ihm zu folgen; die Roboterwachen und waffen, mit denen der Ort abgesichert war, hatten es stets verhindert. Derartige Versuche waren schon vor langer Zeit aufgegeben worden. Die Roboterwaffen und wachen erkannten nur ihn und vernichteten jeden anderen. Hundertdreiundachtzig Tote hatten die Neugierigen endgültig eines Besseren belehrt, und wer Ortungsgeräte benützte, dem explodierten sie in den Händen. Welt schritt den wohlvertrauten Pfad entlang und trat durch das Brechungsfeld in den roten Nebel hinein. »Was verlangst du?« Die leidenschaftslose Stimme kam Welt hochmütig und anklagend vor. »Ich – wir –« Welt schluckte. »Wir brauchen eine 167
Waffe – eine Waffe, gegen die es keine Gegenwaffe gibt.« Es blieb einen Augenblick still. »Eine solche Waffe kann hergestellt werden. Ich schlage die Mutation eines bestimmten Virus’ vor, der auf dieser Welt überall vorkommt.« »Ausgezeichnet.« Welt rieb sich die Hände, erstarrte aber plötzlich. »Dagegen gibt es doch ein Serum, nehme ich an?« »Du redest in Widersprüchen. Wenn du eine Waffe verlangst, gegen die es keine Gegenmittel gibt, kann es kein schützendes Serum geben, das ist offenkundig.« »Aber wir könnten auch an dem Virus erkranken.« »Zweifellos. Du hast nichts von Überlebenden gesagt.« »Das nützt uns nichts. Wir brauchen eine Waffe, die den Sieg garantiert.« »Unter den gegenwärtigen Bedingungen gibt es eine solche Waffe nicht.«
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22 Welt spürte, wie es ihm eiskalt über den Rücken hochkroch. »Was heißt das – unter den gegenwärtigen Bedingungen?« »Mit den Bedingungen, die du geschaffen hast, bist du doch vertraut? Du hast ein bestimmtes Gerät umgebaut, um dich über die Mehrheit deiner Mitmenschen zu erheben.« »Das weißt du?« Die Worte klangen, als hätte Welt sie einzeln hervorgewürgt. »Es ist meine Aufgabe, das zu wissen.« »Aber warum?« Welt rang verzweifelt die Hände. »Warum hast du uns nicht gewarnt?« »Meine Funktion besteht darin, denjenigen Informationen zugänglich zu machen, die danach verlangen. Es ist aber nicht meine Aufgabe, zugunsten einer von mehreren sich bekämpfenden Parteien einzugreifen.« »Dann gibst du uns also keine Waffe?« »Ich kann es nicht ablehnen, euch eine Waffe zu geben, aber ihr müßt genau bestimmen, wie sie aussehen soll.« »Der Teufel soll dich holen!« Welts Hände verkrampften sich ineinander. »Natürlich brauche ich eine Waffe, die genügt, um den Feind zu besiegen.« »In diesem Fall schlage ich den Virus vor.« »Du lieber Himmel – warum?« »Weil ich euch – abgesehen von einer wahllos wirkenden Waffe – unter den gegebenen Umständen keine Waffe geben kann, die stärker wäre als diejenige, die euch gegenübersteht.« 169
»Das ist Irrsinn!« Welt hatte zuviel Angst, um noch Ehrfurcht zu fühlen. »Im Gegenteil. Die Technologie kann nicht das NichtGreifbare liefern. Ich kann euch nicht Rache, Freiheitsliebe, den Willen zum Sieg, Einfallskraft, Selbstaufopferung geben. Ich kann euch mit Waffen versorgen, die eure Gegner zu Tausenden verrichten, aber keine, die den Sieg garantiert.« »Gib mir eine Waffe, die uns gleiche Chancen einräumt.« »Ich gebe euch eine Waffe, die Armeen vernichtet, aber sie verschafft euch nicht gleiche Chancen. Im besten Fall vermindert sie die Gewißheit eurer Niederlage um dreißig Prozent.« »Gib sie mir, gib sie her, über die Prozente entscheiden wir.« Merkwürdig, aber im Augenblick fürchtete er sich weder vor der Stimme noch bedrückten ihn ihre pessimistischen Ansichten. Mit einer Waffe, die eine Armee vernichten konnte, würde auch er etwas Nicht-Greifbares besitzen – Unbarmherzigkeit. Als er mit den Einzelheiten zurückkam, stürzten sich die technischen Experten darauf. Man flüsterte miteinander. Er verstand nur Bruchstücke, aber es klang nicht sehr ermutigend. »Sehr starke Abschirmung nötig, sonst –« »Überaus kompliziert –« Einer der Fachleute richtete sich auf und sagte scharf: »Um das verdammte Ding zu bauen, werden wir neun Wochen brauchen …« *
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In Toronto waren die Vulkane verblaßt und zu verschwommenen, kaum erkennbaren Umrissen ohne Realität oder Bedrohlichkeit geworden. In der Stadt sahen die Straßen wieder aus wie immer; Schutt und Ziegel schwebten auf unheimliche Weise empor und nahmen ihre ursprüngliche Lage wieder ein. Die verbündeten Kommandeure und führenden Wissenschaftler tagten ununterbrochen. »Passive Abwehr genügt nicht. Wir müssen zuschlagen, bevor der Gegner etwas Neues bringt.« »Ganz meiner Meinung. Wir wissen nicht, wer der Höchste ist.« »Zuerst müssen wir uns über unsere Ziele klarwerden – wo schlagen wir zu?« »Natürlich in einer Immunen-Stadt, am besten zur Unterstützung einer von Projektionen betroffenen Stadt. Die meisten haben es sowieso schwer. Die Immunen haben sich inzwischen gesammelt. Wenn die Bevölkerung revoltiert, reagieren sie sofort. Wir können nicht das Risiko eingehen, einander Projektionen zu schicken, bis wir in der Lage sind, sie zu unterstützen – hat jemand Vorschläge?« »Ja.« Ein spanischer Oberst stand auf. »Madrid ist eine von den Immunen besetzte Stadt. Wenn wir sie dort vertreiben könnten, würde das den Aufstand in Gibraltar begünstigen und uns die Kontrolle über die gesamte Halbinsel verschaffen und damit über den größten Teil des Mittelmeerraumes.« Er lächelte beschwichtigend. »Ich muß auch ganz offen sprechen, meine Herren. Ich habe politische Probleme. Wir sind ein stolzes Volk. Der Gedanke, daß fremde Eindringlinge unsere Hauptstadt besetzt halten, ist meinen Landsleuten unerträglich. Wir hatten große Schwierigkeiten, unsere befreiten Bürger 171
davor zurückzuhalten, daß sie von sich aus angriffen. Diese Art Attacke ist, wie wir alle wissen, von Anfang an zum Scheitern verurteilt und würde vielleicht mein Volk vollkommen auslöschen.« »Ich finde, daß das ein gewichtiges Argument ist, Oberst, aber wir brauchen zu Beginn ein anderes Ziel.« »Dann schlage ich Boston vor«, meinte der amerikanische Wissenschaftler grimmig. »Das ist nicht nur eine Hochburg der Immunen, sondern von dort aus werden auch, wie Doktor Keisler bestätigen wird, die Projektionen veranlaßt.« »Madrid und Boston zu Anfang, und das so schnell wie möglich. Jetzt zu den Waffen und zur Ausrüstung.« »Wir werden es ihnen schon zeigen.« »Ich glaube, ich habe hier etwas.« Ein kleiner, dunkelhäutiger Mann erhob sich. »Hier habe ich ein Gerät, das ich Ihnen gerne vorführen möchte – es dauert nicht lange.« Er nahm etwas aus der Tasche. »Stellen Sie sich zur Verfügung, Sir?« »Hm, ich –« Osterly sah ihn verblüfft an. »Danke. Ihnen danke ich auch, Doktor Keisler, wenn Sie nichts dagegen haben. Hängen Sie die Medaillons einfach um den Hals, meine Herren – danke.« »Was sollen wir tun?« Osterly betrachtete zweifelnd den kleinen Gegenstand auf seiner Brust. Er sah aus wie eine ziemlich dicke Personalmarke. »Im Augenblick tun Sie gar nichts, Mr. Osterly. Wäre einer der Herren so freundlich, einen kurzen Satz auf ein Stück Papier zu schreiben und den Zettel Doktor Keisler zu geben, ohne den Inhalt zu verraten?« Ein junger Major tat es. »So, Doktor Keisler, bitte öffnen Sie den Zettel und lesen Sie sich das Geschriebene leise durch. Sie, Mr. 172
Osterly, wiederholen bitte die Worte, die Sie im Geist hören müßten.« »Wie?« sagte Osterly, sah ihn an und erklärte: »Es grünt so grün, wenn Spaniens Blüten blüh’n.« »Donnerwetter, das habe ich geschrieben«, sagte der Major. Keisler lächelte. – »Und ich habe es gelesen.« Osterly suchte nach seiner Pfeife. »Was sind das für Apparate? Ich habe Keislers Stimme in meinem Kopf gehört.« »Das sind Abwandlungen der Traummaschine, Sir, aber durch Mikrotechnik auf passende Größe verkleinert. Diese Maschinen sind jedoch im Gegensatz zu ihren Vorgängern spezialisiert, das heißt, sie reizen nur einen eng umgrenzten Teil des Gehirns. Einen Bereich, der sich, sobald er gereizt wird, mit dem Gehirn eines anderen, auf gleiche Weise betroffenen Menschen in Übereinstimmung bringt.« Osterlys Unterkiefer klappte herunter. Das soll doch wohl ein Witz sein? dachte er. Nein, wirklich nicht, hörte er Keisler belustigt in seinem Kopf sagen. Das ist wirklich. Osterly dachte: Scheren Sie sich zum Teufel, bevor er hastig das Ding abnahm. Jemand sagte mit erschrockener, zweifelnder Stimme: »Ein Telepathiegerät?« »So könnte man es nennen, Sir. Bei regelmäßigem Gebrauch und ständiger Übung sollte es unnötig werden, tatsächlich Worte zu gebrauchen. Man könnte in Bildern, in Begriffen denken; das Gerät überträgt sogar Gefühle.« Der Mann machte eine Pause und zündete sich eine Zigarette an. »Wenn das Gerät im Lauf der Zeit allgemein benützt wird, würde die Menschheit an 173
der Schwelle zu einem neuen Zeitalter stehen. Es gäbe Verständnis zwischen Rassen und Völkern. Täuschung würde unmöglich.« Er verstummte und lächelte schwach. »Das liegt aber noch in der Zukunft. Im Augenblick wäre es empfehlenswert, die begrenzte Anzahl dieser Geräte als Verständigungsmittel zu verwenden, sagen wir, zwischen der Zentrale und unseren Truppen.« Fünf Stunden später ging die Konferenz zu Ende, nachdem man sich über die Grundzüge des Angriffs geeinigt hatte. Ein Datum war bereits festgelegt. Es würde mehrere Wochen dauern, bis die Immunen ihre Superwaffe fertiggestellt hatten und einsetzen konnten. Gilliad verließ den Konferenzsaal so nachdenklich, daß er die Personen im Vorraum kaum wahrnahm. »Hallo, Dave«, sagte eine sanfte Stimme. Er zuckte zusammen und zwang sich zu lächeln. »Hallo, hat man Sie aus dem Labor zurückgebracht?« »Heute. Ich habe bei dem telepathischen Gerät mitgearbeitet, das Ihnen eben vorgeführt worden ist.« »Sehr interessant. Ich möchte mich gerne mit Ihnen darüber unterhalten, aber später. Ich habe noch ein anderes Problem, wenn Sie Zeit für mich haben – können wir uns irgendwo allein sprechen?« »Ich wohne zur Zeit im ›Hudson‹ in der West Street. Dort könnten wir uns unterhalten, aber ich werde streng bewacht.« Er grinste. »Daran müßte ich mich ja eigentlich gewöhnt haben – gehört ›Tante‹ Miller auch dazu?« Sie lächelte ihn an. »Keine Ahnung. Ich habe das Wachpersonal gefragt, aber alle bestreiten es.« 174
Er lachte. »Das würde ich an seiner Stelle auch tun.« Zehn Minuten später hatten sie es sich in den Sesseln bequem gemacht und tranken Kaffee. »Nun?« sagte sie. »Wie? Ach so, verzeihen Sie. Als ich in Ontario landete, wurde ich nach Toronto gebracht, und zwar mit einem ›Subjo‹, wie Osterly das nannte. Was ist ein Subjo?« Sie schmollte. »Oh, Dave, ich habe schon damit gerechnet, daß Sie mich das früher oder später fragen würden. Die Wahrheit ist, wir wissen es nicht. Es gibt nur zwei Stücke davon, und beide sind von einem Süchtigen dritten Grades gebaut worden, der inzwischen gestorben ist. Wir vermuten, daß er sie zuerst subjektiv gebaut hat und sich dann die Mühe nahm, sie zwischen den Sitzungen echt nachzubauen. Vor seiner Sucht war er ein hervorragender Wissenschaftler, weshalb wir annehmen, daß er durch die Projektionen auf eine neue Idee gestoßen ist.« »Was können Sie mir sonst darüber sagen?« »Sehr wenig. Die Motoren der Maschinen sind mit einer Substanz versiegelt, die wir nicht durchbohren können, so daß niemand weiß, wie sie funktionieren.« »Wie werden sie gesteuert?« »Man denkt sich einfach das Ziel und kommt dort an. Mehr wissen wir nicht. Bei einem Immunen funktioniert es nicht, aber wir müssen angesichts der neuen Erkenntnisse annehmen, daß die von der in seinem Gehirn eingebetteten Apparatur ausgehende Abschirmung den Motor irgendwie blockiert.« Er nickte stirnrunzelnd. 175
»Ich bin ein miserabler Techniker, aber ich vermute, daß wir die Sterne erobern könnten, wenn wir die Energiequelle des Fahrzeugs entdeckten. Ich habe das Gefühl, daß der Erfinder zufällig auf einen hyperdimensionalen Mechanismus gestoßen ist, weiß aber nicht genug, um das mit Sicherheit behaupten zu können.« »Betrifft es Sie direkt?« »Direkt? Persönlich, meinen Sie? Ich weiß nicht recht, aber die Vorstellung derartiger Blitzreisen fasziniert mich. Abgesehen davon habe ich schon seit langer Zeit das merkwürdige Gefühl, daß es irgendeine Veränderung geben wird.« »Ist sie nicht schon da?« Er seufzte. »Vielleicht. Aber im Augenblick haben wir Krieg!«
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23 Sie ging durch das Zimmer und setzte sich auf die Armlehne seines Sessels. »Sie sind heute so ernst. Außerdem haben Sie mir immer noch nicht gesagt, was Sie von unserem telepathischen Gerät halten.« Er schüttelte den Kopf. »Mir sind die Superlative ausgegangen – aber herzlichen Glückwunsch zu einem großartigen Beitrag für die Zukunft der Menschheit.« »Danke.« Sie zog etwas aus der Handtasche. »Sie haben es noch nicht ausprobiert.« Er richtete sich auf. »Später, nicht jetzt.« »Aber ich dachte, Sie und ich –« Sie zog die Brauen zusammen. »Sie wollen nicht?« »Nein!« »Aber ich dachte, jetzt, wo wir so gute Freunde sind –« Er stand hastig auf, vermied es aber, sie zu berühren. »Wie kommen Sie auf diese Idee?« Er winkte verärgert ab. »Wenn ich möchte, daß jemand meine Gedanken liest, dann auf einer festeren Grundlage als der Basis einer netten Kameradschaft, verstehen Sie? Wenn Sie wissen wollen, was ich für Sie empfinde, kann ich Ihnen einen Tip geben, aber ich denke nicht daran, meine Seele zu entblößen, damit Sie sie dann genüßlich zerlegen können.« Sie sah zu ihm auf. Ihr Gesicht war blaß geworden. »Sie hassen mich – warum? Was habe ich getan?« Er lachte rauh. »Du lieber Himmel! Da spricht man immer von weib177
licher Intuition. Nichts als ein Märchen! Wenn Sie es ohne Umschweife hören wollen: Ich liebe Sie. Ich liebe Sie seit dem ersten Augenblick.« Er drehte sich auf dem Absatz um und ging zur Tür. »David, bitte, machen Sie nicht –« »Ersparen Sie mir Ihr Mitleid, Ihr – wie ich zugebe – ehrliches Verständnis. Das nämlich kann ich nicht ertragen.« Die Tür fiel hinter ihm ins Schloß. Im Lager der Immunen stand Welt vor Problemen. »Aber woher die Verzögerung, Huber? Die Bauteile sind fertig und können zusammengesetzt werden.« Hubers schon von Natur aus rotes Gesicht färbte sich noch röter. »Die Bauteile, ja, aber diese verfluchten Schaltungen müssen berechnet und gedruckt werden. Ein Fehler, eine kleine Abweichung, und diese verdammte Waffe wird für uns gefährlicher als für den Gegner.« Er griff nach einem Bauplan. »Sehen Sie sich das an, aber passen Sie auf, daß Sie nicht zu schielen anfangen. Das ist nur der Auslösemechanismus. Wenn wir immer noch verkabelte Schaltungen verwenden müßten, brächte man das Gerät mit Mühe in einem dreistöckigen Gebäude unter. Selbst jetzt, mit gedruckten Mikroschaltungen, wird es immer noch mannsgroß werden.« »Aber sicherlich –« Hubers Gesicht wurde dunkelrot. »Mr. Welt, wenn Sie glauben, Sie finden jemand, der Ihnen das schneller macht, tun Sie es. Wenn nicht, lassen Sie mich gefälligst in Ruhe.« Welt schoß das Blut ins Gesicht, seine Hände ballten sich zu Fäusten, seine Schultern zuckten hoch und ließen ihn noch verwachsener erscheinen als sonst. Bevor er jedoch etwas erwidern konnte, schrillte eine Alarmgloc178
ke, und am Instrumentenkasten begannen rote Lämpchen zu blinken. Auf einem riesigen Bildschirm tauchte ein angstvolles Gesicht auf. »Madrid an Zentrale – dringend!« Durch Tastendruck wurden die verschiedenen Abwehrsysteme verständigt. »Alle Systeme klar – bitte kommen.« »Seht euch das an«, sagte der Mann mit dem entsetzten Gesicht gänzlich unmilitärisch und verschwand. An seiner Stelle erschien graues, weites Meer. Welt starrte es verständnislos an, bis er die Augen zum Horizont hob. An der scharfen Trennungslinie zwischen dem grauen Meer und einem blaßgrauen Himmel zeigten sich zahllose schwarze Punkte. Die Ortungsobjektive wurden schärfer eingestellt, und die Punkte waren keine Punkte mehr. Welts Finger begannen zu zucken. Schiffe! Zahllose Schiffe! Die Haut schien sich über seinen Backenknochen unerträglich zu spannen, und in der Magengrube spürte er einen kalten, schweren Klumpen. Ein Kampfverband, ein Marineangriff; Zweifel gab es nicht. Er erinnerte sich an einen derartigen Angriff aus der Geschichte – an die Landung in der Normandie! Damals war er sechzehn gewesen, aber er konnte sich deutlich an die Wochenschauen erinnern. Hier gab es natürlich Unterschiede. Er zwang sich, die Schiffe genauer zu studieren. Ein zusammengewürfelter Invasionsverband. Vier Atomkreuzer, wahrscheinlich um 05 gebaut, sechs Zerstörer aus derselben Zeit, zwanzig oder dreißig Diesel-Kriegsschiffe und Welt glaubte, das Herz müsse ihm stillstehen. Es lag nicht an den Schiffen, sondern an dem, was sie schleppten – Reihen von Truppentransportern. Er starrte sie an und empfand beinahe Respekt für ihre 179
Einfallskraft. Es waren ganz einfach nur riesige Plastikflöße mit durchsichtigen Überzügen. Offensichtlich konnte man sie – was ja auch geschehen war – zu Tausenden am Fließband herstellen. Das Schlimmste dabei schien zu sein, daß sie vollgepackt mit Truppen und Ausrüstung waren. Groß-London, Paris und möglicherweise noch Brüssel und Amsterdam mußten ihre gesamten Reserven zusammengezogen haben, um eine derartige Armee aufstellen zu können. Er dachte verzweifelt, daß die gesamte Flotte trotz ihrer Größe eine nicht zu verfehlende Zielscheibe abgab. Ein einziges Geschwader uralter Lancaster-Bomber oder Fliegender Festungen hätte die gesamte Flotte vernichten können. Nur – er hatte keine Lancaster-Bomber, er besaß nicht ein einziges Kampfflugzeug, Kriegsschiff oder auch nur einen Veteranen mit einem alten Vorderladergewehr zur Bewachung der Küste. Plötzlich veränderten die Ortungsgeräte die Richtung, schwangen zurück und nach unten, und er sah die Außenbezirke der Stadt, die er das Spanische Bollwerk genannt hatte – Barcelona. Er sah, wie flinke schwarzhaarige Männer Gräben aushoben, alte, aber brauchbare Waffen auf den Dächern aufbauten, Barrikaden auf den Straßen errichteten. Frauen und Kinder bauten Bunker. Das war die Invasionsstelle! Der Gedanke traf ihn mit beinahe betäubender Wucht. Diese Menschen waren bereit und in der Lage, die Stadt gegen einen Angriff vom Land her zu halten, während ihre Befreier hinter ihnen ohne Behinderung einen gigantischen Brückenkopf errichteten. Guter Gott, was konnte er gegen sie einsetzen? Projektoren kurzer Reichweite, die von Madrid aus die Stadt 180
nicht bestreichen konnten, und seine eigenen starken Anlagen, die von Toronto auf Spanien ausgerichtet, eingestellt und justiert werden mußten, wobei zu befürchten war, daß sie auf diese Entfernung nicht genügend Leistung brachten. Konventionelle Waffen? Er zermarterte sich verzweifelt den Kopf. Es gab nur ein paar Museumsstücke, meist ohne die entscheidenden Teile. Ein, zwei uralte Arsenale mit ebenso alten und vermutlich verrosteten Waffen. Ein paar alte Kasernen mit einigen Waffen, mit denen niemand umgehen konnte. Welts Probleme hatten erst angefangen. Einige Stunden später meldete eine erregte Stimme, daß vier gewaltige Luftflotten die kanadische Grenze überflögen. Weniger als fünf Minuten danach gab es Projektionen in sechs amerikanischen Städten, die zu sofortigen Aufständen führten. Die dort ansässigen Immunen waren zwar auf eine Revolte vorbereitet, sahen sich aber bald in die Defensive gedrängt. Es war nicht zu übersehen, daß ihre Kampfmoral zerfiel. Sie blickten immer wieder zum Himmel – würden diese Luftflotten die Aufstände unterstützen? In der Immunen-Zentrale gingen den Leuten die Nerven durch. Schwitzende uniformierte Männer brüllten Befehle in die Mikrofone, die von ihren Vorgesetzten augenblicklich widerrufen wurden. Adjutanten, Generäle und Kommandeure drängten sich aufgeregt durcheinander, bis Cole, der Stabschef, einen Adjutanten mit einem Revolver niederschlug und heiser, aber wirksam »Ruhe, ihr Halunken!« brüllte. Langsam legte sich der Lärm, und er sah sich grimmig um. »Wenn ihr Kerle wie hysterische Jungfrauen herum181
rennt, können wir uns gleich ergeben. Oder uns mit rostigen Messern die Kehle durchschneiden. Das ist allerdings weit weniger angenehm als die Behandlung, die sie uns zuteil werden lassen, wenn sie uns ohne einen einzigen Schuß durch Panik zur sofortigen Kapitulation treiben.« Sie schwiegen und hörten ihm aufmerksam zu. In diesem Augenblick liebten sie ihn beinahe. Da war jemand, der das Kommando übernahm, der sich die Verantwortung auflud und ihnen sagte, was sie tun sollten. Cole war schon im Frieden Offizier gewesen und deshalb nicht ganz ohne Erfahrung. Seine Erfahrung erstreckte sich nicht auf die Stellung eines Stabschefs, aber vor der Erfindung der Maschine war er Major gewesen. Auf irgendeine Weise, fast wie durch ein Wunder, gelang es ihm, in dem Chaos Ordnung zu schaffen. Erst Stunden später ging ihm auf, wie nutzlos seine Bemühungen waren. Er hatte keine Waffen, mit denen ein massiver Luftangriff abgewiesen werden konnte, er besaß nur die riesigen Projektoren, die man auf ein festes Ziel einstellen mußte, so daß sie also hierfür nicht zu verwenden waren. Er hatte eine große Anzahl von tragbaren Projektoren, aber auch sie nützten nichts, solange die Angreifer nicht auf eine Höhe von dreißig Metern heruntergingen, womit nicht zu rechnen war. Er schickte mehrere hundert Männer los, die Museen, alte Arsenale und verlassene Kasernen nach konventionellen Waffen durchstöbern sollten. Während sie unterwegs waren, betrachtete er die Luftflotten auf dem Bildschirm. Wie der Marineangriff war auch das ein Provisorium: uralte Düsenmaschinen schleppten in schwankenden, gefährlich aussehenden Reihen Anti-Schwerkraft-Flöße aus Plastik. Frachtflug182
zeuge und Truppentransportmaschinen von unbestimmbarem Alter dröhnten hinterher. Viele Maschinen sahen zusammengeflickt aus. Er entdeckte vier Bomber – Baujahr neunzehnhundertsechzig – drei amerikanische, eine englische Maschine – und ein archaisches Ding mit Propellern, das er überhaupt nicht identifizieren konnte. Was die technische Qualität betraf, so glich der gesamte Angriffsverband einer Ansammlung fliegender Bettgestelle, einem fliegenden Schrotthaufen, aber der Menge nach – Cole spürte Schweiß auf seiner Stirn – durch die Menge war er unüberwindbar. Trotz seines Entsetzens dachte er plötzlich an Welt – wo, zum Teufel, steckte er? Er schickte ein Dutzend Leute aus, um ihn zu suchen, belegte mehrere, dringend benötigte Systeme mit Beschlag, um ihn zu rufen – ohne Erfolg. Welt war nirgends zu finden. Cole blieb mitten im Kommandoraum stehen und versuchte, das Zittern zu unterdrücken, das seinen ganzen Körper erfaßt hatte. Welt war geflüchtet! Welt, der den Höchsten hätte fragen und mit brauchbaren, wenn auch nicht mengenmäßig unbegrenzten Waffen hätte zurückkommen können. Ihr Anführer war verschwunden! Er hatte das Weite gesucht und die Verantwortung seinem Stabschef überlassen. Cole wurde von Selbstmitleid übermannt und fand dadurch beinahe seine innere Ruhe wieder. Das war also der Dank! Das war der Lohn für zweihundert Jahre treue Dienste. O Gott, das war nicht gerecht; was hatte er getan, daß er das verdiente? Die eintreffenden Meldungen machten ihn noch besorgter. Die Suche nach konventionellen Waffen hatte eine Vielzahl von nutzlosen Funden erbracht. Sechsundzwanzig Boden-Luft-Raketen, alle ohne Treibstoff, acht183
zehn ohne Sprengköpfe, fünf ohne Motoren; siebenhundert Handfeuerwaffen ohne Munition; ein Zwillingsflakgeschütz mit vierzehn Schuß, dafür ohne Verschlußstücke. Cole wollte eben das Gesicht mit den Händen bedecken, als eine erschreckte Stimme schrie: »Sie sind fast schon hier!« In diesem Augenblick kam ihm ein fernes, drohendes Brummen zum Bewußtsein, und als er sich dem Bildschirm zuwandte, war es fast schon zu spät. Die Schwerkraftflöße hatten sich von den Flugzeugen gelöst und sanken an den Außenbezirken der Stadt zur Erde. Die alten Bomber kreisten drohend am Himmel – dies war ohne jeden Zweifel das Ende. Cole zog seinen Revolver, starrte ihn an und steckte ihn wieder ein. Geladen war er ja doch nicht. Ein Messer? Er schauderte. Vielleicht gab es ein schnellwirkendes Gift, das keine Schmerzen verursachte. Eines, das einen sanft und angenehm einschlafen ließ. Im Inneren wußte Cole, daß er nicht einmal genug Mut besaß, diesen Ausweg zu wählen.
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24 Verzweifelt blickte er wieder auf den Bildschirm. Truppen, Ausrüstung, Waffen und sogar gepanzerte Fahrzeuge strömten aus den eben gelandeten Flößen. Von den Panzerfahrzeugen gab es sogar eine ganze Menge; die Panzerung bestand vielfach nur aus Kunststoff, aber da er über keine Abwehrwaffen verfügte, war sie genausogut wie Stahl. Auf jeden Fall reichte sie aus, um den Geschossen der alten Waffen zu widerstehen, die er für das letzte Gefecht bereitgestellt hatte. Letztes Gefecht! Die Stadt war von mindestens vier Divisionen rachsüchtiger Angreifer umzingelt, die ohne Zweifel den bescheidensten Abwehrversuch als Anlaß zu einem Massaker benützen würden. Bei den Truppen vor der Stadt zischte eine Feuerfontäne hoch und etwas Schwarzes rauschte zum Himmel hinauf, eine Flammenspur hinter sich herziehend. »Raketen!« rief Cole und warf sich zu Boden. Panik brach aus; die Männer warfen sich in Deckung oder liefen verzweifelt von einem Raum in den anderen. Plötzlich schwankte der Boden unter ihnen. Es gab eine ohrenbetäubende Explosion, eines der Fenster kippte in den Raum. Schwere Geschosse trafen die Mauern des Gebäudes, auf dem Fensterbrett zersprang eine Blumenvase. Der Explosion folgte eine unheimliche Stille, dann hallte aus der Ferne mit bestürzender Deutlichkeit eine Stimme zu ihnen herüber: »Achtung! Dies ist eine Warnung! Die einzige Warnung! Hier spricht der Kommandeur der Alliierten Be185
freiungsarmee! Sie sind umzingelt, Ihre Lage ist hoffnungslos. Wir haben genug Waffen, um die Stadt vollkommen zu zerstören, und wir werden das auch tun, wenn Sie sich nicht ergeben. Hängen Sie ein weißes Tuch aus jedem Fenster – als Zeichen bedingungsloser Kapitulation. Treten Sie ruhig und friedlich auf die Straße, die Hände über dem Kopf. Häufen Sie Ihre Waffen und Projektoren an den Straßenkreuzungen auf. Unsere Truppen werden alle Straßen, Häuser und öffentlichen Gebäude besetzen. Sie haben dreißig Minuten Zeit, sich zu entscheiden. Das Heraushängen der weißen Tücher wird als Zeichen der Annahme gewertet. Andere Bedingungen als die von mir gestellten werden nicht akzeptiert.« Es wurde still. Cole zuckte resigniert die Achseln. Selbst wenn es eine Alternative gegeben hätte, hätte er nichts mehr machen können. Die Leute kamen ihm zuvor. Aus jedem Fenster begann es weiß zu flattern: Kleider, Hemden, Bettlaken. Cole sank in einen Sessel und starrte auf den Bildschirm. Voll Verzweiflung sah er die siegreichen Truppen einmarschieren – Truppen! Ein Sauhaufen! Die meisten in Zivil, mit allen möglichen Waffen behängt. Er beobachtete, wie sie an den Kreuzungen Aufstellung nahmen und Wachen einrichteten. Er sah, wie die primitiven Panzerfahrzeuge lärmend in die Hauptstraßen rollten, und plötzlich bemerkte er hinter sich eine Bewegung. Er stand auf und drehte sich um. Drei Männer standen vor ihm – einer in Uniform, zwei in Zivil. Hinter ihnen tauchten noch zwei Zivilisten auf. Der Uniformierte sagte: »Führen Sie das Kommando?« 186
»Ich habe es geführt.« Coles Schultern sanken tiefer. »Wo ist Welt?« »Ich weiß es nicht – er ist geflohen.« »Sie kapitulieren?« »Ich hatte nichts, womit ich kämpfen konnte – ja, ich kapituliere. Gegen eine solche Übermacht an Truppen und Waffen ist nichts auszurichten.« Einer der Zivilisten zündete sich eine Pfeife an. »Für jemanden, der über zweihundert Jahre gelebt hat, sind Sie nicht sehr intelligent, wie?« Cole sah ihn wütend an. »Ich verstehe Sie nicht.« »Nein?« Der Zivilist zog ein kleines Instrument aus der Tasche und betätigte einen Schalter. »Sehen Sie zum Fenster hinaus.« Cole gehorchte. In seinem Inneren krampfte sich etwas zusammen. Entsetzt und aufgeregt standen die Menschen auf den Straßen, die Hände über dem Kopf. Weiße Tücher oder Kleidungsstücke flatterten an den Fenstern, an jeder Straßenecke lagen Stapel von Waffen, aber nirgends sah man Soldaten – es gab überhaupt keine Truppen! Keine Bomber kreisten über ihnen, es gab keine gepanzerten Fahrzeuge, von einem Landemanöver war nichts zu sehen. Der pfeiferauchende Zivilist blies eine Rauchwolke in die Luft. »Dachten Sie, wir wären zu dumm, um von Ihnen zu lernen?« Der Schalter drehte sich, und Truppen und Panzer tauchten wieder auf. »Das gibt es nicht!« sagte Cole mit erstickter Stimme. »Ich bin ein Immuner!« 187
»Immun gegen Ihre Maschinen, ja. Unsere Wissenschaftler haben sich eine andere, mit einer anderen Wellenlänge, einfallen lassen, und gegen die sind Sie nicht immun.« Er lächelte. »Kommen Sie nicht auf dumme Gedanken, mein Freund. Wir können mit unseren Projektionen immer noch einen Aufstand unterdrücken. Die Truppen gibt es zwar in der Realität nicht, aber es wird Ihnen nicht gelingen, die Bevölkerung davon zu überzeugen, und wenn wir schießen, werden unsere imaginären Kugeln sie trotzdem töten.« Cole ließ sich in einen Sessel sinken. Er wußte zu gut Bescheid über die Maschinen, um sich einer Täuschung hinzugeben. Der Zivilist lächelte wieder. »Falls Sie es interessiert, wir haben Boston mit fünf Mann erobert. Zwei amerikanische Projektionstechniker, ein amerikanischer Kommandeur, Mr. Gilliad und ich.« »O Gott!« stieß Cole verzweifelt hervor, aber der Zivilist schien entschlossen zu sein, ihn nicht in Ruhe zu lassen. »Madrid schafften wir mit drei Leuten. Ein spanischer Oberst und zwei Techniker. Vielleicht sind Sie nicht in Stimmung anzuerkennen, wieviel Arbeit in diesen Aufzeichnungen steckt, aber ich erzähle es Ihnen trotzdem. Bedenken Sie, wie angestrengt geforscht werden mußte, um Ihnen ein Trugbild eines Bombers oder eines Diesel-Kriegsschiffs zu vermitteln. Beides hatten wir übrigens in Wirklichkeit nicht. Dann die gründliche Arbeit mit den Einzelheiten, die Schaffung riesiger, aber primitiver See- und Luftflotten, die wir, wenn Sie nachgedacht hätten, in so kurzer Zeit niemals hätten auf die Beine stellen können. Kurz gesagt, mein Freund, wir haben Sie mit einem grandiosen Bluff besiegt. Unsere Armeen sahen so zusammengewürfelt, die Flotten so primi188
tiv aus, daß Sie gar nicht nachgedacht haben. Und Sie glaubten, wir hätten es vielleicht doch in dieser kurzen Zeit schaffen können. Richtig überlegt haben Sie sich das aber nicht, wie?« Er nahm die Pfeife aus dem Mund und steckte sie in die Tasche. »Ich habe mich noch gar nicht vorgestellt.« Er trat vor und sah auf Cole hinunter. »Ich heiße Osterly und vertrete den Geheimdienst der Provinz Ontario.« Er lächelte und steckte die Pfeife wieder in den Mund. »Ich brauche Antworten auf viele Fragen.« »Scheren Sie sich zum Teufel!« sagte Cole mit hoher Stimme. »Aber, aber – ich dachte mir schon, daß Sie zu Anfang so etwas sagen würden, aber an Ihrer Stelle würde ich es mir doch überlegen. Ich verstehe etwas von dem Geschäft, wissen Sie, und ich habe mir allerlei Geräte mitgebracht. Meine Freunde hier bestanden außerdem darauf, daß ich ganz persönlich für Sie einige Sonderprojektionen mitnahm. Es heißt, daß der Feigling viele Tode stirbt. Für Sie könnte ich ungefähr fünfundzwanzig einrichten, alle höchst unangenehm.« Er ging durch das Zimmer, füllte ein Glas mit Whisky und kam wieder zurück. »Trinken Sie das, alter Freund. Trinken Sie aus und denken Sie nach. Ich will nicht unangenehm werden. Eine friedliche Zusammenarbeit wäre mir lieber. Überlegen Sie! Was haben Sie zu verlieren? Glauben Sie denn, es würde sich irgend jemand darum scheren, ob Sie den tollkühnen Helden spielen? Schließlich haben Sie verloren. Niemand wird Beifall klatschen, und ein Märtyrer, den man nicht ehrt, ist eher ein Clown, finden Sie nicht?« Er füllte das Glas erneut. »Für Sie könnte das viel bedeuten, Cole. Das Wort ›Zusammenarbeit‹ bei einem Kriegsverbrecherprozeß könnte den Unterschied zwischen Hinrichtung und ein paar Jahren Haft ausmachen.« 189
Cole wurde blaß. Er hob den Kopf und befeuchtete seine Lippen. »Was wollen Sie wissen?« fragte er. »Das läßt sich schon eher hören.« Osterly zog einen Stuhl heran und nahm ein Tonbandgerät aus der Tasche. »Keine Späße jetzt. Wir werden sehr ungemütlich, wenn man uns falsche Informationen gibt – was wissen Sie über den Höchsten?« »Nichts – ich schwöre es. Nur Welt weiß Bescheid, niemand sonst. Er geht hin, holt sich Informationen und kommt zurück.« »Wohin geht er?« »Ich weiß es nicht. Niemand weiß es. Viele Leute haben schon versucht, ihm zu folgen, aber sie sind nie wiedergekommen.« »Wo ist er jetzt?« »Das weiß der Himmel. Der Halunke ist geflohen.« »Haben Sie eine Ahnung, wohin?« »O ja, das kann ich Ihnen sagen.« Er stand müde auf, nahm sich einen Notizblock vom Schreibtisch und begann eine Skizze zu zeichnen. »Man folgt dieser Straße etwa hundertfünfzig Kilometer weit. Sie ist überwachsen, aber noch sichtbar. Genau hier ist ein kleiner Hügel, und dahinter ein Wäldchen. Mehr wissen wir nicht. Jemand hat ihm einmal ein tieffliegendes Flugzeug nachgeschickt, aber es explodierte nach dreißig Kilometern. Hochfliegende Maschinen können nichts sehen, nicht einmal mit Instrumenten.« Osterly nahm die Pfeife aus dem Mund und sah Gilliad an. »Gehen wir? Unterwegs treffen wir uns mit einem Spezialisten.«
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25 Der Spezialist war ein hagerer, wie ein Gelehrter aussehender Mann mit dem – vielleicht – passenden Namen Grimm. Er brachte so viele Tascheninstrumente mit, daß man damit einen Laden hätte eröffnen können. Bei dem kleinen Wäldchen, das auf der Skizze angegeben war. nahm er sie der Reihe nach heraus und prüfte sie stirnrunzelnd. »Wissen Sie, wonach Sie suchen?« fragte Osterly zweifelnd. »Nein, aber ich werde es wissen, wenn ich es sehe.« Er lächelte schwach. »Das ist nicht so dumm, wie es sich anhört. Ich war in New York Spezialist für Elektronik, in erster Linie für Robotertechnik, aber das ist ein weites Gebiet. Man kann nichts machen, wenn man nicht die schwache Stelle findet. Schon gar nicht bei einem Brechungsfeld.« »Brechungsfeld?« »Eine Umkehrung des Lichts. Was er da draußen auch haben mag, er muß es verstecken; und natürliche Deckung gibt es kaum.« »Sie meinen, er hat es unsichtbar gemacht?« »So könnte man es ausdrücken, ja.« Er zog ein anderes Instrument aus der Tasche, starrte es an und steckte es wieder ein. »Negativ. Nehmen wir was anderes –« Nach einer kurzen Pause sagte er erfreut: »Na also!« Er legte das Instrument vorsichtig auf den Boden und holte ein weiteres heraus. »Ah, da haben wir’s – ein Brechungsfeld!« »Wo?« 191
»Dreißig bis vierzig Kilometer. Wenn wir auf den Baum am Horizont zielen, müßten wir die passende Richtung haben.« Sie stiegen in den wackligen, über hundert Jahre alten Turbo-Jeep, der allerdings überholt und mit neuen Plastikreifen versehen worden war. Das Fahrzeug stöhnte, ächzte und gab beinahe menschlich klingende Protestlaute von sich, als sie über den unebenen Boden holperten. »Alle zwei Kilometer müssen Sie halten, damit ich Messungen vornehmen kann«, meinte Grimm. »Ist das nötig?« »Ansichtssache. Wie Sie vorhin erwähnten, sind viele Leute diesem Welt gefolgt, ohne je wieder zurückzukommen. Ich habe keine große Lust, das gleiche Schicksal zu erleiden. Wir müssen an zweierlei denken: Entweder wird dieser seltsame ›Höchste‹ ungemütlich, sobald man ihm zu nahe kommt, oder unser Freund Welt hat Hindernisse eingebaut. Ich hoffe, letzteres ist der Fall – Hindernisse kann man aufspüren.« Osterly legte ihm die Hand auf die Schulter. »Ab sofort führen Sie das Kommando.« Er fand diesen hageren, bissigen Mann sympathisch. Offenkundig war er nicht aus der Ruhe zu bringen. Nach zwei Kilometern hielten sie, und Grimm prüfte wieder seine Geräte. »Es wird ein bißchen kompliziert. Innerhalb des Brechungsfeldes befindet sich eine zweite Energiequelle. Weiß der Himmel, was das ist, aber es besitzt ein Potential, mit dem man die ganze Erdkruste wegschmelzen könnte – ich würde mich ungern näher damit befassen.« Er betrachtete ein anderes Instrument. »Von jetzt an sind wir vorsichtig und halten jeden Kilometer. Ich empfange hier und dort recht üble Reaktionen.« 192
Sie fuhren weiter, aber die Strecken wurden kürzer, die Aufenthalte länger. Schließlich zog Grimm ein großes Notizbuch aus der Tasche und begann zu zeichnen. Als er fertig war, zog er die Brauen zusammen und sagte: »Das gefällt mir nicht besonders.« Er zeigte ihnen die Zeichnung. »Der Kreis in der Mitte ist vermutlich, was wir suchen. Es wird durch das Brechungsfeld verborgen, so daß wir nur raten können. Wie Sie sehen, ist es von flachem Land umgeben. Die kleinen Punkte, die ich eingezeichnet habe, stehen für etwa ein Fünftel der Signale, die ich aufgefangen habe.« »Signale?« »Was meine Instrumente aufnehmen – vermutlich handelt es sich um elektronische Waffen.« »Wie kommt Welt hin?« »Wenn es elektronische Waffen sind, hat er sie auf sich eingestellt, das heißt, sie erkennen ihn und lösen sich nicht aus, wenn er erscheint.« Gilliad schaute über Osterlys Schulter. »Was sind die Schraffierungen in der Zeichnung?« Grimm zog die Schultern hoch. »Minenfelder«, sagte er unzufrieden. »Keine Aussicht, hindurchzukommen?« »Nur, wenn wir ein paar Jahre warten können. Wenn ich mich nicht sehr täusche, sind die Felder ›strukturiert‹ und gezündet. Das heißt, man kann sich nicht durch sie hindurchtasten. Wenn man sechs herausholt, explodieren vielleicht die zwei in deiner unmittelbaren Nähe, wenn man nach der siebten greift. Um dieses Feld zu räumen, müßte man nämlich nicht nur alle Minen herausholen, sondern auch noch in einer genau festgelegten Reihenfolge. Das wäre ungefähr so, als ›ertaste‹ man die Kombination eines Tresors – mit der zusätzlichen Gefahr, daß 193
man in die Luft gesprengt wird, wenn man die richtigen Zahlen nicht gleich beim ersten Versuch errät.« »Irgendwie muß Welt ja hineingekommen sein«, meinte Gilliad. »Richtig, aber er war klug genug, nicht zu oft den gleichen Weg zu gehen, um keine Spuren zu hinterlassen.« »Wir könnten suchen.« »Mit Vergnügen, aber unter meiner Aufsicht. Das nächste Minenfeld ist nur ungefähr hundert Schritte entfernt.« Sie bogen im rechten Winkel ab und fuhren langsam weiter. Einmal kamen sie an einem zerfetzten Wrack vorbei, das einst ein Fahrzeug gewesen sein mochte, später an einem Flugzeug. Das Rumpfende war auseinandergerissen worden und das Wrack mit Moos überwachsen, aber die Umrisse waren unverkennbar. Es hatte sich mit der Nase in die Erde gebohrt und sah aus wie ein zerbrochener Pfeil. »Halt!« sagte Grimm plötzlich. Er streckte den Arm aus. »Sehen Sie sich das Gras dort an – man kann auch ein bißchen zu schlau sein.« »Ich verstehe Sie nicht.« »Das Gras ist eine Spur grüner. Warum soll sich eine Fläche von zwei Meter Breite und ungefähr fünfhundert Schritt Länge von ihrer Umgebung unterscheiden?« »Vielleicht ein unterirdischer Wasserlauf.« »Vielleicht, vielleicht auch nicht. Es könnte sein, daß da irgend etwas herauskommt, wenn diese Fläche ein bißchen abgenützt ist. Etwas, das bewässert und neuen Samen streut, verstehen Sie – einer von diesen kleinen Robotergärtnern, die man früher in öffentlichen Parks verwendet hat.« 194
»Das glauben Sie?« »Nageln Sie mich nicht fest, Mr. Osterly. Ich sage nur, es wäre möglich.« Er zog eines seiner Geräte heraus. »Es kommen Signale herein, von dort hinten, rechts und links vom Kernpunkt konzentriert. Ja, es wäre durchaus möglich.« »Wohin fahren wir jetzt?« »Jedenfalls nicht da entlang. Es nützt keinem etwas, wenn wir als Asche herunterschweben.« Gilliad schaltete den Motor ab. »Was tun wir? Einfach hier sitzen?« »Bis uns etwas einfällt, ja.« Gilliad sah ihn grimmig an. In letzter Zeit erschien ihm das Leben uninteressant und hohl. Dinge, die einmal Sinn und Zweck gehabt hatten, wirkten leer und armselig. Du lieber Himmel, sie konnten hier ewig sitzen, ein ganzes Arsenal an Geräten herschaffen und trotzdem feststecken. Wenn jemand etwas unternahm, würden die anderen wenigstens einen Hinweis bekommen, der ihnen vielleicht weiterhalf. Angenommen, er robbte auf diesem Pfad entlang, auf die Abwehrkraft der automatischen Waffen gefaßt. Dank seiner überhöhten Reaktionsschnelligkeit konnte er sich vielleicht gerade noch rechtzeitig wegrollen. Aber eine Waffe war wenigstens lahmgelegt. Gilliad wußte, daß die Überlebenschancen gering waren, aber der dumpfe Groll in ihm überwog sein instinktives Zögern. Die Zeit, wo man ihn wirklich gebraucht hatte, war vorbei, und außerdem gab es noch etwas anderes, jemand anderen – er weigerte sich, darüber weiter nachzudenken … Und dann – was bedeutete sein Tod schon? Einige Aufregungen und Erklärungen, ein paar entsetzte Zeugen – wer machte sich schon etwas aus ihm? 195
Ich, sagte eine Stimme in ihm. Mir macht es etwas aus, weil ich dich auch liebe. Was willst du denn eigentlich beweisen? Er erstarrte. Ein telepathisches Gerät, dachte er plötzlich. Wo ist das verflixte Ding? Bitte, such nicht danach, Dave, bitte. Du hast davon gesprochen, daß du deine Seele nicht entblößen willst – schau in die meine, bitte. Beinahe zornig ließ er zu, daß sich sein Denken anpaßte, aber plötzlich wurde er von dem überwältigenden Gefühl mitgerissen. So liebte sie ihn! Mein Liebling, das wußte ich nicht. Ich auch nicht, bis du weggerannt bist. Er spürte Wärme, Sanftheit und ein wenig Zerknirschung. Dann: Habt ihr Schwierigkeiten? Und ob. Darf ich euch helfen? Kannst du das? Ich hoffe es. Wir haben es hier besprochen, und Keisler hatte eine neue Idee. Der Höchste scheint nicht viel getan zu haben, Welt in dieser Krise zu helfen – wir vermuten, daß er neutral ist. Und? Keisler schlägt vor, daß du über Welt hinweg versuchst, dich direkt mit dem Höchsten in Verbindung zu setzen. Das heißt, versuch ihn von deinem Platz aus mit einem Verstärker anzurufen, wenn ihr einen habt. Gilliad nickte unwillkürlich und wandte sich an Grimm. »Haben Sie einen Verstärker?« »Was für einen Verstärker? Worauf wollen Sie hinaus?« Gilliad erklärte, was er gehört hatte, und Grimm nickte sofort. 196
»Ich habe keinen bei mir, aber genügend Teile, um einen zu bauen. Es muß ein ganz bestimmter sein, sonst funktioniert er im Brechungsfeld nicht. Lassen Sie mir fünfzehn Minuten Zeit.« Während er arbeitete, sah Gilliad Osterly nachdenklich an. »Ich hatte schon ein merkwürdiges Gefühl, als Sie darauf bestanden, daß ich meine dickere Jacke anziehe. Sie wußten vermutlich, daß man sie mit einem Telepathiegerät ausgestattet hatte.« Osterly grinste. »Ich bin eben ein alter Kuppler«, sagte er. Gilliad versuchte, ein grimmiges Gesicht zu machen, aber es gelang ihm nicht. »Na schön, Sie haben gewonnen. Vielen Dank.« Innerlich sagte er: Nicht jetzt, Liebling. Mir wird sonst zu heiß. Magst du das nicht? Doch, du weißt es, aber ich bin zu weit weg, um etwas tun zu können. Um dir zu zeigen, was ich wirklich fühle, laß ich dich in Frieden – aber nur eine Weile. Nach einigen Sekunden wurde Gilliad rot, lächelte aber strahlend. »Fertig.« Grimm hielt ihm etwas hin. »Drücken Sie auf die Taste und sprechen Sie.« Gilliad nahm das bleistiftgroße Mikrofon und hielt es an die Lippen. Er hatte keine Ahnung, was er sagen würde, er hatte sich keine Rede überlegt, aber es erschien ihm logisch, ganz normal zu sprechen. »Hier ist David Gilliad. Ich wende mich an das Wesen oder die Gruppe von Wesen, die mir als der Höchste bekannt sind – versteht ihr mich?« 197
»Ich verstehe doch.« Die Stimme, neutral und ruhig, schien unmittelbar neben ihm aus der Luft zu kommen, und Gilliad zuckte zusammen. »Ihr kennt mich?« »Ich kenne dich. Du bist David Gilliad, ein AnfälligResistenter und als solcher für den kürzlichen Aufstand mit verantwortlich.« »Welche Rolle spielt ihr?« »Keine, ich bin neutral.« »Ihr versteckt Welt.« »Ich berichtige: Welt hat in dieser Gegend Zuflucht gesucht. Ich verstecke ihn nicht.«
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26 Welt sprang auf. »Du hast mich verraten.« »Ich habe nicht die Pflicht übernommen, dich zu verstecken. Du hast gebeten, hierbleiben zu dürfen, und das habe ich erlaubt.« Welt begann zu fluchen. Sein Gesicht war schweißüberströmt. Von fern sagte Gilliad: »Du hast die Traummaschinen geliefert.« »Das ist ungenau. Sie wurden nach Angaben gebaut, die ich für einen weniger umfassenden Zweck gegeben hatte.« »Aber du hast gewußt, daß man sie umbauen konnte?« »Technische Information ist neutral. Sie erschafft oder zerstört nicht von sich aus, sondern nur entsprechend den Manipulationen ihrer Besitzer.« Gilliad starrte das Mikrofon in seiner Hand grimmig an, als ihm langsam zum Bewußtsein kam, daß er es mit einer überlegenen Intelligenz zu tun hatte. »Soll ich daraus entnehmen, daß du technische Informationen lieferst, ohne Rücksicht darauf, wer sie verlangt?« »Richtig.« »Ach, du lieber Himmel, du hättest den Immunen eine Waffe geben können, mit der die Menschheit vernichtet worden wäre!« »Dieses Angebot wurde gemacht, aber zurückgewiesen, da sie dann selbst auch umgekommen wären.« Gilliad fluchte leise vor sich hin. »Welchem Zweck dienst du genau – was tust du?« 199
»Ich tue nichts. Meine Aufgabe besteht darin, technische Informationen zu liefern, ohne Rücksicht darauf, wer sie verlangt, und ebenso ohne Rücksicht darauf, zu welchem Zweck diese Informationen verwendet werden.« Gilliad widerstand dem Drang, sich am Kopf zu kratzen. Er wußte, daß diese Sache sein Begriffsvermögen überstieg. Schließlich sagte er, fast zu sich selbst: »Es muß einen Grund geben.« »Natürlich gibt es einen Grund.« »Dann möchte ich ihn gerne wissen.« »Gut, aber dann laß deiner Phantasie freien Lauf. Ich vertrete Intelligenzen von so hohem Entwicklungsgrad, daß es sinnlos wäre, eine Erklärung zu versuchen. Ihre Lebensspanne ist nach euren Maßstäben unendlich; für sie vergehen Millionen Jahre wie ein Augenblick; sie beobachten die Geburt und den Tod von Sonnen und das Vergehen von Galaxien, wie ihr den Jahreswechsel. Über allem steht jedoch ihr absolutes Mitgefühl für jede lebende Intelligenz.« Die Stimme machte eine Pause und fuhr fort: »Das Universum ist, wieder nach euren Maßstäben, unendlich. Ich darf dir versichern, daß ihr von diesem Planeten aus, selbst mit den kompliziertesten Instrumenten, nur einen Bruchteil sehen könnt, der nahezu nicht vorhanden ist, wenn man ihn gegen die wahre Unermeßlichkeit der Dinge stellt. Denkt daran, wenn ich euch sage, daß unzählige intelligente Wesen jeden Augenblick entstehen, und jede Sekunde Intelligenzen wie die eure die kritischste Periode ihrer Entwicklung erreichen. Diese kritische Periode kann mit dem Übergang von der Puppe zum Schmetterling verglichen werden, aber sie ist unendlich gefährlicher. Sobald eine Kultur dieses Stadium erreicht, steht sie zwischen Reife und Ewigkeit. Wenn ich euch sage, daß von jeweils zwanzig 200
Millionen Kulturen nur zwei dieses Stadium erreichen, bekommt ihr eine Ahnung von den Gefahren. Ihr selbst habt am Rand des Chaos gestanden, bedroht von Krieg, vernichtenden Waffen und finanziellem Zusammenbruch. Viele ähnliche Zivilisationen sind in diesem kritischen Augenblick für immer zugrunde gegangen. Es mußte deshalb etwas geschehen, ohne daß aktiv in den freien Wuchs der betroffenen Kultur eingegriffen wurde, und nach vielen Experimenten empfand man diese Methode als die erfolgreichste. Seit ihrer Einführung ist die Zahl von zwei aus zwanzig Millionen nicht mehr gültig. Die Überlebenschance beträgt nun neunzig Prozent.« Die Stimme schwieg. Gilliad schluckte und sah seine Begleiter hilflos an. »Aber wie?« fragte er schließlich tonlos. »Die Einführung fortgeschrittener Technologien liefert für die aufsteigende Kultur eine Leitlinie. Wie diese Technologien genutzt werden, ist bedeutungslos. Die Kultur ist in diesem Stadium introvertiert, sie muß von sich selbst abgelenkt werden.« »Aber – mein Gott, wir waren fast dreihundert Jahre versklavt. Millionen Menschen sind zugrunde gegangen.« »Das ist wahr, aber es hätte auch die ganze Menschheit, sein können. Absolutes Mitgefühl muß – um erfolgreich zu sein – zu absoluter Unbarmherzigkeit greifen oder wenigstens den Eindruck erwecken, als sei sie unbarmherzig. Sie kann es sich nicht leisten, individuelle Tragödien zu berücksichtigen, wenn das Überleben einer ganzen Kultur auf dem Spiel steht.« Osterly beugte sich zum Mikrofon. »Abgesehen davon scheinen wir aber dabei nicht viel zu gewinnen, oder?« 201
»Du sprichst aus dem Gefühl, nicht aus deiner Intelligenz. Ihr habt bereits völlig neue Gebiete der Psychiatrie erschlossen und, was den menschlichen Geist angeht, Neuland betreten. Ihr habt ohne meine Hilfe ein telepathisches Gerät entwickelt, das für alle Zeiten die Mißverständnisse zwischen Rassen und Individuen auslöschen wird. Ihr habt einen Mechanismus, ›Subjo‹ genannt, dessen Funktion ich euch ausführlich erklären kann. Dieser Mechanismus, voll entwickelt, wird euch nicht nur nahezu kostenlosen Transport verschaffen, sondern euch auch die Sterne geben.« »Wir haben aber auch über eine Million Immune«, sagte Gilliad zornig. »Eine Million Feinde der Menschheit.« »Ich berichtige: Ihr habt eine Million zweihundertachtzigtausendsechshundertfünf.« »Was spielt das für eine Rolle? Sie sind Feinde.« »Ich berichtige: Ihr habt eine Million zweihundertachtzigtausendsechshundertfünf geistig kranke Patienten, für die ihr verantwortlich seid.« Gilliad war tief getroffen. Das war ein gänzlich anderer Blickwinkel, das Problem zu betrachten, und er war trotz seines Zorns empfindsam genug, die Wahrheit zu erkennen. Die in der Erklärung enthaltene Mißbilligung verstärkte den Wahrheitsgehalt noch. »Können sie geheilt werden?« »Ja, sie können geheilt werden, aber angesichts eures Entwicklungsstandes trifft es sich vielleicht gut, daß die Heilung nicht angenehm ist. Die Behandlung kann deshalb sowohl mit der Gerechtigkeit wie mit der Bestrafung in Einklang gebracht werden. Eure Patienten werden zur Heilung durch Projektionen in den Glauben versetzt, sie seien Anfällige. Man muß sie davon überzeu202
gen, daß sie süchtig sind und alle diese Jahrhunderte der Macht nur subjektiv gewesen sind. Erst dann werden sie auf die Behandlungsmethoden ansprechen, die ihr schon kennt, und als geistig gesunde und verantwortliche Wesen daraus hervorgehen.« Gilliad starrte blindlings in die scheinbar leere Landschaft, entgeistert und fassungslos. »Was bist du?« »Ich bin ein Instrument – eines von vielen. Wir halten uns an eine erprobte Methode, die kaum verändert wird, gleichgültig, welche Lebensform ihre kritische Entwicklungsperiode erreicht. Wir landen unbeobachtet und unbemerkt – natürlich besitzen wir eine fortgeschrittene Technik zur Täuschung von Ortungsanlagen. Nach der Landung schalten wir uns in das Kommunikationssystem der Kultur ein und lernen die Sprachen. Wir machen uns mit Politik, Geschichte, Gebräuchen, Traditionen und Sitten vertraut und stellen ein zusammenfassendes psychologisches Profil der gesamten Kultur her. Dann sind wir bereit für den ersten Kontakt, und wir passen unsere äußere Erscheinung der psychischen Entwicklung des betreffenden Planetenbewohners an, den wir uns aussuchen.« »Klingt alles sehr hübsch«, sagte Grimm finster. »So, wie ich die Dinge sehe, könntet ihr aber doch, wenn ihr jegliche Information gratis liefert, die Werkzeuge für die Vernichtung eines Planeten hergeben. Ihr könntet einem Schwachsinnigen eine Atombombe in die Hand drücken.« »Ich darf euch versichern, daß unsere Berechnungen eindeutige Ergebnisse liefern. Wenn sich eine Kultur mit der von uns gegebenen Information selbst zerstört, hätte sie es ohne jeden Zweifel auch so, ohne unsere Einmischung, getan.« 203
»Wie kommen wir zu dir?« fragte Osterly. »Die einfachste und schnellste Lösung wäre die, alle Minenfelder zu sprengen. Die Explosion wird nicht nur die automatischen Waffen zerstören, sondern auch das Brechungsfeld beseitigen. Ich kann ein einfaches Gerät liefern, das alle Minen gleichzeitig detonieren läßt und gleich hier gebaut werden kann.« »Du befindest dich aber mitten drin«, sagte Grimm. »Ich bin stark genug, einen Atomangriff zu überstehen. Es ist daher nicht wahrscheinlich, daß mich chemische Explosivstoffe berühren.« »Da du uns auf unsere Verantwortung aufmerksam gemacht hast, habe ich eine Frage«, sagte Gilliad rauh. »Was ist mit Welt? Wir können ihn nicht in die Luft sprengen, so sehr wir auch Lust dazu hätten.« »Ich schütze euren Patienten. Für den Augenblick ist er eingeschlafen.« »Sprengen wir endlich die blöden Minenfelder«, rief Grimm. »Ich möchte dich möglichst schnell genauer sehen. Die Auskünfte, bitte.« »Gut. Zuerst brauchst du die Lohm-Röhre in deiner rechten Tasche –« Während Grimm sein Gerät zusammenbaute und sich Notizen machte, rief Gilliad die Zentrale. »Hast du das alles mitbekommen, Liebling?« »Alles – und weitergegeben. Keisler ist unterwegs.« »Keisler?« »Keisler und ein Projektionstechniker. Welt wird unser erster Patient sein.« Plötzlich kam es Gilliad so vor, als legten sich weiche Arme um seinen Hals. Komm bald zu mir zurück, Liebling. Gilliad wurde wieder rot. 204
»Fertig«, sagte Grimm zufrieden. »Jetzt ziehen wir uns auf sichere Distanz zurück. Unser Freund mag zwar von ›chemischen Explosivstoffen recht herablassend sprechen, aber mehrere tausend Tonnen Phosodiolin machen weitaus mehr Lärm als eine Handvoll Puffmais.« Bevor sie jedoch in sicherer Entfernung waren, landete ein Flugzeug, das offensichtlich einem Immunen gehört hatte, neben ihnen. Keisler stieg aus, gefolgt von einem Techniker, der Geräte heranschleppte. Beide stiegen mit in den Jeep, und das Flugzeug schwebte wieder davon. »Guten Morgen, Doktor«, sagte Osterly mürrisch. Keisler sah bedrückt aus. »Na gut, wir haben also nun ein soziales Gewissen. Sie wissen es, ich weiß es, jeder weiß es. Die Verantwortung wurde uns aufgebürdet, und irgendwie – Gott weiß wann – sind wir so erwachsen geworden, daß wir sie tragen können.« Osterly stopfte langsam seine Pfeife. »Fast eineinviertel Millionen kranke Immune, und wir müssen sie gesundpflegen. Unser Gewissen ist der einzige Mahner, aber dem entgehe ich ebensowenig wie Sie.« »Wenigstens halten wir uns an medizinische und psychiatrische Methoden«, meinte Keisler rauh. Er klopfte auf die Geräte neben sich. »Eigentlich sollten sie mir leid tun, weil wir ihnen die Hölle heiß machen müssen, weil sie ihre eigene Medizin schlucken müssen, aber sie tun mir nicht leid. Im Gegenteil, ich werde es sehr genießen und mir sagen, daß alles nur zu ihrem Besten ist. So, wie die Dinge jetzt liegen, ist an Verfolgung oder Hinrichtungen nicht zu denken, aber – um ganz ehrlich zu sein – das wird mir auch Spaß machen – sie haben es nicht anders verdient.«
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27 Als sie zu einer Senke hinter einem niedrigen Hügel kamen, hielten sie an. »Hier müßten wir aus der Gefahrenzone sein – hoffentlich.« Grimm legte sich auf den Boden. »Alles fertig?« Die anderen lagen schon neben ihm und nickten stumm. »Gut. Köpfe einziehen!« Er drückte auf einen Knopf. Es gab einen grellroten Blitz; die Erde wurde aufgeworfen, schien wegzusacken und wieder hochgestoßen zu werden. Es nahm ihnen den Atem. Bevor sie wieder zu sich kamen, fauchte ein Sturm über sie weg, schwarzer, beißender Rauch hüllte sie ein, und ein Regen von Erdklumpen ging auf sie nieder. »Nicht rühren!« schrie Grimm. Der Rat kam zur rechten Zeit. Wenige Augenblicke später krachte ein riesiger Baumstamm neben ihnen auf den Boden, gefolgt von Steinbrocken, Ästen, Erdklumpen und Splittern. Nach ein paar Minuten setzte sich Grimm vorsichtig auf. »Okay.« Sie schüttelten Erde und Dreck von sich ab und standen auf. Keiner achtete auf das verwüstete Land. Keiner betrachtete das Tal, das es vorher nicht gegeben hatte, ein schwarzes Tal, angefüllt mit aufgewühlter und immer noch dampfender Erde. Alle starrten erschreckt mit beinahe abergläubischer Ehrfurcht auf das Ding in der Mitte des Tales . 206
»Mein Gott!« flüsterte der Techniker. »Was ist denn das?« Keiner antwortete. Gilliad hatte das merkwürdige Gefühl, daß seine Augen wie festgeschraubt im Kopf saßen. Innerlich wiederholte er sich die Worte des Technikers, und wenn er je Zweifel gehabt hatte, waren sie jetzt verflogen. Er bemühte sich zu verstehen, warum sie sich so seltsam verhielten, denn was er da sah, war weder in Form noch in Farbe ungewöhnlich. Es war dunkelgrün, aber von seltsam schillerndem Glanz. Es hatte eigentlich die Form eines senkrecht aufgestellten Sarges, mit der Breite nach oben. Der ›Sarg‹ hatte jedoch eine Höhe von fünfhundert Metern und beherrschte die gesamte Landschaft. Es gab keine Ecken, keine Antennen, keine scharfen Kanten – war es ein Raumschiff? Gilliad suchte immer noch nach einem Grund für seine Angst, und plötzlich wußte er es. Es lag nicht an der Höhe. In zahllosen Städten gab es Gebäude von mehr als zweihundertfünfzig Meter Höhe. Es war nicht einmal die Farbe. Aber irgendwie strahlte das Ding auf massive und erschreckende Weise Macht aus. Er konnte gut verstehen, warum es sich gewöhnlich hinter einer unschuldigen Fassade verbarg. Ein Blick auf das wirkliche Äußere, und die gesamten bewaffneten Mächte der Welt würden es mit ihren Waffen zu vernichten versuchen. Gilliad fühlte sich nicht nur eingeschüchtert, sondern auch erdrückt. Diese Ausstrahlung ungeheuerlicher Macht drängte ihn, sich in ein Loch zu verkriechen. Kein Wunder, daß Welt es in aller Unschuld das ›Höchste‹ genannt hatte. 207
Mit zitternder Hand hielt er sich das Mikrofon an die Lippen. »Wie lange willst du hierbleiben?« Er wollte einfach nicht mit diesem Ding auf einer Welt leben. »Meine Aufgabe ist fast beendet – höchstens noch eine Woche.« »Geben Sie her!« Grimm riß Gilliad das Mikrofon aus der Hand und fragte scharf: »Was, zum Teufel, bist du eigentlich?« »Das habe ich euch schon gesagt – ein Instrument.« »Geht denn das nicht etwas genauer?« »Nun –« Die neutrale Stimme klang beinahe beschwichtigend. »Nun, ohne eure Phantasie allzusehr zu strapazieren, könnte man mich vielleicht einen Roboter nennen –« Welt erwachte aus einem Schlaf der Erschöpfung, ohne zu ahnen, daß sich die Lage inzwischen völlig verändert hatte. Er rieb sich die Augen und fragte sich, wie es kam, daß er auf einem Stuhl saß. Auch das Licht wirkte nicht mehr so grell. Noch einmal blinzelte er ungläubig. Das zellenähnliche Zimmer mit den ungestrichenen grauen Wänden, der Plastikstuhl, der Tisch. Er hatte solche Zellen schon gesehen – in den Tieftunnels der großen Städte. Das war eine Wohnzelle, das – er erstarrte. Auf dem Plastiktisch, unmittelbar vor ihm, stand eine Traummaschine. Die Prismaröhre glühte zwar nicht mehr, aber man sah ihr an, daß sie erst vor kurzem in Gebrauch gewesen war. Welt spürte, wie sich seine Muskeln anspannten, spürte Leere und Panik. Wo war das Licht, der Höchste? Wie war er hierhergekommen? Wo war –? 208
In diesem Augenblick ging die Tür auf, und zwei Männer traten in die Zelle. Sie trugen vertraute scharlachrote Uniformen, und ihre Gesichter wirkten beängstigend. Einer von ihnen ergriff die Maschine und packte ihn an der Schulter. »Mitkommen!« Welt starrte ihn entgeistert an. »Wie?« »Stell dich nicht dumm, Freund, du kennst die Strafe für die Maschine. Du hast schon öfter M-Polizei gesehen. Du bist verhaftet.« Sie zerrten ihn aus der Zelle zu einem wartenden Fahrzeug. Es fuhr so ruckartig an, daß er beinahe umfiel. Er schimpfte: »Seid ihr verrückt? Ich bin ein Immuner. Ich bin der größte Immune. Ich bin Eugene Welt!« Sie sahen ihn verständnislos und etwas angeekelt an. »Ruhe!« Welt spürte, wie das Blut in seinen Schläfen pochte. Er drohte ihnen mit den Fäusten. »Dafür werdet ihr verbrannt, ihr Idioten!« Einer der Polizisten gab ihm eine Ohrfeige. »Vorsicht, sonst machen wir dich gleich hier fertig.« Welt taumelte und schrie: »Ihr versteht mich wohl nicht! Ich bin ein Immuner. Ich bin Welt, der Führer der Immunen.« Sie sahen ihn achselzuckend an. »Wer, zum Teufel, ist Welt?« »Ist mir auch neu – mal was anderes als der liebe Gott, was?« Welt brachte kein Wort mehr heraus und ballte die Fäuste. »Das werdet ihr mir büßen!« stieß er schließlich hervor. »Spar dir das für die Verhandlung, Freundchen.« 209
Dann hielt das Fahrzeug, und man führte ihn in ein großes Gebäude. Er wurde in einen langen, hell beleuchteten Raum gebracht, wo drei Männer in weißen Kitteln hinter einem polierten Tisch saßen. Einer der Polizisten überreichte ihnen etwas. »Seine Papiere, Doktor Stead.« Stead betrachtete sie kurz und legte sie weg. »Bringt ihm einen Stuhl.« Er wartete, bis er geholt worden war, dann sagte er: »Setzen Sie sich.« Welt schoß das Blut ins Gesicht. »Jetzt hören Sie mir mal zu, ich rate Ihnen –« »Hinsetzen, hat der Doktor gesagt.« Irgend jemand drückte ihn auf den Stuhl. »Bevor wir anfangen, sollten wir ein Mißverständnis ausräumen.« Dr. Stead lächelte unangenehm. »Vielleicht befassen wir uns später mit Ihren Geschichten und Behauptungen. Im Augenblick beantworten Sie lieber alle Fragen, die Ihnen das Tribunal stellt. Ich will nicht lange um den Brei herumreden. Wenn Sie es nicht tun, bekommen Sie Prügel. Haben Sie mich verstanden?« »Ich –« Welt verstummte plötzlich, als er merkte, daß einer der Polizisten in Rot neben ihm stand. Der Mann hatte einen Schlagstock aus Gummi in der Hand, den er drohend schwang. »Ja, Sir«, sagte Welt bescheiden. »Gut – Ihr Name?« »Welt – Eugene Welt.« Der Doktor griff nach den Papieren. »Ist das Ihre Handschrift?« »Ja, Sir.« »Vielleicht sehen Sie sich einmal die Unterschrift an.« Welt öffnete den Mund und schien zu ersticken – wie hatten sie das gefunden? 210
»Nun?« »Geor-George Merris – Sir.« »Bestreiten Sie, daß das Ihr richtiger Name ist?« »N-nein, Sir.« »Sie haben ihn geändert?« »Ja, Sir.« »George Merris, Sie sind dabei erwischt worden, wie Sie eine Traummaschine benutzten. Haben Sie dazu etwas zu sagen?« »Ich kann keine Maschine benützen, Sir. Ich bin ein Immuner.« Dr. Stead seufzte. »Merris, Sie können von Glück sagen, daß die Todesstrafe kürzlich abgeschafft wurde, aber auch jetzt haben Sie noch eine lange mühsame Behandlung vor sich. Welches Datum haben wir heute?« »Datum?« Welt überlegte und nannte es. »Hinter Ihnen hängt ein Kalender. Sehen Sie sich ihn an. Wie erklären Sie sich den Unterschied von einem Jahr, zwei Monaten und drei Tagen? Bestreiten Sie immer noch, eine Maschine benützt zu haben?« »Ich – ich –« Welt erstickte fast an seiner Antwort. Wieso war es mehr als vierzehn Monate später? In seinem Büro rauchte Osterly seine Pfeife. Gilliad war bei Vanessa in ihrem Bungalow, aber Welt wußte nichts davon – er begann sich bereits zu fragen, ob sie überhaupt existiert hatten … ENDE
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