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Thursday, 3rd 2002
Wer Rechtschreibfehler findet, ...
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Scanned by "Steel" Many Thx to: Kristy, Cathy, John, Dr-Gonzo - aso
Thursday, 3rd 2002
Wer Rechtschreibfehler findet, darf sie behalten :)
Sandy Asher
Sunnyboy und Aschenputtel Roman
»Ah!« seufzte Buddy glücklich, während wir vor einer roten Ampel warteten. »Was kann schöner sein als so ein Abend in Braden's Port?« »Ja, was wohl?« murmelte ich mit einem prüfenden Seitenblick auf meinen Beifahrer. War da nicht eine Spur Sarkasmus in seinem Gesicht? Nein, da war nichts dergleichen. Buddy lächelte zufrieden vor sich hin und saß so entspannt, wie es für einen Kerl seiner Länge möglich war, in meinem Auto, das mal wieder verrückt spielte: Immer wenn ich dieses Gefährt zum Stillstand bringen will, fängt es an zu rattern und zu wackeln, daß man Schüttelfrost davon bekommen könnte. Aber wenn ich das einem Mechaniker in der Werkstatt vorführen will, verhält sich das Auto prompt ganz brav, und der Mechaniker wirft mir einen Blick zu, als säßen bei mir und nicht bei meinem Auto die Schrauben locker. Ich bin das schon gewohnt. Wenn ich zu der Sorte Jungens gehörte, die gerne mit Zündkerzen und Vergaserschwimmern herumbasteln, hätte ich die Sache längst selbst in Ordnung gebracht. Aber mir macht das keinen Spaß und Buddy ebenso wenig. »Es gibt Leute, die machen sich gerne die Finger schmutzig«, hat Buddy einmal gesagt. »Ich will ihnen ihr Vergnügen nicht nehmen.« Mein Vater hätte das Problem in einer Minute gelöst, aber ich habe ihm nie davon erzählt. Ich finde, er löst schon genug Probleme für mich. »Du scheinst nicht allzu begeistert zu sein, oder irre ich mich?« erkundigte sich Buddy, der sich, die Arme hinter dem Kopf verschränkt, gemütlich im Sitz räkelte. Sich irgendwo gemütlich räkeln ist eine Spezialität von Buddy. Er
ist so etwas wie ein menschliches Kissen, ein riesiges blauäugiges Kissen ohne Ecken und Kanten. Federleicht. Ich bin das genaue Gegenteil von ihm, nämlich überhaupt nicht »weich« mit meinen spitzen Ellenbogen und den spitzen Knien. Ma findet mich >drahtigdürrSirsharter BurscheDas ist mein VaterFalls Ihr Sohn noch immer auf meinen Job scharf ist, werde ich ihm das Gehirn frisieren!< Ich sah Lisa und die Stammkunden am Ecktisch, wie sie meine Eltern geringschätzig musterten. All das war schrecklich, aber auszuhalten. Schlimmer war der Gedanke, daß ich die Mängel des Restaurants vor Pop und Ma nicht mehr geheimhalten könnte. Sie würden von allem enttäuscht sein. Und natürlich sah ich mich selbst, stolpernd, Gläser und Porzellan zerbrechend, Soße und Kaffee über die Tische, die Kleider der Gäste und den Boden schüttend. Und meine Eltern würden dabei zusehen. Das war die schrecklichste Vorstellung von allen. »Geht in Ordnung, Pop«, sagte ich und schluckte tapfer. || »Kommt, wenn es euch paßt.« Nach dem Essen nahm Ma mich zur Seite, als ich gerade den fj Geschirrspüler einräumte. »Heute abend hat er sich zum ersten-" mal positiv über deine Beschäftigung geäußert«, erklärte sie mir. »Ich dachte, das muß man ausnutzen.«
Ich bedankte mich bei Mutter, obwohl ich eigentlich mehr Angst als Freude empfand. Am späten Abend rief Buddy an. Ich machte mich auf den üblichen Redeschwall gefaßt, aber diesmal faßte er sich etwas kürzer. »Ich habe sechsmal bei Lisa angerufen, abe sie war nie zu Hause«, teilte er mit. »Ich wollte ihr ausrichten, daß wir die Blumen im Kinderheim abgegeben haben. Ihrer Mutter sind meine Anrufe sicher auf den Wecker gefallen! Wahrscheinlich komme ich morgen zum Mittagessen zu euch und erzähle es ihr dann.« »Wenn du mir einen Gefallen tun willst, Buddy«, bekannte ich, »dann komm morgen bitte nicht. Meine Eltern haben sich bereits angekündigt. Daß ist schon Streß genug, mehr kann ich nicht verkraften.« »Ja, dann!« meinte Buddy verständnisvoll. »Dann versuche ich es noch mal telefonisch. Aber vielleicht kannst du ihr ja auch morgen Bescheid sagen, falls ich sie nicht erreiche.« »Wird gemacht. Wenn ich dazu komme.« Aber ich kam nicht dazu. Schon der Vormittagsdienst war der reinste Alptraum für mich. Bei jedem Fehler, den ich machte, jedesmal, wenn ich irgendwo anstieß, dachte ich: Was, wenn Pop und Ma jetzt hier säßen und mich sehen würden? Was, wenn sie nachher wirklich hier sitzen und mir passiert wieder so etwas oder noch etwas Schlimmeres? Je mehr ich daran dachte, desto nervöser und ungeschickter wurde ich. Ein ganzer Wagen voll mit schmutzigem Geschirr und Essensresten kippte mir um. Die Bescherung landete auf dem Küchenboden. Als ich die Müllsäcke wegbringen wollte, rissen sie, und der ganze Inhalt entleerte sich auf dem Parkplatz. Und Pete ließ es sich nicht nehmen, an diesem Tag besonders gemein zu sein, als spürte er meine besondere Verwundbarkeit. »Eins wüßte ich gerne, Sommer-Jüngelchen«, sagte er in der Küche so laut zu mir, daß alle es hören konnten, »wenn deiner Mami und deinem Papi das Lokal gut gefällt, kaufen sie es dir dann?« Ein paar Minuten später trafen meine Eltern ein. Sie fanden alles wunderbar: Das Essen und den Service. Sie waren auch sehr angetan von Mr. MacElroy, der ihnen vorschwärmte, wie fleißig und zuverlässig ich sei. Wenn man seinen Worten glaubte, hätte ich mich glatt um die Wahl zum > Kellner des Jahres< bewerben können. Ma verwickelte Lisa, die sie von Fanette's her kannte, in ein ausführliches Gespräch über die modische Rocklänge. Die Männer am Ecktisch verhielten sich ganz unauffällig. Pete blieb in seiner Küche. Ein einziges Mal wäre mir fast ein Glas umgefallen – aber nur fast. Ma strahlte mich glücklich an. Pop bezahlte die Rechnung und ließ sich sogar zu einer Art Kompliment hinreißen. »Besser als ich erwartet hatte«, gab er knapp von sich. Ich glaube, er war ein bißchen stolz auf mich und da fiel mir zum erstenmal auf, daß ich mir schon lange gewünscht hatte, mein Vater möge einmal stolz auf mich sein. Als dieser Arbeitstag zu Ende war, fühlte ich mich zwanzig Pfund leichter. Auf der Heimfahrt machte ich mir noch einmal bewußt, wie gut doch alles gelaufen war. Also, sagte ich mir, du hast sie in einem wichtigen Punkt überzeugt, nämlich daß du in der Lage bist, auf eigenen Füßen zu stehen. Das ist ein guter Ausgangspunkt für das große Gespräch, das noch aussteht. Jetzt kannst du zu Pop gehen und sagen: Ich bin achtzehn. Ich muß ein paar wichtige Entscheidungen treffen, von denen mein weiteres Leben abhängt. Und ich will sie selber treffen. So wie ich es bei dem Job auch gemacht habe. Also: Ich will nicht auf die Wirtschaftsakademie, klar? Mich interessiert die Arbeit mit Menschen. Pädagogik, Psychologie und so etwas. Mein Lehrer hat gesagt, daß man das sehr gut in Oberlin oder in Carleton studieren kann.. . Als ich die Auffahrt zu unserem Haus hinauffuhr, stand meine Rede bis in alle Einzelheiten. Sie war von ungeheurer Überzeugungskraft, so wie wir es in unserem Rhetorikkurs gelernt hatten. Doch als die Haustür hinter mir ins Schloß fiel, brach das ganze kunstvolle Gebäude zusammen, und ich wußte, daß ich nicht ein Wort herausbringen würde – Rhetorikkurs hin oder her. Samstag abends trifft sich alles auf der Mansion Plaza. Die Geschäfte haben bis in die Nacht geöffnet, man geht einkaufen oder bummelt einfach in der großen Passage herum und wartet darauf, daß bei Einbruch der Dunkelheit die tausend Laternen aufflammen, die den Platz in ein glitzerndes Lichtermeer verwandeln. Ein leichter Wind, der den Geruch des Meeres heranträgt, weht dort immer. Ich mag diesen Platz und diese Abende. Einen Tag nachdem Ma und Pop im Jolly Mackerei aufgekreuzt waren, saß ich mit Buddy bei Sweet Polly's und gönnte mir meinen Lieblingseisbecher. Ma und Pop machten einen Schaufensterbummel, nur wenige Meter von mir entfernt. Noch ahnten sie nichts von meiner großen Rede nach dem Motto >Gebt mir meine Freiheit, oder ich will nicht mehr lebenBuddyMuhNein, danke< nicht zufrieden. Und ich kenne genug Mädchen, die einmal von einer Karriere geträumt haben, und dann kam ihnen ein Mann dazwischen. Meine Schwester gehört auch dazu. Sie besaß das Zeug zu einer großen Malerin. Sie ist jetzt vierundzwanzig, hat drei Kinder und sieht aus wie eine Frau von vierzig. Und seit sie verheiratet ist, hat sie nie mehr einen Pinsel in die Hand genommen.« »Ich wollte dich nicht schwängern. Ich wollte dir im Mackerei nur freundlich guten Morgen sagen«, bemerkte ich trocken. Lisa mußte lachen. Ihr Lachen war einfach herrlich: natürlich, offen und melodisch. Für mein Empfinden lachte sie viel zu selten. »Ich weiß«, sagte sie schließlich. »Deshalb hatte ich ja auch das Bedürfnis, mich bei euch zu entschuldigen. Ihr
seid wirklich nette Kerls und habt diese Behandlung nicht verdient.« Damit stand sie auf. Traci war inzwischen eingetroffen. »Tut mir leid, daß du so lange warten mußtest«, fing sie wieder an. »Macht nichts. Wir haben uns gut unterhalten«, versicherte Lisa. »Michael, wir sehen uns morgen. Buddy – « Buddy blickte sie mit großen, flehenden Augen an, als hätte er nicht mitbekommen, was sie uns die ganze Zeit klarzumachen versuchte. Er saß da wie ein Hund, der darauf wartet, daß man ihm einen Brocken oder einen Knochen hinwirft. Gib ihm wenigstens einen Krümel, Lisa, dachte ich bei mir. Aber Lisa lächelte schon nicht mehr. »Also, gute Nacht und noch mal vielen Dank«, war alles, was sie sagte. »Können wir dich vielleicht irgendwohin fahren?« fragte Buddy, der von seinem Stuhl aufgesprungen war. »Nein, vielen Dank! Wir gehen zu Fuß. Es ist nicht weit.« »Wir könnten euch begleiten –« »Nein!« sagte Traci plötzlich sehr entschieden. Über ihren eigenen Tonfall erstaunt, fügte sie etwas freundlicher hinzu: »Wirklich, es ist nicht nötig. Bitte, nehmt uns das nicht übel!« Ich bekam mit, wie Lisa Buddys Hundeblick mit einem sanften Kopfschütteln beantwortete. Buddy fügte sich stumm in sein Schicksal. Wenn sie ihn gebeten hätte, das Atmen einzustellen, hätte er das wahrscheinlich auch noch getan. Die beiden Mädchen machten sich auf den Weg, und Buddy sank wieder auf seinen Stuhl. »Merkwürdige Frauen gibt es hier. Aber interessant sind sie«, stellte ich fest. »Was, glaubst du, ist mit Traci los? Als du angeboten hast, sie nach Hause zu bringen, ist sie dir fast ins Gesicht gesprungen.« »Was weiß ich« meinte Buddy schulterzuckend. »Vielleicht hat sie einen eifersüchtigen Freund zu Hause.« Und wie sich bald herausstellen sollte, war es genau so! Tracis eifersüchtiger Freund war niemand anderes als Pete, der Koch, persönlich. Buddy und ich kamen genau eine Woche später dahinter, als wir wieder einmal bei Sweet Polly's saßen und Tracis Verhalten uns den ersten Hinweis darauf gab. Sie wirkte an diesem Tag noch nervöser und schreckhafter als letztes Mal. Sie traute sich kaum, uns zu begrüßen. Ich rief ihr ins Gedächtnis, wer wir waren und unter welchen Umständen wir uns kennengelernt hatten. »Letzten Samstag, erinnerst du dich nicht mehr? Lisa hat uns miteinander bekannt gemacht«, sagte ich. »Wir hatten angeboten, euch nach Hause zu fahren«, ergänzte Buddy. »Mh, ja, ich erinnere mich«, sagte Traci mit niedergeschlagenem Blick und versteckte sich fast hinter dem riesigen Eisbecher, den sie auf ihrem Tablett blancierte, so daß nur noch ihre wippenden Ponyfransen zu sehen waren. »Möchtet ihr etwas essen?« fragte sie höflich. »Oder soll ich noch mal wiederkommen?« »Wir möchten das Übliche«, sagte Buddy, »aber wiederkommen kannst du auch. Jederzeit!« meinte Buddy grinsend. Traci wurde bleich im Gesicht. »Das Übliche?« fragte sie tonlos. »Vanilleeis mit heißer Schokoladensoße, große Portion«, erklärte ich. »Kommt sofort«, versprach sie und eilte davon. »Irgend etwas stimmt da nicht, was meinst du?« sagte ich zu Buddy. »Vielleicht nimmt sie Drogen«, vermutete Buddy. In diesem Moment erschien der eifersüchtige Freund auf der Bildfläche. Es war nicht auszumachen, ob er das Restaurant gerade betreten hatte oder gerade gehen wollte. Jedenfalls legte er seine grobschlächtige Hand auf Tracis Schulter und hinderte sie daran, durch die nahegelegene Tür in die Küche zu verschwinden. Er nötigte sie in eine Nische, wo noch ein paar leere Tische standen und ließ sich auf einen Stuhl fallen. »Buddy«, flüsterte ich aufgeregt, »Das ist ja Pete. Unser Koch vom Jolly Mackerei. Der Schlägertyp. Er steckt also dahinter!« Was er zu Traci, die vor ihm stand, sagte, konnten wir nicht hören, aber es war deutlich zu sehen, daß er sie zur Minna machte. »Was hat er nur?« wunderte ich mich. »Er sieht aus wie einer, der dringend den nächsten Schuß braucht«, fand Buddy. Während Pete ununterbrochen auf Traci einredete, nickte Traci zu allem, was er sagte. Ihre Ponyfransen wippten dazu im Takt. Sie schien ihm nicht zu widersprechen, und dennoch wirkte er unzufrieden und verärgert. Seine buschigen Augenbrauen waren über der Nasenwurzel zusammengezogen, und seine Finger trommelten nervös auf die Tischplatte. »Der Mann ist offensichtlich in argen Schwierigkeiten«, stellte ich fest. Schließlich gab Pete Traci frei und schwang sich auf seinem Stuhl lässig herum. Über die Stuhllehne gebeugt, ließ er unter halb geschlossenen Lidern seinen Blick über die Menge schweifen, bis er uns, oder besser mich, entdeckte. Ich hatte das ungute Gefühl, daß er geradezu darauf gewartet zu haben schien, mich hier vorzufinden. Wir nickten uns kurz zu, dann schaute ich bewußt in eine andere Richtung. »Hast du eine Ahnung, was das alles bedeuten soll?« fragte ich Buddy. »Ich verstehe schon lange nichts mehr«, sagte Buddy. »Aber vielleicht haben wir soeben unser letztes Eis
bestellt.« »Hör auf, Witze zu machen. Der Kerl geht doch über Leichen!« »Eben. Wenn es um meinen Eisbecher geht, werde ich auch zum Killer, du nicht?« »Du bist unverbesserlich, Buddy«, stellte ich verärgert fest. Buddy lehnte sich über die Tischplatte und sah mir direkt in die Augen. »Im Gegenteil, meiner Lieber«, sagte er. »Diese Welt ist so verrückt, daß man nur überleben kann, wenn man sie nicht allzu ernst nimmt. Leute, die alles genau wissen wollen, wie du, bringen sich nur in Schwierigkeiten. Das heißt: An deiner Stelle würde ich über diesen finsteren Typen nicht mehr nachdenken und mich um meine eigenen Angelegenheiten kümmern.« Er lehnte sich zurück wie einer, der das letzte Wort zur Sache gesprochen hat. Traci näherte sich mit dem Eis. »Sieht ja toll aus«, sagte ich und lächelte sie an. Ohne darauf einzugehen, stellte sie die Becher auf unseren Tisch und machte auf dem Absatz kehrt. »Sag mal, ist alles in Ordnung?« rief ich hinter ihr her. Sie ging weiter, ohne sich umzudrehen. Als sie an Petes Tisch vorbeikam, warf er mir einen triumphierenden Blick zu. Was machte ihn bloß so zufrieden? Was hatte das alles mit mir zu tun? »Das wird immer unheimlicher«, sagte ich zu Buddy, der sich intensiv mit seinem Vanilleeis beschäftigte. »Ich kann nur noch einmal wiederholen, was ich dir eben schon gesagt habe«, meinte er schließlich. »Wenn ich du wäre, würde ich mich da raushalten. Aber ich bin nicht du, und du bist nicht ich. Pech für dich.« An diesem Abend hatte ich nicht mal Augen für das große Lichterspektakel auf dem Platz. Die seltsamen Vorfälle, die ich beobachtet hatte, beschäftigten mich viel zu sehr. Als Traci später kam, um unseren Tisch abzuräumen und sich zu erkundigen, ob wir noch etwas wünschten, wirkte sie, als würde sie mit einer Pistole im Rücken dazu gezwungen. »Ja, ich hätte gern noch etwas«, sagte ich zu ihr. »Und zwar eine Information! Was spielt sich eigentlich zwischen dir und diesem . . . mh, Herrn da ab?« Dabei bewegte ich den Kopf so unauffällig wie möglich in Petes Richtung. »Nichts«, antwortete Traci, und legte uns, ohne daß wir darum gebeten hätten, die Rechnung auf den Tisch. »Macht er dir Schwierigkeiten? Ärger?« hakte ich nach und fragte mich im selben Moment, was ich wohl tun sollte, wenn sie ja sagte. Aber sie verneinte. Dann entschuldigte sie sich mit dem Hinweis, daß sie viel zu tun habe und ging. Ich ließ sie gehen, konnte den Vorfall aber nicht vergessen. Am nächsten Tag fragte ich Lisa, ob sie eine Ahnung habe, was dahinterstecken könnte. Ich erhielt die übliche >das-geht-dich-nichts-anUmarmung< und starrte mich wütend an. Ich trat einen Schritt zurück, weil ich fürchtete, ihr nächster Faustschlag könnte in meinem Gesicht landen. »Eine kleine Reparatur, ha!« höhnte sie. »So kannst du das vielleicht sehen. Für mich ist es bares Geld, und zwar eine Menge Geld. Erst einmal das Geld, das die Reparatur kostet. Dann das Geld, das ich heute nicht verdiene, weil ich nicht mehr rechtzeitig zu Fanette's komme. Und ich habe nun mal nicht soviel Geld, daß ich mir solche Ausfälle leisten kann!« Noch einmal trat sie heftig nach dem Wagen. Wie hielten ihre Füße, die nur in leichten Turnschuhen steckten, das nur aus? Sie gab nicht den winzigsten Schmerzenslaut von sich. Statt dessen wandte sie sich erneut an mich. »Sag mal, verstehst du irgend etwas von Autos?« fragte sie mich mit tropfender Nase. »Leider nicht«, mußte ich beschämt zugeben. »Allerdings ist mir bekannt, daß Autos innendrin trocken sind.
Deshalb mein Vorschlag: Du kommst mit mir. Ich fahre dich zu Fanette's. Über deine Schrottkarre regen wir uns ein andermal auf. Einverstanden?« Lisa dachte einige Zeit über meinen Vorschlag nach. Das machte nun auch nichts mehr, denn wir waren beide inzwischen bis auf die Haut naß. Nasser ging es einfach nicht mehr. Während sie vor sich hinstarrte und überlegte, zwang ich mich, nicht ständig auf ihr nasses T-Shirt unter dem offenen Regenmantel zu starren. Bei einem Wettbewerb um nasse T-Shirts hätte sie zweifelsfrei jede Konkurrentin geschlagen. »Du mußt mich aber erst nach Hause fahren«, erklärte sie schließlich. »Ich kann unmöglich so bei Fanette's erscheinen. Ich brauche ein paar Minuten, um mich wieder frisch zu machen, und ...« »Kein Problem«, versicherte ich schnell und versuchte, meine ausschweifenden Gedanken zu verdrängen. Einfach war das nicht! »Gut«, sagte Lisa und lächelte wieder. »Ich bin dir sehr dankbar für das Angebot.« Als wir zu meinem Wagen eilten, erschien Pete in der Hintertür, um eine Zigarettenpause einzulegen. »Hallo, Lisa. Was ist los?« rief er uns zu. »Mein Wagen springt nicht an«, rief sie zurück. »Kann dieses Sommer-Jüngelchen ihn nicht in Ordnung bringen?« »Mensch, hack nicht dauernd auf ihm herum«, wies Lisa ihn zurecht. »Er hilft mir ja schon. Er fährt mich zu Fanette's.« »Was für ein guter Mensch!« spottete Pete grinsend. Dann ging er, auf die bekannte Westernheldenart, langsam und großspurig die Treppe hinunter, seine Zigarette hielt er in der hohlen Hand. »Gib mir mal die Schlüssel!« forderte er Lisa auf. Sie warf ihm den Autoschlüssel zu. Er kletterte in den Wagen und versuchte, ihn zu starten – vergeblich. Daraufhin öffnete er die Motorhaube und prüfte die Lage. Hier und da stocherte er ein bißchen herum. »Es ist die Batterie«, gab er schließlich bekannt. »Sommer-Jüngelchen, du hast doch sicher ein paar Starthilfekabel?« »Leider nein.« »Außerdem hat er einen Namen«, stellte Lisa fest. »Er heißt Michael Paeglis.« »Stimmt«, bemerkte Pete und machte sich weiter unter der Motorhaube zu schaffen. »Merkwürdiger Name, Paeglis. Wo kommt der her?« »Aus Lettland. Mein Vater stammt von dort.« »Nie gehört«, brummte Pete. »Das ist einer von den drei Balkanstaaten«, erläuterte ich. Eine Mühe, die ich mir genausogut hätte sparen können. Heute gehören sie zur Sowjetunion, wollte ich noch hinzufügen, biß mir aber rechtzeitig auf die Zunge. Mit Sicherheit hätte er mich als nächstes einen Kommunisten geschimpft. Dabei sind meine Großeltern quer durch Europa vor dem Kommunismus geflüchtet, als mein Vater gerade drei Jahre alt war. Nein, ich mußte Pete nicht noch mehr Trümpfe gegen mich in die Hand spielen! »Interessant«, war sein letzter Kommentar zur Sache. Dann schlug er die Motorhaube zu. »Ich werde mich um den Wagen kümmern, und du kannst sie jetzt zur Arbeit fahren, Sommer-Jüngelchen«, entschied er kurzerhand. Ich blickte Lisa an. Sie nickte zustimmend. »Danke, Pete«, sagte sie, worauf er knapp salutierte und ihr mit einem Auge zuzwinkerte. »Du vertraust ihm dein Auto an?« wunderte ich mich, als wir endlich nebeneinander in meinem Wagen saßen. »Pete ist in Ordnung«, war alles, was sie dazu sagte. Dann fing sie an, mir den Weg zu beschreiben, doch ich erinnerte sie daran, daß ich ihn schon kannte. Schließlich hatten Buddy und ich sie einmal bis nach Hause verfolgt. Darüber konnte sie inzwischen sogar lachen, so daß wir in bester Laune bei ihr zu Hause ankamen. Sie bat mich jedoch nicht, mit hinaufzukommen. »Es wird nicht lange dauern«, versprach sie und ließ mich allein in meinem Wagen zurück. Die feuchte Schwüle, die im Wagen herrschte, war nahezu unerträglich. Ich kurbelte das Fenster herunter und ließ frische Luft herein. Dann schaltete ich das Radio ein und verbrachte die Wartezeit damit, die Hitparade der Woche zu verfolgen. Wir waren gerade bei Nummer fünf der Top Ten angekommen, als mir eine einsame Gestalt in einem gelben Regencape mit Kapuze auffiel, die, schwer beladen mit zwei großen Einkaufstüten, tapfer gegen den peitschenden Regen ankämpfte. Als sie näher kam, erkannte ich sie an ihren Ponyfransen, die unter der Kapuze hervorhingen: Es war Traci. Der Regen spülte mir offensichtlich eine hilfsbedürftige junge Dame nach der anderen vor die Füße. Wieder einmal eilte ich zur Rettung herbei. »Traci!« rief ich, während ich in meinen nassen Klamotten, die mir am Körper klebten, aus dem Wagen sprang. »Hast du es noch weit? Komm, ich helfe dir tragen.« Erleichtert ließ sie eine der Tüten in meine Arme fallen. Sie war tatsächlich ungeheuer schwer. »Wenn es dir wirklich nichts ausmacht.« keuchte sie atemlos. »Ich wohne da gegenüber«, erklärte sie und zeigte auf das Haus direkt neben Lisas Wohnung. »Oh, vielen Dank. Ich dachte schon, daß ich es nicht mehr bis zur Haustür schaffe. Und auf der nassen Erde kann man diese Tüten ja nicht abstellen. Es tut mir leid, daß ich ausgerechnet dich damit behelligen muß.« »Das macht doch nichts«, versicherte ich ihr und brachte die Tüten so gut es ging vor der Haustür in Sicherheit,
während Traci in ihren Taschen nach dem Wohnungsschlüssel kramte. Es war gar nicht so einfach mit unseren klammen Fingern, mit den durchweichten Tüten und den verschiedenen Schlüsseln endlich zurande zu kommen. Aber wir hatten eine Menge Spaß dabei, so daß wir kaum bemerkten, wie vor der Haustür ein Wagen bremste. Doch aus der Art, wie der Fahrer die Tür zuknallte, konnten wir schließen, um wen es sich handelte: Pete bewegte sich über den matschigen Rasen mit federnden Schritten auf uns zu. Der Kerl war offensichtlich überall. »Pete!« schrie Traci entsetzt mit schreckgeweiteten Augen. Eine ziemlich ungewöhnliche Reaktion, wenn man seinen Freund trifft, fand ich. Aber auch seine Miene ließ das Schlimmste befürchten. »Pete, das ist Lisas Freund Michael«, beeilte sich Traci zu erklären. »Wir kennen uns bereits«, bemerkte Pete trocken. Er stand auf der untersten Treppenstufe und fixierte mich drohend, als erwarte er von mir auf der Stelle eine Erklärung. Was hatte ich vor Tracis Haustür zu suchen? Offensichtlich hatte auch er das Gefühl, daß ich überall da auftauchte, wo er mich nicht haben wollte. »Lisa und ich sind eigentlich nicht miteinander befreundet«, stellte ich richtig. Durch Petes starren Blick eingeschüchtert, wandte ich mich mit meinen weiteren Ausführungen an Traci. »Freunde würde ich uns nicht nennen«, wiederholte ich. »Wir sind Kollegen. Genau wie Pete und ich. Oder Lisa und Pete. Wir arbeiten im selben Lokal. Ihr Auto ist nicht angesprungen, also habe ich sie hierhergefahren und warte, bis sie sich umgezogen hat, damit ich sie zu Fanette's bringen kann. Ihr wißt bestimmt, daß sie da auch arbeitet. Lisa hat nämlich zwei Jobs. Jedenfalls, als ich hier wartete, sah ich, wie du deine Tüten durch den Regen schlepptest, und da habe ich – na ja, also, jetzt stehen wir wenigstens hier, wie jeder sehen kann.« Ich hätte noch endlos so weiterreden können, in der Hoffnung, daß Pete mir irgendwann den Weg freigab, aber zum Glück erschien Lisa in ihrer Tür. Diesmal rettete sie mich. Mit einem Blick hatte sie die brenzlige Lage erfaßt. Sie spannte ihren Regenschirm auf, lief zu meinem Wagen und winkte uns zu. »Hallo, Pete, was macht mein Auto? Hallo, Traci. Los, Michael, wir müssen. Ich bin spät dran.« Tatsächlich gab Pete nun den Weg frei. Erleichtert drückte ich ihm die beiden Einkaufstüten in die Hände und rannte hinter Lisa her. Da ich das Wagenfenster aufgelassen hatte, war der Fahrersitz völlig durchnäßt, aber ich kümmerte mich nicht darum, sondern ließ sofort den Motor an. Wie der böse Geist aus einem Alptraum erschien, kurz bevor ich losfahren wollte, Petes Gesicht im Fenster der Beifahrertür. »Dein Auto fährt wieder«, teilte er Lisa mit. »Ich bin vorbeigekommen, um dir das zu sagen. Mr. MacElroy bringt es dir irgendwann vorbei.« »Tausend Dank, Pete«, sagte Lisa und schenkte ihm ihr schönstes Lächeln, mit dem sie sonst so sehr geizte. Ich wollte losfahren. Aber im Rückspiegel konnte ich beobachten, wie Pete sich mit dem einen Arm die Einkaufstüten und mit dem anderen Traci schnappte und sie grob vor sich her stieß, so daß sie wenig später mit dem Kopf voll an die Haustür schlug. Mit der einen freien Hand, die sie noch hatte, versuchte sie sich zu schützen. Unsanft bugsierte Pete sie in den Hausflur. Ich wollte es einfach nicht glauben. Wie konnte er nur so brutal zu ihr sein? Warum ging ein kräftiger, großer Kerl mit einem Mädchen, das nicht mehr als die Hälfte von ihm wog, so um? Was mußte er beweisen? Wem mußte er etwas beweisen? Lisa tat so, als hätte sie nichts gesehen. Sie blickte stur geradeaus. »Fahr endlich los«, bat sie mich. »Soll ich das wirklich? Und was wird aus Traci«, fragte ich. »Für Traci ist es auf jeden Fall besser, wenn du von der Bildfläche verschwindest«, stellte Lisa unmißverständlich fest. »Ist das nicht verrückt?« fragte ich Lisa. »Es kommt mir vor, als hätte ich mein Leben riskiert, nur weil ich Traci geholfen habe, ihre Tüten zu schleppen.« »Wahrscheinlich ist es realistisch«, bemerkte Lisa, die immer noch angestrengt durch die Windschutzscheibe starrte, obwohl es vor uns nichts Besonderes zu sehen gab. Der Duft ihres Parfüms erfüllte den Innenraum des Wagens mit einem süßen Aroma und vertrieb den stickigen Geruch, der von den feuchten Polstern ausging. »Ist das alles? Mehr hast du nicht dazu zu sagen?« wunderte ich mich. »Was soll ich sonst noch sagen?« »Findest du nicht, daß mir langsam eine Erklärung zusteht. Ich meine, was hat dieser Junge gegen mich? Ständig kommt er mir in die Quere. Er macht sich lustig über meine Arbeit, er sitzt im Sweet Polly's und starrt mich an, und vor kurzem flanierte er am Strand entlang und präsentierte mir Traci wie eine Trophäe. Und jetzt spuckt er Gift und Galle, weil ich Traci zwei Tüten mit Lebensmitteln bis zur Haustür getragen habe. Was soll das alles?« »Pete ... hat eben Komplexe«, gab Lisa zu bedenken. »Komplexe? So ein kräftiger Kerl? Das ist doch Unsinn. Wahrscheinlich leidet er unter Verfolgungswahn. Aber Minderwertigkeitsgefühle! Lächerlich!« Lisa seufzte, sagte aber nichts. Schweigend fuhren wir die Uferstraße entlang; ich hatte das Tempo gedrosselt, weil ich sehr schlechte Sicht hatte. »Willst du wirklich wissen, was mit Pete los ist?« fragte Lisa nach einer Weile. »Dann verrate ich dir, was ich weiß. Also: Er schloß gerade die High School ab, als ich anfing. Das heißt, er muß mindestens einundzwanzig,
vielleicht zweiundzwanzig sein.« »Bist du erst achtzehn?« unterbrach ich sie überrascht. »Ich hätte dich für älter gehalten. Du gehörst doch schon zu den Seniors.« »Aber noch nicht lange. Im Januar werde ich neunzehn. Warum? Wie alt bist du denn?« »Na ja, erst siebzehn«, bekannte ich schüchtern. Auf dieses Alter war ich bis vor kurzem noch richtig stolz gewesen. »Hm. Ich hätte dich jünger geschätzt«, stellte Lisa schmunzelnd fest. »Wieso jünger? Jünger als wer?« ereiferte ich mich und vergaß darüber, daß ich eigentlich etwas über Pete wissen wollte. »Ach was, ich habe nur einen Scherz gemacht«, beruhigte mich Lisa. »Im November werde ich achtzehn«, fügte ich hinzu und kam mir plötzlich vor wie ein sechsjähriger Junge, der darauf besteht, daß er in Wirklichkeit sechs Jahre und drei Monate ist. Es wurde höchste Zeit, das Thema fallenzulassen und zum Ausgangspunkt zurückzukehren: Pete. »Er war kein schlechter Schüler, aber er hat sich auch nie besonders anstrengen zu brauchen, um gute Noten zu bekommen. Er hatte bei allen Lehrern einen dicken Stein im Brett, weil er der beste Football-Spieler war, den es in dieser Stadt je gegeben hat. Wenn in irgendeiner Zeitung eine >Traummannschaft< aufgestellt wurde, war er sicher dabei. Sogar in der Sport-Illustrierten wurde er erwähnt. Von diesem Mann wird man noch hören, hieß es. Bei seinem letzten Spiel wurde er gefeiert wie ein Held. Die Cheerleader schrien sich die Kehlen heiser, eine Musikkapelle spielte zu seinen Ehren, und die Zuschauer froren sich den Hintern ab, nur um ihn noch einmal zu sehen. Anschließend wurde seine Spielernummer aus dem Verkehr gezogen und nie mehr vergeben. Das war eine Sensation. Sein Trikot stand bis zum Ende des Jahres in einer Glasvitrine im Rathaus. Ich habe mich oft gefragt, wie es wohl riechen mochte, als sie es schließlich herausnahmen.« »Du scheinst nicht gerade ein Fan von ihm zu sein?« bemerkte ich. »Ach, ich mag Pete irgendwie. Man muß ihn einfach mögen, weil er so ein Bild des Jammers ist.« »Wie bitte?« rief ich ungläubig. »Reden wir eigentlich über denselben Menschen? Ich meine diesen großen, gutaussehenden flotten Typen mit der Seele eines wildgewordenen Neandertalers.« »Schön und gut, aber er war immer nur ein erstklassiger Foot-ball-Spieler, sonst nichts. Was soll noch aus ihm werden? Er kann sonst nichts. Wenn das kein Grund ist, Mitleid zu empfinden –« »Und auf dem College?« »Da war es schnell vorbei mit seinem Glanz. Er ging mit Vorschußlorbeeren hin, aber er verließ das College in State schon nach einem Semester.« »Warum?« »Ich weiß es nicht genau«, sagte Lisa. »Man vermutet finanzielle Gründe, aber das kann nicht stimmen, denn er hatte viele Angebote für Stipendien. Außerdem verdienen seine Eltern nicht schlecht. Gut, sein Vater trinkt ein bißchen viel, aber das ist hier nicht ungewöhnlich. Die Winterabende sind lang und langweilig.« »Und jetzt muß Pete beim Jolly Mackerei Fische braten, außer wenn er auch gerade betrunken ist«, bemerkte ich spöttisch. »Tja. Dabei hat er übrigens Traci kennengelernt.« »Und warum ist Traci nicht mehr bei uns?« »Pete konnte es nicht ertragen, wie diese Müßiggänger am Ecktisch sie dauernd anmachten.« »Aber die sind doch letztlich harmlos!« wandte ich ein. »Sind sie auch. Uns beiden ist das klar. Aber das Problem stellt sich für Traci bei jedem Job«, offenbarte Lisa. »Der Junge tickt ja wohl nicht richtig«, ereiferte ich mich. Wir waren inzwischen bei Fanette's angekommen. Lisa öffnete die Wagentür und spannte ihren Regenschirm auf. »Danke fürs Mitnehmen«, sagte sie. Und dann, nach einer kleine Pause: »Wenn ich dir was raten darf, Michael, dann würde ich an deiner Stelle in der nächsten Zeit auf den Eisbecher bei Sweet Polly's verzichten.« Damit verschwand sie im Fanette's. Am Wochenende hatte sich der Sturm verzogen, wohin auch immer. Nun lastete eine brütende Hitze über der Stadt. Die Luft knisterte förmlich vor Trockenheit. Der Betrieb imjolly Mackerei normalisierte sich wieder. Lisas Auto fuhr wieder, und ihr Plan, nach New York zu gehen, hatte sich inzwischen allgemein herumgesprochen. Mr. MacElroy verriet, daß er schon davon gewußt hatte, als er sie vor vier Jahren einstellte, und daß er für Lisa eine kleine Reserve zurückgelegt hätte, für den Fall, daß >unvorhergesehene Ausgaben< auf sie zukämen. Auf diese Weise bedankte er sich für ihre hervorragende Mitarbeit. Pete erschien über einen längeren Zeitraum nicht zur Arbeit. Wieder einmal beschränkte sich Mr. MacElroy auf seinen >So-was-kommt-vorRetter von Lisa< stieg ich in der Achtung aller Mitarbeiter ein gutes Stück auf. Auch wenn alle über Lisas nahen Abschied traurig waren, so nahmen sie doch regen Anteil an ihren
Zukunftsplänen und diskutierten ihre Karrierechancen. In dieser angenehmen Atmosphäre, zu der vielleicht auch Petes Abwesenheit beitrug, ging mir die Arbeit während der folgenden Tage flott von der Hand. Endlich durfte ich nicht nur den Boden wischen und aufräumen, sondern auch mitlachen und mitreden. Einzig Lisa spielte nicht mit. Die Tatsache, daß sie so oft Gegenstand des Gesprächs war, schien ihr sehr unangenehm zu sein. Jedesmal, wenn von ihr die Rede war, ging sie nach draußen oder sie saß stumm mit am Tisch und antwortete widerwillig, wenn sie etwas gefragt wurde. Von meinem Angebot, ihr jederzeit als >Chauffeur< zur Verfügung zu stehen, machte sie keinen Gebrauch, bedankte sich aber höflich. Offensichtlich achtete sie weiterhin auf Distanz. Am Samstag abend kam Buddy bei uns zu Hause vorbei und schlug vor, daß wir entweder ins Kino gehen oder bei Sweet Polly's ein Eis essen sollten. »Ich gehe nicht mehr zu Sweet Polly's«, offenbarte ich. Buddy verschlug es die Sprache, als er das hörte. Ma blickte mich fragend über den Rand ihre Zeitung an, und Pop legte sein Kreuzworträtsel aus der Hand. »Was hast du an Sweet Polly 's auszusetzen?« wollte er wissen. »Oh, gar nichts«, versicherte ich. »Ich kann nur kein Eis mehr sehen. Außerdem habe ich gehört, daß an der Hauptstraße ein neues Kino aufgemacht hat. Das sollte man mal testen. Kann ich mal den Teil mit dem Kinoprogramm haben?« bat ich Pop, der sofort in dem Stapel Zeitungsblätter zu seinen Füßen herumkramte. Ma dagegen blickte mich immer noch ungläubig an. Sie wußte nur zu gut, daß ich von Eis nie genug bekommen konnte. Schuldbewußt versteckte ich meinen hochroten Kopf hinter der Zeitung, um gleich darauf in Begeisterungsschreie auszu-brechen. »Mensch! Indiana Jones läuft. In einer halben Stunde beginnt die nächste Vorstellung!« rief ich und tat furchtbar aufgeregt. »Los, Buddy, wir müssen uns beeilen!« »Wenn wir mein Auto nehmen, können wir es noch schaffen«, sagte Buddy mit einem verwunderten Seitenblick auf mich. »Fahrt vorsichtig!« ermahnte uns Pop. Ich war schon an der Haustür. »Nacht, Ma; gute Nacht, Pop«, verabschiedete ich mich hastig. »Ihr braucht nicht auf mich zu warten!« Ich schubste Buddy förmlich aus der Tür und zog sie ins Schloß, erleichtert, keine weiteren Fragen beantworten zu müssen. Wenigstens nicht von Seiten meiner Eltern. Aber ich hatte Buddy vergessen! »Indiana Jones haben wir schon dreimal gesehen«, erinnerte er mich, als wir zu seinem Wagen gingen. »Und wie du weißt, brauche ich nun mal samstags abends meinen Eisbecher. Was soll das Theater?« Ich wartete, bis wir in Buddys Porsche saßen, dann erzählte ich ihm von Lisas Ratschlag, Sweet Polly's zu meiden. »Das ist doch Unsinn«, fand Buddy. »Der Kerl hat dich einmal scharf angeschaut, und schon denkst du, er trachtet dir nach dem Leben. Deine Phantasie schießt ins Kraut, Michael. Du solltest nicht so viele Romane lesen, wirklich. Versuch es doch mal mit Telespielen!« »Konzentrier dich aufs Fahren, und spar dir deine Predigten«, erwiderte ich lachend. »Ich will nun mal nicht so sein wie du, auch in zehn Jahren nicht.« »Pech für dich«, stellte Buddy trocken fest. Nichts kann mein Herz so zum Pochen bringen wie ein spannender Abenteuerfilm. Ich genieße dieses Prickeln. Beim Abspann war ich so atemlos wie ein Marathonläufer und hätte noch alles mögliche unternehmen können, aber die Tatsache, daß mein Wecker am nächsten Morgen um fünf klingeln würde, setzte meiner Unternehmungslust natürliche Grenzen. Zu Hause angekommen, trank ich ein Glas warme Milch in der Hoffnung, davon wieder ruhig zu werden. Ich setzte gerade zum letzten Schluck an, als das Telefon klingelte. Schnell hob ich den Hörer ab, damit Ma und Pop nicht wach würden. Was Buddy wohl um diese Zeit noch von mir wollte? »Michael? Du mußt unbedingt herkommen. Sofort!« Das war nicht Buddy, es war Lisa. »Was ist passiert, Bist du in Ordnung?« erkundigte ich mich. »Mir geht's gut. Aber Traci ist verletzt. Wir müssen sie dringend zu einem Arzt bringen, aber mein Auto springt wieder mal nicht an. Kannst du uns helfen?« Im Hintergrund hörte ich jemanden schwach protestieren. »Das war Traci«, erklärte Lisa. »Sie will nicht, daß du in die Sache reingezogen wirst, aber diesmal mache ich, was ich für richtig halte.« »Diesmal?« wunderte ich mich. »Hör zu, Michael. Traci blutet stark aus der Nase. Wir können die Blutung nicht stoppen. Also muß ein Arzt ran. Kommst du nun her oder nicht?« »Bin schon unterwegs!« rief ich in den Hörer. Als ich mich umdrehte, standen Pop und Ma in der Küchentür. Sie hatten sich beide einen Bademantel übergeworfen und blickten mich besorgt an.
»Ist etwas passiert?« wollte Ma wissen. »Ein Unfall?« fragte Pop. »Nein, nein«, beruhigte ich sie schnell. »Eine Bekannte hat mich angerufen, weil ihre Freundin sich irgendwie an der Nase verletzt hat. Ich soll sie zum Arzt fahren.« Ich eilte zur Tür. Pop und Ma liefen hinter mir her und löcherten mich mit ihren Fragen. »Wieso gerade du?« – »Woher kennst du das Mädchen?« - »Was ist das für eine Verletzung, wo stammt sie her?« - »Zu welchem Arzt willst du denn mitten in der Nacht?« und so weiter. Ich speiste sie mit Antworten ab, die keine waren. »Ich weiß nicht. Kann ich nicht sagen. Morgen erfahrt ihr mehr. Macht euch keine Sorgen. Tschüß.« Damit war ich aus dem Haus. Ich fuhr so schnell ich konnte. Als ich an Lisas Haustür klopfte, pochte mein Herz wie wild, vielleicht noch eine Spätfolge des Films von vorhin. Lisas Gesicht erschien hinter der Gardine. Sie wollte erst sichergehen, bevor sie mir öffnete. Was ich dann drinnen sah, brachte mich wirklich aus dem Gleichgewicht: Mir wurde schwindelig. Traci saß auf dem Sofa. Das Tuch, das sie gegen ihre Nase drückte, war blutdurchtränkt. Neben ihr stand eine fürchterlich dicke Frau. In meinem ganzen Leben hatte ich noch keinen so dicken Menschen gesehen. Lisa sparte sich die Begrüßungsfloskeln. »Weißt du einen Arzt?« fragte sie mich statt dessen. »Wieso kennt ihr denn keinen? Ihr lebt doch hier.« »Sie will nicht, daß ich sie zu einem Arzt bringe, der sie kennt. Die Sache soll möglichst nicht bekannt werden! Deshalb habe ich dich angerufen.« »Warum?« fragte ich verwirrt. Ich konnte mich über den Anblick dieser fetten Frau und Tracis blutender Nase immer noch nicht beruhigen. »Warum, warum!« äffte Lisa mich nach. »Mußt du immer so viele Fragen stellen, Michael? Ist nicht unter euren Freunden jemand – « Die Dallmeyer-Zwillinge fielen mir ein. Ihr Vater war Arzt. Aber ich hatte Bedenken, die ich auch äußerte. Erstens war es spät in der Nacht und zweitens galt Dr. Dalimeyer als nicht sehr freundlich, wenn man ihn aus dem Bett klingelte. »Bring uns trotzdem hin«, entschied Lisa und half Traci, vom Sofa hochzukommen. »Kann länger dauern, Mom«, sagte Traci zu der dicken Frau. »Geh solange zu Tante Jeannie. Wir sprechen uns morgen.« Das also war Tracis Mutter. Ich konnte es einfach nicht glauben und starrte sie verwundert an. Die dicke Frau mußte ahnen, was in meinem Kopf vorging, den sie drehte mir plötzlich den Rücken zu. »Eigentlich können wir nicht so einfach bei Dr. Dallmeyer klingeln«, gab ich zu bedenken, während wir durch die nächtlichen Straßen fuhren. »Ich kenne ihn nämlich gar nicht richtig. Ich weiß nur, daß er furchtbar streng ist. Einmal hat er seine Töchter mit Hausarrest bestraft, weil sie seiner Meinung nach zu laut gelacht hatten. Als er entdeckte, daß Melanie heimlich rauchte, mußte sie zur Strafe eine Woche lang ohne Make-up zur Schule gehen. Sie hat sich natürlich heimlich in der Toilette geschminkt. Aber stellt euch das vor!« »Hier handelt es sich um einen Notfall«, bemerkte Lisa. »Red also nicht soviel, sondern bring uns lieber hin.« »Schon gut, schon gut.« Ich war noch nicht oft bei den Zwillingen zu Hause gewesen. Aber jedesmal, wenn ich sie besuchte, mußte ich feststellen, daß sie zu Hause nicht wiederzuerkennen waren. Statt der gewohnten Lebhaftigkeit und guten Laune wirkten Melanie und Merrye in Gegenwart ihres Vaters ängstlich und eingeschüchtert und waren ungewöhnlich still. Mrs. Dallmeyer dagegen wirkt immer ängstlich, zu Hause und in der Öffentlichkeit. Dr. Dallmeyer öffnete die Tür persönlich. Er stand in Schlafanzug und Pantoffeln da, und ich befürchtete schon das schlimmste Donnerwetter. Doch kaum hatte er Traci gesehen, bat er uns sofort nach drinnen. Ziemlich unsanft forderte er Traci auf, in einem Sessel Platz zu nehmen, dann holte er seinen Notfallkoffer hervor. Unter dem Licht einer schwenkbaren Leselampe untersuchte er Tracis Verletzung. An der Treppe standen die Zwillinge und ihre Mutter; sie nickten uns zu, verhielten sich aber ansonsten mucksmäuschenstill. »Wie ist das denn passiert?« wollte er wissen. »Beim Abtauen des Kühlschranks«, erklärte Lisa. »Sie hat sich hingekniet, um ihn sauberzumachen. Beim Aufstehen hat sie nicht aufgepaßt und ist mit der Nase an die Türkante gestoßen.« »Sie hat mitten in der Nacht den Kühlschrank abgetaut?« wunderte sich Melanie. »Nun ja, tagsüber muß sie nun mal arbeiten«, erläuterte Lisa. Die Zwillinge warfen sich bedeutungsvolle Blicke zu, sagten aber nichts mehr. Dr. Dallmeyer verrichtete seine Arbeit schweigend. Er tamponierte Tracis Nase mit Unmengen von Gazestreifen aus und versorgte die Hautwunde. Erst dann fragte er noch einmal, diesmal direkt an Traci gewandt: »Wer hat Ihnen das angetan?« In Tracis blutunterlaufenen Augen war außer Schmerz nutt auch Wut zu erkennen. »Die Tür. Die Kühlschranktür«, wieder holte sie unwillig.
»Das war keine Tür«, befand Dr. Dallmeyer. »Da müßten Sie schon mehrmals hintereinander dagegen gerannt sein. Ich sehe solche Sachen oft genug, und es steht mir bis hier oben, verstehen Sie. Also: Wer war es?« Ich überlegte fieberhaft, was er meinte. Wovon hatte er genug gesehen? Von kaputten Nasen etwa? Hier? Oder in Maple Grove?« Traci blickte Lisa ratlos an. Doch bevor Lisa das Wort ergreifen konnte, war Traci aufgesprungen und stellte sich so neben Dr. Dallmeyer, daß sie seinem prüfenden Blick nicht mehr standhalten mußte. »Ich bedauere, daß ich Ihnen Unannehmlichkeiten bereiten mußte. Leider habe ich mein Portemonnaie nicht dabei, aber ich komme morgen früh und bezahle, was ich Ihnen schuldig bin.« »Machen Sie sich deswegen keine Sorgen«, erklärte ihr Dr. Dallmeyer. »Mir geht es in erster Linie um etwas anderes. Sie sind dabei, sich sehr unglücklich zu machen –« »Ich bedaure«, sagte Traci noch einmal und entwischte durch die Tür, Lisa im Gefolge. Dr. Dallmeyer packte mich am Arm. »Wenn sie bereit ist, dagegen anzukämpfen, kann ich ihr behilflich sein. Zum Beispiel als Zeuge, wer immer dahintersteckt. Ich bringe ihn hinter Schloß und Riegel. Aber gegen eine Kühlschranktür bin ich machtlos.« »Ja, Sir«, sagte ich schuldbewußt, als würden die Schläge und die Lüge, mit der hier jemand gedeckt wurde, auf mein Konto gehen. Dr. Dallmeyer gab ein unzufriedenes Grunzen von sich, als er meinen Arm wieder losließ. In was war ich da eigentlich hineingeraten? mußte ich mich fragen, als ich sein Haus verließ. Wie ich wieder zu Lisa kam, weiß ich gar nicht mehr. Ich fuhr wie in Trance, während meine Gedanken um Dinge kreisten, die mich erschreckten. Ich wehrte mich gegen die Vorstellung, daß Pete Traci so brutal behandelte. Die Geschichte mit dem Kühlschrank wäre mir angenehmer gewesen. Aber die Tatsachen sprachen für sich. Er hatte sie zusammengeschlagen, und zwar rücksichtslos. Das war kein harmloses Gerangel von zwei übermütigen Jungen auf dem Schulhof. Er hatte sich an einem Mädchen vergriffen, das weder Lust hatte, noch in der Lage war, sich zu wehren. Und das nicht zum ersten Mal. Trotzdem blieb sie bei ihm. Warum? Warum beschützte sie ihn auch noch? »Alles klar, Michael?« fragte Lisa und beugte sich durch das geöffnete Seitenfenster über mich. »Warte einen Moment, ich bringe eben Traci ins Bett. Danach könnten wir zwei einen kleinen Spaziergang gebrauchen, was meinst du?« Auch Tracis kleine, schmale Hand kam nun durch das Fenster und drückte mir den Arm. Ich sah, daß ihre Fingernägel völlig abgekaut waren. »Dank dir, Michael«, sagte sie. »Das ist nun schon das zweite Mal, daß du mir geholfen hat. Vielen Dank.« Ich hätte gern noch so vieles gefragt, aber ich fühlte, daß ich kein Recht dazu hatte. Als ob sie dasselbe fühlte, drehte Traci sich rasch um und ging davon. begann, erschien mir ihre Stimme so nah, als käme sie aus mir selbst. »Eine Lehrerin hat mir mal gesagt, daß die Menschen im Leben nicht das bekommen, was sie verdienen, sondern immer das, wovon sie glauben, daß sie es verdient hätten«, erzählte sie. »Seitdem habe ich es mir zur Regel gemacht zu denken, daß ich immer das Beste verdient habe. Filet mignon. Drunter tu ich's nicht mehr.« »Was war das wohl für eine Lehrerin?« meinte ich kritisch. »Mrs. Janice Brewer. Sie wohnte hier im Block, und so kam es, daß wir manchmal gemeinsam zur Schule gegangen sind. Sie hatte eine Schwäche für meine Schwester und mich. Jeden Samstag fuhr sie mit uns nach Corley ins Museum und gab uns Kunstunterricht. Ihr kleiner Sohn lebte dort im Kinderheim.« »In dem Kinderheim?« fragte ich überrascht. »Ist das denn kein Waisenhaus?« »Nein. Es ist ein Spital.« »Das war mir nicht klar...« stammelte ich. Bei dem Gedanken an ein Krankenhaus für kleine Kinder wurde mir mulmig. »Die wenigstens Menschen wissen es«, sagte Lisa. »Schließlich haben sie ja auch kein Schild da aufgehängt >Heim fürsterbende KinderManschen klein, ging allein.. .