DAS BUCH Der Erzähler und Held des Romans, Dennis Cleg - genannt Spider wächst in den Slums des Londoner East Ends auf ...
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DAS BUCH Der Erzähler und Held des Romans, Dennis Cleg - genannt Spider wächst in den Slums des Londoner East Ends auf 1957 - er ist kurz zuvor aus der psychiatrischen Anstalt Ganderville entlassen worden und in die Gegend seiner Kindheit zurückgezogen - holen ihn die Erinnerungen an die zwanzig Jahre zurückliegenden traumatischen Ereignisse wieder ein. Um diese Vergangenheit zu bändigen, beginnt er zu schreiben. Spiders Vater Horace, der in dumpfer Wut gegen seine Umwelt lebt und seine scheue, ihm ganz ergebene Frau demütigt, wo er nur kann, trifft eines Tages in einer Kneipe die Prostituierte Hilda Wilkinson. Zwischen beiden entwickelt sich eine stürmische Affäre, die Horace immer mehr von seiner Frau entfremdet und seinen Haß auf sie ins Grenzenlose steigert. Als Spiders Mutter die beiden eines Tages miteinander überrascht, wird sie von dem skrupellosen Pärchen ermordet. Horace verwandelt das Haus in ein Bordell, und plant am Ende sogar, Spider verschwinden zu lassen, der zum Zeugen des Mordes geworden war. Doch allmählich verdichten sich die Hinweise darauf, daß Dennis während des Aufenthalts in der Anstalt an einer komplexen Geschichte gesponnen hat, deren Held und Opfer sein alter ego, Spider, ist ...
DER AUTOR Patrick McGrath wurde 1950 in London als Sohn eines berühmten Gerichtspsychiaters geboren. Seine Schulzeit verbrachte er an einem von Jesuiten geleiteten Gymnasium; später erhielt er einen Abschluß als Literaturwissenschaftler an der Londoner Universität. Er hat in den USA und Kanada gelebt und einige Jahre auf einer entlegenen Insel im Pazifik verbracht. Seit 1981 lebt und arbeitet er in New York. Sein 1997 erschienener Roman Stella begründete auch in Deutschland seinen Ruf als Schriftsteller von Weltklasse.
Patrick McGrath
Spider Roman
Aus dem Englischen von Brigitte Walitzek
ULLSTEIN
Scanned by „IL GRIFO“
Ullstein Buchverlage GmbH & Co.KG, Berlin Taschenbuchnummer: 24412 Titel der englischen Originalausgabe: Spider Ungekürzte Ausgabe Juni 1998 Umschlaggestaltung: Tandem Design, Hamburg Foto: SIP ZEFA Alle Rechte vorbehalten © 1990 bei Patrick McGrath Taschenbuchausgabe mit freundlicher Genehmigung des S. Fischer Verlages © 1992 für die deutsche Ausgabe by S. Fischer Verlag GmbH, Frankfurt am Main Printed in Germany 1998 Gesamtherstellung: Ebner Ulm ISBN 3-548-24412-2 Gedruckt aufalterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff
Dieses E-Book ist nicht zum Verkauf bestimmt !
Die Deutsche Bibliothek C1P-Einheitsaufnahme MacGrath, Patrick: Spider: Roman / Patrick McGrath. Aus dem Engl. von Brigitte Walitzek. Ungekürzte Ausg. -Berlin: Ullstein, 1998 (Ullstein Buch; 24412) Einhcitssacht.: Spider ISBN 3-548-24412-2
Mein Name ist Ozymandias, König der Könige: Blicket auf meine Werke, Ihr Mächtigen, und verzweifelt! Shelley
Ich
fand es schon immer sonderbar, daß ich mich mit großer Klarheit und Genauigkeit an Vorfälle aus meiner Kindheit erinnern kann, Dinge jedoch, die sich erst gestern ereigneten, völlig verschwommen sind, und ich habe kein Vertrauen in meine Fähigkeit, sie mir auch nur annähernd genau ins Gedächtnis zurückzurufen. Gibt es vielleicht, frage ich mich, eine Art Fixierungsprozeß, durch den die Zeit, statt Erinnerungen verblassen zu lassen (wie man es erwarten würde), das Gegenteil tut - sie härtet, wie Beton, genau das Gegenteil also zu dem flüssigen Brei, der dabei herauskommt, wenn ich versuche, über gestern zu sprechen? Das einzige, was ich Ihnen mit Sicherheit sagen kann - über gestern, meine ich -, ist, daß schon wieder Leute auf dem Dachboden waren, Mrs. Wilkinsons Leute - und hier gibt es etwas Seltsames, etwas, was mir bis zu diesem Augenblick entgangen war: Die Frau, der die Pension gehört, in der ich lebe (nur vorübergehend), hat denselben Nachnamen wie die Frau, die für die Tragödie verantwortlich ist, die meiner Familie vor zwanzig Jahren zustieß. Über den Namen hinaus gibt es keine Ähnlichkeiten. Meine Mrs. Wilkinson ist ein ganz anderer Mensch als Hilda Wilkinson, sie ist eine verdrießliche, nachtragende Frau, groß und kräftig, das stimmt, wie Hilda groß und kräftig war, aber ohne auch nur die geringste Spur von Hildas Unbekümmertheit und Vitalität, und weit mehr an Dingen wie Macht interessiert - was mich wieder auf die Leute zurückbringt, die letzte Nacht
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auf dem Dachboden waren; aber von denen werde ich, wenn ich es mir recht überlege, lieber ein andermal erzählen. Ich brauche ungefähr zehn Minuten, um vom Kanal zu Mrs. Wilkinsons Pension zurückzugehen. Ich gehe nicht schnell; ich schlurfe mehr, als daß ich gehe, und häufig sehe ich mich gezwungen, mitten auf dem Bürgersteig stehenzubleiben. Ich vergesse einfach, wie man es macht, verstehen Sie, denn bei mir ist nichts mehr automatisch, nicht, seit ich aus Kanada zurückgekommen bin. Die einfachsten Handlungen - essen, anziehen, zur Toilette gehen - stellen manchmal nahezu unüberwindliche Probleme dar, nicht etwa, weil ich in irgendeiner Weise körperlich behindert wäre, sondern vielmehr, weil ich das mühelose, fließende Gefühl des Im-eigenen-Körper-Seins verliere, das ich einst besaß; die Verbindung zwischen Hirn und Gliedmaßen ist ein diffiziler Mechanismus, der sich bei mir, heutzutage, oft auskuppelt. Zum Ärger jener, die sich in meiner Nähe befinden, muß ich dann stehenbleiben und Entscheidungen darüber treffen, was es denn nun eigentlich ist, was ich zu tun versuche, und erst ganz allmählich werden die fundamentalen Rhythmen wieder hergestellt. Je mehr ich mich mit den Erinnerungen an meinen Vater befasse, desto häufiger scheint es zu passieren, und von daher nehme ich an, daß ich mich auf ein paar schwierige Wochen gefaßt machen muß. Mrs. Wilkinson verliert zu solchen Zeiten schnell die Geduld mit mir, und das ist einer der Gründe dafür, daß ich die Absicht habe, ihr Haus zu verlassen, wahrscheinlich Anfang nächster Woche. Es gibt fünf andere Menschen, die hier leben, aber ich schenke ihnen keine Beachtung. Sie gehen niemals aus, sie sind passive, apathische Kreaturen, tote Seelen, von denen ich in Übersee viele getroffen habe. Nein, ich bevorzuge die Straßen, denn ich bin in diesem Teil Londons aufgewachsen, im East End, und während die Veränderungen in 8
gewisser Hinsicht total sind und ich ein Fremder bin, hat sich in anderer Hinsicht überhaupt nichts verändert: Es gibt Gespenster, und es gibt Erinnerungen, und sie steigen scharenweise auf, wenn ich die Unterseite einer vertrauten Eisenbahnbrücke sehe, eine vertraute Stelle des Flusses in der Abenddämmerung, das Gaswerk - das hat sich überhaupt nicht verändert -, und meine Erinnerungen haben die Eigenart, sich in die Szene hineinzudrängen und den Block der Zeit, der das Damals vom Heute trennt, zum Einsturz zu bringen und eine Art Identität hervorzurufen, eine Art Zusammenfließen von Vergangenheit und Gegenwart, so daß ich ganz verwirrt bin und - so intensiv und unvermittelt sind die Erinnerungen - vergesse, daß ich bin, was ich bin, eine schlurfende, spinnenartige Gestalt in einem abgetragenen Anzug, und kein verträumter Junge von zwölf Jahren oder so. Aus diesem Grund habe ich beschlossen, ein Tagebuch zu führen. Das hier ist übrigens ein höchst eigenartiges Haus. Mein Zimmer befindet sich ganz oben, gleich unter dem Dachboden. Dort werden die Kisten und Koffer von Mrs. Wilkinsons Mietern aufbewahrt, und von daher kann ich mir einfach nicht vorstellen, wie es ihnen gelingt, soviel Lärm zu machen, wie sie es tun, es sei denn, sie sind sehr klein. Bevor ich dieses Haus verlasse, werde ich hinaufgehen und sie zur Rede stellen, denn ich habe, seit ich hier bin, keine einzige Nacht durchschlafen können - aber natürlich hat es keinen Zweck, mit Mrs. Wilkinson über diese Dinge zu sprechen, es ist ihr gleichgültig, wieso sonst hätte sie mich hier oben einquartiert? Unter dem Fenster steht ein kleiner, ziemlich wackliger Tisch, und an diesem sitze ich, wenn ich schreibe. Übrigens sitze ich auch jetzt dort; vor mir liegt mein Schreibheft, dessen Seiten fein säuberlich liniert sind, und in meinen langen, dünnen Fingern halte ich einen stumpfen Bleistift. Ich überlege, wo ich das Heft verstecken soll, wenn ich es nicht benutze, und ich glaube, für den Au9
genblick werde ich es einfach unter das Zeitungspapier schieben, mit dem die unterste Schublade meiner Kommode ausgelegt ist; später werde ich dann einen sicheren Platz dafür finden. Nicht etwa, daß es viele Möglichkeiten gäbe! Ich habe ein schmales Bett mit einem schmiedeeisernen Gestell und einer dünnen, müden Matratze, die ebenso unbequem auf ihren wenigen intakten Sprungfedern liegt wie ich auf ihr; dieses Bett ist etwa fünfzehn Zentimeter zu kurz für mich, so daß meine Füße überstehen. Auf dem rissigen grünen Linoleum liegt ein kleiner fadenscheiniger Läufer, und an der Tür befindet sich ein Haken, an dem zwei Kleiderbügel aus Draht hängen, die jedesmal, wenn ich die Tür öffne, blechern scheppern. Das Fenster ist schmutzig, und obwohl ich von ihm aus einen Blick auf den kleinen Park auf der anderen Straßenseite habe, kann ich mir nie sicher sein, daß ich wirklich sehe, was ich dort unten zu sehen glaube, so schlecht ist die Sicht. Die Tapete ist von einer schmutzigen, gelblichgrünen Farbe mit einem sehr blassen Blumenmuster und stellenweise so abgewetzt, daß darunter die älteren Tapeten und der Verputz zum Vorschein kommen, und an der Decke hängt eine Glühbirne in einem hutförmigen Schirm aus irgendeinem pergamentähnlichen Material, deren Schalter sich neben der Tür befindet, so daß ich, wenn ich das Licht ausgeschaltet habe, im Dunkeln zum Bett hinübergehen muß, etwas, was ich hasse. Das ist also das Zimmer, wo ich, für den Augenblick, lebe. Aber wenigstens habe ich es nicht weit zum Kanal. Ich habe eine Bank am Wasser gefunden, an einer abgelegenen, geschützten Stelle, die ich mein eigen nennen kann, und dort verbringe ich gerne den einen oder anderen Nachmittag, ohne daß ich von irgend jemandem gestört werde. Von dieser Bank aus habe ich einen ungehinderten Blick auf das Gaswerk, und der Anblick erinnert mich immer an meinen Vater, ich weiß nicht wieso, vielleicht, weil er Klempner war, 10
und eine allseits bekannte Figur in dieser Gegend, wie er auf seinem Fahrrad durch die Straßen radelte, die Segeltuchtasche mit dem Werkzeug über die Schulter gehängt wie einen Köcher. Die Straßen waren damals eng, mit dumpfigen, dicht gedrängten kleinen Häusern mit winzigen Hinterhöfen - mit Außenklos, und Wäscheleinen, die sich von Mauer zu Mauer spannten, und die Höfe gingen auf enge Gassen hinaus, in denen magere, streunende Katzen zwischen den Mülltonnen herumstöberten. London kommt mir heute so weit und so leer vor, und das ist auch so eine Sache, die ich seltsam finde: Ich hätte gedacht, daß es umgekehrt sein würde, denn Szenen aus der Kindheit haben doch normalerweise die Angewohnheit, sich in der Erinnerung riesig und gewaltig darzustellen, so wie sie zur betreffenden Zeit erlebt wurden. Aber bei mir ist das alles umgekehrt, in meiner Erinnerung ist alles eng: Zimmer, Häuser, Höfe, Gassen, Straßen - eng und dunkel und gedrängt, zusammengepfercht unter einem drückenden Himmel, an dem der Rauch der Schornsteine in verschwommenen, faserigen Strähnen verwehte, einem Himmel voller Regenwolken - es schien immer zu regnen, und wenn es einmal nicht regnete, sah es immer so aus, als würde es gleich regnen. Es gab schwarz verfärbte Backsteine, und schmutzige Mauern und graue Gestalten in Regenmänteln, die an den späten Winternachmittagen, bevor die Lampen angezündet wurden, wie Phantome nach Hause huschten. Das ganze geht so, verstehen Sie. Ich sitze mit dem Rücken zur Wand auf meiner Bank. Der Himmel ist grau und bewölkt; vielleicht regnet es zwischendurch ein bißchen. Eine Atmosphäre der Verlassenheit liegt über der ganzen Szene; kein Mensch weit und breit. Direkt vor mir ein kümmerlicher Streifen aus Unkraut und Gras. Dann der Kanal, schmal und schmutzig, grüner Schleim, der an den Steinen hinaufkriecht. Auf der anderen Seite ein weiterer Streifen 11
Unkraut, eine weitere Backsteinmauer, hinter der Mauer die fleckigen Backsteinbauten einer verlassenen Fabrik mit eingeworfenen Fenstern, und dahinter die großen, rostroten Kuppeln des Gaswerks, die sich massig vor dem düsteren Himmel abheben, drei Stück im ganzen, jede davon bestehend aus einem Dutzend hoch aufragender Träger, die kreisförmig angeordnet und oben von einem stählernen Ring umgürtet sind. Innerhalb dieser schlanken, kreisförmig angeordneten Masten aus Stahl sitzen die breitkuppeligen Zylinder für das Gas, von denen die Farbe abblättert und die um den Rand herum Rollen haben diese laufen in den Schienen der Träger, wodurch die Zylinder sich mit den Schwankungen von Volumen und Nachfrage heben und senken können. Aber ich versuche, nicht zu ihnen hinüberzusehen, und zwar aus Gründen, die ich später noch erläutern werde; statt dessen sehe ich nach Süden, in Richtung der buckligen Brücke hundert Meter weiter, die von einem eisernen Geländer gekrönt und am diesseitigen Ufer von einem abgestorbenen Baum eingerahmt wird, und auf das dahinterliegende Panorama aus grauen Schieferdächern mit ihren endlosen Reihen spindeliger, roter Schornsteine, aus denen Rauch treibt. Ich drehe mir meine Zigaretten, und irgendwie gleitet die Zeit an mir vorüber. Ja, ich drehe mir meine endlosen Zigaretten, und beobachte meine Finger, diese langen, spinnenartigen Finger, von denen ich manchmal den Eindruck habe, daß sie gar nicht zu mir gehören; sie sind an den Spitzen dunkelgelb verfärbt, und die Nägel sind hart und gelblich und verhornt und krümmen sich wie Haken, Haken, die Mrs. Wilkinson jetzt anscheinend wirklich entschlossen ist, mit ihrer Küchenschere abzuschnipseln. Sie zittern unaufhörlich dieser Tage, diese langen, vergilbenden, hakennageligen Finger, die ich habe, sie zittern, und ich weiß wirklich nicht, warum. Aber es war schon ein armseliger Ort, das London meiner Kindheit, ein verschlungenes Gewirr dunkler Kästen 12
und enger Gassen, und manchmal, wenn ich eines seiner typischen Merkmale wiedererkenne, kehre ich im Geist in jene Zeit zurück, ohne auch nur zu merken, was ich tue. Deshalb beabsichtige ich, ein Tagebuch zu führen, um wenigstens einen Anflug von Ordnung in das Chaos der Erinnerungen zu bringen, die die Stadt ständig in mir weckt. Das Datum von heute: der 17. Oktober 1957. Wieder ein grauer, freudloser Morgen. Ich bin früh aufgestanden, um mein Tagebuch zu schreiben (es ist mir nicht besonders wohl bei dem Gedanken, es in der Kommode zu verstecken; später werde ich vielleicht versuchen, es unter das Linoleum zu schieben), und wann immer mein Blick auf das schmutzige kleine Fenster über dem Tisch fiel, sah ich nur eine dicke, graue Wolkendecke, die ganz allmählich heller wurde, als irgendwo dahinter, irgendwo draußen, jenseits der Nordsee, die Sonne an einem freudlosen winterlichen Himmel aufging. Dieses Haus kommt mir oft wie ein Schiff vor, habe ich das schon gesagt? Seine Fassade zeigt nach Osten, wissen Sie, in Richtung auf das offene Meer, und ich sitze ganz oben am östlichsten Punkt, wie ein Seemann im Krähennest, während wir mit unserer Fracht toter Seelen den Strom hinuntergleiten! Wir nehmen unsere Mahlzeiten in der Küche ein. Mrs. Wilkinson hat eine kleine Glocke; sie stellt sich an den Fuß der Treppe und läutet zum Essen, und die toten Seelen tauchen langsam aus ihren Zimmern auf und schweben mit leeren Gesichtern und steifen Gliedmaßen die Treppe hinunter, und wenn ich erscheine - ich bin immer der letzte, schließlich lebe ich im obersten Stock -, sitzen sie schon am Küchentisch und stopfen stumm ihren Haferbrei in sich hinein. Die Köchin ist eine untersetzte kleine Ausländerin mit einem flaumigen schwarzen Schnurrbart; sie steht mit dem Rücken zu uns am Herd, linst mit zusammengekniffenen Augen in ihre dampfenden Töpfe mit Geflügelklein und Fleischresten, raucht Zigaretten und wischt sich mit 13
dem Rücken derselben Hand, die den Eintopf rührt, die Nase ab. Ich nehme meinen Platz am unteren Ende des Tisches ein. Auf dem Tisch liegt eine steife Plastikdecke (wie eine Ölplane), bereits bekleckert mit Haferbrei und verschütteter Milch - wir bekommen hier keine richtige Milch, die Frau rührt ein Pulver an, und das ganze ergibt eine wäßrige Flüssigkeit, in der Klumpen herumschwimmen. Tassen und Teller sind aus dickem eierschalenfarbenem Porzellan, und es ist uns erlaubt, richtige Messer und Gabeln zu benutzen. Mrs. Wilkinson ist niemals anwesend, außer, sie hat uns etwas zu sagen, sie ist in ihrem Büro, das gleich neben der Haustür vom Flur abgeht. Ich probiere einen Löffel Haferbrei; er ist widerlich schlecht. Die toten Seelen beachten mich nicht, in dumpfer, wortloser Versunkenheit schlingen sie hungrig ihren Haferbrei hinunter und schlürfen ihren Tee, wobei ihnen diverse Körpergeräusche entweichen, leise Fürze und Rülpser und so weiter. Einer nach dem anderen sind sie fertig und verziehen sich in den Aufenthaltsraum. Die Ausländerin stellt die Teller zusammen und kratzt die Haferbreireste in den Abfalleimer neben dem Herd. Schon jetzt brodeln ihre Töpfe mit Unkraut und Innereien eifrig vor sich hin; ohne die Zigarette aus dem Mund zu nehmen, beugt sie sich schnüffelnd vor, um in ihnen herumzurühren; Asche fällt in den Eintopf. Nach dem Frühstück versuche ich, so schnell wie möglich aus dem Haus zu kommen. Das ist gar nicht so einfach, denn Mrs. Wilkinson sitzt in ihrem Büro neben der Haustür wie der sprichwörtliche dreiköpfige Höllenhund. »Mister Cleg! « bellt sie und blickt von ihren Papieren auf Ich erstarre; ich habe Angst vor dieser Frau. Ich stehe und scharre schuldbewußt mit den Füßen, während sie sich erhebt und ihre Brille abnimmt und ihren massigen Körper seitlich um den Schreibtisch herumzwängt. »Mister Cleg! « schreit sie. Sie ist eine derart laute Frau! Ich kann ihr nicht 14
in die Augen sehen. Sie lehnt sich an den Rahmen der Bürotür. Die Sekunden ticken mit qualvoller Langsamkeit dahin. Sie hält einen Bleistift in den dicken, kräftigen Fingern; sie spielt damit, und ich stelle mir vor, daß sie ihn jeden Augenblick mitten durchbrechen wird - als Warnung! »Wir werden nicht schon wieder zu spät zum Mittagessen kommen, nicht wahr, Mr. Cleg?« Ich murmele irgendetwas, die Augen auf den Boden gerichtet, auf die Wand - auf egal was, bloß nicht auf ihr strenges Gesicht! Endlich entläßt sie mich. »Einen schönen Spaziergang, Mr. Cleg«, sagt sie, und ich mache, daß ich schleunigst davonkomme. Es ist wohl nicht überraschend, daß ich meinen Tabak verschütte, als ich endlich den Zufluchtsort meiner Bank erreicht habe, so stark zittern mir die Hände. Es ist nicht überraschend, daß ich das Alleinsein hier genieße, das Alleinsein und die Erinnerungen - sie ist eine Megäre, diese Frau, eine Hexe, und dem Himmel sei Dank, daß ich sie bald zum letzten Mal gesehen haben werde. Als ich noch ein Junge war, wohnten wir in der Kitchener Street, die auf der anderen Seite des Kanals liegt, östlich von hier. Unser Haus hatte die Nummer siebenundzwanzig und wie alle anderen Häuser der Straße oben zwei Zimmer und unten ein Zimmer und die Küche, und einen ummauerten Hinterhof mit einer Tür zur dahinterliegenden Gasse und einem Außenklo. Über der Haustür befand sich ein schmutziges Oberlicht in der Form einer untergehenden Sonne, und außerdem gab es einen Kohlenkeller, den man durch eine Tür erreichte, die im Erdgeschoß vom Flur abging, und hinter der eine steile Treppe nach unten führte. Alle Zimmer des Hauses waren klein und eng und niedrig; die Schlafzimmer waren vor so vielen Jahren zum letzten Mal tapeziert worden, daß die Tapeten feucht geworden waren und sich von der Wand lösten und stellenweise völlig
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verfärbt waren; die großen, sich immer weiter ausbreitenden Flecken mit ihrem Geruch nach schimmeligem Putz (ich habe den Geruch selbst heute noch in der Nase!) zeichneten unheimliche Figuren auf das verblaßte Blumenmuster und riefen in meiner kindlichen Vorstellung viele phantastische Schrecken wach. Der untere Flur führte vorbei am Wohnzimmer, das nach vorne hinausging und nur selten benutzt wurde, vorbei an der Kellertür, und direkt auf die Küche zu, wo sich über dem Spülbecken und gleich neben der Hintertür ein Fenster befand, das auf den Hof hinausging. Mein Schlafzimmer lag direkt über der Küche, folglich konnte ich von meinem Fenster aus den Hof sehen, auf die Gasse dahinter und die Rückseite der Häuser der nächsten Straße. Das einzige, wodurch sich unser Haus von den anderen Häusern in der Kitchener Street unterschied, war vielleicht die Tatsache, daß es uns gehörte: Die Eltern meiner Mutter hatten ein Geschäft, und sie hatten das Haus für meine Eltern gekauft und ihnen zur Hochzeit geschenkt. Ich weiß noch gut, daß dies oft erwähnt wurde, wenn meine Mutter und mein Vater sich abends in der Küche stritten, denn mein Vater glaubte, die Familie meiner Mutter sähe auf ihn herab, und ich glaube, das taten sie tatsächlich. Trotzdem gab es damals nur selten eine Familie, der das Haus, in dem sie lebte, tatsächlich gehörte, und es muß für die Nachbarn Anlaß zum Neid gewesen sein; vielleicht ist das ein Grund für die seltsame Isolation meiner Eltern inmitten dieser wimmelnden Straßen und Gassen. Sonntagmorgens beobachtete ich oft, wie mein Vater sich auf den Weg zu den Parzellen machte, wo er seinen Gemüsegarten hatte. Ich sah ihn vor der Hintertür stehen, in der kühlen diesigen Luft des frühen Morgens, in der sein Atem zu Dampf wurde, während er sich die Mütze aufsetzte, den Schal fest um den Hals wickelte und sich dann niederkniete, um ein Stück Schnur um sein Schienbein zu binden, damit die Hose sich nicht in der Fahrradkette ver16
hedderte. Das Fahrrad lehnte an der Wand des Außenklos; er schob es über den Hof und durch die Tür auf die Gasse, und einen Augenblick später sah ich ihn davonradeln. Er saß immer steif und hoch aufgerichtet auf seinem Fahrrad, mein Vater, und selbst heute noch sehe ich vor mir, wie er an einem Herbstmorgen durch die verlassenen Straßen gleitet, in der alten fadenscheinigen Jacke, die er immer trug, wenn er im Garten arbeitete, die Mütze tief über die Ohren gezogen, und der frischen rauchigen Stille und dem Alleinsein eine Art finstere Freude abgewann. Er überholte den Milchmann, dessen Pferd laut schnaubte und mit den Hufen über den Boden scharrte, bevor es einen dampfenden Haufen braungelber Dungziegel auf das Pflaster fallen ließ, und als es schnaubte, stoben dichte Dampfwolken aus seinen schwarzen und geweiteten Nüstern. Manchmal stieg mein Vater von seinem Fahrrad ab und schaufelte den frischen Dung in eine Papiertüte, um ihn zu seinem Kompost zu tun. Dann ging es weiter durch die stillen schmalen Straßen, in südwestlicher Richtung, auf das Gaswerk zu, das, umhüllt vom Nebel des frühen Morgens, etwas Majestätisches an sich hatte, etwas Geheimnisvolles, trotz des Gestanks, der von ihm ausging. Über den Kanal, dann einen langgezogenen Hang hinauf, und den Omdurman Close hinunter zum Bahndamm. Auf halbem Weg über die Eisenbahnbrücke, wenn er die Parzellen schon sehen konnte, stieg er ab und nahm sich die Zeit, sich eine Zigarette zu drehen. Durch diese kleine Zeremonie konnte er die Vorfreude auf den Tag, der vor ihm lag, noch ein paar süße Sekunden länger auskosten. Ich war noch nicht wieder in der Kitchener Street; ich fürchte mich davor, den Kanal zu überqueren und die schwarz gewordenen Backsteine wiederzusehen, die in meiner Erinnerung von den Geräuschen und Gerüchen der Tragödie durchtränkt sind, die sich dort abspielte. Eines Tages werde ich es tun müssen, ich weiß, aber noch nicht, 17
noch nicht. Letzte Woche bin ich jedoch den Hang zum Omdurman Close hinaufgegangen und habe sogar die Eisenbahnbrücke betreten, wobei ich mich gut am Geländer festhielt. Von einem Punkt genau in der Mitte der Brücke ich wagte es nicht, auf das Gespinst der Geleise tief unter mir hinunterzuschauen - sah ich, daß die Parzellen immer noch da waren, auf der anderen Seite des Bahndamms, und offensichtlich immer noch genutzt wurden, denn der Rauch eines Gartenfeuers stieg in die aufgewühlte Luft jenes windigen Oktobernachmittags. Aber kaum hatte ich den Entschluß gefaßt, weiterzugehen und nachzusehen, was aus dem Garten meines Vaters geworden war, und aus dem Schuppen, den er am hinteren Ende des Gartens gebaut hatte, als ein Güterzug laut kreischend unter mir vorbeifuhr, und ich hastete in einer Art schlotternder Panik den Weg zurück, den ich gekommen war, und klammerte mich ein paar Augenblicke später schlaff und kraftlos an einem Laternenmast fest, während das Herz in meiner Brust zuckte und raste und meine Ohren schmerzten vom Geräusch des Zuges, einem gräßlichen Geräusch, das sich für ein paar Sekunden in das höhnische Geheul irgendeiner Horde unsichtbarer Kobolde verwandelte, jedenfalls schien es mir so! Wie leicht ich mich dieser Tage in Angst und Schrecken versetzen lasse. Wissen Sie, ich bin selbst so eine Art Gärtner. Die Gärtnerei ist vielleicht das einzige Gute, das die Jahre, die ich im Ausland lebte und in denen ich lernte, wie man Gemüse anbaut, mit sich gebracht haben, obwohl ich nie dieselbe Leidenschaft dafür entwickelte wie mein Vater. Für ihn war dieses kleine Stückchen Erde nicht nur eine Quelle für frisches Gemüse, es war, glaube ich, eine Art Zufluchtsort, eine Art geistiger Haufen. Wenn er die Brücke überquert hatte, holperte er den schmalen Pfad neben dem Bahndamm hinunter, vorbei an den Parzellen der anderen Gärtner, alles schwer arbeitende Männer wie er selbst, die 18
vielleicht schon dabei waren, die Erde zu harken, oder umzugraben, oder vielleicht einfach nur zwischen den Reihen auf und ab gingen, die Hände auf dem Rücken verschränkt und die Stirn gerunzelt, während sie ihre Kartoffeln begutachteten oder ihre grünen Bohnen oder ihre Karotten oder Kohlköpfe oder Erbsen. »Morgen, Horace«, brummelten sie vielleicht, wenn mein Vater sein Fahrrad langsam über den Pfad lenkte. Sie mögen wortkarg und verschlossen gewesen sein, diese Männer, sichtlich besorgt über zu langsames Wachstum oder den Brand oder die Welkkrankheit oder einen feuchten Sommer und räuberische Krähen, aber es waren Männer, die mit sich im Einklang waren, so wie ich in einem Garten mit mir im Einklang war, sie waren glücklich. Mein Vater verbrachte die erste Stunde des Sonntagmorgens damit, über den Stand der Dinge im Garten nachzudenken, und es war eine Stunde, aus der er ein Maß stiller Freude schöpfte, das jedem, der nicht selbst gärtnert, unverständlich bleiben muß. Diese eine Stunde in der klirrend klaren Luft des frühen Morgens, in der der Tau noch feucht auf den Kohlblättern lag, war in gewisser Weise das, wofür er arbeitete, denn diese Augenblicke brachten ihm eine Erfüllung, die er, wie ich glaube, nirgends sonst in seinem engen, begrenzten Leben fand. Er inspizierte, er grübelte, er stocherte mit der Fußspitze in der Erde herum, er hockte sich hin, um diese oder jene Pflanze zu begutachten, breitete ein zartgeädertes Blatt über die schwielige Haut seiner Handfläche und betrachtete es durch die Gläser seiner Brille. Nach einer Weile ging er dann in seinen Schuppen, ein schmuckes, quadratisches Gebilde, zusammengestückelt aus alten Brettern und Teerpappe, und dort, im spinnwebigen Halbdunkel, hängte er seine Jacke auf und suchte sich die Geräte heraus, die er benötigte, und die Arbeit des Tages fing an. Dies ist nur ein sehr flüchtiger Abriß der Parzelle meines Vaters (ich werde Ihnen zu gegebener Zeit mehr 19
davon vor Augen führen), aber mit Hilfe dieses schmalen Fleckchens Erde und des Schuppens war er dazu in der Lage, innerhalb des größeren Rahmens seines Lebens eine kleine Ecke auszusparen, in der er Selbständigkeit und Kameradschaft genießen konnte; und das war es, was das Leben für ihn, und für andere wie ihn, erträglich machte. In einem sehr realen Sinn war die Parzelle die geistige Mitte und Essenz eines Lebens, das in jeder anderen Hinsicht lieblos, monoton und grau war. Ich habe Ihnen noch nicht einmal gesagt, wie ich heiße. Eigentlich Dennis, aber meine Mutter sagte immer Spider zu mir. Ich bin ein seltsamer, abgewirtschafteter Kauz, wirklich - meine Kleider sahen schon immer so aus, als würden sie an mir schlottern, wie Segeltuch, wie Lein- oder Leichentücher manchmal, wenn ich durch die menschenleeren Straßen humpele, erhasche ich zufällig einen Blick auf mich selbst, und meine Kleider sehen immer leer aus, unbewohnt, so wie der Stoff sich um mich herum beult und höhlt, so als wäre ich nichts und als klebten die Kleider nur am Phantom eines Mannes, während der Mann selbst irgendwo anders wäre, nackt. Diese Gefühle legen sich wieder, wenn ich meine Bank erreiche, denn dort bin ich verankert, ich habe eine Mauer hinter mir und Wasser vor mir, und solange ich nicht ausgerechnet auf das Gaswerk sehe, ist alles gut. Aber gestern bekam ich auf einmal einen ziemlichen Schock, denn plötzlich merkte ich, daß mir nichts mehr paßte. Zum ersten Mal fiel es mir auf, als ich von meiner Bank aufstand: Die Hose ging mir kaum noch bis an die Knöchel, und meine Handgelenke ragten zu einer absurden Länge aus meinen Ärmeln hervor, wie Stöcke, bevor sie dann plötzlich zu jenen langen schlaffen Händen erblühten, die ich habe. Als ich wieder im Haus war, schien alles normal zu sein, und mir kam der Gedanke, daß das Problem vielleicht bei meinem Körper liegen könne und nicht bei meinen Kleidern? Natürlich würde ich nicht ein 20
mal im Traum daran denken, mit Mrs. Wilkinson über so etwas zu sprechen, sie hat ihre Haltung zu diesem Punkt mehr als deutlich kundgetan: Sie hat mir strikt verboten, mehr als ein Kleidungsstück von einer Sorte auf einmal zu tragen, nicht mehr als eine Hose, ein Hemd, einen Pullover und so weiter, obwohl ich mich ihr in dieser Hinsicht natürlich widersetze, da ich es nun einmal liebe, so viele Kleidungsstücke auf einmal zu tragen, wie ich kann, ich finde es beruhigend, und seit meiner Rückkehr aus Kanada ist Beruhigung etwas, wovon ich einfach nicht genug bekomme. Wahrscheinlich war das Ganze nur eine Art Fehlwahrnehmung, früher hatte ich gelegentlich mit so etwas zu tun. Ich bin viel größer, als mein Vater es war, aber in anderer Hinsicht bin ich ihm ähnlich. Er war drahtig und kurzsichtig; er trug eine runde Hornbrille, die ihm ein eulenartiges Aussehen verlieh. Seine Augen hatten einen täuschend sanften, wäßrigen Blick, und wenn er seine Brille abnahm, fiel einem auf, von was für einer verblüffend hellblauen Farbe sie waren. Aber ich habe gesehen, wie in diesen Augen der Zorn aufflammte, und wenn das passierte, gab es nichts Sanftes und Wäßriges mehr an ihm, und in den allermeisten Fällen wurde ich dann hinunter in den Kohlenkeller beordert und bekam seinen Gürtel zu spüren. Nicht etwa, daß er je zugelassen hätte, daß andere Leute seine Wut zu sehen bekamen, dafür war er viel zu vorsichtig - aber meine Mutter und ich, wir sahen sie, er hatte kein anderes Ventil dafür, wir waren die einzigen Menschen auf der ganzen Welt, die schwächer waren als er. Ich weiß noch, daß meine Mutter oft zu mir sagte: »Lauf runter ins >DogDog< gesehen.« Plötzlich gähnte sie, hob die Arme hoch über den Kopf und faltete sie dann mit einem trägen Lächeln wieder vor der Brust. »Was ist? « sagte sie dann. »Wollen Sie den ganzen Tag hier herumstehen? Ich habe gedacht, Sie wären hier, um meine Leitungen zu reparieren. « Mein Vater sah, daß ihre Haut von einem viel blasseren Rosa war, als er ursprünglich angenommen hatte, eher weiß, fast weiß, und ihr Morgenmantel ließ den ganzen 40
oberen Teil ihres Busens frei. Außerdem fiel ihm zum ersten Mal auf, daß ihr Kinn wirklich abnorm weit vorragte, aber ihre Haut war so klar, und ihr Haar so prachtvoll weizenblond (wenn auch schwarz an den Wurzeln), daß einem das eckige, stumpfe, kantige Ding nach dem ersten oder zweiten Augenblick einfach nicht mehr auffiel, ebensowenig wie der falsche Biß ihrer überstehenden unteren Zähne. »Eine Verstopfung«, sagte mein Vater, immer noch in der Tür, immer noch die Mütze in der einen und die Werkzeugtasche in der anderen Hand. Und dann, als Hilda sich bückte, um eine Katze auf den Arm zu nehmen, die um ihre Knöchel schnurrte, sah er sie: gelang ihm ein kurzer Blick, ein deutlicher Blick, wenn auch nur für einen Moment, als der Morgenmantel nach vorn fiel, auf ihre Brüste: auf vollkommene Weise eingerahmt vom seidigen Material des Morgenmantels, zwei weiße glockenförmige Brüste mit kleinen rosigen Warzen. Er riß die Augen von ihnen los. »Luft in den Leitungen«, sagte er - und in diesem Augenblick, ebenso plötzlich, wie es angefangen hatte, hörte das Hämmern wieder auf. »Es stinkt«, sagte Hilda, während sie gedankenverloren die Katze streichelte. »Riechen Sie das denn nicht?« »Das kommt von der Toilette«, sagte mein Vater. Hilda lächelte. Wegen ihres Unterkiefers war es ein seltsames kleines Lächeln, mehr ein kurzer Schlitz mit winzigen Öffnungen zu beiden Seiten, und mein Vater war seltsam gerührt. »Das will ich doch hoffen«, sagte sie. »Eine Schande, in was für einem Zustand die Rohre in diesem Haus sind.« Immer noch lächelnd ließ sie ihre Augen träge über den wortkargen Mann wandern, der steif und starr vor ihrer Schlafzimmertür stand. »Also, was ist? Wollen Sie den ganzen Tag hier stehenbleiben?« wiederholte sie. »Oder reparieren Sie jetzt meine Leitungen?« Wie nicht anders erwartet stellte mein Vater bald fest, daß in der Toilettenschüssel kein Wasser stand und es von 41
daher keinen Verschluß, genauer, kein Siegel gab, das das Aufsteigen von Gasen aus der Kanalisation verhindert hätte. In der Folge eines Druckabfalls, der genau wie die Wasserstöße durch eine Verstopfung oder Blockierung in einer der Lüftungsleitungen verursacht worden war, war eine Art Rückstau eingetreten. Seine Aufgabe war es, die Verstopfung zu lokalisieren und zu beheben, und sein erster Gedanke war, daß es sich um nistende Mäuse handeln mußte: Sie verirrten sich oft in die Leitungssysteme dieser alten Häuser. Er würde das System prüfen, indem er alle Rohre absperrte und dann das Wasser andrehte; eine Überprüfung der diversen Ventile und Hähne würde ihn dann zur Quelle der Fehlfunktion führen. Ich legte meinen Bleistift hin. Ich befand mich tief in unbekanntem Territorium. Ich lernte Hilda Wilkinson erst später kennen, und da war ihre Beziehung zu meinem Vater schon weit über diese ersten formellen Kontakte hinaus fortgeschritten. Ich bewege mich also im Dunkeln, ohne mich an irgend etwas halten zu können, außer an meine Intuition. Ich nehme an, daß mein Vater Hildas Probleme mit Rückstau und Wasserstößen behob; schließlich sind das ganz alltägliche Aufgaben für einen kompetenten Klempner, obwohl ich nicht sagen kann, ob es sich tatsächlich um nistende Mäuse handelte. Als ich noch ein kleiner Junge war, sprach mein Vater oft mit mir über seine Arbeit, er zeigte mir seine Werkzeuge, erklärte mir, wozu man sie brauchte, und wenn es im Haus etwas zu tun gab, war ich sein Lehrling, und es war meine Aufgabe, ihm die Lötlampe zu reichen oder den Achter-Schraubenschlüssel oder was auch immer. Seltsamerweise schien es auch mit unserer Toilette draußen auf dem Hof ständig Probleme zu geben; wenn man abzog, stieg das Wasser bis an den Rand der Schüssel und lief manchmal sogar auf den Boden über. Aber 42
es war genau dasselbe wie mit dem Verputz in meinem Schlafzimmer, denn wenn er die Toilette reparierte, funktionierte sie höchstens einen oder zwei Monate, und dann fing alles wieder von vorne an. Ich finde nicht, daß man meiner Mutter einen Vorwurf daraus machen kann, daß sie deswegen an ihm herumnörgelte, schließlich war er Klempner, und wenn das Klo überlief, war sie es, die die Schweinerei aufwischen mußte. Und wie sie schuftete, meine Mutter! Ich weiß noch gut, daß ich oft aus der Schule nach Hause kam und sie dabei fand, wie sie auf den Knien herumrutschte und den Küchenboden schrubbte, einen Eimer mit schmutzigem Wasser neben sich, während sie eine große Bürste mit harten Borsten mit beiden Händen vor sich herschob. Ich wußte, was mit den Händen der Frauen aus der Kitchener Street passierte: Über die Hofmauer hinweg erzählten sie sich oft gegenseitig, daß sie sich die Finger bis auf die Knochen abarbeiten mußten, aber genau das Gegenteil war der Fall: Jahre der Arbeit mit heißem Wasser und grober Seife häuften Schichten von aufgequollenem, gefühllosem Fleisch auf diesen Knochen an, sie wurden zu roten, rohen formlosen Fleischmassen, und wenn meine Mutter am Leben geblieben wäre, wäre dasselbe wahrscheinlich auch mit ihren Händen passiert. Aber sie war noch jung, als das alles geschah, sie hatte die blühende Frische einer jungen Frau noch nicht verloren. Wann fing alles an zu kippen? Wann fing es an zu sterben? Es gab eine Zeit, in der wir glücklich waren; ich nehme an, der Verfall ging allmählich vor sich, eine Auswirkung der Armut und der Monotonie und der düsteren Schäbigkeit jener engen Straßen und Gassen. Auch der Alkohol spielte dabei eine Rolle, und der Charakter meines Vaters, seine angebotene Gemeinheit, die Leblosigkeit in ihm, die mit der Zeit auch auf meine Mutter und mich übergriff, wie eine ansteckende Krankheit. Zwei oder drei Abende später war er im »Dog and Beg43
gar«, als er Hildas laute Stimme im Snug hörte. Er trank sein Bier aus, ging auf die Straße und weiter zur Tür des Snug. Er stieß sie auf; Hilda saß mit drei anderen am Tisch. Sie drehten sich zu ihm um. Hildas Gesicht war gerötet. Als mein Vater in der Tür auftauchte, war sie gerade dabei, ein Glas Portwein an ihre Lippen zu heben. Es blieb auf halbem Weg dorthin hängen, während sie die Augenbrauen hochzog und jenes schwerfällige Lächeln lächelte, das für sie typisch war. Nora saß rechts von ihr; auf der anderen Seite eine dunkelhaarige, nuttig aussehende Frau und ein dünner junger Mann mit langen Haaren. Es war eine trockene, kalte, mondlose Nacht gegen Ende November, und in der plötzlichen Stille, die sich über den kleinen Raum legte, war nur das ferne Rauschen des Verkehrs drei Straßen weiter zu hören, und das gedämpfte Stimmengemurmel aus den anderen Räumen des »Dog«. Hildas Augen huschten von meinem Vater zu den drei anderen, die mit ihr am Tisch saßen. Dann stellte sie ihr Glas ab mein Vater stand immer noch in der Tür -, erhob sich, rauschte durch das Snug und an ihm vorbei auf die Straße. Als mein Vater die Tür hinter sich zufallen ließ, wurde am Tisch leise gelacht. Durch die engen Gassen, die hinter den Häusern verliefen, gingen sie hinunter zum Kanal. Hilda war sehr aufgekratzt. Aber sie hatte seinen Vornamen vergessen. »Horace! « rief sie dann. »Das war schon immer einer von meinen Lieblingsnamen. Ich hatte mal eine Katze, die Horace hieß.« Sie redete über das Wetter. »Ganz schön frisch, was?« sagte sie. »Ich bin froh, daß ich meinen Pelz habe.« Und was ging im Kopf meines Vaters vor? Was glaubte er, was passieren würde? Er warf ihr aus den Augenwinkeln einen schnellen Blick zu. Sie lief mit zusammengezogenen Schultern und tief in den Taschen vergrabenen Händen neben ihm her. »Das mit meinen Leitungen hast du sauber hingekriegt«, sagte sie. »Sie geben kaum noch einen Piep44
ser von sich. Aber stinken tut's immer noch. « Eine Zeitlang unterhielten sie sich über die Klempnerei. Hilda wußte nur sehr wenig darüber und schien beeindruckt von der offensichtlich meisterhaften Art, mit der mein Vater sein Handwerk beherrschte. Sie war eine lebenslustige Frau und hatte meinen Vater bald soweit gebracht, daß er leise vor sich hinlachte. Die meisten Leute, sagte er, fänden die Klempnerei tödlich langweilig. »Das ist doch nicht zu fassen?« rief sie. »Ich jedenfalls nicht, Horace. Ich liebe alles, was damit zu tun hat! « Sie hatten die Brücke erreicht, die am Gaswerk über den Kanal fährte. Hilda zog ihn zu einer schlüpfrigen Steintreppe, die auf ein schmales Kai direkt am Wasser hinunterführte. »Komm mit, Horace«, sagte sie leise, während sie vorsichtig die Stufen hinunterstieg. »Hier geht's lang.« Unten am Kanal waren sie den Blicken eventueller Passanten entzogen. Hilda öffnete ihren Mantel, knöpfte ihre Strickjacke auf und zeigte ihm ihre Brüste. Dann schlang sie einen Arm um seine Taille und rieb mit der anderen Hand über seinen Schoß. Sie grinste. »Na, Horace, wie gefällt dir das?« flüsterte sie. Mit ihren hohen Absätzen war sie genauso groß wie er, aber wahrscheinlich etwas schwerer, um zu fühlen, wie dieser große schwellende Körper sich gegen den seinen preßte, war fast mehr, als der Mann aushalten konnte. Er ließ seine Hände unter den Pelzmantel gleiten, berührte zögernd ihre Brüste und versuchte dann, sie auf den Mund zu küssen, aber sie drehte das Gesicht zur Seite. Sein Penis drängte gegen den Hosenstoff; Hilda flüsterte unaufhörlich auf ihn ein, während sie mit der Handfläche über seinen Penis rieb, dann öffnete sie mit geschickten Fingern die unteren Knöpfe seiner Hose und zog ihn heraus. »Was haben wir denn da?« murmelte sie. Es war ein ungewöhnlich dünner Penis, der Penis meines Vaters, aber hart wie ein Bleistift, und er zuckte. Hilda spuckte in die Hände. »Ooh, Horace«, flüsterte sie. Mit einem halben Dutzend schneller 45
Bewegungen brachte sie ihn zum Höhepunkt und drehte sich schnell zur Seite, als er in den Kanal spritzte. Dann löste sie sich ganz von ihm, stopfte ihre Brüste in ihre Strickjacke zurück und zog zitternd ihren Mantel zu. Mein Vater blieb mit dem Rücken zu ihr am Rand des Kais stehen und urinierte in den Kanal. Er konnte sein Sperma auf dem schwarzen Wasser davontreiben sehen, strähnige Fasern des Zeugs, grau und durchscheinend. »Beeil dich schon, Horace«, sagte Hilda mit klappernden Zähnen. »Mir ist kalt.« Aber mein Vater wollte allein sein; er sagte, er würde noch einen Augenblick bleiben, um eine zu rauchen. »Wie du willst«, antwortete sie unbekümmert. »Dann gehe ich wieder zurück ins > DogDog