Solo

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Jack Higgins

Solo

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Niemand ahnt, daß der international gefeierte Konzertpianist John Mikali, dessen Karriere steil nach oben führt, ein russischer Agent ist. Er zählt zu den gefährlichsten Männern Europas. In seinem abenteuerlichen Doppelleben trifft er plötzlich auf Asa Morgan, einen ehemaligen Söldner und Agenten, der für John Mikali zum ebenbürtigen Gegner wird. Bis zu einem verblüffenden Finale entwickelt sich ein gnadenloser Kampf zwischen den zwei Geheimdienst-Spezialisten, der so spannend nur von einem Higgins dargestellt werden kann. Titel des Originals: »Solo« Übersetzung aus dem Englischen von Rolf Soellner 1980 Buchgemeinschaft Donauland Schutzumschlag: Marlies Seitz-Braunschmied

Dieses E-Book ist nicht zum Verkauf bestimmt!!!

Klappentext John Mikali ist ein international gefeierter Konzertpianist. Das Publikum liegt ihm zu Füßen, die Frauen finden ihn unwiderstehlich, auch wenn er sich zurückhaltend gibt. Seine Karriere führt steil nach oben; mit jedem Konzert wird er besser, der Zenit ist greifbar nahe … Während Musikfreunde und Frauen in aller Welt Mikali hemmungslos feiern, weiß nur ein einziger Mensch, daß er zugleich einer der gefährlichsten Männer in Europa ist – ein russischer Agent, jener Mann, der Mikali die geheimen Aufträge vermittelt. Niemand, aber auch niemand sonst kann ahnen, welch ungeheuerliches Doppelleben der berühmte Pianist führt. Skrupellos und eiskalt wird er nachts zum Mörder um des Mordens willen. Heute ein Zionist in London, morgen ein Großindustrieller in Italien, gestern ein Bankier in Zürich, übermorgen ein Politiker in Berlin – die Morde scheinen keinen Sinn zu ergeben. Westliche und östliche Regierungen verdächtigen sich gegenseitig, ziehen ihre geheimen Anti- Terror-Pläne aus den Schubladen, Polizei und Geheimdienste arbeiten mit- und gegeneinander – Chaos droht. Mikali beherrscht seine Camouflage so perfekt, daß er nie in Verdacht geraten wäre. Bis schierer Zufall – und eine Frau – ihn mit dem altgedienten Söldner, Agenten und Haudegen Asa Morgan zusammenführen. Eigentlich ist es Eifersucht, die Asa Morgan so aufmerksam macht. Dann stößt er auf eine Fährte, die ihm den Atem verschlägt … Allmählich, fast behutsam, entwickelt sich nun ein Kampf zweier gleichwertiger Geheimdienst-Spezialisten, der seine faszinierende Spannung aus der Meisterschaft des Autors bezieht, wie kaum ein anderer die Fäden dramaturgisch zu verwirren und entwirren. Die Schlinge wird immer enger, die Jagd psychologisch und von der Aktion her immer furioser. Bis zu einem Finale, das so verblüffend nur ein Higgins zu präsentieren versteht.

Prolog

Der Mann aus Kreta durchschritt das Tor in der hohen Ziegelmauer, die das Haus am Regent’s Park umzog, trat ins Gebüsch und verschmolz mit der Dunkelheit. Er blickte auf das Leuchtzifferblatt seiner Armbanduhr. Zehn Minuten vor sieben, er hatte noch hinlänglich Zeit. Aus einer Tasche seines Anoraks zog er eine Mauser mit aufgesetztem Schalldämpfer hervor. Er überprüfte den Mechanismus, lud durch und steckte die Waffe wieder ein. Das Haus war ein imposanter Bau. Kein Wunder, schließlich gehörte es Maxwell Joseph Cohen – Max Cohen für seine Freunde. Cohen war unter anderem Vorstandsvorsitzender der größten Konfektionsfirmen der Welt und einer der einflußreichsten Juden der britischen High-Society. Alle, die ihn kannten, mochten ihn gut und achteten ihn hoch. Leider war er auch ein fanatischer Zionist, ein schwerwiegender Fehler in den Augen gewisser Leute. Nicht, daß den Mann aus Kreta dies im geringsten interessiert hätte. Politik war Unfug. Kindischer Zeitvertreib. Sein Augenmerk galt nicht der Zielperson, sondern einzig den äußeren Gegebenheiten, und die hatte er gründlich studiert. Im Haus befanden sich Cohen, seine Frau und ein Dienstmädchen – sonst niemand. Das übrige Personal wohnte außerhalb. Der Mann zog eine schwarze Wollmütze über, die auch das Gesicht bedeckte und nur Augen, Nase und Mund freiließ, dann stülpte er die Kapuze seines Anoraks hoch, trat aus dem Gebüsch und ging auf das Haus zu. Maria, das Dienstmädchen der Cohens, war im Wohnzimmer, als es an der Haustür klingelte. Sie öffnete und erschrak wie noch nie in ihrem Leben. Vor ihr stand ein Phantom mit gezückter Pistole. Als die Lippen hinter dem obszönen Schlitz in der Wollmütze sich bewegten, hörte sie eine leicht heiser -3­

klingende Stimme mit deutlich ausländischem Akzent. «Führen Sie mich zu Mister Cohen.» Maria öffnete den Mund, um etwas zu sagen. Doch der Mann aus Kreta schob sie mit vorgehaltener Waffe beiseite, trat ein und schloß die Tür hinter sich. «Keine Flausen, wenn Sie am Leben bleiben wollen.» Das Mädchen wandte sich zur Treppe, und der Mann aus Kreta folgte ihr in den Oberstock. Als sie in den Korridor einbogen, ging die Tür des Schlafzimmers auf, und Mrs. Cohen erschien. Jahrelang hatte sie in der Furcht vor einem Überfall gelebt, und als sie nun Maria sah, den vermummten Mann und seine Waffe, sprang sie mit einem Satz wieder ins Zimmer zurück. Sie schlug die Tür zu und drehte blitzschnell den Schlüssel um, dann lief sie mit wild klopfendem Herzen zum Telefon und wählte neun-neun-neun. Der Mann aus Kreta stieß Maria vorwärts. Das Mädchen stolperte und verlor einen Schuh, ehe sie vor der Tür zum Arbeitszimmer ihres Herrn stehenblieb. Sie zögerte, dann klopfte sie an. Max Cohens «Herein» klang ein wenig überrascht, denn es war eiserne Hausregel, daß er in seinem Arbeitszimmer unter keinen Umständen vor acht Uhr abends gestört werden durfte. Er sah Maria in der Tür stehen, schreckensbleich und mit nur einem Schuh, und dann wurde das Mädchen beiseite gestoßen, der Mann aus Kreta erschien und in seiner Hand die Pistole mit Schalldämpfer. Sie hustete einmal. Max Cohen hatte in seiner Jugend geboxt, und einen Augenblick lang war es, als stünde er wieder im Ring. Bekäme einen erstklassigen Schwinger mitten ins Gesicht, der ihn glatt auf die Bretter schickte. Und dann lag er auf dem Rücken in seinem Arbeitszimmer. Seine Lippen versuchten, die Worte jenes gebräuchlichsten aller hebräischen Gebete zu formen, das jeder orthodoxe Jude -4­

drei-, viermal am Tag spricht, des letzten Gebets, das er im Tod stammelt. «Höre, Israel, der Herr ist unser Gott, der Herr ist einzig.» Doch die Worte wollten nicht kommen, und das Licht schwand jetzt sehr rasch, und dann war nur noch Dunkelheit. Als der Mann aus Kreta durch die Haustür nach draußen lief, schwenkte der erste Streifenwagen der telefonisch alarmierten Polizei in die Straße ein, und er konnte weitere Wagen hören, die schnell näher kamen. Der Mann sprang durch den Garten ins Dunkle und kletterte über die Mauer in das angrenzende Grundstück. Wenig später öffnete er ein Tor und trat in eine enge Gasse. Er zog die Kapuze hinunter, riß sich die Wollmütze vom Kopf und eilte davon. Schon wurde die Beschreibung seiner Person, wie das Mädchen sie der Besatzung des zuerst am Tatort eingetroffenen Streifenwagens gegeben hatte, per Funk verbreitet. Was den Mann nicht kümmerte. Ein paar hundert Meter, und er würde im stockdunklen Regent’s Park verschwunden sein. Ihn durchqueren bis zur jenseitigen U-Bahnstation, am Oxford Circus umsteigen. Er trat auf die Fahrbahn, als er Bremsen kreischen hörte. Eine Stimme rief: «He, Sie da!» Es war ein Streifenwagen, wie ein rascher Blick ihm verriet, und er schlüpfte in die nächste Seitenstraße und fing an zu rennen. Er hatte Glück, wie immer, denn während er an der Reihe parkender Autos entlanglief, sah er, daß kurz vor ihm gerade jemand einstieg. Die Tür knallte zu, der Motor wurde angelassen. Der Mann aus Kreta riß die Tür wieder auf, zerrte den Fahrer, Kopf voran, aus dem Sitz und sprang hinter das Lenkrad. Er ließ den Motor aufheulen, riß das Steuer herum, schrammte den Kotflügel des vor ihm parkenden Fahrzeugs und raste davon, als der Streifenwagen mit seinen Verfolgern um die Ecke gerast -5­

kam. Er jagte über die Vale Road nach Paddington. Wenn er die Polizisten abschütteln wollte, mußte es schnell gehen, das wußte er: innerhalb von Sekunden würden sämtliche Streifenwagen im Stadtviertel auf diese Gegend zuhalten und sie abriegeln. Das Umleitungsschild an einer Baustelle, ein nach rechts weisender Pfeil, ließ ihm keine Wahl. Eine Einbahnstraße, eng und finster, die zwischen Lagerhäusern zum Güterbahnhof Paddington führte. Der Streifenwagen war jetzt dicht aufgerückt – zu dicht. Der Mann gab noch mehr Gas und sah, daß er in einen langen enge n Tunnel unter den Gleisen einfuhr, und dann erfaßten seine Scheinwerfer ein Stück weiter vorn eine Gestalt. Es war ein Mädchen auf einem Fahrrad. Ein junges Mädchen in braunem Dufflecoat, um den Hals einen gestreiften Schal. Er sah ihr weißes entsetztes Gesicht, als sie sich umblickte. Das Fahrrad schwankte. Er riß den Wagen zur Seite, der äußere Kotflügel schlug Funken aus der Tunnelwand. Vergebens. Es war einfach nicht genug Platz. Ein dumpfer Aufprall, nichts weiter, und dann wurde das Mädchen von der Kühlerhaube herunter und zur Seite geschleudert. Der Streifenwagen bremste scharf. Der Mann aus Kreta fuhr weiter, aus dem Tunnel und in die Bishops Bridge Road. Fünf Minuten später ließ er das Auto in einer Nebenstraße in Bayswater stehen, überquerte die Bayswater Road und ging schnellen Schritts durch die nächtlichen Kensington Gardens zum Queen’s Gate. Als er zur Royal Albert Hall kam, sah er dort eine große Menschenmenge und eine Schlange von Wartenden die Treppe hinauf bis zum Kassenschalter, denn an diesem Abend stand ein -6­

festliches Konzert auf dem Programm. Die Wiener Philharmoniker spielten eine Symphonie von Brahms, und der Pianist John Mikali war der Solist in Rachmaninows Konzert für Klavier und Orchester Nr. 2 in c-Moll. 21. Juli 1972. Der Mann aus Kreta zündete sich eine Zigarette an, betrachtete das Plakat mit dem Foto John Mikalis, dieses Porträt, das weithin bekannt und berühmt war: das dunkle lockige Haar, das blasse Gesicht und die Augen wie blankes schwarzes Glas. Er wanderte um das Gebäude herum zur Rückseite. Eine der Türen hatte ein Leuchtschild mit der Aufschrift Bühneneingang. Er ging hinein. Der Portier in seiner Loge blickte von der Sportzeitung auf und lächelte. «N’Abend, Sir. Kalt heute.» «Könnte schlimmer sein», sagte der Mann aus Kreta. Er bog in den Gang ein, der hinter die Bühne führte. Eine Tür trug die Aufschrift Grünes Zimmer. Er öffnete sie und knipste das Licht an. Für eine Künstlergarderobe war das Zimmer überraschend geräumig und recht ordentlich eingerichtet. Das einzige Möbelstück, das eindeutig bessere Tage gesehen hatte, war das Übungsklavier an der Wand, ein altes Chappell-Klavier, das aussah, als wolle es jeden Moment zusammenbrechen. Er nahm die Mauser aus der Tasche, öffnete ein Toilettenschränkchen, hob das unterste Brett hoch und versteckte die Waffe darunter. Dann zog er den Anorak aus, warf ihn in die Ecke und setzte sich vor den Ankleidespiegel. Es klopfte, und der Inspizient steckte den Kopf herein. «Noch fünfundvierzig Minuten, Mister Mikali. Soll ich Ihnen vor dem Auftritt noch Kaffee bringen lassen?» «Nein, danke», sagte John Mikali. «Mit Kaffee stehe ich auf Kriegsfuß. Irgend etwas Chemisches, sagt mein Arzt. Aber wenn Sie mir eine Kanne Tee verschaffen könnten, wäre ich Ihnen sehr dankbar.» -7­

«Gewiß, Sir.» Der Inspizient wollte schon kehrtmachen, zögerte aber dann. «Übrigens, vielleicht interessiert es Sie, hab’s gerade im Radio gehört. Maxwell Cohen wurde in seinem Haus am Regent’s Park erschossen. Maskierter Mann. Konnte flüchten.» «Mein Gott», sagte Mikali. «Die Polizei glaubt an einen politischen Mord, weil Mister Cohen allgemein als Zionist bekannt war. Letztes Jahr wäre er um ein Haar durch eine Briefbombe getötet worden.» Er schüttelte den Kopf. «Wir leben in einer seltsamen Welt, Mister Mikali. Was mag das wohl für ein Mensch sein, der so etwas tut?» Der Inspizient ging, und Mikali wandte sich wieder dem Spiegel zu. Er lächelte ein wenig, und sein Bild lächelte zurück. «Na?» sagte er.

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Etwa vierzig Seemeilen südlich von Athen und nicht ganz fünf von der Küste des Peloponnes entfernt, liegt die Insel Hydra, einst eine der bedeutendsten Seemächte des Mittelmeers. Seit der Mitte des achtzehnten Jahrhunderts segelten ihre Schiffe bis nach Amerika, und viele Kapitäne kamen dabei zu gewaltigem Vermögen; venezianische Baumeister wurden auf die Insel geholt, um dort stolze Herrenhäuser zu errichten, die man noch heute rund um diesen wunderschönen Hafen besichtigen kann. Später, als Griechenland unter dem Joch der Türkenherrschaft litt, wurde die Insel zum sicheren Port für die Flüchtlinge vom Festland. Und die Seeleute von Hydra halfen mit, die türkische Flotte im Befreiungskrieg zu besiegen und dem Land endlich die Unabhängigkeit zurückzugeben. Für einen Griechen haben die Namen jener großen Hydrioten, der Kapitäne Votzis, Tombazis, Boudouris, den gleichen magischen Klang wie Sir Francis Drake und Walter Raleigh für die Engländer. Den ehrenvollsten Platz auf dieser Liste nahm jedoch der Name Mikali ein. Als Admiral Nelson den Oberbefehl im östlichen Mittelmeer führ te, hatten die Mikalis als Blockadebrecher große Profite gemacht, und vier ihrer Schiffe verstärkten die Flotte der Alliierten, die 1827 in der Seeschlacht von Navarino dem Weltmachtstreben des Osmanischen Reichs ein Ende setzten. Der aus den Kaper- und Blockadefahrten während der Türkenkriege stammende Reichtum wurde umsichtig in mehreren der um diese Zeit entstehenden Schiffahrtslinien angelegt, und so kam es, daß die Mikalis am Ende des neunzehnten Jahrhunderts zu den wohlhabendsten Familien Griechenlands zählten. -9­

Und die Männer dieser Familie waren allesamt geborene Seeleute, bis auf Dimitri, der 1892 zur Welt kam. Sein leidenschaftliches Interesse galt Büchern, und er studierte in Oxford und an der Sorbonne und kehrte nur nach Hause zurück, um als Dozent an der Universität von Athen Vorlesungen über Moralphilosophie zu halten. Sein Sohn George stellte indes die Familienehre wieder her. Er besuchte die Akademie der Handelsmarine auf Hydra, die älteste ihrer Art in Griechenland. Der kühne und begabte Seema nn erhielt bereits im Alter von zweiundzwanzig Jahren sein erstes Kommando. Die Suche nach neuen Horizonten ließ ihn nicht ruhen; er übersiedelte nach Kalifornien und wurde Kapitän eines neuen Passagier- und Frachtdampfers der Pacific Star Line auf der Route San Francisco-Tokio. Geld bedeutete ihm nichts. Sein Vater hatte ihm auf ein Bankkonto in San Francisco hunderttausend Dollar überwiesen, damals eine beachtliche Summe. Was er tat, das tat er, weil er es tun wollte. Er hatte sein Schiff, er hatte die See. Nur eines fehlte ihm noch, und das fand er in Mary Fuller – Tochter einer verwitweten Musikpädagogin namens Agnes Fuller –, die er auf einem Ball in Oakland im Jahr 1939 kennenlernte. Sein Vater reiste zur Hochzeit in die Neue Welt, kaufte dem jungen Paar ein Haus am Meer in Pescadero und kehrte nach Europa zurück, als der Geschützdonner des Zweiten Weltkriegs bereits am Horizont grollte. George Mikali befand sich auf halbem Weg nach Japan, als die Italiener in Griechenland einfielen. Bis sein Schiff die Route beendet hatte und wieder in San Francisco einlief, war die deutsche Wehrmacht auf den Plan getreten. Im April/Mai 1941 hatte Hitler, um Mussolinis Prestige zu wahren, Jugoslawien und Griechenland überrannt und die britische Armee vertrieben – das Ganze innerhalb von fünfundzwanzig Tagen und um den Preis von weniger als fünftausend Mann. -10­

George Mikali war der Weg in die alte Heimat abgeschnitten, und von seinem Vater hörte er nichts. Dann kam jener fatale Sonntag im Dezember, als Japans Überfall aus Pearl Harbor ein rauchendes Trümmerfeld machte. Im Februar übernahm George Mikali in San Diego den Oberbefehl eines Transport- und Versorgungsschiffs. Zwei Wochen danach schenkte seine Frau, die in ihrer dreijährigen Ehe immer gekränkelt und einige Fehlgeburten erlitten hatte, einem Sohn das Leben. Mikali durfte drei Tage Urlaub nehmen, und in diesen drei Tagen überredete er seine Schwiegermutter, die Direktorin einer Oberschule war, für immer in sein Haus zu ziehen, und spürte er die Witwe eines Matrosen auf, der unter ihm gedient hatte und bei einem Taifun vor der japanischen Küste ums Leben gekommen war. Die vierzigjährige, kräftige und stämmige Frau namens Katina Pawlo, gebürtige Kreterin, hatte bisher in einem Hotel am Hafen von Pescadero als Zimmermädchen gearbeitet. George Mikali brachte sie nach Hause zu seiner Frau und seiner Schwiegermutter. Die gedrungene robuste Bäuerin mit ihrem schwarzen Kleid und schwarzen Kopftuch wirkte auf die beiden Frauen wie ein fremdartiges Wesen, und doch fühlte Agnes Fuller sich seltsam zu ihr hingezogen. Und Katina Pawlo, die in achtzehn Ehejahren kinderlos geblieben war, glaubte ihre verzweifelten Gebete an die Jungfrau Maria erhört und die Tausende von geopferten Kerzen auf wunderbare Weise belohnt, als sie sich über die Wiege neben dem Bett beugte und das schlafende Kind erblickte. Zärtlich berührte sie mit dem Finger die winzige Hand. Der Knabe schloß das Fäustchen darum und hielt den Finger so fest, als wolle er ihn nie wieder loslassen. Es war, als schmelze ein Stein in ihrem Inneren, und Agnes Fuller sah es dem dunklen Gesicht an und war beglückt. Katina -11­

holte ihre wenigen Habseligkeiten aus dem Hotel und übersiedelte noch am gleichen Abend in das Haus. George Mikali zog in den Krieg, fuhr immer wieder zu den Inseln, einen Einsatz nach dem anderen, bis zum Spätnachmittag des 3. Juni 1945, als sein Schiff mitsamt der Besatzung versenkt wurde. Die zarte Gesundheit seiner Frau war diesem Schlag nicht gewachsen. Mary Mikali starb zwei Monate später. Der Junge wuchs zwischen Katina Pawlo und seiner Großmutter auf. Die zwei Frauen verstanden sich instinktiv in allem, was den Jungen anging, denn beide liebten ihn mit gleicher Zärtlichkeit. Als Direktorin der Howell Street High School fand Agnes Fuller nur noch wenig Zeit zum Unterrichten, doch war und blieb sie eine sehr gute Pianistin. Sie wußte daher, was es bedeutete, daß ihr Enkel bereits im Alter von drei Jahren über ein untrügliches Musikgehör verfügte. Als er vier war, fing sie an, ihm Klavierunterricht zu erteilen, und bald stellte sich heraus, daß hier ein überdurchschnittliches, ja, einmaliges Talent heranwuchs. Erst im Jahr 1948 konnte Georges Vater, Dimitri Mikali, seine nächste Reise nach Amerika unternehmen, und was er dort vorfand, erstaunte ihn über alle Maßen: einen sechsjährigen amerikanischen Enkel, der fließend griechisch mit kretischem Akzent sprach und wie ein Engel Klavier spielte. Er nahm den Jungen liebevoll auf seine Knie, küßte ihn und sagte zu Agnes Fuller: «Die dort drüben auf dem Friedhof in Hydra werden sich in ihren Gräbern umdrehen, die alten Seefahrer. Zuerst ich – ein Philosoph. Und jetzt ein Pianist. Ein Pianist mit kretischem Akzent. Ein solches Talent ist eine Gottesgabe. Es muß gefördert werden. Ich habe im Krieg viel verloren, aber ich bin noch immer reich genug, um dafür sorgen -12­

zu können, daß er alles bekommt, was er braucht. Zunächst soll er hier bei Ihnen bleiben. Später, wenn er ein bißchen älter ist, werden wir sehen.» Von nun an erhielt der Junge die beste Ausbildung, die besten Mus iklehrer. Als er vierzehn war, verkaufte Agnes Fuller das Haus und zog mit Katina nach New York, wo er sein Studium auf höchstem Niveau fortsetzen konnte. Kurz vor seinem siebzehnten Geburtstag erlitt Agnes Fuller eines Sonntagabends einen Herzanfall. Sie war tot, ehe der Krankenwagen im Hospital eintraf. Dimitri Mikali war inzwischen ordentlicher Professor für Philosophie an der Universität von Athen. Im Lauf der Jahre hatte sein Enkel ihn mehrmals in den Ferien besucht, und sie waren einander nähergekommen. Dimitri flog bei Erhalt der Trauernachricht sofort nach New York, und was er dort sah, schockierte ihn. Katina öffnete ihm die Tür und legte einen Finger auf die Lippen. «Heute vormittag haben wir sie begraben. Es hieß, man könne nicht länger warten.» «Wo ist er?» fragte der Professor. «Hören Sie ihn denn nicht?» Die Klänge des Klaviers drangen schwach durch die geschlossene Türe des Salons. «Wie nimmt er es?» «Wie ein Stein», sagte sie. «Alles Leben hat ihn verlassen. Er hat sie geliebt», fügte sie schlicht hinzu. Als der Professor die Tür öffnete, sah er seinen Enkel im dunklen Anzug am Klavier sitzen und eine seltsam geisterhafte Melodie spielen, wie Blätterraunen in einem nächtlichen Wald. Aus irgendeinem Grund wurde Dimitri Mikali von unbegreiflicher Beklommenheit erfaßt. «John?» Er legte dem Jungen die Hand auf die Schulter und fragte auf Griechisch: «Was spielst du da?» -13­

«Le Pastour von Gabriel Grovlez. Es war ihr Lieblingsstück.» Der Junge wandte sich um und blickte ihn an, seine Augen waren wie schwarze Löcher in dem bleichen Gesicht. «Wollt ihr mit mir nach Athen kommen?» fragte der Professor. «Du und Katina. Eine Weile bei mir bleiben? Bis ihr drüber weg seid?» «Ja», sagte John Mikali. «Ich glaube schon.» Eine Weile gefiel es ihm in Griechenland. Das Leben in Athen, dieser lärmenden, fröhlichen Stadt, die Tag und Nacht ohne Pause auf den Beinen zu sein schien. Die geräumige Wohnung in der eleganten Gegend um den königlichen Palast, wo der Großvater fast allabendlich Gäste empfing. Schriftsteller kamen, Künstler, Musiker. Und vor allem Politiker, denn der Professor war Anhänger der Demokratischen Front und größter Geldgeber der Parteizeitung. Und dann Hydra, wo sie zwei Häuser hatten; eines in dem Gewirr der Gäßchen hinter dem kleinen Hafen, das andere auf einer entlegenen Halbinsel an der Küste jenseits von Molos. Dort hielt der Junge sich immer wieder für längere Zeit auf. Katina sorgte für ihn, und der Großvater hatte unter beträchtlichen Kosten einen Konzertflügel hinüberschaffen lassen. Doch wie Katina am Telefon zu vermelden wußte, wurde niemals daraufgespielt. Schließlich kam John Mikali nach Athen zurück, lehnte bei Parties an der Wand, immer aufmerksam, immer höflich, äußerst attraktiv mit seinem schwarzen lockigen Haar, dem blassen Gesicht, den Augen wie dunkles Glas, völlig ausdruckslos. Und niemals sah man ihn lächeln, was die Damen ungeheuer interessant fanden. Als ihn eines Abends jemand bat, etwas zu spielen, hatte der Junge sich zum Erstaunen seines Großvaters ohne Zögernd ans Klavier ge setzt und Bachs Präludium und Fuge Es-Dur vorgetragen, so kristallklar und von eiskalter Brillanz, -14­

daß die Zuhörer in gebanntem Schweigen verharrten. Später, nachdem der Applaus verklungen und der letzte Gast gegangen war, hatte der Professor sich zu seine m Enkel auf den Balkon begeben, wo er dem offenbar nie abreißenden Brausen des nächtlichen Verkehrsstroms lauschte. «Na, du hast also beschlossen, dich wieder zu den Lebenden zu gesellen? Was nun?» «Paris, würde ich sagen», erwiderte John Mikali. «Das Konservatorium.» «Aha. Die Konzertlaufbahn. Ist das dein Plan?» «Wenn es dir recht ist.» Dimitri Mikali umarmte ihn liebevoll. «Du weißt doch, daß du mein Alles bist. Was du willst, das will auch ich. Ich sage Katina, daß sie packen soll.» Er fand eine Wohnung in einer engen Straße nahe der Sorbonne, nicht weit von der Seine entfernt, in einem für die Hauptstadt Frankreichs so charakteristischen Bezirk mit eigenen Läden, Cafés und Bistros. Eine Gegend, in der jeder jeden kannte. Mikali trat ins Konservatorium ein, übte täglich acht bis zehn Stunden und widmete sich ausschließlich seinem Klavier, alles andere blieb aus seinem Leben verbannt, sogar die Mädchen. Wie bisher führte ihm Katina den Haushalt, kochte für ihn und bemutterte ihn. Am 22. Februar I960, zwei Tage vor seinem achtzehnten Geburtstag, fand am Konservatorium eine wichtige Prüfung statt, bei der eine Goldmedaille zu gewinnen war. Er hatte fast die ganze Nacht hindurch geübt, und um sechs Uhr morgens war Katina fortgegangen, um frische Croissants und Milch zu holen. Er kam gerade aus der Dusche und zog sich den Bademantel über, als er draußen auf der Straße das Kreischen von Bremsen -15­

und einen dumpfen Aufprall hörte. Mikali stürzte ans Fenster und schaute hinunter. Katina lag im Rinnstein hingestreckt, die Croissants kullerten über das Pflaster. Der Citroën-Laster, der sie überfahren hatte, floh im Rückwärtsgang. Mikali erhaschte einen Blick auf das Gesicht des Fahrers, dann war der Wagen um die Ecke verschwunden. Katinas Agonie dauerte mehrere Stunden, und er saß im Krankenhaus an ihrem Bett, hielt ihre Hand und ließ sie auch dann noch nicht los, als Katinas Finger im Tode steif geworden waren. Die Polizei drückte ihr Bedauern aus. Leider habe es keine Zeugen gegeben, was den Fall schwierig mache, aber man würde der Sache selbstverständlich nachgehen. Für Mikali spielte das keine Rolle, denn er kannte den Fahrer des Citroën-Lasters. Es war Claude Galley, ein brutaler Rüpel, der mit Hilfe zweier Mechaniker in der Nähe der Seine eine Autowerkstatt betrieb. Er hätte sein Wissen an die Polizei weitergeben können. Aber er tat es nicht. Dies war Privatsache. Eine Angelegenheit, die er allein regeln mußte. Seine Vorfahren hätten ihn verstanden, denn auf Hydra galt seit Jahrhunderten das eiserne Gesetz der Blutrache. Ein Mann, der ein den Seinen angetanes Unrecht nicht ahndete, verfiel selber dem Blutbann. Und doch steckte noch etwas anderes dahinter. Eine seltsame kalte Erregung, die sein ganzes Wesen erfüllte, als er um sechs Uhr abends in einer dunklen Einfahrt gegenüber der Werkstatt wartete. Um halb sieben gingen die beiden Mechaniker. Er wartete noch fünf Minuten, dann überquerte er die Fahrbahn und trat vor das Tor in der dunklen Straße. Die beiden Flügel waren geöffnet, der Citroën stand mit dem Kühler zum Gehsteig, und hinter dem Wagen führte eine Zementrampe steil nach unten in den Keller. Galley arbeitete im Keller an einer Werkbank, die an der -16­

Wand stand. Mikalis rechte Hand glitt in die Tasche seines Regenmantels und schloß sich um den Griff des Küchenmessers, das er bei sich trug – und dann sah er, daß es eine einfachere Möglichkeit gab. Eine Möglichkeit, der ein beträchtliches Maß von Gerechtigkeit innewohnte. Er beugte sich ins Führerhaus des Citroën, legte mit einer behandschuhten Hand den Leerlauf ein und lockerte die Handbremse. Der Wagen setzte sich in Bewegung, wurde immer schneller. Galley, halb betrunken wie gewöhnlich, bemerkte sein Heranrollen erst im letzten Moment und drehte sich mit einem Aufschrei um, als der schwere Laster ihn an die Wand quetschte. Mikali empfand indes keine Genugtuung nach seiner Tat, denn Katina war von ihm gegangen, für immer, genau wie der Vater, den er nie gekannt hatte, wie die Mutter, die nur eine vage Erinnerung war, wie die Großmutter. Vier Stunden lang irrte er wie betäubt im Regen herum, bis ihn schließlich kurz vor Mitternacht am Seinekai eine Prostituierte aufgabelte. Sie war vierzig und sah älter aus, weshalb sie in ihrer Wohnung für gedämpfte Beleuchtung sorgte. Nicht, daß es für John Mikali eine Rolle gespielt hätte, er wußte ohnehin nicht mehr, was noch wirklich und was nicht mehr wirklich war. Und außerdem hatte er noch nie mit einer Frau geschlafen, eine Tatsache, an der seine Ungeschicklichkeit keinen Zweifel ließ. Mit jener amüsierten Nachsicht, die das Gewerbe den Neulingen häufig entgegenbringt, weihte die Frau ihn schnell in alle Geheimnisse ein. Er lernte rasch, nahm sie einmal, zweimal, in einer Art beherrschter Raserei, und zum erstenmal seit Jahren empfand auch sie selber Lust, sie stöhnte unter ihm, flehte um mehr. Danach, als sie schlief, lag er im Dunkeln und staunte über seine Macht, eine Frau so handeln zu lassen, wie sie gehandelt hatte; -17­

all das zu tun, was sie getan hatte. Seltsam, wie wenig diese Sache ihm bedeutete, die doch allgemein für so wichtig gehalten wurde. Später, als er in den frühen Morgenstunden durch die Straßen lief, hatte er sich so einsam gefühlt wie nie zuvor in seinem Leben. Er landete schließlich bei den Hallen, wo Träger geschäftig schwere Steigen mit Gemüse von Lastwagen entluden und sich dabei doch zeitlupenhaft, wie unter Wasser, zu bewegen schienen. Er hatte den Eindruck, das alles von einem anderen Planeten aus zu beobachten. In einem Café, das die ganze Nacht durch geöffnet war, setzte er sich ans Fenster und bestellte Tee. Sein Blick fiel auf das Titelblatt einer Zeitschrift, die auf dem Stuhl neben ihm lag. Eine schlanke, drahtige Gestalt in Tarnanzug, mit einem Gewehr lässig in der Armbeuge und einem sonnenverbrannten Gesicht, aus dem ihn ausdruckslose Augen anstarrten. Er nahm die Zeitschrift vom Stuhl und las den Artikel, in dem die Rolle der Fremdenlegion im Algerienkrieg untersucht wurde, der damals auf seinem Höhepunkt war. Männer, die vor kaum zwei Jahren bei ihrer Rückkehr aus Indochina und den vietnamesischen Gefangenenlagern von den Marseiller Hafenarbeitern mit Steinen beworfen worden waren, kämpften nun wieder für Frankreich in einem schmutzigen und sinnlosen Krieg. Männer ohne Hoffnung, wie der Artikelschreiber sie nannte. Männer ohne Zuhause. Auf der nächsten Seite war das Foto eines weiteren Legionärs, der mit einem blutdurchtränkten Verband um die Brust halb aufgerichtet auf einer Bahre lag. Sein Kopf war kahlgeschoren, die Wangen eingefallen, das Gesicht schmerzverzerrt, und die Augen starrten in einen Abgrund von Einsamkeit. Mikali war es, als starrte er auf sein eigenes Spiegelbild. Er legte die Zeitschrift wieder sorgfältig auf den Stuhl zurück und atmete tief ein und aus, bis seine Hände zu zittern aufhörten. In seinem Kopf klickte etwas. Geräusche drangen wieder an sein Ohr. Er nahm das Treiben um sich -18­

herum wahr. Die Welt war wieder zum Leben erwacht, aber er gehörte ihr nicht mehr an, er hatte ihr eigentlich nie angehört. Mein Gott, wie kalt es war. Er stand auf, verließ das Café und ging mit tief in den Taschen vergrabenen Händen schnell durch die Straßen. Es war sechs Uhr morgens, als er in seine Wohnung zurückkehrte. Sie wirkte grau und leer, als wäre alles Leben in ihr erstorben. Der Deckel des Klaviers stand offen, das Notenheft noch so aufgeschlagen, wie er es zurückgelassen hatte. Er hatte die Prüfung am Konservatorium versäumt, aber das war jetzt gleichgültig. Er setzte sich und begann langsam und mit viel Empfindung die geisterhafte Weise zu spielen, Le Pastour von Grovlez, die er auch damals in New York nach dem Begräbnis seiner Großmutter gespielt hatte, als Dimitri Mikali dort eingetroffen war. Als die letzten Töne verklungen waren, schloß er den Klavierdeckel, stand auf und holte aus dem Schreibtisch seinen Paß. Er blickte sich noch ein letztesmal in der Wohnung um, dann verließ er das Haus. Um sieben Uhr saß er in der Metro nach Vincennes. Dort stieg er aus und marschierte zügig durch die Straßen zur alten Festung, der Rekrutierungsstelle für die Fremdenlegion. Um Mittag hatte er bereits seinen Paß zum Beweis seiner Identität und seines Alters abgegeben, eine gründliche ärztliche Untersuchung hinter sich gebracht und einen Vertrag unterschrieben, der ihn auf fünf Jahre zum Dienst in der berühmtesten, aber auch berüchtigtsten Truppe der Welt verpflichtete. Um drei Uhr am folgenden Tag saß er, zusammen mit drei Spaniern, einem Belgier und acht Deutschen im Zug nach Marseille, zum Fort Saint Nicholas. Zehn Tage später verließ er mit hundertfünfzig weiteren Rekruten und einer Anzahl regulärer französischer Soldaten, die -19­

nach Algerien und Marokko abgestellt waren, Marseille auf einem Truppentransporter in Richtung Oran. Und am 20. März erreichte er schließlich seinen Jahrhundert, das Standquartier der Legion. Die Disziplin war absolut, die Ausbildung brutal in ihrer Zweckmäßigkeit und nur auf ein Ziel ausgerichtet, nämlich die tüchtigsten Soldaten der Welt hervorzubringen. Mikali stürzte sich mit so besessenem Eifer in seine neue Aufgabe, daß er seinen Vorgesetzten von Anfang an auffiel. Nach einigen Wochen in Sidi-bel-Abbès wurde er eines Tages zur I-C-Dienststelle beordert. In Gegenwart eines capitaine wurde ihm ein Brief seines Großvaters ausgehändigt, der von den jüngsten Entwicklungen erfahren hatte und ihn bat, die getroffene Entscheidung nochmals zu überdenken. Mikali versicherte dem capitaine, er sei mit seinem jetzigen Leben hochzufrieden, woraufhin man ihn aufforderte, dies seinem Großvater zu schreiben, was er in Anwesenheit des capitaine auch sogleich tat. Während der folgenden sechs Monate machte er vierundzwanzig Fallschirmabsprünge, wurde im Gebrauch moderner Waffen aller Art ausgebildet und bis zu einem Grad von körperlicher Leistungsfähigkeit gedrillt, die er nie für möglich gehalten hatte. Er erwies sich als vorzüglicher Gewehr­ und Pistolenschütze und errang im unbewaffneten Kampf die beste Beurteilung in seiner Gruppe, ein Umstand, der seine Kameraden veranlaßte, ihn mit größtem Respekt zu behandeln. Er trank wenig und besuchte nur gelegentlich das Bordell in der Stadt, dessen Mädchen um seine Gunst rivalisierten. Eine Tatsache, die ihn längst nicht mehr erstaunte und noch immer völlig kalt ließ. Er war bereits Gefreiter, als er zum erstenmal ins Gefecht kam. Im Oktober I960 wurde sein Regiment in die Raki-Berge geschickt, um ein großes Aufgebot schwerbewaffneter Fellachen -20­

anzugreifen, das seit Monaten die ganze Gegend kontrollierte. Etwa achtzig Rebellen hatten sich auf einem Hügel verschanzt, der als uneinnehmbar galt. Das Regiment unternahm einen Frontalangriff, eine nur scheinbar selbstmörderische Attacke, denn im entscheidenden Augenblick wurde die dritte Kompanie, der auch Mikali angehörte, durch Hubschrauber auf der Hügelkuppe abgesetzt. Der nun folgende Kampf war ein blutiges Ringen Mann gegen Mann, bei dem Mikali sich besonders auszeichnete: er machte ein Rebellennest unschädlich, das mehr als zwei Dutzend Legionäre auf dem Gewissen hatte und eine Zeitlang das ganze Unternehmen in Frage zu stellen schien. Danach war, während er auf einem Felsen saß und eine Fleischwunde an seinem rechten Arm notdürftig verband, ein Spanier unter irrem Gelächter an ihm vorbeigetaumelt, der in einer Hand zwei abgeschnittene Köpfe an den Haaren gepackt hielt. Ein Schuß knallte, und der Spanier stürzte mit einem Schrei aufs Gesicht. Mikali hatte sich schon umgedreht, die Maschinenpistole in der Linken, und feuerte auf zwei Fellachen, die plötzlich auftauchten. Er tötete beide. Er blieb am Hügelhang stehen und wartete, aber niemand rührte sich mehr. Nach einer Weile setzte er sich wieder, zog den Verband an seinem Arm mit den Zähnen fest und zündete sich eine Zigarette an. Während der folgenden zwölf Monate kämpfte er in den Gassen der Stadt Algier, sprang dreimal bei Nacht über dem Bergland ab, um Rebellen zu überrumpeln, und wurde mehrmals in einen Hinterhalt gelockt, doch kam er immer mit dem Leben davon. Er erhielt ein Verwundetenabzeichen und die Militärmedaille, und im März 1962 war er bereits Obergefreiter. Er war jetzt ein -21­

ancien, also ein Legionär, der einen Monat lang mit vier Stunden Schlaf pro Nacht auskommen und in voller Marschausrüstung 45 Kilometer pro Tag zu Fuß schaffen konnte, wenn es nötig war. Er hatte Männer getötet, er hatte Frauen getötet, sogar Kinder. Der Tod bedeutete ihm nichts mehr. Nach der Verleihung der Auszeichnungen wurde er eine Weile vom aktiven Dienst befreit und zur Ausbildung im Guerilla-Kampf auf die Schule nach Kefi geschickt, wo er alles über Sprengstoff lernte. Am l. Juli war das Training beendet, und er machte sich in einem Versorgungsfahrzeug auf den Rückweg zum Regiment. Als sie das Dorf Kasfa passierten, gingen per Fernzündung etwa fünfzig Kilo Dynamit los und rissen den Lastwagen auseinander. Mikali flog auf den Dorfplatz, wunderbarerweise war er am Leben geblieben. Er versuchte, sich aufzurichten, da ratterte eine Maschinenpistole los, und er bekam zwei Kugeln in die Brust. Während er auf dem Boden lag, konnte er den Lastwagenfahrer sehen, der auf der anderen Seite des brennenden Wracks zur Erde geschleudert worden war und im Todeskampf zuckte. Vier bis an die Zähne bewaffnete Männer eilten herbei. Lachend umringten sie den Fahrer. Mikali konnte nicht sehen, was sie mit ihm anstellten, aber der Mann fing an zu brüllen. Danach knallte ein Schuß. Die Bewaffneten kamen auf Mikali zu, der inzwischen an der Mauer des Dorfbrunnens hockte und eine Hand unter seine Tarnjacke gesteckt hatte, dorthin, wo das Blut durchsickerte. «Sieht nicht gut aus, wie?» sagte der Anführer der kleinen Gruppe in französischer Sprache. Mikali sah, daß das Messer in der Hand des Mannes naß war von Blut. Zum erstenmal seit Katinas Tod lächelte Mikali. «Ach, es könnte schlimmer sein.» Seine andere Hand, die unter der Jacke hervorkam, -22­

umklammerte eine Smith & Wesson Magnum, eine Waffe, die er vor einigen Monaten auf dem schwarzen Markt in Algier erworben hatte. Sein erster Schuß blies die Schädeldecke des Mannes weg, der zweite traf den Dahinterstehenden zwischen die Augen. Der dritte Mann versuchte gerade, sein Gewehr in Anschlag zu bringen, als Mikali ihn zweimal in den Bauch schoß. Der vierte ließ in Panik seine Waffe fallen und wollte davonlaufen. Mikalis letzte beiden Schüsse zerschmetterten ihm das Rückgrat und trieben ihn kopfüber in das brennende Wrack des Lastwagens. Drüben, hinter der Rauchwolke, schoben sich ein paar Dorfbewohner ängstlich aus ihren Häusern. Mikali leerte die Smith & Wesson, fischte mühsam eine Handvoll Patronen aus der Tasche und lud bedächtig nach. Der Mann, den er in den Bauch getroffen hatte, stöhnte und versuchte aufzustehen. Mikali schoß ihn in den Kopf. Mikali nahm die Mütze ab und preßte sie auf seine Wunde, um den Blutstrom einzudämmen. Er blieb ruhig an der Brunnenwand sitzen, den Revolver im Anschlag, und die Dorfbewohner hüteten sich, ihm nahe zu kommen. Er saß noch immer dort, bei vollem Bewußtsein, nur von den Toten umgeben, als eine Patrouille der Legion ihn eine Stunde später fand. Das Ganze war wie Ironie des Schicksals gewesen, denn der nächste Tag, der 2. Juli 1962, brachte die Unabhängigkeit Algeriens und beendete die siebenjährigen Kämpfe. Mikali wurde nach Paris geflogen und ins Militärhospital gebracht, wo ein Spezialist die Kugeln aus seiner Brust entfernte. Am 2 7. Juli erhielt er als Tapferkeitsauszeichnung das Croix de la Valeur Militaire. Tags darauf kam sein Großvater zu Besuch. Dimitri Mikali war jetzt siebzig, sah jedoch noch immer gesund und rüstig aus. Er saß an Johns Bett und betrachtete -23­

längere Zeit schweigend die Auszeichnung, dann sagte er leise: «Ich habe im Hauptquartier der Legion vorgesprochen. Da du noch immer nicht einundzwanzig Jahre alt bist, könnte ich unter Umständen deine Entlassung durchsetzen.» «Ja, ich weiß.» Und dann gebrauchte sein Großvater die gleichen Worte wie an jenem nun fast drei Jahre zurückliegenden Sommerabend in Athen; er sagte: «Du hast also beschlossen, dich wieder zu den Lebenden zu gesellen, wie?» «Warum nicht?» antwortete John Mikali. «Allemal noch besser als sterben, soviel weiß ich jetzt.» Er nahm ein wunderschönes Zeugnis der Fremdenlegion in Empfang, worin zu lesen stand, daß der Obergefreite John Mikali zwei Jahre lang ehrenhaft und treu gedient habe und aus gesundheitlichen Gründen zwei Jahre vor Ablauf seines Kontrakts entlassen worden sei. Die Begründung traf durchaus zu. Die beiden Kugeln in der Brust hatten den linken Lungenflügel schwer beschädigt, und John mußte sich in London einer neuerlichen Operation unterziehen. Anschließend kehrte er nach Griechenland zurück, aber nicht nach Athen, sondern nach Hydra. Er zog sich zurück in die Villa hoch über dem Meer, hinter der die Berge und die Pinienwälder aufragten. Eine wilde, unwirtliche Gegend, die auf dem Landweg nur zu Fuß oder mit einem Maulesel zu erreichen war. Zu seiner Bedienung hatte er ein altes Bauernehepaar, das unten in der Bucht eine Hütte an der Mole bewohnte. Der alte Konstantin schaffte mit dem Boot alles Nötige aus der Stadt Hydra herbei und kümmerte sich um das Grundstück, die Wasserversorgung, den Generator. Seine Frau besorgte John den Haushalt und kochte auch für ihn. Meist war John allein, nur dann und wann kam sein Großvater -24­

auf ein paar Tage herüber. Dann saßen die beiden Abend für Abend vor dem Kamin, in dem Pinienscheite loderten, und redeten stundenlang über alles mögliche. Kunst, Literatur, Musik, sogar Politik, obwohl John Mikali sich für dieses Thema nicht im geringsten interessierte. Nur über eines sprachen sie nicht: über Algerien. Der alte Mann stellte keine Fragen, und der jüngere fing niemals davon an. Es war, als hätte es diese Zeit gar nicht gegeben. Kein einziges Mal während dieser beiden Jahre hatte John eine Klaviertaste angerührt, aber jetzt begann er wieder zu spielen, spielte immer häufiger in den neun Monaten die bis zu seiner völligen Genesung vergingen. An einem ruhigen Juliabend des Jahres 1963 spielte er für seinen Großvater Bachs Präludium und Fuge Es-Dur genau wie damals in Athen an dem Abend, als er beschlossen hatte, nach Paris zu gehen. Danach herrschte Stille. Durch die geöffneten Terrassentüren sah man den Himmel orangerot aufflammen, als die Sonne hinter der Nachbarinsel Dokos versank. Der Großvater seufzte. «Wenn ich dich recht verstehe, bist du wieder soweit?» «Ja», sagte John Mikali und lockerte die Finger. «Jetzt muß es sich herausstellen. Ein für allemal.» Mikali wählte London, das Royal College of Music. Er mietete eine Wohnung in der Nähe der Park Lane und des Hyde Park, wo er jeden Morgen, bei Regen wie Sonnenschein, einen Dauerlauf von zehn Kilometern absolvierte und das Letzte aus sich herausholte. Alte Gewohnheiten sterben schwer. Dreimal pro Woche trainierte er zudem in einer bekannten Sportschule der Stadt. Die Legion hatte ihn gezeichnet bis ins Mark, ließ sich nie mehr ganz abschütteln. Das zeigte sich deutlich, als er in einer -25­

regnerischen Nacht kurz vor zwölf vom Grosvenor Square in eine Seitenstraße einbog und von zwei Jugendlichen überfallen wurde. Der eine sprang ihn von hinten an und legte ihm den Arm um die Kehle, der andere tauchte aus der Einfahrt einer Tiefgarage auf. Mikalis rechter Fuß flog hoch und trat den zweiten Angreifer kunstgerecht in die Leisten, dann, als der Junge aufheulend vornüberknickte, fuhr ihm Mikalis Knie ins Gesicht. Der erste war so verblüfft, daß er seinen Griff lockerte. Mikali riß sich los und schwang in einem knappen Bogen den rechten Ellbogen nach hinten. Man konnte den Kieferknochen brechen hören. Der Angreifer fiel mit einem lauten Schrei auf die Knie, Mikali trat über seinen Kumpan hinweg und entfernte sich rasch durch den strömenden Regen. In drei harten Jahren wuchs sein Ansehen am College. Er war gut – er war mehr als gut. Die anderen wußten es, und er wußte es auch. Er schloß keine Freundschaften. Nicht etwa, weil er unbeliebt gewesen wäre. Im Gegenteil, alle fanden ihn ungemein anziehend, aber es war etwas Unnahbares um ihn. Eine Mauer, die unüberwindbar schien. Frauen gab es die Menge in seinem Leben, aber keiner gelang es, das geringste persönliche Verlangen in ihm zu wecken. Von einer latenten Homosexualität konnte nicht die Rede sein; seine Beziehungen zu Frauen bedeuteten ihm einfach nichts. Die Wirkung, die er selber auf die Frauen ausübte, war etwas ganz anderes, und sein Ruf als Liebhaber wuchs alsbald ins Legendäre. Am Ende des letzten Studienjahres erhielt er die goldene Raildon-Medaille. Das genügte aber nicht. Nicht für den Mann, der er geworden war. Er ging also nach Wien und stud ierte ein Jahr bei Hofmann, um den letzten Schliff zu bekommen. Im Sommer 1967 war dann seine Ausbildung abgeschlossen. -26­

Ein altes Musiker-Bonmot besagt, überhaupt auf ein Konzertpodium zu kommen, sei noch schwieriger, als darauf Erfolg zu haben. Mikali hätte sich einen guten Start sozusagen kaufen können. Er hätte einen Agenten bezahlen und einen Saal in London oder Paris für ein Konzert mieten können. Doch sein Stolz ließ das nicht zu. Er wollte sich aus eigener Kraft durchsetzen, die Welt selber zwingen, ihm zuzuhören. Nur ein Weg führte dorthin. Nach einem kurzen Urlaub in Griechenland kehrte er nach England zurück, nach Yorkshire, und meldete sich zur Teilnahme am Musik-Festival in Leeds an, einem der bedeutendsten Klavier-Wettbewerbe der Welt. Wer hier einen Preis gewann, der war mit einem Schlag berühmt und hatte eine Konzerttournee in der Tasche. Er errang den dritten Platz und bekam unverzüglich Angebote von drei großen Agenturen. Er lehnte sie alle ab, übte in seiner Londoner Wohnung einen Monat lang täglich vierzehn Stunden und ging im folgenden Januar nach Salzburg. Dort gewann er unter achtundvierzig Mitbewerbern aus der ganzen Welt den ersten Preis mit Rachmaninows Viertem Klavierkonzert, einem Werk, das er in den kommenden Jahren zum Paradestück seines Repertoires machen sollte. Sein Großvater hielt sich während der ganzen sieben Tage des Festivals in Salzburg auf, und dann, als alle anderen abgereist waren, kam er mit zwei Gläsern Champagner hinaus auf den Balkon des Hotels, wo John Mikali stand und auf die Stadt hinunterblickte. «Die ganze Welt liegt dir jetzt zu Füßen. Alle werden dich haben wollen. Was fühlst du?» «Nichts», sagte John Mikali. Er trank einen Schluck vom eisgekühlten Champagner, und plötzlich, ohne jeden ersichtlichen Grund, sah er die vier Fellachen um den brennenden Lastwagen herumgehen und lachend näher -27­

kommen. «Ich fühle nichts.» In den beiden folgenden Jahren starrten die dunklen Augen auf Plakaten in London, Paris, Rom, New York aus dem blassen, hübschen Gesicht, und sein Ruhm wuchs. Die Presse hatte ausführlich über seine zwei Jahre in der Fremdenlegion berichtet, über seine Tapferkeitsauszeichnungen. In Griechenland wurde er zu einer Art Volksheld, so daß seine Konzerte in Athen stets große Ereignisse waren. Und in Griechenland hatte sich einiges verändert, seit nach dem Militärputsch vom April 1967 die Obristen an der Macht waren und König Konstantin ins Exil nach Rom mußte. Dimitri Mikali war jetzt sechsundsiebzig, und man sah es ihm auch an. Noch immer hielt er abends offenes Haus, doch nur wenige Gäste stellten sich ein. Sein Eintreten für die Demokratische Front hatte ihn bei der Regierung zunehmend unbeliebt gemacht, und seine Parteizeitung war bereits mehrmals beschlagnahmt worden. «Politik!» sagte John Mikali einmal bei einem seiner Besuche zu ihm. «Alles Unsinn. Kinderei. Warum machst du dir das Leben damit schwer?» «Oh, ich hab es im Gegenteil sehr gut.» Sein Großvater lächelte. «Das Schicksal verwöhnt mich sozusagen, mit einem Enkel, der eine internationale Berühmtheit ist …» «Was soll’s!» sagte Mikali. «Ihr habt eine Militärjunta, und Miniröcke sind verpönt. Na und? Ich war in Ländern, wo es übler zugeht als heute in Griechenland, glaub mir das.» «Politische Gefangene zu Tausenden. Das Erziehungswesen wird zur Verhe tzung der Kinder mißbraucht, die Linke ist so gut wie ausgelöscht. Klingt das nach Heimstätte der Demokratie?» hielt der Alte ihm vor. Auf John Mikali machte dies alles keinen Eindruck. Am nächsten Tag flog er nach Paris und gab am gleichen Abend ein Chopin-Konzert, eine Wohltätigkeitsveranstaltung zugunsten -28­

der internationalen Krebsforschung. In Paris erwartete ihn ein Brief seines Londoner Agenten Bruno Fischer mit der Reiseroute für eine Herbst- Tournee durch England, Wales und Schottland. Mikali saß nach Schluß des Konzerts noch eine Weile in seiner Garderobe und studierte den Brief, als an die Tür geklopft wurde und der Bühnenportier hereinschaute. «Ein Herr will Sie sprechen, Monsieur Mikali.» In der Tür erschien ein großer kräftiger Mann mit gelichtetem Haar und dichtem schwarzem Schnurrbart. Er trug einen schäbigen Regenmantel über dem zerknitterten Tweedanzug. «He, Johnny. Freu mich, dich zu sehen. Claude Jarrot – Stabsunteroffizier, Dritte Kompanie, Zweites Fallschirmjägerregiment. Wir sind damals zusammen in der Nacht über El Kebir abgesprungen.» «Ich erinnere mich», sagte Mikali. «Du hast dir den Knöchel gebrochen.» «Und du bist bei mir geblieben, als die Fellachen unsere Linie durchbrochen haben.» Jarrot streckte die Hand aus. «Ich habe von dir in der Zeitung gelesen, und als ich sah, daß du heute hier ein Konzert gibst, hab ich mir gedacht, ich schau mal vorbei. Nicht wegen der Musik. Sagt mir verdammt gar nichts.» Er grinste. «Hab mir’s einfach nicht verkneifen können, einen alten Kumpel aus Sidi-bel-Abbès zu begrüßen.» Vielleicht wollte er ihn anpumpen, schäbig genug war er gekleidet; aber sein Kommen hatte die alten Tage wieder zurückgebracht. Jedenfalls nahm Mikali den Besucher freundlich auf. «Freut mich, daß du gekommen bist. Ich wollte gerade gehen. Wie war’s mit einem Drink? Irgendwo in der Nähe muß ein Lokal sein.» «Also, ich habe eine Autowerkstatt, nur eine Straße weiter», -29­

sagte Jarrot. «Darüber liegt meine kleine Wohnung. Zur Zeit gibt’s auch was sehr Ordentliches zu trinken. Echten Napoleon.» «Vorwärts, marsch», sagte Mikali. Die Wände des Wohnzimmers waren mit Fotos vollgeklebt, die Jarrots Lautbahn in der Legion dokumentierten, und überall sah man Souvenirs, auch das weiße Käppi und die GalaEpauletten lagen auf einer Kommode. Der Cognac Napoleon war echt und Jarrot nach kurzer Zeit betrunken. «Ich dachte, sie hätten dich beim Putsch rausgeschmissen», sagte Mikali. «Warst du nicht bis über beide Ohren in der OAS?» «Klar war ich das», sagte Jarrot aufsässig. «Diese ganzen Jahre in Indochina. Ich war in Dien Bien Phu, hast du das gewußt? Diese kleinen gelben Ratten hatten mich ein halbes Jahr lang in einem Gefangenenlager eingesperrt. Sie haben uns behandelt wie Schweine. Dann das Fiasko in Algerien, als de Gaulle uns aufs Kreuz gelegt hat. Jeder Franzose, der noch Ehre im Leib hat, hätte bei der OAS sein sollen, nicht bloß arme Irre wie ich.» «Hat jetzt wohl nicht mehr viel Zukunft», sagte Mikali. «Der alte Knabe hat bewiesen, daß er es ernst meinte, als er BastienThiery umlegen ließ. Wie oft hat man schon versucht, ihn loszuwerden, aber kein einziger Anschlag ist gelungen.» «Ja, da hast du recht», sagte Jarrot und leerte noch ein Glas. «Na ja, ich habe mein Teil getan. Da, sieh mal.» Er entfernte den Überwurf von einer Holzkiste in der Ecke, suchte nach dem Schlüssel und schloß sie schließlich mit einiger Mühe auf. In der Kiste lag ein ganzes Waffenarsenal. Mehrere Maschinenpistolen, dazu ein Sortiment von Pistolen und Granaten. -30­

«Das Zeug hab ich seit vier Jahren hier», sagte Jarrot. «Vier Jahre, aber das Netz ist aufgeflogen. Aus der Traum. Heutzutage muß man sich was anderes ausdenken.» «Die Autowerkstatt?» Jarrot legte einen Finger an die Nase. «Komm mit, ich zeig sie dir. Die verdammte Flasche ist ohnehin leer.» Er schloß die Hintertür zur Werkstatt auf, und sie betraten einen Raum, der mit Kartons und Kisten aller Art vollgestellt war. Jarrot öffnete eine Verpackung und holte eine neue Flasche Cognac Napoleon hervor. «Jede Menge, wie gesagt.» Er ließ den Arm kreisen. «Vorräte aller Art. Jeder Schnaps, den dein Herz begehrt. Zigaretten, Konserven. Und das Zeug muß bis zum Wochenende raus sein.» «Wo kommt denn das alles her?» fragte Mikali. «Fällt sozusagen aus einem vorbeifahrenden Lastwagen.» Jarrot lachte besoffen. «Zuviel fragen schadet der Gesundheit, wie wir in der Legion immer gesagt haben. Also merk dir, mon ami; was immer du brauchst und wann immer komm einfach zum alten Claude. Ich habe Verbindungen. Ich kann dir alles besorgen, Ehrenwort. Nicht nur, weil du ein alter Kamerad aus Sidi-bel- Abbès bist. Wenn du nicht gewesen wärst, hätten die Fellachen mir damals vermutlich den Schwanz abgeschnitten – unter anderem.» Jarrot war inzwischen stockbetrunken, und Mikali ging auf sein Gebrabbel ein. Er schlug ihm auf die Schulter. «Ich werde daran denken.» Jarrot zog den Korken mit den Zähnen aus der Flasche. «Auf die Legion», sagte er. «Den exklusivsten Club der Welt.» Er nahm einen Zug aus der Flasche und reichte sie Mikali. Mikali war auf Tournee in Japan, als ihn die Nachricht vom Tod seines Großvaters erreichte. Der alte Mann hatte schon seit -31­

längerem unter einer arthritischen Hüfte gelitten und zeitweise nur an Stöcken gehen können. Er war auf dem gefliesten Balkon ausgeglitten, hatte das Gleichgewicht verloren und war auf die Straße hinuntergestürzt. Mikali sagte nach Möglichkeit seine Konzerte ab und flog nach Hause, doch es verging eine Woche, ehe er in Athen eintraf. Inzwischen hatte der Staatsanwalt die Bestattung des Toten angeordnet, eine Feuerbestattung entsprechend Dimitri Mikalis eigenem Wunsch, der in einem Brief an seinen Anwalt niedergelegt war. John Mikali floh gleichsam, wie schon früher, nach Hydra, in die Villa auf dem Kap. Er nahm das Tragflügelboot von Athen zum Hafen von Hydra, wo Konstantin mit dem kleinen Motorboot auf ihn wartete. Als er an Bord ging, überreichte der alte Mann ihm wortlos einen Umschlag, ließ den Motor an und steuerte das Boot aus dem Hafen. Mikali erkannte augenblicklich die Handschrift seines Großvaters. Mit leicht zitternden Fingern öffnete er den Umschlag. Der darinliegende Brief war kurz. Wenn Du diese Zeilen liest, bin ich tot. Das bleibt keinem von uns erspart. Also keine Klagelieder. Und auch nichts mehr von meiner dummen Politik, die Dich so sehr langweilte, denn letztlich ist das Ende wohl immer das gleiche. Ich weiß nur eines mit völliger Gewißheit. Du hast die letzten Jahre meines Lebens mit Stolz und Freude erfüllt, mich mit Deiner Liebe beglückt. Meine Liebe und mein Segen sollen bei Dir bleiben. Mikalis Augen brannten, er vermochte kaum zu atmen. Als sie im Haus ankamen, zog er Kletterstiefel und derbe Kleidung an und machte sich auf in die Berge. Er wanderte stundenlang umher, bis ihm die Kräfte versagten. Er nächtigte in einem verlassenen Bauernhaus und fand -32­

keinen Schlaf. Am nächsten Tag kletterte er weiter und verbrachte die zweite Nacht genau so wie die erste. Am dritten Tag schleppte er sich in die Villa zurück, wo Konstantin und seine Frau ihn zu Bett brachten. Die alte Bäuerin flößte ihm einen Kräuterabsud ein. Er schlief zwanzig Stunden, und als er erwachte, war er wieder ruhig und gefaßt. Er rief Fischer in London an und teilte ihm mit, daß er wieder an die Arbeit gehen wolle. In der Wohnung an der Upper Grosvenor Street erwartete ihn ein Berg von Briefen. Er blätterte rasch die Umschläge durch und stutzte. Einer trug griechische Marken und den Vermerk «Persönlich». Der Agent hatte ihn an Mikalis Privatadresse weitergeleitet. Mikali legte die übrige Post beiseite und öffnete das Kuvert. Es enthielt ein einfaches maschinengeschr iebenes Blatt Papier. Keine Anrede. Keine Unterschrift. Dimitri Mikalis Tod war kein Unfall – es war Mord. Die Tatumstände sind wie folgt. Schon seit einiger Zeit wurde er wegen seiner Tätigkeit für die Demokratische Front von gewissen Regierungsstellen unter Druck gesetzt. Mehrere freiheitsliebende Griechen hatten zur Vorlage bei den Vereinten Nationen eine Akte über politische Gefangene, die ohne Gerichtsverfahren festgehalten werden, über Greueltaten aller Art, Folterungen und Morde zusammengestellt. Man nahm an, daß Dimitri Mikali über diese Akte Bescheid wußte. Am Abend des 16. Juni suchten ihn der Chef der politischen Abteilung des Militärischen Nachrichtendienstes, Oberst Georgios Vassilikos, und dessen Leibwächter, Sergeant Andreas Aleko und Sergeant Nikos Petrakis, in seiner Wohnung auf. Sie schlugen brutal auf Dimitri Mikali ein, um Informationen über diese Akte aus ihm herauszupressen, und verbrannten dann mittels eines Feuerzeugs das Gesicht und die Geschlechtsteile ihres Opfers. Als Mikali -33­

schließlich an den erlittenen Mißhandlungen starb, befahl Vassilikos seinen Schergen, die Leiche vom Balkon zu werfen, damit der Tod wie ein Unfall aussehe. Das Gericht erhielt Anweisung, ein entsprechendes Verdikt auszufertigen, ohne den Toten gesehen zu haben, der sofort kremiert wurde, so daß niemand die Spuren von Mißhandlung und Folter zu Gesicht bekam. Die beiden Sergeanten Aleko und Petrakis haben sich in betrunkenem Zustand öffentlich ihrer Schandtat gerühmt, wie mehrere unserer Sache nahestehende Personen bezeugen können. In John Mikali raste der Zorn wie ein wildes Tier. Der Schmerz, der seinen ganzen Körper erfaßte, übertraf jede bisher erfahrene Qual. Er wand sich in Krämpfen, fiel auf die Erde und rollte sich dann wie ein Fötus zusammen. Er hatte keine Ahnung, wie lange er in dieser Stellung verharrt war, wußte mit Sicherheit nur, daß er bei einbrechender Nacht durch die Straßen irrte, ohne Orientierung, ohne Ziel. Schließlich ging er in eine kleine billige Imbißstube, bestellte eine Tasse Kaffee und setzte sich an einen der schmutzigen Tische. Es war wie eine Wiederholung der Szene von damals, in dem kleinen Pariser Café am Markt: Jemand hatte ein Exemplar der Londoner Times liegenlassen. Er nahm die Zeitung zur Hand und ließ mechanisch die Augen darüber schweifen. Plötzlich erstarrte er, als er in der Mitte der zweiten Seite eine kurze Überschrift las: GRIECHISCHE ARMEE-DELEGATION ZU NATOGESPRÄCHEN NACH PARIS. Noch ehe er die Meldung im einzelnen gelesen hatte, wußte er, wessen Name darin erscheinen würde. Danach lief alles ab wie nach einem unfehlbaren Plan, als hätte Gott selber das Zeichen zum Einsatz gegeben. Am nächsten Morgen klingelte das Telefon, es war Bruno Fischer. -34­

«John? Gut, daß Sie da sind. Wenn Sie Lust haben, kann ich sofort zwei Konzerte für Sie arrangieren, Mittwoch und Freitag. Hoffer sollte Schumanns Konzert für Klavier und Orchester aMoll spielen, mit dem London Symphony Orchestra. Er hat sich das Handgelenk verstaucht.» «Mittwoch?» sagte Mikali automatisch. «Das ist schon in drei Tagen.» «Sie haben doch das Stück schon zweimal auf Platte eingespielt. Eine Probe müßte genügen. Sie und Goossens als Dirigent, das könnte eine Sensation werden.» «Wo?» fragte Mikali. «In London?» «Lieber Gott, nein. In Paris, Johnny. Ich weiß, Sie müßten schon wieder ins Flugzeug steigen, aber stört Sie das?» «Nein», sagte John Mikali ruhig. «Paris paßt mir ausgezeichnet.» Der Handstreich, mit dem das Militär in den frühen Morgenstunden des 27. April 1967 die Macht in Griechenland übernahm, war von nur einer Handvoll Obristen fachmännisch und unter strengster Geheimhaltung geplant worden, woraus sich größtenteils sein Gelingen erklärt. Die Weltpresse hatte in den folgenden Tagen ausführlich darüber berichtet. Mikali verbrachte die Stunden vor seinem abendlichen Abflug nach Paris im British Museum, wo er sich alle illustrierten Zeitschriften vornahm, die in den Wochen nach dem Putsch erschienen waren. Es war nicht ganz so mühsam, wie man hätte glauben können, vor allem, weil er nur nach Fotos suchte. Er fand zwei. Das eine, in der Times, zeigte Oberst Georgios Vassilikos, einen großen gutaussehenden Mann von fünfundvierzig Jahren mit dichtem schwarzen Schnurrbart zusammen mit Oberst Papadopulos, dem Mann, der jetzt praktisch als Diktator -35­

in Griechenland regierte. Das zweite Foto fand sich in einer von Londoner Exilgriechen herausgegebenen Zeitschrift. Es zeigte Vassilikos zwischen zwei Sergeanten. Die Bildunterschrift lautete: Der Schlächter und seine Büttel. Mikali trennte behutsam die Seite heraus und ging. In Paris sprach er am folgenden Morgen sogleich in der griechischen Botschaft vor. Der Kulturattaché Dr. Melos empfing ihn enthusiastisch. «Mein lieber Mikali, was für eine freudige Überraschung. Ich hatte keine Ahnung, daß Sie in Paris auftreten.» Mikali erklärte, wie es dazu gekommen war. «Natürlich wird in den Pariser Zeitungen noch rasch eine Notiz erscheinen, damit die Fans wissen, daß ich spiele und nicht Hoffer, aber ich wollte sichergehen, daß es die Botschaft auf jeden Fall erfährt.» «Ich bin Ihnen sehr verbunden. Der Botschafter wäre höchst aufgebracht gewesen, wenn er das Konzert versäumt hätte. Nehmen Sie einen Drink.» «Ich werde gern ein paar Karten reservieren lassen», sagte Mikali. «Für den Botschafter und wen immer er mitbringen möchte. Habe ich nicht irgendwo gelesen, daß Sie einen hohen Militär aus Athen hier haben?» Melos schnitt ein Gesicht, während er Mikali ein Glas Sherry reichte. «Der Mann ist nicht ausgesprochen kulturell orientiert. Oberst Vassilikos, Nachrichtendienst, um es höflich auszudrücken.» «Ich kann mir’s denken», sagte Mikali. Melos blickte auf seine Uhr. «Kommen Sie.» Er trat ans Fenster. Im Hof stand ein schwarzer Mercedes, daneben der Chauffeur. Im nächsten Augenblick schritt Oberst Vassilikos die Stufen des Haupteinga ngs hinunter, flankiert von den Sergeanten Aleko und Petrakis. Aleko setzte sich neben den -36­

Chauffeur, Petrakis und der Oberst nahmen im Fond Platz. Als der Mercedes abfuhr, merkte Mikali sich die Nummer, obgleich der Wagen mit seinem griechischen Stander unschwer wiederzuerkennen war. «Schlag zehn Uhr», sagte Melos. «Genau wie bei seinem Besuch im letzten Monat. Wenn seine Verdauung ebenso pünktlich ist, muß er ein gesunder Mann sein. Fährt jetzt zur Kadettenschule von Saint-Cyr, durch den Bois de Meudon und Versailles. Diese Landschaft gefällt ihm besonders, wie der Chauffeur mir berichtete.» «Keine Zeit fürs Vergnügen?» sagte Mikali. «Ein ziemlicher Stockfisch, wie?» «Angeblich bevorzugt er Knaben, aber das kann ein Gerücht sein. Eines jedenfalls ist sicher. Die Musik rangiert sehr weit unten auf seiner Prioritätenliste.» Mikali lächelte. «Nun ja, man kann nicht überall Anklang finden. Aber vielleicht kommen Sie und der Botschafter?» Melos begleitete ihn hinunter. «Ich war tief bestürzt über den jähen Tod Ihres Großvaters. Es muß ein furchtbarer Schock für Sie gewesen sein. Und daß Sie so kurz danach wieder aufs Podium zurückkehren … Ich kann nur sagen, Ihre Haltung erfüllt mich mit Bewunderung.» «Er war der großartigste Mensch, den ich je gekannt habe», sagte Mikali kurz. «Und ungeheuer stolz auf Sie?» «Natürlich. Wenn ich jetzt pausieren würde, und sei es nur aus Pietät, so wäre das der schwärzeste Verrat. Sagen wir, dieses Konzert in Paris ist meine Fasson, seinem Andenken eine Kerze anzuzünden.» Er verabschiedete sich darauf, ging die Stufen hinunter und stieg in seinen Mietwagen. Am Nachmittag probte er mit dem London Symphony -37­

Orchestra. Der Dirigent war in Hochform, und er und Mikali fanden augenblicklich zusammen. Dennoch wünschte Goossens dringend eine zweite Probe, die am nächsten Nachmittag von zwei bis vier Uhr stattfinden sollte, da das Konzert um halb acht Uhr abends begann. Mikali war einverstanden. Am gleichen Abend um halb sechs wartete er in einem alten Citroën auf dem Parkstreifen an der Straße nach Versailles, nicht weit vom Schloß entfernt. Jarrot saß am Steuer. «Wenn du mir bloß endlich sagen wolltest, was das alles soll!» murrte er. «Später.» Mikali bot ihm eine Zigarette an. «Hast du nicht gesagt, ich soll zu dir kommen, wann immer ich irgend etwas brauche, egal was?» «Ja, aber …» In diesem Augenblick glitt ein schwarzer Mercedes mit griechischem Stander vorüber, und Mikali gebot: «Fahr diesem Wagen nach. Kein Grund zur Eile. Er fährt nicht mehr als vierzig.» «Das ist doch sinnlos», erwiderte Jarrot, startete aber sofort. «Jetzt, in der Stoßzeit.» «Nein, es ist sogar ganz einfach», sagte Mikali. «Der Oberst liebt die Natur.» «Der Oberst?» «Halt den Mund und tu, was ich dir sage.» Der Mercedes bog in die Straße ein, die durch den abendlich stillen und verlassenen Bois de Meudon führte. Er gewann Vorsprung. In diesem Augenblick raste ein Motorrad mit Höchstgeschwindigkeit und blinkenden Signallichtern vorüber, der Fahrer, eine drohende Gestalt mit Sturzhelm, Motorradbrille und schwarzer Lederkluft, trug ein automatisches Gewehr auf dem Rücken. Er überholte den Mercedes und war verschwunden. -38­

«Scheißkerl!» Jarrot spuckte aus dem Fenster. «Diese CRSSchweine donnern seit neuestem dauernd auf solchen BlaulichtMaschinen herum. Ich hab immer gedacht, sie kommen nur als Anti- Terror-Truppe zum Einsatz.» Mikali lächelte leise und zündete sich eine frische Zigarette an. «Du kannst das Gas wegnehmen. Ich weiß jetzt, wie ich es machen muß.» «Wie du was machen mußt, Herrgottnochmal?» Also sagte es ihm Mikali. Der Citroën schlingerte heftig, als Jarrot hart auf die Bremse trat und am Straßenrand hielt. «Du mußt verrückt sein. Keine Frage. Damit kommst du nie und nimmer durch.» «O doch, und zwar mit deiner Hilfe. Du kannst mir alles Nötige beschaffen.» «Ich werd den Teufel tun. Hör zu, du Vollidiot, ein Anruf bei der Polizei, und du bist geliefert.» «Was bist du doch für ein Dummkopf», sagte Mikali gelassen. «Ich bin John Mikali. Ich spiele in Rom, London, Paris, New York. Kein Mensch auf der Welt würde dem Anrufer abnehmen, daß ich wirklich eine solche Wahnsinnstat plane. Warum sollte ich wohl? Mein Großvater ist von seinem Balkon gestürzt. Ein Unfall. Gerichtlich bescheinigt. » «Nein!» rief Jarrot störrisch. «Du hingegen, alter Sack, bist nicht nur ein schäbige r Ganove, wie mir schmerzlich klar wurde, als du mir neulich nachts in der Werkstatt diesen ganzen Fang gezeigt hast. Außerdem warst du dick in der OAS …» «Das kann niemand beweisen», sagte Jarrot trotzig. «O doch, und ob man dir das beweisen kann. Nur dein Name und der leiseste Hinweis auf eine Verbindung zur OAS, und die Abteilung Fünf rückt dir auf den Pelz, so nennen sie doch ihre Parallelpolizei – ihre barbouzes? Die Hälfte davon alte Algerien -39­

kämpf er genau wie du, also weißt du, was dich erwartet. Sie schnallen dich auf den Tisch, du kriegst einen Draht um die Eier, dann schalten sie den Strom ein. In der nächsten halben Stunde erzählst du ihnen bis ins kleinste alles, was sie wissen wollen, nur daß sie dir nicht glauben. Sie machen weiter, bloß um zu sehen, ob sie alles rausgequetscht haben. Danach bist du entweder tot oder hoffnungslos verblödet.» «Das reicht», ächzte Jarrot. «Hör auf damit. Ich tu’s.» «Versteht sich. Siehst du, Claude, man muß nur vernünftig sein. Und jetzt raus hier.» Er kurbelte das Fenster hinunter und ließ sich die kühle Abendluft ins Gesicht wehen. Seit Jahren hatte er sich nicht mehr so von Grund auf lebendig gefühlt, jeder Nerv in ihm war gespannt wie eine Klaviersaite. Es war wie der allerletzte Moment vor einem Konzert, ehe man hinaustritt ins Rampenlicht, auf den Flügel zu, und der Applaus einsetzt, anschwillt gleich einer Woge … Es war kurz nach sechs Uhr am nächsten Abend, als Paros, der Botschaftschauffeur am Steuer des Mercedes, Versailles links liegenließ und in den Bo is de Meudon einbog. Sergeant Aleko saß neben ihm und Petrakis auf dem Klappsitz, das Gesicht Oberst Vassilikos zugewandt, der in eine Akte vertieft war. Die Trennscheibe war geschlossen. Es hatte den ganzen Nachmittag in Strömen geregnet, und der Park lag verlassen. Paros fuhr wie immer ziemlich langsam, als er in der rasch einfallenden Dämmerung dicht hinter dem Mercedes einen Scheinwerfer auftauchen sah. Ein CRS-Mann in dunkler Lederjacke und Sturzhelm zog längsseits und winkte Halt. Er hatte zum Schutz vor dem Regen den Kragen hochgeschlagen und trug eine dunkle Fahrbrille, so daß Paros überhaupt nichts von seinem Gesicht sehen konnte. «CRS», sagte Aleko. -40­

Die Trennscheibe glitt zur Seite. Oberst Vassilikos sagte: «Fragen Sie ihn, was er will.» Als der Mercedes anhielt, fuhr der CRS-Mann vor den Kühler, stieg von seiner schweren BMW und hievte die Maschine auf den Ständer. Dann ging er auf den Wagen zu. Seine Jacke war triefend naß, und quer vor der Brust hing eine MAT 49. Aleko öffnete den Schlag und stie g aus. «Was ist denn los?» fragte er in schlechtem Französisch. Die Hand des CRS-Manns kam mit einem 45er Colt aus seiner Tasche, einer Waffe, mit der im Zweiten Weltkrieg die Amerikaner ausgestattet waren. Er schoß Aleko zweimal ins Herz. Die Wucht der Schüsse schleuderte den Sergeant rücklings gegen den Aufbau des Mercedes, er prallte ab und fiel mit dem Gesicht in den Straßengraben. Petrakis, der auf seinem Klappsitz der Trennscheibe den Rücken wandte, bekam die dritte Kugel in den Hinterkopf. Er war sofort tot, kippte vornüber auf den Platz neben dem Oberst, dessen Uniform über und über mit Blut bespritzt wurde. Starr vor Entsetzen drückte Vassilikos sich in die Polster. Paros umklammerte krampfhaft das Lenkrad, er zitterte am ganzen Körper, als der Lauf des Colt zu ihm herumschwang. «Nicht – bitte nicht!» Mikali hatte im Lauf der Jahre gelernt, ein Griechisch zu sprechen, das selbst den strengsten Anforderungen der Athener High-Society gerecht wurde, jetzt aber kehrte er zum Dialekt der kretischen Bauern zurück, den Katina ihn vor so langer Zeit gelehrt hatte. Er zog Paros hinter dem Lenkrad hervor. «Wer sind Sie?» fragte er, ohne Vassilikos aus den Augen zu lassen. «Paros – Dimitri Paros. Ich bin nur Chauffeur an der -41­

Botschaft. Ich habe Frau und Kinder.» «Sie sollten sich eine achtbare Arbeit suchen, anstatt für Faschistenschweine wie die da den Lakaien zu spielen», sagte Mikali. «Los, ab durch den Park.» Paros stolperte davon, so schnell die Beine ihn tragen wollten, und Vassilikos krächzte: «Um Gottes willen.» «Was hat ER damit zu schaffen?» Mikali ließ den kretischen Akzent fallen und schob die Schutzbrille hoch. Ein Ausdruck ungläubigen Staunens erschien auf dem Gesicht des Obersten. «Sie? Aber das ist doch unmöglich.» «Für meinen Großvater», sagte Mikali. «Ich würde es gern bedeutend langsamer machen, aber ich habe keine Zeit. Wenigstens wissen Sie jetzt, wer Sie zur Hölle schickt.» Als Vassilikos den Mund aufmachte, um aufs neue zu sprechen, beugte Mikali sich ins Fenster und schoß ihn zwischen die Augen. Das schwere Kaliber tötete ihn auf der Stelle. In der nächsten Sekunde kippte Mikali die BMW vom Ständer und brauste davon. Ein Wagen fuhr in der Gegenrichtung an ihm vorbei. Im Rückspiegel sah er, wie der Wagen verlangsamte und neben dem Mercedes anhielt. Es kümmerte ihn nicht. Er bog von der Straße in einen der Fußwege ein und verschwand unter den Bäumen. In einer abgelegenen und um diese Abendstunde leeren Parkbucht auf der anderen Seite des Bois de Meudon wartete Jarrot ängstlich neben dem alten Citroën-Laster. Die Rückwand war heruntergeklappt und bildete eine Laderampe, und Jarrot tat, als repariere er irgend etwas am Hinterrad. Er hörte die BMW unter den Bäumen näher kommen. Mikali tauchte auf und fuhr die Maschine die Rampe hinauf und in den Laderaum des Lastwagens. Jarrot klappte blitzschnell die Rückwand hoch, hastete dann nach vorn und kletterte hinter das Steuer. Als sie abfuhren, hörten sie das weit entfernte Heulen von Polizeisirenen. -42­

Mikali stand in der Werkstatt vor dem Ofen und warf Stück für Stück die CRS-Uniform in die Flammen, sogar den Plastikhelm. Die BMW stand in der Ecke neben dem Citroën, jetzt ohne die falschen Polizeiinsignien und Nummernschilder, die, da sie hauptsächlich aus Plastikmaterial bestanden, gleichfalls im Feuer verbrannten. Als Mikali in die Wohnung hinaufging, fand er Jarrot am Tisch sitzen. Vor ihm standen eine Flasche Cognac Napoleon und ein Glas. «Alle drei», sagte er. «Mein Gott, was bist du für ein Mensch!» Mikali ließ einen Umschlag auf den Tisch fallen. «Fünfzehntausend Francs, wie abgemacht.» Er nahm den Colt aus der Tasche. «Den nehme ich wieder mit. Ich will ihn lieber selbst beiseite schaffen.» Er wandte sich zur Tür. Jarrot fragte: «Wo gehst du hin?» «Ich habe ein Konzert», erwiderte Mikali. «Hast du das vielleicht vergessen?» Er sah auf die Uhr. «In genau dreißig Minuten, ich muß mich also auf den Weg machen.» «Allmächtiger», flüsterte Jarrot und fügte dann erregt hinzu: «Und wenn etwas schiefgeht? Wenn sie dir auf die Spur kommen, was dann?» «Drück die Daumen, daß sie mich nicht erwischen, in deinem und in meinem Interesse. Nach dem Konzert komme ich nochmals vorbei. So gegen elf Uhr. Okay?» «Klar», sagte Jarrot müde. «Ich wüßte nicht, wohin ich gehen sollte.» Mikali stieg in seinen Mietwagen und fuhr ab. Er fühlte sich ruhig und entspannt, frei von aller Besorgnis, obwohl er sich über die Zuverlässigkeit seines Komplizen keine Illusionen machte. Hinzu kam, daß Jarrots Verhalten eine Menge zu -43­

wünschen übrigließ. Er war zweifellos nicht mehr der Mann, den Mikali in Algerien gekannt hatte. Bedauerlich, aber er würde sich nochmals mit Jarrot befassen müssen. Zunächst jedoch kam das Konzert. Er traf knappe fünfzehn Minuten vor Beginn in der Oper ein und hatte kaum noch Zeit zum Umkleiden. Aber er schaffte es und stand wartend in den Kulissen, als der Dirigent das Podium betrat. Er folgte ihm, und ein Beifallssturm brach los. Das Haus war ausverkauft, und er sah, daß Melos und der griechische Botschafter nebst Gattin in der dritten Reihe Platz gefunden hatten; Melos saß ganz am Rand. Schumann hatte sein Klavierkonzert a-Moll ursprünglich als Phantasiestück für Klavier und Orchester in einem Satz komponiert und seiner Frau Clara gewidmet, die einen großen Ruf als Pianistin genoß. Später arbeitete er das Stück zu einem Konzert in drei Sätzen aus, das der Musikkritiker der Londoner Times seinerzeit als schwerfällig und verstiegen bezeichnete und Madame Schumanns Versuche würdigte, die kompositorischen Wallungen ihres Gatten als Musik zu interpretieren. An diesem Abend erwachte das Stück unter Mikalis Händen zu sprühendem Leben und elektrisierte das gebannt lauschende Publikum. Daher war das Erstaunen – um es gelinde auszudrücken – beträchtlich, als der griechische Botschafter, seine Frau und der Kulturattache plötzlich aufstanden und hinausgingen, nachdem ein Logenschließer ein Briefchen in die dritte Reihe gebracht hatte. Jarrot schaute sich die Nachrichten im Fernsehen an. Die Morde seien eindeutig politisch motiviert, sagte der Sprecher, denn der Attentäter habe den Chauffeur verschont und diesem gegenüber die Opfer als Faschisten bezeichnet. Vermutlich gehöre er einer der zahlreichen griechischen Dissidentengruppen -44­

in Paris an, die dort im Exil lebten. In diesem Fall hätte die Polizei ausgezeichnete Chancen, den Täter schnell zu fassen. Der Gesuchte sei Kreter – ein kretischer Bauer. Dessen sei der Chauffeur sich absolut sicher. Er hatte den Akzent erkannt. Die Bilder der Leichen, besonders der beiden im Fond, waren, milde gesagt, sehr anschaulich und erinnerten Jarrot an frühere Proben von Mikalis Härte. Und er hatte gesagt, er werde nach dem Konzert nochmals herkommen? Warum? Es konnte nur einen einzigen Grund geben. Er mußte weg, solange ihm noch Zeit dazu blieb, aber bei wem sollte er Hilfe suchen? Gewiß nicht bei der Polizei und auch nicht bei einem seiner Spießgesellen. Plötzlich fiel ihm, trotz seines halbbetrunkenen Zustands, die nächstliegende Person ein: Maître Deville, sein Anwalt. Der beste Strafverteidiger der ganzen Zunft, wie jedermann wußte. Deville hatte ihn bereits zweimal vor dem Gefängnis bewahrt. Deville würde wissen, was zu tun war. Er würde jetzt natürlich nicht in seiner Kanzlei sein, sondern in dem Privathaus, wo er allein wohnte, seit seine Frau vor drei Jahren an Krebs gestorben war. In einer Seitenstraße der Avenue Victor Hugo. Jarrot fand die Telefonnummer und wählte hastig. Kurze Pause, dann sagte eine Stimme: «Hier Deville.» «Maître? Ich bin’s, Jarrot. Ich muß Sie sprechen.» «Ah, wieder mal in der Klemme, Claude?» Deville lachte gutgelaunt. «Gleich morgen früh in der Kanzlei. Sagen wir, um neun.» «Die Sache kann nicht warten, maître.» «Mein Lieber, sie wird warten müssen. Ich bin zum Dinner eingeladen und sollte um diese Zeit eigentlich gar nicht mehr zu Hause sein.» «Maître, haben Sie die Abendnachrichten verfolgt? Wissen Sie, was im Bois de Meudon passiert ist?» -45­

«Die Morde?» Devilles Stimme hatte jetzt einen anderen Klang. «Ja.» «Wegen dieser Sache muß ich Sie sprechen.» «Sind Sie jetzt in der Werkstatt?» «Ja.» «Dann erwarte ich Sie hier in einer Viertelstunde.» Jean Paul Deville war fünfundfünfzig Jahre alt und einer der erfolgreichsten Verteidiger an der Strafkammer von Paris. Dennoch stand er mit der Polizei auf gutem Fuß. Obwohl er zum Besten seiner Klienten alle Tricks und Kniffe spielen ließ, war er fair und gerecht und peinlich korrekt in seiner Handlungsweise. Ein Gentleman im altmodischen Sinn des Wortes, der bei mehr als einer Gelegenheit der Geheimpolizei gute Dienste geleistet hatte und daher dort sehr gut angeschrieben war. Seine Eltern und Geschwister waren in Calais bei dem großen Stuka-Angriff 1940 ums Leben gekommen. Deville hatte seiner schlechten Augen wegen den Krieg nicht als Soldat mitgemacht. Er arbeitete damals als Schreiber in einer Anwaltskanzlei und war zusammen mit Tausenden seiner jungen Landsleute als Zwangsarbeiter nach Ostdeutschland und Polen geschickt worden. Wie viele Franzosen, die sich bei Kriegsende jenseits des Eisernen Vorhangs befanden, hatte er Frankreich erst 1947 wiedergesehen. Da alle seine Angehörigen in Calais tot waren, ließ er sich in Paris nieder, wo er als Kriegsgeschädigter ein Stipendium erhielt und an der Sorbonne das juristische Staatsexamen ablegte. Mit den Jahren wuchs sein Ruf als Anwalt. 1955 hatte er seine Sekretärin geheiratet, doch die Ehe blieb kinderlos. Madame Deville war schon immer von zarter Gesundheit gewesen und -46­

starb nach zwei Jahren qualvollen Siechtums an Magenkrebs. Devilles Tüchtigkeit und sein schweres Schicksal hatten ihm allerseits Sympathie eingetragen, nicht nur bei der Polizei und seinen eigenen Standesgenossen, sondern auch in den Kreisen der Unterwelt – was man nur als Ironie empfinden konnte, wenn man wußte, daß dieser biedere und angesehene Franzose in Wahrheit Oberst Nikolai Ashimow war, ein Ukrainer, der seine Heimat vor etwa fünfundzwanzig Jahren zum letztenmal gesehen hatte. Vermutlich war er sogar der wichtigste Einzelagent des russischen Geheimdienstes in Westeuropa. Kein Agent des KGB, sondern der rivalisierenden Nachrichtenabteilung der Roten Armee, bekannt als GRU. Die Russen hatten schon vor Kriegsende an verschiedenen Orten der Sowjetunion Agentenschulen, jede ausgerichtet auf ein bestimmtes Einsatzgebiet wie zum Beispiel die Schule in Glacyna, wo Spione, die später in englischsprechenden Ländern arbeit en sollten, in der getreuen Nachbildung einer englischen Stadt wohnten und dort genau so lebten wie dann später im Westen. Ashimow verbrachte zwei lange Ausbildungsjahre an einer ähnlichen Schule in Grosnia, wo alles auf einen Einsatz in Frankreich ausgerichtet war, Umgebung, Kultur, Küche und Kleidung, alles getreu nach französischem Muster. Er war von Anfang an im Vorteil gewesen, weil er eine französische Mutter hatte. Er machte rapide Fortschritte und wurde alsbald in eine Gruppe französischer Zwangsarbeiter in Polen eingeschleust und teilte deren Sklavendasein unter dem Namen Jean Paul Deville, eines Mannes, der 1945 in einem sibirischen Kohlenbergwerk an Lungenentzündung gestorben war. Und dann, im Jahr 1947, war er heimgeschickt worden – heim nach Frankreich. Deville füllte Jarrots Cognacglas aufs neue. «Los, trinken Sie -47­

aus, ich sehe Ihnen an, daß Sie’s nötig haben. Eine phantastische Geschichte.» «Ich kann mich doch auf Sie verlassen, maître, nicht wahr?» drängte Jarrot. «Ich meine, daß die Polizei nicht davon Wind bekommt.» «Mein lieber Mann», sagte Deville beschwichtigend. «Wie oft habe ich Ihnen das schon gesagt? Ein Anwalt und sein Klient, das ist wie ein Priester und sein Beichtkind. Schließlich, wenn ich dem SDECE, unserm französischen Geheimdienst, mitgeteilt hätte, was ich über Ihre Verbindung zur OAS weiß …» «Und was soll ich jetzt tun?» fragte Jarrot. «Wenn Sie die Fernsehnachrichten gesehen haben, dann wissen Sie, wozu er fähig ist.» «Nicht zu fassen!» sagte Deville. «Ich habe ihn natürlich schon mehrmals spielen hören. Er ist ein brillanter Pianist, und ich erinnere mich vage, in irgendeiner Zeitschrift gelesen zu haben, er sei als junger Mann ein paar Jahre in der Fremdenlegion gewesen.» Jarrot sagte: «Der war nie jung. Wenn ich Ihnen erzä hlen wollte, was er sich damals in Algerien alles geleistet hat. In Kasfa hat er zum Beispiel zwei Kugeln in die Lunge gekriegt und es trotzdem fertiggebracht, vier Fellachen mit der Pistole abzuknallen. Mit einer Pistole, verdammt nochmal.» Deville goß ihm noch einen Cognac ein. «Erzählen Sie weiter.» Das tat Jarrot. Am Ende seines Berichts war er stockbetrunken. «Also, was soll ich tun?» «Um elf Uhr, glaube ich, wollte er Sie nochmals aufsuchen.» Deville sah auf die Uhr. «Jetzt ist es zehn. Ich hole meinen Mantel, dann fahren wir zusammen zur Werkstatt. Das Steuer übernehme besser ich. Sie kämen vermutlich nicht heil bis zur nächsten Ecke.» -48­

«Zur Werkstatt?» stammelte Jarrot mit schwerer Zunge. «Warum zur Werkstatt?» «Weil ich mit ihm sprechen möchte. Ihretwegen.» Er versetzte Jarrot einen kumpelhaften Schlag auf die Schulter. «Vertrauen Sie mir, ich will Ihnen helfen. Schließlich sind Sie doch deswegen zu mir gekommen, oder nicht?» Er ging ins Schlafzimmer, zog einen dunklen Mantel an und nahm den schwarzen Homburg, den er immer trug. Dann zog er die Schublade seines Nachttischs auf und nahm eine automatische Pistole heraus. Schließlich sollte er einem Mann gegenübertreten, der, nach allem, was er heute abend erfahren hatte, ein psychopathischer Mörder ersten Ranges sein mußte. Er wog die Waffe in der Hand, dann faßte er, einzig seinem Instinkt und einer Ahnung folgend, einen tollkühnen Entschluß und legte sie wieder in die Schublade. Er kehrte ins Wohnzimmer zurück, wo Jarrot immer noch Cognac trank. «So, Claude», sagte er munter. «Gehen wir.» Das Konzert war ein voller Erfolg. Mikali wurde immer wieder herausgerufen, ein Teil des Publikums verlangte stürmisch eine Zugabe. Endlich ließ er sich dazu bewegen. Erregtes Flüstern im Saal, darauf Totenstille, als er sich an den Flügel setzte. Eine Pause, und dann erklang Le Pastour von Gabriel Grovlez. Er ließ den Mietwagen ein Stück von der Werkstatt entfernt stehen, ging den Rest des Weges zu Fuß durch den strömenden Regen und trat lautlos durch die kleine Tür im Haupttor ein. In der rechten Tasche seines Regenmantels steckte noch immer der Colt. Er tastete nach dem Kolben, während er im Dunkeln stand und auf die Musik lauschte, die man schwach aus der über der Werkstatt liegenden Wohnung hören konnte. -49­

Er ging leise die Treppe hinauf und öffnete die Tür. Der Wohnraum lag im Halbdunkel, eine einzige Lampe brannte auf dem Tisch, an dem Jarrot sanft in betrunkenem Schlaf schnarchte. Neben der Lampe stand eine leere Flasche Napoleon, aus einer zweiten fehlte bereits ein Viertel. Ein Transistorradio spielte leise Musik, dann schaltete sich die Stimme des Nachrichtensprechers ein und brachte weitere Einzelheiten über die Parforcejagd der Polizei nach dem Mörder Vassilikos’ und seiner Begleiter. Er streckte die Hand aus, schaltete das Radio ab und nahm dann den Colt aus der Tasche. Eine leise Stimme sagte in tadellosem Englisch mit leichtem französischem Akzent: «Wenn das die bewußte Waffe ist, dann halte ich es für einen gravierenden Fehler, ihn damit zu erschießen.» Deville trat aus dem Schatten im Hintergrund. Er trug noch immer den dunklen Mantel und hielt in der einen Hand einen Spazierstock, in der anderen den Homburg. «Man würde die Kugel aus der Leiche entfernen, und die gerichtsmedizinische Untersuchung müßte ergeben, daß sie aus der gleichen Waffe stammt, mit der Vassilikos und seine Leute getötet wurden. Das stimmt doch, oder?» Er zuckte die Achseln. «Was allerdings noch nicht heißen will, daß die Spur zu Ihnen führen würde, aber es wäre töricht, einen so brillanten Coup auch nur durch die kleinste Unbesonnenheit um seine Perfektion zu bringen.» Mikali hielt den Colt gegen die Hüfte gepreßt und wartete. «Wer sind Sie?» «Jean Paul Deville. Von Beruf Strafverteidiger. Dieser Strolch hier ist mein Klient. Er ist heute abend in heller Aufregung zu mir gekommen und hat mir alles erzählt. Wissen Sie, zwischen uns besteht eine Verbindung besonderer Art. Ich bin sozusagen sein Beichtvater. Er hat sich vor ein paar Jahren als Angehöriger -50­

der OAS schlimm in die Nesseln gesetzt. Ich habe ihn herausgepaukt.» Er griff in die Manteltasche, und sofort fuhr der Colt hoch. «Keine Angst, nur eine Zigarette.» Deville zog ein silbernes Etui hervor. «Ich habe seit Jahren keine Waffe abgefeuert. Habe keinen stumpfen Gegenstand bei mir. Auch nichts im Ärmel. Das hier ist ausschließlich eine Sache zwischen Ihnen, mir und diesem armen betrunkenen Schwein. Er hat sonst zu keinem Menschen ein Wort gesagt.» «Und Sie glauben ihm?» «Zu wem hätte er sich flüchten können? Er ist wie ein aufgescheuchtes Kaninchen zum einzig sicheren Unterschlupf gerannt, den er kennt.» «Um Ihnen alles zu erzählen?» «Er hatte Angst, Sie wollten ihn töten. Eine Heidenangst. Er hat mir alles über Sie erzählt. Algerien, die Legion. Kasfa unter anderem. Was Sie dort getan haben, machte einen tiefen Eindruck auf ihn. Er nannte mir auch den Grund für Ihre heutige Tat. Daß Vassilikos Ihren Großvater gefoltert und ermordet habe.» «Und?» Mikali wartete geduldig. «Ich hätte das Ganze in einem Brief niederschreiben können, ehe ich heute abend meine Wohnung verließ, den Brief dann zusammen mit einem Begleitschreiben an meine Sekretärin schicken können mit dem Auftrag, ihn an die richtigen Leute beim SDECE weiterzuleiten.» «Aber das taten Sie nicht.» «Nein.» «Warum nicht?» Deville ging zum Fenster und öffnete es. Noch immer regnete es. Die nächtlichen Verkehrsgeräusche drangen herein. «Sagen Sie mir eins – sprechen Sie immer Griechisch mit -51­

kretischem Akzent, wie heute abend im Park?» «Nein.» «Das dachte ich mir. Ein glänzender Einfall, auch daß Sie dem Fahrer gegenüber Vassilikos und seine Begleiter als Faschisten bezeichneten. Was natürlich bedeutet, daß man heute nacht in ganz Griechenland Razzien veranstalten wird und jeden Kommunisten, jeden Agitator, jedes Mitglied der Demokratischen Front, dessen man habhaft werden kann, hinter Schloß und Riegel bringt.» «Dann haben sie eben Pech gehabt», sagte Mikali. «Politik langweilt mich. Würden Sie freundlichst zur Sache kommen.» «Die Sache ist höchst einfach, Mister Mikali. Chaos – das Chaos ist mein Geschäft. Ich habe, genau wie meine Auftraggeber, begründetes Interesse daran, so viel Chaos wie möglich in der westlichen Welt zu schaffen. Chaos und Unordnung und Furcht und Unsicherheit, genau wie Sie das gemacht haben, denn was heute nacht in Athen passiert, das geschieht auch in Paris. Es gibt in der ganzen Stadt keinen einzigen linken Agitator, der morgen früh nicht entweder untergetaucht oder in den Fängen der Polizei sein wird. Nicht nur Kommunisten, sondern auch Sozialisten. Das wird der Sozialistischen Partei nicht gefallen, und bald wird es auch den Arbeitern nicht gefallen, was die Regierung angesichts des bevorstehenden Wahltermins in ziemliche Verlegenheit bringt.» Mikali sagte leise: «Wer sind Sie?» «Wie Sie – nicht das, was ich zu sein scheine.» «Sind Sie vom Osten geschickt? Vielleicht sogar von Moskau?» «Spielt das eine Rolle?» «Wie ich schon sagte, interessiere ich mich nicht für Politik.» «Eine ideale Voraussetzung für die Art von Verbindung, die ich suche.» -52­

«Also, was wollen Sie?» «Daß Sie, mein Freund, Ihr Kunststück vom Bois de Meudon wiederholen, sobald ich es verlange. Nur allerhöchste Herrschaften. Ein einzigartiges und völlig privates Abkommen zwischen uns beiden.» Mikali sagte leise: «Erpressung, daraufläuft es hinaus.» «Unsinn! Sie könnten mich und Jarrot jetzt ohne weiteres töten. Einfach weggehen und ziemlich sicher sein, daß niemand je dahinterkommt. Wer würde auf die Idee verfallen, Sie zu verdächtigen? Mein Gott, Sie haben im vergangenen Jahr sogar im Buckingham Palast bei einem Prominentenempfang vor Königin Elisabeth gespielt, nicht wahr? Wenn Sie am Londoner Flugplatz Heathrow landen, was passiert dann?» «Ich werde in den VIP-Salon gebeten.» «Genau. Können Sie sich erinnern, wann irgendwo auf der Welt Ihr Gepäck zum letztenmal vom Zoll kontrolliert wurde?» Devilles Vermutung stimmte genau, und Mikali legte den Colt aufs Fensterbrett und griff nach einer Zigarette. Deville gab ihm Feuer. «Ich möchte eines klarstellen. Genau wie Sie interessiere ich mich überhaupt nic ht für Politik.» «Warum üben Sie dann eine solche Tätigkeit aus?» Deville zuckte die Achseln. «Es ist ein Spiel. Mein einziges. Und ich darf mich glücklich schätzen. Die meisten Menschen haben überhaupt keines.» «Und ich?» sagte Mikali. Deville wandte sich ihm zu. Wie die beiden Männer jetzt so am Fenster in der regenfeuchten Nachtluft standen, herrschte eine seltsame spannungsgeladene Vertrautheit zwischen ihnen. «Meinen Sie Ihre Musik? Ich glaube nicht. Mir tun schöpferische Künstler fast leid. Musiker, Maler, Schriftsteller. Es ist eine so flüchtige Befriedigung, besonders für Schauspieler und Musiker; der denkbar kürzeste Höhepunkt. Danach die -53­

Erschlaffung. Wie in der Liebe. Ovid hat das vor mehr als zweitausend Jahren schon vortrefflich formuliert, und seither hat sich nichts geändert. Nach dem Koitus ist jedes Lebewesen traurig.» Er hatte leise und überaus klug gesprochen. Mit ruhiger, gebildeter Stimme. Einen Augenblick lang fühlte Mikali sich in die Villa auf Hydra versetzt, vor den Kamin mit den Pinienscheiten, wo er so oft seinem Großvater gelauscht hatte. «Aber heute abend – da war es anders. Jeder einzelne gefährliche Moment war ein Hochgenuß für Sie. Ich wage eine Prophezeiung. Morgen werden die Musikkritiker schreiben, daß Sie eines Ihrer großartigsten Konzerte gegeben hätten.» «Ja», sagte Mikali schlicht. «Ich war gut. Die Direktion ließ mir ausrichten, das Konzert vom Freitag sei schon jetzt bis auf den letzten Platz ausverkauft.» «Damals in Algerien töteten Sie wahllos, nicht wahr? Ganze Dörfer – Frauen, Kinder – es war üblich in diesem Krieg. Heute nachmittag haben Sie ein paar Schweine getötet.» Mikali starrte durchs Fenster in die Nacht hinaus und sah in seiner Phantasie die Fellachen in Kasfa sich von dem brennenden Lastwagen abwenden und im Zeitlupentempo näher kommen, während er wartete, eine Hand auf seine Wunden preßte und sich verbissen weigerte, zu sterben. Damals hatte er den Tod viermal mit dessen eigenen Waffen besiegt. Wiederum empfand er die gleiche atemlose Erregung. Die Sache im Bois de Meudon war nicht anders gewesen, das wußte er jetzt. Vergeltung für den Tod seines Großvaters, gewiß, aber danach … Er hob beide Hände. «Geben Sie mir eine Partitur, wählen Sie ein beliebiges Konzert, und ich lasse Sie mit diesen Händen das Wunder der Perfektion erleben.» «Und mehr», sagte Deville leise. «Viel mehr. Ich glaube, Sie wissen das ganz genau.» -54­

Mikalis Atem entwich in einem langgezogenen Seufzer. «Und an wen genau denken Sie?» «Spielt das eine Rolle?» Mikali lächelte ein wenig. «Eigentlich nicht.» «Gut – aber als erstes will ich Ihnen etwas geben, was meine jüdischen Freunde Mizwa nennen würden. Eine gottgefällige Tat, für die ich keine Gegenleistung erwarte. Eigens für Sie. Ihr Terminplan. Besteht die Möglichkeit, daß eine Ihrer Tourneen Sie in der ersten Novemberwoche nach Berlin führt?» «Ich kann mein Auftreten in Berlin selber bestimmen. Ich habe eine ständige Einladung dorthin.» «Sehr gut, General Stephanakis wird am ersten November zu einem dreitägigen Aufenthalt in der Stadt eintreffen. Falls es Sie interessiert: er war Vassilikos’ direkter Vorgesetzter. Ich könnte mir vorstellen, daß dieser Mann Ihnen nicht völlig gleichgültig ist. Aber im Augenblick sollten wir uns wohl um unseren Freund Jarrot kümmern.» «Was schlagen Sie vor?» «Zunächst noch ein bißchen mehr von diesem Napoleon in ihn hineinschütten. Schade um den guten Cognac, aber er steht so schön griffbereit.» Deville zog dem fast bewußtlosen Jarrot den Kopf am Haar in den Nacken und zwängte ihm den Flaschenhals zwischen die Zähne. Er warf einen Blick über die Schulter. «Ich hoffe sehr, daß Sie für das Konzert am Freitag doch noch eine Karte für mich besorgen können. Ich möchte es um keinen Preis versäumen.» Um halb sechs Uhr am nächsten Morgen goß es noch immer in Strömen, als der Streifenpolizist des Reviers im ersten Frühlicht an der Helling stehenblieb, die gegenüber der Rue de Beaune in die Seine führt. Seine Pelerine war völlig durchnäßt, und er fühlte sich so -55­

elend, daß er unter einer Kastanie Schutz suchte, um sich eine Zigarette anzuzünden. Als der Nebel über dem Fluß sich ein wenig hob, sah er etwas drunten im Wasser, am Ende der Helling. Er trat näher heran und sah die Rückwand eines Citroën­ Lasters, dessen Vorderteil unter Wasser lag. Er watete in den eiskalten Fluß, holte tief Atem, packte den Türgriff und zog daran. Als er wieder an Land stapfte, hielt er Claude Jarrot in den Armen. Der gerichtsmedizinische Befund, der bei dem eine Woche später stattfindenden Verfahren vorlag, nannte einen Alkoholspiegel im Blut des Toten, der den für Kraftfahrer zulässigen Promille-Gehalt um das Fünffache überstieg. Das Gerichtsurteil war einfach: Tod durch Unfall. Das Konzert am Freitag erfüllte alle Erwartungen, und beim anschließenden Empfang konnte man den Innenminister persönlich mit dem griechischen Botschafter in einer Ecke plaudern sehen. Als der Andrang der Gratulanten rings um Mikali ein wenig nachließ, trat Deville zu ihm. «Freut mich, daß Sie kommen konnten», sagte Mikali, als sie einen Händedruck tauschten. «Mein lieber Junge, ich hätte es um nichts auf der Welt versäumen wollen. Sie waren fabelhaft – wirklich fabelhaft.» Mikali sah sich in dem überfüllten Raum um, in dem das tout Paris sich ein Stelldichein zu geben schien. «Seltsam, ich fühle mich plötzlich unendlich weit von alledem entfernt.» «Einsam in der Menge?» «So ungefähr.» «Ich fühle mich schon seit fünfundzwanzig Jahren so. Das große Spiel. Die Gratwanderung auf Messers Schneide. Nie wissen, wie lange man noch damit durchkommt. Warten auf das -56­

Ende. Das Klopfen an der Tür.» Deville lächelte. «Eine Erregung besonderer Art.» «Als wäre man ständig high?» sagte Mikali. «Glauben Sie, daß es eines Tages kommen wird, Ihr Ende?» «Vermutlich dann, wenn ich es am wenigsten erwarte, und aus einem denkbar albernen und triviale n Grund.» Mikali sagte: «Gehen Sie noch nicht. Ich muß nur kurz mit dem Innenminister sprechen. Bis später.» «Natürlich.» Der Minister sagte gerade zum griechischen Botschafter: «Selbstverständlich tun wir alles, was in unserer Macht steht, um diesen – diesen Makel auf dem Ehrenschild Frankreichs zu tilgen; aber, unter uns gesagt, Herr Botschafter, Ihr Mann aus Kreta scheint wie vom Erdboden verschwunden. Doch nur für den Augenblick. Früher oder später werden wir ihn zu fassen kriegen, das verspreche ich Ihnen.» Mikali hörte das alles, als er auf die beiden Herren zuschritt. Er lächelte. «Exzellenzen, es ist mir eine Ehre, daß Sie heute abend zugegen sein konnten.» «Ganz unsererseits, Monsieur Mikali.» Der Minister winkte einen Kellner herbei, der auf einem Tablett Champagnergläser herumtrug. Jeder der drei Herren nahm ein Glas. «Eine bewundernswerte Leistung.» Der griechische Botschafter hob den Champagnerkelch. «Auf Ihr Wohl, mein lieber Mikali, und auf Ihr Genie. Griechenland ist stolz auf Sie!» Als Mikali gleichfalls sein Glas hob, trank ihm Jean Paul Deville im Spiegel zu. General Georgios Stephanakis trug sich am Nachmittag des 2. November im Westberliner Hilton-Hotel ein. Er bekam eine Suite auf der vierten Etage, mit angrenzenden Zimmern für -57­

seine Begleitung. Außerdem hatte die Direktion, als eine Geste der Höflichkeit, dafür gesorgt, daß sowohl der Zimmerkellner wie das Zimmermädchen Griechen waren. Das Mädchen hieß Zia Boudakis, war neunzehn, klein, dunkelhaarig und hatte einen olivfarbenen Teint. In ein paar Jahren würde sie zur Fülle neigen, aber noch war sie schlank und zierlich, und als sie an jenem Abend mit Hilfe ihres Hauptschlüssels die Suite betrat, sah sie ausgesprochen reizend aus mit ihren schwarzen Strümpfen und dem kurzen schwarzen Zofenkleidchen. Der General würde um acht Uhr zurückkommen, hatte man ihr gesagt, also beeilte sie sich, die Betten aufzuschlagen und die Suite in Ordnung zu bringen. Sie faltete die Überwürfe zusammen und wandte sich zum Einbauschrank, um sie dort zu verstauen. Sie zog die Schiebetür zur Seite. Der Mann, der im Schrank stand, trug schwarze Hosen und einen schwarzen Pullover, über Kopf und Gesicht hatte er eine Mütze gezogen, die nur Augen, Nase und Lippen freiließ. Das Mädchen bemerkte, daß er ein Seil um die Taille geschlungen hatte und daß die Hand, die ihre Kehle umklammerte, um ihren Schrei zu ersticken, einen Handschuh trug. Und dann war sie zusammen mit ihm in dem dunklen Schrank, die Tür glitt so weit zu, daß nur ein ganz schmaler Spalt offen blieb, durch den man ins Zimmer sehen konnte. Er lockerte seinen Griff, und in ihrem Schock sprach sie instinktiv griechisch. «Bitte, töten Sie mich nicht!» «He, ein Griechenmädel», sagte er zu ihrem größten Erstaunen in ihrer Muttersprache. Sie erkannte den besonderen Akzent sofort. «Oh, mein Gott, Sie sind der Mann aus Kreta.» «Ganz richtig, mein Herz.» Er drehte sie herum, ließ die Hand leicht auf ihrer Kehle ruhen. «Es wird dir nichts geschehen, wenn du vernünftig bist. Wenn nicht, wenn du versuchen -58­

solltest, ihn auf irgendeine Art zu warnen, dann töte ich dich.» «Ja», jammerte sie. «Gut. Wann kommt er?» «Um acht Uhr.» Er blickte auf seine Armbanduhr. «Dann müssen wir noch zwanzig Minuten warten. Wir können es uns getrost bequem machen, nicht wahr?» Er lehnte sich an die Wand und hielt sie fest an sich gepreßt. Sie fürchtete sich jetzt nicht mehr, zumindest nicht mehr so sehr wie anfangs, vielmehr empfand sie eine seltsame Erregung, als er so nah bei ihr stand und mit einem Arm ihre Taille umschlang. Sie schmiegte sich noch ein wenig mehr an ihn, zögernd zuerst, dann unverhohlen, als er lachte und ihren Nacken küßte. Noch nie war sie so erregt gewesen wie jetzt hier im Dunkeln; sie wandte sich ihm zu, als er sie an die Wand drängte und das dunkle Kleidchen hochschob. Danach band er ihr sehr behutsam die Handgelenke hinter dem Rücken zusammen und hauchte ihr ins Ohr: «So, du hast gehabt, was du wolltest, und jetzt sei ein braves Mädchen und sei still.» Er band ihr, wiederum mit erstaunlicher Behutsamkeit, ein Taschentuc h als Knebel vor den Mund, dann wartete er. Man hörte, wie ein Schlüssel im Schloß gedreht wurde, die Tür ging auf, und General Stephanakis wurde von zwei Männern seines Gefolges ins Zimmer geleitet. Alle trugen Uniform. Der General wandte sich um und sagte: «Ich werde duschen und mich umkleiden. Kommen Sie in fünfundvierzig Minuten wieder. Wir essen hier.» Die Männer salutierten, gingen hinaus, und der General schloß die Tür. Er warf die Mütze aufs Bett und fing an, den Waffenrock aufzuknöpfen. Hinter ihm glitt die Tür des -59­

Wandschranks zur Seite und Mikali trat heraus. In der Rechten hielt er eine Pistole mit Schalldämpfer. Stephanakis starrte ihn entgeistert an, und Mikali zog den Gesichtsschutz hoch. «Oh, mein Gott», sagte der General. «Sie – Sie sind der Mann aus Kreta!» «Willkommen in Berlin», sagte Mikali und erschoß ihn. Er knipste alle Lampen aus, zog den Gesichtsschutz wieder über, öffnete dann das Fenster und entrollte das Seil, das er um die Taille geschlungen hatte. Sekunden später schwebte er im Dunkeln hinunter auf das vier Stockwerke tiefer liegende Garagendach. Es war kein besonderes Kunststück. Beim Training in Gasfa an der marokkanischen Küste mußte jeder Fallschirmjäger der Legion sich über eine dreißig Meter hohe Klippe abseilen können, wenn er die Ausbildung bestehen wollte. Sobald er sicher auf dem Dach gelandet war, zog er das Seil nach, rollte es sich rasch wieder um den Leib und sprang dann vom Rand des Garagendachs auf den Boden. Bei den Mülltonnen in der Hintergasse blieb er stehen und nahm den Kopfschutz ab, den er säuberlich faltete und in die Tasche steckte. Dann holte er hinter den Mülltonnen eine gewöhnliche Tragtüte aus Papier hervor, entnahm ihr einen billigen dunklen Regenmantel und zog ihn an. Wenig später ging er schnellen Schritts durch die belebten Straßen zurück in sein Hotel. Um halb zehn Uhr abends traf er in der Berliner Universität ein, wo er vor überfülltem Auditorium Bach und Beethoven spielte. Am nächsten Morgen erhielt Jean Paul Deville ein Telegramm aus Berlin. Es lautete kurz und bündig: Dank für Mizwa. Zu Gegenleistung gern bereit. -60­

Das Telegramm trug keine Unterschrift.

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Der britische Geheimdienst, genauer als MI 5 bekannt, existiert offiziell überhaupt nicht, ist nicht einmal gesetzlich verankert und residiert dennoch in einem weißroten Ziegelbau im Londoner West End, unweit des Hilton Hotel. Die Männer, die dort arbeiten, haben keine Gesichter, keine Namen und widmen ihre Zeit und ihre Fähigkeiten der pausenlosen Beobachtung ausländischer Agententätigkeit in Großbritannien und neuerdings einem Problem, das besorgniserregende Ausmaße angenommen hat: der europäischen Terroristenszene. Doch MI 5 muß sich darauf beschränken, Nachforschungen anzustellen. Die Organisation hat keine Befugnis, jemanden festzunehmen. Wie weit sie überhaupt tätig werden kann, hängt letztlich von der Mitwirkung der Spezialabteilung der Londoner Polizei in Scotland Yard ab. Sie nimmt die Verhaftungen vor, so daß die namenlosen Männer von MI 5 niemals vor Gericht in Erscheinung treten müssen. Daraus erklärt sich, warum am Abend des Attentats auf Maxwell Cohen der Superintendent Harry Baker kurz nach neun Uhr vor dem Leichenschauhaus an der Cromwell Road aus dem Polizei-Jaguar stieg und die Stufen hinaufeilte. Baker stammte aus Yorkshire, und er war seit nunmehr fünfundzwanzig Jahren Polizist. Eine lange Zeit für eine unpopuläre Tätigkeit und eine Arbeit im Drei-Schichten-Dienst, bei der einem nur jedes siebente Wochenende für Heim und Familie zur freien Verfügung stand. Ein Mißstand, über den seine Frau längst kein Wort mehr verlor; aus dem einfachen Grund, weil sie schon vor fünf Jahren ihre Koffer gepackt und die gemeinsame Wohnung verlassen hatte. -62­

Baker hatte graues Haar und eine häßlich gebrochene Nase, ein Andenken an seine Rugby- Zeit. Er sah aus wie ein gutmütiger Boxer, doch sein Äußeres täuschte, denn dahinter verbarg sich eines der fähigsten Gehirne der Spezialabteilung. Sein Assistent, Inspektor George Stewart, wartete rauchend in der Vorhalle. Als er dann Baker sah, ließ er die Zigarette zu Boden fallen, trat sie aus und ging auf den Superintendent zu. Baker sagte: «All right – berichten Sie.» «Mädchen, vierzehn Jahre alt – Megan Helen Morgan.» Er hatte inzwischen sein Notizbuch aufgeschlagen. «Mutter: Mrs. Helen Wood. Verheiratet mit Reverend Francis Wood, Pfarrer von Steeple Durham in Essex. Ich rief ihn vor einer halben Stunde an. Sie sind schon unterwegs hierher.» «Moment mal», sagte Baker, «sonst verlier ich den Faden.» «Die Zimmerwirtin des Mädchens ist dort drinnen, Sir. Eine Mrs. Carter.» Er öffnete eine Tür mit der Aufschrift Warteraum, und Baker ging hinein. Die Frau, die drinnen am Fenster saß, war gedrungen, in mittleren Jahren und trug einen Regenmantel. Ihr Gesicht war fleckig und verschwollen vom Weinen. «Das ist Superintendent Baker. Er bearbeitet den Fall, Mrs. Carter», sagte Stewart. «Würden Sie ihm bitte nochmals sagen, was Sie mir bereits mitgeteilt haben?» Die Frau sagte leise: «Megan wohnte bei mir. Ihre Mutter lebt nämlich in Essex.» «Ja, das wissen wir.» «Sie besuchte die Italia-Conte-Schule. Kennen Sie die? Gesang, Tanz, Schauspiel und dergleichen. Sie wollte zur Bühne. Deshalb war sie hier in London und hat bei mir gewohnt», erklärte sie geduldig zum zweitenmal. «Und heute abend?» «Den ganzen Nachmittag haben sie für ein Musical geprobt, -63­

das sie aufführen wollen. Ich hab ihr gesagt, sie soll vorsichtig sein.» Die Frau wandte sich ab und starrte mit leerem Blick aus dem Fenster. «Ich war nie ruhig, wenn sie bei Dunkelheit noch mit dem Fahrrad unterwegs war.» Dann schwieg sie. Baker legte ihr die Hand auf die Schulter, dann nickte er Stewart zu, und sie gingen hinaus. «Ist Doktor Evans schon da?» «Unterwegs, Sir. Möchten Sie die Tote sehen?» «Nein, diesen Anblick spare ich mir für später auf. Ich habe selber zwei Mädels, wie Sie wissen. Ohnehin kann Evans mit der Autopsie erst anfangen, nachdem die Mutter das Mädchen einwandfrei identifiziert hat.» «Gibt es was Neues über Mr. Cohen, Sir?» «Lebt noch, aber mit einer Kugel im Gehirn; mehr läßt sich nicht sagen. Die Operation ist noch im Gange.» «Werden Sie hier auf Mrs. Wood warten?» «Ja, das habe ich vor. Im Amt weiß man, wo ich bin. Sehen Sie zu, ob Sie Tee für uns auftreiben können.» Stewart ging. Baker zündete sich eine Zigarette an und blickte durch die Glastüren nach draußen. Er fühlte sich so niedergeschlagen wie seit Jahren nicht. Unter anderem fiel der Spezialabteilung stets die Aufgabe zu, für den Schutz von Staatsbesuchen und ähnlichen VIPs zu sorgen. Die Abteilung war mit Recht stolz darauf, daß sie dabei niemals eine Schlappe hatte einstecken müssen. Aber diese Sache mit Max Cohen heute abend – das war etwas völlig anderes. Internationaler Terrorismus der übelsten Sorte, hier, in London. Stewart erschien mit zwei Pappbechern voll Tee. «Kopf hoch, Sir, wir kriegen den Kerl.» «Nicht, wenn’s der ist, den ich in Verdacht habe», erwiderte Harry Baker. -64­

Im gleichen Augenblick schritt John Mikali abermals aufs Podium, um eine weitere stehende Ovation des Publikums entgegenzunehmen. Dann ging er durch den Korridor ab, den die Künstler als den «Laufgang» bezeichneten. Der Inspizient wartete bereits und reichte ihm ein Handtuch. Mikali wischte sich den Schweiß von der Stirn. «So, das reicht», sagte er. «Wer jetzt noch nicht genug hat, muß sich eine Karte für Dienstag kaufen.» Seine Stimme klang gewinnend, sie besaß den aparten Tonfall, den manche Leute als gutes Bostoner Amerikanisch bezeichnen würden, und paßte zu dem lässigen Charme, den er beliebig im Handumdrehen entfalten konnte. «Das haben die meisten bereits getan, Mister Mikali.» Der Inspizient lächelte. «Der Champagner steht in Ihrer Garderobe bereit. Lassen Sie Besucher zu?» «Niemand unter einundzwanzig, George.» Mikali lächelte. «Ich habe eine sehr junge Woche hinter mir.» Im Grünen Zimmer legte er Frack und Hemd ab und schlüpfte in einen Hausmantel. Dann schaltete er das Transistorradio auf dem Toilettentisch ein und griff nach der Champagnerflasche. Er gab ein wenig zerstoßenes Eis ins Glas und füllte es. Als er den ersten erlesenen eiskalten Schluck kostete, wurde die Radiomusik durch eine Meldung unterbrochen. Mister Max Cohen, hieß es, der am frühen Abend von einem unbekannten Attentäter angeschossen wurde, sei erfolgreich operiert worden. Er befinde sich jetzt unter schwerer Polizeibewachung auf der Intensivstation. Es bestehe gute Aussicht auf eine völlige Genesung. Eine ausländische Nachrichtenagentur meldete, zu dem Überfall habe sich die Gruppe Schwarzer September der AlFatah-Bewegung bekannt, die 1971 zur Ausrottung aller Feinde der Palästinensischen Revolution gegründet worden war. Als -65­

Motiv habe die Gruppe Maxwell Cohens massive Unterstützung des Zionismus angegeben. Mikali schloß sekundenlang die Augen, sah hinter den geschlossenen Lidern den brennenden Lastwagen, die vier Fellachen von dort auf sich zuhalten, sah das Grinsen auf dem Gesicht des Anführers, des Mannes mit dem Messer in der Hand. Und dann wechselte das Bild: die Dunkelheit im Tunnel, aus der das weiße, entsetzte Gesicht des Mädchens aufblitzte. Er öffnete die Augen, stellte das Radio ab und trank seinem Spiegelbild zu. «Weniger als Perfektion, alter Freund. Weniger als Perfektion, und das reicht ganz und gar nicht.» Es klopfte. Als er die Tür öffnete, sah er, daß sich im Korridor eine Menge junger Frauen drängten, zumeist Studentinnen, wie die Universitäts-Halstücher zeigten. «Dürfen wir hereinkommen, Mister Mikali?» «Warum nicht.» John Mikali lächelte, der saloppe Charme schien unerschütterlich. «Das Leben ist am schönsten beim großen Mikali. Hereinspaziert in die Höhle des Löwen!» Baker stand in der Vorhalle des Leichenschauhauses und begrüßte Francis Wood. Er sah eigentlich nicht aus wie ein Geistlicher. Baker schätzte ihn auf etwa sechzig Jahre; ein großer freundlicher Mann mit ergrauendem Bart, der das Stutzen bitter nötig hatte. Er trug einen dunklen Mantel und einen hochgeschlossenen blauen Pullover. «Ihre Frau, Sir?» Baker nickte hinüber zur Tür, wo Helen Wood mit Mrs. Carter sprach. «Sie trägt es bemerkenswert gefaßt.» «Eine äußerst charakterfeste Frau, Superintendent. Sie malt, wissen Sie. Hauptsächlich Aquarelle. Unter ihrem früheren Namen war sie recht bekannt.» «Morgan, Sir? Ja, ich habe mich schon gefragt … Mrs. Wood -66­

war wohl verwitwet?» «Nein, Superintendent – geschieden.» Francis Wood lächelte ein wenig. «Das dürfte Sie überraschen, wenn Sie die Einstellung der Kirche von England kennen. Die Erklärung ist aber ganz einfach. Um eine altmodische Redewendung zu gebrauchen, ich verfüge über eigene Mittel. Ich kann es mir leisten, aus der Reihe zu tanzen. Gleich nachdem wir heirateten, hatte ich ein paar Jahre lang keine Anstellung, dann schrieb mir mein jetziger Bischof wegen Steeple Durham. Nicht gerade der Nabel der Welt, aber die Leute dort waren schon seit sechs Jahren ohne Pfarrer und wollten mit mir vorliebnehmen. Und mein Bischof ist, wenn ich das noch bemerken darf, ein Mann, der für seine liberalen Ansichten bekannt ist.» «Und der Vater des Mädchens? Wo ist er zu erreichen? Wir müssen ihn so schnell wie möglich benachrichtigen.» Ehe Francis Wood antworten konnte, hatte Mrs. Carter sich verabschiedet, und seine Frau kam auf die beiden Männer zu. Sie war, wie Baker von Stewart erfahren hatte, siebenunddreißig, sah jedoch zehn Jahre jünger aus. Das im Nacken zusammengebundene aschblonde Haar war straff aus einem ungewöhnlich schönen Gesicht gebürstet, und noch nie hatte Baker so völlig ruhige Augen gesehen. Mrs. Wood trug einen Militär-Trenchcoat, auf dessen Schulterklappen einst die drei Sterne eines Captain gesteckt haben mußten, wie das scharfe Polizistenauge noch an den Einstichlöchern erkennen konnte. «Ich bedauere sehr, Ihnen das zumuten zu müssen, Mrs. Wood, aber es ist Zeit, die Identifizierung vorzunehmen.» «Würden Sie bitte vorausgehen, Superintendent», sagte sie mit leiser, süßer Stimme. Doktor Evans, der Gerichtsmediziner, wartete im Leichensaal; die beiden Gehilfen trugen bereits weiße Overalls und Stiefel und lange hellgrüne Gummihandschuhe. -67­

Der Saal wurde durch Neonlampen so hell erleuchtet, daß die Augen schmerzten. Die Einrichtung bestand aus einem halben Dutzend Obduktionstischen aus rostfreiem Stahl. Das Mädchen lag auf dem Rücken auf dem ersten Tisch unter einem Laken, der Kopf ruhte auf einer hölzernen Stütze. Helen Wood und ihr Mann traten an den Tisch, Baker und Stewart folgten ihnen. Baker sagte: «Eine schlimme Sache für Sie, Mrs. Wood, aber es muß sein.» «Bitte», sagte sie. Er nickte Evans zu, und der Arzt zog das Laken ein wenig zurück, so daß nur der Kopf sichtbar wurde. Die Augen des Mädchens waren geschlossen, das Gesicht unversehrt, doch der Kopf wurde von einer weißen Gummikapuze umschlossen. «Ja», flüsterte Helen Wood. «Das ist Megan.» Sie sagte es ruhig, ohne merkbare Erregung. Evans deckte das Gesicht wieder zu, und Baker sagte: «So, dann können wir gehen.» «Was passiert jetzt?» flüsterte Helen Wood. «Mit Megan?» Die Antwort kam von Francis Wood. «Man muß eine Autopsie vornehmen, Liebes. Das Gesetz verlangt es. Damit bei der gerichtlichen Leichenschau die Todesursache amtlich bestätigt werden kann.» «Ich möchte bleiben», sagte sie. Baker reagierte instinktiv genau richtig. «Gut, bleiben Sie hier, wenn Sie unbedingt wollen, aber schon nach fünf Minuten werden Sie sich vorkommen wie in einem Metzgerladen. Ich glaube nicht, daß Sie Ihre Tochter so in Erinnerung behalten möchten.» Es war brutal, es war direkt, und es tat seine Wirkung. Sie brach jäh zusammen, fiel halb ohnmächtig gegen Wood, und Stewart eilte hin, um sie zu stützen. Gemeinsam führten die -68­

beiden Männer sie hinaus. Baker wandte sich Evans zu und sah nur Mitleid auf dessen Gesicht. «Ja, ich weiß. Doc. Ein Scheißberuf.» Er ging. Evans drehte sich um und nickte. Einer der Gehilfen stellte ein Bandgerät an, der andere entfernte das Laken vom Körper des toten Mädchens. Evans begann mit monotoner ungerührter Stimme zu sprechen. «Zeit, dreiundzwanzig Uhr fünfzehn. Einundzwanzigster Juli neunzehnhundertzweiundsiebzig. Pathologe vom Dienst, Mervyn Evans, Dozent für Gerichtsmedizin an der Medizinischen Fakultät der Universität London. Leiche weiblich, Alter vierzehn Jahre einen Monat. Megan Helen Morgan. Eintritt des Todes etwa neunzehn Uhr fünfzehn heutigen Datums, als Folge eines Verkehrsunfalls mit Fahrerflucht.» Wieder nickte er, und einer der Gehilfen zog die Gummikappe vom Kopf der Toten, worauf die Spuren einer mehrfachen Schädelfraktur deutlich sic htbar wurden. Doktor Evans griff nach einem Skalpell, und während er mit unverändert präziser Stimme jede einzelne seiner Bewegungen zu Protokoll gab, führte er die Klinge rings um den Schädel. Francis Wood kam durch die Pendeltüren wieder in die Vorhalle, wo Baker und Stewart auf ihn warteten. «Es wird ihr bald bessergehen. Sie ist jetzt im Auto.» «Was werden Sie tun, Sir? In einem Hotel übernachten?» «Nein, sie möchte nach Hause.» «Schwierige Fahrt um diese Nachtzeit, auf den Landstraßen von Essex.» «Ich war anno fünfzig Feldgeistlicher bei der Royal Artillery in Korea, als im Winter eine Million Chinesen aus der Mandschurei einstürmten und uns wieder nach Süden trieben. -69­

Ich fuhr einen Bedford-Laster durch tiefen Schnee, vierhundert Meilen weit, und unsere Verfolger waren nie sehr weit hinter uns. Wissen Sie, wir hatten damals nicht genügend Fahrer.» «Ein harter Weg zum LKW-Führerschein», kommentierte Baker. «Es gibt Erfahrungen, Superintendent – und dies ist einer der interessanten Aspekte des Lebens –, d ie so schrecklich sind, daß alles, was danach kommt, einen nicht mehr erschüttern kann.» Sie redeten jetzt nur, um überhaupt etwas zu sagen, und sie wußten es beide. Bis Baker wieder zur Sache kam. «Eine Bitte noch, Sir. Meine vorgesetzte Dienststelle hat mich angerufen. Offenbar soll aus Sicherheitsgründen nichts über eine direkte Verbindung zwischen dem Tod Ihrer Tochter und dem Anschlag auf Cohen an die Öffentlichkeit dringen. Ich hoffe, daß Sie und Mrs. Wood für diese Maßnahme Verständnis aufbringen können.» «Ehrlich gesagt, Superintendent, nach meiner Überzeugung wünscht meine Frau sich nichts sehnlicher, als daß diese entsetzliche Sache so diskret wie irgend möglich gehandhabt wird.» Er wandte sich zur Tür, dann machte er nochmals halt. «Aber wir haben noch etwas vergessen. Sie fragten mich, wer Megans Vater sei.» «Stimmt, Sir. Wo können wir ihn erreichen?» Baker nickte, und Stewart zückte sein Notizbuch. «Dürfte ziemlich schwierig sein. Er ist zur Zeit nicht im Lande.» «Im Ausland, Sir?» «Das kommt ganz auf Ihren Standpunkt an, Superintendent. Er hält sich im Moment in Belfast auf. Colonel Asa Morgan, Fallschirmjäger-Regiment. Die zuständige Abteilung im Verteidigungsministerium kann Ihnen vermutlich helfen, -70­

Verbindung mit ihm aufzunehmen, aber das alles wissen Sie ja weit besser als ich.» «Ja, Sir, überlassen Sie das uns.» «Dann also, gute Nacht.» Die Tür schwang hinter ihm zu. Stewart sagte: «Colonel Asa Morgan, Fallschirmjäger-Regiment. Darf ich mal was sagen, Sir? Ein solcher Mann dürfte nicht allzu angenehm berührt sein, wenn er unsere Mitteilung erhält.» «Das ist so eine Untertreibung dieses mistigen Jahrhunderts», erwiderte Baker heftig. «Kennen Sie ihn, Sir?» «Ja, Inspektor. Das kann man wohl sagen.» Baker ging schnell zur Portierloge, rief Scotland Yard an und bat um eine Verbindung mit Joe Harvey, dem Chef der Spezialabteilung, der sich, wie er wußte, bereits für die Nacht auf einem Feldbett in seinem Büro installiert hatte. «Hier Harry Baker, Sir», sagte er, als Harvey sich meldete. «Ich bin im Leichenschauhaus. Das Mädchen, das unser Freund auf seiner Flucht im Paddington-Tunnel überfahren hat – die Mutter ist soeben wieder weggegangen, nachdem sie ihre Tochter identifiziert hat. Eine Mrs. Helen Wood.» «Ich dachte, die Kleine heiße Morgan?» «Die Mutter ist geschieden, Sir. Ihr zweiter Ehemann ist Pfarrer, in Steeple Durham.» Baker zögerte. «Tut mir leid, Sir, was jetzt kommt, werden Sie nicht gern hören. Der Vater …» Wieder zögerte er. Harvey sagte: «Lassen Sie’s schon raus, Harry, Herrgottnochma l.» «Ist Asa Morgan.» Eine Weile hörte man gar nichts, dann sagte Harvey: «Heiliger Gott im Himmel, das hat uns gerade noch gefehlt.» «Ich weiß nur, daß er im Sultanat Oman beim Special Air -71­

Service war. Wissen Sie, was für eine Truppe das ist, George?» Baker stand am Fenster seines Büros. Es war kurz nach Mitternacht, und der Regen trommelte gegen die Scheiben. Stewart reichte ihm eine Tasse Tee. «Keine Ahnung, Sir.» «Im Militärjargon bezeichnet man sie als Elite-Einheit. Die Army spricht so wenig wie möglich vom Special Air Service. Jeder aktive Soldat kann sich freiwillig melden. Verpflichtung auf drei Jahre ist die Regel, soviel ich weiß.» «Und was tun sie genau?» «Alles, was man keiner anderen Einheit zumuten könnte. Fast eine Art SS in der British Army. Zur Zeit sind sie in Oman, an den Sultan ausgeliehen, und machen seinen marxistischen Rebellen in den Bergen die Hölle heiß. In Malaysia waren sie auch, während der Partisanenaufstände. Damals habe ich sie kennengelernt.» «Ich wußte gar nicht, daß Sie da unten waren, Sir.» «Zur Verstärkung abgestellt. Sie kamen nicht so recht zu Rande mit den chinesischen Kommunisten im Untergrund und fanden, daß vielleicht ein paar echte Polypen helfen könnten. Dort lernte ich Morgan kennen.» «Und was ist mit ihm, Sir?» fragte Stewart. «Was ist an ihm so Besonderes?« Baker stopfte umständlich seine Pfeife. «Er muß jetzt verdammt nah an fünfzig sein, unser Asa. Sohn eines Waliser Bergmanns aus dem Rhondda-Bezirk. Ich weiß nicht, was ihm im Weltkrieg alles passiert ist, nur, daß er einer von den armen Hunden war, die über Arnheim abgesprungen sind. Er war damals Sergeant. Kam später als Leutnant zum Stab.» «Und danach?» «Palästina. Seine erste Kostprobe von Stadtguerillas, wie er selber gern sagte. Danach wurde er zu den Ulster-Rifles abgestellt und ging mit ihnen nach Korea. Von den Chinesen -72­

geschnappt. Hatten ihn ein Jahr lang, diese Hunde. Ich weiß, daß einige Leute allen Ernstes glaubten, der ganze Gehirnwäschekram, den sie mit unseren Jungens anstellten, sei ihm wirklich in den Kopf gestiegen.» «Wie meinen Sie das, Sir?» «Als er zurückkam, schrieb er eine Abhandlung über, wie er es nannte, ein neues Konzept revolutionärer Kriegführung. Hat dauernd Mao Tsetung zitiert, als war’s die Bibel. Ich vermute, daß der Generalstab zu dem Schluß kam, er sei entweder Kommunist geworden oder wisse, wovon er spreche, also schickten sie ihn nach Malaysia, wo ich ihn, wie gesagt, kennenlernte. Wir haben eine ganze Weile zusammengearbeitet.» «Erfolgreich?» «Wir haben schließlich gewonnen, oder? Der einzige Kommunistenaufstand seit dem Zweiten Weltkrieg, der erfolgreich niedergeschlagen wurde, war der in Malaysia.» «Und Morgan?» «Ich sah ihn für einige Zeit in Nikosia wieder, während der Zypern-Krise, als ich für die gleiche Aufgabe dorthin abkommandiert wurde. Dabei fällt mir ein, er hatte kurz vor seiner Abreise aus England geheiratet, ja, das Alter des Mädchens würde also stimmen. Ich erinnere mich, gehört zu haben, daß er 1967 in Aden war, weil er einen Verdienstorden bekam: er hat damals eine Abteilung der Argyle and Sutherland Highlanders herausgehauen, die im Krater-Distrikt in einen Hinterhalt geraten waren.» «Muß demnach ein toller Hecht sein.» «O ja, so könnte man sagen. Einer der alten Kriegermönche. Die Army ist sein ein und alles. Familie und Heimat in einem. Es wundert mich nicht, daß seine Frau ihn verlassen hat.» «Was er wohl tun wird, Sir, wenn er erfährt, was seiner -73­

Tochter zugestoßen ist?» «Das weiß Gott allein, George, aber ich kann mir’s ungefähr vorstellen.» Der Wind rüttelte am Fenster, und draußen fegte der Regen von der Themse her über die Hausdächer.

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3

Aber auch in Belfast hatte sich an diesem Tag Ungewöhnliches ereignet. An diesem Tag, der als Blutiger Freitag in die Geschichte des Krieges in Ulster eingehen sollte. Die erste Bombe explodierte um vierzehn Uhr zehn an der Bushaltestelle von Smithfield, die letzte im Einkaufszentrum an der Cavehill Road um fünfzehn Uhr fünfzehn. Zweiundzwanzig Bomben insgesamt, an allen Ecken und Enden der Stadt, vorwiegend an Stellen, wo mit größeren Menschenansammlungen zu rechnen war. Ob Protestanten oder Katholiken war egal. Am Ende des Tages zählte man neun Tote und einhundertdreißig Verletzte. Um Mitternacht war noch immer ein starkes Militäraufgebot unterwegs. Nicht weniger als zwölf der an diesem Tag hochgegangenen Bomben waren in der Gegend der New Lodge Road explodiert, dem Einsatzbereich des 40. Kommandos der Royal Marines. In einer mit Schutt und Glassplittern übersäten Seitenstraße der New Lodge Road kauerte ein Dutzend Marinesoldaten an der Mauer gegenüber einem Flammenherd, der einst Cohan’s Select Bar gewesen war. Zwei Offiziere standen gelassen in der Mitte der Fahrbahn und prüften die Lage. Der eine war Leutnant der Marinetruppe. Der andere trug das rote Barett der Fallschirmjäger und einen Tarnanzug mit offenem Halskragen, keine sichtbaren Rangabzeichen und keine Fliegerjacke. Das dunkle, gezeichnete Gesicht verriet, daß er die Welt, in der wir leben, allzugut kennengelernt und jetzt nur noch Verachtung für sie übrig hatte. Ein kleiner dunkler Mann mit gutgebauten Schultern, erfüllt von rastloser Vitalität, die durch das Bambusstöckchen, mit dem er sich gegen das rechte Knie schlug, noch betont wurde. -75­

«Wer ist der Para, dieser Fallschirmjäger dort drüben?» flüsterte einer der Marinesoldaten seinem Nebenmann zu. «Der Verantwortliche für die Spezialabteilung beim Stab – Colonel Morgan. Scharfer Hund, wie man so hört», antwortete der Gefragte. Hinter der Brüstung des Flachdachs eines siebzig Meter entfernten Häuserblocks kauerten zwei Männer. Der eine war Liam O’Hagan, derzeit höchster Nachrichtenoffizier der Provisional IRA in Ulster. Er beobachtete die Vorgänge in der Umgebung von Cohan’s Bar durch ein Zeiss-Nachtfernrohr. Der junge Mann neben ihm trug ein Lee-Enfield-Gewehr des Standarttyps 0.303, wie es sowohl die Army wie die IRAScharfschützen verwenden. Die Waffe war mit einem InfrarotNachtsichtgerät versehen, so daß der Schütze sein Ziel auch im Dunkeln ausmachen konnte. Er stützte jetzt den Gewehrlauf auf die Brüstung und blickte durch das Zielfernrohr. «Zuerst putz ich den verdammten Para weg.» «Nein, das wirst du nicht tun», erwiderte O’Hagan leise. «Und warum nicht?» «Weil ich es dir sage.» Drunten fegte ein Landrover um die Ecke, ein zweiter folgte dicht dahinter. Alle entbehrlichen Teile waren abmontiert, so daß die Fahrer und die drei Soldaten, die hinten in den Fahrzeugen kauerten, völlig schutzlos waren. Lauter Fallschirmjäger, tüchtige, hart aussehende junge Männer mit roten Baretts und Tarnjacken, die ihre SterlingMPs im Anschlag hielten. «Jetzt sieh dir doch das mal an! Betteln direkt darum, daß man sie abknallt, diese blöden Hunde. Sag mir bloß nicht, daß ich auch keinem von denen einen Schuß verpassen darf?» -76­

«Es würde dein letzter sein», verwies ihn O’Hagan. «Die wissen genau, was sie tun. Sie haben diese Expositionstechnik in Aden zur Perfektion entwickelt. Ohne hinderliche Panzerung können sie das Feuer umgehend erwidern.» «Verdammte SS», sagte der Junge. O’Hagan kicherte. «Müßtest du mal zu einem Mann sagen, der seinerzeit im Dienst der Krone gestanden hat.» Drunten kletterte Asa Morgan auf den Beifahrersitz des ersten Landrover, und die beiden Wagen fuhren weg. Der Marineleutnant rief einen Befehl, und die Abteilung stand auf und marschierte ab. Die Straße lag jetzt schweigend da, nur aus den noch immer hellauf lodernden Flammen in Cohan’s Bar hörte man gelegentlich den Knall einer Flasche, die von der Hitze erfaßt wurde. «Heilige Mutter Gottes, der ganze gute Whiskey geht zum Teufel», sagte Liam O’Hagan. «Aber sei’s drum, der Tag wird kommen, so jedenfalls behaupten meine sozialdemokratischen Kameraden, an dem nicht nur Irland wieder frei und vereint sein wird, sondern auch im Haus eines jeden anständigen Iren der Whiskey aus den Wasserhähnen rinnt.» Er grinste und versetzte dem Jungen einen Schlag auf die Schulter. «Und jetzt, Seumas, mein Junge, sollten wir uns schleunigst von hier verziehen.» Morgan stand neben dem Schreibtisch im Büro des Kommandeurs im Grand Central Hotel an der Royal Avenue. Das Hotel, in dem 500 Soldaten einquartiert waren, diente als Einsatzzentrale für das in der Innenstadt operierende Regiment. Morgan starrte mit ausdruckslosem Gesicht auf das Fernschreiben in seiner Hand, und der junge Stabsoffizier, der es vom Hauptquartier gebracht hatte, scharrte verlegen mit den Füßen. «Der Herr General hat mir aufgetragen, sein aufrichtiges -77­

Beileid zu übermitteln. Eine schreckliche Sache. Er hat Genehmigung erteilt, daß Sie mit der ersten verfügbaren Maschine nach London fliegen.» Morgan runzelte die Stirn. «Das ist sehr freundlich. Aber was soll aus Operation Motorman werden?» «Man wird Ihre Pflichten jemand anderem übertragen, Colonel. Befehl aus dem Verteidigungsministerium.» «Dann mache ich gleich mein Gepäck fertig.» Irgendwo in der Ferne hörte man das dumpfe Krachen einer Explosion und das Rattern von Maschinengewehrfeuer. Der junge Offizier fuhr hoch. «Kein Grund zur Aufregung», belehrte ihn Asa Morgan. «Nur die nächtliche Geräuschkulisse von Belfast», und er verließ das Büro. Steeple Durha m liegt in Essex, nicht weit vom Fluß Blackwater entfernt. Marschen, Buchten, hohes Gras, das in ständiger Bewegung die Farbe wechselt, wie von unsichtbarer Hand gebürstet, überall Wassergurgeln. Eine unwirtliche Gegend, die vorwiegend von Vögeln bevölkert ist. Von Wasserläufern, Brachvögeln und Wildgänsen, die aus Sibirien in den Westen ziehen, um in den Brüchen zu überwintern. Das Dorf war eine winzige verstreute Siedlung sächsischen Ursprungs, und zumindest die Krypta der Kirche war ebenso alt, der Rest stammte aus der Normannenzeit. Francis Wood arbeitete auf dem Friedhof; mit einem alten Handmäher stutzte er das Gras zwischen den Gräbern, als der silbergraue Sportwagen vor dem Tor hielt und Asa Morgan ausstieg. Er trug eine Freizeithose, ein dunkelblaues Polohemd und eine braune Fliegerjacke aus Leder. «Hallo, Francis», sagte er. Francis Wood warf einen Blick hinüber zu Morgans Carrera -78­

Targa. «Immer noch den Porsche, wie ich sehe.» «Irgendwie muß ich mein Geld ja loswerden. Ich habe noch immer die Wohnung in Gresham Place. Mit Tiefgarage. Sehr bequem.» Raben flogen aus den Buchen über ihren Köpfen auf und krächzten ärgerlich. Wood sagte: «Es tut mir leid, Asa. Mehr, als ich jemals sagen könnte.» «Wann ist das Begräbnis?» «Morgen nachmittag. Halb drei.» «Werden Sie dabei amtieren?» «Wenn von Ihrer Seite keine Einwände bestehen.» «Unsinn, Francis. Wie trägt es Helen?» «Sie ist bisher nicht zusammengebrochen, wenn Sie das meinen. Falls Sie Helen aufsuchen wollen, sie ist am Deich und malt. Ich möchte zu größter Behutsamkeit raten.» «Warum?» «Man hat Ihnen doch gewiß die besonderen Umstände von Megans Tod mitgeteilt.» «Sie wurde von einem Autofahrer getötet, der Fahrerflucht beging.» «Es steckte noch einiges mehr dahinter, Asa.» Morgan starrte ihn an. «Dann erzählen Sie mir bitte alles, was Sie wissen, Francis.» Morgan folgte dem Weg durch das Kirchhofgatter und um das graue steinerne Pfarrhaus mit dem Ziegeldach herum, dann schlug er den Pfad ein, der am Deich entlang zur Meeresbucht führte. Er sah sie schon von weitem an ihrer Staffelei sitzen, in dem alten Militärtrenchcoat, den er ihr im Jahr ihrer Eheschließung gekauft hatte. Als sie ihn näher kommen hörte, warf sie einen Blick über die -79­

Schulter, dann malte sie weiter. Er blieb eine Weile schweigend hinter ihr stehen. Sie arbeitete an einem Aquarell, natürlich, es war ihre bevorzugte Technik. Die Marschen und das Meer und dahinter einen grauen regenschweren Himmel, wirklich ein sehr schönes Bild. «Du machst Fortschritte.» «Hallo, Asa.» Er ließ sich neben ihr auf einer Grasbank nieder, rauchte, und sie malte weiter, ohne ihn ein einzigesmal anzusehen. «Wie war’s in Belfast?» «Ziemlich übel.» «Das freut mich», sagte sie. «Ihr seid einander wert.» Er erwiderte ruhig: «Ich dachte immer, diese Feststellung träfe besonders auf uns beide zu.» «Nein, Asa, was immer ich in diesem Leben verdient haben mag, dich ganz bestimmt nicht.» «Ich habe nie vorgegeben, etwas anderes zu sein, als ich bin.» «In unserer Hochzeitsnacht sind wir zusammen zu Bett gegangen, und am nächsten Morgen bin ich neben einem Fremden aufgewacht. Sobald irgendwo ein mieser kleiner Krieg ausbrach, hast du dich als erster freiwillig melden müssen. Zypern, Borneo, Aden, Oman und nun dieser Schlachthofjenseits der Irischen See.» «Dafür werde ich bezahlt. Du hast gewußt, worauf du dich einläßt.» Jetzt wurde sie zornig. «Den Teufel hab ich gewußt. Ganz bestimmt nicht Zypern und was du dort für Ferguson getan hast.» «Nur eine andere Art von Kriegsdienst, die Jagd auf Stadtguerillas», sagte er. «Mit anderen Spielregeln.» «Welchen Spielregeln? Folter, Gehirnwäsche? Einen Mann -80­

mit einem Eimer auf dem Kopf gegen die Wand kippen, so daß er sich nur mit den Fingerspitzen abstützen kann, vierundzwanzig Stunden lang? Stand nicht in den Zeitungen, daß du das in Nikosia getan hast? Benutzt du diese Methode auch in Belfast, oder ist dir inzwischen eine elegantere Version eingefallen?» Seine Miene wurde bitter, er stand auf. «Das bringt uns nicht weiter.» «Weißt du, warum ich dich verließ?» sagte sie. «Weißt du, wann ich mich endgültig entschlossen habe? Als du in Aden warst. Damals stand in den Zeitungen, daß einer deiner Spähtrupps in einen Hinterhalt gelockt wurde und du daraufhin zu Fuß in den Krater gingst, völlig unbewaffnet bis auf dieses verdammte Offiziersstöckchen, und dich vor dem Panzerwagen aufgestellt hast, damit die Rebellen auf dich schießen sollten. Als ich das las, auf jeder Zeitungsseite das Foto sah, da habe ich meine Koffer gepackt, denn da war mir klar, daß ich seit zehn Jahren mit einer Leiche auf Urlaub verheiratet war.» Morgan sagte: «Ich habe sie nicht getötet, Helen.» «Nein, aber ein Mann, der dir sehr ähnlich sein muß.» Es war vielleicht das Grausamste, was sie hatte sagen können. Alle Farbe wich aus seinem Gesicht. Eine Sekunde lang überkam sie der Wunsch, die Hände auszustrecken, ihn noch einmal in ihren Armen zu halten. Ihn an sich zu binden, als könne sie die unglaubliche Lebenskraft dieses Mannes fesseln, den innersten Kern seines Wesens, der ihr immer entglitten war. Doch ein solcher Versuch wäre grenzenlos töricht gewesen, zum Scheitern verurteilt, wie er auch damals immer gescheitert war. Sie unterdrückte jeden Anflug von Mitgefühl und fuhr mit kalter Stimme fort: «Hat Francis dich über das Begräbnis ins Bild gesetzt?» «Ja.» «Wir hoffen, daß alles sehr still vonstatten geht. Aus -81­

Sicherheitsgründen darf nichts über einen Zusammenhang mit dem Fall Cohen an die Öffentlichkeit dringen, und wir sind froh darüber. Wenn du sie sehen möchtest, sie ist in einem Bestattungsinstitut in Grantham. Pool und Sohn – George Street. Und jetzt bitte geh, Asa.» Er blieb noch eine Weile stehen und sah sie an, dann ging er. Mr. Henry Pool öffnete eine Korridortür und schritt Morgan zur Aufbahrungskapelle voran. Die Luft war schwer von Blumenduft, und Tonbandmusik lieferte einen passenden feierlichen Rahmen. Zu beiden Seiten der Kapelle befanden sich ein halbes Dutzend Nischen, und Mr. Pool komplimentierte Morgan in eine von ihnen. Alles war voller Blumen, und auf einer verhüllten Bahre stand ein Eichensarg, dessen Deckel ein Stück zurückgeschoben war. Der Assistent, der Morgan bei dessen Eintreffen im Institut in Empfang genommen hatte, ein großer magerer junger Mann namens Garvey, im dunklen Anzug und schwarzer Krawatte, stand auf der anderen Seite des Sarges. Die Augen des Mädchens waren geschlossen, die Lippen ein wenig geöffnet, leicht mit Rouge getönt, das Gesicht dick geschminkt. Garvey sagte: «Ich habe mein möglichstes getan, Mister Pool.» Er wandte sich an Morgan. «Schwerer Schädelbruch, Sir. Sehr schwierige Arbeit.» Doch Morgan hörte ihn nicht, denn als er zum letztenmal auf das Gesicht seiner Tochter niederblickte, stieg Galle ihm in den Mund und drohte ihn zu ersticken. Er wandte sich ab und taumelte ins Freie. Als Stewart ihm später am gleichen Nachmittag die Tür zu Harry Bakers Büro aufhielt, stand der Superintendent am -82­

Fenster und sah hinaus. Er wandte sich um. «Hallo, Asa. Lange nicht gesehen.» «Harry.» «Der gute Hirte hat mit Ihnen gesprochen, wie?» «Ja, hat er.» Morgan setzte sich, und Baker sagte: «Das ist George Stewart, mein Inspektor.» Dann nahm er hinter seinem Schreibtisch Platz. Morgan sagte: «All right, Harry. Was können Sie mir sagen?» «Nichts», erwiderte Baker. «Höchste Geheimhaltungsstufe. Die Spezialabteilung erledigt nur die grobe Arbeit. Der Fall liegt bei MI 5. Gruppe Vier, die mit neuen Befugnissen ausgestattet wurde, direkt vom Premierminister persönlich. Dort laufen die Fäden über alle Terroranschläge, subversiven Aktivitäten und dergleichen zusammen.» «Wer leitet die Gruppe?» «Ferguson.» «Das mußte ja kommen. Du lieber Gott, es ist, als tappt man ständig im Kreis, wie? Wann kann ich zu ihm?» Baker warf einen Blick auf die Uhr. «In etwa fünfunddreißig Minuten in seiner Wohnung am Cavendish Square. Er würde Sie lieber dort empfangen.» Er stand auf. «Kommen Sie – ich fahre Sie hin.» Morgan stand auf. «Danke, nicht nötig.» «Befehl, alter Knabe.» Baker grinste. «Und Sie wissen, was Ferguson von Leuten hält, die seine Befehle nicht ausführen.» Brigadier Charles Ferguson war ein massiger, freundlich wirkender Mann, dem der zerknitterte blaue Anzug um eine Nummer zu groß zu sein schien. Das einzig Militärische an seiner äußeren Erscheinung war die Garde-Krawatte. Das wirre -83­

graue Haar, das Doppelkinn, die Halbbrille, mit deren Hilfe er am Kaminfeuer die Financial Times las, als Morgan und Baker ins Zimmer geführt wurden, alles half zusammen, um ihm das Aussehen eines nicht eben berühmten Gelehrten zu verleihen. «Asa, mein lieber Junge, freut mich, Sie zu sehen.» Die Stimme war sonor, ein wenig überlaut, wie die eines alternden Schauspielers einer zweitklassigen Tourneetruppe, der ganz sichergehen möchte, daß man ihn auch noch in den hintersten Reihen des Hauses hören kann. Er nickte dem Diener zu, einem ehemaligen Gurkha-Soldaten, der geduldig an der Tür wartete. «All right, Kim. Tee für drei Personen.» Der Gurkha zog sich zurück, und Morgan sah sich im Zimmer um. Der Adam-Kamin war echt, so echt wie das Feuer, das darin brannte. Auch alles übrige war reinster georgianischer Stil. Die ganze Einrichtung, sogar die schweren Vorhänge, paßte perfekt zusammen. «Hübsch, nicht wahr?» sagte Ferguson. «Hat meine jüngere Tochter Ellie gemacht. Sie ist jetzt Innenarchitektin.» Morgan trat ans Fenster und blickte hinaus auf den Platz. «Sie wußten sich schon immer gut einzurichten.» «Du meine Güte, wollen Sie am Ende eklig werden, Asa? Wäre wirklich zu schade. Na schön, bringen wir’s hinter uns. Sie wollten mich sprechen?» Morgan warf einen raschen Blick zu Baker hinüber, der auf der anderen Seite des Zimmers in einem Ledersessel saß und seine Pfeife stopfte. «Laut Harry war es genau umgekehrt.» «Ach wirklich?» sagte Ferguson sonnig. Der Gurkha erschien mit einem Tablett, stellte es neben dem Kamin ab und verschwand wieder. Ferguson griff nach der Teekanne. «Herrgottnochmal!» platzte Morgan erbittert heraus. -84­

«All right, Asa. Inzwischen wissen Sie, daß der Mann, der auf Maxwell Cohen schoß, auch Ihre Tochter im Paddington-Tunnel überfahren hat. Richtig?» «Richtig.» «Und sehr begreiflicherweise möchten Sie ihn gern in die Finger bekommen. Aber wir auch. Desgleichen die Geheimdienste der meisten bedeutenderen Staaten. Nun wissen wir über den betreffenden Herrn mit Sicherheit das eine: daß er die gleiche Gepflogenheit mit regelmäßigem und recht spektakulärem Erfolg in sämtlichen Ländern der Welt seit nunmehr ungefähr drei Jahren ausübt.» «Und was wird dagegen unternommen?» «Das können Sie getrost uns überlassen. Ich stehe in ständigem Kontakt mit dem Verteidigungsministerium. Man hat mir mitgeteilt, daß Ihnen aufgrund der besonderen Umstände ein Monat Urlaub gewährt wird.» Ferguson war ernst geworden. «Ich an Ihrer Stelle, Asa, würde meine Toten begraben und dann eine Weile so weit wie möglich von hier wegfahren.» «Was Sie nicht sagen!» Der Waliser Akzent machte sich bemerkbar, wie immer in Augenblicken besonderer Anspannung. Morgan wandte sich an Baker. «Und Sie, Harry? Würden Sie das auch tun?» Baker sah unbehaglich drein. Ferguson sagte: «Es wird sogar Ihre Beförderung für den Herbst in Erwägung gezogen, oder haben Sie vielleicht schon was flüstern gehört? Brigadier, Asa, in Ihrem Alter, das bedeutet, daß Sie es vor der Pensionierung mindestens zum Generalmajor bringen sollten. Ein Grund, stolz zu sein.» «Für wen?» «Vertun Sie Ihre Chance nicht, Asa. Sie haben einen weiten Weg zurückgelegt.» «Für einen kleinen Waliser Grubenjungen, der mit -85­

durchgewetztem Hosenboden zur Anwerbestelle gekommen ist – wollen Sie das damit sagen?» Morgan marschierte aus dem Zimmer und schmetterte die Tür hinter sich zu. Baker sagte: «Sie haben ihn ein bißchen rauh angefaßt, Sir.» «Was genau meine Absicht war, Superintendent. Wenn er den Siedepunkt erreicht hat, kommt er garantiert wieder.» Ferguson griff erneut nach der Teekanne. «Nun, wie wär’s jetzt mit einer Tasse Tee?» Das Innere der St.-Martins-Kirche in Steeple Durham war karg und schön in seiner Schlichtheit. Normannische Säulen ragten zu einem Dach auf, das reich mit geschnitzten Menschen­ und Tierfiguren verziert war. Die Kirche hatte, vielleicht weil sie zur Zeit ihrer Erbauung auch als Zufluchtsort diente, keine Fenster zu ebener Erde. Das einzige Licht kam durch eine Reihe von «Ochsenaugen» hoch oben unter dem Dach, so daß es in der Kirche stets dämmerig war. Harry Baker und Stewart trafen kurz nach zwei Uhr ein und fanden Francis Wood, bereits in seiner Amtstracht, am Portal wartend vor. «Superintendent – Inspektor. Sehr freundlich, daß Sie beide gekommen sind.» «Leider bringen wir keine Neuigkeiten, Sir.» «Sie meinen, keine Festnahme?» Wood lächelte leise. «Was könnte das alles jetzt noch ändern?» «Gestern war Colonel Morgan bei mir. Er ist eher entgegengesetzter Meinung.» «Das kann ich mir vorstellen, ich kenne Asa.» Allmählich trafen die Trauergäste ein, offensichtlich Dorfbewohner, die meisten zu Fuß. Wood begrüßte sie, und dann öffnete sich auf der anderen Seite des Friedhofs die Tür in der Mauer, die zum Garten des Pfarrhauses führte, und Helen -86­

Wood erschien. Sie trug keine Trauerkleidung, sondern ein schlichtes graues Kostüm mit Faltenrock, braune Schuhe und Strümpfe. Ihr Haar wurde von einem Samtband gehalten, wie vor ein paar Tagen, als Baker sie zum erstenmal gesehen hatte. Ihre Ruhe wirkte heute geradezu unnatürlich. Sie nickte Baker zu. «Superintendent.» Baker suchte ausnahmsweise vergebens nach Worten. Francis Wood küßte seine Frau kurz auf die Wange, und sie schritt ins Innere der Kirche. Der Leichenwagen fuhr am Kirchhofstor vor, und kurz darauf trugen sechs Männer den Sarg auf ihren Schultern herbei: Harry Pool, sein Sohn und vier Gehilfen, alle würdig in Schwarz gekleidet. Wood ging ihnen entgegen. Baker sagte: «Wissen Sie, George, was mich daran so abstößt? Daß sie heute vermutlich schon zwei Touren hinter sich haben. Gleicher Leichenwagen, gleiche schwarze Röcke, gleiche Trauermienen. Irgend etwas hat das zu bedeuten, ich weiß bloß nicht genau, was.» «Von Morgan ist nichts zu sehen, Sir.» «Das habe ich auch schon festgestellt», sagte Baker, und als die Prozession näher kam, fügte er hinzu: «Gehen wir rein, wenn wir schon mal hier sind.» Sie setzten sich in eine Bank in der Mitte des Kirchenschiffs, und der Leichenzug bewegte sich an ihnen vorüber, während Francis Wood die Totengebete sprach. «Ich bin die Auferstehung und das Leben, spricht der Herr: Wer an mich glaubt, der wird leben, auch wenn er gestorben ist: und wer lebt und an mich glaubt, der wird den Tod nicht schauen in Ewigkeit.» Der Sarg wurde vor der Altarschranke abgestellt, und die Träger entfernten sich. Nach einer Pause fuhr Francis Wood fort: -87­

«Herr, Gott, du bist unsere Zuflucht für und für.» Die Kirchentür ging auf und schlug so geräuschvoll wieder zu, daß Wood innehielt und von seinem Gebetbuch aufblickte. Köpfe wandten sich um. Asa Morgan stand da, in voller Uniform, stramm aufgerichtet, Orden und Ehrenzeichen in gerader Reihe unter den SAS-Schwingen auf der Brusttasche des Waffenrocks. Er nahm das rote Barett ab und setzte sich in den hintersten Kirchenstuhl. Als einzige hatte Helen Wood sich nicht umgedreht. Sie saß allein in der vordersten Bank, die Schultern zurückgezogen, den Blick starr geradeaus gerichtet. Nur eine sekundenlange Pause, dann fuhr der Pfarrer mit lauter deutlicher Stimme fort. Als die Gemeinde in den Friedhof hinaustrat, grollte Donner in der Ferne, und die ersten schweren Regentropfen tupften die Grabsteine zu beiden Seiten des Weges. «Eines der großen Klischees des Lebens», bemerkte Baker. «Bei acht von zehn Beerdigungen regnet es. Deshalb habe ich vorgesorgt.» Er spannte seinen Schirm auf und schloß sich, zusammen mit Stewart, dem Zug der Dorfbewohner an, der sich zwischen den Grabsteinen hindurch auf die frisch ausgeworfene Stelle zubewegte. Die meisten hielten sich in respektvoller Entfernung, während Helen Wood, ihrem Mann zugewandt, am Rand des Grabes stand. Asa Morgan blieb hinter dem Pfarrer stehen, das rote Barett war genau vo rschriftsmäßig in die Stirn geschoben. Francis Wood fuhr mit dem Begräbniszeremoniell fort, er sprach jetzt ein wenig lauter, da der Regen heftiger wurde. Seine Frau ließ sich nach dem Ritus auf ein Knie nieder, um eine Handvoll Erde in das offene Grab zu werfen. Eine Weile verharrte sie so, dann blickte sie auf und sah, daß Morgan vorgetreten war und nun neben ihrem Mann stand. -88­

Francis Wood sprach mit fester Stimme weiter: «Staub bist du, und zum Staube kehrst du zurück, der Herr aber wird dich auferwecken am Jüngsten Tage.» Morgan nahm das rote Barett vom Kopf und warf es in das offene Grab auf den Sarg. Helen Wood stand langsam auf, ohne die Augen von seinem Gesicht abzuwenden. Er machte kehrt, marschierte zwischen den Leichensteinen hindurch und verschwand in der Kirche. «Womit das Dorf für geraume Zeit mit Gesprächsstoff versorgt sein dürfte», bemerkte Baker. Als Francis Wood wenige Minuten später die Kirche betrat, fand er Morgan mit verschränkten Armen im vordersten Kirchenstuhl sitzen und zum Altar hinaufstarren. Wood sagte: «Nun, Asa, zum Beten sind Sie nicht hierhergekommen, was wollen Sie also?» «Nichts, wenn das alles ist, was Sie können, dieses Phrasendreschen, was Sie uns da draußen aufgetischt haben», erwiderte Morgan. «Gott dem Herrn hat es ge fallen, die Seele seiner abgeschiedenen Dienerin Megan zu sich zu nehmen. Was zum Teufel soll das im Klartext heißen, Francis?» «Ich weiß es nicht, Asa. Für mich ist es einfach eine Sache des Glaubens. Des Glaubens, daß jedes Leben von Gott geplant ist.» «Wirklich ein großer Trost.» Morgan erhob sich und stieg die Stufen zur Kanzel hinauf. «Ja, Asa, sagen Sie, was Sie zu sagen haben.» Im Hintergrund der Kirche standen Baker und Stewart im Schatten des Torbogens und lauschten. Morgan sagte: «Ich versuche, eine Verbindung herzustellen zwischen Gottes Barmherzigkeit und einem kleinen Mädchen, das auf seinem Fahrrad einem tollwütigen Fanatiker in die -89­

Quere kommt, einem flüchtenden Attentäter. Übrigens, es wird Sie interessieren, daß eine arabische Terroristenorganisation namens Schwarzer September die Verantwortung dafür übernommen hat. Verantwortung ist gut, das müssen Sie zugeben. Alles eine Frage der Terminologie. » Er wirkte jetzt unnatürlich ruhig und umklammerte die Kante der Kanzeleinfassung so krampfhaft, daß die Handknöchel weiß wurden. Wood sagte: «Asa, Gott straft, die Menschen nehmen nur Rache. Ich glaube zu wissen, welchen Weg Sie einschlagen wollen, und sage Ihnen das eine: am Ende dieses Weges werden Sie nichts finden. Keine Antwort – keine Genugtuung – nichts.» Morgan blickte ins Kirchenschiff. «Ich wußte gar nicht, was für eine prächtige Aussicht Sie von hier oben haben.» Er stieg von der Kanzel, schritt rasch durch den Mittelgang und verließ die Kirche. Baker und Stewart folgten ihm. Es goß jetzt in Strömen, und die beiden Männer sahen zu, wie Morgan barhaupt zum Friedhofsgatter marschierte und zu seinem Porsche lief. Baker sagte zu Stewart: «Nehmen Sie den Wagen und folgen Sie ihm. Ich fahre mit der Bahn nach London zurück. Bleiben Sie ihm dicht auf den Fersen. Ich will wissen, wohin er fährt und was er tut. Wehe, wenn Sie ihn aus den Augen verlieren.» Stewart hatte wenig Mühe, den silbernen Porsche im Auge zu behalten, denn auch nachdem sie hinter der Londoner Umgehungsstraße in die Autobahn M 1 nordwärts eingeschwenkt waren, fuhr Morgan selten mehr als neunzig und beschleunigte nur, wenn er einen schweren Lastwagen oder ein anderes besonders langsames Fahrzeug überholen mußte. Kurz hinter Doncaster bog Morgan zu einer Tankstelle mit Rasthaus ein, Stewart tat das gleiche, hielt sich aber ein gutes Stück hinter ihm. Der Porsche glitt hinüber zum Parkplatz, -90­

Morgan stieg aus, beugte sich dann nochmals in den Wagen, holte einen Militär-Trenchcoat heraus und zog ihn über die Uniform an. Dann ging er hinüber zum Selbstbedienungsrestaurant. Stewart parkte sein Auto in einiger Entfernung und suchte daraufhin die Toilette auf. Als er herauskam, stellte er fest, daß der Porsche noch immer da war, also ging er hinüber zum Restaurant und spähte hinein. Von Morgan war nichts zu sehen. Stewart drehte sich hastig um, aber er hatte sich nicht getäuscht, der Porsche war wirklich da – und dann sah er den Colonel neben seinem eigenen Wagen kauern. Als Stewart hinrannte, stand Morgan auf, und Stewart sah, daß der linke Vorderreifen platt war. «He, was zum Teufel fällt Ihnen ein?» herrschte Stewart ihn an. Morgan versetzte dem Rad einen Fußtritt. «Sieht aus, als hätten Sie eine Panne, Inspektor. Ich an Ihrer Stelle würde versuchen, einen Polizisten zu finden.» Er ging zu seinem Porsche, stieg ein und brauste davon. Mikali hatte an diesem Morgen lang geschlafen, und es war elf Uhr, als er sich, trotz des heftigen Regens, zu seinem gewohnten Lauf durch den Park aufmachte. Der Regen störte ihn nicht. Im Gegenteil. Er fühlte sich sicher, geborgen; es war, als bewegte man sich in einer eigenen kleinen Welt. Schließlich kehrte er zu seiner Wohnung an der Upper Grosvenor Street zurück, und als er die Tür öffnete, nahm er als erstes den Duft frischgemahlenen Kaffees wahr. Zuerst dachte er, das Mädchen von der vergangenen Nacht sei noch immer da, aber dann erschien Jean Paul Deville in der Küchentür. «Ah, da sind Sie ja. Ich habe den Notschlüssel benutzt. Hoffentlich nehmen Sie’s mir nicht übel.» -91­

Mikali holte sich ein Handtuch aus dem Badezimmer und rieb sich den Schweiß vom Gesicht. «Wann sind Sie angekommen?» «Mit dem Frühstücksflugzeug. Ich dachte, wir sollten uns unterhalten.» Er machte sich an die Kaffeebereitung. Mikali sagte: «Es ging nicht ganz glatt.» «Sie haben ihn aus nächster Nähe in den Kopf geschossen. Was kann man mehr verlangen? Und wir haben erreicht, was wir vorhatten. Ein aufsehenerregender Mordanschlag mitten in London. Schlagzeilen in allen Zeitungen der Welt und eine großartige Publicity für die Sache der Palästinenser. Schwarzer September ist entzückt. Der Pariser Agent der Organisation hat mich gestern abend aufgesucht. Es war diesmal ein bißchen brenzlig, soviel ich hörte. Hat es Ihnen zugesetzt?» «In Algerien habe ich ein arabisches Sprichwort gelernt: ‹Alles kommt, wie Gott es will.› Man plant eine Sache bis ins kleinste, und dann taucht irgendwer an der falschen Stelle auf. Die Waffe, die noch niemals versagt hat, geht nicht los. Etwas Derartiges wird mich eines Tages töten, und Sie auch, dann, wenn wir es am wenigsten erwarten.» «Sehr wahrscheinlich», sagte Deville. «Wie das Mädchen auf dem Fahrrad im Tunnel?» «Das war bedauerlich. Ich versuchte auszuweichen, aber es war nichts zu machen. Beide Londoner Abendzeitungen haben eine ganz kurze Notiz gebracht, aber es ist mir völlig unverständlich, warum sie den Unfall nicht mit dem Attentat auf Cohen in Verbindung brachten.» «Ja, das fragte ich mich auch. Ich ließ durch meine Leute in London Erkundigungen einziehen. Es heißt, die Eltern des Mädchens seien seit geraumer Zeit geschieden. Der Vater ist Colonel bei den Fallschirmjägern, ein Mann namens Morgan – Asa Morgan. Zur Zeit in Irland im Einsatz. Der KGB-Mann an unserer Londoner Botschaft ließ ihn freundlicherweise für mich -92­

durch den Computer laufen, und es kam allerhand dabei heraus. Experte für subversive Aktivitäten, Stadtguerilla-Techniken, fortschrittliche Verhörmethoden. War sogar Gefangener der Chinesen in Korea. Verständlich, daß die Army äußerste Diskretion in bezug auf einen solchen Mann wünscht, was hinwiederum das offizielle Vorgehen in dieser Sache erklärt.» «Auch in bezug auf den Mann aus Kreta läßt man äußerste Diskretion walten.» Mikali löffelte Teeblätter in die Kanne. «Was soll das heißen? Daß Sie fürchten, irgend jemand anderer könne die Lorbeeren ernten?» Mikali lachte. «Scheren Sie sich zum Teufel.» «Bald, bald, mein Lieber.» Deville trug seinen Kaffee zum Fenster und setzte sich. «Für die Revolutionäre in der ganzen Welt, von den Roten Brigaden bis zur IRA, ist der Mann aus Kreta eine lebende Legende. Aber täuschen Sie sich nicht. In den Unterlagen jeder einzelnen westlichen Geheimdienststelle sind ihre Coups minuziös festgehalten. Sie hoffen, je weniger sie in die Öffentlichkeit dringen lassen, um so größer werden ihre Chancen, Sie zu fassen. Außerdem, wer Glück hat, genießt Sympathien. Ja, Sie könnten sogar populär werden, und das wäre fatal.» «Hat was für sich.» Deville nahm einen zusammengefalteten Zettel aus der Tasche und schob ihn Mikali zu. «Ich habe die Nummer Ihres Notruf-Postfachs geändert, nicht nur in London, sondern auch in Manchester und Edinburgh. Auswendiglernen und verbrennen.» «Okay.» Mikali goß sich eine Tasse Tee ein. «Ihr Konzert gestern abend – waren Sie zufrieden?» «Einigermaßen. Die Akustik in der Albert Hall läßt bekanntlich zu wünschen übrig, aber die Atmosphäre ist immer großartig.» «Und jetzt gibt’s Urlaub. Was haben Sie vor? Wollen Sie -93­

nach Hydra?» «Zuerst ein paar Tage Cambridge.» «Dr. Katherine Riley?» sagte Deville. «Eine rasche Entwicklung. Ist es Ihnen ernst?» «Sie ist sympathisch», sagte Mikali. «Nichts weiter, aber sympathischer Umgang ist verdammt schwer zu finden auf dieser lausigen Welt, meinen Sie nicht auch?» Er zog den Reißverschluß an der rechten Jackentasche seines Trainingsanzugs auf und holte eine kleine, ziemlich häßliche Automatic hervor, vielleicht fünfzehn Zentimeter lang, mit sonderbar aussehendem Lauf. Er legte die Waffe auf den Tisch. Deville nahm sie in die Hand. «Was ist das?» «Eine tschechische Ceska. Ein Sondermodell, das die Deutschen anfertigten, als sie während des Krieges die Fabrik in Besitz hatten. Mit sehr gutem eingebautem Schalldämpfer.» «Taugt sie was?» «War Spezialwaffe der Gestapo.» Deville legte die Pistole behutsam zurück. «Sind Sie immer bewaffnet, auch wenn Sie im Park laufen?» Mikali goß sich eine Tasse Tee ein und gab nach englischer Art Zucker und Milch hinzu. «Sagen Sie», begann er, «tragen Sie noch immer eine Zyankalikapsel bei sich?» «Natürlich.»

«GRU-Regel, stimmt’s?»

«Ja.»

«Warum haben Sie mir nie eine gegeben?»

Deville zuckte die Achseln. «Weil ich mir überhaupt keine

Situation vorstellen könnte, in der Sie sie benutzen würden.» «Genau.» Mikali lächelte und griff nach der Ceska. «Wenn jener völlig unerwartete Moment da ist, wenn sie kommen, um mich zu holen, dann werde ich diese Waffe in der Hand halten. -94­

Sogar im Grünen Zimmer in der Albert Hall.» «Verstehe», sagte Deville. «Im Feuern fallen. Soldatentod. Gesicht gegen den Feind.» Er seufzte, und nun schwang in seiner Stimme aufrichtige Zuneigung. «Mein lieber John, Sie sind im Herzen der reinste romantische Tor. Sehen Sie sich selber auch so? Als letzten Samurai?» Mikali öffnete die Balkontür und trat hinaus. Die Sonne schien inzwischen. Es würde ein warmer Tag werden. Er wandte sich um. «Oscar Wilde sagte einmal, das Leben sei eine unangenehme Viertelstunde, die aus erlesenen Augenblicken bestehe.» «Womit wir wieder bei Cambridge und Katherine Riley wären», sagte Deville. Mikali lächelte. «Genau. Ganz entschieden einer der erleseneren Augenblicke, von denen Oscar Wilde sprach.»

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Am Abend hatte Morgan Leeds erreicht. Er verließ die Stadt in Richtung Yorkshire Dales, fuhr durch Otley, Ilkley und Skipton, dann hinauf in ein dunkles Hochland aus trostlosen Mooren, die nur dann und wann von einem niedrigen Berg überragt wurden. Das Dorf Malham nistet inmitten der zerklüftetsten Kalksteinlandschaft Yorkshires. Morgan erreichte es bei hereinbrechender Nacht und fuhr noch eine weitere Meile, bis er schließlich durch ein aus fünf Eisenstangen bestehendes Tor zu einem kleinen grauen Steinhaus kam, das in einem halben Morgen Gartenland zwischen den Bäumen stand. Genau gesagt gehörte es jetzt Helen, aber als er nachsah, fand er den Schlüssel unter dem Stein, wo er immer gelegen hatte. Er schloß die Tür auf, dann ging er nochmals zum Wagen und holte sein Gepäck. Drinnen herrschte der leichte Modergeruch, der typisch ist für selten benutzte Häuser, doch auf dem Kaminrost war Holz aufgeschichtet. Er zündete es an und ging hinauf in den Oberstock, wo sich zwei Schlafzimmer und ein Bad befanden. Er entdeckte, was er suchte, in einem der Schränke. Seine alte Kletterausrüstung. Stiefel, Kordhosen, dicke Wollpullover und einen Schlafsack. Er nahm alles mit hinunter und breitete es rings um das Feuer aus. Dann holte er eine Flasche Whiskey aus seiner Reisetasche, stieg in den Schlafsack und machte es sich so vor dem Kamin bequem. Er legte Scheite nach und trank Whiskey – eine große Menge Whiskey, weil er nicht an sie denken wollte. Jetzt nicht. Das würde später kommen. Nach einer Weile schlief er ein. Ein paar Kilometer hinter Malham führt ein Fußpfad zu den -96­

Steilwänden von Gordale Scar. Zum letztenmal war Asa Morgan mit seiner Tochter an ihrem zwölften Geburtstag dort gewesen. Als er nun an diesem Morgen stetigen Schritts im strömenden Regen über den morastigen Boden wanderte und hinter einem Felsvorsprung plötzlich Gordale Scar in Sicht kam, konnte er wieder, wie damals, ihren begeisterten Ausruf hören. Der Wasserfall, der in der Mitte der Schlucht herabstürzte, toste durch den Regen noch lauter. Die einzige Möglichkeit, hinüberzukommen, war der Kletteraufstieg entlang der steilen linken Seitenwand, und er hatte sie vorwärtsgeschoben, sich immer dicht hinter ihr gehalten, nur für alle Fälle. Danach folgte der mühsame Weg durch die Geröllhalde nach oben und über die Stelle hinweg, wo der Wasserfall aus dem Felsen strömte; dann ging es weiter, am Rand der Schlucht entlang. Kilometer um Kilometer stapfte er durch dichten Nebel und Regen, und die Vergangenheit begleitete ihn. Es war, als wäre das Mädchen noch immer da, als liefe es voraus durch den Nebel, tauchte dann urplötzlich wieder auf und eilte auf ihn zu, um ihm von irgendeiner Entdeckung zu berichten. Und eine Zeitlang war er selber wieder ein vierzehnjähriger Junge, der seit einer Woche aus der Schule entlassen war. Aus dem Bett um fünf, und fort über den Berg, von der Mutter mit Käsebroten und einer Flasche kaltem Tee ausgerüstet. Sechs Kilometer Fußmarsch jeden Morgen, bis zur Kohlengrube, die seinen Vater getötet hatte. Diesen ersten Tag vergaß er nie. Der Ruck, die Übelkeit, als der Förderkorb abwärts fuhr, sechshundert Meter tief, in einen Alptraum aus Finsternis und Verzweiflung und qualvoll gebückter Plackerei. Und die sechs Kilometer Heimweg am Ende seiner ersten Schicht, so müde, daß er glaubte, er werde es niemals schaffen. Später, als er in der alten Zinkwanne vor dem Feuer hockte und -97­

die Mutter ihm die schwarze Staubkruste vom Körper schrubbte, wußte er nur noch eines mit Sicherheit. Es mußte etwas Besseres geben, denn er fühlte es steckte etwas in ihm, das hervordrängte. Und es gab etwas Besseres, denn so wie manche Menschen geborene Schauspieler sind, andere begnadete Chirurgen oder Musiker, so war Asa Morgan zum Soldaten geboren. Eine Führernatur. Für ihn war die militärische Laufbahn eine Berufung wie für andere das geistliche Amt. Und, die größte Ironie des Schicksals, für ihn brachte der Krieg die Rettung; er holte ihn für immer heraus aus dem Kohlenbergwerk und hinein in die Army. Der Weg führte im Bogen wieder zurück nach Malham, und als er auf diesem Rückweg durch das sogenannte Dry Valley abstieg, passierte es. Er kam zu einem Felsüberhang, neben dem ein großer Steinblock lag. Dort hatten sie damals Schutz gesucht, um ihre belegten Brote zu essen. Die aufgestaute Seelenqual brach sich Bahn. «Nein!» schrie er. «Nein!» und rannte weg, als sei der Teufel persönlich hinter ihm her, rutschte und schlitterte auf dem trügerischen Boden, während er blindlings talwärts taumelte. Plötzlich fand er sich auf dem Kalksteinpfad wieder, der, wie er wußte, zum Rand der großen, siebzig Meter steil abfallenden Klippe von Malham Cove führte. Der Wind zerriß den Nebel, und das ganze Tal erstreckte sich unter ihm. Wie weißglühende Lava stieg ein Zorn in ihm auf, von einer Intensität, die er noch nie empfunden hatte. «Ich komme, du Hund!» brüllte er. «Ich komme!» Er überquerte die Kalksteinplatten und rannte, so schnell er konnte, ins Tal hinunter. Anderntags, um Mittag, klingelte er an der Tür der Wohnung am Cavendish Square. Kim, der Gurkha, öffnete ihm in seiner untadelig weißen Jacke mit den glänzenden Messingknöpfen. -98­

Morgan marschierte wortlos an ihm vorbei und fand Ferguson im Wohnzimmer am Schreibtisch sitzen, eine Halbbrille auf der Nasenspitze und in einen Stapel Papiere vertieft. Ferguson blickte auf und nahm die Brille ab. «Das war aber wirklich garstig von Ihnen. Der arme Stewart wurde bei seiner Rückkehr nicht gerade mit Lob überschüttet. Jetzt kann der arme Teufel vermutlich ein paar Jährchen länger auf seine Beförderung warten.» «Ich will ihn haben, Charles», sagte Morgan. «Ich will alles tun, was Sie sagen. Machen Sie, was Sie wollen, aber Sie müssen mir eine Chance geben.» Ferguson stand auf und trat ans Fenster. «Rache, sagte Bacon, ist entartete Gerechtigkeit, und das führt zu nichts. Zu gar nichts. Viel zu emotional. Muß das Urteilsvermögen trüben. Und fünfundzwanzig sind Sie ja auch nicht mehr, wie?» Er schüttelte entschlossen den Kopf. «Nein, Sie nehmen noch Ihren restlichen Urlaub, und dann geht’s zurück nach Belfast.» «Dann nehme ich meinen Abschied.» «Das geht nicht. Nicht in Ihrem Fall. Wegen Ihrer Geheimhaltungsstufe, Asa. Dadurch sind Sie ein Sonderfall, und Sie bleiben bei uns, solange es dauert. Genau wie in den guten alten Kriegstagen.» «All right.» Morgan hob abwehrend die Hände. «Ein Monat, sagten Sie, stehe mir zu, also habe ich einen Monat Zeit.» Er machte kehrt und ging hinaus, ehe Ferguson etwas erwidern konnte. Er war jetzt ruhiger, hatte sich wieder völlig in der Gewalt. Der elementare Ausbruch in Malham, die rasende Fahrt nach Süden hatten seine lodernde Erregung abgekühlt. Er war wieder der Berufssoldat, kalt, überlegend und zu völliger Objektivität fähig. Aber wo beginnen? Das war das Problem. Er saß kurz nach -99­

vier Uhr in seinem Wohnzimmer am Gresham Place und arbeitete sich durch einen Stoß von Zeitungen, die über das Attentat berichtet hatten, als es klingelte. Er öffnete die Tür und sah Harry Baker draußen stehen, eine Aktenmappe in der Hand. Baker marschierte straks in die Wohnung. «Bißchen rauh mit dem jungen Stewart umgesprungen, wie? Ich meine, der Junge hat noch viel zu lernen.» Morgan folgte ihm ins Wohnzimmer und blieb, die Hände in den Taschen, abwartend stehen. «All right, Harry, was wollen Sie?» «Ferguson hat mich angerufen. Sagte, Sie hätten ihm wieder zugesetzt.» «Hat er Ihnen auch gesagt, daß er mich abgewimmelt hat?» «Ja.» «Und?» Baker holte seine Pfeife hervor und begann sie zu stopfen. «In Nikosia haben Sie mir das Leben gerettet, Asa. Wenn Sie nicht gewesen wären, hätte dieser EOKA-Killer mir eine Kugel in den Kopf gejagt. Sie haben mich zu Boden gerissen und dafür den Schuß in den Rücken gekriegt. » «Wir machen alle Fehler.» «Wenn Ferguson von dieser Sache Wind bekommt, bin ich geliefert, aber hol’s der Teufel.» Baker öffnete die Mappe, zog einen Manila-Umschlag heraus und warf ihn auf den Tisch. «Das wär’s, Asa. Alles, was bisher über den Mann bekannt ist – es ist übrigens herzlich wenig –, der auf Maxwell Cohen schoß und Megan tötete. Den Mann, den wir den Mann aus Kreta nennen.» Baker stand vor dem Kaminfeuer und wärmte sich, während Morgan die Akte durchging. «Wie Sie sehen, erschien er 1969 zum erstenmal auf der Bildfläche. Der Mord an Vassilikos und seinen Begleitern. -100­

Damals wurde er auch zum erstenmal von den Zeitungen als der Mann aus Kreta bezeichnet.» «Weil der Chauffeur so fest überzeugt war, daß er mit kretischem Akzent gesprochen hat?» «Was, laut Akte, vom Zimmermädchen im Westberliner Hilton bestätigt wurde – einen Monat später, im November, als er General Stephanakis erschoß.» Morgan las weiter. «Diese Geschichte da, mit dem Mädchen im Wandschrank, während sie auf Stephanakis’ Erscheinen warteten, beruht das auf Wahrheit?» «O ja.» «Was erklärt, daß manche Boulevardblätter ihn den Don Juan aus Kreta nennen.» «Das, und ein ähnlicher Fall, den Sie ebenfalls hier verzeichnet finden. Und die kleine Boudakis – es war keine Vergewaltigung. Ein Psychiater hat sie analysiert. Er gewann den Eindruck, sie sei auf den Mann geflogen.» «Nach den hier angeführten Einzelheiten würde ich sagen, daß viele Griechen ihn als Helden feiern», sagte Morgan. «Vassilikos und General Stephanakis scheinen üble Schlächter gewesen zu sein.» «All right», sagte Baker. «Unser Freund ist also weiter nichts als ein schlichter kretischer Bauer, ein Widerstandskämpfer gegen das jetzige Regime in Griechenland, das er faschistisch findet. Er beschließt, etwas zu unternehmen. Sehr schön – bis auf einen doch recht wichtigen Punkt. Er hat inzwischen in der ganzen Welt einen Mord nach dem andern verübt. Gewiß, im allgemeinen meldet sich irgendeine passende Terroristengruppe als Urheber, aber wir wissen, und die meisten führenden Geheimdienste der Welt wissen es auch, wann der Mann aus Kreta am Werk war. Seine Handschrift ist deutlich und unverwechselbar. Lesen Sie weiter, dann werden Sie verstehen, was ich meine.» -101­

Er setzte sich an den Kamin, zündete seine Pfeife an, und Morgan fuhr mit dem Studium der Akte fort. Im Juni 1970 hatte der Mann aus Kreta Colonel Rafael Gallegos, den Polizeichef der baskischen Provinzen, in dessen Hotelzimmer getötet. Der Mord war eine exakte Kopie des Attentats auf General Stephanakis in Westberlin. Damals hatte die baskische Unabhängigkeitsbewegung ETA die Verantwortung übernommen, die schon seit Jahren um die Loslösung von Spanien kämpfte. Im September des gleichen Jahres hatte er George Henry Daly ermordet, Versicherungsdirektor in Boston. Die Zeitungen indessen wußten nicht, daß Daly in Wahrheit Major Sergej Kulakow war, der vor fünf Jahren vom Geheimen Nachrichtendienst der Roten Armee in Berlin zu den Amerikanern übergelaufen war. Der CIA hatte Daly gründlich ausgequetscht und dann mit einer, wie sie in ihrem kindlichen Gemüt glaubten, brandneuen Identität versehen. Dalys Frau hatte den Mann aus Kreta einwandfrei beschrieben. Er hätte auch sie töten könne n, tat es jedoch nicht. 1971 war die Reihe an Henry Jackson in Toronto, Wirtschaftswissenschaftler, gleichfalls übergelaufener russischer Agent, der unter falschem Namen lebte. Ein paar Monate später, im gleichen Jahr, der israelische Generalkonsul in Istanbul. Diesen Mord hatte die Befreiungsarmee des türkischen Volkes für sich in Anspruch genommen. Dann folgte einer der spektakulärsten Fälle. Die Ermordung des italienischen Filmregisseurs Mario Forlani beim Festival in Cannes. Hier meldete sich die Schwarze Brigade in Rom, das faschistische Gegenstück zu den Roten Brigaden, und bekannte sich zu der Tat. Die Schwarze Brigade hatte Forlani schon mehrmals bedroht, weil er in einem seiner Filme Mussolini lächerlich gemacht hatte. -102­

«Er ist also nicht einfach ein marxistischer Fanatiker», bemerkte Morgan. «Sie meinen die Sache in Cannes? Das war ein ganz dicker Hund. Die Franzosen hatten das Hotel, in dem Forlani wohnte, abgesichert wie Fort Knox. Die Garde mobile wimmelte überall herum. Drinnen Sicherheitsbeamte in Zivil. Die gesamte Prominenz war dort abgestiegen. Die Hälfte aller ungekrönten Häupter Europas, fast alles, was heutzutage in Hollywood als Star gilt. John Mikali, der Pianist, Sophia Loren, David Niven, Paul Newman und Gott weiß, wer sonst noch alles.» «Und inmitten dieses Aufgebots hat er seinen Coup gelandet?» «Es lief höchst einfach ab. Forlani verließ seine Suite in der fünfzehnten Etage zusammen mit drei Freundinnen, um zum Abendessen hinunterzufahren. Zwei Polizisten standen an seiner Tür, ein dritter am Lift.» «Und?» «Der Mann aus Kreta tauchte plötzlich am Ende des Korridors auf, schoß Forlani zweimal ins Herz, mit einer Pistole auf diese Entfernung, stellen Sie sich das vor. Verschwand wie ein geölter Blitz durch den Notausgang.» «Und keine Spuren?» «Wie vom Erdboden verschluckt. Die französische Polizei hat das Unterste zuoberst gekehrt, aber nichts gefunden. Die meisten Berühmtheiten zogen noch in der gleichen Nacht aus. Konnten nicht schnell genug fortkommen. Hat einen Riesenstunk gegeben.» «Und dann?» «Steht in den Akten. Tötete Helmut Klein, den Finanzminister der DDR, der im vergangenen November die Universität Frankfurt besuchte. Das ganze Gelände war schwer abgeriegelt. Er hat sich bei einer jungen Frau namens Lieselotte Hoffmann -103­

versteckt, die, wie später durchsickerte, Sympathisantin der Baader-Meinhof- Bande war. Auf Anweisung der Roten-ArmeeFraktion verwahrte sie ein Gewehr. Sollte es für jemand bereithalten.» «Und der Kreter tauchte auf?» «Nach Einbruch der Dunkelheit, trug wieder diese verdammte Kapuze.» Morgan wandte sich erneut den Akten zu. «Hier steht, Klein habe kurz nach zehn einen Empfang im Privathaus des Rektors verlassen. Der Kreter hat ihn mit Hilfe eines Nachtsichtgeräts aus einer Entfernung von fast dreihundert Meter umgelegt. Ein phantastischer Schuß.» «Dann türmte er. Das Mädchen wurde erwischt, wie sie versuchte, die Waffe loszuwerden. Die meisten Einzelheiten kamen bei ihrem Verhör zutage. Er hat sie, so scheint’s, ebenso bedient wie das Zimmermädchen im Berliner Hilton, und sie hat offenbar genausowenig dagegen gehabt. Auf der Fahrt zum Gefängnis wurde sie dann von einem Trupp der Roten-ArmeeFraktion aus dem Wagen geholt.» «Und blieb verschwunden?» «Bis zu ihrer Festnahme im Februar dieses Jahres in London, wo sie in einer Boutique arbeitete. Behauptete, inzwischen einen Gentleman namens Harry Fowler geheiratet zu haben, Kellner in Camden Town, bloß ist er nicht aufzufinden. Durch diese Heirat hätte sie natürlich die britische Staatsbürgerschaft erworben. Die Deutschen wollen sie zurückhaben. Die britischen Bürgerrechtsgruppen fordern natürlich, daß sie hierbleibt. Sie ist jetzt in Auslieferungshaft in einem Sondergefängnis in Tangmere bei Cambridge. Für die Regierung eine ständige Quelle der Verlegenheit.» «Kann ich mir vorstellen.» Morgan las eine Weile schweigend weiter. «Der Bericht des Psychologen über die junge Frau ist wirklich ausgezeichnet. Wer hat ihn geschrieben?» -104­

«Eine Frau namens Riley. Dr. Katherine Riley. Amerikanerin. Unterrichtet an einem College in Camb ridge. Sie hat Genehmigung, die Hoffmann regelmäßig zu besuchen.» «Warum?» «Terrorismus ist ihr Spezialgebiet. Sie hat beinah jeden bekannten europäischen Terroristen im Gefängnis interviewt, wenn man es ihr erlaubte. Schrieb vor eineinhalb Jahren ein Buch darüber, mit dem Titel ‹Das Phänomen Terrorismus›.» «Jetzt erinnere ich mich», sagte Morgan. «Ich habe das Buch gelesen.» Er griff nach einer Zigarette. «Nach meiner Zählung hat unser Freund in nicht ganz drei Jahren ungefähr ein Dutzend VIPs umgelegt. Beachtliche Leistung.» «Und er ist nicht parteiisch», sagte Baker. «Der kretische Bauer, der so antifaschistisch zu sein schien, erledigt auch einen ostdeutschen Minister und einen kommunistischen Filmregisseur.» «Findet aber daneben auch noch dann und wann Zeit für einen Faschisten.» «Und für zwei prominente russische Überläufer, von denen der amerikanische und der kanadische Geheimdienst glaubten, mehr als das Nötigste für ihre Sicherheit getan zu haben.» Morgan sagte: «Wie ist eigentlich im Moment die Lage an der internationalen Terroristenfront? Ich bin durch den Einsatz in Ulster nicht mehr ganz auf dem laufenden.» «Es bestehen jetzt eindeutig Verbindungen zwischen Gruppen in der ganzen Welt», sagte Baker. «Zum Beispiel wurden die Japaner, die das Massaker auf dem Flugplatz von Tel Aviv veranstaltet haben, in libanesischen Ausbildungslagern geschult. Die Waffen, vor allem Granaten und Kalaschnikows, hat die Baader-Meinhof- Bande geliefert. Auch die Palästinensische Befreiungsfront war beteiligt.» «Regelrechte Multis.» -105­

«Wir haben Informationen, wonach eine anfangs des Jahres in Dublin abgehaltene Geheimkonferenz von GuerillaOrganisationen auch von maoistischen und anarchistischen Delegierten aus aller Welt besucht wurde.» «Mit der IRA als Gastgeber?» «Das hä ngt davon ab, von welchem Zweig der IRA Sie sprechen.» «Maoisten, Anarchisten – der Teufel soll sich drum scheren. Ich will den Mann aus Kreta.» Morgan nahm einen Bleistift zur Hand und zog einen Schreibblock heran. «Was wissen wir wirklich über ihn?» «Von geringer Körpergröße», sagte Baker. «Aber äußerst tüchtig.» «Hochintelligent, erfinderisch. Offensichtlich in der Lage, ohne weiteres in der ganzen Welt herumzureisen.» «Also Soldat.» «Wie kommen Sie darauf?» «Die Art seines Vorgehens, die Präzision, die Organisation. Wenn er ein Ziel hat, geht er drauf los, ohne lang zu fackeln. Bei mehreren Gelegenheiten hat er Menschenleben verschont. Zum Beispiel die Chauffeure in Paris und Rio.» «Aber nicht Megan.» «Nein.» Morgan nickte ruhig. «Er hat sie überfahren wie einen Hund. Sein einziger Schnitzer.» Er studierte die Notizen, die er sich auf dem Block gemacht hatte, und Baker sagte: «Vergessen Sie nicht das Wichtigste. Er ist Kreter.» «Der fließend Deutsch, Französisch, Spanisch und Englisch spricht? Ein ausgebildeter Soldat? Ein Weltreisender?» Morgan schüttelte den Kopf. «An Ihrer Stelle würde ich diesen Punkt berichtigen. Wir sind hinter einem Mann her, der -106­

sich, wenn ihm daran liegt, aus irgendeinem Grund für einen Kreter ausgeben kann.» «Und wo würden Sie die Suche nach einem solchen Mann beginnen?» Morgan zuckte die Achseln. «Ich weiß es nicht – noch nicht. Bei der Hoffmann. Die könnte uns auf die Spur bringen. Vielleicht sagt sie nicht alles, was sie weiß. Würde sich auch lohnen, diese Frau Dr. Riley einmal aufzusuchen. Kennen Sie die Dame persönlich?» «Ich hatte die Ehre. Sie mag keine Polizisten. Senator McCarthy hätte eine Frau wie sie prompt vor einen Kongreßausschuß gestellt, ehe sie wüßte, wie ihr geschieht. Übrigens, eine Sache, die nicht in dieser Akte steht. Die Kugel, die man aus Cohens Gehirn entfernt hat, weist auf eine Mauser hin, aber auf ein sehr ungewöhnliches Modell. 7,63 mm, Jahrgang 1932, und diese Waffe hatte einen Schalldämpfer. Eine Ausführung, die im Krieg von gewissen deutschen Sicherheitsabteilungen benutzt wurde.» «Ja, ich kenne diesen Waffentyp», sagte Morgan. «Es wurden nur wenige Exemplare hergestellt.» «Stimmt. Und daher sind sie heutzutage äußerst rar, praktisch nicht zu kriegen. Der Computer weist nur ein einziges Stück aus, das jemals in Großbritannien bei einem Mord verwendet wurde. Das Opfer war ein Sergeant des militärischen Abschirmdiensts, letztes Jahr in Londonderry.» «Der Kreter? In Ulster?» Morgan war erstaunt. «Nein – ein Provisional tötete einen Mann namens Terence Murphy. Er wurde von einer Einsatzpatrouille auf der Flucht erschossen, zusammen mit einem gewissen Pat Phelan, der interessanterweise ebenfalls im Besitz dieser Waffe war. Wir versuchten, den Händler ausfindig zu machen, von dem sie stammten, hatten aber kein Glück.» «Eine interessante Möglichkeit», sagte Morgan leise. «Daß -107­

die Waffe, die beim Attentat auf Cohen benutzt wurde, aus der gleichen Quelle stammen könnte.» «Ich habe ein paar Leute auf diese Sache angesetzt», fuhr Baker fort, «aber offen gestanden, in der letzten Zeit sind wir nicht recht weitergekommen, also …» Er nahm die Akte an sich und schob sie wieder in die Mappe. «Jetzt wissen Sie über den Mann aus Kreta ebensoviel wie ich. Was beabsichtigen Sie zu tun?» «Ich werde mir etwas ausdenken.» «Und ob Sie das werden», erwiderte Baker grimmig und öffnete die Tür. «Wir sind jetzt quitt, Asa, vergessen Sie das nicht.» Morgan ließ ihm nur ein paar Sekunden Vorsprung, dann nahm er seine Jacke und ging ihm nach. Als er am Haupteingang ankam, sah er Baker zur nächsten Straßenecke gehen. Dort blieb der Superintendent stehen und versuchte ein Taxi anzuhalten. Morgan trat wieder ins Haus, lief hinunter in die Garage, stieg in den Porsche und ließ den Motor an. Er wartete bereits unter den Bäumen vor Fergusons Wohnung am Cavendish Square, als das Taxi hielt und Baker ausstieg. Der Superintendent bezahlte den Fahrer und ging ins Haus. Morgan folgte ihm nach wenigen Minuten. Als Kim die Tür öffnete, marschierte er stracks an ihm vorbei und durch den Korridor ins Wohnzimmer. Ferguson saß am Schreibtisch und hatte die Akte vor sich, Baker stand neben ihm. «Allmächtiger!» sagte Baker ärgerlich. Ferguson seufzte. «Du liebe Güte, Sie werden langsam lästig, Asa, wissen Sie das?» «All right», sagte Morgan. «Hören wir auf mit diesem Affentheater. Sie möchten diesen Typ aus Kreta erwischen, und ich möchte es auch, warum also geben wir es nicht offiziell zu -108­

und damit basta.» «Aber genau darum geht es doch, mein lieber Junge. Nichts Offizielles. Das ist der springende Punkt.» «Ach, jetzt verstehe ich.» Morgan warf Baker einen Blick zu. «Ich sollte dankbar sein für den Gefallen, den mir mein alter Kumpel Baker getan hat, und losziehen wie ein Irrer, um auf eigene Faust soviel wie möglich herauszufinden. Und wenn ich dabei draufgehe, bin ich selber schuld, was?» Ferguson lehnte sich zurück. «Könnten Sie das denn, Asa? Losziehen und etwas herausfinden, meine ich? Irgend etwas Brauchbares?» «Die Mauser», sagte Morgan. «Wenn ich den Waffenhändler aufstöbern könnte, der sie geliefert hat, dann wäre das immerhin ein Anfang.» «Und wo zum Teufel wollen Sie eine solche Information herbringen?» wollte Baker wissen. «Belfast.» «Belfast!» rief Baker überrascht. «Sie müssen verrückt sein.» «Ich will es mal so sagen: Es gibt dort ein paar Leute, die zwar auf der ganz falschen Seite stehen, aber mir um der alten Zeiten willen vielleicht helfen würden.» «Zum Beispiel Liam O’Hagan? Weil Sie früher in der gleichen Einheit gedient haben? Alles, was Sie kriegen werden, ist eine Kugel in den Kopf.» «Und was sonst, Asa?» unterbrach Ferguson. «Was würden Sie sonst noch brauchen?» «Ich möchte gern mit Lieselotte Hoffmann sprechen, ehe ich nach Belfast gehe. Morgen vormittag würde mir gut passen.» Ferguson sagte: «Arrangieren Sie das mit Frau Dr. Riley, Superintendent.» «Außerdem hätte ich gern eine Liste aller Anschläge, die in dieser Akte verzeichnet sind. Daten, Orte, alles.» -109­

Morgan ging zur Tür. Ferguson sagte: «Asa, was mich betrifft, so sind Sie einen Monat lang beurlaubt.» «Selbstverständlich.» «Andererseits, wenn wir irgend etwas tun können …» «Ich weiß», zitierte Morgan. «Zögern Sie nicht, uns anzurufen.» 1947, als sich die ersten Vorboten des kalten Krieges bemerkbar machten, hatten J. Parnell und sein Ausschuß zur Untersuchung unamerikanischer Umtriebe beschlossen, die Filmindustrie in Hollywood nach Anzeichen für kommunistische Unterwanderung zu prüfen. Neunzehn Autoren, Produzenten und Regisseure wehrten sich dagegen und erklärten, ihre politischen Ansichten gingen den Untersuchungsausschuß nicht s an. Elf von ihnen wurden nach Washington zitiert, um sich öffentlich zu rechtfertigen. Zehn verweigerten jede Antwort unter Berufung auf das Recht der freien Meinungsäußerung, das in der Verfassung der Vereinigten Staaten garantiert wird. Die Angelegenhe it löste eine Kettenreaktion in der gesamten Filmindustrie aus und zog weit mehr Leute als die berühmten zehn in Mitleidenschaft. In der Folgezeit wurden zahlreiche Schauspieler, Autoren und Regisseure durch Senatstribunale so schwer diskriminiert, daß sie nie wieder Arbeit fanden. Sean Riley, ein irischamerikanischer Autor, der für seine freimütige Sprache bekannt war, gehörte zu den Opfern. Trotz seiner beiden Oscars für das beste Drehbuch konnte er plötzlich keinerlei Arbeit mehr finden. Seine schon seit langem herzkranke Frau war den Aufregungen und Sorgen nicht gewachsen. Sie starb 1950, in dem Jahr, als ihr Mann sich weigerte, vor einem von Joseph McCarthy geleiteten SenatsUnterausschuß zu erscheinen. -110­

Riley gab nicht auf. Er zog sich in ein spanischamerikanisches Farmhaus in San Fernando Valley zurück und nahm seine achtjährige Tochter mit. Jahrelang verdiente er seinen Lebensunterhalt als, wie es in der Branche heißt, Script-Doktor. Wer immer mit einem Drehbuch nicht zurechtkam, brachte es Riley, und er überarbeitete es gegen Honorar. Natürlich erschien sein Name nie im Vorspann. Trotz allem führte er kein unglückliches Leben. Er schrieb ein paar Romane, pflanzte Reben an und ließ seiner Tochter eine liebevolle, verständige und gewissenhafte Erziehung angedeihen. Er lehrte sie, das Land zu lieben, das Gute in jedem Menschen zu würdigen und sich vor nichts und niemandem zu fürchten. Als sie sich an der University of California in Los Angeles einschrieb, war sie ein mageres ungelenkes Mädchen mit olivfarbenem Teint, graugrünen Augen und schwarzem Haar, das sie von der Mutter, einer polnischen Jüdin aus Warschau, geerbt hatte. 1962 belegte sie Psychologie im Hauptfach, erhielt ihre Ausbildung in experimenteller Psychiatrie an der TavistockClinic in London und erwarb 1965 den Doktorgrad der Universität Cambridge. Anschließend ging sie nach Wien ans Institut für Geisteskrankheit und Verbrechen, um das zu studieren, was sie besonders interessierte, die Pathopsychologie der Gewalt. Hier begegnete sie zum erstenmal jenem erschreckenden Zeitphänomen, der Stadtguerilla. Dem Terroristen aus gutbürgerlichem Hause. Während der folgenden Jahre setzte sie diese Studien fort. Sie interviewte ihre Versuchspersonen in fast allen europäischen Großstädten und arbeitete, wenn es nicht anders ging, auch für die zuständigen Behörden, obwohl sie darüber alles andere als glücklich war. -111­

Sie blieb ihrem Vater stets herzlich verbunden und flog mindestens zweimal im Jahr zu ihm nach Amerika. Er besuchte sie in Europa, besonders in der Zeit, als der aufstrebende italienische Film ihm neue Möglichkeiten in Rom eröffnete. Endlich erschien sein Name wieder auf der Leinwand. Seine Drehbücher gewannen Preise in Berlin, Paris und London. Und dann erlitt er 1970 in seinem Haus in San Fernando Valley eine schwere Herzattacke. Katherine Riley war damals an der Sorbonne in Paris. Sie flog mit der nächsten Maschine nach Hause. Ihr Vater wartete mit letzter Kraft auf sie, und als sie sein Zimmer im Krankenhaus betrat, öffneten sich die blauen Augen in dem kräftigen gebräunten Gesicht, das mit einemmal so alt geworden war, sofort. Sie nahm seine Hand. Er lächelte ihr zu und starb. Alle kamen zur Beerdigung. Regisseure, Schauspieler, Produzenten, Direktoren, die während der schlechten Jahre nicht mit ihm gesprochen hatten. Die kehrtgemacht und ihm aus dem Weg gegangen waren, wenn sie ihn herankommen sahen. Jetzt, da er tot war, hieß es sogar, die Filmakademie erwäge, ihm eine Sonderauszeichnung zu verleihen. Da die Rileys Katholiken der alten Schule waren, ließ Katherine ihren Vater nicht einäschern, sondern begraben, und als sie auf dem Friedhof eine Hand nach der anderen schüttelte, die ganze lange Reihe an sich vorbeiziehen ließ, haßte sie jeden einzelnen dieser Feiglinge und Heuchler. Danach flüchtete sie sich in das alte Farmhaus von San Fernando Valley, aber dort fand sie keinen Trost – alles erinnerte sie an ihn. Sie hatte keinen Menschen, an den sie sich wenden konnte, denn in einer Hinsicht war der Vater ihr keine Hilfe gewesen: in ihrem Verhältnis zum anderen Geschlecht. Ihre Beziehungen zu Männern waren stets nur von kurzer Dauer und emotional unbefriedigend gewesen, weshalb auch die physische -112­

Befriedigung ausblieb. Sie hatte also nie einen Mann kennengelernt, der ihrem Vater gleichkam. Als sie nahe am Zusammenbruch war, erschien die Rettung in Form eines Luftpostbriefes mit englischer Marke und Poststempel Cambridge, der eines Morgens in ihren Briefkasten fiel. Er enthielt das Angebot, als akademische Lehrerin an ihrem alten College New Hall zu unterrichten, und sie griff mit beiden Händen zu und eilte an den einzigen Zufluchtsort, der ihr jetzt noch geblieben war. Und sie hatte recht daran getan. Es war, als käme sie nach Hause. Sie hatte ihre Arbeit, sie hatte ihr Buch und sie hatte Cambridge in seiner ganzen Pracht, besonders an jenem wunderschönen Aprilmorgen, an dem sie John Mikali kennenlernte. Sie hatte die ganze Nacht hindurch an den Fahnen der fünften Auflage ihres Buches gearbeitet, da der Verlag sie bis spätestens Freitag zurückhaben wollte. Anstatt sich dann ins Bett zu legen, begann sie ihren Tag wie immer. Sie zog einen Trainingsanzug über, nahm ihr Fahrrad und fuhr in Richtung Stadtmitte, die sauber und ruhig und schön im frühen Morgen vor ihr lag. Eine Viertelstunde später lief sie den Pfad durch die Rasenhänge entlang, die zum Fluß Cam hinunterführen. Sie war vollkommen glücklich, zufrieden mit der Arbeit der vergangenen Nacht; sie genoß die frische Morgenluft in vollen Zügen, und dann bemerkte sie, daß jemand sie überholte, und Mikali tauchte neben ihr auf. Er trug einen sehr einfachen marineblauen Trainingsanzug und Laufschuhe. Um den Hals hatte er ein weißes Handtuch geschlungen. «Schöner Morgen für einen Dauerlauf», sagte er. Sie erkannte ihn sofort, es war unvermeidlich, denn seit vierzehn Tagen waren in ganz Cambridge Plakate mit dem -113­

üblichen Foto angeschlagen. «Ja, das ist es meistens.» Er lächelte spontan. «He, eine amerikanische Landsmännin. Das muß mein Glückstag sein. Sind Sie Austauschstudentin oder so was Ähnliches?» Ihr irisches Erbe brach sich sogleich Bahn, und sie lachte laut auf. «Diese Zeit liegt schon weit hinter mir. Ich unterrichte an der Universität. Ich heiße Katherine Riley und komme aus Kalifornien.» «Lieber Gott, da komme ich auch her. Ich heiße Mikali – John Mikali.» Sie nahm seine Hand ein wenig zögernd, denn sie spürte eine prickelnde Erregung, eine Kälte im Magen, die sie noch nie empfunden hatte. «Ja, ich weiß. Sie spielen heute abend mit dem London Symphony Orchestra Rachmaninows Vierte.» «Hoffentlich sehe ich Sie dort.» «Machen Sie Witze? Unsere Studenten haben sich die ganze Nacht angestellt, um am ersten Vorverkaufstag eine Chance zu haben. Seitdem gibt es keine einzige Karte mehr.» «Unsinn», sagte er. «Wo wohnen Sie?» «New Hall.» «Um Mittag lasse ich Ihnen eine Karte bringen.» Sie konnte auf keinen Fall ablehnen, und sie wollte es auch nicht. «Das wäre wundervoll.» «Anschließend gibt’s einen Empfang für mich im Trinity College. Darf ich Ihnen dafür auch eine Einladung schicken? Es könnte schrecklich langweilig werden, aber nicht, wenn Sie hinkommen.» Ehe sie antworten konnte, warf er einen Blick auf seine Armbanduhr. «Ich habe nicht auf die Zeit geachtet. Heute vormittag haben wir vier Stunden Probe, und Previn kennt keinen Spaß – also, bis heute abend.» -114­

Er machte kehrt und lief quer über den Rasen davon, in beachtlichem Tempo. Sie blieb stehen und sah ihm nach, bewunderte seine Kraft und war aufgewühlt wie nie zuvor. Beim Empfang beobachtete sie ihn, wie er am anderen Ende des Saals stand, im Samtanzug und offenem schwarzen Seidenhemd, das goldene Kreuzchen um den Hals, eine Aufmachung, die zu seiner Firmenmarke geworden war. Er wirkte unruhig, während alle sich um ihn drängten, und seine Augen durchforschten ständig den Saal. Als er sie entdeckte, blitzte sofort sein Lächeln auf, er nahm von dem Tablett, das ein Kellner herumtrug, zwei Gläser Champagner und ging geradewegs auf Katherine zu. «Ich habe in Ihrem College angerufen», sagte er. «Warum haben Sie es mir nicht gesagt? Doktor Riley, Fellow von New Hall. Rang und Titel.» «Es schien mir nicht wichtig.» «War ich gut heute abend?» «Das wissen Sie sehr genau», sagte sie einfach und nahm das Champagnerglas entgegen. Plötzlich kam ein seltsamer Ausdruck in seine Augen. Als hätte er irgendeine befremdliche Entdeckung gemacht. Er lächelte und hob sein Glas. «Auf Katherine Riley, eine reizende junge Katholikin mit Verstand, Scharfsinn und erlesenem musikalischem Geschmack, die innerhalb der nächsten drei Minuten mit mir von hier verschwinden und mir Cambrid ge zeigen wird.» «Jüdisch», sagte sie. «Meine Mutter war Jüdin, und das gibt den Ausschlag.» «Okay, dann verbessere ich mich. Katherine Riley, eine reizende junge Jüdin. Bedeutet dies, daß Sie zu allem Überfluß auch noch kochen können?» -115­

«O ja.» «Ausgezeichnet, aber jetzt raus hier. Wir können eine Kahnfahrt im Mondschein machen, und Sie zeigen mir das romantische Bild der silberglänzenden Kirchtürme.» Nach der ersten halben Stunde fing es an zu regnen, und als es ihnen dann gelungen war, anzulegen und aus dem Kahn zu steigen, waren sie beide naß bis auf die Haut. Als das Taxi sie in New Hall absetzte, goß es in Strömen, und sie erreichten Katherines Wohnung so triefend naß, wie zwei menschliche Wesen irgend sein können. Als sie die Tür aufgeschlossen hatte und hineingehen wollte, hielt er sie sanft am Arm zurück. «Nein», sagte er. «Beim erstenmal trage ich dich über die Schwelle. Es ist eine alte griechische Sitte. Wir halten unser heidnisches Brauchtum nämlich in Ehren.» Später, gegen drei Uhr, als sie endlich zur Ruhe gekommen waren, wandte sie sich ihm im Bett zu, während er nach einer Zigarette griff. «Ich wußte nie, daß es so schön sein kann.» «Schlaf jetzt», sagte er zärtlich und legte den Arm um sie. Es hatte jetzt zu regnen aufgehört und Mondlicht sickerte ins Zimmer. Er lag lange rauchend da und starrte zur Decke hinauf. Sein Gesicht war ernst. Als sie im Schlaf stöhnte, zog er sie instinktiv näher an sich. «Weißt du, daß wir diesen Baum Milton verdanken?» fragte Katherine. Sie saßen Seite an Seite unter dem Maulbeerbaum im «Professorengarten» des Christ’s College, unter dem Baum, den der große Dichter angeblich eigenhändig gepflanzt hatte. «Ich wüßte nichts, was mir gleichgültiger wäre.» Mikali küßte ihren Nacken. «An einem Tag wie diesem ist alles gleichgültig. -116­

Frühling in Cambridge, und du mußt arbeiten.» «Nur noch bis Ende der Woche, dann habe ich Ferien.» «Ich weiß nicht, Katherine. Das Thema, an dem du arbeitest. Gewalt, Töten, Terrorismus. Ein abscheuliches Fachgebiet für eine Frau. Nein – ich muß mich berichtigen. Ein abscheuliches Gebiet für jeden Menschen.» «Na. hör mal», sagte sie. «Und deine Zeit bei der Fremdenlegion in Algerien? Ich habe die Zeitschriftenartikel darüber gelesen. Ich meine, in welcher Welt hast du dich dort bewegt?» Er zuckte die Achseln. «Ich war noch nicht trocken hinter den Ohren. Ich bin in einer Augenblickslaune zur Fremdenlegion gegangen. Unüberlegt und rein emotional. Aber du – du suchst sie dir auch noch aus. Jemand erzählte mir gestern, du beschäftigst dich mit dieser Deutschen, die mit den BaaderMeinhof-Leuten in Verbindung steht. Ich wußte nicht, daß sie in England ist.» «Doch, sie ist in Tangmere. Es ist eine Spezialanstalt nicht weit von hier. Von der Regierung subventioniert.» «Ah, verstehe. Du befaßt dich also im offiziellen Auftrag mit ihrem Fall?» Sie zögerte. «Ja, es war die einzige Möglichkeit, um an sie heranzukommen, aber ich hoffe, daß ich trotzdem ihr Vertrauen gewonnen habe.» «Hat sie nicht diesen Kerl bei sich versteckt, den die Zeitungen als den Mann aus Kreta bezeichnen, und zwar in ihrem Zimmer in Frankfurt in der Nacht, als er den ostdeutschen Minister erschoß?» «Ja, das stimmt.» «Ich war damals auch in Frankfurt», sagte er. «Ich gab ein Konzert an der Universität.» Sie standen auf und schickten sich zum Weggehen an. «Ich verstehe das nicht. Die Polizei muß -117­

doch irgendeine Art Beschreibung von ihm aus ihr herausgequetscht haben. Genug, um ihm auf die Spur zu kommen. Ich dachte immer, die Deutschen wären in solchen Sachen recht gründlich.» «Er trug einen Kopfschutz. Kennst du diese Dinger? Nur Löcher für Augen, Nase und Mund. Sie könnte ihn gar nicht beschreiben, selbst wenn sie es möchte.» «Wie meinst du das?» Katherine Riley lächelte. «Es scheint, daß er sich die Wartezeit mit ihr im Bett vertrieb.» «Und dabei den Kopfschutz aufbehielt? Na, das ist ja wirklich ein starkes Stück.» «Kann ich nicht beurteilen. Ich hab’s nie probiert.» Als sie später in einem Kahn auf dem Fluß fuhren, sagte er: «Katherine, ich habe eine Villa auf Hydra. Weißt du, wo das ist?» «Ja.» «Das Haus selbst liegt weit hinten an der Küste. Es ist nur mit dem Boot zu erreichen oder zu Fuß oder per Maulesel über die Berge. Jetzt wurde allerdings ein Telefonkabel über das Gebirge verlegt. Solltest du dich also verirren, dann sieh bloß nach den Telefonmasten und folge ihnen.» «Verirren?» «Du hast gesagt, ab Wochenende könntest du Ferien machen. Mir fiel ein, du würdest vielleicht ganz gern nach Hydra kommen. Ich habe drei Wochen frei, danach muß ich in Wien sein. Konzert geben. Überlegst du es dir?» «Das habe ich schon getan.» Später, als er mit Deville telefonierte, sagte er: «Ich habe Verbindung aufgenommen, wie Sie vorschlugen, und ich kann Ihnen versprechen, daß von Seiten der deutschen Puppe keine Schwierigkeiten zu befürchten sind. Überhaupt keine.» -118­

«Gut, damit wäre diese Sache erledigt. Was machen Sie in der nächsten Zeit?» «Ich reise nächsten Samstag für drei Wochen nach Hydra. Doktor Riley nehme ich mit.» Deville war ausnahmsweise einmal überrascht: «Mein Gott – warum, John?» «Darum», erwiderte Mikali und legte auf.

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6

Katherine Riley saß um die Mittagszeit in ihrem Arbeitszimmer am Schreibtisch beim Fenster. Ihr Lunch bestand aus Salat-Sandwiches und kalter Milch, und vor ihr lag die korrigierte Dissertation eines ihrer schwächeren Studenten. Es klopfte an der Tür, und Morgan trat ein. Er trug einen dunklen Pullover und ein graues Jackett aus Donegal-Tweed. Das einzig Militärische an ihm war der Trenchcoat, den er lose um die Schultern geworfen hatte. «Ja?» sagte sie fragend, obwohl sie bereits wußte, wer das sein mußte. «Morgan», sagte er. «Asa Morgan. Soviel ich weiß, hat sich Superintendent Baker von der Spezialabteilung bereits mit Ihnen in Verbindung gesetzt.» Sie blickte zu ihm auf, in der einen Hand ein Sandwich, in der anderen einen Kugelschreiber. «Colonel Morgan, nicht wahr? Asa Morgan? Fallschirmjäger-Regiment?» «Sie sagen das, als spielte es eine Rolle.» «Ich las das Pamphlet, das Sie nach Korea für das Verteidigungsministerium verfaßten. Es handelt zufällig von meinem Spezialgebiet.» «Dann ziehen wir an einem Strang.» «O nein», sagte sie. «Nicht, was mich betrifft. Diese kleine Unannehmlichkeit, in die Sie auf Zypern während des Kampfes gegen die EOKA verstrickt waren. Ich habe mich über Sie informiert, Colonel. Damals meinte die Presse, Sie hätten gar nicht schlecht in die SS gepaßt.» «Zweck des Terrorismus ist die Verbreitung von Terror», wies Morgan sie zurecht. «Das sagte Lenin. Und anno neunundzwanzig lebte Michael Collins nach diesem Credo. Er sagte, es sei die einzige Möglichkeit für ein kleines Land, eine -120­

Großmacht zu besiegen. Da Stadtguerillas Ihre Spezialität sind, Frau Doktor, wissen Sie doch, wie sie vorgehen. Wahlloses Bombenlegen, unmotivierter Terror, vorsätzliches Abschlachten unschuldiger Menschen. Frauen, Kinder. Mein Auftrag in Zypern lautete, Schluß damit zu machen, und das habe ich getan.» «Mit Hilfe von Verhörmethoden, die zweifellos der Gestapo abgeschaut waren.» «Nein», sagte er. «Völlig falsch. Alles, was ich in dieser Hinsicht an Besonderem zu bieten hatte, verdankte ich den Chinesen. Ich bekam Einzelunterricht in einem Gefangenenlager namens Ti-pai in der Mandschurei.» Sie saß da, starrte wortlos zu ihm auf und wußte genau, daß sie eigentlich zornig sein müßte, war es jedoch nicht. Seltsam, denn dieser Mann repräsentierte all das, was sie zutiefst verabscheute. Autorität in Uniform, die Militärmaschinerie, die wieder einmal die Jugend ihres Vaterlandes zermalmte und sie dann in Vietnam ausspie. «Harry Baker sagte mir, Sie könnten keine Polizisten leiden», sagte er. «Da irrte er sich. Was Sie nicht leiden können, sind Uniformen.» «Vielleicht.» Er zündete sich eine Zigarette an. «Schon besser. Jetzt hätten Sie beinah gelächelt, Ihre Mundwinkel bewegten sich nach oben anstatt nach unten.» «Hol Sie der Te ufel», sagte sie. Er setzte sich auf die Schreibtischkante. «Kann ich mit der Hoffmann zusammenkommen?» «Aus Bakers Bericht entnehme ich, daß ein Zusammenhang mit dem Attentat auf Maxwell Cohen besteht. Die Spezialabteilung glaubt, es sei wieder der Mann aus Kreta gewesen.» -121­

«Richtig.» «Und Sie glauben, daß Sie von Lieselotte einen Hinweis auf ihn herausbringen könnten?» Sie schüttelte den Kopf. «Sie würde Ihnen nichts sagen, selbst wenn sie es könnte.» «Weil er mit ihr ins Bett gegangen ist?» Wieder schüttelte sie den Kopf. «Ich glaube nicht, daß Sie das verstehen. Für einen Menschen wie sie ist er nahezu ein Gott. Ein Symbol all dessen, woran sie glauben.» «Sagen Sie es mir nicht, lassen Sie mich raten. Die Reinheit der Gewalt.» Sie öffnete eine Schublade und nahm ein gelbes Heft heraus. «Das hat mir unlängst jemand von der Sorbonne geschickt. Gedruckt von einer Studentengruppe. Diese jungen Leute sollen an der Universität eine Ausbildung bekommen, und was für eine Ausbildung.» Sie schlug das Heft auf. «Hören Sie sich die Ratschläge für Demonstranten an: Beim Losschlagen auf Polizisten sollten Lederhandschuhe getragen werden. Zeitungen, die um den Körper gewickelt werden, dämpfen die Wirkung von Gewehrkolben. Eine Anti-Grippe-Tablette, dreißig Minuten vor dem Sturmangriff genommen, eine zweite, wenn die Tränengasgranaten eingesetzt werden, mindert die Übelkeit, die durch das Einatmen des Gases entsteht.» «Das da ist mir noch neu», bemerkte Morgan. «Muß ich mir merken. Wann kann ich mit ihr sprechen?» «All right, verschwenden Sie Ihre Zeit, wenn Sie unbedingt wollen. Haben Sie einen Wagen?» «Ja.» «Ich habe uns für drei Uhr angemeldet. Die Fahrt dauert zwanzig Minuten, Sie können mich um halb drei Uhr abholen. Und jetzt, wenn ich bitten darf …» Er nahm Aktentasche und Regenmantel an sich. «Tragen Sie Ihr Haar immer so straff zurückgebürstet?» -122­

«Was zum Kuckuck geht Sie das an?» «Würde es lose hängen lassen, wenn ich Sie wäre, Mädchen», sagte er. «Wenn Sie Ihren guten Tag haben, könnten Sie dann sogar wie eine richtige Frau aussehen.» Die Tür schloß sich leise hinter ihm. Katherine saß da und vergaß vor Staunen den Mund zu schließen. Das Verhörzimmer im Gefängnis von Tangmere war überraschend freundlich eingerichtet. Gemusterte Tapete, dazu passender Bodenbelag, ein Tisch, moderne Stühle. Die vergitterten Fenster wirkten beinahe fehl am Platz. «Wirklich recht hübsch», bemerkte Morgan nicht ohne Ironie und warf einen Blick in den Garten. «Dies ist kein gewöhnliches Gefängnis und soll es auch nicht sein», belehrte Kathe rine Riley ihn. «Es ist eine psychiatrische Einrichtung …» «Zum Zweck der Rehabilitation und Wiedergenesung und lasset uns fröhlich sein, denn Gott ist gut.» Ehe sie antworten konnte, wurde die Tür aufgeschlossen und Lieselotte Hoffmann hereingeführt. Die Wärterin zog sich zurück und schloß hinter sich wieder ab. Lieselotte Hoffmann war eine kleine, gewöhnlich aussehende junge Frau mit kurzen blonden Haaren; sie trug Jeans und eine Bluse. Sie beachtete Morgan zunächst nicht, sondern wandte sich in tadellosem Englisch an Katherine Riley: «Wer ist Ihr Begleiter?» «Colonel Morgan. Er würde Ihnen gern ein paar Fragen stellen.» Katherine Riley holte Zigaretten hervor, gab ihr eine und zündete sie an. «Über den Mann aus Kreta», sagte Morgan. Die junge Frau wandte sich ihm ruckartig zu, ihr Gesicht war jetzt völlig ausdruckslos geworden. Dann drehte sie sich wieder zu Katherine Riley um. «Was ist passiert?» -123­

«In London wurde ein Attentat verübt. Auf einen prominenten Zionisten. Schwarzer September meldete sich als Urheber, aber die Polizei glaubt, daß es der Mann aus Kreta war.» Lieselotte Hoffmann fuhr zu Morgan herum und hob die geballte Faust. «Alle Macht dem Volk.» «Welchem Volk, Sie dummes kleines Ding?» Sie ließ die Hand sinken, eine seltsame Unsicherheit breitete sich in ihren Zügen aus, und Morgan öffnete seine Mappe und nahm ein Bündel Fotos heraus. «Ich dachte, Sie würden vielleicht abwechslungsweise einmal mit der Wirklichkeit in Berührung kommen wollen. Sehen Sie sich an, was Ihr Mann aus Kreta im Lauf der Jahre geleistet hat.» Sie trat an den Tisch, und Katherine Riley folgte ihr. «Das ist ein Oberst namens Vassilikos im Fond seines Wagens in Paris. Wie Sie sehen, ist sein Schädel in Stücke gerissen. Der kniende Mann neben ihm ist einer seiner Leibwächter. Dies hier ist das freiliegende Gehirn dieses Mannes.» Der Gesichtsausdruck der jungen Frau veränderte sich nicht eine Spur, während Morgan die Fotos der Opfer des Kreters, eins nach dem anderen, auf den Tisch warf. Das letzte stellte Megan dar, wie sie im Paddington-Tunnel im Rinnstein lag, wo sie aufgefunden worden war. «Wer war das Mädchen?» «Meine Tochter», sagte Morgan. «Sie war vierzehn. Er hat sie mit einem gestohlenen Auto überfahren, als er nach dem Anschlag auf Cohen flüchtete.» Sie legte das Bild auf den Tisch und wandte sich mit völlig gleichgültigem Gesichtsausdruck an Katherine Riley. «Kann ich jetzt gehen?» Und Katherine Riley, überwältigt von Entsetzen, tat etwas, -124­

das ihrer Natur völlig fremd war: sie schlug die junge Frau ins Gesicht. Wie der Blitz war Morgan zwischen den beiden Frauen, packte Katherines Arme und sagte leise und eindringlich: «Ruhig, Mädchen. Laß gut sein.» Hinter ihnen ging Lieselotte Hoffmann zur Tür und drückte auf den Klingelknopf. Nach einer Weile öffnete sich die Tür, und sie ging wortlos hinaus. Über Morgans Schulter hinweg konnte Katherine Riley das Foto Megans deutlich sehen, die blutige Maske des Gesichts, und Übelkeit stieg in ihr hoch. «Es tut mir leid», flüsterte sie. «Bitte, entschuldigen Sie.» «Ach Kate», sagte er. «Regel Nummer eins. Sich nie entschuldigen, nie etwas erklären. Aber jetzt sehen wir zu, daß wir hier rauskommen und irgendwo einen Drink kriegen.» «Asa?» sagte sie. «Das ist ein sonderbarer Name.» «Aus der Bibel», erklärte er ihr, und für kurze Zeit wurde er wieder der waschechte Waliser. «Eine fromme Frau war sie, meine Mam. Jeden Sonntag zweimal zur Kirche, als ich ein Junge war.» «Und wo war das?» «Ein Dorf im Rhondda-Tal in Wales. Bergleute, Schlackehalden. Ein Ort, aus dem man nicht schnell genug fort kann. Mein Vater wurde bei einem Stolleneinsturz getötet, als ich acht Jahre alt war. Die Bergwerksgesellschaft gab meiner Mutter zehn Shilling Pension die Woche. Mit vierzehn bin ich selber in die Mine eingefahren, vier Jahre später zum letztenmal aus dem Schacht gekommen, um mich zur Army zu melden.» «Und nie einen Blick zurück?» «Ich war glücklich», sagte er. «Als Soldat. Noch nie war mir so wohl zumute gewesen. Und die Army war gut zu mir. Ich war -125­

als Sergeant in Arnhem, dann wurde ich als Leutnant ins Feld geschickt. Nach dem Krieg behielten sie mich. Schickten mich nach Sandhurst.» «Und Ihre Herkunft? Hatten Sie auf der Militärakademie nie Schwierigkeiten deshalb?» «Ach, jeder Idiot kann lernen, wie man mit Messer und Gabel ißt, und als Waliser wußte ich von jeher, daß ich mehr tauge als jeder verdammte Engländer, der auf dem Globus rumtrampelt, auch wenn er in Eton gewesen ist.» Er lächelte, jetzt machte er sich über sie lustig. «Ja, ja, wir sind ein sehr intelligenter Volksstamm. Alle haben über mich gestaunt. Ich habe nicht nur Clausewitz’ Vom Kriege gelesen, ich kannte auch meinen Wu Ch’i. Harte Brocken, alle beide.» «Vermutlich waren Sie immer schon ein Teufelskerl, wie?» «Mußte ich sein, Mädchen. Ich mußte einfach besser sein. Sprachen zum Beispiel. Nicht, daß sie mir Schwierigkeiten gemacht hätten. Lernen Sie fließend Walisisch sprechen, dann ist alles andere ein Kinderspiel.» Sie saßen an einem der kleinen Tische vor einer Kneipe am Ufer des Cam. Es war schön in der Spätnachmittagssonne. «Und Ihre Frau? Wie hat sie das alles aufgenommen?» «Mit ihrer üblichen Unerschütterlichkeit, soweit ich es beurteilen kann.» Er zuckte die Achseln. «Das ist schon eine ganze Weile aus. Sie hat nie etwas für das Soldatenleben übriggehabt oder für meine Auffassung davon. Sie ist von Beruf Malerin und eine sehr gute dazu. Wir lernten uns an einem Sonntagmorgen in der Nationalgalerie kennen. Einer dieser gewaltigen Irrtümer, die der Mensch so häufig im Leben begeht. Mag sein, daß die Uniform den Ausschlag gab, und das rote Barett.» «Hat ihr das gefallen?» «Nicht sehr lang.» -126­

«Was ist schiefgelaufen?» «Sie besuchte mich auf Zypern während des EOKA-Krieges. Eines Tages fuhren wir durch Nikosia, vor uns der Arzt eines Kavallerieregiments, der in seiner Freizeit die Bauern in den Dörfern des Troodos-Gebirges kostenlos behandelte. Er mußte an einer Verkehrsampel halten, und ein paar EOKA-Terroristen rannten hin und schossen ihm durch das Fenster das Hirn aus dem Schädel.» «Und Sie haben sie aufs Korn genommen?» «Ich war natürlich bewaffnet.» «Und Sie haben beide getötet?» «Ja. Bedauerlicherweise stellte sich heraus, daß der eine von ihnen erst fünfzehn war.» «Und das konnte sie nicht verkraften?» «Alle diese Westerns. Es wird erwartet, daß man den Gegner in den Arm schießt oder in die Schulter oder sonstwohin, wo es adrett aussieht. Leider sieht die Wirklichkeit anders aus: man hat nur Zeit für eines. Schießen, um zu töten. Und immer zweimal abdrücken, damit er wirklich sofort erledigt ist, denn sonst schießt er noch im Fallen zurück.» «Und nach diesem Vorfall war sie anders?» «Es war nicht so sehr der Junge. Ich glaube, weil sie mich dabei gesehen hat. Sagte zu mir, sie könne meinen Gesichtsausdruck nicht vergessen. Sie war damals schwanger und hat nicht mehr mit mir geschlafen. Auch später nie wieder.» «Das tut mir leid.» «Keine Ursache. Sie glaubt einfach an das Leben. Sah mich als eine Art öffentlichen Henker. Jetzt ist sie mit einem Landpfarrer verheiratet. Ein Mann, der an alles und jedes glaubt, also kommen sie recht gut miteinander aus.» Sie sagte: «Es tut mir wegen Ihrer Tochter leid.» «Ich hätte es besser wissen müssen», erwiderte er. -127­

«Blödsinnige Idee, zu glauben, daß ich dieser jungen Person in der Erschütterung des Augenblicks irgend etwas entlocken könnte.» «Für Menschen wie sie ist es eine Art Religion», sagte sie. «Die Gewalt wird durch Mystik geadelt. Terroristen sind Romantiker. Sie behaupten, Helden der Revolution zu sein, setzen sich aber gleichzeitig über die Regeln des Krieges hinweg. Sie behaupten, für das Volk zu sprechen, und sprechen meist nur für sich selber.» «Und der Kreter?» fragte Morgan. «Was für eine Sorte Mensch ist er?» «Was glauben Sie?» Er berichtete ihr von dem Gespräch, das er und Baker geführt hatten und zu welchem Schluß sie dabei gekommen waren. Sie nickte. «Ja – dem kann ich zustimmen. Der einzige Punkt, in dem ich nicht mit Ihnen einverstanden bin, ist seine militärische Vergangenheit.» «Warum?» «Die Kubaner bieten schon seit vielen Jahren den Terroristen aus aller Welt die Möglichkeit einer ausgezeichneten militärischen Ausbildung, und die Russen tun es ihnen nach. Jetzt nehmen sie Studenten aus den meisten ausländischen Staaten in die Patrice-Lumumba-Universität in Moskau auf. Das KGB ist ständig auf der Suche nach aussichtsreichem Material.» «Ich weiß», sagte er, «aber ich glaube, an unserem Mann aus Kreta ist noch mehr dran. Nennen Sie es den Instinkt des Soldaten für einen anderen Soldaten. Ich möchte wissen, was einen Mann wie ihn zum Handeln veranlaßt. Ideologie auf keinen Fall – seine Morde weisen kein Muster auf, das einen Hinweis darauf liefern würde.» «Möchten Sie die Ansicht des Psychologen hören?» «Bitte.» -128­

«Okay – passen Sie auf. Vor einiger Zeit beteiligte ich mich an Leistungsmessungen von Grand-Prix-Rennfahrern. Das Resultat lautete: je größer der Streß, um so besser die Leistung. Die meisten von ihnen sind nur unter dem Einfluß maximaler Gefahr wirklich lebendig, nur dann schöpfen sie wirklich ihr volles Leistungspotential aus. Am erfolgreichsten ist derjenige Fahrer, der sich einfach vornimmt, jeden anderen Wagen, der ihm in die Quere kommt, aus der Bahn zu drängen. Sein Image ist hochgradig maskulin, aber er liebt Motoren, Autos, den Mechanismus seines Berufs mehr, als er jemals eine Frau lieben könnte. Das Rennen ist die perfekte Herausforderung, der Tod die einzige Alternative. Es ist ein Spiel, das stets erregt, nie aufhört, Befriedigung zu verschaffen.» «Die ständige Herausforderung. Der einzelne gegen …» Morgan überlegte. «Wogegen?» «Gegen sich selbst vielleicht. Eine psychopathische Persönlichkeit, ganz gewiß, andernfalls könnte er die Schuld, die aus seinen Taten erwächst, niemals tragen.» «Und er sucht den Tod, wollen Sie das sagen? Daß er von Todessehnsucht getrieben wird?» «Ich nehme jedenfalls nicht an, daß der Gedanke ihn im mindesten beunruhigt. Wir haben Bandaufnahmen von Testpiloten im Augenblick des sicheren Todes, in abstürzenden Maschinen, die nicht etwa schreien vor Furcht, sondern noch immer versuchen, in lauten Selbstgesprächen herauszufinden, was nicht in Ordnung ist. Ein solcher Mann ist auch der Kreter.» Sie zögerte. «Ich könnte mir vorstellen, daß er Ihnen sehr ähnlich ist.» «Gut», sagte Morgan. «Das gibt mir eine Chance, ihn zu erwischen.» Er blickte auf die Uhr. «Höchste Zeit. Ich habe heute abend eine Verabredung in London.» Als sie zurück zum Porsche gingen, sagte sie: «Was haben Sie jetzt noch vor? War das nicht schon ungefähr alles, was Sie -129­

versuchen konnten?» «Nein», sagte er. «Die Waffe, mit der auf Cohen geschossen wurde. Wenn ich herausfinden könnte, woher sie stammt.» «Halten Sie das für möglich?» «Ich kenne jemand in Belfast, der mir vielleicht helfen kann. Das muß ich feststellen.» Sie stieg in den Porsche. Er schloß ihre Tür, ging um den Wagen herum und setzte sich ans Steuer. «Kann ich Sie nochmals sprechen, wenn ich zurückkomme?» Zu ihrer eigenen Überraschung erwiderte sie ohne das geringste Zögern: «Wenn Sie das möchten.» «Hätte ich sonst gefragt?» erwiderte er lakonisch. Die Firma Security Factors Ltd. befand sich in einer kleinen Sackgasse nahe der Great Portland Street. Es war kurz nach sieben, als Morgan die Treppe hinaufstieg und die Klinke der Tür mit der Aufschrift «Büro» niederdrückte. Die Tür war verschlossen, aber drinnen brannte Licht. Morgan klingelte und wartete. Hinter dem Glas bewegte sich ein Schatten, dann ging die Tür auf. Jock Kelso war fünfundfünfzig und sah, trotz des kurzgeschorenen grauen Haars, aus wie vierzig. Er war fast zwei Meter groß, gebräunt und sportlich; ein Mann, dem seine Gegner aus dem Weg gehen sollten und seine Freunde vertrauen konnten. Er hatte fünfundzwanzig Jahre Militärdienst hinter sich, zuerst bei der Scots Guard und dann bei den Fallschirmjägern. Fünf Jahre lang war er Feldwebel in Morgans Regiment gewesen. «Hallo, Jock.» Morgan trat ein. «Was macht die Wach- und Sicherheitsbranche?» Kelso ging ihm in ein weiteres Büro voran, einen kleinen und ordentlichen Raum, aufgeräumter Schreibtisch, grüne Karteischränke, Teppiche an den Wänden. Hier wurden die -130­

wirklichen Geschäfte der Firma abgewickelt. Von diesem Büro aus waren Söldner in den Kongo, den Sudan, nach Oman und in ein Dutzend weiterer schmutziger kleiner Kriege gezogen, denn Jock Kelso war auch in der Todesbranche tätig. Er wußte es, und Morgan wußte es auch. Kelso goß Whiskey in zwei Pappbeche r und sagte: «Ich habe von Megans Tod gehört. Mein Beileid.» «Ich will den Mann haben, der es getan hat, diesen Mann aus Kreta, wie er allgemein heißt», sagte Morgan. «Alles, was ich irgend tun kann, Colonel, das wissen Sie.» «Anständig von Ihnen, Jock. Ich habe eine Spur. Kann zu etwas führen oder auch nicht, auf jeden Fall muß ich nochmals nach Belfast, wenn ich es feststellen will.» «Ohne Uniform?» Kelsos Gesicht wurde ernst. «Sie werden Sie schnappen, Colonel, wird Sie Kopf und Kragen kosten.» «Geben Sie O’Hagan Bescheid», sagte Morgan. «Sagen Sie ihm, ich bin von morgen nachmittag an im Hotel Europa in Belfast. Und ich muß ihn sprechen. Können Sie das tun?» «Ja», sagte Kelso. «Wenn Sie Wert darauflegen.» «Tu ich, Jock, tu ich. Wie kommen Sie seit dem Tod Ihrer Frau zurecht?» «Gut; meine Tochter Amy ist noch immer im Haus. Sie versorgt mich gut.» «Sie muß jetzt ungefähr zwanzig sein? Nicht verlobt oder dergleichen?» «Die nicht», lachte Kelso. «Die weiß, was sie will. Hat ihr eigenes Geschäft als Floristin. Läuft prächtig, besonders das Auftragsgeschäft. Erstaunlich, wie sie heranwachsen. Gestern waren sie noch Kinder, und heute …» Er schwieg verlegen. Morgan leerte seinen Becher und fröstelte. «Kalt heute abend. Scheint, daß ich alt werde.» «Aber nicht so kalt wie in Korea, Colonel.» -131­

«Nein», sagte Morgan leise. «Damit kann sich nichts je vergleichen. Ich lasse Sie wissen, wenn ich wieder zurück bin.» Kelso lauschte ihm nach, wie er die Treppe hinunterging, dann nahm er den Telefonhörer auf und rief ein Taxi. Es setzte ihn zwanzig Minuten später in der Portobello Road vor der Kneipe Harp of Erin ab, die, wie der Name verriet, vorwiegend von Londoner Iren besucht wurde. Das Lokal war überfüllt, in der Ecke spielte ein alter Mann auf der Ziehharmonika und sang die Moritat vom Kühnen Robert Emmet. Als Kelso eintrat, fiel gerade die ganze Gesellschaft in den Refrain ein – Verräter, Frevler und Spion / Hat mich genannt die Welt / Doch als ein Held hab ich gelebt / Will sterben als ein Held. Mehr als ein unfreundlicher Blick traf Kelso, als er sich durch die Milchglastür schob. Drinnen sah er drei Männer an einem kleinen Tisch sitzen und Whist spielen. Der große Mann, der ihm das Gesicht zuwandte, hieß Patrick Murphy und organisierte in Nordlondon die Sinn-FeinBewegung, den politischen Flügel der Provisional IRA. «Jock?» sagte er. «Es ist wichtig», erwiderte Kelso nur. Murphy nickte, die beiden anderen Männer standen auf und verließen das Lokal. «Also?» «Ich habe eine Nachricht für O’Hagan.» «Darf man fragen für welchen O’Hagan?» »Stell dich nicht so an, Patsy, wir sind doch alte Kameraden. Sag O’Hagan, daß Asa Morgan von morgen an im Hotel Europa sein wird und daß er ihn so bald wie möglich in einer Privatsache sprechen will.» «Was für eine Art Privatsache?» «Das müssen die beiden miteinander ausmachen.» -132­

Kelso ging hinaus, bahnte sich einen Weg durch die Menge und stieg wieder in sein Taxi, das er hatte warten lassen. Als es abfuhr, schwitzte er ein wenig. Murphy saß noch eine Weile in seiner stillen Ecke, dann trat er an die Theke und rief nach der Wirtin. Er hielt ihr ein paar Pfundnoten hin. «Gib mir lauter Zehn-Pence-Stücke dafür, Nora, mein Herz. Ich möchte nach Belfast telefonieren.» «Klar, und du kannst meinen Apparat benutzen, oder?» «Nein, für diesen Anruf nic ht. Man weiß nie, wer vielleicht die Ohren spitzt.» Sie zuckte die Achseln, gab ihm die Münzen aus der Ladenkasse, und er verließ das Lokal durch die Seitentür. Dann ging er die Straße entlang bis zur Telefonzelle an der Ecke. Am nächsten Morgen kurz nach neun klopfte es an die Tür von Katherine Rileys Arbeitszimmer. Als sie aufblickte, stand Mikali vor ihr. «Wann bist du hergekommen?» fragte sie. «Heute früh, mit meiner Cessna, die ich aus zweiter Hand gekauft habe. Ich kann ein paar Tage ausspannen, dann sind Konzerte in Paris, Berlin und Rom. Danach möchte ich einige Zeit nach Hydra. Kannst du es einrichten?» «Ich weiß noch nicht.» Schon lag sie in seinen Armen, und wieder fühlte sie die heftig aufwallende körperliche Erregung, gegen die sie machtlos war. «In diesem Semester wächst mir die Arbeit über den Kopf.» «Na schön, dann heute vormittag. Wenn du ein ganz besonders braves Kind bist, dann lasse ich dich die Cessna fliegen.» «Das kann ich besser als du, John Mikali, und du weißt es auch», sagte sie, denn sie waren beide passionierte Flieger. «Laß mir nur zehn Minuten Zeit zum Umziehen.» -133­

«Fünf», sagte er, setzte sich auf den Schreibtisch und zündete sich eine Zigarette an, während sie in ihr Schlafzimmer ging. «Du hast also diese Woche viel Arbeit gehabt? Was genau hast du getan?» «Die alte Tretmühle», rief sie. «Bis auf die kleine Hoffmann. Ich habe sie gestern unter recht seltsamen Begleitumständen aufgesucht.» «Ach ja?» Er trat dicht an die Schlafzimmertür. «Erzähl mir darüber.» Als sie dann hinaus zum Wagen gingen, entschuldigte er sich, lief nochmals ins Collegegebäude zurück bis zur ersten Telefonzelle und rief in Paris an. Als Deville sich meldete, sagte er hastig: «Dieser Morgan, ich brauche sämtliche Unterlagen. Alles, was über ihn bekannt ist, von A bis Z, einschließlich Foto. Können Ihre Leute in London mir das beschaffen?» «Natürlich. Sie können es im Londoner Schließfach abholen, jederzeit nach sieben Uhr heute abend. Verstehe ich recht, daß es Komplikationen gegeben hat?» «Er war bei dieser Deutschen. Nicht, daß er Erfolg gehabt hätte. Nach meinen Informationen ist er jetzt in Ulster und sucht einen Weg, wie er dem benutzten Werkzeug auf die Spur kommen kann.» Deville kicherte. «Er läuft in die falsche Richtung. Eine Sackgasse.» «Natürlich», sagte Mikali. «Aber Vorsicht kann nicht schaden. Ich melde mich wieder.»

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7

Das Hotel Europa in der Great Victoria Street in Belfast erhebt sich zwölf Stockwerke hoch über dem nahe liegenden Bahnhof. Seit seiner Eröffnung im Jahr 1971 hatte die IRA mehr als fünfundzwanzig Bombenanschläge auf das Gebäude verübt. Morgan dachte an diese interessante Statistik, während er am Fenster seines Zimmers im vierten Stock stand und auf die Bushaltestelle und die protestantische Hochburg Sandy Row hinunterblickte. Vom Belfast Lough fegte ein kalter Ostwind herein und trieb den Regen durch die schäbige Straße der verwüsteten Stadt. Morgan war ruhelos und deprimiert. Schon der zweite Tag seines Aufenthalts, und nichts hatte sich getan. Er war die ganze Zeit über im Hotel geblieben und hatte sein Zimmer nur verlassen, um in den Speisesaal oder in die Bar hinunterzugehen, hatte den größten Teil der vergangenen Nacht im Dunkeln an seinem Fenster gesessen, und nur das Krachen explodierender Bomben oder das gelegentliche Rattern vo n Handfeuerwaffen unterbrach sein Grübeln. Er machte sich Sorgen, denn heute war Freitag, und in weniger als achtundvierzig Stunden, um vier Uhr morgens am Montag, dem 31. Juli, würde «Motorman» anlaufen; die größte Operation der British Army seit Suez. Eine sorgfältig geplante Invasion sämtlicher sogenannter «verbotener» Zonen, also der von der IRA beherrschten Bezirke in Belfast und Londonderry. Sobald es losging, konnte man sicher sein, daß O’Hagan für eine Weile von der Bildfläche verschwinden, sich vielleicht sogar nach Süden in die Republik Irland absetzen würde, falls man ihn nicht vorher schnappte. Schließlich hielt er es nicht länger aus, zog sein Jackett an und fuhr mit dem Lift hinunter ins Foyer. Er sagte beim Empfang, daß er in der Bar zu finden sein werde, schwang sich auf einen -135­

Hocker und bestellte irischen Whiskey – Bushmills. Vielleicht hatte er sich von O’Hagan zu viel erwartet vielleicht war die Kluft inzwischen schon zu breit geworden. Er trank einen kleinen Schluck Whiskey, da tippte ihm ein uniformierter Page auf die Schulter. «Colonel Morgan? Ihr Taxi wartet, Sir.» Der Fahrer war ein alter Mann, der eine Rasur dringend nötig hatte. Als Morgan im Fond saß, sah er, daß die Augen ihn im Rückspiegel beobachteten. Während sie durch wachsende Dunkelheit und strömenden Regen fuhren, wurde kein Wort gesprochen. An den meisten wichtigen Kreuzungen standen irgendwelche Soldaten, aber der Straßenverkehr war lebhaft, und überraschend viele Leute waren unterwegs. Jetzt befanden sie sich irgendwo in der Falls Road, zur Linken lag der katholische Bezirk Turf Lodge, wie Morgan wußte. Dann bog der alte Mann in eine der schäbigen Seitenstraßen ein. Am Ende der Straße befand sich der Lagerplatz einer Baufirma. Als sie näher kamen, öffnete sich das hohe Tor. Sie fuhren in den Hof, und das Tor schloß sich hinter ihnen. Über einer Tür brannte eine Lampe und erhellte den Hof. Ein alter Ford-Lieferwagen stand unter dieser Lampe, an den Seitenwänden trug er die Aufschrift Backwarenfabrik Kilroy. Nichts war zu hören, nur der Regen. Dann sprach der Alte zum erstenmal, «So, jetzt können Sie aussteigen, Mister.» Dies war der gefährlichste Augenblick, wie Morgan wußte. Der Augenblick, in dem er erfahren würde, ob sich sein kalkuliertes Risiko gelohnt hatte oder nicht. Er zündete sich ruhig eine Zigarette an, dann öffnete er die Autotür und stieg aus. Ein massiger Mann im dunklen Anorak mit hochgestülpter Kapuze kam hinter dem Lastwagen hervor, in der Hand hielt er ein Kalaschnikow-Sturmgewehr. Morgan wartete. Man hörte -136­

Schritte, und eine zweite Gestalt tauchte aus dem Dunkeln auf. Groß, mit einem alten gegürteten Regenmantel und Tweedmütze. Ein sehr junger Mann, fast noch ein Knabe. Als er näher kam, sah Morgan das Gesicht unter der Schildmütze, die dunklen gequälten Augen, die seelische Pein verrieten. «Wenn Sie die Freundlichkeit hätten, Abklopfstellung einzunehmen, Colonel.» Nach seinem Akzent war er aus Belfast, und er verstand sein Geschäft, denn sobald Morgan sich mit ausgestreckten Händen an die Seitenwand des Lieferwagens gestützt hatte, klopfte er ihn flink und sachkundig nach Waffen ab. Nachdem die Untersuchung zufriedenstellend verlaufen war, öffnete er die Hintertüre. «All right, Colonel. Einsteigen.» Er stieg hinter Morgan in den Wagen, der andere Mann reichte ihm das Gewehr hinein und schloß die Tür. Morgan hörte, wie er zur Fahrerkabine ging. Im nächsten Moment starteten sie. Die Fahrt dauerte nicht länger als zehn Minuten. Der Lieferwagen hielt, der Fahrer kam nach hinten und öffnete. Der Junge sprang heraus, und Morgan folgte ihm. Die Straße bot ein Bild der Verwüstung, alles war mit Glassplittern übersät. Die meisten Laternen waren zerschlagen, und ein Lagerhaus auf der anderen Seite war nur noch ein Schutthaufen. Die kleinen Einfamilienhäuser zeigten kaum Anzeichen von Leben, nur wo eine Gardine schlecht zugezogen war, fiel hier und dort ein schmaler Lichtstreifen aufs Pflaster. Der Junge zündete sich eine Zigarette an und warf das Streichholz weg. «Großartige Gegend, um seine Kinder aufzuziehen, meinen Sie nicht auch, Colonel?» sagte er, ohne Morgan anzusehen, dann ging er, die Hände in den Taschen seines alten Regenmantels vergraben, auf die andere Straßenseite. Morgan folgte ihm. An der Ecke lag ein kleines Café. Der Junge stieß die Tür auf und ging hinein. Es war nichts Besonderes. Auf der einen Seite eine Reihe braunlackierter -137­

Nischen, gegenüber eine marmorbelegte Theke mit einer großen altmodischen Teemaschine, die mit Gas geheizt wurde. Offenbar waren keine Gäste im Lokal. Das einzige Lebewesen war die alte grauhaarige Frau mit der schmutzigen weißen Schürze, die neben der Teemaschine saß und eine Zeitung las. Sie warf einen kurzen Blick auf Morgan, dann nickte sie dem Jungen zu. Eine ruhige Stimme rief aus der hintersten Nische: «Führ den Colonel hierher, Seumas.» Liam O’Hagan aß Eier mit Chips, ein Becher Tee stand daneben auf dem Tisch. Er war Anfang Vierzig und hatte dunkles lockiges Haar. Er trug ein am Hals offenes Hemd und eine kurze Jacke und sah aus wie ein Werftarbeiter, der auf dem Heimweg zu einem kleinen Imbiß Rast gemacht hat. «Hallo, Asa», sagte er. «Sie sehen gut aus.» Der Junge ging zur Theke und bestellte zwei Becher Tee. Morgan setzte sich. «Ist er nicht ein bißchen jung für den Job?» «Wer? Seumas?» O’Hagan lachte. «Damals im August neunundsechzig war er’s jedenfalls nicht, als der Oranier-Pöbel in die Falls Road einfiel, um alles bis auf den Grund niederzubrennen, jede katholische Familie, die dort wohnte, zu verjagen. In jener Nacht ist eine Handvoll IRA-Männer aufgetaucht, um ihnen das Handwerk zu legen, und Seumas war auch darunter.» «Er kann damals höchstens sechzehn gewesen sein.» «Achtzehn, Asa», sagte O’Hagan. «Er ist mit einer 45er Webley angerückt, die sein Großvater aus dem Ersten Weltkrieg mitgebracht hatte. Hat in dieser Nacht neben mir gekämpft. Und seitdem alles Nötige für mich erledigt.» «Dieser Junge?» «Mit einer Waffe in der Hand hat er nicht seinesgleichen.» -138­

Seumas kehrte mit einem Becher Tee an den Tisch zurück und stellte ihn vor Morgan auf den Tisch. Dann ging er wieder zur Theke, schwang sich auf den letzten Hocker und behielt die Tür im Auge, während er seinen Tee trank. «Ich bin beeindruckt.» O’Hagan sagte: «Und was möchten Sie, Asa?» «Erinnern Sie sich an den Winter 1950 in Korea, als Sie der schlechteste Reserve-Leutnant bei den Ulster-Rifles waren?» «Das waren noch Zeiten», sagte O’Hagan. «Herrgott, aber es hat uns mächtig imponiert, daß ein großer Mann wie Sie zu uns abgestellt wurde. Ein richtiger Soldat, mit Orden und allem Drum und Dran.» «Als die Chinesen uns am Imjin eingekreist hatten und das Regiment sich durch die feindlichen Linien schlagen mußte, bin ich nochmals zurück, um Sie mit dieser Kugel im Fuß herauszuholen. Und ich hab Sie rausgebracht. Dafür sind Sie mir einiges schuldig, Liam.» O’Hagan wischte sich den Mund, fischte eine halbe Flasche Whiskey aus der Tasche und versüßte sich den Tee. Dann schenkte er auch Morgan ein. «Bis auf den letzten Penny bezahlt», sagte er. «Am Blutigen Freitag, Asa, standen Sie um Mitternacht in der Lewis Street vor Cohan’s Select Bar, die schon recht lustig brannte. Der Junge und ich standen gegenüber auf dem Dach – er wollte Ihnen die Rübe wegschießen. Ich hab’s ihm verboten. Wenn Sie also gekommen sind, um irgendwelche besonderen Freundschaftsdienste zu fordern, Asa, dann haben Sie womöglich Ihre Zeit verschwendet.» «War ein stolzer Tag für euch damals», sagte Morgan bitter. «An die hundertvierzig Tote und Verletzte.» «Seien Sie doch nicht kindisch. Der Feuersturm, den die Bomben der Royal Air Force im Juli dreiundvierzig in Hamburg -139­

entfacht haben, tötete in drei Tagen mehr Menschen als die Atombombe in Hiroshima. Welches ist der einzige Unterschied zwischen einer Bombe, die man aus einer Höhe von sechstausend Meter abwirft, und einer, die in einem Paket unter einem Caféhaustisch liegt? Der Pilot kann nicht sehen, was er anrichtet.» «Und wie soll das alles enden, Liam, die Gewalttätigkeit, das Töten?» «Mit einem geeinten Irland.» «Und was dann? Was wollt ihr tun, wenn das alles vorbei ist?» O’Hagan runzelte die Stirn. «Was zum Teufel soll das heißen?» «Ihr werdet gewinnen, oder? Ihr müßt daran glauben, sonst hätte das Ganze keinen Sinn. Oder wollt ihr nie mehr damit aufhören? Soll es ewig so bleiben, wie die stehende Dekoration bei Metro Goldwyn Meyer? Es lebe die Republik! ThompsonMGs und Trenchcoats. Mein Leben für Irland.» «Der Teufel soll Sie holen, Asa», sagte O’Hagan. «Also, was wollen Sie?» «Erinnern Sie sich an meine Tochter Megan?» O’Hagan nickte. «Wie alt ist sie jetzt? Vierzehn, fünfzehn vermutlich?» «Haben Sie über das Attentat auf Maxwell Cohen in der vergangenen Woche gelesen?» «Das war der Schwarze September, nicht wir.» «Der Mann, der es getan hat, mußte einen Wagen klauen, die Polizei war ihm auf den Fersen. Megan ist durch den Paddington-Tunnel von der Schule nach Hause geradelt. Er hat sie überfahren. Im Rinnstein liegenlassen wie einen toten Hund.» «Heilige Mutter Gottes!» sagte O’Hagan. -140­

«Warum regen Sie sich auf? Es war genau am Blutigen Freitag, was also tut’s, ob ein Mensch mehr oder weniger dran glauben mußte?» O’Hagans Gesicht war finster geworden. «All right, Asa. Was wollen Sie?» «Die Presse wurde aus Sicherheitsgründen nicht vollständig informiert, doch es sieht aus, als wäre der Täter der Mann, den sie den Mann aus Kreta nennen.» «Der Don Juan aus Kreta? Ich habe von ihm gehört. Eine Art internationaler Killer, der Leute von beiden Seiten des Zauns abknallt.» «Das ist er. Für den Anschlag auf Cohen hat er eine sehr ungewöhnliche Waffe benutzt. Eine Mauser mit Schalldämpfer aus der Serie, die während des Krieges für den Sicherheitsdienst der SS hergestellt wurde. Heutzutage tauchen sie nicht mehr häufig auf.» «Verstehe», sagte O’Hagan. «Man müßte den Händler finden, der sie geliefert hat?» «Richtig. Die Spezialabteilung weiß nur von einem einzigen Fall, bei dem eine solche Waffe benutzt wurde, und zwar wurde ein Sergeant des Army- Geheimdiensts in Londonderry damit von einem Provisional namens Terence Murphy getötet. Murphy selber wurde von einem Kommando auf der Flucht erschossen, zusammen mit einem ge wissen Pat Phelan, der gleichfalls eine solche Mauser bei sich hatte.» «Und jetzt möchten Sie wissen, woher sie die Pistolen hatten?» O’Hagan zuckte die Achseln. «Die Sache hat nur einen Haken.» «Und der wäre?» «Terry Murphy und Phelan waren keine Provos. Anfangs schon, aber im vergangenen September schlossen sie sich einer Splittergruppe an, den Sons of Erin, unter Führung von Brendan -141­

Tully.» «Ich habe von ihm gehört», sagte Morgan. «Marke Reinheit der Gewalt, wie?» «Das ist unser Brendan. Spinnt komplett. Zündet der Heiligen Jungfrau Abend für Abend eine Kerze an, aber er würde den Papst erschießen, wenn er glaubte, es könne die Sache voranbringen.» «Würde er Ihnen sagen, woher sie diese Mauserpistolen beziehen?» «Vielleicht.» «Liam, ich muß es wissen. Es ist der einzige Hinweis, über den ich verfüge.» O’Hagan nickte bedächtig. «Sie sind wirklich scharf auf diesen Mann. Was ist der Zweck – Gerechtigkeit?» «Zum Teufel mit der Gerechtigkeit. Ich will ihn tot sehen.» «Wenigstens ein offenes Wort. Ich will sehen, was ich tun kann. Gehen Sie wieder in Ihr Hotel und warten Sie dort.» «Wie lange?» «Ein paar Tage – drei vielleicht.» «Das geht nicht.» «Warum nicht?» Morgan steckte bereits zu tief in der Sache, um noch zurück zu können. «Bis Montag nacht wird Belfast so dicht abgeriegelt sein, daß nicht einmal eine Maus mehr durchkommt.» «Interessant», sagte O’Hagan, und im gleichen Augenblick wurde die Tür aufgerissen. Seumas war schon aufgesprungen und O’Hagan hatte blitzschnell einen Hochleistungs-Browning aus seiner Tasche gezaubert und hielt ihn unter dem Tisch auf den Knien. Ein Bärenkerl von einem Mann stand betrunken schwankend im Lokal an der Tür. Er trug eine schmutzige Seemannsjacke -142­

und einen Overall, und seine Augen waren blutunterlaufen. Er schien O’Hagan und Morgan nicht zu sehen, nahm von Seumas keine Notiz und schlingerte zur Theke, wo er sich mit beiden Händen festhielt, als könne er sich kaum aufrecht halten. «Spendensammlung», sagte er zu der alten Frau. «Geld für die Organisation. Einen Zehner, Ma, dann sind wir quitt. Wenn nicht, wird Ihr Laden geschlossen.» Sie erschrak nicht im geringsten. Goß einfach Tee in einen Becher, tat ein paar Löffel Zucker hinzu und schob ihn über die Theke. «Trink das, mein Junge, dann geh heim und schlaf deinen Rausch aus. Du bist in den falschen Laden geraten.» Er fegte den Becher mit einer Handbewegung von der Theke. «Einen Zehner, alte Ziege, oder ich hau alles kurz und klein.» In Seumas’ rechter Hand erschien eine Luger, der Lauf schob sich unter das Kinn des Mannes. Der Junge sprach kein Wort. O’Hagan fragte den Mann: «Von der IRA, wie? Welche Brigade?» Der Große glotzte ihn stumpfsinnig an, und O’Hagan sagte: «Raus mit ihm, Seumas.» Der Junge drehte den Mann mit solchem Schwung um, daß er durch die Tür hinausstolperte. O’Hagan stand auf und ging ihnen nach. Morgan folgte. Der Große stand unter einer der wenigen noch intakten Straßenlaternen, Regen troff von seinem Kopf. Seumas stand neben ihm und hielt ihn mit der Luger in Schach. O’Hagan trat näher, blieb stehen und versetzte dem Großen einen Fußtritt zwischen die Beine. Der Große stieß einen Schrei aus und ging in die Knie. «All right», meinte O’Hagan. «Du weißt, was du zu tun hast.» Seumas trat nahe an den Großen heran, hielt die Mündung der Luger in die Kniekehle des Großen und zerfetzte ihm mit einem -143­

einzigen Schuß die Kniescheibe. Der Große brüllte vor Schmerz und wälzte sich auf der Erde. O’Hagan blickte auf ihn hinunter. «Tapfere Männer sterben im Kampf gegen die verdammte British Army, und Scheißkerle wie du spucken auf ihr Grab.» Im gleichen Augenblick fuhren mehrere offene Landrover am Ende der Straße um die Ecke, bremsten und hielten an. Morgan konnte die Uniformen sehen, ein Suchscheinwerfer blitzte auf. «Alle stehenbleiben, nicht von der Stelle bewegen!» hallte eine Stimme in scharfem Oberklassen-Englisch über ein Megaphon, aber O’Hagan und Seumas waren bereits in das Gäßchen neben dem Café geflitzt. Morgan raste hinter ihnen her. Am Ende der Gasse stand eine sechs Fuß hohe Ziegelmauer, und sie kletterten gerade darüber, als hinter ihnen die ersten Soldaten um die Ecke kamen. Sie befanden sich in einem Fabrikhof und liefen blindlings durch die Dunkelheit, bis sie ein hölzernes Tor fanden. Seumas öffnete den Durchlaß, und sie waren draußen auf der Straße, als der erste Soldat die andere Seite der Mauer erreichte. Der Junge und O’Hagan schienen den Weg genau zu kennen. Morgan folgte ihnen durch ein Labyrinth schäbiger Gassen, und die Geräusche der Verfolger blieben zurück. Schließlich gelangten sie ans Ufer eines kleinen Kanals, und Seumas machte neben einigen Büschen halt. Er nahm eine kleine Lampe aus der Tasche, und als er sie anknipste, erdröhnte aus der Innenstadt eine gewaltige Explosion, und danach folgten in kurzen Abständen noch drei weitere Detonationen. O’Hagan blickte auf die Uhr. «Ausnahmsweise pünktlich.» Er grinste Morgan an. «Sie hätten leicht von einem Ihrer eigenen Leute erschossen werden können. Wäre eine Ironie des Schicksals gewesen.» «Was jetzt?» fragte Morgan. -144­

«Nichts wie weg von hier. Seumas, mach auf.» Im Licht der Taschenlampe sah Morgan, daß der Junge die Büsche zurückgebogen und einen Einstieg freigelegt hatte, dessen Deckel er beiseite zog. Er stieg die Eisenleiter hinunter. Morgan zögerte einen Augenblick, dann folgte er dem Jungen, und O’Hagan kam als letzter, nachdem er den Kanaldeckel wieder an Ort und Stelle geschoben hatte. Morgan befand sich jetzt in einem Tunnel, der so niedrig war, daß er fast kriechen mußte. Der Junge nahm eine große Stablampe und knipste sie an. Er ging weiter in den Tunnel hinein, Morgan hinter ihm her. In der Ferne hörte man Wasser rauschen. Sie erreichten die Betonböschung eines tiefen Kanals, und im Licht der Stablampe sah Morgan, daß unten ein schäumender Strom dahinfloß. Der Geruch war höchst unangenehm. «Der Haupt-Abwasserkanal», sagte Seumas. «Die ganze Protestantenscheiße aus dem Shankhill. Keine Sorge, Colonel. Wir gehen drunter weg und kommen bei Freunden im Ardoyne wieder zum Vorschein.» «Und dann?» fragte Morgan. «Ich glaube, so wie die Dinge liegen, verziehen wir uns am besten heute nacht aus der Stadt», sagte O’Hagan. «Und Sie auch, Asa.» «Das schaffen Sie nie», erwiderte Morgan. «Nicht nach diesen Bombenexplosionen. Jede Straße, die aus der Stadt hinausführt, wird dichtgemacht.» «Ach, es gibt noch mehr Wege», sagte O’Hagan. «Sie würden staunen. Also, los jetzt.» Etwa zwanzig Minuten später tauchten sie in einer Art Lagerhof hinter einer hohen Ziegelmauer auf. Als der Junge seine Lampe auf das darinstehende Gebäude richtete, sah -145­

Morgan die beträchtlichen Bombenschäden und die verrosteten Eisenstäbe an allen Fenstern. Vor einer großen Doppeltür mit Kette und Vorhängeschloß blieben sie stehen, und O’Hagan zog einen Schlüssel hervor. «Das war ein großes Schnapslager, gehörte einer Londoner Firma. Nach der dritten Bombe hatten sie die Nase voll.» Er schloß auf, und Morgan und Seumas gingen hinein. O’Hagan schloß wieder ab, und der Junge tastete im Dunkeln herum. Ein Schalter klickte, und eine einzelne Glühbirne leuchtete auf. «Nett von ihnen, daß sie den Strom nicht abgeschaltet haben», sagte O’Hagan. Morgan sah, daß sie sich in einer Garage befanden. In der Mitte stand irgendein Fahrzeug, das mit einer Plane bedeckt war. O’Hagan ging hin und zog die Plane weg. Darunter kam ein Landrover der Army zum Vorschein. Am Vorderteil des Wagens war ein Schild aufmontiert mit den Worten: Einsatzwagen – Bombenräumung «Gut, wie?» sagte O’Hagan. «Wir sind noch nicht ein einzigesmal angehalten worden. Eigentlich sollten Sie sich ja in dieser Situation richtig zu Hause fü hlen, Asa.» Er ging zum Heck des Landrover, öffnete es und nahm eine Tarnjacke heraus, die er Morgan zuwarf. «Alles da, was der Mensch braucht. Leider müssen Sie um ein paar Dienstgrade zurückstecken. Mehr als einen Captain kann ich Ihnen nicht bieten. Ich bin der Sergeant, und Seumas ist unser Fahrer.» «Und das Ziel?» fragte Morgan. «Wohin fahren wir?» «Wollten Sie nicht wissen, woher diese Mauser stammen? All right – wir fahren zu Brendan Tully und fragen ihn.» Es klappte wie am Schnürchen, die Fahrt aus der Innenstadt durch die Antrim Road verlief reibungslos. Durch drei -146­

Straßensperren wurden sie von Militärpolizisten prompt durchgewinkt, und an der vierten, wo sich eine Schlange von Wagen gebildet hatte, die auf die Kontrolle wartete, ließ Seumas einfach die Sirene aufheulen und überholte die Kolonne auf der falschen Seite. Hinter Ballymena wies O’Hagan den Jungen an, vor einer öffentlichen Telefonzelle anzuhalten. Er blieb nicht ganz drei Minuten drinnen. Als er wiederkam, lächelte er. «Er erwartet uns. Die Straße nach Glenariff über die AntrimBerge.» Morgan fragte ihn: «Wie erklären Sie meine Anwesenheit?» O’Hagan grinste. «Sie sprechen doch noch immer walisisch, wie? Und Brendan freut sich immer, wenn er sein Irisch an den Mann bringen kann. Hat’s im Gefängnis von Mc. Stiophan gelernt. Walisisch und Irisch – da müssen doch Gemeinsamkeiten bestehen.» Nach zwanzig Meilen Fahrt durch das Gebirge kamen sie zu einem Wegweiser mit der Aufschrift Coley, der nach links zeigte. Seumas bog in den schmalen gewundenen Weg ein, der sich zwischen kahlen Steinmauern immer höher in die Berge schraubte. Im ersten grauen Frühlicht erreichten sie über eine Anhöhe ein kleines, von Buchen gesäumtes Plateau. Sie sahen eine Scheune mit weit geöffneten Toren. Daneben standen zwei Männer. Beide waren wie Landarbeiter gekleidet, der eine trug eine geflickte Kordjacke und eine Stoffmütze, der andere einen Overall und Gummistiefel. «Der mit der Mütze ist Tim Pat Keogh, Tullys rechte Hand. Der andere heißt Jackie Rafferty. Kein Kirchenlicht. Meist tut er, was Tully ihm aufträgt, und er tut es gern», sagte O’Hagan. Seumas stoppte, und die beiden Männer traten an den Wagen -147­

heran. «Wünsche guten Tag, Mister O’Hagan», sagte Keogh. «Wenn Sie den Landrover in der Scheune abstellen wollen, fahren wir Sie im Jeep zur Farm.» O’Hagan nickte Seumas zu, und der Junge fuhr den Landrover unter Dach. Nachdem sie alle ausgestiegen und ins Freie gegangen waren, schlossen Keogh und Rafferty das Scheunentor. O’Hagan hatte eine Sterling-MP eingesteckt, Morgan trug einen 38er Smith & Wesson-Dienstrevolver im dazugehörigen Gurthalfter. Keogh sagte: «Ein Freundschaftsbesuch, wie, Mister O’Hagan?» O’Hagan antwortete kurz angebunden: «Reden Sie keinen Blödsinn, Tim Pat. Fahren wir zur Farm, ich könnte ein ordentliches Frühstück gebrauchen. War eine anstrengende Nacht.» Die Farm war ein armseliges Gehöft in einer kleinen Bodensenke, das zum Schutz gegen den Wind an den Berg gebaut worden war. Die Stallungen und Schuppen waren höchst reparaturbedürftig, und im Hof lag eine dicke Dreckschicht. Brendan Tully war ein hochgewachsener gutaussehender Mann, ein Mundwinkel in seinem hageren Gesicht war ständig zu einem leichten Lächeln hochgezogen, als fände er die Welt und ihre Bewohner permanent komisch. Er begrüßte die Ankömmlinge an der Tür. Offensichtlich war er soeben aufgestanden, denn er trug einen alten Bademantel über seinem Schlafanzug. «Liam!» rief er. «Was für eine freudige Überraschung, trotz dieser verdammten Uniform. Los, kommt rein.» Sie folgten ihm in die Küche, wo ein offenes Holzfeuer brannte. Eine alte Frau, die gegen die Morgenkühle einen schwarzen Schal um die Schultern geschlungen hatte, stand am Herd und bereitete das Frühstück. -148­

«Um sie braucht ihr euch nicht zu kümmern. Sie ist stocktaub. Seumas, mein Junge.» Er schlug dem Jungen auf die Schulter. «Ich hab’ jederzeit Verwendung für dich, wenn du mal wirklich was erleben möchtest.» «Ich bin zufrieden, wo ich jetzt bin, Mr. Tully.» Tully wandte sich Morgan zu und beäugte ihn neugierig. «Und wen haben wir denn da?» «Ein alter Freund. Dai Lewis von der Free Wales Army. Sie haben uns im Herbst neunundsechzig mit Waffen ausgeholfen, weißt du noch, als es hart auf hart ging.» «Demnach spricht er walisisch, ja?» «Würde ein verdammt mieser Waliser sein, wenn ich’s nicht täte», erwiderte Morgan in seiner Muttersprache. Tully war begeistert. «Großartig», sagte er. «Bloß, daß ich kein Wort verstanden habe. Aber jetzt wollen wir den Tag würdig beginnen, bis die Alte das Frühstück fertig hat.» Er stellte einen Krug Whiskey und Gläser auf den Tisch. O’Hagan sagte: «Bißchen früh, sogar für dich.» «Verkürzt das Leben, wie?» Tully war eindeutig in Hochstimmung. «So, und was führt euch in diese Gegend?» «Ach, letzte Nacht ist das Pflaster in der Stadt ein bißchen heiß geworden, und außerdem ist Dai aus Cardiff herübergekommen, mich besuchen. Er soll es dir selber sagen.» Er nahm das Glas, das Tully ihm reichte, und Morgan sagte – und es klang wirklich sehr walisisch: «Wir haben beschlossen, es jetzt richtig anzupacken, Mr. Tully. Immer bloß reden mit den verdammten Engländern über ein unabhängiges Wales – schade um jedes Wort.» «Wir reden schon seit siebenhundert Jahren mit diesem Pack, und was hat’s uns eingebracht?» warf Tully ein. O’Hagan sagte: «Dai und seine Leute sind hinter ein paar Pistolen mit Schalldämpfer her. Er meinte, ich könnte vielleicht -149­

helfen, und da sind mir die zwei Jungens von euch eingefallen, die letztes Jahr ins Gras beißen mußten. Terry Murphy und der junge Phelan. Haben die nicht solche Mauserpistolen mit Schalldämpfer gehabt?» «Richtig», sagte Tully. «Und an die war verdammt schwer ranzukommen.» «Dürfen wir fragen, woher ihr sie gekriegt habt?» «Von den Jago-Brüdern – zwei der übelsten Kerle in ganz London.» Tully wandte sich an Morgan. «Ich weiß nicht, ob sie das, was Sie möchten, noch auf Lager haben, aber fühlen Sie ihnen auf den Zahn. Die würden ihre Großmutter ausgraben und die Leiche verscheuern, wenn sie was dafür kriegen könnten.» Er verriet eine seltsame nervöse Unrast, und seine Augen glänzten. Er nahm einen tüchtigen Schluck Whiskey, dann sagte er zu O’Hagan: «Gut, daß du gekommen bist. Ich hab’ dir was zu sagen. Hochwichtig für uns alle.» «Tatsächlich?» O’Hagan war interessiert und mißtrauisch zugleich. «Komm ins Wohnzimmer. Ich zeig’s dir. Wir haben noch Zeit bis zum Frühstück.» Tully konnte sich kaum noch beherrschen. «Es dauert nur ein paar Minuten. Die anderen können auf uns warten.» Er wandte sich zur Tür und ging hinüber ins Wohnzimmer. O’Hagan warf Morgan und Seumas einen Blick zu, dann folgte er widerwillig. «Mach die Tür zu, Mann», sagte Tully ungeduldig. Dann zog er die Lade des alten Mahagonitisches auf und holte eine Landkarte hervor, die er auf dem Tisch ausbreitete. O’Hagan trat zu ihm und sah, daß es eine Karte der Westküste Schottlands war, einschließlich der Äußeren Hebriden. «Was soll das?» «Das hier ist die Insel Skerryvore.» Tully wies auf die Stelle. -150­

«Eine Raketen-Übungsbasis. Einer von meinen Jungens, Michael Bell, war dort als Techniker im Einsatz. Kennt den ganzen Ort in- und auswendig.» «Und?» «Es scheint, daß jeden zweiten Donnerstag ein Offizier und neun Mann mit dem Wagen vom Flugplatz Glasgow nach Mallaig fahren. Von dort setzen sie über nach Skerryvore. Nehmen wir mal an, ihr Laster wird eines Donnerstags auf der Straße nach Mallaig angehalten, und ich warte mit neun meiner Männer, darunter natürlich Michael Bell, und wir setzen uns statt ihrer ins Fahrzeug.» «Wozu?» fragte O’Hagan. «Was soll dabei herauskommen?» «Das Ding, das auf dieser Insel getestet wird, heißt Hunter, eine Mittelstreckenrakete. Nicht atomar, aber eine neue Art Sprengstoff, die einen kolossalen Knall gäbe. Eines dieser Dinger würde, wenn man’s gezielt abfeuert, eine Quadratmeile von London ausradieren.» «Du mußt verrückt sein», knurrte O’Hagan zornig. «Raketen auf London? Was willst du damit erreichen? Alles verlieren, wofür wir gekämpft haben?» «Aber es ist die einzige Möglichkeit, siehst du das nicht ein? Den Kampf mitten ins Lager des Feindes tragen.» «Tausende auf einen Streich töten; jede Spur von Sympathie, die wir auf der Welt genießen, wieder verscherzen?» O’Hagan schüttelte den Kopf. «Brendan, zur Zeit sind wir in den Augen vieler Menschen im Ausland eine tapfere kleine Schar, die es mit einer ganzen Armee aufnimmt. Und so werden wir schließlich gewinnen. Nicht, indem wir die British Army besiegen, sondern indem wir das Ganze so unpopulär machen, daß sie sich freiwillig zurückziehen, genau wie aus Aden und Zypern und ähnlichen Orten. Aber dieser Plan …» Er schüttelte den Kopf. «Heller Wahnsinn. Das Army Council würde nie seine Zustimmung geben. Es wäre, als wollte man die Queen -151­

erschießen – ein Schnitt ins eigene Fleisch.» «Hast du vielleicht vor, das Army Council über diese Sache zu unterrichten?» «Selbstverständlich. Was erwartest du sonst von mir? Ich bin schließlich Chief Intelligence Officer für Ulster, oder?» «All right», sagte Tully einlenkend. «Dann geht es eben nicht. Wenn das Council mich nicht deckt, ist nichts zu machen, klarer Fall. Ich seh mal nach, ob das Frühstück fertig ist.» Er ging in die Küche, wo Morgan, Seumas und Keogh am Tisch saßen. Dann ging er nach draußen und sah Rafferty in den Jeep gebeugt den Hebel des Bremspedals ölen. Rafferty richtete sich auf und wandte sich ihm zu. Tullys Gesicht war wutverzerrt. «Bring sie um die Ecke, Jackie. Alle drei auf einmal. Kein Pfusch. Verstanden?» «Ja, Mr. Tully», sagte Rafferty ohne eine Spur von Bewegung. «Einer von den russischen Stabzeitzündern sollte genügen, und eine Ladung Plastik.» «Dann mach dich dran.» Tully ging wieder in die Küche. O’Hagan kam gerade aus dem Wohnzimmer. Er trug die Landkarte unter dem linken Arm und hielt die Sterling-MP schußbereit in der Rechten. «Mir ist plötzlich der Appetit vergangen.» Draußen hörte man den Jeep starten und wegfahren. «Wohin zum Teufel fährt er?» «Milch holen», sagte Tully. «Wir haben hier keine Kuh. Liam, komm, wir wollen vernünftig sein.» «Bleib mir bloß vom Leib.» O’Hagan nickte Morgan und dem Jungen zu. «Los, ihr beiden. Seumas, gib mir Rückendeckung.» Sie marschierten hinaus in den Hof. Als sie am Tor angelangt waren, rief Tully vom Haus her: «Liam, so hör doch!» Doch O’Hagan beschleunigte nur den Schritt. Morgan sagte: «Was zum Teufel ist dort drinnen vorgegangen?» -152­

«Hat nichts mit Ihnen zu tun», sagte O’Hagan. «Eine Sache für das Army Council.» Er schüttelte den Kopf. «Dieser Schwachkopf. Wie hat er bloß glauben können, ich würde bei einem solchen Plan mitmachen.» Sie gingen über die Anhöhe und hinunter zur Scheune. Das Tor war noch immer geschlossen und der Jeep nicht in Sicht. O’Hagan sagte zu Morgan und Seumas: «Ihr gebt mir Deckung, während ich den Landrover rausfahre, nur für den Fall, daß sie irgendeine Überraschung im Sinn haben», und er warf Morgan die Sterling zu. Er öffnete das Scheunentor, ging hinein, und Morgan entfernte sich ein paar Schritte. Die Tür des Landrover schlug zu, als O’Hagan eingestiegen war. Dann erfolgte eine gewaltige Explosion, ein Schwall heißer Luft schoß aus der Scheune, und Morgan wurde aufs Gesicht geschleudert. Er kam auf die Knie, drehte sic h um und sah, wie Seumas versuchte, aufzustehen. Der Junge preßte die Hand auf den Arm, wo sich ein Stück Metall wie ein Granatsplitter eingegraben hatte. Die Scheune war ein Inferno, das Wrack des Landrover stand in hellen Flammen. Morgan hörte Motorengeräusch, zog Seumas auf die Füße und zerrte ihn unter die Bäume. Dann kauerte er sich neben ihm nieder. Der Jeep kam näher. Er hielt, und Rafferty stieg aus. Er ging auf die Scheune zu, so nahe er sich heranwagte, eine Hand vor dem Gesicht, um sich gegen die Hitze zu schützen. Morgan stand auf und trat aus dem Gebüsch. «Rafferty?» Als Rafferty zu ihm herumfuhr, entlud Morgan die Sterling in drei Salven, die Rafferty rücklings in den Feuerofen der Scheune warfen. Morgan schleuderte die Sterling hinterher, holte Seumas und schaffte ihn in den Jeep. Als er sich hinters -153­

Steuer setzte, fragte er: «Wissen Sie, wo wir einen Arzt für Sie finden können? Einen, der den Mund hält?» «Im Hibernian-Pflegeheim. Zwei Meilen hinter Ballymena», sagte Seumas und verlor das Bewußtsein. Morgan zog die Tarnuniform aus und stopfte sie im Waschraum in einen Abfallkorb. Darunter trug er noch seine gewöhnliche Kleidung. Er sah nach seiner Brieftasche, dann wusch er sich Gesicht und Hände und ging wieder in den kleinen Operationsraum. Der alte Arzt, offenbar der Leiter des Hauses, und eine junge Ordensschwester beugten sich über Seumas, dessen Arm und Schulter bandagiert waren. Seine Augen waren geschlossen. Doktor Kelly wandte sich zu Morgan um. «Er wird jetzt schlafen, ich habe ihm eine Injektion verabreicht. In einer Woche ist er wieder der alte.» Seumas schlug die Augen auf. «Gehen Sie, Colonel?» «Zurück nach London. Habe dort einiges zu erledigen. Übrigens kenne ich nicht einmal Ihren Familiennamen.» Der Junge lächelte schwach. «Keegan.» Morgan schrieb seine Londoner Telefonnummer auf den Rezeptblock des Arztes und riß das Blatt ab. «Rufen Sie mich an, wenn ich irgend etwas für Sie tun kann.» Er ging zur Tür. «Warum, Colonel? Warum haben die das getan?» «Soviel ich mir zusammenreimen konnte, hat Tully irgendeinen Plan ausgeheckt, von dem Liam nichts wissen wollte. Liam wollte das Army Council darüber informieren. Ich nehme an, Tully hat dies auf seine Weise zu verhindern gedacht.» «Den schick ich als ersten zur Hölle», sagte Seumas und schloß die Augen. -154­

Von der nächsten Telefonzelle aus rief Morgan beim Army Intelligence Headquarter in Lisburn an und erklärte mit möglichst überzeugendem Ulster-Akzent, wo Brendan Tully und die Sons of Erin zu finden seien, obgleich er vermutete, daß sie längst über alle Berge waren. In Ballymena stieg er in den Zug nach Belfast und lief dort vom Bahnhof aus schnurstracks ins Hotel Europa, um sein Zimmer zu räumen. Um drei Uhr saß er im Flughafen von Aldergrove und wartete auf die Maschine nach London. John Mikali befand sich auf dem Flug nach Helsinki 8500 Meter über Schweden und studierte die Akte Asa Morgan. Der GRU-Mann an der russischen Botschaft in London hatte ganze Arbeit geleistet. Nicht nur jede kleinste Einzelheit von Morgans militärischer Laufbahn war aufgeführt, sondern auch alles über seinen Bekanntenkreis, und sogar Fotos lagen bei. Einen Ehrenplatz nahmen Ferguson als Chef der Antiterrortruppe, Abteilung Vier, und Harry Baker ein. Darüber allerdings war Mikali bereits unterrichtet, denn Deville besaß eine Akte über das Personal der Spezialabteilung, und Mikali hatte etliche Stunden damit zugebracht, sich die Gesichter einzuprägen. Und die Gesichter ihrer Kollegen in Paris, Berlin und den meisten anderen Großstädten, die er regelmäßig besuchte. Er nahm sich nochmals Asa Morgans Foto vor und sah es lange an, dann lehnte er sich zurück und dachte darüber nach. Nicht, daß er sich Sorgen gemacht hätte. Morgan würde niemals den Weg zu ihm finden. Es gab keinen Hinweis, nicht die Andeutung einer Spur. Die Fährten waren viel zu gründlich verwischt. Eine blonde Stewardeß, ein attraktives Mädchen mit ausgezeichneter Figur, die durch die marineblaue Uniform von British Airways noch mehr zur Geltung gebracht wurde, neigte sich über ihn. -155­

«Geben Sie ein Konzert in Helsinki, Mr. Mikali?» «Ja. Morgen abend, das Brahms-Konzert.» «Ich würde furchtbar gern hingehen, wenn ich eine Karte kriegen kann», sagte sie. «Wir haben zwei Tage frei.» Sie war wirklich recht hübsch. Er lächelte träge. «Lassen Sie mich wissen, wo Sie wohnen, dann schicke ich Ihnen eine Karte. Und nach dem Konzert findet eine Party statt, falls Sie nichts Besseres vorhaben.» Ihr Gesicht hatte sich mit Röte überzogen, und die Brüste spannten die dünne weiße Nylonbluse. «Das wäre wundervoll. Kann ich Ihnen irgend etwas bringen?» «Eine kleine Flasche Champagner, bitte.» Er saß da und starrte aus dem Fenster. Er fühlte sich müde, aber in Wahrheit war er nur nicht in der richtigen Stimmung für dieses Konzert. Er brauchte Ferien. Es war unnötig, nach London zurückzukehren. Er würde nach dem Konzert direkt von Helsinki nach Athen fliegen. Auch wenn es keinen Direktflug geben sollte und er die Route über Paris oder München nehmen müßte, könnte er im Lauf des Nachmittags in Athen sein. Und kurze Zeit später auf Hydra. Diese Vorstellung war höchst angenehm, und seine Stimmung hob sich, als die Stewardeß den Champagner brachte. Während er ihn langsam schlürfte und die eisige Kühle genoß, nahm er unwillkürlich erneut Morgans Akte vor und ging sie nochmals durch.

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8

Harvey Jago musterte sich eingehend im Spiegel des Badezimmers. Mit seinem roten Samtjackett und dem roten Seidenschal um den Hals, das blonde Haar sorgfältig gekämmt, machte er eine gute Figur. Er sah noch immer aus wie ein brauchbarer Halbschwergewichtler, der jederzeit seine fünfzehn Runden durchsteht. Übrigens war er früher genau das gewesen, wie die gebrochene Nase und die Narben rings um die Augenpartie zeigten. Er hätte eine Korrektur vornehmen lassen können, aber den Frauen gefiel er so. Es verlieh ihm eine Art sympathischer Rauhbeinigkeit. Indes verrieten die Augen seinen wahren Charakter. Hart und grausam und mitleidlos. Seine Laune war an diesem Morgen alles andere als rosig, denn in der Nacht hatte die Polizei in einem seiner zahlreichen zweifelhaften Unternehmen, einem Haus in Belgravia, wo in seinen Diensten stehende junge Damen allen Wünschen einer distinguierten Klientel nachkamen, eine Razzia durchgeführt. Es ging ihm nicht um die Verlegenheit der beiden Peers und der drei Parlamentsmitglieder, die für kurze Zeit in die Fänge der Polizei geraten waren – das war deren Sorge. Auch nicht um die Geldstrafen, die für die Mädchen zu entrichten sein würden, oder um den Verlust der Einnahmen dieser Nacht. Ihm selber würde man auf keinen Fall etwas anhaben können. Der Betrieb lief unter einem anderen Namen. Dafür hielt er sich seine Strohmänner. Nein, was ihn wirklich erbitterte, war das Ausbleiben einer Warnung durch jene Beamten der Sittenpolizei, die hübsche wöchentliche Zuwendungen erhielten, damit sie dafür sorgten, daß Jagos Betriebe ungeschoren blieben. Irgend jemandes Kopf würde rollen müssen. Er ging ins Wohnzimmer und stellte sich ans Fenster seines Penthouse-Apartments. Er empfand immer von neuem Genugtuung, wenn er über den Green Park hinübersah zum -157­

Buckingham-Palast; deshalb hatte er diese Wohnung gekauft. Ein weiter Weg von der Hintergasse in Stepney, wo er aufgewachsen war. Maria, das junge Philippinomädchen, brachte auf einem Tablett den Kaffee herein. Er wartete, bis sie eine Tasse gefüllt hatte und sie ihm reichte. «Danke, mein Herz», sagte er. Als sie zur Tür ging, schmuck und adrett im schwarzen Kleidchen und schwarzen Strümpfen, trat sein Bruder Arnold ein. Er war zehn Jahre jünger als Harvey, hatte gelichtetes Haar und eingefallene Wangen und brachte es fertig, gleichzeitig unterernährt und ängstlich auszusehen. Doch dieses Äußere verbarg ein Gehirn, das in allen Gelddingen wie ein Computer funktionierte. «Niedlichen Hintern hat diese Kleine», sagte Harvey Jago. «Ich würde sie dann und wann mal umlegen, Arnold, ehrlich, aber du weißt ja, was ich immer sage, Hände weg vom Personal.» Arnold, der bereits ein Verhältnis mit Maria hatte und in ständiger Furcht lebte, sein Bruder könnte dahinterkommen, sagte: «Ganz richtig, Harvey.» «Was wird mich die vergangene Nacht kosten?» «Zwischen dreizehn und fünfzehn Riesen. Genauer kann ich es erst sagen, wenn die Anklage erhoben ist. Ein paar von den Mädels haben sie jetzt zum drittenmal erwischt. Könnte Kittchen bedeuten. Sie brauchen einen erstklassigen Anwalt, und das kommt teuer.» «Alles, was nötig ist, Arnold. Noch was. Die Sittenpolizei. Ich will wissen, wer uns reinsausen ließ, und ich will es noch heute wissen.» «Ist bereits veranlaßt», sagte Arnold. «Draußen ist ein Kerl, der dich sprechen will. Heißt Morgan.» -158­

«Was will er?» «Sagt er nicht, aber ich soll dir das geben.» Arnold überreichte seinem Bruder ein Bündel Zwanzig-Pfund-Noten, das noch die Banderole der Midland Bank trug. «Fünfhundert.» Jago hielt die Banknoten an die Nase. «Herrgott, nichts riecht so gut wie diese Scheinchen. Okay, Arnold, rein mit ihm. Mal sehen, was er auf dem Herzen hat.» Morgan trug einen hochgeschlossenen Pullover und hatte seinen Trenchcoat nicht einmal aufgeknöpft. Jago goß sich einen Whiskey ein und musterte seinen Besucher von Kopf bis Fuß. «Mr. Morgan», sagte Arnold und blieb an der Tür stehen. «Colonel, um genau zu sein.» Jago schnitt eine Grimasse. «Und was erwarten Sie jetzt von mir? Daß ich einen Knicks mache?» Er hielt die fünfhundert Pfund hoch. «Ich bin ein sehr beschäftigter Mann, und dafür können Sie sich nur beschränkte Redezeit kaufen. Sagen Sie Ihren Spruch auf oder hauen Sie ab.» «Sehr einfach», sagte Morgan. «Der Anschlag auf Cohen vergangene Woche. Es wurde dabei eine 7.63er Mauser benutzt, Serie 1932 mit Schalldämpfer, eine Waffe, die man heutzutage nur noch selten findet. Letztes Jahr hat Ihre Organisation zwei davon an die IRA geliefert.» «Wer sagt das?» warf Arnold ein. Morgan wandte den Blick nicht von Harvey Jago. «Ein Mann namens Brendan Tully. Ich habe ihn gestern in Ulster aufgesucht.» «Na, hören Sie mal», begann Arnold, aber sein Bruder brachte ihn durch eine Handbewegung zum Schweigen. «Von der Polizei sind Sie nicht, also welches Interesse haben Sie an der Sache?» «Der Mann, der auf Cohen schoß, hat auf der Flucht meine Tochter überfahren. Sie ist tot. Ich will ihn finden.» -159­

«Jetzt geht mir ein Licht auf», sagte Harvey. «Sie glauben, die Mauser, die er benutzt hat, könnte aus der gleichen Quelle stammen wie die beiden anderen Waffen?» «Scheint naheliegend.» Morgan zog ein zweites Banknotenbündel aus der Tasche und warf es auf den Tisch. «Hier sind nochmals fünfhundert, Mr. Jago. Sie sehen also, ich will mir die Auskunft etwas kosten lassen.» «Wird Sie teuer kommen», sagte Jago.

«Wieviel?»

«Noch einen Riesen.»

«All right – wann?»

«Ich habe persönlich mit solchen Geschäften nichts zu tun.

Ich werde mit dem Mann sprechen müssen, der sich darum kümmert. Wenn es überhaupt etwas zu erfahren gibt, weiß ich es bis heute abend. Ich bin Besitzer eines Clubs in Chelsea, der Flamingo am Cheyne Walk. Wir treffen uns dort gegen neun.» «All right.»

Morgan wandte sich zur Tür, und Harvey Jago sagte: «Und,

Colonel Morgan: Vergessen Sie die zweiten tausend nicht.» «Natürlich nicht, Mister Jago. Ich halte mein Wort.» «Freut mich zu hören.» «Wäre gut, wenn Sie Ihres auch hielten.» Harvey Jago sagte leise: «Ist das eine Drohung, Colonel?» «Ja, wenn ich mir’s überlege, es könnte eine sein», erwiderte Morgan und ging hinaus. Eine Weile herrschte Schweigen im Zimmer. Dann sagte Harvey: «Hast du das gehört, Arnold? Zum erstenmal seit Jahren hat hier jemand eine Lippe riskiert, und das können wir nicht dulden, oder? Schlecht fürs Geschäft. Ich werde mich dieses Colonel Morgan persönlich annehmen müssen. Sehr persönlich. Sorg dafür, daß heute abend ein paar tüchtige -160­

Burschen zur Hand sind. Killer.» «Ja, Harvey.» Arnold wandte sich zum Gehen, und sein Bruder fügte hinzu: «Noch etwas, von jetzt an verkaufen wir keine Artillerie mehr an diese Micks da drüben. Allesamt bescheuert, das hab ich schon immer gesagt. Halt dich in Zukunft an die Araber.» Als Morgan wieder in seiner Wohnung war, stellte er die Kaffeemaschine an und wählte dann die Nummer von Security Factors Ltd. Jock Kelsos Stimme klang erleichtert. «Also sind Sie wieder da. Gott sei’s gedankt. Haben Sie O’Hagan getroffen?» «Kurz», sagte Morgan. «Leider ist er tot, Jock. Eine Bombe im Wagen. Zu meinem Glück war ich nicht mit drinnen.» Nach langem bedrücktem Schweigen sagte Kelso: «Haben Sie erfahren, was Sie wissen wollten?» «O ja, deshalb rufe ich an. Was können Sie mir über die Brüder Jago erzählen?» Kelso sagte: «Vermutlich die größten Gangster in London. Sogar die Mafia macht einen weiten Bogen um die beiden. Arnold, der Dürre, ist das Gehirn. Sein älterer Bruder Harvey ist auch nicht dumm. War früher Berufsboxer. » «Ich habe ihn kennengelernt. Eine widerliche Type.» «Das ist noch gelinde ausgedrückt. Im vergangenen Jahr hat ein italienischer Glücksspieler namens Pacelli versucht, getrickste Würfel in einen von Jagos Spielclubs einzuschmuggeln. Wissen Sie, was Jago mit ihm gemacht hat? Hat Pacelli die Fingerspitzen der rechten Hand abgeschnitten, alle fünf, mit einer Gartenschere. Wollen Sie mir vielleicht sagen, daß die Mauserpistolen von ihm stammen?» «Sieht ganz so aus. Ich treffe ihn heute abend in einem Club am Cheyne Walk, dem Flamingo. Ein anständiges Lokal?» -161­

«Ausschließlich Prominenz.»

«Dann wird er sich benehmen. Sagen Sie, Jock, womit

verdient er sein Geld?» «Spielclubs, Schutzgebühren, Nobelpuffs.» «Ist das alles?» «Er betreibt noch ein recht lohnendes Nebengeschäft, einer meiner Partner hatte damit zu tun. Es ist nicht weit vom Cheyne Walk unweit Chelsea Creek. Eine Farbenfabrik namens Wetherby und Söhne.» «Und?» «In Wirklichkeit sind sie Schnapspanscher. Meist halten sie Tankwagen voll schottischem Whisky oder etwas Ähnlichem auf der Landstraße an und lotsen sie in die Fabrik. Der Schnaps wird dann stark mit Wasser verdünnt. Sie haben ihren eigenen Abfüllbetrieb und Etiketten der teuersten Sorten. Beliefern Clubs im ganzen Land.» «Und die Polizei – hat sie von all dem keine Ahnung?» «Sie kommt nie dicht genug heran, und wenn, dann ist immer irgendein Strohmann dazwischen, der das Fett abkriegt. Ich an Ihrer Stelle würde die Finger davon lassen, es sei denn, Sie wollten notfalls bis zum Äußersten gehen.» «Ja, genau das will ich, Jock. Genau das.» Morgan saß an seinem Schreibtisch und reinigte eine Smith & Wesson Magnum, als das Telefon klingelte. Es war Kate Riley. «Dann sind Sie also wieder da», sagte sie. «Ja, seit gestern abend.» «Haben Sie etwas erreicht?» «Das werde ich erst heute abend wissen. Von wo rufen Sie an – aus Cambridge?» «Nein, ich bin auf ein paar Tage in der Stadt, arbeite an der Tavistock Clinic. Eine Kollegin, die zur Zeit in New York ist, -162­

hat mir ihre Wohnung überlassen. In Kensington. Douro Place.» «Ich will Ihnen etwas verraten», sagte Morgan. «Heute abend treffe ich mich mit dem übelsten Gauner von London im Flamingo am Cheyne Walk.» «Aber das ist einer der exklusivsten Nightclubs der Stadt.» «Weiß ich. Ziehen Sie was Hübsches an, kämmen Sie Ihr Haar, und ich könnte mich breitschlagen lassen, Sie mitzunehmen.» «Zu gütig», sagte sie. Der Club entsprach genau den Erwartungen. Gedämpftes Licht, einschmeichelnde Musik, aufmerksame Kellner, ein Maximum an Luxus. Morgan und Kate Riley waren offenbar bereits angemeldet, sie wurden zu einem Ecktisch geleitet, einem der besten des Hauses. Der Oberkellner schnalzte mit den Fingern, und ein Champagnerkübel wurde gebracht. «Mit Grüßen von Mr. Jago, Sir. Heute abend sind Sie seine Gäste.» Von seinem Büro hoch über dem Hauptrestaurant aus beobachtete Harvey Jago, jetzt im hocheleganten schwarzsamtenen Abendanzug, die beiden durch ein verschnörkeltes Gitter. «Seine Puppe ist die Wucht, Arnold. Wirkliche Klasse. Sieht man auf den ersten Blick.» «Und was ist mit ihm, Harvey? Er ist doch Colonel und so?» «Plebs», antwortete Harvey. «Ich kenne seinen Lebenslauf nicht, aber der ist auch nicht weiter her als du und ich.» «Soll ich ihn raufholen?» «Jetzt noch nicht. Sie sollen ihre Mahlzeit genießen. Ich meine, das Wichtigste ist doch der Nachtisch, oder, Arnold?»

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«Und wie steht’s mit Männern?» fragte Morgan sie.

«Das geht Sie nichts an.»

«Was tun Sie dann für den Kreislauf und fürs Gemüt?»

«Fliegen», sagte sie. «Ich habe schon seit zwölf Jahren einen

Flugschein. Und ich kann’s wirklich ziemlich gut.» Der Oberkellner trat an den Tisch und flüsterte diskret etwas in Morgans Ohr. Er überließ es Kate, den Champagner auszutrinken, und folgte dem Mann aus dem Lokal und durch eine Tür mit der Aufschrift «Privat». Dann ging es eine läuferbelegte Treppe hinauf. Oben wartete Arnold. «Bitte folgen Sie mir, Colonel.» Morgan stieg noch eine Treppe hinauf und betrat das Büro, das Harvey Jagos Stolz und Freude war und das einer der besten Innenarchitekten Londons eingerichtet hatte. Alles war chinesisch, und einige der Kunstgegenstände hatten ihn eine Menge Geld gekostet. Harvey Jago saß hinter dem Schreibtisch und rauchte eine Zigarre. «Da sind Sie ja. Wurden Sie unten gut bedient?» «Erstklassig», sagte Morgan. «Aber meine Zeit ist ebenso bemessen wie die Ihre, Mr. Jago. Die Auskunft, die Sie mir versprachen?» «Sagten wir nicht etwas von einem weiteren Riesen, Arnold?» fragte Harvey seinen Bruder. Morgan zog einen Umschlag aus der Innentasche. «Erst wollen wir hören, was Sie zu berichten haben. Dann kriegen Sie das da.» Harvey Jago seufzte. «Also gut, aber es wird nicht ganz so einfach sein. Wissen Sie, ich konnte leider die Auskunft nicht bekommen, die Sie haben wollen.» «Konnten nicht oder wollten nicht?» fragte Morgan. «Darüber können Sie meinetwegen an den langen Winterabenden nachdenken.» -164­

«Und die tausend Pfund, die ich Ihnen bereits am Vormittag bezahlt habe?» «Meine Zeit, alter Knabe, ist wertvoll.» Jago sah auf die Uhr. «Bring den Colonel hinaus, Arnold. Ich habe zu tun.» Morgan ging zur Tür, dann blieb er stehen und nahm eine große Chinavase von einem Lacktischchen. «Frühes neunzehntes Jahrhundert», sagte er. «Nichts Besonderes, aber hübsch.» Er ließ sie auf den Boden fallen, wo sie in hundert Scherben zersprang. «Und dies, mein Freund, ist erst der Anfang», sagte er und ging hinaus. Harvey Jago rannte um den Schreibtisch herum. Eine Weile stand er nur da und blickte auf die Bruchstücke der Vase hinab, und alle Muskeln seines Gesichts waren in Bewegung. Dann wandte er sich an seinen Bruder. «Du weißt, was du zu tun hast, und sag ihnen, sie sollen ihre Sache gut machen. Wenn er das Krankenhaus jemals wieder verläßt, dann nur auf Krücken.» Morgan hatte den Porsche in einiger Entfernung geparkt. Unterwegs hakte Kate Riley sich bei ihm ein. Sie sagte: «Er wollte also nicht mit der Sprache herausrücken?» «So ungefähr.» «Was werden Sie jetzt tun?» «Dafür sorgen, daß er es sich nochmals überlegt.» Sie bogen in die Seitenstraße ein, wo der Porsche stand. Arnold Jago hatte an genommen. Der eine mindestens zwei Meter Gesicht und mächtige «Macht’s gut.»

der Ecke mit zwei Männern Aufstellung war klein und unrasiert, der andere groß und hatte ein hartes grobknochiges Pranken. «So, Jacko», sagte Arno ld. -165­

«Kein Problem, Mr. Jago.» Die beiden Männer machten sich den Gehsteig entlang auf den Weg und hielten sich im Schutz der vielen geparkten Wagen. Plötzlich blieb Jacko stehen und hielt auch den kleineren Mann zurück. Morgan und Kate schienen wie vom Erdboden verschwunden. Jacko bewegte sich vorsichtig noch einen Schritt weiter. Da tauchte Morgan plötzlich von den Stufen zum Untergeschoß eines der großen viktorianischen Häuser auf, riß den kleineren Mann herum und stieß ihm das Knie in die Leisten. Der Kleine ging ächzend zu Boden, und Jacko fuhr herum. Er sah Morgan auf der anderen Seite des zusammengekrümmten Körpers stehen, deutlich sichtbar unter der Straßenlaterne, während Kate Riley hinter ihm näher kam. «Mir scheint, Sie suchen mich?» Jacko machte einen Satz nach vorn. Was dann passierte, konnte er später nicht mehr genau sagen. Seine Füße wurden fachmännisch unter ihm weggerissen, er landete hart auf dem nassen Pflaster. Als er sich aufrappelte, packte Morgan sein rechtes Handgelenk und verdrehte es nach der Seite und nach oben, so daß seine Schulter wie in einem Schraubstock festsaß. Jacko stieß einen Schmerzensschrei aus, als der Muskel zu reißen begann. Morgan hielt ihn mit diesem fürchterlichen Griff fest und stieß ihn mit dem Kopf voran an das Geländer. Dann nahm er Kate Rileys Arm und führte sie den Gehsteig entlang zum Porsche. Als er ihr hineinhalf, sagte sie: «Alles, was Sie machen, machen Sie gründlich, wie?» «Interessant», sagte er, als er sich neben sie setzte, «daß Sie sich wegen meiner brutalen faschistischen Methoden nicht das Haar raufen, Sie, eine wohlerzogene, jungfräuliche, liberale Akademikerin.» «Diese beiden wollten nichts anderes. Sie haben es bekommen», sagte sie. «Wie es scheint, haben Sie Mr. Jago -166­

schwer verstimmt.» «Ja, das kann man wohl sagen», erwiderte er und fuhr an. Er hielt vor dem Haus am Douro Place und begleitete sie bis zur Tür. «Wollen Sie nicht hereinkommen?» fragte sie. «Ich habe noch einiges zu erledigen.» «Zum Beispiel?» «Harvey Jago Manieren beib ringen.» «Kann ich behilflich sein?» «Lieber nicht. Was ich vorhabe, ist, wie man’s auch drehen und wenden mag, ein krimineller Akt. Es wäre mir lieber, wenn Sie nichts damit zu tun haben, falls etwas schiefgeht. Ich melde mich wieder.» Er war die Stufen hinunter und in seinem Wagen, ehe sie Einwände erheben konnte. Sie schloß die Tür auf und ging hinein. Arnold Jago, der ein Stück weiter hinten geparkt hatte, stieg aus, stellte die Nummer des Hauses fest, setzte sich wieder in seinen Wagen und fuhr ab. Ferguson saß allein an seinem Schreibtisch in der Wohnung am Cavendish Square. Vom Plattenspieler auf einem Tisch hinter ihm hörte man die leisen Klänge des Orchesters Glen Miller, sonst keinen Laut. Es war Fergusons geheimes Laster, den Big-Band-Klängen seiner Jugend zu lauschen. Nicht nur Glen Miller, sondern auch den großen britischen Bands wie Lew Stone, Joe Loss und dem Sänger Al Bowlly. Mit inniger Wehmut fühlte er sich dann wieder in die Kriegszeit zurückversetzt. In das Jahr 1940, als es wirklich mulmig gewesen war. Aber wenigstens wußte man da, wo man stand – wußte genau, wie weit man zu gehen hatte. Heute dagegen, heute konnte der wahre Feind auf einer Parlamentsbank sitzen. Und saß auch vermutlich dort. -167­

Das Telefon, das rote zu seiner Linken, summte leise. Er blickte auf die Uhr. Fast zehn. Er nahm den Hörer auf. «Sagen Sie, wer Sie sind.» «Baker, Sir.» «Spät noch an der Arbeit, Superintendent.» «Schreibtischkram – Sie kennen das ja, Sir. Ich dachte, es interessiert Sie, daß Asa Morgan heil aus Belfast zurück ist. Der Sicherheitsdienst meldete, daß er gestern abend in Heathrow landete.» «Aber was er dort drüben gemacht hat, wissen wir nicht, wie?» «Nein, Sir.» «Haben Sie bei Army Intelligence in Lisburn wegen O’Hagan angefragt?» «Ja, aber er ist spurlos verschwunden. Weiter nicht verwunderlich, nachdem Operation Motorman voll angelaufen ist.» «Und was treibt Morgan heute abend?» «Scheint sich etwas anzuspinnen mit Frau Doktor Riley, der Psychologin aus Cambridge. Sie wohnt zur Zeit in einem Apartment am Douro Place. Morgan hat sie dort um halb neun abgeholt. Beide waren gekleidet, als sollte es ein Galaprogramm werden.» «Und wohin sind sie gegangen?» «Weiß nicht, Sir. Mein Beamter hat sie verloren.» «Prächtig», sagte Ferguson. «Bezahlen wir ihn vielleicht dafür, daß er sich komplett dämlich anstellt?» «Verzeihung, Sir, aber das gehört zu Morgans Beruf. Ist seit Jahren darin geübt, wie Sie wissen. Malaysia, Zypern, Aden und jetzt Ulster. Er riecht eine Klette, sobald er aus der Tür tritt. Sein Instinkt sagt es ihm. Nur so hat er all die Jahre überleben -168­

können.» «All right, Superintendent, Schluß jetzt mit den Elogen. Im Klartext heißt das doch, daß man ihn nicht beschatten kann, wenn er etwas dagegen hat.» «Ich müßte schon ein Team von sechs Wagen auf ihn ansetzen, Sir, mit Sprechverbindung zur Zentrale.» «Nein», sagte Ferguson. «Tun Sie das nicht. Tun Sie überhaupt nichts. Pfeifen Sie Ihren Beamten ganz zurück. Lassen wir Asa ein paar Tage lang die Zügel schießen. Dann sehen wir, was passiert.» Er legte auf, und am anderen Ende der Leitung betätigte Harry Baker die Wechselsprechanlage zu seinem Sergeant im Vorzimmer. «George, Sie können Mackenzie vom Gresham Place abziehen.» «Zu Befehl, Sir. Irgendwelche weiteren Anweisungen in dieser Sache?» «Ich werde Sie’s wissen lassen.» Baker legte auf, tat einen tiefen Seufzer und fing dann an, sich durch den Wust von Papieren auf seinem Schreibtisch zu arbeiten.

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9

Nicht, daß Mackenzies Abzug viel geändert hätte, denn im gleichen Augenblick, als er über seinen Sprechfunk Anweisung bekam, nach Hause zu gehen, hielt Morgan an der Ecke der Pont Street ein Taxi an, nachdem er das Haus durch die Hintertür verlassen und die Hofmauer überklettert hatte. Er hatte bereits am Nachmittag bei hellem Tageslicht die Gegend erkundet und wußte genau, was er tat. Er ließ sich vom Taxi vor dem St. Mark’s College in der Kings Road absetzen. Bis zum Chelsea Creek waren es nur noch fünf stramme Gehminuten. Die Farbenfabrik Wetherby und Söhne stand auf einer Pier, die drüben vom Elektrizitätswerk aus in den Creek hineinragte. Morgan blieb im Dunkeln stehen, zog die weichen schwarzen Lederhandschuhe glatt, holte einen Kopfschützer aus seiner Seemannsjacke und stülpte ihn über. Die Tore an der Straßenseite waren vergittert und mit Flutlicht angestrahlt. Ein Schild warnte vor scharfen Wachhunden, was allerdings auch nur zur Abschreckung dienen mochte. Er hatte den Einstieg bereits am Nachmittag erkundet. Ein Betonwehr, das vom Wasser überspült wurde, erstreckte sich bis zu dem stählernen Gestänge, das die Pier stützte, auf der die Fabrik stand. Er ging die Böschung hinunter und machte sich an die Überquerung, sehr langsam zunächst, um die Gewalt des Wassers zu prüfen. Aber es war kein unüberwindliches Hindernis, es reichte ihm allenfalls bis knapp zur Wade, und die Wehrkrone war ziemlich breit, wenn auch glitschig vom Schlick und nur undeutlich zu sehen. Er brauchte nur ein paar Minuten, dann war er drüben. Eine Weile blieb er ruhig stehen, dann kletterte er die Wartungsleiter -170­

hinauf zur Pier und gelangte zum Hinterhof der Fabrik. Von dort führte eine Feuertreppe zum ersten Stock. Die Tür war mit einer Eisenstange versperrt, an der ein Vorhängeschloß baumelte. Morgan zog aus seinem linken Stiefel ein zwei Fuß langes Brecheisen, schob es in den Bügel des Vorhängeschlosses und fing an zu drehen. Das Schloß schnappte sofort auf, und er ging hinein. Nun befand er sich auf unbekanntem Gelände. Wußte nicht einmal, was er als nächstes tun würde, denn er war nicht sicher, was er vorfinden würde. Vorsichtig ließ er den Strahl seiner Taschenlampe wandern und stellte fest, daß hier die Abfüllvorrichtung stand. Alles roch durchdringend nach Schnaps. Er schraubte den Verschluß eines der Fässer auf, die er in der Ecke stehen sah, und roch daran. Methylalkohol. Jago verschnitt also den guten schottischen Whisky nicht nur mit Wasser. Auch mit dem giftigen Sprit, der nachweislich zur Erblindung führt. Von einem Fenster aus konnte er den Haupthof überblicken. Neben dem Tor stand eine Baracke, und ein uniformierter Wachmann saß lesend auf einem Stuhl, die Füße bequem auf einem Tisch. Ein großer deutscher Schäferhund schlief neben ihm auf dem Fußboden. Morgan schlich eine Holztreppe hinunter und stand in einer geräumigen Garage. Er sah zwei Lieferwagen und einen Dreitonner mit Dutzenden von Kisten einer sehr renommierten Whiskysorte – so jedenfalls besagte die Aufschrift. Die beiden großen Torflügel wurden durch einen Eisenstab versperrt. Morgan spähte durch ein Fenster neben dem Tor und sah, daß eine kleine Rampe zum Hof hinunterführte. Von diesem Fenster aus konnte er den Wachmann nicht sehen, nur das erleuchtete Fenster der Baracke. Er dachte eine Weile darüber nach, dann stieg er wieder hinauf zu den Abfüllräumen, schraubte den Verschluß eines der -171­

Fässer mit Methylalkohol ab und kippte es zur Seite, so daß der ganze Inhalt des Fasses sich über den Fußboden ergoß. Er ging wieder hinunter, beugte sich in das Führerhaus des Lastwagens, legte den Leergang ein und löste die Handbremse. Dann schob er die Riegelstange beiseite und zog die Torflügel sehr vorsichtig auf. Aus der Baracke kam kein Lebenszeichen. Morgan stellte sich hinter den Lastwagen, stemmte den Rücken dagegen und drückte mit aller Kraft. Der Wagen begann zu rollen, langsam zuerst, dann waren die Vorderräder auf der Rampe. Der Laster beschleunigte so jäh, daß Morgan das Gleichgewicht verlor und hinfiel. Als er wieder aufgestanden war und zur Treppe lief, schlingerte der Lastwagen über den Hof, rammte die Torflügel, riß sie aus den Angeln und kam draußen auf der Straße knirschend zum Stehen. Morgan war inzwischen bis zur Mitte des Abfüllraums gelangt. Er blieb stehen, zündete ein Streichholz an und schleuderte es in die Alkoholpfütze, die sofort aufflammte wie eine Gasexplosion. Er eilte zum Feuerausgang und trat den Rückweg über das Wehr an. Auf halber Strecke hielt er inne und blickte zurück. Aus den Fenstern des ersten Stocks schlugen helle Flammen. Er watete weiter, kletterte zur Straße hinauf und rannte durch das Gewirr kleiner Gassen, die zur Kings Road führten. Harvey Jago war noch im Club, als die Meldung ihn erreichte, und seine Stimmung hob sich keineswegs. «Was zum Teufel ist eigentlich los?» fauchte er. «Versucht jemand, uns rauszudrücken oder was?» «Ich weiß es nicht, Harvey», erwiderte Arnold. «Und der Whisky in dem Lastwagen, der auf der Straße gefunden wurde? Wo kommt der her?» -172­

«Exportware auf dem Weg zu den Docks von Harwich. Haben die Jungens gestern nacht vor einem Fernfahrerlokal in Croydon beiseite geschafft.» «Herrgott», sagte Harvey. «Das hat mir ge rade noch gefehlt. Daß die Bullen überall rumschnüffeln und am Ende irgendein Dussel seine Fingerabdrücke an der falschen Stelle hinterlassen hat.» «An dich kommen sie auf keinen Fall heran, Harvey», versicherte Arnold ihm eifrig. «Der Pachtvertrag für die Fabrik lautet auf einen gewissen Murphy, einen irischen Tattergreis.» «Dann nichts wie ab mit ihm in die Republik, setz ihn in die erste Maschine, und zwar sofort.» «Reg dich ab, Harvey, er ist schon drüben. Ein alter Süffel, lebt in Dublin und war schon seit Jahren nicht mehr hier. Deshalb hab ich ihn ausgesucht.» Das Telefon klingelte. Harvey Jago nahm den Hörer ab und sagte: «Ja, was gibt’s?» «Wollen Sie jetzt reden, Mr. Jago, oder wünschen Sie erst noch ein weiteres Exempel?» «Sie gemeiner Hund!» «Hab ich schon öfter gehört, aber kommen wir zur Sache. Woher stammen die Mauserpistolen? Ein Hinweis von Ihnen, und Sie sind mich für immer los.» Arnold hörte am Schreibtischmikrophon mit. Er öffnete den Mund, aber Harvey winkte ab. «Okay, Freund, Sie haben gewonnen. Die Type, die derartige Geschäfte für mich besorgt, ist ein Mann namens Goldman. Hymie Goldman. Ich spreche mit ihm und rufe Sie dann zurück.» «Ehrenwort?» In Morgans Tonfall schwang Ironie mit. Harvey Jago sah auf die Uhr. «Spätestens um eins.» -173­

Er legte auf, ging zur Hausbar und goß sich einen Whisky ein. Er trank langsam, nachdenklich und schweigend, und Arnold stöhnte innerlich, denn er wußte, was jetzt kommen würde. «All right, Arnold, du wirst jetzt folgendes tun. Hol Andy – Andy Ford. Dann fahrt ihr weiter zum Douro Place und schnappt euch Morgans Puppe. Wir treffen uns danach alle in Wapping.» Wieder blickte er auf die Uhr. «Ich gebe dir eine Stunde Zeit.» «Harvey, es könnte ernste Schwierigkeiten geben. Warum sagst du ihm nicht, was er wissen will? Damit wir ihn ein für allemal vom Hals haben.» «Ich könnte sagen, weil ich mit Hymie Goldman übers Kreuz bin und damit basta.» «Mein Gott», sagte Arnold. «Aber das ist nicht alles. Ich meine, was er in unserem Schnapsladen angestellt hat, war hundsgemein, aber noch nicht alles, Arnold. Er hat mir gedroht – mir! Und das können wir nicht dulden, oder?» Er tätschelte dem Bruder die Wange. «Mach dich auf die Socken, Süßer, wir haben nicht die ganze Nacht Zeit.» Es war vielleicht vierzig Minuten später, als Morgans Telefon klingelte. «All right, Colonel, Sie haben’s geschafft. Farmer’s Wharf, Wapping. Am Dock finden Sie ein Lagerhaus mit der Aufschrift Century Export Company. In einer halben Stunde komme ich mit dem Mann, der für Ihren Wunsch zuständig ist.» «Nett von Ihnen», sagte Morgan. «Was soll’s kosten?» «Den zweiten Riesen, der von Anfang an vereinbart war. Er steht mir zu.» Harvey Jago versuchte, gekränkt zu klingen. «Und danach lassen Sie mich gefälligst in Frieden. Ich will keine Scherereien mit der Polizei. Das kostet Zeit und Geld, und ich bin Kapitalist bis ins Mark.» Morgan legte auf, öffnete die rechte Schreibtischlade und -174­

nahm zuerst eine Walther-MP heraus, dann einen CarswellSchalldämpfer, den er, leise pfeifend, über die Mündung der Walthe r montierte. Dann nahm er das Magazin heraus, leerte es und begann, die Waffe sorgfältig neu zu laden. Er ließ sich Zeit. Das Lagerhaus hatte schwere Steinmauern und stammte aus den stolzen Tagen der viktorianischen Segelschiffe, als die britische Handelsflotte die Meere beherrschte. Überall waren Versandkisten gestapelt. Harvey Jago saß im Fond seines Rolls- Royce Silver Shadow neben Kate Riley und trank Cognac aus der eingebauten Bar. «Möchten Sie wirklich keinen, Süße?» «Scheren Sie sich zum Teufel», antwortete sie. «Also, das ist aber nicht nett.» Arnold stand am Tor, und Ford, ein kleiner, dunkler, gefährlich aussehender Schotte in einem grünen Parka, wie die amerikanischen Soldaten sie im Winter tragen, hockte auf einer Versandkiste. In den Armen hielt er ein Gewehr mit abgesägtem Lauf. «Laß das verdammte Ding nicht sehen», sagte Harvey, warf ihm eine Reisedecke zu und blickte auf die Uhr. «Er muß jeden Moment kommen.» Hoch über ihnen auf der Galerie der Feuertreppe stand Morgan, spähte hinunter und registrierte genau jede Einzelheit des Bildes, das sich ihm bot. Ford und das Gewehr, Arnold neben der Tür, Harvey Jago im Fond des Rolls-Royce neben Kate. Lautlos schlich er zur Feuertreppe zurück, lief hinunter und raste die Straße entlang bis dorthin, wo er den Porsche geparkt hatte. Selbstverständlich hatte er mit Gefahr gerechnet. Er war darauf vorbereitet. Doch seit er Kate gesehen hatte, kochte er vor Zorn. Als er sich ans Steuer setzte, zitterten seine Hände. -175­

Arnold sagte: «Er kommt, ich höre ihn.» Vo n draußen hörte man das Donnern des Porsche-Motors, dann Stille, als er abgestellt wurde. Die Einlaßtür ging auf, und Morgan trat in den Hof. Sein Trenchcoat war offen, die Hände hatte er tief in den Taschen vergraben. Kate faßte nach dem Türgriff, riß den Schlag auf, sprang hinaus und hastete auf Morgan zu. «Es ist eine Falle, Asa!» rief sie. «Sie warten schon auf Sie.» Morgan legte einen Arm um sie. Harvey Jago stieg lachend aus dem Rolls-Royce, die Cognacflasche in der einen Hand, einen silbernen Becher in der anderen. «Was soll denn das!» sagte er vergnügt. «Wir sind doch hier unter Freunden, nicht wahr, Colonel?» Morgan lächelte auf Kate hinunter, es war das eisigste Lächeln, das sie je gesehen hatte, und zum erstenmal bemerkte sie die seltsamen Goldsprenkel in seinen Augen. «Haben sie Ihnen etwas getan?» «Nein.» «Dann ist ja alles in Ordnung.» Er schob sie hinter sich und wandte sich an Harvey Jago. «Ich glaube nicht, daß Ihr Freund daran dachte, den Hahn zu spannen, als er das Gewehr unter das Plaid steckte.» «Andy!» rief Harvey. Schon hatte Ford das Plaid weggerissen, seine Daumen griffen nach dem Gewehrhahn. Aus der Öffnung des Trenchcoats erschien Morgans Hand mit der Walther. Die Waffe hustete zweimal. Das Gewehr flog in die Luft, als der kleine Schotte rücklings über die Kiste stürzte. Kate stieß einen wimmernden Laut aus, und Morgan fühlte, wie ihre Finger sich in seine Schulter gruben. «Raus, Mädchen», -176­

sagte er. «Warten Sie im Wagen auf mich.» «Asa – das reicht jetzt.» «In den Wagen, Mädchen.» Sie ging. Die Tür schloß sich leise hinter ihr. Harvey Jago und sein Bruder warteten nebeneinander beim Rolls- Royce. «Sag’s ihm, Harvey. Sag ihm um Gottes willen die Wahrheit.» «All right», meinte Harvey Jago. «Hab ich eben einen Fehler gemacht. Probieren muß man alles, das können Sie nicht übelnehmen, Morgan. Ich meine, Sie und ich, wir beide kommen aus der gleichen Gosse. Der erste Eindruck kann täuschen.» «Sehr richtig.» Morgan zielte sorgfältig und schoß ein Stück von Harvey Jagos linkem Ohr ab. Harvey schrie auf und taumelte gegen den Rolls- Royce. Zwischen den Fingern der Hand, die er auf sein Ohr preßte, strömte Blut hervor. Arnold stürzte zu seinem Bruder und packte ihn an den Rockaufschlägen. «Sag’s ihm, Harvey, um Gottes willen. Du siehst doch, daß er verrückt ist. Er wird uns alle umlegen.» «All right! All right!» sagte Harvey Jago, und trotz der Schmerzen war die Härte dieses Mannes unverkennbar. «Okay, ich spuck’s schon aus. Hymie Goldman hat diesen Micks in Ulster unter anderem auch die beiden Mauserpistolen geliefert. Dann, vor ein paar Wochen, sitzt er hier drinnen und überprüft die Bestände. Allein. Unsere sogenannten Sonderbestände. Das tut er jeden Mittwoch abend. Ganz urplötzlich taucht dieser Ganeff mit einem Kopfschützer aus dem Dunkeln auf. Wirft ihm einen Tausender in gebrauchten Scheinen hin und verlangt eine Pistole mit Schalldämpfer. Sagt, ein Freund habe ihm die Adresse gegeben.» «Und?» -177­

«Hymie hatte gerade noch eine von den Mauserpistolen mit Schalldämpfer übrig. Er gibt sie ihm, dazu eine Schachtel Munition, und der Kerl war verschwunden.» «Aha.» Morgan hob die Walther. «Ich glaube, diesmal nehme ich das rechte Ohr.» «Ich sag’ Ihnen die Wahrheit, ich schwöre es!» schrie Harvey Jago. Und zum erstenmal klang echte Panik in seiner Stimme. Morgan senkte die Walther. «Ja, hört sich leider ganz so an.» Er schaute hinüber zu Ford, der mit offenem Mund auf dem Rücken lag, ein Bein noch auf der Kiste. «Ich weiß nicht, was Sie mit ihm anfangen, aber vermutlich haben Sie Erfahrung in solchen Fällen.» Er ging zum Tor. Als er die kleine Tür öffnete, schrie Harvey Jago: «Ich bring Sie um, Morgan. Dafür bring ich Sie um!» Morgan wandte sich nochmals zurück. «Nein», sagte er leise. «Das glaube ich nicht. Ich glaube vielmehr, Mr. Jago, Sie kommen bei nüchterner Überlegung zu dem Schluß, Sie lassen sich’s eine Lehre sein und Schwamm drüber.» Die Tür schloß sich hinter ihm. Die Brüder hörten, wie der Motor angelassen wurde und der Porsche abfuhr. Harvey Jagos linke Kopfseite, seine Hand und seine Schulter waren blutgetränkt, aber er beherrschte sich. «Harvey?» sagte Arnold, der vor Furcht zitterte. «Schon gut. Ruf Doktor Jordan an. Sag ihm, ich habe einen Unfall gehabt. Er soll uns in der Privatklinik an der Bailey Street erwarten.» Arnold warf einen Blick auf Ford. «Und er?» «Ein besoffener kleiner Schotte mehr oder weniger, wen schert das? Ruf Sam im Club an. Sag ihm, ich will die Eintreiber hier haben, und zwar dalli. Morgen früh muß hier alles sauber sein. Sie können ihn in die Baustelle der neuen HendonUmgehungsstraße schmeißen. Pro Nacht werden dort -178­

fünfhundert Tonnen nasser Beton in die Fundamente gepumpt. Es lebe der Fortschritt. Und jetzt hilf mir in den Wagen. Du mußt ans Steuer.» Arnold tat, wie ihm geheißen. «Es tut mir so leid, Harvey.» Er war den Tränen nahe. «Laß gut sein, Arnold. Der Hund hat ganz recht gehabt. Lassen wir’s uns eine Lehre sein und Schwamm drüber.» Er gab seinem Bruder einen Klaps auf die Wange und wurde ohnmächtig. Als sie zum Douro Place kamen, hielt Morgan, stellte den Motor ab und wandte sich Kate zu. «Es tut mir schrecklich leid.» «Nein», sagte sie. «Ganz und gar nicht. Sie sind besessen, Asa, das ist mir jetzt klar. Sie würden alles tun, um dieses sagenhafte Ziel zu erreichen, das Sie sich gesteckt haben. Jeden mit sich in die Tiefe reißen, wie Sie mich heute abend fast mitgerissen hätten. Und was kam dabei heraus? Sind Sie Ihrem Ziel nähergekommen?» «Nein.» «Mir jedenfalls reicht’s. Für mein Temperament sind Sie zu stürmisch. Ich gehe jetzt schnurstracks hinein, packe meine Koffer und fahre zurück nach Cambridge – noch heute nacht.» «Wenn Sie sich Sorgen machen um das, was in Wapping passiert ist, das ist unnötig. Daß die Polizei herumschnüffelt, ist das letzte, was Jago sich wünscht.» «Wollen Sie damit sagen, daß er die Leiche ohne weiteres los wird? Um Gottes willen, Asa, ist damit denn alles wieder in Ordnung?» Sie stieg aus und schmetterte den Schlag zu. Er blieb am Steuer sitzen, drückte auf einen Knopf, und das elektrisch gesteuerte Fenster glitt lautlos herab. -179­

«Es tut mir wirklich leid. Mädchen», sagte er. «Aber ich habe keine Wahl, verstehen Sie das nicht?» Er ließ den Motor anspringen und fuhr ab. Sie blieb vor dem Haus stehen und horchte, bis das Geräusch des Porsche verklungen war, dann stieg sie langsam, müde die Stufen hinauf, kramte ihren Hausschlüssel aus der Tasche und schloß die Tür auf.

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10

Es goß in Strömen, als Seumas Keegan im ersten grauen Morgenlicht den Pfad zur Hintertür des Bauernhauses einschlug, das zwei Meilen hinter Ballymena an der Straße nach Antrim stand. Er war hundemüde, und sein rechter Arm tat höllisch weh, trotz der weißen Schlinge, die der Arzt ihm angelegt hatte. Tim Pat Keogh hatte hinter der Gardine des Küchenfensters seine Ankunft beobachtet. Tully saß am Tisch neben dem Feuer und aß Eier mit Speck. Tim Pat hielt eine Sterling- MP schußbereit. Er sagte: «Keegan rückt an, und er sieht nicht besonders gut aus. Soll ich ihn umlegen?» «Noch nicht», sagte Tully. «Erst mal sehen, was er will.» Tim Pat öffnete die Tür. Seumas Keegan stand an der Schwelle, das Gesicht unter der Tweedmütze war blaß und abgespannt, der alte, gegürtete Trenchcoat völlig durchnäßt. «Herrje, du siehst ja aus wie ein wandelnder Leichnam», sagte Tim Pat. «Kann ich Mister Tully sprechen?» fragte Seumas. Tim Pat zog ihn in die Küche und tastete ihn geschickt nach Waffen ab. In der linken Manteltasche fand er einen automatischen Colt und legte ihn auf den Tisch. Tully aß weiter und musterte nebenbei den Jungen von oben bis unten. «Was willst du?» «Sie sagten, daß Sie für einen guten Mann immer Verwendung hätten, Mister Tully.» Tully goß sich noch eine Tasse Tee ein. «Was ist mit deinem Arm passiert?» Seumas blickte auf die Schlinge hinunter. «Gebrochen, Mister Tully.» -181­

«Tja, das ist so eine Sache», sagte Tully. «Ich meine, mit einem Schießeisen in der rechten Hand warst du einfach Spitze, das hat O’Hagan immer beteuert. Aber mit der Linken, hat er gesagt, könntest du kein Scheunentor treffen.» «Ein, zwei Monate, und ich bin wieder der alte, Mister Tully, wenn Sie mir eine Chance geben würden.» Auf den erschöpften Zügen des Jungen malte sich jetzt nackte Verzweiflung. Tully stocherte mit einem Streichholz in den Zähnen. «Das glaube ich nicht, Seumas. Ehrlich gesagt, meine ich, du solltest dich gründlich ausruhen. Meinst du nicht auch, Tim Pat?» «Und ob, Mister Tully.» Tim Pat grinste und entsicherte die MP. Eine Weile stand Seumas mit gebeugten Schultern und hängendem Kopf da, doch als er aufblickte, lächelte er breit. «Irgendwie war ich darauf gefaßt, daß Sie das sagen würden, Mister Tully.» Er feuerte aus der Luger, die in der Armschlinge versteckt war, zwei Schüsse ab, die Tim Pat ins Herz trafen und ihn auf der Stelle töteten. Als der Körper des schweren Mannes rücklings gegen die Anrichte geschleudert wurde und eine Kaskade von Küchengeschirr auf den Boden purzelte, riß Tully wild an der Tischlade und wollte sich die darin liegende Waffe greifen. Keegans dritter Schuß traf ihn in die linke Schulter, wirbelte ihn herum und riß ihn vom Stuhl. Er kauerte auf dem Boden; beim Versuch, aufzustehen, schrie er laut vor Schmerzen. Keegan feuerte ein viertesmal, ein Genickschuß warf Tully kopfüber in die offene Feuerstelle, direkt auf die brennenden Scheite. Als die Flammen seine Jacke erfaßten, schoß eine Feuergarbe hoch. Seumas blickte noch eine Weile auf ihn hinunter, dann -182­

machte er kehrt und verließ das Haus. Morgan war zu Bett gegangen, hatte aber immer nur für kurze Zeit Schlaf gefunden. Um sechs Uhr gab er es auf und ging in die Küche. Als er Kaffee kochte, klingelte das Telefon. An der Art des Klingeins konnte er erkennen, daß der Anruf aus einer öffentlichen Fernsprechzelle kam. Münzen klimperten, dann hörte er den unverkennbaren Ulster-Akzent. «Sind Sie es, Colonel? Hier Keegan – Seumas Keegan.»

«Wo sind Sie?»

«In der Nähe von Ballymena. Ich dachte, es interessiert Sie

vielleicht, daß ich Tully und Tim Pat Keogh versorgt habe.» «Endgültig?» «Wie der Sargdeckel zuklappt.» Schweigen. Dann sagte Morgan: «Und jetzt?» «Gehe ich nach Süden und ruh’ mich aus.» «Danach?» «Was glauben Sie, Colonel? Einmal drin, nie mehr raus. So sagen wir von der IRA, das wissen Sie ja. Sie sind ein guter Mann, aber Sie stehen auf der ganz falschen Seite.» «Werde daran denken, wenn wir uns wieder begegnen.» «Hoffen wir beide, daß das nie der Fall sein wird.» Die Leitung war tot. Morgan hielt den Hörer noch eine Weile ans Ohr, dann legte er aut. «Es lebe die Republik, Seumas Keegan», sagte er leise. Dann ging er wieder in die Küche. Er setzte sich ans Fenster und trank seinen Kaffee. Er war übermüdet und deprimiert, nicht weil er einen Menschen getötet hatte, dazu waren es im Laufe der Jahre schon zu viele gewesen. Und er bedauerte nichts. Ford war schließlich ein berufsmäßiger Mörder gewesen. -183­

«Genau wie du, alter Knabe», sagte Morgan leise zu sich selber auf Walisisch. «Jedenfalls könnten das gewisse Leute einwenden.» Er dachte an Kate Riley und was sie gesagt hatte. Die Wahrheit. Er war keinen Schritt weitergekommen. Er hatte nur zwei aussichtsreiche Hinweise besessen. Lieselotte Hoffmann und die Mauser-Pistole n. Beide hatten in Sackgassen geführt. Was blieb also noch? Die Zeitungen und Zeitschriften auf dem Tisch, deren jede eine andere Darstellung des Attentats auf Cohen brachte. Wie oft hatte er sie schon durchgeackert? Er zog sich den Telegraph heran und las den einschlägigen Artikel nochmals genau durch. Als er fertig war, goß er sich noch eine Tasse Kaffee ein und lehnte sich zurück. Natürlich, was fehlte, war Megans Tod im Tunnel, weil die Presse keine Verbindung zwischen den beiden Ereignissen hatte herstellen dürfen. Megan wurde nur in einer völlig getrennten Notiz erwähnt, die das Ganze als einen gewöhnlichen Unfall mit Fahrerflucht hinstellte: der Fahrer eines gestohlenen Wagens hatte ein Schulmädchen überfahren und das Auto später in Craven Hill Gardens in Bayswater stehenlassen. Ohne besondere Erregung wurde ihm klar, daß er die Stelle, an der das Fluchtauto gefunden wurde, nie aufgesucht hatte. Nicht, daß es dort irgend etwas Aufschlußreiches zu sehen geben könnte. Andererseits, was hatte ein Mann, der um sechs Uhr an einem nassen grauen Londoner Morgen mit seiner Weisheit am Ende war, schon zu versäumen? Er parkte den Porsche in Craven Hill Gardens, schlug im Straßenplan von London, der auf seinen Knien lag, die betreffende Seite auf und folgte auf der Karte der wilden Jagd des Kreters in jener Nacht, stellte sich dessen Panik vor, als die Sache angefangen hatte schiefzulaufen. Und nachdem er das -184­

Fluchtauto verlassen hatte, was tat er dann? Morgan stieg aus, ging den Gehsteig entlang und tat, was ihm das Nächstliegende schien. Er bog in die Leinster Terrace ein, und von hier aus waren es nur noch ein paar Meter und man stand in der belebten Bayswater Road gegenüber von Kensington Gardens. «Und genau dorthin wäre ich in deiner Lage gegangen, Bürschchen», sagte Morgan. «Stracks über die Straße, in den dunklen Park getaucht und wie der Teufel auf die andere Seite gerannt.» Als er die Straße überquerte, steuerte er automatisch den nächstgelegenen Parkeingang an und folgte dem Pfad, der links am Round Pond vorbeiführte. Trotz der frühen Stunde waren schon Leute unterwegs, hier und dort ein Jogger im Trainingsanzug oder ein Frühaufsteher, der seinen Hund spazierenführte. Er kam am Queen’s Gate gegenüber der Albert Hall wieder auf die Straße. Von hier an war alles möglich. Am wahrscheinlichsten würde die U-Bahn-Station sein. Wenn man einmal im Zug saß, war die Auswahl groß. Er ging wieder zurück durch Kensington Gardens bis dorthin, wo die Leinster Terrace in die Bayswater Road mündete, und blieb voll Zorn und Enttäuschung an der Ecke stehen, aber es war ihm unmöglich aufzugeben. «Irgendwohin mußt du schließlich gegangen sein, du Hund», sagte er leise vor sich hin. «Aber wohin?» Er überquerte die Straße und schlug die Richtung Queensway ein. Es war natürlich hoffnungslos, das sagte er sich selber, als er vor einem italienischen Restaurant an der Ecke haltmachte und sich eine Zigarette anzündete. An der Wand neben dem großen Fenster des Restaurants waren mehrere Plakate angeschlagen. Das blasse, hübsche Gesicht fesselte Morgans Aufmerksamkeit als erstes, dann die -185­

dunklen Augen und der Name Mikali in kräftigen schwarzen Lettern. Er wollte schon kehrtmachen, doch fiel ihm ein, daß in der Akte, die Baker gezeigt hatte, Mikali als eine der Berühmtheiten genannt war, die während der Filmfestspiele von Cannes in dem Hotel gewohnt hatten, wo der Kreter im Namen der Schwarzen Brigade den italienischen Filmregisseur erschoß. Eine Gedankenverbindung stellte sich ein. Und dann sah er auf dem Plakat Datum und Uhrzeit. Freitag, 21. Juli 1972, 20 Uhr. Es war unmöglich, es war heller Wahnsinn, und doch kehrte er um und hastete zurück zur Leinster Terrace. Eine Weile blieb er dort stehen und stellte sich vor, wie der Mann aus Kreta den Wagen zurückgelassen hatte und hier aufgetaucht war. Drüben, über den Bäumen, konnte er die Kuppel der Albert Hall sehen. Er überquerte rasch die Straße und lief durch den Park. Er schritt die Stufen des Albert Memorial hinab, überquerte ungeachtet des morgendlichen Stoßverkehrs Kensington Gore und blieb vor dem Haupteingang der Albert Hall stehen. An den Anschlagbrettern hingen Plakate, die eine Reihe von Konzerten nebst Programm anzeigten. Daniel Barenboim, Previn, Moura Lympany und John Mikali. Die Wiener Philharmoniker und John Mikali spielten Rachmaninows Konzert für Klavier und Orchester am Freitag, dem 21. Juli 1972, um 20 Uhr. «Du meine Güte», sagte Morgan laut. «Das war sein Ziel. Mußte es sein. Deshalb fuhr er durch den Paddington-Tunnel. Deshalb ließ er den Wagen in Bayswater stehen.» Er wandte sich ab und ging rasch davon. Es war Unsinn, und doch begann er, sobald er wieder in der Wohnung war, die Zeitungen erneut durchzusehen. Im Daily -186­

Telegraph vom Samstag, dem 22., fand er sowohl die Meldung über den Anschlag auf Cohen wie die über Megans Tod, wenn auch auf verschiedenen Seiten. Er schlug die Musikseite auf, und da stand es. Eine ausführliche Besprechung des Konzerts vom Vorabend aus der Feder des Musikkritikers der Zeitung, und daneben ein Foto des Pianisten. Morgan betrachtete es lange. Das hübsche, ernste Gesicht, das dunkle Haar, die Augen. Es war natürlich albern, aber er holte sich trotzdem Who’s Who aus dem Bücherregal und schlug John Mikali nach. Und dann schienen ein paar Zeilen ihn förmlich anzuspringen. Der Hinweis auf Mikalis Dienstzeit bei den Fallschirmjägern der Fremdenlegion in Algier, und er kam sich gar nicht mehr albern vor. Es war kurz nach neun, als Betty Midler, Bruno Fischers Sekretärin, die Tür seines Büros am Golden Square aufschloß und eintrat. Sie hatte kaum den Mantel ausgezogen, als das Telefon klingelte. «Guten Morgen», sagte sie. «Hier Agentur Fischer.» «Ist Mister Fischer schon da?» Es war eine Männerstimme, ziemlich tief mit einem leichten walisischen Akzent. Betty saß auf der Schreibtischkante. «Wir sehen Mister Fischer eigentlich nie vor elf Uhr.» «Bin ich recht unterrichtet, daß er John Mikali vertritt?» «Ja.» «Mein Name ist Lewis», sagte Asa Morgan. «Ich bin im letzten Semester am Royal College of Music und schreibe eine Doktorarbeit über zeitgenössische Konzertpianisten. Glauben Sie, daß Mister Mikali für ein Interview zur Verfügung steht?» «Das glaube ich nicht», erwiderte sie. «Er hat soeben ein Konzert in Helsinki gegeben und ist von dort direkt nach -187­

Griechenland in Urlaub geflogen. Er hat eine Villa auf der Insel Hydra.» «Wie schade», sagte Morgan. «Ich hatte gehofft, ihm ein paar Fragen stellen zu können, zum Beispiel in welchen Städten er am liebsten auftritt. Was er am liebsten spielt und warum.» «Paris», sagte sie. «Ich würde sagen, am häufigsten spielt er in Paris und London.» «Auch in Frankfurt?» erkundigte sich Morgan. «Hat er schon einmal in Frankfurt gespielt?» «Das ist mir unvergeßlich», sagte sie. «Warum?» fragte Morgan. «Er gab letztes Jahr ein Konzert an der Universität, gerade als dieser ostdeutsche Minister ermordet wurde.» «Vielen Dank», sagte Morgan. «Sie haben mir sehr geholfen.» Morgan blieb neben dem Telefon sitzen und dachte über das Gehörte nach. Irgend etwas konnte da nicht stimmen. Es war viel zu einfach. Und dann klingelte das Telefon. Kate Riley sagte: «Asa, bitte, entschuldigen Sie. Ich war so erschüttert von alledem …» «Wo sind Sie?» «Wieder in Cambridge, New Hall.» «Kate, ich muß Ihnen was erzählen; heute früh habe ich etwas Unglaubliches erlebt», sagte er. «Ich war in der Straße, wo der Kreter damals abends das Auto stehenließ, und bin zu Fuß weitergegangen, wie er es vermutlich auch tat.» «Natürlich alles nur Mutmaßungen.» «Aber auf diese Weise kam ich durch Kensington Gardens zur Albert Hall. Wo ich ein Plakat sah. Eines von vielen, aber bei weitem das interessanteste. Die Anzeige eines Konzerts um acht Uhr des Abends, an dem Megan starb.» -188­

«Ein Konzert?» Sie spürte, wie Kälte sie durchrieselte, ihr Atem schneller ging. «John Mikali spielt Rachmaninows Zweites Klavierkonzert, hieß es da, und der Name erinnerte mich an etwas. Während des Festivals von Cannes 1971 wurde ein italienischer Filmregisseur von dem Mann aus Kreta erschossen, der danach trotz des Aufgebots an französischen Sicherheitsbeamten spurlos verschwand. Mikali zählte zu den zahlreichen Prominenten, die damals in diesem Hotel abgestiegen waren.» «Nun?» «Als im vergangenen Jahr dieser ostdeutsche Minister in Frankfurt getötet wurde, raten Sie mal, wer da am gleichen Tag in der Universität ein Konzert gab?» Sie holte tief Atem. «Asa, das ist unsinnig. John Mikali ist einer der größten Pianisten der Welt. Eine internationale Berühmtheit.» «Und hat als Junge zwei Jahre in der Fremdenlegion gedient», sagte Morgan. «All right, es klingt zwar nicht sehr wahrscheinlich, aber zumindest ist es einen zweiten Blick wert.» «Haben Sie mit Superintendent Baker über diese Idee gesprochen?» «Ich werd’ den Teufel tun. Das ist meine Sache – niemandes sonst. Ich werde weitere Nachforschungen anstellen. Halte Sie auf dem laufenden.» Nachdem er aufgelegt hatte, holte sie ihr Adreßbüchlein und suchte flugs Bruno Fischers Telefonnummer. Als er sich meldete, klang seine Stimme, als liege er noch im Bett. «Bruno – hier ist Katherine Riley.» «Und was kann ich so früh am Morgen schon für Sie tun?» «Wann wird John aus Helsinki zurückkommen?» «Gar nicht. Er fand, daß er ausspannen müsse. Ist direkt nach Athen geflogen und von dort nach Hydra weitergereist. Dort -189­

dürfte er jetzt zu erreichen sein. Sie haben doch die Nummer, wie? Das einzig Gute an diesem barbarischen Winkel ist der Telefonanschluß.» Kate legte auf und blätterte weiter in ihrem Büchlein. Ein Gutes an Hydra; man konnte direkt durchwählen. Sie drehte die ellenlange Nummer. Dreimal mußte sie es versuchen, ehe sie durchkam. «John, bist du’s?» «Katherine. Woher rufst du an?» Seine Stimme klang erfreut. «Aus Cambridge. Ich glaube, ich kann ein paar Tage weg. Kann ich zu dir kommen?» «Aber selbstverständlich. Wann darf ich dich erwarten?» Sie sah auf die Uhr. «Ich habe hier noch einiges zu erledigen, aber ich könnte die Nachmittagsmaschine gerade noch erwischen. Wenn nicht, dann spätestens heute abend. Das würde bedeuten, daß ich erst morgen früh auf die Insel übersetzen kann.» «Konstantin wird am Dock auf dich warten.» Nach dem Gespräch blieb sie noch lange regungslos sitzen. Unsinn! Völliger verdammter Unsinn! Und in diesem Augenblick haßte sie Asa Morgan aus vollem Herzen. Morgan wartete am Schalter im Archiv des Daily Telegraph in der Fleet Street. Die freundliche junge Dame, der er vor fünf Minuten sein Anliegen vorgetragen hatte, kehrte mit einer umfangreichen Akte zurück. «Mikali, John», sagte sie. «Jede Menge über ihn.» Das stimmte. Morgan trug die Akte zu einem der Tische, setzte sich und fing an, sich durchzuarbeiten. Natürlich gab es Lücken. Die Zeitungsausschnitte stammten vorwiegend aus der englischen und amerikanischen Presse, aber es waren auch ein paar französische darunter. Die Besprechung eines Konzerts, das mit -190­

der Ermordung Vassilikos’ zusammenfiel, und eines weiteren genau an dem Tag, als der Russe in Toronto erschossen wurde. Schließlich fand sich ein Artikel aus Paris Match, den Morgan sehr bedächtig las. Sein Französisch war mangelhaft, aber er bekam das Wichtigste mit. Der Beitrag handelte von Mikalis Dienstzeit in der Legion und gab eine besonders drastische Schilderung des Vorfalls von Kasfa in Algerien. Dann schlug er die nächste Seite auf und sah die Fotos. Eines von Mikali in Tarnuniform und mit dem roten Barett der Fallschirmjäger, wie er lässig ein Maschinengewehr im Arm hielt. Auf dem anderen, einer Nahaufnahme, trug er das weiße Käppi des voll ausgebildeten Legionärs. Morgan blickte auf das harte junge Gesicht, das kurzgeschorene Haar, die ausdruckslosen Augen, den Mund. Er schloß die Akte. Das reichte. Er hatte den Mann aus Kreta gefunden. Kurz nach ein Uhr wurde Baker von Kim in Fergusons Wohnung eingelassen. Der Brigadier saß am Kamin und verzehrte einen Lunch aus belegten Broten. Dazu las er die Times. «Sie sind ja ganz aufgeregt, Superintendent!» «Asa ist mit der Elf-Uhr-Maschine nach Athen abgeflogen. Die Spezialabteilung in Heathrow hatte keine Vollmacht, ihn aufzuhalten, aber die Meldung ist immerhin langsam bis zu uns durchgesickert.» «Und inzwischen war er über alle Berge, klar. British Airways vermutlich?» «Olympic.» «Wie unpatriotisch von ihm.» «Ich habe mich dort erkundigt. Anscheinend hat er telefonisch gebucht und hatte gerade noch zehn Minuten Zeit, um sein -191­

Ticket abzuholen. Er hatte nur Handgepäck bei sich.» «Griechenland», sagte Ferguson. «Und ein Kreter. Irgendwie paßt das anscheinend wirklich zusammen, wie? Gefällt mir gar nicht.» «Soll ich die griechische Spezialabteilung in Athen bitten, daß sie ihn abfangen?» «Auf keinen Fall!» «All right, Sir. Haben wir an der Athener Botschaft einen MI 5-Mann?» «Haben wir. Einen Captain Rourke, arbeitet im Büro des Militärattaches.» «Vielleicht könnte er Morgan dort unten beschatten?» «Das wäre ein Gedanke, Superintendent, nur daß man leider, wie Sie selber bereits feststellten, Asa Morgan nicht gegen seinen Willen beschatten kann. Aber wenn Sie Rourke trotzdem anrufen wollen, bitte. Mit dem roten Telefon kommt man im allgemeinen am schnellsten durch.» Er wandte sich wieder seiner Times zu. Baker ging zum Schreibtisch, nahm, den Hörer des roten Telefons ab und verlangte eine Verbindung, über Sprachverzerrer, mit der britischen Botschaft in Athen. Captain Charles Rourke lehnte an einer Säule und las Zeitung, als Morgan aus der Zollabfertigung auftauchte. Der Captain trug einen zerknitterten Leinenanzug von der Sorte, wie die Griechen sie in der Sommerhitze bevorzugen. So würde er, wie er hoffte, in der Menge nicht weiter auffallen. Berufssoldaten in Zivilkleidung erkennen einander im allgemeinen aus unerfindlichen Gründen auf den ersten Blick. In diesem Fall fiel es Morgan leicht, denn er besaß ein geradezu enzyklopädisches Gedächtnis für Gesichter und erinnerte sich, Rourke in der ersten Reihe einer Studiengruppe in Sandhurst -192­

gesehen zu haben, wo er 1969 einen Vortrag über Methoden und Techniken der Bekämpfung von Stadtguerillas gehalten hatte. Fergusons Auge wacht. Es war ihm egal. Er ging zum Wechselschalter, zahlte zweihundert Pfund Sterling ein, nahm den entsprechenden Betrag in Drachmen entgegen, verließ das Flughafengebäude und stieg in ein Taxi. Er war vor ein paar Jahren bei einer NATO-Konferenz in Athen gewesen. Er entsann sich des Hotels, in dem er damals gewohnt hatte. Soviel er sich erinnern konnte, würde es vorzüglich für seine Zwecke passen. «Kennen Sie das Hotel Green Park in der Kristou-Straße?» «Klar», sagte der Taxichauffeur und fuhr an. Hinter ihnen saß Charles Rourke bereits im Fond eines schwarzen Mercedes und tippte dem Fahrer auf die Schulter. «Das Taxi vor uns. Der grüne Peugeot. Wo der hinfährt, fahren wir auch hin.» Er erinnerte sich jetzt wieder an Morgan und an den Kursus an der Militärakademie. Es war schon ein Witz, wie jetzt die Rollen vertauscht waren. Er lehnte sich lächelnd in die Polster und zündete sich eine Zigarette an. Morgan sah auf die Uhr. Er hatte sie um zwei Stunden vorstellen müssen, was bedeutete, daß es jetzt ein Viertel vor fünf, Athener Zeit, war. «Erwische ich heute abend noch das Tragflügelboot nach Hydra?» fragte er. «Klar», sagte der Chauffeur. «Sommerfahrplan. In den hellen Nächten fahren sie später. Das letzte nach Hydra geht in Piräus um halb sieben ab.» «Wie lange braucht es?» «Landet um acht. Es macht eine gute Zeit. Eine Menge zu sehen. Um diese Jahreszeit wird’s nicht vor halb zehn dunkel.» -193­

Er warf einen kurzen Blick über die Schulter. «Möchten Sie, daß ich Sie nach Piräus bringe?» Morgan, der den hinterherfahrenden Mercedes bemerkt hatte, sagte: «Nein, ich schiebe es bis morgen auf. Ich übernachte lieber im Hotel.» «He, für einen Engländer sprechen Sie aber gut Griechisch.» Es schien nicht sehr taktvoll, dem Chauffeur zu gestehen, daß er diese Fähigkeit während der drei harten Jahre auf Zypern erworben hatte, als er die EOKA-Terroristen jagte. Morgan sagte deshalb: «Ich habe ein paar Jahre in Nikosia bei einer englischen Weinexport-Firma gearbeitet.» Der Chauffeur nickte verständnisvoll. «Ja, es hat sich einiges gebessert. Ich glaube, Makarios weiß, was er tut.» «Wir wollen’s hoffen.» Er hatte wenig Zeit übrig, das wußte er, als er vor dem Hotel Green Park das Taxi bezahlte und der Mercedes vorbeifuhr, um wenige Meter weiter am Straßenrand anzuhalten. Als Morgan sich umdrehte und die Stufen zur Drehtür hinaufging, stieg Rourke aus dem Mercedes und folgte ihm. Drinnen ging Morgan nicht zum Empfang. Er lief statt dessen durch die Halle bis zu der breiten Flucht teppichbelegter Stufen, die zum Zwischengeschoß hinaufführten. Rourke blieb noch eine Weile und tat, als studiere er die Devisenkurse am Schwarzen Brett im Foyer, und folgte erst, als Morgan um die Ecke des ersten Treppenabsatzes verschwunden war. Im Zwischens tock rannte Morgan, der seinen Weg genau kannte, am Souvenirladen vorbei zu der engen Hintertreppe, die in das rund um die Uhr geöffnete Restaurant im Erdgeschoß hinunterführte. Er schlängelte sich zwischen den Tischen hindurch und schlüpfte durch den Seitenausgang des Hotels, während Rourke noch immer unschlüssig im Zwischengeschoß -194­

stand und nicht wußte, wohin er sich wenden sollte. Er fragte die junge Dame im Souvenirladen: «Mein Freund ist kurz vor mir heraufgekommen. Im Regenmantel, eine braune Ledertasche in der Hand. Ich muß ihn verpaßt haben.» «O ja, Sir. Er ging die Treppe zum Restaurant hinunter.» Von einem jähen und gräßlichen Verdacht getrieben, rannte Rourke in langen Sprüngen hinunter. Doch inzwischen war Asa Morgan natürlich längst fort, schon halbwegs durch die Grünanlage des Platzes gegenüber. Wie er erwartet hatte, fand er am Ausgang einen Taxistand und stieg in den vordersten Wagen. «Piräus», wies er den Chauffeur an. «Ich muß den ‹Fliegenden Delphin› nach Hydra um halb sieben erwischen.» «Das ist reichlich knapp, Mister», sagte der Chauffeur. «Ich glaube nicht, daß wir es schaffen.» «Für fünfhundert Drachmen schaffen wir’s schon», erwiderte Asa Morgan. Er griff nach der Lederschlaufe, als der Chauffeur grinste, den Motor aufjaulen ließ und mitten in den Verkehrsstrom schoß.

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11

In Heathrow war es genau halb vier Uhr, als Katherine Riley zum Meldeschalter der British Airways stürzte. Ein Träger mit ihrem Gepäck folgte ihr. Der junge Mann am Schalter prüfte ihr Ticket. «Bedaure, Madam, die Fluggäste gehen bereits an Bord. Sie dürfen nicht mehr durch die Sperre. Soll ich nachsehen, ob in unserer SiebenUhr-Maschine noch ein Platz frei ist?» «Ja», sagte sie, «bitte, tun Sie das. Ich muß noch heute abend in Athen sein.» Er sah nach und kam wieder. «Ja, das läßt sich machen. Leider werden Sie sehr spät ankommen. Halb ein Uhr nachts, griechische Zeit.» «Das macht nichts», sagte sie. «Ich fahre weiter zu den Inseln. Auf jeden Fall kann ich morgen mit dem ersten Boot übersetzen.» «Sehr gut, Madam. Wenn ich jetzt bitte Ihr Gepäck haben könnte. Ich werde es gleich weiterleiten.» Diesmal fiel Ferguson die unangenehme Aufgabe zu, Baker telefonisch die schlechte Nachricht mitzuteilen. «Soeben rief mich Rourke an. Asa hat ihn abgehängt, und sogar recht mühelos, wie ich der Meldung entnahm.» «Herrgottnochmal!» rief Baker ohne seine übliche Beherrschtheit. «Wo zum Teufel finden Sie diese Idioten?» «Sonderzuteilung vom Allmächtigen, Superintendent. Wer sind wir armen Sterblichen, daß wir mit seinen Wegen hadern dürften?» «Und – was machen wir jetzt, Sir?» «Wir machen es wie Mr. Micawber; geduldig sitzenbleiben -196­

und die Hoffnung nicht aufgeben», sagte Ferguson und beendete das Gespräch. Morgan schaffte es, zehn Minuten vor Abfahrt an der Anlegestelle des Tragflügelboots in Piräus zu sein. Der Andrang war nicht sehr groß, er bezahlte die Überfahrt an Bord und fand einen Fensterplatz. Es war ein ruhiger Abend, und der «Fliegende Delphin» konnte Höchstgeschwindigkeit vorlegen, so daß der Rumpf sich hoch aus dem Wasser bäumte. Und die Aussicht war hinreißend. Salamis und die blauen Wasser des Golfs von Ägina, die gewaltige Masse der Inseln Ägina und Porös, die im Abendlicht in strahlenden Farben erglühten. Morgan bedeutete all diese Schönheit nichts, und auch als er auf das Deck hinaustrat und sich an die Reling lehnte, starrte er blind vor sich hin und dachte nur an eines. John Mikali. Wenn er ihm gegenüberstehen würde, was dann? Er hatte keine Waffe bei sich. Das Risiko, daß sie bei der Sicherheitsdurchsuchung am Flughafen hätte entdeckt werden können, war zu groß gewesen. Gewiß, er hatte seine Hände. Es wäre nicht das erstemal. Als er auf sie hinabblickte, zitterten sie leicht. Endlich kam Hydra in Sicht. Kahl und streng lag die Insel da, wie ein großer steinerner Basilisk und seltsam enttäuschend, bis der «Fliegende Delphin» in den Hafen einlief und sich der Zauber der Stadt Hydra vor den Augen des Betrachters enthüllte. Die Häuser stiegen terrassenförmig in die dahinterliegenden Hügel an und waren nur durch ein Gewirr enger Gäßchen zu erreichen. Der Abend kam gerade in Schwung, fröhliche Menschen zogen scharenweise in die Tavernen. Morgan setzte sich an einen der im Freien stehenden Tische am Hafen, in der Nähe des Dormiton-Klosters. Der Kellner sprach recht gut Englisch, also behielt Morgan seine -197­

griechischen Kenntnisse für sich und bestellte ein Bier. «Sie Amerikaner?» fragte der Kellner. «Nein, ich komme aus Wales.» «In Wales war ich nie. London, ja. Habe in einem Restaurant gearbeitet, Kings Road, Chelsea, ein Jahr lang.» «Und das hat Ihnen genügt?» «Zu kalt.» Der Kellner lächelte. «Hübsch hier in Saison. Hübsch und warm.» Er küßte seine Finger. «Viele Mädchen. Menge Touristen. Sie hier für Urlaub, wie?» «Nein», sagte Morgan. «Ich bin Journalist. Möchte John Mikali interviewen, den Konzertpianisten. Er soll hier auf der Insel ein Haus haben?» «Klar, an der Küste hinter Molos.» «Wie komme ich dorthin?» fragte Morgan. «Gibt es einen Autobus?» Der Kellner lächelte wieder. «Kein Bus oder Autos auf Hydra. Ist verboten. Sie müssen einen Maulesel nehmen oder Ihre zwei Füße. Maulesel ist besser. Im Inneren ist die Insel rauh, und die Menschen leben dort wie in den alten Tagen.» «Und Mikali?» «Seine Villa ist ungefähr sieben Kilometer von hier auf einem Kap im Pinienwald gegenüber von Dokos. Sehr schön. Er hat ein Motorboot für seine Vorräte und so.» «Kann ich ein Boot mieten, das mich hinbringt?» Der Kellner schüttelte den Kopf. «Nein, wenn er Sie nicht eingeladen hat.» Morgan versuchte, eine enttäuschte Miene aufzusetzen. «Was mache ich denn nun? Zu dumm, wenn ich den ganzen Weg bis hierher umsonst gekommen wäre.» Er nahm eine HundertDrachmen-Note aus der Brieftasche und legte sie behutsam auf den Tisch. «Ich wäre sehr dankbar, wenn Sie mir in irgendeiner -198­

Weise helfen könnten.» Der Kellner nahm in aller Ruhe den Geldschein und ließ ihn in seine Brusttasche gleiten. «Ich sage Ihnen etwas. Ich tue Ihnen einen Gefallen. Ich hole ihn ans Telefon. Wenn er Sie sehen will, wird er es sagen, okay?» «Großartig.» «Wie heißen Sie?» «Lewis.» «Okay. Sie bleiben hier. Ich bin gleich wieder da.» Der Kellner ging in die Taverne, schlug in einem schmalen Telefonbuch nach, nahm den Hörer des Wandapparats ab und wählte eine Nummer. Mikali meldete sich. «Heh, Mr. Mikali, hier Andrew, der Kellner bei Niko», sagte er auf Griechisch. «Und was gibt’s?» «Hier ist ein Mann, der zu Ihnen möchte, er ist mit dem Tragflügelboot aus Athen gekommen. Ein Journalist. Er sagt, daß er Sie interviewen möchte.» «Was ist er, Amerikaner?» «Nein, er sagt, er sei aus Wales. Er heißt Lewis.» «Wales?» Mikalis Stimme klang amüsiert. «Das ist natürlich etwas anderes. Okay, Andrew, ich bin in guter Laune, aber ich habe nur eine Stunde für ihn Zeit, mehr nicht. Ich schicke Konstantin mit dem Boot hinüber. Du zeigst es ihm, wenn es anlegt.» «Okay, Mr. Mikali.» Der Kellner trat wieder an Morgans Tisch. «Sie haben Glück. Er sagt, er will Sie sehen, aber nur für eine Stunde. Er schickt Ihnen seinen Bootsmann, den alten Konstantin. Ich sag Ihnen, wenn er da ist.» «Ausgezeichnet», entge gnete Morgan. «Wie lange wird es -199­

dauern?» «Lang genug, daß Sie Zeit zum Essen haben.» Der Kellner grinste. «Den Fisch kann ich besonders empfehlen. Erst heute abend gefangen.» Morgan aß ausgiebig, hauptsächlich um die Zeit hinzubringen, und das Essen war gut. Er war gerade fertig, als der Kellner ihm auf die Schulter tippte und aufs Meer deutete, und Morgan sah ein weißes Motorboot in den Hafen einfahren. «Kommen Sie», sagte der Kellner. «Ich begleite Sie und stelle Sie vor.» Das Boot dümpelte gegen die Kaimauer, und ein Junge von elf bis zwölf Jahren sprang mit einem Tau auf den Anlegeplatz. Er trug einen geflickten Pullover und Jeans. Der Kellner zauste seinen Haarschopf, und der Junge lachte, daß die Zähne blitzten. «Das ist Nicky, Konstantins Enkel, und das ist Konstantin.» Konstantin Melos war ein kleiner kräftiger Mann, dessen Gesicht von einem Leben auf dem Meer tief gebräunt war. Er trug eine Seemannsmütze, ein kariertes Hemd, geflickte Hosen und Fischerstiefel. «Lassen Sie sich nicht von seinem Äußeren täuschen», flüsterte der Kellner. «Der alte Gauner besitzt zwei schöne Häuser in der Stadt.» Laut sagte er: «Das ist Mr. Lewis.» Konstantin rang sich kein Lächeln ab. Er sagte in gebrochenem Englisch: «Wir gehen jetzt, Mister.» Er machte kehrt und ging ins Steuerhaus zurück. «Glaubt bestimmt, der Teufel holt ihn, wenn er im Dunkeln noch draußen ist», sagte der Kellner zu Morgan. «Alle gleich, diese Alten. Fast alle alten Weiber glauben, sie sind Hexen. Also, auf Wiedersehen, Mr. Lewis.» Morgan stieg ins Boot, der Junge sprang hinter ihm hinein, schoß das Tau auf, und das Motorboot fuhr aus dem Hafen, vorbei an dem einst schwer befestigten Fort, dessen -200­

venezianische Kanonen hinaus aufs Meer gerichtet waren, als erwarteten sie noch immer einen Einfall der Türken. Es war ein schöner Abend, wenn auch die etwa sechs Kilometer entfernte Küste des Peloponnes bereits in eine Art purpurnen Zwielichts gehüllt war und an der Küste von Hydra die Lichter in den Fenstern angingen. Das Boot schoß durch die See, als Konstantin Gas gab, und Morgan ging ins Steuerhaus und bot dem Alten eine Zigarette an. «Wie lange?» «Fünfzehn, zwanzig Minuten.» Morgan blickte übers Meer, das tintenschwarz wurde, sobald die Sonne am fernen Horizont hinter der aufragenden Masse der Insel Dokos verschwunden war. «Schön», sagte er. Der Alte würdigte ihn keiner Antwort, und nach einer Weile gab Morgan es auf und ging unter Deck in den Salon, wo der Junge am Tisch saß und eine Sportzeitung las. Morgan blickte ihm über die Schulter. Die Titelseite gehörte der berühmten Fußballmannschaft von Liverpool. «Magst du Fußball?» fragte Morgan. Der Junge lächelte begeistert und wies auf das Foto. «Liverpool – mögen?» Sein Englisch schien sehr dürftig. «Also, ich persönlich verbringe den Nachmittag lieber im Arms Park von Cardiff, aber ich muß zugeben, daß Liverpool eine eigene Note hat.» Wieder grinste der Junge, dann ging er zu einem Wandschrank, öffnete ihn und brachte eine teure PolaroidKamera zum Vorschein. Er richtete sie auf Morgan, es blitzte, und dann wurde der Abzug ausgeworfen. Morgan sagte: «Das ist aber ein teures Spielzeug. Von wem hast du es?» «Mister Mikali», sagte Nicky. «Er netter Mann.» -201­

Morgan nahm den Abzug in die Hand und blickte unverwandt darauf hinunter, während das Bild sich automatisch entwickelte und sein eigenes Gesicht in immer kräftigeren Farben ihm entgegensah. «Ja», sagte er langsam. «Er scheint sehr nett zu sein.» Das Foto war jetzt fertig. Nicky nahm es ihm aus der Hand und hielt es hoch. «Gut?» «Ja.» Morgan tätschelte ihm den Kopf. «Sehr gut.» Das Telefon klingelte. Als Mikali sich meldete, hörte er wieder Katherine Rileys Stimme. «Ich bin noch immer in der internationalen Abflughalle in Heathrow», sagte sie. «Wir haben Verspätung.» «Mein armer Liebling.» «Das klingt ziemlich überschwenglich für dich», sagte sie. «Ich bin in überschwenglicher Laune.» «Auf jeden Fall komme ich mit dem ersten Tragflügelboot morgen früh.» «Ich schicke dir Konstantin hinüber. Sprich nicht mit fremden Männern.» Er legte auf, als er das Geräusch des näher kommenden Motorboots hörte. Er nahm ein Fernglas, öffnete die Fenstertüren und trat auf die breite Terrasse hinaus. Es war noch hell genug, daß er das Boot in die Bucht einfahren und auf die kleine Mole zuhalten sah, wo die alte Anna, Konstantins Frau, wartete. Das Ende der Mole war beleuchtet. Als der Junge seiner Großmutter das Tau zugeworfen hatte, folgte ihm Morgan über die Reling. Mikali richtete kurz das Glas auf ihn. Es genügte. Er ging zurück in den Wohnraum, wo ein helles Feuer im Kamin brannte. Er goß sich ein großes Glas Courvoisier ein, tat Eis hinzu und öffnete dann eine Schreibtischlade. Er nahm eine Walther heraus und setzte mit flinken Griffen einen -202­

Schalldämpfer auf die Mündung. Er schob die Waffe in seinen Gürtel und wanderte im Zimmer herum, das Glas in der Hand, öffnete alle Fenstertüren, schlug die Läden zurück und sicherte sie, so daß der Nachtwind das Haus mit den Blumendüften aus dem Garten erfüllte. Dann knipste er alle Lichter aus, bis auf eine Leselampe auf einem Tischchen neben dem Blüthner-Flügel, ging hinüber, setzte sich an das Instrument und fing an zu spielen. Sie klommen den steilen Pfad von der Mole herauf und gelangten zu einem kleinen, ziemlich primitiven Haus. Ein Hund begann, Morgan von der Tür her anzubellen. Die alte Frau beruhigte das Tier, dann gingen sie und der Junge ins Haus. Konstantin stieg wortlos weiter, und Morgan folgte ihm. Der Garten war, wie er feststellte, terrassenförmig angelegt, von Olivenbäumen gesäumt, Kamelien, Gardenien und Hibiskus wuchsen da, und die warme Nacht war schwer vom Duft des Jasmins. Jetzt konnte er das Klavierspiel hören, eine seltsame, gespenstische Weise. Einen Augenblick lang blieb er wie angewurzelt stehen. Konstantin wandte sich nach ihm um, seine Miene verriet nichts, und Morgan setzte sich wieder in Marsch. Sie gingen die Stufen zur Villa hinauf. Es war ein weit hingestreckter, ebenerdiger Bau, aus den Steinen der Insel errichtet, mit grün bemalten Fensterläden und einem Ziegeldach. Sie kamen zu einem zweiflügeligen Tor aus eisenbeschlagenem Eichenholz. Konstantin öffnete es ohne weiteres Zeremoniell und ging voran ins Haus. Die Halle schien zwei Flügel des Hauses zu verbinden und lag im Dunkeln. Nur ein schwacher Lichtschein fiel durch eine offene Tür am anderen Ende der Halle, und von dort kamen deutlich auch die Klänge des Musikstücks. Konstantin ging auf diese Tür zu, winkte Morgan hinein, stellte Morgans Reisetasche ab und -203­

machte wortlos kehrt. Die Haustür schloß sich hinter ihm. «Treten Sie ein, Mister Lewis», rief Mikali. Morgan betrat den Raum. Er war sehr lang, einfach möbliert, die Wände weiß gekalkt, der Fußboden aus polierten Ziegeln, das Feuer im Kamin brannte lustig, und Mikali saß an seinem Blüthner. «Bitte legen Sie ab.» Morgan warf seinen Trenchcoat auf den nä chsten Stuhl und bewegte sich langsam auf Mikali zu, wie man sich im Traum bewegt, seine Kehle war trocken, sein Atem ging mühsam. Die Musik schien ihn im Innersten zu berühren. «Kennen Sie dieses Stück, Mr. Lewis?» «Ja», sagte Morgan mit schwerer Zunge. «Es heißt Le Pastour und ist von Gabriel Grovlez.» Mikali mimte Überraschung. «Ein Mann von Geschmack und Sachkenntnis.» «Nicht doch», erwiderte Morgan. «Es ist nur zufällig eines der Stücke, die meine Tochter für die Aufnahmeprüfung ins Royal College of Music lernen mußte.» «Ja, es hat mir wirklich leid getan», sagte Mikali. «Ich habe versucht, ihr auszuweichen, Colonel.» Morgan war bereits jenseits allen Erstaunens. Er sagte: «Das glaube ich Ihnen. Als Sie Vassilikos in Paris ermordeten, ließen Sie den Cha uffeur am Leben, auch das Zimmermädchen im Berliner Hilton und wiederum den Chauffeur, als Sie General Falção in Rio töteten. Was glauben Sie, wer Sie sind – Gott?» «Die Spielregeln. Diese Leute waren nicht das Ziel.» «Spiel?» sagte Morgan. «Wie heißt wohl dieses Spiel?» «Müßten Sie eigentlich wissen. Sie spielen es schon lange genug. Das erregendste Spiel der Welt, bei dem das eigene Leben der höchste Einsatz ist. Können Sie aufrichtig behaupten, irgend etwas anderes, das Sie jemals taten, habe Ihnen den -204­

gleichen Auftrieb verschafft?» «Sie sind wahnsinnig», sagte Morgan. Mikali sah ihn leicht erstaunt an. «Warum? Ich habe genau das gleiche in Uniform getan und Orden dafür gekriegt. Haargenau Ihr eigener Fall. Wenn Sie in den Spiegel schauen, sehen Sie eigentlich mich.» Die Musik wechselte, es war jetzt irgendein Konzert, voller Kraft und Leben. Er sagte: «Interessant, daß Sie allein hierherkommen. Was ist mit MI 5 und der Spezialabteilung passiert?» «Ich wollte Sie für mich, Sie gemeiner Hund.» Die Musik schwoll zum Crescendo an, als Morgan mit gekrümmten Fingern zum Flügel ging. Mikali sagte: «Gefällt es Ihnen? Es ist Prokofieffs Viertes Klavierkonzert – für die linke Hand allein.» Seine Rechte erschien über den Tasten mit der Walther, und Morgan warf sich zur Seite, als die Waffe einmal aufbellte, so daß die Kugel eine Furche über seine linke Schulter zog. Er riß die Leselampe auf dem Tischchen aus der Steckdose, und der Raum war in Dunkelheit getaucht. Wieder hustete die Walther, zweimal, aber Morgan war bereits durch die Fenstertür ins Freie gesprungen. Er rannte über die Terrasse und flankte über die Brüstung, landete hart drei Meter tiefer im Garten. Der Hund drunten im Bauernhaus begann wieder zu kläffen, als er im Zickzack zwischen den Olivenbäumen zur Klippe raste. Mikali, der ihm ohne Zögern über die Terrasse nachgesprungen war, rannte ihm nach. Es war jetzt fast völlig dunkel, nur am Horizont zeigten sich noch orangefarbene Streifen, als Morgan den Rand der Klippe erreichte und zögerte. Er sah sich schnell um. Von hier aus ging es nicht mehr weiter. Sekundenlang bot er ein ideales Ziel vor dem Orange und -205­

Gold des Abendhimmels, und Mikali schoß erneut im Laufen auf ihn. Morgan stieß einen Schrei aus, als die Kugel ihn rücklings ins Leere schleuderte, dann war er verschwunden. Mikali spähte hinunter ins Dämmerlicht. Hinter ihm näherten sich Schritte, und Konstantin erschien, in einer Hand ein Gewehr, in der anderen eine Stablampe. Mikali nahm ihm die Lampe ab, knipste sie an und ließ den Strahl über die dunklen wirbelnden Wasser der Brandung spielen. «Ist der Junge im Bett?» fragte er. «Ja», nickte der Alte. «Gut. Frau Doktor Riley kommt morgen früh mit dem ersten Tragflügelboot aus Athen. Du wirst sie abholen.» Mikali ging zur Terrasse zurück. Der Alte blickte hinunter in die dunklen Wasser, bekreuzigte sich, dann wandte er sich ab und ging wieder zu seinem Haus zurück. Etwa eine Stunde später betrat Jean Paul Deville seine Pariser Wohnung. Er war zum Diner ausgewesen, ein alljährliches Treffen seiner Kollegen vom Kriminalgericht. Die meisten Anwesenden hatten beschlossen, den vergnügten Abend mit dem Besuch eines Etablissements auf dem Montmartre zu beenden, das vorwiegend von Herren mittleren Alters auf der Suche nach Abenteuern frequentiert wurde. Deville war es dabei gelungen, sich unauffällig abzusetzen. Als er den Mantel auszog, klingelte das Telefon. Es war Mikali. Er sagte: «Ich versuche es schon seit einer Stunde.» «Ich war bei einem Diner. Probleme?» «Unser Freund aus Wales ist hier aufgetaucht. Wußte alles über mich.» «Du lieber Gott! Wieso?» «Keine Ahnung. Ich stellte fest, daß er sein Wissen nicht -206­

weitergegeben hat. Er war zu sehr darauf aus, mich selber fertigzumachen.» «Sind Sie ihn losgeworden?» «Ein für allemal.» Deville runzelte die Stirn, dachte eine Weile nach, dann faßte er einen Entschluß. «Unter diesen Umständen sollten wir uns zusammensetzen. Wenn ich die Vormittagsmaschine nach Athen nehme, könnte ich um ein Uhr griechischer Zeit auf Hydra sein. Wäre das recht?» «Ausgezeichnet», sagte Mikali. «Katherine Riley kommt ebenfalls morgen früh, aber das macht mir kein Kopfzerbrechen.» «Natürlich nicht», sagte Deville. «Alles soll so normal sein wie möglich. Also, bis dann.» Mikali goß sich noch einen Cognac ein, ging hinüber zum Schreibtisch und schlug Morgans Akte auf. Er fand das Foto und starrte lange auf das dunkle gezeichnete Gesicht, dann nahm er das Bild und die Akte und warf alles ins Feuer. Er setzte sich an den Flügel, machte die Finger geschmeidig und intonierte Le Pastour mit sehr viel Gefühl und Zartheit.

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Während des größten Teils seiner zweiundsiebzig Lebensjahre war Georgios Ghika Fischer gewesen, und er wohnte noch immer in dem kleinen Bauernhaus, wo er zur Welt gekommen war, hoch droben in den Pinienwäldern über Mikalis Villa. Seine vier Söhne waren im Lauf der Jahre alle nacheinander in die Vereinigten Staaten ausgewandert, so daß nur noch seine Frau Maria ihm bei seiner Arbeit helfen konnte. Das reichte vollkommen, denn was immer er auch sagen mochte, sie war genauso rüstig wie er und konnte ebenso gut mit dem Boot umgehen. Regelmäßig zweimal in der Woche fuhren sie zusammen nachts auf Fang, um eine Abwechslung zu haben und ein paar Drachmen zusätzlich zu verdienen. Sie warfen ihre Netze aus, dann löschten sie die Lichter und durchquerten die vier Meilen breite Meerenge bis zu einer Taverne an der Küste des Peloponnes, wo sie eine Ladung unverzollter Zigaretten an Bord nahmen, eine Ware, die auf Hydra sehr gefragt war. Auf der Rückfahrt holten sie die gefüllten Netze wieder ein. Es hatte immer vorzüglich geklappt, bis zu jener Nacht, in der Maria die Acetylenlampen im Bug anzündete, deren Licht die Fische anzog, und plötzlich eine Hand aus dem Wasser auftauchen sah und dann ein blutverschmiertes Gesicht. «Heilige Mutter Gottes, ein Seeteufel!» schrie der alte Georgios und hob ein Ruder, um auf den Dämon einzuschlagen. Maria stieß ihn weg. «Halt, du alter Narr. Das ist doch ein Mensch, siehst du das nicht? Hilf mir, ihn rauszuziehen.» Morgan lag auf dem Boden des Bootes, während Maria ihn untersuchte. «Angeschossen», sagte ihr Mann. -208­

«Sehe ich selber, oder? Zweimal. Von der Schulter ist das Fleisch abgerissen und hier, der Oberarm. Da ist eine Kugel glatt durchgegangen.» «Was sollen wir tun? Bringen wir ihn in die Stadt zum Doktor?» «Wozu?» sagte sie verächtlich, denn wie viele alte Bauersfrauen auf Hydra verstand sie eine Menge von Heilkräutern und -tränken. «Was der kann, das kann ich viel besser. Und dann hätten wir die Polizei auf dem Hals. Der Doktor müßte die Sache melden, und dabei kämen auch die Zigaretten zur Sprache.» Ihr Ledergesicht bekam lauter kleine Sprünge, als sie lächelte. «Du, mein guter Georgios, bist zu alt fürs Gefängnis.» Morgan öffnete die Augen und sagte auf Griechisch: «Alles, bloß keine Polizei.» Sie wandte sich zu ihrem Mann um und puffte ihn in die Schulter. «Da, er hat gesprochen, dein Seeteufel. Sehen wir zu, daß wir ihn an Land bringen, bevor er uns stirbt.» Morgan konnte sehen, daß sie in einer kleinen hufeisenförmigen Bucht waren, mit einem ganz schmalen Strandstreifen, hinter dem sich die Pinien bis hinauf in die Berge erstreckten. Die Mole war aus massiven Steinblöcken gebaut und reichte weit hinaus bis ins tiefe Wasser. Sehr ungewöhnlich für einen so verlassenen Ort. Er wußte noch nicht, daß die Mole mehr als hundertfünfzig Jahre alt war und aus dem griechischen Unabhängigkeitskrieg stammte. Damals hatten bis zu zwanzig schwerbestückte hydriotische Segler in dieser Bucht auf der Lauer gelegen, um sich auf jedes Schiff der türkischen Flotte zu stürzen, das arglos genug war, sich dieser Küste zu nähern. Im Mondlicht konnte Morgan mehrere verfallene Häuser unterscheiden, als der Alte ihm an Land half. Er schwankte ein -209­

wenig, fühlte sich aber seltsam schwerelos. Maria legte einen Arm um ihn, der sich als überraschend kräftig erwies. «Jetzt dürfen Sie nicht fallen, mein Junge, jetzt müssen Sie stark sein.» Jemand lachte, und Morgan stellte erstaunt fest, daß er es selber war. «Junge, Mütterchen?» sagte er. «Ich habe fast fünfzig Jahre auf dem Buckel – fünfzig lange verdammte Jahre.» «Dann dürfte Sie nichts mehr im Leben überraschen.» Etwas bewegte sich in der Dunkelheit, und aus einem der Gebäude erschien der alte Georgios mit einem Maulesel am Zügel. Das Tier trug keine Steigbügel, nur eine Decke und den traditionellen Packsattel aus Holz und Leder. «Und was tue ich damit?» fragte Morgan. «Aufsitzen, mein Sohn.» Sie wies hinauf durch die Pinien. «Droben auf dem Berg. Dort ist Sicherheit, ein warmes Bett.» Mit dem Handrücken streichelte sie sein Gesicht. «Mir zuliebe, ja? Nur das noch, die letzte Kraft zusammennehmen, damit wir dich heimbringen können?» Aus irgendeinem Grund fühlte er sich zum erstenmal seit vielen Jahren den Tränen nahe. «Ja, Mam», hörte er sich auf Walisisch sagen. «Bring mich heim.» Der Schock einer Schußwunde wirkt sich auf die meisten Menschen in einer vorübergehenden Art von Taubheit des Nervensystems aus. Erst später stellt der Schmerz sich ein, wie er sich bei Morgan einstellte, als der Maulesel begann, den steinigen Pfad durch den Pinienwald bergan zu steigen. Morgan klammerte sich am hölzernen Sattel fest, der alte Georgios führte den Esel, und Maria ging auf der linken Seite und hielt mit einer Hand Morgans Gürtel gepackt. «Geht es einigermaßen?» fragte sie auf Griechisch. «Ja», sagte er. «Ich bin unverwüstlich. Muß mich für diesen -210­

Hund Mikali am Leben halten.» Der Schmerz war durchdringend und grausam wie ein heißes Eisen. Korea, Aden, Zypern; alte Wunden brachen wieder auf, so daß sein ganzer Körper vor Pein geschüttelt wurde und seine Hände den hölzernen Sattelknauf umklammerten, als krallte er sich in das Leben ein. Und Maria wußte es, und die Hand in seinem Gürtel griff fester zu und die alte Stimme war tiefer als alles, was er je gehört hatte, drängender, übertönte den Schmerz. «Du mußt jetzt durchhalten», sagte sie. «Du darfst erst nachgeben, wenn ich es dir sage.» Es war das letzte, was er hörte. Als sie eine halbe Stunde später das kleine Bauernhaus hoch im Gebirge erreichten und Georgios den Maulesel anband und sich Morgan zuwandte, um ihm herunterzuhelfen, war er bewußtlos auf dem Sattel zusammengesunken, doch seine Hände schlossen sich so fest um den Knauf, daß die beiden Alten seine Finger einzeln lösen mußten. Katherine Riley war völlig erschöpft nach dem Nachtflug und den vier Stunden, die sie in einem Athener Hotel verbracht hatte. Schlaflos war sie in der Hitze gelegen, hatte sich im Bett gewälzt und herumgeworfen und war früh aufgestanden, um mit dem Taxi, das sie bestellt hatte, nach Piräus zu fahren. Nicht einmal die morgendliche Überfahrt nach Hydra, die Schönheit der Landschaft, hatte sie zu beleben vermocht. Sie fürchtete sich. Was Morgan behauptet hatte, war albern, bösartig. Schlicht unmöglich. Sie hatte sich Mikali hingegeben, er hatte ihr eine Lebensfreude geschenkt, die sie seit dem Tod ihres Vaters nie mehr empfunden hatte. Bewußtheit, Verstehen. Worte, nichts als Worte. Keines vermochte sie zu trösten, das wußte sie, als sie im Hafen von Hydra aus dem «Fliegenden Delphin» stieg und Konstantin auf sie zukam, um ihr Gepäck zu -211­

nehmen. Sie hatte sich in seiner Gegenwart immer unbehaglich gefühlt, immer den Eindruck gehabt, daß er sie nicht mochte. Er sprach nur selten, angeblich weil sein Englisch so mangelhaft sei, was es nicht war. Und so hielt er es auch jetzt, als sie aus dem Hafen fuhren und Katherine ins Steuerhaus trat. «Nicky?» sagte sie. «Ist er nicht mitgekommen?» Er antwortete nicht, sondern befaßte sich eingehend mit den Armaturen. «Ist er bei seiner Mutter in Athen?» Sie hatten die Landspitze umrundet und nahmen Geschwindigkeit auf. Katherine resignierte, verließ das Steuerhaus und setzte sich ins Heck, wandte das Gesicht der Morgensonne zu und schloß die brennenden Augen. Als sie sich der Mole näherten, sah sie Mikali neben der alten Anna und dem Jungen dort warten. Er trug eine dunkle Sonnenbrille, ein weißes Polohemd und verblichene Jeans und winkte aufgeregt, der lächelnd geöffnete Mund zeigte die schönen Zähne. Sie fürchtete sich mehr denn je, wußte nichts zu sagen, als er die Hand ausstreckte, um ihr an Land zu helfen. Sein Lächeln schwand, er sah besorgt auf. «Katherine? Was hast du?» Sie mußte gegen die Tränen ankämpfen. «Ich bin so schrecklich müde. Zuerst das stundenlange Warten in Heathrow, dann der Flug und das gräßliche kleine Hotel in Athen.» Schon hatte er sie in die Arme genommen und lächelte aufs neue. «Weißt du, was Scott Fitzgerald sagte? Ein heißes Bad, und ich kann noch Stunden weitermachen. Genau das brauchst du jetzt auch.» Er nahm ihren Koffer und sagte etwas auf Griechisch zu Konstantin. Als sie den Pfad zur Villa hinaufgingen, fragte sie: -212­

«Was hast du zu ihm gesagt?» «Er soll mittags wieder nach Hydra fahren. Ich erwarte einen Gast aus Paris. Meinen französischen Anwalt, Jean Paul Deville. Ich habe dir schon von ihm erzählt.» «Ble ibt er länger hier?» «Wahrscheinlich nur heute abend. Geschäfte, weiter nichts. Ich muß ein paar wichtige Papiere unterschreiben.» Sein Arm schloß sich fester um sie, und er küßte sie auf die Wange. «Aber das spielt keine Rolle. Jetzt müssen wir dich in die Badewanne stecken.» Es half wirklich. Sie lag im heißen Wasser, alle Verkrampfung, aller Schmerz löste sich, und Mikali brachte ihr eisgekühlten Champagner und Cognac in einem Kristallkelch. «Ein herrliches Glas», sagte sie. «Ich habe noch nie so etwas gesehen.» «Venezianisch, siebzehntes Jahrhundert. Mein Ur-UrUrgroßvater, der Admiral der hydriotischen Flotte, hat es bei der Seeschlacht von Navarino aus einem türkischen Schiff erbeutet.» Er grinste. «Bleib ganz ruhig liegen – erhole dich, während ich den Lunch richte.» «Du?» fragte sie. Er drehte sich unter der Tür um, lächelte und breitete in seiner unnachahmlichen Art die Arme aus. «Und warum nicht? Für den großen Mikali ist nichts unmöglich.» Die Mischung aus Cognac und Champagner stieg ihr prompt zu Kopf, jedoch anders als Alkohol sonst auf sie wirkte. Anstatt die Sinne zu verlieren und abzustumpfen, schärfte er sie. Sie sah jetzt ganz klar, daß es so nicht weitergehen konnte. Diese Sache, die an ihr nagte, mußte zur Sprache gebracht werden. Sie stie g aus der Wanne, zog einen Bademantel über, ging ins Schlafzimmer, setzte sich an den Toilettentisch und kämmte -213­

schnell ihr Haar. Kaum hörbare Schritte, und schon erschien er im Spiegel. Er stand unter der Tür und sah aus wie ein Unbekannter mit seiner dunklen Sonnenbrille. «Okay, mein Engel, was ist los?» Sie saß da und starrte ihn im Spiegel an. Seltsam, wie leicht die Worte ihr über die Lippen kamen. «Erinnerst du dich an meinen Waliser Colonel, Morgan, der unbedingt mit Lieselotte Hoffmann hatte spreche n wollen?» «Na klar. Das war doch der Mann, dessen Tochter der Kreter nach dem Attentat auf Cohen überfahren hat.» «Woher weißt du das?» «Du selber hast es mir erzählt.» Jetzt fiel es ihr wieder ein, und sie nickte langsam. «Ja, das hätte ich nicht tun dürfen. Es war eine streng geheime Angelegenheit.» Er zündete sich eine Zigarette an und trat ans Fenster neben dem Toilettentisch. «Geheimnisse, zwischen uns beiden?» «Er glaubt, du seist der Kreter.» Mikali starrte sie entgeistert an. «Was glaubt er?» «Er sagt, in der Nacht als der Mann aus Kreta auf Cohen schoß, hast du ein Konzert in der Albert Hall gegeben. Das ist genau auf der anderen Seite von Kensington Gardens, exakt gegenüber der Stelle, wo er den gestohlenen Wagen stehenließ.» «Das ist verrückt.» «Er sagt, du warst auch in Cannes, als der Regisseur Forlani ermordet wurde.» «Halb Hollywood war beim Festival.» «Und in der Frankfurter Universität, als der ostdeutsche Minister Klein erschossen wurde.» Er drehte sie auf dem Hocker herum und legte ihr die Hände auf die Schultern. «Das habe ich dir selber erzählt. Weißt du -214­

nicht mehr? Bei unserer ersten Begegnung, als ich das Konzert in Cambridge gab. Wir sprachen über diese kleine Hoffmann und die Umstände des Mordes, und ich sagte zu dir, daß ich an jenem Tag in Frankfurt gewesen sei.» Jetzt wurde die ganze Szene ihr wieder gegenwärtig, und sie stieß vor Erleichterung einen leisen Seufzer aus. «Mein Gott, ja, das hast du mir erzählt. Jetzt fällt es mir wieder ein.» Er nahm sie in die Arme. «Der Mann muß vo n Sinnen sein. Hat er vor, mit seiner Weisheit überall hausieren zu gehen?» «Nein», sagte sie. «Ich habe ihn gefragt, ob er darüber mit Baker gesprochen habe, dem Mann von der Spezialabteilung, aber er sagte nein. Er sagte, es sei allein seine Sache gehe niemanden sonst etwas an.» «Wann hat er dir das gesagt?» «Gestern am frühen Vormittag – er rief mich an.» «Und seitdem hast du ihn nicht gesehen?» «Nein – er sagte, er wolle weitere Nachforschungen anstellen. Er werde mich auf dem laufenden halten.» Nun kamen endlich die Tränen. «O Gott, John, der Mann ist besessen, verstehst du? Ich habe solche Angst.» «Kein Grund, Angst zu haben, mein Engel. Gar keiner.» Er führte sie hinüber zum Bett und schlug den Überwurf zurück. «Du brauchst jetzt Schlaf.» Sie gehorchte ihm wie ein Kind, lag da mit geschlossenen Augen und zitterte. Nach einer Weile wurde die Decke gelüftet, und er schlüpfte neben sie. Sie barg ihr Gesicht an seiner Schulter, als ein Arm sie umfing und die andere Hand den Gürtel des Bademantels löste. Und dann war sein Mund auf dem ihren, und ihre Arme umschlangen ihn in so wilder Leidenschaft, wie sie sie noch nie zuvor empfunden hatte. Deville lehnte an der Balustrade der Terrasse und blickte aufs -215­

Meer hinaus, dorthin, wo Dokos sich im Dunst der Nachmittagshitze abzeichnete. Mikali trat mit einem Glas in jeder Hand aus der Fenstertür. «Frönen Sie noch immer dem Laster, guten Napoleon mit Eiswürfeln zu verpfuschen?» «Aber natürlich.» Deville nahm ihm das Glas ab und wies hinaus übers Meer. «Wirklich wunderschön. Sie werden den Anblick vermissen.» Mikali stellte sein Glas auf die Balustrade und zündete sich eine Zigarette an. «Und was soll das heißen?» «Sehr einfach. Sie sind dran. Wir sind beide dran. Wenn Morgan hinter Ihre Identität gekommen ist, dann wird das früher oder später auch anderen gelingen. Oh, ich meine nicht nächsten Monat, nicht einmal nächstes Jahr. Aber bestimmt im übernächsten.» Er lächelte und hob gleichmütig die Schultern. «Oder vielleicht nächsten Mittwoch.» «Und falls sie mich erwischen, wer es auch immer sein mag», sagte Mikali, «glauben Sie, ich würde reden? Würde Sie verpfeifen?» «Gummischläuche sind zusammen mit der Gestapo vom Markt verschwunden», belehrte ihn Deville. «Heute steckt man Ihnen eine Injektionsnadel in den Arm und pumpt Sie mit Succinylcholin voll, einer höchst unangenehmen Droge, die Sie so nahe an den Rand des Grabes bringt, wie ein Mensch irgend kommen kann. Die Prozedur ist so grauenvoll, daß nur wenige Patienten den Gedanken an eine zweite Dosis ertragen können.» Er lächelte leise. «Ich würde singen wie ein Vöglein, John, und der Mann aus Kreta auch.» In einiger Entfernung sahen sie das Tragflügelboot auf der Fahrt nach Spetsae. Mikali sagte: «Und was würden Sie vorschlagen?» «Zeit, nach Hause zu gehen, alter Freund!» -216­

«Nach Hause zu Mütterchen Rußland?» Mikali lachte laut auf. «Für Sie mag es ein Zuhause sein, Kamerad, aber mir bedeutet es gar nichts. Und was wäre in diesem Fall mit Ihnen? Sie sind schon viel zu lange weggewesen. Man gibt Ihnen eine VIP-Karte, mit der Sie in der Sonderabteilung des GUM einkaufen können, aber Gucci ist das wohl kaum. Und wenn Sie auf dem Roten Platz in der Schlange stehen, um einen Blick auf Lenin in seinem Mausoleum zu werfen, dann werden Sie an Paris denken und an die Champs-Élysées und den Geruch feuchter Platanen nach einem Regenschauer. » «Sehr poetisch, aber es ändert nichts an den Tatsachen. Meine alte Großmutter litt an Rheuma und konnte einen Regen schon vierundzwanzig Stunden vorhersagen. Und ich kann mit gleicher Sicherheit riechen, wenn dicke Luft ins Haus steht. Zeit, sich aus dem Staub zu machen, glauben Sie mir.» «Für Sie vielleicht», sagte Mikali starrköpfig. «Nicht für mich.» «Aber was wollen Sie denn tun?» Deville war aufrichtig verwirrt. «Ich verstehe Sie nicht.» «Mein Leben weiterführen, Tag um Tag, wie bisher.» «Und wenn dann der Tag X da ist, an dem sie kommen, um Sie abzuholen?» Mikali trug einen lose sitzenden Kaschmirpullover. Darunter verbarg sich ein Schnellzieh-Halfter, das im Kreuz an seinem Gürtel befestigt war. Seine rechte Hand hielt plötzlich eine Walther. «Erinnern Sie sich an meine Ceska? Das war meine Londoner Waffe. Dies ist das Modell Hydra. Wie ich Ihnen bereits sagte, ich bin immer gerüstet.» In diesem Augenblick begann das Telefon zu klingeln. Er entschuldigte sich und ging ins Haus. Deville setzte sich auf die Balustrade, blickte hinüber nach Dokos und genoß seinen Cognac. Mikali hatte natürlich recht. Paris war die einzige Stadt, -217­

allenfalls noch London an einem schönen Tag. Moskau bedeutete ihm nichts mehr. Er dachte an den russischen Winter und schauderte unwillkürlich. Und er hatte dort keinen Menschen – keinen, der ihm nahestand. Ein paar Vettern. Sonst keine Verwandten. Aber blieb ihm eine Wahl? Mikali kam lachend wieder auf die Terrasse, in der einen Hand hielt er ein Glas, in der anderen eine Flasche Cognac Napoleon. «Das Leben ist doch eine tolle Sache.» Sein Gesicht loderte vor Erregung. «Das war Bruno – Bruno Fischer, mein Agent. André Previn hat ihn gerade angerufen. Kommenden Samstag ist das letzte der Promenaden-Konzerte. Mary Schroeder sollte John Irelands Klavierkonzert spielen. Jetzt hat sie sich beim Tennis das Handgelenk gebrochen, das dumme Ding.» «Und jetzt sollen Sie an ihrer Stelle spielen?» «Previn ist bereit, das Programm zu ändern. Ich könnte Rachmaninows Viertes spielen. Wir haben es schon einmal zusammen gemacht, also wären nicht viele Proben nötig. Mal sehen. Heute ist Donnerstag. Wenn ich das Nachtflugzeug erwische, bin ich morgen früh in London. Dann bleiben noch zwei Tage Zeit zum Proben.» Deville hatte ihn nie so lebhaft gesehen. «Nein, John», sagte er. «Jetzt nach London gehen, wäre das Schlimmste, was Sie tun könnten. Ich spüre es in allen Knochen.» «Die Promenaden-Konzerte, Jean Paul», sagte Mikali. «Die bedeutendste Konzertreihe im europäischen Musikleben. Ach was, in der ganzen Welt. Wissen Sie, was sich da am letzten Abend tut?» «Nein, ich war nie dort.» «Dann haben Sie eines der ganz großen Erlebnisse versäumt, die sich einem Menschen bieten können. Vollgepackt vom Parkett bis zur Galerie, und auf dem freien Platz vor dem Podium stehen die jungen Leute, die drei Tage lang um Karten -218­

angestanden haben, dicht an dicht. Können Sie sich vorstellen, wie man sich fühlt, wenn man aufgefordert wird, an einem solchen Abend zu spielen?» «Ja», nickte Deville langsam. «Ich kann es mir vorstellen.» «O nein, das können Sie nicht, Kamerad», sagte Mikali. «Das können Sie bestimmt nicht.» Er leerte das Cognacglas in einem raschen Zug und schleuderte es über die Brüstung. Es blitzte in der Sonne wie ein Flammenbogen und zerschellte dann unten auf den Felsen. Als Katherine Riley erwachte, blieb sie noch eine Weile liegen und versuchte sich zu erinnern, wo sie war. Sie war allein. Als sie auf die Uhr sah, war es halb drei Uhr nachmittags. Sie stand auf, zog rasch ihre Jeans und eine einfache weiße Bluse an, schlüpfte in ein Paar Sandalen und machte sich auf die Suche nach Mikali. Im Wohnraum war niemand, aber sie hörte Stimmen auf der Terrasse, ging hinaus und fand ihn dort zusammen mit Deville. Er ging ihr entgegen, legte den Arm um ihre Taille und küßte sie auf die Wange. «Geht’s besser?» «Ich glaube schon.» «Jean Paul, dies ist das Licht meines Lebens, Frau Doktor Katherine Riley. Überlegen Sie sich jedes Wort, ich warne Sie. Doktor Riley ist Psychologin und wird Ihnen das letzte herausanalysieren.» «Sehr angenehm, Frau Doktor.» Er küßte ihr galant die Hand. Mikali konnte sich nicht länger beherrschen. Er nahm ihre beiden Hände. «Soeben hat Bruno angerufen. Previn möchte, daß ich anstelle von Mary Schroeder spiele. Das RachmaninowKonzert.» Es konnte nur eines von Rachmaninows Klavierkonzerten sein, dasjenige, das er zu seinem eigenen gemacht hatte – das Vierte – und sie wußte es. -219­

«Wann?» sagte sie. «Samstag – der letzte Abend der Promenaden-Konzerte.» «Das ist ja phantastisch!» In einer Geste spontaner Begeisterung warf sie ihm die Arme um den Hals. «Aber, Samstag – das ist ja schon übermorgen.» «Ich weiß. Es bedeutet, daß ich noch heute abend von Athen abfliegen muß, damit genügend Zeit zum Proben bleibt. Macht es dir etwas aus? Schließlich bist du gerade erst angekommen.» «Überhaupt nichts.» Sie blickte den Franzosen an. «Und Sie, Monsieur Deville? Kommen Sie auch mit?» Mikali sagte: «Nein, Jean Paul muß nach Paris zurück. Er ist nur gekommen, um mir ein paar Papiere zur Unterschrift vorzulegen. Er ist Syndikus eines Fonds, der von Industriellen in Paris und London gegründet wurde, um besonders talentierten jungen Musikern zu helfen. Der Fonds hat ein großes Landhaus in der Nähe von Paris gekauft. Wenn der Umbau fertig ist, wollen wir dort Meisterklassen einführen.» «Wir?» sagte sie. «Ich habe mich ehrenamtlich zur Verfügung gestellt. Ich hoffe, daß andere bekannte Musiker es mir gleichtun werden.» Alle ihre früheren Befürchtungen erschienen ihr jetzt wie ein alberner Traum. Sie legte den Arm um seine Taille. «Ich finde das eine großartige Idee.» «Fein. Aber jetzt wollen wir auch etwas essen.» Sie schüttelte den Kopf. «Ich brauche frische Luft. Ich glaube, ich mach jetzt gleich einen Spaziergang, wenn es dir recht ist.» «Natürlich, ganz wie du willst.» Wieder küßte er sie. «Dann bis später.» Mikali stand auf der kleinen Veranda des hinteren Fensters und sah ihr nach, wie sie durch den Garten hinunterging. «Glänzend», sagte Deville. «Eine Glanzleistung. Beinahe hätte sogar ich Ihnen geglaubt. Wie machen Sie das nur?» -220­

«Ach, das lernt sich», sagte Mikali. «Im Lauf der Jahre lernt man alles, finden Sie nicht? Das Lügen, das Betrügen. Üben – unermüdlich üben, das ist das Geheimnis.» Er lächelte. «Und wie wär’s jetzt mit einem Drink?» Die Behausung von Georgios und Maria Ghika lag in einer kleinen Mulde über dem von Pinien gesäumten Bergsattel. Auf einer Seite fiel eine wilde, schöne Schlucht steil ab, noch von alten Zeiten her terrassenförmig gestuft, und überall standen Olivenbäume. Das Haus war ebenerdig, hatte ein rotes Ziegeldach und weißgetünchte Mauern. Es enthielt eine Wohnküche und zwei Schlafräume. Die Fußböden waren mit Steinplatten belegt, die Wände grob verputzt, aber trotz der Sommerhitze war es drinnen schön kühl und dunkel. Als Morgan ins Freie trat, fand er die beiden Alten auf einer Bank in der Sonne sitzen. Maria nahm Fische aus, Georgios sah ihr zu und rauchte seine Pfeife. «Sie hätten nicht aufstehen dürfen», sagte sie mit mildem Vorwurf in der Stimme. Morgans Oberkörper war nackt, die rechte Schulter und der linke Arm waren mit sauberen Leinwandstreifen kunstgerecht verbunden. Er fühlte sich alt – so müde und verbraucht wie seit Jahren nicht. «Hinsetzen», sagte Georgios und klopfte neben sich auf die Bank. «Wie geht’s?» «Nächsten Monat werde ich fünfzig», sagte Morgan. «Und zum erstenmal fühle ich es.» Maria lachte laut. «Der Alte da kann Ihnen fünfundzwanzig Jahre abgeben, und dabei versucht er noch immer jeden Samstag, mich ins Bett zu kriegen.» Georgios bot ihm eine griechische Zigarette an und gab ihm Feuer. «Gestern nacht sagten Sie etwas Interessantes. Sie -221­

erwähnten Mikali. Hat der Sie vielleicht so zugerichtet?» «Ist er mit Ihnen befreundet?» fragte Morgan. Der Alte spuckte aus und stand auf. «Moment.» Er ging ins Haus und kam mit einem Zeiss-Feldstecher zurück. «Wo zum Teufel haben Sie das Glas her?» fragte Morgan. «Einem Nazi-Soldaten abgenommen, als ich während des Krieges auf Kreta bei der EOKA war. Kommen Sie, ich zeige Ihnen was.» Er ging ein Stück durch den Pinienwald, und Morgan folgte ihm. Der Alte blieb stehen und deutete mit dem Finger. «Da!» Drunten rauschte der Wildbach durch den Wald bis zur Bucht, über der Mikalis Villa stand. Georgios stellte den Feldstecher ein und reichte ihn Morgan. «Sehen Sie – bis ganz hinunter. Die Terrassen – jeder Stein von einem Maulesel herangeschleppt. Mit dem Schweiß meiner eigenen Vorfahren angelegt. Alles von Mikali gestohlen.» Durch das Glas konnte Morgan die Konturen der alten Terrassen deutlich erkennen. Trotz der Olivenbäume war der Boden von Unkraut überwuchert und offensichtlich nicht bestellt. Morgan sah den alten Georgios an. «John Mikali?» «Sein Urgroßvater. Aber das ändert nichts. Ein Mikali ist ein Mikali. Einmal waren wir vom Ghika-Clan wohlhabende Leute. Genossen Ansehen. Aber jetzt …» Wieder hob Morgan den Feldstecher vor die Augen, und der Garten unterhalb der Villa kam in Sicht, Kate Riley, die den Pfad zur Mole hinunterging, und der junge Nicky, der dort angelte. «Mein Gott!» sagte Morgan. Der Alte nahm ihm den Feldstecher aus der Hand und blickte selber hinein. «A ja, ich habe sie schon früher hier gesehen. Die amerikanische Dame.» -222­

«Schon früher?» fragte Morgan. «O ja. Kennen Sie sie?» «Auf den ersten Blick habe ich’s geglaubt», sagte Morgan heiser. «Jetzt bin ich nicht mehr so sicher.» Und ehe Georgios ihn zurückhalten konnte, hatte er sich abgewendet und stolperte zwischen den Pinien hindurch den Hang hinunter. Es war sehr heiß, als Kate über die Terrassen zum Garten ging. Als sie am Bauernhaus vorbeikam, bellte der kleine schwarze Hund sie an. Die alte Anna winkte aus der Küche, und dann kam sie zu den breiten Betonstufen und sah Nicky dort stehen und angeln. Das Wasser war kristallklar, das Motorboot spiegelte sich in ganzer Größe darin. Nicky drehte sich lächelnd zu ihr um, und sie fuhr ihm mit den Fingern durchs Haar. «Yassou!» begrüßte sie ihn mit einem der wenigen griechischen Wörter, die sie kannte. Er zog die Angelschnur ein und lächelte vor Eifer. Er war schon zwölf, hatte also die Schule hinter sich. Seine Mutter war verwitwet und arbeitete in einem Hotel in Athen, und er wohnte zur Zeit bei Konstantin und Anna, half ihnen das Boot fahren und lernte fischen. Er hatte Kate besonders ins Herz geschlossen. Wenn sie auf der Insel war, folgte er ihr auf Schritt und Tritt. Er zog ein fettiges Papier aus der Tasche seiner Jeans und bot ihr ein Stück türkisches Konfekt aus der Küche seiner Großmutter an. Es war so süß, daß ihr vermutlich übel werden würde, aber eine Ablehnung hätte ihn gekränkt. Sie nahm sich das kleinste Stück, schob es in den Mund und würgte es hinunter, so schnell sie konnte. Sie setzte sich auf eine der Betonstufen. Nicky kauerte sich neben sie und holte mehrere Polaroidfotos aus der Hemdtasche. «Ah, du machst noch immer diese Bilder, wie?» sagte sie. -223­

Er reichte sie ihr Stück für Stück. Eines zeigte den alten Konstantin, das nächste seine Großmutter, dann kam Mikali auf der Terrasse. Schließlich sie selber, wie sie im Heck des Bootes saß. «Gut?» sagte er. «Sehr gut.» Dann reichte er ihr das Foto, das er am vergangenen Abend von Asa Morgan in der Kajüte aufgenommen hatte. Sie saß da und starrte auf das Bild, und es dauerte ein paar Sekunden, bis sie zu fassen vermochte, was sie vor sich hatte. «Wo hast du das aufgenommen?» flüsterte sie. Und dann wandte sie sich ihm zu und packte ihn beim Arm. «Wann?» fragte sie. «Wann war er hier?» Der Junge blickte sie verständnislos an, und sie wies auf das Boot und dann auf das Foto. «Wann?» Sein Gesicht erhellte sic h. «Gestern abend. Von Hydra.» Er drehte sich um und deutete hinauf zur Villa. «Zum Haus.» «Aber das ist nicht möglich. Es ist nicht möglich.» Ihre Finger gruben sich in seinen Arm. «Wo ist er?» Wieder schwenkte sie das Foto vor seinem Gesicht. «Wo ist er?» «Fort», sagte der Junge. «Fort.» Er hatte es jetzt ein bißchen mit der Angst bekommen, rückte ein Stück von ihr ab und sammelte seine Fotos wieder ein. Als er ihr Morgans Bild aus der Hand nehmen wollte, reagierte sie in instinktivem Zorn und stieß den Jungen heftig von sich. Dann sprang sie auf und lief die Stufen hinunter, rannte den schmalen Strandstreifen entlang. Das Foto hielt sie noch immer fest in der Hand. Auf der anderen Seite der Bucht führte ein Fußsteig steil durch die Pinienwälder bergan. Sie folgte ihm, ohne eine Ahnung zu haben, wohin sie ging. Sie wußte nur eins: Mikali hatte sie belogen.

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Der Steig war steil und steinig, nur für Maulesel geeignet und keineswegs für Kates leichte Sandalen. Aber sie klomm blindlings weiter. Schließlich war sie auf dem Grat angelangt und sah ein kleines Plateau vor sich. Erschöpft sank sie auf einen gefällten Baumstamm. Noch immer umklammerte sie das Polaroidfoto Morgans. Eine Weile starrte sie mit leerem Blick darauf, dann vergrub sie das Gesicht in den Händen. Etwas bewegte sich in ihrer Nähe. Sie blickte auf und sah Morgan unter den Bäumen hervortreten. Sekundenlang glaubte sie tatsächlich, verrückt zu werden. «Asa?» sagte sie. «Sie sind es doch, wie?» Er stürzte auf sie zu, warf sie rücklings über den Baumstamm und umklammerte ihren Hals. «Du Luder!» sagte er. «Du verdammte, verlogene Hure!» Sie fühlte, wie ihr Atem stockte, aber sie vermochte nichts gegen Morgans Kraft; und dann sah sie, wie Georgios Ghika sich über sie beugte. Er packte Morgan bei den Haaren und riß seinen Kopf so jäh zurück, daß Morgan vor Schmerz aufschrie, Kates Hals losließ und zu Boden fiel. Blut begann durch den Verband an seinem Arm zu sickern. Er blieb einfach liegen und sah Kate an. «Sie wußten es die ganze Zeit. Sie haben ihn gewarnt, nicht wahr? Deshalb hat er mich gestern abend schon erwartet.» «Was ist passiert?» fragte sie benommen. «Ach, nichts. Er hat mir nur eine Kugel verpaßt, und ich bin über die Klippen ins Meer gefallen. Wäre jetzt schon Fischfutter, wenn dieser Alte und seine Frau mich nicht rausgezogen hätten.» «Er ist also wirklich der Mann aus Kreta. Sie hatten recht.» «Wollen Sie mir weismachen, Sie hätten es nicht gewußt?» Sie setzte sich wieder auf den Baumstamm, hob das -225­

zerknitterte Foto auf und gab es ihm. «Sehe n Sie sich das an, und lassen Sie sich alles über mich und John Mikali erzählen.» Der alte Georgios war verschwunden. Er hatte kehrtgemacht und sich entfernt, als sie zu sprechen anfing. Als sie fertig war, blieb Morgan noch lange schweigend sitzen, und sie sah, daß auf seiner Stirn Schweiß perlte. «Glauben Sie mir?» Er stand vom Boden auf, setzte sich neben sie und legte ihr den Arm um die Schultern. «Ein Paar verdammte Narren, wir zwei, anders kann man’s nicht nennen.» «O Asa, ich mag Sie.» Sie lehnte den Kopf an seine Schulter, und sein heiler Arm schloß sich fester um sie. «Ja, ja, wir Waliser sind schöne Männer, nur daß ich ungefähr zwanzig Jahre zu spät dran bin, also keinen Unsinn jetzt. Gehen wir lieber ein paar Dinge nochmals durch. Deville, sagten Sie? Jean Paul Deville?» «Ja, so heißt er.» «Wetten, daß er nicht bloß das ist, wofür er sich ausgibt.» Er zitterte leicht, seine Augen blickten wild, sein Gesicht war schweißüberströmt. «Was wollen Sie jetzt tun?» fragte sie. «Ich weiß es noch nicht. Normalerweise würde ich am liebsten gleich hinuntergehen und mit ihm abrechnen, nur, so wie ich beisammen bin, könnte ich umfallen, wenn ich bloß zu tief einatme. Wenigstens wissen wir, wo sich der Hund am Samstag abend aufhält. Auf dem Podium in der Albert Hall.» Er hatte jetzt starke Schmerzen, das sah sie ihm an. Sie sagte: «Sie gehören ins Bett, Asa.» «Sie sagen, er setzt heute abend nach Athen über und fliegt noch in der Nacht nach London?» -226­

«Ja, das stimmt.» «Und Sie fliegen natürlich mit.» Sie saß da, hatte die Hände im Schoß gefaltet und sah ihn ausdruckslos an. «Um sein Bett zu teilen, Asa, als wäre nichts geschehen? Ihn für Sie warmzuhalten, bis Sie kommen?» Sie stand auf, ihr Gesicht war noch immer unnatürlich ruhig. «Vermutlich sollte ich Sie bedauern, aber das tue ich nicht. Sie sind genauso besessen wie er. Ein würdiges Paar.» Sie ging weg. Als er versuchte, aufzustehen, mußte er feststellen, daß seine Beine ihm den Dienst versagten. Er rief ihr heiser nach: «Kate, um Gottes willen.» «Was in aller Welt sollte Gott damit zu schaffen haben?» sagte sie, ohne sich umzudrehen, und verschwand im Wald. Er hörte hinter sich Hufe klappern, und Georgios erschien mit dem Maulesel. Maria kam hinterher. Die alte Frau war sehr erzürnt. Sie legte Morgan die Hand auf die Stirn. «Dummkopf, du hast schon Fieber. Willst du dir den Tod holen?» Aber er hatte nichts zu erwidern – gar nichts, denn es war, als befände er sich unter Wasser, alles geschah im Zeitlupentempo. Mit vereinten Kräften hoben Maria und Georgios ihn in den Sattel, dann ging es zurück ins Haus. Als er wieder in dem Bett lag, das sie ihm abgetreten hatten, bekam er Schüttelfrost. Georgios häufte Decken auf ihn, und Maria ging in die Küche und kam mit einer Tasse zurück. «Trink, Junge», befahl sie. Es schmeckte scheußlich, und Morgan würgte, brachte es aber schließlich hinunter. Er dachte an Katherine Riley. «Ein großer Jammer ist das, Mam», sagte er auf Walisisch. «Nettes Mädel. Aber du weißt ja, wie es ist, wie?» Und dann versank er in Finsternis.

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Mikali und Deville standen am Ende der rückwärtigen Terrasse und unterhielten sich, als sie hereinkam. Sie beobachtete die beiden eine Weile durch ein Fenster des Wohnraums, dann ging sie zur Anrichte und goß sich ein großes Glas Gin und Tonic ein. Hinter ihr entstand eine leichte Bewegung, und Mikali legte ihr die Arme um die Taille. «Ein bißchen früh für dich, wie?» «Ich bin müde», sagte sie. «Weiter nichts.» Er küßte ihren Nacken, drehte sie herum, und sie sah Besorgnis in seinen Zügen. «Ich sage es nicht gern, mein Engel, aber du siehst gräßlich aus.» «Ich weiß», antwortete sie. «Ich habe in letzter Zeit wie ein Hund geschuftet, und dann die Flugreise und die letzte Nacht in Athen.» Sie hielt inne, und was sie dann sagte, entschlüpfte ihr wider Willen und konnte nicht wieder zurückgenommen werden. «Ich habe es mir überlegt. Würde es dir sehr viel ausmachen, wenn ich lieber noch ein paar Tage hierbliebe?» Er zögerte nur kurz, dann lächelte er. «Warum nicht? Die Ruhe würde dir guttun. Aber am Samstag will ich dich unbedingt in London sehen. Ich lasse dir einen Platz in einer Loge reservieren, so nahe am Podium, wie es irgend geht. Ich brauche dich, mein Engel. Ein gemeinsames Erlebnis. Eine gemeinsame Erinnerung.» Er preßte sie an sich und küßte sie. Erstaunlich, wie einfach es auch jetzt noch war, er war noch immer der gleiche Mann, der Mann, dem sie sich so viele Male hingegeben hatte. Der Don Juan aus Kreta. Der einzige Unterschied bestand darin, daß sie es jetzt wußte. «Wenn du mir nicht böse bist, dann möchte ich mich ein wenig hinlegen. Ich habe rasende Kopfschmerzen.» «Ja, tu das.» Sie ging hinaus, und Deville trat durch die Fenstertür in den -228­

Wohnraum. «Ich glaube, Sie sollten sie töten.» «Warum?» sagte Mikali ruhig. «Sie weiß nichts.» «Lieben Sie sie?» «Ich weiß nicht, was dieses Wort bedeutet. Ich habe sie gern – ja. Ihre Gegenwart, ihre Gesellschaft. Sie ist mir in dieser Hinsicht angenehmer als jede Frau, die ich jemals gekannt habe.» «Sie trägt die Saat des Zweifels schon im Herzen. Wer weiß, wann sie aufgehen wird?» «Eine ausnehmend blumige Wendung, sogar aus Ihrem Mund.» Er setzte sich an den Flügel, und wie aus eigenem Antrieb bewegten seine Finger sich über die Tasten und spielten Le Pastoir.

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Morgan marschierte wieder übers Gebirge, auf dem Heimweg von der Kohlengrube, er rannte fast, um dem Gewitter zu entrinnen, das in schwarzen, amboßförmigen Wolken am Horizont drohte. Der Regen kam, ein Guß von solcher Heftigkeit, daß Morgan im Handumdrehen bis auf die Haut durchnäßt war. Und die Kälte schien bis in sein Gehirn zu dringen, so daß er vor Schmerzen laut schrie, als er den Hang zum Dorf hinunterlief. Sie stand bereits unter der geöffneten Tür der Hütte, als er den Pfad dahergestolpert kam. Um den Kopf trug sie einen schwarzen Wollschal, so daß er ihr Gesicht nicht sehen konnte. Ihre Arme schlossen sich um ihn und zogen ihn ins Warme. «Mam», sagte er. «Mir ist so kalt. So verdammt kalt.» Dann lag er auf dem Rücken, hatte ein Kissen unter dem Kopf, und erst als sie sich über ihn beugte und der Schal von ihrem Kopf glitt, sah er, daß die Frau, die auf ihn hinabblickte, Katherine Riley war. «Alles ist gut, Asa. Ich bin da. Schlaf jetzt.» «Ja, Mam», sagte er, schloß die Augen und gehorchte. Als Morgan aus einem traumlosen Schlaf erwachte, starrte er lange hinauf zur Zimmerdecke, die aus Schilfgeflecht und Mörtel bestand. Jetzt war er wieder er selber, seine Haut war kühl, und nur der dumpfe beharrliche Schmerz in Arm und Schulter erinnerten an das, was er erlebt hatte. Es war heller Tag, die Sonne strömte durchs Fenster herein. Er konnte ganz in der Nähe Gesang hören, hörte eine Axt dumpf und rhythmisch in Holz schlagen, warf die Decken zurück und stand auf. Das Gefühl des Schwebens war verschwunden. Nur noch der Schmerz war da, und das war gut. -230­

Er würde seine Erbitterung wachhalten. Georgios spaltete Klötze zu Feuerholz, Maria saß auf der Bank in der Sonne und nähte einen Riß in Morgans salzfleckiger Jacke. Neben ihr auf der Bank lag seine Brieftasche, sein Paß und ein Packen Drachmenscheine zum Trocknen. Maria hob die Hand und berührte seine Stirn. «So – kein Fieber mehr?» Sie rief hinüber zu Georgios: «Siehst du, alter Narr, wer kann’s jetzt besser, der Doktor oder ich?» Georgios lehnte sich auf seine Axt. «Sie ist eine Hexe», sagte er. «Wie seit jeher alle Weiber in ihrem Clan. Das ist bekannt.» «Es geht also besser?» «Viel besser.» «Gut. Du hast viele Stunden geschlafen. Hast den Trank, den ich dir gegeben habe, bitter nötig gehabt.» «Sind sie abgereist?» «Alle miteinander!» «Und die Frau?» Der alte Mann deutete mit dem Finger. «Da, sie kommt gerade.» Sie trat zwischen den Bäumen hervor in die Lichtung unterhalb des Hauses und folgte dem Pfad, der sich im Zickzack zwischen den alten überwucherten Terrassen hinzog. Sie trug eine Sonnenbrille, ein T-Shirt und einen alten Baumwollrock. Über ihrer Schulter hing eine Tasche. «Sie sorgt sich um dich, die Frau, glaube ich», sagte der alte Mann auf Griechisch zu Morgan. «Viele Stunden ist sie an deinem Bett gesessen.» Morgan ließ sich vorsichtig auf einen Holzklotz nieder, ohne die Augen von der herannahenden Gestalt zu wenden, und der alte Mann legte ein Päckchen griechische Zigaretten und ein paar Streichhölzer neben ihn. -231­

«Ich sag Maria, daß sie Kaffee machen soll», sagte er, und ging weg. Fünf Minuten später war sie da und fand ihn rauchend auf dem Holzklotz sitzen. Eine Weile blieb sie vor ihm stehen und sah ihn an. Mit der Sonnenbrille wirkte sie seltsam anonym. «Sie weilen also wieder unter uns Lebenden?» «Sieht so aus.» Sie setzte sich vor ihm ins Gras, lehnte den Rücken an einen Baum und stellte die Schultertasche ab. «Was haben Sie da drin?» fragte er. «Belegte Brote und eine Flasche Wein. Konstantin glaubt, ich wandere wieder einmal in den Bergen herum.» «Und die alte Frau und der Junge?» «Oh, sie sind in Hyd ra im Stadthaus der Mikalis. Um diese Jahreszeit dürfen es manchmal die Touristen besichtigen. Es ist eine Art Museum. Vollgestopft mit Erinnerungsstücken an die Türkenkriege.» Das unverbindliche Gespräch vermochte die Verlegenheit zwischen ihnen nicht zu überbrücken. Er sagte: «Warum sind Sie hiergeblieben?» «Ich konnte nicht anders», entgegnete sie und nahm die Sonnenbrille ab. Ihr Gesicht war sehr bleich, die Augen blickten gequält. «Ich sagte ihm, daß ich müde sei. Fragte, ob ich noch ein paar Tage hierbleiben könne.» «Und er war einverstanden?» «Unter der Bedingung, daß ich pünktlich auf meinem Platz in der Albert Hall erscheinen würde.» «Verstehe. Er ist also gestern mit der letzten Maschine abgeflogen? Und Deville mit ihm –» «Gestern?» Sie schüttelte leicht den Kopf. «Irgendwo ist Ihnen ein Tag abhanden gekommen, Asa. Heute ist Samstag – -232­

Samstag vormittag. Sie sind vorgestern abend abgeflogen.» Er starrte sie an, wie vom Donner gerührt, vermochte nicht zu fassen, was sie da gesagt hatte. «Wollen Sie behaupten, ich hätte die letzten dreißig Stunden durchgeschlafen?» «So ungefähr. Sie haben sich zwar dauernd herumgewälzt und waren sehr unruhig, aber Maria hat genau gewußt, was sie tat. Diese Kräuter, die sie Ihnen verabreicht hat, wirkten Wunder.» «Aber das bedeutet, daß das Konzert schon heute abend stattfindet.» Er sprang auf und stand mit geballten Fäusten da. «Begreifen Sie denn nicht! Dieser Hund könnte morgen schon wieder über alle Berge sein.» «Er hat mich gestern abend angerufen», sagte sie. «Mir mitgeteilt, daß er zusammen mit Previn in der Albert Hall sei und dort auch praktisch den ganzen heutigen Tag verbringe. Proben für das Konzert. Die Sache ist doch ganz einfach. Sie brauchen bloß Baker anzurufen.» Langes Schweigen. Dann sagte Morgan: «Ja, das könnte ich tun.» «Aber Sie werden es nicht tun, wie?» Er setzte sich wieder auf den Holzklotz und zündete sich eine Zigarette an. «Ich muß Ihnen erst einiges erklären. Es gibt eine Unterabteilung von MI 5 namens Gruppe Vier, die direkt dem Premierminister untersteht und die Maßnahmen gegen Terrorismus, Subversion und dergleichen zu koordinieren hat. Die Gruppe wird von einem Mann namens Ferguson geleitet. Baker arbeitet für ihn. Wir kennen uns schon lange, Ferguson und ich. Eine Marke für sich. Würde es Sie überraschen, wenn ich Ihnen sagte, daß er mich in dieser Angelegenheit von Anfang an ermutigt hat? Mich als seinen verlängerten Arm vorgeschoben. Hofft, ich könnte Erfolg haben, wo sie gescheitert sind, weil ich eine Waffe besitze, die ihnen fehlt – meinen Haß!» -233­

«Darin hatte er sicherlich recht.» «Ja, nur daß ich jetzt, nachdem ich ihn aufgestöbert habe, Mikali für mich allein will.» «Aug um Auge. Können Sie es nur so ansehen? Blut für Blut?» «Und warum nicht? Wenn ich ihn in Griechenland anklage, werde ich nur ausgelacht. Er ist ein Nationalheld. Lasse ich zu, daß er in England festgenommen wird, dann geben sie ihm fünfzehn Jahre für den Anschlag auf Cohen und auch das nur, wenn sie es ihm nachweisen können. Alle seine anderen Mordtaten hat er anderswo verübt, vergessen Sie das nicht. Die Deutschen – die Franzosen. Sie alle müssen warten, bis sie an der Reihe sind.» «Weiter.» «Nach einiger Zeit werden eines schönen Tages der Schwarze September oder die Roten Brigaden eine Maschine von British Airways kidnappen. Als Preis für die unversehrte Freilassung der Passagiere und der Besatzung verlangen sie dann, daß Mikali aus dem Gefängnis kommt und nach Libyen oder Kuba oder in ein ähnliches Land ausreisen darf.» «Aber Sie wollen ihn tot sehen?» «Sobald ich wieder auf dem Damm bin.» «Ich könnte mich selber mit Baker in Verbindung setzen.» Er schüttelte den Kopf. «Das werden Sie nicht tun.» «Warum nicht?» «Weil Sie mir einiges schuldig sind, Mädchen.» Er berührte seinen Arm, dann die Schulter und zuckte zusammen. «Ich sollte eigentlich tot sein. Daß ich es nicht bin, ist nicht Ihr Verdienst. Und kommen Sie mir nicht mit Jago. Das war etwas anderes, und Sie wissen es genau.» Sie sprang auf. «All right, Asa. Dann gehen Sie auf Ihre Weise zum Teufel.» -234­

«Und Sie?» «Ich fliege heute nach London zurück. Und von dort direkt nach Cambridge. Ich habe genug. Sie und John Mikali, Asa. Ihr seid einander würdig.» «Und Sie werden Baker nicht anrufen?» «Nein», sagte sie. «Tut mir bloß den Gefallen und spielt eure verdammten kleine n Mörderspiele so weit wie möglich von mir entfernt.» Sie ging mit schnellen Schritten davon. Morgan stand auf und sah ihr nach, dann machte er kehrt und ging zum Haus zurück. Der alte Georgios, der noch immer an der Arbeit war, hielt mit dem Holzspalten inne. «Ist sie gegangen?» «Ja. Wann fährt das nächste Tragflügelboot nach Piräus?» «Halb elf. Mit meinem Boot erwischen wir es auf keinen Fall mehr.» «Und das nächste?» «Halb ein Uhr mittags.» «Bringen Sie mich rüber?» «Wenn Sie unbedingt wollen.» Morgan ging zum Haus, wo Maria noch immer an seiner Jacke nähte. «Mein Hemd?» «Trocknet auf der Leine in der Sonne. Ich habe es dir gewaschen.» Die Augen aus dem lederartigen alten Gesicht blinzelten zu ihm auf. «Aber das da kann nicht einmal eine Hexe mehr in Ordnung bringen.» Sie gab ihm seinen Paß. Das vom Meerwasser völlig aufgeweichte Papier hatte sich in der Sonnenhitze geworfen und verzogen. Als er den Paß aufschlagen wollte, löste er sich unter seinen Händen auf. -235­

«Herrgott!» sagte er auf Walisisch. «Das hat mir gerade noch gefehlt.» «Ist das schlimm, Junge?» fragte Maria. «Könnte sehr schlimm sein, Mutter. Könnte alles ändern. Muß sehen, was sich machen läßt.» In der Villa hatte Katherine Riley gerade fertig gepackt, als das Telefon klingelte. Als sie den Hörer aufnahm, klang ihr Mikalis Stimme ins Ohr. «Wie, du bist immer noch dort? Du müßtest jetzt schon in London sein.» «Kein Problem», sagte sie. «Ich bin startbereit. Konstantin bringt mich mit dem Rennboot nach Hydra. Dort kriege ich das Halb-elf-Uhr-Tragflügelboot nach Piräus. Mit ein bißchen Glück werde ich die Maschine um halb zwei, unserer Zeit, schon erwischen.» Erstaunlich, wie ruhig sie sich fühlte. «Wie kommst du voran?» «Phantastisch.» Seine Begeisterung war überschwenglich. «Previn ist ein Genie – der beste Dirigent, mit dem ich je zusammengearbeitet habe, aber wir werden noch so ziemlich den ganzen Tag brauchen, bis alles sitzt, mein Engel. Also mach dir keine Gedanken, wenn ich bei deiner Ankunft nicht da sein sollte. Du hast ja den Schlüssel. Versprich mir nur, daß du heute abend ganz bestimmt in der Loge sein wirst.» Er legte auf. Sie blieb noch eine Weile stehen, den Hörer in der Hand, dann legte sie ihn auf die Gabel. Als sie sich umdrehte, stand Konstantin unter der Tür und beobachtete sie. In seinem Gesicht, in den dunklen Augen lag ein Ausdruck, als könne er geradewegs durch sie hindurchsehen. Als wisse er alles. Aber das war Unsinn. Sie wies auf ihre beiden Koffer und nahm ihren Regenmantel über den Arm. «All right», sagte sie. «Ich bin so weit», und ging vor ihm durch die Tür. -236­

Deville hatte sich vor dem Regen unter einem Baum am Rand des Hyde Park, dicht an der Park Lane, untergestellt und beobachtete Mikali, der in schnellem Tempo aus der Richtung der Serpentine gelaufen kam. Er trug einen schwarzen Trainingsanzug mit je einem scharlachroten Seitenstreifen an jedem Hosenbein. Kurz vor Deville machte er halt, stemmte die Hände in die Hüften und atmete mühelos. Deville sagte: «Sie stecken nie auf, wie?» «Macht der Gewohnheit», erwiderte Mikali. Er nahm gleichen Schritt mit Deville auf, und sie gingen gemeinsam den Weg entlang. «Also konnten Sie schließlich doch nicht widerstehen? Gut, daß ich noch einen zweiten Platz in Katherines Loge reservieren ließ.» «Ist sie hier?» fragte Deville. «Unterwegs. Ich habe sie heute früh auf Hydra angerufen. Sie wollte gerade aufbrechen.» «Aha.» Deville nickte und ging ruhig weiter. «Also, nur damit wir uns recht verstehen. Ich bin nicht gekommen, um mir Ihr Konzert anzuhören, John. Ich bin gekommen, um Sie zu holen.» Mikali blieb stehen, wandte sich ihm zu, und seine Hand glitt um den Griff der Ceska im Halfter, das er unter dem Trainingsanzug trug. Deville hob abwehrend die Hand. «Nein, mein lieber, lieber Freund, sie mißverstehen mich.» Er zog einen Umschlag aus der Tasche. «Tickets für uns beide. Die Nachtmaschine nach Paris, Abflug in Heathrow elf Uhr fünfzehn. Reichlich Zeit für Ihren Auftritt in der Albert Hall. Soviel ich weiß, wird am letzten Abend das Rachmaninow-Konzert ohnehin schon vor der Pause gespielt.» «Und danach?» «Wir kommen rechtzeitig in Paris an, um in eine AeroflotMaschine nach Moskau umzusteigen. Alles arrangiert. Heute -237­

stand im Paris Soir eine Notiz, wonach Sie planen, am Moskauer Konservatorium in der Meisterklasse zu unterrichten.» Mikali stand da und blickte hinaus auf die Park Lane, dann wandte er sich um und schaute zurück zur Serpentine. Er holte tief Atem und hob das Gesicht dem Regen entgegen. «Phantastisch», sagte er. «Die Morgenfrühe in London. Es gibt nichts, was dem gleichkäme. Außer, Sie haben ein Faible für diese feuchten Platanen in Paris.» Er legte Deville die Hand auf die Schulter. «Tut mir leid, Kamerad, aber da ist nichts zu machen.» Deville zuckte die Achseln. «Sie haben noch einen ganzen Tag Zeit, es sich anders zu überlegen.» «Einen ganzen Tag, der mit Proben ausgefüllt sein wird», sagte Mikali. «Ich muß mich sputen. Wenn Previn vor mir dort ist, wird er darauf bestehen, den Tee zu machen. Das tut er immer, und sein Tee ist miserabel.» «Haben Sie etwas dagegen, wenn ic h Ihre Wohnung benutze?» «Natürlich nicht. Ich bezweifle allerdings, daß ich vor dem Konzert noch zurückkommen kann. Falls Sie es sich doch noch überlegen, an der Kasse liegt eine Karte für Sie bereit.» Sie standen am Straßenrand und warteten auf das grüne Licht. Mikali schlug Deville auf die Schulter. «Ein großer Abend, Jean Paul. Ich glaube, es wird der größte meines Lebens.» Als das Flugzeug in der Spätnachmittagssonne über Heathrow zur Landung ansetzte, gehorchte Katherine Riley der Aufforderung zum Anschnallen, dann lehnte sie sich in ihren Sitz zurück. Sie war müde – müder, als sie jemals im Leben gewesen war. Müde, zornig und frustriert. Wie es sich für eine erfahrene -238­

Psychologin gehört, kannte sie das Syndrom gut. Ein Kind träumt, daß es sich im Wald verirrt hat, es weiß nicht, welchen Weg es einschlagen soll, und etwas Böses ist ihm dicht auf den Fersen. Sie schloß die Augen und sah nicht Mikali, sondern Asa Morgans dunkles verwüstetes Gesicht, die Qual in seinen Augen, und plötzlich wußte sie mit absoluter Klarheit, daß sie unrecht hatte. Morgan hatte gesagt, sie stehe in seiner Schuld. Wenn das stimmte, dann schuldete sie ihm Aufrichtigkeit und Rücksicht, und das ließ sich nur auf eine einzige Weise ausdrücken. Es war wie eine Injektion, die neue Kraft durch ihre Adern schickte. Sie konnte es kaum erwarten, aus dem Flugzeug zu steigen, war eine der ersten am Zollschalter und verlangte, sofort mit einem der Beamten von der Spezialabteilung zu sprechen. Es war kurz nach halb drei Uhr, als Captain Charles Rourke sein Büro in der britischen Botschaft in Athen betrat. Fast sofort klingelte sein Telefon. Als er abhob, meldete sich Benson, ein Zweiter Sekretär des Konsulats. «Hallo, Charles, ich habe den Portier gebeten, mich sofort zu benachrichtigen, wenn Sie zurückkommen würden. Ich habe hier einen Mann, der schon seit fast einer Stunde bei mir wartet. Er möchte einen provisorischen Reisepaß, damit er nach Hause fliegen kann. Sein regulärer Paß ist zu Bruch gegangen.» «Eigentlich nicht mein Ressort, alter Junge.» «Ehrlich gesagt, Charles, ich glaube, die Sache stinkt. Er kommt hier hereinspaziert, sieht aus wie ein Landstreicher, und bei näherer Betrachtung der Reste seines Reisepasses stelle ich fest, daß er aktiver Offizier ist, bitte schön, und britischer Colonel. Namens Morgan.» -239­

Aber Rourke hatte bereits den Hörer auf die Gabel geschmettert und war aus dem Büro gerannt. Morgan sah schauderhaft aus, das schwarze Haar mit den Silberfäden sah aus wie ein Zigeunerschopf, und er hatte eine Rasur bitter nötig. Sein salzfleckiger Leinenanzug war stark eingelaufen und spannte über den Schultern, daß die Nähte zu platzen drohten. «Ach, Sie sind das!» sagte er, als Rourke in das Wartezimmer kam. «Neulich am Flugplatz haben Sie einen schönen Murks gemacht.» Rourke war entsetzt über den Anblick, der sich ihm bot. «Du lieber Gott, Sir, sind Sie in Ordnung?» «Natürlich nicht», sagte Morgan. «Nur Blut, Gekröse und Klavierdraht halten mich noch zusammen, aber das ist jetzt egal. Ich brauche einen provisorischen Reisepaß und einen Platz in der ersten Maschine nach London heute nachmittag.» «Also, da bin ich nicht ganz sicher, Sir. Ich muß erst an anderer Stelle rückfragen. Ich habe strikte Anweisungen, was Sie betrifft.» «Brigadier Ferguson?» «Ja, Sir.» «So, Sie sind also MI 5. Das freut mich. Vielleicht haben die Lektionen, die ich Ihnen damals anno neunundsechzig erteilt habe, schließlich doch Früchte getragen.» «Sie erinnern sich noch an mich, Sir?» «Selbstverständlich. Vergesse nie ein Gesicht. So, und jetzt machen Sie sich auf die Socken und rufen Ferguson an.» «Sofort, Sir.» Rourke beugte sich besorgt vor. «Ist das nicht Blut, was da durch Ihren Ärmel sickert?» «Durchaus möglich, wenn man bedenkt, daß ein gewisser Herr versucht hat, mir mit einer Walther den Garaus zu machen. Vielleicht könnten Sie mir auch einen Arzt beschaffen, wenn Sie -240­

schon mal dabei sind? Nur überzeugen Sie sich, mein Junge, daß es einer ist, der die Klappe halten kann. Ich möchte nämlich auf gar keinen Fall mein Flugzeug versäumen.»

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Es war fast sechs Uhr, als in der Wohnung am Cavendish Square die Türklingel anschlug. Kim öffnete und sah Baker und Morgan draußen stehen. Ferguson nahm an der Schmalseite eines eleganten RegencyTisches in seinem Eßzimmer sein einsames Abendessen ein. Er hatte sich die Serviette in den Hemdkragen gesteckt. «Das riecht aber gut», sagte Morgan. «Was ist es?» «Beef Wellington. Für einen Gurkha besitzt Kim bemerkenswertes Talent für die traditionelle englische Küche. Mein lieber Junge, Sie sehen schauderhaft aus.» «Ich bin eben nicht mehr der Jüngste, weiter nichts.» Er ging zur Anrichte und goß sich einen Cognac ein. Ferguson sagte zu Baker: «Keine Probleme, Superintendent?» «Fast hätte er es nicht geschafft, Sir. Während ich in Heathrow auf ihn wartete, verdichtete der Nebel sich zusehends. Vermutlich wird der Flugplatz in ein paar Stunden überhaupt geschlossen.» Ferguson nahm einen Schluck aus seinem Rotweinglas und lehnte sich zurück. «Nun, Asa?» «Was heißt: nun?» «Raus mit der Sprache. Es ist völlig klar, daß Sie nur nach Griechenland flogen, weil Sie hinter dem Mann aus Kreta her sind. Mit voller Absicht haben Sie in Athen meinen Mann abgehängt, dann tauchen Sie vier Tage später mit einigen Schußwunden im Leib und einem unbrauchbaren Paß auf und wollen auf der Stelle zurück nach England.» «Diese Horden von Touristen», sagte Morgan. «Einfach unerträglich.» Er leerte sein Glas. «Hat jemand was dagegen, wenn ich jetzt gehe? Ich könnte eine Mütze voll Schlaf gut gebrauchen.» -242­

Ferguson nickte Baker zu, der die Tür zum Wohnzimmer öffnete. Katherine Riley kam heraus. «Allmächtiger», sagte Morgan bitter. «Seien Sie nicht albern, Asa. Frau Doktor Riley hat durchaus in Ihrem Interesse gehandelt, und unter höchst schwierigen Umständen. Sie hat mir alles erzählt.» Katherine stand da und wartete, ihr Gesicht war sehr bleich. Morgan schenkte ihr keinen Blick. «Wo ist er?» «Mikali? Probt fleißig in der Albert Hall mit Andre Previn, und da Previn als Perfektionist bekannt ist, dürfte es bis kurz vor Beginn des Konzerts dauern.» «Erschwert Ihr Vorhaben, wie?» «Warum denn?» Ferguson goß sich noch ein Glas Rotwein ein. «Wir könnten ihn auch jetzt auf dem Podium verhaften, aber was wäre damit gewonnen? Fragen Sie den Superintendent.» Morgan wandte sich Baker zu, der nickte. «Alles dicht abge riegelt, Asa, jeder Ausgang bewacht. Ich habe bereits, zusätzlich zu dem normalen uniformierten Aufgebot, das bei derartigem Massenandrang eingesetzt wird, fünfzig Leute drüben, die meisten in Zivil und alle bewaffnet. Ich habe sogar von unseren ‹Verdeckten› ein paar Langhaarige unter die Wartenden gemischt, die um Karten anstehen.» In der Diele klingelte das Telefon, und Baker ging hinaus. Ferguson sagte: «Also, Sie sehen, er entwischt uns nicht. Lassen Sie ihn sein Konzert geben. Die Show muß weitergehen, heißt es doch. Außerdem, mein lieber Asa, ist Rachmaninows Viertes eine Rarität. Und wenn John Mikali es am letzten Abend der Promenaden-Konzerte spielt, so ist das ein musikalisches Ereignis ersten Ranges. Ich möchte es um nichts in der Welt versäumen.» Katherine Riley drehte sich abrupt um, ging wieder ins Wohnzimmer und schmetterte die Tür hinter sich zu. Ferguson -243­

seufzte. «Frauen sind wahrhaftig perverse Geschöpfe, finden Sie nicht? Warum sind es immer die Mikalis, die es ihnen angetan haben?» Baker kam mit einem Zettel zurück. «Offenbar ist dieser Franzose, Deville, der Mikali auf Hydra besuchte, jetzt in der Wohnung. Als ich mich beim französischen Geheimdienst nach ihm erkundigte, hielten sie mich für verrückt. Er ist einer der prominentesten Strafve rteidiger von Paris. Trotzdem haben sie ihn vorsichtshalber durch den Computer laufen lassen.» «Und?» sagte Ferguson. «Ein interessanter Punkt ist aufgetaucht, Sir. Er war während des Krieges Zwangsarbeiter bei den Nazis. Einer von Tausenden, die nach Osteuropa verschleppt wurden, um in den Bergwerken und so zu arbeiten. Die Überlebenden wurden von den Russen 1947 nach Hause geschickt.» Ferguson lächelte mild und wandte sich an Morgan. «Und was kommt Ihnen dabei in den Sinn, Asa?» «KGB?» «Vielleicht, aber deren Aufgabe bestand in den Nachkriegsjahren hauptsächlich in der Unterwanderung des französischen Geheimdiensts. Ich denke eher an die sowjetische Abwehr. So, wie es sich anhört, ist Deville ein gebildeter Mann, von der Sorte, die meiner Ansicht nach im KGB immer Mangelware war.» «Auch die alte Eton-Spielart?» «Ein Punkt für Sie.» Ferguson wischte sich mit der Serviette das Kinn. «Aber ein Mann wie Mikali. Es ist wirklich höchst erstaunlich. Warum, Asa? Was ist sein Motiv?» «Ich habe keine Ahnung. Ich kann Ihnen nur sagen, woher seine Erfahrung stammt, sonst nichts. Er ging als Achtzehnjähriger zur Fremdenlegion. Hat zwei Jahre als Fallschirmjäger in Algerien gedient.» -244­

«Wie ungemein romantisch.» «Verzeihung, Sir», unterbrach Baker. «Darf ich wegen Deville fragen?» «Moment, Superintendent.» Ferguson wandte sich Morgan zu. «Ich glaube, Asa, es würde sich empfehlen, wenn Sie jetzt nach nebenan gehen und mit Frau Doktor Riley Frieden schließen würden.» «Was heißen soll, daß Sie mich bei diesem Thema aus dem Weg haben wollen?» «Richtig.» Baker hielt ihm die Wohnzimmertür auf. Morgan zögerte kurz, dann ging er hinüber, und der Superintendent schloß die Tür hinter ihm. Katherine Riley stand am Adam-Kamin, hatte die Hände auf den Sims gelegt und starrte in die Flammen. Sie hob den Kopf und sah ihn im Spiegel mit dem reichgeschnitzten Goldrahmen. «Sie haben sich in eine höllische Klemme manövriert, Asa. Ich konnte Sie nicht dort lassen.» «Oh, im Reden sind Sie ganz groß», sagte er. «Das muß man Ihnen lassen. Eine teure Erziehung zahlt sich eben aus.» «Asa – bitte.» In ihrer Stimme klang jetzt echter Schmerz. «Ich weiß», sagte er hart. «Die Leidenschaft hatte Sie gepackt und wollte Sie nicht loslassen. Fragt sich nur für wen? Für mich oder für ihn?» Sie stand da und starrte ihn an. Ihr Gesicht war jetzt noch bleicher geworden, und als sie sprach, war ihre Stimme sehr leise. «Gestern abend haben Maria und ich Sie gewaschen. Wie oft wurden Sie verwundet? Fünfmal? Sechsmal? Und das sind nur die Narben, die man sehen kann. Sie tun mir leid.» -245­

Sie ging an ihm vorbei zur Tür und trat ins Eßzimmer. Ferguson blickte auf, und Baker drehte sich nach ihr um. «Kann ich jetzt gehen?» fragte sie. Ferguson blickte hinüber zu Morgan, der unter der Tür stand. Katherine beugte sich vor, stemmte die Hände auf den Eßtisch. «Bitte!» sagte sie fordernd. «Ich halte das nicht mehr lange aus.» Ferguson sagte: «Und wohin möchten Sie gehen, Frau Doktor Riley?» «Ich habe die Schlüssel zur Wohnung einer Kollegin am Douro Place. Dort steht auch mein Wagen. Ich möchte nur so schnell wie möglich nach Cambridge zurück.» Fergusons Gesicht war sehr ruhig und seine Stimme überraschend sanft, als er sagte: «Und das möchten Sie wirklich? Wissen Sie das ganz genau?» «Ja», sagte sie dumpf. «Sehr schön.» Er nickte Baker zu. «Setzen Sie Frau Doktor Riley in einen Wagen, Superintendent. Lassen Sie sie zu dieser Wohnung am Douro Place bringen. Wir können sie ja jederzeit in Cambridge erreichen, wenn wir sie brauchen.» Katherine ging zur Tür, und Baker folgte ihr. Als sie hinausgehen wollte, sagte Ferguson: «Noch eines, Frau Doktor Riley. Bitte versuchen Sie nicht, das Land ohne unsere ausdrückliche Genehmigung zu verlassen. Es wäre wirklich höchst peinlich, wenn wir Sie abfangen müßten.» Kim trug eine zugedeckte Schüssel herein. Ferguson schmunzelte leicht: «Ah, Pudding! Ich fürchtete schon, er hätte ihn vergessen.» Er setzte sich und stopfte die Serviette wieder in den Kragen, während der Gurkha ihn bediente. «Eine besondere Art Käsekuchen, mit Grand Marnier getränkt. Versuchen Sie ihn, Asa.» -246­

«Nein, danke», sagte Morgan. «Aber ich nehme mir noch einen Cognac, wenn ich darf.» «Bedienen Sie sich. Tut es sehr weh, ich meine, Ihr Arm?» «Teuflisch», erwiderte Morgan, was auch stimmte, und doch übertrieb er absichtlich den gequälten Ausdruck auf seinem Gesicht, als er sich eine großzügige Portion Courvoisier in ein Kristallglas goß. Als er trank, kam Baker zurück. Ferguson fragte: «Keine Schwierigkeiten?» «Keine, Sir.» «Gut. Mikali hat keine Anstalten gemacht, die Albert Hall zu verlassen?» «Nein, Sir. Ich habe gerade über Telefon mit unserem mobilen Einsatzposten auf dem Parkplatz gesprochen. Die neueste Meldung lautet, daß die Proben soeben zu Ende gingen.» Ferguson sah auf die Uhr. «Sechs Uhr fünfzehn. Mal rechnen. Das Konze rt fängt mit Haydns Symphonie Die Uhr an. Dann müßte doch Mikali so gegen Dreiviertel neun an der Reihe sein und die Pause etwa um halb zehn beginnen.» «Und da nehmen wir ihn fest, Sir?» «Ich würde sagen, lieber erst nach dem Empfang, der in der Pause stattfindet. Vergessen Sie nicht, er ist schließlich der Ehrengast. Es würde ein wenig sonderbar aussehen, wenn er nicht anwesend wäre. Alles soll möglichst normal bleiben, so lange es irgend geht.» Morgan betastete seinen Arm, und jetzt war der schmerzverzerrte Ausdruck echt. Dennoch klang seine Stimme fast beschwörend, als er zu Ferguson sagte: «So lange wir einander kennen, Charles, habe ich nie um etwas gebeten, aber jetzt bitte ich Sie. Lassen Sie mich mitkommen.» «Tut mir leid, Asa. Ich verstehe, wie Ihne n zumute ist, aber -247­

Sie haben Ihren Teil geleistet. Damit ist für Sie der Fall erledigt. Was jetzt noch kommt, ist Sache der Polizei.» «All right.» Morgan hob die Hand. «Ich weiß, wann ich geschlagen bin. Vermutlich kann ich jetzt gehen.» Er wandte sich zur Tür, und Baker sagte: «Warten Sie auf mich, Asa, ich fahre Sie nach Hause.» Morgan ging schweigend hinaus, und Ferguson sagte zu Baker: «Von wegen: Ja, er weiß, wann er geschlagen ist. Wenn er solche Aussprüche tut, mache ich mir wirklich Sorgen. Bringen Sie ihn nach Hause. Seine Wohnung soll rund um die Uhr beobachtet werden, bis diese Sache ausgestanden ist.» «Ich würde mir keine Gedanken machen, Sir. Ein Wunder, daß er in seinem Zustand überhaupt bis zur Tür gekommen ist.» «Wenn Sie das von Asa Morgan glauben, Superintendent», sagte Ferguson, «dann glauben Sie reinweg alles.» Als Mikali das Grüne Zimmer hinter dem Podium der Albert Hall betrat, war sein Hemd schweißnaß, und er zitterte vor Erregung. Er war gut gewesen, das wußte er. Die zwei härtesten Probentage, die er jemals hinter sich gebracht hatte, und die Vorfreude auf das Konzert war überwältigend. Die Tür ging auf und der Inspizient erschien mit einer Kanne Tee, Tassen, Milch und Zucker auf einem alten Zinntablett. «Haben Sie Heathrow angerufen?» fragte Mikali, während er sich mit einem Handtuch abtrocknete. «Ja, Sir. Beide Nachmittagsmaschinen aus Athen sind gelandet, die letzte gerade noch, ehe der Nebel einfiel.» «Großartig», sagte Mikali. «Vergessen Sie nicht nachzufragen, ob die Karten für Frau Doktor Riley und Maître Deville auch bestimmt an der Kasse bereitliegen.» Als der Inspizient die Tür öffnete, kam Previn herein. «Alles in Ordnung?» -248­

«Jetzt ja», erwiderte Mikali. «War ich gut da draußen?» «Nicht schlecht.» Previn grinste. «Stellenweise.» «Stellenweise?» Mikali lachte schallend. «Maestro, heute abend kriegen Sie von mir den Rachmaninow zu hören, auf den Sie Ihr Leben lang gewartet haben.» Er schlug Previn auf die Schulter. «Und jetzt trinken Sie zur Abwechslung mal eine Tasse anständigen Tee.» Als sie am Gresham Place anlangten, ließ Baker den Fahrer warten und ging mit Morgan die Stufen zum Eingang hinauf. Morgan sagte: «Hätten Sie Lust auf einen Drink?» «Lust schon, aber keine Zeit.» Er gab Morgan eine Zigarette, zündete sich selber eine an, und sie blieben rauchend auf dem Vorplatz stehen und starrten hinaus in den Regen. «Fragen Sie sich eigentlich jemals, was das Ganze soll, Harry?» «Zu spät für edle Gefühle, Asa. In unserem Fall fünfundzwanzig Jahre zu spät.» «Was soll ich also tun?» «Sich ins Bett legen, bevor Sie umfallen.» Ein zweiter Polizeiwagen hielt auf der anderen Straßenseite, und Inspektor Stewart stieg mit zwei uniformierten Konstablern aus. Sie gingen bis zum Haus und blieben vor den Stufen stehen. Baker sagte: «Colonel Morgan wird sich jetzt für die Nacht zurückziehen. Sollte er seine Pläne ändern, versuchen, das Haus zu verlassen, aus welchem Grund auch immer, so nehmen Sie ihn unverzüglich in Gewahrsam. Einer von Ihnen kann diese Tür vom Wagen aus im Auge behalten, der andere soll auf der Rückseite des Hauses Posten stehen.» «In vier Stunden werden Sie abgelöst», sagte Stewart zu den -249­

beiden Männern. Sie gingen, und Stewart wandte sich daraufhin an Baker. «Sonst noch etwas, Sir?» «Nein, steigen Sie ein, George, wir fahren gleich ab.» Morgan sagte: «Ist das alles legal, Harry?» «Ferguson hätte Sie sofort in Gewahrsam nehmen können, wenn er gewollt hätte, bis die ganze Sache vorbei ist.» «Unter welcher Anklage?» «Verdächtige Person hätte für den Anfang ausgereicht, weist mehrere Schußwunden auf, ohne eine ausreichende Erklärung liefern zu können.» Er warf seine Zigarette in den Rinnstein. «Seien Sie vernünftig, Asa. Gehen Sie ins Bett.» Er eilte die Stufen hinunter, setzte sich in den Fond neben Stewart, und der Wagen fuhr ab. Morgan schaute hinüber zu dem Wagen auf der anderen Straßenseite, winkte dem jungen Polizisten am Steuer zu und ging ins Haus. Jock Kelso sah sich ein Fußballspiel im Fernsehen an, als das Telefon klingelte. Seine Tochter Amy, ein hübsches dunkelhaariges Mädchen, kam aus der Küche, trocknete sich die Hände an der Schürze und nahm den Hörer ab. «Colonel Morgan ist am Apparat, Dad.» Kelso schaltete das Fernsehgerät ab und nahm ihr den Hörer aus der Hand. «Colonel?» «Jock. Ich habe ein kleines Problem. Ein Polizeiauto parkt vor meinem Hauseingang, und ein Bulle steht im Hinterhof, damit ich nicht entwischen kann. Brigadier Ferguson hat den dringenden Wunsch, mir Unannehmlichkeiten zu ersparen. Ich frage mich, ob Sie in dieser Sache irgend etwas unternehmen könnten.» Kelso lachte. «Herrje, Colonel, das hört sich ja langsam genauso an wie in den alten Zeiten.» Morgan legte den Hörer auf, öffnete die Schreibtischlade und -250­

nahm die Walther heraus. Er überprüfte sorgfältig das Magazin, dann steckte er den Carswell-Schalldämpfer auf. Er spürte, daß die Müdigkeit ihn übermannen wollte, und das durfte nicht sein. Er ging ins Badezimmer, öffnete das Schränkchen über dem Waschbecken und fand ein kleines Fläschchen mit purpurfarbenen Pillen. Belfast-Bohnen hießen sie in der Army, denn sie sollten in schwierigen Zeiten die Ruhepause ersetzen. Zwei Stück alle vier Stunden, und man konnte hundemüde sein und doch vierundzwanzig Stunden ohne Schlaf auskommen. Der einzige Nachteil war, daß man sich danach noch eine Woche lang wie eine Leiche fühlte. Er spülte zwei Pillen mit einem Glas Wasser hinunter, ging wieder ins Wohnzimmer, setzte sich ans Fenster und wartete. Ein Viertel nach sieben vorbei, und Deville stand in der Küche der Wohnung am Upper Grosvenor Square und machte Kaffee, als die Türklingel anschlug. Er witterte sofort Gefahr, überlegte, ging dann zur Küchentür, in der einen Hand noch immer die Dose mit Kaffeepulver, in der anderen einen Löffel. Es klingelte wieder. Offensichtlich nicht Mikali, der hatte seinen Schlüssel, es sei denn, er hätte ihn vergessen, aber es war kaum anzunehmen, daß er um diese Zeit, so kurz vor dem Konzert, in der Wohnung auftauchen würde. Es könnte natürlich auch Katherine Riley sein, aber Deville nahm an, daß sie gleichfalls einen Schlüssel zur Wohnung hatte. Er beschloß, den Dingen ihren Lauf zu lassen, und im gleichen Augenblick drehte sich auch schon ein Schlüssel im Schloß, die Tür ging auf und Ferguson trat ein. Deville sah, daß hinter ihm Baker stand und einen Dietrich in der Hand hielt. Ferguson sagte: «Danke, Superintendent. Sie können unten warten. Es wird nicht lange dauern.» Er trug einen Überzieher von der Art, die beim Königlichen Gardekorps beliebt ist, und sein Schirm war naß vom Regen. Er -251­

lehnte ihn an einen Stuhl. «Unglaubliches Wetter für diese Jahreszeit.» Er lächelte schwach. «Ich glaube, Sie kennen mich.» Deville, dem die Gesichter aller wichtigen Geheimdienstchefs der westlichen Welt während ihrer ganzen beruflichen Laufbahn vertraut waren, nickte ernst. Jetzt ist es also soweit, dachte er, nach fünfundzwanzig Jahren. Der Augenblick, der immer hat eintreten können, ist da. Der Augenblick, in dem sie hereinkommen und mich holen, gerade wenn ich es am wenigsten erwartet hätte. Von der Uhrkette, die quer über seine Weste lief, baumelte ein Anhänger in Form eines goldenen Löwen. Er faßte wie beiläufig danach und tastete nach dem Verschluß. Ferguson sagte: «Ach, da drinnen verwahren Sie Ihre Zyankalikapsel? Wie altmodisch. Uns hat man während des Krieges auch welche gegeben. Ich hab die meine immer weggeworfen. Wirkt angeblich blitzschnell, aber ich habe einmal erlebt, wie ein SS-General so ein Ding geschluckt hat und die nächsten zwanzig Minuten nicht zu brüllen aufgehört hat. Bestialische Todesart.» Er ging zur Anrichte, nahm den Stöpsel aus der Whiskykaraffe und schnüffelte. Er nickte billigend und goß sich ein Glas ein. Deville sagte: «Was schlagen Sie vor?» Ferguson trat ans Fenster und spähte hinunter in die regennasse Straße. «Nun, Sie könnten irgend etwas verzweifelt Heroisches probieren, zum Beispiel einen Fluchtversuch unternehmen, aber sagen wir mal, Sie schafften es bis zur Sowjetbotschaft, und von dort würden Sie nach Hause verfrachtet. Ich glaube nicht, daß man Sie mit offenen Armen empfangen würde. Schließlich haben Sie am Ende doch versagt, und soviel ich gehört habe, wird das nicht ausgesprochen gern gesehen. Natürlich hat man dort in puncto Todesstrafe -252­

zivilisierte Ansichten. Man hängt die Leute nicht. Man schickt sie dafür in den Gulag, was, wenn man Solschenizyn glauben darf, kein Kuraufenthalt ist. Andererseits hat Moskau seine Bücher immer als gemeine westliche Propaganda bezeichnet.» «Und die Alternative?» fragte Deville. «Die Franzosen – Sie sind doch französischer Staatsbürger, Maître Deville, nicht wahr? – die Franzosen könnten auf Ihrer Auslieferung bestehen, und ihr Geheimdienst ist höchst empfindlich, was russische Agenten betrifft, besonders seit der Sapphire-Affaire im Jahr achtundsechzig, als der Verdacht auftauchte, der Nachrichtendienst sei vom KGB unterwandert. Man würde Sie zweifellos an die Abteilung Fünf überstellen, und dort sind sie wirklich sehr altmodisch in ihren Methoden, Informationen aus ihren Schützlingen herauszupressen. Meines Wissens glauben sie noch immer an die Macht der Elektrizität, besonders wenn die Drähte an bestimmte Teile der Anatomie des unglücklichen Opfers angelegt werden.» «Und Sie?» fragte Deville. «Was hätten Sie anzubieten?» «Oh, den Tod natürlich», sagte Ferguson munter. «Wir werden uns etwas einfallen lassen. Autounfälle sind immer gut, besonders wenn der Wagen in Brand gerät. Die Identifizierung hängt dann gewöhnlich vom Tascheninhalt ab.» «Und danach?» «Frieden, Anonymität, ein ruhiges Leben. Plastische Chirurgie kann Wunder wirken.» «Als Gegenleistung für die richtige Art von Informationen?» Ferguson griff nochmals zur Karaffe und goß sich einen zweiten Whisky ein, dann kam er wieder und setzte sich auf die Tischkante. «Im Jahr dreiundvierzig, als ich mit dem französischen Maquis zusammenarbeitete, geriet ich dank einer Denunziation selber in die Hände der Gestapo in Paris. Sie hatten damals ihr -253­

Hauptquartier in der Rue des Saussaies, hinter dem Innenministerium. Zu dieser Zeit waren noch Gummischläuche in Mode. Höchst unangenehm.» «Sie konnten fliehen?» «Aus dem Zug ms Konzentrationslager Sachsenhausen, aber das ist eine alte Geschichte.» Er trat ans Fenster und spähte wieder hinunter auf die Straße. «Damals war es einfacher. Wir wußten, wo wir standen. Wofür wir kämpften. Aber jetzt …» Längere Zeit herrschte Schweigen, dann sagte er, ohne sich umzudrehen: «Natürlich bleibt immer noch das Zyankali.» «Lassen Sie mir die Wahl?» «Britisches Fair play, Alter. Ich war nämlich Präfekt in Winchester.» Er drehte sich um und sah, daß Deville die rechte Hand ausgestreckt hatte, und in der Mitte der Handfläche lag die kleine schwarze Kapsel. «Ich glaube nicht, haben Sie vielen Dank.» «Ausgezeichnet.» Ferguson nahm die Kapsel behutsam aus Devilles Hand. «Garstige Dinger.» Er ließ sie auf den Boden fallen und zertrat sie mit dem Absatz. «Was jetzt?» fragte Deville. «Oh, ich würde sagen, ein bißchen gute Musik», erwiderte Ferguson. «Es wird Ihnen gefallen, John Mikali spielt heute abend Rachmaninows Klavierkonzert Nummer vier in der Albert Hall. Etwas Besonderes.» «Davon bin ich überzeugt.» Deville zog den dunklen Mantel an, nahm seinen schwarzen Homburg vom Haken neben der Tür und ergriff den Spazierstock mit der silbernen Krücke. «Eine Frage noch», sagte Ferguson. «Nur um meine müßige Neugier zu stillen. KGB oder GRU?» «GRU», antwortete Deville. «Oberst Nikolai Ashimow.» Der Name klang seltsam aus seinem Mund. Ferguson lächelte. -254­

«Dachte ich mir. Ich sagte Morgan, Sie seien ein viel zu gebildeter Mann für den KGB. Gehen wir?» Er öffnete die Tür, trat höflich beiseite und ließ Deville den Vortritt. Und im gleichen Augenblick riß Katherine Riley, die im dichten Verkehr durch den Regen Richtung Cambridge fuhr, das Steuer ihres Sportwagens herum, schwenkte in eine Seitenstraße ein und hielt an. Sie stellte den Motor ab und blieb, die Hände fest um das Steuer gepreßt, mit schmerzhaft pochendem Herzen im Wagen sitzen. Schließlich stieß sie den Atem in einem langgezogenen Seufzer aus. Es gab nur einen einzigen Ort in der Welt, wohin sie jetzt fahren wollte, und dieser Ort war ganz bestimmt nicht Cambridge. Sie ließ den Motor wieder an, fuhr bis zum Ende der Straße und schlug dann die Richtung zurück nach der Londoner Innenstadt ein.

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15

Im Grünen Zimmer hinter dem Podium der Albert Hall stand John Mikali vor dem Spiegel und zog die weiße Frackschleife zurecht. Dann öffnete er die Kommode und hob den doppelten Boden hoch, unter dem das Halfter mit der Ceska versteckt war. Er befestigte es hinten an seinem Gürtel, dann schlüpfte er in den eleganten Frack und steckte eine weiße Nelke ins Knopfloch. Auf dem Podium war das Orchester bereits beim letzten Satz von Haydns Symphonie Nr. 101 in D-Dur, die den Konzertfreunden in der ganzen Welt auch unter dem Titel Die Uhr bekannt ist. Mikali öffnete die Tür und trat in den Korridor hinaus. Der Inspizient stand am Ende des Laufgangs, des leicht abschüssigen Gangs, durch den die Künstler zum Podium gelangen. Er ging ein Stück vor, bis er Previn am Dirigentenpult sehen konnte und dahinter, links vom Podium, die Proszeniumsloge, die er für Katherine Riley hatte reservieren lassen. Weder Katherine noch Deville schienen bisher gekommen zu sein. Die Enttäuschung war grausam, und er ging sofort zurück ins Grüne Zimmer, wo ein Münztelefon an der Wand hing, kramte nach einem Geldstück und wählte die Nummer seiner Wohnung. Er ließ den Apparat am anderen Ende der Leitung eine volle Minute lang klingeln, dann hängte er ein und versuchte es nochmals, wiederum erfolglos. «Was soll das, Katherine», murmelte er. «Wo zum Teufel steckst du?» Die Tür ging auf, und der Inspizient schaute herein. «Zehn Minuten, Mister Mikali. Gesteckt voll da draußen heute abend, das dürfen Sie mir glauben.» Mikali mühte sich ein strahlendes Lächeln ab. «Ich kann es -256­

kaum noch erwarten.» «Tasse Tee, Sir?» «Meine einzige Schwäche, Brian, wie Sie wissen.» Der Inspizient ging, und Mikali zündete sich eine Zigarette an, paffte wütend und schritt im Zimmer auf und ab. Plötzlich blieb er stehen, drückte die Zigarette aus und setzte sich an das alte Klavier, das an der Wand stand. Er machte die Finger geschmeid ig und begann, Tonleitern zu spielen. Das einzige, was den Fahrer des Polizeiwagens vor Morgans Wohnung interessierte, war die Farbe des Mini- Lieferwagens, der jetzt vor dem Haus hielt. Knallgelb. Der BlumenkorbInterflora-24-Stunden-Lieferdienst. Der Cha uffeur trug eine Stoffmütze und einen schweren Ölzeugmantel in der Farbe des Lieferwagens und hatte den Kragen wegen des Regens hochgeschlagen. Er holte ein großes Bukett in Geschenkverpackung heraus, lief die Stufen hinauf und verschwand im Haus. Das erste, was Morgan sah, als er die Tür öffnete, war der Blumenstrauß, dann schob sich die Gestalt im gelben Ölzeugmantel an ihm vorbei in die Wohnung. Er schloß die Tür, und als er sich umdrehte, nahm die Gestalt gerade die Stoffmütze ab, und er sah, daß es sich in Wahrheit um eine höchst attraktive junge Frau handelte. «Na, sagen Sie mal, wer zum Kuckuck sind Sie?» fragte er, als sie den Mantel aufknöpfte. «Amy Kelso, Colonel. Ich bin gewachsen, seit Sie mich zuletzt sahen, wie? Aber wir haben keine Zeit zum Plaudern. Bitte ziehen Sie den Mantel an und setzen Sie die Mütze auf. Vor dem Hauseingang steht ein gelber Mini- Lieferwagen. Steigen Sie ein und fahren Sie um die Ecke zur Park Street. Dort wartet mein Vater in einem weißen Ford Cortina.» -257­

«Und was ist mit Ihnen?» fragte er, während er bereits in den Ölzeugmantel schlüpfte. «Lassen Sie den Mini einfach in der Park Street stehen. Ich hole ihn mir in fünf Minuten. Jetzt aber los, Colonel, bitte!» Morgan zögerte, dann setzte er die Mütze auf, nahm eine Reisetasche und ging zur Tür. «Und lassen Sie den Mantelkragen hochgeschlagen.» Die Tür schloß sich hinter ihm. Amy hatte unter dem Ölzeugmantel eine leichte Regenhaut getragen. Jetzt hob sie die Hände zu dem Schopf, den sie sich hoch auf dem Kopf aufgesteckt hatte. Sie zog schnell die Nadeln heraus und kämmte sich das schulterlange Haar glatt. Ein paar Minuten nachdem der Mini- Lieferwagen weggefahren war, sah der Polizist im Auto, wie Amy Kelso aus der Haustür trat. Sie blieb kurz stehen, sah hinaus in den Regen, dann ging sie die Stufen hinunter und eilte davon. Er sah ihr mit unverhohlener Bewunderung nach, wie sie um die Ecke bog und aus seinem Gesichtsfeld entschwand. Sein Wohlgefallen wäre bedeutend geringer gewesen, wenn er hätte sehen können, wie sie zu dem gelben Mini in der Park Street lief, hinters Steuer glitt und wegfuhr. Als Katherine Riley in größter Hast durch die Glastüren das Foyer der Albert Hall betrat, fiel ihr Blick als erstes auf Harry Baker, der mit zwei uniformierten Polizeibeamten sprach. Auch er sah sie sofort und vertrat ihr mit ein paar langen Schritten den Weg zum Kassenschalter. «Darf ich fragen, Frau Doktor Riley, was das bedeuten soll?» «Ich möchte meine Eintrittskarte abholen.» Er schüttelte den Kopf, nahm sie beim Ellbogen und steuerte sie mit fester Hand wieder hinaus. Auf dem kleinen reservierten Parkplatz stand ein -258­

unscheinbarer Kombiwagen, das Hauptquartier der Spezialabteilung für diesen Einsatz. Fergusons Auto war daneben abgestellt. Im Fond saßen Ferguson und Deville. Der Brigadier öffnete die Tür und stieg aus. «Was ist mit Cambridge?» «Ich habe es mir anders überlegt», sagte sie. «Ich möchte ihn doch noch einmal spielen hören.» «Ist das alles? Keine dummen Gedanken …?» «Welche, Brigadier? Ihm eine Warnung zukommen lassen? Wohin könnte er fliehen?» «Stimmt.» Ferguson nickte bekräftigend. Sie sah an ihm vorbei und erblickte den Franzosen. «Sie auch, Monsieur Deville?» «Scheint so, Mademoiselle.» Wieder richtete sie den Blick auf Ferguson. «Darf ich jetzt hinein?» «Ja, gehen Sie hinein. Sie haben sich den letzten Akt redlich verdient.» Sie machte kehrt und eilte zurück zum Eingang. Ferguson beugte sich in den Wagen. «Er müßte jetzt jeden Moment auftreten. Möchten Sie nicht auch hineingehen?» Deville schüttelte den Kopf. «Lieber nicht, Brigadier. Wissen Sie, so kurios es unter den gegebenen Umständen klingen mag, ich habe mir nie viel aus Klaviermusik gemacht.» Im Grünen Zimmer rückte Mikali vor dem Spiegel ein letztesmal an der Frackschleife, während Previn wartend neben der Tür stand. Es klopfte, und der Inspizient trat ein. «Zeit, Gentlemen.» Previn lächelte und schüttelte Mikali die Hand. «Viel Glück, John.» -259­

Mikali breitete die Arme weit aus. «Wer braucht hier Glück? Für den großen Mikali ist kein Ding unmöglich.» Die Royal Albert Hall war bis auf den letzten Platz besetzt, vom Parkett bis zur Galerie, und auch die fünfzehnhundert Stehgäste waren vollzählig, viele auf der Galerie, der Großteil aber stand auf dem freien Raum vor dem Podium, Schulter an Schulter bis dicht an das Geländer, zumeist junge Leute und Studenten in ausgefallener Aufmachung, wie es am letzten Abend der Promenaden-Konzerte Tradition war. Und als Previn als erster das Podium betrat und gleich nach ihm Mikali erschien, brach ein Tumult aus, wie Mikali ihn noch nie erlebt hatte, ein Toben, das ihm das Blut rasend durch die Adern trieb und ihn mit Erregung und Erschütterung erfüllte. Er verbeugte sich immer wieder, und Previn lachte und klatschte gleichfalls Beifall, und dann wandte Mikali sich nach links und blickte hinauf zur Proszeniumsloge direkt neben dem Podium und sah Katherine Riley dort sitzen. Er bahnte sich einen Weg durch das Orchester, zog die Nelke aus dem Knopfloch und warf sie ihr zu. Sie fing die Nelke auf, hielt sie eine Weile in der Hand und starrte sie wie träumend an, dann küßte sie die Blume und warf sie ihm wieder zu. Mikali steckte sie ins Knopfloch und sandte Katherine zum Dank eine Kußhand hinauf. Das Publikum raste vor Begeisterung, während er zum Flügel ging und sich setzte. Jedes Geräusch erstarb. Es herrschte absolute Stille in der Albert Hall. Previn, der wie fast immer seine Konzerte direkt vom Podium aus dirigierte, stand ganz nah am Flügel. Er wandte sich halb zu Mikali um, sein Gesicht war jetzt ernst. Der Taktstock senkte sich, und als das Orchester einsetzte, verschmolzen Mikalis Finger mit den Tasten.

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Kelso lenkte den Cortina in die Prince Consort Road und hielt am Randstein. Er ließ den Motor laufen und sagte zu Morgan: «Kann ich noch irgend etwas für Sie tun, Colonel?» «Vergessen Sie, daß Sie mich je im Leben gesehen haben, wenn Sie sich Ärger ersparen wollen.» «Ich bin kein Sparer», sagte Kelso. Morgan, der jetzt einen alten Trenchcoat und eine Tweedmütze aus den Beständen seines ehemaligen Feldwebels trug, stieg aus und bückte sich ins Fenster. «Danke, Jock. Jetzt aber nichts wie ab durch die Mitte.» Der Ford Cortina fuhr davon, und Morgan schlug den Mantelkragen hoch und ging durch den Regen zur Rückseite der Albert Hall. Am Denkmal des Prinzgemahls blieb er stehen und schaute hinüber zum Hintereingang. Vor den Stufen waren drei uniformierte Polizisten postiert. Und zumindest einer an jeder der übrigen Türen, die von Morgans Platz aus zu sehen waren. Die Umhänge glänzten im Regen. In diesem Augenblick kam ein Lastwagen um die Ecke und hielt vor dem Künstlereingang. Die Bordwand trug den Namen einer der bekanntesten Brauereien Londons. Morgan beobachtete, wie mehrere Männer mit Regenmänteln und Mützen ausstiegen und anfingen, Bierkästen auszuladen, während die beiden diensttuenden Polizisten an der Tür ihnen zusahen. Morgan spurtete über die Straße, stellte sich dicht neben das Fahrzeug und wartete einen günstigen Augenblick ab. Die beiden jungen Polizisten hatten lachend die Köpfe zusammengesteckt. Einer der Liefermänner kam heraus, nahm einen Bierkasten und ging wieder hinein. Morgan ging ohne Zögern um die Rückseite des Lastautos herum, schnappte sich den nächsten Kasten, hievte ihn auf die Schulter und marschierte stracks zur Tür. -261­

Die beiden Polizisten lachten schallend, aber da war Morgan schon im Innern des Gebäudes. Er ging an der Loge des Bühnenportiers zu seiner Linken vorbei, schwenkte rechts in den Korridor ein und sah ein paar Meter vor sich den Liefermann, der offenbar auf die Bar zusteuerte. Er kam zu einer offenen Tür an der rechten Gangseite, die zu einer Treppe führte. Er schlüpfte rasch hinein, stellte den Bierkasten in einer dunklen Ecke ab und stieg bis zum nächsten Treppenabsatz hinauf. Jetzt konnte er das Orchester und das Klavierspiel sehr deutlich von irgendwo ganz in der Nähe hören und folgte einem der langen gewundenen Korridore, die so typisch für die Albert Hall sind. Dann sah er vor sich eine Tür mit der Bezeichnung Ausgang. Er öffnete sie, trat hindurch und befand sich am Beginn des Gangs, der hinunter zu den Treppen und dem freien Platz links vom Podium führte. Und hier sah er John Mikali. Der letzte Satz des Klavierkonzerts näherte sich seinem Ende, und Mikali saß wartend da und machte die Finger geschmeidig, während das Orchester weiterspielte; er atmete tief durch, wappnete sich für die gewaltige physische Anstrengung, die das Finale ihm abfordern würde. Er blickte zu Andre Previn auf, ließ ihn nicht aus den Augen, wartete, und im gleichen Moment sah er, wie hinter dem Dirigenten die Tür zum rückwärtigen Korridor aufging und Asa Morgan eintrat. Der Schock war so gewaltig, daß er sekundenlang wie versteinert dasaß. Katherine Riley, die ihn unverwandt beobachtet hatte, folgte seinem Blick, aber Morgan hatte sich schon wieder durch die Tür zurückgezogen und war verschwunden. Mein Gott, dachte Mikali. Er lebt. Der Hund hat es doch tatsächlich überlebt, und jetzt will er mich erledigen. Eine Stelle -262­

aus dem Bushido ging ihm durch den Sinn. Keine tiefere Einsamkeit als die des Samurai. Keine, es sei denn vielleicht die des Tigers im Dschungel. Er hatte keine Angst, vielmehr erfüllte ihn wilde Freude, eine Art unbändigen Jubels. Als Previn kurz nickte, stürzte Mikali sich in das dramatische Finale des Konzerts, das er von seinem ganzen reichhaltigen Repertoire zu seinem Paradestück gemacht hatte, und er spielte, wie er noch nie in seinem Leben gespielt hatte. Und als er geendet hatte, brach ein Beifallssturm aus dem Publikum los, wie er ihn in seiner ganzen Pianistenlaufbahn nie gehört hatte. Alles applaudierte, auch das Orchester und Previn, und die jungen Leute, die sich dicht ans Geländer drängten, streckten ihm die Hände entgegen. Er blickte hinauf zur Proszeniumsloge und sah Katherine Riley dort stehen, die Hände um die Balustrade geklammert, und zu ihm hinunterstarren, dann nahm Previn ihn beim Ellbogen und schob ihn den Laufgang entlang. Der Inspizient stand vor dem Grünen Zimmer. In jeder Hand hielt er ein Glas Champagner. «So etwas habe ich noch nie erlebt», sagte er, als das Getöse noch anschwoll und die Zuhörer anfingen, Mikalis Namen im Chor zu rufen. Mikali nippte am Champagner und grinste ein bißchen. «War ich gut, Maestro, oder nur stellenweise?» Previn war offensichtlich zutiefst bewegt, er trank Mikali zu. «Mein lieber Freund, zuweilen hat das Leben seine großen Augenblicke. Heute abend war ganz entschieden einer. Ich danke Ihnen.» Mikali lächelte, trank noch einen Schluck und schaute an Previn vorbei ans Ende des Laufgangs, dorthin, wo er in den -263­

Hauptkorridor mündete; er dachte an Morgan, der frei in diesem alten Kaninchenbau der Albert Hall herumlief und vermutlich ganz in der Nähe im Dunkeln lauerte. Als sie sich in der Villa auf Hydra gegenüberstanden, hatte Morgan gesagt, er wolle Mikali für sich haben. Kein Anlaß, daß er jetzt anders dachte. Schließlich hatte sich inzwischen nichts geändert. Die Ovation wurde noch frenetischer. Previn sagte: «Los, John, wenn wir nicht hinausgehen, stürmen sie das Podium.» Als sie aufs neue erschienen, begann die Menge im Chor zu rufen: «Mikali! Mikali!» und Blumen segelten durch die Luft, College-Schals, Hüte. Jetzt waren alle im Saal aufgestanden und applaudierten. Dankten ihm für das einmalige Erlebnis, das er ihnen hatte zuteil werden lassen. Er nickte, lächelte, winkte mit beiden Armen, warf eine Kußhand zu Katherine Riley hinauf, und dabei dachte er immer nur daran, daß es nur einen einzigen Weg gab, der vom Podium hinunterführte, den Laufgang zum Korridor, wo Morgan warten würde – warten mußte. Und dann kam ihm eine Idee. Er drehte sich um und wechselte einen Händedruck mit dem ersten Geiger, schritt an dem Mann vorbei bis dicht ans Geländer. Darunter, in eineinhalb Meter Tiefe, war der Ausgang für die Stehplätze vor dem Podium. Er beugte sich über das Geländer und winkte der ersten Stehreihe zu. «Es ist einfach zu viel!» rief er. «Zu schön für Worte. Mehr kann ich nicht verkraften.» Er setzte einen Fuß aufs Geländer und sprang kurzentschlossen in den Korridor. Während er in der Versenkung verschwand, hörte er Schreie, ein jähes Aufbrüllen, aber er landete wohlbehalten, die Korridortür schlug zu, und er war weg. Und dann hörte man nur noch Gelächter und donnernden -264­

Applaus, alle Anwesenden, einschließlich des Orchesters, beklatschten diesen höchst unkonventionellen Abgang vom Podium, wie ihn in der langen Geschichte der Albert Hall sicherlich noch nie ein großer Künstler genommen hatte. Der Korridor war leer, doch schon in wenigen Sekunden würde auf jedem Stockwerk des Hauses das Publikum in die Gänge strömen, um sich während der Pause an einem der Büffets zu stärken. Er ging an zwei Türen vorüber, die dritte würde ihn zum Treppenhaus führen und hinunter zum Hinterausgang. Harry Baker sprach zur gleichen Zeit mit zwei uniformierten Polizisten im Foyer. Mikali erkannte ihn sofort, machte kehrt und stieg die Treppe wieder hinauf. War es möglich, daß er unrecht hatte? Daß Morgan schließlich doch Vernunft angenommen hatte? Er eilte den noch immer leeren Gang entlang, auf die Tür zu, die zur Loge des Bühnenportiers und zum Künstlerausgang führte. Als er dort angelangt war, spähte er vorsichtig in die Runde und sah zwei uniformierte Polizisten, die sich vor dem Regen innerhalb des Gebäudes untergestellt hatten, etwas, das er in all den Jahren in der Albert Hall niemals erlebt hatte. Es genügte. Sein sechster Sinn, der ihm schon so oft das Leben gerettet hatte und die Gefahr witterte wie ein Dschungeltier, sagte ihm, daß er sich in höchster Bedrängnis befand. Er machte wieder kehrt und eilte den Korridor in der Gegenrichtung entlang, eine seltsame, elegante, einsame Gestalt im schwarzen Frack mit weißer Schleife, und Sekunden später bogen vor ihm André Previn und ein ganzer Schwarm von Leuten um die Ecke und kamen auf ihn zu. Im Handumdrehen war er von aufgeregten Bewunderern umringt. Previn sagte: «Was wollten Sie denn vorhin -265­

ausprobieren? Sich den Hals brechen? Eine einmalige Art, das Podium zu verlassen, sogar für den letzten Abend der Promenaden-Konzerte.» «Wollte nur einen bescheidenen kleinen Beitrag zu den alten Bräuchen leisten», sagte Mikali. «Aber jetzt kommen Sie, alles wartet bereits auf Sie im Prince-Consort-Saal. Die Herzogin von Kent, der griechische Botschafter, der Premierminister. Leute, die sich nicht gern hinhalten lassen.» Previn lachte. «Sie repräsentieren England.» Er nahm Mikali beim Arm und zog ihn energisch mit sich. Die Treppe zum Prince-Consort-Saal war voller Menschen, und Katherine Riley hatte alle Mühe, sich einen Weg durch das Gedränge zu bahnen. Schließlich erreichte sie die Glastüren, doch ein livrierter Diener verstellte ihr den Zutritt. «Ihre Einladung, bitte, Miß.» «Ich habe keine», sagte sie. «Aber ich bin mit Mister Mikali befreundet.» «Das sind heute abend eine Menge Leute, Miß.» Er wies auf die Menge im Treppenhaus. Eine Gruppe von Studenten fing an, «Mikali! Mikali!» zu rufen. Hinter der Glastür konnte sie Damen in eleganten Roben sehen, die Männer waren im Frack, ausgenommen Superintendent Harry Baker, der im dunkelblauen Anzug mit dem Rücken zur Tür stand. Sie streckte den Arm aus und klopfte ans Glas. Als der Diener sie zurechtwies, drehte Baker sich um. Er sah sie eine Weile ernst an, dann öffnete er die Tür. «Geht in Ordnung, ich erledige das schon.» Er nahm ihren Arm und führte sie in eine Ecke. «Es hat keinen Sinn, Frau Doktor Riley, er ist erledigt. Es gibt hier nichts mehr für Sie zu tun.» -266­

«Das weiß ich», sagte sie. Baker stand da und blickte schweigend auf sie herab, und dann tat er etwas Überraschendes. Er strich ihr sanft mit einer Hand übers Haar und schüttelte den Kopf. «Frauen. Alle gleich. Unbelehrbar, stimmt’s?» Er öffnete die Tür, trat beiseite und ließ sie eintreten. Der britische Premierminister Edward Heath, selber ein Musiker von einigen Graden, schüttelte Mikali begeistert die Hand. «Ganz außerordentlich, Mister Mikali. Ein unvergeßlicher Abend.» «Vielen Dank, Sir.» Mikali ging weiter. Previn lotste ihn zur Herzogin von Kent, die so reizend und verständig war wie immer. «Soviel ich weiß, gibt es von Ihnen beiden keine Einspielung des Vierten Klavierkonzerts von Rachmaninow, nicht wahr?» fragte sie. Previn lächelte. «Nein, Madam, aber ich glaube, wir dürfen sagen, zumal nach Johns heutiger Interpretation, daß dieses Versäumnis in allernächster Zukunft nachgeholt wird.» Mikali überließ die beiden ihrem Geplauder und bewegte sich weiter durch die Menge, schüttelte Dutzende von Händen. Beim griechischen Botschafter blieb er stehen und plauderte ein wenig, ohne eigentlich zu wissen, was er sagte, und seine Augen wanderten ruhelos im Saal umher, als erwartete er, daß ihm irgendwo aus der Menge Morgans Gesicht entgegenstarren würde. Statt dessen sah er Katherine Riley drüben an der Tür neben Baker stehen. Er lächelte schief, denn jetzt rundete das Bild sich ab. Er wollte auf sie zugehen, und als die Menge ihm Platz machte, sah er Ferguson und Jean Paul Deville an der Wand stehe n und Champagner trinken. -267­

Er zögerte kurz und trat dann zu ihnen. «Jean Paul», sagte er leichthin. Deville sagte: «Ich glaube, Sie kennen Brigadier Ferguson.» Mikali nahm ein elegantes goldenes Etui aus der Innentasche seines Fracks und wählte eine Zigarette. «Nur dem Namen nach. Sie sind äußerst fotogen, Brigadier.» Er bot Ferguson das Etui an. «Es sind leider griechische. Ich hänge sehr an meiner Heimat. Vielleicht schmecken sie Ihnen nicht.» «Im Gegenteil.» Ferguson nahm eine Zigarette und ließ sich Feuer geben. «Und Colonel Morgan mit den sieben Leben? Ist er nicht mit von der Partie?» «Nein», sagte Ferguson. «Ich würde nicht unbedingt sagen, daß er brav im Bett liegt, aber auf jeden Fall steht er gewissermaßen unter Hausarrest. Natürlich nur für die Dauer dieses festlichen Abends. Es schien das einzig Vernünftige zu sein. Er hätte allzu gern persönlich mit Ihnen abgerechnet.» «Hausarrest, sagten Sie?» Mikali lachte laut. «Ich muß schon sagen, Sie setzen meinem großen Abend die Krone auf, Brigadier.» Das erste Klingelzeichen zum Beginn des zweiten Teils ertönte. Ferguson sagte: «Es gibt keinen Ausweg mehr, mein lieber Junge, das ist Ihnen doch klar? Um die altmodische Wendung zu gebrauchen, die dem britischen Bobby so teuer ist: Folgen Sie uns unauffällig.» «Aber, mein lieber Brigadier, wann hätte ich jemals irgend etwas unauffällig getan?» Der griechische Botschafter tippte ihm auf die Schulter. «Es wäre uns eine Ehre, wenn Sie sich den zweiten Teil des Konzerts in unserer Loge anhören wollten.» «Mit dem größten Vergnügen, Herr Botschafter», sagte -268­

Mikali. «Nur einen Augenblick, ich komme gleich nach.» Er wandte sich wieder Ferguson zu, der jetzt nicht mehr lächelte. «An Ihre Leistung heute abend werde ich mich noch lange erinnern, aber ich möchte nicht, daß dies Ihre Grabinschrift wird. Denken Sie darüber nach.» Er berührte Devilles Arm. Der Franzose lächelte melancholisch. «Ich sagte Ihnen, was passieren würde, John. Aber Sie wollten nicht hören.» «Sie hatten trotzdem unrecht, Kamerad», lächelte Mikali. «Sie sagten, es könne nächsten Mittwoch passieren, aber heute haben wir Samstag abend.» Ferguson und Deville verließen den Saal, und Mikali sah ihnen nach, während die Menschenmenge ihn umwogte. Auch Baker war verschwunden, doch Katherine Riley stand noch immer an der Wand und wartete, durch das Gewühl von ihm getrennt. Er bahnte sich einen Weg zu ihr und stellte sich, die Hände in den Taschen, die Zigarette im Mundwinkel baumelnd, vor sie hin. Und als er lächelte, brach ihr fast das Herz. «Weißt du es schon lange?» «Seit Hydra mit Gewißheit. Ich fand Morgan droben in den Hügeln in einer schrecklichen Verfassung, oder vielleicht fand er mich.» Mikali nickte. «Ah, jetzt begreife ich. Falls es dich überhaupt noch interessieren sollte, das mit seiner Tochter war ein Unfall. Ich wollte ihr ausweichen. Es war einfach nicht möglich.» «Warum das Ganze, John?» sagte sie. Er lehnte sich neben sie an die Wand, und eine Weile herrschte völlige Vertrautheit zwischen ihnen. «Ich weiß es nicht. Dauernd schienen die Menschen in meiner Umgebung zu sterben. Vermutlich war dies der Ausgangspunkt, alles andere eine zwangsläufige Fortentwicklung. Und das Unheil ist: ich -269­

war so verdammt gut in diesem Fach. Aber du bist der Psychologe. Erkläre du es mir.» «Du hattest ein großes Talent mitbekommen», sagte sie. «Eine seltene Gabe. Das hast du heute abend wieder bewiesen. Und am Ende …» «Worte, mein Engel», sagte er. «Nichts ist von Dauer, alles hat seine Zeit.» Als der griechische Botschafter mit seiner Begleitung hinausging, nahm Mikali Katherines Arm und folgte ihnen. «Weißt du, daß es in diesem alten Kaninchenbau mehrere Kilometer Gänge geben soll? Und kein Stück geraden Wegs im ganzen Haus! Alles läuft im Kreis, eine Biegung nach der anderen, und hinter jeder könnte Asa Morgan lauern.» «Kaum», sagte sie. «Brigadier Ferguson hat ihn für diese Nacht in seiner Wohnung in der Upper Grosvenor Street festsetzen lassen.» «Dann ist der Brigadier nicht besonders umsichtig zu Werk gegangen. Vor etwa zwanzig Minuten sah ich Asa Morgan in der Tür des Korridors direkt unterhalb deiner Loge stehen, und er sah gar nicht friedfertig aus. Es hat, wenn ich so sagen darf, den letzten Minuten meines Vortrags eine zusätzliche Würze verliehen.» Sie packte seinen Arm und riß ihn zurück. «Um Gottes willen, was hast du jetzt vor?» «Nun, ich höre mir den zweiten Teil in der Loge des griechischen Botschafters an. Das Übliche. Elgars Pomp and Circumstance, A Fantasia on British Sea Songs, und zum Schluß stehen alle in diesem ehrwürdigen Bau auf, wenn Jerusalem gespielt wird, und singen aus voller Kehle mit. Der letzte Abend der Promenaden-Konzerte, mein Engel. Wie könnte ich ein solches Ereignis versäumen, und sei es um Asa Morgans willen?» Sie wandte sich entsetzt von ihm ab und lief zur nächsten Tür – Mikali schlenderte eine Weile gelassen hinter der Gruppe um -270­

den griechischen Botschafter her, dann fiel er um ein paar Schritte zurück, bog rasch in die Tür zum Treppenhaus, an der sie gerade vorüberkamen, blieb auf dem dunklen Treppenpodest stehen und wartete, bis die Schritte der anderen verhallt waren. Kurze Zeit war alles still, dann setzte das Orchester mit Elgars Pomp and Circumstance ein. Mikali sagte leise: «So, mein Freund, und jetzt wollen wir mal sehen, wo du steckst», und trat wieder in den leeren Korridor hinaus.

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16

Harry Baker sprach gerade mit einem uniformierten Inspektor in der Halle des Hintereingangs, als Katherine Riley ihn fand. Sie war sichtlich ganz durcheinander, und Baker hielt sie an beiden Armen fest. «Was ist denn passiert?» «Asa», sagte sie. «Er ist hier – irgendwo in diesem Gebäude. Mikali weiß es. Er hat ihn kurz vor der Pause vom Podium aus gesehen.» «Allmächtiger!» rief Baker. «Wo ist Mikali jetzt?» «Er hört sich den zweiten Teil des Konzerts in der Loge des griechischen Botschafters an.» Baker drückte sie auf einen Stuhl. «So, Sie bleiben hier sitzen.» Er wechselte nur ein paar Worte mit dem Inspektor, dann rannte er die Treppe hinauf. Ferguson saß mit Deville wieder im Fond der Limousine des Brigadiers auf dem Parkplatz, als ein Polizeisergeant aus der provisorischen Einsatzzentrale im Lieferwagen herbeigelaufen kam und ihn herausrief. Nach einer Weile kam Ferguson zurück und stieg wieder ein. «Probleme?» fragte Deville. «Kann man wohl sagen. Es scheint, daß Asa Morgan irgendwo in der Albert Hall frei herumläuft.» «Dann hat also dieser Hausarrest, von dem Sie sprachen, nicht genügt, um ihn fernzuhalten. Trotzdem glaube ich, daß Sie damit rechneten, wie?» Ferguson sagte: «Der Mann aus Kreta und John Mikali. Alles kommt einmal an den Tag. Unvermeidlich. Und was wird er -272­

kriegen? Nicht den Strang, sondern lebenslänglich, weil wir in einem aufgeklärten und liberalen Zeitalter leben. Können Sie sich vorstellen, was das für einen Mann wie ihn bedeutete?» «Es wäre Ihnen also lieber, wenn Morgan fü r Sie den Henker spielte?» «Asa hat große Erfahrung in öffentlichen Hinrichtungen. Und wir haben ohnehin kein direktes Interesse an einem lebenden Mikali. An Ihnen schon. Und sein jähes Hinscheiden würde unsere eigene Position enorm vereinfachen.» «Sehr hübsch», sagte Deville. «Bis auf einen ziemlich wichtigen Punkt, den Sie offenbar übersehen haben.» «Und der wäre?» «Daß genausogut Ihr Colonel Morgan mit einer Kugel zwischen den Augen dort drinnen auf der Strecke bleiben könnte.» Harry Baker kam wieder in die Halle, wo Katherine Riley saß. Als sie aufstand, sagte er: «In der Loge des griechischen Botschafters ist er nicht. Ich habe nachgesehen.» Er wandte sich an den Inspektor und fing an, mit leiser und eindringlicher Stimme auf ihn einzureden. Dabei vergaß er, auf Katherine Riley zu achten, und sie ging auf Zehenspitzen die Treppe hinauf und fing erst an zu laufen, als sie um die Biegung und außer Sicht war. Auf dem Treppenabsatz unterhalb des Prince-Consort-Saals, wo der Empfang stattgefunden hatte, blieb sie stehen. Sie wußte nicht, was sie jetzt tun oder wohin sie gehen sollte. Aus dem großen Konzertsaal hörte sie schwach die zündenden Klänge von Elgars Pomp and Circumstance, und dann, ganz plötzlich und zu ihrer grenzenlosen Verwunderung, setzte droben, im Prince-Consort-Saal, eine Klavierbegleitung ein. Mikali wußte, daß es keine Fluchtmöglichkeit mehr gab. -273­

Keinen Ausweg. Die letzte Barrikade. Und als er so im Dunkeln stand und auf Pomp and Circumstance lauschte, das aus dem Konzertsaal herausklang, dachte er wieder an Kasfa, an den Brandgeruch, an die vier Fellachen, die auf ihn zukamen, während er dasaß, mit dem Rücken an die Brunnenwand gestemmt, und sich ans Leben klammerte, nicht aufgeben wollte. Sie hatten lange auf ihn gewartet. Sehr lange. Er sagte leise: «Wir wollen es dir leichtmachen.» Er ging die dunkle Treppe zu seiner Rechten hinauf und gelangte zum Prince-Consort-Saal. Vorsichtig öffnete er die Tür und spähte hinein. Der Saal war natürlich leer, wie er erwartet hatte, nur sein eigenes Bild blickte ihm aus dem der Tür gegenüberhängenden Spiegel entgegen. Die dunkle elegante Gestalt, die ihn so viele Jahre hindurch verfolgt hatte. «Okay, Kamerad», rief er. «Das letzte Mal, also wollen wir’s gut machen.» In der Ecke neben dem Fenster stand ein Konzertflügel, ein Schiedmayer. Während Mikali auf das Instrument zuschritt, zog er das goldene Etui aus der Tasche, nahm eine der griechischen Zigaretten und zündete sie an. Dann klappte er den Deckel des Flügels auf und setzte sich. Die Ceska, die er im Halfter unter dem Frack verborgen hatte, legte er griffbereit an den Rand der Klaviatur. «All right, Morgan», rief er leise, «wo bist du?» – und begann mit großem Schwung eine Klavierbegleitung zu den schwach heraufdringenden Klängen des Orchesters zu spielen. Als sich auf der Treppe Schritte näherten und die Tür aufging, kam nicht Morgan herein, sondern Katherine Riley. Sie lehnte sich an den Türpfosten, um Atem zu holen, dann trat sie zu Mikali. «Du bist wahnsinnig. Was soll das?» -274­

«Ich übe ein bißchen Elgar. Ich wußte gar nicht mehr, daß er soviel Spaß macht.» Er spielte jetzt hinreißend und sehr laut, beugte sich über die Tasten, die Zigarette baumelte in seinem Mundwinkel. Die Töne schwebten durch den Treppenschacht hinunter und durch die gewundenen Korridore, so daß Asa Morgan, der sich in der Nähe des Grünen Zimmers versteckt hielt, sofort kehrtmachte und die Treppe hinaufrannte, die Hand am Griff der Walther, die in der rechten Tasche seines Trenchcoats steckte. Und die Töne drangen sogar bis zu Baker, der mit dem Inspektor in der Halle des Hintereingangs stand. Auch er machte kehrt und rannte treppauf, der Inspektor und zwei Polizisten dicht hinter ihm. «Bitte, John, wenn ich dir überhaupt jemals etwas bedeutet habe …» «Oh, aber gewiß hast du das, mein Engel», sagte Mikali lächelnd. «Erinnerst du dich noch an den Morgen in Cambridge, den Rasen am Flußufer? Die Begegnung war geplant, denn ich brauchte dich, um sicher zu sein, daß Lieselotte Hoffmann keine Gefahr für mich darstellte.» «Das weiß ich inzwischen.» «Nicht, daß es eine Rolle spielte. Du bist wirklich die einzige Frau in meinem Leben, aus der ich mir jemals etwas machte. Siehst du eine Möglichkeit, mir das zu erklären?» Und dann trat Asa Morgan aus dem dunklen Korridor und stand in der Tür. Mikali hörte zu spielen auf. «Sie haben sich verdammt Zeit gelassen, wie?» Aus der Ferne hörte man das Orchester jetzt die Fantasia on British Sea Songs spielen. Morgan sagte: «Aber jetzt bin ich da, du Hund, und das allein -275­

zählt.» «Das Schlachtfeld ist ein Land aufrecht stehender Leichen.» Mikali lächelte. «Das hat ein chinesischer Militärstratege namens Wu Ch’i vor ziemlich langer Zeit gesagt. Ich würde sagen, es trifft genau auf uns beide zu, Morgan. Letzten Endes besteht kein sehr großer Unterschied zwischen uns.» Seine Hand mit der Ceska flog in die Höhe. Katherine Riley schrie auf und warf sich mit ausgebreiteten Armen zwischen die beiden Männer. «Nein, John!» Als Mikali nach einer Sekunde des Zögerns aufstehen wollte, ließ Morgan sich auf ein Knie fallen und gab zwei Schüsse aus der Walther ab. Beide Kugeln trafen Mikali ins Herz und warfen ihn rücklings über den Klavierhocker. Er war sofort tot. Und dann waren plötzlich Baker und die drei Polizisten im Saal. Morgan blieb an der Tür stehen und hielt die Walther an den Schenkel gepreßt. Katherine Riley wartete mit hängenden Armen, während Baker sich über Mikali beugte. «Er hätte Sie erschießen können, Asa», sagte sie dumpf. «Aber ich stand ihm im Weg. Er hat gezögert, weil ich im Weg stand.» Baker stand auf und drehte sich um. Er hatte die Ceska in der Hand. «Nein, mein Herz, Sie sind im Irrtum. Er wollte gar niemanden erschießen, nicht mit dieser Pistole. Sie ist leer. Sehen Sie selber. Er hat das Magazin herausgenommen.» Der Inspektor ging zum Haustelefon, das hinter dem Büffet an der Wand hing, und sagte leise: «Verbinden Sie mich mit dem Einsatzfahrzeug. Brigadier Ferguson.» Katherine Riley ging zu Mikali und kniete neben ihm nieder. Die weiße Hemdbrust war mit Blut befleckt, doch sein Gesicht war unversehrt, er hatte die Augen geschlossen und lächelte -276­

leicht. Sie strich ihm das Haar aus der Stirn, dann zog sie sehr behutsam die weiße Nelke aus seinem Revers. Die Nelke, die er ihr in die Loge hinaufgeworfen – die Nelke, die sie geküßt und ihm wieder zugeworfen hatte. Sie wandte sich ab und ging wortlos an Morgan vorbei zur Tür. «Kate?» sagte er und wollte ihr nachgehen. Baker hielt ihn zurück. «Lassen Sie sie gehen, Asa. Und geben Sie mir die Waffe.» Morgan gab ihm die Walther, und Baker leerte das Magazin. «Fühlen Sie sich jetzt besser? Ist Megan jetzt wieder lebendig?» Morgan ging zu Mikalis Leiche und blickte auf ihn hinab. «Warum hat er das getan?» «Also, wenn ich raten soll, Asa, alter Junge, dann würde ich sagen, es war etwa so: Sie sind gut, aber er wußte, daß er vielleicht besser war, und das konnte er sich nicht leisten. Diesmal nicht. Es gab keinen Ausweg mehr für ihn.» «Außer in die Hölle, wo er hingehört!» «Ansichtssache, Asa. Übrigens, haben Sie heute schon den Daily Telegraph gelesen, Asa? Bringt die Liste mit den Beförderungen in der Army. Jetzt haben Sie’s doch noch geschafft. Brigadier.» Aber Morgan hörte ihm nicht mehr zu. Er drehte sich um und lief in den Korridor hinaus. Dort sah er gerade noch, wie Katherine Riley um die Biegung am anderen Ende verschwand. «Kate!» rief er, und gerade als er zu laufen anfing, endete die Sea Songs Fantasia, und das Publikum brach in einen Beifallssturm aus. Als er die Treppe zum Hauptfoyer erreichte, war von Katherine Riley nichts mehr zu sehen. Er rannte hinunter, nahm -277­

immer zwei Stufen auf einmal und lief durch die Glastüren ins Freie. Es regnete in Strömen, und auf der Straße herrschte dichter Verkehr. Als er auf den Stufen stand, kam Ferguson ihm entgegen und hielt ihm einen Schirm über den Kopf. «Gratuliere, Asa.» «Genau, was Sie sich wünschten, wie? Wußte es von Anfang an. Wir wußten es beide. Alles wie gehabt, das gleiche alte verdammte Spiel.» «Hübsch gesagt.» Morgan blickte ungestüm um sich. «Wo ist sie?» «Dort drüben.» Ferguson wies mit dem Kopf auf die andere Straßenseite. «Ich an Ihrer Stelle würde mich beeilen, Asa.» Doch obwohl Morgan blindlings in den Regen und über die Fahrbahn stürzte, kam er zu spät, denn als er die andere Straßenseite erreichte, war sie schon am Albert Memorial vorbei und verschwand in der Dunkelheit des Parks.

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