BAD EARTH
Die große Science-Fiction-Saga
SOBEKS PLAN
Manfred Weinland Die Foronen Die Namen ihrer Anführer lauten ...
28 downloads
904 Views
2MB Size
Report
This content was uploaded by our users and we assume good faith they have the permission to share this book. If you own the copyright to this book and it is wrongfully on our website, we offer a simple DMCA procedure to remove your content from our site. Start by pressing the button below!
Report copyright / DMCA form
BAD EARTH
Die große Science-Fiction-Saga
SOBEKS PLAN
Manfred Weinland Die Foronen Die Namen ihrer Anführer lauten Sobek, Mont, Mecchit, Sarac, Ogminos. Epoona und Siroona; die beiden letzt genannten sind weiblich. Sobek ist der Einzige von ihnen, der bereits vollständig erwacht ist, Mont ist, wie wir inzwischen wissen; tot. Die Foronen sind die wahren Herren der RUBIKON II (SESHA).Sie werden von den Vaaren wie Götter verehrt und »Hirten« genannt. John Cloud 28 Jahre alt, 1,84 m groß, blaue Augen, Sohn von Nathan Cloud, der die erste Marsmission führte – später dann selbst Kommandant von Mission II, die den Roten Planeten im Jahr 2041 erreichte. In Clouds Körper kreisen immer noch Reste von Protomaterie, die es ihm ermöglichen, die Sprache der Foronen zu beherrschen. Cloud wurde durch die Manipulation des Außerirdischen Darnok in eine düstere Zukunft verschlagen, in der die Menschen »Erinjij« genannt werden. Scobee 20 Jahre alt, 1,75 m groß, ihre Augen sind nicht nur nachtsichtig, sondern können auch die Farbe wechseln; Grundfarbe ist jadegrün. Weiblicher Klon und Vorlage (Matrix) für sämtliche nach ihrem Vorbild gezüchteten Scobee-GenTecs (genetisch optimierte Menschen), von denen mehr als ein Dutzend bei der Reise zum Mars ums Leben kam. Scobee ist zusammen mit John Cloud und den beiden GenTecs Resnick und Jarvis in ungewisser Zukunft gestrandet. Jelto, der Florenhüter Ein Klon mit »Kirlianhaut«,genetisch prädestiniert, um mit jedweder Pflanze - ganz gleich, ob auf der Erde ansässig oder auf einem fremden Planeten – mentale Verbindung aufzunehmen. jelto ist eine Art lebendiger »grüner Daumen«; er besitzt eine nicht mehr zu übertreffenden Affinität zu Pflanzen und vermag sich optimal um deren Bedürfnisse zu kümmern. Jelto hütete eine gewaltige Parzelle Wald, die das Getto umgibt und - wie, sich herausstellt - offenbar nur dazu dient, jeden Fluchtversuch daraus zu vereiteln. Denn dieser Wald besteht zur Hauptsache aus außerirdischer Vegetation, die durchaus fleischliche Gelüste kennt... Darnok Der Keelon hielt sich lange Zeit für den letzten Überlebenden seines Volkes. Doch er fand heraus, dass er von seiner eigenen Rasse getäuscht worden war. Jetzt befindet er sich in der Gewalt Arabims. Vaaren Sie sind - zumindest vordergründig - die Beherrscher des Aqua-Kubus. Die Vaaren sind bei Körperkontakt zu einer bildtelepathischen Verständigung fähig. Sie betrachten die Foronen als gottgleiche Wesen und nennen sie "Hirten". Es scheint eine noch höhere Instanz zu geben, die Lovrena, die Vaaren-Königin getötet hat, als diese SESHA bedrohte. Das Mädchen Aylea Im »Paradies« einer irdischen Metrop (Metropole) aufgewachsenes 10-jähriges Mädchen – das unversehens die Schattenseite der Gesellschaft kennen lernt und ins so genannte »Getto« abgeschoben wird, wo die Rechtlosen der neuen Menschheit ihr Dasein fristen. Dort traf sie auf John Cloud. Arabim Der Keeton ist der »Master der Master«, der oberste Herrscher der Erde und damit des ErinjijReiches.
Die Keelon
Bei den Keelon handelt es sich um eine zeitreisende Rasse, die vom Planeten Roogal stammt. Dieses Volk von friedlichen Forschern wurde von den Erinjij ausgelöscht. Der einzige überlebende Keelon ist Darnok. So schien es zumindest. Inzwischen ist John Cloud und seinen Gefährten bekannt, dass es sich bei der vorgeblichen Vernichtung der Keelon um eine Finte handelte, um jeden Verdacht gegen sie abzulenken. In Wirklichkeit residieren sie auf der Erde in gewaltigen, 500 Meter hoch aufragenden Bauwerken, die sich aus den 2041 gelandeten Äskulap-Schiffen entwickelt haben. Sie stehen in sämtlichen Metropolen der Welt und anderen primär wichtigen Umgebungen. Die herrschenden Keelon werden Master genannt. Erinjij Sinngemäß: »Geißel der Galaxis« - Bezeichnung, welche die Milchstraßenvölker den rücksichtslos expandierenden Menschen verliehen haben. Die galaktische Position der Erde ist den Außerirdischen dabei bislang unbekannt - mit einer Ausnahme: Der Keelon Darnok kennt die Koordinaten und ermöglichte Cloud und Scobee so erst die Heimkehr ins Sonnensystem. Die Erinjij beherrschen als einzige bekannte Spezies die so genannte »Wurmlochtechnik«. Über das künstlich erschaffene Jupiter-Tor gelangen sie zu in der Nähe von Wurmlöchern gelegenen Außen-Basen, von wo aus sie ihre aggressiven Eroberungsfeldzüge koordinieren. Reuben Cronenberg Ehemaliger Leiter des NCIA (Nachfolgeorganisation des CIA);Allerweltsgesicht, wirkt wie ein biederer Familienvater, hat aber Ambitionen auf die Weltherrschaft; war während der Vorbereitungsphase der zweiten Marsexpedition mit Scobee liiert und kennt sie wahrscheinlich besser als jeder andere - was umgekehrt ebenfalls zutrifft. Als besondere Heimtücke hat er in Scobee ein Gehorsamsprogramm verankern lassen, das sie zwingt, stets auf seiner Seite zu kämpfen. Sid Palmer Ehemals persönlicher Berater der US-Präsidentin Sarah Cuthbert und ihr engster Vertrauter; wie sich zeigte jedoch nicht gerade loyal. Paktierte in Wirklichkeit mit Cronenberg und entmachtete Cuthbert schließlich vollends in der geheimen Militärbasis nahe Nevada. Die irdischen Astronauten John Cloud, Scobee, Resnick und Jarvis verschlägt es in die düstere Zukunft des Jahres 2252, in der die Menschen Erinjij genannt werden - »Geißel der Galaxis.« Im sagenumwobenen Aqua-Kubus finden sie die Hinterlassenschaft der Foronen, eines Geheimnis um witterten, uralten Volkes: ein rochenförmiges Raumschiff, das sie auf den Namen RUBIKON II taufen. Damit gelingt ihnen schließlich die Flucht aus dem Herrschaftsgebiet der Kubus-Beherrscher und die Rückkehr ins heimische Sonnensystem. Resnick und Jarvis verschlägt es über Umwege zum Mars, Cloud und Scobee gelangen zur Erde, wo sie erfahren, wer die Erdinvasion im Jahr 2041 initiierte: Hinter den Mastern verbergen sich die vernichtet geglaubten Keeton, Darnoks Volk. Auch Darnok selbst ist nicht in der Oortschen Wolke umgekommen, sondern befindet sich in der Gefangenschaft Arabims, des »Herrn der Herren«. Zusammen mit dem Mädchen Aylea, dem Florenhüter Jelto und einem namenlosen amorphen Wesen gelingt die Flucht aus Arabims Residenz und die Rückkehr zur RUBIKON II - wo bereits der Forone Sobek auf sie wartet. Er ist die wahre Autorität auf der RUBIKON II, von ihm SESHA genannt, und veranlasst die Bergung der Marsstation, in die es Resnick und Jarvis verschlug. Und dann müssen Cloud und Scobee hilflos mit ansehen, wie Jarvis auf Sobeks Befehl hin vor ihren Augen umgebracht wird - oder »von seinem Leiden erlöst«, wie der Forone es ausdrückt...
Prolog
Es geschah noch vor der Rückkehr der Rüstung: Der Forone Sobek versammelte fünf weitere Hirten
um sich.
Hirten - unter diesem Begriff hatten sie sich im genetischen Gedächtnis der Versteck-Bewohner
verewigt. Ihrer Schöpfungen...
Wir haben so vieles geschaffen, dachte Sobek. In der Ersten Heimat. Der Einzigen Heimat...
Er spürte den Sog der Erinnerungen, die nach oben drängten, verwehrte sich ihnen aber. Für dieses
Mal. Die Zeit, da er in ihnen schwelgen konnte, würde kommen. Vorher musste er sich der
Aktualität stellen, dem Hier und Jetzt mit seinen Problemen - und Unwägbarkeiten...
»Was ist mit Mont geschehen?«, erklang Saracs Stimme.
Er war - wie die anderen fünf - nicht real. Noch ersetzte ein Hologramm seinen im Aufwachen
begriffenen Körper. Aber die Gedanken, die der holografische Hirte aussprach, waren bereits die
des wahren Sarac. Eine spezielle Einrichtung des Schiffes ermöglichte es den Bewusstseinen der
aus viertausendjährigem Schlaf Zurückkehrenden, die Cybersinne der Projektion zu nutzen und
schon jetzt bei Sobek zu weilen. Mit ihm zu kommunizieren.
Foronen waren schwache Telepathen, die über eine hoch entwickelte Lautsprache verfügten,
darüber hinaus aus nächster Nähe aber auch mental miteinander zu kommunizieren vermochten.
Auf diese Weise hatte Sobek bereits Kontakt mit jedem der fünf gehabt, nachdem er mit Hilfe von
SESHA, der künstlichen Intelligenz des Schiffes, den Erweckungsvorgang eingeleitet hatte.
Er selbst war der Vorreiter gewesen. Ihn hatte die Schiffs-KI nach einem Äonen alten Programm als
Ersten aus der Stasis geholt, als die Ereignisse in der Ewigen Stätte und in ganz Tovah'Zara es
geboten erscheinen ließen.
SESHA hatte Sobek erweckt, und er war von ihr mit allen erforderlichen Informationen versorgt
worden. Daraufhin hatte er entschieden, auch seinen Körper mit der gebotenen Vorsicht aus dem
langen Schlaf zu wecken. Die genaue Dauer der Stasis, in der ganz SESHA - der Name galt sowohl
für die KI als auch für das Schiff - mit all ihren Bewohnern geschlummert hatte, war erst später von
ihm ermittelt worden.
Zunächst hatte er sich um die Eindringlinge kümmern müssen, und ganz besonders um einen von
ihnen. Einen, der einen besonderen Status besaß, weil er mit Materie durchwirkt war, die eine Art
von... Verbindung ermöglichten.
Der Name dieses Einen lautete John Cloud.
John Cloud und diejenigen, die ihn begleiteten, hatte den Frieden innerhalb des Verstecks akut
gefährdet - im Nachhinein aber war Sobek ihm durchaus dankbar. Denn die von ihm und seinen
Begleitern verbreitete Unruhe hatte dazu geführt, dass jene Mechanismen in Gang gerieten, die
einst als Erweckungskriterien festgelegt worden waren.
Damals - als wir noch sieben waren.
Sein Blick ruhte auf dem leeren Sitz, der in den alten Tagen Mont gehört hatte. Er wirkte wie eine
Wunde in einem Körper. Wie ein Makel an einer kostbaren Kette, an der plötzlich eine Perle fehlte,
und die damit viel von ihrem Wert verlor.
Sobek wusste, dass keiner seiner geheimen Gedanken zu den anderen drang. Deshalb erlaubte er
sich Widerspruch. Diese Assoziation war falsch. Die Wahrheit war: Gerade weil diese ganz
bestimmte »Perle« entfernt worden war, erhöhte sich der Wert der verbliebenen Kette um ein
Vielfaches.
Für ihn.
Mont war immer ein Problem gewesen, ein Hemmschuh, ein... Rivale.
»Vermutlich ein Defekt in seinem Lebenserhaltungssystem«, antwortete Sobek auf Saracs Frage.
»Er wurde von SESHA zu spät entdeckt.«
»Wie konnte ihr das entgehen?«
Diese Frage, wusste Sobek, richtete sich weniger an ihn, als an die Kontrollinstanz der Arche, die
über eine gewaltige Zeitspanne erfolgreich über sein und das Leben so vieler anderer gewacht hatte.
»Es konnte kein Defekt ermittelt werden«, meldete sich die KI zu Wort.
»Kein Defekt?«, echote Sarac. Es klang verstört.
Auch Siroona schaltete sich nun ein. »Aber Sobek sagte...«
»Es war eine Vermutung«, unterbrach Sobek sie. »Basierend auf meinem eigenen Erkenntnisstand
bis vor wenigen Momenten.« An die KI gewandt verlangte er: »Erklärung!« Er war nicht beunruhigt. All dies hatte er kommen sehen. Aber die Spuren seines Attentats auf Mont waren so akribisch verwischt worden, dass ihm weder die Schiffs-KI noch einer der um ihn Versammelten je auf die Schliche kommen würde. Er konnte in den Mienen der anderen lesen wie in einem aufgeschlagenen Buch. Menschen wie John Cloud wären nicht in der Lage gewesen, in dieser Physiognomie überhaupt eine Regung zu erkennen. Aber Foronen untereinander verstanden die winzigen Nuancen der Hautverfärbung und der Verhärtung von Knorpelpartien durchaus zu deuten. Den Rest erledigten spezielle von den Poren ausgeschiedene Duftstoffe. Aber auch diese konnte ein erfahrener Forone - wie seine geheimen Gedanken unterdrücken oder sogar nach Belieben verfälschen. Sobek gab sich auch diesbezüglich keine Blöße. »Der Tod des Erhabenen Mont geht nicht auf äußere Einflüsse zurück«, erklärte SESHA. »Meiner Diagnose zufolge wurzelt er in dem Erhabenen selbst.« »Du willst behaupten, er sei einfach... gestorben?« Erstmals mischte sich Epoona ein. Sie war neben Siroona die einzige weibliche Angehörige der Hohen Sieben. »Das ist das Resultat mehrerer Scans«, gab die KI Antwort. »Monts Körper befindet sich immer noch im Stasis-Block. Habe ich die Befugnis, ihn daraus zu lösen und einer eingehenden Untersuchung zu unterziehen?« »Verweigert!«, drang es unisono aus sechs Membranen gleichzeitig, wobei die virtuellen ebenso erzitterten wie Sobeks reale. Ihre Körper waren den Foronen heilig. Es gab keinen hinreichenden Grund, der eine Entweihung gerechtfertigt hätte. Ein Umstand, auf den Sobek durchaus baute. »Dann bleibt es bei dem, was ich sagte. Er starb eines natürlichen Todes, obwohl seine normale Lebensspanne erst zu einem Drittel erreicht war.« »Wie viele Ausfälle sind unter den anderen Schläfern zu beklagen?«, fragte Ogminos. Er war noch
immer besonnen wie vor der halben Ewigkeit, als Sobek ihm zuletzt gegenüber gesessen hatte.
»Keiner«, antwortete die KI. »Nicht ein Einziger.«
Monts Tod wurde dadurch nicht begreiflicher, denn die, nach denen sich Ogminos erkundigt hatte,
waren - obwohl der kümmerliche Rest ihres einst stolzen Volkes - immer noch beachtlich an Zahl.
»Wenn die anderen einverstanden sind«, führte Sobek das Thema elegant weg von Mont, »treffen
wir auch bei ihnen erste Vorbereitungen zur Erweckung. Ihr wisst, ihr spürt es am eigenen Leib,
wie behutsam die Rückholung nach so langer Zeit erfolgen muss.«
»Du bist entschlossen, an unseren ursprünglichen Absichten festzuhalten - obwohl Monts Ableben
nie im Kalkül stand?«,fragte mit Mecchit der Letzte im Bund der Erhabenen.
»Seid ihr es nicht?«, hielt Sobek dagegen. »Ändert der Tod eines Einzelnen etwas am Letzten
Traum?«
Sie verneinten. Es änderte nichts. Keiner von ihnen hätte eine Rückkehr ins Leben verdient gehabt,
hätte er diese Frage bejaht.
Sobek trug SESHA auf, die Schläfer in ihren zahllosen Kammern zu betreuen und sie langsam zu
reanimieren.
»Wir befinden uns in einem ehemaligen Stützpunkt-System«, stellte wenig später Siroona fest.
»John Cloud stammt von hier«, bestätigte Sobek. Er hatte sie bereits über einige Zusammenhänge
informiert, aber noch nicht über alles, was seit Verlassen Tovah'Zaras geschehen war.
Tovah'Zara - der Schlüssel.
»Jeder von uns«, fuhr Sobek fort, »hat uneingeschränkten Zugang auf die Datenbänke der Arche.
»Darin ist alles gespeichert, was sich seit unserem Rückzug ins Herz unseres Verstecks ereignete.
Ein letzter Datentransfer fand unmittelbar vor Verlassen des Kubus statt. Ich selbst hatte
Gelegenheit, mich über die Verhältnisse - und die Fortschritte - kundig zu machen. Unser Konstrukt
ist demnach seit langem vollendet und einsatzbereit. Das Regulativ, das wir installiert haben, hat
sich bestens bewährt.«
»Es existiert noch?«, fragte Siroona. Nichts verriet den anderen, was sie füreinander empfanden.
»Es existiert und funktioniert. Für eine andere Schlussfolgerung gibt es keinerlei Hinweis.«
»Du hattest Kontakt mit ihm?«
»Nein. Als SESHA Tovah'Zara verließ, agierte ausschließlich die KI nach den von uns verankerten
Richtlinien. Ich war noch im Aufwachen begriffen und selbst nicht handlungsfähig.«
»Was sich geändert hat.«
»Was sich geändert hat.« Er unterdrückte, was das direkte Gespräch mit ihr in ihm auslöste. Hier
war nicht der Ort. jetzt war nicht die Zeit für mehr als nüchterne Überlegung.
»Was ist aus John Cloud und der Frau geworden?«
»Sie sind unterwegs – als Kundschafter auf dem verborgenen Planeten dieses Systems, ihrer
ehemaligen Heimat.« Er informierte sie detailliert auch darüber und schloss: »Ich habe ihnen einen
Verbündeten mitgegeben.«
»Wen?«, fragte Epoona.
»Monts Rüstung.«
Zunächst war die vorherrschende Reaktion Bestürzung, ja Protest. Dann erklärte er ihnen seine
Gründe, und sie akzeptierten.
»Wie gefährdet sind wir auf diesem Gebiet?«, war die nächste Frage, die aufkam.
Auch dazu stellte die Schiffs-KI ihnen einen Wust von Daten zur Verfügung. Sämtliche bisherigen
Versuche der System-Bewohner, SESHA unschädlich zu machen, gingen daraus hervor.
»Sie stellen keine akute Bedrohung dar, obwohl ich sie nicht unterschätzen würde«, fügte Sobek
den Ausführungen der KI an...
Wenig später kehrte Cloud in Begleitung der Rüstung und anderer Subjekte an Bord zurück. Eines
davon erwies sich als Gefahr, was Sobek zu unverzüglichem Handeln zwang.
»Interessante Zeiten«, wandte sich Sobek an das Kollektiv der Hirten, bevor er Kontakt mit Sobeks
Rüstung aufnahm und ihr auftrug, die Ankömmlinge in die Zentrale von SESHA zu geleiten. »Es
kommen interessante Zeiten auf uns zu.«
»Die Virgh?«, fragte Siroona mit verständlicher Skepsis in der Stimme.
»Wir werden uns um sie kümmern«, versprach und wiegelte er zugleich ab. Zu gegebener Zeit.«
Obwohl er es hatte vermeiden wollen, schwang der Name des Feindes noch lange unheilvoll nicht
nur in seinem Hirn nach.
Die Virgh.
Was mochte aus ihnen geworden sein? Oder anders gefragt: Existierten sie nach all der Zeit noch?
1. Uralt. Er war uralt, und die imaginären Jahre hatten nie schwerer auf seinen Schultern gewogen als in dem Moment, da er Jarvis sterben sah. Der Moment, der sich seither als Endlosschleife in John Clouds Kopf wiederholte, ganz gleich, ob er die Augen offen oder geschlossen hielt. Gefühle und Gedanken vermischten sich zu einem unentwirrbaren Knäuel. Uralt fühle ich mich. Als wäre ich wahrhaftig 239 Jahre alt... Resnick ist tot... Jarvis ist tot... Dieser verdammte Hundesohn Sobek hat ihn eiskalt gekillt! Nicht nur alt, nein, er fühlte sich auch unsagbar allein – seit dem Moment, da der Amorphe, dieses absurde, quecksilbrige Konstrukt aus der Techno-Schmiede der Hirten, Jarvis erstickt hatte. Spätestens aber seit Scobee und Jelto auf Sobeks Geheiß hin die Zentrale der RUBIKON II – den Schauplatz des feigen Mordes - verlassen und sich in ihre Unterkünfte begeben hatten. Als Gnadenakt hatte Sobek die Tötung des geschundenen Jarvis verkaufen wollen, und noch immer hallten die Worte des bizarren Außerirdischen in Cloud nach: »Es ist zu spät«, hatte er den Zustand des zellgeschädigten GenTec kommentiert. »Das dort ist wertlos.« Und seine Tat hatte der Hirte mit den Worten begründet: »Es ist ein Gefallen. Dies war alles, was ich noch für ihn tun konnte.« Cloud erinnerte sich, wie er mit leiser, kalter Stimme erwidert hatte: »Das werde ich dir nie vergessen. Niemals!« Und das war die Wahrheit. Diese Untat würde er niemals vergessen, geschweige denn vergeben. Sein Verhältnis zu dem Wesen, dem die RUBIKON II wirklich gehörte - ja, es war purem Größenwahn entsprungen, auch nur zeitweise anzunehmen, ein Technik-Wunder wie das im AquaKubus gefundene Raumschiff könne tatsächlich von Menschenhand gezähmt und nach Belieben
benutzt werden -, war von der ersten Sekunde ihrer Begegnung an gespalten gewesen. Hin und her
gerissen hatte sich Cloud von dem »knöchernen Hirten« gefühlt.
Sie nennen sich selbst Foronen, rief er sich ins Gedächtnis. Gewöhne dich endlich daran. Gewöhne
dich an den wahren Namen dieser Ungeheuer!
Er war so voller Zorn, wie nur einmal zuvor in seinem Leben. Das noch nicht wirklich lange
währte, nicht biologisch gesehen jedenfalls. Achtundzwanzig. Er war 28 Jahre alt - nur der von
Darnok initiierte Zeitsprung hatte ihn und die GenTecs ganze 211 Jahre weit in die Zukunft
geschleudert!
Damals hatte er sich vergleichbar mies gefühlt. Damals, vor erlebten 22 Jahren - als ihn die
Nachricht vom Tod seines Vaters erreichte.
Nathan Cloud.
Vermisst, verschollen auf einem fremden Planeten.
Er und drei andere Astronauten, die nahe des marsianischen Hellas Planitia gelandet und dort ihre
Forschungsarbeit im Dienste der Menschheit aufgenommen hatten...
Wolinow, Jeunet und Oyama, geisterte es durch Clouds Gehirn.
Er konnte die Namen der Teilnehmer von Mission I im Schlaf aufsagen. Sie waren mit seinem
Vater verschwunden. Spurlos. Und unter so mysteriösen Umständen, dass Amerika in der Folge das
größte und geheimste Projekt seiner Geschichte auf den Weg gebracht hatte.
Mission II.
Mit einem Commander namens John Cloud.
Und mit gentechnisch optimierten Klonen an Bord der RUBIKON I, die für alle Eventualitäten
ausgerüstet zu sein schienen - notfalls sogar, um einen kleinen Krieg auf dem Mars zu entfesseln.
Gegen eine unbekannte Gefahr, hinter der durchaus auch etwas Intelligentes vermutet wurde. Eine
aggressive Marslebensform mit Grips in der Birne.
Die nichts Besseres zu tun hatte, als Dad und den drei anderen drastisch klar zu machen, dass sie dort, wo sie ihre Fußstapfen im roten Sand hinterließen, nicht willkommen waren! Cloud merkte kaum, wie er den Kopf schüttelte. Die Erinnerungen drohten, ihn hinwegzuspülen und ihm sogar den Blick für die aktuelle Realität - den Toten vor seinen Füßen - zu verstellen. Er gab sich einen Ruck, hallte die Hände zu Fäusten und wandte sich dem monströsen Wesen zu, von dem inzwischen klar war, dass es nicht länger nur aus gefärbtem Licht bestand - kein bloßes Hologramm mehr war. »Worauf wartest du?«, fauchte er Sobek an. »Warum bringst du mich nicht auch um?« Der Hirte stand nur wenige Schritte von ihm entfernt vor einem von insgesamt sieben kreisförmig angeordneten Sitzen. Auf denen fünf andere saßen wie er. Andere, die fast identisch aussahen. Und ebenso viel Verdorbenheit, ebenso viel eiskaltes Kalkül ausstrahlten. Sobek, Mecchit, Sarac, Ogminos, Epoona, Siroona, zählte Cloud im Geiste die Namen der anderen Foronen auf, jener Sieben, die von den Vaaren als gottgleiche Geschöpfe, als ihre »Hirten« verehrt worden waren - oder immer noch wurden. Über die gegenwärtige Situation im Aqua-Kubus war Cloud nichts bekannt - nur dass der Kubus als solcher »Amok lief«, seit die RUBIKON II aus ihm entführt worden war. Der gigantische, durchs All irrende Wasserwürfel mit einer Kantenlänge von einer Lichtstunde hatte - glaubte man Cy und Algorian (Siehe Bad Earth Band 12 + 13) - damit begonnen, bewohnte Welten in sich zu absorbieren. Und damit alles Leben auf den betroffenen Planeten zu ertränken... »Es wäre einfach, du hast Recht«, grollte Cloud der Stimme des Foronen entgegen. Sobek sprach nicht laut, dennoch schienen seine Worte bis in den entferntesten Winkel der Schiffszentrale zu reichen. Die runde Membran in der unteren Hälfte seines »Gesichts« zitterte leicht wie die Bespannung eines antiquierten Lautsprechers. »Aber welchen Nutzen hätte ich davon?« Für Sobek schien alles ein nüchternes Abwägen von Aufwand und Nutzen zu sein. In der kurzen Zeit, die Cloud ihn kannte - ein Wort, das in diesem Zusammenhang geradezu absurd übertrieben wirkte -, hatte es noch keinen Moment gegeben, der auch nur die Wahrscheinlichkeit nahe legte, dass Foronen über Charaktereigenschaften verfügten, die mit Mitleid vergleichbar waren. Und die sie aus anderen als rein pragmatischen Gründen handeln ließen. Oder war diese Aura von Unnahbarkeit nur ein Schutzschild, mit dem sich Sobek umgab, weil er in
Cloud und den anderen Menschen keine gleichwertigen Gegenüber sah.
Nur Mittel zum Zweck. Wir sind nur seine Werkzeuge. Im besten Fall Kundschafter, wie jüngst
geschehen - damit er sich nicht selbst in Gefahr bringen muss...
Nein, es war kein bloßer Schutzschild.
Den Beweis hatte er vor wenigen Minuten geliefert, als er Jarvis durch den Amorphen »erlösen«
ließ.
Hilflos dabei zusehen zu müssen, wie ein Freund umgebracht wurde, hatte eine hässliche Wunde in
Cloud gerissen - eine Wunde, die sich nicht mehr schließen wollte.
Aber vielleicht war es auch ein heilsamer Schock gewesen. Denn bis zu diesem Moment hatte er, so
ehrlich musste er sich selbst gegenüber sein, offenbar gehofft, in Sobek - und den Foronen generell
- etwas anderes als gewissenlose Feinde zu sehen.
Vorbei.
»Sei demütig!«, riss ihn Sobeks Stimme aus den Gedanken. »Du wirst mir noch danken - sobald du
anfängst zu verstehen.«
Mit diesen Clouds Zorn noch mehr nährenden Worten verwies der Forone auch ihn aus der
Zentrale. »Geh jetzt! Finde zu dir! Begreife!«
»Was passiert mit...?« Clouds Blick zuckte noch einmal zum Leichnam des Freundes, der fast zur
Unkenntlichkeit verändert war. Wofür aber nicht Sobek, sondern der Gendefekt des Klons
verantwortlich war.
»Darüber entscheidest du, wann immer du willst. Die sterblichen Überreste werden so lange
verwahrt.«
Verwahrt.
Wie ein Ding.
Zu Wut gesellte sich - fast unmerklich - Hass.
Cloud wandte sich mit einem Ruck ab und verließ das Herz der RUBIKON II, die noch einen
anderen Namen hatte.
SESHA.
Das Seelenschiff.
Kaum hatte er die Zentrale mit den Hirten hinter sich gelassen, wurde ihm erst richtig bewusst, was
sich ereignet hatte.
Nicht nur Jarvis, auch Resnick war tot. Und vieles sprach dafür, dass Aylea, das Mädchen von der
Erde, das Betreten des
Hirten-Schiffes ebenfalls nicht überlebt hatte. Vor Clouds Augen war sie verschwunden, hatte sich
in Luft aufgelöst, und Sobek zeigte keinerlei Bereitschaft, dieses Verschwinden zu kommentieren.
»Sei demütig!«
Eindringlicher als diese Floskel des Hirten konnte wohl nichts verdeutlichen, wofür er sich hielt.
Und was er in all jenen sah, die der Zufall - oder das Schicksal - an Bord seines Schiffes gewürfelt
hatte...
Über der Metrop Washington wölbte sich ein strahlend heller Himmel, an dem trotz schwacher Bewölkung und klarer Luft keine Sonne zu erkennen war. Aber daran hatten sich die Menschen gewöhnt, die sich durch die Straßenschluchten bewegten. Sie kannten nichts anderes. Bei Tag war der Himmel sonnenlos, bei Nacht das Firmament seiner Sterne beraubt. Seit mehr als zwei Jahrhunderten. Seit die Satelliten ihre Arbeit aufgenommen und den Planeten hinter einem Schirm verborgen hielten, der ihn den Blicken entzog. Ein Nebeneffekt, mehr nicht, wusste Arabim. Der Herr der Erde ruhte in einem Becken, das perfekt auf seine Bedürfnisse abgestimmt war, was Bequemlichkeit und anderweitige Belange anging. Von dieser Bodenvertiefung aus, konnte er fast jeden Punkt auf der Erde betrachten. Und wenn er wollte sogar noch über die Grenzen des Planeten und des solaren Systems hinaus schauen.
Der Schlüssel zu dieser »Weitsicht« lag im Boden der höchsten Etage seiner Residenz verborgen. Das Gigahirn. Eine spezielle Züchtung, wie sie in jedem der über den Globus verstreuten Master-Türme zu finden war - aber nirgendwo sonst in dieser Perfektion. Bodor hatte es zu spüren bekommen. Der Verräter Bodor, der Entartete, wie Arabim ihn in Gedanken nannte, wenn er sich nicht gerade eines anderen Ausdrucks bediente, der dem Wortschatz der Erde und der Menschen entstammte. Bastard. Verräter. Entarteter. Bastard. All dies traf auf Bodor zu, auch jetzt noch, da Bodor Teil der Vergangenheit geworden war und keinen Platz mehr in der Gegenwart hatte. Es hätte nur einer geringfügigen Korrektur in der Zeit bedurft, um ihn wieder zum Leben zu erwecken - obwohl er auf Arabims Geheiß hin exekutiert worden war. Nicht alles ist korrigierbar, dachte der Keelon, während er kraft seines Magoos eine routinemäßige Verjüngung seiner Zellen einleitete. Und beileibe nicht alles möchte ich korrigiert wissen. Zu den Dingen, die er nicht rückgängig machen wollte, gehörte Bodors Ende. Es war verdient. Und würde somit Realität bleiben. Ganz oben auf der Liste der Dinge, an deren Änderung und Korrektur (oder ihrem UngeschehenMachen) er durchaus ein Interesse gehabt hätte, die aber nicht zu ändern waren, stand das Getto. Oder Peking, wie es einmal geheißen hatte. Die Zerstörung der dortigen Residenz und damit der Tod der darin befindlichen Master konnte nicht mehr ungeschehen gemacht werden - nicht ohne unabsehbare Folgen zu provozieren, die möglicherweise noch schwer wiegender gewesen wären als der Verlust einer Residenz und der von ihr behüteten Bevölkerung. Noch immer nicht vollständig auf geklärte Phänomene, die mit den getöteten Keelon und ihrem Magoo in Zusammenhang stehen mussten, verhinderten bis heute ein Betreten der Getto-Zone durch einen Master. Und die immer noch präsente Strahlung dort störte selbst die Hochtechnik, die auf der Erde Einzug gehalten hatte. Innerhalb der Zone ohnehin - aber selbst eine Beobachtung von außen, aus dem Orbit, war starken Einschränkungen unterworfen. Der ganze Landstrich rund um das zerstörte Raumschiff - die Residenz - litt noch immer unter den Auswirkungen der Anomalien, die so tief ins Geflecht der Zeit hineinwirkten, dass nur ihre Isolation als Lösung übrig geblieben war. Die Master hatten sich damit arrangiert und auf dem Boden der ehemaligen Millionenstadt ein Asyl installiert, in das all jene abgeschoben wurden, die der neuen Ordnung im Wege standen. Doch mittlerweile betrachtete Arabim auch diesen Zweck als überholt. Das Getto hatte sich als Brutzelle möglicher Revolten entpuppt - dem wollte er für alle Zukunft entgegenwirken. »Was hältst du von meiner Idee?«, wandte er sich an ein Geschöpf, das unweit von seiner Bodenmulde in einem leise, dafür umso zorniger summenden Hochenergiekäfig lag. Dieses andere Wesen ähnelte ihm grob, jedoch war die Farbe seiner Haut nicht lackschwarz wie bei einem gesunden Keeton, der in der Blüte seiner Jahre stand, sondern aschgrau, fast schorfig. Es lag ermattet in der sehr viel primitiveren Ausführung eines Ruhebeckens, und sämtliche seiner über die Vorderseite des Rumpfs verteilten Augen waren geschlossen. Arabim ließ sich davon nicht täuschen. »Ich weiß, dass du mich hörst. Ich weiß, dass du wach bist, also: Was hältst du von meiner Entscheidung, das Getto betreffend, Darnok?« Lange herrschte Schweigen. Doch schließlich reagierte der Gefangene hinter den Gittern, die sein Magoo eindämmten und auch sonst an seinen Kräften zehrten. »Was ist nur... aus dir geworden?«, drang seine leise Stimme aus dem Kerker. Aus den Tiefen von Arabims Körper löste sich ein Fauchen, das dem Seufzer eines Menschen ähnelte. »Dich sollte weniger erschüttern, was ich heute schon bin, als vielmehr das, was ich vorhabe zu werden.« Darnok erwiderte nichts mehr darauf, und Arabim widmete sich wieder der Betrachtung des Himmels.
Und dessen, was dahinter lag.
Er erwachte.
Wo - bin ich?
Was - geschieht? Stille.
Dunkelheit.
Leere.
WO BIN ICH? Da war Panik. Und ganz allmählich eine bestürzende Erkenntnis. Augen kamen ihm in Erinnerung.
Die Augen eines Mannes namens Nathan Cloud. Eingefroren in eine Masse, die seit wie vielen
Jahren verhinderte, dass dieser Mann, der inzwischen einen fast gleichaltrigen Sohn hatte... dass
dieser Mann verweste und zu einem Skelett zerfiel.
Oder auch nur starb.
Ja, der Erwachte erinnerte sich an die Augen, die offen gestanden und in einer Weise gestarrt
hatten, wie nur etwas Lebendiges, etwas über all die Jahre bei Bewusstsein Gebliebenes starren
konnte.
Er erinnerte sich an den Ausdruck darin, der ihm Rätsel aufgegeben, ihn aber nie mehr losgelassen
hatte.
Jetzt.
Jetzt erst dämmerte ihm das ganze Ausmaß dessen, was er darin gesehen und gelesen hatte.
Mehr als Verzweiflung.
Mehr als die Müdigkeit einer halben Ewigkeit.
Mehr als Angst und erloschene Hoffnung...
Der gerade Erwachte begriff es im selben Moment, als die Finsternis um ihn herum floh. Als es
Licht wurde, und er das ganze Ausmaß seiner eigenen Verdammnis begriff.
Und sich eine Stimme in ihm meldete, die ihn in einer Sprache begrüßte, die er nie erlernt hatte,
aber auf Anhieb verstand. »Ich wurde neu programmiert und stehe dir von nun an zur Verfügung.
Ich ziehe mich jetzt zurück und stehe dir helfend zur Seite. Du wirst es kaum bemerken.«
Nach diesen Worten brandete anderer Lärm, stürmten andere Klänge auf ihn ein - diesmal von
außerhalb. Bevor er sich ihnen stellte, kehrten seine Gedanken noch einmal zu Nathan Cloud zurück.
Das, was alles andere in den Augen des Eingekerkerten, des in künstlichem »Eis« Eingefrorenen
überstrahlt hatte, war etwas anderes als Verzweiflung, Müdigkeit, Einsamkeit, Angst oder
erloschene Hoffnung gewesen.
Etwas, das dem Erwachten in diesem Augenblick vorkam wie ein Blick in einen Spiegel, der ihm
seine eigene Zukunft aufzeigte.
Das, was auch ihm drohte.
Weil kein Mensch für das geschaffen war, was hier oder bei Nathan Cloud in Gang gesetzt worden
war.
Der Erwachte wünschte sich einen Mund, um schreien zu können.
Es war nicht das einzige Sehnen, das unerfüllt blieb.
Obwohl es heller und heller wurde, obwohl die Stimme immer klarer zu ihm vordrang, versuchte er
sich in den Zustand vor dem Erwachen zurückzuziehen.
Vergebens.
Die Erkenntnis, was geschehen war, stand ebenso klar in seinem Bewusstsein, wie die Konsequenz,
die sich daraus ergab.
„Du hast jetzt einen Namen«, sagte die Stimme.
Und dann erfuhr er, noch vor John Cloud, was Foronen unter einem »Gefallen« verstanden.
Darnok hob schwach die Lider. Nur einen winzigen Spalt weit, denn heiß und fiebrig zirkulierte das Blut in ihm. Körper und Geist waren wie taub. Er war am Boden zerstört. Die Hoffnung, die ihn noch bis vor kurzem durchpulst hatte, war brutal erstickt worden, als John Cloud in den Raum gekommen war, in dem der Käfig stand. Und wo Arabim residierte. Es war die Art und Weise gewesen, wie der Freund aufgetreten war, die Darnok endgültig klar machte, dass es für ihn selbst kein Entrinnen aus den Klauen des Obersten der Keelon geben würde. Des Masters der Master - wie sich Arabim in erschütterndem Hochmut nannte. Cloud war gegangen, ihm war die Flucht gelungen - zusammen mit anderen, unbekannten Personen und einem Ding... und dabei hatte er ihn, Darnok, zurückgelassen. Vergessen. Ich war es ihm nicht wert, um mich zu kämpfen... Die seltsamsten und zugleich niederschmetterndsten Gedanken durchflackerten ihn. Obwohl er die Augen jetzt so weit offen hatte, dass er den begrünten Raum jenseits der Stäbe sehen konnte - bis dorthin, wo Arabim in seiner Mulde kauerte - war es seinem Geist kaum möglich, Anker im Jetzt zu werfen. Immer wieder driftete sein Bewusstsein ab. Floh in Erinnerungen. Er wollte nicht jetzt sein. Die Gegenwart stieß ihn ab. Und an eine Zukunft glaubte er nicht mehr. An keine jedenfalls, die er noch in irgendeiner Form hätte mitprägen, mitgestalten können... Bodor. Erneut sah er den Laichbruder sterben. Arabim hatte das Exempel vor seinen Augen demonstriert. Ein Keelon hatte einen Keelon getötet! Schon allein das war ein Tabubruch ersten Grades - zugleich aber auch nur ein Abglanz der sonstigen Verfehlungen, derer sich nicht nur Arabim, sondern alle »Master« schuldig gemacht hatten. Sie haben den Untergang Roogals vorgetäuscht, um mit allem abzuschließen, wofür wir Keelon einst standen. Sie haben sich an Machtgier berauscht und die Bevölkerung eines bis dato primitiven Planeten zu ihren Verbündeten, Werkzeugen - wie auch immer man es nennen wollte - gemacht, um ein neues Reich aufzubauen. Das Reich der Erinjij. Aber wer - und wie viele Keelon hatten sich an diesem ungeheuerlichen Vergehen wider den Kodex beteiligt? Und was war aus den alten Keelon, der Bevölkerung eines ganzen Planeten, geworden? Es gab nicht die geringsten Anzeichen dafür, dass Arabim sämtliche Keelon auf seine Pläne hatte einschwören können. Die Master, die in den rings um die Erde verstreuten Residenzen lebten, mochten nach Hunderten, vielleicht Tausenden zählen - aber gewiss nicht nach Millionen! Was ist aus meinem Volk geworden? Ein Gedanke, von beispielloser Furcht begleitet. Die bloße Vorstellung, Arabim könnte den Tod von Abermillionen Artgenossen wissentlich in Kauf genommen haben, um seine abscheulichen Pläne durchzusetzen, ließ ihn zu einem in der Geschichte der Keelon nie da gewesenen Monster mutieren. Ein Zittern durchlief seinen Körper. Lisee. Das nächste bittere Bild, das aus den Klüften der Vergangenheit aufstieg, aus seinem Gedächtnis, seinem Unterbewusstsein. Wo sie so lange einen Platz haben würde, wie er selbst existierte. Er konnte sie nicht vergessen. Nie hatte er einen Verlust grausamer, unersetzlicher empfunden als den ihren... So weit war seine Sehnsucht nach der verlorenen Liebe gegangen, dass ihm sogar seine Wahrnehmung einen Streich gespielt hatte, als er nach der Vernichtung des Karnuts in der Oortschen Wolke und seinem Wiederwachen auf der Erde für einen flüchtigen Moment geglaubt hatte, sie stünde vor ihm. Dabei war es nur ein anderer weiblicher Keelon gewesen - einer von denen, die sich Master nannten. Einer von denen, die nicht einmal davor zurückschreckten, die eigene Art zu verraten. Und ihrer Machtgier zu opfern. Darnok verdrängte Lisees Bild aus seinem Geist. »Warum?« Plötzlich stand Arabim neben dem Käfig. »Warum quälst du dich selbst? Ich bin immer noch dein Zeesta - wenn du es nur willst.« »Du bist ein Ungeheuer. Und ich verachte dich!«
»Weil ich Bodor töten ließ?«
»Du gibst die Antwort selbst«, antwortete Darnok. »Das zeigt, dass du weißt, wozu du geworden
bist. Ach, Arabim...«
»Bodor war nicht mehr Herr seiner Sinne.«
»Und du bist es? Ihr seid es?«
»Wie denkst du über deine eigene Spezies, Darnok, mein Sohn? Welchen Platz im Gefüge der
galaktischen Mächte würdest du ihr zuordnen? Und glaubst du, wir wurden unseren Möglichkeiten
in der Vergangenheit auch nur annähernd gerecht? Ist es nicht vielmehr so, dass wir unser Potenzial
unentschuldbar vernachlässigten, indem wir uns freiwillig auf nur eine Welt beschränkten, einen
Planeten von unzähligen?«
»Nenne mich nie wieder Sohn!«
»Wie denkst du über unser Volk?« Arabim blieb unerschütterlich. Er stand vor dem Käfig, und die
Dinge, die seinen Körper schmückten, kleideten, waren Darnok ebenso fremd wie die Person
darunter.
Er müsste lange schon tot sein. Kein Keelon wurde je so alt, wie er fraglos ist. Aber er wirkt jünger
als damals, da ich ihn zuletzt sah, bevor ich Roogal verließ - zusammen mit Lisee... Arabim hütete
noch mehr als ein Geheimnis.
Vielleicht bekäme ich Antworten. Jede Antwort, nach der es mich verlangt. Aber der Preis wäre
hoch, zu hoch. Ich müsste werden wie er. Müsste alle Werte abstreifen, mit denen ich auf wuchs, an
die ich glaube, weil ihre Summe mich ausmacht, mich, Darnok...
Und die Arabim ihn einst selbst gelehrt hatte!
Was war aus seinem Lehrer und Mentor geworden? Wie hatte er sich so von seinen eigenen
Maßstäben entfernen können?
»Ober das Volk, das ich kannte und dem ich mich - noch immer - zugehörig fühle, denke ich nur
Gutes«, erwiderte Darnok nach kurzem Überlegen. »Aber dieses Volk existiert nicht mehr. Obwohl
du vor mir stehst, war mir noch nie so bewusst wie jetzt. dass ich wirklich der Letzte meiner Spezies
bin.«
»Wir wussten, wie du denkst. Und wie schwer zu überzeugen du bist - wenn überhaupt. Deshalb
war es nötig, dich damals fortzuschicken. Die Mission, die du selbst mitinitiiert hast, bot sich dafür
an.«
»Ich ging damals nicht allein.«
»Lisee ging mit dir.«
»Sie ist tot. Alle, die ich liebte, sind tot. Alle Freunde und Weggefährten meiner Jugend.«
»Ich lebe.«
»Was immer du auch sein magst - wie immer du dich nennen magst... Du bist eines ganz gewiss
nicht: der Arabim, der einmal war! Der Arabim, den ich kannte, ist mit Roogal untergegangen - und
ich trauere um ihn.«
Einen Moment wirkte der Keelon jenseits der Stäbe betroffen.
Dann wandte er sich wortlos ab...
Cloud blieb abrupt stehen. In ihm brodelte die Wut. Er war voller Zorn, voller Verlangen, etwas zu
tun, was er noch niemals zuvor so inbrünstig gewollt hatte: einem anderen Menschen an die Gurgel
zu gehen!
Mensch!
Die größtmögliche Verachtung, zu der er fähig war, schwang in diesem Gedanken mit.
Sein Zorn richtete sich gegen keinen Menschen, sondern gegen etwas völlig anderes. Etwas, das
sich intelligent schimpfte, aber von Moral offenbar nie etwas gehört hatte.
Weil es kein Mensch war?
Er spürte, wie er vibrierte. Mitten auf einem der endlosen Gänge von SESHA - seit er hier zur
Marionette degradiert worden war, weigerte sich etwas in ihm, von dem Schiff als der RUBIKON II
zu denken -, umgeben von Wänden, Wänden, Wänden!
Er kam sich vor wie ein eingesperrtes Tier. Wie eines von mehreren Insekten, die nur noch am
Leben waren, weil man sie nicht zu Ende studiert hatte. Weil es noch Kleinigkeiten in ihrem
Verhalten gab, über die sich der Hirte Sobek nicht völlig schlüssig war. Sobald sich dies aber - in
Kürze - geändert hatte, würde auch ihre Daseinsberechtigung enden.
Wie die von Jarvis.
Auch Resnick war tot. Jarvis hatte es mit seinen letzten Atemzügen verraten. Und auch um ihn
trauerte Cloud. Aber im Geist vor sich sah er immer wieder nur Jarvis. Es war die Art und Weise
wie der GenTec umgekommen war. Es war die kalte Menschenverachtung, die Sobek an seinem
Beispiel demonstriert hatte...
Er hatte wirklich gute Lust, ihm den Hals umzudrehen!
»Aber dafür werde ich kaum die Gelegenheit bekommen...«, murmelte er im Selbstgespräch.
Eine Selbsterkenntnis von hoher Wahrscheinlichkeit. Aber seine Wut, sein heiliger Zorn ließ sich
davon nicht beeindrucken.
Eine Weile stand Cloud noch mit geballten Fäusten nur da.
Niemand sah ihn so - die Schiffs-KI mit ihren allgegenwärtigen Augen vielleicht ausgenommen.
Niemand kam an ihm vorbei, von nirgendwo her klangen Stimmen.
Dieses Schiff war in seiner unvorstellbaren Größe nichts anderes als ein gigantischer Sarg. Und
Cloud wünschte, er hätte eine Möglichkeit besessen, dies auch dem Hirten klar zu machen.
Denn es war Sobeks Sarg.
Und wenn einer so alt ist, dass er eigentlich längst tot sein sollte, dann bin nicht ich das oder ist es
Scobee, sondern dieses Ungeheuer!
Er entschied, nicht in seine Kabine zu gehen.
Er entschied, es noch einmal darauf anzulegen.
Auf Konfrontation.
Ganz gleich, wie hoch der Preis sein würde, den er dafür zahlen musste.
Er machte kehrt und ging zur Zentrale zurück. Zu Sobek und dem Zirkel der holografischen
Hirten...
»Davon habt ihr nichts erzählt.«
Es dauerte eine Weile, bis Scobee begriff, was Jelto gesagt hatte. Er war ihr in die Kabine gefolgt,
statt sein eigenes Quartier aufzusuchen. Offenbar hatte er gespürt, dass sie jetzt jemanden brauchte.
»Wovon haben wir nichts erzählt?«, fragte sie begriffsstutzig.
»Wie es hier zugeht - auf diesem Schiff. Ich möchte zurück in meinen Wald. Geht das?«
Sie löste sich endgültig aus ihrer Versunkenheit und fragte sich, ob die naive Art, mit der er sprach,
das war, was er auch tatsächlich dachte - oder ob er sie nur damit aus der Reserve locken wollte.
»Nein.« Sie schüttelte den Kopf. »Ich fürchte, das geht nicht. Es tut mir Leid. Ich weiß, dass wir
dich in diese Lage gebracht haben. Ohne uns wäre nie geschehen, was geschah. Aber jetzt ist es zu
spät. Selbst wenn es eine Möglichkeit zur Rückkehr gäbe - ich bezweifle, dass sie dich in Ruhe
ließen. Du hast zu viel gesehen und gehört. Alles spricht dafür, dass solches Wissen auf der Erde
unter der Decke gehalten werden soll. Du wärst eine stete Gefahr, und so wie wir die Master kennen
gelernt haben, werden sie dir dieses Zuviel an Wissen nicht durchgehen lassen.«
»Du meinst, sie würden mich töten?«
»Vielleicht nicht töten - aber dich all deiner Erinnerungen berauben, mit denen sie nicht
einverstanden sind.«
Jeltos bronzene Haut begann stärker zu leuchten, die Aura jedoch, die ihn mitunter in grelles Licht
badete, ließ er nicht zum Ausbruch kommen. Doch auch so erzeugte er in Scobee das Gefühl von
Fremdheit, das sie manchmal vergaß, wenn er sich völlig zurücknahm und dann wie ein ganz
normaler Mann vor ihr stand.
Aber das war er nicht, und sie würde lernen müssen, dies zu akzeptieren.
Zumal sie selbst keine »normale« Frau war.
Genau wie Jelto war auch sie in vitro gezeugt worden - in einem Genlabor. Nur mit anderen
Zielsetzungen. Während Jeltos Bestimmung in der Hege und Pflege eines riesigen bewaldeten Areals bestanden hatte und er dafür offenbar sogar mit ans Parapsychische grenzenden Talenten ausgestattet worden war, beschränkten sich ihre eigenen Fähigkeiten auf Bodenständigeres: Sie besaß »übermenschliche« Körperkräfte und eine Konstitution, die ihr selbst unter rauesten Bedingungen ein Überleben sicherte - notfalls konnte sie sich sogar in einen winterschlafähnlichen Zustand zurückziehen. Ihr Stoffwechsel war dann kaum noch messbar, ebenso ihre Atmung, ihr Herzschlag oder ihre Hirnaktivität. Aber der Clou ist, dachte sie selbstironisch, dass ich im Dunkeln keine Kerze brauche. Ich zünde mir einfach ein Lichtlein in meinen Augen an. Was nichts anderes hieß, als dass sie ihre Sehfrequenz beliebig variieren konnte, bis hin zur Infrarotwahrnehmung ihrer Umgebung. »Würde es dich sehr überraschen oder enttäuschen«, fragte der Florenhüter, »wenn ich dir sage, dass ich das in Kauf nehmen würde - wenn ich nur wieder zurück könnte?« Sie dachte darüber nach, während sie an ihm vorbei auf die nackten Wände des kleinen, spartanisch und sehr gewöhnungsbedürftig eingerichteten Raumes starrte. »Nein«, sagte sie schließlich. »Enttäuscht wäre ich sicher nicht. Ich glaube, ich verstehe dich vielleicht besser, als du denkst.« Ohne dass sie es wollte, irrten ihre Gedanken zurück zu Jarvis und Resnick... Sie schrammten sie aber nur - und wanderten dann weiter zu einem anderen Gesicht. Einem Mann, an den sie nur noch mit Abscheu denken konnte, obwohl sie hoffte, sich nun endgültig aus seinem Bannstrahl befreit zu haben: Reuben Cronenberg. Sie wusste nicht einmal, ob der Ex-NCIA-Chef, der auch ihr Ex-Liebhaber war - sie fröstelte unter der Erinnerung an gemeinsame Nähe und Intimität -, überhaupt noch am Leben war. Zuletzt hatte sie ihn in Bodors Residenz, in einem der umgestalteten Äskulap-Schiffe der Master gesehen. Aber dann waren sie getrennt worden. Sie hatte begreifen müssen, wer hinter der über zweihundert Realjahre zurückliegenden Invasion der Erde gesteckt hatte - Wesen wie Darnok, Keelon! -, und dann war ein Kommando aufgetaucht, das erst Bodor und dann sie überwältigt und weggebracht hatte. Hin zu einer anderen Residenz, wo der Master der Master, der Herr der Herren, seine Fäden zog. Und wo auch Darnok gefangen gehalten wurde. Scobee musste oft daran denken, wie es erst für ihn gewesen sein musste, als er erkannt hatte, welchem Betrug er aufgesessen war. Bis dahin hatte Darnok geglaubt, die Vernichtung seines Heimatplaneten Roogal ginge auf das Konto der Menschen - der Erinjij. Nun stellte es sich so dar, dass die Menschen Roogal zwar zerstört hatten, aber offenbar auf Befehl der Keelon selbst. Denen es damit gelungen war, ihre Spuren nahezu zu verwischen und jeden Verdacht von sich zu wenden. Aber welcher Keelon?, dachte Scobee. Sie bezweifelte, dass mehr als eine Elite, ein Bruchteil der ursprünglichen Roogal-Bevölkerung zur Erde umgezogen war, um hier ihren Machtgelüsten zu frönen. Was war aus den Tausenden, Hunderttausenden übrigen geworden? Hatten die Master-Keelon sie etwa tatsächlich in den Tod geschickt? Waren diejenigen, die heute über ein »Stiefvolk« regierten und sich anschickten, weite Bereiche dieses galaktischen Spiralarms zu erobern, etwa wirklich so skrupellos, ihre eigene Spezies bis auf einen kleinen Teil zu dezimieren, der seinen kosmischen Verschwörungen und Träumen nachhing? Und wie hatten die Keelon ein solches Unterfangen überhaupt angehen können? Nach Darnoks Erzählungen hatte Scobee niemals das Gefühl gehabt, dass sein Volk über die technischen und logistischen Voraussetzungen verfügte, um ein solches Unternehmen in Angriff zu nehmen. Waren die Keelon am Ende doch nicht die wahren- oder einzigen -Master? Gab es eine Graue Eminenz im Hintergrund, die das erforderliche Instrumentarium beigesteuert hatte? Und wenn ja, wer kam dafür in Frage? »Erzähl mir von den Männern, die gestorben sind - Resnick und Jarvis«, riss Jelto sie aus ihren Gedanken. »Wie kamen sie zum Mars?« Scobee zuckte die Achseln. Es war keine Zeit geblieben, das zu erfahren. Der Tod war schneller gewesen, und wie immer hatte er gründliche Arbeit geleistet. Sie wollte etwas sagen, aber in diesem Moment klopfte es laut gegen das Trennschott ihrer Kabine. Sie zuckte zusammen - woran sie erkannte, wie stark die jüngsten Ereignisse sie angegriffen hatten.
John, dachte sie. Er konnte also auch nicht allein sein.
Sie stand auf und berührte eine dunkelrot markierte Fläche neben der Tür. Sie glitt auf.
»Komm rein«, sagte sie...
ehe sie begriff, wer wirklich vor ihr stand.
»Ich... ich weiß nicht, wie ich es sagen soll, aber... verdammt, ich hasse es schon jetzt! Kann mir
nicht jemand diese beschissenen Klamotten vom Leib reißen?«
Die Unterhaltung mit Darnok strengte ihn zunehmend an. Und im gleichen Maße schwand die
Geduld, die Arabim anfänglich für den »Heimkehrer« aufgebracht hatte.
Darnok war ein Keelon, der das alte Leben personifizierte, die alten, überholten Werte. Innerhalb
der neuen Gesellschaftsordnung und Hierarchie war er ein Anachronismus.
Die Vorstellung, ihn überzeugen oder gar integrieren zu können, war von Anfang an unrealistisch
gewesen.
Warum lebt er dann noch? Sollte ich ihn nicht erlösen? Wie Bodor?
Der Gedanke rief ihm in Erinnerung, als was Darnok ihn betrachtete.
Als Monster.
Arabim war sich nicht sicher, ob er diesen Vorwurf überhaupt entkräften wollte. Es war die
Begrenztheit seines Horizontes, die Darnok zu diesem Urteil bewogen hatte.
Arabims Horizont war stark erweitert. Er sah über den Tellerrand hinaus. Er hatte den Keelon nicht
geschadet, sondern ihnen neue Perspektiven eröffnet. Einer kleinen Schar Keelon zumindest.
Er hatte ihnen eine Vision geschenkt - und sie dafür begeistert. Er liebte sein Volk. Aber er hasste
den Gedanken, dass es immer noch auf Roogal vegetieren und gegen die Unbilden der Natur
ankämpfen würde, wenn die Loge ihm das nicht erspart hätte.
Er zog sich in seine Mulde zurück und kommunizierte zunächst mit den anderen Türmen. Er
tauschte Nachrichten aus, empfing Meldungen von allen Orten der Erde, des Sonnensystems und
den Außenstellen des expandierenden Reiches, das nur vordergründig den Menschen gehörte.
All dies dauerte nur Minuten. Er war es gewohnt, sich schnell und effizient einen Überblick zu
verschaffen.
Routinemäßig ließ er seinen Geist auch zu ihr wandern, die ihm lange gute Dienste geleistet hatte.
Mit ihrer Hilfe hatte er die gesamte Flucht von John Cloud, Scobee, Jelto, Aylea und jenem Ding
verfolgen können, als wäre er selbst einer der Flüchtenden gewesen - aus Washington hinaus, über
Skytown bis hin zu jener unbekannten Station am Meeresgrund.
John Clouds Verbindung zu dem fremden Schiff, das im Sonnensystem für Furore und Aufruhr
sorgte, war ihm von Anfang an klar gewesen. Die Flucht eröffnete ihm die Möglichkeit, einen
Spion an Bord zu schleusen. Deshalb, nicht der Drohung des Dings wegen, hatte er sie fliehen
lassen.
Doch sein Plan war nicht aufgegangen.
Nach Verlassen der Kapsel, die sie aus der Tiefsee zurück zum Schiff gebracht hatte, war die
Verbindung zwar nicht abgerissen, aber ihr Wert extrem eingeschränkt worden.
Seither hörte Arabim nichts mehr durch die Ohren des Spions -und die fernen Augen sahen ein
immergleiches Bild: ein kahler, schwach erhellter Raum, in dessen Mitte sie in einem Fesselfeld
schwebte.
Ein Mädchen, das nicht wusste, wie ihm geschah.
Eine Bürgerin der Erde, die all ihre Privilegien verloren und ins Getto abgeschoben worden war...
Wo sie mit John Cloud zusammengetroffen war.
Sie war rührend in ihrer Unschuld und ahnte nicht einmal, dass sie ihre neuen Freunde verriet.
Arabim hatte sie noch nicht ganz aufgegeben. Möglicherweise waren alle nach ihrem Transfer auf
das fremde Schiff in vergleichbarer Weise isoliert worden wie das Mädchen.
Möglicherweise würde diese Isolation jeden Moment enden, und dann konnte er sich doch noch
dort umsehen, wohin sonst kein Auge reichte.
Er wollte endlich wissen, mit wem er es zu tun hatte.
Wer die Erinjij narrte. Das Schiff durfte auf keinen Fall entkommen, eine Verbreitung der Koordinaten des Solaren Systems nicht hingenommen werden. Arabim wusste, was er seiner Stellung und der Vision von einem mächtigen Erinjij-Keelon-Reich schuldig war. Jeder potentielle Feind musste vernichtet, jede potentielle Bedrohung im Keim erstickt werden. Und weil er dies wusste, gab er, kaum dass Mars ein Phänomen meldete, das nur auf das Fremdschiff zurückgehen konnte, augenblicklich den Befehl zur Offensive. Der größten, die jemals innerhalb des irdischen Sonnensystems stattgefunden hatte.
Scobee starrte den Amorphen an wie einen Geist.
Sie kannte ihn seit ihrem Ausflug zur Erde, seit sie und Cloud in der Foronen-Station am Grunde
der Tiefsee aus der Transportkapsel gestiegen waren - und von diesem Ding verfolgt worden waren.
Erst später hatte der Amorphe sich als ihr Helfer und Beschützer demaskiert...
Ehe er, wieder zurück auf der RUBIKON, zum kaltblütigen Mörder an Jarvis geworden war.
Auf Sobeks Befehl hin war er wie eine gigantische Amöbe über den sterbenskranken GenTec
gekrochen und hatte ihn - wie Sobek es formulierte - erlöst.
Das Schlimme war, dass Scobee immer noch geschworen hätte, dass der Forone die Möglichkeit
besessen hätte, Jarvis zu retten, zu heilen! Die Wissenschaft der Hirten war, daran zweifelte sie
nicht eine Sekunde, der menschlichen auch in der Gen-Technik himmelweit überlegen.
Gerade der Amorphe hatte es auf der Erde demonstriert: Aus winzigen Zellproben hatte er in einem
»körpereigenen Labor« binnen Sekunden Klon-Kopien von Cloud, Jelto und ihr selbst hergestellt.
(siehe Bad Earth Band 18: »Endstation der Träume«)
Ein Bild, das Scobee ebenso wenig je vergessen würde wie das des feigen Mordes an Jarvis.
»Verschwinde!«, schrie sie. »Verschwinde, bevor ich...«
Es war ein Reflex.
Erst als die Worte bereits über ihre Lippen gekommen waren, realisierte sie, wie der Amorphe zu
ihr gesprochen hatte.
Nicht nur die flapsige Art passte absolut nicht zu ihm, sondern in erster Linie war der Klang dieser
Stimme völlig anders als gewohnt.
Sie passte zu einem anderen.
Zu seinem Opfer. Zu dem, den er umgebracht hat.
Wie vom Donner gerührt stand sie da, und selbst Jelto, der mit alldem weniger vertraut war, begriff,
dass etwas an dieser Begegnung nicht stimmte.
Und dann hörte er mit wachsender Verwirrung, wie Scobee, die einen fahrigen Schritt auf den
Amorphen zumachte, stammelte: »Jarvis? Sag, dass das kein schlechter Witz ist! Jarvis! Bist du
das?«
2. »Sie rotten sich zusammen. Sie massieren ihre Kräfte.«
Cloud schnappte die Sätze in dem Moment auf, als er die Zentrale betrat. Worte, die nicht an ihn
gerichtet waren, aber die ihn augenblicklich beunruhigten - und ihm ins Gedächtnis zurückriefen,
wo er sich befand: nicht nur an Bord von SESHA, wie die Foronen die RUBIKON II nannten,
sondern auch immer noch im interplanetaren Raum des irdischen Sonnensystems. Nahe Mars, wo
die Station geborgen worden war, die einst seinem Vater, Nathan Cloud, und drei anderen
Astronauten zum Verhängnis geworden war.
Die Hinterlassenschaft der Hirten, mit der alles begann - zumindest alles, was mich persönlich
betrifft!
In diesem Moment, da er stehen blieb und sich von dem Geschehen fesseln ließ, das sich in der
Holosäule zwischen den Kommandositzen abzeichnete, wurde ihm bewusst, was er mit Resnicks
und Jarvis' Tod noch verloren hatte.
Wissen.
Gewissheit.
Sie waren an dem Ort gewesen, an dem sein Vater vor mehr als zweihundert Jahren verschwunden
war. Nicht auszuschließen, dass sie Spuren, Hinweise auf dessen Schicksal gefunden hatten...
Aber die Frist, die Jarvis verblieben war, hatte nicht ausgereicht, dieses Wissen an Cloud
weiterzugeben.
Du vergisst eines, rief sich Cloud wider strebend in Erinnerung, den Blick weiterhin auf das
Geschehen in der Säule gerichtet. Die Station befindet sich jetzt an Bord. Mit Sobeks Erlaubnis
könntest du...
Sobeks Erlaubnis!
Ein Gefühl wie Sodbrennen kroch ihm die Speiseröhre empor. Er ballte die Fäuste, gab seine Starre
auf und ging auf das Podest mit den sieben Sarkophag-Sitzen zu. die allesamt offen waren, nicht
geschlossen, wie Cloud es selbst schon erlebt hatte. Sie sahen aus wie wuchtige, aber relativ
normale Sitzmöbel, nur die Gestalten darin wirkten alles andere als normal.
Ich werde mich nie an den Anblick Außerirdischer gewöhnen, dachte er. Oder doch?
Wahrscheinlich würde er gar nicht mehr lange genug leben, um dies zu erfahren...
Warum bist du zurückgekehrt?«
Einer der sieben Sitze drehte sich jäh um 180 Grad, Sobek - Cloud nahm an, dass es Sobek war,
aber es fiel ihm schwer, überhaupt Unterscheidungsmerkmale an den sechs versammelten Hirten
auszumachen - stemmte sich aus der wuchtigen Konstruktion.
Er war selbst wuchtig und wirkte wie ein perfekt organisierter, nur aus Muskeln und Gelenken
bestehender, gut geölter Apparat.
Nein, korrigierte sich Cloud, eher wie das Schreckgespenst eines Gruselkabinetts.
Die Hirten hatten trotz ihrer Kompaktheit etwas Skelettöses. Noch immer war nicht klar zu
erkennen, ob sie überhaupt eine Haut im menschlichen Sinne besaßen, oder ob die Oberfläche ihrer
Körper nicht vielmehr aus etwas Chitinösem, Knorpeligem bestand.
Oder einfach blankem Knochen, dachte Cloud.
Er hatte noch keine Gelegenheit gehabt, Sobek zu berühren - und wusste auch nicht, ob er dies
anstrebte. Eher nicht.
Andererseits...
Er war sich bewusst, dass er möglichst viel über seinen Gegner in Erfahrung bringen musste, wollte
er die Hoffnung aufrechterhalten, vielleicht doch noch eine Schwachstelle bei ihm zu finden.
Und dann? Was machst du, wenn du eine solche findest?
Die Einwürfe seines eigenen Selbst machten ihn noch ärgerlicher, wühlten ihn noch stärker auf, als
es ohnehin schon der Fall war.
Cloud wartete, bis Sobek nach mehreren wuchtigen Schritten unmittelbar vor ihm stand. Für
Momente hegte er dabei die Befürchtung, der Forone würde überhaupt nicht stehen bleiben,
sondern ihn einfach über den Haufen rennen. Der Stopp erfolgte ansatzlos, und Cloud begriff, das
dies wohl auch zu dem Psychospielchen gehörte, mit dem der Hirte ihn traktierte, seit er sich zu
erkennen gegeben hatte.
Das Verbreiten von Schrecken schien von Sobek als geeignetes Mittel betrachtet zu werden, sich
Respekt zu verschaffen.
In der Sekunde, da sich Cloud dessen bewusst wurde, ging ein Ruck durch ihn hindurch, und er
beschloss, dieser Taktik einen Strich durch die Rechnung zu machen.
Dem kam entgegen, dass er tatsächlich genug hatte. Genug von Ängsten,
Einschüchterungsversuchen, Gängeleien, Drohungen und Spielchen!
Was - außer seinem Leben - hatte er schon zu verlieren?
Er lachte auf, was den Foronen, der ihn keine zwei Meter voraus um gut zwei Köpfe überragte,
spürbar irritierte.
Von Sarkasmus hatte Sobek vermutlich nie etwas gehört. Vom Mut der Verzweiflung ebenso wenig. »Was willst du?«, dröhnte es Cloud in der Sprache entgegen, die er niemals gelernt hatte und dennoch so gut verstand wie die, mit der er aufgewachsen war. Er starrte auf das Gesicht, das keine Augen hatte und allem Anschein nach dennoch sah, und wieder wollte die Verunsicherung in ihm aufsteigen. Aber er wehrte sich, kämpfte erfolgreich dagegen an. »Wie wäre es mit einer Prise Respekt?«, knurrte Cloud. »Für den Anfang zumindest.« Sobek machte noch einen Schritt auf Cloud zu, sodass nur noch eine knappe Armlänge sie trennte. Der Hirte war Gestalt gewordene Drohung, die ihn wie eine zwar unsichtbare, dafür aber umso fühlbarere Aura umgab. Aber zum ersten Mal überwog in Cloud beim Anblick des Extraterrestriers die Faszination, nicht mehr die lähmende Furcht. Obwohl ihn das komplette »Gesicht« des Foronen anzustarren schien und seinen Blick förmlich fesselte, gelang es Cloud, an dem Hirten vorbei zur Zentrale-Mitte zu schauen. Wo immer noch das Hologramm existierte und in dem eine Unzahl von irdischen Raumschiffen zu sehen war, manche nur als farbige Markierungen, einige wenige so weit vergrößert, dass sogar die Schiffsnamen zu lesen waren. Erinjij-Schiffe. Menschen-Schiffe. DUBLIN, TROJA, DAVINCI, DAEDALOS... Begriffe, wie sie nur auf der Erde und unter Menschen Bedeutung besaßen. Wie hatte es so weit kommen können? Eine Frage, die Cloud immer noch quälte - auf der Erde hatte er nur einen kurzen Blick auf die Wahrheit werfen können. Er wusste nun, wer die Master waren, die in den Residenzen der Metrops auf die Menschheit des 23. Jahrhunderts einwirkten und ihr Ziele diktierten, von denen noch immer nicht sicher war, ob sie auch dem ureigenen Wollen dieser neuen Menschheit entsprachen. Er hatte erfahren, dass es mindestens einen Ort gab, an dem Menschen untergebracht wurden, die nicht ins System der neuen Erde passten: das Getto oder die Zone, wie es auch genannt wurde. Er wusste, wie diese Sammelstelle der Geächteten, Rechtlosen nach der Vernichtung Pekings und des kompletten Umlands entstanden war. Aber er wusste noch immer nicht, wie es dazu hatte kommen können, dass es laut Ayleas Aussage nur noch rund 150 Millionen Erdbewohner gab, verteilt über 74 Metrops! Was war aus all den anderen Großstädten geworden, was aus den Klein- und Mittelstädten, den Dörfern? Aylea schilderte die Erde, auf der sie zehn Jahre lang in einem ungetrübten Idyll gelebt hatte, als
einen Globus umspannenden Garten Eden.
Die Schattenseite des Paradieses war ihr erst klar geworden, als sie wie eine Geschwulst aus dem
»Körper« ihrer Metrop, ihrer Familie herausgeschnitten und isoliert worden war.
Aylea, dachte Cloud.
»Aylea«, sagte er. »Ich lasse mich nicht länger abspeisen. Wenn ich - wenn wir - deine Gefangenen
sind, dann schaff Klarheit! Schließ uns weg! Tu, was du glaubst tun zu müssen. Aber bleib einer
Linie treu und hör auf mit diesem gottverdammten Zickzackkurs!«
»Du redest wirr.«
»Und du verhältst dich wirr! Auch nicht besser, oder?«
Sobek schwieg. Die Holo-Hirten hinter ihm füllten ihre Sitze wie damit verwachsene Statuen. Das
Gesicht von zweien wies ohnehin in Clouds Richtung, die anderen machten keine Anstalten, den
Kopf zu drehen.
Als wollten sie mir zeigen, was ich für sie bin: nichts! Und Sobek?
Sekundenlang stand er nur stumm da.
Dann erzitterte die Membran erneut. »Was erwartest du?«, fragte der Forone. »Aufklärung.«
»Worüber.«
»Über einiges.« Cloud überlegte, wo er anfangen sollte. »Zunächst über meinen Status.«
»Du bist geduldet.«
»Und das bedeutet?«
»Du kannst dich frei bewegen«, erklärte Sobek.
»Was auch immer einer wie du unter frei versteht...«
»Möchtest du einen anderen Status?«
Cloud stemmte die Fäuste in die Hüften. Er überlegte, ob er sich veralbert vorkommen sollte. Die
Situation drohte ins Surreale abzugleiten.
»Wenn ich die Wahl habe - natürlich!« »Welchen?«, erkundigte sich der Forone gleichmütig.
»Wie wär's mit... gleichberechtigt?« In den Kreis der Holo-Hirten kam jäh Bewegung.
Eine der Projektionen erhob sich ähnlich geschmeidig wie der reale Sobek zuvor schon aus ihrem
Sitz. Mit raumgreifenden Schritten trat sie neben Sobek, streckte dabei die krallenbewehrte Hand
aus und bohrte den leicht gebogenen Nagel blitzschnell in Clouds Brustbein.
Die Klaue verschwand komplett darin, und es kostete Cloud alles, was er an Selbstbeherrschung
aufbieten konnte, um nicht zusammenzuzucken und für sich selbst zu realisieren, dass er nur ein
Trugbild vor sich hatte. Dass auch der scharfe, geschwungene Krallennagel nichts anderes war als
Gaukelei.
Gleichzeitig aber schob sich wie von selbst die Frage an die Oberfläche seines Denkens, was
geschehen wäre oder geschehen würde, wenn Sobek auf die gleiche Idee kam.
Die Hände eines Foronen waren tödliche Waffen - zumindest für so »weiche« Lebewesen wie den
Menschen...
»Was maßt er sich an, dieser...?«, schnarrte eine noch dunklere Stimme als die Sobeks.
Dessen Erwiderung, mit der er den eigenen Artgenossen unterbrach, überraschte Cloud völlig.
»Er wird Respekt lernen, doch dafür sollten wir auch die Voraussetzungen schaffen, Mecchit.
Bislang haben wir nichts getan - nichts aus seiner Sicht -, um uns seinen Respekt zu verdienen.«
Viele Schläge seines trommelnden Herzens lang glaubte Cloud, der Forone mache sich lustig über
ihn. Letztlich war es die Reaktion des Hologramms, das Sobek Mecchit nannte, die Cloud eines
anderen belehrte.
»Es ist deine Entscheidung«, sagte Mecchit. »Aber wisse, dass es Grenzen gibt, deren
Überschreitung wir nicht dulden werden.«
Mit diesen Worten - dieser Drohung? - wandte sich der Holo-Hirte ab und kehrte zu dem
verlassenen Sitz zurück, wo er augenblicklich erstarrte.
»Ich...«, setzte Cloud unbehaglich an. Er spürte, dass etwas geschehen war, womit nicht nur er
niemals gerechnet hätte, sondern was auch die Hirten selbst überrascht zu haben schien.
Sobek hatte Position bezogen - offenbar gegen ihren Willen.
Warum?
»Es ist Zeit, Dinge zu klären«, sagte Sobek. »Missverständnisse auszuräumen.«
Cloud furchte die Stirn. Er versuchte zu begreifen, vorauszuahnen, was Sobek ihm damit sagen
wollte. »Von welchen Missverständnissen sprichst du?«
»Es gibt mehrere. Fangen wir mit dem an, dass dich in mir ein Monster sehen lässt.«
Er drehte sich halb, sodass sein »Gesicht« zu der Wandöffnung zeigte, durch die Cloud selbst
Minuten zuvor gekommen war.
Dort entstand Bewegung.
Der Amorphe, dachte Cloud, und ihm rann ein Schauer über den Rücken, weil er dem Bild, das sich
wie eine Doppelbelichtung vor die dunkle, humanoide Gestalt schob, einfach nicht entgehen
konnte: Das Bild, das dieses Konstrukt zeigte, wie es über Jarvis herfiel und ihn...
»Ich habe ihn gerufen«, sagte Sobek. »Er wird dir alles erklären. Er ist nun soweit - übrigens wissen
deine Gefährten es bereits...«
Je mehr der Forone redete, desto weniger verstand Cloud.
Bis sich vor seinen Augen der konturlose Schädel des Humanoiden verwandelte.
Zur Totenmaske wurde.
Deren Lippen sich plötzlich bewegten und aus dem Jenseits zu ihm sprachen...
»Nicht gerade das, was ich mir selbst erhoffte, Commander - aber letztlich wohl doch besser als
das, was sonst auf mich gewartet hätte.«
Die Zeit schien zu gerinnen, den Atem anzuhalten, für immer in einem Frostwind zu gefrieren, der
von jenseits der Grenzen des Universums heranbrauste.
Da stand der Amorphe, und der stets Gesichtslose besaß plötzlich die Andeutung einer
Physiognomie!
»Jarvis...«, rann es über Clouds Lippen - und er wusste immer noch nicht, ob Sobek ihn nur
verhöhnen wollte und mit seinen Gefühlen Schindluder trieb.
Ein schmales Antlitz, eine scharfrückige Nase, leicht nach oben gezogene Brauen... Selbst die
streng nach hinten gekämmten, fast wie eine Kappe anliegenden Haare waren erkennbar
ausgebildet.
Aber schon Sekunden später verschwamm alles, verlor seine Stabilität, die Oberfläche des
anthrazitfarbenen Hirtenkonstrukts kräuselte sich wie etwas Flüssiges, Quecksilbriges und fand zu
ihrer gewohnten groben Form zurück.
Doch auch nachdem die verblüffende Detailverliebtheit geschwunden war, fühlte sich Cloud
außerstande, aus dem Gesehenen einen Schluss zu ziehen.
»Was... soll das, verdammt!«, stieß er schließlich hervor.
Der Ausruf war unbeherrscht und eher an Sobeks Adresse gerichtet als an den Amorphen, der
seinem Wissensstand zufolge nichts anderes war als eine unfassbar hoch entwickelte Maschine.
Nein, eigentlich eine Waffe, Monts Rüstung...
Sobek hatte nach ihrer Rückkehr an Bord von SESHA offenbart, dass es sich bei dem Amorphen
um ein Ebenbild dessen handelte, was Sobek selbst - und was selbst die holografischen
Darstellungen der anderen fünf noch lebenden Hirten an ihren Körpern trugen - kleidete: eine
Rüstung. Eine zu unglaublichen Dingen fähige Konstruktion, die sich offenbar beliebige Form zu
geben vermochte...
Selbst das Gesicht eines Toten!
Erst mit enormer Verspätung sickerten die Worte, die aus der Rüstung gedrungen waren, in Clouds
Bewusstsein.
»Nicht gerade das, was ich mir selbst erhoffte, Commander...«
Der Amorphe überbrückte die letzte Distanz, die noch zwischen ihnen lag. Aber die Fremdheit
wollte trotz des Gehörten nicht weichen.
Cloud wandte leicht den Kopf, starrte zu Sobek. »Erklär's mir! Erklär mir, was das soll!«
Sobeks Züge waren so undeutbar wie das Nicht-Gesicht, das sich nur Zentimeter von seinem
befand.
»Die Schädigung war zu weit fortgeschritten, um mehr für ihn zu tun. Es gab und gibt eine
Alternative: Wir können seinem Leichnam Zellen entnehmen und mit Bordmitteln versuchen, die
Defekte zu beheben - ein langwieriger Akt, aber letztlich machbar. Das Resultat wäre ein Mensch,
der zwar aussähe wie der, den du verloren hast, aber der es dennoch nicht wäre. Geist ist nicht
klonbar. Auch von uns nicht.«
Cloud versuchte, das Gehörte zu verarbeiten. Das Gehörte und Gesehene. Und langsam - zäh und
mühsam - fügte sich ein Detail zum anderen, bis ihm schließlich dämmerte, was Sobek, was Jarvis,
ihm sagen wollten.
Langsam wandte sich sein Blick wieder dem Amorphen zu.
Aber das, was er sah, das, was er bei dem Anblick fühlte, war purer Widerwille.
Pure Nichtakzeptanz.
Wie, zur Hölle, sollte er denn damit umgehen, dass der tot geglaubte Freund nun doch wieder vor
ihm stand...?
»Ich weiß nicht, ob du ihm - und uns - damit einen Gefallen getan hast. Wie ist das überhaupt möglich?« Cloud kämpfte gegen den Sog an, der ihn zu Boden ziehen wollte. Am liebsten hätte er ihm nachgegeben. »Jarvis... Alter Junge... Das geht nicht gegen dich, falls du mich hörst und falls du... wirklich da drin steckst. Es ist nur...« »Ich bin kein alter Junge, John. Und glaub mir, ich hab's mir nicht ausgesucht. Es ist noch viel mehr mit mir passiert, als ich zuerst dachte. Ich brauchte eine Weile, um mich zurechtzufinden,
nicht nur in diesem... Körper, auch in mir selbst.«
»Was heißt das?«
Da waren plötzlich Lippen in dem ansonsten unmarkant bleibenden dunklen »Gesicht«. Lippen, die
sich bewegten, wenn auch seltsam asynchron.
»Es sind Dämme gebrochen, John.« »Dämme?«
»Wir wurden manipuliert. So weit ich zurückdenken kann, wurden wir manipuliert. Ich, Resnick,
Scobee...« Er hielt inne. »Wieso ist Scobee eigentlich nicht erkrankt? Ich dachte, es beträfe alle
GenTecs. Ich...«
»Was meinst du mit >gebrochene Dämme