BAD EARTH
Die große Science-Fiction-Saga
SKYTOWN von Michael Marcus Thurner John Cloud 28 Jahre alt, 1,84 m groß, bl...
13 downloads
379 Views
2MB Size
Report
This content was uploaded by our users and we assume good faith they have the permission to share this book. If you own the copyright to this book and it is wrongfully on our website, we offer a simple DMCA procedure to remove your content from our site. Start by pressing the button below!
Report copyright / DMCA form
BAD EARTH
Die große Science-Fiction-Saga
SKYTOWN von Michael Marcus Thurner John Cloud 28 Jahre alt, 1,84 m groß, blauäugig, Sohn von Nathan Cloud, der die erste Marsmission führte später dann selbst Kommandant von Mission II, die den Roten Planeten im Jahr 2041 erreichte. Hat sich mit den »Gespenstern« in seinem Hirn arrangiert: die Wissensimplantate, aus verstorbenen Menschen gewonnen, sind nach wie vor in ihm vorhanden, plagen ihn aber seit Verlassen des Aqua-Kubus nicht mehr mit Visionen Außerdem kreisen in Clouds Körper jedoch Reste von Protomaterie, mit denen sein blindes Verständnis der Hirtentechnik zusammenhängen könnte. Durch die Manipulation des Außerirdischen Darnok hat es Cloud in die düstere Zukunft des Jahres 2252 a. D. (= 211 n. A.) verschlagen. Scobee 20 Jahre alt, 1,75 m groß, ihre Augen sind nicht nur nachtsichtig, sondern können auch die Farbe wechseln; Grundfarbe ist jadegrün. Weiblicher Klon und Vorlage (Matrix) für sämtliche nach ihrem Vorbild gezüchteten GenTecs (genetisch optimierte Menschen), von denen mehr als ein Dutzend bei der Reise zum Mars ums Leben kamen. Auf der Erde gab es 2041 noch zwei weitere genetische Ebenbilder: eines davon ging an Scobees Stelle in die Stase, wodurch es ihr selbst überhaupt erst möglich war, an der zweiten Marsmission teilzunehmen; das andere war eine Telepathin, die akut an progressivem Zellverfall erkrankte, bald darauf in Koma fiel und trotz ihrer Versetzung in die Stase schließlich starb. Scobee ist zusammen mit John Cloud und den beiden GenTecs Resnick und Jarvis in die Zukunft des Jahres 2252 n. Chr. entführt worden. Florenhüter Jelto Ein Klon mit »Kirlianhaut«,genetisch prädestiniert, um mit jedweder Pflanze - ganz gleich, ob auf der Erde ansässig oder auf einem fremden Planeten – mentale Verbindung aufzunehmen. Jelto ist eine Art lebendiger »grüner Daumen«; er besitzt eine nicht mehr zu übertreffenden Affinität zu Pflanzen und vermag sich optimal um ihre Bedürfnisse zu kümmern. Jelto hütet eine gewaltige Parzelle Wald, der das Getto umgibt und - wie sich herausstellt - offenbar nur dazu dient, jeden Fluchtversuch aus der früheren Metrop Peking zu vereiteln. Denn dieser Wald besteht zur Hauptsache aus außerirdischer Vegetation, die durchaus fleischliche Gelüste kennt... Die Master Residieren in gewaltigen, 500 Meter hoch aufragenden Bauwerke, die sich aus den 2041 gelandeten Äskulap-Schiffen entwickelt haben und in sämtlichen Metropolen (Metrops) der Welt stehen. Sie sind die Führer der neuen Menschheit, und seit kurzem ist bekannt, dass sich dahinter Angehörige von Darnoks Volk verbergen, die vernichtet geglaubten Keelon also. Die Keelon Bei den Keelon handelt es sich um eine zeitreisende Rasse, die vom Planeten Roogal stammt. Dieses Volk von ehemals friedlichen Forschern wurde scheinbar von den Erinjij ausgelöscht. Darnok begriff sich lange Zeit als einziger Überlebende seiner Art. Inzwischen aber wurde bekannt, dass es sich bei der vorgeblichen Vernichtung der Keelon um eine Finte handelte, um jeden Verdacht gegen sie abzulenken. In Wirklichkeit residieren sie auf der Erde in 500 Meter hoch aufragenden Bauwerken, den Residenzen, die sich aus den 2041 gelandeten Äskulap-Schiffen entwickelt haben. Die Keelon werden Master genannt und sind die Führer Erinjij. Erinjij Sinngemäß: »Geißel der Galaxis« - Name, den die Milchstraßenvölker den rücksichtslos expandierenden Menschen gegeben haben. Die galaktische Position der Erde ist den Außerirdischen dabei bislang unbekannt - mit einer Ausnahme: Der Keelon Darnok kennt die Koordinaten und ermöglichte Cloud und Scobee so erst die Heimkehr ins Sonnensystem. Die Erinjij beherrschen als
einzige bekannte Spezies die so genannte »Wurmlochtechnik« - über das künstlich erschaffene Jupiter-Tor gelangen sie zu ebenfalls in der Nähe von Wurmlöchern gelegenen Basen, von wo aus sie ihre aggressiven Vorstöße koordinieren. Bislang ist unklar, warum die Menschen eine solche Expansionspolitik betreiben, da die Erde alles andere als aus den Nähten platzt... Die Hirten Die sieben Hirten - ihre Namen lauten Sobek, Mont, Mecchit, Sarac, Ogminos, Epoona und Siroona; die beiden letztgenannten sind weiblich - sind die Götter der im Aqua-Kubus beheimateten Vaaren. Sie selbst nennen sich Foronen. Sie sind die waren Herren der Rubikon II (Sesha). GenTec Sie besitzen unter anderem die Fähigkeit, sich im äußersten Fall in eine Art Winterschlaf zurückzu ziehen. Daneben extrem robuste Konstitution, frequenzvariable Sehweise bis hin zu Infrarotsicht und bewusste Beeinflussung von normalerweise unbewussten Körperfunktionen wie Pulsfrequenz, Adrenalinausstoß usw. Bei den Mitgliedern der RUBIKON-Crew Jarvis, Resnick und Scobee handelt es sich um GenTecs. Jarvis und Resnick leiden seit geraumer Zeit unter progressivem Zellverfall, der mit keinem bekannten Mittel aufzuhalten zu sein scheint.
Die irdischen Astronauten John Cloud, Scobee, Resnick und Jarvis verschlägt es in eine düstere Zukunft, in der die Menschen Erinjij genannt werden. Im sagenumwobenen Aqua-Kubus entdecken sie ein gewaltiges, rachenförmiges Raumschiff. Mit diesem gelingt ihnen die Flucht zurück ins heimatliche Sonnensystem. Resnick und Jarvis verschlägt es auf den Mars, Cloud und Scobee gelangen zur Erde. Dort werden sie von einem amorphen Kunstwesen verfolgt, das sich jedoch mehr als einmal als Retter in der Not erweist. Sie gelangen ins Herz der Erinjij-Macht: zu den geheimnisvollen Mastern - die sich als die zeitreisenden Keelon entpuppen, die einst angeblich von den Erinjij vernichtet wurden. Der Amorphe befreit Cloud und Scobee aus der Hand des höchsten Masters, und gemeinsam mit dem Mädchen Aylea und dem Florenhüter Jelto fliehen sie aus der Metrop Washington. Ihr Ziel ist eine unterseeische Station, von der aus sie sich eine Rückkehrmöglichkeit auf das Rochenschiff aus dem Aqua-Kubus erhoffen. 1. Yu Peng: Skytown, 2041 Yu Peng blickte gedankenverloren durch eines der dicken, kreisrunden Fenster hinab auf die Erde.
Skytown, die Stadt im All, drehte sich gerade über die westliche Hemisphäre. Es war Nacht dort
unten, und hunderte, ja, tausende kleine Lichtpunkte erhellten den nordamerikanischen Kontinent.
Nur wenige Sekunden blieben ihm zur Beobachtung, dann schwenkte der Heimatplanet aus seinem
Gesichtsfeld und machte der sternengesprenkelten Schwärze des Weltalls Platz.
»Atemberaubend, nicht wahr?«, sagte der füllige Mann neben ihm.
Säuerlicher Mundgeruch schwappte dem Neochinesen entgegen. Steven McLair stank nach
Zwiebeln, Milch und Minze.
Eine ungeheuerliche Beleidigung für Yu Pengs feine Nase, doch er blieb höflich.
»In der Tat«, entgegnete er. »Es ist immer wieder ein Erlebnis, an Bord der Raumstadt stehen zu
dürfen.«
Steven McLair murmelte bestätigend und wandte sich rasch seiner Gesprächspartnerin auf der
anderen Seite des Plasttisches zu: Svetlana Mastjarkova.
Ihr Gesicht war gerötet vom Wodka, dem sie bereits seit Beginn des zwanglosen Gespräches heftig
zusprach. Die Mundfäulnis des dicken Amerikaners schien sie keineswegs zu irritieren.
Yu Peng hatte aufmerksam das Dossier über die Frau gelesen. Sie vertrat bei den Verhandlungen
Tranzoil, den Verbund der oligarchisch herrschenden russischen Ölproduzenten.
43 Jahre alt, holte er sich die wichtigsten Stichpunkte in Erinnerung, intelligent, aber beeinflussbar.
Zweimal geschieden, ehrgeizig. Schreckt nicht
davor zurück, ihren Körper einzusetzen, um ein Ziel zu erreichen. Wahrscheinlich hatte sie ihren ohnedies knapp bemessenen Rock bereits nach oben geschoben und rieb ihre Knie an denen des fetten Texaners, der in derselben Branche wie sie tätig war. Yu Peng hatte Mühe, seine Verachtung zu verbergen, und wandte sich wieder dem Fenster zu. Die Erde und das verdunkelte Nordamerika gerieten erneut ins Blickfeld. Die Langnasen waren so simpel konstruiert und so leicht zu durchschauen... Die Werte, auf die sie so stolz waren - Demokratie, Freiheit der Meinungsäußerung, ausgewogen soziales Gebaren für die Schwachen, Chancengleichheit für alle -, sie verblassten doch gegen das, was das Neochinesische Reich zu bieten hatte: Menschen. Zwei Milliarden Menschen. Es war die Masse, die zählte. Wenn es um Produktion und Kostenfrage ging, war das neochinesische Leistungsvermögen konkurrenzlos. Yu Peng, offiziell der Generalkonsul der Provinz Tokio von Gnaden Hu Sadakos, erneuerte sein nichts sagendes Lächeln. Er konnte es sich nicht leisten, die Konzentration zu verlieren. Hu Sadako würde es erfahren und als Schwäche interpretieren. Als einer der höchsten Offiziere des Geheimdienstes würde er für einen Schwächeanfall nicht nur Würde und Leben verlieren, sondern darüber hinaus auch noch seine Familie entehren. Und Letzteres würde Yu Peng, der nur dem obersten Chef des Geheimdienstes gegenüber verantwortlich war - seinem Großvater -, härter treffen als alles andere. Auf dem wortwörtlichen Gipfel der Macht, in der Bergfestung Qomolangma, auf siebentausend Metern Höhe über dem Meeresspiegel, war kein Platz für Schwächlinge, das wusste er nur zu gut. Dies ist ein Fenster zur Welt, dachte er, und blickte hinab auf das Lichtermeer an der amerikanischen Ostküste. Vier Schichten stark, aus ultrahocherhitzten Silikaten. Die äußerste Schicht ist robust genug, um Mikrometeoriten Widerstand zu bieten, und sie reduziert schädliche Strahlung weitestgehend. Die beiden mittleren Glasschichten, die Druckscheiben, sind jeweils knapp vier Zentimeter stark. Die innerste Schicht ist dünner, aber speziell geschliffen, um eine exzellente Sicht zu erlauben. Bedampft mit einer Anti-Reflektions-Schicht, die vorn UV- bis zum IR-Bereich jegliches Licht optimal bricht. Ein Fenster zur Welt - aus chinesischer Fertigung. Yu Peng wandte sich McLair zu, dessen fleischige Hände unter dem Tisch auf Wanderschaft gegangen waren. Unter dem Tisch aus China, auf Stühlen aus China sitzend, auf einem schall dämpfenden Boden aus China ruhend, die Luft aus chinesischen Wiederaufbereitungsanlagen atmend. Die überheblichen Langnasen waren umgeben von Erzeugnissen des Reichs der Mitte - und wussten es nicht einmal...
Die zweitägige internationale Zusammenkunft honoriger Wirtschaftsfachleute neigte sich ihrem Ende zu. Übereinkünfte waren erzielt worden, Drohungen waren ausgesprochen und gleich darauf wieder zurückgenommen worden. Das übliche Repertoire an Verbrüderungen, Schulterschlüssen, taktischen Rückziehern, aufgeblähter und sogleich wieder gebrochener Versprechungen war zur Anwendung gekommen. Währenddessen hatten unter ihren Füßen hunderttausende weltfremde, meist bereits ergraute Globalisierungsgegner in den so genannten freien Ländern ihren Unmut geäußert, worüber besonders die amerikanische Delegation herzlich amüsiert gewirkt hatte. Im Neochinesischen Reich waren Proteste unbedeutenden Ausmaßes vorgekommen. Einige gezielte Verhaftungen und Verurteilungen im verkürzten Schnellverfahren hatten noch vor Beginn der Tagung für Ruhe gesorgt. Yu Peng war zufrieden. Er hatte zwei wichtige amerikanische Senatoren bestochen, einen deutschen Stahlindustriellen mit verfänglichen Bildern erpresst und war schließlich als Akt der Freundlichkeit
mit einer der bestechend hübschen Mitarbeiterinnen des Verhandlungsteams aus Formosa ins Bett
gestiegen. Sozusagen als Zeichen des guten Willens seiner Regierung.
Er nippte am Champagner, der hier, im für Touristen frei gegebenen Bereich Skytowns, unglaublich
teuer war. Doch die Kosten, die die Ausrichtung der Tagung mit sich brachten, waren unerheblich
im Vergleich zu den Summen, die als Verhandlungsergebnis fließen würden.
Und sie, die wichtigen Männer der Erde, hatten Ruhe vor dem Pöbel der Straße.
»Ist alles zu Ihrer Zufriedenheit?«, fragte Sean Patton.
Yu Peng zuckte zusammen.
Der Mann, der in den Unterlagen der neochinesischen Geheimdienstleitung als »Der Schatten
Cronenbergs« bezeichnet wurde, war still und unbemerkt an ihn herangetreten. Offiziell fungierte er
als oberstes Überwachungsorgan während der Sitzungen, doch er war mehr.
Viel mehr.
»Sehr freundlich, dass Sie mich fragen«, erwiderte Yu Peng höflich. »Die Peking-Ente war
hervorragend. Knusprig und gut gewürzt, vielleicht mit einem kleinen Hauch zu viel Basilikum.«
»Ich meinte nicht das Essen...«, entgegnete der Schatten zweideutig.
»Ich weiß. Und Sie wissen auch, dass ich weiß, was Sie wissen.«
Patton lächelte, doch seine blauen Augen blieben davon unberührt.
»Dieser Spruch ist mir nicht geläufig«, sagte er mit rauer Stimme. »Verzeihen Sie meine
Unkenntnis des chinesischen Sprachschatzes und Ihrer Kultur.«
Der Mann war gefährlich.
Er war der Einzige an Bord des Sternenrades, den Yu Peng tatsächlich aufgrund seiner Kompetenz
achtete. Der Schatten war der Mann der Amerikaner, wenn es um `die Beziehungen zwischen dem
amerikanisch geführten Block und den Neochinesen ging.
»Ich hätte eine Frage von... Kollege zu Kollege«, sagte Yu Peng nachdenklich. Beide wussten sie,
welch bedeutende Rolle der jeweils andere im Spiel der Mächtigen innehatte.
»Nur zu!«, sagte Patton und zog dabei misstrauisch eine tätowierte Augenbraue hoch.
Yu Peng nahm noch einen Schluck des faden, sprudelnden Gesöffs. »Läuft eigentlich auf der
RUBIKON alles nach Plan?«
Täuschte er sich, oder zeigte Patton tatsächlich Nervosität? Ein leichtes Zucken um den
Mundwinkel, eine Vergrößerung der Iris...
Doch der Amerikaner war geschickt, beherrscht und spielte die Geheimdienst-Spielchen bereits
mindestens ebenso lange wie er. Es war durchaus möglich, dass selbst diese unbewusst scheinende
Reaktion beabsichtigt war.
»Es gab kleine Probleme«, sagte Patton, und putzte sich ein imaginäres Staubkörnchen von der
Schulter. »Vernachlässigbare Probleme.«
»Verluste?«
»Ein Mann hat durchgedreht.« »War es... John Cloud?«
»Nein.«
»Hm... dann habe ich mich in ihm getäuscht. Ich hielt ihn anhand seines Dossiers für nicht geeignet,
diese Expedition anzuführen. Ich vermutete, dass er als Erster die Nerven verlieren würde. Seine
Getriebenheit und Besessenheit, sein Wunsch, die Leiche des Vaters auf dem Mars zu bergen - dies
alles erschien mir als nicht vorteilhaft für die Mission. Im Neochinesischen Reich hätte er trotz
seiner ausgezeichneten Leistungen während der Ausbildung keine Chance bekommen. Im Übrigen
halte ich sehr wenig von den Wissensimplantaten, die Sie ihm und den anderen herkömmlichen
Besatzungsmitgliedern aufgepfropft haben.«
»Sie sind verdammt gut über die Crew informiert, Yu! Wir haben die Besatzung in den letzten
Monaten bestmöglich abgeschirmt. Wen haben Sie für dieses Wissen töten müssen?«
Die Frage mochte zynisch klingen, doch sie hatte durchaus Realitätsbezug. Was bedeutete schon ein
unbedeutendes Menschenleben gegen das wichtigste Gut des 21. Jahrhunderts - gegen
Informationen?
»Niemanden, das versichere ich Ihnen.« Yu Peng lächelte humorlos. »Manche Menschen, zum
Beispiel unterbezahlte Wissenschaftler, sind gerne bereit, ihr Wissen für eine unbeträchtliche
Geldsumme zu teilen.« Patton, der Schatten, seufzte sehnsüchtig. »Oft einmal wünschte ich mir, ich hätte die gleichen Befugnisse wie Sie und könnte Verräter dieser Art ohne demokratischem Firlefanz wie Rechtsbeistand und Gerichtsverhandlung eliminieren.« »Tun Sie das denn nicht?«, fragte Yu Peng und vertiefte sein Lächeln. »Natürlich«, murmelte Patton scheinbar gedankenverloren. »Doch es erfordert viel mehr Aufwand. Erklärungen müssen abgegeben, Todesursachen nachgestellt werden, und schlussendlich muss man für alles ein sechsseitiges Formular ausfüllen.« »Ich verstehe Ihren Frust«, entgegnete Yu Peng. »Ich würde Ihnen ja gerne einen Job im Reich unseres geliebten Kaisers anbieten, doch ich befürchte, dass die guten Plätze bereits alle besetzt sind.« »Ich muss gestehen, dass ich nicht unbedingt darauf aus bin, die Seiten zu wechseln. Hu Sadakos Existenz bereitet mir nicht nur Wohlbefinden.« Was durchaus verständlich war. Das unnahbare Naturell des Kaisers erzeugte in nahezu jedem Menschen Respekt - oder vielmehr Angst. Selbst Yu Peng war nicht vor einem Gefühl der Unsicherheit dem Höchsten gegenüber gefeit - nur sein Großvater, General Yu schien darüber erhaben. »Wenn Sie mich entschuldigen«, sagte der Schatten, Cronenbergs zweiter Stellvertreter, mit einem Mal. »Ich muss mich noch um Mitglieder der europäischen Delegation kümmern.« Yu Peng deutete eine höfliche Kopfneigung an, und der Moment der Vertrautheit verflog. Nun waren sie wieder die anonymen Vertreter zweier geheimdienstlich agierender Organisationen, die einander das Leben so schwer wie möglich machten - und im Zweifelsfalle keine Zehntelsekunde zögern würden, den jeweils anderen zu töten. Doch nicht hier, und auch nicht heute, am Rande der Tagung. Yu Peng konnte warten...
Die Wirtschaftstagung klang wie gewöhnlich mit einer umfangreichen Tour durch den zugänglichen Teil Skytowns aus. Yu Peng hatte den Rundgang bereits dreimal hinter sich gebracht, doch immer wieder wurde er von der Faszination dieser unglaublichen Schau menschlichen Leistungsvermögens in den Bann gezogen. »...wurde im Oktober 2031 endlich fertig gestellt«, hörte er die dozierende Stimme. »Skytown hat die Form eines Rades mit einem Durchmesser von 988 Metern, das sechs in Strahlenform angeordnete Speichen besitzt. Skytown dreht sich nahezu zweimal pro Minute um die Mittelachse. Die dadurch erzeugte Drehkraftbeschleunigung, die an der so genannten Innenfelge des Rades zu spüren ist, beläuft sich auf knapp 0,5 Gravos...« Die Ahs und Ohs wollten kein Ende nehmen, als die Gäste den schmalen Weg betraten, der durch das Pflanzendickicht führte. Süßlicher, schwerer Geruch legte sich über die Delegierten. Das Summen und Brummen honigbeladener Insekten erfüllte die Luft. Da und dort war ein Knacksen zu hören. Kleinere Nager und größere Räuber bewohnten den scheinbar so naturbelassenen Park. »...bitte bleiben Sie auf dem markierten Weg, vielen Dank«, klang die wohl modulierte Stimme ihres Wegbegleiters auf. Es handelte sich um einen kleinen Vogel, äußerlich einem Sperling nicht unähnlich, der sie umflatterte. In Wirklichkeit, so hatte Yu Peng erfahren, folgte das mechanische Wunderding einem fix programmierten Kurs. »Die meisten der knapp zweitausend Module, die in einer technischen Meisterleistung nahezu nahtlos aneinander gefügt wurden, besitzen einen Durchmesser zwischen zwölf und vierzehn Metern. Hier, im Kristallpark, vergrößert sich der Durchmesser auf einer Länge von einem Viertelkilometer auf sechzehn Meter.“
Wieder erklang Raunen und andächtiges Murmeln. Viele der Anwesenden hatten mit ihren Firmen, industriellen Fertigungsstätten oder politischem Einfluss wesentlichen Anteil am Bau der gigantischen Raumstation gehabt - und auch gehörig davon profitiert. Doch nur die wenigsten hatten die Skytown bislang besucht. Es machte einen Unterschied, ob man ein Objekt in dreidimensionaler Darstellung als Modell präsentiert bekam, oder ob man die erste permanent bewohnte Station der Menschheit im All hautnah kennen lernte. Eigentlich ist es bereits die zweite Station, dachte Yu Peng. Einige wenige Elemente der ISSStation, die bis zum Jahr 2029 ihre Aufgabe erfüllt hat, sind in den Bau Skytowns eingeflossen. »... neben dem Wert als Erholungsort, der für die Permanentbesatzung von besonderer Bedeutung ist, erfüllt der Kristallpark selbstverständlich seinen Zweck als Sauerstofflieferant. Die Stadt ist zu mehr als neunzig Prozent selbst versorgend. Das ist übrigens mehr als jede Stadt auf Mutter Erde von sich behaupten kann.« Eine Frage kam von der japanischen Delegation, so leise gemurmelt, dass Yu Peng sie nicht verstehen konnte. Doch der Rechner des Sperlings filterte die Frage mühelos aus dem dumpfen Sprachenwirrwarr und beantwortete sie nach nur wenigen Momenten in Japanisch, Russisch, englisch und chinesisch: »Bei den übrigen zehn Prozent, die nicht in Skytowns Fertigungsanlagen erzeugt werden können, handelt es sich selbstverständlich um Luxusartikel jeglicher Art. Wein, Parfums, mondäne Bekleidung, extravagante Möblierung für unsere Dauergäste...« Ach ja... die Dauergäste. Eine Hand voll von superreichen Privatpersonen, die sich ihren Spleen einen Gutteil ihres Vermögens kosten ließen. Anderthalb Millionen Dollar zahlte man für einen Monat Aufenthalt in Skytown; bei einer Buchung über ein Jahr erhielt man einen Nachlass von zehn Prozent. Yu Peng erinnerte sich vage an einen gealterten Star der Musikbranche, tätowiert vom Scheitel bis zu den Zehen, den er bei seinem letzten Aufenthalt hier getroffen hatte... Ein greiser, über und über behaarter Nobelpreisträger, der von Lizenzen lebte, die ihm ein Patent auf Quantencomputer einbrachte. Eine Aktrice um die Fünfzig. Sie war die erste Darstellerin, die Fühlfernsehen vermittelt und in ihren besten Zeiten mit mehr als dreißig Millionen Männern und Frauen gleichzeitig virtuell geschlafen hatte. Schon seit mehreren Jahren lebte sie völlig zurückgezogen und erlaubte keinem Menschen mehr, sie zu berühren. Ein mexikanischer Fernsehprediger; der Sohn eines ehemaligen italienischen Ministerpräsidenten; ein Sojaproduzent; zwei Mafiosi, die sich der irdischen Gerichtsbarkeit entzogen hatten, und die er an Stelle der Nordamerikaner längst hätte töten lassen; ein französischer Trenddesigner... Verschrobene, schrullige Leute. Mitbeteiligt und mitschuldig am Verfall der westlichen Welt - und schließlich in ihre eigene Dekadenzfalle getreten. »... wir verlassen nun den Kristallgarten - bitte achten Sie auf die Stufe - und betreten den Labortrakt. Hier werden nanotechnische Forschungen ebenso betrieben wie biochemische Versuche. Auch wichtige Erzeuger von Pharmazeutika lassen in streng abgeschotteten Abteilungen gentechnische Experimente durchführen, die auf der Erde keine Genehmigung erhalten haben. Wir bitten um Ihr Verständnis, dass zu den wenigsten Abteilungen freier Zutritt gewährt wird. Hinter den meisten der abzweigenden Türen laufen Projekte ab, die Top Secret sind.« Top Secret? Ha!Yu Peng erlaubte sich ein unauffälliges, verächtliches Grinsen. Nichts, was auf der Erde und in der Skytown passierte, entging den allwissenden Ohren und Augen seiner Agenten, die im Auftrag des Neochinesischen Reiches spionierten. Im Auftrag des Kaisers Hu Sadako, der sich anschickte, die Welt - und den Weltraum - zu erobern. Noch zwanzig, fünfundzwanzig Jahre - dann sollte das Übergewicht asiatischer Produktionsleistung derart gewaltig sein, dass die westliche Welt in vollständige wirtschaftliche Abhängigkeit geraten sein würde. Und dann... Es wurde schwarz vor Yu Pengs Augen.
Absolute, undurchdringliche Schwärze herrschte mit einem Mal.
Ein totales Blackout der Stromversorgung?, dachte er, während rings um ihn Hektik aufkam.
Svetlana Mastjarkova stieß spitze Schreie der Panik aus. Mehrere Männer fluchten ungezügelt.
Andere wollten sich offensichtlich zur nächsten Schleuse vortasten, die ins Rechen- und
Steuerzentrum der Skytown führte.
»Bleiben Sie bitte ruhig, Herrschaften!«, erklang die tiefe, sonore Stimme Pattons. »Es kann uns
nichts passieren.
Alle Systeme der Skytown sind mindestens dreifach abgesichert. Ich bin mir sicher, dass in den
nächsten Augenblicken ein Notaggregat anspringen wird.«
»Reden Sie keinen Unsinn, Mann! Die Notaggregate hätten sofort reagieren müssen«, schnaufte
McLair, der fette Texaner.
Dieser Idiot! Hätte er seinen Mund gehalten, wäre es Patton wahrscheinlich gelungen, die
wachsende Panikstimmung in der nahezu dreißigköpfigen Gruppe einzudämmen.
»Ich will hier raus! Lasst mich raus!“, schrie Mastjarkova.
Yu hatte sich zwei Schritte zur Seite bewegt und konzentrierte sich auf das Brüllen, Fauchen,
Weinen und Geifern der völlig aufgelösten Frau.
Dann drehte er sich halbrechts zur Seite, machte drei kurze Schritte und ergriff zielbewusst
Mastjarkovas Nacken. Er wusste einfach, dass sie es war. Ein kurzer Druck - und die Frau brach
bewusstlos zusammen.
Augenblicklich wurde es ruhiger im Raum, die Aufregung legte sich.
»Hören Sie bitte auf die Anweisungen von Mister Patton«, sagte Yu Peng ruhig zu den anderen
Menschen, die mit ihm im Gang vor den Labors eingeschlossen waren. Jede Tünche der Zivilisation
war binnen weniger Momente von ihnen abgefallen. Es roch - nein! - es stank nach Angst.
»Danke!“, flüsterte Patton plötzlich neben ihm. Er war problemlos an seinem herben Aftershave zu
erkennen. »Dieses hysterische Weib hätte eine Katastrophe auslösen können. Wenn diese
hochwohlgeborenen Menschen auf die Idee gekommen wären, mit Gewalt in die Genlabors
einzudringen... Nicht auszumalen, was hätte passieren können.«
Er richtete sein Wort nun bewusst an die Delegierten: »Sehr verehrte Herrschaften, ich empfehle
Ihnen dringend, in Ruhe abzuwarten, bis die Anlagen der Skytown wieder anspringen.« Schlagartig
wurde es still.
Ganz still.
Yu Peng fühlte, wie die Mitglieder der Delegation die Luft anhielten und vor ihnen beiden
zurückwichen.
Auch wenn sie sich nicht sehen konnten - die Horde der Schafe roch die beiden Wölfe.
Zwölf Minuten später ging das Licht an, die Luftumwälzanlage meldete sich lautstark zurück, und
nach wenigen Momenten gab eine heisere Stimme hastige Anweisungen über Lautsprecher.
Der mechanische Sperling lag auf dem Boden, in winzige Teile zersplittert, in einer unansehnlichen,
grün schimmernden Lache.
Chris Patton gab einige ruhige Anweisungen und winkte dann Yu Peng, während sich die verstörten
Delegationsmitglieder in Richtung des »Skytown-Hilton« zurückzogen.
»Ich kann Sie ohnehin nicht aus der Sache heraushalten«, eröffnete er, während der Neochinese
näher trat.
»Nein«, antwortete Yu Peng lächelnd.
Mehrere verzwickt verklausulierte Verträge zwischen Amerikanern und Neochinesen gaben den
exekutiven Vertretern der beiden Länder ausreichend Befugnisse zum Eingreifen bei einem solch
schwerwiegenden Zwischenfall.
Und Yu Peng konnte sich kein schlimmeres Szenario ausdenken; buchstäblich alles war für nahezu
eine Viertelstunde in der Skytown zusammengebrochen. Die Folgen konnten fatal sein...
Nebeneinander eilten sie in die Steuerzentrale. Patton aktivierte den Vorrangcode, und sobald sich
die Schotts zur Seite bewegten, schlüpften sie hindurch.
»Was war los?«, fragte er knapp einen untersetzten, schweißtriefenden Mann, der aufgeregt
zwischen mehreren Arbeitsplätzen hin und her lief und kurze Anweisungen bellte.
Sherman, erinnerte sich Yu Peng. Brite. Kompetent sowohl als Ingenieur als auch als Manager der
Raumstadt. Der richtige Mann auf dem richtigen Posten.
»Weiß nicht«, antwortete der Londoner mit Cockney-Akzent. »Ist mir im Moment auch egal. Wir
trudeln!«
Yu Peng wusste, dass die Orbitbewegungen Skytowns extrem sensibel gesteuert werden mussten.
Es war sozusagen ein Tanz auf Eiern. Geringste Abweichungen bei den immer wieder notwendigen
Steuerkorrekturen konnten das Schicksal der Stadt und seiner Bewohner besiegeln. Sie würden
abstürzen oder ins All hinausdriften.
»Wie sieht es mit Unterstützung durch die Leitstation in Houston aus?«, fragte Patton seelenruhig.
»Mann, können Sie Fragen stellen! Die da unten auf der Erde hatten ebenfalls einen Totalausfall.«
Mit nervösen Händen zündete sich Sherman eine Zigarette an. »Können Sie sich vorstellen, dass die
Lichter auf der Erde von einer Sekunde zur nächsten vollständig erloschen sind? Wie eine Weih
nachtsbeleuchtung, die man abdreht...“ Er wischte sich den Schweiß von der Stirn. »Allerdings
dauerte die Dunkelheit nur wenige Sekunden. Dann hat es begonnen, da und dort aufzuleuchten.
Wie in einem Blitzlichtgewitter. Flugzeugabstürze. Geplatzte, explodierende Ölpipelines.
Brennende Städte. Was immer Sie sich vorstellen können - es ist passiert.«
»Bekommen Sie Skytown wieder auf Kurs?«, fragte Patton unbeeindruckt.
»Ja, verdammt noch mal, wenn Sie mich nicht zu lange aufhalten.« Sherman wandte sich ab, vergaß
auf jegliche Grundsätze britischer Höflichkeit. Kein Wunder, angesichts der angespannten
Situation.
»Darf ich Sie bitten, mir eine Verbindung zum Qomolangma Palast herzustellen?«, fragte Yu Peng.
Sherman drehte sich nochmals um und schenkte ihm einen Blick, der nur >Was will das verdammte
Schlitzauge hier?< bedeuten konnte.
Bislang hatte Yu Peng seine Rolle als Handels-Attache und Generalkonsul mustergültig ausgefüllt,
und niemand außer Patton und einigen Geheimdienstleuten der verschiedensten Nationen wussten,
wer er in Wirklichkeit war. Es war nun mal ein Spiel, an das sich alle Beteiligten getreu gehalten
hatten.
Doch die Zeit für Spiele war vorbei.
»Das ist schon in Ordnung«, sagte Patton hastig. »Ich stehe für den Mann gerade.“
»Nun, wenn Sie die Verantwortung übernehmen, soll's mir Recht sein«, murmelte Sherman. Er
winkte Yu Peng zu einem der neochinesischen Techniker in einer hinteren Reihe. Dorthin, wo
Bildschirm an Bildschirm stand.
»Eine Verbindung mit Qomolangma«, sagte der Geheimdienstler zu dem jungen Mann, an den ihn
Sherman verwiesen hatte. Sein Gesicht war dunkel und faltig. Wahrscheinlich ein geborener
Mongole.
»Jawohl«, sagte der und schluckte, »doch ich fürchte, ich werde keine Verbindung bekommen. Die
Zustände auf der Erde sind chaotisch...«
»Doch, werden Sie. Geben Sie folgenden Überrangbefehl ein«, er kritzelte eine zweizeilige
Zeichenkolonne auf ein Blatt Papier, »und vergessen Sie ihn gleich darauf wieder.« Yu Peng
schenkte dem Mongolen das Lächeln eines Haifisches.
»J-jawohl, Erhabener«, stotterte der Funkspezialist.
Nach nicht einmal zehn Sekunden stand die Leitung, und der Chef des Geheimdienstes blickte ihn
an. »Oberst Yu?«
Da klar war, dass es sich nicht um einen Höflichkeitsanruf handelte, blieb Yu Pengs Großvater
förmlich. Sie lebten beide noch, das war für den Moment ausreichend.
Der Geheimdienstler scheuchte den Mongolen von seinem Platz und setzte sich. Er und der General
hatten Dringendes zu besprechen.
Pläne einer weltumspannenden Machtübernahme durch den neochinesischen Herrscher konnten
durchaus vorgezogen werden, wenn die Prämissen stimmten.
Und weltweite Panik war eine dieser Voraussetzungen...
Doch es sollte nicht mehr so weit kommen.
Denn drei Tage später verwandelte sich der Jupiter in ein Schwarzes Loch. 76 fremdartige
Raumschiffe in Form von Äskulapstäben drangen kurze Zeit später daraus hervor, zerstörten die
mittlerweile auf dem Mars gelandete RUBIKON, die Erzförderstätten auf dem Mond und sämtliche
im Orbit um die Erde kreisenden Satelliten.
Mit Ausnahme von Skytown. Jegliche Technik versagte an Bord des Rades.
Sherman fluchte unbritisch, Patton wurde deutlich blasser um die Nase, und Yu Peng verbarg sich
hinter maskenhaftem Schweigen.
Sie und die weiteren achthundert Personen an Bord mussten es hinnehmen, dass ihnen die Kontrolle
über Skytown entzogen wurde. Ein grünlich schimmerndes Feld umhüllte das Rad und hielt es für
mehrere Wochen in Position.
Mittlerweile waren die Äskulapraumer längst auf der Erde gelandet und stachen aufgerichtet wie
mahnende Zeigefinger gen Himmel.
Sherman hatte sich am zehnten Tag nach der Invasion erschossen, und Patton hatte sich so wie viele
andere der Skytown-Bewohner dem Suff hingegeben.
Yu Peng jedoch schwieg.
Vielleicht konnte er sich mit den neuen, außerirdischen Machthabern arrangieren?
2. John Cloud: Erde, 2252 (211 n.A.) »Bleib endlich ruhig liegen, verdammt noch mal!“, fuhr Cloud das junge Mädchen an.
Im selben Moment bedauerte er, dass er so barsch mit der zehnjährigen Aylea umging - doch die
Verfolger waren ihnen dicht auf den Fersen. Sie musste begreifen, dass sie ihm in dieser prekären
Lage bedingungslos zu gehorchen hatte.
»Antigrav-Schlitten«, murmelte Scobee knapp, »der bereits bekannte Typ.«
»Höchstwahrscheinlich ausgerüstet mit Wärmespürern und Bewegungsmeldern«, ergänzte Cloud.
»Es dauert nicht lange, dann haben sie uns im Visier.“
»Wir können nur hoffen, dass diese Knaben ähnlich schlechte Schützen sind wie jene bei unserer
ersten Begegnung.
»Was sollte das schon helfen, Scob? Dann braten sie uns eben eine Viertelstunde später. Wir haben
keine Chance mehr. Sobald sie noch ein wenig näher kommen, erfassen sie uns sowohl optisch als
auch mit ihren Geräten. Warum hat er uns bloß im Stich gelassen...“
Er...
Das amorphe Lebewesen - oder die Maschine, Cloud wusste noch immer nicht, was eigentlich
zutraf -, hatte sich abgesetzt und war in den Fluten des Meeres verschwunden. Das war gewesen,
kurz nachdem sie mit einem Residenzgleiter aus dem Washingtonerin m der Master entkommen
waren -und abgeschossen worden waren, bevor sie auch nur das Meer erreicht hatten. Sie hatten am
Strand notlanden müssen.
»Uns bleibt immer noch die Hoffnung...«, setzte Jelto, der Florenhüter an.
»Still jetzt!«, unterbrach ihn Cloud. »Sie bewegen sich in unsere Richtung.«
Die vier Gejagten lagen am Strand, in einer länglichen Bodenmulde, die scheinbar vom Kiel eines
kleinen Fischerbootes stammte.
Zwanzig Meter vor ihnen breitete sich der Ozean aus, so nah und doch unerreichbar fern. Dreißig
Schritte hinter ihnen begann ein grüner Dschungel, bedrohlich und unheimlich. Fremdartige Düfte
drangen daraus hervor und erfüllten die salzhaltige Luft. Auch hier hatten die Master - die Keelon!,
verbesserte sich Cloud - ein Reservat außerirdischer Flora angelegt.
Eine dünne Schicht groben Kieses bedeckte die vier Flüchtlinge und dämpfte ihre
Wärmeausstrahlung - hoffentlich! - ein wenig.
Jelto murmelte leise etwas, nahezu unverständlich.
Die Antigrav-Gleiter rückten ein Stück näher. Mittlerweile hatten sie eine systematische Suche
begonnen und flogen immer wieder über den Strand.
Wieder sagte Jelto etwas, ein wenig lauter diesmal.
Cloud stieß ihn leicht und dennoch zornig an. Der gentechnisch veränderte Mann sollte endlich
seinen Mund halten!
»Ich glaube, ich weiß einen Ausweg«, flüsterte ihm der Florenhüter zaghaft ins Ohr.
»Ach ja? Willst du sie vielleicht mit Kieseln bewerfen und vertreiben?«, wisperte Cloud zurück. Er
hatte es wahrlich satt, mit gut gemeinten Ratschlägen überhäuft zu werden.
Seine Ausbilder hatten ihn gelehrt, in derlei aussichtslosen Situationen ruhig zu bleiben, egal, was
passierte. Nur nicht die Nerven zu verlieren. Ja nicht aufzuspringen. Sich tot zu stellen.
»Ich müsste nur ein klein wenig näher an den Wald heran«, drängte Jelto.
»Bist du wahnsinnig? Die messen doch jede Bewegung an! Sobald du die Furche und damit die
Sichtdeckung verlässt...
»Ich bleibe in Deckung, vertraue mir!« Jelto sprach's und kroch nach hinten weg. Vorsichtig,
Zentimeter für Zentimeter.
»Du verfluchter Idiot!«, schimpfte Cloud.
Doch es hatte keinen Sinn, ihn festhalten zu wollen. Der Florenhüter war offensichtlich nicht bereit,
auf ihn zu hören. Langsam drehte Cloud den Kopf und beobachtete, wohin sich Jelto bewegte.
Jelto robbte unter der groben Schotterschicht der Strandes - er bewegt sich wie ein Profi, musste
Cloud in Gedanken zugeben - auf die Ausläufer des Dschungels zu.
Die Furche, in der sie sich verborgen hielten, wurde nach hinten hin immer flacher und endete
vielleicht zehn Meter vor dem Beginn der grünen Zone.
Der Urwald wirkte undurchdringlich, und ungewohnte Geräusche drangen daraus hervor. Squerls
hatte Jelto die kleinen Vögel mit den spitzen Schnäbeln genannt, die immer wieder ihr Keckern
hören ließen und aufgeregt über den Wipfeln ihrer Bäume flatterten.
Der Pflanzenmeister hatte das Ende der Furche erreicht, und damit das Ende seiner Deckung.
Mit einem hastigen Blick nach draußen überzeugte sich Cloud, dass die Erinjij-Soldaten weiterhin
methodisch nach ihnen suchten. Es gab keinerlei Anzeichen, dass sie sie bereits entdeckt hätten.
Jeltos Körper flammte auf, strahlte grün, gelb und rot. Das Leuchten der Aura intensivierte sich
rasch und drohte, über den Rand der Furchte hinwegzuleuchten.
Da entdeckte Cloud den Grund, warum der Florenhüter bereit war, sich zu offenbaren.
Knapp vor Jelto endete ein lianenähnliches Gewächs aus dem Urwald, das er mit seinen langen, von
Kieselsteinen unbedeckten Fingern berührte.
Es war einunheimlicher, ungewohnter Vorgang, dem Cloud beiwohnte: Der Florenhüter
kommunizierte mit einer Pflanze!
Was hat er nur vor, verdammt noch mal?, fragte sich John. Verabschiedet er sich etwa von seinen
geliebten Pflanzen?
Das Zwiegespräch dauerte nur wenige Sekunden - dann erlosch das Leuchten, und Jelto kam
langsam und vorsichtig zurück gekrochen. Die Antigrav-Gleiter hatten sich mittlerweile auf eine
Entfernung von knapp 150 Meter genähert.
Sie schwebten lediglich in niedriger Höhe. Noch hatten die vier Fluchtgefährten etwas Zeit, bis sie
entdeckt werden würden.
»Er ist bereit, uns aufzunehmen«, flüsterte Jelto, als er endlich heran war.
»Wer?«, fragte Cloud kurz zurück, so leise es nur ging.
»Der Kuana-Baum.«
Scobee neben ihnen stöhnte unterdrückt auf.
Kein Wunder - waren sie und John Cloud doch bei ihrer ersten Berührung mit dem fremdartigen
Dschungel von Schoten des Kuana-Baums gefangen und nahezu verdaut worden. Ihre Körper
hatten von der Berührung mit der ätzenden Säure, die der Baum absonderte, schmerzhafte
Verbrennungen davongetragen.
»Vertraut mir«, murmelte Jelto. »Bleibt einfach ruhig liegen.«
Was hatten sie denn für eine andere Wahl? Das leise Brummen der Antigrav-Geräte war bereits zu
hören, ebenso wie die schroffen Stimmen der Soldaten.
Der Sand und die Steine unter ihnen gaben plötzlich ruckartig nach.
Aylea stieß einen spitzen, unterdrückten Schrei aus, bevor John reagieren und ihr den Mund
zuhalten konnte.
»Da war was!“, hörte er die Stimme eines Soldaten rufen. »Da vorne!«
»Was sagt der Scan?«, meldete sich eine andere befehlsgewohnt.
»Bin mir nicht sicher...«, tönte es nach wenigen Sekunden.
Die Soldaten benahmen sich wie Elefanten im Porzellanladen! Und das sollten die berüchtigten
Erinjij-Truppen sein, die die ganze Galaxis mit Angst und Schrecken überzogen?
Der Boden unter ihnen gab weiter nach. Sand und Gestein rutschten weg - bis fein verästelte, grüne
Pflanzenschösslinge wie suchend über sie hinwegtasteten.
»Keine Angst, alles unter Kontrolle!«, murmelte Jelto. Er berührte eine der Lianen, leuchtete kurz
auf, und wie auf Befehl erhoben sich hunderte Squerls von ihren Nistplätzen.
Ein Höllenlärm hob an, ein Geschnatter und Gequietsche ertönte, sodass Cloud förmlich spüren
konnte, wie sich die Nervosität der Soldaten weiter steigerte.
Einer der Männer verlor vollends die Nerven und löste das Lasergeschütz seines Gleiters aus. Der
Schuss ging geradewegs in den Himmel, weit entfernt von den empörten Vögeln ins Leere.
»Jetzt, grabt!«, rief Jelto in das Chaos hinein, und wühlte sich tiefer in die breiter werdende Furche.
Immer mehr der grünen Lianen reckten sich ins Tageslicht, fuhren über ihre Gesichter und Körper
hinweg.
Aylea schnaufte schwer und schluchzte. Ihr gesamter Körper zitterte, die Augen waren weit
aufgerissen.
Sie hyperventiliert!, dachte Cloud, und presste das Mädchen so fest wie möglich an sich.
Kein Wunder, dass es der Zehnjährigen so schlecht ging - die Pflanzenstrünke und Lianen
sonderten einen gelblichen, stinkenden Schleim ab, der ihn und die anderen mit einer lackähnlichen
Schicht überzog.
»Vertraut mir!«, sagte Jelto nochmals, als müsste er sich selbst Mut zusprechen.
Doch dann, als sich vier überdimensionale Pflanzenschoten aus dem Untergrund befreit hatten und
sich daran machten, sie einen nach dem anderen zu verschlucken, sah Cloud die Panik auch auf
seinem Gesicht.
Sie begaben sich freiwillig in die grünen Arme eines Pflanzenwesens, dem Menschenfleisch
hervorragend schmeckte...
Das Maul der Schote klappte über Cloud zu. Fasrige Stränge umfingen ihn, banden ihn zu einem
bewegungslosen Paket zusammen. Ströme von grauenhaft ekliger Flüssigkeit traten irgendwo aus,
und überschwemmten seinen Leib.
Sein Schrei erstickte. Ein Blatt, klebrig und süß schmeckend, legte sich über Mund und Nase. Er
konnte flach atmen, sich aber kaum noch bewegen.
Aber er konnte hören; scheinbar besser als zuvor! Als ob der Pflanzenkokon seinen Gehörsinn
unglaublich sensibilisiert hätte.
»Verdammte Vögel!“, fluchte der Besitzer jener Stimme, der offensichtlich den Oberbefehl über die
mehr als ein Dutzend Antigrav-Gleiter innehatte. »Holt mir ein paar vom Himmel, damit die
anderen flüchten!«
Ein Ruck ging durch Clouds Schote, und er fühlte, wie ihn der Pflanzenkörper nach unten wegriss.
Hinab ins Erdreich.
Cloud spürte die anderen um sich: Scobee vor, die beiden anderen hinter ihm. Mit Sinnen, die er
nicht kannte, empfand er die Anwesenheit seiner Begleiter. Die riesenhafte Pflanze, der Kuana-
Baum, vermittelte eine unglaubliche Verbundenheit mit ihrer Umgebung.
Der Körper des außerirdischen Gewächses verzweigte sich weithin unter dem Erdboden. Das, was
an der Oberfläche zu sehen war, stellte nur einen Bruchteil dessen dar, was dieses außerirdische
Gewächs eigentlich ausmachte.
»Wir befinden uns jetzt im Wurzelwerk des Kuanas«, hörte er plötzlich
Jeltos Stimme, »zwanzig Meter unter der Erdoberfläche. Wir sind außer Gefahr.«
Das Pflanzenband um Clouds Mund löste sich, und gierig schnappte er nach zusätzlichem
Sauerstoff.
Aylea weinte unweit von ihm, völlig aufgelöst und hysterisch. Scobee versuchte, sie zu trösten -
doch ohne dem jungen Mädchen körperlichen Kontakt bieten zu können, würde es ihr schwer
fallen, es zu beruhigen.
»Wie geht's jetzt weiter?«, fragte Cloud den Florenhüter, und bemühte sich, die ungemütliche
Situation zu ignorieren. Nach wie vor lag er im Inneren eines Fleisch verdauenden Kokons und war
unfähig, etwas zu sehen oder sich zu bewegen. Zu allem Überfluss juckte es ihn überall.
»Wir warten einfach ab, bis sich die Soldaten verziehen. Dann schickt uns der Kuana-Baum
hoffentlich zurück an die Oberfläche.
Cloud horchte alarmiert auf. »Hoffentlich?«
»Es gibt ein kleines Problem«, antwortete Jelto zögernd. »Der Kuana ist, musst du wissen,
halbintelligent. Er hat meine... unsere Notlage verstanden und uns angeboten, zu helfen.
Allerdings...«
»Allerdings?«
Jelto zögerte lange. »Der Baum ist klug genug, um zu wissen, was ein Handel ist. Er hat uns nur
unter der Voraussetzung vorübergehend aufgenommen, dass er einen von uns behalten und
verdauen darf...«
Aylea hörte nicht auf zu weinen. Wahrscheinlich hatte sie die Worte Jeltos nicht einmal gehört, so
sehr stand sie unter Schock.
»Ihr braucht nicht um euer Leben zu fürchten«, erklang wieder die Stimme des Florenhüters, traurig
diesmal. »Dieser Fluchtweg war meine Idee, und ich werde auch dafür bezahlen.«
»Kommt gar nicht in Frage«, sagte Cloud, »uns wird schon eine Lösung einfallen.«
Er fand sich selbst nicht sonderlich überzeugend, und Jelto lachte auch nur kurz und bitter auf.
Minuten vergingen, wurden zu einer Viertelstunde und schließlich zu einer halben.
Aylea beruhigte sich langsam dank der sonoren, beruhigend wirkenden Worte Scobees.
Immer wieder vermittelte ihnen Jelto, was an der Erdoberfläche vor sich ging. Mit Hilfe seiner
Gaben, die ihn nahezu eins mit Pflanzen werden ließen, sah, hörte, roch und schmeckte er das, was
der Kuana-Baum empfand.
»Ich glaube, dass die Soldaten aufgeben«, berichtete er. »Augenscheinlich resignieren sie und
wollen an anderer Stelle weiter nach uns suchen.«
Weitere fünf Minuten später sagte er: »Sie fliegen ab!« Es klang nicht erleichtert, im Gegenteil - es
klang traurig. »Wir warten noch ein paar Augenblicke, dann wird euch der Kuana an die Oberfläche
zurücktransportieren. Von dort aus müsst ihr alleine sehen, wie ihr zurechtkommt.«
»Jelto...“, setzte Cloud zu einem Einwand an.
»Nein, sag bitte nichts! Mein Entschluss steht fest. Ich habe euch in diese Situation gebracht, und
ich werde euch wieder herausholen.«
Verdammt, sie konnten doch den Florenhüter nicht einfach seinem Schicksal überlassen! Es musste
einen Ausweg geben, es musste...
Die Schote, die Cloud umgab, wurde unruhig. Sie bewegte sich leicht schlenkernd hin und her und
sonderte einen stechenden Geruch ab. Die Luft war ohnehin bereits stickig geworden in dem engen
Gefäß, und nun auch noch das...
»Viel Glück«, erklang erneut die bittere Stimme Jeltos.
»Nein!“
Der Kokon setzte sich in Bewegung. »Nein!«, schrien sie alle drei. Immer rascher fühlten sie sich
steil
nach oben transportiert.
»NEIN!“
Und tatsächlich... Ihre Schoten stoppten.
Von weit weg, von weit unten aus dem Erdreich, hörten sie Jelto aufgeregt rufen: »Der Amorphe ist
wieder da! Mit etwas, das wie ein Transportmittel aussieht, wartet er im Wasser. Der Kuana-Baum
wird euch möglichst nahe beim Wasser absetzen.«
Erneut setzte sich Clouds Schote in Bewegung.
Der Amorphe, der Cloud nach eigener Aussage von Sobek als Leibwächter zugeteilt worden war,
wirkte bislang immer nahezu unbezwingbar. Konnten sie ihn dazu bewegen, Jelto aus dem
Wurzelwerg des Kuanas zu befreien?
Wahrscheinlich nicht...
Der Amorphe war stets auf Cloud fixiert und sorgte sich ausschließlich um dessen Gesundheit. Jelto
war Sobek und den übrigen Hirten - und damit dem Amorphen - sicherlich vollkommen egal.
Ja, wenn ich dort unten... Ein irrer, ein wahnwitziger Gedanke kam Cloud. Doch dazu musste er
selbst seine Freunde täuschen.
»Jelto!«, brüllte er aus Leibeskräften, und wehrte sich mit allem, was er hatte, gegen die klebrige
Umarmung der Faserbänder. »Jelto, schlag dem Baum ein Tauschgeschäft vor!“
Die Zugwirkung nach oben stoppte erneut.
»Sag ihm, dass wir den Amorphen statt dir übergeben!“, fuhr Cloud fort. »Du kannst damit
argumentieren, dass er größer und besser zu verdauen ist.«
»Was... was willst du erreichen?«, erklang es leise, wie von einem Echo erzeugt. »Wie willst du
dieses Ding dazu überreden, dass er in eine Schote einsteigen und sich opfern soll?«
»Überlass das nur mir, Jelto! Tu, was ich dir sage! Und... sei überzeugend. Es geht um dein Leben!«
Stille.
Dann, nach fast einer Minute: »Der Kuana ist einverstanden. Ich hoffe, du weißt, was du tust...«
Ja, das hoffe ich auch, sagte sich Cloud.
Nach der knappen Stunde, die er unter der Erde zugebracht hatte, roch die frische Meeresluft
herrlich. Doch Cloud fand keine Zeit, um die wiedergekehrte Ruhe, die am Ufer herrschte, zu ge
nießen.
Ohne besonderes Zutun und ohne dass es ihn gesehen haben konnte, setzte sich das amorphe Wesen
in Clouds Richtung in Bewegung.
In einem Moment hatte es wie ein menschenähnlicher Monolith in der geöffneten Schleuse des
fremdartigen Amphibienfahrzeuges gestanden.
Im nächsten schien es zu schmelzen und verteilte sich großflächig auf der Oberfläche des Ozeans
wie ein Ölfilm und bildete kleine Podien aus, die ihn wie mit einer Tausendschaft von
Schiffsschrauben antrieben und in Blitzeseile an den Strand brachten.
Cloud stieg aus der hochgeklappten Schote aus. Die Pflanze gab ihn nur äußerst widerwillig frei.
Die Botschaft des Kuana-Baums war klar: Es wartete begierig auf die versprochene, größere Beute.
Ein weiterer Kokon bohrte sich von unmenschlicher Kraft getrieben an die Oberfläche des Strandes.
Die dunkelgrüne Klappe öffnete sich, und Jelto wurde sichtbar. Er war fest verschnürt, kaum
bewegungsfähig.
Es war wie ein Austausch zweier wichtiger Geiseln in einem Western.
Aber würde der Amorphe mitspielen?
Sicher nicht.
Also gab es nur eines: Cloud musste ihn dazu zwingen.
Das Wesen war am Strand angelangt. Langsam, fast bedächtig, verdichtete sich seine verteilte
Masse wieder zu einer humanoiden Form. Noch während es an Gestalt und Größe gewann, begann
es, auf sie zuzustapfen.
»Jelto, sobald ich >Jetzt!< rufe, befreist du dich unter allen Umständen. Wenn der Kuana fair spielt,
wird er dich loslassen. Du achtest keineswegs auf das, was um dich herum passiert und versuchst,
gemeinsam mit Aylea und Scobee so rasch wie möglich an Bord des Transporters zu gelangen. Hast
du mich verstanden?«
»Ja, aber...«
»Ich will nichts hören, vor allem kein >Ja, aberUnregelmäßigkeiten< ist ein äußerst unpräziser Begriff«, sagte die Frau kühl. Die dunklen Tätowierungen, die sie anstatt der Augenbrauen trug, zogen sich langsam nach unten. Eine tiefe Falte bildete sich an ihrer Nasenwurzel und gab ihrem Gesicht einen strengen Ausdruck. Sie sieht bezaubernd aus, wenn sie so ernst blickt, dachte Cloud irritiert, und versuchte, sich auf die Anzeigen des Amphibienfahrzeugs zu konzentrieren.
»Die Wasserdichte nimmt an eng begrenzten Stellen zu«, sagte er betont nüchtern. »Die Temperatur
schwankt zwischen 3 und 28 Grad Celsius, und das in einer Tiefe von achthundert Metern. Ich
sehe... hm... riesige Schwärme toter Fische. Und... Wenn's nicht so verdammt ernst wäre, würde ich
ja darüber lachen - aber zwanzig Kilometer voraus treibt ein Hochhaus vorbei. Bauweise Ende des
letzten... ich meine natürlich des zwanzigsten Jahrhunderts. Nahezu völlig intakt.« Cloud blickte die
GenTec an. »Also«, fragte er bissiger als er wollte, »fällt dir ein besserer Begriff als
>Unregelmäßigkeiten< ein?«
Scobee wirkte völlig entgeistert. Ihr entglitten die Gesichtszüge, und Panik war zu sehen.
»Ich weiß ein Wort«, sagte sie, blass geworden. »Zeitfelder. Das sind Zeitfelder der Keelon. Sie
schaffen hier unten unterschiedliche Zeitebenen, um uns zu vernichten.«
»Mein Gott, du hast Recht«, flüsterte Cloud. »Wir müssen so rasch wie möglich verschwinden.«
Hastig drückte, schob und betätigte er irgendwelche Knöpfe und Sensoren, die er instinktiv in ihrer
Funktion begriff.
Das Schutzfeld, der Energieschirm, verstärkte sich, und die Geschwindigkeit des massigen
Fahrzeugs nahm deutlich zu. Er zog das Warrikk nach oben, nur raus aus der unheimlichen Zone.
Die Zeitfelder, scheinbar völlig willkürlich geschaltet, tauchten immer näher an ihrem plötzlich so
fragil wirkenden Fahrzeug auf. Manche nur wenige Meter groß, andere mit einer Ausdehnung von
mehreren Kubikkilometern.
Cloud fluchte und schimpfte. Er konnte kein Muster, kein System hinter den Zeitfallen erkennen.
Es gab wieder mal keine Möglichkeit, die Dinge zu beeinflussen.
Wie sehr er Situationen wie diese hasste!
Seit er die RUBIKON I auf dem Mars verlassen hatte, war es ihm kaum anders ergangen als jetzt.
Er musste reagieren statt zu agieren.
Hatte er sich erst nicht vor wenigen Momenten vorgenommen, daran etwas zu ändern?
Cloud straffte sich.
Nein! Er war auf seiner Odyssee nicht so weit gekommen, um sich schließlich von einem dreimal
verfluchten Zeitfeld in seine atomaren Bestandteile zerwirbeln zu lassen...
Kaum war der unheilige Schwur zu Ende gedacht, fielen sie in ein riesiges Loch aus massiv
verdichteter Atmosphäre, das hier unten, in sechshundert Metern Seetiefe, nichts zu suchen hatte.
Cloud und seine Begleiter verloren schmerzhaft das Bewusstsein...
4. Atma: Keelopolis, vor wenigen Wochen Das Ziel war so nah - und doch so fern.
Wie genau definierte man Zeit?, überlegte Atma zum wiederholten Male.
War sie eine präzise gemessene Abfolge von Augenblicken, wie manche Völker des Universums
dachten? Eine mathematische, unveränderbare Größe?
Oder war sie etwas, das den Raum erfüllte und belebte, was andere Rassen behaupteten?
War Zeit dadurch existent, dass etwas geschah, und auch nur dort, wo etwas geschah?
War sie vielleicht eine Substanz, greifbar und formbar...?
Atma und ihre keelonischen Artgenossen hatten mehr Zugang zu dieser Thematik als jedes andere
Wesen im Universum.
Sie konnten sich an Zeitlinien entlang hangeln und mit Hilfe eines Phantomorganes, dem so
genannten Magoo, in die Vergangenheit reisen.
Wenn Atma sich vorstellte, an einen bestimmten Zeitpunkt zurückreisen zu wollen - dann geschah
es so. Nur mit der Kraft ihrer Vorstellung, solange diese Kraft denn reichte.
Doch bislang war es noch keinem Keelon gelungen, die Zeit als greifbare Substanz darzustellen, sie
zu formen.
Atma griff mit einem ihrer grauen Handlungsstrünke sehnsüchtig verlangend nach einem Holo-
Bild, das ein Stasisfeld simulierte, in der sich Zeitsubstanz hin und her wand. Losgelöst vom
Schabernack thermodynamischer Gesetzmäßigkeiten und physikalischer Bedingungen.
Sie musste unglaublich schön sein, diese Zeit, die nur für sich selbst existierte, ohne Nutzen und
Zweck.
Die Optimale Zeit.
Was waren das nur für Narren, weit weg, die in ihren Türmen - die Menschen hätten sie
Elfenbeintürme genannt - ihre Spielchen um Macht und Besitztum spielten? Warum verinnerlichten
sie nicht so wie sie und ihr Kreis die Suche nach der Optimalen Zeit als das erstrebenswerteste Ziel,
dem ein Keelon nur nacheifern konnte?
Atma schaltete enttäuscht das Holo-Bild ab und verließ das spartanisch eingerichtete Zimmer, das
sie derzeit mit drei anderen Keelon teilte.
Vielleicht würde sich ihre Laune bessern, wenn sie in der Agora, der großen Versammlungshalle,
an einer Diskussionsrunde um Zeitphilosophie teilnahm.
Die Agora war der größte Raum der Stadt. Sie hatte sechzehn Meter Durchmesser und war nahezu kreisrund. Sie war in Form eines Amphitheaters gebaut, mit stufenweise aufsteigenden Sitzen, auf denen sich um diese frühe Zeit bereits mehrere Dutzend Keelon tummelten. Viele hielten ihre Strünke in Kristallgläser, die mit Salzwasser gefüllt waren, und ließen sie von kleinen, irdischen Fischen pflegen. Eine der vielen Annehmlichkeiten, die sie auf dem herrlich blauen Planeten zu genießen gelernt hatten. Atma grüßte freundlich in die Runde und konzentrierte sich schließlich auf den Keelon, der soeben die Bühne betrat. Höfliches Strunkklopfen ertönte, dann erhob Perspe die Stimme. Tief und sonor sprach er, aber auch monoton und einschläfernd. Er erzählte von seinen aktuellen Erkenntnissen auf dem Gebiet der Zeitaufschneiderei. Zeitaufschneiderei war ein neuer, esoterisch anmutender Wissenszweig, der sich mit der Deutung der Zeit anhand der Bewegung von Sternen beschäftigte. Atma hielt dieses Wissensgebiet für reinen Humbug, schließlich bewegten sich die Sterne von der Erde aus gesehen anders, als von ihrem Heimatplaneten Roogal aus. Sie hütete sich aber, öffentlich ihre Stimme zu erheben. Schließlich war sie lediglich Erste unter Gleichen in ihrer kleinen Kommu ne, und ein falsches Wort zur falschen Gelegenheit konnte die Gesamtstimmung negativ beeinflussen. Die Keelon hatten sich in den vergangenen zweihundert Erdjahren intensiv mit den Menschen beschäftigt, jenen Ureinwohnern der Erde, die nun unter der Leitung ihres Volkes zu neuen Höhenflügen aufbrachen. Kein Wunder also, dass Maße und Begriffe wie Meter, Dutzend, esoterisch oder Kommune in ihrem Wortschatz Einzug gefunden hatten. »...und so ist die Konstellation der Gestirne von eminenter Bedeutung für das Schicksal der Erdbewohner«, sagte Perspe bedeutungsvoll. »Und was ist denn Schicksal? Nichts anderes als das Ergebnis, die Summe verlaufender Zeit unter geringfügigen räumlichen Einflüssen. Und Zeit, wie wir - bis auf ein paar Zweifler unter uns - wissen, ist eine formbare Substanz. Etwas, das wir hoffen, schon bald steuern zu können.« Perspe hüstelte wichtigtuerisch und richtete all seine Augen auf die mittlerweile gelangweilte Zuhörerschaft. »Beachtet bitte die logische Kette, die ich euch zweifelsohne eindrucksvoll darlegen konnte! Haben wir die Zeit endlich vollends im Griff, ist auch das Schicksal nicht nur der Lebewesen, sondern auch der Gestirne steuerbar... So ein Mist!, dachte Atma, und applaudierte höflich mit drei ihrer Strünke. Der Zuspruch für Perspe war gering, und der Zeitaufschneider würde sicherlich den passiven Widerstand spüren, der ihm entgegenschlug. Doch sie waren alle eins, eine große Gemeinschaft, und jede Meinung zählte. Sie durften niemanden ausgrenzen, so sah es die Doktrin von Keelopolis vor. »Kommst du heute Abend zu mir?«, hörte Atma eine bekannte Stimme neben ihr. Sie schreckte hoch.
Hapmen hatte es sich in einer Nachbarkuhle bequem gemacht. Mit fiebrig umherfuchtelnden Strünken versuchte er, an ihr Bauchfell zu gelangen, um es zu streicheln. Im Grunde war er ihr widerlich. Er drückte, quetschte und kratzte über ihr Fell, sodass sich all ihre Strünke vor Abscheu einrollten. Und er stank nach gewürztem Hannkraut. Der intensive Geruch strömte zwischen dem kaum einmal ruhig bleibenden Gewirr seiner Podien hervor. Sein Bauchfell war verfilzt und struppig, die Haut ungepflegt und gelblichgrün. Dies waren die sicheren Anzeichen einer durchzechten Nacht. Manche Narkotika und Rauchstoffe der Menschen hatten in Keelon-Kreisen starken Anklang gefunden. »Nein danke, mein Lieber, ich werde heute noch arbeiten«, sagte sie hastig, und bemühte sich, ihren Abscheu nicht offen zu zeigen. »Arbeiten, arbeiten«, quetschte Hapmen enttäuscht hervor, »immer nur arbeiten. Wir sind doch die Vordenker und Philosophen des Keelontums, und es ist eine Schande, wenn wir uns die Glieder mit primitiven, niederen Tätigkeiten dreckig machen.« Dann müsstest du heute eine ganze Menge gearbeitet haben, denn schmutzig bist du wie eine ganze Horde Springwölfe, dachte sie. Widerwillig freundlich winkte Atma ihm zu und erhob sich. Ihr Rückzug in die Arbeitshalle glich einer Flucht.
Die Aufgabe, die Optimale Zeit zu erfassen und zu formen, war schwierig, anstrengend - und möglicherweise unlösbar. Oberstes Ziel war es, mit Hilfe der Optimalen Zeit Fangfelder auszustrahlen, die Wesen aus allen Epochen der Universumsgeschichte in die Gegenwart holen konnten. Es wäre nicht nur wesentlich weniger anstrengend, es wäre auch weit ungefährlicher, als durch das Magoo selbst in die Vergangenheit zu reisen. Seit nahezu fünfzig Erdjahren arbeiteten sie nun, um dieses Ziel zu erreichen. Immer wieder hatten sie ihre theoretischen Ansätze überdenken müssen, doch allmählich zeichneten sich erste Fortschritte ab. Erfolge, die sie den stolzen Mächtigen in ihren Türmen präsentieren wollten. Sie wollten beweisen, dass sie nun mal keine lebensfremden Keelon waren, die sich hierher zurückgezogen hatten, um sich wirren Tagträumen hinzugeben. Zumindest Atma wollte dies, und ihr Ehrgeiz war groß. »Willst du dem heutigen Versuch beiwohnen?«, fragte sie eine helle Stimme. Atma drehte sich höflich auf ihren Marschierstrünken um. Cardescha, ihre Schwester, die zwei Jahre früher das Licht der Welt erblickt hatte, stand vor ihr. Der weiße Arbeitskittel wirkte lächerlich an ihr. Sie war viel zu zart und fragil für das Klei dungsstück. Doch es war ihr Spleen, wie eine ernsthafte Wissenschaftlerin zu wirken, und Atma musste das respektieren. »Ja, ich möchte mich in den Verbund einfügen«, sagte sie. »Wie viele sind heute zur Arbeit gekommen?« »Sechzehn«, antwortete Cardescha stolz. »Eine Quote von mehr als zwölf Prozent. Ich glaube, dass der Arbeitswillen in unserer Kommune langsam zunimmt. Ach, dieses kleingeistige Schwesterchen! Am liebsten hätte Atma ihre Kollegen und Genossen zur Arbeit gepeitscht. Ein qualitativ hochwertiger Zeitverbund machte doch erst ab zwanzig Keelon wirklich Sinn! Doch eine diesbezügliche Forderung nach höherer freiwilliger Arbeitsleistung war bei einer Versammlung in der Agora mangels Einstimmigkeit abgelehnt worden. Damals waren ihr erstmals leise Zweifel an der Beschlussfähigkeit der Kommune gekommen, die heutzutage immer mehr an ihr nagten. »Nun, das freut mich, Cardescha. Du leistest gute Arbeit. Ich bin stolz auf dich.« Was sollte sie denn sonst zu dem halb debilen Wesen sagen, dass viel zu früh zur Welt gekommen war, und ein
kaum ausgebildetes Magoo besaß? Ihre Schwester sprang beinahe mit ihren unförmigen Strünken auf und ab vor Freude über das Lob, und führte sie dann stolz in den Versuchsraum. Es war dunkel, und die übliche statische Aufladung war spürbar. Einige Terawatt an Energie wurde aufgewandt, um die Rahmenbedingungen für das Experiment zu schaffen. Der Energieträger, ein unförmiger Körper mit einem Durchmesser eines Keelonleibes, schwebte frei in der Mitte des Raumes. Er glühte leicht, strahlte aber keinerlei Hitze ab. »Setz dich, setz dich«, sagte Cardescha, und wies ihr einen Platz zu. Fünfzehn mehr oder minder lustlose Keelon saßen um den Energieträger und hielten sich an den Strünken. »Ich habe gelesen, dass manche Menschen in diesen Situationen ein rituelles Mantra aufsagen, um ihre Konzentration zu steigern und die wahre Buddha-Schaft zu erreichen«, sagte Kermal neben ihr. Beim Dreigestirn - schon wieder ein Schwachsinniger! Kermal war berüchtigt dafür, auf der Suche nach dem eigentlichen Ich zu sein. Doch seit Jahr und Tag wechselte er von einer irdischen Religionslehre zur nächsten, ohne an sein Ziel zu gelangen. Atma erinnerte sich nur zu gut an die Phase, als er sich selbst rituell in einer hastig organisierten Bar-Mizwah-Zeremonie beschneiden wollte, und keine Ahnung hatte, wo er denn den Schnitt ansetzen sollte. Am nächsten Morgen hatte sich die Tragik fortgesetzt, als er zum radikalislamischen Glauben überwechselte und sich für den vergangenen Tag hasste. Beinahe hätte er sich selbst getötet. Wäre vielleicht besser gewesen, dachte Atma, erwiderte jedoch nichts. Sie berührte den gereichten Strunk nur ganz leicht, als ob Kermals religiöser Wahn ansteckend sei. Der Keelon rechts neben ihr war ihr gut bekannt. Sagtar, eine Fanatiker der Lehre von der Optimalen Zeit. Er war ein Mann, wie sie viele gebraucht hätte. Er glaubte an das große Ziel, war extrem darauf fokussiert und würde alles tun, um es zu erreichen. Sein Magoo war zudem stark ausgeprägt. Die roten Augen leuchteten in der Dunkelheit. Ein Gong ertönte, und das unruhige Gemurmel nahm ein Ende. Atma griff fester nach den Strünken ihrer beiden Liegenachbarn. Cardescha, die Schwester, sagte: »Ich erhöhe jetzt den Energiefluss langsam. Beim gestrigen Test waren wir bei 10,2 Terawatt angelangt, und das Ergebnis war bemerkenswert. Einige semimate rielle Manifestationen erschienen rund um den Energieträger. Menschen, Bewohner der Erde, allesamt aus der Vergangenheit, wie wir anhand der Kleidung feststellen konnten! Doch einige Teil nehmer des Verbundes beklagten bald bohrende Schmerzen im Magoo, und wir brachen ab.« Da schau her!, dachte Atma überrascht. Ihr Bauchfell sträubte sich zuerst vor Freude, doch abrupt änderte sich ihre Stimmungslage wieder. Warum bin ich über diese Fortschritte nicht informiert worden? »Nachdem wir aber heute um vier Teilnehmer mehr sind«, wieder schwang unbändiger Stolz in Cardeschas Stimme mit, »werden wir zweifelsohne noch mehr Erfolg erzielen als gestern! Ich bitte euch um höchste Konzentration...« Ihre Stimme wurde leiser und verebbte schließlich ganz. »Om mani padme hum«, tönte es zu ihrer Linken, »om mani padme hum«. Atma presste den Strunk des Schwachsinnigen so fest sie nur konnte. Ein kurzer Schmerzensschrei ertönte, dann herrschte wieder Ruhe. Sie richtete ihre Aufmerksamkeit auf ihr Magoo, auf das Zeitorgan. An den Haken, der scheinbar in ihrem Leib verankert war und nach vergangener Zeit griff. Sie spürte den Druck in sich wachsen. Der Drang, aus der Gegenwart in die Vergangenheit zu wechseln, wurde stärker und stärker. Atma war mittelmäßig begabt im Zeitspringen, doch in Verbünden wie diesen erreichte sie stets ihre besten Leistungen. Das Geheimnis bestand darin, den richtigen Moment abzuwarten, um dann loszulassen. Alle gemeinsam mussten sie loslassen... In ihrem Fall allerdings nicht, um einige Jahre in die Vergangenheit gerissen zu werden, sondern um das aufgestaute Zeitpotenzial im letztmöglichen Zeitpunkt in Richtung des Energieträgers zu schleudern.
Kermal stöhnte auf. Er war nahezu am Ende seiner Kräfte. Cardescha, auf der anderen Seite des
geschlossenen Verbundes, wand sich vor Schmerzen am Boden. Es war bemerkenswert, wie sie die
Qual der Vereinigung auf sich nahm, nur um der älteren Schwester zu gefallen.
Alle zitterten und schrien sie nun. Alle, bis auf Sagtar. Er hatte die Rolle des Führers übernommen
und bündelte die gebildete Zeitenergie in sich. Er zögerte das Loslassen hinaus, immer mehr, immer
weiter...
Rund um sie wanden und wälzten sich die Keelon in den Ruhekuhlen, manche an der Kippe fast bis
zur Ohnmacht, doch mit einem unglaublichen, eisernen Willen hielt Sagtar sie bei der Sache.
Ich kann nicht mehr, ich kann nicht mehr, leierte Atma in Gedanken vor sich hin, om mani padme
hum, om mani padme hum...
»Jetzt!«, schrie Sagtar mit dem heiligen Zorn des Besessenen, und ihrer aller Magoo entleerte sich
binnen Sekundenbruchteilen, völlig fokussiert auf den mit unglaublichen Energiemengen
angereicherten Trägerkörper.
Ein sichtbarer Strahl entstand! Er fuhr in den Körper, entflammte ihn, zerfetzte ihn.
Eine Gestalt materialisierte vor ihnen. Eine menschliche Gestalt!
Anfänglich war sie noch transparent, doch sie gewann rasch und sichtlich an Masse.
Sie schrien, alle sechzehn Keelon brüllten von unglaublichem Schmerz erfüllt.
Und voll des Triumphes.
Denn vor ihnen lag und bewegte sich ein Mensch.
So lebendig wie sie, doch aus einer anderen Zeitepoche stammend.
Das Experiment war gelungen...
5. Cloud: Gegenwart Cloud erwachte mit gewaltigem Schädelbrummen. Er fühlte sich, als hätte eine Horde Elefanten mit
seinem Kopf Fußball gespielt.
Langsam richtete er den Oberkörper auf.
»Autsch!“, murmelte Cloud und kniff die Augen wieder zu. Grelles Licht blendete ihn.
Schmerzwellen durchfluteten seine Brust.
Langsam kam die Erinnerung an die letzten bewusst erlebten Minuten zurück, an die Anomalien,
die sie in der Tiefsee gesehen und erlebt hatten.
Cloud tastete blindlings nach den Bedienungselementen des Warrikks, die er vor sich wusste.
Doch da war nichts!
Cloud öffnete die Augen, blinzelte mehrmals, um sich an das helle Licht der Umgebung zu
gewöhnen.
Es roch anders als zuvor. Sehr intensiv, sehr schwülstig. Zudem herrschte eine hohe
Luftfeuchtigkeit, und der graue Overall, den ihm Darnok geschenkt hatte, klebte an seinem Körper.
Endlich, endlich schaffte er es, die Augen ganz zu öffnen - und fand sich im Dschungel wieder.
Mehrere riesige Orchideen, mit Stielen von mehr als einem Meter Länge, beugten sich zu ihm
hinab. Feinster Blütenstaub war auf seine Uniform herabgerieselt und hatte ihn über und über
bedeckt. Die Farbenvielfalt, in der sein Overall glitzerte, war unglaublich.
Die Sicht nach oben blieb getrübt. Riesige Farnblätter und ein Wirrwarr an Lianen erlaubte ihm
kaum mehr als einen kleinen Fleck des Himmels zu erblicken.
»Verdammt, was soll denn das schon wieder?«, knurrte er und sprang hastig auf.
Das hätte er besser nicht tun sollen. Sofort waren die bohrenden Kopfschmerzen wieder da.
»Cloud?«, hörte er die fragende Stimme Scobees unweit von sich.
Er drehte sich langsam um, vorsichtig darauf bedacht, nicht das Gleichgewicht zu verlieren.
Die Frau kniete hinter ihm. Sie war anscheinend zum gleichen Zeitpunkt wie er aus der
Bewusstlosigkeit erwacht.
Sie reichte ihm Hilfe suchend die Hand. Ächzend zog er sie hoch und umschlang sic mit den
Armen, damit sie nicht wieder stürzte.
Da standen sie nun, aneinander gelehnt, matt und entkräftet, als hätten sie einen langen
Ausdauersprint hinter sich.
»Du kannst mir wohl auch nicht sagen, wo wir uns gerade befinden?«, fragte er und fokussierte
seinen Blick auf das Gesicht seiner Gefährtin. Langsam gelang es ihm, das Gefühl des Schwindels
aus seinem Körper zu bannen.
»Keine Ahnung.« Scobee schüttelte sich. Sie erholte sich rasch, viel schneller als er. Die
regenerativen Kräfte des gentechnisch verbesserten Körpers waren unbegreiflich für ihn. »Du
kannst mich im Übrigen jetzt freilassen«, sagte sie kühl.
»Oh, ja, natürlich«, erwiderte er erschrocken, und ließ los. Er hatte gar nicht registriert, dass Scobee
noch immer an seiner Brust gelehnt war und er sie umarmte.
»Hast du die anderen gesehen?«, fragte er rasch, um von diesem zufälligen, irgendwie
merkwürdigen Moment der Zärtlichkeit abzulenken.
»Aylea liegt dort unter dem Mangrovenbusch, keine drei Schritte hinter uns. Der Amorphe«, sie
spähte umher, ihre verbesserte Sicht ausnutzend, »ist nirgends zu sehen. Genauso wenig wie Jelto.«
»Doch, ich bin hier.«
Überrascht zuckten sie zusammen. Gleichzeitig.
Die Stimme war aus unmittelbarer Umgebung gekommen, rechts von ihnen.
Ein Schatten löste sich aus den dicht stehenden Gewächsen und wurde zu Jelto. Er sog schnüffelnd
die Luft mit weit geblähten Nasenlöchern ein. Ein entzückter Ausdruck lag auf seinem Gesicht.
»Dies alles sind Pflanzen, die ich noch nie gesehen habe, noch nie riechen und berühren durfte.«
»Es sind irdische Pflanzen«, sagte Scobee nüchtern.
»Mag sein, und ich kenne sie auch aus Lehrbüchern. Doch sie gelten als ausgestorben. Nach der
Ankunft der Master und ihren... Veränderungsmaßnahmen verschwanden viele Dinge vom Antlitz
der Erde. Unter anderem wurde die wunderbare Vielfalt der Flora und Fauna bewusst eingeschränkt
und durch ein Förderprogramm außerirdischer Vegetation ergänzt.« Leise und widerwillig fügte er
hinzu: »Dies geschah auf Wunsch der Master.«
»Der Keelon, also«, murmelte Cloud. »Wenn ich dich richtig verstehe, glaubst du, dass wir uns
nicht mehr auf der Erde befinden.«
»Hundertprozentig. Ich hätte es gefühlt oder gerochen, wenn es all diese Orchideenarten, Farne,
Bromelias, Lianen und Baumfeigen auf unserer Welt gäbe. Die anderen Florenhüter hätten es mir
zudem vermittelt.«
Jelto wusste nicht, wie viele gentechnisch gezüchtete Pflanzenmeister es auf der Erde noch gab.
Vielleicht waren es tausend, vielleicht waren es zweitausend. Doch keineswegs mehr. Ein jeder von
ihnen hatte für einen bestimmten Landstrich zu sorgen, die Urwälder zu pflegen und darauf zu
achten, dass es keine Übergriffe anderer Menschen auf die meist urtümlichen Landschaften gab.
Oder, zum Beispiel im Falle der Kuana-Bäume, umgekehrt...
Jelto seufzte laut. »Es ist so wunderschön, und dennoch so falsch.«
»Falsch?«, hakte Cloud nach, und sah sich misstrauisch um. »Was stimmt denn hier nicht?«
»Was seid ihr noch für blinde«, er sah John mit bösem Seitenblick an, »und rohe Menschen! Hört
ihr irgendein Tier? Wo sind denn die Brüllaffen, die Reptilien, die Aras, Papageien und Tukane?
Wo sind die Schlangen und Kriecher? Könnt ihr irgendwo ein einziges Insekt entdecken?«
Das unbestimmte Gefühl von Gefahr, das permanent in Clouds Hinterkopf gesteckt war, drängte
wieder nach vorne. Alarmiert sah er sich um und bedeutete Scobee, sich um Aylea zu kümmern.
»Es gibt hier aus gutem Grund keine Fauna«, klang eine menschliche Stimme auf. Das Knacken
feuchter Aste verriet, dass sich der Besitzer der Stimme ungestüm und rücksichtslos seinen Weg
durch das Unterholz bahnte. »Die Besitzer der Stadt haben darauf bestanden«, fügte der Chinese
hinzu, als er schließlich vor ihnen stand.
Er war klein, untersetzt, mit rundem Gesicht, aus dem stechende Augen hervortraten, und er trug
einen traditionell geflochtenen Zopf.
John Cloud kannte diesen Mann. Er war gefährlich. Das hieß: Er hatte als gefährlich gegolten.
Damals, bevor er seine lange Reise zum Mars angetreten hatte.
Vor ihm stand Yu Peng, einer der Stellvertreter des Neochinesischen Kaisers Hu Sadako.
»Willkommen in der Stadt der Wunder«, sagte der Neochinese.
Cloud verkrampfte instinktiv.
Vor ihm stand ein absoluter Machtmensch, der im Jahre 2039 im Auftrage seines kaiserlichen Herrn
beinahe einen atomaren Vernichtungskrieg befohlen hätte. Cloud kannte nur zu gut das
geheimdienstliche Dossier über den Tokio-Chinesen.
»Es freut mich, Sie nach all dieser Zeit wieder zu sehen«, sagte Yu Peng und verbeugte sich mit
knapper Höflichkeit.
Was hatte das zu bedeuten? Warum lebte der Mann noch? Und wo, zum Teufel, waren sie
eigentlich?
»Ich kann mir vorstellen, dass ihnen tausend Fragen im Kopf herumgehen«, sagte der Chinese,
»doch ich kann Ihnen versichern, dass es eine Antwort auf alles gibt.«
»Und wann sollen wir diese Antworten erhalten?«, fragte Cloud schroff.
Er dachte nicht daran, Yu Peng zu grüßen und ihm die gleiche Höflichkeit zu erweisen wie dieser
ihm. Die Erinnerung an Fotos von Gräueltaten, die der spätere Generalkonsul der Provinz Tokio an
der japanischen Bevölkerung während der Eroberungsfeldzüge von 2036 befohlen hatte, waren
Cloud nur allzu gut in Erinnerung.
»Wenn die Meister es für notwendig erachten«, antwortete der Neochinese.
Damit war die Sache klar: Sie waren erneut in Gewahrsam der Keelon geraten! Und Yu Peng
machte offensichtlich gemeinsame Sache mit den zeitbeherrschenden Lebewesen.
Hatten Darnoks Artgenossen ihm im Gegenzug für seine Kooperation ein verlängertes Leben
garantiert? Yu Peng sah kaum älter aus als zu dem Zeitpunkt, als Cloud den Flug zum Mars
angetreten hatte.
Hatten es die Keelon überhaupt notwendig, einen irdischen Verbündeten für ihre Zwecke
einzuspannen? Es sah so aus...
»Ich kann die Frage in Ihren Gedanken lesen«, sagte Yu Peng und lächelte starr. »Ja, bei den
Meistern handelt es sich um Keelon. Doch es ist nicht so, wie es vielleicht erscheinen mag...«
»Das ist leeres Geschwafel«, murmelte Cloud und blickte den mutmaßlichen Verräter an der
Menschheit hasserfüllt an.
»Beruhige dich«, flüsterte Scobee und legte ihm besänftigend die Hand auf den Rücken. Und fuhr
dann lauter, in Richtung des Chinesen fort: »Hören wir uns erst einmal an, was dieser feine Herr zu
sagen hat.«
Yu Peng zuckte unter dem Sarkasmus der Frau zusammen. Nur leicht zwar, doch man merkte, dass
sich der Neochinese nicht vollends unter Kontrolle hatte. Eine überraschende Erkenntnis, zumal er
als kalt wie ein Eisblock galt.
Yu Peng ging kommentarlos über die Worte Scobees hinweg und sagte: »Ich habe den Auftrag, Sie
vorerst zu den anderen zu bringen.«
»Den anderen? Was meinen Sie?«
»Sie werden schon sehen...«, sagte Yu Peng, drehte sich um und watschelte davon.
»Und wenn wir uns weigern mitzukommen?«, fragte Cloud provokant.
»Glauben Sie wirklich, dass die Keelon Widerstand dulden? Seien Sie nicht so vermessen zu
glauben, dass Sie den Meistern irgendetwas bedeuten. Ein kurzer Fingerzeig, und Sie alle hier sind
Geschichte.« Er lachte. »Im wahrsten Sinne des Wortes«, fügte er noch hinzu.
Cloud suchte den Augenkontakt zu Scobee. Die Frau nickte zögernd. Auch wenn keine Bedrohung
sichtbar war - die Mittel der Keelon gingen weit über ihr Begriffsvermögen hinaus. Es war wohl
klug, den Anweisungen des Verräters Folge zu leisten.
Vorerst.
Cloud suchte Jelto und fand ihn im Schatten eines lianenbehangenen Baumes. Er war nahezu mit
dicht an dicht wachsenden Gewächsen verschmolzen.
Dann hob der ehemalige Befehlshaber der zweiten Mars-Expedition die kleine, leichte Aylea auf
die Arme und trat zu Yu Peng, der ein paar Schritte vor ihnen wartete.
Sollte er den Verräter nach dem Verbleib des Amorphen fragen?
Nein, besser nicht. Vielleicht hatte sich das Wesen gleich nach Ankunft in dieser mysteriösen,
offensichtlich künstlichen Welt absetzen können. Vielleicht war es auch gar nicht, so wie Cloud und
die anderen, außer Gefecht gesetzt gewesen? Der Commander gab dem Amorphen gute Chancen,
dank seiner überragenden Mimikry-Fähigkeiten nicht entdeckt worden zu sein.
Es war immer gut, einen Trumpf im Ärmel zu haben...
Nach nur wenigen Minuten anstrengenden Fußmarsches durch den dichten Dschungel änderte sich die Umgebung abrupt. Ein Kribbeln, wie von leichter Elektrizität verursacht, fuhr durch Clouds Körper. Plötzlich standen sie in einem Saal, den er augenblicklich mit einem puritanischen Londoner Klubraum verglich »Zutritt nur für Gentlemen«. Er sah Bücherwände voll mit alten, schweren Schmökern, denen dieser typische Geruch nach Moder anhaftete. Plüschbesetzte Ohrensessel, in augenbeleidigendem giftgrün gehalten. Alt backene, geschmacklose Tapeten mit vergilbten Blumenmustern, sechzig Jahre alt oder noch mehr. Eine gelblichweiße Decke, die mit pompöser Stuckatur überbordet war. Tischpflanzen, die ihre farblosen Blätter traurig von kleinen, intarsiengespickten Beistelltischen hängen ließen. Cloud drehte sich zu Jelto um. Der Florenhüter bot ein Bild des Jammers. Ein halb verdorrter Gummibaum erregte sein ungeteiltes Mitleid. Menschen standen umher, die meisten seltsam und altertümlich gekleidet. Manche ruhig, apathisch vor sich hin blickend. Andere heftig gestikulierend und diskutierend. Keiner achtete auf sie. Lediglich ein kurzer Blick traf sie da und dort, dann kümmerte sich die hauptsächlich aus Männern bestehende Gesellschaft wieder um sich selbst. Offensichtlich war man Neuankömmlinge gewohnt. »Mein Auftrag lautete, Sie und Ihre Begleiter vorerst hierher zu bringen, damit sie sich akklimatisieren können«, erklärte Yu Peng. »Was geht hier vor?«, fragte Cloud argwöhnisch. Er legte die nach wie vor schlafende Aylea auf ein karmesinrot gepolstertes Sofa. Er fühlte ihren Puls. Er war ruhig und stetig, der Kleinen ging es scheinbar gut. John drehte sich zu Yu Peng um. Was für eine Teufelei war nun wieder im Gange? Er hatte erwartet, unverzüglich einem Verhör unterzogen zu werden. Oder noch Schlimmerem... »Ich werde mich mit Ihrer Erlaubnis nun zurückziehen«, sagte Yu Peng und verbeugte sich steif. »Was, in Teufels Namen, sollen wir hier?«, rief ihm Cloud hinterher. Der kleine Chinese ging rücklings durch eine kleine, holzgerahmte Tür am anderen Ende des Raumes. »Was ist hier los, wann bringen Sie uns zu ihren Herren?« »Wenn diese es für notwendig erachten«, antwortete Yu Peng, und dann fiel die Tür hinter ihm schwer ins Schloss. Der ehemalige Commander blieb einen Augenblick starr stehen, bevor er schnaubend die Luft aus seinen Lungen presste und sich nach Scobee umsah. Die Frau stand unentschlossen in der Mitte des Raumes. Sie blickte fasziniert einen älteren Mann an, der sich eine elendiglich miefende Zigarette anzündete. »Das glaube ich einfach nicht«, sagte sie leise zu John, »der alte Knacker raucht einen dieser gesundheitsschädlichen Stängel, die seit den 2020ern nicht mehr erzeugt werden.« Ein lang verschütteter Gedanke an den Vater, an Nathan Cloud, drängte sich schmerzvoll in Johns Erinnerung. Ab und zu, am Abend, wenn die sommerliche Sonne hinter dem Horizont untergegangen und Kühle
über die ländliche Idylle in Virginia gekommen war, hatte Nathan Cloud im offenen Kamin des
Wohnzimmers mächtig große Scheite angehäuft und ein knacksendes, knisterndes Feuer gemacht.
John Cloud lächelte unwillkürlich. Was war das ein Spaß für den kleinen Jungen gewesen!
Fasziniert war er so nahe wie möglich an die Flammenwand getreten und hatte die brennende
Wärme genossen.
Und dann, wenn das Feuer ein wenig müde und satt geworden war, wenn es zufrieden vor sich hin
loderte, hatte Nathan Cloud ein silbernes Etui aufgeklappt, eine Zigarette herausgenommen und sie
genussvoll angezündet.
Der Rauch des Feuers und der leicht stechende Rauch der Zigarette, die kleinen, blauen Ringe, die
der Vater zufrieden in die Luft geblasen hatte; dazu die heiße Schokolade, die ihm Mutter auf den
eichenen Tisch gestellt hatte...
»Willst du auch eine Zigarette, mein Junge?«, fragte der alte Mann mit dem silbernen, nach hinten
gekämmten Haar und riss John Cloud aus seinen Erinnerungen.
Das Gesicht des Alten war von Falten zerfurcht und wirkte ein wenig müde, der Körper leicht in
sich versunken. Doch die Augen... Die Augen strahlten einen Glanz aus, in dem unbändige
Lebenslust lag - und eine gehörige Portion Schalk.
»Nein... ja, vielleicht doch!«, sagte Cloud.
Er hatte nie geraucht. Doch mit einem Mal überkam ihn ein unbändiges Verlangen. Es war wohl die
Erinnerung an seinen Vater.
Der alte Mann reichte ihm einen leicht verbogenen Glimmstängel und gab ihm Feuer.
John zog tief an der Zigarette, spürte, wie sich der Rauch stechend in seine Lungen zog - und
hustete.
»Holla, mein Junge«, sagte der alte Mann und grinste unverschämt, »das ist wohl dein erstes Mal!«
»Ja«, antwortete John unsicher.
»Macht nix, es ist nie zu spät anzufangen zu sündigen.« Er goss sich einen dunklen,
bernsteinfarbenen Whiskey in ein wuchtiges, vierkantiges Glas und nippte entzückt daran. »So wie
du aussiehst, hast du auch noch nie was getrunken, hm? Meine Güte, wirst du einmal gesund
sterben.«
Wollte ihn der Alte auf den Arm nehmen? Wer war er überhaupt? Wer waren all die anderen
Menschen im Raum?
Scobee war ein, zwei Schritte zurückgewichen. Sie mochte den Rauch der Zigaretten ganz
offensichtlich nicht.
»Ich bin der Walter«, sagte der Mann jovial. »Walter Ernsting.«
»Freut mich«, murmelte Cloud, »sagen Sie John zu mir.«
»Wenn du mich noch einmal mit >Sie< anquatschst, machst du mich auf meine späten Tage zum
Mörder«, sagte der Alte mit gespielter Empörung.
Cloud konnte nicht anders, er musste lachen. Das erste Mal seit langer Zeit.
»Na gut... Walter«, sagte er schließlich und wurde übergangslos wieder ernst. »Sag einmal, wo sind
wir hier eigentlich?«
»In Keelopolis«, antwortete Ernsting locker. »In einer kleinen Stadt, die ein paar hundert Jahre in
meiner Zukunft liegt.«
»Was soll das heißen?«, fragte Cloud.
Er blickte sich nochmals um und sah sich die Gesichter der Männer und Frauen bewusst an.
Manche kamen ihm seltsam bekannt vor. Langsam dämmerte ein Verdacht in ihm...
»Naja, ich bin 1920 geboren, und damit wahrscheinlich noch ein paar Tage vor dir, stimmt's? Na
siehste. Mittlerweile, wenn mich nicht alles täuscht, wird hier das Jahr 2252 gefeiert.
Dreihundertdreißig Jahre alt wollte ich eigentlich nie werden. Aber für mein Alter sehe ich doch
verdammt gut aus, nicht wahr? Willst du nicht doch 'nen Schluck Whiskey?«
Der silberhaarige Mann plapperte unbekümmert vor sich hin, sprang von einem Thema zum
anderen. Er fühlte sich sichtlich wohl.
»Jetzt verrate mir mal doch, wie du hierher gekommen bist«, fragte John, langsam ungeduldig
werdend.
»Wahrscheinlich genauso wie du«, erwiderte Ernsting. »Ich saß friedlich vor meinem Häuschen in
Irland, dachte über eine Geschichte nach, die ich schreiben sollte, und hatte bereits den einen oder
andern Schluck dieses Göttertrankes in mir. Und auf einmal - Schwupps! Ja, Schwupps!“Walter
dachte kurz nach und sagte dann: »Nein, eigentlich war es ein >Plopp