Simon der Kornett

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Rosemary Sutcliff

Simon der Cornett scanned by unknown corrected by eboo

Als Oliver Cromwell wieder ein neues Heer aufstellt, um dem absolutistischen Regiment Karls I. für immer ein Ende zu bereiten, meldet sich der junge Simon als Kornett zu der ›Neuen Armee‹. Auch sein Freund seit Kindertagen, Amias, greift zu den Waffen, doch er entscheidet sich für das Heer von König Karl. Plötzlich stehen sich die beiden Freunde als Feinde gegenüber. Es kommt zur unausweichlichen Begegnung im Kampf. Nun müssen sich die beiden entscheiden. Wird die politische Überzeugung über die Freundschaft siegen? Titel der Originalausgabe: ›Simon‹, erschienen bei Oxford University Press Ungekürzte Ausgabe Juli 1985 Deutscher Taschenbuch Verlag GmbH & Co. KG, München ISBN 3-423-70066-1

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Inhalt Die goldene Stadt Manoa ...............................................................3 Der letzte Tag in Freiheit .............................................................21 Es lebe der König! ........................................................................32 Reiter aus dem Westen.................................................................45 Der feurige Tom...........................................................................61 Das leere Versteck........................................................................76 Ins Gefecht ...................................................................................88 ›Mein Freund, dem ich mich vertraute‹ .......................................99 Der Spruch des Kriegsgerichts ...................................................111 Der Feldzug im Westen..............................................................126 Susanna .......................................................................................144 Nachrichten von alten Freunden ................................................160 Ein Sonderauftrag.......................................................................175 Von Hähnen und Fiedeln............................................................192 Der königliche Offizier ..............................................................208 ›Emanuel, Gott mit uns!‹............................................................224 Der Mann auf dem Schloßberg ..................................................241 Zwiefache Treue .........................................................................253 ›Niemand darf dem Feind Schutz gewähren‹ .............................265 Ismael wird heimgerufen............................................................283 Nach vielen Tagen......................................................................296 Anmerkung der Autorin .............................................................318 2

Die goldene Stadt Manoa In der breiten, sonnenhellen Fensternische des Arbeitszimmers von Doktor Odysseus Hannaford räkelten sich zwei Jungen Seite an Seite. Einer, der schlankere und größere von beiden, trug Wams und Kniehosen grün wie die Blätter einer Stechpalme, gegen die sein lohfarbenes Haar, das ihm als kecker Schöpf über der Stirn stand, flammend rot wirkte; lohfarbene Augen, eine fast etwas hochmütig scheinende Nase, ein großer, lachender Mund - das war Amias Hannaford, des Doktors Sohn. Der andere, puritanisch grau gekleidet, war sein Freund Simon Carey, ein zuverlässig aussehender Junge mit offenem Gesicht und einer Mähne von gerstenhellem Haar, das an den Spitzen von der Sonne des letzten Sommers, die auch seine Haut dunkel wie Moosbeeren gebrannt ha tte, silbern ausgebleicht war. Auf dem blanken Sims zwischen ihnen stand eine Schüssel mit Äpfeln, und sie waren beide freudig und dankbar gestimmt. Es war zwar nicht gerade so, daß sie Mister Braund, ihrem geplagten Lehrer, einen seiner Gallenanfälle gönnten - sie mochten ihn eigentlich ganz gern und wünschten ihm gewiß nichts Böses -, aber wenn er schon einen Anfall haben mußte, dann war es ihnen recht, daß er sich dafür einen solchen Tag wie diesen ausgesucht hatte. Denn der Wind hatte seit dem Morgengrauen beständig zugenommen und war nun fast zum Südweststurm geworden. Das hohe Gras im Garten des Doktors neigte sich in silbrigen Schwaden vor den Windstößen, und das Gestrüpp aus Flieder und Schneeball hinten im Garten war ein schwingender, wogender Aufruhr, aus dem die braunen und korallenroten Blätter herunterwirbelten. Es war ein Tag, an dem das Herz nach Abenteuern lechzte. Und die beiden im Fenster des Doktors priesen den Zauberbann über Mister Braunds Galle, der sie für den ganzen Tag ebenso frei gemacht hatte wie den 3

wilden Südweststurm. Simon fühlte sich fast so heimisch in der breiten Fensternische wie Amias; denn das Dorf Heronscombe, aus dem er jeden Morgen auf dem altgedienten Pony geritten kam, war zu weit entfernt, als daß er mittags hätte nach Hause reiten können. So aß er mittags immer im Doktorhaus, und wenn im Winter die Wege in Morast verwandelt waren, schlief er auch dort, manchmal sogar mehrere Nächte hintereinander. Er war es auch, der die Äpfel von der Truhe an der Seite geholt hatte, um ihren Hunger zu betäuben, während sie auf das Essen warteten. Sie achteten streng darauf, daß jeder gleich viel bekam. Zu gleicher Zeit nahmen sie sich jeder einen Apfel, und jedesmal, wenn sie einen Apfel verzehrt hatten, probierten sie, wer die Kerne am weitesten spucken konnte. »Ich kann weiter spucken als du«, sagte Amias sehr überlegen. »Ja, du hast auch eine Lücke, wo dein Vorderzahn fehlt«, stellte Simon fest. »Das macht was aus.« Er zielte sorgfältig auf einen dicken Stein auf dem Weg. »Getroffen! Was sagst du nun?« »Du hast mit dem Wind gespuckt«, meinte Amias und langte nach einem neuen Apfel. Simon sagte nichts. Er stritt nie mit Amias. Außerdem war er viel zu zufrieden, als daß er sich mit irgend jemandem hätte streiten wollen, während er sich im luftigen Sonnenschein rekelte und den ganzen Nachmittag als ein unerwartetes Geschenk vor sich hatte. So nahm er auch noch einen Apfel einen goldenen Apfel, korallen- und karmesinrot gefleckt und duftend wie eine Blume -, biß einen kräftigen Happen ab und betrachtete glücklich das saftige, weiße Loch mit den Spuren seiner Zähne rundherum. »Mann, das war gut!« Ein triumphierender Ruf von Amias ließ ihn aufblicken. 4

»Genau in die Mitte von dem Büschel Ringelblumen! Wetten, daß Sir Walter Raleigh nicht weiter spucken konnte?« Simon schätzte die Entfernung mit den Augen. »Ziemlich weit«, gab er zu. »Aber Sir Walter Raleigh konnte bestimmt sehr weit spucken!« Sir Walter Raleigh war ihr ganz besonderer Held. Simon las zu Hause in seiner ›Eroberung von Guayana‹ aus dem großen kalbsledern gebundenen Band von Hakluyts ›Reisen‹, und in den letzten Sommerferien, als Amias zur Erntezeit bei ihm war, hatten sie abends über Sir Walters Berichten gehockt, Berichten von großen Flüssen und weiten Ebenen, von goldenen Städten, zu denen er niemals ganz gelangt war, von weißen, karmesinroten und blaßroten Vögeln, die durch die dampfenden Wälder flatterten. »Wahrscheinlich fehlte Sir Walter kein Vorderzahn«, grübelte Amias. Die Tür hinter ihnen wurde geöffnet, und Tomasine Blackmore kam herein, um den Tisch zu decken. Gleichzeitig brauste der Oktobersturm gellend ins Fenster, wirbelte goldene Blätter herein, und der ganze Raum war ein wildes Durcheinander. Die Decke auf der Truhe bekam Flügel und kippte eine Dose Hustenbonbons und einen Topf mit Erde um, in dem Amias, der voller Einfalle steckte, kürzlich einen Apfelbutzen mit einem Kirschkern in der Mitte gepflanzt hatte. Er wollte daraus einen Baum ziehen, der Kirschen so groß wie Äpfel trug. Ein Haufen Papiere des Doktors flatterte in die vier Ecken des Raumes, und die schweren Vorhänge blähten sich auf wie die Segel eines Schiffes beim Wenden. Dann schlug die Tür zu mit einem Knall, der einen Regen von Gips von der Decke herunterkommen ließ. Die Jungen fühlten sich, ehe sie zur Besinnung gekommen waren, am Kragen gepackt; sie wurden rückwärts in den Raum gepfeffert und heftig auf die Beine gestellt. 5

»Nanu... warum?« begann Amias. »Entschuldigung, wir wußten nicht, daß das passieren würde«, sagte Simon und blickte ziemlich ängstlich in das wütende Gesicht Tomasines, als sie das Fenster zuschlug. »Ich muß schon sagen«, knurrte Tomasine, ganz aus der Fassung gebracht. »Das Fenster aufzumachen, wenn der Wind draufsteht! Guckt euch die Bescherung an! Wenn ich den Tisch decke, räumt ihr auf, oder keiner von euch bekommt was zu essen!« Tomasine war imstande, ihre Drohung wahrzumachen, und so gingen sie eilig an die Arbeit. Amias sammelte die Scherben des zerbrochenen Topfes zusammen und fegte die verschüttete Erde auf einen Haufen, während Simon mit dem abgegessenen Apfel in einer Hand die Hustenbonbons auflas, die Erde abpustete und sie wieder in die Schachtel legte. Als er unter den Arzneischrank kroch und nach dem letzten angelte, fand er etwas. »Mann, Amias«, rief er mit leicht gedämpfter Stimme. »Hier ist noch etwas von deiner Kirschapfelerde, und ein ›Ding‹ ist dabei, das wir wahrscheinlich mit ausgegraben haben.« »Was für ein Ding?« fragte Amias, der gerade den Kirschapfelbutzen unter dem Tisch gefunden hatte. Aber im gleichen Augenblick erschien Doktor Hannaford im Eingang. Er streifte seine Reithandschuhe beim Eintreten ab. Simon steckte das ›Ding‹ vorn in seine Kniehose und wand sich eilig rückwärts unter dem Schrank hervor. Doktor Hannaford stand breitbeinig da und musterte sie aus sehr blauen Augen unter dachsgrauen Brauen. »Ach«, sagte Doktor Hannaford mit vergnügtem Poltern, das aus der Tiefe seiner Brust aufzusteigen schien. »Ein bißchen Gärtnerei, was Amias? Und Simon übt sich im Austeilen von Hustenbonbons? Ich dachte immer, Amias wollte Doktor werden und Simon den Boden bebauen. Komisch, wie leicht man sich doch täuschen kann.« Sie fingen beide gleichzeitig an zu erklären, aber Doktor 6

Hannaford schaute auf die Hustenbonbons in Simons Hand. »Bestimmt wird der Apfelsaft Omi Halfyard sehr gut tun«, sagte er, »aber Spinnweben sind falsch. Spinnweben sind für eine offene Wunde, nicht für einen entzündeten Hals.« Simon entfernte eilig die Spinnweben. Nachdem Tomasine geschmortes Hammelfleisch und Backpflaumen hereingebracht hatte und mit Türknallen wieder gegangen war, stellten sie sich wenige Augenblicke später um den runden, lederbezogenen Tisch. Die beiden Jungen standen mit gesenktem Kopf und gefalteten Händen hinter ihrem Stuhl, während der Doktor das Tischgebet sprach, dem er eine Bitte anfügte, die er seit Beginn der Unruhen immer angehängt hatte, daß Gott seine höchst glorreiche Majestät König Charles schützen und seine Feinde im Parlament vernichten möge. Simon fand diesen Teil des Tischgebetes ziemlich verwirrend, denn wenn sein Vater abends beim Familiengebet den König erwähnte, dann bat er, daß er zur Vernunft kommen möge, bevor er England ruiniere. Daher war er froh, wenn das Tischgebet vorbei war und er alles bis zur nächsten Mahlzeit vergessen konnte. Simon gefiel es sehr, bei Doktor Hannaford zu essen. Er liebte den niedrigen Raum, der, obwohl er Studierzimmer genannt und als Wohnzimmer benutzt wurde, fast so angefüllt war mit Mörsern und Stößeln, Instrumentenschachteln, Pillenbüchsen und Teertöpfchen wie nebenan das Sprechzimmer. An den Wänden entlang liefen Borde, in denen Bücher über Kräuter, Medizin und Astronomie Seite an Seite mit Drogengefäßen aus grünem Glas oder grauem Ton standen, jedes mit seinem Namen in Gold versehen: Quecksilber, Kamille, Kampfer und Opium; so entstand eine Art dunkler Wandteppich mit einzelnen Flecken aus Licht und Farbe, die Simon eigenartig bezaubernd fand. Auch der Geruch des Studierzimmers war faszinierend: ein Gemisch aus Drogen und Kräutern, den Ledereinbänden alter Bücher, einem Hauch Mäuseduft und der warmen Süße von Äpfeln. Simon schnüffelte zufrieden, während er sein 7

Mittagessen aß und dem Doktor zuhörte, der Abschnitte aus einem Buch vorlas, das geöffnet neben ihm auf dem Tisch lag. Doktor Hannaford hatte die Gewohnheit, bei Tisch zu lesen, weil er sonst niemals Muße dazu fand. Und gewöhnlich las er den beiden Jungen vor. Heute war es ein neues Buch, ›Der Blutkreislauf‹ von einem Dr. William Harvey vom Bartholomäus-Hospital. Simon interessierte sich nicht sehr dafür, aber Amias fand es besonders fesselnd. Erst als sie fast mit dem Essen fertig waren, erinnerte Simon sich an das ›Ding‹, das er unter der Truhe gefunden hatte. Er zog es aus seiner Hose und betrachtete es in der Hand. Es war vielleicht eine Raupe, die sich eingesponnen hatte, braun und glänzend und sehr groß, mit einem merkwürdigen kleinen Schwanz, der wie der Henkel eines Topfes über ihrem Rücken stand. Simon hatte noch nie etwas Derartiges gesehen. Er hielt es dem Doktor hin, und Amias reckte sich über den Tisch, um besser sehen zu können. »Es war in der Erde des zerbrochenen Topfes«, sagte er. »Was kann das nur sein, Sir?« »Muß etwas von einer Raupe sein«, sagte Amias und drückte darauf. »Mit einer harten Haut«, fügte er hinzu. Doktor Hannaford zog seine eckige Hornbrille heraus. Er besaß Augen wie ein Falke, aber er hatte in seiner Jugend eine Brille getragen, um gelehrt auszusehen, und nun hatte er sich daran gewöhnt. Er schob sie auf die Nasenspitze und betrachtete das ›Ding‹ in Simons Hand. Dann schüttelte er den Kopf. »Tut mir sehr leid, aber ich kann nur sagen, daß es eine Art Puppe ist. Wenn es sich freilich um eine Gemütskrankheit oder um eine krampfartige Kontraktion des Brustkorbs gehandelt hätte, so könnte ich euch genaue Auskunft geben - sogar über ein Zusammentreffen von Saturn und Merkur: Aber eine Puppe nein, davon habe ich keine Ahnung.« »Wissen Sie überhaupt nicht, um welche Art es sich handelt?« Simon war erstaunt und enttäuscht, denn gewöhnlich wußte der 8

Doktor einfach alles, was man ihn fragte. »Nein«, sagte Doktor Hannaford und steckte die Brille wieder in die Tasche. »Am besten fragt ihr mal den Pfingstgeiger, wenn ihr ihn trefft. Es gibt kaum etwas Lebendiges, das er nicht wenigstens vom Sehen kennt, glaube ich.« Die Jungen tauschten einen Blick über den Tisch, und ihre Augen glänzten vor Aufregung. Das war das Abenteuer für diesen Nachmittag. Sie sprachen nicht miteinander, denn nur selten hatten sie es nötig, sich mit Worten zu verständigen; aber ihr Plan lag sofort fest. Der Pfingstgeiger war eine sagenhafte Gestalt in dieser Gegend. Er kam und ging so launenhaft wie ein Aprilwind, er und seine arg mitgenommene Geige, der er seinen Namen verdankte. Und wo immer er erschien, zur Kirchweih, zur Hochzeit, zum Jahrmarkt, überall war er willkommen mit seiner Geige, die die Füße der Männer tanzen ließ und den Mädchen das Herz weit machte. Von Hartland bis Süd-Molton waren alle Frauen, Männer und Kinder, die ihn zufällig trafen, seine Freunde. Aber niemals kam jemand in seine Nähe, wenn er zu Hause war. Niemals ging jemand in das bewaldete Tal, in dem seine Hütte lag, ohne daß er die Finger über Kreuz gelegt oder den Mantel umgewendet hätte. Denn der Pfingstgeiger hauste allein in einer Lichtung der Wälder jenseits des Torridge, an einem Ort, an dem ein sterblicher Mensch besser nicht wohnte. Einstmals hatten ganz normale Leute in der Hütte gelebt. Wo einst der Garten gewesen war, blühten jetzt Geisterblumen - weißer Fingerhut, Eisenkraut und Holunder -, und jeder wußte, was das bedeutete. Von jeher war der Platz ›Einöde‹ genannt worden, und ein Ort bekommt nicht ohne Grund einen so merkwürdigen, unheimlichen Namen. Und da kein Mensch unbehelligt auf einem Stück Land, von dem die Geister Besitz ergriffen haben, wohnen kann, wenn er nicht mit ihnen sehr vertraut ist, war es klar, daß der Pfingstgeiger mit den Unterirdischen verwandt war. Wenn man ihn also in seiner Festung besuchte und ihn fragte, 9

zu welcher Mottenart die braune Puppe gehörte, so war das ein Abenteuer, das diesen vom Himmel gefallenen Ferie ntag wert war. Sie weihten niemanden in ihren Plan ein, denn ein Abenteuer soll man nicht vorher verkünden. Als der Doktor nach dem Essen wieder an seine Arbeit gegangen war, nahmen sie sich einfach eine Dose für die Puppe und machten sich auf den Weg. Sie gingen den Garten hinunter in Richtung auf den Schloßberg, Amias voran und Simon ihm dicht auf den Fersen. Amias führte in allem, was sie taten, teils weil er elf und Simon erst zehndreiviertel war, teils weil er eine Führernatur war und glänzende Ideen hatte, während Simon von Natur aus dazu geschaffen schien, treu zu folgen und die glänzenden Ideen davor zu bewahren, in einer Katastrophe zu enden. Der Wind brauste aus Südwest, er peitschte das Farnkraut zu einem wilden goldenen Meer und sauste mit gellendem Pfeifen durch den hüfthohen Ginster wie die fortströmende Flut in einer steinigen Bucht; und die Jungen stürzten sich hinein, rannten und schrien vor Freude über den Herbststurm. Sie stürmten über den Berg, auf den ausgetretenen Schafspuren, die im Zickzack durch den Ginster führten, und bewegten sich in halsbrecherischem Tempo, denn sie waren durch viel Übung so leichtfüßig wie Bergschafe. So kamen sie schließlich außer Atem und lachend am Flußufer oberhalb von Taddiport an. Taddiport bestand aus einem Haufen von zweifelhaften Hütten, und die herrschaftliche Mühle kauerte sich hinter den steilen Fels des Schloßberges. Es war mit der hoch darüber liegenden Stadt Torrington durch die steil ansteigende Mühlenstraße verbunden, die herunterhing wie ein in Ungnade gefallener Schwanz, so daß man immer meinte, er müßte wedeln, wenn die Stadt sich freute. Meistens, wenn die Jungen in diese Richtung gingen, überquerten sie die Mühlenstraße und liefen stromabwärts, um den Fluß in einer der zahlreichen 10

Furten zu durchwaten. Aber heute entschlossen sie sich ohne besonderen Grund, den Fluß, wie andere Christenmenschen auch, auf der buckligen Brücke zu überqueren, wo das samenstreuende Weidenröschen unter den Bögen wuchs. Am anderen Flußufer hielten sie an, um einen Freund zu begrüßen, einen dürren, müßigen Mann mit einem wäßrigen, blauen Auge und einem Frettchen in der Tasche. »Na, Freunde, schwänzt ihr die Schule?« fragte der einäugige Mann freundlich. »Nein. Unser Lehrer hat das Bauchgrimmen, und wir haben frei«, erzä hlte Amias ihm. Sie gingen weiter, an der Kapelle des alten Aussätzigenspitals vorüber und in die jenseitigen Wälder, wo der Wind durch die Bäume brauste wie ein stürmisches Meer und wo man schreien mußte, um sich gegen den Wind verständlich zu machen. Die ganzen Wälder waren von Sonnenschein erfüllt, und die verschrumpelten Blätter wirbelten im Sturm. »Das ist der Orinoco!« rief Amias plötzlich, als sie sich flußabwärts ihren Weg fast bis zur Rothernebrücke gebahnt hatten und den kleinen, halb versickerten Bach erreichten, der aus dem Tal der Einöde herabkam. »Und wenn wir ihm folgen, dann führt er uns nach Manoa, der goldenen Stadt, die die Spanier El Dorado nannten.« So verwandelten sich die Wälder in das große reiche Land Guayana, und das trübe Rinnsal, das in den Torridge floß, war ein großer Silberfluß, der sich durch die Wälder mit riesigen Bäumen wand, durch deren Zweige die weißen, karmesinfarbenen und blaßroten Vögel Sir Walter Raleighs flatterten. Die beiden Entdecker stürmten wild begeistert vorwärts, bis sie weitab in dem gewundenen Tal waren. Dort hielten sie an und sahen sich plötzlich erschrocken an. »Vielleicht ist er nicht zu Hause«, sagte Simon und schämte sich plötzlich, weil seine Stimme hoffnungsvoll klang. »Natürlich könnten wir unsere Wamse umkehren«, schlug 11

Amias vor. »Dann wären wir ganz sicher. Aber vielleicht hat er das nicht gern.« Simon schüttelte den Kopf. »Das wäre doch, als ob wir ihm nicht trauten, wenn wir so zu ihm kommen«, meinte er. So setzten sie ihren Weg fort und trugen das Wams mit der richtigen Seite nach außen, was eine Menge Mut erforderte. Sie hatten den Fluß nun verlassen und stiegen den bewaldeten Hügel hinauf mit dem Duft von Abenteuern in ihren begierigen Nasen. Noch ein paar Schritte, und der Wald hörte plötzlich auf. Sie waren am Rande der Lichtung, die sie gesucht hatten. Die ›Einöde‹ lag abseits des Haupttales, eingebettet in Hügel und vor dem Winde geschützt, der rundherum durch die Baumkronen brauste. Die Stille hier ließ den Platz sonderbar geborgen erscheinen. Holundersträucher umringten ihn, tropfend von dunklen Beeren, die die Amseln und Drosseln so lieben. Holzapfelbäume ließen ihre Zweige mit kleinen rotbraunen Äpfeln fast bis in das hohe Gras hängen, auf dem die korallenroten Blätter der wilden Kirsche lagen. Immergrün und wilde Geranien ließen erkennen, wo einst gehegte Blumenbeete gewesen waren. Das Gestrüpp war so dicht, daß es eine Weile dauerte, bis die beiden Jungen, die am Waldrand standen und sich umschauten, die baufällige Hütte auf der anderen Seite entdeckten. Dann sahen sie sie beide im gleichen Augenblick. »Da ist sie!« rief Amias und zeigte hin. »Ja, was für ein merkwürdiger Ort«, sagte Simon mit angehaltenem Atem. »Ich möchte wissen, ob der Pfingstgeiger da ist.« »Hm, ich auch.« Einen Auge nblick standen sie regungslos. Dann straffte Amias die Schultern und strebte vorwärts. »Los, komm, laß uns nachsehen!« Simon marschierte ihm nach und umklammerte die Dose mit der braunen Puppe. Sie bahnten sich einen Weg durch das 12

Gestrüpp bis zum offenen Eingang der Hütte und hielten an. Die Hütte war so niedrig, daß das Dach fast bis zur Höhe ihrer Augen herunterkam. Es war einst strohgedeckt gewesen, aber jetzt war das verfaulte Rohr mit Moos wie mit smaragdfarbenem Samt überzogen. Die offene Tür sah aus, als sei sie seit Jahren nicht geschlossen worden; die Schwelle war von Nesseln überwuchert, und drinnen schien niemand zu sein. »Laß uns anklopfen«, sagte Amias und pochte höflich an die offene Tür. Sie horchten, aber nichts geschah; dann scharrten sie mit den Füßen und riefen höflich: »Pfingstgeiger, bist du zu Hause?« Immer noch nichts. »Er ist nicht da«, sagte Amias halb verärgert, halb erleichtert. Er blickte eine kleine Weile nachdenklich auf die Tür und kam zu einem Entschluß. »Ich sehe nicht ein, daß wir den ganzen Weg umsonst gemacht haben. Ich will mal reingucken.« »Ich glaube, wir sollten das lieber bleiben lassen«, meinte Simon leise. Aber Amias rümpfte die Nase über ihn - er konnte sie besonders beleidigend rümpfen - und ging geradewegs in den Eingang hinein. Simon folgte wie unter einem Zwang, und sie standen beide und spähten in das Dunkel, während das Herz ihnen ungemütlich klopfte. Keiner von ihnen wußte, was sie eigentlich erwartet hatten. Was sie aber wirklich in der hintersten und dunkelsten Ecke sahen, das war eine undeutliche weiße Gestalt, die plötzlich ihre Arme ausbreitete und vorwärtsschoß, genau auf ihre Gesichter los, mit einem durchdringenden, düsteren Schrei, der ihnen das Blut gerinnen ließ. Sie sprangen zurück und erblickten im Davonrennen für einen Augenblick ein merkwürdiges ovales Gesicht mit ungeheuren Augen. Dann glitt die Gestalt auf geisterweißen, stillen Flügeln davon. »Das war eine weiße Eule«, rief Amias. »Nur eine dumme, alte weiße Eule!« Und er lachte und rief es den Bäumen zu. 13

»Eine weiße Eule - eine weiße Eule!« Aber er rannte immer weiter bis an den Rand der Lichtung, und Simon lief hinter ihm her. Im Schutz des Waldsaums hielten sie an und blickten sich ins Gesicht. »Eine weiße Eule; weiter war es nichts«, sagte Amias. »Dumm, sich von einer weißen Eule verscheuchen zu lassen«, meinte Simon bedächtig. »Ich gehe zurück.« »Los«, kommandierte Amias, und sie kehrten um. Sie waren gerade wieder beim Eingang angekommen, als sie ein neues Geräusch hörten. Es klang fast so wie die schrilleren Obertöne des Sturmes, so daß sie zuerst nicht sicher waren, ob sie überhaupt etwas gehört hatten. Dann stieg hell, süß und klar ein Geigenton über dem Aufruhr empor, keine Melodie, sondern nur eine Begleitung zu dem Wind in den Bäumen. Sie drehten sich um, und da stand, an den Stamm einer wilden Kirsche gelehnt, die Geige unters Kinn geklemmt, der Pfingstgeiger. Er beobachtete sie unter seiner herabhängenden Hutkrempe hervor. Sobald sie sich umdrehten, hörte er auf zu spielen und kam auf sie zu, während seine Lippen spöttisch zuckten. »Ihr wolltet also die Höhle des Zauberers besichtigen, obwohl er nicht da war, meine jungen Herren?« fragte der Pfingstgeiger und sah auf sie hinunter. »Das wollten wir nicht!« sagte Amias entrüstet. »Wir wo llten dich besuchen. Wir wußten nicht, daß du nicht da warst.« »Und dann flog die weiße Eule aus deinem Haus und - wir rannten weg. Darum mußten wir natürlich zurückkommen«, fügte Simon hinzu, der peinlich genau war. »Ach ja, die arme Bess hat sich bestimmt mehr erschreckt als ihr.« »Gehört sie dir?« fragte Amias. 14

»Genauso wie ich ihr gehöre. Sie sucht manchmal Schutz unter meinem Dach, das ist alles.« Er strich langsam mit dem Bogen über die Saiten, machte eine sanfte, traurige Musik ohne Melodie und sah die beiden Jungen währenddessen nachdenklich an. Dann brach er ab und fragte spöttisch: »Hattet ihr keine Angst, hierher zu kommen? Wußtet ihr nicht, daß ich mit den Unterirdischen verwandt sein soll? Fürchtet ihr nicht, daß ich euch in weiße Mäuse verzaubere? Abrakadabra, Nieswurz und Leinkraut. Grrr!« Die Jungen blieben mit schlotternden Gliedern stehen und starrten ihn an. Merkwürdigerweise war es Simon, der als erster die Sprache wiederfand, während er plötzlich freundschaftlich in das seltsame dunkle Gesicht des Geigers lächelte. »Nein«, sagte Simon. »Gut«, nickte der Geiger. »Und nun erzählt mal, warum ihr gekommen seid.« Simon hatte die Puppe ganz vergessen. Sie war sowieso nur ein Vorwand für das Abenteuer gewesen. Aber nun erinnerte er sich und hielt die Dose hin. »Wir fanden dies, als wir ein bißchen Erde aufgruben«, sagte er atemlos. »Wenigstens taten wir die Erde in einen Topf, weil wir etwas Besonderes züchten wollten, und dann zerbrachen wir den Topf. So fanden wir es und wußten nicht, was es ist. Wir dachten, vielleicht könntest du uns das sagen.« Der Pfingstgeiger klemmte seinen Geigenbogen unter einen Arm, öffnete die Dose und nahm die Puppe heraus. Er schwieg eine Weile, während er sie in seinen mageren braunen Händen um und um drehte. Dann fragte er: »Waren da Winden in der Nähe, wo ihr sie ausgegraben habt?« »O ja, dort, wo wir die Erde geholt haben, ist das ganze Ufer davon überwuchert«, warf Amias ein. »Ja, das dachte ich mir. Es ist die Puppe eines Nachtfalters. So eine wie diese habe ich erst ein einziges Mal gesehen, und 15

ich kann euch auch den Namen nicht sagen, weil sie, glaube ich, gar keinen hat. Diese Raupe hat einen rotvioletten Fühler mitten am Kopf wie ein kleines Einhorn. Nennt sie doch ›Einhornfalter‹, das würde gut passen.« »Womit sollen wir sie füttern?« fragte Simon. »Ihr braucht sie nicht zu füttern. Legt sie an einen dunklen Platz, vielleicht kommt ein Schmetterling heraus, wenn es Frühling wird. Wenn der Falter Eier legt und wenn aus den Eiern Raupen schlüpfen, dann müßt ihr sie mit Windenblättern füttern.« »Gut. Wir werden das nicht vergessen. Vielen Dank«, sagte Simon, als er die Puppe wieder in ihre Dose legte. Amias, der erst auf dem einen, dann auf dem anderen Bein gestanden hatte, warf ein: »Sag mal, Pfingstgeiger, dürfen wir dein Haus besichtigen?« »Warum, junger Mann? Damit ihr erzählen könnt, daß ihr beim Pfingstgeiger im Haus wart?« Seine Stimme war wieder spöttisch geworden. »Wir würden es niemandem verraten«, sagte Amias. »Wir sprechen bestimmt nicht darüber«, unterstützte Simon ihn. Des Pfingstgeigers Mundwinkel zuckten. »Dann kommt rein«, sagte er und ging voran. Es war sehr dunkel in dem einzigen Raum der Hütte, denn sie hatte kein Fenster. Licht kam nur durch die offene Tür hinter ihnen. Es roch muffig nach verfaultem Rohr. Aber an der einen Wand waren frische Binsen als Bett aufgeschichtet, eine alte Pferdedecke lag darüber, ein sauberer Krug stand in einer Ecke, ein Tiegel und ein eiserner Löffel hingen am Herd. Und höchst überraschend und wunderbarerweise auf dem ungehobelten Brett darüber das Modell eines Schiffes unter vollen Segeln. Ein herrliches kleines Schiff, einfach und doch höchst kunstvoll 16

gemacht, und so lebendig, daß es sich schwankend zu bewegen schien, so als wollte es unmittelbar aus dem Schatten auftauchen wie eine Möwe aus der Tiefe einer Woge. »Ja, ich dachte mir schon, daß es euch gefallen würde«, sagte der Pfingstgeiger und legte seine Geige auf die Bettstatt, während die Jungen auf den Herd zugingen und auf das Bord starrten, auf dem das Schiff stand. Er nahm es herunter, faßte es geschickt und sanft an, genauso wie die Puppe, und trug es ans Licht. »Bist du auf einem solchen Schiff gesegelt?« fragte Amias, während Simon den Bug vorsichtig mit dem Finger berührte. »Ja, ich bin früher Schiffsgeiger gewesen«, sagte der Pfingstgeiger. »Ich saß dann auf dem Gangspill und spielte auf meiner Geige, um die Zeit zu vertreiben. Die Matrosen gingen am Gangspill trapp-trapp rundherum. Die Ankerkette kam tropfend herauf, und die Burschen waren oben beim Auftakeln, bereit, die Segel zu setzen. Ein halbdutzend Jahre fahre ich nicht mehr zur See, aber vielleicht gehe ich eines Tages wieder an Bord mit meiner alten Geige.« »Wie hieß das Schiff?« fragte Amias. »Die ›Destiny‹. Sir Walter Raleighs ›Destiny‹. Sie war das erste Schiff, auf dem ich diente, und sie war Sir Walters letztes.« »Hast du wirklich unter Sir Walter Raleigh gedient?« riefen die Jungen gleichzeitig. Der Pfingstgeiger nahm ihnen das Modell aus der Hand und stellte es auf das Bord zurück. »Ja, auf der schlimmen letzten Reise.« »Bitte, erzähl uns davon«, bettelte Amias. »Ich spielte Geige in einer Hafenschenke, in der Deptfordstraße war es, wo ich spielte, da kam Sir Walter herein. Er hörte ein bißchen zu, und dann sagte er: ›Hast du Lust, dein Glück zu machen? Hast du Lust, mit deinen Händen im eigenen Gold zu wühlen, bis an die Ellenbogen ?‹ - ›Große Lust sogar‹, 17

sage ich, ›aber wo ist das Gold?‹ Und er setzt sich auf ein Bierfaß (er war ein bißchen schwach auf den Beinen nach fünfzehn Jahren Gefangenschaft im Tower), und er sagt: ›In El Dorado. Es wartet darauf, daß man es aus der dunklen Erde gräbt. Aber ich brauche eine Gangspillgeige für mein Schiff, bevor wir es holen können.‹ Da sage ich: ›Ich bin Euer Mann! ‹« »War das, als König Jakob ihn aus dem Tower freiließ, damit er ihm Gold aus der Neuen Welt holen sollte?« warf Simon ein. Sie saßen inzwischen alle drei nebeneinander auf des Pfingstgeigers Bett, der Pfingstgeiger mit der Geige auf den Knien in der Mitte und ein begieriger Zuhörer auf jeder Seite. »Ja, da war es. Aber er war nicht nur auf der Suche nach Gold, sondern auch nach Abenteuern. Ein letztes Abenteuer, wißt ihr; und er wußte genau, daß es sein letztes war. Ich hörte ihn eines Abends mit seinem Sohn sprechen, der neben ihm ging. ›Walt‹, sagte er, ›wir wollen dieser neuen schwachbeinigen Brut zeigen, was Elizabeths Seefahrer waren. Wir wollen die Spanier aus Guayana rausprügeln, wenn es sein muß. Und danach kommt vielleicht eine noch längere und schnellere Reise als diese, aber da sind gute Kameraden von mir, die warten am anderen Ufer.‹ Und dann sagte er etwas, das klang, als stünde es in einem Buch, über die Inseln hinter der Sonne und die Bäume mit goldenen Äpfeln, die da wachsen.« »Die Inseln der Hesperiden!« stimmte Amias aufgeregt zu. »Vater hat das Buch.« Der Geiger nickte. »Ja, so nannte er sie. Aber sie waren keine Inseln der goldenen Äpfel; waren überhaupt nicht golden. Der Junge wurde vor einer spanischen Festung getötet, Sir Walter ging heim, und das war sein Ende. In vie le andere Länder hätte er gehen können. Die Franzosen hätten ihn mehr als gern gehabt, und mancher hätte sich die Finger danach geleckt; aber so etwas tat er nicht - nein, nicht mein alter Kapitän.« »Und so sperrte König Jakob ihn wieder im Tower ein und 18

ließ ihm den Kopf abschlagen, um den Spaniern zu schmeicheln«, sagte Amias hitzig nach einer kleinen Pause. »Das hätte König Charles niemals getan.« »Erzähl noch mehr von Sir Walter«, sagte Simon. »Nein, meine Lieben, genug für heute. Es wird Zeit, daß ihr euch wieder auf den Weg nach Torrington macht. Vielleicht erzähl ich euch ein andermal mehr.« Der Pfingstgeiger zog seine langen Beine ein und stand auf. Die beiden Jungen rappelten sich hoch und standen da und sahen zu ihm auf. »Dürfen wir denn wiederkommen?« fragte Simon hoffnungsvoll. »Ja, kommt vorbei, wann ihr mögt. Aber erschreckt Bess nicht, wenn sie hier ist und ich nicht zu Hause bin.« »Bestimmt nicht«, versprachen sie. »Und danke schön, Pfingstgeiger«, Simon hob die Dose mit der Puppe auf, die er inzwischen fast vergessen hatte. »Ach, an etwas haben wir nicht gedacht«, sagte Amias und drehte sich im Eingang um, »wir kennen deinen Namen, aber du weißt vielleicht nicht, wer wir sind: Ich bin Amias Hannaford, und das ist Simon Carey!« »Das ist eine fe ine Sache, wenn ein Mann die Namen von seinen Gästen weiß«, sagte der Geiger, und er zwinkerte mit den Augen unter seiner herabhängenden Hutkrempe. »Guten Abend, ihr beiden.« »Guten Abend«, sagten sie und gingen fort. Der Pfingstgeiger brachte sie nicht an die Tür, und als sie am Waldsaum haltmachten und zurückschauten, sah die Hütte wieder gänzlich verlassen aus. »Man möchte nicht glauben, daß da jemand wohnt«, sagte Simon. »Nein«, antwortete Amias nachdenklich. »Weißt du, wenn man sich irgendwo verstecken müßte, wäre die ›Einöde‹ ein 19

wirklich guter Platz. Wenn Sir Walter Raleigh sich hier versteckt hätte, hätte König Jakob ihn bestimmt nicht gefunden, um ihm den Kopf abzuschlagen.« »Wenn man nicht wüßte, daß sie hier ist, würde man sie nie finden«, sagte Simon, und als sie in den Wald eintauchten, fügte er triumphierend hinzu: »Und wenn man wirklich wüßte, daß sie hier ist, so würde man sich fürchten, nahe heranzukommen, wegen der Unterirdischen - jeder, außer uns natürlich.« Das Abenteuer war den wilden go ldenen Nachmittag wert gewesen, und sein strahlender Glanz machte sie still, bis sie fast wieder in Taddiport waren. Dann ließ Simon die Dose mit der Puppe fallen, der Deckel sprang ab, und die Puppe fiel heraus. Sie mußten zwischen den Brombeerwurzeln danach herumsuchen. »Hier«, sagte Simon und legte sie sorgfältig in die Dose zurück. »Komisch, daß es eine Art Einhorn ist«, sagte er. Amias schaute auf die Puppe, und in seinen Augen glänzte eine Idee. »Wir könnten sagen ›So sicher, wie Einhörner fliegen können‹ und ›So sicher, wie Einhörner Eier legen‹, und jeder würde denken, wir sind verrückt - und trotzdem wäre es wahr.« »Hm«, sagte Simon und machte den Deckel wieder zu. Keiner sprach weiter über die Sache, aber von dem Tage an wurde ›So sicher wie Einhörner‹ eine Art Geheimwort zwischen den beiden.

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Der letzte Tag in Freiheit

An einem stillen Septembernachmittag hatten Simon und Amias sich in den hochgelegenen Obstgarten hinter Lovacott zurückgezogen. Es war ihr letzter Tag in Freiheit, denn am nächsten Morgen mußten sie nach Tiverton reiten, wo sie als Schüler in Blundells Schule eintreten sollten. In den Pausen zwischen dem Einbringen der Ernte hatten sie von all ihren alten Schlupfwinkeln Abschied genommen: keine leichte Aufgabe, denn sie kannten und liebten jeden Fußbreit Boden meilenweit in der Runde. Sie waren eben von einem langen Tag im Tawtal zurückgekommen. Gestern hatten sie dem Pfingstgeiger auf Wiedersehen gesagt. In dem Jahr seit dem wilden Herbstnachmittag, als sie mit dem Einhornfalter bei ihm gewesen waren - der sich zu ihrer größten Enttäuschung als Spinner entpuppt hatte -, war der Pfingstgeiger ihr Freund geworden, und die ›Einöde‹ - in ihren Augen die goldene Stadt Manoa - hatte sie so oft beherbergt, wenngleich sie es verstanden hatten, ihre Besuche vor der übrigen Welt geheimzuhalten. Nun würden sie sie bis Weihnachten nicht mehr wiedersehen. Der letzte Tag war fast vorüber, und die nächsten vier Jahre dehnten sich düster vor ihnen aus, nur von den kurzen Weihnachtsund Herbstferien erhe llt. Der einzige Trost war, daß sie zusammen hingehen würden. Nichts war ganz unerträglich, solange man zusammen war, nicht einmal die Schule. »Ach, wenn wir doch erst sechzehn wären!« sagte Amias, riß einen Grashalm aus und biß wütend hinein. »Vier Jahre«, stöhnte Simon. »O ja, die werden wohl einmal vorübergehen! Und dann komme ich heim und helfe meinem Vater bei der Wirtschaft in Lovacott, und du lernst bei deinem Vater. Du wirst ein sehr komischer Doktor werden.« »Ich werde ein sehr guter Doktor werden«, sagte Amias 21

überzeugt. Er nahm den Grashalm aus dem Mund und schielte nach dem zerkauten Ende. »Ich möchte vorher nur ein paar Abenteuer erleben. Ausrücken und zur See fahren oder so etwas. Ich nehme dann meinen langen glänzenden Degen und ziehe aus, um Leute zu bekämpfen: Berber-Piraten zum Beispiel. Vielleicht werde ich sogar selbst Seeräuber.« Er erwärmte sich für das Thema, und seine Augen leuchteten. »Ich vollbringe Taten wie Sir Walter: Gold suche ich in der Neuen Welt und plündere spanische Städte und Besitztümer. Ich habe einen roten Bart und bin der Schrecken der spanischen Meere! Dann komme ich heim und lerne bei meinem Vater. Du kommst auch mit und bist mein treuer Meisterkanonier.« »Ja-a«, sagte Simon. Wenn Amias Seeräuber würde, dann würde Simon bestimmt sein Meisterkanonier, denn wo Amias voranging, da folgte Simon getreulich; er zog ihn immer aus der Klemme, in die seine glänzenden Ideen ihn so oft brachten. Aber er meinte trotzdem, es wäre gut, wieder nach Lovacott heimzukommen, wenn man die spanischen Meere erledigt hätte. Von seinem Platz hier oben im hochgelegenen Obstgarten konnte er durch die gesenkten Zweige der alten Apfelbäume schauen und Lovacott sehen: Das Haus und die Nebengebäude, die Pferdekoppel am Haus und der von seiner Mutter so geliebte Garten waren wie das Innere einer Blume, deren drei Blütenblätter die drei großen Felder waren: ›Sanctuary‹ und ›Salutation‹ im Tal und ›Twimm-aways‹, das an den Obstgarten dahinter grenzte und sich über den Hügelrücken bis hinab ins Dorf zog. Sein Vater hatte einst versucht, die Namen ›Sanctuary‹ und ›Salutation‹ in Ost- und Westwiese umzuändern, aber die Tradition war stärker gewesen als er, und die beiden Wiesen blieben ›Sanctuary‹ und ›Salutation‹, wie sie geheißen hatten, als sie noch den kahlgeschorenen Mönchen der Fristockabtei gehört hatten. Die Careys hatten Lovacott und das Dorf Heronscombe zuerst für die Mönche verwaltet und es dann 22

seit den Tagen von Agincourt in eigenem Besitz, und sie hatten dort tiefe Wurzeln geschlagen. Damals unter Königin Elizabeth, als so viele Landleute sich große Häuser gebaut hatten und die alten zu Hofgebäuden machten, hatte Simons Großvater sich hartnäckig geweigert, so etwas zu tun; er fügte nur eine Küchentür und einige Fenster im Wohnhaus ein und baute eine Reihe von Wirtschaftsgebäuden auf der Südseite, so daß der Misthaufen und die Schweine aus dem Hof verschwanden. So waren die Careys in Lovacott geblieben, und sie paßten dorthin wie eine Nuß in ihre braune Schale. Und als Simon daran dachte, daß er morgen Abschied nehmen mußte, durchzuckte ihn das Heimweh wie ein Dolchstoß. Trotzdem, wenn Amias sich einen Meisterschützen wünschte, dann brauchte er natürlich nur ein Wort zu sagen. »Lovacott wäre eine großartige Festung«, sagte Amias, nachdem sie eine Weile stumm auf ihren Grashalmen gekaut hatten. »Ich meine, so fest wie es um den Hof herumgebaut ist und mit Diggorys Torhaus und allem. Wir müßten natürlich die Küchentür und all die Fenster rundherum verbarrikadieren, damit der Feind nicht von außen hereinklettern könnte.« »Was wäre das für ein Feind?« fragte Simon. Amias überlegte. »Oben im Norden, da hätten wir die Schotten, wie letztes Jahr, als sie über die Grenze und durch ganz Northumberland kamen.« Er schnaufte. »Die und ihr altes Bündnis.« »Oh, ich glaube, das wäre sehr spannend, ein Bündnis zu schließen und es mit dem eigenen Blut zu besiegeln, sich draußen auf dem Moor zu treffen mit der Bibel in der einen Hand und einem Schwert in der anderen«, überlegte Simon. Das fand Amias auch, aber weil die Verbündeten gegen den König standen und Amias ein leidenschaftlicher Roya list war, konnte er nicht gut zustimmen. Also wechselte er das Thema. »Es wäre genausogut, wenn Cornwall Feindesland wäre; dann 23

kämen die Cornischen über die Grenze und plünderten, und wir würden belagert. Wir machen Schießscharten in die Fenster und schießen durch die Löcher - so.« Er zeigte es, indem er mit dem Lauf eines eingebildeten Gewehres zielte. »Und deine Mutter und die Mägde könnten für uns laden.« »Maus auch«, sagte Simon bestimmt. Maus war seine kleine Schwester, und er fand sie oft recht lästig, aber trotzdem meinte er, dieser Spaß sollte ihr nicht entgehen. »Gut, Maus auch. Und wir klettern auf das Torhausdach und gießen siedendes Blei auf ihre Köpfe - ssswsch! - so.« »Wir könnten alles, was wir brauchen, aus unserer Waffenkammer holen«, fügte Simon hinzu. Wie alle Bauern- und Gutshäuser mußte Lovacott bestimmte Waffen und Ausrüstungsgegenstände für die Landwehr bereithalten. Auf den kleinen Höfen war das vielleicht nur eine alte Sturmhaube und eine Pike, die schon in König Hals Heer ihren Dienst getan hatten. Aber Lovacott stellte - außer John Careys eigener Ausrüstung als Leutnant der Torringtonkompanie - drei Armbrüste und Helme und eine ganze Menge von Piken und Gewehren. Sie wurden in einem kleinen Raum zwischen dem Haus und den Ställen aufbewahrt, der darum Waffenkammer genannt wurde. Vor ein paar Tagen hatte Simon gerade seinem Vater und Diggory geholfen, diese altertümlichen Waffen zu überholen, genauso wie die meisten Leute auf und ab im Lande diesen Sommer ihre Waffen überholten. Denn der alte Streit, der zwanzig Jahre zwischen König und Parlament geschwelt hatte, würde jetzt allzu gewiß aufflammen. Simon wußte das natürlich, und der Grimm auf seines Vaters Gesicht, als er die Riemen eines Brustpanzers prüfte, hatte sich ihm tief eingeprägt, so daß er jetzt wieder daran denken mußte, und die Erinnerung gab ihm ein ernstes Gefühl in der Magengrube. »Wenn sie hier oben in den Obstgarten heraufkämen, müßten 24

wir natürlich einen Ausfall machen und sie vertreiben«, sagte Amias. »Sonst könnten sie unten in den Hof schießen.« Simon antwortete nicht. Zwischen den Zweigen des Apfelbaumes wurde der Himmel klar und durchsichtig wie Kristall. Die Schatten der Weißdornhecke hatten sich weit über die Felder gestreckt, und das Grün der Wiese und der Goldschimmer wurden von der Nacht ausgelöscht. Morgen würde Diggorys Sohn Tom ›Sanctuary‹ für die Wintersaat umpflügen; aber Simon würde nicht dasein, um das zu sehen. Ein Reiher zog mit trägem Flügelschlag vor dem stillen Himmel heim. Er folgte dem engen Weg zwischen dem Taw und dem Torridge, dem Reiher seit Beginn der Welt gefolgt waren, wodurch Heronscombe∗ seinen Namen erhalten hatte. Simon sah ihm nach, wie er davonflog, und das erns te Gefühl in seinem Magen verstärkte sich. Er mochte nicht mehr über Kämpfe im hochgelegenen Obstgarten sprechen, auch nicht davon, daß Lovacott bestürmt würde, jetzt nicht mehr. So stieß er Amias heftig in die Seite, als dieser anfing, einen glänzenden Plan zu entwickeln, wie sie den Feind mit seinem eigenen Pulver in die Luft sprengen wollten, und sagte: »Ja, du hast Pulver in deinem Kopf! Was passierte denn im letzten Jahr, als du das neue Pulver erfinden wolltest?« Amias zuckte zurück. »Das war ganz tolles Pulver! Das beste Pulver, das es je gegeben hat - so sicher wie Einhörner !« »Ja! Und es brannte dir die Augenbrauen ab und zündete den Tisch an, und ich mußte den ganzen Krug mit Dillwasser nehmen, um es zu löschen. - Au! Laß mich in Ruhe!«, denn Amias hatte sich mit einem Kriegsgeschrei auf ihn gestürzt. Sie wälzten sich herum wie junge Hunde im Spiel, bis sie keine Luft mehr bekamen, und rollten dann auseinander, lachten, japsten und lagen still. ∗

Heronscombe bedeutet ›Reihertal‹ 25

In dem Augenblick tauchte hinter der Ecke der Wirtscha ftsgebäude die kleine gebeugte Gestalt von Diggory Honeychurch auf. Diggory wohnte mit seiner apfelrunden Frau Phoebe im Torhaus und war für die Careys Verwalter, Pferdeknecht und Freund. Es war sein größter Stolz, daß, solange ein Carey auf Lovacott gesessen hatte, ein Honeychurch dagewesen war, ihm zu dienen. Und wenn man ihn ansah, dann konnte man wirklich glauben, daß es all die Jahre der gleiche Honeychurch gewesen sei, denn er war so knorrig wie eine Hagedornwurzel, und seine Haut, sein Haar und seine Kleider hatten die Farbe von ausgedörrter Erde. Zufällig sah er in dem Augenblick in den Obstgarten hinauf, erblickte die beiden Jungen, winkte und rief etwas. Simon hielt seine Hände an den Mund und rief zurück: »Ich versteh nichts.« »Rizpah!« brüllte Diggory und machte auch einen Trichter aus seinen Händen. »Fohlen!« »Ist es da?« fragte Simon zurück. »Ja!« Simon sprang sofort auf die Füße und rannte hügelabwärts. »Rizpahs Fohlen!« rief er Amias, der ihm nachstürzte, über die Schulter zu. »Es ist wirklich gekommen!« Und er raste durch die Rötlinge und die Kirschbäume im unteren Obstgarten und durch die Seitentür in den Garten. Rizpah war seines Vaters Fuchsstute, und sein Vater hatte ihm das erwartete Fohlen statt des alten Ponys versprochen, für das er bald zu groß sein würde. Es würde das erste Pferd sein, das ihm selbst gehörte; und er hatte beim zunehmenden Mond gehofft, gebetet und gewünscht, daß es ankommen würde, ehe er zur Schule mußte. Er hatte die Hoffnung schon fast aufgegeben, und nun hatte Rizpah es schließlich doch noch für ihn getan. Mit einem Triumphgeschrei stürzte er in die offene Küchentür, durch die Diele und hinaus in den Hof. Amias war ihm dicht auf den Fersen. Die erschrockenen Tauben flogen aufgeregt in die Luft, als Simon stallwärts schwenkte und auf dem Kopfsteinpflaster ausrutschte. 26

Diggory war vor ihnen da und hielt die Stalltür zu. Aus dem Grunde hatte er sich eiligst aus dem Garten zurückgezogen. »Jetzt langsam!« schimpfte er, als sie keuchend vor ihm anhielten. »Wollt ihr das arme kleine Wurm gleich auf dem schnellsten Wege ins Jenseits schicken?« »Ist es ein Hengst- oder ein Stutenfohlen?« fragte Simon und rückte ihm auf die Pelle. »Ein ganz feines Hengstfohlen ist es. Ja, ihr könnt reingehen aber wie Christen!« Und der alte Mann ließ die Stalltür los. Die beiden Jungen gingen langsam hinein. »Da!« sagte Diggory. »Es gibt kein besseres Fohlen auf der Welt! Was, Rizpah, mein Mädchen?« Rizpah stand dort, wo die letzten Strahlen der untergehenden Sonne, die schräg durch die Tür kamen, voll auf ihre seidige rotbraune Flanke fielen. Nicht umsonst hieß sie Rizpah, was soviel wie ›Glühende Kohle‹ heißt. Ihr langer Hals war gebogen, als sie das neugeborene Fohlen beschnupperte, das auf schwankenden Beinen neben ihr stand, und ihre Augen waren groß und sanft. »Geh schon herum und saug!« sagte Diggory mit zufriedenem Lachen, als das Fohlen gegen seine Mutter stieß, den Schwanz über seinem schmalen braunen Rücken aufgerichtet wie eine Feder. »Rizpah«, sagte Simon, »es ist eine Schönheit!« Die Stute wandte ihm ihren feinen Kopf zu und wieherte leise vor Freude, als er ihr mit der Hand über die Nüstern strich; dann richtete sie ihre Aufmerksamkeit wieder auf ihren Sohn. Das tat auch Simon, und er betrachtete das kleine Geschöpf mit warmem Besitzerstolz. Nur etwas enttäuschte ihn. »Ich hoffte, es würde ganz rot sein, so wie Rizpah.« Diggory schnaubte. »Habt ihr schon einmal ein Fohlen in der Farbe zur Welt kommen sehen, die es später hat?« Er umfaßte das kleine Tier mit seinen alten, knorrigen Händen, als es von 27

seiner Mutter abließ, und zog es ans Licht, während die beiden Jungen dichter heranrückten und die Stute ängstlich aufschaute. »Guckt euch den roten Schimmer auf seinem Fell an. Der wird in ein paar Monaten so rot wie seine Mutter - nein, röter. Der wird so rot wie nur je ein Fuchs, der sich 'ne Gans holte, wenn der groß ist, glaubt mir. Guckt genau hin, da, wo das Licht auf ihn fällt.« Simon und Amias guckten und entdeckten, daß wahrhaftig ein roter Schimmer in der sanften Aprikosenhaut des Fohlens leuchtete. Sein Maul war wie dunkler Samt, weißgescheckt nun von der Milch seiner Mutter; seine Augen waren dunkel und furchtsam, und die langen Wimpern, die sie beschatteten, waren vom Abendlicht goldbeglänzt. Es blinzelte und stand unsicher auf breiten Beinen, und Simons Herz flog ihm zu. »Wirklich, es ist eine Schönheit!« sagte Amias. »Wie willst du es nennen?« »Ich weiß noch nicht. Was meinst du?« »Du müßtest ihm einen recht roten Namen geben«, ertönte eine Stimme hinter ihnen, und als sie sich umsahen, erblickten sie Maus, die neben ihnen stand. Niemand hatte sie kommen hören, aber so war es immer mit Maus, und daher hatte sie ihren Namen bekommen, obwohl sie eigentlich Marjory getauft war. Man konnte wütend werden über ihre Geräuschlosigkeit, die es nahezu unmöglich machte, irgend etwas vor ihr geheimzuhalten. Aber beide Jungen mußten zugeben, daß sie niemals jemandem irgend etwas verraten hatte, was sie von ihnen oder ihren Taten entdeckte. »Hallo! Wo kommst du denn her?« fragte Simon ziemlich ungnädig. Maus ging bis in die Mitte des Stalles und betrachtete das Fohlen. »Aus dem Haus«, sagte sie. »Ich hörte euch durchrennen und dachte, das müßte Rizpahs Fohlen sein, und darum wollte ich nachgucken. Sein Schwanz ist wie eine 28

Feder.« »Was meintest du mit einem roten Namen?« fragte Amias, der es haßte, wenn man vom Thema abkam und Sätze nicht zu Ende brachte. »Wenn ihr ihm einen sehr roten Namen gebt, wird es vielleicht leichter rot. Simon wollte es doch gern rot haben.« »Das ist eine gute Idee«, nickte Simon. »Du triffst mal wieder den Nagel auf den Kopf, Maus, was ist der roteste Name, den du kennst?« »Scharlach«, sagte Amias prompt, während Maus, erfreut über das ungewohnte Lob, beide Jungen anlächelte, bis auf ihrer linken Wange ein tiefes Grübchen erschien, was nur sehr selten geschah. »Gut«, sagte Simon. »Wir nennen es Scharlach. Was meinst du, Diggory, wann können wir anfangen, es zuzureiten?« Aber eine andere Stimme antwortete, und als sie sich umwandten, sahen sie Mr. Carey in der Stalltür mit einem Paar Feldspaniels zu seinen Füßen. »Nicht bevor es drei Jahre alt ist«, sagte Simons Vater. »Wenn man ein Pferd früher zureitet, verdirbt man es zu leicht.« Sie sahen ihn respektvoll an, die Hände hinter dem Rücken. »Es ist wirklich großartig, Vater«, sagte Simon, »und wir wollen es ›Scharlach‹ nennen.« »Das ist ein passender Name.« Simons Vater schaute die kleine Gruppe aus kühlen, lichtgrauen Augen an, die Amias immer seine letzten Übeltaten in Erinnerung brachten. »Könnt ihr euch vorstellen, daß es Rizpah ein bißchen zu voll vorkommt mit so vielen Bewunderern in ihrem Stall? Kommt jetzt lieber alle drei raus. Ach, und Marjory, dich braucht deine Mutter in der Vorratskammer.« Sie zogen mit ihm ab, und Maus eilte zu ihrer Mutter, während Diggory zurückblieb, um Rizpah besonders gut zu 29

versorgen, denn sie war sein Liebling. Draußen im Hof sprudelte Simon hervor: »Danke, Vater, daß du es mir schenkst. Es ist - großartig!« »Ich freue mich, daß es deine Erwartungen erfüllt. Du weißt, daß du es mit zureiten mußt, wenn es alt genug ist«, sagte Mr. Carey und schloß die Halbtür des Stalles. Dann wandte er sich an Amias: »Dein Pony wartet auf dich, wie du siehst, und es ist Zeit, daß du dich auf den Heimweg machst. Dein Vater wird dich am letzten Abend, bevo r du in die Schule gehst, noch etwas bei sich haben wollen, glaube ich.« »Ja, ich reite nun«, sagte Amias, der vor Simons Vater viel mehr Respekt hatte als vor seinem eigenen. Er ging hinüber zu dem Pfahl, an dem sein Pony angebunden war. Er stieg in den Sattel und lenkte das dicke kleine Tier zum Tor. »Gute Nacht, Mr. Carey. Gute Nacht, Simon. Bis morgen.« »Warte am Markt auf mich«, rief Simon. Pony und Reiter verschwanden unter dem Bogen des Torhauses, und Simon hörte die Hufschläge auf dem ausgefahrenen Fuhrweg klappern. Der Himmel über den Dächern von Lovacott vertiefte sich zu einer lavendelartigen Farbe, und die Flügel der umherschwirrenden Tauben waren nicht mehr vergoldet, wie sie es eben noch gewesen waren, sondern grau. Bald würden die Kerzen hinter den tief zurückliegenden Fensterkreuzen aufleuchten. Und wenn sie morgen angezündet würden, dann würde Simon sie nicht mehr sehen können. Wieder durchdrang ihn ein Stich von Heimweh. »Oh, wenn es doch niemals morgen würde!« brach es aus ihm hervor. »Wenn du nur wüßtest...« John Careys ernstes Wesen und seine kühlen grauen Augen ließen ihn hart erscheinen, und das war er auch. Aber Simon und er hatten sich immer gut verstanden. »Ob du es glaubst oder nicht, Simon, ich weiß es«, sagte er. »Ich weiß noch ganz genau, wie ich mir am letzten Abend, bevor ich in die Schule mußte, 30

verzweifelt wünschte, ich hätte beim Aufwachen die Windpocken.« Und als Simon unglücklich zu ihm aufsah, fügte er hinzu: »Es ist wirklich nicht so unerträglich, weißt du, wenn man es erst einmal gewohnt ist.« Er legte dem Jungen eine Hand auf die Schulter, und sie gingen hinein, die Spaniels Jillot und Ben hinter ihnen her.

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Es lebe der König!

Während des ganzen Winters und des darauffolgenden Frühlings war der Westen von den wildesten Gerüchten erfüllt. Die irischen Papisten würden sich mit ihren englischen Glaubensbrüdern vereinigen, und die Protestanten sollten niedergemetzelt werden: eine neue Bartholomäusnacht. Es gebe einen Plan, London in die Luft zu sprengen. Im Ärmelkanal warte eine französische Flotte auf den Befehl des Königs zum Angriff. Das schlimmste von allen Gerüchten war in den Augen der Leute von Devon, die mehr Ursache hatten als das übrige England, sich an die Inquisition zu erinnern, daß Charles mit Spanien verbündet sei. Simon und Amias brachten es fertig, über all dies nicht nachzudenken. Sie wußten beide im innersten Herzen, daß eines Tages ein Bürgerkrieg ausbrechen würde. Aber vielleicht noch nicht jetzt, und der Gedanke daran quälte sie nicht übermäßig, nicht, solange der Sommer andauerte und man an so viele andere Dinge zu denken hatte. Ab und zu begann Amias, von einem neuen Gerücht zu sprechen, besonders von der Sprengung Londons, denn Minen und Sprengstoffe interessierten ihn immer mächtig; aber wenn er davon anfing, sagte Simon jedesmal: »Ach, laß uns nicht davon sprechen«, und sie vergaßen es wieder. Es war besser so. An einem Nachmittag mitten in den Sommerferien hatten sie es gründlicher vergessen als gewöhnlich. Es war ein leuchtender, blaugoldener Nachmittag nach einer stürmischen Woche. Sie waren den ganzen Tag stromaufwärts gebummelt, hatten nach einer bestimmten Otter Ausschau gehalten, die sie kannten, hatten in dem dunklen Tümpel unter den überhängenden Eichenbäumen gebadet, wo die Blutegel sich an einem festsaugten, ganz gleich, wie vorsichtig man war. Und 32

nun gingen sie heimwärts zum Abendbrot. Der Stechginster war eine goldene Glut, wie Bohnen duftend im Augustsonnenschein, als sie auf ihren gewohnten Pfaden den Schloßberg erklommen. Die Schafe lagen in jedem schattigen Winkel, sie mochten nicht einmal grasen, so heiß war es. Nichts regte sich in dem Stechginster als ein auffliegender Stieglitz oder ein Hänfling. Auch die Jungen waren heiß. Die Hemden klebten ihnen am Leib, und ihre Arme und Beine waren von Bremsen zerstochen, aber das erhöhte merkwürdigerweise ihre Zufriedenheit und das Gefühl, daß der Tag erfüllt war. Sie waren von Sonnenschein durchtränkt und schliefen fast im Gehen ein. Sie hatten die Otter gesehen, und beinahe vierzehn Ferientage kamen noch. Tomasine hatte zum Abendbrot Pflaumentörtchen und Ingwerkuchen angekündigt, und hinterher hatte, falls niemand krank würde, Doktor Hannaford versprochen, ihnen eine bestimmte schwierige Folge von Fechtparaden zu zeigen, die er ihrem Können jetzt zutraute. Er war als ein guter Schwertkämpfer der alten Schule bekannt und hatte sie in der Fechtkunst unterwiesen, sobald sie groß genug gewesen waren, eine Klinge zu führen. Alles in allem war das Leben sehr schön, und wenn sie Katzen gewesen wären, so hätten sie geschnurrt. Als sie durch das Fenster ins Studierzimmer stiegen, erschien es ihnen nach der blendenden Helle draußen, wo die Päonien und letzten Rosen des Gartens wie Blumen aus farbigen Flammen brannten, sehr dunkel. Es dauerte eine Weile, ehe sie sahen, daß Doktor Hannaford schon da war. Er stand vor der Seitentruhe und kehrte ihnen den Rücken zu. Er mußte gerade eben gekommen sein, denn er leerte Instrumente aus den tiefen Taschen seines Reitmantels aus. Im nächsten Augenblick wandte er sich zu ihnen um, und sogar durch die grüne und rosa Wolke, die die Dunkelheit nach dem Sonnenschein ausgebreitet hatte, erkannte Simon, daß der Doktor in einem Zustand flammender Erregung war, und sein eigenes Herz zuckte 33

sonderbar. »Habt ihr die Neuigkeiten ge hört?« fragte Doktor Hannaford. »Was für Neuigkeiten, Vater?« Die hellen blauen Augen des Doktors glänzten wie die eines Jungen, und seine Stimme war voller als gewöhnlich. »Der König hat vor zwei Tagen in Nottingham die Kriegsstandarte aufgestellt.« Eine lange Stille folgte. Dann stieß Amias einen Freudenschrei aus. »Dann ist es aus mit dem unsinnigen Parlament! O Vater, das ist einfach glänzend!« »Glänzend? Ja, das ist es«, sagte Doktor Hannaford, und plötzlich knarrte seine Stimme, »aber Devon wird nicht s von dem Glanz abbekommen.« »Warum nicht? Was meinst du?« »Das Parlament hat eine Armee von zehntausend Mann ausgehoben - die Nachricht kam auch heute morgen -, und Sir Samuel Rolle stellt jetzt die Bürgerwehr auf und stößt dazu. Habt ihr nicht den Aufruhr in der Stadt bemerkt?« »Wir kamen über das Gemeindeland. Ist das wirklich wahr, Vater? Das kann doch nicht sein!« Doktor Hannaford warf seine Handschuhe auf die Truhe, als ob er sie Sir Samuel ins Gesicht schleuderte. »Ach, es ist wahr«, sagte er bitter. »Nun, der König wird sein Recht gegen den sanftmäuligen Adel zu verteidigen wissen!« Dann, plötzlich ganz anderer Laune, wandte er sich zu dem geschnitzten Wandschrank, in dem er seine wertvolleren Drogen verwahrte. Er schloß ihn mit einem merkwürdig verschnörkelten Schlüssel auf und öffnete weit die Tür. Ein scharfer Geruch strömte heraus, und während er nach dem obersten Bord langte, beobachtete Amias ihn. Er holte eine Flasche heraus, die er auf den Tisch stellte, eine merkwürdig geformte Flasche mit einem langen, schlanken Hals, die im Sonnenlicht einen wundervollen, 34

zitternden Fleck von grünlichgoldenem Licht auf den lederbezogenen Tisch warf. Doktor Hannaford ging zum Schrank zurück und holte drei Gläser heraus, groß und schlank, aus braunem Glas mit einem leichten Goldschimmer, die sich oben öffneten wie der Kelch einer zarten Blume. »Sie stammen aus Venedig«, sagte er und faßte die kostbaren, zerbrechlichen Stücke so zart an wie der Pfingstgeiger die kleine ›Destiny‹, als er sie auf den Tisch setzte. »Und dies«, er nahm die Flasche hoch und fing an, den Korken zu ziehen, während er weitersprach und seine laute Stimme zu einem nachdenklichen Murmeln wurde, »ist aus Toskanien; die letzte von dreien, die ich von meiner Studentenzeit in Padua mitbrachte. Das ganze Gold des toskanischen Sommers steckt in dieser Flasche und auch ein Stück meiner eigenen Jugend. Eines Tages, wenn ihr alt seid, ihr zwei, werdet ihr das verstehen. Ich wollte sie öffnen, wenn Amias sein Studium beendet hätte, aber wir wollen auf ein edleres Wohl anstoßen, ein Wohl, dessen sie würdig ist. Er goß den goldenen Wein in sein Glas und ein wenig in die andern beiden, dann richtete er sich auf und hielt sein Glas hoch, so daß das Sonnenlicht wie ein großes Juwel darin funkelte. »Wir wollen auf Seine Höchst Glorreiche Majestät König Charles trinken - auf Erfolg im Kampf und den Untergang seiner Feinde.« Amias trat freudig vor, um sein Glas zu ergreifen, aber Simon rührte sich nicht. Er hatte sich die ganze Zeit vollkommen ruhig verhalten. Er starrte auf den Tisch, die Hände steif an seiner Seite, und er fühlte eine kalte Leere in sich aufsteigen. »Oh, wach auf, Simon«, sagte Amias, der mit erhobenem Glas dastand, die Wangen gerötet und die lohfarbenen Augen vor Eifer leuchtend. Simon hob langsam den Kopf und sah den Doktor an. Er sagte: »Ich will nicht auf den Erfolg des Königs trinken.« Eine lange, bleierne Stille schien fort und fort zu dauern. Er 35

sah, wie sich in den Gesichtern der beiden anderen Ungläubigkeit in zorniges Erstaunen umwandelte, als sie ihn anstarrten. Und er starrte zurück, den Kopf aufgerichtet und mit festem Blick. Aber die kalte Leere in ihm wurde größer und größer, und es schien ihm, als sei das Gold des Augustnachmittages erloschen wie ein schimmernder Dunst. »Du meine Güte! Was ist das für ein Blödsinn?« murmelte Doktor Hannaford schließlich. Simon sagte: »Mein Vater glaubt, der König ruiniert England mit seinen Schottenkriegen und seinen ausländischen Bündnissen - seinen Kriegen, die er immer verliert, weil er seinen Günstlingen das Kommando übergibt, ganz gleich, ob sie etwas vom Kriegführen verstehen oder nicht.« Doktor Hannafords buschige Augenbrauen zogen sich zusammen, und er trommelte mit seinen Fingern auf einer Stuhllehne. »Wenn das Parlament dem König stets die Hände bindet, indem es ihm das Geld verweigert, das er für seine Kriege braucht, wie kann er sie da gewinnen?« fragte er. »Mein Vater meint, daß das Parlament den König nur dadurch vor dem Ruin bewahren kann, daß es ihm das Geld sperrt«, entgegnete Simon, »und mein Vater sagt, wenn der König nicht klüger wird, wenn man ihn nicht Besseres lehrt, dann wird es in England bald keine Freiheit mehr geben, denn er wird von Jahr zu Jahr tyrannischer.« »Er ist der König«, sagte Doktor Hannaford. »Er hat das göttliche Recht!« »Mein Vater sagt, das gibt es nicht. Es gibt nur ein Gesetz über Recht und Unrecht für alle, und das gilt ebenso für den König. Und das glaube ich auch.« Da brach es aus Amias hervor, der so tief verletzt und erstaunt war, daß er stotterte. »Aber Simon, du kannst doch nicht glauben - Simon, verstehst du denn nicht? Ich bin für den König!« 36

Simon wandte den Kopf, als sei sein Hals steif, und sah ihn an. Immer, seit sie drei Jahre alt gewesen waren und der Doktor seinen kleinen Sohn auf dem Sattelbogen mitgebracht hatte, wenn er jemand in Lovacott behandelte, immer waren sie zu zweit gewesen: Amias ging voran, und Simon folgte. Aber nun war das vorbei. Es konnte niemals wieder so werden. Es war schwer zu zerbrechen, was aus dem gemeinsamen Lebensweg nicht fortzudenken war, aber man mußte es tun. »Du kannst sein, für wen du willst«, sagte er. »Ich bin für das Parlament wie mein Vater«, und er beobachtete, wie sich plötzlich die Verwirrung in Amias' Augen in Verachtung wandelte. »Ich gehe jetzt«, sagte Simon. »Ich muß nach Hause und meinem Vater Bescheid sagen, weil er in der Landwehr ist.« Doktor Hannaford war nicht mehr zornig, sondern nur noch unendlich besorgt und traurig. »Simon, ich ahnte nicht im geringsten, daß es so wäre. Ich weiß natürlich, daß dein Vater diese - diese Ideen hat, aber ich kann es kaum fassen, daß er sich ernstlich gegen seinen König auflehnen würde. Bist du wirklich ganz sicher?« »Ja, und wenn er es nicht täte, dann täte ich es.« »Dann habe ich nichts mehr zu sagen. Leb wohl, Simon.« »Leben Sie wohl, Sir.« Simon wandte sich Amias zu und streckte ihm die Hand hin - aber der setzte sein Glas hin und hielt beide Hände auf dem Rücken. »Einem Feind des Königs gebe ich nicht die Hand«, sagte er, so kühl und zurückhaltend wie ein Veteran des Königs. Simons Hand fiel herunter, und er wurde sehr blaß. »Danke, daß du mich erinnerst«, sagte er, jeder Zoll so kühl wie Amias. »Ich gebe keinem die Hand, der...«, er brach ab, wandte sich auf den Hacken um und schritt so hochmütig aus der Tür, als ginge er direkt zur Hinrichtung. Hinter ihm seufzte Doktor Hannaford und blickte auf den Rücken seines Sohnes, der sich abgewandt hatte und mit 37

gebeugten Schultern hinausschaute in den brennenden Augustabend. Simon ging in den Stall. Jem, des Doktors Knecht, war nicht da, und er war froh, denn er mochte jetzt mit keinem Menschen sprechen. Er sattelte und zäumte sein Pony, führte es hinaus auf die Straße, stieg auf und ritt heimwärts. Er vermied den Marktplatz, wo ganz Torrington versammelt sein würde. Er konnte den Aufruhr hören, als er das Pony in eine Seitengasse lenkte, und schlug den kürzeren Weg in die Calf Street ein, wo weniger Leute waren. Aber sogar dort drängten die Menschen sich hin und her, laut redend und mit eifrigen oder erschreckten, ernsten oder unbekümmerten Gesichtern, je nach ihrer Gesinnung. Sie lasen die neu angeschlagenen Zettel, auf denen die Einberufung der Landwehr stand. Er drängte sich mit dem Pony langsam durch die Menge und kam schließlich dicht bei den verfallenen Häusern von Goosy Green heraus, wo die Straße sich gabelte. Die eine folgte dem Höhenzug des Moores nach Barnstaple, die andere führte dicht an Stevenstone, dem größten Haus des Distrikts, vorüber. Beide Wege führten für ihn nach Hause, aber gewöhnlich wählte Simon den Höhenweg, weil er die Hochmoore liebte. Er ritt ihn auch jetzt, aber er wußte nicht, wo er ritt, und er preßte seine Hacken gegen die Flanken des Ponys, um es zum Galopp anzutreiben. Er wollte reiten wie der Wind. Er wollte den Hufdonner und den Wind vo n seinem Ritt in den Ohren sausen hören. Er wollte Schnelligkeit und Lärm und Rufen in die Ferne, um das Elend in seinem Innern zu ertränken, aber das dicke alte Pony weigerte sich, schneller zu laufen, und sehr bald fiel es in seinen gewöhnlichen Trott zurück, so sehr er es auch antrieb. So ritt Simon nach Hause und vergaß zum ersten Male in seinem Leben, den weiten Blick über die Bidefordbucht zu genießen, der sich ihm öffnete, ehe der Kapellenweg nach Heronscombe hinunter abbog. Als er an ›Salutation‹ vorbeiritt, warf Scharlach, der dort 38

graste, den Kopf hoch, kam im Galopp heran und wieherte. Scharlach war jetzt rot wie ein Fuchs, voll freudigen Feuers von seiner kleinen Jährlingsmähne bis zum fedrigen Schwung seines Schwanzes. Aber Simon ritt achtlos vorüber, und Scharlach, der es gewohnt war, daß man ihn sonst bei jeder Gelegenheit liebkoste und mit ihm sprach, streckte entrüstet seinen Kopf über das Tor und starrte ihm nach wie ein verwöhntes Kind, das ohne Grund zurechtgewiesen wurde. Ein paar Schritte weiter traf Simon zwei Landleute, die den Fahrweg herunterkamen, jeder mit einem Bündel von Ausrüstungsgegenständen. Offenbar war die Nachricht vor ihm angekommen, und die Landwehrleute rüsteten sich schon aus dem Waffenlager von Lovacott. Sie boten ihm einen guten Abend, und er erwiderte ihren Gruß, aber als er fort war, drehten sich die beiden um und sahen ihm nach. »Der Herr sieht ein bißchen weiß um die Nase aus«, sagte der eine. »Er hat wohl einen Schreck gekriegt.« Aber der andere schüttelte den Kopf. »Er sah mir mehr so aus, als wäre ihm etwas auf den Magen geschlagen. Die Stillen, das sind die schlimmsten, wenn sie gereizt werden.« Die Hunde bellten wie gewöhnlich, als er durch das Torhaus geritten kam, und als er abstieg, kam Maus herausgestürzt, das Gesicht weiß und erschrocken. »Vater erwartet dich im Wohnzimmer«, sagte sie. »O Simon, Vater geht noch heute abend fort, um gegen den König zu kämpfen!« »Ich weiß. Sag Tom, er soll ›Captain‹ trockenreiben, ja?« Simon warf die Zügel des Ponys über den Haltepfahl und ging hinein, um mit seinem Vater zu sprechen. Mr. Carey stand vor dem ausgebrannten Kamin, und die beiden Hunde sprangen an ihm hoch und beschnüffelten ihn unglücklich. Er befestigte gerade den Riemen an seinem Helm und wandte sich hastig um, als der Junge eintrat. Der ganze Raum lag zwischen ihnen, als er ihn anschaute. Simon hatte seinen Vater oft in voller Rüstung 39

gesehen, wenn er sich für die monatlichen Übungen fertigmachte; aber als er auf der Schwelle anhielt, war ihm, als erblickte er einen Fremden: denn das Gesicht im Schatten des Helmes war finsterer, als er das Gesicht seines Vaters je gesehen hatte. »Simon, du weißt wohl, daß wir Krieg haben?« Simon nickte. »Ja, Vater, ganz Torrington redet davon, daß der König in Nottingham den Krieg begonnen hat.« »Und der Wind hat es noch in derselben Nacht hergetragen«, fügte sein Vater schnell hinzu. »Ich gehe noch heute abend zu meiner Kompanie.« Simon trat einen Schritt vor und flehte mit heftigem Verlangen. »Nimm mich mit, Vater! Ich bin sehr stark und könnte leicht für fünfzehn gelten.« Sein Vater schüttelte den Kopf. »Das ist keine Arbeit für Schuljungen.« »Aber ich kann schießen, und ich kann besser mit einem Pferd umgehen als mancher, der älter ist als ich«, protestierte Simon. »Ich weiß, daß du das kannst; aber ich nehme dich auf keinen Fall mit«, sagte John Carey. Dann verlor sein Gesicht etwas von seinem düsteren Ausdruck. »Komm her!« Simon kam, und sein Vater legte ihm beide Hände auf die Schultern und sah auf ihn nieder. »Hör zu, Simon - denn ich weiß nicht, wann ich dich wiedersehe, und darum mußt du dir gut merken, was ich dir jetzt sage. Ich habe Diggory beauftragt, daß er die Wirtschaft weiterführen soll, und deine Mutter sorgt für das Haus. Und ich möchte, daß du im nächsten Schuljahr wieder zu Blundell zurückgehst wie gewöhnlich, wenn nicht der Krieg dich daran hindert. Niemand weiß, was geschehen wird. Es ist, als zünde man in einem trockenen Jahr ein Stoppelfeld an. Wenn es im Lande zu unruhig wird, kannst du vielleicht nicht 40

durchkommen. Aber du bleibst so lange wie möglich auf der Schule. Hast du verstanden?« »Ja, Vater.« »Wenn ich fallen sollte, bist du der Herr auf Lovacott. Sorge für deine Mutter und für deine Schwester, und denk daran, daß du Leuten wie Diggory und Tom nichts zu sagen brauchst. Behandle sie immer gerecht, und sie werden auch dir gegenüber gerecht sein. Und sei niemals zu stolz, einen Rat anzunehmen. Diggory wußte schon, wie man dieses Land bestellt, bevor ich Hosen trug.« Wieder nickte Simon, aber er sagte kein Wort. »Vergiß nie das Familiengebet, und scheue dich niemals, für das einzutreten, was du für das Rechte hältst. Und was immer du tust, wenn du Gelegenheit hast, ein Kalb zu kaufen, dann denk daran, daß bei einem guten Rot-Devon die Beine weit auseinanderstehen müssen! Es wird hineinwachsen, aber ein Kalb mit eng aneinanderliegenden Beinen wird ein schäbiges kleines Tier, wenn es heranwächst.« »Ich werde daran denken«, sagte Simon. »Gut. Das ist alles - nur, noch eines, wenn der Krieg an deinem sechzehnten Geburtstag noch nicht vorüber ist...« »Ja, Vater?« unterbrach ihn Simon. »Nimm Scharlach und komm zur Armee des Parlaments.« Mr. Carey nahm die Hände von den Schultern seines Sohnes und hob das schwere Kavallerieschwert auf, das auf dem Tisch gelegen hatte. »Hoffentlich ist der Krieg dann noch nicht vorbei«, sagte Simon ungestüm. »Darf ich dir dein Schwert anlegen?« Er nahm es seinem Vater ab und begann, die schweren Schnallen zu befestigen, wie er es vorher schon so oft getan hatte. Seines Vaters Stimme ließ ihn einhalten und aufblicken. »Simon, bist du mit Amias auseinandergekommen?« 41

Simon murmelte etwas Unverständliches. Seine Finger waren noch mit den Schnallen beschäftigt, aber seine von Kummer glänzenden Augen waren auf das lange silberbeschlagene Rapier gerichtet, das an seinen Bändern über dem Kamin hing. Einmal hatte dort ein Paar Rapiere gehangen, denn sein Großvater war ein Doppelschwertmann gewesen, wie es vor vierzig Jahren Sitte gewesen war, und er hatte seine Zwillingsklingen Balin und Balan in einer Doppelscheide getragen. Aber als Doktor Hannaford nach Padua auf die Universität ging und zum erstenmal ein Schwert brauchte, hatte er ihm Balin geschenkt, und seitdem hing Balan einsam über dem Kamin. Doktor Hannaford hatte sein Schwert Amias versprochen, wenn er alt genug wäre, Waffen zu tragen. Simon fragte sich, ob er wohl warten mußte, bis er sechzehn war. Balan gehörte Simon schon. Es hatte ihm gehört, seit sein Großvater es ihm überlassen hatte, und solange er denken konnte, hatte er es dort hängen sehen, eines der vertrauten Familienstücke. Jetzt, ganz plötzlich, schien es ihm, als sei das lange Schwert in seiner Doppelscheide sehr einsam. »Sohn gegen Vater, Bruder gegen Bruder, Freund gegen Freund«, sagte John Carey, als er die Riemen prüfte. »Bürgerkrieg ist etwas Furchtbares. Hoffe nicht darauf, daß er andauert, Simon.« Die Hunde folgten ihnen, als sie zusammen in die lange Halle hinausgingen, wo das volle Sonnenlicht des Augustabends schräg durch die Fenster fiel und in goldenen Pfützen auf dem steingepflasterten Boden lag und wo die Reste vom Abendbrot noch auf dem Tisch standen. Simons Mutter kam mit den Mägden und Maus im gleichen Augenblick aus der Küche herein und brachte das Paket mit der Verpflegung für zehn Tage, das Weizenzwieback und festen gelben Käse enthielt und das alle Ränge der Landwehr bei der Musterung mit sich führen mußten. »Anne«, sagte Simons Vater, »hast du das Paket 42

fertiggemacht? Es wird Zeit, daß ich gehe.« »Alles ist fertig, John.« Simons Mutter legte es auf die Truhe neben der offenen Eingangstür und wandte sich ihm zu, als er durch die Halle auf sie zukam. Maus weinte leise und voll Angst, auch die beiden Mädchen und die alte Phoebe Honeychurch schluchzten. Aber Simons Mutter lächelte wenigstens lächelte ihr Mund. »Du wirst in Torrington sein, bevor es ganz dunkel ist. Ich habe dir drei saubere Hemden eingepackt. Du wirst damit auskommen, bis wir etwas verabreden können.« Aber als Simons Vater sie beim Abschied umarmte, klammerte sie sich verzweifelt an ihn und preßte ihre Wange gegen den geschwärzten Stahl seines Harnischs. »O John, John, kommst du bald wieder nach Hause?« »Wie Gott es will«, sagte John Carey. »Bewahr dir ein tapferes Herz, liebe Frau.« Er schob sie von sich, schwang den Packen über die Schulter und ging hinaus zu seinem Pferd, das Diggory im Hof auf und ab führte. Er sprach mit dem alten Mann, hielt einen Augenblick inne, um die Sattelgurte zu prüfen und um sich zu vergewissern, daß seine langen Reiterpistolen sicher in den Pistolenhalftern saßen, und schwang sich dann in den Sattel. Die anderen drängten sich um ihn. Maus stand an seinem Steigbügel, ihr kleines, tränenbeflecktes Gesicht zu ihm erhoben. Simon streichelte den blanken Hals des Braunen.» »Leb wohl, Marjory. Sei ein gutes Mädchen, wenn ich weg bin«, sagte Mr. Carey. »Leb wohl, Simon. Tretet beide zurück nein, kommt nicht mit bis in die Allee.« Über ihre Köpfe hinweg blickte er einen Augenblick auf Simons Mutter, dann wandte er sein Pferd zum Torhaus. Die kleine Gruppe im Torbogen des Hofes horchte auf die Hufschläge, die im Fahrweg schwächer und schwächer wurden. Simon fühlte sich viel älter als am Morgen beim Aufstehen. In den letzten paar Stunden hatte er mit Amias gebrochen, und er war einsam, so verzweifelt einsam, wie er es nie zuvor gewesen war. Nun war sein Vater fortgeritten, um für die Sache zu 43

kämpfen, die er für die gerechte hielt. Das Gewicht der Verantwortung für Lovacott und seine Frauen und Mädchen lastete schwer auf seinen Schultern. Der Hall der Hufschläge war nun ve rklungen, und die aufgeschreckten Tauben flatterten auf den Hof zurück. Eine landete auf kleinen rosa Füßen dicht neben dem Türsims. Simons Mutter ging ins Haus und sah fast so aus wie immer. »Simon, hast du dein Abendbrot gegessen?« fragte sie. Simon schü ttelte den Kopf. Er hatte das Abendbrot vergessen. »Oh, mein Lieber, du mußt aber hungrig sein - komm jetzt schnell und iß. Maus, Liebling, weine nicht so; du wirst nur krank davon - das weißt du doch.« Sie wandte sich zu den verstörten Mägden und scheucht e sie vor sich her. »Lauf zu, Meg, lauf nun zu, Polly. Habt ihr nichts zu nähen oder zu spinnen?« Kriege konnten kommen, die Himmel konnten einstürzen, aber Simons Mutter würde dafür sorgen, daß ihr Mann saubere Hemden hatte, ihre Familie etwas zu essen bekam und die Mägde nicht faul waren.

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Reiter aus dem Westen

Simon lehnte sich gegen die rauhe Steinmauer der Schmiede und blickte müßig über die hügelige Feldecke, um die sich die Straße wie ein Hufeisen wand, hinüber zur Kirche und den zerstreut liegenden Häusern von Klein- Torrington. Er war wegen eines Wurfes Ferkel bei Matthew Weeks gewesen und hatte gehofft, bei Anbruch der Dämmerung zu Hause zu sein; aber als er knapp eine Meile des Heimwegs zurückgelegt hatte, hatte Scharlach ein Hufeisen verloren, und er mußte umkehren, um ihn beschlagen zu lassen. Das war ärgerlich, aber nicht zu ändern, und so wartete er geduldig. Das Dorf sah in der Stille des frühen Herbstes 1644 sehr friedlich aus, so daß man kaum glauben konnte, daß England schon über zwei Jahre im Bürgerkrieg war. Die Schlachten von Edgehill und Newbury gehörten ebenso der Vergangenheit an wie eine Reihe von kleineren Gefechten. Die Parlamentspartei hatte vor zwei Monaten bei Marston Moor gesiegt, und der Herzog von Essex hatte, als er den Süden überrannte, den königlichen General, Sir Ralph Hopton, nach Cornwall zurückgetrieben. Anführer erhoben sich aus dem Chaos, deren Namen überall umliefen, Prinz Rupert und sein Bruder Maurice, Hopton und Astley für den König. Und für das Parlament Fairfax und Waller und ein gewisser ostenglischer Landedelmann Oliver Cromwell, der seine eigenen Ideen darüber hatte, wie man Armeen aushebt. Das ganze Land war in Aufruhr und dennoch ging immer, während die Armeen das Land durchzogen, das normale Leben des einfachen Volkes weiter. Wolle wurde gewebt, Erz gewonnen, die Ernten wurden eingebracht, die Felder für die Wintersaat gepflügt, Menschen wurden geboren, heirateten oder starben, und Sonntagsessen wurden gekocht. 45

In Klein-Torrington spielten Kinder zwischen den Häusern, und es gab Herbstmaßliebchen und eine goldene Flut von Kressen und Astern in den kleinen Gärten. Zwei Frauen standen in ihren Haustüren und sprachen über das schamlose Benehmen von irgend jemand. Simon hörte ihre Stimmen klar über die Feldecke. Ein mageres Schwein wühlte zufrieden in den gelben Kohlblättern auf einem Abfallhaufen, und auf dem braunen Hügel jenseits der Kirche pflügte ein Mann, eine schreiende Wolke von Möwen umkreiste ihn. Als er dort lehnte, den schnellen Klang des Schmiedehammers in den Ohren, die Augen auf das ferne Pfluggespann gerichtet, merkte Simon, wie seine Gedanken über die letzten zwei Jahre zurückwanderten. Während der ersten paar Monate war sein Vater in der Garnison von Barnstaple gewesen und hatte unter Oberst Chudleigh gedient, der das Fort von Bideford baute - denn auch Nord-Devon hatte von Anfang an seine Führer gehabt. James Chudleigh hatte seine Männer von Sieg zu Sieg geführt, bis sein Name einen Klang bekam, der beinah magisch war. Simon hatte ihn einmal vorbeireiten sehen, einen jungen Mann, der lustig in den Märzwind hinauslachte, und er verstand, daß seine Männer ihm folgten wie einer wegweisenden Flamme. Dann war der Tag gekommen, an dem die Garnisonstruppen von drei Städten ausmarschiert waren, um Hoptons Vo rmarsch von Launceston her aufzuhalten; denn Cornwall hatte sich ebenso einmütig für den König erhoben wie Devon für das Parlament. Sie waren geschlagen worden, und mit der Unglücksbotschaft, die nach Devon durchsickerte, war die fast unglaubliche Nachricht gekommen, daß James Chudleigh, der von des Königs Leuten gefangengenommen worden war, um der Freiheit und einer Oberstenstelle in der Königlichen Armee willen seinen Mantel nach dem Winde gehängt hatte! Die helle Flamme war also doch nur ein Strohfeuer gewesen. Und als sie erlosch, wurde den Männern, die ihr gefolgt waren, ein Stück von ihrem Herzen gerissen. 46

Ein paar Wochen später, nachdem Bideford und Torrington gefallen waren und Barnstaple sich ohne Kampf ergeben hatte, blieb dem Parlament nur noch Plymouth im Westen des Landes. Prinz Maurice hatte Barnstaple besetzt, und die Landwehr und die Truppen in der Stadt waren aufgelöst worden. Simons Vater war in blankem Zorn gegen Oberst Chudleigh heimgekommen. Simon erinnerte sich: An einem Abend hatte es eine wundervolle Kirschtorte gegeben - seine Mutter war wegen ihrer Kirschtorten berühmt -, da hatte sich die Tür geöffnet, und als sie aufblickten, stand er in der Tür. Er war hereingekommen und hatte seinen Platz am Tisch eingenommen, aber keine Kirschtorte essen können. Sie hatten ihn nicht zu fragen gewagt, was geschehen sei. Sie hatten nicht gewagt, ihn zu trösten, und am anderen Morgen war er fortgeritten, um zu Essex' Armee in der heimatlichen Grafschaft zu stoßen. Seitdem hatten sie ihn nicht wieder gesehen, obwohl sie von Zeit zu Zeit von ihm hörten. Barnstaple war seit gut einem Monat wieder in den Händen der Parlamentstruppen, aber er würde wohl trotzdem nicht nach Hause kommen, denn er diente jetzt im Norden in Lord Levens Armee, in die er nach der Schlacht von Marston Moor irgendwie gekommen war. Und Simon selber? Er hatte dem Befehl seines Vaters gehorcht und war solange wie möglich auf der Schule geblieben. Amias auch. Aber sie waren die Tivertonstraße nicht mehr zusammen entlanggeritten, noch hatten sie dieselbe Schulbank geteilt oder miteinander gesprochen, wenn sie sich trafen. Dann hatte Prinz Maurice im letzten April Männer gebraucht, alle Männer, die er auftreiben konnte, um Lyme anzugreifen. Die Nachricht war an einem Markttag nach Tiverton gekommen, und Amias war dem Aufruf gefolgt. Er war nicht bei Nacht weggelaufen, das war nicht seine Art. Während der Mittagspause war er einfach fortgegangen. Er war in die Einfahrt gelaufen und hatte mit flackernden Augen dem vollen Schulhof zugewinkt. »Ich bin kein tintenbeschmierter 47

Schuljunge mehr! Ich will zum Prinzen.« Dann war er in der Menge, die sich auf dem Markt drängte, verschwunden, ehe jemand wußte, was er eigentlich wollte. Außer daß er Balin von seinem Vater gefordert hatte - Simon wußte das von Tomasine, die immer noch seine Freundin war, wenn sie sich zufällig trafen -, hatte man nichts wieder von ihm gehört. Mit einem Ruck drehte Simon sich um und ging in die Schmiede, wo der Schmied, mit Scharlachs Huf zwischen seinen Knien, eben die le tzten Griffe an dem neuen Eisen tat. Er sah auf, als Simon eintrat, und wendete sich wieder seiner Arbeit zu, während Scharlach ihm den Nacken beschnupperte. »So, mein Schönes«, sagte er einen Augenblick darauf und öffnete die Knie, so daß der runde Huf la ut auf das Kopfsteinpflaster schlug. »Ein sehr feines Pferd, junger Herr. Man kann kaum glauben, daß es erst frisch zugeritten ist. Steht wahrhaftig so still wie ein Christenmensch, wenn es beschlagen wird! - Das macht Sixpence, aber wenn Sie nichts bei sich haben, bringen Sie sie ein andermal vorbei.« »Ich hab sie.« Simon langte in die Innentasche seines Wamses, während Scharlach hoffnungsvoll die Nase hinstreckte und mit sanften Lippen schmeichelte. »Nein, du Narr, das ist kein Zucker.« »Kommt Mr. Carey nun zurück, wo Barnstaple wieder den Parlamentstruppen gehört?« fragte der Schmied. »Ich glaube nicht. Er scheint ein für allemal bei Lord Levens Truppe zu sein.« Simon holte die sechs Pennies hervor und legte sie in die rußige Hand, die sich danach ausstreckte. »Meine Nichte heiratet einen aus der Truppe des Obersten Lutterei, der den Aufstand führte und die Kavaliere rausgeschmissen hat. Das war eine tolle Sache, sagen sie.« »Das war es!« stimmte Simon zu. »Sieht nicht so aus, als ob der Krieg bald zu Ende ist.« »Wenn er zu Neujahr nicht aus ist, gehe ich zur Armee«, sagte 48

Simon und drehte sich um, um Scharlach von dem Ring an der Wand loszubinden, an dem der Zügel befestigt war. Er hatte die Hand schon am Zaum, als sich über dem Sausen des Schmiedefeuers ein ferner Aufruhr erhob, ein wirres Getöse von Stimmen und vom Trommeln von Pferdehufen, dem ein scharfer Knall wie von einem brechenden Zweig folgte. Simon ließ die Hand wieder vom Zaum herunterfallen und ging langsam zum Eingang zurück. Ein leichter Rege nschauer schlug ihm ins Gesicht, als er um die Mauer der Schmiede bog, so daß er blinzeln mußte. Als er wieder klar sehen konnte, war der erste von einer Reitergruppe über dem Hügelkamm zu seiner Linken erschienen, und sie ritten wie der Teufel auf das Dorf zu. Offenbar wurden sie verfolgt. Der Frieden der Szene war mit einem Schlage fortgeblasen, Kinder rannten schreiend in ihre Häuser, ein schnüffelndes Schwein verschwand im Galopp. Irgendwo hinter den Reitern ertönte wieder jener scharfe Knall wie von einem brechenden Zweig. Dann brach die erste Welle von Reitern in Harnisch und Eisen aus der Allee hervor und strebte auf die Kirche zu. Sie zogen sich auf dem hügeligen Gelände so weit auseinander, daß die Pferde auf seiner Seite im Abstand von wenigen Metern an Simon vorbeistürmten. »Meine Güte! Was ist los?« rief der Schmied, der um die Schmiede herumkam und sich zu ihm stellte. »Ein Rückzugsgefecht, wie es scheint«, entgegnete Simon. Die Pferde stürmten vorbei mit wilden Augen und bebenden Flanken. Ihre Reiter duckten sich eng an die Sättel in einem Strudel von fliegendem Matsch, wehenden Mähnen und trommelnden Hufen. »Sieht aus, als ob sie im Kirchhof haltmachen wollten«, meinte Simon. Welle auf Welle verzweifelter Reiter trommelte die Allee herauf, und über die Felder und in der Ferne über dem Hügelkamm konnte Simon den Vortrupp der Verfolger 49

erkennen. Als der letzte Haufen der fliehenden Reiter an der Schmiede vorüberjagte, tönte der Knall einer Reiterpistole durch den Tumult, und einer von ihnen zuckte in seinem Sattel zusammen, schwankte und stürzte hinunter in das zertrampelte Gras, während sein Pferd ohne Reiter weitergaloppierte. »Achtung! Er wird niedergetrampelt!« Simon sprang vor, den verfolgenden Reitern in den Weg. Ein erhobener Kopf mit wilden Augen und einer welligen Mähne löschte den Himmel aus, und der Donner von Hufen verwirrte und betäubte ihn, als er den gestürzten Mann herauszog. Und im nächsten Augenblick strömte die erste Welle der Verfolger vorbei. »Hilf mir«, rief er dem Schmied zu, und sie hoben den Flüchtigen zusammen auf, trugen ihn in die Schmiede hinein und legten ihn auf einen freien Platz neben dem Amboß. Scharlach schnaubte und zitterte, aber Simon hatte jetzt keine Zeit, ihn zu beruhigen. »Ist er ein Parlamentsmann?« fragte der Schmied, Mißtrauen in der groben Stimme, die gegen den Lärm der Jagd ertönte, die draußen vorbeidonnerte und sich auf die verzweifelten Verteidiger des Kirchhofs warf. Simon hatte sich neben dem Mann niedergekniet und öffnete den abgetragenen Ledermantel, um die Wunde freizumachen. »Ich weiß nicht«, sagte er. »Ich glaube.« Es war ihm nicht in den Sinn gekommen, darüber nachzudenken, ob der Mann Freund oder Feind war. Er hatte nur gesehen, daß er in Gefahr schwebte, niedergetrampelt zu werden, und danach hatte er gehandelt. Gewiß war das Haar lang, das sich wild über der Stirn lockte, und der einfache Leinenkragen, der aus dem Ledermantel hervorsah, war mit feiner Spitze verziert, aber Simon hatte schon manchesmal ebenso langes Haar und ebenso feine Spitzen bei einem Parlamentsoffizier gesehen. Übrigens meinte er, daß er bei dem flüchtigen Blick, den er auf die verfolgende Standarte geworfen hatte, das Wappen von Sir Francis Storrington erkannt habe, einem Royalisten durch und 50

durch. Es war eine oberflächliche Wunde, obwohl sie tüchtig blutete, und der Mann, der nach der Beule auf seiner Schläfe zu urteilen eher von seinem Fall als von der Kugel ohnmächtig war, begann sich schon wieder zu regen. Simon zog das befleckte Hemd zurück und sah zu dem Schmied auf. »Die Kugel ist nicht mehr drin, glaube ich.« Der Schmied beugte sich vor und sah nach, dann schüttelte er den Kopf. »Ist nur eine offene Wunde; verbinde ihn - wenn du meinst, daß er ein Parlamentsmann ist.« Die Augen des Verwundeten öffneten sich plötzlich, dumpfe Verwirrung war in ihnen, und mit einem wilden Schrei versuchte er, sich hochzukämpfen. Simon drängte ihn zurück. »Halten Sie still, bis ich Ihre Wunde verbunden habe; Sie bluten wie ein abgestochenes Schwein.« »Was ich frage, ist«, drängte der Schmied hartnäckig, »sind Sie ein Parlamentsmann oder nicht?« Der verwundete Mann warf einen kurzen Blick auf ihn, dann, als er die Frage begriff, sagte er leise, aber mit äußerster Klarheit: »Sie quatschender, krummbeiniger Idiot, natürlich bin ich ein Parlamentsmann«, und schloß die Augen. Aber eine Weile später, als sein Kopf klarer wurde, versuchte er wieder aufzustehen. »Was ist passiert? Ich muß zu den andern, ich...« »Sie haben einen Schuß abbekommen«, erzählte Simon ihm und riß sein eigenes, ziemlich schmutziges Taschentuch in Streifen. »Sie fielen gerade hier herunter. Es wird Ihnen wieder gutgehen, wenn ich Sie verbunden habe.« Der andere stieß einen Seufzer aus, der eher nach einer lästigen Erinnerung als nach Schmerz klang, und rieb sich mit seinem Handrücken über die Stirn. Simon sah nun, daß er jung war, nicht mehr als zwei- oder dreiundzwanzig, und daß er ein rundes, sommersprossiges Gesicht und eine Stupsnase hatte. »Um Gottes willen, beeilen Sie sich! Was ist aus dem Rest der 51

Kavallerie geworden?« »Sie machen drüben bei der Kirche halt. Wenn Sie nicht aufhören, herumzurutschen, wie soll ich dann die Wunde verbinden?« »Oh, ich verfluche sie. Was ist da draußen los?« Der junge Mann hatte sich mühsam auf einen Ellenbogen gestützt und blickte gebannt auf die Tür. Simon sah zum Schmied auf und warf seinen Kopf in die gleiche Richtung. Der Schmied wandte sich langsam um und verschwand. Nach einem Augenblick kam er grinsend zurück. »Ein Mordslärm«, berichtete er. »Sie schießen jetzt vom Kirchturm. Es sie ht so aus, als ob sie sich siegreich behaupten, sag ich.« Der junge Mann legte sich bei diesen Worten erleichtert wieder hin, und Simon konnte seine Arbeit fortsetzen. Als er die erste Binde strammzog, zuckte sein Patient heftig zusammen und entschuldigte sich. »Tut mir leid. Ich bin fast am Ende meiner Kraft. Wir alle. Es ist ein langer Weg von Lostwithiel.« »Lostwithiel?« »Oh, natürlich, Sie wissen noch nichts; aber Sie werden es bald genug hören. Wir wurden bei Lostwithiel geschlagen.« Der Schmied beugte sich vor und schaute ihn an. »Was ist geschehen?« fragte er. »Erzählen Sie uns bitte, was geschah, bei meiner Seele.« »Goring und Grenville machten plötzlich einen Vorstoß quer durch unsere Nachhut und - hatten uns in der Falle«, sagte der junge Mann undeutlich. »Essex kam davon - ich glaube, daß er davonkam -, aber die Infanterie nicht, und der arme alte Daddy Skippon blieb zurück und mußte den ganzen Trupp übergeben.« Er lachte düster. »Wir kamen nur raus, weil Lord Goring betrunken war, so fürchterlich betrunken, daß er uns nicht aufhalten konnte.« 52

Mitten in dem Tumult des Gefechtes draußen war das plötzliche Schweigen in der Schmiede wie eine Blase aus völliger Stille, die nur von Scharlachs nervöser Unruhe unterbrochen wurde. »Dann - meinen Sie, daß der Krieg aus ist daß wir geschlagen sind?« fragte Simon. »Nein, noch lange nicht! Die Königlichen müssen unsere Fußtruppen durchmarschieren lassen - sicheres Geleit zurück nach Plymouth oder Portsmouth, wenn sie sie entwaffnet haben. Sie können nicht fünftausend Gefangene ernähren, und sogar der Schuft Grenville kann nicht so viele hängen - dazu wären nicht Bäume genug in Cornwall. Daddy Skippon wird seine Truppen irgendwie in Sicherheit bringen. Und die ganze Reiterei kam davon - wenigstens, wenn es nicht dem Rest sogar besser gegangen ist als uns. Wir stießen auf ein verteufeltes Regiment von Königsleuten oben im Moor, ungefähr sechs Meilen von hier entfernt, und wir waren zu erledigt, als daß wir sie hätten schlagen können... Gehen Sie und sehen Sie nach, was draußen passiert.« Simon knotete den provisorischen Verband zu, stand auf, trat hinüber zum Eingang und ging herum zur Ecke der Schmiede, von wo er einen freien Blick auf die Kirche hatte. Die Wunde des verletzten Mannes zu versorgen, hatte länger gedauert, als ihm bewußt geworden war, und das Rückzugsgefecht war ein grimmiger und verzweifelter Kampf um den Kirchhof geworden. Die Königsleute schienen überall zu sein, sie drängten von allen Seiten gegen die Kirchhofmauer, hinter der die Verteidiger, einige zu Fuß, einige noch zu Pferd, hartnäckig um die behelfsmäßige Brustwehr kämpften. Einige Pferde waren an den dunklen Eibenbäumen dicht an der Kirche festgebunden und standen still, zu erschöpft, den Aufruhr um sie herum zu empfinden. Ein gelegentliche r Knall und eine Wolke von blauem Rauch aus den Glockenlöchern im Turm, der vom Septemberwind fortgeblasen wurde, zeigten an, wo ein Schütze auf dem Posten war, aber auf beiden Seiten ließ das Schießen 53

nach, hauptsächlich, vermutete Simon, aus Mangel an Pulver und Kugeln; und es schien, als solle der Kampf Mann gegen Mann mit dem Schwert beendet werden. Das rief er, so gut er konnte, dem verwundeten Mann zu. Und bald darauf zog der die Luft mit einem erregten Keuchen ein, als völlig unerwartet der Kampf von neuem aufflammte. Er konnte nicht sehen, was geschehen war, aber plötzlich schwenkten die Royalisten am Tor rückwärts. Sie sammelten sich wieder, drangen noch einmal ungestüm vor und zogen sich abermals zurück. Ein rauhes Hurra stieg aus dem Kirchhof auf, und die Verteidiger warfen sich auf die geschwächte Stelle. Das graue Licht glänzte auf vielen emporschießenden Klingen, und Simon hörte sich selbst gellend schreien, er wußte nicht, was - und neben ihm schrie noch jemand. Er sah sich um und erblickte den jungen Offizier, der sich an die rauhe Steinmauer klammerte und auf seinen Füßen schwankte. »Geschafft! Geschafft, bei Gott!« Auch an anderen Stellen rund um den Kirchhof herum wurden die Royalisten zurückgedrängt, und die Männer von Essex' Reiterei schwangen sich noch einmal in den Sattel. Für wenige wilde Minuten mit Angriff und Gegenangriff schien der Sieg in der Schwebe zu sein, dann brach ein neuer Schrei aus Simons Gefährten. »Sie laufen fort! Gottlob! Sie sind erledigt.« Es war wirklich wahr. Zurückgeschleudert von einer unbändigen, frohlockenden Welle aus dem Kirchhof fielen die Truppen des Königs übereinander und strömten in Verwirrung davon. Hinter ihnen ergossen sich die Männer aus Essex' Armee, sie schrien Hurra, als sie ihren müden Pferden die Sporen gaben. Was nun folgte, erschien Simon wie ein wüster Traum aus Männern und Matsch und Pferden und einer Menge einzelner Scharmützel, die durch das Dorf und über die Felder wirbelten und wogten, und aus einem Aufruhr, der in der Ferne schwächer und schwächer wurde, bis er sich ganz verlor. Er merkte, daß sein Gefährte ihn heftig an der Hand zerrte, sich plötzlich auf 54

einen Holzbalken setzte und davon still auf die Erde hinunterglitt, wo er in tiefer Ohnmacht liegenblieb. Simon brachte ihn mit Hilfe des Schmiedes wieder nach hinten, und in der Zwischenzeit war alles vorüber. Die Parlamentstruppen begannen sich wieder um die Kirche zu sammeln. Wie Mücken in dem ersten Sonnenschein nach einem, Sturm erschienen die Dorfbewohner vor ihren Häusern. Der junge Offizier rappelte sich hoch und verlangte nach seinem Helm, der noch an der Mauer der Schmiede lag, wohin er gefallen war. Simon brachte ihn, und er setzte ihn schwungvoll auf und machte sich auf, um ohne Aufhebens wieder zu seinen Kameraden zu gelangen. »Obwohl ich zugeben muß, daß ich noch ein bißchen schwächlich bin«, sagte er fröhlich und zickzackte wie eine Schnepfe in Richtung auf die Kirche zu. Simon erwischte ihn eben noch, als er kopfüber zu fallen drohte, und stützte ihn mit seinem Arm. »Sie haben einen ziemlichen Knacks am Kopf«, sagte er, »und wenn Sie so über Ihre Füße fallen, kriegen Sie noch einen.« Zusammen überquerten sie das freie Feld, wo gefallene Männer und Pferde auf dem welligen Gras oder zwischen den Herbstastern in den zerstörten kleinen Gärten lagen. »Da hinauf, zu der Tür - das ist Oberst Ireton«, wies ihn der andere, als sie die Kirche erreichten, und Simon gehorchte. Im Kirchhof lagen schon ziemlich viele Verwundete, und andere wurden von ihren Kameraden herbeigetragen. Niemand beachtete sie deshalb sonderlich, als sie den unebenen Pfad hinaufgingen. Eine Gruppe von Offizieren stand in der Westtür der Kirche beisammen. Sie unterhielten sich angelegentlich, und Simons Begleiter machte sich von seinem Arm frei, als er zu ihnen trat. Ein rotgesichtiger, hakennasiger Mann drehte sich schnell um und rief aus: »Colbourne! Ich dachte, Sie wären tot.« »Nein, Sir. Ich melde mich zum Dienst zurück«, antwortete der andere und lüftete seinen Helm zum Gruß. 55

Oberst Ireton nickte und wandte sich um, um einem grauhaarigen Korporal einen Befehl zu geben, während der junge Offizier sich dankbar auf einem Grabstein niederließ und einem vorbeikommenden Soldaten zurief: »Jenks, haben Sie vielleicht mein Pferd gesehen?« »Es ist an der Nordseite der Kirche angebunden, Sir«, sagte der Soldat und dann, als er Simon sah: »He, du! Komm und hilf hier mal.« Die Dämmerung fiel nun herein, und mit dem Essen und den sauberen Lappen, die der Oberst aus den Häusern erbeten hatte, brachten einige von den Dorfleuten Laternen, damit man die Verwundeten, die inzwischen fast alle in die Kirche gebracht worden waren, bei Licht versorgen konnte. Die Lichter hüpften zwischen den Grabsteinen und den dunklen Eibenbäumen herbei, sie verwandelten die scharlachfarbenen Eibenbeeren in zarte Juwelen, ließen den leisen Regen erglänzen und erfüllten die Kirche, als sie dorthin kamen, mit einem goldenen Glanz, der besser zu einem Fest als zu dem düsteren Dienst paßte, der dort verrichtet wurde. Simon arbeitete an diesem Abend hart für die Verwundeten beider Armeen, während draußen vor der Kirche, an der Tür der Sakristei und an den Fenstern Soldaten mit gezogenen Schwertern standen, in grimmiger Bereitschaft, einen Angriff abzuwehren. Aber kein Angriff kam. Offenbar hatten Sir Francis Storringtons Leute für heute genug. Das Essen war verteilt und aufgezehrt, die meisten Verwundeten waren versorgt. Und plötzlich, als Simon im Seitenschiff kniete und jemandem den Arm hielt, während ein anderer die Kugel entfernte, bemerkte er, daß der hakennasige Offizier neben ihm stand in ernsthaftem Gespräch mit einem jüngeren Mann. »Wenn wir Barnstaple erreichen, können wir frische Rationen und neue Pferde bekommen oder unsere wenigstens füttern, Richard.« Der andere zuckte die Schultern. »Und dann könnten wir über Exmoor weiterkommen. Ja, aber wie in Gottes Namen kommen 56

wir nach Barnstaple?« Oberst Ireton wandte sich den Dorfleuten zu, die noch an der Kirchentür herumlungerten. »Ist hier jemand, der uns nach Barnstaple führen kann und will?« Keine Antwort kam, und nach einer Weile begann er wieder. »Wir müssen Barnstaple noch vorm Morgengrauen erreichen. Kennt jemand von euch den Weg, oder weiß jemand, wer ihn kennt?« Ein langes Schweigen folgte, und dann schlug jemand vor: »Es wäre leicht genug, Herr, aber die Straße führt durch Torrington, und Torrington ist in den Händen der Kavaliere, verstehen Sie?« »Das weiß ich, Sie Narr!« Oberst Iretons Stimme war scharf. »Gerade weil Torrington in Feindeshand ist, brauche ich einen Führer quer über Land.« Wieder langes Schweigen. Die Dorfleute kamen nur selten weiter als ein paar Meilen über ihre eigenen Häuser hinaus; Torrington war ihre Marktstadt, und Barnstaple lag außerhalb ihres Gesichtskreises. Da erhob sich Simon langsam, als er seine Arbeit getan hatte. Er kannte die Straße nach Barnstaple, weil er sie mehrmals benutzt hatte, als sein Vater dort in Garnison lag und wenn der direkte Weg von Heronscombe durch die Frühjahrsregen unterbrochen war. Und mit Amias hatte er früher jeden Fußbreit Boden rund um Torrington herum erkundet. Er sagte: »Ich werde Sie führen. Wir können einen Bogen um Torrington machen und später wieder auf die Straße mit der Brücke kommen.« Oberst Ireton sah ihn beim Laternenlicht von oben bis unten an. »Du kennst den Weg bestimmt? Wir können es uns nicht leisten, in den Sumpf geführt zu werden.« »Ich kenne den Weg genau, Sir«, sagte Simon. Er sah, daß der Offizier sein Gesicht studierte, um sich zu vergewissern, ob er vertrauenswürdig sei, und er schaute ihn offen an. »Ich werde 57

Sie nicht in einen Sumpf führen - und nicht in eine Falle.« Um ihm einen Beweis seiner Aufrichtigkeit zu geben, fügte er hinzu: »Mein Vater war in der Garnison von Barnstaple bis zur Übergabe. Er ist jetzt bei Lord Leven und den Verbündeten.« »Gut«, sagte Oberst Ireton kurz. »Wir trauen dir.« »Ich gehe und hole mein Pferd aus der Schmiede, Sir.« Der andere nickte flüchtig und wandte sich um, um Anweisungen zu geben wegen der Unterbringung derjenigen Verwundeten, die zurückgelassen werden mußten, während Simon zur Schmiede zurückging. Vom Schmied war nichts zu sehen, aber Scharlach stand noch am Mauerring angebunden und begrüßte ihn mit lautem Wiehern, als er im Tor erschien. Das Pferd zitterte und schwitzte immer noch, seine Ohren waren gespitzt, das Weiße der Augen zeigte sich, Simon sprach mit ihm und strich ihm mit einer Hand wieder und wieder über die Stirn, während die andere das Kopfstück des Zaumes löste. Ein paar Minuten später war er wieder auf dem Kirchhof, er führte Scharlach und sprach ihm leise und ermutigend zu. Die Soldaten schwangen sich schon in den Sattel, der Befehl zum Abmarsch war gegeben, und noch bevor die Dämmerung gänzlich in freundliche Dunkelheit übergegangen war, fand Simon sich zu Pferd an der Seite von Oberst Ireton. Vor sich sahen sie, als sie durch das Kirchhofstor und die Dorfstraße hinunterritten, Gesichter, die im Lichtschein der offenen Türen nur undeutlich zu erkennen waren und die sich anstrengten, etwas von den Vorüberreitenden zu erblicken. Es waren fast sechshundert Mann hinter ihm, und er war dafür verantwortlich, daß sie sicher vor Morgengrauen nach Barnstaple kamen. Als er seine Füße in den Steigbügeln zurechtrückte und seinen Kopf in den leisen Regen beugte, war er von einer seltsamen, lebhaften Erregung erfüllt. Die Bewohner von Langtree wurden plötzlich aus dem Schlaf geschreckt, als sie Pferde durch die Dunkelheit trappeln hörten. Später wachte ein Müller auf, als er sie durch die Furt unterhalb 58

seiner Mühle platschen hörte. Er ging ans Fenster, konnte aber wegen der Dunkelheit und des fallenden Regens nichts erkennen, und als er hörte, daß das letzte Pferd die Straße nach Weare Giffard hinunter war, ging er brummend wieder zu Bett. Simon hatte wegen Weare Giffard Sorge, denn das Herrenhaus war ein Bollwerk der Royalisten, und ein Zusammenstoß mit den Truppen dort könnte vielleicht Verstärkung aus Torrington herbeiziehen, doch war es unmöglich, das Dorf zu umgehen. Er hatte Oberst Ireton das erklärt, und der hatte geantwortet, da man es nicht ändern könne, müßten sie das Wagnis auf sich nehmen. Aber der tiefe Matsch dämpfte ihre Hufschläge. Sie ritten am Rande des Weges und auf dem weichen Boden zwischen den Häusern und dem Fluß, kamen sicher hindurch und gelangten jenseits in die tiefe Talmulde. Auf mehr als einem der einsamen Höfe, die sich in weitem Bogen um Torrington herumzogen, wachten Menschen auf und horchten ängstlich, bevor sie wieder einschliefen. Am Morgen zeigten sie einander die Spuren und die Viehwege, die von dem Durchzug vieler Pferde in tiefem Morast zerwühlt waren. Es war ein harter Ritt für die Männer, die schon erschöpft gewesen waren und von denen mancher außerdem verwundet war, aber im ersten spinnwebrig feuchten Licht der Dämmerung brachte Simon seinen Trupp von Vogelscheuchen über den Kamm des letzten Hüge ls, hinunter zum blaßschimmernden Fluß und zu den stark bemannten Befestigungen auf der Barnstapler Brücke. »Da ist Barnstaple«, sagte er mit müder Stimme. »Ich glaube, ich muß jetzt nach Hause, Sir«, denn plötzlich war ihm eingefallen, daß seine Mutter sich um ihn ängstigen könnte. »Du hast gute Arbeit geleistet diese Nacht, mein Junge«, sagte Oberst Ireton und steckte seine Hand in die Rocktasche. Dann zögerte er, sah im wachsenden Licht auf Simon, besann sich anders und zog sie leer heraus. »Wenn du deinem Vater bei 59

Levens Armee wieder schreibst, berichte ihm, daß du Essex' Leibgarde vor dem Untergang bewahrt hast.« Sie gaben sich die Hand, und Simon zog sein Pferd aus der Kolonne heraus. Er setzte sich hin, um sie vorüberziehen zu sehen, wie sie aus dem grauen Licht auftauchten, dreckige, fußlahme Pferde und Männer, blind vor Müdigkeit, die aussahen, als würden sie mehr vom Instinkt als durch eigene Kraft im Sattel gehalten. Einer oder zwei von ihnen wandten den Kopf, um im Vorbeireiten auf ihn niederzublicken; der Rest war sogar dazu zu müde. Wenn er ein paar Monate älter gewesen wäre, dachte Simon, hätte er einer von ihnen sein können. Als die Kolonne fast vorüber war, sah sich der junge Offizier um, den er in der Schmiede verbunden hatte, und winkte ihm ein frohes Lebewohl zu, aber er schwankte im Sattel. Simon winkte zurück. Er saß da und beobachtete sie, bis der Schlagbaum der Stadt hochgezogen wurde und der letzte Reiter hindurchgezogen war. Dann lenkte er Scharlachs müden Kopf heimwärts. Einige Tage später war Barnstaple nach einer fünftägigen Belagerung durch Lord Goring wieder in den Händen der Royalisten. Aber lange vorher waren Oberst Ireton und seine zerfetzten Schwadronen sicher nach Exmoor hinübergelangt, um zu den Parlamentstruppen zu stoßen.

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Der feurige Tom

Einige Monate später kam Simon eines Tages gegen Abend in die Stadt Windsor geritten, wo die große ›Neue Armee‹ zusammengestellt wurde. Während die letzten Kämpfer von Lostwithiel noch ankamen, hatte der alte Sir William Waller das Komitee beider Königreiche gewarnt. »Sirs, es ist ganz klar, daß Sie diesen Krieg nicht gewinnen werden, wenn Sie nicht eine richtige vereinigte Armee bilden«, und das Komitee war schließlich, nun, da es fast zu spät war, seinem Rat gefolgt. Die von ihm geforderte Armee wurde aufgestellt, und Simon war gekommen, um in sie einzutreten. Mehr als eine Woche war vergangen, seit er, nun sechzehn Jahre alt, seiner Familie und Lovacott Lebewohl gesagt hatte und fortgegangen war. Den ganzen Weg hatte er Scharlach geritten, und so war er langsamer vorangekommen, als wenn er mit Kurierpferden gereist wäre. Nun war er aber da, mit einem Paar langer Reiterpistolen in seinen Halftern, die ein Abschiedsgeschenk von seiner Mutter waren - Pistolen mit Feuersteinschloß, die neueste Erfindung und er und die ›Neue Armee‹ fingen zusammen an. Dieser Gedanke ließ ihn sehr aufrecht in seinem Sattel sitzen und mit glänzenden, eifrigen Augen um sich schauen. Es war noch sehr früh im Februar, und die Pappeln und Ulmen auf den Flußwiesen waren kahl, während das flimmernde Wasser der Themse einen blassen Sonnenschein zurückstrahlte, der noch nicht warm war. Schon kündete der karmesinrote Schimmer der Weiden von steigendem Saft, und in der Luft lag jene zarte Erregung, die der erste Vorbote des Frühlings ist, während er selbst noch weit entfernt ist. Und hoch über den kahlen Bäumen und den steilen rotbraunen Dächern der Stadt ragte der große runde Turm von Windsor Castle, grau und triumphierend wie eine Fanfare, und er sah aus, als sei er nicht 61

von Menschenhand gebaut, sondern aus dem ureigenen Grund Englands gewachsen. Simon hatte den Turm angeschaut, solange er in Sicht war, aber als er in die enge Straße einbog, wurde der Turm von den zusammengedrängten Dächern und den überhängenden oberen Stockwerken der Häuser verdeckt. Er hätte jetzt sowieso keine Muße gehabt, ihn zu betrachten, denn er mußte seine ganze Aufmerksamkeit darauf richten, Scharlach sicher durch die Menge zu leiten, die sich in den krummen Straßen auf und ab drängte und schob. Landleute und Stadtleute, reiche Kaufleute in gutgeschnittenen Wämsern und Bettler in der Gosse, die ihre Wunden zeigten, ein schwarzgekleideter Straßenprediger und Wandermusikanten, ein Verkäufer mit Hänflingen im Käfig, eine Gruppe lachender Mädchen mit Marktkörben über dem Arm und überall Soldaten und immer mehr Soldaten. Simon schaute alle an, aber hauptsächlich die Soldaten, weil er bald einer von ihnen sein würde. Sie waren ein buntgewürfelter Haufen, einige in Lumpen, andere in scharlachroten Röcken, in denen sie sich kaum bewegen konnten, weil sie so neu waren, einige mager und zäh von langen Feldzügen, viele noch rot vom Pflügen oder bleich vom Kontorpult, denn die ›Neue Armee‹ war noch eine Armee im Werden. Simon hielt an, um einen alten, dürren Mann, dessen scharlachroter Mantel mit schreiendem Gelb besetzt war, nach dem Weg zu fragen. Dann ritt er weiter, bis die hohe Außenmauer und die alten Türme des Schlosses auf die Giebel und hinunter in die vollen Straßen blickten, und er kam an eines der Tore. An dieser Seite des Schlosses war kein Graben, denn der war schon lange zugeschüttet worden, und dichtgedrängte Hütten wuchsen unmittelbar an die Mauer heran wie Leinkraut um einen Baumstumpf. Eine Straße führte einfach zwischen zwei Häusern hindurch und direkt hinein durch das Tor Heinrichs VIII. Simon folgte der Straße, und indem er die Zügel 62

anzog, rief er dem wachhabenden Soldaten zu: »Ich möchte zum Oberst.« »Welchem Oberst?« fragte die Wache. »Zu irgendeinem Reiteroberst.« »Sergeant!« rief die Wache. Der Sergeant kam aus dem Wachraum und sah streng auf Simon. »Der Bursche hier fragt nach einem Reiteroberst irgendeinem Reiteroberst«, sagte die Wache. »Wozu, Sir?« fragte der Sergeant zweifelnd. »Ich will in die Armee eintreten«, sagte Simon. Ein junger Offizier in dem üblichen Scharlachmantel, der zufällig vorüberkam, drehte sich beim Klang seiner Stimme um, schrie überrascht auf und kam zur Gruppe herüber. »Sie!« rief er. »Du meine...« Simon sah ihn einen Augenblick verständnislos an. Dann schien sich plötzlich das fröhliche, sommersprossige Gesicht unter dem kecken Federhut zu verwandeln, und er sah es wieder so, wie er es damals gesehen hatte, grau und verstört und blutbefleckt. Es war der Mann, den er unter den Hufen eines royalistischen Pferdes in Klein- Torrington hervorgezogen hatte! »Sie!« echote Simon und beugte sich im Sattel vor, um ihm die Hand zu drücken. »Wie geht es Ihnen?« »Gesund wie ein Fisch im Wasser und pudelwohl! Sie sind ein guter Doktor.« Die Augen des jungen Offiziers strahlten ihn freudig an, sein großer Mund zog sich fast von Ohr zu Ohr. »Sie wollen zu uns kommen?« »Ja.« Simon nickte. »Wo und wie kann ich einen Oberst finden?« »Oh, zur Hölle mit den Obersten! Sie müssen zum General, mein Freund - und der ist heute gerade hier. Kommen Sie mit, dann können wir ihn erwischen, bevor er wieder weg ist. Es ist gut, Sergeant, das ist ein Freund von mir. Ich kümmere mich um ihn.« Mit dem Gefühl, von einer Welle hochgetragen und fortgerissen zu werden, gegen die er machtlos war - und gegen 63

die er auch nicht im mindesten ankämpfen wollte -, überließ Simon sich allem, was nun kommen mochte. Er stieg vom Pferd und führte Scharlach gehorsam in die Hauptstraße zurück. »Ich muß schon sagen, das ist Glück! Wir haben uns zur rechten Zeit getroffe n!« sagte sein Gefährte. »Ich heiße Barnaby Colebourne. Wie heißen Sie?« »Simon Carey«, sagte Simon leicht benommen. »Zu wem gehen wir, sagten Sie?« »Zum Lord-General Sir Thomas Fairfax. Den kennt man doch.« »Ja, aber müssen wir denn den belästigen?« fragte Simon, als sie sich in die drängenden Mengen in der Themsestraße zurückschoben. Barnaby Colebourne erklärte ihm hastig und mit voller Lautstärke, als sie sich über die Straße arbeiteten: »Wir müssen das, wenn Sie in mein Regiment wollen. Fairfax' Reiterei sind wir, und daher ist der General auch unser Oberst, klar?« Simon hatte das halbwegs begriffen und tat gerade den Mund auf, um eine neue Frage zu stellen, als sie am Eingangstor in dem Hof eines großen Gasthauses ankamen, über dem ein wunderbar farbiges Schild mit den blaugoldenen Insignien des Hosenbandordens hing. »Wir sind da«, sagte Barnaby Colebourne und ging, gefolgt von Scharlach, durch den dunklen Tunnel des Torbogens. Sie kamen auf einem gepflasterten Hof heraus, wo zwei Pferde vor der Haustür auf und ab geführt wurden. Nachdem Simon Scharlach einem Stallknecht übergeben hatte, folgte er seinem neuen Freund in eine dunkle Diele, wo mehrere Soldaten umherstanden, und dann eine breite Treppenflucht hinauf, an deren Fuß ein mißmutig dreinblickender Wachposten stand. »Wir hätten natürlich zu Major Disbrow gehen können«, sagte Barnaby nebenbei. »Er erledigt fast alles für den Oberst, aber der Lord-General hat ein offeneres Ohr für Bitten.« 64

Vor einer Tür am Ende einer langen Galerie im oberen Stockwerk stand noch ein Mann Wache, und ein junger Stabsoffizier, ein Meldereiter, vertrat sich am Fenster die Beine. Barnaby sprach ihn an. Er verschwand im nächsten Zimmer, kam nach einem Augenblick wieder heraus und ließ die Tür für sie offen. Sie gingen hinein, und die Tür schloß sich hinter ihnen. Simon befand sich in einem getäfelten Raum, in dem im Kamin ein niedriges Feuer furchtbar qualmte. Ein Mann, der an einem Tisch mitten im Zimmer saß und schrieb, sah bei ihrem Eintreten einen Augenblick auf und schrieb dann weiter. Ein anderer Mann in der dunklen Tracht eines Sekretärs saß neben ihm und wartete auf den Brief. Nach den geräuschvollen Straßen schien es hier sehr still zu sein, das einzige Geräusch war das Kratzen des Federkiels auf dem Papier, und Simon hatte reichlich Zeit, den Schreiber zu betrachten, der, wie er annahm, Sir Thomas Fairfax sein mußte. Der Befehlshaber war ein dunkler Typ. Das war das erste, was an ihm auffiel: dunkel wie ein Zigeuner und dürr wie eine Vogelscheuche unter dem Scharlachrot seines Uniformmantels, mit schwarzem, unbändigem Haar, das ihm ins Gesicht und in den Nacken fiel. Da nichts von seinem niedergebeugten Gesicht zu sehen war als die zusammengezogenen schwarzen Brauen und die große, gebogene Nase, sah er höchst unnahbar aus, und als Simon Handschuhe und eine Reitpeitsche neben ihm auf dem Tisch liegen sah und sich daran erinnerte, daß draußen im Hof Pferde auf und ab geführt wurden, wurde ihm klar, daß er keinen besonders günstigen Augenblick erwischt hatte, ihn zu stören. Darum wünschte er brennend, daß er überhaupt nicht hierher zu ihm gekommen, sondern statt dessen zu Major Disbrow gegangen wäre, wer immer er auch sei. Der große Mann hörte auf zu schreiben und legte die Feder nieder, bestreute das Blatt mit Sand und gab es dem Mann neben ihm, während er mit einer sehr leisen, angenehmen Stimme 65

sagte: »Drei Kopien, John - nein, vier. Oberst Pride bekommt besser auch eine.« Dann wandte er seine Aufmerksamkeit dem vor ihm wartenden Paar zu. Jetzt, da er aufblickte, wirkte sein dunkles Gesicht nicht mehr unnahbar, denn die Augen hoben viel von seiner Härte wieder auf. Ebenso sah Simon zu seiner Überraschung, daß er ganz jung war - nicht mehr als zwei- oder dreiunddreißig. Die Narbe einer alten Wunde erschien bläulich auf Wange und Schläfe, und einen Augenblick hob er die Hand hoch, um sie zu verdecken, als sei er sich dieser Entstellung sehr bewußt. Dann ließ er seine Hand wieder auf den Tisch zurückfallen. »Ja, Colebourne? Sie wollten mich sprechen?« Barnaby trat vor, während er den Helm zum Gruß lüftete. »Ja, Sir. Dies ist Simon Carey, ein Freund von mir, der in unser Regiment eintreten möchte. Deshalb habe ich ihn mitgebracht, Sir.« Der General wandte den Kopf in seiner schnellen, wachsamen Art und sah Simon einen Augenblick genau an. Dann nickte er, als ob er mit dem zufrieden sei, was er gesehen hatte. »Wie alt sind Sie?« »Sechzehn, Sir.« »Sie haben noch keinen Kampf miterlebt, nehme ich an ?« »Nur als Zuschauer, Sir«, sagte Simon. Barnaby trat schnell vor, und Fairfax wandte sich zu ihm. »Ja, Colebourne?« »Er ist der Führer, der uns nach der Schlacht von Lostwithiel sicher nach Barnstaple durchbrachte, Sir.« Fairfax sah Simon wieder prüfend an. »Das war gute Arbeit für eine Nacht«, sagte er langsam. (Tatsächlich fand Simon während des ganzen Gesprächs die Sprache des Generals merkwürdig langsam. Sie stand in seltsamem Gegensatz zu seinen schnellen Blicken und Bewegungen.) 66

»Danke, Sir.« »Mir fehlt ein Kornett, Sir, wenn ich bitten darf, Sir«, sagte Barnaby andeutungsvoll. »Was ist denn mit Kornett Wainwright?« »Er...« Barnaby zögerte, und dann sprudelte er los. »Ich weiß, daß er glaubt, ein Recht auf den Posten zu haben, aber höheres Dienstalter macht es nicht allein, und - meinen Sie, daß er für den Posten geeignet ist?« »Sie nicht?« »Ehrlich gestanden, nein, Sir!« Die linke Augenbraue des Generals hob sich, er lehnte sich vor, die Arme auf dem Tisch über Kreuz. »Erzählen Sie mir, warum«, forderte er. »Ja, Sir, er ist zu leicht in seiner Würde gekränkt, das ist das eine, und auf der anderen Seite hat er eine sarkastische Art, die ihn recht unbeliebt macht.« »Trotzdem hat er das Zeug in sich zu einem guten Offizier.« »Aber nicht für unsere Truppe, Sir.« Barnaby sprach schnell und mit tiefem Ernst. »Meine Männer sind fast alle alte Soldaten aus Cromwells Reiterei, und viele von ihnen sind Wiedertäufer oder so was, und das macht den Umgang mit ihnen nicht leichter. Sie sind das Salz der Erde, Sir, aber sie sind ein ziemlich schwieriger Haufen, und wenn Kornett Wainwright mit seinem stolzen Wesen und seiner Würde bei ihnen ankäme, dann - dann würden sie ihn wohl lieber verprügeln als grüßen!« Das dunkle Gesicht des Generals erhellte sich plötzlich durch ein Lächeln, das ihn für einen Augenblick sehr jungenhaft erscheinen ließ. Dann war es vorüber, und nur noch eine Spur davon war in den Augen sichtbar. »Das hört sich an wie Disziplinlosigkeit, Leutnant Colebourne.« »Nein, Sir, das ist menschlich«, sagte Barnaby lächelnd. »Und Sie glauben, daß dieser Carey hier besser mit ihren 67

reißenden Wölfen fertig werden würde?« »Ja, Sir - und Oberst Ireton würde sich bestimmt auch für ihn einsetzen. Und ebenso Richard Cromwell.« »Sie sind ihm vorher nur ein einziges Mal begegnet?« fragte der General. »Na ja, das waren denkwürdige Umstände, unter denen Sie sich kennenlernten, und das muß genügen. Wir wollen Oberst Ireton und Kapitän Cromwell nicht erst damit belästigen.« Indem er sich Simon wieder zuwandte, begann er ihn genau auszufragen. Natürlich könne er reiten? Hatte er schon mit Pistolen geschossen?... Simons Antworten auf diese und andere Fragen befriedigten ihn offenbar, denn schließlich schob er seinen Stuhl zurück und stand auf, indem er sagte: »Also gut, Colebourne. Ich beuge mich Ihrem Urteil. John Rushworth, erledigen Sie das. Haben Sie die genauen Einzelheiten?« Der grauhaarige Sekretär blickte auf ein Stück Papier, auf dem er mitgeschrieben hatte, und las vor: »Simon Carey wird zum Kornett der Zweiten Schwadron bei Fairfax ernannt.« Fairfax nickte und wandte sich Simon wieder zu. »Sie werden Ihre Ernennung vom Komitee beider Königreiche innerhalb von ein oder zwei Tagen bekommen. Inzwischen lassen Sie sich Ihre Ausrüstung geben, und melden Sie sich bei Major Disbrow.« Simon richtete sich noch gerader auf, als er ohnehin schon gestanden ha tte, und sagte ziemlich atemlos: »Danke, Sir! Ich werde mein Allerbestes tun, um mich würdig zu zeigen.« »Das weiß ich.« Fairfax nahm seine Handschuhe auf und trat zum Fenster hinüber. »Ich wünsche Ihnen einen guten Abend, Colebourne. Guten Abend, Carey.« Gleich darauf standen sie wieder draußen vor der Tür. »Eine gute Seele, der Lord-General«, stellte Barnaby zufrieden fest, als sie über den Hof gingen, wo die Pferde immer noch auf und ab geführt wurden. »Hat immer Zeit, sich mit dem Geringsten von Mann zu Mann zu unterhalten und sich 68

anzuhören, was man zu sagen hat. Nun zum Zeugmeister. Ich habe keinen Dienst und komme mit. Wir lassen Ihr Pferd hier und holen es auf dem Rückweg in unser Quartier wieder ab. Oh, aber warten Sie mal eben...« Sie waren gerade aus der Straße herausgekommen, als er auf einmal anhielt, sich umwandte und nach oben zeigte. »Sehen Sie mal da oben.« Simon folgte der Richtung seines ausgestreckten Fingers und sah aus dem offenen Erkerfenster eine Reihe herunterhängender Fahnen, die regungslos in der stillen Luft hingen, leuchtend, blau und gold und weiß glänzend im schwindenden Licht des Februarnachmittages. »Das sind unsere Regimentsstandarten«, erklärte Barnaby. »Die großen dort links sind die Fahnen von Fairfax' Fußtruppen, und die kleineren an Lanzen sind die Fahnen von Fairfax' Reiterei. Eine für jede Kompanie und jede Schwadron. Das ist unsere, die zweite von links, und der schwarze Leopard darüber ist Sir Thomas' persönliche Standarte. Sie hängen immer, wo jeder sie sehen kann, teils, um zu zeigen, wo das Hauptquartier des Regiments ist, und teils, weil - ja, weil sie jedem von uns gehören und wir alle ein Recht haben, sie zu sehen, nicht nur im Kampf oder bei der Parade, sondern immer.« Simon sah gebannt auf die regungslosen Standarten, besonders auf die zweite von links, die Standarte seiner eigenen Schwadron, die er eines Tages in den Kampf vorantragen würde. Sein Herz schlug heftig in dem Entschluß, sich dessen würdig zu erweisen, was ihm anvertraut wurde. Visionen von Ehre, Ritterlichkeit und Waffenruhm und von Stolz auf die Sache, für die er bald kämpfen würde, stiegen in ihm auf. Dann erwachte er plötzlich und bemerkte, daß Barnaby ihm ins Ohr schrie, er versperre den Weg. Er wurde sofort blutrot und wandte sich um, um seinem neuen Freund die Straße hinauf zu folgen. Mehrere Stunden später saß Simon im Hemd auf dem Strohsack, der für ihn auf den Fußboden in Leutnant 69

Colebournes Kammer gelegt worden war. Der ›Weiße Hirsch‹ war bei weitem nicht ein so feines Gasthaus wie das ›Wappen‹ nebenan, und da hier sechzehn Offiziere von Fairfax' Reiterei einquartiert waren, war der Platz beengt. In dem kleinen Raum lag noch ein zweiter Strohsack, und außerdem stand in der Ecke ein schmales Feldbett, auf dem Barnaby noch halb bekleidet selbst saß und zärtlich ein Paar wirklich wundervolle Stiefel polierte. Sie waren aus gelblichem Leder, sehr weich, und mit so enormen Stulpen, daß Simon sich erstaunt fragte, wie man überhaupt darin gehen könne. Simon war hundemüde, und die Stunden seit seinem Gespräch mit Fairfax erschienen ihm wie ein wirrer Traum. In Gesellschaft von Barnaby Colebourne hatte er sich bei Major Disbrow gemeldet, einem mageren, braunen, kleinen, kämpferischen Mann mit einem stahlblauen Blick. Die beiden ersten Schwadronen oder Kompanien jedes Regiments hatten keinen Kapitän, sondern unterstanden direkt dem Oberst beziehungsweise dem Major, und in ihnen fielen die Pflichten der Kapitäne meistens auf die Leutnants, die infolgedessen gegenüber den anderen Leutnants höhere Wesen waren. Simons Schwadron, die Zweite, war also Major Disbrows Schwadron, und Barnaby war ihr Kapitän-Leutnant. Das waren die beiden positiven Tatsachen, die Simon heute abend herausgefunden hatte, und er klammerte sich an sie wie an einen Balken in einem chaotischen Meer. Nachdem sie Major Disbrow verlassen hatten, hatten sie sich in die Zeugmeisterei begeben, die weiter oben in der Stadt lag, und dann in verschiedene Magazine und Depots, um Simons Ausrüstung zusammenzubekommen und seine Uniform zu vervollständigen. Der blau eingefaßte scharlachrote Mantel, der die Uniform von Fairfax' beiden Regimentern war, mußte noch etwas geändert werden und würde nicht vor morgen fertig sein. Aber sein ärmelloser Mantel aus Büffelleder (aus zweiter Hand und schon etwas abgetragen 70

und wettergebleicht), seine schweren Sporenstiefel und sein Helm lagen nun mit Barnabys in der Ecke. Und über die Lehne des einzigen Stuhles, den die Kammer besaß, hing sein neues Schwert in seinen roten Schlaufen. Halbwegs hatte er, bevor er von zu Hause fortging, daran gedacht, Balan mitzunehmen, so wie Amias Balin mitgenommen hatte, aber er hatte sich überlegt, daß es zwar ein Rapier von der alten Art war mit scharfer Schneide und guter Spitze, aber daß es für den Kampf zu Pferde doch keine geeignete Waffe sei und daß er besser daran täte zu warten, bis er in Windsor war. Nun hatte er seine schwere Kavallerieklinge, genau das Richtige, und er saß da, umfaßte seine Knie und heftete seine Augen auf sie, während Barnaby jene einzigartigen Stiefel putzte und polierte. Sie hatten Scharlach aus dem Stall des ›Wappen‹ geholt und ihn hier in den ›Weißen Hirsch‹ gebracht. Dann hatte es Abendessen in einem langen Raum gegeben, der von lauten Stimmen, langen Beinen und Tabakrauch gänzlich erfüllt zu sein schien. Er hatte eine unklare Erinnerung an einen dunkeläugigen, empfindlich aussehenden jungen Mann, der ein oder zwei Jahre älter war als er und der, wie er gehört hatte, Kornett Wainwright war, und an einen großen, drahtigen Yorkshiremann mit fröhlichen Augen, bei dem es sich, wie Barnaby ihm zuflüsterte, um Ralf Marjory, einen von den Kapitänen aus Cromwells alter Truppe, handelte. Was er sonst noch gesehen hatte, waren nur Gesichter, grimmige oder lustige, rote, blasse oder braune. Simon hoffte, daß er sie eines Tages, vielleicht schon morgen, würde unterscheiden können. Aber vorläufig war er froh, daß der Tag vorüber war. Barnaby gab dem linken Stiefel einen letzten, liebevollen Klaps und hielt das Paar in Armlänge vor sich hoch. »Was halten Sie von diesem Paar eleganter Stiefel?« fragte er. Simon hörte auf, sein Schwert zu betrachten, und wandte seine Aufmerksamkeit den Stiefeln zu. »Hm, sie sind sehr schön«, sagte er schließlich. »Wie können Sie darin gehen?« 71

»Na ja, ich mußte ein bißchen üben, zugegeben«, sagte Barnaby leichthin. »Aber jetzt habe ich den Bogen raus. Warten Sie mal, ich will es Ihnen zeigen.« Und er begann unter heftigen Grimassen seine Schätze anzuziehen. Es dauerte eine ganze Weile, aber endlich schaffte er es doch, erhob sich und begann in dem beengten Raum auf und ab zu gehen, das heißt, er wollte sorglos stolzieren und brachte nur ein taubenfüßiges Watscheln fertig, denn die Stulpen an den Stiefeln waren so breit, daß er nur gehen konnte, wenn er die Beine so weit auseinanderhielt wie auf dem Pferderücken. Der Anblick war fast zuviel für Simon. Er gab einen unterdrückten Laut, halb Schnarchen, halb Schluckauf, von sich und riß sich dann zusammen. »Es sind - es sind großartige Stiefel.« »Ja, ich finde, sie sind wirklich sehr gut. Glauben Sie nur nicht, daß es in der ganzen Armee noch so ein Paar gibt wie diese«, sagte Barnaby, indem er auf seine Beine schielte. »Das - das glaube ich auch nicht«, gab Simon zu. »Ach ja, sogar bei den Soldaten kann man den Anstand wahren, wissen Sie. Cromwells alte Soldaten sind natürlich anders. Die meisten von ihnen sind stolz darauf, daß sie sich kleiden wie eine Kreuzung zwischen einem Pfarrer und einem Pferdedieb.« »Die meisten Offiziere von... von uns haben schon unter Cromwell gekämpft, nicht wahr?« fragte Simon. Der andere nickte und setzte sich auf das Bett. »Die älteren jedenfalls. Über die Hälfte der Männer auch.« Er langte nach dem Stiefelknecht und begann seine Stiefel auszuziehen. »Der Rest von uns gehört zu Fairfax. Natürlich sind wir, unter uns gesagt, die Creme der Armee.« Simon saß einen Augenblick still und sah zu, wie Barnaby mit seinem linken Stiefel kämpfte. Dann sagte er: »Das war ein großes Glück, daß ich Sie getroffen habe.« 72

»Wahrhaftig«, stimmte Barnaby zu, während er sich an den anderen Stiefel machte. »Sie wären heute abend noch nicht bei Fairfax' Reiterei, wenn das nicht passiert wäre. Und - na ja, wir sind eben wirklich die Creme der Armee. Wir passen zu unserem General, das kann niemand abstreiten.« »Wie ist er wirklich, der General?« fragte Simon. »Wie meinen Sie das?« »Nun - er scheint mir irgendwie merkwürdig: diese langsame, ruhige Art zu sprechen, während alles, was er tut, so schnell ist. Es ist so, als ob man einem Mann zusieht und einem anderen zuhört«, überlegte Simon. »Oh, daran ist nichts Geheimnisvolles. In dem Augenblick, in dem er sich gehen läßt, fängt er an zu stottern.« »Zu stottern?« »Wie ein Kuckuck im Juli«, sagte Barnaby, während er seine Stiefel zärtlich in die Ecke stellte. Simon dachte einen Moment darüber nach, dann sagte er: »Ja, aber wie ist er denn?« »Ach, du meine Güte!« sagte der andere hilflos. »Wie in Gottes Namen...« Die Tür öffnete sich, und ein junger Mann, offenbar der Besitzer des dritten Bettes, kam herein. Barnaby wandte sich an ihn. »Fletcher, wie ist der Lord-General? Carey möchte das wissen.« »Der feurige Tom? Oh, der ist in Ordnung«, sagte der Ankömmling und gähnte. »Gott, ich bin so müde, daß mir alle Knochen weh tun.« »Warum heißt er ›feuriger Tom‹?« fragte Simon, furchtbar beharrlich durch seine Müdigkeit. »Warten Sie nur, bis Sie ihn im Gefecht sehen, dann wissen Sie Bescheid.« Kornett Fletcher drehte sich um, um seinen Mantel auszuziehen, wurde aber durch einen Schrei von 73

Barnaby unterbrochen. »He! Wollen Sie wohl nicht auf meine besten Stiefel trampeln, Sie triefäugiges Nilpferd!« »Mit allem schuldigen Respekt, Sir«, sagte Kornett Fletcher, während er seinen Mantel weiter auszog, »Ihre verflixten besten Stiefel! Man kann sich in dieser Hundehütte keinen Schritt bewegen, ohne daß man über sie fällt!« »Wenn Sie etwas gegen meine Stiefel haben«, sagte Barnaby, »dann gehen Sie doch zu Bennet und Anderson.« »Bennet ist ein höllischer, glutroter, kämpferischer Wiedertäufer. Kein Geselle für einen friedlichen Menschen wie mich.« »Na also, sehen Sie.« »Und Anderson spielt unter der Decke Blockflöte.« »Was? Der alte Sauertopf? Unsinn!« Die Stiefel und der General waren augenblicklich vergessen. »Ich habe ihn dabei erwischt, als ich ihn gestern nacht wegen des kranken Pferdes weckte.« »Das sieht Ihne n ähnlich!« sagte Barnaby fröhlich. »Ich hätte eher Korporal Reif verdächtigt.« Fletcher wandte sich an Simon. »Sie haben noch nicht den ›Eiferer- im-Herrn‹ getroffen, was? - Da haben Sie noch ein Vergnügen vor sich!« »Hören Sie nicht auf ihn«, warf Barnaby ein. »Der Korporal ist in Ordnung. Und immerhin ist er der Mann, der Sie Ihr Handwerk lehren wird.« Während sie über Leutnant Andersons Blockflöte mit respektlosem Interesse diskutierten, zogen sie sich aus und krochen unter ihre Decken. Kornett Fletcher blies vorher noch das tropfende Talglicht aus. »Gute Nacht«, sagten sie, leicht gedämpft von den Bettdecken, und mit der blauen Dunkelheit stieg Stille in die enge Gasthauskammer nieder. 74

Lange Zeit lag Simon wach, horchte auf den ruhigen Atem der beiden anderen und beobachtete durch das Fenster die Sterne, die hinter der dunklen Spitze des Turmes vom ›Wappen‹ standen. Es waren die gleichen Sterne wie jene, die er zu Hause durch das kleine Fenster der Bodenkammer sah. Nur zu Hause schienen sie durch die Zweige des alten Birnbaumes, der im Frühling eine Kuppel aus schneeigen Blüten war. Eine plötzliche Woge von Heimweh überflutete ihn. Der harte, ungewohnte Strohsack, der Atem der anderen in der Dunkelheit, die Fremdheit aller Dinge, alles das rief ihm die Verzweiflung seiner ersten Nacht bei Blundell wieder ins Gedächtnis. Er erinnerte sich an den langen, kahlen Schlafraum und an den Geruch von Feuchtigkeit und Kerzenrauch, das wirre Steigen und Fallen vieler Atemzüge im Dunkeln, an seinen leeren Magen, weil er noch nicht wußte, wie man sich seinen Anteil vom Abendessen verschaffte, seine brennende Sehnsucht nach Lovacott. Aber damals war Amias dagewesen, so nahe, daß er ihn berühren konnte, wenn er den Arm ausstreckte, und er und Amias hatten ihr Heimweh zusammen getragen, so wie sie alles zusammen getragen hatten. Er hätte gern gewußt, wo Amias heute nacht war. Vielleicht in irgendeinem Bauernhaus einquartiert oder im Biwak unter den Sternen. Er diente in der Armee des Königs so wie er, Simon, in der Armee des Parlaments. Es erschien ihm plötzlich sehr seltsam, daß er, wenn er die Hand in die Dunkelheit streckte, nur Kornett Fletcher stören würde, weil Amias nicht da war.

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Das leere Versteck

Dieses Frühjahr hindurch war ganz Windsor ein einziges großes Heerlager, das vor Leben und Geschäftigkeit summte, weil mehr und mehr Truppen herbeikamen und den neugebildeten Regimentern zugeteilt wurden. Den ganzen Tag und oft die halbe Nacht dröhnten die Kopfsteinstraßen unter den ankommenden Wagen, die Vorräte und Munition brachten. Zum erstenmal wurde eine englische Armee in Scharlachrot gekleidet, und von Tag zu Tag wurde die wogende Menge farbenfreudiger, da die neuen Umformen eintrafen, und Regiment auf Regiment erschien in guten Wollhosen und roten Mänteln, die je nach dem Geschmack ihres Obersten blau oder gelb oder grün eingefaßt waren. Auf dem Gemeindeland unterhalb des Schlosses bis hin zum Datchet-Anger und weiter außerhalb wurden die Reste von Essex' Streitkräften zusammen mit zerstreuten Regimentern und neu hinzugekommenen Männern versorgt und zu einer Armee zusammengeschmiedet. Die drei hauptsächlich dafür verantwortlichen Männer, die überall gleichzeitig zu sein schienen und weder Essen noch Ruhe brauchten, waren Sir Thomas Fairfax, der oberste Kommandant, Sir Philip Skippon, der Chef des Stabes, und General Cromwell, der offiziell nichts als das Sechste Regiment zu Pferde kommandierte. Es dauerte nicht lange, da waren diese drei für Simon ebenso vertraute Gestalten, wie sie es für jedermann in der Armee waren. Der dunkle, Don Quijote ähnliche General, der unausgesetzt zwischen Windsor und Whitehall auftauchte und wieder verschwand, grauhaarig und gebeugt, Sir Philip, ein Veteran aus den Schwedischen Kriegen, der von seinen Soldaten zutraulich ›Daddy Skippon‹ oder ›der alte Mann‹ genannt wurde, schließlich der breitgebaute, frische Kavallerieoberst mit 76

einem Lachen, das die Schloßmauern wackeln ließ, und mit dem schweren Bauernschritt, der den Eindruck erweckte, daß an jedem Stiefel mindestens ein Pfund guter ostenglischer Boden klebte, und von dem gesagt wurde, er ringe ganze Nächte im Gebet. Zunächst waren sie nur Gestalten, aber sehr bald erfuhr er vieles über sie, was sie lebendig werden ließ. Er erfuhr, wie Fairfax bei Marston Moor zu der Narbe auf seiner Wange gekommen war. »Das Schlimme bei unserem verehrten Lord-General ist, wissen Sie«, so erzählte Barnaby ihm, »daß er im Augenblick, wenn er in die Schlacht reitet, seinen Helm verliert. Er fliegt ihm einfach von seinem alten Schädel wie der Deckel von einem Topf, der überkocht, und dann geht er furchtlos und wie besessen voran. Das denkt man nicht von ihm, wenn man ihn so sieht, nicht wahr? Nein, aber das macht ihn wirklich zu einem großartigen Anführer in der Schlacht. Er befehligte eine Schwadron von vierhundert von uns an dem Tag, und er verlor wie gewöhnlich seinen Helm. Einer von Prinz Ruperts Soldaten versetzte ihm einen Stoß, und schon war es geschehen. Er aber ritt weiter, während das Blut ihm übers Gesicht strömte, besessen wie ein Märzhase, immer geradeaus auf den Haupttrupp von Ruperts linkem Flügel los und schrie uns zu, wir sollten folgen, und so folgten wir ihm.« Er erfuhr, wie Daddy Skippon den zerstreuten Rest von Essex' Fußtruppen von Lostwithiel durchgebracht hatte. Ein Infanterieleutnant mit einem grimmigen Gesicht, das ihn älter erscheinen ließ, als er wirklich war, erzählte ihm davon, als sie an einem dienstfreien Abend an einem Gatter lehnten und beobachteten, wie in der Ferne Rehe heraustraten und über die Lichtung des kleinen Parks wechselten. »Uns war freier Rückzug nach Portsmouth zugesichert, und das bedeutete viel für uns. Wir hatten nichts mehr zu essen, die meisten von uns waren verwundet, und die Landbevölkerung war durchweg für den König, die ganze Südküste entlang. Zum mindesten standen sie auf der Seite des Siegers. Sie verfolgten 77

uns wie Wölfe von allen Seiten, und wir konnten uns nicht verteidigen, weil wir entwaffnet waren. Wenn irgendeiner von unseren Soldaten zurückblieb, töteten sie ihn und warfen seine Leiche in den nächsten Graben. Die ganze Zeit regnete es. Meiner Treu! Wie es regnete! Das bedeutete natürlich Fieber, besonders für die Verwundeten. Hätten wir einen anderen Kommandeur gehabt, ich glaube, wir hätten uns einfach hingelegt zum Sterben. Aber Daddy Skippon brachte uns durch. Oh, frag nicht wie, denn ich weiß es selber nicht. Er war unsere Wolkensäule bei Tag und des Nachts unsere Feuersäule. Er hielt uns derart in Furcht vor sich, daß wir nicht aufgaben. Er tröstete und ermutigte uns wie eine Mutter ihr krankes Kind, und er brachte uns schließlich durch bis Portsmouth - das heißt, die meisten von uns - unter unseren eigenen Fahnen und mit dröhnenden Trommeln.« Von Cromwell hörte er viele Geschichten von verschiedenen Leuten (denn Old Noll war schon eine Art Legende in der Armee), aber hauptsächlich vom ›Eiferer-im- Herrn‹, Korporal Reif, der unter ihm gedient hatte seit den Tagen jener ersten kleinen Truppe, die Cromwell seine ›Schöne Kompanie‹ genannt hatte und die zu einem zweifachen Regiment angewachsen war, das den stolzen Spitznamen ›Ironsides‹ trug. Korporal Reif war ein großer, magerer Mann mit einer rauhen Stimme, hohlen Wangen und einem leuchtenden Blick. Er führte ständig Worte des Alten Testaments im Mund, und seine rechte Hand schien leer zu sein, wenn sie kein Schwert führte. Er war der Typ von Mann, der Cromwells Ironsides zu dem gemacht hatte, was sie waren, predigende Ketzer und glühende Wiedertäufer viele von ihnen, aber Männer, die ›wußten, wofür sie kämpften, und liebten, was sie wußten‹. Nun waren die Ironsides aufgeteilt worden, um das Rückgrat der zwei älteren Kavallerie-Regimenter in dieser Neuen Armee zu bilden, und Korporal Reif von Disbrows Schwadron lehrte Simon, wie Barnaby gesagt hatte, sein Handwerk. 78

Simon, dessen Ernennung pünktlich erfolgt war, war ein eifriger Schüler und begriff schnell, er und Scharlach zusammen. Sie lernten mit anderen Pferden und Reitern manövrieren und die Trompetensignale unterscheiden, nach denen sie von nun an leben und durch die sie Befehle entgegennehmen würden. Scharlach wurde an den Lärm von Trommeln und Kesselpauken gewöhnt und mußte lernen, bei Gewehrfeuer stillzustehen. Simon konnte jetzt die Truppenstandarte auf die richtige Weise tragen und wußte, wie man mit dem schweren Kavallerieschwert umzugehen hatte. Nach und nach wurde ihm beigebracht, seine Gruppe in der Schwadron zu führen, und das wurde ihm durch seinen Korporal und seine Männer so leicht wie nur möglich gemacht, die ihm freundlich entgegenkamen und die ihn in seinen ersten Tagen, als er noch uns icher war, durch manches Manöver hindurchlavierten, in dem er ohne ihre Hilfe zu Fall gekommen wäre. Zu all diesem kamen die gewöhnlichen täglichen Pflichten hinzu: Stalldienst, Patrouille, Waffeninspektion, Wache und dergleichen. Zuerst erschien das Leben seltsam und übervoll, aber sehr bald begann der verwirrende Wirbel der Tage feste Formen anzunehmen, und unter diesen Formen gab es viele glückliche Stunden, an die er sich sein ganzes Leben lang erinnern würde. Der Sonntagmorgen und der Feldgottesdienst mit dem Turm des Windsor-Schlosses, der sich über den frühlingsroten Weiden erhob, und das tiefe Murmeln der Armee beim Gebet, über dem jubelnder Lerchengesang schwebte. Eine Schwadron im Galopp und die kraftvolle Musik von Trompeten und Kesselpauken, die die Pferde fast tanzen machte. Die Kameradschaft seiner Männer und die etwas andersartige Kameradschaft seiner Offizierskameraden. Sie waren eine sonderbar gemischte Gesellschaft, die Offiziere von Fairfax' Reiterei: Männer jeden Schlages, von Barnaby Colebourne mit den eleganten Stiefeln bis zu Kapitän 79

Bennet, der mit gezogenem Schwert in der Hand vom Höllenfeuer und einem Gott des Zornes predigte, wenn er sonntags auf Pastor Hugh Peters Feldkanzel stand. Aber im ganzen waren sie freundliche Seelen, und der einzige, mit dem Simon ganz und gar nicht zurechtkommen konnte, war Kornett Denzil Wainwright, der in seiner Würde verletzt war, weil man ihn zur Dritten Schwadron versetzt hatte, während die begehrte Kornettstelle in der Zweiten einem ungeübten Mann aus dem Westen zufiel. Denzil, der ein Stadtmensch war, hielt Simon für einen Bauernlümmel und war eifrig darauf bedacht, daß Simon selber und auch sonst jedermann merkte, was er von ihm dachte. Er versäumte keine Gelegenheit, die Fehler aufzudecken, die Simon, dem das Leben in einem Reiterregiment noch ungewohnt war, häufig unterliefen. Er machte ihn vor den anderen heimtückisch und böswillig lächerlich, ein- oder zweimal sogar vor seinen Leuten, was ganz unmöglich war. Daß er das getan hatte, beschrieb er einem Freund als ›eine kleine harmlose Sauhatz‹, die aber für ihr Opfer ganz gewiß nicht angenehm gewesen war. Eines Morgens, ungefähr einen Monat nach Simons Eintritt in die Armee, war Denzil Wainwright ganz besonders gemein, als sie zum frühen Stalldienst gingen. Er prahlte mit seinem städtischen Wesen und Benehmen, nannte ihn anzüglich ›Bauer‹ und sprach derartig abfällig über Kühe, daß Simon, der auf das Vieh von Lovacott stolz war, ihm am liebsten in sein hochmütiges Gesicht geschlagen hätte. Er nahm alles äußerlich ruhig hin, weil er wußte, daß Denzil sich nichts sehnlicher wünschte, als daß er vor den anderen Kornetts einen Wutanfall bekäme, aber innerlich kochte er noch eine Stunde später, als er seine Gruppe auf Patrouille führte. Es war noch sehr früh, als der Reitertrupp in das offene Land hinauskam. Die Sonne war noch nicht aufgegangen, und der Nebel hing tief in den sumpfigen Wiesen. Der ganze Himmel war von Sonnenschein erfüllt, und das junge Laub der Pappeln 80

fing das erste Licht auf wie Blattgold, das auf die kahlen Zweige gesteckt war. Es war ein sehr schöner Morgen in einem sehr schönen Teil Englands, und seine Schönheit versetzte Simon zurück in seine Heimat, die so anders war als diese Landschaft aus üppigen Wiesen und prächtigen Parkbäumen - eine Landschaft aus kleinen, runden Hügeln und steilen Talmulden, aus Eichenwäldern, die alle vom Westwind in eine Richtung gebeugt waren, aus geschützten Heckenwegen, in denen im Sommer der Fingerhut an den hohen Rändern emporwucherte, und aus kleinen, kahlen Feldern, die zum Schutz gegen den Wind mit Buchen und Dornbüschen umgrenzt waren. Die Sonne begann zu steigen, und als sie heraufkam, hob sich auch der Nebel, durch die Wärme angezogen, so daß Simon und seine Leute eine Weile durch eine wattige weiße Welt ritten, in der Baum, Haus und Heuschober nur als Phantome erschienen und sogar Korporal Reif, der neben ihm ritt, durch einen Schleier von Nebel von ihm getrennt war. Dann wurde der Nebel langsam lichter. Streifen von Blau erschienen über ihnen, und einzelne Strahlen aus Gold stießen durch das Grau und ließen es schillern wie Opal. Eine Lerche stand trillernd im Morgenhimmel, und plötzlich war der Nebel vergangen. Nur die Nebeltropfen, die an jedem Zweig und Grashalm hingen und die Mähnen der Pferde versilberten, schimmerten in allen Farben im Sonnenschein. Die kleine Truppe ritt weiter und machte einen großen Bogen durch mehrere Dörfer, wo niemand sie sonderlich beachtete, denn das ständige Kommen und Gehen von Reiterpatrouillen war in den letzten Wochen jedermann ein vertrauter Anblick geworden. Als sie am frühen Nachmittag an ein freundliches Gasthaus am Fluß kamen, ließ Simon sie halten, um die Pferde zu tränken und die Männer zu erfrischen. Ein dicker Mann in weißer Schürze kam geschäftig an die Tür, als die Soldaten sich aus den Sätteln schwangen und Simon ihm zurief: »Brot und Käse, Wirt, und Bier - eine Menge Bier für mich und meine 81

Leute.« »Brot und Käse ist da, General«, sagte der Wirt fröhlich. »Und das beste Bier in Berkshire«, und er verschwand, um alles herbeizubringen. Die Pferde wurden angepflockt, die Futtersäcke wurden ihnen umgehängt, und die Soldaten drängten sich in die dunkle Schankstube, nachdem sie zwei draußen zurückgelassen hatten, die auf ihre Pferde aufpassen sollten. Simon ging zu dem Fenster am Ende der Stube und sah hinaus. Das Fenster war offen, der Duft von frühen Spalierblumen stieg zu ihm auf, und er hörte es unten im Garten jenseits der Weiden irgendwo in einem Wehr rauschen. Er wandte sich um und merkte, daß Korporal Reif neben ihm stand und auch hinausschaute. »Ich gehe in den Garten«, sagte er. »Bringen Sie mir ein bißchen Brot und Käse hinaus, wenn es kommt, Korporal, und schicken Sie Perks und Wagstaff ihre Rationen nach draußen.« »Ja, Sir.« Simon schwang ein Bein über die niedrige Fensterbank und kletterte hinaus, wobei er sorgfältig darauf achtete, nicht auf die Blumen zu treten, die unter dem Fenster wuchsen. Überall war frisches Grün, das im Sonnenschein wie smaragdfarbene Flammen leuchtete, und der ungepflegte Garten war ein Wuchern aus Narzissen und Anemonen. Offenbar liebte hier jemand Blumen, genau wie seine Mutter, dachte Simon, nur daß sich hier niemand um das Unkraut kümmerte, das seine Mutter immer jätete. Er wanderte den abschüssigen Pfad hinunter in den Teil des Gartens, wo Kohl und Johannisbeersträucher wuchsen, vom Rauschen des Wehres angezogen. Nachdem er die grauen Weiden hinter sich hatte, gelangte er ans Flußufer. Es war ein Nebenarm der Themse, nicht der Strom selbst, und das Rauschen des Wehrs, dessen Schaumwirbel sich etwas oberhalb drehten, war nicht so laut wie das Rauschen eines Wehrs in einem freien Strom, sondern es war ein sanfter, feuchter Donner, der angenehm anzuhören war. Unterhalb von ihm floß das 82

Wasser dunkel und ruhig, und die Schaumklumpen zogen vorüber, während sie sich mit dem glänzenden Netzwerk aus Gold vermischten, das aus Sonnenlicht gewebt auf dem Wasser lag. Simon sah ihnen zu, die Schulter an den Stamm einer alten gekappten Weide gelehnt, als er auf dem Ufer hinter sich Schritte vernahm und Korporal Reif mit einem großen Holzteller und einem ledernen Bierkrug erschien. »Ihr Essen, Sir.« »Danke, Korporal.« Simon nahm es ihm ab. »Ah, das beste Bier in Berkshire. Dies ist ein guter Platz. Man sollte später wieder einmal herkommen.« »Ja, Sir«, sagte Korporal Reif, und noch während er sprach, schnellte sein Kopf hoch, und er beobachtete irgend etwas unten am Strom. »Ein Eisvogel«, sagte er leise. Simon sah gerade noch einen Schimmer von leuchtendem Blau, als er in den Weiden verschwand. »Das ist der erste Eisvogel, den ich seit Monaten gesehen habe«, sagte er. Und zum erstenmal wurde ihm bewußt, daß Korporal Reif vom Lande stammte wie er selbst, daß er das Auge eines Landmannes hatte, das Dinge erblickt, für die der Stadtmensch blind ist, und plötzlich waren sie miteinander verbunden. »Da ist Brot und Käse genug für uns beide, und wir können nachher noch mehr Bier bekommen. Setzen Sie sich, Korporal.« »Sir?« sagte Korporal Reif. »Setzen Sie sich, Korporal Reif. Ich tue das auch.« Simon tat, was er gesagt hatte, und nach einem Augenblick des Zögerns klappte der ›Eiferer- im-Herrn‹ seine langen Beine zusammen und setzte sich auch. Bald hatten sie es sich sehr bequem gemacht mit dem Brot, dem Käse und dem Krug zwischen sich. »Sind Sie Bauer?« fragte Simon, nachdem sie eine kleine 83

Weile schweigend gesessen und gegessen hatten. »Ich hatte einen kleinen Hof, bei Spalding - ich und mein Bruder.« »Ja-a?« sagte Simon hoffnungsfroh. Nach seinen Erfahrungen mit Denzil Wainwright hatte er das brennende Bedürfnis, mit einem Mann vom Lande ein Bauerngespräch zu führen. Da sein Korporal die Unterhaltung anscheinend nicht weiterführen wollte, fügte er hinzu: »Erzählen Sie mir etwas?« »Da ist nicht viel zu erzählen. Es war kein großes Stück Land, auch kein reiches, aber unser Vater hatte es vor uns und sein Vater vor ihm und immer so weiter, ich weiß nicht, durch wie viele Generationen. Vielleicht wissen Sie, wie das mit einem Stück Land ist - wie es einem Mann ans Herz wächst, wenn es ihn und seine Vorfahren ernährt hat.« »Hmm«, sagte Simon, »ich weiß es.« »Was sagt die Bibel darüber, daß jedermann unter seinem eigenen Weinstock und seinem eigenen Feigenbaum sitzen soll? - Nicht daß das Land uns je gehört hätte. Wir hatten es vom Squire gepachtet. Vater und Sohn pachteten es von Vater und Sohn.« »Was haben Sie angebaut?« fragte Simon. »Wir zogen Blumenzwiebeln. In Spalding zieht man viel Zwiebeln. Diese weiße Narzisse da -«, er wies mit dem Kopf auf ein sternenhelles Büschel, das sich offenbar aus dem Garten hinter ihnen dorthin verirrt hatte und zwischen dem hohen Gras am Flußufer wuchs. »Wir zogen immer viele wie die, auch Tulpen und gelbe Narzissen. Alles wegen der Zwiebeln, wissen Sie. Die meisten Leute meinen, alle Zwiebeln kommen aus den Niederlanden, und das taten sie ja früher auch - ein gut Teil jedenfalls -, aber wenn Ihre Mutter heute Binsennarzissenzwiebeln für ihren Garten kauft, dann kommen sie sicherlich aus Spalding.« Als er erst einmal bei seinem Lieblingsthema war, sprach er 84

eine Weile weiter, über sein kleines Stück Land in den Fens, das das einzige in der Welt zu sein schien, was er wirklich liebte. Über seine Zucht von Blumenzwiebeln und wie man sie sorgfältig lagern müsse. Wie schwierig es sei, gewisse Blumensorten rein zu erhalten, bis es Simon so vorkam, als sei der Mann neben ihm nicht mehr Korporal Reif, der eifernde Prophet des Höllenfeuers, den er bisher kennengelernt hatte, sondern ein neuer Freund, ein friedlicher Mensch, der Pflanzen zog und Freude an einem geflammten und gefiederten Tulpenblatt hatte. »Ihr Bruder sorgt wohl inzwischen für den Hof, bis der Krieg vorbei ist und Sie wieder heimkommen?« fragte Simon dann. Keine Antwort kam. Und als er sich umsah, war der neue Korporal Reif fort, und der alte saß wieder dort, das dunkle Gesicht versteinert. »Nein, Sir«, sagte Korporal Reif mit gebrochener Stimme. »Von nun an bin ich Ismael. Für mich gibt es keinen Weinberg und keinen Feigenbaum mehr.« In der schrecklichen Stille, die seinen Worten folgte, hörte Simon sehr deutlich über dem Murmeln des Wehrs einen fernen Lachsturm aus dem Gasthaus hinter ihnen. »Ich, ich... es tut mir leid«, platzte er schließlich heraus. »Ich hätte das nicht gefragt, wenn...« Korporal Reif sah noch immer auf die weißen Blüten der Narzissen neben seinen gestiefelten Füßen. »Ach nein, das ändert auch nichts, Sir«, sagte er rauh. »Worte machen die Sache nicht schlimmer.« Es wurde Simon später niemals ganz klar, wie oder warum sein Korporal ihm dann doch die ganze unglückselige Geschichte erzählt hatte, es sei denn wegen des Eisvogels. Er erinnerte sich nur, daß der andere seinen Brotknust und den Käse hingelegt hatte und dann schnell und bitter berichtete. »Das war so: Wir kamen ganz gut voran mit den Zwiebeln, mein Bruder und ich - besser als einer von unseren Vorfahren. 85

Wir schafften es sogar, ein bißchen beiseite zu legen, was keinem von unseren Vorfahren jemals gelungen war. Und wir sparten, damit wir, wenn es einmal nötig wäre, eines Tages das Land kaufen könnten. Der alte Squire hatte keinen Sohn oder irgendeinen nahen Verwandten, der sein Erbe war, und wir wußten genau, daß wir, wenn die Zeit käme und er zu seinen Vätern geholt würde, erleben müßten, wie das Gut an Fremde gehen würde, und daß wir dann vielleicht nicht auf dem Hof bleiben könnten. Darum lebten wir sparsam und verzichteten auf alles, sogar auf Frau und Kinder. All das konnte später kommen, dachten wir, wenn das Land uns sicher war. Wir brachten schließlich beinahe dreißig Pfund zusammen, indem wir sparten und zusammenkratzten und an jedem Markttag ein bißchen dazutaten. Wir versteckten es in einem Loch in der Hofmauer. Das war ein gutes Versteck, und wir benutzten es auch noch für andere Sachen außer Geld. Wir hatten in jahrelanger Arbeit versucht, eine doppelte weiße Hyazinthe zu züchten, und schließlich war es uns gelungen. Wir versteckten die Zwiebeln auch da, bis die Zeit käme, sie zu pflanzen. Aber ›der Mensch wird zu Unglück geboren, wie die Vögel schweben, emporzufliegen‹ sagt Hiob in seiner Weisheit. Es war kurz nach Kriegsausbruch, und Cromwell sammelte seine Leute gegen Charles Stuart, den Blutigen. Ich trat in seine Truppe ein, um die Amalekiter zu vernichten. Ich war erst ein paar Wochen fort, als ich hörte, daß mein Bruder tot war. An Sumpffieber starb er, und als ich nach Hause kam, um nach dem Rechten zu sehen und zu dem Versteck in der Mauer ging - da war es leer. Weder ein Silberstück noch die Hyazinthenzwiebel war mehr da.« »Das ist schrecklich!« sagte Simon nach einer Stille. »Was geschah dann?« »›Ich pflanzte Weinberge. Ich machte mir Gärten und Obstgärten und pflanzte allerlei fruchtbare Bäume darein - und siehe, es war alles eitel und Haschen nach dem Wind und kein Gewinn unter der Sonne‹«, zitierte der ›Eiferer- im-Herrn‹ 86

traurig. »Was geschah? Nun, ich ging zu meiner Truppe zurück, und noch im gleichen Monat starb der alte Squire. Das Gut kam an irgendeinen jungen lustigen Bruder, der mehr als die Hälfte von dem Land und von den Höfen verkaufte. Einige von den Bauern kauften ihr Land. Ich konnte das nicht.« »Aber - hätten denn die dreißig Pfund wirklich gereicht?« wandte Simon ein. »Nein. Aber fürs erste hätte es gelangt, und den Rest hätte ich später bezahlen können. Die weiße Hyazinthe hätte uns allerlei eingebracht, wenn sie erst einmal auf dem Markt gewesen wäre. Der neue Squire hätte mit sich reden lassen.« »Hätten Sie es denn von niemandem borgen können?« »Wäre jemand dagewesen, dann hätte ich meinen Stolz begraben und mir etwas geborgt«, sagte der Korporal, »das war mir mein Land wert. Aber wir sind keine reichen Leute, die Geld verborgen können, wir Fen-Bauern. James Gibberdyke, mein Nachbar, er hätte mir etwas gegeben, wenn er es gehabt hätte. James war nicht gerade der Tüchtigste, und er hatte wohl weniger als die meisten. Aber der treueste Freund war er, den man sich wünschen kann, wenn man in Not ist. ›Ein Freund liebt allezeit, aber ein Bruder ist geboren zum Zwist‹, sagt die Bibel, und ein Freund war er durch und durch. Ich hatte ihn viel lieber als meinen eigenen Bruder, denn Aaron und ich hatten nie viel Gemeinsames außer dem Hof. Trotzdem gab es welche, die auf James wie auf einen Taugenichts hinabblickten, weil sie ihn nicht kannten wie ich.« Er zog seine langen Beine unter sich und stand auf. »Und nun, Sir, wird es Zeit, daß Sie Befehl zum Abmarsch geben.« Da wußte Simon, daß die wunderbare Vertrautheit der letzten halben Stunde vorüber war. Er stand gehorsam auf, trank das Bier aus und ging, gefolgt von seinem Korporal, in das Gasthaus zurück.

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Ins Gefecht

Einige Monate später, an einem Sommermorgen, standen sich in einem weiten, hochgelegenen Tal, ungefähr eine Meile nordöstlich von Naseby, zwei Armeen gegenüber. Der leichte Westwind ließ die Fahnen der gegnerischen Regimenter wehen und flattern, aber bis auf den Wind war es sehr Still, und als die Wartezeit sich hinzog, begann Simon, der eingereiht in die Neue Armee im Sattel seines tänzelnden Scharlach saß, an die Ereignisse zurückzudenken, die ihn hierhergebracht hatten. Vor sechs Wochen, als Cromwell und ein Reitertrupp schon ausgeschickt waren, um den König in Oxford festzuhalten, war die Neue Armee auf Befehl des Komitees westwärts marschiert, um Taunton zu entsetzen. Reiter, Fußtruppen und Troß, so waren sie aus den grauen Schloßmauern marschiert, während ihr ganzes Lagergefolge in den Verpflegungswagen hinterdreinzog (denn der Neuen Armee folgten auf dem Feldzug, wie damals und noch lange Zeit hernach üblich, die Frauen und Bräute, ohne die eine Versorgung der Kranken und Verwundeten schwierig gewesen wäre). Sie waren noch nicht zwei Tage unterwegs, da hatte es Verdruß wegen der Nachhut gegeben: Fairfax' Fußtruppen hatten sich geweigert, die Nachhut zu übernehmen, als sie an der Reihe waren. Sie waren des Generals Leibtruppe. Warum sollten sie hinten marschieren und den Staub von so viel geringeren Regimentern schlucken? Sie hatten einen Sprecher gewählt und dem General ihr Anliegen vorgetragen. Fairfax' Antwort war typisch für ihn: Es täte ihm leid, daß sein Regiment sich für zu gut hielte, die Nachhut zu bilden, er selbst täte das nicht. Und er war vom Pfe rd gestiegen und war mit ihnen marschiert. Danach hatte es wegen der Nachhut keinen Verdruß mehr gegeben, aber genug anderen. Sie hatten Taunton kaum erreicht, als sie zurückgerufen 88

wurden und den Befehl bekamen, Oxford zu belagern, von wo der König schon wieder entflohen war. Er war an Cromwell vorbeigekommen und strebte nach Norden, um an der Grenze zu Montrose zu stoßen. Cromwell war wieder ausgeschickt worden, diesmal wegen der Verteidigung von Ely. Die Armee hatte gemurrt und war ungeduldig geworden. Die Belagerung hatte sich hingezogen, während der König und Montrose Lord Levens Streitkräfte zwischen sich zermalmen wollten, und Simon, der seinen Vater in der bedrohten Armee wußte, hatte mehr gezittert als die meisten. Aber an den Befehlen des Komitees durfte man nicht zweifeln. Als schließlich Charles nicht weiter vorrückte und Leicester verheert hatte und die ganzen östlichen Grafschaften in Gefahr waren, hatte der Feurige Tom die Sache selbst in die Hand genommen. Er hatte einen Kriegsrat einberufen, die Belagerung von Oxford aufgehoben, war nordwärts marschiert und hatte Cromwell befohlen, sofort zurückzukommen und das Kommando über die Reiterei zu übernehmen. Das war vor einigen Tagen gewesen, und gestern war Cromwell wieder bei Kislingbury zu der Hauptarmee gestoßen, gerade als sie in einem kalten Nieselregen das Lager abbrachen. Simon hatte ihn in scharfem Ritt mit seinen sechshundert Soldaten einreiten sehen, die Augen rotgerändert, bis zu den Helmspitzen schmutzbespritzt, die Pferde mit lahmen Beinen, und die Kunde hatte sich wie ein Lauffeuer durch das Lager verbreitet. »Noll ist wieder da! Der alte Noll ist gekommen!« Die Fußtruppen hatten den Ruf von der Reiterei übernommen, und die ganze Armee hatte sich vor Freude heiser gebrüllt, als die müde Kompanie einritt, hatte ›Hoch‹ gerufen, bis der Schall ihrer Rufe an die nassen Wolken zu dringen schien und den Regen nur noch dichter herunterprasseln ließ. Gestern abend war die Neue Armee ganz nah an die Königliche Armee herangerückt und hatte im anha ltenden Regen bei Guilsborough biwakiert. Es war eine kriechende 89

Kälte gewesen, und in der dunklen Stunde vor Tagesanbruch, als Kaplan Joshua Sprigg die Gebete für den Sieg gesprochen hatte und den Soldaten eine Mahlzeit aus hartem Zwieback ausgegeben wurde, da hatte Simon keinen gewollt. Er hatte ein merkwürdiges Gefühl in der Magengrube, dessen er sich schrecklich schämte, und der bloße Gedanke an Essen hatte ihn schaudern lassen. Er hätte nicht gewußt, was er mit dem Zwieback anfangen sollte, denn er konnte ihn niemandem geben, ohne dieses beschämende Gefühl einzugestehen, und er hatte ihn schließlich schuldbewußt in die Innentasche seines durchnäßten Mantels gesteckt. Barnaby, der neben ihm stand, hatte ihm dabei zugesehen, aber überraschenderweise nicht gelacht. »Angst?« hatte Barnaby mit leiser Stimme dicht an seinem Ohr gefragt. Simon war sich mit der Zunge über die unangenehm trockenen Lippen gefahren. »Ja«, sagte er. »Leider.« »Nun, warum sollten Sie auch keine haben? Es ist das erstemal, daß Sie Pulver zu riechen bekommen. Ich bin nun schon in so vielen Schlachten gewesen und bin starr vor Angst.« »Wirklich?« fragte Simon mit einem Hoffungsschimmer. »Verdammt noch mal - ja! Und ich bin nicht der einzige. Dieses Warten ist auch das schlimmste von allem, das was Ihnen die Eingeweide zusammenzieht. Sie werden sich pudelwohl fühlen, sobald es losgeht; das geht uns allen so. Und sehen Sie, Simon...« Barnabys Stimme klang plötzlich verlegen und beinahe entschuldigend. »Ja?« »Es macht überhaupt nichts aus, wenn man wirklich Angst hat. Nur wenn man zuläßt, daß sie das beeinträchtigt, was man gerade zu tun hat, dann wird sie zu etwas, dessen man sich schämen sollte.« Irgendwie hatte das gutgetan, und Simon hatte seinen 90

Zwieback wieder herausgeangelt und ihn unter grimmiger Anstrengung gegessen, obwohl er in seinem Mund zu Sägemehl wurde. Danach war keine Zeit mehr zum Grübeln gewesen, da genug zu tun war. Der Regen rieselte weiter, als das Lager abgebrochen wurde und in Bewegung geriet und Kolonne auf Kolonne in die Dunkelheit schwenkte. Aber als die graue Dämmerung heraufkam, war tief unten im Westen ein Streifen in der Farbe nasser Schlüsselblumen erschienen. Er war breiter geworden und dehnte sich aus, während er aquamarinfarbig wurde und dann strahlend blau, und als sie Naseby erreichten und der Troß zurückgelassen wurde, hatte der Regen aufgehört, und die Geister der nassen, durchfrorenen Armee hatten sich in dem frischen Sonnenschein des Junimorgens wieder belebt. Barnaby hatte recht gehabt. Das Warten im Dunkeln war das schlimmste gewesen. Simon brauchte sich wegen seiner Übelkeit nicht länger zu schämen. Er war von einer seltsam erregten Erwartung erfüllt, von nichts anderem, als er in nervöser Unruhe zwischen den Soldaten seiner Eskorte saß und auf den Befehl zum Ausrücken wartete. An beiden Seiten von ihm und dahinter waren die Regimenter des rechten Flügels unter General Cromwell aufgestellt, die, wie es ihnen rechtmäßig zustand, den Platz der höchsten Gefahr und der höchsten Ehre einnahmen. Zu ihrer Link en befanden sich die Fußtruppen der Hauptstreitmacht unter Daddy Skippon und jenseits der linke Flügel unter Iretons Kommando. Die Dragoner waren außerhalb seiner Sichtweite in der Einbuchtung des Hügels aufmarschiert, aber Simon konnte einen guten Teil der Hauptkampflinie überblicken. Stolz durchströmte ihn, als er die große Schlachtaufstellung vor sich sah: die Fußtruppen prächtig scharlachrot zwischen dem Ledergelb und Stahlblau der Kavallerieflügel, und die Fahnen und Standarten stiegen auf und flatterten in dem leichten Wind, leuchtend wie seltene Blumen im Sonnenschein, der hier und dort auf den dichten Reihen der Piken, der Gewehrläufe oder den stählernen Helmen aufblitzte. 91

Als sich die Wartezeit hinzog, begann Simon kleine Dinge mit einer kristallene n Klarheit wahrzunehmen, die er nie zuvor gekannt hatte. Geringfügige Einzelheiten und Sonderbarkeiten, die er bis jetzt nie bemerkt hatte, über die Rücken der vor ihm stehenden Offiziere hinweg: die Sonnenwärme auf seinem Handrücken, während er den schlanken bemalten Standartenschaft hielt; die Standarte selbst, als er zu ihr aufblickte, wie sie sich gegen den Himmel blähte und kleine Windstöße sie durchführen wie ein Weizenfeld; fedrige Windwolken sprenkelten den Himmel über ihr, und ein Bussard kreiste auf regungslosen Schwingen. Es war sehr still hier oben in dieser Landschaft aus bewegten Bergketten und flachen Tälern mitten im Herzen Englands. Simon konnte ihre Stille durch die grellen, fremdartigen Geräusche der wartenden Kampflinie hindurch wahrnehmen - eine Stille aus ländlichen Geräuschen, die ihm lieb und vertraut waren, aus dem Krächzen des kreisenden Bussards, dem Sausen des Windes über dem Hügelkamm vor ihm, dem fernen Ding-ding-ding vom Dengeln einer Sense auf einem nassen Stein. Irgendwo machte jemand Heu. Mochte auch im benachbarten Feld Krieg geführt werden, aber ein schöner Tag war eben ein schöner Tag, und der durfte zur Erntezeit nicht versäumt werden. Zu Hause machten sie jetzt wohl auch Heu, oben in Twimmaways, Tom und Diggory und die anderen, und Polly brachte ihnen Pasteten und sauren Apfelwein in die schattige Ecke unter den Maibäumen. Früher war auch Amias immer dabei gewesen, wenn sie das Heu einbrachten... Die Stille wurde durch den grellen Ruf ferner Trompeten zerschnitten. Simon straffte sich im Sattel, als die Melder erschienen und wieder hinter dem Hügelkamm verschwanden. Parlamentstrompeten antworteten schmetternd, und im nächsten Augenblick war Iretons ganzer Flügel über den Hügelkamm gezogen. Nun sah Simon zum erstenmal die Armee des Königs. Er schaute unwillkürlich nach der königlichen Standarte aus und 92

fand sie nicht, weil der König bei seinen Reservetruppen war. Aber wenn man die Löwen und Lilien auch noch nicht sehen konnte, so wimmelte es von anderen Standarten: die von Sir Marmaduke Langdale auf dem linken Flügel, von Sir Jacob Astley in der Mitte und von Prinz Rupert zur Rechten, und dazwischen glänzten und flatterten dicht an dicht die Fahnen niedrigerer Regimenter. Einen Augenblick überlegte Simon, ob Amias eine von ihnen trage. Dann war keine Zeit mehr zum Überlegen. Der königliche rechte Flügel kam schon über den nahen Hügel heran, angeführt von dem Prinzen selber im roten Mantel an der Spitze seiner eigenen wilden, jungen Kavallerie. Iretons Truppen schwenkten ein, um sich mit ihnen zu schlagen, und die beiden Flügel prallten mit gewaltigem Krachen aufeinander, das eher eine Art Erschütterung als ein wirkliches Geräusch war, und auf beiden Seiten erscholl der Schlachtruf, der sich über die Linien fortpflanzte: »Queen Mary! Queen Mary!« schrien die Königlichen. »Gott unsere Stärke!« antworteten die Männer der Neuen Armee, und die beiden Rufe schienen in der Luft über der schwankenden Schlachtlinie aufeinanderzustoßen. Cromwell hielt seinen Flügel zurück, während der ankommende linke Flügel der Königlichen nahe heranrückte. Simon beobachtete sie, wie sie im Galopp durch das Tal und hügelaufwärts kamen, die Sonne hell auf ihren gezogenen Schwertern, den wippenden Federbüschen, den wehenden Standarten darüber. Näher und immer näher kamen sie! Simons Hand, die die Standarte hielt, umklammerte den Schaft so fest, daß die Knöchel weiß wie Knochen durchschienen. Würde denn der Befehl zum Angriff niemals kommen? Worauf wartete er? Jetzt! Jetzt, oder es ist zu spät! Der Feind war den Hügel halb herauf, als Cromwell endlich Walleys Regiment auf ihn losließ. Die Schwadronen ritten im Trab, ihre Reihen lockerten sich ein wenig, um sich dann wieder zu schließen. Simon sah sie anhalten, um ihre Pistolen 93

abzufeuern und dann mit dem Schwert weiterzukämpfen. Langdales Reiter begegneten ihnen tapfer. Sogleich war ein verzweifelter Kampf im Gange, und Walleys Reservetruppen stürmten zur Unterstützung hinunter. Abseits zur Linken schwoll und wuchs ein wirrer Lärm auf und ab, wie es dem Auf und Ab einer Schlacht entspricht. Aber für Simon gab es nur den Kampf direkt unter ihm. Da, der Feind ging zurück! Und plötzlich gellten über dem an- und abschwellenden Gewehrfeuer und dem Lärm der Schlacht die Trompeten von Fairfax' Reiterei. »Auf!« »Das ist es! Das sind wir!« Die Kesseltrommeln fingen an zu dröhnen. Simon berührte mit der Hacke Scharlachs Flanke und fühlte, wie das Pferd sich unter ihm straffte und vorging, als die langen Reihen in Bewegung gerieten. »Oh, Herr der Schlachten, verleihe unseren Waffen Stärke!« schlug sein Herz in wilder Erregung. Dies war das Wirkliche, das Eigentliche: der Angriff, den sie so oft auf den Wiesen bei Windsor geübt hatten. Er fühlte, wie seine Knie die der Männer an beiden Seiten von ihm berührten, als sie im Trab vorgingen und dann hügelabwärts ritten. Die Reihen schwenkten auseinander, lockerten sich und schlossen sich wieder. Fast der ganze Boden vor dem rechten Flügel war ein Kaninchengehege, hügelig und mit Stechginster durchsetzt. Grausamer Boden zum Kämpfe n; aber Cromwell hatte das gewußt, als die Schlachtlinie aufgestellt wurde, und hatte darauf vertraut, daß sie durchkommen würden. Vorwärts und hinab im Trab - paßt auf die Kaninchenlöcher auf und haltet euch an die Ordnung -, das kann bei Old Noll nicht schiefgehen. So stürmte der rechte Flügel mit dröhnenden Trommeln und unter windbewegten Standarten voran. »Gott unsere Stärke!« Simon hörte seine eigene Stimme über dem Tumult, er schrie aus Leibeskräften, als er hinter Barnaby gerade in die 94

aufgewirbelte Menge der Königlichen Reiterei hineinritt. Aber Walleys Angriff hatte seine Wirkung gehabt, und schon zerteilte sich der königliche Flügel. Nun kam dieser neue Angriff, und unter ihm fielen sie trotz heldenhaften Widerstandes zurück. Bald gab es keine richtige Schlachtlinie mehr, nur noch eine Kette von kleinen Gefechten. Simon fand sich und seine Eskorte in sie eindringen, und die Truppe donnerte hinter Scharlach her. »Gott unsere Stärke! Folgt der Standarte!« Und um ihn herum waren kämpfende Gestalten, erhobene Pferdeköpfe und ein tosender, brausender Aufruhr, der ihn zu verschlingen schien wie eine Welle. Ein Geruch nach Pulverdampf, Blut und schwitzenden Pferden stieg ihm in die Nase. Er bahnte sich einen Weg, während er die Standarte hochhielt, und beme rkte leicht verwundert, daß das Gedränge nachließ. Die Königlichen wichen nun schneller zurück. Langdales Reiterei war so gut wie geschlagen. Simon ritt an Barnaby heran, der ihm zurief: »Wir haben es geschafft!« bevor sie wieder getrennt wurden. Dann war plötzlich die erste Phase der Schlacht vorbei. Walley war zurückgelassen worden, um Langdales Reiterei zu schlagen, und Cromwell führte seine restlichen Regimenter gegen des Königs Reserven. Simon ritt scharf, unmittelbar hinter dem General. Korporal Reif an seiner Seite zitierte ganze Verse aus Jesaja als eine Art Schlachtgesang. Jetzt erblickte er die königliche Standarte. Sie bauschte sich glänzend vor seinen Augen. Aber es kam nicht mehr zu einem neuen Angriff. Irgend etwas war bei den königlichen Reservetruppen passiert. Sie gerieten in Unordnung und strömten nordwärts fort. Simon konnte nicht wissen, daß Lord Cornworth, als der König seine Truppen zum Gegenangriff führen wollte, ihm in die Zügel gegriffen und gerufen hatte: »Wollen Sie in den Tod gehen, Majestät?« Er konnte nichts von den sich seltsam widersprechenden Befehlen wissen, denen 95

zufolge die Reservetruppen zurückwichen, wobei sie den König zu ungestümer Flucht mitrissen. Er wußte nur, daß die königliche Standarte im Rückzug war und daß die Tapferkeit der Königlichen zerrann wie ein Traum. Cromwell ließ seine Schwadronen zum Hauptkampf des Tages zurückschwenken. Am linken Flügel stand es schlimm. Dort sah es fast nach einer vollkommenen Katastrophe aus. Ireton war verwundet und bald nach Beginn der Schlacht gefangengenommen worden. Prinz Rupert und seine wilden Reiter waren durchgebrochen und über den Hügelkamm gestürmt, indem sie den Feind vor sich hertrieben. Auch Daddy Skippon war verwundet und war, obwohl er sich weigerte, das Schlachtfeld zu verlassen, vollkommen kampfunfähig. Die Fußtruppen, die keinen Führer mehr hatten und deren linke Flanke durch Iretons Ausfall ungedeckt war, begannen abzubröckeln. Die linke Hauptkampftruppe wich zurück und zerstreute sich. Die Königlichen brachen durch und warfen sich auf die drei alten Reserveregimenter von Pride, Hammond und Rainsborough. Nur die überragende Festigkeit dieser drei Einheiten rettete den Tag, sie und das leuchtende Beispiel von Fairfax selbst, der inzwischen seinen Helm und die meisten seiner Offiziere verloren hatte und der nun an der Spitze einer tapferen Kompanie, die sich um seine schwankende Standarte gesammelt hatte, wie ein Berserker kämpfte. Der Kampf tobte noch immer, als Cromwell seine vorwärtsstürmenden Schwadronen gegen die ungedeckte Flanke der königlichen Fußtruppen lenkte. Gleichzeitig griffen Oberst Okeys Dragoner sie von der anderen Seite an. Der Rest von Iretons Flügel, der sich inzwischen wieder gesammelt hatte, geführt von Ireton selbst, der innerhalb einer halben Stunde aus der Gefangenschaft entkommen war, fiel ihnen in den Rücken. Die Königlichen kämpften zäh und tapfer, sie starben, wo sie standen. Prinz Rupert, der seinen Angriff bis zu der Troßlinie 96

bei Naseby vorgetrieben hatte und von dem Gewehrfeuer der Wachmannschaft vertrieben worden war, kam mit seinen abgehetzten Pferden zurück, um zu sehen, daß die Schlacht hoffnungslos verloren war. Da er allzulange fortgewesen war, tat er das beste, was er tun konnte, indem er zum König stieß und nördlich der alten eine neue Kavallerielinie bildete. Aber die königlichen Truppen hatten den Mut verloren, und als Fairfax noch einmal mit weit auseinandergezogenen Kavallerieflügeln angriff, hatte Simon wiederum den merkwürdig mitleiderregenden Anblick einer sich auflösenden Schlachtlinie, die wie ein Sandwall unter der ankommenden Flut zerrann. »Sie fliehen! Gott unsere Stärke! Sie fliehen!« Der triumphierende Schrei lief durch die siegreiche Armee. Die Verfolgungsjagd brach los und fegte gellend hinter ihnen drein. Simon ritt an der Spitze der Jagd. Er fühlte, wie der Wind die Standarte an ihren Schaft zurückpeitschte und wie er Scharlachs Mähne über seine Zügelhand wehen ließ, als das Pferd vorwärts stürmte und mit Schnauben auf die Sporen und seine anfeuernden Rufe antwortete. Er hörte die Hufe seiner Truppe im vollen Galopp über die Erde der Niederungen hinter ihm donnern. Aber plötzlich war die freudige Erregung vorüber. Simon hatte nie gern etwas gejagt, und es war kein Unterschied, ob das Gejagte ein in die Enge getriebener Fuchs oder eine geschlagene Armee war. Hinter ihnen in dem weiten, hohen Tal, das eben noch Schlachtfeld gewesen war, wurden die Gefangenen gesammelt und die königlichen Gepäckwagen für die Verwundeten herbeigeschafft. Das ganze Troßgefolge war eifrig bei der Arbeit. Es war noch nicht einmal Mittag an diesem Tag, und die Junisonne schien warm und freundlich auf die Toten zweier englischer Armeen, die fremd zwischen dem Thymian und dem 97

kleinen weißen Sommerklee auf den Wiesen im Tal, hier mitten im Herzen Englands, lagen. Hoch oben kreiste immer noch der Bussard auf regungslosen Schwingen und schrie. Nach beiden Seiten ging die buntfarbige Landschaft in weite Täler, dunstige Wälder und kleine Felder über, auf denen die Heuernte in vollem Gange war.

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›Mein Freund, dem ich mich vertraute‹

Nach einem scharfen Ritt von vierzehn Meilen brach Cromwell die Verfolgung ab. Die Regimenter schwenkten seitwärts ein und kamen gegen Abend in ein Dorf inmitten eines Tales der grünen Leicestershire-Berge hinunter. Die Reiter waren nun, da die erregende Jagd vorüber war, vollkommen erschöpft, sie saßen auf Pferden, die plötzlich anfingen zu lahmen. Sie fielen über den schläfrigen Ort her wie ein Schwarm Bienen über einen Apfelzweig und sanken dort, wo sie gerade anhielten, aus den Sätteln, zu müde sogar, um die gaffenden Dorfleute zu bemerken. Als Simon an einer Wiese unter alten Ulmen abstieg, war sein einziger Wunsch, sich flach auf den Rücken zu legen und in das hohe, vielschichtige Blattwerk der Bäume zu starren und niemals mehr etwas zu tun. Aber es gab andere, denen es schlechter ging als ihm. Scharlachs glänzendes Fell war vom Schweiß so dunkel, daß es fast schwarz wirkte, seine Flanken bebten, und weißer Schaum troff ihm aus dem Maul. Simon streichelte ihm liebkosend den feuchten Hals und eilte dann fort, um einem seiner Soldaten zu helfen, der die ganze Zeit vorn an der Spitze geritten war, nun schwankend neben seinem Pferd stand und von dessen Arm Blut tropfte. »He! Korporal Reif!« Der Korporal ließ davon ab, seine Leute zu mustern, und wandte sich um. »Sir?« »Hat schon jemand herausgefunden, wo der Bader wohnt? Clerk ist verwundet.« Ein Dörfler antwortete ihm. »Am anderen Ende des Dorfes. Sie bringen die Verwundeten jetzt dahin. Ich habe sie gesehen, als ich vorbeikam. Einige bluteten furchtbar. Sie haben 99

gekämpft, wie?« »Ja, wir haben gekämpft«, entgegnete Simon. Dann wandte er sich an einen dabeistehenden Soldaten: »Saundry, bringen Sie Clerk dorthin, damit sein Arm verbunden wird.« »Ja, Sir.« Der Soldat Saundry stützte den gesunden Arm seines Kameraden mit der Schulter und sagte aufmunternd: »Stütz dich, Alter.« Dann wankten die beiden langsam auf die verfallene Hütte zu, die am Anfang der Dorfstraße stand. »Sir.« Diesmal war es der Truppentrompeter, der Simon ansprach. »Ja?« »Der Major will Sie sprechen, Sir.« »Gut.« Simon wandte sich um und ging mit Scharlach am Zügel dorthin, wo Major Disbrow eben von seinem müden Pferd gestiegen war. »Sie haben nach mir geschickt, Sir?« »Ja. Haben Sie etwas unternommen, um Ihre Leute unterzubringen ?« »Noch nicht, Sir. Ich bin erst ein paar Minuten hier.« »Sie sind dafür verantwortlich. Kümmern Sie sich jetzt darum.« Simon zögerte, und der kleine, sehnige Major fügte verdrießlich hinzu: »Na, was ist denn noch?« »Irgendwo, Sir?« »Irge ndwo, mein Junge, wo es noch nicht von Offizieren besetzt ist, die schneller zugegriffen haben.« »Jawohl, Sir.« Simon grüßte und trat errötend zurück. Einige von seinen Soldaten blickten sich an, denn die meisten von ihnen hatten irgendwann einmal unter der scharfen Zunge des Majors zu leiden gehabt, und sie wußten, daß er unmittelbar nach einem Gefecht besonders erregbar war. Sie nahmen sich daher ihrem jungen Offizier zuliebe außerordentlich zusammen, 100

als sie wieder aufsaßen und ihm bereitwillig folgten. Das ganze Dorf war inzwischen mit Soldaten und Offizieren vollgestopft, und alle wollten dasselbe, aber nach einem oder zwei vergeblichen Versuchen fand Simon, oder besser sein Korporal, ein leeres Quartier in einem kleinen, einfachen Bauernhaus an einem Seitenweg hinter der Kirche. Der Bauer, ein einfacher Mann von mürrischem Aussehen, war zuerst abweisend, als ihm ein junger Parlamentsoffizier gegenüberstand, der um Unterkunft für sich und ungefähr dreißig Soldaten bat. »Unchristlich nenn ich das!« sagte er grob. »Mit euerm rechtmäßigen König Krieg zu führen, die Heudiemen niederzutrampeln, euch bei ordentlichen Leuten einzuquartieren, die Mägde zu erschrecken und uns womöglich das Haus über dem Kopf anzuzünden!« »Hören Sie«, sagte Simon, als er ausgeredet hatte, »wir wollen Ihre Mägde nicht erschrecken und Ihr Haus nicht anzünden, aber leider wird Ihnen nichts übrigbleiben, als uns in Ihren Scheunen und Ställen Unterkunft für die Nacht zu geben. Wir brauchen auch etwas zu essen und Futter für die Pferde. Wir bezahlen natürlich für alles.« Er lächelte plötzlich. »Es tut mir leid um die Heudiemen.« »Was verstehen denn Sie von Heudiemen?« fragte der Bauer. »Ich möchte auch nicht gern, daß Pferde durch meine trampeln«, sagte Simon offen. »Sind Sie etwa auch Landwirt?« fragte der Bauer mit tiefem Mißtrauen. »Ja.« »Das Parlament bezahlt, sagten Sie?« »Sicher. Wollen Sie uns nun unsere Quartiere zeigen - oder jemand bestimmen, der das tut?« Immer noch murrend begleitete der Mann Simon hinaus zu den müden Reitern, die mit Korporal Reif draußen warteten, und 101

führte sie in den Hof hinter dem Haus. Getreu dem uralten Gesetz der Kavallerie, daß die Pferde versorgt werden mußten, bevor die Männer an ihr eigenes Essen und ihre Ruhe denken konnten, begannen die Soldaten zu arbeiten. Die Pferde wurden abgesattelt, abgerieben und hin und her geführt, bis sie abgekühlt waren. Dann wurden sie aus den Futterkästen, die der Bauer zögernd für sie geöffnet hatte, gefüttert, an dem moosbewachsenen Steintrog getränkt und im Hof angebunden. Sonst versorgte immer einer von Simons Soldaten Scharlach; aber an diesem Abend konnte man keinem der Männer eine Mehrarbeit zumuten. Außerdem hatte Scharlach seinen Herrn heute tapfer getragen, und darum hatte sein Herr den Wunsch, alles für ihn zu tun, um ihm zu danken. So arbeitete Simon neben seinen Soldaten, er sattelte den müden Fuchs ab, rieb ihn mit Stroh ab, fütterte und tränkte ihn und flüsterte ihm die ganze Zeit stolze Zärtlichkeiten in sein zuckendes Ohr. Er war gerade fertig und sah nach, ob die Pferde gut angebunden waren, als ihm jemand auf die Schulter schlug, und als er sich umwandte, sah er seinen Leutnant neben sich stehen. »Sir?« sagte Simon. »Ich wollte nur mal sehen, wie es geht. Wir liegen da drüben, und ich dachte, ich sollte doch mal hören, wie Sie zurechtkommen. Ist jemand verwundet?« »Clerk hat einen Armschuß. Er ist schon hinten beim Bader. Drei andere verwundet - oder gefallen - dahinten.« Er wies mit dem Kopf nach Naseby hinüber. Barnaby nickte, und einen Augenblick schauten sie schweigend über das stille Land. »Nun haben Sie Ihre Feuertaufe hinter sich«, sagte er. »Ja, Scharlach auch.« Simon strich wieder und wieder mit der Hand über Scharlachs geschwungenen Hals, während das Pferd liebevoll seine Brust beschnupperte. »Und wir haben Charles 102

einen Hemmschuh ans Rad gebunden, so sicher wie Einhörner«, fügte er abwesend hinzu. »So sicher wie was?« Simon errötete. »Einhörner. Ich meinte, ›so sicher wie Einhörner Eier legen‹. Das ist nur ein Geheimwort, das ein Freund und ich gebrauchten, als wir kleine Jungen waren. Ich hatte es fast vergessen - und dann rutschte es mir heraus.« Barnaby nickte. »Ihr Freund kämpft auch für das Parlament?« »Für den König«, sagte Simon knapp. Barnaby warf ihm einen kurzen Blick zu. »Das ist kein Zuckerschlecken, dieser Krieg«, sagte er. »Nein.« Dann schwiegen sie beide. »Die Blätter sehen nach Regen aus«, sagte Barnaby. »Sonst alles in Ordnung? Habt ihr genug Futter für die Pferde? Dann will ich jetzt zu meinen eigenen Leuten zurück.« Er ging durch die Ulmen davon, und Simon sah ihm nach und dachte daran, was für ein anderer Mensch der Barnaby draußen im Feld war als der Barnaby mit den lächerlichen Stiefeln. Lange nachdem die sanfte Juni- Abenddämmerung die Umrisse von Stall, Scheune und Hecke ausgelöscht hatte, summte das Dorf immer noch wie ein aufgestörter Bienenschwarm. Cromwell und sein Stab hatten sich im Gasthaus ›Zur fröhlichen Wiederkehr‹ einquartiert, und jeder Hof und jedes Haus im Dorf und meilenweit in der Runde war voll von Soldaten, jeder Hofplatz belegt von angebundenen Pferden. Männer kamen und gingen, die entweder Wachdienst oder Aufträge des Generals auszuführen hatten. Offiziere sahen nach ihren Leuten und den Pferden. Kleine Trupps todmüder Kämpfer kamen immer noch an. Der Bader und sein verängstigter Gehilfe waren noch bei der Arbeit. Aber die meisten Dorfbewohner hockten an ihrem Feuer und waren grimmig entschlossen zu verhüten, daß die Soldatenplage, die 103

über sie gekommen war, ihnen die Häuser anzündete oder ihre Ersparnisse aus dem Kamin oder unter der Matratze herausklaubte. In der rauchgeschwärzten Küche des Bauernhauses hinter der Kirche hatten Simon und seine Leute das Abendessen aus Bohnen und kaltem Speck gegessen, das die Bauernfrau und die Mägde eilig für sie zubereitet hatten. Sie waren nun ganz allein, denn der einfache und finstere Bauer hatte seine Abneigung gegen das Parlament und dessen Taten dadurch bekundet, daß er die Mägde ins Bett und die Knechte in ihre Kammern über dem Stall geschickt hatte, während er selbst sich mit seiner Frau und seinem triefäugigen Schäferhund in die selten benutzte gute Stube zurückzog. Diejenigen Männer, die im Augenblick keinen Wachdienst hatten, lagen auf Bänken und saßen auf Fässern oder dem Boden, den Rücken an die Knie ihrer Kameraden gelehnt. Viele schliefen schon halbwegs. Simon saß auf einer Bank am Feuer, er hatte seinen Schwertgürtel gelöst und seinen Helm auf den Sitz neben sich gelegt. Die niedrigen Flammen kräuselten sich wie phantastische Blütenblätter unter rotgelöcherten Kloben; blau mit safrangelb, smaragdgrün und scharlachrot. Simon beobachtete sie, bis er schließlich einnickte, dann plötzlich zusammenzuckte und aufwachte und auf seine Männer sah. Den ganzen Abend war es ein ewiges Kommen und Gehen gewesen, aber im Augenb lick war alles ruhig. Irgend jemand hatte ein schmieriges Kartenspiel hervorgeholt (›Des Teufels Bilderbuch‹ war streng verboten, aber in der Neuen Armee gab es trotzdem eine ganze Menge davon), und vier Soldaten spielten ›Post and Pair‹, die Köpfe dicht zusammengesteckt über einer tropfenden Kerze in einem Messingleuchter. Der Soldat Wagstaff, dessen Hände immer etwas zu tun haben mußten, schnitzte seinen Namen in das breite Fensterbrett, und Simon überlegte, daß er ihm das wohl verbieten müßte, konnte sic h aber nicht dazu aufraffen. Der Soldat Clerk, dessen Arm verbunden war, schlief 104

friedlich, den Kopf in einer Ecke, mit offenem Mund. Andere unterhielten sich und duselten manchmal ein. Korporal Eifererim- Herrn saß in der Ecke auf der gegenüberliegenden Bank, hatte seine zerlesene Bibel offen in der Hand, seine Lippen bewegten sich beim Lesen, während er sich vorbeugte, um das Licht auf die Seiten fallen zu lassen. Von Zeit zu Zeit hob er den Kopf, als ob er den Text auswendig lerne, und starrte mit seinen brennenden, fanatischen Augen vor sich hin, während seine Lippen sich immer noch bewegten. Sie sahen nicht aus wie eine siegreiche Armee, dachte Simon, sie waren zu müde. Er wollte gerade wieder einnicken, als die Außentür mit einem Ruck geöffnet wurde und ein dicker Soldat mit rotem Gesicht vor dem Hintergrund der dämmerigen Straße erschien. »Schöne Grüße von Kapitän Vanderhorst«, sagte er, indem er mit fröhlichem Lächeln alle in dem Raum ansprach. »Könnten Sie ihm mit etwas Hafer aushelfen? Sechs Kämpfer sind eben noch angekommen und im Pfarrhaus einquartiert worden, und der Herr Pfarrer hat nichts mehr.« Simon bemühte sich, den Schlaf abzuschütteln, der ihn wie eine Decke einzuhüllen schien. »Ich glaube, ja. Korporal Reif, sorgen Sie bitte dafür, ja?« Korporal Reif stand auf, während er die Bibel wieder in seiner Rocktasche verstaute. Im gleichen Augenblick stieß der Mann im Eingang einen freudigen Schrei aus. Er stapfte vorwärts und streckte seine speckige Hand aus. »Eiferer! Eiferer- im-Herrn, oder ich bin ein schieläugiger Heide!« Korporal Reif zuckte zusammen, als er die Stimme hörte, und sein dunkles Gesicht leuchtete auf. »Jonnie! Jonnie, was tust du denn hier?« »Ich bin seit zwei Tagen bei Old Noll. War in Garnison in Ely. Meine Güte, ich freu mich, daß ich dich hier treffe! Wir hatten gehört, du wärst vor zwei Jahren bei Gainsborough 105

gefallen.« »Der Herr der Heerscharen beschützte mich in seiner Güte«, sagte Eiferer- im-Herrn. »Er deckte mich mit seinem Schilde.« Dann riß er sich wieder zusammen und wandte sich schnell zu Simon. »Ich bitte um Entschuldigung, Sir; ich kümmere mich jetzt um den Hafer.« »Ich werde mich um den Hafer kümmern«, sagte Simon. »Es geschieht einem nicht jeden Tag, daß man von den Toten wiederaufersteht. Begießt euern Schwatz mit Bier.« Er rief ein paar von den wachhabenden Soldaten herbei, schickte einen von ihnen zu dem Bauern, um ihm sagen zu lassen, daß sie aus seinen Futterkästen noch Hafer für sechs weitere Pferde nehmen würden und daß er es mit berechnen sollte. Dann ging er mit den anderen auf den Viehhof. Als er in die vom Feuer erleuchtete Küche zurückkam, waren Korporal Reif und sein Bekannter in ein Gespräch über alte Begebenheiten und alte Freunde vertieft. »Ich war im Frühling in der Gegend von Spalding oben, als ich Futter für die Garnison einkaufen sollte«, schwatzte der andere drauflos und ließ offenbar Eiferer-im- Herrn wenig Zeit, etwas zu sagen. »Und wem rannte ich da über den Weg? Natürlich James Gibberdyke. Da ging ich mit zum Essen zu ihm. Schien ihm ganz ungewöhnlich gut zu gehen, meine ich.« Simon hörte hinten in seiner Ecke ungewollt jedes Wort mit, denn der Mann sprach laut, und die anderen Soldaten waren eingeschlafen. »Die Scheune war neu gedeckt, ein neuer Anzug war da, und ich weiß nicht, was noch! Eine Tante von ihm war wohl gestorben und hatte ihm ein bißchen Geld hinterlassen. Ah, und dann muß ich dir noch etwas Überraschendes von James erzählen. Er hatte auf seinem Blumenbeet ein höchst wunderbares Ding wachsen, hatte viele Jahre gebraucht, sagte er, um das rauszukriegen. Man kann sich gar nicht vorstellen, 106

daß James ein Mann ist, der herumprobiert, wie ? Eine doppelte weiße Hyazinthe war das, so wahr wie ich hier stehe! Eine doppelte weiße...« Ein heiserer Schrei brach aus Korporal Reifs Kehle hervor, und Simon, der schnell aufblickte, sah ihn gegen die Wand taumeln, als habe er einen Schlag zwischen die Augen bekommen. »Ja, was ist denn los, Nachbar?« fragte der andere. »Was ist denn an der weißen Hyazinthe auszu...« Aber Korporal Reif hatte sich scho n unter den erstaunten Blicken seiner Soldaten zusammengerissen. Er schüttelte mit dem Kopf und sagte nach einem Augenblick: »Nichts. Nichts in der Welt, Jonnie. Es war eine alte Wunde, die sich manchmal nach einem anstrengenden Tag bemerkbar macht.« »Wenn sie dich so plagt, solltest du einmal etwas für sie tun«, sagte Jonnie eindringlich. »Das werde ich auch, Jonnie, das werde ich. Erzähl jetzt doch weiter.« »Ich sagte gerade, James Gibberdyke hatte diese doppelte weiße Hyazinthe gezogen. Und er will diesen Herbst damit auf den Markt, und das wird ihm eine hübsche Summe Geld einbringen, glaube ich. Wir sprachen auch über dich, Eiferer, weil wir ja beide dachten, du seiest bei Gainsborough gefallen, und James meinte, das sei doch ganz entsetzlich. Er war sehr aufgeregt.« »Das war - wirklich nett von James«, sagte Korporal Reif bedrückt. »Na warte, wenn er die frohe Botschaft hört!« Der alte Soldat hob den Kopf, bis er anscheinend in eine dunkle Zukunft blickte, die jenseits der sichtbaren Gestalt des anderen lag. »Ja, warte, wenn er sie hört«, sagte er. »Fühlst du dich wirklich wieder ganz wohl? Du siehst noch 107

recht sonderbar aus.« »Ich fühle mich gut. Es wird Zeit, daß du wieder zu deinem Kapitän zurückkommst, Jonnie, sonst wirst du noch bestraft.« »Ja, kann sein«, stimmte Jonnie zu. »Wir sehen uns sicherlich ab und zu mal wieder, wette ich. Und denk an meinen Rat und laß die Wunde behandeln! Daraus kann sonst leicht Gicht entstehen!« Und immer noch redend gelangte er bis zur Tür, wo er sich umwandte, als ihm sein Auftrag einfiel. »Der Hafer ist zu Kapitän Vanderhorst geschickt«, kam Simon ihm zuvor. Der Mann grüßte und strahlte wie eine freundliche rote Sonne. »Besten Dank, Sir«, sagte er und verschwand. Eine Weile später kam Simon, der noch einmal nach den Pferden gesehen hatte, wieder zurück. Es war eine sehr stille Nacht, denn der Wind hatte ganz nachgelassen. Im Dunst des Sommerhimmels wirkten die Sterne groß und sanft, und die kühle Luft war erfüllt vom süßen Duft der Holunderblüten und des frisch gemähten Heus. Aber Simon merkte nichts davon, denn sein Herz war voll von der Geschichte jener doppelten weißen Hyazinthe. Korporal Reif war wieder ganz der alte gewesen, als er ihn eben bei der Runde begleitet hatte, und dennoch... Das warme Licht von Feuer und Kerzen strömte noch aus dem vorhanglosen Fenster der Bauernküche und warf einen goldenen Fleck auf die Gartenecke. Am Ende des Fleckens stand, schwach erkennbar vor den vielen Schatten dahinter, eine große Gestalt, eine wilde, zerquälte Gestalt, die die bebenden Fäuste gegen die Sterne erhoben hatte. Als Simon zögerte, unsicher, was er tun sollte, erreichte ihn die Stimme seines Korporals in einem schauerlichen Flüstern: »Mein Freund, dem ich mich vertraute. Mein Freund, dem ich mich vertraute...« Als am anderen Morgen die Abteilung zur Musterung angetreten war, fehlte Korporal Reif. Sein Pferd war da, seine 108

Ausrüstung, einschließlich seines Schwertes und einer Pistole, lag ordentlich auf seinem Schlafplatz in der großen Scheune. Aber die zweite Pistole hatte er mitgenommen, wohin er auch immer gegangen sein mochte. Simon, bis ins Innerste getroffen, ordnete eine strenge Durchsuchung des Bauernhofes und der umliegenden Felder an, und er wußte doch, als er den Befehl gab, daß es vergeblich sein würde. Die Suche hatte doch Erfolg, denn sie trieb einen Schäfer auf, der irgendwann in der Nacht einem Mann begegnet war, der ostwärts über die Hügel strebte. Er konnte nicht sicher sagen, wann. Er habe einen großen Mann gesehen, der mit sich selbst redete, etwas, das so klang, als stünde es in der Bibel - es sei ein unfreundlicher Kerl gewesen, der anscheinend nicht einmal bemerkt habe, daß der Schäfer ihm beim Vorübergehen einen guten Abend bot. Als Simon die Geschichte des Schäfers gehört hatte, übergab er dem ältesten Soldaten den Befehl und ging, um Leutnant Colebourne Meldung zu machen, den er am Fluß fand, wo er zusah, wie seine Pferde getränkt wurden. Leutnant Colebourne warf einen unwilligen Blick auf seinen Kornett, und dann, als er sein Gesicht sah, wurde er ernst. »Was ist los?« fragte er. »Ich habe zu melden, daß Korporal Reif fehlt, Sir«, sagte Simon. »Fehlt?« »Seit der Nacht.« »Aber - das ist nicht Ihr Ernst? Reif ist kein Mann, der... Hier, warten Sie einen Augenblick.« Er übergab seinem Korporal den Befehl, das Tränken der Pferde zu überwachen, und ging dann mit Simon an seiner Seite davon. »Sie haben den ganzen Hof durchsucht?« fragte er, als sie außer Hörweite waren. Simon nickte. 109

»Das ist eine seltsame Geschichte, Simon. Reif ist kein Mann, der desertiert. Haben Sie eine Ahnung, was ihn dazu bewogen hat?« »Ja, das habe ich.« Während er schwermütig in den braunen Forellenbach hinunterstarrte, erzählte Simon, was er von der Geschichte wußte. Als er zu Ende war, entstand ein langes Schweigen. Dann sagte Barnaby: »Sie glauben also, daß er zu einer persönlichen Rache ausgezogen ist?« »Vergeltung würde er es nennen«, sagte Simon. »Es war sein Freund, verstehen Sie?« »Ja, ich verstehe. Aber der General liebt keine Deserteure, ganz gleich, aus welchem Grunde sie desertiert sind. Wenn er gefaßt wird, dann gnade ihm Gott, denn Fairfax kennt keine Gnade.« »Wenn ich nur gestern abend etwas getan hätte. Aber - zum Teufel! - was konnte ich denn tun?« Simons Stimme klang verzweifelt. »Er ist alt genug, um mein Vater zu sein, und er sah aus wie ein Mann auf der Folterbank. Ich dachte, das einzige, was man tun konnte, war, ihn allein zu lassen.« »Das war auch das einzige«, sagte Barnaby. »Außer daß man ihn an die Kette legte, gab es nichts, was jemand wie Sie oder ich hätte sagen oder tun können, um Korporal Reif von etwas abzubringen, was er vorhatte.« Er stieß nachdenklich mit dem Fuß gegen ein Grasbüschel, zuckte dann mit den Schultern und wandte sich zu dem Platz zurück, zu dem die Pferde nach dem Tränken geführt wurden. »Ich werde es Major Disbrow melden. Gehen Sie nun zu Ihren Leuten zurück. Sammeln Sie sie für den Abmarsch in einer Stunde.«

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Der Spruch des Kriegsgerichts

Bei Naseby schien die Neue Armee für ein paar Tage zur Ruhe zu kommen. Die ganze Gegend hatte sich in ein großes Lager verwandelt. Fairfax und sein Stab wohnten im Gutshaus, und seine Truppen waren meilenweit in der Runde unter jedem Dach, einschließlich dem der Kirche, einquartiert. Der größte Hof war in ein Feldlazarett verwandelt, wo die Feldärzte Tag und Nacht für die königlichen und die parlamentarischen Verwundeten sorgten, die dort Seite an Seite lagen. Die ganzen königlichen Bagagewagen waren erobert worden und standen nun mit denen der Neuen Armee in den Feldern unterhalb des Dorfes. Dann mußte man noch mit fünftausend Gefangenen sowie mit Pferden, Gewehren und mehreren hundert Menschen fertig werden, die dem Feldzug gefolgt waren. Und in der Bibliothek des Gutshauses studierten Fairfax selbst und Daddy Skippon, der in Verbände eingehüllt, aber dennoch unverwüstlich war, die private Korrespondenz von Charles Stuart, die mit den Bagagewagen in ihre Hände gefallen war eine Korrespondenz, die eine beunruhigende Geschichte von einem König enthüllte, der sich um Unterstützung gegen seine eigenen Landsleute an Frankreich, Lothringen und die Niederlande gewandt hatte. In dieses große Lager kehrten Cromwell und seine müden Soldaten gegen Abend am Tage nach der Schlacht zurück. Man hatte Quartiere für sie bereit, als sie kamen, und sie legten sich voll Dankbarkeit hin und fanden die Aussicht auf ein paar Ruhetage unglaublich gut. Von Cromwell selbst bis hinunter zum zuletzt eingetretenen Soldaten stieg ihr Lebensmut gleich der Hochstimmung in dem lärmenden Lager. Zum erstenmal hatten sie das Gefühl, etwas geleistet zu haben. Aber Simon war nicht frohgemut, auch jetzt nicht. Er hatte seine Feuertaufe 111

hinter sich und war mit Anstand daraus hervorgegangen. Er hatte sein Teil getan, um der hartbedrängten Nordarmee beizustehen, aber er hatte Korporal Reif verloren. Barnaby hatte bei Major Disbrow Meldung gemacht, und man konnte nichts weiter tun. Er versuchte, Eiferer- im-Herrn aus seinen Gedanken zu verbannen, aber es gelang ihm nicht. Immer stand vor seinem inneren Auge das Bild seines Korporals, wie er in die Nacht hinausging, eine Pistole im Gürtel für den Mann, der sein Freund gewesen war. Am Abend des zweiten Tages, als Simon vom Wachdienst zurückkam, kam ihm ein Trommler von Fairfax' Fußtruppen entgegen, der grüßte und fragte: »Kornett Carey, Sir?« »Ja, ich bin Kornett Carey.« »Der Lord-General sendet seine Empfehlungen, Sir, und läßt Sie bitten, so bald wie möglich zu ihm zu kommen.« »Gut«, sagte Simon und ging eilenden Schrittes hinüber zum Gutshaus. Sir Thomas Fairfax war außerordentlich höflich zu seinen Offizieren. Er sandte immer seine Empfehlungen und ›ließ bitten‹, aber das bedeutete nicht, daß man seinen Befehlen nicht unverzüglich nachzukommen hatte, jedenfalls wenn man klug war. Beim Gehen überlegte Simon, während seine Hände automatisch prüften, ob die rote schmale Schärpe um die Hüfte ordentlich gebunden war, sein Uniformmantel vorschriftsmäßig saß und sein Schwert im richtigen Winkel hing, aus welchem Grunde er beordert sein mochte. Er hatte, soweit er wußte, seine Pflichten in keiner Weise vernachlässigt. Wahrscheinlich, überlegte er, hatte man Korporal Reif wieder festgenommen, und er erinnerte sich mit schwerem Herzen an Barnabys Worte: »Wenn er gefaßt wird, dann gnade ihm Gott, denn Fairfax kennt keine Gnade.« Aber wie auch die Bestrafung ausfallen mochte, so war es bestimmt für Korporal Reif besser, festgenommen zu werden, bevor er seine Pistole gebrauchen konnte. Nicht wegen 112

James Gibberdyke, der die Pistole so gewiß wie nur irgendein Mann verdiente, dachte Simon zornig, sondern um des Korporals willen. Er hatte keine Zeit, weiter nachzudenken, denn eben kam er beim Gutshaus an. Ein paar Minuten, während er dem Kommandanten gemeldet wurde, wartete er in einem getäfelten Raum, der vom üblichen Kommen und Gehen der Soldaten erfüllt war und in dem die eroberten königlichen Trommeln und Fahnen als eine Art Siegeszeichen an einer Wand zusammengestellt waren. Er betrachtete sie so genau, wie das in dem schwindenden Licht möglich war, die aufeinandergestapelten Trommeln, auf denen noch die Fahnen steckten, die Fahnen und Standarten vor der blanken Täfelung, einige leuchtend und neu, andere zerfetzt und alt von vielen Kämpfen, die stolzen Zeichen von Regimentern, die nun besiegt und zerstreut waren. Eine von ihnen, das wußte er - denn man hatte es sich in der ganzen Armee erzählt -, war vom Feurigen Tom selbst erobert worden, und er überlegte, welche es wohl sein mochte. Die Tür hinter ihm öffnete sich, eine Ordonnanz kam heraus und trat beiseite, um ihn hereinzulassen. Er schritt in einen langen Raum, in dem auf Regalen viele Bücher und wunderbar gestochene Himmelsgloben standen. Bei dem gebrochenen Licht, das entsteht, wenn man Kerzen entzündet, ehe das Tageslicht ganz erloschen ist, sah er den gewohnten, mit Papieren übersäten Schreibtisch. Aber diesmal war Sir Thomas nicht bei der Arbeit. Er saß in einem Lehnstuhl neben dem leeren Kamin, hielt in der einen Hand den silbernen Kopf einer langhalsigen Pfeife, lehnte sich gegen das goldbestickte Kissen und blickte auf den einzigen anderen Menschen, der im Zimmer war. Das war ein langgliedriger, sandgrauer Schotte in einem fleckigen Wams, der sich mit einem Ellenbogen auf den Kaminsims stützte und eifrig mit dem stumpfen Ende einer Lanzette Reste von Kerzendocht aus einer Lichtschere 113

herausbohrte. David Morrison war sowohl der persönliche Freund des Kommandanten als auch sein Regimentsarzt. Offenbar hatte er gerade eben als Arzt gesprochen, denn als Simon eintrat, hörte er durch eine Wolke von Tabakrauch Fairfax mit freundlicher Stimme antworten: »Das muß ich dir überlassen, Davy. Was kann ich da machen? Ich bin voll mit einem Feldzug beschäftigt.« Einen Augenblick darauf legte er seine Pfeife beiseite und richtete sich auf. »Guten Abend, Kornett Carey.« »Sie haben nach mir geschickt, Sir.« »Ja.« Als Simon Haltung annahm und vortrat, legte der schottische Doktor die Lichtschere geräuschvoll hin und steckte die Lanzette wieder in seine Tasche. »Du wirst mich eine Weile nicht brauchen, denke ich.« »Dann laß das Denken sein, Mann. Alles, was ich Kornett Carey zu sagen habe, ist auch für deine Ohren.« »Also gut...« Der Doktor wandte sich um und ging zum Fenster hinüber. Fairfax wandte sich wieder zu Simon. »Ich habe nach Ihnen schicken lassen, um Ihnen zu sagen, daß eine der Wachen ihren verschwundenen Korporal aufgegriffen und ihn vor kurzer Zeit ins Lager gebracht hat.« »Ja, Sir«, sagte Simon. »Und um Sie zu fragen, ob Sie ahnen, warum er desertiert ist.« »Ich - ich glaube, ja, Sir.« Fairfax beugte sich vor, die Augen auf das Gesicht seines jungen Offiziers gerichtet. »Die Lage ist folgende: Korporal Reif wird morgen vor das Kriegsgericht gestellt, um sich zu verantworten. Womöglich ist es besser, wenn der Grund für sein Desertieren bis dahin verschwiegen wird, aber wenn Sie meinen, 114

daß Sie mir gegenüber offen darüber sprechen können, wäre ich sehr froh. Ich liebe es nicht, vollkommen im dunkeln zu tappen.« Simon schwieg eine ganze Zeit. Es war eine schwere Entscheidung. Obwohl Rache, seiner Meinung nach, kein sehr guter Grund zum Desertieren war, so schien es ihm doch irgendwie wahrscheinlicher, daß der Feurige Tom dafür eher Verständnis haben würde als für die üblichen Gründe. »Nun, Sir«, sagte er schließlich, »ich weiß es nicht ganz genau, es sind eigentlich eher Vermutungen.« Und wieder erzählte er die ganze Geschichte. Fairfax hörte ihm zu, ohne sich zu regen. »Keine schöne Geschichte«, sagte er, als sie zu Ende war. »Trotz alledem ist eine private Rache kaum eine Entschuldigung, in Kriegszeiten zu desertieren.« »Nein, Sir; aber er ist ein wirklich guter Korporal, und es war sein Freund. Das machte es so schlimm.« »Er hat die falsche Zeit gewählt, die militärische Disziplin zu verletzen.« »Die falsche Zeit, Sir?« Simons Stimme klang bestürzt. »Carey, ich glaube, Seeleute können Ihnen erzählen, daß ein Schiff beim Stapellauf aus nichts weiter besteht als aus Einzelteilen aus Holz und Metall, und es muß erst eine ganze Zeit auf See gewesen sein, damit diese einzelnen Teile zu einem Ganzen zusammenwachsen und das Schiff zu einem wirklichen Schiff wird. Diese Armee ist im Augenblick in der gleichen Lage. Sie hat sich noch nicht zusammengefunden, und ob das jemals gelingt oder nicht, hängt von vielen Dingen ab, von denen eins Disziplin ist.« Simon spürte, wie ihn die klaren, dunklen Augen des Oberkommandierenden sehr offen anblickten. »Es hat in den letzten achtundvierzig Stunden mehrere Fälle von Desertion gegeben, und einige Fälle von Plünderung und mutwilliger Zerstörung. Das ist nach einer 115

Schlacht zu erwarten; aber in dieser, unserer Neuen Armee darf das nicht wieder vorkommen. « Drüben am Fenster pfiff der alte David Morrison leise eine eigene Melodie. Simon hatte ihn einmal gefragt, was er pfeife, und hatte zur Antwort bekommen: »Ach, meinen Sie ›Die Blumen des Waldes‹ ? Es ist ein Klagelied für Flodden, für den König und die Blüte der schottischen Clans, die tot zwischen dem Ginster und der Glockenheide liegen und deren Torffeuer verwaist sind.« Als er nun auf die langsam absteigende Melodie lauschte, schien es ihm, als enthalte sie alles Herzeleid der Welt. »Als sein Offizier werden Sie über das Verhalten und den Charakter Ihres Korporals auszusagen haben«, sagte Fairfax. »Ja, Sir - und er ist wirklich ein guter Mensch«, sagte Simon eifrig. Das dunkle Gesicht des Lord-Generals erhellte sich einen Augenblick durch sein seltenes Lächeln. »Erzählen Sie das den Offizieren des Kriegsgerichtes... Oh, und Carey, Sie dürfen den Gefangenen natürlich besuchen.« »Danke, Sir. Wo finde ich ihn?« »Im Dorfgefängnis. Gute Nacht.« »Gute Nacht, Sir.« Eine halbe Stunde später war Simon bei seinem Korporal im Dorfgefängnis. Von draußen gesehen, war es ein wunderbares Haus, das Strohdach war tief heruntergezogen, und es strotzte von Reben. Aber von drinnen war es weniger erfreulich. An den Wänden waren feuchte, aussatzähnliche Flecken, das Stroh war durchnäßt. Es roch durchdringend nach Schmutz und Fäulnis, und noch als Simon hereinkam und die Tür hinter ihm verschlossen worden war, huschte eine Ratte ihm über die Füße und verschwand im braunen Schatten. Er fand Eiferer-im- Herrn an die schmutzige Wand gelehnt und beim Licht eines oben im Fensterloch stehenden, tropfenden 116

Talgstummels in seiner Bibel lesend. Er war mit Hemd und Kniehosen bekleidet, so wie er gefangengenommen worden war, an einer Schulter sah man seine bloße Haut unter dem zerrissenen Leinen, und in einem Mundwinkel klebte ihm geronnenes Blut. Aber nichts an ihm erinnerte mehr an die dunkle, verzweifelte Gestalt, die Simon vor zwei Nächten in dem Bauerngarten erblickt hatte. Er sah vielmehr fast friedlich aus, wie er seinen Vers zu Ende las, dann das Buch schloß und es in die Tasche seines Hemdes steckte. »Guten Abend, Sir«, sagte Korporal Reif in seinem ganz gewöhnlichen Ton. »Ich kam, sobald ich es hörte«, sagte Simon atemlos. »Ich bin eben beim Lord-General gewesen. Sie sollen morgen vor das Kriegsgericht.« »Das dachte ich mir schon.« Die Ruhe des anderen brachte Simon plötzlich zur Verzweiflung, und es entfuhr ihm: »Eiferer, Sie Narr, warum taten Sie das?« »Das wissen Sie, Sir.« Sie sahen sich bei dem flackernden Licht der Talgkerze ruhig in die Augen. Dann sagte Simon: »Ja, ich weiß es.« »Haben Sie es Sir Thomas erzählt?« »Ja. Ich dachte, daß er den wahren Grund für die Desertion eher verstehen würde als die üblichen feigen Ausreden.« »Und er sah es ein?« »Ja - aber das hat nicht viel zu sagen.« »Es könnte in dieser oder der nächsten Welt keinen besseren Grund geben«, sagte Eiferer- im-Herrn in voller Überzeugung. »Ich habe keine Furcht vor morgen. Die Gerechtigkeit meiner Sache ist mein Schild gegen die Anstifter der Ungerechtigkeit.« Und in dieser Gewißheit war er nicht zu erschüttern, trotz aller Versuche Simons, ihn zur Vernunft zu bringen. 117

»Wenn Sie sagen würden, daß Sie Ihre Tat bereuen und daß Sie nun, da Sie Zeit zum Nachdenken gehabt haben, keinerlei Rachegefühle mehr he gen, meinen Sie nicht auch, daß das einen guten Eindruck machen würde?« fragte Simon schließlich. Aber er wußte die Antwort schon im voraus. »Die Worte eines Lügners sind schändlich in den Augen des Herrn«, sagte Korporal Reif. »Ich bereue nichts, denn ich bin ein Schwert der Rache in der Hand des Allmächtigen, um den Übeltäter zu vernichten!« »Nein, ich dachte auch nicht, daß Sie bereuen würden«, sagte Simon niedergeschlagen und starrte auf den nassen Boden. Dann sah er auf. »Ich muß nun gehen, Eiferer. Wir sehen uns morgen früh.« »Ja, morgen früh, Sir.« Plötzlich drückten sie sich die Hände, und dann ging Simon hinaus in die weiche Junidämmerung, und die Wache verschloß wieder die Tür mit dem Guckloch hinter ihm. Am nächsten Morgen wurde Korporal Reif in dem langen Speisesaal des Gutshauses von dem Kriegsgericht des Regiments wegen des Verbrechens der Desertion in Kriegszeiten verhört. Immer erinnerte Simon sich später an die Szene: an die ernsten Gesichter der Kapitäne, die nach ihrem Dienstalter geordnet an dem langen, lederbezogenen Tisch saßen, Major Disbrow als Präsident des Gerichts an seinem Platz oben am Tisch. Die wenigen anwesenden Leutnants und Kornetts standen, wie er selbst, barhäuptig hinter ihren Vorgesetzten. Der Gefangene, noch einmal ordentlich in Scharlachrot gekleidet, stand zwischen seinen Wachsoldaten wie ein hochmütiger Prophet. Und von den getäfelten Wänden blickten Bilder von Frauen in Reifröcken und Männern in Seide und Rüstungen auf die ungewohnte Szene hinab. Die Anklage war verlesen worden, und Major Disbrow begann, den Gefangenen zu verhören. Als Antwort auf schnell 118

herniederprasselnde Fragen erzählte Korporal Reif seine Geschichte noch einmal, und seine Antworten kamen ebenso schnell und klar wie die Fragen. Offenbar nahm er sich sehr in Zucht. Zeugen wurden aufgerufen: der Offizier der Patrouille, der ihn festgenommen hatte; Simon selbst, um über den Charakter und sein vorheriges Verhalten auszusagen. Er hörte seine eigene Stimme: »Ein höchst zuverlässiger Mann - strenges Pflichtgefühl - furchtbare Herausforderung - könnte mir keinen besseren Korporal denken.« Er tat sein Bestes für Korporal Reif, er kämpfte mit aller seiner Kraft, aber er konnte nichts an den Tatsachen ändern, und die Tatsachen waren schlimm. Nun war die Zeit gekommen, in der das Gericht die Entscheidung fällte. Der Gefangene, die Zeugen und die Zuschauer gingen in die Halle hinaus, und die Tür schloß sich hinter ihnen. Wenn sie wieder hereinkämen, wußte Simon, daß sie hören würden, wie Korporal Reif schuldig gesprochen und verurteilt wurde. Hinter der verschlossenen Tür wendete sich jetzt wohl Major Disbrow an den jüngsten anwesenden Kapitän und fragte: »Schuldig oder unschuldig, Kapitän Mostyn?« Und es gab nur eine Antwort auf diese Frage. »Schuldig.« »Schuldig.« Es schien Simon, als höre er das Wort unerbittlich erklingen wie die Schläge einer Glocke, die zu einer Hinrichtung schlug. Plötzlich schienen die Menschen in der überfüllten Halle nach innen zu drängen. Er wurde so eingezwängt, daß er kaum mehr atmen konnte. Es war, als ob er und nicht Eiferer der Gefangene sei. Dicht neben ihm schien der Sommertag durch die geöffnete Tür, und ohne daß ihm recht bewußt wurde, was er tat, wandte er sich um und strebte hinaus in die frische Luft, und als er draußen war, lehnte er sich an die Hausmauer, während sein Atem so schnell ging, als sei er gerannt. »Kapitän Marjory?« »Schuldig.« Dieses Mal hörte er es wirklich. Er blickte erschrocken auf, kniff die Augen in dem Sonnenlicht zusammen und sah, was er in dem behelfsmäßigen Gerichtsraum nicht bemerkt hatte, daß 119

eines der Flügelfenster ein wenig geöffnet war. Und er stand beinahe unmittelbar darunter. Er hätte wohl eigentlich fortgehen müssen, aber er tat es nicht: Er blieb, wo er war, an die Mauer gedrückt, und lauschte mit angespannter Aufmerksamkeit auf das Gemurmel der Stimmen jenseits des Fensters. Ralf Marjory war der älteste Kapitän, der sein Urteil als letzter abzugeben hatte, und nun besprachen sie alle den Urteilsspruch. Simon war es, als höre er über den Stimmen des Gerichts die Worte eines der Kriegsgesetze, die der versammelten Kompanie an jedem Zahltag vorgelesen wurden. »Niemand darf sich bei Todesstrafe weiter als eine Meile aus dem Lager entfernen.« Diese Strafe wurde in den IronsideRegimentern nur selten verhängt, das wußte er, denn es galt für schlimmer, in Ungnade zu fallen, als mit dem Tode bestraft zu werden, und ein Deserteur wurde gewöhnlich geprügelt und als Überläufer fortgejagt. Dennoch hatte es in den neueren Regimentern Fälle von Auflehnung gegeben, seit sie Windsor verlassen hatten, und Cromwells schöne Kompanie mußte infolgedessen desto untadeliger sein. Simon hatte inzwischen eingesehen, was ein Beispiel ausmachen konnte. Es war schwierig für das Kriegsgericht, eine Entscheidung zu fällen, und die Verhandlung zog sich in die Länge. Eine Gruppe von Sonnenblumen wuchs unter dem Fenster, von Bienen umschwirrt, und das Gesumm schien ein feines Gewebe aus Tönen zu bilden, durch das hindurch Simon eine Stimme der anderen antworten hörte. Es war erstaunlich, wie viel Verständnis insbesondere die jüngeren Kapitäne für einen Mann hatten, dem ein Unrecht angetan worden war und der desertierte, um sich für dieses Unrecht zu rächen. Den Ironsides lag das Verzeihen weniger, doch Simon schöpfte neue Hoffnung, als er zuhörte. Mochte es ruhig lange dauern, hing doch Korporal Reifs Schicksal in der Schwebe. Dann erklang Kapitän Mostyns Stimme und brachte eine neue Schwierigkeit vor. »Wenn wir ihn davonjagen, dann wird er unverzüglich wieder seiner Rache 120

nachgehen.« »Geht denn das uns etwas an?« Diesmal sprach Ralf Marjory. Simon erkannte seine Stimme an dem Yorkshire-Dialekt. »Ich denke, es ist die Sache dieses Gerichts zu entscheiden, ob an einem von Gottes Geschöpfen ein Mord begangen wird oder nicht.« »Soll er hä ngen, mir ist das gleich.« »Aber wir können nicht einen Mann hängen, weil wir nicht wissen, was wir mit ihm anfangen sollen«, warf Kapitän Benett ein. »Das ist eine fürchterliche Ungerechtigkeit, und Ungerechtigkeit stinkt gen Himmel.« Major Disbrows Stimme, in ruhigem Kontrast zu den erhitzten Reden, die sich rund um den Tisch erhoben hatten, sprach nun als Präsident. »Meine Herren, es gibt noch eine dritte Möglichkeit.« Es folgte ein Augenblick absoluter Stille. Nur die Bienen surrten durch die gelb-viole tten Spitzen der Sonnenblumen. Dann fuhr die ruhige Stimme fort. »Ich schlage vor, daß wir den üblichen Urteilsspruch fällen mit einem Unterschied, daß der Gefangene nicht als Überläufer entlassen wird, sondern von seinem Rang als Korporal degradiert und von dem Regiment, dem er Schande zugefügt hat, zu den Pionieren versetzt wird.« Es folgte wieder eine Stille, während seine Worte überlegt wurden. Die Pioniere waren, mit Ausnahme einiger Offiziere, der Abschaum der Neuen Armee. Viele von ihnen waren fremde Söldner, die für jeden kämpften, der sie bezahlte. Ihnen fielen die unangenehmsten Aufgaben in der Armee zu. Es war nichts ganz Ungewöhnliches, daß ein Mann aus den besseren Regimentern zur Bestrafung zu ihnen versetzt wurde und wegen Fluchtverdachts besonders scharf bewacht wurde. Es war fast ebenso unehrenhaft, wie entlassen zu werden, aber immerhin hatte ein so entehrter Mann die Chance, wieder zurückzukommen, wenn er seinen Dienst ordentlich versah. 121

Simon hielt während der Diskussion der Einzelheiten, die nun folgte, den Atem an. Er konnte nicht sehen, wer bei der Abstimmung die Hand erhob, und das ruhig gesprochene »Danke, meine Herren« von Major Disbrow sagte ihm nichts weiter, als daß die Gerichtsverhandlung vorüber war. Er konnte nur verzweifelt, inbrünstig hoffen, als er wieder auf die überfüllte Halle zuging. Die Innentür wurde gerade geöffnet, und er kam eben rechtzeitig, um mit den anderen in den Gerichtssaal hineinzugehen und seinen Platz bei den übrigen Kornetts einzunehmen, bevor Korporal Reif wieder hereingebracht wurde. Er ging zwischen seinen Wachen, den Kopf aufgerichtet, mit starren Augen geradeaus blickend, als sei er auf der Parade. Er blieb stehen, und Major Disbrow erhob sich, um das Urteil zu verkündigen. »Gefangener, dieses Krie gsgericht erklärt Sie des verabscheuenswürdigen Verbrechens der Desertion in Kriegszeiten schuldig und verurteilt Sie zu hundert Hieben in Gegenwart Ihres alten Regiments. Es hat ferner beschlossen, daß Sie nach Ihrer Bestrafung aus dem eben genannten Regiment entlassen werden und von nun an als Gemeiner bei den Pionieren zu dienen haben.« Während Simon erleichtert aufatmete, sah er, wie Eiferer- imHerrn zuerst kreidebleich und dann brennend rot wurde. Er erfuhr niemals, was sein alter Korporal eigentlich erwartet hatte, aber dieses Urteil bestimmt nicht. Er trat einen Schritt vor, obwohl die Wachen ihn zu halten versuchten, und die Haltung, die er bis jetzt bewahrt hatte, brach zusammen und wurde fortgefegt. »Ungerecht! Ungerecht!« schrie er. »Wehe über die, die so ungerecht urteilen!« »Das Urteil dieses Gerichts ist nicht nur gerecht, sondern außergewöhnlich gnädig.« Major Disbrows Stimme durchschnitt 122

seine Schmähungen wie ein Peitschenhieb. »Darf ich Sie daran erinnern, daß Sie als Deserteur angeklagt und verurteilt worden sind?« »War ich nicht gerechtfertigt, als ich desertierte? Ich, der ich ein Schwert der Rache in den Händen des Herrn bin, gegen einen, der für das Höllenfeuer bestimmt ist?« Die Wachsoldaten hatten jeder einen Arm ergriffen, aber er riß sich los, und der Strom seiner Worte ergoß sich weiter. »Was sagt die Bibel über die Rache? ›Auge um Auge, Zahn um Zahn, Hand um Hand, Fuß um Fuß...‹« Wieder durchschnitt Major Disbrows Stimme seinen Wortschwall. »Ich kann auch aus der Bibel zitieren: ›Die Rache ist mein, spricht der Herr.‹ Wache, bringen Sie ihn weg.« Dieses Mal hielten die Wachen ihn eisern fest. Sie waren zwei gegen einen, und wenn er stark war, so waren sie es auch. Die Arme wurden ihm auf den Rücken gebunden, und sie zerrten und zogen ihn hinaus, aber noch als die Tür hinter ihm zugeschlagen war, hörten die Männer im Speisesaal seine Stimme, die zu einem klagenden Schrei anwuchs: »Feuer um Feuer, Wunde um Wunde, Hieb um...« Eine andere Tür schlug zu, und die schreiende Stimme brach ab. Drei Stunden später erfolgte vor den Augen des im offenen Karree angetretenen Regiments die Bestrafung. Die Sonne war untergegangen, und eine leichte, kalte Brise bewegte die seidigen Falten der Standarten, als Korporal Reif an seiner alten Truppe vorüber zu den im Dreieck aufgestellten Piken geführt wurde, wo die Unteroffiziere die Bestrafung vollziehen sollten. Major Disbrow und der Arzt standen neben ihnen. Simon stand regungslos auf seinem Platz und sah, wie Eiferer- im-Herrn in der kleinen schrecklichen Zeremonie, durch die ein Mann degradiert wurde, der rote Mantel mit seinen stolzen blauen Litzen über den Kopf gezogen wurde. Er sah, wie der großen 123

Gestalt der Oberkörper entblößt und wie sie in das Dreieck aus Piken gezerrt wurde, er sah, wie der erste Unteroffizier mit der siebenfach geknoteten Peitsche in der Hand vortrat. Simon hatte schon vorher mit ansehen müssen, wie Männer ausgepeitscht wurden, und er haßte den Anblick. Aber sonst war es nie ein Mann aus seiner eigenen Truppe gewesen, und er hatte sich nie so elend gefühlt wie jetzt. Er schloß die Augen und biß die Zähne zusammen. In der Hülle aus Dunkelheit, die er sich so schuf, hörte er das Zischen und den Schlag jedes Peitschenhiebes, der ihn selber im Innersten zu treffen schien. Aber er hörte keinen Schrei, bis endlich der alte David Morrison mit erhobener Hand vortrat, um die Bestrafung zu beenden, elf Peitschenhiebe vor dem Schluß. Er öffnete die Augen, um zu sehen, wie die bewußtlose Gestalt aus dem Pikendreieck fortgetragen wurde, um den Rücken verbunden zu bekommen. Simon führte seine Leute fort, und nachdem er das getan hatte, hastete er in den Graben jenseits des Platzes, an dem die Regimentspferde angebunden waren. Hier, wo üppig wuchernde Weidenröschen und Gartenschierling sein Elend verbargen, erbrach er sich. Eiferer- im- Herrn trat seinen Dienst bei den Pionieren niemals an. In den frühen Morgenstunden des nächsten Tages stieg er trotz seines zerschlagenen Rückens aus dem Fenster des Feldlazaretts und suchte das Weite. Dieses Mal trieb ihn keine Patrouille auf. Zwei Tage später, als die Armee das Lager abbrach und nach Süden marschierte, sah niemand den Mann, der unter den Eichbäumen stand, die einen nahen Hügel krönten, um sie abziehen zu sehen - eine große, wilde Gestalt mit brennenden dunklen Augen in einem aschfahlen Gesicht, die ebenso regungslos dastand wie die Eichbäume rings um sie herum. Er schaute die lange Straße im Tal hinunter, bis der letzte Staub der Nachhut sich auf die grau gewordenen Heckenrosen gelegt hatte und der ferne Klang von Trommeln und Pfeifen in das Summen 124

der Bienen im Klee übergegangen war. Dann drohte er wild mit den Fäusten hinter ihnen her, wandte sich mit einem seltsamen, gedrückten Schrei ab, tauchte in den grünen Schatten des Waldes unter und schreckte, wohin er kam, die Tauben auf.

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Der Feldzug im Westen

Die Schlacht bei Naseby hatte den König Mittelengland gekostet, und während er sich mit seinen angeschlagenen Truppen an der Grenze von Wales aufhielt und sich nicht recht entscheiden konnte, was er tun sollte, führte Fairfax die Neue Armee nach Süden, um General Lord Goring herauszufordern, der immer noch Taunton belagerte. Als der königliche General von seinem Vorrücken hörte, hob er die Belagerung auf und bezog in den Flußtälern des Yeo und des Parrot neue Stellungen, und an den ersten heißen Julitagen bewegten sich die beiden Generale wie Schachspieler, die die günstigste Ausgangsstellung suchten. Aber in diesem Spiel war Lord Goring Fairfax und Cromwell nicht gewachsen. Am Morgen des 10. Juli hatte die Neue Armee den Yeo überschritten und stand etwa eine halbe Meile von der kleinen Marktstadt Langport entfernt, die zu beiden Seiten der Straße nach Bridgwater und in den Westen liegt, der Hauptmacht der königlichen Armee gegenüber. Es war ein schwüler, drückender Tag mit Gewitter in der Luft, und die Sonne war dicht verschleiert, wie oft vor einem Sturm. Simon, auf dem Wege zur Nachhut mit einer Botschaft des Kommandanten für Oberst Hammond, der an Stelle des nun kampfunfähigen Daddy Skippon das Kommando über die Fußtruppen übernommen hatte, wischte sich die Stirn unter dem brennenden Rand seines Helmes und sah die Hitze wie eine Mückenwolke über dem flachen grünen Land tanzen. Die Truppen stellten sich in breiter Front zum Kampf auf. Die Reiterei rückte nach vorn. Die Fußtruppen konzentrierten sich dahinter. Auf dem leicht ansteigenden Gelände in der Mitte wurde, als Simon vorbeiritt, schon die große Vierzigpfünderkanone aufgestellt, und die Mannschaften der achtspännigen Geschütze wurden verteilt. Einen Augenblick 126

später mußte er beiseite reiten, als die leichten Geschütze - die ›Drachen‹ und ›Falken‹ - mit Rufen und Peitschenknall vorüberzogen; kleine tödliche Geschütze, jedes mit zwei Pferden bespannt, die an den Protzen der grauen Geschützwagen angeschirrt waren, auf denen die Mannschaft saß. Hinter ihnen kam ein Wagen mit Munition über den morastigen Boden geschlingert. Die schweren Zugpferde mühten sich in ihrem Geschirr, der Fahrer beugte sich vor, um sie anzutreiben, so wie er es vor vielleicht gar nicht langer Zeit getan hatte, wenn er mit seinem Gespann auf irgendeinem stillen Hof im Blackmoor-Tal Holz fuhr oder Heu einbrachte. Als Simon seine Botschaft überbracht hatte und ein paar Minuten später wieder an den Geschützen vorüberkam, waren die Vorderwagen abgespannt, die Pferde beiseite geführt, Pulver und Kugeln hinter jedem Geschütz bereitgelegt und die Mannschaften in Kampfbereitschaft. Er führte Scharlach zwischen einem Schutzgraben und einem leer zurückkehrenden Munitionswagen hindurch, kam an der Flanke der sich bereitstellenden Kavallerie entlang und erreichte den Platz, wo Fairfax seinen Stab um sich versammelte. »Botschaft übermittelt, Sir«, meldete er und wurde entlassen, um zu seiner eigenen Truppe zu reiten. Er wendete sein Pferd und suchte unter den vielen Standarten, die schlaff in der drückenden Luft über den Schwadronen hingen, seine eigene. Er fand sie ohne viel Mühe und lenkte Scharlach durch die sich drängenden Pferde, die in Schlachtordnung aufgestellt wurden. Barnaby rief ihm über die Schulter zu: »Es wird Sturm geben allem Anschein nach.« »Meinem Gefühl nach auch«, sagte Simon und wischte sich wieder die Stirn. »Man könnte ein Ei auf meinem Schädel braten.« Er wandte sich im Sattel, um die Standarte mit dem gebührenden Zeremoniell von seinem neuen Korporal zu übernehmen. Der Mann war der Sohn eines Schulmeisters aus Essex, eine treue und zuverlässige Seele. Simon konnte ihn 127

wirklich gut leiden, aber er wußte, daß zwischen ihm und seinem neuen Korporal niemals die wahre, innige Freundschaft entstehen würde, die ihn mit seinem alten verbunden hatte. Als er den Standartenschaft aufrichtete, erzitterte die brütende Stille, die über dem Land hing, unter einem fernen Donnergrollen. Dann wurde es wieder ganz still. Simon sah auf die flache, sumpfige Talsenke, die Streifen von Schilf und das unbewegte Wasser. Alles war unheimlich still in der schwülen Luft. Auf dem Kamm des anderen Hügels war die königliche Armee aufgestellt und überwachte die Straße nach Langport. Es konnte hier keinen weit auseinandergezogenen Angriff geben, denn der einzige Weg durch das sumpfige Tal war die eine Straße mit der Furt durch den Fluß, an dem sich Lord Gorings Truppen konzentriert hatten. Eine Schlacht ohne Schlachtlinie. Simon fragte sich, wie sie verlaufen werde. Aber schon nach ein paar Minuten blieb ihm keine Zeit mehr zum Fragen, denn Scharlach, der von dem Donner in der Luft unruhig geworden war, zitterte und tänzelte seitwärts, während er seinen Kopf hochwarf und nach hinten ausschlug, und da Simon durch die Standarte behindert war, hatte er genug zu tun, ihn von den Pferden auf beiden Seiten zurückzuhalten. Dann war die Stille ganz plötzlich vorbei, als mit dem Gebrüll eines ausbrechenden Sturmes die Geschütze einsetzten. Zuerst dröhnte der tiefe Donner der großen Kanone und verhallte im Echo über den Mooren, dann folgte das schärfere Knallen der ›Drachen‹ und ›Falken‹. Ein Augenblick Stille überall - dann wieder das Gebrüll der Feldkanone, in das unregelmäßig das Gekläff der kleineren Geschütze einfiel und das anschwoll, bis Himmel und Erde zu tönen schienen wie ein riesiger Gong. Auf der gegenüberliegenden Seite des Tales hatte die königliche Artillerie ihrerseits das Feuer eröffnet, aber Goring hatte viele seiner Geschütze nach Bridgwater gesandt, wo er, wie die Spähtrupps der Neuen Armee gemeldet hatten, eine Belagerung vorbereitete. Daher konnten die Truppen des Königs 128

die Beschießung, die ihnen schwer zu schaffen machte, nicht mit der gleichen Stärke erwidern. Simons Ohren waren vom Schießen so betäubt, daß er kaum die Trompeten vernahm, die zum Angriff bliesen. Aber weit hinten zur Rechten schwenkte Major Bethels Schwadron auf die Straße nach Langport ein, und ihr folgten die von Kapitän Evanson und Kapitän Groves. Simon erkannte sie an ihren Standarten mit dem Gold und Rot des Zweiten Regiments, und eine Welle von Hurrarufen brandete durch die Armee, als sie den engen Weg hinunterzogen. Die leichten Geschütze feuerten ununterbrochen. Sie hielten den Feind von dem Zugang zur Straße ab und deckten den Vormarsch der parlamentarischen Reiterei. Major Bethels Schwadron hatte die Furt bereits durchquert, und die von Walleys Regiment marschierten darauf zu. Das Schießen wurde eingestellt, und ein neues Hurra stieg aus den Reihen der Zuschauenden auf, als der erste Trupp an der Straße hervorkam, wo der höhergelegene Boden den Füßen besseren Halt bot, dort den Feind auf dem Kamm des Hügels angriff und ihn zurücktrieb, so daß Evansons und Groves' Schwadronen Platz hatten, sich neben ihnen aufzustellen. Im nächsten Augenblick schmetterten die Trompeten von Fairfax' Reiterei durch das Getöse der Schlacht, und die Schwadron des Generals folgte den übrigen, dann kamen Major Disbrows Soldaten und ganz hinten Kapitän Mostyns. Als er Barnaby folgte, hatte Simon das vertraute lebhafte Gefühl der Erregung, das ihn immer in dem Augenblick überkam, wenn er in die Schlacht ritt. Die Standarte von Disbrows Schwadron hoch erhoben, mit seinen Soldaten neben sich, so stürmte er hügelabwärts auf die Furt zu. Die Schwadron des Generals hatte die jenseitige Böschung schon halb erklommen, als Simon und seine Soldaten hindurchplatschten. Während sie gerade in der Furt waren, fuhr ein heißer Windstoß durch das Schilf, ein Blitz flammte einen Augenblick über dem ruhigen Wasser oberhalb der Furt auf, und ein tiefer Donner 129

rollte über das Sumpfgelände. Dann waren sie durch, und Mostyns Männer folgten ihnen spritzend und platschend, während sie dem Hügelkamm zustrebten. Bethels und Walleys Schwadronen hatten sich, nachdem sie einmal zurückgetrieben waren, auf dem festen Grasboden des oberen Abhangs weit auseinandergezogen und griffen aufs neue an. Mit wildem Geschrei und mit Gleiten und Rutschen von Hufen auf dem steilen Hang stürmten Disbrows Soldaten auf dem Weg hinter ihnen her. Seinem Leutnant folgend, riß Simon Scharlach scharf herum, den Hang hinauf, über einen Graben und den Königlichen entgegen. Seine Standarten-Eskorte hielt sich dicht neben ihm, die Standarte wurde im Reiten vom Wind gepeitscht, und die feste Schlachtreihe der Ironside-Soldaten dröhnte mit gezogenen Schwertern hinter ihnen her. Statt des lauten Sperrfeuers hörte man nun aus der Ferne den grollenden Donner und näher kommend das Knattern der Musketen und die Schreie des Nahkampfes. Die parlamentarischen Fußtruppen drängten hinter der Reiterei her und zogen sich auseinander, um die Fußtruppen der königlichen Armee anzugreifen. Schon waren hier und da Einzelgefechte im Gange, und man griff zu den Piken. Simon hatte später keine klare Erinnerung mehr an dieses Gefecht. Es war ein wildes Durcheinander aus Angriff und Gegenangriff, gellendes Geschrei und das Wiehern gestürzter Pferde, ein Strudel aus zusammengeballten Reitern, der sich auflöste, wieder bildete und wieder auflöste, während über ihren Köpfen die Blitze über den Himmel zuckten. Plötzlich hatten sie die Anhöhe gesäubert und drängten die Königlichen trotz ihres erbitterten Widerstandes über die jenseitigen Felder zurück. Die königlichen Fußtruppen und Reiter waren keine getrennten Streitkräfte mehr, sondern eine wirre, durcheinanderwirbelnde Menge, die langsam weiter und weiter bis auf die Felder bei Langport zurückgetrieben wurde. Auf dem ansteigenden Gelände unmittelbar vor der kleinen 130

Stadt leisteten Gorings Truppen noch einmal verzweifelten Widerstand. Simon, der an der Spitze eines Reitertrupps angriff, erlebte, wie einer aus seiner Eskorte neben ihm erschossen wurde. In die Lücke sprengte ein königlicher Dragoner, die Muskete wie eine Keule schwingend, während seine andere Hand nach dem Standartenschaft griff. Simon riß Scharlach herum und hoch, so hoch, daß die Vorderhufe des großen Fuchses in die Luft schlugen und der Mann den Schaft loslassen mußte, während Simon mit seiner freien Hand - er hatte die Standarte in die Linke genommen - die lange Pistole aus dem Halfter zog und feuerte. Der Arm mit dem Gewehr sank dem Königlichen herab, und während er ihn umklammerte, verschwand er im Gewühl. Simon warf sich wieder mutig in ein Meer von kämpfenden Gestalten und mit dem Kolben dreinschlagenden Musketen, während seine Soldaten sich dicht hinter ihm hielten und wie die Besessenen in Triumphgeschrei ausbrachen. Noch in der gleichen Stunde jagte Fairfax' Armee Lord Gorings geschlagene Truppen durch die engen Straßen von Langport, wo die roten Flammen von Dach zu Dach sprangen und Bündel von brennendem Stroh gleich glühenden Blütenblättern auf Verfolgte wie auf Verfolger herniederfielen. Simon wußte nicht, wodurch das Unglück entstanden war, ob durch Blitzschlag, durch falschen Eifer oder irgendeinen Zufallstreffer im Kampf. Er sah nur, als sie durch die Straßen ritten, daß dort furchtbarer Schrecken herrschte und daß die ganze Stadt zu brennen schien. Aber schon als sie ins offene Land hinauskamen, begann der Regen zu fallen, ein dichter, schwerer Gewitterregen, der prasselnd und klatschend auf die harte Erde schlug, die Straße rautenförmig mit Nässe überzog und den unvergeßlichen Duft von Sommerregen aus der ausgedörrten Erde aufsteigen ließ. Die Flammen, die sie hinter sich gelassen hatten, würden bald gelöscht sein. Lord Goring entkam nach Dunster Castle und war mit dem 131

Rest seiner Männer zwei Tage später wieder in Barnstaple, während Fairfax sich Bridgwater gegenüber aufstellte, das noch fiel, bevor der Monat um war. Cromwell war inzwischen abgezogen, um die Aufstände zu unterdrücken, die in Dorset ausgebrochen waren, und hatte außer anderen auch einige Trupps und Kompanien von Fairfax' Reiterei mitgenommen. Disbrows Trappen gehörte jedoch nicht dazu. So erlebte Simon, immer noch unter dem Kommando des Feurigen Tom, in dem goldenen Herbstwetter den Fall von Bath und Sherbourne. Dann setzten sie sich vor Bristol fest, das Prinz Rupert, der das Kommando für Hopton übernommen hatte, mit nur dreitausend Mann zu Fuß und zu Pferd besetzt hielt. Cromwell war inzwischen wieder zur Haup tarmee gestoßen, und am zwanzigsten September fand ein großer Angriff, ein tollkühner Vorstoß statt, der die Belagerung beendete und Prinz Rupert zur Übergabe zwang. Simon sah die königliche Besatzung mit allen kriegerischen Ehren ausziehen, mit wehenden Fahnen, dröhnenden Trommeln, jeder Musketier mit brennender Lunte und einer Kugel im Lauf, und er sah den Prinzen selber, an der Spitze reitend, einen Mann mit einem bleichen, herrischen Gesicht, den ersten Herbstregen dunkel auf den Schultern seines scharlachfarbenen Mantels. In den ersten Oktobertagen überquerten Simon und die Neue Armee die Grenze von Devon und marschierten auf Tiverton zu, während so viel Regen fiel, daß die Wege in schlammige Gräben verwandelt wurden. Tiverton war kaum auf eine Belagerung vorbereitet, und Fairfax nahm die äußeren Befestigungen ohne viel Mühe ein. Er schlug sein Hauptquartier in Blundells Schule auf, während er Pläne zur Einnahme des Schlosses entwarf. Es war ein wilder Herbstnachmittag, als Simon mit seinem Regiment in die Stadt einritt, wo sie Quartier machen sollten. Jeder Windstoß trieb verschrumpelte, goldene Blätter und den beißenden Qualm von Kartoffelfeuer vor sich her, in den kleinen 132

Vorgärten welkten die letzten verblühten Ringelblumen und Herbstastern ihrem braunen, regendurchtränkten Ende entgegen. Tiverton war immer parlamentstreu gewesen, und trotz der Kämpfe, in denen vor wenigen Stunden mehrere Häuser zerstört worden waren, kamen die Bewohner geradezu aus den Mauern des von den Königlichen besetzten Schlosses hervorgekrochen, um die Soldaten der Neuen Armee bei ihrem Einzug freudig zu begrüßen. Es war sehr seltsam für Simon, diese Rückkehr an einen Ort, den er so gut kannte. Er blickte eifrig nach allen Seiten, als er die vertraute Straße entlangritt. Alles war fast so, wie er es in Erinnerung hatte, und überall sah er vertraute Gesichter in der Menge, die sich an ihrem Weg drängte: Mr. Yeo, den Krämer, ein bißchen dicker als damals; Nick Veryard, den Wirt vom ›Handschuh‹, in seinem Torweg stehend. Die Fenster vom ›Handschuh‹ waren alle zerbrochen, aber Nick Veryard war ganz der alte. Die Frau des Schlachters, die damals bei Beginn der Unruhen die ganzen Schafhörner aus dem Laden auf Lord Bath geworfen hatte, als er auf dem Marktplatz des Königs Aufruf zu den Waffen verlas. Die alte Mutter Tidball, die Blundells Schülern Honigkuchen und Pfefferminzplätzchen verkaufte, die Simon sehr gern gehabt hatte. Aber niemand von ihnen erkannte ihn. Das war nicht verwunderlich, denn Simon, der tintenbeschmierte Schuljunge mit einem Stock unter dem Arm, war meilenweit entfernt von Simon, dem Kornett der parlamentarischen Reiterei im abgetragenen Wams und Helm, der einen Sommer harten Felddienstes hinter sich hatte. Er wußte das und fühlte sich dennoch irgendwie unwirklich. Die alten vertrauten Bilder riefen in ihm auch die Erinnerung an Amias wach, der ein Teil von ihnen gewesen war, an Amias in der längst vergangenen Zeit, bevor der König sie getrennt hatte. Dieser triumphale Einzug in eine Stadt unter den Mauern einer feindlichen Festung wäre etwas für Amias gewesen, dachte 133

Simon. Es hätte seinem Sinn für das Dramatische entsprochen. Und plötzlich wurde ihm das Herz schwer. Tiverton verwandelte sich in einen fremden Ort mit unfreundlichen Zügen. Das Schloß fiel zwei Tage später, fast durch einen Zufall. Bei der Beschießung durchschlug ein verirrter Schuß die Kette der Zugbrücke, so daß sie mit Krachen herunterschlug. Der Kommandant war so bestürzt, daß er den Kampf aufgab, sobald die erste Welle der Angreifer sich über die Brücke ergoß. Im folgenden Monat wurden Tiverton und die umliegenden Dörfer das Hauptquartier der Neuen Armee. Für die müden Männer war es nach den Anstrengungen der letzten Monate wunderbar, unter einem Dach zu schlafen und warmes Essen zu bekommen. Sogar fü r Vergnügungen blieb Zeit. Hahnenkampf und Stierhetze waren verboten, aber man durfte immer Ringkämpfe und Stockfechten veranstalten, und man konnte sich in den Wirtshäusern und Schenken mit seinen Freunden treffen und sich einen fröhlichen Abend machen. Die Offiziere vergnügten sich damit, ein bißchen zu jagen und durch die Ländereien der benachbarten Gutsbesitzer zu reiten, die meistens auf seiten des Parlaments standen, während die Soldaten, die nicht dazu eingeladen waren, in jeder mondlosen Nacht wilderten. Leutnant Colebourne holte seine geliebten Stiefel aus einem Gepäckwagen und watschelte in ihnen wie eine selbstzufriedene Ente durch Tiverton. Der Oberkommandierende verschwand für eine Weile, um eine alte, schmerzhafte Wunde in der Schulter behandeln zu lassen, und Lady Fairfax traf aus London ein, eine kleine Person, so blond wie der Feurige Tom dunkel, aber so tapfer, wie man es nur von einer jungen Frau erwarten konnte, die in Kriegszeiten quer durch England gereist war, um bei ihrem Mann zu sein. Es gab noch einzelne Kämpfe, hauptsächlich kleinere Scharmützel bei den Vorposten, aber der nasse Herbst, der die Straßen und Wege in Morast umgewandelt hatte, verhinderte jedes größere Gefecht. So steckten die beiden Heere für eine 134

Weile im Schlamm fest, jedes in seinem eigenen Territorium, die Neue Armee um Tiverton herum und Lord Gorings Truppen über die ganze Gegend zwischen Exeter und der Südküste verteilt. Inzwischen wurden die Verhältnisse bei der königlichen Armee im Westen langsam unerfreulich. Sie bestand hauptsächlich aus den in Devon und Cornwall ausgehobenen Soldaten, denen nicht übermäßig viel an ihrer Sache lag, aus einer kleinen Menge wilder Iren und aus Söldnern aus aller Herren Länder. Es gab aber immer noch eine Kerntruppe aus alten Kriegern, und das königliche Heer war größer als das des Parlaments. Es sah aus, als werde der Kampf, wenn es dazu käme, hart werden, und wie immer er auch ausgehen mochte, es würde der letzte Kampf dieses Krieges werden, denn was sonst noch irgendwo an Truppen lag, war unbeträchtlich, und der König war wieder einmal in Oxford eingeschlossen. Sir Richard Grenville - ein Schandfleck für einen so stolzen Namen, wegen seiner Grausamkeit von seinen eigenen Leuten gleicherweise gehaßt wie von seinen Feinden und sicherlich seiner eigenen Sache ebenso gefährlich wie der des Parlaments , der sein Lager bei Okehampton aufgeschlagen hatte, um den Weg nach Plymouth zu bewachen, zog plötzlich Mitte November seine drei Regimenter ohne Befehl nach Cornwall ab. Simon, der einen Nachmittag auf der Jagd gewesen war und nun mit einem Paar Wildenten in der Hand in sein Quartier zurückkam, hörte von seinem Vorgesetzten die traurige Nachricht: »Es ist für eine Weile aus mit den Fleischtöpfen.« »Warum?« fragte Simon. »Beim Morgengraue n marschieren wir nach Süden. Allgemeiner Vormarsch auf Exeter.« Und sie rückten vor, außer ein paar Regimentern, die in Tiverton blieben. Noch bevor der Monat um war, hatten sie trotz des Straßenzustandes ihre neuen Stellungen bezogen. Fairfax schlug sein Hauptquartier in Ottery St. Mary auf, eine Brigade unter Sir Hardress Waller wurde bei Crediton stationiert, und 135

weitere Regimenter in Powderham und anderen Punkten sicherten die Stadt gegen Westen. Im Osten wurde Great Fulford von Oberst Okeys Dragonern erobert und besetzt. Eggsford House folgte und dann Ashton. So hatte Fairfax einen ganzen Ring von befestigten Punkten um Exeter gebildet. Aber zwischen diesen großen Häusern lagen noch andere, die besetzt werden mußten, bevor die Umklammerung lückenlos war. Meistenteils waren das große Höfe und kleinere Gutshäuser. Manchmal handelte es sich einfach nur darum, daß man in nicht verteidigte Häuser eindringen mußte, teils mit Erlaubnis des Besitzers, notfalls auch ohne sie. Andere aber waren Vorposten der Königlichen, aus denen die Soldaten mit Schwert und Pike vertrieben werden mußten, und manchmal dauerten Angriff und Gegenangriff tagelang. Eines dieser kleineren Gutshäuser war Okeham Paine, ein tiefgelegenes, graues Haus, das in der Einbuchtung eines flachen Tales lag, in dem sich seine Parks und Ländereien bis zu einer Ansammlung kleiner Häuser und einer Brücke hinabzogen. Durch seine Lage beherrschte es die Straße nach Exeter und war infolgedessen von den königlichen Fußtruppen befestigt und besetzt worden. Eben wegen seiner Lage mußten die Parlamentstruppen es so schnell wie möglich in die Hand bekommen. Es war Befehl zum Angriff gegeben worden, und in einer schwarzen Nacht mitten im Dezember rückten die Angreifer aus Broad Clyst aus. Es waren zwei Kompanie n Dragoner, eine Schwadron von Walleys Reitern, ein Offizier und zwei Gemeine von den Pionieren, die für das Pulverfäßchen verantwortlich waren, mit dem die Eingangstür gesprengt werden sollte, und Disbrows Schwadron. Nicht zu viele für diese Aufgabe, aber Leute waren knapp, denn ein Fieber, das aus den OtterySümpfen aufstieg, ging in der Armee um, und für die Einnahme einer einzigen kleinen Festung konnte man nicht mehr Männer entbehren. 136

Es hatte seit Tagen ununterbrochen geschneit, und die dichten Flocken schluckten ihre Hufschläge, so daß die Kolonne sich in unheimlicher Stille vorwärtsbewegte. Nur manchmal knirschte ein Zügel. Es war sehr dunkel unter einem Wolkenhimmel, der fast bis auf die Baumkronen herunterzuhängen schien. Ein kalter, heulender Wind blies ihnen beim Reiten die Schneestöße ins Gesicht. Wie ein Zug von Geistern zogen sie durch Heckenwege und Reitwege und über wegloses, offenes Land und folgten den Spähern, die den Weg vorher erkundet hatten, und wie ein Zug von Geistern kamen sie endlich durch einen Gürtel von Eichenwäldern an den Rand des offenen Landes oberhalb von Okeham Paine. Hier, wo die verschneite Wiese weiß durch die Baumkronen vor ihnen schien, stiegen sie ab. Die Soldaten und die Dragoner banden ihre Pferde zusammen, indem sie die Zügel über den Kopf des nächsten Pferdes warfen und jeden zehnten Zügel einem Mann übergaben, der zurückbleiben mußte. Dann, als der geflüsterte Befehl des ältesten Dragoner-Kapitäns, der das Kommando hatte, durch die Reihen gegeben war, brachen sie zu Fuß auf, immer noch den Spähern folgend, den Waldsaum entlang. Es fiel wieder dichter Schnee. Das war um so besser, denn in dem dichten Schneegestöber konnten sie sich unbemerkt anschleichen, während der heulende Wind jeden Laut übertönte. Die Dragoner, die sonst mit Luntengewehren ausgerüstet waren, wie es bei den berittenen Fußtruppen∗ üblich war, trugen heute nacht Kavalleriepistolen mit Feuersteinschlössern, damit nicht das Glimmen einer Lunte sie in der Dunkelheit verriete. Aus dem gleichen Grunde hatten die Soldaten die klirrenden Sporen von den Hacken abgenommen. Am unteren Ende des Waldes, wo die Eichen Birken und Haselsträuchern gewichen waren, machte der ganze Trupp halt. ∗

Berittene Truppen, die als Fußsoldaten eingesetzt wurden und kämpften. Klassisches Beispiel: die Dragoner. Vom 18. Jahrhundert an wurden sie wie normale Kavalleristen verwendet. 137

Neue Befehle wurden nicht mehr gegeben, denn sie hatten die Anweisungen im voraus erhalten. Sie teilten sich unter vollkommenem Schweigen auf: Wallers Kompanie und eine Dragoner-Kompanie verschwanden nach rechts, Disbrows und die andere nach links, dem Platz entgegen, wo eine lange Weißdornhecke bis zu den Pferdegehegen am Haus führte. Sie waren noch nicht weit gekommen, als sich ein Bach mit hohen Ufern fast bis an die Wurzeln der Hecke heranschlängelte. Die Dragoner rutschten einer nach dem anderen hinunter und verschwanden hinter der Böschung, während jede Bewegung in der schneeigen Dunkelheit von Weiden- und Erlengestrüpp verdeckt wurde. Disbrows Leute schlichen weiter, der Spähtrupp voran, die übrigen folgten in bestimmtem Abstand hintereinander, die Pioniere mit ihrem Pulverfaß bildeten die Nachhut. Simon merkte nur an einem leisen Schurren und Stöhnen weit vorn, das ebensogut von einem nagenden Dachs hätte kommen können, daß sie auf die ersten Wachposten gestoßen waren, und ein wenig weiter vorn sah er die dunklen Gestalten der Wachen, die dort lagen, wohin man sie neben dem Weg gezogen hatte. Nach ihrer Zahl zu urteilen, war die Wache verdoppelt worden. Die Hecke wurde hier dünn. Neugepflanzte Weißdornschößlinge gewährten nur wenig Schutz, und von nun an mußten sie kriechen. An der Ecke des Geheges stießen sie wieder auf einen Wachposten, und hier war die Wache auf der Hut; es gab ein Handgemenge, und ein Schrei wurde durch das Krachen eines Gewehrkolbens auf einem Schädel erstickt. Dann folgte eine lange, prickelnde Stille, in der die Männer, die sich in die dunklen Schatten der Bäume am Gehege duckten, angestrengt auf irgendein Alarmzeichen lauschten. Nichts war zu hören. Offenbar war der schnell erstickte Schrei des Wachpostens von dem fallenden Schnee eingehüllt worden, oder er war, wenn man ihn gehört hatte, für den Ruf eines Nachtvogels gehalten worden. Die Angreifer krochen weiter. 138

Sie trafen auf keine weiteren Wachposten, und nach ein paar Minuten hatten sie ihre Plätze am östlichen Rande des Gartens eingenommen. Eine lange Wartezeit folgte. Simon bebte vor Aufregung, während er unter eine Eibenhecke kroch. Hier war es windgeschützt, und er meinte, hinter und neben sich den Atem versteckter Männer zu spüren. Vor ihm senkte sich die beschneite Allee und stieg wieder an zu dem dunklen Hauptgebäude. Die Fenster waren gegen einen Angriff verbarrikadiert, aber hier und da verriet ein gelber Lichtschimmer, der durch die Schießscharten fiel, wo Männer in Kampfbereitschaft lagen. Ein kleiner Schneeschauer fiel von den Eibenzweigen auf Simons Schultern, und die Kälte des Bodens, auf dem er kroch, schien an ihm emporzusteigen, eine nasse, kriechende Kälte, die ihn gänzlich überkam. Aber immer noch zog sich die Wartezeit hin. Sicher waren die anderen Kompanien jetzt in ihren Stellungen! Sie hatten einen weiteren Weg, aber sie konnten auf kein Hindernis gestoßen sein, denn man hatte weder einen Schrei noch Schüsse gehört. Simon wagte nicht, von dem einen vor Kälte erstarrten Knie, auf das er sich stützte, auf das andere überzuwechseln, da diese Bewegung einen neuen Schneerutsch vom Eibenzweig verursachen könnte und die Wachen, die am Hause Dienst taten, aufmerksam werden könnten. Es fiel jetzt kein Schnee mehr, merkte er, und die Lichter schienen klar aus den Schießscharten. Dann leuchtete für einen Augenblick ein schwaches Licht in der Dunkelheit der gegenüberliegenden Büsche auf, das gut gegen das Haus abgeschirmt war. Die Schwadron von Walleys Reitern befand sich in ihrer Stellung und signalisierte das nach Schmugglermethode mit einer abgeblendeten Laterne. Weit hinten, wo Disbrow lag, würde das gleiche Lichtsignal über den Küchengarten an die andere Kompanie Dragoner weitergegeben werden, wußte Simon. So weit war alles reibungslos verlaufen. Der nächste Zug mußte von den Dragonern hinter dem Haus getan werden, und 139

unmittelbar darauf taten sie ihn. Man hörte plötzlich den lauten Ruf einer Wache, dem ein Pistolenschuß folgte, darauf eine Salve von Schüssen. Dann schwoll der Lärm an, als sei im Küchengarten die Hölle losgebrochen. Die Dragoner machten ein Täuschungsmanöver, um das Feuer des Feindes auf sich zu lenken. Im Hause und in den Nebengebäuden schlugen die Trommeln Alarm, und eine golden glitzernde Schießscharte nach der anderen wurde dunkel. Unter seiner Eibenhecke spannte Simon alle Kräfte an wie ein Läufer vor dem Start zu einem Rennen, während er wartete und wartete und die Aufmerksamkeit der Verteidiger voll und ganz von dem Scheinangriff im Hintergrund in Anspruch genommen war. Dann erhob sich die Stimme des Dragonerkapitäns zu einem anfeuernden, abgerissenen Ruf und gab das Kommando. Wie eine dunkle Welle brachen die versteckten Männer mit Hurrageschrei aus ihrer Deckung hervor. Von allen Seiten des Gartens schwärmten die Angreifer herbei. Simon war aufgesprungen und rannte auf das Haus zu, seine lange Pistole in der Hand. Er war die Allee halb herunter, als in den verdunkelten Schießscharten Feuer aufflammte und das Knattern von Musketen über dem Aufruhr auf der anderen Seite des Hauses aufstieg und die Trommeln zum Gefecht riefen. Er warf sich nieder wie die anderen, aber in der pechschwarzen Dunkelheit war das Schießen sinnlos und konnte kaum jemanden treffen. Sogleich sprang er wieder hoch und stürmte weiter nach vorn. Die Reihen wurden dichter, da der Ring sich enger schloß. Eine Abteilung griff die Ställe und Nebengebäude an, eine andere umging das Haus, um mit den Dragonern im Küchengarten gemeinsame Sache zu machen. Simon und seine Schwadron, geführt von Leutnant Colebourne, hielten sich geradeaus, um das Haus direkt von vorn zu stürmen. Sie hatten die Pioniere bei sich, die die Tür sprengen sollten. Im nächsten Augenblick war es Simon so, als ob die Dunkelheit in ein plötzliches strahlendes Glänzen explodiert sei, 140

in dem die Blitze abgefeuerter Gewehre unzählige Feuerpunkte bildeten. Es wurde nun auf beiden Seiten tüchtig geschossen. Die Räume hinter den verbarrikadierten Fenstern lagen im Dunkeln, damit sich vor dem Licht nicht die Männer an den Schießscharten abzeichneten. Sie hatten die brennenden Holzscheite auf die Angreifer geworfen, um besser auf sie zielen zu könne n, aber diese erloschen schnell im Schnee, außer einigen, die die Dragoner aufgehoben hatten und nun benutzten, um die Barrikaden in Brand zu stecken. Als das Holz brannte und knackte, rissen sie die schwelenden Stücke heraus. Wieder und wieder wurden Fairfax' Soldaten zurückgetrieben, wieder und wieder sammelten sie sich und stürmten aufs neue vor. Der Kampf wirbelte wie eine stürmische Flut durch Hof und Nebengebäude, und an die feste Mitteltür duckten sich außerhalb der Feuerlinie drei dunkle Gestalten und machten hastige, aber sorgfältige Vorbereitungen mit Pulver und Zündschnur. Drinnen im Haus behaupteten die Königlichen ihre Posten, die Schützen feuerten unausgesetzt, während ihre Kameraden für sie luden. Aber dies mußte schließlich ein Kampf Mann gegen Mann werden, und als die Fensterläden und Barrikaden zerstört waren, wurde ein Fenster nach dem anderen der Mittelpunkt eines erbitterten Ringens, in dem die Kämpfenden mit erhobenen Musketen vor und zurück schwankten und das flackernde rote Licht auf sausenden Schwertklingen zuckte. Mitten in einem solchen Getümmel bahnte sich Simon langsam, aber beharrlich einen Weg nach drinnen. Seine beiden Pistolen waren leergeschossen, und er kämpfte jetzt mit dem Schwert, seine Männer dicht hinter ihm. Jeder schlug und stieß blindlings mit dem Schwert zu, es war ein Kampf wie in einem Traum. Während des Kampfes hatte er seinen Helm verloren, aber er hätte alles verlieren können, ohne es zu bemerken, außer seinem Schwert. Plötzlich wurde der Druck von drinnen schwächer, und die Verteidiger des Fensters wichen zurück! Mit 141

einem Freudengeschrei stürzten er und seine Männer über das Fensterbrett hinein. »Wir sind die ersten! Bei Gott!« Seine Stimme wurde von dem Getöse einer Explosion erstickt, und er wußte, daß die Vordertür in die Luft geflogen war. Es war ein kleiner Raum, in dem sie sich nun befanden, und das Licht von einem brennenden Fensterladen zeigte ihnen eine Tür an der gegenüberliegenden Wand. Mit Triumphgeschrei warfen sie sich dagegen. Mehr und mehr Männer stürzten ihnen nach, als sie die Tür aufsprengten und in einen gelben Kerzenglanz hineinrannten, der sie fast blind machte. Sie waren in der großen, von Kerzen erhellten Halle des Hauses. Die Kerzen flackerten unruhig in ihren Leuchtern vor den zerstörten Wänden. Die Halle war geschwängert von Pulverrauch, der wie Nebelschwaden in der Luft hing, und es wurde verzweifelt um den gesprengten Eingang gekämpft. Eine breite Treppe schwang sich aus den dunklen Schatten empor, und auf halber Treppe stand eine dunkelgekleidete Frau, eine große Frau mit weit ausgebreiteten Armen, als wolle sie eine Barriere bilden, und sie blickte, ohne das geringste Anzeichen von Furcht, auf das wilde Schauspiel hinunter. Simon nahm blitzartig das verworrene Bild wahr, bevor sich eine Gruppe der Verteidiger von oben auf ihn stürzte. Sie wurde von einer schlanken Gestalt angeführt, deren wildes rotes Haar in dem flackernden Kerzenlicht wie eine Flamme leuchtete. Die beiden Gruppen prallten aufeinander und wurden zu einem geballten Wirbel aus Männern, geschwungenen Musketen und erhobenen Schwertern, und als die beiden Anführer sich am Fuß der Treppe zum Kampf stellten und ihre Schwerter aufeinanderschlugen, sah Simon, daß der rothaarige Mann Amias war. Amias erkannte ihn im gleichen Augenblick und lachte: »Gut getroffen, Bruderherz!« In seinen Augen stand das alte tanzende 142

Feuer, und sein Schwert - es war ganz bestimmt Balin schwankte nicht ein einziges Mal. Simon sagte nichts. Er drängte sich verzweifelt nach vorn, von einem kalten Gefühl erfüllt, daß dies alles unwirklich sei. Das konnte nicht geschehen! Es war etwas so Furchtbares, so gegen die Natur aller Ordnung, daß es einfach nicht möglich war. Aber es war möglich! Es geschah wirklich! Dort am Fuß der breiten Treppe kämpften Simon und Amias und hatten die um sie herum kämpfenden Soldaten vollkommen vergessen. Sie sahen nichts mehr über ihren tanzenden Klingen als die Augen des anderen, in denen der Wille zum Töten stand. Währenddessen blieb die Frau oben an der Treppe, als sei sie weit entfernt von dem Aufruhr unter ihr, und sah auf sie herab. Das Ganze dauerte nur einen Augenblick, dann brach der Widerstand an der Tür zusammen, und die Dragoner fluteten herein. Das Gewoge in der Halle wurde gegen die Treppe gedrängt, und Simon erblickte, während er einem Stich auswich, der seinen Ärmel aufgeschlitzt hatte, für den Bruchteil einer Sekunde den drohenden Umriß eines erhobenen Musketenkolbens über seinem Kopf. Er kam heruntergesaust, und er taumelte seitwärts, ohne zu wissen, daß er getroffen war. In seinen Ohren brauste tosend das Meer, und etwas Heißes tropfte ihm über Stirn und Wangen. Für einen Augenblick sah er Amias' Gesicht, das einen Ausdruck hatte, den er nicht verstehen konnte. Er sah es sehr deutlich, aber wie aus großer Ferne. Dann versank der Boden unter ihm, und er tauchte in eine tiefe Dunkelheit ein.

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Susanna

Eine ganze Weile später schien es Simon, als tauche er wieder aus der Dunkelheit auf, oder vielmehr als tauche er aus einem dunklen Wasser ans Licht und an die Luft empor. Es war genau dieses Gefühl, so daß er die undeutliche Vorstellung hatte, er sei mit Amias in dem Tümpel unter den überhängenden Eichbäumen daheim geschwommen und sei irgendwie am Grunde steckengeblieben. Er arbeitete heftig, um an die Oberfläche zu kommen, aber das ihm entgegenkommende Licht schlug ihm wie ein Hammer auf den Kopf, und er mußte wohl eine ganze Menge von dem trüben Wasser geschluckt haben, daß ihm so übel war... Irgend etwas drehte sich ganz furchtbar in seinem Innern, und jemand sagte: »So, nun wird er sich bald besser fühlen.« Und die dunklen Wasser schlugen wieder über ihm zusammen. Aber er versank nicht so tief wie vorher, und es dauerte nicht so lange, bis er wieder nach oben kam. Diesmal war irgendwo weit hinten ein schwankender Lichtschimmer, und nach und nach entstand um ihn herum ein verschwommener Lichthof, ein goldener, sehr tröstlicher Glanz, wie der Glanz von Kerzen in einem Fenster, wenn man eine lange Zeit in Finsternis und Kälte draußen gewesen war. Und plötzlich erkannte Simon, daß es genau das war: eine Kerze oder zwei Kerzen, das konnte er nicht unterscheiden, denn manchmal war da nur eine Flamme, manchmal zwei oder vielleicht sogar drei. Sie schien wie ein Irrlicht zu tanzen, wurde manchmal sehr groß und verschwommen und dann wieder ganz klein und deutlich. Dann sah er, als sein Blick wieder klar wurde, daß es nur eine Kerze war und daß sie von einer Frau in der Hand gehalten wurde, die ihn bei ihrem Schein aufmerksam ansah. Eine große Frau in einem grauen Kleid, deren glattes dunkles Haar unter der 144

weißen Puritanerhaube hervorkam. Er erinnerte sich dunkel, daß er sie schon einmal gesehen hatte, aber wo? Das mußte lange her sein. Im nächsten Augenblick zeichnete sich in der Dunkelheit in seinem Kopf ein kleines, deutliches Bild ab. Er sah sie oben auf einer breiten, geschwungenen Treppe stehen und wie versteinert auf die kämpfenden Männer unter sich schauen. Die Erinnerung oder wenigstens ein Stückchen Erinnerung an den nächtlichen Kampf flutete zu ihm zurück, und mit einem erstickten Schrei versuchte er, sich auf einen Ellenbogen zu stützen. Die Welt schwankte und verschwamm, und der Hammer in seinem Kopf schien ihn gänzlich zu betäuben. Sofort war die Frau neben ihm, legte ihm ihre freie Hand auf die Brust und preßte ihn energisch in die weichen Kissen zurück. »Liegen Sie still«, befahl sie. »Gott hat Ihnen Ihr Leben erhalten, wollen Sie nun sein Werk zerstören?« »W... wo... was...«, stammelte Simon, und die Worte lagen ihm dick und schwer auf der Zunge. »Nein, Sie sind kein Gefangener, falls das Sie beunruhigt. Dieses Haus ist wieder in den Händen des Parlaments, und die verruchten Königlichen sind daraus vertrieben.« Simon atmete erleichtert auf. »Was geschah - nachdem...«, fing er an. »Nachdem Sie unter dem Musketenkolben des rasenden Mannes zusammengesunken waren? Der königliche Kapitän bat um Waffenruhe, da seine Lage hoffnungslos war und viele seiner Leute erschlagen waren. Er und seine Soldaten wurden aus dem Hause gewiesen, und Gott sei Dank zog Fairfax mit seinen Männern ein. Dieses Haus war zu lange ein Wohnsitz der Verdammten. Nun aber herrscht wieder Gerechtigkeit in seinen Mauern.« Simon blickte sie verstohlen an, um sie genau zu erkennen, was ihm aber nicht ganz gelang, und um zu verstehen, was sie 145

sagte, was ihm ebenfalls nicht gelang, weil sein betäubter Verstand andere Dinge zu erkennen versuchte, an denen ihm lag. »Wie lange bin ich... bin ich schon hier?« murmelte er schließlich. »Eine Nacht und einen Tag. Es ist jetzt zehn Uhr.« »Und ist meine Schwadron - noch hier? - Disbrows Schwadron?« »Nur die Dragoner sind noch hier. Die anderen sind dorthin zurückmarschiert, von wo sie kamen.« Die große Frau hatte die Kerze hingestellt, und nun begann sie, etwas aus einer Flasche in einem Glas abzumessen, das sie vom Tisch neben dem Bett nahm. Simon mühte sich weiter. »Wurden - viele verwundet?« »Mehr als zwanzig, nicht gerechnet die verruchten Königlichen. Der Feldarzt kam heute morgen und nahm sie in zwei Gepäckwagen mit nach Crediton, aber für Sie, sagte er, sei der Transport lebensgefährlich und nicht vor ein oder zwei Tagen möglich.« Sie wandte sich ihm wieder zu mit dem Glas in der Hand. Es war groß und bauchig und fing das Licht auf wie eine Wasserblase. »Nun habe ich genug Fragen beantwortet, und Sie müssen schla fen. Sind Sie durstig?« »Sehr durstig.« Simon merkte, daß sie einen Arm unter seinen Kopf geschoben hatte und ihn mit ihrer Schulter stützte. »Trinken Sie dieses. Nicht zu hastig, bitte.« Er schluckte das kühle, kräuterduftende Getränk, während sie ihn mit unerwarteter Güte hielt, das Glas von seinem Mund nahm, wenn er zu schnell trank, so, als sei er ein kleines Kind. Als das Glas leer war, legte sie ihn in die Kissen zurück. »Nun werden Sie schlafen, und ich werde hier eine Zeitlang an Ihrem Bett wachen. Und morgen früh werden Sie sich, so Gott will, besser fühlen.« Sie stellte die Kerze beiseite, damit sie ihm nicht ins Gesicht schien, hüllte sich in eine dunkle Decke ein, zog einen Stuhl mit 146

hohen Lehnen ans Fußende des Bettes, setzte sich hin und öffnete ein Buch, das sie am Gürtel hängen hatte. Simon wurde, als er sie so sah, an Eiferer- im-Herrn erinnert. Es war eine freundliche Erinnerung, und nach ein paar Minuten war er eingeschlafen. Als er wieder erwachte, war der kleine Raum, in dem er lag, von dem grauen Licht eines Wintermorgens erfüllt, und ein leises, klapperndes Geräusch, das er sich nicht erklären konnte, tönte ihm in den Ohren. Da waren noch eine ganze Menge anderer Dinge, die er nicht deuten konnte. Was war zum Beispiel mit dem Kopf los? Er zerrte eine Hand unter der Bettdecke heraus und hob sie mühsam hoch, um das herauszubekommen: Verbände und ein dickes Polster auf seiner linken Schläfe, die furchtbar schmerzte, als er sie mit seinen tastenden Fingern berührte. Dann erinnerte er sich wieder an alles: an den Angriff, das rot aufflammende Feuer, den durch die kerzenerhellte Halle wirbelnden Kampf. Und diesmal war das Bild vollständig, er sah Amias. Er bebte so, als er tief Luft holte, daß es fast wie ein Wimmern klang. Da merkte er, daß sich eine Frau über ihn beugte. Nicht die große Frau von gestern abend, sondern eine kleine, dicke Frau mit rotgeäderten Wangen, die aussahen wie verschrumpelte Äpfel. »So, nun still liegen, mein armer, lieber Junge«, sagte sie. »Liegen Sie still, und danken Sie Ihrem Schöpfer, daß er Ihnen einen so dicken Schädel mitgegeben hat - wenn es ein Grund zum Danken ist, daß man noch länger in diesem Jammertal verweilen muß, was ich nicht finde. Und jetzt bringe ich Ihnen eine schöne Brühe, die schon über eine halbe Stunde hier am Feuer zum Wärmen steht.« Simon protestierte schwach, aber sein Protest hatte keinen Erfolg. Die kleine dicke Frau nahm die Brühe von dem Platz neben dem schwach brennenden Feuer, und Simon trank sie, weil er keine Kraft hatte, sich dagegen zu wehren. 147

»Es ist sündhaft, über eine gute Brühe zu murren, genauso sündhaft wie über Hunger zu klagen«, sagte sie, als sie ihm unbarmherzig den letzten Löffel in den Mund geleert hatte. »Brühe, wenn man keine will, und keine Brühe, wenn man welche will. So geht es zu in dieser elenden Welt.« Und sie ging wieder zu ihrem Stuhl am Fußende des Bettes zurück und nahm ihr Strickzeug in die Hand, an dem sie auch gestrickt hatte, als Simon aufwachte. »Klick-klick-klick«, machten ihre Nadeln. Von draußen drang schwach das Geräusch vom morgendlichen Stalldienst der Dragoner herein. Sich selbst überlassen, lag Simon ganz still, das Gesicht der weißgetünchten Decke zugewandt. Amias. Was war aus Amias geworden? Wo war er jetzt? Tot oder lebendig? Gefangen oder frei? Und gab es nicht Männer genug in den beiden Armeen, damit nicht gerade er und Amias sich mit dem Schwert bekämpfen mußten? Warum mußte in jener Nacht gerade Amias in der Halle sein? Warum? Warum? Aber trotz dieses furchtbaren Schmerzes und der Fragen, die in seinem klopfenden Kopf um und um gingen, war er plötzlich wieder eingeschlafen. Als er eine oder zwei Stunden später erwachte, stand wieder die große Frau neben ihm. Bevor er einschlief, hatte er sie nach Amias fragen wollen, aber nun merkte er, daß er es nicht konnte. Es war seltsam, aber die Worte blieben ihm im Halse stecken. Er konnte nicht über Amias sprechen, jedenfalls nicht mit ihr. Als sie sah, daß er aufgewacht war, legte sie das Verbandzeug, das sie in der Hand hatte, auf den Tisch. »Guten Morgen, mein Freund«, sagte sie. »Ich bin gekommen, um Ihren Kopf zu verbinden.« »Ja, Madam«, sagte Simon pflichtschuldigst. Sie begann den Verband zu lösen. Ihre Hände waren flink und sicher, nicht ungeschickt, wie die Hände von Menschen, die niemandem weh tun wollen, es so oft sind. Sie kam schnell mit 148

ihrer Arbeit voran. »Es ist eine häßliche Wunde«, sagte sie, als sie die Binden entfernt hatte. »Mir scheinen acht Stiche eigentlich nicht zu genügen, aber der Chirurg wird sein Handwerk verstehen. Ich muß noch etwas mehr Haar abschneiden. Tut es weh?« »Ein bißchen. Aber Sie sind ein ausgezeichneter Wundarzt. « »Ich habe genug Übung gehabt«, sagte sie beim Schneiden. »Wir hatten hier während der ersten Belagerung von Exeter viele Verwundete. Männer aus beiden Armeen, und ich pflegte die Böcke mit den Schafen. Bei der Pflege bat ich sie, ihren Irrweg zu bereuen und nicht mehr dem verruchten Charles Stuart zu folgen.« Sie war fertig und verband Simons Kopf frisch. Dann kniete sie neben ihm nieder, faltete die Hände, bat ihn, ihre Worte nachzusprechen. Sie dankte dem allmächtigen Gott, daß er seine Flügel schützend über seinen unwürdigen Diener ausgebreitet, daß er ihn davor bewahrt hatte, in der Blüte seiner Sünden dahingerafft und dem ewigen Feuer überantwortet zu werden. Simon sprach alles mit großer Inbrunst nach. Er war sich seiner Fehler deutlich bewußt, und da er ein bescheidener Mensch war, kam es ihm auch nicht in den Sinn, sich darüber zu verwundern, wieso die große Frau ihrer so gewiß war. Als sie ihn verließ, schlief er gleich wieder ein, und er verschlief auch den größten Teil des Tages, außer wenn er geweckt wurde, um mehr Brühe oder warme Milch mit Kräutern zu trinken. Aber sogar im tiefsten Schlaf hämmerte es unausgesetzt weiter in seinem Kopf, und auch Amias' Gesicht blieb immer gegenwärtig, weiß, unbeweglich und helläugig über seiner tanzenden Schwertklinge. Die Frau des Hauses und ihre kleine runde Dienerin schienen dauernd wiederzukommen und nach ihm zu sehen. Gegen Abend besuchte ihn der Dragonerkapit än und berichtete ihm auf seine besorgten Fragen, daß Scharlach zusammen mit den anderen Pferden, deren Reiter tot oder verwundet waren, nach Broad Clyst zurückgebracht 149

worden war. Nach Amias aber, fand Simon, konnte er nicht fragen. Einmal, als er plötzlich aus unruhigem Schlummer erwachte, meinte er, das Gesicht eines Mädchens zu erblicken ein kleines, spitzes Gesicht, nur Augen, ein Elfengesicht, das ihn aus dem Dunkel der offenen Tür anschaute -, aber es war so schnell fort, daß es vielleicht nur das wirre Ende eines Traumes gewesen war. Am nächsten Tag kam der Doktor, nicht der alte Davey Morrison, sondern ein jüngerer, dickerer Mann, der freundlich, aber geplagt zu sein schien und grobe Hände hatte, die Simon beim Untersuchen der Wunde ziemliche Schmerzen bereiteten. »Ja, ja, morgen können wir ihn ganz bestimmt aus Ihrer Pflege entlassen, Mistress Killigrew«, sagte er, nachdem er Simon den Puls gefühlt und ihm in die Augen geschaut hatte. »Nach meiner Meinung sollte er lieber bis übermorgen bleiben«, sagte die Frau des Hauses. »Nicht nötig - ganz und gar nicht nötig, versichere ich Ihnen, Madam. Er hat einen dicken Schädel und eine gute Konstitution.« Mrs. Killigrew richtete sich zu ihrer vollen Höhe auf, so daß sie größer wurde als der Doktor, und blickte ihm über Simons Bett hinweg ins Gesicht. »Dieser junge Mann ist mir durch Gottes Fügung anvertraut worden«, sagte sie. »Der Herr hat ihn lebendig aus dem Kampf in meiner Halle hervorgehen lassen. Glauben Sie, daß ich die Taten des Herrn durch einen naseweisen und wahrscheinlich unfähigen Feldarzt, der seine vorzeitige Entfernung aus meinem Haus anordnet, zerstören lasse?« Der Arzt, der nicht gern hörte, er sei naseweis und wahrscheinlich unfähig, sagte hastig: »Darf ich Sie daran erinnern, Madam, daß dieses Haus in den Händen des Parlaments ist?« »Ich weiß, daß das Erdgeschoß und die Nebengebäude von 150

den Parlamentstruppen übernommen sind, aber dieser Raum befindet sich zufällig in dem Teil des Hauses, der mir und meiner Familie zur Verfügung gestellt wo rden ist, und wenn Sie morgen hier heraufkommen, um nach Ihrem Patienten zu sehen, dann werden Sie die Tür verschlossen finden, und ich stehe mit meinen Mägden und meiner Tochter davor Wache«, entgegnete Mrs. Killigrew, und man sah ihrer Miene an, daß dies endgültig ihr letztes Wort war. Der entrüstete Arzt wußte das auch. Er raffte zusammen, was von seiner Würde noch übrig war, und verbeugte sich. »Ich muß Ihre Entscheidung anerkennen, da ich kaum eine Schar eigensinniger Frauen angreifen lassen kann, um Kornett Carey mit Gewalt zu befreien. Ich werde dafür sorgen, daß er übermorgen geholt wird.« Nachdem er gegangen war, kam Mrs. Killigrew zurück und trug eine dicke Familienbibel mit Messingschlössern unter dem Arm. Sie äußerte sich nicht mehr über das eben Vorgefallene, sondern sagte zu ihm: »Ich pflege jeden Tag zu einer bestimmten Stunde ein Kapitel aus der Heiligen Schrift vorzulesen. Heute will ich das hier in diesem Zimmer tun, um Ihren Geist damit zu erfrischen.« Noch jemand hatte sich hinter ihr hereingestohlen und stand nun mit artig gefalteten Händen und gesenkten Augen in der Tür, ein Mädchen, das etwa so alt war wie Maus oder vielleicht etwas jünger, mit einem blassen Gesicht und hellem, rötlichem Haar, das unter die Haube zurückgekämmt war, und Simon wußte nun, daß das Mädchen, das ihn gestern angeschaut hatte, kein Traum gewesen war. »Dies ist meine Tochter Susanna. Sie haben sie noch nicht gesehen, denn sie mußte ihre Sünden bereuen und war deshalb die beiden letzten Tage in ihrem Zimmer eingeschlossen«, stellte Mrs. Killigrew sie vor. Das blasse Mädchen blickte plötzlich auf, und Simon merkte, 151

daß ihre Augen ihn anschauten, große dunkle Augen, die das ganze Gesicht zu überschatten schienen und in denen eine flehentliche Bitte stand. »Nein, ich habe Fräulein Susanna noch nicht gesehen«, sagte er. Aber Mrs. Killigrew hörte nicht zu. »Da sie nun aber ihre Sünden aufrichtig bereut, wollen wir nicht mehr davon sprechen. Bring den Stuhl her, Kind.« Sie setzte sich selber in den geradlehnigen Stuhl, während Susanna, die Simon einen dankbaren Blick zugeworfen hatte, einen kleinen Schemel hervorholte und sich ihrer Mutter zu Füßen setzte, die Hände im Schoß faltete und wieder die Augen niederschlug. Mrs. Killigrew öffnete die große Bibel, nahm die gepreßte Moosrosenknospe heraus, die als Lesezeichen gedient hatte, und begann zu lesen. Zufällig war sie gerade zu dem ersten Kapitel aus dem zweiten Buch Samuel gekommen - dem Kapitel, das Davids Klage um Jonathan enthält. Mrs. Killigrew hatte eine wunderbare Stimme, tief und klangvoll; und als sie las, schien sich der kleine, weißgetünchte Raum mit der herzzerreißenden Klage des Königs um seinen toten Freund zu erfüllen. »Wie sind die Helden so gefallen im Streit! Jonathan ist auf deinen Höhen erschlagen. Es ist mir leid um dich, mein Bruder Jonathan; ich habe große Freude und Wonne an dir gehabt, deine Liebe ist mir sonderlicher gewesen, denn Frauenliebe ist. Wie sind die Helden gefallen und die Streitbaren umgekommen!« Simon, elend vor Sorge, erschien es als böses Omen, daß sie gerade bei diesem Kapitel angekommen war. Seine Schönheit schmerzte ihn unerträglich, und sein Magen krümmte sich elendiglich. Er lag unbeweglich still und ballte die Hände unter den Decken, während ihn jede Sekunde quälte, bis sie endlich Schluß machte. Es fiel ihm gerade noch ein, daß er ihr danken 152

mußte, als sie das Buch schloß und aufstand. »Ich bin froh, daß Sie die Heilige Schrift zu würdigen wissen«, antwortete sie. »Nicht von jedem jungen Menschen kann man das sagen. Komm, Susanna.« Sie ging aus dem Zimmer, und das blasse Mädchen folgte ihr geräuschlos. Sobald die Schatten in den Ecken seines Zimmers dichter wurden, kam Susanna zurück, um nach dem Feuer zu sehen und ihm eine Kerze zu bringen. Sie stahl sich so leise herein wie vorhin, und als sie ihre Arbeit verrichtet hatte, stahl sie sich wortlos wieder hinaus, als Simon, in dem verzweifelten Wunsch, mit jemandem zu sprechen, sie zurückrief. »Fräulein Susanna.« Sie wandte sich um und trat neben sein Bett. »Wünschen Sie irgend etwas - vielleicht zu trinken?« Simon hörte sie zum erstenmal sprechen. Ihre Stimme klang rauh wie die eines Jungen, und er hatte sie gern. »Nein, ich möchte nichts zu trinken«, sagte er. »Aber was ich fragen wollte - was haben Sie denn getan, daß Sie zwei vo lle Tage in Ihrem Zimmer eingeschlossen werden mußten, um Buße zu tun?« Susanna blieb mit niedergeschlagenen Augen und gefalteten Händen stehen. »Ich bin in den Viehhof gegangen und habe einem fahrenden Geiger zugehört, der mit den Soldaten gekommen war«, sagte sie und fügte mit angehaltenem Atem hinzu: »Und das noch an einem Sabbat.« »Oh!« sagte Simon. »Wie kamen Sie denn gestern aus Ihrem Zimmer heraus?« »Die alte Jinny vergaß, die Tür wieder zu verschließen, als sie meinen Abendbrotteller geholt hatte. Vielen Dank, daß Sie es Mutter nicht verraten haben«, und ehe Simon recht zur Besinnung gekommen war, hatte sie das Zimmer verlassen. 153

Simon schaute ihr erstaunt und verwirrt nach. Wer würde denken, daß so ein kleines, zaghaft wirkendes Wesen das Zeug in sich hatte, sich heimlich fortzuschleichen, um an einem Sabbat einem fahrenden Geiger zuzuhören? Am nächsten Tag, seinem letzten in Okeham Paine, sah Simon Susanna Killigrew ziemlich viel, denn ihre Mutter war den ganzen Tag in der Vorratskammer beschäftigt. Aber sie stahl sich wie ein trauriger, kleiner grauer Geist in sein Zimmer ein und wieder hinaus, die Augen sittsam niedergeschlagen. Er mußte sich mächtig anstrengen, um ihr gelegentlich ein Wort zu entlocken, wenn die apfelbäckige Jinny nicht da war. Auf seine hartnäckigen Fragen erzählte sie ihm nach und nach, daß ihr Vater durch die Gicht ans Bett gefesselt und sie die jüngste von drei Schwestern sei, die anderen beiden seien schon verheiratet. Ihrer Mutter mache es wenig aus, daß Soldaten im Haus einquartiert seien - wenigstens wenn es sich um Parlamentstruppen handele. Sie habe aber in der Kampfnacht Angst gehabt, als es so aussah, als ob das Haus in Flammen aufgehen könne, und ihr Vater habe gedroht, er werde aufstehen, ganz gleich, ob er die Gicht habe oder nicht. Aber die ganze Zeit blieben ihre Augen gesenkt, und sie wagte es nicht, von sich aus eine Bemerkung zu machen. Als ihre Mutter am späten Nachmittag mit der großen, messingbeschlagenen Bibel erschien, war Simon klar geworden, daß er bei dem blassen Mädchen keinen Erfolg mehr zu erwarten hatte. Das Vorlesen ging weiter wie am Tage zuvor, aber als Mrs. Killigrew fertig war und das Buch geschlossen hatte, stand sie nicht auf, um wie gestern fortzugehen. Statt dessen begann sie, Simon über sein Heim und seine Familie auszufragen. Es war, als fühle sie sich nun, da sie ihn gepflegt hatte, ein bißchen für ihn verantwortlich und wolle sicher sein, daß er einen guten puritanischen Rückhalt gegen die Gefahren der sündigen Welt habe, wenn er nicht mehr unter ihrem Schutz stehe. Simon beantwortete ihre Fragen nach seinem Vater bei Lord 154

Leven im Norden, nach seiner Mutter und Maus, nach seiner Schulbildung, nach Lovacott. Seine Antworten schienen sie im ganzen zu befriedigen, und sie blieb eine ganze Weile plaudernd bei ihm sitzen, bis die Sonne unterging und alles in ein rosa Licht tauchte. Im Augenblick, als sie sich erhob, um zu gehen, bemerkte sie Simons Uniformmantel auf der Kommode, wo Susanna ihn hingelegt hatte, nachdem sie den Riß im Ärmel geflickt hatte. Sie nahm ihn auf, um die Naht zu prüfen, und schüttelte dabei den Kopf wegen der leuchtenden Farbe. »Eine gottlose Farbe!« sagte sie. »Mir ahnte Böses, als ich hörte, daß unsere Truppen scharlachrot eingekleidet würden, ausstaffiert wie die Männer des Zorns, die in Purpur und feinen Kleidern einhergehen.« »Es ist eine gute, fröhliche Farbe«, protestierte Simon, »und man kann Freund und Feind leichter voneinander unterscheiden, wenn alle unsere Leute gleich gekleidet sind.« »Aber sie könnten ebensogut starkes graues Tuch tragen. Scharlachrot ziemt sich nicht für gottesfürchtige Männer«, sagte Mrs. Killigrew entschieden. Aber Susanna, die, seit sie in das Zimmer gekommen war, wie gewöhnlich mit gefalteten Händen und gesenkten Augen dagesessen hatte, stellte sich überraschenderweise auf Simons Seite. »Ich finde, es ist eine sehr heldische Farbe - und sie ist schön.« »Das, Susanna, ist sündiger Unsinn«, sagte ihre Mutter. »Heldentum gibt es nur im Geistigen, nicht in der Kleidung, und die einzige wahre Schönheit ist die Schönheit der Rechtschaffenheit. Nun geh und hole Kornett Careys Brühe. Ich muß zu deinem Vater.« Susanna folgte ihrer Mutter aus dem Zimmer, sittsam wie immer, mit gesenkten Augen und gefalteten Händen. Nach ein paar Minuten kam sie zurück und trug die Schale mit Brühe sorgsam in beiden Händen. »Ich soll auf die Schale warten«, 155

sagte sie, als sie sie Simon gab. Dann ging sie zum Fenster hinüber und schaute hinaus. »Man kann sich nicht denken, daß Gott die Sonne so rosa untergehen läßt wie he ute, wenn er nicht leuchtende Farben liebte, nicht wahr?« sagte sie nach einer Weile nachdenklich. Simon sah von seiner Brühe auf und erblickte etwas, das so überraschend und lieblich war wie der Augenblick in einem Märchen, in dem die verwunschene Prinzessin von dem Zauber, der über ihr lag, erlöst wird. Denn Susanna, die nun in das glühende Abendrot eingetaucht war, war nicht mehr das unscheinbare kleine Wesen, das sie noch eben gewesen war. Das rosa auf sie einströmende Licht rötete ihre blasse Haut und ließ ihr Haar unter der steifen Haube rotgolden aufflammen, so daß man glaubte, man könne sich die Hände daran wärmen. Aber nicht nur äußerlich war sie derartig verwandelt: Es war etwas in ihrem Innern, das ausstrahlte, in den Glanz des winterlichen Abendrotes einmündete und damit verschmolz, so daß sie plötzlich schön war. »Die Sonne geht wie eine rote Laterne hinter den Bäumen unter, und der ganze Himmel jauchzt«, sagte sie. »Da! Wenn ich den Vorhang wegziehe, können Sie es auch sehen.« Aber Simon sah nicht in das Abendrot. Er betrachtete Susanna völlig hingerissen, indes seine Brühe, die er vergessen hatte, sachte über den Rand der umgekippten Schale auf seine Decke rann. Er sah nun zum erstenmal das Mädchen, das fortgelaufen war, um am Sabbat einem fahrenden Geiger zu lauschen. Plötzlich wußte er, daß es Susanna war, an die er die Frage stellen konnte, die er ihrer Mutter nicht hatte stellen mögen. Er hatte nur eine sehr ungewisse Hoffnung, daß er etwas erfahren würde, aber dennoch sagte er: »Susanna«, und ließ zum erstenmal das förmliche ›Fräulein‹ weg, »als die Königlichen hier im Hause waren, war einer dabei namens Hannaford, Amias Hannaford. Wissen Sie, wen ich meine?« Sie dachte einen Augenblick nach, indes sie immer noch den 156

Vorhang hochhielt. Dann nickte sie. »Ja, ein großer Kornett mit rotem Haar, das wie eine Pferdemähne abstand. Ich hörte, wie er Hannaford genannt wurde.« »Das ist er. Wissen Sie, was aus ihm geworden ist?« Susanna schüttelte den Kopf. »Nein, das weiß ich nicht.« »Oh.« Simons Stimme klang stockend und traurig. Er sah auf seine überlaufende Schale mit Brühe hinunter und stellte sie sorgfältig aufrecht hin. »Ich weiß, daß die königlichen Besatzungstruppen freien Rückzug nach Exeter bekamen«, sagte Susannas Stimme über ihm, »weil ich Vater und Mutter darüber sprechen hörte. Mutter meinte, daß Sir Thomas Fairfax viel zu großmütig gegenüber dem Feind in dieser Gegend sei, und Vater glaubte, daß es vielleicht wegen der Cornischen Aushebungen sei - und daß der General Befehl habe, den Westen nicht nur zu erobern, sondern auch zu befrieden.« Simon hatte das sonderbare Gefühl, als spreche sie immer so weiter, um ihm Zeit zu lassen, seine Stimme wieder unter Kontrolle zu bekommen. Aber das war lächerlich, denn wie sollte sie etwas von ihm und Amias wissen. Als er aufsah, schaute sie noch aus dem Fenster und sah immer noch so glanzumstrahlt aus. »Er ist jetzt wohl sicher in Exeter angelangt, denke ich«, sagte sie. »J-ja, das denke ich auch.« Susanna ließ den Vorhang herunter und kam zu ihm herüber. »Ist er ein sehr guter Freund von Ihnen?« fragte sie. »Ja.« »Das tut mir sehr leid«, sagte Susanna leise. »Armer Junge! Das tut mir sehr leid.« Simon war nicht sicher, ob sie ihn selbst oder Amias meinte, oder alle beide. Aber ihr Mitleid tröstete ihn, und er fühlte sich 157

nicht mehr so verzweifelt einsam. Der Schein des Abendrotes verblaßte nun langsam, und der kleine Raum, der rosa wie die Innenseite einer Muschel gewesen war, färbte sich grau. Mrs. Killigrews Schritte kamen den Flur entlang, und sogleich faltete Susanna wieder die Hände und senkte die Augen, während Simon sich schuldbewußt daran machte, den Rest seiner Brühe auszulöffeln. Die Schritte gingen vorbei, ohne einzuhalten, aber keiner von beiden sprach mehr ein Wort, bis Simon ihr die leere Schale zurückgab. Als er dann zu ihr aufblickte, sah er, daß ihr kleines Elfengesicht so weiß und spitz war, wie es vorher gewesen war. Aber plötzlich waren sie doch Freunde geworden, und sie lächelten sich zu, weil sie es beide wußten. »Ich muß nun gehen«, sagte Susanna, aber an der Tür zögerte sie und sah sich um. »Sie wissen meinen Namen«, sagte sie, »aber ich weiß nicht, wie Sie heißen - ich meine, mit Vornamen.« »Ich heiße Simon.« »Darf ich Simon sagen?« »Ja, natürlich. Ich nenne Sie Susanna.« »Ja, aber das ist etwas anderes. Sie sind schon richtig erwachsen.« »Ich werde im Februar siebzehn.« »Und ich werde am Heiligen Abend vierzehn.« »Das paßt genau zu Ihnen, daß Sie am Heiligen Abend Geburtstag haben«, sagte Simon überzeugt, und sie faßte es offenbar als Kompliment auf, denn er sah ein flüchtiges Lächeln in ihren Augen aufleuchten. Dann schlüpfte sie hinaus wie ein kleiner grauer Geist. Sie war wohl den ganzen Abend mit anderen Dingen beschäftigt, denn Simon sah sie nicht vor dem nächsten Morgen wieder, als er, in eine Decke gehüllt, von zwei Dragonern die 158

Treppe hinuntergetragen wurde, und dann erhaschte er nur einen flüchtigen Blick von einem spitzen, rührenden Gesicht mit übergroßen, dunklen Augen, die einen Augenblick über das geschnitzte Geländer schauten. Ihm blieb nichts weiter übrig, als einfältig zu lächeln und mit seiner freien Augenbraue heftige Zeichen zu machen, bevor eine Treppenwendung sie seinen Blicken entzog. Dann war Mrs. Killigrew gekommen und hatte jemandem wegen seines Bündels mit Ausrüstungsgegenständen Anweisungen gegeben. Er war froh, wieder zu seinen Leuten zu kommen, aber er hatte ein unglückliches Gefühl, daß er jemand vereinsamt zurücklasse, und zum erstenmal spürte er, wie leise in ihm ein Entschluß keimte, sich diesen Jemand zu holen, eines Tages.

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Nachrichten von alten Freunden

Die nächsten Stunden erschienen Simon wie ganze Tage und Nächte voll Elend. Man hatte ihm und seinem Bündel hinten im Wagen einen Platz eingeräumt, und dort lag er nun auf einem Haufen alter Säcke zwischen dem Trittbrett und den aufgestapelten Salzfleischfässern, mit denen der Wagen beladen war, und holperte auf der Straße nach Crediton dahin. Seit der Kampfnacht war noch mehr Schnee gefallen. Ab und zu konnte er flüchtig hinausblicken, wenn die Rückseite der Plane auseinanderschlug, und es wurde ihm klar, warum die Geschwindigkeit des Wagens so oft vom Schritt- zum Schneckentempo vermindert wurde, denn an den Hecken lag hochverwehter Schnee, und der Weg bestand aus vereisten Furchen und Eisbuckeln. Der Wagen rüttelte und schüttelte durch die Furchen, schwankend wie ein Schiff im Sturm, so daß Simon sich mit jeder Meile, die sich hinter den Rädern abspulte, elender und schwindeliger fühlte. Sein verwundeter Kopf begann zu brennen und zu hämmern, als sei ein Schmiedefeuer darin und jemand trete fleißig die Blasebälge. Einmal hielt der Kutscher bei einer Straßenschenke an, um einen Tropfen gegen die Kälte zu trinken. Er schickte seinen Jungen zurück, um zu fragen, ob es Simon gutgehe und ob er auch einen Tropfen trinken wollte. Aber zu der Zeit fühlte Simon sich schon viel zu elend, um noch irgendeinen Wunsch zu haben, außer in Ruhe gelassen zu werden. Schon setzte der Kutscher sich wieder auf seinen Bock, und Simon hörte ihn die Pferde antreiben. Langsam rumpelten sie weiter. Allmählich versank er in eine Art Dämmerzustand, in dem die Geräusche um ihn herum, das Rucken und Knarren des Holzes, das ununterbrochene Flattern der Plane, das Poltern der Räder, das Klipp-Klapp der Pferdehufe auf dem gefrorenen Schne e und 160

die Rufe des Kutschers und seines Jungen in einen bedrückenden Traum verschmolzen, der fort und fort ging, fort und fort. Aber schließlich merkte er, daß der Wagen zum Halten gekommen war. Jemand ließ den Fußtritt herunter und sagte: »Da ist er, Korporal, und sicher wie ein Wildhahn im Schnappsack.« Er öffnete die Augen und erblickte mehrere Männer, die, nach ihren lohfarbenen Mänteln zu urteilen, zur Artillerie gehörten, dann schloß er sie wieder fest zu, weil die Welt unangenehm vor ihm verschwamm. »Scheint ziemlich schlecht in Form zu sein«, sagte eine andere Stimme, und eine dritte erwiderte: »Das wärst du auch, wenn du eine Tagesreise in solch miserablem Gefährt wie dem da hinter dir hättest, und das mit eingeschlagenem Schädel. Faß seine Füße an und hör auf zu schwatzen.« Simon fühlte, daß er herausgehoben wurde. Es war ihm so, als werde er in ein Haus getragen, denn die scharfe, klare Luft von draußen hatte sich in einen kalten, stickigen Geruch verwandelt. Die Tritte der Männer, die ihn trugen, klangen dumpf, als seien sie in einem großen Gebäude. Dann wurde er auf etwas niedergelegt, das sich wie Stroh anfühlte, und jemand wickelte ihn aus den Decken und legte ihn zu Bett, als ob er ein hilfloses Kind sei. Jemand mit großen, derben Händen und einer liebevollen Stimme nannte ihn ihr Lamm, ihren armen Süßen. Er öffnete vorsichtig ein Auge und sah, daß es Mutter Trimble war, die Frau eines der Sergeanten. Mutter Trimble war eine Veteranin aus vielen Kämpfen, denn sie war ihrem Mann schon auf den schwedischen Feldzügen gefolgt. Nun war sie eine der ältesten und am meisten geachteten Marketenderinnen, und man kannte sie in der ganzen Armee. Sie war eine unglaublich dicke Frau und sehr schmutzig, aber Liebe entströmte ihr für alles, was krank oder elend war, und darum fanden alle, denen sie geholfen hatte, sie für alle Zeiten schön. 161

»Hallo, Mutter Trimble«, murmelte er. »Gut, Sie wiederzusehen. « Mutter Trimble strahlte ihn an, und ihr verschmiertes Gesicht leuchtete vor übergroßer Zärtlichkeit. »Hör doch den lieben Jungen«, sagte sie. »Schlaf nun, mein Lamm. Denn was du jetzt brauchst, ist Schlaf.« Und gehorsam schlief Simon ein. Platz war knapp in Crediton, denn inzwischen lag mehr als die halbe Neue Armee in und um die Stadt. Jedes Haus, jede Scheune, Kirche und Markthalle war vollgestopft mit einquartierten Männern. Es gab eine ganze Anzahl von Verwundeten, denn obwohl seit dem Fall von Tiverton keine große Schlacht geschlagen war, hatte es doch fortwährend kleinere Gefechte gegeben, da nach und nach die großen Häuser um Exeter herum eingenommen wurden und der Ring enger geschlossen wurde. Und außer Verwundeten der Neuen Armee gab es eine ganze Menge verwundete königliche Gefangene. Zudem ging noch immer das Fieber um, und Kranke und Verwundete, Königliche wie Parlamentssoldaten, lagen nun in den zusammenliegenden Scheunen und Nebengebäuden einer Reihe von Bauernhöfen dicht hinter der Kirche. In einer dieser Scheunen fand Simon sich, als er aufwachte. Er lag in Decken eingewickelt auf einem Strohsack, und wenn er seinen Kopf vorsichtig wendete, konnte er erkennen, daß andere deckenumhüllte Gestalten Seite an Seite den ganzen Raum hinunter lagen, der ihn an das Schiff einer Kirche erinnerte. Es war Nacht, und er sah sie undeutlich bei dem Licht einer weit entfernten Laterne, die langsam näher kam, manchmal bei einer der Gestalten anhielt und dann wieder nahte. Ein Soldat trug die Laterne. Simons Blick fing etwas Scharlachrotes auf, und neben ihm ging ein anderer Mann, einer der Ärzte, der seine nächtliche Runde machte. Er beobachtete ihn, bis das gelbe Licht ihm in die Augen flutete und der Arzt sich über ihn beugte. 162

»Wann wurde er gebracht?« fragte der Arzt eine schlampige Frau, die aus dem Dunkel auftauchte. »Heute nachmittag war das, Hochwohlgeboren«, sagte sie. »Und so bleich wie ein gespickter Vogel. Mir wurde ganz schlecht davon, wo ich doch sowieso so schwach auf dem Magen bin...« »Ja, lassen Sie das jetzt. Hat sich jemand um seinen Kopf gekümmert?« Niemand, einschließlich Simon, schien diese Frage beantworten zu können, bis eine Stimme mit einem starken Cockney∗ -Akzent schläfrig vom nächsten Strohsack ertönte: »Mutter Trimble hat ihn heut nachmittag angeguckt.« »Dann brauche ich mich nicht mehr darum zu sorgen«, sagte der Arzt. »Also gut, gehen Sie weiter, Korporal.« Die Laterne bewegte sich fort zu dem Besitzer der Cockney-Stimme, und fast im gleichen Augenblick schlief Simon wieder ein. Es war gegen Abend des nächsten Tages, als Leutnant Colebourne im Eingang der großen Scheune erschien, wo die Doppeltüren offenstanden, teils um ein bißchen frische Luft hereinzulassen, teils weil es zu mühsam war, sie dauernd zu öffnen und zu schließen. Er blickte die Reihe von Strohsäcken entlang und sprach dann einen von Fortescues Sergeanten an, der an einem Türpfosten lehnte und seinen verwundeten Fuß vor sich ausgestreckt hatte. Der Mann drehte sich um und zeigte zu Simon hinüber, und Barnaby kam durch die Scheune auf ihn zu. Simon, der einen Käfer im Bettstroh seines Nachbarn beobachtet hatte, sah auf, erblickte seinen Besucher über sich und stieß einen freudigen Krächzer aus. Barnaby setzte sich neben ihn und rutschte in eine bequeme Lage, die Knie unter dem Kinn. »Wir haben ein paar Deserteure ∗

Mundart der Londoner 163

aufgetrieben. Nicht von uns, gottlob! So bin ich also hier«, sagte er. »Wie geht es denn dem alten Dachstübchen?« »Es heilt«, berichtete Simon ihm. »Aber es fühlt sich noch doppelt so groß wie gewöhnlich an.« »Ist das eine Plage mit Ihnen!« bemerkte Barnaby freundschaftlich. »Nun stehe ich da ohne Kornett, bis Sie wieder kuriert sind.« »Das tut mir wirklich leid.« »Ja, das soll es auch. Wie lange will man Sie denn in dieser Flohhölle behalten?« »Ungefähr noch zehn Tage, sagt der Doktor.« Barnaby nickte. »Na ja, ich glaube, ich werde das überleben oh, und wo ich gerade daran denke, ich habe Ihren Fuchs in Sicherheit gebracht. Ein so übellauniges, zappeliges Vieh, wie der die ganze Zeit war, seit wir ihn zurückholten, habe ich noch nicht erlebt!« »Wir sind nie getrennt gewesen, seit er zugeritten ist«, erklärte Simon. »Und als er ein Fohlen war und ich in die Schule mußte, da war er zu Hause auf seiner eigenen Koppel bei Menschen, die er ebensogut kannte wie mich.« »Ich sehe trotzdem nicht ein, daß er sich benehmen muß wie eine feine Dame, die an Melancholie leidet«, sagte Barnaby. »Immerhin wird er morgen als Packpferd nach Tiverton gehen. Das wird ihm sein hochmütiges Wesen ein bißchen austreiben.« »Tiverton?« sagte Simon hastig. »Ja, wußten Sie das nicht? Der Feurige Tom zieht sein Hauptquartier dorthin zurück. Die Männer sterben wie die Fliegen in diesen verteufelten Sümpfen um Ottery, und es ist höchste Zeit, daß wir abziehen.« Simon war es, als sei er dem Regiment seit Wochen fern gewesen und nicht nur vier Tage. Es war seltsam, dachte er, wie schnell die Dinge sich bewegten, wenn man sich nicht selber 164

mitbewegte. Sie unterhielten sich noch eine Weile, und dann nahm er allen Mut zusammen. »Barnaby«, sagte er, »Barnaby, hören Sie...« »Was ist los?« »Sahen Sie zufällig einen rothaarigen Königlichen unter den Soldaten in jener Nacht - als Sie in die Halle stürmten ?« »Den, der so ein Gesicht machte, als ob wir alle stinken?« »Ja, das wird er sein. Was - was wurde aus ihm?« »Er marschierte mit dem Rest der Besatzung ab, nachdem ihr Kommandant sich ergeben hatte. Sie bekamen, wie üblich, freien Rückzug nach Exeter.« »Ganz bestimmt?« »Ganz bestimmt! Ich sah ihn fortgehen, die Nase hochmütig in der Luft.« Simon atmete erleichtert auf, und plötzlich lachte er freudig: »Ja, das sieht ihm ähnlich! So mußte er abziehen.« Barnaby blickte ihn ziemlich verwirrt an. »Ist der ein Freund von Ihnen? - Es ist doch wohl nicht Ihr Einhornbruder, was?« Simon murmelte etwas Unverständliches. »Ja, aber hören Sie! Als wir die Tür aufbrache n, wurden Sie...« Barnaby hielt inne und sprudelte dann hervor: »Wie ist denn hier das Essen?« »Ganz gut. Die Hausfrauen aus der Stadt bringen uns alles Mögliche in verdeckten Körben«, sagte Simon schnell. Dann krabbelte sich Leutnant Colebourne schnell auf die Beine. »Ich muß nun abmarschieren. Sehen Sie zu, daß Ihr Kopf bald besser wird, mein Junge!« »Das will ich«, versprach Simon und sah ihm nach, die Scheune entlang und hinaus in das schwindende Licht des Winternachmittags. Er fühlte sich erleichtert und von Sorgen befreit. Später würde die Erinnerung an jene Nacht in Okeham 165

Paine wieder unerträglich schmerzen, aber im Augenblick genügte es vollkommen, daß es Amias trotz allem gutging. Plötzlich war er sehr hungrig, und der Fettgeruch, der aus der Feldküche herüberzog, erschien ihm herrlich. Nach gut vierzehn Tagen erhielt Simon Nachrichten über einen anderen Freund. Es war seine letzte Nacht im Lazarett, und er war froh, daß er am nächsten Morgen zu seiner Truppe zurückgehen konnte. Das Leben hier war zwar nicht ausgesprochen langweilig gewesen, da ein ständiges Kommen und Gehen von Feldkaplänen, Ärzten und wohltätigen Frauen mit verdeckten Körben aus der Stadt geherrscht hatte. Das Essen war abwechslungsreicher gewesen als im Felde, und die Frauen aus dem Lager waren fast alle recht freundlich gewesen. Trotzdem war er dankbar, hier herauszukommen. Es waren die Nächte, die er haßte, die langen Nächte, in denen von Schmerzen geplagte Männer sich wälzten und stöhnten und in denen die Morgendämmerung sich in dem Dickicht der hinschleichenden Stunden verirrt hatte. Jedenfalls würde er morgen um diese Zeit wieder bei dem Regiment sein, bei der Reiterei und dem gewohnten Tagesablauf, in dem die Trompeten zur Wachablösung riefen. Er legte seine bestrumpften Beine genießerisch an den behelfsmäßigen Kamin und schaute sich seine Gefährten an, die rundum saßen. Sie waren fünf, die sich in dieser Nacht um das Feuer versammelt hatten, alle, denen es so gut ging, daß sie das Bett verlassen konnten, und sie waren ein bunter Haufen, wie sie sich dort der Wärme wegen zusammenkauerten, mit Decken über den offenen Uniformen, als seien sie Rothäute am Lagerfeuer. Ein Kürassier aus Cromwells Reiterei, ein echter, alter Ironsider, so einer wie es Eiferer- im-Herrn gewesen war, obwohl er ihm äußerlich so unähnlich war wie nur möglich, denn er war breit und rosig - der andere war mager und dunkel gewesen. Ein grauhaariger Leutnant von der Artillerie, dem die versehentliche Explosion eines Pulverfasses die eine Hand 166

fürchterlich zerfetzt hatte. Ein langgesichtiger Pikenmann mit einem fröhlichen Blick, der über den Londoner Train in die Neue Armee gelangt war. Der fünfte war ein königlicher Offizier, der bei einem der Vorpostengefechte in Gefangenschaft geraten war und an einem verschleppten Fieber litt. Er war älter als die übrigen, außer vielleicht dem Artillerieleutnant, und sah eher wie ein Gelehrter als wie ein Krieger aus. Unter den braunen Falten der Decke, die er sich über die Schulter geworfen hatte, sah sein Wams ziemlich zerfetzt heraus. Gewöhnlich lagen die königlichen Kranken und Verwundeten abgesondert in einer kleineren Scheune, aber nach der Eroberung von Eggsford House war es dort zu voll geworden, und man hatte die Überzähligen hierhergelegt. Sie wurden ziemlich friedlich aufgenommen, denn die Krieger der beiden Armeen hegten keine erbitterten Gefühle gegeneinander, und Kapitän Weston saß ganz unbefangen und gemütlich mit den Männern der Neuen Armee an der behelfsmäßigen Feuerstelle. Als sie so dasaßen und sich unterhielten, sah Simon sich um und dachte: Was für eine merkwürdige Gesellschaft sind wir für einen Weihnachtsabend, denn heute war der Heilige Abend. Das Parlament hatte beschlossen, daß der fünfundzwanzigste Dezember als ›heidnisches Fest‹ nicht mehr gefeiert werden dürfe, sondern nur noch als gewöhnlicher Sabbat begangen werden solle. Aber der Heilige Abend, dachte Simon, blieb der Heilige Abend, und kein Parlament der Welt konnte das verhindern - so wenig wie es das Kommen des Frühlings aufhalten konnte. Es hatte niemals wilde Belustigungen zur Weihnachtszeit in Lova cott gegeben, aber die Mummenschanzspieler hatten immer Kuchen und Apfelwein bekommen. Man hatte sich am Feuer, in dem die Eschenrute brannte, alte Geschichten erzählt. Man hatte alte Lieder gesungen, und auf dem Heimweg von der Kirche hatte man sich die weihnacht lichen Grußworte zugerufen. Und in der großen 167

Halle hing wie eine Krone aus Licht ein Mistelzweig von den Deckenbalken. Simons Vater war niemals ganz einverstanden gewesen mit diesem Zweig, unter dem man sich küssen durfte, aber duldete doch an jedem Weihnachten, daß er dort aufgehängt wurde, denn er hatte dort zu seines Vaters und Großvaters Zeiten gehangen und so immer weiter zurück, bis zu Weihnachtsfesten vor der Schlacht von Agincourt, glänzend und glitzernd im Lichte seiner eigenen Kerzen, und alle Careys, die jemals unter ihm gestanden hatten, miteinander verbindend. Susanna Killigrew würde der Zweig gefallen, fand Simon plötzlich. Es war etwas in ihrem Innern, das mit seiner Wärme verwandt war. Die große Scheune nahm langsam ihr nächtliches Aussehen an. Die Hornlaternen warfen unruhiges Licht auf die Doppelreihe mit Strohsäcken, auf denen einige von den Männern schon schliefen, während andere sich noch mit schmierigen Karten die Zeit vertrieben, in ihrer Bibel zu lesen versuchten oder sich halblaut unterhielten. Ein leiser, seufzender Wind war mit der Dämmerung aufgekommen und wirbelte nun durch das schmale, hohe Fenster und das ausgezackte Schornsteinloch im Dach herein, blies ab und zu beißende Rauchwolken vor sich her, ließ die Flammen in den Laternen tanzen und erfüllte den langen Raum mit sausendem, eiskaltem Zugwind. Manchmal lachten zwei Männer leise über einen Witz, oder das Klappern der verbotenen Würfel tönte deutlich in einem Würfelbecher, und die ganze Zeit ging der schwere Atem des Mannes, der wegen der Schmerzen in seinem zerschmetterten Bein Opium bekommen hatte und nun in einem tiefen Betäubungsschlaf lag, auf dem nächstgelegenen Strohsack. Ein seltsamer Weihnachtsabend, und Simon, der still am Feuer saß, während die Älteren und Ranghöheren über die neuen, hochexplosiven Granaten diskutierten, die man seit kurzem benutzte, wußte, daß er sich später zur Weihnachtszeit immer daran erinnern würde. 168

Draußen ging ein Wachsoldat vorüber. Simon hörte seine Fußtritte auf dem festgetretenen Schnee, als er an der Scheunentür vorüberging, und er erkannte die Melodie eines alten Weihnachtsliedes, das er fröhlich und ziemlich falsch vor sich hin pfiff. Nein, man konnte Weihnachten nicht durch einen Parlamentsbeschluß abschaffen! Als Joseph übers Feld ging, Da klang ein Engelton: Heut nacht, da wird geboren Auf Erden Gottes Sohn. Die vertrauten Worte tönten in Simon weiter fort. Doch wird er nicht geboren In einem Schloß im Saal Nicht in dem schönen Paradies, Nur in ein'm Ochsenstall. Er merkte, daß er die Weise aufgenommen hatte und sie nun leise pfiff. Er brach ab, da er halbwegs befürchtete, daß der Kürassier ihn wegen der gottlosen Melodie beschimpfen würde. Aber wenn Menschen erst einmal Not und Schmerzen zusammen durchgestanden haben, werden sie duldsamer untereinander, und der Kürassier sagte nichts. Es war der Pikenmann, der als erster die Stille brach, die entstanden war, als das Thema der explosiven Granaten erledigt war. »Das klingt ganz nett«, sagte er, mit einem Auge zum Eingang schielend. »Ich mag es gern, wenn einer auf dem Wachgang pfeift, besonders bei Dunkelheit. Choral oder Trinklied, das ist ganz gleich, Hauptsache man hört's.« »Das kann wohl sein, Bruder«, erwiderte der Kürassier, »aber wenn deine Ohren von deinem eigenen Pfeifen erfüllt sind, wie kannst du da den Feind hören?« »Na ja, das ist die Schattenseite. Ich muß es zugeben.« Der Pikenmann lächelte. »Aber es stärkt einem den Mut, glaubt ihr nicht?« »Im Dunkeln pfeifen -«, diesmal war es der Königliche, der sprach, »da ist etwas dran! Wenn es so still ist, gehen einem die Nerven durch. Ich habe das oft genug erlebt, wenn ich auf Vorposten Wache stand!« Er hielt seine Hände ans Feuer, als sei 169

ihm plötzlich kalt. »Ich glaube, die meisten wilden Stämme singen vor der Schlacht, oder sie trommeln mit ihren Speeren auf die Schilde - sie tun irgend etwas, um ein Geräusch zu machen, nicht um den Feind zu schrecken, sondern um den eigenen Mut zu heben. Es ist immer eine gute Sache, ein Geräusch, das man selber macht.« Der Kavallerieleutnant beugte sich vor. Das Gesicht im Feuerschein war nachdenklich, seine gesunde Hand spielte mit dem Kopf seiner kurzen Tonpfeife. »Vielleicht ist das der Grund für unsere englische Sitte, im Kampf zu rufen, obwohl die Schotten das merkwürdigerweise nicht tun. Ich weiß es, denn ich diente unter Lord Leven in Schweden. Sie sind tapfere Kämpfer, die Schotten, aber ich habe erlebt, daß Männer am mutigsten angreifen, wenn sie brüllen wie die Teufel.« Die Unterhaltung schlenderte so fort und entfernte sich weiter und weiter von dem ursprünglich diskutierten Thema, bis sie über das Pfeifen auf dem Wachgang zu einer Erörterung über jene Dinge wurde, die einem Mann oder einer Armee in Zeiten der Not oder Gefahr den stärksten Halt geben. Der Kavallerieleutnant neigte zu der Meinung, daß ein starkes persönliches Vertrauen zum Führer zu den wichtigsten Dingen zähle, und er erzählte von dem Rückzug aus Lostwithiel. »Wäre nicht der alte Mann gewesen, wir hätten uns hingelegt zum Sterben, statt weiter durchzuhalten«, sagte er, ge nau wie damals der Infanterieleutnant an dem Abend in Windsor. »Den alten Mann gab es nur einmal, und wir waren über fünftausend, aber irgendwie zwang er jedem einzelnen von uns seinen Willen auf, und er brachte uns durch. Er war etwas für uns, an das wir uns klammern konnten, und wir klammerten uns an ihn.« Inzwischen stritten sich der Kürassier und der Pikenmann eifrig, indem der Kürassier wieder und wieder versicherte, der Glaube an die Gerechtigkeit einer Sache sei das beste, was einem Mann in der Stund e des Kampfes Kraft verleihen könnte, während der Pikenmann hartnäckig behauptete, die Hoffnung 170

auf Beute sei viel wichtiger. Der Artillerieleutnant hörte ihnen, seine Pfeife unentwegt schmauchend, zu. »Hören Sie mal«, warf er mit einer hochgezogenen Augenbraue ein, als der Streit hitzig zu werden drohte, »die Hoffnung, zu seinem Recht zu kommen, beflügelt einen Mann, auch wenn er in der schwierigsten Lage ist. Ich habe einen Mann gekannt, den man heil durch die schwarzen Pocken brachte, als der Bader ihn schon aufgegeben hatte, einfach, weil der Mann unter allen Umständen gesund werden wollte, um sich an einem alten Feind zu rächen, der ihm seinen Sonntagshut gestohlen hatte.« Ein Grinsen lief durch die Gruppe, und der Kürassier sagte ernst: »Ja, eine gerechte Rache stärkt den Arm eines Mannes ganz mächtig.« Der Königliche beugte sich zu dem Feuerschein vor, der sein schmales, kluges Gesicht beleuchtete. »Der Durst nach Rache mag manches bewirken, aber er birgt eine seltsame Tücke in sich, die am Ende den Rachedurstigen selber vertilgen kann«, sagte er. »Ich habe das vor noch gar nicht langer Zeit gesehen. Es war kein schöner Anblick.« Die anderen schauten ihn erwartungsvoll an, denn das Feuer war warm und ihre Strohsäcke wenig einladend. Sie fühlten sich zu jeder Geschichte aufgelegt. »Und vertilgte sie den Rachedurstigen schließlich?« fragte der Artillerieleutnant. »Sie hat es inzwischen vielleicht getan«, sagte Kapitän Weston. »Es war im Spätsommer, als ich den Mann, an den ich denke, zum letztenmal sah. Ich diente damals unter Prinz Rupert in Bristol, als er in unsere Truppe eintrat. Er war ein Deserteur aus Ihren Reihen, nebenbei gesagt: ein großer, schwarzbrauiger Geselle, der wie ein Prophet des Alten Testaments sprach. Er diente eine ganze Zeit in meiner Kompanie, und ich erfuhr einiges über ihn. Nicht daß das etwas Besonderes gewesen wäre, 171

denn die ganze Armee kannte seine Geschichte in- und auswendig. Das war das Merkwürdige an ihm. Er erzählte seine Geschichte allen und jedem, und dennoch war er von Natur aus kein Schwätzer. Es war, als wolle er, daß jemand sie höre und Furcht bekomme. Es war ein kalt berechnender Versuch, jemanden die Qualen eines von einem Hermelin verfolgten Kaninchens leiden zu lassen.« Er unterbrach seine Erzählung für einen kleinen Augenblick, als müsse er sie in seinem Kopf ordnen, und als er fortfuhr, wußte Simon, der die Wahrheit schon geahnt hatte, daß er der Geschichte von Eiferer- im-Herrn lauschte, der Geschichte von einem falschen Freund und einer doppelten weißen Hyazinthe. »... Er wurde von einer Patrouille aufgebracht.« Der Königliche war fast zu Ende mit jenem Teil der Geschichte, den Simon kannte. »Er stand wegen Desertion vor dem Kriegsgericht, wurde zum Auspeitschen verurteilt und zum Dienst bei den Pionieren degradiert. Mir scheint, Sie gehen sanfter mit Ihren Deserteuren um als wir. Von den Pionieren flüchtete er und ging aufs neue seiner Rache nach. Er gelangte zu seinem alten Heim und sah, daß der Mann, der sein Freund gewesen war, nicht mehr da war. Der neue Gutsherr war ausgezogen, um bei Prinz Rupert zu kämpfen, und viele seiner Pächter gingen mit ihm, darunter auch dieser Mann, nicht weil er wollte, sondern weil er keine andere Wahl hatte. In der Hoffnung, seinen Feind zu finden, und von der Bitterkeit über das ihm angetane Unrecht erfüllt - denn Sie wissen ja, er war von der Gerechtigkeit seiner Rache so durchdrungen, daß der Urteilsspruch des Kriegsgerichtes für ihn eine krasse Ungerechtigkeit war -, verfolgte er ihn und trat in Bristol bei uns ein. Und wie ich sagte, erzählte er seine Geschichte jedem, der ihm zuhörte, damit sie seinem Feind zu Ohren kommen sollte und er wüßte, daß jemand hinter ihm her sei.« Kapitän Weston machte wieder eine Pause. »Wie die Geschichte ausging - wenn sie schon aus ist -, weiß ich nicht. Nachdem Bristol gefallen 172

war, wurde meine Kompanie aufgeteilt, und ich sah ihn nicht wieder.« »Armer Teufel«, sagte der Artillerieleutnant. »Ja, armer Teufel. Wenn Sie den Mann so vor Augen gehabt hätten, wie ich es hatte, dann hätten Sie guten Grund, so zu sprechen. Er hatte gallenbittere Gefühle gegen die Truppen des Parlaments, aber er haßte die Armee des Königs. Er war sorgfältig darauf bedacht, das nicht zu zeigen, aber ich bin Menschenkenner genug, um das zu erkennen. Und am allermeisten verachtete er sich selbst, denn mit seinem Eintritt bei uns hatte er die Sache verraten, die er immer noch für die gerechte hielt. Er hatte mit seiner Selbstachtung bezahlt, und obwohl er sich um so verzweifelter an seine Rache klammerte, hatte er sie wohl allzu teuer bezahlt.« »Sie scheinen sich ja ganz ungewöhnlich für diesen unglücklichen, armen Teufel interessiert zu haben«, sagte der Kürassier. »Sagte ich nicht, daß ich gern Menschen studiere? Ich finde das Studium fesselnd.« »Wie konnte denn solch ein Mann in Ihren Reihen aufgenommen werden?« fragte der Artillerieleutnant. »Selbst einem weniger klarsichtigen Auge als dem Ihren konnte er kaum als hoffnungsvoller Rekrut erscheinen.« Der Königliche machte eine kleine hoffnungslose Geste mit der Hand, die schlaff auf seinen Knien lag. »Wir brauchen Männer«, sagte er, und plötzlich war sein Gesicht im Feuerschein traurig und verstört. »Wenn es in Mode kommt, daß man auskratzt, um sein Eigentum von Burschen wiederzubekommen, die einem zu tief in die Tasche gelangt haben«, sinnierte der Pikenmann, den Königlichen anlächelnd, »dann könnte ich mir vorstellen, daß es bald nicht mehr allzu viele von Ihren Leuten auf dieser Seite des Kanals geben wird und man auf den Schiffen, die nach Spanien 173

unterwegs sind, zu Fuß rüberkommen kann.« Es entstand eine peinliche Stille, denn vor wenigen Wochen war Lord Goring von seinem Posten desertiert und mit allem Geld, dessen er aus der königlichen Kasse habhaft werden konnte, nach Spanien geflohen. Zwischen den Männern, die um das Feuer saßen, herrschte eine Art stillschweigende Waffenruhe. Sie gebrauchten nicht die verächtlichen Spitznamen ›Kavaliere‹ und ›Rundschädel‹, sie sprachen nicht von König Charles als dem ›Blutigen‹, noch von Fairfax und Cromwell als ›verdammten Rebellen‹, und sie empfanden die Sticheleien des Pikenmannes als unpassend. »Sie können sich denken, daß ich meine eigene Meinung über Lord Gorings Verhalten habe«, sagte Kapitän Weston wenig später. »Aber Sie werden kaum erwarten, daß ich in meiner augenblicklichen, ziemlich unglücklichen Lage darüber diskutiere.« Der Pikenmann, der ein freundlicher Kerl war, zeigte ein noch breiteres Lachen. »Ich wollte Sie nicht beleidigen.« »Sie haben mich nicht beleidigt«, sagte Kapitän Weston. Jemand legte noch ein Stück Torf auf das Feuer. Die Unterhaltung wandte sich erfreulicheren Themen zu, aber Simon nahm nicht daran teil. Er saß, die Ellenbogen auf den Knien, das Kinn auf den Fäusten, starrte in das warme Aufzucken der Flammen und dachte an seinen alten Korporal. Aber wenn die älteren Männer seine Traurigkeit bemerkten, dann dachten sie wohl, der Bursche habe Heimweh - Weihnachten konnte, sogar wenn es abgeschafft war, das Herz heimwärts wandern lassen.

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Ein Sonderauftrag

Einem nassen Herbst war ein bitterkalter Winter gefolgt, und seit dem frühen Dezember lag der Westen des Landes in tiefem Schnee. Es war ein Wetter, um daheim am warmen Feuer zu hocken und die Straßen den Nordostwinden und den wachsenden Schneewehen zu überlassen. Keine der beiden Armeen ging jedoch ganz ins Winterquartier, wie sie es in den anderen Jahren getan hatten. Dieses Jahr mußte der Kampf entschieden werden, und die Männer des Königs wie auch die Männer des Parlaments wußten das und standen sich wachsam gegenüber wie zwei Ringer, die die geringste Bewegung des anderen beobachten. Die Neue Armee lag um Exeter und Tiverton herum. Ein Teil der königlichen Armee besetzte das Land zwischen Dart und Teign, während der andere zwischen Okeham und Tavistock verteilt war, wo der junge Prinz von Wales sein Quartier hatte. In Nord-Devon ging es zu wie in einem Hexenkessel, denn die Patrouillen beider Armeen scharmützelten und plünderten und machten den Landleuten der Gegend das Leben sehr sauer. Bald nach Weihnachten meldeten Späher, daß die Königlichen umfangreiche Vorbereitungen träfen, um Exeter zu befreien. Cornische Trainsoldaten wurden täglich in Tavistock erwartet, fünfhundert Mann der Besatzung Barnstaples und alle bei der Belagerung Plymouths abkömmlichen Truppen würden zu ihnen stoßen, und der Prinz von Wales mit seiner eigenen Leibtruppe sollte sie alle nach Totnes führen, wo ein Magazin mit Vorräten für sie angelegt wurde, die zu Schiff gebracht und durch Cornwall transportiert worden waren. Danach sollte Exeter entsetzt und die dort eingeschlossenen Truppen mit ihren Kameraden vereinigt werden. Fairfax und Cromwell warteten ihre Zeit ab, während die 175

Königlichen sich sammelten. Als der richtige Augenblick gekommen war, schlugen sie zu. Der junge Prinz wollte eben abmarschieren, als ihn die Nachricht erreichte, daß Cromwell die Hauptstreitmacht seiner Reiterei unter Lord Wentworth überrascht und in alle vier Winde zerstreut hatte. Gleichzeitig, obwohl er das erst einen oder zwei Tage später erfuhr, zog Fairfax mit seiner Brigade aus Reitern und Fußtruppen, mit den sich abplagenden Geschützmannschaften in der Mitte, in einem Schneesturm über das Moor, um Dartmouth anzugreifen, das nach wenigen Tagen fiel. Der ganze Plan der Königlichen für die Entsetzung Exeters war zunichte geworden. Die Truppen, die Plymouth belagerten, mußten zurückgenommen werden, da sie sonst abgeschnitten würden, und in Tavistock war der Prinz nicht mehr sicher. So mußte er sich nach Launceston zurückziehen. Er nahm die Fußtruppen mit, während er nur die restliche Reiterei zurückließ, um den Tamar zu bewachen. Die cornischen Trainsoldaten begannen zu desertieren und entschuldigten sich damit, ihre erste Pflicht sei, die eigenen Häuser zu schützen. Ungefähr Mitte Januar brach die ganze Armee zusammen, während die Generale untereinander weiterkämpften. Inzwischen hatte Simon einen harten Strauß mit sich selber auszufechten. Er war sehr froh gewesen, wieder zu seiner Truppe zu kommen. Es war fast so, als ob er nach Hause käme, und es sah auch ganz so aus, als habe er sofort wieder seinen alten Platz eingenommen. Aber von Anfang an war etwas verkehrt gewesen. Wenn er damals sogleich wieder an aktiven Kämpfen hätte teilnehmen können, wäre es wohl leichter gewesen, aber Fairfax' Reiterei machte den Feldzug nach Dartmouth nicht mit, und die langwierige, zermürbende Blockade von Exeter machte es ihm nicht leichter. Einmal machte er sich große Sorgen um seine Mutter und Maus, die allein in Lovacott waren, während sein Vater noch im Norden kämpfte. Er hatte schon eine ganze Weile nichts von ihnen 176

gehört, und da er wußte, daß seine Heimat von Grenvilles Soldaten verheert worden war, konnte ihn Barnabys Hinweis, daß in der gegenwärtigen unruhigen Zeit viele Briefe abgeschickt wurden, die niemals ihren Empfänger erreichten, nicht trösten. Außerdem war Denzil Wainwright eine wahre Pest für ihn, da er nicht die geringste Möglichkeit versäumte, ihm das Leben schwer zu machen und ihn mit allen ihm zur Verfügung stehenden Mitteln zu reizen. In den Monaten seit seinem Eintritt in die Armee hatte Simon gelernt, Denzil nicht ernst zu nehmen, aber jetzt machten ihn plötzlich seine sorgfältig gezielten Sticheleien fast wahnsinnig, und Simon mußte sich sehr zusammennehmen, um ihm nicht zu zeigen, wie sehr er sich getroffen fühlte. Schlimmer als all dieses und tiefer als aller Kummer sonst quälte ihn die Erinnerung an seine Begegnung mit Amias in Okeham Paine. In jener Nacht war etwas in ihm verwundet worden, noch bevor sein Kopf verletzt wurde, und obwohl sein Kopf heilte, blieb die tiefere Wunde offen und schmerzhaft. Sogar seine Freude an den eigenen Soldaten war ihm getrübt, und er tat seine Pflicht gewissenhaft, aber lustlos. Das war eine unglückliche Zeit für Simon, aber sie endete ganz überraschend, als er eines Abends, ungefähr drei Wochen nachdem er wieder zu seiner Truppe gekommen war, plötzlich den Befehl bekam, sich wegen eines Sonderauftrags bei Major Watson von der Informationsabteilung einzufinden. Eine halbe Stunde später stand er, sehr erstaunt, was das alles zu bedeuten habe, in dem niedrigen Hinterzimmer des ›Handschuh‹, sog den warmen, im Hals kratzenden Geruch von Tabakrauch und Wacholderschnaps ein und sah fragend auf den Mann, der an einem unordentlichen Tisch vor dem Fenster saß. Major Watson war ein magerer Mann, der aus milden blauen Augen unter sandfarbigen langen Wimpern in die Welt blickte. Man sah ihm in keiner Weise an, daß er eine Bande von Briganten anführte, die der geheime Nachrichtendienst der Neuen Armee war. Nur seine scharfe Stimme strafte sein 177

lammfrommes Aussehen Lügen. Nachdem er Simon beim Eintreten freundlich zugenickt hatte, legte er die Fingerspitzen gegeneinander und blinzelte ihn über sie hinweg an, während Simon, der wußte, daß er abgeschätzt wurde, ihn geradeheraus wieder anblickte. »Ich hätte mir einen älteren und etwas erfahreneren Mann gewünscht«, sagte die scharfe Stimme schließlich. »Aber Sie haben einen guten Ruf. Ich freue mich zu sehen, daß Ihr Kopf noch nicht ganz geheilt ist.« »Sir?« fragte Simon leicht verwirrt. »Kornett Carey, ich habe gehört, daß Sie in Nord-Devon zu Hause sind.« »Ja, Sir.« »Wo genau?« Simon erzählte es ihm, und der Major hörte äußerst aufmerksam zu. Er fragte zwischendurch nach Entfernungen und Verbindungen, dann nickte er über seinen zusammengelegten Fingerspitzen, als sei er mit den Antworten zufrieden. »Gut. Sie kennen Ihre heimatliche Landschaft sehr genau. Das wird vielleicht eine Hilfe sein.« »Soll ich denn nach Hause, Sir?« Der Major betrachtete ihn einen Augenblick nachdenklich, löste dann, als sei er eben zu einem Entschluß gekommen, die Finger plötzlich voneinander und richtete sich auf. »Ja. Ich werde veranlassen, daß Sie für ein paar Wochen zu meiner wollen wir sagen zu meiner ›Familie‹ versetzt werden. Ich schicke einen meiner Leute morgen nach Torrington, und Sie werden mit ihm reiten. Offiziell gehen Sie auf Genesungsurlaub nach Hause, und das ist auch der Grund, den Sie beim Regiment angeben. Ich denke, Sie geben bei Ihrer Familie das gleiche an. Je weniger sie von der Sache erfahren, desto sicherer wird es für 178

Sie sein.« »Und - der wahre Grund, Sir?« fragte Simon hastig. Major Watson blinzelte freundlich, als er den Eifer des jungen Offiziers bemerkte. »Das Haus, in dem in Ihrer Gegend die Meldungen für uns eingingen und entschlüsselt wurden, wurde vor drei Tagen vom Feind besetzt. Nun brauchen wir ein anderes Haus und einen anderen Mann. Sie und Lovacott zusammen sind genau das, was wir brauchen. Das Haus ist, nach Ihrer Schilderung zu urteilen, in einer strategisch günstigen Lage. Es ist leicht von drei größeren Städten und von dem dazwischenliegenden Land aus zu erreichen, und es hat gute Verbindungen zur rückwärtigen Straße nach Exeter. Sie kennen das Land, und Ihre kürzliche Verwundung liefert Ihnen einen vollkommen unverdächtigen Grund, nach Hause zu gehen.« »Ja, Sir.« »Ihre Aufgabe ist, solange nichts schiefgeht, einfach. Sie werden nur als Verbindungsmann dienen. Sie werden von dem Mann, mit dem Sie morgen reiten, oder auch von anderen, Meldungen entgegennehmen, und Sie werden sie einem Mann weitergeben, der später danach fragt. Sie werden ihn an einem Losungswort erkennen, das ich Ihnen gleich sage. Und wenn die Meldungen in Ihrer Hand sind, werden Sie sie hüten, wie Sie niemals etwas in Ihrem Leben gehütet haben. Ist das klar? Also gut. Die Einzelheiten werden Sie nachher mit Ihrem Reisegefährten Podbury klären.« »Ja, Sir - ist das alles?« fragte Simon verblüfft. »Das ist im Augenblick alles. Vielleicht wird die Arbeit nicht so langweilig, wie sie aussieht, denn wenn Sie königlichen Soldaten in die Hände fallen, müssen Sie sich mit Ihrem eigenen Verstand heraushelfen. Grenvilles Soldaten werden kaum darauf Rücksicht nehmen, daß Sie auf Genesungsurlaub sind, wenn sie erst einmal gemerkt haben, daß sie einen Parlamentsoffizier erwischt haben.« 179

Simon zögerte. »Sir, darf ich Sie no ch etwas fragen?« »Natürlich dürfen Sie fragen. Aber ich verspreche keine Antwort.« »Wird in Nord-Devon etwas geschehen?« Major Watson zuckte mit den Schultern. »Ich biete Ihnen drei Tatsachen an, die allgemein bekannt sind: Seit Dartmouth gefallen ist, is t Süd-Devon in unserer Hand. Nord-Devon ist noch unbesetzt, und die drei größten Städte sind in der Hand der Königlichen. Jenseits der cornischen Grenze steht so etwas wie eine königliche Armee, die wieder vereinigt werden könnte. Das sind die Tatsachen. Fügen Sie sie zusammen, dann werden Sie vielleicht eine Antwort auf Ihre Frage finden. Es kann natürlich die falsche Antwort sein, aber am besten verläßt man sich nicht auf den Zufall. Und, Kornett Carey, das Losungswort heißt: ›Manch guter Hahn kommt aus einem zerfetzten Korb‹, worauf die Antwort lautet: ›Und manch gute Weise aus einer alten Fiedel‹. Ist das klar?« Simon wiederholte es, und Major Watson nickte. »Sie werden die Nachrichten manchmal mündlich überliefert bekommen und müssen sie dann genau aufnehmen und sie auf dem üblichen Wege weitergeben. Ihre Kennziffer ist die Nummer sieben, und darunter die Nummer des Mannes, der die Nachricht überbrachte. Wir verwenden keine Namen.« »Ja, Sir, Nummer sieben. Können Sie mir ungefähr sagen, wie lange ich vom Regiment wegbleiben werde, Sir?« »Das kann ich nicht sagen. Aber Sie dürfen Ihren Posten nicht eine einzige Stunde verlassen, was immer auch geschehen mag, bis Sie zurückgerufen werden oder bis tatsächlich in Ihrer Gegend gekämpft wird. In diesem Falle wird es wahrscheinlich unmöglich sein, Sie zurückzubeordern, und Sie müssen selber entscheiden.« Man hatte schon mit dem Mittagessen in dem großen oberen Saal des Schlosses angefangen, der den Offizieren aus Fairfax' 180

beiden Regimentern als Messe diente, als Simon weit unten an dem vollbesetzten Tisch auf seinen Platz schlüpfte. Er nahm mit den Augen Abschied, indes er überlegte, was alles geschehen sein mochte, bevor er wieder bei diesen Männern sitzen würde. Sie diskutierten angeregt im Kerzenlicht, das warm auf Scharlachrot und Blau und auf das nüchterne Schwarz der Ärzte und Kapläne fiel, die letzte Neuigkeit, die frischer war als der Fall von Dartmouth. »Na, Lord Hopton wird alle Hände voll zu tun haben mit seiner kostbaren Herde von Schafen«, sagte ein kurzgeschorener Kapitän der Fußtruppen. »Seit Lord Goring mit seinen Stiefeln voll Guineen anderer Leute in ferne Länder gesegelt ist, gibt es keinen obersten Kommandanten mehr bei den Königlichen«, warf Ralf Marjory ein, der weiter unten am Tisch saß. »Vielleicht ist ihre Armee darum auseinandergefallen.« »Hat jemand gehört, wer jetzt das Kommando hat?« fragte ein eben Hinzugekommener. Mehrere Stimmen antworteten ihm. »Wentworth befehligt die Reiterei und Grenville die Fußtruppen.« »Skellum Grenville! Puh! Skellum wird uns mehr zu schaffen machen als der ganze Rest zusammen. Ich möchte wissen, wie Hopton mit ihm zurechtkommt.« Kapitän Meredith lehnte sich vor, um sich noch etwas Salz zu nehmen. »Im Umgang mit einem Schurken«, sagte er, »ist Lord Hopton im Nachteil, da er ein anständiger Mensch ist.« Den ganzen Tisch entlang waren die Männer ins Gespräch vertieft, und Simon, sich selbst überlassen, stützte die Ellenbogen auf den Tisch, starrte in den gelbbraunen Grund seines Bierkruges und dachte über seine Unterredung mit Major Watson und seine zukünftige Aufgabe nach. Merkwürdig, wenn er sich vorstellte, daß er in zwei Tagen zu Hause sein würde. Merkwürdig auch, daß es sich nicht um ein richtiges 181

Heimkommen handelte, sondern daß das Zuhause nur ein Ort war, an dem er eine Aufgabe für die Armee hatte. Seine Gefühle waren seltsam gemischt. Er spürte Erleichterung darüber, daß er endlich sehen würde, wie es seiner Mutter und Maus ging, er war gespannt und erregt durch die Aussicht auf diese neue Art von Gefahr, und es war ihm zugleich merkwürdig zuwider, die unvermeidliche Scheußlichkeit des Krieges nach Lovacott zu tragen. Tief verstrickt in diese sich widersprechenden Gedanken und Gefühle bemerkte er nicht, daß die Luft dick wurde vom Tabaksrauch, daß die Männer sich nach und nach vom Tisch erhoben und sich zu dem Feuer hinüber begaben, das an einem Ende des Zimmers brannte. »Unser Freund, der Bauer, findet anscheinend seine Gedanken hochinteressant«, sagte Denzil Wainwrights Stimme über seiner Schulter, und er schrak zusammen, als er seinen Quälgeist neben sich sah. »Angenehme Gedanken?« fragte Kornett Wainwright anzüglich. »Ja, danke«, sagte Simon mit ausgesuchter Höflichkeit. »Betrafen sie Kühe, wenn man fragen darf - oder vielleicht Rüben?« Simon sagte nichts. Er bemerkte, daß sich eine kleine Gruppe um sie sammelte und mit Interesse zuhörte. »Oder war es vielleicht die werte Frau Mutter?« Simon starrte in seinen Bierkrug, als habe er nichts gehört. Aber seine linke Hand, die unter dem Tisch verborgen war, ballte und öffnete sich krampfartig. Denzil versetzte ihm einen leichten Puff. »Ich spreche mit Ihnen.« »Ich bitte um Entschuldigung«, sagte Simon zwischen zusammengebissenen Zähnen. »Ich dachte, da brummte eine Schmeißfliege.« »Grob«, seufzte Denzil, »und auch roh.« Er lümmelte sich 182

gegen den Tisch. »Sie wohnen hier in dieser Gegend, Bauer?« Simon sah nicht auf. »Weiter im Norden, nach Torrington zu«, sagte er schroff. »Ah, ein Fall von ›so nah und doch so fern‹, wie?« »Nicht ganz. Ich gehe morgen nach Hause auf Genesungsurlaub.« Es entstand eine kurze Überraschungspause. Dann sagte Denzil mit seiner hellen, belustigten Stimme, so laut, daß der ganze Raum es hören mußte: »Sie sind nicht so dumm, wie Sie aussehen, Bauer.« »Was soll das heißen?« »Es muß eine ganze Menge - soll ich sagen Intelligenz? - ja, Intelligenz erfordert haben, um auf Grund Ihres Kratzers am Kopf einen Genesungsurlaub herauszuschinden. Ich nehme an, daß wir Sie, einmal daheim bei den väterlichen Schweinen und Weiden, nicht wieder in unseren Reihen werden begrüßen dürfen?« Simon starrte nicht länger in seinen Bierkrug und stand entschlossen auf. »Nehmen Sie das zurück!« sagte er, indem sein Atem schnell durch die bebenden Nasenflügel strich. Die Zuschauer sahen, daß er im Gesicht ganz weiß gewo rden war. »Was zurücknehmen? Oh, werden Sie nur nicht wild, Sie Esel!« »Nehmen Sie das zurück!« sagte Simon nochmals, und seine Stimme bebte vor Zorn. Denzil hörte sie beben, legte das falsch aus und lachte. Beim Klang dieses Lachens zuckte in Simon eine rote Flamme auf und schlug so hoch, daß er Denzils dunkles, belustigtes Gesicht durch die feurige Röte sah. Er stieß seine Fäuste hinein und legte das ganze Gewicht seines Körpers in den Schlag, so daß er es plötzlich mit überraschtem Ausdruck und einem blutigen Mund vor sich sah. Er war von einer 183

ungestümen Freude erfüllt, und er hörte weder das Krachen von splitterndem Holz, als ein Stuhl umfiel und beiseite gestoßen wurde, noch fühlte er die Schläge, die mitten in seinem Gesicht landeten. Ihm war nichts bewußt als eine wilde Kampflust, während seine eigenen Schläge den Gegner trafen, jeder Schlag die Rache für eine allzu lange ertragene Beleidigung. Plötzlich wurde die rote Flamme niedriger, und er merkte, daß er an dem Tisch lehnte, während sein Atem stoßweise pfiff und sich eine Menge von starrenden Gesichtern um ihn versammelt hatte. »Puh!« sagte Kornett Fletcher voll Bewunderung. »Ich hab nie gewußt, daß Carey so hitzig werden kann!« Sein eines Auge schloß sich zusehends, aber mit dem anderen sah er einen umgekippten Stuhl und zerstreut herumliegende Töpfe und Schüsseln, die vom Tisch geflogen waren, und auf der anderen Seite Denzil Wainwright, der in der Mitte einer zweiten Gruppe an die Wand sackte. Denzils Gesicht sah fürchterlich mitgenommen aus, und Simon blickte verstohlen zwischen dem Gesicht und seinen eigenen zerschlagenen Knöcheln hin und her. Kaplan Joshua Sprigg sagte etwas über unzüchtigen Lärm und gottloses Benehmen, aber Simon hörte nicht zu. Er fühlte sich plötzlich kalt und sehr müde. Die Menge teilte sich, um jemanden durchzulassen, und er sah, daß es David Morrison war. Der alte Doktor nahm ihn bei den Schultern und drehte ihn in das Kerzenlicht eines Armleuchters. »Ach, diese hitzköpfigen Bengels, die immer gleich glauben, daß ihre Ehre beschmutzt ist!« sagte er streng und schüttelte den Kopf. »Nichts weiter passiert als ein blaues Auge, aber Sie können Ihrem Schöpfer danken, daß die alte Wunde nicht wieder offen ist, mein Junge.« Er klopfte Simon wohlwollend auf die Schulter, bevor er weiterging. »Das werde ich Major Disbrow melden!« sagte Denzil, als er 184

sich das Blut vom Munde tupfte. »Sie sind auf mich losgegangen wie ein Teufel, Carey!« Barnaby Colebourne, der neben seinem Kornett stand, wandte sich voll kalter Verachtung zu ihm um. »Seien Sie kein Narr, Wainwright. Sie haben das ganze Jahr einen Streit herausgefordert, und nun haben Sie bekommen, was Sie wollten. Und wenn ich an Ihrer Stelle wäre, würde ich keine Meldung machen. Zu viele von uns können bezeugen, was hier vor sich gegangen ist.« Ein zustimmendes Gemurmel ertönte, und Ralf Marjory, der älteste anwesende Kapitän, der die ganze Zeit ostentativ aus dem Fenster in die Nacht gestarrt und dem ganzen Trubel den Rücken zugekehrt hatte, sah sich nun zum erstenmal um. »Ich schlage vor, daß Kornett Wainwright jetzt sein Gesicht in Ordnung bringt und sich dann zurückzieht«, bemerkte er, aber es war ein Befehl, kein Vorschlag. »Sir«, sagte Denzil, indem er mit offensichtlicher Anstrengung Haltung annahm und dann ziemlich wackelig aus dem Raum schlich. Aber im Eingang wandte er sich um und warf Simon einen langen, finsteren Blick zu. »Ich schwöre, daß Sie mir die Rechnung noch bezahlen werden!« sagte er und schlingerte in die Galerie hinaus. Am nächsten Morgen ritt Simon neben einem von Major Watsons Spähern nordwärts. Sie sahen aus wie gewöhnliche Reisende, die nichts an sich hatten, was irgendeinem ihnen begegnenden Königlichen hätte verdächtig scheinen können. Nach ihrer guten, handgewebten Kleidung zu urteilen, wirkten sie wie Bauern oder wohlhabende Kaufleute, obwohl das Gesicht von Simons Gefährten unter der Krempe seines breitrandigen Hutes für einen Bauern ein bißchen zu schlau aussah. Tatsächlich war er früher zuerst Gehilfe bei einem Richter und dann Taschenspieler auf Jahrmärkten gewesen, bevor er zur Neuen Armee stieß. 185

Simon hatte seine herabhängende Hutkrempe weit heruntergezogen, um sowohl den allgemeinen Zustand seines Gesichts als auch die schlecht verheilte Wunde auf seiner Schläfe zu verbergen, denn ein Stück rohes Fleisch, das er letzte Nacht auf sein Auge gelegt hatte, hatte keine große Wirkung gehabt. Er ritt lässig, die freie Hand in die Tasche seines rotbraunen Reitmantels gesteckt, vollkommen anders, als er es als Offizier bei Fairfax' Reiterei gelernt hatte. Sein Sattel war ungewohnt nach dem harten Kavalleriesattel, an den er sich gewöhnt hatte, er vermißte auch die leichte Berührung seines Schwertes an der linken Seite. Es war ein Teil seiner selbst geworden, sein Schwert, doch er hatte es zurücklassen müssen, denn ein Bauer, der seinen Geschäften nachging, würde kaum ein Schwert tragen. Pistolen dagegen waren etwas anderes. Jedermann, der in diesen gefährlichen Zeiten auf die Reise ging, nahm eine Pistole mit, und Simons steckte sicher in ihrem Halfter an seinem Sattelbogen. Er hatte eine ziemlich unruhige Nacht hinter sich, denn er wußte, daß sein Benehmen am gestrigen Abend nicht ganz mit einem Genesungsurlaub in Einklang zu bringen war. Aber außer daß Barnaby in leicht verlegenem Tonfall bemerkt hatte: »Ich muß schon sagen, für einen Kranken haben Sie eine ungewöhnlich treffsichere Linke«, hatte sich weiter nichts Beunruhigendes ereignet, und als sie in die vertraute Straße einritten, klopfte sein Herz freudig, weil er heimkam. So hatte es immer geklopft, wenn er am ersten Tag der Schulferien diesen Weg entlangritt. Es war keine vergnügliche Reise, denn die Straßen waren in Morast verwandelt, und jeder Bach war eine niederbrausende grüne Flut aus der Schneeschmelze von Exmoor. Daher waren sie froh, als sie einige Meilen vor South-Molton für eine Nacht in einem schmutzigen Wirtshaus am Wege absteigen konnten. Hier fanden sie zwei von Grenvilles Soldaten vor, denen ihr Regiment abhanden gekommen zu sein schien, obwohl sie den 186

Ankommenden versicherten, sie seien keine Deserteure. Sie verbrachten alle miteinander einen sehr vergnügten Abend, und Simon, der beobachtete, wie Mr. Podbury Rum trank, nachdem er den jüngeren Königlichen um einen Shilling und neun Pence beim Würfelspiel betrogen hatte, erinnerte sich plötzlich an ein Gerücht, das vor einiger Zeit in der Armee umgegangen war und nach dem die Späher höhere Löhnung verlangt hatten, um sie für die Gefährdung ihrer Seelen zu entschädigen. Simon schlief in dieser Nacht bei Scharlach im Stall, teils, weil er das Stroh für weniger flohverseucht hielt als die Wirtshausbetten, teils, weil er Grenvilles Soldaten nicht traute, wenn ein Pferd im Spiel war. Aber nichts passierte, und am Morgen machten er und sein Begleiter sich wieder auf den Weg. Einige Meilen vor Torrington trennten sie sich, nachdem sie sorgfältige Vereinbarungen getroffen hatten. Der Späher ritt schnurstracks auf die Stadt zu, während Simon in das Labyrinth von Hecken- und Reitwegen einbog, das ihm vertraut war wie seine eigenen Handlinien, und im ersten Dämmerlicht des Wintertages schwenkte er in den altbekannten Pfad ein, der heimwärts führte. Pferd und Reiter waren müde, aber Scharlach spitzte die Ohren und trabte der plötzlichen herrlichen Erinnerung an den heimatlichen Stall entgegen. Simon hob den Kopf und schaute sich begierig um. Der schmutzige Schnee lag noch in Haufen an den Rändern der Hecken, aber die Weiden schimmerten schon rötlich von steigendem Saft. ›Salutation‹ war mit Winterweizen an der Reihe, und von Scharlachs Hufen erschreckt, flog eine Schar Regenpfeifer von dem kahlen Ackerboden auf. Die gescheckten Flügel flatterten und schimmerten vor den jenseitigen schwarzbraunen Wäldern. Dann wand sich der Pfad um das Gehölz, in dem die weiße Eule wohnte. Simon hielt am Gattertor die Zügel einen Augenblick an und sah über die Hauskoppel hinweg auf das warme und einladende Gekuschel von Häusern und Scheunen. Immer hatte er früher so verweilt 187

wie heute, wenn er aus der Schule heimkam, um einen ersten Blick auf seine Heimat zu werfen. Aber dieses Mal war etwas in dem steil ansteigenden Obstgarten drüben verändert. Oben auf der Höhe, wo sonst die alten Apfelbäume in den Himmel geragt hatten, war er kahl. Jetzt jedoch hatte er keine Zeit, über die Veränderung nachzudenken, er hatte kaum Zeit, überhaupt eine Veränderung wahrzunehmen, denn in diesem Augenblick erschien Tom zwischen den Scheunen mit einer riesigen Forke voll Heu. Er hielt an, als er den Reiter auf dem Weg bemerkte, ließ dann die Forke fallen und schoß auf das Haus zu. »Missis!« konnte Simon ihn brüllen hören. »Simon ist da! Es ist Master Simon, du meine Güte!« »Wir sind zu Hause, Scharlach!« sagte Simon, streichelte dem Pferd mit einer Hand den Nacken, drängte es in den Weg und hatte die Veränderung im Obstgarten ganz vergessen. »Wir sind wieder zu Hause, alter Junge.« Spät in dieser Nacht noch saßen drei sehr glückliche Menschen am Feuer im Wohnraum, wo der zuckende Feuerschein sich in dem glänzenden Dunkel der Täfelung widerspiegelte und die winterliche Finsternis verbannt war durch die zuge zogenen Vorhänge aus verblichenem Damast, die den kleinen Raum in Wärme und Geborgenheit einzuhüllen schienen. Alle Erregung des Heimkommens, das freudige Erstaunen und die atemlosen Fragen und Antworten, das Abendessen, dem zu Ehren Mrs. Carey die Vorratskammer geplündert hatte, waren vorüber. Es war so viel zu sagen gewesen. So viele Dinge waren zu erzählen, nachdem man fast ein Jahr getrennt gewesen war. Aber im Augenblick hatten sie alles erzählt und saßen still da. Die Hunde dösten zu ihren Füßen. Dann sah Maus, die auf den Hacken vor dem Feuer hockte und einen von Jillots Jungen schlafend im Schoß hielt, zu Simon 188

auf und seufzte. »Ich wollte, du wärest in Uniform«, sagte sie. »Wir hörten, daß die Soldaten der Neuen Armee alle Scharlach tragen. Ich möchte dich gern in Scharlach und mit einem Schwert sehen.« »Sieh mal, ein Scharlachmantel oder einer aus Büffelleder könnte einem, so wie die Dinge stehen, in dieser Gegend Schwierigkeiten bereiten.« Die Augen von Maus wurden plötzlich groß und ernst. »Oh, Simon, ist es hier für dich sicher? Ich dachte nicht...« »So sicher wie nur was«, versicherte Simon ihr. »Hätte man mich denn auf Urlaub hergeschickt, wenn es nicht sicher wäre, du Dummerchen? Das Dorf wird nicht schwätzen, und wenn Königliche hierherkämen, woher sollten sie denn wissen, daß ich mir nicht den Kopf aufschlug, als ich vom Heuschober fiel?« »Und grad auf die Schneide einer Sense«, fügte seine Schwester hinzu, und in ihren eben noch so erschrockenen Augen blitzte ein Lachen auf. »Ja, ich verstehe.« »Diese Mrs. Killigrew, die dich pflegte, als du verwundet warst«, sagte seine Mutter und sah von dem alten Damasttuch auf, das sie stopfte, »wie ist sie?« Simon überlegte. »Sie ist eine gute Frau«, sagte er schließlich. »Aber nicht gütig. Weißt du, du bist gut und gütig, Mutter, das ist ein großer Unterschied.« Mrs. Carey lächelte ihn liebevoll an. »Auf alle Fälle scheint sie dich sehr freundlich behandelt zu haben. Ich will ihr schreiben und mich bei ihr bedanken, wenn wieder Aussicht besteht, daß ein Brief durchkommt.« »Hmm«, sagte Simon und erwiderte das Lächeln. Er beugte sich vor, um noch etwas Holz auf das Feuer zu legen, dann zögerte er und sah auf den gefurchten Kloben in seiner Hand. »Hallo, ist bei uns ein Baum umgestürzt?« Es entstand eine kleine Stille, dann sagte Mrs. Carey: »Nicht 189

umgestürzt, mein Lieber - abgeschlagen. Ein Trupp von Lord Grenvilles Soldaten zog hier zu Winteranfang durch.« Simon durchzuckte ein kleiner kalter Schlag. Die Erinnerung an ›Sanctuary‹ tauchte aus dem feuererhellten Raum empor, und er hörte den scharfen Schrei einer jagenden Eule aus der tiefen Dunkelheit draußen. »Haben sie viel vom Obstgarten abgeholzt? Die alte Kochbirne?« »Nein, nur die Apfelweinbäume auf der Höhe. Sie mußten weiterziehen, bevor sie Zeit hatten, die anderen zu fällen.« »Und das Gehölz liegt daneben und hat nach den Herbststürmen genug totes Holz, um für eine ganze Armee zu kochen«, sagte Maus mit einer kleinen, grimmigen Stimme und spielte dabei so heftig mit den Ohren des Hundebabys, daß es aufwachte und jaulte. »Na ja, das grüne Holz lieferte ihnen nur armseliges Feuer, das ist ein Trost. Selbst jetzt können wir von dem restlichen Holz nur immer ein bißchen auf einmal verbrennen, wenn das Feuer sehr gut brennt.« »Habt ihr viel Kummer gehabt in den letzten Monaten?« fragte Simon. Mrs. Carey begann ein neues Loch zu stopfen. »Keinen ernsthaften. Ein paar Schafe gestohlen, der Kornspeicher von Deserteuren in Brand gesteckt - aber wir konnten das Feuer löschen - und die - Apfelbäume. Es sind sonst noch Spuren zurückgeblieben, aber ich frage mich, ob du dort, wo der Krieg vorübergezogen ist, viele unversehrt gebliebene Häuser finden wirst.« »Nein, ich glaube nicht«, sagte Simon langsam. Er blickte auf den Kloben in seiner Hand mit seinem feinen Netzwerk von graugrünen Flechten und dachte an das herbstliche Apfelweinmachen und an die Schönheit der weißen Blüte im Frühling - das alles würde nie wiederkehren. Es schien so mutwillig, so töricht. Er legte den Kloben ins Feuer und sah ihn zum letztenmal zu Blütenblättern aus safrangelben Flammen 190

erblühen, die den Raum mit duftender Süße erfüllten.

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Von Hähnen und Fiedeln

Nach außen hin waren die nächsten paar Wochen für Simon sehr friedlich. Es gab auf dem Hof eine Menge für ihn zu tun, denn die Schafe lammten gerade, die Knechte waren fort im Krieg, und der alte Diggory, der sich fast den ganzen Winter mit Rheumatismus geplagt hatte, lag noch zu Bett. Mit Tom zusammen arbeitete er hart und kam abends müde heim, von einer tiefen, herrlichen Müdigkeit erfüllt, streckte nach dem Abendessen die Füße ans Feuer und schlief auf seinem Stuhl ein. Aber auch nicht einen einzigen Augenblick kam ihm das Gefühl, wirklich heimgekehrt zu sein. Er war nur ein Wanderfalke, den man mit einem bestimmten Auftrag hergeschickt hatte, und es war, als ob Lovacott, durch jahrhundertelanges Leben und Lieben in seinen Mauern weise geworden, das spürte und ihn nicht zu halten suchte. Nach dem Kriege könnte er gleich in der Gewißheit heimkommen, daß er sein Erbe verdient habe, und Lovacott würde ihn aufnehmen. Aber so weit war es noch nicht. Und unter der stillen Oberfläche tat Simon die Arbeit, die man ihm aufgetragen hatte. Eine versteckte, rundum durch Haselsträucher und Weidegestrüpp abgeschirmte Talmulde, durch die der kleine Bach Jewel Water der Kirchspielgrenze zuplätscherte, hätte eine Geschichte erzählen können von verdächtigen Gestalten, die bei Dunkelheit kamen und gingen, von einem schmutzigen Papierfetzen, der gelegentlich von Hand zu Hand gegeben wurde, oder von einer Botschaft, die beim Licht einer abgeschirmten Laterne aufgeschrieben wurde. Die Kehre des wenig benutzten Kapellenweges oberhalb vom Lovacott-Moor wußte eine andere Geschichte: Von einem im Graben wartenden Boten, dessen Pferd neben ihm graste, dem 192

die Botschaft noch vor dem nächsten Morgengrauen weitergegeben wurde. Die Lammzeit war für Simon sehr günstig, denn sie lieferte ihm einen guten Vorwand, bei Nachtzeit zu kommen und zu gehen, und wenn er zufällig jemanden traf, so suchte er ein entlaufenes Mutterschaf, wie das zur Lammzeit häufig vorkommt. Mehr als vierzehn Tage verstrichen auf diese Weise, die nächtlichen Besucher kamen und gingen, manchmal sogar von der cornischen Grenze, und mehrere planmäßige Meldungen wurden sicher an Major Watson weitergeleitet, aber bisher hatte noch nichts auf den Vormarsch der Königlichen gedeutet. Dann schaute Simon eines Abends beim alten Diggory herein und traf ihn zum erstenmal unten an, wie er, in eine Decke gewickelt, seine Pfeife rauchend am Feuer in der kleinen, dunklen Torhausküche saß. »Schön, daß Sie endlich wieder unten sind«, sagte Simon. »Nun werden Sie auch bald wieder hinaus können, Diggory. « »O ja, nun, wo der Frühling kommt«, entgegnete Diggory. »Und du, mein Lieber - ich wette, du mußt nun an einem der nächsten Tage zu deinen Soldaten zurück. Mir scheint, es geht dir wieder ganz gut.« Simon bückte sich, um ein dickes Katzenbaby auf den Rücken zu rollen. »Das kann jetzt jeden Tag sein.« »Ja, ja, so ist der Krieg«, meinte der alte Mann nachdenklich nach ein paar Zügen aus seiner Pfeife. »Glaubst du, daß er noch lange dauert? Schlimm für das Getreide, so ein Krieg.« »Nicht mehr so sehr lange«, antwortete Simon. »Aber es wird noch hart hergehen, bevor er aus ist.« »Wenn sie nur mit ihren Pferdehufen von meinem Winterweizen bleiben würden«, sagte Diggory. Bald war der Krieg vergessen. Sie unterhielten sich nun über den Winterweizen und das Lammen und beredeten, was man mit 193

dem Sumpfgelände unten am Fluß tun sollte. Sie steckten tief in Plänen über die Trockenlegung des Sumpflandes, als eilige Fußtritte durch den Torweg gestapft kamen, die Tür aufflog und Jem Pascoe, der Reisigbinder, rotgesichtig und offenbar voll von wichtigen Neuigkeiten, im Eingang erschien. »He, Nachbar Honeychurch, hast du schon gehört?« fragte er und hob dann, als er Simon sah, einen schmutzigen Zeigefinger: »He, junger Herr, haben Sie schon gehört?« »Komm rein und mach die Tür zu, Jem Pascoe«, sagte Diggory energisch, »sonst sind wir alle erfroren, bevor du deine Neuigkeiten erzählt hast.« Jem Pascoe kam herein und schloß die Tür. »O du meine Güte! Ich bin so gerannt, daß meine Beine ganz lahm sind«, keuchte er und sank in einen Stuhl. »Deine Beine interessieren uns jetzt nicht, Jem. Was gibt es denn Schlimmes?« »Ja, ja, ich komme schon darauf! Es is t Lord Hopton und eine riesige bewaffnete Armee!« »Wo?« Simon sprang sofort auf. »In Torrington. Wenigstens werden sie heute abend da sein. Einige sind schon dort. Ich sah sie mit meinen eigenen Augen, als ich den Mann meiner Schwester heute nachmittag besuchte. Alle Gasthöfe in der Stadt platzen von Soldaten, und sie benehmen sich, als hätten sie ihr ganzes Leben da gewohnt! Von Launceston, sagt man, kommen sie und treiben das halbe Vieh von Cornwall vor sich her, um Exeter zu versorgen! Ja!« Der alte Diggory wandte sich zu Simon um und meinte sehr ruhig zwischen einzelnen Pfeifenzügen: »Nun wird es wohl hart hergehen, wie du sagtest.« Simon nickte. Die Gedanken schwirrten ihm wild durch den Kopf, während seine Augen auf einen Topf mit Kräutern 194

gerichtet waren, den Phoebe immer im Fenster stehen hatte, und sobald Jem Pascoe fortgestapft war, um seine Neuigkeit im Dorf zu verbreiten, verabschiedete er sich von Diggory und ging eilig in das neblige Zwielicht hinaus. Sein erster Gedanke war, sofort nach Torrington zu gehen, um selber zu sehen, ob Jems Gerücht wahr sei oder nicht. Aber dann fiel ihm ein, daß er seinen Posten nicht verlassen durfte. Die Arbeit in Torrington hatte Podbury zu verrichten. Er ging hinunter zu dem vereinbarten Treffpunkt am Jewel Water, aber niemand war da, außer einem Fuchs, der bei seinem Kommen in das dunkle Gebüsch schlich. Podbury hätte wohl kaum schon hier sein können in so kurzer Zeit, vermutete er, als er zum Abendbrot zurückging. In ein paar Stunden würde er bestimmt kommen. Es gab jedenfalls für ein solches Ereignis sorgfältige Pläne, und wenn die Nachricht stimmte, würde der Späher, dessen Gebiet die cornische Grenze war, inzwischen schon mit den ersten Meldungen über den königlichen Vormarsch auf dem Weg nach Tiverton sein. Zu Hause war die Neuigkeit schon vor ihm angekommen, und das Abendbrot verlief still und unbehaglich. Als sie fertig waren, setzten sie sich wie gewöhnlich in das kerzenerhellte Wohnzimmer, und draußen vor den Fenstervorhängen war die dunkle Nacht so still wie sie. Simon hatte das Rapier seines Großvaters von seinem Platz über dem Kamin genommen, hatte die Doppelscheide zu seinen Füßen liegen und putzte die lange, scharfe Klinge auf seinen Knien. Vielleicht würde er nun bald ein Schwert brauchen, da er sein eigenes in Tiverton gelassen hatte, und dann würde ihm Balan die gleichen Dienste leisten wie Balin Amias. Aber bei der Arbeit lauschte er auf Geräusche von draußen, denn es war von Anfang an verabredet gewesen, daß die Späher notfalls ans Haus kommen und sagen sollten, sie hätten sich verirrt. Doch er hörte nur den unheimlichen Jagdruf der weißen Eule, nur das ferne Bellen einer Füchsin und das Flüstern des Regens. Seine Mutter und Maus versuchten zu 195

nähen und schauten nach jedem Stich heimlich zu ihm hinüber. Zur Bettzeit steckte er Balan wieder in seine Scheide und nahm die zerschlissenen roten Bänder von der Stuhllehne, dann schlenderte er mit gespielter Ruhe zur Tür hinüber. »Ich sage noch Scharlach gute Nacht. Wartet nicht auf mich. Ich gehe nur mal zu den Schafställen, bevor ich schlafe.« Aber immer noch war keine Spur von Podbury in der versteckten Mulde, und obwohl er dort lange wartete, die Augen gebannt in die regenfeuchte Dunkelheit gerichtet, bis er auf die Knochen durchgefroren war, kam der Späher nicht. Er ging schließlich wieder nach Hause, zündete nochmals die Kerzen im Wohnzimmer an, nahm sich Schreibzeug heraus und setzte sich an den Tisch. »Sir«, schrieb er, »ich habe gehört, daß der Löwe jetzt aus dem Dickicht getreten und nun in Torrington mit Reiterei und Fußvolk eingefallen ist und mit ihm eine ganze Viehherde als Nahrung für Exeter. Mehr weiß ich nicht, nicht einmal, ob das wahr ist, denn ich habe aus der Stadt keine Nachricht und hörte es nur durch Zufall.« Er fügte die Nummer sieben hinzu, streute Sand auf das Papier, versiegelte die Botschaft und verstaute sie vorn in seinem Wams. Wenn bis zum Morgengrauen keine Nachricht kam, würde er sie mit dem gewöhnlichen Botschafter nach Süden schicken. Er verbrachte die restliche Nacht in einem Stuhl vor dem mit Asche zugedeckten Feuer in der Halle, mit Jillot und ihren Jungen zur Gesellschaft, und lange vor der Morgendämmerung war er wieder draußen und strebte dem Treff platz zu. Als er in die Talmulde niederstieg, bewegte sich etwas neben dem Bach, ein großer, dunkler Schatten vor dem lichteren Dunkel des Haselstrauchs: größer, schien es Simon, als einer von den drei Spähern, die dorthin kamen. Er zögerte einen Augenblick und ging dann weiter. Wahrscheinlich war es ein Wilderer. »Ist das Bill Darch?« fragte er. 196

Die große Gestalt bewegte sich wieder. »Nein. Ist das Kornett Carey?« Die Stimme klang sehr ruhig, aber merkwürdig vertraut, und Simon zog den Atem rasch ein. »Eiferer- im-Herrn! Was in des Himmels Namen tun Sie denn hier?« »Manch guter Hahn kommt aus einem zerfetzten Korb«, sagte die dunkle Gestalt langsam. Nach einem Augenblick regungsloser Stille antwortete Simon: »Und manch gute Weise aus einer alten Fiedel.« »Ich habe eine Meldung für den Lord-General.« Ein Stück verknülltes Papier ging von einer Hand in die andere, und Simon steckte es vorn in sein Wams zu der Botschaft, die er in der Nacht geschrieben hatte. Dabei fragte er in äußerster Spannung: »Was spielen Sie für ein verrücktes Spiel? Wo ist Podbury?« »Wenn Podbury der Name von dem ist, den Sie erwarten, der sitzt in Torrington im Gefängnis. Man verdächtigt ihn, daß er für das Parlament spioniert hat«, sagte Eiferer- im-Herrn hastig. »Was ist passiert, Eiferer?« »Eine Bierhausschlägerei, das ist passiert. Es hat letzte Nacht viele gegeben. Was kann man anderes von solch gottlosem Pöbel erwarten, wie er hinter Lord Hopton herläuft? Ihr Mann geriet da hinein, er redete wildes Zeug und kämpfte wie ein Tiger, als ein paar von Webbs Soldaten ihn griffen. Ich war dabei.« Was für ein entsetzliches Mißgeschick! dachte Simon. Aber laut sagte er nur: »Was sollen wir nun tun, Eiferer?« »Sie sollen gar nichts tun, Sir. Sie sind in der Stadt zu gut bekannt, und ich wette, daß Sie Befehl haben, Ihren Platz hier nicht zu verlassen. Sie werden ihn am Morgen zum Verhör bringen, und ich werde Mittel finden, ihn verschwinden zu lassen, bevor er gehängt wird. Aber er muß noch eine Weile in 197

der Stadt versteckt bleiben, denn er wurde ziemlich zugerichtet, als er sich der Gefangennahme widersetzte. Unter anderem hat er ein verstauchtes Knie und wird niemals in diesem Zustand an der Wache vorbeikommen, ohne Verdacht zu erregen.« »Kennen Sie irgendeinen Platz - wo man ihn verstecken könnte, meine ich?« fragte Simon und durchlief in Gedanken alle abgelegenen Winkel in dem zerfallenen Schloß, die er aus der Zeit kannte, als er unter seinen Mauern zur Schule ging. »Es gibt einen Platz in Torrington, wo sie ihn bestimmt nicht suchen werden«, sagte Eiferer mit grimmiger Zufriedenheit. »Wo?« »Oben im Pulverturm.« Simon widersprach nicht. Es war ein gräßlich gefährliches Versteck, aber gerade weil es so gefährlich war, würde es bestimmt nicht durchsucht werden. Eiferer hatte recht. Es war der einzige Platz, an dem kein normaler Mensch suchen würde. »Können Sie ihn dahin schaffen?« fragte er. »Ja, mit Gottes Hilfe.« »Eiferer, wie kamen Sie an ihn heran - und an das Papier?« »Ich sagte doch schon, daß er wirres Zeug redete. Ich hatte schon Verdacht geschöpft, bevor die Schlägerei losging, und der Herr der Heerscharen fügte es, daß ich es war, der ihn durchsuchte. Außerdem ist hinten im Gefängnis ein schmaler Spalt in der Mauer, durch den sich zwei Männer unterhalten können, ohne daß die Wache vorn an der Tür etwas merkt. Es war nicht schwer, ihn davon zu überzeugen, daß ich ein Freund bin, denn sie hatten ihn dumm geschlagen, und in dieser Verfassung ist ein Mann entweder mißtrauisch oder so vertrauensselig wie ein neugeborenes Kind. Er sagte mir, was mit dem Papier geschehen sollte und wie ich diesen Platz finden würde. Haben Sie noch Aufträge für mich, Sir, außer dem, Podbury zu retten?« 198

»Ja«, sagte Simon. »Nennen Sie mir die genaue Stärke von Hoptons Streitkräften, wieviel Geschütze er hat und wie seine Pläne sind.« »Ich weiß es nicht, Sir, aber ich werde es herausbekommen. « »Das ist recht! Nun, da Podbury nicht mehr mitmachen kann, müssen Sie an seine Stelle rücken. Ich werde jeden Abend hier sein, wenn es dämmert, und ich werde bis acht Uhr warten. Wenn Sie mich eilig brauchen, kommen Sie ans Haus. Sie können das Licht im Fenster dort von dem Hügel aus sehen.« »Sir.« Der alte Ironside machte auf dem Absatz kehrt, stockte dann, drehte sich wieder um und sagte, indem er sich offensichtlich sehr zusammenriß: »Sie fragen nicht, wie es kommt, daß ich jetzt in dieser - in dieser Gesellschaft bin.« »Ich brauche nicht zu fragen. Ich war Weihnachten mit einem gewissen Kapitän Weston, einem königlichen Gefangenen, zusammen im Lazarett. Er erzählte mir eine seltsame Geschichte.« »Die Wege des Herrn sind sehr wundersam«, sagte Eiferer. »Ich habe James Gibberdyke all die Monate hindurch verfolgt und bin ihm erst gestern abend zum erstenmal begegnet. Daraus können Sie sehen, wie weit die Armee verstreut ist. Und nun ist er tot.« »Sie - Sie haben also Rache genommen?« fragte Simon, und die Kehle schnürte sich ihm zu. »Nein, Sir, das tat Podbury.« »Sie meinen gestern abend?« »Ja. Er wehrte sich doch bei der Gefangennahme.« »Ja«, sagte Simon matt. »Ja, das sagten Sie. Eiferer, ich wünsche bei Gott, es wäre nicht so ausgegangen - aber ich bin wenigstens froh, daß nicht Sie ihn getötet haben.« Eiferer- im- Herrn schwieg einen Augenblick. Dann sagte er: »Das bin ich auch. Merkwürdig, wie? Es ist, als ob die letzten 199

Jahre ausgelöscht wären. Aber in der allerersten Zeit fühlt man sich doch ein bißchen einsam und verloren ohne die Rache, die einen vorher so ganz ausgefüllt hat. Gute Nacht, Sir.« »Gute Nacht«, erwiderte Simon. Mehr war wohl nicht zu sagen. Als er das Feld überquerte, um zu dem Platz zu gelangen, wo ihn inzwischen wahrscheinlich der andere Späher erwartete, war Simons Herz so erfüllt von dieser Begegnung und von dem seltsamen Spiel des Zufalls, der ihm seinen alten Korporal wieder aus dem Ungewissen zugeführt hatte, daß er nicht das leise Rascheln hinter sich vernahm, das nicht vom Winde kam. Er wandte auch nicht den Kopf um und bemerkte nicht die huschende Gestalt, die sich durch die sich auflösende Dämmerung des nebligen Februarmorgens hinter ihm dreinstahl. Er überschritt die Allee und bog in den Kapellenweg ein, auf dem er so oft zur Schule gegangen war. Bei der Kehre oberhalb vom Lovacott-Moor war ein Pferd unter den tröpfelnden Weißdornbäumen angebunden, und ein Mann schlenderte auf den Pfad hinüber. Der Papierfetzen wurde mit ein paar gemurmelten Worten von Hand zu Hand gegeben, der Mann stieg wieder auf sein Pferd, Simon ging den Reitweg hinunter und hatte den eigenen Brief noch vorn in seinem Wams stecken, da er nun nicht mehr nötig war. Hinter sich hörte er beim Davongehen das leise Schlagen von Hufen, das sich bald in der Ferne verlor. Einen Augenblick später stolperte er fast in eine Gestalt, die aus dem Schatten der Hecke direkt in seinen Weg trat, eine graue unförmige Erscheinung, die seltsam nebelhaft wirkte. Sein Herz krampfte sich zusammen, und instinktiv sprang er vor und umklammerte die Gestalt. Erleichterung durchströmte ihn, als seine Hände schweres, regendurchweichtes Tuch faßten und nicht im Nebel versanken. Kein Gespenst, also ein Spion! Er packte von hinten zu und drehte seinen Gefangenen dem 200

ersten Licht zu. Als er das tat, sagte eine atemlose, aber lachende Stimme: »Simon, laß das. Au!«, und er merkte, daß er seine Schwester ergriffen hatte. Maus in ihrem grauen Kapuzenmantel, der geisterhaft von der grauen Dämmerung abstach. »Maus!« sagte er wütend. »Was soll denn das?« »Ich folge dir«, sagte Maus ganz unverfroren. Simon ließ sie los. »Ich hätte es wissen müssen! Du warst immer eine neugierige Person!« »Das solltest du wohl besser nicht sagen, Simon, nur weil ich immer an den Dingen interessiert war, die Amias und du vorhatten.« »Interessiert!« antwortete Simon bissig. »Wir konnten überhaupt nichts tun, was du nicht ausspioniertest!« »Aber ich habe niemals etwas verraten! Sogar als ihr den Schweinestall unterminiert habt und die Mauer einstürzte. Ich habe nie einem Menschen erzählt, woher das kam.« Simon gab eine Weile keine Antwort. Es war richtig: Maus hatte immer ihre Geheimnisse gekannt, aber sie waren immer bei ihr sicher gewesen. »Nein«, gab er schließlich zu, »das tatest du nicht. Hör mal, Maus. Wieviel weißt du denn jetzt?« »Ich weiß, daß du dich unten am Jewel Water mit jemandem getroffen hast und mit einem anderen da hinten. Aber ich konnte beide Male nicht dicht genug herankommen, um zu hören, was ihr sagtet. Ihr gebt Nachrichten weiter an General Fairfax, ja? Bist du darum nach Hause gekommen?« »Vielleicht«, sagte Simon. »Und wenn du je ein Geheimnis bewahrt hast, dann dieses, sogar vor Mutter.« »Natürlich«, sagte Maus. Sie gingen nun den Reitweg hinunter, und nach einer kurzen Strecke fragte Simon: »Wie kamst du darauf?« »Na ja, ich dachte, es könnten nicht immer die Lämmer sein, 201

nicht jedesmal, wenn du in der Nacht nach draußen gingst. Mutter meinte, es käme von deinem Kopf, daß du so unruhig wärst - wie das manchmal nach einer Krankheit so ist. Aber ich konnte das nicht glauben. Und dann kam gestern abend die Nachricht, und alles war durcheinander, und du kamst nicht zu Bett. Ich weiß das, weil ich immer die Tür einen kleinen Spalt offenlasse und dich vorbeikommen höre. Ich horchte und horchte, aber du kamst nicht. Und dann war ich doch ein bißchen eingeschlafen und fragte mich, ob du wohl endlich ins Bett gegangen wärst. Ich sah nach, weil ich dachte, du erlebtest vielleicht ein Abenteuer ohne mich. In der Halle war Licht, und als ich über das Geländer blickte, standest du da und sahst aus wie einer, der eben auf ein Abenteuer ausgeht. Da ging ich in mein Zimmer zurück, zog mir etwas über und wartete, bis du gingst. Dann folgte ich dir. Es war ganz einfach.« »Ja«, sagte Simon, »das scheint mir auch so.« Sie kamen zum umgatterten Garten, gelangten zur unverriegelten Hintertür, ohne die Hunde zu wecken, und schlüpften ins Haus. Bevor er hinaufging, warf Simon seinen nun überflüssigen Brief in die glühende Asche und sah, wie er aufflammte und dann zu Asche zusammenschrumpfte. Dann und wann hörten sie in den folgenden Tagen, was draußen in der Welt vor sich ging. Lord Hopton baute in Torrington Schanzen und verbarrikadierte die Einfahrtsstraßen in die Stadt mit gefällten Bäumen. Es sah so aus, als wolle er dort auf den Nachschub warten, und sicherlich war es für diesen Zweck der am besten geeignete Platz in ganz Nord-Devon. Auf drei Seiten war er vom Schloßberg und den Gemeindewiesen umschlossen, die sehr steil von der Stadt zum Torridge abfielen. Seine Fußtruppen lagen in der Stadt selbst, seine Reiterei in den umliegenden Dörfern. Heronscombe blieb von der Einquartierung von Soldaten verschont, weil es zu abgelegen war, aber zerlumpte Trupps von Plünderern fielen zu jeder Tagund Nachtzeit darüber her, so daß es kaum besser dran war als 202

Huntshaw oder Weare Giffard. Simon hielt sich während dieser Tage in der Nähe des Hauses auf, um im Notfall schnell zur Hand zu sein, auch falls eine Botschaft von Eiferer- im-Herrn oder dem anderen Späher käme. Er wich den Plünderern aus, soweit er konnte, und wenn das nicht möglich war, zog er sich den Hut tief in die Stirn und tat sein Bestes, sich im Hintergrund zu halten. Er konnte es sich nicht leisten, die Aufmerksamkeit der Königlichen auf sich zu lenken, und er konnte sowieso nicht verhindern, daß in einem fort Vieh, Futter und sogar die Reserven aus der Vorratskammer seiner Mutter nach Torrington flossen. Alles wurde von hungrigen Männern mit harten Gesichtszügen fortgetragen, die einer Armee angehörten, die sich in einen wüsten Haufen verwandelt hatte und ihren Offizieren nicht mehr gehorchte. Nach diesen wenigen Tagen war er überzeugt, daß das Gerücht stimmte, das in der Neuen Armee umging. Die einzigen Truppen in der ganzen von Lord Hopton befehligten Armee, auf die er sich noch in bezug auf Treue und Gehorsam verlassen konnte, waren seine eigene kleine Kompanie und die Leibgarde des Prinzen. Am zweiten Abend nach seiner Begegnung mit Eiferer- imHerrn fand Simon seinen alten Korporal in der Mulde des Jewel Water auf ihn warten. Das Kennwort wurde mit leiser Stimme ausgetauscht, und Simon fragte: »Haben Sie herausgefunden, was ich wissen wollte?« »Ja, aber ich hatte keine Gelegenheit, es aufzuschreiben.« »Das macht nichts. Es ist nicht das erste Mal, daß ich mit einer mündlichen Botschaft fertig werden mußte.« Simon tastete suchend unter einer Gruppe von Brombeersträuchern und Erlengestrüpp. Einen Augenblick später zog er eine kleine, abgeschirmte Laterne hervor, schlug Funken aus dem Feuerstein und zündete den Kerzendocht an. Die Flamme schwand zu einem blauen Funken, flackerte wieder 203

auf und blakte in die feuchte Luft. Simon schloß die Laterne, holte ein Stück Papier und ein Ende zugespitztes Blei aus der Innentasche seines Wamses und kauerte sich nieder, um auf seinen Knien zu schreiben. »Nun - schießen Sie los, Eiferer.« »Viertausend Mann zu Fuß, fünftausend zu Pferd, fast alle in schlechter Verfassung«, begann Eiferer- im-Herrn wie jemand, der eine auswendig gelernte Lektion hersagt. »Bei der Reiterei sind sechshundert Dragoner und etwas mehr als fünfhundert Kürassiere. Keine Artillerie und bis jetzt so gut wie gar kein Train. Lord Hopton wartet an seinem jetzigen Platz, bis seine Reservetruppen zu ihm stoßen, und das wird nicht vor Ablauf von vier Tagen sein. Er ist außerordentlich knapp an Transportmitteln. Ich weiß nichts über die Reserven, Sir, außer daß sie keine Geschütze mithaben.« »Wegen der Reservetruppen brauchen Sie keine Sorge zu haben«, sagte Simon eifrig schreibend. »Der andere Späher kümmert sich darum.« Er fügte, bevor er die Botschaft abschloß, noch verschiedene Einzelheiten hinzu, von denen der alte Ironside ihm berichtet hatte, und unterzeichnete sie mit Nummer sieben. Er zögerte wegen der zweiten Nummer und ließ schließlich den Platz frei. »Danke, Korporal«, sagte er. Das Wort war ihm aus alter Gewohnheit herausgeschlüpft, und er konnte es nicht wieder zurücknehmen. Er blickte schnell auf, aber das Licht der abgeschirmten Laterne reichte nicht bis zu dem Gesicht des anderen Mannes. Sie sprachen beide kein Wort, bis Simon die Laterne gelöscht, sie in ihrem Versteck verborgen und sich wieder aufgerichtet hatte. Dann fragte er: »Was ist mit Podbury?« »Ich habe ihn gestern fortgeschafft, Sir, auf dem Weg zum Verhör in Lord Hoptons Quartier. Wir waren nur zwei zu seiner Bewachung, und der Herr schickte im rechten Augenblick einen Hagelschauer, so daß wir fliehen konnten, nachdem ich den anderen Mann niedergeschlagen hatte. Podbury sitzt ganz 204

gemütlich über den aufgestapelten Pulverfässern. Ein bißchen gefährlich, aber aus dem Weg, verstehen Sie? Er hat genug zum Leben, Trinkwasser aus dem Wasserrohr über dem Fenster und alles sonst, und er kann dort ein paar Tage liegen, bis er wiederhergestellt ist.« »Das ist gut«, sagte Simon. »Aber hören Sie mal. Wenn Sie den zweiten Wachmann niedergeschlagen haben, dann werden die wissen, daß Sie auf unserer Seite sind, und Sie können wegen Podbury nicht verschwinden. Was sollen wir tun?« »Ich komme schon irgendwie durch«, meinte Eiferer. »Notfalls gehe ich selber in den Pulverturm. Im Lager der Amalekiter herrscht kaum noch Disziplin, und ich kann mit Leichtigkeit an den Wachen vorbeischlüpfen, solange dies Hagelwetter andauert.« »Das gefällt mir nicht«, sagte Simon. »Es ist nicht recht, daß ich Ihnen die gefährliche Seite dieser Sache überlasse - aber das Verteufelte ist, daß ich Befehl habe, Lovacott unter keinen Umständen zu verlassen.« »Ihr Aktionsfeld ist hier und meins in Torrington, und keiner von uns darf von seinem Platz weichen«, stimmte der andere zu. Plötzlich durchströmte Simon eine jubelnde Freude, als ihm etwas klar wurde, das ihm vorher nicht zum Bewußtsein gekommen war. »Eiferer!« sagte er, »Eiferer! Wissen Sie, was das bedeutet?« »Was, Sir?« »Mann! Sie haben sich Ihren alten Posten wieder verdient ! Wenn der Feurige Tom von dieser Sache hört...« »Nein!« unterbrach Eiferer- im-Herrn ihn schroff. »Es gibt für mich keinen Weg zurück.« »Aber es gibt einen! Verstehen Sie nicht, Eiferer?« »Ich will nicht, daß es heißt: ›Er hat nur unserer Sache gedient, damit er wieder wie ein schweifwedelnder Köter auf 205

seinen alten Posten zurückkriechen konnte.‹« »Wer wäre denn närrisch genug, so etwas zu sagen?« fragte Simon heftig. Er hatte nicht gedacht, daß Eiferer sich etwas aus der Meinung anderer Menschen machte. »Und wenn die ganze Armee es auch sagte, was würde es denn ausmachen, solange Sie wissen, daß es nicht wahr ist?« »Aber ich würde es nicht wissen! Wenn ich durch Ihren günstigen Bericht den Weg - den Weg zurückfinden sollte, würde ich doch niemals wissen, daß es nicht wahr wäre!« »Vielleicht würde es trotzdem bekannt«, meinte Simon, und seine Stimme klang zornig, weil er sich plötzlich furchtbar elend fühlte. »Podbury kann doch auch sprechen. « »Er kennt mich nur unter dem Namen Ismael Watts«, sagte Eiferer mit einem Anflug vo n bitterem Lächeln. »Watts war der Name meiner Mutter.« Es war klar, woher der Name Ismael kam. »Von nun an bin ich Ismael. Es gibt keinen Weinstock und keinen Feigenbaum mehr für mich.« Simon erinnerte sich an die Worte, die vor Monaten an jenem Frühlingsmorgen an dem Nebenarm der Themse gefallen waren. »Ich kann einen Bericht einschicken«, sagte er hartnäckig. »Aber Sie werden es nicht tun, Sir, denn wenn Sie es täten, würden Sie den letzten Fetzen Selbstachtung zerstören, der mir noch geblieben ist.« Es entstand eine lange, lastende Stille. Simon wußte ganz bestimmt, daß in dieser Linie der Gedanken ein Knoten war, er konnte nur nicht sehen, wo. Korporal Reif war mit seinem eigenen Gewissen verquer gekommen, und niemand, und auch gewiß nicht Simon, hatte das Recht, sich einzumischen, wenn er den Knoten selber zu lösen versuchte. »Nein«, sagte er endlich, »ich werde keinen Bericht einschicken.« 206

In der Ferne schlug eine Uhr vom Kirchturm acht, und Eiferer- im- Herrn zuckte zusammen. »Ich muß mich auf den Rückweg machen. Beim Wachwechsel komme ich am besten durch.« »Ja«, sagte Simon. »Wenn ich Sie nicht wiedersehen sollte, Sir...« »Ja?« »Ich habe keinen Sohn, ich hatte nur einen Freund, und er ist nun tot. Ich bin froh, daß Sie wissen, wer Ihnen die Zahlen von Hoptons Truppen brachte und wer, wenn Gott will, Ihnen den Späher heil wiederbringt.« »Ich bin auch froh!« Sie drückten sich schnell die Hände. »Auf Wiedersehen, Eiferer«, sagte Simon mit rauher Stimme, »und - leben Sie wohl.« Er schaute sich noch einmal um, als er über den kleinen Hügel stieg, und sah beim Schein des aufgehenden Mondes, der in diesem Augenblick silbrig durch die Wolken brach, die dunkle, einsame Gestalt von Eiferer-im- Herrn, der regungslos neben dem glänzenden und schillernden Jewel Water stand. Er sah einen dunklen Arm zu Gruß und Lebewohl erhoben und warf den eigenen Arm zum Abschied hoch. Dann schritt er hügelaufwärts, dem Licht in den Fenstern von Lovacott entgegen.

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Der königliche Offizier

Als Simon in der Dunkelheit vor dem Morgengraue n bei der Kehre des Kapellenweges ankam, war unter den Weißdornbüschen kein Pferd angebunden, und keine dunkle Gestalt kam ihm entgegen. Nur der Regenpfeifer stieß seine Rufe über dem Moor aus, und ein leichter, kalter Wind strich durch die Binsen. Offenbar war der Späher aufgehalten worden. Ausgerechnet heute mußte das sein, dachte Simon, als er sich wieder auf den Rückweg nach Lovacott machte, nachdem er fast eine Stunde auf dem Fleck herumgetrampelt hatte. Wenn er doch noch kam, würde er verabredungsgemäß ans Haus kommen. Simon konnte nichts weiter tun, als das kostbare Paket bei sich zu behalten, bis der Botschafter es abholen würde. Es war zum Verrücktwerden, daß er die Meldung, die für seine Partei so wichtig war, so lange hier behalten mußte und sie nicht an Major Watson befördern konnte. Als er durch den grauen Nebel, der mit der Dämmerung aufgekommen war, zurückwanderte, erfüllte Simon ein rasendes Verlangen, sich auf Scharlachs Rücken zu schwingen und die Straße nach Tiverton entlangzureiten, um die Meldung selber zu überbringen. Aber wieder fiel ihm des Majors scharfe Stimme ein: »Sie dürfen Ihren Posten nicht verlassen, was auch immer geschehen mag.« Sollte der Botschafter innerhalb von drei Stunden nicht kommen, entschied er plötzlich, dann würde er Tom schicken. Er wußte, daß er kein Recht hatte, so zu handeln, aber Tom war ein treuer Mensch, und die Nachricht mußte unbedingt durchkommen. Inzwischen holte er aus der verfahrenen Lage das Beste heraus, indem er sich an die morgendlichen Arbeiten auf dem Hofe machte, auf dem es schon lebendig wurde. Es war kein glücklicher Tag. Tom kam und bat ihn, nach Selina, dem Zugpferd, zu sehen, weil sie lahmte. Im Schafstall 208

ging es schlecht, so daß er schließlich ein mutterloses Lamm im Arm trug, das als schlaffes und fast lebloses nasses Wollknäuel von seiner Hand hing, als er zum Frühstück ins Haus ging. Er kam sehr spät, und nur Maus wartete an dem Tisch in der Halle auf ihn. »Mutter ist zu Großmutter Pascoe gegangen. Die Soldaten erschreckten sie gestern, und die arme alte Frau ist wieder krank«, sagte sie, indes sie sich über das Feuer beugte, an dem eine ziemlich magere Portion gebratener Schinken zum Wärmen stand. »Gut«, sagte Simon. »Hier ist ein Lamm für dich. Seine Mutter ist tot, und es ist ziemlich kümmerlich.« Sie wandte sich um und setzte den dampfenden Teller auf den Tisch. »Gib es mir. So ist es gut. Nun sieh zu, daß du dein Frühstück bekommst, bevor es kalt wird oder neue Plünderer kommen. Oh, gib mir doch bitte erst den alten Sack aus der Ecke. Nein, Jillot, du gehst und kümmerst dich um deine eigenen Jungen, dies hier ist nichts für dich.« Maus hatte schon mehr als ein mutterloses Lamm aufgezogen, und noch bevor Simon mit seinem Frühstück angefangen hatte, war das kleine Geschöpf in ein Lager aus Säcken in der warmen Kaminecke verpackt, und sie war in der Küche verschwunden. Nach ein paar Minuten war sie zurück, in der einen Hand ein irdenes Töpfchen mit Milch, in der anderen die alte Babyflasche aus Ton. »Ich wollte nicht so lange bleiben, aber Meg sagt, wir werden ganz bestimmt alle ermordet«, bemerkte sie gelassen, als sie das Töpfchen zum Wärmen in die heiße Asche setzte. »Polly hat eben die größte Sahneschüssel zertrümmert und heult erbärmlich.« Simon hörte auf zu essen, hielt ein Stück Schinken auf halbem Wege in die Luft und sah auf sie nieder, wie sie so vor dem Feuer saß, inmitten der grauen Falten ihres ausgebreiteten 209

Rockes. »Du wirst Mutter immer ähnlicher«, stellte er fest. »Sie läßt sich auch durch nichts aus der Fassung bringen. Wenn einer von uns in zwei Teilen heimkäme, würde sie ihn eben mit ihrer Kräutersalbe wieder zusammenflicken und eine schöne, nahrhafte Brühe warmmachen.« Maus war mit dem schwachen Lamm beschäftigt und sah lachend auf, ohne ihre Arbeit zu unterbrechen. »Na ja, es ist doch ganz sinnlos, wenn man aus der Fassung gerät, nicht?« sagte sie. Und dann ganz leise die Lippen kaum bewegend: »Hast du es weggeschickt?« Simon schüttelte den Kopf. »Er war nicht da«, murmelte er. »Ich muß es bei mir behalten, bis er kommt.« »Wo ist es?« Simon wies auf seine Brusttasche und frühstückte dann weiter. Es war ein viel kargeres Frühstück als sonst, denn die Königlichen hatten fast die ganzen Wintervorräte an Schinken mitgenommen und außerdem so viele Hühner, wie sie fangen konnten. Das Essen wurde knapp, und niemand wußte, wie lange es noch so weitergehen würde. Simon hatte gerade den letzten Bissen gegessen, als ihm plötzlich ein Verdacht kam. »Maus«, sagte er, »hatten Mutter und du ebensoviel zum Frühstück wie ich?« »Wir hatten ge nug.« »Wirklich?« »Wirklich.« Simon schaute sie mit einem langen, prüfenden Blick an. »Ich glaube dir nicht«, sagte er endlich. »Ich werde dafür sorgen, daß wir in Zukunft alle zusammen essen.« In diesem Augenblick begann das Lamm mit seinen unnatürlich ausgestreckten Beinen zu zucken, und Maus lehnte sich auf ihre Hacken zurück, um es zu beobachten. »Sieh mal, es kommt zu sich«, sagte sie. 210

Simon schob seinen Teller zurück, stützte sein Kinn auf die Fäuste und sah sie an. Es war warm und sehr friedlich in der dämmerigen Halle. In dem großen Kamin zuckten die Flammen, Jillot saß bei ihren herumkrabbelnden Jungen und schlug ab und zu mit ihrem buschigen Schwanz auf den Boden. Von draußen tönte das Klappern der Mägde mit den Milcheimern und das Gurren der Tauben im Hof herein, deren Kreisen und Flügelschlagen den winterlichen Sonnenschein vor den Fenstern mit den flüchtigen Schatten vieler Schwingen erfüllte. Der Krieg schien in weiter Ferne zu liegen. Simon lehnte sich in seinem Stuhl zurück und bemerkte nun erst ein versiegeltes Paket, das auf dem Tisch lag. »Hallo, was ist das?« Maus hatte das irdene Töpfchen vom Feuer genommen und goß gerade die warme Milch in die Flasche. »Ach, Mutter schrieb gestern abend, als du weg warst, an Mrs. Killigrew. Sie sagte, wir sollten es dem Boten mitgeben, wenn er kommt, bevor sie zurück ist. Sie hat deinen Zettel mit den Grüßen an Miß Susanna beigelegt.« »Oh«, sagte Simon. Maus nahm das Lamm auf den Schoß und versuchte, es zum Trinken zu bewegen, indem sie ihre Finger in die warme Milch tauchte und sie dem kleinen Tier ans Maul hielt, wobei sie kleine Saugelaute machte, um es zu ermutigen. »Simon«, fragte sie bald darauf, »wie ist Susanna Killigrew? Du hast uns das nie richtig erzählt. Ist sie gut, aber nicht gütig, wie ihre Mutter?« »Nein«, antwortete Simon, »sie ist kein bißchen wie ihre Mutter.« »Wie ist sie denn?« Simon zerbrach sich den Kopf. Er wollte Maus' Frage wirklich gern beantworten, aber es lag ihm nicht, Menschen zu beschreiben. 211

»Sie ist ein kleines, dürres Ding«, sagte er schließlich. »Aber einmal sah sie aus, als ob - als ob sie alle ihre Kerzen angezündet hätte, und da war sie ganz verwandelt.« Er lächelte entschuldigend. »Tut mir leid, besser kann ich es nicht ausdrücken. Aber ich glaube, du würdest sie leiden mögen. Vielleicht kannst du dich eines Tages selbst davon überzeugen, falls Mutter sich mit ihrer Mutter anfreundet - wenn der Krieg aus ist.« »Wenn der Krieg aus ist«, echote Maus und seufzte. »Immer heißt es: ›Wenn der Krieg aus ist‹, und es klingt ebenso aussichtslos wie: ›Wenn das Goldschiff ankommt.‹« Sie hielt immer noch dem Lamm ihre milchgetränkten Finger vors Maul, als sie das sagte, und plötzlich nieste es. Seine gespreizten Beine begannen leise zu zucken, und es fing an zu saugen. »Siehst du!« sagte sie. »So macht man das. Warum hast du es nicht gleich so gemacht, du Dummerchen?« Sie tunkte ihre Finger noch einmal in die Milch und ließ das Lamm saugen, dann steckte sie die Tülle der Flasche in sein kleines saugendes Maul. Das Lamm reckte sich hoch und begann mit dem Schwanz zu wackeln. Ein paar Minuten später fütterte sie es immer noch, und Simon sah den beiden zu, als im Hof plötzlich Lärm ausbrach: Ship, der Schäferhund, bellte sich die Seele aus dem Leib, Diggorys Stimme ertönte in lautem, wildem Protest, und man hörte schweres, vielfältiges Trampeln. Die Tauben schwirrten mit lauten, zornigen Flügelschlägen hoch. Simon stand rasch auf, und währenddessen legte Maus das Lamm in sein Lager aus Säcken zurück, strich ihren grauen Rock glatt und stellte sich ruhig neben ihn. Sie sahen sich einen Augenblick an. Wieder eine Gruppe von königlichen Plünderern! In den letzten paar Tagen waren schon so viele dagewesen, daß kaum mehr etwas zum Plündern übrig war. Nur hatte Simon dieses Mal keine Chance, ihnen aus dem Wege zu gehen, was ihm sonst meistens gelungen war. Es war keine Zeit, um zur Treppe zu gelangen, 212

und es war ihm, als brenne die Meldung in seiner Brusttasche ihm ein Loch in sein Wams. Aber eigentlich hatten sie keinen Grund, ihn zu verdächtigen, und sicherlich keinen, ihn zu durchsuchen. Er tat so, als sei er ärgerlich, daß er beim Frühstück gestört worden war, und wandte sich zur Tür um, als sie auch schon aufgerissen wurde und mehrere Männer sich in die Halle drängten. Dann stieß Jillot, die wachsamen Auges und leise knurrend bei ihren Jungen gesessen hatte, plötzlich ein freudiges Winseln aus, ließ ihre Familie im Stich und lief schwanzwedelnd los, um den zerlumpten Offizier zu begrüßen, der sie anführte. Der Offizier war Amias. Amias war hager wie eine Vogelscheuche und beinahe ebenso in Lumpen, mit dunkelblauen Schatten unter den Augen, die teils von Müdigkeit herrührten, teils von Schmutz. Ein schreckhafter Zweifel schlug über Simon zusammen wie eine Welle, die dann wieder zerrann und eine kalte, stille Hoffnungslosigkeit zurückließ. Es hatte keinen Sinn, jetzt etwas Falsches vorzuspiegeln. Er mußte einen Weg finden, Maus die Nachricht zuzustecken, bevor sie ihn ergriffen, das war alles. Dann schnappte etwas in seinem Gehirn ein, und er sah den Ausdruck in Amias' Augen. Er war in jenem ersten Augenblick ebenso erschrocken gewesen wie seiner, aber jetzt schien er eine klare, entschiedene Warnung zu bedeuten. Im gleichen Augenblick sah er mit einem Seitenblick, daß Maus ihren grauen Rock zusammengerafft hatte und vortrat. »Ich bitte um Entschuldigung, daß niemand Ihnen die Tür geöffnet hat«, sagte sie. »Wir haben Ihr Klopfen nicht gehört.« Amias wandte sich zu ihr um und zog seinen schäbigen Hut. »Pardon«, sagte er schnell. »Ich bitte um Entschuld igung. Der Krieg hat uns unsere Manieren vergessen lassen, Fräulein Maus. Ihr Vater ist - nicht zu Hause?« »Mein Vater dient in Lord Levens Armee«, sagte Maus ruhig. 213

»Und meine Mutter ist nicht da. Wenn Sie nicht warten wollen, bis sie zurückkommt, sagen Sie mir bitte, was Sie wünschen. Ich nehme an, Vieh und Futter, aber es ist nicht mehr viel für Zuspätkommende übrig. Wir haben in den letzten paar Tagen allzu viele Plünderer hier gehabt.« »Ach, Fräulein Maus, auch Ihre Feinde müssen dann und wann etwas essen. Aber wir sind ein Suchtrupp, keine Plünderer.« Simon, der wie ein Zuschauer einem Schauspiel zusah, wurde von einem Instinkt gewarnt, das Spielen den beiden anderen zu überlassen und auf sein Stichwort von ihnen zu warten, wenn es an der Zeit war. »Oh?« sagte Maus. »Wonach wollen Sie denn hier suchen?« »Nach einem parlamentarischen Spion, der seinen Wachsoldaten vor zwei Tagen in Torrington entfloh, und nach einem unserer eigenen Leute, der mit ihm unter einer Decke steckt. Wir haben Befehl, alle Häuser in dieser Gegend zu durchsuchen, die mit dem Parlament sympathisieren.« »Sie werden sie nicht hier finden«, sagte Maus. »Aber wir können Sie nicht daran hindern, daß Sie das ganze Haus von oben bis unten umkehren, wenn Sie wollen. Lovacott steht auf Seiten des Parlaments.« Die ganze Zeit hatten die Männer des Suchtrupps sich im Raum umgeschaut und miteinander gemurmelt. In diesem Augenblick wandte sich der Sergeant, ein bärtiger Riese mit einem trotzigen, ehrlichen Gesicht und ungemütlich scharfem Blick, der Simon mit fragendem Stirnrunzeln angestarrt hatte, zu seinem Offizier und flüsterte ihm etwas zu. Simon konnte nur raten, was es war, aber Maus, die näher stand, ging an ihm vorbei und sagte sehr deutlich: »Das ist mein Bruder. Er ist...«, sie deutete rasch mit der Hand an die Stirn, »nicht ganz richtig.« »Noch immer so toll?« fragte Amias mit tiefer Anteilnahme. Nun hatte Simon sein Stichwort, und er wußte nicht genau, ob 214

er lieber lachen oder Maus durchschütteln wollte, bis ihr die Zähne aufeinanderschlugen. Statt dessen hockte er sich auf seine Hacken nieder und verlor anscheinend jedes Interesse an den Vorgängen um ihn herum. Er nahm die fast leere Babyflasche auf und begann, das schon satte Lamm zu füttern. Es schien zu der ihm zugeteilten Rolle zu passen, und er hoffte, das Lamm würde nicht platzen. Aber der Sergeant war noch nicht überzeugt. »Er sieht vernünftig genug aus«, knurrte er, »und einen gewaltig großen Schmiß hat er da außerdem am Kopf! Sollte mich nicht wundern, wenn das der Spitzbube ist, den wir suchen. « »Schweig still, du Tropf«, sagte Amias scharf. »Ich habe ihn mein ganzes Leben gekannt. Er ist so toll wie ein Märzhase.« »Gut, wenn Sie das sagen, Sir, will ich nicht das Gegenteil behaupten, aber ein aufgeschlagener Kopf ist ein aufgeschlagener Kopf und paßt zu einem Burschen, der gekämpft hat und...« »Mein Bruder fiel kurz vor Weihnachten von einem Heuschober und schlug sich den Kopf an der Schneide einer Sense auf«, sagte Maus. »Ich nehme an, Sie sind nun zufrieden.« »Na also, mir sieht das viel eher so aus, als ob jemand ihn mit einem Musketenkolben verwundet hätte«, begann der andere hartnäckig. »Ich hab schon viele Köpfe gesehen, die mit einem Musketenkolben bearbeitet waren und...« »Wir sind vollkommen zufrieden«, warf Amias mit einem gebieterischen Blick auf seinen Sergeanten ein. »Alles in Ordnung, übernehmen Sie das, Sergeant. Durchsuchen Sie das Haus und die Nebengebäude. Ich werde hier in der Halle bleiben.« Er wandte sich mit strengem Blick an seine Männer. »Und denkt daran, ich sagte durchsuchen, nicht plündern und aufbrechen. Wenn ich nur das leiseste Geräusch einer mutwilligen Zerstörung höre, steht ihr alle dafür gerade. 215

Verstanden?« Gemurmel, das so etwas wie ›Ja‹ heißen konnte, ertönte, während die Männer sich aufteilten. Einige von ihnen sahen außerordentlich unzufrieden aus, aber Simon mußte feststellen, daß Amias seine Leute besser in Zucht hatte, als das sonst in den königlichen Truppen der Fall war, die er kürzlich gesehen hatte. Maus hatte sich wieder zum Kamin zurückgezogen und stand dort sehr aufrecht in ihrem grauen Kleid, den Kopf erhoben und mit einem seltsamen Leuchten in den Augen. Amias schritt hinüber zum Tisch, setzte sich darauf, ließ einen staubigen Fuß hin und her pendeln und schaute auf sie nieder. »Fräulein Maus«, sagte er bewegt, »bitte glauben Sie mir, daß ich ehrlich betrübt bin, daß wir uns jetzt als Feinde begegnen, nachdem wir früher so gut befreundet waren.« »Das tut mir auch leid«, sagte Maus, ohne ihren scharfen Ton zu mildern. Aber Simon hä tte, als er aufschaute, schwören können, daß das Leuchten in ihren Augen Lachen war. Plötzlich dämmerte es ihm, daß sie sich ungeheuer amüsierten, diese zwei, wie ein Paar von gut aufeinander eingespielten Fechtern, die einen Gang mit stumpfer Klinge fochten. Daß Amias Freude daran hatte, mit der Gefahr zu spielen, überraschte ihn nicht im geringsten. Aber mit Maus war das etwas anderes. Es zeigte einem wieder einmal, wie wenig man die Menschen kannte. »Darf ich zu den Mägden gehen? Sie werden Angst haben«, sagte Maus, als aus der Richtung der Küche ein lautes Gekreisch ertönte. Amias schüttelte den Kopf. »Ich bedaure außerordentlich. Aber Sie und Ihr Bruder müssen hier bleiben und die Mägde in der Küche. Nur meine Leute dürfen im Augenblick durch das Haus gehen. Sie werden sehen, daß eine Wache vor der Tür steht.« Simon hörte den warnenden Klang in seiner Stimme, blickte 216

schnell auf und sah den sich in der Eingangstür lümmelnden Soldaten. »Ich sehe ihn«, sagte Maus kühl. »Wir sind also Ihre Gefangenen, wie es scheint.« Dann wandte sie sich zu Simon um und sagte in einem sehr liebevollen und gütigen Ton: »Simon, du hast das Lamm jetzt genug gefüttert. Leg es in sein Lager zurück, Lieber, ehe es krank wird.« Simon ließ das zappelnde Lamm gehorsam auf seine Säcke plumpsen, von denen es gleich wieder laut blökend hochstakste. Er ließ es los, hockte müßig auf seinen Hacken und beobachtete, wie es auf Jillot zuwankte, die wieder bei ihren Jungen unter dem Tisch saß. Amias hatte sich plötzlich zur Seite gewendet und den Brief aufgenommen, den Mrs. Carey für den Boten dagelassen hatte. »Donnerwetter! Was für ein seltsamer Zufall!« sagte Amias lachend. »Ich war letzten Herbst in Okeham Paine einquartiert.« Es entstand eine kurze Stille, die Simon endlos erschien, denn nun wünschte er sehnlichst, daß er Maus etwas von seiner Begegnung mit Amias erzählt hätte. Dann sagte Maus: »Wirklich? Es ist gar kein so seltsamer Zufall; Mrs. Killigrew ist eine sehr alte Freundin meiner Mutter.« Amias rümpfte die Nase in der alten beleidigenden Weise und legte das Paket hin. »So? Na, jeder muß sich seine Freunde selber aussuchen. Eine höchst sauertöpfische Frau. Ich war froh, als ich aus ihrem Haus heraus war.« »Wie kam es, daß Sie dort abzogen?« fragte Maus mit einem Blinzeln in ihren Augen. »Eigentlich müßten Sie Fräulein Fauchekatze heißen statt Fräulein Maus«, sagte Amias. »Wir zogen mit den Fahnen voran ab, und die Psalmensinger hatten das Haus hinter uns im Besitz, wenn Sie das interessiert. Und in Anerkennung unserer tapferen Verteidigung gestattete man uns freien Abzug nach Exeter, so 217

daß man uns dort in aller Ruhe zusammen mit den dort stationierten Truppen belagern konnte.« »Sie scheinen sich nicht im Zustand der Belagerung zu befinden«, wandte Maus ein. »Nein. Das sagte uns auf die Dauer nicht zu. Wir machten eine Abstimmung und zogen dann quer übers Moor, um uns mit dem Prinzen bei Tavistock zu vereinigen.« Die Worte waren an Maus gerichtet, aber Simon wußte, daß sie eigentlich für ihn bestimmt waren. Amias wollte ihm erklären, wie er zu Lord Hoptons Truppe gekommen und was seit ihrer letzten Begegnung geschehen war, und das konnte er nur auf diese Weise tun. Der Wachposten an der Tür reckte den Hals nach einem Kameraden draußen im Hof, und im Augenblick wurden sie von niemandem beobachtet. Simon sah auf und blickte dem anderen offen ins Gesicht. Amias Augen tanzten, wie er es nicht anders erwartet hatte, aber zugleich stand ein bitterer Glanz in ihnen. Zum erstenmal wurde ihm bewußt, was es heißt, in einer geschlagenen Armee zu dienen, mit Leib und Seele einer verlorenen Sache anzugehören. Sie schauten sich einen Augenblick versunken an, und Simon wußte, daß die alte Freundschaft so eng war wie nur je, vielleicht noch enger. Dann rutschte Amias von seinem erhöhten Sitz auf dem Tisch herunter, wandte sich um und schritt auf die Tür zu. Er kam nicht wieder zu den beiden am Kamin zurück, blieb aber im Eingang, bis seine Männer von ihrer vergeblichen Suche zurückkamen und der Sergeant verdrießlich brummte: »Nichts zu melden, Sir.« Dann verbeugte er sich errötend vor Maus, stülpte seinen zerschlissenen Hut energisch auf den Hinterkopf und führte seine Leute ab. Simon stand auf. Er stand ganz still in der Kaminecke und lauschte auf ihre Stimmen und das laute Getrampel von Füßen im Hof. Es entfernte sich aus dem Torweg und verlor sich dann 218

ganz. Die Tauben ließen sich schon wieder nieder. Nur Ship hatte noch einmal zu bellen begonnen, und das schrille, erschreckte Gekreisch von Meg und Polly aus der Milchkammer tönte fort und fort. Dann ging Maus mit schwingenden, raschelnden Röcken quer durch die Halle und verschwand durch die Tür, die in den Küchenflügel führte. Die aufgeregten Stimmen schwollen zu lautem Klagen an, dann wurde es still. Simon stand vollkommen regungslos in der Kaminecke, bis er merkte, daß er die Babyflasche immer noch in der Hand hielt. Er stellte sie auf den Tisch und baute sie mit großer Sorgfalt genau in der Mitte zwischen einem Laib Brot und dem Brief seiner Mutter auf, trat dann ans Fenster und sah hinaus in den winterlichen Garten. Jetzt kam Maus zurück. »Das war - seltsam, nicht wahr, Simon?« sagte sie und stellte sich neben ihn. »J-a-a.« Er drehte sich zu ihr um und legte ihr beide Hände auf die Schultern. »Was dachtest du dir dabei, als du diesen Leuten erzähltest, mit mir wäre es nicht ganz richtig?« fragte er. »Ich fand, das sei das beste. Es tut mir leid, wenn du es nicht gern hattest, Simon, aber du warst nicht sehr hilfreich, und mir fiel nichts anderes ein. Ich war ziemlich überrascht, weißt du.« »Das hat man dir nicht angesehen. Auf alle Fälle vielen Dank, Maus.« Auf Maus' Wange erschien unerwartet ein Grübchen, das sich früher immer bemerkbar machte, als sie klein war, wenn irgend etwas, was sie tat, bei den beiden Jungen Gnade fand. »Weißt du, wo die Männer sind, die sie suchen?« fragte sie. »Das kann ich dir nicht sagen, Maus.« »Nicht hier irgendwo?« »Nein, nicht hier.« »Ich hatte schreckliche Angst, sie könnten hier sein.« »Man sah dir auch das nicht an«, meinte Simon. 219

Das Grübchen wurde, wenn möglich, noch tiefer, aber sie sagte nur nach einer kleinen Pause: »Du hast mir nie erzählt, daß Amias bei der Besatzung von Okeham Paine war, als ihr das Haus eingenommen habt.« »Nein? Ich muß das wohl vergessen haben«, entgegnete Simon. Er lächelte sie an und ging wieder zum Fenster. Die nächtliche Begegnung in Okeham Paine hatte keine Bedeutung mehr! Plötzlich bemerkte er, daß die Knospen am Quittenbaum anschwollen und das braune Beet unter dem Fenster voller Schneeglöckchen war. Und dann ertönte jenseits des vom Krieg mitgenommenen Obstgartens der erste Ruf des Brachvogels. »Horch!« sagte er. »Die Brachvögel kommen von der Flußmündung.« Einen Augenblick später erschien Toms Kopf in der Eingangstür. »Da ist ein Kerl draußen, er behauptet, er soll was bestellen wegen einem Wurf Ferkel«, sagte er und zeigte mit einem Daumen über die Schulter. »Ziemlich verdächtige Gestalt, finde ich, und das hab ich ihm auch gesagt, aber er sagt, da ist manch guter Hahn aus einem zerfetzten Korb gekommen, und das sollte ich Ihnen bericht en.« Simon war gerade mit dem Mann wegen des Wurfs Ferkel fertig, als der Bote kam. Maus gab ihm Mrs. Careys Brief und nahm mehrere Pakete an sich, die er gebracht hatte. Als er fort war, kehrte sie zu Simon zurück und hielt triumphierend etwas hoch. »Sieh mal! Dies ist einer von den Tagen, an denen alles auf einmal kommt. Hier ist ein Brief von Vater.« Sie hatten seit langem nichts von Simons Vater gehört, und die Ankunft seines Briefes schien diesen seltsam freudigen Morgen zu krönen. Sie legten ihn auf den Tisch, damit ihre Mutter ihn sofort sah, wenn sie zurückkam, und daß sie selber auch dabei wären, um zu hören, was er schrieb. Sie mußten nicht lange warten, bis sie kam und den grauen 220

Umhang von den Schultern gleiten ließ, während sie rundum schaute. »Meg berichtete mir, des Königs Männer hätten im Haus geplündert«, sagte sie, ein wenig überdrüssig. »Was haben sie dieses Mal genommen?« »Dieses Mal nichts«, erzählte Simon ihr. »Sie suchten jemanden, aber mit einigem Glück ist er jetzt weg. Sieh mal, Mutter, hier ist endlich ein Brief von Vater.« Mrs. Carey warf ihren Mantel auf die Seitentruhe und eilte zu dem so lange ersehnten Paket. Ihr Gesicht war sanft und strahlend, als sie das Siegel aufbrach und das knisternde Papier entfaltete. Dann war ganz plötzlich das Strahlen erloschen. Sie stieß einen Schrei aus und griff mit einer Hand nach dem Stuhl hinter sich, als müsse sie sich stützen. Simon war im gleichen Augenblick um den Tisch herum und bei ihr. »Was ist denn, Mutter?« Sie sah auf, und ihr Gesicht war schmal und betrübt. »Vater ist verwundet.« »Schlimm?« fragte Simon, aber er wußte, es mußte schlimm sein, denn sonst würde seine Mutter nicht so aussehen. »Ja«, sagte Mrs. Carey. »Ja.« Sie blickte von Simons ängstlichem Gesicht in das von Maus, dann wieder auf den Brief in ihrer Hand und begann laut und ruhig vorzulesen. »Ich hätte schon eher geschrieben, wenn ich dazu imstande gewesen wäre, aber ich hatte mit ein paar Wunden zu tun, die mir zugefügt wurden, als meine Truppe vor drei Wochen bei einer Patrouille aus dem Hinterhalt überfallen wurde. Kein großer Kampf, aber ein gut durchgeführter. Die Königlichen unterminierten eine Brücke, die wir überqueren mußten, und steckten die Zündschnur an, als unsere ersten Reiter direkt auf der Brücke waren, und ich war unter ihnen. Eine glänzend geplante Sache. Wir schlugen sie zurück, wenn auch nur mühsam, und wir hatten weniger Verluste, als anzunehmen war. Fünf Männer 221

wurden getötet und rund ein Dutzend verwundet. Das Gefecht hat mich ein Bein gekostet. Mein linkes. Mit diesem Bein hatte ich schon immer Pech. Ich brach es, als ich als Junge einem Nestfalken nachkletterte. Hektor wurde unter mir getötet, aber ich habe damit nur einen alten Freund verloren, denn zum Reiten werde ich ihn nicht mehr brauchen. Die Ärzte hier in Newark haben gute Arbeit geleistet, und außer einigen Wunden auf meiner linken Seite, die nur langsam zuheilen wollen, beginnt das, was von mir noch übrig ist, schon wieder kräftig zu werden, aber es wird wohl einige Zeit dauern, bis ich wieder zu Euch nach Hause kommen kann, denn der Krieg geht weiter, und die Heerführer haben andere Sorgen, als einen verkrüppelten Soldaten abzutransportieren. Unterdessen hat es keinen Zweck, Euch zu bitten, daß Ihr Euch keine Sorgen machen sollt, aber sorgt Euch so wenig wie möglich, meine Lieben, und...« Mrs. Carey stockte einen Augenblick beim Lesen, »und der Herr der Heerscharen möge Euch Mut verleihen, um den ich Ihn auch für mich bitte, denn ich...« sie brach ab und las die letzten wenigen Zeilen still durch, während die anderen beiden sie beobachteten. Dann faltete sie das Blatt zusammen, stand einen Augenblick regungslos da und schaute darauf nieder. »Wenn er nur nicht allein wäre. Es - muß schwerer zu ertragen sein, so ganz allein.« »Es wird ihm gutgehen«, sagte Maus mit leiser, klarer und vollkommen überzeugter Stimme. »Du kannst dich auf Vater verlassen. Es wird ihm gutgehen.« Das hörte sich merkwürdig an, aber Simon wußte, was sie meinte, obwohl er es selber nicht hätte ausdrücken können. Er faßte seine Mutter unter den Ellenbogen. »Komm und setz dich einen Augenblick hin.« Aber Mrs. Carey schüttelte den Kopf. »Nein, mein Junge, ich will mich nicht hinsetzen. Ich wollte heute morgen die Regale in der Vorratskammer saubermachen, und ich denke, das will ich 222

jetzt auch tun.« Und indem sie den Brief sehr liebevoll in ihre Umhängetasche steckte, ging sie davon. Maus folgte ihr. Simon sah sie gehen und ging dann, weil er sich überlegte, daß er die beiden Frauen jetzt am besten ein bißchen allein ließe, hinüber zum Obstgartentor, lehnte sich darüber und dachte nach. Er hatte eine ganze Menge zum Nachdenken. Jenseits des Hügels riefen noch immer die Brachvögel, und die Schneeglöckchen in den halberfrorenen Beetkanten hatten ihre Fröhlichkeit nicht verloren. Das Leben war schön für Simon, nur - wie sah es jetzt für Vater aus?

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›Emanuel, Gott mit uns!‹

Drei Tage später war Simon nach dem Mittagessen hinuntergegangen, um in den Schafställen nach dem Rechten zu sehen. In ›Sanctuary‹ sprießte und sproßte neues Leben. Die Luft war erfüllt von dem Blöken neugeborener Lämmer und dem Lied einer jubelnden Amsel in dem obersten Zweig eines knospenden Baumes. Simon sah, als er sich nach dem Sänger umwandte, eine große, phantastische Gestalt mit einer Geige unter dem Arm, die sich an das Gattertor der Allee lehnte. Er warf den Arm zum Gruß hoch, pfiff Ship, bei Fuß zu bleiben, und strebte dem Tor zu, wo der andere, auf die obere Latte des Tores gestützt, sehr friedlich auf ihn wartete. »Pfingstgeiger! Was tust du denn hier?« »Ich habe dich gesucht«, sagte der Pfingstgeiger. In seinem zerschlissenen Hut steckten ein paar Hundsveilchen, und er beugte sich zu Ship und kraulte ihm seinen wolligen Kopf. »Aber woher wußtest du denn, daß ich hier bin? Ich habe es ja nicht gerade so von den Baumkronen gepfiffen wie die Amsel da drüben.« »Da geschieht kaum etwas zwischen Beaford und Hartland, das ich nicht weiß«, entgegnete der Pfingstgeiger ruhig. »Und ich muß dir etwas Neues sagen.« »Ja?« »Parlamentstruppen sammeln sich im Park von Steve nstone. « Simon, der das Tor geöffnet hatte und zu dem Geiger in die Allee getreten war, schloß es hinter sich und verriegelte es mit dem eisernen Bolzen, denn es war ihm, wie allen Landleuten, in Fleisch und Blut übergegangen, daß man nie ein Feldgatter offenließ, mochte auch der Himmel einstürzen. »Reiterei oder Fußtruppen?« fragte er, als sie auf das Haus 224

zugingen. »Bist du sicher, daß es sich um Parlamentstruppen handelt? Seit wann sind sie da, Pfingstgeiger?« »Reiterei«, sagte der Pfingstgeiger. »Aber Fußtruppen kommen bestimmt nach, oder ich will ein Spanier sein. Parlamentstruppen sind sie gewiß, wenigstens jagten sie Hoptons Dragoner davon, die das Haus besetzt hatten. Das ist nicht viel länger als eine Stunde her, und ich bin gleich gekommen, um es dir zu sagen.« »Was hast du denn in Stevenstone gemacht?« fragte Simon, als sie am Torhaus ankamen und dort stehenblieben. »Ich spielte auf meiner Geige.« »Für die königlichen Dragoner?« »Sie zahlen«, sagte der Pfingstgeiger und verzog seinen großen Mund zu einem spöttischen Lächeln. »Manchmal wenigstens zahlen sie.« Simon lachte auch. »Du bist mir der Rechte! Komm rein und iß ein bißchen.« »Nein. Ich muß wieder umkehren. Ich wette, du brichst jetzt auch gleich auf.« Es dauerte einen Augenblick, bis Simon seine Entscheidung getroffen hatte. Er war nicht zurückbeordert worden, aber es war sehr unwahrscheinlich, daß jetzt ein Befehl kommen würde, und es war nicht sinnvoll, daß er noch länger hierblieb. Major Watson hatte gesagt, daß er sich in einem derartigen Fall selber entscheiden müsse. »Ja, ich werde sofort aufbrechen«, sagte er. »Vielen Dank für die Nachricht, Pfingstgeiger.« In den Augen des Geigers zuckte ein spöttisches Lächeln. Er entfernte sich und rief über die Schulter zurück: »Viel Glück. Es sieht so aus, als ob ihr feines Wetter für die Schlacht kriegt«, und er wies in das helle, milchige Blau des Februarhimmels. »O ja, der Reiher flog heute morgen stromab«, rief Simon hinter ihm her. Dann trat er in den Hof und beauftragte Tom, 225

Scharlach zu satteln. Er ging ins Haus und stieß auf seine Mutter, die mit Maus aus der Vorratskammer kam. »War das der Pfingstgeiger, mit dem ich dich eben sprechen sah?« fragte seine Mutter. »Ja, er kam, um mir zu sagen, daß unsere Reiterei sich in Stevenstone sammelt. To m sattelt jetzt Scharlach für mich, und ich reite, sobald er fertig ist.« Simon rannte treppauf, ohne auf eine Antwort zu warten. Gleich darauf kam er wieder herunter, in der einen Hand hielt er seine Pistolenhalfter, in der anderen seine gespornten Reitstiefel. Seine Mutter und Maus warteten in der Halle auf ihn. Maus trug seines Großvaters Schwert, und seine Mutter setzte gerade eine wohlgefüllte Reisetasche auf die Truhe an der Tür. »Du wirst etwas zu essen brauchen, mein Lieber«, sagte sie. »Danke, Mutter.« Er setzte sich auf die Truhe, um sich die Stiefel anzuziehen. »Oh, Jillot, geh weg!« »Da ist Scharlach. Tom bringt ihn gerade«, rief Maus, die zur Tür hinübergegangen war, und als Simon aufstand, sagte sie: »Hier ist dein Schwert - ich will es dir anlegen.« In unglaublich kurzer Zeit war er zum Aufbruch bereit und stand nun neben Scharlach, um sich von ihnen zu verabschieden. »Leb wohl, Mutter, leb wohl, Maus.« Er umarmte sie, und seine Mutter zog sein Gesicht zu sich herunter und küßte ihn auf die Stirn. »Behüt dich Gott, Simon«, sagte sie. »Wir beten für dich, Maus und ich, und für den Sieg unserer Armee.« »Ja, tut das«, entgegnete Simon eifrig. »Betet mit ganzem Herzen, wir werden es nötig haben. Bei den Königlichen herrscht keine große Zucht mehr, aber sie sind in der Überzahl, und sie sind in einer günstigen Position. Gott schütze euch beide!« Er wandte sich um, nahm Tom die Zügel ab und 226

schwang sich in den Sattel. »Wenn Vater vor mir nach Hause kommt, dann grüßt ihn herzlich von mir, und sagt ihm - und sagt ihm, daß ich sehr stolz auf ihn bin.« Scharlach, der an dem Tag noch nicht draußen gewesen war, war sehr unruhig. Er bäumte sich auf, tänzelte wie ein junges Fohlen und rannte los, sobald die Zügel gelockert wurden. Simon lenkte ihn durch das Torhaus und drehte sich im Sattel um, um den beiden zuzuwinken, die ebenfalls winkend im Eingang standen. Dann ließ er Scharlach den Fahrweg hinaufgaloppieren und schaute sich nicht mehr um. Die seltsamen, nach außen hin ruhigen Wochen lagen hinter ihm, und er ritt nun wieder hinaus in den freien Sturm. Und im Gleichklang mit dem Schlagen von Scharlachs fliegenden Hufen schwoll das Pochen seines Herzens in erwartungsvoller Spannung an. Als er das Hochmoor droben erreichte, wehte dort ein leichter Wind von der See herüber, böig und kalt, und es roch nach mooriger Erde, nassem Moos und dem matten Februarsonnenschein. Hinter dem Kammweg fiel das Land ab. In welligem Auf und Ab wechselten Moor und Gebüsch, brauner Acker und grünes Brachland bis hin zur zehn Meilen entfernten See. Als er seewärts schaute, wie er es immer auf diesem Weg tat, sah Simon den weiten Bogen der Bucht von Morte Point bis hinüber nach Hartland und Lundy, an dessen Horizont Himmel und Erde traumhaft ineinanderfluteten. Wann würde er diese weite Bucht an der Küste wiedersehen? Nach einer halben Meile ritt er seitwärts in einen Nebenweg ein, und die ferne Bucht versank hinter dem Horizont, die Moore blieben zurück. Schon hatte er das Eingangstor aus Granit erreicht, das in den Park von Stevenstone führte, und sogleich stieß er innerhalb des Tores auf einen berittenen Wachposten von Iretons Reiterei. Er zog die Zügel an, als einer der beiden Männer ihm den Weg vertrat und nach seinem Begehren fragte. 227

»Ich bin Offizier bei Fairfax' Reiterei und will mich zum Dienst zurückmelden. Aber erst habe ich Major Watson etwas auszurichten. Können Sie mir sagen, wo ich ihn finde?« Die Männer musterten ihn von oben bis unten, betrachteten sein handgewebtes Wams und das altertümliche Schwert an seiner Seite und sagten zweifelnd: »Das kann sein, Sir, aber Sie sehen nicht so aus.« »Hier.« Simon nahm seinen Hut ab. »Ich habe mich zu Hause hier in der Nähe von dieser Verwundung erholt und will nun wieder zu meiner Truppe. Ich wurde bei dem Gefecht in Okeham Paine am zwölften Dezember verwundet. Wollen Sie mir nun sagen, wo ich Major Watson finden kann?« Der zweite Mann lenkte sein Pferd einen Schritt näher heran. »Wie hieß die Losung in der Nacht, Sir?« »Der Herr möge Israel erretten«, erwiderte Simon, »und das Zeichen war ein weißes Taschentuch um den linken Arm.« »Er ist in Ordnung, Jerry«, sagte der zweite Mann. »Ich würde direkt ins Haus gehen an Ihrer Stelle, Sir, und da wieder fragen. Er muß dort irgendwo sein.« Die beiden Männer lenkten ihre Pferde wieder in den Schatten des Eichengehölzes neben dem Tor zurück, und Simon ritt weiter. Er war niemals zuvor in Stevenstone gewesen, denn Lord Henry Rolle war ein glühender Roya list, und selbst in der Zeit vor dem Krieg verkehrte er nicht mit dem puritanischen Landadel in seiner Nachbarschaft. Aber der Weg war leicht zu finden. Er war noch nicht weit geritten, als er auf zwei Schwadronen von Walleys Regiment stieß, und etwas weiter, nachdem er ein dunkles Gebüsch aus Stechpalmen und Ilex hinter sich hatte, sah er das große Haus aus freundlich rotem Ziegelstein vor sich liegen. Auf dem welligen Grasboden rund um das Haus wimmelte es von Männern und Pferden unter den hohen Eichen des Wildparkes. Offenbar waren schon Fußtruppen eingetroffen, denn ihre roten Mäntel bildeten rote 228

Farbtupfer auf dem winterlichen Gras zwischen der gelbbraunen Menge der Reiterei. Er ritt weiter, und ab und zu traf ihn ein neugieriger oder erkennender Blick. Nachdem er sich so durchgefragt hatte, zuerst bei einem vorüberkommenden Verpflegungssergeanten, dann bei einem Dragoner, fand er schließlich Major Watson in einem der Nebengebäude, wo er einen Gefangenen vernahm. Er zog die Brauen hoch und schaute Simon freundlich an, als er herankam. »Ja, Kornett Carey!« »Ich hörte vor einer Stunde, daß Sie hier sind, Sir«, sagte Simon schnell. »Daher melde ich mich zurück und warte auf Ihre Befehle.« »Ja, das sehe ich. Nun, Sie haben den Ihnen übertragenen Auftrag durchgeführt, und zwar gut. Ich habe keine weitere Verwendung für Sie. Mit Ihrem Bericht können Sie bis zu einem günstigeren Zeitpunkt warten. Reiten Sie wieder zu Ihrem Regiment zurück.« »Wo finde ich es, Sir?« »Eine halbe Meile westlich von hier, nach dem Stadttor zu.« Simon holte Scharlach von dem Dragoner, dem er ihn anvertraut hatte, und machte sich wieder auf den Weg. Er war dankbar, daß er seinen Bericht nicht machen mußte, bevor Podbury den seinen abgegeben hatte. Bevor das nicht geschehen war, wußte er nicht genau, was er sagen sollte. Vielleicht würde sogar Eiferer noch seine Meinung ändern und schließlich doch noch mit dem Späher zusammen herkommen. Aber er ahnte im innersten Herzen, daß das nicht geschehen würde. Die Reiterei des Generals biwakierte, als er sie fand, auf einer von Ilex eingeschlossenen Wiese, und es sah so aus, als sei sie schon einige Zeit hier, denn die Pferde waren angepflockt und weideten friedlich im Gras, das von Rechts wegen Lord Rolles Wild gehörte. Jede Schwadron lagerte um die eigene in die Erde gesteckte Standarte herum und machte die Rüstung für den 229

Kampf fertig. Simon entdeckte Disbrows Schwadron ohne Schwierigkeiten, stieg vom Pferd und grüßte seinen Leutnant. »Kornett Carey meldet sich zum Dienst zurück, Sir.« Barnaby Colebourne drehte sich hastig um. »Was - Simon!« »Melde mich zum Dienst zurück, Sir«, wiederholte Simon. Das Gesicht des anderen verzog sich zu einem breiten Lachen. »Das schlägt dem Faß den Boden aus! Ich hoffte, daß Sie auftauchen würden, aber...« Dann sah auch er Simon von oben bis unten an. »Sie sehen aus wie Guy Fawkes∗ oder Don Quijote! In diesem Aufzug können Sie nicht in die Schlacht reiten. Sie würden von unseren eigenen Leuten zusammengeschossen werden, und ich könnte ihnen das nicht einmal ankreiden.« Simon lächelte. »Das läßt sich nicht ändern.« »Doch, das läßt sich ändern. Es dauert noch Stunden, bevor es losgeht. Sie haben Zeit genug. Der Soldat Wagstaff wurde heute morgen am Bein verletzt und kann nicht in den Kampf. Gehen Sie ins Haus hinüber und lassen Sie sich seine Sachen geben. Wir passen auf Scharlach auf.« Also ging Simon schnurstracks wieder ins Haus zurück und stieg die Terrassenstufen hinauf, wo eine Forsythie einen Wasserfall aus goldenen Sternen über die niedrige Brüstung stürzen ließ und wo Fairfax selbst mit einer Gruppe von höheren Offizieren in ernsthaftem Gespräch stand und auf die Vorbereitungen der Truppen im Wildpark unten hinabschaute. Ein Wachposten führte ihn und zeigte ihm, wo die Verwundeten untergebracht waren. Ein paar Minuten später war er bereits wieder draußen und trug das Lederwams des Soldaten Wagstaff, das ihm zum Glück nicht allzu groß war, und seinen stählernen Helm. Im Gehen band er sich eine geborgte rote Schwertschärpe um den Leib. ∗

Haupt der sogenannten ›Pulververschwörung‹, 1606 hingerichtet 230

Als er wieder bei seiner Truppe angelangt war, wo Scharlach inzwischen abgesattelt und angepflockt war und sein Maß Korn bekommen hatte wie die anderen auch, waren die meisten Truppen eingetroffen. Sie aßen eine Abendmahlzeit aus dem üblichen harten Zwieback und scharfem gelbem Käse, den jeder Soldat in seinem Tornister hatte. Simon untersuchte den Korb, den seine Mutter ihm mitgegeben hatte, und fand zwei große Pasteten darin. Er verzehrte sie gemeinsam mit Barnaby unter einer Gruppe von schlanken Birken, die schon im Purpurhauch des steigenden Saftes erglühten. »Was ist mit Exeter?« fragte Simon. »Die Belagerung ist im Augenb lick aufgegeben«, sagte Barnaby mit vollem Mund, »nur ein paar Regimenter sind noch da und halten Wache wie ein Terrier vorm Kaninchenloch.« Er biß noch einmal kräftig von der Pastete ab. »Wir sind heute um vier Uhr früh in Chulmleigh losmarschiert, und zum Essen war inzwischen nicht viel Zeit.« Simon hatte seine Pastete hingelegt und befestigte einen Stechginsterzweig an seinem Helm, den einer seiner Soldaten ihm gegeben hatte. »Warum Stechginster?« fragte er. »Ein Tuch um den Arm ist doch besser zu erkennen und macht einem nicht die Finger blutig«, denn eine der scharfen Stacheln hatte ihn verletzt. »Zweifle nie an der Weisheit deiner Vorgesetzten«, belehrte Barnaby ihn. »Ebensogut wäre es möglich gewesen, daß wir mit hinten heraushängendem Hemd in die Schlacht gehen müßten. Ich habe das mal erlebt. Die Idee war die, daß dein weißer Hemdzipfel nicht mehr zu sehen war, wenn du zurückliefst, und die eigenen Leute schossen auf dich, weil sie dich für einen von den Feinden hielten. Sehr sinnreich war das.« Sie beendeten ganz gemütlich ihr Mahl und sprachen dabei über den voraussichtlich morgen stattfindenden Kampf. Sie nahmen an, daß es morgen werden würde, denn es war 231

unwahrscheinlich, daß der General um vier Uhr an einem Winternachmittag mit einer von einem Tagesmarsch müden Armee in jener Nacht etwas anderes vorhatte als ein leichtes Vorgeplänkel. Die Armee hatte sich inzwischen vollständig eingestellt, und über den ganzen Wildpark verstreut biwakierten die Regimenter, in Schlachtordnung ausgerichtet. Als das Licht sich trübte und schwand und die Kälte zunahm, fingen überall die Lagerfeuer an zu glimmen, und dicke Rauchwolken stiegen in den Himmel, der nun klar und durchsichtig wie Kristall über den kahlen Bäumen stand. Hier und da lachte ein Mann oder rief einem Kameraden etwas zu, oder ein Pferd wieherte. Die Krähen flogen heimwärts und krächzten, während sie mit trägem Flügelschlag über ihre Köpfe zogen. Es war ein friedliches Bild, und keiner von denen, die es wie Simon und Barnaby betrachteten, ahnte, daß in wenigen Stunden eine der letzten großen Schlachten des Bürgerkrieges um die Barrikaden von Torrington toben würde. An der ersten Phase des Kampfes, der bald begann, nahm die Reiterei des Generals nicht teil. Ungefähr um fünf Uhr wurden einige Späher - ein Sturmtrupp zu Fuß - auf Erkundung vor die Stadt geschickt, und sie trafen auf halbem Wege mit königlichen Fußtruppen zusammen. Im wachsenden Zwielicht gab es auf den Feldern einen harten Kampf, und Lord Hopton zog seine Leute zur Verteidigung in die Stadt zurück, als er merkte, daß er die Außenposten nicht halten konnte. Fairfax hielt es für richtig, in dieser Nacht nichts weiter zu unternehmen, als die erreichte Position zu festigen. Er führte seine Männer in den zur Stadt gelegenen Teil des Wildparkes und stellte sie dort in Bereitschaft zu einem Generalangriff beim Morgengrauen auf. Stille senkte sich über Park und Felder, und man hörte nichts als das regelmäßige Kommen und Gehen von Wachen zwischen den Lagerfeuern und das leise Austauschen des Losungswortes: »Emanuel, Gott mit uns«, wenn sich Patrouillen begegneten. 232

Aber eine Stunde später wurde fernes Trommelgedröhn durch die frostklare Luft getragen. Angriff oder Rückzug, was hatte es zu bedeuten? Fairfax schickte eine Schwadron Dragoner zu den Barrikaden, um das aufzuklären. Die Dragoner näherten sich auf der Straße den ersten Sperren und wurden von einer mächtigen Salve der königlichen Musketiere begrüßt, die ihnen dort aufgelauert hatten. Zwei weitere Dragonerschwadronen galoppierten zu ihrer Unterstützung los, und die Reservetruppen zu Fuß stürmten mit Hurrageschrei, ohne auf Befehl zu warten, hinter ihnen her. Es war ein tapferer, aber ganz hoffnungsloser Angriff. Und wenn nicht eiligst Verstärkung bei den Truppen an den Barrikaden eintraf, würden sie vernichtet werden. Simon erfuhr das alles erst viel später, denn im Augenblick war ihm nur bewußt, daß etwas Unerwartetes geschah: daß dunkle Regimenter in Doppelreihen an ihm vorbei zur Stadt gezogen waren und daß nun die ganze Armee in Waffen stand. Die Stille über dem Wildpark war zu einem angespannten, erwartungsvollen Schweigen erstarrt, das nur von Zeit zu Zeit von Geschützfeuer aus der Stadt unterbrochen wurde. Simon, der neben Scharlach inmitten seiner Leute stand, während die langen Minuten dahinkrochen, hörte das langsame Hämmern seines Herzens und das sanfte Flüstern der Standarte über seinem Kopf, die sich im leichten Wind regte. Es war sehr kalt, ein bitterer Geruch von Frost hing in der Luft. Der Himmel über ihm war von Kristallklarheit in ein wunderbares durchsichtiges Grün übergegangen, das mit Sternen übersät war, und im Osten ging hinter den schwarz aufragenden Bäumen perlenschimmernd der Mond auf. »Die Gemeindelaterne geht auf. Gleich haben wir schönes Licht«, murmelte Barnaby über die Schulter zurück. »Ja«, flüsterte Simon ihm zu. »Hallo! Was ist das?« »Nur eine Eule. Du bist ein Landmann und kannst nicht einen Eulenruf erkennen?« 233

»Nein, das meine ich nicht - es ist ein Pferd - jemand kommt eilig geritten. Horch!« Sie horchten, und gleich darauf konnten sie es alle hören: den Hufschlag eines Pferdes, das in wütendem Galopp geritten wurde. Sie hörten das Getrappel auf dem hartgefrorenen Reitweg näher und näher kommen, bis ein Reiter in wilder Jagd an ihnen vorbeifegte und auf das Haus zuritt. Stille folgte, eine prickelnde Stille, die von neuen Hufschlägen zerrissen wurde, diesmal aus der Richtung des Hauses, und eine Gruppe von Reitern tauchte aus dem Dunkel auf. Einer der Reiter gab einen Befehl. Und am Klang seiner Stimme erkannte die Leibtruppe des Generals, daß der Feurige Tom selbst an ihrer Spitze war. Im nächsten Augenblick bliesen die Trompeten »Aufsitzen!« Wie ein Mann schwangen sich die Soldaten in den Sattel. Simon spürte das vertraute Schwanken der Standarte in seiner Hand und schob seine Füße in die Steigbügel, und Scharlachs Erregung durchströmte sie beide, als die Soldaten seiner Standarteneskorte die Reihen neben ihm schlossen. Dann schmetterten wieder die Trompeten, und fünf Reiterschwadronen mit Fairfax an der Spitze jagten in zielbewußtem Trab der Stadt zu, während drei Regimenter zu Fuß mit dröhnenden Trommeln losstürmten, um zu ihnen zu stoßen. Das Parkgatter war zu beiden Seiten des stadtwärts gelegenen Tores umgelegt worden, so daß die Truppen in voller Breite hindurchziehen konnten, und in wenigen Minuten war die ganze Streitmacht draußen auf der Straße und auf den offenen Feldern zu beiden Seiten. Der Mond stand über den Baumkronen und segelte hinauf in den schimmernden Himmel. Hecke und Baum funkelten im zunehmenden Rauhreif, und der Schatten jedes einzelnen Mannes zeichnete sich dunkel auf den mondversilberten Schultern seines Vordermannes ab. Eine klare, weiße Nacht und ein Mond, der in kühler Distanz über der Schlacht stand, die nun überall an den Verteidigungslinien der 234

Stadt wütete, wo Königliche und Männer des Parlaments um jede befestigte Hecke kämpften. Die drei Regimenter mit Fairfax an der Spitze warfen sich in den Kampf, und die Kavallerieflügel schwärmten zu beiden Seiten aus. Simon schwenkte mit dem Hauptflügel der Kavallerie nordwärts, um Lord Wentworths Reiterei anzugreifen, die von den Gemeindewiesen aus die Stadt umritten hatte. Für eine Weile nahm er nichts wahr als einen wilden Wirbel von Reitern auf dem mondbeschienenen Feld und das Aufeinanderprallen von Angriff und Gegenangriff. Er ahnte nicht, wie es in der Hauptschlacht stand. Aber nach einer Weile schien es ihm, als zöge sich der Kampf stadteinwärts, und er merkte, daß die Königlichen zurückgedrängt wurden. Langsam, von Hecke zu Hecke, um jeden Fußbreit Boden kämpfend, wichen sie in ihre inneren Verteidigungslinien zurück. Schließlich waren die letzten Barrikaden erreicht, und Simon war, ohne daß er genau wußte, wie er dorthin gelangt war, mit den meisten Leuten seiner Schwadron in einen erbitterten Kampf um die Barrikade aus aufgestapelten Baumstämmen vor dem Zugang zur Calf Street verwickelt. Das Mondlicht war hier gedämpft und der Himmel über den Dachfirsten durch den Kontrast zu den aufzüngelnden Flammen verdunkelt. Irgend jemand hatte die Barrikade in Brand gesteckt, und die Gesichter von Verteidigern und Angreifern waren gleichermaßen von einem teuflischen roten Glanz erhellt. Das Handgemenge war jetzt zu dicht und bewegt zum Schießen. Die hin und her wogenden Männer kämpften mit ihren Musketenkolben, die wie Keulen zwischen den zustechenden Piken auf und nieder schwangen. Simon sah eine aufbrandende Welle aus verzerrten Gesichtern, und in seinen Ohren hallte der Schrei »Emanuel, Gott mit uns!«, der von den Verteidigern jenseits der Barrikaden aufgenommen und zurückgerufen wurde. Dann stieg ein ungestümer Schrei auf, als die aufgestapelten Baumstämme 235

zusammenstürzten. Einen Augenblick schossen die Flammen wie zuckendes Wetterleuchten hoch, ein Funkenregen sprühte himmelwärts und wurde von dem le ichten Wind fortgetragen. Dann wurden die Flammen niedriger und von vielen Füßen ausgetrampelt, als die parlamentarischen Fußtruppen mit Hurrageschrei hinüberbrandeten. Simon sah einen Trommler auf die glühenden Stämme springen und dann auf die Verteidiger stürzen, wobei er seinen Kameraden zurief, sie sollten der Trommel folgen. Dann stieg über dem Aufruhr das metallene Schmettern von Trompeten auf, die zum Angriff bliesen. Die Reiterei stürmte durch die Bresche, die die Fußtruppen für sie geschlagen hatte, in das Kampfgewühl, und die rote Glut stob unter den Pferdehufen auseinander. Mit einem einzigen Schrei »Emanuel, Gott mit uns!« brausten die Angriffstruppen der Neuen Armee, den Feind vor sich herfegend, in die Calf Street. »Emanuel, Gott mit uns!« schr ie Simon aus voller Kehle. Er preßte seine Hacken in Scharlachs Flanke und folgte der Standarte des Generals, um den verzweifelten Gegenangriff abzuwehren, der ihnen in diesem Augenblick, von Lord Hopton geführt, entgegenbrandete. Die beiden Schwadronen prallten mit gewaltigem Krachen in der engen Straße aufeinander. Ängstliche Gesichter lugten aus den oberen Fenstern. Für eine Weile hing die Entscheidung in der Schwebe. Dann merkte Simon in hilflosem Zorn, daß Fairfax' Schwadron zurückgetrieben wurde. Sie sammelten sich wieder und drängten vorwärts, der Standarte des Generals nach. Dann stürzte ein neuer Angriff der Königlichen auf sie ein, und sie wichen wieder und kamen nicht zum Halten, bis sie die immer noch schwelenden Barrikaden erreicht hatten. Aber dort kamen die Fußtruppen wieder mit gesenkten Piken heran, und mit ihrer Hilfe sammelte sich die Reiterei erneut und schloß die gelichteten Reihen. Nun ging es darum, auszuharren, denn wenn sie erst einmal in 236

das offene Land zurückgetrieben wurden, mußte alles von vorn begonnen werden. Sowohl die Fußtruppen wie die Reiterei hatten beim Stürmen der Barrikaden schwere Verluste gehabt. Sie aufs neue zu stürmen, ging über die Kraft der Übriggebliebenen. Sie mußten irgendwie die Stellung halten, bis die Reserven zu ihnen stießen oder die Angreifer an einem anderen Punkt durchbrachen und den Feind aus dem Hinterhalt attackierten. Der rote Lichtschein verstärkte sich, denn die Funken hatten das Strohdach einer Scheune entzündet. Von den Flammen beschienen, stand Oberst Hammond da, sein Stechginsterzweig kruspelig verbrannt, die Augenbrauen versengt, die Zähne weiß in einem rauchgeschwärzten Gesicht, und ermutigte seine Männer, während Fairfax' Reiterei erbittert kämpfte, um die königliche Reiterei zurückzuschlagen, die versuchte, aus der Stadt auszubrechen. Minute auf Minute widerstanden sie ihnen, aber nur mit Mühe. Sie waren nicht genug Leute für diese Aufgabe. Simon, der seine Standarte in dem aus Feuer und Mondschein vermischten Licht hochhielt, warf einen kurze n Blick hinter sich die Stevenstone-Straße entlang, als das wogende Kampfgewühl sie einen Augenblick freigab, aber er sah sie weiß und leer im Mondlicht in die Schatten der Bäume einmünden. Würden die Reserven denn niemals kommen? Dann plötzlich donnerten die Hufe einer Schwadron hinter ihm, und ein Gefühl der Erleichterung loderte und entbrannte in den hartbedrängten Kompanien. »Noll ist da! Old Noll!« Die Reserven waren gekommen. Simon hörte das gellende Schmettern der Trompeten, und mit dem gewaltigen Krachen eines einstürzenden Deiches brach der Angriff los. Noch einmal ergoß er sich die Straße hinunter, diesmal im Kielwasser von Cromwells voranstürmender Truppe. Die Königlichen wurden vertrieben, die blauen Uniformen von Lord Hoptons Soldaten, denen der Rückzug abgeschnitten worden war, wurden weggeschwemmt wie Treibgut auf einer 237

dunklen Flutwelle. Simon sah ihre Standarte schwanken und niedersinken. Er sah Lord Hopton in seinen Steigbügeln stehen, als er sich bemühte, seine Männer anzuspornen, sein Gesicht weiß im Mondlicht und blutbesudelt, weil eine Pike ihm die Wange aufgerissen hatte. Dann verdichtete sich das Gewühl wieder zwischen ihnen, und er sah Lord Hopton nicht mehr. Wie lange der Kampf durch Torrington, in dem ein Stützpunkt nach dem anderen fiel, tobte, ahnte Simon nicht im entferntesten. Er wußte nur, daß der Mond noch hoch am schimmernden Himmel stand, als der letzte, verzweifelt kämpfende Haupttrupp der königlichen Reiterei in die Südstraße einschwenkte und Cromwell ihn hart bedrängte. Der Platz hinter ihnen war in Fairfax' Händen, die Fußtruppen kamen jetzt heran, und schon ließ der Schlachtenlärm nach. Die Trompeten gellten wie Hörner, die zur Jagd riefen, und Cromwell griff aufs neue an. Der Verteidigungskampf der Königlichen war mit dem hartnäckigen, verzweifelten Mut eines in die Enge getriebenen Tieres geführt worden. Nun brach er ganz plötzlich zusammen, wurde zu einem Rückzugsgefecht, das sich durch die enge Straße hinabzog, vorbei an dem alten Haus, das für Simon zur zweiten Heimat geworden war, als er und Amias Jungen waren. Die ganze Nacht hatte Simon nach Amias Ausschau gehalten, denn mit seltsamer Gewißheit wartete er nach ihren zwei Begegnungen auf eine dritte. Er war immer noch ganz sicher, aber es hatte keinen Sinn, weiter zu hoffen. Es waren jetzt ohnehin nur Rücken zu sehen. Die Verfolgung die Mühlenstraße hinunter war ein Alptraum. Im Licht des Mondes schien die gepflasterte Straße wie ein silbriges Senklot in das tiefe Tal jenseits hinunterzusinken, und Jäger wie Gejagte stürzten hinab, stoßweise brachen dunkle Reiterschwärme hervor, und die silberne Straße lag zwischen ihnen. Hinab und hinab, Hufe glitten aus auf hohen Steinen, dann und wann ein Knall und das Aufflammen einer Pistole, wenn ein hartbedrängter Königlicher sich im Sattel umwandte, 238

um seinen letzten Schuß abzufeuern, oder wenn ein Parlamentssoldat in die fliehenden Gestalten vorn hineinschoß. Simon brachte Scharlach heil durch und die Straße hinunter. Einmal rutschte das Pferd übel aus, aber es gelang ihm, es vor einem Sturz zu bewahren. Andere Reiter waren weniger glücklich. Direkt vor ihm stürzte ein Reiter krachend nieder, der Mann wurde abgeworfen, und das Pferd lag mit den Beinen ausschlagend auf der Straße. Er konnte ihnen nicht beistehen. Das mußten die Nachkommenden tun. Simon hastete weiter. Die dunklen Wälder des Tales schienen sich ihm entgegenzutürmen, und der Mond glitzerte auf dem flüchtigen Wasser des Torridge, der durch die zusammengekauerten Häuser von Taddiport floß. Die Reiter strömten fort über die Brücke und in die drüben gelegenen Wälder. Auf beiden Seiten war das quecksilbrige Wasser aufgewühlt und getrübt, weil die verzweifelten Männer, für die kein Platz auf der Brücke war, mit ihren Pferden den Fluß zu durchschwimmen versuchten. Barnabys Stimme erklang über dem Tumult, als er seinen Soldaten zurief: »Mir nach, Leute, die Brücke nützt uns nichts.« Und er schwenkte seitwärts ab vom Hauptstrom der Verfolger und das abschüssige Flußufer hinunter. »Fünfzig Meter weiter unten ist eine Furt!« schrie Simon. »Wir brauchen nicht zu schwimmen!« »Gut. Hier herüber!« Andere Soldaten, die die schwach aufleuchtenden seichten Stellen erblickt hatten, folgten nach, als Simon, die Standarte hoch aufgerichtet in einer Hand, Scharlach langsam zum Wasser hinunter lenkte. »Nur ruhig, mein Junge, vorsichtig!« Ein Strudel aus Gischt, ein Aufblitzen von rundherum aufsprühendem Silberregen, in den andere Pferde spritzend eintauchten, das eiskalte, hochgepeitschte, in durchnässenden Schauern niederkommende Wasser, und dann hatten sie nach einem wilden Gleiten und Rutschen von Hufen das andere Ufer 239

erreicht. Als sie dort waren, brach über dem Rufen und Platschen ein gewaltiges Getöse los, das aus der Stadt auf sie niederzustürzen schien, ein Krachen, das zwischen den Hügeln hin und her geschleudert wurde und die feste Erde erbeben ließ. Simon riß beim Reiten den Kopf zurück, um hinter sich zu blicken, und sah, wie sich über Torrington ein fahlblaues Licht verbreitete, vor dem die Dächer der Häuser am Schloßberg wie eine schwarze Radierung standen. Andere Männer zeigten und riefen, während die Pferde in panischem Schrecken nach allen Seiten ausbrachen. »Beim Himmel, was war das?« fragte Simon, während ihm eine flüchtige Vision vor Augen stand, in der er eine der Brücken im Moor zu roten Fetzen explodieren und Männer und Pferde herabstürzen und zerstückelt und verrenkt im Wasser liegen sah. Und aus den geballten Schatten vorn antwortete ihm Barnabys Stimme. »Nach dem Geräusch zu urteilen, ist das Pulverlager in die Luft gegangen.« Vor ihnen riefen Cromwells Trompeten die zerstreuten Schwadronen zusammen. Sie umritten die letzten Hütten von Taddiport und hatten wieder die lehmige Straße unter den Hufen. Den nun roten Glanz am Himmel über Torrington ließen sie hinter sich, und Jäger und Gejagte stürmten nach Westen.

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Der Mann auf dem Schloßberg

Als der Morgen grau heraufdämmerte, brach Cromwell gut zwölf Meilen hinter Torrington die Verfolgung ab und befahl den Schwadronen umzukehren. Und ein paar Stunden später biwakierten die müden Soldaten auf den Flußwiesen unterhalb des alten Gasthauses von Woodford, wo die Straße nach Holsworthy den Oberlauf des Torridge überquerte. Auf dem grünen Talgrund zwischen überhängenden Eichenwäldern ging es so lebhaft zu wie auf einem Marktplatz: Müde Pferde wurden trockengerieben und versorgt, Lagerfeuer ließen Rauchfahnen, die wie Eichelhäherfedern aussahen, in den winterlichen Himmel aufsteigen, und es herrschte das beim Biwak übliche Kommen und Gehen. Es war nicht mehr wie am Vorabend, und in der Luft roch es nach Regen. So mußte man sich sogleich, nachdem man gegessen und einige Wunden verbunden hatte, daran machen, für fast vierhundert Männer im Haus und in den Nebengebäuden des Gasthofes und den wenigen Höfen und Hütten in der Nähe Quartier zu finden. Denn Cromwell hatte sich mit Rücksicht auf seine müden Schwadronen entschieden, an diesem Tag nicht mehr nach Torrington zurückzukehren. Nun machte er mit mehreren Offizieren im Gefolge die Runde bei den provisorischen Pferdegattern. Hier und da richtete er ein knappes, aber freundliches Wort an einen Soldaten, fragte nach einer Wunde, bückte sich, um die Fessel eines lahmgerittenen Pferdes zu untersuchen, alles mit dem persönlichen Interesse an Tier und Mensch, das ihn als Schwadronschef ausgezeic hnet hatte und das ihm nicht verlorengegangen war, nachdem er nun der Zweite im Kommando einer Armee geworden war. Simon, der Scharlach am Fluß tränkte und ihm dabei leise zusprach, sah auf und merkte, daß Cromwell neben ihm stand. Er nahm Haltung an, während er gleichzeitig bemüht war, das 241

Pferd im Auge zu behalten, damit es nicht mehr trank, als ihm guttat. Er spürte, daß der breitgebaute Mann ihn interessiert anschaute. Niemals zuvor hatte er mit dem General gesprochen, noch war er, soweit er wußte, je von ihm bemerkt worden. Um so erstaunter war er, als Cromwell sagte: »Wieder bei der Truppe, wie ich sehe.« »Ja, Sir.« »Sie wollten auch bei dem Spaß dabei sein?« »Ja, Sir.« »Aber Ihre Wunde ist wieder offen.« Simon hatte anscheinend bei dem Kampf um die Barrikaden einen Schlag auf den Kopf bekommen, aber er hatte nicht mehr daran gedacht. Nun war er überrascht, als er mit der Hand krümelig getrockneten Blutschorf an seiner Schläfe fühlte. »Das ist nicht gut«, sagte Cromwell. »Und Sie sind eben erst von Ihrem - Genesungsurlaub zurück.« Die Pause vor den letzten beiden Worten war kaum wahrzunehmen. Simon aber sah, daß die hellen, haselnußbraunen Augen in dem offenen, frischen Gesicht des Generals zwinkerten wie die eines Schuljungen. Sie lächelten sich an wie ein lustiges Verschwörerpaar, und Simon spürte, wie fast alle Menschen, die mit Old Noll in Berührung kamen, seine enorme Fähigkeit, sich Menschen zu Freunden zu machen. »Ich vergaß Ihren Namen«, sagte Cromwell. »Carey, Sir.« »Sie stammen aus dieser Gegend, nicht wahr? Was für eine dumme Frage! Natürlich sind Sie von hier.« »Ich wohne vier oder fünf Meilen jenseits von Torrington, Sir.« General Cromwell nickte. »Aber zweifellos sind Sie auch mit den Straßen auf dieser Seite der Stadt recht vertraut.« 242

»Ja, Sir.« »Gut. Essen Sie etwas, und gönnen Sie Ihrem Pferd eine Stunde Ruhe, dann melden Sie sich bei mir da drüben in dem Gasthaus. Mein Meldereiter ist verwundet, und ich habe Botschaften, die zum Lord-General zurück müssen.« Und er stapfte davon, um sich um das Essen zu kümmern, das am oberen Ende der Wiese für seine Leute gekocht wurde. »Es scheint mir vom Schicksal bestimmt zu sein, bei dieser ekelhaften Truppe den Bärenführer zu spielen, während Sie sich herumtreiben!« sagte Leutnant Colebourne resigniert, als Simon ihm ein paar Minuten später meldete, was vorgefallen war. »Warum konnten Sie ihm denn nicht erzählen, daß Sie aus Coventry oder Clerkenwell stammen, dann hätte er sich vielleicht jemand anderen aufgelesen.« Eine Stunde später ging Simon hinauf ins Gasthaus. Die Standarten waren in dem Raum über dem reetgedeckten Vordach untergebracht und ragten nun schräg aus dem offenen Fenster. Als Simon, nachdem er Scharlachs Zügel über den Haltepfosten geworfen hatte, zu ihnen aufschaute, dachte er, was für einen stolzen Anblick sie doch in dem blassen Sonnenschein boten. Dann wandte er seine Aufmerksamkeit dem Wachposten vor der Tür zu und erklärte ihm, daß er Befehl habe, sich bei General Cromwell zu melden. Der Mann verwies ihn an einen anderen, und nachdem er ein paar ausgetretene Treppenstufen hinunter und durch einen abschüssigen und unebenen Gang gestapft war, befand Simon sich in der Schankstube des Gasthauses. Es war ein niedriger Raum mit tiefliegenden Fenstern und Wänden, an denen sich die üblichen Fässer, Korbflaschen und Reihen zahlreicher bunter Flaschen entlangzogen, die funkelnd den Schein des Feuers widerspiegelten, das in dem offenen Kamin loderte. Es roch nach Apfelwein, und die Luft war blau von Tabakrauch, durch den Simon die Gestalten mehrerer staubiger und müder Offiziere bemerkte. Der General saß abseits auf einer Bank am 243

Feuer und hatte einen Tisch vor sich. Er schrieb schnell mit einer Gasthausfeder, die erbärmlich quietschte, während er in seiner freien Hand den Kopf einer langen Tonpfeife hielt, aus der er unentwegt rauchte. Als er die Seite beendet hatte, unterzeichnete er sie und machte einen schwungvollen Schlußstrich, der die Tinte über die ganze Unterschrift sprühen ließ, streute Sand darüber, faltete den Bogen zusammen und streckte ihn Simon entgegen, der wartend vor ihm stand. »Ich möchte, daß dies so bald wie möglich in die Hände von Sir Thomas Fairfax gelangt.« »Ja, Sir«, sagte Simon, während er den Brief in der Innentasche seines Wamses verwahrte. »Aber reiten Sie Ihr Pferd nicht zu Tode, um ihn zehn Minuten eher zu überbringen.« Er erhob sich von seiner Bank, um mit dem Fuß die lodernden Kloben zusammenzuschieben, während Simon grüßte und sich zur Tür wandte. Als er wieder draußen war, band er Scharlach los, stieg auf und machte sich auf den Weg nach dem sechs oder sieben Meilen entfernten Torrington. Scharlach war trotz der kurzen Ruhepause sehr müde, aber er reagierte tapfer auf Simons Stimme und Hand und wechselte in einen leichten Galopp, als sie das Gasthaus hinter sich hatten. Das erste, was Simon bemerkte, sobald er in die Südstraße einbog, waren überall verstreute Glasscherben, die unter seinen Füßen knirschten. Er führte Scharlach jetzt, denn er ritt die Mühlenstraße niemals hinauf, nicht einmal mit einem frischen Pferd, und als er rundherum schaute, sah er, daß die ganze Straße hinunter kaum eine einzige Glas- oder Hornscheibe mehr in ihrem Rahmen saß, die Rahmen selbst schief in den Angeln hingen und Dachschiefer, Schornsteinhauben und große Reetbündel auf dem Kopfsteinpflaster herumlagen. Plötzlich erinnerte er sich an das Getöse und das fahlblaue Licht am Himmel, das, wie Barnaby meinte, von der Explosion eines 244

Pulverlagers kam, und irgend etwas krampfte sich in ihm zusammen. Das Pulverlager! Eiferer und Podbury! Waren sie rechtzeitig herausgekommen, oder waren sie mit jenem durchdringenden Glanz in die Luft geflogen? Jetzt war keine Zeit, das herauszufinden. Simon rief einem der vielen vorbeikommenden Soldaten zu: »Wo kann ich Sir Thomas Fairfax finden?« »Im ›Schwarze n Roß‹, Sir. Links vom Marktplatz.« »Danke. Ich weiß Bescheid.« Simon ging weiter und gelangte auf den Marktplatz. Hier herrschte ein Chaos aus herausgeflogenen Fenstern und abgedeckten Dächern, schlimmer noch als in der Südstraße. Auch hier war ein reges Treiben. Soldaten kamen und gingen, Wagen rollten, Pferde wurden durch die Menge gedrängt. Aber kaum jemand von den Stadtbewohnern war zu sehen, denn obwohl die guten Leute von Torrington immer für das Parlament gewesen waren, hatten sie in den vergangenen vier Jahren genug Soldaten erlebt, um ihnen allen zu mißtrauen, und so blieben sie in ihren Häusern. Simon übergab Fairfax den Brief in einem der oberen Räume des Gasthauses, in dem er sein Hauptquartier aufgeschlagen hatte, und bekam den Befehl, sich vorläufig der Schwadron des Generals anzuschließen, die mit der Dritten in einigen Höfen im Norden der Stadt lag. Der nächste Weg dorthin führte über den Kirchhof, der schon immer als Übergang von einem Teil der Stadt in den anderen gedient hatte. Als er den Markt überquerte und zwischen zwei alten Läden hindurchging, die merkwürdig zerfallen und schief wirkten, kam es ihm einen Augenblick so vor, als sei er in einen furchtbaren Traum verstrickt. Was er zu sehen erwartet hatte, war der Friede von Grabsteinen, uralte Linden, in deren kahlen Kronen die Krähen ihre Nester bauten, die graue altvertraute Kirche mit ihrer freundlichen, kleinen bleigedeckten Turmspitze... Aber die Krähen hatten die Bäume verlassen, die nur noch versengte Stümpfe waren, aus denen hier und da ein zersplitterter Ast in den wolkigen Himmel ragte oder 245

die entwurzelt auf dem welligen Gras lagen. Die alten Häuser rund um den Kirchhof waren verfallen, fensterlos, dachlos, und hier und da klaffte ein großer Riß in einer einstürzenden Mauer. Und die Kirche? Die Kirche war eine rauchgeschwärzte, wüste Ruine, die mit Schutt gefüllt war, den Soldaten unter Leitung eines Sergeanten durchsuchten. Simon hatte, ohne zu wissen, was er tat, Scharlach zum Stehen gebracht und starrte mit einem Gefühl dumpfer Erschütterung, das ihm schwer und kalt im Magen lag, auf das Bild der Zerstörung. Warum, beim Himmel, die Kirche? Sein Kopf war von dem Schlag, den er erhalten hatte, wohl noch ein wenig betäubt, und es dauerte eine Weile, bis er begriff, daß er nie gewußt hatte, wo Eiferers Pulverlager war. Es mußte hier gewesen sein, hier in der Kirche. Mit Scharlach am Zügel bahnte er sich einen Weg, wo einstmals ein Pfad gewesen war, indem er über die herabgefallenen Trümmer kletterte, bis er vor dem Sergeanten stand. »Was ist hier passiert?« fragte er und merkte sogleich, wie töricht seine Frage war. Der Sergeant wandte ihm ein mürrisches Gesicht zu und sagte müde: »Sehen Sie das denn nicht, Sir?« »Ich sehe, daß hier eine Explosion war; aber wie kam es dazu?« »Das weiß ich nicht, Sir. Irgend jemand oder irgend etwas muß mit dem Pulver in Berührung gekommen sein.« »O ja, das Pulver«, sagte Simon dumpf. »Lag es hier?« »Ja, unten im Glockenturm. Aber wir wußten das nicht, als wir die Gefangenen dort einsperrten.« »Die Gefangenen?« »Fast zweihundert.« Die Stimme des Sergeanten klang grimmig. »Und ein Dutzend oder mehr Leute aus Fortescues Regiment zur Bewachung. Wußten Sie das nicht, Sir?« 246

»Nein. Sind viele von ihnen umgekommen?« »Wir haben ein paar Verwundete ausgegraben«, sagte der Sergeant andeutungsvoll. Dann entstand eine lange Stille. Simon starrte auf ein steinernes Fragment zu seinen Füßen. In ihm waren Federn eingemeißelt, als sei es von einem Engel- oder Vogelflügel abgebrochen. »Oh«, sagte er schließlich und wandte sich ab. Er ging weiter, den Arm durch Scharlachs Zügel geschlungen, das müde Klappklapp des Pferdes hinter sich, in die Calf Street und eine der engen Gassen hinunter, die zu den Gemeindewiesen führten. Kapitän Meredith war unten bei den Pferden, als Simon ihn fand und sich bei ihm meldete. Und nachdem Scharlach einem Soldaten übergeben war, gingen die beiden zusammen hinüber zu der großen Bauernküche, wo mehrere Offiziere des Regiments versammelt waren. Sie standen um das Feuer, wärmten sich in einem dienstfreien Augenblick die erstarrten Hände und räumten den Ankommenden gleich einen Platz am Feuer ein. »Carey! Wo kommen Sie denn her?« begrüßte Kornett Fletcher ihn. Simon schob sich an die Flammen heran, wobei er Denzil Wainwright schnitt, so wie der seinerseits in seiner Kaminecke sorgfältig bedacht war, den anderen zu ignorieren. »Aus Woodford«, sagte er, »wenn Sie sich etwas darunter vorstellen können. Old Noll hat mich mit einem Brief für den LordGeneral hierher geschickt, weil sein Meldereiter aus gefallen war.« Mehrere Stimmen erkundigten sich nach dem Verlauf der Verfolgung. Er erzählte ihnen, daß Cromwell sie vor Holsworthy abgebrochen hatte und daß die königliche Reiterei, soviel er wisse, über die Grenze nach Cornwall zurückreite. »Ich möchte wissen, wie viele von ihnen das schaffen«, sagte 247

Meredith. »Aber es macht auch nicht viel aus. Die Armee des Königs im Westen ist erledigt.« Simon nahm seinen Helm ab, der ihn an der Stelle drückte, wo die alte Wunde wieder aufgebrochen war, reckte sich hoch und legte ihn auf den breiten Kaminsims. »Was ist noch geschehen, nachdem wir fortgeritten waren?« Mehrere Stimmen berichteten: Als Fairfax' Truppen den Marktplatz einnahmen, machte Lord Hopton im Norden mit seiner Reiterreserve einen letzten Angriff, aber zu der Zeit waren seine Fußtruppen schon in vollem Rückzug begriffen, und ohne ihre Unterstützung brach der Angriff zusammen. Die Verteidigung war in eine wilde Flucht umgeschlagen, und trotz all seiner Anstrengungen, sie wieder zu sammeln, war die königliche Armee über die Gemeindewiesen und den Schloßberg hinabgeströmt, so daß die Fußtruppen schon davongelaufen waren wie die Wasserläufer, während Cromwell noch die Reiterei durch Taddiport hinunterjagte. Beim Morgengrauen war alles vorbei gewesen. »Was wurde aus Lord Hopton?« »Er entkam mit der Nachhut der Reiterei«, erzählte Meredith ihm. »Wir hatten einen kleinen Zusammenstoß mit ihnen an der unteren Brücke. Dabei holte sich Major Disbrow seinen Schuß.« »Tot?« fragte Simon hastig. »Nein, nur eine Fleischwunde. Aber Mostyn ist gefallen, und mit Bennet steht es ziemlich schlimm.« Für eine kleine Weile sprach niemand. Dann fragte ein Kornett, dessen Handgelenk mit einem blutigen Lumpen verbunden war, unvermittelt: »Haben Sie gehört, wie die Kirche in die Luft ging?« »Ja, als wir den Fluß überquerten. Und ich sah die Ruine eben auf meinem Weg hierher. Der wachhabende Soldat schien keine Ahnung zu haben, was die Ursache war.« 248

»Das möchte manch einer gern wissen«, sagte Meredith. »Überall schwirren die verschiedensten Gerüchte umher. Ich habe gehört, daß die Königlichen es selber taten, damit ihr Pulver nicht in unsere Hände fiel. Kaplan Sprigg vertritt diese Lesart vor allem; aber da zweihundert von ihren eigenen Leuten als Gefangene dort saßen, ist das nicht sehr wahrscheinlich.« »Ich traf den ehrenwerten Vikar, wie er heute morgen die Ruine bewachte«, warf Kornett Fletcher ein, »und er besaß die Niederträchtigkeit, mir zu sagen, daß wir es getan hätten, um der Schwierigkeit zu entgehen, mit zweihundert Gefangenen fertig zu werden.« »Wenn es so ist, warum haben wir dann nicht auch gleich die anderen vierhundert Gefangenen mit in die Luft gejagt, die wir in der Stadt verteilt haben?« Es war der Kornett mit dem verbundenen Handgelenk, der das sagte. »Nebenbei hätte es beinah dem Feurigen Tom das Leben gekostet. Ein Stück Dachrinne fiel nur wenige Zentimeter neben ihm nieder.« »Der letzte Beweis ist löcherig wie ein Sieb«, warf eine neue Stimme hinter ihnen ein. »Wir konnten nicht wissen, daß der General gerade in dem Augenblick die Südstraße entlangreiten würde oder daß ein Bleiklumpen gerade an der Stelle herunterfallen würde.« Sie drehten sich um, als eine beschmutzte Gestalt hereinkam und sich schüttelte wie ein Hund, denn der Tag wurde regnerisch. »Ach, Sie sind es, Anderson.« Kapitän Meredith machte ihm neben dem Feuer Platz. »Wie war die Suche?« Der andere schnitt eine Grimasse und sank müde auf eine Bank. »Jede Gosse in drei Kirchspielen ist von Verwundeten verstopft. Wir haben eine ganze Menge mitgebracht größtenteils Königliche, aber auch einige von unseren Männern. Major James stellt jetzt einen neuen Suchtrupp zusammen, aber wenn es noch ein paar Stunden so weiterregnet, hat es nicht 249

mehr viel Zweck, jemanden zu holen, der draußen gelegen hat.« Wieder senkte sich Stille über die Gruppe, die von Fletcher unterbrochen wurde, der mit leiser, harter Stimme, ganz anders, als er gewöhnlich sprach, sagte: »Als mein Bruder letztes Jahr verwundet und in Cornwall gefangengenommen wurde, hängten sie ihn.« »Das tat Sir Richard Grenville gewöhnlich«, bemerkte Kapitän Meredith. Der Zuletztgekommene sah auf. »Da wir gerade von dem Magazin sprachen, das in die Luft ging: Einer meiner Soldaten schwört, daß er den Mann sah, der es tat.« »Was?« riefen alle. »Unsinn!« sagte Kornett Fletcher. »Na gut, denken Sie, was Sie wollen.« »Nein, aber Unsinn beiseite, ist das wahr, Anderson?« »Wie soll ich es wissen? Er salbaderte eben lang und breit darüber, als ich ihm mein Pferd gab. Einen Augenblick mal...« Er stand auf, ging zur Tür, steckte seinen Kopf hinaus und rief: »Soldat Pennithorn! - Oh, Hughes, sagen Sie Pennithorn, er soll zu mir kommen.« Er kehrte zum Feuer zurück, und ein paar Minuten später erschien ein schlaksiger Soldat im Eingang, der sich beim Nähertreten den Mantel zurechtzog. »Sir!« »Pennithorn, wiederholen Sie die Geschichte, die Sie mir vorhin erzählt haben«, befahl ihm sein Offizier. »Sie meinen von diesem Kerl...« »Ja, eben die.« Pennithorn holte tief Atem und fing an, er sprach sehr schnell und starrte mit ziemlich ausdruckslosen grauen Augen gerade vor sich hin. Offenbar hatte er die Geschichte schon sehr oft erzählt. »Ja, Sir, das war so. Ich machte meine Runde unten bei dem alten verfallenen Schloß und hielt nach Königlichen 250

Ausschau, die da vielleicht versteckt waren. Wir waren eine ganze Menge von uns, die sie im Stechginster suchten. Nicht lange nach Mitternacht war es wohl, und der Mond stand noch hoch, da sah ich einen Kerl auf einem von den kleinen Schafpfaden herunterklettern. Einen rothaarigen Kerl mit einem Haken von Nase und frech wie nur was, er rührte sich nicht, als ich ihn anrief. ›Emanuel, Gott mit uns!‹ sagte er. ›Guten Abend, Soldat, oder sollte ich lieber guten Morgen sagen? Eine feine Nacht zum Mäusefangen! ‹ sagte er. Ich fragte ihn: ›Wo wollen Sie hin, Sir?‹, weil ich dachte, er war einer von unsern Offizieren - mit einem Stechginsterzweig am Helm, und er wußte die Losung und alles. Er sagte: ›Ich habe etwas für den General zu erledigen.‹ Und er lachte, solch komisches, unterdrücktes Lachen. Dann sagte er: ›Feine Explosion da drüben. Der Feurige Tom kriegt dieses Pulver vom König nicht, so sicher wie Einhörner !‹ Und weg ist er.« Simon hielt den Atem an, als sei er in eiskaltes Wasser getaucht, und dennoch hatte er seltsamerweise vorn ersten Wort an gewußt, wer der rothaarige Mann im Stechginster war. Es sah Amias so ganz und gar ähnlich, herumzugehen und unterwegs freundliche Worte mit dem Feind zu wechseln. Die monotone Stimme fuhr fort: »Er schwankte ein bißchen, wenn Sie verstehen, was ich sagen will, so als ob er vielleicht irgendwo eine Wunde hatte.« Eine dramatische Pause folgte, dann erzählte er weiter: »Er roch ganz sengelig! Sengelig und nach verbranntem Pulver! Na, ich dachte, das ist komisch, und ich glaube, er war wirklich verwundet, und ich glaube, er kam vorbei, weil er es war, der die Kirche in die Luft sprengte. ›Der Feurige Tom kriegt dieses Pulver vom König nicht !‹ sagte er, und ich glaube...« Simon bemerkte, daß die dunklen Augen Denzil Wainwrights starr auf ihn gerichtet waren, ziemlich merkwürdig, und er riß sich mit einem Ruck zusammen, gerade als die Trompeten in der Ferne zum Wachwechsel riefen. Die Gruppe am Feuer löste sich 251

sogleich auf. Soldat Pennithorn war fort, und Simon hörte seine eigene Stimme, die plötzlich erstaunlich fest klang, Leutnant Anderson fragen: »Sagten Sie nicht, Major James stellte einen neuen Trupp zusammen, um die Suche nach den Verwundeten fortzusetzen, Sir?« »Ja.« Er trat zu Kapitän Meredith, der an der Tür stehengeblieben war, um mit einem vorüberkommenden Soldaten zu sprechen. »Darf ich mich bei Major James melden? Ich kenne jeden Fußbreit Boden in dieser Gegend. Vielleicht kann ich helfen.« »Ja, selbstverständlich. Er wird froh sein, wenn er Sie dabei hat«, sagte der Kapitän und ging, seinen Schwertgurt zuhakend, hinaus. Simon folgte den übrigen hinaus in den eisigen Nieselregen, den ein auffrischender Wind über die Gemeindewiesen trug.

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Zwiefache Treue

Innerhalb der nächsten halben Stunde hatte Simon Scharlach noch einmal geholt, sich bei Major James gemeldet, war abermals über die Taddiport-Brücke geritten und strebte den Wäldern zu. Der Suchtrupp teilte sich, die Reiter machten sich auf, die hügelige Gegend zu durchstöbern, und es war leicht für Simon, der jeden Winkel des Landes genau kannte, seine Kameraden zu verlassen und sich allein auf die Suche zu machen. Nun, da er Scharlach weiter und weiter in die nassen, ächzenden Wälder hineinführte, hatte er zum erstenmal Gelegenheit, nachzudenken. Was konnte er denn wirklich Gutes mit seiner Suche ausrichten? Er wußte es nicht. Er fühlte nur, daß er unbedingt mitsuchen mußte, weil das seine einzige Chance war, Amias zu helfen: eine ungeheuer geringe Chance, das war ihm klar, aber die einzige, die es gab. Hatte Amias die Kirche gesprengt, indem er blind dem von Lord Hopton zurückgelassenen Befehl gehorchte, oder hatte er eine von seinen verrückten eigenen Ideen ausgeführt? Simon erinnerte sich an die faszinierende Wirkung, die Sprengladungen und Explosionen von jeher auf seinen Freund ausgeübt hatten. Aber es war jetzt vollkommen gleichgültig, ob Amias an der Explosion schuld war oder nicht. Wichtig war nur, daß, falls er gefunden wurde, dank der Erzählung des Soldaten Pennithorn ein böser Verdacht gegen ihn vorlag. Zu dieser Zeit konnte Simon wegen des Schlages auf seine alte Wunde und seiner furchtbaren Müdigkeit nicht mehr ganz klar denken, aber was ihm in äußerster Klarheit vor Augen stand, waren die Konturen dreier Männer, die auf Befehl des Lord-Generals wegen Plünderei aufgehängt worden waren, vor dem Abendhimmel auf der Straße nach Taunton, und von zwei 253

Männern am Galgen vor Oxford, weil sie die Hütte einer weisen Frau niederbrannten, die sie ihrer Meinung nach schlecht behandelt hatte. Fairfax kannte keine Gnade, wenn es um Verbrechen ging, wie Beschädigung von Eigentum oder mutwillige Vernichtung von Leben. Er würde bei einem Feind kaum mehr Gnade walten lassen als bei seinen eigenen Leuten. Außerdem war Amias wahrscheinlich verwundet. Wenn das der Fall war, hatten sie ihn vielleicht schon gefunden, und wenn sie ihn schon geholt hatten, konnte Simon ihm nicht mehr helfen. Aber vielleicht hatten sie ihn noch nicht gefaßt. Vielleicht verbarg er sich irgendwo - wenn er verwundet war, konnte er nicht weit gekommen sein -, und es war der Gedanke an Amias, der verwundet und verfolgt in irgendeinem Graben kauerte, der Simon weitersuchen ließ, in Wäldern und Gebüschen, in den Schlupfwinkeln und Verstecken aus der Zeit, in der sie noch Jungen waren, immer mit dem verzweifelten Wunsch, daß er ihn finden möge, bevor ein anderer ihn aufstöberte. Plötzlich hörte es auf zu regnen, aber der Himmel über den Baumkronen, vor dem ein westlicher Wind Wolken wie graue Ballen aus Schafwolle vor sich her jagte, war von einem kalten Zitronengelb. Es würde eine stürmische Nacht werden. Und immer noch suchte Simon weiter. Es dämmerte schon zwischen den Bäumen, als Simon, der Scharlach hinter sich herführte, sich einen Weg durch ein Gestrüpp aus Haselsträuchern und wildem Liguster auf einer kleinen Lichtung bahnte und plötzlich eine schlanke Gestalt vor sich liegen sah, die mit ausgebreiteten Gliedern, das Gesicht nach unten, am Rande einer steilen Böschung mit Fuchslöchern lag. In elender Angst ließ er sich neben der stillen Gestalt auf ein Knie nieder und drehte sie sehr sanft um. Der Regen hatte das Rot von Amias' Haar fast in Schwarz verwandelt, so hatte er es durchtränkt, und sein Gesicht war in den zunehmenden Schatten kreideweiß. In fliegender Hast zog Simon das durchnäßte scharlachrote Tuch von dem Mantel eines Pikenmannes beiseite 254

und legte seine Hand auf das Herz des anderen, wobei er erleichtert einen Seufzer ausstieß, als er ein schwaches Pochen unter seinen Fingern spürte. Aber Amias' Wams war von etwas durchtränkt, das schlimmer war als Regen, und als Simon seine Hand herauszog, klebte sie von Blut. Er öffnete das Wams und erkannte nun, daß der Fleck größer wurde, und sah auch, und sein Herz wurde beklommen und schwer, daß es zerrissen und wie von Feuer geschwärzt war. Er zog es mit dem befleckten Hemd zusammen zurück und legte eine häßliche Wunde an der Schulter des anderen frei. Mit einem Blick sah er, daß sie durch herumfliegende Bruchstücke verursacht sein mußte abgesplitterte Stücke, die sehr wohl bei einer Explosion herausgeschleudert sein konnten. Sie saßen noch in der Wunde. Aber im Augenblick konnte er sie nicht entfernen, und er begann beharrlich, die Wunde mit der Schärpe, die der andere umgebunden hatte, zuzustopfen, um das Blut zu stillen, das langsam aus dem ausgezackten Loch sickerte. Inzwischen sabberte Scharlach, der dicht hinter ihm geblieben war, abwechselnd auf seine Schulter oder beugte seinen Kopf nieder, um mit sanften Lippen Amias' rotes Haar und sein weißes, emporgerichtetes Gesicht zu beschnuppern. Simon zog die behelfsmäßigen Binden stramm und sprach mit ihm, hastig und mit halbgeschlossenen Lippen, ohne zu wissen, daß er sprach. »Ja, es ist Amias. Du kennst ihn doch noch, nicht? Wir müssen ihn hier wegschaffen - müssen ein Obdach für ihn suchen, wo sie ihn nicht finden.« Er knüpfte die Binden zu und zog den Mantel des Pikenmannes wieder über die Wunde. Dann machte er sich an seine nächste Arbeit. Amias war größer als er, aber schlanker von Wuchs, und Simon hatte die volle Kraft des kleinen, untersetzten Landmannes. Langsam, vorsichtig, um nicht die Wunde zu erschüttern, hob er den anderen auf sein Knie und stand dann, ziemlich unsicher, unter seiner Bürde schwankend, auf. »Ruhig nun, Junge, ruhig.« Scharlach stand wie ein geübtes Packpferd und wartete auf seine Last, und 255

Simon schaffte es, Amias über den Sattelbogen zu legen. Dann stieg er selber auf, umfaßte den schlaffen Körper mit seinem Arm und ritt, so schnell wie das müde Pferd sie tragen konnte, auf die Einöde zu. (›Wenn Sir Walter Raleigh sich hier versteckt hätte, hätte König Jakob ihn bestimmt nicht gefunden, um ihm den Kopf abzuschlagen!‹) Es war nicht viel mehr als eine Meile bis zu der verborgenen Feste, die in den alten Tagen die goldene Stadt Manoa gewesen war. Aber mindestens bis sie die Wälder drüben erreicht hatten, konnten sie jeden Augenblick auf einen von den Suchtrupps stoßen, und immer bestand die Möglichkeit, daß der Pfingstgeiger, wenn sie endlich ans Ziel gelangten, nicht zu Hause war. Auf diesem meilenlangen Ritt betete Simon, wie er niemals zuvor in seinem Leben gebetet hatte, der Pfingstgeiger möchte nicht durch die Kämpfe verjagt, er möchte daheim sein, um Amias aufzunehmen und ihn zu verstecken. Der Pfingstgeiger war wirklich da. Er stand in der Tür seiner Hütte, als Simon durch die wilden Obstbäume geritten kam, tief in den Sattel gebückt, um sein eigenes Gesicht und das von Amias vor den nassen, peitschenden Zweigen zu schützen. »Ich bin es nur«, keuchte Simon, als der Geiger vom Türpfosten hochschnellte und ihnen mit langen Schritten entgegenkam. »Ich habe Amias hier. Er ist verwundet. Willst du ihn aufnehmen?« Eine weiße Eule schoß an ihnen vorbei in die Dämmerung, und Scharlach schnaufte und trat zur Seite, aber der Pfingstgeiger hatte schon seine lumpenbekleideten Arme ausgestreckt und Amias heruntergehoben, so selbstverständlich, als seien sie wieder zwei kleine Jungen und dies ihre gewöhnliche Weise, ihn zu besuchen. »Es ist seine rechte Schulter«, sagte Simon, während er sich aus dem Sattel fallen ließ. »Ich sehe sie mir an«, sagte der Pfingstgeiger. »Binde dein 256

Pferd an den Ast des wilden Kirschbaums da drüben.« Dann sprach er kein einziges Wort mehr, bis sie Amias ins Haus getragen und ihn auf die Lagerstatt aus aufgehäuftem Farnkraut gelegt hatten. Schließlich fragte er, während er das Binsenlicht anzündete: »Worauf hast du dich eingelassen, mein Lieber? Du hast dich doch nicht in etwas eingemischt, von dem du besser die Finger gelassen hättest?« Die kleine safrangelbe Flamme des Binsenlichts flammte auf und wurde dann ruhig, und Simon, der neben der stillen Gestalt auf der Bettstatt kniete, fing an, die Verbände zu lösen, wobei er hastig erklärte, wie es um Amias stand. »Er darf unseren Leuten nicht in die Hände fallen«, schloß er, »jedenfalls nicht, bis wir die Wahrheit herausgefunden haben. Das verstehst du doch, Pfingstgeiger? Du mußt es verstehen!« »Ja, es ist wohl besser, daß er erst mal versteckt bleibt.« Der Pfingstgeiger leuchtete mit dem Binsenlicht, um die Wunde zu untersuchen. »Du hast nicht versucht, die Splitter herauszuholen?« »Nein, ich habe die Wunde einfach zugestopft und mit allem anderen gewartet, bis ich ihn hier hatte.« Der Pfingstgeiger förderte aus seinen zerlumpten Kleidern ein Messer zutage. »Wir gucken besser einmal nach«, sagte er. Aber nach ein paar Minuten lehnte Simon sich auf seine Hacken zurück. »Es sitzt zu tief, wir können es nicht wagen, Pfingstgeiger.« »Du hast recht, glaube ich. Es sitzt zu nah an den Schlagadern, als daß unsereiner anfangen könnte, danach zu bohren und zu graben«, nickte der Geiger. »Ich hole Doktor Hannafo rd«, sagte Simon und stand auf. »Laß mich doch lieber gehen.« »Nein, wie die Dinge stehen, ist es für mich leichter, ihn zu finden. Er wird höchstwahrscheinlich bei den Verwundeten 257

sein.« Simon bückte sich und fühlte noch einmal nach Amias' Herz. Es schlug jetzt kräftiger, und er stieß einen Seufzer der Erleichterung aus. »Es wird ihm bald wieder gutgehen.« »Ja, er kommt schon zurecht - aber da sind andere«, sagte der Pfingstgeiger nachdenklich. »Du meinst, wenn er hier gefunden wird? Du wirst nicht in die Klemme geraten, mein Freund.« Ein zorniger Klang flackerte in Simons Stimme. »Und was Doktor Hannaford angeht, so ist jeder Arzt berechtigt, die Verwundeten beider Armeen zu behandeln.« »Dann bleibst nur du selbst«, sagte der Pfingstgeiger mit dem schwache n Spott, der ihm stets zu eigen war, und Simon wußte, daß er dem Pfingstgeiger Unrecht getan hatte. Seine eigene Haut kümmerte ihn wenig. »Ich komme schon durch«, sagte er. »Wenn ich Glück habe, bin ich in ein paar Stunden mit dem Doktor zurück.« Er kehrte sich in der Tür noch einmal um und sah, wie der Geiger eine alte Decke über seinen Schützling breitete. »Ich lasse Scharlach hier - ohne ihn werde ich weniger leicht entdeckt. Paß ein bißchen auf ihn auf, Pfingstgeiger!« Dann ging er hinaus in das windige Dunkel und die ersten, eiskalten Böen des wiederaufkommenden Regens. Da er zu dem Suchtrupp gehörte, brauchte er die Wachposten auf der Rothernebrücke nicht zu umgehen. Er schritt kühn mit einem fröhlichen ›Gute Nacht!‹ an ihnen vorbei und gelangte auf der anderen Seite auf die Gemeindewiesen. Es war schon fast dunkel, als er die Mühlenstraße überquerte und durch den Stechginster den Schloßberg hinaufstieg, den Kopf gegen den Nieselregen gebeugt, der ihm ins Gesicht trieb. Der Berg erschien ihm höher als je zuvor, und die steilen Schafpfade unter seinen Füßen waren glitschig, aber endlich gelangte er doch oben an. Weit unter ihm schimmerten die Binsenlichter in den zusammengekauerten Fenstern von 258

Taddiport. Er sah sie für einen Augenblick durch die Regenschwaden, als er anhielt und nach dem Riegel einer vertrauten Pforte tastete. Er öffnete sich unter seiner Hand, und er schritt hinein in das wogende, tropfende Gewirr von Schneeball und Stachelbeerbüschen unten in Doktor Hannafords Garten. Der schwache, aprikosenfarbige Schimmer eines feuererhellten Fensters erschien über ihm, und er strebte darauf zu, den altbekannten Pfad hinauf, und als er an der Küchentür ankam, klopfte er leise. Drinnen ertönte ein plötzliches Schurren, und dann war alles wieder still, nur der Wind und der Regen waren zu hören. Simon klopfte abermals, und unmittelbar darauf wurden Riegel und Bolzen beiseite geschoben. Die Tür öffnete sich eine Handbreit, und in dem Spalt erschien Tomasine Blackmore, eine höchst mutige Erscheinung mit einer Kerze in einer Hand und einem Feuerhaken in der anderen. Als sie eine Gestalt im Lederwams auf der Schwelle erblickte, wollte sie die Tür wieder schließen und sagte in verächtlichem Ton: »Rundköpfe. Wir haben genug von eurer Sorte hier gehabt.« Der ›Rundkopf‹ stützte sich müde an den Türpfosten und hatte seinen patschnassen Stiefel schon in der Tür. »Tomasine«, sagte er, »ich bin's, Simon Carey. Wo ist der Doktor?« Tomasine schrie leise auf und ließ den Feuerhaken fallen. Dann riß sie die Tür weit auf und angelte Simon über die Schwelle, schloß die Tür wieder hinter ihm und wandte sich ihm zu, die Finger ausgespreizt auf ihrer gewaltigen Brust. »Oh, du liebe Zeit! Es ist Master Simon, wahrhaftig!« krächzte sie. »Was willst du, mein Junge?« »Ich brauche den Doktor«, wiederholte Simon. »Der ist weg. War fast den ganzen Tag weg, er hilft die Verwundeten zu versorgen.« Simon hatte das erwartet, aber das Haus war ihm als der günstigste Ort erschienen, um die Suche aufzunehmen. »Wo?« 259

fragte er. Tomasine wies mit dem Kopf. »Oben beim Markt, glaube ich.« »Danke. Ich frage dann wieder, wenn ich da bin.« Simon ging hinüber zur Innentür, aber Tomasine legte ihm flehend die Hand auf den Arm und hielt ihn zurück. »Ich... Master Simon, mein Lieber, ist es Master Amias?« Simon nickte und fügte dann, als er ihr Gesicht sah, eilig hinzu: »Nein, er wird durchkommen, nur ich muß unbedingt den Doktor finden. Und, Tomasine, sag niemand, daß du mich gesehen hast.« »Bestimmt nicht, mein Lieber. Keiner Seele!« beteuerte sie heftig. Sie drängte ihn in den dunklen Gang und schob Riegel und Bolzen aus der Eingangstür beiseite, ebenso wie sie es bei der Hintertür getan hatte. »So, schnell jetzt.« »Gut. Laß die Tür eingeklinkt«, sagte Simon und ging auf die Straße hinaus. Die Südstraße la g ganz verlassen da, denn die meisten Soldaten waren inzwischen in ihren Quartieren, und es war keine Nacht, in der man ohne zwingenden Grund nach draußen ging. Aber als er auf dem Marktplatz ankam, herrschte dort noch reges Leben. Die Laternen, die von Allerheiligen bis Lichtmeß vor den größeren Häusern aufgehängt werden mußten, warfen ihr unbestimmtes, flackerndes Licht auf die nassen Pflastersteine und die vorbeihuschenden Gestalten der Soldaten und verwandelten den niederfallenden Regen in eine Art goldenen Rauch. Vor der Tür des ›Schwarzen Rosses‹ ging eine Wache auf und ab, und zwei Häuser weiter hatte sich eine Gruppe Soldaten aus dem Suchtrupp gebildet, und etwas Langes, in einen Mantel Gehülltes wurde ins Haus getragen. Offenbar wurden immer noch Verwundete gebracht. Simon trat beiseite, bis sie fort waren. Dann ging er rasch zur Tür, weil er fragen wollte, ob Doktor Hannaford da war oder in welchem der 260

anderen Häuser er ihn finden könnte. Aber im Eingang stieß er auf den Doktor selber, der gerade herauskam, und sprach ihn hastig an: »Doktor Hannaford!« Doktor Hannaford wandte sich ihm zu. »Ja, was - Simon!« Seine zottigen Brauen zogen sich zusammen, und er rümpfte seine Hakennase. »Ich habe nichts mit einem Rebellen zu besprechen«, sagte er und wollte sich umdrehen. »Reden wir jetzt nicht davon«, stammelte Simon. »Ich muß Sie sprechen, Sir, aber nicht hier. Gehen Sie nach Hause und warten Sie auf mich, ich komme in ein paar Minuten nach.« Sein Gesicht wurde von der Laterne über der Tür voll beschienen, und Doktor Hannaford schien die verzweifelte Bitte zu erkennen, die in seinen Augen stand, denn seine Haltung änderte sich, und er flüsterte zurück, die Lippen kaum bewegend: »Ist es Amias?« »Ja. Um Christi willen, gehen Sie nach Hause, Sir.« »Gut also.« Der Doktor drehte sich um, schlug sich den Mantel um und ging in Richtung Südstraße voran. Beinahe elend vor Erleichterung schlich Simon sich in den Schatten zwischen zwei schwankenden Laternen und tat so, als habe er etwas an seinem Schwertgurt zu richten, falls irgendeiner der Vorüberkommenden ihn bemerken und verdächtigen sollte, denn unter diesen Umständen schien es ihm besser, daß er nicht in Begleitung von Doktor Hannaford gesehen wurde. So weit war alles gut. Aber er dachte nicht daran, wie auffällig er gewesen war, als er barhäuptig (sein Helm lag in der Einöde) und mit dem dunklen Blutfleck an der Schläfe mit dem Doktor im vollen Schein der Laterne gestanden hatte, und er hatte nicht gesehen, daß Denzil Wainwright vorbeikam, anhielt und ihn, im Schatten verborgen, beobachtete, zuerst in heimtückischer Neugier und dann mit einem plötzlich aufkeimenden Verdacht, der seine Augen zu Schlitzen werden ließ. 261

Ein paar Minuten später öffnete Tomasine, die auf ihn gewartet hatte, die Tür des Doktors für ihn, und er schlüpfte hinein. Als sie sich hinter ihm schloß, ging er zu der offenen Tür des Studierzimmers, durch die Kerzenlicht in den dunklen Flur fiel. Im Zimmer waren die schweren Vorhänge zugezogen, um jeden neugierigen Blick vom Garten her auszuschließen, und Doktor Hannaford stand mit gesenktem Kopf, den Rücken zur Tür, vor dem Kamin. Er wandte sich um, als sein Besucher auf der Schwelle zögerte, und Simon sah, daß er plötzlich wie ein alter Mann wirkte. Aber seine polternde Stimme klang fast normal, als er sprach. »Was ist mit Amias? Ist er tot?« Simon schüttelte den Kopf, schloß die Tür und lehnte sich müde dagegen. »Nein. Er ist in der Einöde beim Pfingstgeiger, er hat ein paar Metallsplitter in der Schulter. Kommen Sie und schneiden Sie sie heraus?« Noch bevor er ganz zu Ende gesprochen hatte, war Doktor Hannaford bei seinen Instrumententaschen. »Warum ist das alles denn so außerordentlich geheimnisvoll, wenn ich fragen darf?« sagte er, indem er eine lange, glänzende Sonde herausholte. »Die Häuser um den Platz sind voll von königlichen Verwundeten. Wenn an dem Ruf etwas dran ist, den euer General hat, dann wird ihnen doch nichts geschehen.« Simon schilderte noch einmal die Lage. Die Furchen im Gesicht des Doktors gruben sich noch tiefer ein, während er zuhörte und dabei unablässig Schubladen und Kästen öffnete und schloß und die Dinge, die er brauchte, in seine Taschen stopfte. »Ich habe viel von dieser Geschichte gehört«, sagte er, »aber ich brachte sie nicht mit Amias in Verbindung.« Simon warf einen Blick auf die Stiefel des Doktors und stellte mit Genugtuung fest, daß es hohe, locker sitzende Reitstiefel waren wie seine eigenen. »Wir müssen bei der Furt durch den Fluß«, sagte er. »Auf beiden Brücken sind Wachen. Zum Glück steht das Wasser nicht mehr so hoch.« 262

»Es ist nicht das erste Mal, daß ich durch die Furt gehe, obwohl ich es dreißig Jahre nicht mehr getan habe.« Der Doktor nahm seinen Mantel auf und warf ihn sich über die Schultern. »Aber ›wir‹ ist nicht nötig. Es besteht keine Notwendigkeit, daß du noch mehr bei der Sache aufs Spiel setzt. Geh zurück zu deinen Freunden.« »Kennen Sie den Weg?« fragte Simon. Aber er wußte, daß nur wenige Menschen außer ihm selbst, Amias und dem Geiger die genaue Lage der Einöde kannten, und die, die sie kannten, würden Angst haben, den Doktor zu begleiten, besonders bei Nacht. »Ich werde ihn finden.« »Das bezweifle ich bei diesem Regen und der Dunkelheit«, sagte Simon entschieden. »Es hat keinen Sinn, Sir, ich komme mit Ihnen.« »So sei es denn.« Die Stimme des Doktors klang müde und niedergeschlagen, aber sein Gesicht erhellte sich, als er Simon anblickte. »Du weißt doch, was du tust, nicht wahr?« sagte er fast zärtlich. »Du, ein Soldat - begünstigst einen Feind.« Es entstand ein tiefes Schweigen. Der Doktor knöpfte indes seinen Mantel zu, und Simon starrte in die Kerzen. Irgendwie war bis zu diesem Augenblick der einzige Gedanke in seinem erschöpften Gehirn gewesen, Amias um jeden Preis zu retten, und er hatte nicht zwischen zwei Treueverpflichtungen zu wählen gehabt. Aber jetzt zwang Doktor Hannaford ihn zur Entscheidung. Zwei Treuegelöbnisse. Sich zu dem einen zu bekennen, hieß das andere brechen, und wer konnte sagen, welches der schlimmere Verrat war? »Ja, ich weiß, was ich tue«, sagte er schließlich mit trockenem Mund. »Es ist ja Amias«, und er öffnete die Tür und trat beiseite, um den Doktor vorbeizulassen. »O ja«, sagte Doktor Hannaford. »Wahrhaftig«, und er legte Simon einen Augenblick die Hand auf die Schulter, als sie in die 263

dunkle Küche hinübergingen, wo Tomasine wartete, um ihnen die Hintertür zu öffnen. Vom Durchwaten der Furt bis zu den Hüften durchnäßt und auf den Schultern vom Regen fast ebenso naß, tauchten sie nach gut einer Stunde aus den sturmgepeitschten Wäldern am Rande der Einöde auf und sahen durch die tropfenden Zweige der wilden Obstbäume ein Licht schimmern. »Wir sind da«, sagte Simon. Scharlach stand betrübt mit hängendem Kopf unter der Wildkirsche, wo Simon ihn angebunden hatte. Er hob leise wiehernd den Kopf, als er die Stimme seines Herrn erkannte, aber Simon hatte jetzt keine Zeit für ihn, er konnte ihn nur im Vorübergehen auf den Nacken klopfen, und im nächsten Augenblick verbreiterte sich der Lichtspalt, als die wackelige Tür geöffnet wurde, um sie einzulassen.

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›Niemand darf dem Feind Schutz gewähren‹

Eine gewisse derbe Gemütlichkeit lag über dem mit Binsenlicht erhellten Raum, wo ein rotes Feuer im Kamin brannte und die wunderbare kleine ›Destiny‹ auf dem Kaminsims das Licht in ihren geschwellten Segeln auffing. Amias' durchnäßte Kleidung lag vor dem Feuer ausgebreitet, über dem ein Topf kochte. Amias selbst war wieder bei vollem Bewußtsein und lag unter der alten Decke auf der Bettstatt aus Farnkraut. Er hatte sich bei ihrem Kommen auf seinen gesunden Arm gestützt und blickte angespannt zur Tür hinüber. Als sie ins Licht traten und der Pfingstgeiger die Tür hinter ihnen schloß, ließ er sich mit einem Seufzer zurückfallen. »Oh«, seufzte er, »Ihr seid es nur. Ich dachte einen Augenblick, es seien die Rundköpfe. Hallo, Vater.« »Ich sagte dir doch, Simon holt deinen Vater«, sprach der Pfingstgeiger beruhigend auf ihn ein, als redete er mit einem kleinen kranken Kind. Dann wandte er sich zum Doktor. »Da ist kochendes Wasser für Euch, Doktor, wenn Ihr das braucht, und ein gutes Feuer, um das Messer auszuglühen.« Doktor Hannaford schlüpfte aus seinem durchnäßten Mantel. »Ja, ich danke dir«, sagte er und kniete neben dem Bett seines Sohnes nieder, um die blutbefleckten Verbände zu lösen. »Nun wollen wir uns mal diese Schulter angucken. « Simon hatte das Binsenlicht genommen und hielt es hoch, während der Doktor die Wunde freimachte und untersuchte und Amias über die Schulter seines Vaters zu ihm aufblickte, so selbstverständlich, als liege nicht eine Kluft von vier Jahren zwischen ihnen. »Simon, dein Kopf blutet«, sagte er. »Jetzt nicht mehr«, antwortete Simon. »Ich bekam gestern 265

abend einen Schlag darauf.« Doktor Hannaford schien das nicht weiter zu beachten, als er sich aber ein paar Minuten später aufrichtete, sah er sich Simons Kopf genau an und bemerkte offenbar erst jetzt das Blut an seiner Schläfe. »Diese Wunde hast du nicht erst gestern abend bekommen!« »Nein, das war irgendwann vor Weihnachten. Wir nahmen ein Haus ein, das wir für die Belagerung von Exeter brauchten, und beim Handgemenge traf mich jemand mit einem Musketenkolben auf den Kopf.« Als Doktor Hannaford nickte und sich zum Feuer wandte, tauschten Simon und Amias einen Blick aus, und plötzlich und höchst wunderbar hatte die Erinnerung an jene wilde Nacht in Okeham Paine ein Bündnis zwischen ihnen geknüpft. Der Doktor legte seine Instrumente zurecht und war mit Hilfe des Pfingstgeigers mit verschiedenen Vorbereitungen beschäftigt, während die anderen beiden sich selbst überlassen waren. Simon war sich nicht bewußt, daß er etwas sagen wollte, bis er seine eigenen Worte hörte, die nicht so klangen, als habe er selber sie gesprochen. »Amias, hast du die Kirche gesprengt?« Amias blickte ihn erstaunt an. »Die Kirche gesprengt? Nein, natürlich habe ich das nicht getan. Wie, zum Kuckuck, kommt diese Idee in deinen Hohlkopf?« Erleichterung durchströmte Simon, und mit der Erleichterung kam eine gewisse Erbitterung. »Sie steckt noch in mehr Köpfen außer meinem«, sagte er. »Was für ein Teufel hat dich nur geritten, dem Korporal, den du auf dem Schloßberg trafst, all diesen Blödsinn über eine feine Nacht zum Mäusefangen und den Feurigen Tom, der des Königs Pulver nicht bekommen würde, zu erzählen? Natürlich schloß er daraus, daß du beim Magazin gewesen wärest, und er hat die Geschichte in der ganzen Armee verbreitet, und was noch schlimmer ist, er ist 266

imstande, dich wiederzuerkennen. Der Mond schien hell.« »Ich nehme an, das wirft einen schwarzen Verdacht auf mich«, sagte Amias verblüfft. »Darum hast du mich also gesucht und hier beim Pfingstgeiger abgeladen?« »Ja. Halt die Schulter ruhig.« »Ich tat es nicht, du weißt es jetzt.« »Ja, ich weiß es jetzt, aber wir können es nicht beweisen«, sagte Simon. Doktor Hannaford war wieder zu ihnen gekommen und kniete sich wieder neben der Bettstatt nieder. »Ich muß schon sagen, daß ich sehr erleichtert bin zu hören, daß du dir nicht die Hände mit dem Blut von fast zweihundert Menschen besudelt hast«, bemerkte er zu dem Gespräch, während er aus Gewohnheit die Hornbrille hervorzog und sie dann wie geistesabwesend wieder weglegte. Amias sah ihn aus erschreckten, überhellen Augen an. »Zweihundert - was meinst du damit, Vater?« »In der Kirche waren zweihundert königliche Gefangene«, sagte Simon. »Wußtest du das nicht?« Amias begann hemmungslos zu lachen. Er sah sich die Handfläche der einen Hand an, die er heben konnte. »Sie ist ganz sauber, Vater«, sagte er, »ganz sauber, sieh...« »Ja, ganz sauber«, sagte sein Vater. »Nun wollen wir mal dieses Eisenstück entfernen. Pfingstgeiger, komm hierher und halte den Arm für mich fest.« Aber Amias, der sich jetzt wieder in der Gewalt hatte, schüttelte den Kopf. »Wenn jemand meinen Arm festhalten muß, dann soll es Simon sein.« Also gab Simon dem Pfingstgeiger das Binsenlicht und kniete neben seinem Freund nieder. Doktor Hannaford ze igte ihm, wie er Amias' Arm halten sollte. Er mußte ihn nach hinten biegen, damit die Wunde in der Schulter offen war. Dann gab er Amias 267

eine weiche Bleikugel zum Draufbeißen, ergriff das erste Instrument aus der Reihe von Sonden und Lanzetten und begann zu arbeiten. Wind und Regen klangen unheimlich laut während der nun folgenden Zeit, in der die wilden Schwingen des ausbrechenden Sturmes gegen das Strohdach peitschten, aber sie schienen weit, weit weg zu sein, und der einzige Laut in dem stillen Raum, der zählte, was Amias' schneller, gequälter Atem, der den Raum von Wand zu Wand erfüllte. Simon kniete aufrecht, fing den Blick seines Freundes mit den Augen auf und streckte ihm sein rechtes Handgelenk zum Umklammern hin, denn sich von Amias die Hand zerquetschen zu lassen, war alles, was er im Augenblick für ihn tun konnte. Die Zeit schlich so langsam dahin, daß es schien, als ginge sie nicht vorwärts und die Qual nehme kein Ende. Aber endlich erhob sich Doktor Hannaford mit einem Seufzer von seiner Arbeit. »Vier«, sagte er, »und dies ist das letzte.« Und er hielt ein zersplittertes Metallstück hoch. Danach ging alles schnell und leicht und frohen Herzens. Die Wunde wurde gewaschen und verbunden, und sobald Amias etwas von des Doktors geliebtem, scharf rieche ndem Herzmittel bekommen hatte, lächelte er ihnen wieder zu. Ein bißchen Farbe stieg ihm ins Gesicht, als er sich auf seinen gesunden Ellenbogen stützte, um ein wenig Haferschleim zu trinken, der für ihn warmgestellt war. »Ich werde mich noch in ein Kalb verwandeln«, sagte er mit einer Grimasse. »Das ist das zweite Mal, daß der Pfingstgeiger mir heute abend Haferschleim eingeflößt hat. Jeder würde mich für ein kleines Baby halten.« »Das wird dir wieder Kraft geben«, sagte der Pfingstgeiger zu ihm. »Und mir scheint, die hast du nötig.« Amias' Augen verdunkelten sich für eine Sekunde, und er sagte schnell: »Ja, das habe ich nötig. Wenn es Morgen wird, muß ich hier weg sein.« 268

»Du wirst ein paar Tage liegenbleiben mit der Schulter«, sagte sein Vater, der eifrig damit beschäftigt war, vor dem Feuer die beschmutzten Instrumente zu reinigen. »Das glaub nur ja nicht, Vater. Ich muß hinter den anderen her nach Cornwall und Lord Hopton die Fahne zurückbringen.« »Die Fahne?« fragte Simon, der an seiner Seite hockte. »Du hattest keine Fahne bei dir, als ich dich fand.« »Die steckt in einem der Fuchslöcher«, sagte Amias kurz. Simon schaute ihn an und sah, daß er wie eine überspannte Saite war, die jeden Augenblick reißen konnte. Er fühlte instinktiv, daß es ihm guttun würde zu sprechen und sagte daher: »Hör mal, erzähl uns doch, was wirklich passiert ist.« »Da ist nicht viel zu erzählen. Wir leisteten zum letzten Male Widerstand auf der Schloßwiese, wir und die Leibtruppe des Prinzen und einige Soldaten aus anderen Kompanien. Wir waren gerade ziemlich erledigt, als das Pulver in die Luft flog. Bald darauf explodierte auch die Muskete von irgend jemand, und ich bekam die Splitter in die Schulter und wurde eine Weile ohnmächtig. Als ich wieder zu mir kam, war der Kampf so gut wie vorbei, und ich lag da, die Kompaniefahne zerknüllt unter mir. Ich lag ein bißchen auf der Lauer, und als die Luft rein war, gelang es mir, die Fahne vom Schaft zu lösen und mir um den Leib zu binden. Dann nahm ich Mantel und Helm von einem eurer Leute, der sie nicht mehr brauchen würde, und lief den Schloßberg hinunter; da rannte ich deinem herumschnüffelnden Freund in die Arme. Ich hoffte, daß ich unsere restlichen Leute finden würde, aber meine Schulter hörte nicht auf zu bluten. Daher schaffte ich es schließlich nur, die Fahne in ein Fuchsloch zu stopfen, bevor ich das Bewußtsein gänzlich verlor. Das nächste, was ich merkte, war, daß ich hier lag und der Pfingstgeiger mir Haferschleim einflößte. Er sagte mir, daß du es warst, der mich hergebracht hatte.« Er veränderte seine Lage ein wenig, um den Schmerz in seiner Schulter zu lindern, und 269

fügte, beinahe demütig, hinzu: »Sag mal, Simon, hast du es niemals satt gehabt, mich aus der Klemme zu ziehen?« Es paßte nicht zu Amias, demütig zu sein, und das verwirrte Simon, aber bevor er antworten konnte, brachte das scharfe Wiehern von Scharlach sie alle auf die Beine. Sie richteten die Augen auf die Tür, während Amias sich mit einem unterdrückten Stöhnen aufsetzte. »Löscht das Licht«, befahl Doktor Hannaford. »Gelöscht, Kapitän.« Der Pfingstgeiger reckte seinen langen Arm nach dem Binsenlicht, und sogleich versank der Raum in Dunkelheit, die nur von der roten Glut des sinkenden Feuers erhellt wurde. »Was hat ihn erschreckt?« flüsterte Amias. »Vielleicht nichts anderes als ein Fuchs. Still nun«, antwortete sein Vater. Die Minuten krochen langsam dahin, während die vier in der Hütte mit angehaltenem Atem auf jeden Laut lauschten, der durch den Wind und den gegen die Mauern prasselnden Regen drang. Simon hatte Bala n aus der Scheide gezogen und hielt das lange Schwert angriffsbereit in der Hand, aber er hatte es nur aus alter Gewohnheit gezogen, ohne zu wissen, daß er es tat. Minute auf Minute folgte, aufs äußerste gespannt, geladen mit Erwartung, und dann, als nichts geschah, ließ die Spannung langsam nach, und ihr Atem ging wieder leichter. »Es war wohl ein Fuchs«, murmelte Amias. Aber es war kein Fuchs. Noch während er sprach, wieherte Scharlach abermals. Man hörte, daß sich draußen etwas bewegte, eine Stimme rief einen Befehl; dann wurde die Tür aufgestoßen, und der goldene Schein einer Laterne flutete in die Hütte. Bei ihrem Licht sahen sie Parlamentssoldaten und die glänzenden Läufe von zwei erhobenen Reiterpistolen. »Stillstehen«, sagte eine Stimme, »oder wir schießen.« 270

Simon fand als erster die Sprache wieder und stieß zugleich sein Schwert heftig in die Scheide zurück. »Denzil Wainwright«, sagte er. Denzil trat in die Hütte ein, gefolgt von zwei Soldaten, der eine mit gezückter Pistole, der zweite mit der Laterne, bei deren Licht sie draußen noch mehr Soldaten erkennen konnten. »Der tugendreiche Bauer«, sagte Denzil kühl. »Eifrig beschäftigt, dem Feind zu helfen. Das habe ich mir gedacht. Es war schwierig genug, Ihrer Spur zu folgen, Bauer, obwohl der Boden am Fluß entlang bei diesem Regen eine Spur großartig bewahrt. Trotzdem hätten wir Sie wohl nicht entdeckt, wenn dieses rote Biest von Ihnen uns nicht liebenswürdigerweise durch sein Wiehern Ihren Aufenthalt verraten hätte.« Der Raum war nun von gelbem Glanz durchflutet, und als er auf Amias' gebogene Nase und sein flammendes Haar fiel, schrie der Soldat, der die Laterne hielt, auf: »Entschuldigung, Sir, das ist der Mann, der das Pulver gesprengt hat, ich würde ihn immer wiedererkennen!« Und Simon wurde das Herz schwer, als er sah, daß es der Soldat Pennithorn war. »Sieh einer an«, sagte Kornett Wainwright mit sichtlichem Vergnügen. »Das wird General Fairfax sehr interessieren.« Dann änderte er seinen Ton und sagte scharf: »Stehen Sie auf und ziehen sich an!« Doktor Hannaford sagte: »Ich bin Arzt. Ich habe eben Splitter aus der Schulter dieses Mannes entfernt, und ich versichere Ihnen, daß er nicht imstande ist, aufzustehen.« »Tut mir leid, Sir«, antwortete ihm Denzil einigermaßen höflich. »Das Wohlergehen von Königlichen interessiert mich nicht übermäßig, und ich muß meine Pflicht tun.« »Eine feine Sache ist die Pflicht, wenn sie nicht so sehr nach Bosheit aussieht«, sagte der Pfingstgeiger, der in der Ecke neben der kleinen ›Destiny‹ lehnte und alles mit einem spöttischen 271

Ausdruck betrachtete. Aber niemand beachtete ihn. »Simon« - Amias trug die Nase hoch, und Hochmut klang aus seiner Stimme -, »hilf mir beim Anziehen«, und er zog mühsam seinen Arm aus der Schlinge. Plötzlich lachte er auf. »Irgendeine Füchsin wird im Frühling ein feines warmes Nest für ihre Jungen haben! Ich glaube, es wird ihr nichts ausmachen, daß ein paar Blutflecke darin sind.« Doktor Hannaford war auf ihn zugetreten, als wolle er ihm helfen, hatte sich aber dann zurückgezogen und es Simon überlassen. In düsterem Schweigen, unter der erhobenen Pistole des Soldaten, half Simon seinem Freund in die immer noch nassen Kleider. Niemand sagte ein Wort, bis er das blutbefleckte und zerrissene Wams aufhob und etwas aus der Innentasche fiel. Er bückte sich danach, aber einer der Soldaten kam ihm zuvor, ergriff es und gab es mit vielsagendem Blick an Kornett Wainwright. Es war ein verknotetes und aufgewickeltes Ende einer ölgetränkten Schnur, der übliche Ersatz für Lunte und Zündschnur, wenn eine richtige nicht zur Hand war. Alle Augen in der Hütte waren auf dieses tödliche Beweisstück gerichtet, als Denzil es an sich nahm und mit hochgezogenen Brauen untersuchte. »Das wird den General auch interessieren«, sagte er leise und steckte es in die Innentasche seines Ledermantels. »Dann vergessen Sie nur nicht, es ihm zu geben«, spottete Amias. »Gib mir mein Wams, Simon.« Simon half ihm, den Arm wieder in die Schlinge zu stecken und das, was vom Wams noch übrig war, darüberzuziehen. Aber als er nach dem Mantel des toten Pikenmannes langte, schüttelte Amias den Kopf. »Den nicht. Ich will mich nicht mehr mit fremden Federn schmücken«, sagte er, und dann mit zusammengepreßten Lippen: »Hilf mir hoch.« Als Simon das getan hatte, machte er sich von dessen stützendem Arm los und 272

nahm Balin auf, das in der Ecke lehnte. Kornett Wainwright trat einen Schritt vor, um es ihm abzunehmen, aber Amias fuhr ihn mit brennenden Augen und beleidigend gerümpfter Nase an. »Ich mag Ihr Gefangener sein«, sagte er, »aber eher will ich gehä ngt werden, als daß ich mein Schwert irgend jemand anderem übergebe als Ihrem Kommandanten. Gürte es mir um, Simon.« Denzil zuckte mit den Schultern. »Wie Sie wollen. Mir ist es gleich.« So gürtete Simon ihn mit seinem alten Schwert, während er die Augen auf den Mann richtete, der ihn gefangengenommen hatte, und sich mit seiner gesunden Hand an der Wand stützte. »Wir scheinen fertig zu sein«, sagte Amias, als die Schnalle festsaß. Er schaute Simon mit verzerrtem Lächeln an. »So hast du mich also einmal zu oft aus der Klemme gezogen, alter Freund.« »Schweig!« sagte Simon, umfaßte ihn und stützte ihn mit dem Arm, als er auf die Tür zuschwankte. »Leg deinen gesunden Arm um meine Schulter. Das geht besser.« »Gestatten Sie, daß ich mit Ihnen komme?« fragte Doktor Hannaford. »Wie Sie wollen, Sir«, antwortete Wainwright höflich. »Als Arzt genießen Sie selbstverständlich die übliche Freiheit. Ich habe in bezug auf Sie keinen Befehl.« »Danke.« Der Doktor nahm seinen Mantel auf und warf ihn sich um die Schultern. Simon sah sich nach seinem Offizierskameraden um und sprach ihn zum ersten Male direkt an. »Nein, und Sie haben auch keinen Befehl in bezug auf mich, mein lieber Denzil. Sie haben sich nur darauf gefreut, mich in Ungnade fallen zu sehen.« »Mein lieber Bauer, wie scharfsinnig Sie in diesen letzten paar Wochen geworden sind«, entgegnete Denzil Wainwright. 273

»Ich sagte doch, daß ich mit Ihnen für den Abend damals in der Messe abrechnen würde, nicht wahr?« Und er trat von der Tür zurück, um sie durchzulassen. So ging die kleine düstere Gruppe hinaus in die wilde Februarnacht, nur der Pfingstgeiger blieb in seiner Hütte zurück. Ein paar Minuten später brachen sie nach Torrington auf, Amias auf Scharlachs Sattel hängend, Simon, die Hände auf dem Rücken gebunden, hinterher. »Ich kann den Gedanken nicht ertragen, daß ich Sie in der Dunkelheit verlieren könnte«, hatte Denzil gesagt, als ihm die Fesseln angelegt wurden und Simon bei seiner wütenden Antwort hochging. Einer der Soldaten schritt neben Amias, um ihn im Sattel zu stützen, und Doktor Hannaford, dem die Erlaubnis verweigert worden war, neben den Gefangenen zu gehen, stapfte grimmig hinterdrein. Und als sie so gingen, erhoben sich plötzlich hinter ihnen die klagenden Töne einer Geige, die keine Melodie spielte, sondern einfach eine Begleitung war zu dem Wind in den Bäumen. Für Simon, der in Fesseln durch die sturmgepeitschten Wälder stolperte, war dieser Marsch ein Alptraum. Die Laterne, die vorn wie ein Irrlicht tanzte, die Soldaten zu seiner Bewachung einige davon aus seinem eigenen Regiment -, Amias auf den Rücken eines erschöpften Pferdes geworfen, und was würde am Ende des Marsches sein? Aber so weit durfte er noch nicht denken. Sie passierten die Wache auf der Rotherne-Brücke und zogen den Hügel zur Stadt hinauf. Der Markplatz war jetzt leerer, aber immer noch beschienen die Laternen nasse Pflastersteine und vergoldeten den Regen, wenn er an ihnen vorbeitrieb. Immer noch ging die Wache vor dem ›Schwarzen Roß‹ auf und ab. Er rief über die Schulter einen Kameraden an, als sie anhielten. Amias glitt halb vom Sattel, halb stürzte er in die Arme des nächsten Soldaten, der ihn mit rauher Freundlichkeit aufrichtete, 274

indem er sagte: »Paß auf, Freund, du bist so wackelig wie ein neugeborenes Kalb.« Simon wurde schon in die Schankstube gedrängt, aber er konnte gerade noch den draußen bleibenden Soldaten zurufen: »Kann einer sich um mein Pferd kümmern? Es hat noch nicht sein Abendfutter bekommen, und es ist völlig erschöpft.« Das große, verschmierte Gesicht von Mutter Trimble sah aus der Tür eines Zimmers, als sie hereinkamen, und zeigte große Erleichterung, als sie Doktor Hannaford sah. »Oh, Doktor, Gott sei Dank, daß Sie da sind! Doktor Morrison ist nicht hier, und sie haben eben ein armes Lamm gebracht, dem ich mit meiner Kunst nicht helfen kann!« Einen Augenblick sagte der Doktor nichts, und seine Augen ruhten auf Amias. Dann erwiderte er: »Ich komme sofort«, und verschwand hinter ihr, ohne sich noch einmal umzusehen. Simon und Amias wurden in die hintere Ecke der Schankstube gestoßen, wo sie von dem Soldaten Pennithorn und einer Ordonnanz bewacht wurden, während Kornett Wainwright abseits stand und mit jemand aus dem Stab des Generals sprach. Bald darauf kehrte er zu ihnen zurück und ließ sich in ihrer Nähe auf einer Tonne nieder, schwenkte einen Fuß und betrachtete seine Fingernägel, während der Melder die Treppe hinaufstapfte. Simons Fesseln waren inzwischen abgenommen, er stand und rieb sich die roten Striemen an den Handgelenken, wo die Fesseln ihm ins Fleisch geschnitten hatten. Er fühlte sich ziemlich elend. Er beobachtete Denzil, beobachtete seine Wachen, beobachtete Amias, der an der getäfelten Wand lehnte, und er bemerkte mit Schrecken einen kleinen hellen Blutfleck, der sich auf der Schlinge an der Schulter ausbreitete. Hinter der Tür, durch die Doktor Hannaford verschwunden war, schrie plötzlich jemand vor Schmerzen laut auf. Nach einer, wie es ihm schien, unendlich langen Zeit öffnete sich im Obergeschoß eine Tür. Stimmen ertönten, und mehrere 275

Offiziere kamen, noch im Gespräch, herunter. »Sie können nun rauf gehen«, sagte der Melder, der ihnen gefolgt war, und Simon stolperte mit Amias treppauf. Eine andere Wache trat von einer geöffneten Tür zurück, und die beiden wurden in den Raum geschoben, wo Simon erst heute morgen seinen Brief übergeben hatte. Auch Kornett Wainwright kam herein. Sie sahen sich einem sehr müden Mann gegenüber, der sich mit dem Arm auf den Kaminsims gelehnt hatte und in die Kohlenglut starrte. »Kornett Wainwright, Sir«, meldete der Posten. Fairfax wandte sich langsam um. »Danke, Peter«, sagte er. »Ist John Rushwood zur Hand?« »Er ist unten, Sir. Brauchen Sie ihn hier oben?« »Nein. Sagen Sie ihm, meine Empfehlungen an Oberst Walley, und er möchte so freundlich sein, mir so bald wie möglich die Verluste seines Regiments zu schicken. Wenn ich Sie heute abend noch brauche, schicke ich nach Ihnen.« »Ja, Sir«, sagte Peter und ging. »Nun, Kornett Wainwright?« Kornett Wainwright nahm Haltung an und grüßte mit dem Helm. »Ich hätte Sie nicht belästigt, Sir, wenn nicht Major Disbrow verwundet wäre. Ich habe die Gefangennahme eines königlichen Offiziers zu melden, der verdächtigt wird, für die Explosion in der Kirche verantwortlich zu sein. Außerdem die Gefangennahme von Kornett Carey, der demselben Schutz gewährt hat.« Fairfax ließ sich wortlos an dem papierübersäten Tisch nieder und blickte die drei vor sich lange und forschend an. Kornett Wainwrights Haltung drückte ein Triumphgefühl aus, das ihm ganz und gar nicht zu gefallen schien, und er wandte seine Aufmerksamkeit den Gefangenen zu. Sie waren ein unansehnliches Paar, hohlwangig vor Erschöpfung, beide 276

durchnäßt und bis zu den Augen schmutzbespritzt, ihr Zeug zerrissen und voll Flecken, einer mit dem Arm in der Schlinge und einem leer herunterhängenden Wamsärmel, der andere mit geronnenem Blut an der Schläfe. Aber sie standen mit erhobenem Kopf vor ihm und sahen ihm gerade in die Augen, als ob sie sich ihrer selbst nicht zu schämen brauchten. Der General war ein guter Menschenkenner. Dann löste Amias, der sich unten während ihrer Wartezeit an seinem Schwertgurt zu schaffen gemacht hatte, die Schnalle. »Ich bedauere, Sir, daß ich, da mein rechter Arm nicht zu gebrauchen ist, Ihnen mein Schwert nicht in vorschriftsmäßiger Weise übergeben kann«, sagte er und verneigte sich mit einer so stolzen Gebärde, wie sie seinem alten Helden Sir Walter Raleigh wohl angestanden hätte, wenn er einem Sieger das Schwert überreicht hätte, und legte Balin vor dem General auf den Tisch. Der General streckte eine Hand aus und berührte zum Zeichen der Übernahme den Griff. Es folgte eine kurze Stille, während der er immer noch die Gesichter der drei vor sich forschend ansah. Dann fragte er in einem ruhigen, höflichen Ton und keineswegs, als spreche er mit einem Gefangenen, Amias nach seinem Namen, Rang und Regiment. »Amias Hannaford, Fähnrich in General Molesworths Regiment zu Fuß.« »Danke, Fähnrich Hannaford. Sind Sie verantwortlich dafür, daß das Pulver, das in der Kirche da drüben lag, angezündet wurde?« »Nein, Sir.« Fairfax wandte sich an Denzil Wainwright. »Was für Gründe liegen für eine derartige Anklage gegen den Gefangenen vor?« Eine große Müdigkeit stieg in Simon auf. Wie im Traum sah er Denzil den Soldaten Pennithorn hervorzaubern, wie ein Taschenspieler auf dem Jahrmarkt ein Kaninchen aus einem Hut herausholt. Wie im Traum hörte er nochmals die Geschichte des 277

Soldaten. »Er roch irgendwie sengelig, das tat er, so nach verbranntem Pulver, und ich dachte, das war doch ein bißchen komisch.« Der General blickte einen Augenblick zu Amias hinüber, auf den Riß und das verbrannte Tuch in seinem Wams auf der Seite, wo der Ärmel leer herunterhing. »Wenn Ihnen das merkwürdig vorkam, warum ließen Sie ihn dann laufen?« »Er kannte die Losung, Sir.« »Da sie als Schlachtruf gebraucht wurde, konnten Sie sich doch denken, daß die halbe königliche Armee sie inzwischen kannte«, sagte der General trocken. »Es ist gut, Sie können jetzt gehen«, und als der niedergeschlagene Soldat sich zurückzog, wandte er sich nochmals Denzil zu. »Haben Sie dem noch etwas hinzuzufügen?« Denzil holte aus der Innentasche seines Ledermantels das Stück ölgetränkte Schnur hervor und legte es vor den General. »Dieses, Sir. Es war in der Innentasche von dem Wams des Gefangenen, als ich ihn fand. Es könnte eine Lunte sein, Sir.« »Es kann kaum die Lunte sein, mit der die Kirche gesprengt wurde.« »Nein, Sir, aber es könnte das Stück sein, von dem die Lunte abgeschnitten wurde, wenn Sie mich recht verstehen. « »Ich weiß, was Sie meinen. Ich persönlich würde lieber mit einer Pulverspur arbeiten als mit diesem langsam wirkenden Zeug.« Fairfax legte die Schnur hin und sprach Amias an. »Ich brauche Sie wohl kaum zu fragen, was sie taten, als Sie auf Soldat Pennithorn stießen.« »Nein, Sir. Ich lief fort.« »Was dachten Sie sich bei Ihren merkwürdigen Bemerkungen ihm gegenüber?« »Ich meinte nichts Bestimmtes. Ich hörte die Explosion und konnte mir denken, daß unser Magazin in die Luft ging. Ich 278

wußte nicht, daß unsere Leute dort gefangen saßen, und ich war froh, daß wenigstens ein Teil unserer Kriegsausrüstung nicht in die Hände der Feinde des Königs fallen würde.« »Gut«, nickte Fairfax. »Wie sind Sie zu diesen Flecken auf Ihrer Kleidung gekommen, die offensichtlich von einer Explosion herrühren?« »Die Muskete eines Soldaten explodierte«, sagte Amias, und seine Stimme klang bitter. »Es muß eine sehr alte, schlecht gepflegte Muskete gewesen sein, nehme ich an. In der Armee des Königs herrscht, wie Sie zweifellos wissen, schon geraume Zeit äußerste Knappheit an diesen Dingen.« General Fairfax beugte sich vor, um das Stück Schnur zu berühren, seine scharfen, dunklen Augen auf das Gesicht des anderen gerichtet. »Dies ist eine ölgetränkte Schnur, die notfalls als Zündschnur dient. Aber Sie sind kein Musketier und brauchen folglich keine Zündschnur. Wie kommt es, daß Sie diese in der Tasche hatten?« Ein kleines Lächeln zuckte Amias um den Mund. »Ich gebrauchte es, um die Schnüre meiner Regimentsfahne anzustückeln. Sie waren bei dem Angriff zerschossen worden. Diese Schnur war das erste, was mir zum Ausbessern in die Finger kam, als eine Gefechtspause eintrat. Später, als ich die Fahne vom Schaft schnitt, um sie zu retten, stopfte ich wohl, ohne es zu wissen, die Schnur in meine Tasche.« »Sie hatten also die Fahne bei sich, als sie den Soldaten drüben trafen?« »Natürlich, Sir. Ich konnte doch nicht ohne sie fortgehen. « »Nein«, sagte Fairfax nachdenklich. »Ich glaube auch nicht. Was taten Sie hinterher damit?« »Ich versteckte sie.« »Wo?« »Ich bedaure, Sir, das habe ich vergessen.« 279

Fairfax nickte. »Sie wissen doch, daß Sie mir für all das, was Sie mir erzählen, keinen Beweis geliefert haben? Wenn Sie sich erinnern könnten, wo Sie die Fahne versteckt haben, und wenn sich herausstellte, daß ihre Schnur durchschossen ist, wäre wenigstens ein Teil Ihrer Geschichte bewiesen.« »Ich bedaure, Sir, ich halte es für höchst unwahrscheinlich, daß ich mich daran erinnern werde.« »Ich auch«, stimmte Fairfax ihm zu. Dann hob er schnell die Stimme. »Wache, einen Stuhl für den Gefangenen.« Denn Amias hatte plötzlich auf seinen Füßen zu wanken begonnen, und seine Augen waren blicklos in das Kerzenlicht gerichtet. Ein Stuhl wurde gebracht, und er sank taumelnd darauf und saß da mit gesenktem Kopf. »Entschuldigen Sie, Sir - ich bin ein bißchen schwach«, murmelte er. Der General überließ ihn eine Weile sich selbst, damit er wieder zu sich käme, und wandte seine Aufmerksamkeit Simons Beteiligung an der Sache zu. »Kornett Wainwright, ich würde gern hören, welche Gründe Sie für die Anklage gegen Kornett Carey haben, und außerdem als eine Sache von allgemeinem Interesse, wie Sie darauf kamen, hinter ihm herzujagen.« Immer noch in träumerischem Zustand hörte Simon Denzils Stimme, die jetzt etwas nervös klang. »Ja, Sir, als wir zuerst die Geschichte von dem Soldaten Pennithorn hörten, sah Carey so seltsam aus - als ob er wüßte, wer der Mann war. Dann sah ich ihn heute abend ungefähr um sieben, als ich über den Marktplatz kam, deutlich im Licht einer Laterne, als er sehr dringlich auf den hiesigen Arzt einredete, der mit für die Verwundeten gesorgt hat.« Simon faßte nur Bruchteile des Berichts auf, zwischen denen nebelhafte Leere war. »Mir schien, er habe etwas vor, also folgte ich ihm... lief zurück, während er im Doktorhaus war, und holte ein paar Leute zusammen... Wir kamen ihm auf die Spur, als er mit dem Doktor aus dem Garten ging... verloren ihn zweimal in 280

den Wäldern, aber...« Plötzlich bemerkte Simon, daß der Bericht vorbei war und Fairfax ihn sehr ernst anblickte. »Kornett Carey, es hat keinen Sinn, daß ich Sie frage, ob Sie schuldig oder unschuldig sind, da Sie auf frischer Tat überrascht wurden.« Simon bemühte sich heftig, Klarheit in sein umnebeltes Denken zu bringen. »Nein, Sir.« »Sie kennen die Kriegsartikel.« »›Niemand darf bei Todesstrafe einem Feind Schutz gewähren‹«, sagte Simon mit fester Stimme. »Können Sie irgend etwas zu Ihrer Verteidigung vorbringen?« »Nein, Sir«, erwiderte Simon. Plötzlich hob Amias den Kopf. »Er hat mir früher immer aus der Klemme geholfen, und es wurde ihm zur Gewohnheit. « »Eine gefährliche Gewohnheit, wie mir scheint«, sagte Fairfax. Aber plötzlich zuckte ein Lächeln in seinen Augen auf. »Ich darf wohl annehmen, daß ihr zwei sehr alte Freunde seid?« »Ja, Sir«, sagten beide gleichzeitig. General Fairfax machte eine heftige Bewegung in seinem Stuhl und griff nach der bestickten Klingelschnur am Kamin. »Diese Sache mit dem Magazin wird natürlich auf dem üblichen Weg verhandelt werden müssen. Ich persönlich, Fähnrich Hannaford, bin geneigt, Ihre Geschichte zu glauben. Aber die Entscheidung liegt beim Gerichtshof, und inzwischen, das werden Sie einsehen, muß ich Befehl geben, daß Sie in Haft bleiben. Was Sie betrifft, Kornett Carey...« Aber dieser Satz wurde niemals beendet, denn in dem Augenblick öffnete sich die Tür, und ein Wachsergeant kam mit einer dringenden Botschaft herein. »Ich bitte um Entschuldigung, Sir«, sagte der Sergeant beim Grüßen. »Ja, Sergeant?« 281

»Einer der Verwundeten, der gestern abend bei der Kirche ausgegraben wurde, ist zu sich gekommen, Sir. Er sagt, daß er weiß, wie es zu der Explosion kam, Sir.« »Wahrhaftig?« fragte der General. »Gut, Sergeant, ich komme gleich.« »Entschuldigung, Sir, der Doktor meint, er hat nicht mehr lange zu leben.«

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Ismael wird heimgerufen

Fairfax stand auf und griff nach seinem Schwert, das über der Stuhllehne hing. »Mir scheint, daß das neues Licht auf gewisse Dinge werfen könnte, die wir hier besprochen haben«, sagte er, als er es in seinen Gurt schnallte. »Kornett Carey, Sie kommen bitte mit, da Ihr Freund, den es hauptsächlich betrifft, nicht dazu in der Lage ist«, und er wandte sich zur Tür und fragte, während er auf die Treppe zuging, den Sergeanten: »Wo ist der Mann?« »In dem großen Zimmer unten, Sir.« Dicht hinter dem General gelangte Simon, halb schlafwandelnd, vorsichtigen Schrittes die Treppe hinunter und kam in den großen inneren Raum, wo die Möbel beiseite geschoben waren und Verwundete in Decken gehüllt überall auf dem sandbestreuten Fußboden lagen. Eine Hornlaterne hing von den Deckenbalken, und darunter stand, eine Bibel hochhaltend, so daß das Licht auf die Seiten fiel, Kaplan Josua Sprigg, dessen schwarzer Talar und Priesterkragen jämmerlich zerknüllt aussahen, denn er hatte seit dem vergangenen Abend ununterbrochen bei den Verwundeten gewirkt. Er las laut, als sie eintraten, und seine Stimme erfüllte den ganzen Raum. »›Ich plagte euch mit dürrer Zeit und mit Brandkorn. Ich schickte Pestilenz unter euch gleicherweise wie in Ägypten; ich tötete eure junge Mannschaft durchs Schwert und ließ eure Pferde gefangen wegführen und ließ den Gestank von eurem Heerlager in eure Nasen gehen; doch bekehrtet ihr euch nicht zu mir, spricht der Herr.‹« Ein paar Meter weiter hockte, völlig unberührt von seinem Donnern, Mutter Trimble auf ihren gewaltigen Schenkeln und löffelte vorsichtig einem verwundeten Königlichen Brühe ein. Mutter Trimble kümmerte es wenig, ob einer Freund oder Feind 283

war, solange er krank oder verwundet war. In der äußeren Ecke des Raumes beugte sich Doktor Hannaford über eine der in Decken gehüllten Gestalten, die sehr still lag. Simon näherte sich hinter Fairfax dem Verwundeten und erkannte in ihm Eiferer- im-Herrn - Eiferer- im-Herrn, durch die Explosion kaum entstellt, aber schrecklich verwandelt durch die Monate davor, die sein schwarzes Haar weiß gefärbt hatten. Da er ihm in letzter Zeit nur im Dunkeln begegnet war, denn das Licht der abgeschirmten Laterne hatte nie sein Gesicht erreicht, hatte Simon seine Veränderung nicht bemerkt, und so dauerte es einen Augenblick, bis er ihn erkannte. Da zersprang der träumerische Zustand, der sein Denken umnebelt hatte, wie eine angestochene Blase, und alles wurde wieder wirklich und bekam scharfe, harte Umrisse. Er sah, daß der General den Mann nicht wiedererkannt hatte, warum sollte er auch? Im gleichen Augenblick sah er die Bitte - nein, es war ein Be fehl - in den Augen seines alten Korporals, die auf seine gerichtet waren, und er verriet ihn nicht. »Sie kommen fast zu spät«, flüsterte der Doktor. Fairfax beugte sich über die reglose Gestalt und sagte ruhig: »Sie wissen, wie die Explosion im Pulvermaga zin zustande kam?« Eiferer antwortete nicht sogleich. Es schien, als habe sein dringlicher Befehl an Simon seine restliche Kraft aufgezehrt. »Es entstand ein Geräusch, als wir vom - Glockenturm herunterkamen. Die Wachsoldaten - überraschten uns«, brachte er endlich in einem heiseren Flüsterton heraus, der so schwach war, daß seine Worte kaum zu verstehen waren. »Ihre Lunten brannten, und da - war - verstreutes Pulver.« Das trockene Flüstern verstummte. Einen Augenblick stand Sir Thomas Fairfax da und sah hinab auf den sterbenden Mann. Es sah so aus, als suche er verlorene Erinnerungsfetzen 284

zusammenzufügen. »Wie heißen Sie?« fragte er. Ein Lächeln deutete sich für einen kleinen Augenblick auf den erlöschenden Zügen des anderen an. »Ismael Watts.« »Watts«, sagte der Kaplan, der seine Bibel geschlossen hatte und zu der Gruppe getreten war. »Und ein hoffnungsloser Bösewicht, Sir, so wie die Dinge aussehen.« »Das wissen wir nicht«, erwiderte Fairfax. Dann fragte er sehr langsam und deutlich: »Was taten Sie über dem Magazin?« Keine Antwort. Josua Sprigg, überzeugt, daß er es mit einem Bösewicht zu tun habe, und mehr darum bemüht, ihn zum Bereuen zu bringen als den Grund der Explosion herauszubekommen, war neben ihm auf die Knie gefallen. »Sünder!« donnerte er. »Durch dich sind zweihundert Seelen vor ihrer Zeit zu ihrem Schöpfer eingegangen!« »Eine große Ernte aus - einer kleinen Saat.« »Saat? Von was für einer Saat sprichst du?« Eiferers Lippen bewegten sich kaum. »Dreißig Pfund, alles in Silber«, sagte er. »Und eine weiße - genau dreißig Pfund.« »Oh, schlechter und erbärmlicher Mensch«, begann Josua Sprigg. Doktor Hannaford blickte sich um und wollte ärgerlich Einhalt gebieten, aber keine Schmährede erreichte Eiferer jetzt mehr. Er wandte Simon sein Gesicht zu, und es war so friedlich wie an jenem Frühlingsmorgen am Flußufer, als er von seiner kleinen Landstelle und der Zucht der gefiederten Tulpen gesprochen hatte. Er streckte sich mit einem tiefen leisen Seufzer aus, als sei er sehr müde. Und Simon sah, daß in dieser Welt für seinen alten Korporal alles vorüber war. »Armer Teufel«, flüsterte Doktor Hannaford, und er stand auf und bürstete sich den Sand von den Knien. »Ein sehr schlimmes Unglück«, sagte Fairfax. 285

Der Kaplan wandte sich überrascht zu ihm um. »Sie glauben an dieses Lügenmärchen, Sir Thomas?« »Ich weiß nicht«, antwortete der General. »Ich weiß nicht.« »Sie haben doch bemerkt, daß er nicht sagen wollte, was er im Magazin zu suchen hatte?« »Im Glockenturm darüber, genauer gesagt. Vielleicht hatte er sich dort aus irgendeinem Grunde versteckt. Ist das jetzt nicht ganz gleich?« »Würde sich ein vernünftiger Mensch über einem Pulverlager verstecken? Ich für meinen Teil glaube, daß er ein Schurke war, den der Henkersknecht Hopton daließ, um das Magazin zu vernicht en. Die dreißig Pfund waren offenbar der Lohn für die Tat.« »Josua, Josua, Menschen riskieren ihr Leben für vielerlei Dinge, aber würden Sie oder ich oder sonst ein vernünftiger Mensch dem sicheren Tod entgegengehen für einen Lohn, den wir nicht mehr ausgeben könnten? Es steckt ein Geheimnis hinter diesen Dingen, das wir nicht werden lüften können.« Simon sagte nichts. Das einzige, was er noch für Eiferer tun konnte, war, ihm zu gehorchen und zu schweigen. Der alte Ironside hatte seine Schuld bezahlt, und die Tatsache, daß es alles vergebens war, änderte nichts daran. Er hatte auf seine eigene Art mit seinem harten, unbeugsamen Gewissen Frieden geschlossen, und es stand Simon nicht zu, sich einzumischen. Fairfax verließ den Raum, und Simon, ihm wieder folgend, sah nicht die ängstliche Frage in den Augen Doktor Hannafords. Er stolperte beim Hinausgehen gegen den Türpfosten, weil er alles ganz verschwommen sah. Denn zum erstenmal, seit er neun Jahre alt war und sein Hund starb, weinte er, weinte um einen unbekannten Mann, der Ismael Watts hieß, einst sein Korporal Eiferer- im-Herrn Reif bei des Generals Reiterei gewesen war und ehemals in Cromwells Schöner Kompanie gedient hatte. 286

Er schüttelte heftig den Kopf, um klar sehen zu können, als sie die Treppe hinaufstiegen und wieder in das getäfelte Zimmer kamen. Kornett Wainwright, der am Tisch gelehnt hatte, nahm eiligst Haltung an, als der General erschien, während Amias sich gleichzeitig wankend auf die Füße stellte. General Fairfax schritt zum Kamin hinüber und blickte mit leichtem Stirnrunzeln in die Flammen. Dann schien er zu einem Entschluß zu kommen und wandte sich den drei auf ihn gerichteten Augenpaaren zu. »Fähnrich Hannaford«, sagte er, »die Sache mit der Explosion des Pulvermagazins scheint erledigt zu sein. Sie sind nicht länger unter Verdacht.« »Ich bin - erleichtert, das zu hören, Sir.« »Morgen werde ich ein Angebot machen, daß jeder königliche Gefangene, der seinen Lehnsherrn wechseln will, in die Neue Armee eintreten kann. Eine große Anzahl wird das wahrscheinlich annehmen.« »Diejenigen, die das tun, werden ihrer neuen Fahne nicht viel Ehre machen«, sagte Amias. »Persönlich bin ich geneigt, mit Ihnen übereinzustimmen, aber wie der Zenturio muß ich sagen: ›Auch ich bin ein Untertan. Ich werde Ihnen das Angebot nicht machen, weil ich annehme, daß Sie es ablehnen würden.« »Ich würde es ablehnen, Sir.« »Statt dessen entlasse ich Sie auf Ehrenwort in die Obhut Ihres Vaters. Ich nehme an, daß Doktor Hannaford, der jetzt unten die Verwundeten versorgt, Ihr Vater ist?« »Ja, Sir.« »Gut. Dann schlage ich vor, daß Sie zu ihm gehen. Er wird sich Sorgen um Sie machen.« Amias starrte ihn einen Augenblick an und richtete sich dann auf. »Sir«, sagte er, als habe er seinen eigenen Kommandanten vor sich und drehte sich zur Tür um. 287

Fairfax hielt ihn an. »Sie vergessen Ihr Schwert.« Amias sah von dem dunklen narbigen Gesicht des Parlamentsgenerals zu dem langen Rapier auf dem Tisch und wieder zurück. »Sie wollen - Sie wollen es mir zurückgeben?« stotterte er, seine förmliche Art ganz vergessend. »Ich entlasse nicht einen Mann auf Ehrenwort und behalte sein Schwert.« »Ich...«, begann Amias und brach ab. Er nahm Balin auf und ging abermals auf die Tür zu. Der Ordonnanzsoldat, der seine Wache gewesen war, öffnete die Tür für ihn. Aber auf der Schwelle hielt Fairfax ihn nochmals an. »Fähnrich Hannaford, wenn ich noch einmal die Fahne Ihrer Kompanie erwähnen darf.« »Ja, Sir?« »Es ist selbstverständlich Ihre Pflicht, sie nicht dem Feind in die Hände fallen zu lassen. Obwohl ich natürlich bedaure, daß es Ihnen so gänzlich entfallen ist, wo Sie sie versteckt haben, hadere ich mit keinem Mann, der seine Pflicht erfüllt.« Amias lachte von Ohr zu Ohr, und plötzlich tanzten seine Augen in seinem grauen Gesicht. »Danke, Sir«, sagte er und verschwand wankend in der Tür. Als die Tür sich hinter Amias und der Ordonnanz geschlossen hatte, wandte Fairfax sich den beiden anderen zu. »Kornett Wainwright, Ihr Verhalten in dieser Sache war höchst lobenswert, wenn auch - etwas übereifrig.« Denzil wurde knallrot. »Sir?« fragte er. Und Simon merkte, daß die Augen des Generals beunruhigend scharfsichtig waren. »Vor ein paar Wochen«, sagte Fairfax, »gab es, glaube ich ich stelle keine Fragen -, eines Abends eine kleine Reiberei in der Messe.« »Das war nic ht meine Schuld«, wendete Denzil ein. 288

Ein Schatten von Unwillen zuckte in Fairfax' Gesicht auf, und er schwieg einen Augenblick, als warte er auf ein Wort von Simon. Aber Simon blieb stumm, und so fuhr er fort: »Ich will nicht wissen, wessen Schuld es war. Ich sagte nur, es hat eine Reiberei gegeben - und nun dies. Meine Herren, wir haben Krieg, und es ist keine Zeit, daß Sie wie Schuljungen spielen ›wie du mir, so ich dir‹. Was ich sage, gilt Ihnen beiden: Ich will keine Fehden zwischen meinen Offizieren haben.« »Nein, Sir«, sagte Denzil. »Nein, Sir«, sagte auch Simon. »Also gut. Gute Nacht, Wainwright.« Die rote Farbe war aus Denzils Gesicht gewichen, und er war fast so weiß wie Simon an dem Abend, von dem Fairfax eben gesprochen hatte. »Gute Nacht, Sir.« Dann schlich er sich hinaus. Die Tür schloß sich wieder, und Simon war allein mit seinem General. Er hatte in den vergangenen Minuten ein wenig Hoffnung geschöpft, aber als jetzt Fairfax' klarer, durchdringender Blick auf ihm ruhte, riß er sich zusammen, weil er nicht wußte, was ihn jetzt erwartete. »So, Carey, nun müssen wir noch Ihre Rolle bei dieser Angelegenheit einer zufriedenstellenden Lösung zuführen.« »Ja, Sir.« Simon schaute ihm offen in die Augen, aber sein Mund war trocken. »Erinnern Sie sich an das Gelöbnis, das Sie ablegten, als Sie in diesem Regiment Offizier wurden?« »Ich erinnere mich, Sir.« »Dennoch vergaßen Sie es heute«, sagte Fairfax mit ruhiger Stimme, die wie Splitter aus Eis in die Stille fiel. »Was soll ich mit einem meiner Offiziere tun, der um einer privaten Freundschaft willen seine Pflicht gegenüber der Sache, der er dient, vergißt?« 289

Simon schwieg. Was konnte er auch sagen? Die Stille lastete weiter, und er hatte angesichts der harten Anklage in den Augen des Generals Zeit, über alles nachzudenken, was der General von ihm forderte. Diese Augenblicke gehörten zu den schlimmsten, die er je durchgemacht hatte. Plötzlich und höchst überraschend erhellte sich das dunkle, strenge Gesicht des Generals durch sein seltenes Lächeln. »Dieses Mal sollen Sie nicht hängen!« »Nein, Sir«, sagte Simon, der unbeweglich strammstand. Der General deutete mit einer kleinen Geste an, daß er am Ende sei, und legte die Hände entspannt auf die Stuhllehne. »Ich schlage vor, daß wir die Sache als erledigt betrachten. Gehen Sie in Ihr Quartier zurück. Sie müssen selber mit Ihrem Regiment Frieden schließen.« Simon tat einen raschen, tiefen Atemzug, schwindelig vor Erleichterung. »Ich darf - ich darf zum Regiment zurück, Sir? Ich meine, Sie wollen mich nicht...« Sein Gestammel verebbte. »Seit wir die in Süd-Devon angeworbenen Soldaten eingestellt haben, sind wir außerordentlich knapp an Offizieren. Wir können uns auf keinen Fall leisten, auch nur einen einzigen von ihnen zu hängen oder zu entlassen. Außerdem glaube ich, obwohl das nicht die leiseste Entschuldigung ist, sind Sie nicht der erste, der so gehandelt hat, wie Sie es heute taten, denn Jonathan stahl sich heimlich aus dem Lager des Königs, um David auf dem Felde von Ziph zu trösten.« Fairfax schaute beim Sprechen in die rote Feuersglut. Nach einer Weile fügte er hinzu: »Wenn der Krieg nicht so günstig für uns verlaufen wäre, dann hätte auch ich vielleicht einen Freund bitter nötig gehabt, der meinetwegen seine Pflicht vergißt. Gebe Gott, daß ich dann einen solchen gefunden hätte.« Es entstand eine kleine Stille, und dann kehrte er zu seinem Stuhl neben dem mit Papieren besäten Tisch zurück. »Gute Nacht, Carey.« 290

»Gute Nacht, Sir«, sagte Simon übervollen Herzens. »Und danke, Sir.« Und er wußte nicht, wie er auf den oberen Treppenabsatz gelangte. Der Nebel in seinem Kopf braute sich wieder schnell und dicht zusammen, als er die Treppen hinunterstolperte, dann in den Schankraum, um zu der Ausgangstür zu gelangen. Es dauerte eine geraume Zeit, bis er erfaßte, daß die Stimme, die »Simon! Simon!« hinter ihm herrief, ihn meinte und daß es Amias' Stimme war. Dann lichtete sich der Nebel ein wenig, und als er sich umsah, erblickte er Amias, der in eine Decke gewickelt auf der niedrigen Bank neben dem Feuer lag, Amias, der sich mühsam auf einen Ellenbogen stützte und ihm sehr ängstlich nachschaute. »Amias!« rief er und war im gleichen Augenblick quer durch den Raum gerannt und an seiner Seite, ohne auf die Soldaten zu achten, die ihn neugierig anstarrten. »Ich dachte, du wärest jetzt schon zu Hause.« »Ich soll diese Nacht noch hierbleiben. Vater und ein langbeiniger Schotte, der eben hereinkam, haben es miteinander abgemacht. Aber ich wäre sowieso nicht nach Hause gegangen, ehe ich gewußt hätte, was aus dir geworden ist.« »Ich habe Befehl, in mein Quartier zurückzugehen«, berichtete Simon ihm. »Also bleibt kein einziger Flecken auf deinem guten Rundkopfcharakter?« Simon überlegte. »Ich glaube nicht.« »Ein großer Mann, euer General.« »Ja«, sagte Simon. Amias legte sich flach auf den Rücken und streckte seine freie Hand aus der Decke. »Oh, zum Teufel mit dir, Simon, du bist der beste Freund, den ein so fürchterlicher Trottel wie ich je 291

hatte«, sagte er kläglich. Simon drückte ihm herzlich die Hand. »Du wirst nicht mehr so demütig sein, wenn deine Schulter nicht mehr weh tut.« »Natürlich nicht«, grinste Amias. »Wer hat die Kirche in die Luft gejagt?« »Ach, es war ein Zufall. Dein Vater kennt die Geschichte. Sieh mal, alter Junge, ich muß nun abmarschieren. Wir sehen uns wieder, wenn...« Er brach ab. Fast hätte er gesagt, »wenn der Krieg aus ist«, aber das konnte man nicht zu einem Freund sagen, der auf der Seite stand, die verlor. Ein plötzlicher Windstoß, der lauter war als die voraufgegangenen, peitschte den Regen gegen die zerbrochenen Fensterläden, sauste knatternd durch den Schornstein hinab und blies eine Wolke von Rauch in den Raum. Als sie sich verzog, sahen sich die beiden immer noch an, und nicht die geringste Spur von Lachen war zwischen ihnen zurückgeblieben. »Wenn der Krieg aus ist, das wolltest du doch sagen, nicht wahr?« brachte Amias heraus. »Das wird nun nicht mehr lange dauern. Des Königs Kampf ist zu Ende, die Armee ist ein wüster Haufen.« Plötzlich klang seine Stimme ein wenig brüchig. »Wir hatten so große Hoffnungen.« Simon konnte nichts dazu sagen. Er berührte flüchtig Amias' gesunde Schulter. Es war ein armseliger Trost, aber es war der einzige, den er jetzt geben konnte, und Amias würde ihn verstehen. Dann wandte er sich ab. Der alte Davey Morrison war nebenan bei der Arbeit, und er pfiff leise seine einzige Weise, während er Instrumente säuberte. Als Simon an der offenen Tür vorüberkam, hörte er die langsam abfallende Melodie. Es wollte ihm scheinen, als seien die ›Blumen des Waldes‹ ein Klagegesang, nicht nur für die Schlacht von Flodden, sondern für alle Niederlagen seit Beginn der Welt, für alle Niederlagen und für alle zugrunde gegangenen Menschen, auch für Eiferer- im-Herrn. 292

Dann ging er an den Wachen vorbei hinaus in die wilde Februarnacht, die Schultern ge gen den peitschenden Regen gepreßt, und war nur noch von dem einen Gedanken beherrscht, daß er sich bald würde hinlegen und schlafen können. Am nächsten Tag kam Cromwell mit seinen Schwadronen aus Woodford zurück, und am Nachmittag hielt Pastor Hugh Peters, da es ein Sonntag war, die Predigt in einem Dankgottesdienst für die ganze Armee von einem Balkon auf dem Marktplatz. Und Simon, immer noch nicht ganz klar blickend und ziemlich weich in den Knien, war wieder bei seiner Schwadron. Er trug die seidene Standarte, die sich wie ein großes Blütenblatt im Februarwind regte. An jenem Tag nahm fast die Hälfte der königlichen Gefangenen Fairfax' Angebot an und ließ sich in die Neue Armee einreihen. Den Rest entließ der General und versah jeden Mann mit zwei Shilling, damit er nach Hause kommen konnte. Acht Fahnen und Standarten waren erobert worden, darunter die von Lord Hopton mit dem Spruchband, das die Worte trug ›Ich kämpfe für meinen königlichen Herrn‹, und mehrere leere zerbrochene Fahnenschäfte, von denen die Fahnen von Männern abgerissen worden waren, die sie jetzt nach Cornwall brachten, wo man sich zum letztenmal zum Kampf für eine verlorene Sache sammelte. Aber die blutbefleckte und zerschossene Fahne von Amias' Kompanie blieb ungestört in ihrem Fuchsloch, das zufällig ein verlassenes war. Die Frühjahrsregen spülten sie tiefer in das Loch, und im nächsten Herbst machte sich ein Eichhörnchen eine Vorratskammer in ihren Falten und vergaß dann, wie Eichhörnchen so sind, den Platz. Eine der Nüsse keimte und schlug Wurzeln, und bald wuchs ein feiner Haselschößling durch die alte königliche Fahne. Während der fünf Tage, die die Armee noch in Torrington blieb, plagte Simon unablässig der Gedanke an den Bericht für Major Watson. Er würde die Wahrheit sagen und gleichzeitig seinem alten Korporal die Treue halten müssen, und er sah 293

keinen Ausweg, wie er beides vereinigen konnte. Aber er wurde niemals bestellt, um den Bericht zu erstatten. Major Watsons Methoden waren rauh und rasch: Wenn eine Arbeit getan war, fragte er selten hinterher nach Einzelheiten. Er ließ ein paar Nachfragen anstellen wegen seines vermißten Melders und schloß aus den Berichten, daß er als Spion gefangengenommen und wieder entflohen war. Als der Mann sich nicht wieder bei der Truppe meldete, nahm er an, daß er seine Arbeit leid gewesen sei - was bei den Meldern nicht eben selten vorkam. Während dieser Tage mußte Simon auch, wie Fairfax gesagt hatte, seinen Frieden mit dem Regiment schließen, denn die ganze Geschichte war innerhalb von wenigen Stunden überall bekannt. Aber er hatte keine großen Schwierigkeiten. Denzil dagegen eine ganze Menge. Das Regiment hatte weit mehr Verständnis für einen Mann, der alles riskiert hatte, um einem Freund im anderen Lager beizustehen, als für einen Mann, der aus Boshaftigkeit so begierig der Chance nachgejagt war, einen Waffenbruder zu stürzen. Denzil, der so viel Zeit und Sorgfalt darauf verwandt hatte, Simon das Leben schwerzumachen, mußte erfahren, daß ihm die kalte Schulter gezeigt wurde und, was noch schlimmer war, daß er der Lächerlichkeit preisgegeben war. Innerhalb von ein paar Wochen erhielt er seine Versetzung in ein anderes Regiment, und sein altes trauerte ihm nicht nach. Aber das lag noch in der Zukunft, als Fairfax seine Truppen noch einmal nach Westen marschieren ließ, während strömender Regen die niedrig gelegenen Wege in rieselnde Bäche verwandelt hatte. In Stratton hatte Lord Hopton die Überreste seiner Armee wieder sammeln können, aber da er es für sinnlos hielt, einen Platz so nahe an der Grenze von Devon halten zu wollen, zog er sich nach Truro zurück. Hier wollte er zum letzten Male Widerstand leisten, aber seine abgerissenen Truppen waren nicht mehr imstande zu kämpfen, und so legte er an einem 294

strahlenden Märztag in Truro die Waffen nieder. Der Prinz von Wales war schon auf dem Wege nach Frankreich auf die ScillyInseln geflohen, und Lord Hopton, der das Angebot abgelehnt hatte, ein Kommando in der Neuen Armee zu übernehmen, wie es viele seiner Offiziere getan hatten, folgte ihm als treuer Diener über das Meer. Simon sah ihn das Schiff besteigen, das ihn ins Exil bringen sollte, und er fragte sich, ob Prinz Charles, der ein wilder und ziemlich unerfreulicher Jüngling sein sollte, die Treue eines solchen Mannes verdiente. Exeter fiel und dann Newark. Anfang Mai war dem König nichts mehr verblieben als Oxford, und er, der seine letzte Hoffnung vergebens auf die Schotten gesetzt hatte, war schon aus der Stadt geflüchtet und strebte verkleidet, den kleinen Bart abrasiert, nach Norden. Sechs Wochen la ng belagerte die Neue Armee Oxford, und dann mußte auch Oxford sich ergeben. Am Tag der Sommersonnenwende, als die frischbelaubten Bäume vor einem milchigen Himmel standen, sah Simon die Besatzung mit vollen kriegerischen Ehren ausziehen: mit dröhnenden Trommeln, wehenden Fahnen, brennenden Lunten. Ganz zuletzt ritten Prinz Rupert und seine Begleiter über die Magdalenenbrücke. Die Harnische glänzten im Sonnenlicht, die flatternden Mäntel, feinen Spitzen, hochragenden Federn, die fast alle bessere Tage gesehen hatten, wirkten vor dem zarten Grün der Bäume immer noch prächtig. Über allem aber erhob sich das feine Gitterwerk des Magdalenenturmes. Ein Bild so voller Schönheit wie eine Seite aus einem alten Meßbuch, in Gold und Lapislazuli gemalt zur Ehre Gottes. Und dahinter die Bitternis der Niederlage. Der Bürgerkrieg war zu Ende.

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Nach vielen Tagen

An einem Aprilabend kamen Simon und Amias durch das untere Gehölz. Sie hatten fast den ganzen Tag damit zu tun gehabt, das Jewel Water einzudämmen, wo die Frühjahrsregen die Uferböschung fortgespült hatten, und sie waren müde und zufrieden. Joram, Jillots Letztgeborener, trottete hinter Simon her, triefend naß und ebenso zufrieden, denn Joram liebte das Wasser, und er liebte Simon, und den ganzen Tag hatte er beides gehabt. Mehr als ein Jahr war vergangen seit dem bitteren Januarmorgen, an dem der König aus dem Fenster seines Festsaals auf das für ihn vorbereitete Schafott gestiegen war. Mehr als vier Jahre waren seit der Schlacht von Torrington vorbei, aber die beiden Freunde hatten sich während der ganzen Zeit nur sehr selten gesehen. Simon war nach dem Fall von Oxford bei seinem Regiment geblieben, und als der König es nochmals fertigbrachte, den Krieg aus seiner ›ehrenvollen Haft‹ neu zu entfachen, nahm er an dem Sturm auf Maidstone teil und wurde zum Leutnant befördert. Aber er hatte seinen neuen Rang nur wenige Monate inne. Dann sah das Parlament ein, daß es sinnlos war, weiterhin mit Charles zu verhandeln, da er offensichtlich nicht wußte, was ein Vertrag war, und Unruhe stiften würde, solange er lebte. Zum Wohle Englands mußte der König sterben. Cromwell und der größte Teil der Armee waren hierin einer Meinung, nicht aber Sir Thomas Fairfax. Simons General war in den Krieg gezogen, weil er Gerechtigkeit und Freiheit liebte und weil er es für seine Pflicht hielt. Aber die Hinrichtung des Königs, sagte er, sei nicht seine Pflicht. Sie sei nicht gerecht, sondern nur zweckdienlich, und er wolle nichts damit zu schaffen haben. Er weigerte sich, Charles' Todesurteil zu unterzeichnen, obwohl er 296

wußte, daß die Weigerung ihn sein Kommando in der Armee kosten würde. Als er seinen Dienst quittierte, taten viele seiner Offiziere das gleiche, unter ihnen auch Simon. So war Simon heimgekehrt, um die Wirtschaft in Lovacott zu übernehmen, denn darauf lief es hinaus. Sein Vater war endlich im Spätsommer des Jahres, in dem der Krieg aus war, nach Hause gekommen und hatte es mit Hilfe des alten Diggory geschafft, Haus und Hof in Ordnung zu halten, ohne genügend Leute und ohne genügend Geld, wie es so vielen Bauern und Grundbesitzern in den mageren Jahren nach dem Krieg ging. Aber es war zu harte Arbeit für einen so kranken Mann mit nur einem Bein gewesen, und als Simon heimkam, hatte er voll Dankbarkeit die Zügel in die Hände des Sohnes gelegt. Sie waren immer noch der ›Master‹ und der ›junge Master‹. Simon konnte sich stets bei seinem Vater Rat holen und sich in allen Fragen an ihn wenden, die Land, Leute und Vieh betrafen, in denen Simon noch keine Erfahrung hatte. Aber dennoch war er es jetzt, von dem sich die Knechte ihre Anweisungen holten und der entschied, was auf ›Sanctuary‹ gesät werden sollte, ob der Schweinestall eines Häuslers wirklich neu gebaut werden mußte und wann ein neues Ochsengespann gekauft werden sollte. Amias' Leben war ruhiger verlaufen. Er war nach der Schlacht von Torrington sehr krank gewesen, und als endlich seine Wunde verheilt und er wieder tauglich zum Dienst war, war der Krieg vorbei. So hatte er als Gehilfe bei seinem Vater angefangen, wie die beiden es immer geplant hatten. Als der König seine Standarte nochmals aufgepflanzt hatte, war er dem Ruf gefolgt, aber der Aufstand war schon fast zerbrochen, ehe er den Westen erreicht hatte, und Amias war in die Praxis seines Vaters heimgekehrt. Zu der Zeit, als Simon nach Lovacott zurückkam, war Amias in London, wo er im St.-BartholomäusHospital lernte. Erst seit wenigen Tagen war er wieder daheim, um seine Lehrzeit zu beenden und sich, wie er sagte, als gesetzter und wohlrespektierter Landarzt niederzulassen. Im 297

Augenblick allerdings waren wenig Anzeichen dafür vorhanden, daß er gesetzt oder wohlrespektiert sein würde, als er so glücklich durch das Haselgebüsch streifte. Sein rotes Haar stand wild zu Berge, und sein uraltes grünes Wams war auf einer Schulter zerrissen, weil er sich an einer harten Erlenwurzel verhakt hatte. Im Unterholz herrschte ein diesiges Grün, und es war erfüllt von Flügelschlägen brütender Vögel. Schlüsselblumen und Buschwindröschen streckten ihre kleinen hellen Gesichter zwischen Farnkraut und Brombeersträuchern empor, und draußen über dem freien Land riefen die Brachvögel. Amias zog den Duft von nassem Moos und wachsendem Grün ein und warf seinen Kopf hoch wie ein junges Fohlen im Westwind. »Hörst du die Brachvögel? Ich habe ein ganzes Jahr lang keinen Brachvogel rufen hören, und, beim Himmel, ich habe mich nach ihrem flötenden Ruf gesehnt!« Sie hatten, als er sprach, den Wald verlassen und gingen nun auf der steilen Grasböschung des Weges entlang, als er plötzlich anhielt. »Hallo, wen haben wir denn da?« Ein einsamer Wanderer war in diesem Augenblick vom Dorf her aufgetaucht und näherte sich ihnen mit großen Schritten. Er trug lose sitzende, abgetragene Kleider, die nach Seefahrt aussahen, und hatte einen roten Seemannshut auf dem Kopf. Simon kannte keinen Seemann, aber dieser hier kam ihm irgendwie bekannt vor. »Was, beim Himmel, tut ein Seemann hier abseits von der Hauptstraße?« fragte Amias. Aber Simon hörte nicht zu. »Guter Gott! Es ist Podbury!« rief er aus und sprang auf die Straße, indem er schrie: »Podbury! He!« »Ein lang entbehrter Verwandter?« fragte Amias, der ihm gefolgt war, aber er bekam keine Antwort. Der Seemann beschleunigte seine Schritte, als er Simon 298

erblickte, und kam mit einem breiten Lachen näher, das sein Gaunergesicht in zwei Hälften teilte. »Ja, wenn das nicht Kornett Carey ist! Ich habe im Dorf nach Ihnen gefragt. Es ist nicht leicht, Ihr Haus von dieser Seite zu finden.« Simon sagte verwirrt: »Ich dachte, Sie wären umgekommen, als das Pulverlager vor vier Jahren in die Luft flog.« »Nicht ich, Sir. Ich komme gerade aus Bideford, und davor war ich in Jamestown in der Neuen Welt. Ich bin nun ein ehrlicher Seemann, wie Sie sehen.« »Ja, das sehe ich. Was passierte in der Kirche? Wie kam es, daß das Pulver explodierte? Wie sind Sie entkommen?« »Das sind inzwischen alles alte Geschichten, Sir.« »Vielleicht«, meinte Simon. »Aber der Mann, der mit Ihnen in dem Versteck lag, war ein Freund von mir. Er starb an seinen Wunden und konnte uns nicht mehr viel berichten; und ich möchte die alten Geschichten hören.« »Sie meinen wohl Ismael Watts?« fragte Podbury. »Ja, den!« »Dann will ich Ihnen etwas sagen, Sir« - und sein Ton drückte aus, daß er einem Freund gefällig sein wollte -, »ich will Ihnen alles erzählen, was ich weiß, ehrlich und ohne Umschweife, aber darum bin ich nicht hergekommen. Ich kam, weil ich mir sagte: ›Benjamin Podbury, da bist du, gerade an deinem heimatlichen Ufer gelandet, und da ist Kornett Carey, dem es Kummer machen würde, wenn er daran denkt, daß du deiner Wege gezogen bist ohne Sohlen an den Schuhen sozusagen, und daß du nie zu ihm gekommen bist, damit er Gelegenheit hätte, dir zu helfen. Und wer bist du, daß du Kornett Carey Kummer machst, wo er doch ein alter Kamerad von dir ist?‹ Da bin ich also und...« »Suchen Sie Arbeit?« unterbrach Simon ihn. »Arbeit? Ach Gott, nein, Sir. Ich dachte daran, wieder 299

Taschenspieler zu werden, aber Jahrmärkte und so was sind jetzt außer Kurs, wie es scheint, und daher gibt es da nichts mehr zu verdienen, also will ich mir in Plymouth ein neues Schiff suchen. Aber ich dachte so bei mir, daß Sie wegen der guten alten Tage und unserer Brüderschaft im Krieg geneigt sein würden, einem würdigen Objekt auf seinem Weg zu helfen.« »Ich will Ihnen geben, was ich kann. In dieser Zeit hat niemand von uns viel zu verschenken.« »Klar, Sir, das weiß ich. Ich bin ein vernünftiger Mensch und nicht so einer, der es einem Kameraden verübelt, wenn seine Taschen nicht so voll sind, wie ich es mir wünschte«, versicherte Podbury gutmütig. »Geben Sie mir ein einfaches Essen dazu, und ich bin Ihnen nicht böse. Und da wir gerade vom Essen sprechen, schlage ich vor, daß wir gehen und eine Mahlzeit zu uns nehmen. Dann erzähle ich Ihnen auf dem Weg alles, was Sie wollen.« Simon merkte, daß sie die ganze Zeit stocksteif mitten auf dem Weg gestanden hatten, wobei Amias und Joram ihnen zuschauten, und eine kleine rote Färse, die den Kopf durch die Hecke geschoben hatte, blickte sie aus sanften, großbewimperten Augen an. »Kommen Sie mit«, sagte er. »Hier den Fahrweg entlang. « »Also gut«, sagte Podbury, als sie den engen Weg einschlugen, während Amias ihnen in einigem Abstand folgte. »Fragen Sie, Sir.« »Ich möchte gern wissen, was von dem Zeitpunkt an geschah, als Watts Sie über dem Pulverlager versteckte.« »Na ja, eine ganze Weile passierte überhaupt nichts. Ein furchtbar kaltes Quartier war es da oben. Ich war ganz braun und blau geschlagen und konnte mich kaum rühren. Ich wagte nicht zu stöhnen oder zu niesen aus Angst, daß jemand mich hörte, und der Schiffszwieback wurde grün und auch noch knapp. Nicht daß ich mich beklagen will, Sir, richtig dankbar 300

war ich, daß ich diesen Burschen hatte, wenn er auch für meinen Geschmack ein bißchen zu sehr wie der Prophet Jesaja aussah. Dann muß der Boden ihm zu heiß geworden sein, und eines Abends drückt er sich in einem Schneesturm mit einem Sack voll Zwieback an der Wache vorbei. ›Benjamin‹, sagte er, ›keiner von uns beiden rührt sich von diesem Platz, bis du wieder imstande bist, Spießruten zu laufen, oder die Neue Armee kommt.‹ Und so warteten wir.« »Was dann?« fragte Simon. »Ja, ja, ich erzähl' doch schon dauernd! So saßen wir vielleicht drei Tage, bis wir uns entschlossen, in der nächsten Nacht auszubrechen. Ich war inzwischen ganz leidlich wieder in Ordnung, soweit man sich in so einer Hundehütte und bei verschimmeltem Zwieback erholen kann. Aber als es dämmerte, hörten wir einen großen Lärm in der Stadt, Trommeln riefen zum Sammeln vor dem Angriff und so was. Dann kam ein Haufen Leute in den Turm und fing an, Pulver zu holen, und plötzlich hörten wir Musketenschüsse. ›Das ist Fairfax vor den Toren‹, sagte Watts. ›Nun laß uns gehen und die Amalekiter vernichten‹, sagte er, und dann merkten wir, daß irgend so ein Narr unsere Leiter weggenommen hatte! Wir konnten sie nicht hinter uns hochziehen, wissen Sie, weil sonst leicht einer von diesen mißtrauischen Burschen Verdacht schöpfen konnte. Nun, es war ein ziemlich langer Weg runter von der Glockenkammer, wenn man nicht weiß, wo man im Dunkeln landet, und ich war noch ein bißchen lahm. So entschieden wir uns, etwas zu warten, ehe wir riskierten, den Hals zu brechen, denn wir hofften, daß die Kirche schließlich unseren Leuten in die Hände fallen würde. Der Kampf kam näher, und plötzlich waren wir mittendrin, und dann schien er sich etwas zu entfernen, und wir hörten, daß viele Männer in die Kirche getrieben wurden, als ob es Gefangene wären, aber mit einem kleinen Schlitz im Fenster zum Rausgucken und bei den dicken Mauern konnten wir nichts Genaues erkennen, weder in wessen Händen die Kirche war 301

noch sonst was, und wir fühlten uns ziemlich ungemütlich, wie wir da so auf wer weiß wie vielen Pulverfässern saßen wie eine Henne auf faulen Eiern. ›Ich will hier raus‹, sagte ich. ›Ich will mir lieber den Hals brechen als in Stücke zerrissen werden.‹ Watts sagte zu mir, ich solle kein Narr sein, und griff im Dunkeln nach mir, aber ich ließ meinen Mantel in seinen Händen und fiel durch das Loch, wo eigentlich die Leiter sein sollte, wie eine Erbse durch ein Pusterohr. Zu meinem Pech landete ich auf allen vieren und machte genug Krach, daß der alte Davy Jones selber aufmerksam wurde. Im nächsten Augenblick flog die kleine Pforte zum Kirchhof auf, und eine ganze Masse neugierige Kerle stürzten rein, und sie hatten alle ihre Lunten brennen, und dann landete Ismael Watts auf mir und schrie laut: ›Weg, ihr Narren, Vorsicht, Pulver !‹ Aber ob sie das nicht begriffen oder... Jedenfalls, ich wand mich raus und sah dicht neben mir die Pforte, ich duckte mich also unter dem Arm von einem Kerl durch und rannte los - toll, wie man seine Beulen vergißt, wenn man in Not ist! Und ich war noch keine zwanzig Meter gelaufen, da ging die ganze Geschichte hinter mir hoch wie ein Feuerwerksrad. Ich besann mich schnell wieder, und weil ich die Nase ganz ekelhaft voll hatte von diesem Rumspionieren, sagte ich zu mir selbst, daß ich besser nicht in die Nähe von solchen käme, die etwas zu sagen haben, und je schneller ich hier türme, desto besser, und so türmte ich also.« Sie waren nun beim Haus angekommen, und Podbury blickte sich wohlgefällig um. »Wenn man das hier hätte, könnte man direkt ein anständiger Mensch werden«, meinte er. »Sie sagten, Ismael Watts kam um? Das dachte ich mir schon. Er war ein schwermütiger Mensch und hatte wohl nicht viel Freude am Leben.« In Simon, der seinem Bericht schweigend zugehört hatte, wallte heißer Zorn auf. »Zum mindesten rettete er Ihr Leben und gab seines dafür hin«, gab er grimmig zurück, als sie bei dem 302

Gehöft anlangten. »Ja, das tat er«, stimmte Podbury zu. »Ich hätte hängen müssen, wäre nicht Ismael gewesen, und ich habe viel Freude am Leben.« Und er schnüffelte geräuschvoll den würzigen Duft ein, der aus der Küche herüberzog. Simon überließ ihn Phoebe, bei der er sich sogleich in die Hammelpastete versenkte, indes Amias sich auf dem breiten Fensterbrett niederließ, von wo er ihn mit leicht verächtlichem Interesse beobachtete. Simon ging inzwischen nach oben und holte das Geld, mit dem er einen neuen Sattel hatte kaufen wollen. Er wußte genau, daß Podbury kein ›würdiges Objekt‹ war, aber es geschah nicht um Podburys willen, daß er sich ohne Sattel behelfen würde: Es geschah für Eiferer. Es war eine Art Dankopfer, denn er hatte nun die Gewißheit, daß die ganze düstere Geschichte zwar aus jenem längst vergangenen Verrat und Eiferers wildem Verlangen nach Rache entsprungen war, daß es aber dennoch Podburys unbesonnenes Handeln und nicht Eiferers Schuld gewesen war, das letztlich die fürchterliche Tragödie über die Kirche und die Gefangenen hereinbrechen ließ. Eiferer- im-Herrn war sich auf seine Weise treu geblieben. Simon ließ sich die klingenden Münzen in die Hand gleiten. Er ging nicht gleich wieder hinunter, sondern schlenderte hinüber zu seinem Vater, der einen schlechten Tag hatte. In vier Jahren hatte Simons Vater sich ganz gut daran gewohnt, ohne sein linkes Bein auszukommen. An Tagen, an denen es ihm gut ging, humpelte er über Hof und Felder, gewöhnlich vom alten Jillot begleitet. Er war der gleiche ziemlich ernste und stille Mensch, der er immer gewesen war. Verändert war er nur durch seine Krücke und einige Linien um den Mund, die nicht dagewesen waren, als er ausritt, um in der Parlamentstruppe zu dienen. Er konnte niemals wieder reiten, aber mit sachverständigem Interesse begutachtete er Simons Pferde und konnte oft Stunden damit zubringen, an einem Tor zu lehnen und zuzuschauen, wenn Simon und Tom ein junges Pferd 303

zuritten. Dann gewahrten seine kühlen hellgrauen Augen auch die geringste Kleinigkeit, jeden leisesten Erfolg und kleinsten Fehler, so daß Tom sich manchmal vorkam, als habe er statt der Finger nur Daumen, während Simon die wachsamen Augen offenbar nicht beunruhigten. Aber die vier Jahre zurückliegende Explosion hatte die Nerven und Muskeln an seiner verstümmelten Seite so mitgenommen, daß er von Zeit zu Zeit einen schlechten Tag hatte oder auch mehrere, an denen die alten Wunden unerträglich schmerzten und jede Bewegung ihn bis ins Innerste stach, und dann konnte John Carey nichts weiter tun als stilliegen und warten, bis der Schmerz wieder nachließ. Das tat er gerade jetzt, er lag lang ausgestreckt unter den zerwühlten Decken und sah aus dem Fenster hinaus in das Blau, aber er drehte seinen Kopf um, als Simon eintrat. »Ah, Simo n, wie steht es am Jewel Water«? »Wir müssen dort im Herbst Weiden pflanzen, damit das Ufer fest wird«, berichtete Simon ihm. »Aber im Augenblick ist alles in Ordnung, und das soll es wohl auch: Amias und ich haben den ganzen Tag mit Joram daran gearbeitet. Joram ist davon überzeugt, daß er ein Wasserspaniel ist.« Er setzte sich behutsam auf die Bettkante. Wenn man es behutsam machte, war es gut, aber bei heftigen Bewegungen schmerzte es. Sein Vater hatte nie darüber gesprochen, aber Simon wußte das. Er kannte seinen Vater inzwischen sehr genau. »Wie geht es? Ein bißchen besser?« »Ekelhaft, aber weniger ekelhaft als vor ein oder zwei Stunden. Morgen früh bin ich wieder munter. Ich würde schon versuchen, aufzustehen und zum Abendbrot herunterzukommen, aber das würde deiner Mutter Kummer machen.« Sie lächelten sich in vollkommenem Einverständnis zu. Simons Mutter konnte gelassen bleiben, wenn ein Heuschober in Brand geriet oder ein Bürgerkrieg ausbrach, aber in allem, was Simons Vater betraf, war sie wie eine Henne mit einem einzigen Küken. Sie gab sich die allergrößte Mühe, ihn das nicht merken 304

zu lassen, aber es gab ein unfehlbares Zeichen, das ihrer Familie immer verriet, wann sie sich ängstigte. »Eine schöne nahrhafte Brühe«, sagte Simon leise. Das Lächeln in den Augen seines Vaters verstärkte sich. »Genau. Wenn die schöne nahrhafte Brühe deiner Mutter mir ein neues Bein wachsen lassen könnte, wäre ich jetzt schon ein Tausendfüßler.« Er veränderte seine Lage ein wenig, um den Schmerz zu lindern, und Simon beugte sich vor, um eine Hand unter seine gesunde Schulter zu schieben und ihm zu helfen. »Vom rein egoistischen Standpunkt aus würde ich höchst ungern einen Tausendfüßler zum Vater haben«, bemerkte er. Dann, als der andere sich entspannte und wieder still lag: »Wir haben unten Besuch. Ein alter Kamerad von mir, der eben in Bideford gelandet und gekommen ist, damit ich Gelegenheit habe, ihm zu helfen. Sie geben ihm jetzt in der Küche etwas zu essen.« Mr. Carey zeigte keine Überraschung. Umherziehende Soldaten gab es jetzt überall, vom Kriege zurückgelassen wie Treibholz, wenn die Ebbe einsetzt. Erfragte: »Einer von deinen Soldaten? Was willst du mit ihm tun?« »Keiner von meinen Soldaten«, entgegnete Simon mit Nachdruck. »Und ich gebe ihm etwas Geld - mehr als ich mir leisten kann - und sage ihm sehr freundlich auf Wiedersehen.« Seines Vaters Augenbrauen zogen sich einen Augenblick überrascht hoch, und Simon schüttelte schnell den Kopf. »Nein, er will keine Arbeit. Regelmäßige Beschäftigung und Benjamin Podbury passen schlecht zusammen. Er war Gehilfe bei einem Richter und Taschenspieler auf dem Jahrmarkt. Er war einer unserer Melder, als er mir über den Weg lief, und den einzigen Abend, den ich in seiner Gesellschaft erlebte, verbrachte er damit, einen von Lord Grenvilles Soldaten mit einem falschen Würfel um einen Shilling und sechs Pence zu prellen. Er erzählte mir, daß er jetzt ein ehrlicher Seemann sei, aber ich 305

glaube, daß er spätestens auf seiner nächsten Reise zum Piraten wird.« »Was für außerordentlich sonderbare Gesellschaft du da offenbar in deiner Soldatenzeit gehabt hast!« Mister Carey lachte belustigt. »Wenn dieses Musterexemplar von Mensch so überzeugend wirkt, wie du ihn schilderst, dann scheint mir, daß du ihn am besten auszahlst, bevor deine Mutter ihn entdeckt und ihm alles schenkt, was wir besitzen.« Simon stand lächelnd auf. »Vielleicht hast du recht.« Er war halbwegs zur Tür, als er sich nochmals umwandte. »Job Passmore kommt morgen und fängt mit dem neuen Strohdach auf den Kuhställen an. Wie ist das, Vater, wenn du dich wieder besser fühlst, siehst du dir dann mal den Eselstall an? Diggory sagt, er müßte auch neu gedeckt werden, denn er kann es nicht ertragen, daß der Platz aussieht wie ein Räuberstall. Ich finde ja, daß das Reet noch gut genug ist bis zum nächsten Jahr - und wir können es uns ehrlich gestanden sowieso nicht leis ten, es jetzt machen zu lassen, wo wir gerade erst die neuen Zugochsen gekauft haben.« »Hast du ihm das gesagt?« »Ja, aber er schien nicht einverstanden.« »Diggory lebt immer noch in den guten Zeiten vor dem Krieg«, meinte der Vater. »Es ist schwer für alte Männer und alte Hunde, ihre Gewohnheiten zu ändern.« »Darum meine ich ja auch, daß er es dir eher glaubt als mir falls du über das Strohdach ebenso denkst wie ich.« »Höchst wahrscheinlich. Und ich zweifle nicht im mindesten daran, daß ich wegen des Strohdachs mit dir einer Meinung bin. So sei es also. Ich komme morgen früh und diene als Verstärkung, wenn Diggory geschlagen werden muß, aber du wirst mich wahrscheinlich stützen müssen.« »Danke, Vater. Das ist nett von dir.« Simon zögerte und sah auf ihn nieder. »Geht es dir wirklich besser?« 306

»Ja«, sagte John Carey. »Geh und sieh nach deinem merkwürdigen Freund.« Simon war zufrieden. Er war der einzige Mensch auf der Welt, dem sein Vater bei solchen Gelegenheiten die absolute Wahrheit sagte, dessen war er sicher. Podbury war gerade bei seiner dritten Pastete angelangt und sehr mit einem ledernen Humpen mit Apfelwein beschäftigt. Joram saß bolzengerade in einer Ecke, hatte dem Eindringling den Rücken zugekehrt und drückte in jedem Zoll von seinem fedrigen Kopfhaar bis zum letzten langen Haar seines Schwanzes Verachtung aus. Jillot dagegen, ein schamloser Bettler, saß zu Podburys Füßen, die zitternde Schnauze aufgerichtet und traurige Augen auf die Reste der Pastete gerichtet. »Das«, stellte Amias bedächtig von seiner Fensterbank her fest, »sind zwei von der gleichen Sorte. Verschiedene Methoden, aber...« Er brach ab und sah zu, wie ein Stück Pastete in Jillots Maul verschwand. »Genau dasselbe Resultat. « »Aber junger Herr, Sie werden doch nicht einem Mann etwas mißgönnen, der für sein Vaterland gekämpft hat?« brachte Podbury mühsam mit vollem Munde heraus. Amias antwortete nur mit einem Naserümpfen. »Hier haben Sie etwas«, sagte Simon und legte das Geld in die bereitwillig ausgestreckte Hand. »Es ist vielleicht weniger, als Sie erwarteten, aber es ist alles, was ich habe.« Podbury betrachtete die Münzen, nickte, spuckte bedauernd aus und steckte sie in seinen Beutel. »Ach, na ja, es hätte weniger sein können. Machen Sie sich keine Sorgen deswegen.« »Das tue ich auch nicht«, sagte Simon mit einem Anflug von Lächeln. Amias kam langsam von seinem Fenstersitz herunter und reckte sich. »Der Abend ist so schön, daß man nicht drinnen 307

bleiben kann. Komm, Simon, laß uns bis zum Abendbrot oben in den Obstgarten gehen und fa ulenzen.« »Ich komme gleich.« Simon wandte sich einen Augenblick zu dem alten Melder um. »Viel Glück und guten Wind, Podbury. Ich hoffe, Sie werden nicht eines Tages gehängt.« »Danke schön, Sir! Danke vielmals!« sagte Podbury strahlend. Als sie gingen, aß Podbury weiter, und Jillot kuschelte sich zu seinen Füßen. So bildeten sie den Mittelpunkt einer Gruppe, die von Phoebe und ihren Mägden gebildet wurde und die ihn halb bewunderte, halb ablehnte. Joram ging mit Simon und Amias. Ein paar Minuten später rekelten sie sich behaglich im oberen Obstgarten, wo die jungen Apfelweinbäume, die statt der von Grenvilles Soldaten abgeschlagenen angepflanzt worden waren, zögernd die ersten Blüten ihres Lebens entfalteten. »Ich weiß nicht recht«, sagte Amias, als er durch die jungen Bäume auf die ruhig daliegenden, zusammengeschmiegten Häuser und Scheunen hinabschaute, »nein, ich fühle mich nicht zu deinem alten Kameraden hingezogen.« Simon brummte, die Nase in dem hohen kühlen Gras des Obstgartens. »Jedenfalls erzählte er mir, was ich seit vier Jahren gern wissen wollte.« »Über die Explosion des Magazins, meinst du, und über diesen Watts?« »Ja.« Amias drehte sich um. »Warum hattest du so großes Interesse an ihm - dem anderen Mann? Wer war er?« »Mein alter Korporal«, sagte Simon. »Dein... Aber was tat er da? Und was hatte Podbury damit zu tun? Hör mal, was war denn da eigentlich los?« Simon antwortete nicht sogleich, dann erzählte er sehr ruhig, die Augen auf den Schatten eines blühenden Apfelbaumzweiges 308

im Gras gerichtet, Amias die ganze Geschichte. Er brach Eiferer nicht die Treue, wenn er Amias alles erzählte. Das war etwas ganz anderes, als wenn er diesen Bericht an seine Vorgesetzten bei der Armee geschickt hätte. Dessen war er ganz gewiß. »Armer Teufel«, sagte Amias leise, als die Geschichte aus war. »Armer, verrückter tapferer Teufel!« »Er war der beste Korporal, den man sich denken kann.« Keiner von beiden sprach wieder, bis sie ein wenig später den Schimmer eines roten, den Fahrweg hinunterhüpfenden Seemannshutes beme rkten. »Da geht Freund Podbury«, sagte Amias. »Merkwürdig, wenn man sich vorstellt, daß er der Spion war, um dessent willen wir Lovacott durchstöberten, und daß du mit ihm zusammenarbeitetest. Ich bin froh, daß ich das nicht wußte - von dir, meine ich -, als wir da waren.« Er stützte sich auf seinen Ellenbogen und sah Simon an, als die volle Wahrheit ihm aufdämmerte. »Wenn ich es gewußt hätte, hätte ich dich gefangennehmen müssen. Du wärest wahrscheinlich gehängt worden«, meinte er nachdenklich, und dann fragte er: »Simon, wenn es so gewesen wäre, hättest du mich dann gehaßt?« »Nein«, antwortete Simon. »Das wäre eben Kriegsgeschick gewesen. Ich hätte gewußt, daß du nicht anders handeln konntest.« Die plötzliche Anspannung wich von Amias. »Zum Glück wußte ich es nicht, und ich hoffe, Podbury findet ein Schiff, das ihm gefällt - keine Arbeit und reiche Beute.« Sie sahen dem scharlachroten Punkt nach, bis er außer Sicht war, dann sprachen sie erst wieder. »Übrigens traf ich gestern den Pfingstgeiger. Er redete davon, daß er wieder zur See gehen wolle.« »Der Pfingstgeiger will wieder zur See - nach all den Jahren? Das war doch wohl nicht sein Ernst.« 309

»Doch. Er sagte, da nun Tanzen für sündhaft gelte, habe ein Geiger nichts mehr im Lande zu suchen, aber er wettete, daß kein Parlament es verhindern könnte, daß Seeleute einen Geiger an Bord haben wollten. So zog er also dahin, wo er gern gesehen ist, und ich kann es ihm nicht verdenken. England ist langweilig geworden.« »Ja, aber sieh mal«, begann Simon und unterbrach sich, um sich selbst über seine Beweisführung klarzuwerden. »Du bist Arzt oder wirst es doch wenigstens bald sein. Du weißt, wie du einen kranken Menschen behandeln mußt. Du läßt alle Dinge beiseite, die er gern tut, du verordnest ihm einfaches Essen, läßt ihn zur Ader und gibst ihm bittere Arznei. Vielleicht mag er dich nicht, solange die Behandlung dauert, aber hinterher geht es ihm um so besser.« »Ja, aber wird es ein ›hinterher‹ geben?« entgegnete Amias. »Sicherlich. Der jetzige Zustand ist nicht - natürlich, jedenfalls nicht für England. Eines Tages werden wir wieder einen König haben.« »Dann gibst du also zu, daß das Commonwealth kein reines Vergnügen ist?« »Vielleicht«, gab Simon zu. »Obwohl eine Menge Gutes daran ist. Mehr Gerechtigkeit zum Beispiel, als es je unter König Charles gab, und wir nehmen langsam wieder unseren alten Platz unter den Nationen ein, den Platz, den Männer wie Sir Walter Raleigh für uns erobert haben und den unsere letzten beiden Könige aufgaben.« Es war seltsam, dachte er plötzlich, daß sie als Jungen, während der Kampf zwischen König und Parlament noch schwelte, nicht imstande gewesen waren, miteinander darüber zu sprechen. Das Thema war wie ein wunder Punkt gewesen, an den man besser nicht rührte. Aber nun brauchten sie es nicht mehr zu umgehen, konnten ihre Meinungen austauschen, brauchten nicht übereinzustimmen, und es machte nichts aus. 310

»Nun, ich halte dennoch nicht viel von eurem tapferen neuen England ohne König«, erklärte Amias, »selbst nicht, wenn wir eines Tages einen neuen bekommen. Was geschah denn mit dem alten?« »Wir wollten nicht, daß es so ausging«, sagte Simon schnell. »Wir gingen in den Krieg, damit der König einsehen sollte, daß das Volk Freiheit in der Ausübung seiner Gottesdienste braucht und - für solche Dinge, niemals, um ihn zu beseitigen. Irgend etwas ging schief am Schluß.« »Etwas ging schief, ganz bestimmt, und der König mußte deswegen sterben.« Amias riß mit einem scharfen, schnappenden Geräusch Grashalme aus. »Weißt du, ich bin froh, daß dein General Fairfax sich den anderen widersetzte und nicht das Todesurteil des Königs unterzeichnen wollte.« »Er ist ein Mensch, der für das, was er für das Rechte hält, auf dem Scheiterhaufen sterben würde.« »Und so sitzt er nun also in seinem heimatlichen YorkshireLehm, nehme ich an, und regiert über ein paar Bauernhöfe und einen Forellenbach, während die Männer, die unterzeichneten, England regieren.« Simon lachte. »Du scheinst so entrüstet zu sein, als sei er dein Kommandant gewesen und nicht meiner.« »Ich mochte euren General«, sagte Amias nachdenklich. »An jenem Abend, als wir, du und ich, vor ihn geführt wurden... Ich würde lieber unter ihm dienen als unter allen Männern, denen ich begegnet bin - außer Lord Hopton.« Jäh warf er sich flach auf den Bauch, legte den Kopf bequem auf seine Arme, und eine Weile war es still. Jorams weiche Ohren zuckten, und er öffnete ein Auge, als zwei Mädchen durch das Gartentor in die nahegelegene Ecke der Koppel traten, wo die alte Rizpah mit einem Fohlen an der Seite graste. Amias hob den Kopf und beobachtete, wie sie das kleine helläugige Geschöpf anlockten, während seine Mutter 311

ängstlich zuschaute. »Ich wette, das ist der letzte von den Winteräpfeln«, sagte er. »Kandiszucker«, meinte Simon leicht lächelnd. »Sie heben die allerletzten für Scharlach auf.« Amias schaute die kleinere der beiden an, die sich umgewandt hatte, die Schnauze des Fohlens in der hohlen Hand, und die andere mit einem etwas zaghaften Ausdruck des Triumphes ansah. »Weißt du, ich hätte nie gedacht, daß dieses bläßliche kleine Geschöpf sich in ein so glückliches Mädchen verwandeln könnte.« »Mrs. Killigrew hält nichts von Glück, so hatte es nie viel Gelegenheit zum Glücklichsein, bevor es zu uns kam«, sagte Simon. »Wie habt ihr denn Susannas Mutter dazu gebracht, daß sie ihre Besuche hier duldet?« »Oh, ich weiß nicht genau. Mutter und Mrs. Killigrew wechselten jahrelang Briefe über Vorratswirtschaft, und Maus machte einen glänzenden Eindruck, als sie sie letztes Jahr besuchte. Man kann sich immer darauf verlassen, daß Maus sich bei jeder Gelegenheit richtig benimmt, aber das weißt du ja. Und dann war es natürlich sehr günstig, daß Vater und ich beide für das Parlament gekämpft haben. Ich glaube, sie fand, daß Vater ein Bein dabei verloren hat, bürge irgendwie für die Prinzipien der ganzen Familie, obwohl mir persönlich diese Art der Folgerung fremd ist.« »Du bist nicht Mrs. Killigrew«, warf Amias ein. »Wie ging es deinem Vater, als du eben oben warst?« »Vater? Es geht ihm langsam besser. Er meint, morgen früh ist er wieder wohlauf, und er scheint es immer zu wissen.« Amias nickte. »Dann wirst du also in dem verzweifelten Kampf um das Eselstalldach seine Hilfe anfordern können.« »Ich habe sie schon angefordert. Er hat mir feierlich 312

versprochen, morgen früh zu kommen und mir gegen Diggory beizustehen«, sagte Simon, die Finger sehr zärtlich in den weichen Gruben hinter Jorams zuckenden, aufgeregten Ohren. »Hart wie Bergkristall ist der alte Mann«, fügte er in einem Ton von Stolz und liebevoller Respektlosigkeit hinzu. Die beiden Mädchen waren wieder ins Haus gegangen. Das Licht schwand, und fern über den westlichen Hügeln färbte sich der Himmel rosa hinter stillen Wolkenbänken, die einen Farbhauch trugen wie eine Taubenbrust. »Es wird morgen schönes Wetter geben für die Dachdecker«, sagte Simon zufrieden nach einer langen Pause. »Ich mache deine Hoffnung nicht gern zunichte, aber es wird Regen geben.« »Du bist nicht klug! Guck dir doch den rosa Himmel an!« »Das tue ich ja. Und wenn er auch scharlachrot mit grünen Flecken wäre, meine Schulter tut weh, und das bedeutet anderes Wetter, so sicher wie Einhörner.« »Ich kann nicht mit dir konkurrieren. Mein Kopf wirkt nicht als Wetterhahn.« Simon lachte. »Was für ein wanderndes Hospital wir sind! Übrigens, wie geht es deiner Schulter?« »Im allgemeinen ganz gut. Ich habe gelernt, ein Schwert mit der Linken zu führen. Was macht das schon aus? Man sagt sowieso, daß ein linkshändiger Schwertkämpfer die tödlichsten Stöße versetzt.« Jäh wandte er sich Simon mit einem seiner plötzlichen Begeisterungsausbrüche zu. »Ich habe ein neues Rapier aus London mitgebracht. Nein, natürlich konnte ich es mir nicht leisten, ich verkaufte fast alle meine Kleider, aber warte nur ab, bis du es siehst! Eine französische Klinge, dreiwinklig geschliffen, weißt du, geschmeidig wie eine Weidenrute und tödlich wie eine Natter. Man kämpft nur mit der Spitze. Ich muß es dir also so bald wie möglich zeigen.« »Und was meinst du, wozu ein ehrbarer Landdoktor eine solche Klinge braucht?« fragte Simon träge. 313

»Auch ein Landdoktor kann in Abenteuer verwickelt werden.« Amias' Augen tanzten. »Mein lieber Simon, sei nicht so phantasielos. ›Amias Hannaford, der duellierende Doktor.‹ Du nimmst Anstoß daran, wie jemand die Brauen hochzieht oder wie er sein Halstuch bindet, forderst ihn heraus, durchbohrst ihm die Brust und nähst ihm das Loch wieder zu. Das ist sehr gut fürs Geschäft.« »Du Narr!« schalt Simon und wartete auf mehr. Aber statt dessen hörten sie Maus aus der Seitentür rufen: »Simon! Amias! Wo seid ihr? Es wird Zeit zum Abendbrot.« Amias machte einen Trichter aus seinen Händen und rief zurück: »Hier oben im Obstgarten«, und sprang einen Augenblick später, als die beiden Mädchen durch das Tor kamen, auf die Füße und schlenderte ihnen entgegen. Simon zögerte noch ein Weilchen, um das Vergnügen zu haben, sie durch die blühenden Obstbäume herankommen zu sehen, Maus mit ihrem hochgerafften dunklen Rock, unter dem der dunkelrot gestreifte Unterrock herausschaute, Susanna mit einem Strauß Immergrün in dem großen viereckigen Krage n ihres grauen puritanischen Kleides. Dann ging er langsam hinter Amias her, und die vier trafen sich dort, wo die jungen Apfelbäume des oberen Obstgartens an die alten, überhängenden, tiefer stehenden grenzten. Susanna gesellte sich sogleich zu Simon und Maus zu Amias, denn so hatte es sich fest eingebürgert. Aber Maus richtete ihre ersten Worte an ihren Bruder, und sie klangen höchst empört. »Das finde ich überhaupt nicht nett von dir, Simon, daß du dem armen alten Soldaten erzählt hast, du könntest es dir nicht leisten, ihm mehr zu geben als eine Hammelpastete, besonders wo er doch ein alter Kamerad von dir war! Wir hätten nichts davon bemerkt, Susanna und ich, wenn wir nicht zufällig gerade aus der Vorratskammer gekommen wären, als er gehen wollte.« »Und er hat euch erzählt, ich wollte ihm nur eine 314

Hammelpastete geben?« »Oh, er beklagte sich nicht, weißt du, aber ich glaube, er war ein bißchen beleidigt. Susanna und ich gaben ihm jeder Sixpence. Das war alles, was wir hatten, und er war rührend dankbar!« »Das will ich wohl meinen«, sagte Simon. Amias sank mit einem Lachanfall unter die niedrigen Zweige eines Quittenbaumes. Maus wandte sich mit hochgezogenen Brauen zu ihm um. »Wir scheinen euch zu belustigen«, brauste sie auf. »Nein, o nein«, brachte Amias stoßweise hervor. »Nur - ich gab ihm eine Krone, und Simon schenkte ihm seine ganzen Ersparnisse. Ein würdiges Objekt. Oh, du lieber Himmel.« »Nun!« begann Maus entrüstet, dann brach auch sie in ein Lachen aus, und Simon platzte los, bis er plötzlich Susannas schmales Gesicht sah, das ernst und verwirrt und ein wenig entsetzt dreinschaute, so daß er sich zum Aufhören zwang. »Es tut mir leid um deine Sixpence, Susanna«, sagte er. »Oh, mir liegt nichts an den Sixpence«, entgegnete Susanna. »Aber - meinst du, daß wir den Mann ermutigt haben, auf dem Pfad des Bösen zu gehen?« »Du meine Güte, Podbury braucht man nicht dazu zu ermutigen«, warf Amias ein und strich sich mit dem Handrücken über die Augen, als er wieder unter dem Quittenbaum hervorkroch. »Das würde ich nicht sagen«, meinte Simon. »Ich glaube bestimmt, daß er deine Sixpence sehr gut brauchen kann.« Er fühlte, wie es ihm um die Mundwinkel zuckte, und bemühte sich heftig, das Lachen zu verbeißen, um nicht Susannas Gefühle zu verletzen. Sie sah ihn ernst an. »Ich verstehe nicht immer ganz, warum etwas komisch ist«, meinte sie nachdenklich. »Hoffentlich 315

nehmt ihr das nicht übel. Ich bemühe mich, es zu lernen.« Simon beugte sich vor und berührte ihre Hand. »Susi, ich bin nur ein ziemlich dummer Junge. Ich mag dich, wie du bist.« Dann war es ihm, als habe er seine Worte nicht sehr glücklich gewählt. Aber Susanna fand alles in Ordnung. Sie sagte nichts. Sie blickte ihn immer noch an. An jenem Abend schien über dem unteren Obstgarten ein Zauber zu liegen, der sie dort bannte, obwohl es längst Zeit zum Abendbrot war. Die Dämmerung kroch durch das hohe Gras, aber sie reichte noch nicht weit genug hinauf, um den zarten Glanz der Blüten zu verdunkeln, die die alten, knorrigen Äste der Obstbäume besternten. Der zarte, kühle Duft der Apfelblüte war überall und schien auf dem stillen Dämmerlicht zu schweben. Dann kam ein leichter Windstoß das Tal herauf, trug den erregenden Duft von Kaninchen in Jorams Nase und bestreute das Gras mit einem Blütengestöber gleich einem Schneeschauer im Märchen. »Abendbrot«, sagte Maus vernünftig und streckte Susanna eine Hand entgegen. Sie wandten sich um und gingen auf den Nebeneingang zu, während Joram vor ihnen hin und her rannte. Simon und Amias blieben zurück, und als sie durch den Garten schlenderten, hatte einer dem anderen die Hand auf die Schulter gelegt. Fast ein Jahr war vergangen, seit Simon von den Soldaten zurückgekommen war, aber heute abend, als er in den Garten seiner Mutter eintrat, überkam ihn plötzlich die lebhafte Gewißheit, daß er nun wirklich heimgekehrt sei. Er erinnerte sich daran, wie er in jenen Wochen vor der Schlacht von Torrington gespürt hatte, daß er nicht hierher gehöre, sondern nur ein Wanderfalke sei, der noch nicht das Anrecht auf eine Heimkehr erworben habe. Nun, ganz plötzlich, war es, als ob Lovacott ihm seine innerste Tür geöffnet hatte, die Tür zu einem 316

verborgenen Heiligtum, von dem er zuvor nichts geahnt hatte, das ihn nun, gefegt und geschmückt, mit dem Feuer im Herd, in seinem Haus willkommen hieß. »Seht doch«, rief Maus über die Schulter zurück, »wie schön die Narzissen in diesem Frühjahr blühen, die Mutter aus Spalding bekam!« Die Narzissen wuchsen dicht gedrängt unter dem Wohnzimmerfenster, drinnen brannten schon die Kerzen, und das Zimmer war so golden wie die Narzissenblüten. Als sie am Fenster vorübergingen, warf Simon einen Blick hinein und sah Balan an seinem altvertrauten Platz über dem Kamin, aber jetzt wirkte die einzelne Klinge in ihrer abgeschabten Scheide, die für zwei gemacht war, nicht mehr so einsam. »Ich denke«, sagte Amias neben ihm, »das nächste Mal, wenn ich komme, bringe ich Balin zurück. Ich werde das Schwert nicht wieder gebrauchen, es ist zu lang und zu schwer für den neuen Stil im Schwertkampf, und es ist doch eine Schande, ein Paar Rapiere auseinanderzureißen. Es gehört dann natürlich noch mir, aber wir wollen es an seinen alten Platz neben Balan hängen. Sie gehören am Ende doch beide zusammen.«

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Anmerkung der Autorin

Die meisten historischen Bücher behandeln den letzten Feldzug des Bürgerkrieges in einem einzigen Abschnitt und erwähnen die Schlacht von Torrington überhaupt nur selten. In diesem Buch habe ich zu zeigen versucht, wie jener letzte Feldzug im Westen verlief, und habe die Schlachten, die in meiner Heimat geschlagen wurden, noch einmal geschlagen. Die meisten Menschen, die ich beschrieben habe, haben wirklich gelebt; die Kirche von Torrington wurde tatsächlich mit zweihundert königlichen Gefangenen und ihren parlamentarischen Wachsoldaten in die Luft gesprengt, und niemand hat je herausgefunden, wie es dazu kam, obwohl Kaplan Josua Sprigg schriftlich überliefert hat, daß die Tat von ›einem gewissen Watts, einem elenden Schurken‹, vollbracht worden sei.

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