Simon der Kornett

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Rosemary Sutcliff

Simon der Cornett scanned by Ginevra corrected by Chase

Als Oliver Cromwell wieder ein neues Heer aufstellt, um dem absolutistischen Regiment Karls I. für immer ein Ende zu bereiten, meldet sich der junge Simon als Kornett zu der »Neuen Armee«. Auch sein Freund seit Kindertagen, Amias, greift zu den Waffen, doch er entscheidet sich für das Heer von König Karl. Plötzlich stehen sich die beiden Freunde als Feinde gegenüber. Es kommt zur unausweichlichen Begegnung im Kampf. Nun müssen sich die beiden entscheiden. Wird die politische Überzeugung über die Freundschaft siegen? Titel der Originalausgabe: >SimonEroberung von Guayana< aus dem großen 3

kalbsledern gebundenen Band von Hakluyts >Rei-senDing< ist dabei, das wir wahrscheinlich mit ausgegraben haben.« »Was für ein Ding?« fragte Amias, der gerade den Kirschapfelbutzen unter dem Tisch gefunden hatte. Aber im gleichen Augenblick erschien Doktor Hannaford im Eingang. Er streifte seine Reithandschuhe beim Eintreten ab. Simon steckte das »Ding« vorn in seine Kniehose und wand sich eilig rückwärts unter dem Schrank hervor. Doktor Hannaford stand breitbeinig da und musterte sie aus sehr blauen Augen unter dachsgrauen Brauen. »Ach«, sagte Doktor Hannaford mit vergnügtem Poltern, das aus der Tiefe seiner Brust aufzusteigen schien. »Ein bißchen Gärtnerei, was Amias? Und Simon übt sich im Austeilen von Hustenbonbons? Ich dachte immer, Amias wollte Doktor werden und Simon den Boden bebauen. Komisch, wie leicht man sich doch täuschen kann.« Sie fingen beide gleichzeitig an zu erklären, aber Doktor Hannaford schaute auf die Hustenbonbons in Simons Hand. »Bestimmt wird der Apfelsaft Omi Halfyard sehr gut tun«, sagte er, »aber Spinnweben sind falsch. Spinnweben sind für eine offene Wunde, nicht für einen entzündeten Hals.« Simon entfernte eilig die Spinnweben. Nachdem Tomasine geschmortes Hammelfleisch und Backpflaumen hereingebracht hatte und mit Türknallen wieder gegangen war, stellten sie sich wenige Augenblicke später um den runden, lederbezogenen Tisch. Die beiden Jungen standen mit gesenktem Kopf und gefalteten Händen hinter ihrem Stuhl, während der Doktor das Tischgebet sprach, dem er eine Bitte anfügte, die er seit Beginn der Unruhen immer angehängt hatte, daß Gott seine höchst glorreiche Majestät König Charles schützen und seine Feinde im Parlament vernichten möge. Simon fand diesen Teil des Tischgebetes ziemlich verwirrend, 5

denn wenn sein Vater abends beim Familiengebet den König erwähnte, dann bat er, daß er zur Vernunft kommen möge, bevor er England ruiniere. Daher war er froh, wenn das Tischgebet vorbei war und er alles bis zur nächsten Mahlzeit vergessen konnte. Simon gefiel es sehr, bei Doktor Hannaford zu essen. Er liebte den niedrigen Raum, der, obwohl er Studierzimmer genannt und als Wohnzimmer benutzt wurde, fast so angefüllt war mit Mörsern und Stößeln, Instrumenten-schachteln, Pillenbüchsen und Teertöpfchen wie nebenan das Sprechzimmer. An den Wänden entlang liefen Borde, in denen Bücher über Krauter, Medizin und Astronomie Seite an Seite mit Drogengefäßen aus grünem Glas oder grauem Ton standen, jedes mit seinem Namen in Gold versehen: Quecksilber, Kamille, Kampfer und Opium; so entstand eine Art dunkler Wandteppich mit einzelnen Flecken aus Licht und Farbe, die Simon eigenartig bezaubernd fand. Auch der Geruch des Studierzimmers war faszinierend: ein Gemisch aus Drogen und Krautern, den Ledereinbänden alter Bücher, einem Hauch Mäuseduft und der warmen Süße von Äpfeln. Simon schnüffelte zufrieden, während er sein Mittagessen aß und dem Doktor zuhörte, der Abschnitte aus einem Buch vorlas, das geöffnet neben ihm auf dem Tisch lag. Doktor Hannaford hatte die Gewohnheit, bei Tisch zu lesen, weil er sonst niemals Muße dazu fand. Und gewöhnlich las er den beiden Jungen vor. Heute war es ein neues Buch, >Der Blutkreislauf^ von einem Dr. William Harvey vom Bartholomäus-Hospital. Simon interessierte sich nicht sehr dafür, aber Amias fand es besonders fesselnd. Erst als sie fast mit dem Essen fertig waren, erinnerte Simon sich an das »Ding«, das er unter der Truhe gefunden hatte. Er zog es aus seiner Hose und betrachtete es in der Hand. Es war vielleicht eine Raupe, die sich eingesponnen hatte, braun und glänzend und sehr groß, mit einem merkwürdigen kleinen Schwanz, der wie der Henkel eines Topfes über ihrem Rücken stand. Simon hatte noch nie etwas Derartiges gesehen. Er hielt es dem Doktor hin, und Amias reckte sich über den Tisch, um besser sehen zu 6

können. »Es war in der Erde des zerbrochenen Topfes«, sagte er. »Was kann das nur sein, Sir?« »Muß etwas von einer Raupe sein«, sagte Amias und drückte darauf. »Mit einer harten Haut«, fügte er hinzu. Doktor Hannaford zog seine eckige Hornbrille heraus. Er besaß Augen wie ein Falke, aber er hatte in seiner Jugend eine Brille getragen, um gelehrt auszusehen, und nun hatte er sich daran gewöhnt. Er schob sie auf die Nasenspitze und betrachtete das »Ding« in Simons Hand. Dann schüttelte er den Kopf. »Tut mir sehr leid, aber ich kann nur sagen, daß es eine Art Puppe ist. Wenn es sich freilich um eine Gemütskrankheit oder um eine krampfartige Kontraktion des Brustkorbs gehandelt hätte, so könnte ich euch genaue Auskunft geben - sogar über ein Zusammentreffen von Saturn und Merkur: Aber eine Puppe - nein, davon habe ich keine Ahnung.« »Wissen Sie überhaupt nicht, um welche Art es sich handelt?« Simon war erstaunt und enttäuscht, denn gewöhnlich wußte der Doktor einfach alles, was man ihn fragte. »Nein«, sagte Doktor Hannaford und steckte die Brille wieder in die Tasche. »Am besten fragt ihr mal den Pfingstgeiger, wenn ihr ihn trefft. Es gibt kaum etwas Lebendiges, das er nicht wenigstens vom Sehen kennt, glaube ich.« Die Jungen tauschten einen Blick über den Tisch, und ihre Augen glänzten vor Aufregung. Das war das Abenteuer für diesen Nachmittag. Sie sprachen nicht miteinander, denn nur selten hatten sie es nötig, sich mit Worten zu verständigen; aber ihr Plan lag sofort fest. Der Pfingstgeiger war eine sagenhafte Gestalt in dieser Gegend. Er kam und ging so launenhaft wie ein Aprilwind, er und seine arg mitgenommene Geige, der er seinen Namen verdankte. Und wo immer er erschien, zur Kirchweih, zur Hochzeit, zum Jahrmarkt, überall war er willkommen mit seiner Geige, die die Füße der Männer tanzen ließ und den Mädchen das Herz weit machte. Von Hartland bis Süd-Molton waren alle Frauen, Männer und Kinder, die ihn zufällig trafen, seine Freunde. Aber niemals kam jemand in seine Nähe, wenn er zu Hause war. Niemals ging jemand in das bewaldete Tal, in dem seine Hütte lag, ohne daß er die Finger über Kreuz gelegt oder den 7

Mantel umgewendet hätte. Denn der Pfingstgeiger hauste allein in einer Lichtung der Wälder jenseits des Torridge, an einem Ort, an dem ein sterblicher Mensch besser nicht wohnte. Einstmals hatten ganz normale Leute in der Hütte gelebt. Wo einst der Garten gewesen war, blühten jetzt Geisterblumen - weißer Fingerhut, Eisenkraut und Holunder -, und jeder wußte, was das bedeutete. Von jeher war der Platz »Einöde« genannt worden, und ein Ort bekommt nicht ohne Grund einen so merkwürdigen, unheimlichen Namen. Und da kein Mensch unbehelligt auf einem Stück Land, von dem die Geister Besitz ergriffen haben, wohnen kann, wenn er nicht mit ihnen sehr vertraut ist, war es klar, daß der Pfingstgeiger mit den Unterirdischen verwandt war. Wenn man ihn also in seiner Festung besuchte und ihn fragte, zu welcher Mottenart die braune Puppe gehörte, so war das ein Abenteuer, das diesen vom Himmel gefallenen Ferientag wert war. Sie weihten niemanden in ihren Plan ein, denn ein Abenteuer soll man nicht vorher verkünden. Als der Doktor nach dem Essen wieder an seine Arbeit gegangen war, nahmen sie sich einfach eine Dose für die Puppe und machten sich auf den Weg. Sie gingen den Garten hinunter in Richtung auf den Schloßberg, Amias voran und Simon ihm dicht auf den Fersen. Amias führte in allem, was sie taten, teils weil er elf und Simon erst zehndreiviertel war, teils weil er eine Führernatur war und glänzende Ideen hatte, während Simon von Natur aus dazu geschaffen schien, treu zu folgen und die glänzenden Ideen davor zu bewahren, in einer Katastrophe zu enden. Der Wind brauste aus Südwest, er peitschte das Farnkraut zu einem wilden goldenen Meer und sauste mit gellendem Pfeifen durch den hüfthohen Ginster wie die fortströmende Flut in einer steinigen Bucht; und die Jungen stürzten sich hinein, rannten und schrien vor Freude über den Herbststurm. Sie stürmten über den Berg, auf den ausgetretenen Schafspuren, die im Zickzack durch den Ginster führten, und bewegten sich in halsbrecherischem Tempo, denn sie waren durch viel Übung so 8

leichtfüßig wie Bergschafe. So kamen sie schließlich außer Atem und lachend am Flußufer oberhalb von Taddiport an. Taddiport bestand aus einem Haufen von zweifelhaften Hütten, und die herrschaftliche Mühle kauerte sich hinter den steilen Fels des Schloßberges. Es war mit der hoch darüber liegenden Stadt Torrington durch die steil ansteigende Mühlenstraße verbunden, die herunterhing wie ein in Ungnade gefallener Schwanz, so daß man immer meinte, er müßte wedeln, wenn die Stadt sich freute. Meistens, wenn die Jungen in diese Richtung gingen, überquerten sie die Mühlenstraße und liefen stromabwärts, um den Fluß in einer der zahlreichen Furten zu durchwaten. Aber heute entschlossen sie sich ohne besonderen Grund, den Fluß, wie andere Christenmenschen auch, auf der buckligen Brücke zu überqueren, wo das samenstreuende Weidenröschen unter den Bögen wuchs. Am anderen Flußufer hielten sie an, um einen Freund zu begrüßen, einen dürren, müßigen Mann mit einem wäßrigen, blauen Auge und einem Frettchen in der Tasche. »Na, Freunde, schwänzt ihr die Schule?« fragte der einäugige Mann freundlich. »Nein. Unser Lehrer hat das Bauchgrimmen, und wir haben frei«, erzählte Amias ihm. Sie gingen weiter, an der Kapelle des alten Aussätzigenspi-tals vorüber und in die jenseitigen Wälder, wo der Wind durch die Bäume brauste wie ein stürmisches Meer und wo man schreien mußte, um sich gegen den Wind verständlich zu machen. Die ganzen Wälder waren von Sonnenschein erfüllt, und die verschrumpelten Blätter wirbelten im Sturm. »Das ist der Orinoco!« rief Amias plötzlich, als sie sich flußabwärts ihren Weg fast bis zur Rothernebrücke gebahnt hatten und den kleinen, halb versickerten Bach erreichten, der aus dem Tal der Einöde herabkam. »Und wenn wir ihm folgen, dann führt er uns nach Manoa, der goldenen Stadt, die die Spanier El Dorado nannten.« So verwandelten sich die Wälder in das große reiche Land Guayana, und das trübe Rinnsal, das in den Torridge floß, war ein großer Silberfluß, der sich durch die Wälder mit riesigen Bäumen wand, durch deren Zweige die weißen, karmesinfarbenen und blaßroten Vögel Sir Walter Raleighs flatterten. Die beiden Entdecker 9

stürmten wild begeistert vorwärts, bis sie weitab in dem gewundenen Tal waren. Dort hielten sie an und sahen sich plötzlich erschrocken an. »Vielleicht ist er nicht zu Hause«, sagte Simon und schämte sich plötzlich, weil seine Stimme hoffnungsvoll klang. »Natürlich könnten wir unsere Wamse umkehren«, schlug Amias vor. »Dann wären wir ganz sicher. Aber vielleicht hat er das nicht gern.« Simon schüttelte den Kopf. »Das wäre doch, als ob wir ihm nicht trauten, wenn wir so zu ihm kommen«, meinte er. So setzten sie ihren Weg fort und trugen das Wams mit der richtigen Seite nach außen, was eine Menge Mut erforderte. Sie hatten den Fluß nun verlassen und stiegen den bewaldeten Hügel hinauf mit dem Duft von Abenteuern in ihren begierigen Nasen. Noch ein paar Schritte, und der Wald hörte plötzlich auf. Sie waren am Rande der Lichtung, die sie gesucht hatten. Die »Einöde« lag abseits des Haupttales, eingebettet in Hügel und vor dem Winde geschützt, der rundherum durch die Baumkronen brauste. Die Stille hier ließ den Platz sonderbar geborgen erscheinen. Holundersträucher umringten ihn, tropfend von dunklen Beeren, die die Amseln und Drosseln so lieben. Holzapfelbäume ließen ihre Zweige mit kleinen rotbraunen Äpfeln fast bis in das hohe Gras hängen, auf dem die korallenroten Blätter der wilden Kirsche lagen. Immergrün und wilde Geranien ließen erkennen, wo einst gehegte Blumenbeete gewesen waren. Das Gestrüpp war so dicht, daß es eine Weile dauerte, bis die beiden Jungen, die am Waldrand standen und sich umschauten, die baufällige Hütte auf der anderen Seite entdeckten. Dann sahen sie sie beide im gleichen Augenblick. »Da ist sie!« rief Amias und zeigte hin. »Ja, was für ein merkwürdiger Ort«, sagte Simon mit angehaltenem Atem. »Ich möchte wissen, ob der Pfingst-geiger da ist.« »Hm, ich auch.« Einen Augenblick standen sie regungslos. Dann straffte Amias die Schultern und strebte vorwärts. »Los, komm, laß uns nachsehen!« 10

Simon marschierte ihm nach und umklammerte die Dose mit der braunen Puppe. Sie bahnten sich einen Weg durch das Gestrüpp bis zum offenen Eingang der Hütte und hielten an. Die Hütte war so niedrig, daß das Dach fast bis zur Höhe ihrer Augen herunterkam. Es war einst strohgedeckt gewesen, aber jetzt war das verfaulte Rohr mit Moos wie mit smaragdfarbenem Samt überzogen. Die offene Tür sah aus, als sei sie seit Jahren nicht geschlossen worden; die Schwelle war von Nesseln überwuchert, und drinnen schien niemand zu sein. »Laß uns anklopfen«, sagte Amias und pochte höflich an die offene Tür. Sie horchten, aber nichts geschah; dann scharrten sie mit den Füßen und riefen höflich: »Pfingstgei-ger, bist du zu Hause?« Immer noch nichts. »Er ist nicht da«, sagte Amias halb verärgert, halb erleichtert. Er blickte eine kleine Weile nachdenklich auf die Tür und kam zu einem Entschluß. »Ich sehe nicht ein, daß wir den ganzen Weg umsonst gemacht haben. Ich will mal reingucken.« »Ich glaube, wir sollten das lieber bleiben lassen«, meinte Simon leise. Aber Amias rümpfte die Nase über ihn - er konnte sie besonders beleidigend rümpfen - und ging geradewegs in den Eingang hinein. Simon folgte wie unter einem Zwang, und sie standen beide und spähten in das Dunkel, während das Herz ihnen ungemütlich klopfte. Keiner von ihnen wußte, was sie eigentlich erwartet hatten. Was sie aber wirklich in der hintersten und dunkelsten Ecke sahen, das war eine undeutliche weiße Gestalt, die plötzlich ihre Arme ausbreitete und vorwärtsschoß, genau auf ihre Gesichter los, mit einem durchdringenden, düsteren Schrei, der ihnen das Blut gerinnen ließ. Sie sprangen zurück und erblickten im Davonrennen für einen Augenblick ein merkwürdiges ovales Gesicht mit ungeheuren Augen. Dann glitt die Gestalt auf geisterweißen, stillen Flügeln davon. »Das war eine weiße Eule«, rief Amias. »Nur eine dumme, alte weiße Eule!« Und er lachte und rief es den Bäumen zu. »Eine weiße Eule - eine weiße Eule!« Aber er rannte immer weiter bis an den Rand der Lichtung, und Simon lief hinter ihm her. Im Schutz des Waldsaums hielten sie an und blickten sich ins Gesicht. 11

»Eine weiße Eule; weiter war es nichts«, sagte Amias. »Dumm, sich von einer weißen Eule verscheuchen zu lassen«, meinte Simon bedächtig. »Ich gehe zurück.« »Los«, kommandierte Amias, und sie kehrten um. Sie waren gerade wieder beim Eingang angekommen, als sie ein neues Geräusch hörten. Es klang fast so wie die schrilleren Obertöne des Sturmes, so daß sie zuerst nicht sicher waren, ob sie überhaupt etwas gehört hatten. Dann stieg hell, süß und klar ein Geigenton über dem Aufruhr empor, keine Melodie, sondern nur eine Begleitung zu dem Wind in den Bäumen. Sie drehten sich um, und da stand, an den Stamm einer wilden Kirsche gelehnt, die Geige unters Kinn geklemmt, der Pfingstgeiger. Er beobachtete sie unter seiner herabhängenden Hutkrempe hervor. Sobald sie sich umdrehten, hörte er auf zu spielen und kam auf sie zu, während seine Lippen spöttisch zuckten. »Ihr wolltet also die Höhle des Zauberers besichtigen, obwohl er nicht da war, meine jungen Herren?« fragte der Pfingstgeiger und sah auf sie hinunter. »Das wollten wir nicht!« sagte Amias entrüstet. »Wir wollten dich besuchen. Wir wußten nicht, daß du nicht da warst.« »Und dann flog die weiße Eule aus deinem Haus und -wir rannten weg. Darum mußten wir natürlich zurückkommen«, fügte Simon hinzu, der peinlich genau war. »Ach ja, die arme Bess hat sich bestimmt mehr erschreckt als ihr.« »Gehört sie dir?« fragte Amias. »Genauso wie ich ihr gehöre. Sie sucht manchmal Schutz unter meinem Dach, das ist alles.« Er strich langsam mit dem Bogen über die Saiten, machte eine sanfte, traurige Musik ohne Melodie und sah die beiden Jungen währenddessen nachdenklich an. Dann brach er ab und fragte spöttisch: »Hattet ihr keine Angst, hierher zu kommen? Wußtet ihr nicht, daß ich mit den Unterirdischen verwandt sein soll? Fürchtet ihr nicht, daß ich euch in weiße Mäuse verzaubere? Abrakadabra, Nieswurz und Leinkraut. Grrr!« 12

Die Jungen blieben mit schlotternden Gliedern stehen und starrten ihn an. Merkwürdigerweise war es Simon, der als erster die Sprache wiederfand, während er plötzlich freundschaftlich in das seltsame dunkle Gesicht des Geigers lächelte. »Nein«, sagte Simon. »Gut«, nickte der Geiger. »Und nun erzählt mal, warum ihr gekommen seid.« Simon hatte die Puppe ganz vergessen. Sie war sowieso nur ein Vorwand für das Abenteuer gewesen. Aber nun erinnerte er sich und hielt die Dose hin. »Wir fanden dies, als wir ein bißchen Erde aufgruben«, sagte er atemlos. »Wenigstens taten wir die Erde in einen Topf, weil wir etwas Besonderes züchten wollten, und dann zerbrachen wir den Topf. So fanden wir es und wußten nicht, was es ist. Wir dachten, vielleicht könntest du uns das sagen.« Der Pfingstgeiger klemmte seinen Geigenbogen unter einen Arm, öffnete die Dose und nahm die Puppe heraus. Er schwieg eine Weile, während er sie in seinen mageren braunen Händen um und um drehte. Dann fragte er: »Waren da Winden in der Nähe, wo ihr sie ausgegraben habt?« »O ja, dort, wo wir die Erde geholt haben, ist das ganze Ufer davon überwuchert«, warf Amias ein. »Ja, das dachte ich mir. Es ist die Puppe eines Nachtfalters. So eine wie diese habe ich erst ein einziges Mal gesehen, und ich kann euch auch den Namen nicht sagen, weil sie, glaube ich, gar keinen hat. Diese Raupe hat einen rotvioletten Fühler mitten am Kopf wie ein kleines Einhorn. Nennt sie doch >EinhornfalterCaptain< trockenreiben, ja?« Simon warf die Zügel des Ponys über den Haltepfahl und ging hinein, um mit seinem Vater zu sprechen. Mr. Carey stand vor dem ausgebrannten Kamin, und die beiden Hunde sprangen an ihm hoch und beschnüffelten ihn unglücklich. Er befestigte gerade den Riemen an seinem Helm und wandte sich hastig um, als der Junge eintrat. Der ganze Raum lag zwischen ihnen, als er ihn anschaute. Simon hatte seinen Vater oft in voller Rüstung gesehen, wenn er sich für die monatlichen Übungen fertigmachte; aber als er auf der Schwelle anhielt, war ihm, als erblickte er einen Fremden: denn das Gesicht im Schatten des Helmes war finsterer, als er das Gesicht seines Vaters je gesehen hatte. »Simon, du weißt wohl, daß wir Krieg haben?« Simon nickte. »Ja, Vater, ganz Torrington redet davon, daß der König in Nottingham den Krieg begonnen hat.« »Und der Wind hat es noch in derselben Nacht hergetragen«, fügte sein Vater schnell hinzu. »Ich gehe noch heute abend zu meiner Kompanie.« Simon trat einen Schritt vor und flehte mit heftigem Verlangen. »Nimm mich mit, Vater! Ich bin sehr stark und könnte leicht für fünfzehn gelten.« Sein Vater schüttelte den Kopf. »Das ist keine Arbeit für Schuljungen.« »Aber ich kann schießen, und ich kann besser mit einem Pferd umgehen als mancher, der älter ist als ich«, protestierte Simon. »Ich weiß, daß du das kannst; aber ich nehme dich auf keinen Fall mit«, sagte John Carey. Dann verlor sein Gesicht etwas von seinem düsteren Ausdruck. »Komm her!« 35

Simon kam, und sein Vater legte ihm beide Hände auf die Schultern und sah auf ihn nieder. »Hör zu, Simon - denn ich weiß nicht, wann ich dich wiedersehe, und darum mußt du dir gut merken, was ich dir jetzt sage. Ich habe Diggory beauftragt, daß er die Wirtschaft weiterführen soll, und deine Mutter sorgt für das Haus. Und ich möchte, daß du im nächsten Schuljahr wieder zu Blundell zurückgehst wie gewöhnlich, wenn nicht der Krieg dich daran hindert. Niemand weiß, was geschehen wird. Es ist, als zünde man in einem trockenen Jahr ein Stoppelfeld an. Wenn es im Lande zu unruhig wird, kannst du vielleicht nicht durchkommen. Aber du bleibst so lange wie möglich auf der Schule. Hast du verstanden?« »Ja, Vater.« »Wenn ich fallen sollte, bist du der Herr auf Lovacott. Sorge für deine Mutter und für deine Schwester, und denk daran, daß du Leuten wie Diggory und Tom nichts zu sagen brauchst. Behandle sie immer gerecht, und sie werden auch dir gegenüber gerecht sein. Und sei niemals zu stolz, einen Rat anzunehmen. Diggory wußte schon, wie man dieses Land bestellt, bevor ich Hosen trug.« Wieder nickte Simon, aber er sagte kein Wort. »Vergiß nie das Familiengebet, und scheue dich niemals, für das einzutreten, was du für das Rechte hältst. Und was immer du tust, wenn du Gelegenheit hast, ein Kalb zu kaufen, dann denk daran, daß bei einem guten Rot-Devon die Beine weit auseinanderstehen müssen! Es wird hineinwachsen, aber ein Kalb mit eng aneinanderliegenden Beinen wird ein schäbiges kleines Tier, wenn es heranwächst.« »Ich werde daran denken«, sagte Simon. »Gut. Das ist alles - nur, noch eines, wenn der Krieg an deinem sechzehnten Geburtstag noch nicht vorüber ist. . .« »Ja, Vater?« unterbrach ihn Simon. »Nimm Scharlach und komm zur Armee des Parlaments.«

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Mr. Carey nahm die Hände von den Schultern seines Sohnes und hob das schwere Kavallerieschwert auf, das auf dem Tisch gelegen hatte. »Hoffentlich ist der Krieg dann noch nicht vorbei«, sagte Simon ungestüm. »Darf ich dir dein Schwert anlegen?« Er nahm es seinem Vater ab und begann, die schweren Schnallen zu befestigen, wie er es vorher schon so oft getan hatte. Seines Vaters Stimme ließ ihn einhalten und aufblicken. »Simon, bist du mit Amias auseinandergekommen?« Simon murmelte etwas Unverständliches. Seine Finger waren noch mit den Schnallen beschäftigt, aber seine von Kummer glänzenden Augen waren auf das lange silberbeschlagene Rapier gerichtet, das an seinen Bändern über dem Kamin hing. Einmal hatte dort ein Paar Rapiere gehangen, denn sein Großvater war ein Doppelschwertmann gewesen, wie es vor vierzig Jahren Sitte gewesen war, und er hatte seine Zwillingsklingen Baiin und Balan in einer Doppelscheide getragen. Aber als Doktor Hannaford nach Padua auf die Universität ging und zum erstenmal ein Schwert brauchte, hatte er ihm Baiin geschenkt, und seitdem hing Balan einsam über dem Kamin. Doktor Hannaford hatte sein Schwert Amias versprochen, wenn er alt genug wäre, Waffen zu tragen. Simon fragte sich, ob er wohl warten mußte, bis er sechzehn war. Balan gehörte Simon schon. Es hatte ihm gehört, seit sein Großvater es ihm überlassen hatte, und solange er denken konnte, hatte er es dort hängen sehen, eines der vertrauten Familienstücke. Jetzt, ganz plötzlich, schien es ihm, als sei das lange Schwert in seiner Doppelscheide sehr einsam. »Sohn gegen Vater, Bruder gegen Bruder, Freund gegen Freund«, sagte John Carey, als er die Riemen prüfte. »Bürgerkrieg ist etwas Furchtbares. Hoffe nicht darauf, daß er andauert, Simon.« Die Hunde folgten ihnen, als sie zusammen in die lange Halle hinausgingen, wo das volle Sonnenlicht des Augustabends schräg durch die Fenster fiel und in goldenen Pfützen auf dem steingepflasterten Boden lag und wo die Reste vom Abendbrot noch auf dem Tisch standen. 37

Simons Mutter kam mit den Mägden und Maus im gleichen Augenblick aus der Küche herein und brachte das Paket mit der Verpflegung für zehn Tage, das Weizenzwie-back und festen gelben Käse enthielt und das alle Ränge der Landwehr bei der Musterung mit sich führen mußten. »Anne«, sagte Simons Vater, »hast du das Paket fertiggemacht? Es wird Zeit, daß ich gehe.« »Alles ist fertig, John.« Simons Mutter legte es auf die Truhe neben der offenen Eingangstür und wandte sich ihm zu, als er durch die Halle auf sie zukam. Maus weinte leise und voll Angst, auch die beiden Mädchen und die alte Phoebe Honeychurch schluchzten. Aber Simons Mutter lächelte - wenigstens lächelte ihr Mund. »Du wirst in Torrington sein, bevor es ganz dunkel ist. Ich habe dir drei saubere Hemden eingepackt. Du wirst damit auskommen, bis wir etwas verabreden können.« Aber als Simons Vater sie beim Abschied umarmte, klammerte sie sich verzweifelt an ihn und preßte ihre Wange gegen den geschwärzten Stahl seines Harnischs. »O John, John, kommst du bald wieder nach Hause?« »Wie Gott es will«, sagte John Carey. »Bewahr dir ein tapferes Herz, liebe Frau.« Er schob sie von sich, schwang den Packen über die Schulter und ging hinaus zu seinem Pferd, das Diggory im Hof auf und ab führte. Er sprach mit dem alten Mann, hielt einen Augenblick inne, um die Sattelgurte zu prüfen und um sich zu vergewissern, daß seine langen Reiterpistolen sicher in den Pistolenhalftern saßen, und schwang sich dann in den Sattel. Die anderen drängten sich um ihn. Maus stand an seinem Steigbügel, ihr kleines, tränenbeflecktes Gesicht zu ihm erhoben. Simon streichelte den blanken Hals des Braunen.»_ »Leb wohl, Marjory. Sei ein gutes Mädchen, wenn ich wegbin«, sagte Mr. Carey. »Leb wohl, Simon. Tretet beide zurück - nein, kommt nicht mit bis in die Allee.« Über ihre Köpfe hinweg blickte er einen Augenblick auf Simons Mutter, dann wandte er sein Pferd zum Torhaus. Die kleine Gruppe im Torbogen des Hofes horchte auf die Hufschläge, die im Fahrweg schwächer und schwächer wurden. 38

Simon fühlte sich viel älter als am Morgen beim Aufstehen. In den letzten paar Stunden hatte er mit Amias gebrochen, und er war einsam, so verzweifelt einsam, wie er es nie zuvor gewesen war. Nun war sein Vater fortgeritten, um für die Sache zu kämpfen, die er für die gerechte hielt. Das Gewicht der Verantwortung für Lovacott und seine Frauen und Mädchen lastete schwer auf seinen Schultern. Der Hall der Hufschläge war nun verklungen, und die aufgeschreckten Tauben flatterten auf den Hof zurück. Eine landete auf kleinen rosa Füßen dicht neben dem Türsims. Simons Mutter ging ins Haus und sah fast so aus wie immer. »Simon, hast du dein Abendbrot gegessen?« fragte sie. Simon schüttelte den Kopf. Er hatte das Abendbrot vergessen. »Oh, mein Lieber, du mußt aber hungrig sein - komm jetzt schnell und iß. Maus, Liebling, weine nicht so; du wirst nur krank davon - das weißt du doch.« Sie wandte sich zu den verstörten Mägden und scheuchte sie vor sich her. »Lauf zu, Meg, lauf nun zu, Polly. Habt ihr nichts zu nähen oder zu spinnen?« Kriege konnten kommen, die Himmel konnten einstürzen, aber Simons Mutter würde dafür sorgen, daß ihr Mann saubere Hemden hatte, ihre Familie etwas zu essen bekam und die Mägde nicht faul waren.

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Reiter aus dem Westen Simon lehnte sich gegen die rauhe Steinmauer der Schmiede und blickte müßig über die hügelige Feldecke, um die sich die Straße wie ein Hufeisen wand, hinüber zur Kirche und den zerstreut liegenden Häusern von Klein-Torrington. Er war wegen eines Wurfes Ferkel bei Matthew Weeks gewesen und hatte gehofft, bei Anbruch der Dämmerung zu Hause zu sein; aber als er knapp eine Meile des Heimwegs zurückgelegt hatte, hatte Scharlach ein Hufeisen verloren, und er mußte umkehren, um ihn beschlagen zu lassen. Das war ärgerlich, aber nicht zu ändern, und so wartete er geduldig. Das Dorf sah in der Stille des frühen Herbstes 1644 sehr friedlich aus, so daß man kaum glauben konnte, daß England schon über zwei Jahre im Bürgerkrieg war. Die Schlachten von Edgehill und Newbury gehörten ebenso der Vergangenheit an wie eine Reihe von kleineren Gefechten. Die Parlamentspartei hatte vor zwei Monaten bei Marston Moor gesiegt, und der Herzog von Essex hatte, als er den Süden überrannte, den königlichen General, Sir Ralph Hopton, nach Cornwall zurückgetrieben. Anführer erhoben sich aus dem Chaos, deren Namen überall umliefen, Prinz Rupert und sein Bruder Maurice, Hopton und Astley für den König. Und für das Parlament Fairfax und Waller und ein gewisser ostenglischer Landedelmann Oliver Cromwell, der seine eigenen Ideen darüber hatte, wie man Armeen aushebt. Das ganze Land war in Aufruhr und dennoch ging immer, während die Armeen das Land durchzogen, das normale Leben des einfachen Volkes weiter. Wolle wurde gewebt, Erz gewonnen, die Ernten wurden eingebracht, die Felder für die Wintersaat gepflügt, Menschen wurden geboren, heirateten oder starben, und Sonntagsessen wurden gekocht. In Klein-Torrington spielten Kinder zwischen den Häusern, und es gab Herbstmaßliebchen und eine goldene Flut von Kressen und Astern in den kleinen Gärten. Zwei Frauen standen in ihren Haustüren und sprachen über das schamlose Benehmen von irgend jemand. Simon hörte ihre Stimmen klar über die Feldecke. Ein mageres Schwein wühlte zufrieden in den gelben Kohlblättern auf einem Abfallhaufen, 40

und auf dem braunen Hügel jenseits der Kirche pflügte ein Mann, eine schreiende Wolke von Möwen umkreiste ihn. Als er dort lehnte, den schnellen Klang des Schmiedehammers in den Ohren, die Augen auf das ferne Pfluggespann gerichtet, merkte Simon, wie seine Gedanken über die letzten zwei Jahre zurückwanderten. Während der ersten paar Monate war sein Vater in der Garnison von Barnstaple gewesen und hatte unter Oberst Chudleigh gedient, der das Fort von Bideford baute - denn auch NordDevon hatte von Anfang an seine Führer gehabt. James Chudleigh hatte seine Männer von Sieg zu Sieg geführt, bis sein Name einen Klang bekam, der beinah magisch war. Simon hatte ihn einmal vorbeireiten sehen, einen jungen Mann, der lustig in den Märzwind hinauslachte, und er verstand, daß seine Männer ihm folgten wie einer wegweisenden Flamme. Dann war der Tag gekommen, an dem die Garnisonstruppen von drei Städten ausmarschiert waren, um Hoptons Vormarsch von Launceston her aufzuhalten; denn Cornwall hatte sich ebenso einmütig für den König erhoben wie Devon für das Parlament. Sie waren geschlagen worden, und mit der Unglücksbotschaft, die nach Devon durchsickerte, war die fast unglaubliche Nachricht gekommen, daß James Chudleigh, der von des Königs Leuten gefangengenommen worden war, um der Freiheit und einer Oberstenstelle in der Königlichen Armee willen seinen Mantel nach dem Winde gehängt hatte! Die helle Flamme war also doch nur ein Strohfeuer gewesen. Und als sie erlosch, wurde den Männern, die ihr gefolgt waren, ein Stück von ihrem Herzen gerissen. Ein paar Wochen später, nachdem Bideford und Torrington gefallen waren und Barnstaple sich ohne Kampf ergeben hatte, blieb dem Parlament nur noch Plymouth im Westen des Landes. Prinz Maurice hatte Barnstaple besetzt, und die Landwehr und die Truppen in der Stadt waren aufgelöst worden. Simons Vater war in blankem Zorn gegen Oberst Chudleigh heimgekommen. Simon erinnerte sich: An einem Abend hatte es eine wundervolle Kirschtorte gegeben -seine Mutter war wegen ihrer Kirschtorten berühmt -, da hatte sich die Tür geöffnet, und als sie aufblickten, stand er in der Tür. 41

Er war hereingekommen und hatte seinen Platz am Tisch eingenommen, aber keine Kirschtorte essen können. Sie hatten ihn nicht zu fragen gewagt, was geschehen sei. Sie hatten nicht gewagt, ihn zu trösten, und am anderen Morgen war er fortgeritten, um zu Essex' Armee in der heimatlichen Grafschaft zu stoßen. Seitdem hatten sie ihn nicht wieder gesehen, obwohl sie von Zeit zu Zeit von ihm hörten. Barnstaple war seit gut einem Monat wieder in den Händen der Parlamentstruppen, aber er würde wohl trotzdem nicht nach Hause kommen, denn er diente jetzt im Norden in Lord Levens Armee, in die er nach der Schlacht von Marston Moor irgendwie gekommen war. Und Simon selber? Er hatte dem Befehl seines Vaters gehorcht und war solange wie möglich auf der Schule geblieben. Amias auch. Aber sie waren die Tivertonstraße nicht mehr zusammen entlanggeritten, noch hatten sie dieselbe Schulbank geteilt oder miteinander gesprochen, wenn sie sich trafen. Dann hatte Prinz Maurice im letzten April Männer gebraucht, alle Männer, die er auftreiben konnte, um Lyme anzugreifen. Die Nachricht war an einem Markttag nach Tiverton gekommen, und Amias war dem Aufruf gefolgt. Er war nicht bei Nacht weggelaufen, das war nicht seine Art. Während der Mittagspause war er einfach fortgegangen. Er war in die Einfahrt gelaufen und hatte mit flackernden Augen dem vollen Schulhof zugewinkt. »Ich bin kein tintenbeschmierter Schuljunge mehr! Ich will zum Prinzen.« Dann war er in der Menge, die sich auf dem Markt drängte, verschwunden, ehe jemand wußte, was er eigentlich wollte. Außer daß er Baiin von seinem Vater gefordert hatte - Simon wußte das von Tomasine, die immer noch seine Freundin war, wenn sie sich zufällig trafen -, hatte man nichts wieder von ihm gehört. Mit einem Ruck drehte Simon sich um und ging in die Schmiede, wo der Schmied, mit Scharlachs Huf zwischen seinen Knien, eben die letzten Griffe an dem neuen Eisen tat. Er sah auf, als Simon eintrat, und wendete sich wieder seiner Arbeit zu, während Scharlach ihm den Nacken beschnupperte. »So, mein Schönes«, sagte er einen Augenblick darauf und öffnete die Knie, so daß der runde Huf laut auf das Kopfsteinpflaster schlug. »Ein sehr feines Pferd, junger Herr. Man 42

kann kaum glauben, daß es erst frisch zugeritten ist. Steht wahrhaftig so still wie ein Christenmensch, wenn es beschlagen wird! - Das macht Sixpence, aber wenn Sie nichts bei sich haben, bringen Sie sie ein andermal vorbei.« »Ich hab sie.« Simon langte in die Innentasche seines Wamses, während Scharlach hoffnungsvoll die Nase hinstreckte und mit sanften Lippen schmeichelte. »Nein, du Narr, das ist kein Zucker.« »Kommt Mr. Carey nun zurück, wo Barnstaple wieder den Parlamentstruppen gehört?« fragte der Schmied. »Ich glaube nicht. Er scheint ein für allemal bei Lord Levens Truppe zu sein.« Simon holte die sechs Pennies hervor und legte sie in die rußige Hand, die sich danach ausstreckte. »Meine Nichte heiratet einen aus der Truppe des Obersten Lutterei, der den Aufstand führte und die Kavaliere rausgeschmissen hat. Das war eine tolle Sache, sagen sie.« »Das war es!« stimmte Simon zu. »Sieht nicht so aus, als ob der Krieg bald zu Ende ist.« »Wenn er zu Neujahr nicht aus ist, gehe ich zur Armee«, sagte Simon und drehte sich um, um Scharlach von dem Ring an der Wand loszubinden, an dem der Zügel befestigt war. Er hatte die Hand schon am Zaum, als sich über dem Sausen des Schmiedefeuers ein ferner Aufruhr erhob, ein wirres Getöse von Stimmen und vom Trommeln von Pferdehufen, dem ein scharfer Knall wie von einem brechenden Zweig folgte. Simon ließ die Hand wieder vom Zaum herunterfallen und ging langsam zum Eingang zurück. Ein leichter Regenschauer schlug ihm ins Gesicht, als er um die Mauer der Schmiede bog, so daß er blinzeln mußte. Als er wieder klar sehen konnte, war der erste von einer Reitergruppe über dem Hügelkamm zu seiner Linken erschienen, und sie ritten wie der Teufel auf das Dorf zu. Offenbar wurden sie verfolgt. Der Frieden der Szene war mit einem Schlage fortgeblasen, Kinder rannten schreiend in ihre Häuser, ein schnüffelndes Schwein verschwand im Galopp. Irgendwo hinter den Reitern ertönte wieder jener scharfe Knall wie von einem brechenden Zweig. Dann brach die erste Welle von Reitern in Harnisch und Eisen aus der Allee hervor und strebte auf die Kirche zu. Sie zogen sich auf 43

dem hügeligen Gelände so weit auseinander, daß die Pferde auf seiner Seite im Abstand von wenigen Metern an Simon vorbeistürmten. »Meine Güte! Was ist los?« rief der Schmied, der um die Schmiede herumkam und sich zu ihm stellte. »Ein Rückzugsgefecht, wie es scheint«, entgegnete Simon. Die Pferde stürmten vorbei mit wilden Augen und bebenden Flanken. Ihre Reiter duckten sich eng an die Sättel in einem Strudel von fliegendem Matsch, wehenden Mähnen und trommelnden Hufen. »Sieht aus, als ob sie im Kirchhof haltmachen wollten«, meinte Simon. Welle auf Welle verzweifelter Reiter trommelte die Allee herauf, und über die Felder und in der Ferne über dem Hügelkamm konnte Simon den Vortrupp der Verfolger erkennen. Als der letzte Haufen der fliehenden Reiter an der Schmiede vorüberjagte, tönte der Knall einer Reiterpistole durch den Tumult, und einer von ihnen zuckte in seinem Sattel zusammen, schwankte und stürzte hinunter in das zertrampelte Gras, während sein Pferd ohne Reiter weitergaloppierte. »Achtung! Er wird niedergetrampelt!« Simon sprang vor, den verfolgenden Reitern in den Weg. Ein erhobener Kopf mit wilden Augen und einer welligen Mähne löschte den Himmel aus, und der Donner von Hufen verwirrte und betäubte ihn, als er den gestürzten Mann herauszog. Und im nächsten Augenblick strömte die erste Welle der Verfolger vorbei. »Hilf mir«, rief er dem Schmied zu, und sie hoben den Flüchtigen zusammen auf, trugen ihn in die Schmiede hinein und legten ihn auf einen freien Platz neben dem Amboß. Scharlach schnaubte und zitterte, aber Simon hatte jetzt keine Zeit, ihn zu beruhigen. »Ist er ein Parlamentsmann?« fragte der Schmied, Mißtrauen in der groben Stimme, die gegen den Lärm der Jagd ertönte, die draußen vorbeidonnerte und sich auf die verzweifelten Verteidiger des Kirchhofs warf. Simon hatte sich neben dem Mann niedergekniet und öffnete den abgetragenen Ledermantel, um die Wunde freizumachen. »Ich weiß nicht«, sagte er. »Ich glaube.« Es war ihm nicht in den Sinn 44

gekommen, darüber nachzudenken, ob der Mann Freund oder Feind war. Er hatte nur gesehen, daß er in Gefahr schwebte, niedergetrampelt zu werden, und danach hatte er gehandelt. Gewiß war das Haar lang, das sich wild über der Stirn lockte, und der einfache Leinenkragen, der aus dem Ledermantel hervorsah, war mit feiner Spitze verziert, aber Simon hatte schon manchesmal ebenso langes Haar und ebenso feine Spitzen bei einem Parlamentsoffizier gesehen. Übrigens meinte er, daß er bei dem flüchtigen Blick, den er auf die verfolgende Standarte geworfen hatte, das Wappen von Sir Francis Storrington erkannt habe, einem Royalisten durch und durch. Es war eine oberflächliche Wunde, obwohl sie tüchtig blutete, und der Mann, der nach der Beule auf seiner Schläfe zu urteilen eher von seinem Fall als von der Kugel ohnmächtig war, begann sich schon wieder zu regen. Simon zog das befleckte Hemd zurück und sah zu dem Schmied auf. »Die Kugel ist nicht mehr drin, glaube ich.« Der Schmied beugte sich vor und sah nach, dann schüttelte er den Kopf. »Ist nur eine offene Wunde; verbinde ihn - wenn du meinst, daß er ein Parlamentsmann ist.« Die Augen des Verwundeten öffneten sich plötzlich, dumpfe Verwirrung war in ihnen, und mit einem wilden Schrei versuchte er, sich hochzukämpfen. Simon drängte ihn zurück. »Halten Sie still, bis ich Ihre Wunde verbunden habe; Sie bluten wie ein abgestochenes Schwein.« »Was ich frage, ist«, drängte der Schmied hartnäckig, »sind Sie ein Parlamentsmann oder nicht?« Der verwundete Mann warf einen kurzen Blick auf ihn, dann, als er die Frage begriff, sagte er leise, aber mit äußerster Klarheit: »Sie quatschender, krummbeiniger Idiot, natürlich bin ich ein Parlamentsmann«, und schloß die Augen. Aber eine Weile später, als sein Kopf klarer wurde, versuchte er wieder aufzustehen. »Was ist passiert? Ich muß zu den ändern, ich. . .« »Sie haben einen Schuß abbekommen«, erzählte Simon ihm und riß sein eigenes, ziemlich schmutziges Taschentuch in Streifen. »Sie 45

fielen gerade hier herunter. Es wird Ihnen wieder gutgehen, wenn ich Sie verbunden habe.« Der andere stieß einen Seufzer aus, der eher nach einer lästigen Erinnerung als nach Schmerz klang, und rieb sich mit seinem Handrücken über die Stirn. Simon sah nun, daß er jung war, nicht mehr als zwei- oder dreiundzwanzig, und daß er ein rundes, sommersprossiges Gesicht und eine Stubsnase hatte. »Um Gottes willen, beeilen Sie sich! Was ist aus dem Rest der Kavallerie geworden?« »Sie machen drüben bei der Kirche halt. Wenn Sie nicht aufhören, herumzurutschen, wie soll ich dann die Wunde verbinden?« »Oh, ich verfluche sie. Was ist da draußen los?« Der junge Mann hatte sich mühsam auf einen Ellenbogen gestützt und blickte gebannt auf die Tür. Simon sah zum Schmied auf und warf seinen Kopf in die gleiche Richtung. Der Schmied wandte sich langsam um und verschwand. Nach einem Augenblick kam er grinsend zurück. »Ein Mordslärm«, berichtete er. »Sie schießen jetzt vom Kirchturm. Es sieht so aus, als ob sie sich siegreich behaupten, sag ich.« Der junge Mann legte sich bei diesen Worten erleichtert wieder hin, und Simon konnte seine Arbeit fortsetzen. Als er die erste Binde strammzog, zuckte sein Patient heftig zusammen und entschuldigte sich. »Tut mir leid. Ich bin fast am Ende meiner Kraft. Wir alle. Es ist ein langer Weg von Lostwithiel.« »Lostwithiel?« »Oh, natürlich, Sie wissen noch nichts; aber Sie werden es bald genug hören. Wir wurden bei Lostwithiel geschlagen. « Der Schmied beugte sich vor und schaute ihn an. »Was ist geschehen?« fragte er. »Erzählen Sie uns bitte, was geschah, bei meiner Seele.« »Goring und Grenville machten plötzlich einen Vorstoß quer durch unsere Nachhut und - hatten uns in der Falle«, sagte der junge Mann undeutlich. »Essex kam davon — ich glaube, daß er davonkam —, aber die Infanterie nicht, und der arme alte Daddy Skippon blieb 46

zurück und mußte den ganzen Trupp übergeben.« Er lachte düster. »Wir kamen nur raus, weil Lord Goring betrunken war, so fürchterlich betrunken, daß er uns nicht aufhalten konnte.« Mitten in dem Tumult des Gefechtes draußen war das plötzliche Schweigen in der Schmiede wie eine Blase aus völliger Stille, die nur von Scharlachs nervöser Unruhe unterbrochen wurde. »Dann - meinen Sie, daß der Krieg aus ist - daß wir geschlagen sind?« fragte Simon. »Nein, noch lange nicht! Die Königlichen müssen unsere Fußtruppen durchmarschieren lassen - sicheres Geleit xurück nach Plymouth oder Portsmouth, wenn sie sie entwaffnet haben. Sie können nicht fünftausend Gefangene ernähren, und sogar der Schuft Grenville kann nicht so viele hängen - dazu wären nicht Bäume genug in Cornwall. Daddy Skippon wird seine Truppen irgendwie in Sicherheit bringen. Und die ganze Reiterei kam davon -wenigstens, wenn es nicht dem Rest sogar besser gegangen ist als uns. Wir stießen auf ein verteufeltes Regiment von Königsleuten oben im Moor, ungefähr sechs Meilen von hier entfernt, und wir waren zu erledigt, als daß wir sie hätten schlagen können . . . Gehen Sie und sehen Sie nach, was draußen passiert.« Simon knotete den provisorischen Verband zu, stand auf, trat hinüber zum Eingang und ging herum zur Ecke der Schmiede, von wo er einen freien Blick auf die Kirche hatte. Die Wunde des verletzten Mannes zu versorgen, hatte länger gedauert, als ihm bewußt geworden war, und das Rückzugsgefecht war ein grimmiger und verzweifelter Kampf um den Kirchhof geworden. Die Königsleute schienen überall zu sein, sie drängten von allen Seiten gegen die Kirchhofmauer, hinter der die Verteidiger, einige zu Fuß, einige noch zu Pferd, hartnäckig um die behelfsmäßige Brustwehr kämpften. Einige Pferde waren an den dunklen Eibenbäumen dicht an der Kirche festgebunden und standen still, zu erschöpft, den Aufruhr um sie herum zu empfinden. Ein gelegentlicher Knall und eine Wolke von blauem Rauch aus den Glockenlöchern im Turm, der vom Septemberwind fortgeblasen wurde, zeigten an, wo ein Schütze auf dem Posten war, aber auf 47

beiden Seiten ließ das Schießen nach, hauptsächlich, vermutete Simon, aus Mangel an Pulver und Kugeln; und es schien, als solle der Kampf Mann gegen Mann mit dem Schwert beendet werden. Das rief er, so gut er konnte, dem verwundeten Mann zu. Und bald darauf zog der die Luft mit einem erregten Keuchen ein, als völlig unerwartet der Kampf von neuem aufflammte. Er konnte nicht sehen, was geschehen war, aber plötzlich schwenkten die Royalisten am Tor rückwärts. Sie sammelten sich wieder, drangen noch einmal ungestüm vor und zogen sich abermals zurück. Ein rauhes Hurra stieg aus dem Kirchhof auf, und die Verteidiger warfen sich auf die geschwächte Stelle. Das graue Licht glänzte auf vielen emporschießenden Klingen, und Simon hörte sich selbst gellend schreien, er wußte nicht, was und neben ihm schrie noch jemand. Er sah sich um und erblickte den jungen Offizier, der sich an die rauhe Steinmauer klammerte und auf seinen Füßen schwankte. »Geschafft! Geschafft, bei Gott!« Auch an anderen Stellen rund um den Kirchhof herum wurden die Royalisten zurückgedrängt, und die Männer von Essex' Reiterei schwangen sich noch einmal in den Sattel. Für wenige wilde Minuten mit Angriff und Gegenangriff schien der Sieg in der Schwebe zu sein, dann brach ein neuer Schrei aus Simons Gefährten. »Sie laufen fort! Gottlob! Sie sind erledigt.« Es war wirklich wahr. Zurückgeschleudert von einer unbändigen, frohlockenden Welle aus dem Kirchhof fielen die Truppen des Königs übereinander und strömten in Verwirrung davon. Hinter ihnen ergossen sich die Männer aus Essex' Armee, sie schrien Hurra, als sie ihren müden Pferden die Sporen gaben. Was nun folgte, erschien Simon wie ein wüster Traum aus Männern und Matsch und Pferden und einer Menge einzelner Scharmützel, die durch das Dorf und über die Felder wirbelten und wogten, und aus einem Aufruhr, der in der Ferne schwächer und schwächer wurde, bis er sich ganz verlor. Er merkte, daß sein Gefährte ihn heftig an der Hand zerrte, sich plötzlich auf einen Holzbalken setzte und davon still auf die Erde hinunterglitt, wo er in tiefer Ohnmacht liegenblieb. 48

Simon brachte ihn mit Hilfe des Schmiedes wieder nach hinten, und in der Zwischenzeit war alles vorüber. Die Parlamentstruppen begannen sich wieder um die Kirche zu sammeln. Wie Mücken in dem ersten Sonnenschein nach einem, Sturm erschienen die Dorfbewohner vor ihren Häusern. Der junge Offizier rappelte sich hoch und verlangte nach seinem Helm, der noch an der Mauer der Schmiede lag, wohin er gefallen war. Simon brachte ihn, und er setzte ihn schwungvoll auf und machte sich auf, um ohne Aufhebens wieder zu seinen Kameraden zu gelangen. »Obwohl ich zugeben muß, daß ich noch ein bißchen schwächlich bin«, sagte er fröhlich und zickzackte wie eine Schnepfe in Richtung auf die Kirche zu. Simon erwischte ihn eben noch, als er kopfüber zu fallen drohte, und stützte ihn mit seinem Arm. »Sie haben einen ziemlichen Knacks am Kopf«, sagte er, »und wenn Sie so über Ihre Füße fallen, kriegen Sie noch einen.« Zusammen überquerten sie das freie Feld, wo gefallene Männer und Pferde auf dem welligen Gras oder zwischen den Herbstastern in den zerstörten kleinen Gärten lagen. »Da hinauf, zu der Tür - das ist Oberst Ireton«, wies ihn der andere, als sie die Kirche erreichten, und Simon gehorchte. Im Kirchhof lagen schon ziemlich viele Verwundete, und andere wurden von ihren Kameraden herbeigetragen. Niemand beachtete sie deshalb sonderlich, als sie den unebenen Pfad hinaufgingen. Eine Gruppe von Offizieren stand in der Westtür der Kirche beisammen. Sie unterhielten sich angelegentlich, und Simons Begleiter machte sich von seinem Arm frei, als er zu ihnen trat. Ein rotgesichtiger, hakennasiger Mann drehte sich schnell um und rief aus: »Colbourne! Ich dachte, Sie wären tot.« »Nein, Sir. Ich melde mich zum Dienst zurück«, antwortete der andere und lüftete seinen Helm zum Gruß. Oberst Ireton nickte und wandte sich um, um einem grauhaarigen Korporal einen Befehl zu geben, während der junge Offizier sich dankbar auf einem Grabstein niederließ und einem vorbeikommenden Soldaten zurief: »Jenks, haben Sie vielleicht mein Pferd gesehen?« 49

»Es ist an der Nordseite der Kirche angebunden, Sir«, sagte der Soldat und dann, als er Simon sah: »He, du! Komm und hilf hier mal.« Die Dämmerung fiel nun herein, und mit dem Essen und den sauberen Lappen, die der Oberst aus den Häusern erbeten hatte, brachten einige von den Dorfleuten Laternen, damit man die Verwundeten, die inzwischen fast alle in die Kirche gebracht worden waren, bei Licht versorgen konnte. Die Lichter hüpften zwischen den Grabsteinen und den dunklen Eibenbäumen herbei, sie verwandelten die scharlachfarbenen Eibenbeeren in zarte Juwelen, ließen den leisen Regen erglänzen und erfüllten die Kirche, als sie dorthin kamen, mit einem goldenen Glanz, der besser zu einem Fest als zu dem düsteren Dienst paßte, der dort verrichtet wurde. Simon arbeitete an diesem Abend hart für die Verwundeten beider Armeen, während draußen vor der Kirche, an der Tür der Sakristei und an den Fenstern Soldaten mit gezogenen Schwertern standen, in grimmiger Bereitschaft, einen Angriff abzuwehren. Aber kein Angriff kam. Offenbar hatten Sir Francis Storringtons Leute für heute genug. Das Essen war verteilt und aufgezehrt, die meisten Verwundeten waren versorgt. Und plötzlich, als Simon im Seitenschiff kniete und jemandem den Arm hielt, während ein anderer die Kugel entfernte, bemerkte er, daß der hakennasige Offizier neben ihm stand in ernsthaftem Gespräch mit einem jüngeren Mann. »Wenn wir Barnstaple erreichen, können wir frische Rationen und neue Pferde bekommen oder unsere wenigstens füttern, Richard.« Der andere zuckte die Schultern. »Und dann könnten wir über Exmoor weiterkommen. Ja, aber wie in Gottes Namen kommen wir nach Barnstaple?« Oberst Ireton wandte sich den Dorfleuten zu, die noch an der Kirchentür herumlungerten. »Ist hier jemand, der uns nach Barnstaple führen kann und will?« Keine Antwort kam, und nach einer Weile begann er wieder. »Wir müssen Barnstaple noch vorm Morgengrauen erreichen. Kennt jemand von euch den Weg, oder weiß jemand, wer ihn kennt?«

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Ein langes Schweigen folgte, und dann schlug jemand vor: »Es wäre leicht genug, Herr, aber die Straße führt durch Torrington, und Torrington ist in den Händen der Kavaliere, verstehen Sie?« »Das weiß ich, Sie Narr!« Oberst Iretons Stimme war scharf. »Gerade weil Torrington in Feindeshand ist, brauche ich einen Führer quer über Land.« Wieder langes Schweigen. Die Dorfleute kamen nur selten weiter als ein paar Meilen über ihre eigenen Häuser hinaus; Torrington war ihre Marktstadt, und Barnstaple lag außerhalb ihres Gesichtskreises. Da erhob sich Simon langsam, als er seine Arbeit getan hatte. Er kannte die Straße nach Barnstaple, weil er sie mehrmals benutzt hatte, als sein Vater dort in Garnison lag und wenn der direkte Weg von Heronscombe durch die Frühjahrsregen unterbrochen war. Und mit Amias hatte er früher jeden Fußbreit Boden rund um Torrington herum erkundet. Er sagte: »Ich werde Sie führen. Wir können einen Bogen um Torrington machen und später wieder auf die Straße mit der Brücke kommen.« Oberst Ireton sah ihn beim Laternenlicht von oben bis unten an. »Du kennst den Weg bestimmt? Wir können es uns nicht leisten, in den Sumpf geführt zu werden.« »Ich kenne den Weg genau, Sir«, sagte Simon. Er sah, daß der Offizier sein Gesicht studierte, um sich zu vergewissern, ob er vertrauenswürdig sei, und er schaute ihn offen an. »Ich werde Sie nicht in einen Sumpf führen - und nicht in eine Falle.« Um ihm einen Beweis seiner Aufrichtigkeit zu geben, fügte er hinzu: »Mein Vater war in der Garnison von Barnstaple bis zur Übergabe. Er ist jetzt bei Lord Leven und den Verbündeten.« »Gut«, sagte Oberst Ireton kurz. »Wir trauen dir.« »Ich gehe und hole mein Pferd aus der Schmiede, Sir.« Der andere nickte flüchtig und wandte sich um, um Anweisungen zu geben wegen der Unterbringung derjenigen Verwundeten, die zurückgelassen werden mußten, während Simon zur Schmiede zurückging. Vom Schmied war nichts zu sehen, aber Scharlach stand noch am Mauerring angebunden und begrüßte ihn mit lautem Wiehern, als er im Tor erschien. Das Pferd zitterte und schwitzte immer noch, seine Ohren waren gespitzt, 51

das Weiße der Augen zeigte sich, Simon sprach mit ihm und strich ihm mit einer Hand wieder und wieder über die Stirn, während die andere das Kopfstück des Zaumes löste. Ein paar Minuten später war er wieder auf dem Kirchhof, er führte Scharlach und sprach ihm leise und ermutigend zu. Die Soldaten schwangen sich schon in den Sattel, der Befehl zum Abmarsch war gegeben, und noch bevor die Dämmerung gänzlich in freundliche Dunkelheit übergegangen war, fand Simon sich zu Pferd an der Seite von Oberst Ireton. Vor sich sahen sie, als sie durch das Kirch-hofstor und die Dorfstraße hinunterritten, Gesichter, die im Lichtschein der offenen Türen nur undeutlich zu erkennen waren und die sich anstrengten, etwas von den Vorüberreitenden zu erblicken. Es waren fast sechshundert Mann hinter ihm, und er war dafür verantwortlich, daß sie sicher vor Morgengrauen nach Barnstaple kamen. Als er seine Füße in den Steigbügeln zurechtrückte und seinen Kopf in den leisen Regen beugte, war er von einer seltsamen, lebhaften Erregung erfüllt. Die Bewohner von Langtree wurden plötzlich aus dem Schlaf geschreckt, als sie Pferde durch die Dunkelheit trappeln hörten. Später wachte ein Müller auf, als er sie durch die Furt unterhalb seiner Mühle platschen hörte. Er ging ans Fenster, konnte aber wegen der Dunkelheit und des fallenden Regens nichts erkennen, und als er hörte, daß das letzte Pferd die Straße nach Weare Giffard hinunter war, ging er brummend wieder zu Bett. Simon hatte wegen Weare Giffard Sorge, denn das Herrenhaus war ein Bollwerk der Royalisten, und ein Zusammenstoß mit den Truppen dort könnte vielleicht Verstärkung aus Torrington herbeiziehen, doch war es unmöglich, das Dorf zu umgehen. Er hatte Oberst Ireton das erklärt, und der hatte geantwortet, da man es nicht ändern könne, müßten sie das Wagnis auf sich nehmen. Aber der tiefe Matsch dämpfte ihre Hufschläge. Sie ritten am Rande des Weges und auf dem weichen Boden zwischen den Häusern und dem Fluß, kamen sicher hindurch und gelangten jenseits in die tiefe Talmulde. Auf mehr als einem der einsamen Höfe, die sich in weitem Bogen um Torrington 52

herumzogen, wachten Menschen auf und horchten ängstlich, bevor sie wieder einschliefen. Am Morgen zeigten sie einander die Spuren und die Viehwege, die von dem Durchzug vieler Pferde in tiefem Morast zerwühlt waren. Es war ein harter Ritt für die Männer, die schon erschöpft gewesen waren und von denen mancher außerdem verwundet war, aber im ersten spinnwebrig feuchten Licht der Dämmerung brachte Simon seinen Trupp von Vogelscheuchen über den Kamm des letzten Hügels, hinunter zum blaßschimmernden Fluß und zu den stark bemannten Befestigungen auf der Barnstapler Brücke. »Da ist Barnstaple«, sagte er mit müder Stimme. »Ich glaube, ich muß jetzt nach Hause, Sir«, denn plötzlich war ihm eingefallen, daß seine Mutter sich um ihn ängstigen könnte. »Du hast gute Arbeit geleistet diese Nacht, mein Junge«, sagte Oberst Ireton und steckte seine Hand in die Rocktasche. Dann zögerte er, sah im wachsenden Licht auf Simon, besann sich anders und zog sie leer heraus. »Wenn du deinem Vater bei Levens Armee wieder schreibst, berichte ihm, daß du Essex' Leibgarde vor dem Untergang bewahrt hast.« Sie gaben sich die Hand, und Simon zog sein Pferd aus der Kolonne heraus. Er setzte sich hin, um sie vorüberziehen zu sehen, wie sie aus dem grauen Licht auftauchten, dreckige, fußlahme Pferde und Männer, blind vor Müdigkeit, die aussahen, als würden sie mehr vom Instinkt als durch eigene Kraft im Sattel gehalten. Einer oder zwei von ihnen wandten den Kopf, um im Vorbeireiten auf ihn niederzu-blicken; der Rest war sogar dazu zu müde. Wenn er ein paar Monate älter gewesen wäre, dachte Simon, hätte er einer von ihnen sein können. Als die Kolonne fast vorüber war, sah sich der junge Offizier um, den er in der Schmiede verbunden hatte, und winkte ihm ein frohes Lebewohl zu, aber er schwankte im Sattel. Simon winkte zurück. Er saß da und beobachtete sie, bis der Schlagbaum der Stadt hochgezogen wurde und der letzte Reiter hindurchgezogen war. Dann lenkte er Scharlachs müden Kopf heimwärts. 53

Einige Tage später war Barnstaple nach einer fünftägigen Belagerung durch Lord Goring wieder in den Händen der Royalisten. Aber lange vorher waren Oberst Ireton und seine zerfetzten Schwadronen sicher nach Exmoor hinübergelangt, um zu den Parlamentstruppen zu stoßen.

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Der feurige Tom Einige Monate später kam Simon eines Tages gegen Abend in die Stadt Windsor geritten, wo die große »Neue Armee« zusammengestellt wurde. Während die letzten Kämpfer von Lostwithiel noch ankamen, hatte der alte Sir William Waller das Komitee beider Königreiche gewarnt. »Sirs, es ist ganz klar, daß Sie diesen Krieg nicht gewinnen werden, wenn Sie nicht eine richtige vereinigte Armee bilden«, und das Komitee war schließlich, nun, da es fast zu spät war, seinem Rat gefolgt. Die von ihm geforderte Armee wurde aufgestellt, und Simon war gekommen, um in sie einzutreten. Mehr als eine Woche war vergangen, seit er, nun sechzehn Jahre alt, seiner Familie und Lovacott Lebewohl gesagt hatte und fortgegangen war. Den ganzen Weg hatte er Scharlach geritten, und so war er langsamer vorangekommen, als wenn er mit Kurierpferden gereist wäre. Nun war er aber da, mit einem Paar langer Reiterpistolen in seinen Halftern, die ein Abschiedsgeschenk von seiner Mutter waren Pistolen mit Feuersteinschloß, die neueste Erfindung - und er und die »Neue Armee« fingen zusammen an. Dieser Gedanke ließ ihn sehr aufrecht in seinem Sattel sitzen und mit glänzenden, eifrigen Augen um sich schauen. Es war noch sehr früh im Februar, und die Pappeln und Ulmen auf den Flußwiesen waren kahl, während das flimmernde Wasser der Themse einen blassen Sonnenschein zurückstrahlte, der noch nicht warm war. Schon kündete der karmesinrote Schimmer der Weiden von steigendem Saft, und in der Luft lag jene zarte Erregung, die der erste Vorbote des Frühlings ist, während er selbst noch weit entfernt ist. Und hoch über den kahlen Bäumen und den steilen rotbraunen Dächern der Stadt ragte der große runde Turm von Windsor Castle, grau und triumphierend wie eine Fanfare, und er sah aus, als sei er nicht von Menschenhand gebaut, sondern aus dem ureigenen Grund Englands gewachsen. Simon hatte den Turm angeschaut, solange er in Sicht war, aber als er in die enge Straße einbog, wurde der Turm von den 55

zusammengedrängten Dächern und den überhängenden oberen Stockwerken der Häuser verdeckt. Er hätte jetzt sowieso keine Muße gehabt, ihn zu betrachten, denn er mußte seine ganze Aufmerksamkeit darauf richten, Scharlach sicher durch die Menge zu leiten, die sich in den krummen Straßen auf und ab drängte und schob. Landleute und Stadtleute, reiche Kauf leute in gutgeschnittenen Wämsern und Bettler in der Gosse, die ihre Wunden zeigten, ein schwarzgekleideter Straßenprediger und Wandermusikanten, ein Verkäufer mit Hänflingen im Käfig, eine Gruppe lachender Mädchen mit Marktkörben über dem Arm und überall Soldaten und immer mehr Soldaten. Simon schaute alle an, aber hauptsächlich die Soldaten, weil er bald einer von ihnen sein würde. Sie waren ein buntgewürfelter Haufen, einige in Lumpen, andere in scharlachroten Röcken, in denen sie sich kaum bewegen konnten, weil sie so neu waren, einige mager und zäh von langen Feldzügen, viele noch rot vom Pflügen oder bleich vom Kontorpult, denn die »Neue Armee« war noch eine Armee im Werden. Simon hielt an, um einen alten, dürren Mann, dessen scharlachroter Mantel mit schreiendem Gelb besetzt war, nach dem Weg zu fragen. Dann ritt er weiter, bis die hohe Außenmauer und die alten Türme des Schlosses auf die Giebel und hinunter in die vollen Straßen blickten, und er kam an eines der Tore. An dieser Seite des Schlosses war kein Graben, denn der war schon lange zugeschüttet worden, und dichtgedrängte Hütten wuchsen unmittelbar an die Mauer heran wie Leinkraut um einen Baumstumpf. Eine Straße führte einfach zwischen zwei Häusern hindurch und direkt hinein durch das Tor Heinrichs VIII. Simon folgte der Straße, und indem er die Zügel anzog, rief er dem wachhabenden Soldaten zu: »Ich möchte zum Oberst.« »Welchem Oberst?« fragte die Wache. »Zu irgendeinem Reiteroberst.« »Sergeant!« rief die Wache. Der Sergeant kam aus dem Wachraum und sah streng auf Simon. »Der Bursche hier fragt nach einem Reiteroberst — irgendeinem Reiteroberst«, sagte die Wache. »Wozu, Sir?« fragte der Sergeant zweifelnd. »Ich will in die Armee eintreten«, sagte Simon. Ein junger Offizier in dem üblichen Scharlachmantel, der zufällig vorüberkam, 56

drehte sich beim Klang seiner Stimme um, schrie überrascht auf und kam zur Gruppe herüber. »Sie!« rief er. »Du meine. . .« Simon sah ihn einen Augenblick verständnislos an. Dann schien sich plötzlich das fröhliche, sommersprossige Gesicht unter dem kecken Federhut zu verwandeln, und er sah es wieder so, wie er es damals gesehen hatte, grau und verstört und blutbefleckt. Es war der Mann, den er unter den Hufen eines royalistischen Pferdes in KleinTorrington hervorgezogen hatte! »Sie!« echote Simon und beugte sich im Sattel vor, um ihm die Hand zu drücken. »Wie geht es Ihnen?« »Gesund wie ein Fisch im Wasser und pudelwohl! Sie sind ein guter Doktor.« Die Augen des jungen Offiziers strahlten ihn freudig an, sein großer Mund zog sich fast von Ohr zu Ohr. »Sie wollen zu uns kommen?« »Ja.« Simon nickte. »Wo und wie kann ich einen Oberst finden?« »Oh, zur Hölle mit den Obersten! Sie müssen zum General, mein Freund - und der ist heute gerade hier. Kommen Sie mit, dann können wir ihn erwischen, bevor er wieder weg ist. Es ist gut, Sergeant, das ist ein Freund von mir. Ich kümmere mich um ihn.« Mit dem Gefühl, von einer Welle hochgetragen und fortgerissen zu werden, gegen die er machtlos war - und gegen die er auch nicht im mindesten ankämpfen wollte -, überließ Simon sich allem, was nun kommen mochte. Er stieg vom Pferd und führte Scharlach gehorsam in die Hauptstraße zurück. »Ich muß schon sagen, das ist Glück! Wir haben uns zur rechten Zeit getroffen!« sagte sein Gefährte. »Ich heiße Barnaby Colebourne. Wie heißen Sie?« »Simon Carey«, sagte Simon leicht benommen. »Zu wem gehen wir, sagten Sie?« »Zum Lord-General Sir Thomas Fairfax. Den kennt man doch.« »Ja, aber müssen wir denn den belästigen?« fragte Simon, als sie sich in die drängenden Mengen in der Themsestraße zurückschoben. Barnaby Colebourne erklärte ihm hastig und mit voller 57

Lautstärke, als sie sich über die Straße arbeiteten: »Wir müssen das, wenn Sie in mein Regiment wollen. Fairfax' Reiterei sind wir, und daher ist der General auch unser Oberst, klar?« Simon hatte das halbwegs begriffen und tat gerade den Mund auf, um eine neue Frage zu stellen, als sie am Eingangstor in dem Hof eines großen Gasthauses ankamen, über dem ein wunderbar farbiges Schild mit den blaugoldenen Insignien des Hosenbandordens hing. »Wir sind da«, sagte Barnaby Colebourne und ging, gefolgt von Scharlach, durch den dunklen Tunnel des Torbogens. Sie kamen auf einem gepflasterten Hof heraus, wo zwei Pferde vor der Haustür auf und ab geführt wurden. Nachdem Simon Scharlach einem Stallknecht übergeben hatte, folgte er seinem neuen Freund in eine dunkle Diele, wo mehrere Soldaten umherstanden, und dann eine breite Treppenflucht hinauf, an deren Fuß ein mißmutig drein-blickender Wachposten stand. »Wir hätten natürlich zu Major Disbrow gehen können«, sagte Barnaby nebenbei. »Er erledigt fast alles für den Oberst, aber der Lord-General hat ein offeneres Ohr für Bitten.« Vor einer Tür am Ende einer langen Galerie im oberen Stockwerk stand noch ein Mann Wache, und ein junger Stabsoffizier, ein Meldereiter, vertrat sich am Fenster die Beine. Barnaby sprach ihn an. Er verschwand im nächsten Zimmer, kam nach einem Augenblick wieder heraus und ließ die Tür für sie offen. Sie gingen hinein, und die Tür schloß sich hinter ihnen. Simon befand sich in einem getäfelten Raum, in dem im Kamin ein niedriges Feuer furchtbar qualmte. Ein Mann, der an einem Tisch mitten im Zimmer saß und schrieb, sah bei ihrem Eintreten einen Augenblick auf und schrieb dann weiter. Ein anderer Mann in der dunklen Tracht eines Sekretärs saß neben ihm und wartete auf den Brief. Nach den geräuschvollen Straßen schien es hier sehr still zu sein, das einzige Geräusch war das Kratzen des Federkiels auf dem Papier, und Simon hatte reichlich Zeit, den Schreiber zu betrachten, der, wie er annahm, Sir Thomas Fairfax sein mußte. Der Befehlshaber war ein dunkler Typ. Das war das erste, was an ihm auffiel: dunkel wie ein Zigeuner und dürr wie eine Vogelscheuche 58

unter dem Scharlachrot seines Uniformmantels, mit schwarzem, unbändigem Haar, das ihm ins Gesicht und in den Nacken fiel. Da nichts von seinem niedergebeugten Gesicht zu sehen war als die zusammengezogenen schwarzen Brauen und die große, gebogene Nase, sah er höchst unnahbar aus, und als Simon Handschuhe und eine Reitpeitsche neben ihm auf dem Tisch liegen sah und sich daran erinnerte, daß draußen im Hof Pferde auf und ab geführt wurden, wurde ihm klar, daß er keinen besonders günstigen Augenblick erwischt hatte, ihn zu stören. Darum wünschte er brennend, daß er überhaupt nicht hierher zu ihm gekommen, sondern statt dessen zu Major Disbrow gegangen wäre, wer immer er auch sei. Der große Mann hörte auf zu schreiben und legte die Feder nieder, bestreute das Blatt mit Sand und gab es dem Mann neben ihm, während er mit einer sehr leisen, angenehmen Stimme sagte: »Drei Kopien, John -nein, vier. Oberst Pride bekommt besser auch eine.« Dann wandte er seine Aufmerksamkeit dem vor ihm wartenden Paar zu. Jetzt, da er aufblickte, wirkte sein dunkles Gesicht nicht mehr unnahbar, denn die Augen hoben viel von seiner Härte wieder auf. Ebenso sah Simon zu seiner Überraschung, daß er ganz jung war nicht mehr als zwei- oder dreiunddreißig. Die Narbe einer alten Wunde erschien bläulich auf Wange und Schläfe, und einen Augenblick hob er die Hand hoch, um sie zu verdecken, als sei er sich dieser Entstellung sehr bewußt. Dann ließ er seine Hand wieder auf den Tisch zurückfallen. »Ja, Colebourne? Sie wollten mich sprechen?« Barnaby trat vor, während er den Helm zum Gruß lüftete. »Ja, Sir. Dies ist Simon Carey, ein Freund von mir, der in unser Regiment eintreten möchte. Deshalb habe ich ihn mitgebracht, Sir.« Der General wandte den Kopf in seiner schnellen, wachsamen Art und sah Simon einen Augenblick genau an. Dann nickte er, als ob er mit dem zufrieden sei, was er gesehen hatte. »Wie alt sind Sie?« »Sechzehn, Sir.« »Sie haben noch keinen Kampf miterlebt, nehme ich an ?« 59

»Nur als Zuschauer, Sir«, sagte Simon. Barnaby trat schnell vor, und Fairfax wandte sich zu ihm. »Ja, Colebourne?« »Er ist der Führer, der uns nach der Schlacht von Lostwithiel sicher nach Barnstaple durchbrachte, Sir.« Fairfax sah Simon wieder prüfend an. »Das war gute Arbeit für eine Nacht«, sagte er langsam. (Tatsächlich fand Simon während des ganzen Gesprächs die Sprache des Generals merkwürdig langsam. Sie stand in seltsamem Gegensatz zu seinen schnellen Blicken und Bewegungen.) »Danke, Sir.« »Mir fehlt ein Kornett, Sir, wenn ich bitten darf, Sir«, sagte Barnaby andeutungsvoll. »Was ist denn mit Kornett Wainwright?« »Er. . .« Barnaby zögerte, und dann sprudelte er los. »Ich weiß, daß er glaubt, ein Recht auf den Posten zu haben, aber höheres Dienstalter macht es nicht allein, und - meinen Sie, daß er für den Posten geeignet ist?« »Sie nicht?« »Ehrlich gestanden, nein, Sir!« Die linke Augenbraue des Generals hob sich, er lehnte sich vor, die Arme auf dem Tisch über Kreuz. »Erzählen Sie mir, warum«, forderte er. »Ja, Sir, er ist zu leicht in seiner Würde gekränkt, das ist das eine, und auf der anderen Seite hat er eine sarkastische Art, die ihn recht unbeliebt macht.« »Trotzdem hat er das Zeug in sich zu einem guten Offizier.« »Aber nicht für unsere Truppe, Sir.« Barnaby sprach schnell und mit tiefem Ernst. »Meine Männer sind fast alle alte Soldaten aus Cromwells Reiterei, und viele von ihnen sind Wiedertäufer oder so was, und das macht den Umgang mit ihnen nicht leichter. Sie sind das Salz der Erde, Sir, aber sie sind ein ziemlich schwieriger Haufen, und wenn Kornett Wainwright mit 60

seinem stolzen Wesen und seiner Würde bei ihnen ankäme, dann dann würden sie ihn wohl lieber verprügeln als grüßen!« Das dunkle Gesicht des Generals erhellte sich plötzlich durch ein Lächeln, das ihn für einen Augenblick sehr jungenhaft erscheinen ließ. Dann war es vorüber, und nur noch eine Spur davon war in den Augen sichtbar. »Das hört sich an wie Disziplinlosigkeit, Leutnant Colebourne.« »Nein, Sir, das ist menschlich«, sagte Barnaby lächelnd. »Und Sie glauben, daß dieser Carey hier besser mit ihren reißenden Wölfen fertig werden würde?« »Ja, Sir — und Oberst Ireton würde sich bestimmt auch für ihn einsetzen. Und ebenso Richard Cromwell.« »Sie sind ihm vorher nur ein einziges Mal begegnet?« fragte der General. »Na ja, das waren denkwürdige Umstände, unter denen Sie sich kennenlernten, und das muß genügen. Wir wollen Oberst Ireton und Kapitän Cromwell nicht erst damit belästigen.« Indem er sich Simon wieder zuwandte, begann er ihn genau auszufragen. Natürlich könne er reiten? Hatte er schon mit Pistolen geschossen? . . . Simons Antworten auf diese und andere Fragen befriedigten ihn offenbar, denn schließlich schob er seinen Stuhl zurück und stand auf, indem er sagte: »Also gut, Colebourne. Ich beuge mich Ihrem Urteil. John Rushworth, erledigen Sie das. Haben Sie die genauen Einzelheiten?« Der grauhaarige Sekretär blickte auf ein Stück Papier, auf dem er mitgeschrieben hatte, und las vor: »Simon Carey wird zum Kornett der Zweiten Schwadron bei Fairfax ernannt.« Fairfax nickte und wandte sich Simon wieder zu. »Sie werden Ihre Ernennung vom Komitee beider Königreiche innerhalb von ein oder zwei Tagen bekommen. Inzwischen lassen Sie sich Ihre Ausrüstung geben, und melden Sie sich bei Major Disbrow.« Simon richtete sich noch gerader auf, als er ohnehin schon gestanden hatte, und sagte ziemlich atemlos: »Danke, Sir! Ich - werde mein Allerbestes tun, um mich würdig zu zeigen.« 61

»Das weiß ich.« Fairfax nahm seine Handschuhe auf und trat zum Fenster hinüber. »Ich wünsche Ihnen einen guten Abend, Colebourne. Guten Abend, Carey.« Gleich darauf standen sie wieder draußen vor der Tür. »Eine gute Seele, der Lord-General«, stellte Barnaby zufrieden fest, als sie über den Hof gingen, wo die Pferde immer noch auf und ab geführt wurden. »Hat immer Zeit, sich mit dem Geringsten von Mann zu Mann zu unterhalten und sich anzuhören, was man zu sagen hat. Nun zum Zeugmeister. Ich habe keinen Dienst und komme mit. Wir lassen Ihr Pferd hier und holen es auf dem Rückweg in unser Quartier wieder ab. Oh, aber warten Sie mal eben. . .« Sie waren gerade aus der Straße herausgekommen, als er auf einmal anhielt, sich umwandte und nach oben zeigte. »Sehen Sie mal da oben.« Simon folgte der Richtung seines ausgestreckten Fingers und sah aus dem offenen Erkerfenster eine Reihe herunterhängender Fahnen, die regungslos in der stillen Luft hingen, leuchtend, blau und gold und weiß glänzend im schwindenden Licht des Februarnachmittages. »Das sind unsere Regimentsstandarten«, erklärte Barnaby. »Die großen dort links sind die Fahnen von Fairfax' Fußtruppen, und die kleineren an Lanzen sind die Fahnen von Fairfax' Reiterei. Eine für jede Kompanie und jede Schwadron. Das ist unsere, die zweite von links, und der schwarze Leopard darüber ist Sir Thomas' persönliche Standarte. Sie hängen immer, wo jeder sie sehen kann, teils, um zu zeigen, wo das Hauptquartier des Regiments ist, und teils, weil - ja, weil sie jedem von uns gehören und wir alle ein Recht haben, sie zu sehen, nicht nur im Kampf oder bei der Parade, sondern immer.« Simon sah gebannt auf die regungslosen Standarten, besonders auf die zweite von links, die Standarte seiner eigenen Schwadron, die er eines Tages in den Kampf vorantragen würde. Sein Herz schlug heftig in dem Entschluß, sich dessen würdig zu erweisen, was ihm anvertraut wurde. Visionen von Ehre, Ritterlichkeit und Waffenruhm und von Stolz auf die Sache, für die er bald kämpfen würde, stiegen in ihm auf. Dann erwachte er plötzlich und bemerkte, daß Barnaby ihm ins Ohr schrie, er versperre den Weg. 62

Er wurde sofort blutrot und wandte sich um, um seinem neuen Freund die Straße hinauf zu folgen. Mehrere Stunden später saß Simon im Hemd auf dem Strohsack, der für ihn auf den Fußboden in Leutnant Colebournes Kammer gelegt worden war. Der >Weiße Hirsch< war bei weitem nicht ein so feines Gasthaus wie das >Wappen< nebenan, und da hier sechzehn Offiziere von Fairfax' Reiterei einquartiert waren, war der Platz beengt. In dem kleinen Raum lag noch ein zweiter Strohsack, und außerdem stand in der Ecke ein schmales Feldbett, auf dem Barnaby noch halb bekleidet selbst saß und zärtlich ein Paar wirklich wundervolle Stiefel polierte. Sie waren aus gelblichem Leder, sehr weich, und mit so enormen Stulpen, daß Simon sich erstaunt fragte, wie man überhaupt darin gehen könne. Simon war hundemüde, und die Stunden seit seinem Gespräch mit Fairfax erschienen ihm wie ein wirrer Traum. In Gesellschaft von Barnaby Colebourne hatte er sich bei Major Disbrow gemeldet, einem mageren, braunen, kleinen, kämpferischen Mann mit einem stahlblauen Blick. Die beiden ersten Schwadronen oder Kompanien jedes Regiments hatten keinen Kapitän, sondern unterstanden direkt dem Oberst beziehungsweise dem Major, und in ihnen fielen die Pflichten der Kapitäne meistens auf die Leutnants, die infolgedessen gegenüber den anderen Leutnants höhere Wesen waren. Simons Schwadron, die Zweite, war also Major Disbrows Schwadron, und Barnaby war ihr Kapitän-Leutnant. Das waren die beiden positiven Tatsachen, die Simon heute abend herausgefunden hatte, und er klammerte sich an sie wie an einen Balken in einem chaotischen Meer. Nachdem sie Major Disbrow verlassen hatten, hatten sie sich in die Zeugmeisterei begeben, die weiter oben in der Stadt lag, und dann in verschiedene Magazine und Depots, um Simons Ausrüstung zusammenzubekommen und seine Uniform zu vervollständigen. Der blau eingefaßte scharlachrote Mantel, der die Uniform von Fairfax' beiden Regimentern war, mußte noch etwas geändert werden und würde nicht vor morgen fertig sein. Aber sein ärmelloser Mantel aus Büffelleder (aus zweiter Hand und schon etwas abgetragen und wettergebleicht), seine schweren Sporenstiefel und sein Helm lagen 63

nun mit Barnabys in der Ecke. Und über die Lehne des einzigen Stuhles, den die Kammer besaß, hing sein neues Schwert in seinen roten Schlaufen. Halbwegs hatte er, bevor er von zu Hause fortging, daran gedacht, Balan mitzunehmen, so wie Amias Baiin mitgenommen hatte, aber er hatte sich überlegt, daß es zwar ein Rapier von der alten Art war mit scharfer Schneide und guter Spitze, aber daß es für den Kampf zu Pferde doch keine geeignete Waffe sei und daß er besser daran täte zu warten, bis er in Windsor war. Nun hatte er seine schwere Kavallerieklinge, genau das Richtige, und er saß da, umfaßte seine Knie und heftete seine Augen auf sie, während Barnaby jene einzigartigen Stiefel putzte und polierte. Sie hatten Scharlach aus dem Stall des >Wappen< geholt und ihn hier in den >Weißen Hirsch< gebracht. Dann hatte es Abendessen in einem langen Raum gegeben, der von lauten Stimmen, langen Beinen und Tabakrauch gänzlich erfüllt zu sein schien. Er hatte eine unklare Erinnerung an einen dunkeläugigen, empfindlich aussehenden jungen Mann, der ein oder zwei Jahre älter war als er und der, wie er gehört hatte, Kornett Wainwright war, und an einen großen, drahtigen Yorkshiremann mit fröhlichen Augen, bei dem es sich, wie Barnaby ihm zuflüsterte, um Ralf Marjory, einen von den Kapitänen aus Cromwells alter Truppe, handelte. Was er sonst noch gesehen hatte, waren nur Gesichter, grimmige oder lustige, rote, blasse oder braune. Simon hoffte, daß er sie eines Tages, vielleicht schon morgen, würde unterscheiden können. Aber vorläufig war er froh, daß der Tag vorüber war. Barnaby gab dem linken Stiefel einen letzten, liebevollen Klaps und hielt das Paar in Armlänge vor sich hoch. »Was halten Sie von diesem Paar eleganter Stiefel?« fragte er. Simon hörte auf, sein Schwert zu betrachten, und wandte seine Aufmerksamkeit den Stiefeln zu. »Hm, sie sind sehr schön«, sagte er schließlich. »Wie können Sie darin gehen?« »Na ja, ich mußte ein bißchen üben, zugegeben«, sagte Barnaby leichthin. »Aber jetzt habe ich den Bogen raus. Warten Sie mal, ich will es Ihnen zeigen.« Und er begann unter heftigen Grimassen seine 64

Schätze anzuziehen. Es dauerte eine ganze Weile, aber endlich schaffte er es doch, erhob sich und begann in dem beengten Raum auf und ab zu gehen, das heißt, er wollte sorglos stolzieren und brachte nur ein taubenfüßiges Watscheln fertig, denn die Stulpen an den Stiefeln waren so breit, daß er nur gehen konnte, wenn er die Beine so weit auseinanderhielt wie auf dem Pferderücken. Der Anblick war fast zuviel für Simon. Er gab einen unterdrückten Laut, halb Schnarchen, halb Schluckauf, von sich und riß sich dann zusammen. »Es sind - es sind großartige Stiefel.« »Ja, ich finde, sie sind wirklich sehr gut. Glauben Sie nur nicht, daß es in der ganzen Armee noch so ein Paar gibt wie diese«, sagte Barnaby, indem er auf seine Beine schielte. »Das - das glaube ich auch nicht«, gab Simon zu. »Ach ja, sogar bei den Soldaten kann man den Anstand wahren, wissen Sie. Cromwells alte Soldaten sind natürlich anders. Die meisten von ihnen sind stolz darauf, daß sie sich kleiden wie eine Kreuzung zwischen einem Pfarrer und einem Pferdedieb.« »Die meisten Offiziere von. . . von uns haben schon unter Cromwell gekämpft, nicht wahr?« fragte Simon. Der andere nickte und setzte sich auf das Bett. »Die älteren jedenfalls. Über die Hälfte der Männer auch.« Er langte nach dem Stiefelknecht und begann seine Stiefel auszuziehen. »Der Rest von uns gehört zu Fairfax. Natürlich sind wir, unter uns gesagt, die Creme der Armee.« Simon saß einen Augenblick still und sah zu, wie Barnaby mit seinem linken Stiefel kämpfte. Dann sagte er: »Das war ein großes Glück, daß ich Sie getroffen habe.« »Wahrhaftig«, stimmte Barnaby zu, während er sich an den anderen Stiefel machte. »Sie wären heute abend noch nicht bei Fairfax' Reiterei, wenn das nicht passiert wäre. Und - na ja, wir sind eben wirklich die Creme der Armee. Wir passen zu unserem General, das kann niemand abstreiten.« »Wie ist er wirklich, der General?« fragte Simon. »Wie meinen Sie das?« 65

»Nun - er scheint mir irgendwie merkwürdig: diese langsame, ruhige Art zu sprechen, während alles, was er tut, so schnell ist. Es ist so, als ob man einem Mann zusieht und einem anderen zuhört«, überlegte Simon. »Oh, daran ist nichts Geheimnisvolles. In dem Augenblick, in dem er sich gehen läßt, fängt er an zu stottern.« »Zu stottern?« »Wie ein Kuckuck im Juli«, sagte Barnaby, während er seine Stiefel zärtlich in die Ecke stellte. Simon dachte einen Moment darüber nach, dann sagte er: »Ja, aber wie ist er denn?« »Ach, du meine Güte!« sagte der andere hilflos. »Wie in Gottes Namen...« Die Tür öffnete sich, und ein junger Mann, offenbar der Besitzer des dritten Bettes, kam herein. Barnaby wandte sich an ihn. »Fletcher, wie ist der Lord-General? Carey möchte das wissen.« »Der feurige Tom? Oh, der ist in Ordnung«, sagte der Ankömmling und gähnte. »Gott, ich bin so müde, daß mir alle Knochen weh tun.« »Warum heißt er >feuriger Tom