Frances Hodgson Burnett
Sara, die kleine
Prinzessin
Aus dem Englischen von Dagmar Weischer
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Frances Hodgson Burnett
Sara, die kleine
Prinzessin
Aus dem Englischen von Dagmar Weischer
Scanned by Berryl Die Autorin: Frances Hodgson Burnett wurde 1849 in Manchester, England, geboren. Sie wanderte mit ihrer Mutter und ihren Geschwistern nach dem frühen Tod des Vaters 1865 nach Amerika aus. Dort begann sie, erst siebzehnjährig, zu schreiben, wobei sie die Motive ihrer Erzählungen aus dem Erlebnisbereich ihrer englischen Heimat schöpfte. Weltruhm erlangte F. H. Burnett mit den Romanen >Der kleine Lord< und >Der geheime Garten< (beide Bücher liegen bei dtv Verlag junior vor). >Sara, die kleine Prinzessin< erschien 1905 und zählt seitdem zu den Klassikern der englischen Kinderliteratur. Titel der Originalausgabe: >A little PrincessOrt< kommen, Papa?« hatte sie ihn schon gefragt, als sie fünf Jahre alt war. »Könntest du nicht auch zur Schule gehen?« »Aber du wirst nicht lange bleiben müssen, kleine Sara«, hatte er immer wieder versucht, sie zu beruhigen. »Du wirst in einem hübschen Haus wohnen mit vielen kleinen Mädchen, und ihr werdet zusammen spielen, und ich werde dir eine Menge Bücher schicken. Du wirst so schnell wachsen, daß es dir noch nicht einmal wie ein Jahr vorkommen wird, bis du groß und klug genug bist, um zurückzukommen und dich um Papa zu kümmern.« Es war ihr ein schöner Gedanke. Für ihren Vater das Haus in Ordnung zu halten, mit ihm auszureiten und am Kopfende des Tisches zu sitzen, wenn er Dinner-Parties gab; mit ihm zu sprechen und seine Bücher zu lesen - das würde für sie das Schönste auf der Welt sein. Und wenn es dazu nötig war, erst einmal nach England zu gehen, dann mußte es wohl so sein. .Die anderen kleinen Mädchen, die es dort an dem »Ort« geben sollte, waren ihr gleichgültig. Aber die vielen Bücher, von denen der Vater gesprochen hatte, würden sie trösten. Sie liebte Bücher über alles, und sie erfand immer Geschichten von schönen Dingen, die sie sich selbst erzählte. Manchmal hatte sie sie ihrem Vater erzählt, und ihm hatten sie ebenso sehr gefallen wie ihr. »Nun gut, Papa«, sagte sie jetzt sanft, »wo wir nun einmal hier sind, müssen wir uns wohl fügen.« Er lachte über ihre altklugen Worte und küßte sie. Er selbst war anderer Meinung, wußte aber, daß er dies für sich behalten mußte. Seine wunderliche kleine Sara war ihm immer ein Teil seines Lebens gewesen, und er wußte, daß er nach seiner Rückkehr in Indien sehr einsam sein würde, wenn ihm abends kein kleiner Wirbelwind in weißem Kleid mehr entgegenlaufen würde. Captain Crewe drückte Sara noch einmal ganz fest an sich, als die Droschke in den großen flächigen Hof vor dem Haus, das das Ziel ihrer Reise war, einfuhr. Es war ein großes Backsteingebäude, genauso trist wie all die anderen, mit dem Unterschied, daß auf der Eingangstür ein Messingschild angebracht war, auf dem in schwarzen Buchstaben zu lesen stand:
MISS MINCHIN Spezialschule für junge Damen »Da sind wir, Sara«, sagte Captain Crewe und versuchte, so heiter wie möglich zu klingen. Er hob sie aus der Droschke, sie stiegen die Treppe hinauf und
läuteten. Später dachte Sara oft, daß das Haus irgendwie genauso wie Miss Minchin war. Es war alt und ehrwürdig und mit teuren Möbeln ausgestattet. Aber alles war dunkel und düster, nichts leuchtend Fröhliches sprang einem ins Auge. Sogar die roten Wangen des Mondgesichts auf der großen Standuhr in der Halle wirkten matt und ernst. Der Salon, in den sie geführt wurden, war mit einem quadratisch gemusterten Teppich ausgelegt, und die Sessel sahen schon auf den ersten Blick unbequem aus. Zögernd setzte sich Sara in einen der steifen Mahagonisessel. »Es gefällt mir nicht, Papa«, sagte sie. »Aber schließlich ziehen wohl auch tapfere Soldaten nicht wirklich gern in den Kampf.« Captain Crewe mußte bei diesen Worten lachen. Er war jung und voll Fröhlichkeit, und er wurde nie müde, sich Saras ungewöhnliche Äußerungen anzuhören. »O kleine Sara«, sagte er. »Was soll ich nur tun, wenn ich niemand mehr habe, der so bedeutsam zu mir spricht? Niemand ist so ernst und feierlich wie du.« »Aber warum bringen ernste und feierliche Dinge dich so zum Lachen?« wollte Sara wissen. »Weil es solchen Spaß macht, dir dabei zuzuhören«, antwortete er und lachte noch mehr. Und dann nahm er sie heftig in seine Arme und küßte sie ganz fest, wobei es so aussah, als habe er Tränen in den Augen. Gerade in diesem Augenblick betrat Miss Minchin das Zimmer. Sie war eine hochgewachsene, streng aussehende Frau, mit kalten Augen und einem breiten, fischigen Lächeln. Ihr Mund verzog sich beim Anblick von Sara und Captain Crewe noch mehr in die Breite. Sie hatte schon viel Erfreuliches über den jungen Soldaten gehört und wußte, daß er sehr reich und bereit war, für seine kleine Tochter viel Geld auszugeben. »Es wird mir eine Ehre sein, ein so schönes und vielversprechendes Kind in meine Obhut zu nehmen, Captain Crewe«, flötete Miss Minchin, nahm Saras Hand und streichelte sie. »Lady Meredith hat mir von ihrer ungewöhnlichen Klugheit erzählt. Ein kluges Kind ist ein großer Schatz in meinem Haus.« Sara stand still da und sah Miss Minchin ins Gesicht. >Warum sagt sie, ich sei ein schönes Kind?< dachte sie. >Ich bin überhaupt nicht schön. Colonel Granges Tochter Isobel ist schön. Sie hat rosige Wangen und Grübchen und lange, goldene Haare. Ich habe kurze schwarze Haare und grüne Augen; außerdem bin ich dünn und kein bißchen anziehend. Miss Minchin fängt an, die Unwahrheit zu sagen.< Sara täuschte sich jedoch, wenn sie dachte, sie sei häßlich. Sie ähnelte zwar Isobel Grange, die die Schönheit des Regiments gewesen war, nicht im geringsten, aber sie hatte einen eigenen, ungewöhnlichen Charme. Sie war schlank und anmutig und ziemlich groß für ihr Alter, und ihr kleines Gesicht war ernst und sympathisch. Ihr Haar war schwer und pechschwarz und an den Spitzen gewellt; sie hatte große, wundervolle graugrüne Augen mit langen, schwarzen Wimpern, und wenngleich sie selbst ihre Augenfarbe nicht mochte, fanden viele Leute sie schön. Trotzdem war sie fest davon überzeugt, daß sie ein häßliches Mädchen sei, und Miss Minchins Schmeicheleien ließen sie
deshalb unbeeindruckt. Sara blieb bei ihrem Vater und hörte dem Gespräch zwischen ihm und Miss Minchin zu. Sie sollte in diese Schule gehen, weil Lady Meredith' zwei kleine Töchter hier erzogen wurden. Und Captain Crewe gab viel auf Lady Meredith' Erfahrung. Sara sollte als sogenannter »Salongast« teilnehmen, ja, sie sollte sogar noch größere Privilegien bekommen als die anderen »Salongäste« der Schule. Sie sollte ein hübsches Schlafzimmer und ein eigenes Wohnzimmer erhalten, ein Pony und eine Kutsche bekommen und ein Kindermädchen, das ihre indische Ayah ersetzen sollte. »Ich mache mir um ihre Erziehung nicht die geringsten Sorgen«, sagte Captain Crewe gerade mit seinem fröhlichsten Lachen, während er Saras Hand tätschelte. »Es wird eher schwierig sein, sie davon abzuhalten, zu schnell und zu viel zu lernen. Sie hält immer ihre Nase in Büchern vergraben. Dabei liest sie sie nicht, Miss Minchin, sie verschlingt Bücher, als sei sie ein ... kleiner Wolf statt ein kleines Mädchen. Sie hungert geradezu nach neuen Büchern, und sie will Bücher für Erwachsene - große, dicke - französische und deutsche genauso wie englische ~ Geschichtsbücher, Biographien, Gedichte, alles mögliche. Ziehen Sie sie weg von ihren Büchern, wenn sie zuviel liest. Lassen Sie sie auf ihrem Pony reiten oder ausgehen, um sich eine neue Puppe zu kaufen. Sie sollte öfter mit Puppen spielen.« »Papa«, sagte Sara. »Weißt du, wenn ich ausgehe und alle paar Tage eine neue Puppe kaufe, habe ich zu viele, um mich darüber freuen zu können. Puppen sollten vertraute Freunde sein. Emily soll meine vertraute Freundin sein.« Captain Crewe sah Miss Minchin an, und Miss Minchin blickte fragend zu Captain Crewe. »Wer ist Emily?« wollte sie wissen. »Sag es ihr, Sara«, sagte Captain Crewe lächelnd. Saras graugrüne Augen blickten sehr feierlich und sanft drein, als sie antwortete. »Es ist eine Puppe, die ich noch nicht habe«, sagte sie. »Eine Puppe, die Papa mir kaufen will. Wir wollen zusammen losgehen und sie suchen. Ich habe sie jetzt schon Emily getauft. Sie wird meine Freundin sein, wenn Papa nicht mehr da ist. Ich möchte mit ihr über ihn sprechen.« Miss Minchin lachte breit. »Was für ein originelles Kind!« sagte sie. »Was für ein reizendes, kleines Geschöpf!« »Ja.« Captain Crewe nickte und zog Sara an sich. »Sie ist ein liebes, kleines Geschöpf. Passen Sie gut auf sie auf, Miss Minchin.« Sara blieb noch einige Tage bei ihrem Vater im Hotel, bis zum Tag seiner Rückreise nach Indien. Sie gingen zusammen aus, sahen sich viele große Geschäfte an und kauften eine Menge Dinge. Sie kauften viel mehr, als Sara eigentlich benötigte. Aber Captain Crewe wollte unbedingt, daß seine Tochter alles bekam, was ihr gefiel. Und so kauften sie Kleider, die für ein Kind von sieben Jahren eigentlich viel zu üppig waren. Samtkleider mit kostspieligen Pelzen besetzt, Spitzenkleider, bestickte Kleider, Hüte mit großen, weichen Straußenfedern, Hermelinmäntel, Schachteln voller winziger Handschuhe,
Taschentücher und Seidenstrümpfe in solchen Mengen, daß die höflichen jungen Frauen hinter dem Ladentisch sich gegenseitig zuflüsterten, daß das un gewöhnliche kleine Mädchen mit den großen, ernsten Augen mindestens irgendeine fremde Prinzessin sein müsse - vielleicht die kleine Tochter eines indischen Rajah. Und die ganze Zeit über suchten sie Emily. Sie sahen sich in vielen Spielzeugläden um und schauten sich eine Menge Puppen an, doch keine gefiel Sara. »Sie soll so aussehen, als sei sie nicht wirklich eine Puppe«, sagte sie. »Sie soll so aussehen, als ob sie mir zuhört, wenn ich zu ihr spreche. Das Problem mit Puppen ist, Papa« - und sie neigte den Kopf zur Seite und überlegte -»das Problem mit Puppen ist, daß sie anscheinend nie hören.« Also sahen sie sich weiter große Puppen an und kleine. Puppen mit schwarzen und mit blauen Augen, Puppen mit braunen Locken und Puppen mit goldenen Zöpfen, Puppen mit und ohne Kleider. Nach so vielen Enttäuschungen beschlossen sie, zu Fuß weiterzubummeln und die Droschke folgen zu lassen. Als sie dann an einen kleinen Laden kamen, hielt Sara plötzlich an und ergriff den Arm ihres Vaters. »O Papa!« rief sie. »Da ist Emily!« Ihre Wangen röteten sich, und der Ausdruck ihrer Augen war, als ob sie soeben jemanden wieder erkannt hätte, den sie sehr gut kannte und sehr gern hatte. »Sie wartet auf uns!« drängte sie. »Laß uns zu ihr hineingehen.« »Du meine Güte!« lachte Captain Crewe. »Ich habe das Gefühl, wir brauchen jemand, der uns vorstellt.« »Du mußt mich vorstellen und ich dich«, schlug Sara vor. »Aber vielleicht brauchst du das auch nicht, vielleicht kennt Emily mich bereits.« Ja, vielleicht kannte die Puppe sie tatsächlich. Denn als Sara sie in ihre Arme legte, schien es so, als würde sie sie mit intelligenten, wissenden Augen anblicken. Aber es war nur eine Puppe, eine große Puppe. Sie hatte natürlich gelocktes goldbraunes Haar, das sie wie ein Mantel umhüllte. Und ihre Augen waren von dunklem, klarem Graublau, mit weichen, dichten Wimpern, die nicht einfach aufgemalt, sondern echt waren. »Natürlich«, sagte Sara und sah ihr ins Gesicht, während sie sie auf dem Schoß hielt, »natürlich, Papa, das ist Emily.« Also wurde Emily gekauft und zu einem Kinderbekleidungsgeschäft gebracht, wo ihr Kleider angepaßt wurden, die so großartig waren wie Saras eigene. »Ich möchte, daß sie immer aussieht wie ein Kind mit einer lieben Mutter«, sagte Sara. »Ich bin ihre Mutter, auch wenn ich aus ihr eine Freundin machen möchte.« Captain Crewe hätte den Einkaufsbummel gerne genossen, aber ein trauriger Gedanke lastete auf ihm. Dies alles bedeutete, daß er bald von seiner geliebten, wunderlichen kleinen Sara getrennt sein würde ... Mitten in der Nacht stand er auf, ging an Saras Bett und sah, wie sie schlief mit Emily in den Armen. - Ihr schwarzes Haar lag ausgebreitet auf dem Kissen, und Emilys goldbraunes mischte sich mit dem ihren. Emily glich so sehr einem richtigen Kind, daß Captain Crewe froh war, daß es sie gab. Er stieß einen
langen Seufzer aus und zupfte nachdenklich an seinem Schnurrbart. »O kleine Sara!« sagte er zu sich selbst. »Ich glaube, du ahnst nicht, wie sehr dich dein Papa vermissen wird.« Am nächsten Tag brachte er Sara zu Miss Minchin, und es galt, noch einige geschäftliche Angelegenheiten mit Miss Minchin zu klären. Vor allem wollte er sicherstellen, daß Sara jeder Wunsch erfüllt würde. Dann ging er mit Sara in ihr kleines Wohnzimmer, und sie sagten einander Lebewohl. Sara saß auf seinem Schoß, hielt den Saum seines Mantels in ihren kleinen Händen und sah ihm lange und fest ins Gesicht. »Versuchst du, mich zu ergründen, kleine Sara?« fragte er und streichelte ihr Haar. »Nein«, antwortete sie. »Ich kenne dich in- und auswendig. Du bist in meinem Herzen.« Und sie umarmten und küßten sich, als ob sie sich nie trennen wollten. Als die Droschke vor der Tür losfuhr, saß Sara auf dem Boden in ihrem Wohnzimmer, das Kinn auf ihre Hände gestützt, und ihr Blick folgte der Droschke, bis sie um die Ecke des Hofes gebogen war. Emily saß bei ihr, und auch sie sah der Droschke nach. Als Miss Minchin ihre Schwester, Miss Amelia, losschickte, um nach dem Kind zu sehen, fand diese die Tür verschlossen vor, »Ich habe abgeschlossen«, rief eine in ihren Ohren seltsam höfliche Stimme von drinnen. »Ich möchte ganz alleine sein, bitte sehr.« Miss Amelia war dick und plump und hatte große Ehrfurcht vor ihrer Schwester. Sie war eigentlich die Gutmütigere von beiden, wagte aber nie, Miss Minchin zu widersprechen. Beunruhigt ging sie die Treppe hinab. »Mir ist noch nie so ein seltsames, altmodisches Kind begegnet«, sagte sie zu ihrer Schwester. »Sie hat sich eingeschlossen und gibt nicht den leisesten Mucks von sich.« »Das ist immerhin besser, als wenn sie poltern und schreien würde, so wie manche von ihnen«, antwortete Miss Minchin. »Ich habe eher erwartet, daß ein so verwöhntes Kind wie dieses das ganze Haus in Aufruhr versetzt. Wenn jemals ein Kind alles bekam, was es wollte, dann dieses.« »Ich habe ihre Koffer aufgemacht und ihre Sachen eingeräumt«, sagte Miss Amelia. »Ich habe noch nie so etwas gesehen - Mäntel mit Zobel- und Hermelinpelzbesatz, und Unterwäsche mit echter Valenciennes-Spitze. Du hast einige ihrer Kleider gesehen, was sagst du dazu?« »Ich finde sie einfach lächerlich«, entgegnete Miss Minchin scharf, »aber sonntags, wenn wir die Schulkinder zur Kirche führen, dürfte es sich gut machen, wenn sie vorangeht. Sie ist ausstaffiert wie eine kleine Prinzessin.«
Eine Französischstunde Als Sara am nächsten Morgen das Klassenzimmer betrat, sahen sie alle mit großen, neugierigen Augen an. Alle - angefangen bei Lavinia Herbert, die schon fast dreizehn war und sich ziemlich erwachsen vorkam, bis zu Lottie Legh, die erst vier und damit das Baby der Schule war - hatten vorher schon eine Menge über sie gehört. Sie wußten natürlich, daß sie Miss Minchins Musterschülerin war, und daß es für die Schule eine besondere Ehre war, sie als Schülerin zu haben. Eine oder zwei von ihnen hatten sogar schon Saras französisches Mädchen, Mariette, zu Gesicht bekommen, die am Abend vorher angekommen war. Lavinia war es beim Vorbeigehen gelungen, einen Blick durch die geöffnete Tür in Saras Zimmer zu werfen, und sie hatte gesehen, wie Mariette eine Schachtel geöffnet hatte. »Sie war voller Petticoats mit Rüschen daran - Rüschen über Rüschen«, flüsterte sie aufgeregt ihrer Freundin Jessie zu, während sie sich über das Geographiebuch beugte. »Ich habe gehört, wie Miss Minchin zu Miss Amelia sagte, so vornehme Kleider seien lächerlich für ein Kind. Meine Mutter sagt, Kinder sollten sich einfach anziehen. Sieh mal, sie hat gerade einen dieser Petticoats an. Ich habe es gesehen, als sie sich hinsetzte.« »Und sie hat Seidenstrümpfe an!« flüsterte Jessie, während sie sich ebenfalls über ihr Geographiebuch beugte. »Und was für kleine Füße sie hat! Ich habe noch nie so kleine Füße gesehen.« »Oh«, Lavinia rümpfte gehässig die Nase, »das machen bloß ihre Schuhe. Meine Mutter sagt, wenn man einen guten Schuhmacher hat, dann können auch große Füße klein aussehen. Ich finde sie überhaupt nicht hübsch. Ihre Augen haben so eine komische Farbe.« »Sie ist nicht auf die übliche Weise hübsch«, sagte Jessie und warf einen verstohlenen Blick durch den Raum, »aber irgendwie muß man immerzu hinsehen. Sie hat ungeheuer lange Wimpern, und ihre Augen sind fast grün.« Sara saß still auf ihrem Platz und wartete ab, was man ihr sagen würde. Sie war in die Nähe von Miss Minchins Pult gesetzt worden. Die vielen Blicke, die auf ihr ruhten, brachten sie nicht im geringsten in Verlegenheit. Sie war selbst neugierig und sah sich ruhig nach den anderen Kindern um. Sie hätte gern gewußt, was in ihren Köpfen vor sich ging. Ob sie Miss Minchin mochten, und ob auch nur irgendeine von ihnen so einen Papa hatte wie sie. Heute morgen hatte sie sich noch lange mit Emily über ihren Papa unterhalten. »Er ist jetzt auf See, Emily«, hatte sie gesagt. »Wir müssen ganz dicke Freunde sein und uns gegenseitig alles sagen. Emily, sieh mich an. Du hast die hübschesten Augen, die ich je gesehen habe - aber ich wünschte, du könntest sprechen.« Sara war ein Kind voller Hinfalle und absonderlicher Gedanken, und einer davon war, daß es sehr tröstlich sei, so zu tun, als wenn Emily wirklich leben, hören und verstehen könnte. Als Mariette ihr das dunkelblaue Schulkleid angezogen und ihr eine dunkelblaue Schleife ins Haar gebunden hatte, war sie zu Emily gegangen, die
auf einem ihrer Stühle saß, und hatte ihr ein Buch gegeben. »Du kannst lesen, während ich unten bin«, hatte sie gesagt, und als sie bemerkte, daß Mariette sie erstaunt ansah, hatte sie mit ernstem Gesichtsausdruck hinzugefügt: »Ich glaube, daß Puppen Dinge tun können, von denen sie uns nichts verraten. Vielleicht kann Emily wirklich lesen und sprechen und gehen, aber sie tut es nur, wenn niemand im Zimmer ist. Das ist ihr Geheimnis. Wissen Sie, wenn die Menschen wüßten, daß Puppen Dinge tun können, würden sie sie arbeiten lassen. Deshalb haben sie sich vielleicht gelobt, es geheimzuhalten.« »Comme eile est drôle!« sagte Mariette zu sich selbst, als sie hinunterging. Und sie begann, dieses kleine, sonderbare Kind, das ein so intelligentes Gesicht und so tadellose Manieren hatte, langsam zu mögen. Sie hatte vorher Kinder betreut, die nicht so höflich waren. Sara war eine sehr feine Person und hatte eine liebenswürdige, bereitwillige Art zu sagen: »Wenn ich Sie bitten darf, Mariette«, »Danke schön, Mariette«. Es klang immer charmant. »Elle a l'air d'une princesse, cette petite«, sagte Mariette dann zu sich. Und sie fand richtig Gefallen an ihrer neuen kleinen Herrin und ihrem neuen Arbeitsplatz. Als Sara einige Minuten so in Gedanken versunken auf ihrem Platz gesessen hatte, von allen Schülerinnen gemustert, klopfte Miss Minchin gebieterisch auf das Pult. »Meine Damen«, sagte sie, »ich möchte euch eure neue Klassenkameradin vorstellen.« Alle Mädchen erhoben sich von ihren Plätzen, und auch Sara stand auf. »Ich erwarte von euch allen, daß ihr besonders freundlich zu Miss Crewe seid; sie kommt von weit her, genauer gesagt, aus Indien. Sobald der Unterricht zu Ende ist, könnt ihr euch gegenseitig bekannt machen.« Die Schülerinnen verneigten sich feierlich, auch Sara machte eine kleine Verbeugung, dann setzten sie sich und musterten sich wieder gegenseitig mit neugierigen Blicken. »Sara«, sagte Miss Minchin in schulmeisterlichem Ton, »komm einmal nach vorne.« Sie hatte ein Buch vom Pult genommen und blätterte darin. Sara ging höflich zu ihr hin. »Da dein Vater ein französisches Kindermädchen für dich engagiert hat, nehme ich an, daß du speziellen Französischunterricht bekommen sollst.« Sara war ein wenig verlegen. »Ich denke, er hat sie eingestellt, weil er dachte, ich Würde sie mögen, Miss Minchin«, entgegnete Sara leise. »Ich fürchte«, sagte Miss Minchin mit säuerlicher Miene, »daß du ein sehr verwöhntes kleines Mädchen bist und dir immer vorstellst, daß alles nach deinem Wunsch getan wird. Mein Eindruck ist jedenfalls, daß dein Vater möchte, daß du Französisch lernst.« Wäre Sara älter oder wäre sie nicht so gut erzogen gewesen, hätte sie sich mit ein paar entsprechenden Worten auf französisch rechtfertigen können. Statt dessen fühlte sie, wie ihr die Röte in die Wangen stieg. Miss Minchin war eine sehr strenge und beeindruckende Person, und sie war sich offenbar sicher, daß Sara kein Wort Französisch konnte. So erschien es Sara geradezu unhöflich, sie eines Besseren zu belehren. Eigentlich konnte Sara sich nicht erinnern, zu
irgendeiner Zeit nicht Französisch gekonnt zu haben. Als sie noch ein Baby war, hatte ihr Vater oft in Französisch zu ihr gesprochen. Ihre Mutter war Französin gewesen, und Captain Crewe hatte ihre Sprache geliebt, so daß Sara sie immer gehört hatte und mit ihr vertraut wurde. »Ich... ich habe nie wirklich Französisch gelernt, aber . . .«, begann sie und versuchte zaghaft, sich verständlich zu machen. Etwas, worüber sich Miss Minchin insgeheim außerordentlich ärgerte, war, daß sie selbst kein Wort Französisch sprach, und sie war bestrebt, diese peinliche Tatsache zu verbergen. Sie war deshalb nicht daran interessiert, weiter über dieses Thema zu diskutieren und sich eventuell zu verraten. »Es reicht jetzt«, sagte sie mit höflicher Schärfe. »Wenn du es nicht gelernt hast, mußt du sofort damit beginnen. Der Französischlehrer, Monsieur Dufarge, wird in wenigen Minuten hier sein. Nimm dieses Buch und sieh es dir an, bis er kommt.« Saras Wangen waren heiß. Sie ging auf ihren Platz zurück und öffnete das Buch. Mit ernster Miene sah sie sich die erste Seite an. Sie wußte, daß es unhöflich gewesen wäre, zu lächeln, und sie war sehr bestrebt, nicht unhöflich zu sein. Aber sie kam sich sehr merkwürdig dabei vor, daß man von ihr erwartete, sich einzuprägen, daß »le pere« der Vater hieß und »la mere« die Mutter. Miss Minchin blickte sie prüfend an. »Du siehst verstimmt aus, Sara«, sagte sie. »Es tut mir leid, daß dir der Gedanke, Französisch zu lernen, nicht gefällt.« »Ich tue es gern«, antwortete Sara und wollte es noch einmal versuchen, »aber...« »Du sollst nicht >aber< sagen, wenn man dir sagt, was du zu tun hast«, sagte Miss Minchin. »Sieh wieder in dein Buch.« Und Sara gehorchte und lächelte nicht, als sie las, daß »le fils« der Sohn bedeutete und »le frere« der Bruder. »Wenn Monsieur Dufarge kommt«, dachte sie, »werde ich mit ihm sprechen.« Monsieur Dufarge kam kurz danach. Er war ein sehr netter Franzose mittleren Alters, und als sein Blick auf Sara fiel, sah er sie interessiert an. »Ist dies eine neue Schülerin für mich, Madam?« fragte er Miss Minchin. »Ich hoffe, ich habe Glück mit ihr.« »Ihr Vater - Captain Crewe - ist sehr bedacht darauf, daß sie Französisch lernt. Ich fürchte jedoch, sie hat eine kindliche Abneigung dagegen. Sie will offenbar nicht lernen«, sagte Miss Minchin. »Das tut mir leid, Mademoiselle«, wandte sich Monsieur Dufarge freundlich an Sara. »Wenn wir gemeinsam mit dem Lernen beginnen, kann ich dir vielleicht zeigen, was für eine bezaubernde Sprache das ist.« Sara erhob sich von ihrem Platz. Sie war verzweifelt, gerade so, als ob sie bereits in Ungnade gefallen sei. Mit flehentlichem Blick sah sie zu Monsieur Dufarge auf. Sie wußte, er würde sie sofort verstehen. Sie begann, ihm in fließendem Französisch zu erklären, daß Madam sie nicht verstanden hatte. Daß sie Französisch nicht aus Büchern gelernt hatte, sondern daß ihr Papa und andere Leute immer französisch mit ihr gesprochen hatten, und daß sie es
gelesen und geschrieben hatte genauso wie Englisch. Sie erklärte ihm, daß sie französisch mochte, genauso wie ihr Papa. Und daß sie sich freuen würde, alles zu lernen, was Monsieur ihr beibringen werde. Als sie angefangen hatte zu sprechen, war Miss Minchln heftig zusammengezuckt und hatte sie fortwährend, fast entrüstet, über ihre Brille hinweg angestarrt. Monsieur Dufarge lächelte, und er hatte ein sehr vergnügtes Lächeln. Diese hübsche Kinderstimme in seiner eigenen Sprache so einfach und bezaubernd sprechen zu hören, versetzte ihn fast in sein Heimatland - welches ihm an dunklen Londoner Nebeltagen manchmal Welten entfernt schien. Als Sara geendet hatte, nahm er mit einem fast liebevollen Blick das Lehrbuch entgegen und wandte sich an Miss Minchin. »Nun, Madam«, sagte er, »viel kann ich ihr nicht beibringen. Sie hat nicht Französisch gelernt; sie ist Französin. Ihre Aussprache ist ausgezeichnet.« »Das hättest du mir sagen müssen«, zischte Miss Minchin gekränkt. »Ich... ich habe es versucht«, stotterte Sara. »Und ich ... ich denke, ich habe es falsch angefangen.« Miss Minchin wußte, daß Sara versucht hatte, es ihr zu erklären. Als sie bemerkte, daß die anderen Schülerinnen mitgehört und alles mitbekommen hatten und nun hinter ihren Französischbüchern versteckt kicherten, wurde sie erst richtig ärgerlich. »Ruhe, meine Damen!« rief sie streng und klopfte auf das Pult. »Sofort Ruhe!« Und von diesem Augenblick an hatte sie eine Abneigung gegenüber ihrer Musterschülerin.
Ermengarde An diesem ersten Morgen, als Sara an Miss Minchins Seite saß und die ganze Klasse sie nicht aus den Augen ließ, fiel ihr sehr bald ein kleines Mädchen auf, das ungefähr so alt war wie sie. Es war ein dickes Kind, das sie mit hellen, mattblauen Augen anstarrte. Es sah alles andere als klug aus, aber es hatte einen gutmütigen Gesichtsausdruck. Sein strohblondes Haar war zu einem festen Zopf geflochten und hinten mit einer Schleife zusammengebunden. Die ganze Zeit über hatte es den Zopf hervorgeholt, knabberte an dem Schleifenende herum und bestaunte mit aufgestützten Ellbogen interessiert den Neuankömmling. Als Sara nach vorne ging und Monsieur Dufarge in lupenrei nem Französisch antwortete, schreckte das kleine Mädchen regelrecht hoch und wurde vor ehrfürchtigem Staunen ganz rot. Für sie, die sich seit Wochen verzweifelt und unter Tränen bemühte, sich einzuprägen, daß »la mere« die Mutter hieß und »le pere« der Vater, war es fast zuviel, plötzlich ein Kind ihres Alters zu hören, das nicht nur mit diesen beiden Worten vertraut war, sondern offenbar noch eine Menge anderer Worte beherrschte, die sie untereinander mischte, als sei es ein Kinderspiel. Sie starrte so gebannt Sara an und biß so fest an ihrer Zopfschleife herum, daß sie Miss Minchins Aufmerksamkeit
erregte. »Miss St. John!« rief sie streng. »Was soll dieses Benehmen? Nimm deine Ellbogen herunter! Nimm die Schleife aus dem Mund! Setz dich sofort ordentlich hin!« Miss St. John schreckte erneut hoch, und als Lavinia und Jessie kicherten, wurde sie riefrot. Sie schämte sich so, daß es aussah, als ob sich ihre glanzlosen, kindlichen Augen mit Tränen füllten. Sara sah das und hatte so großes Mitleid mit ihr, daß sie sich beinah zu ihr hingezogen fühlte und ihre Freundin sein wollte. Eine ihrer Eigenschaften war es, all denen helfen zu wollen, die schwach waren und Hilfe brauchten. »Wenn du ein Junge wärst oder einige Jahrhunderte zuvor gelebt hättest«, hatte ihr Vater oft zu ihr gesagt, »würdest du mit gezogenem Schwert durch das Land ziehen und jeden retten und verteidigen, der sich in einer mißlichen Lage befindet. Du willst immer kämpfen, wenn du jemanden in Not siehst.« So empfand Sara auch Zuneigung zu der kleinen, dicken Miss St. John. Den ganzen Morgen über ließ sie sie nicht aus den Augen. Sie sah, daß ihr das Lernen nicht leichtfiel und sie wohl nie eine Musterschülerin sein würde. Ihre Französischleistung war mitleiderregend. Ihre Aussprache brachte sogar Monsieur Dufarge unwillkürlich zum Lachen, und Lavinia und Jessie und die anderen Mädchen kicherten oder sahen sie kopfschüttelnd oder verächtlich an. Nur Sara lachte nicht. Sie tat, als höre sie es nicht, wenn Miss St. John statt »le bon pain« »lee bong pang« sagte. Sie selbst war viel zu feinfühlig, um das Gekichere ertragen zu können. Der Anblick dieses verzweifelten Kindergesichtes versetzte Sara innerlich in Aufruhr. »Das ist überhaupt nicht lustig«, fuhr sie dazwischen. »Da gibt es gar nichts zu lachen.« Als der Unterricht vorbei war und die Schülerinnen sich in Gruppen zusammenfanden, um miteinander zu schwatzen, sah sich Sara nach Miss St. John um. Als sie sie niedergeschlagen und zusammengekauert auf einer Fen sterbank sitzen sah, ging sie hin und sprach sie an. Sie sagte eigentlich nur das, was kleine Mädchen so sagen, wenn sie eine Bekanntschaft anknüpfen wollen, nichts Außergewöhnliches also, aber Sara hatte etwas besonders Nettes und Freundliches an sich, was allgemein sofort auffiel. »Wie heißt du?« fragte sie. »Ich heiße Ermengarde St. John«, antwortete sie. »Und ich Sara Crewe«, sagte Sara. »Du hast einen sehr hübschen Namen. Er klingt wie im Märchenbuch.« »Gefällt er dir wirklich?« fragte Ermengarde erfreut. »Deiner . . . deiner gefällt mir auch.« Miss St. Johns größtes Problem war, daß sie einen klugen Vater hatte. Manchmal erschien ihr dies wie ein schreckliches Schicksal. Ein Vater, der alles wußte, der sieben oder acht Sprachen sprach, und der Tausende von dicken Büchern besaß, die er scheinbar auswendig gelernt hatte, erwartete oft, daß man wenigstens mit dem Inhalt seiner Lehrbücher vertraut war; und wahrscheinlich setzte er auch voraus, daß man in der Lage war, einige geschichtliche Ereignisse im Gedächtnis zu behalten und einen französischen
Übungstext zu schreiben. Ermengarde machte ihrem Vater viel Kummer. Er konnte nicht verstehen, wie es möglich war, daß sein eigenes Kind ein unverkennbar und auffallend dummes Wesen war, das niemals in irgend etwas glänzte. »Du lieber Himmel!« rief er allzu oft aus und starrte sie dann an. »Manchmal denke ich, du bist genauso dumm wie deine Tante Eliza!« Tante Eliza war in der Tat langsam im Lernen und schnell im Vergessen, und Ermengarde stand ihr darin in nichts nach. Sie war der größte Dummkopf der Schule, das war nicht zu verleugnen. »Man muß sie dazu bringen zu lernen«, hatte ihr Vater damals zu Miss Minchin gesagt, als er ihr seine Tochter anvertraut hatte. Doch bisher hatte es nichts genutzt. Ermengarde verbrachte die meiste Zeit ihres Lebens damit, Dinge zu lernen, um sie sofort wieder zu vergessen. Oder, falls sie sie doch im Gedächtnis behielt, verstand sie sie meist nicht. So war es nur verständlich, daß Ermengarde, als Sara sie ansprach, nur dasaß und sie in tiefer Bewunderung anstarrte. »Du kannst Französisch, nicht wahr?« fragte sie voller Respekt. Sara setzte sich zu ihr auf den großen, breiten Fenstersims, zog die Füße an und schlang die Arme um ihre Knie. »Ich kann es, weil ich es mein Leben lang gehört habe«, antwortete sie. »Du könntest es genauso, wenn du es immer gehört hättest.« »O nein, bestimmt nicht«, sagte Ermengarde. »Ich könnte es niemals sprechen!« »Warum nicht?« fragte Sara interessiert. Ermengarde schüttelte den Kopf, daß ihr Zopf schlenkerte. »Du hast mich ja vorhin gehört«, sagte sie. »Es geht mir immer so. Ich kann die Worte nicht sprechen. Sie sind so sonderbar.« Sie hielt einen Moment inne. »Du bist klug, nicht wahr?« sagte sie mit einem ehrfurchtsvollen Unterton. Sara sah hinaus auf den schmutzigen Hof, wo die Spatzen herumhüpften und zwitschernd auf dem rostbedeckten Eisengeländer und den Zweigen des Baumes saßen. Sie dachte nach. Sie hatte schon oft gehört, daß sie klug sei und fragte sich, ob das stimmte - und wenn ja, warum das so war. »Ich weiß es nicht«, sagte sie. »Ich kann es dir nicht sagen.« Dann, als Ermengardes rundes, pausbäckiges Gesicht einen traurigen Ausdruck annahm, lachte sie und wechselte schnell das Thema. »Soll ich dir Emily zeigen?« fragte sie. »Wer ist Emily?« fragte Ermengarde. »Komm mit hinauf in mein Zimmer«, sagte Sara und bot ihr ihre Hand an. Sie sprangen zusammen vom Fenstersims und liefen die Treppe hinauf. »Stimmt es«, flüsterte Ermengarde, als sie durch die Halle gingen, »daß du ein eigenes Spielzimmer hast?« »Ja«, antwortete Sara. »Papa hat Miss Minchin gebeten, mir eins zu überlassen, weil - na ja, weil ich mir beim Spielen Geschichten ausdenke, die ich mir selbst erzähle. Und ich möchte nicht, daß mich jemand hört. Wenn ich denke, es hört jemand zu, würde es alles zerstören.«
Sie hatten mittlerweile den Flur erreicht, der zu Saras Zimmer führte.
Ermengarde hielt plötzlich inne und starrte sie atemlos an.
»Du erfindest Geschichten!« stieß sie staunend hervor. »Das kannst du - und
noch Französisch sprechen? Wirklich?«
Sara sah sie etwas erstaunt an.
»Natürlich, jeder kann Dinge erfinden«, sagte sie. »Hast du das nie versucht?«
Sie legte warnend ihre Hand auf Ermengardes.
»Laß uns ganz leise zur Tür gehen«, flüsterte sie, »und dann werde ich sie mit
einem Ruck öffnen; vielleicht ertappen wir sie.«
Sara lachte leise, und in ihren Augen lag ein Hauch geheimnisvoller Hoffnung,
der Ermengarde faszinierte. Doch sie hatte nicht die leiseste Idee, was das alles
bedeuten sollte und wen sie »ertappen« wollte. Was immer es auch sein würde,
Ermengarde war sich sicher, daß es etwas wunderbar Aufregendes war. So
folgte sie ihr in erwartungsvoller Erregung auf den Zehenspitzen den Flur ent
lang.
Sara drehte blitzschnell den Knauf herum und stieß die Tür weit auf. Das
Zimmer lag ordentlich und ruhig vor ihr. Ein Feuer flackerte ruhig im Kamin,
und eine wunderschöne Puppe saß daneben auf einem Stuhl, und es sah aus, als
lese sie in einem Buch.
»Oh, sie ist zu ihrem Platz zurückgerannt, bevor wir sie sehen konnten!« rief
Sara enttäuscht aus. »Natürlich, das macht sie immer. Sie ist so schnell wie der
Blitz.«
Ermengarde blickte von ihr zu der Puppe und von der Puppe zu Sara.
»Kann sie denn . . . laufen?« fragte sie atemlos.
»Ja«, antwortete Sara. »Zumindest glaube ich, daß sie laufen kann. Zumindest
tue ich so. Und deshalb kommt es mir wie wahr vor. Hast du noch nie so getan,
als ob etwas wahr wäre?«
»Nein«, sagte Ermengarde. »Nie. Ich ... erzähl mir davon.«
Ermengarde war so begeistert von dieser sonderbaren neuen Schulkameradin,
daß sie statt Emily nur Sara anstarrte - obgleich Emily die schönste Puppe war,
die sie je gesehen hatte.
»Komm, setzen wir uns« sagte Sara, »und ich erzähle es dir. Es ist so leicht,
daß du nicht mehr aufhören kannst, wenn du einmal angefangen hast. Du
machst einfach immer weiter. Und das ist wundervoll. Emily, hör zu. Das hier
ist Ermengarde St. John. - Ermengarde, das ist Emily. Möchtest du sie einmal
nehmen?«
»Oh, darf ich?« fragte Ermengarde. »Darf ich wirklich? Oh, ist die schön!«
Niemals in ihrem trostlosen, kurzen Leben hätte Miss St. John sich träumen
lassen, daß sie, noch bevor die Glocke zum Mittagessen ertönte, mit der
sonderbaren neuen Schülerin Zusammensein würde.
Sara setzte sich nun auf den Kaminvorleger und erzählte Ermengarde
merkwürdige Dinge. Sie saß zusammengekauert da, ihre grünen Augen
leuchteten, und ihre Wangen glühten. Sie erzählte Geschichten von der Reise
und Geschichten von Indien; aber was Ermengarde am meisten faszinierte, war
ihre Vorstellung von den Puppen, die laufen und sprechen konnten. Puppen, die
alles tun konnten, was sie wollten, sobald kein Mensch im Zimmer war, die
aber ihre Kräfte geheimhalten mußten und deshalb »wie der Blitz« auf ihren
Platz zurückrannten, wenn jemand ins Zimmer zurückkehrte.
Einmal, als Sara die Geschichte erzählte, wie sie und ihr Vater Emily gefunden
hatten, sah Ermengarde, wie sich ihr Gesicht plötzlich änderte. Es schien als ob
eine Wolke es überschattete, die das Licht in ihren glänzenden Augen löschte.
»Hast du ... hast du irgend etwas?« fragte Ermengarde zaghaft.
»Ja«, hauchte Sara, nachdem sie einen Moment geschwiegen hatte. »Aber nicht
so, daß mir etwas weh tut.« Dann fügte sie mit leiser Stimme hinzu: »Liebst du
deinen Vater mehr als alles auf der ganzen Welt?«
Ermengarde war sprachlos. Sie wußte, daß es für ein Mädchen aus der
Spezialschule alles andere als anständig war, zuzugeben, daß es ihr bisher
niemals in den Sinn gekommen war, so etwas wie liebevolle Gedanken für den
Vater zu empfinden, geschweige denn, man alles nur Erdenkliche tun könne,
um ja auch keine Minute ohne ihn zu sein. Sie war äußerst verwirrt.
»Ich ... ich sehe ihn selten«, stammelte sie. »Er ist immer in der Bibliothek ...
und liest.«
»Ich Hebe meinen Vater mehr als alles in der Welt und noch viel, viel mehr«,
sagte Sara. »Das ist mein Schmerz. Er ist fortgegangen.«
Sie senkte ihren Kopf leicht und saß eine Weile regungslos da. Ihre kurzen
schwarzen Locken fielen ihr ins Gesicht.
>Gleich wird sie laut losweinem, dachte Ermengarde besorgt.
Aber das tat Sara nicht. Ohne den Kopf zu heben, sagte sie: »Ich habe ihm
versprochen, tapfer zu sein. Und das werde ich. Man muß Dinge ertragen
können. Denke daran, was Soldaten erdulden müssen! Papa ist ein Soldat.
Wenn es Krieg gäbe, müßte er lange Märsche und Durst ertragen. Und er
würde nie ein Wort der Klage darüber verlieren - kein einziges.«
Ermengarde starrte sie nur an, und sie begann, sie zu bewundern. Sara war so
wundervoll und so ganz anders als die anderen.
Dann hob Sara den Kopf und warf mit einem sonderbaren Lächeln ihre
schwarzen Locken zurück.
»Wenn ich dir immer vom Geschichten-Erfinden erzähle«, sagte sie, »kann ich
es einfach besser ertragen. Man vergißt nicht, aber man denkt nicht immer
daran.«
Ermengarde wußte nicht, warum sie plötzlich einen Kloß in ihrem Hals fühlte
und ihr Tränen in die Augen stiegen,
»Lavinia und Jessie sind >beste Freundinnen«, sagte sie mit heiserer Stimme.
»Ich wünschte, wir beide wären das auch. Darf ich deine beste Freundin sein?
Du bist klug, und ich bin das dümmste Kind der ganzen Schule, aber ich ... ich
mag dich so sehr!«
»Das freut mich«, lächelte Sara. »Es gibt einem ein Gefühl der Dankbarkeit,
wenn man geliebt wird. Ja. Wir wollen Freundinnen sein. Und weißt du was« -
ihr Gesicht hellte sich plötzlich auf - »ich kann dir bei deinen Franzö
sischübungen helfen.«
Lottie Wenn Sara nicht anders als alle anderen Kinder gewesen wäre, so wäre das Leben in den folgenden zehn Jahren in Miss Minchins Schule nicht gerade angenehm für sie geworden. So aber behandelte man sie eher wie einen vor nehmen Gast als wie ein kleines Internatsmädchen. Insgeheim mochte Miss Minchin Sara nicht, aber sie war zu berechnend, als daß sie ihr Anlaß zu irgendwelchen Beschwerden gegeben hätte. Sie war sich darüber im klaren, daß Captain Crewe sie sofort von der Schule nehmen würde, wenn Sara unglücklich wäre und sich nicht wohl fühlte. Miss Minchin war nun der Meinung, daß ein Kind dann, wenn es ständig gelobt und ihm nie etwas verboten würde, sich zweifellos wohl fühlen müsse. Infolgedessen wurde Sara für ihre Schnelligkeit bei ihren Übungen gelobt, für ihre guten Manieren, für ihre Liebenswürdigkeit gegenüber ihren Mitschülerinnen, für ihre Großzügigkeit, wenn sie einem Bettler ein SixpenceStück gab. Aus dem Geringsten, was sie tat, wurde eine Tugend gemacht, und hätte sie nicht so einen festen Charakter und einen so klugen Kopf gehabt, wäre sie wohl eine sehr selbstgefällige Person geworden. Aber ihr wacher Verstand ließ sie Wahres über sich selbst erkennen. Und im Laufe der Zeit sprach sie sogar mit Ermengarde über diese Dinge. »Alles widerfährt den Menschen durch Zufall«, sagte sie oft. »Mir sind schon eine Menge erfreulicher Zufälle passiert. Es ist Zufall, daß ich immer schon gern gelernt und gelesen habe, und daß ich Dinge, die ich gelernt habe, im Gedächtnis behalten konnte. Es ist Zufall und nichts weiter, daß ich das Kind eines reichen Vaters bin, der mir alles geben kann, was ich mir wünsche. Vielleicht bin ich im Grunde gar nicht gutmütig, nur, wenn man alles hat, was man sich wünscht, und wenn alle nett zu einem sind, was bleibt einem übrig, als gutmütig zu sein? Ich weiß nicht«, und sie blickte sehr ernst drein, »wie ich jemals herausfinden soll, ob ich in Wirklichkeit ein nettes oder ein schreck liches Kind bin. Vielleicht bin ich sogar ein grauenhaftes Kind, und niemand wird das jemals erfahren, bloß weil ich nie Schwierigkeiten gehabt habe.« »Lavinia hat auch keine Schwierigkeiten«, sagte Ermengarde beharrlich, »und sie ist schrecklich genug.« Sara rieb sich bedächtig die Nasenspitze und dachte darüber nach. »Nun«, sagte sie schließlich, »vielleicht liegt das daran, daß Lavinia noch wächst.« Dabei erinnerte sie sich daran, wie Miss Amelia einmal nachsichtig gesagt hatte, Lavinia wachse so schnell, daß ihre Gesundheit und ihr Temperament darunter litten. Lavinia war in der Tat boshaft. Sie tyrannisierte die kleinen Kinder und machte sich wichtig bei den Gleichaltrigen. Und sie war äußerst eifersüchtig auf Sara. Bis zu ihrer Ankunft hatte sie sich als Anführerin der Schule betrachtet. Sie war ziemlich hübsch, und wenn alle Schüler in Zweierreihen ausgingen, war sie stets die am besten Angezogene gewesen - bis Sara mit ihren Samtmänteln, Zobelmuffs und hängenden Straußenfedern auftauchte und von Miss Minchin an den Anfang der Reihe gestellt wurde. Dies war an sich schon bitter genug für Lavinia gewesen, und im Laufe der
Zeit stellte sich dann heraus, daß auch Sara eine Anführerin war, und zwar nicht, indem sie ihren Mitschülern gegenüber unangenehm wurde wie Lavinia, sondern indem sie immer freundlich, hilfsbereit und höflich war. Jessie hatte ihre »beste Freundin« Lavinia verärgert, als sie ihr einmal sagte: »Etwas muß man Sara Crewe lassen, sie bildet sich nicht im geringsten etwas auf sich ein, und du weißt, daß sie Grund dazu hätte, Lawie. Ich glaube, mir würde es schwerfallen, nicht wenigstens ein bißchen eingebildet zu sein, wenn ich so viele schöne Sachen hätte und man so viel Wirbel um mich machen würde. Es ist geradezu widerlich, wie Miss Minchin sie vorzeigt, wenn Eltern zu Besuch kommen.« »Die liebe Sara muß unbedingt in den Salon kommen und Mrs. Musgrave von Indien erzählen«, sagte Lavinia, indem sie Miss Minchin in ihrer hohen Stimme gekonnt nachäffte. »Die liebe Sara muß mit Lady Pitkin französisch sprechen. Ihre Aussprache ist so hervorragend. Sie hat in der Schule kein bißchen Französisch gelernt. Und das weiß sie ganz genau. Sie selber sagt ja, daß sie es überhaupt nicht gelernt hat. Sie hat es einfach aufgeschnappt, weil sie es immer von ihrem Papa gehört hat. Und, was ihn angeht, was soll an einem indischen Offizier so Besonderes sein.« »Immerhin hat er einen Tiger getötet«, sagte Jessie langsam, »den, dessen Fell in Saras Zimmer liegt. Deswegen liebt sie es so. Sie legt sich darauf und streichelt seinen Kopf und spricht zu ihm wie zu einer Katze.« »Sie macht immer irgend etwas Albernes«, sagte Lavinia bissig. »Meine Mutter sagt, daß es albern ist, Dinge vorzutäuschen, so wie Sara es tut. Sie sagt, sie wird bestimmt exzentrisch.« Es stimmte, daß Sara sich nie überheblich benahm. Sie war ein freundliches Wesen und gab gerne von allem ab, was ihr gehörte und ihr vorrangig zuteil wurde. Worum sie am meisten beneidet wurde, war, daß sie die ganz kleinen Kinder, mit denen normalerweise die Zehn- bis Zwölfjährigen nichts zu tun haben wollten, rührend umsorgte. Sie war eine mütterliche kleine Person, und wenn jemand hinfiel und sich das Knie aufschrammte, lief sie herbei, half ihm auf und tröstete ihn. Nie stieß sie jemanden vor den Kopf oder demütigte ihn, nur weil er klein und unerfahren war. »Wenn man vier ist, ist man vier«, sagte sie einmal ernst zu Lavinia, als die ungerechterweise die kleine Lottie geschlagen hatte und sie eine »dumme Göre« schimpfte. »Und«, fügte sie mit funkelnden Augen hinzu, »es dauert nur noch sechzehn Jahre, bis man zwanzig ist!« »Du meine Güte!« rief Lavinia aus. »Wie gut wir rechnen können!« So kam es, daß besonders die jüngeren Kinder Sara bewunderten. Es war in der Schule bekannt, daß Sara in ihrem Zimmer Tea-Parties für die Kleinen gab. Sie durften mit Emily spielen, und sie durften süßen Tee aus den blaugeblümten Tassen von Emilys eigenem Tee-Service trinken. Noch nie hatte eine von ihnen echtes Puppengeschirr gesehen. Von da an war Sara für die Kinder aus der ersten Klasse eine richtige kleine Prinzessin. Am meisten verehrte Lottie Legh sie, und am meisten schätzte sie es, von Sara mütterlich umhegt und gepflegt zu werden. Lotties Vater hatte sie zur Schule geschickt, weil er nicht wußte, was er sonst mit ihr anfangen sollte. Ihre Mutter
war schon früh gestorben, und da das Kind von klein auf wie ein verwöhntes Schoßhündchen behandelt worden war, entwickelte es sich alsbald zu einer kleinen Nervensäge. Sobald Lottie etwas wollte oder nicht wollte, weinte und schrie sie. Und da sie immer gerade das wollte, was sie nicht bekommen konnte, war ihr schrilles Jammergeheul eine ständige Geräuschkulisse im Haus. Lottie vertrat schon sehr bald die Meinung, daß ein kleines Mädchen, das seine Mutter verloren hatte, ganz besonderes Mitleid und Anteilnahme verdiente. Wahrscheinlich hatte sie nach dem Tod ihrer Mutter, als sie noch ganz klein war, die Leute so reden hören, und so machte sie sich diese Erfahrung zunutze. Das erste Mal nahm Sara sich ihrer an, als sie eines Morgens die Stimmen von Miss Minchin und Miss Amelia hörte, die offensichtlich versuchten, ein kreischendes Kind zur Ruhe zu bringen. Das Kind widersetzte sich so, daß Miss Minchin selber fast schreien mußte, um sich Gehör zu verschaffen. »Warum um alles in der Welt kreischst du«, brüllte sie. »Hu - hu - huu!« drang es an Saras Ohr. »Ich hab' keine Mama!« »O Lottie!« schrie Miss Amelia. »Tu mir einen Gefallen und hör auf! Hör auf zu weinen! Bitte!« »Hu! Hu! Huu!« heulte Lottie noch lauter. »Hab' keine Mama!« »Man sollte sie übers Knie legen«, rief Miss Minchin. »Du kriegst ein paar hintendrauf, du ungezogenes Kind!« Lotties Geschrei wurde noch größer. Miss Amelia fing an zu weinen. Miss Minchin dröhnte mit Donnerstimme, bis sie plötzlich wütend von ihrem Stuhl aufsprang und aus dem Zimmer lief, um Miss Amelia die Angelegenheit zu überlassen. Sara war in der Halle stehengeblieben und überlegte, ob sie hineingehen sollte, denn sie hatte Lottie vor kurzem kennengelernt. Vielleicht hätte sie sie beruhigen können. Als Miss Minchin aus dem Zimmer trat und Sara erblickte, machte sie ein verärgertes Gesicht. Es war ihr sichtlich unangenehm, daß Sara sie hatte schreien hören. »Oh - Sara!« tat sie überrascht und bemühte sich, ihr freundlichstes Lächeln aufzusetzen. »Ich bin stehengeblieben«, erklärte Sara entschuldigend, »weil ich hörte, daß es Lottie war... und ich dachte, ich könnte sie vielleicht... nur vielleicht... beruhigen. Darf ich es versuchen, Miss Minchin?« »Aber natürlich. Dir wird das sicherlich gelingen. Du bist ja auch ein kluges Kind«, antwortete Miss Minchin spitz und preßte die Lippen zu einem Strich zusammen. Als sie sah, daß Sara auf ihre Schroffheit befremdet reagierte, fügte sie schnell beschwichtigend hinzu: »Aber du bist schließlich in allem klug. Ich bin sicher, du schaffst es. Geh nur hinein.« Als Sara das Zimmer betrat, lag Lottie auf dem Fußboden, schreiend und mit den Füßen um sich strampelnd, während Miss Amelia sich voll Verzweiflung und am Ende ihrer Kräfte über sie beugte. Lottie wußte von zu Hause, daß sie nur lange genug schreien und um sich treten mußte, bis man ihrem Willen nachgab. Die plumpe Miss Amelia war ihr völlig ausgeliefert. Tapfer spielte sie eine Beruhigungsmethode nach der anderen durch.
»Armes Kind!« sagte sie zuerst. »Ich weiß, daß du keine Mama hast.« Und dann, in schärferem Ton: »Hör sofort auf, Lottie, oder ich schüttle dich.« Es folgte: »Du armer kleiner Engel, du!« Und dann wieder: »Du böses, schlechtes, widerwärtiges Kind, gleich hau' ich dir eine runter! Du wirst schon sehen!« Sara ging ruhig auf sie zu. Sie hatte keine Ahnung, was sie tun sollte, aber ihr Gefühl sagte ihr, daß es nicht gut sei, aus lauter Hilflosigkeit einmal so und einmal so zu reagieren. »Miss Amelia«, sagte sie mit leiser Stimme, »Miss Minchin sagt, ich solle versuchen, sie zu beruhigen ... darf ich?« Miss Amelia wandte sich um und sah Sara verzweifelt an. »Oh, glaubst du wirklich, daß du das kannst?« keuchte sie. »Ich weiß nicht, ob ich es kann«, antwortete Sara, immer noch flüsternd, »aber ich will es versuchen.« Miss Amelia erhob sich schwerfällig und seufzte, während Lottie nach wie vor mit ihren kleinen, dicken Beinen wie wild um sich schlug. »Wenn Sie leise hinausgehen«, sagte Sara, »bleibe ich bei ihr.« »O Sara!« jammerte Miss Amelia. »Wir haben noch nie so ein schreckliches Kind bei uns gehabt. Ich glaube nicht, daß wir sie behalten können.« Sie schlich sich aus dem Zimmer und war froh, sich nicht mehr um die Kleine kümmern zu müssen. Sara stand eine Weile neben der heulenden Lottie und blickte wortlos auf sie hinunter. Dann setzte sie sich auf den Boden und wartete. Bis auf Lotties Schreien war es ganz still im Raum. Dies war neu für die kleine Miss Legh, die es gewohnt war, daß - sobald sie loskreischte - alles um sie herum auf sie einredete, protestierend und drohend oder flehend und ihr gut zuredend. Aber auf dem Boden zu liegen und zu toben, während jemand neben ihr saß, ohne sich offenbar darum zu kümmern, machte sie neugierig. Sie öffnete ihre zusammengekniffenen, verheulten Augen, um zu sehen, wen sie vor sich hatte. Aber da saß nur ein anderes kleines Mädchen. Doch es war das Mädchen, dem Emily und all die anderen schönen Sachen gehörten. Und sie schaute sie ruhig an, als ob sie einfach nur nachdachte. Lottie hielt einen Moment inne und begann dann von neuem zu brüllen, aber die Stille im Raum und Saras merkwürdiger, neugieriger Blick ließen das Ganze nur zu einem halbherzigen Versuch werden. »Ich - hab' - keine Mama!« fing sie wieder an, jedoch leiser als zuvor. Sara sah sie noch fester an, und ihr Blick drückte etwas wie Mitgefühl aus. »Ich auch nicht«, sagte sie. Dies kam so überraschend, daß Lottie erst einmal mit dem Zappeln aufhörte und sie anstarrte. Nichts bringt ein weinendes Kind schneller zur Ruhe als ein überraschender, neuer Eindruck. Hinzu kam, daß Lottie weder Miss Minchin noch Miss Amelia leiden konnte, während sie Sara gern hatte, obwohl sie sie kaum kannte. Sie dachte zwar nicht daran, mit ihrem Gejammere ein für allemal aufzuhören, fragte aber dann doch neugierig: »Wo ist sie?« Sara sagte einen Augenblick nichts. Es hieß, ihre Mutter sei im Himmel, und sie hatte sich darüber Gedanken gemacht.
»Sie ist im Himmel«, sagte sie schließlich leise. »Aber ich weiß, daß sie eines Tages herunterkommt und mich besucht - obwohl ich sie nicht sehen kann. Genauso ist es mit deiner Mama. Vielleicht können sie beide uns jetzt sehen. Vielleicht sind sie sogar in diesem Zimmer.« Lottie saß kerzengerade da und sah sie an. Sie war ein hübsches kleines Mädchen mit lockigem Haar, und ihre runden Augen erinnerten an Vergißmeinnicht. Hätte ihre Mutter sie allerdings die letzte halbe Stunde sehen können, wäre sie sicher nicht auf die Idee gekommen, daß dieses Kind mit einem Engel verwandt sein könnte. Sara sprach weiter, und was sie sagte, war so anders, so lebendig, daß Lottie unwillkürlich zuhören mußte. Man hatte ihr immer nur erzählt, daß ihre Mutter Flügel hätte und eine Krone auf dem Kopf, und man hatte ihr Bilder von Frauenwesen in schönen weißen Hemden gezeigt, die Engel hießen. Sara dagegen erzählte von einem wunderschönen Land mit leibhaftigen Lebewesen, so, als sei alles wahr. »Dort, im Himmel, gibt es unendlich viele Blumenwiesen«, sagte sie und fing wie immer an, sich selbst ganz zu vergessen und sich wie in einem Rausch zu erzählen. »Unendlich viele Wiesen mit Lilien darauf, und wenn der Wind sanft darüberstreicht, trägt er ihren Duft in die Lüfte. Und alles atmet ihn ein, denn der sanfte Wind weht immer. Und kleine Kinder laufen in den Lilienwiesen umher und pflücken ihre Arme voll davon, und sie lachen und flechten sich kleine Kränze. Und die Straßen leuchten im Son nenlicht. Und niemand ist jemals müde, auch wenn er noch so weit gelaufen ist. Jeder kann sich frei bewegen. Und die ganze Stadt ist mit Mauern aus Perlen und Gold umgeben, und sie sind so niedrig, daß sich alle daran lehnen und auf die Erde hinabschauen können, und sie lachen und senden wunderbare Botschaften hinab.« Lottie hatte sofort aufgehört zu weinen und Sara gespannt zugehört. Diese Geschichte war auch zu hübsch. Sie krabbelte neben Sara und verschlang jedes Wort, bis die Geschichte zu Ende war. Sofort schob sie ihre Oberlippe hoch und verzog bereits wieder das Gesicht. »Da will ich hin«, heulte sie. »Ich ... ich hab' keine Mama hier in der Schule.« Sara erkannte die Gefahr. Sie ergriff die kleine Hand und zog sie mit einem tröstenden Lächeln näher an sich heran. »Ich werde deine Mama sein«, sagte sie sanft. »Wir spielen, daß du mein kleines Mädchen bist. Und Emily ist deine Schwester.« »Wirklich?« fragte Lottie. Ihre Grübchen kamen zum Vorschein. »Ja«, sagte Sara und sprang auf. »Komm, wir gehen zu ihr und sagen es ihr. Und dann wasche ich dir das Gesicht und kämme dir die Haare.« Lottie war einverstanden und freute sich. Sie trabte aus dem Zimmer und folgte Sara schnell die Treppe hinauf; mit einem Mal hatte sie vergessen, daß sie das ganze Theater der letzten Stunde nur veranstaltet hatte, weil sie sich nicht fürs Mittagessen waschen und kämmen lassen wollte. Und von jetzt an war Sara eine Adoptivmutter.
Becky Nicht nur wegen ihrer wunderschönen Sachen, die sie besaß, oder weil sie »die Musterschülerin« war, wurde Sara von vielen Mitschülern regelrecht beneidet, sondern ganz besonders war es ihre Fähigkeit, Geschichten zu erzählen, die alle faszinierten. Jeder, der in der Schule einen Geschichtenerzähler gehabt hat, weiß, was diese Bewunderung mit sich bringt: Er wird auf Schritt und Tritt verfolgt, und ständig um eine Kostprobe angefleht. Scharen umringen ihn, um ja nichts zu versäumen. Sara konnte nicht nur Geschichten erzählen, sondern sie selbst erfand sie auch mit Begeisterung. Wenn sie im Mittelpunkt stand und anfing, von all den wundervollen Dingen zu erzählen, die in ihrer Phantasie entstanden, wurden ihre grünen Augen groß und leuchtend, ihre Wangen begannen zu glühen, und ohne es selbst zu merken, begleitete sie ihre Stimme, die einmal lieblich und einmal bedrohlich klingen konnte, mit ausdrucksvollen Bewegungen ihres schlanken Körpers und ihrer Hände. Sie vergaß völlig, daß sie von Zuhörern umgeben war; sie sah und erlebte nur die Wesen in ihren Geschichten, die Könige und Königinnen und die schönen Frauen, von deren Abenteuern sie berichtete. »Wenn ich Geschichten erzähle«, sagte sie einmal, »kommen sie mir nicht wie erfunden vor. Sie sind für mich wirklicher als alles hier, noch wirklicher als das Klassenzimmer. Es ist, als ob ich in die Geschichten hineinschlüpfe. Es ist unbeschreiblich.« Es war an einem nebligen Winternachmittag etwa zwei Jahre später. Sara stieg gerade aus ihrer Kutsche und wollte den Schulhof überqueren, als ihr eine kleine, schmuddelige Gestalt auffiel, die unten auf der Treppe stehend den Hals emporreckte und mit großen Augen durch das Geländer spähte. Die neugierigen, furchtsamen Augen in dem schmutzigen Gesicht zogen Saras Blick an, und sie lächelte ihr zu, so wie es ihre Art war, jemanden anzulächeln. Aber die Gestalt mit dem schmutzigen Gesicht hatte offenbar Angst, man könnte sie dabei erwischen, wie sie eine dieser feinen Schülerinnen beobachtete. Blitzschnell zog sie den Kopf ein und huschte zurück in die Küche. Fast hätte Sara lachen müssen, wenn es nicht ein so kleines, hilfloses Ding gewesen wäre, dessen Zustand sie rührte. Am Abend, als Sara in einer Ecke des Klassenzimmers saß und von Zuhörern umringt eine ihrer Geschichten zum besten gab, betrat plötzlich diese kleine, furchtsame Gestalt mit einem viel zu schweren Kohlenkasten unter dem Arm den Raum. Sie kniete auf dem Kaminvorleger nieder, um Kohlen nachzufüllen und die Asche zusammenzukehren. Sie war nicht so schmutzig wie am Nachmittag, als sie durch das Geländer gespäht hatte, sah aber noch genauso verängstigt aus. Sie hatte Angst, zu den Kindern hinzusehen oder den Anschein zu erwecken, als höre sie zu. Leise und vorsichtig legte sie die Kohlen auf und hantierte mit dem Kaminbesteck, so, als ob sie jedes Geräusch vermeiden wollte. Sara merkte jedoch, daß sie sehr interessiert daran war, was um sie herum vorging, und daß sie auch aus diesem Grund so leise war, damit sie möglichst hier und da ein Wort mitbekam. Sara
erhob daraufhin ihre Stimme und sprach laut und deutlich. »Die Meerjungfrauen schwammen sanft durch das kristallgrüne Wasser und zogen ein Fischnetz hinter sich her, das aus Tiefseeperlen gewoben war«, erzählte sie. »Die Prinzessin saß auf dem weißen Felsen und sah ihnen zu.« Es war die wundersame Geschichte von einem Meeresprinzen und einer Prinzessin, die er liebte, und die mit ihm ging, um in schimmernden Höhlen auf dem Meeresgrund mit ihm zu leben. Das Aschenbrödel vor dem Kamin kehrte einmal und ein zweites Mal. Und während sie ein drittes Mal kehren wollte, wurde sie von der Geschichte so gefangengenommen, daß auch sie dem Zauber erlag und alles um sich herum vergaß. Sie kniete auf dem Kaminvorleger, und der Besen hing schlaff in ihrer Hand. Saras Stimme fuhr fort und riß sie mit in verwinkelte Höhlen am Meeresgrund, die in sanftem, strahlendblauem Licht glänzten und mit goldenem Sand ausgelegt waren. Seltsame Meeresblumen und -gräser umwehten sie, und in weiter Ferne erklang das Echo leiser Musik. Da fiel der Besen aus der Hand, und Lavinia Herbert drehte sich um. »Die hat ja zugehört«, sagte sie. Die Übeltäterin ergriff ihren Besen und rappelte sich hastig auf. Sie packte ihren Kohlenkasten und flitzte aus dem Zimmer wie ein aufgeschrecktes Kaninchen. »Ich wußte, daß sie zuhört«, brauste Sara auf, »warum auch nicht?« Lavinia warf stolz den Kopf in den Nacken. »Nun«, sagte sie, »ich weiß ja nicht, ob es deiner Mutter recht wäre, wenn du einem Dienstmädchen Geschichten erzählst, meine Mutter würde mir das jedenfalls nicht erlauben.« »Meine Mutter!« rief Sara und machte ein merkwürdiges Gesicht. »Ich glaube nicht, daß sie das nur im geringsten stören würde. Sie weiß, daß Geschichten für alle da sind.« »Ich denke, deine Mutter ist tot«, erwiderte Lavinia scharf. »Wie soll sie das also wissen?« »Denkst du, sie weiß nichts?« sagte Sara in scharfem Ton. Manchmal konnte ihre Stimme richtig böse klingen. »Saras Mutter weiß alles«, fiel Lottie ein. »Und meine Mama genauso, das heißt, Sara ist ja jetzt meine Mama. Aber meine richtige Mama, die weiß alles. Die Straßen leuchten, und da sind unzählige Wiesen voller Lilien, und alle pflücken sie. Sara erzählt mir davon, wenn sie mich zu Bett bringt.« »Du dummes Ding«, sagte Lavinia und wandte sich Sara zu. »Märchen vom Himmel zu erzählen.« »Über die Offenbarung gibt es noch viel schönere Geschichten«, entgegnete Sara. »Du kannst es ja nachlesen! Woher weißt du also, daß ich Märchen erzähle? Aber ich sage dir, du wirst nie herausfinden, ob es nun Märchen sind oder nicht, wenn du nicht bald lernst, freundlicher zu anderen zu sein. Komm, Lottie.« Und sie marschierte mit der Kleinen aus dem Raum. Sie hoffte, irgendwo das kleine Dienstmädchen zu sehen, aber es war spurlos verschwunden. »Wer ist das kleine Mädchen, das sich um das Feuer kümmert?« wollte Sara
am Abend von Mariette wissen. Mariette fing daraufhin an, lang und breit von ihr zu erzählen: »In der Tat, Mademoiselle Sara, Sie haben allen Grund zu fragen. Sie ist ein einsames kleines Ding, das gerade erst als Küchenmagd angefangen hat - obwohl sie au ßer ihren Aufgaben als Küchenmagd noch alles mögliche erledigt. Sie reinigt die Stiefel und die Feuerroste, schleppt schwere Kohleneimer die Treppen hoch und hinunter, schrubbt Fußböden und putzt die Fenster. Sie wird eigentlich von allen herumgehetzt. Sie ist vierzehn Jahre alt, aber sie ist so unterentwickelt, daß sie wie zwölf aussieht. Man muß Mitleid mit ihr haben. Sie ist so furchtsam, daß, wenn jemand sie zufällig anspricht, es scheint, als ob ihr vor lauter Angst und Schrecken die Augen aus dem Kopf springen.« »Wie heißt sie?« fragte Sara, die aufmerksam am Tisch saß und wie gebannt zugehört hatte. »Sie heißt Becky. Ich höre immer, wie es unten alle fünf Minuten ruft: >Becky, tu dies; Becky, tu jenesDas ist die Prinzessin.< Das war
eine junge Dame, und rosa von oben bis unten - Kleid und Mantel und Blumen
und alles. Als ich Sie eben auf dem Tisch hab' sitzen sehen, Miss, haben Sie
mich an sie erinnert. Sie haben genauso ausgesehen.«
»Ich habe schon oft gedacht«, sagte Sara nachdenklich, »daß ich gerne eine
Prinzessin wäre; ich möchte wissen, wie das ist. Ich glaube, ich fange einfach
an, so zu tun, als ob ich eine wäre.«
Becky starrte sie voll Bewunderung an, obwohl sie wiederum nichts verstand.
»Becky, du hast doch diese Geschichte vom Meeresprinzen mit angehört?«
fragte Sara sie schnell.
»Ja, Miss«, gab Becky zu und wurde wieder unruhig.
»Ich weiß, das hätte ich nicht dürfen, aber es war so schon, daß ich hab'
zuhören müssen.«
»Es hat mich gefreut, daß du zugehört hast«, sagte Sara. »Wenn man
Geschichten erzählt, gibt es nichts Schöneres, als wenn Leute gerne zuhören.
Ich weiß nicht, warum das so ist. Möchtest du das Ende hören?«
Becky schnappte wieder nach Luft.
»Ich?« rief sie verwundert. »So, als wenn ich eine Schülerin wäre, Miss! Alles
über den Prinzen mit den Sternen in den Haaren?«
Sara nickte.
»Ich fürchte nur, daß jetzt die Zeit zu knapp ist«, sagte sie. »Aber wenn du mir
sagst, um wieviel Uhr du kommst, um mein Zimmer zu machen, will ich
versuchen, hier zu sein, und dir jeden Tag ein bißchen mehr davon erzählen, bis die Geschichte zu Ende ist. Es ist eine schöne, lange Geschichte - und mir fällt immer wieder etwas Neues dazu ein.« »Dann«, seufzte Becky andächtig, »ist es mir egal, wie schwer die Kohlenkästen sind - oder was die Köchin mit mir macht -, wenn ich nur weiter zuhören darf.« »Das darfst du«, sagte Sara. »Ich werde dir die ganze Geschichte erzählen.« Als Becky die Treppe hinunterging, war sie nicht mehr dieselbe Becky, die vorher hinaufgewankt und unter der Last des Kohleneimers fast zusammengebrochen war. Sie hatte ein Extrastück Kuchen in jeder Tasche, und sie hatte Wärme erfahren, nicht nur durch das Kaminfeuer. Etwas anderes war es gewesen, und dieses Etwas war Sara. Als Becky gegangen war, setzte sich Sara in ihrer Lieblingshaltung an den Tisch. Sie stellte ihre Füße auf einen Stuhl, stützte ihre Ellbogen auf die Knie und legte das Kinn in ihre Hände. »Wenn ich eine Prinzessin wäre - eine wirkliche Prinzessin«, murmelte sie, »könnte ich gute Gaben unter das Volk werfen. Aber auch so, wo ich nur so tue, daß ich eine Prinzessin bin, kann ich mir Dinge einfallen lassen, die ich für die anderen tun kann.« Zufrieden lehnte Sara sich zurück. Sie war glücklich über diesen Gedanken ...
Die Diamantmine Kurze Zeit darauf geschah etwas sehr Abenteuerliches. Nicht nur Sara, sondern die ganze Schule war in heller Aufregung, und wochenlang wurde von nichts anderem mehr gesprochen. In einem seiner Briefe hatte Captain Crewe eine aufregende Geschichte erzählt. Ein Freund, der mit ihm zur Schule gegangen war, hatte ihn überraschend in Indien besucht. Er war Besitzer einer großen Landfläche, wo man Diamanten gefunden hatte, und er war nun mit dem Bau einer Mine beschäftigt. Wenn alles wie vorgesehen verlief, würde er unvorstellbare Reichtümer mit nach Hause bringen. Und weil er seinen alten Schulfreund sehr gern hatte, hatte er ihm angeboten, sich als Partner an diesem Projekt zu beteiligen und das Vermögen mit ihm zu teilen. Das war zumindest das, was Sara den Briefen ihres Vaters entnahm. Jedes andere geschäftliche Projekt, und sei es noch so großartig, hätte sie oder die Klasse wenig interessiert; aber das Wort »Diamantmine« klang nach Märchen aus Tausendundeiner Nacht und konnte niemanden gleichgültig lassen. Sara stellte sich die Mine so geheimnisvoll vor, daß sie Bilder für Ermengarde und Lottie malte und Geschichten erfand, Geschichten von dunklen Labyrinthgängen im Inneren der Erde, wo die Wände und Decken der Gewölbe mit funkelnden Edelsteinen besetzt waren, und wo fremde, dunkle Männer sie mit schweren Spitzhacken abschlugen.
Ermengarde gefielen die Geschichten, und Lottie bestand darauf, sie jeden Abend aufs neue zu hören. Lavinia hingegen machte sich lustig darüber und sagte zu Jessie, daß sie an Geschichten von Diamantminen nicht glaube. »Meine Mutter hat einen Diamantring, der vierzig Pfund gekostet hat«, sagte sie. »Und er ist noch nicht einmal groß. Wenn es wirklich ganze Minen voller Diamanten gäbe, wären die Leute so reich, daß es schon unverschämt wäre.« »Vielleicht wird Sara ja mal unverschämt reich«, kicherte Jessie. »Sie ist auch so schon unverschämt, ohne daß sie reich ist«, sagte Lavinia hochnäsig. »Ich glaube, du kannst sie nicht leiden«, meinte Jessie. »Nein, das ist nicht wahr«, brauste Lavinia auf. »Ich glaube bloß nicht an Diamantminen.« »Aber irgendwoher müssen die Leute sie doch haben«, sagte Jessie. »Lavinia«, sie fing wieder an zu kichern, »was meinst du, was Gertrude sagen wird?« »Keine Ahnung; und es ist mir auch egal, wenn es schon wieder um diese Sara geht.« »So ist es. Eine von ihren Einbildungen ist, sie wäre eine Prinzessin. Sie spielt die ganze Zeit Prinzessin - sogar in der Schule. Sie behauptet, säe könnte dann besser lernen. Sie will, daß Ermengarde auch Prinzessin spielt, aber die findet sich zu dick.« »Stimmt ja auch«, sagte Lavinia. »Und Sara ist zu dürr.« Natürlich fing Jessie wieder an zu kichern. »Sie sagt, es käme gar nicht darauf an, wie man aussieht oder was man hat. Es käme nur darauf an, was man denkt und was man tut.« »Ich nehme an, sie denkt, sie könnte eine Prinzessin sein, auch wenn sie eine Bettlerin ist«, sagte Lavinia. »Weißt du was, wir nennen sie ab sofort Eure Königliche Hoheit.« Der Unterricht war zu Ende, und sie saßen noch vor dem Kamin im Klassenzimmer; das war für alle immer die schönste Zeit des Tages, denn Miss Minchin und Miss Amelia zogen sich dann in ihren Salon zurück und tranken Tee. Sie konnten sich nun über vieles ungestört unterhalten, und so manches Geheimnis wurde ausgeplaudert. Gerade als Lavinia etwas sagen wollte, öffnete sich die Tür, und Sara kam herein, zusammen mit Lottie, die immer wie ein treuer Hund hinter ihr hertrottete. »Da ist sie ja, mit diesem schrecklichen Kind«, raunte Lavinia. »Wenn sie sie so schrecklich gern hat, warum nimmt sie sie nicht mit auf ihr eigenes Zimmer? Gleich wird sie wieder rumheulen.« Lottie hatte plötzlich die Lust gepackt, im Schulzimmer zu spielen, und sie hatte ihre »Adoptivmutter« angebettelt, sie mitzunehmen. Sie gesellte sich zu einer Gruppe kleinerer Kinder, die in einer Ecke spielten. Sara hockte sich mit angezogenen Beinen aufs Fensterbrett, schlug ein Buch auf und fing an zu lesen. Es war ein Buch über die Französische Revolution, und bald verlor sie sich in Bildern von den Gefangenen in der Bastille. Sie war mit ihren Gedan ken so weit weg, daß sie es als unangenehm empfand, durch Lotties plötzliches Heulen in die Wirklichkeit zurückgerissen zu werden. Nichts fiel Sara so schwer, als Ruhe zu bewahren, wenn man sie beim Lesen störte. Jeder, der
gerne Bücher liest, kennt das Gefühl der Verwirrung, das ihn in so einem
Moment überkommt. Nicht unvernünftig und bissig zu reagieren ist in so einem
Fall nicht leicht.
Was war passiert? Lottie war über den Fußboden geschlittert und hingefallen
und hatte sich das Knie aufgeschlagen. Sie schrie wie am Spieß und hüpfte auf
einem Bein durchs Klassenzimmer.
»Hör sofort auf, du Jammerbaby! Hör sofort auf!« befahl Lavinia.
»Ich bin kein Jammerbaby - bin ich nicht!« heulte Lottie weiter. »Sara, Sara!«
»Wenn sie nicht aufhört, wird Miss Minchin sie hören«, rief Jessie. »Lottie-
Liebling, ich schenk' dir auch einen Penny!«
»Ich will deinen Penny nicht«, schluchzte Lottie; sie schaute auf ihr Knie
hinunter, bemerkte einen Tropfen Blut und brach von neuem in Geschrei aus.
Sara hatte ihr Buch aufs Fensterbrett gelegt und ihren bequemen Platz
verlassen. Sie eilte durchs Zimmer, kniete nieder und nahm Lottie in den Arm.
»Na komm, Lottie«, sagte sie beschwichtigend. »Was hast du Sara
versprochen?«
»Sie hat gesagt, ich bin ein Jammerbaby«, heulte Lottie Statt dessen weiter.
Sara tupfte sie ab und sagte mit ihrer ruhigen Stimme, die Lottie schon kannte:
»Aber wenn du dauernd heulst, bist du ein Jammerbaby, Lottie-Liebling. Was
hast du mir versprochen?«
Lottie erinnerte sich genau daran, was sie versprochen hatte, zog es aber vor,
aufs neue ihre Stimme zu erheben.
»Ich habe keine Mama«, rief sie. »Ich hab' gar keine Mama.«
»Doch, du hast eine«, sagte Sara aufmunternd. »Weißt du nicht mehr?
Erinnerst du dich nicht, daß Sara deine Mama ist?«
Lottie stand auf und kuschelte sich mit einem schluchzenden Schniefen an sie.
»Komm, setz dich mit mir aufs Fensterbrett«, schlug Sara vor, »dann erzähle
ich dir eine Geschichte.«
»Wirklich?« fragte Lottie. »Erzählst... du mir.. . von der Diamantmine?«
»Diamantmine?« platzte Lavinia heraus. »Dieses schreckliche, verwöhnte
Ding, am liebsten würde ich ihr eine runterhauen.«
Sara stand abrupt auf. »Also«, sagte sie nicht ohne Erregung. »Ich würde dir
gerne eine runterhauen - aber ich will es nicht! Das heißt, ich will - und ich
würde gerne -, aber ich werde es nicht tun. Wir sind keine Gossenkinder. Wir
sind beide alt genug, um besser damit fertig zu werden.«
Das war Lavinias Einsatz. »O ja, Eure Königliche Hoheit«, sagte sie. »Wir sind
Prinzessinnen, wenn mich nicht alles täuscht. Wenigstens eine von uns ist eine.
Die Schule kommt sicher groß in Mode, jetzt, wo Miss Minchin eine Prinzessin
als Schülerin hat.«
Sara fuhr auf. Es sah aus, als wollte sie Lavinia eine Ohrfeige verpassen. Ihr
Spiel, so zu tun, als sei sie eine Prinzessin, entsprang ihrem inneren Wunsch.
Und sie benötigte stets ihre ganze Vorstellungskraft und Phantasie, um sich in
diese Rolle hineinzuversetzen. Es sollte eigentlich ihr Geheimnis bleiben, und
da kam nun diese Lavinia und machte sich vor der ganzen Klasse darüber
lustig. Sie merkte, wie ihr das Blut zu Kopf stieg und in ihren Ohren prickelte.
Aber als Prinzessin bekam man keinen Wutanfall. Sie stand einen Moment
ganz still da. Dann hob sie den Kopf und sagte mit ruhiger, fester Stimme, während alle lauschten: »Es stimmt. Ich tue wirklich manchmal so, als sei ich eine Prinzessin. Ich tue so, weil ich dann versuchen kann, mich wie eine Prinzessin zu benehmen.« Lavinia wußte nicht, was sie dagegen sagen sollte. Schon öfter war es ihr passiert, daß sie nicht sofort die passende Antwort für Sara hatte. Sie sah, wie alle interessiert die Ohren spitzten, als Sara redete. Sie alle mochten nun einmal Prinzessinnen, und sie rückten näher an Sara heran in der Hoffnung, mehr darüber zu erfahren. Lavinia fiel nur noch eine Bemerkung ein, die fast unterging: »Du liebe Zeit!« sagte sie. »Ich hoffe, du vergißt uns nicht, wenn du auf deinen Thron steigst.« »Nein«, sagte Sara nur. Sie stand weiterhin ruhig da und sah Lavinia fest an, bis diese Jessie am Arm packte und sich abwandte. Diejenigen, die auf Sara eifersüchtig waren, nannten sie daraufhin nur noch verächtlich »Prinzessin Sara«, während alle anderen untereinander diese Bezeichnung als Ausdruck ihrer Zuneigung zu ihr gebrauchten. Niemand sprach sie jedoch mit »Prinzessin« anstelle von »Sara« an. Aber ihren Freundinnen gefiel der Titel, und auch Miss Minchin, die davon hörte, erwähnte ihn mehrmals, wenn Eltern sie besuchten. Sie hoffte, er würde ihrer Schule so etwas wie das Ansehen eines königlichen Internats verleihen. Becky erschien kein Titel angemessener für Sara. Ihre Freundschaft, die an jenem Nachmittag begonnen hatte, als sie in Saras Sessel aus dem Schlaf geschreckt war, hatte sich seither vertieft. Miss Minchin und Miss Amelia wußten darüber jedoch sehr wenig. Sie merkten zwar, daß Sara freundlich zu der Küchenmagd war, wußten aber nichts von den wunderbaren Augenblicken, die Becky erlebte, wenn sie mit rasender Geschwindigkeit die oberen Zimmer in Ordnung brachte, um daraufhin in Saras Zimmer zu stürzen und mit einem Seufzer der Freude und Erleichterung den schweren Kohlenkasten fallen zu lassen. Dann wurden Geschichten erzählt, die beim nächsten Mal fortgesetzt wurden. Oder es wurde etwas Nahrhaftes zubereitet und schnell in die Taschen gesteckt, um am Abend hervorgeholt zu werden, wenn Becky in ihr Bett auf dem Dachboden kroch. »Aber ich muß ganz vorsichtig essen, Miss«, sagte sie einmal, »denn, wenn ich Krümel fallen lasse, dann kommen die Ratten und fressen sie.« »Ratten«, rief Sara und erschrak. »Gibt es da oben wirklich Ratten?« »Viele«, sagte Becky wie selbstverständlich. »Auf Speichern gibt's meistens Ratten und Mäuse. Man gewöhnt sich dran, wie sie rumtrippeln. Mir machen sie nichts aus, solange sie nicht über mein Kissen rennen.« »Hh!« Sara schluckte. »Irgendwann gewöhnt man sich an alles«, sagte Becky. »Es bleibt einem nichts anderes übrig als Küchenmagd. Lieber Ratten als Küchenschaben.« »Du hast recht«, sagte Sara. »Mit einer Ratte kann man sich vielleicht eher anfreunden als mit einer Küchenschabe.« An manchen Tagen wagte Becky nicht, sich länger als ein paar Minuten in dem hellen, warmen Zimmer aufzuhalten. Sie konnten dann nur wenige Worte
wechseln. Aber immer verschwand irgend etwas Eßbares in ihrer altmodischen Tasche, die sie an einem Riemen unter ihrem Rock trug. Die Suche nach irgendwelchen nahrhaften Dingen, die sich klein verpacken ließen, war etwas Neues für Sara. Wenn sie ausfuhr oder ausging, schaute sie voll gespannter Ungeduld in die Schaufenster. Als sie das erste Mal zwei oder drei kleine Fleischpasteten mit nach Hause brachte, hatte sie ein Gefühl, als habe sie eine großartige Entdeckung gemacht. Und als Sara sie auspackte, funkelten Beckys Augen. »O Miss!« murmelte sie. »Die machen bestimmt schön satt. Die sind am besten. Kuchen ist auch gut, aber der schmilzt einfach zusammen wie... wenn Sie verstehen, Miss. Die da bleiben lange im Bauch drin.« »Na ja«, sagte Sara zögernd, »ich glaube nicht, daß es so gut wäre, wenn sie immer drin blieben, aber satt machen sie bestimmt.« Sie machten satt, und nicht nur die Pasteten, sondern auch die Brötchen und die Wurst. Mit der Zeit verlor Becky ihr ständiges Hungergefühl, und auch ihre Müdigkeit wich, so daß der Kohlenkasten ihr schon bald nicht mehr gar so unerträglich schwer vorkam. Sara zu sehen war ihr allerdings das Wichtigste, auch ohne Fleischpasteten. Wenn die Zeit auch nur für ein paar Worte reichte, so waren es doch immer freundliche, fröhliche Worte, die im Herzen blieben. Und wenn die Zeit für mehr reichte, gab es die Fortsetzung einer Geschichte. Saras Naturell entsprach es nun mal, liebend gerne anderen zu helfen, ohne daraus etwas Besonderes zu machen. Sie hatte deshalb auch keine Vorstellung davon, wieviel sie der armen Becky bedeutete und was für eine wundervolle Wohltäterin sie für sie war. Wer von Natur aus eine gebende Hand hat, hat auch ein offenes Herz. Und wenn doch einmal die Hände leer sind, das Herz bleibt offen, und er kann aus dem Herzen geben: Liebe, Trost und Fröhlichkeit. Und manchmal ist ein frohes, liebes Lachen mehr wert als alles andere. Für Becky war Lachen fast etwas Unbekanntes in ihrem armseligen und harten Leben gewesen. Erst Sara brachte sie zum Lachen und lachte viel mit ihr. Und obwohl es Becky selbst nicht bewußt war, machte sie auch das Lachen so satt wie die Fleischpasteten und andere Köstlichkeiten aus der Küche. Ein paar Wochen vor ihrem elften Geburtstag bekam Sara einen Brief von ihrem Vater, der anders war als alle bisherigen. Es ging ihm nicht besonders gut, anscheinend war er mit Arbeit überlastet, die mit der Diamantmine ver bunden war. Weißt du kleine Sara, schrieb er, dein Papa ist einfach kein Geschäftsmann, und Zahlen und Schriftstücke sind ihm lästig. Er versteht nicht viel davon, und es ist alles so überwältigend neu. Wenn ich nicht dieses Fieber hätte, würde ich nicht die halbe Nacht wach hegen und mich von einer Seite auf die andere werfen. Wenn meine kleine Missis hier wäre, würde sie mir sicher so manchen ernsten, guten Rat geben. Habe ich recht, kleine Missis? Schon immer hatte er sie scherzhaft »kleine Missis« genannt, um auf ihre altkluge Art anzuspielen. Für ihren Geburtstag hatte er die schönsten Vorbereitungen getroffen. Unter anderem hatte er in Paris eine neue Puppe in Auftrag gegeben, deren Garderobe
alles andere an Glanz übertreffen sollte. Sara hatte ein merkwürdiges Gefühl, als sie auf seinen Brief antwortete, in dem er wissen wollte, ob sie mit diesem Geschenk einverstanden sei. Ich werde ah, schrieb sie. Weißt du, ich werde nie wieder eine Puppe bekommen. Dies wird wohl meine letzte Puppe sein. Es ist wie ein feierliches Ereignis. Wenn ich dichten könnte, würde ich ein schönes Gedicht schreiben, das hieße »Eine letzte Puppe«. Aber ich kann nicht dichten. Ich habe es versucht und mußte darüber lachen. Es klang alles andere als nach Watts oder Coleridge oder Shakespeare. Niemand könnte mir jemals Emily ersetzen, aber auch eine letzte Puppe werde ich sehr verehren; und die Schulkinder werden sie sehr mögen. Sie alle haben Puppen gern, obwohl die größeren, die schon fast fünfzehn sind, behaupten, sie seien zu erwachsen dazu. Captain Crewe hatte rasende Kopfschmerzen, als er diesen Brief in seinem Bungalow in Indien las. Auf dem Tisch vor ihm stapelten sich die Papiere und Briefe, die ihn in Besorgnis und Unruhe versetzten, und dennoch mußte er so lachen wie lange nicht mehr. »Oh«, sagte er, »sie wird mit jedem Jahr lustiger. Gebe Gott, daß sich dieses Geschäft von selbst in Ordnung bringt und mich freiläßt, um sie zu besuchen. Was würde ich darum geben, wenn sie jetzt hier wäre und ihre Arme um meinen Hals schlingen würde! Was würde ich darum geben!« Es sollte eine großartige Geburtstagsfeier geben. Das Klassenzimmer sollte geschmückt werden, und es war eine Party vorgesehen. Die Geschenke sollten feierlich ausgepackt werden, und ein prachtvolles Festmahl sollte in Miss Minchins hochheiligem Salon stattfinden. Als der Tag herangerückt war, befand sich das ganze Haus in Aufregung. Es gab noch so viele Vorbereitungen zu treffen. Das Klassenzimmer wurde mit Kränzen und Stechpalmen geschmückt, die Schreibtische zur Seite geschafft und die Bänke ringsherum an der Wand aufgestellt und mit roten Bezügen versehen. Als Sara an diesem Morgen in ihr Wohnzimmer ging, fand sie auf dem Tisch ein kleines, in braunes Papier eingewickeltes Päckchen. Sie wußte, es war ein Geschenk, und sie ahnte, von wem es stammte. Sie öffnete es ganz vorsichtig. Es war ein eckiges Nadelkissen aus nicht ganz sauberem, rotem Flanell, und darin steckten schwarze Nadeln, die zusammen die Worte »Herzlichen Glückwunsch« ergaben. »Oh!« rief Sara überrascht, und ihr wurde ganz warm ums Herz. »Was hat sie sich für eine Mühe gemacht! Es gefällt mir so sehr, es ... es macht mich ganz traurig.« Mit einem Mal stutzte sie. Auf der Unterseite des Nadelkissens war eine Karte angebracht, auf der in sauberen Buchstaben stand: »Miss Amelia Minchin«. Sara drehte es immer wieder herum. »Miss Amelia!« sagte sie verwundert zu sich selbst. »Wie ist das möglich?« In diesem Augenblick hörte sie, wie jemand vorsichtig die Tür aufstieß. Becky spähte herein. Auf ihrem Gesicht lag ein liebevolles, glückliches Lächeln. Sie schlurfte herein und zupfte aufgeregt an ihren Fingern.
»Gefällt es Ihnen, Miss Sara?« fragte sie. »Ja?« »Ob es mir gefällt?« rief Sara. »Du liebe kleine Becky, du hast es ganz allein gemacht!« Becky schniefte hektisch, aber ihre Augen waren feucht vor Freude. »Es ist bloß aus Flanell, und der ist auch nicht neu. Aber ich hab' Ihnen was schenken wollen. Ich hab' es nachts gemacht und hoffe, Sie können sich vorstellen, daß es aus Samt ist mit Diamantnadeln drin. Ich hab's versucht, als ich es gemacht hab'. Und wegen der Karte, Miss«, sagte sie zweifelnd, »es war doch nicht schlimm, daß ich die aus der Mülltonne geholt hab', oder? Miss Amelia hat sie weggeschmissen. Ich hab' selber kein Papier gehabt, und ich weiß, daß es kein richtiges Geschenk ist ohne Karte dran. Deswegen hab' ich die von Miss Amelia genommen.« Sara flog ihr erleichtert um den Hals. Warum sie einen Kloß in der Kehle hatte, wußte sie selbst nicht. »O Becky!« rief sie mit einem eigenartigen Lächeln. »Ich hab' dich so lieb, Becky!« »O Miss!« stieß Becky hervor. »Danke, Miss, danke; Sie sind zu gütig. Es ... es war ja kein neuer Flanell.«
Noch einmal die Diamantmine Am Nachmittag betrat Sara das mit Stechpalmenzweigen geschmückte Klassenzimmer, gefolgt von einer Art Prozession. Miss Minchin, die Sara an der Hand führte, trug ihr vornehmstes Seidenkleid. Es folgten ein Diener mit einer Schachtel, in der sich das Geburtstagsgeschenk, die Puppe, befand, ein Hausmädchen mit einer zweiten Schachtel, und Becky, mit sauberer Schürze und einem neuen Häubchen, die einen dritten Karton vor sich hertrug. Sara wäre lieber so wie immer ins Klassenzimmer gestürmt, aber Miss Minchin hatte sie vorher noch extra zu sich gerufen, um ihr ihre Vorstellungen von diesem Tag kundzutun. »Das ist ein ganz besonderes Ereignis«, sagte sie. »Und deshalb möchte ich, daß es gebührend gefeiert wird.« Sara wurde also feierlich ins Klassenzimmer geleitet. Sie war verlegen, als die großen Mädchen sie am Eingang anstarrten und sich gegenseitig am Ellbogen stupsten. Die kleineren rutschten bereits voll Ungeduld auf ihren Plätzen hin und her. »Ruhe, meine Damen!« rief Miss Minchin, als allgemeines Gemurmel entstand. »James, leg die Schachtel auf den Tisch und nimm den Deckel ab. Emma, leg du deine auf den Stuhl. Becky!« rief sie streng. Becky stand selbstvergessen vor Aufregung da und grinste Lottie an, die vor unbändiger Erwartung herumzappelte. Sie ließ beinahe die Schachtel fallen, so sehr erschreckte Miss Minchins scharfer Ton sie. Sie knickste nervös, um sich zu entschuldigen. Lavinia und Jessie fanden dies wiederum so komisch, daß sie zu kichern anfingen.
»Es steht dir nicht zu, diese jungen Damen so anzusehen«, tadelte Miss
Minchin. »Das scheinst du wohl vergessen zu haben. Stell die Schachtel ab.«
Becky gehorchte verängstigt und eilte zur Tür.
»Ihr könnt gehen«, verkündete Miss Minchin und winkte die Diener hinaus.
Becky trat respektvoll zur Seite, um den oberen Dienern den Vortritt zu lassen.
Sie konnte dabei nicht umhin, einen sehnlichen Blick auf die Schachtel auf
dem Tisch zu werfen. Irgend etwas aus blauem Samt lugte zwischen dem
Seidenpapier hervor.
»Bitte sehr, Miss Minchin«, sagte Sara plötzlich, »darf Becky bleiben?«
Es war eine sehr verwegene Frage. Miss Minchin zuckte leicht zusammen. Sie
setzte ihre Brille auf und starrte ihre Musterschülerin verwirrt an.
»Becky?« rief sie ungläubig aus. »Ich bitte dich, liebste Sara!«
Sara ging einen Schritt auf sie zu.
»Ich möchte es gerne, weil ich weiß, daß sie die Geschenke sehen will«,
erklärte sie. »Wissen Sie, sie ist auch nur ein kleines Mädchen.«
Miss Minchin war schockiert. Sie starrte von einer zur anderen.
»Aber liebe Sara«, sagte sie. »Becky ist die Küchenmagd. Und eine
Küchenmagd - äh - ist nicht dasselbe wie ein kleines Mädchen.«
So hatte sie die Sache noch nie gesehen. Eine Küchenmagd war so etwas wie
eine Maschine, die Kohleneimer schleppte und Feuer machte.
»Aber es würde ihr so viel Freude machen«, beharrte Sara. »Bitte lassen Sie sie
bleiben, es ist doch mein Geburtstag.«
Würdevoll sagte Miss Minchin: »Wenn du es dir als Geburtstagsgeschenk
wünschst - nun gut. Rebecca, bedanke dich bei Miss Sara für ihre große
Liebenswürdigkeit.«
Becky stand in der Ecke und drehte voll freudiger Erregung an ihrem
Schürzenzipfel herum. Sie trat hervor und knickste höflich, während sie mit
Sara einen freundschaftlichen, verständnisvollen Blick austauschte.
»O bitte, Miss! Ich bin so dankbar, Miss!« Ihre Worte überstürzten sich fast.
»Ich wollte so gern die Puppe sehen, Miss. Danke, Miss. Und danke, Ma'am«,
wobei sie sich zu Miss Minchin wandte und einen verängstigten Knicks
machte, »daß Sie es mir erlauben.«
Miss Minchin machte eine gebieterische Handbewegung in Richtung auf die
Ecke neben der Tür.
»Geh und stell dich dorthin«, befahl sie. »Aber nicht zu nah bei den jungen
Damen.«
Becky ging und strahlte. Es machte ihr nichts aus, daß sie in die Ecke geschickt
wurde. Hauptsache, sie durfte im Raum bleiben, statt in die Küche zu müssen,
während oben gefeiert wurde. Es machte ihr auch nichts aus, daß Miss Minchin
sich auf unheilverkündende Art räusperte und anhub: »Nun, meine Damen, ich
habe euch ein paar Worte zu sagen . . .«
»Das klingt nach einer Rede«, flüsterte eines der Mädchen. »Wenn das bloß
schon vorbei wäre.«
Auch Sara hatte ein ungutes Gefühl. Da es ihr Geburtstag war, war
anzunehmen, daß die Rede ihr gelten würde. Es ist nicht besonders angenehm,
in einem Klassenzimmer zu stehen und sich eine Rede über sich selbst anhören
zu müssen.
»Wie ihr wißt, meine Damen«, begann Miss Minchin ihre Rede, »wie ihr wißt,
feiert unsere liebe Sara heute ihren elften Geburtstag.«
»Unsere liebe Sara!« äffte Lavinia sie nach.
»Einige von euch sind auch schon elf Jahre alt geworden, aber Saras
Geburtstage unterscheiden sich doch ziemlich von anderen Geburtstagen.
Wenn sie älter ist, wird sie Erbin eines großen Vermögens, und es wird ihre
Aufgabe sein, darüber in lobenswerter Weise zu verfügen.«
»Die Diamantmine«, flüsterte Jessie kichernd.
Sara hörte es nicht. Während sie jedoch ihre Augen mit festem Blick auf Miss
Minchin gerichtet hielt, merkte sie, wie ihr langsam heiß wurde. Denn immer,
wenn Miss Minchin das Thema Geld ansprach, haßte sie sie irgendwie.
»Als ihr lieber Herr Papa, Captain Crewe, sie von Indien hierher brachte und in
meine Obhut gab«, fuhr Miss Minchin fort, »sagte er zum Scherz zu mir: >Ich
fürchte, sie wird sehr reich werden, Miss Minchin.< Und ich antwortete ihm:
>Ihre Erziehung in meiner Schule, Captain Crewe, wird wie die Krönung ihres
Vermögens sein.< Sara ist meine beste Schülerin. Ihr Französisch und ihre
Tanzkunst sind eine Ehre für meine Schule. Ihre Manieren - die ihr zum Anlaß
genommen habt, sie >Prinzessin Sara< zu nennen - sind tadellos. Ihre
Liebenswürdigkeit stellt sie unter Beweis, indem sie für euch diese Party gibt.
Ich hoffe, ihr wißt ihre Großzügigkeit zu schätzen. Ich wünsche, daß ihr ihr
eure Anerkennung aussprecht, indem ihr alle zusammen laut ausruft: >Danke,
Sara!