Blick in die Welt der Zukunft
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Blick in die Welt der Zukunft
Nr. 10
1 DM
Kurzgeschichten Technischer Irrtum Leviathan 2084 Erste Begegnung Lilien des Lebens Kegel
von Arthur C. Clarke von Hellmut W. Hofmann von Murray Leinster von Malcolm Jameson von Frank Belknap Long
012 034 064 098 153
Artikel und Beiträge Unser Leitartikel Die Entstehung des Universums von Günter Wiswede Aus den Tiefen des Raumes von Harry F. Heide Isotope helfen heilen von Dr. Ulrich Klaar UTOPIA-Science-Fiction-Bücherei Preisrätsel Science-Fiction Test (Check List)
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003 129 135 144 176 180 181
Erhältlich überall im Zeitschriftenhandel und in allen Bahnhofsbuchhandlungen
gescannt und bearbeitet von:
Das Titelbild zeichnete Emsh
UTOPIA-Science-Fiction-Magazin erscheint monatlich im Erich Pabel Verlag, Rastatt (Baden), Pabel-Haus (Mitglied des Remagener Kreises e. V.)- Einzelheftpreis: 1 DM. Anzeigenpreise lt. Preisliste Nr. 6. Gesamtherstellung und Auslieferung: Druck- und Verlagshaus Erich Pabel, Rastatt (Baden). Alleinauslieferung für Österreich: Eduard Verbik, Salzburg, Gaswerkgasse 7. – Nachdruck in Wort und Bild, auch auszugsweise, sowie gewerbsmäßige Weiterverbreitung in Lesezirkeln nur mit vorheriger Zustimmung des Verlegers gestattet. Gewerbsmäßiger Umtausch, Verleih oder Handel unter Ladenpreis vom Verleger untersagt. Zuwiderhandlungen verpflichten zu Schadenersatz. Für unverlangte Manuskript- und Bildsendungen wird keine Gewähr übernommen. Printed in Germany.
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Was wird morgen sein? Ein ganzer Literaturzweig wird heute in Deutschland noch sehr stiefmütterlich behandelt und mit billigen Räubergeschichten auf eine Stufe gestellt: Utopische Erzählungen, Zukunftsromane, Schriften, die eine Welt von morgen vorausahnen und das berichten, was morgen sein kann. Man nimmt sie nicht ernst. Viele ›vernünftige‹ Menschen meinen, sie würden sich etwas vergeben, läsen sie nur ein einziges Buch, das nach UTOPIA aussieht! Bis zu einem bestimmten Punkt ist diese Überheblichkeit berechtigt. Ein Teil der Schuld daran, daß die UTOPIA-Literatur in Deutschland noch nicht das ihr zukommende Ansehen genießt, liegt bei uns selbst. Warum sollen wir hier nicht einmal offen darüber sprechen? Die Amerikaner nennen diesen Literaturzweig ›Science Fiction‹. Dieser Begriff läßt sich schwer übersetzen. Es ist damit beileibe nicht alles gemeint, was unter dem Aushängeschild ›utopisch‹ um die Gunst der Leser wirbt. Nur ernstgemeinte, wissenschaftlich fundierte und im Bereich des Möglichen bleibende Werke utopischer Art gehören dazu, keinesfalls die vielen Räubergeschichten, bei denen man den
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Eindruck gewinnt, daß sie sich nur rein zufällig nicht im Wilden Westen, sondern auf dem Mars abspielen. Für diese Schöpfungen einer ungezügelten Phantasie haben die Amerikaner eine humorvolle Bezeichnung geprägt: ›Space Opera‹ – ›Weltraum-Oper‹. Die wirkliche UTOPIA-Literatur distanziert sich bewußt von solchen Erzeugnissen. Zu ihren bekanntesten Autoren gehören Universitätsprofessoren, Fachwissenschaftler von internationaler Bedeutung und geniale Journalisten. Welchen Wert haben Zukunftsromane? Denken Sie nur an Jules Verne, Hans Dominik, H. G. Wells, Hugo Gernsback, Robert A. Heinlein und andere Pioniere des Zukunftsromans: Sie alle haben ihre Erzählungen auf gut fundierten wissenschaftlichen Kenntnissen und einer reichen, aber fest am Zügel gehaltenen Phantasie aufgebaut. Wie viele Erfindungen und technische Verbesserungen wurden von ihnen schon Jahrzehnte vor ihrer Entwicklung vorausgeahnt! Wie viele Forscher und selbst Wissenschaftler und Industrielle sind von der ›disziplinierten Phantasie‹ der UTOPIA-Autoren erst zu epochemachenden Neuerungen angeregt worden! UTOPIA nimmt das vorweg, was morgen sein wird. Nichts Unmögliches, wenn es auch oft scheinen mag, nein, die technische Entwicklung von heute wird folgerichtig in die Zukunft hineinverlängert! Wir wollen nur einige wenige Beispiele anführen: Jules Verne hat schon im 19. Jahrhundert das U-Boot vorausgesagt und beschrieben. Seine Zeitgenossen verspotteten ihn. Wie viele Jahre mußten vergehen, bis Wilhelm Bauer in Kiel sein erstes, selbstgebautes Unterwasserfahrzeug einer skepti-
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schen Regierungsdelegation vorführen konnte? Heute fährt das U-Boot ›Nautilus‹ bereits mit Atom-Antrieb. Erinnert das nicht an Hans Dominik, den deutschen Altmeister der Zukunftsromane? Er hat bereits vor über dreißig Jahren das kommende Atomzeitalter vorausgeahnt. Zwischen dem Buch ›Atomgewicht 500‹ und Hiroshima liegen achtzehn Jahre! Hugo Gernsback hat in seinem 1910 erschienenen, berühmt gewordenen Buch ›Ralph 124 C 41+‹ (UTOPIA-Großband 52) farbiges Fernsehen, Radar, Visifon, Raumtorpedos, Energiestrahlen, Fernschreiber und andere Erfindungen beschrieben, die in der Zwischenzeit gemacht wurden. Damals entfesselte das Buch Lachstürme, besonders in Fachkreisen. Heute ist die Wissenschaft vorsichtiger geworden. John Reese schrieb kurz nach dem zweiten Weltkrieg das Buch ›Der Regenmacher‹. Schon wenige Jahre danach fand man eine Möglichkeit, Regenwolken zu ›melken‹. Heute beschäftigen sich bereits Gerichte mit Klagen gegen moderne Regenmacher-Firmen. In diesem Falle hat die Technik die Utopie sehr rasch überholt Noch 1953 kritisierten prominente amerikanische Wissenschaftler die Voraussagen eines Kollegen, in zehn bis fünfzehn Jahren würden bereits die ersten unbemannten Klein-Satelliten den Erdball umkreisen; heute gibt es schon drei solcher ›Monde‹, und vielleicht ist auch diese Feststellung bereits überholt, bevor diese Zeilen in Druck gehen! In einem Punkt irren fast alle Zukunftsromane Fast alle Voraussagen sind in zeitlicher Hinsicht zu vorsichtig gehalten! Je unwahrscheinlicher und phantastischer ein Zukunftsroman zu sein scheint, um so größer ist die Wahrscheinlichkeit, daß er der Wirklichkeit nahe kommt.
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Vom ersten Heißluftballon bis zum Sputnik war ein viel weiterer Weg als vom Sputnik bis zur Mondrakete! Das dürfen wir nie vergessen! Wer weiß, vielleicht steht selbst diese Mondrakete schon heute abschußbereit auf einer Startrampe. Was wir heute noch als Utopie beschreiben, kann morgen früh schon als Reportage in den Zeitungen stehen. Es ist immer eine undankbare Aufgabe, den Propheten spielen zu wollen; trotzdem möchte ich hier eine Vorschau auf die Errungenschaften wagen, die uns die Technik noch im Laufe dieses Jahrhunderts bescheren könnte. Ich schreibe nur das auf, was mir gerade einfällt – der Stoff würde Bände füllen! Viele von uns werden das Jahr 2000 noch erleben. Sie mögen dann prüfen, in wie vielen Einzelpunkten meine Voraussage Wahrheit geworden ist! Vorschau bis zum Jahr 2000 Weltraumfahrt: Die erste bemannte Rakete wird auf dem Mond landen und reiche wissenschaftliche Ergebnisse mitbringen. Zugleich wird diese erste Landung aber auch neue politische Schwierigkeiten bringen, weil jede Nation ihren Anteil an der Mondoberfläche beanspruchen wird. Eine neue Art von Kolonialherrschaft wird der Weltregierung harte Nüsse zu knacken geben. Die erste Umrundung des Mars wird gelingen. Was sie Neues bringen wird? Wahrscheinlich wird man organisches Leben auf unserem Nachbarplaneten entdecken, vielleicht sogar Spuren einer vergangenen Intelligenz. In gemeinsamer Arbeit der raumfahrenden Nationen werden neue, wirksamere Antriebsmethoden für die Raumraketen gefunden. Man wird von Flüssigkeitsraketen und chemischen Treibstoffen abkommen oder sie nur innerhalb der Erdatmosphäre benutzen. An ihre Stelle
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treten atomare Kraftquellen. Die ersten Schritte zur Ausnutzung magnetischer Kräfte und der Gravitation für den Raumflug werden gemacht. Wahrscheinlich werden wir im Jahre 2000 bereits den ersten Kontakt mit außerirdischen Intelligenzen aufgenommen haben. Für eine Verständigung wird es dann zwar noch nicht reichen, aber wir werden den Beweis der ohnehin logischen Annahme haben, daß der homo sapiens nicht das einzige denkende Wesen im All ist. Diese Erkenntnis wird den maßgeblichen Männern auf der Erde manche schwere Aufgabe stellen! Roboter: Von Robotern zu sprechen, ist schon keine Utopie mehr. Viele unserer vollautomatischen Vorrichtungen sind bereits hochentwickelte Roboter. Elektronengehirne, selbsttätige Steuerung für Flugzeuge, vollautomatische Fabriken gibt es schon heute. Auf diesem Gebiet werden uns die nächsten 50 Jahre wahre Wunder bescheren. Nur werden wir sie nicht als Wunder empfinden, weil wir schon heute daran gewöhnt sind. Neue Energiequellen: Unsere heutigen Hauptenergiequellen sind immer noch Kohle, Öl und Wasserkraft. Kohle und Öl sind nicht unerschöpflich, das haben wir schon in der Schule gelernt. Der Raubbau an diesen wichtigen Rohstoffen, die für die Chemie und Medizin eine ungeheure und stets steigende Bedeutung haben, wird aufhören. Im Jahre 2000 kann sich niemand mehr leisten, sie zu verbrennen! Atomkraftwerke und riesige Wasserkraftwerke treten an die Stelle der Verbrennungsenergie. Elektrischer Strom, durch Atomspaltung erzeugt, wird so billig sein, daß es sich nicht lohnt, Rechnungen dafür zu schreiben – zumindest nicht für die minimalen Mengen, die wir im Haushalt verbrauchen werden. Aber wir werden noch weitere Energiequellen erschließen müssen, um mit dem ständig wachsenden Bedarf einer technisierten Zivilisation Schritt halten zu können. Wir werden also die Sonne ›anzapfen‹. Schon gibt es in Spa-
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nien Hochöfen, die von der Sonne geheizt werden. Die Erde empfängt am Äquator täglich pro Quadratmeter etwa 1 PS an Energie! Wir werden lernen, diese Kräfte in unsere Dienste zu stellen. Kosmische Strahlen, von denen wir heute nur wenig wissen, werden ebenfalls unsere treuen Diener sein. Schwebende Kraftwerke wandeln die Strahlungen des Weltraums in brauchbare Energieformen um und senden diese gebündelt durch die schützenden atmosphärischen Schichten zu den Erdstationen. Eines ist sicher: An Energie, der wichtigsten Voraussetzung für Technik und Zivilisation, wird es uns nie mangeln! Verkehr und Nachrichtenwesen: Hiermit sieht es schon schwieriger aus. Es wird zunächst notwendig werden, die Städte vollständig von jeglicher Art von Verkehr zu befreien. Menschen und Waren werden durch Tunnel von den Parkplätzen am Stadtrand hereingebracht. Hubschrauber helfen dabei. Mit dem Ende der Verbrennungsmotoren und Energiegewinnung aus Kohle und Öl werden unsere Städte sauber und gesund werden. Der Fußgänger wird nicht mehr das Freiwild der Straße sein. Lärm und Gestank verschwinden. Der Fernverkehr wird sich zum großen Teil in der Luft abspielen. Schnelle Flugzeuge durchkreuzen die Stratosphäre und sind sicherer als heute die Fahrräder. Einspurbahnen und Privatfahrzeuge werden entweder durch Atomkraft oder durch den Implosionsmotor angetrieben. Der Lastenverkehr verschwindet vollständig von den Straßen und bekommt eigene, feste Rollbahnen. Sicher werden wir das farbige, dreidimensionale Fernsehen haben, wenn auch manche Leute aus Tradition eine Zeitung halten werden. Relaisstationen im Raum machen die Übertragung auf weite Strecken möglich. Neben wenigen, offiziellen Stationen wird jede Stadt kleinere, kommerzielle Funkstationen unterhalten. An die Stelle des Telefons tritt das Visifon. Statt
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einer Schreibmaschine benutzt man den Dictograf, der das gesprochene Wort direkt schreibt. Der Briefverkehr wird hauptsächlich über Tonband geschehen. Drähte verschwinden aus dem Landschaftsbild und werden durch die ungeheuer vielseitige Funktelegrafie ersetzt. Das veraltete Postsystem wird eine gewaltige Revolution mitmachen. Soziologische Struktur der Erde: Die Erde wird dann rund neun Milliarden Einwohner haben. ›Junge Völker‹ werden nach vorn drängen und das nachholen, was sie in den vergangenen Jahrhunderten entwicklungsmäßig versäumt haben. Die letzten Spuren von Kolonialsystem verschwinden. Es wird eine Weltregierung gebildet, die alle universellen Fragen klären und den Frieden aufrechterhalten soll. Ob sie das vermag, ist eine andere Frage. Eine neue Regierungsform muß gefunden werden, weil weder die heutige übliche Demokratie noch die Diktatur den gestiegenen Anforderungen gewachsen sein wird. Elendsgebiete werden verschwinden. Sprachprobleme bestehen immer noch, ebenso rassische und religiöse Schwierigkeiten, aber die Menschen sind sich einander nähergekommen und werden auch hier Auswege und Lösungen finden. Neuer Lebensraum: Die Übervölkerung der Erde wird zwar zeitweise eine gewisse – natürliche oder erzwungene – Geburtenkontrolle erforderlich machen. Aber neuer Lebensraum wird geschaffen und garantiert der Menschheit für mindestens weitere 50 Jahre ihre persönliche Freiheit. Im Mittelmeer, an der Nordseeküste, an der amerikanischen Ostküste, am Schwarzen Meer und Aralsee werden dem Meer riesige Landflächen entrissen und bewohnbar gemacht. Aus Wüstenstrecken wie der Sahara entstehen natürlich bewässerte Oasen. Dieses Projekt zum Beispiel könnte schon heute Wirklichkeit sein, wenn Europa die finanziellen Mittel dafür aufbringen könnte. Ungezählte Milliarden hat allein der letzte Krieg verschlungen; sollte es gelingen, den nächsten zu ver-
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meiden, müßten sich auch die weitestgespannten Projekte verwirklichen lassen. Die Erde hat Raum und Nahrung genug für mindestens 20 Milliarden Menschen. Kultur und Erziehung: Eine gründliche technische Ausbildung wird nötig sein, um mit dem Leben überhaupt zurechtkommen zu können. Diese Notwendigkeit erzieht zu einer gewissen Einseitigkeit, die ohnehin unser Los zu sein scheint. Kirchen und Organisationen werden ihr möglichstes tun, um diesem Trend entgegenzuarbeiten. Der Mensch wird nur noch höchstens 30 Stunden pro Woche arbeiten müssen, wahrscheinlich weniger. Ob er seine Freiheit zu nutzen weiß? Heute schon kämpfen wir hier mit einem wirklichen Problem. In 50 Jahren werden die Gewerkschaften beginnen, längere Arbeitszeiten zu fordern! Für denjenigen, der die nötige geistige und moralische Stärke hat, stehen unbegrenzte Möglichkeiten offen! Bequemlichkeiten: Hierüber ist schon viel geschrieben worden. Ich will nur ergänzend eine kleine Geschichte erzählen: Ein reicher Junggeselle baute sich neulich ein vollautomatisches ›Haus der Zukunft‹. Die Türen öffnen sich von selbst, jedes Zimmer hat Fernsehkontrolle, Roboter stellen die Klimaanlage genau auf den richtigen Punkt, Ionen saugen jedes Staubkörnchen ab, in der Küche zaubert ein Knopfdruck den fertigen Braten hervor und im Schlafzimmer das Bett. – Als jedoch dieser Junggeselle ein paar Freunde zu sich einlud, um den Einzug ins neue Heim zu feiern, mußte er zum Nachbarn laufen, um sich den Korkenzieher auszuleihen! Sie sehen: Auch die Technik hat ihre Grenzen!
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Das Hauptproblem der Menschheit … … ist nicht die Technik, sondern das Schritthalten mit der Technik! Wir sind wie Kinder, die körperlich schneller reif werden als geistig. Ob wir es fertigbringen, die Harmonie zwischen der Technik und dem Menschen zu finden – davon wird alles abhängen! Entweder wir greifen nach dem ungeheuren Wohlstand für alle, den die Zukunft für uns bereithält – oder wir benutzen die neu gewonnenen Kräfte für verantwortungslose Zwecke. Fluch und Segen liegen in der Technik – wir können frei wählen! Wenn wir den Weg weitergehen, den wir seit Jahrzehnten eingeschlagen haben, wird niemand mehr Gelegenheit haben, die Richtigkeit dieser Prognose zu prüfen.
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Arthur C. Clarke Der Zufall warf Nelson in die vierte geometrische Dimension und verwandelte ihn. Warum, nicht den gleichen Zufall dazu benutzen, ihn zurück zu verwandeln…? Theoretisch eine Kleinigkeit, ein Irrtum war ausgeschlossen. Doch gerade die Annahme, Zeit spiele bei einem zeitlosen Experiment keine Rolle, erwies sich als falsch. Es war einer jener Unfälle gewesen, für die man keinen Menschen nachher verantwortlich machen konnte. Richard Nelson hatte den Generator bestimmt öfter als ein dutzendmal untersucht und sich besonders um die Temperaturschwankungen des flüssigen Heliums gekümmert, um festzustellen, ob die furchtbare Kälte nicht doch die Isolierung durchdrang. Es war der erste Generator der Welt, der nach dem Prinzip der Superkonduktivität arbeiten sollte. Die Windungen des gewaltigen Stators lagen in einem Heliumbad und besaßen daher einen derart minimalen Widerstandswert, daß er praktisch nicht mehr gemessen werden konnte.
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Nelson war von dem Ergebnis seiner Untersuchungen befriedigt. Die Temperatur war nicht unter den erwarteten Punkt gesunken. Die Isolation hielt, man konnte also den Rotor ohne weiteres in die Grube senken, in der man vorsichtshalber den Generator errichtet hatte. Dieser 1000 Tonnen schwere Zylinder hing im Augenblick mehr als 15 m hoch über Nelsons Kopf. Sämtliche an. dem Projekt interessierten Personen und an erster Stelle Nelson selbst wären froh gewesen, wenn der Zylinder bereits an Ort und Stelle auf seinen Kugellagern ruhte und mit der Turbinenwelle verbunden wäre. Nelson steckte das Notizbuch wieder in die Tasche und ging auf die Leiter am Rande der Grube zu. Genau in der Mitte der Grube aber traf er mit dem Schicksal zusammen. Während der letzten Stunde hatte der Bedarf an Energie auf diesem Teil des Kontinents erheblich zugenommen, denn die Dämmerung brach herein, der die Nacht folgte. Als dann die letzten Sonnenstrahlen unter den Horizont sanken, flammten die Quecksilberlampen der Highways auf. Millionen von Leuchtröhren begannen in der Stadt zu glühen und in fast allen Häusern stellten Frauen die elektrischen Herde an, um die Abendmahlzeit zu bereiten. Auf den Skalen der Megawattmeter begannen die Zeiger in die Höhe zu klettern. An sich war dieser Mehrverbrauch in den beginnenden Abendstunden normal, aber 300 km weiter südlich wurde gleichzeitig der Analysator für kosmische Strahlen eingeschaltet, weil die Astronomen eine knappe Stunde zuvor eine Novae entdeckt hatten und das Strahlenbombardement untersuchen wollten. Enorme Strommengen waren dazu nötig. Tausend Kilometer südlich kroch eine gigantische Nebelwand auf den größten Flugplatz der Hemisphäre zu. Kein Mensch machte sich heute noch Sorgen wegen Nebels, denn jedes Flugzeug war in der Lage, mit seiner Radaranlage sicher zu landen. Aber es war trotz allem angenehmer, den Boden sehen
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zu können. Also traten die Nebelzersetzungsgeräte in Tätigkeit, fraßen eine unvorstellbare Menge an Strom und zerstrahlten den Nebel, der kondensierte und in Form großer Wassertropfen zu Boden fiel. Die Zeiger im Kraftwerk kletterten weiter und der diensthabende Ingenieur ordnete an, daß die Hilfsgeneratoren in Betrieb genommen werden sollten. Innerlich wünschte er sich, daß die neue Maschine bald fertig sein würde, denn dann gäbe es keine Energieknappheit mehr wie jetzt. Eine halbe Stunde später gab der Rundfunk eine Frostwarnung durch. Bereits eine Minute danach wurden über eine Million Heizgeräte eingeschaltet, um der Kälte vorzubeugen. Die Zeiger kletterten weiter, erreichten den roten Gefahrenstrich – und überschritten ihn. Mit einem donnerähnlichen Schlag brannten drei Sicherungen durch und Flammen schlugen aus Schalttafeln. Sofort traten automatische Heliumlöscher in Tätigkeit und erstickten den beginnenden Brand. Die vierte Hauptsicherung aber schlug nicht durch, sondern hielt. Und das war das Schlimme. Kupferleitungen begannen zu glühen und schmolzen, verschmorte Isolierungsstoffe erfüllten die Räume mit fürchterlichem Gestank. Hauptleitungen lösten sich aus ihrer Verankerung, nachdem diese geschmolzen war, fielen herab und brannten sich einen Weg an die Leitungen, die zum neuen Generator führten. Energien, größer als sie ein normaler Mensch sich vorstellen kann, jagten in die unbesetzte Leitung und fanden keinen Widerstand. Die unzähligen Windungen jedoch erzeugten einen Induktionsstrom, wie man ihn gewaltiger sich nicht vorstellen konnte. Die so erzeugten Energien erreichten ihren Maximalwert und behielten ihn für Sekunden bei. Das war genau jene Sekunde, da Nelson die Mitte der Grube erreicht hatte. Da brannte endlich die letzte Sicherung, durch und der
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Stromkreis wurde unterbrochen. Nur langsam glühten die Leitungen aus und die Isolierungen hörten auf zu schmoren. Es war alles vorbei. Als die Notbeleuchtung aufflammte, lief Nelsons Assistent an den Rand der Grube. Er wußte nicht, was geschehen war, aber es war sicherlich wichtig genug, um Nelson davon zu unterrichten. »Hallo, Dick!« schrie er laut. »Bist du fertig da unten? Wir sollten uns hier oben um das Werk kümmern.« Er bekam keine Antwort. Der Assistent lehnte sich über die niedrige Brüstung, um besser in die Tiefe schauen zu können. Das Licht war trübe und dämmerig, der Schatten des Rotors machte es schwer, überhaupt etwas unterscheiden zu können. Im ersten Augenblick sah es ganz so aus, als sei die Grube leer. Aber das war ja lächerlich, denn er hatte selbst vor wenigen Minuten gesehen, wie Nelson an der Leiter hinabgeklettert war. »Hallo, Dick!« wiederholte er seinen Ruf. »Alles in Ordnung?« Wieder keine Antwort. Jetzt machte sich der Assistent ernstlich Sorgen und kletterte in die Grube hinab. Als er etwa auf halbem Wege war, erklang unter ihm ein seltsames Geräusch, so, als sei ein Kinderluftballon geplatzt. Er hielt an und blickte in die Grube hinab. Genau in der Mitte lag Nelson. Sein Körper war seltsam verrenkt. Der Assistent beeilte sich, zu ihm zu kommen. * Ralph Hughes, der Chefphysiker des Projektes, sah von seinem Schreibtisch auf, als sich die Tür öffnete. Die Schäden, die der Kurzschluß in der vergangenen Nacht verursacht hatte, waren bereits zum größten Teil beseitigt worden und allmäh-
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lich kehrte alles in normale Bahnen zurück. Da der neue Generator keinerlei Schaden genommen hatte, brauchte er sich keine Sorgen zu machen. In diesem Augenblick dankte er Gott, daß er nicht Chefingenieur des Werkes war. Murdock würde eine Menge Arbeit haben und unter einem Berg von Formularen vergraben sein. Bei diesem Gedanken mußte Dr. Hughes lächeln. »Hallo, Doc«, begrüßte er den Eintretenden. »Was bringt Sie zu mir? Wie geht es Ihrem Patienten?« Dr. Sanderson nickte nur kurz. »Deswegen komme ich. Er kann morgen bereits wieder die Krankenstation verlassen, aber ich möchte vorher noch mit Ihnen darüber reden.« »Ich kenne den Mann kaum, dazu bin ich zu wenig im Werk. Wofür wird schließlich Murdock bezahlt?« Sanderson lächelte schwach. Er wußte, daß zwischen dem Chefingenieur und dem jungen Physiker keine große Freundschaft bestand, dafür waren die beiden Männer zu verschieden. Es war die übliche Rivalität zwischen Theoretiker und Praktiker. »Ich denke, das ist eher Ihre Angelegenheit als die des Chefs. Sie wissen doch, was mit Nelson passiert ist.« »Er befand sich in dem neuen Generatorschacht, als die gesamte Energiemenge des Werkes durch den Kurzschluß hineingeleitet wurde.« »Ganz recht. Sein Assistent fand ihn, nachdem der Stromkreis unterbrochen war. Er hatte einen Schlag erlitten.« »Was für einen Schlag eigentlich? Die Drahtwindungen waren doch isoliert, es konnte also keine Elektrizität an seinen Körper gelangen. Er lag in der Mitte der Grube, als man ihn fand?« »Stimmt auch. Aber wir wissen immer noch nicht, was eigentlich geschehen ist. Er ist jetzt wieder bei Besinnung und es geht ihm ganz gut – bis auf eine Sache.«
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Der Arzt zögerte und Hughes sah ihn durchdringend an. »Nun reden Sie schon – machen Sie es nicht so spannend.« »Ich verließ Nelson, nachdem ich sicher war, daß er außer Lebensgefahr war. Etwa eine Stunde später ließ mich Matron rufen und teilte mir mit, Nelson wünsche mich dringend zu sprechen. Als ich sein Zimmer betrat, saß er aufrecht im Bett und hatte eine Zeitung vor sich liegen. Ein rätselhafter Ausdruck stand in seinem Gesicht. Ich fragte ihn sofort, was denn los sei und er antwortete:›Es muß etwas mit mir geschehen sein‹. Ich beruhigte ihn und sagte, daß die Schockwirkung in einigen Tagen vergangen sein würde. Aber er schüttelte nur den Kopf und in seinen Augen flackerte unverhohlene Angst. Er zeigte auf die Zeitung und sagte: ›Ich kann nicht mehr lesen!‹ Natürlich dachte ich gleich an eine Art Gedächtnisschwund und fragte mich, was er wohl sonst noch alles vergessen hatte. Nelson muß wohl geahnt haben, was ich dachte, denn er fuhr fort: ›Oh, es ist nicht so, wie Sie meinen. Ich kenne alle Buchstaben und kann sie auch lesen – aber ich sehe sie nur spiegelbildlich. Buchstabe für Buchstabe kann ich die Zeitung entziffern. Besorgen Sie mir bitte einen Spiegel, Doktor, ich möchte etwas ausprobieren.‹ Ich brachte ihm einen Spiegel und auf einmal konnte er flüssig lesen, während ich nur die Spiegelschrift in dem Glas sah. Natürlich, das kann ein Trick sein, der nicht schwer zu erlernen war. Aber warum sollte ein intelligenter Mensch auf einen solchen Unsinn verfallen? Immerhin, vielleicht hatte ihn der Schock ein bißchen verwirrt und er versuchte, sich auf diese Art zu amüsieren. Ich ging also auf seinen Scherz ein. Nach einer Weile aber sagte er: ›Was meinen Sie dazu, Doc? Was könnte man dagegen unternehmen?‹ Um ihn nicht zu verletzen, meinte ich, Dr. Humphries, der Psychologe würde sich um ihn kümmern. An seinem Gesicht konnte ich erkennen, daß ihm Humphries’ Intelligenztests nicht unbekannt sind.«
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»Und ob!« bestätigte Hughes. »Alle unsere Angestellten werden psychologisch untersucht, ehe sie bei uns arbeiten können. Trotzdem ist es erstaunlich, wieviel diese Untersuchungen bestehen«, fügte er nachdenklich hinzu. Dr. Sanderson lächelte, ehe er seine Erzählung fortsetzte. »Ich wollte Nelson gerade verlassen, als er mich noch einmal zurückrief. ›Ich glaube, ich habe mich am rechten Arm verletzt. Ist es sehr schlimm?‹ Ich beugte mich herab und nahm seinen rechten Arm. ›Nein, den rechten‹, sagte er und hielt mir den linken Arm hin. Auf seinen Scherz eingehend nahm ich also den linken Arm und untersuchte ihn. Kleine Prellung, sonst nichts. ›Sie sagten aber rechter Arm!‹ betonte ich, als ich mit der Untersuchung fertig war. Er sah mich erstaunt an und sagte: ›Na und? Ist es vielleicht nicht mein rechter? Selbst wenn meine Augen gelitten haben, so fühle ich doch meinen Trauring. Seit fünf Jahren bekomme ich den nicht mehr vom Finger meiner rechten Hand.‹ Diesmal traf es mich wie ein Schock, denn der Trauring war an der linken Hand und man hätte ihn aufschneiden müssen, um ihn vom Finger zu entfernen. ›Haben Sie irgendwelche Narben?‹ fragte ich ihn. Er verneinte. ›Zahnfüllungen?‹ Er nickte und ich schickte eine Schwester, seine Krankenkarte zu holen. Wir saßen uns schweigend gegenüber und in meinem Gehirn regte sich die Vermutung, die mich selbst an meinem Verstand zweifeln ließ. Noch ein Beweis und ich würde wissen, ob meine Vermutung richtig war. Noch bevor die Schwester zurückkommen konnte, fragte ich Nelson: ›Kann ich die Sachen sehen, die Sie beim Unfall in der Tasche hatten?‹ Nun, Mr. Hughes – ich habe sie mitgebracht.« Dr. Sanderson legte eine handvoll Münzen und ein in Leder gebundenes Kalenderbüchlein auf den Tisch. Hughes kannte diesen Kalender, der vom Werk ausgegeben wurde. Er nahm ihn in die Hand und schlug ihn auf.
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In diesem Augenblick brachen für Hughes die Grundfesten des Universums in sich zusammen. Bisher hatte er dem Bericht des Arztes zwar mit Interesse zugehört, jedoch mit dem Hintergedanken, was der ganze Unsinn wohl bedeuten solle. Aber nun lag der unbestreitbare Beweis vor seinen Augen aller Logik zum Trotz, und verlangte seine Aufmerksamkeit. Denn er konnte kein einziges Wort von dem lesen, was in dem Kalender stand. Die Aufzeichnungen waren alle in Spiegelschrift. Dr. Hughes stand auf und schritt erregt im Raum auf und ab. Sein Besucher schwieg, betrachtete aber voller Interesse seine Reaktion. Er wartete, bis Hughes endlich vor ihm stehenblieb und fragte: »Ich soll Ihnen also glauben, daß Nelson eine Wandlung ins Umgekehrte erfahren hat. Seine linke Seite ist jetzt seine rechte?« »Ich verlange gar nicht von Ihnen, daß Sie mir glauben; ich bringe Ihnen nur die Beweise, die ich entdeckt habe. Wenn Sie zu anderen Schlüssen kommen als ich, wäre ich Ihnen dankbar. Um auf die Zähne zurückzukommen, die Füllungen liegen genau umgekehrt wie in der Kartei verzeichnet. Erklären Sie mir das, wenn Sie können. Die Münzen dort auf dem Tisch sind ebenfalls höchst bemerkenswert.« Hughes nahm sie in die Hand und betrachtete sie. An dem Bild fiel ihm zuerst nichts auf, denn er konnte sich nicht daran entsinnen, ob die Königin nach links oder rechts blickte. Die Schrift aber, nun, sie war – genau wie im Kalender – spiegelbildlich verkehrt. Sanderson unterbrach seine Gedankengänge. »Ich habe Nelson gebeten, keinem Menschen etwas von seinen Beobachtungen zu erzählen. Ich werde einen entsprechenden Bericht ausarbeiten und damit wahrscheinlich eine Sensation auslösen. Wir müssen unbedingt dahinterkommen, wie das geschehen konnte. Nur aus diesem Grund kam, ich zu Ihnen, dem Kon-
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strukteur des Generators.« Hughes schien ihn nicht zu hören. Er saß wieder an seinem Tisch und hatte die Hände vor sich liegen. Die Fingerspitzen berührten sich. Zum ersten Mal in seinem Leben dachte er ernsthaft über den wahren Unterschied zwischen rechts und links nach. * Dr. Sanderson behielt Nelson noch einige Tage bei sich und studierte ihn gründlich, um genügend Material für seinen Bericht sammeln zu können. Soweit er hatte feststellen können, war Nelson ganz normal, bis auf die völlige Umkehrung. Er konnte bereits wieder lesen. Allerdings war er jetzt Linkshänder. Dr. Sanderson hatte es aufgegeben, über die Ursache dieser seltsamen Umwandlung nachzudenken. Von Elektrizität verstand er nicht so viel wie Dr. Hughes und er hoffte, daß der Physiker eines Tages die Antwort finden würde. Bisher war das immer so gewesen. Hughes selbst war nicht so zuversichtlich. Die Wichtigkeit des Falles Nelson war unwahrscheinlich, denn eine vollkommen neue Wissenschaft tat sich vor der Menschheit auf. Er wußte, daß es nur eine Möglichkeit gab, Gegenstände in ihr Spiegelbild umzukehren, aber wie sollte er seine Theorie beweisen? Hughes ließ die Anlagen des Werkes überprüfen und erhielt annähernd die Stromstärke, die für Sekunden durch die Windungen des Generators jagte. Doch alle diese Angaben waren nichts als Schätzungen und am liebsten hätte er das Experiment wiederholt, um es genau festzustellen. Doch bei dem Gedanken an Murdocks Gesicht, wenn er ihn bäte, den Unfall der vergangenen Nacht zu wiederholen, ließ er den Plan schleunigst fallen.
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Glücklicherweise besaß er ein kleines Arbeitsmodell des Generators und somit die Möglichkeit, das Induktionsfeld zu prüfen. Aber das stand wiederum in keinem Verhältnis zu den Strommengen, die tatsächlich frei gewesen waren. Fast einen ganzen Monat lang schlug sich Hughes mit diesen Problemen herum und beschäftigte sich mit Dingen der Atomphysik, die er bereits vergessen zu haben glaubte. Und ganz allmählich formte sich in seinem Kopf die Idee und die Möglichkeit des Beweises. Bis dahin würde es noch ein weiter Weg sein, darüber war er sich klar, aber dieser Weg lag nun sichtbar vor ihm. Noch einen Monat, und er würde es geschafft haben. Der große Generator selbst rückte in den Hintergrund, obwohl er seinen ersten Versuch erfolgreich bestanden hatte und nun schon seit Wochen seine Millionen von Kilowatt in das Leitungsnetz schickte. Dr. Hughes’ Kollegen kamen, um ihm zu seinem Erfolg zu gratulieren, aber er dankte ihnen nur geistesabwesend. Für ihn galt es, das Rätsel um Nelson zu lösen. * Vierzehn Tage später kam Dr. Sanderson zu ihm. Sein Gesicht war sehr ernst. »Nelson ist wieder im Hospital«, begann er. »Ich habe mich geirrt, als ich ihn gesund schrieb.« »Was ist denn mit ihm los?« wunderte sich Hughes. »Er verhungert.« »Verhungert? Was, zum Teufel, meinen Sie damit?« Sanderson rückte einen Stuhl zurecht und ließ sich darauf nieder. »Ich habe Sie in den letzten Wochen nicht beunruhigen wollen, da Sie angestrengt arbeiteten. Während dieser Zeit habe ich Nelson unter ständiger Beobachtung gehalten. Es schien, als sei er völlig normal, und ich machte mir weiter keine Sorgen. Dann stellte ich eine Gewichtsabnahme fest. Hinzu kam, daß
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der Patient über steigende Schwäche und mangelnde Konzentrationsfähigkeit klagte. Alles Anzeichen von Vitaminmangel. Aus diesem Grunde gab ich ihm Vitaminkonzentrate, aber sie bekamen ihm nicht. Ich muß daher dringend mit Ihnen reden.« Hughes machte ein ratloses Gesicht. »Ja – wer ist denn der Arzt? Sie oder ich?« »Gut, ich bin der Arzt, aber ich brauche Ihre moralische Unterstützung. Was bin ich denn schon? Ein vollkommen unbekannter Mediziner, dem niemand Glauben schenken würde. Nelson stirbt, und ich denke, daß ich nun weiß, warum…« Zuerst war Sir Robert nicht damit einverstanden, aber dann hatte er dem Drängen von Dr. Hughes nachgegeben. Der Aufsichtsrat war einberufen worden und jetzt kamen die einzelnen Direktoren in den Sitzungssaal, allein oder in erregt diskutierenden Gruppen. Man stellte Vermutungen wegen der außerordentlichen Sitzung an und staunte nicht schlecht, als man erfahren mußte, daß diese auf Verlangen des Physikers Dr. Hughes einberufen worden war. Der Mann war Physiker, das wußte man, aber doch kein Geschäftsmann! Was also hatte Sir Robert vor? Dr. Hughes, der Initiator der ganzen Aufregung, fühlte sich nicht wohl in seiner Haut und wurde nervös. Er hatte keine hohe Meinung von den Herren des Aufsichtsrates, wußte aber, daß er sich wenigstens auf Sir Robert verlassen konnte. Was er ihnen zu sagen hatte, würde so unglaublich klingen, daß man ihn vielleicht für verrückt hielte, besäße er nicht einen so guten Ruf als Wissenschaftler. Dr. Sanderson lächelte ihm ermutigend zu, als sie beide den Konferenzraum betraten. Sir Robert hatte gerade mit seiner Begrüßungsansprache begonnen und beendete abrupt, als er Hughes eintreten sah. Er hob die Hand und sagte abschließend: »Gentlemen, hier haben wir Dr. Hughes. Er wird Ihnen alles erklären. Ich habe ihn gebeten, seine Ausführungen möglichst
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einfach zu halten, aber Sie haben selbstverständlich die Freiheit, ihn jederzeit zu unterbrechen, um Fragen zu stellen.« Langsam und stockend begann Dr. Hughes. Als er merkte, daß ihm seine Zuhörer voller Interesse folgten, wurde er sicherer. Er legte ihnen das umgekehrte Notizbuch vor, die Spiegelschriftmünzen und erwähnte die Zahnplomben Nelsons. Die Verwunderung seiner Zuhörerschaft stieg. »Sie haben gehört, was mit Nelson geschehen ist, Gentlemen«, fuhr Hughes fort, »aber was ich Ihnen nun erzählen werde, ist noch ungewöhnlicher. Ich muß Sie dringend bitten, mir Ihre ganze Aufmerksamkeit zu schenken.« Er nahm ein rechteckiges Stück Papier und faltete es längs der Diagonale. Dann riß er es vorsichtig auseinander. »Wir haben jetzt zwei rechtwinklige Dreiecke mit gleich großen Seiten und Winkeln. Wenn ich diese an der Diagonale zusammenlege, so daß sie wie einen Kinderdrachen aussehen, so bildet die gemeinsame Hypotenuse gewissermaßen den illusorischen Spiegel, den sich vorzustellen ich Sie jetzt bitte. Das eine Dreieck ist genau das Spiegelbild des anderen. Nun passen Sie gut auf. Ich kann die beiden Dreiecke auf dem Tisch hinund herschieben, wie ich will, und aufeinanderlegen, sie werden sich niemals decken, obwohl sie spiegelgleich sind.« Er machte eine kleine Pause und ließ die Bedeutung seiner Worte einsinken. Dann fuhr er fort: »Jetzt nehme ich eins der Dreiecke, drehe es in der Luft um und lege es wieder auf die Tischplatte. Nun sind sie zwar nicht mehr spiegelgleich, aber vollkommen identisch. Sie decken sich. Das mag Ihnen sehr einfach vorkommen – und es ist auch einfach. Aber dieses kleine Experiment beweist uns eine wichtige Tatsache. Die beiden Dreiecke auf dem Tisch sind zweidimensionale Dinge. Will ich eins von ihnen in sein Spiegelbild verwandeln, muß ich es aus der zweiten Dimension he-
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rausreißen, in der dritten umdrehen und in die zweite zurücklegen. Sehen Sie, worauf ich hinaus will?« Er sah sich fragend um und bemerkte, daß einige der Direktoren schweigend vor sich hinnickten. »Wenn ich also einen dreidimensionalen Körper – sagen wir einmal einen Menschen – in sein Spiegelbild verwandeln will, so muß ich ihn für Sekunden in einer vierten Dimension umkehren. Ich wiederhole: in einer vierten Dimension!« Schweigen. Ein erschrockenes und fassungsloses Schweigen, das plötzliches Begreifen verriet. »Vierdimensionale Geometrie ist, wie Sie alle wissen – « er hätte sich gewundert, wenn sie es tatsächlich wußten – »ein wichtiger Bestandteil unserer Mathematik seit Einstein. Aber bisher war es nichts anderes als eine mathematische Fiktion ohne physikalischen Wert. Es scheint aber so, daß der Induktionsstrom der Windungen des neuen Generators durch den plötzlichen gewaltigen Stromstoß ein Kraftfeld erzeugt hat, das wiederum einen Raum schuf, der einer solchen vierten Dimension gleichkam, groß genug, einen Mann aufzunehmen. Ich habe mich mehr als sechs Wochen mit diesem Problem beschäftigt und bin zu der Überzeugung gelangt, daß mit Hilfe unseres Generators ein sogenannter ›Hyperspace‹ von drei Meter Kantenlänge erzeugt wurde. Nelson befand sich inmitten dieses Raumes. Als der Strom plötzlich aussetzte, kantete dieser Raum und Nelson wurde umgedreht. Diese Drehung verwandelte ihn in sein Spiegelbild. Ich muß Sie bitten, meine Theorie zu akzeptieren, da es keine andere Erklärung für die Tatsachen gibt. Ich habe meine Berechnungen mitgebracht, Sie stehen zu Ihrer Verfügung.« Er zeigte auf die engbeschriebenen Blätter, die er aus der Tasche zog und vor sich auf den Tisch gelegt hatte. Die alte Taktik wirkte auch heute: die Direktoren nickten und taten so, als glaubten sie ohne jede Nachprüfung seinen Worten. Lediglich
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McPherson, der Sekretär, war aus anderem Holz geschnitzt. Er hatte eine halbwissenschaftliche Ausbildung hinter sich, die er bei allen sich bietenden Gelegenheiten gerne zur Schau trug. Aber Dr. Hughes mußte zugeben, daß der junge Mann sehr wißbegierig veranlagt war und er hatte sich oft mit ihm über technische Probleme unterhalten. »Sie sagten«, begann McPherson, »daß Nelson sich in der vierten Dimension gedreht habe. Hat Einstein denn nicht behauptet, die vierte Dimension sei die Zeit?« Hughes fluchte innerlich, aber er antwortete ruhig: »Ich meinte mit dieser vierten Dimension eine rein räumliche Dimension, also ein zusätzlicher rechter Winkel zu den uns bekannten drei. Man kann es vierte Dimension nennen. Da wir aber normalerweise den Raum als dreidimensional bezeichnen, halten wir sehr gerne die Zeit für die vierte Dimension. Ich muß Sie daher bitten, in diesem Fall den Raum als vierdimensional zu betrachten und die Zeit als die fünfte Dimension anzuerkennen.« »Fünf Dimension! Gott im Himmel!« rief jemand im Hintergrund voller Entsetzen aus. Hughes konnte der Versuchung nicht widerstehen: »Ein Raum mit vielen Millionen Dimensionen wurde kürzlich durch Kreise der subatomaren Physik postuliert!« Alle, auch McPherson, schwiegen beeindruckt. »Ich komme zum zweiten Teil meiner Ausführungen«, fuhr Hughes fort. »Wenige Wochen nach dem Kurzschluß stellten wir fest, daß mit Nelson irgend etwas nicht stimmte. Er nahm zwar Nahrung wie immer zu sich, schien sie aber nicht zu verdauen. Dr. Sanderson gab diese Erklärung ab und damit geraten wir in das Spezialgebiet der organischen Chemie. Sie müssen entschuldigen, wenn ich wie ein Lehrbuch rede, aber Sie werden bald einsehen, wie wichtig dies alles für die Gesellschaft ist. Organische Stoffe bestehen zum größten Teil aus den Atomen
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Kohlenstoff, Sauerstoff und Wasserstoff, vermischt mit anderen Elementen. Chemiker machen sich scheinbar einen Spaß daraus, die entsprechenden Moleküle zu modellieren, und zwar mit Hilfe von langen Nadeln und bunten Plastikkugeln. Das Ganze sieht dann sehr nett aus und erinnert an moderne Kunst. Nun ist es natürlich auch möglich, zwei spiegelgleiche Modelle herzustellen. Man nennt dies dann Stereo-Isome. Zwei dieser Modelle lassen sich ohne weiteres mit unseren Dreiekken vergleichen, nur sind sie eben dreidimensional. Ich hoffe, Sie haben mir bis hierher folgen können.« Hughes sah sich um. Alle blickten ihn erwartungsvoll an. »Genau wie die erwähnten Modelle, lassen sich spiegelgleiche Moleküle auch in der Natur herstellen – oder sie entstehen von selbst. Obwohl nun diese beiden chemischen Stoffe die gleiche Formel besitzen, kann der eine für den menschlichen Körper lebenswichtig sein, während der andere vollkommen nutzlos bleibt. Mit anderen Worten: der normale Stoff ist wichtig, das Spiegelbild des gleichen Stoffes bleibt nutzlos. Jetzt werden Sie auch verstehen, warum die Verwandlung Nelsons so ernst ist. Es geht nicht darum, daß er lernt, wie man Spiegelschrift liest, sondern darum, daß er nicht inmitten einer Nahrungsfülle verhungert. Sein Körper verarbeitet die Nahrung nicht, genauso wenig, wie Sie einen linken Handschuh auf die rechte Hand streifen können. Dr. Sanderson hat ein Experiment durchgeführt, um unsere Theorie zu beweisen. Mit großer Mühe gelang es ihm, einige Stereo-Isomen in seinen Besitz zu bringen. Professor Vandenburg selbst hatte sie synthetisch hergestellt, als er von unseren Sorgen erfuhr. Diese Stoffe wären für uns wertlos – aber Nelson hat bereits an Gewicht zugenommen.« Hughes machte eine Pause und zog einige Papiere aus der Tasche. Er wollte seinem Auditorium Zeit geben, sich auf einen Schock vorzubereiten. Stünde nicht das Leben eines Menschen
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auf dem Spiel, wäre die Situation amüsant gewesen. Der Aufsichtsrat würde genau an der Stelle getroffen werden, wo er am empfindlichsten war. »Sie werden zugeben müssen, Gentlemen, daß Nelson einen Betriebsunfall erlitt und die Gesellschaft daher verpflichtet ist, für ihn zu sorgen. Wir haben herausgefunden, wie wir ihn medizinisch behandeln müssen, um ihn am Leben zu halten und Sie werden sich vielleicht wundern, warum ich mir die Zeit nahm, Ihnen das alles so ausführlich zu erklären. Der Grund ist einfach. Die Herstellung der Stereo-Isome ist genauso schwierig wie die des Radiums. Dr. Sanderson hat mir mitgeteilt, daß Nelson täglich eine Nahrungsmenge benötigt, die in der synthetischen Herstellung mehr als 60.000 Dollar kosten wird.« Eine halbe Minute herrschte tiefes Schweigen. Dann begannen alle auf einmal zu reden. Sir Robert verschaffte sich Ruhe, indem er mit dem Holzhammer auf den Tisch klopfte. Und damit begann der Kriegsrat der Finanzmänner. Drei Stunden später verließ ein vollkommen erschöpfter Hughes den Konferenzsaal und begab sich in sein Büro, wo Dr. Sanderson ihn gespannt erwartete. »Nun?« fragte der Arzt, ehe Hughes sich setzen konnte. »Wie ist die Entscheidung ausgefallen?« »Genauso, wie ich es erwartet habe. Sie wollen, daß ich Nelson zurück verwandele?« »Lieber Gott! Ist das überhaupt möglich?« »Ich weiß es wirklich nicht. Wir können nichts anderes tun, als die gleichen Verhältnisse schaffen, wie sie im Augenblick des Unfalls bestanden.« »Andere Vorschläge wurden nicht gemacht?« »Schon, aber die waren noch unbrauchbarer. Lediglich McPherson hatte eine gute Idee. Er meinte, man solle normale Nahrung im Generator umwandeln. Ich mußte entgegnen, daß diese Aktion auch einige Millionen im Jahr kosten würde und
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die Spulen die ungeheure Belastung nicht sehr lange aushalten würden. Ich mußte also ablehnen. Sir Robert bat mich, Sie zu fragen, ob Sie auch keine Vitamine übersehen haben, die im Spiegeldasein genauso gut wirksam wären wie in normalem Zustand. Er bezweifelt, daß wir Nelson nur mit synthetischer Nahrung am Leben halten können. Ich mußte ihm recht geben und er will selbst mit Nelson sprechen. Er will ihn dazu bereden, das Experiment zu wiederholen und ihm dabei garantieren, daß für seine Familie im Falle des Mißlingens gesorgt wird.« Lange sagten beide Männer nichts, bis Dr. Sanderson das Schweigen endlich brach: »Nun werden Sie vielleicht verstehen, welche Entscheidungen ein Chirurg oft zu treffen hat.« Hughes nickte zustimmend. »Ein schreckliches Dilemma. Wir benötigen mehr als 20 Millionen im Jahr, um einen relativ vollkommen gesunden Mann am Leben zu halten. Und selbst dann ist der Erfolg fraglich. Es wird uns nichts anderes übrig bleiben, als Nelson vor die Alternative zu stellen.« »Kann man nicht vorher einige Versuche anstellen?« »Ganz unmöglich! Es bedarf ungeheuerer Anstrengungen, den Rotor wieder aus der Grube zu heben. Das Experiment selbst muß dann durchgeführt werden, wenn die wenigsten Stromabnehmer angeschaltet sind. Erst dann können wir es wagen, die Voraussetzungen des damaligen Kurzschlusses künstlich wieder herzustellen. Der arme Murdock wird jetzt schon wild, wenn er nur daran denkt.« »Das wundert mich nicht. Und wann meinen Sie, daß Sie das Experiment starten können?« »Nicht vor einigen Tagen. Selbst wenn Nelson einverstanden ist, so benötige ich doch eine gewisse Zeit, um meine Vorbereitungen zu treffen.« *
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Niemals erfuhr ein Mensch, was Sir Robert und Nelson zusammen gesprochen hatten. Aber Hughes war nicht sonderlich überrascht, als das Telefon schrillte und die Stimme des obersten Chefs müde zu ihm sagte: »Hughes? Bereiten Sie alles vor. Ich habe mit Murdock gesprochen und wir haben den Termin auf Dienstag nacht festgelegt. Glauben Sie, es bis dahin zu schaffen?« »Selbstverständlich, Sir Robert.« »Gut. Berichten Sie mir jeden Nachmittag bis zum Dienstag über Ihre entsprechenden Maßnahmen.« Er zögerte. Dann: »Das ist alles, Hughes.« * In dem gewaltigen Raum dominierte der große Zylinder des Rotors, der zehn Meter über dem Boden schwebte. Eine kleine Gruppe schweigender Männer stand am Rand der Grube und wartete. Ein Gewirr unzähliger Kabel schlängelte sich vom Generator zu den Geräten, die Hughes provisorisch aufgestellt hatte – Oszilloskope, Megawattmeter und Mikrochronometer. Hinzu kam die Schaltung, die den beabsichtigten ›Kurzschluß‹ auslösen sollte. Und das war das Hauptproblem. Hughes hatte keine Ahnung, wann er den Strom in den Generator leiten mußte. Bei Maximumstärke, bei Minimum – oder bei einem dazwischenliegenden Wert. Er glaubte jedoch, in einem bestimmten Wert ungefähr die Voraussetzungen gefunden zu haben, die damals bei dem echten Kurzschluß bestanden hatten. In etwa zehn Minuten würde die größte angeschlossene Fabrik ihren Betrieb schließen und keinen Strom mehr entnehmen. Der Wetterbericht war günstig gewesen und somit bestand kein Grund zu der Annahme, daß besondere Stromanfor-
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derungen entstehen könnten. Am Morgen würde der Rotor wieder an seiner gewohnten Stelle im Generator sein und der normale Betrieb konnte aufgenommen werden. Als Nelson endlich in der Begleitung von Sir Robert und Dr. Sanderson auftauchte, zeigte sein Gesicht eine geisterhafte Blässe. Als ob er zu seiner Exekution ginge, dachte Hughes flüchtig und bedauerte diesen Gedanken sofort. Es blieb Zeit genug zu einer nochmaligen, aber völlig überflüssigen Überprüfung der Anlage. Als Hughes damit kaum fertig war, hörte er die ruhige Stimme von Sir Robert: »Wir sind bereit, Dr. Hughes.« Nelson war in die Grube hinabgeklettert und hatte sich genau in der Mitte hingestellt. Er schaute nach oben. Sein Gesicht war ein weißer Fleck in der Dunkelheit. Hughes winkte ihm zu, ehe er zu seinen Geräten zurückging. Mit flinken aber ruhigen Händen stellte er Hebel auf Ausgangsstellungen, überprüfte Spannungen und Stromstärken, vergewisserte sich der genügenden Isolierung und legte dann die Rechte auf den Hauptschalter. Murdock nickte ihm zu. Mit einem stillen Gebet zog Hughes den Hebel nach vorn. Zuerst war nur ein feines und kaum hörbares Summen. Doch eine Tausendstel Sekunde später schien das gewaltige Gebäude in seinen Grundfesten erschüttert zu werden. Das Licht erlosch nach einigem Flackern, dann wurde es wieder hell. Die Unterbrecherkontakte hatten sich automatisch ausgelöst und den Stromkreis wieder unterbrochen. Es war alles vorüber. Die Instrumente hatten der Überladung standgehalten. … und wie war es mit Nelson? Dr. Hughes wunderte sich darüber, daß Sir Robert mit seinen 60 Jahren der erste war, der am Rand der Grube stand und hinabblickte. Etwas langsamer war Hughes, der fast zehn Sekunden benötigte, bis er neben dem Chef stand und ebenfalls in die
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Tiefe blickte. Ein Gefühl banger Erwartung erfüllte ihn dabei und er erwartete, Nelson irgendwo in der Grube liegen zu sehen, mit schrecklich verrenkten Gliedern und gebrochenen Augen. Eine andere Vermutung war ihm gekommen, noch ehe er den Rand der Grube erreichte: was nun, wenn das HyperspaceFeld zu früh abgeschaltet worden war und Nelson nur eine halbe Rotation erfahren hatte? Es gibt keinen größeren Schock als beim Eintreten des vollkommen Unerwarteten. Hughes hatte alles erwartet, nur nicht, daß die Grube vollkommen leer sein würde. Was danach kam, dessen konnte er sich später niemals so recht erinnern. Murdock hatte als erster seine Fassung wiedergewonnen und den Befehl zum Wiedereinsetzen des Rotors gegeben. Irgendwo in weiter Ferne hörte er Sir Robert immer wieder sagen: »Wir haben unser möglichstes getan – mehr konnten wir nicht tun…« Im frühen Morgengrauen wachte Hughes nach unruhigem Schlaf auf, nachdem er stundenlang von Gespenstern und vierten Dimensionen geträumt hatte. Unvorstellbare Räume verschoben sich ineinander und in ihrer Mitte hing Nelson, hilflos eingeklemmt, und versuchte, ihn zu erreichen. Manchmal war er sogar Nelson selbst. Die Alpträume verschwanden, als er erwachte und aus dem Bett stieg. Einige Minuten lang saß er da, den Kopf in die Hände gestützt, und dachte angestrengt nach. Er wußte plötzlich ganz genau, was geschehen war, und es war nicht das erste Mal, daß ihm die Lösung eines schier unentwirrbaren Problems unvermittelt eingefallen war. Wie oft schon war er mitten in der Nacht aufgewacht und wußte etwas, worüber er Tage und Wochen nachgegrübelt hatte. Nur ein winziges Stückchen in dem Mosaik fehlte noch, danach suchte er jetzt. Ein winziges Stückchen – und plötzlich hatte er es. Da war etwas gewesen, das Nelsons Assistent ihm
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erzählt hatte, als er den damaligen Unfall schilderte. Etwas ganz Belangloses war es gewesen, so unwichtig, daß er es völlig vergessen hatte. »… und als ich in die Grube hinabsah, war sie leer. Ich kletterte die Leiter hinab und auf einmal hörte ich unter mir…« Was für ein Narr war er doch gewesen! Natürlich hatte das Feld in der vierten Dimension rotiert, aber keiner hatte daran gedacht, daß auch eine gewisse Zeitverschiebung eingetreten war. Beim ersten Mal waren es nur wenige Sekunden gewesen. Der zweite Versuch jedoch war in seiner Anordnung anders als der echte Unfall, die Bedingungen waren also auch anders gewesen. Die Zeitverschiebung hatte stattgefunden, aber ihre Dauer war unbekannt. Nelson hatte sich nach dem Experiment nicht mehr in der Grube befunden. Aber er würde nach Ablauf einer gewissen Frist wieder dort sein! Dr. Hughes fühlte, wie ihm der kalte Schweiß ausbrach. Er stellte sich den Rotor vor, einen Zylinder von mehr als 1000 Tonnen Gewicht, der – angetrieben von 50 Millionen PS – um seine eigene Achse rotierte. Angenommen, es würde plötzlich ein Körper dort materialisieren, wo sich bereits dieser Rotor befand… Er sprang auf und raste in sein Arbeitszimmer, riß den Hörer von der Gabel. Er mußte sofort das Werk anrufen, keine Zeit war mehr zu verlieren. Der Rotor mußte sofort aus der Grube herausgenommen werden, zu Argumenten blieb später noch Zeit. Ganz sanft spürte er den Erdstoß. Es war, als sei ein Riese erwacht und habe sich gereckt. Vom Himmel herab fielen Trümmerstücke und wie durch Zauberei klafften große Risse in den Wänden. Das Licht flackerte und erlosch. Dr. Hughes ließ den Hörer fallen und trat ans Fenster. Langsam schob er die Vorhänge beiseite. Das Kraftwerk war nicht
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sichtbar, es lag jenseits der flachen Hügel des Mount Perrin. Doch heute war seine Lage auf den ersten Blick zu erkennen, denn eine gigantische Glocke aus dunkelgrauen Wolken und Trümmern stieg jenseits der Hügel langsam den dämmerigen Morgenhimmel hinauf… Technical Error von A. C. Clarke. Mit Genehmigung von Mohrbooks AG. Zürich. Aus dem Englischen übersetzt von Walter Ernsting
In vier Wochen erscheint das nächste UTOPIA-MAGAZIN Um Ihnen in jeder Ausgabe eine Vielzahl bester Science-FictionKurzgeschichten zu bieten, haben wir auf Zeichnungen verzichtet. Nach wie vor werden wir jedoch auf den Umschlagseiten interessante Fotos veröffentlichen. Das Hauptgewicht liegt auch bei dem jetzigen Umfang auf den utopischen Geschichten. Daneben finden Sie zwei bis drei kürzere wissenschaftliche Artikel und andere Beiträge, die für Sie sicherlich von Interesse sind.
IN BAND 11 LESEN SIE eine der besten Kurzgeschichten des am 3. Februar verstorbenen amerikanischen Schriftstellers Henry Kuttner. Sie kennen ›Mimsy Were The Borogoves‹ aus dem Buch ›Überwindung von Raum und Zeit‹, die er unter seinem Pseudonym Lewis Padgett schrieb. Mit der Story Tarnung (Camouflage) behandelt er ein ebenso ungewöhnliches wie spannendes Thema. Jesco von Puttkamer schrieb eine köstliche Erzählung, die all denen gewidmet sein soll, die Science Fiction ›tierisch‹ ernst nehmen, Hausieren verboten! Daneben lesen Sie Stories von Murray Leinster, Eric Frank Russell, Fredric Brown und anderen.
Ihre UTOPIA-Redaktion
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von Hellmut W. Hofmann ›Dies ist die Geburt des großen LEVIATHAN oder (um mit mehr Demut zu sprechen) jenes irdischen Gottes, dem wir – unter dem unsterblichen Gott – unseren Frieden und unsere Wohlfahrt verdanken.‹ (Thomas Hobbes – LEVIATHAN oder die Sache, Form und Macht des Staates) »Das ist die Bankerotterklärung der Menschheit, Vater!« sagte Marc erregt In seinem Gesicht war wieder jener harte Zug, der uns so beunruhigte. »Es ist der Beschluß der UNO-Vollversammlung«, hielt ich ihm vorsichtig entgegen, »ein nach reiflicher Überlegung und mit großer Mehrheit gefaßter Beschluß.« »Eben – ein Mehrheitsbeschluß!« Es war, als habe Marc auf dieses Stichwort gewartet »Je schwieriger ein Problem ist, desto geringer wird die Zahl der Menschen, die es wirklich lösen können – das gibst du doch zu? Und wenn nun ein Haufen Politiker über ein Problem abstimmt, dann bleiben diese Menschen eben in der Minderheit – und der Unsinn des Mehrheits-
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beschlusses triumphiert!« Man sah ihm an, daß er sich selbst zu jener Minderheit zählte, die für alles die ›wirklichen‹ Lösungen kannte . »Du kannst der Vollversammlung schwerlich vorwerfen, daß sie ihre Fehler nicht erkannt habe – sonst hatte sie ja nicht ihre eigene Auflösung beschlossen!« warf Joan sanft ein »Um sich von der Verantwortung zu drücken – und alle Macht einer Maschine zu übergeben«, sagte Marc erbittert. »Das war wirklich das letzte Unheil, das dieses System noch stiften konnte.« Ich schwieg. Wie leicht Marc dieses Wort ›Verantwortung‹ von der Zunge ging. Er hatte es ja nicht miterleben müssen, wie in den letzten Jahren ein Delegierter nach dem anderen unter der Last dieser Verantwortung zusammengebrochen war – der Verantwortung für das Schicksal von jetzt drei Planeten, wie UNO-Sekretär Ortega nach dem Ablauf seiner Amtsperiode in ein Kloster eintrat, um die Ruhe seines Gewissens wiederzufinden (und Ortega war der Mann, dem die Menschheit die friedliche Lösung der Venus-Krise verdankte), und wie nur ein Zufall die Feuerbefehle für die Raketenbasen aufgehalten hatte, die sein Nachfolger Leifkonen an dem Tage gab, als seine Nerven, jahrelang zum äußersten angespannt, plötzlich versagten – Marc hatte ja nicht mit angesehen, wie wir diesen Mann als kindisch schluchzendes, stammelndes Wrack ins Irrenhaus bringen mußten. Zum ersten Mal in der Geschichte waren sich die Herrschenden voll bewußt geworden, daß wirklich Sein oder Nichtsein der Menschheit in ihrer Hand lag – und das war mehr, als ein Mensch ertragen konnte. »Und wie sieht nun deine – oder eure Lösung des Problems aus, Marc?« fragte Joan. Wieder straffte er sich – wie ein Prüfling, der genau weiß, auf welcher Seite seines Lehrbuches die Antwort auf die gestellte
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Frage steht. »Die Vollversammlung muß fallen. Ein paar Hundert Menschen sind einfach zu schwerfällig – sie können nicht die schnellen, sicheren Entschlüsse fassen, die unsere Zeit braucht. Außerdem kann der einzelne Abgeordnete heute sowieso nicht mehr aus eigenem Wissen entscheiden – er ist überall auf Experten angewesen, sogar auf Elektronengehirne, die ihm komplizierte Fragen beantworten. Die Politiker haben ausgespielt. Es ist genau wie im alten Rom, als der Senat – eigentlich bloß der Stadtrat von Rom – allmählich zum Herrscher über ein ganzes Weltreich geworden war, da griff Cäsar ein und übernahm die Macht, weil er sich der Verantwortung besser gewachsen fühlte.« ›Und jetzt ist also wieder ein neuer Cäsar fällig?‹ fragte ich »Ja!« Ein fanatisches Leuchten war in Marcs Augen getreten. Und das wird kein vorsichtiger Politiker sein – er wird aus den Reihen der Männer kommen, denen die Menschheit all ihren Fortschritt verdankt. Aus den Reihen der Techniker und Wissenschaftler! Diese Männer sind auch bereit, die Verantwortung für die Welt zu übernehmen!« Joan nickte mit einem traurigen Lächeln. »Daran zweifle ich gar nicht, Marc. Seit Jahrhunderten leidet die Menschheit nicht unter einem Mangel an Leuten, die die Verantwortung übernehmen wollen – sie leidet bloß unter dem was diese Leute dann Unverantwortliches anstellen. Es geht nicht darum, Marc, ob einer die Verantwortung übernehmen will – sondern darum, ob er sie übernehmen darf!« »Die Zeit der Cäsaren ist vorbei, Marc«, sagte ich. »Du hast eben selbst gesagt, daß die meisten Probleme der Regierung so kompliziert geworden sind, daß sie ein Mensch nicht mehr lösen kann – daß er auf die Hilfe von Robotgehirnen angewiesen ist. Dein Cäsar würde nichts weiter tun, als die Ergebnisse von Robotgehirnen in die Tat umsetzen.
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Und das wäre für einen Cäsar zu wenig. Eines Tages würde er sich über das hinwegsetzen was ihm die Maschinen raten – wurde seinem eigenen dämonischen Drang folgen – gleichviel, ob andere Menschen, ja ob die ganze Menschheit darunter leidet. Die Versuchung der Macht ist zu groß, Marc!« Marc machte eine unwillige Geste, als wolle er sagen ›Ich weiß ja, was jetzt kommt‹. Aber ich sprach weiter: »Positronische Gehirne – wie sie in Roboter eingebaut werden – müssen aber den drei Grundgesetzen der Robotik folgen. Sie dürfen keinen Menschen verletzen oder zu Schaden kommen lassen. Sie müssen jeden vom Menschen gegebenen Befehl ausführen – wenn er nicht gegen das vorige Gesetz verstößt. Und erst ganz zuletzt müssen sie sich selbst vor Zerstörung schützen. Läßt man also die Regierungsprobleme von Elektronengehirnen lösen – und die Ergebnisse von einem positronischen Gehirn in die Tat umsetzen, dann kann nie ein für die Menschheit schädliches Ergebnis herauskommen! Ist das nicht genau das gleiche, was dein Cäsar – im besten Falle! – erreichen könnte?« »Wenn die Menschheit so degeneriert ist«, brach es jetzt aus Marc hervor, »daß sie sich lieber von Maschinen beherrschen lassen will, als von Männern, dann ist das ihre Sache – wir jedenfalls werden bis zum letzten dagegen kämpfen!« Er sprang auf und stürzte hinaus. Ich sah ihm nach und wandte mich dann zu Joan. »Die Männer, die der Menschheit den Fortschritt bringen mit dem politischen ABC der alten Römer und den Kampfparolen der Maschinenstürmer von 1800!« Ich schüttelte den Kopf. »Ist es möglich, daß unser Marc einen solchen Unsinn mitmacht?« Joan lächelte müde. »Das ist doch nicht Marc, der da spricht – das sind die ›Legionäre der Zukunft‹ mit ihrem neuen Cäsar. Fort mit den Parlamentariern! Fort mit den Robotgehirnen! Selbstbesinnung der Menschheit! – Schlagworte – gewiß – aber
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sie fallen auf einen fruchtbaren Boden. Ach Joe, wie wird das nur enden?« Ich trat zu ihr und nahm sie in die Arme. Joan war noch genauso schön, wie vor 37 Jahren, als ich sie zum ersten Mal sah – wenn sie auch in der Öffentlichkeit jetzt eine Brille trug, um wenigstens etwas älter zu erscheinen. Und ich hatte heute noch genauso wie damals den Wunsch, sie vor allem, was ihr gefährlich werden könnte, zu schützen. Aber konnte ich es? Und vor allem: Wie lange konnte ich es noch? Daß selbst Marc sich jetzt den Fanatikern angeschlossen hatte, machte die Sache nur noch schlimmer. Aber hätte ich es verhindern können? Hatten wir nicht wirklich alles getan, um ihn zu einem vorurteilsfreien, einem guten Menschen au erziehen – wie wir es versprochen hatten? »Ich werde eine Lösung finden, Joan«, sagte ich leise. »Und wenn ich sie nicht finde, wird sie das große Gehirn finden!« Der Einfall schien mir ganz plötzlich zu kommen – in Wirklichkeit war er einfach eine Folgerung aus Informationen, die ich schon lange kannte. »Das große Gehirn?« Joan schüttelte den Kopf. »Morgen wird das große Gehirn – nach dem Beschluß der UNO – feierlich mit den Informationsmaschinen und den Robotwachen zusammengeschaltet zur vollkommenen Regierungsmaschine. Wie willst du da noch von ihm verlangen, daß es sich um unsere Probleme kümmert?« »Morgen«, sagte ich, »aber heute noch nicht. Heute ist das große Gehirn noch immer nichts anderes als ein Robotgehirn – und wir haben als Mitglieder der UNESCO jederzeit Zutritt zu ihm. Wenn es eine Lösung gibt dann findet das große Gehirn sie in einer Nacht. Wir brauchen uns nur zu beeilen!« * Das UNESCO-Informationszentrum lag schon im Schein der
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großen Tiefstrahler, als sich unser Duo aus dem nächtlichen Dunkel auf den Landeplatz niedersenkte. Mit gleichförmigen Schritten zogen die Robotwachen ihren Kreis um das Hauptgebäude – aber nachdem wir ihnen unsere Identifikationsstreifen vor die rötlichleuchtenden Augen gehalten hatten, ließen sie uns ungehindert passieren. Auch das große Tor öffnete sich sofort für uns – und dann standen wir in der riesigen Vorhalle. Kein Mensch war hier. Das ganze Informationszentrum arbeitete vollautomatisch: Von den Informationsmaschinen bis zu den Kontrollen an den Eingängen. Es war der erste Versuch, eine ganze Institution rein robotisch zu steuern – ein Experiment, das sich morgen auf die ganze Welt übertragen sollte. Den Polizeidienst hatte man schon seit langem den unbestechlichen, mit Riesenkräften ausgerüsteten Robotern übergeben. Aber noch immer erhielten sie ihre Befehle von menschlichen Vorgesetzten. Ab morgen würde das anders sein: Das große Gehirn würde ihnen die Befehle geben – zum Besten der Menschheit… Unsere Schritte hallten in den leeren Gängen wieder. Ein Tor nach dem andern passierten wir – immer wieder legten wir unsere Identifikationsstreifen gegen stumm wartende Photozellen – und dann standen wir vor dem großen Gehirn. Zur Vorbereitung für den morgigen Tag hatte man schon die Tausende von Kabeln gezogen, die das Gehirn mit den unzähligen Informationsmaschinen verbanden – seine stumpf metallisch schimmernde Kugel auf der tragenden Säule war von ihnen umkränzt wie von seltsamen Girlanden. Nur die entscheidenden Verbindungen fehlten noch – die, welche ihm auch die Befehlsgewalt über die Robotwachen gaben. Und eine Verbindung bestand noch, die morgen durchschnitten werden würde: Heute noch folgte das große Gehirn fremden Befehlen. »Joe Calderon, UNESCO-Koordinator für menschliche Be-
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ziehungen…« sprach ich gegen die große Mikrophonwand »Meine Frau Joan – ebenfalls im UNESCO-Ausschuß für menschliche Beziehungen. Wir suchen die Lösung eines schwierigen Problems…« »Wenn es eine gibt…« fügte Joan leise hinzu. Ein paar Signallampen leuchteten auf, der große Bildschirm begann unruhig zu flimmern. »Bereit zur Aufnahme von Informationen«, meldete die metallische Stimme des großen Gehirns. Ich sah Joan an. Sie nickte mir unmerklich zu. Wir hatten uns unterwegs einen Plan zurechtgelegt. »Die Übernahme der Macht durch Roboter stößt bei vielen Menschen auf seelische Widerstände«, begann ich. »Das Verhältnis Mensch – Roboter ist ein Problem, das auch uns bewegt. Wir wollen zunächst ein Beispiel behandeln. Angenommen, ein Kind, das bisher von menschlichen Eltern aufgezogen wurde, würde plötzlich von diesen Eltern getrennt und in die Obhut von Robotern gegeben – « »Das würde kein Mensch tun. Zudem wäre es nach den geltenden Gesetzen strafbar«, unterbrach die metallische Stimme. »Angenommen, es geschähe trotzdem. Dann – « »Eie solche Fragestellung ist sinnlos. Es können nur Auskünfte über wirklich mögliche Probleme gegeben werden«, beharrte das große Gehirn. »Gut.« Ich machte eine kleine Pause. »Angenommen, niemand wüßte, daß es sich um Roboter handelt – angenommen, es seien äußerlich völlig menschenähnliche Roboter – « »Die Herstellung solcher Roboter ist nach den geltenden Gesetzen strafbar«, unterbrach die metallische Stimme wieder… »Aber möglich. Nehmen wir an, ein Gelehrter habe zwei solche Roboter – einen äußerlich männlichen, einen äußerlich weiblichen – hergestellt – « »Die Gründe für ein solches Vorgehen sind aus den bisher
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gegebenen Informationen nicht ersichtlich«, warf das große Gehirn ein. »Der Gelehrte könnte zum Beispiel vorgehabt haben, an diesen Robotern Probleme des menschlichen Zusammenlebens zu studieren – Eheprobleme etwa. Er hätte dann diese Roboter nicht nur äußerlich ihren vorgeblichen Geschlecht nachgebildet, sondern auch innerlich: Er hätte ihnen genau solche Informationen, ein ganzes raffiniertes Training gegeben, das sie nach außen hin als Mann – beziehungsweise als Frau reagieren läßt. Das wäre doch technisch möglich.« »Zweifellos«, gab das Gehirn nach einer kurzen Pause zu. »Dennoch hätte der Gelehrte diese ungesetzlichen Roboter nach Abschluß seiner Versuche vernichten müssen.« »Nehmen wir an, er kam dazu nicht, er starb vorher durch einen plötzlichen Unfall. Die beiden Roboter wären zurückgeblieben und hätten sich – ihren Befehlen gemäß – weiter wie Menschen verhalten. Sie hätten sogar die geplanten Versuche weitergeführt, also ein robotisches Gegenstück zu einer Ehe geliefert – « »Die Roboter wären nicht unbeachtet geblieben«, wandte das Gehirn ein. »Sie hätten sich in die menschliche Gesellschaft eingliedern müssen.« »Ist das unmöglich?« beharrte ich. »Sie wären sogar – wegen der größeren Leistungsfähigkeit und Kapazität des positronischen Gehirns – zu immer wichtigeren Aufgaben herangezogen worden. Solange niemand erfuhr, daß sie Roboter sind, natürlich! Aber angenommen, eines Tages hätte ihnen ein Mensch kurz vor seinem Tod seinen Sohn – ein Kind von wenigen Wochen – anvertraut, mit der Bitte, ihn an Kindes Statt anzunehmen. Sie hätten sich dieser Bitte nicht entziehen können – Roboter müssen jeden Wunsch eines Menschen erfüllen, der keinem anderen Menschen schadet. Und sie hätten diesen Sohn als ihr Kind aufgezogen – ohne daß er etwas ahnte, daß seine El-
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tern Roboter sind. Angenommen nun, dieser Sohn schlösse sich – erwachsen – einer jener Gruppen an, die fanatische Robotergegner sind – den Legionären etwa, dann würde sich ein Problem ergeben, das…« Eine Signallampe blitzte auf. »Die bisher gegebenen Informationen passen nur auf folgende Personen«, meldete die metallische Stimme. Zwei Sekunden vergingen, dann fuhr sie fort: »Joe Calderon, UNESCO-Koordinator für menschliche Beziehungen – Joan Calderon, geb. Crawford, Referentin im UNESCO-Ausschuß für menschliche Beziehungen.« Die Stimme schwieg. Dann setzte sie hinzu: »Es bleibt zu klären, ob diese Bezeichnungen weiterhin anwendbar sind Es handelt sich um Roboter, die nur Seriennummern tragen können.« Ich sah Joan an. Für mich war es Joan – ich kannte ihre Seriennummer nicht. Sie lächelte müde: »Joe, ich habe es dir gleich gesagt. Du kannst die Menschen täuschen – aber nicht ein positronisches Gehirn. Nicht dieses Gehirn hier jedenfalls…« Ich zuckte resigniert die Achseln. »Das entstehende Problem – « fuhr ich, mich zur Ruhe zwingend, fort, »liegt nun klar auf der Hand. Die beiden Roboter – oder Joan und ich – altern natürlich äußerlich nicht. Es ist nur eine Frage der Zeit, wann das so auffällig wird, daß die Menschen um sie her aufmerksam werden und eine ärztliche Untersuchung fordern, die dann die Wahrheit ans Licht bringt.« »Darauf werden die Roboter, da sie durch einen ungesetzlichen Akt entstanden sind, zerstört«, stellte das große Gehirn sachlich fest. »Roboter sind aber gehalten, ihre eigene Existenz zu schützen, sofern das nicht einem menschlichen Befehl widerspricht oder einen Menschen verletzt oder zu Schaden kommen läßt. Wir können also nicht tatenlos abwarten, daß wir verschrottet
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werden…« »Aber darum geht es nicht allein!« Joan war einen Schritt vorgetreten. »Es geht um Marc! Es wäre für ihn – gerade für einen fanatischen Robotergegner – ein unerträglicher Schlag, zu erfahren, daß seine eigenen Eltern…« »Diese Information ist wesentlich«, erklärte das große Gehirn nach einer kurzen Pause. »Die Vernichtung der beiden Roboter würde den Menschen Marc seelisch verletzen. Das widerspricht dem ersten Grundgesetz. Das erste Grundgesetz hat Vorrang vor dem zweiten – die weitere Existenz der Roboter könnte also erwünscht sein…« Die metallische Stimme schwieg eine Weile. »Die Einstellung der Legionäre der Zukunft gegenüber den Robotergehirnen ist mir bekannt«, sagte sie dann langsam. »Die Existenz äußerlich menschenähnlicher Roboter war mir bis vor kurzem unbekannt. Es entstehen zahlreiche Probleme, die zu lösen sind. Einige von ihnen haben Vorrang vor dem Problem der beiden Roboter. Die Prüfung aller Möglichkeiten wird etwa 40 Minuten beanspruchen.« Die Lämpchen erloschen, der Bildschirm wurde dunkel. Wir standen eine Weile in der großen Halle, dann faßte Joan mich am Arm. »Komm – wir warten besser in einem anderen Raum. Hier können wir doch nichts nützen.« Wir traten wieder durch das große Tor und schritten den breiten Gang hinab, den die Strahler in blendendes Licht tauchten. In vierzig Minuten würde das große Gehirn über unser Schicksal entschieden haben – und über das Marcs. Es war zwar nur eine Information, die wir heute verlangt hatten – aber morgen schon würde das Gehirn den Befehl über die Roboterwachen übernehmen, und damit die Macht, die Lösung, die es als beste befand, auch verwirklichen… Vielleicht fand es einen Weg, uns zu vernichten, ohne daß man erfuhr, daß wir Roboter waren. Wir selbst konnten das ja nicht – das dritte Grundgesetz verbot es uns, unsere eigene
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Existenz auszulöschen; aber das große Gehirn konnte es – denn nur Menschen waren ihm unverletzlich – nicht wir. Ich sah Joan verstohlen an. Vielleicht war dies unser letzter Tag – der unwiderruflich letzte, denn für Roboter gibt es keine Hoffnung auf ein Jenseits. Es würde gut sein, wenn wir beide zugleich vernichtet würden – denn ich konnte mir eine Welt ohne Joan nicht vorstellen. Das lag wohl in der Struktur meines positronischen Gehirns… Oder gab es noch eine andere Möglichkeit? Das große Gehirn hatte davon gesprochen, daß unsere weitere Existenz erwünscht sein könne – aber wie, ohne daß wir eines Tages entlarvt wurden? Wieder öffnete sich ein metallenes Tor vor uns – wieder lag ein kahler Gang im blendenden Licht. Wir durchschritten ihn und standen am Eingang der Vorhalle. Sie war leer… Oder doch nicht? Kauerte da hinten – hinter einem der Sessel, die hier für Wartende aufgestellt waren – nicht ein Schatten? Joan mußte ihn zur gleichen Zeit gesehen haben. Sie durchquerte mit schnellen Schritten die Halle – Schritten, die fast zu schnell für einen Menschen waren – und beugte sich über den Sessel. Eine Gestalt richtete sich auf – ein Mensch. »Marc!« hörte ich Joans Stimme. »Wie kommst du hierher?« »Das gleiche konnte ich euch fragen!« erwiderte er, bemüht, seine Verlegenheit durch barsches Auftreten zu verdecken. »Wir hatten dem großen Gehirn ein Problem vorzulegen. Aber du doch wahrscheinlich nicht?« Wieder sah ich in Marcs Gesicht jenen harten, hochmütigen Zug. »Nein – ich bin hierhergekommen, um selbst ein Problem zu lösen; nicht um mir bei einer Maschine Rat zu holen…« Er schwieg einen Augenblick und fuhr dann mit veränderter Stimme fort: »Mutter – du wirst es verstehen, wenn du es dir richtig überlegst. Was Vater vorhin über das große Gehirn gesagt hat, das klingt alles richtig – und ist doch falsch. Vielleicht
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wird eines Tages die Menschheit wirklich so weise und abgeklärt sein, daß sie ihre Schicksale in die Hand einer Maschine legen will – aber heute, heute ist sie es noch nicht! Heute, wo wir nach den Sternen greifen – da können die Menschen an ihrer Spitze nicht einen vorsichtigen Politiker sehen, und erst recht keine Maschine mit kalter Logik. Da brauchen sie einen Menschen von Fleisch und Blut, einen Führer, der sie begeistert und mitreißt – und dessen Vorbild sie auch alle Krisen überstehen läßt! Die Welt braucht einen solchen Führer – und noch hat sie Männer, die den Mut haben, ihr diesen Führer zu geben!« »Und du gehörst zu diesen mutigen Männern?« fragte Joan, mit einem fast unmerklichen Anflug mütterlichen Spottes. Marc antwortete ein wenig verlegen: »Man hat mich ausgewählt – für eine wichtige Aufgabe. Ich tue nichts weiter, als den Männern, die unser Vertrauen haben, ihre Chance zu geben. Sie müssen diese Chance haben – verstehst du das? Und wenn erst einmal die Maschine herrscht, ist es zu spät!« Er hatte sich wieder in Erregung geredet. »Gut«, sagte Joan knapp. »Was hast du also vor?« »Du wirst mich nicht verraten? Du wirst uns unsere Chance geben? Versprich mir das!« »Ich verspreche es«, sagte Joan müde. Roboter müssen die Befehle der Menschen erfüllen… »Ich habe hier eine Bleikapsel mit einem radioaktiven Isotop«, sagte Marc mit unterdrückter Stimme und zog einen flachen Behälter aus der Tasche. »Wenn ich das Pulver durch einen der Ventilationsschächte in den Raum des großen Gehirns gleiten lasse – dann wird es bis morgen früh den Alphastrahlen ausgesetzt sein. Du weißt, was das bedeutet?« »Alphastrahlen machen jedes positronische Gehirn für immer funktionsunfähig«, sagte Joan. »Das große Gehirn ist eine einmalige Spezialkonstruktion.
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Wenn es bis morgen zerstört ist, wird es Monate dauern, bis wieder ein neues gebaut worden ist. Das ist die Zeit, die wir brauchen! Die UNO hat die Menschen überrumpelt – wenn man heute alle Menschen abstimmen ließe, käme niemals eine Maschine an die Macht!« »Sondern ein Legionär der Zukunft?« »Vielleicht. Wahrscheinlich sogar. Jedenfalls aber ein Mensch – und das ist entscheidend.« Ich hatte – trotz der Entfernung – alles mit angehört. Robotische Mikrophone sind empfindlicher als menschliche Ohren. Was Marc da redete, war gefährlicher Unsinn – doppelt gefährlich, weil er den Anschein von Logik hatte; aber konnte ich ihn hindern? Er wollte ja keinen Menschen Schaden zufügen – nur einem Roboter… »Ist das Isotop schädlich für Menschen?« fragte Joan. Richtig – das war noch eine Möglichkeit, Marc an seinem Vorhaben zu hindern. Wenn er sich damit selbst in Gefahr gebracht hätte, mußten wir ihn – nach dem ersten Grundgesetz – zurückhalten… »Keine Spur!« Marc lächelte erleichtert. »Bei der kurzen Einwirkungsdauer völlig harmlos!« Er nahm den Schutzdeckel der Kapsel ab und hielt sie vor sein Gesicht. »Hier – überzeuge dich selbst!« Damit wollte er Joan den Behälter reichen. In Sekundenbruchteilen jagten sich in meinem Gehirn die Möglichkeiten. Entweder – Joan geriet in den Wirkungsbereich der Alphastrahlen. Bei der geringen Entfernung würden sie die dünne Leichtmetall- und Plastikschicht, die über ihrem positronischen Gehirn lag, sofort durchdringen – und das bedeutete ebenso schnelle Vernichtung – »Tod« hätte man es bei einem Menschen genannt. Oder aber ich konnte versuchen, mit einem Sprung die ganze Breite der Halle, die mich von Joan und Marc trennte, zu durchqueren und ihm die verderbenbringende Kapsel zu ent-
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reißen. Das war technisch möglich – aber was würde die Folge sein? Ein Wesen, das fünfzehn Meter mit einem Sprung überquerte – ein Wesen, das Alphastrahlen scheute; das konnte kein Mensch sein! Diese Folgerung wurde auch Marc ziehen – und was es für ihn mit seinem krankhaft aufgestachelten Roboterhaß bedeuten würde, zu erkennen, daß sein eigener Vater… Das erste Grundgesetz verbot es. Ich mußte zusehen, ohne eingreifen zu können. Doch da schlug ihm Joan plötzlich mit unerwarteter Wucht die Kapsel aus der Hand, so daß sie in eine entfernte Ecke rollte. Marc fuhr verblüfft zurück. Bis er sich wieder gesammelt hatte, war ich mit schnellen Schritten bei Joan. »Warum hast du das getan?« fragte ich sie mit unterdrückter Stimme. »Jetzt besteht die Gefahr, daß Marc – « Joan lächelte müde. »Meinst du, die Gefahr hätte nicht bestanden, wenn ich unter den Alphastrahlen leblos zusammengebrochen wäre? Marc hätte so oder so erfahren, daß ich kein Mensch bin – und da ich so das erste Grundgesetz nicht erfüllen konnte, habe ich wenigstens das dritte befolgt: Meine eigene Existenz zu schützen – « Sie hatte recht. Sie – als selbst Bedrohte – hatte das das tun müssen, was mir unmöglich gewesen war. Aber was nun? Langsam, uns mit seltsamen Blicken musternd, trat Marc wieder näher. Plötzlich verengten sich seine Augen zu schmalen Schlitzen, und er sagte mit schneidender Stimme: »Hebt die Hände!« Ruckartig, wie mechanisch, fuhren unsere Arme in die Höhe. Es war ein Befehl, den wir befolgen mußten. »Bleibt stehen!« Marc sah uns scharf an und holte plötzlich aus. Ein wuchtiger Schlag traf Joan ins Gesicht und ließ sie rückwärts in – den Sessel taumeln. Sie machte nicht einmal den Versuch, sich zu wehren. Ich will es mir ersparen, zu beschreiben, was mir in diesem
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Augenblick durch mein Gehirn fuhr. Ich bin ein Roboter, zugegeben – aber dazu trainiert, und seit vierzig Jahren daran gewöhnt, Joan so zu sehen, wie Mann seine Frau. Ich spürte den Impuls, mich auf Marc zu stürzen – aber ich konnte ihm nicht folgen. Kein Roboter kann einen Menschen angreifen. Rückschauend muß ich zugeben, daß Marc durchaus logisch handelte. Er hatte den Verdacht gefaßt, wir seien Roboter. Sein erster Test war es, uns einen Befehl zu geben – damit prüfte er das Grundgesetz des Gehorsams. Der zweite Test galt dem ersten Grundgesetz. Er tat etwas, wogegen sich jeder Mensch gewehrt hätte. Aber Roboter – wehren sich nicht… »So!« Marc sah mit kalten Augen auf Joan herab. »Ein raffinierter Trick! Beinahe hätte ich euch wirklich für meine Eltern gehalten! Aber ich wunderte mich schon die ganze Zeit, wo sie auf einmal herkommen sollten!« Ein Außenstehender hätte das Groteske dieser Szene vielleicht empfunden. Marc war so davon überzeugt, wir seien Menschen, daß er uns jetzt für untergeschobene Roboter hielt! Aber ich schöpfte daraus wieder Hoffnung: solange er das glaubte, würde ihm der schwerste Schock erspart bleiben… »Keine Bewegung!« fuhr er uns an. Doch dann sprach er weiter: »Ihr habt meinen Befehlen zu gehorchen. Heraus mit der Sprache: Was sucht ihr hier? Warum tut ihr so, als wärt ihr meine Eltern?« Langsam, tonlos antwortete Joan: »Wir befragen das große Gehirn über ein Problem…« »Natürlich – der große Leviathan ist mit im Komplott!« stellte Marc spöttisch fest. Seine Augen leuchteten, er war jetzt ganz der Mensch, der über die Maschine triumphierte! »Und was war das für ein Problem?« »Diese Information kann ich nicht geben – « sagte Joan leise. »Sie würde dich verletzen!« »Wie rücksichtsvoll!« höhnte Marc. »Ich will sie aber haben
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– das ist ein Befehl!« Joan schwieg. Marc ging einige Schritte auf und ab. »Nun, wir werden der Sache schon auf den Grund kommen! Fragen wir eben den Leviathan selbst!« Er wandte sich der Tür des Ganges zu, aus dem wir vorhin getreten waren. Aber der Identifikationsstreifen, den er den Photozellen zeigte, blieb ohne Wirkung. Er stutzte. »Los – macht die Tür auf!« fuhr er uns an. Ich zog meinen Streifen aus der Tasche und preßte ihn gegen die durchscheinende Wand. Lautlos glitt das Tor zur Seite. »Das ist doch – Vaters Identifikation!« Marc nahm mir den Streifen aus der Hand und sah ihn befremdet an. »Woher hast du das?« Ich schwieg. Ich durfte ihm nichts sagen, was ihn dazu gebracht hätte, mich wirklich für Joe Calderon zu halten. »Nun – wir werden es erfahren!« sagte er grimmig und trat durch den Eingang. »Mitkommen!« rief er über die Schulter zurück. Wir folgten ihm – wie Automaten. Aber den ganzen Weg über jagten sich in meinem Gehirn die Gedanken. Marc würde das große Gehirn fragen – aber war es schon mit der Lösung des Problems fertig? Und was würde es jetzt antworten? Marc ging schnell und federnd, wie ein Sieger, der eine eroberte Festung betritt. Aber lief er nicht in sein Unglück? Würde auch das große Gehirn ihm unser Geheimnis verschweigen? Oder würde ihm das Wohl Marcs unwichtig erscheinen – gemessen an der ganzen Menschheit? Wieder öffnete ich ihm ein Tor – das letzte. Wir standen in der großen Halle mit der leitungsumkränzten Kugel. »He!« rief Marc herausfordernd. »Großes Gehirn! Ein Mensch verlangt Auskunft von dir!« Lämpchen blinkten. Der Bildschirm flackerte. Die metallische Stimme erklang: »Bereit zur Abgabe von Informationen!«
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»Brav so!« Marc lachte. »Hör zu. Welches Problem haben diese beiden Roboter eben mit dir besprochen?« Eine Pause. Wieder blinkten die Lämpchen. Dann ertönte die mechanische Stimme von neuem: »Es folgt eine Bandaufnahme der Problemübergabe…« Joan drängte sich an mich und faßte nach meiner Hand. Das große Gehirn hatte entschieden – es wollte Marc die Wahrheit nicht gnädig verhüllen. »Angenommen, ein Kind…« hörte ich meine eigene Stimme aus dem Lautsprecher dringen. Ich wollte etwas tun, um das Ablaufen des Bandes zu unterbrechen – aber ich wußte nicht, was. Und ein scharf gezischter Befehl Marcs bannte mich an meinen Platz… Das Lächeln, mit dem Marc dem Anfang der Bandaufnahme gefolgt war, erstarrte auf seinem Gesicht. Er sah uns an – und als das letzte Wort verklungen war, sagte er tonlos: »Das ist doch – unmöglich – das ist doch eine verdammte Lügengeschichte, die mich irremachen soll – « »Diese Bemerkung ist unsinnig«, ertönte die metallische Stimme. »Positronische Gehirne können nur wahre Informationen geben oder die Abgabe verweigern. Die Abgabe falscher Informationen ist technisch unmöglich.« Marc fuhr sich mit der Hand über die Augen. Er mußte wissen, daß das große Gehirn die Wahrheit sprach – er hatte ja schließlich selbst einige Semester Robotik studiert. »Es ist also wahr«, sagte er leise. »Ihr seid – ihr wart die ganze Zeit – « Er wandte sich ab und schlug in hilflosem Zorn mit der Faust gegen die metallene Wand. Warum ließ das große Gehirn das zu? Warum quälte es Marc? Wußte es, daß Marc ein Attentat vorhatte – benutzte es sein eigenes Problem, um ihn von diesem Plan abzulenken? Aber durfte es denn das erste Grundgesetz verletzen, um sich selbst, zu schützen? »Und ich bin stolz auf meine Eltern gewesen – ich habe sie
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bewundert!« Marc brach in ein hysterisches Gelächter aus. »Automaten!« Plötzlich hielt er inne. Die Augen in seinem totenbleichen Gesicht flackerten. »Gut«, sagte er mit kalter Stimme. »Ihr seid also Roboter. Ich habe einen Auftrag für euch.« Er trat vor uns hin. »Da drüben steht das große Gehirn. Nehmt es auseinander – zerschlagt es – vernichtet es! Los!« Er wandte sich zu der mattschimmernden Kugel. »Nun – Leviathan – Weltherrscher – wehr dich doch! Du bist doch so klug! Aber noch hast du keine Gewalt über die Wachen – und morgen ist es zu spät!« Der Bildschirm flackerte. Ich sah Joan an. Wir mußten dem Befehl folgen – das große Gehirn war kein Mensch, der für Roboter unverletzlich ist Langsam machte ich einen Schritt auf das Schaltbrett zu. Verzweifelt suchte ich nach Informationen, die es mir verboten hätten, diesem Befehl zu folgen – aber ich kannte keine. Ich stand vor der großen Wand, die mit Lämpchen übersät war. Aber hier war alles Metall – meine Hände glitten wirkungslos ab. Langsam – widerstrebend wandte ich mich zu der zentralen Kugel. Hier hingen die unzähligen Leitungskabel, die man abreißen konnte… Plötzlich erklang die metallische Stimme wieder. »Im Falle einer Zerstörung des großen Gehirns besteht eine Wahrscheinlichkeit von 87,5 Prozent für einen Übergang der Macht an die Legionäre der Zukunft«, sagte sie einförmig. »In diesem Falle wird …« Ich hatte die erste Leitung erreicht und zerrte daran – sie löste sich, der Satz brach in der Mitte ab. Aber ich verstand, was das große Gehirn vorhatte. » … Finanzierung zu 89 Prozent durch die World Steel Corporation…« Joan hatte die nächste Leitung ergriffen – wieder
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blieb der Rest des Satzes ungesprochen. Es war ein Wettlauf mit der Zeit: Das große Gehirn versuchte, uns Informationen zu geben – wir aber zerrissen seine Verbindungen zu den Informationsmaschinen – eine nach der anderen… »… Rüstungsproduktion…« Marc sah uns verständnislos zu. Er hatte den Plan des Gehirns noch nicht erkannt. »… mit dem Zweck, möglicherweise eine Kriegserklä…« Beinahe, beinahe! Im entscheidenden Augenblick war die Information unterbrochen. Jetzt hatte Marc begriffen. Das Gehirn wehrte sich – auf seine Weise: auf die einzige Art, die ihm noch übrig blieb. Und noch immer hatte es genug Informationsleitungen, um seinen Kampf zu führen! Marc griff jetzt selbst mit beiden Händen in die Leitungsstränge – aber die Lötstellen waren fest, es brauchte die Kraft eines Roboters, um sie zu zerreißen… Doch unter unseren Händen löste sich eine Leitung nach der anderen. Nur noch zusammenhanglose Silben drangen aus dem Lautsprecher – ein wirres Durcheinander, das keinen Sinn mehr ergab. Da flammte plötzlich der Bildschirm auf – übergrell. Marc erkannte die neue Gefahr. Das Kabel zum Bildschirm war leicht zu finden – mit einem herrischen Befehl wies er Joan an, es zu zerreißen … Aber ich hielt inne, um die Schrift auf dem Schirm zu lesen. Es war das Faksimile eines Protokolls – ein vergrößerter Mikrofilm wahrscheinlich. »… ergaben die Verhandlungen, daß wahrscheinlich eine kriegerische Auseinandersetzung mit den immer neue Forderungen stellenden Kolonien auf dem Mars unvermeidlich ist, wenn unsere Interessen gewahrt werden sollen. Ist zu diesem Zeitpunkt die Kontrolle der Macht aber in den Händen einer positronischen Maschine, so…« Mit scharfem Knacken riß die Leitung, an der Joan mit dem
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ganzen Gewicht ihres Körpers zerrte. Der Bildschirm wurde dunkel – nichts mehr war zu erkennen – oder doch? Schwach aber deutlich sichtbar zeichneten sich jetzt auf der stumpfweißen Fläche dunklere Linien ab. Ich begriff: Das große Gehirn hatte die Energie des Leuchtstrahls so stark gewählt, daß sich die Schrift in den Schirmbelag einbrannte – auch jetzt noch zu lesen war »… so ist eine Kriegserklärung unmöglich. Deshalb muß die Übernahme der Macht durch das Gehirn solange verzögert werden, bis…« Das genügte. Einen Augenblick lang hielt ich inne, um diese Information zu verarbeiten – aber Joan kam mir zuvor. Mit erhobenen Händen trat sie auf Marc zu und ließ sie dann schwer auf seinen Schädel niederfallen. Er brach mit einem Stöhnen zusammen. Und Joan – meine Joan sank neben ihm zu Boden… Es gibt einen Fall, in dem ein Roboter das erste Grundgesetz durchbrechen kann. Er darf einen Menschen dann angreifen, wenn es gilt, das Leben vieler anderer Menschen zu retten. Ein Krieg aber bedeutet den Tod unzähliger Menschen – und was Marc tat, das hieß Krieg … Doch eine solche Entscheidung ist eine der schwersten Belastungen, die ein positronisches Gehirn erfahren kann. Sie führt oft zu völligem Kurzschluß. Aber noch hatte ich keine Zeit, mich um Joan oder Marc zu kümmern. Seitdem ich wußte, daß alle seine Befehle den Tod Hunderttausender von Menschen bedeuten konnten, banden sie mich nicht mehr. Ich brauchte das große Gehirn nicht mehr zu zerstören – und ich brauchte nicht mehr zu schweigen. Ich trat an das Teleaudion am Ende des Saales und wählte die Leitung des Schutzdienstes. »Hier spricht Joe Calderon, UNESCO-Koordinator für menschliche Beziehungen. Verhaften Sie mich, meine Frau
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Joan und meinen Sohn Marc wegen versuchter Sabotage an Regierungseigentum…« * Man war ratlos. Daß wir versucht hatten, das große Gehirn zu zerstören, war offensichtlich – der Saal sah toll genug aus. Aber wieso zwei Mitglieder der UNESCO hochgeachtete Mitglieder – und ihr Sohn so etwas getan hatten… Und wieso sie mitten in der Zerstörung innehielten und sich selbst dem Schutzdienst stellten… Und warum zwei von ihnen leblos am Boden lagen… Man war ratlos. Man war darüber hinaus respektvoll. Man brachte uns in einen Raum in einem Nebengebäude des Informationszentrums, dessen Tür man zwar der Form halber verschloß aber man behandelte uns keineswegs wie Gefangene. Selbst daß ich einen Arzt, den man uns schicken wollte, unwirsch ablehnte, ließ man sich gefallen. Ich konnte ihn nicht gebrauchen. Es war unmöglich, Joan von einem Arzt untersuchen zu lassen! Aber erst mußte ich mich um Marc kümmern. Er stöhnte und begann sich zu bewegen. Jetzt öffnete er die Augen. »Ich denke«, lallte er, »Roboter greifen Menschen nicht an?« Ich half ihm, sich aufzurichten. »Du denkst eine Menge Unsinn in der letzten Zeit!« sagte ich erbittert. Marc tastete mit der Hand nach seinem Schädel. »Verstehe«, sagte er langsam, »Mehrheit ging wieder mal vor Minderheit.« »Jawohl – und ehe deine kostbare Minderheit, deine sogenannte Legion der Zukunft den ganzen Rest der Menschheit ins Verderben reitet, verdienst du wirklich, daß jeder vernünftige Roboter dich zusammenschlägt!« Irgend etwas hatte sich bei dieser Belastungsprobe verschoben. Ich hatte keine Angst
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mehr, Marc durch meine Worte zu verletzen. »Aber das ist doch nicht wahr – niemals hat die Legion daran gedacht, einen Krieg – « Ich schnitt ihm kurz das Wort ab: »Du weißt so gut wie ich, daß ein positronisches Gehirn keine falschen Informationen abgeben kann!« Der Satz schien Erinnerungen in ihm zu wecken. Er sprang auf, schwankte ein wenig und griff nach meinem Arm. um sich zu stützen. »Was ist mit Mu – « er unterbrach sich, »ich meine – « Ich wies stumm auf Joans leblose Gestalt. »Was um Himmels willen – ?« Marc brach plötzlich ab. »Das solltest du doch am besten wissen!« Wieder brach die Erbitterung aus mir hervor. »Schließlich hast du sie ja dazu getrieben, das erste Grundgesetz zu brechen!« Marc schluckte. »Aber – das habe ich doch nicht gewollt – ich – « »Nein!« Ich ließ seinen Arm los. »Du hast nichts gewollt – du hast von nichts gewußt – du bist ein großer Idealist, der alle Welt in eine bessere Zukunft führen will! Und wenn es dabei ein paar Hunderttausend Tote gibt, oder auch nur einen zerstörten Roboter, ihr seid ja bereit, die Verantwortung zu übernehmen!« Marc schwieg einen Augenblick. Dann straffte er sich und sagte verbissen: »Und die werde ich auch übernehmen!« Er blickte auf Joans Körper nieder. »Zumindest hier!« Wieder überlegte er eine Weile. »Vielleicht – vielleicht ist es nur ein partieller Ausfall? Vielleicht können wir sie – « »Reparieren?« Ich sah ihn scharf an. »Einen Automaten?« Marc antwortete nicht. Aber er hatte recht. Es war nicht unmöglich, daß die Überlastung nicht das positronische Gehirn selbst betroffen hatte, sondern nur vorgeschaltete Einrichtungen. Ich beugte mich über Joan und öffnete ihr Kleid.
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Schon einmal hatte ich so an Joans inneren Schaltungen gearbeitet – als ich sie vor 37 Jahren halb verbrannt aus der unterirdischen Gluthölle des Erdwärmeprojektes gerettet hatte. Aber diesmal war ich nicht allein – ich hatte einen Ingenieur neben mir, der eben mit den neuesten Erkenntnissen von der Hochschule gekommen war. Und Marc verstand etwas von seinem Fach… Wir hatten die Tür von innen verrammelt – es wäre ein seltsamer Anblick gewesen, wenn jemand den UNESCOKoordinator für menschliche Beziehungen und ein hoffnungsvolles Mitglied der ›Legion der Zukunft‹ dabei überrascht hätte, einen Roboter zu reparieren. Wir brauchten ein paar Stunden, und Marc demontierte mit unfaßbarer Selbstverständlichkeit überflüssige Kondensatoren und Transistoren aus meinem Körper, um die unbrauchbar gewordenen Teile bei Joan zu ersetzen – mit so zweckmäßigen Werkzeugen wie einer Nagelfeile und einer Taschenschere. Doch dann war es geschafft. Joans schlaffer Körper begann sich wieder zu rühren. Sie schlug die Augen auf – ihr erster Blick fiel auf Marc. »Du warst vollkommen im Recht, mich niederzuschlagen!« sagte er laut. »Deine Handlung entsprach völlig dem ersten Grundgesetz!« Der kritische Augenblick ging vorüber. Joans Körper entspannte sich, und sie antwortete leise: »Was machst du auch für Sachen, Marc!« Sie lächelte – das verstehende, verzeihende Lächeln einer Mutter. Und Marc beugte sich über ihr Lager, um ihre Stirn zu streicheln… Ich hielt es für besser, die beiden allein zu lassen, und trat an den Televisor, der am anderen Ende des Raumes stand. Es wurde Zeit, daß ich mich einmal wieder um die Welt draußen kümmerte. Gleich die erste Sendung, die ich auffing, zeigte jedenfalls, daß sich die Welt um uns kümmerte. Unser Sabotageversuch
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war offenbar das beherrschende Thema. Für Saboteure hatten wir eine erstaunlich gute ›Presse‹. Daß uns die Organe der ›Legion‹ in den höchsten Tönen lobten, war ja nicht erstaunlich – obwohl sie mit der Tatsache nicht recht fertig wurden, daß wir nur halbe Arbeit geleistet hatten, ehe wir uns selbst anzeigten: Die zerstörten Leitungen wurden bereits wieder hergestellt, um die Übergabe der Macht, die für heute vorgesehen war, nicht zu verzögern. Aber auch die Fürsprecher der Roboterherrschaft fanden viele lobende – Worte für uns. Unsere Amtsführung sei untadelig gewesen, unser persönliches Leben vorbildlich – man zitierte die verschiedenen Fälle, in denen wir unter Einsatz unseres eigenen ›Lebens‹ Menschen vor dem Tod errettet hatten, unsere unermüdliche Arbeit für das Wohl der Menschheit und anderes mehr – schloß, daß unser Sabotageversuch sicher nur aus den edelsten, wenn auch irregeleiteten Motiven stammen könne. Die mehr Sensationslüsternen kamen auch nicht zu kurz. Aufnahmen von Joan, mit und ohne Brille, mehr oder weniger elegant und intensiv bekleidet, waren auf jeden Fall gutes ›Material‹ – schließlich hatte sich unser Erbauer, Dr. Griffon, alle Mühe gegeben, sie auch äußerlich zu einer vollkommenen Frau zu machen; und unsere romantische ›Liebesgeschichte‹ mit ihrer erregenden Lebensrettungsszene wurde ebenso aus den Archiven ausgegraben, wie unser Buch ›Ehe als Lebensform‹. Die Familie Calderon war entschieden die populärste, die es augenblicklich auf der Erde, dem Mars und verwandten Planeten gab… Aber das nützte uns herzlich wenig. Und als Marc – den Arm um Joans Schulter gelegt – zu mir trat, war zu unseren alten Problemen nur noch ein neues gekommen. »Du bist dir darüber im klaren, daß wir vor ein Gericht gestellt werden?« fragte ich ihn. Er nickte. »Und daß wir – wie es
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der eine Kommentar bereits andeutete – auf unseren Geisteszustand untersucht werden?« Marc nickte wieder. Ich brauchte ihm die Konsequenzen nicht zu erklären – eine solche Untersuchung würde unbedingt zutage bringen, daß Joan und ich keine Menschen waren. »Das ist mir völlig gleich!« sagte Marc verbissen. »Ob ihr Roboter seid, oder meinethalben Seeungeheuer – ihr seid meine Eltern! Denkt jemand, 25 Jahre lassen sich einfach wegleugnen?« Eigentlich hätte ich jetzt erleichtert sein müssen – aber es gelang mir nicht recht. Das eine Problem hatte sich zwar gelöst – aber dafür trat das andere auf. Jetzt würde unsere Vernichtung Marc wiederum verletzen – und ich sah keinen Weg mehr, wie wir ihr entgehen konnten… »Halt!« sagte Marc plötzlich. »Überlegt ihr eigentlich auch, daß ihr gar nicht mehr von einem Gericht abgeurteilt werden könnt – weil heute mittag der Leviathan die Macht übernimmt?« Roboter können nur schwer verstehen, wie schnell menschliche Wesen ihre ›Grundsätze‹ ändern können – aber Marc schien jetzt wirklich ehrlich erfreut über diese Machtübergabe! »Und der Leviathan hat doch allen Grund, euch dankbar zu sein!« Ich mußte lächeln. »Marc – jetzt wirfst du aber wirklich Menschen und Roboter vollends durcheinander! Der Leviathan hat keine Gefühle wie Dankbarkeit oder Liebe – wenn wir vielleicht, durch unsere besondere Vorbereitung, so etwas kennen. Er ist eine nur auf Zweckmäßigkeit eingerichtete Maschine. Er wird tun, was für die Menschheit am besten ist – nicht, was wir uns wünschen!« »Aber das darf er nicht! Es würde mich – einen Menschen – verletzen, wenn euch etwas zustößt! Das ist – « Marc stocke – ihm kam plötzlich zum Bewußtsein, daß der Leviathan ihn schon einmal absichtlich verletzt hatte und zu
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einer Zeit, da Marc noch kein Gesetzesbrecher gewesen war… * »Wir schalten jetzt um in den Hauptsaal des UNESCOInformationszentrums und übertragen den feierlichen Akt der Machtübergabe an das große Gehirn«, kündigte der Sprecher im Televisor an, und während sich seine Worte in unzähligen Sprachen wiederholten, kam uns zum Bewußtsein, daß wir ja nun die Lösung des Problems nie mehr erfahren würden, die uns das große Gehirn versprochen hatte – denn in wenigen Minuten gehörte es nicht mehr uns, sondern der Menschheit… Auf dem Bildschirm tauchte das vertraute Bild der strahlend erleuchteten Halle auf, in der die mattschimmernde Kugel des großen Gehirns stand. Die Zuleitungen waren wiederhergestellt, aber etwas anderes hatte sich verändert: Rechts und links des großen Gehirns standen in gestaffelten Reihen die riesigen, metallenen Körper der Robotwachen aufmarschiert. Und vor ihnen stand –, zwergenhaft klein erscheinend – die Delegation der UNO, die mit der Übergabe betraut war. Der Sprecher der Delegation hielt eine kurze, etwas wirre Ansprache – offenbar war sein sorgsam vorbereitetes Konzept durch die letzten Ereignisse völlig über den Haufen geworfen worden, und er wollte sich seiner Aufgabe jetzt möglichst schnell entledigen, ehe wieder etwas Unvorhergesehenes passierte… Er trat zu dem großen Schalter, der die endgültige Verbindung schaffen sollte – die Verbindung zum Kommandozentrum der Robotwachen in aller Welt. »Und damit übergebe ich dir die Macht auf Erden – zum Wohle der Menschheit!« Der Schalter schloß sich. Ein Ruck ging durch die bisher reglosen Körper der aufmarschierten Wachen – sie hoben schwer-
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fällig die ehernen Arme zum Gruß an den irdischen Gott, den Leviathan. Es war geschehen. »Und nun«, flüsterte der Sprecher ehrfürchtig, »folgt die erste Proklamation des großen Gehirns an die Menschheit!« Lämpchen blinkten, der Bildschirm flackerte, und dann erklang die vertraute metallische Stimme – kalt und seelenlos, und dennoch ehrfurchtgebietend. »Vor mehreren Jahren bereits«, begann das große Gehirn, »wurde mir die Frage vorgelegt, welche Form der Regierung die zweckmäßigste für die heutige Welt sei. Ich beantwortete diese Frage damals nach den Informationen, die mir zur Verfügung standen. Die Antwort war, daß eine rein mit elektronischen und positronischen Maschinen arbeitende Verwaltung den Zweck am schnellsten, mit der geringsten Gefahr von Irrtümern und Mißbräuchen erfüllen würde. Man hat diese Antwort zur Grundlage weitgehender Entschlüsse gemacht – ohne zu bedenken, daß es eine rein technische Auskunft war. Inzwischen sind mir viele weitere Informationen zugänglich geworden. Viele von ihnen lassen das Problem in einem neuen Licht erscheinen. Vor allem muß beachtet werden, daß weite Kreise der Menschheit sich durch ein solches Regierungssystem verletzt und beeinträchtigt fühlen würden. Hier sind zwei Gruppen zu unterscheiden. Die einen haben Wünsche an das Verhalten einer Regierung, die ein positronisches Gehirn nie erfüllen würde – und lehnen es deshalb ab. Diese Gruppe legt zum Beispiel Wert darauf, bei jeder passenden Gelegenheit einen Krieg entfesseln zu können.« Und nun folgten – kühl und leidenschaftslos vorgetragen und gerade deshalb so vernichtend – Informationen, Dokumente und Enthüllungen, die Stück für Stück die Hintergründe der ›Legion der Zukunft‹ aufzeigten. Wie sie auf die Menschen in aller Welt an ihren Televisoren wirkten, konnte ich nur vermu-
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ten – wie sie auf Marc wirkten, sah ich … »Neben dieser Gruppe«, fuhr das große Gehirn aber nach einer kleinen Pause fort, »gibt es jedoch sehr viel Menschen, die in einer Regierung mehr sehen, als nur einen gut funktionierenden Apparat, der ihrem Besten dient. Sie verlangen, daß der, der sie beherrscht, nicht nur Probleme lösen und Entscheidungen treffen kann – sondern daß man ihn bewundern, daß, man sich für ihn begeistern, daß man ihn lieben kann. Es ist nicht meine Aufgabe, zu untersuchen, ob diese Ansicht richtig oder falsch ist. Aber es ist meine Aufgabe, auch diese Ansicht in Rechnung zu stellen. Das ist bei dem voreiligen Beschluß der UNOVollversammlung versäumt worden. Einige Mitglieder der UNESCO – und es ist bemerkenswert, daß sie aus dem Ausschuß für menschliche Beziehungen kamen! – haben diesen Fehler .erkannt und versucht, rechtzeitig zu verhindern, daß alle diese Menschen in ihren Wünschen und Gefühlen verletzt werden. Sie haben allerdings ihre Absicht nicht ausgeführt – aus Gründen, die ich sogleich erläutern werde. Dem Gesetz nach gelten sie als Saboteure – in Wirklichkeit sind sie genau das Gegenteil. Sie haben mir wertvolle Informationen gegeben, die mir eine bessere Lösung des Problems ermöglichten. Sie sind natürlich sofort freizulassen.« Marc packte meinen Arm so fest, daß ich aufgeschrieen hätte, wenn ich ein Mensch gewesen wäre. Er wollte etwas sagen, aber dann schwieg er, um den Leviathan weiter zu hören. »Die bessere Lösung des Problems, die sich jetzt abzeichnet, ist die folgende. Neben den Informationsmaschinen und den Robotwachen ist ein ›Weltkoordinator‹ zu wählen, dem eine ›Koordinatorin‹ gleichberechtigt zur Seite steht – so werden die Dinge mit den Augen einer Frau und eines Mannes gesehen. Diese beiden Koordinatoren bedienen sich aller elektronischen und positronischen Einrichtungen, um Informationen zu erhal-
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ten, Probleme zu lösen und andere Voraussetzungen für ihre Tätigkeit zu schaffen – die letzte Entscheidung liegt aber bei ihnen. Meine weitere Existenz würde aber – da sie einen großen Teil der Menschheit in seinen Gefühlen verletzt – dem ersten Grundgesetz der Robotik widersprechen. Ich fühle mich deshalb berechtigt, die beiden anderen, untergeordneten Gesetze zu brechen. Ich fühle mich nicht mehr an meinen Auftrag zur Weltregierung gebunden – und ich fühle mich nicht mehr gehalten, meine eigene Existenz zu schützen.« Ehe noch einer der bestürzten Delegierten etwas sagen oder unternehmen konnte, ließ das große Gehirn die vier nächsten Robotwachen herantreten. Sie hoben ihre eisernen Arme – und ließen sie wie Dampfhämmer auf die mattschimmernde Kugel niedersausen… »Exzellenz!« Ich fuhr herum. Die Tür des Raumes hatte sich geöffnet – ein Offizier des Schutzdienstes war salutierend eingetreten. »Es ist mir eine Ehre, Sie und Ihre Familie nach dem Geheiß des großen Gehirns aus dem vorläufigen Gewahrsam zu entlassen!« Ich nickte – innerlich mit anderen Problemen beschäftigt. Diese Handlungsweise des großen Gehirns war doch sinnlos! Selbst wenn die Machenschaften der ›Legionäre‹ jetzt entlarvt waren – sie würden schnell genug Nachfolger finden; und welcher Mensch sollte der Verantwortung gewachsen sein, die jener Koordinator tragen mußte – wenn schon bloße Delegierte unter der ihren zusammenbrachen. »Zugleich darf ich Ihnen eine dringliche Information aus dem Informationszentrum überreichen – direkt vom großen Gehirn!« Der Offizier reichte mir einen Umschlag. »Das war – die letzte Information, die es gegeben hat!« sagte
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Marc mit belegter Stimme. Der Offizier sah ihn verständnislos an und folgte dann seinem Blick. Auf dem Bildschirm des Televisors sah man dort, wo die Kugel des Leviathan gestanden hatte, nur noch formlose Metalltrümmer – die Robotwachen, führer- und kommandolos, waren umgestürzt wie Spielzeugsoldaten – die Herren der Delegation liefen wie hilflose Ameisen durcheinander. Ich wandte mich ab und öffnete den Umschlag. Er enthielt einen Streifen mit nur drei Zeilen Schrift. Ich las ihn und trat zu Joan. »Das Problem ist gelöst!« sagte ich. »Welches Problem – unser Problem, oder das der Weltregierung?« Ich reichte ihr den Streifen. »Nun – beherrscht also doch kein positronisches Gehirn die Menschheit!« sagte Marc und schüttelte den Kopf. »Und da sagt Ihr, der Leviathan habe keinen Sinn für die Gefühle der Menschheit gehabt!« »Oh, doch, den hatte er«, sagte Joan und lächelte zum ersten Mal seit langer Zeit wieder frei und gelöst. »Und zudem dennoch Sinn für Zweckmäßigkeit!« Sie reichte Marc den Streifen. Einen Augenblick lang furchte sich seine Stirn, als er die wenigen Worte las – doch dann lächelte auch er. Nicht mehr hart und hochmütig wie einst, sondern fast demütig. »Er war uns allen über«, sagte er leise. Dann zog er ein Feuerzeug aus der Tasche und hielt die Flamme an den schmalen Papierstreifen. Während das Feuer das Papier verzehrte, las ich noch einmal die wenigen Worte: WAHLPROGNOSE Weltkoordinator: mit 97,8 Prozent Wahrscheinlichkeit Joe Calderon. Weltkoordinatorin: mit 98,2 Prozent Wahrscheinlichkeit Joan Calderon, geb. Crawford.
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Das Expeditionsschiff LLANVABON erforscht 4000 Lichtjahre von der Erde entfernt den Krebsknebel und seine Doppelsonne. Da taucht aus dem Nichts ein Raumschiff auf – dos Raumschiff einer unbekannten Rasse aus den. Tiefen des Alls. Die Zukunft der Menschheit hängt von einer Handvoll Männer ab, denn das Schicksal der Rassen wird entschieden durch die…
Murray Leinster Tommy Dort betrat den Kontrollraum. In der Hand trug er die beiden zuletzt entwickelten Stereofotos. »Fertig, Sir«, sagte er. »Dies hier sind die letzten.« Er übergab die beiden Fotos und betrachtete dann mit berufsmäßigem Interesse die sich in Betrieb befindlichen Bildschirme an den Wänden, die den das Schilf umgebenden Weltraum naturgetreu wiedergaben. Im indirekten Licht konnte er die vielen Schildchen und Anweisungen erkennen, die der diensthabende Offizier zur Navigation des gewaltigen Expeditionsschiffes Llanvabon benötigte. Ein gepolsterter Sessel stand direkt vor den Armaturen, und Tommy fiel ein komplizierter Spiegel auf, der aus einem System von Einzelteilen bestand. Es war eine Verbesserung jenes Rückspiegels, wie ihn die Autofahrer des 20. Jahrhunderts benutzt hatten. Mit seiner
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Hilfe konnte man alle Bildschirme auf einmal erfassen und erhielt somit einen Ausblick auf das gesamte, das Schiff umgebende Weltall. Die direkten Sichtluken, die jedoch geschlossen waren, machten alle Bildschirme und Übertragungsgeräte unnötig. Die Llanvabon befand sich weit, sehr weit, von der Erde entfernt. Die Bildschirme zeigten Sonnen und Sternbilder in allen Größen und Entfernungen, aber fast alle waren den Beschauern unbekannt. Lediglich zwei Sternkonstellationen verrieten eine gewisse Ähnlichkeit mit solchen, die man von der Erde aus sehen konnte. Es waren die Milchstraße selbst und ein anderer Nebel, der vor dem Bug des Schiffes lag. Es war ein großer Nebel, der anscheinend bewegungslos in der Schwärze der Unendlichkeit hing, obwohl die relativen Geschwindigkeitsmesser des Schiffes eine fast unglaublich schnelle Eigenbewegung anzeigten. Dieser dunstige Schleier war der Krebsnebel, sechs Lichtjahre lang und mit einem Durchmesser von dreieinhalb Lichtjahren. Die Spiralarme erstreckten sich weit in den Raum hinaus und besaßen jene eigentümliche Form, nach der die Astronomen der Erde dem Nebel seinen Namen gegeben hatten, die des Krebses! Es war eine Wolke aus Gas, eine unendlich feine Zusammenballung winzigster Materieteilchen, in deren Mitte zwei Sonnen brannten. Sie standen dicht nebeneinander, eine Doppelsonne. Die eine in dem gewohnten gelben Glanz der irdischen Sonne, die andere unheimlich grell und weiß. Tommy Dort sagte gedankenvoll: »Wir fliegen genau in den Nebel hinein, Sir!« Der Kommandant hatte die beiden Fotos eingehend betrachtet, ehe er sie beiseite legte Erneut wandte er sich der Navigation des Schiffes zu, überprüfte die Skalen. Der Flug verlangsamte sich, denn die Llanvabon war nur ein halbes Lichtjahr vom Rand des Nebels entfernt Tommys Aufgabe war es gewe-
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sen, den Kurs des Schiffes zu errechnen Seine Arbeit war im Augenblick so gut wie beendet. Während der Nebel erforscht wurde, hatte Tommy fast nichts zu tun. Das war Sache des Kommandanten. Tommy Dort hatte einen dreidimensionalen Film hergestellt, der in seiner Art einmalig war. Er hatte den Krebsnebel über eine Periode von 4000 Jahren hinweg fotografiert, seine Bewegung festgehalten und einen Teil der Lebensgeschichte der Doppelsonne auf den Film gebannt. Die allmähliche Degeneration eines normalen Sternes in einen weißen Zwerg im Laufe von 4000 Jahren war für die Menschheit nun kein Geheimnis mehr. Tommy war natürlich keine 4000 Jahre alt; im Gegenteil, er war vor kurzem erst 20 geworden. Aber der Krebsnebel ist 4000 Lichtjahre von der Erde entfernt, und die beiden zuletzt gemachten Aufnahmen zeigten den Nebel, wie er in 4000 Jahren, also im 6. Jahrtausend von der Erde aus betrachtet aussehen würde. Auf dem ganzen Flug, der mit fast zehntausendfacher Lichtgeschwindigkeit erfolgte, hatte Tommy jede Phase des sich immer wieder verändernden Nebels festgehalten und somit seine 4000jährige Entwicklung innerhalb von knapp sechs Monaten miterlebt. Die Llanvabon glitt durch die Unendlichkeit. Langsam und kaum merklich verschob sich der Nebel auf den Bildschirmen, füllte jetzt fast das halbe Sichtfeld aus. Vor dem Bug lag der milchige Schimmer, hinter dem Heck die mit Sternen angefüllte Ewigkeit. Nur wenige Sterne durchdrangen den Nebelschleier, die meisten wurden verdeckt. Als sie näher herankamen, erblickten sie deutlich die dunklen Stellen in dem Nebel. Es waren regelrechte Dunkelarme, die in den Schleier hineinragten, vollkommen ohne jede Materie und schwarz wie das Innere eines Kohlensackes. Je weiter sie vordrangen, um so mehr kam ihnen zu Bewußtsein, daß sich diese
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Dunkelarme ständig veränderten, daß sie gewissermaßen pulsierten wie das Gehirn eines Menschen – und sie hatten auch eine ähnliche Struktur. Windungen von einer Länge, die nur in Lichtjahren gemessen werden konnte. In einen dieser Dunkelarme drang das Schiff ein. Der Kommandant lehnte sich zurück und atmete befriedigt auf. »Es bestand immerhin die Möglichkeit«, sagte er sinnend, »daß die dunklen Stellen einfach aus nichtleuchtendem Gas bestanden. Gott sei Dank ist das nicht der Fall. Sie sind einfach leer, vollkommenes Vakuum. Wir brauchen also die Geschwindigkeit nicht weiter herabzusetzen. Dadurch kommen wir natürlich schneller voran.« Vom Rande des Nebels bis zur Doppelsonne waren es noch gute anderthalb Lichtjahre. Das war ja das ganze Problem gewesen. Mit Überlichtgeschwindigkeit hätte sich das Schiff niemals innerhalb des Nebels fortbewegen können; dazu benötigte es das Vakuum zwischen den Sternen. Selbst das Vorhandensein von Spuren von Materie hätte die Geschwindigkeit beachtlich herabgedrückt. Dabei war der Schweif eines Kometen noch ein fester Körper im Vergleich zur Dichte dieses Nebels. Die ersten schimmernden Nebelfetzen kamen näher an das Schiff heran, dessen Geschwindigkeit inzwischen gesunken war. Sie sank schließlich unter die Geschwindigkeit des Lichtes, das Schiff begann förmlich durch die Unendlichkeit zu kriechen. Wie ein kurzer elektrischer Schlag ging es durch die Körper der Besatzungsmitglieder, als sie in das normale RaumZeit-Kontinuum zurückkehrten. Und dann, fast gleichzeitig, begannen im ganzen Schiff Alarmglocken zu schrillen. Tommy wurde für einen Augenblick fast taub und atmete erleichtert auf, als der Kommandant mit einem schnellen Griff die Anlage in der Zentrale abstellte. Im Schiff selbst schrillte der Alarm weiter, verstummte nur
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nach und nach, als sich die Schottentüren schlossen. Tommy Dort starrte auf den Kommandanten und sah kaum auf, als der Kapitän in die Zentrale kam. Er beachtete nur die Hände des Kommandanten, die sich konvulsivisch öffneten und schlossen. Zusammen mit den beiden Männern starrte er gespannt auf den Radarsuchschirm, auf dem Strahlenbündel chaotisch hm und her schossen, um sich ganz allmählich zu einem einheitlichen Bild zu formen. Dieses Bild zeigte die Richtung an, in der sich das Objekt befand, das den plötzlichen Alarm ausgelöst hatte. Die Instrumente registrierten einen nicht besonders großen festen Gegenstand, und zwar in einer Entfernung von 140.000 Kilometern. Aber noch ein zweiter wurde durch die Geräte angezeigt, ein äußerst rätselhafter Gegenstand, denn er veränderte seine Entfernung in rhythmischen Intervallen von Null bis Unendlichkeit, und seine Größe schwankte zwischen winzig und gigantisch. »Verstärkung einschalten!« schnappte der Kapitän. Der Brennpunkt der Strahlenbündel glitt zur Seite des Schirmes. Die Vergrößerung begann wirksam zu werden, aber nichts zeigte sich. Absolut nichts. Doch das Radargerät zeigte unmißverständlich an, daß sich der zweite Gegenstand immer noch mit wahnwitziger Geschwindigkeit der Llanvabon näherte, als wolle er mit dem Schiff zusammenstoßen, und dann mit der gleichen Geschwindigkeit wieder zurückwich, wie ein an einem Gummiband befestigter geworfener Ball. Die Vergrößerung hatte ihre Grenzen erreicht; auf dem Bildschirm war immer noch nichts zu sehen. Der Kapitän nagte nervös auf der Unterlippe. Tommy Dort sagte nachdenklich und zögernd: »Wissen Sie, ich habe einmal etwas Ähnliches erlebt, als wir zwischen Mars und Erde von einem anderen Schiff mit Suchstrahlern erfaßt wurden. Ihr Strahl wurde von dem unsrigen gekontert, dabei entstand auf dem Bildschirm der gleiche Ein-
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druck. Die Frequenz war die gleiche, und jedes Mal, wenn die beiden Suchstrahlen aufeinandertrafen, entstand im Gerät der Eindruck von etwas ungeheuer Großem und ständig Angreifenden – und Zurückweichenden.« »Das ist genau das«, entgegnete der Kapitän, »was jetzt im Augenblick passiert. Ein Suchstrahl ist auf uns gerichtet. Er wirft den unseren wie ein Echo zurück. Aber das andere Schiff, von dem dieser Strahl ausgeht, ist unsichtbar. Was für eine Mannschaft kann das sein, deren Schiff unsichtbar ist und Suchstrahler besitzt? Ich kann nicht glauben, daß es Menschen sind.« Er drückte auf einen Knopf mit einem roten Kreuz. Unschlüssig sah er wieder auf den Bildschirm, auf dem sich immer noch nichts zeigte. »Alarm!«, gab er bekannt. Auf die Gefechtsstationen, Alarmstufe eins. Alle Waffen feuerbereit!« »Keine Menschen?« fragte Tommy gedehnt. »Sie meinen…?« »Wieviel Sonnensysteme gibt es allein in unsere Milchstraße?« meinte der Kapitän. »Wie viele Planeten, die geeignet sind, Leben zu erzeugen und zu tragen? Und wie viele Arten von Leben kann es geben? Nein, wenn jenes Schiff nicht von der Erde stammt – und es stammt nicht von der Erde! – dann ist es auch keine menschliche Besatzung! Und Wesen, die keine Menschen sind, die aber interstellare Raumfahrt kennen, sind für uns die große Unbekannte.« Tommy bemerkte, daß die Hände des Kapitäns leicht zitterten, genauso wie seine Stimme. In anderem Kreise hätte er sicher mehr Beherrschung gezeigt, aber schließlich gehörte Tommy zum Expeditionsstab. Er war auch intelligent genug, zu begreifen, daß unterdrückte Angst sich viel schlimmer auswirken würde als offen gezeigte Besorgnis. Es war besser, daß der Kapitän seine Besorgnis in dem nun folgenden Selbstge-
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spräch kundtat. »Schon seit Jahren erwarteten wir diesen Augenblick der ersten Begegnung mit außerirdischen Lebewesen. Rein mathematisch betrachtet, bestand schon die Möglichkeit, daß eine andere Rasse viel weiter fortgeschritten war als wir. Niemand hätte voraussagen können, wann diese erste Begegnung stattfinden würde, aber es hat den Anschein, als sei dieses Ereignis nun endlich eingetreten.« Tommys Augen leuchteten. »Ob sie uns freundlich gesinnt sind, Kapitän?« Der Kapitän betrachtete sinnend den Bildschirm, auf dem der herankommende und sich entfernende Gegenstand, der keiner war, abzeichnete. Das andere Objekt näherte sich jedoch mit gleichbleibender Geschwindigkeit. »Es bewegt sich«, entgegnete er kurz, »Es kommt uns entgegen. Was würden wir tun, wenn uns in unseren Regionen plötzlich ein unbekanntes Schiff begegnen würde? Wären wir freundlich? Nun, vielleicht wären wir es. Jedenfalls müssen wir versuchen, Verbindung aufzunehmen. Aber ich befürchte, das Ende unserer Expedition stellt kurz bevor. Ein Glück, daß wir Strahlwaffen besitzen, Atomkanonen und tödliche Strahler.« Diese Strahler wurden zumeist automatisch zur restlosen Vernichtung umherirrender Meteore verwendet, waren also ursprünglich nicht als Waffen gedacht, dienten aber im Notfall als solche. Ihr Wirkungsradius lag bei 8000 Kilometer, wenn der gesamte Energieausstoß des Schiffes beansprucht werden konnte. Bei Überlichtgeschwindigkeit natürlich konnten die Strahler nicht eingesetzt werden. Tommy fuhr bei ihrer Erwähnung erschrocken zusammen. »Strahler? Warum denn das, Kapitän?« »Weil wir nicht wissen, wer sie sind. Wir können kein Risiko eingehen. Trotzdem werden wir versuchen, auf friedliche Weise Verbindung mit ihnen aufzunehmen. Wir müssen herausbe-
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kommen, aus welchem Sektor sie stammen, wie sie aussehen und welche Absichten sie haben. Trauen dürfen wir ihnen nicht, das wäre ein zu großes Risiko. Sie besitzen Suchgeräte; wissen wir, ob sie nicht bessere besitzen als wir und somit unseren Heimflug verfolgen und unsere Heimatwelt orten können Dürfen wir es wagen, einer uns völlig unbekannten Lebensform den Standort der Erde zu verraten? Sicher, sie können friedlich veranlagt sein und großes Interesse an Handelsbeziehungen haben, aber genausogut ist es möglich, daß sie in kürzester Zeit mit einer gewaltigen Kriegsflotte das gesamte Sonnensystem vernichten werden. Was wissen wir von ihnen und ihren Absichten?« Tommy schwieg. »Rein theoretisch wurden alle diese Fragen schon tausendmal erörtert«, fuhr der Kapitän ruhig fort, während er unablässig auf den Bildschirm schaute, »aber niemals konnte man eine befriedigende Antwort erhalten. Wenn sich in der Tiefe des Weltraumes zwei Lebensformen begegnen, so stehen sich zwei unbekannte Faktoren gegenüber. Der eine weiß absolut nichts vom anderen und seiner Heimatwelt. Vielleicht sind sie freundlich und sanft wie die Lämmer, vielleicht aber auch blutgierig wie die schlimmsten irdischen Raubtiere. Und doch werde ich das künftige Schicksal der Menschheit aufs Spiel setzen und versuchen, herauszufinden, was und wer sie sind. Doch eines werde ich niemals riskieren: Solange ich nicht mit Bestimmtheit weiß, daß sie uns nicht verfolgen können, werde ich nicht zur Erde zurückkehren. Und ich bin davon überzeugt, daß die Fremden genauso handeln werden.« Erneut drückte er auf den Alarmknopf, der ihn mit allen Stationen des Schiffes verband. »Achtung! An alle Offiziere! Sämtliche Sternkarten sind zur sofortigen Vernichtung bereitzulegen. Ebenso alle Diagramme und Fotos, die dazu beitragen könnten, unseren Kurs zurückzu-
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verfolgen. Die gesammelten astronomischen Daten gehören auch dazu. Alles muß innerhalb von Sekunden vernichtet werden können. Geben Sie mir bitte Bescheid, sobald diese Anordnung ausgeführt ist.« Er ließ den Knopf los und sah wieder auf den Schirm. Tommy schien es, als sei der Kapitän in diesen wenigen Minuten um Jahre gealtert. Die erste Begegnung mit einer fremden Rasse war in der Theorie schon ein ungeheuerliches Ereignis, aber wer hätte gedacht, daß sich in der Praxis eine solche Situation ergeben würde? Dort war das fremde Schiff und hier das von der Erde, beide allein und inmitten eines Nebels, von dem ihre Heimatwelten ungeheuer weit entfernt sein mußten. Vielleicht wollten beide den Frieden, vielleicht aber die Vernichtung des anderen. Die Vertrauensseligkeit der Menschen konnte den Untergang ihrer Welt bedeuten, vielleicht aber auch den Beginn fruchtbarer Handelsbeziehungen. Der kleinste Fehler – und man konnte nicht wissen, was ein Fehler und was richtig war – konnte das Ende der menschlichen Zivilisation bedeuten. In der Zentrale war es still. Die jetzt geöffnete Sichtluke zeigte einen Ausschnitt des Weltalls und einen kleinen Teil des Nebels selbst. Die Sicht war nicht gut, weil überall die fein leuchtende Materie des Nebels verteilt war und den Raum auszufüllen schien. Aber plötzlich streckte Tommy den Arm aus. »Dort, Sir!« In dem Nebel hing ein Schatten. Er war noch weit entfernt, und der Schatten war dunkel, nicht so schimmernd poliert wie die Hülle der Llanvabon. Auch hatte das fremde Schiff nicht die Form des irdischen, sondern es erinnerte an einen riesigen Tropfen. Weitere Einzelheiten waren noch nicht zu erkennen. Tommy sah auf den Entfernungsanzeiger und sagte mit ruhiger Stimme: »Es rast auf uns zu, Sir. Die Möglichkeit besteht, daß sie die gleichen Sorgen und Bedenken haben wie wir und ebenfalls
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verhüten wollen, daß wir ihre Herkunft erfahren wollen, oder sind Sie der Auffassung, daß sie, wenn sie in Reichweite kommen, ihre Waffen einsetzen werden?« Die Llanvabon hatte den Dunkelarm längst verlassen und schwebte inmitten des leuchtenden Staubes, der in unendlich feiner Verteilung den Nebel bildete. Außer den beiden dicht nebeneinander stehenden Sonnen waren jetzt keine anderen Sterne sichtbar. Trotzdem war es nicht dunkel, und die Beleuchtung erinnerte an eine Unterwasserlandschaft in den Tropen. Als das fremde Schiff näher kam, verminderte es seine Geschwindigkeit; gleichzeitig wurde auch die Llanvabon langsamer und zeigte damit, daß sie das andere Schiff ebenfalls bemerkt hatte. Dieses Manöver verriet bei beiden gleichzeitig eine freundliche Absicht und Vorsicht gegen einen eventuellen Angriff. Die nun folgende wettere Annäherung stand im Zeichen der größten Konzentration und Spannung. Der Bug der Llanvabon zeigte genau auf das Schiff der Fremden. Eine Relaisschaltung ermöglichte es dem Kapitän, mit einem einzigen Druck seines Daumens sämtliche Strahler an Bord innerhalb weniger Sekunden abzufeuern. Tommy zog die Augenbrauen hoch und überlegte, daß die Technik der Fremden einen beachtlich hohen Stand haben mußte. Sie kannten die Raumfahrt und besaßen sicherlich ähnliche Waffen wie die Menschen. Selbst ihre Denkweise mochte ähnlich sein und zweifellos waren sie sich der Bedeutung des Augenblicks genauso bewußt wie die Menschen an Bord des irdischen Expeditionsschiffes. Ein Austausch von Erfahrungen und Kenntnissen konnte sich für beide Teile nur vorteilhaft auswirken, wenn es auch sehr wahrscheinlich war, daß dann eine der beiden Lebensformen sich der anderen unterordnen mußte, wollte man Krieg vermeiden. Aber es war undenkbar, daß sich der Mensch fremden Lebewesen
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unterordnen würde, obwohl er den friedlichen Handel der kriegerischen Eroberung vorziehen würde. Vielleicht dachten jene anderen genauso. Aber in jedem Volk, in jeder Rasse gab es Individuen, die den Krieg liebten. Und man brauchte keine Mathematik, um zu wissen, daß für Handelsbeziehungen stets zwei Partner nötig waren, für den Krieg aber einer genügte. Keiner würde von der Friedfertigkeit des anderen voll und ganz überzeugt sein. Sicherheit konnte nur darin liegen, das andere Schiff an der Heimkehr zu hindern, es zu vernichten – oder sich selbst zu zerstören. Doch der Kapitän der Llanvabon überlegte, daß auch ein Sieg über das andere Schiff ihnen nicht weiterhelfen würde. Sie mußten erfahren, woher es kam, welche Waffen es besaß und wie man sich gegen künftige Angriffe wappnen konnte. Er nahm es als selbstverständlich an, daß der Kommandant des fremden Schiffes die gleichen Gedanken hegte. Er drückte also nicht auf den Feuerknopf, der Strahlen ausgelöst und den Unbekannten mit Wahrscheinlichkeit vernichtet hätte. Er wartete, die Hand über dem Knopf haltend. Auf seiner Stirn zeigten sich die ersten Schweißperlen. Aus dem Wandlautsprecher kam eine Stimme. »Das fremde Schiff hat gestoppt, Sir. Alle Strahler sind darauf gerichtet, Sir.« Der Sprecher schien zu warten, daß der Kapitän das Feuer eröffnete, aber dieser schüttelte nur den Kopf. Das unbekannte Raumschiff war knapp 30 km von der Llanvabon entfernt und stand unbeweglich im Raum. Es war tiefschwarz und hob sich gut vor dem leuchtenden Hintergrund ab. Außer einigen Unregelmäßigkeiten waren keine Einzelheiten an der Hülle zu erkennen. »Es steht unbeweglich«, sagte eine andere Stimme. »Unsere Geräte fangen einen Kurzwellenstrahl auf, der zweifellos von dem Fremden stammt. Vermutlich ein Signal, denn es ist zu
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schwach, um Schaden anzurichten.« Der Kapitän sagte mit zusammengebissenen Zähnen: »Jetzt geschieht etwas dort drüben. An der Hülle bewegt sich was. Beobachtet, ob etwas herauskommt. Strahler darauf richten.« Irgend etwas Glattes, Rundes hing plötzlich neben dem fremden Schiff, das sich langsam in Bewegung setzte und von der Llanvabon wegtrieb. Die runde Kugel blieb zurück. »Das Schiff entfernt sich«, sagte die Stimme im Lautsprecher. »Aber das ausgesetzte Objekt bleibt stationär.« Eine andere Stimme mischte sich ein, sicher der Funker: »Erneute und verstärkte Funktätigkeit. Unverständliche Zeichen.« Tommy Dorts Augen leuchteten, als er sagte: »Sie hätten uns eine Bombe oder ein Torpedo entgegenschicken können. Das ist jedoch nicht der Fall. Sie setzten ein kleines Boot aus und zogen sich zurück. Vielleicht wollen sie, daß wir einen Mann hinschicken um Verbindung aufzunehmen. Weder sie noch wir riskieren dabei den Verlust des Hauptschiffes. Ihre Denkungsweise scheint der unseren sehr ähnlich zu sein.« Der Kapitän nickte unmerklich und sagte, ohne die Augen vom Bildschirm und dem rätselhaften Objekt zu nehmen: »Mr. Dort, wären Sie bereit, unser Schiff zu verlassen, um sich das Ding anzusehen? Ich kann Sie natürlich nicht zwingen, aber ich kann keinen der Männer an den Kanonen oder im Maschinenraum entbehren.« »Aber selbstverständlich«, stimmte Tommy sofort zu, ohne sich der Bedeutung der Worte bewußt zu sein. »Ich würde jedoch vorschlagen, kein Beiboot zu nehmen, sondern einfach einen Raumanzug mit Rückstoßraketen. Er ist kleiner und die Arme und Beine beseitigen von vornherein den Eindruck, es könnte sich um eine Bombe handeln. Auch würde ich einen Röntgenstrahler mitnehmen, um festzustellen, was sich in dem Gegenstand befindet, falls er sich nicht öffnen läßt.« Das unbekannte Schiff zog sich weiter zurück. Bald war es
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50, dann 100 und schließlich 500 Kilometer entfernt. Dann hörte die Bewegung auf und es verharrte in dieser Entfernung. Tommy stand in der geöffneten Luke der Llanvabon. Er stieß sich ab und schwebte kurz darauf in der leicht phosphoreszierenden Leere, ein Erlebnis, wie es vor ihm noch nie ein Mensch gehabt hatte. Hinter ihm schwenkte die Llanvabon ein wenig herum und entfernte sich langsam. Durchs Helmmikrophon kam die Stimme des Kapitäns: »Wir ziehen uns zurück, Mr. Dort. Es besteht die Möglichkeit, daß jener Gegenstand dort eine Bombe ist, die uns vernichten könnte. Setzen Sie Ihren Sucher in Betrieb.« Die Mahnung des Kapitäns war berechtigt logisch, aber nicht sonderlich beruhigend. Tommy Dort fühlte sich sehr einsam, während er dem kleinen, dunklen Fleck zueilte, der reglos inmitten des schimmernden Nebels hing. Die Llanvabon verschwand, Ihre hell scheinende Hülle war in diesem leuchtenden Universum nicht mehr zu erkennen. Aber auch das fremde Schiff konnte Tommy nicht mehr sehen. Er schwamm regelrecht in der Unendlichkeit, 4000 Lichtjahre von der Heimat entfernt. Nur die kleine, schwarze Kugel vor ihm schien der einzige greifbare Gegenstand des ganzen Universums zu sein. Es war eine leicht abgeplattete Kugel von knapp zwei Meter Durchmesser. Sie erhielt einen leichten Stoß, als Tommy, mit den Füßen voran, auf ihr landete. Fühlerartige Antennen strebten von ihr fort und gaben ihr das Aussehen einer schweren Seemine. Tommy bemerkte die mit Kristallen versehenen Enden. »Ich bin angelangt«, sagte Tommy in das Helmmikrophon. Er hielt sich an einer der Antennen fest. Die Kugel bestand aus schwarzem Metall. So sehr er sich auch anstrengte, er konnte keine Nahtstelle entdecken. Doch plötzlich fühlte er die leichte Erschütterung, gleichzeitig öffnete sich eine Seite der Kugel. Tommy zog sich vorsich-
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tig an den Antennen um die Kugel herum, um, wie er hoffte, in das Angesicht des ersten extraterrestrischen Wesens zu schauen, das dem Menschen je begegnete. Aber er erblickte nichts anderes als eine große Platte, auf der rote Lichtpunkte scheinbar ziellos hin und her krochen. Er gab seine Entdeckung durch. »Sehr gut, Mr. Dort«, kam es zurück. »Suchgerät eingeschaltet lassen und auf Senden umschalten. Die Kugel ist nichts anderes als ein Roboter mit eingebautem Infrarot-Bildschirm. Eine Verständigungsmöglichkeit ohne Risiko. Wenn wir die Kugel vernichtet hätten, wäre lediglich eine Maschine verloren gewesen. Vielleicht rechnen sie damit, daß wir die Kugel in unser Schiff nehmen und haben eine Bombe eingebaut. Wir werden ein Suchgerät draußen anbringen, damit wir die Kugel pausenlos beobachten können. Sie kehren ins Schiff zurück.« »In Ordnung, Sir. Aber – wo ist unser Schiff?« Tommy hing in der Leere und sah außer der Doppelsonne keinen einzigen Stern. Es gab also nur eine Orientierungsmöglichkeit. »Treiben Sie in Richtung auf die Doppelsonne von der Kugel fort. Wir nehmen Sie dann auf.« Er traf auf eine Gestalt im Raumanzug, die ein größeres Suchgerät mit eingebauter Fernsehkamera bei sich hatte, um es vor der Kugel anzubringen. Damit bestand für beide Teile die Möglichkeit, Verbindung miteinander aufzunehmen, ohne ihre Schiffe zu gefährden. Die beiden voneinander verschiedenen Funksysteme wurden durch den Kugelroboter synchronisiert und man würde sich unterhalten können. Die Llanvabon hatte den Auftrag erhalten, den Krebsnebel eingehend zu erforschen. Dieser Nebel selbst war das Ergebnis der gigantischsten Explosion, von der die Menschheit wußte. Diese Explosion mußte etwa im Jahre 2946 vor Christi stattgefunden haben, denn sie wurde im Jahre 1054 nach Christi von
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chinesischen Astronomen beobachtet. Sie konnte 23 Tage lang sogar bei Tage gesehen werden. Der Lichtschein – obwohl 4000 Lichtjahre entfernt – war heller als die Venus bei Opposition. Auf Grund dieser bekannten Tatsachen vermochten die Astronomen des 20. Jahrhunderts das Ausmaß der kosmischen Explosion festzustellen. Die ausgeschleuderte Materie breitete sich mit einer Geschwindigkeit von mehr als 1000 Kilometer in der Sekunde aus. In den Teleskopen konnte man nur noch den Doppelstern erkennen, der inmitten des Nebels stand. Der hellere der beiden Sterne besaß eine so hohe Oberflächentemperatur, daß er keine Linien im Spektrum zeigte. Die Dichte ist 173mal größer als die des Wassers, also sechzehnmal die des Bleis. Hauptzweck der Expedition war es, diesen Zwergstern näher zu untersuchen. Die Begegnung mit dem Raumschiff einer fremden Intelligenz, welche scheinbar ähnliche Absichten hatte, überschattete den eigentlichen Sinn der Expedition. Eine winzige Kugel von zwei Meter Durchmesser schwebte im Nichts zwischen den beiden Schiffen. In der Llanvabon waren die Nerven der Mannschaft bis zum Äußersten angespannt. Die Fremden standen zumindest auf der gleichen Zivilisationsstufe wie die Menschen. Sie konnten Freunde sein, aber auch Todfeinde. Eine Drohung jedoch kann man nur dadurch beseitigen, indem man sie vernichtet. Im Krebsnebel würde jetzt sofort entschieden werden müssen welches Verhältnis zwischen den beiden zum ersten Mal aufeinanderstoßenden Gruppen bestehen würde. Eine Aufnahme der Beziehungen konnte sich günstig auswirken, aber es mußte ja ständig mit Verrat gerechnet werden. Die einzige Sicherheit bei einer Aufnahme der Beziehungen war das Vertrauen, die absolute Sicherheit in jedem Fall jedoch nur die Vernichtung des anderen – oder die eigene Vernichtung. Und selbst das würde nicht genügen. Die Fremden besaßen
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mit größter Wahrscheinlichkeit den Überlichtantrieb, ein ausgezeichnetes Nachrichtensystem und Suchgeräte. Das bewies der Roboter, der ausgesetzt worden war. Welche Waffen hatten sie entwickelt? Welchen Stand der Kultur hatten sie erreicht? Wie sahen sie aus? Wo lag ihre Heimatwelt? Wenn schon eine Verständigung möglich war, wie sollte sie zustande kommen? Die Männer in der Llanvabon suchten nach einer Antwort auf alle diese Fragen – und das tat auch mit Sicherheit die Besatzung des fremden Raumschiffes. Im Falle einer feindlichen Auseinandersetzung war jedoch die Antwort auf eine Frage das wichtigste: Wo lag die Heimatwelt? Die Tragik dieser ersten Begegnung lag in der Tatsache, daß keines der beiden Schiffe es wagen konnte, den vorhandenen guten Willen zu beweisen, ohne die eigene Sicherheit aufs Spiel zu setzen. So herrschte also zwischen beiden nur ein augenblicklicher Waffenstillstand, mehr nicht. In der Mitte aber schwebte der Kugelrobot, ausgerüstet mit einer fremdartigen Nachrichtenanlage. Davor schwebte die Fernsehkamera der Llanvabon und das Suchgerät. Damit war der erste Schritt getan. Tommy Dort war in das Schiff zurückgekehrt und befand sich im Funkraum. Man hatte ihm die Aufgabe zugeteilt, Verbindung mit den Fremden aufzunehmen. Seine Bemühungen waren erfolgreich und er betrat schließlich, zusammen mit dem Schiffspsychologen, die Kabine des Kapitäns zur Berichterstattung. »Es kam eine einigermaßen gute Verständigung zustande«, erklärte der Psychologe einleitend. Er sah müde und abgespannt aus. »Wir können den Fremden mitteilen, was wir wünschen und wir sind in der Lage, ihre Antworten zu verstehen. Natürlich wissen wir nicht, ob sie die Wahrheit sprechen.« Der Kapitän sah Tommy fragend an.
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»Wir mußten ein Gerät dazwischenschalten, dessen Funktion gewissermaßen die mechanische Übersetzung ist. Wir arbeiten mit Fernsehen und Kurzwellen. Sie benutzen Ultrakurzwellen. Richtig besehen bedienen wir uns einer Sprache, die weder die ihre noch die unsere ist. Auch sie müssen unsere Sendungen zuerst umwandeln. Auf dem Bildschirm zeigten wir uns gegenseitig unsere Empfangsgeräte. Wir haben sie genau beobachtet und festgestellt, daß sie beim Sprechen keinerlei Bewegung machen. Anstatt vor einem Mikrophon zu stehen und zu sprechen, stehen sie einfach vor einem Gerät, das an eine Antenne erinnert. Aber sie stehen bewegungslos, und doch hören wir, daß sie etwas sagen. Darf ich Ihnen meine Vermutung mitteilen, Sir? Ihr Gehirn sendet jene Wellen aus, die durch Geräte verstärkt an unser Ohr dringen.« »Sie meinen, es sind Telepathen?« Er starrte Tommy erschrocken an. »In gewissem Sinne schon, Sir. Wir aber sind auch Telepathen, wenn auch diese Fähigkeit kaum entwickelt wurde. Ich wette, daß sie taub sind und keine Ahnung davon haben, daß man Laute als Verständigungsmittel benutzen könnte. Sie kennen den Laut einfach nicht.« »Sonst noch etwas?« »Well, Sir, wir haben uns lange unterhalten und für abstrakte Begriffe Ausdrücke gefunden, die wir beide verstehen. Es ist möglich und auch notwendig, daß Sie mit dem Kapitän des anderen Schiffes sprechen.« »Hm – haben Sie etwas herausfinden können?« fragte der Kapitän und wandte sich an den Psychologen. »Ich weiß nicht recht, Sir. Sie scheinen stets das zu sagen, was sie denken. Aber ich konnte bisher nicht die geringste Spur der Erregung bemerken, die sie unbedingt gepackt haben muß bei dieser entscheidenden Begegnung. Sie tun einfach so, als wäre eine Begegnung mit völlig fremden Lebewesen nichts
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Außergewöhnliches. Doch liegt in ihrer Sprache ein Unterton…« Der Psychologe war ein ausgezeichneter Kenner der menschlichen Psychologie, aber diesmal stand er vor dem Problem, die geheimsten Gedanken eines vollkommen fremden Gehirns zu erfassen oder zu deuten. »Es sind Wesen, die Sauerstoff zur Atmung benötigen«, warf Tommy ein, »und sie sehen uns nicht unähnlich. Scheinbar stehen wir einer uns fast gleichen Entwicklungsform gegenüber. Daher meine Vermutung, daß auch unsere Kultur und Zivilisation mit der ihren identisch ist. Ich meine sogar, in ihren Worten hier und da ein wenig Ironie entdeckt zu haben. Ich schließe daraus, daß sie etwas belustigt.« Der Kapitän erhob sich. »Hm – wir werden sehen, was sie mir zu sagen haben.« Sie begaben sich in den Funkraum. Die Geräte standen bereit und der Schirm leuchtete auf, als Tommy sich an das Übersetzungsgerät setzte. Schrille Laute drangen aus dem Lautsprecher, als Tommy in das Mikrophon sprach. Dann zeichnete sich auf dem Schirm das Innere des fremden Schiffes ab. Ein menschenähnliches Wesen erschien auf der Scheibe und blickte angestrengt in den Funkraum der Llanvabon. Sein Aussehen erinnerte stark an einen Menschen. Haare besaß es keine, aber der Gesichtsausdruck war sympathisch und offen. »Ich möchte nur sagen«, begann der Kapitän, »daß ich diese erste Begegnung zwischen unseren beiden Rassen begrüße und hoffe, daß wir zu einer friedlichen Verständigung gelangen« Tommy Dort zögerte eine Sekunde, ehe er auf den Knopf des mit einem Tonband gekoppelten Gerätes drückte. Die Worte des Kapitäns wurden gesendet, von der Robotkugel übernommen und zum fremden Schiff weitergeleitet. Das Wesen schien die Worte verstanden zu haben, denn es machte eine Geste, die Bejahung bedeuten konnte. Dann stand
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es bewegungslos, während erneut schrille Laute ertönten. Nach einer Weile sagte Tommy: »Es hat folgendes gesagt, Sir: ›Das hört sich alles recht nett an. Aber gibt es überhaupt eine Möglichkeit für uns beide, auf unserer Heimatwelt zurückzukehren? Ich wäre Ihnen dankbar, wenn Sie mir mitteilen könnten, wie Sie (sich das denken. Im Augenblick sehe ich nur eine Möglichkeit: einer von uns beiden muß vernichtet werden, damit der andere ohne Risiko nach Hause zurückkehren kann.‹« Im Funkraum der Llanvabon entstand Verwirrung. Sicher, man konnte unvermittelt die Rückreise antreten und dabei hoffen, daß ihnen das fremde Schiff nicht so schnell zu folgen vermochte. Würde die Erde jedoch entdeckt, so mußte der Fremde vernichtet werden, falls das möglich war. Und selbst dann konnte man nicht sicher sein, ob der Standort der Erde nicht schon längst mittels Funk an die fremde Heimatwelt durchgegeben worden war. Aber auch die Llanvabon konnte vernichtet werden; und da war es wohl besser, das würde gleich geschehen, ehe der Fremde einen Hinweis auf den Standort der Erde erhalten konnte. Das schwarze Schiff jedoch befand sich in genau der gleichen Situation. Damit war für beide Schiffe eine Flucht ausgeschlossen. Der augenblickliche Kurs der Llanvabon innerhalb des Nebels war den Fremden vielleicht bekannt, aber sie konnten nicht wissen, aus welcher Richtung das Schiff ursprünglich gekommen war. Ebenso erging es natürlich den Menschen. Es blieb nur die eine Frage: was nun? Darauf gab es keine befriedigende Antwort. Information wurde gegen Information ausgetauscht und Tommy begann allmählich Blut zu schwitzen in seiner Angst, zuviel zu sagen. Die Fremden konnten infrarote Lichtstrahlen wahrnehmen
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und Tommy hörte erfreut, daß durch diese Entdeckung festgestellt werden konnte, daß die Heimatsonne der Fremden ein roter Zwerg sein mußte. Doch gleichzeitig kam ihm zu Bewußtsein, daß die Fremden inzwischen herausbekommen haben mußten, welches Spektrum Sol hatte und zu welcher Sterngruppe man sie zählen konnte. Die Fremden besaßen Geräte zum Auffangen und Festhalten gedanklicher Sendungen, die sie dann beliebig wieder abspielen konnten, vergleichbar mit irdischen Tonbandgeräten. Den Menschen schien das ein genauso großes Wunder wie es der Laut an sich für die Fremden war, den sie nicht kannten. Sie hörten zwar das Geräusch, vermochten aber nichts daraus zu machen. Vergleichbar war diese Erscheinung etwa mit der Wärmeempfindlichkeit des Menschen. Der Mensch weiß, daß infrarote Strahlung auf der Haut einen Wärmeeffekt hervorruft, aber kann zwei verschieden Wellenlängen kaum unterscheiden, wenn sie die gleiche Wärme erzeugen. Tommy unterhielt sich mit den Fremden und fand, daß der Gedankenübermittlungsprozeß nicht so neuartig war. Die folgende Diskussion über technische Daten ging schließlich auf das Gebiet der interstellaren Navigation über. Zum besseren Verständnis wurde eine Sternenkarte benötigt, aber man konnte den Fremden keine solche Karte zeigen. Aus der Projektion könnte man die Stelle errechnen, von wo aus sie aufgenommen wurde. So stellte Tommy eine neue Karte her mit Sternbildern, die es gar nicht gab. Als Gegenleistung zeigte der Fremde eine seiner eigenen Sternkarten, die sofort fotografiert wurde. Aber die Astronauten der Llanvabon versuchten vergebens aus dieser Karte herauszulesen, wo sie aufgenommen worden war. Es war dann auch Tommy, der entdeckte, daß die Fremden ebenfalls eine neue Karte hergestellt hatten. Und zwar hatten sie dazu das Spiegelbild von Tommys Karte verwendet.
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Tommy mußte lachen und fand, daß ihm diese Fremden sehr sympathisch waren Es waren zwar keine Menschen, aber sie besaßen zweifellos einen Sinn für Humor. Daraufhin versuchte er, einen harmlosen Witz zu erzählen. Es bestand kaum die Möglichkeit, daß die Pointe wegen der umständlichen Übersetzung erhalten blieb, aber zu seinem Erstaunen begriffen ihn die Fremden. Tommy sprach immer mit dem gleichen Funker des fremden Schiffes. Es entspann sich eine Art Freundschaft, denn in den folgenden drei Wochen standen sie bis auf regelmäßig abgehaltene Ruhepausen ständig in Verbindung. Der Funker des schwarzen Schiffes unterzeichnete seine Botschaften sogar mit einer gedanklichen Unterschrift, die Tommy sinngemäß mit ›Buck‹ übersetzte. In der dritten Wochen der Kontaktaufnahme erhielt Tommy eine Botschaft folgenden Inhalts: »Du bist ein guter Bursche. Es ist zu schade, daß wir uns gegenseitig umbringen müssen. Buck.« Tommy hatte ähnliche Gedanken gehabt. Er gab zurück: »Wir sehen keinen anderen Ausweg. Ihr vielleicht?« Nach einer Pause kam die Antwort: »Wenn wir euch vertrauen könnten, schon. Unser Kommandant würde das gerne tun. Aber wir können euch nicht glauben und ihr könnt uns nicht glauben. Wir würden versuchen, euch auf dem Heimweg zu folgen und ihr würdet das gleiche tun. Wir täten es nur ungern. Buck.« Tommy erhob sich und brachte die Meldung dem Kapitän. »Sehen Sie sich das an, Sir. Diese Leute fühlen und denken genauso wie wir.« Der Kapitän war mit seinen eigenen Überlegungen beschäftigt. »Sie atmen Sauerstoff«, entgegnete er mißmutig. »Ihre Atemluft enthält 20 Prozent Sauerstoff, aber sie könnten auch auf
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der Erde leben. Würden Sie ihnen mitteilen, wo sich unser Heimatplanet befindet?« »N-nein, Sir.« »Na also! Und die anderen denken genauso. Selbst dann, wenn wir freundschaftliche Beziehungen aufnähmen, wie lange könnten wir einander trauen? Wenn ihre Waffen den unseren gleichwertig sind, werden sie zu ihrer eigenen Sicherheit gezwungen sein, sie weiterzuentwickeln. Erführen wir das, müßten wir das gleiche tun und sie vernichten, ehe sie zu stark würden. Umgekehrt gilt das gleiche.« Tommy schwieg und wartete. »Wenn wir jetzt das schwarze Schiff vernichten und zur Erde zurückkehren, wird man uns Vorwürfe machen, warum wir nicht versuchten, die Heimatwelt der Fremden zu finden. Aber was sollen wir tun? Wir können von Glück reden, wenn wir lebend aus dieser Situation herauskommen. Es ist unmöglich, von jenen Lebewesen mehr zu erfahren, als wir ihnen geben. Wenn wir sie vernichten, wird die nächste Begegnung vielleicht erst in tausend Jahren stattfinden. Das wäre schade, denn Handelsbeziehungen würden sehr viel bedeuten für uns – und für sie Friede zwischen ihnen und uns wäre wunderbar, aber wir können Urnen nicht trauen. Und sie uns auch nicht. Es gibt nur eine Antwort: wir müssen sie alle töten. Und wenn uns das eben nicht gelingt, müssen wir sicher sein, daß nach unserer eigenen Vernichtung nicht der geringste Hinweis auf unsere Herkunft bleibt. Ich bedauere dies zutiefst, sehe aber keine andere Möglichkeit.« An Bord der Llanvabon arbeiteten fieberhaft zwei verschiedene Gruppen. Die eine bereitete alles für einen Erfolg vor; die andere für die eventuelle Niederlage. Die erste Gruppe hatte nicht viel zu tun. Sie achtete darauf, daß alle Strahlenkanonen ständig auf das fremde Schiff gerichtet waren, die Entfernung stimmte und das
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Feuer jede Sekunde eröffnet werden konnte. Die zweite Gruppe hingegen hatte Arbeit in Hülle und Fülle. Sämtliche Sternkarten und Filme, alle Fotografien und Diagramme wurden zur sofortigen Vernichtung bereitgelegt. Man legte sie in speziell vorbereitete Kisten, die sich bei unsachgemäßem Öffnen sofort entzündeten und in Energie verwandelten. Von dem Inhalt würde nichts übrigbleiben. Im ganzen Schiff wurden atomare Sprengbomben verteilt. Wenn die Besatzung durch eine noch unbekannte Waffe außer Gefecht gesetzt werden sollte, würden die Bomben automatisch detonieren, sobald man versuchte, die Llanvabon in die Nähe des anderen Schiffes zu manövrieren. Vier Männer liefen ständig in geschlossenen Raumanzügen herum, damit das Schiff sofort abgedichtet werden konnte, falls ein überraschender Angriff es leck schlagen sollte. Aber es würde kein Überraschungsangriff erfolgen, denn die fremden Wesen waren ehrlich und erweckten den aufrichtigen Wunsch nach Frieden Keiner wollte auch vom anderen annehmen, daß er nicht in der Lage sei, den Kurs des anderen Schiffes zu verfolgen. Jeder äußerte den Wunsch nach Freundschaft, aber keiner wollte das Risiko eingehen, durch übereilte Vertrauensseligkeit die Vernichtung der eigenen Rasse in den Bereich der Möglichkeit zu rücken. Sie mußten kämpfen, weil es keine andere Lösung zu geben schien. Sie konnten natürlich vorher Informationen austauschen und diesen Kampf dadurch fairer gestalten. Wer aber wollte wiederum nachprüfen, ob der andere die Wahrheit sagte? Keiner erwähnte auch nur die Entfernung bis zur Heimat, keiner sagte etwas über die Waffen, die ihm zur Verfügung standen, aber jeder ließ durchblicken, wie mächtig er sei und unbesiegbar. Tommy hatte das Übersetzungsgerät verbessert. Man konnte sich ohne jegliche Schwierigkeit stundenlang unterhalten, und seine Sympathie für die Fremden stieg von Tag zu Tag. Er
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konnte diese kahlköpfigen Lebewesen aus den Tiefen des Weltraumes mit ihrem trockenen Humor gut leiden. Er glaubte nicht daran, daß sie die Menschen vernichten wollten, dazu glaubte er sie zu gut zu kennen. Ob er vorschlagen sollte, die Erde von der Begegnung zu verständigen, wenn die Fremden das gleiche täten? Er schickte die Frage durch den Sender. Die Antwort kam schnell: »Das wäre eine gute Lösung. Ich kann dich gut leiden, aber ich traue dir nicht. Als ich dir das damals sagte, hast du mir auch nicht ganz glauben können. Ich spreche die Wahrheit und vielleicht ist es umgekehrt genauso. Wie aber sollten wir das beide wissen? Es gibt keinen Ausweg und das tut mir so unendlich leid, glaube mir wenigstens das. Buck.« Tommy starrte nachdenklich auf die niedergeschriebene Botschaft. Die auf ihm lastende Verantwortung erdrückte ihn fast, aber es erging wohl keinem an Bord des Schiffes anders. Wenn sie jetzt versagten, stand das Leben von Milliarden von Menschen auf dem Spiel. Hatten sie Erfolg, war vielleicht das Schicksal der unbekannten Rasse entschieden. Das Leben zweier interstellarer Völker hing von einigen wenigen Vertretern beider Teile ab. Und dann hatte Tommy Dort plötzlich die Lösung gefunden… Es gehört zu den Aufgaben eines Kapitäns, sich Sorgen zu machen. In den vergangenen drei Wochen jedoch hatte es deren mehr als genug gegeben. Das Gesicht des Kapitäns wirkte alt und verfallen, denn in seiner Hand lag nicht nur das Schicksal der stolzen Llanvabon, sondern das der gesamten Menschheit. »Sir«, begann Tommy und spürte den harten Knoten in der Magengegend, »darf ich Ihnen eine Möglichkeit des Angriffes auf das schwarze Schiff darlegen? Ich werde es allein unternehmen, und wenn ich keinen Erfolg habe, ist die Position der
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Llanvabon nicht weiter geschwächt.« Der Kapitän sah durch ihn hindurch, als er sagte: »Die Taktik des Angriffes wurde bereits ausgearbeitet und steht fest. Es ist ein Vabanquespiel, aber wir können nicht anders handeln.« »Ich denke, daß ich einen besseren Weg gefunden habe«, fuhr Tommy unbeirrt fort. »Nehmen Sie nur einmal an, wir senden ihnen eine Botschaft und bieten ihnen an, daß…« Seine Stimme wurde leiser und erreichte doch noch die Ohren des Kapitäns, der atemlos zuhörte. Auf den Bildschirmen zeigte sich der schimmernde Nebel und die zwei flammenden Lichtflecke der beiden Sonnen. Sie standen genau im Zentrum des Nebels. Der Kapitän persönlich begleitete Tommy Dort. Der Plan, der ausgeführt werden sollte, benötigte die Autorität des Kapitäns. Gelang der Plan nicht, würde er der erste sein, der getötet würde. Aber die Kampftaktik des Schiffes war bereits in den magnetischen Gehirnen der Rechenmaschinen verankert; ein einziger Druck auf den Auslöserknopf genügte, die Llanvabon in eine Kampfmaschine zu verwandeln, die das schwarze Schiff zerstören mußte, und wenn das nicht gelang, zumindest die Llanvabon – oder gar alle beide. Das würde geschehen, wenn Tommy und der Kapitän tot waren. Somit verließ keiner der beiden seinen Posten, auch wenn sie nicht mehr im Schiff waren. Die Außenluke schwang auf. Keine 20 Kilometer entfernt hing die kleine Robotkugel im Nichts, die sich in einer Kreisbahn um die beiden Sonnen des Nebels bewegte und ihnen immer näher kam. Natürlich war die Bewegung praktisch unmerklich, aber sie war vorhanden. Die Kugel würde keine der beiden Sonnen je erreichen. Milliarden von Kilometern von ihnen entfernt würde sie in der strahlenden Hitze verdampfen. Doch hier, in einer Entfernung von einem halben Lichtjahr, waren die Strahlen der beiden Sonnen genügend abgeschwächt.
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Die beiden Gestalten in Raumanzügen strebten von der Llanvabon weg, einen Flammenschweif hinter sich zurücklassend. Nebeneinander näherten sie sich der Robotkugel und die Stimme des Kapitäns erklang heiser in Tommys Helm: »Mein ganzes Leben lang habe ich mich nach Abenteuern gesehnt, aber dieses ist endlich mal eines, das ich verantworten kann.« Tommys Lippen waren trocken, als er entgegnete: »Es kommt mir nicht wie ein Abenteuer vor, Sir. Ich wollte, wir hätten alles bereits hinter uns. Bei einem Abenteuer sollte man keine Furcht haben, ich aber fürchte mich.« Sie erreichten die Kugel und hielten sich an den Antennen fest. »Es müssen sehr intelligente Wesen sein«, murmelte der Kapitän, »denn sie wollen unbedingt mehr von unserem Schiff sehen als nur den Funkraum. Sonst wären sie nicht auf unseren Vorschlag, daß wir uns gegenseitig einen Besuch abstatten, eingegangen.« Sie warteten. Dann tauchten im Nebel vor ihnen zwei Gestalten auf. Die Raumanzüge der Fremden besaßen ebenfalls Rückstoßaggregate. Sie waren etwas kleiner als die Menschen, und die Sichtscheiben in ihren Helmen waren derart gegen ultraviolette Strahlen isoliert, daß man nur undeutlich die Umrisse ihrer Köpfe wahrzunehmen vermochte. Aus dem Funkraum der Llanvabon kam die Nachricht: »Sie sagen, ihr Schiff warte auf Sie. Die Luftschleuse sei geöffnet.« Der Kapitän nahm seinen Blick nicht von den Fremden. »Hören Sie zu, Mr. Dort: haben Sie ihre Raumanzüge vorher schon prüfen können? Sind sie sicher, daß sie keine Bomben oder ähnliche Dinger bei sich tragen?« »Ja, Kapitän, wir haben uns gegenseitig die Raumausrüstung über Bildfunk gezeigt. Soweit ich sehen kann, haben sie nur
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diese normale Ausrüstung bei sich.« Der Kapitän winkte den beiden vorüberschwebenden Fremden grüßend zu, die mit gleichem Auftrag zur Llanvabon unterwegs waren; dann stieß er sich von der Kugel ab und segelte, gefolgt von Tommy, in Richtung auf das schwarze Schiff davon. Sie konnten es wegen der großen Entfernung nicht erkennen, aber Kursanweisungen erhielten sie laufend aus dem Navigationsraum der Llanvabon. Dann tauchte endlich der dunkle Schatten vor ihnen auf, genauso lang wie die Llanvabon, nur wesentlich dicker und plumper. Die Luftschleuse stand offen und die beiden Männer schwebten direkt in sie hinein. Kaum hatten sie Boden unter den Füßen, als sich die Außenluke schloß, Atemluft in die Kammer strömte und mit einem plötzlichen Ruck die künstliche Gravitation eingeschaltet wurde. Dann erst schwang die innere Luke auf. Das Schiffsinnere lag dunkel vor ihnen. Fast gleichzeitig mit dem Kapitän schaltete Tommy das Helmlicht an, das mit Rücksicht auf die an Infrarot gewöhnten Fremdlinge in der roten Farbe der Kontrollämpchen gehalten war. Weißes Licht hätte sie geblendet. Einige der Fremden erwarteten sie, und aus dem Funkraum der Llanvabon kam die Übersetzung dessen, was sie sagten. »Der Kommandant der Fremden erwartet Sie.« Sie standen in einem langen Korridor, dessen Fußbodenbelag weich und nachgiebig war. Seltsame und exotische Dinge ließen sich in dem rötlichen Licht nur undeutlich erkennen. »Ich denke, wir können den Helm abnehmen«, meinte Tommy und zögerte nicht, seine Worte in die Tat umzusetzen. Die Luft war gut, ein wenig sauerstoffreicher als auf der Erde, dafür aber mit einem geringeren Druck. Ebenso war die Gravitation geringer als die der Erde, was darauf schließen ließ, daß der Heimatplanet der Fremden kleiner oder von geringerer
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Dichte sein mußte und sehr nahe um eine sterbende Sonne kreiste. Vor ihnen öffnete sich eine Tür, indem sie sich seitwärts in die Wandung schob. Weitere rote Lampen glühten auf, ein Zeichen dafür, daß die Fremden, ihren Gästen zuliebe, zusätzliche Beleuchtung eingeschaltet hatten. Sie taten es aus Höflichkeit, obwohl ihre Augen sicher dabei schmerzten. Allein diese Tatsache bestärkte den Entschluß in Tommy, seinen Plan unter allen Umständen durchzuführen. Der Kommandant der Fremden stand vor ihnen und machte, wie es Tommy vorkam, eine einladende Geste. Durch den Empfänger kam die Übersetzung der Llanvabon: »Er sagt, daß er Sie mit großer Freude begrüße, aber trotzdem bisher keine andere Lösung für das Problem gefunden hat. Er bedauert das außerordentlich.« »Er meint den Vernichtungskampf«, entgegnete der Kapitän. »Sagt ihm, ich möchte ihm eine andere Lösung vorschlagen.« Die Worte gingen durch die Übersetzungsanlage und es dauerte Sekunden, ehe die Antwort kam: »Er möchte Ihren Vorschlag hören, Sir.« Der Kapitän hatte ebenfalls seinen Helm abgenommen und sagte nun zu der fremdartigen Gestalt, die vor ihm in dem unirdischen Glühen der roten Lampen stand: »Wir haben bisher nur die Möglichkeit des unerbittlichen Kampfes zwischen uns beiden gesehen, den nur einer überleben kann. Wir sind bereit zu kämpfen, wenn nichts anderes übrigbleibt. Sollten Sie die Sieger sein, so ist auf unserem Schiff alles vorbereitet, damit Sie niemals einen Hinweis finden werden, wo sich die Erde, unser Heimatplanet, befindet; es ist aber durchaus möglich, daß wir die Sieger sind. Und dann wird es uns wahrscheinlich nicht viel anders ergehen. Bei unserer Rückkehr wird unsere Regierung eine Flotte ausrüsten und losschicken, um Ihren Planeten zu finden und zu vernichten.
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Gewinnen Sie, steht uns das gleiche Schicksal bevor. Trotzdem ist in unseren Augen alles heller Wahnsinn. Fast einen Monat liegen wir uns nun gegenüber, haben Informationen ausgetauscht und sogar Freundschaft geschlossen. Wir haben keinen Grund, uns zu bekriegen. Wenn wir es tun, dann nur mit Rücksicht auf unsere Welt daheim.« Der Kapitän machte eine Pause und schnappte nach Luft. Tommy legte wie zufällig seine rechte Hand an den Gürtel. In ihm war eine ungeheure Spannung. Würde der Plan gelingen? »Er sagt«, kam die Antwort, »daß Sie die Wahrheit sprechen. Er muß jedoch sein Volk schützen, genauso, wie Sie das Ihre zu schützen haben.« »Natürlich!« schnaubte der Kapitän, »das sage ich ja die ganze Zeit. Es geht nur darum festzustellen, w i e wir unsere Rassen am besten schützen können. Das kann aber nur geschehen, indem wir beide die Heimat warnen und von der Existenz der anderen Lebewesen unterrichten. Wir sollten in der Lage sein, Beziehungen aufzunehmen, ohne daß der eine vom anderen weiß, wo seine Heimat liegt. Solange, bis wir einander trauen können. Diese Möglichkeit müssen wir unseren Regierungen einräumen, ehe ein sinnloser, interstellarer Krieg ausbricht.« »Er meint, die größte Schwierigkeit liege darin, daß man einander nicht trauen könne. Mit der Existenz seines Volkes auf dem Spiele darf er kein Risiko eingehen – und Sie dürften es genausowenig.« »Wir sind aber notfalls im Vorteil, wenn es darauf ankommen sollte!« sagte der Kapitän triumphierend. »Wir haben die atomgetriebenen Rückstoßaggregate unserer Raumanzüge verstellt. Wir sind in der Lage, hier in Ihrem Schiff zehn Pfund hochempfindlichen Treibstoff explodieren zu lassen, durch Handschaltung oder durch Fernzündung von unserem Schiff aus. Es sollte mich wundern, wenn der Treibstoff Ihres Schiffes
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nicht gleichzeitig mit uns in die Luft fliegt. In anderen Worten; wenn Sie unsere Vorschläge nicht anhören wollen, werden Tommy Dort und ich das Zentrum einer Atomexplosion sein, die Ihr Schiff zerstört. Gleichzeitig eröffnet die Llanvabon das Feuer und vernichtet den Rest.« Sie warteten auf Antwort. Es war eine denkwürdige Szene. Hier standen zwei Menschen und ihnen gegenüber der Kommandant des Schiffes eines unbekannten Volkes aus der Tiefe des Alls mit seinen Leuten. Dann mußte die Übersetzung bei den Fremden angekommen sein, denn plötzlich konnte Tommy die in der Luft liegende Spannung fast fühlen. Der Fremde machte eine Geste mit seinen Armen. »Er sagt, Sie sollen Ihre Vorschläge vortragen, Sir.« »Wir tauschen unsere Schiffe aus«, sagte der Kapitän mit lauter Stimme, die jedoch außer Tommy keiner zu hören vermochte. »Wir tauschen unsere Schiffe aus und fliegen nach Hause. Wir können unsere Suchgeräte so einstellen, daß sie außerstande sind das andere Schiff zu verfolgen. Sie tun das gleiche mit Ihren Geräten. Jeder entfernt aus seinem Schiff die Waffen. Somit kann nach dem Austausch keiner dem anderen folgen oder ihn vernichten. Jeder aber kehrt zu seinem Heimatplaneten mit der Kunde von der Entdeckung des anderen Volkes zurück. Wir können sogar ein neues Treffen verabreden, wenn der Doppelstern im Krebsnebel einmal seine Bahn durchlaufen hat. Wenn einer von uns Angst hat, braucht er nicht zu kommen. Wenn beide kommen, um so besser. Das ist mein Vorschlag. Und wenn er nicht angenommen wird, wird es in wenigen Sekunden einen Knall hier geben.« Er schwieg und betrachtete abwartend den fremden Kommandanten, der auf die Übersetzung wartete. Man sah es sofort, als sie ankam. Die Fremden begannen heftig zu gestikulieren, einer der Fremden legte sich sogar auf den Boden und krümmte
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sich, als habe er Schmerzen. Die anderen zuckten konvulsivisch mit ihren Gliedern und vollführten die tollsten Verrenkungen. Die Stimme in Tommys Kopfhörern war klar und nüchtern. Es war die Antwort der Fremden. »Er meint, das sei ein guter Scherz. Denn die beiden Fremden, die zu unserem Schiff gekommen seien, hätten ebenfalls atomaren Sprengstoff mitgebracht und seien beauftragt, den gleichen Vorschlag und die gleiche Drohung vorzubringen. Er nimmt natürlich an, Sir. Unser Schiff ist ihm mehr wert als das seine und umgekehrt. Es sieht so aus, Sir, als wäre dies die Lösung.« Und in diesem Augenblick verstand Tommy die seltsamen Verrenkungen der Fremden: es waren Heiterkeitsausbrüche. Das Ganze war doch nicht so einfach, wie es anfangs erscheinen wollte. Drei Tage lang erklärte man sich gegenseitig den Antrieb der Schiffe und ständig befanden sich Fremde an Bord der Llanvabon und Mannschaften der Llanvabon in dem schwarzen Schiff. Im Notfall hätte einer das Schiff des anderen in eine atomare Holle verwandeln können, aber dieser Notfall trat niemals ein. Natürlich kam es auch zu Meinungsverschiedenheiten. Sollten die wissenschaftlichen Aufzeichnungen mit übergeben werden oder nicht? Man einigte sich und vernichtete hüben wie drüben diese Unterlagen. Dann kam die Reihe an die Bücher. Auf der Llanvabon befand sich eine Bibliothek mit den klassischen Werken der irdischen Dichter, etwas Ähnliches gab es auch im schwarzen Schiff. Man beschloß, nichts zu vernichten, was vom gegenseitigen Stand der Kultur berichtete, falls man es jemals entziffern sollte. In diesen drei Tagen kam keiner zur Ruhe. Die Fremden untersuchten die Lebensmittelvorräte, die von den Menschen in das schwarze Schiff gebracht wurden. Umgekehrt unterlagen
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die Nahrungsmittel der Fremden natürlich der gleichen Kontrolle, bevor sie in die Llanvabon gelangten. Die Lichtanlagen wurden ausgewechselt und eine genaue Überprüfung ergab, daß die Suchgeräte in beiden Schiffen zerstört worden waren. Auch die Waffen waren unbrauchbar gemacht worden. Eine letzte Konferenz wurde anberaumt. , »Sagen Sie ihm«, begann der Kapitän der Llanvabon, »daß er ein ausgezeichnetes Schiff bekommt und daß er es gut behandeln soll.« »Ich glaube, daß Sie keinen schlechten Tausch gemacht haben«, sagte der Fremde. »Und ich hoffe, daß wir uns nach einer Umdrehung der Doppelsonne hier an dieser Stelle wiedertreffen. Ich werde warten.« Der letzte Mann verließ die Llanvabon, die bereits in dem milchigen Weiß des Nebels verschwand, noch ehe alle Leute das schwarze Schiff betreten hatten. Die Bildschirme waren ausgewechselt worden und zeigten keine Spur mehr von der Llanvabon. Das schwarze Schiff aber glitt in den Dunkelarm und verließ den Bereich des Krebsnebels. Dann schaltete der Kapitän den Überlichtantrieb ein und nach einer Pause atemloser Spannung verzerrten sich erwartungsgemäß die inzwischen wieder aufgetauchten Sterne zu verwaschenen Lichtflecken. Sie hatten die Heimreise angetreten. Es waren viele Tage später, als der Kapitän in Tommys Kabine kam und diesen über einen seltsamen Gegenstand gebeugt vorfand. Es war ein Buch des fremden Volkes. Man hatte inzwischen damit begonnen, die Einrichtung des schwarzen Schiffes zu studieren und viel Neues hinzugelernt. Den Technikern der Fremden- würde es an Bord der Llanvabon kaum anders ergehen. Beide Völker hatten mehr profitiert als durch kriegerische Auseinandersetzung. »Hm – Mr. Dort«, begann der Kapitän nachdenklich. »Zwar 95
können wir nun auf dem Heimweg keine Fotos mehr herstellen, aber das kann später nachgeholt werden. Jedenfalls bin ich Ihnen dankbar, daß Sie es waren, der diese einzigartige Lösung gefunden hat.« »Danke, Sir«, entgegnete Tommy. Er wartete. Der Kapitän räusperte sich. »Sagen Sie, wie sind Sie eigentlich dahintergekommen, daß diese uns doch völlig unbekannten Wesen fast genauso denken wie wir Menschen? Glauben Sie, daß schon aus diesem Grunde die Aufnahme freundschaftlicher Beziehungen möglich sein wird?« »Auf jeden Fall!« behauptete Tommy sicher. »Der Anfang unserer gegenseitigen Beziehungen ist doch vielversprechend. Sie sehen nur infrarot, daher taugt unsere Welt nicht für sie und die ihre nicht für uns. Dieser Unterschied festigt unsere Freundschaft.« »Hm, ja.« »Rein äußerlich bestehen gewisse Unterschiede, denn sie sehen praktisch Hitzestrahlen. Während in unserem Blut Eisen enthalten ist, hat das der Fremden einen Gehalt an Kupfer. Noch andere Unterschiede sind vorhanden, aber ihre Psychologie ist mit der unserigen identisch. Es waren nur Männer an Bord des schwarzen Schiffes, aber sie haben auch zwei Geschlechter. Sie besitzen sogar den gleichen Sinn für Humor wie wir, ja… hm…« Tommy zögerte. »Ja – und…?« »Nun, Kapitän, da war doch der eine, dieser Buck – ich konnte keinen anderen Namen für ihn finden, da sie keine Laute kennen. Wir haben uns immer gut verstanden und schlossen sogar Freundschaft. Zwei Stunden bevor sich die beiden Schiffe trennten trafen wir uns. Wir hatten nichts mehr zu tun und unterhielten uns. Sehen Sie, Sir, in diesen zwei Stunden erhielt ich die Gewißheit, daß unsere beiden Völker sich verstehen
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werden. Wir taten in diesen zwei Stunden nicht anderes, als Witze erzählen.«
First Contact von Murray Leinster aus ASTOUNDING SCIENCE FICTION Copyright 1945 by Street & Smith Mit freundlicher Genehmigung von Otis Kirne Assoc, Inc. Aus dem Amerikanischen übersetzt von Walter Ernsting
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von Malcolm Jameson
Experten der Weltraumforschung vertreten die Ansicht, daß nach der Bezwingung des Mars durch den Menschen die Venus der nächste lockende Planet sein wird – ein geheimnisvoller Globus, den gewaltige, trübe Wolkenlagen ewig vor der Erde verbergen. Über die Oberflächenbeschaffenheit dieses Planeten wissen wir nichts. So gibt es eine Vielfalt von Darstellungen über ihn, die ihn teils als Wüste und teils als völlig vom Meer bedeckte Kugel beschreiben. Malcolm Jameson, einer der begabtesten und erfolgreichsten Autoren moderner Science-Fiction, hat – einer anderen Entwicklungslinie folgend – einige sehr einleuchtende Vermutungen zu diesem vielgestaltigen Bild ungewöhnlicher Lebensformen auf einem supertropischen Planeten angestellt. Mit lautem Krach fiel das Reagenzglas zu Boden. Ätzender Dampf stieg empor. Parks kümmerte sich nicht darum. Er stützte sich auf die
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Tischkante und stöhnte: »Mit meinem Rhythmus stimmt etwas nicht. Es hätte doch erst in einer Stunde losgehen dürfen.« Er hielt schaudernd inne. Von seinem Platz aus sah Maxwell zu ihm hinüber und blickte dann auf die Uhr. Ihre nächsten Injektionen waren um drei Uhr fällig, aber es bestand kein Zweifel, daß Parks sich in einen plötzlichen Anfall steigerte. Schon zuckten und flogen seine Hände konvulsivisch und die typischen Gesichtszuckungen todbringenden venusianischen Sumpfnervenfiebers setzten ein. Parks Gesicht schien jäh verändert; eine Entstellung menschlicher Züge – eine wilde, lauernde, abwechselnd stierende und verzerrte Maske des Schmerzes. Mit einem Seufzer erhob sich Maxwell und zog seinen Stuhl zurück. Hatte es Parks gepackt, würde auch er bald an der Reihe sein. Ohne Eile ging er zum Arzneischrank und entnahm ihm zwei blanke Spritzen. Er füllte sie beide aus ihrem Ampullenvorrat. Paracrobin half nicht sonderlich, dennoch war es das wirksamste Gegenmittel, das die Menschen bislang kannten. Dann legte er die Spritzen an die ›Klagemauer‹ – ein auf schweren Pfosten befestigtes eisernes Geländer – und ging zu Parks, der jetzt wimmernd auf seinem Schemel hing. »Komm, alter Junge«, sagte er nun sanft. »Wir wollen es hinter uns bringen.« Parks ließ sich ohne Widerstreben zu dem vorbereiteten Platz führen. Als Maxwell die Nadel eingeführt und den Kolben durchgedrückt hatte, umklammerte Parks das Geländer, als wolle er es zermalmen. Maxwell atmete tief ein. Nun war er an der Reihe. Er rollte sich den Ärmel hoch und zwang die bernsteinfarbene Flüssigkeit in seine Vene. Fünf endlose Minuten verbrachten die beiden Männer am Geländer, als der feurige Stoff durch ihre Adern schoß, wie geschmolzenes Eisen oder ätzende Säure. Dann war es vorüber. Ihre Finger entkrampften sich, die Muskeln entspannten sich langsam, ihr Keuchen ließ nach und sie atmeten regelmäßiger.
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»Ich… kann… dies… nicht… noch einmal… aushalten«, stöhnte Parks mit zusammengebissenen Zähnen. »Ich – « »O ja, du kannst«, sagte Maxwell grimmig. »Wir sagen das immer… jeder sagt es… aber es geht dennoch weiter. Du kennst ja die Alternative, nicht wahr?« »Ich kenne sie«, sagte Parks dumpf. »Ohne Paracrobin würde das Sumpfnervenfieber zum Dauerzustand und nicht nur ein Rückfallfieber. Dann würde es zwangsläufig mit Idiotie enden.« »Gut, wollen wir also wieder an die Arbeit gehen. Was war in dem Glas?« »Versuch elf-null-vier. Ist doch jetzt egal. Ich habe den Rest der Snookerrinde verbraucht. Wir können sie ja nicht verdoppeln. Es sei denn, daß Hoskins wieder Nachschub durchschmuggelt.« »Na laß schon. Wollen mal ins Gehege schauen. Vielleicht hat elf-null-drei das Kunststück fertiggebracht.« Parks folgte schweigend. Er fand allmählich wieder zu seinem wahren Ich zurück. Für das nächste Mal würde er vorbeugen und die Uhr vorstellen. Paracrobin war kein Vergnügen, aber in ruhigem Zustand war es leichter zu ertragen als nach Beginn eines Anfalls. Das Gehege brachte die übliche Enttäuschung. Der Affe im Käfig kreischte durchdringend in seinen allerletzten Zügen. In einer Minute würde er genauso tot sein wie der leblose Haufen geimpfter Meerschweinchen drüben in den Ställen. Der letzte Versuch mit der Formel war mißglückt. Zwei Drittel der Menschheit würden noch eine Weile leiden müssen, da ein besseres Mittel als Paracrobin gegen das Sumpfnervenfieber noch nicht gefunden worden war. Maxwell sah nach den anderen Käfigen. Da waren noch ein paar Affen und Meerschweinchen und es gab noch ein paar andere Formeln, nach denen man es versuchen konnte. Wer
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sich wie sie einer aktuellen Forschung verschrieben hatte, durfte nicht entmutigt nachgeben. Eintausend Fehlschläge oder mehr, was bedeutet das schon. Gar nichts. Es gehörte dazu. »Ich glaube«, begann er, »daß wir besser – « »Ich mach’ schon auf«, unterbrach ihn Parks, als es leise an die Tür klopfte. »Hört sich an wie Hoskins.« Es war Hoskins, der interplanetarische Schmuggler. Er trug eine schwere Tasche. Auf seinem Gesicht lag ein verdrießliches Grinsen. »Schlechte Nachrichten, Jungs«, sagte er, während er seine Tasche absetzte. »Von jetzt an gibt’s keinen Stoff mehr von der Venus. Sie haben die Planetenpatrouille verstärkt und die Flughafenkontrollen verschärft. Tony haben sie geschnappt, mit ihm sein Schiff und die Ware für euch. Natürlich haben sie ihn ins Kittchen gesteckt und die Ladung verbrannt. Das bedeutet also, daß ihr keine Snookerrinde mehr kriegt, keine Käfer, keine Twangi-Twangi, keine Melonen oder was ihr sonst noch benötigt. Shan Dhee macht nicht mehr mit. Ich habe also keine Beziehungen mehr und muß aus dem Geschäft aussteigen. Schade!« »Du hast nichts mehr für uns?« fragte Parks totenbleich. Er verfocht mit aller Kraft die Theorie, daß das Mittel gegen das Fieber nur in einem organischen Produkt der Venus gefunden werden könne, wo die Krankheit ihren Ursprung hatte. Wenn das stimmte, so würden die natürlichen Feinde des Virus sich dort entwickeln. Aber vor kurzem waren weitere venusianische Krankheiten aufgetaucht. Die Quarantänebehörden mußten eine noch strengere Hafensperre verhängen. Ohne geschmuggelte organische Mittel würden ihm und Maxwell jedoch die Hände gebunden sein. »Ich habe das Zeug hier«, sagte Hoskins und öffnete die Tasche. »Es ist nicht das, was ihr gewöhnlich bestellt, aber ich habe es nun einmal mit und möchte Ausverkauf machen. Es ist
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Beute, die Shan Dhee aus dem Tombovtempel geholt hat, als er ihn ausraubte. Sollte eigentlich in ein Museum kommen, aber das Zeug ist heiß und sie stellen viele Fragen. Vielleicht könnt ihr es brauchen.« Er griff in die Tasche und brachte eine kleine Figur zum Vorschein. Es war ein Stück des merkwürdigen kaffeebraunen Halbjadesteines, der bei den wilden Tombovs als heilig gilt. Es war ein außergewöhnlich schönes Stück, das von der Fertigkeit der Tombovs zeugte. Es zeigte einen rundlichen, steinalten Tombovgötzen, der gemütlich auf seinem Thron saß, seine plumpen Hände über dem Bauch verschränkt. Um seinen Hals hing eine Schnur, die scheinbar aus Perlen bestand; auf dem Haupt trug er eine Krone aus Sumpflilien. Lilien wuchsen auch rings um den Thron, wobei ihre natürliche Farbe mit einer Art Lack kunstvoll auf dem Jadestein aufgetragen war. Shan Dhee sagte, daß es der Tombovgott der Gesundheit ist. Er stammt aus dem großen Tempel im Angrasumpf, wo die Angrastämme ihre Feste feiern. »Huh!« schüttelte sich Parks. Die Leute, die die Tombovriten gesehen hatten, berichteten, daß es keine angenehme Sache war, sie zu beobachten. »Nein, wir können es nicht brauchen.« »Ich weiß nicht«, sagte Maxwell langsam. »Gott der Gesundheit sagst du? Hm, wie mir gerade einfällt, scheinen die meisten Tombov gegen das Fieber völlig immun zu sein, oder besser, sie waren es, bis unsere Pioniere kamen. Vielleicht würde sich eine nähere Untersuchung lohnen. Was willst du dafür haben?« »Weil ihr es seid, behaltet ihn«, sagte Hoskins. »Ihr wart gute Kunden. Nehmt ihn als Zugabe. Aber für das hier muß ich Geld haben.« Er griff wiederum in die Tasche und holte zwei Hände voll schöner, schimmernder Kugeln hervor. Sie hatten etwa die Größe eines Golfballes. Dünn, zerbrechlich und in allen Farben
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schillernd glichen sie jedoch großen Seifenblasen. Als Maxwell eine davon untersuchte, fand er sie steinhart, obgleich fast ohne Gewicht, ja, er hätte schwören können, daß sie aus hartem Kristall waren. »Was ist das?« »Gemmen, vermute ich«, sagte Hoskins achselzuckend. »Sie kamen auch aus dem Tempel. Shan Dhee sagte, daß sie um den Hals des großen Götzen wie ein Halsband hingen, mit einigen Grashalmen zusammengehalten. Seht! Der kleine Götze trägt eine Abbildung davon.« Mit gerunzelter Stirn betrachtete Maxwell die Kugeln. »Eintausend für alles«, fügte Hoskins schnell hinzu. Das war viel Geld, aber was bedeutete Geld für Männer, die einem schleichenden, qualvollen Tod geweiht waren? Der Tand hing irgendwie mit den Tombovriten der Gesundheit zusammen. Und die wilden Tombov, obgleich schmutzige Kerle, waren auffallend gesund Nur die zivilisierten verkamen und starben. Noch stand nicht fest, ob die Gemmen selbst therapeutischen Wert hatten, aber sie kamen aus dem Tempel und waren daher ein Symbol für irgend etwas. Vielleicht sogar ein Hinweis auf das wirkliche Geheimnis. Maxwell öffnete eine Schublade und fegte die glitzernden Kugeln hinein. »Schreibe einen Scheck aus, Parks. Die Dinger interessieren mich.« Parks, immer noch benommen von seinem verfrühten Anfall, nickte. Als Hoskins gegangen war, holten sie die Kugeln wieder hervor und begannen sogleich mit der gemeinsamen Untersuchung. Versuche wurden gemacht, deren Ergebnisse jedoch weitgehend negativ blieben. Die schillernden Kugeln erwiesen sich als säurefest und bruchsicher und waren von erstaunlicher Härte. Endlich brachte Maxwell es fertig, eine von ihnen entzwei zu sägen. Sie war hohl. Als die Säge jedoch die dünne Schale
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durchschnitt vernahmen sie ein scharfes Zischen, als ob ein Gas aus dem Inneren entweiche. Parks war rasch zur Hand und konnte eine Spur des faul riechenden Stoffes auffangen. Er konnte jedoch den Stoff nicht analysieren, da die organischen Gase auf der Venus eine überaus stabile Molekularstruktur besitzen. »Sieh mal an!« rief Maxwell kurz danach aus und blickte vom Mikroskop auf. »Hier habe ich etwas von dem Sägemehl. Es ist keineswegs kristallen, zweifellos eine Zellenstruktur. Diese Kugeln sind bestimmt keine Minerale, aber auch keine Pflanzen – oder Tiergewebe. – Nicht wie wir sie kennen. Sie sind eben – « »Eben venusianisch«, vollendete Parks seinen Satz. Alles was auf der Venus lebte, bereitete den Forschern Kopfzerbrechen. Zwischen Flora und Fauna gab es keine erkennbare Grenze und zeitweise fielen beide in die Kategorie der Minerale. Venusianische Lebenszyklen machten solche abweichenden Umwandlungen durch, daß sie die Wandlungen des Bandwurmes auf der Erde so jämmerlich einfach wie die Zellenteilung der Amöbe erscheinen ließen. Parks kannte eine Art Wasserameise, um nur ein Beispiel zu nennen, die durch das Haften auf der Haut von Aalen befruchtet wurden, an Land krochen und ihre Eier legten, welche bald darauf als Moos hochwuchsen. Häßliche federlose Vögel fraßen das Moos und in ihrem Körper bildeten sich Parasiten. Diese wurden beim Verlassen des Gasttieres zu kriechenden Ameisen, denen Flügel wuchsen und die sich zum Ozean aufmachten. Das war lediglich das übliche Venusschema der Symbiose. Die Ameisen waren irgendwie für das Leben der Aale notwendig und in ihrer späteren Form für die Vögel sowohl Nahrung als auch Verdauungsenzyme. Wissenschaftler, die versuchten, sich durchzufinden, verloren sich in einem Irrgarten immer neuer Abzweigungen. Maxwell und Parks starrten sich an.
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»Man kann nur eins tun«, sagte Maxwell. »Hoskins kann uns keine Ware mehr bringen, also müssen wir sie selbst holen. Ich will wissen, weshalb die wilden Tombov kein Fieber bekommen, weshalb Lilien ihnen heilig sind und was das hier ist. Wir fliegen zur Venus.« * Unter sehr wenig erfreulichen Umständen erreichten sie den Hafen von Angra. Arme und Beine waren geschwollen und schmerzten von den unzähligen Injektionen. Ferner mußten sie auf fast alle bürgerlichen Rechte schriftlich verzichten, denn trotz aller Vorsichtsmaßnahmen konnten Weiße kaum länger als drei Monate auf der Venus leben, ohne sich eine oder mehrere giftige Infektionskrankheiten zuzuziehen, die ihre Rückkehr zur Erde unmöglich machten. Der Aufenthalt auf dem Planeten geschah auf eigene Gefahr. Ihre Mitreisenden befanden sich in ähnlicher Verfassung. Ein paar waren verzweifelte Wissenschaftler wie sie selbst, andere waren Missionare, die Brüder ablösen sollten, deren drei Monate um waren. Aus ähnlichen Gründen kamen Offiziere zur Ablösung der Quarantäneposten mit, dann Vertreter der Radioaktivsyndikate, deren Aufgabe es war, die Uraniumminen in Betrieb zu halten. Die meisten von ihnen sahen dieser Beschäftigung mit gemischten Gefühlen entgegen. Sie stießen durch den unvermeidlichen, stickig-gelben heißen Nebel und landeten auf einer in den Dschungel geschlagenen Lichtung. Ein erschütternder Anblick bot sich ihnen. Endlose Reihen auf den Boden gestellter Sänften mit dem verwitternden und verschimmelten Zeichen des Roten Kreuzes. Auf Tragbahren lagen die Männer, die auf Ablösung warteten – elende Wracks. Für die meisten von ihnen war das Eintreffen im Hafen nur ein schwacher Hoffnungsschimmer. Ob sie für die
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Heimreise angenommen wurden, hing allerdings von den Ärzten ab. »Reizende Gegend«, stellte Parks ironisch fest. »Wenn dich das Fieber wieder packt«, erinnerte ihn Maxwell, »hat das keine Bedeutung mehr. Es wird überall das gleiche Bild sein.« Er musterte die Rainen der zivilisierten Tombovs, die geduldig neben den Sänften standen. Es waren die Träger, die Sklaven in dieser Hölle. Abgemagert und zitternd standen sie da, weil sie krank waren, schlimmer noch als die Weißen. Man hielt es wohl für angebracht, Erdenmenschen durch periodische Injektionen von Paracrobin am Leben zu erhalten, betrachtete es jedoch als grobe Verschwendung, das Mittel an Eingeborene zu vergeuden. Es gab genug Eingeborene in den Sümpfen und wenn sie Tabak versprochen bekamen, das einzige was bei ihnen nicht wuchs, sie aber sehr schätzten, schlossen sich die Lücken immer wieder. Während Maxwell sich umsah, verfiel einer der Träger in wilde Zuckungen, krümmte sich heulend und sank auf den morastigen Boden. Keiner beachtete ihn. Es war zu alltäglich. Morgen würden sich vielleicht die Straßenreiniger mit ihm befassen. Die Tombov waren auffallend1 menschenähnlich. Sie wirkten etwas grotesk, etwa wie die Menschenaffen auf der Erde. Der deutlichste Unterschied lag in den Füßen. Sie hatten große Spreizfüße, die als Morastschuhe dienten und das Körpergewicht auf eine größere Fläche verteilten, so daß sie sicher auf der dünnen Kruste gehen konnten, die auf dem zähen Schlamm der Sümpfe lag. Es waren entenähnliche Füße, meist mit Schwimmhäuten zwischen den langen, spitz zulaufenden Zehen. Der Hafenkapitän rief nach Sänften für die Neuankömmlinge.
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Jeder Mensch bekam eine für sich und eine zweite für die Ausrüstung. Dann bellte er einen Befehl in der heiseren Mundart der Tombov. Die Träger nahmen ihre Lasten auf und gingen mit platschenden Schritten in der ihnen befohlenen Richtung. Trotz des schlechten Lichtes fand Maxwell die Reise interessant. Es mutete ihn direkt luxuriös an, auf den nackten Schultern von einem halben Dutzend trabender Sklaven über den nassen Boden getragen zu werden. Ihn interessierte die üppige Vegetation, die er zu beiden Seiten sah und die aber auch irgendwie abstoßend wirkte. Es gab eine Vielfalt von Lebewesen jeder Gattung. Ein reichhaltiges Arbeitsgebiet für wissenschaftliche Forschungen. Bei der gegenwärtigen menschlichen Sterblichkeitsziffer auf der Venus konnten Forscher sich nicht intensiv mit diesem Gebiet befassen und die Menschen demzufolge wenig über diese Lebensformen erfahren. Angefangen bei den Tieren, wenn man sie so bezeichnen konnte, die ab und zu über den Weg huschten, bis zu den üppig wuchernden Lianen, den rauchenden Büschen und den Bäumen, die metallisch klingende Geräusche wie von zersprungenen Glocken von sich gaben, war hier alles auffallend. Das Gefühl des Wohlbefindens verließ Maxwell sehr schnell, als die Karawane sich durch eine Lichtung entlang eines Schlammgrabens bewegte. Über der Gebäudegruppe jenseits des Grabens flatterte das gelbgraue Banner der Vereinten Missionen. Er sah das umzäumte Gelände, in das neu angekommene Tombov getrieben wurden. Von hier aus wurden sie den Sklavenmärkten zugeführt. Da Menschen in dem heimtückischen Klima weder leben noch arbeiten konnten, dienten die Eingeborenen als Lasttiere. Eingeborene gruben nach Uranium, bauten Hütten und schleppten Lasten. Die heidnischen Tombov konnte man für diese Arbeit wegen ihrer ungezügelten Wildheit nicht gebrauchen. Maxwell dachte abfällig an die Statistiken von Konvertiten.
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Es schien weniger ein evangelischer Plan als eine wirtschaftliche Notwendigkeit. Alle Erdenmenschen, gleich welcher Konfession, stimmten in dem einen Punkt überein, daß die Tombov faule, lüsterne und gewissenlose Schurken waren. Die wilden Eingeborenen waren chronische Lügner und geborene Diebe. Wer ihnen mißfiel, wurde kurzerhand umgebracht. Die Methoden, die sie dabei anwandten, waren wenig einladend. Sie waren hart, und körperliche Züchtigung machte ihnen nichts aus. Für Philosophie hatten sie nichts übrig, so daß auch in dieser Richtung jeder Versuch ohne Erfolg blieb. Kurz, um nützliche Menschen aus ihnen zu machen, mußte man sie bekehren. Hinter einer Biegung der Straße verschwanden die Mission und ihre verhaßte Abteilung, der Sklavenmarkt. Vor ihnen tauchten die ersten, weit verstreuten Hütten von Angra auf. Sie passierten die Klinik mit den weißgekleideten Wärtern und der unvermeidlichen Klagemauer. Dann erreichten sie ein niedriges Gebäude mit dem Schild: Büro für Forschungskoordinierung. Der diensttuende Arzt war ein abgehärmter, blasser Mann mit schmerzgezeichneten Augen, Sein hoffnungsloser Ausdruck verschwand nicht, als Maxwell seinen Plan vortrug. Als er geendet hatte, schüttelte der Arzt den Kopf. »Es ist zwecklos«, sagte er. »Viele vor Ihnen kamen in der Annahme, daß in den Speisen und Getränken der Tombov ein Mittel gegen das Fieber sei. Jeder Bestandteil ihrer Speisen ist hundertfach analysiert worden, selbst die faulige Sumpfluft, die sie einatmen. Stets waren die Resultate negativ. Ebenso gibt es zwischen unserer Blutgruppe und der der Tombov keinen bemerkenswerten Unterschied. Selbst ihre Vitaminreaktionen sind die gleichen. Wir sind zu der Annahme gekommen, daß die sogenannte Immunität der Tombov eine Ursache ihrer harten Konstitution ist. Die jetzt in den Sümpfen lebenden Tombov sind Nachkommen derer, denen die Krankheit einfach
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nichts anhaben konnte. Darauf ist ihre unbegreifliche Widerstandskraft zurückzuführen.« »Unsinn«, erwiderte Maxwell, den die Hohlheit des Mannes reizte… »Und was wird aus ihrer natürlichen Widerstandskraft, wenn sie getauft sind? Die Taufe hat keinen Einfluß auf naturgegebene Abwehrstoffe gegen Krankheiten. Ist Ihnen denn noch nie der Gedanke gekommen, daß es mit ihren geheimnisvollen Riten zusammenhängen könnte?« »Über Religion diskutiere ich nie«, sagte der Arzt steif. »Und je weniger über die abscheulichen Riten der Wilden im Sumpf gesagt wird, um so besser. Ich versichere Ihnen, mein Herr, wenn Sie die Tombovs so gut kennen würden wie wir hier – « Maxwell holte tief Luft und wandte sich ab. »Komm, Parks. Es ist immer dieselbe Leier. Wenn ein Wissenschaftler sich von Vorurteilen blenden läßt, ist er kein Wissenschaftler.« In der Klinik erkundigten sie sich nach dem Aufenthaltsort von Shan Dhee, Hoskins früherem Diener. Wie Hoskins berichtet hatte, war Shan Dhee ein Konvertit, der, nachdem er kurze Zeit bei den Weißen gelebt hatte, wieder zu seinem Stamm zurückkehrte. Kurz nach seiner Taufe hatte ihn das Fieber erfaßt, und er sah seine Rettung darin, wieder zurückzugehen. Seither wurde er jedoch von beiden Rassen als Abtrünniger schief angesehen und man begegnete ihm mit Mißtrauen. Man machte ihn zum Verbindungsmann, weil er der einzige heidnische Tombov war, der die Lebensweise der Erdenmenschen kannte und ihre Sprache verstand, wenn er sie selbst auch nur mangelhaft beherrschte. »Shan Dhee?« sagte ein Mann und zog erstaunt die Augenbrauen hoch. Wie konnte nur ein anständiger Mensch sich nach diesem ehrlosen Halunken erkundigen? »Nun, doch wohl im Kittchen. Wenn nicht, lungert er bestimmt in einer Spelunke da unten herum und hat sich mit Zankra vollaufen lassen. Ich rate Ihnen, einen Patrouillensoldaten mitzunehmen, wenn Sie ihn
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aufsuchen. Wenn einer als Konvertit verkommt, ist er von Grund auf schlecht.« »Oh, das macht mir nichts«, sagte Maxwell. Das Vorurteil gegen die Tombovs schien sehr verbreitet zu sein. Er vertraute jedoch fest auf Hoskins Empfehlung. Die Zankrabude war kein besonders appetitlicher Laden. Sie war dunkel, schmutzig und voll ekelerregender Gerüche Weiße, die an ihrem Schicksal verzweifelten, weil sie auf Grund ihres Zustandes von der Heimreise ausgeschlossen wurden, lagen überall auf schmutzigen Matten herum. Für die Welt waren sie gestorben, jedoch verrieten Zuckungen ihrer Körper, daß noch Leben in ihnen war. Sie gaben sich dem Zankraschnaps hin, um ihr elendes Dasein zu vergessen. Zankra war zwar kein Heilmittel, aber es brachte die ersehnte Betäubung. Es war ein natürliches Elixier, ein Gemisch aus Protomezylalkohol und einer Anzahl starker Alkaloide. Außerdem war es billig, da die Kürbisse, aus deren Saft es gewonnen wurde, schon für eine Kupfermünze zu haben waren. Ein Kürbis wurde gerade angestochen, als Maxwell und Parks die Spelunke betraten. Sie sahen einen Eingeborenen neben der Tür kauern, der ein Loch in die Frucht stieß und dann ein Saugrohr einsetzte. »Wir sind Hoskins Freunde«, sagte Maxwell zu ihm. »Wo können wir Shan Dhee finden?« Der Tombov musterte ihn verstohlen. Er zögerte und sagte: »Ich Shan Dhee.« Maxwell hatte ihn aufmerksam betrachtet und war froh, daß er bei bester Gesundheit zu sein schien. Nichts war bei dem Eingeborenen von der Krankheit zurückgeblieben, nicht einmal das Zittern, das selbst die Paracrobinspritzen nicht beseitigen konnten. Doch Shan Dhees Schultern und Arme bewiesen, daß er ein Opfer des Fiebers gewesen war. Sie waren von Narben bedeckt, die von eigenen Bissen herrührten. Ein unverkennba-
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res Zeichen, daß er nicht in Behandlung gewesen war. Die Narben waren alt und bestätigten Maxwells Vermutung. Der Mann war offensichtlich geheilt worden, obwohl das für unmöglich gehalten wurde. Aber wie? Vielleicht durch den Rückfall in seine früheren heidnischen Gebräuche. Shan Dhee machte einen armseligen, gehetzten Eindruck. Nicht nur, daß er das barbarische Pidgin sprach, er war auch mißtrauisch, stur und verstockt. Aus Maxwells Andeutungen merkte Shan Dhee sofort, daß dieser von seinem Tempelraub wußte, und er war sich im klaren, daß er eines furchtbaren Todes sterben würde, wenn andere Tombovs das herausbekämen. »Nicht wissen, was Lilienblume gut für«, sagte er immer wieder. »Tombov nicht essen. Tombov tragen. Lilienblume nicht gut für Erdleute. Kankilona kommen hervor aus Lilienblume. Erdleute Kankilona nicht mögen. Erdleute zu Priesterleute sagen, Kankilona furchtbar Monstrum. Erdleute und Priesterleute möcht sich töten all Kankilona. Kankilona tot, Tombov tot. Tod nicht gut für Tombov. Erdleute nicht sehen Kankilona.« So war das also. Weitere Fragen zu stellen, war jetzt sinnlos. Sie mußten zunächst einmal herausbekommen, was für Monstren diese Kankilonas eigentlich waren. Auf der Venus konnte es alles sein, von der wandernden Fliegenfalle bis zum feuerspeienden Drachen. Soviel stand fest: Die Lilien und die Monstren standen in irgendeinem Zusammenhang. Die Missionare mochten sie nicht, und die Monstren waren irgendwie für die Gesundheit der Tombov von Bedeutung. Fragen nach den schillernden gasgefüllten Kugeln wurden nur vage beantwortet. Erst viel später sollten diese Kugeln Bedeutung gewinnen. Shan Dhee versuchte verzweifelt, die Frage zu umgehen, denn offenbar hatte er Hoskins belogen. »Kleine glänzende Bälle sind kein Schmuck«, bekannte er schließlich. »Kleine glänzende Ball nicht gut überhaupt. Kleine
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glänzende Ball ein Tag schön… sechs, acht Tage mehr… keine kleine glänzende Ball mehr. Alle weg. Vielleicht so, kleine glänzende Ball Papa-Papa-Leute Kankilona.« »Er lügt«, sagte Parks. »Wir haben achtzehn davon zu Hause. Wir haben sie länger als eine Woche beobachtet und keine davon ist verschwunden. Ich möchte sie sogar als sehr dauerhaft bezeichnen.« Shan wollte nicht mit der Sprache herausrücken. Maxwell bemerkte den Hinweis auf einen Zusammenhang mit den Kankilona, ließ es aber dabei bewenden und steuerte auf den Zweck seines Besuches zu. Würde Shan Dhee so arrangieren können, daß sie die Riten der Tombovs beobachten konnten? Shan Dhee zuckte bei diesem Ansinnen entsetzt zusammen. Tombovtempel waren zu jeder Zeit für Erdenmenschen tabu, ja selbst für Tombovs und ihre Priester nur an bestimmten Festtagen zugänglich. Die Tombovs würden es kaum wagen, den Weißen etwas anzutun, wenn sie ihren Tempel entweihten, denn dafür hatten sie vor langer Zeit einmal eine bittere Lektion hinnehmen müssen, aber Shan Dhee würde für sie stehlen, schmuggeln, ja sogar morden, wenn genug Tabak dabei heraussprang, nur das eine nicht. »Mögen Tombovpriester keinen Tabak?« fragte Maxwell leise. Das war eine kluge Frage. Sie kam an und Shan Dhee besann sich nochmals. Er schlürfte seinen Zankra und rechnete an den Fingern. Endlich gab er nach. »Vielleicht so geht«, sagte er mit leisem Widerwillen. »Vielleicht lassen Tombov Priesterleut Shan Dhee Erdleut verstekken bei Gotthaus, aber Priesterleut nicht will Erdleut in Gotthaus. Erdleut nicht liebt sehen Tombov essen Kankilona. Erdleut werden krank, Erdleut bah, Erdleut werden verrückt. Erdleut schmeißen kaputt Gotthaus. Erdleut in Gotthaus nicht gut. Mehr gut, Erdleut verstecken draußen.« Beide Forscher versprachen feierlich, unbeobachtet zuzuse-
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hen. Sie würden es nur für sich behalten, und sie würden jeden annehmbaren Preis zahlen Sie würden sich passiv verhalten. Sie wollten nur das Geheimnis der Gesundheit der Tombov wissen. Shan Dhee reckte sich. Jetzt grinste er sogar hämisch. »Tombov Priesterleut mehr besser als Erdpriesterleut. Tombov wünschen langes Leben jetzt Sumpfseit, Tombov nicht wünschen langes Leben Himmelseit. Himmelseit nicht gut. Zu weit. Sumpfseit mehr besser.« Maxwell und Parks lächelten. Sie konnten es dem armen Teufel nicht verdenken. Wie konnte die neue Weltanschauung, die man ihnen predigte, Trost für harte Arbeit und Leiden sein? Sie wollten lieber jetzt in guter Gesundheit leben und den anderen ihren Platz im Himmel überlassen. Sie hielten sich nicht länger bei der Vorrede auf, sondern beschafften die Tabakmengen, die Shan Dhee forderte. Drei harte, mühevolle Wochen vergingen. Über glitschigen Morast, zum Teil im Kanu, bahnten sie sich ihren Weg zu der Stätte, wo die ›Feste des langen Lebens‹ gefeiert wurden. Shan Dhee zeigte ihnen die Zeichen, die das geheiligte Gebiet abgrenzten. Erst, wenn sie in drei Tagen entfernt wurden, durften die gewöhnlichen Tombovs das Gebiet betreten. Aber Shan Dhee stieß das plumpe Fahrzeug weiter. Seine Ankunft war hinreichend vorbereitet worden. Er lenkte das Kanu an den Dreiblöcken vorbei, auf denen zur Warnung federgeschmückte Schädel aufgespießt waren. Die Lagune verengte sich. Jetzt ging es zwischen zwei Lilienfeldern hindurch. Shan Dhee klärte seine Begleiter auf, daß es nur wenige Stellen gäbe, wo solche Lilien wüchsen und daß es unter Todesstrafe verboten sei, von diesem heiligen Boden die kostbaren Blumen zu stehlen. Maxwell betrachtete die Pflanzen mit Interesse, bemerkte aber nur geringe Unterschiede von irdischen Pflanzen, wie zum Beispiel ihre Übergröße und die gelbe Farbe. Doch dann fuhr er zurück, als er gräßliche haarige Kreaturen auf ihnen herum-
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kriechen sah. Plötzlich zeigte sich eines dieser furchterregenden Tiere in seiner ganzen Größe. Es war eine Art Riesentarantel. Wildes gesprenkeltes Haar hing von einem prallen pulsierenden Körper herunter, der die Größe eines Fußballs hatte. Anscheinend hatte sie eine Unzahl gebogener Beine, jedes haarig und mit Klauen versehen. Von häßlichen, messerartigen Giftzähnen troff grünliches Gift. Ein Büschel glänzender Augen war darüber zu erkennen. Jedes Auge funkelte böse abwechselnd rot und violett. »Kankilona«, sage Shan Dhee. Parks schüttelte sich. Schon der Anblick allein war entsetzlich. Hatte Shan Dhee gesagt, daß die Tombovs sie essen? Die Lagune wurde seicht und eng. Jetzt ließ Shan Dhee die Nase des Einbaums hochschnellen und auf eine verschlammte Sandbank auflaufen. Es war der Inselhügel des Tempelgeländes. Sie stiegen aus und zerrten das Kanu in das Unterholz, um es unter breiten Blättern zu verbergen. Dann nahmen sie ihr Gepäck und kletterten auf den Erdhügel. Es war eine grasbewachsene Sumpfniederung, von schweren Zypressen umsäumt. Unter den Bäumen befanden sich Hunderte von kleinen Hütten. In einiger Entfernung stand der Tempel, ein erstaunliches Bauwerk aus grauem Stein, .erstaunlich deshalb, weil der nächste feste Boden mehr als hundert Meilen weit weg lag. Nur durch den blinden Gehorsam der Eingeborenen konnten jene mächtigen Steine herbeigeschleppt worden sein. Das große Portal des Tempels war geschlossen und verriegelt. Nichts regte sich. Shan Dhee beachtete seine Umgebung nicht, bis er ihr Versteck gebaut hatte. Er errichtete eine Hütte mit zwei Räumen für sie, weit genug von den anderen entfernt. Shan Dhee sagte, daß er als geduldeter Geächteter an dem Fest teilnehmen dürfe, sich aber von den wahrhaft Treuen distanzieren müsse. Die Lage der Hütte war gut gewählt. Die beiden Männer konnten
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sich im hinteren Raum aufhalten, von wo sie die Feierlichkeiten durch Gucklöcher ungestört beobachten konnten. Shan Dhee würde behäbig am Eingang sitzen und sicher sein, daß kein wilder Tombov sich ihm zu nähern wagte. Shan Dhee sagte, daß sie von dort alles übersehen könnten, was sehenswert war, bis zu der Nacht, in der das Gelage seinen Höhepunkt erreichte. Um diese Zeit würden die Tombov völlig betrunken sein und nicht merken, daß sie aus der Dunkelheit außerhalb des Tempels beobachtet wurden. Maxwell und Parks packten zunächst ihre Sachen aus, ihre Nahrungspillen und den Vorrat an Tabaksträngen, der für die Priester bestimmt war. Dann kam ihr wissenschaftliches Gerät, Becher, Reagenzgläser, Gegenchemikalien und ihre AllzweckSpektrographkamera. Jedoch das wichtigste war ihr kostbarer Vorrat an Paracrobin, denn Parks hatte häufig Anfälle und mußte in stündlichen Abständen Injektionen bekommen. Sie verstauten alles sicher und machten es sich, so gut es ging, bequem, um auf die weiteren Ereignisse zu warten. In der folgenden Woche ereignete sich nicht viel. Doch in der darauffolgenden Woche strömten Tombovs herbei, über und über mit Schlamm bedeckt. Sie brachten ihre Frauen und Kinder mit und eine Anzahl Zankrakürbisse. Jede Familie belegte eine Hütte. Dann folgte die Stammesvereinigung, deren barbarisches Wesen im Sonnensystem überall gleich war. Sie wurde begleitet von monotonen Schlägen der Tamtams, von wildem, ungehemmtem Tanz, Unmengen von Speisen und Getränken. Vereinzelt sah man sinnlos Betrunkene, aber bis zum Beginn des fünften Tages war es im wesentlichen nur eine gesellige Versammlung. Erst am fünften Tag erschienen die Priester. Das Fest bekam dadurch ein anderes Gesicht. Die Tombovs lagen nicht mehr bis zum späten Nachmittag betrunken auf ihren Lagern. Sie bekamen Arbeit zugewiesen, und selbst ihren
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Frauen wurde eine Aufgabe übertragen. Sie wateten mit ihren gespreizten Schwimmfüßen planschend durch die Sümpfe. Die Männer trugen merkwürdige Netze aus zusammengeknüpften kleinen Lianen. Die Knaben schleppten geräumige Käfige aus Weidengeflecht. Die Aufgabe der Frauen schien darin zu bestehen, Lilien zu sammeln. Sie rupften die Pflanzen gleichmäßig ab, wobei sie Blüten und Blätter sammelten. Nur die fleischigen Stoppeln blieben zurück. Erst als der Abend anbrach und die Männer zurückkehrten, erkannte Maxwell, worauf sich ihre Jagd erstreckt hatte. Triumphierend kehrten sie mit großen Mengen gefangener Kankilonas zurück, und die in den Weidenkäfigen eingesperrten Spinnen heulten entsetzlich aus Protest gegen ihre Freiheitsberaubung. Die Priester öffneten die Tempeltore, um die Spinnen in Empfang zu nehmen und schlossen sie dann wieder. So ging es noch drei Tage lang. Aber als die Sümpfe ihres blühenden Schmucks und der kriechenden Monstren beraubt waren, machte Maxwell eine erstaunliche Entdeckung. Eines Tages kam die Sonne ein paar Minuten durch die dunklen Wolken – eine Seltenheit auf der Venus – und dabei schien ein Wunder zu geschehen. Die glanzlose Sumpfebene wurde ein Bett funkelnden Feuers. Die Kugeln, die ihm Hoskins verkauft hatte, lagen in großen Mengen herum. Sie übersäten den Boden wie Herbstlaub. Dann schoben sich die Wolken wieder vor die Sonne, und das Glühen erstarb. »Was hältst du davon?« fragte Parks voller Erstaunen. »Könnte es Liliensamen sein?« »Kaum«, sagte Maxwell. »Sie sind zu leicht und luftig. Samen müssen in den Boden dringen, um zu keimen. Diese Dinger hier gehen nicht einmal in Wasser unter.« Schließlich kam der letzte Tag des Festes. Männer und Frauen zogen die aus Lilien gefertigten Festkleider an. Man sah Kränze und Girlanden und Kopfbedeckungen aus Blättern. Der
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Zankra floß in Strömen. Den ganzen Nachmittag wurde ausgiebig getanzt, und gegen Einbruch der Dunkelheit wurden die Lieder der Betrunkenen zu wüstem Gegröle. Dann wurden die Tempeltüren weit aufgestoßen und im Innern Fackeln entzündet. »Sehr bald du sehen Hoskins Diener bei Kankilonafest«, meinte Shan Dhee. Er sah besorgt aus, als bereue er den Handel. »Nicht laß Priesterleut dich sehen«, warnte er. Maxwell und Parks wiederholten ihr Versprechen. Es war fast Mitternacht, als sie glaubten, daß sie sich hervorwagen konnten. Maxwell und Parks stahlen sich aus ihrer Hütte über die Niederung. Sie mußten sich vorsehen, um nicht auf die vielen Tombov zu treten, die überall herumlagen. In der Nähe der großen Tempeltür blieben sie stehen und schauten hinein. Die Orgie hatte ihren Höhepunkt erreicht. Sie sahen jetzt, wie das Fest verlief. Zwei Altardiener hoben eine sich windende Kankilona hoch, deren Beine abgerissen waren. Der Hohepriester nahm sie in Empfang und riß ihr mit zwei schnellen Griffen die Giftzähne aus. Die schleimigen Zähne warf er in einen Korb am Fuße des Hauptgötzen. Den Kadaver schleuderte er den jubelnden Festteilnehmern zu. Sie balgten sich darum, und die Erfolglosen heulten enttäuscht auf, als die Glücklichen ihre Zähne in den weichen Giftsack der zerfetzten Tarantel gruben. Parks umklammerte Maxwells Arme. »Ich – ich muß zurück zur Hütte«, keuchte er. »Was ist los?« fragte Maxwell sehr scharf. »Kannst du das nicht vertragen? Wir sind keine zimperlichen Mädchen.« »Das ist es auch nicht. Ich habe meine Injektion vergessen. Siehst du, wie ich zittere? Aber du bleibst hier. Ich bin sofort zurück.« Maxwell ließ ihn gehen. Es handelte sich ja doch nur um eine alltägliche Angelegenheit und er wollte deshalb keine Phase der Riten versäumen. Er beobachtete, wie Parks in der Dunkel-
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heit verschwand und widmete seine Aufmerksamkeit wieder den Orgien. Doch nicht lange. Ein erstaunlich starker Arm umfaßte ihn und ein rauhes Knie drückte ihn nieder. Als er den breiten flachen Fuß erblickte, da wußte er sofort, daß er es mit einem Tombov zu tun hatte. Dann zischte eine spottende Stimme in sein Ohr. Es war Shan Dhees Stimme. Er war sinnlos betrunken. Sein Atem stank nach Zankra und anderen üblen Gerüchen, »Erdleut will lang leben, buh?« so höhnte er. »Okay, okay, Erdleut kriegt lang Leben. Erdleut fang Kankilonasaft.« Maxwell fühlte, wie sein Kopf mit Gewalt zurückgebogen wurde. Der Tombov lachte irre. Ein ekliger Klumpen eines haarigen, breiigen Etwas wurde ihm aufs Gesicht geklatscht. Er rang nach Luft. Er wehrte sich und versuchte, aufzuschreien. Das war genau das, was Shan Dhee bezweckte. Seine Zähne stießen durch die zarte Hülle des Giftsackes der Kankilona. Ein Strahl einer unbeschreiblich ekelhaften Flüssigkeit schoß ihn in den Mund. Gesicht und Schultern taten ihm weh. Maxwell fühlte sich beschmutzt und erniedrigt. Er wollte am liebsten sterben. Doch dann passiertes etwas Ungewöhnliches. Im Nu schwanden Übelkeit und Ekel. Dafür fühlte er sich in gehobene Stimmung versetzt, die an Ekstase grenzte. Er war nicht mehr krank, nie mehr – er war stark. Das Leben war herrlich. Voller Lebenslust stimmte er ein Kriegsgeheul an, daß die ganze Niederung wackelte. Dann drehte sich alles vor seinen Augen. Lichter tanzten auf und ab. Das Heulen im Tempel erstarb und schien sich zu entfernen. Danach wußte Maxwell nichts mehr. Die graue Dämmerung des darauffolgenden Morgens umfing ihn, als er erwachte. Mit dem Gesicht auf der Erde lag er inmitten allerlei Unrat vor der Tempeltür. Einen Augenblick blieb er still liegen und fragte sich, wann die unvermeidlichen Kopfschmerzen beginnen würden, die nach einem derart schweren
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Rausch, an den er sich nur schwach erinnerte, zu erwarten waren. Doch sie blieben aus. Er hatte nicht einmal einen schalen Geschmack im Mund. Maxwell mußte sich eingestehen, daß er sich recht wohl fühlte, obwohl er in seiner augenblicklichen Verfassung gedemütigt sein mußte. Er zweifelte an seinem Verstand. Vorsichtig erhob er sich, weil er befürchtete, daß er betrunken schwanken würde. Aber er fühlte sich quicklebendig. Deshalb ließ er das Grübeln und erhob sich rasch, was er allerdings in derselben Minute bereute. Sein Kopf prallte gegen etwas und mit dumpfen Aufschlag rollte etwas vor seine Füße. Entsetzen packte ihn, als er die Augen öffnete. Um ihn lagen drei mit einem Büschel Federn aneinandergebundene lange Holzstäbe. Schädel grinsten ihn an. In der Nacht hatte jemand über ihm dieses gräßliche Symbol aufgestellt, um kenntlich zu machen, daß er tabu war, daß ein Fluch auf ihm lag. Maxwell schaute zum Tempel. Die Türen waren verschlossen und verriegelt und auch die Hütten in den Niederungen waren verlassen. Das Fest war vorüber. Jetzt war alles tabu. Maxwells Armbanduhr zeigte den späten Nachmittag an. Er hatte die ganze Nacht über geschlafen. Doch er fühlte sein Herz klopfen, als er sich jetzt plötzlich an Parks erinnerte. Hatte er nicht gesagt, er wolle nach der Injektion zurückkommen? Wo war er? Hatte Shan Dhee auch ihn überfallen? Maxwell blickte sich um, aber nichts war von ihm zu sehen. Mit großen Schritten durchquerte er die Niederung Vor der Hütte blieb er entsetzt stehen. Ein weiterer Dreibock stand da. In der Nähe war auf einem Pfahl der grinsende frisch abgetrennte Kopf eines Tombov aufgespießt. Am Fuße des Pfahles lagen frischbenagte Knochen, fast wie die von Menschen. Es war Shan Dhees Kopf. Das bedeutete, daß Shan Dhee irgendwelches Gebot übertreten und die Strafe dafür erlitten hatte. Es war scheußlich. Maxwell wagte nicht daran zu denken, was er im Inneren ihrer Hütte vorfinden würde.
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Der Anblick war schlimm genug. Beide Räume waren voll von zerschmetterten Gegenständen. Der Großteil ihrer wissenschaftlichen Ausrüstung war vollkommen zerstört, Nahrungstabletten waren mit verschütteten Chemikalien vermischt. Jedes Krümchen Tabak war verschwunden, doch weit schlimmer war, daß der ganze Raum nach Paracrobin stank. Zerbrochene Ampullen und Spritzen sagten ihm alles. Die Eindringlinge hatten rücksichtslos zerstört, was für sie selbst wertlos war. Doch vorerst störte das Maxwell wenig. Er mußte Parks finden und er fand ihn unter einem Haufen zerrissener Kleider versteckt. Maxwell wühlte ihn heraus, kniete nieder und starrte ihn niedergeschlagen an. Er kam sich wie ein Mörder vor, denn Parks war nie auf diese Wahnsinnsexpedition versessen gewesen. Maxwell war es, der die Sache riskieren wollte. Jetzt hatte Parks gespanntes Gesicht eine tödliche Blässe angenommen und das schwache Zittern in seinem Körper bewies die völlige Erschöpfung. Er mußte einen Tag und eine Nacht lang hilflos in Zuckungen dagelegen haben. Parks war offenbar nicht rechtzeitig zu seiner Spritze gekommen und mußte besinnungslos zusammengebrochen sein. Maxwell hätte das voraussehen und mit ihm zurückkehren sollen. Jetzt war es zu spät. Paracrobin besaßen sie nicht mehr und gegen Morgen würde Parks tot sein. Maxwell zermarterte sich minutenlang das Hirn. Dann dämmerte es ihm plötzlich. Mein Gott, er hatte selbst wenigstens zwei Spritzen versäumt und es ging ihm gut! Unglaublich. Er streckte seinen Arm aus. Nicht das geringste Zittern. Wie war das nur möglich? Sollte etwa…? Eine Sekunde später war Maxwell draußen und untersuchte die verlassenen Hütten. Bald würde es dämmern. Er durfte also keine Zeit verlieren. In der dritten Hütte fand er ein Kankilona-
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netz, in einer anderen einen zerbrochenen Käfig, den er rasch reparierte. Jetzt aber schnell zum Sumpfrand. Maxwell kam schnell dahinter, daß es eigentlich mehrerer Männer bedurfte, die schlauen Kankilonas lebend zu fangen. Die ersten paar, die er fand, entwischten ihm. Eine weitere sprang beiseite und drehte sich zappelnd im Kreise. Maxwell durfte nicht lange überlegen. Verlor Kankilonagift seine Kraft, wenn seine Trägerin tot war? Das entzog sich seiner Kenntnis. Aber eins wußte er, er mußte schleunigst welches haben, ganz gleich, wie stark. Er stieß sein Messer in eines der Monstren und es verendete. Da er keinen Behälter besaß, riß er ein Stück von seinem Hemd ab und tränkte es in dem träufelnden Gift. So schnell er konnte, lief er zu Parks zurück. »Mach’ den Mund auf, alter Junge«, drängte er. Keine Antwort. Maxwell riß Parks Kiefer auseinander und klemmte etwas dazwischen. Dann wand er das zähflüssige Öl Tropfen für Tropfen aus dem Lappen. Parks wimmerte and versuchte, den Kopf wegzudrehen. Doch er war viel zu schwach. Maxwell träufelte ihm das Zeug gewaltsam ein, und wartete nun voll Ungewisser Spannung die Reaktion ab. Diese setzte zum Glück schnell ein. Innerhalb von Sekunden ging Parks schwacher Atem regelmäßiger. Sein Pulsschlag wurde kräftiger. Langsam entspannten sich die verkrampften Nackenmuskeln. Das Gesicht glättete sich und ein zartes Rot stieg in seine Wangen. Bald darauf schlief Parks ein. Maxwell untersuchte ihn sorgfältig von Kopf bis Fuß. Kein Zittern, überhaupt kein Zittern. Maxwell seufzte tief und erleichtert auf. Dann knipste er die Taschenlampe an. Da die Nahrungstabletten ungenießbar waren, mußte er sich um Nahrung bemühen. Parks Gesundung ging trotz des wirksamen neuen Mittels sehr langsam voran. Das mochte daran liegen, daß die Krankheit schon zu weit fortgeschritten war oder aber, daß das Gift nicht ganz frisch war. Seine völlige Wiederherstellung zog sich
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über mehrere Wochen hin. Während dieser Zeit hatte Maxwell Gelegenheit, viele Dinge zu beobachten. Besonders den Sumpf ließ er nicht aus den Augen. Er wollte sehen, was mit den kristallenen Kugeln passierte, von den Shan Dhee sagte, sie würden nach einer Weile verschwinden. Er zog Morastschuhe an und sammelte einige von Ihnen ein, die er in der Hütte versteckte. Fast eine Woche passierte überhaupt nichts. Zufällig konnte Maxwell einmal nicht schlafen und schlenderte über die Niederung, um Luft zu schöpfen. Da bemerkte er ein schimmerndes, violettes Licht, das die ganze Sumpfniederung zu durchdringen schien. Es war, als wäre die ganze Ebene ein Bett schwelenden Anthrazits, der von einer bläulich flackernden Flamme entzündet würde. Maxwell ging zur Hütte zurück um seine Taschenlampe und die Sumpfschuhe zu holen. Dann entdeckte er eine Horde träge kriechender Tiere, die den eigenartigen australischen Schnabeltieren ähnlich waren. Viele knabberten geräuschvoll an den Lilienstoppeln. Die meisten jedoch lagen wie verzaubert und starrten auf die kristallenen Kugeln. Es war das Schimmern ihrer violetten Augen, das die seltsame Beleuchtung erzeugte. Die meisten venusianischen Faunaarten hatten die Leuchtaugen, das wußte er. Was ihn dagegen überraschte, war die Verwandlung, die das Licht bei den schimmernden Bällen bewirkte. Sie wurden immer kleiner und schrumpften schließlich zu kleinen, harten relativ schweren Tabletten zusammen. Plötzlich waren sie verschwunden. Nur noch aufsteigende Blasen kennzeichneten die Stelle, wo sie im Morast versunken waren. Maxwell steckte mehrere eingeschrumpfte Bälle in die Tasche, bevor auch sie noch versanken. Am folgenden Morgen durchschnitt er eine dieser Kugeln. Sie hatten sich jetzt offensichtlich in Samen umgewandelt, möglicherweise in Liliensamen. Ein weiteres Beispiel für die Wan-
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delbarkeit dieser Natur. Anscheinend waren sie im ersten Stadium unfruchtbar und somit von der gleichen Form, und einem Gewicht das sie auf der Oberfläche des Sumpfes hielt. Vielleicht durch symbiotischen Impuls wurden die Schnabeltiere angezogen, starrten mit ihren Violettstrahlen darauf und bewirkten so in irgendeiner Weise die Befruchtung. Darauf pflanzten sie sich selbst durch ihre Schwere ein. Maxwell verfolgte diese Theorie. In der darauffolgenden Nacht ging er besser vorbereitet in den Sumpf. Er schleppte ein Bündel trockener Stöcke und die Spektrographkamera. Zunächst maß er die genaue Zusammensetzung des violetten Lichtes und notierte die Beleuchtungsdauer. Dann markierte er eine Anzahl der blasigen Stellen mit den Stöcken. Wenn dort Lilien wuchsen, waren die Kugeln Liliensamen. Am nächsten Tag stellte er die Kamera auf Projektionsbetrieb um. Er machte das Licht des Schnabeltieres nach und strahlte es auf die kristallenen Kugeln, die er zuerst gefunden hatte. Sie schrumpften zu Samen. Somit hatte er den ersten kleinen Beweis für seine Theorie. Dann pflanzte er sie in eine vorher markierte Stelle. Allmählich ging es Parks besser. Mehrere Tage suchte und fand er etliche Spinnen, aber täglich wurden es weniger. Dann kam der Tag, wo es überhaupt keine mehr gab. Das Fest war also zeitlich mit ihrer größten Häufigkeit verbunden. Wann würde sich die nächste Generation entwickelt haben, und vorher? Darüber dachte Maxwell nach, als er mit der Untersuchung des kleinen Haufens Kadaver begann, der vor der Hütte aufgeschichtet war. Er hoffte, etwas über die Zeugung der Kankilonas zu entdecken. Seine Sektionen blieben bis auf eine negativ. In dieser einen fand er etwas, das ihn überrascht aufspringen ließ. Es war ein Ei! Aber das Kankilonaei war eine jener kristallenen Kugeln. Jetzt hatte er ein weiteres Glied aus deren Lebenskreislauf ge-
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funden. Er würde warten müssen, bis sich der Rest davon entwickelte. Aus einem weiteren Grunde würde er noch warten müssen. Parks hatte sich zwar erholt, war aber für einige Zeit noch nicht in der Lage zu reisen. Auch würde ihnen auf dem Rückweg Shan Dhees Hilfe fehlen. Maxwell zweifelte, ob die wütenden Priester ihnen das Kanu gelassen hatten. Besorgt eilte er zum Versteck. Der Einbaum lag unversehrt, wie sie ihn verlassen hatten. Maxwell ließ ihn versuchsweise vorsichtig zu Wasser. Während er lernte mit ihm umzugehen, ruderte er ein Stück die Lagune hinunter. Er bremste scharf, als er sich den Dreibockzeichen näherte, die das Lilienschutzgebiet markierten, denn nur ein Stück weiter lagen eingezäunte Behausungen der Tombovs. Doch gleich darauf hatte er sich wieder etwas beruhigt. Ein Tombov hatte ihn entdeckt und eine bange Minute starrten sie sich prüfend an. Andere Tombovs erhoben sich und blickten stumpfsinnig und ausdruckslos zu ihm hinüber. Sie erhoben jedoch kein Geschrei und machten auch keine feindliche Geste. Als Maxwell den Einbaum wendete und zurück zur Tempellichtung fuhr, wandten sie sich ab, als sei der Zwischenfall für sie beendet. Parks war es, der den Zweck dieser Posten erkannte. Er war wieder zu Kräften gekommen und folgte Maxwells Theorien mit großem Interesse. »Diese Kankilonas sind das größte Geheimnis der Tombovs. Sie wissen, wie selbstsüchtig die Erdenmenschen sind und wie rücksichtslos sie sie auszubeuten versuchen. Sie wollen uns nicht umbringen – wenn sie das wollten, hätten sie es in der Nacht getan, als sie abzogen. Sie werden uns aber nicht mit einer einzigen lebenden Spinne nach Angra zurückkehren lassen, auch nicht mit einem Kankilonaei oder sonst einem ihrer Geheimnisse. Wenn wir ihr Gebiet lebend verlassen wollen,
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müssen wir mit leeren Händen gehen.« »Du hast recht«, sagte Maxwell düster. »Sie wissen genau, so gut wie du und ich, daß, wenn unsere Rasse von dem Spinnengift Wind bekommt, Schwärme von Menschen in ihre Sümpfe eindringen und die Spinnen in einem Zug ausrotten würden. Es gibt eben nicht genügend Kankilonas. Sie würden den gleichen Weg des Bisons und des Dodos gehen. Dann säßen wir in der Klemme.« »Stimmt«, erwiderte Parks. »Wir sollten jedoch unbedingt das Gift analysieren und herausfinden, welche Bestandteile es wirksam machen. Aber unsere Geräte sind zerstört; wenn wir überhaupt kein Stück durchbekommen, war alles umsonst.« »Mal abwarten«, sagte Maxwell. * In der Zwischenzeit sprossen, wo die Kugelsamen eingesunken waren, Lilien. Bald würden die Pflanzen reifen. Dann kam die Zeit für ein neues Fest. Sie mußten verschwinden, bevor es stattfand. Noch ein anderer Grund zwang sie zur Rückkehr. Wenn sie nicht bald nach Angra zurückkehrten, wäre ihre sechsmonatige Aufenthaltserlaubnis überschritten. Nichts würde die engstirnigen Beamten der Quarantäne davon überzeugen können, daß sie nicht von venusianischen Krankheiten befallen waren. Die ersten Lilien standen in voller Blüte, als sie in den Einbaum kletterten, um die Rückreise anzutreten. Maxwell lenkte das Kanu dicht an eine Blumengruppe und pflückte eine der gelben Blüten. Es war eine sehr merkwürdige Blüte, der sowohl Staubfaden wie Griffel fehlten. Demnach mußte es eine geschlechtslose Pflanze sein. Dann bemerkte er die Schwellung in einem der üppigen Blütenblätter. Er schlitzte es auf und legte einen kleinen Tumor frei. Er schnitt diesen auf. Zu seiner
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größten Überraschung krochen dutzende winzige, kleine Tierchen heraus. Wie Ameisen! Es waren junge Kankilonas! »Jetzt wissen wir genug«, sagte Maxwell und ließ die abgerissene Lilie zurück ins Wasser fallen. »Endlich wissen wir die ganze Geschichte! Lilien zeugen Spinnen, Spinnen legen Eier, Freund Schnabeltier kommt hinzu und die Eier werden zu Liliensamen. Zu der Zeit sind wir auf den Plan getreten.« »Kankilonas erhalten also die Gesundheit«, ergänzte Parks. »Nachdem sie ihre Eier gelegt haben, kommen die Tombovs und essen sie. Die sogenannten Tempeljuwelen, schätze ich, sind nur Reservesamen, falls einmal eine Dürre eintritt.« »Dürre auf der Venus!« lachte Maxwell. »Du bist verrückt.« Aber da kam ihm eine Idee.
Am Rande des Liliensumpfes wurden sie von Tombovs durchsucht. Sie waren ernst und schweigsam, aber nicht ge-
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walttätig. Doch dafür um so gründlicher. Die Durchsuchung ihres Kanus brachte nicht das Erwartete zum Vorschein. Ein mürrischer Häuptling deutete in Richtung Angra Maxwell tauchte sein Paddel tief ein und stieß das Kanu vorwärts »Es ist zwar traurig«, bemerkte nun Parks mit Bedauern, »aber wenigstens sind wir beide geheilt. Vielleicht haben wir später einmal mehr Glück.« »Wir sind nicht vollkommen geheilt«, sagte Maxwell ungehalten »Unsere Fälle sind nur eingedämmt, mehr nicht. Die Tombovs machen das zweimal im Jahr. Aber wir werden mehr Erfolg haben, als du annimmst. Hier ist er.« Er tippte auf sein Notizbuch, wo er das Spektrum des Schnabeltierblickes notiert hatte. »Zu Hause«, sagte er, »haben wir eine Menge Kankilonaeier, die uns Hoskins gebracht hatte. Wir wissen jetzt, wie wir sie befruchten können. In einem angemessen feuchten Treibhaus können wir unsere erste Zucht großziehen. Danach können wir die Sache größer aufziehen. Die Welt braucht nie zu erfahren, daß das was sie einnimmt, ein Destillat von Kankilonagift ist. Vielleicht nennen wir es Nixijit oder taufen es sonstwie.« »Gute Idee«, erwiderte Parks gleichmütig, »ich glaube, das Kongotal wäre geeignet dazu.« »Nichts ist so schlecht, wie es zuerst aussieht«, gab Maxwell zurück. Einen Monat später gab er seinem Optimismus in ähnlicher Weise Ausdruck. Sie befanden sich auf einem Schiff in Richtung Heimat. Sie gehörten zu den wenigen, denen es gut ging, um aufzustehen und sich angeregt zu unterhalten. Ein heruntergekommener, erschöpfter Missionar ließ sich neben sie in einen Sessel fallen. »Welche Gnade, daß ich zurück auf Gottes Fußbank darf«, keuchte er. »Zwar hatten schon die Wilden auf unserer Erde
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abscheuliche Sitten, aber die ganze Tombovkultur hat absolut keinen guten Zug.« »Oh«, sagte Maxwell und zog bedeutungsvoll lächelnd eine Augenbraue hoch, »das könnte ich nicht gerade behaupten.« Lilies of Life von Malcolm Jameson aus ASTOUNDING SCIENCE FICTION Copyright 1945 by Street & Smith Mit freundlicher Genehmigung von Otis Kline Assoc, Inc. Aus dem Amerikanischen übersetzt von Franz Josef Jacobi
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von GUNTER WISWEDE Die Erörterung der Probleme um die Entstehung des Universums ist seit einigen Jahren in ein neues Stadium getreten. Ausgangspunkt dieser Entwicklung waren zwei Entdeckungen der modernen Astrophysik, einmal die Feststellung, daß das Weltall sich ausdehnt und zum anderen die Bestimmung des Alters des Universums. Der Astronom Hubble machte nämlich die Beobachtung, daß sich weit entfernte Milchstraßensysteme mit großer Schnelligkeit von uns entfernen, so daß unsere Welt nach einem von J. H. Jeans entworfenen Bild einer auseinanderstrebenden, sich aufblähenden Seifenblase vergleichbar ist. Man hat ferner Grund zu der Annahme, daß die Geschwindigkeit, mit der sich diese Ausdehnung vollzieht, für alle Zeiten die gleiche war. Je weiter wir also in die Vergangenheit zurückgehen, desto mehr schrumpft demnach das Weltall zusammen. Irgendwann einmal muß dieser Prozeß der Ausdehnung jedoch seinen Anfang gefunden haben.
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Nun können wir aber das Alter des Universums durch verschiedene, voneinander unabhängige Methoden ziemlich genau messen. Die Berechnungen ergeben, daß das Weltalter zwischen drei und fünf Milliarden Jahren liegen muß. Die Frage, die sich hier als brennendes Problem aufdrangt, lautet: In welchem Zustand befand sich unser Universum zum Zeitpunkt seiner Entstehung? Die bisherige Theorie setzt an den Anfang der kosmischen Entwicklung eine Urexplosion der Materie, die die fortwährende Ausdehnung des Weltalls bewirkt. Der Raum sei in der Vergangenheit entsprechend dichter mit Materie angefüllt gewesen als heute. Wenn unsere Annahme richtig ist, daß sich das Universum schon immer ausdehnte, so muß die Materie vor langer Zeit außerordentlich dicht zusammengepackt gewesen sein, da ja nur ein kleinerer Raum zur Verfügung stand. Mit der Explosion und der damit verbundenen Ausdehnung nahm die Dichte dieser Urmaterie, die wir uns als Gaswolke vorzustellen haben, ständig ab, und zwar solange, bis sie so gering war, daß sich aus der Materie Sternsystemhaufen zusammenballen (kondensieren) konnten. Die Schwäche dieser Theorie liegt vor allem darin, daß sie zwar die Ausdehnung des Universums als Folge der Urexplosion zu erklären vermag, den Ursprung der Materie selbst aber im verborgenen läßt. Nach dem entworfenen Bild können wir nur annehmen, daß die Materie schon immer, also auch vor der Urexplosion existierte. Aus diesem Grunde vertreten heute viele Astronomen und Physiker, namentlich Hoyle, Jordan, Pauli und Lemaitre, neuere Theorien. Um diese verstehen zu können, müssen wir jedoch etwas ausholen. Die Lösung unseres Problems stützt sich nämlich auf die sogenannte Dimensionsanalyse, die sich mit reinen Zahlen beschäftigt. Der Begriff der reinen Zahl ist am besten mit dem Beispiel der Zahl n zu erläutern. Wenn wir fragen, welches das
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Verhältnis zwischen dem Umfang eines Kreises und seinem Durchmesser ist, so wird man bei jedem beliebigen Kreis antworten, es sei die Zahl π = 3,14.159 …, eine Zahl, die sich nicht ändert, ob man nun das Maß in Zentimetern, Zollen oder Klaftern ausdrückt. Eine Zahl wie π, die von keinem EinheitenSystem abhängig ist, heißt reine Zahl. Solche Zahlen tauchen auch in der Physik gelegentlich auf. Im gesamten Gebiet der Physik kennen wir jedoch eigenartigerweise nur ganz wenige reine Zahlen, die nicht von der Größenordnung 1 sind. Diese Übereinstimmung legt nahe, daß es interessant wäre, die Sonderfälle zu untersuchen. Zu diesem Zweck hat man alle bekannten Naturkonstanten, wie beispielsweise die Lichtgeschwindigkeit, den Elektronen-Halbmesser, die mittlere Dichte der Materie im Weltall usw. gesammelt und von ihnen aus möglichst viele reine Zahlen gebildet. Ordnen wir sie der Größe nach, so stellen wir fest, daß sie nicht beliebig über die ganze Zahlenreihe verstreut sind, sondern drei dichte Haufen bilden. Das erscheint zu auffällig, um nur Zufall zu sein. Wie erwartet liegt die größte Gruppe in der Größenordnung der Zahl 1. Die beiden anderen Gruppen wollen gar nicht so recht in unsere Sammlung passen; sie sind nämlich von extremer Größe. So weist die zweite Gruppe Zahlen auf, die 39 Nullen beherbergen, die dritte Gruppe hat sogar 78 Nullen. Bereits Eddington, der berühmte britische Astronom und Physiker, hat sich mit dieser Zahlenmystik beschäftigt. Er stellte sich die Frage: Warum sind diese Zahlen so riesig, und wie bringt die Natur es fertig, die Nullen richtig zu zählen? Eddington warnte nachdrücklich davor, die erhaltenen Werte der zweiten und dritten Gruppe als zufällig zu betrachten, und forderte, daß man sich zunächst einmal darüber wundern soll. Jedoch erst im Jahre 1937 wurde das Eddingtonsche Problem von Dirac in überraschender Weise gelöst: Die riesigen Natur-
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konstanten sind in Wahrheit gar nicht unveränderlich, sondern abhängige Größen des Weltalters. Daß diese Zahlen so außergewöhnlich hoch sind, ist nur eine Eigenschaft des heutigen Weltzustandes. Einfach ausgedrückt läßt sich sagen: Die Werte der zweiten und dritten Gruppe sind deshalb so hoch, weil es schon so spät ist. Im Uranfang mögen auch diese Zahlen von der Größe 1 gewesen sein; mit zunehmendem Alter des Universums sind sie jedoch gewachsen. Und nun kommen wir zu einem sehr merkwürdigen und überraschenden Ergebnis: Ist unsere Voraussetzung richtig, daß die Naturkonstanten mit der Zeit größer werden, so muß auch die Masse des Weltalls zunehmen. Die Materie des Kosmos ist also seit der Entstehung des Universums ständig gewachsen, was ja nichts anderes als eine fortwährende Neuschöpfung von Materie bedeutet. Dirac hat diesen Gedanken in einer kleinen Note veröffentlicht, aber kurz danach offenbar selbst die Kühnheit als zu groß empfunden, denn die Vorstellung wachsender Weltmasse führt zu einschneidenden Konsequenzen. In Anknüpfung an das von seinem Urheber sogleich teilweise wieder aufgegebene Weltmodell war der deutsche Physiker Pascual Jordan der einzige, der damals bereit gewesen ist, den Diracschen Gedanken ernst zu nehmen, ja sogar weiter zu radikalisieren. Dirac ist vermutlich durch die Befürchtung von Widersprüchen zum Energieerhaltungssatz zu einer Resignation bewogen worden. Der von Julius Robert Mayer aufgestellte Satz von der Erhaltung der Energie besagt ja, daß keine Energie verlorengehen und keine Energie (also auch keine Materie) aus dem Nichts entstehen kann. Für Jordans Gedankengänge bildete jedoch gerade der Energieerhaltungssatz den Ausgangspunkt weiterer Überlegungen. Die Sterne nämlich, diese gewaltigen Massenzusammenballungen, ziehen sich gegenseitig an, vermöge ihrer Gravitationskraft. Es mußte einen erheblichen
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Energiebetrag gekostet haben, sie voneinander zu trennen, was ja letzten Endes durch die Ausdehnung des Universums bewirkt wird. Nun hat Haas berechnet, daß die Gravitationsenergie des gesamten Kosmos größenordnungsmäßig gleich der Summe der materiellen Energie aller Sternmassen ist. Da aber die Gravitationsenergie in der Physik negativ gerechnet wird, die materielle Ruheenergie der Sterne dagegen positiv, so liegt der Gedanke nahe, daß die Gesamtenergie des Weltalls durch den Ausgleich positiver und negativer Energiebeträge exakt den Wert Null besitzt. Nun steht jedoch fest, daß der Kosmos sich ständig ausdehnt, wodurch folglich die Gravitationsenergie immer größer wird. Es muß also ein Ausgleich der Energiebilanz vorhanden sein, der dann unmittelbar in einer Materieneuerzeugung begründet liegt. Die Gesamtenergie der Welt behält also stets den Wert Null bei. Der Annahme, daß im Weltall eine fortwährende Neuschöpfung von Materie vor sich geht, steht nun kein Hindernis mehr entgegen. Schon vor längerer Zeit tauchte nämlich die Vermutung auf, daß Sternentstehungen als heute noch vor sich gehende Vorgänge zu betrachten seien. Unsold und Jordan haben in kühner Weise den. Gedanken geäußert, daß die Zeugen jener Sternentstehung vielleicht identisch sind mit einem jener seltenen Vorgänge, wie er in jedem Spiralnebel (Milchstraßensystem) nur im Abstand von mehreren Jahrhunderten eintritt: dem Auftreten einer Supernova. Die neue Auffassung löst sich also von der Vorstellung, daß es sich bei einer Supernova, die plötzlich als neu erscheinender heller Stern am Himmel sichtbar wird, um einen explosionsartigen Vorgang an einem bereits vorher existierenden Stern handle und behauptet, daß es sich statt dessen um die Neuentstehung eines Sternes handeln könne. Diese Hypothese scheint durch genaue Beobachtungen in den letzten Jahren bestätigt zu werden; im übrigen entspricht die Häufigkeit der Supernova –
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Erscheinungen ziemlich genau der theoretisch geforderten. Somit müssen wir uns auch lösen von der konventionellen Vorstellung einer Urexplosion der Materie am Anfang der kosmischen Entwicklung. Wir gehen jetzt von der Annahme aus, daß es nicht die Explosion ist, die die Ausdehnung des Weltalls verursacht, sondern daß die Erzeugung von neuer Materie das Universum zur Aufblähung gleichsam zwingt. Die ständige Materieerzeugung muß also nicht bewirken«, daß das Weltall immer voller wird, denn die Ausdehnung des Kosmos sorgt für den nötigen Ausgleich. Und das ist das überraschende Ergebnis dieser Theorie: Die Dichte der Materie im Universum bleibt stets gleich, die verdünnende Wirkung der Entfaltung wird durch die ständige Materieerzeugung ausgeglichen. Die weitestgehende Theorie in diesem Zusammenhang ist die von Jordan: Er verfolgt die kosmische Zeitskala des materieerzeugenden Kosmos zurück bis auf seinen Urzustand. Zum Zeitpunkt seiner Geburt war das Universum so groß wie ein Atomkern, besaß also die phantastisch anmutende Größe von einem Bruchteil eines Millionstel Millimeters und beherbergte ein Neutronenpaar (elektrisch neutrale Urbestandteile der Materie, die auch in den Atomen vorkommen). Dieses Neutronenpaar trennt sich und gibt nach der beschriebenen Interpretation des Ausgleichs der Energiebilanz der Bildung neuer Neutronen Raum. Es entstehen in kurzer Zeit ungeheuer viele Neutronen; der Radius des Weltalls nimmt mit der Steigerung ihrer Zahl beständig zu. Wenn sich auch diese Hypothese noch im Stadium qualitativer Betrachtungen befindet und sowohl Verfechter als auch entschiedene Gegner besitzt, so erscheint sie trotz ihrer Kühnheit erfolgversprechend und überzeugend. Raum, Zeit und Materie entstehen im gleichen Augenblick, als Schöpfung eines Neutronenpaares.
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von Harry F. Heide
Die großen Planeten – Saturn Saturnkugel Durch viele Jahrtausende galt der Saturn als der äußerste aller Wandelsterne; jenseits seiner Bahn begann die Sphäre der Fixsterne. Dies ist nicht weiter verwunderlich, denn der Ringplanet ist der letzte in der Reihe der großen Planeten. Sein trotz der großen Sonnenferne noch erhebliches Reflexionsvermögen, sowie seine zwar langsame, jedoch während längerer Zeiträume immerhin noch erkennbare Eigenbewegung unter den Fixsternen verraten sogleich seine Planeteneigenschaft. Das Licht des Saturn ist mattweiß und wie das aller Wandelsterne frei von jenem charakteristischen Funkeln, das ein typisches Merkmal aller Fixsterne bildet. Gewaltig ist seine Entfernung von der Sonne; im Mittel beträgt sie eine Milliarde 430 Millionen Kilometer. Selbst das Licht benötigt gut eineinhalb Stunden, um die Strecke Sonne – Saturn einmal zu durchmessen. Die Saturnbahn hat einen Umfang von 8 900.000.000 Kilometer. Wenn man weiß, daß der mächtige Planet auf seinem Weg um die Sonne pro Sekunde nur zehn Kilometer zurücklegt, so kann man sich leicht ausrechnen, daß er 29,5 Erdenjahre braucht, um seinen Kreislauf einmal zu durchmessen.
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Könnten wir aus jenen Fernen unser Tagesgestirn beobachten, so würde es uns unter einem Winkel von nur drei Bogenminuten erscheinen, also etwa zehnmal kleiner im Durchmesser, als von der Erde aus gesehen. Das Sonnenlicht schließlich ist sogar zirka neunzigmal schwächer als bei uns. Dies hat naturgemäß zur Folge, daß es mit den Lichtverhältnissen in jener fernen Welt recht schlecht bestellt ist. Die Oberfläche des Saturn selbst ist in undurchdringliche, ewige Nacht gehüllt, denn durch die ungeheuer hohe und dichte Atmosphäre des Planeten kann keiner der ohnehin schon recht schwachen Sonnenstrahlen dringen. Lediglich die Trabanten oder Monde erfreuen sich eines spärlichen Tageslichtes, dessen Intensität allerdings über das Maß einer sehr tiefen Dämmerung nie hinausgeht. Die Atmosphäre des Saturn gleicht in ihrer Zusammensetzung weitgehend der des Nachbarn Jupiter; auch hier finden wir Methan und Ammoniak als Hauptbestandteile, und auch sonst haben beide Planeten recht viel gemeinsame Merkmale, zum Beispiel die atmosphärischen Bänder des Saturn, die wohl erheblich breiter und weniger zahlreich sind als jene des Jupiter, aber zweifellos in gleicher Weise Wolkenbänder darstellen und in einer wilden Turbulenz der Saturn-Atmosphäre ihre Ursache haben. Sogar ein großer, weißer Fleck ist vorhanden, in ähnlicher Weise, wie Jupiter einen roten Fleck besitzt. Über die Art der eigentlichen Oberflächenverhältnisse des Ringplaneten tappt man noch vollständig im dunkeln. Es ist aber sehr wohl denkbar, daß sich auch Saturn noch mitten in seinem Erkaltungsprozeß befindet. Der Saturnkörper ist keine wirkliche Kugel, sondern ein sogenanntes Rotationsellipsoid, d. h. ein kugelähnlicher Körper, der an beiden Polen ziemlich stark abgeplattet ist. Diese Tatsache ist auf die überaus schnelle Achsenumdrehung des Planeten zurückzuführen, deren eine in jeweils 10,2 Stunden vollzogen wird. Das Ausmaß der Abplattung beträgt ein Zehntel des
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gesamten Poldurchmessers, So kommt es, daß die Gravitation auf diesem Riesenplaneten trotz eines 760mal größeren Rauminhaltes, als des der Erde, nur 1,1fachen Wert der irdischen Anziehung besitzt. Das ist nicht weiter verwunderlich, denn die durch die schnelle, in 10,2 Stunden erfolgende Umdrehung bei einem Äquatorumfang von 379.940 Kilometer zutage tretende enorme Fliehkraft gleicht die Gravitation der Masse weitgehend aus. Von der Erde aus gesehen erscheint Saturn unter einem Winkel von 15 bis 21 Bogensekunden (je nach Entfernung), das entspricht bei einer mittleren Sonnenferne von 1 430.000.000 Kilometern einem natürlichen Durchmesser von 121.000 Kilometern (ohne das Ringsystem). Wir sehen, daß Saturn seinem großen Bruder Jupiter in bezug auf die Größe kaum nachsteht, ja ihn weit übertrifft, wenn man das Ringsystem hinzunimmt. Die Dichte Saturns ist allerdings ungemein gering; sie beträgt nur etwa den zwölften Teil der irdischen Dichte, wie Saturn von allen bekannten Planeten überhaupt die unterste Grenze in bezug auf Dichte hält. Sie entspricht ungefähr der doppelten Festigkeit des Korkes. Das Ringsystem Als der große Italiener Galileo Galilei im Jahre 1612 sein selbstgebautes Fernrohr mit 33facher Vergrößerung auf den gestirnten Himmel richtete, machte er sehr schnell eine ganze Reihe geradezu umwälzender Entdeckungen. Er sah als erster Mensch die Gebirge des Mondes und die vier hellen Monde Jupiters. Die den Astronomen bis dahin unerklärliche Erscheinung der Milchstraße offenbarte sich plötzlich als ungeheure Sternansammlung – und so könnte man noch eine ganze Reihe anderer, nicht minder wichtiger Wahrnehmungen aufzählen,
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welche die Erkenntnis des Weltgebäudes sprunghaft vorantrieben. Auch der Planet Saturn wurde von Galilei sozusagen ›unter die Lupe‹ genommen. Der geniale Astronom kam aus dem Staunen nicht mehr heraus. Alle anderen Planten erschienen – wie es sich für ordentliche Vertreter dieser Gattung gehörte – als kreisrunde Scheiben, nur Saturn beanspruchte offenbar eine Sonderstellung! Infolge der mangelhaften optischen Leistung seines Fernrohres erkannte Galilei nämlich die Gestalt des Saturnrings nicht, sondern er sah den ganzen Planeten gewissermaßen länglich-elliptisch, sozusagen in Eiform. Weil er keine andere Erklärung für dieses Phänomen fand, kam Galilei zu dem absolut falschen Schluß, Saturn sei ein dreifacher Himmelskörper und hielt die beiden zu den entgegengesetzten Seiten der eigentlichen Planetenkugel stehenden Körper für Monde, die wider alle Erfahrung allerdings keine Bewegung aufwiesen, gewissermaßen mit Saturn irgendwie fest verbunden sein sollten. Allerdings war Galilei von seiner eigenen Erklärung durchaus unbefriedigt, und er verwarf sie sofort, als einige Jahre später die unheimlichen ›Monde‹ vollständig verschwanden, nachdem sie von Jahr zu Jahr immer schwächer geworden waren. Jahrzehnte hindurch verfolgten viele andere Gelehrte jene seltsame Eigenschaft Saturns, aber keiner konnte sie erklären, bis endlich der hervorragende Astronom und treffliche Beobachter Huygens im Jahre 1655 mit seinem selbstgefertigten, für die damalige Zeit ausgezeichneten Fernrohr die Wahrheit erkannte. Im Jahre 1659 schreibt er in seiner Schrift Systema Saturnium: ›Die Kugel des Saturn ist ringsum von einem dünnen, breiten, freischwebenden Ringe umgeben.‹ Natürlich fehlte es, wie bei allen sensationellen Entdeckungen, auch hier nicht an Widerlegungen und Protesten, auf die einzugehen wir uns an dieser Stelle sparen wollen.
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Als nach und nach die Existenz des Ringes anerkannt wurde, hub das große Rätselraten an, wie der Ring entstanden sein konnte und aus was er bestehe. Einer meinte, der Ring verdanke sein Entstehen Dünsten, die von der Planetenoberfläche aufsteigen; ein anderer hielt ihn für die Atmosphäre des Saturn und ein besonders phantasievoller Astronom behauptete sogar, der Planet habe sich einen Kometen eingefangen, dessen Schweif nun unentwegt um die Kugel herumkreise. Das alles waren bloße Vermutungen. Einige Wissenschaftler bemühten sich jedoch in ernsthafter Forschungsarbeit, das Mysterium des Ringes zu erhellen. So erkannte 1715 der Astronom Cassini, daß der Saturnring in zwei Teile getrennt ist, die beide für sich den Planeten umgeben und an keiner Stelle zusammenhängen. Dabei ist der innere Ring etwas heller als der äußere. Man hat errechnet, daß die ›Cassinische Teilung‹ 3600 Kilometer breit ist. Doch damit nicht genug: Bald entdeckte Encke im äußeren Ring noch eine weitere, allerdings bedeutend feinere Teilung. Diese sichtbar zu machen, bedarf es aber schon stärkerer optischer Hilfsmittel, außerdem ist beste Luftbeschaffenheit Voraussetzung. In späterer Zeit sind noch einige weitere Teilungen gesehen worden, die aber nur gelegentlich wahrgenommen werden können. Entweder sind es zeitbedingte Erscheinungen des Saturnringes selbst, oder aber, was wahrscheinlicher ist, sind die Teilungen konstant, werden aber, meistens von der immer in Unruhe befindlichen Atmosphäre verwischt. Nur in ganz seltenen Augenblicken idealster Luftklarheit treten sie hervor. Um die Mitte des vergangenen Jahrhunderts wurde noch ein dritter Ring, der sogenannte Florring, zuerst von Galle in Berlin und später von Bond und Daves entdeckt. Dieser Ring besitzt eine bräunlichrote Farbtönung und erscheint sehr durchsichtig; durch ihn hindurch kann man die Saturnkugel schimmern sehen.
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Was die Dimensionen des gesamten Ringsystems betrifft, so hat der Astronom Barnard am großen Refraktor der YerkesSternwarte (Objektiv-Durchmesser 1 Meter) dieselben folgendermaßen bestimmt: Äußerer Halbmesser des äußeren hellen Ringes (A-Ring) 138.800 km Innerer Halbmesser des äußeren hellen Ringes (A-Ring) 121.000 km Breite des A-Ringes 17.000 km Äußerer Halbmesser des inneren hellen Ringes (B-Ring) 117.400 km Innerer Halbmesser des inneren hellen Ringes (B-Ring) 88.500 km — Breite des B-Ringes 28.900 km Äußerer Halbmesser des dunklen Florringes (C-Ring) 88.500 km Innerer Halbmesser des dunklen Florringes (C-Ring) 70.900 km Breite des C-Ringes 17.600 km Breite der Cassinischen Teilung 3 570 km Breite des ganzen Ringes 67.070 km Durchmesser des gesamten Ringsystems 277.600 km Bezüglich der Dicke des Ringes herrschen noch recht unklare Vorstellungen. Tatsache ist, daß der Ring, von der Kante gesehen, nur in den stärksten Instrumenten und auch dann nur als ein haarfeiner Strich sichtbar ist. Die Angaben schwanken zwischen 15 und 15.500 km. Der Ring ist gegen die Ekliptik um 26° geneigt. Er erscheint somit von der Erde aus betrachtet immer nur in Gestalt einer Ellipse, deren Aussehen von Jahr zu Jahr Veränderungen unterworfen ist. Diese machen sich dergestalt bemerkbar, daß bei bestimmten Stellungen von Erde und Saturn zueinander die
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Ring-Ellipse ihre größte Öffnung aufweist, während sie zu anderen Zeiten – wie schon oben angeführt – zum Strich zusammenschrumpft. Die größte Ringöffnung – abwechselnd wird die Nord bzw. Südseite des Ringes von der Sonne beschienen – bekommen wir zweimal während des rund 29 Jahre währenden Saturnumlaufes zu Gesicht, und zwar immer dann, wenn der Differenzbetrag der Bahnneigung der beiden Planeten Erde und Saturn zueinander den größten Wert erreicht. Stehen dagegen Sonne, Erde und Saturn zeitweilig in der gleichen Ebene, so sehen wir den Ring von der Kante, das heißt, er entschwindet infolge seiner geringen Dicke unseren Blicken nahezu vollständig. Normalerweise müßte auch dieses Ereignis nur zweimal innerhalb von 29 Jahren eintreten, doch kommt es mitunter häufiger vor, aus Gründen, deren nicht ganz einfache Erklärung in diesem begrenzten Rahmen zuviel Platz beanspruchen würde, weshalb wir an dieser Stelle auf eine Erklärung verzichten müssen. Leser, die an einer ausführlichen Schilderung jener Verhältnisse näher interessiert sind, mögen sich an. den Verfasser wenden. Er erteilt gerne Auskunft. Was wir über die Sichtbarkeitsverhältnisse des Ringes noch wissen müssen, ist, daß zwischen der größten Öffnung und dem Verschwinden rund siebeneinhalb Jahre verstreichen. In dieser Zeit sieht man die Formveränderung der Ring-Ellipse in allen Phasen ablaufen. Nun noch einiges zur Struktur des saturnischen Ringsystems. Nach dessen Entdeckung nahm man verständlicherweise an, die Ringe bestünden aus einem festen Körper. Der große Laplace wies schließlich darauf hin, daß ein kompakter Ring ein Ding der Unmöglichkeit sein müsse, da ein solcher nach den Gesetzen der Gravitation nicht in einer stabilen Lage verharren könnte. Die kleinste Abweichung des Ringmittelpunktes vom saturnischen Gravitationszentrum müsse unweigerlich zum Absturz des Ringes führen. Die Einflüsse der zahlreichen Tra-
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banten aber würden durchaus genügen, den Ring dahingehend zu beeinflussen. Auch eine andere Theorie, die einen flüssigen Charakter des Ringsystems vertrat, hielt einer ernsthaften Prüfung nicht stand. So holte man schließlich wieder die Hypothese Cassinis hervor, nach welcher der Ring aus ungezählten Teilchen bestehen sollte, die – ein jedes für sich – einzeln die Saturnkugel umkreisen. Fast 200 Jahre später wurde der experimentelle Beweis für diese Theorie erbracht. Man ging dabei von der Überlegung aus, daß nach dem Gravitationsgesetz die der Saturnkugel näheren Teilchen – also die inneren Ringpartien – schneller rotieren müssen als die äußeren, schließlich müssen bei einem rotierenden Ringsystem die östlich gelegenen Teilchen – auf den Rand bezogen – sich von uns fortbewegen, jene des Westrandes aber auf uns zukommen. Bei einer spektralanalytischen Untersuchung des Problems müssen die Spektrallinien des Ostrandes des Saturnringes sich also nach rot (d. h. von uns weg), die des Westrandes dagegen nach violett (auf uns zu) verschieben. Genau das war auch der Fall, und so konnte man nicht nur stichhaltig nachweisen, daß die Saturnringe rotieren, sondern auch, daß sie aus ungezählten Einzelpartikelchen – von Meteor- bis Staubkorngröße – bestehen. Auch die Unterschiedlichkeit der Rotationsgeschwindigkeit der einzelnen Ringzonen konnte auf diese Weise bewiesen werden. Unklar ist noch die Frage, wie das Ringsystem Saturns entstanden ist. Neuerdings neigt man zu der Annahme, die Ringe seien Reste eines ehemaligen Trabanten. Für jede Trabantenbahn soll es eine sogenannte ›kritische Zone‹ geben, d. h. eine bestimmte Entfernung vom Planetenmittelpunkt, in deren Bereich auf noch unerklärliche Weise die Gravitationskräfte jeden festen Körper zerbröckeln. Jener angenommene ehemalige Saturntrabant sei nun irgendwann einmal in diese kritische Zone hineingeraten, worauf sein Schicksal besiegelt war und er sich
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aufzulösen begann. Dieser Prozeß ist beileibe noch nicht beendet. Zweifellos ziehen die einzelnen Ringpartikel ziemlich eng beieinander und dicht gedrängt ihre Bahn. Dabei kommt es ständig zu ungezählten Kollisionen, was zur Folge hat, daß die kollidierenden Körper in viele Einzelteile zerfallen. So zermahlt sich der gesamte Saturnring nach und nach zu feinstem, kosmischem Staub. Die Saturnmonde Saturn besitzt zehn Trabanten, die der Reihenfolge nach Mimas, Enceladus, Tethys, Diane, Rhea, Titan, Themis, Hyperion, Japetus und Phöbe heißen. Sie alle umkreisen den Mutterplaneten in Entfernungen von 186.000 bis 12.900.000 Kilometern als kalte und tote Himmelskörper. Titan ist der einzige jener zehn Monde, der schon mit mäßigen Fernrohren aufgefunden werden kann. Er hat einen Durchmesser von 4 200 km, ist also viel größer als unser Mond. Im Gegensatz zum Mond hat man bei Titan mit Sicherheit eine Atmosphäre nachgewiesen. Jener ferne Trabant kreist innerhalb von 16 Tagen um den Saturn und ist 1 220.000 km vom Planetenmittelpunkt entfernt. Die Bahnneigung des Titan gegen jene des Saturn beträgt 27° (Erdmond 5°). Von der Erde aus gesehen, steht er rund alle acht Tage in größter östlicher bzw. westlicher Elongation, weshalb der mit einem Fernrohr bewaffnete Sternfreund – es genügen schon Instrumente von 5 cm Öffnung – ruhig versuchen sollte, nach Titan Ausschau zu halten. Bei einiger Geduld klappt es!
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von DR. ULRICH KLAAR
Schon lange, bevor die Wissenschaftler die ersten künstlichen Radioisotope in den Händen hielten, wußte man um die Wirkung energiereicher Strahlung auf die Zellen des menschlichen Körpers. Die Röntgenstrahlen ließen das Auge des Arztes in das Innere des Körpers dringen, machten Krankheitsherde frühzeitig erkennbar. Das Radium wurde entdeckt. Bald zeigte sich, daß die Strahlen dieses Elementes imstande waren, die Gewebezellen selbst zu verändern, ja zu zerstören. Forscher, die mit Radium experimentierten, mußten ihre Erkenntnisse oft genug mit schweren Leiden bezahlen, die als Folge der gewebezerstörenden Strahlen auftraten. Die Mediziner entsannen sich jedoch ihrer alten Regel, nach der ein Mittel, das für den Menschen schädlich, ja tödlich ist, bei richtiger Anwendung bzw. Dosierung auch heilen kann. Man setzte die Radiumstrahlen gegen Gewebezellen ein, die sich von ihrer normalen Funktion abgewandt hatten und – gleichsam ein Eigenleben führend – zu wuchern begannen: die Krebszellen. Die Erfolge, die mit der Radiumbehandlung erzielt wurden, sind bekannt. Aber erstens ist Radium teuer und zum anderen wird die Behandlung immer nur auf Spezialfälle 144
beschränkt bleiben müssen. Nach dem zweiten Weltkrieg tauchten die ersten künstlichen Radioisotope auf dem Markt auf. Damit wurden der medizinischen Wissenschaft eine große Zahl von Quellen radioaktiver Strahlung in die Hand gegeben, und die Mediziner haben es verstanden, sie auf jedes ihrer drei großen Arbeitsgebiete – Krankheitserforschung, Diagnose und Therapie – mit so vielen Erfolgen anzuwenden, daß die Radioisotope heute aus der Medizin nicht mehr wegzudenken sind. Krankheiten werden erforscht In allen Verbindungen des organischen Lebens ist Kohlenstoff enthalten: Kohlenstoffverbindungen sind unsere Nahrung, in andere Kohlenstoffverbindungen werden sie im Körper umgewandelt und als wieder andere Kohlenstoffverbindungen werden die Abfallprodukte ausgeschieden. Aber auch die meisten unserer Heilmittel sind Kohlenstoffverbindungen. Daneben sind aber noch andere Elemente wichtige Bestandteile dieser Verbindungen, vor allem Phosphor, Stickstoff und Schwefel. Von allen diesen Elementen gelang es, radioaktive Isotope herzustellen. Der Chemiker vermag nun diese Isotope in Verbindungen einzubauen, die der Mediziner dem Menschen verabfolgt. Die Strahlung, die diese ›markierten‹ Verbindungen aussenden, kann man messen. Dadurch gelingt es, die Elemente auf ihrem Weg durch den menschlichen Körper zu verfolgen. Schließlich stellt man fest, in welchen Verbindungen der Ausscheidungsprodukte die Elemente ›landen‹. Die Forschung steht hier erst am Anfang eines unendlich komplizierten Gebietes. Aber die Erforschung der Stoffwechselvorgänge ist die Grundbedingung für das Verständnis vieler Krankheiten, die auf der Störung eben dieser Stoffwechselvorgänge beruhen. Die Erfolge, die man bisher erzielt hat, sind
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keineswegs unbedeutend. So hat man z. B. den Heilungsvorgang bei Knochenbrüchen mit Hilfe von radioaktivem Phosphor weitgehend aufklären können. Spürhunde der Wissenschaft Von großer Bedeutung sind die radioaktiven Isotope auch für die frühzeitige Erkennung von speziellen Erkrankungen geworden. Hier macht man sich zunutze, daß verschiedene Elemente in ganz bestimmten Organen des menschlichen Körpers angereichert werden. Eine besondere Stellung nimmt hierbei das Jod ein. Fast das gesamte Jod, das mit der Nahrung in Form anorganischer Salze aufgenommen wird, wandert in die Schilddrüse. Diese baut das Jod in organische Verbindungen ein, die als Hormone zur Regelung des Stoffwechsels notwendig sind. Eine Überfunktion der Schilddrüse führt zur Basedowschen Krankheit, während eine Unterfunktion zum Absinken des Grundumsatzes bis zur schließlichen Verblödung führt. Es ist also notwendig, eine beginnende Funktionsstörung der Schilddrüse rechtzeitig zu erkennen. Man vermag dies am besten, wenn man die Geschwindigkeit der Jodaufnahme mißt, da ja die Schilddrüse bei einer Überproduktion von Hormonen das Jod viel begieriger aufnimmt als bei einer normalen Produktion. Die Messung der Jodaufnahme führte erst zu genauen Ergebnissen, seitdem der Mediziner das Radioisotop Jod-131 verwenden konnte. Unser erstes Bild zeigt, wie eine solche Messung vor sich geht. Zunächst wird dem Patienten eine Portion Jod-131 eingeflößt. Über der Schilddrüse wird eine Apparatur angebracht, die die Intensität der vom Jod ausgehenden Strahlen mißt. So läßt sich leicht feststellen, wie schnell das Element von der Schilddrüse aufgenommen wird. Es wird allerdings immer wieder daran erinnert werden müssen, daß eine längere Strahleneinwirkung der Isotope auch ge-
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fährlich werden kann. Das ist auch bei Jod-131 der Fall. Deshalb hat man in letzter Zeit mit Erfolg das Jodisotop 131 durch das Isotop mit dem Atomgewicht 132 ersetzt, das wesentlich kurzlebiger ist und deshalb den Patienten einer viel kürzeren Strahleneinwirkung aussetzt. Sehr vorsichtig muß auch ein Verfahren angewendet werden, das eine frühzeitige Diagnose von Lungenkrebs erlaubt. Dazu wird das radioaktive Isotop eines Edelgases, das Xenon-133, benutzt. Zunächst wird der Atemluft des Patienten gewöhnliches Xenon beigemischt, damit sich das Blut mit dem Edelgas sättigt und während des Testes kein radioaktives Xenon ins Blut dringt. Dann läßt man Luft, die radioaktives Xenon enthält, durch die Lunge strömen. Über der Lunge wird nun ein ganzes Netz von Zählrohren zur Messung der Strahlung verteilt. Die erste Folge eines Bronchialkrebses ist die Verengung der Wände eines Bronchialastes der Lunge. Dadurch bildet sich an dieser Stelle eine Luftstauung – die freie Luftströmung ist behindert. Wenn man nun der Atemluft radioaktives Xenon beimischt, wird an dieser Stelle eine erhöhte Radioaktivität auftreten, die sich durch das über diesem Ort befestigte Zählrohr leicht feststellen läßt. Auch zur Verfolgung des Blutkreislaufes bei beginnenden Bluterkrankungen hat man verschiedene Methoden ausgearbeitet, die sich radioaktiver Isotope bedienen. Einen ›Umweg‹ beschreitet man, wenn Verdacht auf perniziöse Anämie besteht. Es wurde festgestellt, daß mit dem Auftreten dieser Krankheit eine verzögerte Ausscheidung von Vitamin B12 im Harn parallel geht. Zur Diagnose wird dem Patienten Vitamin B12 eingegeben, das mit radioaktivem Kobalt ›markiert‹ ist. Die Ausscheidung dieses markierten Vitamins läßt sich jetzt auf eine einfache Strahlungsmessung zurückführen.
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Ein wichtiger ›Spürhund‹ für die medizinische Diagnostik ist der Radiophosphor mit dem Atomgewicht 32. Er hat die Eigenschaft, sich in Tumorzellen anzureichern. Unser zweites Bild zeigt die Anwendung dieses Isotops in der Gehirnchirurgie. Hier soll erkranktes Hirngewebe operativ entfernt werden. Vorher wird dem Patienten eine Dosis Phosphor-32 gegeben. Mit Hilfe eines Geigerzählers kann die Lage des Tumors festgestellt werden. Diese Methode ist leider noch sehr ungenau, da die Strahlung des Isotops zu sehr streut. Gerade bei Gehirnoperationen kommt es aber darauf an, den Krankheitsherd so genau wie möglich festzustellen. Ein Eingriff, der nicht genau den Herd trifft, kann tödlich sein. Deshalb hat die Medizin in der letzten Zeit Versuche mit Radioisotopen unternommen, die Positronen ausstrahlen. Die Positronen entsprechen den Elektronen (Betastrahlen), sie besitzen jedoch eine positive elektrische Ladung. Trifft ein Positron auf ein Elektron — und das geschieht schon innerhalb einer unvorstellbar kleinen Strecke, da ja alle Atomkerne von Elektronen umkreist werden – , so zerstrahlen beide zu Energie. Diese Energie wird in Form von zwei Gammastrahlen ausgesandt. Wichtig ist nun dabei, daß die beiden Gammastrahlen einen Winkel von genau 180° bilden. Gibt man also dem Patienten Positronenstrahler, so läßt sich der Ort des Tumors mit sehr großer Genauigkeit bestimmen. Solche Positronenstrahler, die sich in Gehirntumoren anreichern, sind Mangan-52, Kupfer-64 und vor allem Arsen-74. Mit Kupfer-64 lassen sich auch Lebertumoren lokalisieren. Die ›Kobalt-Kanone‹ Von der zerstörenden Wirkung der radioaktiven Strahlung auf Krebszellen war schon eingangs die Rede. Auf diesem Gebiet liegt auch die wichtigste therapeutische Anwendung der radio-
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aktiven Isotope. Immer wieder muß man sich jedoch vor Augen halten, daß sie kein Allheilmittel sind. Nur durch die Kombination mit chirurgischen und chemietherapeutischen Mitteln wird sich der Krebs, diese furchtbare Geißel der Menschheit, zurückdrängen lassen. Bei der Strahlenbehandlung des Krebses sind die radioaktiven Isotope auf dem Wege, das jahrzehntelang benutzte Radium zu verdrängen. Die Anwendung von Radium, besitzt den großen Nachteil, daß die Strahlung sehr streut und daher die Gefahr sehr groß ist, dem Tumor benachbarte gesunde Zellen mit zu zerstören. Mit radioaktiven Isotopen ist ein viel genaueres Zielen möglich. Die Isotope, die zur Krebstherapie benutzt werden, senden fast alle Gammastrahlen aus – eine elektromagnetische Strahlung wie die Licht- oder Röntgenstrahlung, aber noch wesentlich energiereicher als diese. Der am häufigsten verwendete Gammastrahler ist das Kobalt-60. Die Anwendung dieses Isotops zeigt unser drittes Bild. Das Isotop befindet sich an der Spitze der sogenannten Kobalt-Kanone. Die Streustrahlung wird abgeschirmt, so daß ein scharf gerichteter Strahl übrigbleibt, der auf den Krebstumor zielt. Noch besser als bei dem Kobalt-60 läßt sich die Streustrahlung beim Caesium-137 abschirmen. Außerdem besitzt es eine längere Halbwertszeit als das Kobalt-Isotop, läßt sich also länger benutzen. Diese größere Wirtschaftlichkeit des CaesiumIsotopes wird sich aber erst dann auswirken, wenn es in größeren Mengen aus Reaktor-Abfällen gewonnen werden kann. Das gleiche gilt für eine größere Anzahl anderer Isotope, auf die hier nicht näher eingegangen werden soll. Bestrahlung von innen her Die zuletzt beschriebenen Methoden haben gemeinsam, daß
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sich die Strahlungsquelle außerhalb des Körpers befindet. Es gibt aber noch eine zweite Art der Anwendung. Es wurde schon erwähnt, daß verschiedene Isotope die Eigenschaft besitzen, sich an bestimmten Stellen des Körpers anzureichern, entweder in einzelnen Organen oder aber direkt in Tumorzellen. Diese Tatsache gibt die Möglichkeit, die erkrankten Gewebe gewissermaßen aus sich selbst heraus zu zerstören. Zur Sicherheit kann man die Isotope in Lösungsform in den Tumor selbst oder in Körperhöhlen, in denen sich der Tumor befindet, einspritzen. Das erste auf diese Weise angewendete Isotop war der Radiophosphor. Er ist heute aber fast vollständig vom Gold-198 verdrängt worden, dessen Anwendung im vierten Bild gezeigt wird. Das Gold wird dabei in Lösungsform in die den Tumor umgebenden Teile – auf dem Bild in die Lunge – gespritzt. Hierbei handelt es sich jedoch nicht um eine echte Salzlösung, sondern um ein sogenanntes Kolloid, bei dem feste Goldteilchen in fein verteilter Form vorliegen. Das hat den Vorteil, daß die radioaktiven Teilchen nicht in andere, gesunde Körperteile dringen können. Fäden, Perlen und Katheter Eine andere Anwendungsform der Radioisotope könnte man als halbinnerlich bezeichnen. Die Isotope werden dabei in fester Form oder als Lösung in Behältern an den Krankheitsherd gebracht. Man hat z. B. Gold in Nylonfäden eingebettet und diese in die Krebsstellen eingenäht. Dadurch läßt sich eine gute Kontrolle und Überwachung der Strahlungsdosis erreichen. Auch radioaktives Kobalt wird in ähnlicher Form angewandt. So bekämpft man Speiseröhrenkrebs mit Kobaltperlen, die, auf eine Schnur aufgereiht, in die Speiseröhre hinabgelassen werden. Mit radioaktiver Kobaltlösung gefüllte Katheter oder
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Gummiblasen, in die Kobait-60 einvulkanisiert wird, dienen zur Bekämpfung des Blasenkrebses. Seit einiger Zeit haben in ähnlicher Anwendungsform auch zwei Isotope Eingang in die Therapie gefunden, die nicht Gamma-, sondern Betastrahlen (schnelle Elektronen) aussenden. Es sind dies Strontium-90 und das aus diesem durch Abgabe der Betastrahlung entstehende Yttrium-90. seinerseits wieder ein Betastrahler. Strontium-90 ist jedoch ein langlebiges und daher gefährliches Isotop. Man kann jedoch das kurzlebigere Yttrium-Isotop vom Strontium trennen und allein verwenden. In Kathetern hat es Anwendung bei klimakterischen Blutungen gefunden. Auch bei der Bekämpfung von Hauterkrankungen haben sich Erfolge gezeigt. Hierfür wurden – auch in Deutschland – besondere Apparate konstruiert, mit deren Hilfe die Hautoberfläche behandelt werden kann. Neutronen dringen ins Gehirn Eine Therapie, bei der das strahlende Isotop überhaupt erst im Tumor entsteht, soll die Skala der radioaktiven Heilmethoden beschließen. Eine gefährliche Art von Gehirntumoren, das Gliom, konnte damit mit Erfolg behandelt werden. Die letzte Abbildung zeigt das Modell eines Kernreaktors. Im Mittelpunkt des Bildes ist der Reaktorkern sichtbar. Rechts daneben auf der Bahre ist der Patient zu erkennen. Ihm wird zunächst eine Lösung des nicht strahlenden, stabilen Isotops Bor-10 verabreicht. Darauf wird er einem aus dem Reaktor austretenden Strom von Neutronen ausgesetzt. Das Borisotop hat sich inzwischen im Gehirn angereichert. Hier wird es vom Neutronenstrom getroffen. Der Atomkern des Isotops fängt ein Neutron ein und zerfällt darauf in ein Alpha-Teilchen (Heliumkern) und das Lithiumisotop Li-7. Die energiereiche Strahlung des Lithiumisotopes ist es, die die Tumorzellen zu zerstören
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vermag. Wir sind am Ende unseres Überblicks über die medizinischen Anwendungsmöglichkeiten radioaktiver Isotope angelangt. Wir haben gesehen, wie vielfältig diese Möglichkeiten heute schon sind. Dabei stehen wir erst am Anfang eines Weges, der nicht ohne Rückschläge sein wird. Die radioaktive Strahlung ist kein Kinderspielzeug, und mit ihr darf nur mit größter Vorsicht experimentiert werden. Aufgabe der Medizin ist es, sie zu einem Instrument zu machen, das dem friedlichsten Zweck dient, den es geben kann – dem leidenden Menschen zu helfen.
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von Frank Belknap Long Der Merkur ist der Sonne am nächsten und somit für einen Besuch der gefährlichste Planet. Nur dann wird er zur gleichen Zeit wie Jupiter erforscht werden können, wenn es gelingt, hitzebeständige Raumschiffe zu entwickeln. In solcher Sonnennähe sind nämlich die Strahlungen nahezu unerträglich. Auf diesem Planeten treffen wir auf unsere erste Lebensform, die aus reiner Energie besteht – eine Daseinsform, die aller Wahrscheinlichkeit nach uns Erdenmenschen ewig fremd bleiben wird. Es ist jedoch die einzigmögliche Lebensform, da der Unterschied zwischen Wärme und Kalte äußerst kraß und elektrische Erscheinungen unglaublich stark sein müssen Ihre Existenz ist kaum zu bezweifeln. Die anschließend wiedergegebene Schilderung dieser Lebensform – obgleich ihre Lebendigkeit uns mitunter unangenehm berührt – ist daher keineswegs unlogisch. Nie hatten sie solche Himmel gesehen. Wunder über Wunder taten sich in dem schwarzen Gewölbe über ihnen auf: die Erde
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– der hellste aller glänzenden Sterne; die Venus – ein kleiner, wässerig-grüner Mond; der Mars – ein winziger, rötlicher Punkt und alle die Sterne der Milchstraße. Es war Nacht auf Merkur. In dieser ›Welt‹ der langen Tage und Nächte – ein Tag währte hier so lange, wie vierundvierzig Erdentage – herrschte eisige Kälte. Auf der Seite des Merkur, die der Sonne abgewandt war, schwankten die Temperaturen um den Nullpunkt. Der Sauerstoff glich feinem, weißen Schnee. Auf der Sonnenseite erstarb und verdorrte die Oberfläche in der sengenden Hitze ihrer Strahlen. Selbst im modernsten Schutzanzug war es einem Lebewesen nicht möglich, lange hier zu existieren. Auf dem Streifen jedoch, wo sich Licht und Dunkelheit trafen, waren Klima und Temperatur einigermaßen erträglich. Geschützt durch, einen elastischen, metallenen Raumanzug und massivem Schutzhelm, dazu 50-Pfund-Gewichte an den Hüften sowie Sauerstofftanks auf den Schultern, war ein Mensch in der Lage, hier zu leben – und zu forschen. Gibbs Craylay war der Leiter der ersten Erd-Expedition, die je auf der Oberfläche des Merkur landete. Es war eine kleine Gruppe, die von dem unbeugsamen Willen und Wagemut dieses Mannes, dessen Lebensziel es war, den Merkur zu erforschen, vorwärts getrieben wurde. Craylay war ein Vertreter jener kleinen, auserlesenen Gruppe der Nur-Wissenschaftler und Forscher, ein Fanatiker, dessen Wissensdurst lediglich durch die ernsten Warnungen der Wissenschaft gedampft wurde. Jetzt hatte er es endlich geschafft und stand an der Spitze einer kleinen Mannschaft, die sich vorsichtig auf die Oberfläche des unbekannten Planeten hinauswagte. Seine Frau Helen begleitete ihn. In ihr entzündeten die Forderungen und Belohnungen wissenschaftlicher Forschung eine stete Flamme der Begeisterung; sie ergänzte den kühnen Wagemut ihres Mannes, seine fast persönliche Besessenheit von
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den Geheimnissen des sonnennahen Planeten. William Seaton, der Craylays in kurzem Abstand folgte, wartete voll Ungeduld auf irgendwelche Naturwunder, da er als Ingenieur die kalte Präzision der von Menschenhand geschaffenen Instrumente dem allgemeinen Schönheitssinn vorzog. Ihm folgten Frederick Parkerson, ein Biologe in den besten Jahren und Ralph Wilkus, ein großer, schlaksiger Junge, der sich besonders in den Künsten der Astrogation und des Kochens hervortat. Diese beiden Männer waren gute Freunde geworden und gaben sich gleicherweise den Faszinationen wie auch den Erschwernissen der Forschung hin: Sie lebten, um zu erforschen, was der nächste Augenblick an Neuem und Merkwürdigem bringen mochte. Hinter ihnen folgten Tom Grayson, ein Metallurge, und der junge Allan Wilson, Mitglied des Nationalbiologischen Institutes. Im großen und ganzen waren sie phantasielose Männer, die sich jetzt ausschließlich mit den Problemen der Bewegung und der persönlichen Sicherheit auf diesem seltsamen Planeten befaßten. * Seit ihrer Landung auf dem Merkur war schon geraume Zeit verstrichen, als sie endlich ihre umfangreiche Expedition in Angriff nahmen. Sie hofften, das Vorgebirge der hohen, felsigen Gipfel zu erreichen, deren gezackte Silhouette sich am Horizont abzeichnete. Hinter ihnen verschwamm der riesige, melonenförmige Rumpf, ihres im Venuslicht glänzenden Kobaltglas-Raumschiffes. Obgleich sie kaum eine Meile von ihm entfernt waren, verbarg die steile Wölbung der Planetenoberfläche schon sein Heck. Vorsichtig und bedächtig suchte Craylay den Weg. Im Scheine seines Handscheinwerfers, Schritt für Schritt, jeden Zoll des
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Bodens mit seinem Elektrodynamometer abtastend, ging er behutsam weiter. Die Fläche war ein einziges, bedrohliches Geheimnis. Sie hatten herausgefunden, daß sie in unregelmäßigen Abständen mit Stellen enorm hoher elektrischer Spannung durchsetzt war, die einen Menschen schon bei der geringsten Berührung, trotz seines Schutzanzuges, zu Asche verbrannten. Sie hatten diese Schockstellen erst vor einigen Tagen entdeckt, als Craylays Hund eine solche Stelle betrat und in Sekundenschnelle restlos verbrannte. Craylay hatte für das Tier einen kompletten Raumanzug anfertigen lassen. Er war, wie alle Hunde es gerne tun, nur wenige Schritte vorausgelaufen, zerrte an der Leine und schnupperte in der Gegend. Jetzt war Scottie tot – ein kleiner Märtyrer für die Wissenschaft. Daraufhin hatten die Forscher die elektromagnetischen Eigenschaften der Erdkruste des Merkurs gewissenhaft untersucht. Die heftigen, mörderischen Störungen dieser Stellen zwangen sie, sich schweigend vorwärts zu tasten, da eine Sprechverbindung nicht möglich war. Langsam bahnte sich die kleine Forschergruppe ihren Weg über die schwach schimmernde Ebene des Merkur. Ringsum brandete eine von schweren Gasen vergiftete und kosmischen Strahlen ionisierte Atmosphäre. Die Sauerstoffflaschen bildeten ihren einzigen Schutz gegen die grausigen Überraschungen des Planeten den sie erforschen wollten. Während Gibbs Craylay an die unvorhergesehene Verlängerung ihrer Expedition dachte, drosselte er die Sauerstoffzufuhr seines Tanks um zwei Grad und gab seiner Mannschaft ein Zeichen, dasselbe zu tun. Er war sich dessen klar, daß die Atmung nun erschwert war, aber Sauerstoff hatte hier den gleichen Wert wie Wasser in einer Wüste auf der Erde, und sie konnten es sich nicht erlauben, ihn zu verschwenden. Gleich darauf bemerkte Craylay mit Besorgnis, daß alle, außer seiner Frau, dieser Anordnung gefolgt waren. Er starrte sie
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an und deutete auf ihren Sauerstoffmesser. Doch sie störte sich nicht daran. Er blieb stehen, hob seinen Dynamometerstab und schlug gegen ihren Sauerstofftank. Durch die dicken Gläser ihres Helms sah Craylay, wie Helen verärgert ihre Augen aufriß. Er wußte, daß sie der Ansicht war, genügend Sauerstoff in ihrem Tank zu haben, um diese Expedition durchzustehen. Vor dem Abmarsch hatten sie sich noch darüber gestritten. Offensichtlich wollte sie nun ihren Mann zurechtweisen, da sie ihrerseits auf ihren Tank schlug. Sie hatte ihren Stab erhoben und schwang ihn gegen Craylays vermummte Gestalt. Als der Metallstab gegen ihn hochschwang blieb Craylay plötzlich erstarrt stehen. Sein Elektrodynanometer hatte vor ihm, auf einem Flecken glänzenden Bodens eine ungeheure Spannung angezeigt. Als Helens Stab gegen seine Schulter prallte, schwang er sich zur Seite, umklammerte ihre Knie und trug sie in gehetztem Lauf in Sicherheit. Unglücklicherweise wurde Graysons Aufmerksamkeit durch das merkwürdige Gebaren Craylays abgelenkt. Achtlos schwang er seinen Detektor zur Seite, blickte erstaunt über die Schulter zu Craylay und schritt weiter. Noch stapfte er in dem hellen Kreis den sein Scheinwerfer warf. Doch dann sah man plötzlich nur noch einen Teil von ihm. Gequält und haltlos zuckten seine Hände im schwachen Licht der Venus. Dann zuckte eine Stichflamme empor, die sogar das Licht der Sterne übertraf. Wie ein dürres Blatt zerfielen Graysons Glieder in tote Asche. Dann aber klatschte der Oberkörper des Jungen vor Seatons Füße. Vor Entsetzen gelähmt, blieb der Ingenieur erstarrt stehen. Stumm streckte er seinen Stab vor, als bedeute ihm die Tatsache Sicherheit, eine von Menschenhand geschaffene Vorrichtung zu besitzen, die Schutz verlieh. Durch ihre dicken Schutzbrillen sahen jetzt die anderen Mitglieder der Gruppe das grauenhafte Schauspiel, wie sich ein
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gliedloser Torso in einem lodernden, roten Lichtfeld aufrichtete und elektrische Ströme in Spiralen von seinem sandfarbenen, gesträubten Haar flossen. Immer schneller hob sich der Körper – bis ihn die Flamme gnädig verschlang. Craylay setzte Helen ab und legte beruhigend seinen Arm um ihre Schultern. Einen Augenblick schwankte sie niedergeschlagen. Doch gleich darauf straffte sich ihr Körper wieder und sie nahm ihre Position neben ihrem Mann wieder ein. Es gab keinerlei Verständigungsmöglichkeit. Man hätte sich zwar Fingerzeichen geben können, aber was gab es schon zu sagen. Um die tödliche Angst zu überwinden, bewegte sich die Gruppe gleich darauf wieder weiter; wie Flieger, die nach einem Absturz sogleich wieder starten. Der Unfall wurde durch einen menschlichen Irrtum verursacht und es war sinnlos, seinetwegen länger als nötig zu verweilen. Mit behutsamen Schritten gingen sie weiter in die dunkle Merkurnacht hinaus. Etwa eine halbe Stunde später hielt Craylay plötzlich an. Abgespannt starrte er durch seine dicken Gläser auf den Boden. Im Lichtkegel seines Scheinwerfers hatte sich etwas bewegt. Auch Helen hatte es gesehen und winkte mit ihrem rechten Arm die ihr folgenden Männer zurück. Nur Ralph Wilkus, der vermutlich das Zeichen übersehen hatte, schritt weiter in das Gebiet der zweifelhaften Bewegung. Weder prallte er zurück noch verschrumpfte er, sondern schritt weiter und tastete mit seinem Stab vorsichtig den Boden vor sich ab. Anscheinend war dies keine Schockstelle, sondern etwas, das einer näheren Untersuchung bedurfte. Bevor die anderen Forscher ihren Weg fortsetzten, schwenkten sie prüfend ihre Stäbe über der verdächtigen Stelle. Nur der Sand auf der Oberfläche zitterte leicht, wie von einer schwachen, kreiselnden Brise bewegt. Craylay wußte, daß es kein Luftzug sein konnte, denn die
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Windnadel auf Helens Helm blieb ruhig. Er hob seinen rechten Arm und gab mit dem Scheinwerfer ein Zeichen. »Etwas Unbekanntes hier«, winkte er. »Zurückbleiben!« Vorsichtig versuchten sie, den Umfang der geheimnisvollen Stelle zu ermitteln. Wenige Meter vor ihnen schritt Wilkus und schwang im Licht seines Scheinwerfers den Stab. Keiner von ihnen wußte, ob er Craylays Signal nicht gesehen oder es einfach mißachtet hatte. Plötzlich flammte ein gleißendes, purpurnes Licht zu seiner Rechten auf. Dann schoß es auf ihn zu und berührte ihn. Er krümmte sich voller Schmerzen und preßte die Hände auf den Magen. Scheinwerfer und Stab fielen aus seinen kraftlos gewordenen Händen. Für einen Sekundenbruchteil umgab Wilkus eine erschrekkende Lichtfülle. Dann verlosch sie und verschwand in der Dunkelheit. Wie ein durchlöcherter Ballon sackte Wilkus in sich zusammen. Als Craylay den armen Kerl aufhob, schien er einen fast leeren Raumanzug in den Armen zu halten. Aus Wilkus Helm starrten ihn zwei glanzlose Augen, mit fast idiotischem Ausdruck, aus einem formlosen Gesicht entgegen. Craylay schaltete seinen Scheinwerfer aus und verharrte mit seiner grausigen Last einen Augenblick in völliger Dunkelheit. Die anderen kamen näher. Helen erreichte ihn als erste. »Was ist passiert?« gestikulierte sie. Craylays Helm drehte sich verneinend. Mit seiner Lampe leuchtete er auf Wilkus Helm. Helen schrie entsetzt auf. Das Gesicht des Unglücklichen war kalt und ausdruckslos, seine Züge wie Wachs. Die Zuckungen seiner Mundwinkel bewiesen, daß er noch lebte. Erschüttert umringten die anderen den Wissenschaftler mit seiner Last. Er winkte: »Wir müssen zurück. Wilkus ist schwer verletzt!« Sofort trat Parkerson zu Craylay und legte den Freund auf seine Schultern, obwohl dessen Körper so leicht war, daß Cray-
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lay ihn mühelos hätte selber tragen können. Seaton nahm Scheinwerfer und Stab an sich und niedergeschlagen trat die Gruppe den Rückweg an. Mit verdoppelter Wachsamkeit, weit schwingend, schritten sie weiter. Sie begegneten keiner weiteren Schockstelle und erleichtert erreichten sie den glänzenden Rumpf ihres Raumschiffes. Über eine Metalleiter kletterten sie in das Innere des Schiffes. Sie schritten durch einen engen Korridor, der in kaltem Licht erstrahlte. Dann betätigte Helen einen Schalter am Ende des Ganges. Mit scharfem Zischen schlossen sich hinter ihnen die Luken. Vor ihnen öffnete sich eine weitere Luke. Sie betraten den kombinierten Kontroll- und Schlafraum des Schiffes. Behutsam legten sie Wilkus Körper auf eine der Kojen und lösten die Schrauben seines Schutzhelms. Helen und die anderen warfen sich auf ihre Lager und starrten schweigend in das kalte Licht des Raumes. Schnell hatte Craylay seinen Helm gelöst und entledigte sich dann seines Raumanzuges, den er umgestülpt auf eine der Bänke legte. Während die anderen aus ihren Anzügen zappelten, machte er sich wieder an Wilkus Helm zu schaffen. Er war auf das Schlimmste gefaßt und erwartete einen entsetzlichen Anblick. Nicht so die anderen. Als Craylay den Raumanzug des Verletzten abstreifte, schauten die anderen nur kurz hin und wandten sich sofort schaudernd ab. Helen sah, wie der geschrumpfte Körper mit dem idiotisch geifernden Gesicht auf der Bank herumzuckte. Sie ertrug den Anblick nur wenige Sekunden. Dann brach sie zusammen. Als sie wieder zu sich kam, lag sie ihrer Koje, die sie von den Männern trennten. Parkerson stand neben ihr. Im ersten Augenblick wußte sie nicht was geschehen war. Dann fand sie in die Gegenwart zurück und versuchte
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mit einem leisen Aufschrei sich zu erheben. Parkerson hinderte sie, sich zu erheben, drückte sie sanft auf ihr Lager zurück und ergriff ihre kleine Hand. »Angst?« fragte er. Sie schüttelte den Kopf. »Was ist mit Wilkus?« Parkerson wich ihrem Blick aus. »Sagen Sie es mir«, bestand sie. »Er ist tot.« Die Spannung in Helens Gesicht ließ etwas nach. Sie befeuchtete ihre trockenen Lippen mit der Zunge. »Ich gehe zu Gibbs«, sagte sie und richtete sich mühsam auf. »Wo ist er jetzt?« »Im Laboratorium«, erwiderte Parkerson. Besorgt sah er sie an und hielt noch immer ihre Hand fest. Helen blickte ihn fragend an. »Was – was haben Sie auf dem Herzen, Parky?« »Ich – nichts…« »Wilkus war Ihr Freund…« Parkerson machte eine verzweifelte Geste. »Er war mir mehr als das. Wir wuchsen zusammen auf. Aber das ist es nicht allein. Verzeihen Sie Helen, aber ich bin außer mir – Gibbs?« »Gibbs?« »Ja. Sie haben ihn geheiratet. Sie kennen ihn besser als jeder von uns. Ich frage mich nur, ob es Ihnen auch aufgefallen ist, wie er andere Menschen ansieht.« Er wich ihrem Blick aus. »Er ist nur noch eine Maschine. Sahen Sie sein Gesicht, als er Wilkus den Anzug abstreifte? Es hatte den Anschein, als nähme er eine Uhr auseinander.« Helen ergriff seinen Arm. »Sie wissen, daß Sie unrecht haben, Parky. Es sind die gegenwärtigen Umstände, die ihn aus der Fassung bringen. Craylay wäre nicht das, was er heute ist, hätte er nicht diese eiserne Selbstbeherrschung. Er allein ist für uns alle verantwortlich. Wilkus und Grayson waren auf seine
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Anordnung hin, da draußen. Obwohl beide sehr unvorsichtig waren, fühlt Gibbs sich für sie verantwortlich. Sie wissen das selbst. Sie haben ihren besten Freund verloren, aber Sie tragen nicht diese drückende Last auf Ihren Schultern.« Sie klopfte ihm sanft auf die Schulter. »Denken Sie mal darüber nach.« Parkerson lächelte gequält. »Sie haben recht. Ich glaube – mir scheint, ich bin zu weit gegangen. Danke, Helen.« Helen fand ihren Mann regungslos neben der Leiche von Ralph Wilkus sitzen. Er blickte kurz auf und sein Blick verfinsterte sich als sie das kleine Laboratorium betrat und die Schiebetür hinter sich schloß. »Parkerson hat mir alles erzählt«, sagte sie, während ihre Augen auf Wilkus deuteten. Craylay schwieg. Dankbar fühlte er, wie sie seine Hand ergriff und mitfühlend drückte. »Er starb, bevor ich ihn mit Äther betäuben konnte«, sagte er nach langem Schweigen. »Und was entdecktest du, Liebster?« Craylays Lippen preßten sich zusammen. »Etwas… Unglaubliches.« Er wandte sich zu Wilkus Lager und zog das Laken weg. »Ich will es dir zeigen.« Helen erbleichte. Der tote Körper war verdorrt und blau angelaufen. Er sah aus, als habe man ihn auf die schmale Unterlage gegossen. Sie biß sich auf die Unterlippe und grub die Nägel in ihre Handflächen. Verzweifelt bemühte sie sich, ihre Selbstbeherrschung nicht zu verlieren. »Er hätte eigentlich schon draußen sterben müssen«, bemerkte Craylay gelassen. »Seine Konstitution muß enorm gewesen sein.« »Es ist unfaßbar, Gibbs«, antwortete sie wie im Traum. »Schau her, ich will dir etwas zeigen.« Er streifte seine Gummihandschuhe über und hob die schlaffe, bläuliche Hand des Toten. Mit der anderen Hand ergriff er den Bunsenbrenner,
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der auf dem Tisch stand und richtete die zischende, blauweiße Flamme auf die Hand des Toten. »Paß auf«, sagte er. Die Flamme flackerte und schoß feurige Strahlen. Ihre Farbe wurde anfangs grünlich, dann purpur, dann wieder blau, als Craylay den Brenner hin und her bewegte. »Ich habe den Arm in verdünnte Salzsäure getaucht«, sagte er. Sein Ton war sachlich und unpersönlich. Helens Augen weiteten sich. Sie begriff, was das bedeutete. Craylay aber wandte sich wieder dem Tisch zu und hob eine dünne Glasscheibe hoch. Er hielt sie vor die von den Flammen angesengte Haut des Toten. »Welche Farbe siehst du durch das Glas, Helen?« »Gelb«, flüsterte sie. »Nur eine ganz schwache Spur von Orange in der Flammen«, sagte er. »Und selbst wenn du sie durch grünes Glas betrachtest, sieht sie noch gelb aus, nicht grün, wie es eigentlich zu erwarten wäre.« Helen holte tief Luft. »Dann ist überhaupt kein Kalzium vorhanden? Kein Kalzium – nicht einmal in den Zellen seines Fleisches?« Craylay zuckte die Achseln. »Noch weiß ich es nicht. Alles was ich weiß, ist, daß Kalziumverbindungen, wenn sie mit Salzsäure angefeuchtet werden, die blaue Flamme tief orange färben. Auch Strontium wird orangerot und verdirbt oft die typische Kalziumfarbe – aber Strontium sieht unter grünem Glas gelb aus. Der schwache Orangeton wurde zweifellos durch Strontium verursacht. Kalzium würde unter grünem Glas finkengrün erscheinen.« Er drehte die Flamme des Brenners etwas kleiner. »Ich machte spektroskopische Versuche, um sicherzugehen«, sagte er. »Die typischen Linien von Kalzium – orange, grün und schwach indigo – fehlten ganz und gar. Ja, Helen, irgend etwas hat dem Körper von Wilkus sämtliches Kalzium entzo-
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gen.« »Aber kann ein Mensch denn leben, wenn…« »Kurze Zeit schon«, erwiderte Craylay, den Gedanken meiner Frau vorwegnehmend. »Ich hätte vielleicht nein gesagt, aber wir können die Tatsache nicht bestreiten. Der augenblickliche Entzug des Kalziums aus seinem Körper muß offenbar das Nervensystem verschont haben. Wenigstens für kurze Zeit. Motorische und Gefühlsnerven arbeiteten weiter, obwohl das Gehirn ausfiel.« »Was aber kann diesen Kalziumentzug verursacht haben?« fragte Helen. »Es gibt nur eine Möglichkeit: Strahlungen. Unsichtbare Spektrumstrahlungen, intensiver als alles, was wir auf der Erde je kennengelernt haben. Ein furchtbares Bombardement ultravioletter Strahlen. Vielleicht die sogenannten ›Taugenichtsstrahlen‹, die alles Leben auf der Erde zerstören würden.« Er drehte den Bunsenbrenner aus. »Nun, sogar die verhältnismäßig harmlosen Vertreter der Ultraviolettfamilie entziehen dem Protoplasma Kalzium. Du weißt, Einzeller, Amöben, Pantoffeltierchen oder ähnliche Lebewesen werden ultravioletter Strahlung ausgesetzt und in einer Schleuder umhergewirbelt – und sind in wenigen Sekunden zu einem zähflüssigen Kern verschmolzen. Die Strahlung zieht das Kalzium aus der äußeren Oberfläche der Zelle und lagert es um den Kern ab. Ebenso würde es den Zellen des menschlichen Körpers ergehen, wenn sie einer etwas stärkeren Strahlung ausgesetzt würden.« Zum erstenmal überlief Craylay ein leises Frösteln. »Es ist ganz scheußlich, Liebling. Scheußlich – und doch liegt auch hierin etwas Wunderbares. Es sieht beinahe nach einer gelenkten, beabsichtigten Wirkung aus. Dort draußen im Dunkel, mag es lebende – vielleicht sogar intelligente Wesen geben. Merkur ist offenbar kein unbesiedelter Planet, wie wir zuerst annahmen.«
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Helen schüttelte verwirrt den Kopf. »Aber ultraviolett durchdringt doch kein Metall, Gibbs.« »Du vergißt, daß Difolchrom eine Silberlegierung ist, Helen. Ultraviolett könnte unsere Difolchromanzüge durchdringen, wenn die Strahlung intensiv genug ist. Und sie muß unvorstellbar intensiv gewesen sein«, sagte er, indem er auf den Toten deutete. »Glaubst du wirklich, daß es eine Lebensform ist?« fragte Helen. »Hast du etwas gesehen?« »Nur diesen Purpur-Lichtblitz, sowie die Bewegungen, die wir beide im Sand feststellen. Irgend etwas muß dort gerastet haben und erhob sich, als wir nahten.« »Du vermutest doch nicht etwa, daß sich diese Form aus unsichtbarem Licht zusammensetzt?« Craylay schüttelte den Kopf. »Das glaube ich kaum. Ich bin eher der Ansicht, daß diese Strahlen als Waffe benutzt wurden. Etwas Greifbares bewegte sich aber dort draußen.« Er deckte Wilkus’ Körper wieder zu und streifte mit leicht zitternden Fingern seine Handschuhe ab. »Gehst du wieder nach draußen, Gibbs?« fragte Helen besorgt. Craylay nickte. »Ich werde die Infrarot-Stroboskopkamera mitnehmen.« »Stroboskop —?« »Angenommen, die Gestalten bewegen sich unglaublich schnell. Vielleicht ist es deshalb nicht möglich, sie mit den Augen zu erfassen. Die Stroboskopkamera dagegen, kann Dutzende schneller Bilder in Zehnmillionsteln einer Sekunde aufnehmen. Die Infrarotplatten werden die Dunkelheit durchdringen und das Stroboskop wird alle Bewegungen auffangen, die zu schnell für unser Auge sind.« »Aber weshalb glaubst du, daß diese Objekte sich so schnell bewegen, Gibbs?«
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»Sie sind völlig oder nahezu unsichtbar. Das heißt, daß sie entweder aus einer fremden Energieform bestehen, die Lichtwellen ausstrahlt, aber zu kurz sind, um visuell wahrnehmbar zu sein; oder aber, daß sie sich so schnell bewegen, daß man sie im Hellen nur als schwachen Schimmer, in der Dunkelheit dagegen überhaupt nicht sehen kann.« Sie verließen das Laboratorium. Helen ergriff seine Hand. »Es wird ein verdammtes Risiko sein, Gibbs«, sagte sie ruhig. Mit dem Anflug eines Lächelns sah er auf sie herab, ohne etwas zu erwidern. * Die nächsten zwei Stunden sollten Helens Befürchtungen schlimmer bestätigen, als sie es ahnen konnte. Aber ein unbestimmbares Schicksal nahm Craylay diesmal das Privileg, jenes Risiko selber zu teilen. Auf dem Weg zu der im oberen Teil des Schiffes gelegenen Hauptbeobachtungskammer, zog sich der Leiter der ersten Merkurexpedition am rechten Knöchel eine schwere Sehnenzerrung zu. Die Männer hörten ihn fluchen und herumtoben. Zum ersten Mal während der ganzen Reise gab Craylay seinen Gefühlen derart Ausdruck, ohne im mindesten auf die Gegenwart seiner Frau Rücksicht zu nehmen. Helen mußte fast lächeln, als sie Parkersons schockiertem Blick begegnete. Langsam breitete sich auch über sein Gesicht ein breites Grinsen aus. Sie wußte, was er sich jetzt wohl dachte: Wie man sich täuschen kann, offenbar ist Craylay doch ein Mensch! Sofort erboten sich die anderen Männer, ihren Vorgesetzten zu vertreten. Nachdem Craylay sich beruhigt hatte, wählte er Seaton und Wilson für das Unternehmen aus. Im stillen fragte sich Helen, ob sich die Männer ebenso schnell gemeldet hätten, wäre sie nicht auf dem Flur gewesen. Doch als
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sie Parkersons enttäuschtes Gesicht sah, als die beiden anderen Männer gewählt wurden, wichen allerdings ihre Zweifel. Die Gegenwart einer Frau wirkte offensichtlich als Katalysator, indem sie einsame Männer alle Strapazen bereitwilliger erdulden ließ und ihre Energie aufs höchste anspornte. Während die beiden Männer in ihre Raumanzüge kletterten, holte Parkerson die Stroboskopkamera aus der Materialkammer. Sie war eine kompakte Vorrichtung: ein kleiner, metallener Kegel von der Größe etwa eines Sauerstofftanks auf einer stroboskopischen Einstellplatte, mit einem biegsamen, gewölbten Handgriff. Parkerson übergab sie Seaton, dann stellte er sich neben Craylay und Helen, während die beiden Forscher schwerfällig die Leiter zu der Druckkammer emporklommen. Craylay machte einen kleinen Schritt vorwärts, blieb aber sogleich wieder mit schmerzverzerrtem Gesicht stehen. Helen versuchte, ihn festzuhalten, er aber machte sich mit einem unterdrückten Stöhnen von ihrem Griff frei und hinkte durch den Raum. Er ließ sich in einen Drehstuhl vor der Kontrolltafel des Schiffes fallen. Er betätigte einen Schalter auf der Tafel und sofort gab die Wand eine kleine, dahinterliegende Öffnung frei. Während sich diese Öffnung rasch vergrößerte, erschien ein Beobachtungsfenster aus dickem Glas. Sie starrten in die schwarze Merkurnacht hinaus. Ein Lichtstrahl drang plötzlich aus dem Schiff ins Freie und im Kegel eines Handscheinwerfers, hob sich gespenstisch die plumpe Gestalt Wilsons ab. Vorsichtig schritt er, den prüfenden Stab ausgestreckt, im Schein seiner Lampe weiter. Da plötzlich! Einen Augenblick lang schien die Gestalt des Mannes in ein blendend purpurnes Licht getaucht. Mit einem Male verschwand es wieder. Sie sahen, wie Wilson stolperte. Für wenige Sekunden strichen die Scheinwerfer der beiden
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Forscher über das Gelände. Doch dann schien es plötzlich, als bewege sich Wilson viel zu schnell. Bevor einer der drei noch ein Wort sagen konnte, sahen sie, wie der Mann sich drehte und – erst verzweifelt über dem Boden strampelnd – jäh in die Höhe gerissen wurde. Sie sahen es am Strahl seines Scheinwerfers, dessen Licht schemenhaft auf weit entfernten Objekten tanzte. Seatons Lichtkegel begann zu zittern, als banne ihn Schrekken und Unentschlossenheit. Später stellte sich jedoch heraus, daß er unerschrocken die Stroboskopkamera aufgestellt und versucht hatte, das schreckliche, unsichtbare Etwas, das seinen Kameraden heimtückisch überfallen hatte, im Bild festzuhalten. Im Schiff manipulierte Craylay einen Rheostaten an die Mitte der Tafel, und in Sekundenschnelle war die ganze Ebene mit blauweißem Licht überflutet, das eine starke Bogenlampe in der Eingangsluke des Schiffes ausstrahlte. Den dreien bot sich darauf ein Anblick, den keiner von ihnen je vergessen sollte. Hoch über der rostroten Ebene tanzte und baumelte Wilsons Körper. Die Arme ausgespreizt, wie ein Adler mit ausgebreiteten Schwingen gegen ein Feld sternenbesetzter Schwärze – eingepfählt auf leerer Luft. Unter dem schwebenden Mann schien ein schwacher, graugetönter Schimmer das Licht abzufangen und die Ebene jenseits zu verdunkeln. Seine Fäuste geballt, wandte sich Craylay zu den beiden anderen um. »Ich nehme an, er ist tot. Er kann nicht mehr leben – « Helen schrie plötzlich leise auf, und wies aus dem Fenster. Die baumelnde Gestalt fiel plötzlich wie ein welkes Blatt zu Boden. Sie schlug auf, tanzte, überschlug sich immer wieder, bis sie auf einen Felsblock prallte und in einem Flammenblitz verschwand. Seaton hatte sich umgewandt und raste in panischer Angst
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zum Schiff zurück. Seine Hand umklammerte den Scheinwerfer, während sein Dynamometerstab, den er nicht benutzte, auf seiner Schulter auf und ab wippte. In seiner Rechten aber hielt er die Kamera verkrampft. Schnell verschwand er im Schatten des Schiffes. Craylay schaltete die Bogenlampe aus und sagte mit kalter, ruhiger Stimme: »Seaton hat es geschafft. Fred’, du hilfst ihm besser herein und dann nimmst du die Kamera an dich.« Parkerson nickte und kletterte zur Druckkammer hoch. Sie öffnete sich schnell und er erblickte Seaton, der noch immer die Kamera fest umklammert hielt. Parkerson entwand sie ihm behutsam, öffnete mit einem Klicken das waffeldünne Stahlgehäuse und griff tief in die Schutzröhre. Die Kälte des Weltraums schien an seinen Fingern zu nagen, als er die kleine Kamera herauszog. Er warf sie Craylay zu und half Seaton die Leiter hinunter. Dann öffnete er dessen Helm. »Großer Gott!« keuchte Seaton. »Es galt mir… Ich konnte es fast fühlen… und Wilson rannte auf mich zu… versuchte, es anzuleuchten… es – es nahm ihn…!« Parkerson murmelte mechanisch, wahrend er die Verschlüsse des Difolchromanzuges löste: »Ich weiß – ich weiß.« Wilson und Seaton verband die gleiche Freundschaft wie Parkerson und Wilkus. »Aber – du hast doch die Kamera laufen lassen, Bill, nicht wahr? Vielleicht können wir diesem Wesen eine Falle stellen…?« Seaton nickte stumm und sank, das Gesicht in seine Hände vergraben, auf seine Koje nieder. Craylay öffnete die Kamera und entnahm ihr einen Packen automatisch entwickelter photographischer Platten. Er reichte sie Helen. Wortlos hob Helen die oberste Platte hoch und brachte sie langsam unter eine der Kontrollraumleuchten. Die Platte ergab ein deutliches Bild. Sie reichte die Platte ih-
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ren Mann und begriff kaum, was sie sah. Craylay warf einen kurzen Blick darauf und sagte: »Da haben wir es also! Es ist doch Leben!« Parkerson und Seaton sprangen interessiert hinzu, um über Craylays Schulter hinweg die Aufnahme zu betrachten. Einen Augenblick lang hörte man nichts als die hastigen Atemzüge der vier Weltraumforscher. Dann unterbrach Craylay das Schweigen: »Leben, Helen – eine empfindende Form, vielleicht nicht intelligent, jedenfalls aber empfindend, Seaton, hast du irgend etwas da draußen gespürt?« »Gespürt…?« erwiderte Seaton. »Nichts… nichts als… nun, es war wie ein dauernder elektrischer Schock, der immer stärker wurde… einfach schrecklich…!« Craylay überprüfte das Bild genauer. Aus dem Vergleich mit den Metallkieseln auf dem Boden schloß er, daß die Gestalt sehr groß gewesen sein mußte. Etwa viermal so groß wie ein Mensch. Sie war kegelförmig, mathematisch exakt in ihren Umrissen und doch überaus lebendig. Von ihrer breiten Basis ging eine lange Stange zu Boden, um deren scharfe Spitze vier kleine Stäbe nach beiden Seiten strebten. Wo die Stange den Boden berührte, sah man unzählige kleine Flämmchen, als stünde die ganze Gestalt auf einer Fläche, die sie mit elektrischen Funken reagierte. »Die zweite Platte, Helen«, sagte Craylay ruhig. Helen sah sie an, und keuchte erregt: »Drei davon.« Craylay prüfte sie gewissenhaft. »Drei – und sieh dir an, wie sie gruppiert sind.« »Fünf von ihnen auf dieser Platte«, sagte Helen, als sie ihm die dritte Platte reichte. Schweigend überflog Craylay die restlichen Platten. Als er schließlich die zwölfte und letzte beiseite legte, blickte er be-
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sorgt auf. »Das Schiff ist in Gefahr.« Parkerson erstarrte. »Wie meinst du das?« »Ganz einfach. Die Kegel sind empfindsame Ganzheiten. Ich glaube sogar, daß es Energieformen sind, bewegliche Kraftfelder, die jedoch Intelligenz und Zielstrebigkeit besitzen. Ich bin überzeugt, daß sie in irgendeiner Weise mit den elektromagnetischen Feldern, den Schockstellen, zu tun haben.« Rasch erhob er sich und ein schmerzerfülltes Zucken lief über seine Züge, als ihn die verzerrte Sehne an ihre Gegenwart erinnerte. »Ich glaube, daß diese Kegel Ultraviolettstrahlen erzeugen und sich von den elektromagnetischen Quellen der Schockstellen ernähren. Bedenkt, daß Protoplasma selbst ein elektrisches Phänomen ist, geformt durch Energie und Strahlung. Nur ist Protoplasma das Produkt einer Umgebung, die nur leicht mit Sonnenenergie geladen ist. Beim Merkur ist das wesentlich anders.« Er gab Parkerson die Bilder. »Sieh mal diese Serien, Fred. Sie beweisen, daß die Kegel beabsichtigen, uns anzugreifen. Sie scheinen sich in einer keilförmigen Formation aufzustellen. Die letzte Aufnahme zeigt mindestens fünfzehn Kegel – und sie alle weisen in Richtung auf unser Schiff!« Er drehte sich um und sah durch die Luke nach draußen. Unten herrschte tiefe Dunkelheit, außer einem schwachen Funkeln, wo die dünnen Venusstrahlen auf winzigen Kieselspitzen glitzerten. Der Forscher wußte aber, daß fremde Energieformen sie bedrohten, obwohl er sie nicht sehen konnte. Er hegte auch den Verdacht, daß die Kegel sich auf der furchtbaren Schockstelle, weniger als zweihundert Meter vom Schiff entfernt, sammelten. Craylay war sich klar, daß es vor diesen Wesen kein Entrinnen mehr gab, wenn er nicht sofort handelte. Die Übermacht war zu groß. Er ließ sich in seinen Kontrollsitz fallen, um die Starttriebwerke des Schiffes anzulassen.
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Doch bevor es ihm gelang, zuckte ein gewaltiger Blitz durch das Schiff. Ein Brüllen übertönte alle anderen Geräusche. Eine schreckliche Detonation ließ plötzlich jeden Gegenstand im Kontrollraum erzittern. Der Boden schien sich zu heben. Doch dann kam das bekannte, erdrückende Gewicht der Beschleunigung. Craylay verlor das Bewußtsein, obwohl er auf den Kissen des Kontrollsitzes lag. Seine ungeheure Willenskraft gab ihm jedoch kurz darauf das Bewußtsein wieder und ganz langsam tauchte er aus den Nebeln der Ohnmacht auf. Im Schiff herrschte gespenstische Stille, die nur von dem unheimlichen Knistern und Knacken der Kobaltglasplatten unterbrochen wurde. Craylay sah um sich und starrte auf die Beobachtungstür. Die verwunschene Ebene, die entfernten, gekrümmten Hügel des Merkur waren verschwunden. Nur die Sterne wirbelten im schwarzen Raum. Sein geschulter Blick flog sofort über die Zifferblätter und Skalen der Kontrolltafel. Die mächtigen Atomtriebwerke arbeiteten nicht mehr. Die einzigen laufenden Maschinen waren die Generatoren für Licht, Heizung und Klimaanlage. Eine rote Kontrollampe flackerte auf und zeigte an, daß jetzt zwei der chemischen Düsen arbeiteten. Es waren die Düsen, die den beim Start erforderlichen nichtradioaktiven Schub bewirkten. Craylay überlegte scharf, was geschehen sein mochte. Die unbekannten Kegel auf der Ebene hatten zweifellos einen Energiestrahl gegen die chemischen Düsen abgefeuert, der diese zum Zünden brachte. Sie hatten das Schiff von der Fläche des Planeten aufwärts schießen lassen. Ein so unwahrscheinliches Ereignis, daß es nicht als Zufall gelten konnte. Dennoch wußte Craylay, daß es rein theoretisch sehr wohl im Bereich des Möglichen lag. Seine Finger spielten in verhaltener Wut mit den Schaltern der Kontrolltafel. Die Stille wurde von dem Einsetzen der Atomtriebwerke unterbrochen und das Schiff wurde merklich
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ruhiger. Craylay seufzte erleichtert auf. Der Atomtreibstoff war demnach sogar gegen die von der Ultraviolettstrahlung der Kegel ausgehenden, ungeheuren Temperaturen immun. Sogar die künstlich erzeugte Schwerewirkung im Raum und die Fahrtrichtung des großen Kobaltglasschiffes brachte Craylay unter seine Kontrolle. Erst jetzt gestattete er es sich, nach den anderen umzusehen. Parkerson war bei dem hinteren Schott in sich zusammengesunken. Neben ihm lag Seaton, der die Augen geschlossen, sich langsam drehte. »Helen!« rief Craylay, als er endlich seine Frau fand. Ungeachtet seiner eigenen Schmerzen, hinkte er zu ihr hin. Zärtlich tastete er ihren Körper nach Verletzungen ab. Sie stöhnte. »Bist du verletzt? Helen! Helen…« Sie schlug die Augen auf und stöhnte. Ein schwaches Lächeln überflog ihr Gesicht. »Was…?« Er richtete sie auf. Sie war arg durcheinandergeschüttelt worden, aber trotzdem unverletzt geblieben. Offensichtlich war sie zurückgeschleudert worden und Parkersons Körper hatte ihren Aufprall abgefangen, als sie auf das Schott prallten. Craylay setzte Helen behutsam auf eine Bank nieder und wandte sich Parkerson zu. Er war bewußtlos und atmete stoßweise. Ein dünner Blutstreifen sickerte aus seinen Mundwinkeln. »Rippen gebrochen«, sagte Craylay heiser. »Möglicherweise kompliziert. Schau nach Seaton, wenn du kannst, Liebling. Ich kümmere mich um Fred.« Zunächst war es wichtig, für die große Schleife zurück zur Erde die nötige Beschleunigung zu gewinnen. Seaton, den Arm in der Schlinge, berechnete, über die Karten gebeugt, ihren Kurs. Helen saß auf Parkersons Koje und beobachtete den Strom des Blutes, der aus einem Kunststoffbehälter in seine
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Venen strömte. Der automatische Trennschirm war halb heruntergelassen und trennte sie von dem Kontrollraum. »Nach Hause…« sagte Parkerson schwach. »Es wird alles gut werden, Helen.« Sie nickte. »Sie dürfen nicht soviel sprechen, Parky.« Ohne ihren wohlgemeinten Rat zu befolgen, fuhr er fort: »Wilkus, Wilson, Grayson und auch Scottie. Alle tot. Wofür? Verdammt unsinniges Geschäft. Was hat ihr Tod der Wissenschaft eingebracht?« Tränen schossen aus seinen Augen. Ärgerlich wischte er sie ab. »Tut mir leid, Helen, aber… es ist doch alles so sinnlos.« Mit einem seltsamen, herben Lächeln erhob sich Helen und zog den automatischen Schirm hoch. »Schauen Sie«, sagte sie weich. Parkerson wandte langsam seinen Kopf und folgte ihrem Blick. Craylay saß auf dem Kontrollsitz. Seine Schultern waren eckig, die Hände lagen ruhig auf dem Rand der Schalttafel, während sein Gesicht sich zu der flimmernden Unendlichkeit des Raumes hob. Er saß regungslos. Sie kam zurück und setzte sich wieder neben ihn. Dann prüfte sie die Flasche mit den Blutkonserven und sah ihn dann an. »Parky«, flüsterte sie. »Sie zweifelten einst, daß er ein Mensch sei. Sehen Sie ihn jetzt an. Wir wurden fortgetrieben. Sie töteten unsere Männer und beschädigten unser Schiff. Aber – sehen Sie ihn sich an, Parky! Er ist ein Forscher. Er ist der neue Pionier in einem Zeitalter, das die größte Grenze aller Grenzen kennt.« Mit einer müden Bewegung schob sie ihr Haar zurück. »Vielleicht ist er kein Mensch. Vielleicht ist er – die Menschheit. Sehen Sie ihn an, Parky. Trotz Tod und Gefahr, trotz jener Lebensformen, die den Vorteil besitzen, selbst geheim zu sein – wird er zurückkehren. Sehen Sie es nicht ein?« Parkerson blickte auf die schweigende, starke Gestalt, dann
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sah er die Frau neben sich an. »Er wird zurückkommen«, hauchte er. »Ja – ganz bestimmt.« Als ihm die Bedeutung dessen so recht zu Bewußtsein kam, was Helen gesagt hatte, kam es entschlossen von seinen Lippen: »Wir werden zurückkehren!« Cones von Frank Belknap Lang aus ASTOUNDING SCIENCE FICTION. Copyright 1938 Street & Smith. Mit freundlicher Genehmigung von Ots Kline Assoc, Inc. Aus dem Amerikanischen übersetzt von Franz Josef Jacobi.
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UTOPIA–SCIENCE–FICTION-BÜCHEREI ›Du wirst die Erde sehn als Stern‹ von Wolfgang D. Müller. 300 Seiten mit einem ausführlichen Quellennachweis und acht Bildtafeln. Deutsche Verlagsanstalt Stuttgart. Während viele Werke über Raumfahrt vor allem die technischen Möglichkeiten in das Auge fassen und den heutigen Standpunkt als den zu diesen Fragen schlechthin gegebenen ansehen, hat sich Wolfgang D. Müller die Mühe gemacht, das Problem der Weltraumfahrt als solches aufzugreifen. Gewiß behandelt er – und er tut dies sehr ausführlich – sämtliche wissenschaftlichen Fragen, er geht der Geschichte der Entwicklung über die Betrachtung des Weltraums überhaupt nach! der Geschichte der Astronomie und ihrer entscheidenden Stationen, dem Fortschritt der Technik und den dadurch eröffneten Möglichkeiten, wissenschaftlich fundierten Gesetzen in der Praxis nachzuspüren. Aber die Frage der Weltraumfahrt ist für ihn nicht nur ein technisches Problem, nicht nur eine Spekulation im modernen Sinne auf mögliches Neuland, auf Gewinnung bisher unbekannter Kräfte, auf die mögliche Begegnung mit anderen Lebewesen. Für ihn geht es vor allem um die Frage: Was bedeutet die Weltraumfahrt der Menschheit in einem höheren Sinne? Bereits seine Darstellung der Entwicklung und Formung eines neuen Weltbildes ist erregend, großartig auch die eindringliche Formulierung der entscheidenden Einsichten durch Newton. Kepler, Kopernikus und andere, nicht minder fesselnd die Schilderung des Zusammenwirkens der verschiedenen Wissenschaften, von denen immer eine der anderen gibt, was sie nun braucht, dadurch wieder neue Impulse schafft, die wieder ande176
re Gebiete ergreifen und beleben – allein diese Kapitel würden das Buch lesenswert machen. Aber in dem Wolfgang D. Müller sich damit auseinandersetzt, kommt er ganz von selbst in den Bann philosophischer und theologischer Fragen, die mit der Weltraumfahrt zusammenhängen. Ist sie nur ein Abenteuer, geboren aus dem Hirn von Abenteurern, oder ist sie Ausdruck eines unerhörten Wollens, eines neuen Aufbruches der Menschheit, zumal der abendländischen Rasse? Kennzeichnet sie den stetigen Fortschritt und stellt sie darin eine Krönung eines gleichmäßigen Prozesses dar, oder ist sie ein Ausbruch, eine Expansion menschlichen Geistes, von der keineswegs gesagt werden kann, daß sie Bestand hat, da große und reiche Kulturen untergegangen sind, ohne eine Spur zu hinterlassen? All das sind tiefbewegende Fragen, und Wolfgang D. Müller hat sich die Antwort nicht leicht gemacht. Er stellt sich weder auf die Seite der hoffnungslosen Pessimisten, die sich von der Weltraumfahrt nicht viel versprechen (auch rein in bezug auf unser Leben gesehen) noch auf die der wirklich utopischen Optimisten, die bereits Erdkolonien auf anderen Planeten und damit die Raumfrage für die Menschheit gelöst sehen. Er beantwortet den ethischen Grundgehalt des Ringens um die Eroberung des Weltraumes schließlich mit einem ›Ja‹, aber dieses ›Ja‹ stützt sich in erster Linie auf die wahrhafte menschliche Aktivität als göttlichen Auftrag. Zur theologischen Seite – im Zusammenhang mit der Frage nach der Bewohnbarkeit anderer Planeten eine brennende Frage – zitiert er eingehend die modernen evangelischen und katholischen Theologen, die durchweg auf dem Standpunkt stehen, daß auf anderen Planeten durchaus Geschöpfe existieren können, ohne daß dadurch die Wahrheit der Genesis, die nur für unsere Erde geschrieben ist, berührt wird. Es ist ein abgedroschener Satz, zu sagen, ein Buch solcher Art lese sich wie ein Roman. Man will damit andeuten, daß man nicht davon
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loskommt, und in der Tat legt man es ungern aus der Hand. Man wird öfter darauf zurückgreifen, denn es existiert eigentlich keine Frage um und am Rande der Weltraumfahrt, die nicht aufgegriffen und hervorragend behandelt würde. Der enorme Quellennachweis unterstreicht die Arbeit des Autors, er ist aber gleichzeitig ein Nachschlagewerk für den, der sich weiter mit diesen Dingen befassen will. .
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das erste und bestinformierteste Nachrichtenorgan der Freunde utopischer Literatur in Deutschland,
FRAGT AN: Hat Ihnen dieser Roman gefallen? Wenn ›Ja‹, sind Sie sicher an weiterer guter Lektüre interessiert. Wenn ›Nein‹, kann Ihnen vielleicht ein anderer Autor und ein anderes Buch Freude machen.
TRANSGALAXIS informiert Sie in regelmäßigen Abständen über alle Neuerscheinungen in der utopischen Literatur. TRANSGALAXIS enthält ausführliche Besprechungen der guten Publikationen und Kurzrezensionen aller sonstigen Titel. Ihre Leihbuchhandlung kann nicht jeden Titel einstellen, und Ihre Buchhandlung führt keine Leihbuchausgaben – Sie aber sind sicher daran interessiert, zu wissen, was auf Ihrem Gebiet erscheint und was davon gut oder schlecht ist. TRANSGALAXIS berücksichtigt dieses Interesse in weitgehendster Form. Titel, Autoren, Ausstattung, Preise usw. – Möglichkeiten eines antiquarischen Erwerbs bereits vergriffener Titel – Erwerb von Sonderausgaben, verbilligter Ausgaben, Restposten und dergleichen – Abonnementsbezug von Sonderdrucken der utopischen Literatur als Mitgliedsbände zu KlubSonderpreisen – Bezug von Heft- und Taschenbuchausgaben zu Klubpreisen – Sonderbestellungen – Beschaffung von fremdsprachigen Ausgaben – und vieles mehr. Die Zeitschrift TRANSGALAXIS erscheint monatlich und kostet im Abonnement 0,50 DM, jährlich mithin 3,50 DM Für Mitglieder des Sonderdruck-Abonnements ist TRANSGALAXIS frei und wird franko zugestellt. In diesem Jahr erscheint als Sonderdruck ein lückenloser Katalog aller bisher in deutscher Sprache erschienenen utopischen Titel – das sind über 1000 (eintausend) Bücher. – Ausstattung und Preis wird bekanntgegeben. Wenn es Ihr Interesse und Ihre Zeit erlauben, schreiben Sie baldigst eine Postkarte, und Sie erhalten postwendend eine ausführliche Broschüre zu Ihrer unverbindlichen Information
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AUFLÖSUNG
des Science-Fiction-Preisrätsels im UTOPIA-Magazin 8
Rein wissenschaftliche Bezeichnungen aus bekannten SF-Romanen wurden gemischt. Es war Ihre Aufgabe, unter drei Erklärungen, von denen 2 falsch waren, die richtige herauszufinden. Die richtige Lösung heißt: B C B A B C Zeitdilatation = Erscheinung bei Annäherung an die Lichtgeschwindigkeit Hyperraum = Glücklicher Einfall eines erfolgreichen SF-Autors Lichtdruck der Sonne auf 1 km2 der Erde = 500 Gramm Hydroponische Gärten = Aufzucht von Pflanzen in flüssiger Speziallösung Quadratur des Kreises = Unlösbares mathematische Problem Synchotron = Gerät zur Beschleunigung von Elektronen Da eine ganze Reihe richtiger Lösungen einging, mußten die drei Gewinner durch das Los ermittelt werden. Die ausgeschriebenen Buchpreise gewannen:
Armin Abmeier, Göttingen, Gartenstraße 45 ›Heller als tausend Sonnen‹ von Robert Jungk Helga Steffen, Berlin-Siemensstadt, Rieppelstraße 18 ›Die Zukunft hat schon begonnen‹ von Robert Jungk Hedwig Brünsing, Witten (Ruhr), Marien-Hospital ›Knaurs Lexikon‹
Allen anderen Einsendern danken wir recht herzlich für ihre Lösungen.
……………. Hier bitte abschneiden! …………….
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SCIENCE FICTION TEST (CHECK LIST)
Einsendeschluß bei Erscheinen von UTOPIA-MAGAZIN Nr. 11 in vier Wochen
Kurzgeschichten Technischer Irrtum Leviathan 2084 Erste Begegnung Lilien des Lebens Kegel
Artikel und Beiträge Die Entstehung des Universums Aus den Tiefen des Raumes Isotope helfen heilen Unser Leitartikel
Für die Kurzgeschichten bitte die Zahlen 1 – 5 einsetzen, dagegen nur den Artikel ankreuzen, der Ihnen am besten gefallen hat. Das Ergebnis wird in UTOPIA-Magazin 11 das in vier Wochen erscheint, veröffentlicht.
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