DR. MED. ROBERT G. JACKSON
NIE MEHR KRANK SEIN Das Geheimnis langen Lebens
Bearbeitet und herausgegeben von Dr. Ralph ...
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DR. MED. ROBERT G. JACKSON
NIE MEHR KRANK SEIN Das Geheimnis langen Lebens
Bearbeitet und herausgegeben von Dr. Ralph Bircer, Züric 18. Auflage
ALBERT MÜLLER VERLAG – RÜSCHLIKON-ZÜRICH STUTTGART – WIEN 1
Berectigte Übersetzung aus dem Engliscen, besorgt von Barbara von Sprecher Titel der in Kanada erscienenen Originalausgabe: „How to be always well“ Nacdru% verboten – Alle Recte vorbehalten Albert Müller Verlag, AG, Rüsclikon-Züric, 1968
Aczehnte Auflage 123. bis 130. Tausend der deutscspracigen Gesamtausgabe
Printed in Swizerland
SCANNED BY HARDEN 2001
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Inhalt
Vorwort von Dr. Ralph Bircher
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1. Vom Wesen der Krankheit und der Lebenskraft
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2. Die Grundgesetze des Lebensprinzips
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3. Natur und Unnatur
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4. Unsere Nahrungsmittel
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5. Falsche Ernährungsgewohnheiten
53
6. Die Haut und ihre vernachlässigten Funktionen
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7. Unterentwickelte Muskeln
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8. Dr. Jackson stellt sich um
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9. Die richtige Ernährung
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10. Gesunde Muskelentwicklung
112
11. Die Pflege der Haut
125
12. Geist, Gefühlsleben und Schlaf
134
13. Schlußbetrachtungen
146
4
Vorwort des Herausgebers Der Verfasser dieses Buches, einer der meistbekannten Ärzte Amerikas, hat eine höchst bemerkenswerte Lebensgeschichte. Sie war in ihrem ersten Teil vor allem eine Krankengeschichte. Geboren von einer schwer herzkranken Mutter als ein schwächliches Zwillingskind, machte er in Kindheit und Jugend fast alle Krankheiten durch, die ein heranwachsender Mensch bekommen kann, um dann aber, dank seiner Begabung und guten Erziehung, die Sorgen seiner Eltern zu belohnen, indem er ein Mediziner mit angesehener Praxis wurde. Seine Gesundheit hielt sich leidlich bis zum 32. Altersjahr, dann brach sie zusammen, als ob die geringe Lebenskraft, die ihm zugeteilt war, sich erschöpft hätte. So wurde er in seinen besten Mannes – Jahren immer mehr ein „wandelndes Siechenhaus“: der Magen war schwer entzündet, die Zähne fielen aus ihrem Knochenbett heraus, der Dickdarm bildete Geschwüre und Fisteln, entsetzliche Kopfschmerzen kamen immer wieder und immer häufiger, Nervenentzündungen raubten den Schlaf, rheumatische Gelenkentzündungen hinderten die Bewegungen, und ein gefährliches Herzleiden, mit steigendem Blutdruck und nicht operierbarem Grünen .Star brachten ihn trotz allen Behandlungen und Kuren so weit, daß ihm, nach dem Urteil der berühmtesten Ärzte seiner Zeit, höchstens noch vier Monate Lebensmöglichkeit zuzubilligen waren. So stand es mit Dr. Jackson, als er 49 Jahre alt war: er hatte den sicheren Tod vor Augen. Da geschah in ihm eine Wandlung. Er wandte sich von den Auffassungen der medizinischen Autoritäten ab und setzte sein ganzes Vertrauen in den in aller lebendigen Natur wirkenden Schöpfer, beobachtete seine Wege, die ewigen Ordnungen und Gesetze des Lebens, fügte sich diesen ein, vereinfachte und wandelte seine Lebensgewohnheiten und . . . genas. So sehr erstarkte und gesundete er im Laufe einiger Jahre, daß fortan keine Krankheit ihm mehr nahetrat, und daß er selbst noch als Achtzigjähriger 12 bis 16 Stunden täglich als Arzt, Berater und Vortragender tätig sein und die sportlichen Leistungen eines etwa dreißigjährigen Mannes vollbringen konnte. Wie dies möglich war, welche Beobachtungen, Erkenntnisse, Vereinfachungen und Gewohnheiten ihm, dem früheren Siechenhaus- und Todeskandidaten, diese herrliche Lebensfrische verschafften, kann man in diesem Buche lesen, und zwar so, daß es im einsichtigen Leser bei jedem Wort „ja“ sagt: „Ja, das will und kann ich auch!“ Kein Wunder, daß dieses Buch in Amerika berühmt ist und eine gewaltige Verbreitung gefunden hat. Wir leben in einer Zeit erstaunlicher Neuerungen, vor allem auch auf dem Gebiet der Krankheitsbekämpfung. Cibazol, Penicillin, Streptomycin sind einige Marksteine auf dem Wege, der zu einem noch vor wenigen Jahren für unmöglich gehaltenen Aufstieg in der Bekämpfung infektiöser Erkrankungen führte. Begeisterung hat viele ob dieser Großtaten ergriffen, und manche Menschen haben heute das Gefühl, man dürfe jetzt eher eine Krankheit riskieren, weil das Heilen ja so leicht und bequem gemacht ist. Man nimmt an, daß bald für jede Krankheit ein Wundermittel gefunden sein wird. Bereits wird ein neuer Anstieg der Ansteckungen an Geschlechtskrankheiten gemeldet, weil sich auch in dieser Hinsicht Sorglosigkeit ausgebreitet hat. Wenige sehen, daß alle diese Triumphe auf einem kleinen Nebenkriegsschauplatz der Medizin, dem Kampf gegen die Erregerkrankheiten, erzielt worden sind, während auf dem Hauptkriegsschauplatz, dem Kampf gegen die Zivilisations- oder 5
Degenerations- und Alterskrankheiten, also gerade gegen jene Leiden, die Dr. Jackson in seiner ersten Lebenshälfte bedrängten, keine ähnlichen Triumphe zu verzeichnen sind. Hier gibt es nicht einmal einen Stillstand, sondern nur einen schweren Abwehrund Rückzugskampf, dessen Ausgang die Fachkundigen mit Sorgen betrachten. Da sind zum Beispiel die Zuckerkranken, deren Sterblichkeit seit 1930 in der Weltstadt New York um 65 % zugenommen hat, trotz modernsten Bekämpfungsmethoden, trotz der so wertvollen Errungenschaft der Insulinbehandlung! Die Diphtheriegefahr hat man beinahe überwunden, aber an der Zuckerkrankheit sterben bei uns in der Schweiz 20mal mehr Menschen als an Diphtherie. — Da ist sodann die gewaltige Gruppe der Herz- und Nierenleiden, die gegenwärtig rund 500mal mehr Todesfälle verursacht als Scharlach oder Masern; dabei ist die Zahl der Opfer beständig und anscheinend unaufhaltsam im Steigen begriffen. Die Sterblichkeitskurve der Herz- und Nierenkranken biegt sich immer rascher nach oben und wird, falls nicht eine Wendung kommt, in wenigen Jahren eine Verdoppelung der Todesfälle gegenüber 1930 anzeigen. — Und was für eine Erleichterung bringt uns der Rückzug der Tuberkulose, der übrigens bereits wieder einem Vorstoß gewichen ist, wenn gleichzeitig die gewaltige Gruppe der rheumatischen Krankheiten, die 36mal mehr Krankheitsfälle und 50mal mehr Invalidität verursachen als die Tuberkulose, in einem noch bedrohlicheren Tempo anschwillt. Denn nach den Erhebungen von Bruck hat sich beispielsweise beim Personal der Schweizerischen Bundesbahnen die rheumabedingte Invalidität in den zehn Jahren von 1926 bis 1935 verdreifacht! — Mit diesen Hinweisen haben wir aber erst einen Teil der Zivilisationskrankheiten erwähnt und noch nichts von der Zunahme der Magen- und Darmkrankheiten, der Nervenleiden, des Krebses gesagt. Von alledem gibt sich die Öffentlichkeit nur wenig Rechenschaft; dazu steht sie viel zu sehr im Banne der „Penicillin-Begeisterung“. Für alle jene Menschen aber, welche diesen Tatsachen, die über kurz oder lang ja doch zur Geltung kommen, ins Angesicht blicken, wird das Buch Dr. Jacksons, der in sich die Summe der Zivilisationskrankheiten überwand, ein herrliches, ein erlösendes Buch sein. Die Lehren Dr. Jacksons decken sich in allen wesentlichen Punkten mit dem, was in Europa u. a. Dr. Bircher-Benner seit fünfzig Jahren lehrte. Die beiden Pioniere lernten sich erst kurz vor dem letzten Kriege kennen und in gegenseitiger Freundschaft und Verehrung schätzen. Es war Dr. Jacksons ausdrücklicher Wunsch, daß kein anderer als Dr. Bircher-Benner sein Buch in Europa herausgeben sollte, und als dieser nach Erfüllung seines Lebenswerkes das Zeitliche segnete, schenkte der Verfasser dem Unterzeichneten das Vertrauen, diese Aufgabe in sinngetreuer Anpassung des Werkes an europäische Verhältnisse zu Ende zu führen. Daß die deutsche Ausgabe nun dank der vorzüglichen Mitwirkung der Übersetzerin, Fräulein Barbara von Sprecher, und des Albert Müller Verlags erscheinen kann, wird, wie wir wissen, für viele ein freudiges Ereignis sein. Erlenbach am Zürichsee Dr. Ralph Bircher
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1. KAPITEL Vom Wesen der Krankheit und der Lebenskraft Unter allem, was die Schöpfung an Lieblichem und Wohlgefälligem hervorgebracht bat, ist sicherlich nichts so schön und beglückend wie der Anblick eines vollkommen gestalteten menschlichen Körpers. Nicht viele von uns wissen jedoch um diese Schönheit; denn ein falsch gerichtetes und falsch angewandtes religiöses Gefühl hat in uns eine kleinliche, unreine, unfromme Gesinnung erzeugt, die den Körper, den geweihten Tempel unserer Seele, verachtet. Diese Auffassung stammt aus der religiösen Einstellung längstvergangener Zeiten, als noch Menschen von engem Horizont, Mönche und Frömmler, anstatt geistig Erleuchteter die Weltanschauung bestimmten. Sie übersahen, daß ein unrein gescholtener Körper von selbst unreine Gedanken erweckt. Wird der Körper durch die Bekleidung unseren Blicken entzogen, so ist das eine Herausforderung an sämtliche Kräfte unserer Phantasie, die alles, was wir angeblich nicht sehen dürfen, nach Belieben vor unsere Augen zaubern und noch dazu in der unsauberen Form, die den Dingen durch das Verbot anhaftet. Betrachten wir unser wahres Selbst aber mit den Augen reifer Geistigkeit, so strahlt es uns entgegen als Funken des endlosen göttlichen Glanzes, enthüllt sich uns als Seele, die selber aus dem Staub der Erde den herrlichsten aller Tempel sich zu bauen vermag; dann befinden wir uns auch in der richtigen geistigen Verfassung, um die erstaunliche Schönheit des menschlichen Körpers zu erkennen. Das will natürlich nicht heißen, daß jeder menschliche Körper tatsächlich über alle Maßen schön zu nennen ist — obwohl es sicherlich im Rahmen des Möglichen liegt, daß ein jeder es sein könnte; denn nur weil wir den Körper so sehr verachten und mißhandeln, zeigt er — mit wenigen und darum auffallenden Ausnahmen — eine unschöne, unterentwickelte Gestalt. Die Zeit wird aber sicherlich einst kommen, da der biblische Ausdruck „zum Bilde Gottes“ etwas Konkretes und Greifbares darstellen wird. Er bedeutet, daß wir tatsächlich zu Gottes Ebenbild geschaffen sind, weil wir in unserer auf höhere Entwicklung gerichteten Vernunft die schöpferischen Möglichkeiten mitbekommen haben, uns innerhalb gewisser Grenzen der Naturgesetze zu unserem Frommen selber zu bedienen. Dann werden wir einsehen, daß niemand den Körper verachten kann, ohne gleichzeitig auch seinen Erbauer und Bewohner, den göttlichen Funken in uns, zu beleidigen. Dann werden wir auch aufhören, den menschlichen Körper moralisch zu werten; wir werden vielmehr in unseren Körpern Tempel erblicken, die unser innerstes Selbst dem Lebensfunken zur Wohnung baut, und werden durch geduldige Arbeit dem vor Zeiten durch die alten Griechen erreichten Ideal der Körperschönheit nahekommen können, es vielleicht sogar zu übertreffen wissen. Es wird behauptet, daß das alte Griechenland in intellektueller Beziehung den fortgeschrittensten modernen Staaten weit überlegen gewesen sei; sein Kulturdurchschnitt stand nach der Meinung mancher Sachverständiger so weit über demjenigen heutiger Kulturländer, wie die heutigen Kulturnationen sich über primitive Rassen erhaben dünken. Dieser hohen Kulturstufe entspricht es durchaus, daß die 7
Griechen mit all ihrer Bildung und intellektuellen Fortgeschrittenheit die Schönheit als oberstes Ideal verehrten; sie priesen sie und verherrlichten sie. Aber ihrer höchsten Auffassung von Schönheit kam nichts so nahe wie der menschliche Körper. Sie schufen in Marmor nach, was in Fleisch und Blut um sie herum lebte und ihre im Geiste geschauten Idealbilder verkörperte. Und weil sie den menschlichen Körper als vollkommene Erscheinung ansahen, füllten sich ihre Gedanken mit Bildern der Vollkommenheit, und ihre Lebensweise, die Nahrung, die körperliche Betätigung, alles richtete sich auf das mit Innigkeit erstrebte Ziel der Vollkommenheit ein. So erreichten sie denn auch dieses Ziel, und wir könnten dasselbe tun. Die Griechen verachteten unschöne Formen, weil sie nach ihrer Auffassung der Absicht der Natur widersprachen; der Besitzer eines unschönen Körpers stand deshalb in geringem Ansehen, denn die Verantwortlichkeit für seine Gestalt wurde ihm auferlegt. Und das Leben der Griechen wurde daher nicht von Schlemmerei und Gier und nicht von niedriger Sinnlichkeit bestimmt wie unser modernes Dasein, sondern von einer ganz großen Liebe zur Keuschheit und zu gesunder Schönheit. Nie wäre es jenen “barbarischen“ Griechen in den Sinn gekommen, den menschlichen Körper als etwas Unreines, Unmoralisches zu betrachten oder ihn den menschlichen Blicken zu entziehen. Ihre Verehrung für das, was unsere prüde Gesinnung durch schmutzige Vorstellungen entwürdigt und entheiligt hat, ließ sie zu einer Größe der Auffassung, zu einer Reinheit ihrer Gedankenwelt gelangen, mit der sich unsere heutige Einstellung nicht entfernt messen kann. Unser Irrtum liegt darin, daß wir glauben, wir seien Körper, die eine Seele beherbergen; das Umgekehrte ist der Fall: wir sind Seelen, welche die Macht haben, sich eigene Wohnstätten zu erbauen. Es gab eine Zeit, in der die Wissenschaftler die Nichtexistenz Gottes durch verblüffende Ergebnisse chemischer Experimente beweisen wollten. Statt dessen ergaben ihre Forschungen, daß sie ihr eigenes Dasein nicht erklären konnten, solange sie nicht das Dasein Gottes in ihre Berechnungen mit einbezogen. Man stellte die Elemente, aus denen sich die Körper zusammensetzten, ihre Zahl und ihre gegenseitigen Verhältnisse fest. Solche Elemente wurden in genauen Proportionen und unter den denkbar günstigsten Bedingungen für Lebensentfaltung wieder zusammengefügt, aber die Masse blieb kalt, unbewegt und tot; es fehlte ihr etwas, das keine Wissenschaft aus ihr herauszuholen, in sie hineinzulegen vermochte, etwas, das jenseits jeder sinnlichen Erkenntnis lag, jenseits aller menschlichen Einfühlung in Übernatürliches, jenseits jeder Ahnung, sogar jenseits jeden Phantasiebildes einer noch so kühnen Einbildungskraft. Darum verneint die Wissenschaft Gott jetzt nicht mehr. Sie steht heute in tiefster Ehrfurcht vor jedem verschlossenen Tor, das ins Unbekannte führt. Das Wunder des mit schöpferischer Intelligenz begabten Menschenkörpers, dieses heiligen Rätsels, erfüllt sie mit Staunen, und sie erkennt, daß hier, in ihrem eigenen Tempel eingeschlossen und behütet, die Seele des Menschen wohnt und wirkt, der Funke des unendlichen Lichtes, der Geist aus Gott. Vielleicht gebraucht die Wissenschaft das alte Wort „Gott“ nicht gerne und benützt lieber Ausdrücke wie „Kraft“, „höchste Vernunft“ oder andere Schlagwörter modernen Gepräges, um diese alles durchdringende, jedem Zugriff entweichende Macht anzudeuten. Aber wozu um Namen streiten, die nichts an den Tatsachen ändern ? 8
Die Schöpfungsgeschichte berichtet allerdings, daß Gott den Menschen aus einem Erdenkloß formte und ihm seinen Odem in die Nase blies; so sei der Mensch eine lebendige Seele geworden. Wie stimmt das, fragst du, mit der Wissenschaft überein? Und darauf antworte ich: Überraschend genau sogar. Behauptet doch die Wissenschaft, daß die ersten Lebensformen unserer Erdkugel auf den von Ebbe und Flut überspülten Schlammufern der warmen Meere der Urzeiten erschienen. Diese ersten Lebewesen bestanden aus denselben chemischen Stoffen wie der warme feuchte Grund ihres morastigen Mutterstrandes. Jene früheste Lebensform bestand aus einer einzigen mikroskopisch kleinen Zelle; sie schloß einen Lebensfunken in sich ein, der sie von allen zwar aus demselben Stoffe bereiteten, aber nicht lebendigen Dingen ihrer Umgebung unterschied. Sobald der Lebensfunken den kleinen einzelligen Körper wieder verließ, fiel dieser in den gleichen leblosen Zustand zurück wie die übrige Erdmaterie. Es ist daher einleuchtend, daß der Körper eines solchen Lebewesens für sein Dasein auf etwas anderem beruhen mußte als auf der Erdmaterie, aus der er sich gebildet hatte: auf der Lebensessenz, dem Lebensgeist, der in ihm wohnte und ihn lebendig erhielt. Die Lebensessenz hat die Fähigkeit, sich aus den Stoffen des Erdbodens einen Körper aufzubauen. Jedes lebendige Wesen hat diese Fähigkeit. Die Lebensessenz in pflanzlichen Lebewesen hat die Fähigkeit, diese Stoffe durch die Wurzeln unmittelbar aus dem Boden zu beziehen, und sie baut sich zur Behausung einen Pflanzenkörper auf. Tierische Lebewesen führen sich die Erd- oder Mineralstoffe durch Verzehren der Pflanzenkörper zu; sie verzehren aber damit nur wieder Erdenstaub in organischer Form, was sich durch die Tatsache beweisen läßt, daß sich tierische Körper rasch in Erdenstaub zersetzen, sobald der Lebensfunke sie verlassen hat. Was von der kleinen einzelligen Lebensform am flutgetränkten Meeresstrand vor vielen Millionen von Jahren wahr gewesen, das gilt aber auch heute noch, und zwar für jedes einzelne lebende Wesen, den Menschen inbegriffen. Schon vom Augenblick der Befruchtung an ist die Allkraft — die wir benennen können, wie wir wollen, ohne daß sich ihre Natur dadurch ändert — im Körper der werdenden Mutter am Werke; sie vermehrt durch Teilung die Zellen des befruchteten Eies und legt auf diese Weise den Grund zum körperlichen Wachstum. Nach einiger Zeit beginnt dieselbe Kraft die sich vermehrenden Zellen zu verändern und ihnen unterschiedliche Funktionen zuzuteilen; die einen sollen die Nieren bilden, die andern die Leber, andere wieder das Gehirn, die Nerven, das Herz, die Lungen usw., bis der ganze Körper geformt ist. Dieser Aufbau des kleinen Körpers durch Aufteilung und Vermehrung seiner Zellen geschieht buchstäblich „aus dem Staub der Erde“; seine Mutter führt durch ihr Blut dem wachsenden Gebilde Nahrung zu, die dem Erdboden entstammt. Die Zellen nehmen, in ihrer Auswahl durch den ihnen innewohnenden Aufbauwillen geleitet, alle notwendigen Bestandteile auf. So wird der menschliche Körper aus dem Staub der Erde geschaffen. Es ist darum wahr, was die Schöpfungsgeschichte berichtet: daß Gott den Menschen nach seinem eigenen Bilde aus einem Erdenkloß formte, und er formt ihn immer noch weiter. Aber bis zur Stunde der Geburt hat dieser Körper noch kein unabhängiges eigenes Leben; erst nach Ablauf einer festgesetzten Zeit wird er aus dem mütterlichen Leib in die Welt hinausgeboren. Soll er leben, so muß der große Lebensstoff, der Sauerstoff, ihn wecken und durchdringen; daher regt sein Lebensfunke — Gott — das kleine leblose Bündel von Organen zu einer Lebensäußerung an, die es in seinem ganzen 9
bisherigen neunmonatigen Dasein der Zellenvermehrung noch nicht gekannt hat: es atmet. Ein Hauch strömt durch die winzigen Nasenflügel ein, und unter unseren Augen vollzieht sich das lieblichste Schöpfungswunder; so wird es buchstäblich zur Wahrheit: „Gott blies dem Menschen seinen Odem in die Nase, und er wurde eine lebendige Seele.“ Aber erst wenn wir die kosmische Bedeutung dieser Vorgänge mit der ungeheuren, uns durch diesen Plan der Vorsehung auferlegten Verantwortung erfaßt haben, fangen wir an, wirklich zu begreifen. Das Lebensprinzip, der Lebensfunke in uns, unser wahres Selbst stammt aus der Unendlichkeit — aus Gott; und dieses wirkliche Selbst ist der Baumeister, der unsere Körper aus Erde aufbaut; wir sind der ewigen Quelle — Gott — verantwortlich für die Vollkommenheit oder Unvollkommenheit des Baues. Wir haben also dafür zu sorgen, daß der Bau in gutem Zustand erhalten bleibt und gegen vorzeitigen Verfall geschützt wird. Was das bedeutet, will wohl überlegt sein. Könnte uns die unendliche Weisheit Gottes, die Quelle allen Lebens und der alleinige Ursprung aller Dinge, dort zur Verantwortung ziehen, wo wir diese Verantwortung zu tragen nicht fähig wären, wo uns die nötigen Voraussetzungen zur Erfüllung dieser Ansprüche fehlten? Unmöglich. Wenn daher unser Körper zu einem schönen Tempel erbaut werden kann und soll, so muß uns die Möglichkeit gegeben sein, einen entsprechenden Bauplan zu entwerfen und die nötigen Baustoffe richtig zu wählen. Denn die Vorsehung stellt uns keine Aufgabe, zu deren Erfüllung sie uns nicht auch befähigt hat. Hier kommt uns nun die Gesundheitslehre zu Hilfe. Ihre Sache ist es, das einwandfreie Material zum Aufbau unseres Körpers herauszufinden und es uns anzuzeigen. Solange wir dieser Seite unseres Lebens keine Beachtung schenken, behandeln wir unseren Körper nicht viel besser als einen lebendigen Abfalleimer; wir mißachten ihn und denken an nichts andres als an die Befriedigung seiner Begierden; wir behängen ihn mit Flitterwerk, putzen ihn auf, bemalen und verschönern ihn nach Möglichkeit, um die Schäden zu verdecken, die unsere Nachlässigkeit und unsere sinnliche Haltlosigkeit verursachen. Im Notfall lassen wir durch den Fachmann, den Arzt, Ausbesserungen vornehmen; in den meisten Fällen wird er, anstatt das Lottergebäude neu aufzurichten, mit Flickwerk arbeiten, hier eine Lücke zustopfen, dort eine Schindel ersetzen, da ein gesprungenes Band zusammenlöten oder eine ausgehängte Türe wieder in ihre Angeln heben. Wie anders die Griechen! Beständig waren sie vom höchsten Lebensgefühl durchdrungen, wie es uns vielleicht ausnahmsweise beim Anblick einer schönen Landschaft, eines gewaltigen Gebäudes, eines erhebenden Schauspiels, eines ergreifenden Bildwerks oder beim Hören eines tiefgefühlten Tonstücks auch durchflutet. In der Regel aber verbinden die meisten von uns mit ihrem Körper nicht mehr Lebensgefühl, als eine Kartoffel oder ein Kohlkopf es allem Anschein nach tut. An Stelle dieses Lebensgefühls empfinden wir die Schmerzen, das Unbehagen selbstverschuldeter Übelstände, die eine unvermeidliche Folge unserer sorglosen Inkonsequenz sind: Wahllos, oder vielmehr nur von den Ansprüchen unserer materiellen Sinne geleitet, nehmen wir die Nahrung, den Baustoff für den Tempel unserer Seele, in uns auf. Leider spreche ich hier nicht nur von der Menge der Laien. Wer über das Thema schon nachgedacht hat, besonders wenn er zu der Gedankenarbeit noch die Beobachtung hinzufügte, kann sich nicht genug darüber wundern, daß die Ärzte mit wenigen Ausnahmen die im menschlichen Körper ruhenden Möglichkeiten zu eigener 10
gesunder Schönheitsentwicklung gar nicht in Betracht ziehen; sie ahnen nicht entfernt, wie ungeheuer groß die Wirkung ausgleichender Nahrung und einer nach gewissen Gesichtspunkten geordneten Lebensweise auf das Aufblühen körperlicher Schönheit sein kann. Bis vor kurzer Zeit pflegten die meisten Mediziner, mit Ausnahme sogenannter „0riginale“ oder gelegentlich eines ganz großen Erleuchteten, auf den Arzt, der dieser Denkungsart zuneigte, als auf einen verschrobenen Kauz herabzusehen. Aber diese Mediziner sind selbst nichts Besseres als Flickschuster, Ausbesserer. Freilich sind es gerade diese unerfreulichen Zustände, die unserer Ärztegilde ihr fortdauerndes Bestehen unter den bürgerlichen Einrichtungen gewährleisten. Jedoch welch schöner Traum, sich auszudenken, wie es anders sein könnte: die gesamte heutige Krankenfürsorge müßte dann weiseren Institutionen den Platz räumen; wie einst Moses die Israeliten aus Ägypten, so müßte eine neue Ärzteschaft die zivilisierte Menschheit in das gelobte Land der vollkommenen Körperentwicklung führen, gemäß den wunderbaren Fortschritten unseres Zeitalters auf dem Gebiet der Hygiene und der sanitären Einrichtungen. Die alten Griechen, die wahrscheinlich nichts oder nur wenig von Hygiene und Sanität wußten, haben es sogar an ihrem eigenen, zu so vollendeter Schönheit entwickelten Körperbau bewiesen, daß es möglich ist, die Lebensgrundsätze aufzufinden, welche die Entwicklung einer gesunden, vollkommen proportionierten, vergeistigten und beseelten Rasse gewährleisten. Unter den heutigen Kulturvölkern kennen wir keine solchen Rassen mehr. Aber primitive Rassen unserer Zeit beweisen uns immer noch, daß es Lebensgrundsätze gibt, die den physischen Aufbau begünstigen und in hohem Maße von Krankheiten freihalten. Sogar unter uns Zivilisierten beginnt sich die Wahrheit bahnzubrechen; Tausende von Männern und Frauen in allen zivilisierten Ländern haben nach nicht medizinischen Methoden ihren Körper mit größerer Symmetrie, vollkommenerer Anmut und kräftigerer Gesundheit ausgestattet, als ihre Mitmenschen es vermochten. Diese Männer und Frauen haben die Lebensmethoden der alten Griechen zum mindesten teilweise wieder für sich entdeckt, die uralten Methoden der Natur, die für jeden von uns ein offenes Buch sein sollten — und es nicht sind. Denn um eigenes Forschen und eigenes Arbeiten geht es hier. Mein Blick fällt auf einen Fetzen altersfleckigen Papiers, der neben meinem Schreibblatt liegt. Darauf steht folgendes zu lesen: „Sydenham, der große Arzt, sagte: Wenn ich meinen allgemeinen Erfolg auf ein spezielles Rezept zurückführen sollte, so hieße dieses Rezept, daß ich stets meine eigene Autorität geblieben bin. Nicht, daß ich immer meine wichtigeren Ideen selber gefunden hätte. Oft siebte ich sie aus dem Gedankengut anderer heraus, häufig aus ganz versteckten Quellen; aber da ich mich nicht der Autorität oder den Traditionen der sogenannten Großen anschloß, blickte ich in das Inwendige der Dinge; ich las alles; das gab mir die Möglichkeit und den Vorteil, ursprünglich zu sein, Tatsachen aus unbekannten, unerwarteten Quellen zusammenzutragen und auf diese Weise meiner Zeit einen Schritt voraus zu sein.“ Sydenham erlangte Größe, weil er in Dinge hineinblickte, an denen andere Menschen achtlos vorübergehen. Von einem andern Autor führe ich folgende Stelle an: „Sydenhams Platz in der Geschichte der Medizin ist ihm schon angewiesen worden. Scheinbar war er in der Wissenschaft hinter seiner Zeit zurück, aber tatsächlich war er ihr in der Praxis voraus. In akuten Krankheiten erblickte er das Hervortreten jener Aktivität, durch welche die 11
Natur sich selbst zum Recht zu verhelfen sucht — einer Aktivität, über der gewacht und die so viel als irgend möglich unterstützt werden muß. Chronische Leiden betrachtete er ebenfalls mit dem Auge des Hippokrates und beurteilte sie als Folgen von Gewohnheiten oder Fehlern, für die wir in der Hauptsache selber verantwortlich sind; er begegnete ihnen durch Vorschriften für angemessene Veränderung der Diät und Lebensweise. Unter speziellen Beiträgen für die Nosologie diagnostizierte er als erster das Scharlachfieber und klassifizierte den Veitstanz. Ein anderes Leiden, in dessen Behandlung er besondere Erkenntnisse gewann, war die Gicht.“ Sydenham lebte im siebzehnten Jahrhundert. Unter allen seinen Zeitgenossen, deren Namen uns überliefert worden sind, glänzt sein Ruhm weitaus am hellsten. War dieser Stern unseres Berufsstandes ein Anhänger des Herkömmlichen? Nicht im mindesten! Fürchtete er selbständiges Denken — oder übte er es furchtlos? Nein auf die erste, und ein entschiedenes Ja auf die zweite Frage. Um das, was die damaligen „Autoritäten“ verkündeten — ihre eigenartigen, fast phantastischen Begriffe von Ursachenforschung und ihre Überschätzung menschlicher Kunstgriffe in der Behandlung von Krankheiten —, kümmerte er sich nicht; er suchte sich seinen eigenen Weg durch den Irrgarten verwirrender Ideen und Ansprüche seiner Zeit und kam in bezug auf Krankheitsverursachung und Heilung zu dem überraschenden Schluß, daß alle Krankheit selbstverschuldet ist und daß ihre Heilung nur auf dem Wege des ungehinderten Spieles der wiederherstellenden Naturkräfte erfolgen kann, die im Körper selber und in seiner natürlichen Umgebung vorhanden sind. Die moderne Medizin scheint übrigens auf der Schwelle zu den gleichen Schlußfolgerungen zu stehen, besonders im Hinblick auf Krankheiten wie Tuberkulose, Rachitis, Skorbut, Beriberi und Pellagra, obgleich sie es selber noch nicht erkannt hat. Für jemanden, der dazu neigt, mit der Ansicht, daß Mikroorganismen die Ursache unserer Krankheiten sind, in Konflikt zu geraten, ist es ermutigend, daß er sich in so guter Gesellschaft wie Hippokrates und Sydenham befindet, welche beide die Krankheit als einen weitgehend von Gewohnheiten verursachten Zustand des Körpers ansahen und nicht als ein unabhängiges Etwas, das von außen in den Körper eindringt. Ich bin sicher, daß diese Anschauung der Krankheitsverursachung bald Allgemeingut würde, könnten wir uns vom Einfluß des Herkömmlichen und Überlieferten befreien. Die durchschnittliche medizinische Auffassung ist nämlich die, daß Krankheit etwas ist, das man „kriegt“. Und doch hat man nie richtig verstanden, was wir denn eigentlich dabei „kriegen“ — das heißt, was bei einer Erkrankung im Grunde vor sich geht. Seit den Tagen, da Kranksein gleichviel bedeutete, wie von einem Teufel besessen sein, sind wir davon überzeugt, daß wir es kriegen oder daß es uns kriegt. Und als Pasteur daherkam und die innere Verbindung der Bakterien mit dem Krankheitsprozeß aufzeigte — wie natürlich schien es da, seine Behauptung zu unterstützen, daß die Bakterien die Ursache unserer Erkrankungen seien. Wir erwischen den Keim, und wir bekommen die Krankheit. Man sieht deutlich, wie leicht dieser Gedanke in unser konventionelles Denken paßt und in den uralten Glauben, daß Krankheiten durch äußere Ursachen veranlaßt werden. Die meisten Mediziner sind eben leider ausgesprochene Autoritätsverehrer und konventionelle Denker und können deshalb schwer einsehen, daß es noch irgendeinen 12
Weg außer dem ausgetretenen Pfad konventioneller Überlieferungen geben könnte. Aristoteles, der „Lehrer der Jahrhunderte“, sagt einmal, daß „der Mann, der für sich selber beobachtet und denkt, weise ist; daß aber, wer außerdem noch die Beobachtungen und Gedanken anderer erwägt und auch die Meinungen der Unbedeutenden nicht verschmäht, ein Lehrer der Jahrhunderte ist“. Die meisten Menschen, die in irgendeinem wesentlichen Maße der Welt ihren Stempel aufgedrückt haben, besaßen eben diese Achtung vor der „Meinung Unbedeutender“; sie hatten zu gleicher Zeit keine besondere Achtung vor den Meinungen der Maßgebenden. Hätten sie Ansehen und Einfluß bewundert, so wären sie notwendigerweise gedankengebunden gewesen, und niemals hätte die Welt von ihnen vernommen. Vor allem wir Ärzte dürfen uns deshalb nicht blenden lassen. Wir müssen die Augen öffnen und beobachten, wir müssen auch hören und annehmen, was andere Menschen, selbst einfache Leute und sogenannte Ungebildete, beobachtet und erfahren haben. Nur auf diese Weise können wir dem gegen unseren Beruf gerichteten Spott entgehen, daß wir uns selber nicht gesund zu erhalten wissen und ebenso hilflos dahinsterben wie die Patienten, die um Rat und Hilfe zu uns kommen. Ich leugne natürlich keineswegs, daß die Bakterien ihre Rolle im Ablauf der Krankheit spielen; aber daß Bakterien die primäre Ursache einer Krankheit sind, kann ich mich nicht zu glauben zwingen, ohne meinen Verstand zu vergewaltigen. Die innere, selbstgeschaffene, gewohnheitsverursachte Verfassung muß vorher vorhanden sein, denn ohne sie sind Bakterien machtlos, eine Krankheit hervorzurufen. Wäre es anders, so müßten wir alle ununterbrochen erkranken, weil wir alle ununterbrochen mit diesen „Krankheitserregern“ in Verbindung stehen. Wenn wir aber beständig mit Bakterien in Berührung kommen und doch als Einzelwesen verhältnismäßig selten erkranken — ist es dann nicht klar, daß hier noch ein stärkerer Faktor als die Bakterien im Spiele sein muß, etwas, das die Bakterien erfolgreich bekämpft und die Krankheit verhütet? Dieses Etwas muß ein körperlicher Zustand, eine körperliche Beschaffenheit sein. Und es ist in der Tat ein körperlicher Zustand. Sein Name lautet: lebendige Widerstandskraft. Schon das Kind wird mit dieser Widerstandskraft ins Leben hineingeboren, sonst würde es bei der Geburt nach der ersten Berührung mit den „Krankheit hervorrufenden Kleinlebewesen“ fast augenblicklich sterben. Ein jeder Mensch steht in täglicher Berührung mit diesen Mikroorganismen; wenn wir alle trotzdem tagaus tagein weiterleben und uns im Durchschnitt eines guten Befindens erfreuen, so muß auch jeder von uns eine solche lebendige Widerstandskraft besitzen, die den Kontakt mit Krankheitskeimen zu einer harmlosen Begegnung macht. Man wird aber kaum mit der Annahme fehlgehen, daß die wenigsten Menschen je daran denken, ihre Widerstandskraft gegen Krankheiten zu festigen und zu stählen. Und unsere allgemeinen Lebensgewohnheiten sind ohne Ausnahme dazu angetan, unsere Kräfte zu schwächen. Trotzdem haben wir noch genug Vitalität, um dem Ansturm der Krankheiten zu widerstehen; ihr heimtückisches Einnisten können wir freilich nicht verhindern. Für diese Vitalität sorgt die Natur bei einem jeden einzelnen von uns, wie sie es schon bei dem neugeborenen Säugling tut. Das heimtückische Einnisten der Krankheit — ein Thema, das viele Gedanken weckt. Wie entsteht Krankheit? Ein unheimlicher, anfangs kaum bemerkbarer Vorgang beeinträchtigt allmählich die Lebenskraft, und eines Tages bricht plötzlich mit akuter 13
Heftigkeit ein Leiden aus; wir stehen wie vom Blitze gerührt! Aber machen wir es uns gleich klar: lange bevor die Explosion erfolgte, war die Mine gelegt. Durch irgendeine schließliche Überbeanspruchung wurde die Zündung bewirkt. Es mag nichts weiter gewesen sein als eine allzu üppige Mahlzeit oder eine übermäßige körperliche Anstrengung oder eine heftige Gemütsbewegung. Ein voll lebenskräftiger Körper hätte die Beanspruchung leicht und ohne Schaden ertragen. Vermag aber lebendige Widerstandskraft bei einem gesunden Menschen den Ausbruch einer Krankheit zu verhindern, so ist offenbar ihr Fehlen und nicht die Wirkung der Bakterien die primäre Ursache der Krankheit; das heißt, erst wenn die lebendige Widerstandskraft versagt, können die Bakterien den Ablauf der Krankheit beeinflussen. In welche Richtung verweist diese Erkenntnis den Arzt, wo sieht sie seine wahre Aufgabe? Natürlich soll er die zerbrochene Puppe wieder flicken, den Gesundheitsschaden wieder gutmachen; doch niemals kann das sein höchstes Ideal sein. Das höchste Ideal, das wir anstreben müssen, ist die Erkenntnis, wie menschliche Körper so lebenstüchtig gemacht werden können, daß sie dem Ansturm der Krankheit immer erfolgreich widerstehen. Setzen wir diese Erkenntnis in die Tat um, so werden wir damit unseren Mitmenschen beweisen, daß auch sie von Krankheit und vorzeitigem Tode verschont bleiben können, sofern sie es nur wollen. Nach allem, was bisher gesagt wurde, versteht es sich von selbst, daß diese lebendige Widerstandskraft im Körper nicht durch medizinische Mittel oder irgendwelche menschlichen Künste entwickelt werden kann. Aber woher soll man sie dann nehmen, wenn man sie verloren hat? Ich frage mich, ob je ein Arzt einen anderen Hort der Lebenskraft und Widerstandsfähigkeit entdecken konnte als die aus unerschöpflichem Reichtum spendende Natur; und dennoch, wie wenige Mediziner haben überhaupt nur erkannt, welche Rolle diese lebendige Widerstandskraft in der Verhütung von Krankheiten spielt! Deshalb suchen sie die Krankheit auf alle möglichen künstlichen Arten zu bekämpfen. Haben sie wohl noch nie überlegt, woher es kommen mag, daß ein ärztlicher Kunstgriff, eine Medizin beim einen Patienten hilft, beim andern nicht? Entgeht es ihrer Beobachtung wirklich, daß der Widerstand, den der Lebenswille einzelner Kranker ihren Übeln entgegensetzt, diese Kranken rettet, während er bei den anderen zu gering ist, um die gleiche Bedrohung zu bannen? Was kann aber menschliche Geschicklichkeit dort noch ausrichten, wo die Würfel schon gefallen sind? Den lebendigen Widerstand, der allein unbezwinglich ist, kann sie jedenfalls nicht ersetzen, und dieser Widerstand ist im kritischen Augenblick vorhanden oder nicht vorhanden; dazwischen gibt es nichts. Wie viele Fragen, die einem denkenden Menschen zu tun geben, erheben sich da. Was kann die ärztliche Kunst in den beiden Fällen, dem guten und dem bösen, ausrichten, wie weit reicht ihr Einfluß? Wie mögen sich die einzelnen Zellen in beiden Fällen verhalten? Und so vieles mehr. Aber werden moderne Ärzte sich je auf eine derartige Betrachtungsweise einlassen? Hand hoch! — alle, die sich schon die Mühe genommen haben, über solche Dinge nachzudenken! — Hm — genau wie ich mir's dachte. Gerade jene Mediziner aber, die sich noch niemals gründlich mit derartigen Problemen befaßt haben, sind unduldsam gegen die nicht herkömmliche Denkweise und gegen das nicht konventionelle Verfahren. Sie gehören alle zu dem Typus, der auf 14
solche Fragen gleich antwortet: „Um Himmels willen, mein Lieber, lassen wir die Gespräche über Gesundheit!“ Allerdings ist auch keiner von ihnen ein Sydenham, und keiner von ihnen hat Aussicht, je ein Sydenham zu werden, noch ein Franklin, noch ein Faraday, ein Napoleon oder Aristoteles, denen der Nichtfachmann, der einfache Mann, der „gewöhnliche“ Mann neue Gedanken wie glitzernde Juwelen zutragen durfte. Nun — ich kann es nicht länger verheimlichen — ich besitze ein Rezept für die Erlangung lebendiger Widerstandskraft, das die kritischste Untersuchung nicht zu scheuen braucht. Ich kann es in drei Wörtern ausdrücken: „Folge der Natur!“ Besser noch mit vier Wörtern: „Störe die Natur nicht!“ Es ist ein Rezept. „Störe den Gang der Natur nicht, vertritt ihr nicht den Weg.“ Gleichzeitig aber ist es auch ein Gedanke. Überlege, was er bedeutet. Bedenke, was er alles in sich schließt. Außerhalb des geistigen Gebiets ist er das höchste dem Menschen erreichbare Ideal. Kein anderer Beruf als der des Gesundheitsforschers hängt so eng mit der Natur und ihrem Wesen zusammen. Wir Ärzte geben denn wohl auch in gelegentlichen Anwandlungen der Ehrlichkeit zu, daß die Natur kuriert hat, wo immer eine Kur gelungen ist. Aber wie wenig erforschen wir in Wirklichkeit diese Natur und ihre Wege! Wie sind wir stets geneigt, unsere Behandlungen mit künstlichen Mitteln zu führen! Wie wenig Beachtung schenken wir den Naturgesetzen, deren Befolgung für uns, für uns selber, eine vollkommene Befreiung von Erkrankung bedeuten würde. Wie wenig beobachten wir den Willen der Natur in den Tieren! Diese Geschöpfe sind denselben Gesetzen von Leben und Tod unterworfen wie wir Menschen. Sie können erkranken, und sie erkranken, wenn ihre Lebensbedingungen ihnen von den Menschen aufgezwungen werden. Ganz besonders gilt das für verwöhnte und zu sorgsam gehegte Haustiere, die um so öfter erkranken, je mehr wir sie verhätscheln. Aber wenn sie krank sind, dann richten sie sich darnach ein, verweigern zum Beispiel einfach alle Nahrung — sofern sie sich selber überlassen werden —, verkriechen sich in die Einsamkeit und verhalten sich vollständig passiv dem Einströmen der kosmischen Kräfte gegenüber; ohne Einmischung von außen her werden sie auch fast ausnahmslos wieder gesund, auf dem Wege der Natur. Können wir in all dem nicht einen Fingerzeig für uns selber entdecken? Wenn wir ernst machen mit dem Motto: „Störe die Natur nicht“, sicherlich. Denn die erste Lektion, die es zu lernen gilt, ist die, daß es im Wesen der Natur liegt, nie zu verweichlichen. Die Lebensbedingungen der Natur sind hart. Wir können zwar wünschen, sie wären es nicht, aber sie sind Widerstandskraft der Körperzellen sowohl einzeln als auch in ihrer Zugehörigkeit zu den Organen und ebenso des ganzen Körpers entwickelt. Und das kann nur geschehen, wenn der Körper systematisch Anstrengungen zu leisten hat, etwas überwinden, etwas aushalten lernt, Widerstand leisten muß. Da ich Diätetiker bin, werden manche meiner Leser der Ansicht sein, daß ich eigentlich bloß über Ernährung schreiben dürfte. Aber ich gehöre zu einer anderen Sorte von Diätetikern. Lange genug habe ich diese Dinge studiert, um zu wissen, daß die beste Diät nur ein bescheidener Teil der gesamten Diätetik ist. Gerade weil die Diätetik sich in den meisten Fällen auf das Studium der Nahrung beschränkt hat und viel zu sehr auf die Bemühung, die Nahrungsmittel möglichst leicht verdaulich zu machen, ist es ihr nicht gelungen, den Platz in unserem Beruf zu gewinnen, der ihr von 15
Rechts wegen gebührt. Unter den gegenwärtig herrschenden Verhältnissen sollte der Diätetiker zum mindesten die ganze Lebensweise des Patienten leiten. Dann würde er überraschende Erfolge erzielen. Aber weder der Diätetiker noch irgend jemand anders wird solche Erfolge erleben, der nicht die Natur mit einem offenen und unvoreingenommenen Verstand befragt. Selbst die beste Diätetik der Welt kann ohne natürliche Stimulierung der Abwehrreflexe die Lebenskraft und die Widerstandsfähigkeit niemals genügend erhöhen und stärken, um den Menschen vor Erkrankungsgefahr zu schützen. Oder glaubt jemand ernstlich, daß das bloße Essen der wissenschaftlich vollkommensten Nahrung echte körperliche Tüchtigkeit und gesunde Widerstandskraft zu erzeugen vermag? Ich jedenfalls hätte allein infolge der verbesserten Nahrung nicht gesunden können, obwohl ich im Folgenden nicht anstehe, die Veränderung der Ernährungsweise als den ersten Schritt in der Umstellung auf gesunde Lebensgewohnheiten zu bezeichnen. Gehorcht der Mensch den Vorschriften der Natur auf ihren sämtlichen Gebieten, dann kann er so frei von Krankheit werden und bleiben, wie es die primitiven Rassen sind und wie es unsere Ureltern in der grauen Vorzeit waren. Und das kann mir jedermann glauben: nichts gibt eine durchdringendere Befriedigung, ein stärkeres Lustgefühl als das Bewußtsein vollkommener, unbezwingbarer Gesundheit.
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2. KAPITEL Die Grundgesetze des Lebensprinzips Merkwürdig, daß es primitiven Rassen — Menschen ohne die elementarsten Schulkenntnisse, Menschen, welche bloß im Buch der Natur zu lesen verstehen, die nichts wissen von Hygiene, Diätetik, Psychologie, Wirtschaftslehre oder Körperkultur — gelingt, stark und kräftig heranzuwachsen, von Krankheiten und Leiden fast gänzlich verschont zu bleiben und im allgemeinen erst hochbetagt, meist an Altersschwäche, zu sterben, wenn nicht ein Unfall sie vor der Zeit hinwegrafft. Ein Gefühl des Neides beschleicht den Kulturmenschen, denn ihn haben die höheren Mächte nicht in demselben Maße geschützt und begünstigt. Und doch wäre es zwecklos, die Vorsehung ungerechter Bevorzugung der wild lebenden Geschöpfe anzuklagen. Ist es nicht vielmehr so, daß sie uns alle vor Krankheit und Leiden behüten möchte? Sie will sicherlich eine gesunde Menschheit. Sie rüstet den einzelnen ja auch mit den entsprechenden Kräftevorräten und Verteidigungsmitteln aus. Wenn es trotzdem unter den Kulturvölkern eine so große Menge kranker Geschöpfe gibt, ist das zweifellos irgendeinem verderblichen Einfluß zuzuschreiben, der sich den wohlwollenden Absichten der Natur entgegenstellt. Diesen verderblichen Einfluß müssen wir für alles Leiden, das Krebs, Tuberkulose, Grippe, Typhus und tausend andere Übel über die so weise, kluge, tüchtige Kulturmenschheit bringen, verantwortlich machen. Und dieselbe böse Macht hindert auch eine ganze Armee von Ärzten, Apothekern, Krankenschwestern an produktiver Arbeit. Sie alle verbrauchen ihre Zeit und ihre Kräfte zur Linderung von Leiden, die den Menschen gar nicht befallen sollten. Diesem Problem möchte ich hier auf den Grund gehen. Wie kommt es nur, daß primitive, aller Kultur fern lebende wilde Rassen sich ihre Gesundheit ohne Mühe erhalten können, während bei uns Spitäler und immer wieder Spitäler "gebaut und beständig mehr Kräfte zur Pflege der Kranken und Leidenden benötigt werden? Wie ist das zu erklären? Die seltsame Frage drängt sich uns auf, ob Gott absichtlich die höchste Blüte seiner Schöpfung, die Kulturmenschheit, mit so viel Unheil heimsuche. Für mein Gefühl ist ein solcher Gedanke eine Gotteslästerung. Die meisten Menschen glauben an einen Schöpfer und denken sich ihn vollkommen. Aus Vollkommenheit kann aber nur Vollkommenes entstehen, und daher müssen alle Dinge, die von dem vollkommenen Schöpfer ausgehen, vollkommen sein. Der Gedanke an einen Schöpfer, der Unvollkommenes schafft oder sein Wohlgefallen an Not und Elend hat, widerstrebt der Intelligenz jedes denkenden Menschen. 17
Dann muß aber auch die Menschheit, die Gott zu seinem Ebenbilde schuf, das höchste Produkt seiner vollkommenen schöpferischen Kraft darstellen — und dann muß auch wieder unser göttlich hoher Vorsatz zurück zum Bilde Gottes streben. Der menschliche Körper als vollkommenster sichtbarer Ausdruck, als greifbare Manifestation der Schöpferkraft, hat die Bestimmung, die Vollkommenheit des Schöpfers widerzuspiegeln. War es aber des Schöpfers Wille, in unserem Körper göttliche Vollkommenheit zur Darstellung zu bringen, dann muß uns natürlich auch die Möglichkeit, solche Vollkommenheit zu erlangen, mitgegeben worden sein. Und allen meinen Lesern möchte ich es hier sagen: wir haben diese Möglichkeit. Eine nähere Betrachtung des Problems lehrt uns nämlich, wie ich schon sagte, den Grund der Bevorzugung primitiver Geschöpfe darin erkennen, daß solche unverdorbenen Wesen nach den . göttlichen Gesetzen leben, nach den Vorschriften der Natur. Wer sucht, der findet in der Natur auch tatsächlich die Lebensprinzipien, welche den Weg zur vollständigen Gesundheit anzeigen. Diese Auffassung wird unter anderem durch die Tatsache bewiesen, daß primitive Rassen sehr wohl mit der Kultur in Verbindung treten und dennoch von Krankheiten verschont bleiben können, solange sie die Lebens-, insbesondere die Ernährungsgewohnheiten der zivilisierten Menschen nicht annehmen. Auch Tiere, die ihr Leben frei und im Einklang mit den Gesetzen ihres Schöpfers führen, kennen verminderte Gesundheitszustände nicht. Und wenn wir bei der zivilisierten Menschheit so viele Mängel entdecken, unter denen primitives Leben nicht leidet, dann müssen wir die Schuld daran wohl ohne Frage unseren Kultureinrichtungen, unseren Kulturgewohnheiten zur Last legen. Nie dürfte daher ein Kranker oder Leidender die Worte über seine Lippen gehen lassen: „Es ist Gottes Wille“, oder gar: „Sein Wille geschehe“; er sollte sich im Gegenteil vorwerfen, Gottes Gesetzen bewußt oder unbewußt zum Trotz gelebt und die unausbleiblichen Folgen auf sich gezogen zu haben, also mehr oder weniger selber schuld an seinem Unglück zu sein. Die einfachsten Überlegungen müssen uns zu diesen Schlußfolgerungen hinführen, und die abstraktesten und tiefsten Spekulationen am Ende auch. Wir brauchen nur die Lebensgewohnheiten der zivilisierten Welt uns vor Augen zu halten, um diese Tatsache einzusehen. Dieses Buch ist aus dem heißen Wunsche heraus entstanden, allen denen zu helfen, die sich nach einem vollkommenen Körper sehnen. Jeder kann dieses große Ziel erreichen, die ganze Menschheit hat ein Anrecht darauf. Unser Körper soll ja Palast des Geistes, Tempel der Seele sein, eine Stätte, die der göttliche Lebensfunke, der schwache Strahl und Abglanz des großen Lichtes, lange, lange, lange Zeit bewohnen möchte. Man lese die folgenden Zeilen aufmerksam durch; man nehme die darin enthaltenen Lehren in sich auf und befolge sie nach dem Buchstaben und nach dem Geiste. Die Belohnung für verständige und konsequente Durchführung der darin entwickelten Regeln wird ein junger, froher, kraftstrotzender Körper sein. Der medizinisch gebildete Leser mag im Verlaufe dieses Buches öfters auf Behauptungen stoßen, die mit den heutigen physiologischen Anschauungen nicht in allem übereinstimmen. Er wird aber auch bemerken, daß meine Ausführungen bloß von Auffassungen und niemals von anerkannten physiologischen Tatsachen abweichen. Ich habe übrigens meine Einstellung erst unter dem Drucke zwingender Erfahrungen gewonnen und mich bemüht, die in meinem eigenen Falle und in vielen 18
anderen Fällen erhaltenen Ergebnisse befriedigend zu erklären. Das Buch ist aber auch und ebensosehr für Laien bestimmt. Es enthält daher weder technische Spitzfindigkeiten noch literarische Schnörkel. Sein Zweck ist, aufzuklären und zu erziehen, und in dem Sinne, daß Aufklärung in sich selbst der reizvollste aller Reize ist, wird man ihm hoffentlich auch einen gewissen Reiz nicht absprechen können. Wo mir die medizinische Sprache über das allgemeine Verständnis hinauszugehen schien, habe ich mich einer der Laieneinsicht angepaßten Ausdrucksweise beflissen. Oberflächlich betrachtet, können solche Stellen freilich dazu führen, daß der Brufsmediziner Ideen aus ihnen herausliest, die ich gar nicht vertrete. Ich wußte nicht, wie ich das vermeiden sollte. Ernstlicher Schaden wird aber schwerlich daraus entstehen, denn einen anderen Erfolg können solche Stellen unmöglich haben, als daß die Menschen endlich beginnen, die große Bedeutung einer richtigen Lebensweise einsehen zu lernen. Die folgenden Ausführungen kann ein Leser, den zu viele prinzipielle Betrachtungen langweilen, überspringen. Dann täte er freilich besser, gar nicht mehr weiterzulesen. Zum Glück gibt es jedoch auch solche Menschen, die sich für Erklärungen interessieren und die ein Resultat erst dann annehmen, wenn sie die demselben zugrundeliegenden Gesetze kennengelernt haben. Sie bilden die einzige Gattung Leser, für die zu schreiben es sich wirklich lohnt. Diese grundsätzlichen Erörterungen — überhaupt das ganze Buch — sind darum für sie und eigentlich nur für sie geschrieben. Denn nur Schlußfolgerungen, die auf dauerhafte Prinzipien gegründet sind, werden einleuchten. Wer meine Auseinandersetzungen heute als gegebene Tatsachen hinnimmt, kann möglicherweise morgen entgegengesetzten Behauptungen ebenso willig Gehör schenken. Die einen glauben, nachdem sie erst zweifelten, dann fragten, dann einsahen und schließlich wußten; die andern haben kurzerhand angenommen; sie können und werden aber niemals einsehen noch wissen. Bevor wir daher an die Besprechung der Art und Weise gehen, in welcher ein menschlicher Körper sich halten muß, um ständige Gesundheit zu erlangen und ein hohes Alter zu erreichen — wie Blätter und Blumen erst sterben, wenn sie ihre volle Lebensspanne ausgelebt haben, und dann sanft zur Mutter Erde zurückkehren, um zu ruhen — möchte ich einige der allerwichtigsten Grundsätze hier anführen und erläutern, nach welchen der menschliche Körper organisiert ist, damit der Leser den Bau der Maschine, die er zu lenken und zu bedienen hat, verstehen lernt. Der menschliche Körper ist das Ergebnis eines in der Materie und durch die Materie sich offenbarenden Lebensprinzips. Er wird durch die Ansammlung einer ungeheuren Menge von Einzelleben, Einzelkörpern, die wir „Zellen“ nennen, gebildet. Diese unter der ordnenden Macht des Lebensprinzips stattfindende Zellenanhäufung ist aus einer einzigen, ursprünglichen Zelle entstanden, und zwar durch Teilung. Die ursprüngliche Einzelzelle hat sich in zwei Zellen geteilt; diese beiden teilten sich wiederum und wurden zu vier, diese zu acht, und so ist es unter dem Einfluß des Lebensprinzips immer weitergegangen. Aber während die Zelle der Kontrolle des Lebensprinzips untersteht, geht die 19
Tätigkeit dieses Lebensprinzips selber auch wiederum nach gewissen vom Schöpfer des Kosmos bestimmten Gesetzen vor sich. Und jede Abweichung von diesen Gesetzen hat verheerende Folgen für den ganzen Körper. Die wichtigsten Gesetze für die Auswirkung des Lebensprinzips sind die folgenden: 1. Das Lebensprinzip muß den Körper in Übereinstimmung mit einer schon vorher festgesetzten äußeren und inneren Form aus dem Staub der Erde, das heißt, aus den der Erde zugehörenden Stoffen aufbauen. 2. Das Lebensprinzip kann den menschlichen Körper nicht unmittelbar aus Erdstoff aufbauen, sondern nur auf dem Wege über den vegetabilen Zustand der Erdmaterie. Es muß sich dieser organischen, erdentnommenen pflanzlichen Stoffe bemächtigen, sie in ihre ursprünglichen Formen zurückverwandeln und aus diesen dann die Erdelemente in menschliche Körpersubstanz umbilden. (Die vegetabilen oder pflanzlichen Lebensformen mußten allen animalischen oder tierischen Lebensformen in der Schöpfungsordnung vorangehen, um diesen ihren Lebensunterhalt zu sichern. Daher waren die ersten tierischen Lebensformen ursprünglich dazu eingerichtet, sich von Pflanzen zu ernähren. Der Ausgangspunkt für die ganze Tierwelt muß das pflanzenfressende Tier gewesen sein. Alle tierischen Lebensformen müssen aus unveränderten Pflanzenformen aufgebaut worden sein oder aus der unveränderten Körpersubstanz anderer Tierformen, die ihrerseits aus unveränderten Pflanzenformen gebildet wurden. Daraus folgt, daß alle Tiergattungen eingehen und aussterben müßten, wenn keine Tiere mehr Pflanzen fräßen.) 3. Alle tierischen Lebensformen und damit auch der menschliche Körper erreichten ihre anatomische und physiologische Vollkommenheit, unendlich lange bevor der Mensch durch Kochen und Raffinieren seine Nahrung „verbessern“ lernte. 4. Jahrtausende alte rassische Gewohnheiten setzen sich fest und erhalten die Macht von Naturgesetzen. Es ist für das Individuum wie für die Rasse gefährlich, sich ihnen entgegenzustellen. Die Größe der Gefahr entspricht der Größe der unternommenen Veränderung in den Rassengewohnheiten. 5. Die Fähigkeit eines Wesens, sich einen vollkommenen Körper aus völlig natürlicher Nahrung aufzubauen — aus Nahrung, wie sie unmittelbar aus den Händen der Natur kommt —, kann nichts anderes bedeuten, als daß vollkommene Tier- oder Menschenformen nicht von veränderter oder unnatürlicher Nahrung leben können, und nur bei durchaus natürlicher Kost — wie die Natur sie liefert — gedeihen. Die kleinste Abweichung von diesem Gesetz bringt eine entsprechende Störung mit sich. 6. Kampf, Überwindung, Anstrengung, das ist das Gesetz allen Wachstums und aller Entwicklung. 7. Das Arbeitsvermögen aller Körperzellen, Organe oder Körperteile wächst mit der Ausübung einer bestimmten Funktion oder einer bestimmten Arbeit. Bis zu dem Punkte, wo Erschöpfung eintritt, niemals aber darüber hinaus, dürfen und müssen die Kräfte geübt werden. 8. Umgekehrt wird jede Zelle, jedes Organ, jeder Körperteil schwächer und ungeeigneter zur Ausübung irgendeiner Funktion oder zur Bewältigung einer Arbeit, je weniger seine volle Funktionskraft geübt wird. 9. Jede Ersatzhandlung, welche an Stelle einer organischen Funktion tritt — die also einer Zelle, einem Organ oder einem Körperteil eine Arbeit abnimmt, welche diese selber auszuführen hätten —, schwächt die Zelle, das Organ, den Körperteil und verringert die ihnen innewohnende Kraft zur Ausübung ihrer Funktionen. 20
10. Die Natur strebt danach, die nicht benützten, die nur schwach arbeitenden und die gestörten und gehemmten Funktionen der Zellen, Organe und Körperteile zu zerstören. 11. Alles, was sich einer Funktionsbetätigung entgegensetzt oder eine Funktionstätigkeit verzögert, trägt dazu bei, Funktions- oder Arbeitskraft zu zerstören. 12. Alles, was die Funktions- oder Arbeitskraft irgendeiner Körperzelle, eines Organs oder eines Körperteils vermindert, verringert damit durch die zirkulatorischen (Blut und Lymphe) und die nervlichen Beziehungen, welche zwischen allen Zellen, Organen und Teilen des Körpers auf dem Wege über das sympathische Nervensystem bestehen, von selbst auch die Funktionskraft jeder anderen Körperzelle, jedes anderen Körperorgans oder Körperteils. 13. Alles, was die Funktionen oder die Arbeitskraft einer Zelle, eines Organs, eines Körperteils vermindert, setzt die lebendige Widerstandskraft des Körpers gegen den Angriff körperschädigender Prozesse (Krankheiten) herab. 14. Wenn alle wichtigen Zellen, Organe und Teile des Körpers einwandfrei funktionieren, kann der Körper vollkommen genannt werden. Ein vollkommener Körper ist immun gegen schädliche und zersetzende Einflüsse. Er kann nicht krank sein und nicht krank werden. 15. Jede wesentliche Körperfunktion vollzieht sich unwillkürlich. Sie wird unabhängig vom Willen durch den Körpermechanismus, welchen wir das Reflex- oder sympathische Nervensystem nennen, ausgeführt. Dieser Mechanismus regiert alle Körperzellen, Organe und Körperteile und verbindet sie untereinander. Solche unwillkürliche Funktionen heißen „Reflexfunktionen“. 16. Reflexfunktionen entstehen immer als Antwort auf Reize, welche die funktionierenden Zellen, Organe oder Körperteile von außen erreichen. Solche Reize werden der Zelle, dem Organ, dem Körperteil auf dem Wege der Nervenfasern zugeleitet. 17. Die Reflexe bilden die Basis aller Lebensäußerungen. Wird der Reflexmechanismus des Körpers zerstört, so geht unweigerlich auch das Leben selber zugrunde. 18. Alle willkürliche Funktion im Körper hängt ursprünglich auch von Reflextätigkeit ab. 19. Je ungehinderter und ungestörter die Reflexfunktionen arbeiten können, desto vollkommener sind sie, und desto vollkommener sind auch die funktionierenden Zellen, Organe und Körperteile. Als äußeres Ergebnis werden auch die Tätigkeiten des Körpers als Ganzes um so vollkommener ausgeübt; denn die Funktionskraft des Körpers als Ganzes steigt in demselben Maße, wie die den Körper bildenden Zellen und Organe und Teile gut arbeiten. Künstliche Eingriffe und Nachhilfen dort, wo die Natur ihren Anreiz auf die funktionierenden Organe selber ausüben sollte, sind schädlich. Die Entwicklung und das Wachstum fordern auch hier, gemäß dem schon angeführten Gesetz, Anstrengung und Arbeit. 20. Die grundlegenden Reflexreize sind diejenigen, die aus der Berührung mit der unmittelbaren Umgebung entstehen: Körperlicher Kontakt mit den Sonnenstrahlen, mit Wind, mit Regen, Nebel, Hitze, Kälte, mit der Erde und mit den Gegenständen der Außenwelt. Gott schuf den Menschen zu einem Leben im Freien. Sein nackter Körper sollte beständig der Berührung mit seiner Umwelt ausgesetzt sein und die Einflüsse seiner Umgebung direkt auf sich wirken lassen. Die Menschen sollten nicht in Häusern wohnen. Sie sollten ihren Körper durch natürliche Ernährung aufbauen und 21
instandhalten; die unveränderten Nahrungsstoffe, die die Natur bietet, sollten selber natürliche Berührung mit der Umwelt bilden, denn Nahrung und Getränke gehören zu unserer Umwelt. In dieser Weise lebt die Menschheit wohl mindestens je tausend Jahre für jedes einzelne Jahr, das sie in Häusern wohnt, den Körper mit Kleidern zudeckt und die natürlichen Nahrungsstoffe im anmaßenden Glauben, die von Gott bereitete Kost dadurch bedeutend zu verbessern, künstlich verändert. 21. Nur natürliche Reflexanreize rufen normale organische oder Zellenfunktionen hervor, also jene Art der Funktionstätigkeit, die die organische Funktionskraft erhält und steigert und gleichzeitig die lebendige Widerstandskraft erhöht. Mit anderen Worten: nur natürlich angeregte Organe funktionieren normal. 22. Das Umgekehrte gilt ebenfalls: künstliche oder unnatürliche Reflexreize setzen die organische Funktionsfähigkeit herab und vermindern den lebendigen Widerstand gegen Krankheiten. Das bedeutet, daß unnatürlich angeregte Organe oder Körperzellen nicht normal funktionieren und der Zerstörung anheimfallen. 23. Da die ganze Körpertätigkeit von natürlicher Reflextätigkeit abhängt, stört alles, was diese stört, unfehlbar auch Funktionen. 24. Jede vollkommen funktionierende Zelle, jedes vollkommen funktionierende Organ, jeder vollkommen funktionierende Körperteil gibt einen wohltätigen Einfluß auf jede andere Zelle, jedes andere Organ, jeden anderen Körperteil aus. Und auch hier trifft das Umgekehrte zu. 25. Jeder Körperteil und jedes Organ dient besonderen Zwecken. Damit sie alle sich bei Gesundheit erhalten können und von Krankheiten und krankheitsähnlichen Zuständen frei bleiben, müssen sie die ihnen zugedachte Funktion ausüben. Je näher sie der vollen Ausübung ihrer Funktion und der Betätigung ihrer ganzen Leistungskraft kommen, um so vollkommener, um so gesunder und widerstandsfähiger gegen Krankheit sind sie. Denn jede Zelle, jedes Organ, jeder Körperteil nimmt nur durch Leistung an Leistungsfähigkeit zu. 26. Nur natürliche Lebensgewohnheiten können natürliches, also normales tierisches Wachstum hervorbringen. Nur natürliche Lebensgewohnheiten können daher einen normalen, einen gesunden animalischen Körper aufbauen. Menschliche Körper sind ja animalische Körper und denselben Gesetzen unterworfen, die alles animalische Wachstum und alle animalische Gesundheit regieren. 27. Im animalischen Körper gibt es fünf Systeme oder Ketten von Reflextätigkeiten, deren jede aus einer eigenen, von den anderen getrennten Quelle herrührt. Kommt ein Kind zur Welt, so atmet es nicht sofort. Erst die Ansammlung von gasförmiger Kohlensäure (CO²) im Blute und die Berührung der Haut mit der kühlen Luft regen den Atmungsreflex an, und das Kind tut seinen ersten Atemzug. Die eingeatmete Luft veranlaßt das Herz zu seinem ersten Schlage nach der Unterbrechung der Verbindung zwischen dem kindlichen Blutkreislauf und jenem der Mutter, und das Herz wiederum regt eine ganze Reihe anderer Funktionen zu ihrer ersten Tätigkeit an. Jede neue Funktion wirkt auf irgendeine andere Funktion als Reflexreiz, bis der ganze Kreis der Körperfunktionen erreicht und angeregt ist. Der kleine Körper verdankt seine Belebung also jenem ersten ursprünglichen Reflexreiz der atmosphärischen Luft, die seine Haut und damit die darin untergebrachten empfindlichen Enden des Reflexnervensystems berührt. Die zweite Betätigung des Neugeborenen ist Schreien und Strampeln; das ist seine Art der Muskelbetätigung. Diese Muskelbetätigung löst wiederum eine andere Reihe 22
reflexbedingter Funktionen aus, ohne welche das Kind sich nicht normal entwickeln könnte. So wirkt sie auf die Herz- und Lungenfunktionen, auf Verdauung und Ausscheidung und viele andere lebenswichtige Körperfunktionen. Die dritte Betätigung des gesunden, das heißt normalen neugeborenen Kindes ist der Schlaf. Der Schlaf stellt die Antwort auf den Reiz angesammelter Müdigkeitsgifte dar und dient in der Hauptsache dazu, diese Gifte in der Zeit, in welcher der Körper passiv daliegt und sich keine neuen Ermüdungsgifte bilden können, abzusondern; er löst aber auch eine Kette neuer Funktionen aus, ordnet und regiert sie. Die vierte Reflexhandlung eines normalen neugeborenen Kindes ist die Aufnahme von natürlicher Nahrung. Auch diese Tätigkeit löst eine neue Kette von Reflexfunktionen aus, ohne welche das Kind nicht leben könnte. Die fünfte Kette der Reflexfunktionen ist dem Geiste zugeteilt. Die vorher besprochenen vier Reflexketten werden schon in den ersten Lebensstunden des Säuglings zu ihrer Tätigkeit angeregt. Aber erst später entwickelt sich die fünfte, die geistige Gefühlskette. Der Geist hat große Macht über eine ganze Kette von körperlichen Funktionen; er löst sie aus, ordnet sie, regiert sie. Er ist ein bedeutendes reflexerzeugendes Zentrum; in dieser Beziehung ähnelt er den andern vier Ketten, jedoch unterscheidet er sich in ganz wichtigen Punkten von ihnen, besonders von den Ketten der Haut-, der Muskel- und der Nahrungsreflexe. Diese Unterschiede sollen später klargemacht werden. Ich nenne daher die Haut, die Muskeln, den Schlaf, das Ernährungs- oder Verdauungssystem und den Geist die fünf ursprünglichen reflexerzeugenden Zentren; von einem jeden dieser Zentren gehen getrennte Ketten lebendiger, wesentlicher Reflexe aus. Jede dieser Ketten wird durch natürliche Anreize in Tätigkeit gesetzt: die Haut durch die Berührung mit ihrer körperlichen Umwelt, die Muskeln durch Muskelzusammenziehungen, der Schlaf durch angehäufte Ermüdungsgifte, die Verdauung durch das Einnehmen von natürlicher Nahrung, die geistige Reflexkette durch schöpferische und zuversichtliche Gedanken. Diese fünf Ketten bilden des Körpers Verteidigungsmechanismus. Wenn diese fünf Reflexketten, die alle körperlichen Funktionen regieren, sich in vollkommenem Zustande befinden, so sind die Funktionen, die sie zu ordnen und zu regieren haben, auch vollkommen. Und alle fünf Ketten werden in tadelloser Ordnung funktionieren, wenn ihnen der Kontakt mit ihren natürlichen Stimuli gestattet ist, wenn man sie so sehr als möglich vor Berührung mit unnatürlichen Anregern behütet und sie nie über den Punkt hinaus anstrengt, wo Erschöpfung einsetzt. Funktionieren sie einwandfrei, dann ist der Körper vollkommen zu nennen. Ist aber der Körper wirklich vollkommen, dann ist er vollständig immun gegen Krankheit, und das so lange Zeit, als er seine Vollkommenheit nicht wiederum durch irgendeine gesundheitsuntergrabende Gewohnheit, die den Gesetzen der Natur zuwiderläuft, einbüßt. Diese Grundgesetze sollten verschiedene Male durchgelesen werden, ehe man zum Kommenden übergeht. Der Leser wird Vorteil davon haben, wenn er überdies im weiteren Verlauf des Buches von Zeit zu Zeit dazu zurückkehrt. Denn wenn die Grundgesetze nicht gut verstanden und dem Gedächtnis nicht eingeprägt sind, so kann die Gesundheitsphilosophie, die dieses Buch vertritt, nicht genügend eindrücklich aufgefaßt werden, und das bloße Lesen wäre vergebliche Mühe.
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3. KAPITEL Natur und Unnatur Vom Körper aus gesehen ist nach dem bisher Gesagten das recht, was natürlich ist; infolgedessen kann, was unnatürlich ist, nicht recht sein — es muß falsch sein. In dem Maße, in dem eine Lebensgewohnheit dem Natürlichen sich nähert, der Absicht, welche die Natur oder Gott für uns hegt — in eben diesem Maße sind unsere Lebensgewohnheiten richtig. In dem Maße aber, als sie unnatürlich sind, müssen sie verkehrt sein, denn sie sind dann gegen den Willen der Natur, gegen den Willen Gottes. Kann irgendein Unterschied bestehen zwischen der Verkehrtheit einer bloß körperlichen Gewohnheit und der Verkehrtheit einer unrichtigen seelischen oder geistigen Haltung gegenüber dem ewigen Prinzip des Rechten? Nach meiner Betrachtungsweise nicht. Eine Tat wird zum Unrecht, wenn sie dem entgegengesetzt ist, was Gott unter den gegebenen Verhältnissen beabsichtigte. Wenn Gott uns gebietet, unseren Mitmenschen zu lieben, so ist es eine Verkehrtheit, ein Unrecht, ihn nicht zu lieben, und es ist unrecht, weil es Gottes Absichten, seinen Willen, entgegengesetzt ist. Wenn Gott uns irgend etwas Körperliches gebietet, zum Beispiel spazierenzugehen, und wir weigern uns — widersetzen wir uns da nicht Gottes Willen, handeln wir da nicht entgegengesetzt seiner Absicht, ebenso entschieden, als wenn wir unseren Mitmenschen zu lieben uns weigerten? Sicherlich. Und ebenso gewiß kann Widersetzlichkeit gegen Gottes Willen sich nicht in verschiedenen Abstufungen unterscheiden. Entweder tun wir, was Gott von uns getan haben möchte, und werden gesegnet, oder wir weigern uns, Gottes Willen zu tun, und bleiben ohne Segen, werden im Gegenteil unsere Weigerung entsprechend büßen müssen. Schon seit annähernd zwei Generationen ist es sowohl der Wissenschaft wie auch dem interessierten Tierzüchter bekannt, wie eng Qualität, Sorte und Quantität des tierischen Futters mit der Qualität des Tieres selber zusammenhängen; in der Aufzucht der Tiere wird berücksichtigt, daß ihre Qualität wie auch ihre Gesundheit neben den Einflüssen der Vererbung fast gänzlich von der Art und Beschaffenheit ihres Futters und von tierhygienischen Maßnahmen abhängen. Um bei der Zucht eines Tieres das beste Ergebnis zu erzielen, muß es nach gewissen bekannten Regeln behandelt werden. Werden diese Regeln streng eingehalten, so folgen darauf von selbst positive Ergebnisse. Nicht von Menschen sind diese Regeln aufgestellt worden, sondern Gott 24
hat sie uns gegeben. Wir nennen sie natürliche Regeln oder natürliche Gesetze. Aber diese natürlichen Gesetze sind da, um befolgt zu werden. Der Tierzüchter findet seinen Vorteil darin, ihnen zu gehorchen. Nichts erscheint uns selbstverständlicher, solange Tiere in Frage kommen. Wie selten wenden wir jedoch diese natürlichen Gesetze auf uns selber an, und wie wenige sind bis jetzt überhaupt auch nur bis zu einer Erkenntnis des Tatbestandes durchgedrungen! Denn nicht bloß die Geister der Unwissenden sind verschlossen. Auch viele gebildete Leute, Hochschulprofessoren, Ärzte, Juristen, Geistliche, haben die neuen Gedanken noch nicht aufgenommen. Sie glauben noch immer, daß die Gesetze der Natur, was menschliche Lebensgewohnheiten betrifft, nach Belieben gehandhabt werden könnten, ohne sich gegen ihren Übertreter zu kehren; sie ahnen nicht einmal, daß die Tausende und aber Tausende von Jahren einfacher Lebensgewohnheiten unserer Urvorfahren vor der Kulturepoche den Einfluß einer ewigen Bindung an ähnliche Gewohnheiten hatten. Und doch müßten so gelehrte Köpfe wissen, daß lang anerzogene Rassengewohnheiten, wie wir schon feststellten, zu Gesetzen werden und alle Kraft echter Naturgesetze erhalten, und daß wir sie nicht außer acht lassen dürfen, ohne Individuum und Rasse zu gefährden. Der Typus des menschlichen Körpers ist so und nicht anders geworden, weil er sich der physischen Umgebung gemäß entwickelt hat, in die er hineingestellt war. Das gilt ebensosehr für den gesamten Aufbau des menschlichen Körpers als auch für seine Endbestimmung. Die Stoffe, aus denen er in unausdenkbar langen Zeitstrecken aufgebaut worden ist, hat der Lebensgeist aus der physischen Umgebung des Menschen gezogen. Der Lebensgeist, das Lebensprinzip, ohne welches kein tierischer Körper lebendig wird noch lebendig bleibt, bestimmte und formte diesen Körper so, daß er in seine physische Umgebung passen sollte, und daß er sich auch weiterhin nicht anders als aus Stoffen, die dieser Umgebung natürlicherweise entstammen, aufbauen kann. Wenn wir uns also zum Beispiel von nicht natürlicher Kost nähren, liefern wir unserm Körper Nahrung, die gegenüber dem Aufbaustoff, den unsere Ureltern verwendeten. uni unsere Art zu entwickeln, teilweise verändert ist — und damit brechen wir das Nahrungsgewohnheitsgesetz, das durch jahrtausendlange Anwendung von unsern Ahnen festgelegt wurde. Man beachte den Ausdruck „natürlich“. In ihm liegt das Geheimnis der vollkommenen Gesundheit beschlossen. Natürlichkeit ist der einzige zuverlässige Führer zum Rechten in unseren physischen Lebensgewohnheiten. Dennoch scheint es fast, als ob wir zivilisierten Menschen uns nach Kräften anstrengten, um so unnatürlich wie nur möglich zu leben. In unseren Lebensgewohnheiten lassen wir uns ja bekannterweise viel lieber von Wünschen und Begierden leiten anstatt von „Müssen“ und „Sollen“. Wunsch und Begierde haben aber keine natürliche Verwandtschaft mit dem Rechten; dagegen sind „Müssen“ und „Sollen“ vom Rechten, vom Richtigen, das geschehen muß, untrennbar, sei es auf moralischem oder auf physischem Gebiet. Wer sich durch seinen Wunsch oder seine Begierde regieren läßt, wird ziemlich sicher einen bitteren Tag der Abrechnung erleben. Wer jedoch seine Lebensgewohnheiten nach dem „Sollen“ und dem „Müssen“ einrichtet, darf einen täglichen und immer wachsenden Lohn ernten. Wir pflegen den Körper als Hemmschuh für unsere Geistigkeit zu betrachten, wir vernachlässigen, verachten und mißhandeln ihn. In Wahrheit ist bloß der vernachlässigte Körper unserem Geist, seinem Streben und seiner Entwicklung ein 25
Hindernis. Die Seele kann sich nicht aufschwingen, der Geist sich nicht erheben und sich nicht mit dem Allgeist verbinden, wenn er in einem siechen, giftverseuchten Körper haust, den die Folgen des Ungehorsams gegen das göttliche Gebot entstellen. Ein Körper, den Wünsche und Bedürfnisse leiten, wird, da ihn die Sinne regieren, selber sinnlich sein. Der Geist, der in solch sinnengebundenem Körper wohnt, ist erdverhaftet und unrein. Kein Mechanismus kann ersonnen werden, der von zwei verschiedenen Energiequellen in Betrieb gehalten wird. Energie kann zwar aus Holz, Kohle, Öl, Wasser, Wind gezogen werden; aber der Mechanismus, durch den jede dieser Energiequellen ihre potentielle Energie liefert, ist anders. Sogar verschiedenen Arten von Kohle müssen die Heizkessel gut angepaßt werden, wann immer man Leistung und Wirtschaftlichkeit in Betracht zieht. Und jeder lebendige Körper ist ein solcher Mechanismus für Entwicklung, Aufspeicherung und Verwertung von Energien. Hunderte von Modellen Energie entwickelnder Mechanismen gibt es. Für den wirksamen Betrieb eines jeden Apparates ist es aber unerläßlich, daß er mit der Art Brennstoff, mit der Art Futter versehen wird, für welche ihn der Lebensgeist, der ihm seine Entwicklung schenkte, bestimmt hat. Ich wünschte, dieser Punkt setzte sich im Geiste des Lesers so fest, daß er unter keinen Umständen mehr übersehen würde. Man betrachte diese positive Tatsache nicht als rein abstraktes Prinzip, welches auf den Einzelnen keine Anwendung findet. Sie bezieht sich auf jedes menschliche Wesen als Individuum und kollektiv auch auf die Rasse als Ganzes; sie betrifft uns selber in ungeheuer direkter Weise und muß uns interessieren, wie nichts anderes Materielles uns interessieren und ergreifen kann. Die Nahrung ist aber noch mehr als bloß Brennstoff des lebenden Körpers. Sie ist auch das Konstruktionsmaterial für den Körper. Jedermann kennt die Grundsätze architektonischer Bauten und weiß, daß ein Gebäude nicht vollkommener sein kann als das Material, welches zu seinem Aufbau Verwendung findet. Die Schwäche des ganzen Gebäudes liegt in der Schwäche einer einzigen, der schwächsten Stelle, und diese schwächste Stelle entscheidet über die Dauerhaftigkeit und Tragkraft des Ganzen — ebenso wie ein schwaches Glied in einer Kette das Maß für die Haltbarkeit der Kette ist. Jedermann erkennt sofort die Richtigkeit dieses Prinzips, wenn es auf bekannte bauliche Verhältnisse angewendet wird. Dasselbe Prinzip gilt aber natürlich auch für lebendige Bauten, die unsere Körper ja sind. Die meisten Ärzte wissen jedoch nur in sehr akademischer Weise, daß menschliche Körper aufgebaut sind, ebenso entschieden aufgebaut wie Wolkenkratzer oder große Kathedralen. Diese Tatsache sollten wir alle uns beständig vergegenwärtigen, und wir sollten unseren Geist auf die Betrachtung dieses Aufbaus einstellen. Dann erst würden wir verstehen, von welch wesentlicher Bedeutung die Kost ist, die wir essen, und wie unsere Nahrung sehr weitgehend die Vollkommenheit oder Unvollkommenheit, die Widerstandskraft oder Widerstandslosigkeit unserer Körper bestimmt. Will man sich aber in diese Frage. die wohl die wichtigste unseres irdischen Daseins ist, vertiefen, so gilt es vor allem, sich darüber klar zu werden, was wir unter dem Ausdruck „Nahrung“ denn eigentlich verstehen. Als Nahrung bezeichnen wir jede Substanz, welche, nachdem der Körper sie aufgenommen hat, seine Gewebe erbaut, seine abgenutzten Zellen ersetzt, ihn mit Kräften und mit tierischer Wärme versieht und ihn belebt. Dieser letzte Punkt ist der wahre Eckstein der Definition. Die meisten Definitionen 26
von Nahrung lassen ihn allerdings aus, womit gerade das Wichtigste vergessen bleibt. Denn wenn unsere Nahrung nicht Leben enthält und dieses auf uns zu übertragen imstande ist, können wir nur so lange frisch und gesund sein, überhaupt existieren, als unser ererbter Vorrat an Lebenskraft ausreicht. Ein zweites Haupterfordernis gesunder Nahrung ist, daß sie nicht säure-, sondern basenbildend sei. Warum diese Bedingung so unerläßlich ist, soll hier erläutert werden. Es ist dabei notwendig, etwas ausführlicher zu werden, damit der Leser in die wirklichen Zusammenhänge eingeführt wird. Das gesunde menschliche Blut ist alkalisch, also das genaue Gegenteil von sauer. Wird das Blut sauer, so liegt eine Erkrankung vor, welche die Ärzte als „Azidose“ bezeichnen. Damit ist freilich nicht gemeint, daß das Blut effektiv sauer wird; es besteht in einem solchen Falle eine relative Azidose, was bedeutet, daß der Körper im Verhältnis zu seinen alkalischen Bestandteilen mehr saure Bestandteile enthält als in normalen Zeiten. Das Blut eines lebenden Geschöpfes kann nämlich gar nicht ganz sauer werden, denn im gleichen Augenblick ginge der Körper an positiver Azidose zugrunde, weil die Zellen in einem sauren Medium nicht leben können. Aber auch relative Azidose ist an sich schon eine Krankheit, obwohl sie durch die Lehrbücher und die Autoritäten noch nicht genügend als solche erkannt ist; und obendrein ist sie auch noch die erste Ursache der meisten unserer unbedeutenderen oder gewöhnlichen und vieler unserer schweren Krankheiten. Relative Azidose ist der Entkräfter, der anderen anscheinend direkteren Ursachen erlaubt, ihre Wirkung zu entfalten, und ohne den sie keine Wirksamkeit erlangen könnten. Das normale Blut enthält mehr basische Elemente als saure; das ist notwendig, denn die Basen neutralisieren die Säuren, indem sie sich in harmlose Salze verwandeln. Im menschlichen Körper besteht ein gewisses normales Verhältnis zwischen basischen und sauren Elementen, das die Gesundheit gewährleistet. Jede Zunahme der Säuren über dieses normale Verhältnis hinaus wird dementsprechend die Gewebe reizen. Nicht aus diesem Grunde allein wird zum Beispiel bei der Brightschen Krankheit der Fleischgenuß untersagt, aber es ist ein Grund mehr für das Fleischverbot. Eine Zunahme der Basen ist selten und reizt nicht, weil die normale Körperreaktion basisch ist. Basen beruhigen im Gegenteil die Zellenstrukturen und die aus Zellen aufgebauten Organe und Gewebe. Woher stammen nun wohl die Säuren, die in unserem Körper entstehen? Eine bedeutende Quelle für Körpersäuren ist die Zersetzung der Körpergewebe, insbesondere der Arbeit leistenden Gewebe. Auch die Fettgewebe liefern durch ihre Verbrennung und Abnützung Säuren ins Blut. Eine dritte Quelle für Säuren sind die Speisen, die wir essen. Natürlich kann hier eingewendet werden, daß alle diese drei Quellen im Grunde der Nahrung entstammen, und das ist richtig, da die Körpergewebe ja nichts anderes als umgebildete Nährstoffe sind. Aber wir erhalten einen klareren Überblick über die Ursachen der Azidose und ihre Beziehungen zur Gesundheit, wenn wir die Unterscheidung zwischen den aus der Ernährung direkt und den aus dem Körper fließenden Quellen machen. Denn die einen können nicht an ihrer Entstehung verhindert oder in ihrer Zu- oder Abnahme kontrolliert werden, wohl aber die andern. Säuren, die durch die Abnutzung des Körpers entstehen, können in ihrer Bildung nicht beeinflußt werden, außer auf indirektem Wege, zum Beispiel durch tüchtige Körperbewegung im Freien, bei welcher die vermehrte Sättigung des Blutes mit Sauerstoff, die solchen Übungen folgt, in größerem Maße die Ausscheidung der 27
Zellenabfallstoffe begünstigt. Aber unter bewußte Kontrolle dürfen die Säuren gar nicht gestellt werden, selbst wenn es eine Möglichkeit dafür gäbe. Sie sind physiologisch bedingt. Mit Säurenahrung verhält es sich anders. Säure, die aus der Kost stammt, kann in ihrer Entstehung sehr wohl kontrolliert werden. Azidose ist auch nie eine Folge der Körperzellenabnützung. So oft Azidose auftritt, kann jedesmal konstatiert werden, daß sie von eingenommenen Säuren herrührt und darum auf alle Fälle hätte vermieden werden können. Da Azidose also ein Zustand ist, den das Individuum selber für sich herbeiführt, sollte auch das Individuum selber die Verantwortung, das volle Lob oder den vollen Tadel dafür erhalten und annehmen. Wäre Azidose ein wohltuender Zustand, dann dürfte der Mensch, der sich in ihm befindet, frohlocken über diesen aus eigener Kraft herbeigeführten Segen; ist der Zustand aber ein verderblicher, dann ist für den, der Bescheid weiß, Anlaß zu zerknirschender Beschämung vorhanden; vor allem ist dann die Verwunderung darüber, warum „Gott mich so heimsucht“, durchaus unangebracht. Die Nahrungsstoffe lassen sich in „säureüberschüssige“ und „basenüberschüssige“ einteilen. Die „säureüberschüssigen“ sind Nährsubstanzen, die nach Zersetzung durch die Körpersäfte in ihre chemischen Elemente einen Überschuß an sauren Elementen gegenüber den basischen im Blut und in den Geweben zurücklassen. „Basenüberschüssige“ Nahrung ist solche, bei welcher nach Zersetzung im Körper ein Überschuß von basenbildenden Elementen gegenüber den säurebildenden im Blut und in den Geweben zurückbleibt. Nach ihrer säure- oder basenbildenden Kraft kann man die beiden folgenden Gruppen von Nahrungsmitteln unterscheiden: Säurebildner Alle Fleischnahrung (Wildbret, Fisch usw. inbegriffen) Nüsse (außer Mandeln) Erdnüsse Böhnchen, Trockenerbsen, Linsen Alle Körnerfrüchte, insbesondere weißes Mehl, verfeinerte Getreidespeisen und polierter Reis Zucker Tee, Kaffee, Kakao Alle Fette und Öle (Butter ist bloß, wenn im Übermaß genossen, säurebildend; in mäßigen Mengen ist sie neutral) Eiweiß Käse Basenbildner Alle Früchte (süß oder sauer, frisch oder getrocknet) Alle Gemüse (frisch oder gedörrt. Blattgemüse sind bessere Basenbildner als Wurzelgemüse) 28
Mandeln Paranüsse Milch (in allen Formen) Die Nahrungsklassen, die relative Vermehrung der Säuren oder der sauren Salze im Körper hervorrufen, sind den Diätforschern und den Biochemikern genügend bekannt, ebenso diejenigen, welche eine Mehrung der alkalischen Salze in den Körpergeweben verursachen. Aber für den Laien und oft auch für den Arzt, der sich in Diätfragen noch nicht eingearbeitet hat, ist es oft nicht ganz leicht, sich eine richtige Vorstellung von dem Unterschied zwischen Säure und säurebildend und zwischen Basen und basenbildend zu machen. Wahrscheinlich wundert er sich darüber, daß Früchte wie die Zitronen und die Tomaten, die für den Geschmack und bei der Lackmusprobe so ausgesprochen sauer sind, trotzdem so starke Alkalibildner sein können. Da diese Unterscheidung überaus wichtig ist, werde ich versuchen, sie klarzulegen. Säure bezieht sich auf eine Substanz, welche im Kontakt mit einem chemischen Reagens eine Säurereaktion zeigt. Zum Beispiel wird eine Säurelösung, gleichgültig welcher Farbe sie sei, blaues Lackmuspapier rot färben, ein Beweis für ihre Säurehaltigkeit. Säurebildend ist hingegen ein Nahrungsstoff, der unter dem Einflusse der Verdauungssäfte im Magen Säuren bildet. Dasselbe, aber entgegengesetzt, gilt von den Alkalien. Betrachten wir beispielsweise die Zitrus – Früchte: Orangen- oder Zitronensaft zeigen beide, wenn man sie mit einem chemischen Reagens in Verbindung bringt, eine starke Säurereaktion, und dennoch zählen sie beide zu. unseren besten Alkalibildnern. Die Erklärung liegt darin, daß der saure Bestandteil nicht mineralisch ist und der alkalische oder basenbildende seiner Natur nach mineralisch. Die organische Säure wird rasch oxydiert und verschwindet als Kohlensäure und Wasser, während das basische Mineral als Natrium, Kalium usw. zurückbleibt, um sich mit anderen Stoffen zu Salzen zu verbinden. Gewöhnlich bildet es mit Kohlenstoff Karbonate und Bikarbonate von Natrium, Kalium, Kalzium, Magnesium, Lithium usw., die Mineralsalze eben, welche den alkalischen Zustand des menschlichen Blutes aufrechterhalten. Die Säure, die sich in Zitrusfrüchten befindet, ist Zitronensäure; aber sie ist nicht nur in freiem, sondern auch stets in gebundenem Zustande vorhanden und bildet in Verbindung mit Basen eine andere, gänzlich verschiedene Substanz, ein lösbares Salz. Die Stoffe, mit welchen die Zitronensäure sich verbunden hat, sind die alkalischen Minerale: Natrium, Kalium, Kalzium, Magnesium usw. Wenn diese Salze in den Verdauungsweg aufgenommen sind, werden sie wieder in ihre Bestandteile zersetzt — freie Zitronensäure einerseits und freie Minerale, Kalzium, Natrium, Kalium usw. andererseits. Das Säureelement, das frei geworden ist, vereinigt sich mit dem Sauerstoff der anderen Nahrung oder des Wassers; es wird oxydiert und scheidet sich im Schweiß, im Urin, im Atem aus, wie Wasser und Gas, und läßt die mineralischen Alkalien zurück. Aber diese bleiben nicht frei. Fast unverzüglich bilden sie neue Verbindungen, indem sie mit der Kohle aus der Stärke, aus dem Zucker oder aus fetten Speisen sich zusammentun und wiederum lösliche Salze bilden: Natrium-, Kalium-, Kalziumbikarbonate usw.; als solche werden sie ins Blut geführt, dessen normale, aus stark sauren Früchten gebildete Basen sie sind. Diese Früchte werden also zwar als 29
sauer empfunden und sauer genannt, sind aber basenbildend, das heißt, sie verwandeln sich im Körper zu Basen, obwohl sie außerhalb des Körpers sauer sind. Der Arzt, der selber kein Diätetiker ist, hat freilich die Gewohnheit, ihren Genuß für alle Säureerkrankungen des Körpers zu untersagen; aber in Wirklichkeit gehören diese Früchte zu den allerbesten Mitteln gegen Versäuerungszustände. Manche Spezialisten setzen Pflaumen, Zwetschgen, Rhabarber und Preiselbeeren auf die Liste der Säurebildner, weil sie kleine Mengen von Oxalsäure oder Hippursäure enthalten, die nicht leicht oxydierbar sind und daher durch die Nieren als Salze dieser Säuren ausgeschieden werden müssen; sie greifen deshalb die Nieren in gewissem Maße an. Aber ich kann das Bedenken gegen diese Früchte dennoch nicht teilen, es sei denn, daß es sich um einen Körper handelte, dessen Nieren ihre normale Leistungsfähigkeit bereits eingebüßt haben. Normale Nieren werden alle solchen Säurereste leicht ausscheiden (wie sie übrigens beständig aus anderen Quellen herrührende Reste auszuscheiden haben) und keinerlei Anhäufungen im Körpersystem zulassen, welche Ursache für Azidoseerkrankung werden könnten. Alle diese Früchte enthalten außerdem noch andere Fruchtsäuren von großem körperaufbauendem und belebendem Werte. Wollte man allerdings hauptsächlich von ihnen leben, so wäre die Situation eine andere, weil es denkbar wäre, daß sich dann Ansammlungen bildeten. Sie versäuern zwar den Urin, was gewöhnlich als Anzeichen dafür genommen wird, daß sie dem Blute Säurereste zuführen; sie dürfen aber doch nicht als für das Blut säurebildend angesehen werden, sondern sind das Gegenteil. Wären Zwetschgen säurebildend, dann müßte ich schon längst unter Versäuerung leiden, denn ich verzehre oft innert zwei oder drei Tagen an die zwei Pfund gewöhnliche Zwetschgen. Ich esse sie allerdings eingeweicht und nie gekocht oder gar mit Rohrzucker. Die Bekömmlichkeit der säure- und basenbildenden Nahrungsmittel ist ein vielumstrittenes Problem. So viel ist jedoch sicher: äße man reichlich und genügend von Speisen, die von allen Forschern als einwandfrei basenbildend angesehen werden, so bräuchte man sich nicht davor zu fürchten, auch von solchen Speisen in vernünftigen Mengen zu essen, die von diesem Gesichtspunkte aus betrachtet nicht ganz einwandfrei sind*. Nach der obigen Liste kann aus mindestens einem Dutzend Gemüsen und doppelt so vielen Früchten samt einem Dutzend Beerenarten, die alle Basenbildner sind, gewählt werden. Mit sechzig oder mehr köstlichen Frucht- und Gemüsesorten und obendrein noch Milch in verschiedenartigster Beschaffenheit einerseits und mit der langen Liste säurebildender Nahrungsmittel andererseits ist es jedem einzelnen anheimgestellt, sein Blut nach Belieben normal alkalisch oder anomal azidotisch zu halten, indem er seine Diät auf basen- oder säurebildende Kost einstellt. Aber während dies theoretisch gesprochen leicht sein müßte, ist es praktisch nicht ganz so einfach. Meine eigene Erfahrung lehrt mich, daß ein durchschnittliches Verhältnis von etwa zwanzig Prozent Säurebildnern gegen achtzig Prozent Basenbildner wenigstens annähernd eingehalten werden sollte, um das richtige Gleichgewicht zwischen säurebildenden und basenbildenden Nahrungsstoffen und auf diese Weise dem Blute einen nicht sauren, einen basischen Zustand zu sichern. Wenn nicht achtzig Prozent unserer Nahrungsmenge basenbildend sind, das heißt im Blute und in der Lymphe Basen bilden, dann stauen wir in unserem Blute und den Zellenzwischenräumen Säurerückstände auf 30
Diese Säurereste reizen die Zellen, stören früher oder später ihre Tätigkeit und leiten Krankheiten in den aus Zellen bestehenden Organen ein. Es ist nun aber eine feststehende Tatsache, daß wir an Hand der obigen Nahrungsmittelliste selber nachprüfen können, daß wohl mindestens achtundneunzig Prozent der Nahrung zivilisierter Menschen säurebildend sind, und daß sich im Blut, in der *
Hier wendet eine gewisse Schule ein, die versäuernde oder alkalisierende Eigenschaft der Nahrungszufuhr brauche nicht beachtet zu werden, denn der Organismus verfüge glücklicherweise über eine Regulation, die das Blut immer in bestimmtem Grade leicht alkalisch halte. Es ist tatsächlich für den zivilisierten Menschen ein großes Glück, daß diese Regulation unerhört leistungsfähig ist, denn wenn sie aufhört, so hört bald auch das Leben selber auf, und bestünde sie nicht, so bestünde die seit einigen Generationen übersäuerte zivilisierte Menschheit längst nicht mehr. Aber eben die ständige Belastung und Überlastung dieser Regulation führt zu ungenügender Alkalireserve und schließlich zum Zusammenbruch in Form einer Azidose und, durch Umschlagen ins Gegenteil, zur Alkalose. Gesundheitsstörungen und mangelnde Widerstandskraft durch Übersäuerung zeigen sich aber, selbst wenn das Saurebasengleichgewicht im Blut noch aufrechterhalten wird, schon lange vorher. Anm. des Herausgebers.
Lymphe und in den festeren Geweben Säurereste aufspeichern. Dieser Punkt darf nicht oberflächlich erledigt werden. Er ist nicht nur wichtig — er ist wesentlich. Man versuche, sich ein Bild davon zu machen, was es heißt: zwanzig Prozent der täglichen Nahrungsmenge gegen achtzig Prozent der täglichen Nahrungsmenge. Wenn wir also unsere Kost für einen Tag in fünf Portionen von gleicher Größe teilen, so dürfte eine dieser Portionen säurebildend und vier dieser Portionen müßten alkalibildend sein. Ein Teil und vier Teile. Ein Fünftel gegen vier Fünftel. Das bedeutet, daß nur ein Fünftel der Speisemenge, die man an einem Tage verzehrt, aus Fleisch, Eiern, Fisch, Wildbret, Geflügel, tierischen Bestandteilen überhaupt, Brot, Getreidespeisen und allem, was Mehl enthält, aus Fetten, Zuckerwaren, Zucker, Konserven, Gelees, Tafelsirupen, Honig, Sodawasser, Eiskremen, Tee, Kaffee, Kakao, Schokolade und alkoholischen Getränken bestehen darf. Wenn weißes Brot, raffinierte Getreidespeisen wie Getreideflocken, Weizenschleim, Stärkemehl, des Keimes entledigtes Kornmehl, ausgewalzter Hafer und ähnliches mehr in der Speisenzusammenstellung stark vertreten sind, so sollte noch weniger als ein Fünftel des Quantums aus saurer Kost bestehen, denn solche Nährstoffe werden durch den Verfeinerungsprozeß in der Mühle noch künstlich gesäuert. Vier Fünftel der täglichen Nahrungsmenge müssen aus der Liste der Vegetabilien, der Früchte und der Milchprodukte, gewählt werden. Weitaus das beste in dieser Auswahl sind die Zitrusfrüchte, die Blattgemüse (vorzugsweise roh zu essen) und die Milch, welche man wenn möglich nicht sterilisiert und nicht pasteurisiert trinken sollte. Überwacht man in dieser Weise die Aufnahme der säure- und der basenbildenden Speisen, so kann die relative Azidose leicht vermieden werden. Auf dieselbe Art kann man auch jeglicher Überanstrengung der Organe und der Zellen und allem übrigen, was den Körper befällt, wenn die Organe überreizt und überlastet sind, vorbeugen. Wie verhält es sich nun mit der Diät der zivilisierten Menschheit? Sie besteht zu einem großen Teil aus Fleisch, Eiern, Geflügel, Fetten, weißem Brot und unendlich vielen Getreideprodukten, aus Klößen, Eierkuchen und Waffeln bis zu Mürbekuchen und Pasteten; aus Getreideflocken, Getreideschleim und ähnlichen verfeinerten Zerealien, aus geschälten Kartoffeln, poliertem Reis, Pfannkuchen, Backwerk, 31
Konserven, Sirupen, großen Mengen raffinierten weißen Zuckers. Dazu kommen noch Zuckerwaren. Eiscreme und so viele gefrorene Süßspeisen, süße Getränke, Sodawassergebräue. Ungezählte Tausende sind Gewohnheitstrinker, was Tee, Kaffee oder Kakao betrifft; unzählige sind Alkoholiker. Wer eigentlich nimmt Früchte, Gemüse, Milch und Molkereiprodukte in den täglichen Nahrungsbestand auf? Und doch sind sie unsere kräftigsten Alkalibildner. Wer betrachtet sie in Wirklichkeit als Bestandteile seiner täglichen Nahrung, als die eigentlichen aufbauenden Speisen? Die Antwort lautet leider: überaus wenige. Millionen berühren kaum je ein einziges dieser Produkte. Millionen gegen jedes Dutzend Leute, welche einer weiseren Einsicht folgen und sie Bestandteil ihrer täglichen Mahlzeiten sein lassen! Freilich, so wahr diese Behauptung auch leider im allgemeinen ist, so darf zum Glück doch zugegeben werden, daß sie langsam weniger richtig zu werden beginnt. Aber bis zum Ziele ist noch ein weiter Weg zu gehen. 0 ja, viele Kulturmenschen essen gewissermaßen Gemüse; aber sollen diese Gemüse nicht dazu dienen, das Fleisch, den Fisch oder die Eier zu begleiten, hervorzuheben, gewissermaßen einen Rahmen um sie zu bilden, vielleicht um alle drei zusammen? Und zudem: werden nicht die Gemüse in der großen Mehrheit der Fälle gesotten, ausgesotten . . . und wird nicht das Wasser, in dem sie gekocht worden sind, den Schüttstein hinunterbefördert? Ja, auch das ist wahr. Und sind so widernatürlich zubereitete Gemüse nicht tatsächlich für ihren Zweck, Basenbildner zu sein, verdorben? Ach ja, ach ja! Und werden die Früchte von den Leuten, die sie wirklich als Nahrung essen (es sind ihrer wenige), nicht geschält und dann gekocht und dann mit mehr oder weniger, gewöhnlich aber mit mehr, säurebildendem weißem Zucker bestreut? Und zerstört nicht dieses Schälen, Kochen und Zuckern sämtliche basenbildenden Wirkungen dieser Früchte? Gewiß! Was ist da zu sagen? Nichts — oder dann nur das eine, daß die Ernährungsweise der Mehrzahl der modernen Menschen azidosebildend ist. Hörst du das gerne? Nein? Ich auch nicht. Aber noch immer hege ich den Verdacht, daß dieser oder jener meiner Leser mir zurufen könnte: „Pah, die zivilisierte Menschheit lebt schon seit vielen Jahrhunderten von dieser Kost und mit diesen Gewohnheiten! Was kann es schaden, wenn wir so weitermachen?“ Ja, lieber Leser, wo hast du denn deine Augen? Oder wirkt der Anblick des körperlichen Elends, das die zivilisierten Bewohner der fünf Kontinente überflutet, beruhigend auf dein Gemüt? Vielleicht, Leser, bist du selbst ein Opfer der Zivilisation; es dürfte sich dann lohnen, daß du Vorsicht übest. Wer Vorsicht übt, braucht nicht unter allen Umständen ein Opfer zu bleiben. Aber welche Kost ist denn nun eigentlich ideal? Welche Kost behütet vor Azidose? In welcher Nahrung finden wir die notwendigen lebenspendenden Elemente, und welche ist mineralreich und basenbildend, wie es der Körper benötigt? Allein die natürliche! Natürliche Kost enthält unfehlbar die Eigenschaften, die wir zum Aufbau unseres Körpers und zu seiner Erhaltung einzig benötigen; sie ist alkalibildend und mineralreich; sie ist vor allem selbst lebendig und daher lebenspendend. Ich möchte dem Leser noch einen Gedanken in bezug auf basische Mineralien und hohen Blutdruck vermitteln. Unheilbarer hoher Blutdruck wird durch das Eindringen von Kalk in die Arterienwände verursacht, wodurch die sogenannten Pfeifenstielarterien entstehen, welche durch Druck von innen leicht zerrissen werden. 32
Kalium ist ein Agens, das die festen Gewebe im Körper schmiegsam erhält und vor Verhärtung und Versteifung bewahrt. Natrium hat in unserem Körper die Aufgabe, Blut und Lymphe in einem Zustande größter Fliissigkeit zu erhalten und ihr Zäh- und Dickwerden zu verhindern. Enthält aber unsere Nahrung wenig Kalium, dann wird auch unser Körper arm an dieser Substanz sein, und die festen Gewebe, so auch die Arterienwände, müssen an Elastizität dementsprechend einbüßen und sich verhärten. Dann passen sie sich nicht mehr so willig dem einströmenden Blute an, so oft die Herzkammern sich zusammenziehen und ihren Inhalt in die Arterien pumpen wollen. Der niedrige Natriumgehalt des Blutes macht dieses dick und zäh, und das Herz muß schwerer arbeiten, um es durch die steifen, nur teilweise mithelfenden Arterien zu pressen. Solches Blut kann nicht so leicht in die Kapillaren dringen; es staut sich davor und übt rückwärts in die Arterien einen Druck aus, der den Blutdruck in den unelastischen Röhren erhöht. Je höher der Druck in den Arterien ist, desto mehr verdicken sich die Arterienwände zum Schutze und Ausgleich; desto größer ist aber auch die Anstrengung, welche vom Herzen verlangt wird. Und nun läuft das Unheil ohne Unterbrechung im Kreis herum, wie es das 7. Kapitel („Unterentwickelte Muskeln“) näher beschreibt. Überdies hat das Kalzium im Blute eine stärkere Tendenz, sich wegen Mangels an Natrium in den Arterienwänden zu kristallisieren, denn es ist eine der Aufgaben des Natriums, das Kalzium im Blute flüssig zu erhalten. Verfeinerte Körnernahrung und gekochte, verwässerte Früchte- und Gemüsespeisen entbehren dieser hauptsächlichsten Mineralien und ihrer belebenden Eigenschaften. Rohe Früchte und Gemüse und Vollmehl- und Vollkornspeisen spenden Mineralien und dementsprechend Energien aufs reichlichste*. Man sollte versuchen, all diese Dinge nicht als akademische Tatsachen anzusehen, sondern als Tatbestände, die unsere Lebensgewohnheiten betreffen und daher unser Leben und uns selber in ganz direkter Weise interessieren müssen; in einer Weise, in der uns nichts anderes Materielles interessieren und ergreifen kann. Sowohl durch unsere Abhängigkeit vom Gesetz der Volksgewohnheiten als auch durch die Entwicklung und Anpassung unserer Körpermechanik sind wir also zur Kontrolle unserer täglichen Mahlzeiten gezwungen. Unsere tägliche Diät enthält aber im allgemeinen anstatt der notwendigen achtzig Prozent nicht mehr als etwa anderthalb bis zwei Prozent basenbildender, mineralreicher, lebendiger, natürlicher Nahrungsstoffe. Eine solche Diät begünstigt die Aufspeicherung von Säureresten und Abfallstoffen im Blut und in den Körpergeweben, die die Zelleneinheiten, aus welchen unsere lebenswichtigen Organe sich zusammensetzen, reizen und überladen, die Funktionen dieser Organe stören und sie letzten Endes vernichten. Ist es da ein Wunder, daß Krankheit und frühzeitiges Sterben sich überall einschleichen? Sollten wir uns nicht vielmehr darüber verwundern, daß der menschliche Körper solchen Anstürmen jahrelang widerstehen kann? Das alles muß anders werden. Und dazu ist vor allem nötig, daß wir lernen, natürliche Kost von unnatürlicher zu unterscheiden. Einen gewissen Verdacht gegen die Natürlichkeit unserer Kulturnahrungsmittel mag der Leser nach allem Gesagten nun schon von selber hegen. Mit dieser Einstellung wird er imstande sein, tiefer in die Frage der Natürlichkeit oder Unnatürlichkeit zivilisierter Kost einzudringen. * Näheren Einblick gewähren hier die Dr. Jackson anscheinend nicht bekannten Forschungen von 33
Eppinger und Kaunitz von der Wiener Medizinischen Klinik (1938). Der entscheidende Vorgang im Verlauf der Ernährung spielt sich danach nicht im Darm, sondern beim Übergang der Nährflüssigkeit von den äußersten Verästelungen des Blutadersystems, den Kapillaren, in die lebenden Zellen des Organismus ab, ein Vorgang, der sich gleichzeitig im ganzen Körper millionenfach vollzieht. Die Nährflüssigkeit muß dabei durch zwei feine Häutchen und einem Zwischenraum treten. Dasselbe gilt in umgekehrter Richtung für die von den Zellen ans Blut abzugehenden Abfallstoffe. Dieses Hindurchtreten geschieht nicht, wie man früher glaubte, nach dem bekannten Naturgesetz, wonach sich beidseitig ein Ausgleich der Flüssigkeitszusammensetzung vollzieht, vielmehr wird gerade umgekehrt und im Gegensatz zu diesem Naturgesetz eine möglichst große Gegensatzspannung der Flüssigkeitszusammensetzung erstrebt. Das Blut soll z. B. Kochsalz enthalten, die Zelle aber nicht; die Zelle hingegen soll reich an Kalium sein, das Blut aber nicht. In der lebendigen Zelle, so muß angenommen werden, sitzt eine souveräne Instanz, die das Kalium heranziehen und das Natrium wegstoßen kann, und die in gleicher Weise eine Auswahl (Selektion) unter den herangeführten Stoffen der Nährflüssigkeit vornimmt. Je gesünder die Zelle, desto kräftiger kann sie diese Fähigkeit ausüben, je kränker, desto mehr vollzieht sich ein Ausgleich; wenn die Zelle stirbt, erlischt alle Gegensatzspannung, und es tritt ein vollständiger Ausgleich ein. Bei fast allen Wienern, welche von Eppinger und Kaunitz untersucht wurden, auch bei den Nichtkranken, war diese vitale Spannung stark herabgemindert und zugleich die Widerstandsfähigkeit gegenüber Krankheiten verringert. Versuche, die Selektionsfähigkeit der Zellen durch Zufuhr von Mineralstoffgemischen und verschiedene Diätarten wiederherzustellen, ergaben, daß dieses Ziel einzig und allein durch vegetabile Rohdiät (im Sinne Bircher-Benners) sicher und verhältnismäßig rasch erreicht werden kann, und daß dadurch zugleich bei den Kranken eine intensive Heilungstendenz einsetzt. Anm. des Herausgebers.
Aus der vorherrschenden Verwendung im täglichen Speisezettel ergibt sich folgende Abstufung in bezug auf Häufigkeit des Gebrauchs: Getreidespeisen, Fleisch, Kartoffeln, Milch, Eier, Zucker, Konserven, Gemüse und Früchte. Bei einem großen Teil der Menschen jedoch, die für zivilisiert gelten wollen, nimmt Milch einen noch niedrigeren Platz als den ihr hier zugeteilten ein. Betrachten wir diese Liste, so sind wir merkwürdigerweise gezwungen zuzugeben, daß jeder einzelne Posten ein natürliches Nahrungsmittel darstellt, in dem Sinne, daß es kein künstlich zusammengestelltes Produkt ist. Wenn wir dabei stehenbleiben würden, müßten wir den Schluß ziehen, daß die Nahrung der Kulturmenschen in keinem wesentlichen Punkt für die überall herrschenden Krankheiten der Zivilisation verantwortlich gemacht werden darf. Aber bevor wir überhaupt ein Urteil fällen, wollen wir uns fragen, welches die Zubereitungsmethoden dieser Nahrungsmittel sind. Greifen die Herstellungsverfahren in irgendeiner deutlichen Weise das Wesen der einzelnen Nahrungsmittel an, verändern sie ihre Qualität? Mit dieser Frage wird das Ernährungsproblem erst interessant, so interessant, daß wir diesen Punkt ausführlich betrachten müssen.
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4. KAPITEL Unsere Nahrungsmittel Wenn wir die Qualität unserer Nahrungsmittel betrachten, so läßt sich folgende Einteilung vornehmen: Getreidenahrung
Mehl und seine Produkte, Brot usw. Kuchen, Backwerk, Pudding usw. andere Getreidespeisen Reis
Fleischnahrung
Rind, Schwein, Schaf, Ziege, Wildbret, Geflügel, Fisch, Schalentiere usw.
Molkereiprodukte
Milch, Rahm, Buttermilch, Butter, Käse, Quark usw.
Zucker
Rohrzucker, Melasse, Zuckersirup, Kornsirup
Früchtekonserven
in Zucker eingemachte Früchte in Essig eingemachte Früchte gedörrte Früchte
Gemüsekonserven
durch Erhitzung konserviertes Büchsengemüse in Essig konserviertes Gemüse gedörrtes Gemüse durch Kälte konserviertes Gemüse
Frisches Gemüse Kartoffeln 35
Honig Süße Früchte Frisches Obst Nüsse, Mandeln usw. In dieser Reihenfolge wollen wir die einzelnen Nahrungsmittel nunmehr betrachten. Mehl. Wenn man die Getreidekörner durch Mahlen, Zerdrücken oder Zerstampfen pulverisiert, bis sie zu dem feinen Staub zerrieben sind, den wir Mehl nennen, verändern sich ihre Eigenschaften für Nahrungszwecke nicht wesentlich; sie bleiben Energie erzeugendes Brennmaterial und Aufbaustoff für den Körper. Solche Zerkleinerung tut mit den Körnern nur das, was in jedem Falle die Zähne besorgen müssen, bevor die Speise geschluckt, verdaut und vom Körpermechanismus verwendet werden kann. — Aber es gibt Mehl und Mehl; es gibt nämlich auch weißes, gebeuteltes Mehl. Das ist Mehl, aus dem die Kleie, der fettige Keim und das braune Mehl vermittelst Siebens durch Beutelseide entfernt worden sind. Die Beutelseide, ein sehr feinmaschiges Gewebe, läßt wenig anderes zwischen den Maschen hindurch als die Stärke und den Kleber (das Gluten) der Getreidekörner. Der Rückstand, der viele der besten Salze, Fette, Zellstoffe und Vitamine dieser Körner enthält, wird als Abfallprodukt und Viehfutter verkauft. Dieses bedeutet, daß das weiße Mehl keine Wachstumsvitamine enthält. Auch Kalzium, Phosphor, Magnesium und Fluor, aus denen sich die harte Substanz der Zähne und des sie bedeckenden Schmelzes bildet, Kalzium und Phosphor, welche die Knochen aufbauen, Natrium und Kalium, Eisen, Schwefel und alle anderen wichtigen mineralischen Stoffe sind großenteils aus dem weißen Mehl entfernt worden, zu dem einzigen Zwecke, dasselbe weiß zu machen, was die geschäftliche Rentabilität verbessern soll. Durch diesen Raffinierungsprozeß entfernen die Müller so viele der wertvollsten körperbelebenden und körperaufbauenden Elemente, die als Erwecker der Lebenskraft und als Bildner des Körpers nötig sind. Damit hat es jedoch nicht sein Bewenden, denn einige der auf diese Weise entfernten Bestandteile braucht der Körper dringend zur richtigen Verwertung der Stoffe, die nach der Verfeinerung noch im weißen Mehl zurückbleiben. Diese Stoffe können deshalb vom Körper auch nicht verarbeitet werden. Weißes Brot ist so naturwidrig, daß Tiere, die man ausschließlich damit füttert, an mehrfacher Neuritis erkranken und bald eingehen, wenn diese einseitige Fütterung beibehalten wird. Fast ohne Ausnahme ist die "Weißbrotgewohnheit der zivilisierten Menschheit zudem auch eine Frischbrotgewohnheit. Die meisten Menschen sind der Ansicht, daß das Brot am besten schmecke, wenn es erst wenige Stunden alt sei oder gerade aus dem Backofen komme; auf jeden Fall dürfe es nicht älter sein als vierundzwanzig Stunden. Es ist aber eine altbekannte Tatsache, daß solches Brot unverdaulich und daher als Nahrung unbrauchbar und ohne belebenden Einfluß ist. Es enthält nämlich noch große Mengen von Hefegasen und kann sich in seinem teigigen Zustand unmöglich mit dem Speichel vermischen, ohne den im Magen überhaupt nichts verdaut wird. Jedermann weiß das, und dennoch ißt nahezu jedermann frisches Brot. Frisches weißes Brot wird zum größten Teil durch Gärung in Produkte aufgelöst, die den Körper vergiften, anstatt ihn zu ernähren, die seine Gewebe nicht aufbauen und 36
seine Zellen nicht beleben, sondern sie im Gegenteil zerstören — es sei denn, die Verdauung gehe in einem außerordentlich kräftig arbeitenden System derart beschleunigt vor sich, daß nichts Nachteiliges sich ereignen kann. Aber nicht jeder, der an Verdauungsstörungen leidet, hat das Glück, im Magen die entsprechenden Belästigungen zu spüren. Nur Personen mit empfindlichem Magen merken die Warnung. Und oft sind sie die Bevorzugten, denn ihre Leiden lehren sie, den Magen, dieses feingebaute Organ, mit Rücksicht zu behandeln. Zum Thema des weißen Brotes gehört auch noch die Feststellung, daß frisches Brot keineswegs an Verdaulichkeit und gesundheitsförderndem Wert gewinnt, wenn man Butter und Konfitüre in irgendeiner Form dick darauf streicht, um das Ganze mit wenigen heißhungrigen Bissen im Munde zu einer teigigen Masse zu zerkauen und es dann hinunterzuschlingen. Auch durch rasches Anrösten einer dünnen braunen Schicht, die die zähe Teigmasse des Brotinnern bedeckt, wird frisches weißes Brot nicht bekömmlicher, ebensowenig dadurch, daß die gerösteten Brotschnitten mit Butter bestrichen werden, denn die schmelzende Butter durchdringt die Stärkekörnchen so ausgiebig mit Fett, daß die Verdauungsenzyme diese Körnchen unmöglich erreichen können. Natürlich gilt alles Gesagte in demselben, ja noch in verstärktem Maße auch für heiße Teebiskuits, Backwerk, üppige Puddinge, reiche oder einfache Kuchen, die man aus weißem Mehl, Zucker, Eiern, Backpulver, mürbem Teig, Obstkonserven, Fruchtgelee, frischem oder gedörrtem Obst, Gewürzen usw. bereitet. Alle diese Speisen sind so weit von Nahrungsnatürlichkeit entfernt wie der Osten vom Westen. Mag solches Essen auch scheinbar verdaut werden — es kann kein natürliches menschliches Fleisch bilden noch den lebendigen Körper aufbauen, und was es nicht kann, tut es auch nicht. Getreidespeisen. Auch sie üben größte Belebungskraft aus, wenn sie nicht durch künstliche Prozesse ihrer Qualität als natürliche Nahrungsmittel beraubt werden. Man muß aber leider sagen, daß die modernen Getreidenahrungsmittel — von sehr wenigen Ausnahmen abgesehen — keineswegs als natürliche Kost gelten dürfen. Der Hersteller dieser Produkte weiß oft nicht, daß das allgemein übliche Entfernen des Lebenskeimes, der Kleie und des braunen Mehls, auch die Pflanzenfette, die reichen Mineralsalze, die Vitamine entfernt. Und in vielen Fällen würde die Erkenntnis dieser Tatsache wenig ausrichten, weil sie mit der Rendite in Widerstreit gerät; Berufszweck ist ja der Geschäftsgewinn. Getreideprodukte, die noch Keimlinge und Kleie enthalten, verderben leichter. Sie sind energiehaltiger, und die instinktiv handelnden Insekten wissen das; darum suchen sie gerade solche Produkte auf, um ihre Eier darin abzulegen. Unbeirrbarer Instinkt läßt sie das Richtige finden. Wie steht es dagegen mit dem Instinkt der Menschenmütter, die ihre Kinder so reichlich mit Weißbrot nähren? Es ist nachgewiesen worden, daß weiche, teigige Getreidenahrung die Speichelabsonderung nicht anregt, und doch hängt die Verdauung der Körnerfrüchte von der Speichelabsonderung ab, weil sie vorwiegend stärkehaltig sind. Die Magensäfte können Stärke überhaupt nicht verdauen. Sobald die Magensäfte sich durch die Magendrüsen in das Mageninnere ergießen, hört jede Stärkeverdauung, die im Magen noch vor sich gehen könnte, nachdem die Speise beim Durchgang durch den Mund mit Speichel vermischt worden ist, augenblicklich auf. Denn die Stärke 37
kann im Magen durch den Speichel nur verdaut werden, solange er alkalisch bleibt, und da die saure Magensekretion den alkalischen Speichel neutralisiert, muß die Stärkeverarbeitung aufhören, sobald die Magensäfte dazutreten. Daher ist es sehr wichtig, daß die stärkehaltigen Getreidespeisen gründlich mit Speichel vermengt werden, bevor sie in den Magen hinunter gelangen. Und aus dem gleichen Grunde ist es notwendig, Zerealien zu genießen, die die Speichelabsonderung anregen, weil es schwierig ist, die teigigen, weichen Bissen so lange im Mund zu behalten, bis der Speichel sie vollkommen durchdrungen hat. Getreidenahrung, die das Ganze des Kornes enthält, kann nicht pappig und weich werden; die kleiehaltige Zellulose und das braune Mehl verhindern das. Die ausgewalzten, geflockten und zerstampften Zerealien werden leicht teigig, dagegen die in den altmodischen Tuffstein- oder den modernen Stahlwalzenmühlen gemahlenen nicht. Solche Körnerfrüchte können nicht teigig werden, nicht einmal, wenn man sie stundenlang kocht. Ihr körniger Charakter regt von selbst den Fluß des Speichels im Munde an, und dies wird unterstützt durch die mechanische Anregung der kleiehaltigen Zellulose. Beide, die Zellulose und die Körner, erhöhen die Porosität der Nahrungsmasse, so daß sie sich bequem mit dem Speichel, der ihre Stärke verdauen soll, vermischen kann. Aus diesen Gründen sind die körnigen Zerealien allen andern als Getreidenahrung vorzuziehen; sie sind die natürlichen Zerealien. Es ist wichtig, die Getreidespeisen unmittelbar vor der Mahlzeit zu kochen; auch sollten sie schnell gekocht werden. Das Kochen ist die einzige unnatürliche Prozedur bei Vollkornnahrungsmitteln. Daher sind sie völlig natürlicher Kost um so näher, je kürzere Zeit sie gekocht und je rascher sie gegessen werden, nachdem sie sich leicht abgekühlt haben. Dagegen gehören die ausgewalzten und zerstoßenen Getreidepräparate und die in der Fabrik vorgekochten nicht zu den natürlichen Nahrungsmitteln, ebensowenig die ganz gekochten, die geflockten und klein geschnittenen, die zum Essen fertig gerichtet sind. Diese Art Nahrung kann die greifbare Substanz unseres Körpers wohl aufbauen helfen, aber den Körper niemals mit genügend Kraft und Widerstandsfähigkeit versehen. Ganze Getreidekörner tragen, solange sie nicht gekocht worden sind, noch immer das lebensweckende Prinzip in ihrem Keime; unter entsprechenden Verhältnissen werden sie keimen, und aus ihnen wird sich eine neue Pflanze, ein neues Leben entwickeln. Aber wenn ein Samenkorn einmal durchgekocht ist, so ist es leblos, und kein neues Leben kann sich mehr daraus entfalten, gleichviel, ob es den Keim noch besitzt oder nicht, denn der Keim selber ist nun tot. Getreidekörner, die in der Fabrik gekocht wurden und hernach im Handel auf den Verbrauch warten, kann man in bezug auf ihre belebenden Qualitäten in dieselbe Klasse einreihen wie Fleischnahrung, die nicht unmittelbar nach dem Töten des Tieres verzehrt wird. Beide haben durch die lange Trennung von ihrem kraftspendenden Prinzip ihre anregende Lebenskraft verloren, und wer sich ausgiebig von ihnen ernährt, darf nicht auf Zufuhr von Vitalität oder auf die Ausbildung einer großen Widerstandsfähigkeit gegenüber den bedrohlichen Einflüssen des Lebens hoffen. Früher oder später muß dieser zersetzende Prozeß zu körperlicher Krankheit führen. Wenn die Getreidenahrung aber in richtiger Weise, nicht pappig und weich, aus ganzen Körnern zubereitet wird, so daß die kleiehaltige Zellulose den fettigen, mineralreichen Keim und das gut mineraldurchsetzte braune Mehl neben dem weißen 38
aus dem Innern des Getreidekorns beibehält, darf man sie zu den natürlichsten aller menschlichen Nahrungsmitteln rechnen. Reis. Der Reis ist gleichfalls eine Körnerfrucht, die besonders in Asien weite Verbreitung gefunden hat. Die zivilisierten Rassen „verfeinern“ den Reis im allgemeinen auf ähnliche Weise wie die Getreidekörner. Die äußere Kleie- oder Zellstoffhülle wird dabei entfernt, und mit ihr der fettige Lebenskeim sowie ein großer Teil der mineralischen Salze und Vitamine. Nachdem ihm so sein Zellstoff, seine Mineralsalze und seine Vitamine entzogen worden sind, wird der „polierte“ oder „geschälte“ Reis befeuchtet und mit Talk, dem Stoff, der im Handel als Talgpulver verkauft wird, überzogen, um die Körner noch weißer zu machen. Als natürliches Nahrungsmittel im Sinne der vorangegangenen Ausführungen kann nur der ungeschälte Reis betrachtet werden. Fleischkost. Auch der Körper eines kurz zuvor getöteten Tieres, das sich im Augenblick seiner Tötung in voller Gesundheit befand, kann einwandfreie menschliche Nahrung liefern, denn solch ein tierischer Körper enthält jeden aufbauenden Stoff in genau den Proportionen, die der menschliche Körper braucht (*1. Ich spreche freilich vom tierischen Körper und nicht von seinen Muskeln oder seinem Fett, den einzigen Teilen, die der zivilisierte Mensch gewöhnlich als Nahrung zu sich nimmt. Verteidiger der Fleischkost bringen immer wieder das Argument vor, daß fleischessende Stämme wie die Eskimos bei fast ausschließlicher Fleischkost kräftig und gesund sein können. Sie verschweigen aber, daß die Eskimos keineswegs nur Muskelfleisch und Speck essen. Sie würden das auch nicht zu behaupten wagen, denn es wäre gelogen. Eskimos und andere hauptsächlich Fleisch essende Stämme verzehren die Leber, das Herz, das Bauchfell und andere Organe, das Fett und manchmal auch die Muskeln; außerdem — und das ist die Hauptsache — trinken sie große Mengen tierischen Blutes; sie essen ihre Tiernahrung frisch geschlachtet und zu einem großen Teil roh. Wird das Fleisch so genossen, dann muß man es selbstverständlich auch eine natürliche Nahrung nennen. Es ist dann wie jede natürliche Nahrung reich an Energiespendern, Salzen, Wachstums- und Ersatzvitaminen (*2. Aber essen die zivilisierten Völker das Fleisch je auf diese Art? Nicht daß ich wüßte! Bei ihnen muß es gut ausgeblutet und gewöhnlich auch gelagert sein, damit es als genießbar gilt. Daß Knochen, Knorpel, Gehirn, innere Organe und vor allem Blut in frischem Zustande menschliche Nahrung sein könnten, das kommt den meisten Angehörigen zivilisierter Völker gar nicht in den Sinn. Die Entziehung der lebendigen Kraft durch das Kochen des Fleisches läßt sich freilich zur Not als bloß passives oder negatives Übel ansehen; weit gefährlicher und gesundheitsschädigender ist das Lagern des Fleisches, wodurch es zart und weich werden soll. In dem Augenblick, da das Leben aus dem Körper entweicht, beginnt die Verwesung. *1) Richtiger ist es, zu sagen: die der menschliche Körper für seinen Aufbau braucht. Da der Aufbaubedarf des menschlichen Körpers beim Erwachsenen aber nur 1/20 bis 1/25 seines Betriebsbedarfs ausmacht, entspricht solche Nahrung nicht dem Gesamtbedarf. 39
Anm. des Herausgeben. *2) Die Dr. Jackson wohl noch nicht bekannten, sehr genauen Ergebnisse der dänischen HöygaardExpedition., erzielt bei Untersuchungen an den Angmagsalik – Eskimos in Ostgrönland, bieten hier wertvolle Ergänzung. Diese vom Welthandel abgeschlossenen Eskimos leben fast allein von dem, was sie erlegen und sammeln können, ein sehr mühsames und dürftiges Leben am Rande menschlicher Existenzund Anpassungsmöglichkeit. Ihre Nahrung ist immerhin sehr naturnah und ihre Gesundheit, wenigstens in jungen Jahren, besser als die der mit europäischen Lebensmitteln versorgten Westgrönländer. Die Angmagsalik – Eskimos leben zu mehr als 9/10 von Fleisch und im übrigen von gesammelten Land- und Meerpflanzen. Ihr täglicher Nährstoffverbrauch beträgt durchschnittlich: 299 g Eiweiß, 169 g Fett, 122 g Kohlehydrate. Das Fleisch wird, trotz des kalten Klimas, zur Hauptsache unerhitzt und roh genossen, in erster Linie Blut und Fett, dann innere Organe und nur, wenn der Hunger groß ist, auch noch Muskelfleisch. Kochsalz wird verabscheut. Der Durst ist sehr groß. Bei solcher Nahrung, die zwar naturnah, aber sehr einseitig ist, haben diese Eskimos als junge Leute eine recht gute Gesundheit; aber schon mit 35 Jahren, also in der Mitte des Lebens, werden sie durch Arteriosklerose derart schwerfällig, daß die Männer bei ihrer lebenswichtigen Verrichtung, der Jagd, bald umkommen und kaum je über 50 Jahre alt werden (mittlere Lebensdauer: 27 ½ Jahre!). Es gibt wohl nichts, was besser als dies die Tatsache beleuchten würde, daß die Natur den Menschen nicht als Fleischesser geschaffen hat, es sei denn der Umstand, daß jenes Volk, das fast ohne Fleisch, aber hauptsächlich von ungekochter oder wenig erhitzter Nahrung, namentlich von Obst, Getreide und Grüngemüse, leben muß, nämlich das Volk von Hunsa am Karakoram, nach den Untersuchungen von Sir Robert McCarrison nicht nur bemerkenswert frei von Krankheiten ist, sondern überdies sehr alt wird und dabei jugendliches Aussehen und große Beweglichkeit bewahrt (siehe Ralph Bircher, „Hunsa — das Volk, das keine Krankheit kennt“, Hans Huber Verlag, Bern). Anm. des Herausgebers.
Je mehr Zeit verstreicht, um so größer wird bei allen Nahrungsmitteln der Verlust an energischen Eigenschaften, und, um so größer wird auch, besonders beim Fleisch, die Gefahr der Verwesungsgifte. Ob gefroren oder nicht, das Fleisch wimmelt wenige Stunden nach der Tötung des Tieres von Fäulnisbakterien. Diese Mikroorganismen können sich unmöglich vermehren, ohne jene Gifte zu erzeugen, die ihrem Lebensprozeß entstammen. Wenn man also Fleisch ißt, muß man auch die Verwesungsprodukte mitessen. So gleicht, das muß klargestellt werden, die Art des Fleischessens, wie sie in zivilisierten Ländern geübt wird, dem Fleischgenuß bei den Eskimos in ähnlicher Weise, wie etwa Nektar und Ambrosia einer angebrannten Mehlsuppe gleichen mögen. Wir dürfen nicht vergessen, daß Fleisch schlecht wird, lange bevor unser Geruchsinn es bemerkt, und wir dürfen auch nicht vergessen, daß es eben der Zerfall ist, der das gelagerte Fleisch „zart“ macht. Die meisten zivilisierten Menschen wollen ihre Fleischnahrung aber recht zart haben. Eingemachtes Fleisch, Pökel- und Rauchfleisch, überhaupt alle Arten von konserviertem Fleisch, haben als Nahrungsmittel den Nachteil, daß sie ihrer Natürlichkeit gänzlich beraubt sind. Erstens werden sie erst lange nach der Tötung des Tieres verzehrt; das lebendige Prinzip fehlt ihnen also schon seit langem. Zweitens werden sie ausgiebig bei hohen Temperaturen gekocht; dadurch wird alles zerstört, was noch an Vitamin A und C in ihnen enthalten sein könnte. Drittens sind sie oft mit Salz oder anderen konservierenden Chemikalien durchsetzt, was wiederum die geringe Menge von Mineralsalzen, die sie enthalten, vermindert oder zerstört. Diese Behauptungen sind weder Theorie noch Phantastereien. Die Erfahrungen vieler Polarforscher haben bewiesen, daß Büchsenfleisch sowie alle nicht frischen Fleischarten auch in ungesalzenem Zustand nicht vor Skorbut schützen, während frisch geschlachtetes ungesalzenes Fleisch den Skorbut an der Weiterentwicklung hindert, ja, ihn noch in vorgeschrittenem Stadium heilen kann. Doch muß es frisch 40
geschlachtetes, nicht ausgeblutetes, ganz (oder fast ganz) roh genossenes Fleisch sein, und mit ihm zusammen muß möglichst viel von den inneren Organen wie Leber, Herz, Milz, Gehirn usw. verzehrt werden. Auf diese Weise genossen, ist Fleisch natürliche, energetische Nahrung; wie man es aber bei uns genießt, ist es eine denkbar unnatürliche Speise. Fleischbrühen, Fleischextrakte und Suppenwürfel, mögen sie im Handel noch so hoch angepriesen werden, haben nicht den geringsten wahren Nährwert, und man kann sie unter keinen Umständen mehr als Energiespender bezeichnen. Die Hitze löst das tierische Eiweiß nicht auf, und alle Mineralsalze, die sich aus dem Fleisch in die Brühe auflösen lassen, werden durch das lange Erhitzen, das bei der Zubereitung nötig ist, zerstört. Ein berühmter englischer Arzt und Physiologe, Dr. Abernethy, antwortete auf die Frage nach dem Nährwert guter Fleischbrühe, sie sei ungefähr auf dieselbe Stufe zu setzen wie guter Urin. Das ist durchaus wahr. Eine Analyse der Fleischbrühe ergibt einen ganz ähnlichen Befund wie eine Harnanalyse — und warum sollte es anders sein? Urin ist eine wässerige Lösung der verbrauchten Mineralsalze und des Körpereiweißes aus Endprodukten der Verdauung, vor allem von Fleisch und anderer eiweißhaltiger Nahrung herrührend. Fleischbrühe ist die wässerige Lösung von Extraktivstoffen, welche zum großen Teil aus den Abfallprodukten des Eiweißstoffwechsels und verbrauchten Mineralsalzen bestehen, die das Tier vor seiner Tötung noch nicht ausgeschieden hatte. Die „anregende“ Wirkung sagt nichts zugunsten der Fleischbrühe aus. Viele Gifte wie Alkohol und Kokain regen anfänglich auch an; nachher entkräften sie; die Entkräftung tritt aber erst in späteren Stadien oder gar erst im Endstadium ein. Die Reaktion auf alle künstlichen Reizmittel ist Depression. Meine feste Überzeugung ist, daß mancher Kranke, der durch Frucht- und Gemüsesäfte hätte genesen können, durch den Genuß von Fleischbrühe und anderen schädlichen Gaben sogenannter Krankendiät so schwer geschädigt worden ist, daß der Fall hoffnungslos wurde. Eier. Eier, die mit oder ohne Schale leicht gekocht oder weich gesotten werden, sind natürliche Nahrungsmittel, denn durch sehr leichtes Kochen wird ihnen nichts entzogen, es wird nichts hinzugefügt und auch nichts Wesentliches verändert. Aber hartgesottene Eier sind durch das lange Kochen entkräftet, obwohl sie noch immer als Körperbaustoff gelten können. Rühreier, Eieromeletten und Spiegeleier sind ihrer Natürlichkeit beraubte Nahrungsmittel, genau so wie hartgesottene Eier, mit dem einzigen Unterschied, daß die letztgenannten schwerer verdaulich sind. Alte oder eingetrocknete Eier sind ungesund, aus dem gleichen Grunde wie altes gelagertes Fleisch schlecht ist. Milch. Vor allem muß gesagt werden, daß die Milch in den Städten nie ganz frisch ist; sie ist sogar oft abgestanden, und diese abgestandene Milch lassen viele Leute noch zu Hause herumstehen, manchmal gar bis zum nächsten Tag. Während dieser Zeit schwinden und degenerieren die Gesundheit spendenden Eigenschaften der Milch viel rascher als die körperaufbauenden. — Ferner wird die in den Städten verbrauchte Milch vor dem Verkauf meistens noch pasteurisiert oder sterilisiert, was bekanntlich die Vitamine vermindert oder zerstört. Wie wahr das ist, sieht man an der Tatsache, daß die Ärzte Säuglingen, die bei pasteurisierter Milch erkranken, zur Heilung rohe Milch verschreiben. — Man sucht die Pasteurisierung damit zu rechtfertigen, daß sie 41
gewisse Krankheitskeime tötet. Da aber nicht alle schädlichen Keime getötet werden, sondern gerade einige der bösartigsten lebendig bleiben, wird der Wert des Verfahrens als Schutzmaßregel oft angezweifelt. Es muß auch zugegeben werden, daß rohe Milch besser kräftigt und dem Körper größere Widerstandskraft verleiht. Rohe Milch ist daher jeder präparierten weit vorzuziehen, wenn man sie in sauberem Zustand erhalten kann. Die Erzeugnisse der Natur sind eben, wie wir zwar wissen sollten, aber leider immer noch nicht genügend wissen, in ihrer Art vollkommen, und wir dürfen uns keine Eingriffe unter dem Vorwand der Verbesserung an ihnen erlauben. Gerade die subtilen Energiestoffe des natürlichen Zustandes sind sehr leicht veränderlich und zerstörbar. Milch ist die vollkommene Nahrung für Kleinkinder. Für alle Stufen über dem Säuglingsalter jedoch fehlen ihr Eisen, Kohlehydrate und Zellulose oder Rohfaserstoffe. Wollte ein Erwachsener ausschließlich von Milch leben, was er wohl tun könnte, so wäre er gezwungen, weit mehr zu sich zu nehmen, als für alle anderen Bedürfnisse seines Körpers notwendig ist, nur damit ihm genügend Eisen, Kohlehydrate und Ballaststoffe zugeführt werden. Das Übermaß an Eiweißstoffen und Salzen jedoch, das dem Körper auf diese Weise zugeführt wird, kann mit weit weniger Reizung und Anstrengung der Ausscheidungsorgane wieder weggeschafft werden als eine gleiche Übermenge dieser Substanzen aus irgendeiner anderen Nahrungsquelle, ganz besonders aus Fleischgerichten. Selbstverständlich nimmt man bei dieser Feststellung an, daß die Milch natürlich, rein und frisch sei. Wenn ihre Natur dagegen durch irgendeinen Eingriff verändert wird, so ist die Behauptung, daß ein Erwachsener mit ihr ohne zusätzliche Nahrung völlig gesund leben könne, falsch. Unsere Milchversorgung ist aber oft schon von Anfang an unnatürlich, weil wir mit falscher Fütterung des Viehes beginnen. Die Kühe bekommen besonders rationell ausgedachtes Futter, das die Milchabsonderung mächtig fördert. Dieses Futter besteht größtenteils aus Abfällen menschlicher Nahrungsmittel, die in Fabriken verarbeitet werden. Es sind dies diejenigen Teile unserer Nahrungsmittel, welche die „Sachverständigen“ um der Verfeinerung willen entfernen ließen. Einige dieser Abfälle stammen aus Getreidemühlen, andere aus Branntweinbrennereien und Brauereien, andere aus Rübenzuckerraffinerien und wieder andere, wie die Melassen, aus Rohrzuckerraffinerien. Es sind selbstverständlich die billigsten Abfälle, mit Salzen überladen. Sie stammen aus allen möglichen Quellen, aber alle sind so unnatürlich wie unsere menschlichen Nahrungsmittel. Die Milch, die von so ernährten Kühen geliefert wird, muß unnatürlich sein und ist es auch; das gefütterte Vieh ist ebenso ungesund wie die Menschen, die es dazu zwingen, solches Futter zu fressen und daraus Milch zu produzieren. Alle Ärzte wissen heute, daß die Vitamine der Milch vermindert werden oder — vor allem das Vitamin C — ganz verschwinden, wenn die Kühe Trockenfutter statt Frischfutter bekommen; man kann sich daher leicht vorstellen, was für einen Einfluß gar jenes entartete Futter, das unsere Milchkühe erhalten, auf die Marktmilch haben muß. Aber das ist noch nicht alles. Vielfach bleiben die Milchkühe Tag und Nacht angebunden in ihren oft ganz ungelüfteten Ställen, und oft läßt man den Kot sich anhäufen, bis der Gestank so arg wird, daß ein Mensch, der nicht daran gewöhnt ist, 42
nicht mehr atmen zu können glaubt. Man bedenke doch: die Kühe sind von der Natur dazu bestimmt, frei zu weiden, reine Luft einzuatmen und sich von Nahrungsstoffen, wie sie Gott erschuf, zu ernähren. Nun werden sie an Ketten gelegt und zum Teil mit Abfällen gefüttert... Würde unser eigener Organismus seiner natürlichen Bestimmung gemäß arbeiten, wenn er so behandelt würde? Gewiß nicht; er täte es nicht, weil er es nicht tun könnte. Doch da ist mir unversehens ein Irrtum aus der Feder geflossen. Leben denn nicht auch wir Menschen in Häuser eingesperrt, abgeschlossen von Gottes herrlicher freier Luft? Ist nicht unsere Haut eingepackt in so und so viele unnatürliche Hüllen? Ernähren wir uns nicht großenteils von widernatürlicher Kost? Ja, freilich, und deshalb kann unser Organismus nicht funktionieren, wie Gott es haben möchte. Und der Organismus einer Kuh kann unter solchen Umständen eben auch nicht funktionieren, wie er sollte. Aber das ist immer noch nicht alles. Wenn die Kühe gemolken werden, so geschieht das meistens in dunstigen Ställen. Nach dem Melken scheidet man wohl auch die Milch, um hernach den Rahm und die entrahmte Milch wiederum in gewissen Proportionen von Milch und Butterfett zu hochwertiger Milch zu mischen, die eine vorgeschriebene Menge von Rahm enthalten muß. Dann wird die Milch zwanzig oder dreißig Minuten lang auf 65 bis 70° C erwärmt, darauf rasch abgekühlt und bis zur Ablieferung an die Konsumenten kalt aufbewahrt. All dieses wird einem der empfindlichst organisierten Nahrungsstoffe angetan. Daß solche Manipulationen die lebenspendenden Eigentümlichkeiten dieses fein reagierenden Nährstoffes nicht beeinträchtigen, kann im Ernst niemand glauben. Riesige Mengen solcher Milch werden verdunstet, kondensiert, pulverisiert. Allein die Vereinigten Staaten produzieren jährlich anderthalb bis zwei Millionen Pfund konservierter Milch. Ich verurteile diese Milchkonservierungsverfahren nicht. Bei unserer heutigen sozialen Organisation mögen sie Vorteile bieten, vielleicht sogar notwendig sein. Aber wir sollen wissen, daß solche Nahrungsmittel entwertet sind, und uns dadurch anspornen lassen, etwas in dieser Richtung zu tun. Rahm. Ohne Zweifel leben diejenigen, die sich den Luxus von viel „gutem, dickem Rahm“ gestatten, bei im übrigen gleichen Lebensbedingungen nicht so lange wie die, welche gezwungen sind, Vollmilch zu nehmen. — Tiere und wildlebende Menschen kennen keinen einzigen abgetrennten Teilnahrungsstoff, wie es unter anderem der Rahm ist. Die Natur hat wohl den Rahm als einen Bestandteil der Milch selber geschaffen; das ganze Gemisch gehört aber zusammen, und alle wildlebenden Geschöpfe, die sich von Milch ernähren, konsumieren die ganze unveränderte Milch. Nur der Kulturmensch in seinem unaufhörlichen Bestreben, Gott und die Natur zu überbieten, ist auf den Gedanken gekommen, eine verfeinerte, konzentrierte Milch in Form von Rahm zu gebrauchen. Das soll freilich den Rahm als Nahrung nicht herabsetzen, wenn er durch genügend andere natürliche Kost ausgeglichen wird. Streng zu rügen ist aber jedenfalls die Gewohnheit, Rahm zu genießen. Buttermilch. In der Buttermilch fehlt ein sehr wichtiges Nahrungselement, das Butterfett; der natürliche Ausgleich ihrer Bestandteile ist daher verlorengegangen. Zwar hat die Milchsäure, welche die Buttermilch sauer werden läßt, einen hemmenden Einfluß auf die Entwicklung der Fäulnisbakterien in den Eingeweiden und ihre 43
Giftproduktion. Dieser Vorteil wird aber durch die oft große Zeitspanne, die vergeht, bis die dem lebenden Tiere abgenommene und von seinem Lebenskreislauf getrennte Milch zu Butter wird, zunichte gemacht. Wenn man jedoch genug frische, süße Milch in ihrem natürlichen Zustand zu sich nimmt, ist es unwahrscheinlich, daß der Genuß von Buttermilch in vernünftigen Mengen großen Schaden anrichten kann. Es kann sogar sein, daß sie für gewisse Personen, nämlich für starke Konsumenten von „gut gelagertem Muskelfleisch“, sehr bekömmlich ist. Der Dickdarm solcher Menschen ist mit Fäulnisbakterien förmlich durchsetzt, und die Milchsäurebazillen, welche die Buttermilch sauer machen, sind die natürlichen Feinde dieser Fäulniserreger. Bloß dürfte Buttermilch nicht zu Fleischmahlzeiten genossen werden. Noch von einem andern Gesichtspunkte aus ist Buttermilch entwertete Nahrung und daher in gewissem Maße unbekömmlich, und zwar in bezug auf die Salzmenge, die sie enthält. Da schon kleine Zugaben von Salz in der Buttermilch auf den menschlichen Körper nachteilig wirken, um wie viel schlimmer sind dann die Fälle, in denen Leute, wie ich selber gesehen habe, halbe Teelöffelvoll Salz in die ohnehin salzige Buttermilch schütten — dies übrigens ein neuer Beweis dafür, daß Kulturmenschen leben, wie sie wollen, nicht wie sie sollen. Butter. Dieselben Bemerkungen, die ich bereits über den Rahm machte, gelten auch für die Butter. Sie kann in gewissem Sinne als natürliches Produkt betrachtet werden; dennoch ist sie eine sehr unnatürliche Nahrung. Natürlich ist sie in dem Sinne, daß sie nicht auf künstlichem Wege hergestellt wird, aber unnatürlich insofern, als die Natur sie nicht in der Form, in welcher wir sie genießen, liefert. — Kein wilddiebendes Wesen nimmt irgendein ähnlich einseitiges Nahrungsmittel zu sich. Nur die zivilisierten Menschen konnten auf den Gedanken der Lostrennung und selbständigen Verwertung dieses Bestandteiles eines der wichtigsten Nahrungsmittel verfallen. Käse. Dieselbe Unnatürlichkeit zeichnet auch Käse jeder Gattung aus. Käse ist keine natürliche Kost, denn er ist von den anderen Bestandteilen der natürlichen Vollmilch abgesondert worden. Es ist zwar nicht zu bestreiten, daß die körperaufbauenden Eigenschaften des Käses gut sind, aber ich habe schon mehrmals darauf hingewiesen, daß wir mehr als Körperaufbau brauchen; wir brauchen auch Widerstandsfähigkeit und Lebenskraft, und beide finden sich in den natürlichen Nahrungsstoffen nicht mehr. wenn unsere „Verbesserungskunst“ sich an ihnen versucht hat. Alle diese Milchprodukte, ich wiederhole es, lehne ich nicht ab; ich versuche nur aufzuzeigen, daß sie ihre Natürlichkeit verloren haben. Diese teilweise Entwertung sollte durch Konsumierung genügender Mengen von Nahrungsmitteln, welche die Mängel ausgleichen, aufgehoben werden. Zucker. Unter Zucker versteht man meistens das aus dein Saft des Zuckerrohrs oder der Zuckerrübe zubereitete Produkt, wie es im Handel vertrieben wird. In seinem braunen, unraffinierten, leicht feuchten Zustand ist dieser Zucker in gewissem Sinne ein natürliches Nahrungsmittel, das — mit aromatischen Eigenschaften ausgestattet — aus einem Saccharid- oder Süßstoff, Eiweißstoffen, gewissen Harzen, Gummi und Mineralsalzen besteht. In Wirklichkeit ist unser Zucker aber doch kein Naturprodukt! Natürlich ist nur der Saft, aus dem man ihn bereitet. doch wird dieser Saft bei der 44
Zuckerfabrikation künstlich durch Hitze konzentriert, und dabei werden die natürlichen Verhältnisse zwischen den einzelnen Bestandteilen, aus denen er zusammengesetzt ist, zerstört. Ein ausgiebiger Gebrauch sogar des „natürlichen“ braunen Zuckers wird daher ohne Zweifel das Gleichgewicht jeder denkbaren Diät beeinträchtigen. Aber in seinem „natürlichen“ braunen Zustand wird der Zucker heutzutage selten benützt. An seine Stelle ist fast überall der weiße, raffinierte Zucker getreten. In solchem Zucker ist tatsächlich von seiner Natur nichts übrig geblieben als der Süßstoff, das Saccharid. Nachdem der Zucker mittels Filterung durch gebrannten Knochenstaub oder Mehl gebleicht worden ist, behandelt man ihn mit Waschblau, um ein noch intensiveres Weiß zu erzielen, nicht unähnlich der Wäsche, die nach ihrer Reinigung auch „gebläut“ wird. In welcher Menge auch immer man diesen weißen Zucker verzehrt, und gleichgültig, welche Speisenauswahl dies betrifft, stets wirkt er gleichgewichtsstörend in der allgemeinen Zusammensetzung der körperaufbauenden Nährstoffe, denn weißer Zucker, das ist nicht schwer einzusehen, ist so weit entfernt von Natürlichkeit wie die Hölle vom Himmel. Rohrzucker, brauner oder weißer, ist chemisch betrachtet ein Polysaccharid. Dies bedeutet unter anderem, daß er nicht direkt ins Blut aufgenommen werden kann. Bevor er als Nahrung wirken kann, muß er durch die Säfte gewisser Zellen, die dem Verdauungskanal entlang angeordnet sind, in ein Monosaccharid verwandelt werden, eine einfachere Form von Zucker. Hierin liegt ein großer diätischer Nachteil. Wird Rohrzucker allein gegessen, so geht diese Umwandlung ohne Schwierigkeit vor sich. Aber ohne Zugabe verzehrter Rohrzucker hat die unangenehme Eigenschaft, die Schleimhäute des Magens zu stark zu reizen. Außerdem kann weißer Zucker niemals in irgendeinem Sinne auch nur als körperaufbauend angesehen werden, während brauner, roher Rohrzucker wenigstens einige körperbildende Stoffe in Form von mineralischen Salzen liefert; aber sogar brauner Zucker kann größtenteils nur Körperwärme produzieren, und weißer Zucker überhaupt nichts anderes. Trotz alledem stehen wir der rätselhaften Tatsache gegenüber, daß an recht heißen Sommertagen die Leute gesüßte Getränke in großen Mengen hinunterstürzen und süße, kalte Cremes und Gefrorenes verschlucken, in der Einbildung, sich abzukühlen, obwohl es erwiesen ist, daß jeder Schluck dem Körper zusätzliche Warme zuführt. Weißer Zucker versieht den Körper mit einer unglaublichen Menge von Körperwärme. Erhält der Körper aber zuviel dieser Wärme, was sehr leicht vorkommen kann, so werden zu große Anforderungen an den die Körperwärme regelnden Mechanismus gestellt, denn der Körper ist weder anatomisch noch physiologisch darauf eingerichtet, so konzentrierte Wärmezufuhr auszunützen. Es leuchtet daher ohne weiteres ein, daß es für den menschlichen Organismus physiologisch unmöglich ist, von solcher Nahrung ausgiebigen Gebrauch zu machen, ohne die Organe zu überanstrengen. Anderseits wird der Zucker, in größeren Mengen mit anderen Speisen zusammen genossen, nur langsam aufgenommen, und während dieses Vorgangs kann, besonders in einem langsam arbeitenden Magen, eine Gärung stattfinden, durch welche Kohlendioxyd (C02) und andere Säuren erzeugt werden, unter Umständen auch etwas Alkohol. In Anbetracht der Menge anderer Wärme zuführender Nahrungsmittel, der Fette und der Stärken, die man zu gleicher Zeit zu sich nimmt, sollte selbstverständlich die Zuckerration zuweilen noch doppelt vorsichtig bemessen werden. 45
Eine Gefahr des Zuckers liegt auch in seiner unnatürlichen Konzentration. Die Natur erzeugt den Zucker im Zuckerrohr und in der Zuckerrübe, die ihn in mehr oder weniger starker Verdünnung enthalten. Tiere fressen diese Futtermittel in ihrem ganzen, unbeeinträchtigten Zustande, und dies bekommt ihnen sehr gut dank der in diesem Zuckergehalt vorhandenen Kohlehydrate und der damit verbundenen Harze, Gummistoffe, Salze usw. Plantagenarbeiter sollen sehr zum Vorteil ihrer Gesundheit das rohe Zuckerrohr kauen; Arbeitstiere fressen es und gewinnen daraus die genannten Nahrungsqualitäten in den von der Natur gewählten Verhältnissen und in vollkommener Zusammenstellung. Es ist ja auch nicht anders zu erwarten, als daß der Genuß natürlicher Nahrungsmittel letzten Endes alle Bedürfnisse besser befriedigt als der beste Ersatz. Man gebe der Natur die Möglichkeit freier Verfügung, und sie wird stets (scheinbar) Wunder wirken. Das Unnatürliche dagegen verwüstet die Einrichtungen des menschlichen Körpers; und der Teufel der Unnatürlichkeit ist von der Zivilisation zum Götzen erhoben worden, der ihr Verderben bringt. Primitive Menschen und wilde Tiere wissen nichts von Zuckerkrankheit; sie kennen allerdings auch den raffinierten Zucker nicht. David Livingstone, so wird berichtet, fristete sein Leben in Afrika lange Zeit hindurch mit einer täglichen Ration von wenigen Stücken Zuckerrohr. Er erfreute sich Jahr für Jahr bester Gesundheit, wohingegen keiner seiner weißen Begleiter das Klima der äquatorischen Urwälder länger als ein Jahr aushalten konnte, weil sie mit der komplizierten Kost, deren sie zu bedürfen glaubten, nicht zweckmäßig ernährt waren. Weißer Zucker ist nun zwar der konzentrierteste Nahrungsstoff, den wir besitzen. In Nordamerika aber verbraucht jeder Mann, jede Frau, jedes Kind durchschnittlich hundert Pfund im Jahr, und das ist zuviel. Außerdem konsumieren die Amerikaner noch riesige Mengen der nächstkonzentrierten Nährstoffe, des weißen Mehls und der verfeinerten Getreidespeisen, die ebenfalls bedeutende Wärme erzeugende Wirkungen ausüben. Dazu werden noch große Quantitäten entwerteter, geschälter und entwässerter, gesalzener und zerstoßener oder zu Brei gerührter und gebackener Kartoffeln gegessen, gleich große Mengen konzentrierter Tafelsirupe, verfeinerte Erzeugnisse der Zuckerraffinerien geschluckt, Konfitüren, Marmeladen, Fruchtgelees, alle mit weißem Zucker hergestellt, verzehrt. Deshalb ist Nordamerika mit seiner Anzahl von Zuckerkranken führend in der Welt. Zusammenfassend kann gesagt werden, daß der Gebrauch von Zucker in seinem raffinierten Zustande für uns überhaupt bloß möglich ist, weil die gute Natur ihre Gaben uns Sterblichen freigebig austeilt und uns einen Überschuß an Lebenskraft über unsere täglichen Bedürfnisse hinaus zugesprochen hat, der uns befähigt, eine Zeitlang bedeutende Anstrengungen der Organe und der Zellen auszuhalten. Aber niemand kann wissen, wie lange es dauert, bis dieser Überschuß beim einzelnen erschöpft ist. Ahornzucker ist auch Rohrzucker und, solange er nicht raffiniert wird, ein natürliches Produkt. Aber in unserer zivilisierten Welt findet er zu selten Verwendung, um irgendeinen wirklichen Einfluß zu haben. Und in den jüngsten Jahren hat sich die Verfeinerungsleidenschaft auch auf ihn ausgedehnt, obwohl bis jetzt noch nicht sein ganzer Ahorncharakter aus ihm herausraffiniert werden konnte. Zuckersirup (Melasse). Das ist die nicht kristallisierbare „Mutterflüssigkeit“, die aus dem kristallisierten braunen Zucker während der Zuckerbereitung aus Zuckerrohr abgezogen wird. In früheren Zeiten des Plantagenzuckers und sogar in den Anfängen 46
des Raffinierens hatten die Melassen jede Eigenschaft des Rohrsaftes, weil bloß ein Teil der Süßstoffe als Zucker aus ihnen entfernt worden war. Aber die Melassen aus modernen Raffinerien sind etwas ganz anderes. Sozusagen alle Saccharose ist entfernt, und eine sehr stark schmeckende Flüssigkeit bleibt zurück, die im allgemeinen als zu reich an Salzen angesehen werden muß. Während weißer Zucker an Mineralsalzen arm ist, ja nahezu keine enthält, entdecken wir bei den Melassen den entgegengesetzten Fehler, weil die besonderen Salze, welche die Natur dem Zucker beigibt und die in ihm verbleiben sollten, fast gänzlich in die Melasse übergehen. So sind die Melassen ebensoweit von der natürlichen Beschaffenheit des Zuckers entfernt wie der Zucker selber, nur in entgegengesetztem Sinne. Kornsirup (Glukose). In der Theorie wird der Kornsirup für eine zuträgliche Nahrung gehalten, und wenn er chemisch rein wäre, sollte er so leicht verdaulich sein wie reiner Honig, denn auch Glukose ist ein Monosaccharid und kann direkt, das heißt, ohne Umsetzung, verdaut werden. Überdies ist Glukose gerade die Form, auf welche Zucker oder Kohlehydrate aller Gattungen durch die Zellentätigkeit des Körpers zurückgeführt werden, bevor der Blutkreislauf sie aufnimmt. Reine Glukose würde daher eine große Energieersparnis für den Körper bedeuten, weil kein Kraftaufwand mehr benötigt wird, um sie für die Aufnahme und die endliche Oxydierung in den Geweben zwecks Freimachung von Körperenergie und Wärme vorzubereiten. Allerdings müßte die Glukose in kleinen Mengen gebraucht werden, damit Übermaß vermieden wird. In der Praxis läßt sich gegen Kornsirup einwenden, daß er ebenso konzentriert und dadurch ebenso naturfremd ist wie weißer Zucker, ebenso arm an mineralischen Salzen, Gummi, Harzen, aromatischen Eigenschaften, Zellulose und Vitaminen. Auch ist er selten chemisch rein, denn durch die Chemikalien, die bei seiner Erzeugung verwendet werden, wird er leicht verdorben, und der Konsument hat keine Möglichkeit zu erkennen, ob die Ware rein ist oder nicht. In der Wahl zwischen unverdorbenem Kornsirup und raffiniertem weißem Zucker zu gleichen Teilen müßte der Vorzug jedoch immerhin dem Kornsirup gegeben werden, da er die Gefahr der Gärung während des Verdauungsprozesses. nicht in sich trägt. Er muß sich diesem Prozesse ja gar nicht unterziehen; wie er ist, kann er sofort absorbiert werden. Glukose in reinem Zustand mag sogar von vielen als gutes Nahrungsmittel angesehen werden; doch wer der Natur folgen will, wird sich seine eigene Meinung darüber bilden, die mit derjenigen der Glukosefabrikanten nicht ganz übereinstimmen kann. Konservierte Früchte. Alle Arten süß eingemachter Früchte sind in weißem Zucker konserviert. Sogar in natürlichem braunem Zucker eingemacht, wären sie weit entfernt von einem natürlichen Nahrungsmittel; aber der unausgeglichene weiße Zucker verdirbt sie vollständig. In Rohrzucker eingemachte Früchte erzeugen fast immer Gärung, es sei denn, sie werden nur in bescheidenen Mengen genossen. Für die meisten Leute sind sie schwer verdaulich. In viel Zucker eingemachtes Obst ist immer schädlich. In Essigsaucen eingemachte Früchte sind überhaupt keine Früchte mehr und besitzen auch keinen der den Früchten eigenen Nährwert. Über ihre Unnatürlichkeit kann daher kein Zweifel herrschen. 47
Dagegen stehen Früchte, welche durch Dörren, das heißt Wasserentziehung, konserviert wurden, frischen Früchten näher im Wert, wenn das Dörren in der richtigen Art und Weise stattgefunden hat. In gedörrten Früchten ist nicht bloß eine Überfülle an Mineralsalzen vorhanden, sondern auch ein großer Reichtum an Energie in dem überaus reichhaltigen Fruchtzuckervorrat. Dieser Fruchtzucker ist ein Monosaccharid und wird ohne Umsetzung durch die Säfte des Verdauungskanals verarbeitet. Er wird unmittelbar absorbiert und dient daher dem Körper sofort als Quelle von Lebensenergie, ohne die Körperkräfte zur Vorbereitung der Oxydation in Anspruch zu nehmen, ein Vorgang, durch den in vielen Fällen potentielle Energie erst in verfügbare verwandelt werden muß. Früchte haben auch, ob in gedörrtem oder in frischem Zustand genossen, darmregulierende Wirkung und verhindern auf diese Weise die Bildung von Fäulnis und Verwesung im Verdauungskanal. Getrocknete Früchte kommen gleich nach den rohen Früchten. Die besten getrockneten Früchte sind die an der Sonne gedörrten, denn sie erhalten durch die Aufnahme gewisser Energieschwingungen der Sonnenstrahlen den Impuls zur Belebung. Jedoch auch die in Dörranlagen getrockneten Früchte haben ausgesprochenen Nährwert; ihnen ist bloß das Wasser entzogen worden, und wenn natürliches rohes Obst nicht zu haben ist, können sie ausgezeichnete Dienste leisten. Werden aber die Früchte während der Trocknung geschwefelt oder mit andern Chemikalien behandelt, was so oft geschieht, damit sie ihre Farbe beibehalten, so verändern sie sich selbstverständlich zu ganz unnatürlicher Nahrung. In Büchsen oder Flaschen mit wenig oder keinem Zucker eingemachtes Obst ist viel wertvoller als solches, das zu Marmelade, Gelee, Fruchtsaft usw. in stark zuckerigen Lösungen verarbeitet wurde. Derartiges Obst büßt zwar durch das Schälen und das Erhitzen einen Teil seines Vollwertes ein, aber es wäre unwahr, zu behaupten, daß in der richtigen Weise eingemachte Früchte in irgendeiner Beziehung schädlich seien. Der Genuß wirkt weniger gesundheitsfördernd als der Genuß der natürlichen Früchte; aber sie sind sehr viel wertvollere Kost als süß konserviertes Obst in allen Formen. Vor allem haben sie nicht den Nachteil der Verbindung mit einer Menge Rohrzucker. Wenn nun aber auch solche Früchte in Zeiten, wo natürliches Obst nicht zu haben ist, an dessen Stelle treten können, darf man doch nie vergessen, daß sie in Wirklichkeit kein vollwertiger Ersatz für natürliches Obst sind. Diese Feststellung gilt für alle Nahrungsmittel, die in irgendeiner Weise behandelt werden. Eingemachtes Gemüse. Beim Einmachen von Gemüsen wird meist die Einwirkung von Hitze zu Hilfe genommen. Der größte Nachteil solcher Methoden ist, daß dabei die Vitamine leicht zerstört werden. Freilich besteht noch ein anderer Nachteil. Je rascher nämlich eine Speise verzehrt wird, nachdem sie gekocht worden ist, desto gesünder ist ihre Wirkung; denn die Speisen verlieren nach dem Kochen ihre Lebenskraft spendende Wirkung bald. Alle Nahrungsmittel, die lange aufbewahrt werden, büßen, auch wenn sie nicht gekocht worden sind, an Kraftwirkung ein. Altes Obst und Gemüse, altes Fleisch und alte Eier sind weniger wertvolle Nahrung als die gleichen Lebensmittel im frischen Zustand. Ich will damit nicht sagen, daß sie die Fähigkeit, Knochen und Gewebe aufzubauen, verlieren; aber sie haben keine Kraft mehr, den Körper zu beleben, ihn mit Widerstandskraft auszustatten. Büchsengemüse erscheinen zwar äußerlich noch als natürliche Nahrungsmittel, enthalten aber dennoch 48
keine Naturkraft mehr. Die unnatürlichste Art der Gemüsekonservierung ist das Einpökeln. Wie die Essigfrüchte keine Früchte mehr sind, so kann auch das eingepökelte Gemüse nicht als wirkliches Gemüse angesehen werden, weil es im Körper nicht mehr als Gemüse wirkt. Beim Einpökeln tritt ja noch ein anderer Bestandteil zur Kochhitze hinzu: der Essig, durch den die Verdaulichkeit und der Nährwert schwer beeinträchtigt werden. Frisches Gemüse. Dies wäre ein lohnendes Thema für ein ganzes Buch. Viele Kapitel könnte ich füllen mit der Beschreibung der Verfahren, durch welche die zivilisierte Menschheit dieses wertvollste aller Nahrungsmittel verdirbt. Leider kann ich nur allgemein auf diese Verkehrtheiten hinweisen. Ich hoffe jedoch, daß es mir gelingt, den Leser davon zu überzeugen, wie außerordentlich wichtig es ist, aufzuwachen und sich abzuwenden von den falschen Auffassungen und Methoden einer unwissenden Vergangenheit. Die Gemüse sind ganz bedeutende Energiespender, eine natürliche Quelle kräftiger Belebung des menschlichen Körpers. Besonders vorteilhaft ist, daß sie auch beim Lagern verhältnismäßig lange ihre lebenspendende Kraft beibehalten. Und doch bezieht der Kulturmensch nur geringe Lebensimpulse aus dieser großen natürlichen Quelle. Warum? Weil man die Gemüse bei der Zubereitung verdirbt. Es ist eine Tatsache, daß die meisten in unseren Küchen zubereiteten Gemüse zu stark gekocht — und gewöhnlich verkocht werden. „Gute Köche“ und „gute Köchinnen“ sind meistens überzeugt, daß Gemüse gekocht werden müssen, bis sie weich sind, und bei blättrigen Gemüsen bedeutet dies das Stadium, wo sie beinahe ihre ganze ursprüngliche Farbe verloren haben. Kluge Leute würden diese Dummheit nicht begehen, wenn sie wüßten, daß die Gemüse desto lebensärmer werden, je länger man sie kocht. Auch würde sie niemand so weich gekocht verzehren, wenn es allgemeiner bekannt wäre, wie wertvoll für die Verdauung und die Erhaltung der Zähne das Kauen der weniger durchgekochten oder rohen Gemüse ist. Und davon abgesehen: wie sehr, wie vollständig zerstört so langes Kochen den feinen Geschmack und das zarte, den Gemüsen eigene Aroma! So entwertend und daher töricht das allgemein übliche lange Kochen der Gemüse aber auch ist, es stellt doch erst die letzte der Maßnahmen zur Nahrungsentwertung dar, deren sich „gute Köche“ schuldig machen. „Gute Köche“ waschen zuerst das Gemüse sehr gründlich. Das geschieht auch ganz zu Recht, vorausgesetzt, daß es bei einem bloßen Abwaschen bleibt. Aber oft läßt man die Gemüse lange Zeit im Wasser liegen und wäscht sie dann noch gründlich durch. Ich habe bereits erläutert, welchen Wert die mineralischen Salze für die Übertragung der Lebenskraft auf den menschlichen Körper und daher für dessen Gesundheit haben. Wenn man nun die Gemüse in der oben beschriebenen Art einweicht, so wird ein beträchtlicher Teil der wertvollsten Mineralsalze herausgeschwemmt, und ebenso ein Teil des zarten Aromas, das an diese Salze gebunden ist. Der „gute Koch“ geht aber noch weiter. Er — oder sie — gießt das Wasser, in dem das Gemüse gekocht worden ist, unfehlbar in den Schüttstein. Die „allerbesten Köche“ tun sogar noch mehr: Sie kochen die Gemüse zweimal in Wasser und gießen nach jedem Kochen das Wasser sorgfältig ab. Und die „wirklich Sachverständigen“ fügen dem Kochwasser stets ein wenig Salz und eine Messerspitze Soda bei. Wie viele mineralische Salze, Vitamine und andere energiespendende Stoffe enthalten die Gemüse nach all diesen Prozeduren der „Fachleute“ noch? Ich will es 49
glatt heraussagen, für den Fall, daß jemand die Antwort nicht selber finden sollte: keine. Der Leser könnte seine Familie ebensogut mit Sägemehl füttern. Eine weitere schlechte Angewohnheit der „guten Köche“ besteht darin, fettes Fleisch mit gewissen Gemüsen wie Kohl, Rosenkohl usw. zusammen zu kochen. Auch den Brauch, die Wurzelgemüse wie Rüben, Karotten, Runkelrüben und andere dick zu schälen, darf ich nicht verschweigen. Das ist zwar schlechte Praktik; sie kann aber hingehen, wenn die Gemüse nicht allzu „gut“ durchgekocht werden; denn im Gegensatz zu den Körnerfrüchten sind Salze und Zellulose in den Wurzelgemüsen in der Regel gleichmäßig durch die ganze Substanz der Wurzel verteilt, abgesehen von wenigen Ausnahmen, zu denen die Kartoffel gehört. Wie sollen denn aber Gemüse gekocht werden? Ich antworte, daß die meisten aus den schon angegebenen Gründen überhaupt nicht gekocht werden sollten. Das Kochen zerstört ihre lebenspendenden Kräfte, wenn auch nicht immer die körperaufbauenden Eigenschaften. Gekochte Gemüse sind tote Gemüse. Ungekochte Gemüse sind Energieträger und Lebenspender, bis sie in Zersetzung übergehen. Diese lebenspendende Beschaffenheit wird man begreifen können, wenn man bedenkt, wie lange Zeit ungekochtes Gemüse sich „hält“, wie rasch dagegen gekochtes verdirbt. Die Bakterien der Zersetzung können die lebende Gemüsepflanze nur schwer angreifen; die gekochte jedoch, aus der das Leben mit seiner Kraft entflohen ist, bietet dem Angriff der Gärungs- und Fäulnismikroben freies Feld. Bauen wir unseren Körper aus diesen entwerteten, vitaminarmen und naturwidrigen Nahrungsmitteln auf, aus gekochten Gemüsen, denen die Minerale, die Salze und die Lebenskräfte entzogen wurden, die von Soda durchtränkt und von Hitze zerstört sind, so bedeutet das geradezu eine Einladung an die Bakterien, uns zu überfallen. Leider wird wohl ein Menschenalter vergehen, bevor diese Wahrheiten über Lebenskraft spendende Nahrung in den Köpfen der Kulturmenschen Eingang zu finden beginnen. Bis dahin werden die meisten von uns gekochtes, totes Gemüse essen. Welch trostreiche und erfreuliche Aussicht! Wenn das Gemüse aber schon gekocht sein muß, so sollte es wenigstens richtig gekocht werden — sofern man überhaupt bei einer verkehrten Handlung von einer richtigen Art der Ausführung sprechen kann. Es gibt freilich Gemüse, welche gekocht werden müssen — aber auch sie dürfen niemals stark gekocht werden. Die richtige Art des Kochens für alle Gemüse ist Backen oder Dünsten. Weder Butter noch Fett noch Salz noch Würze dürfen während des Kochens hinzugefügt werden. Kartoffeln. Der Kartoffel müssen wir als Hauptnährstoff nach den Körnerfrüchten einen besonderen Abschnitt einräumen. Die Kartoffel besteht zum großen Teil aus Stärke. Ihre durchschnittliche Zusammensetzung ist folgende: 2½ % Eiweißstoffe, ½ % Mineralstoffe, 20% Kohlehydrate (hauptsächlich Stärke) und 76 % Wasser. Aus dieser ungefähren Analyse geht hervor, daß die Kartoffel eine ungewöhnlich große Menge Mineralstoffe enthält. Das allein schon ist von außerordentlicher Bedeutung; besonders wichtig ist jedoch, daß diese Mineralstoffe in der Hauptsache aus Natrium, Kalium, Kalzium und Eisen bestehen, alles Alkalien oder Basen, und zwar — abgesehen vom Kalzium — die für die Erhaltung unserer Gesundheit wichtigsten Basen. Deshalb ist die Kartoffel das einzige stärkereiche, von den zivilisierten Völkern benützte Nahrungsmittel, welches dem Blut und den Geweben einen Überschuß an basischen Mineralstoffen gegenüber den Säuremineralien liefert. Sie hat für ein so 50
stärkereiches Nahrungsmittel eine ungewöhnlich gute chemische Beziehung zum Blut und ist eine erstklassige Energiequelle. Sie ist auch eine der verhältnismäßig seltenen Quellen für das Vitamin C, jenen wichtigen Wirkstoff, der Skorbut verhütet. Kartoffeln enthalten zum mindesten zwei Drittel mehr Eisen — Pfund gegen Pfund gewogen — als die teuerste Sorte Rosinen, und Rosinen werden ja ihres Eisengehalts wegen allgemein geschätzt. Stellt man auch noch die Preise einander gegenüber, so müssen Kartoffeln als die weitaus billigste Quelle für das vom menschlichen Körper benötigte Eisen gelten. Ihr Eiweißgehalt ist zwar relativ gering, jedoch von höchster Qualität. Alle diese wertvollen Eigenschaften können sich aber nur entfalten, wenn die Kartoffel richtig zubereitet wird, das heißt, wenn man ihre natürlichen Säfte zusammenhält, um sie mitverzehren zu können. Das ist bloß dann der Fall, wenn man die Kartoffeln in ihrer Schale röstet, brät oder kocht. Niemals dürfen sie wiederholt aufgewärmt werden. Außerdem geht aus allem, was schon bei den anderen Nahrungsmitteln gesagt worden ist, klar hervor, daß die Kartoffel ihre belebende und energiespendende Wirkung um so besser ausüben kann, je weniger sie über den frühesten Zustand der Schmackhaftigkeit hinaus gekocht wird. Was aber machen unsere Köche und Köchinnen aus diesem wertvollen Nährmittel? Fast immer werden die Kartoffeln geschält, und dann läßt man sie meist längere Zeit, manchmal einen halben Tag lang, in Wasser liegen, gießt es aber ab, bevor die Kartoffeln aufs Feuer kommen. So gehen die wertvollen Mineralsalze verloren, denn sie lösen sich im Wasser auf und werden mit ihm fortgegossen. Schließlich kocht man die Kartoffeln in Salzwasser, bis sie „mehlig“ sind, und gießt dann auch das Kochwasser ab. Was geht mit dem Wasser verloren? Nur Wasser? 0 nein: die Gesundheit läuft sprudelnd und gurgelnd in Form von Vitamin C, Kalzium, Natrium, Eisen, etwas Chlor, Phosphor, Magnesium, Schwefel und anderem mehr durchs Schüttsteinloch hinunter. Auf diese Weise gekochte Kartoffeln befinden sich schon in einem denkbar unnatürlichen Zustand. Nun werden sie aber oft noch in heißem Fett gebraten und mit Pfeffer und Salz schmackhaft gemacht, manchmal auch mit Butter vermischt und zu Brei gestoßen. Häufig schneidet man sie auch in Scheiben und Stäbchen und bäckt sie im kochenden Fett als pommes frites, Nie wird ein guter Koch auf die Idee kommen, sie einfach in der Schale zu kochen oder zu backen, denn das wäre viel zu simpel. Was ein Beweis mehr für meine Behauptung ist, daß die zivilisierte Welt den richtigen Weg verlassen hat, um möglichst unnatürlich zu leben. Selbstverständlich wäre diese Tatsache von geringer Bedeutung, wenn unnatürlich leben (das heißt den Naturgesetzen zuwider leben) keine bösen Folgen hätte. Aber gibt es denn irgendeine noch so kleine, gegen die Absichten der Natur ausgeführte Handlung, die ohne schädliche Folgen bleibt? Wer kann auch nur ein einziges solches Beispiel nennen? Die Frage beantwortet sich schon, indem man sie stellt, und kein vernünftiger Mensch wird sie überhaupt ernstlich stellen. Honig. Was braucht der Mensch künstlichen, raffinierten, konzentrierten Zucker, um sein Bedürfnis nach Süßigkeit zu befriedigen, wo wir doch im Honig einen durchaus natürlichen Süßstoff besitzen? Der Honig war seit den grauen Anfängen der uns bekannten Menschheitsgeschichte und wahrscheinlich schon unendliche Zeiten vorher der einzige Süßstoff; unsere Zuckergewohnheit ist erst 7 bis 12 Jahrzehnte alt. 51
Seither genügt uns der Honig, dieser köstlichste aller Süßstoffe, dieses edle Erzeugnis der Natur, nicht mehr; in lächerlicher Gier verlangen wir nach unnatürlichem Sirup, nach naturwidrigen Zuckersäften und gezuckerten Speisen. Die Insekten sind klüger als wir. Honig ist reich an Zuckereigenschaften, sehr reich (ungefähr 25 %) an Mineralsalzen, reich an Gummistoffen, Harzen und aromatischen Eigenschaften. Er ist ein natürliches Monosaccharid. Kaum im Magen aufgenommen, ist er bereit, augenblicklich ins Blut überzugehen, ohne daß die Verdauungssäfte dabei chemische Umsetzungsarbeit zu leisten hätten. Er reizt die Schleimhäute eines normalen Magens nicht. Er wirkt leicht abführend. Er neigt nicht zur Gärung und auch nicht dazu, Gärung in anderen Nahrungsmitteln hervorzurufen, wie es der weiße Zucker tut. Freilich ist der Honig so wohlschmeckend, daß man leicht in Versuchung gerät, zuviel davon zu verzehren. Süße Früchte. Eine weitere ausgiebige und köstliche Quelle von Süßstoffen zur Befriedigung des Bedürfnisses nach Zuckernahrung (dessen allgemeines Vorhandensein physiologisch begründet sein muß) bieten die von Natur süßen Früchte, die Datteln, Feigen, Rosinen usw., die alle viel natürlichen Zucker enthalten, ein Monosaccharid, das keiner Verdauung noch Umsetzung bedarf. Diese Früchte nähren den Körper, wie sie ihn auch kräftigen, und ihr Genuß trägt dazu bei, der Fäulnis anderer Speisen im Darme vorzubeugen; zu gleicher Zeit helfen sie den Darm entleeren. Frisches Obst. Frisches Obst ist von allen Nahrungsmitteln, die wir kennen, der beste Basenbildner für Blut und Körperl-gewebe, gerade wie der raffinierte Zucker unter allen menschlichen Nahrungsstoffen zu den größten Säurebildnern gehört. Frische Früchte sind auch eine der besten Quellen des sehr unbeständigen Vitamins C, das dem Skorbut und einer ganzen Reihe von ähnlichen, aber weniger leicht erkennbaren Beschwerden — wahrscheinlich frühen und langsam fortschreitenden Formen des Skorbuts — entgegenwirkt. Wenn wir uns überessen oder zwischen den Mahlzeiten essen, wenn wir ausgiebig Fleisch, Eier, Käse, Fisch und andere stark eiweißhaltige Kost zu uns nehmen, vermehren sich die Fäulnisbakterien unter dem im Verdauungskanal enthaltenen Nahrungsabfall außerordentlich rasch. Die von diesen Bakterien erzeugten Zersetzungsprodukte werden vom Blute übernommen und bilden die wichtigste Ursache für die Erscheinungen der Selbstvergiftung. Frische Früchte aber haben die Kraft, die Fäulnisbakterien abzutöten und auf diese Weise die Selbstvergiftung zu verhüten. Frische säuerliche Früchte besitzen diese Kraft in höherem Grade als süße oder als getrocknete, die sie jedoch auch in einem gewissen Maße aufweisen. Jeder Fleischesser sollte sich daher zum mindesten für einen Tag wöchentlich — besser noch mehrere Tage hintereinander — auf reine Obstdiät setzen, um das Einnisten von Krankheiten hinauszuschieben. Aber welcher zivilisierte Mensch, außer etwa einem verschrobenen Sonderling, wird Obst in einer anderen Gestalt als den säurebildenden Konserven zur menschlichen Nahrung rechnen? Und doch muß ein Mensch, der lernen will, nie mehr krank zu sein, gerade das Gegenteil einsehen. Früchte können zarte Gaumenfreuden bereiten, aber das ist nicht ihre Bestimmung im Plane der Natur. Sie sollen nicht erst 52
am Ende einer Mahlzeit genossen werden und den bereits überfüllten Magen noch weiter füllen, und man soll sie eigentlich auch nicht zwischen den Mahlzeiten essen. Die frischen Früchte gehören zu unseren wichtigsten und besten Nahrungsmitteln und müssen als wesentlicher Teil mancher ganzen Mahlzeit verwendet werden, eigentlich als ihr Hauptbestandteil. Wird aber je zwischen den Mahlzeiten gegessen, so sollen es doch Früchte sein; nur sollte man sie nicht eine Stunde vor oder zwei Stunden nach einem Mahl verzehren, besonders nicht, wenn die Mahlzeit stärkehaltig war. Nüsse, Mandeln usw. Wer würde diese Früchte je als normalen Bestandteil einer Mahlzeit ansehen? 0 ja, gelegentlich als Nachtisch, wenn der Magen schon bis zur Sättigung gefüllt ist. Aber selbst dann werden sie nicht als Nährmittel angesehen; sie gelten höchstens als netter kleiner Abschluß einer Mahlzeit. Und doch gehören sie zu den vollkommensten Nahrungsstoffen der Natur. Warum verweigert der zivilisierte Mensch ihnen dann den Platz, der ihnen unter den körperaufbauenden Stoffen zukommt? Warum weist er ihnen eine körperzerstörende Rolle zu, indem er sie nach allem übrigen Essen in den Magen stopft, wenn wenig Aussicht mehr besteht, daß sie überhaupt noch verdaut werden können?
5. KAPITEL Falsche Ernährungsgewohnheiten Man könnte die Zivilisation freilich beglückwünschen, wenn die künstliche Zubereitung der natürlichen Nahrungsmittel die einzige Übertretung der Ernährungsgesetze bilden würde. Aber zu dieser Unnatürlichkeit gesellen sich betrüblicherweise noch andere ungemein törichte Gewohnheiten, die an sich schon genügen, den menschlichen Körper schwer zu schädigen. Es ist zwar unmöglich, alle diese Unsitten im einzelnen zu betrachten; aber ich kann es mir nicht versagen, wenigstens einige davon, die auffallendsten, kurz zu besprechen. Da ist unter anderem das Würzen der Speisen! Sind Würzen zuträgliche Nahrungsbestandteile? Sie haben mit Nahrung überhaupt nichts zu tun. Und ist es dem Menschen natürlich, seine Speisen zu würzen? Gib einem kleinen Kind oder sogar einem gesund entwickelten, größeren Kinde irgendeine Würze zu kosten und 53
beobachte, wie es sich dann verhält. Mehr noch: gib einem einfach lebenden Menschen, dessen Begriffe über die Ernährung nicht verfälscht worden sind von dem Bedürfnis, die Geschenke der Natur fortwährend aus eigener Machtvollkommenheit zu „verbessern“, irgendeine pikante Speisebeilage und beobachte sein Verhalten. Nach einigen solchen Versuchen wird niemand mehr behaupten wollen, daß gewürzte Speisen natürlich sind. Sie befriedigen kein natürliches physiologisches Bedürfnis. Der Wunsch nach Würze in den Speisen liegt nicht in unserer Natur; die Gewohnheit der gewürzten Speisen ist vielmehr eine erworbene Gewohnheit der zivilisierten Menschheit. Als solche muß sie eine unnatürliche Gewohnheit sein. Das wird durch die Tatsache bestätigt, daß kein Tier dazu gebracht werden kann, scharf gewürztes Futter zu fressen. Einige dieser Würzen regen die motorischen Funktionen des Magens an und veranlassen ihn, sich rascher zu entleeren; aber sie verringern die Sekretionskraft der Magendrüsen. Andere Würzen beeinträchtigen zu gleicher Zeit die Entleerungs- und die Sekretionsfunktionen des Magens. Alle Würzen erzeugen durch ihre Reizeigenschaften leicht Entzündungszustände der Magenschleimwände. Diesen Nachteilen der Würzen steht kein einziger Vorteil zum Ausgleich gegenüber. Fast alle Personen, die an Magengeschwüren und Magenkrebs leiden, sind Liebhaber pikanter Speisen. Sie sollten allerdings diesen Ausgang voraussehen, denn es ist bekannt, daß lokale und beständige Reizung eine der Grundursachen der Entstehung von Krebsgeschwülsten ist. Es gibt ein Gesetz, das uns befähigt, zu verstehen. warum letzten Endes alle Würzen schädlich sein müssen, das Gesetz der primären und der sekundären Wirkungen der Kräfte, der Wirkung und ihrer Gegenwirkung. Auf jede primäre Wirkung oder Kraftentfaltung folgt die sekundäre, der Rückschlag, die Gegenwirkung, und die Gegenwirkung ist länger ausgedehnt als die ursprüngliche Wirkung. Dieses Gesetz kann jeder selbst auf folgende, sehr einfache, aber wirksame Weise überprüfen: Nach einer endlos langen Wanderung erreicht man müde und jeder weiteren Anstrengung abgeneigt den Fuß eines hohen, steilen Hügels, vor dessen Anblick in diesem lahmen Zustande der Mut und die Kräfte versagen. Die natürliche Reaktion würde darin bestehen, daß man sich mit einem tiefen Seufzer der Erleichterung anschickt, seine müden Glieder auszustrecken. In diesem Augenblick soll als Anreger der ermatteten Nerven- und Muskelkräfte ein hilfreicher „Freund“ erscheinen, der uns mit der Peitsche in einer Rekordzeit den ganzen Hügel hinauf bis zum Gipfel jagt. Dann ist man freilich oben; aber der Zauber des Atemschöpfens, das einen unten am Fuß des Hügels erfrischt und befähigt hätte, die Anhöhe ohne Überanstrengung zu erreichen, stellt sich jetzt nicht ein. Im Gegenteil, tagelang wird man die Übermüdung dieses erzwungenen, raschen Aufstieges noch spüren, was deutlich beweist, daß die Gegenwirkung von länger anhaltender Dauer ist als die vorherige Wirkung. Das gleiche gilt für alle künstlichen Reizmittel; ihre Endwirkung ist herabdrückend und lähmend. Auch die Umkehrung ist wahr. Künstliche Beruhigungsmittel wirken letzten Endes unweigerlich aufreizend, wenn sie längere Zeit eingenommen werden. Ein lange mit Beruhigungsmitteln behandelter Patient wird meistens hoffnungslos nervös. Wer das in den „Grundgesetzen“ (s. S. 31 ff.) erwähnte. Gesetz begriffen hat, nach dem eine gestörte Funktion allmählich ganz zerstört wird, kann nichts anderes erwarten. Gastrische oder Magensekretion ist eine normale Funktion. Wenn sie allein durch 54
natürliche Anregungen, die freilich nur von natürlicher Nahrung ausgehen, zur Tätigkeit gereizt wird, dann wird diese Tätigkeit nie versagen. Das ist eine unbestreitbare Tatsache. Eine bekannte Autorität auf dem Gebiete der Ernährungskunde, Dr. Kellogg, sagt in bezug auf die Würzen: „Der Mensch ist das einzige animalische Wesen, das überlegten Selbstmord durch Selbstvergiftung verübt, indem er seine Nahrung verdirbt, bevor er sie einnimmt. Der durchschnittliche Mensch leidet unter chronischer Vergiftung. Er nimmt Gifte verschiedenster Herkunft zu sich, die in ihrer Anhäufung pro Kopf eine Dosis von mehr als 3,25 Gramm alle vierundzwanzig Stunden für jeden Mann, jede Frau und jedes Kind in den Vereinigten Staaten ergeben. Er beginnt den Tag mit einer Dosis Gift in Form von Kaffee, um sich aufzuwecken. Nach dem Frühstück raucht er eine Zigarre, um Magen und Nerven zu beruhigen. Vor dem Mittagsmahl stürzt er einen Whisky oder einen Aperitif hinunter, um seinen Appetit anzuregen. Später findet er eine Tasse Tee notwendig, die ihn aus der Benommenheit des frühen Nachmittags wecken soll, und am Abend braucht er ein Betäubungsmittel, um einschlafen zu können, am Morgen darauf wohl noch ein abführendes Getränk. Zu all diesen Giften kommt noch die absichtliche Verfälschung seiner Kost durch Beimischung toxischer Substanzen, Pflanzenabsonderungen, welche durch ihren scharfen, beißenden und brennenden Geschmack allein schon von der Natur als Giftpflanzen gekennzeichnet sind und dem Menschen nicht bekommen. Diese Produkte, die nur ihrer geschmackverbessernden Eigenschaft wegen benützt werden, haben keinen Nährwert und heißen Würzen.“ Noch viel schlimmer als die Würzen wirken aber die Getränke unseres modernen Lebens. Finden wir — vom Menschen abgesehen — in der ganzen Schöpfung auch nur ein einziges Wesen, das ein natürliches Produkt verändert, um daraus ein Getränk zu bereiten? Die Frage ist bald beantwortet. Das natürliche Getränk des Tieres ist Wasser. Milch könnte man vielleicht noch als natürliches Getränk ansehen, aber in Wirklichkeit ist Milch eine Nahrung. Das gleiche kann vom Blute gesagt werden. Es gibt gewisse fleischfressende Tiere, von denen man erzählt, daß sie ihr Opfer bloß töten, um sein Blut zu trinken. Aber bei näherer Untersuchung finden wir heraus, daß dieser Trunk für das Tier eine Mahlzeit war. Es bleibt also wahr, daß für alle Tiere Wasser das einzige natürliche Getränk ist. Und was trinkt der Mensch, der zivilisierte Mensch? Ich glaube fast, es wäre leichter festzustellen, was wir nicht trinken. Die hauptsächlichsten Getränke lassen sich jedoch immer hin aufzählen: Wasser, Tee, Kaffee, Kakao, Schokolade, Limonaden, Sodawassermischungen, Bier, Wein, Schnaps und Liköre. Suchen wir aus dieser Reihe die natürlichen Produkte heraus. Da steht zuerst Wasser, — ohne Zweifel eine natürliche Flüssigkeit. Damit ist's aber schon zu Ende — es folgt Tee. Tee ist ein Aufguß auf getrocknete Blätter einer asiatischen Pflanze. Ist ein Aufguß ein Naturprodukt? Nein! Dann ist also Tee auf keinen Fall ein natürliches Getränk. Menschliche Künstelei hat hier ein natürliches Produkt in ein Genußmittel umgewandelt. Ein Aufguß zieht niemals alle natürlichen Bestandteile und Säfte aus der Substanz; überdies können einige der ausgezogenen Säfte schädlicher Natur sein. Beim Tee ist dies der Fall. Übergießt man 55
Teeblätter mit kochendem Wasser, so wird ein giftiges Alkaloid, das Tein (identisch mit Koffein) und eine zusammenziehende Substanz, das Tannin (Gerbsäure), herausgezogen, und wer Tee genießt, trinkt damit 15 bis 23 Prozent einer Flüssigkeit, die herb und zusammenziehend auf die Drüsen der Magensekretion wirkt. Auch durch kurzes Ziehenlassen vermeidet man die Entstehung dieser schädlichen Extrakte nicht, obwohl viele das glauben. Und der Kaffee! Ist Kaffee ein natürliches Getränk? Geröstete und gemahlene Kaffeebohnen werden beliebig lange Zeit mit Wasser gekocht; hernach wird die so erhaltene Flüssigkeit gesiebt. Das Rösten und Kochen kann aber der Natürlichkeit dieses Getränkes schwerlich dienen. Schon die rohen Bohnen enthalten Mengen (durchschnittlich 1½ %) des Alkaloids Koffein, das der medizinischen Wissenschaft als kräftig wirkendes Gift bekannt ist. Außerdem enthält die Rohbohne bis zu 6 Prozent Tannin (Gerbsäure), da sich durch das Rösten in die Gerbstoffe Katechu und Pyrogallol verwandelt, die nach dem Ausspruch einer ärztlichen Autorität für „giftiger als Karbolsäure“ gelten müssen. Als Folge des Röstens entstehen überdies noch mehrere andere Giftstoffe, die sogenannten Produkte unvollkommener Verbrennung, wie Kreosot, Pyridin usw. Aber das stärkste Gift im Kaffee ist das Koffein. Die anderen Gifte lassen wir beiseite und sagen davon bloß so viel, daß sie, während eine Tasse Kaffee niemanden töten kann, doch eine kumulative (anhäufende) Wirkung haben, welche sich früher oder später unweigerlich bemerkbar macht. Das kann weder geleugnet noch vermieden werden. Das Koffein jedoch wartet nicht lange, um den Kaffeetrinker mit den Folgen seiner Unzuträglichkeit zu beglücken. Der Kaffeetrinker fällt bald der Kaffeegewohnheit anheim; er braucht den Kaffee. Er braucht eine Stärkung, und der Kaffee ist eine solche. Er ist nervös, er kann sich nicht konzentrieren, bis er nicht seine Ankurbelung in Form eines kräftigen Kaffeetrunkes erhalten hat. Die Gewohnheit, sich durch Getränke künstlich anzuregen oder zu betäuben, erschöpft die Nervengewebe rasch teilweise und schließlich ganz. Wir wissen aber, daß nur natürlich angeregte Organe normal arbeiten können, während unnatürlich angeregte Funktionen, Organe oder Teile des Körpers nach und nach ausgeschaltet und zerstört werden. Welchen Unterschied macht es, ob man Koffein aus einem chemischen Laboratorium oder aus der täglichen Kanne Kaffee bezieht und in sein Blut aufnimmt? Es ist dasselbe Reizgift. „Ja, aber ich merke doch, daß ich diese Anregung brauche; ich bin ein ganz anderer Mensch, wenn ich eine Tasse Kaffee getrunken habe.“ Diese oft gehörte Äußerung bildet den besten Beweis dafür, daß der Sprechende dem Kaffee verfallen ist. Wenn man eine Pfeife Tabak oder eine Zigarette oder einen Schluck Schnaps oder eine Morphiumspritze oder eine Tasse Tee oder Kaffee braucht, so ist man einem Rauschgift verfallen. Und dieses „Bedürfnis“ ist ein klares Symptom dafür, daß das Gift sein tödliches Werk begonnen hat. Wer solche Anregungen „braucht“, ist ein anomaler Mensch, und je mehr solche Menschen ihre Nerven mit künstlichen Reizmitteln weiterzwingen, desto anomaler werden sie. Reizgetränke dienen zur Aufpeitschung. Aber im gleichen Verhältnis wie die Nerven zu ihrer Betätigung durch ein künstliches Reizmittel (z. B. das alkaloidisch stark anregend wirkende Koffein aus Tee und Kaffee) angetrieben werden, erschöpfen sie sich, und dann können sie auf einen natürlichen Anreiz nicht mehr reagieren. Diesen Erschöpfungszustand infolge künstlicher Anregung empfindet der Mensch als 56
Unbehagen, Abneigung, Schwäche oder Unfähigkeit und Reizbarkeit, je nach dem Grade der Nervenerschlaffung. Die Unfähigkeit und die Reizbarkeit verschwinden auch nicht eher, als bis der Gewohnheitssünder einer neuen Aufmunterung in Form von Koffein, Kokain oder Morphium teilhaftig geworden ist. Es bedarf nicht vieler Worte, um nachzuweisen, daß diese unnatürlichen Reizgetränke in keiner Weise dem Aufbau des natürlichen, normalen, gesunden Menschenkörpers zuträglich sein können. Welches ist dann aber wohl ihr Einfluß auf den sich entwickelnden Körper? Wer kann leugnen, daß diese starken Gifte, die die modernen Menschen so allgemein und regelmäßig zu sich nehmen, ihre große Rolle als Ursache der Krankheitszustände in der zivilisierten Welt spielen? Kakao ist mit Tee und Kaffee verwandt; sein alkaloidisches Gift ist Theobromin, das in Goulds medizinischem Wörterbuch als „ein dem Koffein und dem Xanthin nahe verwandtes Alkaloid“ definiert wird. Dr. Kellogg gibt den Koffeingehalt verschiedener gebräuchlicher Getränke in folgenden Prozentsätzen an: Kakao Koka-Kola Kaffee (gerösteter) Kola Maté Schwarztee
1,00 % 1,00 bis 1,2 % 0,75 bis 2,05 % 2,00 % 1,115 % 1,35 bis 1,75%
Was ich über Tee und Kaffee gesagt habe, gilt auch für die übrigen oben aufgezählten gifthaltigen Getränke. Es ließe sich noch so vieles gegen ihren häufigen Gebrauch sagen, daß man aus reiner Bescheidenheit darauf verzichten muß, um den Leser nicht zu langweilen. Sind aber vielleicht Sodawassermischungen und Limonaden natürliche Getränke? Leider ebensowenig. Wenn man bis zu einem gewissen Grade von Unterschieden in der Unnatürlichkeit der unnatürlichen Dinge sprechen kann, dann sind Sodawassermischungen in der Regel noch unnatürlicher als Tee oder Kaffee. Und infolge ihrer allgemeinen Verbreitung und ihres Verbrauchs durch alt und jung greift ihre zerstörende Wirkung noch weiter aus. Diese Behauptung klingt vielleicht manchem merkwürdig; das kommt aber bloß von der allgemeinen Verständnislosigkeit gegenüber dem Gedanken, daß nur natürliche Reizmittel dem Körper die Anregung zu aufbauender Arbeit zu vermitteln vermögen. Dieser Ausgangspunkt allen Fortschritts zum Verständnis des Problems, wie der menschliche Körper aufzubauen ist, um gegen Krankheitseinflüsse durchaus geschützt zu sein, muß sich endlich einmal in den Köpfen der Leute mit der Überzeugungskraft einer grundlegenden Wahrheit festsetzen; dann wird die oben aufgestellte Behauptung von selber erkannt werden. Die Limonaden und Sodawassermischungen sind zum Beispiel verantwortlich für eine starke Zunahme der Verwendung raffinierten Zuckers, unter dessen unmäßigem Verbrauch die zivilisierte Welt ohnehin schon leidet. Außerdem werden diese Getränke fast immer eiskalt genossen, was nichts weniger als bekömmlich ist. Sie enthalten Mischungen aller möglichen, sich nicht miteinander vertragenden und dadurch unverdaulichen Substanzen. Sie werden zu allen Tages- und Nachtzeiten konsumiert, meistens zwischendurch, wenn der Magen ruhen und neue Kräfte für die 57
nächste Mahlzeit sammeln sollte. Sie verderben den Appetit für die natürlichen, körperaufbauenden Speisen und beeinträchtigen die potentiellen Verdauungsfunktionen so sehr, daß die nächste Mahlzeit, sogar wenn man sie richtig und natürlich zusammenstellt, als körperaufbauende Kost nahezu entwertet ist und dadurch mehr schadet als nützt. Der schlimmste Schaden kommt dem Körper aber von dem hohen Prozentsatz an Koffein, den der Mensch in den Sodawassergetränken oft ahnungslos zu sich nimmt, weil viele davon heute Koffeinhaltige Reizmittel wie Kola und Koka-Kola enthalten, die die Nerven noch schädlicher beeinflussen als Kaffee. Und diese Getränke werden mit Vorliebe von Knaben und Mädchen in ihren Entwicklungsjahren getrunken. In Amerika gibt es unendlich viele junge Männer und junge Frauen, die bekennen, daß sie ohne die Anregung eines solchen koffeinhaltigen Reizmittels nicht auskommen können. Und Europa ist auch in dieser Beziehung ein guter Schüler der Neuen Welt. Aufmerksamkeit muß man dem Koffeingehalt auch beim Maté schenken. Das ist ein Tee, der durch Aufguß von heißem Wasser auf die getrockneten Blätter südamerikanischer Stechpalmenarten hergestellt wird. Obwohl der Koffeingehalt nach der Tabelle auf S. 105 groß ist, wird der Maté von vielen Nahrungsreformgeschäften als Koffeinfreies Getränk angepriesen und als Ersatz für Koffeinhaltigen Tee, Kaffee oder Kakao empfohlen. Die Verkäufer sind dabei zweifellos guten Glaubens und von dem, was ihnen die Maté – Lieferanten erzählt haben, überzeugt. In Wirklichkeit steht der Maté, den man auch Yerba-Maté und Paraguaytee nennt, im Koffeingehalt den anderen Reizgetränken der zivilisierten Menschheit nicht nach. Koffein ist aber freilich nicht die einzige, den Lebensprozeß bedrohende und zerstörende Substanz dieser Getränke. Sie enthalten alle noch verschiedene andere schädliche Stoffe, von denen ich hier nur einen nennen will: die Harnsäure. Tausenden ist heutzutage rotes Fleisch oder sogar Fleisch überhaupt vom Arzt verboten, und Tausende essen aus eigener Einsicht keines, weil es Harnsäure (und die ähnlich zusammengesetzten und wirkenden Purinstoffe) enthält. Diese Menschen leiden vielleicht an Nervenentzündungen, Gelenkentzündungen oder anderen durch die Harnsäure verursachten Krankheiten und beschränken sich deshalb sehr einsichtsvoll im Genuß harnsäurehaltigen Fleisches oder verzichten gänzlich darauf. Aber dieselben Leute fahren arglos fort, sich an Tee, Kaffee oder Kakao, oft sogar recht unmäßig, gütlich zu tun. Die hier folgende Liste zeigt deutlich, wie wenig konsequent ein solches Verhalten ist. Harnsäure und Purinstoffe Promille Suppe (mit Knochen zubereitet) . . . . . . . . . 0,08 Suppe (mit Fleisch zubereitet) . . . . . . . . . 0,24 Kraftbrühe für Kranke (acht Stunden gekocht) . . . 1,21 Beefsteak . . . . . . . . . . . . . . . . . 0,22 Lamm (Schlegel vom Rost, kalt) . . . . . . . . 0,26 Kalb (Kotelette) . . . . . . . . . . . . . . 0,60 Schafsleber . . . . . . . . . . . . . . . . . 1,12 Hering (frisch) . . . . . . . . . . . . . . . 0,03 Hering (geräuchert) . . . . . . . . . . . . . 1,11 Bückling . . . . . . . . . . . . . . . . . . 0,38 58
Fleischsaft . Kakao . . . Kaffee . . . Tee . . . .
. . . . . . . .
. . . . . . .. . . .. . .. .
.. . . . . . .
. . . . . . . .
. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
8,62 10,24 12,15 30,38
Welche Dummheit, die Fleischspeisen aus dem Speisezettel wegzulassen und dafür Tee, Kaffee und Kakao weiterzutrinken, die ungefähr 20- bis 170mal soviel Harnsäure und ähnlich zusammengesetzte und wirkende Purinstoffe enthalten. Aber so machen wir es in der Zivilisation. Lange Jahre habe auch ich es so töricht getrieben; deshalb darf ich andere nicht verurteilen, die es ähnlich machen. Ich mußte aber natürlich, bevor ich mich befreien konnte, den Weg ins Freie erst sehen, — und ich sah ihn damals noch nicht; ich versuchte nicht einmal, ihn zu sehen, bis meine Hände so stark zitterten, daß ich die Tasse mit harnsäurereichem, koffeingesättigtem Tee oder Kaffee kaum mehr zum Munde führen konnte und mein verkrüppeltes altes Herz bei jedem Schlage auszusetzen drohte. Nein, ich habe kein Recht, auf irgend jemanden Steine zu werfen! Und nun zu einer weiteren Torheit des modernen Speisesystems. Wie sinnlos ist doch die Zusammensetzung der einzelnen Mahlzeiten! Da kombiniert man zum Beispiel die täglichen Speisezettel aus entwerteten, untereinander meist unvereinbaren Nahrungsmitteln, die ihre völlige und normale Verdauung gegenseitig teils erschweren, teils überhaupt verhindern. Unvereinbar heißt in diesem Zusammenhang, daß solche Speisen entgegengesetzt gearteter Verdauungssäfte bedürfen, um verarbeitet zu werden. Es ist erwiesen, daß eine Speise, die bloß in einem Säuremedium verdaut werden kann, nicht zu gleicher Zeit mit einer anderen Speise, welche nur basischer Beeinflussung zugänglich ist, vom Verdauungsapparat bewältigt wird. Reagiert die eine Speise auf eine alkalische, die andere auf eine saure Verdauungsflüssigkeit, so wird die eine, die sich mit der vorhandenen Flüssigkeit nicht verträgt, sich zersetzen, ungesunde Reize ausüben und allgemein vergiftend wirken, während die andere, durch die Anwesenheit der ersten gestört, auch nur unvollkommen verdaut werden kann und daher in Gärung und Zerfall übergeht, außer in einem besonders kräftigen Magen. Eiweißstoffe werden, soweit der Magen in Betracht kommt, vom Pepsin und der sauren Absonderung der Magendrüsen verdaut. Stärkestoffe können durch diese sauren Magensäfte überhaupt nicht verdaut werden; sie müssen durch tüchtiges Kauen mit dem alkalischen Speichel, der durch die Speicheldrüsen im Mund ausgeschieden wird, gut vermengt werden; die Verdauung geschieht dann während des Kauens und wird bei geeigneten Nahrungsverhältnissen unter dem Einfluß des Speichelenzyms oder Ferments, Ptyalin genannt, mindestens zwei Stunden nach Ankunft im Magen fortgesetzt. Der Ausdruck „geeignete Nahrungsverhältnisse“ bedeutet hier aber unter anderem, daß Stärkenahrung nicht zu gleicher Zeit mit vorwiegend eiweißhaltigen Speisen genossen werden soll. Die Natur hat unsere Verdauungsorgane auf eine wunderbare Art diesem Tatbestand angepaßt. Befindet sich nämlich nur stärkehaltige Nahrung im Magen, so ist kein saurer Magensaft nötig, um sie zu verdauen, und unser Verdauungssystem ist so eingerichtet, daß dann auch nur wenig Magensaft ausgeschieden wird. Der Speichel soll die Stärke verdauen; aber in dem Augenblick, wo er mit der Säure des Magens in Berührung kommt, wird er unfähig, diese Verdauungsarbeit zu leisten; darum hält die 59
Natur so lange mit der Absonderung des Magensaftes zurück; sie geht darauf aus, die stärkereiche Nahrung ganz verdauen zu lassen. Wenn nun aber eiweißreiche Kost wie mageres Fleisch, Fisch, Wildbret, Käse oder Eier in den Magen gelangen, so ist zu deren Verdauung Magensäure unbedingt nötig. In einem solche Falle ist es für die Natur wichtiger, die eiweißreichen als die stärkereichen Nahrungsmittel zu verdauen, denn wenn die eiweißreichen nicht verdaut werden, zersetzen sie sich rasch und verwandeln sich in Gifte. Deshalb wird im Magen beim Eintreffen eiweißreicher Nahrung sofort Magensäure abgesondert, um die Eiweißverdauung zu beschleunigen, und die Stärkeverdauung, die von dem hineingekauten Speichel besorgt wird, muß alsbald abgebrochen werden. In Gegenwart von Magensaft kann sie, wie gesagt, unmöglich weitergehen. Die zivilisierten Menschen essen nun aber beständig sozusagen reine Stärkenahrung mit sozusagen reiner Eiweißnahrung während ein und derselben Mahlzeit, sogar in ein und demselben Bissen. Die Fleischpasteten zum Beispiel sind eine solche Zusammenstellung von fast reinem Eiweiß und reiner Stärke. Die Körnchen dieser Stärke werden beim Kauen ganz in Fett eingehüllt; Eiweiß- und Stärkebestandteile werden im Munde ununterscheidbar miteinander vermengt. Was geschieht dann wohl damit? Werden beide Bestandteile vollkommen verdaut oder wenigstens einer davon? Die Frage ist so naiv, daß man nur darüber lächeln kann. Ja, ich weiß es nur zu gut, Tausende von Kulturmenschen leben in dieser Weise jahraus, jahrein, Tag für Tag, Mahlzeit für Mahlzeit. Aber ich weiß auch, wie die Meute der Krankheiten und Seuchen hinter ihnen herjagt, Krankheiten, die einfachere oder wilde Völker nicht plagen, weil diese Völker sich anders ernähren. Und ich weiß auch, daß alle diese Seuchen und Krankheiten nicht ohne Grund so blühen und gedeihen. Da gibt es zum Beispiel Sandwiches, belegt mit Schinken, Braten, Käse, Eiern; es gibt weißes Brot und Fleisch oder Eier, Fisch oder Käse; all dies wird in hundert Kombinationen bei jeder Mahlzeit verzehrt. In den gleichen Magen werden Kaffee, Tee, Milch, Kakao, Essigfrüchte, pikante Saucen, Würzen, Bratensäfte, Liköre, Kuchen, Puddinge, Pasteten, Nüsse, saure Früchte, eisgekühlte und mit Sodawasser vermischte Getränke gestopft und geschüttet. Man verstehe, daß ich nicht unbedingt alle diese Speisen verurteile. Ich betrachte augenblicklich bloß die Unvereinbarkeit der meisten Speisefolgen, wie sie allgemein Brauch sind. Gibt es einen Mann, der sämtliche Bestandteile einer sogenannten „guten, reichlichen Mahlzeit“ miteinander mischt (genau so, wie sie in einem durchschnittlichen Magen nach einer üppigen Mahlzeit sich vermengen), um dann dieses unmögliche Durcheinander zu verzehren? Er müßte von Sinnen sein. Wenn aber solch ein Gemengsel nicht gegessen werden kann und deshalb niemand daran denkt, es außerhalb des Magens zu mischen und es uns als Speise vorzusetzen — was für Überlegungen und Betrachtungen führen uns dann dazu, diese selbe Vermengung innerhalb des Magens vorzunehmen? In diese Rubrik gehört auch die Gewohnheit, ausgesprochen saure Speisen zusammen mit Stärkenahrung zu verzehren. Wer eine „gute Verdauung“ hat, kann diese Praktik zwar wohl eine Weile betreiben, ohne örtliche Beschwerden zu verspüren, aber gerade die Leute mit der berühmten „guten Verdauung“ leiden oft in späteren Jahren an schwer oder gar nicht zu kurierenden Magenerkrankungen. Noch öfters leiden sie dann aber an ganz anderen Krankheiten, die oberflächlich betrachtet 60
mit dem Verdauungssystem oder mit der Ernährungsweise in gar keinem Zusammenhang stehen, an chronischen Krankheiten, deren Ursachen in Geheimnis gehüllt scheinen, und die daher als „von Gott gesandt“ getragen werden müssen. Saure Grapefrüchte oder Orangen und stärkehaltige Getreidespeisen oder weißes geröstetes Brot werden sehr oft zusammen gegessen. Nach allem, was oben über die Stärkeverdauung durch den Speichel gesagt worden ist, kann man leicht verstehen, daß stärkehaltige Speisen, die mit sauren Früchten zusammen genossen werden, weder im Mund noch im Magen die notwendige sorgfältige Verdauung finden. Die Magensäfte können Stärke eben nicht verarbeiten, und auch der Speichel kann es in Gegenwart von Säuren nicht. Was wird auf diese Weise aus solcher unverdauten Stärke? Ich habe es bereits erklärt und brauche es nicht zu wiederholen. Aber welche Sinnlosigkeit, mit guten Nahrungsmitteln so zu verfahren! Denn Stärkenahrung ist gute Nahrung. Unverdaute Stärkenahrung ist dagegen natürlich nicht gute Nahrung. Wenn sie lange unassimiliert im Verdauungskanal bleibt, so wirkt sie wie Gift *. Wird sie hinuntergeschluckt, ohne zuvor gründlich durchgekaut und mit Speichel vermischt worden zu sein, wird sie zusammen mit stark eiweißhaltiger Kost genossen, wird sie zu gleicher Zeit mit stark saurer Nahrung aufgenommen, so muß sie den Magen fast gänzlich unverdaut passieren, Stärke, die mit anderer, ihre Verdauung hindernder Nahrung in den Magen kommt, verläßt ihn aber erst, wenn die anderen Nährstoffe durch die Magensäfte genügend aufgelöst sind, um aus dem Magen auszutreten. Das dauert gewöhnlich vier bis sechs, manchmal sogar acht Stunden. In solchen Fällen geht die Stärke leicht in Gärung über, und es bilden sich Kohlensäure, Alkohol und organische Säuren. Allerdings zerfallen nicht alle Stärkestoffe auf diese Weise, wenn der Magen kräftig arbeitet und die Verdauung der andern Speisen, die durch seine Säfte verarbeitet werden sollen, rasch vollendet. In solchen Fällen gehen die Nährstoffe mit dem halbflüssigen Speisebrei weiter in den Darm und werden durch die Absonderungen der Bauchspeicheldrüse und der in den Schleimhäuten liegenden Zellen verdaut. *
Die Erfahrung der Bircher-Benner-Schule lehrt, daß diese Unverträglichkeiten, wie jene von sauren Früchten und Stärke, nur bei denaturierter Nahrung und übermäßiger Nahrungszufuhr eine Rolle spielen, aber bei naturnaher, ökonomischer Kost ihre Bedeutung verlieren, insbesondere wenn richtig gekaut wird. Anm. des Herausgebers.
Aber in einem langsam verdauenden Magen — wie ihn die meisten Menschen heute haben — wird unter solchen Umständen nur wenig nicht in Gärung übergegangene Stärke mehr vorhanden sein. Nicht minder unverständig und schädlich ist das gedankenlose, nervös gehetzte Hinunterschlingen der Speisen. Die meisten Menschen verschlucken, was sie essen, mit kaum größerer Aufmerksamkeit, als ein Hund auf einen Bissen Fleisch verwendet, obwohl sie ihre Nahrung zum mindesten mit der gleichen Sorgfalt kauen sollten, die ein Hund einem Knochen zuwendet. Rein aus Stärke bestehende oder auch nur stärkereiche Nahrungsstoffe können, wie wir schon gesehen haben, durch die Magensäfte nicht verdaut werden, sondern nur durch das Ptyalinferment, das mit dem Speichel zusammen abgesondert wird; der Speichel aber kann sich mit der Stärke nur vermischen, wenn er durch gründliches Kauen in die Speisen hineingedrückt wird. Gerade die stärkehaltigen Speisen werden aber in den meisten Fällen verschlungen, 61
ohne daß sie mit dem Speichel überhaupt in Verbindung kommen, außer da und dort beim raschen Durchgang der Speisemasse durch den Mund. Man versuche, sich diese Stärkemengen vorzustellen, wie sie ohne Speichelzusatz in den Magen gelangen und dort nicht verdaut werden können, worauf sie in der feuchten Wärme des von Bakterien wimmelnden Magens vier bis sechs Stunden dem Einfluß des Säuremediums ausgesetzt bleiben. Was wird aus ihnen? Können sie sich in höchstgradige Körperenergie verwandeln? Unter keinen Umständen. Die Stärke hat in solchen Fällen die Neigung, zu gären und sich in Alkohol, organische Säuren und Kohlensäure zu zersetzen. Das sind nun aber just Stoffe, die in keiner Weise Nahrung darstellen, die vielmehr alle die empfindlichen Schleimhäute des Magens reizen und depressive Wirkungen ausüben. Dabei ist dieses hastige Hinunterwürgen die Gewohnheit von vielleicht fünfundneunzig Prozent oder mehr der kultivierten Menschheit, besonders der Amerikaner und Kanadier, die so ungestüm dahinleben, daß sie den Genuß eines beschaulichen Mahles kaum kennen. Zu allen diesen Verkehrtheiten kann sich dann noch die Gefahr der „Übermenge“ gesellen, der Schaden, der verursacht wird, wenn man mehr Speisen verzehrt, als der Körper braucht. Mancher wird fragen, was es einem Körper schaden kann, wenn er mehr Nahrung erhält, als er benötigt? Kann der Körper nicht verwenden, was er braucht, und das übrige zurückweisen? Ja, das versucht er auch. Aber der Körper kann nicht Nahrung zurückweisen und es dabei bewenden lassen. Jede Nahrung, die in den Körper eingeht, muß entweder in ihm zum Aufbau verwendet werden, oder sie muß im Körper verbrannt oder, wenn sie nicht benötigt wird, rasch ausgeschieden werden; sonst schädigt sie den Körper. Der Körper will und kann nicht mehr Aufbaustoffe gebrauchen, als zu seinem Wachstum und zur Instandhaltung seiner Gewebe notwendig sind. Er kann nicht mehr Nahrungsstoffe oxydieren oder verbrennen, als er zur Erhaltung seiner Wärme und Energie benötigt. Was über diese beiden Zwecke hinausgeht, ist die „Übermenge“. Der Überschuß muß als Ballast in Form von Fett aufgespeichert oder als Abfall zum Körper hinausgeworfen werden. Das erfordert aber eine große Anstrengung von seiten der Organe und verbraucht daher eine Menge Körperenergie, denn die Übermenge muß, obwohl sie auf keinen Fall dem Körper zugute kommen und keinem nützlichen Zweck dienen kann, dennoch verdaut, absorbiert, in den Kreislauf geleitet, durch die inneren Organe erlesen werden; ihre Gifte müssen neutralisiert, ihre Kohlehydrate in Leberzucker verwandelt, all ihre Bestandteile durch vielfältige Prozesse hindurchgeführt werden, bis sie in die einfachen Elemente zerlegt sind, wie sie die Körperflüssigkeiten enthalten; hernach muß der Körper sie nochmals aus diesen Flüssigkeiten herausziehen und durch die Nieren, die Leber, die Haut, die Lungen und die in den Schleimhäuten des Darmes enthaltenen Zellen endlich ausscheiden. Dies alles muß geschehen, um die Anhäufung fremder Stoffe im Körper, die ihn schließlich töten würden, zu verhindern. Aber die Anstrengungen, die der Körper und seine Organe machen müssen, um diese Übermengen an Nahrung loszuwerden, nehmen dem Organismus oft mehr Kräfte fort, als ihm durch die Speisen, die er verdauen und assimilieren konnte, zugeführt worden sind. Und das ist noch nicht alles. Die besondere und anhaltende Anstrengung, die auf 62
diese Weise den Organen des Körpers zugemutet wird, damit sie sich der überschüssigen Nahrung erwehren, überanstrengt sie, reizt sie und erschöpft sie. Der Leser möge selber urteilen, wohin solche Überanstrengungen, wenn lebenswichtige Organe sie beständig leisten müssen, auf die Dauer führen werden. Insbesondere möge der Leser versuchen zu entscheiden, welchen Einfluß diese zusätzliche Anstrengung auf Organe haben muß, die nicht genügend ernährt sind, weil ihnen dauernd naturwidrige Nahrung zugeführt wird.
Ungemein wichtig ist sodann die Frage der Verdauung. Die Gewohnheit träger Verdauung hat man „die Mutter der meisten menschlichen Krankheiten“ genannt. Träges Verdauen ist aber im Grunde genommen gar keine Gewohnheit, sondern in Wirklichkeit eine Folge schlechter Gewohnheiten und daher ein Symptom. Daß träge Verdauung eine unnatürliche Erscheinung ist, beweist der Umstand, daß dieses Übel bei den primitiven Völkern durchaus unbekannt ist, ebenso bei den wilden, vom Menschen in keiner Weise beeinflußten Tieren. Wenn trotzdem Verdauungsbeschwerden bei den zivilisierten Menschen zur Gewohnheit geworden sind, so müssen dafür die verschiedensten Ursachen wie Unwissenheit, Nachlässigkeit, Herkommen und Sitte, Prüderie, der Glaube an abführende Drogen und Medizinen und anderes mehr verantwortlich gemacht werden. Unwissenheit besteht in sehr vielen Fällen schon in bezug auf die Tatsache, daß der Darminhalt mindestens ebenso viele Male entleert werden muß, als Mahlzeiten eingenommen werden; geschieht das nicht, so beginnen die im Darm enthaltenen Abfälle sich zu zersetzen, und die Produkte dieser Zersetzung gehen als Gifte ins Blut über. Aus dieser Unwissenheit entsteht die zweite Ursache der Verdauungsbeschwerden: Nachlässigkeit der Frage der Darmentleerung gegenüber. Viele Leute stellen sich die unteren Darmabschnitte als eine Art Reservoir für die nicht verdaubaren und nicht assimilierbaren Nahrungsreste vor, die hier gut aufgehoben sind und ruhig warten können, bis es der Bequemlichkeit oder der Laune des Besitzers paßt, sich dieser Ansammlungen zu entledigen. Auf diese Weise vernachlässigt man die Forderungen des Körpers und überhört sie mit der Zeit ganz und gar. In Wirklichkeit ist die Entleerung des Darmes eine sehr wichtige Körperfunktion, so wichtig und „wesentlich“ wie die Nahrungsaufnahme selber. Wie jede andere Körperfunktion verbessert sie sich in ihrer Leistungsfähigkeit durch regelmäßige Ausübung. Wie jede andere Körperfunktion büßt sie an Präzision und Zuverlässigkeit in dem Maße ein, in dem sie nicht ausgeübt wird; im Verhältnis der Störungen ihres Ablaufs bereitet sich ihre eigene Zerstörung vor. Die Tatsache, daß der Darm den Versuch, sich zu entleeren, bald aufgibt, wenn sein Anreiz überhört oder ihm Widerstand geleistet wird, ist einer der alltäglichsten Beweise für ein solches Naturgesetz. Träge Verdauung ist daher bloß ein Zeichen dafür, daß die verhinderte, zurückgedrängte und nicht ausgeübte Funktion der Darmentleerung auf dem Wege ist, zerstört zu werden und zu verschwinden. Wenn die Nachlässigkeit, von der wir eben sprachen, die normale, spontane Funktion der Darmentleerung gestört und teilweise zum Verschwinden gebracht hat, nimmt der zivilisierte Mensch oft seine Zuflucht zu Abführmitteln und Medizinen. In diesen Fällen bildet das Einnehmen von Mitteln eine mit der schon bestehenden 63
Gewohnheit zusammenwirkende Ursache der Verdauungsbeschwerden; oft ist es aber auch selber die Grundursache. Die Menschen der Zivilisation überessen sich leicht und häufen dann, wie wir gesehen haben, zuviele Speisen und zu viele Arten von Speisen in ihren Verdauungsorganen an. Sogar wenn sie dem Entleerungsdrange stets folgen, verursacht dies Übermaß von Nahrung Kopfweh oder andere Symptome unerfreulicher Art, und es ist eine allgemein verbreitete Unsitte, in solchen Fällen zwecks Erleichterung zu Arzneimitteln zu greifen. Arzneimittel in der Gestalt von abführenden oder reinigenden Drogen tun für den Darm, was er selber zu tun ermächtigt, ja verpflichtet werden sollte. Aber nur natürliche Anreize können normale Funktionen herbeiführen; unnatürlich angeregte Funktionen unterliegen einer unabwendbaren Zerstörung. Daher folgt der Benutzung solcher abführenden Arzneien wiederum Verdauungsträgheit, in manchen Fällen bald, in anderen erst später, aber in allen Fällen letzten Endes. Viele Leute glauben, es gebe eine für die Entleerung besonders geeignete Tageszeit, sagen wir beispielsweise des Abends vor dem Schlafengehen oder im halben Vormittag oder in der Mitte des Nachmittags, und ihrer Meinung nach schickt sich kein anderer Augenblick des Tages dafür. Andere gibt es — prüde, anständige Leute —, die von der Idee besessen zu sein scheinen, daß das Entleeren des Darminhaltes eine Art entehrender Tätigkeit ist, die in größter Heimlichkeit vollbracht werden muß, weil anständige Leute derartige Gewohnheiten eigentlich gar nicht haben dürfen. Solche Menschen leiden lieber, als daß sie sich von der Gesellschaft anderer zurückziehen, wenn dieser so wichtige Befehl der Natur an sie ergeht — besonders wenn Personen des anderen Geschlechts anwesend sind. Solche Einstellungen sind gefährlich, denn sie mißachten den Willen der Natur. Allerdings gibt es einen Zeitpunkt für die Entleerung des Darmes, der natürlicherweise der richtige ist; das ist der Augenblick, in welchem die Natur die Entleerung verlangt. Diesen Ruf zu überhören und die Erwiderung darauf zu verzögern, heißt, der Ausübung der notwendigen Funktion ein Hindernis, den Willen, entgegensetzen. Eine Funktion zu erschweren oder ihr Widerstand zu leisten, bedeutet jedoch, sie zerstören helfen. Die Darmentleerung ist aber gewiß eine körperliche Funktion, und welch wichtige noch dazu. Verdauungsbeschwerden sind sicher das Symptom einer Verminderung oder Herabsetzung dieser Funktion. Deshalb müssen sie nach dem nicht zu umgehenden und nicht einzuschränkenden Gesetz der Natur die Funktionsfähigkeit und Arbeitskraft eines jeden anderen Organs unseres Körpers vermindern. Neben diesem gewissermaßen passiven Aspekt der Verdauungsbeschwerden muß aber auch ihre aktive Ursache untersucht werden, die auf gewisse, im Verdauungssystem selber wirkende Einflüsse zurückzuführen ist. Diese Einflüsse werden fast immer und fast ganz durch unrichtige, das heißt naturwidrige Nahrung ausgelöst. Unsere Ureltern, deren anatomischer Aufbau — infolgedessen auch der Aufbau des Verdauungsapparates — sozusagen vollkommen war, lebten von roher, unverfeinerter, faseriger Pflanzennahrung. Zur Verarbeitung solcher Nahrung ist ein langer, muskulöser Verdauungskanal erforderlich, denn die körperaufbauenden und körperbelebenden Stoffe sollen langsam durch die aus den Zellen des Verdauungskanals stammenden Enzyme verflüssigt, aus den faserigen Abfallstoffen ausgesogen und in die verzweigten Blutgefäße der Darmwände aufgenommen werden. Natürlich gleitet die Nahrung nicht ohne Antrieb durch das Verdauungssystem, die 64
Natur hat vielmehr für diesen Zweck einen erstaunlich kunstvollen Mechanismus geschaffen, die Muskulatur der Darmwände, welche die Nahrung langsam vorwärtsschiebt. Die Bewegung beginnt am oberen Magenausgang, mit einer ringartigen Zusammenziehung der kreisförmigen Muskelfasern, die den Darmkanal bilden. Diese Zusammenziehung gleitet dann langsam den Kanal hinunter und wirkt dabei ähnlich wie ein Ring, der von außen über einen gefüllten Schlauch gezogen und daran entlang hinabgeschoben wird. Auf diesem Wege schiebt der „Ring“, wenn er enger ist als der Schlauch, natürlich eine gewisse Menge des Schlauchinhalts vor sich her. Beim Darmkanal wiederholt sich diese Bewegung innerhalb einer Minute mehrmals; infolgedessen wird im Ablauf weniger Stunden eine ganz beträchtliche Nahrungsmenge vorangeschoben und schließlich bis zum Ausgang des Kanals, der etwa neun Meter vom Anfang entfernt liegt, gebracht. Diese ringförmige Zusammenziehung und die dadurch hervorgerufene kreisförmig wellenartige (peristaltische) Vorwärtsbewegung erfolgt auf der Länge des Verdauungskanals ungezählte Male, und sie soll den Inhalt in ungefähr neun Stunden von einem bis zum andern Ende befördern, wenn der Kanal in gesundem Zustand ist. Die vorwärtstreibende Funktion des Darmkanals ist nicht im geringsten von unserem Willen abhängig; es ist eine Reflexfunktion. Wie alle Reflexfunktionen muß auch sie durch die Fühlungnahme natürlicher Anreize mit den empfindlichen Ausläufern des Reflexnervensystems angeregt werden, bevor sie in Tätigkeit treten kann. In den Darmwänden liegen Nervenenden. Der natürliche Kontaktreiz wird durch die faserigen Abfallstoffe in der Nahrung gebildet. Der Verdauungsapparat unserer Voreltern hat sich in Anpassung an die zähe, faserige Nahrung ihres Lebensbedarfes entwickelt. Dieser Typus von Verdauungsapparat ist uns überliefert worden, was uns ein für allemal an das zähe, faserige Nahrungsmaterial unserer Voreltern bindet. Waren sie bei ihrer Ernährungsweise zur Entwicklung dieses Verdauungssystems gezwungen, so sind andererseits wir gezwungen, dem von ihnen übernommenen Verdauungssystem seine richtige Nahrung, dieselbe Art Ernährung, auf die hin es sich entwickelt hat, zuzuführen. Die beiden gehören zusammen; sie verdanken sich gegenseitig ihr Dasein. Wie steht es nun aber mit unserer modernen Nahrung? Wir haben bereits gesehen, daß unsere Zivilisation die menschliche Nahrung verfeinert, wo es irgend angeht, und daß aus ihr entweder durch Mahlen und Sieben oder durch Schälen und auf alle erdenklichen anderen Arten die Hauptmenge ihres faserigen Abfallmaterials entfernt wird. Auf diese Weise bleibt natürlich eine zartere, feinere Kost zurück. Aber ist zartere, feinere Kost ein Vorteil für die körperliche Gesundheit? Die Entfernung des faserigen Abfallmaterials beraubt unsere Nahrung der natürlichen Anregung zur Muskelbetätigung der Darmwände, durch welche die Speisemenge vom Magenausgang zum Ausgang des Darmkanals geschoben wird. Auf diese Weise wird die Darmtätigkeit verlangsamt, was zu einer Zersetzung der Eiweißstoffe und zu einer überstarken Gärung der Kohlehydrate führt. Die Zersetzung begünstigt die Bildung depressiver Gifte, die Gärung das Entstehen erregender Säuren, die Entzündungen der Darmwand herbeiführen können. Solche Entzündungen der Wände des Verdauungskanals verzögern aber die Fortbewegung der Speisemasse noch mehr und stören auch auf andere Weise ihre Verdauung. Die Innenwand des Kanals bedeckt sich dann nämlich mit Schleim, welcher die Absonderung der Verdauungssäfte nachteilig 65
beeinflußt. Die Verdauung erleidet auf diese Weise eine Behinderung, was zu einer weiteren übernormalen Gärung und Zersetzung der Eiweißstoffe führt. Schließlich trocknet die Abfallmasse aus und kann nur mehr mit Schwierigkeit durch den Kanal geschoben werden, so daß die Bewegung nochmals verlangsamt wird. Daraus folgt noch mehr Zersetzung, noch mehr Gärung und noch mehr Flüssigkeitsentzug. Das ist eine Schlange, die sich in den Schwanz beißt, ein Kreislauf ohne Ausgang, der zu einer chronischen Körpervergiftung führt; denn nicht nur veranlaßt die Verlangsamung Gärung und Zersetzung, sondern sie gibt auch länger ausgedehnte Gelegenheit für die Überleitung der so erzeugten Giftstoffe in das Blut. Und das ist immer noch nicht alles. Es ist unmöglich, aus unserer Nahrung die faserigen Bestandteile zu entfernen, ohne ihr gleichzeitig gewisse physiologisch wertvolle Salze zu entziehen. Diese Mineralstoffe sind nicht nur sehr wichtig für das Wohlbefinden des ganzen Körpers, sie sind besonders wichtig für die lokale Struktur des Darmes, für die ihn auskleidenden Drüsen, die Muskeln, die seine Wände bilden, und die Nerven, die dieses Gefüge kontrollieren und regieren. Fehlen diese Salze, so vermehren sich die Fäulnisbakterien in den viel zu langsam durch den Darmkanal geschobenen Speiseresten mit unglaublicher Geschwindigkeit. Die Fäulnisbakterien erzeugen aber nicht nur Gifte, die ins Blut übergehen und die Ausscheidungsorgane belasten, sondern sie reizen auch örtlich und verursachen schließlich Entzündungszustände der Darmwände, die sogenannte Kolitis. Der arme Patient ist dann wirklich auf schlechtem -Wege. Denn wenn durch Verfeinerung der Kost die natürliche Anregung des Darmsystems wegfällt, so erhalten die Muskeln nicht mehr den normalen Anreiz, ziehen sich nicht mehr normal zusammen und arbeiten daher nicht mehr normal. Als Endergebnis zieht die Nichtausübung der Darmfunktion den Verlust der Funktionsfähigkeit nach sich; die Muskeln werden immer schwächer und geben schließlich ihre Tätigkeit auf. Das sollte eigentlich genügen, um dem Leser auch in diesem Zusammenhang wieder deutlich zu machen, wie schwer die wichtige Funktion der Eingeweidemuskeln durch die unnatürliche Verfeinerung unserer Kost behindert wird. Um diese Tatsache kommt man nicht herum. Da die Kenntnis dieser Dinge von größter Wichtigkeit für alle zivilisierten Menschen ist, sollten solche Warnungen durch die Radiosender verkündet werden. Wer könnte dann noch weiterhin die übliche verfeinerte Kost als Hauptnahrung beibehalten?
6. KAPITEL Die Haut und ihre vernachlässigten Funktionen Hätte uns die Natur für ein Leben in Kleidern und Häusern eingerichtet, so hätte sie uns ohne Zweifel mit geeigneten Schutzvorrichtungen in die Welt gesetzt, wie sie auch der Schnecke ihr Gehäuse mitgibt. Denn wir können mit Sicherheit annehmen, daß die 66
Natur keine notwendige Vorsorge außer acht läßt und nichts den Launen des Zufalls preisgibt. Wenn die Natur uns nun einerseits nicht mit Häusern und Kleidern versehen hat und daher wohl beabsichtigte, daß wir ohne diese Schutzvorrichtungen leben sollten, was wir — die menschliche Familie — ja auch ungezählte Jahrtausende getan haben, so hat sie uns andererseits doch auch nicht wehrlos dem wechselnden Schicksal überlassen, das uns aus unserer Umgebung erwächst. Wir sind gewohnt, die Haut als schützende Hülle für den Körper zu betrachten, die gleichzeitig das Blut am Austritt aus dem Körper verhindern soll. Aber damit haben wir nicht tief genug unter der Oberfläche geforscht. Bei näherer Betrachtung der menschlichen Haut finden wir, daß sie ein äußerst kompliziertes und wichtiges Organ ist. „0rgan“ — das hätte der Leser wohl nicht vermutet. Und dennoch stimmt es! Die Haut ist unser Kleid und unser Haus — die Schutzvorrichtung gegen die plötzlichen Veränderungen in unserer Umwelt. In ihr hat unser Abwehrmechanismus seinen Sitz, und diese Vorrichtung ist unendlich viel vollkommener als alles, was wir uns als Bekleidung und Behausung ausdenken können. Wie sieht dieser Abwehrmechanismus aus? Vor allem ist die Haut eine isolierende Bedeckung. Unser Körper entwickelt seine eigene innere Wärme. Die normale Haut hält diese Wärme bei kaltem Wetter zusammen und stößt sie bei heißem Wetter aus. Die Haut verhütet auch, daß die atmosphärische Kälte Zutritt zu den tiefer liegenden Teilen des Körpers erhält. Hätten wir die Haut nicht, so würde der Körper im Winter erfrieren und in sommerlicher Hitze verschmachten. Die Haut atmet auch. Sie ist sozusagen eine zusätzliche Lunge, die belebenden Sauerstoff aufnimmt und giftige Kohlensäure sowie andere gasförmige Gifte und im Schweiße gelöste Giftstoffe ausstößt. Die Haut enthält auch Talgdrüsen, deren Absonderung, eine ölige Substanz, sich über ihre Oberfläche ausbreitet. um die Haut weich und geschmeidig zu erhalten und ihr Rauhwerden und Springen zu verhindern. Die bloße oberflächliche Schönheit des Körpers, seine äußere Erscheinung, wie sie hauptsächlich im Antlitz zum Ausdruck kommt, ist zu einem großen Teil von dem Zustand der Hautfunktion des ganzen Körpers abhängig. Die Haut ist also eines der wichtigsten Organe unseres Körpers und hat eine ungeheure Bedeutung. Sie ist für unser Leben so wichtig. daß der Mensch rasch sterben müßte, wenn alle Hauttätigkeit ausgeschaltet würde. Das ist keine Phantasie und auch keine bloße theoretische Behauptung. Anläßlich einer Papstwahl in Rom wurde ein schönes, gesundes Kind mit Goldfarbe bestrichen, um einen Engel darzustellen. In ganz kurzer Zeit starb das Kind, weil die Haut nicht mehr arbeiten konnte, Dieses Beispiel ist bekannt, desgleichen die Tatsache, daß Verbrennungen, die größere Teile der Haut zerstören, zur Selbstvergiftung und damit zum Tode führen, selbst wenn gar keine anderen Organe verletzt sind. Ist ein so wichtiges Organ nicht eingehender Betrachtung wert? Unbedingt. Anatomisch gesehen, besteht die Haut aus einer großen Menge übereinandergelagerter Zellen, die unregelmäßig auf verschiedene Schichten verteilt sind. Die wenigen äußeren Zellenschichten bestehen aus einer hornigen Substanz und enthalten keine Blutgefäße. Diese Schichten, die miteinander die Oberhaut oder 67
Epidermis bilden, schützen die Oberfläche unseres Körpers vor leichten Beschädigungen durch Reibung und verhindern das Austreten des Blutes. Die tieferen Schichten wimmeln von kleinen, Kapillaren genannten Blutgefäßen, die eine sehr wichtige Rolle beim Ausgleichen der Körpertemperatur spielen und sie unabhängig von der Außentemperatur konstant auf 36 bis 37 ° C erhalten. Diese Blutgefäße stehen in naher Verbindung mit dem sympathischen oder Reflexnervensystem und werden ausschließlich von ihm kontrolliert. Organe, die unter der Kontrolle des Reflexnervensystems stehen, können von unserer Einsicht oder unserem Willen nicht beeinflußt werden; sie reagieren nur auf Anreize, die sie durch irgendeine außerhalb ihrer selbst liegende Quelle erhalten, sei es durch die Sekretion eines andern Organs oder einer Drüse des Körpers, sei es durch einen physikalischen Einfluß, wie Einwirkung von Hitze oder Kälte. Und diese vom Reflexnervensystem her kontrollierten Organe funktionieren nur dann normal, wenn sie durch die Einwirkung ihrer natürlichen Reizquellen dazu angeregt werden. Miteinander bilden die Blutgefäße, die so zahlreich in den tieferen Lagen der Haut und in den unmittelbar unter der Haut liegenden Geweben verteilt sind, ein riesiges, stark verzweigtes System winzig kleiner Röhren mit elastischen Wänden. Dieses System wird von zum Reflexnervensystem gehörenden Nervenfasern, deren hochempfindliche Enden als „Fühler“ in der Hautoberfläche eingebettet sind, kontrolliert. Stellen wir uns diese kleinen Röhren vor, wie sie, um ihre Leistungsfähigkeit zu vergrößern, ihre dehnbaren Wände auseinanderziehen, wenn die empfindlichen Nervenenden der Hautoberfläche mit äußerer Hitze in Berührung kommen, während sie sich bei äußerer Kälte zusammenziehen. Denken wir uns einen heißen Tag. Die erhitzte Atmosphäre tritt mit den Nervenenden der Haut in Berührung, was die Blutkapillaren veranlaßt, sich auf ihren doppelten Umfang auszudehnen. Dabei füllen sich die Kapillaren mit warmem rotem Blut vom Innern des Körpers her, und dessen Wärme wird nun in den Raum gestrahlt, so lange, als die äußere Hitze das Blut zu den Hauptkapillaren zieht. Es geht dabei aber noch mehr vor sich. Über die ganze Haut sind zwei Systeme kleiner, senkrecht zur Hautoberfläche stehender Drüsengebilde verteilt, die Fettdrüsen und die Schweißdrüsen, die innen in geschlossenen Säckchen enden. Ein Netz von Blutkapillaren umgibt diese geschlossenen Säckchen, besonders die der Schweißdrüsen. Wenn die äußere Temperatur so hoch steigt, daß sie die Körperwärme über die normalen 37 ° C hinauftreibt, so dehnen sich diese Kapillaren aus und füllen sich mit warmem Blut aus dem Körperinnern; die Ausscheidungszellen, die die Innenwand der Schweißdrüsen bekleiden, ziehen dann große Mengen warmer Flüssigkeit in Form von Schweiß aus dem Inhalt dieser ausgedehnten Blutgefäße. Dieser warme Schweiß breitet sich in dünnem Überzug über die Oberfläche der Haut aus, so daß die Wärme rasch in den Raum ausstrahlt. Je höher die äußere Hitze steigt, desto energischer setzt diese Wärmestrahlung und Wärmeentziehung durch Schweißabsonderung ein. Sowie aber die äußere Hitze sinkt, vermindert sich auch die Schweißabsonderung in demselben Maße. Dieser Ausgleich der Körperwärme geschieht ganz unabhängig vom bewußten Wollen oder von der Erkenntnis, einzig und allein durch den Mechanismus der Reflexnerven und ihre empfindlichen, in der Haut liegenden Endfühler. Natürlich kann Schwitzen auch durch andere Mittel hervorgerufen werden als durch die Einwirkung äußerer Wärme, zum Beispiel bei großen Muskelanstrengungen durch 68
die innere Wärme des Körpers. Tatsache ist aber jedenfalls, daß 90 Prozent der Wärmeausstrahlung des Körpers durch die Haut erfolgen. Weiter enthält die Haut noch den pigmentbildenden Mechanismus, eine Vorkehrung der Natur, durch die eine Schicht dunkler Farbstoffe (Pigmente) in den tieferen Lagen der Haut gebildet wird, wenn der nackte Körper lange Zeit den Sonnenstrahlen ausgesetzt ist. Der Zweck dieser Einrichtung besteht darin, gewisse erhitzende, reizende und schädliche Bestandteile der Sonnenstrahlen vom Innern des Körpers fernzuhalten. Besonders wichtig ist die Art und Weise, wie die Haut die Körperwärme zurückhält und sie verhindert, in den Raum zu entweichen, wenn die atmosphärische Kälte die Körpertemperatur unter ihren normalen Stand herabzusetzen droht. Die ganze Oberfläche unseres Körpers ist mit feinen Härchen bedeckt, die teils sichtbar, teils unsichtbar sind. An den Wurzeln dieser Härchen (richtiger gesagt: am Grunde der kleinen Haarwurzelknollen) befinden sich kleine Muskeln, die „Haaraufrichter“ (Arrectores pilorum) genannt werden. Das eine Ende dieser Muskeln ist an den Haarwurzeln befestigt, das andere an der unteren Seite der Haut. Wenn starke Kälte auf die Haut einwirkt und eine Herabsetzung der inneren Körperwärme droht, ziehen sich diese kleinen Muskeln zusammen, und die feinen Härchen richten sich auf. Das ist die Erscheinung der „Gänsehaut“. Aber der Zweck dieser Zusammenziehung ist nicht, die Haare „zu Berge“ stehen zu lassen, vielmehr pressen sich dann die lose zusammenhängenden Zellen, die unsere Außenhaut bilden, gegeneinander, so daß sozusagen alle Zwischenräume geschlossen werden. Auf diese Weise wird der Körper gegen das Einströmen der äußeren Kälte abgeriegelt; überdies wird dadurch die Abstrahlung der Körperwärme nach außen verhindert. Zu gleicher Zeit werden die Schweißdrüsen veranlaßt, ihre Öffnungen in der Hautoberfläche zusammenzuziehen, und die Zellen, welche die Innenwände dieser Drüsen bekleiden, erhalten den Befehl, die Schweißausscheidung zu unterbrechen. So wird die unmerkliche Ausdünstung, die fast ununterbrochen über den ganzen Körper stattfindet, um die Körperwärme auszustrahlen, abgeschnitten. Weiter werden die Blutgefäße in der Haut und unmittelbar darunter angewiesen. sich zusammenzuziehen, wodurch das in ihnen enthaltene Blut in das warme Innere des Körpers zurückgedrängt wird; daher wird die Haut bei der ersten Fühlungnahme mit starker äußerer Kälte stets etwas blasser. Der Kontakt der Kälte mit der Haut wirkt aber als starker Anreiz auf die Atmungsorgane, und während die oben beschriebenen Vorgänge stattfinden, hat der Körper bereits begonnen, tiefer zu atmen und mit jedem Atemzug große Mengen von Sauerstoff in das Blut überzuführen. Dieser Sauerstoff wirkt als Reizmittel auf das Herz, das seine Schläge beschleunigt und seine Tätigkeit steigert; dadurch wird das Blut, mit Wärme geladen, zur Hautoberfläche zurückgetrieben. Inzwischen ist an die Kapillaren in der Haut der Befehl ergangen, sich wieder auszudehnen, um diesen Rückstrom von warmem Blut zu ermöglichen, und wiederum gehorchen sie unverzüglich, was man selbst feststellen kann, weil die Haut im Kontakt mit der Kälte nach einer kurzen Weile rot wird. Aber die Hautzellen sind jetzt zusammengepreßt, ihre Zwischenräume sind geschlossen und die Drüsengänge desgleichen; daher kann das in die Oberflächenkapillaren gedrängte warme Blut seine Wärme nicht nach außen abgeben; sie strahlt vielmehr nach innen und verhindert so ebenfalls den Kältezutritt nach dem Körperinnern. Nun kommt aber noch etwas dazu. Als der Kontakt der Haut mit der Kälte den Körper veranlaßte, tiefer zu atmen und auf diese Weise mehr Sauerstoff 69
aufzunehmen, machte sich dieser Sauerstoff unverzüglich daran, die noch nicht verarbeiteten Kohlehydrate der letzten Mahlzeit zu verbrennen, um noch mehr Körperwärme freizumachen. Sind keine solchen Kohlehydrate vorhanden, so verbrennt der Sauerstoff das Körperfett. Außerdem bewirkt er die beschleunigte Verbrennung der Zellenabfallstoffe im Körper und deren Ausscheidung als Gas oder Flüssigkeit oder in anderer Form. Dieser umfangreiche Verbrennungsprozeß entwickelt zusätzliche Körperwärme, die durch die Zusammenpressung der äußeren Hautzellen und die Schließung der Schweißdrüsen weitgehend im Körper zurückgehalten wird. So dient derselbe Verteidigungsmechanismus einem doppelten Zweck: in der Sommerhitze schützt er den Körper vor dem Verbrennen und im Winter vor dem Erfrieren. Die Art seiner Tätigkeit hängt ganz von der Art der natürlichen Anreize ab, die auf die empfindlichen Nervenenden in der Hautoberfläche wirken. Die Berührung der Haut mit ihrer Umgebung hat aber noch andere Folgen. Wenn das Blut durch tiefes Atmen, das dem Kontakt der Haut mit der äußeren Kälte folgt, reicher mit Sauerstoff geladen wird, muß auch das Herz mit größerer Kraft und Schnelligkeit arbeiten. Dadurch wird das sauerstoffreiche Blut in alle Organe gepumpt. Da die Organe aus Stoffen aufgebaut sind, die ihnen durch das Blut zugeführt werden, haben sie auf diese Weise die Möglichkeit, neue Aufbaustoffe aufzunehmen und dafür die alten, verbrauchten wieder an das Blut zurückzugeben. Gewisse Organe, wie zum Beispiel die Sekretionsdrüsen, haben dabei noch den Vorteil erhöhter Zufuhr von Rohstoffen zur Bildung der Absonderungen, die sie dem Körper liefern, um ihm auf diese Weise Wirkstoffe zuzuführen, ohne die bestimmte Organe oder Drüsen nicht arbeiten können. Andere Drüsen haben die Aufgabe, dem kreisenden Blute Giftstoffe zu entnehmen und sie so aus dem Körperhaushalt zu entfernen. Den ersten Vorgang nennen wir Sekretion, den zweiten Exkretion. Die gesteigerte Tätigkeit des Herzens, der Blutgefäße, der Lungen, der Drüsen im ganzen Körper, der Haut selber, und die gesteigerten rhythmischen Zusammenziehungen der Muskelfasern über den ganzen Körper erzeugen gleichfalls zusätzliche Wärme, die in den Blutstrom übertritt und von ihm ununterbrochen der Haut zugeführt wird; infolgedessen vermag die äußere Kälte, mit der der Körper in Kontakt ist, nicht in ihn einzudringen. Wir sehen aus diesen Darlegungen, daß in unserem Körper als Folge der Kälteeinwirkung auf unsere Haut eine ganze Kette von Reflextätigkeiten stattfindet; diese Kette nenne ich die „Hautreflexkette“. Ihre Funktionen können aber nur dann kräftig angeregt werden, wenn die Haut dauernd ihre natürlichen Anreize aus ihrer Umgebung erhält. Mit anderen Worten: die Haut soll immer fähig und bereit sein, den Körper gegen die Angriffe, die ihm aus seiner Umwelt erwachsen, zu verteidigen; die Kraft dazu erhält sie von selbst infolge der beständigen Anstrengung, die Umwelt zu meistern. Allerdings gilt das nur für die normale, gesunde menschliche Haut. Und hier stoßen wir gleich auf eine Schwierigkeit. Wie viele Menschen unserer Zeit haben eine normale, gesunde Haut? Leider nur wenige! Pusteln, Ausschlag und alle Arten von ähnlichen Entstellungen sind freilich Beweise nicht nur einer kranken Haut, sondern auch eines kranken Körpers. Die Haut kann nicht mit Ausschlag versehen oder anderswie gereizt sein, wenn der Körper ganz gesund ist. Diese Behauptung wird, das weiß ich, ungefähr neunundneunzig Prozent 70
meiner Leser verblüffen; das kommt, ich wiederhole es, von der Gewohnheit, nicht unter die Oberfläche der Dinge zu schauen. Es ist in diesem Rahmen unmöglich, alle Funktionen der Haut eingehend zu studieren. Wir wollen hier nur eine derselben, die Verteidigung gegen die Umwelt, herausgreifen und näher betrachten; dasselbe Prinzip beherrscht auch ihre andern Funktionen. Betrachten wir einmal die Gewohnheit der zivilisierten Menschheit, den Körper in mehrere Schichten sozusagen luftdicht abschließender Kleidungsstücke einzuwickeln. Wie in aller Welt kann sein Abwehrmechanismus erstarken, wenn jedes erdenkliche Hindernis zwischen ihn und seine natürlichen Anreizquellen gelegt wird, ohne deren Einwirkung er gar nicht in normale Funktion treten kann? Es versteht sich von selbst, daß ein von so schwächlicher Haut bedeckter Körper keine Freude an der Berührung mit kaltem Wasser hat; er schreckt davor zurück. Er schreckt vor Kälteberührungen jeder Art zurück, und nichts beweist deutlicher, daß seiner Abwehrbedeckung die Lebenskraft entzogen ist, daß die Natur ein Sühnegeld für das übertretene Gesetz einfordert und das zu wenig benützte, in seinen Funktionen beständig gestörte Organ verkümmern läßt. Aber nicht allein die Abwehrfunktion der Haut wird zerstört und muß verkümmern, in jeder Zelle des Körpers wird eine ähnliche Abwehreinrichtung vernichtet, denn die mit der Haut verbundenen Funktionen bilden ja, wie wir gesehen haben, eine ganze lange Kette. Die Haut ist das reflexerzeugende Zentrum, und wenn der Reflex aus mangelnder Anregung nicht mehr erzeugt wird, muß die ganze Kette der Funktionen versagen. Kein Wunder, wenn Zugluft in den zarten und empfindlichen inneren Organen Erkältungen und Krankheiten hervorruft, die unnatürliche und daher durchaus unnötige Erscheinungen sind. Und doch gibt es viele Menschen — darunter auch die nicht denkenden Ärzte —, die viele und schwere Kleider als gesund betrachten, weil sie den Körper „vor der Wut der Elemente zuverlässig beschützen“. Solche Leute, seien sie Laien oder medizinische Fachleute, sind nie tiefer in diese Probleme eingedrungen, sondern stets an der Oberfläche geblieben. Hätten sie tiefer geforscht, so hätten sie sich vielleicht doch gefragt, wie es kommt, daß Hände und Gesicht in Berührung mit derselben Kälte, die jeden anderen, gewöhnlich durch viele übereinanderliegende Kleidungsstücke beschützten Körperteil aufs empfindlichste und heftigste reizen würde, nicht im geringsten leiden. Und sie hätten sich wohl auch um eine Erklärung der allen Ärzten mit ausgedehnter Vorstadtpraxis in großen Industriestädten bekannten Tatsache bemüht, daß unter dem oft nur halbbekleideten, zerlumpten, ungewaschenen Nachwuchs der untersten Bevölkerungsklassen Erkältungen, Bronchialerkrankungen, Influenza, Lungenentzündung, usw. verhältnismäßig selten vorkommen. Ich habe eine ziemliche Erfahrung auf diesem Gebiet und kann davon sprechen. Ich behaupte keineswegs, daß solche Krankheiten in ärmlichen Verhältnissen nur vereinzelt auftreten, dennoch kann man ihr Vorkommen selten nennen, verglichen mit ihrem Wüten unter den wohlhabenden, gutgekleideten Bürgern derselben Städte, die oft in solchem Ausmaße darunter leiden, daß der Beobachter längst aufgehört hat, sich darüber zu verwundern, ja, daß sie als Beigabe zu den natürlichen Lebensbedingungen angesehen werden, die jenseits menschlicher Verantwortung liegt. Diesen Zustand finden wir aber nur in der Zivilisation und nirgends in den unzivilisierten Ländern, nirgends bei natürlich lebenden Menschen, die weniger „gut gekleidet“, weniger „gut 71
genährt“, weniger „gut untergebracht“ sind als wir. Das mahnt zum Aufsehen. Wer da glaubt, es sei wichtig, sich „gut zu kleiden“, und dabei an dicke, schwere Kleidung denkt, findet auch keine Erklärung für die merkwürdige Erscheinung jener Indianer an der Küste des Stillen Ozeans, die ich manchmal barfuß in wässerigem, schmutzigem Schnee umherwaten sah, nur mit baumwollenen Hemden und zerschlissenen Hosen bekleidet oder auch bloß in einer Ärmelschürze als einziger Körperbedeckung, die aber in keiner Weise unter der Kälte zu leiden, noch sie überhaupt zu empfinden schienen. Die Indianer selbst aber hatten eine Erklärung. Einen Alten fragte ich, wie er es mache, um die Kälte so gut auszuhalten und anscheinend nicht einmal zu fühlen. Er antwortete: „Bei mir alles Gesicht.“ Das ist die Erklärung dieses Phänomens in einer Nußschale. Wir lernen daraus nicht nur, daß die wirklich normale Haut den Kontakt mit äußerer Kälte in jeder Form ertragen kann, sondern auch, daß eine solche natürliche Anregung für sie ein Bedürfnis und ein Genuß ist. So läßt sich auch begreifen, wie eine kleine Musikantentruppe von den Philippinen, die im Jahre 1904 eine Tournee in den Vereinigten Staaten machte, nachdem sie vorher an der Weltausstellung in St. Louis tätig gewesen war, eines Tages lächelnd durch die verschneiten Straßen von Philadelphia gewandert kam, ohne weitere Bekleidung als ihre Hosen; der klatschnasse Schnee drückte sich glucksend zwischen den Zehen hindurch, die Flocken lagen hell auf der nackten Haut und schmolzen dort; die Männer schienen die Kälte gar nicht zu beachten. Ich sah dieselben Männer später im Hörsaal, wo ich mithalf, am Beispiel ihrer Füße einer Gruppe von Orthopädiestudenten den vollkommenen Fuß zu demonstrieren, und hatte Gelegenheit, mit verschiedenen von ihnen zu sprechen. Sie erzählten mir, in ihrer Heimat hätten sie nie Schnee gesehen; aber sie empfanden die Kälte nicht, und ich konnte ihnen dies glauben, denn ihre Haut fühlte sich durchaus warm an. Ich ließ es mir angelegen sein, nachträglich zu erfahren, ob sie sich auf diesem Marsch durch den Schnee erkältet hätten; doch sie lachten über die Vermutung, daß sie sich hätten erkälten können. Diese Beobachtungen führen alle zu derselben Feststellung: daß die zivilisierten Menschen ihr normales Verhalten weitgehend verloren haben; es hat sich in ihnen die Vorstellung herausgebildet, das Endziel des Lebens sei nicht körperliche Ertüchtigung, sondern Bequemlichkeit und physisches Behagen. Man kann zwar nicht bestreiten, daß dies der Endzweck der Kultur ist, aber das Endziel des Lebens ist es keineswegs. Es gibt zwei Lebensauffassungen. Die eine zielt auf behagliches Wohlleben, die andere auf körperliche und seelische Tüchtigkeit, Lebendigkeit, Männlichkeit. Die Grundidee der ersten Auffassung läßt sich in dem Bild einer Schlange darstellen, die soeben eine Beute verschlungen hat und sich nun an einem sonnigen Plätzchen zusammenrollt, um ihr Verdauungsschläfchen zu halten. Die Grundidee der zweiten Auffassung symbolisiert der Jagdhund, der an der Leine zerrt, das Rennpferd, das ungeduldig wiehernd mit seinen Hufen scharrt. Der bequeme Mensch scheut sich davor, sich körperlichen Beschwerden auszusetzen, und trachtet daher, jede Anstrengung zu vermeiden und sein Dasein in einer weichen, trägen, schläfrigen Weise zu genießen. Der gesunde, tatenfreudige Mensch dagegen sucht Anstrengungen auf, setzt sich den Einwirkungen der Umwelt aus und trachtet so, die dem Körper innewohnende Verteidigungskraft durch Übung zu stärken, wie man es mit seinen Muskeln oder seinem Gedächtnis macht, wenn man sie zu entwickeln wünscht; das Endziel ist körperliche Tüchtigkeit, welche Lebenskraft und Widerstandsfähigkeit 72
erzeugt. Die Anhänger dieser lebendigen Lebensauffassung wissen, daß der Körper nur durch Überwinden von Schwierigkeiten lernen kann, Schwierigkeiten zu überwinden; nur durch Widerstandsleistung wird er widerstandsfähig; nur durch Kraftentwicklung bis zur Grenze der Erschöpfung kann er sich kräftigen. Und ob diese Leute nun von physiologischen oder natürlichen Gesetzen schon etwas gehört haben oder nicht, sie wissen jedenfalls, daß die Körperfunktionen nur durch immerwährendes, kräftiges Funktionieren und durch beständige Erfüllung der ihnen zugedachten Aufgaben zur vollen Ausübung ihrer Kräfte fähig werden können. Jedermann, sogar der Anhänger des schlaffen und weichen Lebens, der Genüsse und des üppigen Behagens, weiß, wie notwendig es ist, die willkürlichen Muskeln regelmäßig und hart arbeiten zu lassen, um kräftige Beweglichkeit zu erreichen. Er sieht aber in dieser Tatsache nicht das allgemeine Prinzip oder das natürliche Gesetz, das auf alle Organe und Funktionen anzuwenden ist. Verehrer der weichen Lebensart können dieses Prinzip auch gar nicht sehen, denn wir alle finden überall nur das, wonach wir suchen. Und die schlaffen Menschen suchen bloß Ausreden für ihr Verhalten und immer neue Gelegenheiten, sich zu pflegen und zu verwöhnen. Nur von dem Menschen, der selber wünscht, körperlich tüchtig zu werden, also Tüchtigkeit sucht, können wir erwarten, daß er die Naturgesetze erkennt, die darauf hinzielen, solche körperliche Tüchtigkeit zu entwickeln. In unserer Zivilisation gibt es allerdings noch sehr wenige Anhänger dieser Körperbereitschaft. Die meisten Kulturmenschen sind Anhänger von Luxus und Verweichlichung. Sie sind nach und nach zu dem Glauben gelangt, daß es vorteilhafter sei, die natürlichen Abwehrkräfte des menschlichen Körpers durch stellvertretende Einrichtungen menschlicher Erfindung zu ersetzen und durch sie den Körper beschützen zu lassen, anstatt seine natürlichen Abwehrkräfte genügend zu verwerten, und künstlichen Schutz nur im Notfall in Anspruch zu nehmen.
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7. KAPITEL Unterentwickelte Muskeln Der Kulturmensch kann sich an Torheiten und Unnatürlichkeiten nicht genug tun. Er feiert auf allen Lebensgebieten wahre Orgien gedankenloser oder eigenwilliger Übertretungen der Naturgesetze. Selbst wenn ich fünfzig Bücher über naturwidrige Lebensgewohnheiten der Kulturmenschheit schreiben würde, käme ich damit immer noch an kein Ende. Man kann ohne zu übertreiben behaupten, daß jede Gewohnheit, die den zivilisierten Menschen vom Wilden unterscheidet, unnatürlich ist. Diese Kritik rechtfertigt sich, wie auf allen andern, so auch auf dem Gebiete der Muskeltätigkeit. Die Funktion der Muskeln besteht darin, zusammenzuziehen — Stärke auszuüben. Und das heißt mehr, als bloß die Körperteile in Bewegung zu setzen. In dieser Richtung liegt sogar ihre geringste Bedeutung, denn solche Aufgaben können auch von stellvertretenden Kräften ausgeführt werden. Die Muskelfunktion liegt bei schätzungsweise fünfundneunzig Prozent der zivilisierten Menschheit brach; sie wird jedenfalls nur schlecht geübt. Die Folgen bleiben denn auch nicht aus. Ist es wohl ein bloßer Zufall, daß unsere Muskeln so fest und großer Kraftentwicklung fähig sind? Ich bin im Gegenteil davon überzeugt, daß ihre Beschaffenheit Teil eines Planes ist. Der Plan aber deutet auf einen Geist, der ihn entworfen hat. Nehmen wir einen solchen Geist an, so schließen wir auf einen Zweck; dieser Zweck bezieht sich auf eine Funktion, die Funktion auf ein Bedürfnis, das Bedürfnis auf eine Notwendigkeit — und zwar die Notwendigkeit, das Organ so zu gebrauchen, wie es seiner Beschaffenheit nach zum Gebrauch bestimmt ist. Damit sind wir am Ende und zugleich wiederum am Ausgangspunkt des Kreises. Das bloße Vorhandensein unserer Muskeln verlangt Benützung. Wenn das wahr ist, so ist auch wieder wahr, daß ihre Dicke, ihre Stärke eine kräftige Benützung verlangen. Die Natur macht keine Fehler. Sie versieht uns nicht mit Organen, die fähig sind, eine große Funktionskraft auszuüben, ohne von uns auch diese Ausübung in weitestgehendem Maße zu verlangen. Und dieses Verlangen können wir nicht ungestraft überhören. Diese Wahrheit müssen wir uns sehr gut merken. Er ist der Fluch der Zivilisation, daß wir solche Wahrheiten rein theoretisch erfassen. Wir versuchen beständig, die Natur zu hintergehen und uns ihr zu entziehen. Das Vorhandensein der kräftigen Muskeln deutet auf die Notwendigkeit einer gewaltigen Verausgabung an Muskelkräften. Das ist nicht meine Folgerung, es ist die der Natur. Und hinter den Folgerungen und Forderungen der Natur steht die ganze Gewalt der Naturgesetze. Gehorche oder zahle, benütze oder verliere; das sind die Argumente der Natur. Gehorchen heißt: einfach und natürlich leben. Natürlich leben heißt: normal sein. Normal sein heißt: einen vollkommenen Körper besitzen. Einen vollkommenen Körper besitzen heißt: frei von Krankheit und ihr nicht unterworfen sein. Gewisse Gesetze für natürliches Leben, für einfaches Leben, die jedermann bei richtigem Willen gut verstehen und befolgen kann, sind als Richtschnur für unser persönliches Leben aufgestellt, damit der Mensch in Übereinstimmung mit ihnen seinen vollen Erdenzyklus vollbringen und sich eines langen, kraftdurchpulsten Daseins erfreuen kann. Aber der einzelne nimmt sich nicht einmal die Mühe, zu 74
untersuchen, welche Art Leben die Natur von ihm fordert; er bemüht sich bloß zu ergründen, wie er am liebsten lebt. Dieser Mangel an Achtung vor den natürlichen oder göttlichen Gesetzen und die Einstellung auf das eigene Selbst werden zu ihrer Zeit ihren Preis gebieterisch fordern. Krankheit und meistens ein früher Tod — immer jedenfalls ein weit früherer Tod, als es in der Absicht der Natur lag, wie lange auch der einzelne Lebensablauf dauern mag — werden der zu zahlende Tribut sein. Es ist ja gar nicht zu vermeiden, daß die zivilisierten Lebenseinrichtungen unnatürlich sind, solange die moderne Menschheit an der allgemein verbreiteten Überzeugung festhält, daß Behaglichkeit, Muße, Fernhalten jeder körperlichen, geistigen und moralischen Anstrengung, Übersättigung, leckere und verfeinerte Speisen, kurz, üppige Verweichlichung die wahren Ziele des Lebens sind. Ich stelle mir vor, daß solche und ähnliche Selbsttäuschungen auf folgende Art entstanden sein mögen: Ein Mensch in mittlerem Lebensalter hält sich schon seit Jahren von körperlicher Betätigung zurück, weil er sich schonen zu müssen glaubt. Eines Tages verlangen unerwartet eingetretene Umstände von ihm die Anstrengung seiner Kräfte bis an ihre äußerste Grenze. Er bricht zusammen und stirbt wohl gar in der Folge. Logische Schlußfolgerung: die Körperanstrengung hat ihn umgebracht. Aber dieser Schluß ist verkehrt — ganz und gar verkehrt. Er hatte sich so lange geweigert, den Befehl der Natur auszuführen und seine Muskeln in Übung zu erhalten, bis der Augenblick gekommen war, in dem er dafür zahlen mußte — und er hat gezahlt. Wir pflegen zu verallgemeinern, und als Basis für unsere Verallgemeinerungen dienen uns die täglichen Beobachtungen; aber während wir beobachten, bleiben wir an der Oberfläche der Dinge und untersuchen sie nicht genügend tief. Weil Menschen manchmal nach geleisteten Anstrengungen zusammenbrechen, sagen wir, die Anstrengung habe sie umgeworfen. Wir überlegen nicht, warum diese bestimmte Anstrengung ihnen verhängnisvoll wurde. Müßten wir es oft erleben, daß Anstrengungen einen Menschen töten, dann hätten wir einigen Grund zu solchen Behauptungen. Aber wir wissen doch schließlich auch, daß es eine Ausnahme ist, wenn Menschen nach einer Anstrengung zusammenbrechen oder gar sterben; daher sollte unsere richtige Folgerung die sein, daß wir die Schuld an der Katastrophe in Ereignissen oder Verhältnissen suchen, welche dieser Anstrengung vorausgingen. Physiologisch lassen sich so drastische Fälle der Überanstrengung durch den Vergleich mit Gartenschläuchen und Autoreifen verständlich machen. Die Funktion eines Gartenschlauchs ist, Wasser zu fassen und weiterzuleiten, während die eines Autoreifens darin besteht, gepreßte Luft zu umschließen und Gewicht zu tragen. Beide Verwendungszwecke setzen Biegsamkeit und pralle Elastizität voraus, besonders wenn die Beanspruchung längere Zeit dauert. Und jeder, der sich in diesen Dingen auskennt, weiß, daß die beste Art — eigentlich die einzige —, die Geschmeidigkeit des Schlauches und des Reifens zu erhalten, darin besteht, beide möglichst oft zu benutzen. Je mehr man Wasserschläuche und Autoreifen benützt, je größere Anforderungen man, ohne zu übertreiben, an sie stellt, desto länger behalten sie ihre wesentlichen Eigenschaften, die sie befähigen, der Beanspruchung zu genügen. Legt man sie zur Seite, ohne sie zu benützen, so sind sie nach wenigen Monaten hart und unbrauchbar geworden. Das alles gilt auch von unseren Blutgefäßen und dem Herzen. Die Blutgefäße sind elastische Röhren, deren Wandung aus unwillkürlichen Muskelfasern und elastischen 75
Geweben besteht und die vom Reflexnervensystem kontrolliert werden. Ihre Funktion ist, den verschiedenen Teilen des Körpers das Blut zuzuführen. Die dazu erforderliche Pumparbeit leistet das Herz, ein mit großen Kammern versehenes Muskelgebilde, das sich beständig in raschem Wechsel zusammenzieht und wieder ausdehnt. Beim Ausdehnen des Herzmuskels füllen die Herzkammern sich mit Blut; zieht der Herzmuskel sich dann zusammen, so wird dieses Blut in bestimmte Blutgefäße — die Arterien — gepreßt, Muskelschläuche, deren elastische Wände sich ausdehnen, um das Einfließen zu erleichtern. Gleich darauf läßt aber das Herz in seiner Spannung nach, weil es sich ausdehnen muß, um seine Kammern neu zu füllen; infolgedessen schwindet der Druck, der das Blut in die Arterien getrieben hat. Während die Herzkammern sich ausdehnen, um sich wieder frisch zu füllen, schließt sich eine Klappe am Eingang der Arterien zum Herzen. Aber der Kreislauf des Blutes darf keinen Augenblick innehalten, wenngleich die Pumpkraft des Herzens während der Zeit seiner Wiederauffüllung von dem Blutstrom in den Arterien abgeschlossen ist. Deshalb ziehen sich die elastischen Wände der Arterien, die sich vorher ausgedehnt hatten, jetzt wieder zu ihrem Normalzustand zusammen und pressen dadurch das Blut erst in die Kapillaren, von dort in die Venen und dann zurück zu den Lungen und zum Herzen. Die Arterien haben sich aber kaum auf ihren gewöhnlichen Umfang reduziert, so pumpt ihnen das Herz eine neue Blutwelle zu, und sie müssen sich ungesäumt wieder ausdehnen, um das Blut aufzunehmen. Dieser Prozeß geht, solange der Körper lebt, sechzig- bis hundertmal in der Minute vor sich. Er geht vor sich, ob die willkürlichen Muskeln genügend Arbeit haben oder nicht; aber wenn die willkürlichen Muskeln nicht aktiv arbeiten, so ist die Stärke und die Häufigkeit der Herzschläge und die Menge des durch die Arterien getriebenen Blutes geringer als bei aktiver Muskelbetätigung. Machen die willkürlichen Muskeln eine vom Willen diktierte aktive Anstrengung, so muß auch das Herz größere Arbeit leisten, und dabei wird mehr Blut in die Arterien gepumpt, die dadurch zu noch stärkerer Ausdehnung und häufigeren Zusammenziehungen gezwungen werden, weil sie nur dann den verstärkten Blutkreislauf bewältigen können. Diese aktive Arbeitserhöhung der Arterienwände bedeutet also entsprechende Übung. Ruhen die Muskeln unseres Körpers, so befinden sie sich in latenter Spannung, jenem gänzlich passiven Zustand, der einen nicht gelähmten, ruhenden von einem gelähmten Muskel unterscheidet. Dauert dieser tatenlose Zustand an, so greift die Natur mit ihrem Gesetz ein und zerstört die untätigen Muskeln nach und nach; sie werden schlaff, schrumpfen zusammen und verlieren ihre Stärke, ein Zustand, der Atrophie genannt wird, und der sich schon nach einer verhältnismäßig kurzen Zeit der Ruhe und des Müßigseins bemerkbar macht. Die Muskeln beginnen alsbald steif und unelastisch zu werden. Gut durchgearbeitete Muskeln sind weich, nachgiebig und spannkräftig. Steife, aber schlaffe Muskeln zeigen dagegen zu geringe physiologische Tätigkeit an. Aber Muskel ist Muskel, und was hier von den willkürlichen Muskeln gesagt wurde, gilt natürlich auch von den unwillkürlichen. Bleiben die willkürlichen Muskeln untätig, so wird zum Beispiel auch vom Herzen eine mehr oder weniger nur passive Anstrengung verlangt. Bei längerer Dauer der Passivität ist das Herz überhaupt nur noch zu solch passiven Anstrengungen fähig; es verfällt dann auch mit der Zeit der Atrophie infolge Nichtgebrauchs. Und weil Muskeln, die einige Zeit nicht aktiv benützt worden sind, nicht nur schlaff und 76
schwach, sondern auch starr und steif werden, so fangen die Wände der Blutgefäße an, steif und unelastisch zu werden, wenn der Körper aufhört, sich aktiv anzustrengen. Sind sie unelastisch, so dehnen sie sich nicht mehr normal aus, um das Blut, das aus den Herzkammern ausgestoßen wird, aufzunehmen; das Blut muß aber doch durch sie hindurchgehen. Es wird daher immer schwieriger für das sich zusammenziehende Herz, das in seinen Kammern enthaltene Blut durch die Arterien zu treiben. Von Herz und Blutgefäßen wird ein größerer Kraftaufwand als der normale verlangt, und geringere Kraft als die normale steht zur Verfügung. Die Folge ist, daß das Herz eine außergewöhnliche Anstrengung machen muß, um das Blut in die Arterien, die sich nicht ausdehnen wollen, zu pressen. Dadurch erhöht sich der Druck des Blutes in den Arterien, und wir erleben das Phänomen des gesteigerten Blutdrucks. Die Natur tut zwar bekanntermaßen alles ihr Mögliche, um jeglichen organischen Gewebezerfall aufzuhalten oder auszugleichen. Wenn die Herzklappen undicht sind und einen Teil des Blutes bei der Zusammenziehung der Arterienwände zurückfließen lassen, so werden die Wände nach und nach dicker und dadurch stärker, um so den Verlust an Arbeitsleistung auszugleichen. Dasselbe macht die Natur im Falle von Arterien, die durch Mangel an regelmäßiger physiologischer Übung unelastisch geworden sind. Jede vergrößerte Anstrengung des Herzens, das Blut mit gesteigerter Kraft in die Arterien zu pressen, bedeutet für die Arterienwände eine vergrößerte Aufgabe. Die Natur kommt ihnen zu Hilfe und legt neue Gewebeschichten an die Arterienwände, um sie zu verdicken. Aber dieses Gewebe ist nicht elastisch und hat eher die Neigung, sich zusammenzuziehen, als sich zu strecken oder auszudehnen. Es macht zwar die Arterienwände stärker, aber auch steifer und unelastischer, was wiederum vom Herzmuskel größere Anstrengungen verlangt. Durch diese vermehrte Anstrengung des Herzens steigt die Spannung in den Arterien. Zunehmende Spannung birgt aber die Gefahr eines Gefäßbruches in sich; darum verdickt und verstärkt die Natur die Wände der Arterien aufs neue. Auf diese Weise werden sie noch steifer, und der dann nötige neue Kraftaufwand des Herzens macht sie nur noch spröder. Endlich beschließt die Natur, energisch einzugreifen, und beginnt, zwecks neuerlicher Verstärkung, in den Arterienwänden Kalk abzulagern. Das Ergebnis sind die sogenannten „verkalkten“ Arterien, die spröde und brüchig wie Pfeifenstiele sind. Jetzt aber hat die Natur alles getan, was in ihrer Macht liegt; sie hat ihren letzten Trumpf ausgespielt. Ihre Maßnahmen haben das Leben um einige Jahre verlängert, aber nun muß der Kampf zwischen Herz und Arterien zu einer Entscheidung kommen. Die Arterien wollen sich einfach nicht mehr ausdehnen; das Herz besteht jedoch darauf. daß sie es tun sollen, und so streiten sie miteinander, und jeder Teil beharrt auf seinem Recht. Das Herz setzt seine ganze mächtige Kraft dafür ein, das Blut in die Gewebe zu senden, die nach Blut und immer mehr Blut schreien. Die Arterien verweigern den vollen Dienst: „Wir können nur noch so und so viel Blut übernehmen und weiterleiten, aber nicht mehr, denn wir können uns nicht mehr wie früher ausdehnen und anpassen.“ Und sie versuchen, so viel Blut wie möglich wieder zurück in die Herzkammern zu senden. Ist es so weit gekommen, dauert es nicht mehr lange, bis wir hören, daß Herr X oder Frau Y einem Herzleiden erlegen ist, einer Angina pectoris, einem Schlaganfall — das Herz oder die Blutgefäße geben eben schließlich den aussichtslosen Kampf auf. Es kann aber auch ein anderes gefäßreiches Organ eines Tages plötzlich versagen. Wir wollen uns unter diesem Gesichtspunkt die Nieren etwas näher ansehen. Die meisten Organe des Körpers sind in eine Decke unelastischen Fasergewebes 77
eingehüllt. Das ist auch bei den Nieren der Fall. Innerhalb dieser Hülle besteht die Niere aus vielen Blutgefäßen und ausscheidenden Zellen, die in der Hülle unausdenkbar eng zusammengedrängt sind. Wird durch das Wiederherstellungsverfahren der Natur neues Gewebe zur Nachhilfe oder zum Ersatz hinzugefügt, so entsteht innerhalb der Hülle ein der Menge der neu hinzugefügten Zellen entsprechender erhöhter Druck. Durch diesen Prozeß erhöht sich aber auch der Druck des in den Nierengefäßen zirkulierenden Blutes, und die Niere hat aus dieser doppelten Quelle einen bedeutenden Druck zu ertragen. Die unendlich vielen Blutgefäße, die die Sekretionszellen mit Blut versorgen müssen, damit sie ihre Arbeit als Giftentferner ausführen können, lassen die Größe dieses Druckes vermuten. Schließlich beginnt dieser vergrößerte Druck auf die Sekretionszellen die Funktionen der Nieren zu stören; später erzeugt er Entzündungszustände, welche die Ärzte als Nephritis, Brightsche Krankheit usw. diagnostizieren, Krankheiten, die den Körper dadurch umbringen, daß sie sein giftausscheidendes Filter, die Nieren, zerstören. In ähnlicher Weise kann auch das Gehirn oder die Leber unter zunehmendem Blut und Gewebedruck den Zerfall des Körpers herbeiführen. Schließlich darf nicht übersehen werden, daß das Herz, welches alle anderen Organe mit Blut versorgt, damit sie sich mit den ihnen durch das Blut zugeführten Stoffen immer wieder erholen und neu aufbauen können, auch sich selbst Blut zuführen muß, um leistungsfähig zu bleiben. Das Herz hat deshalb seine eigenen Blutgefäße, die sich leider nur allzu oft in der oben beschriebenen Weise verändern; findet eine solche Degeneration bei einem Menschen statt, so kann er mit keinem langen Leben mehr rechnen. Welches Organ als erstes klein beigeben muß, hängt von verschiedenen Umständen ab: von erblicher Belastung, von der vorgeburtlichen und nachgeburtlichen Pflege, von der Berufs- oder Beschäftigungsart des Erwachsenen, von der Diät und andern persönlichen Gewohnheiten sowie von Eigenschaften und Anlagen, unter denen die Seelen- und Gefühlsstärke des Individuums nicht die geringste ist. Der plötzliche Tod eines Freundes, des sportfeindlichen Lebemanns, den du durch die Zeitung erfährst, beeindruckt dich tief. Seine Angehörigen verstehen diesen Schicksalsschlag nicht, denn nie schien der Verstorbene gesünder zu sein als unmittelbar vor der unbegreiflichen Katastrophe. Aber die Tragödie ist in Wirklichkeit nicht im geringsten unverständlich, besonders nicht im Hinblick auf die Lebensgewohnheiten des Verstorbenen. Würden sich seine Nächsten zu einer kleinen Denkarbeit über die Naturgesetze und ihre Unverletzlichkeit entschließen, so würden sie erkennen, daß der Gang der Dinge sich seit Jahren genau voraussehen ließ. Jeder klarblickende Mensch hätte feststellen müssen, daß der tote Freund, der seine Muskeln nie ausbilden wollte, dafür aber um so mehr die Verdauungsfunktionen in Tätigkeit hielt, einst den Preis körperlicher Degeneration zu zahlen haben würde, die in einem gewissen Stadium stets den Tod nach sich zieht. Wahrscheinlich war von den atrophierten Muskeln eine ungewöhnliche und plötzliche Anstrengung gefordert worden. Sie taten ihr Bestes; aber dabei erzeugten sie eine viel größere Menge von Körpergiften, als es bei normaler Entwicklung der Fall gewesen wäre, denn sie hatten außergewöhnlich viel zu leisten. Die Organe, deren Funktion die Ausscheidung dieser Körpergifte ist, litten natürlich gleichfalls an Schwund infolge Nichtgebrauchs. Da sie unter der Kontrolle des Reflexnervensystems stehen, konnten sie nicht vom Willen aufgepeitscht werden, unverzüglich in Aktion zu treten, wie die willkürlichen 78
Muskeln. Infolgedessen häuften sich die nicht ausgeschiedenen Körpergifte im Blute an. Dieses giftbeladene Blut sollte nun nicht bloß jede andere Zelle im Körper ernähren und mit Energie versehen, sondern außerdem die atrophierten und schon etwas steifen Blutgefäßwände und das auch schon mitgenommene Herz. Und das geschwächte Herz und die unelastischen Blutgefäße sollten zur selben Zeit, da sie, statt mit frischem, mit giftgetränktem Blut versehen wurden, wegen der vergrößerten Anstrengung der willkürlichen Muskeln noch mehr Blut herbeischaffen und diesen plötzlich aktiv arbeitenden Muskeln noch mehr Energie liefern, weil die der aktiven Tätigkeit entwöhnten Muskeln auch wieder einer übernormalen Kraftzufuhr bedurften. Das schon bis zu einem gewissen Grade unfähige Herz strengte sich an, der Anforderung zu genügen; es arbeitete rasch und ungestüm. Aber die starren Arterien verweigerten die Ausdehnung, die nötig war, um mehr Blut durchziehen zu lassen. Dadurch wurden die Forderungen an das Herz ungeheuer vergrößert. Und die arbeitenden Muskeln riefen dringend nach mehr und immer mehr Energienachschub, während der Blutstrom durch die Produkte der Muskelanstrengung und das gleichzeitige Versagen der Ausscheidungsorgane immer mehr Gift aufzunehmen gezwungen war. Das Herz gab alles her, dessen es fähig war, bis — die Katastrophe eintrat. Vielleicht hatte dein Freund ein schwaches Herz, das sich von der zunehmenden Unelastizität rascher überwältigen ließ; dann starb er an „Herzschwäche“. Vielleicht waren seine Blutgefäße von ererbter schwächlicher Struktur; dann brauchte nur die Wand eines kleinen Äderchens in der Gehirnsubstanz zu platzen, und er starb an einem Bluterguß ins Hirn oder an einem Schlaganfall. Vielleicht brach irgendein anderes lebenswichtiges Organ zuerst zusammen. Sicher ist auf alle Fälle, daß deines Freundes Tod vom Mißbrauch seiner wesentlichen Organe herrührt und daß verweichlichende, allzu nachsichtige Lebensmethoden sein Ende beschleunigt haben. In Wirklichkeit starb er an den Irrtümern der Zivilisation — vor allem an den verhängnisvollen Folgen des Glaubens, daß kultureller Fortschritt und körperliches Wohlbehagen dasselbe seien, denn er wurde nicht durch die plötzlich notwendig gewordene körperliche Anstrengung getötet, sondern vielmehr durch die so lange Zeit andauernde Vermeidung jeder körperlichen Anstrengung, durch Bequemlichkeit, Verwöhntheit, Luxus — ein Leben, das unseren Wünschen gemäß eingerichtet ist, anstatt nach den unveränderlichen Grundsätzen der Natur —, ein solcher Anschauungsunfug zeitigt bedenkliche Früchte! Jedoch auch hier reicht der Segen richtigen Verhaltens weiter als bloß bis zu den nächsten Resultaten. Gerade im Falle der Muskeln sind die von ihnen ausgehenden Einflüsse auf die andern Körpergebiete interessant. Je strenger die Muskeln arbeiten, desto mehr verbrauchte Zellen werden abgebaut und desto mehr wächst auch der Bedarf an Sauerstoff. Je größer dieser Bedarf, desto tiefer geht der Atem, da die Lungenatmung neben der Aufnahme durch die Haut der einzige Weg ist, auf welchem Sauerstoff in den Körper gelangen kann. Je tiefer aber die Atmung, desto stärker werden die Zwerchfell-, die Brust- und Bauchmuskeln beansprucht. Tiefe Atmung ist überhaupt die einzige Möglichkeit, die Muskeln des Zwerchfells, der Brust und des Unterleibs in Übung zu erhalten. Außerdem ist die größere Senkung und Hebung des Zwerchfells während eines tiefen Atemzuges von vorteilhaftester Wirkung auf Leber, Magen und Eingeweide. Jedermann, der einigermaßen zu beobachten versteht, muß erkennen, wie die 79
Verdauungstätigkeit durch eine kräftige und systematische Übung der willkürlichen Muskeln im Freien angeregt wird. Wenn aber die Verdauungsfähigkeit durch Muskelarbeit vorteilhaft unterstützt wird, so trifft auch das Umgekehrte zu; daß die Verdauungstätigkeit durch Mangel an Muskelübung degeneriert. Etwas anderes können wir auch gar nicht erwarten, denn der nicht voll beanspruchte Körper braucht natürlich nicht die volle Nahrungsmenge; daher besteht eine geringe Verdauungsnotwendigkeit. Die Natur spart ihre Kräfte und pflegt nicht mehr Leistung zu produzieren, als zur Verdauung der Nahrung, die sie braucht, um die körperlichen Funktionen auszuführen, notwendig ist. So verringert sich die Verdauungsfähigkeit durch verminderte Ausübung der Verdauungsarbeit. Und keine einzige andere Funktion gibt es im menschlichen Körper, die nicht auf ähnliche Weise gestört würde, wenn die willkürlichen Muskeln nicht voll, nicht regelmäßig und nicht draußen im Freien arbeiten. Leider ist es nur zu wahr, daß die Bewohner der zivilisierten Länder mehr und mehr eine sitzende Lebensweise führen. Die allgemeine Verbreitung des Automobils, des Personenaufzugs, der Autobusse, der Straßen- und der Eisenbahn wird über kurz oder lang dahin führen, daß die Mehrzahl der modernen Menschen verlernt, die Bewegungsmuskeln zu gebrauchen. Sogar die Landbevölkerung fährt heutzutage, wo sie nur kann, anstatt wie früher zu Fuß zu gehen. Und in vielen Berufen, die ursprünglich die Muskeln stark beanspruchten, übernehmen heute Maschinen einen beständig wachsenden Teil der früher nötigen Muskelarbeit. So üben in vielen Industriegebieten die in den Fabriken beschäftigten Menschen zur Hauptsache nur noch die Aufsicht über mechanische Einrichtungen und Apparate aus, die ihrerseits die wirkliche Arbeit verrichten. Das alles wird von den meisten Leuten mit Stolz als „Fortschritt der Zivilisation“ gerühmt. Würden diese Erscheinungen in richtiger Weise kontrolliert, so könnten sie auch tatsächlich Fortschritte für die Menschheit bedeuten. Aber die eigenwillige Art des Kulturmenschen, alle Lebensgewohnheiten seiner Laune und seinen stets wechselnden Wünschen und Begierden anzupassen, bildet eine ständig wachsende Gefahr für sein wirkliches Glück und Wohlergehen. Als Ergänzung zum Thema „Die Muskeln und ihre Arbeit“ müssen wir noch das Problem der wahren und der falschen Muskelanstrengung und Muskelbeanspruchung untersuchen. Anspannung — Entspannung — Ruhe! das ist der Rhythmus sinnvoller Lebensführung, in den unsere Zivilisation Störung und Unordnung bringt. Die zivilisierten Menschen sind die einzigen Geschöpfe, deren Muskeln sich fast beständig in Spannung befinden (bald mehr, bald weniger), während sie zu allen Zeiten vollkommen entspannt sein sollten, außer in den Augenblicken, da sie im Begriffe sind, eine ihnen aufgetragene Arbeit auszuführen; nur dann sollten die Muskeln oder Muskelgruppen arbeiten — und zwar nur die an dieser Tätigkeit beteiligten; alle anderen sollten ihren Ruhestand beibehalten. Wenn wir einmal zu dieser Einsicht gelangt sind, müssen wir zugeben, daß fast die ganze moderne Menschheit ihre Muskelkräfte in unnötigen Zusammenziehungen und Ausdehnungen, die durch keine positive Aufgabe des täglichen Lebens verlangt werden, gedankenlos vergeudet. Was bedeutet das? Ich habe wiederholt darauf hingewiesen, daß keine einzige körperliche 80
Tätigkeit ohne einen Anreiz aus dem Nervensystem ausgeführt werden kann. Ununterbrochene Nervenanspannung aber heißt ununterbrochene Nervenverausgabung (und unaufhörliche Muskelverausgabung desgleichen), für die dem Körper nichts zurückerstattet wird; und solche Verschleuderung der Nervenkräfte führt unfehlbar am Ende zu nervöser Erschöpfung. Beobachte die Menschen, mit denen du zu tun hast, wie sie, anstatt Ruhe suchend auf ihren Stuhl niedersinken und sich von ihm tragen zu lassen, ihn vielmehr in unbewußter Verkrampfung nach unten drücken; ihre Hände, Arme und Beine sind gestrafft, als sollten sie den Stuhl mühsam zusammenhalten. Oft sind außerdem die Brustmuskeln so steif angespannt, daß tiefes Atmen praktisch unmöglich wird. Andere Menschen — vielleicht du selbst — pressen die Zähne zusammen; ihre Kehle ist verkrampft, die Nackenmuskeln sind steif. Und wie gespannt sind die Beinmuskeln jenes Mannes; seine Füße schlagen einen wütenden Takt, oder seine Finger trommeln zur Begleitung einer inneren Rastlosigkeit, die sich ein Auspuffventil sucht. Beobachte die Leute in der Eisenbahn, im Auto oder im Straßenbahnwagen; wie steif sitzen sie da, drücken sich an die Lehne oder halten sich unbequem auf dem vordersten Rand ihres Sitzes in Schwebe; Arm-, Bein-, Nacken- und Brustmuskeln sind in härtester Spannung; jeder Stoß, jede Erschütterung des Fahrzeugs schleudert sie mit gewaltsamem Ruck in eine andere Richtung, anstatt daß sie sich mit gelockerten Muskeln und losen Gelenken allen Schwankungen und Erschütterungen der Bewegung überlassen. Andere spazieren mit krampfhaften Schritten und versteiften Armen, die im Rhythmus ihrer harten Tritte eckig auf und ab schwingen, einher, und dabei spannen sie die Muskeln des Nackens und der Hände derart an, daß oft die Nägel in den Handflächen Eindrücke hinterlassen. Man gewöhnt sich an solche Spannungen so sehr, daß man damit schlafen geht und wieder aufsteht, und löst sich inmitten des Schlafes die Spannung von selber, so kann man sogar dadurch erwachen. Da ruht eine Frau auf ihrem Liegestuhl. Ihr steifer Hals hält den Kopf in die Höhe gereckt, anstatt daß er sich zu sanfter Ruhe in die Kissen schmiegt; oder sie drückt ihn auf das Kopfkissen hinunter, als ob sie dieses mit Gewalt niederhalten müßte, anstatt daß das Kissen den lose herabfallenden Kopf weich betten und stützen darf und jeder Muskel nachläßt und sich entspannt, wie es Kinder, Katzen und Hunde tun, wenn sie sich zum Schlaf legen. Will man den Arm jener Frau leicht in die Höhe heben, so ragt die Hand daran wahrscheinlich steif in die Luft hinaus, anstatt weich und gelöst vom Gelenk herabzuhängen. Entzieht man dann unbemerkt die Unterstützung und läßt den Arm ohne Halt, so bleibt er (statt schlaff und wie leblos herabzufallen) steif angespannt im Leeren ausgestreckt, weil seine Muskeln unbewußt angespannt worden sind; das aber ist vollständig unnötig, denn die Muskeln brauchen den Arm ja nicht hochzuhalten, solange eine andere Hand ihn unterstützt. Dort packt ein Mann seine Feder hastig, um in nervösem Ruck seinen Namen zu schreiben, anstatt diese Prozedur mit derselben bedächtigen Aufmerksamkeit zu vollziehen, mit der ein Säugling seine kleine Faust ins Mündchen steckt. Auf dem Bahnsteig steht ein Mann, der alle paar Minuten seine Uhr aus der Tasche zieht, obwohl er genau weiß, daß der Zug erst in einer Stunde abfahren wird. Und da ist eine Frau, die flach und kurz atmet und von Zeit zu Zeit einen tiefen Seufzer ausstößt, den ihr die Natur aufzwingt, um ihrem Körper den nötigen Sauerstoff zu verschaffen, welchen ihr oberflächliches, nervöses Atmen ihr nicht zuführen kann. Und dort sitzen Frauen eckig und verkrampft zuvorderst auf ihren Stühlen, gestikulieren heftig und 81
unruhig, halten sich straff aufrecht und schnattern mit schneidenden Stimmen aufeinander ein; ihre Gesichtsmuskeln sind hart angezogen, und ich möchte wetten, sie sehen in wenigen Jahren alt und verwittert aus. Hier noch ein Mann und eine Frau, die Messer und Gabel und Löffel oder ein Stück Brot an sich reißen oder sich hastig von einer Platte bedienen, als ob sie eine Partie Schnipp-Schnapp spielten, anstatt anmutig ihre Hand nach dem Gewünschten auszustrecken, wie ein sehr kleines Kind es tun würde; ihr Fehler ist nicht der Mangel an guten Manieren, der Fehler ist, daß ihre Nerven und Muskeln sich nicht zu benehmen wissen. Nur beständig und auch bewußt gelockerte Muskeln und Gelenke kann man in anmutiger Gelassenheit zu den beabsichtigten Zwecken und mit der äußersten Genauigkeit in Raum- und Zeiteinteilung bewegen. Ein jeder beobachte sich nun selber einmal auf diese Dinge hin. Wahrscheinlich wird man dann viele Anzeichen körperlicher Spannungszustände bei sich selbst entdecken! Laß jemanden deinen Arm in die Höhe heben und gib acht, ob deine Hand lose vom Gelenk herunterhängt oder steif in die Luft hinaussteht. Wenn die unterstützende Hand sich unvermittelt zurückzieht — fällt dann dein Arm hernieder, als ob er lahm wäre? Lege dich hin, laß jemanden deinen Kopf von einer Seite zur andern rollen und plötzlich innehalten, und beobachte, ob dein Kopf augenblicklich aufhört, sich zu bewegen, und in der genauen Lage bleibt, in der er sich befand, als die Hand, die ihn bewegte, sich zurückzog, und ob diese Lage ungezwungen ist, oder ob der Kopf von selbst in eine andere Lage zurückrollt (wodurch die Anstrengung automatisch gelöst wird) und darin verharrt, wie der Kopf eines toten, schlaffen Körpers in der Lage verharren würde, in der er seinem Gewichte nach am günstigsten liegt. Oder bewegt sich dein Kopf in der Richtung, in welche die Hand ihn führte, weiter? In neunhundertneunundneunzig von tausend Fällen wird er das tun. Bist du nicht zufällig der tausendste Fall, so befindest du dich in einem Zustand chronischer Muskel- und Nervenspannung, die deine lebendige Nervenkraft beständig abnutzt. Beobachte dich, wenn du deine Hand nach irgendeinem Gegenstand ausstreckst, und sieh, ob Hand und Arm, die du für diesen Zweck benützest, die einzigen Teile deines Körpers sind, die den Impuls zur Bewegung erhalten; prüfe, ob ihre Bewegung krampfhaft ist, ob die Hand sich heftig und unkontrolliert ausstreckt und zurückzieht (Fall 1) oder überlegt und völlig sicher das gewünschte Ding aufhebt, ohne die geringste Hast im Wesen, in den Nerven und in den Muskeln, im Gegenteil, mit einem Gefühl vollständiger Gelassenheit (Fall 2). Im ersten Fall verschwendest du deine Lebenskraft in Überanspruchung deiner Kräfte und untergräbst deine Gesundheit zwecklos vorzeitig; im zweiten Fall bist du auserwählt, bei im übrigen gleichen Bedingungen viele Jahre länger als nützliches Glied der menschlichen Gesellschaft zu leben. Beobachte dich, wenn du spazieren gehst, ob dein ganzer Körper unbiegsam und starr im Takte deiner steifen, ruckweisen Schritte gestoßen wird. Dann erschöpfst du rasch deinen Vorrat an Lebenskräften — an den Kräften, die die Natur dir zum Schutze gegen Krankheiten mitgegeben hat. Oder schwingst du deine Beine in freien, ausziehenden Schritten, folgt dein ganzer Körper rhythmisch ihren Bewegungen, und schwingen deine Arme dazu mehr oder weniger wie Dreschflegel in harmonischem Takt? Dann vermehrst du beständig deinen Vorrat an Lebenskraft, indem du jeweilen nur die für die momentane Verrichtung notwendige Kraft ausgibst. In dieser Weise solltest du jede einzelne bewußte Tätigkeit daraufhin untersuchen, ob deine Bewegungen wohl erwogen und überlegt und frei erfolgen und ob du nicht 82
mehr Kräfte dafür ausgibst, als sie beanspruchen. Oder ob deine Bewegungen aufs geratewohl und übermäßig heftig geschehen, wobei mehr oder weniger jeder andere Muskel des Körpers auch ins Spiel gezogen wird. Nur wenn du mit einer bewußten Anstrengung und unermüdlicher Selbstkontrolle die angeborenen schlechten Gewohnheiten abzulegen trachtest, kannst du dich von ihrer Sklaverei befreien und unnütze Kraftausgabe vermeiden. Und nun möchte ich den Leser bitten, eine halbe Stunde lang alles, was wir bis jetzt besprochen haben, in seinem Geiste zu erwägen, insbesondere die Tatsache, daß der Mensch geschaffen worden ist, um im Freien, ohne Haus und Körperbedeckung zu leben und sich von der unverfälschten Kost zu ernähren, die die Natur ihm bietet, wie die Urväter der menschlichen Rasse es einst getan haben müssen, und wie die Primitiven unserer Epoche es immer noch tun. Des weiteren soll der Leser bedenken, daß „unheilbar kranke“ zivilisierte Menschen oft zu primitiven Lebensgewohnheiten zurückkehren und dann vollkommene Gesundheit wiedererlangen, trotz der „Härte“ einer solchen Lebensweise oder wohl gerade ihretwegen. Nachdem der Leser all dies reiflich erwogen hat, ist er sicherlich fähig, seine Lage selber zu beurteilen. Das gilt vor allem für den kranken Leser, an den ich jetzt einige Fragen richten möchte. Kranker Leser, ist es immer noch deine aufrichtige Überzeugung, daß Gott in seinem unerforschlichen Ratschluß es für gut hielt, dich mit deiner Krankheit zu schlagen? Oder glaubst du jetzt, daß deine Kränklichkeit eine Beleidigung Gottes ist, ein Zustand, den du selber mit deinem eigenen Ungehorsam und dem deiner Vorfahren über dich gebracht hast; ein Zustand, den du damit verschuldet hast, daß du die göttlichen, gesundheitschützenden Gesetze verachtest und tust, was du wünschest, und nicht, was du sollst? Ist es dir jetzt möglich, zu erkennen, daß Gott ein guter Gott ist, und daß seine Absicht war, du solltest immer gesund und glücklich sein wie die meisten seiner ungezählten Geschöpfe? Daß er dich mit Abwehrkräften versehen hat, deren Mechanismus, wenn ihm die Möglichkeit freien Funktionierens gegeben wird, dich automatisch gegen Krankheiten unempfänglich macht, wenigstens im gleichen Grade, wie die primitiven Rassen es sind; daß er aber, wenn er auf Widerstand stößt, deinen Körper den unheimlichen, vernichtenden Gewalten ausliefert, die schließlich zu Krankheit und zu vorzeitigem Tode führen? Die Antwort auf diese Fragen ist wichtig. Wenn du nach reiflicher Überlegung immer noch nicht glaubst, daß du durch deine Lebensweise selber die Schuld an deinen Krankheiten trägst, dann lies nicht weiter, denn du wirst dich in diesem Falle für die Schlüsse, die ich im folgenden aus den früheren Betrachtungen ziehen will, ganz sicher nicht interessieren! Wer mir aber sein Verständnis und seine Zustimmung bis hierher nicht versagt hat, der möge mir auch noch weiter folgen und mit mir den modus operandi erforschen, durch welchen eine verhältnismäßige Unverletzlichkeit gegenüber Krankheitseinflüssen durch ausgleichende, natürliche Mittel erreicht werden kann. Ich stütze mich dabei auf die Erkenntnis, daß der Mensch vom Schöpfer als vollkommenes Wesen erschaffen worden ist — so vollkommen, daß er die Vollkommenheit seines Schöpfers widerspiegeln und darstellen sollte. Und ich vertrete die Überzeugung, daß der 83
menschliche Körper seiner Natur nach der Krankheit nicht unterworfen ist, weil Gott den Menschen mit einem Mechanismus versehen hat, der ihm erlaubt, verderbliche Einflüsse von sich fernzuhalten: mit lebendiger Widerstandskraft. Darf dieser Mechanismus voll, kräftig und unbehindert funktionieren, so bleibt der Mensch stets im Besitz seiner ungestörten Lebensvollkommenheit; er ist beständig widerstandsfähig und — immer gesund. 8. KAPITEL Dr. Jackson stellt sich um In diesem Kapitel will ich nicht theoretisieren; ich will von eigenen Erfahrungen erzählen. Wie ist es mir gesundheitlich ergangen? Wußte ich von vornherein besser Bescheid als meine Fachkollegen? Hatte ich tiefere Einsichten oder ein höheres Wissen um die Wege zur Gesundheit als der einfachste meiner Nebenmenschen? Anfänglich keineswegs! Was ich hier über mich in dieser Hinsicht zu sagen habe, ist kein stolzer Bericht, sondern eine Beichte. Auch ich war einst „kultiviert“ genug, um an den Wert eines „guten, nahrhaften Frühstücks“ als nötige Unterlage für den arbeitsreichen Tag zu glauben. Viele Jahre lang aß ich früh morgens meinen großen Teller voll Porridge, darauf eine Schweinskotelette oder ein Beefsteak und Kartoffeln; oder Würste und Eierkuchen; oder Schinken und Eier; oder gebratenen Speck und Eier. Auf diese nahrhaften Speisen folgten Toast und Marmelade — natürlich dick mit Butter bestrichener Toast. Dazu nahm ich eine Tasse guten Kaffee oder Tee, oft auch mehrere Tassen. Über meinen Porridge schüttete ich stets reichlich Zucker und Rahm, um mich zu kräftigen. Denn verwandelt sich Zucker nicht in Körperwärme und Energie, und wird nicht Butter noch ein wenig rascher in dieselbe so wünschenswerte Körperwärme und energie umgesetzt? Und sind nicht Schweinskoteletten, Beefsteaks, Würste, Schinken, Speck, Eier gewebebildende Nahrungsmittel, die die Muskeln, die Organe, die Verbindungsgewebe des menschlichen Körpers aufbauen und erneuern helfen? Selbstverständlich! Und braucht der Körper nicht Wärme und Energie, körperbildende und erneuernde Stoffe, um Tag für Tag weiterleben zu können? Natürlich! Dann sind also solche Mahlzeiten am Morgen vor Beginn der Arbeit das Beste, was man sich zur Kräftigung und Stärkung für sein Tagewerk ausdenken kann. So dachte ich einst wirklich selber auch. Und aus diesen und ähnlichen Überlegungen heraus verzehrte ich zum Frühstück stets verschiedene so „nahrhafte“ Speisen. Allerdings lernte ich dieses üppige Essen erst langsam und allmählich. Doch unterstützte mich meine damalige Gesundheitsphilosophie darin aufs kräftigste. Als Kind hatte man mich mit Porridge zum Frühstück aufgezogen. Als ich älter und verständiger wurde, machte ich mir klar, daß Porridge allein für einen ausgewachsenen Mann schwerlich genügen kann, besonders wenn dieser Mann beständig das Gefühl von Leere im Magen hat und lange vor der Mittagsmahlzeit schon wieder ganz schwach vor Hunger ist. Daher handelte ich nach meiner Logik und fügte meinem gewohnten Morgenimbiß einige kräftigere Gänge hinzu. Ich begann damit, zu meinem Teller Porridge noch ein Ei und etwas Toast zu essen. Bald wurden es zwei Eier; dann kamen Schinken und Speck hinzu. So ging es weiter — bis ich schließlich bis zum 84
Platzen gefüllt vom Frühstückstisch aufstand. Aber schon lange vor dem Mittagessen hatte ich wieder das Gefühl eines leeren Magens. Darum mußte die Mittagsmahlzeit gleichfalls reichlich sein. Ich nahm Kartoffelbrei und Koteletten oder Beefsteak, dazu zartes, weißes Brot und Marmelade oder Pastete und Milch oder Kaffee. Abends kam dann die Hauptmahlzeit, das eigentliche Essen: Suppe, Braten, Kartoffeln, Brot, manchmal gekochtes Gemüse, dazu Pudding oder Pastete oder auch beides miteinander; und wieder Milch oder Kaffee. Ist es zu glauben? Trotz diesen „nahrhaften“ Mahlzeiten fühlte ich mich doch allemal bald wieder schwach und leer, bis ich neuerdings etwas zu essen bekam. Und je „nahrhafter“ die Mahlzeiten waren, desto stärker war dieses Hungergefühl. Aber was sollte ich denn tun? Ich konnte bei den Mahlzeiten unmöglich mehr essen, und es gab auch keine noch nahrhafteren Speisen. Nur häufiger essen konnte ich, so oft dieses Hungergefühl sich meldete. Und das tat ich auch. Ich aß vier- und fünfmal des Tags. Trotzdem spürte ich am frühen Morgen dieselbe innere Schwäche. Und damit schien es immer schlimmer zu werden, je reichlicher ich aß. Oft war ich von dieser Beobachtung völlig niedergedrückt, denn ich brachte diese Kraftlosigkeit immer mit Mangel an Nahrung in Zusammenhang. Es war lächerlich. Eine andere Erscheinung erstaunte mich außerordentlich: das allmähliche Auftreten regelmäßiger Kopfschmerzen. Später, als in meinem Symptomkomplex auch Verdauungsschwierigkeiten eine Rolle zu spielen begannen, hätte ich mir diese Kopfschmerzen wohl erklären können. Aber in jenen Tagen, als ich die Anfangsgründe der Theorie des „guten, nahrhaften“ Essens studierte, schien meine Verdauung normal zu funktionieren — ich sage ausdrücklich: schien. Nichtsdestoweniger mußte ich am Ende jeder Woche ein Abführmittel nehmen, später zweimal die Woche, um die Kopfschmerzen zu beseitigen. Es gab Zeiten, wo auch solche Mittel die Kopfschmerzen nicht zu unterdrücken vermochten. Dann nahm ich meine Zuflucht zu Kohle-Teer-Derivaten, meistens Azetanilid. Aber da Azetanilid das Herz angreift und mein Herz nicht stark war, fügte ich als Anregung für das Herz Koffein hinzu. Tatsache war und blieb, daß ich zwar beständig große Mengen guten, nahrhaften Essens verzehrte, daß es aber offensichtlich mit mir abwärts ging. Meine Verdauungsorgane wurden widerspenstig und wollten ihre Arbeit trotz der kräftigenden Kost, die ich in sie hineinschüttete, nicht mehr verrichten. Indem ich dem konventionellen Glauben an „gute, nahrhafte Kost“ huldigte, brachte ich mich an den Rand des Grabes. Ich hätte schon damals erkennen können, daß irgend etwas an meiner Auffassung dieses Problems nicht stimmte, denn sicherlich hätte gute, reichliche Kost das Schwächegefühl in mir besiegen müssen, wenn dessen Ursache mangelnde Ernährung war. Die Mehrnahrung schien aber gerade die gegenteilige Wirkung hervorzurufen. Statt auf Grund dieser Erfahrung die Stichhaltigkeit meiner Ernährungstheorien in Zweifel zu ziehen und der Stimme des gesunden Menschenverstandes Gehör zu schenken, beharrte ich, ohne mich um Näheres zu bekümmern, bei den konventionellen Ernährungsansichten der Vergangenheit, genau wie die übrigen neunundneunzig Prozent zivilisierter Nichtwisser, die nach dem Sprichwort „sich ihre frühen Gräber selber mit den Zähnen schaufeln“. Zudem richtete ich meine übrigen Lebensgewohnheiten in Übereinstimmung mit meinen verkehrten Ernährungsideen ein. 85
Weil „viel gute, nahrhafte Kost“ eine Notwendigkeit für mich war, beschloß ich, meine körperliche Betätigung einzuschränken, damit die Energie meines Körpers sich völlig der Aufnahme und Verarbeitung meiner Nahrung und damit dem Wiederaufbau meiner Kräfte zuwenden könne. Ich ging nicht mehr spazieren — ich gab meine Sportspiele auf —, ich verzichtete nahezu auf jede Bewegung und tat nichts mehr als essen und schlafen. Natürlich wußte ich, warum ich alle diese Leiden zu ertragen hatte, wie es meine medizinischen Kollegen auch wußten. Ich war eben krank. Aber warum war ich denn krank? So vorwitzig darf man nicht fragen; die Krankheit kommt über einen, ehe man's gedacht, und niemand weiß den Grund dafür. Sie packt einen, nicht wahr? Wer hätte das nicht schon selber erlebt! Das war meine Philosophie, und es ist noch heute weitgehend die Philosophie meiner Berufsgenossen. Ich war krank — niemand wußte, weshalb, und ich mußte mich durch den Genuß guter, reichlicher Nahrung wieder erholen; dabei sollte meine Natur durch eine Unmenge von Tränken und Mitteln, verdauungsfördernden, blutreinigenden, anregenden, beruhigenden, abführenden, schmerzstillenden Medizinen, „unterstützt“ werden. Mehr konnte man wahrhaftig nicht tun. Aber mein kranker Körper wollte trotz alledem nicht gesund werden. Im Gegenteil, es wurde nur immer schlimmer. Mein Blutdruck stieg auf 212; mein Herz schlug chaotisch und wild, und der große Sir William Osler, den ich als ärztliche Autorität zu Rate zog, hatte bereits sein vernichtendes Urteil über mich ausgesprochen. Jedem Luftzug konnte ich zum Opfer fallen. Kein Wunder übrigens, daß ich so krank war, bin ich doch einst — mehr als achtzig Jahre sind es schon her — von einer herzkranken Mutter weit draußen am Rande der Zivilisation als schwächliches Zwillingskind geboren worden. Man ernährte mich mühsam, und ich gedieh unter den primitiven und unhygienischen Lebensverhältnissen jener Grenzgegend nur kümmerlich. Ich blieb schwach, kränkelte meist und machte ungefähr alle Kinderkrankheiten der Reihe nach durch. Zwar floß mein Leben bis zu meinem zweiunddreißigsten Altersjahr noch einigermaßen leidlich dahin. Dann aber kam es zu einem vollständigen Zusammenbruch. Ich lag gleichzeitig mit fast allen Krankheiten der Verdauungsorgane außer dem Krebs darnieder, besaß keine Kontrolle mehr über meine Muskeln und Nerven und hatte die verschiedenartigsten Halluzinationen. Ich verlor acht Zähne durch hochgradige Paradentose, mußte wegen einer Fistel operiert werden, und zwar ohne Anästhesie, weil ich dazu körperlich zu geschwächt gewesen wäre. Ich verblutete beinahe an einem heftig entzündeten Geschwür im Dickdarm. Furchtbare Kopfschmerzen warfen mich immer wieder für zwei bis drei Tage hilflos ins Bett, und das ging jahrelang so weiter. Mit vierundvierzig Jahren war mein Körper durch Neuritis und Arthritis verkrüppelt. Mit fünfundvierzig Jahren geriet mein Herz in einen hoffnungslosen Zustand, der keine Aussicht auf Heilung mehr zuließ. Und dennoch mußte ich weiterleben. Mit neunundvierzig Jahren litt ich am Grünen Star, und man sagte mir voraus, ich würde in längstens vier Jahren gänzlich erblinden. Mit dem linken Auge konnte ich nicht mehr die Finger zählen. Ich verlor auch den Geruchsinn, den Geschmacksinn und das Gehör im linken Ohr. Für den Grünen Star war eine Operation nach Ansicht eines Spezialisten die einzig richtige Behandlung, aber meine Schwäche ließ keine Operation zu. Um diese Zeit war meine schwere Herzkrankheit so weit vorgeschritten, daß ich die 86
drei Stufen zu meiner Erdgeschoßwohnung kaum mehr ersteigen konnte. Es schwamm mir dabei vor den Augen, ich verlor den Atem, hatte Schwindelanfälle und mußte mich am Türpfosten festhalten, bis ich wieder sah. Man hätte meine Herzschläge auf vier Schritt Entfernung hören und sozusagen durch die Weste hindurch sehen können. Düstere Aussichten — um so düsterer, als meine Ärzte zu ihrer trüben Prognose auf Grund meiner Familiengeschichte vollkommen berechtigt zu sein schienen. Denn mein Vater hatte elf Geschwister gehabt, die alle an Herzkrankheiten gestorben waren. Er selbst starb mit dreiundvierzig Jahren, und das war das höchste Alter, das bis dahin in seiner Familie erreicht worden war. Schon sein eigener Vater war an einer Herzkrankheit gestorben. Dasselbe Schicksal hat später meinen Bruder und meine Schwester ereilt. Auch meine Mutter war, wie schon berichtet, herzkrank und während vierzehn Jahren fast ununterbrochen ans Bett gefesselt. Etwa in der Hälfte dieser vierzehn Jahre brachte sie mich zur Welt. Ich frage: kann man sich eine belastendere Familiengeschichte vorstellen? Nein, ich selbst mußte durchaus der Prognose beistimmen. Ich war nach bestem ärztlichem Wissen und Ermessen verloren. Aber ich sollte erfahren, daß es sogar für den hoffnungslos Abgelebten noch einen Weg zu dem schönen Ziele der dauernden Gesundheit gibt, einen Weg, den die Kunst der Mediziner bisher noch nicht genügend in Betracht gezogen hat. Das ist der Weg der Natur! Als ich allen Mut und jede Hoffnung aufgegeben hatte, da ereignete sich. das Wunder, das mir Rettung bringen sollte. Es ereignete sich auf eine unscheinbare, unauffällige Weise. Eines Tages, kaum drei Wochen nach dem vernichtenden Spruch des großen Sir William Osler, trat eine junge Mutter mir mit einer unerwarteten Frage in den Weg, ahnungslos, welche Bedeutung diese Frage für mich gewinnen sollte; sie zwang mich zum Nachdenken und in der Folge sogar dazu, meine ganzen Ansichten über Gesundheit und Krankheit von Grund auf zu ändern. Und damit rettete sie mir das Leben! Ich sah ein, daß der Grundfehler die Verblendung der Menschheit in der Anlage ihrer Lebensgewohnheiten war. Daraufhin habe ich mich kompromißlos umgestellt. Allerdings habe ich seither schwerlich noch ein Anrecht darauf, mich zivilisiert zu nennen, denn ich gestehe gerne ein, daß meine Lebensgewohnheiten seither nicht mehr die der zivilisierten Menschen sind. Aber das ist es ja gerade: mein Lebensgefühl ist auch nicht mehr das der zivilisierten Menschheit. Ich bin nicht mehr krank — ich scheine in der Tat gegen alle Krankheitsübertragungen immun zu sein. Angst vor Ansteckungen und körperlichen Leiden kenne ich nicht mehr; denn dieselben Krankheiten, von denen ich vor Jahren heimgesucht wurde und die täglich Hunderte von Menschen dahinraffen, lassen mich seit meiner Umstellung vollständig in Ruhe. Doch mit diesen Feststellungen greife ich dem Gang der Dinge vor. Den Leser wird zunächst die Frage interessieren, die mir das Leben gerettet hat. An meinem damaligen Wohnort hatte ich mir einen gewissen Ruf als Kinderarzt erworben. Die oben erwähnte junge Mutter, schön, munter und keck, erschien eines Tages in meiner Sprechstunde, begleitet von einer Wärterin, die ein Kindchen trug, sicherlich das ärmste, abgezehrteste Würmchen, das ich je gesehen hatte. 87
Nach der Untersuchung sagte ich, im Bemühen, die junge Frau zu beruhigen, unter anderem, sie brauche sich nicht zu sorgen; wenn sie die Nahrung des Kindes seiner Verdauungs und Aufnahmefähigkeit anpasse, so daß auch die Ausscheidung der Abfallstoffe regelmäßig vor sich gehen könne, und wenn dem Kinde die notwendige hygienische Sorgfalt zuteil werde, dann werde es wie Unkraut aufwachsen und gedeihen. Daraufhin schaute die junge Frau mich belustigt an und fragte mit einem spöttischen Blick auf meine armselige, zusammengefallene Gestalt: „Herr Doktor, wann hört dieses Prinzip auf, im Leben eines Menschen wirksam zu sein?“ Selbstverständlich konnte ich ihr nicht antworten; ich wich daher mit ein paar nichtssagenden Worten aus. Damit war die Angelegenheit, soweit sie meine Klientin betraf, erledigt; sie hatte ihren kleinen Spaß auf Kosten meiner verfallenen, elenden Körperlichkeit gehabt. Aber für mich war die Sache noch nicht abgetan. Der Mutter gegenüber hatte ich eine Antwort umgangen; in meinem Innern konnte ich dem durch ihre Frage aufgeworfenen Problem jedoch nicht aus dem Wege gehen. Ich wurde es nicht los, so sehr ich mich auch bemühte, es mir aus dem Kopf zu schlagen. Den ganzen Abend dachte ich an nichts anderes mehr. Wann, in der Tat, wann hörte dieses Prinzip im Leben eines Menschen zu wirken auf? Eine eigentümliche Überlegung wurde in mir wach. Konnte es möglich sein, daß das Prinzip, welches ich meiner Klientin auseinandergesetzt hatte, auch für erwachsene Menschen galt — auch für mich selbst? Und daß ich die vielen Jahre meines Leidens nur seiner Nichtanwendung zu verdanken hatte? War es dankbar, daß ich die Wunderwirkungen der Natur noch nicht genügend kannte? Lag es überhaupt in der Absicht der Natur, den Menschen mit Leiden und Krankheit heimzusuchen? Wenn im zarten Säuglingsalter der menschliche Körper durch bloße Anpassung der Nahrung an seine Aufnahme-, Verdauungs- und Ausscheidungsfähigkeit sowie durch vernünftige Sorgfalt und Hygiene immer gesund erhalten werden kann — wann begann dann der Lebensabschnitt, in dem diese Regel versagte? Und warum versagte sie auf einmal? Sonderbar, daß die Frage sich mir nie zuvor gestellt hatte. Jedenfalls mußte ich die Antwort darauf finden; sonst würde ich nicht einschlafen können. In der Hauptsache gingen meine Gedanken wie gewöhnlich im Kreis; aber von Zeit zu Zeit wagten sie sich doch aus der konventionellen, ewig gleichen Linie in eine neue Richtung und spähten irgendeinen unbekannten Weg entlang, der bisher — da ich als Arzt gewohnt war, die Pfade der Autoritäten zu wandeln und nicht nach rechts noch nach links zu blicken — von mir gar nicht beachtet worden war. Genau so ergeht es den meisten meiner Berufskollegen noch heute; neue Gedanken bleiben ihnen verschlossen bis irgendeine Autorität sie anerkannt und bestätigt hat. Während jener Nacht überlegte ich hin und her. Stets kehrten dabei die Worte wieder, die ich der jungen Frau zum Troste gesagt hatte: „Sorgen Sie dafür, daß die Nahrung Ihres Kindes seiner Fähigkeit zu verdauen und auszuscheiden entspricht; lassen Sie ihm die nötige hygienische Sorgfalt zuteil werden, und es wird wie Unkraut wachsen und gedeihen.“ Darauf folgte dann stets sogleich die Frage der jungen Frau: „Wann hört dieses Prinzip im Leben des einzelnen Menschen zu wirken auf?“ Diese beiden Sätze wurden das „Sesam, öffne dich“ zu meiner Errettung. Immer wieder funkelten mich die schwarzen, mutwilligen Augen meiner Klientin an und prüften meine armselige Gestalt von Kopf bis Fuß; und nun begann ich mit einem Male mich dieser Gestalt zu schämen, die zuvor Gegenstand meines tiefsten Erbarmens gewesen 88
war. Ich erinnerte mich plötzlich, daß die Natur mir in meinen jungen Jahren einen wohlgestalteten, wenn auch nicht sehr kräftigen noch in irgendeiner Weise auffallenden Körper verliehen hatte. Zum ersten Male erkannte ich, daß ich nie im Leben darüber nachgedacht hatte, wie dieser Körper behandelt werden sollte. Ich begriff jetzt, daß ich meinen Körper immer nur so behandelt hatte, wie es mir die augenblickliche Laune, der momentane Wunsch eingab; dabei waren diese Launen und Wünsche größtenteils nicht aus mir selber aufgestiegen, sondern — echtes Kennzeichen der Gaben unserer Zivilisation — aus den Launen und Wünschen anderer entstanden. Das Ergebnis konnte gar nicht anders ausfallen. Denn Launen sind meistens gegen den Lauf der Natur gerichtet. Aber gegen die Natur gehen kann nur zu einem einzigen Ergebnis führen — und in meinem Falle war ich selber dieses Ergebnis. Versucht man, ein solches Ergebnis zu korrigieren, ohne die Launen, die es verursacht haben, auszuschalten und ohne das Leben wieder in die gleiche Richtung mit der Natur zu bringen — mit anderen Worten: wird das Ergebnis der unnatürlichen Gewohnheiten mit ähnlichen unnatürlichen Mitteln korrigiert, dann gewinnt man zwangsläufig neuerdings ein unnatürliches Resultat. In meinem Fall war dieses korrigierte Resultat wiederum ich. Nachdem ich mir diesen Tatbestand gründlich vergegenwärtigt und klar erkannt hatte, daß ich mit meiner damaligen Behandlung nirgends anders als im Grabe landen würde, hatte ich um so mehr Mut, etwas ganz Neues zu unternehmen. Neu war es wenigstens für meine eigene Erfahrung. Ich beschloß nämlich, mich hinfort ebenso treu und bedingungslos auf die Natur zu verlassen wie bisher auf künstliche Mittel; dann mußte sich rasch erweisen, ob diese Natur wirklich mein Bestes wollte und mich zur Gesundheit führen konnte, und ob sie mich wirklich mit den dazu nötigen Aufnahme- und Abwehrkräften versehen hatte. Mit einem Wort: die Einsicht, die ich in der langen Stille jener Nacht gewann, war die, daß mir nicht mehr zu helfen war, wenn nicht die Natur selber mir noch helfen konnte. Ohne Aufschub machte ich mich denn auch daran, im offenen Buch der Natur zu forschen und zu suchen. Dabei wurde mir eines sofort klar: Mit der konventionellen Arzneimittelbehandlung mußte ich endgültig Schluß machen. Aber wie gründlich mußte ich mein Denken und Handeln noch umstellen, um mich dem Willen der Natur auch nur einigermaßen anzupassen! Ja, eine vollständige Umstellung meiner früheren Auffassung von Krankheitsverursachung und Heilungsmöglichkeiten vollzog sich in mir. Krankheit war für mich fortan nicht mehr ein Übel, das mich unvorbereitet ereilt oder das ich „bekommen“ konnte, sondern ein ursprünglich in meinem eigenen Körper durch meine eigenen Lebensgewohnheiten entwickelter Zustand. Es war merkwürdig, wie rasch ich von diesem Augenblick an das Groteske meiner früheren Einstellung erkannte. Ich schämte mich meiner vollkommen unfähigen Intelligenz, die mich durch so viele Jahre, welche reich und wertvoll hätten sein können, in der Sklaverei entkräftender und lebensuntergrabender Gewohnheiten gehalten hatte, Jahre des frühen Mannesalters, in denen meine Kräfte sich auf ihrem Höhepunkt hätten auswirken sollen, in Wirklichkeit aber brachlagen. Ich erkannte auch: erlaubte ich meinem Körper nicht, sich selber zu verteidigen und seine Kräfte zu üben, so konnte ich nie mehr hoffen, ihn zu natürlichem Lebenswiderstand, zur Entwicklung einer Schutzkraft gegen die in und außer ihm 89
waltenden zerstörenden Einflüsse zu erziehen. Diese Entdeckung und das Wissen, daß während unendlicher Zeiträume unsere primitiven Vorfahren unbekleidet im Freien gelebt hatten, waren für mich ein Fingerzeig, wie ich vorgehen mußte. Das Naturgesetz, nach dem willkürliche Muskeln durch das einfache Verfahren, sie alle täglich ein oder mehrere Male für kurze Zeit durchzuarbeiten, zu großer Vollkommenheit entwickelt werden können, mußte nach meinen Überzeugungen und Beobachtungen auch alle anderen Funktionen regieren. Es mußte möglich sein, auch die volle Funktionsfähigkeit der Kette der Hauttätigkeiten zu erreichen, die ein so wichtiger Teil des Abwehrmechanismus unseres Körpers sind, wie überhaupt die volle Funktionsfähigkeit aller fünf Reflexketten. Nun war es nur noch notwendig, einen Durchführungsplan zu entwerfen, welcher der Forderung nach direkter Fühlungnahme der Haut mit kaltem Wasser, kalter Luft, Sonne und Wind, nach Übung und Massage für Haut und Muskel, nach natürlicher Anregung des Verdauungssystems entsprach. Es gab da vieles zu berücksichtigen. Wie sinnlos war es doch, die Gesundheit durch große Mengen guten, nahrhaften Essens aufbauen zu wollen und dabei gar nicht auf die Zusammensetzung dieser Speisen zum Zwecke ihrer Verarbeitung im Verdauungskanal zu achten, gar nicht ihr Verhalten gegenüber den verschiedenen Sekretionen dieses Kanals zu berücksichtigen. Wie sinnlos war es auch, in keiner Weise zu überlegen, ob die verzehrten Nahrungsmittel nach Menge und Art mit den Absorptionskräften meines Verdauungsapparats in Einklang standen. Wie sinnlos endlich, ganz zu übersehen, welche verheerenden Wirkungen überreichliche Kost in meinem Körper hervorrufen mußte, wenn meine Verdauungswerkzeuge nicht genügten, alles gründlich zu verarbeiten. Meine Schlußfolgerung war daher die folgende: Ein mit Nahrung gefüllter Körper kann entweder ein Apparat zur Erzeugung von Gesundheit oder ein Mechanismus zur Erzeugung von Krankheit sein. Ist die genossene Nahrung natürlich und lebensvermittelnd — stellt man sie so zusammen, daß ihre Bestandteile sich gut miteinander vertragen —, werden genügende Mengen davon verzehrt, um den Körper aufzubauen, seine verbrauchten Stoffe zu ersetzen und ihn stets wieder frisch zu beleben, und werden dennoch im Hinblick auf Menge und Beschaffenheit der Nahrung die verdauenden, absorbierenden, assimilierenden und eliminierenden Kräfte nie über ihre Leistungsfähigkeit hinaus in Anspruch genommen — dann kann der Körper gar nichts anderes als Gesundheit zubereiten und aufbauen, soweit nur Nahrungseinflüsse in Betracht kommen. Besteht aber die tägliche Kost aus einem Durcheinander verschiedener „gut und reichlich nährender“ Speisen, die wahllos (das heißt ohne die geringste Rücksicht auf die Frage gegenseitiger Verbindungsmöglichkeit) zusammengestellt werden oder den quantitativen Notwendigkeiten nicht entsprechen (sei es im Zuviel, sei es im Zuwenig) —ist die Nahrung bloß toter Baustoff statt lebendige und lebensspendende Substanz —, werden die Organe von ihr überlastet und haben sie nicht die Kraft, sich zu befreien — was kann dann der Körper mit allem Fleiße anderes als Schwäche und Krankheit aufbauen? Natürlich muß nicht unter allen Umständen nach einer kurzen Periode unvernünftiger Lebensweise sogleich auch Krankheit einsetzen; aber auf unsichtbare Art entwickelt sich doch ein Krankheitszustand, der bei längerer Fortsetzung des unvernünftigen Lebens früher oder später in Erscheinung tritt und das Leben des Verblendeten 90
abkürzt. Das ist sogar dann wahr, wenn der unmäßige, aber erblich vielleicht sehr gut ausgestattete und ausgiebig mit Lebenskraft versehene Mensch hundert Jahre lebt. Bei richtiger Lebensweise hätte er mit seiner vortrefflichen Konstitution leicht hundertfünfundzwanzig oder sogar hundertfünfzig Jahre alt * werden, hätte den Jüngeren viele Jahrzehnte lang ein Beispiel und Vorbild sein können. Im Lichte dieser Schlußfolgerung betrachtet, erschien es mir plötzlich verwunderlich, daß ich überhaupt noch am Leben war. Ich hatte bisher der Zusammenstellung * Auch wenn heute festzustehen scheint, daß der Mensch ein höheres Alter als 115 bis 120 Jahre nicht erreichen kann, so verliert die Betrachtungsweise des Verfassers dadurch nichts von ihrer Richtigkeit. Anm. des Herausgebers
meiner Speisen niemals auch nur einen Gedanken gewidmet. Es war mir nie eingefallen, daß von einer Speisenmischung, die zum Teil (Proteine) nur in einem Säuremedium, zum andern Teil (Stärken) nur unter dem Einfluß des Mundspeichels und daher nur in einem alkalischen Medium verarbeitet werden kann, der eine oder der andere Teil im Magen einfach nicht verdaut wird. Ich hatte nicht einmal daran gedacht, daß der viele weiße Zucker, den ich unter meine Speisen mischte und der des Körpers Verlangen nach Wärme und Energie rasch zu stillen scheint, die gleichzeitige Verdauung aller anderen Nahrungsstoffe unmöglich macht oder diese zum mindesten in Verbindungen und Bestandteile auflöst, die meine Körpergewebe vergiften und die Ausscheidungsorgane über Gebühr belasten mußten. Erst jetzt wurde mir klar, daß ich mich auf zwei Arten zugrunderichtete: erstens, weil ich die Nahrung zu mir nahm, die meinen Körper nicht beleben konnte; zweitens, weil meine Kost ein Übermaß (besonders an Eiweißstoffen) aufwies, das meinen Körper noch der wenigen Lebenskraft beraubte, die er aus den ihm zugefügten Nahrungsmischungen zu ziehen imstande war. Ich wußte nun, daß mein Körper an chronischer Vergiftung litt, fast wörtlich abgenutzt war und schwer gegen die Überlastung mit zu reichlichem, nahrhaftem Essen kämpfen mußte, denn ich aß damals Mengen, die drei hart arbeitenden Männern genügt hätten. Einige Zeit riet ich umsonst an dem Rätsel meines ständigen Hungers herum, des Gefühls, das ich „Leere“ und „innere Schwäche“ nannte und das unfehlbar wenige Stunden nach dem Genuß einer Mahlzeit sich einstellte, auch wenn ich, wie ich damals bereits deutlich erkannte, viel zu viel gegessen hatte. Schließlich erinnerte ich mich, wie oft ich als junger Bursche im Wachstumsalter eine Mahlzeit übersprungen hatte, obwohl reichliche Nahrung in der Entwicklungsperiode besonders wichtig ist — aber ich durchstreifte damals Felder und Wälder und spürte, sogar wenn ich hungrig war, niemals die haltlose Leere, die mich in meiner Krankheitszeit beständig quälte. Immer deutlicher erkannte ich, daß das Schwächegefühl, welches mich überfiel, sobald ich einige Stunden ohne Nahrung gewesen war, eine gewisse Verwandtschaft mit der Depression und dem Verlangen des Gewohnheitstrinkers oder eines Rauschgiftsüchtigen aufwies; auch der Trinker oder der Morphinist erlebt diesen Zusammenfall, sobald die Wirkung des letzten Genusses sich verloren hat und die sekundäre Folgeerscheinung der Depression, Hilflosigkeit und Vergiftungsarbeit, einsetzt. Ich sah jetzt, warum die reichlichen Mahlzeiten und das häufige Essen in mir dies Schwächegefühl und diese Empfindung von Leere hervorriefen, so daß ich immer 91
begieriger nach mehr Nahrung verlangte. Es kam daher, daß ich, je mehr ich aß, desto mehr Gifte durch den unverwendbaren Nahrungsüberschuß in mir anhäufte. Um der niederdrückenden und schwächenden Wirkung dieser Gifte zu begegnen, glaubte ich immer noch mehr essen zu müssen. So vergrößerten sich die Giftvorräte beständig, um die primären Anreize daraus zu gewinnen, die zur Bekämpfung der sekundären Rückschlagswirkung des Giftes aus den eingenommenen Speisen dienen sollten. Ich brauche hier die lange Reihe von Gedanken und Überlegungen, die mich in den folgenden Wochen immer wieder beschäftigten, nicht zu wiederholen. Der Leser, der mir bis jetzt aufmerksam gefolgt ist, wird auch diese Einzelheiten mit erleben können und sich vorzustellen vermögen, was mir geschenkt wurde, als ich im Buch der Natur zu lesen begann. Ich erkannte plötzlich, wie verschieden die Gewohnheiten aller natürlich lebenden Geschöpfe, auch des natürlichen oder primitiven Menschen, von den Gewohnheiten der zivilisierten Menschheit sind. Freilich, nachdem ich begreifen gelernt hatte, daß ich vergiftet, chronisch vergiftet und etwas Ähnliches wie ein Gewohnheitstrinker war, wußte ich zunächst kaum, was ich mit dieser Erkenntnis anfangen sollte. Doch eins wollte ich auf alle Fälle sofort tun, nämlich weniger Nahrung zu mir nehmen. Aber wieviel weniger? Und welche Nahrung weglassen? Mußte ich mein gewohntes, gutes, nahrhaftes Essen nur einschränken — oder brauchte ich eine ganz andere Art Kost? Wie konnte ich wissen, wieviel und was ich essen sollte? Wie konnte ich meinen Körper von den Giften der früheren Überernährung befreien? Diese und ähnliche Fragen überlegte ich tagelang, und inzwischen bemühte ich mich, weniger zu essen, obwohl es noch immer reichliche, „nahrhafte“ Mahlzeiten waren. Reichliche Mahlzeiten, aber sie waren gegen früher schon genügend eingeschränkt, um mir die ganzen Qualen zu verursachen, die eine Entziehungskur dem Trinker oder dem Morphinisten bereitet, wenn er seinem Schnaps, seiner Spritze, seiner Pille entsagen muß. Um die lange Geschichte abzukürzen, sei gesagt, daß ich endlich eine Zeitlang zu fasten beschloß. Ich begründete diesen Entschluß vor mir selber damit, daß sich, wenn ich nun keine Nahrung zu mir nehmen würde, auch keine Gifte mehr in mir bilden konnten, und daß die Oxydationsvorgänge alle Körper- und Zellenabfallstoffe, alle Nahrungsrückstände und Fremdsubstanzen in meinem Körper, die den normalen Ablauf der Funktionen hinderten, verbrennen und ausscheiden müßten. Nie werde ich die Erschöpfung jener ersten drei Fasttage vergessen. Ich war der Trinker ohne seinen Stimulus. Wer je einen solch armen Wicht zu beobachten Gelegenheit hatte, wird begreifen, wie wenig Reiz das Leben damals für mich haben konnte. Aber am vierten Tage war alles verändert. Das Gefühl der Leere, das ich Hunger genannt hatte, war fort. Eine große Last schien von mir genommen. Frage: Wie kommt es, daß man sich beständig hungrig fühlt, solange man zu viel ißt, und daß der Hunger aufhört, wenn man drei Tage lang nichts gegessen hat? Wer die Antwort nicht kennt, wird dieses Rätsel kaum lösen können. Deshalb will ich die Lösung lieber gleich verraten. Zu viel Nahrung erzeugt eine Vergiftung, die zuerst das Nervensystem anregt und es dann niederdrückt. Diese Depression ist verbunden mit einer Reizung der Nerven – Enden in den Magenschleimhäuten durch die Zersetzungsprodukte, die bei einer Überlastung der Verdauungsorgane mit überschüssiger oder ungeeigneter Nahrung entstehen. Darin liegt die Ursache dieses „Hungers“. Läßt man den Magen durch Fasten ausruhen, so daß die angesammelten 92
Nahrungsgifte ausgeschieden werden können, dann verschwindet der sogenannte Hunger nach drei Tagen, weil die Ursache entfernt ist. Natürlich, wenn es bei mir wahrer Hunger gewesen wäre, so hätte ich nach drei Tagen gänzlicher Nahrungsenthaltung richtig vor Hunger gelitten; aber das war nicht der Fall. Ich fühlte mich nach dem Fasten wohler, schlief besser und konnte mit größerer Klarheit denken; mein Herz schlug regelmäßiger und meine Nerven waren ruhiger als seit vielen Jahren. Diese Besserung nahm noch während zwei ganzen Wochen zu. Am Ende dieser vierzehn Tage hatte ich eine Auseinandersetzung mit dem berüchtigten Sensenmann und warf ihn kurzweg zum Haus hinaus. Seither habe ich ihn nicht mehr gesehen und gedenke noch viele Jahre lang den Kontakt mit ihm nicht wieder aufzunehmen, es sei denn, daß mir ein Unfall zustößt. Während der ersten vierzehn Fastentage trank ich stündlich zwei Gläser Wasser. In der dritten Woche fuhr ich mit Fasten fort, doch fügte ich den zwei Gläsern Wasser, die ich weiterhin stündlich trank, den Saft je einer Apfelsine bei. Nach diesen drei Fastenwochen war meine Zunge sauber, mein Geist klar, mein Schritt fest; nur die Füße waren ein bißchen schwer und die Knie schwach, besonders beim Treppensteigen. Doch ich konnte nun die sechs Stufen zu meiner Terrasse ohne Schwindel hinaufsteigen, und ich konnte laufen, beides Dinge, die ich am Anfang meiner Fastenzeit und viele Jahre vorher überhaupt nicht gewagt hätte. Ich beendete mein Fasten in der folgenden Weise: Am ersten Tage der vierten Woche fügte ich dem Glas warmen Wassers, das ich alle zwei Stunden zu mir nahm, je zwei gestrichene Teelöffel Malzmilch bei, am nächsten Tag drei, am übernächsten vier. Am vierten Tage nahm ich nach dem Frühstück die vier gestrichenen Teelöffel Malzmilch in einem halben Glase frischer Milch, aufgefüllt mit kochendem Wasser. Am fünften und sechsten Tage dasselbe. Am siebenten Tage ergänzte ich dieses Frühstück durch einen Teller ungezuckertes Apfelmus. Mittags nahm ich in kleinen Schlücken ein Glas warme Vollmilch und um sechs Uhr abends noch einmal ungezuckertes Apfelmus. Am achten Tage dasselbe wie am siebenten, mit dem Unterschied, daß ich dem Apfelmus morgens und abends einen Teelöffel Honig beifügte. Am neunten Tage dasselbe wie am achten, nur noch eine Tasse Milch morgens und abends zum Apfelmus mit dem Honig; Milch und Apfelmus kaute ich gut ineinander. Am zehnten wie am neunten Tage, bloß mittags die doppelte Menge Milch. Am elften wie am zehnten, doch fügte ich dem Mittagsmahl eine Tasse Vollkornporridge bei, die sogenannte „Römerkost“, einen aus Vollkörnern verschiedener Getreidearten gemischten, regelrecht gekörnten Grützebrei, mit Vollmilch, aber ohne Zucker zu essen. Dann ging ich allmählich zu meiner normalen Kost über, die ich später noch beschreiben werde. Ich muß hier besonders betonen, daß es für den Enderfolg sehr wichtig ist, wie man vom Fasten zur Normalkost übergeht. Die Verdauungsfunktionen gehorchen dem nervösen Reflexsystem; sie haben nichts zu tun mit unserem Verstand oder mit unserem Willen. Wenn die Verdauung des Fastens wegen ein paar Tage lang ausfällt, so darf sie nur langsam zu ihrer vollen Tätigkeit zurückgeführt werden. Während dieser Zeit darf man den Verdauungsorganen nur die leichteste Arbeit zumuten und die Nahrungsmenge nur allmählich vergrößern. Wird dieser Grundsatz streng eingehalten, so schadet das Fasten auf keinen Fall; im Gegenteil, es verjüngt und belebt den ganzen Körper. Von nun an hielten die „Römerkost“ und die Früchte meinen Darm in normaler Tätigkeit und ermöglichten dreimal täglich eine vollständige Entleerung. Dieses 93
Ergebnis erhielt ich zwar erst nach einiger Zeit; aber meine erschlafften Darmmuskeln stärkten sich zusehends unter dem Einfluß der durch die Zellulose im Grützebrei gesteigerten Verdauungstätigkeit, genau so wie meine Arm- und Beinmuskeln kräftiger wurden, nachdem ich begonnen hatte, sie täglich zu üben. Mit der Kräftigung der Darmmuskeln verschwand dann auch jegliche Neigung zur Verstopfung. Freilich ging noch lange nicht alles glatt. Ich hatte vielmehr noch schwere Kämpfe zu bestehen, bevor ich wirklich gesund war, denn ich erlebte zahlreiche Rückfälle und Zusammenbrüche, die ich in der Hauptsache meiner Eile, gesund zu werden, zuschreiben muß. Ich sah damals noch nicht ein, daß ein Körper, der so viele Jahre lang mißhandelt worden war, nicht in wenigen Wochen oder Monaten geheilt werden konnte; diese Weisheit wollte erst gelernt sein. Auch auf dem Gebiet der Haut- und der Muskelpflege entdeckte ich erst ganz allmählich, daß man nach jahrelanger Verzärtelung seines Körpers nicht unvermittelt entgegengesetzte Maßnahmen ergreifen und sozusagen ins andere Extrem übergehen darf, ohne Gesundheit und Nervenkraft aufs schwerste zu gefährden. Die bisher unausgebildeten Funktionen können nur langsam und stufenweise zu erhöhter Leistungsfähigkeit gebracht werden, so wie die Natur selber ihre Geschöpfe gedeihen läßt. Mein tägliches Bad begann ich mit lauen, dann kühlen, dann kalten Abwaschungen. Hernach stellte ich mich in die Wanne und wusch meinen ganzen Körper mit einem triefend nassen Waschlappen, erst lauwarm, später kühl, noch später kalt ab. Die dazu nötigen Bewegungen führte ich immer sehr rasch aus, unter tiefem Atemholen, um eine schnelle Zirkulation und auf diese Weise genügend innere Wärme zu erzeugen. Schließlich war meine Haut so abgehärtet, daß ich die kalte Dusche oder die kalte Abwaschung mit Genuß über mich ergehen ließ, und jetzt kann ich meine Abwaschung so kalt nehmen, wie das Wasser mitten im Winter direkt aus dem Ontario-See kommt; dann steige ich aus der Wanne und stelle mich mit meinem nassen Körper vor ein offenes Fenster, auch wenn die Außentemperatur unter Null ist und der Nordwind voll auf meinen nassen Körper bläst, der unter meinem Massieren und Beklopfen langsam trocknet. Das ist ein herrliches Gefühl, aber nur der darf diesen Versuch wagen, dessen Abwehrmechanismus in vollkommener Ordnung ist und der durch langsame, vorsichtige Fortschritte bereits einen hohen Grad von Vollkommenheit seines Körpersystems erreicht hat. Auch diese Luftbäder habe ich nur allmählich in mein Tagesprogramm aufgenommen; ich begann damit, meine Haut zuerst ein paar Minuten lang kühler Luft auszusetzen und während dieser Zeit unablässig kräftige Muskelbewegungen und rasche Massage zu machen, um mich nicht zu erkälten. Nach und nach erst verlängerte ich die Prozedur. Und mit derselben Vorsicht setzte ich auch meine Haut erst allmählich und das Zeitmaß langsam steigernd im Freien der Sonnenbestrahlung aus; hier ist im Anfang ganz besondere Vorsicht geboten. Gewiß, es ist schwer, sich dem langsamen Tempo solcher Fortschritte anzupassen. Aber wir dürfen eines nie vergessen: daß die Natur bedächtig arbeitet und nichts überhastet. Sie hatte bei mir viele Jahre lang geduldig jede Mißhandlung meines Körpers ertragen, bevor sie begann, mich wirklich leiden zu lassen. Nun mußte ich, während sie mich langsam und sorgfältig wiederaufbaute, das Leiden in Kauf nehmen. Auf diese Weise blieben die Waagschalen im Gleichgewicht. Natürlich beging ich am Anfang meiner Diätänderungsversuche Fehler über Fehler. Ich erinnere mich unter anderem noch, wie ich zuerst meine Vollmehl- und 94
Vollkornspeisen beständig zu lange Zeit der Hitze aussetzte, nicht ahnend, daß diese falsche Behandlung das darin enthaltene Lebensprinzip zu einem großen Teil zerstört. Schließlich lernte ich, das Vollkorn nicht länger als drei bis fünf Minuten zu kochen und es dann zwanzig bis dreißig Minuten zugedeckt zur Seite zu stellen; damit blieb das ihm innewohnende, aller Krankheit und Zersetzung trotzende Lebensprinzip erhalten. Seither habe ich auch gelernt, es vollkommen ungekocht zu essen, damit mir nichts von dem gesundheitsaufbauenden Werte, den die Natur in die Getreidekörner gelegt hat, entgeht. Niemand, der es nicht schon versucht hat, kann genügend ermessen, wie köstlich auch dieses ungekochte Gericht schmeckt. Die anfänglichen Niederlagen entmutigten mich nicht; ich gab nicht mehr nach; ich kämpfte unverdrossen weiter. Auf diese Weise ergab sich nach und nach eine Tagesordnung, die ich hier rasch skizziere. Ich schlafe das ganze Jahr in einem ungeheizten Raume, die Fenster sind weit offen, das Bett vor Durchzug geschützt, und trage keine Nachtkleider, weder Pyjama noch Nachthemd, decke mich aber so gut zu, daß ich mich im Bett behaglich warm fühle. Am frühen Morgen werfe ich die Decken über das Fußende des Bettes zurück und turne eine halbe Stunde lang nackt auf dem Bette liegend, stets bei offenem Fenster, ohne mich um die Kälte zu kümmern. Ist die Temperatur unter Null, so öffne ich die Fenster natürlich nicht ganz so weit wie bei milderem Wetter; aber offen bleiben sie immer. Mit meiner Morgengymnastik verbrenne ich alles, was an nicht gebundener Nahrungsenergie und an Speiseresten noch in meinem Körper vorhanden ist; so verhindere ich die Anhäufung von Abfallstoffen in meinem Körper, welche die Tätigkeit meiner Gewebezellen beeinträchtigen könnten. Nach diesem Bett – Turnen gehe ich ins Badezimmer, öffne das Fenster, wenn es nicht eingefroren ist, trinke drei Glas Wasser, heiß oder kalt, wie es mir im Augenblick beliebt, besorge meine Morgentoilette, turne noch einmal stehend und arbeite dabei alle Muskeln des Körpers gut durch, namentlich die Lenden- und Unterleibsmuskeln. Dann folgt ein kurzes kaltes Bad, rasche, kräftige Massage und aufs neue Muskel- und Atemübungen. Nach diesen Prozeduren fühle ich mich selbst bei großer Kälte durch und durch warm und wunderbar angeregt. Ich kleide mich an (Sommer und Winter ohne Unterwäsche) und begebe mich auf einen acht Kilometer langen Marsch. Weste und Mantel lasse ich selbst bei kältestem Wetter zu Hause. Im Sommer ziehe ich so wenig Kleider an, als Anstand und Gesetz es zulassen. Auf dem langen, raschen, energischen Spaziergang beschleunige ich die Sauerstoffaufnahme durch tiefes Atmen und sichere damit die Verbrennung der Nahrungsreste. Wenn ich in meiner Ordination ankomme, prickelt es in allen Zellen und Nerven meines sauberen Körpers — äußerlich sauber durch das kalte Bad und die Massage und innerlich durch die Verbrennung der überflüssigen Energien und Abfallstoffe. Jede Zelle verlangt nun nach Nahrung. Ich nehme sie in ihrer lebenskräftigsten Form — lebendige Früchte. Der in diesen Früchten enthaltene Zucker muß nicht einmal umgewandelt werden; er tritt unmittelbar als Energie in Tätigkeit. Auch das körperbelebende Prinzip der lebendigen Früchte wird unmittelbar wirksam. Zu dem Obst (bestehend aus den Früchten der Jahreszeit, Äpfeln, Orangen und Grapefruits oder — zumal im Winter — süßen Früchten wie Datteln, getrockneten Weintrauben, Feigen, Zwetschgen usw.) nehme ich Milch oder Getreidekaffee. Weil mein Körper innerlich und äußerlich sauber ist, ist auch mein Geist klar, und 95
weil mein Frühstück aus lebendiger Nahrung besteht, besitze ich hernach physische Energien im Überfluß. Deshalb stürze ich mich auf die Arbeit des Tages, wie ein feuriges Pferd sich in Trab und Galopp setzt. Woher dieser Eifer kommt, wird der Leser leicht einsehen. Zum Mittagessen nehme ich Milch und eine große Schüssel körniger Vollmehlgrütze, deren Zubereitung ich selber ausgedacht habe; oder ich esse Vollkornbrot mit Butter, Honig (außer den süßen Früchten die einzige Süßigkeit, die ich mir erlaube) und Getreidekaffee; ferner einen großen, blätterigen Salat mit Zwiebeln, Radieschen, Blumenkohl, Sellerie oder Tomaten, je nach der Jahreszeit. Das Nachtessen besteht fast immer aus einem großen Salat wie mittags, aus Käse oder Quark, Nüssen oder Nußbutter. Im Winter kommt oft noch gedämpftes Gemüse hinzu, mit Butter und Salz serviert. Im Sommer hingegen besteht das Nachtmahl oft auch nur aus Beeren und Milch. Häufig nehme ich auch im Winter abends nur süße Früchte und Milch oder Nüsse und getrocknete Weintrauben und eine Tasse Getreidekaffee. Gelegentlich lebe ich auch einen oder mehrere Tage lang ausschließlich von saftigen Früchten und „Halb-und-Halb“ (halb frische Milch und halb siedendes Wasser), damit die Verdauungsorgane und das Blut gereinigt werden, ausruhen können und die Darmflora sich verbessert. Durch die Vollgetreidespeisen, den Käse, die Milch, die sich alle nur langsam zersetzen und die mich daher nicht (wie Fleisch oder Fisch) vergiften können, wird mein Körper ausgiebig mit Aufbau- und Ersatzstoffen versorgt. Die vielen Mineralstoffe in den Getreidespeisen, den blättrigen Gemüsen und Früchten wirken den Gärungsprodukten kräftig entgegen; das Früchtefasten tötet die Fäulnisbakterien oder bezwingt sie. Mein Blut bleibt bei dieser Nahrung normal basisch und rein, meine Gewebe sind säurefrei und die Organe entlastet. Mein Körper ist geschmeidiger als die Körper junger Menschen, die sich von säureüberschüssiger Kost nähren. Durch die sorgfältige Haut- und Muskelpflege erhalte ich ihn sozusagen unempfindlich gegen Schmerzen und Beschwerden und stets vollkommen leistungsfähig. Ohne je einen Pausentag einzuschieben, marschiere ich täglich etwa sechzehn Kilometer und bin trotz meinen achtzig Jahren überhaupt nie müde. Ich kann zwölf bis fünfzehn Stunden täglich höchst angespannt arbeiten und betätige mich auf verschiedenen geistigen und körperlichen Gebieten nebeneinander. Meine Denkkraft ist klarer, leichter und beweglicher als in irgendeiner früheren Lebensperiode. Dies ist zum Beispiel mein erstes Buch, und das Manuskript — nicht die Maschinenabschrift — wurde an den Samstagnachmittagen und -abenden von zehn Wochen, deren Tage mit anstrengender Arbeit ausgefüllt waren, niedergeschrieben. Ich halte mich nicht damit auf, nach rückwärts zu schauen und nach einer vergangenen besten und schönsten Zeit meines Lebens zurückzuschielen: jetzt ist die beste, jetzt ist die schönste Zeit. Im Vorgefühl der immer größeren Dinge, die noch für mich zu tun sein werden, und in der Gewißheit sicheren Erfolges blicke ich beständig nach vorne in die Zukunft. Ich fühle mich trotz meinem hohen Alter durchaus jung, denn meine geistige Haltung ist die der Jugend. Ich bin so gesund, daß ich seit fünfundzwanzig Jahren nicht einmal mehr erkältet war, obwohl ich früher fast jedem Luftzug zum Opfer fiel. Heute bin ich meiner Gesundheit sicher; jedenfalls ist meine Aussicht, hundertzwanzig Jahre alt zu werden, größer als die Aussicht eines durchschnittlichen dreißigjährigen Mannes, der das 96
allgemein übliche Leben führt, auf Erreichung des sechzigsten Lebensjahres. Ein Mensch ist alt, wenn seine Gesundheit untergraben und nicht mehr widerstandsfähig ist, und ein Mensch ist jung, wenn sein Geist und sein Körper gesund sind. Könnte ich mit meiner früheren Lebenseinstellung alles leisten, was ich heute leiste? Könnte ich täglich von halb sechs Uhr morgens bis halb elf Uhr nachts auf den Beinen sein und Jahr um Jahr so leben, ohne je Ferien zu machen? Keineswegs, denn ich habe es lange Zeit hindurch versucht und mich damit beinahe umgebracht. Jeder Mensch, sei er, wer er wolle, wird, wenn er so lebt, wie ich gelebt habe — und wie es fast alle zivilisierten Menschen tun —, trotz scheinbarer Gesundheit viele Jahre früher sterben, als sein natürliches Leben dauern könnte, selbst jener, der zufällig eine so starke Konstitution geerbt hat, daß er dieses Leben hundert Jahre lang aushält; denn Menschen von so außerordentlich widerstandsfähiger Anlage könnten bei biologisch richtiger Lebensführung mit Leichtigkeit noch viel länger leben und bis zu ihrem Tode tatkräftige und nützliche Glieder der Gemeinschaft sein. Ich erzähle meine Erfolge nicht zu meinem Ruhm. Ich erzähle sie, um zu zeigen, was jeder erreichen kann, solange sein Körper sich noch durch natürliche Mittel erneuern läßt. Mir selbst blühten die Erfolge und ermutigenden Ergebnisse auf dem Wege der Gesundheitserneuerung schon recht bald. Bereits vier Jahre nachdem ich durch eifriges Nachdenken den Heilungsweg einer gesundheitsbringenden Lebensführung entdeckt hatte, kletterte ich als einziger unter zwölfen, die an dem Versuch teilnahmen, die fünfzig Stockwerke des Washingtoner Monuments hinauf; die andern kamen nicht über das achtzehnte Stockwerk hinaus, obwohl der älteste von ihnen fünf Jahre jünger war als ich und zwei von den anderen weniger als dreißig Jahre alt waren. Ich stieg dann auch wieder zu Fuß hinunter. Es war an einem jener heißen, feuchten Julitage, für die Washington berüchtigt ist. Solche Ergebnisse können gewiß auch für Mutlose, denen die nötige Änderung ihrer Lebensgewohnheiten schwer erscheint, Ansporn und begehrenswerte Belohnung sein. Und ich kann aus meiner reichen und freudigen Erfahrung heraus enthusiastisch bestätigen: sie sind es in der Tat!
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9. KAPITEL Die richtige Ernährung Leider besitzen wir die hohen Instinktqualitäten nicht mehr, die den Menschen der Urzeit befähigten, sich über das Tierreich hinaus zu entwickeln, und die seine Evolution aus jenem primitiven, instinktgeleiteten, noch rohen Wesen in das beobachtende, überlegende, denkende, urteilende Geschöpf, das der Mensch heute ist, begünstigten. Wie sollen wir unter diesen Umständen entscheiden, welche Nahrung wir essen müssen, um normale Körperreflexe zu schaffen und so die beständige Gesundheit zu fördern? Dafür gibt es einen einzigen Weg, und das ist das Studium des großen, offenen Buches der Natur. Dieses Buch sagt uns alles, was wir wissen müssen. Befragen wir es im Geiste der unvoreingenommenen Wißbegierde, dann werden wir die Wahrheit ohne Schwierigkeit erfahren. Wir müssen dabei freilich jene geistige Einstellung vermeiden, die überall nur nach Unterstützung einer vorgefaßten Meinung Ausschau hält. Und welches ist die erste Lektion, die die Natur uns über Ernährung gibt? Sobald wir in ihrem Buche zu lesen beginnen, wird es uns auffallen, daß nirgends von verbesserter, verfeinerter, konservierter, eingemachter, eingepökelter, gereinigter Kost die Rede ist, sondern allein von natürlicher Kost. Kein Tier wird unter natürlichen Bedingungen denaturierte Nahrung zu sich nehmen, wenn es natürliche bekommen kann. Und das normale Tier, das sich seine Nahrung aus der Natur holt, verzehrt diese Nahrung auch vollständig. Die reinen Pflanzenfresser fressen die ganze Pflanze, die ganze Wurzel oder die ganze Frucht. Sie zerteilen, schälen, verwässern, kochen sie nicht. Sie gießen nicht ab, drücken nicht aus, kochen nicht wieder auf. Sie salzen und pfeffern nicht, sie mischen, vermusen und zerhacken sie nicht. Sie machen daraus keinen Mischmasch aller möglichen Substanzen, die sich nicht miteinander vertragen und niemals vollständig verarbeitet werden können. Der Instinkt sagt dem Tier, daß es von einer Pflanze alles ohne andere Zutaten braucht, damit sein Körper in Vollkommenheit aufgebaut und ergänzt wird. Die ganze Pflanze, die ganze Wurzel, den ganzen Samen, die ganze Frucht zu fressen, ist für die pflanzenfressenden Tiere eine Artgewohnheit und als solche ein Gesetz geworden, von dem sich die Art oder 98
das einzelne Tier nur unter Gefährdung des Lebens und des Artbestandes entfernen kann. Der Instinkt, den die Natur dem Tier gegeben hat, sorgt dafür, daß es sich von diesem Gesetze weder losreißen kann noch will. Dasselbe gilt für die fleischfressenden Tiere, die Karnivoren. Sie fressen aus ihrem unbeirrbaren Instinkt heraus das ganze Tier, das sie erbeutet haben. Täten sie es nicht, sie gingen aus Mangel an lebenswichtigen, aufbauenden und funktionskontrollierenden Nährfaktoren, an Mineralsalzen und Vitaminen zugrunde. Aber nicht nur Tiere üben die Praktik aus, den ganzen tierischen oder pflanzlichen Nahrungskörper zu verzehren, auch bei den noch lebenden primitiven Menschenrassen gilt diese Gewohnheit. Das ist für uns interessant, denn diese Menschen gleichen ja in ihrer Wesensart unseren Urvorfahren, durch deren Generationenreihen unser Körper zu seiner heutigen anatomischen und physiologischen Vollkommenheit ausgebaut und ausgebildet wurde. Die Eskimos, die fast ausschließlich von Tierfleisch leben, essen nicht bloß die zuvor gut ausgebluteten Muskeln wie die zivilisierten Völker, sondern sie essen das ganze Tier, Blut, Hirn, Magen, Eingeweide, Lungen, Nieren, Leber, Milz, Bauchspeicheldrüse, Knorpel und die weicheren Knochen; sie essen sozusagen alles außer den harten Knochen, den Hufen, Hörnern und Haaren. Und alle diese eßbaren Teile verzehren sie vielfach roh. Die Tiere, die den Menschen (und den fleischfressenden Tieren) als Nahrung dienen, haben zu ihrer Lebenszeit ihren ganzen Körper durch Pflanzenkost aufgebaut. Sie haben auf diese Weise — durch das Medium der Pflanze — vom Boden, von der Sonne und dem Wasser die zum Aufbau ihrer Organe nötigen Stoffe erhalten, welche die Pflanze direkt aus dem Boden, der Luft und dem Wasser beziehen und in ihre Struktur einbauen kann, während das dem Tiere nicht möglich ist. Aber das Tier, welches die ganze Pflanze frißt, kann die verschiedenen Stoffe, die in den einzelnen Teilen der Pflanze enthalten sind, nicht gleichmäßig in alle seine Körperteile aufnehmen. Kalk und Phosphorsalze z. B. werden zum größten Teil in die Knochen und die Zähne verarbeitet, Natriumsalze in die flüssigen Gewebe (das Blut, die Lymphe und die Galle), die Vitamine in die inneren Organe usw. Um alle diese wichtigen Bestandteile in sich aufnehmen zu können, muß das nur fleischfressende Tier und muß auch der Mensch, der sich weitgehend von Fleisch nährt, den ganzen Tierkörper verzehren. Das Tier, das von dieser Regel abweichen würde, müßte Zugrundegehen, und der Mensch auch. Ein Ausweg und eine Rettung läge in dem Verzehren der ganzen Substanz irgendwelcher Pflanzen — das kommt aber für nur fleischfressende Tiere nicht in Betracht. Natürlich kann ein Wesen, wenn es intelligent genug ist, gewisse Pflanzenteile zur Ausfüllung der Lücken in seiner Kost, die durch nur teilweises Verzehren des tierischen Körpers entstehen, verwenden. Aber solche Weisheit besitzen selbst unter den Menschen nur wenige und diese wenigen auch nur bis zu einem gewissen Grade. Allen anderen Kreaturen sind diese Dinge ein Buch mit sieben Siegeln, das ihnen wohl auch immer versiegelt bleiben wird. Eine andere Lehre, die uns die Natur erteilt, ist, daß die Nahrung genossen werden sollte, ohne vorher gewürzt zu werden. Kein wildes Tier frißt sein Futter gewürzt. Es muß allerdings zugegeben werden, daß manche Tiere eine große Vorliebe für Salz haben und weit herumstreifen, um Salzlecken zu finden. Aber dieses Salz bedeutet für die Tiere nicht Beigabe zu ihrer Kost oder Würze ihrer Nahrung, die mit dieser zusammen eingenommen die Absonderung der Verdauungssäfte stören und lokale Reizungen, Überfressen, Entzündungszustände und schlechte Verdauung hervorrufen 99
könnte, sondern spezielles Bedürfnis. Die Eskimos lehnen alles Salz ab, und das gilt von vielen primitiven Völkern. Diese Völker wollen im allgemeinen auch von anderen Würzen und Nahrungsbeilagen nichts wissen. Das Verzehren von Salz ist also kein Bedürfnis, sondern eine Gewohnheit; wer einige Monate lang Verzicht leistet, wird kaum mehr Vergnügen daran finden. Was früher dem Geschmacke so angenehm war, dünkt ihn nun unnatürlich und scharf. Dasselbe gilt für alle anderen Würzen. Wir können daraus erkennen, daß das Salzen und Würzen unserer Speisen tatsächlich eine unnatürliche Gewohnheit ist. Kann aber eine unnatürliche Gewohnheit, eine gedankenlos anerzogene Gepflogenheit (denn sie muß erst anerzogen werden), eine Gewohnheit, die der Nahrung etwas beifügt, das in keiner Weise zu ihr gehört, eine Gewohnheit, gegen die zum Beispiel unverdorbene Kinder instinktiv eingestellt sind, irgendwelche Vorteile gegenüber den natürlichen Gewohnheiten bieten? Selbstverständlich nicht. Die Natur ist so allmächtig und allweise, weil sie gewissermaßen das Faktotum, die Vertrauensperson unseres Schöpfers ist. Sie macht keine Fehler. Sie hat alle eßbaren Dinge in ihrer natürlichen Gestalt lieblich und köstlich geschaffen; nur der durch langewährende verkehrte Nahrungsgewohnheiten verbildete Geschmack wird die natürliche Kost nicht mehr ohne weiteres zu schätzen wissen. Wenn wir im Buche der Natur weiterforschen, dann gewinnen wir noch eine andere unschätzbare Erkenntnis über die Ernährung unseres Körpers. Tiere in ihrem Naturzustand, aber auch wilde (also natürlich lebende) Menschen, wählen für ihre Mahlzeit, wenn möglich, eine einzige Nahrungsart, eine einzige Speise. Der Affe klettert auf einen Baum und frißt zur Stillung seines Hungers Nüsse. Oder er klettert auf einen anderen Baum und frißt dessen Früchte. Der Wilde klettert auf den Baum oder lagert sich darunter, um eine Mahlzeit von Nüssen oder von Früchten zu verzehren; vielleicht gräbt er auch Wurzeln aus oder sammelt Kräuter und läßt sich nieder, um sie zu essen; oder er tötet ein Tier und verschlingt alles, was daran eßbar ist. Jedenfalls verliert er seine Zeit nicht mit dem Sammeln von Nüssen, Früchten, Blättern und Wurzeln, um sie dann mit dem Fleisch eines erlegten Tieres zu genießen; er ißt eine einzige Speise, und davon so viel, als sein Appetit verlangt. Dann ist er satt bis zu seiner nächsten Mahlzeit, die er erst wieder einnimmt, wenn sein Hunger sich aufs neue regt und ihn zwingt, frische Nahrung, wie sie aus der Hand der Natur kommt, zu suchen. Überhaupt kennen die Primitiven eine solche Regelmäßigkeit im Essen, wie sie bei uns herrscht, nicht. Sie müssen umherstreifen, um Nahrung zu finden, müssen sich kräftig bewegen, bevor sie ihre Mahlzeit einnehmen. Wir ersehen daraus, daß Bewegung vor der Mahlzeit eine Rassengewohnheit und physiologisch dem Körper notwendig ist. Die Bewegung vor dem Essen schafft ein Bedürfnis der Körperzellen nach Nahrung. Und dieses natürliche Bedürfnis sichert die beste und rascheste Verwendung der eingenommenen Nahrung durch den Körper, sichert schnelle und vollständige Verdauung, so daß in der verzehrten Kost keine unnatürliche Gärung der Fäulnis oder irgendein anderer ausartender Prozeß entstehen kann. Wenn wir uns nun sagen müssen, daß es vollkommen undenkbar ist, daß instinktgeleitete Tiere von der Natur irregeführt und zu andern als einwandfreien Körperaufbaugewohnheiten angehalten werden, so gelangen wir auf dem Wege der Beobachtung zu der unbestreitbaren Schlußfolgerung, daß natürliche, ganze Nahrungsmittel und unkomplizierte Mahlzeiten die natürlichen Anreize des Magen100
Darm-Reflexsystems darstellen. Und wir erkennen auch allmählich, welche Nahrungsmittel wir, wenn nicht ausschließlich, so doch in der Hauptsache bevorzugen sollen. Im folgenden habe ich verschiedene Listen unserer gebräuchlichsten Nahrungsmittel zusammengestellt, nach denen jeder Leser leicht die richtige Auslese treffen kann, um auf diese Weise von Anfang an Mahlzeiten zu vermeiden, deren Bestandteile sich gegenseitig bekämpfen und schädigend wirken.
LISTE 1 Stärkehaltige Gemüse und andere stärkehaltige Speisen (gekocht bzw. gebacken zu essen) Kartoffeln Bohnen Karotten rote Rüben weiße Rüben (alt) Pastinaken Artischocken Grünkern alle Körnernahrung
Reis Sago Tapioka Getreidespeisen Brot Spaghetti Nudeln Kuchen Puddinge
(Diese Speisen vertragen sich mit den Speisen in den Listen 2, 3 und 7; bei schwacher Verdauung sollen sie jedoch nicht mit Speisen der Liste 7 gemischt werden.) LISTE 2 Nicht stärkehaltige Gemüse (gewöhnlich gekocht zu essen) Kohl Blumenkohl Wirsingkohl Rosenkohl Kohlrüben Karotten rote Rüben weiße Rüben
(jung)
Eierfrüchte (Aubergines, Melanzani) Kürbis Kardätschen (Cardon) Lotos (eßbarer Judendorn, ägyptische Bohnen) eßbarer Eibisch Spargel Spinat grüne Erbsen Sellerie 101
Pastinaken Artischocken Grünkern grüne Bohnen Zwiebeln
Endivien Tomaten Löwenzahnblätter Lauchblättriger Bocksbart (Haferwurz)
Werden die Gemüse gekocht, so sollen sie nur mit Butter und sehr wenig Salz oder mit saurem Rahm angerichtet werden; der Rahm darf jedoch nie mit Getreidestärke oder Mehl verdickt werden. (Diese Gemüse vertragen sich mit allen anderen Speisen.)
LISTE 3 Nicht stärkehaltige Gemüse (vorzugsweise roh zu essen) Großblättriger Salat Lattich Endivien Spinat Brunnenkresse Petersilie Kapuzinerkresse Kapuzinerblüten Karotten (jung) weiße Rüben (jung)
rote Rüben Pastinaken (jung) Radieschen Zwiebeln Sellerie Gurken Pfefferschoten Tomaten grüne Erbsen (jung) reife Oliven
(Diese Gemüse vertragen sich mit allen anderen Speisen.) LISTE 4 Eiweißnahrung Alle Fleischnahrung (einschließlich Süß- und Salzwassertiere) Eier Käse Quark Milch
Buttermilch Nüsse Hülsenfrüchte
(Diese Speisen vertragen sich mit den Speisen der Listen 2, 3, 7 und 8.) LISTE 5
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Säureüberschüssige Nahrung (Siehe auch die Liste der säurebildenden Nahrungsmittel S. 52) Alle Fleischnahrung (das Fleisch aller Tiergattungen und alle Teile des einzelnen Tieres) Alle Körnernahrung (besonders weißes Mehl, verfeinerte Getreidespeisen und polierter Reis) Zucker Tee Nüsse (einschließlich Erdnüsse)
Kaffee Kakao alle Fette Eiweiß Käse getrocknete Bohnen getrocknete Erbsen getrocknete Linsen
(Speisen aus dieser Liste sollen nur 1/5 der täglichen Nahrungsmenge ausmachen.) LISTE 6 Basenüberschüssige und basenbildende Nahrung (Siehe auch die Liste der basenbildenden Nahrungsmittel S. 53) Alle Früchte (vor allem die Zitrusfrüchte) Alle Gemüse (besonders die nicht stärkehaltigen Arten; vgl. die Listen 2 und 3) Kartoffeln Eidotter
Paranüsse Milch (einschließlich Buttermilch und Quark) Vollmehl- und Vollkornprodukte Mandeln
(Speisen aus dieser Liste sollen wenigstens vier Fünftel der täglichen Nahrungsmittelmenge ausmachen.) LISTE 7 Süße Früchte Süße Äpfel Melonen milde, gut ausgereifte Birnen milde, gut ausgereifte Pfirsiche
vollreife Bananen reife Beeren Rosinen, Feigen und Datteln süße Trauben
(Süße Früchte vertragen sich mit allen anderen Speisen, außer wenn schwache Verdauung vorliegt; dann darf man solche Früchte nicht mit stärkehaltiger Nahrung mischen.) LISTE 8 Säuerliche und saure Früchte 103
Äpfel Birnen Pfirsiche Zwetschgen Pflaumen Orangen
Grapefruits Zitronen Trauben Beeren Preiselbeeren Rhabarber
(Diese Früchte vertragen sich mit den Speisen in den Listen 2, 3 und 4.) Den am Anfang dieses Kapitels aufgestellten Grundsätzen fügen wir nun noch aus den Kapiteln III, IV und V gewonnene Erkenntnisse bei, welche wir hier kurz rekapitulieren. Will man sich dauernd bei guter Gesundheit erhalten, so muß man sich immer vergegenwärtigen, daß die einzelnen Mahlzeiten möglichst einfach sein sollen, sowohl in ihrer Zusammenstellung als auch in ihrer Zubereitung, und daß sie natürlicher Nahrung so nahe als nur möglich kommen müssen. Für Menschen, die immer gesund bleiben wollen, muß die Nahrung nicht nur vom Lebensprinzip durchdrungen sein, sondern auch das Lebensprinzip übermitteln. Totes Fleisch, verfeinerte und schon zum voraus zubereitete Mehl- und andere Kornprodukte, raffnierter Zucker und ähnliche unlebendige Kost kann, wie wir einsehen lernten, niemals diese Forderung erfüllen. „Lebendige“ Nahrung müssen wir anderswo suchen. Wir finden sie im Vollkorn, das nur einem ganz kurzen Kochprozeß unmittelbar vor Einnahme der Mahlzeit unterworfen wird, ferner in nichtsterilisierter und nichtpasteurisierter (vorzugsweise roher) Milch, ganz leicht gekochten Eiern, Nüssen, rohen oder nur ganz leicht gekochten Gemüsen und Früchten, die immer roh verzehrt werden sollen. Wichtig ist weiter, daß man mindestens vier Fünftel der täglichen Kost aus der Liste basenüberschüssiger Nahrungsmittel (Liste 6) wählt, während höchstens ein Fünftel aus Liste 5 kommen darf, welche die säureüberschüssigen Nahrungsmittel aufzählt. Mit anderen Worten: vier Fünftel der täglichen Nahrungsmenge müssen aus Vollmehlund Vollkornprodukten, Mandeln, Paranüssen, Eidottern, Milch, Gemüsen und Früchten bestehen, mit besonderer Bevorzugung der Früchte, blätteriger Gemüse und Salate. Solch eine Speise - Zusammenstellung gewährleistet normale Basenzufuhr und birgt keinerlei Gefahren für organische Reizung oder Überanstrengung. Anhand dieser Weisungen sollte es für jeden mit durchschnittlicher Intelligenz begabten Menschen leicht sein, nach ein paar Minuten der Überlegung sich für jeden Tag einen Speisezettel zusammenzustellen, der den Anforderungen eines nach vollkommener Gesundheit strebenden Körpers genügt. Täglich sind höchstens drei Mahlzeiten zulässig, und diese müssen so einfach als möglich sein. Eine soll aus Früchten oder aus Früchten und Milch oder aus Salat und Milch bestehen. Die zweite soll stärkehaltig sein, das heißt ein Stärkegericht aus Liste 1 aufweisen mit Beigabe von Salat (oder säuerlichen Früchten in zweiter Wahl, jedoch nur bei guter 104
Verdauung). Die dritte muß eine Eiweißmahlzeit sein mit einer Speise aus Liste 4 und einem Salat nebst zwei Gemüsen (oder mehreren, wenn man Verlangen danach empfindet). Beschränkt man sich auf zwei Mahlzeiten, so wird die hier an erster und die an dritter Stelle genannte Speisefolge abwechselnd ausgelassen. Die Obstmahlzeit ist zwar schnell zubereitet; einige Betrachtungen darüber sind aber dennoch wichtig. Im Sommer sollen die saftigen Früchte sauer oder säuerlich sein; im Winter wählt man vorzugsweise süße, getrocknete Früchte, besonders wenn man leicht unter Kältegefühl leidet. Unter sauren Früchten verstehe ich solche, welche Milch schnell gerinnen machen. Säuerlich sind sie, wenn die Milch langsam gerinnt und die Gerinnsel als feine Flocken erscheinen. Nicht sauer sind alle Früchte, die süße Milch überhaupt nicht gerinnen machen. Saure und säuerliche Früchte, außer Zwetschgen, dürfen mit einem Stärkegericht zusammen gegessen werden, jedoch nur, wenn die Verdauung gut ist und keine Gärungen zu befürchten sind. Ich habe nie einsehen können, warum gewisse Leute getrocknete Früchte und saftige, frische Früchte bei einer Mahlzeit nicht miteinander essen wollen. Beide enthalten die gleichen Elemente und unterscheiden sich hauptsächlich durch den höheren oder geringeren Wasser- und Zuckergehalt. Aber alle Früchte, auch die getrockneten, enthalten Wasser und Zucker in gewissen Proportionen, und wenn die getrockneten und die saftigen wegen der Verschiedenheit dieser Proportionen nicht zusammen gegessen werden dürften, so sollten auch die verschiedenen Arten der saftigen Früchte nicht gemeinsam verzehrt werden, denn auch sie unterscheiden sich durch ihren Wasser- und Zuckergehalt voneinander. Wird aber als Grund angeführt, daß ihre Verdauungszeit verschieden ist, so führt das natürlich zur Forderung von Einspeisemahlzeiten, ein Prinzip, das in der Theorie sehr richtig, in der Praxis jedoch kaum durchführbar ist, weil die Verdauungszeiten so ziemlich aller Nahrungsmittel voneinander abweichen. Auf alle Fälle habe ich nie die geringste schlechte Erfahrung damit gemacht, daß ich Früchte aller Art ohne irgendwelche Beschränkung esse und sie auch in der Diät meiner Patienten verwerte. Sogar dort, wo Gase sich zwar bilden, ebenso rasch aber wieder abgehen, verbiete ich die gemischten Früchte nicht, denn solche Gase haben auch günstige Wirkungen: sie setzen die Muskeln des Verdauungskanals in Bewegung und bieten ihnen daher Gelegenheit zur Übung. Nur in sogenannten „statischen“ Fällen, wo die Gase keinen Abgang haben, die Darmwände auseinanderzerren und damit die Muskeln überanstrengen und schließlich lähmen, verschreibe ich die einzelnen Fruchtsorten allein. Verdauungsmuskeln, die in guter Übung gehalten werden, können übrigens niemals zu träger Verdauung führen. Die einzige Unterscheidung, die ich im allgemeinen mache, ist diejenige, daß ich süße Früchte besonders anempfehle, wenn mehr Körperwärme und Energie benötigt wird, und saftige Früchte, wenn im Gegenteil Kühlung und Reinigung der Säfte erforderlich ist. Beide Obstarten vertragen sich mit Milch, und sogar die sauersten Früchte bilden mit ihr geradezu ideale Kombinationen. Viele Leute, darunter auch viele Ärzte, fürchten diese Zusammenstellung in der gleichen Mahlzeit, weil die sauren Früchte die Milch gerinnen lassen. Diese Furcht ist aber ganz unbegründet; die Milch muß nämlich 105
gerinnen, bevor sie verdaut werden kann. Und gerade die Patienten, denen der gemeinsame Genuß von Milch und sauren Früchten von ihrem Arzt verboten wird, sind dieser Zusammenstellung gewöhnlich besonders bedürftig. Wenn Milch nämlich in einen stark säuredurchsetzten Magen gelangt (in die Art Magen, für die der Arzt sie womöglich überhaupt verbietet), dann gerinnt sie nicht sofort, sondern bildet zuerst einen zähen Klumpen, wie es in Fällen, wo der Magen sie wieder zurückgibt, beobachtet werden kann. Wäre dieselbe Milch vor dem Hinunterschlucken von Fruchtsäften durchsäuert oder mit sauren Früchten zusammen gekaut worden, so wäre sie zu einem sehr feinen, zarten Quark geronnen, den die Magensäfte ohne weiteres hätten verdauen können. Dies läßt sich beweisen, indem man einem Glase frischer Milch einen Suppenlöffel voll Zitronensaft beifügt; es bildet sich unverzüglich ein weicher, feiner Quark. Rührt man ihn durcheinander, so sieht man ihn sich noch feiner brechen. Solche gesäuerte Milch, die einem Säugling gereicht werden kann, ist eines der besten Nahrungsmittel für einen übersäuerten Magen. Bei dieser Gelegenheit mag nochmals kategorisch darauf hingewiesen werden, daß Milch eine Nahrung ist und kein Getränk. Die Säure des Obstes beruht auf einem in ihm enthaltenen sauren Salz, das aus einer nichtmineralischen Säure (Zitronen- oder Apfelsäure) und einer alkalischen Mineralsubstanz oder Base besteht. Fast unmittelbar nach dem Genuß einer sauren Frucht, eines sauren Fruchtsaftes oder einer fruchtdurchsäuerten Milchmischung wird der saure Bestandteil, indem er sich mit Sauerstoff verbindet und als Kohlendioxyd und Wasser ausscheidet, verbrannt. In diesem Prozeß wird Körperwärme und Energie frei, und die basischen Mineralsubstanzen (Natrium, Kalium, Kalzium, Magnesium usw.) bleiben zurück, um die Säure des Magens zu verringern und sich mit dem Kohlendioxyd zu anderen Salzen zu verbinden: zu den basischen Karbonaten und Bikarbonaten von Natrium, Kalium, Kalzium, Magnesium usw., den normalen Basen des menschlichen Blutes. Nur bei Menschen, die eine Idiosynkrasie (krankhafte Abneigung) gegen Früchte haben, halte ich mit der Mischung saurer Früchte mit Milch zurück. Solche Leute sind aber meiner Erfahrung nach selten; nach ein- oder zweitägigem Fasten, sobald sie wirklich hungrig sind, würden auch sie eine Fruchtmahlzeit ohne die geringsten Beschwerden ertragen können. Diese Tatsache beweist, daß von einer wirklichen Idiosynkrasie gegen Obst bei den betreffenden Personen nicht die Rede sein kann. Schuld an ihrer scheinbaren Unfähigkeit, Obst zu essen, trägt vielmehr der durch falsche oder zu reichliche Nahrung gereizte Zustand ihres Magens. Saftige Früchte oder süße Früchte können nach einer Eiweißmahlzeit als Nachtisch dienen. Der Schwerarbeiter sollte die süßen Früchte bevorzugen, der Geistesarbeiter die sauren. Der erste braucht energiespendende, der zweite blutreinigende Kost. Manche Diätautoritäten verurteilen jede Zusammenstellung von Früchten mit Stärken; das scheint mir allgemein betrachtet auch ganz richtig zu sein. Ich habe aber dennoch beobachtet, daß eine Kombination von säuerlichen Früchten mit Stärken gelegentlich entschieden vorteilhaft wirken kann. Sogar wenn im Magen tatsächlich Gärung stattfindet, wird ein Apfel ihr fast augenblicklich Einhalt tun und auch eine nochmalige Gärung in den unteren Teilen des Verdauungskanals verhüten. Solche Einzelheiten muß jedoch jedermann für seinen eigenen Fall selber herauszufinden trachten. Alle Melonen- und Kürbisarten können sowohl zu den Gemüsen als auch zu den 106
Früchten gerechnet werden; aber bei schlechter Verdauung sollte man sie nur als leichte Einzelmahlzeit allein genießen und nichts anderes dazu essen, weil sie sich besonders schwer mit anderen Nährstoffen verbinden. Vor allem an heißen Tagen kann man sie ausgezeichnet allein als Mittagessen servieren. Gemüse sollte man, wenn sie überhaupt gekocht werden müssen, backen oder dünsten. Die blätterigen Gemüse muß man gut waschen, die Wurzel – Gemüse mit einer Gemüsebürste gründlich abreiben, im Notfall sogar mit Seife, worauf man sie natürlich besonders sorgfältig abspülen muß. Dagegen darf man sie niemals abschaben oder abkratzen. Alle Wurzelgemüse, die in der Schale gebacken oder gedünstet werden, durchsticht man vor dem Kochen oder währenddessen mit einer Gabel an verschiedenen Stellen. Kartoffeln schmecken zwar besser gebraten oder gebacken; aber durch diese Zubereitung verlieren sie viel von ihren besten Eigenschaften, denn die Schale verkohlt, bevor das Innere ganz durchgebacken ist, und das zerstört die wertvollen Eiweißstoffe und einige der wichtigsten Salze, die sich in der Schale und in einer Zellenschicht unmittelbar darunter befinden. Doch wenn man im übrigen nach einer gut zusammengestellten Diät lebt, so mag der Genuß gebratener oder gebackener Kartoffeln hingehen, das heißt, dieser Punkt braucht einen nicht zu bedrücken. Trotzdem muß ich hier hervorheben, wie köstlich die Kartoffel schmecken kann, wenn sie nicht ganz bis zu der bekannten mehligen Zartheit weichgekocht ist und wenn die Schale runzelig, aber noch nicht braun oder schwarz versengt ist. Eine kleine Zähigkeit oder Härte dürfen die Kartoffeln ruhig behalten; dadurch gewinnt ihr Nährwert und für den Liebhaber sogar ihr Wohlgeschmack. Werden Gemüse aus irgendeinem Grunde gekocht, so darf nicht mehr Wasser verwendet werden, als nötig ist, um sie vor dem Anbrennen zu schützen. Das Wasser wird nicht abgeschüttet, sondern nach Geschmack gesalzen, Butter hinzugefügt und Trockenmilch im Verhältnis von einem Fünftel Milch auf vier Fünftel Gemüsebrühe damit vermischt; heiß serviert gibt das eine höchst schmackhafte Sauce. Man verliert auf diese Weise nichts von den Gemüsesalzen. Getreidestärke- und Weißmehlzusatz zum Verdicken der Saucen sind zu vermeiden. Die einzigen Zutaten seien ein wenig Salz, Butter, Rahm (oder Trockenmilch). Magere Leute, die Fett gut vertragen, können auch Ölsaucen genießen. Getrocknete Bohnen jeder Art, desgleichen getrocknete Erbsen, Linsen und Erdnüsse sind reich an Stärken und Proteinen. Da nun aber Stärken und Eiweißstoffe sich gegenseitig nicht vertragen, so sind die genannten Gemüsefrüchte schwer verdaulich und sollten mit nichts anderem zusammen genossen werden, weder mit anderen Stärken noch mit anderen Eiweißprodukten. Nur Salate oder gekochte Gemüse darf man zu ihrer Ergänzung herbeiziehen. Damit zusammen stellen sie aber auch eine vollständige und genügende Mahlzeit dar. Während sich Obst- und Gemüsemahlzeiten rasch zubereiten lassen, muß die Stärkemahlzeit sehr sorgsam ausgewählt werden. Aus Liste 1 wählen wir irgendeines der Stärkegerichte, vielleicht Vollkornporridge oder Vollkornbrot. Dazu suchen wir uns aus der Liste 3 oder der Liste 7 (oder aus beiden Listen) so viel aus, wie wir wollen, und bereiten daraus einen Salat, den wir mit Mayonnaise oder Rahm anrichten können. Den Vorzug würde ich allerdings der 107
Zubereitung ohne Zutaten geben. Jedenfalls darf die Salatsauce zu einer Stärkemahlzeit nicht sauer sein oder gar Essig enthalten. Denjenigen, die Öl gut vertragen und nicht zu Fettansatz neigen, steht es frei, den Salat mit Öl ohne Säuren anzumachen, an heißen Sommertagen mit Beschränkung, bei kaltem Wetter nach Belieben. Ist die Mahlzeit für einen körperlich arbeitenden Menschen bestimmt, so kann ihr Stärkebestandteil reichlich bemessen werden; der Geistesarbeiter und der Mensch mit sitzender Arbeitsweise braucht weniger Stärkenahrung. Der Muskelarbeiter darf auch unbedenklich als Nachtisch eine tüchtige Portion süßer Früchte oder eine rechte Menge Honig verzehren; der Mensch mit sitzender Lebensweise muß sich in dieser Hinsicht Beschränkungen auferlegen, es sei denn, er erhält seinen Körper in täglicher kräftiger und regelmäßiger Übung. Der Muskelarbeiter kann auch ein Glas Milch dazunehmen oder sogar Milch und Rahm mischen, während sitzend Arbeitende nur halb Milch und halb heißes Wasser trinken sollen. Porridge oder Getreidebrei (natürlich Vollkorngetreidebrei) ist immer gut zu kauen. Wer nicht genügend Selbstüberwindung aufbringt, um Getreidebrei gut zu kauen, hat nicht viel Aussicht, das Ziel der beständigen Gesundheit zu erreichen, denn Selbstdisziplin muß man üben, wenn man auch nur die geringsten Erfolge erzielen will. Der Besitz einer zuverlässigen Gesundheit hängt von einwandfrei funktionierenden Organen ab, und diese wieder von vollkommen arbeitenden Nerven; eine unbeherrschte Lebensführung ist aber das gerade Gegenteil von vollkommen arbeitenden Nerven. Die Aufnahme ungeeigneter und unnatürlicher Nahrung ist eine der Hauptursachen für die Unbeherrschtheit der Nerven. Wer seine Nerven nicht in der Gewalt hat, braucht um so dringender natürliche, grobe Vollkornnahrung, schon um daran (z.B. gerade mit Kauen) die wahre Nervenbeherrschung zu erlernen. Man sollte nötigenfalls mit gebackenen Vollkornspeisen beginnen, die leichter zu kauen sind. solange die Nerven einem noch nicht gehorchen. Was übrigens das Kochen der Getreidenahrung betrifft, so scheint die Zivilisation vollkommen falsch orientiert zu sein, und die Schuld daran trägt zum großen Teile die Wissenschaft. Gelehrte haben die Darmausscheidungen untersucht und herausgefunden, daß nach langem Kochen eine größere Menge Stärke im menschlichen Verdauungsapparat absorbiert wird als nach kürzerer Kochzeit; sie schließen daraus, daß längeres Kochen mehr Energie je Stärkeeinheit freimacht. Indessen zerstört, wie wir wissen. langes Kochen und nachheriges Stehenlassen das lebendige Prinzip in der Kost. Der altmodische schottische Porridge, der aus Hafer so zubereitet wird, daß man bloß die äußeren Hüllen entfernt und ihn dann zwischen Steinen zermalmt, oder die Getreidespeisen primitiver Völker, die aus zwischen Steinen zermahlenen und nur wenige Minuten auf roheste Art aufgekochten Körnern bestehen, mögen rauher und weniger appetitanregend sein als unser moderner Porridge; aber sie tragen in sich, was unsere modernen Getreidespeisen nicht mehr geben können: lebendige Energie, die sie dem Esser direkt mitteilen. Das Lebensprinzip wird ihnen nicht durch komplizierte Verfeinerungsvorgänge oder Zubereitungskünste entzogen, und der Verzehrer solcher Speisen erhält durch sie, was der moderne Mensch sonst von nirgendsher beziehen kann, nämlich lebendigen Widerstand gegen Krankheit. Granuliertes Vollkorn, das drei bis fünf Minuten in rascher Hitze gekocht wird, verliert seine belebende Wirkung nicht, wenn es binnen 108
einer halben Stunde nach diesem kurzen Kochen gegessen wird. Aber längere Hitzeeinwirkung raubt ihm seine lebenspendende Kraft; es kann dann noch Körpersubstanz bilden, aber keine Energie mehr schaffen. Natürlich wird roh zubereitete Körnernahrung nicht vollständig verdaut, und das ist ein Energieverlust. Aber ein Ausgleich (und mehr als das) findet dadurch statt, daß die Körner zum Teil unverdaut in den Darm gelangen, wo sie sich in Milchsäure zersetzen (dieselbe Säure wie in dicker Milch), die der wirksamste Gegner der Fäulniskeime im Darm ist. Dies ist der Grund dafür, daß ich grobkörnige Getreidespeisen den feingemahlenen vorziehe. Leicht verdauliche Speisen sind auch sonst keineswegs immer von Vorteil für unsere Verdauungsfähigkeit, die wie alle übrigen Funktionen schwach wird und sich mehr oder weniger verliert, wenn die an unsere Verdauungsorgane gestellten Anforderungen sie nicht in vollem Maße beschäftigen. Es gibt Diätetiker, die alle Körnernahrung verpönen, sogar Vollkornspeisen. Solche Ernährungsforscher werden schwerlich imstande sein, eine befriedigende Antwort auf die Frage zu erteilen, warum die Bulgaren, welche seit Jahrhunderten von schwarzem Roggenbrot und saurer Milch mit Zusatz einiger Gemüse leben, die höchstgewachsene und langlebigste Rasse der ganzen zivilisierten Menschheit sind. Jeder zweihundertfünfzigste Bulgare erreicht ein Alter von hundert Jahren, während die bestklassierten der andern zivilisierten Länder, wie die Vereinigten Staaten, Kanada, Großbritannien, Deutschland, Frankreich usw., nur einen Hundertjährigen auf zehntausend Einwohner aufweisen. Viele der bulgarischen Hundertjährigen vollenden außerdem noch mehr als ein Jahrzehnt über ihre hundert Jahre hinaus. Natürlich entspringt dieses einzigartige Ergebnis auch noch einem andern Prinzip, für das ich beständig eintrete, nämlich der Einfachheit und Natürlichkeit der Mahlzeiten: die Herstellung ihrer Speisen geschieht auf denkbar einfachste Weise, so daß das lebendige Naturprinzip nicht verlorengeht. Um dieselbe Erkenntnis noch von anderer Seite zu stützen, betrachte man auch die Hochlandschotten, die zweitkräftigste und körperlich tüchtigste Gruppe aller zivilisierten Völker. Viele Jahrhunderte lang haben die Hochlandschotten hauptsächlich von natürlicher, unverfeinerter Hafergrütze und Milch gelebt. Macaulay behauptet sogar, vor 1745 sei dem einkehrenden Wanderer in der Hütte eines schottischen Hochländers eine Kost vorgesetzt worden, die in keiner Weise feiner gewesen sei als das Futter für das Vieh. Doch was hat diese grobe, natürliche Nahrung aus dem Hochländer gemacht! Wir kommen nun zu der Protein- oder Eiweißmahlzeit, die eine Speise aus Liste 4 — aber nicht mehr als eine — umfassen soll. Wer über fünfundzwanzig Jahre alt ist, sollte als allgemeine Regel kein Fleisch wählen, außer in sehr kleinen Mengen und mit genügend basenbildenden Früchten und Gemüsen als Gegengewicht. Es ist niemals von Vorteil, mehr als ein Viertelpfund mageres Fleisch pro Tag zu verzehren, ganz gleichgültig, welche Art Arbeit verrichtet wird. — Haben wir eine Eiweißspeise gewählt, so können wir aus den Listen 3, 7 und 8 aussuchen, was uns gefällt, und alles in einen Salat mengen, den wir wiederum mit Öl und Mayonnaise oder mit Rahm oder sogar mit Trockenmilch anmachen. Dann fügen wir aus Liste 2 zwei oder mehrere Gemüse bei, nach denen uns gelüstet, und dünsten sie, bis sie weich sind, aber nie so lange, bis sie zerfallen oder ihre natürliche Farbe verlieren. Vor allem Blattgemüse sollten nie verkocht werden; sie schmecken vortrefflich, lange bevor sie in diesen 109
breiigen Zustand kommen; auch haben sie dann noch ihre vollen lebendigen Wirkungen, die sich bei zu langem Kochen verlieren. Diese gedünsteten Gemüse werden nur mit Butter und sehr wenig Salz angerichtet, niemals mit irgendeiner anderen Sauce. Der Schwerarbeiter kann zu den Gemüsen noch Kartoffeln nehmen, im Dampf gekocht oder gebacken, aber unter keinen Umständen geschält und auch nicht gebraten, und nie mit einer Sauce serviert, der noch Stärkemehl beigemengt wurde. Besser ist es, die Kartoffeln mit Butter anzurichten oder mit der Sauce des Hauptgerichtes — gegebenenfalls der echten Fleischsauce, falls Fleisch serviert wird. Der körperlich Arbeitende kann auch seinem Salat nach Belieben Öl beifügen, denn er braucht kraftbildende Nahrung, und Stärken und Öle sind kraftbildend. Die hier besprochenen Diätvorschriften eignen sich im allgemeinen für jede Klasse von Arbeitern, denn sie versehen jeden Menschen, wenn die aus der Überernährung stammenden. Gifte schon ausgeschieden sind, mit genügender Energie. Sollten aber sehr beanspruchte Muskelarbeiter, die ihre Kräfte täglich in ungewöhnlichem Maße ausgeben, noch intensivere Nahrungszufuhr brauchen, so mögen sie der Obstmahlzeit, wenn die Früchte aus Liste 7 gewählt wurden, sehr trocken geröstete Vollkornsemmeln oder gut durchgeröstetes Vollkornbrot hinzufügen. Die Scheiben müssen aber durch und durch geröstet sein, das heißt, es dürfen unter der dünnen verkohlten äußeren Schicht keine weichen Stellen zurückbleiben. Das geröstete Brot darf mit einer ausgiebigen Portion Butter gegessen werden; auch kann man ein wenig Honig darauf streichen, da von allen diesen Nahrungsmitteln sehr viel Energie ausgeht. Steigert man dann noch die Menge der süßen Früchte gegenüber den saftigen, so hat man eine Diät, die wahre Ströme von Energie liefert und auch den sehr schwer Arbeitenden belebt und stärkt. Der Mensch mit sitzender Lebensweise hingegen sollte zum mindesten eine Mahlzeit des Tages ganz aus Früchten und Milch oder Heißwassermilch bestehen lassen. Wir fassen das Gesagte nun nochmals kurz zusammen. Die Nährstoffe aus Liste 1 dürfen nie mit solchen aus Liste 4 vermengt werden, außer wenn die Verdauung sehr kräftig und gesund ist; selbst dann ist Vorsicht und Maßhalten am Platze. Kartoffeln können von dieser Regel ausgenommen werden. doch darf man sie auch nicht beständig mit den gegensätzlichen Nahrungsstoffen zusammen genießen. Ist hingegen die Verdauung der schwache Punkt des Patienten, stellt sich also regelmäßig Gärung ein, dann wäre die Gewohnheit, Eiweißstoffe mit ihnen entgegengesetzten Nährstoffen, selbst Kartoffeln, zu vermischen, ein Verbrechen gegen die Gesundheit. Bei kräftiger Verdauung wird eine kleine Menge Kartoffeln, die gut mit Speichel durchsetzt worden ist, in zehn oder fünfzehn Minuten verdaut sein, und dies läßt kaum Zeit für die Unterbrechung der Verdauung durch Sekretion der sauren Magensäfte. Diese Ausnahme ist bloß deshalb möglich, weil gut mit Speichel durchsetzte Kartoffeln von allen Stärkespeisen am raschesten ausgenützt werden; überdies sind die Kartoffeln in sich selbst ausgesprochen basisch, im Hinblick 110
auf ihren Reichtum an Natrium und Kalium. Die Speisen der Liste 8 dürfen ebenfalls nicht mit denen der Liste 1 vermischt werden. Wenn auch die Speisen der Liste 1 sich chemisch gegenseitig vertragen, ist es doch nicht ratsam, mehrere davon gemeinsam zu verzehren. Der Hauptgrund für diese Einschränkung liegt in ihrer zu großen Verschiedenheit, und wir haben gesehen, daß wir bei ein und derselben Mahlzeit nach möglichster Einfachheit trachten müssen. Überdies sind die Verdauungszeiten der, in dieser Liste aufgezählten Nahrungsmittel meist sehr verschieden, und das vermehrt die dem Sekretionsmechanismus erwachsende Belastung. Schließlich besteht bei einer solchen Zusammenstellung mehrerer Speisen aus Liste 1 die Gefahr einer zu großen Stärkemenge und überhaupt einer zu großen Nahrungszufuhr. Abwechslung in der Speisenfolge ist die Hauptursache von Überladung des Magens. Eine mit einer Speise aus Liste 4 zusammengestellte Mahlzeit kann man eine Protein- oder aufbauende Mahlzeit nennen. Dazu ist zu bemerken, daß nicht zwei der in Liste 4 enthaltenen Speisen zusammen gegessen werden dürfen; sonst entsteht ernstlich gefährdender Überschuß an Eiweißnahrung. Die meisten Leute führen sich zu viele Eiweißstoffe zu, sogar wenn sie sich auf eine einzige eiweißhaltige Speise beschränken; dadurch werden besonders die Nieren in Mitleidenschaft gezogen. Milch und Fleisch sollten niemals miteinander genossen werden, sonst werden das Blut und die Gewebe mit Eiweiß und den giftigen Endprodukten des Eiweißstoffwechsels überladen. Dazu kommt, daß Milch und Fleisch sich zwar chemisch miteinander vertragen, daß aber die Milch zu ihrer raschen Verdauung eine milde, Fleisch hingegen eine scharfe Säure braucht; diese scharfe Säure wirkt auf das Milchprotein derart ein, daß es einen dichten Klumpen bildet, an Stelle eines feinen leichtverdaulichen Breies. Ich will nicht unterlassen, hier nochmals daran zu erinnern, daß die Zellulose- oder holzartigen Abfallstoffe, die sich in jedem rohen Nahrungsmittel und in jeder nicht durch menschliche Kunst gänzlich entarteten Kost finden, von größter Wichtigkeit für die gesunde, natürliche Tätigkeit der Verdauungsmuskeln und -drüsen sind. Zucker, Süßigkeiten, Sirup, Honig usw. sollten nicht zusammen mit Fleisch gegessen werden, denn Zucker verwandelt sich fast unmittelbar in Wärme und Zellenenergie. Wenn aber der Zellenbedarf an Energie so rasch befriedigt wird, verlangsamt sich die Eiweißverdauung. Daher tritt als Folge solcher Vermischungen von Fleisch und Süßigkeiten sehr oft Zersetzung ein. Der Schwerarbeiter braucht nicht viel mehr Nahrung von Liste 4 als ein Mensch mit sitzendem Beruf. Aber der Schwerarbeiter braucht viel mehr Bestandteile der Liste 1, um die in seiner Muskelarbeit verausgabte Energie wieder zu ersetzen; er braucht auch mehr Nahrung aus den Listen 2 und 3, um die Säuren zu neutralisieren, welche die Auflösung so vielen Zellgewebes und so vieler krafterzeugender Nahrung gebildet hat. An dieser Stelle wird vielleicht bei manchen Lesern die Frage auftauchen, ob nicht bei intensiver Bekämpfung des Säureüberschusses schließlich auch ein schädlicher Basenüberschuß entstehen könne? Sei ohne Besorgnis, Leser! Es können sich niemals zu viele Basen bilden, weil unser Körper durch seine eigene Lebenstätigkeit beständig Säuren erzeugt und die aus der Nahrung gewonnenen Basen uns das einzige Mittel liefern, diese Säuren wieder aus dem Körper zu entfernen; auch die aus der Nahrung stammenden Säuren müssen auf diese Weise wieder fortgeschafft werden. Im Hinblick 111
auf diese doppelte Säurequelle sind wir gezwungen, darauf zu achten, daß unsere Diät zu vier Fünfteln aus basenbildenden Nahrungsstoffen besteht und nur zu einem Fünftel ihrer Menge aus Säurebildnern. Übrigens werden die Basen auch im Verdauungskanal selber noch benötigt. Ich habe den Eindruck, jetzt alles gesagt zu haben, was ernsthaften Gesundheitssuchern die Zusammenstellung ihrer täglichen Nahrung erleichtern kann, muß aber der Vollständigkeit halber noch ein Wort über die Getränke beifügen, denn von meinen Patienten werde ich beständig gefragt, ob man vor, während oder nach dem Essen trinken soll und was für Getränke empfehlenswert sind. Ich selbst trinke zehn oder fünfzehn Minuten vor den Mahlzeiten Wasser; aber wenn ich Lust habe, trinke ich auch während des Essens oder nach dem Essen. Nur vermeide ich es grundsätzlich, Speise und Getränke zu gleicher Zeit zu genießen, das heißt, beide im Munde zu vereinigen. Bloß Milch kaue ich gründlich mit den Früchten untereinander, bevor ich sie hinunterschlucke; aber ich betrachte Milch, wie ich schon mehrfach gesagt habe, nicht als ein Getränk, sondern als eine Speise. Gewöhnlich rate ich meinen Patienten, nach den Mahlzeiten zu trinken, um zu verhindern, daß sie ihre Nahrung mit dem Getränk hinunterspülen. Wer genügend Selbstbeherrschung hat, Speise und Getränk nicht gleichzeitig zu genießen, das heißt, die Speise erst gut durchzukauen und hinunterzuschlucken, bevor er trinkt, der mag ohne weiteres zwischen den einzelnen Bissen des Essens trinken. Das Getränk soll nicht zu heiß und nicht zu kalt sein. Leute, die ihre Speisebissen ohne Flüssigkeit nur schwer hinunterschlucken können, gestehen dadurch ein, daß sie den mit dem Munde zusammenhängenden Sekretionsdrüsen durch ihre Gewohnheit, während des Essens zu trinken, bereits Schaden zugefügt haben. Es ist von größter Wichtigkeit, daß sie die Fähigkeit wieder erlangen, ihr Essen ohne die Beihilfe einer anderen Flüssigkeit als der des Speichels zu kauen und zu schlucken; die Speicheldrüsen müssen dadurch, daß man sie zwingt, zu arbeiten, wieder in ihre rechtmäßigen Funktionen eingesetzt werden. Von allen Seiten fragt man mich nach der Bekömmlichkeit des Getreidekaffees. Dieses Getränk ist selbstverständlich bekömmlich, wenn man es genießt, ohne es mit Zucker zu verderben. Für viele ist ein warmes (nicht heißes) Getränk unentbehrlich, aus langer Gewöhnung, schwacher Verdauungsfähigkeit und geringer Vitalität heraus. Aber Tee und Kaffee sind für solche Leute gefährlich; denn wenn sie auch als erste Wirkung die Lebensfunktion steigern, so erfolgt rasch darauf die depressive Gegenwirkung. Ich selbst trinke meinen Getreidekaffee uneingeschränkt von irgendwelchen Vorschriften. Versuchen wir es doch einmal ernstlich, unsere Lebensweise nach den ewig gültigen Gesetzen zu regeln, die ich hier erläutert habe. Wir dürfen gewiß sein, daß die Natur nur unser Bestes will und uns zuverlässig hilft, wenn wir bestrebt sind, ihren Willen zu erfüllen. Und sollten wir bereits siebzig Jahre alt sein, wir können mit völliger Sicherheit auf viele weitere Jahre rüstiger und ersprießlicher Tätigkeit rechnen, sobald wir uns vor dem Willen der Natur beugen; wir werden von immer klarerer Intelligenz getragen sein, und unsere Kräfte werden uns nicht mehr im Stiche lassen; alle unsere Pläne werden wir noch ausführen dürfen. Denn ein Leben im Einklang mit den Gesetzen, die Gott deutlich in das offene Buch der Natur eingetragen hat, muß unweigerlich zum Erfolg führen *.
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* Hier weicht unsere Auffassung von der des Verfassers ab. Es liegt nicht allein in der Hand des Menschen, ob der beschriebene Weg Hilfe bringt und in welchem Grade er die volle Gesundheit herstellt. Es ist stets auch eine Gnade dabei. und es wäre vermessen, aus der Einordnung in die Lebensgesetze, und wäre sie noch so vollkommen, ein Anrecht auf vollständige Gesundung ableiten zu wollen. Der Menschenblick vermag niemals die ganze Situation zu übersehen, auch wenn die Krankheitserforschung, die Diagnostik, noch so verfeinert und vertieft, der Blick des Arztes noch so erfahren und geschult ist. Aber selbst dann, wenn es für eine eigentliche Genesung zu spät war, ja in völlig verzweifelten Fällen, vermag dieser Weg dennoch eine unwahrscheinlich große Hilfe zu bringen, und es wird keinen Fall geben, wo er sich nicht lohnt. Anm. des Herausgebers.
10. KAPITEL Gesunde Muskelentwicklung Es gibt, wie ich schon dargelegt habe, zwei Arten von Muskelarbeit: die passive und die aktive. Bei den willkürlichen Muskeln kann man als passive Betätigung die Anstrengung bezeichnen, die beispielsweise zum Sitzen zu Hause oder im Büro oder zu müßigem Herumlungern ohne Willensbetätigung genügt. Aktive Muskelarbeit ist eine Anstrengung, die weiter geht, die durch den Willen gelenkt und unterstützt wird und bei längerer Anspannung die willkürlichen Muskeln ermüdet. Bei den unwillkürlichen Muskeln versteht man unter passiver Arbeit den Kraftaufwand, der benötigt wird, um den Körper am Leben zu erhalten. Auf das Herz und die Blutgefäße angewendet, ist es das Maß von Anstrengung, das diese Organe zu leisten haben, wenn der Körper in der oben beschriebenen Weise sich passiv verhält. Aktive Arbeit jedoch wird von diesen Organen geleistet, wenn die willkürlichen Muskeln über ihr passives Verhalten hinaus in Anspruch genommen werden. Der Leser erinnert sich, daß ich bereits gezeigt habe, daß aktive Arbeit der willkürlichen Muskeln auch die Leistungen aller unwillkürlichen Muskeln in genau entsprechendem Maße erhöht. Die Bedeutung des einwandfreien Funktionierens der Muskelreflexkette geht aus dieser Feststellung klar hervor. In bezug auf die Stimulierung dieser ganzen Kette von Muskelfunktionen ist zu sagen, daß wie überall die natürliche Anregung die einzig normale ist. Und die natürliche 113
Anregung liefern aktive, vom Willen und von der Intelligenz geleitete Muskelübungen. Deshalb müssen mit größtmöglicher Konsequenz zu bestimmten Tageszeiten (oder mindestens zu einer bestimmten Zeit an jedem Tage) von allen unseren willkürlichen Muskeln gewisse Anstrengungen verlangt werden. Wie sollen wir bei solchen Übungen vorgehen? Wie bringen wir System hinein? Sollen wir uns irgendeiner Turngruppe anschließen oder in unserem Heim kostspielige Apparate installieren? Ist es nötig, einen großen Teil unserer kostbaren Zeit für solche Leibesübungen zu opfern? Keineswegs. Es mag sein, daß es durch spezielle Methoden und mit besonderen Hilfsmitteln ausgezeichnet gelingt, sich Körperkraft und Beherrschung der Muskeln anzueignen, — ich weiß aber darüber nichts auszusagen, denn ich habe mich mit dieser Frage nie beschäftigt. Meine Entwicklung hat mir gezeigt, daß solche Methoden und Hilfsmittel nicht nötig sind. Meine Muskeln sind, das darf ich wohl sagen, nahezu vollkommen durchtrainiert; dennoch habe ich niemals auch nur eine Minute lang eine Turnhalle oder ein Turngerät benutzt oder meine Übungen mit irgendwelchen anderen Mitteln als mit einem Bett, einer Wand und einer Türe ausgeführt, und diese „Geräte“ stehen ja jedem Menschen zur Verfügung. So einfach meine Methode aber auch ist, sie entwickelt doch jeden wichtigen willkürlichen Muskel des ganzen Körpers, und es ist klar, daß der Vorteil körperlicher Übungen um so größer sein wird, je besser man sie organisiert und je systematischer man sie durchführt. Ich gebe im folgenden eine Zusammenstellung solcher Übungen, die so ziemlich jeden wichtigeren willkürlichen Muskel des Körpers berücksichtigt. Für weitere Übungen, die man übrigens mit der Zeit auch selber zusammenstellen lernt, braucht man bloß eines der vielen, überall erhältlichen, zum Teil trefflichen Gymnastikbücher zu befragen. Frauen müssen nicht befürchten, von solchen Übungen knotige, männliche Muskeln zu bekommen. Sie könnten es gar nicht, selbst wenn sie es wollten, denn sie sind anders gebaut als die Männer. Gut durchgeübte weibliche Muskeln geben den Körper- und Gliederformen nur um so schönere, vollkommenere Linien; viele Artistinnen. Turnerinnen, Schwimmerinnen usw. liefern den Beweis dafür. Muskelübungen 1. Lege dich im Bett flach auf den Rücken, so daß die Hände unter dem Kopf auf dem Kissen ruhen. Hebe den ganzen Körper zwischen Kopf und Fersen vom Bett in die Höhe. Sinke wieder aufs Bett zurück und entspanne die Muskeln. Wiederhole diese Übung zuerst fünfmal, nach und nach öfters, zum Schluß fünfzigmal. 2. Lege dich im Bett flach auf den Rücken. Kreuze die Arme über der Brust, so daß die Hände die entgegengesetzten Ellbogen fassen. Hebe den Körper zu sitzender Stellung empor und ziehe zu gleicher Zeit stark an den Armen und Händen. Lasse den Körper wieder auf das Bett zurücksinken. Wiederhole zuerst fünfmal, nach und nach öfters, zuletzt fünfzigmal. 3. Lege dich im Bett auf die rechte Seite, den Kopf aufs Kissen. Hebe den Körper in die Höhe, bis er nur auf der Seite des Kopfes, am äußersten Ende der Schulter und der Füße ruht. Lasse den Körper zurücksinken. Wiederhole fünf- bis fünfundzwanzigmal. Wiederhole dieselbe Übung auf der linken Seite liegend. 114
4. Lege dich im Bett auf die rechte Seite mit der rechten Hand auf der linken Seite knapp über der Hüfte. Hebe den Körper von den Hüften aufwärts so weit als möglich seitwärts und schlage zu gleicher Zeit mit der geschlossenen linken Faust nach unten gegen die Füße. Falle zurück aufs Bett und ziehe die Faust zur Schulter zurück. Wiederhole die Bewegung und schlage bei jedem Heben des Körpers mit der geschlossenen Faust nach unten gegen die Füße. Fünf- bis fünfundzwanzigmal. Dieselbe Übung bei Linkslage mit geschlossener rechter Faust. 5. Lege dich im Bett auf die rechte Seite. Strecke den rechten Arm nach auswärts und hinunter. Lege das linke Knie in die rechte Hand und halte die Hand durch den Druck des Knies zum Bette nieder, während die auf den rechten Arm ausgeübte Spannung den Oberkörper vom Bett so weit als möglich in die Höhe hebt. Lasse den Körper wieder zurücksinken und wiederhole die Übung fünf- bis fünfundzwanzigmal. Dieselbe Übung auf der linken Seite liegend. 6. Lege dich im Bett auf den Rücken. Fasse das Kopfende des Bettes oder der Obermatratze mit beiden Händen. Hebe die Beine nach oben und hinunter, bis die Zehen das Kopfende berühren. Mit zunehmender Kraft lege dich weiter unten auf die Matratze, bis du das Kopfende nur eben noch erreichen kannst. Wiederhole fünf- bis fünfundzwanzigmal. 7. Lege dich im Bett auf den Bauch. Hebe den Körper auf Ellbogen und Zehen, bis die Oberarme bei den Schultergelenken vollständig ausgestreckt sind. Lasse den Körper zurücksinken. Wiederhole fünf- bis zwanzigmal. 8. Bauchlage im Bett. Ziehe das Gesicht hinunter, bis die Oberstirne auf dem Bett liegt. Falte die Hände mit verschränkten Fingern hinter der Hüfte. Hebe den Körper zwischen Stirne und Zehen vollständig vom Bett auf, so daß nur Stirne und Zehen das Gewicht tragen. Laß dich wieder zurücksinken und wiederhole die Übung fünf- bis fünfundzwanzigmal, anfangs jedoch unter keinen Umständen mehr als fünfmal. 9. Behalte dieselbe Lage bei. Verschränke Hände und Finger unterhalb der Hüfte. Ziehe die Arme nach oben, daß es durch die Arme bis in die Schultern spürbar ist, und hebe die Beine und den Oberkörper zu gleicher Zeit so viel als möglich hinauf und nach rückwärts; während der Körper sich aufhebt, werden die Schultern möglichst nach rückwärts gezogen. Fünfundzwanzig- bis fünfzigmal. 10. Bauchlage im Bett. Lege die Handflächen auf der Höhe der Achselhöhlen aufs Bett. Halte Rückgrat und Beine steif und stoße den ganzen Körper eine volle Armlänge weit hinauf, so daß er nur mehr auf den Händen und den Zehen ruht; Rückgrat ganz gerade. Zurück aufs Bett. Fünf- bis zwanzig- oder dreißigmal. 11. Stelle dich mit dem Rücken gegen einen Spiegel. Drehe den Körper, ohne die Füße auf dem Boden zu bewegen, und versuche, im Spiegel dir direkt ins Gesicht zu sehen. Nach rechts und nach links zu machen. Zwanzigmal. 12. Pantoffeln ausziehen. Leicht einwärts stehen. Langsam auf die Fußspitzen heben und langsam hinuntersinken, bis die Absätze wieder den Boden berühren. Fünfzigmal oder öfter. 13. Gleiche Stellung. Vorderen Teil des linken Fußes so weit als möglich nach oben heben, den Absatz auf dem Boden lassen; dasselbe rechts. Jeder Fuß fünfundzwanzigbis fünfzigmal. 14. Stelle die Füße ungefähr 25 cm auseinander, Hände über der Hüfte in die Seite gestützt. Weit nach vorn beugen bei gestreckten Beinen. Schwinge den Körper im Beugen nach rechts, dann weiter soviel als möglich rückwärts, dann weiter herum nach 115
links bis wiederum nach vorne zum Ausgangspunkt. Dasselbe links herum. Jede Seite zehn- bis zwanzigmal. 15. Beuge den Kopf weit nach rechts und lege die rechte Hand oben auf den Kopf. Hebe den Kopf mit den Nackenmuskeln in die Höhe, während die rechte Hand Widerstand leistet. Dasselbe nach links. Fünf- bis zwanzigmal. 16. Beuge den Kopf vorwärts, bis das Kinn das Brustbein berührt, und verschränke die Finger hinter dem Kopf. Hebe mit den Nackenmuskeln den Kopf wieder in die Höhe; leiste mit den ineinandergreifenden Händen Widerstand. Zehn- bis dreißigmal. 17. Lege den Kopf weit zurück und beide Handwurzeln unter das Kinn. Richte den Kopf mit den Nackenmuskeln wieder auf und leiste mit Händen und Armen Widerstand. Zehn- bis dreißigmal. 18. Stelle die Füße etwa 15 cm auseinander. Beuge dich rechts hinunter und berühre die äußere Seite des rechten Beines so tief unter dem Knie wie möglich. Hebe gleichzeitig den linken Arm in die Höhe und über den Kopf. Dasselbe auf der linken Seite. Zwanzig- bis fünfzigmal. 19. Gleiche Stellung. Schließe die Hände fest zu Fäusten. Drehe die Arme nach auswärts, bis die Daumen direkt rückwärts weisen. Kehre dann die Bewegung um und drehe die Arme nach innen, auch wieder so weit, bis die Daumen rückwärts gerichtet sind. Bei beiden Bewegungen müssen die Muskeln gegenseitigen Widerstand leisten. Zwanzig- bis fünfzigmal nach jeder Richtung. 20. Gleiche Stellung. Verschränke die Hände hinter den Hüften. Ziehe die Schultern tief abwärts, dann rückwärts, aufwärts und vorwärts bis zum Ausgangspunkt. Hernach dieselbe Übung in umgekehrter Rotation. In jeder Richtung zwanzigmal oder mehr. 21. Stehe auf den Fußballen, die Füße 25 bis 30 cm auseinander; die Absätze dürfen den Boden nicht berühren. Gehe in die Kniebeuge, bis die Hüften die Absätze berühren, hebe gleichzeitig die Arme auswärts, bis sie in einem rechten Winkel in Schulterhöhe vom Körper abstehen. Erhebe dich wieder, bis du aufrecht stehst und lasse die Arme zur Seite fallen. Fünf- bis fünfzigmal. 22. Stelle dich ungefähr 75 bis 90 cm von einer Wand entfernt auf. Lege die Handflächen etwa 50 cm voneinander entfernt an die Wand. Lasse den Körper nach vorne fallen, bis die Brust fast die Mauer berührt. Halte den Fall durch die Arme auf, strecke die Arme wieder gerade aus und stoße den Körper eine Armlänge weit zurück. Zehn- bis fünfzigmal. 23. Schwinge die Zimmertür halb auf. Stelle dich ungefähr 30 cm von ihrer freien Kante auf. Gib ihr mit einer Hand einen raschen Stoß, als ob du sie zuschlagen wolltest; halte sie mit der anderen Hand in ihrem Schwung in Armeslänge auf und schlage sie in die entgegengesetzte Richtung zurück. Fünfundzwanzig- bis einhundertmal. Sehr rasch und kräftig. 24. Stehe gerade aufgerichtet (so gerade und in die Höhe gereckt wie möglich) etwa 90 cm von einer Wand entfernt. Strecke die Arme aus und bemühe dich, die Wand zu erreichen (es ist unmöglich, aber strenge die Muskeln so kräftig wie möglich an, um sie zu stärken). Ziehe die Arme zurück. Wiederhole fünfmal. Erhebe dich auf die Fußspitzen und strecke die Arme gerade abwärts, als ob du den Fußboden erreichen wolltest. Ziehe die Arme zu den Schultern zurück und lasse die Absätze wieder auf den Boden nieder. Fünfmal, sehr energisch. Erhebe dich auf die Fußspitzen. Strecke die Arme in Schulterhöhe nach den beiden Seiten, als ob du die beiden entgegengesetzten Zimmerwände berühren wolltest. Ziehe 116
die Arme zu den Schultern zurück, Absätze wieder auf den Boden hinunter. Fünfmal, energisch. Erhebe dich auf die Fußspitzen. Strecke die Arme gerade in die Höhe, wie um die Decke zu erreichen; versuche es mit aller Anstrengung. Ziehe die Arme zurück und senke die Absätze auf den Boden. Fünfmal. Mit dem Rücken etwa 60 cm von der Wand entfernt. Arme in die Höhe und rückwärts strecken, wie in der Bemühung, die obere Tapetenleiste nach oben und rückwärts zu erreichen. Arme wieder zurück und Körperhaltung wieder senkrecht. Fünfmal. 25. Stehe auf einem Fuße und strecke die Arme nach vorne so weit wie möglich aus; strecke zugleich den freien Fuß möglichst weit nach hinten, mit rückwärts gestreckten Zehen, als ob du die vor dir liegende Wand mit den Fingerspitzen und die entgegengesetzte Wand mit den Fußspitzen berühren wolltest. Ziehe die Arme und das Bein zurück, den Fuß gegen die Hüfte, und beuge gleichzeitig das Bein, auf dem du stehst, leicht. Dann wirf die Arme und das freie Bein wiederum in ihrer vollen Länge in die frühere Position und strecke das stehende Bein wiederum vollständig. Fünfmal. Wiederhole auf dem anderen Bein. Die ersten zehn Übungen sind (vollzählig oder teilweise) gleich nach dem Erwachen (beim ersten Aufstehen) zu machen; daran schließt sich die Morgentoilette mit dem Bad. Dann folgen die Muskelübungen 11 bis 23. Die Übungen können eine Viertelstunde bis zu einer Stunde dauern, je nachdem, wie oft man jede einzelne wiederholt. Sicherlich kann jeder vernünftige Mensch täglich fünfzehn Minuten für diese normalisierende Muskelarbeit erübrigen, bis die Muskeln so weit an Kraft und Geschmeidigkeit zugenommen haben, daß die Übungen von selber weiter und weiter betrieben werden, aus reiner Freude an der ihnen folgenden Steigerung des Lebensgefühls. Wer durch alle diese Übungen hindurchgegangen ist, hat jeden einzelnen bedeutenderen willkürlichen Muskel geübt, und bei einiger Vorsicht hat sich auch jegliche Überanstrengung vermeiden lassen. Im Anfang darf vor allem nichts übertrieben werden. Wohl üben die einzelnen Bewegungen nicht alle Körpermuskeln, aber sie trainieren die wichtigsten Gruppen. Sie sollten unbekleidet in einem kühlen oder kalten oder zum mindesten gut gelüfteten Raum gemacht werden. Beginnt man damit im Winter und in einem nördlichen Klima, so kann man sie zuerst in einem geheizten Zimmer bei offenem Fenster machen; später in einem Zimmer, das durch Offenlassen des Fensters zum voraus abgekühlt wurde. Hat aber das Fenster des Schlafzimmers die ganze Nacht offengestanden, wie es richtig ist, so dürfen die Übungen, wenn die Hautmuskeln, die Drüsenelemente und die Hautkapillaren begonnen haben, auf den Kältereiz zu reagieren, ohne Nachteil in einem kalten Raum stattfinden, das heißt, bei geöffneten Fenstern und ohne Heizung im Zimmer; denn dann ist man bereits gegen Erkältungen gefeit. Wer im Sommer mit der Durchführung dieser Übungen beginnt, kann sie von Anfang an in einem Raum mit geöffneten Fenstern machen. Kommt der Herbst, so bleiben die Fenster die ganze Nacht hindurch offen, zum mindesten spaltbreit. Folgt dann der Winter, so braucht das betreffende Zimmer in der Nacht nicht mehr geheizt zu werden, und auch die Übungen können den ganzen Winter hindurch in dem ungeheizten Raum bei offenem Fenster ausgeführt werden, selbst an kalten Tagen. Die 117
Kälte wirkt auf den vollbelebten Körper wie eine Herausforderung zum Kampf, zum Widerstand seiner Lebenskraft gegen ihren Angriff; der Sieg aber liegt immer auf seiten des lebendurchdrungenen Individuums, und die Kampfes- und Siegesfreude wird den Körper noch mehrere Stunden nach beendeter Übung durchströmen. Der Mensch mit gestählter Lebenskraft wird auch kräftigen Geistes sein und alle Gelegenheiten aufsuchen, um seine Widerstandsfähigkeit an den harten Bedingungen der Umwelt zu erproben. Ist der Winter in der betreffenden Gegend sehr kalt, so können die Fenster ohne Nachteil geschlossen werden, obwohl der lebenskrafthungrige Mensch bald auf dem Punkte angelangt sein wird, wo er die schlimmste Kälte nicht mehr fürchtet. Er wird je länger desto begieriger der Aufforderung zum Widerstand Folge leisten. Der Anfänger muß natürlich sehr vorsichtig sein und sich im Beginn vor Überanstrengungen hüten, denn ein Zuviel kann leicht Muskelentzündungen zur Folge haben, die in schlimmeren Fällen die Übungen monatelang unterbrechen. In den ersten Wochen sollten die Übungen gerade oft genug ausgeführt werden, daß man die verschiedenen Bewegungen erlernt, außer man ist schon durch frühere Muskelbetätigung an ähnliche Anstrengungen gewöhnt. Das Erlernen dieser Bewegungen wird allmählich die Spannkraft vergrößern, und nach und nach kommt der Zeitpunkt, wo man die einzelnen Übungen immer öfter wiederholen kann. Bei großer Kälte müssen die Übungen natürlich immer mit genügendem Schneid und rascher Frische ausgeführt werden, damit die Zirkulation in Gang bleibt. Indirekt können wir, wie ich schon sagte, durch Betätigung der willkürlichen Muskeln auch die unwillkürlichen Muskeln beeinflussen. Viele Leser werden wissen, daß der Arzt Verdauungskranken mit Vorliebe Körperübungen anrät, und wer diesen Rat befolgt, erkennt auch seine Zweckmäßigkeit. Das Geheimnis des Erfolgs liegt in der erhöhten Tätigkeit der Drüsen und Muskeln in den Wänden des Verdauungskanals. Wir wissen zwar, daß die Übung der willkürlichen Muskeln keine direkte Beziehung zu den Muskeln des Verdauungsapparates hat, und könnten uns fragen, woher es dann eigentlich kommt, daß die Tätigkeit der einen auf den Zustand der anderen einwirken kann. Die Antwort lautet, daß das Reflexnervensystem die verschiedenen Körpergebiete miteinander verbindet und den auf die willkürlichen Muskeln ausgeübten Reizimpuls auf die unwillkürlichen überleitet. Diese gegenseitigen Beziehungen führen dazu, daß alles, was einer einzelnen Region des Körpers zustößt, gleichzeitig auch alle andern beeinflußt, es sei im Guten oder im Schlimmen. Erhöhte Verdauungstätigkeit zum Beispiel ist einerseits eine Funktion der Muskelreflexkette; anderseits aber bildet diese selbe Verdauungstätigkeit eine der Reflexfunktionen der Magenreflexkette, denn alle im Magen verarbeitete Nahrung sendet einen Reizimpuls in das Muskelsystem des Darmkanals. Es ist auch erwiesen, daß die Wirkung gesunder Muskelbetätigung ähnlich wie die Wirkung direkter Sonnenbestrahlung des nackten Körpers das Blut fähiger zur Abwehr der Bakterien macht und vor allem einen tiefen und weitreichenden Einfluß auf die Drüsentätigkeit ausübt. Dieser Einfluß ist die Folge natürlicher Anregungen der diese Funktionen regelnden Reflexe. Zahlreiche Körperorgane sind Drüsen. Drüsen bauen sich selber aus den im Blute treibenden Aufbaustoffen auf; daneben erzeugen sie besondere Wirkstoffe zur Verwendung in anderen Organen, und das ist ihre Funktion in unserem körperlichen Dasein. Oft sind die von manchen Drüsen hergestellten Wirkstoffe die natürlichen 118
Anreger für richtiges Funktionieren anderer Drüsen, und ohne diesen Anreiz bliebe jede Tätigkeit dieser anderen Drüsen aus. Je mehr solche Wirkstoffe ihnen geliefert werden, desto normaler vollzieht sich ihre Tätigkeit und ihre eigene Sekretion. Diese Sekretion zweiten Grades, wenn man es so nennen will, ist ebenfalls ein natürlicher Anreiz für noch andere Drüsen, und so fort, bis der gesamte Kreis der Drüsenfunktion erfaßt und angeregt ist. Sogar die Wissenschaft erkennt dies jetzt an. Ich führe einen Ausspruch von Sir Almoth Wright an, der wohl als Autorität gelten darf, auch bei solchen, die andere Beweise ablehnen: „Erst vergangenes Jahr habe ich herausgefunden, daß das Blut von Fußballspielern nach dem Spiel abwehrkräftiger gegenüber Bakterien ist als vorher. Ich nenne Fußball, das ich als Spiel übrigens nicht mag, bloß als ein Beispiel körperlicher Betätigung. Nach jedem Spiele ist die Abwehrkraft und die Ausdauer gegenüber den Bakterien größer.“ Wie kann man sich diese Zunahme an Widerstandsfähigkeit des Blutes gegen Bakterien anders erklären als durch die größere Sättigung mit Sauerstoff und die vermehrte Drüsentätigkeit, durch welche die Hormon- und Enzymproduktion gesteigert und Kohlendioxyd und die Gewebeschlacken zusammen mit den Nahrungsresten ausgeschieden werden? Wenn für meine Behauptung, daß die Funktionsfähigkeit aller Organe und Körperteile mit normal angeregter Benützung wächst und daß keine Funktion normal angeregt werden kann, ohne daß die normalen Funktionen des ganzen übrigen Körpers auch mit angeregt werden, wenn für diese Behauptung eine physiologische Grundlage besteht, dann kann das Ergebnis gar kein anderes sein. Intensivere Muskelbenützung bedeutet tieferes und häufigeres Atmen. Schnelleres und tieferes Atmen vergrößert die Aneignung von Sauerstoff und die Ausscheidung von Kohlendioxyd. Schon für sich bedeutet das einen reineren Blutstrom, der sicherlich kräftigere Abwehr gegen die Bakterien leistet als ein weniger reiner. Aber dieses reinere, sauerstoffreichere Blut wird auch noch rascher durch die Drüsen gepumpt, liefert mehr Rohstoffe für die Sekretion, welche die Drüsen verarbeiten müssen, und bringt ihnen zweifellos natürliche Anregungen zu größerer Funktionsleistung in dem vermehrten Sauerstoff und in den von anderen Drüsen bereiteten Hormonen und Enzymen, besonders des endokrinen Typus'. Diese Hormone und Enzyme beeinflussen gegenseitig sich und andere Drüsen und bewirken infolgedessen Drüsensekretionen im ganzen Körper. Und da diese vermehrte Sekretion durch eine Kette von aufeinander wirkenden, natürlich angeregten Reflexen hervorgerufen wird, die in erster Linie durch die vermehrte Funktionsleistung einer Gruppe wichtiger Organe, der willkürlichen Muskeln, in Tätigkeit versetzt werden, so ist es nicht nur vernünftig, anzunehmen, sondern wäre es sehr unvernünftig, nicht anzunehmen, daß diese vermehrten, im Blutstrom schwimmenden Drüsenprodukte ihre tiefe Wirkung auf das Blut haben müssen. Und weiter wäre es ebenso unvernünftig, sie nicht als dem Blute und damit dem Körper äußerst zuträglich einzuschätzen; denn ihre tiefe Wirkung ist das Ergebnis natürlicher Anreize. Alles aber, was dem Körper zuträglich ist, muß ihm — das versteht sich eigentlich von selbst — zum Schutze dienen, das heißt, zur Stützung seiner Abwehrfähigkeit. Dieser Schutz ist nun aber nicht irgendeine zugunsten des Körpers ausgeübte Leistung von außen, sondern er beruht auf einer dem Körper innewohnenden und in ihm selber entwickelten Eigenschaft. Wir sagen von solch einem Körper, daß er vitaler, 119
lebendiger ist; daher muß er auch gegenüber den Gegensätzen von Vitalität und Lebendigkeit — der Krankheit und dem Tode — widerstandsfähiger sein. Auch der noch in Vorurteilen befangene Denker muß zugeben, daß alles, was die bakterientötende Kraft des Blutes erhöht, krankheitsvorbeugend wirkt; es muß nämlich im gleichen Maße des Körpers natürliche Unempfindlichkeit erhöhen. Doch wenn wir hierbei stehenbleiben würden, so hätten wir erst die halbe Lektion gelernt. Wenn vermehrte körperliche Übung die Abwehrkräfte im Körper gegen Krankheit verstärkt, dann folgt daraus, daß, je anstrengender eine Übung ist, bis zu dem Punkt, wo die Erschöpfung einsetzt — aber niemals darüber hinaus —, desto widerstandsfähiger oder immuner der Körper werden muß. Und da die Umkehrung auch immer wahr bleibt, so weiß man auch dieses: je mehr man es unterläßt, seinen Körper bis zur vollen Grenze seiner Leistungsfähigkeit in Übung zu erhalten, um so weniger widerstandsfähig, um so weniger immun gegen Krankheit und Tod wird man. Da unsere Voreltern einer beständig wechselnden Umgebung ausgesetzt waren und keine äußeren Mittel besaßen, sich gegen die Veränderungen ihrer Umwelt zu verteidigen, wurde an ihren Abwehrmechanismus ununterbrochen der Anspruch gestellt, sich zu verteidigen und zu schützen. Der Mechanismus mußte bis zur Grenze seiner Leistungsfähigkeit arbeiten. Und wir wissen, daß eine solche beständige Übung der eine und einzige Weg ist, auf welchem Organe und Funktionen ihre volle normale Leistungsfähigkeit gewinnen und sich erhalten können. Wir wissen auch, daß Organe oder Funktionen, die ihre Tätigkeit nicht ausüben, nach und nach zerstört werden. Diese Gesetze sind allgemein und immer gültig, und deshalb beziehen sie sich ebensogut heute auf uns wie vor Urzeiten auf unsere primitiven Vorfahren. Der Leser wird sicherlich, falls er nicht völliger Neurotiker ist, schon an sich selber die belebende Wirkung erfahren haben, die jeder Muskelübung folgt, das Blut durch den Körper jagt und ihm im Austausch gegen die Giftgase Sauerstoff zuführt, wenn die Übung so lange durchgehalten wird, als sie ohne zu große Ermüdung geleistet werden kann. Diese Belebung ist physiologisch. Sie entsteht durch die Ausübung der Muskelfunktionen, der Arbeit, die von der Natur den Muskeln zugedacht ist. Das Gefühl des Kräftezuwachses ist die Belohnung für gut getane Arbeit. Aber die Verbesserung der Art, des Charakters eines gewöhnlichen Muskels überträgt sich auf alle andern Teile des Körpers und damit natürlich auch auf das Herz und die Blutgefäße. Diese übertragene Verbesserung erzeugt wiederum eine Verbesserung aller übrigen Körperfunktionen. Das geht in erster Linie so vor sich, daß die allgemeine Muskelverbesserung den diese Muskeln beherrschenden Nervenzellen des Reflexnervensystems übermittelt wird. Die Nervenzellen fühlen, wie die Verbesserung in den durchgearbeiteten Muskeln sich ansammelt, und übertragen die verbesserte Note oder Qualität auf jede Zelle, jedes Organ und jeden Körperteil. Herz und Blutgefäße und die Verdauungsorgane erhalten selbstverständlich auch ihr Teil. Noch auf andere Weise hilft der verbesserte und verbessernde Tonus der Muskeln dem Herzen und den Blutgefäßen. Unsere Vorstellung von dem durch Zusammenziehungen des Herzmuskels in alle Teile des Körpers gepumpten Blut ist gewiß vollkommen richtig. Aber der Blutkreislauf ist noch durch einen andern wichtigen Faktor bedingt, der mit der Zusammenziehung der willkürlichen Muskeln zusammenhängt. Es ist schwierig, 120
diesen Faktor verständlich zu machen, ohne in recht trockene, anatomischphysiologische Betrachtungen über das Herz und die Blutgefäße zu geraten. Ich werde trachten, mich so kurz wie möglich zu fassen und den Leser so wenig wie möglich zu langweilen. Wenn das Blut in die Arterien gepreßt wird, dehnen sich die Arterienwände aus, und wenn das Herz seine Kammern wieder füllt, so schließt sich eine Klappe am Ausgang der Herzkammer, damit das Blut nicht wieder zurückfließen kann. Das Blut befindet sich nun aufgestaut in den Arterien, deren Wände einen Druck darauf ausüben. Zwischen den Arterien und den Venen befinden sich mikroskopisch kleine Gefäße, die Blutkapillaren. Die weit ausgedehnten, elastischen Arterien trachten danach, wieder in ihre normale, unausgedehnte Lage zurückzukommen; dabei treiben sie das Blut in die Kapillaren und aus ihnen in die Venen. Die Arterien führen das Blut unter dem Impuls des Herzschlages vom Herzen weg; unmittelbar hinter der Blutsäule schließen sie sich, worauf das Blut durch die Kraft des Herzschlages und die elastische Zusammenziehung der Arterienwände vorwärtsgetrieben wird. Aber in den Venen fehlt die direkte Kraft des Herzschlages, die ihnen helfen würde, das Blut wieder ins Herz zurückzubefördern, was außerdem noch zum größten Teil gegen die Schwerkraft geschehen muß. Die dazwischenliegenden Kapillaren halten die Stärke des Impulses auf; auch haben die Venen keine dicken, elastischen Wände wie die Arterien. Die den Rückfluß des Blutes durch die Venen zum Herzen hauptsächlich bewirkende Kraft ist die Zusammenziehung der willkürlichen Muskeln. In den Venen sind in bestimmten, mehr oder weniger regelmäßigen Abständen Klappen angebracht, welche die Arterien nicht besitzen. Sind die Venen mit Blut gefüllt, so ziehen sich die willkürlichen Muskeln zusammen, drücken die Venen flach und drängen das Blut von den Kapillaren weg zum Herzen hin, wobei sein Zurückfließen durch die Klappen verhindert wird. Man beobachtet dabei, daß, je weniger die Muskeln benützt werden, desto größer die Tendenz des Blutes zu Stockungen und Rückstauungen gegen die Kapillaren hin ist, was dem Herzen und den Arterien neue Aufgaben zuweist und ihre Tätigkeit auf der anderen Seite der Kapillaren erschwert. Das ist aber noch nicht alles. Der ungeübte Muskel ist schlaff; er hat seine gute Qualität verloren. Das heißt, daß die dünnen Wände der Venen nicht die normale Unterstützung eines gesunden, kräftigen Muskels erhalten. Die Venenwände zeigen dann die Tendenz, nachzugeben und sich auszudehnen; infolgedessen schließen die Klappen nicht mehr recht und lassen Blut zurückfließen, was die Stockung und das Zurückstauen gegen die Kapillaren noch vergrößert; die ganze Last der Arbeit liegt dann auf dem Herzen und den Arterien. Daß in meinem eigenen Fall ursprünglich alle diese Zirkulationsstörungen vorhanden waren, war aus den Anschwellungen und Krümmungen der Venen unter der Haut, aus meinen kalten, leicht bläulichen Händen und Füßen, aus dem häufigen Gefühl des „Eingeschlafenseins“ der Glieder und aus dem Vorhandensein von Hämorrhoiden zu erkennen. Als ich begann, jeden Tag zu turnen, fing ich auch an, das venöse Blut gegen das Herz zurückzutreiben, indem ich meine Muskeln mehr oder weniger kräftig anspannte; mit jeder derartigen Zusammenziehung zwang ich das venöse Blut in die Richtung zum Herzen zurück. Das verringerte vorübergehend die Anstauungen in der verkehrten Richtung und erleichterte in demselben Maße auch den Druck auf Herz und 121
Blutgefäße auf der anderen Seite der Kapillaren. Jede Vermehrung meiner Muskeltätigkeit vergrößerte auch die Entlastung des Herzens und der Arterien. Und wie diese Muskeltätigkeit in regelmäßigen Fortschritten kräftiger wurde, wuchs auch die Kraft der Muskeln, und damit ihre Fähigkeit, den Wänden der Venen die normale Muskelunterstützung zu leihen und den Venenklappen zu einwandfreiem Funktionieren zu verhelfen. So verlor sich allmählich der Rückwärtsdruck des sich aufstauenden venösen Blutes, und Herz und Arterien wurden von ihrer Überlastung nach dieser Seite hin befreit. Aber ich muß hier innehalten. Die genaue und ausführliche Liste der Vorteile, die der menschliche Körper aus kräftigen Freiluftübungen seiner willkürlichen Muskeln zieht, kann nicht zu Ende geführt werden, so lang ist sie. Zum Abschluß dieser Muskelbetrachtung sei aber noch eindringlich gesagt, daß die Muskeln, um sich kräftig und voll zu entwickeln, nicht ununterbrochen geübt werden müssen. Ununterbrochene oder auch nur übermäßige Betätigung wäre im Gegenteil ihr Verderben. Jedermann weiß ja, daß es zum Beispiel nicht nötig ist, ununterbrochen zu laufen, um einen guten Atem zum Laufen zu bekommen. Notwendig ist nur, daß die Muskeln systematisch und regelmäßig geübt werden, das heißt, in genügend kurzen Zeitabständen, damit der Wert der vorhergehenden Übung nicht wieder verlorengeht, bevor die nächste Übung einsetzt, denn die einander folgenden Übungen sollten sich unterstützen und ihre Wirkung soll sich anhäufen (kumulieren). Übung und Erholung, Tätigkeit und Ruhe: das ist das Gesetz. Dann werden allmählich die Muskeln an Umfang und Kraft wachsen, und die Geschicklichkeit, die ihr Gebrauch verlangt, wird sich nach und nach einstellen. Die Muskelfunktion wie auch die Zirkulationsfunktion, von welcher zum Beispiel die Fähigkeit des langen Atems weitgehend abhängt, werden durch die Benützung, gemäß dem Gesetze der Verbesserung der Funktionsfähigkeit, immer tauglicher. Umgekehrt bilden sich Muskeln zurück, wenn sie nicht täglich geübt werden. Genau das gleiche gilt ja von jeder anderen Fähigkeit auch. Vernachlässige eine einzige deiner Anlagen und Begabungen, und die Organe oder Funktionen bilden sich zurück, sie schwinden. Der übermäßige Gebrauch führt aber zur selben Folge; das darf man nie vergessen. In der Pathologie unterscheidet man zwei Arten von Atrophie oder Schwund der Körpergewebe: die Atrophie infolge Unterbenutzung und die Atrophie infolge Überbenutzung. Die überbenützten Muskeln erleiden ebensolche Verheerungen wie die unterbenützten. Auch solche Muskeln werden steif, antworten nicht mehr bereitwillig auf die Anreize der Nerven und können sich bei zu großer Überbürdung entzünden. Ein noch schlimmeres Stadium ist die Veränderung der Muskelfibern zu Fibergewebe, wodurch die Fähigkeit des Sichausdehnens und Zusammenziehens und damit die Funktionsfähigkeit verschwindet. Vollständige Zerstörung — aber durch Überbenützung. Als Beispiel nenne ich das überarbeitete Herz, das unter der Anstrengung, sein Blut durch kranke, steif zusammengezogene Arterien zu treiben, zugrundegeht. Auch die Fähigkeiten eines überarbeiteten Hirns und überanstrengter Nerven gehen zurück und verkümmern. Welchen Körpervorgang man auch beobachtet, immer wieder findet man, daß jedes Organ bis zu seiner vollen Leistungsfähigkeit ausgenützt, dann aber einige Zeit außer Betrieb gesetzt werden muß, sozusagen zur Wiederherstellung und Instandsetzung. Sinnlose Verschwendung rächt sich also auch auf diesem Gebiet, wie auf allen 122
andern. Und zweifellos findet die größte Vergeudung menschlicher Energie auf dem Gebiete der unbewußten Nerven- und Muskelanstrengungen durch willkürliche Muskelanspannung statt, durch die Unfähigkeit des Menschen, die Muskeln und die Nerven locker zu lassen, jede Spannung, jede Anstrengung und jede unnötige Zusammenziehung zu vermeiden, kurz, immer gelöst und gelockert zu sein, außer wenn die Anspannung durch einen bestimmten Willensakt zu einem bestimmten Zwecke angeregt wird. Überflüssige Nerven- und Muskelanspannung ist der Fluch der Zivilisation. Der Wilde kennt keine Spannung; die primitiven Völker, die schon mehrere Grade über dem Lebensniveau eines Wilden stehen, kennen auch keine. Kleine Kinder kennen sie nicht, bevor sich nicht das Bewußtsein ihrer Individualität entwickelt hat, das bei den zivilisierten Völkern schon sehr früh hervortritt. Der Mensch mit angespannten Muskeln kann im Eisenbahnzug, im Dampfer, im Auto den Bewegungen und rhythmischen Schwingungen des Fahrzeuges nicht nachgeben; er wird ruckartig herumgeschleudert und leistet jedem Stoß mühevollen Widerstand. Auf hundert verschiedene Arten, deren man sich völlig unbewußt bleibt, verrät man in seinen Bewegungen solche gewaltsame Anspannungen und verschleudert seine Muskel- und Nervenkraft. Erst bei eingehender Selbstbeobachtung erkennt man diesen Verlust. Will man eine willkürliche Muskelanstrengung unternehmen, bei der man vielleicht bloß einen Arm oder eine Hand zu bewegen braucht, so spannt man wahrscheinlich die Hals- und Gesichtsmuskeln gleichfalls an, vielleicht sogar die Muskeln der Brust und des Unterleibs noch dazu. Dann bewegt man den Arm oder die Hand mit unsanftem Ruck, ohne Genauigkeit in der Ausführung der Bewegung oder in der Zielrichtung, anstatt daß eine jede Bewegung mit Überlegung und äußerster Präzision, ohne die geringste Spur von tastender Ungeschicklichkeit oder Unsicherheit der ausführenden Glieder, ausgeführt würde. Das allzu Heftige und Krampfhafte ist Gewohnheit der Zivilisation, und wer in der Zivilisation lebt, vielleicht aus einer schon seit mehreren Generationen zivilisierten Familie stammt und sich nicht bewußt aus dieser Gewohnheit der falschen Muskelund Nervenspannung heraustrainiert, der wird ihr ohne Rettung verfallen. Wer nicht bewußt solche Nerven- und Muskelüberanstrengungen in sich selber bekämpft und besiegt, kann das Ziel der dauernden Gesundheit unmöglich erreichen. Der Stuhl, auf dem du sitzest, muß dich tragen, nicht du darfst ihn hinunterdrücken; du darfst auch nicht dich selber darauf in der Schwebe halten, dein Körper muß darauf ruhen wie etwa ein Sack Mehl, den man darauf stellt. Wenn jemand deinen Arm berührt, so muß der Arm im Schultergelenk lose baumeln wie ein Dreschflegel oder ein Stück Holz, das mit einer Schnur an ein anderes gebunden ist. So gelöst und locker muß deine Haltung sein, daß dein Kopf, wenn jemand ihn mit der Hand in die Höhe hebt und seine Hand gleich darauf zurückzieht, augenblicklich herunterfällt, als ob er mit deinem Körper nicht zusammenhinge; jedenfalls darf er nicht steif in die Luft hinausstehen und erst langsam wieder in seine alte Stellung zurückkehren, von den verkrampften Halsmuskeln getragen und gezogen. Die Muskelfunktionen sind nicht in Ordnung, solange man die willkürlichen Muskeln nicht so beherrscht, daß jede Bewegung überlegt und gleitend (anstatt ruckweise) vor sich geht, wie rasch sie auch ausgeführt werden mag. Kraft und Anspannung dürfen nur in den beabsichtigten Handlungen willkürlicher Muskeln 123
angewendet werden. Das alles bedeutet natürlich, daß zunächst der Geist und die Nerven unter die Kontrolle des Bewußtseins genommen werden müssen. Durch sie erlangt man Gewalt über die Muskeln und damit die Möglichkeit, im Laufe eines Tages mehr Kräfte zu ersparen, als für die Ausübung des härtesten Tagewerkes nötig sind. Daß eine solche Ersparnis möglich ist, habe ich an mir selbst erfahren. Wie man die wunderbare Maschine seines Körpers ganz unter seine Gewalt und Kontrolle bekommt, kann ich hier nur kurz erläutern. Die Muskeln und Nerven vollständig zu entspannen, so oft sie nicht direkt beansprucht werden, ist jedenfalls eine Kunst, die nicht viele Menschen beherrschen. Beobachte einmal die Katze, den Hund, ein schlafendes Kind, und sieh, wie bei ihnen jeder Körperteil sich durchaus von seiner Unterlage tragen läßt, vom Fußboden, vom Stuhl, vom Bett, auf dem er ruht. Wie wenig versteht der zivilisierte Mensch noch diese vollständige Hingabe an die Ruhe! Um wieder dazu zu kommen, muß man sich zunächst über die im eigenen Körper vorhandenen Muskelspannungen klar werden. Zu diesem Zweck legt man sich flach auf den Rücken, am besten auf dem harten Fußboden, und überläßt sich der tragenden Unterlage, als ob man ein bloßes Knochenbündel wäre und keinen eigenen Willen hätte. Wenn man die Glieder nicht mehr anspannt, werden sie schwer herabfallen. Stelle sie dir nun vor, als ob sie kraftlos und unfähig wären, sich aus eigenem Antrieb zu bewegen oder etwas anderes zu leisten, als nutz- und zwecklos und schwer aufzuliegen. Stelle dir vor, dein Kopf wäre gänzlich außerhalb deiner eigenen Kontrolle, wie wenn er nicht durch den Hals mit deinem Körper zusammenhinge, und die Nackenmuskeln wären nicht vorhanden. So oft du diese Entspannungsübung machst, wirst du jedesmal Spannungen in dir selber gewahren, die du am Anfang gar nicht auflockern kannst. Während du mit den Krampfempfindungen in den Armen oder im Nacken kämpfst, wird dir vielleicht plötzlich bewußt, wie starr deine Beinmuskeln oder die Unterleibs- oder die Brustmuskeln angezogen sind. Fortwährende Übung wird dich aber bald fördern. Während du auf einer Liegestatt ruhst und dich bemühst, jede Kontrolle und Willkür im Spiele deiner Muskeln auszuschalten, lasse jemanden deinen Arm oder dein Bein oder deinen Kopf in die Höhe heben. Bist du vollkommen entspannt, so wird der Arm oder das Bein in den Gelenken, der Kopf in den Halswirbeln ganz lose sein. Wenn die unterstützende Hand unter deinen Nacken greift, um dich von dort aus emporzuheben, so bleibt dein Kopf nach unten hängen wie der Kopf eines Ohnmächtigen. Wird die Hand unerwartet zurückgezogen, dann fällt das in die Höhe gehobene Glied plötzlich dumpf auf das Lager zurück, als wärest du besinnungslos. Beim Gehen lasse die Arme von den Schultern aus hin- und herschwingen (lasse sie schwingen, aber schwinge sie nicht selber!), als ob sie schwer an deinen Schultern befestigt herunterhingen, und als ob es nicht in deiner Macht stünde, sie aufzuhalten oder in Schwung zu setzen. Schleudere deine Beine nicht mit einem Ruck vorwärts, sondern versuche dir vorzustellen, daß dein Körper beständig nach vorne fällt, worauf die Beine einfach rhythmisch nach vorne schwingen, um den Körper vor einem Fall zu bewahren. Sitze niemals auf dem Rand eines Stuhles, sondern voll auf dem ganzen Sitz. Drücke nie hart gegen die Rückenlehne, mit zusammengepreßten Händen und gespannten Nacken- und Beinmuskeln, sondern lehne dich in aller Ruhe und zwanglos 124
an; laß alle Muskeln lose gehen: der Stuhl muß dich tragen. Mache abends vor dem Schlafengehen die auf Seite 213 f. unter Nr. 24 und 25 angegebenen Streckübungen; entspanne daraufhin den Körper, bis jeder Nerv und jeder Muskel bis ins kleinste gelöst ist. Laß deinen Kopf schwer sein, das Kissen muß ihn tragen; auch deine Arme sollen schwer sein, das Bett muß sie tragen. Dein ganzer Körper muß willen- und kraftlos sein, unfähig zu jeder Anstrengung. Auch der Geist soll sich lösen; versuche dir vorzustellen, du seiest unfähig, einen klaren Gedanken zu fassen. Mit solchen Übungen wirst du bald den ganzen Körper so weit beherrschen, daß du ihn veranlassen kannst, sich im Schlafe willig zu entspannen. Wenn wir tagsüber alle unnötigen Spannungen der Nerven und Muskeln zu vermeiden trachten und ihre Tätigkeit allein auf die willkürlichen Bewegungen und notwendigen Anstrengungen beschränken, wenn wir den Körper lehren, im Schlafe nachzugeben, dann wird er endlich wieder in die glückliche Lage versetzt, die Ausstrahlungen der Muskelreflexe mit vollem Gewinn in sich wirken zu lassen. Denn es ist wahr: je besser die Muskeln bei unkontrollierten Nerven durch Übungen ausgebildet sind, desto schlimmer für den Körper; er ist dann wie eine mächtige Maschine, deren mechanische Führung in schlechtem Zustande ist. Eine solche Maschine wird sich bald zugrunderichten; je kräftiger sie arbeitet, desto rascher und gründlicher geht sie ihrer Zerstörung entgegen. Aber eine gesunde Kontrolle der Nerven- und Muskelentspannungen kann nicht allein durch den Willen ausgeführt werden. So sehr der Wille zur Durchführung der Normalisierung der fünf Reflexketten notwendig ist, so sehr ist es außerdem auch nötig, jede einzelne der fünf Reflexketten durch regelmäßigen Kontakt mit ihren natürlichen Anregern zu entwickeln, um in der soeben beschriebenen Weise durch Übungen des Geistes und des Willens die Herrschaft über Nerven und Muskeln zu gewinnen. Werden alle fünf Ketten genügend trainiert, so wird es leicht sein, die Nerven und Muskeln zu einwandfreiem Funktionieren zu bringen, wie die Natur es von ihnen haben will. Dann wird auch keine Krankheit dir mehr etwas anhaben können, und dein Körper wird dann seiner Bestimmung gemäß ein Palast für den Geist, ein Tempel der Seele, eine würdige Behausung für den dir innewohnenden Funken des unendlichen Lebens sein.
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11. KAPITEL Die Pflege der Haut Trotz der großen Bedeutung der Ernährungsfrage muß ich hier eindringlich wiederholen, daß die beste Diät der Welt unzulänglich ist, wenn sie als einziges Mittel den menschlichen Körper gegen Krankheiten schützen soll. Sie wird ihn länger vor Verfall und endgültiger Zerstörung bewahren als eine unrationelle Ernährungsweise, aber auf die Ausbildung der übrigen vier Reflexketten können wir unter keinen Umständen verzichten, wenn wir eine allgemeine Normalisierung anstreben. So ist es zum Beispiel selbstverständlich, daß Gifte ins Blut eindringen, wenn der Hauttätigkeit nicht die nötige Aufmerksamkeit geschenkt wird. Denn nach den Nieren ist die Haut das wichtigste Ausscheidungsorgan. Im Grunde genommen ist sie sogar wichtiger als die Nieren selber, denn wenn die Nieren zu arbeiten aufhören, kann der Körper noch tagelang weiterleben, wohingegen er binnen wenigen Minuten stirbt, sobald die Haut an ihrer Ausscheidung verhindert wird. Richtige Hautpflege bedeutet, wie wir schon wissen, die Haut regelmäßig der direkten Berührung mit ihren natürlichen Anregern —Sonne, Luft und Wasser — 126
auszusetzen; denn auch der Abwehrmechanismus der Haut ist für die Erhaltung seiner Vollkommenheit dem Gesetze unterworfen, daß nur natürlich stimulierte Körperteile, Organe und Zellen normal funktionieren können; ferner der Umkehrung dieses Gesetzes, nach welcher alle nicht auf natürliche Weise stimulierten Zellen, Organe und Funktionen einer allmählichen, langsamen Zerstörung anheimfallen. Dieser Abwehrmechanismus kann unsern Körper außerdem nur dann wirksam gegen schädliche Einflüsse verteidigen, wenn wir ihm gestatten, diese Verteidigung wirklich selbständig durchzuführen. Entgegen dieser Notwendigkeit hat der zivilisierte Mensch sich besondere Schutzeinrichtungen ausgedacht, künstlich durchwärmte Häuser, bequeme und warme Kleidung, Sonnen- und Regenschirme und viel anderes mehr. Sie sollen den natürlichen Abwehrmechanismus seiner Funktionen entheben und ihn entlasten. Und doch gehört der menschliche Körper in alle Naturvorgänge, in Sturm und Wetter, Sonnenschein und Regen, wie Gras oder Blumen oder Bäume hineingehören. Er wird zart und empfindlich, wenn ihm die direkte Beziehung zur Umwelt entzogen wird — falls es ihm überhaupt gelingt, auf die Dauer weiterzuleben. Eine Entlastung des Abwehrmechanismus der Haut zerstört also letzten Endes seine Kräfte und Fähigkeiten und muß logischerweise die von der Natur gewollte Immunität des Körpers mit zerstören. Wollen wir diese Immunität wieder herstellen, so muß auch der sie beschützende Abwehrmechanismus in allen seinen Teilen frei arbeiten dürfen. Die hergebrachten Sitten und die Erfordernisse des Lebens in der Zivilisation machen es nun natürlich unmöglich, unseren nackten Körper regelmäßig Wind und Wetter auszusetzen. Daher wird der Abwehrmechanismus der Haut immerzu behindert und beständig zu wenig oder überhaupt nicht benützt. Infolgedessen wird die Natur ihn langsam, aber unerbittlich zerstören, wenn wir nicht etwas tun, um die Störungen, welche die Lebensgewohnheiten der Zivilisation mit sich bringen, auszugleichen. Geschieht das nicht, so muß unser Körper notwendigerweise seine Fähigkeit verlieren, sich der Angriffe von außen zu erwehren. Der erste plötzliche Wechsel in der Temperatur, der erste beißende kalte Wind, das erste Durchregnetwerden, die erste Zugluft bringt ihm eine Erkältung. Anstatt bald zu verschwinden, nistet sich das Unwohlsein ein. Möglicherweise entsteht daraus eine Influenza, dann eine Lungenentzündung, eine Rippen- oder Brustfellentzündung, schließlich Tuberkulose. Ein vollständig lebenskräftiger Körper dagegen wird schon die Erkältung, aber auch jede Folgekrankheit abweisen, weil ein vollständig lebenskräftiger Körper sich gegen Krankheiten erfolgreich zu wehren versteht. Wie gesagt, können wir modernen Menschen nicht beständig unbekleidet umhergehen, aber wir vermögen dafür etwas anderes zu tun, nämlich die Bekleidung auf ein Mindestmaß zu verringern und möglichst poröse Stoffe zu wählen, die der Luft und einigem Licht den Zutritt zur Haut gestatten. Im Sommer ist das leicht durchzuführen. Ich selber trage das ganze Jahr hindurch keine Unterkleider, und die leichten äußeren Kleider sind sogar im Winter so porös, daß die kühlen und kalten Winde überall hineinpfeifen können. Dann erst fühle ich mich ganz wohl. Der Anfänger in der richtigen Hautpflege wird allerdings sogar im Sommer noch Unterkleider tragen wollen; sie sollte aber jedenfalls ganz leicht und lose gewoben sein. Nur dann kann es uns gelingen, die Hautatmung und die Hautabwehrfähigkeit zu beleben; dadurch wird in der ganzen Kette der Hautfunktionen die funktionelle Tätigkeit angeregt. Kommt dann der Winter, so darf die Bekleidung keinesfalls 127
geändert werden. Ich kann nur immer wiederholen: man trage so wenig Kleider, als Gesetz und Sitten es gestatten, und diese Kleider sollen offen, porös, leicht und nicht anliegend sein, überdies möglichst hell in der Farbe. Wenn man sich zu einer solchen Umstellung in seiner Bekleidung erst mitten im Winter entschließt, muß man natürlich mit größter Vorsicht zu Werke gehen, und das um so mehr, je mehr die Haut bisher verweichlicht worden ist. Trägt man schwere, undurchlässige Kleider, so muß man damit fortfahren, bis der Frühling wärmeres Wetter bringt. Dagegen kann man dichte Unterkleidung gegen poröse von gleichem Gewicht austauschen, oder zwei dünne Schichten an Stelle einer dicken, dichten tragen. Dieser Wechsel wirkt nur günstig. Natürlich muß mein Rat, sich so leicht wie möglich zu kleiden, richtig ausgelegt werden. Selbstverständlich ist zum Beispiel, daß ein Mann, der verhältnismäßig bewegungslos auf seinem Fuhrwerk sitzt oder irgendeine andere Art Arbeit, bei der er sich nicht recht bewegen kann, im Freien verrichten muß, in unsern nördlichen Breiten im Winter niemals leichte Bekleidung tragen darf. Aber wer sein eigenes geschlossenes Auto führt oder in der Straßenbahn fährt, der braucht sich auch bei kaltem Wetter nicht nach der schlechten Gewohnheit zivilisierter Menschen einzuwickeln. Indessen müssen Menschen, deren Arbeit das Tragen schwerer, undurchlässiger Kleidung verlangt, ihre Haut ganz besonders pflegen und trainieren um die Nachteile der dicken Bedeckung aufzuheben. Denn es ist eben doch eine hochwichtige Tatsache, daß die Haut atmet. Wie die Lungen scheidet sie Kohlensäure aus und nimmt dafür Sauerstoff auf. So sollte es wenigstens sein; aber wenn die Haut durch dicke Kleidung von der Außenluft abgeschnitten ist, dann muß sie die ausgeatmeten Giftstoffe, die sich in den sie umgebenden dichten Hüllen ansammeln, weil sie keinen Ausweg finden, wiederum in sich aufnehmen und dem Blute von neuem zuführen. Sogar die Schweißdrüsen, diese wichtigen Ausscheidungsorgane für die Gifte des Körpers (s. S. 125ff.), verlieren ihre Arbeitsfähigkeit, wenn der Körper beständig dicht bekleidet ist. Ist die Unterkleidung aus Wolle, so wird der Schweiß von der Wolle aufgesogen und bleibt in beständiger Berührung mit der Hautoberfläche; viele ausgeschiedene Giftstoffe werden auf diese Weise wieder in den Körper zurückgeführt und müssen hernach durch die Nieren entfernt werden, was für diese Organe eine ungeheure Mehrbelastung bedeutet. Überlegen wir uns nun, daß Zurückhaltung der Körpergifte der Hauptfaktor für das Altern des Körpers ist und in ungünstigen Fällen den Körper sogar töten kann, dann wird uns vielleicht endlich klar, von welch großer Bedeutung ein tadelloses Funktionieren der Hautatmung und -ausscheidung ist. Daß meine Haut ihre Funktionen voll ausübt, ist übrigens auch der Grund dafür, daß ich sozusagen niemals müde bin; ich vermeide eben alle Prozesse, die die Ausscheidung der Körpergifte behindern können, und trachte im Gegenteil die Bildung neuer Gifte zu verringern. Das Tragen poröser Kleidung ist aber im Grunde genommen nur eine passive Maßnahme; wir müssen für die Gesundheit der Haut auch aktiv arbeiten. Wie arbeiten wir aktiv an der Normalisierung der Haut? Die Antwort auf diese Frage lautet: durch Baden. Drei Arten von Bädern müssen wir der Haut in regelmäßigen Abständen zukommen lassen: Licht-, Luft- und Wasserbäder. Diese regelmäßigen Abstände müssen allerdings kurz genug sein, um die Wirkungen der Bäder sich anhäufen zu lassen; die Wirkungen dürfen nicht abklingen, bevor neue hinzukommen. 128
Unsere Hygieniker (Gesundheitsforscher) empfehlen ihren Patienten allerdings gemeinhin nur eine einzige Art von Bädern, die Wasserbäder, und begründen diese Vorschrift mit einer einzigen Notwendigkeit — gerade der geringsten —, nämlich mit der Sauberkeit. Aber die äußere Reinhaltung des Körpers und seiner Kleidung und Umgebung allein macht die wahre körperliche Sauberkeit noch nicht aus; sie bewirkt nur, daß der Körper sauber aussieht. So wie auch Schmutz, der äußerlich an uns klebt, uns nicht im wirklichen Sinne des Wortes schmutzig macht, sondern nur bewirkt, daß wir schmutzig aussehen. Was uns in Wirklichkeit beschmutzt, das ist der Schmutz, den wir im Innern unseres Körpers mit uns herumtragen und nicht absondern. Der Verdauungskanal wird, solange er die Aufgabe erhält, nur jene Art von Nahrung, für die er eingerichtet ist, zu verarbeiten, normal und einwandfrei funktionieren und sich seiner Schlacken ganz von selbst entledigen; denn in seiner Kost findet er die natürliche Anregung zu jener vollkommenen Funktionsfähigkeit, wie sie durch die Ahnen der Menschenrasse in der endlosen Länge der Evolutionszeitalter gemäß ihren Umweltbedingungen entwickelt wurden. Ändert man jedoch diese Art der Ernährung, die die Rolle des Verdauungsanregers spielt, dann verschwindet die Ausgeglichenheit zwischen den Nahrungsstoffen und der Apparatur, welche sie anregen sollen, und damit verschwindet auch ihre natürliche gegenseitige Anpassung. Es verbleiben dann unverarbeitete Reste in den Verdauungswegen, welcher der Körper nicht mehr allein Herr wird. Dazu kommt aber noch, daß mit der fortschreitenden Zivilisation das Leben in rascherem Rhythmus abläuft; das bedingt einen intensiveren Nahrungsverbrauch, so daß die Abfallstoffe im Körper sich vermehren und anhäufen. Was aber bedeutet Ansammlung der Abfallstoffe und geringere Ausscheidungskraft? Nur eins, nämlich eine Anhäufung von Schmutz, die dem Bedürfnis nach Sauberkeit ins Gesicht schlägt. Wir sehen auch hier, wie verhängnisvoll es für den Menschen gewesen ist, daß er, der seinen Körper so nehmen muß, wie er ist, und ihn nicht nach Belieben der einen oder der anderen Lebensweise anpassen kann, eigenmächtig seine Lebensbedingungen von den großen Naturgesetzen losgelöst hat. Sein Verdauungskanal, der für sehr einfache, rauhe, zellulosereiche, mineralreiche Kost eingerichtet ist, muß verfeinerte, mineralarme, konzentrierte und komplizierte Nahrung verarbeiten. Entsprechend der törichten Gewohnheit des Kulturmenschen, viel zu viel und üppig zu essen, sind seine Eingeweide denn auch wahre Giftreservoire und Schmutzbehälter, um so mehr, als sie in den meisten Fällen weit davon entfernt sind, normal zu funktionieren und sich regelmäßig zu entleeren. Und doch ist weiter nichts als ein klein wenig kluge, überlegte Besinnung nötig, um die Entwicklung eines so widerlichen Körperzustandes zu verhindern. Die Erfordernisse sind nur diese: natürliche Nahrung, regelmäßige Ausscheidung, Muskelübung, tägliches tüchtiges Marschieren, Anregung der Hautreflexe durch Licht, Luft und kühles Baden, regelmäßiger Schlaf und Beherrschung der Geistes- und Gefühlsregungen. Tatsache ist, daß die Zivilisation auch aus dem Bad ein weiteres Instrument zur Verringerung unserer Vitalität und lebendigen Widerstandskraft gemacht hat, weil sie im allgemeinen bloß die ästhetische Notwendigkeit, die Notwendigkeit der Appetitlichkeit, Adrettheit und rein äußerlich gewerteten Ordentlichkeit als Begründung für unsere Badegewohnheiten billigt und weil die meisten Leute überhaupt nichts anderes kennen als das Wasserbad. Wie sollen wir denn baden? 129
Vor allem eins: können die Bäder im Freien genommen werden, so ist das unbedingt ein großer Vorteil. Nicht umsonst betrachtet man Strandbäder als gesunde Einrichtung. In unseren nördlichen Klimaverhältnissen ist zwar diese Methode im Winter nicht durchführbar, so sehr es gerade dann notwendig wäre, den schädlichen Wirkungen der vielen übereinandergelegten Kleiderschichten entgegenzuarbeiten. Aber wenn es einem nicht möglich ist, das Beste zu tun, so ergreift die Weisheit das Zweitbeste und wendet es an. So müssen wir für den Winter das Baden in einem gutgelüfteten Raum anstreben; durch das offene Fenster sollte womöglich direktes Licht auf den Körper fallen, denn es ist jetzt allgemein bekannt, daß gewöhnliches Glas für die Heilstrahlen des Sonnenlichts, die ultravioletten Strahlen, nicht durchlässig ist, während bei geöffnetem Fenster der nackte Körper wenigstens einigermaßen wie im Freien von ihnen durchstrahlt wird. In jedem Falle sollte der Körper im Lichtraum des offenen Fensters stehen, damit die bewegte Luft ihn umwehen kann. Und während er auf diese Weise in Luft badet, sollte man ihn kräftig und unablässig massieren, um ihn dadurch beständig zu tiefem Atmen und damit zur Aufnahme von Sauerstoff zu veranlassen. So bildet sich auch die nötige Wärme, die an die Oberfläche steigt und die äußere Kälte am Eindringen verhindert. In dieser Art muß der Körper täglich einige Minuten lang direkt der Luft ausgesetzt bleiben, und zwar lange genug, damit man ihn gleichzeitig mit den Händen von oben bis unten, inbegriffen die Kopfhaut und die Fußsohlen, massieren kann. Darauf folgen die gleichfalls vor dem offenen Fenster auszuführenden Muskelübungen, zu denen man sich entschlossen hat, und hernach kommt das kühle oder kalte Wasserbad. Kühl muß es zum mindesten sein, um eine nennenswerte Wirkung zu haben; sämtliche Hautfunktionen werden ja durch kühle oder kalte Hautberührungen in viel höherem Maße angeregt. Man versuche zur Nachprüfung dieser Behauptung einen unerwarteten Guß kalten Wassers auf irgendeine unbedeckte, für gewöhnlich beschützte Stelle der Haut, und beobachte, was mit dem Atmen geschieht. Tief? Das kann man wohl sagen. Das beweist, daß unsere Haut der Sitz von Reflexen ist, die uns, durch kalte Berührungen angeregt, zu tieferem Atmen zwingen. Das ist auch der Grund, warum der Arzt das neugeborene Kind mit Wasser bespritzt, wenn es nicht sofort atmet. An Stelle eines Bades genügt natürlich auch eine Dusche oder eine Abwaschung mit kaltem Wasser; die Temperatur des Wassers muß dann zum mindesten so tief sein wie die des Raumes, dessen Fenster geöffnet ist. Wer noch nicht viel Widerstandskraft besitzt, muß sich im Anfang damit begnügen, sich lauwarm mit dem Schwamm abzuwaschen. Später geht er dazu über, die Haut erst mit einem in lauwarmes Wasser getauchten Schwamm rasch abzureiben, dann den Schwamm in kühleres und immer kühleres Wasser zu tauchen, und so fort, bis vollkaltes Wasser benützt wird. Für empfindliche Anfänger ist es auch ratsam, Schwamm oder Waschlappen gut auszuwinden, um jedes Spritzen zu vermeiden. Die nicht Überempfindlichen können sofort mit ganz kaltem Wasser beginnen; sie sollten bloß darauf achten, bei der ersten Abreibung Schwamm oder Waschlappen gut auszuwinden, bei jeder Wiederholung aber mehr Wasser darin zu lassen, bis zu vollkommen triefender Nässe. Auch die empfindlichste Haut kann lernen, die kälteste Abreibung schließlich als angenehm zu empfinden; es mag jedoch in manchen Fällen nötig sein, vor solchen Abreibungen durch ein paar kräftige Übungen und tiefes Atmen die Zirkulation anzuregen. Nach dem Bade, der Dusche oder der Abwaschung wird die ganze Körperoberfläche gründlich mit den Fäusten abgeklopft und die Haut nochmals eingehend massiert, bis 130
sich eine kräftige Reaktion einstellt, die jedes Kältegefühl überwindet. Man drehe sodann das Handtuch zu einer festen Rolle, erfasse sie mit beiden dicht nebeneinanderliegenden Händen — Handflächen nach unten — und mache rasch schlagartige Bewegungen vor- und rückwärts in Schulterhöhe, während der Körper im Takte vor- und rückwärts mitschwingt; diese Übung wiederholt man, sobald man ein wenig trainiert ist, hundertmal. Dann schleudere man die von den Schultern aus nach vorne gestreckten Arme sehr schnell von einer Seite auf die andere, auch hundertmal. Hernach reibe man sich mit dem Handtuch von oben bis unten ab, stelle sich so nahe wie möglich beim Fenster auf und lasse seine Haut in der von außen hereinströmenden Luft trocknen, während man den Körper von der Kopfhaut bis zur Fußsohle mit den Fäusten bearbeitet und anschließend sehr rasch massiert. Der Vorgeschrittene wird ein Vergnügen darin finden, seinen Körper nicht mit einem Handtuch abzureiben, sondern ihn in der beschriebenen Weise einzig und allein an der Luft trocknen zu lassen, nach dem Beispiel unserer Voreltern, die keine Handtücher kannten und deren Haut daher nach der Berührung mit Regen, Nebel und Tau auf dieselbe Art trocknen mußte. Man könnte denken, daß die erste Berührung der unbedeckten Haut mit der eiskalten Luft in einem die ganze Nacht offenen Raume bei Temperaturen von null Grad und darunter einen ziemlichen Schock für die Konstitution bedeutet. Das ist aber nicht der Fall, wenn die Arrectores pilorum (die kleinen Muskeln, die unsere Körperhaare aufrichten; s. S. 126 f.) die Hautkapillaren und die Hautdrüsen normal funktionieren gelernt haben, so daß sie auch auf diesen natürlichen Kontakt normal reagieren. Dann isolieren diese Einrichtungen unverzüglich den Körper gegen den Zudrang der Kälte von außen und verhindern das Ausströmen der inneren Wärme. Und da die erste Reflexwirkung der Kälte auf die Haut vermehrte Sauerstoffzufuhr ins Blut auf dem Wege vertiefter Atmung ist, so steigt sofort auch die Körpertemperatur. Das alles gilt natürlich nur für die normalisierte Haut; von der nicht abgehärteten Haut kann niemand erwarten, daß sie sich über kalte Luft oder kalte Bäder freut; sie darf sich daher erst nach und nach an diese Prozeduren heranwagen. Wer eine solche verweichlichte Konstitution hat, soll das Fenster zum Bett-Turnen nur öffnen, wenn das Zimmer geheizt ist; war jedoch das Fenster schon die Nacht über offen, dann schließt man es vor Beginn der Übungen und turnt in dem geschlossenen, aber ungeheizten Raume. Nach den Übungen wird das Fenster wieder geöffnet, damit der nackte Körper, der durch das Turnen vollständig durchwärmt ist, ein paar Sekunden lang Licht und Luft genießen kann; vorsichtshalber muß die Haut währenddessen gründlich gerieben und geklopft werden. Geschieht das, so ist es fast unmöglich — falls man durch die Übungen wirklich warm geworden ist —, daß dieses Luft- und Lichtbad einem schadet. Bei Patienten mit niederer Vitalität, bei Kranken oder von schwerer Krankheit Genesenden muß man den Raum für die Übungen im Winter heizen, aber zuvor muß er unbedingt gründlich gelüftet werden; das Fenster wird bei den Übungen bloß an milderen Tagen geöffnet. Wer aber nicht krank oder rekonvaleszent ist, der bleibe auch im Badezimmer nach seinem Bade so lange wie möglich unbekleidet; am Anfang öffne er das Fenster erst nach dem Bade. Später kann man damit beginnen, es während des Badens offenstehen zu lassen, und noch später öffnet man es schon beim Betreten des Badezimmers, außer bei ungewöhnlich kalter Witterung. Die Haut wird verhältnismäßig rasch so weit entwickelt sein, daß sie selbst die kältesten Kontakte als angenehm empfindet. Geht man in vorsichtigen Abstufungen zu Werke, so kann von 131
einer Erkältungsgefahr nicht die Rede sein. Im Gegenteil: diese Gefahr wird sich täglich verringern, denn durch das Klopfen, Massieren und Reiben wird die Haut heiß und trocken, und führt man die Bewegungen genügend rasch aus, so werden nach und nach sämtliche Abwehrkräfte der Haut zu immer größerer Stärke entwickelt. Nach dieser Massage kleide man sich rasch an. Wir sollten uns nun aber doch einmal eingehend Rechenschaft darüber geben, was wir eigentlich tun, wenn wir uns in der oben beschriebenen Weise verhalten. Das stellt sich uns bei schärferer Überlegung folgendermaßen dar: Wenn ich ein kaltes Bad nehme oder meinen unbekleideten Körper der frischen Luft und den Sonnenstrahlen aussetze, so tue ich für meine Haut und ihre empfindlichen Reflexendungen und anderen Nebenorgane das gleiche, was der direkte Einfluß von Sonne, Regen, Nebel und Kälte für diesen Teil des Abwehrmechanismus unserer Vorfahren tat, die im Freien unbekleidet lebten. So gelingt es mir, unsern Fehler, die Haut nicht allen Einflüssen der Umwelt direkt auszusetzen, einigermaßen wieder auszugleichen. Aber ich rege auch gleichzeitig die ganze Kette aller anderen Reflextätigkeiten an, wenn ich den Hautreflexmechanismus in Gang setze, und auf dem Wege der schon öfters erwähnten Zwischenverbindungen erreiche ich den ganzen Körper. Bei systematischer Durchführung dieser Vorschriften genügt schon eine kurze Zeit täglich, um Erfolg zu verbürgen. Das Haupterfordernis ist Regelmäßigkeit. Genau wie in der Entwicklung der Muskeln pünktlich wiederholte kurze Übungen heilsamer sind als anhaltende Anstrengungen, so ist auch in bezug auf die Hautpflege Regelmäßigkeit durchaus die Hauptsache. Wie ich schon mehrfach betont habe, braucht der Anfänger keineswegs gleich den vollen Anforderungen Rechnung zu tragen. Diese höchsten Ansprüche darf sich erst der stellen, dessen körperliches Befinden so weit normalisiert ist, daß er plötzliche Veränderungen der Umwelteinflüsse als Belebung und Anregung seiner geistig und körperlich stets zunehmenden Kräfte empfindet. Ein solcher Mensch hat — auf anderen Wegen zwar — die zuverlässige Gesundheit des Primitiven erreicht, der sich beständig frei den Elementen aussetzt und sich natürlich niemals erkältet; denn sein Abwehrmechanismus und seine Hautatmung arbeiten einwandfrei. Es erübrigt sich, dem Leser zu sagen, daß diese Methode das genaue Gegenteil der Gemütlichkeits- und Bequemlichkeitsideen ist, auf welchen die modernen Lebensgewohnheiten fußen. Die Menschheit irrt, wenn sie Luxus und Behagen als wichtigstes Ziel ihres materiellen Daseins betrachtet; nein, Anstrengung und Mühe sind das Grundgesetz jeglicher Entwicklung und Vervollkommnung, und die Strafen für die Übertretung dieses Grundgesetzes sind Degeneration und Verfall. Wird uns aber für unsere Mühe auch ein einigermaßen entschädigender Gewinn zuteil? Das hängt von unserer Einsicht — oder besser gesagt, von unserem Charakter ab. Ich habe dieses Buch für die Verständigen, die Klugen, die Interessierten, die Gläubigen, die Lebensdurstigen und Hochgesinnten geschrieben, die Mühe und Arbeit nicht scheuen, um ihr Ziel zu erreichen. Die Trägen und Gemächlichen werden ihm kein Interesse abgewinnen; ich gestehe offen, daß umgekehrt auch ich ihnen kein Interesse entgegenbringe. Mögen sie in feiger Ruhe bei ihren Fleischtöpfen verharren und sich von stumpfen Genüssen unter kraftlosem Dahinträumen den mannigfachen Leiden und Krankheiten entgegenführen lassen, die sie an irgendeinem Punkte ihres Lebens mit Sicherheit erwarten. Dem kräftigen Charakter aber biete ich hier einen Rettungsplan an, der ihn, wenn er 132
ihm genügend treu bleibt, den gleichen glanzvollen Lebensweg führen wird, den ich selber schon seit so vielen Jahren gehe und dem ich, wenn kein Unfall mich vorzeitig ereilt, noch lange Zeiten zu folgen hoffe. Denen, die die nötigen Anstrengungen auf sich nehmen, verspreche ich wachsende Freuden und eine ungeahnte Steigerung aller ihrer Kräfte und Möglichkeiten, bis alle Anstrengungen und Mühen ihnen überhaupt nur mehr als Belohnungen erscheinen werden, denn ihr Wesen hat dann andere Bedürfnisse und wird von anderen Genüssen angezogen. Ist das bloßes Gerede? Die Tatsache, daß ich in längst verflossenen Zeiten selten ohne eine Erkältung war, mich aber seither in zweiunddreißig Jahren nie mehr erkältet habe, spricht für sich selbst. Und welch unerhörten Zuschuß an Vitalität hat diese Entwicklung meinem Körper gebracht! Denn wenn ich am frühen Morgen nach den beschriebenen Übungen und dem Licht-, Luft- und Wasserbad zum Gang in meine Sprechstunde auf die Straße trete, dann übernimmt mich oft die Lust, wie ein Schulkind zu rennen, so gewaltig und unbezwingbar schäumt jugendliche Lebenskraft in mir auf und drängt nach außen. Im Winter dauert es dann noch etwa anderthalb Stunden bis zum Sonnenaufgang, und dennoch ist es mir allemal, als sprühte die Atmosphäre rings um mich noch von der Strahlenenergie des Vortages und durchdränge alles belebend meinen Körper. Man mag dieses Phänomen erklären, wie man will — Tatsache bleibt, daß ich nach einem langen Morgenmarsch verjüngt und von Lebenskraft förmlich überströmend in meinem Arbeitszimmer ankomme. Wenn ich dann nach einem belebenden Frühstück die Tagesarbeit aufnehme, bin ich mit meinen achtzig Jahren genau so vergnügt und unternehmungslustig wie ein Sechzehnjähriger. Dann ist es oft mein erstes, daß ich eine Tür an ihrer freien Kante packe und mit voller Wucht hundertmal hin und her schwinge. Den ganzen Tag brodeln die Kräfte; wenn ich es nicht mehr aushalten kann, springe ich über Stühle oder schaue, wie hoch ich stoßen oder schlagen kann; oder ich tanze den „Froschtanz“ (den hier so genannten ungarischen Tanz), eine Geschicklichkeitsprobe, die mir nur wenige Dreißigjährige nachmachen; oder ich beginne an Ort und Stelle zu rennen oder die Beine zu balancieren; oder ich mache Luftsprünge und klappe die Fersen zweimal zusammen, bevor ich wieder den Boden berühre; oder ich mache Stoßübungen gegen die Wand oder gegen den Fußboden. Ich möchte ununterbrochen summen und singen vor Lust, und manchmal tue ich es auch, weil ich diesem Drang einfach nachgeben muß. Nach vollbrachtem Tagewerk erliege ich auf meinem Heimweg sehr oft der Versuchung, eine lange Strecke aus purer Lebenslust buchstäblich zu rennen, besonders in der Winterkälte. Übrigens marschiere ich im Monat zusammengerechnet mindestens dreihundert Kilometer und fühle mich nie, aber wirklich nie müde. Noch kürzlich lief ich eine Strecke von mehr als acht Kilometern in siebenundvierzig Minuten, obwohl ich in der vorangegangenen Nacht infolge eines Abendvortrags mit anschließender, lange dauernder Diskussion nur fünf Stunden geschlafen hatte. Immer noch bin ich sehr gut imstande, zehn bis zwölf Stunden täglich zu arbeiten, und das tue ich auch, die Sonn- und Feiertage eingeschlossen. Nur die Weihnachtsund Neujahrstage und manche Sonntagabende behalte ich für gesellige Verpflichtungen und Familienanlässe frei. Natürlich muß zugegeben werden, daß es nicht notwendig ist, in dem Bestreben, die Hauttätigkeit anzuregen, so weit zu gehen, wie ich es tue. Aber wer sich einmal dem 133
Erlebnis der Wiedergesundung verschrieben hat, der fühlt die Begierde nach immer weiteren normalisierenden Maßnahmen; er genießt schließlich die Berührung mit dem kältesten Wasser, mit dem schärfsten Wind. Ich bin — wie gesagt — jetzt bereits achtzig Jahre alt und erfreue mich des klarsten Verstandes; zu keiner früheren Zeit war er klarer. Ich fühle mich nie einen Augenblick unwohl. Ich fürchte mich vor keiner Krankheit und weiß, daß ich Grund habe, mich nicht zu fürchten. Auf Jahre hinaus plane ich Arbeiten auf körperlichem und geistigem Gebiet und träume davon, nach und nach alles das noch nachzuholen, was ich in jenen Jahren, die man Jugend und mittleres Alter nennt, so gerne getan hätte und meiner armseligen Gesundheit wegen nicht habe tun können. Immer noch besitze ich das ganze Feuer, die ganze Lebendigkeit der Jugend, und obendrein die Erfahrung eines — wie man es heute noch nennt — langen Lebens. Wer das hört, wird sicher nicht mehr fragen, ob die Belohnung der großen Anstrengungen wert ist. Und niemand wird meine überschwengliche Beschreibung dieser Belohnung als bloßes Gerede hinstellen. Ich erkläre feierlich, daß dieselbe Belohnung, die mich nun schon seit langer Zeit beglückt und in immer höherem Maße auch in Zukunft beglücken wird, auch jedem andern Menschen zuteil werden kann, der sich ein krankheits- und leidensfreies Dasein sichern möchte, vorausgesetzt, daß die Gewebe seines Körpers nicht bereits der Zerstörung so stark anheimgefallen sind, daß sich ein Versuch zu ihrer Wiederbelebung gar nicht mehr lohnt. Wer diese Einsicht in seine eigenen Möglichkeiten nicht hat, dem habe ich nichts zu sagen. Er muß, soweit ich es übersehen kann, den Weg der Selbsttäuschung weiterwandern, der ihn von Gesundheit zu Krankheit, von Krankheit zu künstlichen Heilmitteln und schließlich zu vorzeitigem Altern und frühem Tode führen wird. Das Altern kommt immer zu früh, wie lange Jahre auch der Körper schon auf dieser Erde geweilt haben mag. Es ist das Brandmal der Zivilisation. Nein, Gott will, daß wir lange leben sollen auf der Erde, die er uns gegeben hat, länger, weit länger, als die Jahre, die wir heute noch fälschlicherweise mit „Alter“ bezeichnen. Und er will auch, daß wir bis zum Ende warmblütig, hellsinnig und hochgemut bleiben sollen, um dann einst in den kühlen und stillen Stunden eines frühen Morgens leise unsere Augen zu schließen und aus diesem Leben hinaus in ein anderes Leben hinüberzugleiten, wie ein Samenkorn, das ein leichter Frühlingswind sanft in die Ferne weht, damit es an einem andern Orte niederfällt, in anderes Erdreich eindringt und neues Leben zum Licht emporsendet.
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12. KAPITEL Geist, Gefühlsleben und Schlaf Es ist eine wahre Glückseligkeit, seinen eigenen Körper als vollkommen zu empfinden, im Vergleich mit weniger disziplinierten Körpern seine Schönheit und Tadellosigkeit zu erkennen und mit Bestimmtheit zu wissen, daß man nie wieder krank zu werden braucht. Die Frage der vollkommenen Gesundheit hat aber noch eine andere Seite. Der Mensch ist kein rein physisches Wesen; er ist ebensosehr auch Geist und Seele. Angenommen darum, ein primitives Leben könnte den erstrebten vollkommenen physischen Körper entwickeln, — was würde aus der geistigen und der seelischen Seite des Menschen, der zu solchem primitivem Leben zurückkehrte? Ohne Zweifel könnte er sich nur wenig über sein körperliches Dasein hinaus entwickeln; er würde Zu einem prachtvollen Tier, und das wäre höchstwahrscheinlich alles. Aber ein herrliches Tier zu werden, ist schwerlich des Menschen Bestimmung; soll er doch nach den Offenbarungen der Lichtquellen des Geistes und der Seele streben und durch sie zum 135
Bewußtsein seiner Beziehung zur Gottheit gelangen. Freilich, erst wenn die Dringlichkeit und Härte der Erfordernisse des primitiven Lebens nachgelassen haben und der Mensch seine Kräfte nicht mehr in der bloßen Anstrengung, sein Dasein zu fristen. verbraucht, erst dann können seine geistigen Anlagen Zeit und Gelegenheit finden, sich auszubilden. Es sieht demnach so aus, als ob es im Plane der Natur läge, die Strenge des absolut primitiven Lebens zu mildern, um der geistigen Entwicklung des Menschen diese Zeit und Gelegenheit zu verschaffen. Anderseits wissen wir aber und erfahren es täglich aufs neue, daß die Gemütsverfassung eines Menschen, sein geistiger und moralischer Zustand in hohem Maße von seiner physischen Beschaffenheit abhängen. Wer körperlich mitgenommen ist, kann sich nur unter beständigem Kraftaufwand auf einer gewissen geistigen und moralischen Höhe erhalten; ein solcher Kampf droht die Körperkräfte noch tiefer zu untergraben, denn jeder Kampf zehrt am vorhandenen Energiebestand. Dagegen tritt bei dem physisch vollkommenen Individuum geistige, moralische und Gemütsstärke von selbst in Erscheinung. Den physisch Zugrundegerichteten zieht seine Schwäche auch moralisch nach unten: er muß hart kämpfen, wenn er Widerstand leisten will. Der physisch Vollkommene jedoch muß sich Gewalt antun, um unrecht handeln zu können*. Wie könnte dies auch anders sein? Hat jemand körperliche Vollkommenheit erlangt, so dankt er diese Errungenschaft seiner eigenen strengen Disziplin, dem Gehorsam gegenüber dem „du sollst“ auf allen * Diese Zeilen können vielleicht mißverstanden werden. Dr. Jacksons weitere Ausführungen zeigen, daß auch nach seiner Auffassung ein vollgesunder Körper als Werkzeug und Tempel des Geistes sowohl dem Bösen wie dem Guten dienen kann. Ohne Zweifel ist aller Ungesundheit des Körpers an sehr viel mehr Bosheit, Gereiztheit, Härte, seelische Erkrankung, Angst und Unfrieden schuld. als die meisten Menschen auch nur ahnen. Wer den von Dr. Jackson beschriebenen Weg ging, hat viel Sühne dargebracbt und Gnade erlebt, er hat Ehrfurcht vor Schöpfer und Geschöpf gelernt, den Segen geduldiger und beharrlicher Einordnung, die Bedeutung der Angewöhnung heilsamer Gewohnheiten erfahren und tief in die Sümpfe und über die lichten Höhen des Lebens geblickt. Darin liegt eine große Chance, daß auch seine Seele geläutert und sein Geist geklärt wurde. Anm. des Herausgebers.
Gebieten des Körpers, des Gemüts, des Geistes und der Moral. Er hat sich gute Gewohnheiten erworben, und gute Gewohnheiten haften dem Menschen ebenso zäh an wie schlechte. Es versteht sich von selbst, daß das Umgekehrte ebenso wahr ist; Nachlässigkeit in der Ernährung und den übrigen Lebensgewohnheiten, die begieriges Wünschen an die Stelle des einfachen „du sollst“ setzt, entwickelt in uns bedenkliche Neigungen zur Disziplinlosigkeit. Oh, wollten alle Lehrer der Religion und der Ethik nur erfassen, daß unsere täglichen Lebensgewohnheiten nach dem, was wir tun sollen, geordnet werden müssen, anstatt nach dem, was wir zufällig wünschen! Welche Basis zur Aufrichtung moralischen und religiösen Lebens — eines Lebens geistiger Erhebung an Stelle ritualistischer Formalität — könnte gelegt werden, wenn unsere Kinder von klein auf im Zusammenhang mit Nahrung, körperlicher Übung, Kleidung und anderem mehr nicht beständig gefragt würden: „Magst du das?“ oder „magst du es nicht?“, sondern wenn ihnen mit Liebe und Festigkeit gesagt würde, daß diese und jene Ordnungen dem Gesetz der Natur, dem Gesetz Gottes entsprechen und infolgedessen eingehalten werden müssen! Wie würde eine solche Auffassung schon das junge Herz der Kleinen 136
für den Gedanken der Pflicht gewinnen und jedem Ansturm der Begierde entgegenarbeiten! Was könnte eine solche Jugenderziehung in unserer alten Welt voller blinder, irregeführter Menschen bedeuten! Aber die Hüter der Religion und der moralischen Werte übersehen die Verbindung, die zwischen unseren täglichen Lebensgewohnheiten und der geistigen Entwicklung besteht; sie sehen fälschlicherweise den Körper als sündig an und bekämpfen, verdammen und vernachlässigen seine Ansprüche als nebensächlich und unwert. Damit schädigen sie das Gefäß, das unser individuelles, persönliches Ego, die Seele, birgt, die ein Funke der Allseele ist. Mit ein wenig Nachdenken hätten die Menschen, die den Aufbau unserer religiösen Gedankenwelt begründen halfen, erkennen müssen, daß dieser so wunderbare Körper uns nicht bloß zu dem Zwecke gegeben worden sein kann, ihn so lange mit Verachtung zu behandeln und ihn zu vernachlässigen, bis er in unserer Seele Neigungen hervorruft, die mit ihren besten Bestrebungen in Widerspruch stehen, um ihn dann als sündenbeladenes Objekt zu schmähen und zu kreuzigen. Welche Gotteslästerung! Ist nicht der Körper eine Schöpfung Gottes? Und darf ein von Gott geschaffenes Werk mißhandelt werden, darf es krank sein? Widersinniger, ehrfurchtsloser Gedanke! Man muß sich nicht wundern, daß die Idee der Gottheit die Phantasie der Menschenmassen nicht zu gewinnen vermag, solange Krankheit und körperliches Leiden als von Gott gewolltes Menschenlos angesehen werden. Aus diesem Grunde wird es auch schwierig sein, Leute zu finden, die ihren religiösen Übungen ausdauernder und inniger obliegen, als ich meine Körperübungen durchführe. Mir scheint, die Seele könne sich nicht ganz ungehindert kundtun, solange sie einen zerrütteten, häßlichen, schwammiges. oder vielleicht auch nur einen gleichgültigen, noch nicht individuell geformten Körper bewohnen muß. Und anderseits: welch einfältiger Dünkel veranlaßt uns überhaupt, zu glauben, die Menschheit sei nicht denselben Lebens- und Gesundheitsgesetzen unterworfen wie alle anderen Lebewesen? Sind sie nicht alle Gottes Geschöpfe? Ihr Beispiel ermahnt uns im Gegenteil: Hört auf, euch zu verweichlichen; kehrt zu der ursprünglichen Einfachheit in euren Lebensgewohnheiten zurück, damit alle Funktionen eures Körpers auf natürliche Weise angeregt werden! Von anomalen körperlichen Bedingungen kann nur ein törichter Mensch normale, optimistische, vorwärts und aufwärts weisende geistige Reaktionen erwarten. Kein einigermaßen einsichtsvoller Beurteiler wird annehmen, daß aus verkehrten Lebensverhältnissen heraus sich eine Lebensstimmung entwickelt, die den ganzen Menschen, Körper und Seele, auf die Höhen eines veredelnden Glaubens und zu jener vollkommenen Zufriedenheit führt, die mit körperlicher Vollkommenheit und Gesundheit zusammengeht. Wirklicher Glaube ist eine strahlende, lebenspendende, begeisternde Kraft. Leider verwechseln wir nur zu leicht Resignation mit Glauben, obwohl beide einander entgegengesetzte Geistesverfassungen sind. Der Glaube ist positiv, er herrscht, er siegt, er überwindet alle Hindernisse. Die Resignation ist negativ, sie gibt nach, sie fügt sich. Männer und Frauen mit lebendigem Glauben brauchen nicht zu resignieren. Der alles besiegende Glaube an die ihnen verliehenen Kräfte und an ihre hohe Bestimmung als Kinder Gottes trägt sie durch ihr ganzes, langes Leben hindurch, und da er von einer zuverlässigen physischen Gesundheit gestützt wird, kann er den religiösen Glauben, den Glauben an Gott, nur vertiefen und befestigen. Eine Klarheit, Reinheit und Einsicht wird dem Geiste verliehen, wie sie der körperlich nicht 137
vollwertige Mensch unmöglich erfahren kann. Wer anders denkt, verwechselt die bloße ererbte, in einem schweren, plumpen Körper wohnende brutale Stärke mit Vitalität. Die beiden sind grundverschiedene Anlagen. Der niederstirnige Samson wird selten einen vergeistigten Glauben haben und ebenso selten wahre, überquellende Vitalität. Samson - Naturen sind selten langlebig und vollbringen auch selten große Dinge in dieser Welt. Wir müssen zu einer anderen Auffassung über Vitalität gelangen und sie nicht mit rein physischer Kraft verwechseln. Sie kann natürlich mit physischer Stärke gepaart sein, aber sie ist ihr nicht verwandt und kann auch dort bestehen, wo größere physische Kraft fehlt. Vitalität bedeutet Leben oder Kraft zum Leben — zum Widerstehen und zum Durchhalten. Wo diese Kraft stark entwickelt oder schon von Natur vorhanden ist, dort findet man immer hohen Glauben, Selbstvertrauen, moralischen und physischen Mut, die Fähigkeit, alle Schwierigkeiten zur Seite zu schieben oder sich ihnen entgegenzustemmen, unverzagt immer weiterzukämpfen, bis der scheinbar unbezwingbare Widerstand endlich der Macht des Glaubens nachgibt und der Pfad zu weiterem Fortschritt und größerem Erfolg offenliegt. Die Emanationen eines solchen harmonischen Gefühls- und Geisteslebens sind eine positive Macht, die mit der Fackel des Glaubens vorausleuchtet zum Siege über Umstände und Verhältnisse, welche den meisten gewöhnlichen Menschen als unübersteigbare Hindernisse erscheinen. Deshalb ist die Pflege der Reflexkette der Gefühle und Gedanken so wichtig, desgleichen die Pflege der Reflexkette des Schlafes, die in ähnlichem Maße die allgemeine Lebensbereitschaft und -tüchtigkeit beeinflußt. Ich habe bisher der besseren Übersicht zuliebe die beiden Reflexketten des Schlafes und der Gefühle und Gedanken behandelt, als ob beide zum Körper in der gleichen Verbindung stünden wie die andern drei Ketten; das Verhältnis ist aber in den beiden Fällen sehr verschieden. Die drei Ketten der Verdauungs-, der Haut- und der Muskelfunktionen gehören ausgesprochen jede einem besondern Organ an, das ihr primäres reflexerzeugendes Zentrum ist. Die geistigen oder Gefühlsreflexe jedoch haben keine abgegrenzten Beziehungen zu einzelnen Körperteilen oder Organen. Zwar weisen die Funktionen dieser Reflexkette eine bestimmte Verbindung mit dem Geiste auf — aber was ist der Geist? Er ist kein greifbares Organ. Ja, er steht nach allgemeiner Annahme wohl in Beziehung zum Gehirn; aber der Geist ist mit dem Gehirn nicht so eindeutig verbunden wie die andern Reflexketten mit der Haut, den Muskeln und dem Verdauungskanal. Wenn wir auch wissen, daß das Gehirn auf irgendeine Art an der Entstehung von geistigen Eindrücken und Bewegungen beteiligt ist und daher eine wichtige Rolle auch im Gemütsleben spielt, so kann doch nicht bewiesen werden, daß es Gedanken oder Gefühle direkt erzeugt — wenigstens nicht mit derselben Eindeutigkeit, mit der wir zum Beispiel die Ergebnisse von Muskelarbeit erkennen können. Anderseits scheint es, als ob doch sozusagen jede Reflextätigkeit des Körpers durch das geistige Wesen des Menschen beeinflußt würde. Dagegen kennen wir keine einzige Reflexbewegung oder körperliche Funktion, die vollständig von Geistes- oder Gemütserscheinungen abhängt. Auch weiß man von keinen natürlichen physikalischen Anregern, mit denen irgendwelche Organe in Kontakt treten müßten, bevor die Gefühlsreflexe in Tätigkeit gesetzt werden können. Da jedoch diese Reflexe so eng mit den geistigen Lebensäußerungen verbunden 138
sind, stehe ich, obwohl der Geist kein Organ ist, nicht an, sie dem Geiste zuzuschreiben, um die Darstellungsweise zu vereinfachen. Es ist natürlich von geringer praktischer Bedeutung, ob ich im Recht bin, wenn ich dem Geiste die Stellung eines primären reflexerzeugenden Zentrums anweise und die Kette der von Gemütsbewegungen veranlaßten Reflexe als geistige oder Gefühlsreflexkette bezeichne. Praktisch wichtig, ja wesentlich ist bloß, daß wir das Vorhandensein dieser Kette von Reflexen und ihre wichtige Rolle in der Aufrechterhaltung beständiger Gesundheit erkennen. Doch wo sollen wir, wenn, wie oben gesagt, ein physikalischer natürlicher Anreger nicht besteht, ihren natürlichen Anreger suchen? Ich sehe ihn, wenn ich es recht überlege, einzig im Gedanken selber. Ein Gesundheitsgedanke erweckt in jedem Körperorgan und in jeder Körperzelle durch die Vermittlung der Zwischenbeziehungen des Reflexnervenmechanismus Reflexe der Gesundung und Wiederherstellung. Unglücklicherweise können wir ebenso leicht auch einen Kreis schädigender, übler Einflüsse auslösen, wenn wir negative und zerstörerische Gedanken aufkommen lassen. Diese Beeinflussungsmöglichkeit vom Geist her ist denn auch der Grund, warum der Arzt sich so sehr bemüht, in seinen Patienten die richtige geistige Haltung gegenüber ihrer Krankheit oder ihrem Leiden anzuregen. Zwar denkt er dabei jedenfalls nicht an die Auswirkungen der Gefühlsreflexkette, die er vielleicht gar nicht kennt; aber er weiß, daß die feste Entschlossenheit, koste es, was es wolle, wieder gesund zu werden, und die Zuversicht, daß dies geschehen wird, den denkbar günstigsten Einfluß auf den Ausgang jedes Krankheitszustandes hat. Weder der Anhänger der Christlichen Wissenschaft noch der Geistheiler denkt an die Funktionen der Gefühlsreflexkette; aber die richtige geistige Haltung übt in allen Fällen eine vorteilhafte therapeutische Wirkung aus. Fast jeder Mensch kennt Fälle schwerer Krankheit, die von sorgfältigen und tüchtigen Ärzten schon als hoffnungslos aufgegeben worden waren und dann doch geheilt werden konnten, obwohl jeder einzelne physische Faktor ein unheilvolles Ende befürchten ließ. Solche unerwarteten Heilungen bringen die ärztliche Kunst oft unverdient in Mißkredit. Der Arzt kann eben seine Schlüsse nur aus den physischen Symptomen ziehen. Die geistigen Faktoren kann er nicht mit der gleichen Sicherheit abschätzen; er ist aber daher auch nicht imstande, die möglichen Reflexwirkungen genau zu berechnen. Weniger bekannt ist unter Laien der umgekehrte Fall, den der Arzt gleichfalls oft erlebt. Es gibt Kranke, die vom rein körperlichen Standpunkt aus jeden Grund zur Gesundung haben, so daß der behandelnde Arzt sich völlig zuversichtlich über den Ausgang ihres Leidens ausspricht. Trotzdem zeigt sich dann keine Besserung. Auch in solchen Fällen ist es oft ungerecht, den Arzt zu beschuldigen. Der Arzt konnte nicht sehen, daß unterirdisch eine Reihe unvorteilhafter Reaktionen des Geistes oder des Gemüts am Werke waren und die günstigen physischen Reaktionen störten und endlich zerstörten. Wenn nun Krankheitsgedanken der Krankheit Vorschub leisten und Gesundheitsgedanken die Wiederherstellung der Gesundheit fördern, so muß doch sicherlich Gesundheitsdenken auch dem gesunden Menschen helfen, seine Gesundheit zu erhalten. Gesundheitsdenken bildet den Grundstein zu dem Gebäude der Gesundheit und damit zur Unempfänglichkeit für Krankheiten. Man muß unbedingt zugeben, daß ungeheure aufbauende Kräfte im Gesundheitsdenken liegen, die 139
ununterbrochen Ordnung im Chaos schaffen und zur Vervollkommnung der Lebensformen zwingen. Denn sie wirken unfehlbar und ohne zu irren. Was dabei vielleicht manchmal unser verwirrtes und zaghaftes Denken abschreckt, ist oft nur das Wegfegen von Hindernissen, damit das Feld für die freie Entfaltung dieser Kräfte geräumt wird. Die Natur arbeitet in Vollkommenheit für die Vollkommenheit. Krankheit ist nicht Vollkommenheit und deshalb unnatürlich, das heißt, sie entspricht nicht der Tendenz der Natur. Alles Leiden ist ein Beispiel für den Ungehorsam des Menschen gegenüber den Gesetzen der Natur, und diese Widersetzlichkeit wird von der Natur rücksichtslos geahndet. Ich beginne damit, daß ich Gesundheitsgedanken in mir herumtrage — indem ich erkenne, daß meine vollkommene Gesundheit der Wille der Natur ist. Dann überlege ich und überzeuge mich davon, daß die Natur, wenn sie mich vollkommen gesund haben will, mich auch für ihren Zweck ausgestattet haben muß. Auf diese Weise arbeiten gewisse Reflexe, die meine Körperzellen und Organe günstig beeinflussen. Diese günstigen Wirkungen erleichtern mir das klare Weiterdenken durch das Problem hindurch, wie ich gesund leben kann. Ich vergegenwärtige mir so immer deutlicher, was die Natur von mir verlangt; denn was sie von mir verlangt, ist das, was ich hernach tun muß, wenn ich gesund sein und bleiben will. Nun ist es freilich gut denkbar, daß man die Haut durch den Kontakt mit ihrer Umgebung, die Muskeln durch energische Bewegung genügend zur Tätigkeit anregt, daß man seine normale Zeit in einem gutgelüfteten Zimmer schläft und seine Innenwelt nach bestem Vermögen mit optimistischen, bejahenden und aufbauenden Gedanken und Gefühlen füllt und dennoch durch das Verzehren unnatürlicher und entkräftender Nahrung alle Funktionen der Ernährungskette stört. Durch die gegenseitigen Beziehungen des Reflexnervensystems werden dann auch alle andern Körperfunktionen von dieser Störung berührt und beeinträchtigt, der Schlaf und das Gemüts- und Geistesleben selbstverständlich mit. Sowohl die Kette der Hautfunktionen als auch die der Muskelbetätigung könnte hier an Stelle der genannten Ernährungskette unter den gleichen Verhältnissen eingesetzt werden, ohne daß die Schlußfolgerung im geringsten verändert würde. Aber für die Kette des Schlafes und der geistigen Bewegungen trifft dies nach meinem Dafürhalten nicht zu. Es ist ziemlich unwahrscheinlich, daß eine ungünstige Kette der geistigen oder Gefühlsreaktionen entsteht, wenn alle drei primären reflexerzeugenden Zentren mit bestimmter organischer Zugehörigkeit normal funktionieren. Dies kommt daher, daß das ganze Nervensystem und nicht bloß sein großer Mittelpunkt, das Gehirn, an den geistigen und gefühlsmäßigen Reaktionen teilnimmt. Und wenn sämtliche drei primären reflexerzeugenden Zentren, die mit der Haut, den Muskeln und dem Verdauungskanal zusammenhängen und überall mit den entsprechenden Nerven in Verbindung sind, normal funktionieren, so ist es ziemlich sicher, daß auch der Nervenmechanismus normal funktioniert, in welchem Falle keine unerwünschten Gefühlsreaktionen eintreten können. Das zeigt die Wichtigkeit der natürlichen Anregung von Haut, Muskeln und Verdauung für den Geist und das Gemütsleben. Nichtsdestoweniger ist es für Personen in scheinbar vollkommener Gesundheit möglich, krank und sogar leidend zu werden; die erste vom Normalen abweichende Reflexreaktion erfolgte scheinbar durch eine heftige Gemütsbewegung, etwa durch den plötzlichen tragischen Tod eines geliebten Menschen oder durch irgendein anderes erschütterndes Ereignis. Es ist eine altbekannte Tatsache, daß Furcht lähmt und daß 140
Schmerz, Angst, Zorn und Kummer, wenn sie groß genug sind, sogar töten können. Auch diese Gemütsbewegungen stehen in keiner direkten Verbindung mit irgendeinem Organ, sondern gehören dem Geiste an, und der Geist ist ihr Organ. Doch können sie die Körperorgane so stark beeinflussen, daß sie deren Funktionen lahmlegen und — wenn sie zum Beispiel das Herz betreffen — wirklich das Leben zu vernichten vermögen. Diese lähmende Wirkung auf die Organe geschieht nie direkt, sondern sie wird aus dem geistigen oder seelischen Gebiet durch die Beziehung des Reflexnervenmechanismus auf das körperliche oder organische Leben übertragen. Hier ist der Ort, als ungemein wichtigen Faktor in der Entwicklung einer beständigen Gesundheit den Willen einzusetzen. Der Wille muß geübt werden, um den Geist gegen schädigende, ungünstige Eindrücke verschlossen zu halten oder in Fällen, wo dies nicht möglich ist, ihn dagegen zu stählen. Nur positive, aufbauende Gedanken dürfen walten; alle niederdrückenden und darum zerstörenden Gedanken müssen zielsicher abgewiesen oder aufgelöst werden. In dieser Richtung kann man selber viel tun. Denn nicht nur Freud und Leid, die Dinge, die von außen her an uns herantreten, bewegen unser Gemüt. Nein, auch Mißtrauen, Gier, Neid, Eifersucht, Auflehnung, Trotz, Niedergeschlagenheit, Angst, Furcht, Sorge, Untreue, Grausamkeit, Zorn, Haß — ebenso aber auch Empfindungen der Güte, der Liebe, der Großmut und Barmherzigkeit, also Stimmungen, die weitgehend unserer eigenen Entscheidung unterliegen, kommen als zerstörende oder aufbauende, negative oder positive, Leben und Kräfte entfaltende Faktoren in Betracht. Meiner Überzeugung nach kann ein vollständig normal arbeitender Körper die fürchterlichsten Katastrophen aushalten. Es ist allerdings schwer, positiv darüber zu urteilen, denn bei welchen Menschen unserer modernen Zivilisation arbeitet der Körper vollständig normal? Aber so viel ist sicher: je einwandfreier die Reflexketten funktionieren, desto zuverlässiger wird auch die aufbauende Empfindung des Glaubens an die göttliche Vorsehung jeden aufsteigenden zerstörerischen Gedanken abweisen. Ähnlich wie mit der Reflexkette des Geistes verhält es sich mit dem Schlaf, bis zu dem Punkte, wo er freiwillig oder durch irgendeinen ungewöhnlichen Umstand unterbrochen oder verhindert wird. Dann wird er sehr rasch zu einem primären reflexerzeugenden Zentrum für die Aussendung von anomalen Funktionsanreizen über alle Reflexketten; zuerst wird davon die Kette der Gemüts- und Geistesbewegungen in Mitleidenschaft gezogen. Aber die Kette des Schlafes hat auch gewisse eigene Aspekte, die für sich betrachtet werden wollen. Die wahren Ursachen des Schlafes hat die Wissenschaft bisher noch nicht einwandfrei feststellen können. Ein Grund für das Schlafbedürfnis ist jedenfalls, daß der Körper, während er sich in völliger Ruhe befindet, die Möglichkeit erhält, seine Müdigkeitsgifte gänzlich auszuscheiden und auf diese Weise seine unter dem Einfluß dieser Gifte sinkenden Kräfte zu erneuern. Wir unterscheiden allgemein gesprochen zwei Arten von Schlaf, welche auf zwei verschiedenen Voraussetzungen beruhen. Auf der einen Seite kennen wir den natürlichen und ruhespendenden Schlaf, auf der andern den toxischen und betäubungsähnlichen. Der natürliche Schlaf beruht auf Müdigkeit, der toxische Schlaf auf Mattigkeit. Müdigkeit entsteht durch geistige oder physische Anstrengung innerhalb der physiologischen Grenze — diesseits des Punktes, wo die Erschöpfung einsetzt oder vielmehr zu drohen beginnt. Mattigkeit kann verschiedene Ursachen haben — alles, was die Vermehrung und Anhäufung giftiger (toxischer) Stoffe im 141
Blute begünstigt und ihre Ausscheidung verhindert: Überanstrengung des Geistes oder des Körpers über die physiologische Grenze hinaus, Überernährung, zu rasches Verzehren der Nahrung, falsch zusammengestellte Mahlzeiten, übersäuerte Kost, der es an natürlichen Basen gebricht, ungenügendes oder ungeeignetes Baden, zu dicke Kleidung, falsche geistige Einstellung, verkehrter Gebrauch unserer geistigen und seelischen Fähigkeiten, indem wir dunklen, niederdrückenden oder gar zerstörenden Gedanken oder Gefühlen erlauben, unseren Geist zu erfüllen. besonders in den Augenblicken vor dem Einschlafen. Den natürlichen und ausruhenden Schlaf kennzeichnet ein leicht bereites Einschlafen zu sanftem, traumlosem Schlummer; steigen dennoch Träume auf, so sind sie glücklich und erfreulich. Aus solchem Schlafe wacht man hell auf und ist sofort wach, fröhlich und für die Aufgaben des kommenden Tages bereit, welcher Art immer sie sein mögen. Keine geistige oder physische Trägheit beschwert einen, kein Gähnen, kein unausgeschlafenes Gefühl, sondern Körper und Geist sind durchdrungen von einem Empfinden des Erholtseins und äußerster Lebensbereitschaft. Der toxische und lethargische (dumpfe) Schlaf ist das genaue Gegenteil davon, außer in dem einzigen Punkte, daß er den Menschen gleichfalls rasch, doch zu rasch überfällt. Sein Opfer schläft sozusagen schon, bevor sein Haupt das Kissen berührt. Träume kommen oft, und sie sind gewöhnlich unerfreulich oder gar schreckenserregend. Der Schläfer erwacht nur schwer und muß gewöhnlich mehrere Male geweckt werden. Ist er endlich wach, so gähnt er und streckt sich und bedauert die Notwendigkeit, auflehen zu müssen; seine Tagespflichten erscheinen ihm beschwerlich und gar nicht als Freuden. Oft ist er noch weit in den Tag hinein nicht vollwach, manchmal bis zum Nachmittag. Sein Geist bleibt in eine Wolke gehüllt, und seine Aufmerksamkeit heftet sich nicht willig an die Gegenstände. Geistige Arbeit quält solch einen Menschen, wenigstens während der ersten Tageshälfte, oft sogar darüber hinaus. Seine Gedanken sind düster und fügen ihre Gedrücktheit noch zu der bereits so unseligen Verfassung, vermehren dadurch die Ermüdungsgifte in seinem Körper und vergrößern auf diese Weise wiederum die Neigung zu bleiernem Schlaf. Kennt man aber die Ursachen des bleiernen, toxischen Schlafes, dann kann man ihnen auch vorbeugen, insbesondere durch Normalisierung der Ernährungs-, Haut- und Muskelfunktionen. In diesem Zusammenhang möchte ich darauf hinweisen, daß der Mensch um so weniger Schlaf zu benötigen scheint, in je reinerem und basischerem Zustande das Blut und die Gewebe sich befinden. Um so rascher wird auch der Schläfer zum hellen Wachsein aufwachen, wenn die Wolke des Schlafes sich verzogen hat. Es muß zugestanden werden, daß der entkräftete Körper durch die anomalen Empfindungen, welche in ihm entstehen, für negative und zerstörerische Anträge an den Geist verantwortlich gemacht werden kann. Der Geist gibt diese Anregungen in Form von anomalen Anreizen der ganzen Kette der unter seiner Kontrolle stehenden Funktionen weiter, und diese übertragen sie auf die übrigen Reflexzentren. Auf diese Weise wird der ganze Körper zwar vom Geiste aus negativ, zerstörerisch beeinflußt, aber dieser geistige Einfluß ist in seiner Entstehung auf den negativen körperlichen Zustand zurückzuführen und könnte daher in einem gewissen Sinne als Ausstrahlung einer der drei ersten Ketten aufgefaßt werden. Immerhin wird er, sobald er geweckt und von welcher Seite immer er in Bewegung gesetzt wird, so wirksam in der Kontrolle anderer Funktionen, daß ich nicht umhin kann, ihn selber primär zu nennen. 142
Die praktisch einzunehmende Haltung ist demnach diese, daß Schlaf und Gedanke in ihrer Wirkung als primäre reflexerzeugende Zentren auftreten können, daß aber die Natur ihrer Reflextätigkeit mehr oder weniger von der funktionellen Vollkommenheit oder Unvollkommenheit der drei anderen Ketten abhängt. Vergegenwärtigen wir uns dies nun aber, so sollten wir vor allem andern uns bemühen, die drei ersten Ketten stets durch die uns von der Natur zur Verfügung gestellten Mittel in funktioneller Vollkommenheit zu erhalten. Denn wenn der Körper durch unsere Weigerung, die Haut, die Muskeln und das Ernährungssystem so zu behandeln, wie die Natur es verlangt, seine Kräfte verliert und sich Gifte in ihm ansammeln, und wenn auf diese Weise in den drei ersten Ketten negative und zerstörerische Reflexe auftreten, dann erhalten die beiden Ketten des Schlafes und des Geistes auch unnatürliche Anreize. Darum werden sie dann als primäre reflexerzeugende Zentren auch negative oder destruktive Anreize ins Werk setzen, und dadurch muß schließlich unsere körperliche Vitalität herabgemindert, muß auch die Widerstandsfähigkeit gegen Krankheitseinflüsse und alle den Körper schädigenden Prozesse geschwächt werden. Die Kenntnis dieser Tatsache setzt uns in den Stand, die beiden letzten Reflexketten als eine Art Gesundheitsbarometer zu benützen. Denn wenn wir unsern Schlaf nicht mehr als erfrischend und belebend genießen, wenn wir nicht verjüngt und neugestärkt, begierig nach der Aufgabe des Tages verlangend daraus erwachen, oder wenn unsere Stimmung verdüstert, bedrückt, verneinend ist, verdrießlich, überkritisch, Unheil voraussehend, anstatt positiv, erfreulich, aufrichtend oder gar begeisternd, dann erkennen wir daran, daß wir unsere ersten drei Reflexketten vernachlässigen, und daß wir früher oder später diese Vernachlässigung mit verminderter Vitalität und mit dem Verluste unserer natürlichen Immunität gegen Krankheit bezahlen müssen. Seit ich die Auswahl und Bemessung meiner Nahrung mit Sorgfalt treffe, erlebe ich solche Störungen nur mehr höchst selten. Wenn sie aber je wieder auftreten — sie künden sich vielleicht im Beginn bloß mit einem kaum spürbaren Schweregefühl in Beinen und Füßen oder mit verringerter Frische oder verminderter Lust zum Aufwachen und zur Muskelbetätigung am frühen Morgen an —, so ergreife ich die Gelegenheit sofort beim Schopfe und faste oder genieße einen oder zwei Tage lang nichts als Früchte und Milch; dann dauert es nicht lange, so fühle ich mich wiederum zu allen Taten bereit, kann des Morgens zu jeder Stunde aufstehen, turnen und kalt baden, und sobald ich auf der Straße stehe, packt mich wieder diese unbändige Lust, einen kleinen Wettlauf mit mir selber zu veranstalten. Die Alkalisierung meines Blutes durch den Genuß von Früchten und Milch hat die Menge der in meinem Blute befindlichen Abfallstoffe wiederum herabgesetzt und die Müdigkeitsgifte ausgeschieden. hat meine Körperzellen wieder mit Lebenskraft gefüllt, und das ganze bewußte. Gefühl, das mich beherrscht, ist Leben, Vitalität, die sich in geistiger Frische und Klarheit und kaum zu bändigender Körperkraft ausdrücken. In dieser Verfassung kann ich nicht länger als fünf Stunden schlafen, und oft genügen vier Stunden. Aber die Zellen meines Körpers fühlen sich so erleichtert durch die Ausscheidung der Müdigkeitsgifte, daß ich weitere drei oder vier Stunden vollständig entspannt ruhen kann, was in seiner belebenden und giftbefreienden Wirkung einem gesunden Schlafe sehr nahe kommt. Eine andere Eigenart dieser Erfahrung ist, daß die Tage, welche einem solchen vierstündigen Schlafe folgen, 143
geistig und körperlich oft meine tätigsten und erfolgreichsten sind. Die Abwesenheit der Ermüdungsgifte und die normale basische Blutbeschaffenheit erklären dies. So sehen wir wiederum, daß die Wirkungen der normalisierten, organisch fundierten großen Reflexketten zusammenarbeiten, um dem primären reflexerzeugenden Zentrum, mit dem der Schlaf verbunden ist, einen Impuls zu geben. Wenn sie in- und auswendig den Körper sauber und das Blut basisch erhalten, dann ist der Einfluß auf die Reflexkette des Schlafes wohltätig, konstruktiv und belebend. Im umgekehrten Falle ist er zerstörend, vermindert die Lebenskraft und führt zu Krankheit. All dies läßt sich mit gleicher Überzeugung auch von der Reflexkette der geistigen und seelischen Bewegungen sagen. Wie wichtig ist es daher, den Geist zu schulen, damit er lernt, jeden störenden, unglückbergenden, verzweifelten Gedanken von sich zu weisen. Eine Geistesverfassung, die mit sich selber und der Welt nicht im Frieden ist, wirkt wie starkes Gift und darf von dem, der den Schlaf sucht, nicht geduldet werden. Das beste Mittel, das ich kenne, um den friedvollen geistigen Zustand herbeizuführen, der normalen gesunden Schlaf gewährleistet, ist, konstruktive Gedanken zur Hilfe herbeizuziehen und an die Stelle der destruktiven zu setzen. Meine persönliche Methode besteht in einer Art Ritual, das ich vor dem Einschlafen im Geiste ausführe. Die letzten Gedanken des bewußten Geistes vor dem Einschlafen bleiben während der sämtlichen Schlafstunden auf die Zellintelligenzen wirksam; auf diese Weise wird mein Geist im Zustand des Schlafes ein Laboratorium wirksamer positiver Kräfte an Stelle zerstörender Gifte. Mein Ritual enthält unter anderem folgendes Bekenntnis: „Gott, mein Vater, ist gut; er ist ganz Güte. Er will daher für mich nur das Beste. Er muß darum für mich Jugend und Gesundheit beabsichtigen. Ich brauche bloß seinen Gesetzen zu gehorchen.“ Diese Gedanken bringe ich auf viele verschiedene Arten zum Ausdruck. Dann beginne ich ein anderes Thema: „Ich bin ein Geschöpf des vollkommenen Schöpfers. Als solches muß ich vollkommen geschaffen sein. Ich muß darum die Möglichkeit und die Kraft besitzen, physisch vollkommen und damit immer gesund und immun gegen Krankheiten zu sein. Ich brauche nur seinen Gesetzen zu gehorchen.“ Auf diesen Gedankengang lasse ich eine Zusammenstellung ähnlich aufbauender und erhebender Gefühle folgen und sage: „Öffne mir den Weg zum Verständnis dafür, daß die Fehler und Mängel meiner Nebenmenschen von den meinigen sich nur durch ihre Art unterscheiden und daß ich an ihrer Stelle genau so falsch gehandelt hätte wie sie; öffne mir so den Weg dazu, daß ich weder Feindschaft noch bösen Willen gegen sie hege.“ Ein viertes Beispiel: „Schenke mir die Weisheit, die Notwendigkeit einzusehen, daß mein Körper physisch vollkommen werden muß — ein Tempel für die Seele, die er beherbergt — und daß er daher gegen jedes Übel immun werden muß, eine geeignete Wohnstätte für den Funken aus dem Unendlichen, welcher mein wahres Wesen ist. Gib mir die Kraft des Willens, nach dieser Erkenntnis zu handeln, und gib mir den Glauben, der von meinen Handlungen auch die Ergebnisse zuversichtlich erwartet.“ Das ist der Weg zu geistiger Gesundheit und geistiger Sauberkeit, jener Sauberkeit, die so weit über die bloße, körperliche Sauberkeit hinausgeht und sich so viel höher darüber erhebt, als der Geist oder die Seele über den physischen Körper erhaben ist. Es ist der Zustand des Geistes, der unablässig bemüht ist, aus dem Körper, dem materiellen Selbst, möglichst viel zu machen. Niemand darf aus dieser Definition herauslesen, es handle sich um Bemühungen, möglichst viel für den Körper und das 144
Selbst zu erlangen; das wäre die Antithese zu geistiger Sauberkeit. Denn darin liegen ja gerade alle Wurzeln unserer Laster, unserer Unzulänglichkeiten im kommerziellen, sozialen, häuslichen und sexuellen Leben; es ist der geistige Zustand unserer modernen Welt, und seine Wirkungen bedeuten für die Gesundheit der zivilisierten Menschheit genau das gleiche wie die Anhäufungen körperlichen Schmutzes. Der Geist ist uns auf keinen Fall dazu verliehen worden, damit wir mit seiner Hilfe viel für den Körper erreichen, sondern damit wir möglichst viel aus dem Körper machen. Es darf nicht sein, daß unsere Geistigkeit dazu dient, den Tempel der Seele, der unser Körper ist, mit den entarteten Gewohnheiten unserer Kultur zu entweihen und zu zerstören. Dieser Tempel ist durch das Lebensprinzip aufgebaut worden, jenen kleinen Funken aus der großen bildenden Kraft der Unendlichkeit. Und da jeder menschliche Geist ein kleiner Strahl des unendlichen Lichtes, der unendlichen Weisheit ist, so dürfen wir sicherlich annehmen, daß dieser Weisheitsstrahl dem kleinen Kraftfunken verliehen wurde, um ihn zu befähigen, seiner Aufgabe, aus dem Staub der Erde einen erhabenen Tempel der Seele zu schaffen, gerecht zu werden. Aber wenn der menschliche Körper nur auf gut Glück mit alten, unwerten Stoffen aufgerichtet worden ist und der Hütte eines Armenhäuslers ähnlicher sieht als dem hohen Tempel, der er sein sollte, dann kann der Geist, der ihm angehört, auch keinen höhern Ansprüchen Genüge leisten. Und in der Tat ist der Geist, der sich auf die Launen und Begierden des Fleisches einläßt, den größten Gefahren des Entgleisens und Beschmutztwerdens ausgesetzt. Mit andern Worten: solch ein Geist, der sich bemüht, für den Körper möglichst viel zu erreichen, anstatt durch den Körper möglichst viel zu leisten, ist ein ungesunder, ein unsauberer Geist. Das heißt nicht unbedingt, daß er sich zu niederen Handlungen hinreißen läßt, aber auch schon der Widerstand gegen Versuchungen bringt die Harmonie in Unordnung und zerstört das Gleichgewicht. Wird der gleiche Kraftaufwand zu der Überlegung benützt, wie der Körper dem göttlichen Plane gemäß aufgebaut und unterhalten werden kann, so wachsen die harmonischen, belebenden, bejahenden, konstruktiven Einflüsse. Es ist auffallend, daß der verhätschelte Körper der Sinnlichkeit verfällt; denn Sinnlichkeit hat ihren Sitz im Geistigen. Und als Gegenwirkung wird die Sorge für die Begehrlichkeiten des Fleisches (anstatt für die Bedürfnisse des Körpers als Tempel der Seele) auch wieder den Geist in Sinnlichkeit verstricken. Ein sinnlicher Geist ist ein unsauberer Geist, der nur zerstörenden, krankheitsfördernden Einfluß auf den Körper haben kann. Wer vor Krankheit geschützt leben möchte, muß deshalb zuallererst lernen, wie dieser Körper in aller Vollkommenheit, die er nach dem vollkommenen Plane des Schöpfers hat, aufzubauen und zu pflegen ist; dieses Studium wird ihm helfen, Geist und Körper rein zu erhalten. Wenn aber geistige Sauberkeit von der Qualität des Denkens abhängt, von der überlegten Sorgfalt, die man der Entwicklung und Tätigkeit des Körpers zuwendet, so besteht die Sauberkeit der Seele darin, nur die besten, die positivsten und hilfreichsten Gedanken in den Geist treten zu lassen. Mit dem Körper und seinen Zuständen beschäftigt sich die Seele überhaupt nicht. Konstruktive Gedanken kehren sich nach außen; sie haben keine andere Verbindung zum Selbst, als daß sie bestrebt sind, das freundliche, höhere, bessere Selbst zum Ausdruck zu bringen. Solche Gedanken befassen sich mit allem Menschlichen; ihr 145
Bestreben ist nicht bloß, das Schlechte nicht zu tun, sondern auch, das Schlechte gar nicht zu denken. Sehen sie einen andern Böses tun, so suchen sie ihn zu verstehen und zu decken, und fänden sie auch keine andere Entschuldigung für ihn als die menschliche Unvollkommenheit. Solche Menschen, die sich von ihrer Seele führen lassen, nähren keine Feindschaften, hegen keinen Groll und keine Erbitterung, sondern lassen sich von der allesbegreifenden Barmherzigkeit leiten, die der Sünden Menge (anderer Leute!) deckt. Einer hat vor vielen Jahrhunderten das Vorbild zu solcher Gesinnung gegeben, er, der aus seinen Todesqualen am Kreuze noch die Fürbitte zum Himmel rief: „Vater, vergib ihnen, denn sie wissen nicht, was sie tun!“ Ich weiß, es gibt Menschen, und ich schätze sie auf etwa neunzig Prozent meiner Leserschaft, denen das, was ich hier über die geistige und seelische Sauberkeit schreibe, nichts Persönliches sagt. Es berührt sie nicht in ihrem Innersten. Es ist ihnen zu wenig real, zu unpraktisch, zu abstrakt. Stehen sie vielleicht auf einer Stufe, von der aus geistige und seelische Dinge noch gar nicht erkennbar sind? Dabei nennen sich gerade solche Leute gerne eifrige Christen, Jünger und Nachfolger Jesu, des Verkünders der Barmherzigkeit. Wie halten sie es allerdings mit dem Stein, den Jesus den zu werfen auffordert, der ohne Sünde ist? Dieser Stein eben beweist uns, daß seelische Sauberkeit doch keine so phantastische, so unreale Forderung ist, wie die meisten Menschen es glauben. Denn wie könnten wir irgendeinen anderen Übeltäter verdammen, wenn wir wissen, daß seine Sündhaftigkeit nur in der Qualität von der unsrigen verschieden ist? Etwa deshalb, weil wir in unseren eigenen Entgleisungen die Beweggründe und die Größe der Versuchungen kennen und in den seinen nicht? Das wäre wohl keine Veranlassung, den Stein zu werfen. Um daraus die praktische Folgerung zu ziehen, wollen wir hier konstatieren, daß es sich für den gesunden, „sauberen“ Menschen niemals um etwas anderes handeln kann als um die sogenannte idealistische Lebensauffassung, auch wenn Handlungen anderer in Frage kommen. Unter keinen Umständen dürfen wir uns das Recht herausnehmen, unsere eigenen Fehltritte Irrtümer zu nennen und die unserer Brüder oder Schwestern Sünden oder Verbrechen. Etwas mitempfindendes Denken sollte uns zeigen, daß wir, wenn wir gerecht sein wollen, die Geschichte des „Verbrechens“ kennen müssen, ja, daß wir, um sie in allen ihren Aspekten zu kennen, auch die ganze Lebensgeschichte des „Verbrechers“ oder „Sünders“ kennen sollten, sogar seine vorgeburtliche Geschichte. Nachdem wir dann alles erfahren haben, was mit dem in Frage stehenden Falle zusammenhängt, finden wir höchstwahrscheinlich, überwältigt von Mitgefühl, keine Verdammung mehr möglich. Man wird mich fragen, was diese Betrachtungen mit unserem Thema der beständigen und zuverlässigen Gesundheit zu tun haben. Genug, um uns zu beschäftigen. Die kritische „Besser-als-du“-Haltung gegenüber unseren Mitmenschen ist stets das Zeichen einer ungesunden, unsauberen Seele; es ist zwar die Haltung der großen Mehrheit „gebildeter“ Menschen — aber was will das bedeuten? Sind es doch eben die Menschen, die sich durch Krankheit und Krankheitsfurcht auszeichnen, und sollte da keine Beziehung aufgedeckt werden können? Ich glaube, daß sie ohne weiteres sichtbar ist. Weil ein unsauberer Geist und eine unsaubere Seele gleich zersetzend auf den Körper wirken wie eine unsaubere Haut oder ein unsauberes Körperinneres, indem sie als Furcht, Ärger, Haß und verwandte Leidenschaften die sprudelnden Quellen 146
unseres Lebens vergiften, müssen wir, wenn wir eine natürliche Unbesiegbarkeit vor den Angriffen der Krankheit erreichen wollen, in einer idealistischen Haltung auch die einzig praktische erkennen lernen. Sicherlich ist es jedem von uns möglich, seine Beobachtungsgabe so weit zu entwickeln, daß es ihm gelingt, den Balken im eigenen Auge zu entdecken, den man doch herausziehen soll, ehe man daran geht, den Splitter aus des Bruders Auge zu entfernen. Um noch einmal zu der praktischen Seite der Frage zurückzukehren, sei hier noch erwähnt, daß der große russische Gelehrte und Forscher Metschnikow nach Jahren eingehendster Untersuchungen dieser Zusammenhänge festgestellt hat, daß wir ewig weiterleben könnten, wenn wir es nur verstünden, die Ansammlung von Giften in unserem Körper zu verhindern. Laßt uns daher den festen Entschluß fassen, unseren Körper inwendig und auswendig von Giften und Unsauberkeit frei und unsern Geist rein zu halten; laßt uns unsere besten Gedanken an die Frage wenden, wie unser Körper zu seiner Höchstleistung veranlaßt werden kann. Unsere höhere, seelische Natur wollen wir gesund und sauber erhalten, indem wir nur solchen Gedanken Zutritt gewähren, die die Taten unserer Nebenmenschen gerecht beurteilen, mit demselben Maße, das wir von unseren Brüdern und Schwestern unsern schlechtesten Taten gegenüber erhoffen. Fügen wir diese Regeln geistiger Ordnung zu den in diesem Buche so ausführlich behandelten Vorschriften für die körperliche Verhaltungsweise, so können wir sicher sein, daß uns nach Ablauf einer angemessenen Zeit das angehäufte „Kapital“ die herrlichsten „Zinsen“ in Form von Kraft und Gesundheit abwerfen wird. Meine eigenen „Zinsen“ scheinen eine vollkommene Unempfindlichkeit gegenüber allen Arten von Krankheiten zu sein. Und wäre es auch nur im Hinblick auf die unendliche Erleichterung unseres täglichen Lebens, wir fänden die Belohnung den Kampf und die Anstrengung wert. Nun bleibt es aber gar nicht nur bei dem leichteren, sorgloseren Leben, denn die Ergebnisse unserer Mühe gehen weit darüber hinaus. Unser Leben wird nicht nur seiner Schwere und Mühseligkeit beraubt; es wird auch von Licht und Freude in einem bisher nie gekannten Maße durchströmt; und unser Licht und unsere Freude werden auch in andere Leben hinüberstrahlen.
14. KAPITEL Schlußbetrachtungen Wenn Gott uns die Möglichkeit gegeben hat, immer gesund zu sein, so sind wir auch für den Zustand unserer Gesundheit verantwortlich. Aus dieser Tatsache heraus wird Krankheit zur Sünde, oder sie ist die Folge einer Sünde gegen die Lebensgesetze des Körpers. Der Körper, der krank ist, hat gesündigt. Er hat den göttlichen Regeln und Gesetzen zur Erhaltung der Gesundheit entgegengehandelt; er hat darum Gottes Willen 147
übertreten. Die zivilisierte Menschheit ist krankheitsempfänglich geworden, weil sie sich von ihrer eigenen Überheblichkeit leiten ließ und nicht durch ihren Verstand und ihre Beobachtung. Sie hat nicht erfaßt, daß Luxus und Behagen, Befreiung von körperlicher Anstrengung und Befriedigung aller materiellen Wünsche und Leidenschaften, die ihr als einzig begehrenswerte Lebensziele erscheinen, nicht das Wesentliche an unserer Kultur sind, sondern bloße Auswüchse, unnatürliche Schosse der Zivilisation. Die allereinfachste Beobachtung und Überlegung zeigt deutlich, daß das Gesetz jedes Wachstums die Anstrengung ist; und der einzige Weg, um Widerstandskraft sowohl im physischen als auch im geistigen und seelischen Leben zu wecken und zu entwickeln, ist beständige Übung im Überwinden. Nachgiebigkeit gegen die Lockungen des Behagens, des weichen Lebens ist der sichere Weg zu körperlicher, psychischer, ethischer und geistiger Verweichlichung, Entkräftung, Krankheit und verfrühtem Tode. Es gibt keine Lobpreisung, deren Töne hoch genug gestimmt wären, um genügend wiederzugeben, was der empfindet, welcher aus einem krankheitsbedrohten Leben den Weg zur disziplinierten Lebensführung und damit zum beglückenden Bewußtsein einer beständig wachsenden und zum Schluß vollkommenen Gesundheit gefunden hat. Solche Menschen können nicht mehr abtrünnig werden, sie werden höchstens zeitenweise kleine Rückfälle erleben. Die wirklichen Schwierigkeiten beginnen erst bei denen, die weniger vital, weniger überlegt, weniger strebsam und erfolgreich sind, als sie es ihren natürlichen körperlichen und geistigen Anlagen nach sein könnten, wenn sie ein physiologisch richtiges, natürliches Leben führen würden; sie empfinden das Bedürfnis nicht, ihre sich selber aufgebürdete, aus ihren verkehrten Lebensbedingungen entstandene Last abzuwerfen, weil ihnen ihr Zustand gar nicht als anormal erscheint. Der durchschnittliche Mensch ist eben ein seltsames Wesen, und merkwürdigerweise besitzt nicht jeder den berühmten gesunden Menschenverstand. Auf alle Fälle trifft man nicht oft die Begabung und den Sinn für Gesundheitsfragen Wenn einer nicht wirklich in tiefer Not steckt, hält es schwer, ihn davon zu überzeugen, daß seine Lebensweise verkehrt ist. Und sogar wenn er sich davon überzeugen läßt, wird er meistens der Macht der Gewohnheit nachgeben und in seinen anerkanntermaßen verkehrten Lebensgewohnheiten verharren. Wahrscheinlich gilt das für neunundneunzig Prozent der ganzen Menschheit. Der Kranke muß infolgedessen bis zu dem Punkte geführt werden, wo er zur Wiedererlangung einer normalen physischen und psychischen Vitalität und Gesundheit selber zu arbeiten beginnt; von diesem Augenblick an liegt es in seiner eigenen Hand, allmählich bis zu einem vibrierenden, lebendigen Glauben durchzudringen; ohne diese große Arbeit bleibt er bald am Wegrand liegen. Sollte ich nun aber von denen, die ihre selbstaufgeladene Last als beschwerlich erkannt haben, gefragt werden, wie sie es denn anstellen sollen, sich davon zu befreien, was zu tun und was zu lassen ist, und womit und wann man beginnen soll, so ist die einzige logische Antwort: Sofort! Sofort, aber allmählich! Der Neuling ist dabei zwei Gefahren ausgesetzt. Entweder nimmt er die Neuordnung seiner Lebensgewohnheiten mit solcher Vehemenz in Angriff und ändert von einem Tage zum andern seine Lebensweise so gründlich, daß sein entkräfteter Körper infolge der Heftigkeit der Umstellung tiefgehende Störungen erleidet; oder er nimmt die Umstellung so zimperlich und matten Herzens und immer wieder 148
abbrechend in Angriff, daß sein kraftloser Körper zwar keinen Schock, aber auch keinen Vorteil davon empfängt. Beide Methoden der Anpassung an die neuerkannten Grundsätze sind natürlich vollkommen falsch. Wer seine Lebensgewohnheiten sinnvoll neugestalten will, sollte vor allem der Tatsache eingedenk bleiben, daß der Körper sich nicht radikalen Änderungen seiner Lebensgewohnheiten von einem Augenblick zum andern anpassen kann, auch wenn er dadurch zu der einzig richtigen Lebensweise gelangt. Die Umgestaltung von Gewohnheiten muß langsam, aber beharrlich durchgeführt werden. Eine Pflanze, welche in falschem Boden wächst, an einer Stelle, zu der die Sonnenstrahlen keinen Zutritt haben, wird besser gedeihen, sobald man sie in andere Erde verpflanzt und sobald die Sonne sie bescheinen kann. Aber um diese Verpflanzung zu bewerkstelligen, darf man sie keinesfalls mit einem Ruck aus der Erde reißen und einfach in ein neues Loch im Boden stecken, auch wenn es der beste Nährboden der Welt ist; auch darf man sie nach der Verpflanzung nicht gleich unvermittelt und schutzlos den heißen Sonnenstrahlen aussetzen. Um ein gutes Ergebnis zu erhalten, muß solch eine Umpflanzung vielmehr mit großer Sorgfalt und Zartheit geschehen. So darf aber auch die Menschenpflanze, die in einem ihr nicht zusagenden Erdreich falscher physischer und psychischer Lebensgewohnheiten nicht gedeihen kann, nur nach und nach in eine ihr besser entsprechende „Atmosphäre“ versetzt werden; sogar wenn ihre bisherigen Lebensgewohnheiten für sie verderblich waren, darf man diese Gewohnheiten nicht allzu plötzlich ändern, weil gerade die verminderte Vitalität bei einer solchen Umstellung die größte Vorsicht gebietet. Wird die Umstellung mit einem Schlage vorgenommen, dann sind ihre Wirkungen in jedem Fall gefährlich, in vielen Fällen zerstörend. Die Natur ist in ihren Anpassungen langsam. Sie wechselt nicht über Nacht, auch nicht von einer falschen Gewohnheit zu einer richtigen. Plötzliche Veränderungen stiften bei raschen Enthusiasten oft Unheil, so wohltuend die Wirkungen bei vorsichtiger, schrittweiser Anpassung sein können. Das gilt schon für Gesunde, trifft aber in noch höherem Maße bei chronisch Kranken zu. Chronisch Kranke sind aber selten geduldig und ausdauernd. Und doch kann ihre Heilung nur langsam vor sich gehen, weil ihre Erkrankung auch nur ein langsamer Prozeß war. Der Körper wird täglich teilweise abgebrochen und teilweise wieder neu aufgebaut. Wenn die Lebensgewohnheiten nicht mehr im Einklang mit den Gesetzen der Natur stehen, werden die abgebrochenen Zellen beständig durch Zellen geringeren Wertes ersetzt; auf diese Weise wird der Körper nach und nach chronisch krank. Ändert man aber die Lebensweise und paßt man die Gewohnheiten wiederum den gesunden Gesetzen der Natur an, so werden die sich täglich verbrauchenden Zellen allmählich durch vollkommene Zellen ersetzt. Dieser Prozeß muß in langsamen Übergängen stattfinden, sonst führt er zum Zusammenbruch des ganzen Körpers. Mit der Zeit jedoch vermehren sich die vollkommenen Zellen im Verhältnis zum Ganzen, und mit ihrer Zunahme wächst auch das Wohlbefinden und die Überzeugung wiederkehrender Gesundheit. Von diesem Zeitpunkt an wird die Genesung rascher vorwärtsschreiten, weil sie erwartet wird. Die Natur läßt sich nicht hetzen und jagen. Unsere Aufgabe besteht darin, in ihre Art einzudringen und uns ihren Willen in kleinen, allmählichen Steigerungen zu eigen zu machen; man muß ihr Zeit lassen, dann wird man die Wunder erleben, die sie im 149
stillen vorbereitet. Nicht besser als dem Übereifrigen geht es dem ängstlichen, allzu vorsichtigen Experimentator, der heute irgendeine kleine Änderung in seiner Lebensweise vornimmt, morgen aber schon vergißt, sie zu wiederholen, und vielleicht auch noch an mehreren folgenden Tagen die kleine neuzuerwerbende Gewohnheit unterläßt. Hernach wird er sich vielleicht ihrer erinnern und sie wieder hervorholen, dann aber von neuem vernachlässigen und vergessen, und so endlos weiter. Ein solcher Mensch wird wahrscheinlich zu dem Schlusse gelangen, daß es „keinen Wert hat, sich umzustellen“, weil die Umstellung, wie er sie betreibt, ihm ja tatsächlich keine Besserung bringt. Die richtige Methode ist die, sich einen Verhaltungsplan auszudenken, einen Plan der allmählichen Hinüberleitung falscher Gewohnheiten in den Kanal der guten, zuverlässigen Lebensweise. Wichtig sind dabei vor allem Beständigkeit und Regelmäßigkeit, sodann schrittweises Vorgehen; denn es wäre ein Fehler, wenn jemand gleich zu Beginn schon jenen Punkt als nächstes Ziel ins Auge fassen würde, auf dem zum Beispiel ich selbst mich jetzt nach mehr als dreißig langen Jahren der Erfahrung im Aufbau neuer Lebensgewohnheiten befinde; eine so verkehrte Zielsetzung hätte nicht viel Aussicht auf wirklichen Erfolg. Man stelle sich im Gegenteil zum Beginn keine große Aufgabe; aber was man einmal zu verändern sich vorgenommen hat, das halte man eisern durch; alle paar Tage kann die Veränderung dann um ein weniges erweitert und vertieft werden und an Ausführungskraft zunehmen, bis der gewünschte Punkt erreicht ist, wo die physiologische Grenze, die Erschöpfungsgrenze liegt, die nicht überschritten werden darf. Haut, Muskeln und Verdauungsapparat müssen geduldig und folgerichtig in die neuen Lebensgewohnheiten hineingeführt werden. Gleichzeitig ist auf die Stärkung des Geistes- und Seelenlebens zu achten. Der Geist muß sich — oft in mühevoller Kleinarbeit — so weit emporarbeiten, bis er jeden in ihm aufsteigenden trüben, niederdrückenden Gedanken nach Erfordernis ausschalten kann, er muß sich bewußt auf Bilder und Gedanken richten, welche in den Farben der Hoffnung und des Glaubens glänzen, und beständig nur das Beste festhalten. Leider ist der durchschnittliche Mensch im allgemeinen nicht zielsicher und ausgeglichen genug, um ein solches Programm längere Zeit hindurch in allen Punkten auszuführen. Entweder läßt er sich aufs Geratewohl von jeder Strömung mit fortreißen, oder er bleibt ewig im Schwanken. Wir geben diese Schwäche indirekt zu, wenn wir das selbstsichere, scheinbar unfühlende Wesen primitiver Völker bewundern, deren Nervenkontrolle vollkommen ist. Unser Hauptaugenmerk muß deshalb auf die Lage des durchschnittlichen, unausgeglichenen Menschen gerichtet bleiben. Die allerbeste Lösung für ihn scheint darin zu liegen, daß er zuerst die Normalisierung einer einzelnen Kette unternimmt, mit der Zeit jedoch vorsichtig dazu übergeht, auch eine zweite und später noch die dritte langsam, ausdauernd und steigernd zu bearbeiten. Hat er so die drei Reflexketten der Ernährung, der Muskeln und der Haut gewissenhaft zu ihrer größtmöglichen Leistungsfähigkeit entwickelt, so werden die beiden übrigen Ketten von selbst zu normaler Tätigkeit gebracht. Dieses Vorgehen führt nach meinen Erfahrungen am zuverlässigsten zu den sicheren und wachsenden Erfolgen, die die Grundlage für das neue Leben bilden sollen. Allerdings geschieht es leider nur zu häufig, daß der Mensch sich schon nach kurzem Bemühen mit dem Errungenen zufrieden gibt; seine Phantasie 150
reicht oft nicht weit genug, um ihm die Vorteile weiterer Entwicklung auszumalen. Mit welcher Reflexkette sollen wir nun aber die Normalisierung unseres Körpers beginnen, wenn zu Anfang bloß eine einzige gewählt wird? Ich antworte ohne zu zögern: mit der Magen – Darmkette, der Reflexkette der Ernährung. Natürlich kann auch diese Reflexkette, wie vollkommene Anregung man ihr auch zu bieten trachtet, nie in sich selber vollkommen werden, bevor nicht alle anderen Reflexketten vollkommen auf sie einwirken; denn sie bleibt ja den Einflüssen der andern Reflexketten ausgesetzt, und alle darin wirkenden unnatürlichen Reflexe werden durch das Nervensystem auf sie übertragen und ausgestrahlt und hindern sie dadurch an der endgültigen Vervollkommnung ihrer Funktionen. Aber auf alle Fälle kann der Körper durch den Tausch von unnatürlicher, energiearmer Nahrung gegen natürliche, lebendige Kost zum mindesten neue Lebenskräfte gewinnen. Immerhin ist auch hier noch Vorsicht am Platze. Denn der Diät eine übermäßige Beachtung zu schenken, heißt andererseits, ihr die Möglichkeit eines normalisierenden Einflusses auf die Körperfunktion von vornherein zu nehmen. Man kann sich allerdings fragen, ob falsche Ernährungsgewohnheiten oder verkehrte Haut- und Muskelpflege den Menschen rascher zugrunderichten, ob also, wenn beispielsweise die Diät einwandfrei ist und nur die Haut und die Muskeln vernachlässigt werden, dieselbe Person während längerer Zeit gesund bleibt, als wenn sie etwa Diät und Haut vernachlässigt, dafür aber die Muskeln entwickelt. Das muß dahingestellt bleiben. Langatmige theoretische Feststellungen haben in dieser Sache nicht den geringsten praktischen Wert. Aber wer durchdringen will, der benutze seinen gesunden Menschenverstand und die ihm vom Schöpfer verliehene Energie, um seine Lebensweise vorsichtig und allmählich umzustellen, dabei Exzesse zu vermeiden und trotz der damit verbundenen scheinbaren Unbequemlichkeiten durchzuhalten, bis alle Krankheiten und Leiden (und nach und nach jegliche Anlage dazu) in ihm verschwinden. Das muß ihm gelingen, wenn er es richtig anpackt, es sei denn, er beginne zu spät damit. Der Mensch darf sogar bis zu einem gewissen Grade die innere Grenze der Naturvorschriften überschreiten, ohne sich zu schaden, nur muß er der äußeren Abgrenzung immer eingedenk bleiben und muß oft und regelmäßig wieder zu den vollen Vorschriften zurückkehren. Denn die Natur hat uns mit einer Überfülle funktioneller Vitalität versehen, dank deren es möglich ist, einen sozusagen vollkommenen körperlichen Zustand zu erreichen und aufrechtzuerhalten, auch wenn wir ihr bloß zur Hälfte entgegenkommen. Sie spendet so überschwenglich, daß immer wieder ein Spielraum zwischen dem hohen Ideal und dem, was der Mensch leistet, bestehen bleiben darf. Zum Gesetz der vorsichtigen Umstellung gehört aber noch eine andere Vorschrift, nämlich die der zeitweiligen Unterbrechung: das Spiel der Aktion und der Reaktion. Arbeit und Rast, Beschäftigung und Ruhe — das eine ist so notwendig und wichtig wie das andere und das eine wie das andere auf alle Funktionen des Körpers zu beziehen. Aus dem Bestehen dieses Naturgesetzes wird ersichtlich, daß zwar jede Körperfunktion ausgeführt werden muß, wenn der Körper beständig gesund bleiben soll, daß aber in der Arbeitsanstrengung eines jeden funktionierenden Teiles die Unterbrechungsperioden von ebenso großer Bedeutung sind. Der Mensch muß oft und regelmäßig geistig und körperlich in seinen Anstrengungen nachlassen, muß die Aufregungen zum Schweigen bringen und in der warmen Umarmung des Unendlichen ausruhend wissen, daß alles von einer höheren Macht zu einem guten Ende geführt 151
wird. Auch diese innere Haltung wird von den Gesetzen seines körperlichen Daseins gefordert. Alle verheerenden Ergebnisse sind natürlich kumulativ, das heißt, sie steigern sich langsam und machen sich keineswegs auch schon nach kurzer Vernachlässigung bemerkbar. Das wäre nicht der Weg der Natur. Bevor Symptome auftreten, die bereits Aufmerksamkeit erregen, sind ihre Ursachen schon lange, gewöhnlich schon viele Jahre hindurch, am Werk gewesen. Aus diesem Grunde zeigen sich die meisten Krankheitsanzeichen erst im mittleren Alter oder bald danach. Viel mehr Leute denn je in der Menschheitsgeschichte leben heutzutage „gut“ und machen sich zu wenig Bewegung. Darum sind die Herz- und Arterienkrankheiten, die Nieren-, Leber- und Gallenblasenleiden, die Erkrankungen des Hirns und des Nervensystems beständig im Zunehmen begriffen, was am einleuchtendsten aus den Aufstellungen der Lebensversicherungsgesellschaften hervorgeht. Aus dem gleichen Grunde werden auch immer jüngere Leute von diesen Erkrankungen ergriffen, die eigentlich Krankheiten des vorgerückten Alters sind. Von gutunterrichteter Seite wird behauptet, daß allein in den Vereinigten Staaten jährlich 65 000 junge Menschen unter vierzig Jahren an diesen Alterskrankheiten sterben, die, wenn man sie überhaupt als allgemeines Menschenlos ansehen will, nicht vor dem siebzigsten — achtzigsten — neunzigsten — hundertsten Jahr oder noch später zu erwarten sein sollten. Da es aber einen Weg zur Vermeidung dieser unnatürlichen und furchtbaren Erscheinungen gibt — welche Schande für uns Ärzte, die wir unser Leben der Erforschung der Frage körperlicher Gesundheit widmen, wenn unser eigener Körper unter Krankheiten leidet! Wir sollten mit uns selbst die heftigste Ungeduld empfinden, so oft wir an größeren oder kleineren Beschwerden und Übeln erkranken! Mattigkeit, Kopfschmerzen, Erkältungen, all das sind schreiende Anklagen gegen unsere Unwissenheit und Hilflosigkeit. Wir sind nicht, was wir sein sollten: Diener der Gesundheit. Wir geben freilich auch nicht vor, es zu sein. Wir geben vor, Krankenärzte zu sein, und wir sind es. Wir behandeln Krankheiten und denken über Krankheiten nach. Wir handeln nicht für die Gesundheit, und unser Denken behandeln nicht die Gesundheit und sieht die Dinge nicht vom Standpunkt der Gesundheit aus. Und doch gibt es gewiß kaum einen unter uns, der nicht die krankheitbildende und gesundheitsfördernde Kraft des Gedankens an sich oder andern schon einmal erfahren hätte. Das sind aber Dinge, die auch der Laie entdecken kann. Käme er doch endlich zur Erkenntnis, daß die Haltung der sogenannten „ärztlichen Autoritäten“ von Jahr zu Jahr wechselt — er gäbe sicherlich seinen Autoritätsglauben auf und begänne endlich selber zu beobachten und nachzudenken. Sobald man selbst beobachtet und unnachsichtig und furchtlos alle vorgefaßten und übernommenen Ideen in den Schmelztiegel des eigenen scharfen Denkens wirft, gelangt man zwangsläufig zu dem Schlusse, daß die Natur uns alle gesund haben will; daraus können wir folgern — und die Beobachtung gibt uns recht —, daß sie uns auch mit allem Notwendigen ausgestattet hat, um uns diese Gesundheit zu erhalten und zu gewährleisten. Ihre Mitgift ist immer einfach! Können wir uns überhaupt eine einfachere Lebensregel denken als die Vorschrift, daß wir aufhören sollen zu tun, was uns im Augenblick beliebt, und dafür jederzeit tun, was uns zu tun verordnet ist; es sei denn, daß das, was wir zu tun wünschen, sich mit dem deckt, was wir tun sollen. Der Leser möge mich recht verstehen; ich nehme nicht Stellung gegen den ärztlichen 152
Beruf. Die heutigen Ärzte sehen ihre Aufgabe darin, den kranken Körper und die gebrochenen Glieder wieder zu heilen und zu flicken, und die Arbeiter dieses Berufs erfüllen ihre Pflicht, so gut sie es können und unter Anwendung aller ihnen bekannten Kunstgriffe. Was ich hier sagen will, ist, daß die Zeit kommen muß, und hoffentlich früher kommt, als wir es jetzt voraussehen können, da Ärzte dafür bezahlt werden, daß sie die Leute darüber belehren, wie sie durch Anwendung natürlicher Mittel gesund bleiben können. Aber diese Zeit kann freilich erst dann anbrechen, wenn die Menschen genügende Einsicht gewonnen haben, um nach einer solchen Leitung selber zu verlangen. Der Zweck dieses Buches ist, einer solchen Zeit den Weg zu bahnen. Wer die künstlichen, das heißt, unnatürlichen Methoden der heutigen Medizin anklagt, darf nicht vergessen, daß die medizinische Praxis nicht weiter vorgeschritten sein kann, als das Publikum mitzumachen fähig und gewillt ist; der Arzt, der allein die neuen Wege zu gehen sucht, muß gewöhnlich verhungern. Die Leute holen sich ja nicht Ratschläge darüber, wie sie leben sollten, um immer gesund zu bleiben. Sie wollen vielmehr der Eingebung ihrer lieben Wünsche folgen und die Ärzte dafür bezahlen, daß diese sie von den Folgen dieser Lebensweise befreien; die Ärzte dürfen ihnen aber nicht etwa Verhaltungsmaßregeln für ein vernünftigeres Leben geben, sondern müssen ihnen schnellwirkende Medizinen verschreiben, die ihnen erlauben, in Kürze ihre törichten Gewohnheiten wieder aufzunehmen. Vor wenigen Jahren erlebte ich einen eindrucksvollen Beweis für diese Tatsache. Von einem andern Arzte war ein Geistlicher zu mir gesandt worden; er war über tausend Meilen weit gereist, um mich zu konsultieren. Da er mir ungewöhnlich intelligent schien, nahm ich an, daß ich es wagen dürfte, ihm zu sagen, wie er sich in dauernde Gesundheit hineinleben könne. Obwohl mein Wartezimmer mit Patienten gefüllt war, nahm ich mir zwei Stunden Zeit, um ihm zu beschreiben, wie er sich von nun an verhalten müsse. Er hatte sich bereits verabschiedet und stand draußen im Gang, als er umkehrte und seinen Kopf noch einmal zur Türe hereinstreckte mit der Frage: „Übrigens, Herr Doktor, bin ich Ihnen etwas schuldig?“ Ich bedeutete ihm, zurückzukommen, und sagte dann: „Setzen Sie sich noch einen Augenblick. Sagen Sie mir einmal, warum Sie eigentlich daran zweifeln, daß Sie mir etwas schuldig sind?“ Seine Antwort: „Ich weiß es wirklich selber nicht; vielleicht weil , . . Sie mir nichts verschrieben haben.“ Darauf ich: „Hatte ich Ihre Zunge angeschaut, Ihren Puls gefühlt, Ihren Unterleib abgetastet, Sie einige Dinge gefragt und Ihnen ein lateinisches Rezept aufgeschrieben, so hätten Sie mir dafür mit Vergnügen fünf oder zehn Dollar gezahlt, sogar wenn das Mittel, das ich Ihnen im Rezept verschrieb, noch weitere drei Dollar gekostet hätte; stimmt das?“ — „Ja, ich glaube, Sie haben recht“, antwortete er. — Ich erwiderte: „Aber wenn ich zwei Stunden meiner Zeit und der Zeit meiner Patienten hergebe und versuche, Ihnen zu erklären, wie Sie gesund werden und bleiben können, indem Sie einfach Gottes Medizin, die nichts kostet, einnehmen, so denken Sie, daß ich kein Honorar dafür brauche?“ Worauf er meinte: „0h, von dieser Seite habe ich die Sache gar nicht angesehen.“ — Hieraus ist ersichtlich, gegen welche Einstellung der Arzt zu kämpfen hat. Der durchschnittliche Patient wird, wenn sein Doktor ihm bloß gute Ratschläge erteilt, unverzüglich zu einem andern, einem „vernünftigen“ Arzt gehen, der ihm etwas zum Einnehmen verschreibt. Auf diesem Gebiet habe ich höchst merkwürdige Erfahrungen gesammelt. Ich weiß, daß es vielerorts Ärzte gibt, die mit Natursinn begabt sind und sich mit den hier erörterten Problemen beschäftigen. Sie sind es satt, nichts weiter als 153
Flickschuster einer nachlässigen Kundschaft zu sein, und ihre Ahnung zeigt ihnen ein höheres Ideal, dem sie sich entgegensehnen. Wie gerne hülfe ich ihnen mit meiner Erfahrung, es zu erreichen! Und nun, Leser, noch ein letztes Wort. Hüte die kleine Flamme wohl, die dir zum Verständnis des weisen Buches der Natur leuchten soll, und trachte, zum mindesten seine erste Lektion eingehend zu studieren, nämlich die, daß du es deinem Körper schuldig bist, ihm die Sorgfalt und Pflege angedeihen zu lassen, die er zur Entwicklung seines vollkommenen Zustandes benötigt. Du schuldest ihm diese Sorgfalt, weil du sie dem Schöpfer dieses vollkommenen Körpers schuldest. Du schuldest sie aber ebensosehr deiner Seele und deinem Geiste, denn für sie beide soll dein physischer Körper Behausung und Tempel sein. Es gilt den Weg zu finden, welcher zu der von Gott geplanten Vollkommenheit unseres Körpers führt und damit zugleich auch der Weg zu natürlicher Immunität gegen Krankheit ist. Aber jede durch menschliche Kunst ausgebaute Straße ist eine falsche Straße und führt nicht zum Ziel. Der einzige Weg, der direkt zum erstrebten Ziel der dauernden Gesundheit führt, ist der Weg der Natur. Leicht und mühelos ist er nicht. Aber die Anstrengung, die das Wandern auf diesem Wege dem Menschen auferlegt, ist die Erzeugerin eines Stromes, der uns in die Gewässer der höchsten Lebensharmonie trägt. Sind wir doch nur ein Teil der mannigfaltigen Erscheinungswelt und folgen bloß den tiefsten Bedürfnissen unseres Wesens, wenn wir auf den Pfaden der Natur wandeln. Welches ist denn der Weg der Natur? Ich könnte erwidern, daß er alles ist, was die Zivilisation nicht ist *. Besser aber ist die Antwort: „Erforsche den Weg der Natur selber in ihrem allzeit offenen Buche.“ Ein Funken aus der Quelle aller Erleuchtung ist uns zu dieser Forschungsarbeit gegeben worden: unsere Intelligenz. Wir sollen in diesem Lichte den uns vorgezeichneten Weg suchen und finden und darauf unseren Körper zu der für ihn geplanten Vollkommenheit führen, um möglichst viel aus ihm — nicht etwa für ihn — machen zu können. Niemand darf im Ernste glauben, daß Krankheit und Leiden eine höhere Gerechtigkeit hervorbringen; höchstens mögen sie in manchen Fällen imstande sein, unsere Augen für die Verkehrtheit unserer Lebensgewohnheiten zu öffnen. Krankheit mag Resignation entwickeln, aber das ist der gerade Gegensatz zu Geistigkeit. Es wäre reine Lästerung, dem Willen Gottes, dem wir uns selbstverständlich unterordnen müssen, die Verantwortung für ein Leiden zuzuschreiben, das wir uns selber durch unsere willkürliche Lebensweise zugezogen haben. Resignation ist negativ; höhere Geistigkeit, das heißt Glaube, ist durchaus positiv und kann nur aus überquellender Gesundheit fließen. Für alle diejenigen, deren Gesundheit nicht jeder Probe standhält, ist Glaube ein Kampf; aber dem an Geist und Körper vollständig Gesunden ist er selbstverständliche Lebensäußerung. Diesen erleuchteten, alles besiegenden Glauben müssen wir, wollen wir an die Stelle gotteslästerlicher und negativer Resignation treten lassen, die alles selbstverschuldete Leiden Gott zur Last legen möchte. Vergleiche das Nachwort des Herausgebers auf Seite 284 f.
Nie mehr krank sein heißt zwar nicht, ewig leben. aber es heißt, sich immer wohl fühlen, solange man lebt, und es bedeutet, daß der Tod still und schmerzlos kommt, in hohem Alter, sanft und freundlich wie sein Bruder, der Schlaf. Es heißt auch, daß man 154
viele und lange Jahre frei von geistigen oder körperlichen Unzulänglichkeiten und Beschwerden verbringen darf und bis ins höchste Alter mit der angesammelten Weisheit und dem erworbenen Scharfblick der Erfahrung der Menschheit dienen, die jüngeren Menschen inspirieren und leiten wird, für Familie, Freunde und Mitmenschen keine Last, sondern eine beständig wachsende Wohltat ist. Also nochmals, lieber Leser — und damit nehme ich Abschied von dir —, hüte die kleine Flamme!
Nachwort des Herausgebers Der Satz, daß Natur alles ist, was Zivilisation nicht ist (siehe Seite 282), stimmt ohne 155
Zweifel, und wenn der heutige Mensch die Fähigkeit, aus erlebter und selbstdurchdachter Anschauung zu denken, nicht viel zu wenig entwickelt hätte, wäre nicht zu befürchten, daß die meisten daraus den „Kurzschluß“ ziehen werden, es sei nun alles zu verwerfen, was Zivilisation ist, und alles anzunehmen, was Natur ist. Wir sind in die Zivilisation hineingestellt und können sie nicht wegwerfen. Wir sollen auch nie und nimmer Natur-, sondern Kulturmenschen werden, doch daß wir dies noch nicht wirklich sind, dürfte dem, der das Buch Jacksons gelesen hat, nicht entgangen sein. Es ergibt sich daraus eine außerordentlich wichtige Aufgabe, die unserer Zeit gestellt ist, die aber nicht nur vom Arzte zu lösen ist, sondern vom Pädagogen, Soziologen, Wirtschaftskundigen, Techniker, Landwirt und Praktiker, nämlich die Aufgabe, den Weg zu finden, auf welchem im Rahmen unserer modernen, ja modernsten Zivilisation praktisch den ewigen und unabdinglichen Gesetzen des Lebens genügt werden kann. Das bedeutet nichts weniger, als Natur und Zivilisation, die beiden unversöhnlichen Antagonisten, zur Zusammenarbeit zu bringen, um das Ziel einer neuen Kultur zu verwirklichen. „Unmöglich!“ werden viele ausrufen. Hat man aber die Aufgabe schon einmal angepackt, ist sie auch nur ernstlich ins Auge gefaßt worden? Haben sich Forschung und Praxis, die ja bekanntlich meistens das finden und verwirklichen, was sie wirklich suchen und wollen, ihr schon einmal zugewandt? Ich kann diese Fragen beantworten, weil sie mich seit fünfzehn Jahren beschäftigen: Nein, dieses an praktischer Bedeutung kaum erreichte Grundproblem unseres Zeitalters ist noch fast nicht gesehen und deshalb sehr vernachlässigt worden. Es ist hier wie auf so vielen andern Gebieten in unserem Zeitalter des Kulturumbruchs: man steht vor scheinbar unlösbaren Gegensätzen, und es bedarf nur eines neuen, übergeordneten Gesichtspunktes, damit diese Antagonismen sich nicht etwa versöhnen oder ausgleichen (das wäre unmöglich), sondern in wechselweisem Zusammenwirken die Synthese eines neuen hohen Wertes vollbringen, in diesem Falle die Synthese der Grundlage einer neuen, vielleicht der bevorstehenden Kultur. Es ist da eine Welt zu entdecken, denn auf allen diesen Gebieten, dem pädagogischen, dem sozialen, technischen, volks- und landwirtschaftlichen wie auch dem physiologischen, liegen bereits Lösungsmöglichkeiten, in der Regel als unwichtig beiseite gelassen, vor, die von dem neuen Gesichtspunkt aus eine teils beschränkte, teils umfassende, teils unabsehbare Bedeutung erhalten, welche nun endlich kritisch erwogen, geprüft, durchdacht, gesammelt und zu einem Ganzen vereinigt werden sollten. Als ich einst eine kleine Studie schreiben wollte über die Frage, wie der heutige Mensch als hochspezialisiertes Zivilisationswesen in seinem Dasein die Grundsätze eines naturnahen, den Lebensgesetzen entsprechenden Lebens verwirklichen könne, wuchs diese Aufgabe unter der Hand an Umfang und Fruchtbarkeit ins Unabsehbare. Doch obwohl sie die Möglichkeiten eines einzelnen zu übersteigen schien, suchte ich sie, so gut es ging, zu bewältigen. Das Ergebnis meiner bisherigen Bemühungen ist unter dem Titel „Lebenswerte Gegenwart — Doppelgesicht der Not“ (DeukalionVerlag) veröffentlicht worden. Zweites Nachwort zur Beantwortung einiger Fragen, die öfters an den Herausgeber gestellt werden 156
Dr. Jacksons Gesundheitslehre ist geistig nicht in Amerika beheimatet, sondern in Europa. Im Grunde ist sie uralt; aber in Europa hat man in den letzten fünfzig Jahren eine größere Durchdringung mit wissenschaftlichem Ernst erreicht und kann auf umfassender Erfahrungen greifen als irgendwo. Darum wäre es nicht schwer gewesen, die Darlegungen Dr. Jacksons an vielen Stellen durch wertvolle Beispiele, verfeinerte Begründungen und glänzendere Beweise zu ergänzen. Der Hauptwert seines Buches liegt aber in der Übereinstimmung von Wort und Tat: es findet seine glaubwürdige Bestätigung in der Lebensführung des Verfassers selbst. Überdies ist es ausgezeichnet geschrieben. So konnte die Aufgabe des Herausgebers nur darin bestehen, es zu kondensieren, um es besser zur Geltung zu bringen. Vielleicht wäre da und dort, wie Fragen von Lesern zeigen, eine Anmerkung mehr anzubringen gewesen. Dies soll im folgenden nachgeholt werden. Einiges Ungemach bereiten vor allem die „Unverträglichkeitstabellen“ auf Seiten 187 bis 190, wenn der Leser zur Anwendung schreitet. Um die Gesundheit nicht zu beeinträchtigen, wird empfohlen, bestimmte Speisegruppen bei ein und derselben Mahlzeit nicht gemeinsam zu verwenden. Liest man aufmerksam, so findet man allerdings, daß Dr. Jackson diese Tabellen mehr als Anregung aufführt, keine strikte Observanz verlangt und die Aufmerksamkeit immer wieder auf das Wesentliche lenkt: die Nahrung sei möglichst naturnah und schlicht zu wählen. Praktisch haben die Tabellen aber den Nachteil, daß sie die Durchführung der Diät komplizieren und eben doch vom Wesentlichen ablenken. Wir kennen keine ausreichende Begründung für die von Dr. Jackson behauptete Unverträglichkeit der Speisegruppen außer in verhältnismäßig seltenen Fällen von ausgeprägten allergischen Störungen. Vielleicht war Dr. Jackson selbst in solchem Falle. Es wäre dann aber nicht gerechtfertigt, diese Selbstbeobachtungen auf die Allgemeinheit zu übertragen, und es wäre schade, wenn andere deswegen auf so natürliche und schöne Geschmackszusammenklänge wie Apfel und Brot, Habermus und Milch oder Kartoffeln und Quark oder Käse verzichten müßten, die in alten Zeiten und bei gesündesten Völkern Grundkost waren. Es liegt dafür keine Notwendigkeit vor, wenn es auch eine ganz gute Idee ist, versuchsweise einmal von ganz ungemischter Kost zu leben und nach Pfahlbauersitte jede Speise für sich in den Mund zu nehmen und zu Ende zu kauen, damit der Gaumen wieder zum Werkzeug untrüglichen Instinktes werden kann. Wenn wir hier die sogenannten Unverträglichkeiten nicht beobachten konnten, so liegt dies vor allem daran, daß wir von der einfachen Regel ausgingen: Jede Mahlzeit mit lebensfrischer Nahrung beginnen, im nüchternen Magen, bis zur Stillung des besten Appetits. Pflanzliche Rohnahrung enthält nämlich in reichlichen Mengen zelleigene Enzyme, das sind Wirkstoffe, die sehr leicht zugrundegehen und darum lange für bedeutungslos gehalten wurden, weil man annahm, sie würden durch die Magensäfte ohnehin zerstört. Heute weiß man aber, daß sie dank eigenartiger Schutzvorrichtungen unversehrt in den Darm gelangen und im Colon dadurch Bedeutung erhalten, daß sie intensiv den vorhandenen Sauerstoff an sich reißen. Sie stellen also eine anärobe Umwelt her, die nötig. ist, um die verdauungsfördernde Bakterienflora gedeihen und die Fäulniserreger und Darmgifterzeuger verkümmern zu lassen, und sie bewirken so auf eine wunderbar einfache Weise jene Umstimmung der Darmbakterienflora, die man mit so vielen künstlichen Mitteln zu erreichen versucht. Wie groß die Bedeutung einer solchen Umstimmung für die Gesundung ist, darüber ist heute kein Wort mehr zu 157
verlieren. Unter nicht allzu ungünstigen Umständen scheint eine bescheidene Menge Rohnahrung zu genügen, um diesen Effekt zu erreichen, wenn sie zu Beginn der Mahlzeit in nüchternen Magen kommt. Wunderbarerweise scheint dies dem Nervensystem „bewußt“ zu sein, denn dann und nur dann, wenn zu Beginn der Mahlzeit eine gewisse Menge Rohnahrung die Geschmacksnerven passiert, unterbleibt das, was man die physiologische Verdauungsleukozytose nennt, d. h. ein Grenzschutzaufgebot der weißen Blutkörperchen in die Darmwand. Eine solche „Grenzbesetzung“ ist ja dann tatsächlich unnötig, weil für ein sauerstofffreies Darmmilieu gesorgt ist, in welchem die giftproduzierenden Bakterien nicht gedeihen. Diese Zusammenhänge sind erst in den letzten Jahren erforscht worden und waren Dr. Jackson noch nicht bekannt. Man befolge also die erwähnte Regel, die von Dr. Bircher-Benner vor dreiundfünfzig Jahren auf Grund seiner Beobachtungen aufgestellt wurde; man erreicht damit eine erhebliche Vereinfachung und einen stärkeren Auftrieb der Gesundungskräfte. Es wird oft gefragt, wo „Römerkost“ und „Malzmilch“ hierzulande erhältlich seien oder was man an deren Stellen nehmen könne. „Römerkost“ („Roman meal“) ist einfach alte Schweizerkost, nämlich Kornmus. Man beziehe von einem Reformhaus gewaschenen Ganzweizen und mahle ihn in der kleinen schwedischen Kornmühle (siehe Ackerbaustelle), mühsamer in der Kaffeemühle, fixer im Turmix, oder man lasse sich von einer Mühle (z. B. Mühle Tiefenbrunnen - Zürich) frischgemahlenen Vollweizen kommen, weiche über Nacht ein (4 Eßlöffel Wasser auf 50 g Korn) und genieße das Mehl so, unerhitzt, in Milch oder mit Obst. Ansteckung mit dem Strahlenpilz ist nach neuerer Forschung (Lentze) bei Rohgetreidebrei nicht zu befürchten. Man kann den Brei aber auch kurz kochen und nachbrodeln lassen. Das schmeckt ausgezeichnet und gibt eine Sättigung, die sehr viel länger anhält als jene von Kaffee, Weggli, Butter und Konfitüre. Unsere schweizerische Mandelmilch (Nuxo oder Phag) ist der amerikanischen Malzmilch vorzuziehen. Viele fragen nach dem Befinden und der Adresse von Dr. Jackson. Nach Nachrichten aus Kanada ist der Verfasser dieses Buches vor einigen Jahren hoch in den Achtzigern an einem Schlittschuhunfall, bei dem er hilflos liegenblieb und sich eine Lungenentzündung holte, gestorben. Es ist außerordentlich zu bedauern, daß seine hohe, jugendliche Gestalt nicht mehr unter den Lebenden ist und durch ihr Beispiel bis zum natürlichen Lebensende für seine Lehre zeugen und wirken kann. Unfall und Lungenentzündung waren und sind neben Altersschwäche natürliche Todesursachen der Ganzgesunden.
Wir sind froh, wenn Sie dieses hilfreiche Buch weiterempfehlen, um ihm eine recht große Verbreitung zu verschaffen. Ihre Freunde und Bekannten werden Ihnen dafür dankbar sein.
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