Belva Plain
New Orleans
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Belva Plain
New Orleans
Inhaltsangabe Als Ferdinand Raphael an einem Frühlingsabend des Jahres 1835 das fränkische Dorf Grünwald erreicht, um seine Kinder mit zu sich in seine neue Heimat New Orleans zu nehmen, wissen David und Miriam nicht, was sie erwartet. Während ihr Vater sich voll schmerzhafter Wehmut an seine verstorbene Frau und die Katastrophe, die sich hier in der Judengasse seiner alten Heimat vor Jahren ereignete, erinnert, fragen sich die Geschwister, was sie wohl in Amerika, dem Land der unbegrenzten Möglichkeiten, in dem die wilden Indianer hausen und Sklaven schwere Arbeiten erledigen, machen werden. Dort sollen sie im Haus ihrer neuen Mutter, einer Witwe namens Emma, die der Vater vor kurzem heiratete, wohnen. Schon bei der Überfahrt auf der zweimastigen Brigg Mirabelle muß der hellwache David feststellen, daß der Vater sein Judentum nicht als Auszeichnung, sondern als Schande empfindet und sich merkwürdig verhält – David schämt sich für seinen Vater. Entsetzt ist er, als er in New Orleans die Versteigerung eines Sklaven miterleben muß. Miriam wird, kaum zur Frau gereift, mit dem ungeliebten, doch einflußreichen Eugene Mendes verheiratet, einem Mann, dessen Roheit sie zutiefst anwidert und der mit Menschen handelt. Sie liebt einen anderen Mann, André Perrin, aber auch er ist wie sie gebunden. Und dann brodelt das glitzernde New Orleans, die ›Perle des Mississippi‹, über, der Krieg zwischen den Nord- und Südstaaten überrollt die Menschen, hält sie in Atem. Ein großer Roman um Liebe, Leidenschaft, Freundschaft und Haß, Heldenmut und Opferbereitschaft vor historischem Hintergrund. Nicht zu Unrecht wurde diese mitreißende Südstaaten-Saga, in deren Mittelpunkt die leidenschaftliche Schönheit Miriam Raphael steht, mit ›Vom Winde verweht‹ verglichen, Miriam mit Scarlet O'Hara in einem Atem genannt.
Aus dem Amerikanischen übersetzt von Helga Künzel Titel der Originalausgabe CRESCENT CITY Sonderausgabe des Lingen Verlags, Köln © 1984 by Bar-Nan Creations, Inc. © der deutschsprachigen Ausgabe 1987 by Hestia Verlag GmbH, Bayreuth Gesamtherstellung: Lingen Verlag, Köln Schutzumschlag: Roberto Patelli Titelillustration: Mauritius, Frankfurt/M. Dieses eBook ist umwelt- und leserfreundlich, da es weder chlorhaltiges Papier noch einen Abgabepreis beinhaltet! ☺
Zur Erinnerung an meinen Mann, den Gefährten meines Lebens.
1
A
n einem Samstag im Frühling des Jahres 1835 erschien gegen Abend ein Reisewagen, eine sogenannte Berline, auf dem Kamm einer Anhöhe über dem fränkischen Dorf Grünwald, das auf halber Strecke zwischen den Bayerischen Alpen und Würzburg lag. Die gelb lackierten Räder der Berline waren grau vom Staub, und die vier kräftigen Zugpferde wirkten müde. Offensichtlich kam der Wagen von weit her. Einige Bauern, die eben ihre Arbeit auf den Feldern beendeten, richteten die gekrümmten Rücken gerade und schauten ihm erstaunt nach, denn in ihr Dorf verirrten sich nur selten Besucher, und wenn, dann zu Fuß oder in einem schwerfälligen Bauernkarren, um bescheidenen Handel zu treiben. Einen Augenblick lang stand die Berline als wuchtige dunkle Silhouette vor dem rosa gestreiften Himmel, als wollte jemand vom Rand der Anhöhe das Dorf unten kurz aus der Vogelschau betrachten. Dann verschwand sie, schwankend und in ihren Gurten knarrend, hinter dem Laub einer Lindengruppe. Wenige Minuten später tauchte sie am Fuß der Anhöhe auf, fuhr die kurze Dorfstraße entlang und bog in die schmale Judengasse ein. Die Bauern, die ihr noch immer nachschauten, schüttelten die Köpfe. »Hm, was soll man davon halten?« Auch der einzige Insasse des Reisewagens schüttelte verwundert den Kopf. Er war ein kräftiger Mann in den Dreißigern. Sein dichtes dunkles Haar umrahmte ein gutmütiges Gesicht mit forschenden hellen Augen und einem weichen, schlaffen Mund. »Die Judengasse«, murmelte er wie ungläubig. »Sie hat sich nicht verändert…« Er hätte allerdings nicht zu sagen vermocht, auf welche Weise oder warum sie sich in den acht Jahren seit seinem Weggang hätte verändern sollen. Die aneinandergeschmiegten schmalen Häuser, dreihundert Jahre zuvor errichtet, säumten noch immer die Gasse, leicht vornübergeneigt wie streitende alte Männer. Das letzte schwache Tageslicht 1
blinkte in den Fensteraugen, über denen wie Brauen die ersten Stockwerke vorstanden; und die Fachwerkbalken, die Runzeln in den alten Hausgesichtern, glänzten matt im Abendschein. Zwischen dem Metzger und dem Gasthaus Zum Goldenen Bären, halb die Gasse hinunter – dort mußte gleich das Haus ins Blickfeld kommen! Eine Welle der Übelkeit stieg in dem Mann hoch. Wieder dieser dunkle Türeingang, die schrecklichen Schreie, das gemeine Lachen – ja, tatsächlich hatte jemand gelacht –, die rennenden Füße und das Blut seiner jungen Frau auf den Stufen… Mit großer Anstrengung gelang es ihm, ruhig zu bleiben. »Amerika«, sagte er laut, ohne sich dessen bewußt zu sein. Der Sabbat hatte bereits geendet, die Doppeltüren der alten hölzernen Synagoge waren geschlossen und die hohen Stufen verlassen. Die letzten Andächtigen in ihrem Sabbat-Staat befanden sich gerade auf dem Heimweg, als die Berline im Hof des Goldenen Bären mit einem Ruck zum Stehen kam. Eine kleine Schar drängte nun neugierig in den Gasthaushof. Der Kutscheninsasse, der sich anschickte, auszusteigen, erblickte eine Reihe blasser Gesichter, in denen Erstaunen und die Hoffnung auf irgendein ungewöhnliches Ereignis standen. Die Leute schauten erwartungsvoll wie Zirkus- oder Theaterbesucher. Schließlich passierte in dem kleinen Ort – abgesehen von gelegentlichen Unglücksfällen – so gut wie niemals etwas. Der Mann sah, daß er im Mittelpunkt des Interesses stand, aber da er es eilig hatte, wollte er im Augenblick nicht erkannt werden. Also senkte er den Kopf. Die Leute bekamen als erstes ein Paar Lederstiefel zu sehen, die in der offenen Wagentür erschienen, dann einen Spazierstock mit Silberknauf, einen rehbraunen Mantel aus feinem Wollstoff mit Samtkragen und schließlich einen Zylinder der gleichen Farbe. Doch die Aufmerksamkeit der Gaffer wurde plötzlich abgelenkt: Vom Bock der Berline stiegen zwei kohlschwarze Wesen, die sich, nachdem der weite Mantel des Kutschers sie nicht mehr verbarg, als halbwüchsige Bürschchen mit hellblauen Kniebundhosen und Westen mit goldenen Spitzenmanschetten entpuppten. 2
Der Reisende kehrte den Neugierigen den Rücken zu und gab dem Kutscher Anweisungen: »Besorge mir ein Zimmer für die Nacht. Und sieh zu, daß die beiden gut versorgt werden. Sie sprechen unsere Sprache nicht.« Er schlug die Negerjungen leicht auf die Schultern: »Maxim! Chanute!« Es folgten einige französische Wörter, auf die das Paar mit fröhlichem Nicken reagierte. Dann schritt der Reisende, ohne nach links oder rechts zu schauen, aus dem Hof und die Gasse hinunter zum Haus von Reuben Nathansohn. Dort klopfte er an die Tür. Als sie aufging, verschwand er ins Innere. Erstaunt starrten die Leute auf die Tür. »Teufel, wer kann das sein, der den alten Nathansohn besucht, was meinst du?« »Ein Ausländer, ein Franzose, das hast du doch gehört.« »Irgendein Mann von Rang?« »Von Rang? Doch nicht in einer Mietkutsche!« »Ein Bankier. Ein ausländischer Bankier, oder vielleicht ein Kaufmann.« »Ein Jude. Hast du das nicht gesehen? Er war ein Jude.« »Wie soll ich das sehen? Ein reicher Ausländer sieht einfach aus wie ein reicher Ausländer. Meinst du, daß er ein Schildchen trägt, auf dem steht: ›Ich bin Jude‹, oder: ›Ich bin kein Jude‹? Ausländer müssen keine Kennzeichen tragen wie wir.« Eine alte Frau stieß einen unmutigen, spitzen Schrei aus. Ihre goldenen Ohrringe schwangen hin und her, als sie erregt sagte: »Wißt ihr nicht, wer das ist? Habt ihr ihn denn nicht erkannt? Es ist Ferdinand Raphael.« »Ferdinand der Franzmann!« Die Leute begannen durcheinanderzureden, unterbrachen sich gegenseitig: »Er ist kein Franzose, sondern Elsässer! Er kam damals aus dem Elsaß, kurz bevor er Hannah Nathansohn heiratete.« »Ich erinnere mich, daß…« »Der kann es unmöglich sein! Er ist nach den Unruhen doch nach Amerika gegangen.« 3
»Richtig, aber was soll ihn dran hindern, wiederzukommen? Er wird seine Kinder holen wollen.« »Das kann jeder behaupten…« »Meinst du? Aber wenn es stimmt, dann ist's wirklich höchste Zeit. Das Mädchen ist schon acht.« »Neun. Miriam ist neun.« Die Frau mit den goldenen Ohrringen trat vor. »Miriam ist acht«, sagte sie entschieden. »Ich war dabei, als sie zur Welt kam. Hab ich vielleicht nicht gesehen, wie ihre Mutter sie geboren hat und noch in der gleichen Minute gestorben ist?« Ihre Stimme erhob sich zu einem Singsang: »Ach, es war ein Wunder, daß das Kind überhaupt am Leben blieb…« Respektvolle, bedrückte Stille trat ein. Nach einer Weile fragte eine junge Frau: »Kam sie nicht um, als die Studenten…« »Das war vor deiner Zeit hier, Hilda. O ja, als die netten jungen Herren übergeschnappt und auf ihren großen Pferden durchs Dorf gestürmt sind, geradewegs in die Judengasse…« Nun wurde die Stimme leiser und monoton, als sei die Sprecherin nicht gewillt und doch gezwungen, das schreckliche Ereignis zu schildern: »Fenster haben sie eingeschlagen, Türen aufgebrochen, und wir alle rannten, rannten… Die Steine, die sie hatten! So groß, sie warfen sie mit beiden Händen. O Gott! Ich war bei Hannah, stand zwei Stufen über ihr, als sie zuschlugen.« »Auf den Kopf wurde sie geschlagen, Nathansohns Hannah, Raphaels junge Frau, genau vor der Haustür, der Tür dort drüben. Wir trugen sie hinein.« »Das Neugeborene machte den ersten Atemzug, als seine Mutter den letzten tat.« Wieder trat Stille ein. Die Erinnerung an das furchtbare Geschehnis ließ die kleine Schar zu einer Einheit verschmelzen. Schließlich sagte jemand: »Er ist gleich darauf weggegangen. Nach Amerika.« »Nach so etwas möchte jeder Mann möglichst weit weg, oder nicht?« 4
»Sieht so aus, als habe er in Amerika ein Vermögen gemacht, und jetzt ist er seine Kinder holen gekommen.« »Mit dem Jungen wird er alle Hände voll zu tun haben, das steht fest.« »Warum? Das ist doch ein netter, kluger Knabe, soviel ich weiß.« »Ja, gescheit ist er schon, aber stur wie ein Ochse. Und ein Knabe ist er eigentlich nicht mehr. Er muß fünfzehn sein.« Wartend blieben die Leute in der Gasse stehen, denn sie wollten nichts verpassen. Die Nacht brach vollends herein. Da nichts geschah, wurde die Schar der Neugierigen bald kleiner. Einige Unentwegte aber holten Laternen und warteten weiter. Es gab jedoch nichts zu sehen als den Rumpf einer Kuh, die in einem Stall neben Nathansohns Haus gemächlich fraß. Schließlich gaben auch die letzten Ausharrenden auf und gingen heim. Eine Reihe aufgemalter grüner Störche umgürtete den Kachelbauch des Ofens in der Ecke. Die Nachtkühle drang in das Zimmer, und Ferdinands Zuhörer rückten näher an den Ofen heran. Als Ferdinand seine Hände ausstreckte, sie am Ofen zu wärmen, leuchtete an seinem Finger ein runder Saphir auf. »Bin dieses nördliche Klima nicht mehr gewöhnt«, sagte er in seinem weichen Deutsch mit dem französischen Akzent. Lächelnd schaute er auf: »Du erinnerst dich also ein wenig an deinen Vater, David?« Der Junge hatte die ganze Zeit über keinen Blick von seinem Vater gewandt. Aus seinen dunklen Augen sprach Verständigkeit. »Ja«, antwortete er kurz und entschieden, wie Menschen, die nicht um des Vergnügens willen reden, sich selbst reden zu hören. »Ich erinnere mich auch an meine Mutter. Ich erinnere mich an alles.« »Natürlich. Du warst ein sehr kluger kleiner Junge. Warum auch nicht? Intelligenz war nie Mangelware in unserer Familie. Nie.« Wieder lächelte Ferdinand, denn es entsprach seinem Naturell, seine Rede ab und zu durch ein Lächeln zu unterbrechen. Sein Lächeln wurde aber nicht erwidert, die aufmerksamen Augen des Jungen sa5
hen ihn ernst an. Der fühlte sich unbehaglich und fuhr mit der Hand nachdenklich über das mattglänzende Bibertuch des Zylinders, der noch immer auf seinen Knien lag. Immer wieder strich er den Rand glatt, vielleicht unbewußt, vielleicht auch, um sich durch das Befühlen des feinen Materials davon zu überzeugen, daß er der war, der er war. Dieses düstere Zimmer – hatte er hier wirklich einmal gewohnt? Dürftig war es und muffig, zu jeder Jahreszeit. Der Ofen und der große Eichenschrank, der in der Ecke gegenüber stand wie ein aufgerichtetes wildes Waldtier, waren die einzigen Möbelstücke von Format. Das dünne Holz des Tisches und der Stühle schien kaum besser als Brennholz. Von dem nackten Boden stieg Kälte auf. Ferdinand schauderte. Immerwährende elende Armut! In dem Raum hier konnte man vergessen, daß Wein köstlich mundete und Obst süß schmeckte, daß Lachen Musik war und Musik die Füße tanzen ließ. In einem solchen Raum wußte man kaum, daß man durchaus die Mittel besitzen konnte, die beruhigenden Mittel, um sich gute Dinge leisten und nachts ruhig schlafen zu können. Die vier sahen ihn an. Offensichtlich erwarteten sie eine genauere Erklärung für seine Anwesenheit – es war, als stimme diese Anwesenheit sie feindselig. Ferdinand schien für sie ein Fremder zu sein, war ein Fremder. Und Dinah empfand zweifellos besondere Verbitterung: Sie war bereits eine alte Jungfer gewesen, als er ihre jüngere Schwester geheiratet hatte, die sanfte Hannah, so dunkel und lieb, während Dinah schon damals vertrocknet aussah. Jetzt noch viel mehr als seinerzeit. Mit ihren vierzig Jahren wirkte sie teigig gelb; sie hatte vom Leben nichts mehr zu erwarten, konnte nur auf den Tod des alten Mannes warten, und nach seinem Aussehen zu urteilen, machte es der Opa nicht mehr lange. Er hustete und zitterte auf seinem Lager, zog den Schal fester um den hageren Rücken. In solcher Düsternis alt zu werden und zu sterben! Ferdinand wurde es schlecht vor Mitleid. Miriams Gesicht war das einzige, das auf ihn reagierte, das ihm entgegenbrachte, was er sich wünschte. Sie hatte die leicht schrägen 6
Opalaugen ihrer Mutter, in denen immer eine gewisse Heiterkeit stand, selbst wenn die Besitzerin ernst war wie eben jetzt. Von ihrer Mutter hatte sie auch den Mund mit der kurzen, kaum die Unterlippe bedeckenden Oberlippe und den feinen Rillen zur Nase. Es war ein zarter Mund, zu zart für dieses Haus, dachte er reumütig, für den mürrischen, armen Greis und die alte Jungfer, die bestimmt auf kleinliche Weise tyrannisieren konnte. Ihn erfaßte schmerzliche Rührung über seine neugefundene kleine Tochter, über die Eleganz ihrer gekreuzten schmalen Füße und die Feinheit ihrer dünnen Finger, die jetzt das seidige Fell des kleinen Hundes auf ihrem Schoß streichelten. »Ich habe hübsche Dinge für dich, Miriam«, sagte er. Seine Kehle zog sich zusammen, ihm kamen Tränen, und er schluckte rasch. Er wollte geben, viel geben, aus Liebe und aus Bedauern über die unwiederbringlich verlorenen Jahre. »Ich habe in Paris eingekauft und die Sachen nach Hause schicken lassen.« Er dachte an die schönen Dinge, die sich bereits auf dem Weg nach New Orleans befanden: ein Pleyel-Piano, Kisten mit blaugoldenem Sèvres-Porzellan, viele Meter Alencon-Spitze, gestickte Schals, Sonnenschirme mit Rüschen, bemalte Fächer und schöne ledergebundene Bücher für den Jungen. Plötzlich kam ihm der Gedanke, daß es grausam wäre, hier in der Judengasse von diesen Dingen zu sprechen. Er konnte seinen Kindern noch lange genug zeigen, was er alles für sie zu tun vermochte, wenn er sie bei sich zu Hause hatte. So sagte er nur: »Ich habe dir eine Puppe mit goldenem Haar gekauft, sie ist in meinem Koffer im Gasthaus, du bekommst sie morgen früh.« Nach einem Augenblick fügte er zögernd hinzu: »Ein Anzug für dich, David, und ein Reisekleid für dich, Miriam, sind in diesem Karton. Ihr müßt es morgen anziehen, damit ihr auf der Reise hübsch ausseht.« »Du nimmst mir also die Kinder weg«, sagte der Großvater vorwurfsvoll anklagend. 7
»Opa, ich weiß, wie das für Euch sein muß, ich weiß es. Aber ich nehme Euch auch mit, wenn Ihr wollt. Und dich ebenfalls, Dinah.« Ihm kamen sogleich Bedenken wegen seines Angebots. Was nun, wenn die beiden es akzeptierten? Dann mußte er sie eben mitnehmen! »Ich habe eine Frau, eine gute Frau, Emma heißt sie. Eine Witwe mit Familie. Zwei Töchter. Eine hat vergangenen Winter geheiratet, Pelagie, ein reizendes Ding. Und ich habe ein schönes großes Haus, bestimmt großartiger als alles, was ihr je in Würzburg gesehen habt.« »Natürlich. In Amerika liegt ja das Gold auf der Straße. Das wissen wir«, erwiderte Dinah. Sarkastisch wie eh und je, dachte er. Sie mußte ihm zu verstehen geben, daß sein Erfolg und seine Großzügigkeit sie nicht beeindruckten. Die scharfe Zunge der unverheirateten Frau, die niemand wollte, sagte er sich und empfand auch für Dinah Mitleid. An ihrem Zustand war sie nur teilweise selbst schuld. Die jüdischen jungen Männer hatten entweder kein Geld, oder sie gingen nach Amerika. Außerdem mußte man die herzlose Matrikel in Betracht ziehen – die Heiratserlaubnis wurde bestenfalls einigen wenigen erteilt. Nein, nicht ihre Schuld. Er antwortete rasch: »Ich habe meines nicht auf der Straße gefunden, sondern sehr hart dafür arbeiten müssen.« Der alte Mann hustete heftig und spuckte Blut. David brachte ihm einen Becher Wasser und hielt geduldig die Hände seines Großvaters, die den Becher umfaßt hatten. Plötzlich, fast ungestüm, als habe er sich mühsam dazu durchgerungen, sprach der Junge seinen Vater an: »Erzählt uns von Amerika. Erzählt uns, was geschah, nachdem Ihr von hier weggegangen seid.« Obwohl Ferdinand die Geschichte schon hundertmal erzählt hatte, machte es ihm Freude, sie noch einmal zu erzählen: »Nun, nach dem Tod deiner Mutter faßte ich einen schnellen Entschluß – ich hatte schon lange an Amerika gedacht. Wie du weißt, 8
besaß ich nicht sehr viel, also nahm ich einfach, was ich hatte, packte es in einen Leinwandsack und wanderte nach Westen. Noch bevor ich den Rhein erreichte, hatte ich meine Schuhe durchgelaufen, darum verdingte ich mich zwei Tage als Apfelpflücker, im Tausch für ein Paar alte Stiefel. Zum Glück paßten sie. Dann fuhr ich ein Stück Wegs auf einem Rheinschiff. In Straßburg hatte ich einen entfernten Cousin, der mich ein paar Tage ausruhen ließ und mich gut verköstigte.« Die vier hörten mit einer regungslosen Aufmerksamkeit zu, die zum Weitererzählen ermunterte. Der Junge war sichtlich hingerissen. Er kann es nicht erwarten, selbst wegzugehen, dachte Ferdinand und fuhr fort: »Ein leeres Baumwollfuhrwerk nahm mich bis Paris mit…« Paris damals und Paris diesmal. Ekelerregende, stinkende Gassen seinerzeit, blühende Kastanien und lange, breite Avenuen jetzt. Zwei verschiedene Städte, je nachdem, ob man Geld in der Tasche hatte oder nicht. »Ich gelangte endlich nach Le Havre, und von dort ging es per Schiff weiter. Die Reise dauerte drei Monate und kostete mich siebzig amerikanische Dollar, alles, was ich auf Erden besaß… Auf dem Meer hat man das Gefühl, daß Berge über einem zusammenschlagen. Ihr könnt euch das nicht vorstellen. Ich war im untersten Teil, im Schiffsboden, wo die Einwanderer untergebracht werden. Ich litt schrecklich unter der Seekrankheit. Einige Leute starben sogar daran.« Er hob den Kopf, ein Lächeln erschien auf seinem Gesicht: »Habt keine Angst, für euch wird es nicht so sein. Ihr werdet schöne Kabinen haben, hoch oben in der frischen Salzluft. Wartet nur, bis ihr die Kabinen seht! Teakholz und poliertes Messing. Gute Steppdecken und feine Wäsche. Wie dem auch sei, ich überstand die Seereise, kam nach Baltimore und begann zu arbeiten. Es war sehr hart. Manchmal frage ich mich, wie ich es schaffte, wie überhaupt jemand es je schafft. Aber die Leute machen ihren Weg, und mir gelang das auch. Schließlich kam ich nach New Orleans.« 9
»Ist es weit nach New Orleans«, fragte David, »von diesem Ort, Baltimore?« »Sehr weit! Viele Meilen und viele Jahre weit. Doch um die Wahrheit zu sagen, ich brauchte überraschend wenig Jahre dorthin. Ich fing auf einer Farm in Maryland an. Zwar hatte ich noch nie in der Landwirtschaft gearbeitet, wie ihr wißt, aber wenn man gesund ist und einen starken Willen hat, kann man alles lernen. Ich lernte auch schnell Englisch. Ich habe ein Gefühl für Sprachen. Auf der Farm ging es mir nicht schlecht. Der dicke Mann und seine dicke Frau waren anständige, schweigsame, hart arbeitende Leute. Wenn sie beim Essen saßen, hörte man nichts als das Kauen und das Klappern der Gabeln. Sie verköstigten mich gut, das muß ich sagen, aber was die Bezahlung anging, waren sie knickerig. Als ich meinen Lohn bekommen sollte, gab mir der Mann nur die Hälfte dessen, was er mir versprochen hatte. Er behauptete, ein schlechtes Jahr hinter sich zu haben, aber das stimmte nicht. Die Ernte war gut gewesen. Wir hatten bestes Wetter gehabt, genügend Sonne und Regen, und ich war mit ihm auf den Markt gefahren und hatte gesehen, wie er sein ganzes Getreide verkaufte. Es war einfach so, daß seine große Faust die Münzen nicht hergeben wollte. Ich hatte versprochen, zwei Jahre zu bleiben, und er hatte mir gute Bezahlung versprochen. Ich sagte mir, nachdem er sein Versprechen nicht hielt, brauchte ich keine Gewissensbisse zu haben, wenn ich meines auch nicht hielt. Also stand ich eines Morgens früh auf und stahl mich aus der Scheune, in der ich schlief.« Herbst. Fallende Blätter. Leuchtend goldene und rötliche Blätter! Süßsaure Äpfel verfaulten im Gras. Die Morgendämmerung war kalt; in ein paar Stunden würde die Sonne heiß niederbrennen und die erwärmte Luft erfüllt sein vom Summen der Bienen in den Apfelbäumen. Um diese Zeit würde ich weit weg sein, auf irgend einer Straße, gleichgültig auf welcher, solange sie nur nach Westen führte. »Inzwischen hatte ich auch einen Plan. Ich hatte einen Hausierer kennengelernt, der alle paar Monate mit Schnickschnack für die 10
Farmersfrauen vorbeikam: Baumwollstoff und Faden, Nadeln und Zahnbürsten. Ich sah, daß er sich davon ganz gut ernähren konnte. Also machte ich das. Von dem Geld, das mir der Farmer bezahlt hatte, kaufte ich mir einen Packen Ware und arbeitete mich auf der Straße am Ohio entlang von Farm zu Farm vor. War gar kein schlechtes Leben, so durchs Land zu ziehen, klingende Münzen in der Tasche, die immer schwerer wurde. Oder mit dem Flußdampfer zu fahren und sich zu fragen, was hinter der nächsten Biegung kommen würde.« Nach hundert Hügeln und Tälern die Landung an der Stelle, wo der Ohio in den Mississippi mündet, weißt du noch? Das erste zarte Grün des eben beginnenden Frühlings, der Geruch nach Gras und diese unendliche Weite, die große Stille. Weißt du noch? Man riß den Hut herunter und stürzte sich, allein und unbeobachtet, in einen verrückten Tanz, einfach aus Freude an der Freiheit, aus Freude daran, daß man niemandem gehorchen mußte, daß man jung genug war, um die eigene Kraft zu spüren, daß man vor nichts mehr Angst hatte, vor nichts mehr Angst zu haben brauchte. »Nach einer Zeitlang konnte ich mir ein Pferd kaufen. Ein armes Tier, völlig verbraucht, und es litt an Entzündungen vom Sattel! Ich hätte mir ein besseres leisten können, aber es tat mir so leid. Also ließ ich es eine Weile ausruhen und neue Kräfte sammeln. Wir wurden Freunde, der Hengst und ich. Zusammen zogen wir weiter, hierhin und dorthin, landeinwärts und wieder zurück an den Fluß. Bei den Großhändlern in den Städten füllte ich meine Vorräte auf. Manchmal fuhr ich mit dem Flußdampfer zehn oder fünfzehn Meilen weit zum nächsten Landeplatz.« Während Ferdinand erzählte, durchlebte er alles noch einmal. Er sprach genauso für sich selbst wie für die anderen. »Ich sah riesige Plantagen am Flußufer, große Häuser mit Säulen, Hunderte von schwarzen Sklaven, Meilen und Meilen von Baumwollfeldern. Ich sah arme Siedlungen aus drei oder vier Blockhäusern in den Wäldern. Die Wälder dort sind nicht wie die hier in Europa, nein…« Er suchte nach Worten: »Ihr könnt euch die Ent11
fernungen nicht vorstellen, die Wildheit dieser Wälder. Manchmal erschrickt man bei dem Gedanken, wie selten ein menschlicher Fuß den Boden berührt hat, auf den man tritt. Oft braucht man Stunden von einer Siedlung zur nächsten. Man sieht eine Schar Männer in Tierfellen, Frauen und Kinder in Wollfetzen. Man fragt sich, was sie hierher brachte, was sie in diesem primitiven, harten Leben festhält.« Wald und Sumpf und ein Pfad. Unter den Fichten wird es dunkel, und die Dornsträucher, die über den Weg wachsen, schlagen dir ins Gesicht, so daß du es mit der Hand schützen mußt. Deine Schritte knacken. Dann kommt die Furcht, das alte Entsetzen aus der Kindheit, aus jeder Kindheit: Etwas geht dir nach. In der nächsten Sekunde wird es vorspringen und dich packen. Du zwingst dich, dein Gemüt zu beruhigen und den gesunden Menschenverstand einzusetzen. Du wirst dich nicht umdrehen und nach hinten schauen. »Einsam, leer.« »Und Indianer?« David sah ihn voll Spannung an. Den Finger an der Stirn, wickelte er Strähnen seines lockigen Haars auf. »O ja, Indianer! Die Tschokta-Stämme. Und Wölfe. Ich besorgte mir ein Gewehr, allerdings nicht wegen der Indianer, sondern wegen der Wölfe. Die Indianer belästigten mich nie.« »Ein Gewehr«, wiederholte der Junge. Ferdinand sah, daß das Kind in David, der Rest des Kindes in ihm, fasziniert war. Zu drei Vierteln oder vielleicht mehr war er bereits Mann, zu einem Viertel oder weniger noch das Kind von einst. Und mit der Schilderung seiner Abenteuer erreichte der Vater dieses Kind. Ferdinand nickte seinem Sohn zu: »Ja, aber zum Glück mußte ich nie auf etwas anderes als Kaninchen schießen. Nach einer Zeitlang konnte ich mir einen Wagen für das Pferd leisten. Ich erinnere mich an meine erste Wagenladung. Zehn Kisten hatte ich, vollgestopft mit Tuchen aller Art, vom Bombazette, das ist ein leichter Wollstoff, bis zum Madras. Ich hatte Wand- und Standuhren aus Messing, goldene Taschenuhren, Florstrümpfe, Paisleyschals, Glacehandschuhe 12
und Glasjuwelen, dazu alles für den Herrn sowie den Diener. Als ich erst mal den Wagen hatte, mußte ich auf den befahrenen Wegen bleiben.« Er lachte. »Befahren! Man konnte auch dort einen ganzen Tag unterwegs sein, ohne nur einem Menschen zu begegnen! Manchmal traf ich einen anderen Hausierer, der gewöhnlich ebenfalls europäischer Jude war. Nach einiger Zeit begann ich die Einsamkeit dieses Lebens zu spüren. Aber, wißt ihr, wenn man von einer Idee erfüllt ist, von einem Gedanken, der einen bei jedem Schritt begleitet, ist man nicht ganz allein. Ich wollte mich an einem Ort niederlassen und ein Geschäft eröffnen. Das war meine Idee, mein Gedanke. Schließlich verstand ich etwas vom Handel; mein Vater hatte für Napoleons Armee Getreide gekauft. Nach etwa zwei Jahren hatte ich genügend gespart, um einen Handelsposten eröffnen zu können. War nicht viel mehr als ein großer quadratischer Schuppen mit Regalen an allen Wänden. Doch der Standort war richtig, am höchsten Punkt des Chihuahua-Pfads – ich versorgte die Wagenzüge auf ihrem Weg nach Mexiko. Jeder, der dort durchzog, von den Pflanzern bis zu den Indianern, kam zu mir. Die Sache entwickelte sich rasch. In Amerika kommt alles rasch voran.« Die Kerzen waren fast heruntergebrannt. Dinah stand auf und zündete neue an. So spät in der Nacht noch Kerzen brennen zu lassen, war ein Luxus, war Verschwendung, wie Ferdinand wußte. So war es immer gewesen und würde es immer sein. Hier in diesen europäischen Dörfern entwickelte sich gar nichts. »Also – wo war ich? Ach ja. Mein Geschäft florierte, wißt ihr, weil rund um mich im Nu eine Siedlung entstand. Nach einem Jahr verkaufte ich mein Grundstück für das Dreifache dessen, was ich bezahlt hatte, und arbeitete mich am Mississippi flußabwärts vor. Was für ein Fluß! Einer der größten der Welt. So breit, daß man an manchen Stellen das jenseitige Ufer nicht sieht. Auf der ganzen Strecke blühende Städte, Memphis, der große binnenländische Baumwollmarkt. Baton Rouge. Ich zog immer weiter nach Süden, der Wärme entgegen. New Orleans, das war von Anfang an mein Ziel. Die 13
Königin der Städte, die manchmal auch die Halbmondstadt genannt wird und am Mündungsdelta des Flusses liegt.« Ach, New Orleans! Das Juwel im Halbmond des Flusses, langsam fließendes grünes Bayouwasser*, schläfrige Nachmittage, funkelnde Nächte… »Ich verliebte mich sofort in sie.« Beinahe hätte er gesagt: ›Wie man sich in eine Frau verliebt‹, doch solche Dinge äußerte man nicht in Gegenwart seiner Tochter. »Wie man sich in einen solchen Ort eben verliebt. Schon kurz nach meiner Ankunft schloß ich Freundschaft mit einem großartigen Mann. Er hieß Michael Myers und war ein Jude aus dem Norden des Landes, aus der Gegend um New York. Sein Vater hatte im amerikanischen Freiheitskrieg unter George Washington gedient. Weißt du irgend etwas über diesen Krieg, David?« »Ich habe davon gehört. Es war ein Kampf um die Unabhängigkeit von England.« »Genau. Wie ich sehe, hast du einiges gelesen. Also, dieser Michael Myers war seit zwanzig Jahren in New Orleans und hatte ein blühendes Import-Export-Unternehmen aufgebaut. Aber er war nicht mehr jung und suchte einen Partner, einen jüngeren und kräftigeren Mann, der etwas vom Geschäft verstand oder zumindest angelernt werden konnte und vertrauenswürdig war. Zufällig ergab es sich, daß er diesen Mann in mir fand. Er hatte nie Grund, seine Wahl zu bereuen, das darf ich mit Fug und Recht behaupten. Ich begriff nicht nur schnell, sondern hatte auch eigene Ideen. So schloß ich beispielsweise Freundschaft – ich finde überall leicht Freunde – mit einigen Schiffskapitänen, die in den Cafés anzutreffen sind. Und allein durch solche Kontakte gelang es mir, an eine Reihe von Waren heranzukommen, die verlockend für die Damen sind: Schmuck, Schuhe, Leinen und dergleichen. Luxusgüter, Delikatessen. Ich hatte immer einen guten Blick für feine Waren. Ja, mein Partner hat* Bayou: Bezeichnung für den Altwasserbereich des Mississippi. 14
te nie Grund, seine Wahl zu bereuen – in der kurzen Zeit, die wir beisammen waren.« Der Großvater hatte aufmerksam zugehört: »Der kurzen Zeit?« »Ja, leider starb mein Partner vor einem Jahr an Gelbfieber. Die meisten Menschen verlassen im Sommer die Stadt, doch er konnte es diesmal nicht tun und bekam das Fieber. Eine schreckliche Sache.« »Also gehört das Geschäft nun dir?« »Ja, er hat es mir hinterlassen. Seine Witwe und seine Tochter sind anderweitig versorgt, sie haben ein schönes Haus in Shreveport. Ich habe versprochen, für sie zu sorgen, falls es je nötig sein sollte. Das Mädchen, Marie Claire, ist nur wenig älter als Miriam.« »Marie Claire«, bemerkte Dinah, »ein seltsamer Name für ein jüdisches Mädchen.« »In New Orleans herrschen andere Sitten.« Ja, andere, dachte er und wünschte sich zurück. Ihm wurde plötzlich bewußt, wie weit er von dort entfernt war. »Mein Geschäft wird bald eines der größten in der Stadt sein, wenn es das nicht schon ist. Voriges Jahr baute ich mein Haus fertig. Ganz aus Ziegeln ist es errichtet, um einen Innenhof.« Er vollführte mit den Armen eine ausholende, begeisterte Geste. »Zehnmal so groß wie dieses Haus hier; auf der Rückseite sind Ställe und Unterkünfte in das Geviert eingebaut. Alle Häuser sind dort so angelegt, eigentlich ist es ein mediterraner Stil.« »Vom römischen Atrium übernommen«, sagte David. »Du überraschst mich einmal mehr, David!« Die dünne Stimme des alten Mannes zitterte vor Ungehaltenheit, als er erklärte: »Der Junge hat nur Dinge im Kopf, die einen Juden nichts angehen. Römisches Atrium!« »Opa«, entgegnete der Enkel geduldig, »Opa, Ihr versteht das nicht. Die Menschen sind heute nicht mehr damit zufrieden, hinter geschlossenen Türen zu leben. Wir wollen wissen, was in der Welt draußen vorgeht. Das heißt nicht, daß wir unseren Glauben verlieren müssen.« 15
Der Opa stützte sich auf den Ellbogen: »Hört ihn an. Mag sein, daß die Leute nicht damit zufrieden sind, aber sie würden sich besser fühlen, wenn sie es wären. Ich habe im Leben genug gesehen, um mich nicht noch einmal betrügen zu lassen. Napoleon kam: wir waren alle frei. Napoleon ging: wieder ab mit uns hinter die Mauer!« Er legte seine skelettdürren Hände aneinander, um die Mauer zu veranschaulichen. »Hier auf der einen Seite sind wir. Dort sind die anderen. Und ich brauche nichts von dem zu wissen, was auf ihrer Seite der Mauer passiert, weil ich nie auf ihrer Seite der Mauer leben werde. Es wird nie anders sein. Laß den Krieg kommen oder eine finanzielle Panik oder Gott weiß was, und wieder werden wir daran schuld sein. So war und ist es immer.« Ferdinand entgegnete ruhig: »Bei allem Respekt vor Euch, Opa, David hat recht. Wenn Ihr nur sehen könntet, wie wir in Amerika leben! In meiner Stadt fragt niemand danach, welche Religionszugehörigkeit man hat oder ob man überhaupt einer Religion angehört. Jeder, der das nötige Geld hat, kann in die höchsten Gesellschaftskreise aufsteigen.« »Wenn ich mich recht erinnere«, sagte Dinah, »hast du das gleiche immer von deiner Familie in Frankreich behauptet, während der Zeit, als Napoleon Kaiser war.« »Richtig. Es war eine großartige Zeit. Hätte Napoleon sich gehalten, stünden die Dinge heute in ganz Europa anders.« »Aber er hat sich nicht gehalten«, unterbrach ihn der alte Mann. »Davon rede ich ja. Muß ich dich – ausgerechnet dich – daran erinnern, was geschah, als die Hep-Hep-Jungen durch die Hälfte der süddeutschen Städte stürmten? Massaker in Darmstadt, in Karlsruhe, in Bayreuth… Hep-Hep«, sagte er bitter. »Ich habe vergessen, wofür die Worte standen, es war etwas über Jerusalem…« »Hierosylima perdita est. Jerusalem ist vernichtet. Das ist lateinisch.« »Lateinisch oder nicht, für uns bedeutete es Blut. Hannahs Blut.« Düsteres Schweigen herrschte. Ferdinand senkte den Kopf. Der Anblick dieser Augen – der Augen seines Sohnes und seiner Tochter – war nicht zu ertragen. Es waren Hannahs Augen, ihre Augen, 16
die er in den Jahren, seit sie ihm genommen worden war, fast vergessen hatte. »Ja«, begann der alte Mann schließlich. Das schreckliche Thema verlieh ihm für einige Minuten Energie. »Ja, zurück dorthin, wo wir gewesen waren! Keine gleichen Bürgerrechte. Kein öffentliches Amt. Du trägst ein Abzeichen, damit der Deutsche weiß, wer du bist, wenn er dir auf der Straße begegnet. Deine paar Pfennige werden weggesteuert, und die Matrikel gilt wieder…« Ferdinand meinte zu ersticken. Die ganze drückende Last dieses Elends, von dem er sich befreit zu haben glaubte, sank wieder auf ihn. Mit einem schwachen Scherz versuchte er sie abzuschütteln: »Du mußt hier also bezahlen, um heiraten zu können, David. Denk nur!« »Ich will nicht heiraten.« »Du wirst deine Meinung ändern. Ein hübsches Gesicht wird dich umstimmen.« »Lächle es nur hinweg, wenn du kannst«, knurrte der alte Mann, »aber der Wahrheit entgehst du nicht. Hat während dieses ganzen Horrors jemand versucht, uns zu helfen? Die Geistlichkeit beispielsweise? Nein. Niemand hat je etwas getan und wird je etwas tun.« »Ihr habt recht«, sagte Ferdinand leise. »Worüber streiten wir dann?« »Ich weiß es nicht, Opa. Ich habe vergessen, wie alles anfing.« »Ihr habt gesagt«, erinnerte ihn David, »daß es in Amerika anders ist.« »Ja, und ich habe gesagt«, erklärte der Opa, »du wirst sehen, daß es dort genauso sein wird.« »Nein«, entgegnete Ferdinand. »Das wird es nicht! Was wißt Ihr über Amerika? Oh, ich stimme Euch darin bei, daß Europa erledigt ist. Also weg damit, was mich anbelangt, weg mit seiner scheußlichen Bigotterie und seinen scheußlichen Kriegen! Die Jugend hat hier keine Zukunft. Jedenfalls nicht unsere Jugend.« 17
Die Zimmerwände schienen näherzurücken. Je dunkler es wurde, desto mehr verkleinerte sich der Raum, und diese Kleinheit ließ die Welt jenseits der Mauern größer werden. Die Menschen in dem Raum waren isoliert wie auf einer Insel in einem bedrohlichen Ozean. Plötzlich fühlte sich Ferdinand erschöpft. Kummer und Furcht laugten ihn aus, wie er es nie für möglich gehalten hätte: So viele Jahre im Leben seiner Kinder vergeudet! Geduldig saßen die beiden da; das kleine Mädchen kämpfte jetzt gegen den Schlaf, während den Jungen neue Gedanken zu beschäftigen schienen. Plötzlich sprach David: »Ich habe mir oft gewünscht…« Er zögerte, schaute seinen Großvater an, dann wieder Ferdinand: »Ich habe mir oft gewünscht – ich möchte gerne Arzt werden. Hier wäre mir das nicht möglich.« Er streckte seine Hände zu einer einfachen Geste aus, die das ganze Leben in diesem Haus beschrieb. »In Amerika ist das jederzeit möglich«, sagte Ferdinand. Der Junge – sein Sohn! – sah mitleiderregend aus in dem zu klein gewordenen Jackett. In Kleidern, die nicht paßten, sahen die Menschen immer mitleiderregend aus. »Voriges Jahr wurde das Medical College of Louisiana gegründet. Du könntest dorthin oder woandershin gehen. Und Miriam, ich vergesse dich nicht. Wir haben gute Schulen für junge Damen.« »Ich gehe mit Euch«, entgegnete das Kind. »Aber nur, wenn Gretel auch mit darf.« »Gretel?« fragte Ferdinand. Dann begriff er, daß sie den Hund meinte. »Natürlich. Gretel ist eine Schönheit, eine Aristokratin, nicht wahr? Ein King-Charles-Spaniel. Wie kommst du zu einem solchen Hund?« »Ich hab Gretel auf der Straße gefunden, als sie ein Welpe und erst ein paar Wochen alt war, wie Tante Dinah erklärt hat. Wir glauben, daß sie aus irgendeiner Kutsche gefallen ist.« Das Kind legte die Arme um das Tier. »Es gibt eine Anekdote über diese Hunde«, sagte Ferdinand. Er liebte Anekdoten. »Marie Antoinette soll unter den Falten ihres Rocks einen King-Charles-Spaniel versteckt haben, als sie auf die Guillotine stieg. Vielleicht ist es wahr, vielleicht auch nicht.« 18
Der alte Mann ließ sich nicht ablenken. »Du nimmst mir also die Kinder weg«, sagte er vorwurfsvoll, wie schon vor einer Weile. »Jetzt, am Ende, verlaßt ihr mich alle.« Dieser unschöne Egoismus stieß Ferdinand ab. Der Opa würde die Kinder tatsächlich dabehalten, wenn er könnte! Er würde die Kinder tatsächlich ihrer Zukunft berauben! Für einen kurzen Augenblick sah er ihre Zukunft vor seinem inneren Auge: David ein angesehener Arzt, eine Autorität; Miriam in einem schönen Haus gut verheiratet, vielleicht sogar mit einem Pflanzer, der große Ländereien besaß. Dann dachte er versöhnlich: Wer weiß, wie ich sein werde, wenn ich alt und krank bin. Und er entgegnete freundlich: »Bedenkt doch, Opa, da sitzen ein Junge, ein junger Mann mit einem langen Leben vor sich, und ein Mädchen, das in ein paar Jahren eine Frau sein wird. Was haben die beiden hier zu erwarten? New Orleans ist viel besser als das hier, trotz des Gelbfiebers…« Der alte Mann unterbrach ihn: »Was für ein religiöses Leben werden sie an dem Ort haben, an den du sie bringst?« Ferdinand antwortete zögernd: »Um die Wahrheit zu sagen, kein solches wie hier.« »Dir lag nie viel daran, wenn ich mich recht erinnere. Aber ich hasse den Gedanken, daß Hannahs Kinder vergessen, was sie sind.« »Kein Grund, warum sie es vergessen sollten, Opa.« »In diesem Haus sind sie dazu erzogen worden, die Gesetze zu achten. Wie ihre Mutter sind sie gläubige Juden.« Ferdinand schaute seine Kinder an. Die Gläubigkeit war ihrer Mutter bestens bekommen! Er stand auf und zog eine goldene Uhr aus der Tasche: »Ich habe euch alle zu lange wachgehalten. Es ist fast Mitternacht, doch ich habe die Reise absichtlich verzögert, um nicht vor dem Sabbat-Sonnenuntergang einzutreffen.« »Du bist aber am Sabbat gereist«, entgegnete Dinah. »Ach ja. Tut mir leid! Ich bin in diesen Dingen sorglos geworden. Eine Angewohnheit aus New Orleans. Ich werde sie ändern müssen«, sagte er beruhigend. 19
Lange vor Tagesanbruch standen die beiden, die abreisen sollten, schon fertig angekleidet in ihren Mansardenstuben, hellwach vor Erregung, etwas Angst und ein bißchen Trauer. Beide beobachteten aus ihrem Fenster, wie der wogende schwarze Wolkenhimmel grau wurde, ein melancholisches Lavendelblau annahm und dann über der noch hinterm Horizont verborgenen Sonne silberhell zu leuchten begann. David lehnte auf dem Fenstersims und schloß die Augen vor dem stärker werdenden Licht. Papa tut groß, dachte er, vermutlich will er zeigen, wie wichtig er ist. Ob ich ihm mürrisch vorgekommen bin? Ich wußte erst gar nicht, was ich sagen sollte. Ich glaube, ich werde ihm gestehen, daß ich ihm böse bin, weil er fortgegangen ist und mich verlassen hat – uns alle. Aber – anständig ist das eigentlich nicht: Was hätte er mit einem kleinen Jungen und einem Säugling anfangen sollen? Und er war jung. Als er meine Mutter heiratete, war er gar nicht soviel älter als ich jetzt bin. Das Komische ist, daß er heute noch sehr jung wirkt; ich fühle mich sogar älter als er – auch wenn das lächerlich ist. Ich fühle mich schon lange alt. Das hat etwas mit einem Bild zu tun, das ich im Kopf habe. Es brannte sich dort ein, und nichts kann es auslöschen, auch wenn ich noch so sehr versuche, es mit Fröhlichkeit zu übermalen. Kreidegekritzel auf einer Tür: Jude verreck. Gelächter und stapfende Stiefel. Hep-Hep. Eine Frau mit dickem Bauch biegt den Rücken durch und schreit und schreit. Ja, ja, so war es: ein Gewirr von Röcken, wehenden Frauenröcken, und eine Tür, die knallend auf und zu ging; hinter der Tür geschah etwas Schreckliches. Dann Weinen und die langen Frauenröcke in einem Kreis um ihn herum, Frauengesichter, die sich herunterneigten: Armer kleiner Junge ohne Mutter, armer kleiner Junge. Blut verursachte ihm Übelkeit. Wenn man Arzt werden wollte, mußte man aber Blut sehen können. Doch das war etwas anderes. Übelkeit verursachte ihm gewaltsam vergossenes Blut. Eine Zeitlang, vor etwa einem oder zwei Jahren, hatte er mit einemmal kein Fleisch mehr essen können. Es war ihm im Hals steckengeblieben. Ein Stück 20
Hähnchen auf seinem Teller war unversehens wieder zum Leben erwacht: Flügelschlagen, Flattern, Federn, Flucht auf mageren, zerbrechlichen Beinen vor dem Schlächter. Diese Periode war vorbeigegangen. Er hatte sie durch Willenskraft gezwungen, vorbeizugehen, genau wie er sich durch Willenskraft zu dem Wunsch gezwungen hatte, Arzt zu werden. Unten rührte sich nun jemand, ein Stuhl scharrte. Armer Opa, der grillenhafte gute alte Mann! Bestimmt wußte er, daß er bald sterben würde. Schrecklich, alt zu sein, keine Kraft mehr zu haben, jeden Tag weniger zu werden und zu wissen, daß man starb. Papa andererseits – er hatte Kraft, man konnte nicht anders, als es zu sehen und zu bewundern. Allein in die Welt hinauszuziehen und sich dort einen Platz zu schaffen! Ja, solche Stärke, solche Willenskraft mußte man bewundern, auch wenn er damit großtat. An der Wand hing ein Scherben von einem zerbrochenen Spiegel; David hatte ihn im Abfall irgendeines Haushaltes gefunden. Er musterte sich prüfend. Nein, er entdeckte keine Ähnlichkeit zwischen seinem wie immer etwas düsteren Gesicht und dem freundlichen, heiteren Gesicht seines Vaters. Nur das lockige dunkle Haar war das gleiche. Und Papas Entschlossenheit? Die habe ich. Ich weiß, daß ich sie habe. Wie wunderbar, daß Miriam von der verbitterten, melancholischen Dinah wegkam! Papa hatte gesagt, er würde sie zur Schule schicken. Sie war ein kluges kleines Ding. David hatte ihr das Lesen beigebracht, sie schaute gelegentlich sogar in seine Bücher, die er sich vom Rabbi lieh, dem ›modernen‹ Rabbi, gegen den Opa so schimpfte. Natürlich verstand sie die Bücher nicht, aber sie versuchte es und bekam überraschenderweise ab und zu einen Satz heraus. Sie war wißbegierig. Sie lachte leicht und weinte auch leicht. Er hatte ihr gegenüber manchmal fast väterliche Gefühle. Doch jetzt konnte ihr wirklicher Vater sie übernehmen und versorgen, richtig für sie sorgen. Die Augen geschlossen, wiegte sich David leicht, wie jemand, der betet. Dann öffnete er die Augen, denn er wollte sich den Ort ein21
prägen, den er verließ, die Bilder und Geräusche, den Tagesanbruch, eine ferne Stimme und das hohle Rumpeln eines Bauernwagens. In der anderen Mansardenkammer streichelte Miriam den Rock ihres neuen Kleides. Sie hatte die Angewohnheit, für sich selbst alle Dinge durch Vergleiche mit der Natur zu beschreiben; und so war jetzt der Stoff weich wie junges Gras, er war schmetterlingsblau, er war warm und leicht wie Gänsedaunen. Sie hatte keinen Spiegel; nur wenn sie sich nach hinten drehte, soweit es ging, sah sie über die Schulter in ihrem Rücken einen Wirbel, dort, wo die dichten gemusterten Rüschen des Rocks um ihre Knöchel wogten. Sie hob die Hand und ließ die gekräuselte Manschette über ihr schmales Gelenk zurückfallen. Was für ein wunderschönes Kleid! Viel schöner als Tante Dinahs Synagogenkleid. Viel schöner als irgendeines, das sie bisher gesehen hatte. Und sie würde noch mehr solche Kleider bekommen, Papa hatte es gesagt. Schade, daß sie heute so früh abreisten, denn es wäre nett gewesen, in dem Kleid auf der Straße hin und her zu gehen, damit alle es sahen. Sie lief zum Fenster. Noch niemand draußen; nirgends ein Lebenszeichen, abgesehen von dem kleinen Vogel in seinem Käfig, der vor dem Fenster des noch geschlossenen Geschäfts über der Gasse hing. Der Anblick des Vogels quälte das Kind seit jeher. Der Käfig war zu klein. Das arme Tierchen konnte nicht einmal die Flügel ausbreiten. Sollte es jeden Tag und jede Nacht seines Lebens dort hängen, stumm und matt? Opa hatte einmal gesagt: »Deine Mutter konnte den Anblick eines eingesperrten Vogels auch nicht ertragen.« Deine Mutter. Miriam kannte die Geschichte ihrer Mutter, schon lange bevor sie sie kennen sollte, denn sie hatte die anderen reden hören. Sie ist genau wie Hannah. Denk bloß, ein Leben geht zu Ende, und im gleichen Augenblick beginnt ein anderes. Schrecklich. Schrecklich! Weil ihr dies so oft zu Ohren gekommen war, hatte sich in ihr allmählich das Gefühl entwickelt, irgendwie ausgezeichnet zu sein, eine bestimmte Bedeutung zu haben, die andere Menschen, nor22
mal geborene Menschen, nicht haben konnten. Allerdings hatte ihr die Geschichte auch Alpträume verursacht. Manche Leute meinten, Miriam hätte sie nie erfahren dürfen. Doch dafür war es zu spät. Gleich ihrem Bruder hatten sich ihr Bilder eingebrannt, die nichts auslöschen konnte. Auf diesen Bildern trug ihre Mutter immer einen buntkarierten Schal. Warum? Niemand hatte je einen Schal erwähnt. Und ihr Haar war hochgekämmt, auf dem Kopf festgesteckt. Auch darüber hatte nie jemand etwas zu ihr gesagt, und sie hatte nie gefragt. Jetzt ergriff sie ihre beiden Zöpfe, drehte sie auf dem Kopf zu einer seidigen Spirale zusammen und verlängerte ihr Gesicht, indem sie die Wangen nach innen sog; sie wußte, daß sie dadurch einen ernsten, erwachsenen Ausdruck bekam – und brach in Lachen aus. Sie schwenkte ihren Rock und nahm den kleinen Hund auf, der sie erstaunt ansah, so gut er dies als Hund konnte. »Gretel, wir fahren nach Amerika, und du kommst mit. Hast du gemeint, ich würde ohne dich fahren?« Sie wurde wieder ernst. »Ich werde Tante Dinah vermissen. Wenn sie nicht schimpft, kann sie manchmal sehr nett sein. Ich glaube, sie wird ohne mich einsam sein. Und meine Freundinnen Lore und Ruth – aber trotzdem, es wird wunderbar sein auf dem Schiff. Und David wird auch dabeisein, also wird es gar nicht sehr fremd sein. Außerdem mag ich Papa, ich liebe ihn jetzt schon. Sein Lächeln ist so gütig. Die Puppe hat goldene Haare, hat er gesagt.« Dem Kind schien es, als sei die Sonne noch nie so hell und so strahlend aufgegangen wie an diesem Morgen. Sie standen im Erdgeschoß und nahmen Abschied voneinander. Ferdinand zog eine Börse heraus. Glatte, schwere Münzen, Goldflorins fielen zu einem Häufchen auf den Tisch. »Das wird einstweilen reichen«, sagte er. »Ich habe meinen Bankier in Straßburg angewiesen, Euch jeden Monat dasselbe zu schicken, solange einer von Euch lebt. Und dieser Beutel hier – das ist eine Spende für die Synagoge. Gebt das für mich zu Hannahs Gedächtnis.« 23
Der alte Mann und die alternde Frau waren zutiefst beeindruckt. Irgend etwas an ihrer Sprachlosigkeit und ihren feuchten Augen bewirkten, daß sich Ferdinand schämte. Es war nicht recht, daß ein Mensch einem anderen Menschen so dankbar sein mußte. Es war erniedrigend. »Und macht Euch keine Sorgen um die Kinder. In meinem Haus wird bestens für sie gesorgt. Meine Frau Emma ist herzensgut. Sie freut sich auf die Kinder.« Tante Dinah wischte sich die Augen. »David ist manchmal ein wenig zu forsch, als gut für ihn wäre, zu wagemutig und sorglos. Eigensinnig. Wenn er sich etwas in den Kopf gesetzt hat, kann ihn nichts davon abbringen. Überaus starrsinnig. Aber trotzdem ein guter Junge.« David sah sie verwundert an. Er erinnerte sich nicht, daß sie ihn auch nur ein einziges Mal einen guten Jungen genannt hätte. »Ja, er weiß, wie die Welt sein sollte, und glaubt, sie ändern zu können. Wenn du lernst, David, nicht gleich das Erstbeste zu sagen, was dir in den Sinn kommt, wirst du besser dran sein«, erklärte sie abschließend. Der alte Mann hatte etwas anzufügen: »Voriges Jahr brachte er uns in Schwierigkeiten mit den Nachbarn. Der Vater dort drüben schlug seinen kleinen Sohn, weil dieser Kartoffeln gestohlen hatte, und David schrie den Mann an: ›Das ist keine Art, ein Kind so zu erziehen! Eigentlich solltet Ihr das wissen! Die Thora weist Euch an, ein Kind zu belehren, nicht aber, es zuschlagen.‹ Denkt nur! Ein Junge, der gerade den Bar-Mizwa hinter sich hat, sagt einem erwachsenen Menschen, wie er seinen Sohn erziehen soll! Der Mann war wütend, das kann ich dir versichern.« »Aber David hatte recht«, ließ sich Miriam plötzlich vernehmen. »Sein Schatten«, sagte Dinah und umarmte das Kind. »Sie ist der Schatten ihres Bruders. Alles, was er tut, ist in ihren Augen richtig. Nicht wahr, Miriam?« Ferdinand lachte. »Na, ich sehe, daß mein Leben von jetzt an interessanter sein wird.« 24
Nun war der Augenblick gekommen, der schwerste, letzte Augenblick, wo es nichts mehr zu sagen gab als Lebewohl. Und es mußte mit Zurückhaltung gesagt werden, mit Würde, denn sonst nahm man als Erinnerung ein Bild unermeßlichen Kummers mit. Eine Trennung mußte vollzogen werden, aber es sollte kein Bruch stattfinden. David ergriff Dinahs Hand, dann die seines Großvaters, küßte beide und wandte sich wortlos ab. Ferdinand war gerührt über das Feingefühl des Jungen – einen Moment länger, und der alte Mann wäre in Tränen ausgebrochen. Ferdinand ergriff ebenfalls die Hände der beiden, legte danach seinen Kindern die Arme um die Schultern. In dem Wissen, daß seine sichtbare Zuneigung die beiden Zurückbleibenden trösten würde, führte er die Kinder die Gasse hinunter in den Hof des Goldenen Bären, wo bereits die Kutsche wartete, um sie auf die erste Etappe der Heimreise zu bringen.
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ünf Wochen nach dem Auslaufen aus Le Havre hatte die zweimastige Brigg Mirabelle, die Baumwollwaren, Wein und Passagiere transportierte, den stahlgrauen Nordatlantik verlassen und auf den Azoren frische Lebensmittel sowie Frischwasser aufgenommen. Jetzt segelte sie auf Südwestkurs in den Sommer hinein. Zwischen Blau und Blau glitt sie dahin; das Azur der Himmelskuppel verschmolz am Horizont mit dem Indigo der See. Türkis-, kobalt- und lapislazuliblaue Wellen liefen mit dem Schiff um die Wette. Wo der Schiffsrumpf seine Spur in die Wasserfläche pflügte, am Heck, war das Blau so blaß, daß es in flirrendes Silber überging. Die vom Passatwind erfaßten großen Segel strafften sich, das Schiff gewann Geschwindigkeit. Seine festlichen Wimpel knatterten, und die aristokratische hölzerne Dame am Bugspriet reckte ihren langen Hals der westli25
chen Hemisphäre entgegen, als sei auch sie begierig, dorthin zu gelangen. Für Miriam war die Seereise wunderbar. Sie war bisher nur auf einem Pferdekarren ein paar Kilometer durch stets einander ähnelnde Dörfer gefahren, hatte bisher nichts Eindrucksvolleres gesehen als die eher mittelmäßige Sommerresidenz des Grafen von Weißhausen – und das nur von einer fernen Straße durch eine lange Zypressenallee –, hatte bisher nichts Luxuriöseres gekannt als eine Reisekutsche wie jene, mit der ihr Vater gekommen war. Für das kleine Mädchen war diese Fahrt übers blaue Meer schon etwas Großes, selbst wenn diese nirgendwohin geführt hätte. Auch für David, der immerhin schon in Büchern Weltreisen unternommen hatte, war sie wunderbar, aber auf andere Weise. Er schaute sich mit wachen Augen um Nichts entging ihm. Er war riesig gespannt. Als man ihm gesagt hatte, in New Orleans werde französisch gesprochen, hatte er sich sofort mit seiner Schwester darangemacht, die Sprache zu lernen. Unter der kleinen Gruppe von Passagieren – zwei Pariser Bankiers mit ihren modischen, lebhaften Frauen und einer Schar Nonnen, deren Ziel ein Kloster in New Orleans war – befanden sich ein Mann und sein Sohn, die von einer Europareise nach Hause fuhren, nach Charleston. Der Vater, Simon Carvalho, war Arzt. Der Sohn, Gabriel, hatte etwa Davids Alter. Er war ein hübscher Junge mit ebenmäßigem Gesicht und einem zurückhaltenden Auftreten. Im Gegensatz zu David bewegte er sich bedächtig und langsam. Er hatte sich gleich erboten, den Geschwistern Raphael Französisch beizubringen. David empfand große Ehrfurcht vor ihm und seinem Wissen. »Er weiß soviel. Ich werde das ganze Latein und die ganzen Naturwissenschaften nie aufholen. Und dabei ist er ein halbes Jahr jünger als ich«, sagte David klagend zu Ferdinand. »Bei den Vorteilen, die er dir gegenüber hatte, ist das kein Wunder. Aber du wirst aufholen, ich bin überzeugt, daß du es schaffst.« 26
Ferdinand hatte bereits am ersten Tag der Seereise, fast noch vor dem Auslaufen aus dem Hafen, Erkundigungen über die Familie eingezogen. Nun sagte er zufrieden zu David: »Sie sind Sephardim. Vor Generationen aus Spanien über Brasilien nach Südkarolina gekommen. Im Jahr 1697 sagte der Arzt, glaube ich. Er hat eine verheiratete Tochter, die in New Orleans lebt, Rosa und Henry de Rivera. Vermögende Leute. An Reichtum gewöhnt. Zurückhaltend, was ihre Vorlieben angeht, dabei gehört ihnen von allem das Beste.« David erkannte, daß es seinem Vater gefiel, mit einflußreichen Leuten bekannt zu sein. Das störte ihn. Er sah darin ein Zeichen von Schwäche, und er wollte bei seinem Vater keine Schwäche sehen. Gleichzeitig schämte er sich, denn er fand es treulos, einen solchen Gedanken zu haben. »Du machst bei Gabriel gute Fortschritte, wie ich sehe oder vielmehr höre«, sagte Dr. Carvalho eines Tages zu David. »Bald werde ich mit dir nicht mehr deutsch sprechen müssen. Du scheinst fast alles zu verstehen, was ich auf Französisch sage. Vielleicht könntest du meinen Sohn dazu überreden, auch Englisch mit euch anzufangen.« »Oh«, meinte Ferdinand, »in New Orleans brauchen sie kein Englisch. Wir haben zweimal so viele französischsprachige Einwohner wie englischsprachige. Es gilt als unfein, zu Hause englisch zu sprechen, selbst wenn man die Sprache beherrscht.« Dr. Carvalho entgegnete: »Das wird sich ändern. Es ändert sich sogar jetzt schon. Meine Tochter berichtet, daß ein starker Zustrom von Amerikanern eingesetzt hat.« »Ich dachte, alle seien dort Amerikaner«, rief David. »Das wird nur so gesagt«, erklärte ihm Ferdinand. »Der Ausdruck bezieht sich auf Menschen aus anderen Teilen der Vereinigten Staaten. Kreolen haben französische oder spanische Vorfahren. Und gesellschaftlich gesehen sind sie die Spitze. Ein sogenannter ›Amerikaner‹ aus meinem Bekanntenkreis erzählte mir, der stolzeste Tag 27
im Leben seiner Mutter sei jener gewesen, an dem sie zum erstenmal in ein kreolisches Haus eingeladen wurde.« Dr. Carvalho sagte höflich: »Tatsächlich?« »Ja. Sie wurde eines Nachmittags zum café noir gebeten und wußte, daß man sie damit auszeichnete. Kreolen ziehen es vor, unter sich zu bleiben, unter ihresgleichen.« Der Arzt lächelte: »Hier werden künstliche Unterschiede gemacht.« Wieder spürte David heiße Verlegenheit in sich aufsteigen, als habe der Arzt mit seiner milde vorgebrachten Bemerkung Ferdinand getadelt. Verwirrt schaute er weg, hinaus auf das friedliche Meer, das sich im Moment kaum bewegte, sich nur langsam schräg neigte wie Flüssigkeit in einem Glas. Der Anblick war beruhigend. Die Takelage summte im Wind, vibrierte wie die Saiten einer Violine. Ferdinand rieb die Hände aneinander: »Nicht mehr lange, und Sie werden daheim in Charleston sein, Herr Doktor. Für uns geht es dann die Küste hinunter, in den Golf und nach Hause.« Er holte tief Luft: »Ah, köstlich! Köstlich! Diese Freiheit, die man auf dem Ozean verspürt! Wer könnte glauben, daß wir Europa dort hinten erst vor ein paar Wochen verlassen haben! Man erinnert sich nur schwer daran, daß Europa überhaupt existiert.« Vom Unterdeck drangen Stimmengemurmel und einzelne Wortfetzen herauf. Alle schauten hinunter auf die Menschenmasse, die sich auf dem offenen Deck versammelt hatte. Viele junge Männer – Einwanderer – befanden sich darunter und Gruppen von Familien: unruhige Kinder, Väter in Bauernkleidung, Frauen mit Säuglingen. Sie genossen ihre tägliche Stunde frische Luft. Die oben blickten voll stummer Neugier hinab; die unten schauten kein einziges Mal herauf. »Arme Kreaturen!« seufzte der Arzt. »Ich hoffe, daß sie mit ihrer Kocherei da unten vorsichtig sind und keinen Brand verursachen. Das macht mir Sorgen.« »Es ist kalt dort«, sagte David. »Entweder das oder heiß wie in einem Backofen. Ich konnte in der Hitze kaum atmen, als ich einmal unten war.« 28
»Du warst dort unten?« fragte Ferdinand scharf. »Was hast du dort gemacht?« »Ich brachte ihnen etwas zu essen.« »Zu essen? Sie haben Essen.« »Es ist nicht genießbar, Papa. Sogar ihr Wasser riecht faul. Vorige Woche war ihr Fleisch voller Maden, sie mußten es über Bord werfen. Das ist nicht gerecht, weißt du! Der Kapitän versprach diesen Leuten anständiges Essen, aber nun müssen sie von ihm Kartoffeln kaufen, wenn ihre eigenen ausgehen. Sie leiden Durst und Hunger. Wir hier oben in den Kabinen bekamen frisches Fleisch und Orangen von den Azoren. Es ist nicht gerecht.« Dr. Carvalho murmelte sanft: »Viele Dinge auf dieser Welt sind nicht gerecht und werden es nie sein.« Die Stirn des Jungen legte sich in Falten. »Es gibt keinen Grund, warum sie das nicht sein sollten!« rief er protestierend. »Ich fragte einen der Matrosen, wie viele Leute in dem kleinen Raum da unten sind. Vierhundert! Man hat sie regelrecht zusammengepfercht. Zwei Doppelreihen Kojen, eine über der anderen. Dazwischen ein schmaler Gang. Man kann sich kaum durchquetschen. Und der Raum ist nur etwa einen Meter siebzig hoch. Wenn man groß ist wie ich, muß man gebückt gehen.« Ferdinand unterbrach ihn: »Du gehst nicht mehr dort hinunter, hörst du? Dort haben bestimmt viele Ruhr, und es gibt Ratten. Gott weiß, mit welchen Krankheiten du dich und uns alle anstecken könntest…« »Dein Vater hat recht«, sagte Dr. Carvalho. »Wo die Luft übel ist, entsteht Fieber. Das weiß jeder.« David war verzweifelt: »Aber ich habe versprochen, ihnen ein paar Orangen zu bringen! Ich bekomme jeden Tag welche; da kann ich doch einige weitergeben, oder?« »Senke deine Stimme, bevor du uns noch Schande machst«, forderte Ferdinand seinen Sohn auf, der immer lauter gesprochen hatte. »Die französischen Bankiers und ihre Frauen schauen schon her.« 29
»Ich habe nichts Schändliches gesagt. Ich habe nur gesagt, was ich glaube.« Dr. Carvalho, der bemerkenswertes Taktgefühl besaß, ließ sie allein. Ferdinand erklärte: »Deine Manieren müssen besser werden. Vor allem Juden brauchen gute Manieren, und es ist Zeit, David, daß du sie lernst.« In beiden stieg Ärger hoch; das Gesicht des Vaters rötete sich, und seine Lippen bebten; der Sohn sah den Vater trotzig an. »Juden? Warum sollten wir besonders kriecherisch sein?« »Ich ersuche dich nicht, ›kriecherisch‹ zu sein, wie du es darstellst. Ich ersuche dich nur, dich und uns nicht unangenehm zur Schau zu stellen.« David ließ nicht locker. Irgend etwas in ihm wollte verhindern, daß sein Vater ärgerlich wurde, aber etwas anderes stachelte ihn auf: »Warum denn? Warum müssen gerade Juden gute Manieren haben? Ihr habt es mir noch nicht erklärt.« Ferdinand entgegnete in leisem, erregtem Ton: »Weil Jude sein bedeutet, beurteilt zu werden, ein Opfer zu sein. Heine – hast du Heine gelesen?« »Ja, habe ich. Seine Gedichte.« »Nun, er sagte, es sei ein Unglück Jude zu sein. Heine sagte das. Lies es nach.« »Und Ihr seid seiner Meinung, Papa?« »Gewiß bin ich das. Schau dich doch um. Sie ist vernünftig.« Der Junge fühlte sich plötzlich verletzt. »Ihr habt daheim Geld für die Synagoge gespendet.« Ferdinand zuckte die Achseln: »Um der alten Zeiten willen. Wegen deiner Mutter. Ich gehe nie in die Synagoge.« »Dann seid Ihr also Christ?« »Gewiß nicht. Ich würde nie konvertieren. Wofür hältst du mich? Es ist einfach so – einfach so, daß – daß mir nichts von alledem etwas bedeutet. Nichts. Und am wenigsten dieser Unsinn mit den rituellen Diätvorschriften. Glaubst du, daß es Gott interessiert, wo30
mit du deinen Magen füllst? Daß ein Mensch, der Schweinefleisch ißt, ein schlechter Mensch ist?« »Das glaube ich keineswegs, Papa. Ich selbst halte die Vorschriften ein, weil sie mich daran erinnern, wer ich bin. Es ist schwer zu erklären…« »Dann versuche es doch gar nicht erst«, brummte Ferdinand. David wandte sich mit gerunzelter Stirn nach Westen, der Sonne zu. Er stand lange am Bug. Ein Schwarm Möwen, die dem Schiff an den Westindischen Inseln vorbei folgten, ließen sich vom Wind über die phosphoreszierende, schimmernde See tragen. Ein Fliegender Fisch sprang hoch, blitzte silbern und fiel in einem Bogen zurück ins Wasser. Gott ist eine große Kraft, dachte der Junge. Wir bewegen uns mit ihm. Die Möwen bewegen sich durch die Luft und die Fische durchs Wasser, aber wir bewegen uns mit ihm. Darum fühlen wir uns groß; wir sind stolz. Doch sein Vater hatte ihm das Gefühl gegeben, sehr klein zu sein und sich schämen zu müssen. Tränen traten ihm in die Augen. Er sah, daß sich zwischen ihm und seinem Vater eine Kluft auftat. Miriam war auf ihre kindliche Art ebenfalls beunruhigt. Sie hatte alles gehört. Oh, wie entsetzt Opa gewesen wäre über das, was Papa gesagt hatte! Aber trotzdem, warum machte David bloß Papa böse? David konnte unmöglich gewinnen, warum also fing er überhaupt an? Es war wie daheim, wenn Tante Dinah sich beklagt und Opa gefaucht hatte, sie solle ruhig sein. Man hatte die streitenden Stimmen sogar durch die Wand gehört. Miriam hatte solche Angst vor zornigen Stimmen. Wenn die beiden zu Hause in Streit geraten waren, hatte sie immer Gretel aufgehoben und an sich gedrückt. Die weiche leckende Zunge und das kleine warme Lebewesen waren ihr dann ein großer Trost gewesen. Jetzt preßte Miriam, die an der Reling lehnte, das Hündchen an ihre Baust: »Ach, Gretel, kleine Gretel, du und ich… Gretel! Gretel! O Gott!« schrie sie. 31
Ihr Schrei zerriß die Luft. Alle Gesichter wandten sich ihr zu, alle Menschen an Deck liefen herbei, verständnislos und ratlos, bis sie mit dem Finger über Bord deutete. Weit, weit unten hüpfte der Kopf des Hundes im Wasser. »David!« An ihn wandte sie sich in ihrer Not, nicht an den Vater. »Sie hat nur ein bißchen gezappelt, sie ist mir entwischt. O David!« »Guter Gott!« rief Ferdinand. »Der Junge ist wahnsinnig!« David hatte blitzschnell seine Jacke abgestreift, war auf die Reling geklettert und mit den Füßen voraus über Bord gesprungen. In der Takelage begannen Matrosen zu brüllen, als der Junge hilflos ins Wasser klatschte. Ferdinand begriff plötzlich und schrie entsetzt: »Er kann nicht schwimmen!« Zwei Matrosen rannten mit einer Strickleiter das Deck entlang, machten sie fest und begannen hinabzusteigen. Doch bevor sie ein Viertel des Wegs bewältigt hatten, war auch der junge Gabriel über Bord gesprungen. In einem gekonnten Bogen tauchte er knapp neben der Stelle ins Meer, wo Davids Kopf vor ein paar Sekunden untergegangen war. Die erschrockenen Zuschauer beobachteten fasziniert und unter Beifallsrufen, wie der Junge David am Hemd packte und zum Schiff schleppte, wie die Matrosen David ergriffen und die Strickleiter herauf hievten, wie Gabriel auch noch den Hund herausholte. Das Ganze dauerte kaum fünf Minuten, doch solche Minuten dehnen sich zu Ewigkeiten. Würgend und keuchend lag David auf dem Deck. Während des Fallens hatte es ihn gedreht, und er war bäuchlings aufgeschlagen. Nun schmerzte sein Leib höllisch. David sagte nichts, und niemand erwartete, daß er sprach. Aus seiner Rückenlage konnte er sehen, daß Miriam den triefenden Hund umklammerte. Rechts und links neben ihm ragten Beine auf, jene seines Vaters und jene Dr. Carvalhos. Die Nonnen in ihren schweren schwarzen Gewändern glitten vorbei, als hätten sie unter ihren Röcken keine Beine. Die fran32
zösischen Damen zwitscherten Gabriel bewundernd an, den Helden Gabriel. Der einzige Unterschied zwischen ihm und mir ist, daß er schwimmen kann. Und ich stehe als Idiot da. Nach einer Weile war er fähig, sich aufzusetzen. Sein unendlich erleichterter Vater fiel sofort über ihn her: »Du Narr, David! Was hast du denn geglaubt, dort unten tun zu können? Obendrein ist dieser warme Ozean voller Haie! Denkst du denn nie, bevor du sprichst oder handelst? Überlegst du denn nie?« »Sie liebt den Hund«, brummte David eigensinnig. »Mag sein, daß sie ihn liebt, aber ist ein Hund dein Leben wert? Ich verstehe dich nicht. Und dein Freund, der junge Carvalho, hat für dich sein Leben aufs Spiel gesetzt. Er ist ein Held. Er kann wenigstens schwimmen und hat sein Leben für einen Menschen riskiert, nicht für einen Hund.« David schwieg. Ferdinand ging auf und ab. Als er wieder bei David anlangte, hatte er sich beruhigt. »Ja, es war gut von dir, an deine Schwester zu denken. Ich werde versuchen, es so zu sehen. Ein gutes, impulsives Herz. Nicht schlecht, ein solches Herz zu haben.« Er versuchte zu lächeln. »Aber, bei Gott, ohne Gabriel wärest du ertrunken. Die Matrosen waren zu langsam, Maxim und Chanute waren unter Deck.« Der Zwischenfall hatte den Nachmittag verdüstert. Die Menschen standen still da, wie gezüchtigt, starr wie die hölzerne Dame am Bugspriet, und schauten nach Westen. Jemand brachte einen Hocker für Miriam. Sie setzte sich und schaute gleich den anderen westwärts, auf dem Schoß die jetzt an einer Leine festgemachte Gretel. Der Schock hatte ihr die Sprache verschlagen. David wäre fast ertrunken. Und der andere Junge auch. Wie mutig sie gewesen waren, beide. Dabei war Gabriel doch ein Fremder. Er saß nun bei David. Als er ihren Blick auffing, winkte er ihr zu. Hatte sie ihm genügend gedankt? Konnte man ihm genügend danken? Er schaute so nett aus mit den um die Knie verschränkten Hän33
den und dem vom Wind zerzausten Haar. Sie wünschte, David wäre so ruhig gewesen wie er; nicht daß David nicht lieb und manchmal auch ruhig war, aber wenn er eine Idee hatte, geriet er in Erregung und konnte nicht still sein, sondern disputierte einfach weiter und gab nicht auf! Zu Hause bei Opa war er so gewesen, und wie sich zeigte, würde er bei Papa genauso sein. »Heute, meinst du? Hm, er hat mich in der Kabine ein bißchen geschimpft, als ich mich umzog. Aber er war trotzdem stolz auf mich.« Gabriel sprach fast schüchtern. »Jetzt, wo ich nachgedacht habe, sehe ich ein, daß es nicht recht von mir war. Aber das würde ich meinem Vater gegenüber niemals zugeben. Niemals. Und weißt du, warum?« »Sag es mir.« »Weil ich die Art nicht mag, wie er mit mir über – über die Dinge spricht. Weil er nicht versteht…« »Was nicht versteht?« David zögerte: »Ich habe einfach das Gefühl, daß er zu verschieden von mir ist und ich von ihm.« »Ihr kennt einander doch kaum. Warum wartest du nicht ab, bis du mehr über ihn weißt?« entgegnete Gabriel. David lehnte sich zu ihm und flüsterte: »Wenn ich morgens die Gebetsriemen hervorhole, schaut er verächtlich und geht weg. Findest du das richtig?« »Hm, nein«, antwortete Gabriel unsicher. »Aber – ich weiß nicht viel über…« »Du tust es ja auch nicht, das hatte ich vergessen.« »Wir sind trotzdem genauso Juden wie du. Unsere Bräuche sind nur – hm, neuer, das ist alles.« David überlegte. Die ›Bräuche‹, das, was er die Gebote nannte, waren ein für allemal festgelegt worden. Es war absolut verboten, sie zu ändern… Seine Ungehaltenheit machte sich Luft: »Neuer? Du findest also die älteren lächerlich?« »Überhaupt nicht. Wenn man etwas glaubt, muß man sich daran halten, mit ganzem Herzen.« 34
Angesichts der offenen Sympathie Gabriels schämte sich David seiner Gereiztheit: »Mein Problem ist, daß ich keine Geduld habe, Gabriel. Wie dem auch sei, unabhängig von allem anderen schulde ich dir Dank für mein Leben. Und meine Schwester schuldet dir Dank für ihren Hund.« »Sie ist ein hübsches kleines Ding.« »Findest du? Ihre Nase ist zu groß«, entgegnete David liebevoll. »Mein Vater sagt, sie habe das Aussehen einer Aristokratin.« »Oho! Sie kann recht lästig sein. Jeder, der eine jüngere Schwester hat, wird dir das bestätigen.« »Ich weiß nicht… Meine Schwester ist viel älter als ich. Du wirst sie in New Orleans sicher kennenlernen.« »Ist New Orleans wirklich so großartig, wie mein Vater behauptet?« »Natürlich. Warum bezweifelst du das?« »Weil er die Dinge übertrieben darstellt.« »O David, du wirst aufhören müssen, ihn die ganze Zeit zu verdächtigen.« »Weißt du, mir scheint, daß du einen sehr guten Einfluß auf mich ausübst. Ich wünschte, du würdest in New Orleans leben.« »Wir werden uns doch sehen! Wir werden Freunde bleiben. Ich besuche ganz bestimmt irgendwann meine Schwester. Und inzwischen werden wir uns schreiben. Du wirst französisch schreiben.« Gabriel lachte. »Und ich werde dir die Briefe korrigiert zurückschicken.« »Ich werde auch Englisch schreiben. Vater mag sagen, was er will, ich habe die Absicht, Englisch zu lernen.« So redeten sie, mit der schlichten Ehrlichkeit junger Menschen, die noch nicht gelernt haben, Freunde unter dem Gesichtspunkt der Nützlichkeit, des Prestiges oder eines anderen Vorteils zu wählen statt aus echter Zuneigung.
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Von der anderen Seite des Decks beobachtete Ferdinand seine Kinder. Das Mädchen war sehr still, umklammerte krampfhaft seinen Hund. Armes kleines Ding. Er erkannte, daß das Tier für sie eine Verbindung zwischen ihrem bisherigen Leben und dem Unbekannten war. Doch sie hatte ein fröhliches Naturell. Mit ihr würde es keine Probleme geben, sie würde ihm viel Freude machen, das wußte er. Ja, dachte er, Miriam wird Heiterkeit in das Haus bringen, dem ein Kind fehlt. Aber David! Ach, David ist ganz anders. So gerecht, so durchdringende Augen, als untersuche er mich, schaue in meinen Kopf. Wollte man ihn nach seinen sittenstrengen Reden beurteilen, müßte man sagen, er sei ein abstoßender, selbstgefälliger junger Tugendbold. Aber selbstgefällige Menschen tun nicht, was er tut. Essen ins Unterdeck bringen, Anteil an dem Elend dort unten nehmen, und ich weiß bei Gott, wie elend man dort dran ist! Ein guter Junge, ja, aber trotzdem, es ist nicht seine Aufgabe, sich für diese armen Menschen ins Mittel zu legen. Wir können nichts für sie tun, nichts. Ein paar Orangen lindern ihre Not nicht, sondern machen sie ihnen vielleicht nur noch deutlicher bewußt. Das würde er aber nicht verstehen. Diese Empörung in ihm, als explodiere er gleich! Dieses Stirnrunzeln! Zwei tiefe Falten über die ganze Stirnbreite. Und der Adamsapfel geht an seinem mageren Hals auf und ab. Er hat Flaum auf der Oberlippe, fühlt sich zweifellos als Mann. Das Leben mit ihm wird nicht leicht sein. Ich hoffe, daß er kein zu arger Fremdkörper in unserem Leben ist, der arme Kerl. Ich hoffe, daß er vor meiner Frau nicht so redet. Das würde ihr keineswegs gefallen. Und in seinem Aussehen ist keinerlei Anmut. So viele neue Kleider habe ich ihm vor der Abreise gekauft! Trotzdem schaut er immer zerknittert aus, als habe er darin geschlafen! Ich hätte ihn nach dem Tod seiner Mutter mitnehmen und ihn meine Art lehren sollen. Aber er war zu klein. Ich hätte nie überlebt oder geschafft, was ich schaffte, wäre er bei mir gewesen. Ich mußte ihn an einem sicheren Ort lassen, bis ich ihm etwas zu bieten hatte. Oder vielleicht nicht? 36
Nun habe ich wahrlich etwas zu bieten. Was würde er in Europa werden? Ein Hausierer vermutlich. Ein Hausierer, bis er zu alt ist, sich von Ort zu Ort zu schleppen. In Europa werden aus Hausierern keine Inhaber von Kommissionsgeschäften. Jetzt kann er Arzt werden oder was er sonst will. Er wird alles haben, was der junge Carvalho hat. Ein zufriedenes Lächeln umspielte Ferdinands weichen Mund. Auch David lächelte jetzt, während er mit seinem Freund sprach, dem sephardischen Aristokraten. Mein Sohn hat ein schönes Lächeln, dachte Ferdinand. Wenn er nur lernte, es öfter einzusetzen! Eines steht fest – er ist nicht wie andere Menschen. Der Abendwind erhob sich, kräuselte das Meer und kühlte die Luft ab. Ferdinand verließ die Reling, um in die Kabine zu gehen. An den heutigen Tag würde er sich immer erinnern. Wenn diese Reise längst der Vergangenheit angehörte, würde ihm der heutige Tag noch gegenwärtig sein. So war es immer. Aus lange vergessenen Jahren leuchtete hier und da ein einzelner Tag auf, ein Tag, an dem man Vorahnungen erhielt, derer man sich nicht bewußt wurde, die man aber später in der Rückschau klar als solche erkannte. Die tropische Luft klebte wie feuchte Seide auf der Haut. Im Golf von Mexiko erschienen immer wieder Delphine, sie schwammen mit dem Schiff um die Wette, sprangen und tauchten in einem lebhaften Wasserspiel. Die Sonne ging hier im Süden ganz plötzlich unter; es war, als lösche ein dunkler Pinselstrich alles Rosa, Gold und Violett auf dem Himmel jäh aus, und dann sank die schwarze Nacht nieder. Kurz vor dem Ziel der Reise wurden die Passagiere, die einerseits die Ankunft herbeisehnten, andererseits das Ende der angenehmen Tage bedauerten, von einer quälenden Rastlosigkeit erfaßt. Die Carvalhos hatten das Schiff in Charleston verlassen, Miriam und David waren also nur noch von Erwachsenen umgeben und ließen sich von deren Unrast anstecken. Die Nonnen, die während der Reise nur selten aufgeschaut hatten, sondern gesenkten Blicks hin und her geschritten waren und murmelnd ihre Rosenkränze gebetet hatten, blickten jetzt forschend nach Westen, als seien auch sie gespannt 37
auf das, was sie erwartete. Sogar die Bankiers und ihre lebhaften Frauen wurden schweigsam. Ferdinand jedoch frohlockte. »Die Heimat!« rief er jeden Morgen, wenn er an Deck erschien. »Nicht mehr lange, und wir sind zu Hause!« Eines Tages dann gelangten sie in der Morgendämmerung endlich an die Mündung des großen Flusses. Obwohl es noch sehr früh war, kamen alle an Deck, um zu schauen. »Seht dort«, sagte Ferdinand, »wie das Wasser seine Farbe verändert. Das ist der Fluß, der sich mit dem Golfwasser vermischt.« Ein langes braunes Band schob sich in das Blau, verdunkelte es und zerfloß. In der weiten Mündung des Flusses lagen hundert winzige Inseln verstreut. Die Mirabelle fuhr in einer Bogenlinie zwischen ihnen hindurch und strebte flußaufwärts. Bayous und kleine Nebenflüsse führten ins Verborgene; entwurzelte Bäume moderten in den Sümpfen, wo Moosfetzen von stehenden Zypressen hingen; regloses Wasser bedeckte das Land. Und über dem Ganzen lag eine undurchdringliche, düstere Stille. David horchte und schaute gebannt. Ja, es war, wie sein Vater gesagt hatte, urweltlich und wild; auch im abgelegensten Landstrich Europas gab es so etwas nicht. »Oh, schaut, schaut!« flüsterte Miriam. Ein großer weißer Vogel mit langem Hals stand auf einem Bein an einer sonnigen Stelle zwischen den Bäumen. »Das ist ein Reiher«, erklärte Ferdinand dem Kind. »Oh, wie schön er ist!« rief sie. Nun kamen sie an Seen und einem hellen Sandstrand vorbei. Im Zypressensumpf fischte ein Ibis, dessen Schnabel wie ein roter Krummsäbel aussah. Nach weiteren Bayous und Seen gelangten sie auf eine weite Wasserfläche. »Schaut, dort ist ein Pelikannest. Und da habt ihr das Männchen… Dies ist der ›Sund‹«, sagte Ferdinand. Er legte David den Arm um die Schulter und sprach rasch vor Aufregung: »Diese Insel ist Grande Terre. Nun haben wir nur noch neunzig Meilen. Dort drüben 38
in der kleinen Bucht – man sieht sie von hier nicht – liegt eine ganze Stadt! Ich ging aus Neugier mal hin. Hübsche Häuser mit Gärten und Blumen. Man würde nie glauben, daß es eine Piratenstadt war.« David sog scharf die Luft ein: »Piraten?!« Wieder das Kind in ihm, dachte Ferdinand, erfreut darüber, bei David auch Begeisterung für Dinge zu erleben, die einen Jungen normalerweise interessierten. »Ja, Jean Lafitte war einer der grausamsten Piraten in Westindien und im Golf. Er hatte ein prächtiges Haus, eingerichtet mit Beutestücken von den Schiffen, denen er auflauerte. Aber ich will dir etwas erzählen, das du nicht erwartet hättest. Vor dreißig Jahren herrschte Krieg zwischen den Vereinigten Staaten und England, und die Briten schickten eine Flotte von fünfzig Kriegsschiffen, die New Orleans einnehmen sollte. Sie boten Lafitte dreißigtausend Pfund – das ist englisches Geld, eine riesige Summe, wenn er sie und ihre Truppen zu der Stadt führe.« Ferdinand deutete auf die Sümpfe: »Du kannst dir vorstellen, daß man einen Führer braucht, um dort hindurchzukommen! Lafitte tat so, als nehme er das Angebot an, in Wirklichkeit jedoch ging er auf die andere Seite und führte die Amerikaner heran, so daß sie die Briten überraschen konnten. Dafür gewährte ihm der Präsident der Vereinigten Staaten den Pardon für seine Piraterie.« David war fasziniert: »Was wurde aus ihm?« »Oh, er eröffnete ein schönes Geschäft in der Royal Street.« Ferdinand lachte: »Aber ich glaube, daß er selbst dann die Seeräuberei nicht aufgab.« Stunde um Stunde durchpflügte das Schiff den Fluß nordwärts. Die Sümpfe und der voll Wasser gesogene Wald wichen zurück; das freie Land auf beiden Seiten blühte weiß. »Baumwolle«, sagte Ferdinand. »Wie Schnee«, rief Miriam. Nach einer Weile gab ihnen Ferdinand Anweisungen: »Geht euch umziehen. Wir sind bald da, und ihr müßt einen guten Eindruck 39
machen.« Liebevoll schaute er seine Tochter an: »Nimm das lavendelfarbene Kleid mit dem Spitzenkragen. Und deinen Sonnenschirm, den dazu passenden. Es wird schrecklich heiß sein, wenn wir landen, sobald uns die Flußbrise nicht mehr kühlt. Du wirst dich daran gewöhnen, einen Sonnenschirm zu tragen. Alle Damen tun es.« Im zunehmenden Verkehr von Dampfschiffen und Baumwollschiffen, die in beiden Richtungen fuhren, glitt die Mirabelle auf die Stadt zu. »Wißt ihr«, sagte Ferdinand zu seinen umgekleideten Kindern, »die Stadt liegt eineinhalb Meter unter dem Meeresspiegel, und die Levees – die Uferdämme – sind achteinhalb Meter höher als das Meeresniveau. Diese Ballen dort auf der Levee enthalten Baumwolle. Hättet ihr euch je soviel Baumwolle vorstellen können? Die Felder erstrecken sich meilenweit, sie würden reichen, um die ganze Welt zu versorgen, und sie versorgen auch fast die ganze«, sagte er zufrieden. »In den Oxhoftfässern dort drüben ist Zucker. Wir versorgen auch damit fast die ganze Welt. Nicht die ganze, aber wir könnten es, wenn wir müßten. Seht ihr alle die Kais, alle die Handelsschiffe? Der gesamte Welthandel läuft hier durch. Tabak, Whisky, Hanf, alles und jedes. In Amerika gibt es nur eine einzige Stadt, die einen größeren Frachtumschlag hat, und das ist New York. Seht ihr die Brigg dort? Das ist Kapitän Ramsays Gloucester Breeze. Wahrscheinlich hat er eine Lieferung für mich. Er kommt zweimal im Jahr aus Liverpool.« David faßte Miriam bei der Hand. Der lange Traum der Seereise wich ziemlicher Ernüchterung, als er sich klarmachte, daß sie in wenigen Minuten mit der Wirklichkeit konfrontiert würden. Die Stimme des Vaters kämpfte gegen den wachsenden Lärm von schrillen Pfeifentönen und läutenden Glocken an: »Schaut, dort, das ist eine Ladung Pelze aus einer Gegend weit flußaufwärts; sie werden exportiert. Das Dorf hier rechts heißt Algiers, es liegt genau gegenüber dem Französischen Markt. Ach, wie schön, wieder daheim zu sein!« Er stellte sich auf die Zehenspitzen, winkte und deu40
tete: »Schaut, dort! Das ist das cabildo oder Stadthaus; die Spanier haben es gebaut. Und das Presbyterium dort auf der anderen Seite der Kathedrale war ein Pfarrhaus. Die St.-Louis-Kathedrale wurde vor mehr als hundert Jahren errichtet, wißt ihr, aber ein Hurrikan zerstörte sie, und so mußte eine neue gebaut werden… Kannst du sie sehen, Miriam? Soll ich dich hochheben? Schön, nicht wahr? Sie ist nach Ludwig IX. benannt, dem Schutzheiligen…« »Und wo ist die Synagoge?« fragte David leise. »Oh, in der Franklin Street, ein kleiner Bau. Man sieht ihn von hier nicht.« Ferdinand atmete tief ein. »Riecht ihr die süße Luft? Ich finde immer, daß die Luft nach Zucker riecht, auch wenn es vermutlich nicht stimmt. Wißt ihr, ich bin ein Stadtmensch. Ich habe in der Wildnis überlebt, und ich werde überall überleben, wohin man mich stellt, aber im Grunde meines Herzens bin ich ein Städter.« Ferdinand streckte sich. Er war eher klein, erreichte aber durch seine Haltung, daß er viel größer wirkte, als er tatsächlich war. »Ja, ein Stadtbewohner, New Orleans ist mein Zuhause.« Das Schiff schob sich vorsichtig an den Anlegeplatz. Ketten rasselten, Taue flogen durch die Luft, und vom Kai riefen Menschen. Die Landungsbrücke fiel klappernd herab. Von ihrem Platz hoch oben am Bug schauten die Passagiere auf ein wirres, geschäftiges Getriebe hinunter: Rollwagen, Frachtkarren, Schubkarren, Kisten und Kartons, streunende Hunde, Kinder, Arbeiter, Pferde, Kutschen und Kutscher, Sonnenschirme und Seidenzylinder – das alles bewegte sich zwischen einer erstaunlichen Menge schwarzer Gesichter. Ferdinand blickte suchend auf das Durcheinander. »Dort!« rief er. »Dort sind sie! Auf der Bankette, auf der anderen Seite, bei den beiden Schimmeln stehen sie. Seht ihr sie? Ich sehe sie!« »Bankette?« fragte David. »Ein Fußweg an der Straßenseite. Das ist Emma, in dem gelben Kleid, und neben ihr steht Pelagie. Ihr Mann ist auch gekommen – wie aufmerksam von ihm! Ein netter Bursche, dieser Sylvain. Und 41
dort ist… Oh, sie sehen uns.« Ferdinand schwenkte seinen Hut. »Der Landungssteg ist festgemacht. Gehen wir!«
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äre das Haus auf einem anderen Planeten gestanden oder durch den leeren Raum eines Traums gewirbelt, es hätte David Raphael bei der ersten Begegnung nicht fremdartiger vorkommen können. Selbst jetzt, nach einer Woche, war er kaum vertraut damit. Die Doppeltüren des Eßzimmers waren geöffnet und an die Wand zurückgeschoben worden; über ihrem breiten Mahagonitürsturz hing ein vergoldetes Kruzifix. Davids Augen wurden magisch davon angezogen, so oft er sich auch abwandte. In jedem Zimmer des Hauses gab es ein Kreuz mit der gequälten Gestalt, deren Kopf schlaff auf die Schulter hing und deren Füße an den Knöcheln übereinander genagelt waren. In Davids Schlafzimmer hatte ebenfalls ein Kreuz gehangen, aber jemand war so taktvoll gewesen, es zu entfernen. Ein katholischer Haushalt. Meines Vaters Haus! Ist diese Frau – diese Familie – katholisch, Papa? Ja, ja, das ist sie. Aber was werden sie von mir, von meiner Schwester und mir denken? Ich habe dir gesagt, daß solche Dinge hier nicht wichtig sind. Es ist nicht wie in Europa, weißt du. Hier kannst du tun, was du willst. Niemand kümmert sich darum, wer oder was ein anderer ist. Steine in Europa. Peitschen in Europa. Aber nicht hier. Wie konnte jemand dessen so sicher sein? Daheim, im Dorf, war man nie sicher gewesen. Wollte ein Bauer dich grüßen, tat er es; wollte er nicht, ignorierte er dich und ging vorbei, als seist du Luft. Außer natürlich, er begann zu toben – aus Gott weiß welchem Grund – und brachte deine Mutter auf den Stufen vor ihrem Haus um… 42
Seine Gedanken wanderten zurück zu der düsteren Wohnung, den dunklen, niedrigen Räumen, dem sauren Geruch nach Alter und Feuchtigkeit, der Erinnerung an plötzlichen Tod; sie wanderten zurück zu der alten Angst und wieder in die Gegenwart, zu dem allem hier, und versuchten eine vernünftige, einleuchtende Verbindung herzustellen. Er stocherte in seinem Essen herum, schob es auf dem Teller hin und her. Noch nie hatte er solche Essensmengen gesehen, sie waren sogar für seinen jugendlichen Appetit zu groß. Aber viel davon war ohnehin verboten! Es gab Spanferkel, das er natürlich erkannt hatte, als es auf einer riesigen Silberplatte serviert worden war, die Haut ganz aufgesprungen und knusprig. In den mitleiderregenden Rüssel hatte man ihm eine Pfeife gesteckt: armes, unreines kleines Tier mit den spärlichen Wimpern und den toten Augen! Des weiteren gab es etwas, das vol-au-vent hieß, eine Art Pastete, gefüllt mit Austernragout; er hatte es versucht, ohne zu wissen, was es war, und sehr schmackhaft gefunden. Doch als man ihm gesagt hatte, was es war, hatte er sofort die Gabel weggelegt. Wenigstens gab es viel Gemüse. Man konnte sich sehr gut davon ernähren, davon und den herrlichen warmen Broten, die immer auf dem Tisch standen. Es gab auch Wein. Sogar zum Frühstück. Aber man mußte darauf achten, daß man nicht zuviel trank, besonders bei dieser stickigen Hitze. Ein Jude durfte nie betrunken sein. Miriam aß Krabben in einer würzigen roten Sauce. David hatte auch dieses Gericht abgelehnt, auf seine Schwester jedoch hatte er keinen moralischen Einfluß mehr; von jetzt an kümmerten sich selbstredend sein Vater und dessen Frau um sie, sie war deren Kind; jede Erlaubnis und jedes Verbot kam künftig von ihnen. David betrachtete Miriam, während sie den letzten Rest Sauce vom Teller kratzte und die Finger ableckte, wenn sie meinte, niemand schaue her. Ihr Anblick rührte ihn, sie sah auf dem reich verzierten hochlehnigen Stuhl sehr klein aus, und ihr zarter, kindlicher Hals verschwand fast in ihrem gefältelten Spitzenkragen. 43
David musterte unauffällig alle am Tisch, nichts entging ihm; er bemerkte, daß jede der Frauen irgendwo an ihrer Kleidung Spitzen trug. Tante Emma – Miriam und er waren angewiesen worden, die Frau ihres Vaters ›Tante‹ zu nennen – Tante Emmas rote Wangen glühten über einem Gewoge aus schwarzer Spitze. Ihn verwunderte, daß sie sich bereits zum zweitenmal nahm und dabei kaum je aufgehört hatte zu reden, seit man bei Tisch saß. Die Spitzen unter ihrem Kinn bebten. »Ja, Sisyphus ist ein Mann von Bildung und Erziehung, ein Butler, wie es sich gehört. Er hat meinen sämtlichen Brüdern Manieren beigebracht, als sie kaum alt genug waren, um gehen zu können.« Sisyphus, ein alternder Neger, dessen Haar wie eine graue Wollmütze aussah, stand mit einer gefalteten Serviette über dem Arm neben der Anrichte und befehligte die jungen Dienstmädchen. »Ja, Sisyphus ist ein treuer Diener«, fuhr Tante Emma fort, als sei er nicht da. »Viel mehr als nur ein Butler. Er hat ein Talent für die Landschaftsgärtnerei; in Wirklichkeit war er es, der den Rosengarten bei meinem Vaterhaus angelegt hat. Habe ich dir das je erzählt, Ferdinand? Mein Bruder Joseph hätte ihn gern in Texas, aber er kriegt Sisyphus nicht, ich gebe ihn nicht her! Joseph mag fünfzigtausend Morgen Baumwolle haben, aber meinen Sisyphus bekommt er nicht.« Ihre volle, tiefe Stimme ertönte ununterbrochen. David verschloß die Ohren vor dieser Worttirade und schaute sich auf dem Tisch um, als wollte er alles analysieren oder sich einprägen, die Nüsse und Süßigkeiten in ihren Schälchen aus Filigransilber, die Kandelaber, die Blumen, die noch so frisch waren, daß an ihren Stengeln Wassertropfen schimmerten. Am eingehendsten musterte er jedoch, wie stets, die Menschen und ihre Gesichter. Er war noch nie mit so vielen Personen an einem Tisch gesessen. In diesem Haus war das Eßzimmer bei jeder Mahlzeit voll. Sogar zum Frühstück kamen Gäste. Ferdinand zog nun Davids Aufmerksamkeit auf sich. Der Vater nickte ihm zufrieden zu, Anerkennung heischend, und fragte mit 44
dem Blick: Siehst du? Ist es nicht genauso, wie ich dir gesagt habe? Alles und jedes? Wie gefällt es dir? David gegenüber saß Pelagie, eine sanfte junge Frau mit schüchternem Lächeln, das ständig ihren Mund umspielte; sie schaute unverwandt ihren Mann an, der neben ihr saß. »Ist es nicht so, Sylvain?« fragte sie nach jeder Bemerkung. »Stimmt das nicht, Sylvain?« Worauf Sylvain, ein gesetzter junger Mann mit markantem Gesicht, modischer Krawatte und untadeligem Hemd, stets beistimmend nickte. Sie äußert ja auch nie etwas, dachte David, dem man widersprechen könnte! Er ließ seine Augen in der Runde weiterwandern und vergnügte sich mit stummen Einschätzungen. Diesen gelangweilten alten Mann, hm, den hätte er gernhaben können! Der Mann zwinkerte ihm zu. Die Frau in Blau schaute aus, als habe sie geweint; zweifellos war ihr Gemahl niederträchtig, das sah man ihm an. Eulalie, Tante Emmas ältere Tochter, hm, die – nein, an der lag ihm nichts. Sie hatte ungute Augen, zwei schwarze Klumpen unter einer hohen, gewölbten Stirn. Ihr Kleid war scheußlich; er verstand nichts von Kleidern und machte sich wenig daraus, aber er spürte Farben in der Seele, und das heftige Grün des Kleides dieser Frau schmerzte. Eine massige Halskette betonte ihre Schlüsselbeine. Als sie merkte, daß er sie betrachtete, starrte sie ihn böse an, so daß er die Augen senken mußte. Er richtete sie auf ihre weißen, knochigen Finger. Wir mögen einander nicht, dachte er, aber sie hat damit angefangen. Ich könnte versuchen, sie zu mögen, wenn sie mir entgegenkäme, doch das wird sie nicht tun. Das wußte er seit dem ersten Tag, der ersten Stunde in diesem Haus. Den Grund für ihre Abneigung kannte er nicht; schließlich hatte er nichts Unrechtes getan. Mochte sie keine Juden? Natürlich, die Erfahrung hatte ihn gelehrt, das zu denken. In seinem ganzen Leben war er noch nie mit so vielen nichtjüdischen Menschen beisammen gewesen. Genau gesagt, er hatte sich noch nie mit jemandem zum Essen niedergesetzt, der kein Jude war. Die Bauern daheim luden einen nicht zu sich nach Hause ein, und 45
außer ihnen hatte er niemanden gekannt. Der Mann und die Frau, zwischen denen er jetzt saß, waren die einzigen anderen Juden am Tisch: Henry und Rosa de Rivera, die Schwester seines Freundes Gabriel von der Mirabelle. Papa hatte sie zu diesem Sonntagsmahl eingeladen. In den lauten Redefluß Emmas murmelte Rosa de Rivera: »Du bist meinem Bruder sehr ähnlich, glaube ich, ein ernster junger Mann. Alt für deine Jahre. Genau weiß ich es allerdings nicht, ich habe Gabriel drei Jahre nicht gesehen.« Sie hatte einen lebhaften, amüsierten Gesichtsausdruck und die vertrauten, lebendigen Augen mit den schweren Lidern ihres Volkes. Bernsteinschmuck baumelte an ihren Ohren und schimmerte an ihren Handgelenken. »So nachdenklich. Woran denkst du gerade, darf ich fragen?« »Wie seltsam das alles ist. Ich weiß nicht, was ich zu diesen Leuten sagen soll und was sie von mir erwarten.« »Erwarten? Lächle einfach und benimm dich gut. Mehr erwarten sie nicht von dir.« »Aber«, stieß er hervor, »ich habe in einer anderen Welt gelebt, einer so kleinen, eingesperrt…« »Dann wird dir das hier guttun. Sei einfach du selbst. Du hast einen scharfen Blick. Du wirst schon zurechtkommen.« »Sie und Ihr Mann sind die einzigen Juden hier…« »Da ist noch Marie Claire Myers, das kleine Mädchen dort, es sitzt neben seiner Mutter. Die beiden sind aus Shreveport zu Besuch hier.« »Das ist ihre Mutter? Aber sie trägt ein Kreuz.« »Ihre Mutter ist Katholikin.« »Dann kann sie keine Jüdin sein.« »Sie ist Jüdin.« »Kann sie nicht sein! So ist das Gesetz und war es seit Moses«, protestierte er. »Ich weiß. Aber hier ist das anders.«
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Wie oft würde man ihm noch sagen, daß hier alles anders sei? »Ihr Vater hat zwar ihre Mutter in der Kathedrale geheiratet, aber er wünschte, daß seine Kinder als Juden erzogen werden.« David betrachtete das Mädchen. Es mußte drei oder vier Jahre älter sein als Miriam, hatte ein langes, sommersprossiges Gesicht und eine helle Lockenmähne. Er war bestürzt. Ein jüdisches Mädchen, dessen Mutter ein Kreuz trug! »Wir mußten hier unsere Regeln und Vorschriften selbst machen«, erklärte Henry de Rivera. »Unsere Synagoge ist erst zehn Jahre alt, Scha'arej Chasset heißt sie, Pforten der Gnade. Vierunddreißig von uns Männern taten sich zusammen und begannen mit dem Bau. Manis Jacobs – er war das erste Oberhaupt – hatte eine katholische Frau, aber er wollte nicht, daß seine Kinder ausgeschlossen werden, also brach er mit der Tradition und führte den neuen Brauch ein, daß kein israelitisches Kind wegen der Religion seiner Mutter abgewiesen werden durfte. Niemand hatte etwas dagegen, weil ohnehin die meisten Männer mit Katholikinnen verheiratet waren.« David schüttelte den Kopf: »Seltsam.« »Eigentlich nicht so sehr. Bedenke, daß wir keinen geschulten Rabbi hatten und noch immer keinen haben. Wir sind tausend Meilen von einem Zentrum jüdischen Glaubens wie Charleston oder Philadelphia entfernt. Hier gibt es nichts dergleichen. Wir brauchten nur fünftausend Dollar zum Bau einer Synagoge, doch du glaubst nicht, wie schwer es war, die Summe aufzutreiben! Wir waren so wenige.« Eine Frage drängte sich David auf. Zuerst hielt er sie zurück, dann stellte er sie doch: »Mein Vater – hat er Geld gegeben?« Henry de Rivera lächelte: »Er hat. Großzügiger als einige, aber ich muß zugeben, daß er nie einen Fuß in das Gebäude gesetzt hat, als es fertig war. Doch das ist«, fügte er hinzu, »das gute Recht eines Menschen, wenn er es so halten will. Und in der Stadt hier sind viele, die es so halten.« Dieser Mann wird sich zu nichts bekennen, dachte David. Er ist Anwalt und vorsichtig, riskiert es nicht, jemanden zu kränken. 47
Rosa sagte: »New Orleans ist auch für Christen keine religiöse Stadt. O ja, die Frauen gehen in die Kirche, aber die Männer machen sich nicht viel daraus. Hier ist man leichtlebig, wie Henry immer sagt. Man verdient schnell Geld, man will es ausgeben…« Sie zuckte die Achseln. »Wie dem auch sei, du mußt uns besuchen. Du kannst mit uns in die Synagoge gehen, wenn du willst. Und Miriam muß auch kommen. Wir haben zwei kleine Jungen. Mädchen lieben es, mit Babys zu spielen.« »Du ißt ja nichts, David«, tönte es über den Tisch. Emma hatte ihren Monolog unterbrochen. »Ich esse, was ich kann.« Ihm fiel ein, daß er nett sein sollte, und so fügte er rasch hinzu: »Vielen Dank.« »Es ist diese Hitze. Du ißt wegen der Hitze nicht. Monroe, geh mit dem Fächer näher zu M'sieur David.« Ein barfüßiger schwarzer Junge mit einem großen Palmenfächer kam heran. David wich zurück: »Nein, nicht für mich. Ich brauche das nicht.« Einen Moment lang schaute ihn Emma ärgerlich an, doch ihr kleines Stirnrunzeln verschwand sofort wieder. Sie ist eine Frau, die sich nicht aufregen will, dachte David. Ihre dunkle Stimme, die passende Stimme für eine dicke Frau, ertönte wieder: »Mr. Ferdinand möchte seinen Kaffee, Sisyphus. Nimm von Serafinas wunderbaren kleinen Kuchen, Miriam, meine liebe. Langues de chat heißen sie, Katzenzungen. Lächerlicher Name für etwas derart Köstliches.« Sie zog das Wort ›köstlich‹ so lang wie eine Katzenzunge. »Rück näher heran mit dem Fächer, Monroe, ich komme um vor Hitze.« Tatsächlich hatte sich ihre rosige Gesichtsfarbe in Pflaumenblau verwandelt. Schweißflecken wurden auf ihrem Kleid sichtbar, als sie die Arme hob, um die Spitze an ihrem Hals glattzustreichen. »Ich komme um vor Hitze«, wiederholte sie, aber keineswegs verdrießlich. »Schon gut, du wirst bald am Paß sein«, tröstete Ferdinand sie, dann erklärte er Miriam und David: »Paß Christian ist unser Besitz am Meer, wundervolle Brise, gute Möglichkeiten zum Baden 48
und Bootfahren. Dieses Jahr gehen wir später hin als gewöhnlich. Wegen meiner Europareise.« »Die feinsten Leute gehen dorthin. Ihr werdet dort die jungen Leute aus der besten Gesellschaft sehen«, sagte Emma zu den Kindern ihres Mannes. »Glaubst du nicht, Ferdinand, daß vor allem David einflußreiche junge Leute kennenlernen sollte?« Ohne auf Ferdinands Antwort zu warten, fuhr sie fort: »Wir haben so ein hübsches Haus dort. Der Vater meines ersten Mannes, Mr. Leclerc, hat es vor Jahren gebaut. Natürlich ist es nichts im Vergleich zu anderen Häusern, die ihr sehen werdet, aber sehr nett ist es trotzdem.« Rosa flüsterte David zu: »Die Leclercs waren ungeheuer reich! Der Großvater kam vor dem sogenannten Louisiana Purchase von 1803 hierher, also bevor Amerika Louisiana von Frankreich kaufte. Er machte ein Vermögen!« Emma sagte: »Er reiste jedes Jahr nach Paris – jedes Jahr, denkt nur! Und brachte wunderbare Dinge mit nach Hause: Tapisserien, Tafelgold.« »Manche behaupten, er habe ein bißchen Seeräuberei betrieben«, unterbrach Sylvain sie in einem boshaften Ton, der nicht ganz zu seiner strengen Miene paßte. Emma tat seine Bemerkung gelassen ab: »Guter Gott, das behauptet man von der halben Einwohnerschaft der Stadt!« »Und vermutlich trifft es auch auf die halbe Einwohnerschaft der Stadt zu«, erwiderte Sylvain. Er muß sehr reich sein, dachte David scharfsinnig, sonst würde er nicht wagen, so mit seiner Schwiegermutter zu reden. Von frühester Kindheit an beobachtete und studierte David das Leben rings um sich herum. Als eines der ersten Dinge hatte er gelernt, daß Reichtum Freiheiten erlaubt, die den weniger bemittelten Menschen verwehrt sind. Emma gefiel ihm. Sicher, sie war töricht und prahlte gern, aber sie war gütig. Sylvain erzeugte Unbehagen in ihm, ohne daß er gewußt hätte, warum. 49
»Nun, ich kann nicht über die Vorfahren anderer sprechen, aber über meine weiß ich Bescheid. Es waren keine Piraten darunter, nur ehrliche Deutsche«, erklärte Emma. »Sie lebten an der Deutschen Küste ein Stück nördlich von hier. Farmer waren sie, wißt ihr, und sehr arm. Angeblich besaßen sie nicht einmal eine Kuh. Sie haben hart gearbeitet, diese Menschen! Dann heirateten sie Franzosen und starben aus. Das französische Blut ist stark, wißt ihr. Sie änderten sogar ihre Namen, so daß sie französisch klangen. Ja, es war ein weiter Weg von den Maisstroh-Matratzen und dem akadischen Farmhaus bis hierher. Sisyphus erinnert sich daran, nicht wahr, Sisyphus? Er war noch ein Kind, als er mit meiner Mutter und zwei oder drei anderen Bediensteten hierherkam. Sie waren das einzige, was meine Mutter in die Ehe mit meinem Vater einbrachte. Meine Mutter stammte aus einem viel einfacheren Haus, wißt ihr. Einfach, aber kultiviert, vom besten Schlag. De la fine fleur des pois, von der ersten Blüte der Wicke, so nennen wir uns, wir alten Kreolen. Das beste Blut. Blut gibt sich zu erkennen, sage ich immer…« Blut, dachte David. Blut und Geld. Das ist alles, worüber sie reden, seit wir uns zum Essen setzten. Mißlaunig blickte er vor sich hin, er wäre gern aufgestanden. Miriam gähnte. Sie hatte die strohblonde Puppe mitgebracht und neben sich gesetzt. Jetzt fingerte sie an einem schmalen Goldarmband herum, dem Begrüßungsgeschenk von Emma. Die Kleine war in dem Haus hier gut aufgehoben. Hier würde sie in Sicherheit sein, bestens versorgt und zärtlich geliebt werden. Endlich wurden die Stühle zurückgeschoben, und alle erhoben sich. Emma fragte fröhlich: »Sollen wir ein bißchen Musik machen?« »Vielleicht kann Marie Claire für uns singen«, schlug Ferdinand vor. Man ging durch die Flügeltür aus dem ersten Salon in den zweiten. Im ersten waren immer die Jalousien wegen der Sonne geschlossen. Jetzt, am Abend, drang gedämpftes blaues Licht durch die Stäbe, fiel auf vergoldete Stuhlgestelle und gelbe Seide, auf Nippsachen 50
aus Kristall und Spiegel, betonte ihre Vornehmheit und Kostbarkeit. Der zweite Salon wirkte dank des Flügels, der Harfe und der Bücherregale lebendiger. »Pelagie, spielst du für Marie Claire? Marie Claire hat eine wunderbare Stimme«, sagte Ferdinand liebenswürdig und stolz. »Wie ich höre, hegt ihre Gesangslehrerin große Hoffnungen für sie… Aber schau her, David, ich weiß nicht, ob ich dir Emmas Bild schon gezeigt habe. Es stammt von Salazar, dem berühmten Porträtmaler.« Zwischen zwei Türen hing in einem ovalen Rahmen das Gemälde einer schlanken jungen Frau in einem dünnen weißen Gewand, das unter ihrem kleinen Busen gerafft war. Nachdenklich betrachtete sie einen Fliederzweig. »Der Empirestil war natürlich lächerlich, auch wenn ich zugeben muß, daß man sich frei fühlte, fast nackt! Aber ich bin gut getroffen, findest du nicht?« fragte Emma eifrig. »Sehr gut«, antwortete David, der nicht die geringste Ähnlichkeit zwischen dem Bild und der Dame an seiner Seite entdeckte. »Nun denn.« Ferdinand rieb sich die Hände. »Sollen wir anfangen? Wofür habt ihr beide euch entschieden?« Pelagie hatte sich an den Flügel gesetzt, Marie Claire stand in seiner Biegung. Pelagie antwortete: »Wir beginnen mit einigen irischen Liedern, dachten wir. ›Kathleen Mavourneen‹, das ist ganz neu und sehr beliebt.« Ihre Hände bewegten sich mit liebkosender Berührung über die Tasten, so daß die Töne nachklangen wie Schluchzer. Ein gefühlvoller Anschlag, der ihrem Naturell entsprach. Das Mädchen Marie Claire aber sang ohne Sentiments. Ihr ungekünstelter, reiner Ausdruck gefiel David. Er verstand nichts von Musik und von Stimmen, doch er war sicher, daß hier schon eine Frauenstimme aus einem noch kindlichen Körper kam. Hingegeben lauschte er dem Gesang, gefesselt von dem Strahlen in Marie Claires wenig hübschem Gesicht. Emma riß ihn aus seiner Versunkenheit; sie neigte sich zu ihm und flüsterte: 51
»Schau, was Eulalie macht. Es heißt Makramee. Sie hat so geschickte Finger, auch die Portieren dort hat sie gemacht.« Gehorsam schaute er zu der Finsteren – so hatte er Eulalie für sich getauft –, die mit einem Stück Bindfaden kunstvolle Bewegungen vollführte. »Sehr nett«, murmelte er und grinste innerlich über seine neue Zuvorkommenheit. Ich lerne, dachte er und wandte sich wieder der Musik zu. Nach einer Weile begannen seine Gedanken zu wandern. Seine Augen bewegten sich von Pelagies fließendem Rock zu den Arabesken des Teppichs, dann zu den roten Seidendraperien, auf die das Kerzenlicht rosarote Flecken zeichnete. In den Tiefen des Hauses, auf der anderen Gangseite, sah er das Eßzimmer, wo noch immer Dienstboten den langen Tisch abräumten. Dahinter erstreckte sich, wie er wußte, eine Veranda, von der man in den Innenhof hinunter gelangte, in den Garten, zu den Ställen und zur Küche, wo sich das wirkliche Leben des großen Hauses abspielte. Dort, in den Kellern, im Waschhaus und in den Unterkünften des Personals, wurde die Arbeit getan. Sein Zimmer ging auf diese Seite hinaus, und in der vergangenen Nacht hatte er Stimmen reden und streiten gehört, schrilles Keifen einer Frau und volltönendes männliches Gebrumm. Er hatte auch Singen gehört, einen kräftigen, leidenschaftlichen Gesang, ganz anders als alles, was er bisher gekannt hatte. Dieser Gesang hatte ihn ergriffen, als er so in seinem Bett lag, und eine seltsame Sehnsucht in ihm geweckt, ein seltsames Verlangen. Sehnsucht wonach? Verlangen wonach? Bestimmt nicht nach der Heimat. Er wollte nie mehr ›heim‹. Ach, welche Verwirrung in seinem jungen Herzen! Die Tröstungen dieses Raumes mit den weichen Stühlen, dem gedämpften Licht, dem berauschenden Duft, die Tröstungen des vollen Magens und dieses Moments – sie erschienen ihm als blankes Unrecht! Irgendwie waren sie unmäßig. Das ganze Haus hatte etwas Übersättigtes. Es gab zuviel Essen, zuviel Seide, zuviel Blumen. 52
Sisyphus trat geräuschlos ein und murmelte Emma etwas zu. David verstand die Worte ›Blaise und Fanny‹. Als die Musik und damit der Abend endete, stand Emma sogleich auf. »David und Miriam, kommt mit. Blaise und Fanny sind eingetroffen«, erklärte sie und ging voran die Treppe hinauf. »Ich habe sie vom Land holen lassen oder vielmehr von einer lieben Freundin gekauft, die sie nicht mehr braucht. Sie sind Geschwister und wurden mir natürlich sehr empfohlen, sonst hätte ich sie nicht genommen. Da sind sie.« Im Gang des oberen Stockwerks wartete ein Mädchen von zwölf oder dreizehn Jahren. Ihre Haut war fast weiß; ihr schwarzes Haar, glatt wie Miriams, hing ihr in zwei Zöpfen über den Rücken. »Das ist Mamselle Miriam, Fanny.« Fanny machte einen Knicks. »Und das, Blaise, ist M'sieur David.« Ein Junge von Davids Alter trat heran. In seinem Gesicht, das viele Nuancen dunkler war als jenes seiner Schwester, verblüfften hellgraue Augen. »Natürlich wäre es besser gewesen«, sagte Tante Emma, »eure Verbindung hätte gleich von Anfang an bestanden. Das ist hier so Brauch, und es ist sehr nett, einen Dienstboten zu haben, der mit einem durchs ganze Leben geht«, erklärte sie Miriam und David. »Aber ihr seid ja alle noch jung und werdet viele schöne Jahre miteinander verbringen, davon bin ich überzeugt. Fanny, du wirst an Mamselle Miriams Tür auf einer Steppdecke schlafen für den Fall, daß sie dich in der Nacht brauchen sollte. Aber das weißt du sicher schon.« Emma lächelte aufmunternd. »Und Blaise wird dasselbe tun, David. Wenn du mit der Schule anfängst, wird er dich begleiten und deine Bücher oder auch deine Pakete tragen, und er wird alle Botengänge für dich erledigen. Aber nicht nötig, daß ich das erkläre. Blaise weiß, was von ihm erwartet wird. Solltest du aus irgendeinem Grund zusätzliche Hilfe brauchen, David, wird dein Vater dir Maxim oder Chanute leihen. Normalerweise haben die beiden allerdings genügend im Haus zu tun. Wie ich höre, Blaise und Fanny, seid ihr beide sehr gutartig, und darüber freue ich mich, denn ge53
nau das wollen wir.« Sie hielt inne, als warte sie auf eine Frage, da jedoch keine kam, beendete sie das Gespräch: »Sonst fällt mir nichts mehr ein.« Sie begann die Treppe hinunterzugehen. Als sie halb unten war, rief sie zurück: »Die beiden werden gut für euer Französisch sein, David und Miriam, denn sie sprechen nichts anderes.« Die vier jungen Menschen standen voreinander, und keiner wußte, wie anfangen. Schließlich lächelte Fanny, die ein bißchen kühner war als ihr Bruder, Miriam zu. Blaise schaute zu Boden, und David, schamrot wegen seiner Unbeholfenheit und aus anderen Gründen, die ihm nicht ganz klar waren, suchte nach Worten. Doch in diesem Moment kam Pelagie mit Eulalie herauf und entließ die beiden Dienstboten: »Wir rufen euch, wenn wir uns zurückziehen. Die Männer spielen noch Domino«, sagte sie zu David, »aber ich bin zu müde. Sollen wir uns ein Weilchen auf den Balkon setzen?« Sie gingen durch mehrere Schlafzimmer. »Mama muß dir ein lit de repos besorgen, David, damit du die Tagesdecke auf deinem Bett nicht verdirbst, wenn du deinen Nachmittagsschlaf machst.« »Ich schlafe nachmittags nie!« »Das wirst du hier bestimmt tun. Jeder tut es. Unsere Nachmittage schleppen sich so hin.« Pelagie zog die Silben in die Länge. Unbewußt strich sie über eine Wölbung in ihrem Rock, und Miriam, die diese Geste beobachtete, fragte geradeheraus: »Wann kriegst du dein Kind?« Eulalie sog scharf die Luft ein und rief über Miriams Kopf hinweg: »Was meint die Kleine denn?« »Oh, ich weiß, daß Pelagie ein Kind kriegt«, entgegnete Miriam altklug. »Ich erkenne das. Ich habe es zu Hause gesehen. Wann kommt es?« »Im November. Ich würde gern darüber reden«, antwortete Pelagie weich. »Ich bin so glücklich. Aber meine Schwester hält es für unschicklich, davon Notiz zu nehmen. Ich weiß wahrlich nicht warum, wo Mama doch nach uns noch neun hatte, alle die mitgerechnet, 54
die gestorben sind.« In einer Art stillen Trotzes gegenüber ihrer Schwester, die bereits auf dem Weg zur Tür war, fuhr sie fort: »Mein Kind wird hier in diesem Zimmer geboren, auf der Geburtsliege dort. Das Schlummersofa dient mehr als einem Zweck, wißt ihr.« Eine Zeitlang herrschte Schweigen, dann sprach die junge Frau wieder: »Ich hoffe, daß du dich jetzt ein bißchen wohler fühlst, David.« David errötete: »Ich fühle mich prächtig, wirklich.« »In den ersten Tagen warst du alles andere als glücklich.« Da er das nicht abstritt, fuhr Pelagie fort: »Du hast nicht gewußt, daß dies kein jüdischer Haushalt ist. Ich verstehe dich.« Durch die offene Tür sah David ins nächste Schlafzimmer, in dem der Altar stand – oder vielmehr das, was die Familie als Altar bezeichnete: ein Tisch mit Spitzendecke, einem Weihwassergefäß und einigen kleinen weißen Gipsstatuen. Davids Augen wanderten von ihnen zum Boden, der mit kühlen Sommermatten aus Stroh bedeckt war. »Ich finde, dein Papa hätte es dir gleich anfangs sagen sollen.« Er lachte kurz: »Ich bin froh, daß er es nicht getan hat. Opa hätte dagegen gekämpft, und wer weiß, vielleicht hätte er gewonnen.« »Spätestens während der Seereise hätte er dir etwas sagen sollen. Nun, es ist vorbei und überstanden. Aber wenn du mir irgendwelche Frage stellen willst…« Einen Moment lang überfiel ihn wieder die Unbeholfenheit. Aus irgendeinem Grund jedoch mußte David fragen – auch wenn die Antwort jetzt nichts mehr änderte: »Wie hat mein Vater deine Mutter geheiratet?« »Du meinst, wo? In der Kathedrale. Der Stellvertreter des Bischofs erteilte Dispens wegen der unterschiedlichen Religionszugehörigkeit. Und Pater Moni vollzog die Zeremonie. Oh, es war schön! Ich liebe die Kathedrale sowieso. Dort ist sogar eine Begräbnisfeier schön.« Pelagie bildete mit den Fingern eine Pyramide und erzählte begeistert: »Ich war noch ein Kleines Mädchen, als der Gedenkgottesdienst für Kaiser Napoleon stattfand. Alles war schwarz drapiert, so 55
feierlich, und wunderbare Musik wurde gespielt, ein französisches Chorwerk. Man meinte, Gott selbst sei da.« Draußen war es inzwischen dunkel geworden. Die drei Gesichter verschwammen im milden Schein der Lampe aus dem Nebenzimmer, so daß man sich den Ausdruck auf Pelagies Gesicht nur vorstellen konnte, als sie wisperte: »Aber schließlich ist Gott überall, nicht wahr? Ich denke immer, daß es keine Rolle spielt, auf welche Weise man ihn im Herzen anbetet. Ich weiß, daß einige Priester sagen, unsere Art des Anbetens sei die einzig richtige, aber ich glaube nicht, daß das wahr ist. Solange man Gott ernst nimmt. Das tun allzu viele Menschen in unserer Stadt leider nicht.« »Genau das hat Mrs. de Rivera heute abend zu mir gesagt«, bemerkte David. »Rosa? Ich habe Rosa sehr gern. Sie hat mir erzählt, daß du auf der Seereise ihren Bruder kennengelernt hast.« »O ja, und wir mochten uns. Aber wenn es an der Zeit ist, wird er auf ein College im Norden gehen, so daß ich ihn wahrscheinlich nie wiedersehe.« »Ja, die Anglos schicken ihre Söhne auf das William-und-MaryCollege oder sogar nach Harvard. Wir Kreolen senden unsere Söhne natürlich nach Paris, aber vielleicht kannst du ebenfalls auf ein College im Norden.« David entgegnete nichts. Die Möglichkeiten, die Pelagie aufzeigte, waren verwirrend, fast erschreckend. »Oder willst du vielleicht lieber nach Paris? Und Miriam auch? Ich war eine Zeitlang in Frankreich auf einer Schule.« »Nein«, antwortete David. Das erschreckte ihn noch mehr. »Ich will nicht nach Europa zurück. Und ich will auch nicht, daß Miriam zurückgeht«, fügte er fest hinzu. »Oh, Miriam kann hier zur Schule gehen. Bei einem Mädchen ist das belanglos. Sie wird jung heiraten, hübsche Mädchen tun das immer. Ich war sechzehn. Ich habe Sylvain mit fünfzehn kennengelernt, ein Jahr darauf haben wir geheiratet. Ach«, rief Pelagie, »ich 56
hoffe nur, daß du auch so glücklich wirst wie ich, Miriam. Aber du wirst das sicher.« Sie faßte die Kleine bei den Schultern und drehte sie ins Lampenlicht: »Sieh nur diese Augen! Du wirst dein Haar aufstecken, so, mit einer Locke über jedem Ohr. Dein Papa wird dir bestimmt Diamanten für deine Ohren kaufen, du hast reizende kleine Ohren. O ja, du wirst eine Schönheit werden, mein Liebes.« Sie plappert wie ihre Mutter, dachte David, das heißt, wie ein dummes Kind. Aber gütig ist sie trotzdem. Ihm gefiel die Zärtlichkeit, mit der ihre Hände Miriam berührten. »Ihr müßt uns auf dem Land besuchen. Wir wohnen bei Sylvains Vater, aber Sylvain hat mir versprochen, daß er ein Haus in der Stadt kauft, damit wir ein eigenes Heim für die Saison und die Opernzeit haben. Ich liebe Opern sehr…« Das Geplapper hörte auf, als Sylvain erschien. Er ging mit seiner Frau in ihr gemeinsames Zimmer. Blaise erhob sich von seiner Matte auf dem Boden, als David in sein Zimmer trat. »Tut mir leid, daß ich dich geweckt habe, Blaise.« »Nein, nein, ich habe auf Sie gewartet, M'sieur David.« »Leg dich nur wieder hin. Ich komme in einer Minute.« »Wohin gehen Sie, M'sieur David?« »Nenne mich nur David, sei so nett, Blaise. Ich gehe zur olla im hinteren Gang und hole mir Wasser.« Blaise schaute ihn entsetzt an: »Nicht zu dieser! Sie ist noch nicht gereinigt. Seraphina hat erst vor einer knappen Stunde Alaun hineingegeben. Außerdem soll ich alles für Sie holen, M'sieur David.« »Aber ich bin es gewöhnt, mir alles selbst zu holen, Blaise.« »Nicht hier, M'sieur David.« Blaises nackte Füße patschten auf den Stufen, als er nach unten lief; sein schmaler Schatten tanzte an der Wand entlang. David ging auf die rückwärtige Galerie hinaus, von der man den Innenhof überblickte. Der Mond war aufgegangen, und in der hellen Nacht konnte er die gezackten Umrisse breiter Bananenblätter 57
sehen; eine Windbö strich kurz darüber hin und brachte sie zum Rascheln. Er hörte das Rauschen und Plätschern von Wasser, und da fiel ihm ein, daß es am Ende des Gartens einen Brunnen gab. Ein frischer, leicht herber Geruch lag in der Luft; David erinnerte sich, daß man ihm gesagt hatte, er komme von den Pfeifensträuchern, die sich wie Schnee von der jenseitigen Wand abhoben. Ein ruheloser Vogel stieß einen erschreckten, scharfen Laut aus. Süße Nacht! Eine Nacht, wie der Junge noch keine erlebt hatte. So süß, so verwirrend! Vielleicht bin ich zu spät hierher gekommen, dachte er. Vielleicht ist man mit fünfzehn schon zu alt für eine Veränderung wie diese. Ich weiß es nicht. Ich will alles recht machen. Aber ich finde mich in diesem Haus hier einfach nicht zurecht.
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o, jetzt hast du die Münze der Vereinigten Staaten gesehen«, sagte Ferdinand, als sie übers untere Ende der Esplanade Avenue schritten. Er legte David den Arm um die Schulter: »Du weißt gar nicht, was es für mich bedeutet, meinen Sohn bei mir zu haben! Mein einziger Kummer ist – ich kann das gar nicht oft genug wiederholen –, daß es so lange gedauert hat, daß wir soviel Zeit verloren haben. Aber genug damit. Jetzt bist du da«, sagte er fröhlich, »wenden wir uns also wieder der Gegenwart zu. Worüber habe ich gesprochen? O ja, ich habe gesagt, da ich neben dem Handelsgeschäft viele andere Dinge betreibe. Weißt du, mir genügt es nicht, für Geld zu arbeiten. Wenn man einmal Geld hat, muß man es für sich arbeiten lassen! Darum breite ich mich aus, siehst du. Ich mache im ganzen Land geschäftliche Transaktionen. Ich besitze eine Reihe Hypotheken, und ich bin ein Mittelsmann für Pflanzer, die einen Vorschuß auf ihre Ernte brauchen. Allem Anschein nach brau58
chen sie den immer. Weißt du, sie leben flott… David, möchtest du eine cala probieren? Das ist eine Art Reispfannkuchen, schmeckt schrecklich gut.« Vor der Kathedrale kochte eine Negerin in gestärkter weißer Schürze auf einem kleinen Feuer. Ferdinand rief ihr zu: »Wie geht es, Sally? Das ist mein Sohn. Ich möchte ihm eine cala kaufen, aber er hat keinen Hunger. Sie macht die besten in der ganzen Stadt«, sagte er im Weitergehen zu David. »Früher gehörte sie einem Freund von mir, aber sie hat sich freigekauft. Eine farbige freie Frau erkennt man immer an dem Zignon, dem Tuch, das sie auf dem Kopf festgebunden hat. Einige dieser Frauen sind großartige Köchinnen. Abends erscheinen sie mit süßen heißen Kartoffelkuchen. Du mußt einen probieren.« Als sie um eine Ecke bogen, gerieten sie unversehens in geschäftiges Getriebe; David hatte noch nie soviel Farbe in Bewegung oder eine so große Menschenschar auf einem Platz gesehen. Seine sämtlichen Sinne gerieten in Erregung. Stimmen schwirrten, Blumenduft verschmolz mit den Gerüchen des Flusses, das sengende Licht blendete ihn. Staunend blieb er stehen. Ferdinand freute sich, daß David so beeindruckt war. »Überrascht« fragte er lachend. »Ja, der Französische Markt ist schon eine Augenweide.« Unter der Levee drängten sich Buden in einer langen Reihe aneinander. Mit Wasser besprengte Gemüse waren zu Buketts angeordnet. In den Fischbuden schimmerten die auf Eis liegenden frisch gefangenen Fische silbern, schwarz und graufleckig. Eine alte Indianerin hockte hinter einem Stapel Lederwaren. Damen mit Sonnenschirmen, gefolgt von Dienerinnen, schritten von Bude zu Bude oder konsumierten an kleinen Tischen unter einem schattenspendenden Dach Krapfen und Kaffee. Stumm und staunend ging David hin und her, er schaute und prägte sich alles ein, als sei er ein Maler, der im Kopf eine erste Skizze zeichnete. 59
»Möchtest du einen café noir?« fragte Ferdinand drängend. »Nein? Ich vermute, daß du für heute genug gesehen hast, stimmt es?« Am Ende der Budenreihe, die sie nun hinter sich ließen, stand auf einer Plattform ein Zahnarztstuhl, umringt von den Mitgliedern einer laut spielenden Musikkapelle. Mehrere Zuschauer beobachteten, wie einem unglücklichen Mann, dessen Schreie die Kapelle übertönte, die Zähne gezogen wurden. »Der Kerl, der Zähne reißt, hat einen Bruder im Medical College. Der Bruder hat den Lehrstuhl für medizinische Wissenschaft inne. Ich kenne ihn recht gut. Ich kenne auch viele andere. Jedenfalls könntest du ohne Schwierigkeiten dort aufgenommen werden. Ich werde dich bald einmal vorstellen, aber es hat keine Eile. Vor dir liegen erst noch einige Jahre Arbeit. Die Amerikaner – weißt du, das muß ich ihnen zugute halten – setzen sich wirklich für Bildung ein. Wie ich höre, wollen sie einen Mann herholen, der oben in Massachusetts, das ist weit nördlich von New York, mit jemandem namens Horace Mann gearbeitet und kostenfreie Schulen eingerichtet hat. Angeblich werden auch wir hier in ein paar Jahren kostenlosen Schulunterricht haben. Eine gute Sache! Ich erhielt in Europa weiß Gott keine gute Schulbildung und spüre seither immer wieder, daß sie mir fehlt. Die fehlende Bildung macht einen Menschen manchmal schüchtern, auch wenn ich das nur ungern zugebe. Freilich bin ich auch ohne sie ganz gut zurechtgekommen, nicht wahr?« Er lachte. »Aber ich möchte, daß du alles lernst, was du lernen kannst, David. Zum Glück bist du nicht auf eine kostenlose öffentliche Schule angewiesen. Die Leute unserer Gesellschaftsschicht stellen Privatlehrer an oder schicken ihre Söhne auf Privatschulen.« David erinnerte sich an das Gespräch vom Vorabend mit Pelagie und fragte: »Was ist mit Miriam?« »Oh, für Mädchen gibt es hier in der Gegend viele kleine Schulen, die gewöhnlich von Damen geleitet werden, Frauen aus guter Familie, sehr kultiviert, die Geld brauchen. Ich weiß nicht, wieviel die Mädchen lernen, jedenfalls lernen sie genug, alle die Dinge, die 60
das Leben angenehm machen. Was braucht ein Mädchen schließlich schon?« Die lebhafte kleine Miriam, so wißbegierig, geistig rege und phantasievoll! Ihr Verstand entsprach sicher seinem eigenen, oder etwa nicht? David kam der Gedanke, daß der Verstand eines Mädchens vielleicht durch hohlen Luxus genauso verkümmern konnte wie durch die klägliche Armut ihres einstigen europäischen Heimatdorfes. Er war drauf und dran, es auszusprechen, da fuhr der Vater mit seinen Erklärungen fort, während sie am Flußufer entlangschritten: »Diese Schiffe sind meine Verbindung mit der Welt, eine lebenswichtige Verbindung.« Er schaute sich um und senkte die Stimme, als wollte er verhindern, daß Fremde etwas über seine Privatangelegenheiten erfuhren: »Das vorige Jahr, David, brachte uns allein aus Mexiko Hartgeld im Wert von dreißigtausend Dollar ein.« In Vierer- und Fünferreihen lagen die Schiffe längs des Flußufers vor Anker. Fußgänger, Reiter, elegante Kutschen und überladene Wagen strömten durch die betriebigen Straßen. Die Stadt prunkte und glänzte vor Wohlstand. »Hier im Uferbezirk kannst du jeden nur denkbaren Typ Mensch sehen«, sagte Ferdinand nachdenklich. »Jede Art von Bauernfänger und Schwindler. Du wirst einen Arbeiter sehen, der für ein paar Cents würfelt, und einen reichen Mann, der bei Bootsrennen Tausende setzt. Auf den Flußdampfern gibt es professionelle Spieler. Du mußt auf Falschspieler achten, die flußaufwärts fahren. Nicht wenige Pflanzer wurden schon von solchen Herren hereingelegt. Ich habe erlebt, daß ein Mann die Erntegewinne eines ganzen Jahres binnen einer Stunde beim Poker verlor. Viele tausend Dollar.« Sie überquerten die Straße, um auf der Schattenseite unter den drei übereinanderliegenden Balkonreihen mit den kunstvollen schmiedeeisernen Gittern weiterzugehen. Irgendwo über ihnen goß jemand hängenden Farn, und einen Moment lang durchzog prickelnder Duft die schwüle Luft. »Das dort an der Ecke der Royal Street ist die Baumwollbörse. Vielleicht gehe ich morgen mit dir hin und stelle dich einigen mei61
ner Freunde vor. Möchtest du bestimmt nichts, bevor wir nach Hause gehen?« »Doch«, antwortete David, dem etwas eingefallen war. »Ich würde gern ein paar englische Bücher kaufen.« »Willst du noch immer mit Englisch weitermachen? Nun gut, ein Stück weiter vorn ist eine Buchhandlung. Wir haben in der Stadt etwa neun Buchhandlungen, weißt du.« Ganz hinten in dem schmalen, langen Laden saß ein alter Mann, der ein Käppchen trug. Bei ihrem Eintritt stand er auf. »Englische Bücher? Hier herüben. Poesie, Romane, Geschichte, Grammatik. Alles da.« Er beobachtete David neugierig, während dieser den Inhalt der Regale prüfte. »Wenn Sie eine Grammatik wollen, junger Herr, empfehle ich Ihnen die hier.« »Ich möchte selbst lernen, Englisch zu sprechen«, erklärte David auf Französisch. »Dann reicht die Grammatik allein nicht. Sie sollten sich mit der Literatur vertraut machen. Auf diese Weise wird die Sprache für Sie lebendig. Mögen Sie Poesie?« »Ich habe nicht sehr viel gelesen und das wenige in Deutsch. Aber ich liebe sie, ja.« »Dann versuchen Sie es mit Lord Byron, dem Romantiker.« Er sprach das Wort genüßlich aus und wiederholte es: »Ein Romantiker. Ein Dichter für junge Männer. Nicht mehr für mich, aber ganz bestimmt für Sie. Und was die Romane angeht, nehmen Sie Sir Walter Scott. Er wird Sie interessieren, ist keine Spur trocken.« »Mein Sohn kann so viele Bücher wählen, wie er will«, sagte Ferdinand. »Bei der Bildung knausere ich nicht.« Der alte Mann verneigte sich: »Sehr weise von Ihnen, mein Herr.« Als der Stoß ausgewählter Bücher bezahlt war, schlurfte der Ladenbesitzer zum Regal zurück, zog ein in Leder gebundenes Bändchen hervor und reichte es David: »Wenn Sie mit all den anderen fertig sind, haben Sie genügend von der Sprache gelernt, um Jonathan Swift schätzen zu können, den größten unter ihnen. Er war Satiriker. Wissen Sie, was ein Sa62
tiriker ist, junger Herr? Nein? Ich will es Ihnen sagen. Er ist ein Mann mit scharfen Augen und einer scharfen Zunge oder, besser gesagt, einer scharfen Feder. Er sieht die Übel der Welt. Er spottet und schimpft.« »Ich glaube doch, daß so etwas den Verstand eines fünfzehnjährigen Jungen übersteigt«, wandte Ferdinand ein. Der alte Mann schüttelte den Kopf: »Nicht den Verstand dieses Jungen. Ich sehe ihm an den Augen an, daß er es verstehen wird. Hier. Nehmen Sie.« Nachdem sie die Buchhandlung verlassen hatten, fragte David, warum der alte Mann ihm ein Geschenk gemacht habe. »Das wird lagniappe genannt«, erklärte Ferdinand. »Die Kaufleute hier machen immer eine Dreingabe, im Verhältnis zu dem, was man gekauft hat. Und wir haben ein ganzes Paket gekauft. Wir hätten es von Maxim oder Blaise abholen lassen sollen.« »Papa, ich brauche keinen Diener, damit er ein paar Bücher trägt. Wissen Sie, der Mann gefiel mir. Ihnen nicht auch? Er ist Jude, nicht wahr?« »Ich glaube schon, ja.« »Das Volk der Bibel«, sagte David wohlüberlegt. Er wußte nicht, was ihn trieb, seinen Vater immer wieder zu dem Thema zurückzuführen, das ihnen beiden nur Schmerz bereitete. Einen Moment lang schwieg Ferdinand, dann sagte er: »Weißt du, David, ich verstehe dich, auch wenn du das vielleicht nicht glaubst. Deine religiösen Gefühle sind völlig natürlich in deinem Alter. Mit fünfzehn fühlt man sich gern tugendhaft! Das tat sogar ich, aber ich muß zugeben, viel weniger lang als die meisten.« Er sprach mit einer Art amüsierter Toleranz. »Du wirst das wahrscheinlich mit der Zeit ablegen, jetzt, wo ich dich aus dem Dorfleben herausgeholt habe. Legst du es nicht ab, nun, das ist dann deine Sache. Ich werde mich nicht einmischen, schon um des gesegneten Andenkens deiner Mutter willen nicht.« »Ich weiß, daß ich es nicht ablegen werde.« 63
»Nun, die Zeit wird es zeigen. Ich habe dich, glaube ich, schon einmal darauf aufmerksam gemacht, daß Heine sagte, der Judaismus sei ein Unglück. Was meinst du, warum allein in den letzten zehn Jahren unter Friedrich Wilhelm III. mehr als zweitausend Juden getauft wurden! Weil es die einzige Möglichkeit ist, unter einem Tyrannen zu überleben. Darum! Zum Glück ist es hier nicht nötig zu konvertieren, und ich wollte das nie, wie ich dir auch schon gesagt habe. Ich möchte nichts, als in Ruhe gelassen werden.« »Wenn sie das tun«, entgegnete David. Auf der Chartres Street grüßten sich Ferdinand und ein untersetzter junger Mann in teurem schwarzem Anzug mit Verbeugungen. »Das war Jusah Benjamin«, flüsterte Ferdinand, »einer unserer aufstrebenden Anwälte. Ebenfalls Jude, aber er hält sich ebenfalls nicht daran. Da ist das St.-Louis-Hotel. Ausgezeichnete Küche; ich führe dich bald einmal zum Mittagessen hin. Die größten Auktionen der Stadt finden in diesem Hotel statt. Man kann dort alles erwerben, vom Schiff bis zum Haus, von der kompletten französischen Einrichtung bis zu tausend Morgen Land. Einfach alles.« Ein Plakat an der Wand erregte Davids Aufmerksamkeit. Er blieb stehen. Langsam entzifferte er den englischen Text: »Junger Neger, noch nicht zwanzig, hervorragender Kammerdiener, spricht Englisch und Französisch, kann ein wenig schneidern, ehrlich, gutes Aussehen.« Ihm schwante etwas, das ihn anzog und gleichzeitig abstieß. »Ich möchte hineingehen«, sagte er. »Jetzt? Zu der Auktion? Nun gut. Wir haben noch eine Stunde Zeit.« Stühle in konzentrischen Kreisen umringten eine erhöhte Plattform, auf der ein energischer Mann in hellem Hemd stand. Ferdinand zwängte sich durch die Reihen, vorbei an Hüten, die auf Knien in Hosen aus feinem Wollstoff lagen. Auf den Gängen standen Männer in Gruppen beisammen; Stimmengewirr herrschte wie in einem Theater vor Beginn der Vorstellung oder wie auf einem Jahrmarkt, dachte David, bevor die Darbietungen anfangen, die Gaukler oder 64
der tanzende Bär auftreten. Erst als er saß und freien Blick auf die Plattform hatte, erkannte er die wahre Natur des Ereignisses. Trotz der Sprachbarriere und obwohl der Auktionator ständig zwischen Französisch und Englisch wechselte, verstand er. Sie verkauften Menschen. So hatte er sich das beim Lesen des Plakates nicht vorgestellt. Eine kleine Schar wartete neben der Plattform gottergeben und stumm, wie Pferde auf den dörflichen Jahrmärkten. David strengte seine Augen an; er sah einen buckligen alten Mann, drei kleine Bürschchen, mehrere dicke Frauen, von denen eine auf seltsam gewinnende Art lächelte, und eine junge, sehr hellhäutige Frau – drei Viertel weiß, schätzte er –, die lautlos weinte. Er blickte den Mann an, dessen kräftige Stimme den Lärm übertönte: »Meine Herren, meine Herren! Ruhe bitte! Wir wickeln hier Geschäfte ab, wir hören nichts. Wieviel bieten Sie mir für Lucinda hier?« Seine Hand lag auf der Schulter einer hübschen Negerin, die ein sauberes grünes Baumwollkleid trug. Stolz aufgerichtet stand sie da, ohne die Hand oder die Stimme zu beachten. Ihre eigenen Hände hatte sie auf die Taille gepreßt und den Kopf hoch erhoben. Sie schien weit über die Anwesenden hinauszuschauen. Die Frage wurde wiederholt: »Wieviel bieten Sie mir für Lucinda hier? Wer fängt an zu bieten? Sie kann waschen, sie kann kochen. Der einzige Grund, warum sie hier angeboten wird, ist der, daß ihr Herr gestorben ist, ohne Erben zu hinterlassen, deshalb muß sie veräußert werden. Kommen Sie! Wer fängt an?« »Sechshundert«, rief jemand. »Das können Sie nicht ernst meinen, Sir! Dafür könnte ich diese Frau nie und nimmer weggeben!« »Ziemlich angejahrt«, wandte der Mann ein. »Alt, Sir? Wir reden hier nicht von einer Sechzigjährigen. Diese Frau ist kaum einen Tag über vierzig. Sie ist stark, wohlerzogen und gesund. Auch keine von eurer rebellischen, minderwertigen KentuckyRasse! Sie wurde etwa fünfzig Meilen flußaufwärts von hier gebo65
ren und aufgezogen.« Er drehte den Kopf auf die andere Seite: »Was wird geboten?« »Siebenhundert.« »Achthundert.« »Achthundert, ich höre achthundert. Wer bietet mehr?« David spürte, daß sich in seinem Nacken und unter seinen Armen Schweiß sammelte. Der Schweiß war trotz der Hitze in der vollen Halle kalt. Auch seine Hände waren kalt. Er steckte sie in die Taschen. Die Frau Lucinda schaute noch immer auf etwas, das sich außerhalb dieses Raums und dieses Ortes befand. David, zutiefst entsetzt, hatte den Eindruck, daß nur ihr Körper anwesend war, gleichgültig und geduldig; ihr Geist hatte sich entfernt. »Eintausend« »Eintausendfünfzig.« »Elfhundert.« »Ich höre elfhundert. Bietet jemand mehr? – Elfhundert zum ersten, zum zweiten, zum dritten. Lucinda ist verkauft für elfhundert Dollar. Der nächste bitte. Kommt, kommt, bringt sie herauf, ein bißchen schneller. Wir haben eine lange Liste, und der Tag ist schon halb vorbei.« Zwei Jungen stiegen die Stufen der Plattform hinauf. Sie waren nicht älter als zwölf oder dreizehn und betrachteten die Menge mit rollenden Augen, in denen sich Angst und kindliche Neugier mischten. Der Auktionator begeisterte sich: »Nun, hier haben wir ein prächtiges Paar, Brüder sind es, noch nicht ganz erwachsen, zugegeben, aber sie verstehen zu arbeiten! Ihr Besitzer trennt sich sehr ungern von ihnen, aber er ist überbesetzt mit Personal. Er möchte sie als Paar verkaufen, wenn möglich. Sie sind zusammen aufgewachsen…« »Chanute und Maxim kamen auch zusammen zu mir«, flüsterte Ferdinand. »Allerdings sind sie Vettern, keine Brüder.« »Der Besitzer ist bereit, beim Preis Zugeständnisse an denjenigen zu machen, der das Paar kauft.« 66
Auf der Plattform griff der jüngere der beiden plötzlich nach der Hand des anderen. David spürte in der Brust ein Pochen, als werde er krank. Er stand auf und stieß versehentlich seinen Nachbarn an, der ihn böse musterte. »Gehen wir, bitte! Ich muß hier raus, Papa.« Ferdinand folgte ihm auf die Straße. »Fandest du das so bedrükkend?« fragte er neugierig und gab gleich selbst die Antwort: »Ja, es kann bedrückend sein, wenn man es zum erstenmal sieht und nicht weiß, wie das System funktioniert. Das Ganze ist wirklich nicht so grausam, wie es ausschaut oder wie es früher war, weißt du. Guter Gott, zu Jean Lafittes Zeiten legte man den Afrikanern, wenn man sie herbrachte, Handfesseln und Halsbänder aus Eisen an. Lafitte hatte eine Schmiedewerkstatt in der St. Philip Street, wo er die Ketten schmiedete. Aber das ist längst vorbei. Heute ist der Neger Bestandteil einer respektablen Geschäftsstruktur. Unsere größten Gesellschaften wie die Eisenbahn und das Gaswerk benutzen Neger.« »Besitzen sie«, sagte David. »O ja, und bringen ihnen jede Art von Arbeit bei, die du dir vorstellen kannst, vom Zimmerhandwerk bis zum Lebensmitteleinkauf. Alle Fertigkeiten. Die Leute werden gut geschult und gut behandelt.« Von der anderen Straßenseite schaute ein junger Mann mit schwarzem Bart herüber und grüßte Ferdinand durch ein Antippen seines Hutes. »Das ist Eugene Mendes. Er stammt aus Louisville. Es würde mich nicht überraschen, wenn er sich hier niederließe. Erst vorigen Monat hat er Land gekauft, ein schönes Grundstück an der Canal Street. Er handelt mit Waren, die ihm aus dem Norden in Kommission gesandt werden. Würdest du glauben, daß er nicht viel älter als zwanzig ist? Bestenfalls zweiundzwanzig. Er hatte allerdings ein Erbe, das ihm den Anfang erleichterte. Aber man muß es auch verstehen, eine Erbschaft richtig einzusetzen, weißt du. Ja, die Stadt hier bietet einem jungen Mann, der sich gut umsieht, große Möglichkeiten. Ein phantastischer Ort für junge Leute.« Er tätschelte David die Schulter. »Ich erwarte große Dinge von dir, David.« Er sah seinen Sohn 67
drängend an, als versuche er in ihm eine Begeisterung zu wecken, die seiner eigenen entsprach. Forschend suchte er in Davids Gesicht nach einem Zeichen der Ermutigung, doch er erhielt keines. Hat er denn nicht bemerkt, fragte sich David, als sie zur Haustür kamen, daß ich auf dem ganzen Weg kaum ein Wort gesagt habe? Voll Trauer und Zorn dachte er. Mein Vater wird von mir enttäuscht sein. Ich bin nicht so, wie er mich haben will. Am Abend dann war Sylvain Labouisse da. David ging nach dem Essen mit den Männern in die Bibliothek, während die Damen auf der Veranda frische Luft schöpften. Um die Mitte des Abends schoben Ferdinand und Sylvain die Schachfiguren weg, und in der Hitze der Debatte stellten sie sogar ihren café brulot beiseite. Aus den Tassen stieg ein scharfer Geruch nach Zitronenschale und flambiertem Brandy. »Fanatiker«, sagte Sylvain zornig. »Kommen einfach in ein friedliches Land. Abolitionisten und Fanatiker.« Seit einer Viertelstunde lauschte David stumm der erregten Unterhaltung. Jetzt fragte er, was Abolitionisten seien. »Leute, die aus dem Norden herunterkommen, in der Absicht, die Neger aufzustacheln und zu befreien. Befreien«, wiederholte Sylvain verächtlich. »Wofür denn befreien? Dafür, daß sie umherstreichen wie Kinder ohne Eltern und Heim, ohne Nahrung und Kleidung.« »Was tun die Abolitionisten, wenn sie hierher kommen?« erkundigte sich David. Sylvain kreuzte seine Beine. Er war angespannt vor Empörung. »Tun? Nun, Terror verbreiten, das ist das einzige, was sie tun. Sie würden uns alle gern in unseren Betten ermorden lassen. Voriges Jahr hatten wir einen Aufstand, keine zehn Meilen vom Besitz meines Vaters entfernt. Einige Neger waren wild aufgepeitscht, aber zum Glück kamen wir rechtzeitig hin. Danach hatte ich zwei Wochen lang meine Pferde gesattelt im Stall stehen, um jederzeit losreiten zu können. So lange dauerte es, bis man sicher wußte, daß sich alles wieder beruhigt hatte.«
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»Sylvain verschweigt, daß der Gouverneur ihn voriges Jahr zum Oberst der Miliz ernannte«, sagte Ferdinand. »Der rechte Mann am rechten Platz.« »Laß mich auf eines hinweisen«, fügte Sylvain an. »Während der ganzen Sache, solange ich weg war, bewachten meine eigenen Neger unsere Familie getreulich. Ich setzte volles Vertrauen in sie, und es war gerechtfertigt. Soviel zu deinen Abolitionisten!« Er schnippte verächtlich mit den Fingern. Ferdinand meinte: »Ganz offensichtlich sind die Neger mit ihrem Los zufrieden. Sie haben gütige Herren und wissen, daß sie gut dran sind.« »Sind alle Herren gütig?« fragte David. »Nein«, antwortete Ferdinand milde. »Genausowenig, wie alle Menschen gerecht sind. Aber die meisten sind gütig, meinst du nicht auch, Sylvain? Schließlich hat keiner von uns je einen Neger gepeitscht. Und ich weiß gewiß, daß mir auch niemand bekannt ist, der es getan hat. Die meisten Leute sind anständig. Zumindest nach meiner Erfahrung.« Sylvain wandte sich David zu: »Ich werde dir etwas Interessantes erzählen. Wußtest du, daß fast jeder Neger lieber einen Weißen zum Herrn haben will als eine freie farbige Person? Wenn du eine grausame Behandlung sehen willst, da kannst du sie sehen, hier in dieser Stadt, wo die freien Farbigen Hausbedienstete halten. Sie behandeln sie scheußlich!« David holte eine Zeitung: »Ich habe heute nachmittag in der Bee etwas gelesen. Hier ist es.« Er las laut vor: »Xavier Barthélémy setzt eine Belohnung von dreißig Dollar aus für die Zurückbringung seines Boys Caesar, etwa sechzehn Jahre alt, hellhäutig, helle Augen, kann noch Teile einer schönen Uniform tragen, graues Jackett und passende Hose, Silberknöpfe. Lief vorigen Donnerstag weg.« Er verstummte. »Und?« fragte Ferdinand. »Ein Junge in meinem Alter! Ein Jahr älter«, sagte David langsam. »Ein Junge wie ich.« 69
»Nicht wie du. Er ist er, und du bist du«, entgegnete Sylvain in gereiztem Ton. Bislang hatte er meist an David vorbeigeschaut, doch jetzt blickte er ihm in die Augen. David dachte: Wir sind wie zwei fremde Hunde, die einander lauernd umkreisen und auf den Angriff warten. Sylvain schaute als erster weg. »Du mußt dir klarmachen, wie wenige je versuchen, ihr Heim zu verlassen. Und wenn, dann tun sie es, weil ein Aufseher grausam ist. Seltsamerweise kommen neun von zehn Aufsehern aus dem Norden. Die meisten von denen, die frei sein wollen, können ihre Freiheit weit angenehmer erringen als durch Weglaufen, das versichere ich dir.« Immer tiefer fühlte sich David berührt, fast gegen seinen Willen. Er mußte mehr erfahren. Er mußte Bescheid wissen. »Und wie erringt man seine Freiheit?« fragte er. »Nun«, begann Ferdinand, »jemand, der einen Beruf hat, sagen wir, ein Barbier oder ein Kindermädchen, kann sich verdingen. Er bezahlt seinem Herrn jeden Monat einen gewissen Betrag für dieses Privileg und spart den Rest, bis er genug hat, um seine Freiheit zu kaufen. Das funktioniert sehr gut.« »Für den Herrn«, sagte David. Sein Vater fragte verblüfft: »Wie meinst du das?« David sprach bedächtig, kämpfte seinen Abscheu nieder: »Ich meine, daß es unvorstellbar und entsetzlich ist, einen anderen Menschen zu besitzen. Es ist nicht…« Er suchte ein Wort. »Es ist nicht zivilisiert.« Deutlich sah er das Bild der Frau namens Lucinda vor sich, ihr teilnahmsloses Gesicht, die Würde, die Resignation. Sylvain stieß ein unangenehmes kurzes Lachen aus: »Gestatte mir die Bemerkung, daß du wirklich nicht genug darüber weißt, um eine Meinung zu haben, David. Zufällig ist das System überaus zivilisiert. Es befreit den Geist des weißen Mannes von kleinlichen Sorgen und macht ihn frei für größere Unternehmungen. Und ganz ohne Zweifel zivilisiert es den Afrikaner, der in Afrika nichts als ein Kannibale war. Hier wird für ihn gesorgt, er wird in die Religion eingeführt und erhält Bildung. Er erwirbt ein Gewissen.« Sylvain hielt 70
ein paar Sekunden inne. »Und was das Gewissen angeht, laß dir sagen, daß ich mich auf einer Plantage unter meinen Negern viel sicherer fühle, als ich mich in einer Stadt im Norden mit aufgebrachten Banden arbeitsloser Fabrikarbeiter vor meiner Tür fühlen würde, auch wenn es Weiße sind.« »Aber vor einer Weile haben Sie gesagt, daß Sie Ihre Pferde in all diesen Nächten bereitstehen hatten…« Unbehaglich schaute Ferdinand von Sylvain zu seinem Sohn. »Sylvain hat recht, du weißt wirklich nicht genug darüber, David. Es ist dumm, über Dinge zu reden, die man nicht versteht.« »Was ich heute gesehen habe, war nicht schwer zu verstehen, Papa.« »Er war auf der Auktion im St. Louis«, erklärte Ferdinand, »und er…« David unterbrach ihn: »Ich denke seither ununterbrochen daran. Ich habe mir gemerkt, was Sie immer wieder über die Behandlung sagten, die wir in Deutschland erfuhren, und darüber, warum Sie weggingen und warum Sie wollten, daß wir weggehen.« Während er sprach, drängte sich ihm die alte Erinnerung an schreienden Terror, an den dunklen Hauseingang, rennende Füße und den blutbesudelten Rock seiner Mutter auf. »Mir scheint, das hier ist dasselbe. Genau dasselbe.« Nun wurde Ferdinand zornig: »Dasselbe? Unsinn! Frag Sisyphus, was er darüber denkt! Sisyphus, der in die Oper und die Konzerte der Freien Negergruppe geht und mit uns ans Meer fährt! Schau dir nächsten Sonntag Maxim und Chanute an! Die haben bessere Kleider, als du bei deinem Großvater hattest, als diese Leute auf dem Schiff hatten, die dir so leid taten. Schau deinen Blaise an…« »Es ist nicht mein Blaise. Ich besitze ihn nicht. Ich will ihn nicht besitzen.« »Du bist lächerlich, David. Du redest wie ein Kind… Na, du bist schließlich noch ein Kind, oder?« »Ich rede wie ein Jude. ›Denn wir waren Sklaven in Ägyptenland.‹ Also sollten wir um so mehr Mitleid haben, nicht wahr?« 71
»Du bringst die Dinge durcheinander. Das eine hat mit dem anderen nichts zu tun.« »Ich glaube doch«, entgegnete David. Er fühlte sich in Bedrängnis; ihm schien, irgendeine Flut nehme eine neue Richtung, und ihre gewaltigen Wasser drohten ihn zu verschlingen. »Weißt du, was ich finde?« fragte Ferdinand. »Ich finde, dieses Gespräch ist weit genug gegangen. David, als dein Vater befehle ich dir, das Thema fallenzulassen.« Sylvain musterte taktvoll seine Fingernägel. Ein winziges Lächeln umspielte seine wohlgeformten Lippen und gab zu verstehen: Streitet weiter, wenn ihr wollt; mein Interesse verdient die Sache wirklich nicht. Allein schon wegen dieser Überheblichkeit empfand David Abneigung gegen Sylvain. Leidenschaftlich rief er: »Das hier ist nicht so, wie ich mir Amerika vorgestellt habe! Ich dachte…« Er stockte. Selbst wenn er die Sprache besser beherrscht hätte, wäre er ins Stocken geraten. »Ich dachte, hier wäre alles sauber, anders…« Romantische Bilder erschienen vor seinem inneren Auge: Fichtenwälder, jungfräulich und duftend, heroische neue Städte, die alle irgendeine unbestimmte Tugend und Heiterkeit besaßen. Er wußte selbst nicht recht, was er erwartet hatte, aber ganz bestimmt nicht das, womit er sich jetzt konfrontiert sah. Gern hätte er seine Empfindungen erklärt: Daß alles ihn immer stärker bedrängte, daß er es nicht ertrug, an einem Ort zu sein, wo das Leben in gesellschaftliche Schichten unterteilt war und jeder Mensch für immer und ewig seinen ›Platz‹ hatte. Der Instinkt sagte ihm jedoch, daß keiner der beiden Männer ihn verstehen würde, schlimmer noch, daß er nur Spott geerntet hätte. Sylvains leises Lächeln war ohnehin schon offenem Amüsement gewichen. Seine zynischen Augenbrauen hoben sich zu Halbkreisen absoluter Verachtung. »Amerika ist nicht so, wie du erwartet hast? Was willst du dann? Willst du zurück in dieses Dreckloch in Europa? Hol dich der Teufel!« schrie Ferdinand, der so gut wie nie fluchte. 72
»Das will ich nicht«, entgegnete der Junge heftig. »Was willst du also? Entscheide dich! Du bist fünfzehn, ein junger Mann. Du solltest wissen, was du willst!« »Vor einer Minute haben Sie gesagt, ich sei ein Kind.« »Was versuchst du da? Mir ein Bein zu stellen? Das lasse ich mir nicht bieten, David. Ich habe bisher geschwiegen, aber du kannst es ruhig hören: Du bist eine Qual für mich. Ich versuche, dies und jenes zu übersehen und zwischen uns etwas aufzubauen, aber du scheinst es darauf anzulegen, das zu verhindern. Es ist traurig, sage ich dir, schrecklich traurig – jahrelang habe ich nur darauf hingearbeitet, uns zusammenzubringen, und jetzt willst du offenbar nichts, als mit mir streiten.« »Ich will nicht streiten, Papa. Aber ich habe einfach – einfach das Gefühl, daß ich nicht hierher passe.« »Willst du gefälligst leiser reden! Du erschreckst die Frauen. Schau, du hast mit deinem Geschrei schon dem Kind Angst gemacht.« Miriam stand in der Tür und blickte von einem zum anderen. Voll Entsetzen erinnerte sich David daran, daß laute, zornige Auseinandersetzungen ihr fürchterlichen Schrecken einjagten, daß sie daheim immer die Finger in die Ohren gesteckt hatte und aus dem Haus gelaufen war. Pelagie zog sie hinaus: »Komm, Miriam. Das hat nichts auf sich. Es ist nur Männergerede. Keine Sorge.« »Vielleicht wäre es erträglich«, sagte David, »wenn Sie wenigstens einsähen, daß Sie unrecht haben, und wenn Sie versuchen würden, die Situation zu ändern. Lassen Sie alle Dienstboten frei und zu diesen – wie haben Sie sie genannt, Abolitionisten? – zu diesen Abolitionisten gehen.« Sylvain hustete und warf Ferdinand einen Blick zu, der besagte: Er ist Ihr Sohn, werden Sie dies dulden? Ferdinand stand auf: »Dummes Geschwätz! Töricht und gefährlich! Ja, gefährlich! Rede weiter so, und kein geachtetes Haus zwischen hier und Richmond in Virginia wird je mehr einen von uns empfangen! Sei dir darüber klar, David, daß ich so etwas nicht dul73
de. Du mußt mir versprechen, damit aufzuhören, oder…« Zitternd fuhr der Vater fort: »Oder du kannst nicht hierbleiben.« David zitterte ebenfalls. Doch nun brach die große Flut wirklich über ihn herein und riß ihn mit. »Ich fürchte, dann kann ich nicht hierbleiben«, sagte er leise. Ferdinand schritt erregt auf und ab. Er schlug die geballte Rechte in die linke. »Wurde je ein Vater so gequält?« fragte er Sylvain, doch er bekam keine Antwort. Er wirbelte zu David herum: »Was willst du? Was soll aus dir werden?« »Ich kann arbeiten. Ich kann in den Norden gehen, dorthin, wo die Abolitionisten sind. Ja, ich werde arbeiten. Ich bin stark.« »Arbeiten? Und was, zum Teufel, gedenkst du zu arbeiten?« »Ich weiß es nicht. Ich werde schon etwas finden. Sie haben auch etwas gefunden.« »Habe ich? In der Tat? Du willst das gleiche tun wie ich? Meile um Meile auf Schusters Rappen zurücklegen und Flitterkram feilbieten? Habe ich dich dazu aus Europa geholt, damit auch du ganz von vorne anfängst? Nein, verdammt noch mal, du fängst dort an, wo ich aufgehört habe! Du gehst zur Schule oder zurück nach Europa! So wahr ich hier stehe.« »Papa, ich werde im Norden studieren. Sie haben gesagt, daß ich das könnte.« In Davids Hals bildete sich ein Klumpen aus Zorn und Angst. Mit gewaltiger Anstrengung schaffte er es, ihn hinunterzuschlucken. »Dieser Junge, Gabriel Carvalho, hat gesagt, daß er auf das Columbia College in New York geht. Mir würde es in New York besser gefallen, und ich wäre Ihnen aus dem Weg. Es wäre besser für uns beide.« Ferdinand ging zum anderen Ende der Bibliothek, die Fäuste auf die Hüften gestemmt und den Kopf gesenkt. Vor dem Kamin blieb er stehen und schaute die Bronze-Uhr auf dem Sims an, als wisse sie die Lösung für sein vertracktes Problem. Plötzlich, zur halben Stunde, schlug die Uhr ihren dreifachen Ton, und Ferdinand fuhr zusammen, als habe er tatsächlich eine Antwort erhalten. 74
»Ja, bei Gott, ich glaube, das ist das beste. Vielleicht kommst du zur Vernunft, damit ich dir mein Geld hinterlassen kann, wenn ich sterbe, ohne daß es für irgendeine verrückte, verräterische Sache vergeudet wird.« »Ich will Ihr Geld nicht, wenn Sie sterben. Ich will es auch jetzt nicht«, entgegnete David steif. »Wie gesagt, ich kann für mich selbst sorgen.« Ferdinands Hals lief über dem Kragen rot an. »Du willst mein Geld nicht? Du wirst mein Geld nehmen und es mögen, verstanden?! Und du wirst etwas aus dir machen. Wenn du von hier weg bist, lernst du vielleicht schätzen, was du hier hast. Vielleicht kommst du zurück, hältst den Mund und überläßt das Regiment denen, die mehr davon verstehen als du! Ja«, schrie er wütend, als David aus dem Zimmer floh, »ja, lauf nur weg! Du willst mich jetzt nicht anhören, aber die Zeit wird kommen, wo du an das denkst, was ich gesagt habe.« Er wandte sich an Sylvain und rief: »Ein Maulesel! Ein gottverdammter Maulesel! Gott allein weiß, was aus ihm wird!« Die Kutsche, die David zur Bahn bringen sollte, stand unter Miriams Fenster. Als die Kleine den Vorhang beiseite schob, konnte sie das Flirren der Hitze über den Lederpolstern sehen, die sich bestimmt glühend heiß anfühlten. Maxims runder schwarzer Kopf war der Eingangstür zugewandt. Ein paar Sekunden noch, dann würde David dort auftauchen. Seine eiligen Füße waren die Treppe schon fast unten, wie sie hörte. Solch schwerer Kummer drückte ihre schmale Brust zusammen! Den ganzen Morgen hatte sie gebettelt, gefleht: »Nimm mich mit, David! Ich werde dir keine Schwierigkeiten machen. Ich werde zur Schule gehen und ganz ruhig sein, wenn du studierst, bitte…« Ihre Hände, ihr ganzer Körper hatten ihn angefleht. Doch er hatte ihr nur das Haar aus der Stirn gestrichen: »Nein, Liebchen. Du bleibst hier. Das ist viel besser für dich.« »Aber warum?« hatte sie gerufen. »Warum ist es besser?« 75
»Darum. Hör mich an. Du bist eine Frau, eine kleine Frau, und Frauen brauchen Schutz und Fürsorge. Hier wirst du alles haben. Du bist in Sicherheit.« Dann hatte er sich vor ihr niedergekniet, so daß sie in seine Augen schauen konnte, in denen grün-goldene Flecken das Braun sprenkelten. Auch den dichter werdenden schwarzen Flaum auf seinen Wangen hatte sie sehen können. Mit einemmal war er älter gewesen, fest entschlossen, nicht mehr der vertraute Bruder von früher. »Du wirst in die Schule gehen und hübsche Dinge lernen, Musik und Gedichte, und du wirst lernen, einen Haushalt zu führen, damit du heiraten und Kinder bekommen und gut für sie sorgen kannst.« Dann war er aufgestanden. Seine Stimme hatte sich verändert, irgendeinen Beiklang bekommen, der ein bißchen wie Lachen war, ein komisches, leicht ärgerliches Lachen: »Eines Tages, der Himmel weiß, wann, werden die Frauen mehr lernen und tun können. Vielleicht lasse ich dich dann sogar holen… Aber soweit ist es noch nicht, und einstweilen ist das hier für dich das beste.« Er hatte sie geküßt und war gegangen. Sie beobachtete ihn, wie er zur Kutsche ging. Sie sah, daß Maxim nach seinem Handkoffer griff, daß David die Hilfe ablehnte und das schwere Gepäckstück selbst hinaufhob. Dann stieg Maxim auf den Bock, und die Pferde zogen an. Auf der Straße herrschte drükkende Stille wie stets am späten Vormittag, deshalb war das gemächliche Klappern der Hufe deutlich zu hören. Am unteren Ende der Conti Street ging ein Händler vorüber. »Melonen! Süße Melonen!« rief er, bevor er verschwand. Zwei aufgeregte Spatzen rauften auf dem Verandageländer. Die Kleine ließ den Vorhang los, so daß er das Zimmer wieder verdunkelte, und legte den Kopf auf die Fensterbank – sie weinte nicht mehr, sie war nur schrecklich müde und leer. Der Hund zupfte mit der Pfote bettelnd an ihrem Rock. Als sie nicht reagierte, ringelte er sich auf dem Boden zusammen und schlief bald ein. Lange kniete Miriam reglos da, bis plötzlich im Zimmer ein zorniges Summen erklang. Sie wußte, daß es eine dieser dicken blau76
grünen Fliegen war, die auf den Straßen in Scharen über die Pferdeäpfel herfielen. Sie erbebte und hob den Kopf. Fanny erschlug die Fliege mit der Klatsche. Ein paar Sekunden lang standen die beiden Mädchen voreinander und sahen sich an. Dann öffnete Fanny die Arme, und Miriam sank an die knochige junge Schulter, die nach frisch gewaschenem Gingan* duftete. »Ich weiß, Mam'selle, ich weiß. Ich war auch traurig, als ich an diesen neuen, fremden Ort hier kam. Aber jetzt bin ich darüber weg, und Sie werden auch darüber wegkommen. Sie sind ja nicht mal einen Monat da.« »Glaubst du, Fanny?« »Natürlich glaube ich es. Sie werden in die Schule gehen, viele Freundinnen und Kleider haben und Feste feiern. Sie werden alles haben, was eine junge Dame wie Sie haben soll. Oh, es wird Ihnen hier gefallen! Maxim hat Blaise und mir immer wieder erzählt, wie angenehm es ist. Es ist wirklich sehr angenehm…«
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u ihrem elften Geburtstag bekam Miriam ein Tagebuch mit weißem Satineinband und Goldrand. Es enthielt für jeden Tag eine Seite, und die untere Ecke jeder Seite war geschmückt mit einer Blume – einer Orangenblüte, einem Veilchen oder einer Rose – und einem für junge Damen geeigneten Vers. Mai! Oh, du Blumenkönigin, Läßt die Blüten sich entfalten. Mit welchen Zaubermelodien Werden wir den Tag gestalten? * Gemustertes Baumwollgewebe in Leinenbindung. 77
Nach der Schule setzte sich Miriam immer an ihren Schreibtisch aus Rosenholz, während Fanny auf leisen Sohlen umherging, Kleider in den Schrank hängte, Unterröcke zusammenfaltete, die Jalousien zum Schutz vor dem hellen Licht im Westen herunterließ und die Schulbücher mit kurzen dumpfen Stößen auf dem Regal stapelte. Miriams Feder eilte über das seidige Papier, in der runden amerikanischen Schrift, die sie jetzt statt der einst zu Hause erlernten eckigen deutschen Schrift gebrauchte. Getreulich machte sie täglich ihre Eintragungen. Jahre später sollte sie ihre Worte wieder lesen, wehmütig amüsiert über die einfachen, oft trivialen, manchmal bezaubernden Sätze, diese Schilderungen aus einem Leben, das von der Kindheit in die Mädchenzeit überging, langsam und unaufhaltsam wie der Morgen in den Mittag. Die Worte sollten ihr die Ereignisse ins Gedächtnis zurückrufen: Ja, das war der Sommer, in dem wir zu Pelagie fuhren, das war der Tag, an dem ich den Vortragspreis gewann. Das wirkliche Leben jedoch, das Leben des Augenblicks, wo die Hand die Feder hielt und der Geist die Worte formulierte, war auf dem Papier nicht eingefangen. »Es ist jetzt zwei Jahre her, daß David fortging. Mir kommt es viel länger vor und auch viel länger, daß wir das weite Meer überquerten. Als die Nachricht kam, daß Opa gestorben war, versuchte ich mich an sein Gesicht zu erinnern. Sein Bart war dünn und grau; Adern krochen über seinen kahlen Kopf und seine Handrücken. Ich kniff die Augen zu, aber das war alles, was ich sah; ihn sah ich überhaupt nicht. Ich versuchte mir die Zimmer vorzustellen, in denen wir damals lebten. Hier in dieser Stadt deckt der gelbe Sonnenschein alles zu wie Farbe; dort drüben war die Welt grau und braun oder im Sommer von einem dunklen, saftigen Grün. Ich weiß, daß es so war, aber ich kann es nicht sehen.«
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»David und Papa schreiben einander nicht, außer daß Papa Geld schickt und David sich dafür bedankt. Anfangs sagte Papa zornige Dinge über David, aber ich glaube, in Wirklichkeit war er mehr traurig als zornig. Ich glaube, er ist ein Mann, der es nicht mag, zornig zu sein. Er ist es nie sehr lange. Tante Emma sagt, das sei der Grund, warum manche Leute ihn ausnützen. Papa erwähnt David kaum mehr. Tante Emma sagt, daß ich in der Schule sehr gut bin. Ich habe sie unten reden hören, beim Kaffee am Nachmittag. Tante Emmas Stimme ist voll und satt. Sie hat gesagt, Miriams Französisch ist perfekt. Alle Kinder lernen Sprachen mühelos. Und im Klavierspiel ist sie auch nicht schlecht, ebenso in der Blumenmalerei. Nur ihre Nadelarbeit – hm, sie wird meine Eulalie nie erreichen, das steht fest. Ich hasse Eulalie. Man sieht sie nie ohne irgendeine Nadel in der Hand, sie häkelt, macht Schiffchenarbeiten oder stickt Kleidchen für Pelagies Kinder. Tante Emma sagt immer: Arme Eulalie! Das unglückliche Mädchen! Sie hat so viele Tugenden. Es ist hart, daß ihre jüngere Schwester alles hat und sie… Mir scheint, daß wir erst gestern Pelagies Hochzeit gefeiert haben, und sich vorzustellen, daß sie in einem guten Monat ihr Drittes erwartet! Wir schnell die Jahre vergehen. Erst neulich habe ich zu Mr. Raphael gesagt, daß es bald Zeit wird, einen Mann für Miriam zu suchen. Sie wird schon zwölf. Erwachsene Frauen sagen solche dummen Dinge!« »Gestern bekam ich einen Brief von David. Er hat endlich einen langen Brief von Papa bekommen, der ihm viel Geld zum Bücherkaufen geschickt hat. Ich bin so froh. Heute hat Papa ein bißchen hoffnungsvoller geklungen, sogar ein bißchen stolz auf David. Wenigstens gibt er das Geld für Bücher aus, hat Papa gesagt. Er ist kein Verschwender wie so viele, die auswärts zur Schule gehen, die viel verprassen und zuviel 79
trinken. Columbia, sagt Tante Emma, ist eine vornehme Gegend. Die besten Familien leben in der Chambers und der Murray Street, das hat sie einmal gesehen, als sie in New York war. Die Leute werden einen guten Einfluß auf David ausüben. Sie sagt, David wird aus seiner Närrischkeit herauswachsen und heimkommen. Wenn er mit dem medizinischen College fertig ist, wird er heimkommen, du wirst sehen, sagt sie. Und Papa sagt, ja, vielleicht. Ich glaube das nicht.« »David schrieb, er freue sich darüber, daß ich Rosa jede Woche zu Hause besuche. Es ist ein jüdisches Haus. Was, hat Emma gesagt, du nennst sie nicht ›Mrs. de Rivera‹ oder wenigstens ›Tante Rosa‹? Sie ist schockiert. Aber Rosa hat mich darum gebeten, ihren Mann allerdings nenne ich Onkel Henry. Tante Emma versteht nicht, daß Rosa so ist; ihr liegt nicht viel an Regeln. Das Haus ist lustig. Die Buben sind solch hübsche kleine Kerlchen; sie zerschlagen alles, aber das scheint Rosa nicht zu stören. Sie läßt selbst Dinge herumliegen. Ich lache viel, wenn ich dort bin. In ihrem Haus lachen die Leute. Die Buben sind nach ihrem Vater und ihrem Onkel benannt. Juden sollen nicht nach Lebenden benannt werden, aber die de Riveras sind Sephardim, und das ist etwas anderes. Die Familie nimmt mich mit in die Synagoge, Gates of Mercy heißt sie. Pforten der Gnade. Manchmal, wenn Marie Claire in der Stadt auf Besuch ist, nehmen wir auch sie mit. Ich wünschte, ich hätte ein Talent wie Marie Claire. Onkel Sisyphus sagt, sie könnte eines Tages in der Oper singen. Sie ist gewiß nicht hübsch, außer wenn sie singt. Dann ist sie fast schön. Ich habe den dummen Gedanken, daß wir beide, wenn wir einmal erwachsen sind, irgendwie miteinander verbunden sein werden. Ich weiß nicht, warum das sein sollte, denn wir kennen einander kaum.« »Die Gesetzesrolle ist voller Löcher, die Synagoge ist arm, aber sie ist besser als nichts, sagt Onkel Henry. 80
Ich wünschte, Papa würde mitgehen, aber er tut es nicht. Das ist sehr schlimm. Tante Emma sagt, er freut sich, daß die de Riveras mich mitnehmen, sie sind eine angesehene Familie. Sie sind reich, das meinen Tante Emma und Papa damit. Ich fange an, Dinge zu verstehen, von denen die Leute glauben, daß ich sie nicht verstehe. Manchmal sitze ich beim Gottesdienst halb schlafend da, weil es sehr langweilig sein kann, aber das macht mir nichts aus, weil ich weiß, daß meine Mutter sich freut, wenn ich dort bin. Ich spüre ihren warmen Atem auf meinem Nacken. Ihre Schulter berührt meine. Sie trägt den buntkarierten Schal, den sie immer trägt, wenn ich an sie denke. Ich erinnere mich an ihren Tod, und ich weiß, daß ich ihretwegen nie von dem abgehen werde, was ich bin. Nie. Ich bin, was ich bin. In New Orleans herrscht ein rechtes Durcheinander.« »Wie gut, daß Papa letzte Woche nicht mit am Jörn Kippur teilnahm. Manis Jacobs, der gar kein richtiger Rabbi ist, sagte mitten im Gottesdienst, daß er heimgehe und esse, und wir alle sollten auch heimgehen und essen, denn Fasten sei lächerlich. Und jetzt, heute früh, ist er tot. Ich sagte zu Papa, daß das vielleicht Gottes Strafe sei, und Papa sagte, das sei abergläubischer Unsinn. Aber er sagte es nett. Nun wird Rolley Marks die Gemeinde anführen, und ich glaube, er weiß noch weniger als Manis Jacobs. Rosa sagt, er habe seinen Namen bekommen, weil er in dem Theaterstück The School for Scandal den alten Rowley spielt. Er ist nebenbei Schauspieler und auch Hauptmann bei der Feuerwehr. Aber er behauptet nicht, ein Religionslehrer zu sein, sagt Onkel Henry, und er erklärt immer wieder, daß mit der Zeit alles gut würde und daß man Verdienste anrechnen muß, wo es sich gehört. Diese Männer versuchen, unser Volk in Ermangelung von etwas besserem zusammenzuhalten. Wenigstens kehren sie
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nicht ihrem eigenen Volk den Rücken. Wie Papa, meint er, und wie so viele andere.« »Ich schrieb David und fragte ihn, warum er nicht nächstes Jahr hier Medizin studieren kann. Aber er will nicht. Er sagt, er kann nicht an einem Ort leben, wo Menschen andere Menschen so grausam behandeln. Man könnte meinen, die Leute sitzen herum und denken sich Methoden aus, ihre Dienstboten zu quälen! Tante Emma und Papa sind immer so gütig. Sie haben vorigen Monat für die Tochter der Köchin eine Hochzeit ausgerichtet, mit Schleier und einem großen Kuchen. Alle Leute im Haus mögen Tante Emma und Papa sehr gern. Sie kaufen für Maxim und Chanute, die immer miteinander albern, schöne neue Kleider. Wenn die beiden so schlecht behandelt würden, würden sie dann immer Spaß machen? Ich frage Fanny, ob sie glücklich sei, und sie antwortete, natürlich sei sie glücklich. Sie mag die Tänze in New Orleans. Wissen Sie, Farbige tanzen sehr gern, sagte sie. Und sie freute sich sehr über den Hut, den ihr Tante Emma zu Ostern schenkte. Ich fragte sie, ob es einen Ort gäbe, wo sie lieber wäre, und sie war ganz entsetzt. ›Sie werden mich doch nicht wegschicken?‹ fragte sie. ›Bestimmt nicht‹, antwortete ich. ›Ich werde dir das Lesen beibringen.‹ Ich arbeite nach der Schule mit ihr auf der oberen Veranda meine Lektionen durch. Sie lernt schnell, sie ist sehr gescheit, glaube ich.« »Ich bekam einen Brief von David, in dem er schreibt, daß er Gabriel Carvalho getroffen hat.«
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New York, November 1843 Liebe Schwester! Ich weiß nicht, warum ich heute mehr denn je an Dich denke. Ich sitze hier vor meiner Lampe und einem Stoß Lehrbücher, drei dicken fetten, genau gesagt, und kann sie nicht aufschlagen, ohne Dir vorher geschrieben zu haben. Ach, ich weiß nicht, warum Du mich heute den ganzen Tag verfolgst! Gestern habe ich Gabriel Carvalho getroffen – wir sehen uns nicht oft – die juristische und die medizinische Fakultät liegen auf verschiedenen Planeten –, aber wenn wir uns sehen, ist es immer schön. In New York erleben wir vergnügte Zeiten, Theater, Tanz, interessante Leute. Gestern abend machten wir einen Besuch am Washington Square. Das ist dort, wo die ›alten‹ New Yorker wohnen, sehr elegant, ein bißchen wie Euer Jackson Square, aber nicht sehr. Die Häuser haben alle ›Freitreppen‹, eine lange Stiege hinauf zur Haustür. Gaslicht natürlich, und Feuer in jedem Kamin – es ist schrecklich kalt hier, genauso, wie es in Europa war. Erinnerst Du Dich noch, wie wir bibberten? Jedenfalls – ich schweife ab, es ist nach Mitternacht, und meine halb schlafenden Gedanken geraten ins Wandern – jedenfalls war in dem Haus dort ein Mädchen, das Dir sehr ähnlich sah, oder das so aussah, wie ich mir vorstelle, daß Du jetzt mit vierzehn aussiehst, und weil ich sie gesehen habe, vermisse ich Dich heute den ganzen Tag. Gabriel machte auch eine Bemerkung über die Ähnlichkeit. Ich war überrascht, daß er sich nach dieser langen Zeit noch so deutlich an Dich erinnert, aber er tut es, und wir redeten über den Tag, an dem Gretel über Bord fiel und Du geweint und ihm so hübsch gedankt hast. Manchmal scheint mir, als wäre das alles erst gestern gewesen, und ich muß mir ins Gedächtnis rufen, daß Du nicht mehr das lebhafte kleine Mädchen bist. Vermutlich werden sie Dich bald auf die Hochzeit vorbereiten. Wer der Mann auch sein wird, ich 83
hoffe, daß er richtig ist für Dich, ein gütiger Mann mit der richtigen Denkart. Du wirst das letzte Wort als ›der richtigen Politik‹ deuten, davon bin ich überzeugt, aber glaube mir, ich bin realistisch genug, um zu wissen, daß dies zuviel verlangt wäre angesichts dessen, wie Du lebst und wo Du lebst. Also hoffe ich nur, daß Ihr einander sehr lieben werdet, und lasse es dabei bewenden. Was die Politik betrifft, Du wärest verblüfft – ich wenigstens bin es, obwohl ich mich inzwischen an die Dinge hier gewöhnt haben müßte – über die große Zahl von Menschen, die wie Pflanzer aus dem Süden reden und doch nie im Süden waren. Am häufigsten findet man sie unter den Leuten vom Washington Square und von der Börse. In der medizinischen Fakultät sind die Meinungen gemischt, sie reichen bis zum leidenschaftlichen neuenglischen Abolitionismus, bei dem ich mich, wie Du Dir sicher denken kannst, am meisten zu Hause fühle. Seltsam, wenn ich mit Gabriel beisammen bin, halte ich meist den Mund über Politik, und er tut das gleiche, weil wir nicht wollen, daß etwas zwischen uns tritt. Ich hoffe, daß das nie geschieht, aber ich weiß es nicht. In meinen dunklen Stunden glaube ich manchmal zu erkennen, daß das Land in einen Konflikt gleitet. Gott weiß, daß ich dies nicht hoffe. Ach, warum belästige ich Dich mit dem allem? Es ist nur wegen meiner Mitternachtsstimmung und weil ich Dich vermisse. Außerdem sollte ich mir jetzt lieber meine Bücher vornehmen. Allem Anschein nach muß man endlos viel lernen, um Arzt zu werden. Doch mir macht das, was ich tue, immer noch Freude, und ich kann mir nicht vorstellen, etwas anderes zu sein als Arzt. Schreibe mir und erzähle mir alles über Dich, über die Schule und die Ferien und auch Deine neuen Kleider, alles. Dein Dich liebender Bruder David 84
»Rosa bekam am gleichen Tag einen Brief von Gabriel, in dem er berichtete, daß er David getroffen hat. Rosa ist sehr stolz auf ihren Bruder. Er ist der kluge Kopf in der Familie, nicht wie ich, sagte sie. Und dann sagte sie: ›Weißt du, daß er einen guten Ehemann für dich abgäbe?‹ Das war sehr interessant, weil sie mich so seltsam anschaute, als messe sie Meterware. Schließlich bin ich erst vierzehn – na, fast fünfzehn. Papa wäre sehr erfreut, da bin ich sicher. Die Sephardim setzen mit ihrer Kultiviertheit den Maßstab, sagt er, auch wenn sie ein bißchen hochmütig sind. Aber Rosa ist nicht hochmütig. Und Gabriel war es auch nicht. Ich mochte ihn, es war allerdings nicht so nett, mit ihm zu reden. Er war zu still, fand ich. Papa sagte, er wird ein schöner Mann werden, wenn er erwachsen ist. Trotzdem, ich finde, es war sehr dumm von Rosa, so zu reden.« »Wir fahren alle mit dem Raddampfer flußaufwärts nach Plaisance, zur Taufe von Pelagies neuem Baby, ihrem ersten Jungen. Sich vorzustellen, daß sie keine Kinder hatte, als ich sie zum erstenmal sah, und daß sie jetzt vier hat! Tante Emma sagt, es ist die Pflicht einer Frau, eine große Familie zu haben, so viele Kinder, wie sie kann. Rosa sagt, Tante Emma sei eine typische Kreolin. ›Täusche dich nicht‹, sagt Rosa, ›diese Frauen sehen nicht so aus, aber in Wirklichkeit haben sie alles in der Hand. Sie sind die herrschenden Stammesmütter. Das ist die geheime Macht der Frauen.‹ Rosa erzählt mir interessante Dinge über die Welt, aber ich bin nicht immer ihrer Meinung. Nach dem, was ich sehe, glaube ich, alle diese Kinder zu kriegen kann nicht bedeuten, daß man die Dinge in der Hand hat. Was für eine geheime Macht ist das? So viele von ihnen sterben! Was kann daran für eine Freude sein? Eines von Tante Emmas Kindern starb, als es gerade eine Woche alt war, drei starben an der Fieberepidemie, eines wurde von einer Klapperschlange gebissen. Wie schrecklich! Und einige 85
andere starben an der Nachsommerkrankheit. Der Nachsommer ist eine gefährliche Zeit. Oh, ich fände es entsetzlich, wenn eines von Pelagies Kindern stürbe! Ich weiß nicht, wie Pelagie es ertragen würde, sie ist so zärtlich. Sie weint so leicht. Manchmal wegen nichts.« »Das Haus auf Plaisance sieht aus wie der Stich vom Parthenon, der im oberen Gang vor Papas Zimmer hängt. Es gehört Pelagies Schwiegervater, Mr. Lambert Labouisse. Pelagie muß dort wohnen, obwohl sie nicht will. Sylvains Vater macht mir Angst, er ist so förmlich und hat so kalte Augen. Man hat das Gefühl, bei ihm würde es den Kopf kosten, wenn man zu laut lacht oder etwas verschüttet. Er ist stets wie frisch gestärkt, ohne ein Fältchen; er küßt einem die Hand und neigt den Kopf wie ein König, mit einem charmanten Lächeln, das so gar nicht zu seinem übrigen Gesicht paßt. Pelagie sagt, er kann reizend sein, aber wenn er tobt, fürchten ihn alle, sogar sein Sohn Sylvain. David und Sylvain mochten sich nicht. David hat unerschütterliche Ansichten über Menschen, das sieht man daran, wie er Gabriel ins Herz schloß und noch immer über ihn schreibt. Aber ich muß sagen, daß Sylvain sehr nett zu mir ist. Er hat mir zum Geburtstag das aufmerksamste Geschenk gemacht, einen Korb für Gretel, die allmählich alt wird. Allerdings sind hier alle sehr nett zu mir, ausgenommen vielleicht Eulalie. Ich glaube, sie mag Juden nicht, aber ich würde niemandem erzählen, daß ich das denke. Sie macht manchmal Bemerkungen, die eine gewisse Bedeutung haben, da bin ich sicher. Oh, das ist bei euch ein Feiertag, kann sie mit einem komischen Ausdruck im Gesicht sagen, als hielte sie nicht viel davon. Rosa sagt, daß Menschen in sich Haßgefühle nähren, wenn sie unglücklich sind, daß sie jemanden oder etwas zum Verspotten brauchen. Ich finde, das leuchtet ein.«
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»Was für ein großartiges Haus das ist! Unseres würde sechsmal hineinpassen. Alle Zimmer sind bevölkert mit Verwandten und ihren Kindern und deren Kindermädchen. Die Kinder sind überall auf den Treppen und in den Gängen, die weißen Kinder und die Kinder der Dienstboten, sie rennen umher und spielen. Ich habe noch nie so viele Dienstboten gesehen. Der Küchenchef ist angeblich bei einem der besten Köche in Paris, dessen Loblied von allen Freunden guten Essens gesungen wird, in die Lehre gegangen. Plaisance umfaßt viertausend Morgen. Es war ein Hochzeitsgeschenk an Sylvains Mutter. Die meisten der Dienstboten bekam sie mit dem Besitz. Alle sind wie eine riesige Familie. Es gibt dort Reitpferde, und ich lerne reiten. Es gibt Kutschen für jeden, jederzeit, und man kann fahren, wohin man will. Eine solche Pracht! Ich vermute, Pelagie liebt Plaisance nicht, weil es nicht ihr gehört – oder erst, wenn Lambert Labouisse stirbt, was nicht so schnell geschehen wird, glaube ich, er wirkt ziemlich kräftig und nicht sehr alt.« »Die Taufe ist am Sonntag. Eine der Labouisse-Tanten wird die marraine sein, die Patin, und Papa der marrin, der Pate. Pate eines katholischen Kindes! Papa lachte. ›Ich habe es dir doch erklärt‹, sagte er, ›an diesem wunderbaren Ort spielt das keine Rolle.‹ Er muß einen Silberbecher schenken. Das ist so Brauch. Das Kind ist ein hübscher Junge, der Alexandre heißen wird. Heute früh hat Sylvain zu Pelagie gesagt, nachdem sie ihm jetzt einen Sohn geschenkt habe, hoffe er, daß sie ihm noch viele schenke. Kann sie wirklich noch mehr Kinder wollen? Sie wird immer dicker, und bald wird sie aussehen wie Tante Emma, eine Schande wird das sein. Sie war und ist noch immer sehr hübsch. Ich verstehe das nicht. Kann sie nein sagen? Gibt es einen Weg, nein zu sagen? Zwingt der Mann einen, wenn man nicht will? Reißt er einem das Kleid herunter? Angenommen, man sagt nein zu 87
dem, was da passiert – ich weiß nicht genau, was es ist. Ich glaube zwar schon, daß ich es weiß, aber ich bin nicht sicher, und ich kann niemand fragen, nicht einmal Rosa. Sie redet über viele Dinge, aber darüber nicht. Einmal sagte ich etwas zu Fanny, aber sie schaute mich nur ängstlich an und sagte, ich dürfe keine solchen Fragen stellen, das schicke sich nicht für eine junge Dame wie mich.« »Nach der Taufe ging ich allein ins Freie. Ich war ganz ruhig, eigentlich nicht traurig, obwohl ich ab und zu wirklich traurig bin. Nein, das stimmt nicht ganz, es ist nur so, daß man vollkommen allein sein kann, besonders in einer Menschenmenge. So viele Fremde redeten gleichzeitig, und zwar redeten sie aufeinander ein, nicht miteinander. Es war, als sage jeder immer nur: Schau mich an, hör mir zu, da bin ich, ich bin bedeutend, ich bin einflußreich! Das sind die Zeiten, in denen ich Angst bekomme, weil es niemand gibt, der versteht, was ich in letzter Zeit fühle und empfinde. Nicht Papa, der höchstens einen Witz macht und mir am nächsten Tag ein Geschenk bringt. Nicht Pelagie, die höchstens etwas Nettes darüber sagt, daß ich ein Glückskind bin, was ich schon weiß. Nicht Rosa, die höchstens darauf besteht, daß ich zu einem ›netten kleinen Essen bleibe‹. David würde es vielleicht verstehen, aber er ist nicht da und wird wahrscheinlich nie mehr kommen. Wenn ich diese Gefühle habe, muß ich ins Freie gehen, an einen grünen Ort, zu Hause auch in den Innenhof, weil es da nichts Grüneres gibt. Also ging ich zum Bayou hinunter und setzte mich auf einen flachen Stein. Die Böschung ist bedeckt mit wilder Iris vom hellsten lila, dickstieligen Blüten. Es gibt Schwärme weißer Schmetterlinge, klein wie Motten; einer setzte sich auf meine Hand, ich rührte mich nicht, seine Flügel klappten auf und zu wie an Scharnieren. David sagt, daß alles Leben eins ist, was bedeutet, daß diese durchsichtigen Flügel aus dem gleichen Stoff bestehen wie ich. 88
Ich hörte hinter mir jemand kommen und sprang auf. Es war ein Mann, älter als David – ich vergleiche jeden mit David –, aber nicht alt. Er trug einen modernen Strohhut, bei dem hinten Bänder über den Rand hingen. Er sagte, er heiße Eugene Mendes und wisse, daß ich Ferdinand Raphaels Tochter sei. ›Woher wissen Sie das? Sie kennen mich nicht‹, sagte ich. ›Weil ich Sie gesehen habe – ich komme gerade von dem Fest‹, antwortete er. Er setzte sich neben mich nieder. ›Ich warte auf meinen Diener, der mich heimrudern soll‹, sagte er, ›das ist einfacher, als auf der Straße zu fahren.‹ Dann wollte er wissen, was ich hier ganz allein tue. Ich erzählte ihm, daß ich die Stille liebe. Man kann die Stille hören, sagte ich. Er fragte mich, wie alt ich sei, und ich antwortete, daß ich an meinem nächsten Geburtstag sechzehn würde. Er sagte: ›Dann werden bald die jungen Männer in der Oper zu Ihrer Familienloge pilgern und sich vorstellen lassen.‹ Er lächelte. Seine Zähne sind gleichmäßig. Er hat wachsame Augen, und er ließ den Blick nicht von mir. Ich weiß nicht recht, ob er mich bewunderte oder nicht. Als sein Ruderboot kam und sein Diener ihn anrief, stand er auf. Er ist so groß, daß er sich leicht vornüberneigt. Er kommt mir sehr stark vor. Rosa würde sagen, er sei stattlich, ich kenne ihren Geschmack. Schmächtige, schwache Männer wie ihr Gatte sind nicht ihr Geschmack, soviel weiß ich. ›Bleiben Sie nicht zu lange hier sitzen‹, sagte Mr. Mendes. ›Bei Anbruch der Dunkelheit kommen Alligatoren aus dem Wasser.‹ Bei diesen Worten sprang ich auf, und ganz plötzlich beugte er sich über meine Hand und küßte sie. Seine Lippen waren feucht. Als er den Kopf hob, lächelte er wieder so merkwürdig. Er hat seltsame Augen, teefarbene. ›Ich werde Sie in der Oper sehen‹, sagte er, ›wenn Sie sechzehn sind.‹ Warum schreibe ich das auf? Ich weiß es nicht. Ich weiß nicht, was ich will. Wenn ich sechzehn bin, werde ich eine Frau sein, und mein Leben wird richtig beginnen. Ich sollte mich darauf freuen, sagen sie, und manchmal tue ich es. Aber ich bin mir 89
ein Rätsel. Auch der Familie bin ich ein Rätsel. Tante Emma kann einfach nicht verstehen, warum ich lieber lese, als mit ihr Besuche mache. Diese endlosen Besuche! Und das ein Leben lang! Visitenkarten und Kaffee und Klatsch und Kaffee, der Geruch nach gerösteter Zichorie, wenn man durch die Haustür tritt. ›Romane‹, sagt Tante Emma – sie schnaubt leicht durch die Nase, wenn sie es sagt – ›Romane sind vollkommen unschicklich für junge Mädchen. Auch von den Zeitungen läßt man besser die Finger, wenn du mich fragst!‹ Was bleibt einem eigentlich übrig? Zu heiraten, natürlich. Jeder weiß, daß das die Lebensbestimmung einer jeden Frau ist. Sogar die Lehrerinnen in der Schule wissen das, obwohl sie alte Jungfern sind. Sie sollen uns lehren, bessere Ehefrauen und Mütter zu sein. Aber woher soll eine alte Jungfer wissen, wie man das anstellt? Rosa hat unrecht, wenn sie behauptet, daß die Macht bei den Frauen liegt. Die Männer haben die Macht. Man weiß so wenig über die Männer. Wie sind sie in Wirklichkeit unter ihrem Wollstoff und Leinen? Ich weiß nicht einmal, wie sie aussehen. Ich zittere inwendig, wenn ich darüber nachdenke, und dann wird mir sehr heiß. Ich schäme mich über einige der Dinge, die ich mir vorstelle. Stelle ich mir verrückte Dinge vor, oder sind sie wahr? Wenn sie wahr sind, müssen sie wunderbar sein. Trotzdem, ich schäme mich sehr. Ich möchte jemand lieben, das ist es, was ich will. Dennoch habe ich Angst. Ich möchte nicht so sein wie Pelagie, ich will frei sein. Ich weiß nicht, was ich will.«
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N
ein, dieser Fächer gefällt mir nicht. Zuviel Gelb, das Kleid, das Bukett und die Bänder. Ich glaube, der elfenbeinerne ist viel besser. Außerdem«, sagte Emma, »hat Pelagie ihn bei ihrem ersten Opernbesuch benutzt, und sie möchte, daß du ihn bekommst. Sie hat dich sehr gern, Miriam, ich hoffe, du bist dir darüber im klaren.« In dem hohen Pfeilerspiegel waren vier Frauengestalten zu sehen, gruppiert um eine fünfte im Vordergrund: Miriam, die an diesem Tag eine Frau wurde; Fanny, die neben ihr auf dem Boden kniete, ihre sechs raschelnden Unterröcke zurecht zupfte und aufbauschte; die Friseuse, Emma und Eulalie. Letztere hatte sich überwunden zu kommen, um die Vorbereitungen zu beobachten, und jetzt hielt sie das Bukett aus Traubenhyazinthen und goldgelben Iris. Emma strahlte. In gewissem Sinne war dies ihr Abend als Ersatzmutter, und Miriams Erfolg sollte ihr Werk sein. Darum gab Emma, die königsblauen Satin und ein Perlenkollier trug, jetzt genaue Anweisungen: »Ja, so ist es richtig, der Fächer muß an seiner Kordel an deinem Handgelenk hängen. Öffne ihn von Zeit zu Zeit, nachdem wir uns gesetzt haben, fächle dich leicht, aber denke daran, daß du dein Gesicht nicht dahinter versteckst. Halte ihn entsprechend. Oh, dieses Kleid ist wirklich ein glänzender Erfolg, meine Liebe, dein Vater wird sehr stolz sein.« Miriams Wangen glühten. Ein Dutzend Kerzen brannten im Zimmer. Sie starrte auf diese Fremde in dem Spiegel, die Diamanten in den Ohren trug, deren nackte weiße Schultern aus einem Schaum pastellfarbener Rüschen hervortauchten. »In der anderen Hand trägst du natürlich deinen Schuhsack. Du kannst in die Seidenschuhe schlüpfen, wenn wir in der Oper angekommen sind. Ich finde, daß Scanlan's die wunderbarsten Kleider macht! Die Arbeit steht der in Paris nicht nach. Dein Vater sagt, 91
wenn es Zeit für deine Aussteuer ist, müßten wir sie in Paris bestellen, aber ich war immer mehr als zufrieden mit Scanlan's oder dem Olympic.« Dicke Frauen konnten keine französischen Kleider tragen. Tante Emma, die mit jedem Jahr mehr auseinanderging, mußte zu Hause ausgestattet werden. »Fanny! Ich glaube wirklich«, rügte Emma ungeduldig, »daß du die Unterröcke vertauscht hast. Der doppelte Taftunterrock gehört ganz nach unten, so daß er den Musselin nicht zerdrückt. Hebe ihren Rock an und tausche sie um.« Emma sagte leicht gereizt: »Oh, ich vermisse meinen Monty! Ich mußte mich von ihm trennen, kurz bevor du zu uns kamst, Miriam. Er war die wunderbarste Zofe, machte nie Fehler, verstand sich perfekt auf Kleider. Leider konnte ich ihn nicht über sein vierzehntes Lebensjahr hinaus behalten, er wurde zu alt, um eine Dame zu bedienen. Ja, so ist es richtig, Fanny, so ist's gut.« An den Abenden, dachte Miriam, werden junge Männer zu Besuch kommen. Sie werden mit Papa Karten spielen, aber sie kommen doch meinetwegen. An den Sonntagen werden unten Soireen stattfinden; wir werden tanzen; wie Hühner in einem Brüthaus werden die alten Damen in einer Reihe dasitzen und zuschauen. Heute abend in der Oper, wenn wir in der Familienloge sitzen, werden sich die Besucher in der ersten Reihe umdrehen und flüstern: ›Ja, das ist die kleine Raphael, wie charmant sie ist, ich frage mich, wer sie heiraten wird.‹ Die Welt strahlte und drehte sich zu bezaubernder Musik in einem eigenartigen Tanz mit Miriam im Mittelpunkt. Alle waren so gütig, alle liebten sie. Eulalie hatte ihre neuen Ohrringe bewundert. Nicht nötig, auf irgend jemand böse zu sein; die Menschen waren gut; wirklich, man sollte immer glücklich sein. »Wie schön für dich, daß es eine Premiere ist!« rief Emma. »Und so passend, daß es sich um ›Die Jüdin‹ von Halevy handelt! Meine Cousine hat die Uraufführung in Paris gesehen. Schrecklich dra92
matisch und sehr traurig. Aber schließlich sind viele jüdische Themen traurig.« Am heutigen Abend würde vielleicht er sie sehen und zu ihr kommen. Aber wer würde er sein? Plötzlich geriet Miriam in Panik. Was nun, wenn keiner kam? Wenn überhaupt niemand kam, weder heute abend noch sonst irgendwann? So etwas passierte! Man brauchte nur Eulalie anzusehen, um zu wissen, was passieren konnte. Eulalie war häßlich, zugegeben; aber es gab andere… Miriam zählte im Geiste die Unverheirateten, Übriggebliebenen: Marcelles Schwester, alles andere als häßlich, Amys Cousine, die bei Amys Familie lebte, und alle Lehrerinnen in der Schule; Mam'selle Georges mußte einst hübsch gewesen sein mit ihrem rotgoldenen Haar, und was war aus ihr geworden? Bald aber verdrängte Ferdinands Optimismus, ihr Haupterbe von ihm, die Panikstimmung. Nein, nein, das war unmöglich, das würde ganz sicher nicht passieren! Ein undeutliches Bild erschien vor ihr, glühende Augen und ein über ihre Hand geneigter dunkler Kopf, dazu eine leidenschaftliche Stimme. Aber wer war er? Wer? »Gut so«, sagte Emma. »Alles perfekt. Nun beeile dich, dein Vater wartet bereits unten. Sisyphus wird mitgehen, er hat alles über die Oper gelesen und ist immer sehr stolz, wenn in New Orleans eine amerikanische Erstaufführung stattfindet. Erstaunlich, was dieser Mann von Musik versteht. Lieber Himmel, es hat angefangen zu regnen! Öffne den Schirm nicht im Haus, Miriam, das bedeutet Pech! Willst du Unglück über uns bringen?« Durch feinen warmen Nieselregen gingen sie zur Oper, suchten ihren Weg auf möglichst trockenen Stellen. Miriam aber schritt dahin wie hinter einem silbernen Gazevorhang, der zwischen ihr und dem Kommenden hing. An diesem Abend würde der Vorhang zurückgezogen werden und leuchtenden Glanz freigeben. Die Straßen, auf denen sie jeden Tag ging, und das Theater, an dem sie so oft vorbeikam, zu dem jetzt Menschenscharen strömten und vor dem eine alte Negerin Gumbo, Okraschoten, verkaufte, das alles wartete heute auf sie. Sie spielte die Hauptrolle in einem phantastischen Stück, 93
dessen Text sie noch nicht gelernt hatte, aber zur gegebenen Zeit irgendwie wissen würde. Sie merkte, daß sie grüßte und gegrüßt wurde, während sie zwischen Ferdinand und Emma die Treppe hinaufstieg und ihren Platz in der Loge einnahm. Ja, alles fügte sich bestens; man mußte nur mit erhobenem Kopf dasitzen, lächeln und geduldig warten, bis das Große geschah. Sie spürte den gleichmäßigen, aber heftigen Schlag ihres Herzens. »Schau«, flüsterte Emma, »das ist Louis Moreau Gottschalks Vater. Eine der besten jüdischen Familien in der Stadt. Der Sohn ist ein Musikgenie, weißt du. Er wurde zum Studium nach Paris geschickt. Und dort sind deine Freunde, die de Riveras. Immer bringt sie es fertig, elegant auszusehen, sie muß ein Vermögen für ihre Kleider ausgeben.« Miriam erkundigte sich nach den vergitterten Logen gegenüber, deren Insassen für das übrige Publikum unsichtbar waren. »Das sind die loges grillées. Frauen in Trauer und Damen, die – in der Hoffnung sind, können ungestört zuschauen, ohne gesehen zu werden.« Ferdinand neigte sich zu Emma und zwinkerte Miriam zu. Er war stolz auf sie, auf ihr Kleid und die Diamantohrringe, die er ihr am Nachmittag in einem schwarzen Samtkästchen überreicht hatte. Miriam wußte, daß er in diesem Augenblick, genau wie sie, an jenen ersten Abend in Europa dachte, als er am Ofen gesessen und ihr große Dinge versprochen hatte. Jetzt waren sie da. »Nach der Vorstellung gehen wir natürlich zu Vincent's auf eine Schokolade mit Kuchen«, sagte er. Der Vorhang hebt sich, sichtbar wird ein steiniger Platz vor der Kathedrale, einer weit größeren und großartigeren als jener am Place d'Armes. Die Musik setzt ein, Stimmen wie von Engeln erklingen; die Stimme des Mannes vibriert und ähnelt darin den tiefsten Tönen eines Cellos; die Stimme der Frau ist fest und rein wie Vogelgesang. Die Handlung entfaltet sich, es ist eine alte Geschichte von Liebe und Haß, von Pogromen und Tod. Ein Passahfest fin94
det statt: O Gott, Gott unserer Väter wird gesungen. So vertraut und doch so fremd und traurig! Wie können sie bloß eine unterhaltsame Aufführung über den Tod gestalten? Sie können es in der Tat. Die Musik braust und zittert, donnert und weint. Miriam schaut sich in dem Halbdunkel um und überlegt, ob wohl noch jemand außer ihr zu Tränen gerührt ist. Die Insassen der Nachbarloge flüstern miteinander und hören nicht auf die Musik; sie sind aus anderen Gründen hier, um zu sehen und gesehen zu werden – wie sie doch auch, nicht wahr? Aber jetzt nicht mehr. Sie ist hingerissen, ihr bricht schier das Herz bei dem Spiel über liebe, Leidenschaft und Tod. In der Pause kommen viele Leute in die Loge und werden Miriam vorgestellt. Sie hat kaum Zeit gehabt, ihre Augen abzutupfen, und hofft, daß ihre Nase nicht rot ist. Höflich verneigt sie sich, die Namen fliegen an ihr vorbei. Sie hat vergessen, warum sie hier ist. »Rachel«, sagt eine Männerstimme, offenbar zu ihr, aber sie begreift nicht. Ihr Vater ruft sie in die Wirklichkeit zurück: »Mr. Mendes nannte dich Rachel. Er macht dir ein Kompliment. Er findet, daß du Halevys Heldin ähnelst.« Miriam weilt wieder in der Gegenwart und dankt dem Mann. Sie weiß, daß sie ihn schon irgendwo gesehen hat. »Erinnern Sie sich nicht an mich?« fragt er. Die teefarbenen Augen sehen sie unverwandt an, ohne zu blinzeln; sie sind das auffallendste Merkmal dieses Gesichts; sie sind das, was man im Gedächtnis behält. »Ich sagte, daß ich Sie wedersehen würde, wenn Sie sechzehn sind, Miß Miriam.« Aus seiner Stimme klingt Autorität, sie ist kräftig und gebieterisch wie sein Blick. Ihr fällt der Nachmittag am Bayou ein, die Art, wie er die Böschung hinuntergestiegen und dann in dem Boot weggefahren ist, lässig mit der Hand winkend. »Sie sind noch schöner geworden, als ich gehofft hatte, Miß Miriam.« 95
Natürlich freut sie sich über seine Worte. Es ist das erstemal, daß ein Mann so etwas zu ihr sagt. Aber sie findet es übertrieben. Miriam hat ihr Äußeres kritisch geprüft: sie hat einen geschmeidigen Körper und ist anmutig, ihre Züge sind ansprechend, aber eine Schönheit ist sie nicht. Will man Schönheit sehen, braucht man nur in die Nebenloge zu schauen, wo die Frothingham-Schwestern mit ihren goldenen Haarmähnen und ihren Walkürengesichtern sitzen. Trotzdem lächelt sie dankend, während der Vorhang wieder aufzugehen beginnt. Als Mr. Mendes außer Hörweite ist, hat Papa gerade noch Zeit für die Bemerkung: »Ein erstaunlicher junger Mann, er wird es weit bringen.« Fanny erklärte: »Wenn Sie von allen Grauschimmeln, die Sie von nun an sehen, hundert gezählt haben, heiraten Sie ganz bestimmt den ersten Mann, dem Sie danach die Hand geben.« Miriam lachte: »Das ist Unsinn, Fanny. Wer sagt dir solche Sachen?« »Miß Eulalie hat es mir gesagt, aber alle wissen, daß es wahr ist.« Unter dem Fenster, wo die Straßenlampe einen Kreis verschwommenen Lichts in den Frühlingsnebel warf, stand ein offener Wagen, vor den ein Grauschimmel gespannt war. »Kann man den gleichen Grauschimmel immer wieder zählen, oder müssen es hundert verschiedene sein?« »Sie lachen, aber es stimmt«, entgegnete Fanny, der Antwort ausweichend. »Und er ist so groß. Ich mag große Männer.« Eugene Mendes kam seit zwei Wochen ins Haus, seit dem Abend in der Oper. Im vorderen Salon spielten er und Papa Domino und tranken Portwein. Waren noch andere Herren anwesend, spielten sie Karten. Im hinteren Salon spielten die Damen Bezigue oder machten Makramee-Arbeiten. Beim Kaffee trafen sich die beiden Gruppen kurz, und damit endete der Abend. »Ich hatte mal einen großen Freund«, sagte Fanny. »Ich war erst dreizehn, aber er war der Richtige für mich. Dann wurden wir getrennt.« 96
»Das muß gewesen sein, als du hierher kamst.« »Ja, sie haben mich verkauft, mich und Blaise. Aber ich war froh, von dort wegzukommen, mehr froh als traurig.« Irgend etwas schien Fanny plötzlich zum Reden zu drängen: »Mein Vater war ein Weißer, ein Junggeselle, und meine Mutter war Dienstmädchen in seinem Haus. Ein großartiges Haus war es, ganz aus Ziegeln. Aber als meine Mutter gestorben ist, hat mein Vater eine feine Dame geheiratet, und die wollte mich und Blaise nicht um sich haben, also hat sie durchgesetzt, daß er uns verkauft. Aber das war besser für uns, denn sie war gemein. Das war vielleicht ein gemeines Stück!« »Warum hast du mir das nicht schon früher erzählt?« Miriam hatte geglaubt, über Fannys Leben alles zu wissen, was es zu wissen gab. Fanny war einfach immer da, jemand, der nett war und zu dem man dafür ebenfalls nett war. »Darum. Sie waren zu jung und zu unschuldig. Ein unschuldiges weißes Kind.« Miriam empfand jetzt fast das gleiche wie über ›Die Jüdin‹, einen durchdringenden Schmerz über menschliches Leid: »Das ist ja schrecklich traurig, Fanny. Dein Heim und deinen Vater verlassen zu müssen.« »Er war nie wie ein Vater, und das Haus war nicht meins. Wie denn auch, wie denn auch?« Fanny runzelte die Stirn. Dann hellte sich ihre Miene auf: »Dort waren sowieso alle Baptisten, und Baptisten erlauben keine Musik, bei denen gibt es keinen Tanz. Für Farbige ist es viel besser, katholisch zu sein. Blaise ist nicht gern katholisch, weil die Priester nicht erlauben, daß man in der Kirche lärmt, aber ich bin es gern. So, Ihr Haar ist fertig frisiert. Gehen Sie jetzt lieber hinunter. Es ist Zeit.« Wie immer sollte Miriam die erste Nacht des Passahfestes im Hause de Riveras verbringen. Jedes Jahr erhielt auch Ferdinand eine Einladung, und jedes Jahr fand er einen triftigen Grund, abzulehnen. Diesmal brauchte er sich den Kopf nicht um eine Ausrede zu zerbrechen, denn Emma hatte Geburtstag. 97
»Sehr freundlich von Mr. Mendes, dich abzuholen«, sagte er nun, als er die Treppe heraufkam. Er musterte seine Tochter vom Scheitel bis zur Sohle. »Ja«, antwortete sie, »sehr freundlich.« »Er ist ein gläubiger Mensch. Ein Wohltäter seiner jüdischen Mitbrüder.« Spöttisch dachte sie: Und das verzeihst du ihm? Ihr Vater küßte sie. »Du bist ein hübsches Mädchen, Miriam. Sei dir dessen bewußt.« »Danke, Papa.« »Amüsiere dich gut.« »Das mache ich, Papa.« Eine gemischte Gruppe umringte den Tisch. Gershom Kursheedt, schwarzbärtig, ernste Augen, war eine biblische Gestalt, ein asketischer Prophet, wenn auch nur dem Aussehen nach. Der rothaarige jüdische Kaufmann, der mit seiner eleganten, lebhaften Frau aus Frankreich zu Besuch hier weilte, verkörperte weltmännische Sicherheit. Der arme deutsche Jude, der kleinen Jungen Hebräischunterricht gab, trug eine schäbige Jacke und lächelte unschuldig. Zwei Katholiken waren Nachbarn und alte Freunde der Gastgeber. Wohlhabende Cousins saßen da und mehrere einsame Fremde, die eingeladen worden waren, weil jene, die haben, mit jenen teilen müssen, die nicht haben: »Denn ihr seid auch Fremdlinge in Ägyptenland gewesen…« Eugene Mendes saß ebenfalls da, er und Kursheedt bildeten den Mittelpunkt des Interesses. Miriam war halb erleichtert und halb enttäuscht, daß man ihn am gegenüberliegenden Tischende placiert hatte. Es wäre mühsam gewesen, während des ganzen Essens mit ihm Konversation zu machen, in genau der richtigen Manier, amüsant und witzig, ohne zuviel zu reden. Emma sagte immer warnend, daß Männer keine geschwätzigen Frauen mochten. Natürlich schwatzten die verheirateten Frauen ununterbrochen, aber die Männer hatten sich inzwischen wahrscheinlich daran gewöhnt, oder sie waren 98
so in eigene Gespräche vertieft, daß sie es gar nicht hörten. Zu ihrer Erleichterung mußte sie also nicht Konversation machen. Andererseits, hatte er nicht zu ihr gesagt, hatte nicht er als erster und einziger Mann zu ihr gesagt: »Sie sind noch schöner geworden, als ich erwartet habe!« Die Seder-Feier verlief gemäß den Vorschriften, bedeutete Seder doch Ordnung. Der Gastgeber lächelte liebenswürdig in die Runde, die Kerzenflammen ließen auf seinen Brillengläsern Lichtflecken tanzen. »Wir preisen dich, o Herr, unser Gott, König der Welt«, betete er. »Du hast uns lebendig erhalten, ernährt und uns in diese Zeit geführt. Amen.« Die Segenssprüche wurden gesungen, und alle erhoben ihren ersten Becher Wein. An dem Punkt kam in dieser alten Gemeinde von Miriams Volk immer ein Gefühl der Wärme, der Nähe und des Friedens auf. Gedanken an ihre Mutter verwoben sich jetzt bei ihr mit Gedanken an Eugene Mendes. Ein prominenter Bürger… Rosa flüsterte: »Ich habe deine Tante Emma auf der Straße getroffen. Sie erwähnte, daß Eugene Mendes bei euch Besuch macht.« »Er besucht Papa.« »Aber du hast doch sicher mit ihm gesprochen. Findest du ihn nett?« »Ich kenne ihn kaum.« Sie trank einen Schluck Wein. Die Feier ging weiter: »Laßt alle, die Mangel leiden, kommen und das Passahfest mit uns feiern.« Zwei lange Kerzen staken in dem alten spanischen Menora Leuchter aus Silber. Die symbolischen Seder-Speisen, die Charossetz – eine Art Brei aus gehackten Äpfeln und Nüssen –, die bitteren Kräuter, der Lammschlegel, die frischen Kräuter und die harten Eier waren auf Silberschalen angerichtet. Rosa, die genau wie Tante Emma den Mund nicht länger als eine Minute halten konnte, flüsterte erneut: »Ein Glück, daß wir Gershom Kursheedt haben und Rowley Marks los sind. Eine wahre Schande für uns, dieser Mann. Wie du weißt, 99
ist Kursheedt ein großer Bewunderer von Mr. Mendes. Er hat höchste Achtung vor ihm.« Sie wünschte, Rosa hätte aufgehört zu flüstern. Als sie die Augen über den Rand ihres Weinglases hob, begegnete sie Eugene Mendes' Blick. Auch die Französin, mit der er sprach, sah Miriam an. Was konnten die beiden über sie sagen? Miriam schaute an ihrem Kleid hinunter, auf den mit rotem Samt besetzten Ausschnitt über ihrem Busen. Alles einwandfrei dort. Sie berührte ihre Ohrläppchen, die kleinen Diamantknöpfe saßen fest. Nein, nichts in Unordnung an ihr. Klein Herbert, der jüngste Sohn des Hauses, hatte inzwischen die Vier Fragen gestellt und war stolz, seine Aufgabe gut erfüllt zu haben. Der Hausherr brach das Stück Matzen ab und hob es für den Segensspruch hoch: »Wir preisen dich, o Herr, unser Gott, König der Welt. Du hast uns durch dein Gebot geheiligt, heute ungesäuertes Brot zu essen.« In dem allgemeinen Gebetsgemurmel war die Stimme von Eugene Mendes deutlich zu hören, nicht lauter, sondern volltönend und vibrierend, eine Stimme, die man nicht leicht vergaß. Miriam, die einen weiteren Schluck Wein trank, spürte ihren Kopf leicht werden. »Schulchen aruch. Der Tisch ist gedeckt«, sagte Henry. »Das Essen ist serviert.« Zwei Diener brachten eine große Terrine herein und begannen die Suppe auszuteilen. Rosa hatte sich ihren Tischnachbarn auf der anderen Seite zugewendet. »Ja, ich kam als Braut auf dem Landweg von Charleston hierher. Vier Wochen waren wir mit der Kutsche und zu Pferd unterwegs. Die Übersiedlung hierher bedeutete für mich wahrlich eine große Veränderung. Meine Familie hatte den Tempel in Charleston gegründet, wissen Sie. Ich war so tief verwurzelt dort, hatte so viele Freunde.« Sie seufzte. »Und Verehrer«, warf Henry ein, der mitgehört hatte. 100
»Nur einen einzigen, an dem mir etwas lag, bis du kamst, Henry. Aber er war Christ«, entgegnete sie offen. »Und natürlich wollte ich ihn nicht heiraten. Ich bin wie Rebecca Gratz. Die engsten Gefährten fand sie ihr ganzes Leben lang in der christlichen Gemeinde, und der Mann, den sie liebte, war Christ. Aber sie erklärte immer, daß die Mitglieder einer Familie dem gleichen Glauben angehören sollten, und deshalb wollte sie ihn nicht heiraten. Sie wurde eine unglückliche alte Jungfer. Was mich angeht, ich bin froh, daß ich nicht ledig blieb.« »Vielen Dank, meine liebe«, sagte Henry. »Ich bin auch froh.« »Rebecca Gratz«, ließ sich Miriam schüchtern vernehmen, »heißt es nicht, daß sie das Vorbild für die Rebecca in Ivanhoe war?« Eugene Mendes ging auf ihre Frage ein: »Ja, Miß Miriam. Washington Irving selbst erzählte Sir Walter Scott, wie aufopfernd sie seine, Irvings, Braut pflegte, als diese krank war.« Er lächelte Miriam anerkennend zu. »Wissen Sie auch, daß Rebecca Gratz warnend zu ihrem Bruder sagte, bevor er nach New Orleans ging, das sei eine gottlose Stadt und wir Juden hier hätten alle unseren Glauben verloren? Das stimmt aber nicht ganz, wie Sie sehen.« »Zweifelsohne gilt das nicht für Menschen wie Sie, Mr. Mendes«, bekräftige Gershom Kursheedt. Eugene entgegnete: »Sie erweisen mir zuviel Ehre.« »Ich meinte Ihre heldenhaften Bemühungen, Judah Touro zu bewegen, etwas für unser Volk zu tun, Mr. Mendes.« »Bisher haben sie nicht viel erbracht. Aber man tut sein Bestes. Auf jeden Fall ist er ein interessanter Mann.« »Er wäre noch interessanter«, bemerkte Kursheedt, »wenn er zu seinen Anfängen zurückkehrte. Sicher haben Sie alle gehört, daß er die Pfarrei Christ Church an der Canal Street gekauft hat. Fünfundzwanzigtausend Dollar hat er dafür ausgegeben, weit mehr, als sie wert ist. Er hätte genausogut offen einen Beitrag leisten und es dabei bewenden lassen können. Zusätzlich zu den Tausenden, die er den Presbyterianern gibt.« 101
»Und stellen Sie sich vor«, sagte Henry, »als wir unsere Synagoge Scha'arej Chasset gründeten, gab er praktisch nichts. Schlimmer noch, er machte nicht einmal mit.« Wie Papa, dachte Miriam, und Scham durchzuckte sie. »Niemand bestreitet«, erklärte Eugene Mendes, »daß es eine schöne Sache ist, allen wohltätige Spenden zu geben. Schmerzhaft ist nur, daß er nicht auch seine eigenen Leute bedenkt.« Er fuhr fort: »Die Geschichte des Mannes ist sehr interessant. 1802 kam er aus Boston hierher, mit leeren Taschen. New Orleans stand damals noch unter spanischer Herrschaft, und Bienvilles Black Code galt noch. Der Katholizismus war die einzige zugelassene Religion in Louisiana.« Miriam hörte fasziniert zu. Dieses Gespräch war weitaus fesselnder als Tante Emmas Bagatellen am Tisch des Hauses Raphael. Alle Gesichter hatten sich voll Aufmerksamkeit Eugene Mendes zugewandt, der rasch sprach und gut formulierte: »Er wurde 1815 unter Andrew Jackson in der Schlacht bei New Orleans verwundet. Der Mann war von Anfang an ein Kämpfer. Heute ist er natürlich ein Vermögen wert. Schiffe, westindischer Rum, Tabak, Pferde – es gibt nichts, was er nicht anpackt.« »Sie beschreiben auch sich selbst«, sagte der Gastgeber liebenswürdig. »Nein, nein, ich gehöre kaum in die gleiche Kategorie. Ich bin weit von Judah Touro entfernt.« »Es ist eine alte Geschichte«, erklärte Mr. Kursheedt, »wenn Juden berühmt werden, geraten sie in Versuchung, den leichten gesellschaftlichen Weg einzuschlagen und ihr Erbe zu vergessen. Touro ist nicht der einzige. Nehmen Sie Judah Benjamin.« »Ich kannte ihn schon, als er in die Stadt kam«, berichtete Henry. »Ich war zu seiner Hochzeit in der Kathedrale eingeladen.« »Im Augenblick ist er dabei, zwanzig Meilen südlich von hier eine Plantage zu kaufen, Belle Chasse. Großartiger Besitz«, sagte Eugene Mendes und fügte leicht spöttisch hinzu: »Dort gibt es nur silberne Türgriffe, wenigstens wird das behauptet.« 102
»Sie haben doch selbst einen schönen Landsitz«, entgegnete Rosa. »Ach, den kann man nicht in einem Atemzug mit Belle Chasse erwähnen. Das ist nur eine stille Zuflucht vor der Hitze und dem Fieber.« »Glaube das nur nicht«, flüsterte Rosa Miriam zu, als alle das Eßzimmer verließen. »Sein Landsitz ist prachtvoll. Er mag es bloß nicht, über sich selbst zu reden.« Papa an seiner Stelle, dachte Miriam voll wehmütiger Zuneigung, würde allen erzählen, wie viele Zimmer es dort gibt und was das Ganze gekostet hat. »Dann könnte man Mr. Mendes wohl einen bescheidenen Mann nennen«, sagte sie. »Einen einfachen Menschen.« »Einfach?« Rosa lachte. »Das ist das einzige, was ich ihn nicht nennen würde.« Sie schaute Miriam mit zusammengekniffenen Augen an. »Das Mädchen, das ihn einmal kriegt, hat Glück, das kann ich dir versichern. Und es würde mich nicht überraschen, wenn du die Glückliche wärst.« »Ich weiß wirklich nicht…«, murmelte Miriam und hielt inne, denn sie erkannte, daß die Mischung aus Stolz und Angst, die sie empfand, von Rosa als Bescheidenheit und Freude gedeutet wurde. »Oh, ich bin fast sicher!« rief Rosa und drückte Miriams Hand. »Es könnte auch kein süßeres Mädchen treffen, keine, die es mehr verdiente! So ein attraktiver Mann!« An der Tür entstand ein kurzes Gedränge, Rosa wurde auf den Gang hinausgeschoben, und Miriam stand einen Moment allein da mit dem Echo ihrer Worte. So ein attraktiver Mann. Wenn alle das sagen, dachte Miriam, müßte ich auch so denken. Oder nicht? Ja, natürlich. Am nächsten Morgen klopfte ein Diener an die Tür der Raphaels; er brachte ein Schreiben und bat um Antwort. Gleich nachdem er gegangen war, erschien Fanny bei Miriam und meldete, Mrs. Raphael bitte sie nach unten. 103
»Wir müssen heute nachmittag einen Besuch machen, Miriam, meine Liebe. Mr. Mendes hat eben seinen Boy geschickt, um anfragen zu lassen, ob wir ihn besuchen könnten.« Emma lächelte heiter, fast schelmisch. »Er macht mir das Kompliment, meinen Geschmack zu bewundern und mich um meinen Rat bei der Einrichtung seines neuen Hauses zu bitten. Zieh deinen neuen Mantel an. Ich glaube nicht, daß wir Odette bitten müssen, dein Haar zu richten, was meinst du? Die Locken sind noch sehr hübsch. Vielleicht könnte Fanny ein bißchen drübergehen.« Wieder einmal stand Miriam vor dem Pfeilerspiegel. Erst eine Woche zuvor hatte die Manteau-Schneiderin einen flaschengrünen Seidenmantel mit Taftschleifen geliefert. Miriam hatte ihn noch nicht getragen. Ihre Stiefel aus grauem Tuch und schwarzem Lackleder waren ebenfalls neu. Graue Glacehandschuhe und ein von Rosen schwerer Hut lagen auf dem Bett bereit, während Fanny ihr das Haar bürstete. Die Augen der beiden Mädchen begegneten sich im Spiegel, doch Fanny senkte die ihren rasch, verbarg sie unter den Wimpern. Fanny weiß Bescheid, dachte Miriam. Dienstboten wissen das meiste, bevor es passiert. Vielleicht weiß sie auch besser als ich, was ich empfinde. Ich wünschte, David wäre hier und würde mir sagen, was ich fühle, denn ich verstehe es selbst nicht, aber er würde es verstehen. Ich laufe bergab, renne so schnell, daß ich nicht anhalten kann, aus Angst, hinzustürzen. Stelle ich mir Dinge vor, die es gar nicht gibt? »Sie sehen schön aus«, sagte Fanny und steckte die letzte Haarnadel fest. »Jetzt der Hut. Ein Stückchen weiter nach hinten. Ja, so ist es gut.« Im Wagen wiederholte Emma Fannys Feststellung: »Du siehst hübsch aus, Miriam. Ich muß dich aber daran erinnern, daß du vorsichtiger sein und im Freien einen Schleier tragen solltest. Du willst doch einen solchen Teint behalten, daß niemand auf den Gedanken kommt, du könntest Negerblut in den Adern haben. Die Gefahr besteht bei dir freilich nicht, da du in Europa geboren bist.« 104
Sie lachte. »Ich beneide dich so um dein Haar. Es ist wie schwarze Seide. Freue dich daran, solange du kannst, bevor du anfangen mußt, das Grau mit Kaffee zu verdecken.« Der Wagen rollte die Esplanade Avenue hinunter. »Ich bin wirklich neugierig auf das Innere von Mr. Mendes' Haus. Gebaut hat es Parmentier, ein steinreicher Auktionator – allerdings nur, bis er sein Geld verlor. Beim Spielen.« Emma schnaubte verächtlich. »Es ist zweierlei, Geld zu verdienen und es dann auch zu behalten. Er stammt allerdings aus einer armen Familie; französisch, aber Chacalatas, Hinterwäldler, nicht meine Klasse. Darum war ich nie in dem Haus. Na, hier ist es.« Steinerne Cherubim trugen die Galerie, um die ein schmiedeeisernes Gitter in einem Muster aus Eicheln und verflochtenen Eichenblättern lief. Seitlich am Haus umschloß eine Ziegelmauer ein großes Grundstück, zu dem zweifellos ein großer Garten gehörte. Eugene Mendes wartete oben an der Treppe. Er wirkte größer, als Miriam ihn in Erinnerung hatte. Wie Rosa sagte, er war ein imponierender Mann. Nun streckte er die Hände aus, um den Damen die Treppe hinaufzuhelfen. Miriam hatte einen seltsamen Gedanken: Er bekommt, was er will. An Emma gewandt, fragte er: »Möchten Sie Tee, Madame, oder möchten Sie lieber zuerst das Haus sehen?« »Nachdem Sie die Güte haben, meinen Rat zu wünschen, lassen Sie uns lieber zuerst das Haus besichtigen.« Es war ein schönes Gebäude im neugriechischen Stil, eleganter und größer als das Haus der Raphaels. Durch die großen Fenster wehte eine frische Brise herein und bewegte die Vorhänge leicht. Vornehme, schattige Räume, weitläufige Salons, ein Musikzimmer und ein Ballsaal waren durch getäfelte Doppeltüren mit geschnitzten Magnolien voneinander getrennt. An jedem Ende der langen rückwärtigen Veranda lag ein Raum von der Größe einer kleinen Wohnung. »Die Zimmer für die Söhne des Hauses«, erklärte Mr. Mendes. »Der vorherige Besitzer hatte viele Söhne.« 105
»Nun, in dieser Hinsicht hatte er Glück«, entgegnete Emma und fügte kühn, fast kokett hinzu: »Wie man sieht, sind Sie in diesem Haus für alles gerüstet, was Ihnen das Leben noch bringen mag.« Der Gastgeber lächelte leicht, und die kleine Prozession setzte ihren Weg durch die Räume fort. Immer wieder warfen hohe Wandspiegel ihre Bilder zurück. Mr. Mendes lauschte, den Kopf geneigt, höflich Emmas Geplauder, und Miriam folgte den beiden stumm. »Stellen Sie sich vor, wie viele hundert Arbeitsstunden hier drinstecken!« rief Emma beim Anblick eines Empiresofas mit Blumenstickerei. Miriam erkannte, daß dieser Strom freundlicher, belangloser Bemerkungen irgendeinem Zweck diente. Er verdeckte ein Schweigen, das peinlich hätte sein können. Vor dem Porträt eines Renaissancefürsten, dessen Samthut sein verschwommenes Gesicht beschattete, blieb Emma stehen. »Stammt das nicht aus der Sammlung des Herzogs von Toskana?« »Sie haben einen scharfen Blick, Madame. Ja, genau wie Ihr Gatte bin ich einer der Begründer unserer Nationalgalerie für Malerei.« Zum erstenmal sprach er Miriam direkt an: »Vielleicht ist Ihnen unser Unternehmen bekannt. Eine Gruppe Leute hier in der Stadt kaufte die Sammlung des Herzogs, und wir hoffen, daß die Galerie sie übernehmen wird. Wenn nicht, behalten wir die Gemälde für unsere Privathäuser. Verstehen Sie von Malerei auch soviel wie von Literatur?« »Ich verstehe weder von dem einen noch von dem anderen sehr viel, fürchte ich.« »Jedenfalls haben Sie Ivanhoe gelesen.« Wieder an Emma gewandt, fragte er: »Sollen wir nach oben gehen?« Er fuhr fort: »Die Räume sind in einem traurigen Zustand, weil Teppiche, Wandbekleidungen und Vorhänge fehlen. Ich ließ von Seignouret ein paar Möbelstücke zur Probe kommen und wüßte gern, was Sie davon halten, Madame.« »Jemand Besseren als Seignouret konnten Sie nicht wählen, Mr. Mendes.« 106
»Trotzdem läge mir viel an Ihrer Meinung. Wenn Sie andere Ideen haben, sagen Sie es bitte offen. Und Sie auch, Miß Miriam. Schließlich habe ich weder Mutter noch Schwester, die mich beraten könnten.« Schränke aus Rosenholz und Mahagoni standen neben riesigen Himmelbetten mit Baldachinen aus gebauschtem Satin. Emma sagte anerkennend: »Sehr elegant! Und klug. Er hat für die Tischplatten Marmor verwendet. Offensichtlich kennt er unser Klima.« »Ja«, pflichtete der Hausherr ihr bei. »Die Feuchtigkeit tut dem Furnierholz nicht gut.« Durch eine halb offene Tür sah man am hinteren Gangende in einen kleinen Raum. Miriam, die stehenblieb, erblickte einen glänzenden nackten Boden, ein schmales, einfaches Bett und eine Kommode aus Zypressenholz, die zwischen zwei Fenstern mit weißen Vorhängen stand. Mr. Mendes entschuldigte sich: »Das ist ein unbenutzter Raum. Eine Abstellkammer für einige alte Dinge aus dem Landsitz meiner Großeltern.« Etwas in der Kargheit des kleinen Raumes sprach Miriam an, und sie rief: »Oh, aber dieser gefällt mir am besten! Er wirkt bequem und friedlich.« »Dann bewundern Sie also die Einfachheit«, meinte Mr. Mendes. »Miriam!« rief Emma vorwurfsvoll. Und Miriam, die erkannte, daß sie einen Fehler gemacht hatte, verbesserte sich sofort: »Natürlich sind die anderen Räume sehr schön, ungewöhnlich, großartig…« »Ihre Einstellung gefällt mir«, sagte Mr. Mendes. »Sie brachten Ihre wahren Gefühle zum Ausdruck, und Sie haben recht. In der Einfachheit liegt besondere Schönheit. Sollen wir wieder hinuntergehen? Sie sind also einverstanden, Madame? Nun muß ich nur noch mein Tafelsilber aufstocken. Ich werde viele Gäste haben, nachdem ich mich jetzt für immer in der Stadt niedergelassen habe. Vermutlich bräuchte ich zwei Dutzend Gedecke, nicht wahr?« 107
»Bestimmt. Vielleicht sogar mehr. Mr. Raphael bringt oft Gäste zum Mittagessen mit. Es ist nicht ungewöhnlich, daß sich in unserem Haus um halb drei Uhr nachmittags vierundzwanzig Personen einfinden.« »Dann werde ich morgen meine Bestellung aufgeben. Möchten Sie die kleine Erfrischung lieber im Garten einnehmen, Madame? Ich glaube, es ist dort angenehm kühl.« Auf dem glasgeschützten Balkon stand eine halbrunde Bank an einem runden Tisch, der für den Kaffee gedeckt war. Emma lobte die Kuchen. Der Hausherr nahm das Lob an: »Meine Köchin Grégoire wurde im besten Speiselokal von Savannah ausgebildet.« Emma nahm sich ein drittes Stück. Sie bewunderte das Kamelienspalier an der Wand, den Jasmin und die Taglilien; sie freute sich am Geläute der Kathedralenglocken. »In unserem Haus hören wir sie kaum. Die Lage hier ist in jeder Weise vollkommen.« »Ja, das ist sie in der Tat«, räumte er ein. Nur seine halbe Aufmerksamkeit gehörte Emma. Er hatte die Augen jetzt auf Miriam gerichtet, die sich unter seinem Blick unbehaglich fühlte. Ein Stück weiter hinten im Garten markierte eine Tafel an der Mauer die Stelle, wo jemand begraben lag. Sie versuchte die Schrift aus der Entfernung zu entziffern: »Aimee de…« Den Zunamen verbarg ein Hibiskuszweig. »Aimee de … gestorben am … Februar, Gemahlin von…« Eine junge Frau, im Februar gestorben. Am Fieber oder im Kindbett? War sie singend durch dieses Haus gegangen? Ob es schön wäre, Herrin in diesem Haus zu sein? »Sie sind sehr nachdenklich, Miß Miriam.« Nun mußte sie ihn ansehen: »Ich bewunderte die Statue.« Eine kleine Steinfigur der Aphrodite stand über einem zweistöckigen Brunnen. Das Wasser fiel plätschernd in einen kleinen Teich, es spritzte auf und sah aus wie Rüschen an einem Kleid. Die Stadt jenseits der Mauer war sehr weit weg. Man hätte glauben können, in einem 108
Wald zu sein, in einem Hain, alles war grün und still, bis auf das leise Geplätscher. »Was halten Sie davon?« Sie zögerte: »Es ist schön, etwas so Hübsches im Garten zu haben. Mit diesen Tauben und Blumen. Sie war eine Göttin der Liebe.« »Sie verstehen also etwas von Mythologie.« »Miriam liest viel«, erklärte Emma. »Aber sie ist kein Bücherwurm, Gott sei Dank!« Wissend fügte sie hinzu: »Wenn die Männer etwas verabscheuen, dann einen Blaustrumpf, nicht wahr?« »Und gefällt Ihnen mein Haus, Miß Miriam?« fragte Mr. Mendes, ohne auf Emmas Bemerkung einzugehen. »O ja. Ich hoffe, daß Sie darin sehr glücklich werden«, antwortete sie mit der Höflichkeit, die von einem Gast erwartet wurde. »Vielen Dank, ich rechne fest damit.« Er wandte sich wieder Emma zu. Seltsam, wie anders er ihr jetzt vorkam als gestern bei Rosa. Heute hatte er etwas zu Bedrängendes. Er ist sehr stark, dachte sie einmal mehr. Er kann alles schaffen. Unter dem anliegenden grauen Mantel verbarg sich ein muskulöser Körper, wie ihn die griechischen Götter und die römischen Krieger auf den Stichen in einem der oberen Zimmer besaßen. Eine geblümte Porzellankanne und eine Schüssel hatten dort gestanden, bestimmt dienten sie ihm morgens zum Waschen und Rasieren. Von dem Moskitogitter am Bett hing das Netz wie ein Schleier, ein Brautschleier. In einem der großen geschnitzten Holzbetten, vermutlich in dem roten Zimmer – sie wußte nicht, warum sie meinte, daß er das rote Zimmer für sich und seine Braut wählen würde – in diesem Bett würde das Mädchen, das er dorthin brachte… Es würde am nächsten Morgen anders sein. Diese Geheimnisse! Wenn David da gewesen wäre – ihn hätte sie vielleicht fragen können. Aber nein, natürlich nicht. Er war zwar ihr Bruder, aber auch ein Mann. Und was hätte sie ihn überhaupt fragen sollen? Sie wußte es nicht einmal. 109
Steif und angespannt saß sie auf der Bank. Sie verschlang die Hände so fest auf dem Schoß, daß die Fingerspitzen rot wurden. Mr. Mendes' Hände waren behaart. Aber sauber. Seine Fingernägel hatten weiße Ränder. Das war gut; es gefiel ihr, daß er sich so sauber hielt. Aber seine Stirn war zu hoch. Wie eine Kuppel. Wahrscheinlich würde er eines Tages seine schwarzen Haare verlieren und kahl werden. »Sie zittern«, sagte Mr. Mendes. »Ist Ihnen kalt?« »Ein bißchen. Der Wind ist kühl.« »Wirklich? Ich spüre es nicht. Soll ich Ihnen einen Schal holen?« »Sie sitzt im Schatten«, sagte Emma. »Rücke hinüber in die Sonne, Miriam.« Nun berührte ihr Rock fast Mr. Mendes' Knie. Warum machte es ihr Angst, so nahe bei ihm zu sein? Gestern hatte sie ihn bewundert. Ein solcher Herr. So angesehen. Und dieses schöne Haus. Was gab es da, wovor man Angst haben mußte? Außerdem hatte er ihr keinen Antrag gemacht; vielleicht wollte er sie gar nicht, trotz allem, was Rosa dachte. Und sie quälte sich nur mit ihren Gedanken. Er wird dir einen Antrag machen, Miriam. Und du wirst ja sagen. Das wird von dir erwartet. Jedes Mädchen würde ja zu ihm sagen, nicht wahr? Doch es wird falsch sein, wenn du das tust. Aber ein Mädchen muß heiraten. Dennoch wird es falsch sein. Sie empfand schreckliche Furcht. Ihr Puls hämmerte im Hals. Sie war bisher nie ohnmächtig geworden, doch nun fühlte sie sich sehr komisch. Noch länger konnte sie unmöglich hier sitzen bleiben. Sie betete darum, daß Emma aufstünde und sich verabschiedete. Emma tat es. Auf dem Heimweg in der Kutsche stieß Emma einen zufriedenen Seufzer aus und sagte: »Ich bin fast sicher, daß er mit deinem Vater über dich sprechen wird, Miriam. Vielleicht schon morgen. Es würde mich nicht wundern. Natürlich ist das der Grund, warum er wollte, daß du sein Haus siehst.« »Bestimmt wollte er nur Ihren Rat bei der Einrichtung, Tante.« 110
Emma lachte: »Unsinn! Wie unschuldig du bist. Nicht, daß dir das nicht gut anstünde. Um die Wahrheit zu sagen, dein Vater und ich haben die Sache bereits erörtert. Dein Vater ist begeistert. Und wieso auch nicht? Wir glauben beide, daß du großes Glück hast. In New Orleans herrscht wahrlich kein Überfluß an akzeptablen jüdischen Männern. Zwar heiraten, wie du gesehen hast, viele Juden und Christinnen, aber nach unserer Überzeugung würdest du das nicht tun. Und du hast zweifellos ein Recht auf einen Ehemann deines Glaubens.« Miriam antwortete nicht. Ihr schlug das Herz immer noch im Hals. »Weil dieser Punkt für dich so wichtig ist, mußt du eines bedenken: Wie viele Männer gibt es, die Eugene Mendes das Wasser reichen können? Er ist gebildet und hat Geschmack, das hast du eben gesehen.« Emma spreizte ihre dicken Finger und zählte: »Er hat ein blühendes Geschäft, und wie ich höre, ist sein Landsitz herrlich. Beau Jardin heißt er. Ja, du wirst alles haben, was du nur willst, einen Platz in der besten Gesellschaft der Stadt. Ich habe mich übrigens erkundigt, weißt du, als ob du meine eigene Tochter wärest, Liebes.« Sie legte ihre Hand auf Miriams Arm. Ja, dachte Miriam, sie war immer gut zu mir. Niemand hätte besser sein können. »Es muß dir manchmal wie ein Märchen vorkommen, das alles, was seit deiner Ankunft passiert ist. Aber, was hast du denn? Du weinst doch nicht?« Miriam drehte den Kopf zur Seite: »Ich weiß nicht, was ich habe. Ich weiß nicht, was ich fühle.« »Nun, du bist jung, und das Ganze kommt sehr plötzlich. Allerdings bist du keineswegs zu jung. Ich habe mit fünfzehn geheiratet, und meine Pelagie war sechzehn, wie du. Du siehst doch, wie glücklich sie ist, nicht wahr? Nur meine arme Eulalie…« Jetzt kam das alte Klagelied, wie immer wenn sich ein Mädchen aus Emmas Bekanntschaft verlobte. Ja, sofern Eulalie bis zu ihrem fünfundzwanzigsten Geburtstag nicht verheiratet war, bestand keine Hoffnung mehr. Von diesem Zeitpunkt an würde sie eine Hau111
be mit Kinnbändern tragen und wahrscheinlich nie mehr ein Samtkleid, etwas, worin Miriam keinen rechten Sinn sehen konnte. Eulalie sollte ihre Samtkleider lieber so oft wie möglich anziehen; ihr blieben ganze zwei Monate, bis sie fünfundzwanzig wurde. »Eulalie hatte nie Verehrer«, klagte Emma zum tausendsten Mal. »Ich begreife das nicht. Sie versteht es ausgezeichnet, einen Haushalt zu führen, sie kommt aus guter Familie, und wir hatten zweifellos eine schöne Aussteuer für sie, rund vierzigtausend Dollar, Miriam! Auf den Nachbarplantagen gab es mindestens ein Dutzend junge Männer, die in Frage gekommen wären. Die Leute kannten uns weiß Gott seit Generationen; wir hatten als Kinder miteinander gespielt, also wußten sie, daß bei ihr nicht die Gefahr besteht, sie könnte Negerblut haben. Wie du weißt, sind viele der freien Farbigen so hellhäutig, daß man nicht immer sagen kann, ob sie weiß oder farbig sind. Einige von ihnen haben auch viel Geld. Aber bei Eulalie stand in dem Punkt absolut nichts zu befürchten, darum begreife ich das einfach nicht.« Die Mutter seufzte. »Sie wird also eine alte Tante werden, sonst nichts. Sie kann Pelagie bei der Erziehung ihrer Kinder unterstützen, wenn die Familie größer wird. Und sie kann auch dir dabei helfen, Miriam.« Nicht bei meinen Kindern, dachte Miriam wild. Nicht mit diesem griesgrämigen Naturell. »Aber du, Miriam, brauchst dir keine Sorgen zu machen. Deine Zukunft liegt jetzt gesichert vor dir. Und dein Vater wird sehr großzügig zu dir sein, das weiß ich. Gewiß denkst du«, sagte Emma, »daß es mehr als das geben muß. Ein junges Mädchen träumt von Liebe. Ein Idealfall, wenn sie vorhanden ist. Aber wenn sie am Anfang nicht da ist, wird sie sich entfalten.« Sie wird sich entfalten. Was für ein schreckliches Leben, keine Liebe kennenzulernen! Nicht geliebt zu werden, wie Eulalie, niemanden zu lieben als die Kinder einer anderen Frau. Plötzlich fiel Miriam etwas ein: »In Europa war es genauso, in unserem Dorf. Als ich noch ganz klein war, wollte Opa, daß meine Tante Dinah einen Mann heiratet, der das größte Haus in der Stra112
ße hatte. Aber er war dick und dumm, und sie wollte nicht. Sie mochte ihn nicht heiraten. Also machte der Mann statt ihr meiner Cousine Leah einen Antrag.« »Hat deine Cousine ihn geheiratet?« fragte Emma interessiert. »Ja, und als wir weggingen, hatten sie vier bildhübsche kleine Kinder.« »Ach! Siehst du! Die Angelegenheit nahm also einen guten Verlauf. Ich könnte mir denken, daß es deiner Tante jetzt leid tut. Mädchen sollten auf ihre älteren Verwandten hören. Es ist überall auf der Welt das gleiche. Aber du mußt dir in dieser Hinsicht keine Sorgen machen!« Emma lachte. »Mr. Mendes ist nicht dick und ganz bestimmt nicht dumm. Er sieht gut aus. Und er ist zehn oder zwölf Jahre älter als du, was ich richtig finde. Ein älterer Mann ist solider.« Alles ging sehr schnell. Die Verlobung wurde bei einem offiziellen Frühstück gefeiert, dem déjeuner de fiancailies, bei dem die Braut den üblichen Ring bekam, einen in Gold gefaßten Rubin. Als Hochzeitstermin vereinbarte man einen Samstagabend, obwohl Emma einwandte, der Samstag sei gewöhnlich, die besseren Leute würden immer am Montag- oder Dienstagabend heiraten. Eugene Mendes wünschte den Samstag. »Wir können hier bei uns problemlos dreihundert Gäste unterbringen«, sagte Ferdinand. »Und so viele werden auch kommen. Ich bin in vielen Ausschüssen und Aufsichtsräten, die Leute erwarten alle eine Einladung. Laß sehen. Da sind die City Bank, die New Orleans Gaslight and Banking Company, die Western Marine and Fire Insurance Company und die Handelskammer.« Seine Wangen waren rosig vor freudiger Erregung. Plötzlich stand Miriam im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit. Zuvor war sie nur die Tochter des Hauses gewesen, die geliebt und getadelt wurde; jetzt brachte man ihr Achtung entgegen und beneidete sie. Als erste unter ihren Schulkameradinnen sollte sie heiraten, von keinem Geringeren als Eugene Mendes zur Frau erwählt. 113
Sogar Fanny war tief beeindruckt. Sie sollte in das neue Leben mitgehen, als Hochzeitsgeschenk an Miriam neben der Aussteuer, den Perlen und dem Silberservice. Aufgeregt und stolz flatterte sie durchs Haus, lief treppab und treppauf, wenn Geschenke eintrafen. Mit einer Freude, als gehörten die Sachen ihr, ordnete sie die Porzellanschäferinnen, die gestickte Wäsche, die Spitzenmantillas und Silbertabletts. Einzig Eulalie ließ sich von der freudigen Erregung nicht anstecken. Sie schnaubte: »In diese Bowle könntest du genügend Punsch für eine ganze Armee füllen. Und so überladen. Diese Leute bringen es immer fertig zu übertreiben.« »Welche Leute?« fragte Miriam, obwohl sie genau wußte, wen Eulalie meinte. »Rosa und Henry de Rivera – ist die Bowle nicht von ihnen?« »Nein«, entgegnete Miriam genüßlich. »Sie ist von Mr. McClintock in Papas Bank.« Eulalie errötete: »Hm, das wundert mich. Er sollte mehr Lebensart haben, finde ich.« Lieferanten der Firma, die Feste organisierte, brachten kleine runde Tische und goldfarbene Stühle und stellten sie auf. Blumenbinder kamen mit Kostenvoranschlägen für Orangenblüten. In der Küche standen zylinderhohe englische Kuchen in Brandy, um sich vollzusaugen. Schneiderinnen brachten eilends ihre Stoffmuster, belegten Betten und Stühle mit Streifen von irischem Dowlas, Schweizerbatist, Musselin und Kattun für Morgenkleider, Flor für Tanzgewänder, Bombasin* und Samt. Die Zeit reichte nicht, um das Brautkleid in Paris zu bestellen, wie Ferdinand es gewünscht hatte. Der Bräutigam drängte, er wollte mit der Hochzeit nicht ein halbes Jahr warten, bis ein Kleid aus Übersee kam. Das schien vernünftig, also erklärten sich Emma und Ferdinand einverstanden, zumal ein Hochzeitskleid vorhanden war,
* Gewebe aus Halbseide. 114
ein Familien-Erbstück, das Miriam anziehen konnte, in dem bereits Pelagie und vor ihr Emma geheiratet hatten. Dazu sollte sie ihre Diamantohrringe tragen und ein Paar schmale goldene Armreifen, die zusammen mit einem Brief von David per Post eingetroffen waren. David schrieb: Sie gehörten unserer Mutter. Es waren die einzigen Schmuckstücke, die sie besaß, sagte Tante Dinah, als sie mir die Reifen gab. Ich sollte sie für Dich aufbewahren und sie Dir geben, wenn Du heiratest. Liebe Miriam, trage sie an Deinem Hochzeitstag. Sie kommen mit soviel Liebe zu Dir, daß sie Deinen Arm wärmen müßten. Ich wünschte, ich könnte bei Dir sein, aber es ist zu weit… Doch in gewisser Weise werde ich da sein. Ich bin immer bei Dir. Miriam kannte den Brief Wort für Wort auswendig. David hatte weiter geschrieben. Du hast mir nicht viel über den Mann berichtet, den Du heiraten wirst. Ich verstehe, daß es Dir schwerfällt, Deine tiefsten Gefühle auf Papier in Worten auszudrücken. Aber ich weiß, daß Du ihn sehr lieben mußt, und ich freue mich für Dich… Tante Emma schwelgte in Erinnerungen: »Oh, du hättest mich als Braut sehen sollen. Ich habe auf der Plantage geheiratet – ich spreche natürlich von meiner ersten Hochzeit. Fünfhundert Gäste haben daran teilgenommen; mein Vater hat Dampfschiffe gemietet, um sie herzuholen, zusammen mit den Friseusen und all den Sachen, die aus der Stadt kamen.« Pelagie klatschte mit der für sie charakteristischen Geste in die Hände: »Meine Hochzeit war auch großartig, Miriam. Bestimmt wirst du einmal zu einer kirchlichen Trauung in die Kathedrale eingeladen, dann wirst du es sehen. Der Schweizer in seinem roten Rock mit den Goldspitzen und seinem Federhut hat die Gäste zu ihren Sitzen geleitet, und die Glocken haben geläutet wie verrückt! Oh, 115
es war phantastisch! Dann ging es heim zum Abendessen und Tanzen. Aber bis auf die Kathedrale«, sagte sie hastig, »wird deine Hochzeit genauso sein. Kleine Miriam! Ich erinnere mich, wie wir euch vom Schiff abholten. Du hieltest eine Puppe im Arm. Und da stehst du jetzt«, rief Pelagie, »da stehst du jetzt!« Die Woge der allgemeinen Begeisterung trug auch Miriam davon. Mit keinem Gedanken dachte sie daran, daß sie und der Mann, den sie heiraten sollte, nicht eine Stunde allein zusammen verbracht hatten. Aber selbst wenn ihr der Gedanke gekommen wäre, sie hätte genausowenig wie jedes andere Mädchen in ihrer Lage etwas dagegen tun können. Dieses im oberen Stockwerk gelegene Zimmer, besonders die Ecke mit dem großen Pfeilerspiegel in seinem hohen ovalen Rahmen, war ein Ort, an dem Entscheidungen fielen und neue Dinge begannen. Als Miriam erwachte, war die Nachmittagssonne bereits um die Hausecke verschwunden, aber das geneigte Spiegelglas fing ihr Licht noch ein, es zeigte die Couch, auf der Miriam lag, und die Hündin auf dem Boden, die ihre Schnauze in wachsamer Haltung zwischen den Pfoten hatte, als wisse auch sie, daß der nahende Abend eine Veränderung in ihrer beider Leben bedeutete. Auf dem Tisch und den Kommoden nahmen jetzt leblose Gegenstände Leben an und verkündeten die Stunde: Der Schleier, die weißen Handschuhe, der Fächer, das Diamantmedaillon und das Spitzentaschentuch lagen bereit, im Hochzeitskorb, dem corbeille de noce, einem Geschenk des Bräutigams, harrten sie ihrer ersten Benutzung. Miriam setzte sich auf, als Pelagie, gefolgt von Fanny, ins Zimmer trat. »Es ist fast fünf Uhr. Du hast lange geschlafen«, sagte Pelagie. »Ich wundere mich, daß du überhaupt schlafen konntest. Ich war an meinem Hochzeitstag viel zu aufgeregt.« Fanny legte einen Kranz aus Orangenblüten auf den Toilettentisch. »Maxim bringt in einer Minute heißes Wasser, damit Sie sich wa116
schen können. Ich räume rasch die Sachen weg und mache auf dem Bett Platz für Ihr Kleid.« Die beiden Frauen begannen voll Eifer, die Braut herzurichten. Pelagie schwatzte glücklich: »Ich war eben in der Küche, alles sieht wunderbar aus. Vom Eishaus in der Chartres Street brachten sie ganze Berge Eis. Papa muß hundert Flaschen Champagner bestellt haben, ich bin sicher, daß es hundert sind. Wir dürfen die Leute nicht so viel trinken lassen, daß sie die ganze Nacht bleiben; allerdings glaube ich nicht, daß es stört, wenn sie bleiben. Um Mitternacht wird Mama dich ohnehin nach oben bringen und dir in dein Negligé helfen. Sie hat dir bestimmt gesagt…« Emma hatte, mehrere Male. Sie hatte erklärt, daß sie dann nach unten gehen und Eugene mitteilen werde, die Braut sei bereit, und daß Eugene und sie dann fünf Tage in der Brautkammer bleiben würden. Beim Anblick von Miriams verwundertem Gesicht hatte Emma gelacht: »Oh, Schätzchen, die Dienstboten werden euch Essen bringen. Ist es das, was dir Sorgen macht?« »Stell dir vor«, sagte Pelagie jetzt, »du wirst dein Eheleben im gleichen Zimmer anfangen wie Sylvain und ich.« Durch die halb offene Tür konnte Miriam das traditionelle bräutliche Himmelbett sehen, frisch bezogen mit hellblauer Seide, geschmückt mit vergoldeten Cupidos, die rosarote Bänder in ihren verschlungenen Händen hielten. Gewichtig, zeremoniell-feierlich wie ein Altar, so wartete das Bett. Finger fummelten an ihrem Rücken, schlossen die Knöpfe, die vom Hals bis zur Taille reichten. Ihre eigenen Finger strichen unablässig über die beiden feinen Goldreifen an ihrem Handgelenk. Vielleicht hatten die Finger ihrer Mutter auch so darübergestrichen. All diese Jahre hatte David die Reifen für sie aufbewahrt! Plötzlich fühlte sie sich in einen Strudel der Einsamkeit gezogen, sie schauderte und empfand Trauer. Wenn er nur da wäre! In dieser Minute, jetzt, um mit der Sicherheit und Zuversicht, an die sie sich noch erin117
nerte, zu sagen: Ja, ja, es ist richtig, es ist gut! Und um dann aufmunternd zu lächeln, ihr dieses Lächeln zu schenken, an das sie sich ebenfalls noch so gut erinnerte. Miriam straffte die Schultern. Sie durfte nicht nach ihrem Bruder ausschauen, nach überhaupt niemandem, um sich anzulehnen; sie mußte auf eigenen Beinen stehen. Selbstverständlich war es richtig! Ihre flüchtigen Zweifel waren nur natürlich! Hatte Emma ihr nicht versichert, daß alle Bräute Furcht verspürten? Außerdem, sogar David hatte geschrieben, daß er sich sehr freue über ihre Hochzeit mit einem seriösen Mann ihres Glaubens. Aus der Eingangshalle drangen Geräusche und Begrüßungsworte nach oben. »Sie sind da!« rief Fanny. »Kommen Sie, Miß Miriam, schauen Sie!« Pelagie warnte: »Niemand darf sie sehen, bis Papa sie nach unten führt.« »Sie können hinunterspitzen«, drängte Fanny. »Niemand wird Sie sehen. Kommen Sie auf die Galerie, hierher.« Der Hof war erleuchtet. Unter einem Zeltdach war ein Boden gelegt worden. Am Baldachin des Brautsitzes schimmerten weiße Rosen in der zunehmenden Dunkelheit. Pelagie deutete auf die ersten Gäste: »Das ist Pierre Soule. Es heißt, er werde bald im Senat sein. Und dort kommt Rosa, in dem gestreiften Seidenkleid; was für ein schönes Kleid! Und Henry – ich finde es so komisch, daß die Männer ihre Zylinder aufbehalten! Mama hat einen eigenen Tisch mit koscheren Speisen für euren Mr. Kursheedt und die anderen vorbereitet. Wir übrigen bekommen Hummersalat und gebackene Austern und Wildbret und Hühnersalat.« Sie sagte es lüstern. Wieder schwanger. Wenn Pelagie schwanger war, hatte sie immer Hunger. Miriam legte ihre Hand zärtlich auf die von Pelagie. »Meine Güte, Miriam, deine Hand ist eiskalt! Komm, wir spitzen übers Geländer, was sich unten tut. Oh, schau, was Maxim und Chanute bringen!« 118
Eine Braut und einen Bräutigam aus Nougat, fast zwei Fuß hoch, wurden auf den Tisch gestellt und mit Rosen geschmückt. »Ist das nicht zu schön, Miriam? Schnell! Schnell hinein! Eugene kommt. Er darf dich nicht sehen, nicht einmal den Saum deines Kleides. Das brächte schreckliches Unglück. Oh, er sieht aber feierlich aus…« »Lieber Himmel!« rief Emma, die eben ins Zimmer eilte. »Du hast den Schleier noch nicht auf! Komm, es ist gleich soweit.« Ehrfürchtig, als würden sie eine Königin krönen, setzten die Frauen der Braut den Schleier und den Kranz aus Orangenblüten auf. In Weiß gehüllt, starrte die Braut mit leeren Augen auf das Mädchen im Spiegel. Jemand klopfte an die Tür. »Fertig«, sagte Emma und öffnete. Ferdinand trug einen dunklen Anzug mit Satinkrawatte und hatte sich dazuhin in seinen Triumph gehüllt: »Merkt euch meine Worte, morgen wird in der Picayune stehen, dies sei eine der glänzendsten Hochzeiten gewesen, die es je in der Stadt gab!« Miriam nahm seinen Arm: »Ich bin bereit, Papa.« Sie gingen zur Treppe. Getragene Musik klang ihnen entgegen, als sie hinunterschritten. Die Füße in den Satinschuhen bewegten sich in höfischem Rhythmus. Nicht meine Füße, dachte sie. Nicht Miriams Füße. Das alles widerfährt jemand anderem. Keine ihrer Vorstellungen hatten sie auf die Wirklichkeit vorbereitet. Weder ihre Ängste noch ihre geheimsten, ebenso peinlichen wie beglückenden Phantasien hatten sie vorbereitet. Denn das war das Scheußlichste und Schrecklichste, was es gab! Der beeindruckende Herr in Grau, der die Klassiker und die Bibel zitieren konnte, der schickliche Geschenke brachte und Komplimente machte – dieser Herr war – ein Tier. Seine Berührung – grauenhaft. Würden alle ihre Nächte so sein? Die erste war besonders erniedrigend gewesen. Auf der Straße unter ihrem Fenster hatte stundenlang ein wildes Gelärme von Kuhglocken, Trommeln und Hörnern geherrscht. Miriam war entsetzt gewesen, Eugene dagegen belustigt. 119
»Ein alter Brauch«, hatte er gesagt. »Das charivari, die Katzenmusik für Neuvermählte. Nach der ersten Nacht machen sie es nicht mehr. Warum regst du dich bloß so auf darüber?« Sie hatte ihm nicht sagen können, daß sie sich aufregte, weil die unten wußten, was in dem Zimmer geschah, und sie auslachten… Das stimmte nicht, wie sie sehr wohl gewußt hatte, aber es hatte sie krank gemacht vor Scham. Sie hatte ihr glühendes Gesicht mit den Händen bedeckt. Vielleicht waren alle Männer so, vielleicht mußte es so sein. Oder vielleicht würde er sich mit der Zeit ändern und anders zu ihr sein, oder sie würde sich ändern. Jetzt, am vierten Morgen, erwachte sie und sah auf dem Boden einen See aus Sonnenschein. Dies bedeutete, daß es fast Mittag sein mußte. Unter dem blauen Baldachin schlief ihr Mann noch, und aus seinem offenen Mund drangen kurze Pfeiflaute. Leise stand sie auf. Das Haus war still. Sie wußte, daß man aus Rücksicht auf die Neuvermählten das Personal angewiesen hatte, keinen Lärm zu machen. Auf dem Tisch lag der verwelkte Brautstrauß in seiner Spitzenmanschette. Emma hatte angeboten, ihn trocknen und rahmen zu lassen. Und auf dem Tisch lag auch die Ketubba, der Ehevertrag in den anmutigen hebräischen Buchstaben, die über das Papier liefen wie Vogelspuren über Sand. Miriam ergriff ihn. Das dicke Pergament, die bedeutsamen Unterschriften, die Worte, die sie nicht lesen konnte, erzeugten in ihr ein Gefühl der Ehrfurcht und Feierlichkeit, den Eindruck von Dauer. Es war, als hielte sie die Gesetzestafel in den Händen. Tatsächlich hielt sie ihr Leben, nein, zwei Leben zwischen den Fingern, und sie spürte deren schreckliches Gewicht. Gleichzeitig aber sagte etwas in ihr verzweifelt: Du bist jung, erst sechzehn. Was weißt du schon? Nichts. Oder nicht viel. Bestimmt wird sich vieles erst noch offenbaren. Das kann nicht alles sein, was es je geben wird, oder? Die Hündin Gretel schaute aus ihrem Korb in der Ecke. Miriam nahm sie auf und legte ihren Kopf an das warme Fell und die zar120
ten Knochen des kleinen Schädels. Über dieses Verbindungsglied wanderten ihre Gedanken in die Vergangenheit, zurück in die Straße, wo einst der Hund gefunden worden war, in das Dorf, in das Haus und zu ihrer Mutter, die sie nicht gekannt hatte. Wie weit weg und wie lange her! Vielleicht könnte eine Mutter erklären… »Du bist so nachdenklich. Was ist?« Eugene saß im Bett, hellwach und neugierig. Vielleicht beobachtete er sie schon seit Minuten. Verwirrt antwortete sie: »Nichts, wirklich. Nichts.« »Komm schon. Man steht nicht reglos mitten im Zimmer, ohne an etwas zu denken.« »Ich dachte an – ja, ich dachte an Gott«, sagte sie plötzlich. Seine Augenbrauen bewegten sich und gaben seinem Gesicht einen amüsierten, leicht spöttischen Ausdruck. Die Tage der Gefangenschaft in diesem Zimmer hatten Miriam bereits vertraut gemacht mit seinen Gesten und seiner Mimik. Die augenblickliche Miene war ihm offenbar zur Gewohnheit geworden; seine Brauen bewegten sich auf der Stirn wie schwarze Raupen. Seltsam, daß ihr das zuvor nicht aufgefallen war, sonst hätte sie vielleicht den Mut aufgebracht, seinen Heiratsantrag abzulehnen. »Die Religion ist zweifellos achtbar, und ich habe nichts dagegen einzuwenden. Aber jetzt ist kaum die rechte Zeit oder der rechte Ort dafür. Komm wieder ins Bett.« »Es muß fast Mittag sein. Soll ich nicht nach dem Frühstück klingeln?« »Später. Komm wieder ins Bett. Komm schon.« »Bitte«, sagte sie. Es klang wie ein Wimmern. Der hilflose Klang des Wortes ärgerte sie. »Bitte, was?« »Ich will – nicht…« Eugene stieg aus dem Bett und trat auf sie zu. Nackt wirkte er doppelt so groß. Sie fühlte sich von ihm bedroht, obwohl er ihr körperlich keinen Schaden zugefügt hatte und sie nicht fürchtete, daß er das tun würde. Der Schmerz saß tief innen, es war ein seelischer 121
Schmerz. Sie schloß die Augen. Wenn sie seine Nacktheit nicht anschaute, war es leichter; dann konnte sie so tun, als sei sie gar nicht anwesend. Sie lag da, ohne sich zu rühren. Ja, dies widerfuhr jemand anderem. Ihre Unbeteiligtheit störte ihn nicht, falls er sie überhaupt bemerkte. Was er tat, schien er einzig für sich zu tun. Außerdem sollte eine Frau keine Lust erkennen lassen, sie sollte keine empfinden, wenn sie eine anständige Frau war. Jeder wußte das. Lediglich für den Mann war ›es‹ ein Vergnügen. Deshalb beunruhigte es sie nicht, daß sie keinen Genuß verspürte. Andererseits aber schien ihr die Annahme vernünftig, daß sie auch keinen Abscheu empfinden sollte. Bestimmt sollte man seinen Gatten nicht verabscheuen. Doch wenn man das tat, wenn man ›es‹ haßte, wie weit war man dann davon entfernt, ihn zu hassen?
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V
on der Anhöhe im Nordwesten des Pontchartrain-Sees sah man den bronzefarben schimmernden schmutzigen Strom, der träge zum Golf floß. »Steig aus«, sagte Eugene. »Wir schicken den Wagen voran und gehen den Rest des Weges zu Fuß. Ich möchte dir die Aussicht zeigen.« Das Licht war grün. In dem Wunsch, es auf ihrer Hand zu sehen, drehte Miriam die Handfläche nach oben. Das Licht lag zart wie ein Schleier auf dem wogenden Korn, dahinter auf einer Reihe von Amberbäumen, noch weiter hinten auf einem niedrigen Hügel und ganz im Hintergrund… Hier zu gehen, immer weiter zu gehen, auf einem unsichtbaren Pfad durch das Kornfeld, vorbei an Ulmen und Walnußbäumen, den Hügel hinauf, immer weiter und weiter… »Du schaust das Haus ja gar nicht an«, sagte Eugene. 122
Gehorsam drehte sie sich um. Dort stand es, fast genauso, wie es ihr beschrieben worden war, vielleicht noch imposanter, als sie es sich vorgestellt hatte. Die Ziegel leuchteten rosarot. Zweiundzwanzig dorische Säulen trugen die Galerie. Auf der linken Seite erstreckte sich ein langer Kameliengarten. Die Oleanderhecken rundum waren eine einzige blaßrote Masse. »Schön«, sagte sie, und weil jeder, der ein Lob hören wollte, mehr als ein Wort erwartete, fügte sie hinzu: »Beau Jardin. Ein treffender Name.« »Die Rotbuche ist eine Kostbarkeit. Hundertfünfzig Jahre alt. Leider verbirgt sie einen Flügel des Hauses. Hinter ihr liegen die Garconniere und ein Schulzimmer. Ich habe beides voriges Jahr anbauen lassen.« Da Miriam keinen Kommentar gab, fuhr er gewandt fort. »Dort drüben ist der Taubenschlag. Bei deiner Liebe zu Tieren dürfte es dir gefallen. Das dort ist eine Weinkellerei und das ein Räucherhaus. Hinter dem Küchenflügel liegen die Ställe, die Hütten für die Schwarzen und die Zuckersiederei. Aber du wirst ja genügend Zeit haben, dir alles anzusehen, wenn du dich ausgeruht hast.« Sie stand still da und schaute. Dort, wo die immergrünen Eichen mit Moos behangen waren und der Boden sandig aussah, mußte der Weg zum Bayou verlaufen. Wenn man Glück hatte, konnte man am Bayou vielleicht an irgendeinem Nachmittag einen Reiher im brackigen Wasser fischen sehen. »Komm! Was stehst du da?« »Ich horchte auf die Stille.« »Die Stille? Das Personal wartet darauf, dir vorgestellt zu werden. Komm schon, bitte.« Als sie aus der Halle ins Haus trat, blinzelte sie. Verschwommen sah sie in dem Halblicht eine zweistöckige Halle, eine Wendeltreppe, schwarze und weiße Marmorquadrate, schwarze Gesichter, weiße Zähne und eine Homerbüste auf einem Piedestal. Beau Jardin.
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In der Hitze sackte alles zusammen. Die Vorhänge hingen schlaff herab und die Kristalltropfen am Lüster waren trüb. »Ah, trotzdem ist es schön, wunderschön«, sagte Emma mit einem Seufzer. »Nichts im Vergleich zum Landsitz der Labouisse«, entgegnete Eugene, der sich in Bescheidenheit gefiel. »Ich habe hier nur achtzig Morgen und fünfzig Leute. Aber mehr will ich gar nicht. Es gibt so viele Probleme – Überschwemmungen, Pflanzenkrankheiten, Fröste. Außerdem bin ich im Herzen kein Pflanzer. Erzähle von unserem Besuch auf der Plantage Valcour Aime, Miriam. Dort gibt es etwas zu sehen, wenn man Pracht liebt.« Als Miriam zögerte, fuhr er fast ungeduldig fort: »Es ist nach dem Vorbild von Versailles angelegt, aber das wissen Sie natürlich. Die Blumenbeete, die Gärten, die Möbel – alles ist französisch. Meiner Frau hat es nicht gefallen.« Miriam erwiderte ruhig: »Warum überrascht dich das? Du weißt doch, daß ich nicht für Prunk geschaffen bin.« »Nun«, sagte Emma und schaute unsicher von einem zum anderen, »ich würde meinen, daß Beau Jardin für jeden großartig genug ist. Du bist eine vom Glück begünstigte junge Frau, meine liebe, in deinem Alter schon Herrin eines solchen Hauses zu sein… Aber das ist dir sicher klar.« Sie sagte es voll Wehmut, weil Pelagie erst nach dem Tod ihres Schwiegervaters Herrin ihres Hauses werden konnte. »Ja«, pflichtete Ferdinand seiner Gemahlin bei, »es ist ein Segen, sein Kind so glücklich zu wissen. Das Glück, das ich in deinem Gesicht sehe, ist mir alles wert. Die wunderbarste Zeit im Leben einer Frau«, schloß er, dezent auf ihre Schwangerschaft anspielend. Das Glück in ihrem Gesicht? Blind! Blind! Die Gefühllosigkeit ihres Vaters rief Verachtung in ihr hervor und gleichzeitig Mitleid. Er verlor an Würde in ihren Augen; und sie selbst verlor ebenfalls an Würde. Da saß er, ohne etwas zu merken, und ließ sich von der Platte vorlegen, die der siffleur hereingebracht hatte, ein armer kleiner Bursche, der auf dem ganzen Weg vom Küchenflügel herüber pfeifen mußte, zum Beweis, daß er nicht von den Speisen naschte. Hin124
ter ihm schwenkte ein anderer kleiner Junge einen Fliegenwedel aus Pfauenfedern. In dem angenehmen Luftzug lächelte Ferdinand zufrieden. Wegen seiner Habgier hatte er seine Tochter beschwatzt, verlockt und verführt. Und er hatte Emma, die willige Emma, dazu benutzt, ihn mit mütterlichen Ratschlägen zu unterstützen. Bei diesem Gedanken richtete sich Miriam auf ihrem Stuhl entschlossen auf und machte ihren Rücken steif. Ich verabscheue Selbstmitleid. Und ich verabscheue es, jemand anderem die Schuld an meiner eigenen Torheit zu geben. Dann hör endlich auf damit! Du hast dich selbst verraten! Warum gibst du jetzt deinem Vater und Emma, Pelagie und auch Rosa, ja sogar Fanny die Schuld? Sie haben dich beschwatzt, das stimmt, aber Tatsache ist, daß du dich vom Ansehen des Namens Mendes hast verführen lassen, von dem Haus und dem Garten und davon, daß du als erste deines Jahrgangs heiraten solltest. Wie konntest du dich selbst so erniedrigen? Doch überall reden die Leute, als sei es die natürlichste Sache der Welt, daß eine junge Frau sich einen stolzen Namen und ein schönes Haus wünscht und daß ihre Familie beides für sie sucht. Also hat Ferdinand gleich tausend anderen Vätern nur das Beste für seine Tochter gewollt. So und nicht anders ist es. Eugene hatte einst warnend zu ihr gesagt, bei Dunkelheit kämen im Bayougebiet Schlangen und Alligatoren ins Gras herauf. Auf Pelagies Tauffeier, bei ihrem ersten Zusammentreffen, hatte er sie davor gewarnt. Eines Abends fehlte Gretel. Fanny und Miriam gingen bis lange nach Einbruch der Dunkelheit auf dem Rasen umher und riefen nach ihr, bis Eugene ungeduldig wurde und ihnen befahl, ins Haus zu kommen. »Ich schlafe auf der Veranda«, flüsterte Fanny, »dann kann ich sie hereinlassen. Sie kommt bestimmt, sie kann nicht weit gelaufen sein.« 125
Sie war nicht weit gelaufen. Nur bis zu dem Gehölz auf dem Sandstreifen am Bayou, vielleicht um ein rotes Eichhörnchen aufzuscheuchen oder um etwas anderes, überaus Wichtiges zu erledigen. Am Morgen erschien Blaise und sagte Fanny Bescheid. »Nein, gehen Sie nicht hin, Miß Miriam, gehen Sie nicht hin«, rief Fanny. Aber Miriam folgte Blaise bereits zum Schauplatz der kleinen Tragödie. Es war ein entsetzlicher Anblick. Der Alligator, offenbar vor der Vollendung seines gräßlichen Werkes durch irgend etwas gestört, hatte Gretels Überreste auf dem Pfad zurückgelassen, ein Stück des kleinen Körpers und einige Büschel des hellen Fells. Kaum genug, um darüber zu weinen, aber genug, damit es einen würgte. Von Übelkeit gepackt, floh Miriam hinter einen Baum. Schaudernd und frierend stand sie in der Hitze, die Hände auf dem Gesicht. Plötzlich stiegen aus ihrer Erinnerung Bilder auf: Sie war an Deck des Schiffs, und der triefende, zitternde kleine Hund wurde ihr in die Arme gelegt; der Junge, Gabriel, hatte einen so zärtlichen Blick… Die Bilder verschwanden. Sie stand im Gras, und Fanny, Blaise und Eugene, der vom Haus hergekommen war, starrten sie an. »Schaff das weg, Blaise«, befahl Eugene. »Sofort, sofort.« Blaise wandte sich an Miriam: »Möchten Sie, daß ich es an einer bestimmten Stelle…« Auf dem dunklen Gesicht lag ein Ausdruck ungewöhnlicher Sanftheit. »Komm schon«, sagte Eugene zu Miriam, »die Sache ist schlimm und tut mir leid, aber lassen wir uns nicht in Trauer versetzen. Verschone mich bitte damit. Ich besorge dir einen anderen Hund, und basta.« Als ob ein Hund ein Ding wäre! »Schau nicht so finster«, tadelte er. »Du hast jetzt ohnehin an andere Dinge zu denken.« Wie von selbst hoben sich ihre Hände an den Leib, dessen zunehmende Rundung ihre weiten Röcke verbargen. 126
Fanny hatte ihr erzählt, daß sie nach einigen Wochen die Bewegungen des werdenden Lebens spüren würde. Ihre Gedanken wanderten vom Leben zum Tod, zum Tod durch Gewalt, und ihr war, als sei der Tod des Hundes ein Omen. In letzter Zeit dachte sie oft an ihre Mutter und an ihre eigene Geburt, und dann spürte sie einen stechenden Schmerz, obwohl sie wußte; daß so etwas morbid und unsinnig war. Trotz aller vernünftigen Überlegungen ließ die Angst sie nicht los. Als drohendes Gespenst kam sie mit der Dunkelheit. Bei Einbruch der Nacht wich das Summen und Sirren der Insekten wie auf ein Signal hin unheilvoller Stille. Und nach einer Weile erhob sich Wind, er sauste und pfiff durch die Kiefern am Weg zum Bayou, wo der nasse schwarze Alligator mit dem schrecklichen Schlangenkopf auf Beute ausging. Eine Eule schrie. Der Schrei einer Eule ist ein Todeszeichen, behauptete Fanny. Das Haus stand wehrlos da, der Nacht ausgeliefert. Wer konnte schon sagen, was jenseits der verriegelten Türen lauerte? Jede Nacht, wenn alle schlafen gegangen waren, verriegelte Eugene die schweren Türen. Miriam sann oft über das nach, was sich außerhalb des Hauses befand. Viele Dinge, die sie auf der Plantage gesehen hatte, beunruhigten sie. Sie hatte in die Unterkünfte geschaut, in denen Kinder auf dem schmutzigen Boden zwischen Hühnern und deren Kot herumkrochen, während Hunde und Hausschweine unter den Hütten im Boden wühlten und scharrten. Sie hatte die Familien auf den Eingangsstufen sitzen und das Abendessen mit den Fingern oder mit einem Stück Holz aus einem einzigen Eisentopf essen sehen. Immer aber hatten freundliche Stimmen gegrüßt: »Gut'n Abend, Missis.« Die Leute waren freundlicher als der Aufseher, ein finsterer Yankee, der mit seiner Familie am hinteren Ende der Hüttenreihe wohnte. Seltsam, daß er nie lächelte, während jene, die er von seinem erhöhten Platz auf dem Pferderücken regierte, lächeln konnten. »Er bestiehlt den Herrn«, sagte Eugene. »Jeder weiß, daß er es tut.« 127
Für jeden Ballen Baumwolle, der über der festgesetzten Quote lag, erhielt er einen Bonus, darum trieb er die Leute gnadenlos an. Jeder, der älter als zehn Jahre war, schuftete von Sonnenaufgang bis Sonnenuntergang. Sogar Kinder, die noch nicht alt genug waren, um Zuckerrohr zu schneiden oder Baumwolle so schnell zu pflücken, daß drei- bis vierhundert Pfund am Tag zusammenkamen, mußten arbeiten. Sie schleppten Wasser auf die Felder. Eugene bewahrte in dem Schrank beim Bett sicherheitshalber ein Gewehr und Pistolen auf. Eugene, hätte Miriam zu ihm sagen können, während sie wach neben ihm lag und auf jedes Knacken und Rascheln horchte, Eugene, weder die Türen noch die Waffen nützen etwas, wenn sie hereinwollen. Miriam konnte die züngelnden Flammen fast prasseln hören, die emporloderten und die Treppen verschlangen. Aber es gab noch schlimmere Ängste. Eugenes massiger gewölbter Rücken hob sich in dem dunklen Bettraum noch dunkler ab. Ihre weit geöffneten Augen hefteten sich auf den Rücken ihres schlafenden Mannes. Ein ganzes Leben lang. Ein ganzes Leben lang so weiter. Er war nicht zufrieden mit ihr. Wie hätte er es auch sein sollen? Sie konnte ihn nicht lieben. Er wollte etwas, das sie nicht zu geben vermochte. Er wollte eine Frau, die ihn erfreute, zum Lohn dafür, daß er ihr seinen Namen gegeben hatte und sie ernährte; er wollte nur, was jeder Mann wollte. Eine Frau sollte erfreuen und sich erfreut zeigen, ob sie es war oder nicht. Auch dies war Bestandteil des Handels. Aber ich kann das nicht, dachte sie; irgend etwas in mir kann das nicht. Sie empfand Mitleid mit ihm, weil er in dem Bündnis, das man Ehe nannte, seinen Teil leistete, sie dagegen ihren nicht. Er und sie waren einander fremd, doch er würde nie seine Würde aushöhlen, indem er zugab, daß er das wußte, indem er sich eingestand, daß sie ihn verabscheute. Sein Lachen erklang nur noch in Gesellschaft. Den ganzen Sommer über lösten Gäste einander ab. Sie kamen mit der Kutsche oder 128
mit dem Flußdampfer, ganze Familien, blieben einen Tag, eine Woche oder länger. Bei Tagesanbruch frühstückten die Männer unten, bevor sie auf die Jagd ritten. Miriam, die dank ihrer Schwangerschaft nichts tun mußte, was sie nicht tun mochte, blieb im Bett liegen. Sie hörte die Herren sprechen, während sie eingemachtes Fleisch, Lachs und Garnelen aßen, Rotwein und gezuckerten Brandy tranken. Am Abend nach dem Essen konnte sie sich gleich entschuldigen und nach oben gehen; von einer schwangeren Frau erwartete man Schwächlichkeit. Doch sie fühlte sich keineswegs schwächlich, ihr Körper kribbelte vor Energie. Ihre Füße bewegten sich zum Klang der Geigen, im Takt der Mazurkas und Quadrillen, die unten getanzt wurden. Nur ihre Seele war niedergedrückt und regte sich nicht. Ihr Geist wanderte. Hinuntergehen, zur Tür hinaus! Die beschwerlichen Röcke abstreifen, ausholenden Schrittes weggehen wie eine Bäuerin in ihrem einfachen Kleid aus Baumwolle oder grobem Halbwollstoff mit einem Loch für den Kopf, diesen kühlen Gewändern, die so arm und doch so anmutig waren! Ja, derart gekleidet durch die Felder zu gehen, immer weiter, vorbei an den Amberbaumhainen, den Hügel hinauf, frei, frei! Ihre Hand beschrieb in der Luft einen Bogen und sank dann in einer Geste der Resignation herab. Romantischer Unsinn! Frei, frei, über den Hügel und wohin? Sehr spät, wenn sie längst eingeschlafen war, würde Eugene heraufkommen. Sie würde aufwachen, das Rascheln seiner Kleidung und das Knarren des Bettes hören, wenn er hereinstieg; er würde sich zu ihr drehen und sie bei den Schultern fassen. Irgendwann, dachte sie, eines Nachts wird es passieren. Etwas in mir, das ich zurückhalte, wird losbrechen, ich werde mit den Fäusten auf seinen Rücken trommeln und schreien. Dabei wollte er ihr nichts zuleide tun. Er hatte sie erwählt und begehrte sie. Und sie sollte sein Kind zur Welt bringen. Würde das Kind etwas ändern? In ihm? Oder in ihr selbst? Sie mußte Pelagie fragen, ob das möglich sei. Wenn Pelagie, die bereits ihr sechstes Kind erwartete, auf Besuch kam, würde sie sie fragen. 129
»Ich bin sehr unglücklich, Pelagie«, sagte sie. Das Blut schoß in Pelagies weißen Hals und färbte ihre Ohrläppchen rot. »Ich hasse es«, wisperte Miriam. »Mir graut davor.« Sie wollte fragen: Stimmt mit mir etwas nicht? Gibt es einen Weg, wie ich es besser machen kann? Doch Pelagies häßliches Erröten ließ sie schweigen. »Wenn man Kinder will, ist es der einzige Weg«, sagte Pelagie. Sie sah Miriam nicht an. Ihre Antwort war keine Antwort. Pelagies offenes, wuscheliges Haar war an diesem Morgen noch nicht frisiert. Es hatte seinen Glanz verloren. Ihr einstiges Strahlen war verschwunden, in die Kinder geflossen. Welche Veränderung von dem Mädchen mit dem süßen runden Gesicht zu dieser dicken, aufgedunsenen Frau! So viele Kinder! So viele Monate des Erbrechens, denn Pelagie litt jedesmal unter Übelkeit. Jetzt spürte sie Miriams Blick und schaute auf. Das alte liebe Lächeln erhellte ihr Gesicht. Verständnislos und lieb. »Er ist ein großzügiger Ehemann, Miriam. Das mußt du bedenken. Dein schönes Haus und dieser Landsitz hier. Denk an all die guten Dinge. Ich bin sicher, daß du lernen wirst, glücklich zu sein, Liebes. Es liegt in dir selbst, weißt du.« Also konnte sie nicht einmal bei Pelagie ihr Herz ausschütten und sich den Kummer von der Seele reden. An einem regnerischen Morgen, als Fanny das Frühstück brachte, sah Miriam, daß das Mädchen geweint hatte. Fannys Gefühlsäußerungen hatten bisher immer Miriams Freuden oder Leiden widergespiegelt und nie ihre eigenen aufgezeigt. Diese verblüffende Erkenntnis schoß Miriam jetzt durch den Kopf. »Was ist, Fanny?« Das Mädchen wand sich: »Es geht um Blaise, der Herr will ihn wegschicken.« »Das glaube ich nicht!« 130
»Es stimmt aber. Der Herr sagt, hier gebe es keine Arbeit für Blaise, nicht genug zu tun. Blaise weint. Wir sind zusammen, seit wir auf der Welt sind, Miß Miriam.« Fanny hob ihre Schürze ans Gesicht und verbarg es darin. »Wohin will er ihn schicken?« »Zu irgendeinem Freund. Ich habe den Namen vergessen.« Fannys Stimme klang gedämpft durch den Schürzenstoff. »Jemand, der nach Texas übersiedelt, hat er gesagt. Ich weiß nicht, wo Texas ist, aber sie sagen, daß es weit weg ist.« Miriam stieg aus dem Bett, »Bring mir ein Kleid, Fanny. Beeile dich und richte mir schnell die Haare. Wo ist Mr. Mendes?« »Er war in der Bibliothek.« Miriam hatte keine Ahnung, wie sie es anstellen wollte, aber für sie stand fest: Die beiden würden nicht auseinandergerissen werden. Eugene saß am Schreibtisch und las Briefe. Er schaute auf, verärgert über die Störung. Miriam zitterte noch immer. Trotzdem fragte sie ruhig: »Was willst du Blaise antun?« »Antun? O mein Gott, hat deine Fanny dir die Ohren vollgeheult? Sag nichts. Ich kämpfe schon den ganzen Morgen mit seinen Tränen.« »Die beiden haben ein Recht auf Tränen. Weißt du, wie ihr Leben war? Wie es war, bis sie in das Haus meines Vaters kamen? Ihr Vater war…« »Bitte mach dir nicht die Mühe, es mir zu erzählen. Ich habe diese Geschichten hundertmal gehört. Elend, Leiden. Ich bin nicht verantwortlich für ihre vergangenen Leiden.« »Du könntest aber dazu beitragen, etwas wiedergutzumachen«, entgegnete sie, überrascht von der Schärfe ihres Tons. Die schwarzen Augenbrauen glitten nach oben. Zu ihrer noch größeren Überraschung verteidigte sich Eugene: »Was willst du von mir? Ich behandle meine Leute gut. Du hast nie gesehen, daß ich gegen jemand die Hand hob. Ist das wahr oder nicht?« 131
»Es ist wahr, aber…« »Nichts aber. Ich betreibe kein Wohlfahrtsinstitut. Wenn ich keine Verwendung für eine Person habe, dann habe ich keine. Und ich werde ihn nicht behalten, durchfüttern und kleiden, wenn er seinen Unterhalt nicht verdient.« »Bestimmt könntest du irgendeine Arbeit für Blaise finden. Bestimmt macht das Essen, das er verzehrt, uns nicht arm.« Der Schmerz in Fannys Gesicht stachelte sie an; sie mußte einfach für Fannys Sache eintreten, als wäre es ihre eigene. »Du weißt genau, daß sie alle übertreiben, nicht wahr? Wenn sie nicht lügen, übertreiben sie zumindest. Sie sind alle hysterisch. Blaise wird es gut haben an seinem künftigen Platz, und Fanny wird darüber hinwegkommen. Die beiden werden an der Trennung nicht sterben. Sie sind nicht die ersten Geschwister, die getrennt werden. Bist nicht auch du von deinem Bruder getrennt?« »Das ist etwas anderes, und das weißt du auch.« Die Erwähnung Davids machte sie noch kühner. »Wäre David hier, er würde mich verstehen.« Sie hatte fast vergessen, daß ihr Bruder vor langer Zeit von etwas angefeuert worden war, das wie übertriebener Zorn ausgesehen hatte. Jetzt erinnerte sie sich an dieses Feuer. »David würde den beiden das nicht antun«, sagte sie. Eugene stand auf: »Aha, dein Bruder also steckt dahinter. Du wirst wie er, hm?« »Was weißt du von meinem Bruder? Du hast ihn ja nicht einmal gesehen.« »Nein, aber ich habe genug über ihn gehört«, erwiderte Eugene hart. »Er und seinesgleichen haben lose Zungen, doch sie wissen nicht, worüber sie reden. Willst du, daß hier Blut fließt? Willst du erleben, daß das Haus niedergebrannt wird?« »Ich verstehe dich nicht. Ich bitte dich nur, Blaise nicht wegzuschicken. Das ist alles, worum ich dich bitte. Ist es so schwer, eine einfache gute Tat zu tun?« 132
»Eine sogenannte einfache gute Tat nach der anderen. Wo soll das Geld denn herkommen? So, wie ich meine Leute ernähre…« »Mit Maismehl, gepökeltem Schweinefleisch und Melasse.« »Was sollten sie sonst essen? Sie essen, was bei Landbewohnern üblich ist. Schau dir einmal an, was ein weißer Farmer auf dem Tisch stehen hat! Die Armen sind überall arm. Meinst du etwa, wir könnten alle von unserem Tisch ernähren?« Das stimmte, die Armen waren überall arm, auch in dem Europa, an das sie sich erinnerte. Hier freilich kamen die armen Weißen nicht an die Tür, um zu betteln, sondern um zu fordern. Die Frauen blickten verächtlich unter ihren Schuten hervor, und Eugene gab ihnen immer etwas. »Du weißt, daß ich tue, was ich kann«, sagte er. Manchmal, wenn die Farmer in Schwierigkeiten gerieten, wenn das Unkraut ihre Baumwollpflanzen zu ersticken drohte, schickte er ihnen Hilfe zum Jäten, damit sie ihre Ernte retten konnten. »Du weißt, daß ich tue, was ich kann«, wiederholte er. Sie merkte, daß er erregt war. Irgendwie hatte sie seinen Panzer der Gleichgültigkeit durchdrungen. »Weißt du, wie manche ihr Personal behandeln? Vermutlich nicht. Ich werde es dir erzählen, damit du mich nicht länger für ein Ungeheuer hältst. Hast du nie vom eisernen Halsband gehört? Der Kopf kommt zwischen drei Eisenzinken, so daß der Hals nicht gedreht werden kann. Weißt du, daß entlaufene Sklaven, die man wieder einfängt, nackt an einen Baum gefesselt und ausgepeitscht werden? Oder daß…« »Genug! Hör bitte auf.« »Nun gut! Ich behandle andere Leute anständig, ich treibe ehrlichen Handel, und es ist nicht nötig, daß sich jemand in meine Angelegenheiten einmischt.« Sie hatte zwei Worte aufgefangen: »Du treibst Handel?« »Das ist nicht meine Hauptbeschäftigung, bestimmt nicht. Aber ab und zu, wenn beispielsweise aus Virginia ein Posten heruntergeschickt wird, den ich schnell umsetzen kann, tue ich es. Ich hat133
te nie etwas mit Schmugglern oder irgendwelchen ungesetzlichen Dingen zu schaffen. Ich schwöre es! Und das können einige der geachtetsten Familien, darunter die Verwandten deiner Tante Emma, wahrhaftig nicht.« Sie stieß unsicher hervor: »Aber du bist doch Jude!« »Ich bin Südstaatler. Meine Familie ist seit zweihundert Jahren in diesem Land, wir alten spanischen Geschlechter halfen es aufbauen. Geh nach Charleston, nach Savannah, dann wirst du es sehen.« Er richtete sich gerade auf. »Ich hätte nicht zulassen sollen, daß diese Diskussion soweit führt, und du solltest deinen Platz als Frau kennen.« Ihren Platz als Frau! Während der Werbung um sie hatte er öfters ihren Geist und ihr Wissen bewundert, so an dem schicksalhaften Nachmittag, als er mit ihr und Emma durch sein Haus gegangen war. Und jetzt erwartete er nichts als Fügsamkeit und Gehorsam! Zorn paarte sich bei ihr mit Scham und brannte wie Feuer in ihrer Kehle. Dann dachte sie an Fannys traurige, verzweifelte Augen. Sie dachte an Blaise, einen weinenden jungen Mann, der hier vor seinem Gebieter gestanden und geweint hatte. Plötzlich wußte sie, was sie tun mußte. Sie ließ sich auf die Knie nieder. Als sie sprach, war ihre Stimme so leise, daß Eugene den Kopf zu ihr neigen mußte, um sie zu verstehen. »Bitte. Ich flehe dich an, schicke Blaise nicht weg. Er könnte…« Sie schluckte: »Meine Zeit ist fast da. Wenn wir einen Jungen bekommen, könntest du ihm Blaise schenken. Blaise ist ein wohlerzogener, gebildeter Mann. Er wäre ein guter Diener und für die Erziehung eines Jungen hervorragend geeignet.« »Stehen Sie auf, Mrs. Mendes, um Himmels willen! Seien Sie nicht dramatisch!« Eugene streckte die Hand aus, um ihr hochzuhelfen, doch sie griff nach der Armlehne des Sessels neben ihr und zog sich hoch. 134
Er ging zum Schreibtisch, drehte ein Blatt um und hustete, während sie wartend dastand. »Nun, um die Wahrheit zu sagen, daran habe ich nicht gedacht. Vielleicht hast du recht. Er wäre ideal für einen Jungen.« »Du behältst ihn also? Du sagst es den beiden?« »Ich behalte ihn, bis das Kind da ist. Wenn wir einen Sohn bekommen, ja, dann kann er bleiben.« »Danke, Mr. Mendes, vielen Dank.« Wenn es eine Tochter wird, sagte sie sich, als sie die Treppe hinaufging, muß ich mir eben etwas anderes einfallen lassen. Vorläufig einmal hatte sie gesiegt. Ach, wüßte ich nur nicht, dachte sie, daß ich mein ganzes Leben in diesem Land verbringen muß, wo jeden Tag solche Dinge geschehen und die Regierung sie zuläßt. Sie fühlte sich sehr müde, eine Folge der Mattigkeit und Verwirrung in ihrer Seele. Es war das beste, jetzt über nichts mehr nachzudenken, den Geist einfach abzuschalten und sich durch den Tag treiben zu lassen. Der Herbst nahte, die Jahreszeit der rotgelben Blätter und der Truthahnjagd. In diesem Jahr kühlte die Luft nicht ab, sondern die Hitze nahm noch zu, und in der Stadt brach zusätzlich zum gefürchteten alljährlichen Gelbfieber die asiatische Cholera aus. Wer irgend konnte und nicht schon aus der Stadt geflohen war, tat es jetzt. Für manche jedoch war es zu spät. Eugene brachte Miriam einen Brief: »Er kam eben mit dem Schiff, von Rosa de Rivera – eine schlechte Nachricht. Henry ist am Fieber gestorben. Sie hätten länger in Saratoga bleiben sollen. Sehr unvernünftig, so früh zurückzukehren.« Miriam überlief es kalt. Zum erstenmal wurde sie unmittelbar mit dem Tod konfrontiert. Bisher war niemand, den sie kannte, einfach verschwunden, plötzlich nicht mehr da gewesen. Wer würde jetzt an dem langen Tisch auf Henrys Stuhl sitzen? Der gütige, stille, zurückhaltende Henry! Und die arme Rosa! Trotz ihrer Lebhaftigkeit 135
und Wichtigtuerei hatte sie ihre wirkliche Kraft von Henry bezogen. »Ich werde mir einen neuen Anwalt suchen müssen«, sagte Eugene. »Ein Jammer. Henry war ehrlich und klug. Leider trifft man diese beiden Eigenschaften nicht immer zusammen an.« Er trommelte mit den Fingern auf die Schreibtischplatte, eine Angewohnheit von ihm, wenn er eine Entscheidung traf: »Also, wir fahren nicht, wie ursprünglich geplant, am Ersten des kommenden Monats zurück. Du wirst hier entbinden müssen. Wir werden Dr. Roget rufen. Er hat sich zur Ruhe gesetzt und weiter flußaufwärts eine Plantage gekauft. Dort produziert er Rum. Aber bestimmt hat er nicht vergessen, wie man ein Kind auf die Welt holt.« Miriam war ungeheuer dick, sie konnte sich nicht mehr bücken und ihre Schnürschuhe nicht mehr selbst zubinden. Das Stubenmädchen Abby sagte geheimnisvoll: »Kann sein, daß Sie Zwillinge kriegen, Missis. Ich weiß noch, wie meine Tante Flo bei der Geburt von Zwillingen gestorben ist. Zwei Tage und drei Nächte hat sie geschrien, bevor sie gestorben ist. Es war schrecklich, ich habe mir die Ohren zugestopft. Diese Zwillinge haben sie entzweigerissen, zwei große, gesunde Halunken.« Fanny war böse: »Hören Sie nicht auf sie, Miß Miriam. Hat nicht gestern der Schmetterling auf Ihrem Arm gesessen? Das ist ein gutes Zeichen, wirklich, immer ein gutes Zeichen.« Miriam wollte keine Angst haben. Als Pelagie zu Besuch kam, erzählte ihr Miriam von einem Zeitungsartikel über Königin Viktoria, die bei der Geburt ihres letzten Kindes Chloroform genommen hatte. »Sie schreiben, es sei wunderbar. Man spürt keine Schmerzen, überhaupt nichts. Ich wünschte, Dr. Roget wüßte etwas darüber. Niemand hier weiß etwas.« Pelagie hielt die Anwendung eines solchen Mittels für falsch. »Es ist unmoralisch. Es verstößt gegen die Natur. Man soll Schmerzen fühlen. Wenn man das nicht sollte, hätte man keine. Klingt das nicht einleuchtend?« 136
Nein, das tut es nicht, dachte Miriam. Wie dumm zu glauben, daß alles, was ist, richtig sein muß! Aber Pelagie war eben so. Trotzdem, ehrlicherweise mußte man zugeben, daß Pelagie eigentlich nicht dumm war, sondern nur nicht gelernt hatte, selbst zu denken. Darauf lief es hinaus. Wie dem auch sein mochte, es stand Miriam nicht an, über Pelagies Denkvermögen zu urteilen. Sie war selbst nicht über wirre, abergläubische Gedanken erhaben und las aus den Phänomenen der Natur Vorzeichen heraus. Nach einer grauen Woche, in der ununterbrochen melancholischer Regen von jedem Baum und jeder Dachrinne tropfte, drang die Sonne eines Mittags plötzlich durch die Wolken, und das Grau hellte sich zu Silber auf. Keine Stunde später traf, wie von der Sonne angekündigt, Davids Brief ein: Ich komme mit dem ersten Schiff, das nach New Orleans ausläuft. Jetzt, wo ich fertig bin und mich ›Doktor‹ nennen darf, habe ich einen Entschluß gefaßt, der Dich überraschen und hoffentlich glücklich machen wird. Ich komme für ganz nach Hause. »Ich kann mir nicht vorstellen, was ihn umgestimmt hat«, rief Miriam. »Eugene, weißt du, daß ich ihn acht Jahre nicht gesehen habe? Ach, Papa wird sich freuen! Und David muß schon unterwegs sein. Was wohl bewirkt hat, daß er sich anders besann? Er war so gegen alles hier.« »Offensichtlich ist er nun endlich zur Vernunft gekommen«, meinte Eugene. Sofort wurde sie ungehalten: »Vernünftig war er immer. Du weißt über David nur das, was man dir erzählt hat.« Besorgt fuhr sie fort: »Ich hoffe nur, daß Papa und er endlich miteinander auskommen. Vielleicht sollte ich mit Papa reden und ihn vorbereiten, damit ihre Beziehung gleich von Anfang an gut wird.« »Du bist zu sensibel, das schadet dir. Du kannst dir nicht die Angelegenheiten deiner Familie auf die Schultern laden. Die beiden 137
werden schon selbst fertig damit. Außerdem«, sagte Eugene mit Nachdruck, – »wirst du in ein paar Wochen andere Pflichten haben.« In der ersten Dämmerung eines nebligen Herbstmorgens setzten bei Miriam die Wehen ein. Zuerst meinte sie, die krächzenden Rufe der Krähen hätten sie geweckt. Dann zerrte etwas in ihrem angespannten Leib, und sie schrie auf. Fanny kam gelaufen, und Eugene schickte Blaise nach dem Arzt. So fing es an. Die Sonne drang durch den Nebel. Je höher sie am Himmel stieg, desto stärker wurden Miriams Schmerzen. In Wellen kamen sie, stiegen an, brachen über Miriam herein, rissen sie in einen Strudel. Dann ebbten sie wieder ab, und Miriam nahm die gelben Sonnenstreifen an der Zimmerdecke wahr, auch ihren Arm, der schlaff auf dem Leintuch lag. Erneut kamen die Wellen, und die ganze Welt reduzierte sich auf ihren Leib, in dem dieser Kampf ausgefochten wurde. In einer Schmerzpause sah sie sich, wie die anderen sie sehen mußten: ein anstößiger Anblick. Vor allem durfte sie ihre Würde nicht verlieren; ihre Schreie durften im Haus nicht zu hören sein und nicht durchs Fenster nach draußen dringen. Sie rammte die Faust in den Mund: Ich werde nicht schreien, ich werde nicht schreien, ich werde es aushalten. Eugenes Gesicht schaute auf sie herunter. Diese Augenbrauen, diese schwarzen Raupen. Sie schrie: »Geh hinaus! Laß mich! Geh! Geh hinaus!« »Sie erkennt Sie nicht«, flüsterte Fanny entschuldigend. Jemand befestigte ein Laken am Bettpfosten und drehte es zusammen. »Ziehen Sie! Ziehen Sie!« drängte Fanny. Das Bett knarrte, das Holz schien sich über Miriams Kraft zu beschweren. Fanny wischte ihr die nassen Hände und die Stirn ab; ihre Berührung war sanft, und ihre Worte klangen sanft. Fanny sagt etwas, aber ich verstehe sie nicht. Dinge werden plötzlich sichtbar und verschwinden. Der Arzt blinzelt, er weiß nicht, was er tun soll, das ist das Problem, er weiß nicht, was tun. O Gott, oh, wie schrecklich. 138
Die Sonne verschwindet ums Haus. Es scheint Abend zu sein. Wasser, wispert sie. Ihre Lippen bewegen sich nicht, sie sind trocken, fühlen sich sehr dick an. Sie spürt Fannys Arm auf ihren Schultern; sie spürt die Kühle in ihrem Mund und schluckt. Der Schmerz braust heran und reißt sie hoch, höher, noch höher, dann schleudert er sie hinunter. Es wird nie enden. Sie öffnet die Augen, Licht blendet sie. »Mach die Jalousien zu«, sagt jemand, »die Sonne quält sie.« Also muß es wieder Morgen sein. Es wird nie enden. Sie wälzt und wälzt sich in den Kissen. Auf dem Tisch neben dem Bett steht eine brennende Nachtlampe; die Kerze flackert in der porzellanenen Dame, die ein Ballkleid und eine gepuderte Perücke trägt. Dumme Dame! Sie weiß nichts. Aber die brennende Kerze? Also muß es wieder Nacht sein. Eine Männerstimme sagt: »Zwei Tage jetzt.« Ist es der Arzt oder Eugene? Unwichtig. Weit draußen hinter dem Fenster erklingt Trommeln und Klappern im ständig gleichen Rhythmus. Die Männerstimme – es muß Eugene sein – ruft: »Sagt ihnen, daß sie mit dem Krach aufhören sollen, jetzt ist nicht die Zeit dafür.« »Rippenknochen«, äußert sie deutlich. »Sie phantasiert.« Nein, nein, ich phantasiere nicht. Rippenknochen. Drüben in den Unterkünften machen sie Kastagnetten aus Rippenknochen. Laßt sie in Ruhe, laßt sie Musik machen. Spricht sie es aus, oder denkt sie es nur? Eine weitere Welle packt sie, reißt sie mit und schmettert sie an eine Wand. Und wieder. Und wieder. Wie lange noch? Die Lampe wirft einen Schatten an die Decke. Der Schatten läuft wie Wasser, er rast, als die Kerze hochgehoben wird. Sie scheint ihr ins Gesicht, flackert, schwankt, tanzt, hüpft. Ein Gesicht schaut auf sie herunter, es gleitet ins Licht, in den Schatten. Augen heben sich von dem Gesicht ab. Sie versucht, klar zu sehen. Augen in tiefen Höhlen, besorgte Augen in einem weißen, länglichen Koboldgesicht 139
– sie gleiten in den Schatten, aus dem Schatten. Davids Gesicht. Jetzt phantasiere ich, denkt sie. Worte kommen aus dem Gesicht: »Ich bin es, Miriam, David! Ich bin da.« Sie hört eine andere Stimme – ihre eigene – in krächzendem Flüsterton widersprechen: »Nein. Nicht du. Nicht wirklich du.« »Doch, Liebes, doch, wirklich ich. Ich werde dir helfen.« Etwas Blitzendes geht schnell von Hand zu Hand, ein scharfer Metallgegenstand. Ein Messer? Ein Schwert? Was werden sie damit tun? Miriam schreit. Die Sehnen an ihrem Hals spannen sich von ihrem entsetzten Schreien. »Miriam, leg dich hin. Hab keine Angst. Mach einfach die Augen zu.« Etwas, eine Hand oder ein Tuch, etwas Leichtes senkt sich auf ihre Nase. »Atme jetzt, liebes, atme tief. Hab keine Angst.« Helles, reines Morgenlicht durchflutete das Zimmer, Miriam, entbunden und befreit, ruhte sich auf weißen Kissen aus. Zwei gewickelte Säuglinge lagen in Zwillingskörben neben dem Bett. »Schön sind sie, nicht wahr, David?« »Sehr. Ein bildhübsches Paar.« »Eugene und Angelique. Ich hätte das Mädelchen so gern Hannah genannt, aber Eugene will, daß sie Angelique heißt, nach seiner Mutter.« Warum nicht Hannah, nach meiner Mutter? Der Junge wird doch nach dir benannt. Hannah ist ein häßlicher Name für ein hübsches Mädchen. Meine Mutter war schön. Tante Emma sagt: ›Es hat keinen Sinn, mit deinem Mann zu streiten, Miriam. Schließlich sind es seine Erstgeborenen, er hat ein Recht darauf.‹ Seine Erstgeborenen? Nicht meine? 140
Fanny ist klüger: ›Geben Sie nach, er wird Sie unglücklich machen, wenn Sie es nicht tun. Ein Name ist das nicht wert.‹ Doch was das Stillen anbelangte, war sie fest geblieben. »Eugene wollte Ammen suchen und sie nächsten Monat in die Stadt mitnehmen«, erzählte sie jetzt David, »aber ich werde meine Kinder selbst stillen. Das habe ich ihm gesagt.« »Gut, daß du es tust«, betonte David. »Ich bin stolz auf dich.« »Erzähl mir«, bat sie leise, »schildere mir, was gestern passierte. Ich erinnere mich an nichts, alles ist verschwommen. Ich weiß nur, daß du zur rechten Zeit gekommen bist. Viel länger hätte ich nicht durchgehalten.« Das stritt er nicht ab: »Ich weiß. Zum Glück haben wir Chloroform. Dank ihm konnte ich die Zange benutzen. Es ist ein Wunder und ein Segen.« »Du hast sehr viel gelernt«, sagte sie voll Bewunderung. Er schüttelte den Kopf: »Wir haben noch einen langen Weg vor uns. Das ist erst der Anfang.« Prüfend betrachtete sie sein Gesicht. So lange hatte sie ihn nicht gesehen! Zweifellos hatte sie sich in dieser Zeit verändert, er aber noch mehr. Das Feuer in ihm schien erloschen. Er war ruhig und gesetzt. Seine Stirn zerfurchten zwei tiefe Linien, er trug eine Brille und hatte eine ganz andere, fast leidenschaftslose Art des Auftretens. Miriam gelangte zu dem Schluß, daß ihn sein Leben in New York und sein verantwortungsvoller Beruf so verändert haben mußten. »Du weißt gar nicht, wie sehr ich gehofft hatte, daß du kommst«, rief sie, den Tränen nahe. »Wir hatten unterwegs heftige Stürme und liefen bei Mobile auf Grund. Am liebsten wäre ich ins Wasser gesprungen und hätte das Schiff geschoben, so sehr drängte es mich hierher.« Auch David hatte feuchte Augen. »Aber nun bin ich ja da! Übrigens, rate mal, wer mitgekommen ist. Gabriel. Er ist unten.« »Ich dachte, er will in Charleston eine Anwaltspraxis eröffnen.« 141
»Das wollte er, aber als der Mann seiner Schwester starb, hielt er es für seine Pflicht, hierher zu kommen und sie bei der Erziehung ihrer Söhne zu unterstützen. Das Pflichtgefühl eines Südstaatlers, scheint mir.« »Er wird also bleiben und du auch! Ich kann das alles noch gar nicht fassen. Aber, weißt du, Tante Emma sagte immer zu Papa, du würdest wiederkommen, sie war sich dessen sicher. Was ist der Grund, David, daß du deine Meinung geändert hast?« Er stand auf, trat zum Bett und nahm ihre Hand: »Ich war viel zu lange von dir weg. Wen habe ich denn außer dir?« »Und außer Papa«, verbesserte sie ihn sanft. Er lächelte über die Korrektur. »Du kommst immer zuerst. Aber Papa habe ich auch.« Ihre alte Sorge lebte wieder auf: »Du hast doch artig mit ihm gesprochen, hoffe ich?« »Natürlich. Mach dir keine Sorgen, alles ist in Ordnung. Regt Zorn dich immer noch so auf? Wie entsetzt warst du darüber doch als Kind!« David schwieg eine Minute, dann fuhr er nachdenklich fort: »Er ist ein sehr großzügiger Vater. Ich schulde ihm viel für meine Ausbildung, verdanke ihm die Zukunft, die sich vor mir auftut. Und auch dir gegenüber, Miriam, ist er großzügig.« »Er schenkte mir wieder Perlen, zur Ankunft seiner ersten Enkel. Graue Perlen. Sie sind ein Vermögen wert, sagt Eugene. Er findet, daß Papa zuviel Geld ausgibt. O, David, ich kann es immer noch nicht glauben, daß du hierbleibst! Wo du alles hier so gehaßt hast! Du hast solche Dinge gesagt und geschrieben…« »Bedenke, daß ich sehr jung war, als ich mit Papa stritt. Inzwischen bin ich älter und klüger, wenigstens hoffe ich, daß ich klüger bin«, sagte er scherzend, wurde aber gleich wieder ernst: »Ich habe erkannt, daß ich die Welt nicht ändern kann, folglich sollte ich mich lieber an sie gewöhnen, so, wie sie ist.« Miriam entgegnete langsam: »Das klingt ganz und gar nicht nach dir. Und es kommt mir komisch vor, daß du mit der Welt, die wir 142
haben, Frieden geschlossen hast, während ich mich jetzt dagegenstelle.« »Tust du das wirklich?« »Weißt du, wirklich gutgeheißen habe ich sie nie. Es war eher so, daß ich dachte, sofern ich überhaupt dachte, die Dinge seien einfach so und man könne nichts dagegen tun. Aber in letzter Zeit sagte ich mir immer öfter, man könne vielleicht doch etwas tun, auch wenn ich nicht genau weiß, was.« David nahm seine Brille ab und rieb sich die Augen. Sie sahen müde aus. »Ein einzelner Mensch kann nicht viel tun. Die Ereignisse nehmen ihren Lauf.« »Du verblüffst mich, David! Mir scheint, das ist eine Ausrede dafür, daß man nichts tut! Wäre ich ein, Mann, würde ich mir ganz sicher etwas ausdenken.« Sie zögerte. »Es stimmt, daß Menschen wie Papa und Emma sehr gut zu ihren Sklaven sind, aber es ist einfach nicht richtig, daß sie solche Macht über andere Menschen haben, auch wenn sie sie noch so gut behandeln.« »Es ist gefährlich, so zu reden. Darüber bist du dir doch im klaren, oder?« »Oh, das weiß ich sehr wohl. Und mit wem sollte ich schon darüber reden? Bestimmt nicht mit Eugene. Er gehört einem dieser Sicherheitskomitees an, die sich gegen die Neger richten.« »Wirklich?« »Ja, er und Sylvain. Die beiden sind ständig auf Sitzungen in der Stadt und flußaufwärts oder flußabwärts.« »In der Tat! Nun, der Mensch tut eben, was er will… Aber ich bin viel mehr an dir interessiert, kleine Schwester. So klein bist du jetzt allerdings nicht mehr als Mutter dieser beiden Persönchen.« David betrachtete die schlafenden Säuglinge und wandte sich wieder Miriam zu: »Wenn ich bedenke, wie dein Leben begann, wenn ich die beiden anschaue und dich – was für ein langer, langer Weg! Und dich so gut versorgt, so glücklich zu sehen! Du bist doch glücklich, Miriam, nicht wahr?« 143
Worte schossen ihr in die Kehle und blieben hinter ihren geschlossenen Lippen stecken. O mein Gott, David, ich bin so unglücklich… Abgesehen von diesen Kleinen hier ist alles schiefgegangen – tausendmal wollte ich es dir sagen, aber ich konnte es nicht zu Papier bringen, ich wußte nicht, wie anfangen oder wie es erklären, und ich weiß es auch jetzt nicht… Ich bin so voller Traurigkeit. Ruhig antwortete sie: »Ja, ja, ich habe ein gutes Leben, wie du siehst.« »Ich bin so froh für dich, so froh!« Würde ich dir jetzt die Wahrheit sagen, es gäbe nichts, was du tun könntest, du oder jemand anderer… Sie schlug einen fröhlichen Ton an: »Nun erzähle mir endlich von dir. Du bist fast fünfundzwanzig! Wann wirst du heiraten?« Er entgegnete genauso munter. »Wer will mich schon haben?« »Sei nicht dumm. Ich meine es ernst.« »Na gut, dann werde ich ernst antworten. Eine Frau würde nicht in das Leben passen, das ich zu führen gedenke.« »Wie meinst du das?« »Ich würde einer Frau keine Freude bereiten. Ich bin ruhelos, ich will arbeiten, ich bin nicht häuslich und hätte zuwenig Zeit, um mich mit einer Frau, einem Haus und Kindern abzugeben.« Eugene stand in der Tür: »Sie werden Ihre Meinung ändern. Strahlende Augen, schönes langes Haar und eine schmale Taille werden Sie umstimmen.« »Das glaube ich nicht«, entgegnete David. »Wie dem auch sei, was halten Sie von meinem Sohn?« fragte Eugene, sich betont herzlich gebend. »Ein kräftiger Bursche. Er hat sich wahrlich auf die Welt gekämpft.« »Schauen Sie bloß seine Fäuste an«, forderte der stolze Vater David auf. »Angelique siehst du gar nicht an«, sagte Miriam. »Doch, natürlich sehe ich sie an.« Eugene wandte sich an David: »Ich habe mit Ihrem Freund Carvalho einige geschäftliche Dinge 144
besprochen. Vielleicht übertrage ich ihm die Erledigung meiner rechtlichen Angelegenheiten, nachdem sein Schwager tot ist.« »Ich bin sicher, daß Sie diese Wahl nicht zu bereuen hätten«, erwiderte David förmlich. »Natürlich könnte ich zu den Spitzenleuten gehen, zu Pierre Soule oder Judah Benjamin. Carvalho ist sehr jung, doch er macht einen guten Eindruck, und er beherrscht beide Sprachen mindestens so gut wie sonst jemand, was natürlich wichtig ist, wenn man in New Orleans als Anwalt tätig sein will.« »Wichtiger noch, er ist ehrlich.« »Gewiß. Ein Gentleman des Südens. Und weil er erst anfängt, werden zudem seine Honorare niedriger sein.« Eugene lachte. »Dagegen läßt sich kaum etwas einwenden.« David pflichtete ihm bei. »Kommen Sie zu uns nach unten. Das Haus füllt sich mit Verwandten, größtenteils aus Emmas Familie von weiter flußaufwärts. Und vor kurzem traf ein Dampfer mit einer Ladung Madeira und hellem Bier frisch aus England ein. Kommen Sie etwas trinken.« »David«, rief Miriam, als die Männer das Zimmer verließen, »grüße Gabriel von mir. Und bestelle ihm unbedingt, daß ich ihm immer noch dankbar für die Rettung meines Bruders und meiner armen Gretel bin.« »Oh, dieser Hund!« sagte Eugene leicht verächtlich. »Er nahm ein schreckliches Ende.« »Gretel ist mit Miriam aufgewachsen«, erinnerte ihn David. »Nun, jetzt hat sie an einen Sohn zu denken. Und an eine Tochter. Kommen Sie.« Fanny trat mit einem Tablett ein. »Wie herrlich, daß Sie Ihren Bruder wiederhaben!« rief sie. »O ja, ich freue mich. Denk nur, ich werde ihn sehen können, wann immer ich will! Trotzdem, ich weiß nicht, warum, aber ich habe das Gefühl, daß irgend etwas nicht stimmt, daß uns irgendwelche Schwierigkeiten bevorstehen.« 145
»Wissen Sie nicht, was das ist? Frauen sind traurig nach der Entbindung, das ist alles. Es dauert ein paar Tage, dann vergeht es. Essen Sie jetzt Ihr Mittagessen, damit Sie wieder zu Kräften kommen. Sie haben eine sehr schwere Zeit hinter sich.« Manchmal redete Fanny unsinniges Zeug von Hexen, die über Baumwipfel flogen und ähnliches mehr, doch sie hatte auch eine ganze Menge gesunden Menschenverstand. Essen Sie Ihr Mittagessen, damit Sie wieder zu Kräften kommen. Folgsam aß Miriam den Pudding. Die Kleinen bewegten sich, weckten einander mit kurzen Grunzlauten. Sie hatten Hunger, und das bewirkte, daß sich die Brüste ihrer Mutter von der hineinströmenden Milch spannten. Miriam lag da und betrachtete die rosigen Fäustchen, die sich leicht hin und her bewegten. Diese zwei neuen Menschlein gehörten ihr! Die Welt sollte ihren Lauf nehmen; sie, Miriam, mußte jetzt in erster Linie für diese beiden sorgen. Unbestimmte Wunschvorstellungen gingen ihr durch den Kopf: Daß der Junge Sanftmut mit seines Vaters Kraft haben möge und das Mädchen Kraft mit seiner Mutter Sanftmut – vor allem aber ein anderes Leben als seine Mutter.
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us dem winzigen Innenhof des Hauses in der St. Peter's Street konnte man durch eine hohe Fenstertür in das Sprechzimmer und den Raum dahinter schauen. Das Sprechzimmer enthielt einen Schreibtisch, ein Regal voller Bücher und einen Schrank mit Instrumenten und medizinischem Gerät: Besteck für die Zahnbehandlung, Behälter für Medikamente und Amputationssägen. Im zweiten Raum standen fast keine Möbel. Gabriels Hand mit der Kaffeetasse verharrte mitten in der Bewegung: »Du willst die Räume doch nicht so lassen, oder? Seit ei146
nem Monat bist du jetzt hier, und es sieht aus, als seist du heute früh eingezogen.« »Ich habe alles, was ich brauche. Ein Bett, einen Tisch, ein paar Stühle und mehrere Bücherregale. Was braucht der Mensch mehr?« »Nun, sehen wir mal. Der Mensch braucht Teppiche, Vorhänge, Sofas, Bilder, Spiegel, viele Dinge.« »Du klingst wie meine Schwester. Miriam bearbeitet mich ständig. Ich soll mich ›einrichten‹, drängt sie.« »Wie Eugene sagt, begreift dein Vater nicht, daß du dir von ihm nicht eine richtige Praxis einrichten läßt. Kurz, du bist ihm ein Rätsel. Du bist uns allen ein Rätsel, mein Freund.« »Wirklich?« »Das weißt du genau. Deinen Sinneswandel verstehe ich immer noch nicht. In New York hast du geredet, als ob alle hier unten giftige Schlangen wären. Du würdest nie zurückgehen, hast du gesagt. Und du hast sogar davon geredet, Miriam in den Norden zu holen.« »Ich war sechzehn, als ich das sagte, und sie war ganze neun Jahre damals«, entgegnete David ausweichend. Er verheimlicht etwas, dachte Gabriel. Schon lange, bevor sie beide in den Norden gegangen waren, hatte er hinter der vertrauten Art seines Freundes etwas Geheimnisvolles gespürt. Unruhig und besorgt wartete er jetzt. Staubpartikelchen schwebten in einem Sonnenstrahl und ließen sich als feiner Film auf dem Boden und auf seinen Schuhen nieder. Davids gesenkte Augen schienen ebenfalls den Staubpartikelchen zu folgen. Plötzlich sprach er. »Ich bin zurückgekehrt, um die Dinge hier zu ändern.« »Die Dinge hier zu ändern?« »Ja. Was nutzt es, wenn ich mir im Norden den Mund fransig rede über das System im Süden. Reden ist leicht. Durch Reden entsteht viel Dampf, man könnte damit tausend Maschinen antreiben, wenn es ginge. Ich gelangte zu der Erkenntnis, daß ich handeln muß statt reden.« 147
»Und wie gedenkst du zu handeln?« David bemerkte, daß die Ruhe seines Freundes nur gespielt war. Darum sagte er beruhigend: »Mach dir keine Sorgen. Ich werde niemand in Schwierigkeiten bringen. Darauf kannst du dich verlassen.« »Und dich selbst, bringst du dich in Schwierigkeiten?« »Ich werde ganz bestimmt versuchen, es nicht zu tun. Aber manchmal muß man für das eintreten, woran man glaubt. Klingt das zu edel?« Er hielt kurz inne. »Ich fürchte, daß meine Worte eben hochtrabend klangen. Aber ich kann nicht anders, ich sage nur die Wahrheit.« Linien der Anspannung und Erregung erschienen auf Davids Gesicht. »Du täuschst dich, weißt du. Du kannst die Dinge nicht ändern, David. Du bist David, erinnerst du dich? Die anderen sind Goliath.« »Schon, aber David erschlug Goliath. Erinnerst du dich?« »Stimmt. Das war ein schlechter Vergleich. Hör zu«, sagte Gabriel ernst. »Du weißt sicher noch, wie wir damals als Jungen auf der Mirabelle fuhren und nach Bordeaux kamen. Dort gab es zahllose leerstehende Villen und verfallende Warenhäuser, die ganze Pracht und Herrlichkeit ging unter. Warum? Weil der Sklavenhandel gesetzlich verboten worden war. Hier wird sich das gleiche abspielen, David. Merk dir meine Worte. Es ist nur eine Frage der Zeit und der Geduld. Aber noch ist die Zeit nicht reif.« »Und sie wird noch ein weiteres Jahrhundert nicht reif sein, wenn man sie mit ihrem eigenen Tempo ablaufen läßt. Das System hier ist zu gewinnbringend. Die Entkörnungsmaschine zum Reinigen der Baumwolle hat den Baumwollpreis um mehr als das Hundertfache in die Höhe getrieben. Die Dampfmaschine und die Zuckerrohrmühle haben den Wert der Plantagen Louisianas verdoppelt. Der obere Süden bringt viel mehr Sklaven hervor, als er zur Bearbeitung des Bodens braucht, während hier unten und in Texas, wo man expandiert, immer mehr Sklaven benötigt werden. Ein Sklavenhändler kann zum Beispiel seine Investition innerhalb weniger Tage verdoppeln, indem er in Virginia kauft und in Louisiana verkauft! Ich 148
habe in New York eine Untersuchung darüber gelesen. Die Zahlen habe ich irgendwo hier, ich kann sie dir zeigen.« »Du willst also die Dinge beschleunigen? Wie? Durch einen blutigen Krieg? Wenn du das willst, bist du nicht bei Verstand.« »Es gibt ein faszinierendes Buch«, sagte David. »Ich besitze es, natürlich habe ich es versteckt. Es heißt ›Der Partisanenführer‹ und beschreibt die Gründung einer eigenen Regierung durch die Südstaaten und den Krieg, der daraus entsteht. Angsterregend, aber vielleicht zutreffend, das weiß nur Gott. Ich leihe es dir, wenn du willst.« »Nein, besten Dank, ich will nicht. Du wirst also Partisanenführer, habe ich recht?« David nickte und setzte sich auf seinem Stuhl gerader. »Dann hast du den Verstand verloren. Du bist verrückt.« »Ich weiß. Du hast es vorhin schon gesagt.« Davids Lächeln war fast liebevoll. Ein junger Neger öffnete die Küchentür, schüttelte einen Besen aus und schloß die Tür wieder. Als die Tür zu war, sagte Gabriel warnend: »Dienstboten reden. Ich hoffe, du bist wenigstens vernünftig genug, deine Zunge im Zaum zu halten.« »Lucien redet nicht. Wir stehen auf der gleichen Seite. Er hilft mir. Darum habe ich ihn angestellt.« »Angestellt?« »Ja, er ist ein freier Neger. Ich zahle ihm Lohn. Hast du gemeint, ich besäße einen Sklaven?« Davids Augen blitzten. In ihm brennt ein Fieber, dachte Gabriel. Vorsichtig fragte er: »Weiß sonst noch jemand davon?« »Meinst du, ich würde ihn verraten?« »Du antwortest auf alle meine Fragen mit einer Gegenfrage«, sagte Gabriel leicht gereizt. Der andere lachte: »Heißt es nicht immer, das sei eine jüdische Angewohnheit?« »David, allen Ernstes, hast du vor deiner Schwester je eine Andeutung über diese Sache gemacht?« 149
»Natürlich nicht. Glaubst du wirklich, ich würde Miriam in Gefahr bringen? Den Menschen, der mir mehr bedeutet als die ganze restliche Welt zusammengenommen?« »Wieder Fragen! Ich kann nur hoffen, daß du es nicht tust. In dieser Familie gibt es Leute, die würden… Ich darf gar nicht daran denken, was sie tun würden!« »Ich weiß, Gabriel, glaube mir.« »Erst vor ein paar Jahren wurde hier ein eigenes großes Geschworenengericht zur Untersuchung einer abolitionistischen Bewegung einberufen. Sylvain Labouisse gehörte ihm an. Das Gericht empfahl eine permanente militärische Truppe zum Schutz vor Aufständen. Sylvain gehört auch ihr an. Du spielst mit einem schrecklichen Feuer, David.« »Das ist mir klar«, erwiderte David ernst. »Ich will dir noch etwas sagen. Dein eigener Schwager Eugene – ich begehe keinen Vertrauensbruch, wenn ich dir das erzähle, denn es ist allgemein bekannt – leitet ein Sicherheitskomitee zur Bekämpfung von Aufwiegelei. Er hat sehr großen Einfluß, gib dich da keiner Täuschung hin. Er ist bereits ein mächtiger Mann in der Demokratischen Partei.« »Die alle widern mich an! Du weißt gar nicht, wie sie mich anwidern!« David verzog vor Ekel den Mund. Gabriel seufzte: »Ich weiß es. Aber bedenke, David, daß nicht alle Menschen hier im Süden schlecht sind. Während meines Aufenthalts in England sah ich größere Leiden, als du sie hier je zu sehen bekommen wirst. Hunger und Lumpen in diesen kalten Mietshäusern… Und in Massachusetts die vielen jungen Dorfmädchen in den Fabriken…« »Richtig, sicher, das bezweifle oder bestreite ich nicht, aber es gehört nicht zur Sache«, unterbrach ihn David. »Du kannst auch nicht leugnen, daß wir Fortschritte machen. Nimm Dysons Schule für freie Neger…« »Was weißt du von Dyson?« 150
Aus der Frage klang eine Schärfe, die Gabriel überraschte. Er antwortete: »Nun, nichts, was nicht alle wissen! Eine gute Sache, daß der weiße Mann so etwas tut. Du siehst, wir kommen voran, aber es muß schrittweise gehen, man kann nicht einfach alles über Nacht umkehren. Nimm deinen eigenen Diener…« »Ja, nehmen wir ihn! Er mußte seine Freiheit kaufen! Und sogar jetzt noch darf er nicht wählen oder sich in einem Theater hinsetzen, wohin er will! Lucien Bonnet, anständig, intelligent…« Gabriel hob die Hand: »Warte! Ich argumentiere nicht gegen dich, sondern pflichte dir bei. Ich sage nur, daß du zu schnell vorgehen willst, das wird nicht klappen.« Solche Worte waren David nicht neu, allzu oft hatte er diese Reden gehört: Nichts als Zeit ist nötig, damit das ganze Unrecht verschwindet! Es besaßen doch vor gar nicht allzu langer Weile in New York die Leute noch Sklaven! Und in Virginia brachte vor fünfzehn oder zwanzig Jahren sogar der Richmond Enquirer Artikel, in denen die Sklavenbefreiung befürwortet wurde. Was passierte daraufhin? Die Abolitionisten erschienen, wiegelten die Leute auf, verursachten den Nat-Turner-Aufstand und warfen damit alles zurück, Gott weiß wie weit, nur weil diese Außenseiter es zu eilig hatten. Ja, das alles kannte er, und so schwieg er jetzt. »Das ist bestimmt nicht der richtige Weg«, sagte Gabriel. »Für den Norden ist es einfach, den Süden zu verdammen! Sklaven passen nicht in eine industrielle Wirtschaft! Es ist einfach für Garrison und seinesgleichen, eine sofortige Abschaffung des Systems im Süden zu fordern, aber wie soll das geschehen, ohne daß man die Wirtschaft hier ruiniert und ein Chaos verursacht? Ein furchtbares Gemetzel könnte die Folge sein, wenn man die Leidenschaften der Ungebildeten schürt! Du vor allen anderen, du mit der Geschichte deiner Familie, mußt doch wissen, zu welchen Untaten der Pöbel fähig ist.« »Ich weiß es.«
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»Na, und? Erst vor ein paar Jahren gab es in den Gemeinden Madison und Carrol Pläne für Sklavenaufstände. Zum Glück wurden sie rechtzeitig entdeckt.« »Nicht Rebellion ist mein Ziel, Gabriel, sondern Bildung. Vernünftige, politische Organisation…« »Dabei bleibt es doch nicht! Ihr werdet heimliche Versammlungen abhalten, man wird es herausfinden, es wird schreckliche Bestrafungen geben, dann heftige Vergeltungsakte… Und letztendlich kommt nichts dabei heraus. Nein, David, der einzige Weg ist ein langsames, geduldiges Vorgehen, im Rahmen der Gesetze. Die Zeit und das Gesetz werden die Veränderung herbeiführen.« »Du redest wie ein Anwalt.« »Ich bin Anwalt.« Unvermittelt wechselte David das Thema: »Wo willst du heute nachmittag hin?« Gabriel ging dankbar darauf ein: »Zu einer Ausschußsitzung bei Gershom Kursheedt. Wir kommen sehr gut voran mit unserer neuen Gemeinde, die ›Verstreuten von Juda‹ soll sie heißen. Wir kehren vom deutschen Ritus zum portugiesischen zurück.« »Zu aristokratisch, um sich mit Deutschem zu mischen? Entschuldige, ich habe es nicht persönlich gemeint.« David lächelte. »Natürlich wäre es ideal, wenn wir alle gleich wären. Aber wir sind es nicht. Jeder Mensch hält gern am Vertrauten fest, das ist alles. Besonders jetzt, wo als Folge der antisemitischen Gesetze in Europa so viele Deutsche hierher kommen. Aber stell dir vor«, sagte Gabriel begeistert, »Kursheedt hat bei Judah Touro wahre Wunder gewirkt. Er hat erreicht, daß Touro eine riesige Summe für die Synagoge und andere wohltätige Zwecke spendet. Keiner von uns kann sich vorstellen, wie er das geschafft hat, es sei denn, er hat gerade den richtigen Zeitpunkt erwischt. Touro wird alt und bekommt wohl Angst vor dem Sterben.« »Da hast du es! Die Kraft der Überredung zum Guten und Rechten. Haben wir darüber nicht eben gesprochen?« »Nicht ganz, David. Nicht ganz.« 152
Nun war es Gabriel, der vom Thema abging: »Kursheedt ist eine Art Schüler von Isaac Leeser. Ein großer Mann, dieser Leeser. Ein fruchtbarer Autor. Du solltest seine Zeitschrift Occident and American Jewish Advocate lesen. Sie erscheint jeden Monat und berichtet, was sich im jüdischen Leben des Landes tut. Er gibt die Zeitschrift heraus, obwohl er dabei Geld verliert. Aber er ist ein Junggeselle mit wenig Ansprüchen.« »Genau wie ich. Ein Junggeselle mit wenig Ansprüchen.« »David, ich kam heute nachmittag vorbei, um dich zu fragen, ob du nicht in unseren jüdischen Wohlfahrtseinrichtungen mitarbeiten möchtest. Es gibt so viele Komitees, für die Mitarbeiter gebraucht werden. Allerdings darf ich dich nicht anwerben, wenn du bei dieser anderen Sache mitmachst. Verstehst du?« »Vollkommen. Du hast dich klar ausgedrückt.« Davids Antwort klang bitter. »Ich bin nicht willkommen.« »Sei nicht verbittert deswegen. Würdest du andere hineinziehen wollen? Deine Schwester zum Beispiel?« »Ich habe dir vor einer Weile gesagt, daß ich das nicht will, oder? Aber ich kann mich eines Gedankens nicht erwehren: Welch ein Glück für den Südstaaten-Juden, daß es den Neger gibt! Er zieht die Hauptwucht des Vorurteils auf sich, und darum wird der Jude nun in der besten Gesellschaft bereitwillig aufgenommen.« »Du bist ungerecht, David.« »Bin ich nicht. Oh, ich räume ein, daß es für Leute wie dich, die in das System hineingeboren worden und darin aufgewachsen sind, eine gewisse Entschuldigung geben mag. Aber für die unter uns, die aus Europa kommen und es besser wissen müßten, gibt es keine Entschuldigung.« »Wir tun, was die ganze Gesellschaft tut. Wir sind Menschen wie die anderen. Wir sind nicht alle so edel wie die Propheten.« »Wir sind das Volk des Bundes. Von uns wird ein stärkerer Gerechtigkeitssinn erwartet. Prüfe unsere Geschichte daraufhin…« Gabriel stand auf, um zu gehen. »Ich habe sie nicht so gründlich analysiert wie du«, sagte er ein wenig steif. 153
David begleitete ihn durch das Haus auf die Straße. »Sei nicht böse mit mir. Müssen wir in allem gleich denken, um Freunde zu sein?« »Nein, keineswegs. Und ich bin auch nicht böse, nur besorgt. Gib acht auf dich, David.« Ein paar Minuten blieb David im Torweg stehen und schaute Gabriel nach. Salz der Erde, dachte er. Stark und fest. Man könnte ihm alles anvertrauen, was man hat oder je zu bekommen hofft. Ein kluger Kopf, ein Gelehrter, voll tiefer Warmherzigkeit unter der Strenge. Aber langsam, zu langsam, kein Mann, der etwas in Bewegung setzt. Leider, leider, dachte er mit einem Seufzer. Das nachmittägliche Gespräch hatte ihn müde gemacht. In letzter Zeit war er viel zu oft müde, doch kein Wunder. ›Die Kerze an beiden Enden anzünden‹ nannte man so etwas. Dieses ganze Organisieren und Planen, dazu die Anspannung durch die notwendige Geheimhaltung. Dabei mußte er die ganze Zeit über eine ›normale Existenz‹ führen, wozu unbedingt ein Mindestmaß an gesellschaftlichem Leben gehörte. Oft wünschte er, sein gesellschaftliches Leben könnte mehr als nur ein Mindestmaß ausmachen, und er könnte sich mehr als einen Tanz oder eine kurze Plauderei mit einem der entzückenden Mädchen erlauben, die den jungen Arzt, den Sohn von Ferdinand Raphael, so freudig willkommen hießen. Er lächelte mit ein bißchen Wehmut über sich selbst, über diesen ›akzeptablen‹ jungen Mann, der in Wahrheit keineswegs akzeptabel war: Eine Ehe mit ihm würde früher oder später grausames Unglück über jede junge Tochter des Südens bringen. Also mußte er so dezent wie möglich Distanz wahren, und wenn ihm eine junge Frau besonders anziehend erschien, mußte er ihr fernbleiben. Der vielfältige Druck, der auf ihm lastete, zehrte an ihm. Die Praxis wuchs rasch. Begonnen hatte es eines Nachts, als eine Hebamme, die seinen Namen irgendwie erfahren hatte, zu ihm gekommen war und seine Hilfe bei einer schweren Geburt erbeten hatte. Er war mit ihr zum Irischen Kanal hinuntergegangen und dort über Ziegen und Betrunkene gestolpert. In einem Schuppen hinter dem 154
Schlachthof hatte er dann das Kind auf die Welt geholt. Welcher Gestank, welches Elend! Im Norden wurde gegen die Iren gehetzt. David hatte die Kampfreden der Know-Nothing Partei gehört – sie wollte die politischen Rechte auf gebürtige Amerikaner beschränken – und an vielen Ladentüren Anschläge gesehen wie: Iren sind hier unerwünscht. Man verachtete und verurteilte sie, weil sie angeblich faul, unbeholfen und schmutzig waren. Lag ein Volk am Boden, schrieb man ihm alles Schlechte zu, wie den Juden in Europa. Grausamkeit irgendeiner Art konnte David nicht sehen, ohne an seine Mutter zu denken. In ihm brannte die wütende Überzeugung: Die Dinge sollten nicht… Die Welt sollte nicht… Die Menschen sollten nicht… Er erstickte fast an seinem Zorn. Wie war es möglich, daß sein Vater keine solchen glühenden Gefühle hatte? Ich versuche es zu verstehen. Ich verstehe es jetzt besser als seinerzeit mit fünfzehn. Er hat seinen Kampf nach Mutters Tod ausstehen müssen und dabei seinen Ehrgeiz verbraucht; nun will er nur noch genießen, was er hat. Wie froh er ist, seinen Sohn wiederzuhaben! Und ich werde ihm unweigerlich wieder Schmerz zufügen. Ich werde traurig sein, wenn das geschieht. Er ist ein guter Mensch. Niemand könnte großzügiger sein als er mit seinem gastlichen, übervollen Haus. Als die nordamerikanische Sealsland-Baumwolle an Wert verlor, übersiedelten Verwandte aus Georgia auf neues Land in Louisiana und anfangs wohnten sie alle bei den Raphaels. Emmas extravagante Verwandten von weiter flußaufwärts, die das sorglose Leben der Reichen führen, auch wenn sie keinen Reichtum besitzen, verbringen jeden Winter die Opernsaison bei den Raphaels. Solcherart ist Ferdinands Güte. David kehrte ins Haus zurück. Lucien kochte das einfache Abendessen und sang dabei. Dieses schlichte Haus und der einzige Diener störten Ferdinand natürlich. Er wollte, daß sein Sohn gut lebte. Er wollte, daß sein Sohn eine glänzende Partie machte, ein Mädchen aus einer mächtigen Familie heiratete. 155
Wenigstens hatte seine Tochter das getan. Erst vor wenigen Nächten hatte David von Miriam geträumt, einen sehr seltsamen Traum, in den sich Erinnerungen an ein Reh mischten. Vergangenen Herbst hatte Eugene auf Beau Jardin ein Reh geschossen, ein sanftes rotbraunes Ding. Er hatte es aufs Gras geworfen, und dort hatte es gelegen, mit weit offenen, blicklosen Augen, unempfänglich für den strahlenden Tag und den leuchtenden Wald, in dem es kurz davor noch mit dem Wind um die Wette gelaufen war. Miriam hatte sich abgewandt, und Eugene hatte sich über sie geärgert. Das alles war in dem Traum enthalten gewesen. Sie war bezaubernd, seine kleine Schwester. Ihre Kinder liefen jetzt, hielten sich an ihrem Rock fest. Die beiden gaben ein entzückendes Bild ab, fein wie Elfenbein in ihren hellen Seidenkleidchen und mit ihrem dichten, seidigen schwarzen Haar. David erinnerte sich, wie Miriam in derbem Wollzeug am Ofen der frostigen Küche in der Judengasse gesessen hatte, zitternd vor Kälte. Er vermutete, daß sie das längst vergessen hatte, sie war damals noch sehr klein gewesen. Die lange Trennung von ihr betrübte ihn. Er hatte das Gefühl, sie kaum mehr zu kennen. Er wünschte, er hätte ihren Mann lieber mögen und sicher sein können, daß Miriam mit Eugene zufrieden lebte. Er überlegte, ob er sich nur einbilde, in ihrem Gesicht Trauer zu sehen. Manchmal kam es ihm vor, als liege ein grauer Schleier darauf. Plötzlich fiel ihm ein, daß er während der vielen ruhigen Familienabende, am Eßtisch oder mit den Kindern im Salon, zwischen den Ehegatten nie ein Wort oder ein Lachen gehört, einen Blick oder eine Berührung gesehen hatte, worin sich Zärtlichkeit ausdrückte, eine innige Verbindung zwischen den beiden. War das vielleicht nur ihre Art? Ihm kamen allmählich Zweifel. Der Mann war völlig anders als Miriam. Er sprach über Geschäfte; er sprach vom Geld. Selbst wenn er das Wort nicht gebrauchte, sprach er vom Geld. Redete er über den Krieg mit Mexiko und hohe demokratische Prinzipien, sprach er in Wirklichkeit über zusätzliches Land für den Anbau von Baumwolle. 156
David hatte gelernt, über solche Dinge am Tisch anderer Leute zu schweigen. Es war wichtig, daß man ihn nicht als radikal oder auch nur ›anders‹ einstufte. Seine Lebensweise war schon ungewöhnlich genug. Er durfte keine Idole zerschlagen. Kleine Absonderlichkeiten waren gestattet, in gewissem Maße vielleicht sogar interessant. Doch im wesentlichen mußte es so aussehen, als passe er in die Gesellschaft. »Lucien«, rief er, »könntest du, wenn du in der Küche fertig bist, dafür sorgen, daß mein Anzug präsentabel ist?« Er wollte heute abend mit einigen Kollegen ins St.-Charles Theater gehen, um Edwin Booth zu sehen. Vergiß nicht, ermahnte er sich, für Joe Jeffersons Auftritt übernächste Woche Karten zu besorgen. Du bist ein aufsteigender junger Arzt, weißt du, ein bißchen wunderlich, aber recht angenehm. »Lebt wie ein Mönch«, hatte er neulich jemand sagen hören. Es war ohne Bosheit geäußert worden, nur mit einer Art freundlichem Amüsement. Einen Augenblick lang schnürte ihm Angst die Kehle zusammen. Hatte er am Nachmittag zu Gabriel zuviel gesagt? Nein, nein, Gabriel war ein Ehrenmann, bei ihm stand nichts zu fürchten. Trotzdem mußte er künftig vorsichtiger sein. Gabriel Carvalho war beunruhigt. Während er die Straße hinunterging, versuchte er sich den genauen Wortlaut seines Gesprächs mit David in Erinnerung zu rufen. Hatte er dem Freund klargemacht, daß selbst die friedlichste Diskussion, die friedlichste Versammlung gefährlich war? Aber das wußte David sicherlich! Man konnte nicht hier leben, ohne wenigstens einigermaßen zu begreifen, wie die Dinge standen und liefen. David war also entschlossen, weiterzumachen, obwohl er das alles wußte. Im Grunde hatte er natürlich recht; das Ziel stimmte. Doch man mußte sich auch die Mittel überlegen, die man einsetzen wollte, und was es kosten würde, das Ziel zu erreichen. Im Grunde war ein Mann wie David noch ein Junge, hochgesinnt, aber durch und durch unpraktisch, ein Junge, dessen Bemühungen sich als vergeblich, wenn nicht gar fatal erweisen wür157
den. Man konnte auch sagen, er sei einer jener Männer, die im Lauf der Geschichte die Welt voranbrachten, sich aber dabei gewöhnlich selbst opferten. Mit einem Anflug von Bedauern dachte er: Vielleicht bin ich einer der allzu Vorsichtigen, die sehen, was richtig wäre, aber die Kosten zum Erreichen des Ziels als zu hoch veranschlagen und den Weg für zu schwierig halten, die darauf warten, daß andere handeln. David sieht das Wesentliche der Dinge, ich sehe die Komplikationen. Er wußte, was seine Mitmenschen von ihm hielten: Besonnen sei er, fanden sie, ›anwältlerisch‹ und bedächtig, mit einem Wort, es fehle ihm an Feuer. Einige meinten sogar, er sei kühl oder snobistisch; dies schmerzte ihn, weil weder das eine noch das andere zutraf. Er war zurückhaltend, schon von Kindheit an, und zügelte seine Gefühle, denn er wußte, hätte er sich ihnen überlassen, würde er zu viele gezeigt haben. Der Kopf mußte die Kontrolle über das ungestüme Herz behalten, vielleicht sogar ein noch ungestümeres als jenes Davids. Plötzlich fiel ihm die lange zurückliegende Seereise auf der Mirabelle ein. Er war seither zweimal in Europa gewesen, hatte einen Sommer in Schottland verbracht und eine Fahrt am Rhein entlang gemacht, aber deutlicher als daran erinnerte er sich an die Reise auf der Mirabelle, denn damals hatte er die besten Freunde seines Lebens gefunden. Alle Unterschiede in der Herkunft, im Temperament und oft auch in der Überzeugung konnten der gegenseitigen Bewunderung und dem wechselseitigen Vertrauen nichts anhaben, jeder von ihnen nahm aufrichtig Anteil an dem, was dem anderen widerfuhr. Solche Anteilnahme war etwas Seltenes, genauso unerklärlich, fand er, wie die Liebe zwischen einem Mann und einer Frau. Zurück zur Mirabelle, zu David, der entsetzt in den Wellen strampelte, zu dem Hundekopf, der mitleiderregend auf und ab hüpfte, zu dem weinenden, dankbaren kleinen Mädchen. Er hatte die Kleine vollkommen vergessen gehabt, doch in letzter Zeit tauchte ihr Bild immer wieder vor ihm auf, obwohl er Miriam nur selten ein158
mal bei irgendeinem gesellschaftlichen Anlaß sah. Der Kontrast zwischen seinem Erinnerungsbild und der Frau, die sie jetzt war, schien ihm unglaublich. Sicher töricht von ihm, denn es war nur natürlich, daß aus einem Kind eine Frau wurde, eine verheiratete Frau mit Kindern. Bibelworte kamen ihm in den Sinn: wie eine Zeder aus dem Libanon, wie ein Palmbaum. Biegsam wie ein junger Baum war sie, ihre cremefarbenen Schultern und ihre Taille wuchsen aus der absurden, verhüllenden Glocke ihrer Röcke hervor, unter denen man den Körper nur ahnen konnte. Er rief sich zur Ordnung. Wie konnte er solche Gedanken haben! Sie war die Frau eines anderen Mannes – seines Klienten. Eugene Mendes genoß hohes Ansehen. Er war intelligent und eine starke Persönlichkeit, selbstsicher in seinen Unternehmungen, ehrfurchtgebietend. Doch irgend etwas in seinem Blick machte es schwer, ihm in die Augen zu schauen. Vielleicht weil er dir das Gefühl gibt, dachte Gabriel, daß er dich abschätzt, deine Schwächen und Stärken zu berechnen versucht. Seltsam, daß Miriam Raphael ihn gewählt hatte! Nach seinem Gefühl paßten die beiden nicht zusammen. Sollten ein Mann und eine Frau nicht eins werden? Wieder mußte er an den wehmütigen Zug um ihren Mund denken. Im Gegensatz zu anderen Frauen, die am Eßtisch Aufmerksamkeit zu erregen versuchten, saß sie oft traumverloren da, als erwarte sie etwas oder sei gar nicht anwesend. Und doch, als er einmal an der Gartenmauer der Mendes vorbeigegangen war, hatte er köstliches Lachen gehört, heiter wie Glocken; er hatte vorsichtig hineingeschaut und zu seiner Überraschung gesehen, daß das Lachen von ihr kam. Sie hatte mit ihren Kindern gespielt, einen Ball geworfen. Der Hut war ihr heruntergefallen, und der kleine Junge hatte ihn aufgesetzt, einen großen weißen Strohhut mit blauen Bändern. Unvermittelt kam ihm ein Gedanke. Den Hund hatte doch ein Alligator gefressen – warum sollte er ihr den Verlust nicht ersetzen? Ihm schien, der Hund sei ein Band zwischen ihnen gewesen und 159
die Rettung des Hundes ein Omen – wofür? Ein Omen für nichts, dachte er ungeduldig, ärgerlich über sich selbst. Sie ist die Schwester meines Freundes. Eine aufmerksame Geste von mir ihr gegenüber wäre durchaus zulässig und angebracht. Hatte er nicht vor kurzem für das Kind eines Freundes eine Puppe gekauft, als Ersatz für die alte, die es im Regen draußen gelassen hatte? Er würde also einen Welpen bestellen. Einer der Kollegen in der New Yorker Kanzlei, in der er gearbeitet hatte, züchtete King-Charles-Spaniels und konnte das Tier gefahrlos per Schiff schicken. Schon jetzt sah er ihr Gesicht vor sich, wenn er ihr den Hund in die Arme legte. Sie wird vor Freude erröten, dachte er, denn er erinnerte sich daran, wie leicht sie errötete und wie ihr Lächeln aufstrahlte. Es war vollkommen schicklich, ein schlichtes Geschenk für eine Freundin. Als Gabriel um die Ecke bog und den Place d'Armes betrat, wurde er jäh in die Wirklichkeit zurückgerissen. Eine Blaskapelle begann voll Stolz zu spielen, eine Menschenmenge versammelte sich auf dem Platz, wo zwischen Zelten und Flaggen ein Regiment in Marschordnung angetreten war. Nach einem flüchtigen Blick auf das Getriebe überquerte Gabriel rasch den Platz. Der MexikanischAmerikanische Krieg fand Zustimmung beim Volk, besonders im Süden. Ich kann ihm nichts abgewinnen, dachte Gabriel, als die Blasmusik hinter ihm leiser wurde, überhaupt nichts. Wahrscheinlich ist das nicht ›männlich‹. Doch am Sabbat betet man: Gewähre uns Frieden, o Herr, dein kostbarstes Besitztum. Nichts ist einfach. Alles hat so viele Seiten. Wenn man das Prisma dreht, erscheint das reinste Licht einmal von hier, einmal von dort; man dreht es und dreht es… Wie dem auch sei, ich habe Pflichten und könnte mich nicht freiwillig melden, selbst wenn ich darauf versessen wäre, in diesen Krieg zu ziehen. Rosa trug noch Trauer und schwarze Perlen. Immer hatte es so ausgesehen, als beherrsche sie Henry, doch jetzt nach seinem Tod zeigte sich, daß sie von ihm abhängig gewesen war. Henry hatte nicht viel Geld hinterlassen, und verständlicherweise wollte sie, daß Ga160
briel bei ihr und den Kindern in ihrem behaglichen Haus wohnte. Gabriel mußte nun also zum Haushalt beisteuern. Glücklicherweise waren seine Zukunftsaussichten gut. Er hatte ein neues Büro in der Bank-Arkade, einer erstklassigen Lage. Und er hatte, ein guter Anfang, von Henry eine Reihe Klienten geerbt, wohlhabende, rührige Männer wie Eugene Mendes. Ich möchte ihn nicht zum Feind haben, dachte er zu seiner eigenen Überraschung. Er beschleunigte den Schritt, denn die Blaskapelle war mittlerweile losmarschiert und drohte, ihn einzuholen. Miriam, die mit Fanny vom Französischen Markt nach Hause ging, sah gerade noch die letzten Fahnen und hörte die letzten Trommelwirbel, bevor die Blaskapelle außer Sicht- und Hörweite verschwand. Stille trat ein. Die Nebenstraßen waren leer bis auf einen Milchwagen mit klappernden, messingbeschlagenen Kannen und einen alten Neger, der seinen Eisbehälter auf dem Kopf trug und rief: »Creme a la glace! Creme a la glace!« »Schau«, sagte Miriam, »ist das nicht Mr. Mendes, der dort aus dem Haus kommt?« »Ich kann es von hier nicht sehen, Miß Miriam.« »Er ist es, in seinem neuen kastanienbraunen Mantel.« Der kastanienbraune Mantel eilte die Straße hinunter und verschwand um die Ecke. Einige Sekunden später trat eine Frau aus dem Haus und wartete auf einen Wagen, der eben aus der Remise in der Gasse fuhr. Miriam und Fanny befanden sich gerade auf Höhe des Wagens, als dieser hielt, damit die Frau einsteigen konnte. Sie war eine prachtvolle Erscheinung, eine Viertelnegerin. Im hellen Tageslicht glänzten eingeflochtene Goldketten in ihrem Haar, Perlenquasten und Goldlederschuhe. Ein pechschwarzer Diener folgte ihr, in der Hand einen Korb ähnlich jenem, den Fanny für Miriam trug. Die junge Frau musterte Miriam einen Moment lang voll unverhüllter Neugier, dann senkte sie rasch die Augen, stieg in die Kutsche und fuhr davon. 161
»Wer war das, Fanny?« »Aber, Miß Miriam, das wissen Sie doch. Eine von denen. Ich will es nicht sagen«, antwortete Fanny steif. »Natürlich weiß ich, was sie ist. Ich meine, sie kennt mich.« »Wie könnte die eine Dame wie Sie kennen, Miß Miriam?« Jetzt klang Fannys Stimme schrill. »Aber sie tut es«, entgegnete Miriam. »Eine Sekunde lang hatte ich das Gefühl, daß sie mich ansprechen will.« »Das würde sie nicht wagen! Sie würde es nicht wagen, eine weiße Dame anzusprechen. Queen ist viel zu klug dazu.« »Queen? Sie heißt Queen? Das war Mr. Mendes, Fanny. Die beiden sind zusammen aus dem Haus gekommen. Du hast es genauso deutlich gesehen wie ich.« »Ich weiß nicht, was ich gesehen habe, Miß Miriam. Bitte fragen Sie mich nicht, was ich gesehen habe«, flehte Fanny. »Du zitterst, um Himmels willen! Laß den Korb nicht fallen, sonst rollen die Beeren über die ganze Straße. Sag jetzt, Fanny, was du mir verheimlichst.« »Nichts, Miß Miriam. Nichts, ich schwöre es.« »Ich glaube dir nicht. Hör zu, Fanny, wir sind zusammen aufgewachsen, und ich habe Blaise für dich gerettet. Dafür schuldest du mir etwas.« »Miß Miriam«, stieß Fanny verzweifelt hervor und eilte neben der rasch ausschreitenden Miriam her, »hören Sie, wenn ich etwas weiß, dann bestimmt nichts, was Ihnen nützen würde. Nichts, was Sie glücklicher macht, wenn Sie es wissen.« »Reden wir nicht darüber, was mir nützt. Ich möchte nicht zum Narren gehalten werden, das ist alles. Ich habe ein Recht, zu erfahren, was hier vorgeht.« Fanny schwieg. Miriam sagte sanft: »Ich weiß, daß du Angst hast zu reden. Also werde ich reden. Du nickst nur, wenn ich recht habe, und schüttelst den Kopf, wenn ich nicht recht habe. Mr. Mendes und diese – diese Queen. Er geht die ganze Zeit dorthin?« 162
Fanny nickte. Ihre angstgeweiteten Augen waren feucht. »Und er tut es bereits seit längerer Zeit. Sind er und sie – schon lange zusammen?« »Ich weiß nicht, wie lange, Miß Miriam. Ehrlich, ich schwöre es. Ich weiß nur, was geredet wird. Ich habe Ihnen nichts gesagt, nicht wahr? Sie werden Mr. Eugene nicht sagen, daß ich Ihnen etwas gesagt habe, nicht wahr? Er wird mich schlagen…« »Das wird er nicht, Fanny. Er hat nie jemand geschlagen, das weißt du ganz genau. Und ich würde es nicht dulden, selbst wenn er es wollte.« »Aber er wird mich wegschicken«, wimmerte Fanny. »Ich würde auch das nicht zulassen.« »Sie werden es ihm nicht sagen, oder?« »Nein. Geh und wasch dir das Gesicht. Bring den Korb in die Küche und wasch dir das Gesicht. Ich setze mich eine Weile in den Garten.« Die Brunnengöttin, eine Göttin der Liebe, stand in ihrer marmornen Ruhe über dem doppelten kleinen Wasserfall. Ein Klettertrompetenzweig verdeckte den Namen auf der Tafel an der Wand gegenüber der Bank, auf der Miriam saß. Es war der Name einer jungen Frau, die dort begraben lag. War diese Aimee auch krank vor Hader und Zweifeln wie ich? Oder wußte sie von Anfang an, was ihr beschieden sein würde? Miriam runzelte die Stirn. Was empfand sie wirklich in diesem Moment? Sie versuchte sich von außen zu sehen, wie ein Beobachter. Was sie sah, war vor allem verletzter Stolz. Doch warum sollte sie sich etwas aus dieser Sache machen? Warum sich verletzt fühlen? Eigentlich mußte sie dieser Frau dankbar sein, daß sie Eugenes Bedürfnisse erfüllte. Wenn er spät nachts kam und sie schlafend vorfand, weckte er sie kaum mehr, wie er es während des Aufenthalts in Beau Jardin so oft getan hatte. Liaisonen solcher Art waren nichts Ungewöhnliches. Kein junges Mädchen, und mochte es noch so behütet sein, konnte in New Orleans leben, ohne davon zu erfahren. Für die allwöchentlichen Bäl163
le der Viertelnegerinnen im Washington Ballroom wurde ganz offen Reklame gemacht. Diese Mädchen waren so schön, daß oft von den Bällen der Weißen die meisten jungen Männer früh am Abend verschwanden. Jeder wußte dann, daß sie zum Washington Ballroom und seinen schönen Viertelnegerinnen strebten. Jeder wußte es, auch wenn keiner darüber redete, außer Rosa, der ungenierten, geschwätzigen Rosa. »Oh, diese Frauen sind sehr gut erzogen«, hatte sie zu Miriam gesagt. »Du wärest überrascht! Kein Mann rührt eine von ihnen an, bevor ihre Mutter ihn akzeptiert hat. Dann muß er die Tochter und die Mutter in einem hübschen kleinen Haus unterbringen und für die beiden sorgen. Ein teurer Zeitvertreib. Er muß sich auch verpflichten, für die Kinder zu sorgen, falls welche kommen. Manchmal allerdings«, fügte sie sachlich hinzu, »ist wirkliche Liebe im Spiel, und diese Mädchen sind treu. Viele Männer suchen ihre Mätressen sogar weiter auf, nachdem sie ein Mädchen aus gutem Hause geheiratet, eine gute Partie gemacht haben.« Das also war es. Fanny hatte Bescheid gewußt, von Anfang an. Zweifellos wußten alle Dienstboten Bescheid. Miriam fragte sich, ob auch Rosa im Bilde sei. Doch eigentlich wollte sie das gar nicht wissen. Sie wollte nicht böse sein auf Rosa. Eugenes rasche Schritte erklangen auf den Stufen zur Eingangstür. Die Tür wurde geöffnet und wieder geschlossen. Einen Moment später drangen Stimmen aus den offenen Fenstern im oberen Stockwerk. Eugene war in die Kinderzimmer gegangen, wo die Zwillinge wohl gerade von ihrem Nachmittagsschlaf aufwachten. Zuerst würde er seinen Sohn in die Luft werfen, zum Spaß die Fäuste ballen und so tun, als wollte er ihn versohlen; der Junge würde quietschen vor Aufregung und Freude über die verschwenderische Liebe seines Vaters; seine heißen runden Wangen würden rot werden und seine Augen blitzen. Dann würde der Vater ihm einen Klaps geben und ihm durchs Haar fahren. Seiner Tochter Angelique zollte Eugene die gebührende Beachtung, ihr brachte er ein weißes Spit164
zenkleid, eine französische Porzellanpuppe oder ein Goldherz an einem Kettchen mit, seinem Sohn aber schenkte er sein eigenes Herz. Nun kam Eugene in den Garten. Neugierig sah er Miriam an. »Was machst du hier?« »Nachdenken!« Sie schleuderte ihm das Wort wie einen Stein entgegen. »Eine lohnende Beschäftigung«, meinte er trocken. »Darf ich fragen, worüber du nachdenkst?« »Darüber, warum du vor einer Weile so getan hast, als würdest du mich nicht sehen.« »Dich nicht sehen? Wo hätte ich dich sehen sollen?« »Du bist eilends um die Ecke der Chartres Street verschwunden. Bitte behaupte nicht, daß es nicht stimmt. Ich kann Lügen nicht ertragen.« »Was redest du da?« fragte er wütend. Miriam stand auf. Sie hörte ihr Herz in den Ohren schlagen. »Ich weiß, warum du dort warst. Ich weiß von Queen.« Seine Augenbrauen, diese verhaßten Augenbrauen, glitten nach oben. Schwarze Raupen. »Woher kennst du den Namen?« »Spielt das eine Rolle? Ich kenne ihn eben.« »Ich kann Lügen ebenfalls nicht ertragen. Ich warne dich.« »Ich werde nicht lügen. Ich habe schlicht nicht die Absicht, es dir zu sagen.« »War es Fanny? Es war Fanny, nicht wahr? Nein? Lucetta? Blaise? Irgendein Schnüffler aus dem Haus deines Vaters? Dieses elende Paar, Maxim und Chanute?« »Unwichtig, wer es war. Alle haben es gewußt. Alle außer mir.« Eugene hatte seine Handschuhe ausgezogen, und Miriam sah, daß seine Hände zitterten. Er schaute an ihr vorbei, auf die schlafende Taube zu Füßen der kleinen Göttin. »Nun denn«, sagte er nach einer Weile, »wenn du soviel weißt, kannst du auch den Rest erfahren.« Er wandte sich Miriam zu. Sein Blick, der stets streng und scharf war, wenn er sie ansah, hatte jetzt 165
etwas Zärtliches: »Ich habe – es gibt da – ein Kind. Einen Sohn. Meinen anderen Sohn. Er ist sieben.« Sie brauchte ein paar Sekunden, um seine Worte zu erfassen. Sieben. So lange ging das also schon. Die Beziehung hatte bereits bei ihrer Hochzeit bestanden, schon lange davor. Ein Kind, nicht ihres, ein ›anderer Sohn‹. Welche verwirrende Möglichkeiten es doch gab! Ihr wurde bewußt, daß Eugene und sie dastanden wie zwei Menschen, die einander eben kennengelernt hatten und nichts voneinander wußten. »Warum hast du dann mich geheiratet?« flüsterte sie. »Bestimmt nicht wegen des Geldes oder Ansehens. Du hast von beidem zehnmal mehr als ich.« »Ich wollte einen Sohn, den ich anerkennen kann. Einen Jungen, der meinen Namen tragen, hier aufwachsen und in dieser Stadt eine Zukunft haben würde. Das wollte ich.« Nun begann sie etwas zu empfinden. Tränen schossen ihr in die Augen, und sie wurde sogleich wütend über diese blöden Tränen. »Oh!« rief sie. »Ich weiß, daß ich naiv war, als ich dich heiratete, naiv, wie kein Mädchen es sein sollte, wie wir es aber alle sind. Jetzt denke ich, daß ich außerdem noch verrückt war! Einen Mann zu heiraten, der mich gar nicht wollte, der eine – Zuchtstute wollte!« »Nein, du hast unrecht. Ich wollte viel mehr als das. Ich hätte dir keinen Antrag gemacht, wenn ich nicht geglaubt hätte, daß es funktioniert. Ich wollte eine kultivierte, schöne junge Frau, die mir einen Sohn schenkt, ich wollte eine Familie gründen. Was ist daran unnatürlich? Aber du hast uns keine Chance gegeben.« Das konnte sie nicht leugnen. »Anfangs glaubte ich dich zu verstehen. Ein sittsames junges Mädchen, dachte ich. Sie wird ein bißchen Zeit brauchen. Aber es hat sich nichts geändert. Selbstredend erwartet ein Mann nicht, daß seine Frau so ist wie… Nun, eine Ehefrau ist schließlich eine Dame, und jeder Mann weiß das. Aber du? Du bist aus Eis. Du bist kalt wie diese Statue. Was ist los? Bin ich schmutzig? Das frage ich mich. Nein, ich bin es nicht. Was dann? Häßlich? Nach allgemeiner An166
sicht nicht. Vielleicht grob? Ich glaube nicht. Warum verabscheust du mich? Warum findest du mich widerlich? Denn du tust es, das kannst du nicht abstreiten.« Er wartete auf ihre Antwort. Zögernd und unglücklich erwiderte sie nach einer Zeitlang: »Ich weiß es nicht.« Wie hätte sie ihm sagen sollen: Ich kann auch die leiseste Berührung von dir nicht ertragen, meine Zähne pressen sich zusammen, wenn du mir nahe kommst. »Wäre von dir die kleinste Reaktion gekommen, hättest du… Doch was nützt es? Vielleicht hätte ich diese andere Affäre beendet. Wahrscheinlich. Aber so…« Sie hätte nie geglaubt, daß Eugene Mendes flehen könnte. Es war nicht seine Art zu bitten, er forderte nur. Jetzt stand er vor ihr, dieser vornehme Städter im Samtwams, die Wildlederhandschuhe in den noch immer zitternden Händen. »Warum?« wiederholte er. »Sag es mir. Was stimmt nicht mit mir?« Sie schaute ins Gras, auf Eugenes Füße im Gras. Seine schönen Londoner Schuhe waren staubig, hatten etwas Rührendes. Rundum herrschte tiefe Stille. Plötzlich zirpte eine Wanderheuschrecke, und genauso plötzlich verstummte sie wieder. Eugene war Miriam nie als verletzlicher Mensch erschienen; immer war er es, der verletzte. Doch sie hatte ihn im Kern seiner Männlichkeit getroffen. Von einer Frau zurückgewiesen werden, auch wenn man sie nicht liebte, das mußte einen Mann an sich selbst zweifeln lassen, sogar wenn eine andere Frau mit offenen Armen auf ihn wartete. Miriam erinnerte sich an den kurzen, verblüfften Blick dieser schwarzen Augen und an das Goldgefunkel. Keiner hatte schuld. Das erkannte sie plötzlich klar. Es war eine einfache Tatsache, daß Eugene sie abstieß, so etwas kam vor, genau wie es vorkam, daß jemand eine Vorliebe für Stachelbeeren oder eine Aversion gegen Milch hatte. »Warum?« fragte Eugene noch einmal. Ihr Mund wurde trocken vor Angst. Es war, als stünde man am Rand einer Klippe. Man konnte weder vor noch zurück, also blieb 167
nur, nach rechts oder links auszuweichen, aber wohin diese Wege führten, wußte man nicht. Sie stammelte: »Ich vermute, es ist – daß manche Menschen einfach nicht zusammenpassen. Ich habe mich bemüht. Ich habe es versucht.« »Vielleicht würde jemand anderer besser zu dir passen«, entgegnete Eugene. »Gabriel Carvalho etwa? Er kann den Blick nicht von dir wenden. Würde er besser zu dir passen, was meinst du?« Sie versetzte ihm eine Ohrfeige. Ohne zu überlegen, ohne sich dessen überhaupt bewußt zu sein, hob sie die Hand und ließ sie auf seine Wange klatschen. Die Verachtung auf seinem Gesicht verwandelte sich in wütendes Erstaunen. Entsetzt über das, was sie getan hatte, wich sie zurück. Er packte sie bei den Handgelenken. So standen sie da und starrten einander an, beide bereit, zuzuschlagen. »Weil du eine Dirne hast, meinst du wohl, ich müßte das gleiche tun wie du…« »Ich nehme es zurück. Du hast dafür nicht genug Leben in dir!« »Mein Gott, wie ich dich hasse!« schrie sie. »Senk die Stimme. Bewahre Würde, wenn du kannst.« »Oh, du bist genau der Richtige, um von Würde zu sprechen, nicht wahr?« »Ja. Ich habe nichts getan, was andere Männer in meiner Position nicht auch tun. Wie gesagt, wärst du mir eine richtige Frau gewesen, hätte ich anders gehandelt. Aber ob ich es getan hätte oder nicht, eine richtige Ehefrau wüßte, wie sie sich aus den Angelegenheiten ihres Mannes heraushält.« »Dann bin ich also keine richtige Ehefrau!« »Du bist überhaupt keine.« »Sie dagegen – diese andere – ist eine?« Eugene ließ ihre Handgelenke los. »Ja«, antwortete er einfach, »ja, sie ist eine.« Jenseits der Mauer ging ein Händler vorbei und rief: »Erdbeeren! Frisch und lecker, zuckersüß!« Der Klang seiner Worte wird mir im Gedächtnis bleiben, dachte Miriam. Solche Augenblicke prägen das 168
Leben. Diese schläfrige Stimme, der puderige heiße Staub und der Geruch von Eugenes Eau de Cologne – das wird bleiben. Etwas anderes fiel ihr ein: »Das mit Gabriel Carvalho hättest du nicht sagen sollen. Es war böse und unwahr.« »Vielleicht hätte ich es nicht sagen sollen. Ja, du hast recht, das hätte ich nicht tun sollen. Er ist anständig, ein Ehrenmann. Und du bist die Mutter meiner Kinder, die Herrin meines Hauses. Laß uns daran denken. Laß uns mit Anstand hier leben.« »Mit Anstand«, sagte sie. »Tu, was von dir erwartet wird, und ich werde dich nie mehr anrühren. Du hast mein Wort darauf. Verstehst du?« »Ja.« »Du hast nichts zu fürchten. Ich will dich gar nicht mehr.« Einen Moment standen beide abwartend da, als wüßten sie nicht, was nun kommen solle. Dann sagte Eugene: »Es tut mir leid. Es tut mir aufrichtig leid.« »Wir sind in einer solchen Lüge aneinandergefesselt. Gefesselt!« Sie drehte in einer Geste der Hoffnungslosigkeit die Handflächen nach oben. »Für immer, ist dir das klar?« Er nickte. Und weil es nichts mehr zu sagen gab, wandte er sich ab und ging ins Haus zurück. Spät am Abend saß Miriam immer noch auf dem Balkon. Heftiger Gewitterregen fegte durch die Bäume und tropfte vom Dach, spritzte auf ihr Kleid und ihr Haar. In dem rauchigen Licht der Straßenlaterne an der Ecke sah sie Blaise und seinen Stapel Holzkisten, mit denen er die Leute trockenen Fußes auf die andere Seite der überfluteten Straße brachte. Sie überlegte, ob er seinen Verdienst sparte, um sich die Freiheit zu kaufen. Ihr kam der Gedanke, wie seltsam es doch sei, daß Blaise eine Möglichkeit hatte, freizukommen, sie dagegen nicht. »Miß Miriam«, rief Fanny. »Ich habe Sie überall gesucht. Was tun Sie da draußen in dem Regen? Wollen Sie nicht hereinkommen?« 169
Miriam ging hinein. Ihr Kleid hing schlaff herunter, und der Wind hatte ihr Haar zerzaust. Emma sagte immer, eine Dame sollte nicht zulassen, daß jemand sie anders als in bester Verfassung sah. Was Emma wohl zu Queen sagen würde? »Oh, Männer sind so«, würde sie sagen. Miriam hörte sie buchstäblich sprechen, leicht verlegen, leicht überlegen. »Männer sind so, meine liebe. Aber eine Frau sollte nie merken lassen, daß sie Bescheid weiß. Es würde nichts nützen, sondern ihn nur zornig machen. Am besten schaut man auf die andere Seite. Und wenn er einen gut behandelt, was macht einem so etwas schon aus?« Ja, gewiß würde Emma das sagen. Und Pelagie ebenfalls. Selbst Rosa, die völlig anders war als die beiden, würde höchstwahrscheinlich das gleiche sagen. Warum macht es mir etwas aus? Kein Grund, warum mir nicht gleichgültig sein sollte, was Eugene tut. Plötzlich kam ihr die Antwort: Weil er die Freiheit hat, sich vom Leben zu nehmen, was er will, du dagegen nicht. Darum. Ungeduldig riß sie an ihren Knöpfen. »Sie verderben Ihr Kleid! Lassen Sie mich das machen«, rief Fanny. »Es ist ohnehin schon verdorben.« Nasse Unterröcke fielen auf den Boden. »Fanny, du mußt mir etwas sagen. Du kannst jetzt offen sprechen, Mr. Mendes hat mir alles gestanden. Der Junge, Queens Sohn, hast du ihn schon mal gesehen? Sag mir die Wahrheit. Ich werde nicht böse sein.« Fanny hob die Unterröcke auf. »Ja, Miß, ich kenne den Jungen. Er sieht aus wie Queen, vielleicht heller als Queen.« Dann mußte er ein hübsches Kind sein. Mit einemmal verspürte Miriam Eifersucht, nicht ihretwegen, bei Gott nicht, sondern wegen ihres kleinen Eugenes, dessen Vater seine Liebe zweifellos zwischen ihm und diesem anderen Sohn teilte. Sie wußte natürlich, daß ein solches Gefühl töricht war. 170
Laut wiederholte sie ihren Gedanken von vorhin: »Dann muß er ein hübsches Kind sein.« »Ja. Auch klug.« Jetzt, da Fanny nichts mehr zu verbergen und zu fürchten brauchte, erzählte sie bereitwillig, was sie wußte: »Queen hat Mr. Mendes' Familie gehört. Sie ist eine Art Cousine, glaube ich. Er hat sie freigelassen, den Jungen aber nicht. Der Junge gehört ihm noch.« Sein Kind ›gehörte‹ ihm! Das Ganze war seltsam und verdreht! Fanny schwieg. Die Stille dröhnte und hämmerte in Miriams Kopf. Das Kerzenlicht warf verzerrte Koboldgestalten und spöttische Gesichter an die Wände, die plötzlich näherzurücken schienen und sich zu drehen begannen… »Er ist ganz verrückt mit dem Jungen«, fuhr Fanny fort. »Und er schämt sich auch.« Sie seufzte. »Aber so ist es immer. Nichts Neues daran.« Sie mußte sich zusammennehmen und sich in der Gewalt behalten; es durfte kein Zerwürfnis zwischen Eugene und ihr geben; dieses feste Haus mußte ihre Kinder beschützen, was das auch kosten mochte; sie mußte bei Sinnen bleiben, mußte… »Ich weiß etwas, das Sie tun könnten«, sagte Fanny unvermittelt. »Tun? Was denn?« »Ich könnte Ihnen eine schwarze Kerze besorgen. Wenn Sie jemand verletzen wollen, wissen Sie, zum Beispiel Queen«, Fanny trat näher zu Miriam und flüsterte, »oder Mr. Eugene, schreiben Sie den Namen auf ein Stück Papier und stecken ihn an die Kerze. Wenn die Kerze ganz herunterbrennt, kriegt die betreffende Person eine schreckliche Krankheit und Schmerzen.« Dieser Unsinn brach den Bann, Miriam richtete sich auf: »Komm schon, du glaubst doch solchen Quatsch nicht! Du bist viel zu klug dazu.« Fanny lachte beschämt: »Hm, Sie haben recht, denke ich. Allerdings, manchmal bin ich da nicht so sicher. Ich habe schon Dinge gesehen… Soll ich Ihnen Tee holen? Lorbeerblättertee gegen Magenschmerzen?« 171
»Einfach normalen Tee. Nicht mein Magen schmerzt.« »Ihr Herz auch nicht.« »Nein. Was ist es dann?« »Ihr Kopf denkt, was Sie bloß Ihr ganzes Leben lang tun sollen.« »Du hast recht, das denkt mein Kopf.« Ihr Inneres flatterte dermaßen, daß sie sich bewegen mußte. Sie ging zum Fenster. Im Westen grollte noch Donner des abziehenden Gewitters. Im schwachen Licht der Straßenlaterne sah sie, daß Blaise gegangen war. Zweifellos meinte er, an diesem Abend kämen nicht mehr so viele Kunden, daß es sich lohnte, weiter im Regen zu stehen. Eugene würde wie immer mit der Kutsche nach Hause kommen. Miriam zündete eine Kerze an und ging zu ihrem Schreibtisch, wo ein kleiner Stoß Briefe und Einladungen der Beantwortung harrte. Sie blätterte den Stoß durch und las: Gesellschaft für Krankenbesuche; Vermählungsanzeige; Geburtstagsessen für eine von Emmas entfernteren Cousinen; Versammlung der Hebräischen Wohlfahrtsgesellschaft zur Unterstützung alter Menschen. Der alljährliche Ball der Gesellschaft fand nächsten Monat statt, und jedes vornehme Mitglied der jüdischen Gemeinde würde teilnehmen. Sie würde ein neues Kleid brauchen. Alles brach zusammen, aber trotzdem brauchte man ein neues Kleid. Gabriel Carvalho gehörte zu den Vorstandsmitgliedern. Er kann den Blick nicht von dir wenden, hatte Eugene gesagt. Sie glaubte ihm nicht, denn sie hatte nie etwas bemerkt. Zunächst einmal, Gabriel sprach sie selten direkt an, und wenn, dann nur um etwas über die lange zurückliegende gemeinsame Seereise oder den Hund zu sagen oder eine höfliche Bemerkung darüber zu machen, wie schnell die Kinder wuchsen. Er war – hm, steif. Ja, das war das richtige Wort, steif. Es hieß, viele Menschen, die sich so gaben, seien in Wirklichkeit schüchtern. Doch warum sollte ein derart erfolgreicher Mann wie Gabriel schüchtern sein? Zugegeben, er redete wenig, auch wenn er unter Männern war; David und Eugene dagegen hatten immer viel zu sagen, Eugene sprach gebieterisch und David begeistert. Aber am 172
Schluß wandten sie sich stets an Gabriel, und er hatte das letzte Wort. Wirklich seltsam, wenn man es recht bedachte. Doch sie wollte es nicht bedenken. Gabriel war zurückhaltend, aus welchem Grund auch immer. Sollte er es nur bleiben! Rosa meinte, er sehe gut aus. Natürlich, er war ihr Bruder. Hm, vielleicht sah er wirklich gut aus. Er hatte schöne Augen, einen versonnenen Blick und einen ernsten Gesichtsausdruck. Aber was Eugene heute gesagt hatte, stimmte nicht. Eugene hatte sogar zugegeben, daß es nicht stimmte. Unbewußt zuckte sie die Achseln, schob die Schriftstücke auf dem Schreibtisch zusammen, machte sich fertig für die Nacht und ging zu Bett. Miriam fand jedoch keinen Schlaf. Sie rückte ganz an die Bettkante, dankbar dafür, daß das Bett so breit war, denn zweifellos würde Eugene, um den Schein zu wahren, bis ans Ende ihrer Tage neben ihr schlafen. Es war grausam! Eine nutzlose Frau bis ans Lebensende! Zwei Kinder hatte sie, und jetzt würde sie keine mehr bekommen. Zwei Jahre noch, dann gingen die beiden zur Schule und brauchten sie nicht mehr zum Geschichtenvorlesen oder für Morgenspaziergänge. Schon jetzt brauchten die Kinder sie kaum mehr. Außerdem taten die Kindermädchen fast alles. Oft schickte Miriam die Kindermädchen weg und badete die beiden selbst; es ging ihr ans Herz, wie groß und fest sie waren, wie sich bei Angelique trotz ihrer Jugend an der Taille bereits eine sehr weibliche Einbuchtung zu zeigen begann, während Eugene immer kräftiger und stämmiger wurde. Angelique war geschwätzig, ihre Reden bestanden aus einer Reihe Fragen. Warum müssen wir das? Wer war die Dame? Wohin gehen diese Leute? Eugene dagegen konnte sich stundenlang allein unterhalten. In seinem Zimmer hatte er aus Bauklötzen einen hüfthohen Turm gebaut. Er wird bis zum Mond reichen, sagte er. Bald wird das alles vorbei sein, dachte sie, die beiden werden heranwachsen und fortgehen. Was blieb dann ihrer Mutter? Ihre Tage damit zuzubringen, Wachsblumen anzufertigen, die man in Glaskelche stellte, oder Kleider für die Babys anderer Frauen zu sticken. 173
Ihre Gedanken wanderten zu Eulalie, die Taufkleidchen nähte, fein wie Brautschleier; Eulalie mit dem schwächlichen Körper und den von Unglück erfüllten Augen, selbst wenn sie das ›Gesellschaftslächeln‹ aufsetzte, das von ihr erwartet wurde. Ja, dachte Miriam, Eulalie kann man wenig darüber erzählen, was Leiden heißt. Niemand mochte Eulalie, und vor allem eine Jüdin konnte Eulalie nicht mögen, die im innersten Herzen die Juden verabscheute. Aber man konnte sie verstehen. Wer bin ich? Mrs. Eugene Mendes. Was ist sie? Was tut sie? Hätte ich eine Begabung, vielleicht eine Stimme wie diese Marie Claire, ich wüßte, was ich täte. Marie Claire will nach Europa, um zu studieren, aber ihre Mutter läßt sie nicht, sagt Rosa. Ich würde einen Weg finden. Ich würde gehen. Wenn ich ein Talent hätte, täte ich es, aber ich kann nichts. Es ist einfach ungerecht! Männer können lernen. Sie verdienen Geld und geben es aus, wie es ihnen paßt. Wir müssen darum bitten. Ein Mann kann Keuschheit predigen, während er sich eine Mätresse hält. Er kann tun, was er will. Ich könnte die Männer hassen, aber das will ich nicht. Ich möchte einen einzigen Mann lieben. Ich möchte einen Grund haben, ihn zu lieben. Das ist meine Sehnsucht, seit ich alt genug bin, um die Bedeutung des Worten ›lieben‹ zu verstehen. Möglicherweise aber verstehe ich die Bedeutung dieses Wortes immer noch nicht.
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E
s war Spätherbst, aber noch angenehm warm im Innenhof des Hauses Raphael, wo letzte Vorbereitungen für ein sorgfältig geplantes Fest getroffen wurden. Getreu seinem Versprechen, sich um die Tochter seines verstorbenen Partners zu kümmern, gab Ferdi174
nand einen Ball zu Ehren von Marie Claires Verlobung mit André Perrin aus Natchez. »Mama findet es beachtlich«, sagte Pelagie, »daß er sie trotz ihrer kleinen Mitgift heiratet. Kennst du ihn?« »Nein«, antwortete Miriam gleichgültig. »Eugene kennt ihn. Ich glaube, sie machen miteinander Geschäfte.« »Er sieht gut aus. Warte nur, bis du ihn zu Gesicht bekommst.« Unter der Veranda, rund um die beiden Frauen, herrschte fröhliches Getriebe. Sisyphus stellte die großen silberfarbenen Kaffeemaschinen auf, die er zu bedienen hatte und die sein ganzer Stolz waren; Chanute und Maxim trugen die letzten Hortensientöpfe herein. Papierlaternen schwankten in der leichten Brise, das Orchester stimmte seine Instrumente und erzeugte dabei jene Geräusche, bei denen man erwartungsvoll dachte, daß nun gleich der Vorhang hochgehe. Bis auf den fehlenden Brautsitz glich die Szenerie genau jener von Miriams Hochzeit. Weil Miriam daran nicht erinnert werden wollte, drehte sie sich weg und fragte Pelagie, wo Marie Claire sei. »Im Gästeschlafzimmer, mit Mama. Sie sind schrecklich aufgeregt. Eine der Rüschen an Marie Claires Kleid hat sich gelöst, und ihre Mutter hat es nicht einmal bemerkt. Mama hat es natürlich gesehen. Auf sie ist Verlaß«, sagte Pelagie stolz. »Sie meistert alles bis zur letzten Einzelheit, nicht wahr? Sie hat sich mit diesem Fest wirklich große Mühe gegeben.« »Es ist zwei Jahre her, daß ich Marie Claire gesehen habe.« »Ich habe sie auch eine ganze Weile nicht gesehen, außer in der Woche, die sie vorigen Sommer bei uns verbracht hat. Eine kurze Romanze zwischen den beiden, sie kennen sich erst drei Wochen.« »Erst? Und ist Marie Claire glücklich?« »Ach, die zeigt ihre Gefühle nie. Manchmal glaube ich, daß sie überhaupt keine hat, außer wenn sie am Klavier sitzt und singt. Sie begleitet sich selbst, weißt du.« Miriam erinnerte sich an Marie Claires langes, ernstes Gesicht. Obwohl sie es nur ein paarmal gesehen hatte, stieg es ganz klar vor 175
ihrem inneren Auge auf. Und einmal mehr hatte sie die Ahnung, daß sich ihr Leben und das Marie Claires kreuzen würden. »Eigentlich müßte sie glücklich sein«, fuhr Pelagie fort. »André ist charmant. Er stammt aus einer guten Familie. Seine Mutter ist Jüdin und sein Vater Franzose. Und sie sind sehr reich.« Sie wiederholte: »Wirklich beachtlich, daß er sie trotz ihrer kleinen Mitgift heiratet. Natürlich ist unser Vater großzügig wie immer. Er hat ihr Silber und allerlei extravagante Dinge gekauft.« Miriam hörte sich zu ihrer Überraschung Eugene zitieren: »Mein Vater kann sehr verschwenderisch sein.« »Weißt du, ich will dir etwas verraten, aber wage nicht, es weiterzuerzählen. Marie Claire hat zu mir gesagt, das sei ihre einzige Chance, nach Europa zu kommen und Gesang zu studieren. André hat dort mindestens ein Jahr geschäftlich zu tun. Meinst du, daß sie ihn bloß deswegen heiratet?« »Ich weiß es nicht. Aber ich erinnere mich, daß ich den Eindruck hatte, sie sei irgendwie verzweifelt.« »Verzweifelt? Sie denkt zuviel an eine große Karriere.« »Ihre Stimme ist wunderbar, Pelagie.« »Nicht so wunderbar, wie es ist, den richtigen Ehemann zu haben. Sie will bei Manuel Garcia in Paris studieren. Sie glaubt, eine Stimme wie Jenny Lind zu haben.« »Vielleicht hat sie das. Wie soll sie es herausfinden, wenn sie es nicht versucht?« »Das alles klingt großartig, zugegeben, aber ich würde nicht mit hundert Jenny Linds tauschen. Ich finde jedesmal mein letztes Kind noch wunderbarer als das davor. Mein kleiner Louie sitzt schon! Und du solltest sehen, wie nett Felicite sich um ihn kümmert, um all die Kleinen. Würdest du glauben, daß sie schon zwölf ist? So ein gutmütiges Kind, eine richtige kleine Mutter. Ein paar Jahre noch, denk nur, dann wird sie selbst eine Mutter sein. Oh, du hast deine beiden mitgebracht! Sie sind süß, Miriam. Ich finde Zwillinge so süß.« Die Zwillinge waren im Innenhof erschienen, um sich die Musiker anzuschauen, bis Fanny sie holen würde. Mit ihren sauberen, 176
rosigen Gesichtchen, ihrem schön gekämmten Haar und ihren gestärkten Ärmeln schienen sie aus einem Bilderbuch zu stammen. Ich habe alles auf der Welt, dachte Miriam wild, einen Ausdruck in den Augen, als wollte sie die Kinder verschlingen. »Ja, Papa wünschte, daß sie kommen«, antwortete sie, »darum ließen wir sie aufbleiben. Er liebt es, seine ersten Enkel vorzuzeigen.« »Seine ersten? Bist du…« »Nein«, entgegnete Miriam kurz. »Aber, Miriam, die Zwillinge sind doch schon drei.« »Ich weiß.« Die liebe Pelagie konnte einem schrecklich auf die Nerven gehen! Miriam hatte sich gefreut, als Sylvain für die Wintersaison ein Stadthaus gekauft hatte, doch manchmal meinte sie, erdrückt zu werden von Pelagies Banalitäten und ihrer gutgemeinten, liebevollen Präsenz. »Ich habe Kopfschmerzen«, sagte sie abrupt. »Ich gehe ins gelbe Gästezimmer und lege mich ein paar Minuten hin.« Statt sich hinzulegen, musterte sie ihr Gesicht im Spiegel. Am Nachmittag hatte sie wieder einmal geweint. Jetzt leuchteten auf ihren Backenknochen zwei rosige Flecken, und auf ihren Augenlidern lag ein Glanz, der nicht einmal durch das Eis, das ihr Fanny aufgelegt hatte, ganz zum Verschwinden gebracht worden war. Ein Brösel Sägemehl von dem Eis hing noch an ihrem Ärmel. Sie wußte nicht mehr, warum sie geweint hatte. Wenn Eugene schlechter Laune war, tat er nichts, um es zu verbergen. Dann kam es vor, daß er voll Verachtung sagte: »Die Suppe gestern abend war nicht zu essen. Kannst du denn das Personal nicht besser beaufsichtigen?« Sie hatte den festen Entschluß gefaßt, sich durch seine Worte nicht verletzen zu lassen. »Sprich lauter! Ich verstehe dich nicht, wenn du murmelst, besonders mit diesem deutschen Akzent.« Sie versuchte, immun zu werden, ungerührt und überlegen zu bleiben; ihre Reaktion auf seine Angriffe sollte sein, daß sie nicht rea177
gierte. Leider konnte sie ihre Augen nicht immer beherrschen, die sich blitzartig mit Tränen füllten, während ihre Lippen und ihre Stirn nichts verrieten. »O mein Gott, du weinst schon wieder!« pflegte er dann zu sagen. »Tränen, Tränen, die Waffen der Frau.« Müßte sie nur nicht mit ihm in einem Zimmer schlafen! Gäbe es in dem großen Haus nur ein einziges Plätzchen, wohin sich eine Frau zurückziehen, wo sie allein sein konnte! Lediglich am Morgen, nachdem Eugene das Haus verlassen hatte, um seinen Geschäften nachzugehen, konnte sie eine Weile allein sein. Sie tat dann, als schlafe sie, damit auch Fanny sie nicht störte, bis sie klingelte. Oft lag sie da und beobachtete, wie das rosarote Licht über den Boden kroch, dachte über nichts und alles nach. Jetzt klopfte Eugene an die Tür. Er war gereizt, denn er suchte sie schon eine Zeitlang. »Was machst du hier? Komm. Dein Vater fragt nach dir. Dreh dich um. Ja, das Kleid ist gut genug. Die Farbe steht dir wenigstens, sie gibt deinem Gesicht Farbe. Bringst du ein Lächeln zustande? Es sind wichtige Leute hier, die Crème der Geschäftswelt.« »Ich komme«, sagte sie leise. Ihre Stimme klang in ihren Ohren wie ein Seufzen. Aber sie fand, daß Frauenstimmen oft so klangen. In letzter Zeit achtete sie auf solche Dinge. Sogar Pelagie, die Sylvain sehr liebte, schien in unterwürfigem Ton zu sprechen. Miriam folgte Eugenes breitem Rücken in dem feinen Wolljackett nach unten. Die Halle füllte sich, anscheinend trafen alle Gäste gleichzeitig ein. Von oben sah das bunte Gewoge aus, als schaute man in ein Kaleidoskop, in dem Knöpfe, Nadeln und Stoffstückchen durcheinanderwirbelten und phantastische Formen bildeten. Jenseits der Halle verwandelte ein Dutzend Kerzen, die einen rosigen Schimmer verbreiteten, das rote Zimmer in ein Schmuckkästchen. Um das Piano hatte sich Ferdinands liebstes Streichquartett gruppiert, das jene alten französischen Volkslieder spielen und singen sollte, die man im Haus kannte und gern hörte. 178
Ferdinand küßte seine Tochter: »Komm, du kennst Marie Claires Verlobten noch nicht. Das ist André Perrin. Meine Tochter, Mrs. Mendes. Sie sind mit ihrem Mann bekannt.« Perrin verneigte sich: »Ja, gewiß. Ein hochbegabter Mann, Mrs. Mendes.« Miriam sah zuerst nur einen dichten hellen Haarschopf, dann ein lebhaftes, offenes junges Gesicht mit fächerförmigen Lachfalten in den Augenwinkeln. Emma, die im Eßzimmer ein letztes Mal die Tische inspiziert hatte, eilte geschäftig herbei. »André wo ist Ihre Braut? Ich suche sie. Ah, da ist sie! Marie Claire, wie fühlst du dich? Du siehst entzückend aus…« Als ob sie nicht vor ein paar Minuten noch oben gewesen wäre und sich um das Kleid des Mädchens gekümmert hätte! Marie Claire lächelte ernst, wie früher. Sie hatte sich nicht verändert. Ihre Locken hatten noch immer die Farbe von blassem Sand, und sie trug ein Kleid im gleichen faden Ton, das ihr nicht stand. Sie ist so unscheinbar, dachte Miriam mit plötzlichem Mitleid, und er so auffallend. Die Verlobten wurden fortgezogen, und die Festgäste begannen sich zu Gruppen zusammenzuscharen. Die verheirateten und verwitweten alten Damen strömten zum Buffet. Warum hatten alte Menschen immer Hunger? Miriam beobachtete die Leute, als stünde sie außerhalb ihrer selbst. Als ich jung war, dachte sie, vor vier Jahren, als ich noch jung war, befand ich mich mitten im Geschehen; jetzt bin ich draußen und schaue zu. Dort ist Sylvain, er spielt den Kavalier, hat Eulalie am Arm. Und da ist Pelagies Felicite mit den knospenden Brüsten und dem langen, noch kindlichen Haar. Eugene ist verschwunden, um unter den wichtigen Leuten, die heute abend hier sind, die wichtigsten herauszupicken. Sie stand allein in dem Gewimmel. Plötzlich kam sie auf die Idee, nach David Ausschau zu halten. Sie sah ihn so selten. Die Zeit eines Arztes war knapp, das verstand sie. Aber sie wünschte sich lange, ungestörte Stunden mit ihm, dann hätte sie ihm vielleicht von 179
sich selbst erzählen können, reden wie mit niemandem sonst. Manchmal hatte sie Phantasievorstellungen, in denen er und sie die Kinder nahmen und weggingen, in den Norden, in ein freies Leben, aller Laster und Verpflichtungen ledig… Phantasievorstellungen, wahrlich! Sie fand David in der kleinen Bibliothek, er saß mit Gabriel und Rosa beim Wein. Rosa fühlte sich wohl bei Männern und Zigarren. »Setz dich zu uns«, forderte David sie auf. »Wir haben eine freundschaftliche Auseinandersetzung über die Zukunft des Judaismus.« »Ich weise nur darauf hin«, erklärte Gabriel, »daß viele der engstirnigen Gesetze und abergläubischen Vorstellungen der Orthodoxen keine ursprünglichen Bestandteile des Glaubens sind. In den letzten dreitausend Jahren lebten wir länger außerhalb von Ghettos als drinnen.« David griff das Argument auf: »Ja, und die Zeit, während der wir in Ghettos lebten und das einhielten, was du als Aberglauben und engstirnige Gesetze bezeichnest, war genau die Zeit unseres höchsten moralischen Standards. Die Welt um uns war von blutigen Kriegen beherrscht, aber in der Orthodoxie des Ghettos herrschte Frieden.« »Du verklärst dieses Leben, David. Wir haben jetzt andere Zeiten. Ich möchte lieber an die freien gelehrten Juden Spaniens erinnern als an die gefangenen Juden der polnischen Ghettos, trotz ihrer Frömmigkeit und Tugendhaftigkeit.« »Wenn du unsere Gottesdienste in Charleston gesehen hättest, David«, sagte Rosa, »würdest du vielleicht…« »Ich weiß darüber Bescheid. Ihr habt schlicht jene Struktur eliminiert, die jahrhundertelang die Familie und das ganze Volk zusammenhielt. Genau das habt ihr getan.« »Ganz und gar nicht…«, widersprach Gabriel, doch er wurde von Ferdinand unterbrochen, der mit einem Glas in der Hand an ihrem Tisch stehenblieb. »Was?« rief er. »Ist das eine Unterhaltung? Junge Leute sollten tanzen. Ihr seid alle vier viel zu ernst.« 180
»Ach«, entgegnete David leichthin, »ich bin sicher, daß eben jetzt in diesem Haus viele Gespräche über den Aktienmarkt geführt werden. Sind die nicht auch ernst, Papa? Oder Pferderennen in Metairie? Man kann dort ein Vermögen verlieren, und bestimmt ist der Verlust von Geld eine ernste Angelegenheit!« »Genau wie das Glücksspiel Pharo oder die Polka. Ja, ja, du hast recht«, sagte Ferdinand, der nur halb zugehört hatte. Er ging zum nächsten Tisch weiter, um seine Pflichten als Gastgeber zu erfüllen. Kurz danach kam Eugene in die Bibliothek. An seinem raschen Gang erkannte man, daß er jemand suchte. Als er die Viererrunde gewahrte, blieb er stehen: »Ich suche Richter Ballantine. Wahrscheinlich ist er noch nicht da. Ihr scheint es hier sehr gemütlich zu haben.« »Stimmt. Bitte setzen Sie sich zu uns«, sagte Gabriel. Kann er Eugene wirklich mögen? fragte sich Miriam, als Eugene Platz nahm. Plötzlich fiel ihr etwas ein: Er kann den Blick nicht von dir wenden. Sie wollte aufstehen, sah sich jedoch zwischen ihrem Mann und Gabriel Carvalho gefangen. Letzterer griff das Gespräch wieder auf: »Widerstand gegen das Neue ist selbstredend verständlich. Als Moses Mendelssohn die Thora ins Deutsche übersetzte, wie wurde er da von den Orthodoxen angegriffen! Sie vergaßen, daß bereits sechzehnhundert Jahre früher die Weisen sie ins Arabische und Griechische übersetzt hatten. Nein, David, nur ein gewisses Maß an Reformen wird den Judaismus für viele retten, die ihn sonst aufgäben.« »So, wie er hier in New Orleans gerettet wird? Was habt ihr denn? Offene Geschäfte am Sabbat, fast leere Synagogen…« »Wir haben hier noch gar nicht modernisiert. Davon rede ich ja. Was wir hier haben, ist eine Handvoll Orthodoxe, die sich ein bißchen in Richtung einer Veränderung neigen. Und das restliche Volk ist überhaupt nichts.« »Wie mein Vater«, warf David ein. »Urteile nicht so hart über deinen Vater«, entgegnete Gabriel ruhig. »Er hat hier keine andere Wahl, wie ich eben sagte. Die alten 181
Bräuche kann er nicht mehr akzeptieren, sie erinnern Menschen wie ihn an Europa. Und woran erinnert er sich? An Leiden und Brutalität. Erniedrigung und…« David unterbrach ihn: »Du bist viel toleranter als ich.« Würde David nur lernen, andere nicht so grob zu unterbrechen, dachte Miriam. Dank seiner Gegenwart vergaß sie ihre Verwirrung. Sie wollte hören, was Gabriel zu sagen hatte. »Toleranter gegenüber allem rund um dich«, erklärte David mit Nachdruck. Irgend etwas zwang Miriam zu sprechen. Halb kühn, halb schüchtern kamen ihre Worte. Ohne Gabriel anzusehen, sagte sie zu ihm: »Es scheint sich kaum etwas geändert zu haben, seit Josephus seine Werke schrieb. Die Probleme waren vor fast zweitausend Jahren dieselben.« »Meine Frau ist belesen«, bemerkte Eugene ironisch. Es ärgerte ihn, daß sie gesprochen hatte. Er selbst war zu vorsichtig, um zu einem strittigen Thema eine Meinung zu äußern. Man wußte nie, welche wichtige Person, die einem vielleicht von Nutzen sein konnte, man beleidigte. »Dort ist mein Sohn«, sagte er abrupt. Die Kinder gingen mit den Kindermädchen durch die Halle. Als der kleine Eugene seinen Vater entdeckte, kam er angelaufen. Der Vater nahm ihn auf den Schoß. »Was hast du da an deinem Arm?« »Eine Biene hat mich gestochen. Blaise hat Lehm drauf getan.« »Eine Biene? Um diese Jahreszeit? Ist das eben passiert?« »Es ist gestern passiert«, erklärte Miriam. »Du hast mir nichts davon gesagt!« »Es schien mir nicht so wichtig.« »Schon gut – weil nichts passiert ist. Aber ich hätte es erfahren müssen.« Und als zweifle er an der Unversehrtheit seines Sohnes, untersuchte er sorgfältig das Gesicht, den Hals und die dicken Knie des Jungen. 182
Die Unterhaltung war verstummt, alle hatten ihre Aufmerksamkeit dem Kleinen zugewandt, wie es von ihnen erwartet wurde. Er bot wirklich einen hübschen Anblick, trug einen Kilt, eine Schiffchenmütze mit einem Heidezweig und dazu eine beschlagene Dachsfelltasche. Eugene hatte die Tracht, die zur Zeit große Mode war, aus Schottland schicken lassen. »Bald kommt er in die Schule«, sagte er und schaukelte seinen Sohn. »Schicken Sie ihn nach Frankreich?« fragte Rosa. »Noch nicht, erst wenn er älter ist.« Nein, dachte Miriam wild, das wirst du mir nicht antun. Und obwohl sie die Antwort im voraus kannte, fragte sie: »Was ist mit Angelique? Wirst du sie auch nach Frankreich schicken?« Eugene zuckte die Achseln: »Wenn du es wünschst, aber für sie ist das nicht wichtig.« Miriam hatte ihn schon lange nicht mehr direkt angesprochen – falls überhaupt je. Nun aber stachelte sein Anblick sie auf; er hielt das Kind, als sei es allein seines. »Oh, ich weiß, es heißt allgemein, daß eine Frau keine Bildung braucht.« Sie sprach leise, »Bildung würde sie nur unzufrieden machen und ungeeignet zur Führung eines Haushalts! Jawohl, das heißt es…« Sie brach ab. Es hatte ja doch keinen Sinn. Eugene stellte den Jungen nieder, der sogleich hinauslief, dann wandte er sich David zu: »Hat meine Frau diese ungewöhnlichen Ansichten von Ihnen?« »Keineswegs. Miriam hat ihre eigenen Ansichten.« »Solche Diskussionen führen zu nichts.« Eugene stand auf. Sein Ton war fast spöttisch gewesen, als wollte er sagen: Welche Bedeutung kommt Ideen schon zu? Keine, wie wir alle wissen. »Also nieder mit Diskussionen«, entgegnete David. Die Gruppe zerstreute sich, und plötzlich stand Miriam allein mit Gabriel hinter einer Menschenmauer. »Dein Bruder und ich haben unsere Differenzen, wie du siehst. Ich denke, daß sie unsere Freundschaft lebendig halten.« 183
»Eure Differenzen sind nicht sehr groß, finde ich. Ihr seid nicht uneins, was die Prinzipien betrifft. Und die sind es, was wirklich zählt, oder?« »Kommt doch, ein Toast wird ausgebracht!« rief jemand, und Miriam wurde von den anderen in Richtung Eßzimmer geschoben. »Du hast also Josephus gelesen«, sagte Gabriel, der sich an ihrer Seite hielt. »Trotz der Einwände meines Mannes.« Er äußerte sich nicht dazu, sondern fragte sanft: »Wie macht sich der Hund?« »Oh, er hat kräftige Beine bekommen. Das war so nett von dir, ich weiß gar nicht, ob ich dir genug gedankt habe.« »Hast du«, entgegnete er. Gabriel hatte ihr den Hund an einem Sonntagnachmittag gebracht, mit Korb und Decke. Rosa hatte dem Welpen eine rote Schleife auf den Kopf gebunden, die war ihm über ein Auge gerutscht, und dadurch hatte das kleine Ding so ausgesehen, als zwinkere es. Miriam hatte vor Entzücken gelacht. »Gretel die Zweite! Sie schaut fast genau gleich aus! Wie reizend von dir, Gabriel, was für eine schöne Überraschung!« »Sehr aufmerksam«, hatte Eugene angefügt. »Ich wage zu behaupten, daß sie sich nicht so freuen würde, hätten Sie ihr einen Korb voll Diamanten gebracht.« Und Gabriel hatte dort auf der Veranda gestanden und nichts mehr gesagt, sondern nur noch beobachtet. Jetzt betrachtete er Miriam mit einem so eindringlichen, ernsten Blick, daß sie in ihrer Verwirrung tat, als müsse sie das Schloß ihres Armbandes zumachen. Voll Nachdruck, wie um ihre Aufmerksamkeit von dem Armband abzulenken, sagte er: »Ich wollte dir Gretel schon seit dem letzten Winter ersetzen. Aber es dauerte viele Monate, alles in die Wege zu leiten.« Er kann den Blick nicht von dir wenden, behauptete Eugene.
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Im Eßzimmer sagte ein kahler Herr mit erhobenem Glas etwas von Segenswünschen für das junge Paar, die Freunde, das Haus und alles andere. Ferdinand, der neben Miriam zu stehen gekommen war, fragte leutselig: »Merkst du, was für ein brüderlicher Geist unter uns herrscht? Alle für einen, einer für alle.« Er trank gewöhnlich nicht, jetzt aber hatte er schon zwei Gläser Champagner geleert. »Dieses Fest muß ein Vermögen kosten«, meinte jemand. Sie erkannte die Stimme Sylvains, den der breite Rücken eines Mannes verbarg. »Das Gerücht geht, Raphael habe sich gewaltig übernommen. Natürlich kann das bloß ein Gerücht sein. Ich hoffe es wegen meiner Schwiegermutter.« Der breitschultrige Mann ging weg, und Sylvain gewahrte Miriam. »Ah, Miriam, ich möchte dich mit dem Bräutigam bekannt machen. Du mußt André kennenlernen. Jedermann bewundert ihn.« »Ich kenne ihn schon«, erklärte sie, aber Sylvain zog sie bereits zu einer Gruppe an einem kleinen Tisch, auf dem nur für eine Person gedeckt war. Dort saß sein Vater, der alte Lambert Labouisse, hoch aufgerichtet wie auf einem Thron; seine Miene unter der Krone untadeligen weißen Haares war schlicht königlich. Offenbar wurden rund um ihn politische Fragen erörtert. »Mein Sohn Alexandre ist fünf Jahre alt«, sagte Sylvain, der sich sogleich an dem Gespräch beteiligte, »und ich prophezeie, daß er als Erwachsener in einem Krieg kämpfen wird.« »Hoffentlich nicht«, entgegnete Gabriel, der Miriam gefolgt war und wieder neben ihr saß. »Im Kongreß wettern sie schon gegen die Sünde der Sklaverei«, fuhr Sylvain fort. »Slidell, ein sehr guter Freund von mir, kam eben aus Washington zurück, er warnt vor der Gesinnung im Senat.« »Meinen Sie, es ist von Belang«, fragte der ältere Labouisse in die Runde, »daß einige unserer brillantesten Verteidiger im Senat keine geborenen Südstaatler sind? Slidell stammt aus New York und Soule natürlich aus Frankreich. Bemerkenswert«, sann er, und die anderen am Tisch neigten respektvoll die Köpfe, als habe der alte 185
Herr selbst etwas Bemerkenswertes gesagt. »Soule kommt heute abend hierher, wie ich höre. Ich habe ihn noch nicht gesehen. Nach meiner Meinung ist dieses Kriegsgerede übertrieben. Unsere Zivilisation wird von einer Handvoll Fanatiker nicht unterminiert werden«, schloß er verächtlich. Zu ihrer Verblüffung hörte Miriam hinter ihrem Rücken jemand flüstern. Sie drehte sich um, und da stand André Perrin. »Entschuldigen Sie, möchten Sie diese Diskussion verfolgen, oder würden Sie lieber tanzen?« »Ich würde lieber tanzen«, sagte sie und erhob sich. Plötzlich war ihr das Gespräch zu ernst geworden. Ein wichtiges Gespräch, aber sie hatte genug davon. Der Grund dafür war, wie sie sich schuldbewußt eingestand, daß ihre eigenen Probleme sie zu sehr beschäftigten. »Ein so ernstes Gespräch an einem solchen Abend«, sagte André Perrin, als habe er ihre Gedanken gelesen. Auf dem Innenhof, wo sich die tanzenden Paare in konzentrischen Kreisen bewegten, zog er sie in den äußeren Kreis. Sofort fanden sie den gemeinsamen Rhythmus. »Ich komme gerade aus dem Krieg in Mexiko zurück«, erzählte er. »Ich will nichts hören von neuen Kriegsgefahren. Die Leute glauben, ein Krieg bestehe nur aus Paraden und Flaggen. Trotzdem hoffe ich, daß Ihnen die Siegesparade des alten Haudegens Rough-andReady gefallen hat. Ein prächtiger Anblick, wie er auf Old Whitey ritt, nicht wahr?« »O ja, es war großartig.« »Jedenfalls war Ihr kleiner Sohn hingerissen. Sie fragen sich, woher ich weiß, daß er dort war? Ich habe Sie gesehen. Ihr Mädelchen war auch dabei. Die beiden sind Zwillinge, nicht wahr?« »Ja, aber auf dem Place d'Armes waren angeblich vierzigtausend Menschen. Wie konnten Sie mich da sehen?« Perrin genoß ihre Überraschung. »Als wir in Habtachtstellung gegenüber der Kathedrale standen, entdeckte ich Pelagie in der vordersten Reihe. Und Sie standen neben ihr. Sie trugen ein graues Samt186
hütchen mit weißer Feder. Ihr Sohn wollte sich von Ihrer Hand losreißen und zu den Soldaten laufen. Sie mußten ihn zurückhalten.« »Unglaublich! Was Sie für ein Gedächtnis haben.« »Mein Gedächtnis ist eigentlich gar nicht gut. Aber Sie habe ich mir gemerkt.« Da er nicht viel größer war als sie, konnte sie ihm direkt ins Gesicht schauen. Wind und Wetter hatten seine Haut rötlichbraun getönt. Er war ihr so nahe, daß sie die helleren Wurzeln seiner Wimpern sah. »Finden Sie, daß ich zu kühn bin, Mrs. Mendes? Ich will es nicht sein.« »Schon gut«, murmelte sie. Verlegenes Schweigen herrschte, und ihr fiel nichts Besseres ein, als hinzuzufügen: »Es war eine aufregende Parade.« »Es war ein aufregender Krieg. Auf dem gesamten Weg von Matamoros, wo wir landeten, bis Monterrey.« »Aber die schrecklichen Leiden! Die Hitze und die Fliegen – wir haben die Depeschen darüber in der Picayune gelesen. Bestimmt wollen Sie das alles vergessen.« »Ich möchte schon.« Er lachte. »Aber meine Mutter erlaubt das nicht. Sie hat unsere Plantage in ›Palo Alto‹ umbenannt, nach der Schlacht, in der ich fast verwundet worden wäre. Sie will glauben, daß ich ein Held sei, aber ich war keiner.« Miriam gefiel die Art, wie er über sich selbst lachte, ihr gefielen die Anmut und Leichtigkeit des Tanzes, und ihr war wohl. Sich wiegend und drehend, zeichneten sie eine Arabeske um den Hof. Das Licht spielte auf seinem Gesicht, wenn sie unter einer Laterne hindurch tanzten. Er hatte einen schön geschwungenen Mund, und selbst wenn er nicht lächelte, erzeugte der Schwung seiner Lippen den Eindruck, daß er gut gelaunt sei. Wie Sonnenschein, dachte sie. »Werden Sie auf Palo Alto leben?« fragte sie, und ihr fiel ein, daß Pelagie gesagt hatte, er ginge ins Ausland.
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»Nein, wir werden eine Weile in Frankreich leben. Aber wir lassen uns hier in der Stadt ein Haus bauen, für die Zeit nach unserer Rückkehr. Im Gartenviertel, bei den Amerikanern.« »Sie desertieren also aus dem Vieux Carre und laufen zu den Amerikanern über!« »Ach, wir werden bald alle durcheinander gemischt sein. Die alte Rivalität erlischt, sie ist praktisch schon tot. Schauen Sie nur uns hier heute abend an. Jeder spricht beide Sprachen. Auch die Kreolen breiten sich in der ganzen Stadt aus. Es ist eine herrliche Stadt, und es wird mir eine Freude sein, hier zu arbeiten.« »Sind Sie Anwalt?« »Notar. Natürlich pendeln wir hier ständig zwischen dem Code Napoleon und dem englischen Gewohnheitsrecht hin und her. Aber das wissen Sie bestimmt längst. Oder es interessiert Sie nicht, was ich Ihnen nicht verübeln könnte.« »Es interessiert mich sehr«, sagte sie lebhaft, machte ihre Augen größer und dachte: Das ist nur ein gewöhnlicher Flirt. Der wirbelnde Walzer riß sie mit. Marie Claire flog in den Armen des französischen Konsuls vorbei. »Wie glücklich sie sein muß!« rief Miriam. »Wer?« »Natürlich Ihre Marie Claire.« »Weil sie mit dem Franzosen tanzt? Ach, sie ist in Frankreich verliebt, in alles Französische.« »Für wie lange wollen Sie nach Frankreich gehen?« »Nur für ein oder zwei Jahre. Wir bleiben aber zunächst noch eine Zeitlang hier, im St.-Charles-Hotel.« Das St. Charles. Eine Suite mit Balkon. Cremefarbene Rosen, groß wie Kohlköpfe. Ein Bett. Weiße Laken und eine blaue Steppdecke. Ein Bett. Mit diesem Mann. Seine rechte Hand lag zwischen ihren Schulterblättern, nicht pressend, aber so fest, daß sie die Wärme durch seinen Glacehandschuh fühlte. Kleine Schauer liefen ihr über den Rücken. Sie war es nicht gewöhnt, so berührt zu werden, mit solch natürlicher Vertrautheit. 188
Ihr kam der Gedanke, daß sie noch nie zärtlich berührt worden war – auch nicht als kleines Kind. Niemand war dagewesen, der es getan hätte. Und jetzt spürte sie diese Hand, die sich auf ihrem nackten Rücken ab und zu einen Zoll hin oder her bewegte. Das ganze Blut in ihrem Körper schien an die Stelle zu strömen, wo die Hand lag. Miriam wollte, daß er sie näher an sich zog und den Abstand zwischen ihnen auslöschte. Gleichzeitig war sie entsetzt über ihren Wunsch. Dieser Fremde! Absolut wahnsinnig! Wie komisch es wäre, dachte sie, wenn man durch die Haut und den weißen Stirnknochen schauen und lesen könnte, was ein anderer Mensch denkt! Es wäre, als ginge man nackt die Straße entlang, wie man es manchmal in einem Angsttraum tut, in dem man verzweifelt ein Versteck sucht. Ihre Füße bewegten sich die ganze Zeit im Takt der Musik. Er sagte etwas zu ihr, den Oberkörper leicht zurückgebogen, um sie besser zu sehen. Sie war nicht sicher, ob sie ihn richtig verstanden hatte, und schwieg. Er wiederholte seine Frage: »Warum sind Sie so unglücklich?« Sofort schossen ihr brennende Tränen in die Augen. Ihre Lippen zitterten. Er hatte durch ihren Schädelknochen gesehen. »Schauen Sie mich nicht an«, bat sie. »Bitte nicht, sonst weine ich hier vor allen Leuten. Bitte.« Er war entsetzt: »Verzeihen Sie. Oh, mein Gott, ich weiß nicht, warum ich das gesagt habe! Verzeihen Sie.« Die Musik wurde langsamer, wie Räder, bevor sie stehenbleiben. Perrin tanzte mit ihr ins Haus. In einem hohen Spiegel sah sie, daß er wirklich den Kopf weggedreht hatte. Also wußte er, daß die Tränen einer Frau, wenn man sie anstarrte, nur noch reichlicher flossen. Er führte sie zu Eugene, dankte ihr und ging rasch weg. Ich habe mich zum Narren gemacht, dachte sie. »Du hast mit Perrin getanzt, sehr gut. Ich möchte, daß du freundschaftlichen Umgang mit den beiden suchst«, sagte Eugene. »Lade sie möglichst oft ein; sie werden die nächsten Monate im Hotel woh189
nen und bestimmt gern kommen. Marie Claire ist ohnehin eine Freundin von dir.« Sie entgegnete matt: »Ich kenne sie kaum.« »Was tut das schon? Mir geht es um den Kontakt, und ich möchte, daß du ihn förderst. Er hat im ganzen Land und auch in Europa gute Beziehungen. Überall.« Miriam wurde von schrecklicher Angst erfaßt, ohne zu wissen, warum. Ihre Beherrschung ließ nach, sie hatte die Dinge nicht mehr im Griff. Sie wollte André Perrin nicht wiedersehen. Um Mitternacht ging das Fest zu Ende. Kutscher und Lakaien, die unter den Straßenlaternen Murmeln gespielt hatten, bestiegen ihre Wagen, und die Kutschen fuhren ab. Bald lag die Straße unter dem dunstigen Himmel still da. »Gehen wir zu Fuß«, sagte David. Gabriel fiel neben ihm in Gleichschritt. Platanenblätter raschelten trocken unter den Füßen der beiden Männer. Wegen der Auseinandersetzung vom frühen Abend lastete Schweigen zwischen ihnen. Als sie an der Kathedrale vorbeigingen, die bald umgebaut werden sollte, brach Gabriel das Schweigen: »Die Unterschiede zwischen uns bedeuten letztendlich sehr wenig, David. Die Prinzipien sind es, die zählen.« Während er das sagte, fiel ihm ein, daß Miriam vor ein paar Stunden genau diese Worte gebraucht hatte. »Prinzipien! Du redest davon, die Form unseres Gottesdienstes zu verändern, aber die Gesellschaft, in der wir leben, willst du nicht ändern. Solche Frömmigkeit, und dabei besitzen die führenden Persönlichkeiten unserer jüdischen Gemeinde, diese ehrenwerten, geachteten Herren, immer noch Sklaven.« »Ich besitze keine Sklaven«, entgegnete Gabriel. »Du lebst bei deiner Schwester, die welche besitzt. Und du schweigst dazu.« Gabriel sagte kalt: »Ich würde dir raten, selbst zu schweigen. Und zwar hier und jetzt.« 190
Wie um seinen Worten Nachdruck zu verleihen, zerriß der scharfe Schrei einer Katze die mitternächtliche Stille. »Entschuldige. Du hast recht«, räumte David ein. »Ich weiß wirklich nicht, wie es kommt, aber ich bringe es immer fertig, das Gespräch auf die einzige Sache zu lenken, die zwischen uns steht.« Er schaute seinen Freund an, dessen Profil im Schein der Straßenlaternen die adlerhafte Schärfe und die Würde eines Kopfes auf einer alten Münze hatte. »Die Wahrheit ist, Gabriel, daß ich gereizt bin. Ich mache mir Sorgen, habe in keiner Hinsicht ein gutes Gefühl. Meine Schwester macht mir schrecklichen Kummer. Sie ist unglücklich. Du hast es heute abend selbst gesehen.« »Ich weiß es.« David seufzte: »Als halbes Kind hat man sie verheiratet, bevor sie überhaupt wußte, wie das Leben läuft – falls man das je weiß. Hör zu«, sagte er und faßte Gabriel am Ellbogen, »ich dürfte nicht fragen, und ich frage dich auch nicht nach Dingen, die zu erfahren ich kein Recht habe. Aber kannst du mir über meinen Schwager, deinen Klienten, irgend etwas sagen, das ich wissen sollte?« Gabriel überlegte. Er konnte über Eugene Mendes lediglich sagen, daß dieser hart arbeitete, beruflich gewandt war, seine Rechnungen pünktlich bezahlte und seine Geschäfte akkurat abwickelte. Er sagte: »Mendes wird nie etwas tun, das seiner Position in der Gesellschaft abträglich ist. Er wird die Regeln einhalten. Er wird sein Haus instand halten und seine Familie erhalten. Er wird großzügig, aber nie verschwenderisch sein.« Gabriel gab auf. »Die Wahrheit ist, daß ich auch nicht mehr über ihn weiß als du.« Wieder sah er Miriams orientalisch geschnittene Augen vor sich, so leidenschaftliche und traurige Augen, die Augen Rebeccas und Rachels aus der biblischen Zeit. »Hast du dir je überlegt«, fragte David plötzlich, »daß es auch eine Art Sklaverei für Frauen gibt? Mir scheint, daß man es als Frau schwer hat.« »Ja, das habe ich mir überlegt«, antwortete Gabriel. 191
Vor Davids Haus trennten sich die beiden Männer, und Gabriel ging allein weiter. Der Nebel verzog sich und gab einen endlosen, rätselhaften, austernfarbenen Himmel frei. Aus der stillen Stadtebene ragte die dunkle Kuppel des Charity Hospital hervor. Gabriel ging langsam, er hatte es nicht eilig, nach Hause zu kommen. Als er den Schlüssel in die Eingangstür steckte, wußte er sofort, daß seine Schwester noch nicht da war. Sie ging immer als letzte heim. Sie brauchte Gesellschaft – ein Bedürfnis, das ihm völlig fehlte. Er fragte sich, ob sie in ihren vertraulichen Unterhaltungen mit ihrer Freundin viel über Miriam Mendes erfahren habe. Wahrscheinlich nicht. Erneut sah er diese leidenschaftlichen, leidenden, flackernden Augen vor sich. Genug damit, befahl er sich streng. Einen Moment lang stand er im Flur und starrte ins Leere. Dann schüttelte er sich, als versuche er eine Last abzuwerfen, und stieg die Treppe hinauf.
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iriam findet keinen Schlaf in der schwülen Nacht. Wie immer liegt sie ganz am Rand des riesigen Bettes. Der freie Platz zwischen ihrem Mann und ihr ist ein Symbol, denkt sie, jetzt sind sie völlig getrennt. Deshalb bemerkt er nicht, was in den vielen Monaten mit ihr geschehen ist. Er ist zufrieden, daß sie den Schein wahrt und sich ›korrekt‹ verhält; tiefer schaut er nicht. Ihr kommt der Gedanke, daß mit ihr vielleicht etwas nicht stimmt; möglicherweise leidet sie an einer Vergiftung des Gemütes und des Geistes, an einer schleichenden Krankheit. Sie ist besessen von André Perrin. Er hat sich in einem Winkel ihres Gedächtnisses festgesetzt. Seine Stimme mit dem seltsamen, leicht nasalen Klang wiederholt ständig in ihrem Ohr die trivialsten Sätze. Ihre Augen erinnern sich an die blonden Haare an seinen 192
Handgelenken, die seine zu weiten Manschetten hatten sichtbar werden lassen. Sie spürt die Hand in dem Glacehandschuh auf ihrem Rücken. Sie liest Angelique eine Geschichte vor. Zwei glänzende schaukelnde Locken rahmen das Kindergesicht ein; die Mutter dreht die Locken, zieht das Kind näher an sich und denkt: Wie süß sie ist. Im gleichen Augenblick denkt sie an André Perrin. Auf dem Marktplatz befühlt sie graugrüne Kantalupen, eine Melonenart, mit Netzadern in dunklerem Grün; wenn die Enden unter den Fingern nachgeben, ist das Fleisch saftig und rosig. Im gleichen Augenblick denkt sie an André Perrin. Sie zählt, wie oft sie ihn seit der ersten Begegnung gesehen hat: Fünfmal ist er mit Eugene um zwei Uhr zum Mittagessen gekommen; achtzehn Feste haben hier und in den Häusern anderer Leute stattgefunden; achtmal haben sie sich im Theater getroffen. Viermal sind sie einander auf der Straße begegnet, als er mit Marie Claire spazierenging. Ist es nicht schändlich, daß er ihr ganzes Denken beherrscht? Sie hat kein Recht auf solche Gedanken! Er gehört Marie Claire! Die beiden liegen nachts beisammen, er und die von ihm grundverschiedene, langweilige Marie Claire. Sie liegen beisammen. Seine Hände bewegen sich auf ihrem, Körper, wohin sie wollen, seine und ihre Arme und Münder bewegen sich, wohin sie wollen. Genauso muß Eugene mit seiner Geliebten beisammenliegen. Jetzt atmet er schwer in der Dunkelheit, seine massigen Schultern zucken im Traum. Was nun, wenn Eugene tot wäre? Wenn Marie Claire tot wäre? Was würde dann geschehen? Miriam schlägt die Decke zurück; sie erstickt an der Hitze und an ihren schrecklichen Gedanken, die Schuldgefühle in ihr hervorrufen. ›Warum sind Sie so unglücklich?‹ hat er mich gefragt. Ich hätte antworten können: ›Weil mein Mann nicht ist wie Sie.‹ ›Was wissen Sie denn von mir?‹ hätte er mich dann fragen können. 193
Und ich hätte entgegnet: ›Warum können drei Takte Musik das Herz vor Gram zerspringen lassen? Warum kann leiser grauer Regen das Herz mit Entzücken erfüllen? Es gibt weder für das eine noch für das andere einen Grund, sehen Sie.‹ Miriam will nie mehr mit ihm allein sein. Angenommen, einer ihrer Gedanken kommt ihr wider Willen auf die Lippen und nimmt Ton an? Entsetzen packt sie. Eines Tages wird das ganz sicher geschehen. Sie wird die Hand ausstrecken und seinen Arm in einer Weise berühren, die alles verrät, oder ihre Stimme wird eine Bemerkung machen, die alles sagt. Im Eßzimmer setzt sie ihn stets weit von sich weg, ans andere Tischende. Doch wenn sie weiß, daß sie ihn sehen wird, kleidet sie sich unanständigerweise besonders sorgfältig. Jahrelang hat sie vergessen, was Eitelkeit ist; Freude an sich selbst hat sie, soweit sie sich erinnert, zum letztenmal bei ihrem ersten Opernbesuch empfunden, als Emma sie lehrte, wie man einen Fächer benutzte. Aber vorige Woche, beim Kauf eines weißen, mit Fliederblüten besteckten Strohhuts, hat sie sich gewünscht, daß er sie damit sehe. Manchmal ist ihr Blick dem seinen begegnet – Sie weiß, daß er sich an ihre Tränen erinnert. Vielleicht fragt er sich, warum sie geweint hat, vielleicht denkt er auch nur, daß sie eine schwache, törichte Frau ist, eine verwöhnte, dumme Frau, die eigentlich mehr Verstand haben sollte. Was wollen Sie, schließlich schlägt Ihr Mann Sie nicht, könnte er – oder jemand anderer – sagen. Ihre Kinder schlafen geborgen unter einem festen Dach. Wie viele Frauen würden nicht liebend gern mit Ihnen tauschen! Das erste Licht dringt durch die Jalousien. Es fällt in Streifen auf den Boden und auf den Korb in der Ecke, in dem Gabriel Carvalhos Hund schläft, es kriecht über die Marmortischplatte, wo die Perlen vom Abend vorher aufgerollt liegen, es scheint ihr schließlich voll ins Gesicht, mit der Helligkeit eines weiteren neuen Tages.
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uf dem stromaufwärts fahrenden Flußdampfer stand David an der Reling und ordnete seine Gedanken. Mehr denn je galten sie seiner Schwester, die ihm zunehmend Sorgen machte. Welche Paradoxie im menschlichen Leben! Während er nach so langer Zeit in den Süden heimgekehrt war, wollte sie jetzt in den Norden! Vor ein paar Monaten hatte sie ihm endlich von ihren Phantasievorstellungen – um nichts anderes handelte es sich – erzählt. In einer milden Winternacht hatte sie ihm so viel erzählt, daß er seither schwer daran trug. Voller Wehmut durchlebte er die Szene noch einmal. Auf dem Heimweg von einem Krankenbesuch ging er an dem dunklen Haus der Mendes vorbei und sah zu seiner Verblüffung im Licht einer einzigen Kerze Miriam an der offenen Fenstertür der Bibliothek sitzen. Er blieb stehen und stieg die Treppe hinauf. »Warum bist du so spät noch auf? Und allein?« fragte er. »Ich konnte nicht schlafen, also ging ich wieder herunter. Das ist alles.« Sie wandte das Gesicht ab, ganz bewußt. Weil sie nicht wollte, daß er es sah, ließ sie ihr offenes langes Haar nach vorn über die Wange fallen. Doch er sah ihre im Schoß verkrampften Hände. »Was ist los? Was beunruhigt dich so, daß du nicht schlafen kannst?« fragte er. »Nichts, nichts. Alles in Ordnung.« »Es gibt immer einen Grund, wenn jemand nicht schlafen kann, weißt du.« »Du redest wie ein Arzt«, murmelte sie, noch immer abgewandt. »Ja, aber auch als dein Bruder.« Ihre Schultern bebten; sie kämpfte darum, nicht loszuweinen. Er zögerte, vielleicht hatte das Ehepaar nur einen Streit gehabt, einfach einen schlechten Tag. Frauen waren oft überempfindlich, und 195
was heute wie eine Tragödie aussah, war im Licht des morgigen Tages und eines freundlichen Lächelns vielleicht wieder vergessen. Möglicherweise war es besser, er mischte sich nicht ein. Doch irgend etwas ließ ihn drängen: »Ich wünschte, du würdest es mir sagen, Miriam. Wie soll ich nach Hause gehen und schlafen, wenn mir Gedanken an dich im Kopf hämmern?« Minuten vergingen, ohne daß sie antwortete. Ein Fensterladen schwang knarzend im Nachtwind hin und her. Gretel, die auf dem Teppich schlief, wimmerte im Traum und verstummte wieder. Das Schweigen war erstickend. Plötzlich dann sprang Miriam von ihrem Stuhl auf und streckte die Arme aus. »Ich will – ich will…«, keuchte sie. »Ich will hier raus! Ich hasse das alles. Hier gibt es keine Freiheit, nicht nur für die Neger, sondern für alle! Eine Linie ist gezogen, so…« – sie zeichnete die Linie mit dem Fuß – »und so, und über die darf man nicht treten. Man hat eine gesellschaftliche Stellung, als Mrs. Wer-auch-immer, und es gibt Regeln. Regel Nummer eins: Setze ein freundliches Gesicht auf, laß nie jemand wissen, wie dein Leben in Wirklichkeit ist.« Miriams Lippen zitterten. Sie jagte David großen Schrecken ein. Er trat zu ihr und ergriff ihre Handgelenke. »Was sagst du da? Ist es so schlimm?« »Ja, ja, du weißt nicht, wovon ich träume… Ich habe einen Tagtraum… Ich nehme die Kinder, und dann gehen wir beide fort, du und ich – wir laufen weg von hier, gehen in den Norden, in eine andere Welt und…« »Miriam, der Norden ist kein Paradies. Dort gibt es zwar keine Negersklaven, dafür aber andere Übel. Auch dort kann man unglücklich sein. Das sagt einem doch der gesunde Menschenverstand, nicht wahr?« Sie trat zurück, befreite ihre Handgelenke und bedeckte ihre Augen. Leicht schwankend stand sie da. Und dann, genauso plötzlich, 196
wie sie zuvor vom Stuhl aufgesprungen war, lief sie zu David und legte ihren Kopf auf seine Schulter: »Ich bin so unglücklich! Du kannst gar nicht wissen…« »Ich kann nichts wissen, wenn du mir nichts sagst, Liebes.« »Warum habe ich Eugene bloß geheiratet? Warum?« flüsterte sie. »Ein verhängnisvoller Fehler! Auch für ihn! Es ist nichts da – einfach nichts. Verstehst du? Nicht in einer einzigen Hinsicht gehören wir zusammen. In keiner! Ich behaupte nicht, daß irgend jemand daran schuld ist, es ist einfach so!« Sie wiederholte: »Verstehst du?« Er glaubte schon, daß er sie verstand, aber aus Gründen der Schicklichkeit – sie war schließlich seine Schwester – konnte er das nicht zugeben. Er konnte nur fragen, hilflos fragen: »In keinerlei Hinsicht? Und man kann nichts dagegen tun?« Miriam schüttelte den Kopf. »Vielleicht«, sagte er behutsam, »wenn ich oder jemand anderer mit dir reden würde, vielleicht mit euch beiden gemeinsam, um herauszufinden…« Was herauszufinden? Daß sie einander nicht liebten? Oder ob man dort Liebe hervorrufen könne, wo keine war? Er erwartete nicht, daß Miriam etwas entgegnete, und sie tat es auch nicht. In dem Versuch, sein Herzweh zu verbergen, sprach er weiter: »Ich weiß nicht, was du tun könntest, aber ich weiß, was du bestimmt nicht tun darfst. Miriam, Liebes, du mußt dir diese Fluchtgedanken sofort aus dem Kopf schlagen, sonst setzen sie sich dort fest und machen alles nur noch schlimmer für dich.« »Ich dachte«, erwiderte sie schwach, »wenn Papa mir etwas Geld gäbe…« Er unterbrach sie scharf: »Papa würde dir nie und nimmer Geld geben, damit du deinen Mann verlassen kannst, das weißt du. Und wie oder wovon wolltest du im Norden leben? Eine geächtete alleinstehende Frau, und deine Kinder ohne Vater? Nein, Miriam, du mußt praktisch denken.« David hörte sich Banalitäten äußern, verabscheute allein schon deren Klang, wußte aber, daß sie wahr und in der gegebenen Situation notwendig waren. Er faßte seine Schwester bei den Händen und fuhr 197
fort mit seinen Ratschlägen, in dem Bewußtsein, daß er verantwortungsvoller handelte, wenn er sie besänftigte statt in ihrer verzweifelten Rebellion ermutigte. »Lies Bücher, bilde dich, geh deinen wohltätigen Aufgaben nach, kümmere dich um die Kinder. Du mußt dich beschäftigen, das ist das Wichtigste…« Während er sprach, überlegte er, ob es vielleicht einen noch tieferen Grund dafür gab, daß sie so unglücklich war. Einen anderen Mann vielleicht… David seufzte, als er auf dem Flußdampfer an jene Nacht zurückdachte. Er war müde, doch nicht körperlich. Seine Müdigkeit kam von den Nerven, die vibrierten wie ein straff gespannter Drahtzaun, der in heftigem Wind singt. Er konnte Miriam nicht helfen. Schlimmer noch, er führte ein Doppelleben, ein ›normales‹ und ein verborgenes. Die Risiken, die er einging, machten ihm Angst. Er neigte sich über die Reling und ließ seine heißen Wangen von der Brise kühlen. An den Ufern dieses Flusses wurde die Geschichte des Südens geschrieben. Immer wieder sah er auf einem steilen Uferstück ein großes Haus dastehen wie einen stolzen klassischen Tempel, und auf den Feldern darunter bearbeiteten Schwarze den Boden mit Hacken. Zwischen den großen Häusern lagen die Pachtgüter der Kleinfarmer, ein paar Morgen mit einem Blockhaus für die Familie und zwei oder drei Hütten für die Neger, deren Besitzer man neben seinen Sklaven bei der Arbeit in den Baumwollpflanzungen sehen konnte. Um diese Jahreszeit standen die fernen Wälder in voller Blüte, der Hartriegel leuchtete schneeweiß, der Hagedorn rosarot und die Forsythie wie geschmolzenes Gold. Im Vordergrund, am Flußufer, verlief die Straße. Blaue Porzellansternchen wuchsen wild und bildeten unregelmäßige Polster, braune Kühe lagen in der Mittagswärme wiederkäuend unter Bäumen. Ein englischer Landschaftsmaler, ein Constable, hätte viel aus dieser unschuldigen ländlichen Szene gemacht, und einen Moment lang wünschte David, es fertigzubringen, sie einzig mit solchen Augen zu sehen. 198
Er sah vor allem die zerlumpten Bauern, die neugierig herbeiliefen, wenn das Schiff an einer Anlegestelle hielt und eine Lieferung aus der Stadt brachte. Aus staunenden Augen starrten sie die vornehmen Reisenden auf dem schwimmenden Palast an. Er sah arme weiße Südstaatler auf dem Unterdeck zwischen schäbigen Kisten hokken. Eine schwangere junge Frau hatte ihre sämtlichen Zähne verloren. Ein Kind war mit Beulen bedeckt. Unversehens fühlte sich David an die Mirabelle erinnert. Die damalige Reise hätte einem anderen Zeitalter angehören können, so lange schien sie ihm zurückzuliegen und so verändert kam er sich vor im Vergleich zu dem grünen Jungen von damals! Nein, verändert hatte er sich im Grunde nicht. Er strich mit der Hand über seine Arzttasche aus schönem braunem Leder. Nur äußerlich war er ein anderer geworden. Im Ballsaal hinter ihm spielte jemand auf dem Klavier die Mondscheinsonate, hell erklang die hübsche kleine Melodie. Wie angenehm, auf dem Fluß zu reisen, mit Freunden unter Kristallüstern zu speisen oder bei Zigarren und Brandy einträgliche Geschäfte abzuschließen, während das grüne Ufer vorbeiglitt! Der Dampfer war gewissermaßen ein Fortsatz der verführerischen Stadt am Mündungsdelta. Für einen Mann, der sich ihren Vergnügungen hingeben konnte, bedeuteten sie das Paradies: köstliche Speisen und Weine, Frauen, Geld und Musik. Das Orchester der French Opera war eines der besten im Land, manche behaupteten, das beste, die Küche war weithin berühmt, und die Frauen waren strahlend schön. Er erinnerte sich an ein halbes Dutzend oder mehr Mädchen, jedes ein wahrer Schatz, lachend, flirtend oder lieblich ernst; er dachte an parfümierte Seide und weiße Schultern, an die Heimkehr zu einer jungen Frau… Doch er ging einen anderen Weg, hatte sich festgelegt, bis ins Innerste seiner Seele gebunden. David zog weiter Bilanz. Geistig und beruflich hatte er allen Grund, zufrieden zu sein. Er betrieb eine blühende Geburtshilfepraxis, dank der Tatsache, daß er zu den ersten gehörte, die Chloroform verwendeten. Er schrieb regelmäßig Beiträge für das New Orleans Medical Journal, hatte unter anderem Artikel über das Gelbfieber und 199
die Hygiene veröffentlicht. Binnen weniger Jahre hatte er sich Ansehen erworben. Doch die Geschäfte, denen er am heutigen Tag nachging, konnten dieses Ansehen für immer zerstören. »Reisen Sie weit?« fragte jemand neben ihm. Der Sprecher, ein Herr mittleren Alters mit höflichem Gesichtsausdruck, legte zum Gruß die Finger an den Hut. David tat das gleiche: »Beim nächsten Halt steige ich aus.« Der Fremde streckte ihm die Hand hin: »Mein Name ist Cromwell, George Alexander Cromwell.« »Freut mich, Sie kennenzulernen, Sir. Ich bin Dr. David Raphael.« »Sie praktizieren in New Orleans? Ich glaube, ich habe Ihren Namen schon gehört. Ich lebe in Baton Rouge.« Der Mann wollte offensichtlich an der Reling bleiben und sich unterhalten, also mußte David eine freundliche Bemerkung machen. »Angenehme Art zu reisen. Besser, als auf den Straßen einer Räuberbande in die Hände zu fallen«, sagte er. »Ja, die Straßen sind schrecklich. Aber ich mochte den Fluß schon immer. Ich war an Bord der Duke of Orleans, als sie im Jahr '43 den Rekord aufstellte. Sechs Tage und elf Stunden von Cincinnati nach New Orleans. Ein großartiges Schiff.« »Zweifellos.« »Man darf sich freilich nicht von den Spielern drankriegen lassen. Auf der Fahrt damals hat der Kapitän drei an Land gesetzt, ich erinnere mich noch genau. Das sollte öfter geschehen. Zu viele Pflanzer werden durch Spieler ruiniert.« David nickte. Vorige Woche hatte Eugene behauptet, Ferdinand habe die Fahrt flußaufwärts zu den Labouisses beim Kartenspiel eine hohe Summe verloren. Außerdem hatte er gesagt, die Firma Raphael stehe auf schwankendem Boden. Kaum zu glauben. David hatte erwogen, Gabriel zu fragen, ob etwas Wahres daran sei, doch Gabriel gab ihm bestimmt keine Auskunft. Man konnte Gabriel auf den Kopf stellen, aber man bekam aus ihm nichts heraus, was man nicht erfahren sollte. Die Beziehung Anwalt-Klient war ihm heilig. 200
David wurde aus seinen besorgten Gedanken gerissen, als der Fremde plötzlich rief: »Natürlich, ich wußte doch, daß ich Ihren Namen schon gehört habe. Von Sylvain Labouisse. Ist er nicht ein Verwandter von Ihnen?« David lächelte: »Ein sehr entfernter. Die zweite Frau meines Vaters ist seine Schwiegermutter.« »Na, das ist doch gut. Eine bemerkenswerte Familie. Berühmt im ganzen Staat. Hat eine lange Geschichte.« »Das habe ich gehört«, sagte David mit höflichem Interesse. »Ich komme eben von einer Versammlung in der Stadt, auf der er gesprochen hat. Den abolitionistischen Fluch hat er aufs Korn genommen. Ich war auch einer der Redner, habe Henry Hyams eingeführt. Sind Sie mit ihm bekannt?« »Ich kenne ihn.« »Ein Mann mit Zukunft. Es heißt, er würde eines Tages Gouverneur unseres Staates. Ein jüdischer Gentleman. Ich vermute, daß Sie auch Jude sind.« »Das bin ich, Sir.« »Ich muß Ihnen eines sagen, ich bewundere Männer wie Hyams oder Sylvain Labouisse, jeden Mann, der den Mund aufmacht. Unentschlossene sind mir zuwider, Leute, die es anderen überlassen, Maßnahmen zum Schutz ihrer Frauen und Kinder zu ergreifen. Es wird zuviel Propaganda gegen die Sklaverei gemacht, wissen Sie. Wir brauchen eine Sicherheitstruppe, wie ein anderer hervorragender Redner gesagt hat, Eugene Mendes. Er lebt in New Orleans, Sie müßten ihn kennen.« »Ich habe die Ehre, sein Schwager zu sein.« George Alexander Cromwell war beeindruckt: »Na, wir könnten mehr solche wie ihn brauchen. Ich sage Ihnen, den Leuten ist nicht klar, wie ernst die Lage ist. Seit Kalifornien seine Verfassung bekommen hat, in der die Sklaverei verboten ist, fühlen sich Leute wie Garrison ermutigt. Sogar die Kirchen haben sich anstecken lassen! Ich bin Baptist, wir haben uns vom Nationalkonvent unserer Landeskirche lossagen müssen.« 201
Mit besorgter Miene schüttelte David den Kopf. »Ja, man muß Augen und Ohren allezeit offen halten.« Der Mann senkte die Stimme: »Ich weiß nicht, wieviel daran wahr ist, aber gestern ist von einem Engländer namens Dyson geredet worden. Er leitet diese Schule für freie schwarze Jungen in New Orleans. Angeblich bringt er ihnen außer Lesen, Schreiben und Rechnen eine Menge anderer Dinge bei.« »Sie meinen doch nicht…« »Doch. Verschwörung, Rebellion, mein Freund.« »Dyson? Nicht möglich!« rief David. »Das glaube ich nicht. Allerdings kenne ich ihn nur flüchtig. Er wohnt in meiner Nähe, und ich würde sagen, daß er nichts als ein Pädagoge ist. Eher langweilig. Er scheint mir alles andere als der Typ zu sein, der im Untergrund arbeitet. Solche Gerüchte können den Unschuldigsten treffen, wissen Sie.« »Ganz ohne Zweifel. Aber es ist trotzdem ratsam, auf der Hut zu sein. Erinnern Sie sich an das Jahr '37, als der Aufstand im Bezirk Rapides ausbrach? Der war gründlich organisiert. Und dann '40 im Bezirk Lafayette. Vier Abolitionisten aus dem Norden waren dabei, einen Aufstand anzuzetteln. Die Sklaven meines Schwiegervaters machten mit, aber wir erwischten sie rechtzeitig und hängten die Bande. Wie Sie sehen, es empfiehlt sich, wachsam zu sein.« »Sicher haben Sie recht. Ich bin so beschäftigt mit meinen Patienten, daß mir kaum Zeit für etwas anderes bleibt.« »Besuchen Sie so weit hier draußen Patienten?« Cromwell deutete mit dem Kopf auf die braune Ledertasche. »Gelegentlich. Manchmal kombiniere ich einen Patientenbesuch mit einem Besuch bei Freunden. Ab und zu braucht man ein wenig Erholung außerhalb der Stadt. Hinter der nächsten Biegung steige ich aus.« Mr. Cromwell tippte wieder an seinen Hut: »Freut mich, Sie kennengelernt zu haben.« David tippte an den seinen: »Ganz meinerseits, Sir.« Mit weichen Knien ging er von Bord. 202
Von der kleinen Anlegestelle führte ein staubiger Weg durch den Wald zur Hauptstraße. Der Wald schallte von Vogelgesang. Eine am Wegrand grasende Ziege jagte durchs Unterholz davon, als sie David gewahrte. Aus einer Hütte, die einige Meter neben dem Weg stand, kamen drei Jungen gelaufen, starrten ihn an und liefen wieder hinein. Sonst war niemand zu sehen. David ging weiter, er bot seine ganze Selbstbeherrschung auf, um seinem Gesicht einen Ausdruck ruhiger Sicherheit zu geben. Im Bartlett's Hotel, eine halbe Meile die Straße entlang, sollten sie sich treffen. Das Hotel war ein beliebtes Ausflugsziel für Familien. An den Wochenenden strömten die Menschen in Scharen herbei, um dort zu essen und sich mit Rasen-Bowlingspielen, Feuerwerk und Ballonfahrten unterhalten zu lassen. Aus diesem Grund hatte David das Treffen auf die Wochenmitte gelegt. Andererseits hoffte er, daß das Hotel nicht leer war, denn sonst konnte es sein, daß sie Verdacht erregten und man sich lange an sie erinnerte. Ich bin nicht zum Verschwörer geboren, dachte David. Ich habe nicht die Nerven dafür. Neben ihm trat ein Mann aus dem Gebüsch – Lucien. »Sie kommen spät«, sagte er. »Ich fing schon an, mir Sorgen zu machen.« »Wir hatten einen langen Aufenthalt, ein großes Klavier mußte eingeladen werden. Sind alle da?« »Fast. Zwei andere Gruppen sind da, Kindergeburtstage. Ich habe ein Nebenzimmer gemietet und eine Geburtstagstorte bestellt.« Vor dem Hoteleingang stand ein halbes Dutzend Wagen. Mehrere Männer gingen auf die Bar zu. Sehr gut. Betrieb herrschte, aber nicht zuviel. »Du hast eine Geburtstagstorte bestellt? Wer hat Geburtstag?« »Warum nicht Sie?« Luciens langes, meist trauriges Gesicht legte sich in vergnügte Falten. »Schön. Aber du solltest deine Uniform abbürsten. Du siehst nicht aus, wie man es vom Diener eines aufstrebenden jungen Arztes erwartet, der seinen Geburtstag feiert.« 203
»Verzeihung, ich werde mich gleich aufpolieren. Ich habe außerdem ein überzähliges Pferd. Sie werden auf der Straße zurückreiten, wenn es dunkel ist. Später am Abend kommen dann einige Leute in die Stadt, um die Flugblätter abzuholen. Einer kommt in die Praxis und bringt sie den anderen an einen Ort, den ich bestimmt habe.« David blieb stehen. »Wer kommt in die Praxis?« fragte er scharf. »Ein Freund von mir. Sie kennen ihn nicht.« »Ein Schwarzer?« »Was sonst?« Lucien hob die Hände, die Handflächen nach oben gedreht: »Was für einen Freund sollte ich sonst haben?« »Du bist verrückt! Ein Neger kommt nachts in meine Praxis! Könnte es etwas Verdächtigeres geben?« »Er kommt als Patient. Ein freier Farbiger. Er hat das Recht, einen Arzt aufzusuchen. Er wird einen verletzten Arm haben, oder vielleicht wäre ein verletztes Auge besser.« »Nun gut, in Ordnung.« Als sie in die Hotelhalle traten, befahl David mit erhobener Stimme: »Lucien, kümmere dich um meine Gäste. Nimm ihre Getränkebestellungen auf, sie werden Durst haben. Beeile dich.« »Jawohl, Sir. Sofort, Sir.« In dem Nebenzimmer erwarteten ihn die Männer bereits. Bis auf zwei Handlungsreisende aus Massachusetts kannten sich alle. James MacKenzie war ein Drucker, der sein gutturales schottisches R auch nach fünfzehn Jahren Amerika nicht verloren hatte. Randolph Blair, rebellisch und elegant, war der Sohn eines virginischen Pflanzers. Ludwig Schiff, klein und nervös, entstammte einer deutsch-jüdischen Familie aus Memphis. In einer Ecke saß ein schwer einzuordnender, sanftmütig wirkender Mann des Typs, der sich mit Vorliebe in eine Ecke setzt. David ging auf ihn zu, die Hände ausgestreckt. »Mr. Dyson!« sagte er. »Mr. Dyson! Herzlich willkommen.« Spät nachmittags saßen sie immer noch am Tisch. Über die Reste eines fröhlichen Festes geneigt, redeten sie im Flüsterton. 204
»Ich glaube, wir dürfen sagen, daß wir heute Fortschritte gemacht haben«, meinte David schließlich. Schiff legte eine Börse auf den Tisch: »Jeder nehme sich, was er braucht. Das nächste Mal gibt es wieder etwas. Das Geld strömt herein wie von selbst.« »Nicht wie von selbst«, verbesserte ihn David. »Stell dein Licht nicht unter den Scheffel, Schiff. Du setzt dich sehr dafür ein.« MacKenzie sagte: »Ich würde gern weniger nehmen, aber ich brauche einfach Geld, um Papier zu kaufen. Ich muß auch eine kleine Presse besorgen.« »Nimm das Geld«, befahl Schiff. Die beiden Nordstaatler warfen erneut ihre Frage auf: »Wir haben die vergangene Stunde damit zugebracht, über Flugblätter und Broschüren zu reden. Wie steht es mit Gewehren?« Der junge Blair lehnte sich zurück und streckte seine langen Beine aus: »Ich habe es euch doch gesagt! Von eurer nächsten Reise schickt ihr mir eine Kiste Bücher. Sorgt dafür, daß wirklich Bücher obenauf gepackt sind. Der Landsitz meiner Schwester heißt Clarissa. Ich verbringe das ganze Jahr dort draußen, also könnt ihr jederzeit liefern. Natürlich werde ich die Kiste selbst auspacken.« »Dieser Teil der Geschichte läßt mich zögern«, sagte David. »Ich kann keinen Gefallen an Gewehren finden, wie ihr alle wißt.« Einer der Yankees entgegnete trocken: »Niemand hier findet Gefallen an ihnen, aber Sie müssen realistisch sein. Wir werden sie so wenig wie möglich benutzen, doch haben müssen wir sie.« »Nun gut. Wann werden Sie sie schicken?« »Das hat keine Eile«, erklärte Dyson behutsam. »Wir sind noch lange nicht soweit. Ein überstürztes Unternehmen, das fehlschlägt, können wir uns nicht leisten. Zehn Hinrichtungen durch den Strick, und alles ist aus.« Schiff fragte ungeduldig: »Wie lange wollt ihr denn noch warten? Ist es nicht schon lange genug?«
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»So lange, wie wir brauchen, um wirklich vorbereitet zu sein«, antwortete Dyson. »Ein bis zwei Jahre vermutlich. Wir müssen uns die Unterstützung der Landbevölkerung sichern. Das kostet Zeit.« »Hier kommst du ins Spiel.« David nickte MacKenzie zu. »Laß deine Druckerpresse laufen. Ich schreibe weiter und du druckst weiter. Wir müssen Pamphlete vor die Türen aller Kirchen auf dem Land legen können. Aller weißen Kirchen. Keiner Negerkirchen, denn die Neger können nicht lesen. Aber bei den armen Weißen können wir große Unterstützung finden. Es geht nur darum, sie mit der richtigen Botschaft anzusprechen.« MacKenzie nickte: »Ich habe für heute abend eine Menge fertig gemacht. Es ist in deinem Innenhof versteckt.« David stand auf und öffnete die Tür. Der Gang war leer bis auf Lucien, der vor der Tür stand. David winkte ihn herein. »Konntest du unsere Stimmen bestimmt nicht hören? Bist du sicher?« »Nichts war zu hören. Nur wenn Sie gesungen haben.« »Gut! Dann klang es also wie eine richtige Feier?« »Wie eine richtige Feier.« »In Ordnung. Stellen wir folgendes klar: Wir trennen uns jetzt. Ich reite allein zurück. MacKenzie hat Material in meiner Praxis…« »Im Hof, unter der Zisterne.« »Und heute nacht holt es jemand ab.« »Er hat den linken Arm verbunden und ein rotes Halstuch darübergelegt, um den Verband sauberzuhalten«, rekapitulierte Lucien. »Er steckt die Flugblätter in einen der Melonensäcke auf seinem Karren. Falls er angehalten wird, bringt er einfach Melonen zum Markt oder verkauft sie, je nachdem. Aber es gibt keinen Grund, warum er angehalten werden sollte.« »Gesetzt den Fall, das Schlimmste passiert und man hält ihn an?« fragte Schiff. »Der Mann steht zu mir wie ein Bruder«, antwortete Lucien ernst. »Er würde sich umbringen oder umbringen lassen, aber mich nicht verraten.« 206
Nach diesen düsteren Worten herrschte eine Weile Stille im Raum. »Weißt du«, sagte David schließlich, »ich sehe nicht ein, warum die Leute das Material nicht direkt bei mir abholen sollen statt in den Verstecken, die du und MacKenzie festgelegt haben. Ich finde allmählich, daß ich zu vorsichtig bin.« »Nein, nein, Doktor«, rief Dyson. »Dann wüßten zu viele Leute, wer Sie sind. Es reicht schon, daß ich mich gefährde, indem ich zu meinen Schülern offen bin. Wir dürfen Sie nicht auch noch in Gefahr bringen.« »Unsinn«, entgegnete David. »Wenn die Leute nicht vertrauenswürdig sind, was sollten sie dann überhaupt bei uns?« »Vertrauenswürdig?« Luciens melancholische Augen schauten an den Männern vorbei, zum Fenster hinaus, auf den vom Dämmerlicht bläulichen Rasenplatz: »Sie wissen nicht, was ein Mann alles verrät, wenn man seine Füße in eine Flamme hält oder wenn er bis zum Hals eingegraben ist und ihm beißende Ameisen in die Augen kriechen.« »Genug!« David schauderte. »Genug.«
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E
s war Nachmittag, die fade, windstille Stunde, in welcher der Tag seine Frische verloren hat und die erste Dämmerung wie schmutziger Puder auf den Blättern liegt. Miriam ließ das Buch Lelia neben sich auf die Gartenbank sinken. All diese Leidenschaften und Zwistigkeiten, diese trotzige Verachtung! Das machte den Geist müde. Eine Frau wie Georges Sand konnte man unmöglich mit ihr vergleichen. Voll schläfriger Trägheit saß sie da, ihre Gedanken verflüchtigten sich, und in ihren Geist trat Leere ein. An der Gartenpforte, die zur Seitenstraße führte und selten benutzt wurde, drückte jemand die quietschende Klinke nieder. Lang207
sam richtete Miriam sich halb auf und drehte den Kopf nach hinten, um zu schauen, wer kam. »Ich dachte, Sie könnten hier sein«, sagte André Perrin. Kalte Angst packte sie wie bei unmittelbar drohender Gefahr, sie spürte ein Flattern zwischen ihrem Herzen und ihrem Hals. »Ich bin nachmittags oft hier«, entgegnete sie kurz. Er setzte sich auf die andere Bank. Am liebsten wäre sie aufgesprungen und ins Haus gelaufen. »Ich ging hier vorbei«, sagte er, »und weil wir nächste Woche endgültig abreisen… Wissen Sie, daß wir mit der Mirabelle nach Frankreich fahren?« »Das ist das Schiff, mit dem ich vor Jahren hergekommen bin.« »Wie seltsam! Nun, ich wollte – ich wollte auf Wiedersehen sagen.« »Hoffentlich haben Sie eine gute Reise und fühlen sich wohl in Frankreich.« Die gestelzten Worte fielen dumpf in die drückende Luft. »Vielen Dank.« Er hatte den Hut auf seinen Knien liegen. Nun begann er mit dem linken Zeigefinger über den Rand zu streichen, rundherum, rundherum. Sie schaute zu, spürte in ihren eigenen Fingerspitzen den glatten Strohrand. Mit dieser belanglosen Bewegung schien er irgendwie um Zeit zu bitten, als wolle er sich für etwas anderes sammeln. Sein über den Hut gesenkter Kopf wirkte hilflos. Miriam begriff nicht, was hier vorging. Plötzlich schaute er auf: »Ja, ich kam her, um auf Wiedersehen zu sagen. Aber bevor ich gehe, wollte ich, mußte ich…« Er erhob sich, stand über ihr. Seine Schuhspitzen waren kaum einen Zoll von ihrem im Gras liegenden Rocksaum entfernt. »Seit Monaten, schon dieses ganze Jahr lang versuche ich, es nicht zu sagen. Ich schäme mich, Miriam. Ich schäme mich und habe Angst vor dem, was Sie tun werden. Vielleicht werden Sie mir nie verzeihen, und ich könnte Sie deswegen nicht tadeln.« Er sprudelte die Worte hervor: »Ich denke an nichts anderes als an Sie. Nur 208
an Sie. Ich weiß nicht, was das bedeutet. Liebe ich Sie? Ich kenne Sie kaum, aber Sie füllen den ganzen Tag über meinen Geist vollkommen aus. Jeden Tag.« Sie heftete ihre Augen auf einen Kolibri, der mit seinem langen Schnabel eine cremefarbene Blüte der Klettertrompete aussaugte. Nicht größer als ein Grashüpfer und genauso grün, flatterte er vor der Blüte. Seine irisierenden Flügel schlugen die Luft so schnell, daß das menschliche Auge es nicht sehen konnte. »Sind Sie sehr böse?« flüsterte er. Miriam brachte kein Wort heraus. Sie hatte Angst zu sprechen. Vielleicht geschah jetzt, was sie befürchtet hatte; vielleicht fand jetzt doch der Übergang aus der Wirklichkeit in die Phantasie statt. Die Sprache würde sie verraten und alle würden Bescheid wissen. Sie war wahnsinnig geworden. »Als ich eben zu sprechen begann«, sagte er, »kam mir der Gedanke, ich müsse verrückt sein, und ich wollte aufhören. Aber jetzt ist es zu spät.« Sie zwang sich zur Ruhe, zwang ihre Augen von dem Vogel weg und hin zu ihm, zwang ihren Geist zur Rückkehr in die Wirklichkeit. Seine Augen waren ängstlich, fragend, sanft. Er streckte die Hand aus, berührte sehr zaghaft ihre Hand, die mit leicht nach oben gebogenen Fingern auf ihrem Schoß lag. Sie spürte ihre warmen Tränen auf den Wangen. »Ach«, sagte er, »ist das möglich? Sie haben nie mit mir gesprochen. Ich dachte, ich mißfiele Ihnen schrecklich. Sie hatten nie ein Wort für mich übrig.« »Ich fürchtete, Sie würden es sehen«, entgegnete sie sehr leise. »Ich fürchtete, Sie würden es merken.« Seine Hand umfaßte die ihre fester, seine Finger schoben sich zwischen die ihren. »O Gott«, sagte er. Ohne jede Scham hob sie ihr Gesicht und ließ ihn die Tränen sehen, die ihr über die Wangen liefen. 209
»Ich dachte mir so viele Wege aus, um Sie allein zu treffen. Immer nur diese schrecklichen Essen. Eine Zeitlang versuchte ich Sie zu meiden. Dann schmiedete ich Pläne und verwarf sie wieder. Ich überlegte, was ich zu Ihnen sagen könnte. Ich weiß Bescheid über Eugene und Sie, verstehen Sie…« »Sie können nicht Bescheid wissen«, unterbrach sie ihn. »Ich weiß genug. Begreifen Sie, daß ich Angst hatte – Angst habe, mich Ihnen zu offenbaren? Aber ich kann nicht anders, ich kann nicht abreisen, ohne mit Ihnen gesprochen zu haben. Dabei hat es keinen Sinn, daß ich mit Ihnen spreche, nicht wahr?« Er ergriff ihre andere Hand und hob sie an die Lippen, um sie zu küssen. Ihr Ehering, ein breiter Reifen, stark wie ein Tau und fest wie eine Steinmauer, streifte seinen Mund. Er schaute verzweifelt um sich: »Es gibt soviel zu sagen, aber wir haben keine Zeit und können nirgends hin.« Die Liebesgöttin über der doppelten Kaskade schaute mit ihrem gleichgültigen kalkweißen Blick auf die erregten Liebenden herab. »Sie haben Marie Claire geheiratet.« »Wir waren drei Wochen Gäste im gleichen Haus, und plötzlich waren wir verlobt. Ich weiß nicht, wie das passierte. Vermutlich hatten es unsere Mütter beschlossen. Ich glaube, Marie Claire war genauso überrascht wie ich.« »Wer tut uns solche Dinge an?« rief Miriam. »Warum lassen wir zu, daß so etwas geschieht? Eugene und ich – wir passen überhaupt nicht zueinander.« Sie entzog ihm ihre Hände und faltete sie fast flehend. Der lange Kummer, die sinnlose Ungerechtigkeit des Schicksals und jetzt dieser Rausch überwältigten sie. André nahm ihr Gesicht zwischen die Hände und drehte es ins Licht. Furchtlos bot sie es seinem prüfenden Blick dar. Er mußte jeden Makel, den es dort gab, sehen und akzeptieren, die zu nahe beisammenstehenden Augenbrauen, die kleine weiße Narbe am Kinn, jeden Makel und Fehler. Dann senkte sich sein Mund auf ihren, die Lippen paßten aufeinander, als seien sie eigens dafür geschaffen, köst210
lich und vollkommen… Sie hob die Arme, um ihn an sich zu ziehen. Im Haus fiel eine Tür zu. Die beiden fuhren auseinander, aber niemand kam. »Wir können nirgends hin«, wiederholte André. »Es wäre ohnehin sinnlos. Du reist nach Frankreich ab.« »Ich komme wieder.« »Wann? Wie lange bleibst du?« »Ich weiß es nicht. Vielleicht nur ein Jahr.« »Nur ein Jahr. Und dann?« »Irgend etwas muß geschehen. Irgendwie. Ich weiß nicht, was.« »Ich auch nicht.« Eine Schar Tauben flog rauschend über die Mauer und landete auf dem Kiesweg. Hungrig machten sich die Tiere über die Brösel her, die wahrscheinlich die Kinder dort verstreut hatten. Gurrend umringten sie die Bank, wie sie an den Sonntagnachmittagen in den vollen öffentlichen Parks immer die jungen Liebespaare umringten, die vergeblich nach einem abgeschiedenen Plätzchen suchten. Auf einmal war es Miriam gleichgültig, daß jemand sie sehen konnte. Obwohl sie wußte, daß ihr kühner Trotz der reinste Wahnsinn war, zog sie André an sich, küßte seine Stirn, seine Wangen und seinen Mund wieder und wieder, kleine Schreie ausstoßend. Dann ließ sie den Kopf auf seine Schulter sinken, und er streichelte leise murmelnd ihr Haar. Sie hatte keinen anderen Wunsch, als sich enger an ihn zu pressen und ihn nie mehr loszulassen, nie mehr. Sie hörte die Stimme ihres Sohnes: »Mama? Wo sind Sie? Sind Sie da draußen?« Sie sprang von der Bank auf und rief: »Ja, ich bin hier, Liebling.« Der Junge kam um die Sträucher gelaufen. Seine Wangen waren rot vom Nachmittagsschlaf, sein frisch gekämmtes Haar ringelte sich im Nacken wie bei einem Kleinkind. Ein hilfloses, zärtliches Wesen… Was tue ich? dachte sie in plötzlichem Entsetzen.
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Doch sie sagte fröhlich, zu fröhlich, mit zitternder Stimme: »Eugene, du erinnerst dich bestimmt an Mr. Perrin. Er geht nach Europa. Er ist gekommen, um uns allen auf Wiedersehen zu sagen.« »Ich gehe auch nach Europa«, erklärte der Junge überzeugt. »Ganz sicher wirst du das eines Tages tun«, sagte André zu ihm. Über den Kopf des Kindes hinweg schaute er Miriam an. Seine Wimpern senkten sich, dann gingen sie wieder hoch, und sein Blick, in dem tiefe Verzweiflung stand, drückte aus: Wir können dies nicht so beenden. Sie hatte das Gefühl, entzweigerissen zu werden. Ihre beiden Körperhälften strebten auseinander, und das bereitete ihr Todesqualen. Sie sah sich gefangen zwischen dem Mann und dem Kind, und jeder zog mit ganzer Kraft an ihr, obwohl keiner sie berührte. Fast flehend bat sie ihren Sohn: »Lauf hinein und spiele drinnen, Eugene. Nur ein kleines Weilchen, bitte. Dann komme ich zu dir.« »Aber ich war schon drinnen! Es ist halb vier, und Fanny hat gesagt, daß Sie versprochen haben, Angie und mir vorzulesen.« Die schrille Stimme ging in klägliches Wimmern über. Nun kamen Angelique und Fanny aus dem Haus. »Hier sind wir, Miß Miriam«, sagte Fanny. »Es ist halb vier.« Unmöglich, die drei loszuwerden. Miriam schüttelte verzweifelt den Kopf. Und André, dem nichts anderes übrigblieb, ergriff seinen Hut. »Werden Sie noch einmal kommen und Eugene auf Wiedersehen sagen?« Ihre Worte waren förmlich, aber ihre Stimme flehte. Er schüttelte den Kopf und antwortete unglücklich: »Ich kann nicht.« Halb abgewandt stand er da, brachte es jedoch nicht über sich, wirklich zu gehen. »Ich kann nicht«, wiederholte er, als wollte er sagen: Noch einmal ertrüge ich das nicht. Sie verstand ihn. »Nun gut«, entgegnete sie, »bestimmt werden Sie uns schreiben, nicht wahr?« »Ich bin leider nicht sehr gut im Schreiben.« Sie verstand auch das. Erlaubt war nur ein steifer, förmlicher Brief – schlimmer als gar keiner. 212
»Mama, vorlesen!« forderte Angelique. »Ich muß gehen«, sagte André. »Bitte empfehlen Sie mich dem Rest der Familie.« Ihr Gesicht glühte, ihre Hände waren kalt. »Ich werde daran denken«, antwortete sie und wandte sich ab. Auf diese Weise sah sie ihn nicht gehen, sondern hörte nur seine Schritte und das Klicken der Gartentür. »Mama, sollen wir die Bücher holen?« »Ja, holt sie. Lauft nach oben und holt sie.« Sie setzte sich wieder, um zu warten. Ein paar Tauben pickten noch zu Füßen der Aphrodite. Ein gepunkteter roter Marienkäfer landete auf der Banklehne. Ein Zaunkönig badete in einer mit Sand gefüllten Mulde. Unbekümmerte kleine Geschöpfe, sie krabbelten und flogen und gingen auf Nahrungssuche, um sich von einem Tag zum nächsten am Leben zu halten. Nur der Mensch trug eine solche Sehnsucht, solche Verwirrung im Herzen. In einem einzigen unglaublichen Moment den scheinbar unerfüllbaren Herzenswunsch erfüllt zu bekommen, das Ersehnte zu erhalten und es genauso schnell wieder hergeben zu müssen! Leila war auf den Boden gefallen. Miriam hob das Buch auf und blätterte die Seiten durch. Ein Leben wie das hierin beschriebene stand vielleicht Georges Sand an, dieser furchtlosen, außergewöhnlichen Seele. Aber Miriam Mendes war keine Georges Sand. Sie war weder furchtlos noch außergewöhnlich. Und hier war Amerika, nicht Paris. Mit den Kindern in den Norden gehen und alles hier, auch André, aufgeben? Was konnte ihm und ihr je Gutes widerfahren? Weggehen, so daß er sie bei seiner Rückkehr nicht mehr vorfand? Es wäre das beste! Im Lauf der Zeit würde er sie vergessen – oder halb vergessen – und sie ihn auch, weil Männer und Frauen nun einmal so waren. Sie hatte im Leben genug gesehen und gelesen, um wenigstens das zu wissen. Bevor sie weggehen konnte, mußte sie Papa um Geld bitten, denn sie besaß natürlich kein eigenes. Ihre Aussteuer gehörte ihrem Mann. 213
Eine Frau mußte immer bitten. Nichts gehörte von Rechts wegen ihr. Papa bitten? Er wäre entsetzt. Sie sah ihn vor sich, wie er langsam die Zigarre aus dem Mund nahm und die Lippen mißbilligend verzog. Sie hörte seine Rüge: Kehre zu deinem Mann zurück und denke daran, daß du Mutter bist, daß du Pflichten und eine Stellung auszufüllen hast. »Da ist das Buch«, sagte Angie und legte es ihrer Mutter auf den Schoß. Die geliebten Märchen waren schon so oft gelesen worden, daß die Seiten herauszufallen begannen. Unbeirrbar blätterte der mollige kleine Finger bis zum Lieblingsbild, zum Lieblingsmärchen. Miriam hob das Buch hoch, um auf ihrem Schoß Platz für das kleine Mädchen zu machen. Einen Moment lang legte sie die Wange an Angies warmes, duftendes Haar. Sie erstickte fast an der aufwallenden Liebe zu dem Kind und an der Krise der vergangenen Stunde. »Die Geschichte gefällt mir so gut, weil sie gut ausgeht, Mama.« »Ach ja, das ist ein guter Grund«, antwortete Miriam. Und mit klarer, beherrschter Stimme begann sie zu lesen: »Es war einmal…« Aus dem Spiegel im Schlafzimmer blickte ihr oft ein mutloses Gesicht entgegen, ein verhärmtes Gesicht mit trockenen Lippen. Das für die Nacht aufgelöste dunkle Haar verlieh ihm einen Ausdruck wilder Verzweiflung. Die alte Angst vor dem Wahnsinn erfaßte sie wieder. Vielleicht würde sie eines Nachts den Spiegel zerschlagen, so daß die Scherben umherflogen. Ihre Lungen würden bersten von einem Schrei, in dem ihre ganze Qual lag. Der Wind würde ihren Schrei aus dem Haus und übers Meer tragen, hinauf in die rasenden hohen Luftströmungen, die ihn bis nach Europa mitnahmen, wo ihn vielleicht André hörte.
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S
eit Jahren erfüllte es Ferdinand Raphael mit Stolz, daß er die Börsenpanik von 1837 unbeschadet überstanden hatte. Die Preise auf dem englischen Baumwollmarkt waren seinerzeit plötzlich abgesackt, gefallen wie ein Stein, den man in einen Teich wirft; und wie sich dann auf dem Wasser Ringe ausbreiten, so hatte sich die Panik übers Meer ausgebreitet und New Orleans mit einer Welle von Konkursen überschwemmt. Banken hatten ihre Obligationen nicht bezahlen können, Kredite waren zurückgezogen worden, und einige der angesehensten Geschäftshäuser der Stadt hatten schließen müssen. Das Haus Raphael jedoch war ungeschoren davongekommen, hatte als eines der wenigen überlebt. Ferdinand hatte es geschafft, die verborgenen Klippen jener Zeit zu umschiffen und die gefährlichen Strömungen zu meiden; er war sogar in der Lage gewesen, Freunden zu helfen. »Erfahrung«, pflegte er zu sagen, wenn er den Erfolg zu erklären versuchte. »Vorsicht. Auch ein bißchen Wagemut. Ja, ganz bestimmt ein bißchen Wagemut.« Sein jungenhaftes Lächeln erhellte dann sein Gesicht bis zu den Schläfen. Darum wirkte es wie ein jäher Donnerschlag, als die Firma Raphael zusammenbrach. Die Stadt hatte die Depression längst überwunden. Schiffe, beladen mit Baumwolle und Zucker, drängten sich wieder im Hafen, und aus den sieben Meeren strömten Reichtümer herein. Die Weihnachtswoche wurde wie üblich mit Eiermilchbechern, Weihnachtssternen und dem Geläut der Kathedralenglocken gefeiert. Das Haus Raphael war voll. Emmas Tanten und Onkel aus Shreveport und ihre Vettern und Basen samt Kindern und Kindermädchen bevölkerten die Gästezimmer; wer keinen Platz mehr fand, wurde im St.-Louis-Hotel einquartiert. »Wir werden die Kinder zu einem Weihnachtsbesuch hinbringen müssen«, sagte Miriam. »Sie wissen zwar genau, daß es für uns kein 215
Feiertag ist, aber Papa hat Geschenke für sie, und es wäre grausam, ihm eine Absage zu erteilen.« »Nun gut, dann bringe sie hin«, erwiderte Eugene, wie sie im voraus gewußt hatte. Der Überfluß im Hause Raphael stellte dieses Jahr alles Bisherige in den Schatten. Christrosen ließen in allen Räumen ihre lieblichen Köpfchen hängen. Schöne Geschenke wurden überreicht und entgegengenommen: Persische Schals, Goldketten, belgische Spitze, Kaschmirkleider und Meißener Porzellan. An Emmas Hand funkelte ein neuer Sternsaphir. Später, nach dem Zusammenbruch, verglich Miriam den Prunk mit einem Feuerwerk, bei dem immer die letzte Rakete am lautesten kracht und am höchsten fliegt, bei dem die Sterne mit ohrenbetäubendem Zischen weit über die Bäume emporschießen, dann aber verglühen und in kleinen Aschehäufchen herabfallen. Als Miriam mit den Kindern von der Bescherung durch die festlichen Straßen heimging, kam sie nur langsam voran, weil die Kinder jeden Lichterbaum bestaunen, jede mit Kranz und Girlanden geschmückte Tür bewundern mußten. Die vom weihnachtlichen Glanz und von der Musik hingerissenen Zwillinge steckten mit ihrer Begeisterung auch ihre Mutter an, und so trafen die drei bester Laune zu Hause ein. »Schauen Sie, Papa«, rief der kleine Eugene. »Schauen Sie, was Großpapa mir geschenkt hat.« Mit Miriams Hilfe schleppte er eine schwere Spieldose an, auf der geschnitzte Pferde Karussell fuhren. »Mama hat er ein neues Armband geschenkt und Angelique…« Eugene legte seine Zeitung weg: »Gestatte mir die Bemerkung, daß dein Vater ein Verschwender und Narr ist.« Miriam mochte ihre eigenen Bedenken und Zweifel, die sie seit längerem hegte, nicht eingestehen und verteidigte Ferdinand: »Er ist ein wohlhabender Mann, und er war schon immer großzügig. Es macht ihm Freude.« »Großzügig ist er, aber nicht mehr wohlhabend. Sein Kartenhaus ist am Einstürzen.« 216
»Was soll das heißen?« rief sie. »Daß er in Bälde bankrott gehen wird.« »Das kann ich nicht glauben!« »Du kannst es ruhig glauben. Schon seit Wochen kursieren in der Stadt Gerüchte. Er versucht, seine Firmen zu sanieren, um den Bankrott abzuwenden, aber es ist zu spät, es wird nichts mehr nützen.« Miriam legte entsetzt die Hände auf den Mund. »Ich kann es nicht glauben!« Am zweiten Tag des neuen Jahres forderte die Bank von New Orleans kurz vor zwölf Uhr ihre Darlehen an das Haus Raphael ein. Die Nachricht verbreitete sich erst leise von Mund zu Mund an den Restauranttischen des Victors, dann lauter bis zu den Werften. Am Abend gab es im Vieux Carre, in der Altstadt, kein Haus mehr, das nicht von der Katastrophe wußte. Eugene kam ausnahmsweise einmal ohne Gäste heim und bestätigte die Neuigkeiten. »So etwas passiert«, sagte er, »wenn ein Mann sich für unfehlbar zu halten beginnt.« Er sprach in einem Tonfall, der irgendwo zwischen Mitleid und Überlegenheit lag. Miriam saß auf dem Sofa. Das Ehepaar befand sich im vorderen Salon, einem steifen Raum mit reicher Goldverzierung. »Was ist passiert? Wie konnte das geschehen?« fragte sie mit einer vor Schmerz rauhen Stimme. »Zum einen war er leichtgläubig. Er hat für faule Schulden seiner sogenannten Freunde gebürgt. Zum zweiten hat er einfach zuviel ausgegeben. Und zum dritten hat er spekuliert, er hat Pyramiden gebaut wie Pharao, aber die Pharaos hielten länger.« »Pyramiden? Ich verstehe nicht.« »Die eigenen Besitztümer mit Hypotheken belasten, um Geld für den Kauf neuer Besitztümer zu bekommen. Nimm den Eckstein dieser Pyramide heraus, und sie fällt zusammen. Verstehst du?« Das Tageslicht fiel von hinten auf Eugene und verlieh seiner Gestalt dunkle Wucht. Eine seiner Hände stak in der Hosentasche und klimperte mit Münzen. Diese Geste drückte lässige Sicherheit aus und besagte: ›Mir wird so etwas nicht passieren.‹ 217
»Ich habe keine Hypotheken auf meinen Besitztümern und habe auch nie in Baumwoll-Termingeschäften spekuliert. Was glaubst du, warum Judah Touro die Börsenpanik heil überstand? Weil er vorsichtig war.« »Du meinst, Papa hat überhaupt nichts mehr?« »Was glaubst du denn, was ein Bankrott ist? Nein, es ist nichts mehr übrig. Weder von seinem noch von Emmas Besitz.« »Von Emmas?« »Er hat Emmas Plantage vergrößert, dreitausend angrenzende Morgen gekauft, indem er das ursprüngliche Land mit Hypotheken belastete.« Nun klimperte in Eugenes anderer Hosentasche ein Schlüsselbund. »Als nächstes folgt die Zwangsversteigerung durch den Sheriff. Der Schoner, das Büro und die Warenhäuser kommen unter den Hammer, alle versandbereiten Baumwollballen, die Sklaven und das Haus in der Conti Street.« »Doch nicht Papas schönes Haus?!« Plötzlich schien er zu merken, wie niedergeschmettert sie war, denn er antwortete in mitleidigem Ton: »Ja, es wird dahingehen, leider.« Sie stand auf: »Ich gehe sofort zu Papa.« »Ich komme mit«, erklärte er unverzüglich. Sie wollte nicht, daß er sie begleitete – er mit seiner Macht und Tüchtigkeit. »Das brauchst du nicht. Ich gehe allein.« »Es ist meine Pflicht«, entgegnete er fest. »Ich bin sein Schwiegersohn.« Ja, dachte sie unterwegs, es ist deine Pflicht. Manche Menschen gehen auf Beerdigungen, weil es ihre Pflicht ist, in Wirklichkeit aber, weil sie sich dazu beglückwünschen, daß sie noch leben. Ferdinand saß im vorderen Salon und las Zeitung. An der Wand hinter seinem Kopf hing das Porträt der jungen Emma, die ihr Empire-Kleid trug, einen Blumenstrauß hielt und den freundlichen Blick eines Menschen hatte, dem nie Schwierigkeiten begegnet waren. Ferdinand las die Deutsche Zeitung. Bisher hatte er sie stets heimlich gelesen, weil er so sehr ein Amerikaner sein wollte, daß er sich schäm218
te, mit einem deutschen Blatt gesehen zu werden. Jetzt machte er keinen Versuch, sie zu verbergen. »Nun, Papa«, sagte Miriam und küßte ihn. Sie strich ihm über die Stirn und spürte die gegabelte Vene an seiner Schläfe unter ihren Fingern pulsieren. Er murmelte etwas, und sie zog sich voll Mitleid zurück, denn sie wußte, wie peinlich es ihm gewesen wäre, mit Tränen in den Augen ertappt zu werden. Doch er weinte nicht. In seinem Gesicht stand Überraschung, als wollte er sagen: Ich verstehe das nicht – nein, ich begreife nicht, wie mir das passieren konnte. Mir! Nach dem schnellen, stetigen Aufstieg, dachte seine Tochter, für den er mit seiner ganzen Energie gekämpft hat, angespannt bis ins Letzte, nach dem geschickten Jonglieren und Manövrieren während der harten Anfangszeit, nach den schönen reichen Jahren schließlich – soll er jetzt so enden? »Reden wir über Fakten«, sagte Eugene, das Kommando übernehmend. »Holen Sie Federn und Papier.« Eilfertig gehorchte Ferdinand, und beide neigten die Köpfe über einen Stoß Dokumente, die auf dem Schreibtisch lagen. Das war Männerarbeit. Miriam kannte kaum die Bedeutung von Wörtern wie Hypothek, Sichtwechsel oder Schuldverschreibung. Als sie sie jetzt undeutlich hörte, fielen ihr Dinge ein, die nichts damit zu tun hatten: Voriges Jahr hatte Papa mit ihren Kindern den Zirkus P.T. Barnum besucht und ihnen Luftballons gekauft. Ferdinand schaute auf: »Willst du nicht zu Emma gehen?« fragte er. »Die arme Emma. Sie ist oben in ihrem Wohnzimmer, mit Pelagie und Eulalie.« Emma lag trauernd auf ihrem lit de repos, an einen Berg Rüschenkissen gelehnt, während ihre Zofe ihr die Stirn mit Eau de Cologne abtupfte. »Mein Landsitz! Mein Land! Wie kann das sein? Gestern war es noch alles da, die vielen Morgen! Und die schönste Treppe im ganzen Staat, wußtet ihr das? Eine freitragende Treppe. Gestern gehörte alles noch mir, und jetzt sagen sie – sagen sie…« 219
Die arme Emma! Eine Tragödie, bedeutete ihr doch neben Familie die ›gesellschaftliche Stellung‹ das meiste auf der Welt. »Und zweihundert Sklaven!« Eine fallende Träne ließ auf Emmas blauem Ärmel einen nassen Fleck entstehen. »Neger, die meinen Eltern und meiner Großmutter dienten! Was soll aus ihnen werden? Was soll aus Sisyphus werden?« Mit keinem Wort jedoch tadelte sie Ferdinand. »Diese üblen Bankiers!« rief sie. »Die vielen Freunde, denen er half, die vielen Leute, die wir bewirteten – wo sind sie jetzt? Ihre Schuld ist es! Einen so gütigen Menschen ins Verderben zu stürzen…« »Unsinn, Mama«, redete Eulalie dazwischen. »Niemand ist schuld daran als Ihr Mann, Ihr habgieriger, spielsüchtiger, verschwenderischer Mann. Aber Sie hätten es schließlich wissen können, Juden sind immer…« Pelagie wirbelte zu ihrer Schwester herum: »Was sagst du da? War er vielleicht der einzige? Die halbe Stadt ging vor ein paar Jahren bei der Börsenpanik bankrott. Die halbe Stadt gibt mehr aus, als sie hat, wettet auf Pferde, spielt Karten oder etwas anderes. Und du redest von einer jüdischen Untugend!« Einen Moment lang hatte Miriam vor Empörung nicht sprechen können. Jetzt, angesichts der anständigen Haltung Pelagies, ebbte ihr Zorn ab. Und einmal mehr sah sie Eulalie klar: eine verschmähte, ungeliebte, von Ängsten erfüllte Frau. Mein Vater war ihr männlicher Beschützer, der einzige, den sie hatte, und jetzt läßt er sie im Stich. Ja, und mich auch. Jetzt bin ich dazu verurteilt, bei Eugene zu bleiben. Miriam ertappte sich dabei, daß sie die Hände rang, eine unbewußte Geste der Hilflosigkeit, die ihr verhaßt war. Sie ging hinaus. Unten auf der Veranda ließen die Christrosen, die ein trauriges Purpurrot angenommen hatten, ihre Blütenblätter zu Boden rieseln. Der Innenhof lag unter der blauen Wintersonne da wie tot. In den Unterkünften der Schwarzen herrschte Stille, das übliche Geplapper und Geschnatter erklang heute nicht. Also war die Neuigkeit 220
schon bis zu ihnen durchgedrungen, und sie überlegten angstvoll, was wohl aus ihnen würde. Miriam stand gedankenverloren am Fuß der Treppe. Sie sah ihren Vater an ihrem Hochzeitsabend, überglücklich vor Stolz auf seine Tochter und auf sein Haus. Sie sah sich selbst als Kind in der Laube sitzen und mühsam französische Texte lesen, später dann ihre kindlichen Gedanken in das weiße Satinbuch eintragen. Gretel kam gelaufen, die erste Gretel, drehte sich unter dem Maulbeerbaum um ihre eigene Achse und tappte die Erde fest, um sich ein kühles Plätzchen zu schaffen. Viel später, in einer anderen Nacht, hatte sie dort getanzt – mit dem Verlobten von Marie Claire. ›Warum sind Sie so traurig?‹ hatte er gefragt. Närrin! Närrin! Immer noch an ihn zu denken, obwohl nie etwas daraus werden kann. Nie. Eugene kam hinter ihr die Treppe herunter: »Ich dachte, du bist oben bei Emma.« »Das war ich. Aber ich ertrug Eulalie nicht mehr. Sie schiebt alles darauf, daß Papa Jude ist.« »Die dumme alte Jungfer. Diese gehässige alte Jungfer«, brummte Eugene erbost. »Kennst du das schon länger an ihr?« »Ach, es gab immer wieder kleine Dinge, meistens ungesagte Dinge.« »Alle haben von ihm genommen! Und wie sie alle von ihm genommen haben! Der Ruin ist natürlich sein eigenes Werk, aber sie haben dazu beigetragen. Ich erklärte ihm immer wieder, daß es nicht recht von ihm sei, Emmas verschwenderische Verwandten zu unterstützen. Welche Umkehr der Dinge jetzt! Und er ist zu alt, um noch einmal von vorn anzufangen.« Im Haus erklangen Stimmen, erst die Davids, dann die Gabriels. David fragte: »Ist es wirklich so schlimm, wie es aussieht?« »Ja, vielleicht noch schlimmer.« Gabriels Stimme war ernst. Die beiden Männer stiegen die Treppe zum Innenhof herunter. »Was macht Papa?« fragte Miriam. 221
»Ich drängte ihn, sich aufs Sofa zu legen und zu schlafen, wenn er kann. Er hat die ganze Nacht nicht geschlafen.« Miriams und Davids Blicke begegneten sich. Ihre Augen sprachen miteinander. Beide sahen ihren Vater vor sich, wie er einst in stolzer Pracht gekommen war, um sie zu holen; jetzt trauerten ihre Augen um ihn. »Ich werde in die Kanzlei gehen, sobald ich hier weg kann«, sagte Gabriel. »Vielleicht finde ich doch noch ein Schlupfloch, einen Weg, wenigstens irgend etwas zu retten.« Er sagte es eher zweifelnd als überzeugt. »Sie werden keinen Weg finden, das wissen Sie«, entgegnete Eugene. »Das kann nicht einmal ein so guter Anwalt wie Sie.« »Zweifellos haben Sie recht.« Gabriel seufzte. »Immerhin kann ich es versuchen.« Es gab also keine Hoffnung. Und doch, allein schon die Anwesenheit dieser beiden Männer hatte etwas Tröstliches, die Anwesenheit ihres Bruders und ihres unerschütterlich treuen Freundes. Miriam spürte die vereinte Kraft der beiden, empfand sie als eine Art Schutzmauer, an die man sich anlehnen konnte. Aber wo waren, wie Emma klagend gefragt hatte, alle die Freunde und Verwandten, die noch vor einer Woche als Gäste hier gewohnt und gefeiert hatten? Eine zweite Frage drängte sich ihr auf und versetzte ihr einen Schlag: »Wohin werden die beiden gehen, wenn sie das Haus verlassen müssen? Wo werden sie wohnen?« Eugene antwortete voll erstaunlicher Bereitwilligkeit: »Wir nehmen sie zu uns.« »Zu uns?« »Gewiß. Die einzige andere Möglichkeit wäre, daß Pelagie und Sylvain sie auf dem Landsitz der Labouisses zu sich nehmen. Aber das ist keine Lösung. Wie würde es aussehen, wenn dein Vater dorthin ginge, wo doch sein eigener Schwiegersohn ein Haus hat. Nein, wir werden sie zu uns nehmen müssen. Eulalie kann zu den Labouisses gehen, wenn sie will. Aber ich bin bereit«, fügte er etwas groß222
spurig hinzu, »sie auch aufzunehmen, trotz ihrer Vorurteile.« Ein zufriedenes kleines Lächeln huschte über Eugenes volle Lippen. Miriam sagte zögernd: »Emma macht sich Sorgen darüber, was aus Sisyphus wird.« »Oh, sage ihr, daß ich ihn für sie kaufe. Und weil ich schon dabei bin, dieses Halunkenpaar Chanute und Maxim auch. Warum nicht? Wenn ich das alles schon tue, dann richtig.« Solche Großzügigkeit verdiente Anerkennung, und Eugene wartete darauf. »Du bist sehr großzügig«, murmelte sie. Gabriel und David lächelten beistimmend. »Südstaatler sorgen für ihre Verwandten. Es ist Tradition bei uns, eine Verpflichtung«, erklärte Eugene. »Außerdem, wie würde es in der Gemeinde aussehen, wenn ich weniger täte?« »Trotzdem ist es sehr gütig von dir.« Ihre Worte klangen demütig. Und die Last ihrer riesigen Dankesschuld demütigte sie in der Tat. Es wäre viel leichter gewesen, Eugenes Großzügigkeit anzunehmen, hätte er gesagt: Ich mache das, weil mir dein Vater leid tut, weil ich ihn gern habe. Die schmale Bourbon Street quoll über vor Menschen, die den Karnevalsdienstag feierten. Kostümierte Ritter und Edelleute mit Wappenzier und Federschmuck fuhren in Wagen oder ritten auf herausgeputzten Pferden, drängten und schoben sich unter den überfüllten Balkonen zwischen den Radaubrüdern, Dirnen und Taschendieben hindurch. »Haben wir nicht genug gesehen?« fragte David mißmutig und trat aus dem Gedränge in eine Seitenstraße, um drei Betrunkenen auszuweichen. Er hatte sich von den Festlichkeiten des Karnevalsdienstags immer ferngehalten. Trotz seines Mitgefühls für die Menschheit verabscheute er Menschenansammlungen und besonders solche. Die Feiernden, geschützt durch ihre Masken, schienen ihm auf dem 223
schmalen Grat zwischen gutmütiger Festfreude und Gewalt zu balancieren. Ein zufälliger Stoß, ein erschreckt zurückweichendes Pferd konnten heftige Reaktionen auslösen. Außerdem wurde der Karneval von den Christen gefeiert. Warum übte er auf Juden derartige Faszination aus? Vermutlich steckte einfach die Fröhlichkeit an. Das war der einzige Grund, warum er dieses Jahr mitgegangen war, um seinen Vater aufzuheitern, der Aufheiterung wahrlich brauchte. »Bei Gott!« rief Eugene. »Wäre ich nicht in Begleitung von euch anständigen Herren, wüßte ich, wo ich den Rest der Nacht verbrächte!« Sie befanden sich auf der Höhe des Washington Ballroom. Menschen strömten hinein in den Lichterglanz, ebenso viele strömten heraus auf den Gehsteig und die halbe Straße. Eine Frau, die funkelnde Glasperlenketten in ihr langes schwarzes Haar geflochten hatte, war am Arm eines maskierten blonden Jünglings lachend herausgetreten. »Die schönsten Frauen der Welt«, rief Eugene, »bis auf eine. Ich habe es tausendmal von Männern gehört, die auf dem ganzen Erdball herumgereist sind…« Aus einem finsteren Winkel, in den kein Licht fiel, schoß ein Männerarm hervor, packte Eugene an der Schulter und riß ihn von den Füßen. »Der Teufel hol dich, Raphael! Du hast mich ruiniert, nicht wahr, du Schweinehund? Jetzt ist die Reihe an mir!« Eugene war schwer aufs Pflaster geschlagen. Ein Krachen, das Splittern von Glas, dann eilige, stapfende Schritte, die in der Dunkelheit verklangen. Und Eugene schrie und schrie. »Meine Augen! O Gott, meine Augen!« Die lärmende Nacht war mit einemmal totenstill geworden. Einzig die schrecklichen Schreie erklangen. »Jesus Christus!« sagte jemand. Plötzlich redeten in dem Kreis, der sich um Eugene gebildet hatte, alle durcheinander. »Was ist los? Was ist passiert?« 224
»Ein Mann hat etwas auf ihn geworfen.« »Er blutet.« »Nein, es sind seine Augen!« »Seine Augen, um Himmels willen!« »Holt schnell…« Eugene strampelte mit den Beinen, seine Füße trommelten auf das Kopfsteinpflaster. David neigte sich über ihn und zog an seinen Händen, die er krampfhaft auf die Augen preßte. »So helft mir doch! Haltet ihn fest.« Ein Mann brachte eine Laterne. »Ruhig – ruhig – Eugene«, murmelte David, während er die Augen seines Schwagers anzuschauen versuchte. Entsetzt richtete er sich auf und stieß mit bebender Stimme hervor: »Kalk! Guter Gott! Löschkalk!« Ferdinand sank auf die Knie: »Es war für mich gedacht.« Er schluchzte. »Ihr habt es gehört. Es galt mir.« »Ich hole einen Wagen«, sagte Gabriel. »Wir bringen ihn nach Hause. Es sei denn, David, du meinst, daß wir…« Eine Frau schob die Menge mit den Ellbogen auseinander: »Laßt mich durch! Ich will ihn sehen! Jemand hat gesagt, es sei Eugene Mendes.« In ihrem Satinrock kniete sie sich auf das Kopfsteinpflaster und musterte kurz den verletzten Mann. Dann hob sie ihr verängstigtes dunkles Gesicht zu David: »Ich kenne ihn. Bringen Sie ihn in mein Haus. Es ist ganz in der Nähe, nur ein Stück die Straße hinunter.« »Das ist das beste«, sagte David. »Laßt den Wagen sein, es würde zu lange dauern. Wir tragen ihn.« In dem Haus legten sie ihn auf ein Sofa und spülten ihm die Augen aus. »Mehr Wasser«, ordnete David an. »Gießt es darauf, schüttet es darüber. Mehr.« »Lassen Sie mich das machen«, drängte die Frau. »Ich sehe schon, wie es gemacht werden muß.« Ihre Hände bewegten sich behutsam. 225
Das Wasser floß aus dem Becken auf ein leuchtend rosarotes Brokatkissen. Die Frau weinte. Als Eugene stöhnte, wischte sie ihm die Augen mit dem gestickten Ärmel ihres Kleides ab. »Oh, mein Lieber, mein Liebster. Oh, mein Lieber.« Über ihren Kopf hinweg trafen sich Davids und Gabriels Blicke. Die Frau sah David flehend an: »Sind Sie Arzt? Kann man denn sonst nichts tun?« »Spülen Sie fürs erste die Augen aus, bis das Brennen aufhört. Dann werden wir sehen. Sie sind erschöpft«, sagte er mitleidig. »Lassen Sie mich weitermachen.« Fast wild schob sie ihn weg: »Nein, ich mache es.« Das pompös eingerichtete kleine Zimmer hatte sich mittlerweile mit Neugierigen gefüllt. Hellbraune Damen mit ihren schwarzen Dienern standen entlang der Wände. Ein hellbrauner Junge mit angstvollem Gesicht trat ans Kopfende der Couch. »Mama, was ist passiert?« fragte er. »Liebling, er ist verletzt. Ein schrecklicher Mensch hat ihn verletzt.« Das ist der Grund, dachte David, warum meine Schwester so unglücklich ist. Das muß es sein. »Wo waren Sie?« fragte er Ferdinand, der vor einer Weile hinausgegangen war und jetzt keuchend wiederkam. »Ich habe einem Burschen auf der Straße fünfundzwanzig Cents dafür gegeben, daß er Miriam holt, und fünfzig extra dafür, daß er rennt.« »Was haben Sie? Nach Miriam geschickt?« »Natürlich. Was ist falsch daran?« »Merken Sie denn nicht, wo wir sind?« »Würdest du mir bitte sagen, wovon du redest?« »Sehen Sie sich um, dann werden Sie es wissen.« Die junge Frau, die noch immer auf dem Boden kniete, hatte Eugenes Rechte zwischen ihre beiden Hände genommen. Als seien sie allein im Raum, küßte sie seine Handfläche, legte sie an ihre Wange, wiegte sie unter ihrem dichten Haar. 226
Ferdinand begriff; er sagte rasch: »Ich fange sie ab. Ich warte draußen auf sie und gebrauche irgendeine Ausrede – daß wir ihn gleich nach Hause bringen.« Zu spät. Miriam trat eben ein. »Ein Unfall ist passiert«, sagte David zu ihr. »Wir haben ihn hier hereingetragen, es war das nächste Haus.« »Ich weiß, der Bursche hat es mir gesagt.« Sie ging zum Sofa. Die andere Frau stand auf und machte ihr Platz. Behutsam berührte sie die Wange ihres Mannes: »Eugene, ich bin da. Ich, Miriam.« Er sprach nicht. Eine lange Minute stand sie da und schaute auf ihn hinunter. Was während dieser Minute in ihr vorging, vermochte niemand zu sagen. Ihr bewegungsloses Gesicht ließ nichts erkennen. Nur ihr rascher Atem verriet ihrem Bruder überhaupt etwas; der Arzt sah, daß sie erregt war, wie es in ihrer Situation jeder gewesen wäre. David konnte nur staunen über die Geheimnisse des menschlichen Herzens. Sein eigenes Herz schmerzte ihretwegen, die so jung und so allein da stand in ihrem einfachen Kleid, voll Würde, an einem Kummer tragend, den nur Gott kannte. Widersinnigerweise schmerzte sein Herz auch wegen der sinnlichen dunklen Frau, die mit Eugene litt und sich dessen nicht schämte. Miriam sah die andere Frau an. »Vielen Dank, daß Sie meinen Mann aufgenommen haben«, sagte sie ruhig. »Würde bitte jemand eine Bahre oder einen Wagen besorgen, damit wir ihn heimbringen können? Es ist nicht weit.« An der Tür zog sie David beiseite: »Wie schlimm ist es, David? Sag mir die Wahrheit.« David überlegte kurz und entschied: Ja, sie würde die grausame Wahrheit ertragen. Offenbar hatte sie schon einige andere Wahrheiten ertragen. Darum antwortete er unverblümt: »Er wird mit ziemlicher Sicherheit erblinden.«
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Freunde, Dienstboten und Ärzte gingen ein und aus, treppauf und treppab, brachten Geschenke und Tabletts mit Essen, flüsterten voll Mitgefühl und Neugier. Eugene lag mehrere Tage im Bett, auf Kissen gestützt. Dann setzte man ihn in einem Stuhl an das Fenster, von dem aus er früher mit kritischem Auge geprüft hatte, ob die Blumenbeete richtig gejätet und gegossen wurden. Die Hausbewohner schauten einer nach dem anderen ins Zimmer, die Dienstboten von Entsetzen überwältigt, Emma ausnahmsweise einmal sprachlos, Ferdinand schier krank vor Gram, weil er sich die Schuld an dem Unglück gab. Auch die Kinder kamen. Während der schlimmen ersten Tage hatte man sie ferngehalten. Jetzt wurde es Zeit, sie mit der Veränderung an ihrem Vater vertraut zu machen. »Es war ein Unfall«, sagte Miriam behutsam. »Jemand hat aus Versehen übles Zeug auf ihn geworfen.« Eugene hatte erklärt, mit sechs Jahren seien sie zu jung für die Wahrheit, daß es auf der Welt Menschen gab, die schlecht genug waren, um das Augenlicht eines anderen Menschen zu zerstören. »Sie kommen mit der Zeit schon selbst dahinter«, hatte er gesagt. Er nahm seinen Sohn auf das eine Knie und seine Tochter auf das andere. »Es war ein Unfall«, wiederholte er. Die Kinder begriffen nichts, sie waren einfach neugierig. Angelique legte einen Finger auf Eugenes verschorfte Wange unterhalb der Brille. »Tut es weh?« »Jetzt nicht mehr.« Der kleine Eugene fragte ihn, ob er ohne die Brille sehen könne. »Nein, mein Sohn«, antwortete der Vater ruhig. Welcher Mut! dachte Miriam. Er gestattet sich nicht einmal, daß seine Stimme zittert. Seinen Kindern zuliebe. »Und können Sie mit der Brille sehen?« »Nein, mein Sohn. Ich kann überhaupt nicht sehen.« 228
Angelique hielt ihre Hand hoch: »Können Sie meine Finger nicht sehen?« Das ging sogar über die Kraft dieses tapferen Mannes. Miriam griff ein, das Gesicht abgewandt, damit die Kleinen nicht etwa ihre nassen Augen sahen und fragten: Warum weinen Sie, Mama? »Euer Vater wird morgen oder übermorgen nach unten kommen«, sagte sie. »Der Arzt hat es erlaubt. Und ihr beide werdet ihm Gesellschaft leisten, mit ihm auf der Veranda oder im Garten frühstücken. Wäre das nicht schön? Ihr könntet ihm Blumen pflücken. Kamelien hättest du gern, nicht wahr, Eugene?« So plauderte sie; die belanglosen, verlogenen Worte plätscherten von ihrer Zunge. »Ihr beide könnt eurem Vater eine große Hilfe sein, bis es ihm besser geht.« »Dann geht es Ihnen bald wieder ganz gut«, sagte Angelique. »Nein, ganz gut nie mehr«, erklärte ihr Eugene. Die Wahrheit, hatten er und Miriam beschlossen, aber Stück für Stück und leichthin, ohne die beiden zu erschrecken. »Bald kann ich wieder herumgehen«, fügte er hinzu. »Ich werde gut zurechtkommen, ihr werdet schon sehen.« Einige Wochen später standen David und Miriam in dem stillen Garten. »Der Professor hat also das endgültige Urteil gefällt«, sagte Miriam betrübt. »Keine Besserung, wie ich von Anfang an befürchtete. Du weißt es ja.« Der Brunnen plätscherte, zu fröhlich, fand David, für ein Haus, das eine solche Bürde trug. Er legte seiner Schwester die Hand auf die Schulter: »Was ist los? Sag es mir. Dich bedrückt nicht nur das mit Eugene, auch wenn es weiß Gott schlimm genug ist. Man darf nicht alles in sich hineinfressen, Miriam, das ist nicht gut. Man muß mit irgend jemandem reden. Willst du mit mir über – über diese Frau reden?« 229
»Über sie brauche ich nicht zu reden. Über sie weiß ich schon lange Bescheid, wie du wahrscheinlich erraten hast.« Geheimnis um Geheimnis, wie die chinesische Schachtel in der Schachtel und wieder in der Schachtel… »Was bekümmert dich dann?« »Ach, vieles. Am meisten denke ich an Eugene. Wie schrecklich, nie mehr zu sehen! Nicht einmal die Gesichter seiner Kinder. Und ich denke an den armen Papa. Sein Leben ist völlig auf den Kopf gestellt. Er wird sich nie verzeihen, daß dieser Kerl, dieser Satan, wer immer er war, ihn bestrafen wollte und statt seiner Eugene traf.« »Es war nicht Papas Schuld.« »Nein. Trotzdem fühlt er sich schuldig. Ich fühle mich auch schuldig, weißt du. Eugene ist so gut zu Papa, und ich liebe ihn nicht, wie du weißt, wir bedeuten einander nichts – aber wegen meines Vaters ist er jetzt blind!« David seufzte. In der Sonne funkelte das Brunnenwasser so hübsch, die anmutigen Kaskaden waren so schön blank und glatt. Diese ganze polierte und parfümierte Pastellstadt hier wurde unter der Oberfläche immer fauliger. Miriam ließ traurig den Kopf hängen und schaute zu Boden. Er glaubte ihre Gedanken zu kennen: »Du denkst, daß du jetzt nie wegkommen wirst. Stimmt doch, nicht wahr?« »Ja«, antwortete sie so leise, daß er sie kaum hörte. »Aber realistisch war meine Wunschvorstellung nie. Das hätte ich wissen müssen.« Da muß noch etwas anderes sein, dachte er unbeirrt, sie hat mir nicht alles gesagt. Er wußte nicht, woher er das ahnte, doch er wußte es. Aber wenn es nicht diese Queen war, wer oder was dann? Erneut versuchte er es: »Und sonst willst du mir nichts sagen?« »Es gibt nichts sonst.« »Nun gut.« Er gab auf. »Ich muß Krankenbesuche machen. Einen brandigen Fuß. Also gehe ich jetzt besser.«
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Miriam sah Eugene als erste. Er war am Vormittag mit Maxim oder Chanute zu seiner täglichen Fahrt aufgebrochen, wie er es sich einige Monate nach seiner Erblindung angewöhnt hatte. Sie brauchte nicht zu fragen, wohin er fuhr. Darum überraschte es sie jetzt, ihn am Rand des Platzes auf einer Bank sitzen zu sehen, die blinden Augen dem Licht zugewandt, eine Schar Tauben zu seinen Füßen. Erstaunt schaute sie sich nach dem Wagen oder einem der Diener um, doch vergebens. Eine innere Stimme riet ihr, vorbeizugehen und Eugene in Ruhe zu lassen. Angelique rief: »Schauen Sie! Da ist Vater! Was tut er hier ganz allem?« »Laßt ihn. Er will…«, begann sie, aber die Kinder liefen bereits zu ihm. Eugene war nicht allein. Ein paar Schritte hinter ihm stand ein großer Bursche mit einem Malblock oder einem Zeichenbrett; als er mit einer anmutigen, fast weiblichen Bewegung den Tauben Körner zuwarf, wußte Miriam, wer er war. Die schreckliche Szene lebte wieder vor ihr auf: das vollgestopfte, pompöse kleine Zimmer, Eugene auf dem Sofa, gekrümmt vor Schmerzen, die leidenschaftlich weinende Frau, der verängstigte Junge am Kopfende… Ihr blieb jetzt nichts anderes übrig, als sich der Situation zu stellen. »Die Ärzte wollen, daß ich mich bewege«, erklärte Eugene gerade, »darum hat mich Pierre spazierengeführt.« Pierre hieß er also. Miriam überlegte, welchen Familiennamen er wohl benutzte. Der kleine Eugene sagte beherzt: »Ich könnte Sie auch spazierenführen, Vater. Warum haben Sie nicht mich aufgefordert?« »Du bist nicht alt genug, um mich zu führen, mein Sohn.« »Ich bin fast so groß wie er! Wie alt bist du?« fragte Eugene den anderen Jungen. »Dreizehn.« Seine Stimme war fast ein Flüstern; Ehrerbietung sprach daraus, wie aus den drei Schritten nach hinten, mit denen er dem herandrängenden siebenjährigen Paar Platz gemacht hatte. Doch sei231
ne Augen, die zwischen Miriam und den Zwillingen hin und her gingen, blickten seltsam kühn. Er weiß, wer wir sind, dachte sie. Er erinnert sich an mich, natürlich. Aber er muß schon vorher alles gewußt haben. Wie seltsam, daß sie immer alles von uns wissen, während wir nicht einmal wissen, daß sie existieren! Sie fragte sich, was Eugenes Augen wohl gesprochen hätten, wären sie in dieser peinlichen Situation den ihren begegnet. »Kommt, Kinder«, drängte sie fröhlich, »euer Vater will sich ausruhen. Kommt mit nach Hause.« Die beiden protestierten. Angelique konnte besonders eigensinnig sein: »Warum müssen wir gehen? Vater, Sie wollen doch nicht, daß wir jetzt nach Hause gehen, oder?« »Ich glaube, ihr solltet gehen. Tut, was eure Mutter sagt.« Der kleine Eugene stellte sich auf die Zehenspitzen, um auf das Zeichenbrett zu schauen. »Was zeichnest du?« wollte er wissen. »Die Tauben.« Pierre senkte das Brett und drehte es um, so daß Miriam seine Arbeit sehen konnte. Er hatte mit einfacher schwarzer Kreide vor einem weißen Hintergrund die zahllosen Abstufungen des irisierenden Gefieders eingefangen, die wogende Bewegung der Schar, das Picken und Auffliegen, das Flattern und Stolzieren. Die kleine Skizze war von verblüffender Schönheit. Miriam spürte plötzlich Weichheit in sich. Wie er da stand, so redescheu, so verlegen wegen dieser Begegnung und dennoch stolz genug, sich zu wünschen, daß sie sein Werk sahen… »Es ist bezaubernd«, sagte sie. Und ein Gefühl des Mitleids oder der Anständigkeit zwang sie, ihren Eindruck an ihren Mann weiterzugeben: »Pierre ist begabt, Eugene. Es ist keine Spielerei.« Er antwortete nicht. Sein Gesicht war rot angelaufen. »Wo hast du das gelernt?« fragte Angelique. »Ich habe Kunstunterricht.« 232
»Du kannst doch nicht in die Schule gehen«, entgegnete das kleine Mädchen. Miriam stöhnte innerlich bei dieser grausamen Bemerkung. Aber was konnte ein Kind von sieben Jahren wissen? Nur so viel, daß die Hautfarbe ein Status war. Nur genug, um zu erkennen, ohne darauf hingewiesen zu werden, wer zu den anderen gehörte, wer ein Dienstbote war und den entsprechenden Platz einnahm, der keinen Schulbesuch vorsah. »Blaise kann zeichnen«, sagte der kleine Eugene, »Blaise gehört meinem Vater und meiner Mutter. Wem gehörst du?« »Mr. Mendes«, antwortete Pierre schlicht. Seine Worte drückten eine Tatsache aus, sonst nichts. Er strich kurz über Eugenes Schulter, zog aber seine Hand sogleich zurück; offenbar war ihm rasch wieder bewußt geworden, was sich schickte und was nicht. Wahrscheinlich zufällig gezeugt, dachte Miriam. Wahrscheinlich ungewollt. Ihr zumindest schien zweifelhaft, daß Eugene diesen Jungen wirklich gewollt hatte… Sie war bedrückt, traurig, zornig und verwirrt. »Ich verlange, daß ihr jetzt mitkommt!« Ihr Ton war so scharf, daß sich die Kinder überrascht zu ihr umdrehten. Unversehens stand Eugene auf und ergriff seinen Stock. »Du findest Maxim beim Wagen«, instruierte er Pierre. »Sag ihm, daß ich zu Fuß heimgegangen bin.« Miriam fragte ihren Mann: »Bist du sicher, daß du so weit gehen kannst?« Ihre Sorge war gespielt, die Frage nur eine leere Aneinanderreihung von Wörtern, um kein Schweigen eintreten zu lassen, während sie ihn von dem Platz führte. »Ich habe mein Augenlicht verloren, nicht meine Beine.« Die Kinder waren wieder vorausgelaufen. Der Zwischenfall auf dem Platz hatte für sie keine Bedeutung, lag bereits hinter ihnen. Nach einer kurzen Pause brummte Eugene: »Los, sag schon, was du zu sagen hast. Bring es hinter dich.« »Lieber nicht.« Ihre Verwirrung hielt noch immer an. Sie wußte nicht genau, was sie empfand oder empfinden sollte. 233
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D
as Leben geht also weiter«, meinte Emma fröhlich, als sie am Frühstückstisch ihre Post las und eine zweite Einladung öffnete. Sie hatte ihre Stellung im Hause Mendes inzwischen mit bemerkenswerter Grazie akzeptiert. Eine tapfere Frau, dachte Miriam. Es gehörte echter Mut dazu, die Kunst des Nehmens zu lernen, wenn man bisher nur der Gebende gewesen war. »Glaubst du, Miriam, meine Liebe«, fragte Emma jetzt, »daß du deine Köchin überreden könntest, irgendwann biere douce zu machen? Meine Seraphina bereitete es immer für deinen Vater zu. Er mag es sehr gern, und es ist ganz einfach, wirklich, nur ein paar Ananasschalen, brauner Zucker, Gewürznelken und Reis.« »Ich werde es ihr sagen, Tante Emma.« »Danke, meine Liebe. Ach, du meine Güte, hör dir das an! Meine Cousine Grace schreibt von dieser schrecklichen Sache bei den Tremonts. Die alte Dame war eine Cousine von Grace, von der anderen Seite, nicht unserer, du erinnerst dich bestimmt. Im Bett ermordet! Von einer Horde wildgewordener Neger, die sie von Kindheit an großgezogen und ernährt hat!« »Es heißt aber, daß ihr Sohn ein grausamer Mensch ist. Angeblich hat er sie schlecht verköstigt und gnadenlos verkauft…« Ein verächtliches Schnauben Eugenes ließ Miriam verstummen. »Unsinn! Das wird immer behauptet. Abolitionistischer Unsinn!« erklärte er. »Oh, sieh an«, sagte Emma, »ein Brief von Marie Claire. Meine Güte, sie hat einen Liederabend gegeben. Ist sehr gut angekommen. Ihr Lehrer sagt ihr wachsenden Erfolg voraus. Ist das nicht erstaunlich? Ich wußte zwar, daß sie singen kann, aber ich hätte nicht gedacht… Sie haben in Paris einige interessante Bekanntschaften gemacht… Die Baronin Pontalba… Du weißt doch, daß sie aus New Orleans stammt, nicht wahr, Miriam? Ja, ihr Vater baute die Kathedrale, das Stadthaus und das Presbyterium. Er verheiratete seine Tochter mit Pon234
talba, der aus Frankreich hierher kam, und die Ehe klappte überhaupt nicht. Es ist vollkommen falsch, sage ich immer, jemand zu einer Heirat zu zwingen oder zu überreden – beides läuft im Grunde auf das gleiche hinaus. Eine solche Ehe klappt gewöhnlich nicht.« »Nein«, pflichtete Miriam ihr mit schwacher Stimme bei. Sie glaubte nicht recht zu hören, so etwas von derselben Emma, die… Nun, unwichtig jetzt. »Es gab einen Riesenskandal damals. Streit um Geld, weißt du. Ihr Schwiegervater, der alte Baron, versuchte sie umzubringen und erschoß sich dann selbst. Meine Zeit, Marie Claire schreibt, daß die Baronin zurückkommt, um auf ihrem Grundstück am Place d'Armes zu bauen. Die Perrins werden dort eventuell eine der Wohnungen kaufen, wenn sie fertig sind. Guter Gott! Sie wollen ihr Haus verkaufen!« »Wer? Welches Haus?« fragte Miriam mit der gleichen schwachen Stimme. »Na, das neue Haus, in dem sie nie gewohnt haben. Wie seltsam!« »Schreibt Marie Claire, wann sie zurückkommen?« »Laß sehen. Nein. Wegen ihrer Fortschritte haben sie im Sinn, eine Weile länger zu bleiben… Ach, André muß sehr enttäuscht sein… Er hat das herrliche Haus doch selbst geplant… Aber wenn sie an den Place d'Armes ziehen, wird Pelagie sich freuen, das weiß ich. Dann wohnen sie gleich um die Ecke von ihr. Pelagie mochte Marie Claire immer gern, obwohl sie komisch ist. Und André ist sehr angenehm, findest du nicht, Miriam?« »O ja, sehr angenehm.« »Eine Schande ist das«, sagte Eugene voll Verachtung. »Singen! Ich begreife nicht, daß er das duldet.« Eulalie nickte beistimmend, dann fiel ihr ein, daß Eugene nicht sehen konnte, und sie wiederholte: »Eine Schande.« Eulalie, die im Stadthaus ihrer Schwester lebte, verbrachte den größten Teil ihrer Zeit bei Eugene, sie las ihm vor, bediente ihn, rückte seinen Stuhl aus der Sonne in den Schatten. Eine eigenartige Beziehung hatte sich zwischen den beiden entwickelt. 235
Eugene ist Jude, aber das übersieht sie, dachte Miriam, weil er ihr erlaubt, ihm zu dienen. Er akzeptiert sie, und das hat kein anderer Mann je getan. Die beiden bildeten einen seltsamen Gegensatz, er mit seinem üppigen Bart und sie mit ihrem schütteren Haar, das so dünn war, daß nicht einmal die Kämme hielten. »Wo ist mein Sohn?« fragte Eugene jetzt. »Ich habe ihn seit heute früh nicht gesehen.« Er sagte tatsächlich ›gesehen‹. Eulalie stand auf: »Ich hole ihn für Sie.« Die Kinder, vor allem der Junge – oder vielleicht, dachte Miriam bitter, ›die Jungen‹, dieser andere auch? – waren das einzige, was Eugene noch interessierte. Ansonsten hatte er sich von allem zurückgezogen, was einst sein Leben ausgemacht hatte. Er war ein zerfallendes Schloß, eine zerbröckelnde Ruine. Seine Schweigsamkeit wirkte fast genauso beunruhigend wie früher seine Gereiztheit. Miriam versuchte ihn zu trösten, ihm in seinem Unglück beizustehen, ihm zu sagen, daß er nicht allein sei. »Laß das«, entgegnete er dann. »Du meinst es nicht ernst. Wir beide meinen es nicht ernst.« Sie protestierte: »Doch, Eugene. Für was für einen Menschen hältst du mich denn?« Sie hatte ihm vorgeschlagen, in einen Club zu gehen, den Pelican Club, wo Ärzte und Rechtsanwälte, Bankiers und Makler sich trafen, um Brag zu spielen, ein pokerähnliches Kartenspiel, und um köstliche, von einem französischen Meisterkoch zubereitete Speisen zu essen. »Die angesehensten Einwohner der Stadt gehören dem Club an«, hatte sie in einem Appell an seine snobistische Art gesagt. Und er hatte erwidert: »Ich kenne die angesehensten Einwohner der Stadt bereits. Clubs taugen für Angelsachsen. Ich bin ein Kreole, und wir brauchen keine Clubs.« Du bist ein Jude, dachte sie, kein Kreole. Aber natürlich konnte ein Jude sich ausrichten, wohin er wollte. Und Eugene hatte eben beschlossen, sich als Kreole zu fühlen. 236
Sie hatte ihm vorgeschlagen, sich jeden Morgen ins Büro fahren zu lassen. Dort konnte ihm jemand die nötigen Dinge vorlesen, und er konnte Entscheidungen treffen wie zuvor. Er hatte auch das abgelehnt: »Nein, Scofield ist ein guter Geschäftsführer. Ich lasse alles in seinen Händen.« Miriam allerdings hatte ihre Bedenken. Vorigen Monat war Scofield mit einem Dokument erschienen, das Eugene unterschreiben sollte. »Worum geht es?« hatte Eugene gefragt, nachdem seine Hand an die richtige Stelle geführt worden war und er unterzeichnet hatte. »Um nichts Wichtiges«, hatte Scofield geantwortet. »Ich mußte bei der Bank ein Darlehen aufnehmen. Nur vorübergehend, um den Monat zu überbrücken, bis London die letzte Sendung bezahlt.« Als der Mann sich verabschiedet hatte, war Miriam ihm in die Halle nachgegangen und hatte ihn aufgehalten: »Warum müssen wir ein Darlehen aufnehmen, Mr. Scofield? Das mußten wir bisher noch nie, oder?« Er hatte sie mit einem unverschämten Blick angesehen, aber höflich geantwortet: »Kein Grund zur Sorge, Ma'am. Eine allgemein übliche Geschäftspraxis. Eine Dame sollte sich wegen solcher Dinge keine Sorgen machen.« Glühender Zorn hatte sie damals erfaßt. Jetzt versuchte sie diese Gedanken zu verdrängen. »Kommst du heute nachmittag mit zu der Tempeleinweihung, Eugene?« fragte sie. »Nein, ich sehe nichts, warum sollte ich also hingehen?« Sie hatte die Ablehnung erwartet, denn er scheute es, sein Gebrechen in der Öffentlichkeit zu zeigen. Das verstand sie. Wenn das Licht in einem bestimmten Winkel auf seine Brille fiel, sah man die verschrumpelten, stumpf-weißen Augen. Von der Stirn bis zur Wange leuchtete das verätzte Fleisch häßlich rosa. In Miriam lösten sich immer wieder die gleichen Gefühle ab. Zuerst empfand sie Mitleid, dann schauderndes Entsetzen, dann Scham, eine um so schmerzlichere Scham, als Eugene nie auch nur mit einem Wort auf den Anteil ihres Vaters an dem Unglück anspielte. 237
Die Frühlingssonne fiel auf die Menschenmenge an der Ecke Canal Street und Bourbon Street. Sie beleuchtete die sechs hohen ionischen Säulen unter dem prächtigen Gebälk der einstigen christlichen Episkopalkirche, die nun, dank der großherzigen Schenkung von Judah Touro, die Nefutzoth-Yehudah-Synagoge war. Die herrliche Orgel erklang auch jetzt nach dem Ende des Gottesdienstes noch, während die Schar der Reichen und Berühmten, Juden wie Nichtjuden – die Damen mit Blumenhüten und die Herren mit Seidenzylindern – auf dem Gehsteig warteten, um die Würdenträger zu sehen. »Der Chor war großartig«, sagte Rosa. Ihre Augen ruhten voll Liebe auf ihren Söhnen: »Euer Vater wäre heute selig gewesen. Schaut, da ist Isaac Leeser, er ist eigens aus Philadelphia gekommen.« »Er wohnt bei Kursheedt. Er hat bestimmt ein Dutzend Einladungen erhalten, aber er zog ein koscheres Haus vor«, sagte David bedeutungsvoll. »Ist das nicht Touro?« fragte Miriam. In einem düsteren schwarzen Anzug stand Touro steif im Kreis seiner Bewunderer, die regenbogenfarbene Gewänder trugen. Seine tiefliegenden Augen waren schwarz, und dunkle Furchen zogen sich von seiner Nase zu den Winkeln seines strengen Mundes. Das Gespräch auf dem Heimweg drehte sich größtenteils um ihn, zumal die kleine Gruppe an dem mit Arkaden versehenen TouroBlock vorbeikam und am Flußufer die Barke Judah Touro liegen sah, bereit zum Auslaufen. »Erstaunlich«, meinte Gabriel. »Er hält jetzt sogar den Sabbat ein. Hat in seinem Alter sein Leben grundlegend geändert. Da nach scheint mir nichts unmöglich.« Miriam dachte daran, daß auch Gabriel zu den Menschen gehörte, die den heutigen Tag möglich gemacht hatten. Plötzlich empfand sie das Bedürfnis, ihm von der Angst zu erzählen, die seit Wochen in ihr nagte. Als David, Rosa und ihre Söhne auf der schmalen Bankette vorausgingen, begann sie darum: »Ich mache mir Sorgen wegen der Ge238
schäfte meines Mannes.« Sie schilderte ihm die Sache mit dem Dokument und ihre Begegnung mit Scofield. »Ich habe Angst um uns, um meine Kinder. Natürlich verstehe ich nichts von Geschäften. Ich versuche immer wieder, mit Eugene darüber zu reden, aber er hat jegliches Interesse verloren. Er hat mehr verloren als sein Augenlicht. Er hat vor allem seine Willenskraft verloren.« »Das weiß ich«, entgegnete Gabriel ruhig. »Es ist nicht recht von mir, Mr. Scofield zu verdächtigen«, entschuldigte sie sich, »ich bin sicher, er ist ein ehrlicher Mann, aber…« »Sicher? Man kann in bezug auf einen anderen nie sicher sein.« »Nun gut, ich weiß einfach nicht, was ich tun soll.« »Ich bin nur der Anwalt deines Mannes. Ich habe nicht die Befugnis, die Bücher ohne seine Erlaubnis zu prüfen. Ich habe ebenfalls versucht, mit ihm zu reden, aber wie du sagst, er hat jedes Interesse verloren. Er hat in Memphis Geschäfte laufen, Baumwolle und Bauholz, um die man sich dringend kümmern müßte.« Mit einemmal fühlte sich Miriam verloren, ihr schien, ein kalter Wind wehe durch die Nachmittagswärme. Leise sagte sie: »Es ist, als wollte er nicht mehr denken.« »Dann muß jemand für ihn denken.« »Es gibt niemand, der das kann! Bestimmt nicht mein Vater! Und David versteht von geschäftlichen Angelegenheiten weniger als nichts. Meine Kinder werden niemand haben, der sie beschützt.« »Sie haben dich.« »Mich? Was kann ich denn tun? Ich bin eine Frau.« Gabriel blieb stehen und schaute auf sie herunter. »Du kannst lernen«, sagte er ernst. »Und wer soll mich unterrichten?« »Ich werde es tun. Aber du mußt Eugenes Erlaubnis erhalten, in seinem Namen zu handeln.« Eugene gab ihr die Erlaubnis nicht: »Was?! Du willst in einem Büro sitzen und mit Männern verhandeln? Nein, ein solcher Narr bin ich nicht! Noch nicht! Ich schätze Scofield wesentlich höher ein als dich.« 239
In gewisser Hinsicht war Miriam erleichtert. Eugene hatte recht: Wie sollte sie es schaffen, mit Männern zu verhandeln? Doch die Unruhe ließ sie den ganzen Sommer über nicht los. Im Herbst erschien Scofield erneut mit Dokumenten, die Eugene unterzeichnen sollte. Miriam konnte einen raschen Blick darauf werfen, sie erkannte den Briefkopf einer Bank und war sicher, daß es sich um Darlehen handelte. Diesmal wich Scofield ihr aus, als er wieder ging; er lief fast durch die Halle. Miriam beobachtete ihn, wie er den Gehsteig entlanghastete und um die Ecke verschwand. Sie hatte das Gefühl, eine Vorwarnung vor einer drohenden Katastrophe zu erhalten. Sie lebte lange genug in New Orleans, um zu wissen, daß Vermögen viel schneller eingebüßt als verdient wurden. Reglos stand sie da und starrte auf die Straße hinaus, sah nicht das Kind mit dem Reifen, nicht den Obstkarren, nicht die beiden auf dem Gehsteig plaudernden alten Frauen, sondern nur das Schreckgespenst einer Katastrophe. In dieser Nacht hatte Angelique einen Alptraum. Ihr Schrei riß Miriam aus dem tiefen Schlaf, in dem ein gequältes Gemüt Linderung sucht. Das Kind stand im Bett, eine Puppe in den Armen. Der Schein einer Kerze machte aus ihren Augen schwarze Höhlen. »Kein Haus zum Hingehen«, wisperte sie, »kein Haus.« Miriam setzte sich aufs Bett und nahm das verängstigte Kind in die Arme. »Kein Haus zum Hingehen? Sag mir, was du meinst, Liebling.« »Ich dachte, ich stehe auf der Straße, ganz allein, und weiß nicht, wo ich hingehen soll.« »Nein, nein, du bist hier in deinem schönen Bett mit der rosaroten Steppdecke, die Tante Emma dir geschenkt hat. Deine Puppen sind da, und dein Bruder ist im Zimmer nebenan, und Papa ist unten, Großpapa auch, und wir sind…« »Aber Großpapa hat nicht gewußt, wo er hingehen soll! Sie haben ihm seinen Tisch weggenommen!« 240
Einen Moment lang überlegte Miriam verwirrt, dann fiel ihr ein, daß Emma sich über den Verlust ihrer Möbel durch die Zwangsversteigerung gegrämt hatte, besonders über den Verlust des großen Mahagoni-Eßtischs, an dem bequem vierundzwanzig Personen sitzen konnten. Zwar hatten alle versucht, das Unglück vor den Kindern zu verbergen, aber offenbar hatten die beiden es doch gespürt. Arme kleine Dinger! Die kalte Hand der Vorahnung strich über ihre Haut, und die Stimme der Angst wisperte: Es wird niemand dasein, der uns alle aufnimmt, wie wir Papa aufgenommen haben. »Du hast geträumt, Liebling. Das war ein böser, dummer Traum. Wir werden dieses Haus nie verlassen. Es gehört uns, mit allem, was darin ist.« »Aber Großpapa…« »Er ist auch hier, in Sicherheit bei uns.« Ihre Finger strichen durch Angeliques Haar und glätteten die Kringel hinten an dem kleinen Hals. »Du darfst nicht an das alles denken, weißt du. Das war etwas anderes, Angelique.« »Warum?« fragte das Kind hartnäckig. »Einfach darum. Es ist schwer zu erklären. Du mußt mir glauben. Ich beschwindle dich doch nie, oder?« »Nein.« »Siehst du. Schlaf jetzt, Liebes. Es ist alles in Ordnung, wirklich.« Als sie wieder in ihrem Bett lag, merkte sie, daß sie von der Angst des Kindes angesteckt worden war, und sie schalt sich deswegen. »Das war etwas anderes, Angelique«, hatte sie gesagt. Woher wollte sie das wissen? Oh, hör auf damit, Miriam! Mitten in der Nacht sieht alles immer schlimmer aus, das müßte dir doch klar sein. Du benimmst dich selbst wie ein Kind. Vielleicht droht gar keine Gefahr. Vielleicht gaukelt dir das nur deine krankhafte Phantasie vor. Oder vielleicht doch nicht? Ein paar Tage später holte sie darum am frühen Abend die Büroschlüssel aus Eugenes Schreibtisch und ging in die Stadt, um sich 241
die Geschäftsbücher anzusehen. Die Zahlenreihen sagten ihr absolut nichts, aber ein Brief in Scofields oberster Schreibtischschublade war mehr als klar. Er kam von der Bank of New Orleans und enthielt eine energische Zahlungsaufforderung sowie eine deutliche Warnung im Zusammenhang mit einem überfälligen Schuldschein. Das Schreiben zitterte in ihrer Hand. Langsam ging sie nach Hause, denn es widerstrebte ihr, Eugene über eine Krise zu informieren, der er sich zweifellos nicht stellen mochte. Andererseits, wer sonst sollte sich ihr stellen? Auf dem Place d'Armes kletterten und hämmerten immer noch Arbeiter am Pontalba-Gebäude herum, obwohl es bereits dunkelte. Das letzte Tageslicht färbte die Ziegel rosarot und ließ die Schnekkenverzierung der prächtigen Schmiedeeisengitter schimmern wie Lakritze. Das Beste von allem fand Verwendung in diesen Wohnungen, die für die vornehmsten Familien der Stadt gedacht waren. Hatte nicht Emma gesagt, daß André und Marie Claire hier einziehen wollten? Miriam blieb stehen. Seltsam, daß sie den alten Schmerz nicht mehr spürte, sich aber fast überdeutlich daran erinnerte, daß sie ihn einst gespürt hatte. Sie fragte sich, ob der Schmerz wiederkäme, wenn André zurückkehrte. Sie hoffte beinahe, er würde nicht zurückkehren oder zumindest nicht hier leben. Und gleichzeitig suchten ihre Augen forschend das Gebäude ab, als wollte sie erraten, welches der Fenster seines sein würde. Auf einem der Balkone im zweiten Stock kniete eine Frau und untersuchte einen Fensterrahmen. Das mußte die Baronin sein! Sie war das Stadtgespräch, seit sie aus Europa nach Hause gekommen war, um über ihre Besitztümer zu wachen. Zu diesem Zweck kletterte sie in ihren Pantalons, diesen langen Männerhosen, auf Leitern herum. Eine außergewöhnliche Frau! Man konnte nur staunen über die Energie und den Wagemut einer solchen Frau, der es offensichtlich vollkommen gleichgültig war, ›was die Leute dachten‹. Außergewöhnlich! Eugene war nicht daheim. Er hatte keine Nachricht hinterlassen, das tat er nie. Im Hause wußte man, wo er sich aufhielt. Der Bank242
brief mußte also bis zum Morgen warten. Miriam ging in ihr Zimmer, las ihn noch einmal und schlug dann die Zeitung Daily Delta auf. Der Name Pontalba stach ihr ins Auge, dahinter stand etwas von ›kluger Ausdrucksweise‹ und ›energischem Auftreten‹. Miriam überflog den Artikel rasch. ›Mit ihrer Offenheit und Schlichtheit … zählt sie zu jenen energischen Damen, die auf sich selbst gestellt und gezwungen sind, viel von ihrer weiblichen Zurückhaltung abzulegen, die sich voll Fleiß und Energie der Ernährung ihrer unversorgten Familienangehörigen widmen… Ihre sachliche, geschäftstüchtige Art…‹ Miriam legte die Zeitung beiseite. »Der Ernährung ihrer unversorgten Familienmitglieder«, wiederholte sie laut. »Von ihrer weiblichen Zurückhaltung…« Sie runzelte leicht die Stirn. »Sachliche, geschäftstüchtige Art.« Sie stand auf und begann sich auszuziehen, dachte dabei über die Baronin nach. In dem hohen Spiegel beobachtete sie, wie ihr Kleid zu Boden fiel, dann der weiße Musselinunterrock, der gefältelte Roßhaarunterrock, ein gestreifter Kattunrock, die Krinoline und schließlich der Unterrock aus Winterflanell. Die Pantalons der Baronin fielen ihr wieder ein, und ihr kam der Gedanke, diese vielen Röcke seien doch irgendwie unsinnig. In solchen Dingern konnte man kaum eine Leiter hinaufklettern, oder? Natürlich mußte sie auf keine Leiter steigen, aber… Sie griff wieder nach der Zeitung und las begierig: ›Energische Damen, die auf sich selbst gestellt…‹ An ihrem Rückgrat lief etwas auf und ab, ein Kribbeln der Erregung und Angst. Deine Kinder haben dich, sagte Gabriel. Ich werde dich unterrichten, sagte er. Warum nicht? Am Morgen ging sie zu Eugene. Er saß in seinem Ohrensessel und hielt einen kleinen Gegenstand in der Hand, drehte ihn herum, als versuche er ihn mit den Fingern zu sehen. Als er hörte, daß jemand kam, stellte er ihn sorgfältig auf den Tisch, und sie sah, daß es eine braune Tonfigur war, bemalt und gebrannt, ein ruhender Löwe. 243
»Das ist sehr gut, Eugene.« Sie zögerte einen Moment, bevor sie sanft fragte: »Von – dem Jungen?« Er nickte. »Die Farbe ist vollendet, eine Art sandiges Gold.« Sie merkte, daß er aus irgendeinem Grund nicht über das Thema sprechen mochte. Und sie glaubte, die Vielfalt, die traurige Verwirrung seiner Gefühle zu verstehen. »Ich habe da einen Brief von der Bank«, sagte sie. »Ich werde ihn dir vorlesen.« »Die Bank hat dir einen Brief geschickt?« »Sie hat ihn deinem Geschäftsführer Mr. Scofield geschickt, und ich habe ihn aus seinem Schreibtisch genommen. Nein, hör mir zu, bevor du explodierst. Hör zu.« Als Miriam zu Ende gelesen hatte, schwieg Eugene. Schock und Demütigung wechselten sich auf seinem müden Gesicht ab, das aber vor allem eine griesgrämige, graue Gleichgültigkeit zeigte. Der Weg, den sie gehen mußte, lag somit klar vor ihr. »Gibst du mir jetzt die Erlaubnis zu arbeiten? Ich werde nichts ohne den Rat von Gabriel Carvalho tun. Ich werde lernen, was ich wissen muß, wie ich einst gelernt habe, eure beiden Sprachen hier zu sprechen. Gibst du mir jetzt die Erlaubnis?« Sein Schweigen bedeutete Zustimmung. Nach ein paar Sekunden stand er auf: »Laß mir den Wagen kommen. Ich gehe aus.« »Der Wagen wartet bereits. Du fährst also zu Queen?« Eugene drehte sich zu ihr um, antwortete aber nicht. Sie sah, daß seine Wangen zuckten. »Schon gut, Eugene! Glaubst du denn, ich wüßte nicht, daß du immer noch zu ihr gehst?« Sie folgte ihm in die Halle, wo Sisyphus wartete, um seinen Herrn die Eingangstreppe hinunterzuführen. »Bitte sage Maxim«, wies sie Sisyphus an, »daß er Mr. Mendes zu dem Haus in der Chartres Street bringen soll, wohin er immer fährt. Und daß er dort warten soll, falls Mr. Mendes das wünscht.« 244
Die Anweisung war zweifellos überflüssig, weil die Fahrt längst zu den täglichen Gewohnheiten gehörte. Aber es bedeutete eine Erleichterung für sie, etwas laut auszusprechen, das bisher ein Geheimnis gewesen war. Oh, in der Küche würden sie nun etwas zu reden haben! Sie empfand Stolz, weil sie es fertiggebracht hatte, etwas offen zuzugeben, das andere vielleicht als Demütigung auslegten. Gestand man solche Dinge öffentlich ein, hörten sie auf, eine Demütigung zu sein. Außerdem hatte sie jetzt an Wichtigeres zu denken.
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ie Stadt war eben erst erwacht, als David sein Pferd in dem prächtigen Frühlicht nach Osten lenkte. Lucien folgte in dem respektvollen Abstand, den ein Diener zu seinem Herrn zu halten hatte. Die beiden Pferde gingen in flottem Trab. Davids Arzttasche hing am Sattelknauf, und zwei Pistolen baumelten schwer an seinem Gurt. Da er nie Waffen getragen hatte, war er sich ihrer Überdeutlichkeit bewußt, und er hatte sie auch nur genommen, weil Lucien es ablehnte, ihn zu begleiten, wenn er keine Waffen trug. Waffen erregten freilich keine Aufmerksamkeit. Von einem Herrn erwartete man im Süden, daß er eine Pistole, einen Dolch oder beides trug. Ein gewalttätiges Volk unter der Tünche der Höflichkeit, dachte David, während er an den Duell-Eichen hinter der Kathedrale vorbeiritt. Erst vorige Woche war er hierher gerufen worden, weil zwei hübsche Burschen einander wegen eines dummen Streits über eine Schauspielerin erschossen hatten. Gerade erst achtzehn waren sie gewesen, als ihr Blut auf den Boden geströmt und in der Erde versickert war. Lucien fürchtete heute Gefahren. Er ›spürte so etwas in den Knochen‹. David jedoch sah keinen Grund, warum die heutigen Treffen 245
anders verlaufen sollten als üblich. Zuerst sollte in einem Gasthaus eine Taktikbesprechung der führenden Männer stattfinden, getarnt als gesellige Feier. Am Abend sollte dann die Zusammenkunft mit Negerführern im Versteck in den Sümpfen folgen. An keinem der beiden Orte brauchte man Waffen. Waffen hatte er nie gewollt. Worte und Ideen waren viel wirksamer, denn letztendlich gab es gegen Ideen keine Verteidigung. Zweifellos spitzten sich die Dinge auf der politischen Ebene allmählich zu. Die Partei der Whigs war moribund, und die aufstrebende neue Republikanische Partei faßte im Norden rasch Fuß. Die Sklaven würden ihre Sache immer mehr selbst vertreten und sich zunehmend selbst verteidigen müssen. Sich selbst verteidigen?! David begriff einfach nicht, daß ein Mann wie Judah Benjamin im Senat der Vereinigten Staaten so reden konnte! Sklaven sind Besitz, sagte er; das Gesetz enthält keinerlei Recht, einen Mann seines Besitzes zu berauben. Charles Sumner mochte zwar Benjamin den brillantesten Redner im Senat nennen, und der war er vielleicht sogar, aber Redekunst und elegante Manieren hatten nichts mit Moral zu tun. Als Jude so zu reden! Benjamin war freilich kein sehr überzeugter Jude. Nach Davids Ansicht allerdings hatte ein Jude genau wie jeder andere das Recht, sich zu irren. Sogar unter den Rabbinern herrschte heutzutage Uneinigkeit, wie unter der Geistlichkeit jeder anderen Konfession. In New York oben führte Rabbi Raphall das Buch Exodus als Rechtfertigung für die Sklaverei an. Nein, sagte der Rabbi, er selbst sei kein Sklavenbesitzer, aber es sei bestimmt nicht verboten, Sklaven zu besitzen, vorausgesetzt, man behandle sie anständig und gütig. Seine Predigten wurden im ganzen Süden gepriesen und zitiert. Rabbi Einhorn in Baltimore widersprach ihm voll Heftigkeit: Das Wesentliche der Bibel müsse man befolgen, nicht ihre primitiven Bräuche. Natürlich werde die Sklaverei in der Bibel erwähnt, genau wie die Vielehe und das Königtum, was beides in den Vereinigten Staaten abgeschafft worden sei! 246
Jetzt, als sie die Stadtgrenze überquerten, schlugen die Pferdehufe leise auf Sandboden auf. Die Herbstluft fühlte sich in Davids Gesicht kühl und warm an auf seinem Rücken. Die Straße vor ihm führte zu den Eisenbahnschienen und setzte sich jenseits fort. An dem Bahnübergang zügelte er sein Pferd, blieb stehen und betrachtete das dunkel glänzende Geleise. Es gab nun eine direkte Verbindung bis nach New York. Die Linien auf seiner Stirn vertieften sich zu Runzeln. Lucien ritt heran. »Sie würden es nicht schaffen«, sagte er leise. »Sie würden an der nächsten Station erwischt. Das Schiff ist der einzige Weg, das versichere ich Ihnen.« »Ich werde nicht erwischt.« »Hoffen wir es.« Angst tröpfelte durch seine Adern. Kalte Angst. Ein Mann, der behauptet, einem schmerzhaften Tod furchtlos ins Auge zu schauen, ist ein Lügner, sagte er stumm zu sich selbst. Ich habe schreckliche Angst. Doch etwas in ihm war stärker als die Angst: sein Haß auf den Feind – auf das System, nicht den Menschen, der es in die Praxis umsetzte. Dieser Haß war so gewaltig, daß ihm schien, angesichts solcher Stärke müsse das System schwach werden, zerfallen und untergehen, bevor er selbst sterben konnte. Die Runzeln auf seiner Stirn vertieften sich noch mehr. Mit einem Schnalzen trieb er das Pferd an und rief über die Schulter zu Lucien: »Komm, reiten wir weiter, wir haben einen langen Tag vor uns.« Über dem Sumpfgebiet lag so dichter Nebel, daß man von dort, wo David stehengeblieben war, trotz des Mondlichts nur die erste Baumreihe sah. Dahinter dehnte sich die Dschungelnacht. Das stete Tropfen der Nebelnässe von den Bäumen klang fast regelmäßig, wie Trommeln oder marschierende Füße. »Schlagen Sie den Mantelkragen um Ihr Gesicht hoch«, riet Lucien. 247
»Willst du wohl aufhören, so zu flüstern? Ich verstehe dich nicht«, entgegnete David gereizt. Die Nervenanspannung machte ihn ungeduldig. Nun wurde auch Lucien ungeduldig. »Ich habe gesagt, daß Sie Ihren Kragen bis zu den Augen hochschlagen und den Hut ins Gesicht ziehen sollen. Man darf Sie nicht erkennen. Begreifen Sie das denn nicht?« »Gottlob ist es kühl«, brummte David. Er versuchte in die Schwärze zu schauen, doch der wogende Nebel verbarg alles. »Diese Stelle erinnert mich…« Er hielt inne, denn er hatte etwas von Macbeths Hexen sagen wollen, sich aber noch rechtzeitig erinnert, daß Lucien damit nichts anfangen konnte. »Ich habe nicht die leiseste Ahnung, wo die Straße ist«, knurrte er vorwurfsvoll. »Weißt du auch bestimmt, wohin wir gehen?« »Haben Sie nur Vertrauen. In fünf Minuten sind wir da.« Bald sanken ihre Füße in den Sumpfboden ein, so daß jeder Schritt zu einem Kampf gegen den starken Sog nach unten wurde. »Tut mir leid«, entschuldigte sich Lucien. »Aber je nässer, desto besser, dann spüren uns die Hunde nicht auf. Einer trockenen Spur können sie fünf Meilen oder weiter folgen, und sie haben dann immer noch Kraft genug, um einen Mann zu zerreißen.« »Ich weiß immer noch nicht, wie du erkennst, wo du bist.« »Ach, man lernt auf bestimmte Merkmale zu achten. Mein Bruder hat drei Jahre in den Sümpfen gelebt, nachdem er weggelaufen war. Er und seine Bande von zwanzig anderen überfielen nachts immer wieder Plantagen, um sich Nahrung zu beschaffen.« »Das hast du mir nie erzählt.« »Ich mochte nicht darüber reden.« »Ist er in der Gruppe, mit der wir heute zusammentreffen?« »Nein. Man hat ihn gehenkt.« Als David sich dazu nicht äußerte, fuhr Lucien fort: »Ein Abolitionist aus Illinois scharte vielleicht zweitausend Neger zu einer großen Gruppe zusammen, die Patronen und andere Munition herstellte. Aber das Sicherheitskomitee kam dahinter. Das ist das Problem, wenn die Gruppe zu groß ist. 248
Es gibt dann zwangsläufig jemand, der zuviel redet. Halt! Hören Sie?« Links von ihnen erklang das leise, gleichmäßige Rascheln vorsichtig beiseitegeschobener Zweige. Die beiden Männer warteten. Einen Augenblick später tauchte zwischen den Bäumen ein verschwommener Lichtfleck auf wie der Mond zwischen Wolken. Zuerst wurde eine Laterne erkennbar, dann der Mann, der sie trug, schließlich traten zehn Männer im Halbkreis heran, jeder mit einer schwach brennenden Laterne, so daß ein matter Schein den Boden der winzigen Lichtung erhellte. Lucien hob grüßend den Arm: »Hört her. Ich habe heute jemand mitgebracht, der zu euch sprechen wird. Fragt nicht, wer es ist. Ihr braucht es nicht zu wissen. Er ist ein Freund. Das genügt. Sonst wäre er auch nicht hier, denn es ist ein großes Risiko, wie ihr alle wißt. Ich habe versucht, ihn davon abzubringen, aber er wollte kommen. Rückt näher zusammen.« Ohne einen Laut gehorchten die Männer. David sah sich von gespenstischen weißen Zähnen und Augäpfeln umringt, die aus der Schwärze leuchteten. »Wo sind die Pferde?« fragte Lucien. Ein Mann antwortete: »Zwei gute Pferde, ausgeruht und gesattelt. Gleich hinter den Bäumen da.« »Pferde?« fragte David. »Für uns. Für Sie, falls es notwendig sein sollte. Sehen Sie, wohin ich deute? Reiten Sie direkt nach Süden. In weniger als einer Meile erreichen Sie die Straße. Wenden Sie sich auf ihr nach rechts, dann kommen Sie direkt zur Stadtgrenze.« »Aber«, wandte David ein, »was ist mit unseren Pferden im Stall des Gasthauses?« »Bitte! Wenn es Schwierigkeiten gibt, müssen Sie schnellstens hier weg«, entgegnete Lucien drängend. »Hören Sie zu! Sie nehmen den Weg, den ich gerade beschrieben habe. Für mich habe ich eine andere Strecke festgelegt. Das ist sicherer. Verstehen Sie?« 249
David nickte. Es schien, als hätten in dieser Nacht Diener und Herr die Rollen getauscht. »Verstehe«, antwortete er düster. »Gut. Dann fangen Sie an.« David trat vor: »Ich bin zu euch gekommen, weil ich den gleichen Wunsch habe wie ihr, nämlich ein besseres Leben für euch und für uns alle.« Niemand rührte sich. Die kleine Ansprache, die er nicht vorbereitet hatte, ging ihm mühelos und ganz natürlich über die Lippen, denn er sprach aufrichtig, die Worte kamen ihm aus dem Herzen. »Manchmal habt ihr bestimmt den Eindruck, daß die Veränderungen, die wir anstreben, nie eintreten werden oder zumindest nicht früh genug, damit ihr, die ihr heute lebt, noch Nutzen davon habt.« Jemand verschob eine Laterne, und das Licht fiel nach oben, so daß David das sanfte Gesicht eines alten Mannes sah, das ihn strahlend, voll Verehrung und Konzentration anblickte. Dies ist endlich meine Begegnung mit der Realität, dachte er, mit tapferem Fleisch und verletzlichen Knochen; alles davor war nur Planung und Gerede, Philosophie und Papier. Gleichzeitig aber stand er außerhalb dieser Realität und beobachtete sich in dieser unheimlichen Nacht, eine handelnde Person in einem phantastischen Traum. »Würdet ihr euch zu Tausenden weigern, für etwas anderes als für Lohn zu arbeiten, der natürlich Freiheit bedeuten würde, könnten wir einen gewaltlosen Sieg erringen…« Er machte eine Pause. In der Finsternis konnte er spüren, wie sich die Körper der Männer strafften, er konnte ihre geneigten Köpfe spüren und sogar ihr Zuhören. Die Haare auf seinem Unterarm prikkelten. Ein Hund bellte, zerriß wie ein Signal die lauernde Stille. Und fast unmittelbar darauf setzte Geschrei ein. Der Kreis löste sich blitzschnell auf. Die Männer ließen ihre Laternen fallen und verschwanden in alle Richtungen im Unterholz. Einige Sekunden später bahnten sich mehrere Reiter einen Weg zwischen den Bäumen durch, Fackeln und Pistolen schwingend. Krä250
hen, aus ihrer Nachtruhe gerissen, flatterten erschreckt auf und schrien; Hufe dröhnten und Pferde wieherten; der Wald war erwacht. Lucien und David starrten einander an wie benommen, als trauten sie ihren Augen und Ohren nicht. Dann rief Lucien: »Um Himmels willen, laufen Sie! Los!« Einige der Pferde bäumten sich auf und drohten durchzugehen. Die mit Peitschenhieben angetriebenen riesigen Tiere, die vor Schrekken zitterten, stürmten durch das Unterholz heran. »Laufen Sie!« schrie Lucien noch einmal. »Los, David! Zur Straße…« Ein Pferd wurde zur Seite gerissen, so daß es David den Weg verstellte. »David!« brüllte der Reiter. »David also ist es! Du…« Er hob seine Pistole. »Du elender Schurke!« Im Licht der Fackel blitzten die wütenden Augen Sylvain Labouisses. Haß! Tod! sagten diese wahnsinnigen Augen. David zog seine Pistole. Sylvains Schuß zischte in das Laub über Davids Kopf, sein eigener Schuß schleuderte Sylvain aus dem Sattel. »Los, weg!« schrie Lucien. »Er hat Sie erkannt!« David schwang sich auf Sylvains Pferd. »Lucien, geh zu meiner Schwester oder zu Gabriel Carvalho, einem der beiden. Ich brauche Geld. Ich will sie nicht in diese Sache hineinziehen, nur etwas Geld brauche ich.« Er trieb sein Pferd in den Sumpf. Zehn Minuten später, als er auf der leeren Straße dahinjagte, erfaßte ihn ein seltsames Gefühl – es war, als sagte eine Stimme: Das ist ein Traum, weißt du. Solche Dinge passieren nicht im Verlauf weniger Minuten. Vor nicht ganz einer halben Stunde bist du doch erst vom Abendessen in dem Gasthaus aufgestanden, hast deinen Freunden gute Nacht gewünscht und mit ihnen ein neues Treffen nächsten Monat vereinbart. Gestern hast du Patienten besucht. Und jetzt fliehst du, reitest um dein Leben. Nein, das kann einfach nicht sein. Ein Mensch wie du zieht nicht die Pistole, ohne überhaupt zu denken. Schließlich hast du bis heute noch nie eine in der Hand gehabt! Und war das wirklich Sylvain Labouisse, und hast du ihn ge251
troffen? Ihn vielleicht sogar erschossen? Da sei Gott vor! Aber er wollte dich töten! Warum bloß? Du hast ihm nie etwas getan, hast niemandem etwas getan! Du doch nicht, der du dich so um die Welt sorgst! Vielleicht allerdings ist es ein bißchen verrückt, sich so sehr um die Welt zu sorgen. Vielleicht solltest du dich um deine eigenen Angelegenheiten kümmern. Wofür hältst du dich eigentlich? Für den Messias? »Oh, mein Gott!« sagte er laut. Vor seinen entsetzten Augen stand plötzlich das gequälte, verständnislose, süße Gesicht Pelagies. Als die Tür aufging, erfaßte die Zugluft die Reste brennenden Papiers und trieb ein Häufchen verkohlter Fetzen über den Boden. »Keine Zeit, sich um das zu kümmern. Lassen Sie es«, sagte Lucien. »Ich bin fertig.« David ergriff seine Reisetasche. Mit seinem Zylinder und dem dunklen Wollschal um die Schultern sah er aus wie jeder andere bessere Herr, der eine Reise antritt. »Ich habe MacKenzies Briefe verbrannt, damit niemand in Schwierigkeiten gerät.« Fast liebevoll schaute er sich in dem düsteren kleinen Zimmer um: »Meine Bücher. Ich lasse sie ungern hier.« »Ich schicke sie dir«, sagte Miriam, »sobald ich weiß, wo du bist.« Sie zupfte seinen Schal zurecht, der nicht zurechtgezupft zu werden brauchte. »Halte dich nicht auf, David. Es geht um jede Sekunde.« Gabriel deutete mit dem Kopf auf Miriam: »Sie ist in schrecklicher Gefahr hier!« Als habe er eine plötzliche Eingebung, faßte David seine Schwester bei der Schulter: »Hör zu, du hättest nicht herkommen sollen… Aber nachdem du schon da bist, hör zu, du hast immer davon geredet, daß du weg willst… Du könntest… Lucien könnte Eugene und Angelique holen – es würde nur ein paar Minuten dauern… Wir könnten alle zusammen…« 252
»Nein!« rief Gabriel heftig. »Nein! Du bist nicht bei Sinnen. Woher willst du wissen, ob du überhaupt bis zu dem Boot kommst oder ob das Boot nicht abgefangen wird? Du willst sie doch nicht noch mehr gefährden, als du es ohnehin schon tust.« »Du hast recht, natürlich, du hast recht. Trotzdem…« »Ich könnte sowieso nicht weg«, sagte Miriam. »Wie könnte ich Papa jetzt verlassen? Und Eugene, nachdem er blind ist? Ich bin gerade dabei, die Dinge in Ordnung zu bringen.« David legte die Arme um seine Schwester: »Also verlasse ich dich erneut. Du bräuchtest mich, ich sollte da sein, dir beistehen, und ich verlasse dich.« Gram und Trauer lagen in seinen Augen, seiner Stimme und sogar in seiner rechten Hand, die ihr Haar streichelte. »Lieber David, mach dir meinetwegen keine Sorgen. Du darfst jetzt nur an dich denken. Bitte gib acht auf dich! Tue, tue keine – keine törichten, schrecklichen Dinge mehr! Ich meine – ach, ich weiß nicht, was ich meine! Aber bitte gib acht auf dich, mein Lieber.« Lucien zupfte David am Armel: »Gleich werden sie da sein, um Sie zu holen.« »Wenn du dort angekommen bist, wohin du willst, laß es mich wissen«, sagte Gabriel. »Ich schicke dir, was du für einen Neuanfang brauchst. Vorläufig hast du Geld genug. Das Boot trägt die Aufschrift ›Elsie Ann‹. Kannst du auch bestimmt segeln, Lucien?« »Ja, ja, ich kann segeln.« Lucien war schon halb zur Tür hinaus. »In Ordnung. Wenn ihr erst einmal über der Staatsgrenze und in Mississippi seid, werdet ihr es vollends schaffen.« Gabriel ergriff Davids Hand und drehte ihn zur Tür. »Guter Gott, was für eine üble Sache! Aber Gott segne dich trotzdem. Geh jetzt! Geh, hörst du?« Als die eiligen Schritte verklungen waren, stieß Gabriel einen tiefen Seufzer aus. »Was für eine üble Sache«, wiederholte er. »Gib mir den Schlüssel. Wir schließen das Haus ab, und ich bringe dich heim. Weiß jemand, daß Lucien zu euch kam?« »Nur Fanny, und sie weiß nicht, warum. Außerdem vertraue ich ihr.« 253
»Du kannst niemandem vertrauen. Du hättest nicht in das alles hineingezogen werden dürfen.« »Du hast dich hineinziehen lassen und bist nicht einmal sein Bruder.« »Man hat seine Gründe. Komplizierte Gründe manchmal«, entgegnete Gabriel sanft. »Du hast ihn jetzt zum zweitenmal gerettet, bist du dir dessen bewußt?« Gabriel lächelte. Was für ein Lächeln, dachte Miriam; es breitet sich so langsam aus, als staune sein Gesicht über die Süße seines eigenen Lächelns. Absolute Stille herrschte. Kein Blatt regte sich in der dunstigen Luft. Einen Moment lang verharrten sie, genossen die Stille nach der Anspannung der vergangenen halben Stunde. Plötzlich hob Gabriel den Arm: »Horch! Hörst du nichts?« »Nein, nichts. Doch, doch, ich höre etwas.« »Schscht. Es sind Pferde, sie kommen aus dieser Richtung. Die Royal Street herunter, glaube ich.« Das Hufgeklapper wurde lauter und kam näher. »Geh ins Haus zurück. Du kannst nicht mehr heim, dafür ist es zu spät. Sie kommen, um ihn zu holen. Versteck dich hier. Nein, warte. Warte einen Augenblick.« Gabriel lief ins Haus, sie folgte ihm. Er riß von einer Verbandsrolle auf dem Regal ein Stück ab: »Binde mir das um den Kopf, übers Ohr. Mach einen dicken Verband, und fest. So ist's gut.« Verwundert, mit wild klopfendem Herz und einem vor Angst trokkenen Mund gehorchte Miriam. »Nun hinaus. Geh in den Innenhof!« »Wohin? Wohin?« rief sie, plötzlich von Panik erfaßt. »Irgendwohin. Sei still und rühr dich nicht, was auch passiert.« Die Pferde waren in die Straße eingebogen, rufende Männerstimmen waren zu hören. 254
Miriam schlüpfte zwischen die Sträucher hinter dem Abtritt und duckte sich in ihre Röcke. Gabriel hatte eine Kerze angezündet. Durchs Fenster konnte sie ihn sitzen sehen, den verbundenen Kopf hatte er auf die Stuhllehne gelegt. Sie hörte, daß an die Eingangstür gehämmert wurde, sah ihn aufstehen und drei zerzauste, erregte Männer einlassen. »Wo ist der Doktor?« »Ich wünschte, ich wüßte es. Ich warte auf ihn«, antwortete Gabriel jammernd. »Ich habe höllisches Ohrenweh.« »Kenne ich Sie nicht? Sie sind der Anwalt, nicht wahr?« »Ja; Carvalho. Gabriel Carvalho. Und Sie?« »Lloyd Morrissey. Sind Sie schon lange hier?« »Etwa eine Stunde. Was ist los? Was ist passiert?« »Eine Menge. Auf Sylvain Labouisse ist geschossen worden. Raphael hat auf ihn geschossen.« »Dr. Raphael? Hören Sie, ich wußte gar nicht, daß er eine Waffe trägt. Ein so friedfertiger Mensch, er…« »Es war Raphael, bestimmt. Er hat Labouisse aus dem Sattel geschossen.« »Das kann ich nicht glauben. Ist Labouisse schwer verletzt?« »Schwer verletzt? Er ist tot.« »Aber der Diener, der mich einließ«, entgegnete Gabriel unbeirrt, »sagte doch, der Doktor sei seit Stunden weg. Bei einer Geburt, einem komplizierten Fall. In der North Rampart Street sagte er, glaube ich. Aber ich habe, ehrlich gestanden, nicht genau zugehört. Mein Ohr tut so weh…« »Der Diener hat Sie angelogen. Er ist nicht weg, um einen Krankenbesuch zu machen, er verschwindet aus der Stadt.« Einer der anderen rief: »Komm schon, Morrissey, um Himmels willen. Wir schwärmen aus, einer von uns erwischt ihn dann schon.« Die Tür fiel krachend ins Schloß, und erneut trat Stille ein. Miriam wartete, bis sie Gabriel leise rufen hörte: »Komm schnell. Die Männer jagen ihn straßauf, straßab. Folge mir, halte dich nahe an den Hauswänden.« 255
Wolkenfetzen segelten vor den Mond und verdunkelten die Straße, sie glitten am Mond vorbei, und sein silbernes Licht beleuchtete wieder den Gehsteig. »Man darf dich nicht sehen«, flüsterte Gabriel über die Schulter zurück. »Geh so schnell und so leise du kannst. Man weiß selbst um diese Zeit nie, wer noch wach ist. Tod und Teufel«, hörte sie ihn murmeln, während er vor ihr durch die Straßen schlich. Obwohl er geduckt ging, warf er einen riesigen Schatten. Wie verhaßt ihm das alles sein muß, dachte Miriam, es widerspricht völlig seiner Natur. Trotz ihrer Angst und Angespanntheit kam ihr der Gedanke, daß Davids Notruf und die Enthüllung dessen, was er getan hatte, zwar als plötzlicher Schock kamen, aber bei genauerer Überlegung eigentlich nicht überraschten, denn die Dinge, die zu seiner Tat geführt hatten, lagen in seinem Charakter begründet. Doch daß Gabriel etwas so Unvorsichtiges, Gewagtes tun würde, war einfach unglaublich! Dennoch war er hier, stark und sehr beeindruckend in dieser kritischen Situation. Sie wußte, während sie hinter ihm ihrem Heim entgegeneilte, daß er sie sicher dorthin bringen würde; für sie würde er es schaffen, genau wie er vorhin Davids Rettung geschafft hatte. Sie hörte ihn flüstern, als sie um die letzte Ecke bogen: »David müßte inzwischen auf dem Fluß sein. Die Zeit hat gerade noch gereicht, da bin ich ziemlich sicher. Und dem Himmel sei Dank dafür.« Die düstere Prozession bewegte sich vom cabildo, dem Stadthaus, zur Kathedrale, um Sylvain Labouisse zu ehren und seine Wohltaten für die Bürger zu würdigen. Alles war still. Alles war schwarz. Sechs Pferde mit schwarzen Decken und Federbüschen zogen den schwarzen Leichenwagen; der Himmel über dem Sarg war mit schwarzem Tuch verhängt. Nur die weißen Chrysanthemen auf dem Sarg und die weiße Taube, die am Wagenhimmel hing, hellten das Schwarz auf. 256
»Das erinnert mich an den Gedenkgottesdienst für Lafayette«, flüsterte Rosa. »Das war '34. Natürlich führten sie damals statt eines Sargs eine Büste von Lafayette mit. Aber das heute ist genauso feierlich.« Verärgert über ihr Geplauder, trat Miriam nach vorn. Weil Frauen nicht auf Beerdigungen gingen, standen sie vor der Kathedrale auf den Stufen. Genaugenommen hätten sie nicht einmal hierher gedurft, aber Rosa war neugierig, und Miriam hatte ihren Vater begleitet, soweit es ging. Sie wollte in der Nähe sein, wenn er herauskam. Der arme Mann war fast krank vor Schock. Miriam hatte versucht, den Schlag zu mildern und irgendwie der gräßlichen Scham entgegenzuwirken, die er empfand und die sie aber in geringerem Maße ebenfalls verspürte: »Sylvain hätte ihn auch getötet, Papa. Bedenken Sie das.« »Es ist allein Davids Schuld! Wäre er nicht dorthin gegangen und hätte er sich nicht in diese schmutzigen Angelegenheiten hineinziehen lassen…« »Papa, überlegen Sie doch. Die ganze Tragödie ist aus Davids Überzeugungen erwachsen, aus seinen ehrlichen Überzeugungen. Es war keine schmutzige Angelegenheit. Sie müssen zugeben, daß er aufrichtig gehandelt hat.« Er hatte ihr einen so empörten, gequälten Blick zugeworfen, daß sie verstummt war. Welche Enttäuschungen Väter doch mit ihren Söhnen erlebten! Armer Papa! Einmal mehr in die Knie gezwungen, als habe der finanzielle Ruin nicht gereicht! Ob ihm die anderen Davids Tat anlasteten oder nicht – Miriam hatte das sichere Gefühl, daß keiner es tat außer der vor Zorn rasenden Eulalie –, Ferdinand glaubte, sie täten es, und würde das wahrscheinlich zeitlebens glauben. Sie sah ihren Vater durch das offene Portal in der letzten Reihe sitzen. Er war als letzter hineingegangen, um nach Möglichkeit nicht gesehen zu werden. Was er wohl sagen würde, überlegte sie, wenn er von ihrer Rolle bei der Flucht ihres Bruders erführe? 257
Ruhig Blut, ruhig Blut, befahl sie sich. Denke an etwas anderes. Genau vor ihr, am anderen Ende des Kirchenschiffs, funkelte der juwelenbesetzte Altar. Ihre Augen glitten über die goldene Schrift in der Kuppel. Auf einem Wandgemälde verkündete König Ludwig von Frankreich den Beginn des Siebten Kreuzzuges. Schwerter und Blut! Beim Zug durch Europa brennende Juden in engen, gedrängt vollen Straßen… Genug! Hier und heute floß genug Blut, man brauchte nicht Jahrhunderte zurückzudenken. Nein, hatte David am Tag nach seiner Rückkehr in Beau Jardin gesagt, eine Frau würde nicht in das Leben passen, das er zu führen gedenke. Und noch viel früher, vor langer Zeit in Europa, hatte ihr Großvater halb stolz und halb verärgert darauf hingewiesen, wie eigensinnig David sei, wenn er von der Richtigkeit einer Sache überzeugt war. Wer weiß schon, was richtig ist? Die Flammen an den Spitzen der Kerzen zittern. Die ganze Welt zittert. »Du nimmst es sehr schwer«, sagte Rosa voll Güte. »Niemand gibt dir eine Schuld daran.« »Das ist es nicht. Ich denke an Pelagie.« Und das tat sie auch. Die Orgel verströmte Trauerklänge. Die Männer in ihren Trauermänteln und Zylindern kamen aus der Kathedrale. Als Ferdinand und Eugene am Bordstein in ihren Wagen stiegen, trat Gabriel zu Miriam. Sein Blick sagte: Diese eine Erfahrung teilen wir. Ruhig fragte er: »Geht es dir gut?« Vermutlich sehe ich aus wie der wandelnde Tod, dachte sie und antwortete: »Ich gehe zu Pelagie.« »Katholische Frauen warten hier neun Tage, bevor sie Kondolenzbesuche machen«, rief ihr Rosa ins Gedächtnis. »Ich bin nicht katholisch, und ich muß sie sehen.« Rosa legte Miriam die Hand auf den Arm. »Vielleicht will sie dich nicht sehen«, entgegnete sie sanft. 258
»Genau das muß ich wissen.« Sie war wieder acht Jahre alt, stand in dem oberen Schlafzimmer, und Pelagie sagte: Du wirst eine Schönheit werden, mein Liebes, und dein Papa wird dir Diamanten für deine Ohren kaufen. Die Eingangstür war mit grauem Krepp verhängt, und während Miriam den Klopfer betätigte, fiel ihr ein, daß Lavendel und Grau die Trauerfarben für verheiratete Menschen waren, ausgenommen alte. In der Türmitte hing ein Kranz aus schwarzen Glasperlen mit einer Strähne von Sylvains Haar unter einer Samtmasche. Diese vielen Sitten und Bräuche, dachte sie. Wir alle halten sie ein, jeder auf seine Art, um unsere Trauer zu lindern. Aber lindern sie den Schmerz? Wie soll ich das wissen? Ich habe noch nie solchen Schmerz erlebt wie Pelagie. Ein Dienstbote öffnete die Tür und verschwand. Miriam stand in der Halle, nicht wissend, wohin sie sich wenden sollte. Halbdunkel herrschte. Die Jalousien waren heruntergelassen, und den riesigen Spiegel bedeckte ein Tuch. Die Uhr unter der Treppe zeigte Viertel nach neun; man hatte sie zu Sylvains Todesstunde angehalten. Um neun Uhr fünfzehn abends hat mein Bruder in einem verlassenen Sumpfgebiet… Sie richtete sich auf und ging erhobenen Hauptes in den Salon. Pelagie saß zwischen Emma und Eulalie auf dem Sofa. Unter ihrem schwarzen Rock wartete ein weiteres Kind darauf, geboren zu werden, bestimmt das letzte, denn wer würde eine Witwe mit acht Kindern heiraten? Bei Miriams Eintritt schauten die drei Frauen auf. Die Mutter und die Schwester der Witwe fragten einander mit Blicken: Was will sie hier? Eine endlose Minute lang verharrten Miriam und Pelagie reglos. Dann stand Pelagie schwankend auf, und Miriam eilte mit ausgebreiteten Annen zu ihr. Gerührt durch die Wärme lebendigen Fleisches, beweinten sie voller Traurigkeit zusammen die Toten und vergaben den Lebenden.
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Noch bevor Miriam den Umschlag öffnete, der Davids Handschrift und einen New Yorker Stempel trug, zerbröckelte die Angst, die seit einem Monat wie ein kalter Stein in ihrem Inneren gelegen hatte. Außer ihr war gerade niemand zu Hause, darum blieben ihr das zornige Schweigen und die zornigen Worte erspart, die auf jede Erwähnung Davids folgten. Sie konnte gar nicht schnell genug lesen; zwischen den Zeilen sah ihr geistiges Auge ständig in großen, flammenden Buchstaben das eine Wort: Gerettet! »Im Hafen fanden wir ein Segelboot«, schrieb David diskret. Zum erstenmal im Leben mußte ich etwas nehmen, das mir nicht gehörte. Wir schnitten das Boot los und wandten uns flußabwärts. Lucien kann ausgezeichnet segeln und der Wind war günstig, aber trotzdem hätten sie mich beinahe erwischt. Fünf Minuten später wäre es zu spät gewesen, und ich würde Dir diesen Brief nicht schreiben. Wir waren erst wenige Meter draußen, als wir von der Anlegestelle Rufe hörten. Fackeln leuchteten. Der Anblick so vieler Fackeln in einer finsteren Nacht ist erschreckend. Nach den Lichtern und den Stimmen zu schließen, müssen es ein Dutzend oder mehr Männer gewesen sein. Sie sahen uns nicht. Auf dem Wasser war es glücklicherweise stockdunkel, und im Hafen lagen zahllose Schiffe vor Anker. Trotzdem, es ist ein Wunder, daß sie das Hämmern meines Herzens nicht hörten… … weil wir weder etwas zu essen noch Wasser hatten, begann ich mir Sorgen zu machen. Als wir um die Mitte des Vormittags in den alten Piratenhafen an der Barataria Bay kamen, beschloß ich, das kleine Risiko einzugehen, Lucien an Land zu schicken und soviel einkaufen zu lassen, daß es uns wenigstens für die lange Segeletappe nach Mississippi reichte… Wir fuhren also zwischen Cat Island und dem Paß Christian durch, und ich dachte an das zurück, was Du mir über Deine Sommeraufenthalte am Paß geschrieben hattest. Ich scheute es, dort anzulegen, weil
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ich fürchtete, jemanden zu treffen, der mich aus New Orleans kennt… … landeten wir schließlich in Pascagoula, wo Lucien ein paar alte Zeitungen aus New Orleans auftrieb, und so erfuhr ich, daß Sylvain tot ist, was ich trotz meiner inständigen gegenteiligen Hoffnung von Anfang an befürchtete. Ich nahm meine schreckliche Trauer und Schuldlast mit auf die Zugfahrt nach Mobile, wo wir umstiegen und nach Norden weiterfuhren… Lucien versichert mir immer wieder, daß ein Mensch, der in Notwehr tötet, keine Schuldgefühle haben muß. Das klingt einleuchtend, trotzdem habe ich sie… Nun bin ich also wieder an der Arbeit, gestern habe ich meine kleine Praxis eröffnet. Ich hoffe, daß meine Tat der Familie nicht zu viele Schwierigkeiten eingetragen hat. Unser armer Vater! Ich scheine dazu verurteilt, ihn zu verletzen. Und Dich. Ich liebe Dich so sehr und mache mir Deinetwegen Sorgen; Du hast schon Probleme genug, ohne daß ich Dir noch mehr auflade, Liebes. Bitte verzeih mir. Aber ich bin, wie ich nun einmal bin… »Ich habe einen Brief von David bekommen«, sagte Miriam später am Tag zu Emma. »Vielleicht möchten Sie meinem Vater mitteilen, daß er in New York und in Sicherheit ist. Ich kann nicht mehr darüber sprechen.« Eine Weile danach erschien Emma, um zu berichten: »Er hat kein Wort gesagt, aber sehr erleichtert ausgesehen. Ein Vater ist schließlich ein Vater.« Richtig. Sein Zorn würde vergehen. Sein Schmerz blieb vielleicht, aber sein Zorn würde im Lauf der Zeit verfliegen. Ferdinand war kein Mensch, der ewig zürnte.
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G
abriel Carvalho ließ das Hauptbuch zufrieden zuklappen und lehnte sich auf dem Sofa zurück. Miriam und er gingen den vierteljährlichen Rechnungsabschluß von Mendes and Company oft in Rosas gemütlichem Salon durch, verbanden das Geschäftliche mit einem Besuch Miriams bei Rosa. »So«, sagte er, »gute Arbeit. Mendes ist solvent. Sehr sogar, würde ich sagen.« »Nur dank dir.« »Keineswegs. Du begreifst und lernst großartig.« Das stimmte. Miriam staunte über sich selbst. Nachdem Scofield durch einen ehrlichen, klugen jungen Geschäftsführer ersetzt worden war, den es nicht störte, für eine Mrs. statt einen Mr. zu arbeiten, hatte sie gewissermaßen wieder ›die Schulbank gedrückt‹ und es aufregend gefunden. Gewarnt durch Ferdinands Bankrott und Eugenes Verhalten, hatte sie die von Scofield angehäuften Schulden so rasch wie möglich abbezahlt. Vor kurzem hatte sie sogar begonnen, in Immobilien zu investieren, in erstklassiges unbebautes Land entlang der Eisenbahn. Wenn die Stadt wächst, hatte sie sich gesagt, werden Bahnlinien immer wichtiger, sie müssen es werden. Und Geschäftsführer Sanderson hatte ihr beigepflichtet. »Ich habe eine Idee«, sagte sie jetzt und verstummte. Es fiel ihr wesentlich leichter, ihre Gedanken vor Sanderson zu äußern als vor Gabriel. Zwischen ihr und ihm gab es zuviel Unausgesprochenes. Da war die Sache mit David, und da war Eugenes höhnische Bemerkung, die er zwar zurückgenommen, die sie aber nicht vergessen hatte: Er kann den Blick nicht von dir wenden. In Wahrheit schaute er sie nur selten an; hatte er den Kopf nicht über irgendwelche Dokumente gebeugt, blickte er auf die Wand hinter ihr. Zweifellos entsprang sein Verhalten keiner Schüchternheit; er war viel zu selbstsicher, um schüchtern zu sein. Im Grunde war er abweisend, freundlich, aber abweisend. Bei ihm fragte man sich, 262
ob er und eine Frau – was er und eine Frau… Ihre Gedanken gerieten ins Stocken vor Scham. Bei André andererseits war alles klar, klar und lebendig; ihn konnte man sich vorstellen… »Was für eine Idee hast du denn?« Sie holte ihre Idee wieder ins Bewußtsein: »Ja, ich überlegte, ob du meinst, daß wir Sanderson eine Beteiligung anbieten sollen. Es wäre für ihn ein größerer Ansporn, und er hätte mehr Interesse als jemand, der nur ein Gehalt bezieht.« »Und ich überlegte, ob ich dir das nicht vorschlagen soll. Du bist mir einen Schritt voraus. Bald werde ich laufen müssen, um mit dir Schritt zu halten.« »O nein, es gibt soviel, was ich nicht verstehe! Dieses ganze Geschäft mit Bankaktien. Sanderson versuchte es mir zu erklären.« »Warum sie eine gute Investition sind? Weil Banken in unserer Wirtschaft außergewöhnlich stark sein müssen. Die Plantagenbesitzer brauchen hohe Darlehen, um sich zwischen den Ernten flüssig zu halten.« »Warum fällt es ihnen so schwer, flüssig zu bleiben?« »Sie müssen modernisieren. Es kostet Geld, eine Plantage zu betreiben. Eine Zuckerrohrmühle kostet allein schon fünftausend Dollar. Dann müssen die vielen Sklaven ernährt werden. Außerdem geben die Pflanzer das Geld leicht aus, sie leben von einer Ernte zur nächsten.« »Kreolen sind so verschwenderisch!« »Inzwischen nicht mehr. Heute haben nicht mehr sie, sondern die Amerikaner das große Geld. Die Kreolen mußten den Gürtel enger schnallen. Nur wenige von ihnen erinnern sich an die Zeit, als es noch Landsitze wie das Versailles von Valcour Aime gab.« »Das ist auch gut so. Ich war einmal dort, es hat mich angewidert. Ich weiß noch, wie sich Eugene ärgerte, weil ich nicht beeindruckt war.« Miriam hielt inne, schien zu überlegen, ob sie weitersprechen sollte oder nicht. »Ich würde gern Beau Jardin verkaufen. Ich mochte es nie.« 263
»O nein!« rief Rosa, die still an einem Stickrahmen gearbeitet hatte. »Nicht diesen schönen Besitz!« »Doch. Ich würde gern alle Sklaven freilassen und es losschlagen. Jedesmal, wenn ich dorthin komme, verabscheue ich es noch mehr. Ich fahre an den Feldern vorbei, auf denen die Leute arbeiten, und denke: Diese Frau da mit dem Kind auf dem Rücken ist für tausend Dollar gekauft worden, und dieser Mann, der den Maultierwagen fährt, für fünfzehnhundert. Das ertrage ich nicht.« Stille herrschte im Raum. Rosas Schweigen war mißbilligend, das wußte Miriam. Jenes Gabriels war vielleicht auch mißbilligend, aber etwas an ihm gab ihr die Freiheit, ihre Gedanken zu äußern. Also fuhr sie fort: »Es ist schwer, meine Gefühle mit dem in Einklang zu bringen, was ich über die Menschen weiß, die ich so gut kenne. Eugene ist schließlich kein Schurke.« »Nein«, sagte Gabriel, »das ist er nicht.« »Er ist nur wie alle anderen. Er lebt hier und tut, was alle anderen tun. Das verstehe ich.« Von der Straße drang eine Stimme zu den offenen Fenstern herein: »Artischocken! Feigen! Kantalupen!« »Der Gemüsemann«, sagte Rosa. »Hast du schon Feigen von ihm gekauft? Dieses Jahr sind sie besonders gut.« »Dieser alte Mann«, sagte Miriam, ohne auf die Frage einzugehen, »ist dabei, sich freizukaufen, seit ich ihn kenne. Sein Herr muß durch seine Verkäufe gut zwei- oder dreitausend Dollar im Jahr verdienen. Oh, wie ich das hasse, je mehr ich davon sehe!« Gabriel fragte: »Was hält Eugene von einem Verkauf Beau Jardins?« »Natürlich sieht er die Dinge völlig anders als ich. Er will nichts davon hören. Niemand sieht sie so wie ich, außer David, und sogar er schreibt mir jetzt, daß wir den Landsitz möglicherweise als Zufluchtsstätte bräuchten, wenn Krieg ausbricht. In den zwei Jahren seit seinem Weggang ist er immer pessimistischer geworden.« »Wenn Krieg ausbricht?« rief Rosa. Voll Mitleid dachte Miriam: Ihre Söhne müssen dann einrücken. 264
»Ja«, antwortete sie, »David glaubt, daß er sich nicht abwenden läßt. Er schreibt, es sei nur eine Frage, wann, aber nicht ob er ausbricht.« »Das verdanken wir Leuten wie ihm!« entgegnete Rosa scharf. »Wie gescheit war er doch die ganze Zeit, während er hier lebte! Wer hätte ahnen können, was er in Wirklichkeit tat?« Ihre Worte klangen schneidend: »Ein Wunder, daß er unversehrt davonkam.« »Die Gemüter sind derzeit ziemlich erhitzt. Es empfiehlt sich, vorsichtig zu sein«, sagte Gabriel, und Miriam begriff, daß diese Warnung nicht an seine Schwester, sondern an sie gerichtet war. »Unlängst abends bei der Versammlung unseres Unterstützungsvereins für jüdische Witwen und Waisen hätten sich einige der Männer fast geprügelt.« »Wir Juden sollten uns aus der Politik heraushalten«, erklärte Rosa. »Unsere eigenen Angelegenheiten beschäftigen uns genug. Schaut nur dieses Durcheinander im Albany Temple in New York an, die Orthodoxen bekämpfen dort Rabbi Wise wegen der Frauenrechte!« Miriam entgegnete: »Es tut mir leid, aber darin kann ich dir nicht beistimmen.« »Auf beiden Seiten peitschen Agitatoren die Leute zu sehr auf«, sagte Gabriel ruhig. »Ich gehe mit Isaac Leesers Artikel im American Jewish Advocate einig. Leeser meint, die Juden sollten sich als Friedensstifter in der Mitte halten.« »Es ist sehr schwer, in der Mitte zu bleiben, wenn man Überzeugungen hat«, wandte Miriam ein. »Habt ihr Onkel Toms Hütte gelesen? David hat es mir aus New York geschickt. Im Norden sind schon mehr als eine Million Exemplare verkauft worden.« »Ich habe einen Blick hineingeworfen«, antwortete Rosa. »Ein Sensationsbuch, sonst nichts. Es ist schändlich übertrieben, und das mußt du doch wissen, Miriam.« »Aber man muß oft übertreiben, um etwas durchzusetzen.« Rosas Stimme wurde schrill: »Ich hätte gedacht, daß du dieses elende Thema meiden willst, Miriam. Du hast also Überzeugungen, aber mir scheint, du hast schon Probleme genug und brauchst nicht noch 265
mehr. Wenn du nichts dagegen hast, gebe ich dir einen Rat: Rede bloß nicht vor der Familie deiner Stiefmutter so. Ich hoffe, du tust das nicht. Offen gesagt, ich finde es großartig, daß keiner von ihnen dich je gedemütigt hat. Nicht daß du etwas dafürkonntest, aber trotzdem, er ist dein Bruder, und allein schon dein Anblick muß sie ständig an die Sache erinnern.« »Du weißt doch, daß ich nirgends außer hier über diese Dinge spreche«, entgegnete Miriam ziemlich hitzig. »Nun gut«, brummte Rosa. »Uns hier im Süden schiebt man die ganze Schuld an der Sklaverei zu, während die im Norden die Zölle und Gebühren erhöhen und die ganzen finanziellen Vorteile genießen.« »Vorteile?« wiederholte Miriam. »Ja. Geld kassieren.« Gabriel schaltete sich ein: »Alles Reden auf der Welt ändert nichts an der Tatsache, daß unser System ein Ende finden wird, gleichgültig, welche Seite siegt. Das sage ich immer wieder.« »Dann bist auch du überzeugt, daß es Krieg gibt?« rief seine Schwester. »Die ›Zeichen stehen an der Wand‹. Die Republikanische Partei schafft gerade Voraussetzungen, um einer Ausweitung der Sklaverei in die Nordterritorien entgegenzuwirken. Der nächste Schritt ist, sie in den Südstaaten abzuschaffen.« Rosa fragte entgeistert: »Und du glaubst, daß sie ein Recht haben, das zu tun?« »Nein, ich glaube nicht, daß die Bundesregierung ein gesetzlich verankertes Recht hat, das zu tun. Das wäre eine Einmischung in Angelegenheiten, die unter die Zuständigkeit der einzelnen Staaten fallen.« »Wie würdest dann du die Sklaverei abschaffen?« fragte Miriam. »Das müssen die Staaten selbst tun. Und im Lauf der Zeit werden sie es auch tun, wenn nicht von außen eingegriffen wird.« »Im Lauf der Zeit…«, wiederholte Miriam. 266
»Unterdessen«, fuhr Gabriel fort, »ist das Landesrecht das gültige Recht.« »Du redest wie ein Anwalt, pflegte David immer zu sagen.« Miriam lächelte, in dem Versuch, die geladene Atmosphäre zu entspannen. Gabriel erwiderte das Lächeln nicht. Er stand auf und stützte sich mit den Händen auf die Stuhllehne. Dann sprach er leise, versonnen, wie zu sich selbst: »Manchmal wünschte ich, kein Anwalt zu sein. Ich wünschte, ein Musiker oder Mathematiker zu sein, mit Abstraktem zu tun zu haben. Alles ist dort vollkommen klar und sauber. Ich würde« – er machte eine ausholende, schroffe Handbewegung – »ich würde alles Emotionale ausradieren. Nur Fakten, nichts als Fakten.« Er schaute zum Fenster hinaus, wo eine Biene in den Hängeglyzinien summte. »Und manchmal meine ich, daß ich gern nach Kalifornien ginge. Nicht wegen des Goldes, das interessiert mich nicht, sondern um etwas Neues anzufangen. Ich würde die Sea Witch nehmen und um Kap Horn fahren.« Ein verträumtes Lächeln huschte über sein Gesicht. Er schien das Gefühl zu haben, in böigem Wind auf hoher See am Bug der Sea Witch zu stehen. »Sie hat einen Rekord aufgestellt, die Seehexe, wißt ihr, siebenundneunzig Tage von New York nach San Franzisco…« Er brach ab und legte die Hand auf die Schulter seiner Schwester, die ihn ängstlich ansah: »Keine Sorge, ich werde dich nicht verlassen, nicht bevor deine Jungen erwachsen und selbständig sind.« »Laß uns von fröhlicheren Dingen reden«, entgegnete Rosa. »Gut, meine Liebe. Du fängst an«, sagte Gabriel. »Nun«, begann sie munter, »hat einer von euch vor, sich Le Roi David anzuhören? Zauberhafte Musik! Ich habe sie einmal gehört. Stellt euch vor, dieser Junge ist erst fünfzehn! Louis Moreau Gottschalk. Sein Großvater war eine Art Cousin von Henrys Mutter, glaube ich.« Jeder berühmte oder reiche Jude, woher er auch stammt, erweist sich als ›eine Art Cousin‹, dachte Miriam amüsiert. 267
»Das ist ein heiteres Thema. Und ich möchte den König David hören. Aber jetzt überlasse ich es euch beiden Damen, über heitere Dinge zu reden.« Gabriel verabschiedete sich und ging. »Dein Hut gefällt mir«, sagte Rosa zur Versöhnung. »Ich habe alle meine Hauben weggegeben. Nur alte Damen tragen noch Hauben. Ja, der Hut ist kleidsam. Aber du siehst müde aus. Nicht schlecht, bewahre, aber du hast schon besser ausgesehen. Wenn du mich fragst, du arbeitest zuviel.« Gerade die Arbeit rettet mich, dachte Miriam, ohne zu antworten. Gäbe es die Arbeit nicht, wäre ich vollkommen nutzlos und sähe keinen Sinn im Leben. Rosa schenkte Tee ein. »Wie gefällt dir meine neue Einrichtung? Du hast nichts gesagt.« Auf einer Reise zur Kristallpalast-Ausstellung in New York hatte sich Rosa in den Belter-Stil verliebt. Danach hatte sie ihren alten Salon umgestaltet. Gipsgirlanden zierten die Decke und ein Blumenteppich den Boden. Sofas und Stühle, deren blauer Satinbezug mit goldenen Bienen gemustert war, standen um einen großen Tisch mit einer weißen Marmorplatte. Schnitzereien – Blumen, Trauben und Einhörner – bedeckten jeden Zoll des Balkenwerks, und hohe Wandspiegel auf allen vier Seiten des Zimmers widerspiegelten die ganze Pracht. »Gefällt es dir nicht?« fragte Rosa. Sie fuhr fort, bevor Miriam antworten konnte. »Du kannst ruhig offen sein. Nein, es sagt dir nicht zu, das sehe ich. Es ist nicht dein Geschmack. Vielleicht ist es ein bißchen protzig, aber ich mußte es einfach haben. Ich bin glücklich in diesem Raum.« »Das ist doch alles, worauf es ankommt«, sagte Miriam sanft. »Irgend etwas muß man haben. Ich lebe allein, siehst du. Mein Bruder und meine Söhne sind sehr lieb zu mir, trotzdem bin ich allein.« »Verzeih mir die Frage, aber ich glaube, wir kennen uns nun so lange und so gut, daß ich sie stellen darf: Wie kommt es, daß eine derart vitale Frau wie du nicht wieder heiratet?« 268
Rosa stellte ihre Teetasse klappernd ab und schaute Miriam bedeutsam an: »Aus dem gleichen Grund, aus dem mein Bruder nicht heiratet.« »Warum tut er es nicht?« »Wir in unserer Familie sind alle gleich. Wenn wir nicht kriegen, was wir wollen, nehmen wir nicht das Zweitbeste. Erinnerst du dich, ich habe es dir einmal erzählt.« »Ach ja. Er war kein Jude.« »War keiner? Ist keiner.« »Dann lebt er also noch.« »Ja, und er möchte mich immer noch haben. Er ist wunderbar, aber ich kann ihn nicht heiraten. Natürlich, wenn ich einen Mann unseres Glaubens fände, einen so guten wie Henry – bloß bisher habe ich keinen gefunden und, wie gesagt, das Zweitbeste nehmen wir nicht.« »Und du sagst, bei Gabriel sei es genauso?« »Nicht ganz genau. Du meinst, daß du es nicht weißt? Siehst du es denn nicht?« »Was soll ich sehen?« »Daß er nie eine andere geliebt hat als dich.« Rosa musterte sie mit einer Neugier, die fast etwas Lüsternes hatte. »Er kann sich nicht an eine andere Frau binden, während er solche Gefühle für dich hegt.« Im Gegensatz zu der einstigen höhnischen Bemerkung Eugenes schien das hier eine Tatsache zu sein, eine verblüffende. »Hat Gabriel dir das erzählt?« flüsterte Miriam. »Sagen wir mal, ich habe es ihm aus der Nase gezogen.« Miriam mußte sofort an André denken. Daß ein Mann von ihr behext sein sollte wie sie von André – nein, wie sie es von André gewesen war! Plötzlich erschrak Rosa. Sie legte die Hände auf den Mund und stieß hervor: »Wage es ja nicht, ihm zu verraten, daß ich es dir gesagt habe. Ich weiß nicht, warum ich solche Dinge tue. Es ist mir einfach herausgerutscht. Ich habe geschworen, nichts zu sagen. Ihn 269
reute es sofort, daß er sich mir anvertraut hatte, und ich versprach ihm, es bestimmt nicht weiterzusagen.« »Vertrau mir, Rosa. Ich gebe dir mein Wort darauf. Glaubst du wirklich, ich könnte ein solches Thema vor Gabriel zur Sprache bringen?« »Lieber Himmel, was für eine schreckliche Unterhaltung! Reden wir schnell von etwas anderem, damit wir das alles vergessen! Erzähle mir lieber den neuesten Klatsch.« »Damit kann ich leider nicht dienen. Ich höre nicht viel, weil ich die Nachmittage im Büro verbringe.« »Aber ich weiß ein bißchen was. André Perrin kommt endlich nach Hause. Was hältst du davon? Ich fing schon an zu glauben, die beiden hätten sich für immer in Paris niedergelassen. Wie ich höre, bekam er nicht genug Geld für dieses schöne Haus im Gartenviertel. So eine Verschwendung, es zu bauen und nie zu bewohnen.« Rosa schwatzte weiter, über den neuen Nachbarn auf der anderen Straßenseite, über die Frau des Rabbi und die Preise der Schneiderin. Miriam nickte an den richtigen Stellen oder schüttelte den Kopf, war in Wirklichkeit jedoch nur halb da. Ihre andere Hälfte wurde hin und her gerissen zwischen verschiedenen Kräften, dem Zuhause und den Kindern, Gabriel, dem sie künftig angstvoll und befangen gegenübertreten würde, und André, der nach Hause kam und sie vielleicht vollkommen vergessen hatte. Und wenn er sie nicht vergessen hatte, was dann? Nach einer Weile stand sie auf und verabschiedete sich. Der Wagen wartete vor der Tür. »Maxim«, sagte sie, »bevor wir heimfahren, möchte ich mir ein Grundstück ansehen.« Sie nannte ihm die Straße im Gartenviertel. Durch die Urania Street, die Thalia Street und die Euterpe Street fuhren sie, vorbei an Hochhäusern, Buntglasfenstern und heiteren Grünflächen. Eine ganz andere Welt hier als im Vieux Carre – eine amerikanische Welt. »Da sind wir, Maxim, halte an.« 270
Sie hatte das Haus lange nicht gesehen. Mit einem seltsamen Gefühl der Befriedigung registrierte sie, daß es sich von den anderen Häusern in der Straße stark unterschied. Weiß und klassisch war es, zurückgesetzt in einen lichten Akazienhain. Eine Weile saß sie einfach im Wagen und betrachtete es, sah ein Kind an, das von der Rückseite des Hauses gelaufen kam, schaute auf die Fenster im zweiten Stock, an denen Spitzenvorhänge hingen, die ganz bestimmt einen hübschen Raum schmückten, in dem Mann und Frau zusammen schliefen… Das Pferd, das seinen Schweif bewegte und aufstampfte, brachte Miriam in die Wirklichkeit zurück. »Nach Hause jetzt, Maxim«, ordnete sie an. »Sehr hübsch hier, Miß Miriam«, sagte Maxim, der offenbar in redseliger Stimmung war. »Ich bin heute früh für Miß Emma durch die Adele Street gefahren, hab Besorgungen machen müssen. Man kann nicht glauben, daß das dort die gleiche Stadt ist wie hier. Mit dem Schlachthof dort und all dem Gestank. Diese Iren sind wirklich dreckige Leute.« Jeder wollte auf einen anderen herunterschauen. Maxim in seinem schönen Anzug, auf dem Bock des schönen Wagens seines Besitzers, konnte sich jedem armen Iren überlegen fühlen, der keinen schönen Anzug, keinen schönen Wagen und keinen Herrn hatte, von dem er beides bekam. Wirklich seltsam. Ferdinand und Emma tranken auf der Veranda Kaffee. »Du bist lange geblieben«, sagte Ferdinand. »Ja. Rosa und ich unterhielten uns, nachdem das Geschäftliche erledigt war.« »Worüber habt ihr euch unterhalten?« Da Ferdinand schon so lange ›draußen‹ war, hungerte er nach Neuigkeiten, auch den geringsten, scheinbar unbedeutenden. »Ach, über Religion, Möbel, den Krieg…« »Krieg?« entgegnete Ferdinand ungehalten. »Es wird keinen Krieg geben! Das alles haben wir in Europa zurückgelassen.« 271
»Gabriel glaubt, daß es Krieg geben wird. Und David auch. Aber ich glaube«, fuhr sie kühn fort, »daß es keinen gäbe, wenn Frauen die Welt regierten. Wir würden andere Wege zur Lösung der Probleme finden.« »Frauen, meine Liebe?« Ferdinand bedachte seine Tochter mit dem Lächeln, das er gewöhnlich dem kleinen Eugene und der kleinen Angelique vorbehielt. »Frauen? Wenn der Mann mit seiner Kraft und seinem überlegenen Verstand die Probleme nicht lösen kann, was bringt dich auf die Idee, daß Frauen es könnten? Warum nicht gleich Kinder mit der Regelung aller Dinge betrauen?« Und wer hält dieses Haus zusammen, seit Eugene sein Augenlicht verloren hat und Sie Ihr Geld verloren haben, Herr Papa? dachte sie zornig. Sie dummer, eitler Mann. Doch er wirkte so alt und straffte die Schultern mit einer gespielten Tapferkeit, die mitleiderregend war. Laß ihn reden, dachte sie und schwieg.
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J
etzt im Herbst wehte vom Golf her eine kühlere Brise, und die Sonne brannte nicht mehr, sondern verströmte wohltuende Wärme. Im Garten, wo Miriam mit einem Buch saß, ohne zu lesen, lagen die ersten gelben Blätter auf den Schultern der Aphrodite; eine überreife Kakipflaume fiel in das trockene Gras, zerbarst und verspritzte ihren dicken süßen Saft, über den sich sofort eine Biene hermachte. Die Gartentür klickte. Leicht gereizt über die Störung, drehte sie den Kopf nach hinten, um zu schauen, wer der Eindringling sei. »Miriam. Ich bin eben angekommen. Ich eilte her, so schnell ich konnte«, sagte André. 272
Wie oft hatte sie sich das Wiedersehen vorgestellt! Eine zufällige Begegnung auf der Straße oder bei irgendeiner offiziellen Einladung, närrischerweise sogar ein Stelldichein im Wald wie in einer deutschen Oper… Immer hatte sie mit solchen Phantasievorstellungen gespielt und sie als Hirngespinste verworfen. Jetzt, da er vor ihr stand, wußte sie überhaupt nicht, was sie empfand außer dumpfem Staunen über sein Hiersein. »Seit meiner Abreise ist soviel passiert… Dein Bruder… O Miriam, im Herzen habe ich für dich geweint.« »Hast du das mit Eugene gehört?« »Ja, schon vor langer Zeit. Emma schrieb es Marie Claire.« Der Name Marie Claire hing zwischen ihnen in der Luft. Miriam hätte nicht sagen können, ob in der Erwähnung dieses Namens eine bewußte Absicht Andrés lag, sie oder sich selbst zu verletzen. »Wie geht es deiner Frau?« »Sie ist nicht mitgekommen. Sie hat einige Liederabende gegeben, und ihr Lehrer ist begeistert. Was immer daran sein mag, sie will noch eine Weile dortbleiben.« Also leben sie sich auseinander, dachte Miriam boshaft und schämte sich gleich ihres Gedankens. »Mich hielt es nicht mehr in Paris. Ich war lange genug weg. Wir haben uns eine Wohnung im Pontalba-Gebäude genommen.« »Die Wohnungen dort sind sehr schön«, sagte Miriam. Diese oberflächlichen Bemerkungen – was besagten sie? André sah noch genauso aus, besaß das gleiche Strahlen wie früher. Ob er sich an ihren Abschied hier erinnerte, daran, wie sie einander umschlungen hatten? Vermutlich nicht. Die Zeit verging, und alles veränderte sich, mit jedem verstreichenden Augenblick. »Möchtest du die Wohnung sehen?« fragte André. Sie hatte das Verlangen, sich zu bewegen, etwas gegen ihre innere Aufgewühltheit zu tun. Trotz ihrer Unruhe antwortete sie in förmlichem Ton: »Das wäre sehr nett.« 273
Weil die Vormittagsmesse vorbei war, füllten sich die Straßen allmählich mit Menschen, die ihren Sonntagsunterhaltungen zustrebten, den Hahnenkämpfen oder Pferderennen, den Darbietungen der als Neger geschminkten Varietékünstler und den Gasthäusern. »Sehr viel hat sich nicht verändert, wie ich sehe«, bemerkte André. »Ich vermute, daß die Protestanten noch immer wütend sind über die fröhlichen katholischen Sonntage.« »Ja, ich denke schon.« »Ich sehe nichts Schlechtes daran, sich zu amüsieren, an welchem Tag auch immer. Griesgrämigkeit macht die Welt nicht besser.« Auf dem kleinen Platz hinter der Kathedrale drängten sich Kinder um einen Eisstand. »Auch das hat sich nicht geändert.« »Nein«, pflichtete Miriam ihm bei. Sie machten Konversation. Miriam spürte die Anspannung, mit der sie beide der einzigen wichtigen Frage auswichen: Sind wir noch die gleichen, oder haben die Zeit und die Trennung ihren Stempel hinterlassen? André äußerte sich zu der umgebauten Kathedrale: »Ein prächtiges Gebäude.« »Ja, dank der Großzügigkeit von Judah Touro.« »Wir haben in Europa über sein Testament gelesen. Höchst ungewöhnlich! Alle diese wohltätigen Einrichtungen, das jüdische Krankenhaus hier, dann die Waisenheime und die Hilfe für die Armen in Jerusalem. Bemerkenswert.« »Gabriel behauptet, wenn Touro zehn Jahre früher gestorben wäre, hätte er keiner jüdischen Institution etwas hinterlassen. Gabriel hatte großen Einfluß auf ihn, weißt du. Er gehörte zu den Menschen, die ihn wieder für seinen Glauben gewannen.« »Wie geht es Gabriel? Noch immer nicht verheiratet?« »Noch immer nicht.« Auf eine seltsame Weise schien ihr, als verteidige sie Gabriel oder, was noch unlogischer war, als sei es ihre Schuld, daß Gabriels Liebe ihr galt. 274
Sie fuhr fort, gewissermaßen laut denkend: »Er ist mir eine große Hilfe, meine rechte Hand seit Eugenes Unfall.« »Du trägst zu viele Lasten!« rief André. »Viel zu viele.« Bevor er die Tür aufsperrte, blieb er kurz stehen und schaute voll augenfälliger Bewunderung über den Platz. »Thronte hier nicht Andrew Jackson auf seinem Pferd, könnte man glauben, sich auf dem Place des Vosges in Paris zu befinden.« Er führte sie nach oben in einen hohen Salon mit einem schwarzen Kamin im Stil Louis XV. Automatisch traten sie beide an eines der Fenster; in diesen Räumen würde man immer an die Fenster gehen. Unten auf dem Platz entfalteten St.-Bartholomäus-Bäume ihre rosaroten Herbstblüten. Rechter Hand sah man die Levee und den schimmernden Fluß. Schweigend standen sie da und schauten in die Landschaft; die Zeit verstrich. Was tue ich hier? dachte Miriam. Sie begann mit hoher, unnatürlicher Stimme zu sprechen: »An dem Kai dort kam Jenny Lind an. P.T. Barnum brachte sie aus Kuba her. Zehntausend Leute erwarteten sie. Ein unvorstellbares Gedränge! Sie wohnte hier im Gebäude der Baronin Pontalba.« »Tatsächlich?« André stand nun hinter ihr, ohne sie zu berühren. Doch die Luft um ihn war erfüllt von einer Wärme, die ihren Rücken und ihre Schultern einhüllte. »Ja«, sagte sie. »Ja, einen Monat blieb sie. Die Karten wurden versteigert, kletterten auf zweihundert Dollar und mehr.« Rasch sprudelte sie hervor: »Vielleicht wird Marie Claire eines Tages wie sie.« Warum von Marie Claire sprechen? André entgegnete: »Marie Claire hat eine reine Stimme, aber keine große. Sie wird nie eine Jenny Lind oder Adelina Patti, auch wenn sie es noch nicht erkannt hat.« »Das tut mir leid«, sagte Miriam. In Papas Salon sang sich das ernste, unhübsche Kind das Herz aus dem Leib. Die farblose junge Braut stand neben André, und Tante Emma zirpte unaufrichtig: Sind sie nicht ein schönes Paar? »Es tut dir leid?« 275
»Ja. Ich bedaure, daß sie nicht bekommt, was sie sich so sehnlich wünscht. Es ist schrecklich, sich etwas zu wünschen, von dem man weiß, daß man es nie bekommt.« »Wir sind nicht hierher gekommen, um über solche Dinge zu reden«, erwiderte er. Sie verbarg das Gesicht in den Händen: »Ich bin ganz durcheinander. Ich weiß nicht…« Er zog ihren Kopf an seine Schulter. Seine Finger griffen in ihr Haar, zogen die kräftigen Nadeln heraus und lösten den Knoten in ihrem Nacken auf, so daß ihr das seidige Gewoge auf die Schultern fiel. Ihr Herzschlag verlangsamte sich, sie spürte das stetige, starke Pochen. In ihr stieg etwas auf, das sie noch nie gespürt hatte; eine Blume öffnete und entfaltete sich; ein Fluß strömte; eine Welle hob sich zum gischtigen Kamm. Seine Hände machten den Verschluß ihres Kleides auf. Sie stand ganz still, die Augen geschlossen, und ließ ihn gewähren. Drahtstreifen und zwanzig Meter gelben Stoffs fielen zu Boden. Als sie die Augen öffnete, sah sie im Spiegel, daß sich die blaßrötlichen Spitzen ihrer Brüste unter dem Hemd aufrichteten, bevor auch dieses fiel. Ihr Gesicht schillerte, es verschwamm in dem Spiegel; die Schatten unter ihren Augen waren wie Tränenflecke, und ihre Mundwinkel bogen sich langsam, ganz langsam nach oben zu einem flüchtigen, zarten Lächeln. Wie nichts hob er sie auf, mühelos trug er sie davon und legte sie in einem schönen weißen Zimmer aufs Bett. Nun ruhte sein Kopf auf ihrer Schulter. Mit ihrer freien Hand streichelte sie behutsam seine Wange, auf der ein winziger Strahl des Nachmittagslichts, der sich durch die geschlossene Jalousie hereingestohlen hatte, das feine Haar golden färbte. Was für ein Wunderding seine Hand mit den im Schlaf entspannten Fingern doch war! Jeder Nagel, glatt wie Glas, trug seinen Halbmond. Solche Zärtlichkeit, solche Fertigkeiten in dieser starken Hand! 276
Von köstlicher Mattigkeit erfüllt, streckte sie den Arm aus, sie roch Zitronenduft auf ihrer warmen Haut, spürte ihre blühende Gesundheit. Nach einer Weile kam eine leichte Brise auf, wehte ins Zimmer herein und weckte André. »Hast du nicht geschlafen?« murmelte er. »Nein, gedöst, aber nicht geschlafen.« »Bestimmt hast du nachgedacht«, tadelte er sie sanft. »Du denkst zuviel.« Diese scherzhafte Mahnung zerstörte ihren Frieden, Bangigkeit erfaßte sie. »Ich habe überlegt, wie oft ich mich fragte, was sein würde, wenn du zurückkommst.« »Jetzt weißt du es. Du brauchst also nicht mehr zu überlegen.« »Ich habe das Gefühl, als seien diese Jahre gar nicht vergangen, als wärest du erst gestern abgereist.« Er küßte ihre Augenlider: »Ich möchte, daß du glücklich bist – glücklich.« »Wenn wir nur nie aufstehen müßten, sondern in diesem Zimmer bleiben könnten.« »Liebe Miriam, jetzt sind wir hier, verdirb uns den Augenblick nicht.« »Das will ich nicht, aber…« »Was, aber?« »Gäbe es nur keinen Eugene und keine Marie Claire!« Ihre beiden Strumpfpaare, die fleischfarbenen Seidenstrümpfe und die darüber getragenen Netzstrümpfe, hingen über einem Stuhl. Sie erinnerten Miriam an – an Eugenes Mätresse. Bin ich also auch nicht besser als sie? »Machst du dir wegen der beiden Sorgen? Wir nehmen uns nichts, was einer von ihnen haben will. Bestimmt nicht Eugene, nach dem, was du mir erzählt hast.« »Und Marie Claire?« »Unwichtig, das versichere ich dir. Sie interessiert sich nur für ihre Stimme, für nichts sonst und vor allem nicht für mich! Und wenn 277
sie sich nicht für mich interessiert, warum soll ich es anders herum tun?« »Du wirst es mir vermutlich nicht glauben, aber ich hatte immer das Gefühl, daß mein Leben eines Tages das ihre berühren würde. Weißt du, ich habe es gesehen.« »Siehst du oft Dinge?« neckte André sie. »Nicht oft«, antwortete sie ernst. »Nur manchmal. Für uns sehe ich bloß Leere, eine dunkle Leere.« »Du hörst zuviel auf eure Dienstboten. Aberglauben. Höre lieber auf mich.« Er zog sie an sich. »Höre immer auf mich. Stell dir vor, daß du auf eine lange, wunderbar gefährliche Reise gehst. Ich bin der Führer, ich werde dich beschützen und vor der Gefahr bewahren.« Sie seufzte: »Du tröstet mich sehr. Sogar deine Stimme tröstet mich.« »Das soll auch so sein.« Er küßte sie. »Wirst du wieder hierher kommen? Ich werde viel weg sein müssen, auf dem Landsitz meiner Familie und geschäftlich im Norden, aber nie sehr lange. Du wirst doch wiederkommen, oder?« »O ja, o ja.« So begann es.
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I
n dem Jahr, das sich später als letztes Friedensjahr erweisen sollte, gab es einige Menschen, die sahen, was sich anbahnte, und andere, die es abstritten, obwohl es deutlich am Himmel stand. John Brown hatte das Unionsarsenal in Harpers Feny überfallen. Der Norden pries ihn als Verteidiger der menschlichen Freiheit, im Süden dagegen wurde er tagtäglich als übler Agitator verdammt, wenn sich Kaufleute und Pflanzer beim Mittagessen in Maspero's Exchange trafen. Sie sprachen dann auch über Männer wie David Raphael und 278
wunderten sich beispielsweise darüber, daß er aus einer so anständigen Familie kam. Seine Verwandten taten ihnen leid. Sie zitierten auch Politiker, die sagten, daß die Sezession unvermeidlich sei, außer man finde einen ›vernünftigen Kompromiß‹, und zwar bald. Leise und in düsterem Ton redeten sie von den Engländern, die während des Indianeraufstands vor ein paar Jahren in Lucknow ermordet worden waren. Am Karnevalsdienstag organisierte die Mistick Crew of Comus eine prächtigere Karnevalsparade denn je; das French Opera House eröffnete die Spielzeit mit spektakulären Aufführungen von Donizetti, Massenet und Bellini; Adelina Patti sang; in den vornehmsten Häusern wurde das neue Gaslicht installiert; und die Frauen, die ihr Haar nach dem neuen Madonna-Stil in der Mitte scheitelten, ließen sich fotografieren. Vielleicht jedoch erwuchs diese Fröhlichkeit nicht aus Ignoranz, sondern aus der Angst vor dem Krieg, die selbst Eugene aus seiner Lethargie riß. »Es ist lange her, daß wir Gäste in Beau Jardin hatten«, sagte er eines Tages. Er runzelte die Stirn: »Warum haben wir niemand eingeladen?« »Erst einmal galt es, unseren Besitz zu erhalten«, erinnerte ihn Miriam leicht gereizt. Nicht ein einziges Mal hatte er ihr Anerkennung gezollt für ihre Leistung. »Also laden wir jetzt rechtzeitig für die Mahlsaison Gäste ein.« Das bedeutete eine Woche großzügiger Unterhaltung und verschwenderischer Bewirtung. Es bedeutete, Besucher durch die Zuckerrohrmühle zu führen und heißen Rohrsaft mit Rum zu trinken, während die Sklaven rund um die Uhr schufteten, bis das ganze Zukkerrohr gemahlen war. »Wir werden sie mit der ›Edward J. Gay‹ auf dem Fluß herholen – wenn schon, dann in großem Stil«, sagte Eugene. Er begeisterte sich: »Ich möchte ein schönes Menü, Fisch- und Muscheleintopf, Schildkrötensuppe, Tauben, was du dir ausdenken kannst. Und wahrscheinlich sind wir knapp an Madeira. Es ist so lange her, daß ich 279
die Vorräte kontrolliert habe. Willst du dich darum kümmern? Und auch um die Gästeliste, weil – weil ich ja nicht schreiben kann!« Sie holte Bleistift und Papier. »Wir fangen mit Gabriel und seiner Schwester an.« »Rosa wird in Saratoga sein«, wandte sie ein. »Dann eben Gabriel. Er ist ein kühler Mensch, aber du verstehst dich mit ihm. Emmas Leute natürlich, Eulalie, Pelagie und alle ihre Kinder, die kommen wollen. O ja, setze auch Perrin auf die Liste, André Perrin. Er hat sich nicht blicken lassen, seit er wieder in der Stadt ist. Er macht nie Besuch bei uns; man würde denken, er wäre höflicher.« Miriams Bleistift ruhte; sie versuchte ihre zitternde Hand zu beherrschen. »Wenn er unhöflich ist, warum willst du ihn dann einladen?« »Ach, ich grolle ihm nicht. Ich weiß, daß er viel reist, also ist das vielleicht der Grund dafür, daß er noch nicht vorbeigekommen ist. Ich mag ihn gern, er ist klug, fährt auf der ganzen Welt herum – ich wünschte, ich hätte es auch getan, als ich noch konnte.« »Höchstwahrscheinlich dürfte er also unterwegs sein. Ich werde es für dich herausfinden.« »Mach dir nicht die Mühe, das kann ich selbst. Schreib seinen Namen auf.« André Perrin. Die Buchstaben formten sich auf dem Papier, schauten seltsam erschreckt zu ihr auf, unruhig wie der Schlag ihres angstvollen Herzens. Nach dem Essen rauchten und redeten die Männer auf der Veranda. Das Gemurmel ihrer Stimmen, das zu den offenen hohen Fenstern hereindrang, lieferte sich einen Wettstreit mit der Harfe, die Pelagies Tochter Felicite im Salon spielte. Miriams Gedanken irrten umher wie rastlose Wanderer auf der Suche nach einem Platz zum Ausruhen. Sie gingen von Angelique, die der Musik mit gespielter Aufmerksamkeit lauschte und sich wahrscheinlich wünschte, so alt wie Felicite zu sein und das Haar hoch280
stecken zu dürfen, auf die Veranda hinaus zu André. Miriam versuchte seine Stimme herauszuhören, doch vergebens. In den drei Tagen waren sie keine Minute allein gewesen. Männer und Frauen badeten getrennt im Bayou. Sie fuhren in Gruppen über Land; in Gruppen aßen sie und spielten Karten. Gelegentlich war ihr Blick dem seinen begegnet, aber sie hatte immer rasch weggeschaut, weil sie sich daran erinnerte, wie deutlich Pelagie die Liebe zu Sylvain im Gesicht gestanden hatte. Neugierig dachte sie: Gabriels Gesicht ist verschlossen. Es verrät nichts. Könnte sich Rosa getäuscht haben? Nein, natürlich nicht. Dann muß der heutige Abend sehr hart für ihn sein… Wie seltsam, daß die beiden Männer, die sie liebten, dort draußen saßen! Wie seltsam, daß sie überhaupt solche Gedanken hatte! Sie, Miriam, die scheinbar anständige, korrekte Frau eines angesehenen Mannes; die Herrin dieses im Glanz alter Traditionen erstrahlenden Familiensitzes; die Mutter dieses männlichen Jungen, der schon alt genug war, um nach Tisch bei den Männern Platz zu nehmen; die Mutter, die ihrer Tochter ein Beispiel geben sollte… Was würden die Leute – die Leute, unter denen sie leben mußte – über sie sagen, wenn sie Bescheid wüßten? Ihre Kinder… Vernichtet stünde sie vor ihnen! Wie die beiden leiden würden! Sie strich mit der Hand über ihre schweißnasse Stirn. »Ich denke gerade daran«, sagte Pelagie, »wie Marie Claire immer für uns spielte. Eigenartig, daß sie in Frankreich bleibt. Das muß für einen jungen Ehemann sehr schwer sein.« »Bestimmt«, pflichtete Miriam ihr bei. »Trotzdem ist er zufrieden: Er sieht sehr gut aus, findest du nicht?« »Sehr gut.« »Du übrigens auch, Miriam. Ich erinnere mich nicht, dich je so blühend, gesund und rosig gesehen zu haben.« Miriam rückte mit ihrem Stuhl näher an die Fenstertür, gebrauchte die Hitze als Ausrede, floh in Wirklichkeit aber vor Pelagies Bemerkungen. 281
»Ich habe gewaltigen Respekt vor Rabbi Wise«, sagte Gabriel eben. »Er vertritt die Meinung, daß man Religion und Politik trennen soll, und darin stimme ich ihm bei.« »Ach, Wise«, entgegnete Eugene, »Wise ist gegen die Sklaverei. Darin gehe ich natürlich nicht einig mit ihm. Aber wenn er sagt, daß er lieber die Union zerschlüge als in den Krieg ziehe, tue ich es.« »Falls es zum Krieg kommt, haben ihn zweifellos die abolitionistischen protestantischen Prediger herbeigeführt.« Miriam dachte an die Zeit, in der sie ständig über solche Fragen nachgegrübelt hatte. Im Augenblick waren sie ihr gleichgültig; ihre Gedanken kreisten um André. Sie war eine Frau mit einer fixen Idee geworden. »Wie ich höre, befürchtet man im Stadthaus eine Krise«, sagte Eugene. »Es heißt dort, daß wir von der Union abfallen werden, wenn ein Republikaner zum Präsidenten gewählt wird.« Eine andere Stimme ließ sich vernehmen: »Dann wird es Krieg geben.« Wieder eine andere meinte: »Uns fehlt es an allem: Wagenfabriken, Munition, Zelten – an allem.« »Können Sie sich hier die Abschaffung der Sklaverei vorstellen? Beim bloßen Gedanken daran überläuft es einen kalt! Horden Schwarzer auf den Straßen, ohne zu wissen, wohin, ohne etwas zu essen außer dem, was sie stehlen können.« Jemand berührte Miriam an der Schulter. »Es ist eine wunderbare Nacht«, sagte André. »Zu schön für eine so deprimierende Unterhaltung. Würden Sie gern Spazierengehen oder im Boot rudern?« Sie hob die Brauen, als wollte sie sagen: Das können wir nicht tun. Doch André konterte gelassen: »Jede Dame, die mitgehen möchte, ist herzlich willkommen. Das Boot nimmt zwei Personen auf. Sollen wir abwechseln? Sie zuerst, Pelagie?« Pelagie lehnte ab. Miriams Stuhl scharrte, als sie aufstand, und das rief ihr ins Gedächtnis zurück, wie er sie einst an dem allerersten Abend von dem Gespräch weggeholt hatte. 282
»Wir fingen die Unterhaltung so fröhlich an«, sagte André, »aber immer wendet sie sich der Politik zu. Schauen wir uns doch die Sterne an. Sie waren schon lange da, bevor es einen Norden oder einen Süden gab, und sie werden noch lange da sein, wenn es weder den einen noch den anderen mehr gibt.« Der rötliche Mond verströmte rosiges Licht auf den wolkenlosen Himmel. Etwa in der Mitte der Rasenfläche wurden die hübschen Harfenklänge, die ohnehin kaum mehr zu hören waren, vom harten Rhythmus einer Gitarre übertönt. Drüben in den Hütten sang ein Mann von alten Sehnsüchten und flüchtigen Freuden; man brauchte keine Worte, um etwas von Sehnsucht und Freuden zu wissen. André und Miriam gingen immer weiter. Sie spürte, daß sich seine Beine im Einklang mit den ihren bewegten. Der Weg zum Bayou war weich von abgefallenen Tannennadeln aus hundert Jahren, und auf diesem Polster verursachten die Füße nicht mehr Lärm als eine Brise in den Baumwipfeln. Von den immergrünen Eichen hing graues Moos wie Haar alter Frauen. »Dieses Moos ist so melancholisch«, sagte Miriam. André ließ sich von ihrer Stimmung nicht anstecken: »Es ist überhaupt kein Moos, sondern gehört in die Familie der Ananas, und die ist ein Willkommenssymbol.« Er half ihr ins Boot. Die Wasserfläche war derart glatt, daß die am Ufer stehenden Bäume unbewegte Spiegelbilder warfen, die sich durch ihr dunkleres Schwarz vom trüben Bayouwasser abhoben. André ließ die Riemen los und das Boot treiben. Er ergriff ihre Hand. Lange saßen sie da, ohne zu sprechen, verbunden durch den engen Kontakt ihrer Hände. »Ich wünschte, wir hätten heute nacht einen Platz, wohin wir gehen könnten«, sagte André. Daraufhin wagte sie zu sagen, was sie seit langem zurückhielt, weil eine Frau nie die Initiative ergreifen, sondern warten und nur Empfängerin sein sollte: 283
»Ich wünsche mir mehr als diese eine Nacht.« Und als er schwieg, rief sie: »Was soll denn aus uns werden? Wohin führt uns das?« »Nicht doch! Ich kann es nicht ertragen, wenn du unglücklich bist! Höre mir zu. Denk daran, daß jeder Tag etwas Neues bringt. Als wir uns das erstemal sahen, bist du in Tränen erstickt. Du hättest an dem Abend damals nicht vorhersehen können, was seither zwischen uns passiert ist, oder?« »Das stimmt«, gab sie zu. »Ich bin kein abergläubischer Mensch, aber ich habe so viele seltsame, wunderbare Wendungen und Verflechtungen erlebt, daß ich die Hoffnung nie aufgebe.« Er strich ihr übers Haar. Mehr als seine Worte beruhigten sie seine Finger. Sein Mitgefühl weckte in ihr das Verlangen zu glauben, daß alle Hindernisse zwischen ihnen durch irgendeine wunderbare Wendung beseitigt würden. André griff wieder nach den Riemen, wendete und ruderte zurück, beruhigte sie unterdessen weiter mit seiner hellen, kräftigen Stimme, die von New York, Washington, dem Theater und amüsanten Persönlichkeiten erzählte. Nebeneinander gingen sie den Weg hinauf zum Haus. Im tiefsten Schatten, kurz bevor der Weg in das offene Rasengrundstück mündete, blieben sie stehen, und André zog sie an sich. Sie zitterte, lehnte sich mit ihrem ganzen Gewicht an ihn; er hob sie halb, so daß ihre Füße kaum mehr den Boden berührten und nur seine Arme und Lippen sie festhielten. Endlich sagte er: »Ich habe es dir noch nicht erzählt, aber ich muß nächste Woche wieder in den Norden.« »Was? Schon wieder?« rief sie und dachte: Ich klinge wie eine Ehefrau, klammere mich an wie eine Ehefrau. »Es geht nicht anders. Ich habe ein Geschäft laufen, um das ich mich unverzüglich kümmern muß. Es wird Krieg geben, weißt du. Ich konnte das Gerede heute abend nicht mehr ertragen, aber die Männer haben recht, es gibt Krieg.« »Und wer wird siegen?« 284
»Wer weiß das schon? Der Norden hat mehr Leute und mehr Geld. Der Süden dürfte wegen der Baumwolle von Europa unterstützt werden. Aber wer weiß?« Alle Grundsätze und Prinzipien, alle geheimen privaten Verbindungen würden weggespült werden. Was würde der Krieg ihnen beiden antun? Miriam versuchte ihre Stimme zu beherrschen: »Wie lange bleibst du diesmal weg?« »Kommt darauf an, wie sich die Dinge entwickeln. Ein paar Monate vielleicht, aber ich komme wieder. Darauf kannst du dich verlassen. Wirst du unterdessen, wenn du am Pontalba-Gebäude vorbeigehst, an mich denken und dich daran erinnern, daß die Wohnung auf uns wartet? Versprichst du mir das?« Sie erkannte, daß er ihr Angstgefühl spürte und sie bewundern würde, wenn sie es tapfer verbarg. »Ich verspreche es«, sagte sie. »Gut! Dann laß uns hineingehen.« Die Bürste fuhr durch ihr Haar und ließ Funken sprühen. Im Spiegel sah sie das Bett warten und dachte voll Erleichterung, daß sie schlafen würde, wenn Eugene nach dem nächtlichen Kartenspiel kam. Sie würde sein Kommen gar nicht bemerken. Wie viele tausend Stunden hatten sie in der dunklen Intimität dieses Bettes gelegen, ohne einander zu berühren! Bestünden nicht die Fesseln des Gesetzes, der Sitten und Bräuche, dachte sie, wäre es völlig natürlich, wenn an Eugenes Stelle André durch diese Tür träte und sich in dieses Bett legte. Jemand klopfte. »Herein«, rief sie, in der Meinung, es wäre Fanny. Es war Eulalie. Ihre Röcke schwangen so schnell zur Tür herein, daß der Taft raschelte. Wie ein Kind, das eine Botschaft ausrichten soll und gelaufen ist, um sie nicht zu vergessen, begann sie sofort zu reden: 285
»Ich habe dich gesehen, und möchte, daß du es weißt! Ich habe dich und ihn vorhin draußen gesehen. Ich habe jedes Wort gehört, das ihr gesprochen habt.« Miriams Herzschlag verlangsamte sich. Eigentlich sollte ein Herz bei einem Schock schneller schlagen; trotzdem spürte sie, daß ihres langsam, mit harten Schlägen pochte. Sie legte die Bürste hin und wartete. »Ich bin im Gras gesessen und habe eure Stimmen ganz deutlich vom Weg her gehört. Ich habe euch bestimmt nicht nachspioniert und gelauscht, falls du das meinst.« »Ich meine gar nichts.« Ruhig bleiben. Eiskalt. So wenig wie möglich sagen. Vor allem sie nicht merken lassen, daß du erschrocken bist und Angst hast. »Ich finde«, erklärte Eulalie schneidend, »daß du ein richtiger Schandfleck bist. Ein Schandfleck!« Ein Tröpfchen ihres Speichels traf Miriams Wange. »Vielleicht ist nicht einmal genug Anständigkeit in dir, um das zu wissen.« Miriam sammelte ihre Gedanken und entgegnete: »Wenn es dir beliebt, mißzuverstehen, vollkommen mißzuverstehen, was du gehört hast, kann ich es nicht ändern, nicht wahr?« Eulalie lachte, das Lachen des Siegers, verächtlich und unbekümmert: »Da gibt es nichts mißzuverstehen. Das Pontalba-Gebäude! Dorthin also machst du deine Nachmittagsspaziergänge, die vornehme Dame – mit den goldenen Armbändern!« Sie wird es durchs ganze Haus und durch die ganze Stadt schreien. Meine Kinder werden es hören und mich hassen. »Kein Wunder, daß man das Staatskapital aus New Orleans weggeholt hat! Ein modernes Sodom, hieß es zur Begründung. Kein geeigneter Ort für Legislatoren, hieß es. Und das stimmt, wenn Frauen wie du aus achtbaren Häusern…« Einen Moment lang gingen Eulalie die Worte aus. Sie hat etwas Wahnsinniges, dachte Miriam, als glühende Röte wie von einer Verbrennung oder Krankheit den Hals der Frau zu fär286
ben begann. Vielleicht war es das, mehr als alles andere, was die jungen Männer abgeschreckt hatte: eine Spur Wahnsinn. »Was glaubst du, wird dein Vater sagen, dein Vater, der dich für die Sonne des Hauses hält?! Und meine Mutter, die dich wie ihre Tochter behandelt?! So lohnst du es ihnen!« Jetzt bin ich so weit gegangen, wie ich in meinem Leben gehen konnte, und jetzt werden sie mit mir tun, was sie wollen. Trotzdem gab sie nicht klein bei: »Ist das alles, Eulalie? Es hat wirklich keinen Sinn, diese Unterredung fortzusetzen, da du ohnehin eine feste Überzeugung hast.« »Weißt du, was die Leute von dir denken werden? Daß du eine – eine Hure bist! Ja, eine Hure!« Dieses Wort kommt dir bestimmt zum erstenmal über die verkniffenen Lippen, dachte Miriam. Sie stand auf und gab Eulalie eine leichte, demütigende Ohrfeige. »Ich verbitte mir dieses Wort! Was weißt du schon von Huren? Oder von Liebe? Oder überhaupt? Du haßt die Welt! Du bist vergiftet und haßt dich selbst. Seit dem Tag, an dem ich euer Haus betrat, bist du meine Feindin. Ich war ein Kind, aber ich merkte es sogar damals. Jetzt hast du endlich eine Waffe gegen mich! Tu damit, was du willst, ich kann dich nicht aufhalten…« »Ich konnte euch bis vom anderen Ende des Flurs hören«, sagte Eugene wütend. »Was, zum Teufel, ist hier los?« Plötzlich drehten sich die Wände und der Boden legte sich schräg. »Ich brauche Luft«, sagte Miriam. Sie taumelte zur Veranda, stieß mühsam hervor: »Eulalie wird dir mit Wonne erzählen, was los ist.« Von unten hörte man Musik und die Stimmen der Männer, die immer noch Karten spielten. Bei ihnen saß André, arglos, ohne zu ahnen, was in den letzten Minuten geschehen war. Wieder dachte sie an ihre Kinder. Eugenes Kinder, denn Eugene konnte ihre Mutter aus ihrem Leben entfernen; das Gesetz bestimmte es so. Das Leben hält Überraschungen für uns bereit, hatte André draußen auf dem Bayou zu ihr gesagt. Schwimme mit seiner Strömung, 287
das ist leicht, hatte er gesagt. Doch diese Strömung konnte sie an den Felsen zerschmettern… Erneut schlug ihr Herz langsam und hart. Wie lange konnte ein Herz so schlagen, ohne zu versagen? Später – wieviel später, zehn Minuten, eine halbe Stunde? – wurde ihr bewußt, daß Eugene allein im Zimmer saß. »Du kannst jetzt hereinkommen«, rief er. »Setz dich.« Sie war froh, daß Eugene sie nicht sah, denn sie wußte, daß ihr der Schrecken im Gesicht geschrieben stand. »Eine schöne Geschichte!« begann er. »Wahrhaftig. Das Frauenzimmer ist eine erbärmliche Kreatur und eine Schnüfflerin, aber ich glaube nicht, daß sie das alles erfunden haben kann. Also muß es wahr sein.« Sie ertrug es nicht, ihn anzusehen; statt dessen schaute sie auf ihre Fingernägel, auf die rosige Wölbung ihrer unschuldigen Nägel. »Es ist wahr.« Sie seufzte, wartete auf seinen Wutausbruch. Plötzlich jedoch wurde die Tür zum Flur, die nur angelehnt gewesen war, weit aufgestoßen, und die Kinder eilten herein. Mein Gott, dachte sie, er hat es ihnen schon gesagt! Oder er wird es ihnen gleich sagen. Er wird mich in ihrer Gegenwart verdammen. Und sie werden mich hassen, denn sie werden künftig am Schandpfahl stehen. Kein Mann aus guter Familie wird Angelique heiraten wollen. Am Sabbat werden sich im Tempel die Leute umdrehen und starren… Ihre Gedanken rasten. »Mama!« rief Angelique. »Warum sind Sie nicht unten? Dort wird Klavier gespielt, und wir haben getanzt!« Die Haut des Mädchens schimmerte vor Vitalität wie Elfenbein. »Mr. Perrin hat mich gelehrt, Walzer zu tanzen, und er findet, daß ich genauso leichtfüßig bin wie die Damen in Paris!« »Wirklich? Findet er das?« fragte Eugene. Angespannt wartete Miriam auf seine nächsten Worte, bestimmt würde er lostoben. Doch er rief das Kind zu sich: »Komm her, Angelique.« Er strich über ihre Schultern. »Spitze. Welche Farbe hat sie?« 288
»Die Spitze ist natürlich weiß. Mein Kleid ist blau.« »Sehr hübsch, da bin ich sicher. Wir müssen dir für die Feiertage ein Samtkleid besorgen. Und du, Eugene, hast du auch getanzt?« Der Junge gab sich betont männlich: »Nein, das ist Mädchensache. Ich tanze nicht.« Sein Vater lachte. »Recht so. Lerne erst reiten und schießen. Ich muß daran denken, eine gute, sanfte Stute für dich zu suchen. Du wirst zu groß für das Pony, sagt Blaise. Ja, du hast noch Zeit genug zum Tanzen. Geht jetzt ins Bett, alle beide. Und macht die Tür zu, bitte.« Als die Tür zu war, sagte er: »Ich vermute, daß deine Kinder dir einen ziemlichen Schrecken eingejagt haben, stimmt es?« Miriam war auf ihrem Stuhl zusammengesunken und hatte das Gesicht in den Händen vergraben. »Du hast erwartet, daß ich tobe!« Eugenes Stimme klang gelassen, fast amüsiert. »Beachtlich, beachtlich! Du überraschst mich! Ich hätte geschworen, daß du für so etwas nicht genug Blut in den Adern hast! André Perrin. Ein gutaussehender Bursche, oder zumindest war er das, als ich noch sah. Ich hätte allerdings gedacht, Carvalho entspräche eher deinem Geschmack. Das habe ich dir, glaube ich, schon einmal gesagt, oder? Nein?« Sein Spott war schlimmer als ein wütender Angriff. So lässig spielte eine Katze mit einem flatternden, schreienden Vogel, bevor sie ihn umbrachte. »Andererseits«, überlegte Eugene laut, »würde Carvalhos Moralcodex ihm nie erlauben, mit der Frau eines anderen Mannes etwas anzufangen, und wäre die Versuchung noch so groß. Ein Jammer. Das wäre viel einfacher. Er ist ein solider Bürger und bleibt an Ort und Stelle, während der andere hierhin, dorthin und überallhin reist, nicht zu reden von der Tatsache, daß er eine Frau hat, auch wenn sie viertausend Meilen weit weg ist.« »Mein Gott, sag schon, was du tun wirst, bring es hinter dich!«
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»Was dachtest du denn, daß ich tun würde? Den empörten Ehemann spielen? Dir vor den Kindern eine dramatische Szene machen? Dich aus dem Haus jagen?« Sie konnte nicht antworten. »Also? Ich will dir sagen, was ich tun werde. Gar nichts.« Miriam schaute ihn ungläubig an. »Natürlich könnte ich alles das tun, was ich eben angesprochen habe. Schließlich steht das Recht auf meiner Seite. Die ganze Gesellschaft steht auf meiner Seite. Aber ich habe beschlossen, nichts zu tun. Die Sache betrübt oder verletzt mich nicht allzusehr. Weißt du, wahrscheinlich verstehe ich mehr von der Welt als die meisten Männer…« Ja, müßtest du eigentlich, bei dieser Mätresse… »Mir liegt viel mehr daran, daß die Geschichte nicht durchsickert. Wir haben einen Namen. Dein Sohn und deine Tochter tragen einen angesehenen, zweihundert Jahre alten Namen und nichts darf ihn besudeln.« »Dann werden sie es nicht erfahren? Nie?« »Bestimmt nicht. Sie werden in Anstand und Würde aufwachsen. Die beiden sind alles, was ich habe. Alles, was ich je haben werde«, fügte er verbittert hinzu. Das laute Hämmern in Miriams Herz begann nachzulassen. Gott sei Dank, oh, Gott sei Dank. Unvermittelt, völlig überraschend, empfand sie seltsames Mitleid: Dieser Mann kümmerte sich um Samtkleider und sanfte Stuten… Aber – Eulalie, dachte sie als nächstes. Die Angst kehrte mit einem Stich zurück. »Eulalie?« Zitternd kam der Name über ihre Lippen. »Eulalie wird schweigen. Für immer. Eigentlich habe ich nichts, womit ich ihr drohen kann, aber ich habe ihr trotzdem gedroht. Sie respektiert mich, vielleicht fürchtet sie mich sogar ein bißchen. Sie wird nichts sagen, darauf kannst du dich verlassen.« Eugene stand auf. Plötzlich erfüllte seine Kraft den Raum wie einst. »Perrin reist natürlich morgen früh ab.« 290
»Morgen früh?« »Was hast du erwartet? Ich will ihn nie mehr in meinem Haus haben. Ein Mann hat seinen Stolz, was seine Frau angeht, auch wenn er so lebt wie ich mit dir. Die Welt weiß aber nicht, wie wir leben, und niemand wird mich vor dieser Welt lächerlich machen.« »Wirst du – wird es Schwierigkeiten zwischen euch geben?« »Ich bin blind, vergiß das nicht. Könnte ich sehen, gäbe es eine Menge Schwierigkeiten.« Eugene stieß einen verächtlichen Pfiff aus: »Wäre nicht stockfinstere Nacht und wäre ich nicht ein Ehrenmann, würde ich ihn sofort hinauswerfen. So aber wird er fort sein, bevor du morgen nach unten kommst. Verstanden?« »Verstanden.« »Und sein Name wird in diesem Haus nie mehr erwähnt?« »Ja.« »Geh jetzt ins Bett und schniefe nicht die ganze Nacht und wälze dich nicht herum. Ich will schlafen.« Sie ›schniefte‹ nicht und wälzte sich nicht herum, sondern lag still da, die Hände zwischen den Brüsten gefaltet, bis ihr plötzlich einfiel, daß man so eine Tote aufbahrte. Daraufhin legte sie die Arme neben ihren Körper. Die Hochsommerluft war drückend und feucht, schwer zu atmen, doch Miriam sog sie tief ein, zwang sie in ihre Lungen, ballte die Fäuste und zwang sich, Mut zu bewahren. Sie mußte versuchen, etwas Ordnung in ihre Gefühle zu bringen, in dieses undurchdringliche Durcheinander aus Verzweiflung. Da waren die Nachwirkungen der Angst. Da war das unangenehme Wissen, der verhaßten, erbärmlichen Eulalie ausgeliefert zu sein. Und da war die Einsamkeit, die drohend, erdrückend vor ihr aufragte: André nie wiederzusehen? Nie? Dazu die Scham: Möchte ich, daß meine Tochter tut, was ich getan habe? Nein. Ich möchte, daß sie es nicht tun muß, nicht zu tun braucht. Die Gedanken über Angelique riefen ihr den letzten Brief ihres Bruders in Erinnerung. Jedes seiner Schreiben enthielt eine Botschaft, die sie ermutigen sollte, aber nur sinnlose Unrast in ihr hervorrief. 291
David hatte ein neues Anliegen: die Frauenrechte. Er hatte ihr einen Bogen mit aufgeklebten Zeitungsausschnitten über Ernestine Rose beigelegt, die Tochter eines Rabbis. Abolitionistin und energische Kämpferin für die Rechte der Frauen. Ihre Reden enthielten zornige, brandmarkende, unvergeßliche Sätze: »Eine Sklavin von der Wiege bis zum Grab… Vater und Ehemann, jeder noch immer der Herr… Das Recht auf ihre Person, ihren Besitz und ihre Kinder.« Diese anklagenden Formulierungen galten voll und ganz für Miriam. Und dennoch hatten sie nichts mit ihr zu tun. Es wäre besser, dachte sie voll Bitterkeit, während sie in der erstickenden Dunkelheit lag, David würde aufhören, mich mit solchen Ideen zu bombardieren. Was erwartet er denn von mir? Daß ich mein Heim verlasse und ausziehe, um zu predigen? Eugene bewegte sich, murmelte im Schlaf. Und über den Flur schlief André, nicht ahnend, was der kommende Morgen bringen würde. Lange vor dem ersten Frühstück stieg Miriam vorsichtig aus dem Bett und ging geräuschlos auf die Veranda hinaus. Die Kühle, die der Morgendämmerung vorausging, prickelte auf ihren Armen und ließ die Bäume leicht beben. Ein Vogel zwitscherte und verstummte wieder. Geheimnisvolle, stille, düstere Wälder und Felder verbargen sich in der alles einhüllenden Dunkelheit. Doch dieses eine Mal hatten sie nichts Angsterregendes; keine kriechenden oder herabstoßenden Tiere, keine menschlichen Feinde drohten dort draußen. Angst und Bedrohung herrschten in dem Haus hier. Ihr alter Wunsch, den sie beim ersten Blick auf diesen Landsitz verspürt hatte, stieg in ihr auf: auszuschreiten über die Felder, durch die Wälder, über die Hügel und weiter… Plötzlich zerbarst die Nacht. Licht ergoß sich über den Himmel. Kaskaden von Amethyst und Scharlach sprühten vom Rand der Erde nach oben, verteilten sich zu Fetzen von Lavendelblau und zartem Rosa. Und dann setzte der Chor der Vögel voll ein, um diese Herrlichkeit zu preisen. Ein verwundetes Geschöpf jedoch sah nichts von der Pracht und hörte nichts als das Brechen seines eigenen kleinen Herzens. 292
Miriam stand noch immer da, als unten die Haustür aufging und André herauskam. Ohne einen Blick zurück stieg er in den wartenden Wagen, der sofort mit ihm wegfuhr.
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abriel schob einen kleinen Stoß Dokumente in seinen Zylinder. Bei den Männerhüten hatte längst chinesische Seide den Biber verdrängt, doch Gabriel trug nach wie vor seinen alten Biber. »Damit ist alles gedeckt für die laufende Saison. Die Zuckerernte ist bezahlt, und die Konten stehen gut, so gut, wie sie in diesen Zeiten überhaupt stehen können.« Sein fast feierlicher Ernst schien unangebracht für eine Routinebesprechung, aber schließlich mußte er sich in ihrer Gegenwart sehr unbehaglich fühlen, sofern das, was Rosa gesagt hatte, wirklich zutraf. Miriam selbst fühlte sich unbehaglich, als sei es irgendwie ihre Schuld, daß sie seine Gefühle nicht erwiderte. Man hätte bei diesem kühlen, geistig orientierten Mann nie eine solche innere Leidenschaft vermutet! Er war so ganz anders als André mit seiner heiteren Überschwenglichkeit! Miriam hatte sich ausgeweint. Jetzt spürte sie nur noch dumpfe Schwere in ihrer Brust, als seien ihre Tränen erstarrt und lägen zu Eis gefroren dort. Über die Sache war kein Wort mehr gefallen. Eugene hatte das Thema mit einem Bann belegt. Es war, als sei nie etwas passiert, als habe André nie existiert. Ihre Hände strichen ihren Rock glatt. Diese nervöse Angewohnheit hatte sie seit einiger Zeit, und sie überlegte, welche anderen neuen Angewohnheiten sie wohl habe, ohne sich dessen bewußt zu sein – vielleicht ein schreckliches Augenzucken oder Lecken der Lippen. Emma hatte eine Freundin, die ständig ihre Lippen benetzte, und das war abscheulich. Miriam brachte ihre Hände zur Ruhe und schau293
te auf sie hinunter. Sie wirkten verloren auf dem bestickten weißen Batist ihres Kleides; das Kleid war neu, genau wie die leichten grünen Schuhe. Die Welt erblickte eine elegante Frau. »Möchtest du noch etwas zu trinken?« fragte Gabriel. Rosas Köchin hatte eisgekühltes Orangenblütenwasser gebracht. Miriam hatte kaum an ihrem Glas genippt. Das mußte er doch sehen. »Danke, ich habe noch. Eigentlich sollte ich gehen. Es ist fast vier.« »Trink doch erst aus«, sagte er. Er wollte, daß sie blieb, das erkannte sie. Offenbar aber wußte er nichts zu sagen. Das Schweigen wurde so lastend, daß sie es irgendwie brechen mußte. »Eugene hat seinen anderen Sohn freigelassen. Hast du gestern die öffentliche Bekanntmachung über den freigelassenen Jungen gesehen?« »Ja.« Die einsilbige Antwort kam in so entschiedenem Ton, als sollte das Thema nicht weiter erörtert werden. Miriam wußte nicht, warum ihr die Sache überhaupt eingefallen war und was sie jetzt drängte, darüber zu sprechen. Vielleicht war es nur das unauslöschliche Bild des von Tauben umringten Jungen, seiner hellbraunen Hand auf Eugenes schwarzem Wolljackett, seiner langen Wimpern, die sich über Augen voller Fragen senkten… Verloren, verleugnet, fehl am Platz, dachte sie erneut, und Groll mischte sich in ihr Mitleid. Da sie schon einmal angefangen hatte, fuhr sie fort: »Du weißt sicher, daß er der Sohn meines Mannes ist.« Gabriel nickte. Die Bewegung gab deutlich zu verstehen: Ja, aber man spricht nicht über solche Dinge. »Er wird ihn nach Paris schicken und Bildhauerei studieren lassen. Der Junge hat Talent. Natürlich ist es nur recht und billig, daß Eugene das tut.« Jetzt antwortete Gabriel: »Natürlich ist es das. Und es schmälert Eugenes Verdienst nicht, wenn ich sage, daß der Junge in ein paar 294
Jahren ohnehin freigekommen wäre, so, wie sich die Dinge entwickeln.« Wieder der Krieg. Immer der Krieg, dachte sie. Aber mein Sohn ist erst zwölf. Diese tröstliche Tatsache beruhigte sie wie warme Milch. »Wann wird der Krieg ausbrechen?« fragte Miriam. Diese Frage stellten die Leute seit etwa einem Jahr. Sie fragten nicht, ob es Krieg gäbe, sondern wann. »Das hängt von der Wahl ab. Wenn Lincoln gewinnt, sehr bald.« »David schreibt, New York sei eine Brutstätte antisüdlicher Gefühle. Es ist wegen des Handels. Die Plantagenbesitzer aus dem Süden schulden den Banken und Kaufleuten zweihundert Millionen Dollar…« Gabriel unterbrach sie: »Hört ihr oft von David?« »Ich schon, aber Papa nicht! Papa hat ihm nicht verziehen, und ich glaube nicht, daß er es je tun wird.« Mit einer für ihn untypischen Geste schlug Gabriel die Faust in seine andere Hand: »Fanatiker! Und die Zeitungen – im Norden wie im Süden – schüren den Fanatismus noch! Eine Bande von Kriegstreibern allesamt. Ich hätte gern, daß sie die Sache statt auf Zeitungspapier zur Abwechslung einmal mit Kugeln ausfechten müßten.« Miriams Stimme wurde förmlich vor Mißbilligung: »Dann bist du also der Meinung von Rabbi Gutheim?« »Im Prinzip, ja. Die Anstrengungen von ihm und seinesgleichen werden aber nichts fruchten. Der Süden wird sich nicht mit einem republikanischen Präsidenten abfinden, die Sezessionisten werden bei uns das Übergewicht gewinnen, der Norden wird die Sezession nicht gestatten, und da hast du es schon!« Wieder schlug er die Faust in die andere Hand. Sie beobachtete ihn aufmerksam. »Was wirst du tun?« fragte sie nach ein paar Sekunden. »In den Krieg gehen.«
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Er sagte die ungeheuerlichen Worte einfach so, ohne Angst und ohne Begeisterung. In den Krieg gehen. Genausogut hätte er sagen können: Eine Reise flußaufwärts machen. Neugier erfaßte sie: »Du warst so gegen den Krieg mit Mexiko.« »Das war etwas anderes. Oder vielmehr, das hier ist etwas anderes. Jetzt droht der Heimat Gefahr. Sollte Südkarolina aus der Union ausscheren, welche Wahl bliebe mir dann? Meine Leute halfen den Staat aufbauen. Sechs Generationen meiner Vorfahren liegen dort begraben.« Aus dem Mund eines anderen hätten diese Worte vielleicht bombastisch geklungen, aus Gabriels Mund aber klangen sie vollkommen natürlich. Miriam erkannte darum sofort ihre Aufrichtigkeit und große Bedeutung für ihn. »Und Louisiana? Soll ich ihm den Rücken kehren, meinen Freunden und dem Leben, das ich hier führe?« »Dir geht es also, genauso wie Lincoln, ums Prinzip.« Sie schaute zum Fenster hinaus. Auf der Straße draußen, keine zehn Fuß entfernt, gingen Menschen vorbei, warfen dunkle Schatten auf die durchsichtigen Vorhänge. Mit gesenkter Stimme fuhr sie fort: »Du weißt natürlich, daß ich anders handeln würde. Wäre ich ein Mann, würde ich auf der anderen Seite kämpfen.« Er verneigte sich leicht. Dann kehrte er ihr den Rücken zu, ging zum Kamin und starrte auf den leeren Rost. Miriam stand auf, ergriff ihre Tasche und ihren Schal. Als er ihre Bewegungen hörte, drehte er sich um und forderte sie mit einer Geste zum Bleiben auf. »Ich habe dir etwas zu sagen. Es ist mir sehr unangenehm. Dein Mann hat mich beauftragt, es dir zu sagen, und ich schiebe es schon die ganze Zeit vor mir her.« Von plötzlicher Schwäche erfaßt, setzte sich Miriam wieder. Bestimmt ging es um André. Er war nach Europa zurückgekehrt. Er war tot. Ja, dachte sie, ich habe alles verloren. David, André, alles. »Eugene hat Bedenken wegen der Geschäfte, die er dir anvertraut hat.« 296
»Bedenken?« rief sie. »Warum? Florieren wir nicht? Haben wir nicht alles in Ordnung gebracht? Du selbst hast immer wieder gesagt, daß ich…« Sie brach ab. Bestimmt war es wegen André. Ganz ohne Zweifel. »Warum?« fragte Gabriel irgendwie lustlos, als gehe ihn die Sache nichts an. »Du mußt doch eine Ahnung haben, warum, denke ich.« Er schaute auf einen Fleck an der Wand hinter Miriams Kopf. Das hohe, dünne Summen der Stille klang ihr in den Ohren. Gabriel machte es ihr nicht leicht. Schon seit jeher war es eine Angewohnheit von ihm, sich die Wörter sozusagen einzeln entlocken zu lassen oder den anderen seinem aufreizenden Schweigen auszusetzen, bis er bereit war zu sprechen. »Du hast diesen Auftrag erhalten«, entgegnete sie. »Also finde ich, daß du verpflichtet bist, mir alles zu sagen.« Nun schaute er ihr in die Augen, mit einem seltsamen, strengen, traurigen Blick. »Gut denn. Der Grund ist, sagt Eugene, daß er deinem Urteil nicht mehr trauen kann. Er fürchtet, du könntest – ganz unabsichtlich – Dokumente unterzeichnen oder andere törichte Dinge tun, die in irgendeiner Weise der Familie schaden.« Gabriel zögerte: »Wegen verschiedener Einflüsse…« Es war, als werde man bei einem Diebstahl ertappt. Miriam zitterte. »Ist das alles, was er dir gesagt hat? Sonst nichts?« Sie zwang sich zu der Frage: »Hat er diese – diese Einflüsse benannt?« »Ja, das hat er.« Wie konnte Eugene so etwas Gemeines tun? Aber schließlich war es sein Recht, seinen Besitz zu schützen, den Besitz ihrer beider Kinder. Was es sie auch kosten mochte, sie durfte vor dem Blick dieses Mannes nicht wanken. »Und glaubst du das?« »Ob ich glaube, daß du etwas tun könntest, was deiner Familie schadet? Nein. Ich habe ihm versichert, daß du eine sehr fähige Frau bist und man dir vollkommen vertrauen kann.« »Danke«, sagte sie. »Kein Grund, mir zu danken. Es ist die Wahrheit.« 297
Sie ertrug die Schmach nicht länger, die Erniedrigung, diesen Salon. Rosas sämtliche Marmorstatuetten mit den ausgebreiteten Flügeln drohten mit zupackenden Händen von ihren Sockeln zu springen. Die bombastischen Möbel drohten sich in Schlachtordnung aufzustellen und die Tür zu verbarrikadieren. Sie mußte hier raus. »Tut mir leid«, sagte Gabriel. »Es bestand wirklich keine Notwendigkeit, dir das alles zu sagen, aber er wollte es. Ich bin sein Anwalt. Ich mußte tun, was er will.« »Schon gut. Vergiß es. Ich verstehe schon.« Sie versuchte sich an ihm vorbeizuschieben, doch er trat ihr in den Weg. »Warte! Warte, Miriam. Geh nicht, ohne mich anzuhören.« »Mir ist nicht gut. Bitte. Ich muß ins Freie.« »Nur einen Augenblick. Ich sollte nicht sagen, was ich gleich sagen werde, aber ich habe so lange geschwiegen, und jetzt das, diese ganze Geschichte – es ist zuviel, ich kann nicht mehr schweigen. Hör mich an«, bat er und legte ihr die Hand auf den Arm. Er hat mich noch nie berührt, dachte sie und bekam Angst, ohne daß sie einen Grund dafür hätte nennen können. »Du mußt wissen, daß ich dich liebe. Du mußt es wissen. Eine so sensible Frau wie du. Wie hättest du diese vielen Stunden mit mir in dem Raum hier sitzen können, ohne zu merken, was außer uns noch hier ist?« »Ich habe nicht – du hast nie etwas gesagt«, flüsterte sie verlegen. »Nein, nie. Und warum? Weil man schließlich zivilisiert ist und weil ich kein Recht dazu hatte. Auch jetzt wollte ich nichts sagen – was ich für dich empfinde – daß ich nicht anders kann… Der Anstand gebot, daß ich schwieg. Er aber, dieser Mensch, dieser Mann, der bereits eine Frau hat, er wagt es, dich bloßzustellen – eine Frau wie dich der Verachtung der ganzen Stadt preiszugeben! Er riskiert deinen Untergang und den Untergang deiner Kinder! Oh, ich würde nie…« Miriam fühlte sich nackt. Es war, als sei jemand in das kühle, ruhige Zimmer über dem Platz und dem Fluß getreten, in dem sie 298
lange Nachmittage mit André verbracht hatte, als habe jemand die Tür aufgerissen und sei zu dem Bett gekommen, in dem sie lagen. »So intelligent du bist – weißt nichts von der Welt…« Gabriel sprach in halben Sätzen, voll Wut und mit einer Leidenschaft, die sie bei ihm nicht im Traum vermutet hätte. »Nichts von der Welt… Es ist wie Raub, eine Schändung… Wäre ich achtzehn, ein Hitzkopf von achtzehn… Und würde er hier hereinkommen, ich wäre imstande, ihn umzubringen. Ja, sogar jetzt – vielleicht wäre ich unfähig, mich so zu beherrschen, daß ich ihn nicht töte. Mein Gott, wie konnte er dir das antun?« Unversehens löschte die Reinheit seiner Gefühle Miriams Scham aus. Er dachte nicht an sich, sondern nur an sie! Und das ohne ein einziges Wort des Tadels für sie, nur mit einer beschützenden Wut ihretwegen, als sei allein André es gewesen, der ihr ›so etwas‹ angetan hatte, wie Gabriel sich ausdrückte, einzig André und nicht Miriam selbst! Sie war zutiefst gerührt. »Ist es nur seine Schuld?« fragte sie leise. »Ist es nicht genauso meine, falls man überhaupt von Schuld reden kann? Ist es wirklich eine Schuld zu lieben? Kann man etwas dafür, oder kann man etwas dagegen tun? Du hast selbst gesagt, daß du…« »Ich habe gesagt, daß ich dich liebe, aber auch von den Risiken und der Demütigung gesprochen.« »Zieht Liebe die Risiken oder die Demütigung ins Kalkül?« fragte sie dagegen. »Wenn es wahre Liebe ist, ja, dann muß sie es, finde ich.« »Vielleicht sollte sie es, aber wir tun nicht immer, was wir tun sollten.« Sie senkte den Kopf, ihr war heiß und schwindlig. Bestimmt hatte sie rote Flecken auf Stirn und Wangen – immer wenn sie beunruhigt war, erschienen die Flecken und machten sie häßlich. Sie wußte allerdings nicht, warum es sie in diesem Moment hätte stören sollen, vor Gabriel häßlich auszusehen. Dann fiel ihr etwas anderes ein: »Du sprichst von Risiken. Hast du vergessen, welches Risiko du für meinen Bruder eingegangen bist?« 299
Er verneigte sich: »Du hast recht, ich sehe es ein. Ich habe meine Schwester und ihre Familie in Gefahr gebracht. Das hatte ich vergessen.« Die kleine Verbeugung und die förmlichen Worte errichteten eine Mauer zwischen ihnen. Miriam wollte sie nicht stehenlassen: »Du hast das für David getan, weil du ihn liebst. Du hast nicht an dich selbst gedacht.« Sie fügte hinzu: »Ich stehe immer in deiner Schuld, Gabriel.« »Das will ich nicht. Ich will keinen Dank. Den wollte ich damals nicht, und ich will ihn auch jetzt nicht.« Sie war entsetzt, weil sie ihn durch die Wahl ihrer Worte verletzt hatte. Von Schuld zu sprechen, obwohl sie etwas völlig anderes meinte. »Gabriel«, begann sie, »wir kennen uns seit so vielen Jahren… Ich war ein Kind, du und David wart den Kinderschuhen auch noch nicht lange entwachsen, und schon damals verband uns Liebe. David und ich – wir würden alles für dich tun, das mußt du wissen. Wir haben eben von Risiken gesprochen. Liebe kennt keine – das ist alles, was ich sagen wollte. Ich hoffte, du würdest es so und nicht anders verstehen.« »In Ordnung. Ich verstehe es.« Sie sah, daß er erschöpft war und bereits bereute, sich ihr offenbart zu haben, weil es zu nichts führte. Er würde heute nacht keinen Schlaf finden, wie es einem zu gehen pflegte, wenn man sein Herz vergebens ausgeschüttet hatte. Sie wollte sagen, daß alles sinnlos und grausam sei: die Art, wie Eugene und sie zusammengekommen waren, die Art, wie man André und Marie Claire verlobt hatte, sogar die Art, wie diese schöne dunkle Frau Eugene liebte… Eugene zu lieben, wie seltsam und sonderbar! Doch sie sagte nur: »Es tut mir leid, Gabriel. Aufrichtig leid.« Wäre es gestattet gewesen, hätte sie hinzugefügt: »Mein Lieber.« Abgesehen von seiner Hand, die zitternd auf ihrem Arm lag, hatte er sie nicht berührt. Nun hob er die Hand, vielleicht um ihre Wange oder ihr Haar zu streicheln, vielleicht um ihr Gesicht zu heben 300
und sie auf den Mund zu küssen. Dann aber ließ er sie sinken und machte aus der Bewegung eine Geste der Verzweiflung. Er trat beiseite und ließ sie gehen. Leichter Wind kam vom Fluß her und wehte ihr den Rock ihres dünnen Sommerkleides um die Knöchel. Ihr Körper unter dem kühlen Stoff glühte.
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arten wir doch wenigstens bis nach der Amtseinführung und schauen wir, was Lincoln tut«, wagte Ferdinand als Reaktion auf Eugenes Ungehaltenheit schüchtern zu sagen. »Geben wir ihm eine Chance. Das will Jefferson Davis tun. Sam Houston will es tun.« »Unsinn!« entgegnete Eugene. »Die Union ist ein Pakt zwischen souveränen Staaten, der genauso leicht aufgelöst werden kann, wie er geschlossen wurde. Das hat Gouverneur Moore erst vorige Woche gesagt. Erwarten Sie wirklich, daß Louisiana unter einer Regierung der schwarzen Republikaner lebt? Erwarten Sie das?« Miriam wußte nicht, ob Ferdinand es erwartete oder nicht. Nach ihrer Vermutung fürchtete Ferdinand den Krieg mehr als alles andere. Seine Erinnerungen an Gewalt waren zu grausam, als daß er sie hätte vergessen können. Wie dem auch sein mochte, Eugene war ohnehin keinen Argumenten zugänglich. Stolz strich er über die blaue Kokarde an seinem Rockaufschlag und erzählte ihnen – bereits zum dutzendsten Mal –, daß der Text und die Musik zu dem Lied ›Blaue Kokarden‹ von niemand anderem stammte als von Penina Moise aus Charleston, eben jenem Penina Moise, der Hymnen für den Tempel Beth Elohim in jener Stadt schrieb. Nach dem Abendessen verlangte Eugene jetzt oft einen Whiskypunsch, um einen Toast auszubringen. 301
»Mit Davey Crockett sagen wir: ›Mein Vaterland, möge es im Recht sein! Aber es bleibt mein Vaterland, Recht oder Unrecht.‹ Das jetzt«, verkündete er, »ist das gleiche wie der Kampf gegen England von 76. Es ist ein Kampf um die Freiheit.« Angesichts solcher Gefühle und einer solchen Gesinnung schwieg Miriam. Sie war hier nur geduldet und sich dessen auch stets bewußt. Natürlich kannte Eugene ihre geheimen Sympathien, aber er hatte beschlossen, daß dieses Thema zwischen ihnen beiden ebenfalls unerwähnt bleiben sollte. Auch recht. Sie hätte es nicht ertragen, wenn er an ihre Wunden rührte. Ihr dumpfer Gram über Andrés Abwesenheit wurde immer wieder von einem, so entsetzlichen Schmerz durchdrungen, daß sie in der Taille zusammenknickte wie von einem Messerstich getroffen. André war verschwunden. Die Erde oder das Meer hatte ihn verschlungen. Und doch, unvorstellbar, daß er nicht wiederkäme. In dieser schrecklichen Zeit hatte sie niemanden, mit dem sie reden konnte, nicht einmal über den Krieg. Ihre Kinder waren noch zu jung und dazuhin Südstaatler wie alle Menschen, die sie kannten. Es wäre falsch gewesen, grausam und gefährlich, sie mit den Zweifeln ihrer Mutter zu verunsichern. Eines Tages kam der junge Eugene zornig und den Tränen nahe aus der Schule heim. Er warf seine Bücher auf den Salonboden, seinen Eltern vor die Füße. »Die anderen in der Schule haben über Onkel David geredet!« stieß er hervor. »Ich habe mich so geschämt. Ich hasse ihn wegen dem, was er uns angetan hat.« Miriam spürte, daß ihr Herz kurz aussetzte. Ruhig fragte sie: »Was hat er uns denn angetan?« »Das wissen Sie doch! Er hat Onkel Sylvain umgebracht…« »Nun warte mal. Er ist kein Mörder, Eugene. Es war eine politische Auseinandersetzung, eine schreckliche, häßliche Sache, aber kein Mord, sondern eine Kontroverse.« 302
»Eine politische Auseinandersetzung? Aber er ist auf der falschen Seite gestanden, ein dreckiger Abolitionist! Ich mag es nicht, daß man mir Vorwürfe macht, weil er zu meiner Familie gehört!« Der Junge schaute seinen Vater an, als suche er Unterstützung. Sein Vater sagte nur: »Keiner von uns ist für seine Verwandten verantwortlich. Das ist alles, was du deinen Kameraden entgegenhalten mußt, immer wieder entgegenhalten mußt.« »Sie meinen, daß ihm jemand aus der Familie bei der Flucht geholfen hat. Sie behaupten, daß er nur mit ein paar Minuten Vorsprung entwischt ist…« »Blanker Unsinn!« Miriams Atem stockte, weil ihr Herz erneut aussetzte. Nach ein paar Sekunden fuhr sie in scharfem Ton fort: »Niemand aus dieser Familie hatte irgend etwas mit dem zu tun, was David tat. Er war immer sein eigener Herr und gab selbst auf sich acht…« »In der Tat.« Die Stimme des älteren Eugene klang grimmig: »In der Tat. Hoffen wir, daß er in dem Krieg, den er und seinesgleichen über uns bringen werden, auch auf sich selbst achtgeben kann.« »Ich kämpfe, wenn es Krieg gibt!« Der Junge ballte die Fäuste und fügte in seiner Unwissenheit und Unschuld hinzu: »Maxim und Chanute werden auch kämpfen! Ihr werdet sehen, wir alle werden kämpfen!« Armer Kleiner, dachte Miriam. Armes Land. Dreißig Millionen Menschen rennen in den Krieg. Das sagte sie eines Abends zu Fanny, als diese atemlos angerannt kam wegen der Sperrstunde um neun Uhr, die über alle Neger der Stadt verhängt worden war eine schimpfliche Behandlung. Peinlich berührt hatte Miriam am ersten Abend nach der Verhängung die Augen vor dem Mädchen niedergeschlagen. »Dunkles Blut auf dem Mond«, hatte Fanny gesagt, eine ebenso gute Art wie jede andere, ominöser Angst Ausdruck zu verleihen. Dunkles Blut auf dem Mond.
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Von der Galerie des Senats strömte der Beifall wie goldener Regen auf Judah Benjamin herunter. »Das Kriegsglück mag gegen unsere Truppen stehen«, sagte er an die Adresse des Nordens, »ihr werdet vielleicht Verwüstung in unser friedliches Land bringen und mit Fackel und Feuerbrand unsere Städte in Flammen setzen – aber unterwerfen könnt ihr uns niemals.« Südkarolina erklärte als erster Staat den Austritt aus der Union. Als die Reihe an Louisiana kam, schrieben Picayune und Crescent in englischen Sätzen von Ehre und Tod der Union. Das Bundesfort Sumter im Hafen von Charleston wurde vom Süden eingenommen, und Lincoln rief Freiwillige zu den Waffen. Robert E. Lee, der die Sklaven, die als Familienerbe an ihn übergegangen waren, freigelassen hatte, lehnte das Kommando über die Unionstruppen ab und ging, innere Qualen leidend, heim nach Virginia, um den Seinen beizustehen. Der Krieg war da. Südwinde brachten feinen Aprilregen vom Golf und eine feuchte Luft, die Angeliques schwarzes Haar ringelte und die jungen Blätter der Jasminbüsche entrollte. Ölweiden sandten ihren Ledergeruch über die Veranda. In den Amberbäumen zwitscherten und raschelten Schwärme von Kardinalsvögeln, als Miriam, die stets als erste aufstand, ans Fenster trat, um auf das Erwachen der Stadt zu warten. Die Stadt erwachte ganz plötzlich, als Soldaten vom Land herein und aus den Häusern heraus strömten und die schmalen Straßen mit lautem Trommelschall erfüllten. Glanz lag auf allem, auf den Schwertern, den Manschetten aus Goldspitze und dem Fell schöner Pferde. Und auf den Schultern der Frauen, die inzwischen ebenfalls ins Freie strömten, wehten leuchtende kleine Konföderiertenflaggen. Ein paar Stunden später bemerkte Eulalie, daß Miriam keine solche Flagge trug. Eulalie war kühner geworden, als bestünde zwischen ihnen eine Art Abmachung: ihr Schweigen über die Sache mit André als Gegenleistung für Miriams Fügsamkeit in allem anderen. Am 304
folgenden Nachmittag kam Eulalie mit Pelagie zu Besuch, zog eine kleine Flagge der Konföderierten hervor und heftete sie Miriam an die Schulter. Kurz danach erschien Rosa, und sie trug ebenfalls eine Flagge. Miriam blickte auf das fremdartige Stoffstückchen. So wurde man also einfach hineingezogen. Es wäre unmöglich gewesen, dieses Emblem in dieser Gesellschaft nicht zu tragen. »Meine Söhne haben ihre Marschbefehle erhalten«, berichtete Rosa. »Henry geht ins Fort St. Phillip und Herbert zur Marine. Man hat ihnen Offizierspatente verliehen«, fügte sie hinzu, um einen beiläufigen Ton bemüht. Pelagie erklärte: »Alexandre und Lambert sind zu jung für Offizierspatente, aber natürlich haben sie sich freiwillig gemeldet. Alexandre ist bei den Mounted Wildcats, Lambert bei den De Soto Rifles.« »Ich würde mich schämen, hätten sich meine Neffen nicht sofort freiwillig gemeldet«, sagte Eulalie. »Eine Frau in unserer nächsten Nachbarschaft, ich will den Namen auf keinen Fall nennen – ihr Sohn hat mit der Post ein Paket bekommen, in dem ein Unterrock war.« »In einigen Städten«, erzählte Pelagie schaudernd, »hat man angeblich junge Männer, die sich nicht freiwillig melden wollten, geteert und gefedert.« »Sehr richtig, daß man das tut!« rief Eulalie. »Ich habe auch gehört«, sagte Rosa leise, »daß man erwägt, die Leute einzusperren, die zugunsten des Nordens sprechen.« Unter den glatten weißen Muscheln ihrer Augenlider hervor warf sie Miriam einen raschen Blick zu, der eine ängstliche Warnung vermittelte. »Ich bin stolz auf meine Söhne«, sagte Pelagie. Ihre runden Wangen waren rot vor Freude. »Lambert hat mir erklärt: ›Es geht um die Verteidigung des Frauentums der Südstaaten, Mama.‹ Bestimmt werden sich alle Labouisse-Vettern auszeichnen. Sie stellen übrigens eine Kompanie zusammen. Söhne der besten Gesellschaft. Ja, wir können alle stolz sein. Sogar meine Köchin Belinda bäckt ganze 305
Schachteln voll Plätzchen für Lambert und Alexandre. Die beiden sind ihre Jungs.« Plätzchen und Gewehre. Gewehre und Plätzchen, dachte Miriam. Vor ihrem inneren Auge erschien unversehens das Bild eines der vielen Kinder Pelagies, eines blonden Jungen – welcher es war, wußte sie nicht mehr. Sie hatte ihn auf der Schaukel angeschubst, lange bevor sie selbst Mutter geworden war. Er hatte sein Plätzchen ins Gras fallen lassen und geweint. Jetzt würde er ein Gewehr tragen. Ihr Blick wanderte zu Angelique, die in einer Ecke saß und Bandagen nähte. Sogar Schülerinnen, die im Vorjahr gelernt hatten, Aussteuerwäsche zu besticken, waren jetzt für den Krieg beschäftigt. Durch das offene Fenster hörte man die Stimme des jungen Eugene, der seinem Vater lateinische Deklinationen aufsagte. Die Stimme wurde tief, kehlig und heiser, dann krächzte und quiekte sie. Wie lange, und auch er würde ein Gewehr tragen? Um nicht ausgestochen zu werden, fragte Rosa: »Wißt ihr, daß David de Leon eben zum Generalarzt der Konföderierten Armee ernannt wurde? Er ist ein Vetter von Henry. Was für ein riesiges Netz von Vettern!« »Mein kleiner Louie ist sehr traurig«, erzählte Pelagie befriedigt, »weil er noch nicht alt genug ist, um einzurücken!« »Vielleicht dauert der Krieg so lange«, sagte Miriam, »daß sein Wunsch noch in Erfüllung geht.« Pelagie bemerkte die Ironie in ihren Worten nicht. »Oh, es heißt, daß er in einem Monat zu Ende sein wird. Am Karfreitag bin ich in neun verschiedene Kirchen gegangen und habe um den Sieg gebetet. Als ich wieder zu Hause ankam, hatte ich das sichere Gefühl, daß wir siegen werden.« In Miriams Tasche knisterte ein Brief von David. Ich bin in eine Sanitätseinheit eingetreten… England wird die Konföderierten Staaten als Kriegsmacht anerkennen… Es braucht Baumwolle für die Spinnereien in Lancashire… Sein Adel steht
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ohnehin auf der Seite des Südens… Das wird ein erbitterter, harter Krieg… Vielleicht Jahre. Wie stets hütete sie seinen Brief gleich einem Schatz und las ihn immer wieder, bis sie jedes Wort klar im Gedächtnis hatte. Zum erstenmal bin ich froh, daß Du so weit weg bist. Ich bin bei Gott kein Militärexperte, aber ich glaube wirklich nicht, daß der Krieg bis zu Euch vordringt. Er wenigstens bleibt Dir also erspart. Ich wünschte, Dir könnte jedes Leid erspart bleiben! Du hast solche Lasten zu tragen – die Dinge, über die wir gesprochen haben, bestehen vermutlich noch immer und werden vergrößert, kompliziert durch Dein Mitleid für ihn, seit er sein Augenlicht verlor… Aber Du bist sehr stark. Ich glaube nicht, daß Du überhaupt weißt, wie stark Du bist. Gabriel und ich wissen es schon immer – Du wirst dafür sorgen, daß alles weitergeht für Deine schönen Kinder. Ich denke ständig an sie… Eines Tages, in einer viel besseren Zeit, werde ich sie dann daran erinnern, daß ich es war, der sie in ihren ersten Minuten auf dieser Erde hielt… Pelagies Stimme riß Miriam aus ihren Gedanken an den Brief: »Eulalie hat das prächtigste Seidenbanner für die Parade genäht, die nächste Woche im Lager stattfindet.« Seit Sylvains Tod hatte Pelagie nicht mehr so jugendlich oder begeistert gewirkt. »Das wird eine großartige Angelegenheit! Ich mußte mir dafür ein neues Kleid besorgen. Ist dir schon aufgefallen, wieviel weiter die Röcke dieser Saison sind? Man sieht wirklich passe aus in einem Kleid, das älter als ein Jahr ist.« Ich begreife das alles wirklich nicht, dachte Miriam, während sich die Frauen unterhielten. Der Chor stand auf und sang: »Sei mir gnädig, o Gott.« Psalm 57 hieß es in der Gottesdienstordnung. An diesem Juninachmittag des Jahres 1861 saß Miriam in der überfüllten Synagoge, 307
weil Präsident Jefferson Davis einen Tag des Gebetes für die Regierung verfügt hatte. »Unter dem Schatten deiner Flügel habe ich Zuflucht, bis daß das Unglück vorübergehe.« In der Bank hinter ihr brachte eine Frau die Luft mit einem Palmettofächer in Bewegung. Die Hitze war erdrückend, aber nicht nur die Temperatur lastete auf Miriam, sondern auch ihre Unruhe. Angelique gähnte. Als sie den mahnenden Blick ihrer Mutter auffing, legte sie die Hand in dem weißen Handschuh an den Mund. Leichte Röte färbte die hohen Backenknochen des Mädchens; eine Strähne ihres seidigen Haars lag feucht auf der Stirn. Sie begann mit ihren Armbändern zu spielen, verursachte in der Stille ein Klimpern. Miriams Stirnrunzeln verschwand sofort wieder: Wie sollte dieses Kind sich vorstellen können, was kam? Mochten ihre Armbänder doch klimpern! Sie würde es früh genug erfahren, früh genug. Nun folgte der neunundzwanzigste Psalm. Die Gemeinde stand auf. »Der Herr wird seinem Volk Kraft geben; der Herr wird sein Volk segnen mit Frieden.« Die getragene Musik verklang, und die Gesetzesrollen wurden in die Bundeslade zurückgestellt. Gebete und Bitten um Gnade. »Weißt du, daß Gabriel mit dem Zehnten Louisiana ausrückt?« fragte Eugene. Sie wußte es nicht. Sie hatte ihn nicht mehr gesehen seit dem Tag, an den sie sich Gabriels und ihrer selbst wegen ungern erinnerte. »Rosa hat doch gesagt, er bekäme irgendeinen Regierungsposten«, entgegnete sie. »Er hat ihn abgelehnt. Er wollte keine Sinekure. Ich bewundere ihn dafür.« Emma überlegte laut, ob Gabriel wohl General Beauregard zugeteilt würde. »Gute alte französische Familie, die Beauregards. Mrs. Beau308
regard sagt, daß sie kaum englisch spricht, nur wenn sie unbedingt muß.« »Wir müssen am Tag seiner Abreise ein Diner für ihn geben, ein Galadiner«, erklärte Eugene. »Du könntest Maxim gleich mit den Einladungen losschicken«, fuhr er lebhaft fort. Der Krieg hatte ihm wieder Leben verliehen. »Was ißt er gern? Wir müssen alle seine Lieblingsgerichte auftischen.« »Ich glaube«, erinnerte sich Emma, »daß er Gumbo besonders gern mag.« Ferdinand, der seit jeher das Talent zum vollendeten Gastgeber besaß, konnte ebenfalls etwas beitragen: »Und Lattich in brauner Tunke, wie ihn Seraphina zubereitet. Dann Braten in Champagnersauce. Und Plumpudding. Dafür ist zwar nicht die Jahreszeit, aber das macht nichts. Und Vanillemeringen. Die mag er auch.« Eine doppelte Reihe vergoldeter Knöpfe zierte die Vorderseite von Major Carvalhos grauem Uniformrock. Mit seinem Säbel und seinen Militärstiefeln war Gabriel ein anderer Mann, ein Fremder. Miriam hatte nicht gewollt, daß er zu ihrer Rechten saß, aber Sisyphus, für das Protokoll zuständig, hatte den Ehrengast natürlich dort placiert. Erleichtert darüber, daß er nach der unumgänglichen Begrüßung nichts weiter zu ihr sagte, widmete sich Miriam dem Mann zu ihrer Linken. Er war einer von Emmas vielen Cousins, ein geschwätziger Alter, der von ihr nur erwartete, daß sie zuhörte, während er über Belanglosigkeiten redete. Die allgemeine Unterhaltung drehte sich unterdessen um die Sorgen, die seit Kriegsausbruch jedermann beschäftigten. »Wenn wir keine Baumwolle liefern, werden die europäischen Mächte bald danach hungern, und dann müssen sie auf unsere Seite übergehen.« »Nein, nein, wir sollten möglichst viel Baumwolle produzieren, mehr als je zuvor, und sie sofort nach Europa schicken, um uns Kredite zu schaffen.« 309
»Verbrennen sollte man sie, finde ich! Viele Plantagenbesitzer in Georgia und Südkarolina tun es schon. Was taten die Russen, als Napoleon Moskau besetzte? Sie brannten die Stadt nieder.« »Unsinn! Die Unionstruppen kommen nie und nimmer bis zum Baumwollgürtel…« Gabriel hatte bis jetzt geschwiegen, nun schaltete er sich ein: »Unterschätzen Sie sie nicht. Es könnte sogar geschehen, daß sie New Orleans bedrohen.« Seine Worte lösten entsetzte Protestrufe aus. »An den Forts kommen sie bestimmt nicht vorbei«, wandte Eugene ein. »Wir haben Redouten mit Geschützen über eine Länge von sechzig Meilen, von den Forts bis zur Stadt. New Orleans bedrohen! Im Gegenteil, wir werden sie in Washington besuchen!« Ferdinand ergänzte: »Sie werden im Osten so beschäftigt sein, daß sie sich mit uns nicht abgeben können.« Er, der einst einen Krieg für unmöglich gehalten hatte, war jetzt, nach Kriegsausbruch, zum eifrigsten Strategen geworden: »Aber falls sie es doch versuchen sollten – ich betone, falls –, werden sie von flußaufwärts kommen.« »Die Forts sind uneinnehmbar«, erklärte Eugene nachdrücklich. »Die Briten konnten 1815 schon das eine nicht knacken, und jetzt haben wir zwei. Glauben Sie, Gabriel, daß sie einen Angriff versuchen werden?« »Ich glaube schon«, antwortete Gabriel fest, »und sie könnten sogar Erfolg haben.« »General Lovell wird die Sache in der Hand haben«, meinte Emma. »Ich kenne die Familie, ein reizender Herr, ein tapferer Mann.« Ferdinand meldete sich erneut zu Wort: »Die Marine hat fünfzehn Schiffe vor den Forts liegen…« Rosa unterbrach ihn: »Mein Herbert sagt, daß an den Panzerschiffen Louisiana und Mississippi niemand vorbeikommt, wenn sie fertig sind. Ich begreife nicht, wie du so reden kannst, Gabriel. Es ist gar nicht deine Art, so düster zu sein.« »Realistisch, nicht düster«, entgegnete Gabriel.
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Er rutschte unruhig auf seinem Stuhl hin und her, streifte dabei mit dem Bein Miriams Kleid. Offenbar war er sich dieser Berührung allzu deutlich bewußt, denn er rückte rasch weg. Sie spürte seine Verwirrung genauso stark wie ihre eigene. Das Diner zog sich endlos hin, es war steif und dauerte viel zu lange. Die Leute sollten essen und, wenn sie fertig sind, vom Tisch aufstehen, dachte Miriam ungeduldig. »Haben Sie gehört«, fragte Rosa in die Runde, »daß André Perrin den Auftrag erhielt, in Übersee Bündnispartner zu suchen? Vor allem Frankreich soll er gewinnen, glaube ich. Dafür müßte er sich perfekt eignen, er kennt das Land sehr gut. Er hat solchen Schliff, das ist so einnehmend bei einem Diplomaten«, fügte sie unschuldig hinzu. »Ja, eine ausgezeichnete Wahl!« pflichtete ihr eine Männerstimme bei, nicht die Eugenes und auch nicht die Gabriels. Wer gesprochen hatte, wußte Miriam nicht, denn sie betrachtete angelegentlich ihren Teller, auf dem eine feine Randbemalung in Kobalt und Gold chinesische Phantasiepagoden einrahmte. Wenn das stimmte, war er also wieder in Frankreich. Bei Marie Claire. Um neben ihr herzuleben wie sie neben Eugene? Die Spannung in ihr, die Spannung zweier dunkler Jahre seit Andrés Weggang wurde unerträglich. Sie konnte keinen Moment mehr länger stillsitzen, sondern mußte sich bewegen, auch wenn das auf die Gäste keinen guten Eindruck machte. Aus den Augenwinkeln sah sie, daß Gabriel sie anschaute. Sie wagte nicht, seinen Blick zu erwidern. Darum konnte sie nur vermuten, daß er sich mit seiner morbiden Neugier selbst quälte, indem er beobachtete, wie sie auf die Erwähnung Andrés reagierte. Sie fragte sich, ob die roten Nervositätsflecken schon ihre Stirn färbten. Eugene hatte sich endlich erhoben, und Sisyphus führte ihn zur Tür. Das Diner war beendet. »Der Zug fährt um acht Uhr. Wir haben genügend Zeit, wenn wir jetzt aufbrechen«, sagte Eugene. 311
Gabriel protestierte: »Es ist weit zum Bahnhof, und es ist sehr heiß. Wirklich, ich habe nicht erwartet, daß jemand mitkommt.« »Wir begleiten Sie zur Bahn«, entgegnete Eugene fest. Pferde, Wagen, Soldaten und ihre Angehörigen drängten sich entlang des Zugs, der die Männer zum Camp Louisiana im Norden Virginias bringen sollte. Einige Soldaten hatten sich bereits in die Waggons gesetzt und begannen zu pokern, während ihnen Freunde durch die Fenster Brathähnchen und kalte Getränke hineinreichten. Manche waren schon betrunken. Man hörte viel Gelächter, tapfere Versprechungen, feierlich-ernste Ermahnungen und tränenreiche Abschiedsworte. Kleine Kinder wurden auf uniformierte Schultern gehoben, besorgte Mütter hielten ihre unruhigen Sprößlinge fest, Liebende trennten sich. Und zu dem Ganzen schmetterte triumphierend eine Blaskapelle. »Ich habe dir Eis in einen Eimer gepackt«, sagte Rosa. »Erinnere Lorenzo daran, daß es unter deinen Sachen ist.« »Ich brauche Lorenzo wirklich nicht«, erklärte Gabriel. »Er hat zu Hause für dich genug zu tun.« »Unsinn! Was denkst du denn? Jeder Offizier hat seinen Burschen. Wer soll denn deine Pferde versorgen und für dich kochen und deine Kleider waschen? Denk daran, daß er deine Uhr hat, und ich habe ihm dreihundert Dollar in Gold gegeben, falls du etwas kaufen mußt, obwohl ich ziemlich sicher bin, daß ich an alles gedacht habe.« Eugene schnaubte: »Dreihundert Dollar! Passen Sie bloß auf, mein Lieber, daß Ihr Lorenzo nicht damit zu den Yankees überläuft!« »Unsinn!« sagte Rosa erneut. »Er vergöttert Gabriel. Das würde er nie tun. Und warum sollte er weglaufen? Er lebt genauso gut wie Gabriel, wie wir alle. Wo könnte er ein besseres Leben haben?« Die Lokomotive pfiff dreimal, und die Männer begannen einzusteigen. Rosa verlor jäh ihren heiteren Mut und ihren Stolz: »Ach, meine Söhne, mein Bruder – alles fällt auseinander! Wann wird das Leben wieder normal werden?« Ihre Nase lief. Sie wühlte in ihrer 312
Handtasche nach einem Schnupftuch. »Ich schäme mich so! Aber ich kann nicht anders…« »Komm«, sagte Gabriel sanft, »komm, Rosa, du schaffst das schon. Es wird schon gutgehen. Wir Männer brauchen euren Mut. Komm, meine Liebe.« Über Rosas bebende Schultern hinweg gab er Miriam durch einen Blick zu verstehen, daß er sie sprechen wollte. Er zog sie beiseite: »Nein, fürchte nichts! Es geht nur um Rosa. Wirst du für sie sorgen? Trotz ihrer tapferen Reden und ihrer Weltklugheit ist sie nicht annähernd so stark oder vernünftig wie du.« Miriam konnte es nicht lassen zu fragen: »Bringst du es wirklich fertig, mich für vernünftig zu halten?« »Ich glaube, du hast noch gar nicht erkannt, wie vernünftig du bist.« Typisch Gabriel, in Rätseln zu sprechen! »Ich verspreche dir, mein möglichstes zu tun.« »Sie wird eine Freundin brauchen.« »Keine Sorge, ich bin ihre Freundin.« »Danke.« Damit schien alles gesagt, doch er ging nicht. Der Kies und die Asche unter ihren Füßen brannten von der Hitze durch ihre Schuhsohlen. Gabriel blieb stehen und forschte ganz offen in ihrem Gesicht, gab jedoch, wie gewöhnlich, nichts von sich selbst preis. Gott allein wußte, was er dachte, wo seine Gedanken waren! Da er auch nur ein Mensch war, hatte er sich wahrscheinlich Miriam und den anderen Mann vorgestellt, zusammen in einem seidenbezogenen Bett, wahrscheinlich hatte er über schläfrige Nachmittage und dunkelblaue Nächte nachgegrübelt. Wenn dies stimmte, litt er sicher immer noch. »Ich bin auch deine Freundin, Gabriel«, sagte sie weich. »Das war ich seit jeher. Ich werde stets deine treue Freundin sein.« Die falschen Worte! Sein Gesicht verkrampfte sich. »Sei bitte nur Rosas Freundin. Ich fürchte, für sie könnte es sehr hart werden.« 313
Das schrille Pfeifen erklang ein letztes Mal, die Soldaten eilten zu den Waggontüren, und Gabriel verschwand in dem Gedränge. Die kleine Gruppe seiner Begleiter blieb zwischen den anderen stehen, bis der Zug außer Sicht war. Als sie in der beginnenden Abenddämmerung heimfuhren, sagte Eugene: »Ich wünschte, ich hätte mitfahren können.« Dann schwieg er bis nach Hause. Miriam wußte, daß sich der Mann neben ihr schmerzhaft seines Rechts beraubt fühlte, in dem großen Abenteuer Krieg seine Männlichkeit zu beweisen. Sie dachte, wie seltsam es doch sei, daß diese Tragödie bei vielen Menschen solch heitere Erregung erzeugte. Selbst Gabriel hatte mit seinem Säbel geprunkt. Auf allen Straßen, von allen Balkonen und über allen Hauseingängen wehte die Staatsflagge. In den Fenstern vergoldeten brennende Kerzen und Gaslampen den Abend. Beim Lager draußen schoß eine Kanone den letzten Abschiedssalut, und der Krach scheuchte die Tauben auf dem Platz hoch. Eugene und Angelique standen auf den Eingangsstufen, schwenkten noch immer ihre kleinen Flaggen. Als der Junge seine Eltern erblickte, kam er sofort herangelaufen. Seine Augen glänzten, und seine Stimme war heiser, denn er hatte den ganzen Nachmittag auf den Straßen den Soldaten lautstark zugejubelt. »Warum dürfen wir nicht mitkommen?« fragte er. Genau wie seinen Vater quälte ihn Enttäuschung, weil er den Krieg nicht miterleben konnte. »Es war doch nicht genug Platz im Phaeton«, sagte Miriam entschuldigend. »Aber ich verspreche dir, daß wir dich mitnehmen, wenn wieder jemand verabschiedet wird.« Der Junge konnte kaum still stehen: »War es schrecklich aufregend?« Sie lächelte ihren Sohn an, ihren hübschen, zärtlichen Sohn, und tröstete sich einmal mehr mit dem Gedanken: Er ist erst zwölf, Gott sei Dank. »Ja, ja«, antwortete sie. »Es war aufregend. Sehr aufregend.« 314
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I
m Lauf eines Jahres änderte sich alles grundlegend. Miriam ging mit Fanny vom Markt nach Hause. Sie hatte eben eine ungeheure Summe für eine zähe, schmierige Meeräsche bezahlt, im Volksmund ›Biloxi-Schinken‹ genannt, nach der nahen Hafenstadt. Am Flußufer wurde ein dreimastiger Schoner mit Baumwollballen beladen, er sollte in der Nacht dann mit verdunkelten Lichtem die Blockade brechen, nach Havanna und weiter nach London oder Paris segeln. Paris. Plätze wie der Jackson Square. Hatte André nicht einmal gesagt, der Jackson Square ähnele dem Place des Vosges? André ging über den Platz dort, er hatte einen raschen Gang, lief fast; sie konnte den Klang seiner eiligen Schritte auf dem Pflaster hören. Es gab dort große Amtsgebäude aus Stein, Parks, Cafés, junge Frauen mit süßen Mündern, Parfüm, Perlen… Ein Schauder ließ ihren Körper erzittern, sie blieb stehen und schloß die Augen. »Ist Ihnen nicht gut?« fragte Fanny. Sie war in Paris gewesen. Sie hatte Fanny vergessen, über deren wachsames Gesicht nun ein halb besorgter, halb forschender Ausdruck huschte. Wieviel wußte oder erriet Fanny? Das konnte man bei Dienstboten nie sagen, sie waren so ängstlich, so schlau und bestens darin geschult, nichts zu offenbaren, aber immer zu beobachten, um keinen Anstoß zu erregen. Miriam blinzelte, zwang sich in die Wirklichkeit der Straße und des Morgens zurück. »Doch, doch, alles in Ordnung. Ich bin nur ein bißchen müde.« Er hatte nicht geschrieben; natürlich fürchtete er, sie Eugenes Zorn auszusetzen; oder vielleicht hatte er geschrieben, und die Post war nicht durchgekommen. Es kamen kaum mehr Schiffe durch. Die Blockade drohte New Orleans zu ersticken, sie war ein Strick um den Hals der Stadt. 315
Eine Querstraße weiter holte man eine Kirchenglocke vom Turm, um sie einzuschmelzen und eine Kanone daraus zu machen. Der Krieg hatte in der Tat alles verändert! Seltsam, wie man von der Kriegswelle mitgerissen wurde, während man doch gehofft hatte, sie an sich vorbeiziehen lassen zu können. In der Synagoge gaben Frauen eine Tanzgesellschaft, um Geld für arme Familien zu beschaffen, deren Männer im Feld waren. Alle Frauen strickten für die Soldaten Socken oder Handschuhe; Säckchen mit grauer Wolle standen in jedem Salon. Man schickte der Armee Decken. Man trank keinen Kaffee mehr und aß kein Fleisch mehr, damit die Truppen besser mit diesen Dingen versorgt werden konnten. Merkwürdig, schmerzlich und merkwürdig, daß man diese Dinge aus vollem Herzen tat und gleichzeitig hoffte, die andere Seite, auf der David mit den Männern in Blau stand, würde siegen! Rosa de Rivera überquerte den Jackson Square und trat zu Miriam. »Ich bekam heute einen Brief von Gabriel. Soll ich ihn dir vorlesen? Oder möchtest du ihn lieber nicht hören?« Die zweite Frage stellte sie mit einer Miene, aus der zu ersehen war, daß sie meinte, der eigentlich völlig normale Brief müsse für Miriam eine besondere Bedeutung haben. Sie genießt diese ›Situation‹! dachte Miriam. Unerwiderte Liebe zu einer verheirateten Frau. Pikant, traurig und ein bißchen skandalös. »Natürlich möchte ich ihn hören«, antwortete sie ruhig. »Setzen wir uns, und du liest ihn mir vor. Fanny, geh schon voraus nach Hause.« Rosa begann zu lesen. Ich war bei Siegen und Niederlagen dabei. In Manassas Junction, wo wir gemeinsam gewannen, und im Kampf um das Fort Donelson, den wir verloren. Beides war gleich furchtbar. Vor meiner ersten Schlacht war ich begeistert. Sie erschien mir als mitreißende Sache trotz des Übels, das der Krieg bedeutet, als Chan316
ce zu zeigen, was der Mut des einzelnen, tausendfach multipliziert, bewirken kann. Vielleicht sogar entscheidend bewirken, um den Krieg zu beenden? Wie dem auch sei, ich ging zu meiner großen Verwunderung furchtlos in die Schlacht, mit einem Gefühl der Macht. Doch das alles war sehr schnell vorbei. Am nächsten Morgen traf mich die Wahrheit wie ein Schlag ins Gesicht. Es war ein Sommermorgen – vermittelt nicht schon dieses Doppelwort Sinn genug? Ein Sommermorgen, und in dem Grün bildete die rote Erde der Brustwehren eine Wunde, die hinzukam zur Summe verwundeter Menschen, deren es furchtbar viele gab. Diese frische, blühende Erde, und was hatten wir ihr angetan! Zahllose junge Männer, und was hatten wir einander angetan! Das Unionsdepot war von uns eingenommen worden, aber weil es nicht genügend Waggons gab und wir nicht viel wegschaffen konnten, mußten wir es in Brand stecken. Es brannte die ganze Nacht. Von dem gewaltigen Freudenfeuer blieb nur ein Haufen übrig, ein kleiner Hügel rauchender Ruinen, in denen Funken glühten wie aus der Hölle schauende, böse rote Augen. General Lee erlaubte den Unionisten, ihre Verwundeten einzusammeln. Ihre und unsere wurden unter die Bäume gelegt, soweit wie möglich auseinander, und vor der glühenden Sonne geschützt, so gut es ging. Die Verwundungen sind schrecklich, weit schlimmer als im Krieg gegen Mexiko, sagte man mir. Der Grund ist die Minièkugel, sie hat eine konische Form – eine teuflische Erfindung, sie zerfetzt das ausgefranste Fleisch. Nach kürzester Zeit ließen sich in diesen entsetzlichen Wunden Fliegen und Maden nieder. Die Männer, die in langen Reihen dalagen, wälzten sich in ihrer Qual, so daß eine wellenförmige Bewegung die Reihen durchlief. Es war, als krieche eine riesige Schlange über das Feld. Vielleicht sollte ich Dir diese Dinge nicht schreiben. Aber mir scheint, die Menschen sollten von solchen Schrecken erfahren, auch wenn ich keinerlei Möglichkeit sehe, sie zu verhindern. Jetzt, wo wir in diesem Krieg stehen, gibt es keinen anderen Weg, als 317
weiterzumachen. Ich weiß heute schon, daß ich bedauern werde, das alles geschrieben zu haben, aber genauso weiß ich, daß ich Dir lange nicht mehr schreiben werde, weil weder die Zeit noch der Ort dazu ist. Doch laß mich zu Ende berichten. Wie soll ich eine Schlacht beschreiben? Soll ich es überhaupt versuchen? Ja, denn mir scheint, daß die Menschen auch darüber Bescheid wissen sollten. Welch ein Getöse, welch ein Höllenspektakel. Sogar die Bäume werden verwundet, wenn Maschinengewehrkugeln sie zersieben. Man gerät in einen Regen von Blättern und Zweigen. Die Williams-Repetierkanone benutzen wir oder die Zwölfpfünder Napoleon. Die Gesichter unserer Leute sind schwarz vom Pulver. Der Lärm dieser Dinger ist unbeschreiblich. An den Boden gepreßt, hört man das Gekreisch fliehender Vögel und die furchtbaren Schreie verwundeter Pferde. Arme, unwissende Geschöpfe, deren einst gütige Herren sie da hineinführten! Oft ist das Warten auf die Schlacht am schlimmsten. Die Spannung ist manchmal unangenehmer und schwerer zu ertragen als das wirkliche Gefecht. Man weiß, was einem bevorsteht, und man fürchtet es, trotzdem wünscht man, es hinter sich zu bringen. Wir marschieren im niederprasselnden Regen, naß bis auf die Haut. Die meisten Männer haben keine Regenmäntel, und oft gibt es nicht genug Zelte. Viele müssen in der Nässe schlafen, ohne Schutz. Wir sind völlig verlaust; manchmal können wir wochenlang die Kleider nicht wechseln, und die Läuse nisten sich in den Säumen ein, so daß auch das Waschen die Kleider nicht von ihnen befreit. Die Männer schämen sich sehr, so schmutzig zu sein. Die Zahl der Kranken ist viel höher als die der Verwundeten. Das wissen die wenigsten. Vergangenen Sommer forderte der Typhus Opfer. Jetzt in der Kälte ist es die Lungenentzündung. Die Kälte und der Schnee sind sehr hart für die Jungs aus dem Süden. Und die ganze Zeit, bei Hitze wie Kälte, müssen wir uns vor Skorbut fürchten. Unsere Kost besteht aus Zwieback, gepökeltem Schweinefleisch, Kaffee und Bohnen. 318
Ich habe erlebt, daß ein Feldlazarett dem Feind preisgegeben wurde, weil wir zurückweichen mußten, um uns zu retten. Wir überließen die Unsrigen dem Schicksal, als Gefangene zu sterben oder, vielleicht noch schlimmer, ohne Betäubungsmittel zu leiden. O Gott, warum schreibe ich das alles? Vielleicht werde ich morgen früh den Brief doch nicht an Dich abschicken. Aber jetzt, während ich bei Kerzenlicht schreibe, scheint mir, daß mir die Geister all derer, die ich gesehen habe, über die Schulter schauen und sagen, ich müsse das aufschreiben. Ich erinnere mich an das Aussehen dieser Toten, die so anders sind als die weißen, stillen Leichname unserer Großeltern. Diese Toten sind rot und geschunden. Aber höre, was ich fürchte: daß ich mich daran gewöhne. Ich schaue auf einen toten Jungen herab, der gekrümmt zwischen seiner armseligen Habe liegt, seinem Blechnapf, seiner Pistole und Bratpfanne, seinem Tornister und den verstreuten Fotografien und Briefen von zu Hause. Ich schaue und gehe weiter. Was wird aus mir werden? Was für eine Art Mensch werde ich sein, wenn dies vorüber ist? Rosa steckte den Brief in ihre Handtasche. Schweigen herrschte, bis Rosa den Brief noch einmal hervorholte und sagte: »Fast hätte ich es vergessen. Da steht ein Postskriptum. Es lautet: ›Bitte grüße Miriam von mir. Ich hoffe, es geht ihr gut.‹« Aufrecht wie ein General stand Ferdinand vor der Karte, die im hinteren Salon an die Wand geheftet worden war, und las Eugene die Kriegsberichte vor. Die beiden Männer, Emma und ihre Töchter und der junge Eugene verfolgten das Kriegsgeschehen. Sie hatten sich über den Sieg bei Manassas gefreut, debattierten immer wieder darüber und schimpften auf Präsident Jefferson Davis. »Wir hätten nach Washington marschieren können und müssen«, erklärte Ferdinand. »Sie hätten uns nicht aufhalten können.« 319
Die Begeisterung, die bei Kriegsbeginn Eugenes Lebensgeister wieder geweckt hatte, verflog langsam. »Nein, nein«, entgegnete er. »Dieser Sieg kam zu früh, um wirklich etwas zu nützen. Er ließ uns glauben, wir seien unschlagbar.« Ferdinand dagegen war in seiner Zuversicht durch nichts zu beirren, und Miriam staunte über diesen Widerspruch. Einst hatte Papa die Möglichkeit eines Krieges ausgeschlossen, doch jetzt, nachdem er den Krieg akzeptiert hatte, faßte er ihn als eine Art anregendes Spiel auf, als komplizierte Übung. »Ich hätte nie gedacht«, erklärte Eugene düster, »daß Grant es schaffen würde, Johnston und Beauregard bei Shiloh zu schlagen. Jetzt ist der Mississippi offen bis herunter nach Vicksburg.« Gestern war General Johnstons Leichenzug als sichtbarer Beweis für die schreckliche Niederlage durch die St. Charles Street gezogen. Vor der Mündung des Mississippi, hundertfünfzig Meilen südlich der Stadt, lag die Unionsflotte und wartete darauf, behutsam auf die Forts vorrücken zu können. Das Kommando hatte Admiral Farragut, ein Sohn New Orleans', wie die Leute bitter sagten. Seltsam, immer seltsamer, dachte Miriam, diese verwobenen, widersprüchlichen Treueverhältnisse. Pelagies Alexandre, der Kurier im Stab des Stadtkommandanten Lovell war, brachte den Strategen im hinteren Salon täglich die neuesten Nachrichten. Seine rosigen Wangen glänzten vom Schweiß, atemlos verkündete er seine wichtigen Neuigkeiten: »Die Forts und die Stadt sind absolut sicher! Ihr werdet nicht glauben, was im Gange ist! Wir haben entmastete Schoner beschafft, acht an der Zahl, und mit Baumstämmen beladen. Sie sind mit Ketten verbunden und in einer Reihe über den Fluß postiert worden. Absolut unüberwindlich! Und in die Bayous haben wir Pfähle getrieben, wir haben Eichen dort versenkt, noch grün, ganze Mengen, fünfundvierzig Fuß breit. Auch durch sie käme man unmöglich! Und auf dem Fluß haben wir fünfzig mit Holz, Teeröl und Baumwolle vollgepackte Feuerflöße bereitliegen; niemand würde sich an eines von denen her320
anwagen, wenn es brennt, das kann ich euch versichern! Und an den Flußufern unter dem Fort hat General Lovell Einheiten von Scharfschützen postiert.« Ein paar Tage später kam er mit der Meldung angerannt, daß das Bombardement der Forts begonnen habe. Diesmal sprachen aus seinem Bericht die ersten Anzeichen von Unglauben, als könnte weder er noch jemand anderer das, was er gesehen hatte, auch nur im entferntesten erfassen: »Die Luft ist von der Schießerei so heiß, daß die Bienen zu schwärmen anfangen und zu fliegen versuchen. Und der Fluß ist voller toter Fische. Sie sagen, daß die Detonation der Geschütze sie tötet, ich weiß es nicht. Kann es mir nicht denken…« Er hatte die Arme auf den Tisch gestützt, um sich auszuruhen, und über sein unbekümmertes Gesicht huschte ein Schatten von Nachdenklichkeit. »Ihr hättet den Rauch sehen sollen, als die Feuerflöße den Fluß herabschwammen! Von dem Terpentin und dem brennenden Teer, wißt ihr. Ich mußte genau hinsehen, um Bericht erstatten zu können. Es war wie, wie – wie man sich die Hölle vorstellt, so dicker Rauch, daß wir kaum etwas sahen, und dann die gelben Flammen, wenn die Schiffe explodierten. Es heißt, Dutzende von Männern seien ertrunken; zuerst halb verbrannt, dann verbrüht von den Kesseln, dann ertrunken… Unionssoldaten größtenteils…« Er brach ab, und seine Augen öffneten sich weit, als habe er eben in diesem Augenblick begriffen, daß es Menschen waren, Menschen wie er selbst – verbrannt, verbrüht, ertrunken… »Rosas Herbert ist dort draußen auf dem Fluß«, sagte Miriam, sonst nichts. Die Feuerglocke ertönte am Morgen des 24. April, kurz nachdem die Bewohner des Hauses Mendes vom Frühstückstisch aufgestanden waren. Zwölf Bronzetöne vom Kirchturm, viermal wiederholt, erzeugten eine Schwingung, die durch Mark und Bein ging und jeden erstarren ließ, Sisyphus mit einem Tablett voller Geschirr, Angelique auf der Hälfte der Treppe, den Kopf geneigt und eine un321
ausgesprochene Frage auf den Lippen, die Hündin Gretel, die sich winselnd unter einem Stuhl verkrochen hatte. Emma bebte: »Alarm?« Ihre Augen baten um ein Nein. »Alarm. Schick sofort Maxim zum Nachrichtenbüro hinunter«, ordnete Eugene mit einem Funken seiner einstigen Befehlsgewalt an. »Er soll das Bulletin lesen.« Eine halte Stunde später kam Maxim zurück, strahlend in dem Bewußtsein, daß er einen wichtigen Bericht brachte: »Sie haben die Forts passiert. Die Forts haben standgehalten, aber die Kanonenboote kommen den Fluß herauf, auf die Stadt zu.« »Dann sind sie morgen hier«, sagte Eugene. Emma preßte die Hand auf den Mund und erstickte ein Aufheulen. Der junge Eugene war begeistert: etwas Ungewöhnliches würde passieren! Und ich, dachte Miriam, was empfinde ich? Furcht? Ja, natürlich. Hoffnung, daß der Krieg jetzt vielleicht endet? Aber nein, Kriege enden nicht so schnell. Dann wandten sich ihre Gedanken dem Unmittelbaren zu: Werden wir besetzt, oder werden sie die Stadt zuerst zerstören? Am späten Nachmittag erschien Alexandre. Er hatte sich von seiner Mutter verabschiedet, und Pelagie hatte ihn gebeten, die neuesten Nachrichten ins Haus Mendes zu bringen. »Ich gehe mit General Lovell ins Camp Moore. Der General hat beschlossen, die Stadt kampflos aufzugeben, damit der Feind keinen Grund hat, sie zu beschießen.« Der Elan und die Kraft des jungen Mannes wirkten wundersam belebend auf Emmas Moral. »Er macht uns Ehre«, rief sie, als ihr Enkel schwungvoll die Treppe hinuntereilte. »Er macht uns allen Ehre. Mit Männern wie ihm können wir nicht besiegt werden.« Trotz solcher Gefühle wurde die Stadt jedoch von Panikstimmung und Hysterie erfaßt. Die Leute gingen ziellos hin und her zwischen dem Flußufer und den bereitstehenden Evakuierungszügen. Seraphina ließ im Küchenherd den Braten anbrennen. Sogar Sisyphus, 322
der zuverlässigste von allen, vergaß die Haustüre zu schließen, als er wegging. Emma machte sich auf den Weg zu Pelagie, weil man von deren Haus freien Blick auf den Fluß hatte. Rosa kam, um sich versichern zu lassen – und es wurde ihr versichert –, daß keine Nachrichten über ihre Söhne gute Nachrichten seien. Ferdinand, der nicht stillsitzen konnte, schlug vor, mit dem jungen Eugene, Angelique und Blaise in die Stadt zu gehen und nachzuschauen, was sich tat. »Was haben sie an?« fragte Eugene. Diese Frage verwirrte Miriam: »Was sie anhaben?« »Ja. Ich möchte, daß sie sich herausputzen. Daß sie Stolz zeigen. Selbst wenn wir die Stadt verlieren, ist es für uns nicht das Ende. Wir dürfen nicht geschlagen aussehen. Zieht eure besten Kleider an. Auch Blaise soll es tun, wenn er mitgeht. Hast du eine neue Uniform, Blaise?« »Ja, Sir.« Ein leichter Schatten huschte über Blaises Gesicht. »Hast du sie an?« »Nein, Sir.« »Dann ziehe sie an. Beeile dich.« »Er haßt seine neue Uniform«, erklärte Angelique, als Blaise gegangen war. »Fanny hat mir erzählt, daß er findet, er sehe darin aus wie der Affe des Leierkastenmannes.« »Unsinn!« rief Ferdinand ungehalten. »Ich habe mich selbst darum gekümmert, Wollstoff erster Qualität.« »Die Farbe haßt er. Purpur. Und die Messingknöpfe. Ich kann es ihm nicht verdenken. Ich fände es nicht schön, wenn mich jemand zwingen wollte, etwas anzuziehen, was mir nicht gefällt«, sagte Angelique. »Du bist du, aber Blaise ist ein Diener«, entgegnete ihr Vater. »Er sollte sich glücklich schätzen, daß er überhaupt hier ist, statt sich über seine Kleider zu beklagen.« Das Kind spürt, was sich anbahnt, wenn auch undeutlich, wogegen der Vater es von sich weist, dachte Miriam, während sie der davongehenden kleinen Gruppe nachblickte. Alles veränderte sich, beweg323
te sich auf eine Zeit zu, in der Blaise seine Dieneruniform wegwerfen würde. Eugene wollte oder konnte diese Zeit nicht kommen sehen. Ihr fiel der Morgen ein, an dem sie Eugene angefleht hatte, Blaise nicht zu verkaufen. Als Ferdinand zurückkehrte, bemerkte Miriam bei ihm einen seltsamen Widerspruch zwischen seiner Sorge wegen der aussichtslosen Lage der Stadt und seiner Erregung über die Dramatik der Ereignisse. »Fünftausend Ballen Baumwolle brennen!« rief er. »Auch Baumwollschiffe. Und Dampfschiffe, die Hafenanlagen, alles! Zucker und Melasse werden auf die Straßen geschüttet, die Leute schaufeln auf, was sie können!« »Die Baumwolle brennt?!« Eugene war entsetzt. »Verdammte Narren! Wir werden sie brauchen! Wissen sie das denn nicht?« »So lauten die Befehle. Die Maschinen zerschlagen und alles vernichten, was der Feind brauchen könnte. Tausende Menschen sind unten am Hafen…« Miriam stand auf der Veranda und schaute auf den schwarzen Rauch, der über der Levee aufstieg und emporwogte. Am unteren Straßenende gingen Frauen vorüber, arme, schäbig gekleidete Frauen und andere in Seide, gefolgt von einer Horde kleiner Negerkinder, die vermutlich meinten, hier finde eine Art Karneval statt. »Brennt die Stadt nieder!« kreischten die Frauen. »Laßt nicht zu, daß sie sie einnehmen! Steckt alles in Brand!« Einige von ihnen schwenkten Pistolen. Miriam war fast sicher, Eulalie zu erkennen. Die Welt ist verrückt geworden, dachte Miriam, alles ist zum Verrücktwerden. Die Nacht kam. Mit der niedersinkenden Dunkelheit trat Ruhe ein, als sei die Stadt erschöpft vom vergangenen Tag. Die Bewohner des Hauses Mendes gingen früh zu Bett. Einzig Miriam war noch unten im Salon, als Fanny in der Tür erschien. »Brauchen Sie noch etwas, Miß Miriam?« fragte sie gemäß dem allabendlichen Ritual. »Nein, danke, Fanny. Du kannst zu Bett gehen.« 324
»Und Sie gehen nicht?« Das scharfgeschnittene Gesicht drückte Besorgnis aus. »Noch nicht gleich, Fanny.« Die Tür schloß sich leise. Miriam hatte flüchtig den häßlichen Gedanken, daß die Besorgnis vielleicht nichts sei als eine kluge Maske. Sie hätte so gern gefragt: Wie denkst du über das alles, Fanny? Dieser Krieg wird schließlich für deine Befreiung geführt, zumindest teilweise, freust du dich also heute abend darüber, daß unsere Stadt wahrscheinlich fallen wird, oder macht dich der Gedanke an ihre Zerstörung ein bißchen traurig? Zum erstenmal bestand eine Barriere zwischen ihnen, etwas, das sie nicht mit ehrlichen, offenen Worten überwinden konnten. Nein, das stimmte nicht ganz. Über die Kernfrage ihrer Beziehung, die Besitzfrage, hatten sie auch nie gesprochen; ein stillschweigendes beiderseitiges Verbot hinderte sie seit jeher daran, zumal Worte hier ebenfalls nichts bewirkten. Also war es nicht das erstemal. Ob Fanny wohl ahnt, was ich über die Geschehnisse im Süden wirklich empfinde? Wahrscheinlich nicht, denn ich mußte meine Gefühle verbergen. Trotzdem, es gab Feinheiten in der Stimmung und im Verhalten, unausgesprochene Dinge, und Dinge, die man tat. Da war beispielsweise Fannys lebhafte Heiterkeit, die Miriam nach all den Jahren zwangsläufig als selbstverständlich ansah; aber wenn Fanny sich unbeobachtet wähnte und still war, bekam ihr Gesicht einen nachdenklichen, fast melancholischen Ausdruck; rief man sie beim Namen, verschwand der Ausdruck unverzüglich. Solchen Gedanken hing Miriam in dieser Nacht der Angst und Veränderung nach. Die hohe Uhr in der Halle hustete gebrechlich, ihrem Alter gemäß, dann schlug sie einmal: Bong! Halb eins. Miriam nahm ein Buch aus dem Regal, blätterte darin, fand keinen Sinn in den Worten, stellte es zurück und betrachtete die Reihen schöner Lederbände, Werke von George Eliot, Dickens, Cooper, die Verserzählungen und Novellen von Alfred de Musset. Die Erinnerung an glatte Seiten, 325
glatte Worte und herrliche Bilder erzeugte einen köstlichen Geschmack auf der Zunge und ein Funkeln vor den Augen. Kultiviert… Sie ging im Raum umher. In einer Silberschale auf dem Tisch fand sie ein übriggebliebenes Praline und vernaschte es. Im Eßzimmer nahm sie einen Pfirsich aus der Schale auf der Anrichte – sie aß zuviel und war immer noch hungrig. Wieder im Salon, blieb sie am Piano stehen und starrte es an. Es war rechteckig und aus Rosenholz. Ein Bostoner Fabrikat. Eines der Beine hatte eine Schramme, einst vom kleinen Eugene mit dem Trommelstab herausgeschlagen. Sie strich mit den Fingern zart über die Tasten, schlug sie nur ganz leicht an, dennoch war ihr heller Klang zu laut für die tödliche Stille im Haus. Die Hündin stand da und zeigte durch ein Winseln an, daß sie hinaus wollte. Miriam hob sie auf und trug sie ins Freie. Das warme kleine Geschöpf, es verstand kein Wort, und doch reagierte es auf menschliche Nöte. Hör mir zu, Gretel, ich bin ganz allein, es gibt niemand, dem ich sagen kann, was ich fühle. Und kannst du dir vorstellen, daß ich nicht einmal genau weiß, was ich wirklich fühle? Die Erde wartete in tiefster Stille. Gegen den milchigen Himmel wirkten die Dattelpalmen schwarz wie Begräbnisfächer. Plötzlich erklangen hallende, eilige Schritte, jemand hastete im Verborgenen vorbei. Miriam lief ins Haus und warf die Tür so heftig zu, daß die kleinen Kristallkugeln am Kandelaber der Halle verzweifelt klingelten. Sie lehnte sich an die Tür, die Hand auf ihrem wild klopfenden Herzen. Bald jedoch schämte sie sich ihres Entsetzens. Der Nachtriegel fiel ihr ein, und sie schob den fünf Fuß langen, an die Wand geschraubten schweren Eisenriegel zu. Dennoch, wenn sie herein wollten, kamen sie herein. Sie brauchten nur die obere Türhälfte zu zertrümmern und über den Riegel zu steigen, oder sie konnten die Fenster einschlagen… Im oberen Stockwerk fiel ein Lichtstreifen auf das Bett, in dem Angelique schlief. Mit ihren langen, fast bis zum Fußende reichenden Beinen und ihrem auf dem Kissen ausgebreiteten Haar sah sie wie 326
eine Frau aus. Das kleine Mädchen, das mit einer Puppe in jedem Arm geschlafen hatte, war weit weg und gehörte mittlerweile der fernsten Kindheit an. Auf der anderen Gangseite wurde eilends eine Kerze ausgeblasen, als Miriam an der Tür vorbeiging. Mochte der Junge ruhig glauben, sie wisse nicht, daß er entgegen den Befehlen seines Vaters die halbe Nacht las! Sie mußte an David denken, der vor so vielen Jahren in dem finsteren Dorf jedes Buch verschlungen hatte, das er in die Finger bekommen konnte. Ach, was würde der Krieg – der Sieg oder die Niederlage, je nachdem, auf welcher Seite man stand – diesen jungen Menschen antun? Allen hier im Haus, in der Stadt? André? Es gab keinen Lichtstrahl, der auch nur ein bißchen die Zukunft erhellt hätte. »Ich möchte auf die Levee«, sagte Eugene am Morgen. Miriam wußte, was er damit meinte, aber nicht über die Lippen brachte: Ich möchte die Ankunft der Unionsschiffe sehen. Sie selbst wollte einerseits ebenfalls hin, andererseits nicht. Wegen ihrer Zerrissenheit schaute sie zum Himmel, an dem dunkle Wolken wirbelten. Die ersten Regentropfen fielen und lieferten ihr die gesuchte Ausrede: »Es wird ein Gewitter geben.« »Ich bin durchaus in der Lage, ohne dich zu gehen«, entgegnete er. Sie kam sich töricht vor, denn natürlich war er immer ohne sie ausgegangen, überallhin. »Ich bin in einer Minute fertig«, sagte sie. Auf den Straßen herrschte solches Gedränge, daß ein Wagen nicht durchgekommen wäre. Voll trotziger Herausforderung strömten die Menschen in Scharen zu Fuß an den Fluß, ohne auf den Regen zu achten. Von der erhöhten Levee aus waren die Kanonenboote über die Köpfe der Menge hinweg gut zu sehen, denn der Fluß führte viel Wasser. Ihre auf die Stadt gerichteten Geschütze erinnerten Miriam an die bedrohlichen Mäuler wilder Tiere. 327
Ungeduldig verlangte Eugene eine Schilderung der Ereignisse. »Es kommen noch immer Schiffe um die Biegung.« Miriam befeuchtete ihre trockenen Lippen. »Insgesamt sind es sechs. Nein, sieben, acht. Voller Soldaten, alle bewaffnet.« Ihre Stimme begann zu zittern. Sie sagte nicht, daß auf den Schiffen Sternenbanner wehten, rund um sie auf der Levee dagegen Flaggen der Konföderierten Staaten. »Nieder mit dem Sternenbanner!« brüllte ein Mann. Seinen Ruf griffen Hunderte Menschen auf, darunter auch Miriams Kinder. Frauen weinten. Ein Mann mit einer Querpfeife begann ›Dixie‹ zu spielen, und die Menge begann zu singen, Emma voll tiefer Überzeugung, als singe sie eine Hymne. Wider jede Vernunft ging dieser vereinte Gefühlserguß Miriam ans Herz. Von der Hartford legte ein Ruderboot mit drei Offizieren ab. Eugene fühlte sich behinderter denn je: »Was tun sie jetzt? Würdest du mir bitte sagen, was passiert?« »Einige Offiziere kommen an Land. Auch Matrosen sind dabei. Ebenfalls mit Gewehren und Bajonetten.« Sie schritten vorbei, die Fremden – zu ihrem Entsetzen kam Miriam das Wort ›Eindringlinge‹ in den Sinn. Die Fremden in Blau mit ihren goldenen Adlern und ihren ernsten Gesichtern beachteten die Menge nicht, aber sie hatten Angst. Natürlich mußte diese drohende Menge ihnen Angst einjagen; sie waren so jung, wie David, der ihre Uniform trug. Miriam starrte sie an, als sie im Gleichschritt die Straße hinuntergingen. »Bestimmt gehen sie ins Rathaus«, sagte jemand. Die Menge schob sich hinter ihnen, dann neben ihnen her, zurückgehalten vom Anblick der Gewehre und Bajonette, aber brüllend: »Geht heim, verdammte Yankees!« Plötzlich öffnete der Himmel seine Schleusen, der leichte Regen verwandelte sich in eine wahre Flut. Gelbe Wolken wanden und drängten sich wütend zwischen die schwarzen. Der Regen machte den Fluß blatternarbig, spritzte vom Pflaster auf, peitschte die Bäume 328
und durchnäßte die noch immer auf der Levee stehende Gruppe. Der Regen griff so wild an, als sei der Fall der Stadt nicht genug Unglück für einen Tag. »Alles ist vorbei«, sagte Eugene, Tränen in den blinden Augen. Ferdinand entgegnete vorwurfsvoll: »Sag das nicht. Die Forts sind nicht gefallen.« »Was nützt das schon? Sie haben die Forts passiert. Und die Forts werden sich ergeben. Sie sind durchsetzt mit Leuten aus dem Norden. Kommt, gehen wir nach Hause.« Auf dem ganzen Heimweg murmelte er vor sich hin: »Die Ketten befanden sich nicht an der richtigen Stelle. Es war eine gute Idee, aber man hätte sie oberhalb des Forts St. Phillip placieren müssen, wo starke Strömung herrscht, nicht unterhalb Jackson, wo die Gegner sich fast unbemerkt hineinschleichen und sie abmontieren konnten. Narren, Narren«, wiederholte er mehrmals. »Und das ist erst der Anfang. In ein paar Tagen wird Butler mit seinen Truppen landen, und dann werden wir etwas erleben.« Vor der Haustür stand Sisyphus und schaute suchend die Straße entlang. Als er die Heimkehrenden gewahrte, lief er die Stufen herab. Sein altes Gesicht war feierlich-ernst wegen der Nachricht, die er zu übermitteln hatte: »Madame de Rivera hat einen Jungen hergeschickt. Mitteilung über ihren Sohn. Er ist gefallen im Kampf um den Fluß.« »Mein Gott!« rief Miriam. »Welcher Sohn ist es, hat er das gesagt?« »Mr. Herbert. Sie bittet Sie zu kommen.« Emma bekreuzigte sich: »Gottes Wille. Wir haben Ihn vernachlässigt, und jetzt straft Er unsere gerechte Sache. Wir müssen mehr beten.« Verbrüht. Ertrunken. Er war ein Kleinkind und konnte noch nicht laufen, als ich zum erstenmal in Rosas Haus kam. Jetzt ist er – war er – ein junger Mann mit einer jungen Frau und einem eigenen kleinen Kind. Verbrüht. Ertrunken. Sie riß sich zusammen: »Sofort. Ich gehe sofort zu ihr.« Aber welchen Trost konnte sie ihr bringen, was konnte sie ihr sagen? 329
»Ich gehe sofort zu ihr«, wiederholte sie, während die anderen wartend dastanden. Ferdinand war niedergeschmettert. Miriam konnte seine Gedanken lesen: Ich dachte, ich hätte das alles hinter mir gelassen, in Europa. Das dachte er, als er über die Schulter auf den Fluß und die Geschütze blickte. In ihrer Kindheit hatte sie einmal zugesehen, wie mehrere Bauern am Rand eines Teichs ein riesiges Netz ausbreiteten, um Zugvögel zu fangen. Sie hatte die Schreie, den Kampf, das Flügelschlagen und die schlaffen, gebrochenen Hälse nicht vergessen können. Jetzt schien ihr, als wäre die ganze Stadt, das ganze Land in einem solchen Netz gefangen.
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I
n der Halle unten erklangen scharfe Stimmen. Miriam eilte die Treppe hinunter und sah gerade noch, daß sich die Eingangstür hinter einem Soldaten in Blau schloß und Eugene in den Salon verschwand. Maxim hielt einen Brief in der Hand. »Ein Unionsoffizier, Miß Miriam. Er hat das von Ihrem Bruder gebracht. Er sagt, ist Freund von ihm und soll das selber abliefern. Mr. Eugene sagt, kein Unionsmann soll den Fuß in dies Haus setzen.« »Danke, Maxim.« Sie nahm den Brief und ging wieder nach oben, um ihn für sich allein zu lesen. So lange hatte sie nichts von David gehört! Als sie die Blätter auf ihrem Schoß ausbreitete, dachte sie: Die Hände meines Bruders lagen auf diesem Papier. Ihre Augen flogen rasch über die Seiten. Liebe Schwester, ich schreibe dies im September. Es kann Wochen dauern, bis Dich der Brief erreicht. Ich war in der Schlacht 330
am Antietam Creek. Mehr als zwanzigtausend Mann, beide Seiten zusammengenommen, fielen oder wurden verwundet. Ich hoffe, so etwas nie wieder zu erleben. Aber ich weiß, daß ich es wieder erleben werde, bevor das alles vorbei ist. Wo Truppen durchziehen, beschränkt sich das Entsetzen nicht auf das Schlachtfeld. Hoffentlich bleibt Euch in New Orleans er spart, was hier geschehen ist… Vertreibung der Leute aus ihren Häusern, Vergewaltigung junger Mädchen, plündernde Rebellen. Daß ich mitten in dem allem stehen soll, ich, der ich Gewalt zeitlebens verabscheute – es fällt mir schwer, das zu glauben, genauso schwer wie die Tatsache, daß ich den Fluch der Erinnerung an das Leben trage, das ich ausgelöscht habe. Ich sehe Sylvain noch immer, einen Mann, den ich nicht mochte, aber ich sehe ständig sein lebendiges Gesicht, das mich anklagt. Ich denke an seine zarte, zutrauliche Frau. Doch genug davon. Ein Gutes hatte unser Sieg am Antietam, denn jetzt wird weder Frankreich noch England die Konföderierten Staaten anerkennen. Beide Länder sehen die Schrift an der Wand. André, dachte Miriam, André ist doch dort, seine Mission wird fehlschlagen. In meinem Kopf bohren Schmerzen, wenn ich an das alles denke. Einmal mehr kamen und gingen die hohen Feiertage. An diesen Tagen ist die Trennung von Dir immer am traurigsten für mich. Ich verbrachte Neujahr und den Versöhnungstag bei einer jüdischen Familie, die in Maryland lebt, knapp außerhalb Washingtons, und – das wird Dich überraschen – mit dem Süden sympathisiert. Die Leute waren sehr nett und gastfreundlich, gaben an beiden Abenden ein Festessen für mich, obwohl sie nicht sehr gut situiert sind. Wir hatten einige freundliche Debatten, aber es gelang mir nicht, sie auf meine Seite zu ziehen. Es interessiert Dich vielleicht, was ich in Washington machte. Ich weiß nicht, ob Eure Zeitungen etwas über den Kaplansskandal brachten, die Verfügung, daß es nur christlichen Kon331
fessionen gestattet ist, Kaplane in der Armee zu haben. (Interessanterweise gibt es in den Konföderierten Staaten keine solche Regel!) Die Angelegenheit verursachte einen ziemlichen Sturm, wie Du Dir vorstellen kannst, und ich stand in der vordersten Reihe. Er trägt also noch immer ein Banner, dachte Miriam und lächelte leicht. Ein eigensinniger Bursche, sagte Opa. Wenn er glaubt, recht zu haben, gibt er nie auf. Als wir endlich zum Präsidenten vordrangen, der von der Angelegenheit nichts gewußt hatte, änderte er die Sachlage sofort. Unser Kampf nahm somit ein glückliches Ende, aber es war ein ziemliches Gefecht gegen die Bigotterie, das kann ich Dir versichern. Manchmal, wenn ich keinen Schlaf finde und mitten in der Nacht philosophisch werde, scheint mir das Leben nicht mehr zu sein als ein Weitergehen von einem Kampf zum nächsten. Vielleicht ist das in gewisser Weise gut für uns, ich weiß es nicht. Aber ich würde gern ein bißchen länger ausruhen dazwischen! Ich würde gern einen ganzen Sommerabend mit einem hübschen Mädchen beisammensitzen und keine Sorgen haben. Ich wäre gern wieder bei Dir und Deinen Kindern, an einem kühlen Strand oder in einem Boot oder an einem Winterabend vor dem Feuer. Ich würde gern mit Gabriel einen langen Spaziergang machen und ein langes Gespräch führen, wie wir es früher zu tun pflegten. Aber ich trage Blau, er dagegen Grau… Liebe Miriam, ich verstehe jetzt, warum es Dir nicht möglich war, Deine Leute und Dein Heim zu verlassen, als ich Dich mitnehmen wollte, damals in der Nacht meiner Flucht. Aber ich hoffe wenigstens, daß Ihr, nachdem Eure Stadt in den Händen der Union ist, den Treueid leisten werdet. Ich hoffe, daß Eugene die Sache auch so sieht, dieser arme, hilflose Mann, der er jetzt ist. Ihr müßt inzwischen doch alle wissen, ungeachtet aller Überzeugungen oder Fragen von Recht oder Unrecht, daß die Sache 332
verloren ist, daß der Süden verloren ist. Rettet Euch, denkt an Euch selbst, meine liebe… »Du hast einen Brief von deinem Bruder bekommen«, sagte Ferdinand in der offenen Tür. »Ich habe von Eugene gehört, daß einer abgegeben worden ist.« »Ja.« »Und du wolltest es mir nicht sagen. Hast du dich hier oben versteckt, um ihn zu lesen?« »Ich dachte nicht, daß Sie ihn sehen wollen, Papa.« Schweigen herrschte. Ferdinand stand halb im Zimmer, halb draußen und schaute sie unentschlossen an. »Soll ich ihn vorlesen, Papa?« »Ja, ja. Lies.« »Liebe Schwester«, begann sie, schaute kurz auf und sah auf der Wange ihres Vaters einen Muskel zucken. Schnell las sie weiter: »Ich hoffe, Euch in New Orleans bleibt erspart, was hier geschehen ist, Vertreibung der Leute aus ihren Häusern, Vergewaltigung junger Mädchen, plündernde Rebellen…« »Hör auf!« rief Ferdinand. »Genug! Ich will nichts mehr von meinem Sohn hören! Er schreibt – er sagt solche Dinge –, während wir besiegt werden und unser Heim…« Der alte Mann brach ab, erstickte fast an seinen Worten. Die Stadt wand sich in der Niederlage wie ein leidender Mensch in seinem Krankenbett. Und wie ärztliche Bulletins aus einem Krankenzimmer dringen, so drangen Gerüchte durch die Stadt, weitergeflüstert von Mund zu Mund. Es hieß, General Butler habe erklärt, er hätte mit einem einzigen Wink seiner Hand von seinem Standort auf dem Balkon des St.-Charles-Hotels die Straßen rot von Blut machen können – und könne es noch.
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»Welche Ironie des Schicksals!« meinte Eugene. »Sich vorzustellen, daß Butlers Vater unter Andrew Jackson kämpfte, um diese Stadt zu retten!« Der geliebte Pierre Soulé wurde ins Fort Warren geschickt und dort inhaftiert; er war das Symbol der Sezession gewesen. Zwei der einflußreichsten und vornehmsten Geistlichen sandte man nach New York ins Gefängnis, den einen, weil er eine sezessionistische Predigt gehalten hatte, und den anderen, weil er das Gebet für den Präsidenten der Vereinigten Staaten weggelassen hatte. Emma rang die Hände: »In Gottes Namen, wer wird der nächste sein?« »Für einen solchen – solchen Blödsinn mußte ich meinen Sohn opfern!« rief Rosa mit der Stimme einer alten Frau. Sie war in der Tat alt geworden; am Morgen nach der Nachricht von Herberts schrecklichem Tod war sie als alte Frau erwacht. Seltsam, dachte Miriam, seltsam und mitleiderregend, sie so zu sehen, ohne ihre Schlagfertigkeit, ihre Armbänder und ihre witzigen Ratschläge. Seltsam auch, bei ihr Einverständnis ausgerechnet mit Eulalie zu erleben. »Oh, ich hasse sie!« stieß Rosa immer wieder hervor. »Ich hasse sie! Ich könnte Butler und jeden Mann in dieser elenden blauen Uniform umbringen, an dem ich auf der Straße vorbeigehe!« »Auf unserer Seite gibt es viel mehr verabscheuungswürdige Männer«, erklärte Eulalie düster. »Leute wie Judah Benjamin und seine – seine Art. War er nicht schuld an dem Desaster von Roanoke, das wir erlitten? Und jetzt haben sie ihn zum Staatssekretär gemacht! Leute wie ihn und – und seine Art!« Seine ›Art‹, dachte Miriam. Benjamin ist Jude, wenn auch kein überzeugter, zugegeben, aber das meinst du mit seiner ›Art‹. Du würdest es gern sagen, doch vor Eugene wagst du es nicht. Und ich wage nicht, zu dir zu sagen, was ich früher gesagt hätte. Emma lenkte das Gespräch von Benjamin weg: »Ich habe gestern auf der Royal Street etwas Häßliches gesehen. Zwei Damen, die unsere Flagge trugen, hielten sich die Nasen zu, 334
als ein Unionsoffizier vorbeiging. Ihr wißt ja, daß dies ständig gemacht wird, wir alle tun es. Aber dieser Offizier beschloß, beleidigt zu sein, und folgte ihnen über die Straße, worauf die beiden so taten« – Emma kicherte – »als übergäben sie sich! Ich war auf der anderen Straßenseite, blieb stehen und schaute zu. Der Offizier wurde sehr wütend und drohte: ›Genug jetzt damit! Machen Sie das nicht noch mal, ich warne Sie!‹ Die beiden Damen bekamen tödliche Angst und hasteten davon.« »Ihr müßt Angelique warnen«, forderte Eugene mit gerunzelter Stirn. »Sie darf nichts tun, was die Aufmerksamkeit auf sie lenkt. Sie ist kein Kind mehr, das man übersieht.« »Wenn Angelique so ist wie ihre Mutter«, bemerkte Eulalie voll Kühnheit, »wird sie keinen Unionsoffizier beleidigen.« »Was meinst du damit?« Miriam kochte vor Zorn. »Was soll das heißen?« »Na, du hast die Flagge von deinem Kleid entfernt.« »Natürlich habe ich das. Ich will nicht enden wie Mrs. Phillips.« »Eine schreckliche Sache!« sagte Emma. »Ich kannte sie flüchtig. Sie kam aus einer der besten Familien Alabamas. Angeblich hat sie gelacht, als der Leichenzug mit dem Sarg eines Offiziers der Unionstruppen an ihrem Haus vorbeizog! Habt ihr je etwas so Ungeheuerliches gehört? Ist das ein Beispiel für die Freiheit der Union? Daß eine Frau nicht die Freiheit hat zu lachen? Sie ins Gefängnis auf der Insel Ship zu stecken! Angeblich hat sie einen Nervenzusammenbruch erlitten. Kein Wunder!« »Butler ist dafür bekannt, daß er die Juden verabscheut«, erklärte Eugene. »Darum hat er sie so hart bestraft.« »O ja«, begann Miriam, deren Worte nicht an Eulalie gerichtet, aber für sie gedacht waren, »der Norden beschuldigt die Juden, die Blockade zu brechen und dem Süden gegenüber loyal zu sein, während manche Südstaatler uns nicht loyal genug finden. Seltsam, nicht wahr?«
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Eugene sagte voller Verachtung: »Dieser Butler! So gerecht zu reden, während er von seinem Bruder die Stadt ausnehmen und für sie beide ein Vermögen kassieren läßt!« Ferdinand machte ein Gesicht, als fühle er sich persönlich gedemütigt. »Kaum zu glauben. Kaum zu glauben«, murmelte er. Düsternis lastete auf dem Haus. Bei halb geschlossenen Jalousien verbrachten seine Bewohner die langen, dämmrigen Stunden. Niemand ging mehr in den Garten, denn der war zu ausgesetzt. Wer im Freien sein mußte, fühlte sich weniger sicher, obwohl eigentlich kein Grund dazu bestand; man hatte einfach ein besseres Gefühl, wenn man hinter Hausmauern blieb. Sogar Eugene war seit Wochen nicht außer Haus gewesen, was Miriam eines Tages plötzlich zu Bewußtsein kam. Nicht einmal seine ›Besuche‹, wie sie beschönigend dachte, hatte er gemacht. Ohne Scheu fragte sie Fanny, was sie darüber wisse. Und Fanny erzählte ebenfalls ohne Scheu: »Queen wohnt als Gast bei diesem Unionsmajor, der das Haus beschlagnahmt hat, Sie wissen schon, ein Stück die Straße hinunter von General Twiggs Haus, das Butler für sich genommen hat. Es heißt, daß Queen ein Diner für ein Dutzend Offiziere gegeben hat und daß die Teller aus massivem Silber waren.« Queen war also zu den Siegern übergelaufen! Armer Eugene! Sogar die Dienstboten waren treuer, und nur Gott wußte, warum. Miriam dachte über diese Dinge nach, während ihre Stricknadeln einen grauen Strang nach dem anderen verarbeiteten. Unvermittelt fragte der junge Eugene: »Werden Sie den Eid ablegen, Papa? Der Vater meines Freundes Bartlett sagt, daß er es tun wird. Es sind nur Worte, sagt er, und er will ihn ablegen, ohne es ernst zu meinen.« »In der Tat? Der Vater deines Freundes Bartlett ist ein jämmerlicher Schurke, und das kannst du ihm gern bestellen lassen.« »Es heißt«, brachte Miriam vorsichtig vor, »daß schon elftausend Leute ihn abgelegt haben.« »Laß sie nur! Kein anständiger Bürger wird etwas mit denen zu tun haben wollen, die ihn ablegen. Das kannst du mir glauben.« 336
Ich hoffe wenigstens, hatte David geschrieben, daß ihr den Treueid ablegen werdet. Der Süden ist verloren. »Wer es nicht tut, dem droht die Konfiskation«, entgegnete Miriam in einem bewußt ruhigen und nicht drängenden Ton. »Konfiskation?« fragte Ferdinand. »Das bedeutet, daß das Haus…« Das bedeutet den zweiten Eigentumsverlust für dich, dachte Miriam. »Lies den Eid vor«, befahl Eugene. Miriam ergriff das Blatt: »Ich schwöre feierlich, daß ich der Regierung der Vereinigten Staaten redliche Treue und Ergebenheit bezeugen werde, daß ich keine Waffen ergreifen und niemand ermutigen werde, es zu tun… Meinen ganzen Einfluß einsetzen werde – um die Rebellion niederzuschlagen… Dies tue ich, weil ich vor Gott werde Rechenschaft ablegen müssen. Geschworen vor und…« »Hol mein Notizbuch!« rief Eugene. »Ich will eine Liste haben. Ich möchte, daß du die Namen aller aufschreibst, von denen du hörst, daß sie diesen schändlichen Eid ablegen!« Ferdinand sah seinen Schwiegersohn zweifelnd an. Er hätte den Eid abgelegt, wäre da nicht Eugene gewesen. An diesem Punkt seines Lebens sehnte er sich nur noch nach Frieden und Bequemlichkeit; sein früheres Feuer war vollkommen erloschen. Er wirkte geschlagen, wie er so dastand, in der Hand den Kopf einer Porzellanpuppe, den er für Angelique zu reparieren versuchte. »Fest steht, daß niemand in meiner Familie je diesen Eid ablegen wird«, erklärte Emma. »Keiner aus den alten französischen Familien könnte es ertragen, sich in Schande zu bringen.« Miriam sagte ruhig: »Nicht nur die alten französischen Familien werden den Eid verweigern, auch unser Rabbi Gutheim wird es tun, und er hat kaum etwas Französisches. Die Hälfte oder mehr als die Hälfte unserer Gemeinde verweigert ihn ebenfalls«, schloß sie fest. Warum bloß dieser Trotz, warum das Bedürfnis, wieder die falsche Seite zu verteidigen? Sie staunte über Gutheim, einen deutschen Einwanderer, der erst elf Jahre in der Stadt lebte und sich für solche Treue zur Sache der 337
Südstaaten entschieden hatte. Vermutlich war es der Einfluß seiner Frau, die aus einer alten Familie Alabamas stammte. Weil er sie liebte, hatte er sich überzeugen lassen. Wäre ich mit André verheiratet… »Wie dem auch sei, uns bleibt noch Zeit bis zum ersten Oktober«, sagte Ferdinand und fügte voll Hoffnung hinzu: »Bis dahin könnte sich leicht etwas ändern.« »Wir haben den dreißigsten September«, sagte Miriam. »Du wirst dich heute entscheiden müssen, Eugene.« »Ich habe mich bereits entschieden.« »Bist du sicher?« »Lies mir das verdammte Ding noch einmal vor!« »… alle Personen, die ihr Treuegelöbnis nicht erneuert haben, werden aufgefordert, sich – mit einem Verzeichnis ihrer sämtlichen Besitztümer – beim nächsten Kommandeur der Militärpolizei zu melden… Und jeder wird vom Kommandeur ein Zertifikat erhalten, das ihn als Feind der Vereinigten Staaten ausweist.« Sie senkte das Blatt und dachte: Ich ertrage das nicht. »Lies weiter«, forderte Eugene sie ungeduldig auf. »… alle Personen, die es unterlassen, sich zu melden, werden mit einer Geldbuße, Gefängnis und Zwangsarbeit bestraft…« Sie warf das Blatt zu Boden. Ein blinder Mann, eigensinnig und unbeweglich, Emma und Ferdinand, beide gleich hilflos, und die zwei Kinder – für alle muß ich sorgen. Ja, außerdem für Rosa, die den Eid ebenfalls verweigert und aus ihrem Haus gewiesen wird. Ich habe Gabriel mein Wort gegeben, daß ich mich um sie kümmern werde. Ferdinand stand in der Halle und schaute sich in dem Haus um, das er längst als sein Heim ansah. Sein Gesichtsausdruck verriet kaum Bedauern und Gram, sondern Verwunderung. Den gleichen Ausdruck hatte er am Tag seines Bankrotts gehabt. Unglauben, daß die Dinge rund um ihn zusammenbrechen könnten und er mit ihnen. 338
»Beeilen Sie sich, Papa«, drängte Miriam sanft, »Bis zum Mittag müssen wir weg sein.« »Ich würde das Bild dort gern mitnehmen«, erklärte er, als habe er sie nicht gehört. Sie folgte seinem Blick in den vorderen Salon, wo die Teppiche bereits für den Sommer zusammengerollt und Tabakblätter auf den Boden gestreut worden waren, um die Insekten draußenzuhalten. Über dem Kaminsims hing ein Porträt von Eugene und Angelique in frühester Kindheit. Der Junge trug einen Matrosenanzug mit langer weißer Segeltuchhose und einen breitrandigen schweren Hut, er stand neben seiner sitzenden Schwester, deren Händchen auf ihrer grünen Seidenschürze lagen, anmutig gefaltet, wie man es sie gelehrt hatte. »Es ist uns nicht gestattet, Wertgegenstände mitzunehmen«, erwiderte Miriam zweifelnd und war sich dabei deutlich des Gewichts der in einen Gürtel eingenähten Goldmünzen unter ihrem Reifrock bewußt. »Ich nehme allerdings nicht an, daß es für jemand außer uns irgendeinen Wert hat. Ja, lassen Sie es von Sisyphus einwickeln und zu den Sachen der Diener legen. Dort werden sie wahrscheinlich kaum nachsehen. Und ich nehme mir ein paar Bücher mit. Wir werden lange weg sein.« »So, meinst du?« fragte Ferdinand. Die kleine Wagenkolonne formierte sich vor dem Haus auf der Straße. Die Gartentür stand offen, so daß man die Aphrodite sah, die ihren ruhigen Blick auf die reifen Pfirsiche am Mauerspalier gerichtet hatte. Der Doppelbrunnen plätscherte, und auf dem Boden pickten Steintauben. Dieses Fleckchen sonnenüberströmten Friedens war unverändert. Plötzlich empfand Miriam tiefe Trauer – die bestimmt in keinem Verhältnis zur Trauer Eugenes stand, dessen wirkliches Heim und ganzer Stolz das Haus hier war. Nach einer Weile setzte Maxim, der auf dem Bock saß, auf Eugenes Befehl hin die Pferde in Bewegung. Die Kolonne fuhr ab. Den Schluß bildete Rosas Wagen. 339
In Pelagies Eckhaus waren die Fenster und die Jalousien geschlossen. Sie hatte sich schon vor einigen Wochen mit ihren Kindern und Eulalie auf den Landsitz der Labouisses zurückgezogen. Ferdinand sagte leise etwas zu Emma über seine erste Begegnung mit der Stadt und dann etwas über seine erste Begegnung mit ihr. Miriam wollte die Vertraulichkeit der beiden nicht stören, wandte sich darum ab und legte Angelique den Arm um die Schultern. Das Mädchen schaute auf und schenkte seiner Mutter ein so liebes, ermutigendes Lächeln, daß Miriam heftigen Stolz auf die Tapferkeit der Kleinen verspürte. Sie bogen um die Straßenecke, an der Eugene von dem Unglück getroffen worden war, und fuhren anschließend durch die Straße, in der Queen wohnte. Da Eugene sehr oft hierhergefahren war und gelernt hatte, Entfernungen abzuschätzen, spürte er gewiß, wo sie waren. Er hatte den Kopf gesenkt und trommelte mit den Fingern auf die Wagenseite. Welche schmerzlichen oder freudigen Erinnerungen, welche Gedanken ihm in diesen Sekunden durch den Kopf gingen, wußte nur er selbst. Immer wieder kamen sie an einem Haus von Menschen vorbei, die zu ihrem Leben gehört hatten. Sie überquerten die Canal Street, und Miriam sah über den Wipfeln der in der Straßenmitte verlaufenden Baumreihe die Fenster des Zollhauses, in dem die ›Bestie‹ Butler über die Stadt regierte. Sie fuhren durch das Gartenviertel und an der Seitenstraße vorbei, in der André sein schönes Haus gebaut hatte. Miriam schloß die Augen, um die Erinnerung daran zu vertreiben, doch diese verschwand nicht. An der Stadtgrenze zeigten sie ihre Passagierscheine; danach gelangten sie in eine ländliche Gegend, wo die Soldaten, denen sie vielleicht begegneten, Grau tragen würden. In einer langen Reihe rumpelten die Wagen unter der milden Herbstsonne über die holperige Straße. Kaum jemand sprach, nur einmal sagte Eugene: »Du wolltest den Landsitz verkaufen. Was würden wir jetzt ohne ihn tun?« Ihr lag eine Antwort auf der Zunge: »Wir hätten den Eid ablegen können.« Aber sie schwieg lieber. 340
Selbst die Kinder waren still; Angelique schlief, teilte sich den Schoß ihrer Mutter mit der Hündin. Der junge Eugene hatte nachdenklich die Stirn gerunzelt; vielleicht war es die Endgültigkeit dieses Abschieds, die ihn plötzlich viel älter aussehen ließ als jenen Jungen, der vor noch gar nicht langer Zeit jubelnd und fahnenschwenkend durch die Stadt gezogen war. Jetzt wußte er nichts zu sagen, er starrte stumm nach vorn auf die Straße. Stille herrschte bis auf das Rascheln des Windes in den hohen alten Mooreichen, das Klappern müder Hufe und das Rumpeln der Wagen. Am späten Abend des folgenden Tages trafen sie endlich in Beau Jardin ein. Obwohl sie unangemeldet kamen, fanden sie erfreulicherweise alles in bester Ordnung vor. Im Küchengarten standen Erbsen, Spargel und Erdbeeren in ordentlichen Längsreihen. Jenseits des Zauns weidete ein Dutzend Lämmer zwischen den Kühen. Hühner gackerten und glucksten den ganzen Tag über friedlich. Es würde also Milch, Eier, frisches Gemüse geben, diese köstlichen Dinge, und das trotz der Beraubung durch Butler. Der Krieg schien weit weggerückt zu sein. Miriam verharrte reglos in der milden Abendluft, versuchte die Zeit und ihre Umgebung in sich aufzunehmen. Es hat mir hier nie gefallen, dachte sie, ich mochte den Müßiggang, die Einsamkeit und die nutzlose Pracht nicht. Beau Jardin! Welche Ironie in dem Namen! Man soll sich wohl fühlen in einem schönen Garten. Das tat ich, bei Gott, nie. Ja, an diesem milden Abend scheint der Krieg sehr weit weg zu sein, aber er ist es natürlich nicht. Wir werden noch viele schwere, schreckliche Dinge erleben, bevor wir ihn hinter uns haben.
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E
ugene und Ferdinand beschäftigten sich wieder mit ihren Landkarten, sie argumentierten und spekulierten. Ferdinand führte Eugenes Zeigefinger von New York nach Texas. »Jetzt ist die richtige Zeit, in den Norden einzudringen, ganz sicher. Lincolns Mehrheit schrumpft; in New York hat es Aufstände gegen die Aushebung gegeben.« »Der britische Gesandte in Washington schrieb nach London, daß im Norden eine starke Tendenz herrscht, den Süden seinen Weg gehen zu lassen und den Kampf einzustellen.« »Wir haben Galveston eingenommen, und ganz Texas ist in unserer Hand.« »Vicksburg hält noch, und solange es standhält, können wir nicht scheitern.« Das hat André gesagt – solange Vicksburg hält. Aber er ist in Paris, soviel ich weiß. Durch die hohen Fenster am anderen Ende der Bibliothek sah man ein kurzes Stück der Straße, auf der Herden von Texasrindern, die zur Armee der Konföderierten getrieben wurden, goldenen Staub aufwirbelten. Woche um Woche zogen sie bereits durch. Alle Lebewesen, Tiere wie Menschen, wurden der Armee zugeführt. Die Soldaten hatten ihnen die letzten Pferde weggenommen, bis auf jene drei, die in den Sümpfen versteckt gewesen waren. Angelique war in Tränen ausgebrochen, als man ihre Angel weggeführt hatte, das Pony mit den feinen weißen Ohren. Sie hatte Angel gerade fertiggestriegelt, als die Soldaten kamen. »Tut mir leid, kleine Miß«, hatte der Sergeant gesagt. »Ich weiß, wie Ihnen zumute ist. Aber der Armee fehlt es an Pferden.« Jetzt allerdings drohten beunruhigendere Dinge. »Blaise ist eben aus New Orleans zurückgekommen«, berichtete Miriam den beiden Männern, sie in ihrer Strategiedebatte unter342
brechend. »Dort heißt es, daß die Unionisten bald in unsere Richtung kämen.« »Sie können nicht durchbrechen«, begann Ferdinand. »Unsere Truppen.« Eugene brachte ihn mit einer Handbewegung zum Schweigen: »Blaise! Ich traue ihm nicht. Er sagt das, um uns zu erschrecken, er will uns damit verspotten. Ich traue ihm nicht, keinem der Dienstboten.« Es gab wirklich viele, denen man nicht mehr trauen konnte. Manche stahlen. Man wußte, daß sie es taten, wagte aber nicht, sie zu stellen. Sie vernachlässigten die Tiere und reparierten die Zäune nicht oder schlecht. Doch sie hätten auch weglaufen können. Blaise hätte in New Orleans bleiben können, statt wiederzukommen. Vielleicht erinnert er sich daran, dachte Miriam, daß ich ihn davor bewahrt habe, verkauft zu werden. »Für den Fall, daß es wahr ist, nur für den Fall«, sagte Eugene, »solltet ihr damit anfangen, die Wertgegenstände zu verstecken. Tut es nachts, wenn alle schlafen.« »Mein Familiensilber«, murmelte Emma. Es war alles, was sie aus Ferdinands Debakel hatte retten können. »Der Steinbruch wäre ein guter Ort«, meinte Ferdinand. Und Rosa empfahl: »Wir sollten das Silber an unsere Reifen binden, damit sie es nicht sehen, wenn wir es wegschaffen. Man weiß nie, wer wach ist und uns beobachtet.« Miriam fand das Ganze melodramatisch, ein bißchen lächerlich. Aus einer eigensinnigen Laune heraus, die sie nicht hätte erklären können, gehorchte sie Eugene in einem einzigen Punkt nicht: Sie gab die Diamanten, die seiner Mutter gehört hatten, Fanny zur Aufbewahrung. Wollte sie damit Fannys Ehrlichkeit oder ihren eigenen Blick für Menschen auf die Probe stellen? Egal! Falls die Diamanten verlorengingen, war das nur ein Verlust mehr zu all den anderen Schäden. Die ganze Woche über blieb es ruhig. Nur die Texasrinder zogen weiter auf der Straße vorbei. Eines Morgens dann stiegen plötzlich 343
in der Gegenrichtung Staubwolken auf. Alle liefen den Weg hinunter zum Tor. Reiter, Lafetten und Wagen soweit man sah, bis zu der etwa eine halbe Meile entfernten Straßenbiegung. Die Reiter und die Gefährte jagten mit hoher Geschwindigkeit dahin. Ein vornehm wirkender Mann rief von seinem schwitzenden Jagdpferd, ohne anzuhalten: »Es hat ein Scharmützel gegeben, etwa zehn Meilen weiter hinten. Wir waren weit unterlegen! Die Unionstruppen sind durchgebrochen, die Hölle ist los!« Er gab seinem Pferd die Sporen. »Sie brennen alles nieder!« rief eine Frau, die sich im Vorbeifahren aus einem Wagen voller kleiner Kinder neigte. »Versteckt eure Kleider. Sie nehmen euch die Kleider weg, alles, was ihr habt. Alles!« schrie sie. »Halt!« rief Eugene. »Bleibt. Ruht euch aus und eßt etwas. Wohin wollt ihr?« Doch die Frau war bereits außer Hörweite. Den ganzen Vormittag über floß der Verkehr am Tor vorbei, hektisch und schnell, wie Flußwasser über Stromschnellen schießt. Galoppierend, keuchend, trabend, entsetzt, mit vorstehenden Augen, weinend, rufend, drängelnd, sich abmühend, verwirrt, hysterisch und düster, so zogen Mensch und Tier vorüber. Gegen Mittag folgten die Nachzügler zu Fuß, die Armen mit ihren Bündeln und zerbrechlichen Karren, auf die sie Möbel und Bettzeug geladen hatten. Mit ihren alten Vätern und schwangeren Frauen kamen sie, hinkend und stolpernd; auch ihre Hunde kamen, denen vor Hitze und Durst die Zungen schlaff aus den Schnauzen hingen. Eine Kuh mit dickem Leib schwankte auf ihren dünnen Beinen dahin. An ihrem riesigen Euter traten, weil die Melkzeit längst vorbei war, die Venen hervor, als würden sie gleich platzen. Sie knickte in den Knien ein, wurde mit einem Stock wieder hochgetrieben und muhte ihre Angst schmetternd hinaus, mit Tönen wie von einer zerbrochenen Trompete. »Sie haben das Haus der Havilands niedergebrannt!« rief ihnen eine Frau zu. 344
»O Gott«, stieß Emma hervor. »Hoffentlich konnten sie das wunderbare Porträt von Mrs. Havilands Mutter retten.« »Sie konnten nichts retten.« Niedergeschlagen ging Miriam ins Haus zurück; helfen konnte man ohnehin nicht. Als die letzten Flüchtlinge verschwunden waren, senkte sich eine Stille über alles, die in gewisser Weise noch bedrohlicher war als zuvor der Lärm. Sogar der kurz wehende Wind wirkte überlaut in dieser von der Spannung des Wartens erfüllten Stille. »Warum bleiben wir hier?« klagte Emma. »Alle anderen sind fort.« »Und wohin sollten wir?« fragte Miriam. »Wir sind bestimmt besser daran, wenn wir hier unsere Chancen abwarten, wie immer sie sein mögen, statt uns auf einen Weg zu machen, der nirgends hinführt.« Eugene tastete im Schrank nach seinen beiden Pistolen. »Ölen Sie die Waffen«, wies er Ferdinand an. »Die eine nehmen Sie, die andere geben Sie mir.« Was wollte er denn ohne Augenlicht mit einer Pistole anfangen? Doch Miriam sagte nichts. Statt dessen befahl sie Angelique: »Geh nach oben in eine der Dachkammern. Mach die Tür zu und leg dich ins Bett. Du bist krank, hast ein sehr ansteckendes Fieber.« Als das Mädchen sie verständnislos anschaute, drängte sie: »Beeil dich! Tu, was ich sage!« Ein blühendes, biegsames Geschöpf, die geschwungenen Lippen feucht, lange Wimpern, Wolken duftenden, frisch gewaschenen Haars, Brüste, die sich bei jedem raschen Atemzug hoben und ihr Mieder spannten… Zuerst erklang leises Gemurmel, wie von Wellen bei Nacht. Rosa, die auf einer Fensterbank saß, lehnte sich hinaus: »Ich glaube, ich höre etwas.« »Seht! Horcht!« Das Murmeln wurde zum Tosen. »Ja, kein Zweifel. Sie kommen.« »Papa, gehen Sie mit den Pistolen nach oben«, sagte Miriam. »Bitte, Sie und Eugene. Bewachen Sie die Dachbodentreppe.« 345
Der Himmel verhüte, daß die beiden mit den Pistolen fuchtelten oder, schlimmer noch, eine abfeuerten! Das durfte nicht geschehen. Soviel wußte sie, das sagte ihr der gesunde Menschenverstand. Und die beiden Männer zeigten im Augenblick davon nicht viel. »Ich lasse euch Frauen nicht allein hier unten«, rief Ferdinand. »Wollen Sie bitte auf mich hören! Es ist wichtiger, Angelique zu beschützen! Und du, Sohn, gehst auch nach oben. Ich warte einfach hier vor dem Haus.« Sie war eben auf die Veranda getreten, als die ersten Hufe auf dem Weg zum Haus trappelten und die ersten Rufe erklangen. »Halt!« Eine berittene Truppe, in nachlässiger Unordnung mit einem Haufen Fußsoldaten gemischt, drängte auf dem Weg heran. Eine wilde Horde, das sah Miriam sofort, weil sie inzwischen mit dem Auftreten des Militärs vertraut war. Die Leute hier, aufs äußerste erregt, liefen Amok, und nirgends entdeckte sie einen Offizier, der ihnen, falls er es zu tun beliebte, hätte Einhalt gebieten können. Sisyphus kam aus dem Haus und stellte sich neben Miriam. Seine Zähne klapperten, doch seine Haltung drückte Mut aus. Der Anführer, ein Sergeant, sprang vom Pferd, blieb eine Stufe unter Miriam stehen und schaute aus kleinen, harten Augen zu ihr hoch, die Hände auf seine breiten Hüften gestemmt. Er gab sich großspurig: »Na dann, wer wohnt in dem Haus da?« »Der Name ist Mendes.« Zu Miriams Befriedigung zitterte ihre Stimme nicht. »Mendes. Leben Sie allein hier? Sie und der Nigger da?« »Ich lebe mit meinem Mann hier.« »Und wo ist Ihr Mann? Mit Lee ausgezogen, sich Prügel zu holen?« Ihre Stimme blieb ruhig: »Mein Mann ist im Haus. Er ist blind.« »Schlimm, schlimm. Dann werden Sie uns herumführen müssen. Wir wollen zu essen und zu trinken, und zwar viel.« »Sie können haben, was da ist. Es ist allerdings nicht viel, und Sie sind mehr als hundert.« »Nicht mehr als zweihundert, Missis.« 346
Tatsächlich kamen immer noch Männer in dunkelblauen Uniformröcken, Reithosen, Stiefeln und Käppis die Zufahrt herauf; ihre Säbel blitzten schmerzhaft hell. Der Sergeant zog seinen Säbel und schob Miriam und Sisyphus mit der flachen Klinge beiseite. »Gehen Sie aus dem Weg. Lassen Sie die Männer hinein. Wir bedienen uns selbst. Los, Leute«, bellte er. Im Nu waren die Leute von ihren Pferden herunter, die Stufen oben und durch die Haustür. Gleich darauf zeigte das Klirren und Splittern von Glas an, daß sie den Schnapsschrank aufgebrochen hatten. »Schlagt dort draußen ein Lager auf«, befahl der Sergeant. »Nicht dort! Das ist das Getreidefeld!« protestierte Miriam. »Sie trampeln alles nieder!« »Was Sie nicht sagen! Hören Sie, Missis, kümmern Sie sich nicht um das Getreide. Sagen Sie mir lieber, wo das Silber ist, und lügen Sie mich nicht an.« »Das Silber wurde schon vor langem zu Verwandten in Texas geschickt.« »Und Sie meinen, daß ich Ihnen das glaube?« »Ob Sie es glauben oder nicht, ist Ihre Sache.« »Hören Sie, Missis, ich lasse mir von Ihnen keinen Unsinn bieten, Sie sollten…« Er legte Miriam die Hand auf die Schulter. »Lassen Sie die Dame in Ruhe!« rief Sisyphus. »Fassen Sie sie nicht an!« Er schob die derbe rote Hand von Miriams Schulter. In dem flächigen, roten Gesicht öffnete sich der Mund voll amüsiertem Staunen: »Was?! Du armer alter Narr trittst für Leute ein, die dir das Blut aus deinem alten Sack von Leib gesogen haben!« Er wandte sich Miriam zu: »Kann kaum mehr stehen, der Knochensack, und will Sie beschützen! Mehr noch, Sie sind scheint's verdammt froh, von einem Nigger beschützt zu werden! Pah!« Er spuckte aus. Ein dicker Schleimklumpen landete auf der Treppe, und Miriam zog den Fuß zurück. 347
»Sucht das Silber, Jungs. Dreht die Matratzen um, buddelt den Hof auf, ihr wißt schon, wo ihr's findet, ihr habt es die anderen Male auch gefunden.« Zwei Soldaten zerrten Ferdinand am Kragen aus dem Haus. »Ihr Mann?« »Nein, mein Vater. Ich sagte Ihnen doch, daß mein Mann blind ist.« Gottlob hatte keiner der beiden versucht, seine Pistole zu benutzen. »Wo ist das Silber, Alter?« Ferdinand zögerte. »Er weiß es nicht«, sagte Miriam. »Er war nicht da, als wir es nach Texas schickten.« Linker Hand, am Fuß des Abhangs, stieg hinter einer Reihe junger Birken beißender Rauch auf; eine Flamme schoß empor, zersprühte in alle Richtungen und fiel zusammen, erschien gleich darauf in einer gewaltigen Explosion von Orange und Gold wieder. »Das Lagerhaus«, sagte Ferdinand verzweifelt. »Das Lagerhaus. Die Baumwolle brennt.« Die spiralförmig hochschießenden Flammen übten eine fast hypnotische Anziehungskraft aus. Hilflos und benommen standen die drei auf der Veranda, inmitten eines verrückten Getriebes: rennenden Männern, dem Stampfen und Wiehern angebundener Pferde, dem Geprassel der Flammen… Der Lärm der Zerstörung war zum Wahnsinnigwerden. Mit Säbeln und Spaten gruben die Männer den Garten um. Mit Sägen holten sie sich Brennholz von den jahrhundertealten Eichen. Miriam ächzte wie ins eigene Fleisch geschnitten, als von Eugenes berühmter, geliebter Rotbuche mit dem dichten, in der Sonne kupferrot glänzenden Laub der erste Hauptast krachend zu Boden fiel. Doch als die Soldaten die Zäune zu zerhacken begannen, konnte sie nicht mehr an sich halten. Trotz Ferdinands eindringlicher Warnung schrie sie, um den Lärm zu übertönen: »Nicht! Nicht! Die Rinder kommen sonst in die Felder! Nicht, nicht!«
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»Wenn wir hier fertig sind, haben Sie keine Rinder mehr«, sagte der Sergeant. Er stand nach wie vor auf der Treppe, führte von da aus das Kommando. »Machen Sie sich deswegen also keine Sorgen.« Im Stallhof hinten erklangen dumpfe Schüsse. Eine große tote Sau und ihre toten Jungen wurden übers Gras zu dem Feuer geschleift, das die Soldaten mit den abmontierten Zaunpfählen entfacht hatten. Am anderen Ende des Rasengrundstücks jagten ein paar Soldaten eine kleine Herde blökender Schafe. »Wenn Sie alle Tiere töten«, sagte Sisyphus zu dem Sergeanten, »müssen nur wir Farbigen hungern. Sie führen diesen Krieg da für uns, sagen Sie…« »Halt den Mund, alter Narr. Geh hinein. Wir sind nicht eingerückt, um für euch zu kämpfen. Die meisten von uns hassen Nigger.« Plötzlich fiel dem Sergeanten seine Frage wieder ein, und er bellte erneut: »Wo ist das Silber?« »Meine Tochter hat Ihnen doch gesagt…«, begann Ferdinand. »Nehmen wir mal an, wir knüpfen Ihren Vater auf, wenn Sie es uns nicht sagen? He?« Er ist betrunken, dachte Miriam, aber wahrscheinlich meint er es ernst. Notfalls führe ich ihn zum Steinbruch, und Schluß. Lautes Rumpeln und Poltern hinter ihnen lenkte sie ab. Zwei Männer schleppten Möbelstücke zur Haustür heraus und stießen sie von der Veranda. Eugenes Hepplewhite-Sekretär, ein kostbares britisches Möbelstück, das er besonders liebte, landete krachend im Gras und zerbarst. Gleich darauf begann ein Soldat mit einer Axt darauf einzuhacken. Er trug einen rosa Seidenhut, Rosas besten Winterhut, und bog sich vor Lachen. Das Ganze ähnelte in seiner sinnlosen Brutalität und Verwüstung einem Hurrikan, nur war es viel schrecklicher. Der Hurrikan wußte wenigstens nicht, was er anrichtete. Miriam merkte überrascht, daß sie laut gesprochen hatte, denn Ferdinand antwortete: »Ja. Wie die Hep-Hep-Plünderungen damals. Andere Ursachen, aber dieselbe rohe Barbarei.« Er ballte die Fäuste. »Da stehe ich, alt, 349
schwach und nutzlos. Kann nichts tun, um dir zu helfen…« Die Stimme versagte ihm. Aus dem Haus drangen neue Geräusche, das schwere Stampfen von Stiefeln, dann Kreischen, das hohe entsetzte Kreischen von Frauen: Emma und Rosa. Was werden diese betrunkenen Wilden ihnen antun? Oder mir? Ich werde sterben, ich werde sterben wie meine Mutter, durch Gewalt… Aber meine Tochter, mein Mädelchen. Wenn sie sie finden… Wenn Eugene die Pistole abdrückt und einer dieser Männer umkommt, dann… Dann ist es zu Ende mit ihr, mit uns allen, mit allem. Aber das muß er wissen. Eugene muß das wissen! Plötzlich übertönten wütende Männerstimmen das Frauenkreischen. Über Miriams Kopf, auf der Galerie oben, lieferte sich Eugene einen heftigen Wortwechsel mit drei Soldaten. Er fuchtelte mit der Pistole, die ihm die drei abzunehmen versuchten. Irgendwie schien Eugene ihnen gewachsen; er war wieder der starke Mann von einst, ein Mann, der bekam, was er wollte. In diesem Augenblick war er nicht mehr das verwundete Wesen, das zurückzuschrecken schien vor der Welt, die es nicht sehen konnte. »Wir werden das gottverdammte Haus niederbrennen, wir sind noch nicht mal halb fertig damit!« »Das werdet ihr verdammt nicht tun!« brüllte Eugene. Er machte einen Schritt nach hinten, um die Waffe heben zu können und prallte gegen das Geländer. »Eugene!« hörte Miriam sich schreien. »Gib acht! Gib acht, Eugene«, schrie sie warnend, flehend, doch zu spät, zu spät… Er kippte rücklings über das Geländer, sein verächtlich verzogener Mund öffnete sich vor Schreck, und er stieß einen Schrei aus. Sein Körper drehte sich, seine Hände griffen ins Leere. Dann lag er gekrümmt auf dem Kies vor den Verandastufen, Miriam zu Füßen. »Großer Gott«, sagte Sisyphus leise. Ungläubige Stille herrschte, die nach ein paar Sekunden dem Entsetzen wich. Rosa und Emma kamen weinend aus dem Haus ge350
laufen. Der junge Eugene rannte herbei und beugte sich über seinen Vater. Angelique sank an seiner anderen Seite auf die Knie. Ihr Haar hatte sich bei dem hastigen Lauf über die Treppen gelöst und fiel ihr ins Gesicht. Dienstboten, die halb neugierig, halb ängstlich aus ihren Unterkünften gelugt hatten, liefen herbei, um sich das Unglück anzuschauen. Auch das Soldatengesindel kam. In einem zehnoder zwölfreihigen Kreis umstanden Angehörige, Dienstboten und Feinde Eugene, der bei Bewußtsein war und furchtbare Schmerzen litt, wie man ihm ansah. Ein Gemurmel von Kommentaren und Ratschlägen erklang. »Hebt ihn auf! Tragt ihn hinein…« »Wasser!« »Brandy!« Sisyphus ergriff Eugenes Beine, Chanute und Maxim faßten ihn bei den Schultern, um ihn hochzuheben, doch die erste Bewegung entriß ihm einen solch gräßlichen Schrei, daß sie sofort die Hände zurückzogen. »Laßt ihn in Ruhe!« »Was hat er bloß?« »Holt eine Decke!« Inmitten dieses Gewirrs von Anweisungen und Fragen, des atemlosen Wehklagens von Emma und Rosa und des Schluchzens ihrer Kinder stand Miriam da wie gelähmt: Denken, denken. Was ist zu tun? Was? Auf dem Zufahrtsweg trabte ein einzelnes Pferd mit einem Unionsleutnant im Sattel rasch heran. Jemand am Rande des Geschehens mußte ihm gesagt haben, was passiert war, denn er stieg vom Pferd, kam sogleich auf Miriam zu und nahm seine Mütze ab. »Oh, Ma'am, das tut mir leid! Furchtbar leid.« Er schaute sich auf dem Rasengrundstück um, das übersät war mit zertrümmerten Möbeln, zerschlagenen Flaschen, Kleidern, Büchern, Ziergegenständen… Er schaute auf Eugene nieder und schüttelte den Kopf: »Schrecklich… Ich weiß nicht – ich begreife diese Dinge nicht…« Seine Stimme verebbte. 351
Sein Mitgefühl schmerzte in gewisser Weise genauso wie zuvor die unzivilisierte Grausamkeit. Miriams Lippen begannen zu zittern: »Wir haben versucht, ihn aufzuheben. Wenn Sie vielleicht einen Arzt hätten…« »Keiner bei uns. Sind knapp an Ärzten. Armeen sind das immer«, entschuldigte sich der junge Mann. »Aber ich habe eine Menge Erfahrung, genug gesehen, vielleicht…« Er neigte sich über Eugene, untersuchte ihn mit den Augen. Nach einigen Sekunden schaute er zu der Galerie hinauf, von der Eugene gestürzt war, und schüttelte wieder den Kopf. »Ich weiß nicht«, sagte er zweifelnd. »Kann es nicht mit Bestimmtheit sagen, ich bin nicht ausgebildet, aber…« Seine Stimme war immer leiser geworden. Sein Blick richtete sich nicht auf Miriam, sondern auf den Jungen und das Mädchen, die noch immer im Kies knieten und die Hände ihres Vaters hielten. Dann schaute er Miriam an, als sei er plötzlich zu einem Schluß gelangt. »Ich glaube, er hat das Rückgrat gebrochen«, murmelte er wie zu sich selbst. »Und blind auch noch. Die Wahrheit ist, daß ich nicht weiß, was ich Ihnen raten soll, Ma'am.« Vermutlich ist das unwichtig, dachte sie. Er wird sterben. Schnell, hoffe ich. »Meinen Sie, daß er sehr lange leiden wird?« fragte sie. »Können Sie mir das sagen?« »Ich denke nicht. Und Sie stehen mit dem allem da.« Der Leutnant deutete auf die Verwüstung. »Sie wollten das Haus niederbrennen.« Der Leutnant entgegnete rasch: »Das dulde ich nicht. Ich werde dafür sorgen, daß sie in einer halben Stunde oder noch eher hier weg sind. Sergeant!« rief er. Das rote Gesicht erschien sofort. Die rote Hand salutierte. »Feuer löschen und fertigmachen zum Abmarsch. Diese Leute haben genug gelitten.« »Jawohl, Sir«, sagte der Sergeant. 352
Vor zwei Stunden waren die letzten Marodeure abgezogen, und der bei dem hastigen Abmarsch aufgewirbelte Staub hatte sich mittlerweile gelegt. Eugene lag noch immer auf dem Kies, an der Stelle, wohin er gestürzt war. Fanny hatte irgendwo ein Kissen gefunden, das nicht aufgeschlitzt worden war, und das hatte man ihm unter den Kopf geschoben. Seine Schmerzen wichen allmählicher Lähmung. Starr und regungslos, als treibe er auf dem Meer, driftete er langsam davon. »Ich sterbe.« Trotz der drückenden Stille, die sich mit dem Ende des Tages niedergesenkt hatte, war das Wispern kaum zu hören. »Ihr wißt, daß ich sterbe, nicht wahr?« Angelique weinte. »Nein, du darfst uns nicht verlassen! Was sollen wir ohne dich tun? Du darfst uns nicht verlassen!« »Mein liebes Mädchen. Deine Mutter wird für dich sorgen.« »Das meine ich nicht! Ich liebe dich, du darfst nicht sterben.« »Nicht doch, Angelique. Du mußt erwachsen werden und der Wahrheit ins Auge sehen. Mein Rückgrat ist gebrochen.« Eugene ließ den Kopf hängen. Nach diesen vielen Stunden waren seine Kräfte erschöpft, doch er ließ die Hand seines Vaters nicht los. Der Vater machte eine Bewegung, um die Hand zu befreien. »Ich möchte…« Seine Lippen bewegten sich, aber er brachte keinen Laut hervor. Miriam neigte sich näher zu ihm. »Ich möchte mit eurer Mutter sprechen.« »Ich bin da, Eugene. Willst du, daß die Kinder zurücktreten, ist es das? Willst du mir etwas sagen?« Mit einer Kopfbewegung schickte Miriam die Kinder auf die Veranda, wo in der früh hereinbrechenden Abenddämmerung noch immer die Dienstboten um Emma, Ferdinand und Rosa geschart waren. »Du wolltest mir etwas sagen, Eugene?« »Der Junge«, murmelte er. »Achte auf ihn.« Sie dachte zurück an die Zeit, als der Junge nach der Schule seinem Vater im Salon Bericht erstattet hatte. Sie konnte ihn sehen, 353
wie er anmutig, heiter und bezaubernd vor den stolzen Augen seines Vaters stand, bevor diese Augen zerstört worden waren. »Was habt ihr heute gemacht?« Die Antworten waren mit gleichem Stolz gegeben worden: »Oh, Latein, Geometrie, Schönschreiben und Grammatik.« »Hast du eine gute Note für die Karte bekommen, die du vorige Woche gezeichnet hast?« »Ja, Papa, eine gute. Ich zeige sie Ihnen.« Achte sorgsam auf meinen Sohn, meinte Eugene. Sorge dafür, daß er erzogen und ausgebildet wird, wie ich es bestimmt hätte. Sie schluckte, um die Tränen zurückzudrängen. »Eugene, ich verspreche dir, daß ich alles tun werde, was du gewollt hättest.« Keine Verstellung mehr jetzt, kein Ableugnen, daß er im Sterben lag. Dies eine wenigstens hatten sie immer gemeinsam gehabt, daß sie Verstellung verachteten. Solange, dachte sie nun wehmütig, solange das Bild für die Öffentlichkeit makellos blieb. »Ja, ich werde die beiden irgendwie durch diesen Krieg bringen. Du kannst dich darauf verlassen.« Plötzlich hob Eugene die Stimme: »Angelique… Wie man mir sagte, ist sie sehr hübsch. Das ist doch eine Hinterlassenschaft, nicht wahr?« »Ich sorge für sie, Eugene, auch darauf kannst du dich verlassen.« Leise weinend sagte sie: »Mir tut alles so leid! Daß wir nicht glücklich sein konnten miteinander… Wenn ich dich verletzt habe, das wollte ich nicht. Ich legte es nie darauf an, dich zu verletzen, und ich bin sicher, daß auch du mich nie verletzen wolltest.« »Keine Tränen«, murmelte er, aber nicht verächtlich, wie er einst gesagt hatte: Was, schon wieder Tränen, die Waffen der Frau! »Keine Tränen«, wiederholte er. Von neuem erschien das zittrige Lächeln und verflog. In dieser eigenartigen kleinen Bewegung, diesem Aufflackern schöner Erinnerungen vielleicht, las Miriam die Geschichte seiner Jahre mit jener auffallenden Frau, deren dunkle Leidenschaft ihn einst glücklich gemacht hatte. Vielleicht war ihm entfallen, daß sie ihn 354
verlassen hatte, und er wünschte sie jetzt herbei. Sie sollte bei ihm sein, dachte Miriam, sie hat all das Gute genommen, das er geben konnte, und sollte jetzt bei ihm sein! Gegen Mitternacht starb Eugene. In der tiefen Stille, im Schein der Sterne, trugen der alte Sisyphus, Chanute und Maxim ihn ins Haus und betteten ihn auf das ruinierte Sofa im Salon. Viele Jahre zuvor hatten die früheren Besitzer von Beau Jardin einen alten Indianerhügel, der vor Jahrhunderten als Begräbnisstätte gedient hatte, zu ihrem Friedhof gemacht. Hier beerdigten sie nun, während die Vögel in den dichten immergrünen Eichen laut sangen, Eugene in einem schlichten Sarg, der in der Nacht angefertigt worden war. Ein trauriges Begräbnis, dachte Miriam. Zumindest Eugene hätte das gefunden! Er hätte gewollt, daß alles korrekt vor sich ging: ein Begräbnis im Friedhof der Synagoge, bei dem sämtliche Männer gestreifte Hosen und Zylinder trugen und der Rabbi das Kaddisch anführte. Doch im Augenblick konnten sie unmöglich zurück in die Stadt, und nur der junge Eugene war da, um das Kaddisch zu sprechen. Er sprach es gut, mit der herzzerreißenden rauhen Jungenstimme, die immer wieder in den Sopran zurückkippte. Ferdinand, der sich kaum noch an die Worte erinnerte, betete mit. Und danach füllten Maxim und Chanute Erde auf den Sarg. Ich bin froh, daß Eugene und ich dieses letzte Gespräch hatten, dachte Miriam, die Arme um ihre Kinder gelegt. Wenigstens ruht er in seinem eigenen Grund und Boden, den er so liebte. Und vielleicht, dachte sie unlogischerweise auf dem Rückweg zum Haus, vielleicht übersteht seine Rotbuche ihre Verletzungen. Das würde ihn freuen. Zwei Dutzend Schafe lagen von dem Gemetzel am Vortag tot auf der Weide. Die Lagerräume waren zerstört; das Wenige an Nahrungsmitteln, das die Soldaten dort zurückgelassen hatten, war mit Melasse verunreinigt; die ganze Kartoffel- und Bohnenernte war verdorben. Aus dem Räucherhaus hatten sie den gesamten Fleischvorrat für den kommenden Winter geplündert. Nichts war mehr da. 355
Miriam ging umher, um sich einen Überblick zu verschaffen. Verwüstung starrte sie an. Keine Maultiere mehr da, außer zwei Füllen. Die Wagen verfeuert. Die Rinder, die nicht abgeschlachtet worden waren, hatten die Soldaten mitgenommen, zweifellos um sie in New Orleans zu versteigern. Der Aufseher kam aus seinem Haus. Er hatte Reisekleidung an und trug zwei Reisetaschen. »Ich wollte gerade zu Ihnen, um zu kündigen«, sagte er leicht verlegen. »Kündigen, Mr. Ransome? Mit einminütiger Frist?« »Ich weiß. Es tut mir leid. Aber unter diesen Umständen… Hier ist nichts übrig. Die Würfel sind gefallen, ich gehe nach Connecticut zurück.« Sie wollte etwas vom Verlassen des sinkenden Schiffs entgegnen oder ihm ein anderes abgedroschenes, aber wahres Wort des Vorwurfs an den Kopf werfen. Dann dachte sie, das ändere nichts, und sie schluckte ihre Ungehaltenheit hinunter. »Viel Glück also, Mr. Ransome.« Er zögerte: »Was werden Sie denn tun? Wissen Sie, daß heute früh mindestens fünfundzwanzig Feldarbeiter weggelaufen sind? In die Sümpfe verschwunden, um sich zu verstecken, oder der Armee gefolgt. Ich weiß nicht, was von beidem.« »Dann muß ich eben mit denen auskommen, die noch da sind«, entgegnete sie kühl. Der Mut, den sie zur Schau trug, ging jedoch nicht sehr tief. Sie brauchte wirklich jemanden. Wie sollte sie je Ordnung in dieses Chaos bringen? Alle vertrauten Geräusche waren verstummt: das Streiten und Singen auf den Feldern und das geschäftige Rumpeln der Räder, das fröhliche Blöken und Gackern aus den Ställen. Die Stille tötete jede Hoffnung. So viele Menschen zu versorgen! Ferdinand war plötzlich alt geworden. Emma deprimierte der traurige Zustand des Hauses; sie hatte die grausame Tragödie überstanden, aber der Schmutz und die 356
Unordnung schlugen sich ihr aufs Gemüt. Inmitten des herrschenden allgemeinen Wahnsinns mußten die beiden Kinder ernährt und irgendwie in einem Mindestmaß an Normalität erzogen werden. Rosa war in den vergangenen Stunden völlig verfallen. Den ganzen Tag schon stöhnte sie: »Ach, wenn Henry hier wäre, wenn… Wir hatten so ein schönes Leben zusammen… Er liebte die Oper… Wir hörten Jenny Lind – und wir sahen die Premiere von George Harbys Nick of the Woods… So ein schönes Leben… Er könnte nicht glauben, daß ich so dastehe.« Sie war nicht mehr bei Verstand. Fanny kam Miriam auf der Zufahrt entgegen: »Simeon ist an der Hintertür. Er will Sie sprechen.« Müde entgegnete Miriam: »Weswegen?« »Wegen der Ernte. Und er will Ihnen sagen, daß er vier Maultiere gerettet hat. Im Sumpf versteckt.« Das war ein Segen. Und Simeon würde bleiben. Fanny reichte ihr einen Samtbeutel. Miriam wußte nichts damit anzufangen, sie war völlig erschöpft. »Was ist das, Fanny?« »Ihre Diamanten. Haben Sie darauf vergessen?« »Tatsächlich, das habe ich. Danke, Fanny.« Wie so oft in der Vergangenheit standen sie einen Moment lang da und sahen einander an, und wie so oft fragte sich Miriam, was die andere wirklich dachte. Fanny sagte weich: »Das mit Mr. Eugene tut mir sehr leid. Miß Angelique nimmt es sehr schwer.« »Ich weiß«, entgegnete sie und fügte hinzu: »Ich auch.« Wir haben einander unglücklich gemacht, dachte sie, trotzdem würde ich ihn auf der Stelle zurückholen, wenn ich könnte. Fanny wurde lebhaft: »Ich werde die Matratzen mit Bartflechten ausstopfen. Die Soldaten haben sie mit ihren Macheten ruiniert – oder wie man die teuflischen Dinger nennt.« »Säbel.« »Gut. Soll ich Ihnen Simeon schicken?« »Ja, schicke ihn nach vorn zur Veranda.« 357
Guter Gott, er mußte über zwei Meter messen! Sie erinnerte sich nicht, ihn je gesehen zu haben, aber schließlich hatten viele hier gearbeitet, auf den vom Haus abgelegenen Äckern und Feldern. Plötzlich fiel ihr ein Name ein, den Eugene öfter erwähnt hatte: »Jasper. Ist er noch da? Mein Mann hat ihn immer bewundert, darum dachte ich…« »Ja, Missis, noch da, aber viel zu alt für alles. Wir alle, ungefähr zwanzig sind noch übrig, wir alle haben beschlossen, daß ich alles leiten soll. Ich bin jung und stark, und ich weiß, wie man alles leitet.« Miriam musterte ihn eingehend und faßte einen Entschluß: »In Ordnung, dann übernimmst du die Aufsicht, Simeon. Du wirst mit mir planen, wie Mr. Ransome mit meinem Mann geplant hat. Du wirst mich unterrichten. Das Wichtigste erst einmal, wir alle müssen essen. Was kann man in dem Punkt tun?« »Hm, Missis, bißchen Gemüse wächst noch. Den Garten hinter der Scheune haben sie nicht gesehen. Und ich habe paar Hühnchen in den Sümpfen gerettet, paar Hennen, die mir gehören. Wenn wir sie nicht essen jetzt, können wir Eier haben und nächsten Sommer Hühnchen. Zwei Kühe sind noch da, und eine wird bald kalben.« Chanute und Maxim bogen um die Hausecke, die Messingknöpfe an ihren Jacken funkelten. Miriam rief sie zu sich: »Kommt her. Ihr kennt doch Simeon.« Sie hoben erstaunt und erhaben die Augenbrauen. »Natürlich kennt ihr ihn! Ihr habt ihn sicher schon gesehen. Erzählt mir nicht, daß das nicht stimmt. Oh, ich verstehe, ihr habt noch nie im Leben Feld- oder Stallarbeit verrichtet. Aber jetzt ist alles anders. Keine phantastischen Uniformen mehr. Wenn ihr essen wollt, müßt ihr arbeiten. Ihr müßt aushelfen, ihr beide und Blaise. Wir alle müssen aushelfen. Versteht ihr?« »O ja, Miß Miriam«, sagten sie unisono. Zu Miriams Überraschung grinste Chanute. Und da tat sie etwas Leichtfertiges. 358
»Sagt mir, warum seid ihr nicht weggelaufen wie die anderen?« fragte sie. Die ungleichen Drei schauten einander an, plötzlich verbunden durch ihr gleiches Motiv. Das Grinsen auf ihren Gesichtern wurde noch breiter. Chanute antwortete schließlich: »Darum. Die Sezessler kommen wieder.« So einfach war das. Sie hatten sich das alles genau überlegt, weil sie glaubten, die Verfechter der Sezession würden zurückkommen. Na, macht nichts, dachte sie. Von einem Tag zum nächsten leben, das ist alles, war wir tun können. Von einem Tag zum nächsten.
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N
un begannen unerwartete Besucher zu erscheinen. Eines Nachmittags nahm der hellblaue Himmel das kränkliche Weiß eines Fischbauchs an, und Miriam versuchte abzuschätzen, wie lange es dauern würde, bis das Gewitter losbrach. Da sah sie eine Kutsche in die Zufahrt einbiegen. Vier schöne Pferde zogen sie, gelenkt von dem Kutscher hoch oben auf dem Bock. Auf dem Rücksitz saß eine Frau in einem gelben Kleid aus so glänzendem Material, daß man es sogar aus dieser Entfernung als Satin erkannte. Die Kutsche rollte heran, und ihre wie Bernstein schimmernden schwarzen Räder kamen genau vor den Verandastufen zum Stehen. Der Kutscher sprang herab und half der Frau beim Aussteigen. Die Frau war Queen. Ihre Haltung hatte diesmal nichts Ehrerbietiges, Zurückweichendes. Ihre Augen, die nicht mehr gesenkt waren und wegschauten wie einst, glitten offen über Miriams ländliche Haube und ihr vom vielen Waschen ausgebleichtes Baumwollkleid. 359
»Sie erinnern sich an mich«, sagte Queen. Es war keine Frage, sondern eine Feststellung. »Ja.« »Ich bin gleich losgefahren, als ich hörte, was passiert ist… Er war ein guter Mensch.« Die geschwungene Linie ihres Kinns über den drei Reihen wunderbarer Perlen wirkte irgendwie trotzig. Es stand kaum dafür, den weiten Weg zu machen, um mir das zu sagen, dachte Miriam und spürte heißen Zorn in sich aufsteigen. Glaubst du denn, ich würde mit dir darüber streiten? Sie nickte, um zu zeigen, daß sie die Worte gehört hatte. »Ich habe ein paar Sachen mitgebracht. Ich dachte – ich wußte, daß Ihnen verschiedene Dinge fehlen.« Das zertrampelte Getreide, das zerbrochene Geländer der Galerie, von der Eugene gestürzt war, und die Zäune, deren Reparatur eben erst begann, waren der sichtbare Beweis dafür. »Seine – Ihre Kinder werden einiges brauchen, dachte ich.« Empfängerin der Freigebigkeit dieser Frau sein zu müssen! Ich würde ihr gern sagen, daß sie ihre wohltätigen Spenden anderswohin schaffen soll, dachte Miriam. Aber die Marodeure waren von Angeliques hellen Kleidern so entzückt gewesen, daß sie das Zimmer des Mädchens völlig ausgeräumt hatten. »Die Kartons sind im Wagen. Soll mein Diener sie ins Haus bringen?« Hübsch verschnürte Pakete bedeckten den Boden und die Hälfte des Rücksitzes. Es war lange her, daß sie die köstliche Vorfreude erlebt hatte, die man beim Anblick eines schön gepackten Geschenks empfand! Miriam spürte, daß sich ihre Augen gierig weiteten. »Er kann sie in die Eingangshalle legen«, sagte sie. »Es ist sehr gütig von Ihnen…« Die Frau sah ihrem Diener zu, und Miriam betrachtete die Frau. Die Gehänge an ihren Ohren waren Diamanten. Goldarmbänder, schwer und massiv, wanden sich um ihre Handgelenke, und ihre Fin360
ger waren mit Ringen bedeckt. Die Königin von Saba mußte etwa so gefunkelt haben. Dieser offensichtliche Reichtum, diese neue Sicherheit und die Umkehr ihrer beiden Stellungen trafen Miriam tief, doch sie war sich bewußt, daß der Schmerz einzig ihrem Groll, ihrem verletzten Stolz und ihrem Neid entsprang. Als die Pakete in der Halle aufgeschichtet worden waren, schickte sich Queen an, wieder in den Wagen zu steigen. Ein Impuls normaler Anständigkeit durchbrach Miriams neblige Zerstreutheit. Die Luft war feucht und erstickend, und die Frau hatte Eugenes Kindern zuliebe die lange Fahrt gemacht. »Kommen Sie herein und ruhen Sie sich ein wenig aus. Ich kann Ihnen nichts anbieten als etwas Ruhe und einen kühlen Platz.« Zum Glück, dachte sie und zog im Geiste ein schiefes Gesicht, machen gerade alle ihren Nachmittagsschlaf. Also würde keiner unten sein – vor allem nicht Emma – und sich darüber wundern, daß die Frau des Hauses im Salon eine freie Farbige gastlich aufnahm. Queens flinke Augen registrierten den Schaden, die leeren Stellen, an denen vor kurzem noch Möbel gestanden hatten, den zerschlagenen Spiegel, das Porträt mit dem schrägen Riß. »Ich begreife nicht, warum sie so etwas tun müssen«, sagte sie. »Die haben Ihnen nichts gelassen.« »Ja, die Bestie Butler und die hier haben uns fast alles genommen«, erwiderte Miriam zornig. »Trotzdem, Butler hat einiges Gute getan…« »Butler? Gutes getan?« fragte Miriam verächtlich. »O ja. Er hat Lebensmittel herangeschafft, als die Stadt hungerte, und die Preise festgesetzt. Und er hat die schmutzigen Straßen säubern lassen. Wissen Sie, daß wir in diesem Sommer kein Gelbfieber hatten?« »Wenig genug, was er der Stadt dafür zurückgegeben hat, durch die er reich geworden ist.«
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Queen lächelte: »Ja, viele sind durch sie reich geworden. Sein Bruder hat ein Vermögen gemacht. Ich weiß, daß es wahr ist, denn ich kenne Leute, die ihm ziemlich nahestehen.« Davon bin ich überzeugt, sagte Miriam zu sich selbst. In der Ferne rollte kurz ein Donner; er zeigte zu Miriams Erleichterung an, daß das drohende Gewitter in eine andere Richtung gezogen war. Sie hätte die Frau nicht gut mitten in einem Unwetter zur Heimfahrt aufbrechen lassen können. Schweigen herrschte im Salon, es tickte in den Ohren und wurde mit jedem Moment peinlicher. Schließlich begann Queen zu sprechen: »Ich wollte ihm sagen, wie leid es mir tut, daß ich – daß ich ihn verlassen habe, als die Stadt eingenommen wurde.« In ihren verschleierten runden Augen mit dem neuerdings so selbstsicheren, kühnen Blick erschien ein Ausdruck der Trauer und Reue. »Es ist zu spät… Die Menschen tun manchmal Dinge, auf die sie hinterher nicht stolz sind. Aber die Umstände…« Die weiche Stimme, deren Klang einen an Liebesworte und Gelächter denken ließ, verstummte, und Queen streckte die Hände aus, die Handflächen nach oben gekehrt, als wollte sie sagen: Bestimmt verstehen Sie, wie es war. Luxus, Fröhlichkeit und Überlaufen zu den Siegern, so war es. Trotzdem, das offene Bekenntnis entbehrte nicht einer gewissen Würde. »Tut mir leid, daß er es nicht erlebte, Sie das sagen zu hören.« Miriam dachte an Eugenes flüchtiges Lächeln, als er sterbend auf der Erde gelegen hatte. »Da ist noch etwas anderes… Etwas über meinen Sohn. Er ist Bildhauer, wußten Sie das? Er hat in Rom einen Preis gewonnen. Auch das hätte ich ihm gern gesagt. Er wäre stolz gewesen.« Nein. So sehr hätte ihn das nicht interessiert. Sie dachte an den Löwen auf Eugenes Kommode. Ja, Eugene war angerührt gewesen, verständlicherweise, aber sein Herz und sein ganzer Stolz hatten dem Sohn gehört, der seinen Namen trug. Meinem Sohn, dachte sie; das ist der Grund, warum er mich geheiratet hat. 362
Doch über solche Dinge sprach man nicht, darum trat in dem Raum erneut Schweigen ein. Außerdem gab es wirklich nichts, was die beiden Frauen einander noch zu sagen gehabt hätten. Trotzdem, in seltsamer Weise verband sie wegen ihrer Beziehung zu dem toten Eugene eine ungewollte, unausgesprochene Intimität. Was nun, wenn ich ihn auch geliebt hätte? Fragte sich Miriam, fand aber keine Antwort. Wir sind alle von einer Kette gefesselt, deren ineinandergreifende Glieder eine Art wirres Netz ohne Anfang und Ende bilden: sie an mich und ich an Eugene; ich an André und er an Marie Claire und sie… Das Satinkleid raschelte auf dem Boden, denn Queen hatte sich erhoben, um zu gehen. Mit einer plötzlichen Geste des Mitleids und der Scham – wer bin ich denn, was bin ich denn, um zu verurteilen? – streckte Miriam ihre Rechte aus. Sie empfing einen kurzen Händedruck und sah ein paar Tränen, die rasch abgewischt wurden. Als die Kutsche außer Sicht war, kehrte Miriam ins Haus zurück und rief Fanny, um mit ihr die Kartons auszupacken. Der nächste ungewöhnliche Besucher kam einige Wochen später, ein eleganter Herr mit modischem Backenbart und einem schwachen britischen Akzent. »Ich bin Isachar Zacharie, Doktor Isachar Zacharie.« Er brachte einen Korb Orangen und, wie er gleich eingangs sagte, einen Brief von David. Sein Auftreten war von förmlicher Höflichkeit, verbunden mit Freundlichkeit. »Dann kennen Sie meinen Sohn beruflich?« fragte Ferdinand. »Nein, ich bin ihm nur einmal begegnet, in New York. Er ist selbstredend in der Sanitätstruppe, ich dagegen bin Spezialist für Handund Fußpflege. Und, wenn ich es so ausdrücken darf, ein Freund von Präsident Lincoln.« Emma kniff die Lippen zusammen, und Rosas Korsett knirschte, als sie, unangenehm berührt, den Rücken straffte. 363
»Tatsächlich bin ich mit einem Auftrag vom Präsidenten in New Orleans.« Die Bewohner des Hauses warfen sich mißtrauische Blicke zu. War der Mann eine Art Quacksalber, vielleicht ein Betrüger? »Als Ihr Sohn mich bat, seinen Brief zu überbringen, meinte er, daß Sie wahrscheinlich noch in New Orleans seien. Aber ich erkundigte mich und erfuhr von Ihrem Weggang.« »Die Bestie Butler hat uns gezwungen, wegzugehen«, entgegnete Ferdinand kalt. Dr. Zacharie lächelte: »Ich verstehe Ihre Gefühle.« »Erzählen Sie bitte von meinem Bruder, alles, was Sie wissen«, ersuchte ihn Miriam mit höflicher Ungeduld. »Oh, er war im dichtesten Kampfgetümmel, wie er mir sagte, scheint es aber recht gut überstanden zu haben. Wir hatten nicht viel Zeit, uns zu unterhalten. Zufällig waren wir beide wegen einiger Anlässe in New York, so als das jüdische Krankenhaus der Regierung seine Dienste für verwundete Soldaten anbot. Und einen Tag später auf der Hygiene-Messe. Wir bekamen über eine Million Dollar für die Linderung von Kriegsfolgen zusammen. Als er hörte, daß ich nach New Orleans fahren würde – nun«, sagte Dr. Zacharie taktvoll, »ich habe ein paar Sachen mitgebracht. Zufällig erwähnte ich gegenüber Rabbi Illowy in New Orleans, daß ich Sie aufsuchen wolle, und er deutete an, daß möglicherweise – die Verwüstung… Im Wagen sind einige Dinge.« Miriam wies Sisyphus an, die ›Dinge‹ aus dem Wagen zu holen. Es waren Woll- und Steppdecken. Dieser Tage erhalten wir aus den seltsamsten Quellen Geschenke, dachte sie, erst von Queen und jetzt von diesem sonderbaren Mann. Aber sie sind uns weiß Gott willkommen. Als sie in den Salon zurückkehrte, sagte der Gast gerade: »Ja, meine Familie ist in Savannah, und es ist schrecklich hart, ihr fern zu sein. Doch wenn ich etwas tun kann, um den Frieden herbeizuführen, nehme ich alles auf mich.« 364
Emma umfaßte die Lehne ihres Sessels. Ihr rosiges Fleisch war schlaff geworden, denn sie hatte stark abgenommen, und in ihren Augen stand tiefe Besorgnis. Pelagies dritter Sohn war mittlerweile ebenfalls eingerückt. Bisher hatte keiner etwas abgekriegt, doch jeder Tag vergrößerte die Wahrscheinlichkeit, daß es geschah. »Wie wollen Sie das anfangen?« fragte sie skeptisch. Dr. Zacharie wehrte die Frage mit einer Handbewegung ab: »Bei allem Respekt, Madame, das sind offizielle, höchst vertrauliche Angelegenheiten, über die ich nicht sprechen kann. Ich darf Ihnen aber sagen, daß ich etwas mit der Neufestsetzung der Wechselkurse zwischen der Unionswährung und der hiesigen zu tun habe; das ist allerdings eine unbedeutende Angelegenheit und allgemein bekannt.« Er senkte die Stimme: »Inoffiziell kann ich Ihnen versichern, daß ich mich vielen Juden sehr nützlich mache – ich bin selbst einer, wissen Sie –, sowohl Juden aus dem Norden, die in New Orleans vom Krieg überrascht worden sind, als auch Juden aus dem Süden, die ihre Heimatstadt wegen der Konföderation verlassen haben. Sie befinden sich in größten Schwierigkeiten, weil sie den Eid nicht ablegen wollen.« »Mein Gott, wie lange wird das noch weitergehen!« rief Miriam. »Zu lange. Aber je länger es dauert, desto sicherer ist, daß die Union gewinnt. Äh«, entschuldigte er sich, »Sie haben mich nach meiner Meinung gefragt.« »Ja, bitte fahren Sie fort.« »Wir alle wissen, daß die Konföderierten Staaten hoffen, die Unterstützung Frankreichs und Englands zu erhalten, doch sämtliche Missionen, die geheim sein sollten, sind gescheitert.« André … wo ist er dann jetzt? »Zum einen fand England in Ägypten und Indien neue Baumwollquellen, und zum anderen sind die Arbeiterklassen sowohl in Frankreich als auch in England derart gegen die Sklaverei, daß ihre Regierungen zum gegenwärtigen Zeitpunkt nicht wagen würden, dem Süden Unterstützung zu gewähren. Die Sache ist zu einer Frage der Moral geworden, besonders in England.« 365
»Eine Frage der Moral!« rief Rosa. Ihre erschütterten Nerven, die sich erst langsam wieder erholten, verliehen ihrer Stimme einen verletzenden Ton. »Ja, für die Konföderierten Staaten ist es in der Tat eine Sache der Moral, uns vor einem fremden Eindringling zu schützen! Unsere Häuser und Heime haben Sie angegriffen… Sie brauchen sich nur umzuschauen! Mein Bruder, Sir, ein Anwalt, ein scharfer Beobachter und gerechter Mann, wie jeder bezeugen wird, der ihn kennt – sogar er hat immer gesagt, dem Norden ginge es nicht um Moral, sondern um Geld! Bedenken Sie, welche Reichtümer der Norden durch unsere Baumwolle erhält, weit mehr als wir, die wir sie anbauen und ernten! Die Banken jener Leute, die über die Sklaverei schimpfen, profitieren von ihr!« Voll Leidenschaft hatte sie die letzten Worte hervorgestoßen. Miriam war peinlich berührt: »Dr. Zacharie ist als freundlicher Bote gekommen. Lassen wir doch diese Themen.« »Ich bin gekommen und muß wieder gehen«, sagte der Doktor. »Ich habe in der Stadt tausend Dinge zu erledigen.« »Was hältst du von ihm?« fragte Ferdinand, nachdem er Zacharie hinausbegleitet hatte. Miriam überlegte: »Entweder ist er ein gerissener Schwindler oder ein hochherziger Betrüger. Entscheiden Sie selbst.« Emma sagte unglücklich: »Er scheint überzeugt zu sein, daß wir verlieren.« »Glaub das bloß nicht«, entgegnete Ferdinand. »Unsere Truppen werden wiederkommen. Du wirst sehen, in Kürze werden die Männer in Grau wieder auf unserem Zufahrtsweg erscheinen. Merk dir meine Worte.« Ein Regenschauer ging nieder, die Tropfen trommelten an die Fenster. Dann kam Wind auf und ließ die Scheiben in ihren Rahmen zittern. Die Herbststürme hatten begonnen. Regen und weicher Boden werden die Kämpfe unterbrechen, dachte Miriam dankbar. Doch Ferdinand hatte eben behauptet, die Männer in Grau würden wiederkommen. Und das bedeutete weitere Gefechte, weitere tote junge Leute. 366
Konnte es vielleicht auch bedeuten, daß André wiederkam? Falls er noch lebte… Gesagt zu bekommen, sie werde ihn zehn Jahre nicht sehen oder nie mehr, das schien ihr die am schwersten erträgliche Sache der Welt; doch gesagt zu bekommen, er sei tot, das wäre unerträglich gewesen. David schrieb: Liebe Schwester und lieber Papa, wenn er mir so weit verziehen hat, daß er meinen Brief hören will. Weil ich sehr lange nichts von Euch gehört habe, muß ich annehmen, daß Deine Briefe, Miriam, mich nicht erreichten. Ich hoffe nur, daß dieser hier durch die gütige Vermittlung von Dr. Zacharie zu Euch gelangt. Ich ziehe ständig im Land umher und lege weitere Strecken zurück, als ich in so kurzer Zeit für möglich gehalten hätte. Nach der Schlacht um Corinth wurde ich in den Norden geschickt, ins Gebiet von Memphis, wo ich wieder die Verwundeten versorge. Es ist eine Arbeit, an die ich mich nie gewöhnen werde. Gebe Gott, daß ich sie nicht mehr lange tun muß und daß dieser Krieg ein Ende nimmt, denn die Leiden, die ich sehe, sind im Gegensatz zur Krankheit kein Naturphänomen, sondern vom Menschen gemacht, zu seiner ewigen Schande. Dazu kommen die Wunden des Geistes und der Seele. Sind sie nicht sogar noch schlimmer? Ich denke an Grants berüchtigten Befehl Nummer Elf, der die Vertreibung aller Juden aus Tennessee verfügte. Ich setze voraus, daß Du darüber gelesen hast und auch die gute Nachricht kennst, daß Lincoln einmal mehr zu Hilfe kam und ihn rückgängig machen ließ. Vielleicht konntest Du es nicht glauben, als Du erstmals davon erfuhrst; ich jedenfalls konnte es nicht. Aber es stimmte. Ich sah selbst ein altes Paar, einen traditionsbewußten bärtigen Juden und seine armselige kleine Frau, die von den Soldaten in einen Zug gestoßen und geschubst wurden. Die Frau weinte so… Miriam ließ den Brief sinken. Ihr Herz raste. Die Frauen weinten. So lautete die hundertmal gehörte Geschichte vom Tod ihrer Mutter. Sie las weiter. 367
Für den Fall, daß Du doch nicht weißt, was es damit auf sich hatte, werde ich kurz berichten. Über die Gefechtslinien hinweg findet ein skandalöser illegaler Handel statt, Baumwollspekulationen, Zahlung und Entgegennahme von Bestechungen für die Ausfuhrerlaubnis. Einige der Beteiligten sind Juden, andere nicht. Aber Grant bestrafte nur die Juden – und zwar alle Juden, nicht bloß die schuldigen! Wer aber war und ist der Schuldigste, der Reichste von allen? Jesse Grant, der Vater des Generals! Ich sehe noch immer das arme alte Ehepaar, das sich kaum mehr auf den Beinen halten konnte, geschweige denn herumlaufen und mit Baumwolle ein Vermögen machen! Es tut mir weh, auf meiner Seite des Kriegs solche Brutalität erleben zu müssen. Nun etwas, das Dich überraschen wird. Einen Tag, nachdem ich das alles mitangesehen hatte, bot mir einer der Majore an, mich mit einem Mann in der Nähe von Vicksburg unten bekannt zu machen, der auf seinem Landsitz genügend Baumwolle habe, um eine Mühle eine Woche lang zu versorgen. Wir könnten die Baumwolle auf einem unserer Kanonenboote hinausschmuggeln, sagte er; das werde die ganze Zeit gemacht, was mir auch bekannt ist. Er sagte, der Mann sei ein ›echter Aristokrat des Südens‹ und heiße Labouisse. Ich muß ein ziemlich verblüfftes Gesicht gemacht haben, denn er fragte mich, ob ich den Namen kenne. Den Namen kenne?! Miriam, er wird mich für den Rest meines Lebens verfolgen. Der Sohn tot von meiner Hand, die Enkel für das kämpfend, woran sie glauben, während der Großvater mit dem Feind Geschäfte macht! Und weißt Du, daß der Handel, nachdem Grant die jüdischen Händler auswies, sogar noch zunahm? Wem konnte er dann die Schuld geben? Ich sage Dir, eine seltsame Welt, wie Opa immer zu sagen pflegte! Denkst Du oft an Opa? Ich tat es früher nicht, aber jetzt erinnere ich mich deutlich an das alte Leben… Vermutlich kommt es daher, daß ich so weit weg bin von allem Vertrauten. Vermutlich ist es nur natürlich, daß man sich, wenn man Angst hat, an da368
heim erinnert. Ich denke an den Tag, an dem Papa in der Kutsche ankam, und ich muß über mich selbst lächeln: Damals fand ich, er sehe wie ein Prinz aus! Wie seltsam muß ihm unser Dorf nach den Jahren in Amerika vorgekommen sein! Ich frage mich, ob einer von uns beiden im Leben noch einmal dorthin reisen und es wiedersehen wird. Ich weiß nicht einmal, ob ich das will… Meine Gedanken geraten durcheinander, während ich hier im Halbdunkel schreibe; es ist spät, und in ein paar Stunden muß ich aufstehen, den wir erwarten etwa bei Tagesanbruch einen Lazarettzug. Wie ich mich nach einer normalen Praxis sehne, danach, vernünftige, gute Dinge zu tun, beispielsweise gesunde Zwillinge auf die Welt zu holen! Wie geht es meinen gesunden Zwillingen? Ich verfolge im Geist den Kalender, um ihre Fortschritte ungefähr abschätzen zu können. Eugene müßte inzwischen ein gutes Stück größer sein als Angelique. Den Stimmbruch müßte er hinter sich haben… Ich weiß, daß Du ihnen jetzt Mutter und Vater bist. Es war grausam für sie, ihren Vater zu verlieren und noch dazu auf so schreckliche Weise. Aber ich weiß auch, daß Du es schaffen wirst, daß sie sich gut entwickeln werden. Sage ihnen, daß ich sie sehr liebe. Sage ihnen, daß sie mich nicht vergessen sollen. Zunächst einmal geht der Krieg weiter, und ich ziehe mit ihm weiter. Ich rechne damit, in den Osten verlegt zu werden, irgendwohin nach Virginia, glaube ich. Mögen wir alle am Leben bleiben und wieder zusammenkommen. Dein Bruder David
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ie ganze Woche ließ der Wind nicht nach in seinem unheimlichen Pfeifen und Heulen, er schüttelte die Bäume und blies die Kerzen aus, wenn man die Tür nur ein Stückchen öffnete. Eines Nachmittags erklang das Grollen eines Hochsommergewitters, obwohl die Jahreszeit dafür längst vorbei war. »Das ist kein Donner«, rief Ferdinand. »Es ist Geschützfeuer. Horcht!« Eugene rannte hinaus. »Blaise, hol ihn!« schrie Miriam. »Was denkt er sich denn?« Sofort lief Blaise hinter Eugene her die Zufahrt hinunter, gefolgt von dem stolpernden alten Sisyphus. Als die beiden den Jungen zurückbrachten, gewahrte Miriam zu ihrer Verblüffung, daß der ›junge Herr‹ größer war als die Beschützer, die sie ihm nachgeschickt hatte. Diese Entdeckung machte sie verlegen, und sie reagierte ihre Irritation durch Schimpfen ab: »Willst du dort draußen erschossen werden, dummer Kerl? Haben wir nicht schon Schwierigkeiten genug?« »Haben wir gewiß«, seufzte Sisyphus. »Schwierigkeiten genug in dieser Familie. Darum hören Sie jetzt auf Ihre Mutter, verstanden?« »Ich schleiche mich zur Straße und schaue nach, was los ist«, sagte Ferdinand. »Ich kann auf mich achtgeben. Ihr bleibt hier.« Rosa und Emma umklammerten die Armlehnen ihrer Stühle, als könnten diese sie beschützen, und die Dienstboten lehnten starr und stumm an den Wänden. Miriam wurde von dem alten Gefühl erfaßt, das sie anfangs in diesem Haus nicht losgeworden war, von einem starken Bewußtsein der Isoliertheit des Gebäudes inmitten der einsamen Felder. Völlig hilflos waren sie, nicht nur gegenüber Marodeuren von außen, sondern auch gegenüber den Menschen, die an der Wand kauerten und sich nach Lust und Laune gegen sie wenden konnten… So warteten sie. 370
Über den Bäumen erschienen die bekannten Staubwolken als goldener Dunst. Das Trommeln von Hufen und das Rattern von Rädern erklang und wurde immer lauter. Ferdinand stahl sich im Schutz des Gebüsches entlang der Zufahrt zur Straße. Nach ein paar Minuten kehrte er zurück und berichtete, daß die Unionsarmee fliehe. Ihre großen Planwagen mit Proviant und Material, jeweils von vier Pferden gezogen, rasten auf der Straße vorbei. »Was habe ich euch prophezeit? Sie sind in vollem Rückzug! Werfen ihr Zeug weg, in den Graben, so eilig haben sie es! Ihre Feldflaschen und Kochgeschirre lassen sie fallen, auch ihre Mäntel, sogar Gewehre und kleine Waffen. Ich hätte gern welche aufgehoben, aber dann ließ ich es doch lieber bleiben. Wißt ihr, was das heißt? Unsere Leute sind bestimmt nicht weit dahinter. Oh, ich wußte, daß sie wiederkommen würden!« »Dann sollten wir lieber die Maultiere verstecken, die wir vor den Unionisten gerettet haben«, meinte Miriam. »Geh und sage Simeon Bescheid«, wies sie Eugene an. »Was?« fragte Rosa. »Die Maultiere vor unseren eigenen Leuten verstecken?« »Ja, natürlich«, antwortete Miriam ein wenig kurz. Sie kamen. Mit dem Schlachtruf der Rebellen und so voller Staub, daß die schwarzen Flechtschnüre auf ihrer Brust genauso grau waren wie ihre Uniformen. Mit bloßen, blutigen Füßen strömten sie durch das Tor. Ein Offizier ritt der Abteilung voran. Unten an der Veranda stieg er ab und zog seine Mütze vor Ferdinand. »Solche Gentlemen!« flüsterte Emma Miriam ins Ohr. »Gott segne sie, unsere südlichen Gentlemen!« Ferdinand strahlte. Sein innerer Jubel klang aus seinen Worten: »Können Sie uns Neuigkeiten berichten? Wir hungern seit Monaten danach. Gottsegne Sie«, sagte er wie zuvor Emma. »Ich wußte, ich wußte, daß wir Sie bald wiedersehen würden!« »Na, die haben wir vertrieben. Seit gestern früh kämpften wir etwa zwölf Meilen östlich von hier. Hatten keine Rationen mehr. Die Män371
ner sind halb verhungert. Und durstig. Das Schlimmste sind ihre blutenden Füße. Wir haben keine Stiefel«, erklärte der Leutnant voll Ingrimm. »Sagen Sie den Leuten, daß sie hinters Haus gehen und sich nehmen sollen, was sie brauchen. Die Dienstboten werden ihnen alles zeigen. Ganz bestimmt wird keiner von ihnen etwas beschädigen.« Lächelnd fügte Ferdinand hinzu: »Ich vertraue unseren Leuten, weiß Gott, unseren tapferen Leuten.« Er beachtete Miriams hochgezogene Augenbrauen nicht. In diesem Moment war er wieder der großzügige Gastgeber von einst. »Miriam, hole Brandy für den Herrn Leutnant. Wir haben nur eine Flasche, aber sie steht Ihnen selbstverständlich zur Verfügung«, sagte er im Hineingehen. Miriam stellte Dr. Zacharies Flasche neben den Stuhl des Leutnants. Sein langer blonder Schnurrbart verbarg fast die untere Hälfte seines Gesichts, konnte aber weder seine große Jugend noch seine Erschöpfung verbergen. »Sehr gütig von Ihnen, Sir, das ist mir sehr willkommen.« Er seufzte. »Es war schwer. Mehr als die Hälfte unserer Pferde sind bei diesem Gefecht umgekommen. Und die vielen Deserteure…« »Deserteure!« rief Emma. Verwunderung stand in ihren unschuldigen Augen. »O ja, Ma'am. Die Todesstrafe schreckt niemand mehr ab, es gibt zu viele Tote. Darum peitschen wir sie aus, brennen ihnen ein Schandmal ein oder scheren ihnen die Köpfe kahl, aber trotzdem…« Dem jungen Mann schien plötzlich bewußt zu werden, daß ein unerschütterlich treuer Offizier nicht so reden dürfe. »Aber trotzdem – wir haben Leute mit den guten Eigenschaften des Südens, genügend Leute, um durchzuhalten. Ja, Sir, genügend, um bis zum Ende durchzuhalten. Natürlich, wenn an manchen Stellen die Führung besser wäre…« »Sie meinen doch sicher nicht Lee?« fragte Ferdinand. »Ihn nicht. Aber nehmen Sie unseren Staatssekretär Benjamin. Warum Präsident Davis so beharrlich an diesem Abkömmling des Vol372
kes festhält, das den Herrn gekreuzigt hat, ist mir schleierhaft, Sir. Und anderen auch.« Rosa war nach oben gegangen. Zu Miriams Erleichterung, denn Rosa hätte den Mund nicht gehalten. Ferdinand schien zu verblüfft, um zu antworten. Und Miriam war zu entsetzt, doch als ihr Entsetzen abgeklungen und es zu spät für eine Erwiderung war, schämte sie sich ihres Schweigens. Der Leutnant stellte das Glas ab. »Vielen Dank, Ma'am«, sagte er mit liebenswürdiger Eleganz. »Das hat mich aufgemuntert. Ich habe es gebraucht. Nun muß ich mich auf den Weg machen. Heute Nacht können Sie alle ruhiger schlafen, nachdem Sie nun wieder auf der richtigen Seite der Linien sind.« Er salutierte, schwang sich auf sein Pferd und trabte die Zufahrt hinab. Miriam schaute ihm nach; sie fand, seine Ritterlichkeit habe etwas Archaisches, etwas aus einem alten Buch und einer anderen Epoche, ein Verhalten, das seine Zeit überlebt hatte und das es bald nicht mehr geben würde. Sie stand noch da, als einige Minuten später eine neue graue Flut hereinströmte. Diesmal führte kein Offizier das Kommando. Abgesehen von der Farbe der Uniformen unterschieden diese Leute sich kaum von jenen der anderen Seite, die zum Plündern gekommen waren. Ihr wüstes Geschrei und ihr Grinsen wies sie als ähnliches Gesindel aus; der Whisky, den sie erhalten oder gestohlen hatten, feuerte sie an. Den ganzen Nachmittag über strömten sie herein, drangen ins Haus, in die Ställe und Scheunen. Was nach dem Abzug der Unionstruppen aus den Verstecken geholt worden war, beschlagnahmten jetzt die Soldaten in Grau. Als einer von ihnen an dem Zaun zu hacken begann, den Simeon und seine Helfer erst vor wenigen Tagen repariert hatten, lief Miriam hinaus, um zu protestieren. Der Mann hackte seelenruhig weiter. »Sie können ihn ja von den Niggern wieder flicken lassen«, höhnte er, »oder Sie kommen eben ohne aus, mir doch egal. Glauben Sie vielleicht, daß wir diesen Krieg für Sie führen, he?« 373
Nein, das tut ihr nicht, antwortete sie stumm. Eure Sorte kenne ich. Ihr kämpft in der Hoffnung, meinen Platz einnehmen zu können, den Platz derjenigen, die ihr die ›Vornehmen‹ nennt. Am Abend hatten die Leute endlich genug beisammen. Packmulis, je zwei Körbe über dem Rücken und zu einer Reihe zusammengebunden, trugen den letzten Rest der Ernte weg, die dem Boden mühsam abgerungen worden war, unter Einsatz jedes Paars verfügbarer Hände, einschließlich Miriams eigener. Hilflos schirmte sie die Augen gegen die blendende untergehende Sonne ab und starrte den Davonziehenden nach. »So, Papa, da haben Sie Ihre südlichen Gentlemen. Nehmen Sie sich, was Sie brauchen, ich vertraue Ihnen!« Müde setzte sich Miriam auf die Verandastufen. Die Sonne verschwand hinter dem Horizont, und ein Nachglühen überzog den Himmel mit bernsteinfarbenen und rötlichen Streifen, den sanften, dunstigen Farben des zu Ende gehenden Jahres. Der Herbstabend war mild, die Herbststürme waren vorbei, und die Erde rüstete sich für den Winterschlaf. Fanny kam von den Scheunen nach vorn. »Setz dich her«, sagte Miriam. Alle anderen im Haus waren auf ihre Zimmer gegangen, erschöpft von dem Tag, und hatten Miriam sich selbst überlassen. Sie wollte jetzt nicht von wichtigen Dingen reden, wollte überhaupt nicht reden, nur die Gegenwart eines lebendigen Wesens spüren oder vielleicht irgendwelche trivialen Gedanken äußern, die ihr in den Sinn kamen. »Meine Schuhe«, sagte sie nach einer Weile und schaute auf ihre Ziegenlederschuhe. »Sie sind völlig zertreten. Mein letztes Paar auch noch.« »Simeons Bruder macht Schuhe, Lederoberteile auf Holzsohlen. Er hat mir welche gemacht.« »Dann muß er für uns alle welche machen.« »Ich sage es ihm. Er ist bei den Ställen hinten. Sie begraben das Maultier.« 374
»Das Maultier? O nein!« »Doch, diese Männer heute haben eines gefunden und erschossen.« Das war der letzte Schlag, der letzte sinnlose Schlag. »Um Himmels willen, warum tun sie so etwas? Das arme Tier stehlen, wenn es sein muß, aber warum es erschießen?« »Sie waren betrunken.« »Wie mein Vater sagt, ›unsere eigenen Leute‹!« Fanny äußerte sich nicht dazu, sondern berichtete: »Von den Männern, die wegliefen, als die Unionisten kamen, sind mehrere wieder da. Mit ihren Frauen und Kindern.« Nun war es an Miriam, sich nicht zu äußern. Jedes Wort, das sie gesagt hätte, wäre unangebracht, undenkbar gewesen vor Fanny. Zuviel Zorn und Groll hätten daraus gesprochen. Nachdem die ›Sezessler‹ jetzt wieder da sind, dachte sie, und diese Leute nicht wissen, wohin, kommen sie hierher zurück, um sich ernähren und versorgen zu lassen. Ich wünschte bei Gott, sie würden alle weglaufen, die ganze Bande! Wir haben nicht Lebensmittel genug für jene, die dablieben, und jetzt müssen wir auch noch mit diesen anderen teilen. »Ich gehe hinein, saubermachen«, sagte Fanny. »Diese Schweine haben Tabak auf den Eßzimmerboden gespuckt. Da kommt jemand.« Nicht schon wieder! War denn hier der Treffpunkt der ganzen Welt? Einst war ihr der Landsitz so abgelegen vorgekommen, zu abgelegen an den langen Tagen, den monotonen Nachmittagen, wo nur gelegentlich der Ruf einer Krähe die Stille durchbrochen hatte. Fast wahnsinnig vor Verlangen nach einer neuen Stimme oder dem Anblick von etwas Neuem war sie damals zum Ende der Zufahrt gegangen und hatte sehnsüchtig die gewundene, leere Straße entlanggeschaut, auf der zwischen den Fahrspuren Unkraut wuchs. »Wer kann das jetzt wieder sein?« rief sie verzweifelt. Fanny hatte sich aufgerichtet und die Hand über die Augen gelegt: »Ein Reiter, hinter dem ein Wagen herfährt.« 375
Miriam war zu müde, um aufzustehen: »Kannst du sehen, wer es ist?« Fanny strengte ihre Augen an: »Miß Miriam! Miß Miriam, ich glaube, es ist dieser Mr. Perrin!« In Miriams Kopf begann es zu trommeln: »Das kann nicht sein!« Er ist in Europa. Er ist tot. Er würde nie und nimmer herkommen, wegen Eugene. Er… »Doch, es ist Mr. Perrin! Ja, Miß Miriam, er ist es.« Miriam trug ihre Freude und ihr Verlangen wie einen Mantel. Als sie alle nach dem Abendessen im warmen Schein eines schwachen Feuers beisammensaßen, schien ihr, daß die anderen ihn sehen müßten, diesen Mantel aus scharlachroter Seide, der sie einhüllte und mit der Glut seiner Farbe wärmte. Sie war es zufrieden, in diesem Mantel still dazusitzen, nur zu beobachten und zuzuhören. Die anderen hatten André ganz in Beschlag genommen mit ihren eifrigen Fragen. Rosa wollte wissen, ob er zufällig etwas über ihren Sohn Henry gehört habe, von dem sie seit Monaten ohne Post war. Nein, er hatte nichts gehört. Emma wollte das gleiche über ihre Enkel wissen. Nein, er hatte nichts gehört. »Mein Bruder, Gabriel de Rivera, ist beim Zehnten Louisiana. Falls Sie je mit ihm zusammenkommen sollten, sagen Sie ihm bitte, daß ich, daß…« Die Sprache versagte ihr. »Werden Sie es nicht vergessen?« »Ich werde es nicht vergessen.« Dann erkundigte sich Emma, wie es der lieben Marie Claire gehe und wann er sie zuletzt gesehen habe. Es ging ihr gut, soweit André wußte, aber er war seit Monaten nicht in Frankreich gewesen. Was mochte das bedeuten? Hätte es in seinem Leben eine einschneidende Veränderung gegeben, würde er sie doch sicher irgendwie benachrichtigt haben. Kühle Zugluft drang durch den scharlachroten Mantel. »Sind Sie meiner Erzählungen auch bestimmt nicht müde?« hatte André eben gefragt. 376
»Wir haben keine Ahnung, was in der Welt draußen vorgeht«, antwortete Ferdinand. »Wir bekommen keine Zeitungen, seit die Unionisten hier waren. Alles, was Sie uns erzählen, ist für uns neu, besonders alles über Sie selbst.« André hob die Hände und fuhr fort: »Nun, wie Sie wissen, schlugen die diplomatischen Bemühungen fehl. Es war ein trauriger Fehlschlag, dabei versuchten wir weiß Gott alles. Ich war bei Slidell, als er Louis Napoleon ein Baumwollgeschenk im Wert von hundert Millionen Francs für die Anerkennung der Konföderierten Staaten anbot. Der Franzose geriet zwar in Versuchung, aber er hat zu große Angst, daß die Union siegen wird. Als ich erkannte, daß die Diplomatie nichts fruchtet, beschloß ich, einen praktischen Beitrag zum Krieg zu leisten. Ich ging unter die Blockadebrecher. Oh, ich bin kein Seemann, sondern lasse nur die Waren zusammensammeln und fahre dann aus Lust an dem Abenteuer mit.« »Gefährliche Abenteuer das«, bemerkte Ferdinand. »Für Feiglinge sind sie nichts, das stimmt.« Immer war dieses Strahlen um ihn! Kinder haben es, freilich nicht alle; sogar einige alte Menschen haben es, denn es hat nichts mit dem Alter zu tun, dachte Miriam. Es ist etwas in diesen Menschen, das durchscheint, etwas Kühnes, das den Zuhörer und Beobachter ergötzt und erheitert. Alle im Zimmer waren hingerissen: die beiden Frauen, Eugene, Angelique und am meisten Ferdinand, der sich wahrscheinlich an seine eigene Jugend erinnerte und die Momente, die seinen größten Mut erfordert hatten, noch einmal durchlebte. »Sie sollten den Uferbezirk in Nassau sehen! Baumwolle höher als mannshoch ist auf den Hafenanlagen gestapelt. Dann kommt der Blockadebrecher herein, ein häßliches Scheusal, aber schnell. Diese Schiffe werden größtenteils in England oder Neuschottland gebaut und haben ein nach oben gewölbtes Deck, so daß sie besser für schwere See geeignet sind. Man kann im Royal-Victoria-Hotel am Fenster seines Zimmers stehen und den Hafen voller solcher Schiffe sehen. In der Nacht, bevor man an Bord geht, schläft man nicht 377
viel, das versichere ich Ihnen. Aber die Fahrt hinüber ist weit ungefährlicher als die Rückfahrt, wenn man Munition geladen hat.« »Bestimmt sind Sie ein paarmal knapp entkommen«, sagte Eugene. Und André, der den Eifer des Jungen verstand, fuhr lächelnd fort, seine Erzählung genießend: »Sehr knapp, ja! Wir sind vorsichtig, tun bei der Rückfahrt so, als wollten wir Charleston oder Wilmington anlaufen, die einzigen Häfen, die für uns noch offen sind. Wir nutzen die mondlose Zeit und die Flut. Bei Ebbe kommt man nicht durch die Einfahrten und kann sich nicht verstecken. Natürlich keine Lichter! Es ist tödlich, ich meine, wirklich todbringend, wenn jemand Licht zeigt. Auch geredet wird nicht.« Eugene nickte weise: »Weil die Stimmen weit über das Wasser tragen.« »Richtig. Ja, es ist sehr spannend, sich an der Blockadeflotte vorbeizuschleichen.« »Sind Sie je verfolgt worden?« wollte Ferdinand wissen. »Aber sicher. Einmal verfolgte uns eine Dampffregatte der Unionsmarine den ganzen Nachmittag. Glauben Sie mir, wir beteten inbrünstig. Bis fast zum Einbruch der Dunkelheit jagten wir dahin, um unseren Vorsprung zu halten, dann brachten wir einen Rauchschutzschleier aus, dicken schwarzen Rauch niedrig über dem Wasser. Wir schafften es, aber nur um Haaresbreite.« Ferdinand stieß einen langen Seufzer aus: »Ich gebe zu, daß ich Sie beneide! Ich sitze hier und tue nichts.« Ihm fiel etwas ein: »Wir hatten unlängst einen interessanten Besucher, einen Dr. Zacharie. Haben Sie zufällig schon von ihm gehört? Er redete, als müßte ihn jedermann kennen.« »Ja, er ist sehr bekannt! Vor kurzem vertrat er Lincoln in Richmond bei dem Versuch, einen Frieden auszuhandeln. Er sprach mit Benjamin und anderen im Kabinett. Aber es kam nichts dabei heraus. Lincoln war erfreut über die Verhandlungen, aber sein Kabinett in Washington wollte nichts davon wissen. Die Radikalen im 378
Norden möchten den Süden zuerst vernichten, bevor sie Frieden schließen. Zumindest wird in Washington so geredet.« »Woher wissen Sie soviel über das, was in Washington vorgeht?« fragte Rosa. »Ich dachte, es sei fast unmöglich, durch die Linien zu kommen. Außer für Spione«, fügte sie zynisch hinzu. André zuckte die Achseln: »Man schnappt allerlei Informationen auf, hier und dort.« »Ich wünschte«, sagte Miriam, »jemand würde Informationen über meinen Bruder aufschnappen.« Zum erstenmal am Abend sprach sie André direkt an. »Seit uns Dr. Zacharie seinen Brief brachte, haben wir nichts von ihm gehört.« »Ich würde mir nicht wünschen, von ihm zu hören, wenn er mein Bruder wäre«, stieß Emma zum Erstaunen aller hervor, als sei sie nicht sie selbst, sondern ihre Tochter Eulalie. Nach dieser langen Kriegszeit waren die Nerven zweifellos strapaziert, darum beherrschte sich Miriam und reagierte nur mit der kalten Frage: »Und warum das, Tante Emma?« André schaltete sich ein, um Emma am Antworten zu hindern. Sanft sagte er: »Das Traurigste an diesem Krieg ist, Ma'am, daß er Familien trennt und entzweit. Wissen Sie, daß drei von Henry Clays Enkeln für uns kämpfen und drei in der Unionsarmee? Und Mrs. Lincolns Brüder sind im Kampf für den Süden gefallen.« Nach diesen Worten schwieg Emma. Ferdinand – der arme Mann, immer zwischen den Fronten, dachte Miriam – wandte sich an André: »Ich hoffe, Sie bleiben wenigstens einige Tage bei uns und ruhen sich aus.« »Vielen Dank, aber ich muß morgen vormittag weiter. Auf mich wartet der Weg durch ganz Texas. Die Baumwolle kommt von Vicksburg herunter, aus diesem Grund bin ich hier. Wir schaffen sie nach Brownsville und über den Rio Grande nach Matamoros in Mexiko. Von dort verschiffen wir sie nach Übersee.« 379
»Da haben Sie einen langen Weg vor sich und brauchen bestimmt jetzt Ruhe. Kommt.« Auf Ferdinands Signal erhoben sich alle. »Es ist ohnehin Zeit, schlafen zu gehen.« »Ich bin nicht müde.« André sah Miriam an. »Vielmehr – ich bin zu müde, um schon schlafen zu können. Ich glaube, ich mache einen Spaziergang oder setze mich eine Weile hinaus, um die warme Nacht zu genießen.« Es war neun Uhr. In einer halben Stunde würden alle schlafen. Miriam fühlte ihr Blut schneller fließen, als sie nach oben ging, hinter ihrem Schatten her, der an der Wand genauso zitterte wie die Kerze in ihrer Hand. Fanny war in Miriams Zimmer, sie hatte Andrés Geschenke ausgepackt. Berge von Stoffen und Kleidungsstücken lagen auf dem Bett. »Hier war kein Platz für die ganze Wagenladung. Ich habe die Männersachen in Mr. Ferdinands Zimmer gebracht. Vielleicht paßt das da Master Eugene.« Fanny legte ein braunes Sakko mit einem britischen Etikett, eine Seidenkrawatte und eine rote Samtweste nebeneinander. »Sehr schöne Sachen für ihn, wenn wir je New Orleans zurückgewinnen, so daß wir nach Hause können.« »Und was für ein schöner Hut!« Fanny deutete auf ein flaches rundes Gebilde, das mit Maiglöckchen überhäuft war. »Ein Watteau-Hut. Ich glaube mich zu erinnern, einen ähnlichen in einer Modezeitschrift gesehen zu haben.« Ihr lag auf der Zunge: ›Vor hundert Jahren‹, doch sie sagte statt dessen: »Eine schöne Abwechslung nach unseren Palmetto-Hüten, meinst du nicht?« Sie kicherte und fand sich selbst hysterisch blöd. »Soll ich ihn zu meinem nächsten Besuch in den Ställen aufsetzen?« »Alle diese Kleider! Und schauen Sie den blauen Wollstoff da an, das gäbe einen schönen Mantel für Sie, Miß Miriam! Und der gelbe Taft! Warten Sie erst, bis Sie sehen, was in der Speisekammer ist. Fleisch und Weine und Brandy, genau wie in alten Zeiten. Er ist ein großartiger Herr, dieser Mr. Perrin.« 380
»Morgen früh sehen wir alles durch und suchen einige Kleider für dich aus, Fanny.« Ein Paar Glacehandschuhe glitt durch Miriams Finger wie Seide. Wo hatte er bloß die vielen schönen Dinge aufgetrieben? Die Reichhaltigkeit, Neuheit und Frische der Sachen kam ihr mit einemmal unnatürlich vor, als habe sie keinerlei Anspruch darauf. Deplaciert wirkten sie, schienen ihr aus einer anderen Welt und einem anderen Leben zu kommen. Dieses Gefühl verblüffte sie. Fanny musterte sie mit einem rätselhaften Lächeln, einem Verziehen der Lippen, das sie manchmal hatte, wenn sie ihre wahren Gedanken verbarg. Warum lächelt sie? Weiß sie von mir und André? Plötzlich stieg Ärger in ihr auf. »Du kannst zu Bett gehen, Fanny. Ich brauche dich nicht«, sagte sie scharf. Sie weiß es, sie weiß es. Als im Haus Ruhe herrschte, ging Miriam geräuschlos die Treppe hinunter und nach draußen. Er würde im Sommerhaus warten, auf der Bank hinter dem geschnitzten Holzgitter. Ihre Füße tanzten über das Gras. Obwohl ihre Schritte sehr leise waren, hatte er sie gehört; obwohl die Nacht ziemlich dunkel war, hatte er sie gesehen. Erst die halbe Strecke lag hinter ihr, da kam er auf sie zu, umfing sie, hob sie ein Stück vom Boden hoch und küßte sie, wieder und wieder, zärtlich und süß, immer wieder. Sie dachte: Ich bin endlich nach Hause gekommen. »Ich mußte dich sehen. Ich bin neunzig Meilen von meiner Route abgewichen, nur um dich zu sehen.« »Du hast nicht gewußt, daß Eugene tot ist, und bist trotzdem gekommen!« Er lachte: »Ich habe es riskiert. Ich dachte, wenn ich mit vollen Händen käme, würde er mich einlassen. Altgriechische Gabenüberbringung… Sag, war er wahnsinnig wütend unseretwegen? An dem Morgen damals, an dem er mich wegschickte, war er es.« 381
»Wahnsinnig nicht. Er war viel vernünftiger, als ich erwartet hatte.« Sie schwieg, erinnerte sich daran, wie schmachvoll und schmerzhaft Eugenes Verachtung für sie gewesen war, und bedauerte sogleich, daß sich ihr in diesem Moment, der vollkommen hätte sein sollen, eine solche Erinnerung aufdrängte. Die Stille rundum wurde nur durch die dumpfen Aufschläge reifer Walnüsse unterbrochen, die von einem alten Baum fielen. Schließlich sprach sie: »Es war ein schrecklicher Tod, André.« »Alles ist schrecklich, die ganze Verwüstung. Als ich heute abend dort drinnen saß und sah, was diesem Haus zugefügt worden ist, und die zerfetzten Schuhe an deinen armen Füßen… Ich werde wiederkommen, und ich werde dafür sorgen, daß du hast, was du brauchst, wenigstens das, was ich beschaffen kann.« Sie hörte nur die Worte: ›Ich werde wiederkommen.‹ »Wann kommst du wieder?« Er führte sie zum Sommerhaus. Die Mondsichel kam hinter den Wolken hervor, so daß sie ihn genau sehen konnte, die dichten Wimpern, die gebräunte Haut, die klare Form seines schönen Mundes. »Wann kommst du wieder?« »Schwer zu sagen. Ich habe einen Partner, einen Engländer. Wir haben auf seinen Namen ein Schiff gekauft. Unter britischer Flagge, so daß wir auf See nicht angehalten werden.« Sie wollte nichts von Geschäften und Schiffen hören, sie wollte nur sein Versprechen, daß er wiederkäme. »Es ist ein kleines Schiff mit geringem Tiefgang, wir können dort operieren, wo die Hochseeschiffe der Union nicht hinkommen. Aber das interessiert dich bestimmt nicht, oder etwa doch?« »Nein, ich will nur Dinge über dich hören.« »Laß uns doch in dein Zimmer gehen.« Sie zögerte. »Ich möchte, aber…« »Aber was?« 382
Ihre Körper waren aneinandergepreßt von den Schultern bis zu den Knien – unerträglich, nicht weiterzugehen. »Ich möchte«, wiederholte sie. »Können wir nicht? Was ist los?« »Das Zimmer meiner Tochter ist neben meinem, das Zimmer meines Vaters und Emmas über dem Gang.« Fanny scharfe Augen, Angeliques Unschuld, der Respekt meines Sohnes, das Entsetzen meines Vaters und Rosas Verachtung – dies schoß ihr in Sekundenbruchteilen durch den Kopf. André stöhnte. »Das ist grausam. Wann dann?« »Ich weiß es nicht.« Sie legte den Kopf auf seine Schulter und dachte an die Wohnung im Pontalba-Gebäude, an das hohe weiße Zimmer, in das eine feuchte Brise strömte, in das die Hitzegerüche und die Stimmen vom Platz unten drangen. Verlangen und Enttäuschung liefen sie aufschluchzen. »Ach, weine nicht. Wenn es nicht geht, geht es eben nicht. Möglicherweise«, fuhr er langsam fort, »möglicherweise reicht Marie Claire die Scheidung ein…« Sie hörte das gleichmäßige Schlagen seines Herzens. »In Europa ist eine Scheidung nicht annähernd so skandalös wie hier, weißt du. Und dann könnten wir, du und ich…« »Du willst das, André? Bist du sicher, daß du das willst?« »Liebste, wie kannst du fragen? Du weißt doch, daß ich es will.« »Oh!« rief sie, »du weißt nicht, diese lange Zeit, eine endlos lange Zeit! Und ich meinte, daß ich vom Leben nichts mehr zu erwarten hätte. Meine Kinder, ja, Gott weiß, daß sie für mich an erster Stelle stehen, lange vor mir selbst, aber man ist schließlich ein Mensch und will auch etwas für sich haben, und ich dachte, es würde nie mehr etwas geben, du und ich könnten nie… Und jetzt, jetzt gibst du mir alles, was ich je erhofft habe!« Er drehte ihr Gesicht nach oben ins Licht des Mondes, der eben halb verschwand, weil wieder Wolken über den Himmel zogen. 383
»Schön, wunderschön. Solche Augen! Nie, nie sah ich solche Augen.« Er küßte ihre Lider. »Dich so zu sehen und dich nicht zu besitzen, das ist schlimmer, als dich gar nicht zu sehen.« Langsam gingen sie zum Haus zurück. Das Bayouwasser glänzte wie dunkles Glas, und die dürren Stengel vom vorigen Jahr standen steif auf den Seerosenblättern. Unter den Zedern lag ein federnder Teppich, Nadeln aus einem Jahrhundert. Plötzlich überkam sie das Bedürfnis zu reden, sich ihm anzuvertrauen: »Zedern. Weißt du, daß die Neger nie eine fällen, weil sie glauben, daß jede ein Menschenleben verkörpert? Ich denke oft daran, wenn ich hier vorbeigehe.« »Du grübelst zuviel.« »Bist du ungehalten über mich?« »Nein, natürlich nicht. Aber zu deinem eigenen Besten solltest du nicht so ernst sein.« »Wenn der Krieg vorbei ist, wenn das Töten vorbei ist, werde ich lachen. Ich werde sehr, sehr glücklich und fröhlich sein, das verspreche ich dir.« »Genau das solltest du immer sein.« »Jetzt kann ich nicht anders, als an alle die jungen Leben zu denken, an dein Leben, André.« »Sage ich dir nicht immer, daß mir nichts zustoßen wird? Ich weiß genau, was ich tue. Ich bin unverwundbar durch einen Zauber, weißt du das nicht?« »Ich hoffe es. Wenn ich bei dir bin, glaube ich alles, was du sagst. Du gibst mir ein Gefühl der Sicherheit, das hast du immer getan.« »Glück ist das Gefühl, das ich dir geben möchte. Das Leben ist so kurz. Als ich dich das erstemal sah, warst du – warst du so schön und so traurig. Das hat mich behext, glaube ich, deine Traurigkeit. Ich wollte sie verscheuchen. Ich habe dir gelbe Seide gebracht; laß sie in der richtigen Weise verarbeiten. Ich möchte mir dich in Gelb vorstellen, die Farbe des Lachens und der Sonne.«
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Eine jähe Windbö schüttelte die Bäume und kühlte die Luft ab; grauer Nebel stieg auf und verdunkelte die Nacht, als wollte er sagen: Die Zeit des Lachens und der Sonne ist noch nicht da. Doch André wollte Sonne, also lächelte sie: »Wir wollen einander jetzt Lebewohl sagen, nicht? Es ist leichter als morgen, wenn alle dabeistehen.« »Nicht Lebewohl. Probier es noch einmal.« »Auf Wiedersehen. Ist das besser?« »Viel besser. Auf Wiedersehen, meine Miriam.«
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napp unterhalb von Vicksburg stand Plaisance in seiner ehrwürdigen Großartigkeit über dem Fluß, ein hölzerner weißer Parthenon auf einer grünen Anhöhe, die sanft von der privaten Anlegestelle emporstieg. Einst hatten Diener mit Fackeln den ganzen Weg für die Gäste beleuchtet, die mit dem Dampfschiff gekommen waren. Zwischen dem Haus und dem weiten Bogen des Waldrandes dahinter säumten von einem französischen Landschaftsgärtner kunstvoll beschnittene Bäume das lange Blumenbeet. In dem achteckigen Gewächshaus blühten Ananas. Pfauen stolzierten über den Rasen und schlugen Räder, blieben stehen und zerrissen mit ihren rauhen Schreien die Nachmittagsstille. Und auf dem Teich döste ein Schwanenpaar, gemächlich durch ein Sommerparadies schwimmend. »Solange wir Vicksburg halten«, hatte André gesagt, »steht es nicht schlecht für uns.« Aber Vicksburg fiel, und die Flüchtlinge trafen ein: zwei von müden Pferden gezogene Wagen mit den Familienmitgliedern, Pelagie, ihren beiden jüngsten Kindern, Eulalie und Mr. Lambert Labouisse; zwei weitere Wagen mit dem Hauspersonal und einer traurigen La385
dung geretteten Hausrats. Nach sechs Tagen auf der Straße waren alle gleichermaßen erschöpft, hungrig und verzweifelt. »Sie haben unser Haus bis auf die Grundmauern niedergebrannt!« Das waren die ersten Worte des alten Herrn, als man ihm aus dem Wagen half, von dem er fast gefallen wäre. Pelagie trug ein Trauerkleid aus schwarzem Alpaka, schmutzig und voller Schweißflecken. »Ihr wißt nicht…? Unsere Briefe haben euch nicht erreicht… Ja, mein Alexandre ist nicht mehr! Er ist am Yazoo-Paß gefallen.« Emma schrie auf und umarmte ihre Tochter. »Gottlob ist meine Felicite in San Franzisco in Sicherheit.« Pelagie war aufgewühlter als seinerzeit nach dem Tod Sylvains. »Jetzt muß ich mir um Lambert und Louis Sorgen machen. Wo sind sie? Ich weiß es nicht. Kämpfen irgendwo… Vielleicht auch schon tot. Und ich dachte, die beiden Kleinen da seien bei mir zu Hause sicher. Meinte ich… Dieser Junge, das Kind meines Herzens, das seinen Vater nie gesehen hat – und jetzt ist sein Zuhause zerstört…« Miriam führte sie nach oben in eines der Schlafzimmer. Weil sie wußte, wie verwöhnt und reinlich Pelagie war, rief sie Fanny und trug ihr auf, heißes Wasser zu bringen. »Und etwas Kaltes zu trinken auch, bitte, Fanny. Wasser, wenn nichts anderes da ist. Jetzt erzähle, erzähle mir alles, rede es dir von der Seele«, drängte sie Pelagie. Pelagie legte sich auf das lit de repos und holte tief Luft. »Wieder unter einem Dach zu sein! Du kannst dir nicht vorstellen, wie das ist. Nun, nachdem Vicksburg fiel – wir hatten Freunde dort, weißt du, und die flüchteten sich zu uns; eine Frau brachte sogar ihr Piano mit, es war alles, was sie gerettet hatte. Dann fuhren die Kanonenboote der Union flußabwärts und beschossen die Häuser am Ufer, aber wir hatten Glück, bis Plaisance kamen sie nicht. Wir meinten deshalb, wir würden verschont bleiben. Aber vorige Woche, vorige Woche kamen sie! Die Granaten landeten auf dem Dach! Es fing Feuer! Ach, es war grauenhaft! Der Wind schien die Flammen mit aller Kraft nach oben zum Himmel zu reißen, sie müs386
sen meilenweit zu sehen gewesen sein, wie ein Vulkan, etwa so, wie Vicksburg aussah, als es in Flammen aufging.« Pelagie legte die Hände vors Gesicht. »Und das Schrecklichste von allem… Als die Kanonenboote kamen, um uns zu vernichten, rannten unsere Feldarbeiter zum Ufer hinunter. Sie schwenkten ihre Hacken, winkten und sangen. Manchmal denke ich, es ist gut, daß Sylvain das alles nicht mehr erlebt. Er liebte den Landsitz so, Plaisance war sein Heim, er war dort geboren.« Pelagie stieß ein seltsames, trauriges Lachen aus. »Noch am Morgen hatte mein Schwiegervater ein neues Testament gemacht. Er erörterte mit mir, wer in der Familie diesen oder jenen Sklaven würde haben wollen. Und er wollte tatsächlich jedem der Sklaven sagen, wer ihn erben sollte! Zu denken, daß am gleichen Nachmittag alles endete!« Bestimmt liebt sie den alten Tyrannen nicht, dachte Miriam, aber er ist ein Symbol einer stabilen Welt gewesen. Auf wen sollte sich Pelagie nach seiner himmelschreienden Fehlbeurteilung der Lage und seiner falschen Sicht der Dinge jetzt verlassen? Sie brauchte einen Mann, auf den sie sich verlassen konnte. »Kein Zuhause, kein Zuhause«, jammerte Pelagie. »Du hast hier ein Zuhause. Irgendwie, ich weiß nicht wie oder wann, aber eines Tages werden wir wieder ein normales Leben führen. Das ist sicher.« Mit solchen banalen Worten spendete Miriam Trost. Die ganze Zeit überlegte sie besorgt: Was sollen wir mit den vielen Leuten anfangen? Wir haben fast nichts für uns selbst. Nicht genug Saatgut für die Pflanzung, keine Ersatzteile für die zerstörten Maschinen. Die Sklaven wollen nicht arbeiten. Warum sollten sie auch? Die Zeichen der Zeit sind überdeutlich zu erkennen. Tatsächlich muß man sich wundern, daß noch so viele überhaupt bereit sind, etwas zu arbeiten. Meinen sie vielleicht, ihre Herren würden den Krieg doch noch gewinnen? »Ach, wer hätte das gedacht?« stöhnte Pelagie. Ich, hätte Miriam antworten können, doch sie schwieg. 387
Es gab keine Unschlittkerzen mehr, darum saßen sie abends im erstickenden Rauch der Terrabenlampe am Tisch. Der scharfe, terpentinähnliche Geruch durchdrang alles, legte sich sogar auf die Speisen. Die Kost wurde mit jedem Tag magerer. Miriam hörte dem Gespräch nur halb zu. In den Worten, den endlosen Worten machte sich nur die Angst der anderen Luft, das wußte sie. Sie prüfte, was auf den Servierplatten lag, und rechnete. Kein Mehl mehr; der Preis eines Fasses, sofern man überhaupt eines auftrieb, betrug tausend Dollar. Tee kostete fünfzig Dollar pro Pfund; Fanny hatte sie gelehrt, aus Brombeerblättern Tee zu machen. Es gab keinen Kaffee mehr, doch für ihn konnte man aus Erdnüssen oder Kartoffeln miserablen Ersatz zubereiten. Die Gemüse mußten künftig sorgfältiger gepflegt werden. Hoffentlich schadete die Fleischknappheit den heranwachsenden Kindern nicht! Manche behaupteten, man könne auch bei einer rein pflanzlichen Kost vollkommen gesund bleiben. Eier hatten sie natürlich. Eugene ist fast fünfzehn. Wie bald werden sie ihn zur Armee holen? Pelagie macht sich Sorgen darüber, daß für die Mädchen keine Männer zum Heiraten übrigbleiben. Heiraten! Die letzte und geringste meiner Sorgen. Worüber hatte sie gerade nachgedacht? Gemüse, ja. Morgen mußte sie noch früher aufstehen, die kleine Stute nehmen und über den ganzen Besitz reiten. Es war ihr leichter gefallen, reiten zu lernen, als man von einer Städterin erwartet hätte. Von den Feldern wanderten Miriams Gedanken in die Küche und ins obere Stockwerk, wo nicht genügend Decken und keine Laken da waren für die Neuankömmlinge. Baumwollstoff kostete fünfzehn Dollar pro Meter, wenn man, wie es bei so vielen Dingen war, überhaupt welchen bekam. Woher sollte man hier draußen auf dem Land welchen kriegen? Es gab keine Steck- und keine Nähnadeln. Fanny hatte ihr zwar gezeigt, wie man statt dessen Dornen benutzte, aber ohne Faden konnte man nicht nähen; und der kostete fünf Dollar pro Spule. Der konföderierte Dollar aber war jetzt nur noch zehn Cents wert. 388
Ein kleiner Hort Goldmünzen blieb ihr, eingenäht in das Futter ihres neuen Kleides aus Andrés gelber Seide. Es war das einzige präsentable Kleid, das sie besaß. Sie mußte beides hüten, das Kleid und die Münzen. Gott allein wußte, für welche Notfälle sie das eine oder das andere brauchte. Der alte Lambert Labouisse gab eine Erklärung ab – seine einfachsten Bemerkungen waren Erklärungen: »Ja, ich habe das ganze goldene Speiseservice in den Mississippi geworfen, statt es den Unionisten zu überlassen. Ein Service für vierundzwanzig Personen, das vielen vornehmen Anlässen Glanz verliehen hat! Immerhin ist es eines achtbaren Todes gestorben.« Alter Narr, dachte Miriam. Wenn ich nur wüßte, wo und wie ich es herausfischen könnte. Seit Eugenes Tod hatte Ferdinand nur halbherzige Versuche unternommen, die Kriegskarte auf dem laufenden Stand zu halten. Trotzdem sagte er jetzt mutlos: »Ja, der Verlust von Vicksburg war der letzte Schlag, weil wir dadurch unsere Brücke hinüber nach Texas und Mexiko verloren haben. Von dort oder nach dort kann jetzt nur noch ein dünnes Warenrinnsal fließen.« Und wie wird André zurückkommen? Das weiß Gott allein. Alles schaut so düster aus; Wolken legen sich über uns, und man sieht kaum einen Tag voraus. Wie wird es für ihn und mich werden, falls er es doch schafft, zurückzukommen? »Dreißigtausend Mann hätten Vicksburg für uns halten können«, erklärte der alte Labouisse. »Mindestens so viele sind desertiert, vielleicht sogar mehr. Der Teufel hole ihre Seelen, allesamt.« Eulalie gab einen ihrer seltenen Kommentare: »Was konnte man denn anderes erwarten? Schließlich ist Pemberton, der dort kommandierender General war, ein Yankee. Man hätte ihm nicht trauen dürfen.« Ihre hellen Augen hatten böse aussehende rote Ränder. Die wilde Virginia-Kämpferin, dachte Miriam und erinnerte sich an Eulalies Versprechen zu schweigen. Durchaus denkbar, daß Eulalie versuchen würde, die Wahrheit durchsickern zu lassen, mit geschickt ange389
brachten kleinen Andeutungen und Sticheleien das Vertrauen der Kinder zu ihrer Mutter zu erschüttern. Nein, sagte sie sich dann, Eulalie wird nicht reden. Sie weiß, daß ich sie hinauswerfen würde. Ich weiß zwar nicht, wohin ich sie schikken würde, aber jedenfalls weg aus diesem Haus, und das ist ihr klar. »Das Problem ist«, sagte Eulalie jetzt, »daß ihr alle die Hoffnung verloren habt. Ich habe die Hoffnung nicht verloren.« Herausfordernd blickte sie in die Runde, aber niemand widersprach ihr, also fuhr sie fort: »Wir mit unserem guten alten Blut haben es in unserer Macht, Besseres zu leisten als bisher. Man braucht nur die Truppen des Nordens anzuschauen! Nichts als Deutsche und Iren und der Himmel weiß, was sonst noch! Und dieser Affe Lincoln an der Spitze, er mit seiner Sklavenbefreiung!« »Ich wünschte, die Sklavenbefreiung könnte hier durchgeführt werden.« Der Einwurf kam vom unteren Tischende, wo Eugene saß. Alle Köpfe drehten sich zu ihm, alle Gesichter sahen ihn verwundert an. Er war rot geworden, als hätten seine Worte, nach denen im Eßzimmer Totenstille eingetreten war, sogar ihn selbst erschreckt. Hilfesuchend schaute er seine Mutter an. »Schon gut, Eugene. Du kannst sprechen«, sagte sie weich. »Fahre fort.« »Hm, ich habe nachgedacht. Ich denke über das nach, was ich hier sehe, seit wir ständig hier leben, und – und«, stotterte er, »und mir scheint, daß wir viel besser daran wären mit einigen Fachkräften, die für Lohn arbeiten, als mit all diesen armen, hilflosen Leuten, die wir ernähren und versorgen müssen.« Lambert Labouisse war am Explodieren, darum beeilte sich Ferdinand zu erklären: »Mein Enkel meint es nur praktisch, vom wirtschaftlichen Standpunkt unter den gegenwärtigen Bedingungen.« »Vielleicht doch nicht«, entgegnete Miriam. Etwas in ihr rebellierte dagegen, daß Mr. Lambert Labouisse besänftigt werden mußte. »Fahre fort, Eugene.« 390
Die Stimme des Jungen wurde kräftiger: »Wäre nicht dieses ganze Land besser daran, wenn man die riesigen Besitzungen in kleinere Farmen aufteilen würde? Wenn die Besitzer ihr Land selbst bearbeiten könnten, meine ich. Es wäre gesünder. Auch gewinnbringender, glaube ich. Im Sklavensystem gibt es soviel Vergeudung. Und es ist eigentlich nicht gerecht, daß sich soviel Land in den Händen von so wenigen befindet. Was nützen zweitausend Morgen brachliegendes Land irgend jemandem?« Mr. Labouisse klopfte nun tatsächlich mit dem Löffel auf den Tisch. »Ich habe mein Leben damit zugebracht, wie vor mir mein Vater, unseren Besitz zum Wohle kommender Generationen zu mehren! Wir haben bezahlt und bezahlt, um unsere Ländereien zu erhalten! Reden wie von Ihrem Sohn, Ma'am, gehen über das hinaus, was ich mir gleichmütig anhören kann! Tut mir leid, das zu sagen, aber ich muß es sagen!« »Ich verstehe das nicht.« Ferdinand war erregt. »Es beunruhigt mich sehr, das versichere ich Ihnen. Woher kann Eugene solche Gedanken bloß haben, Miriam?« »Das weiß ich wirklich nicht, Papa. Aber ganz bestimmt hat er ein Recht auf eigene Gedanken.« Sie lächelte Eugene zu. »Vermutlich hat er sie von seinem Onkel«, fauchte Eulalie. »Von meinem Bruder?« entgegnete Miriam. »Eugene hatte in den letzten Jahren sehr viel Kontakt mit meinem Bruder, nicht wahr?« Bevor Eulalie weiteres Öl ins Feuer gießen konnte, schaltete sich zur allgemeinen Überraschung Pelagie ein: »Wissen Sie, Vater, daß Louis bei seinem letzten Urlaub zu Hause fast das gleiche sagte?« Sie zögerte: »Er ist der Meinung, daß die großen Besitzungen verschwinden müssen und das Sklavensystem mit ihnen.« Der alte Mann starrte sie an: »Mein Enkel hat das gesagt? Mein Enkel?« »Nun, Sie müssen zugeben«, stammelte Pelagie, »daß es ein kostspieliges System ist. Das Geld, das unsere Kinder erben könnten, wird für den Unterhalt der vielen Sklaven ausgegeben, für ihre Klei391
dung und… Außerdem liegt wirklich viel Land brach, wie Eugene sagt…« »Idiotie!« Der alte Mann war wütend; Speichel sprühte aus seinem Mund. »Phrasendrescherei! Üble, dumme Phrasendrescherei! Haben nie im Leben auch nur etwas im Wert von zehn Cents produziert, sind noch nicht trocken hinter den Ohren, und schon verschenken sie ihr Recht!« Rosa schaute Miriam nervös an. Ihr Blick besagte: Was um alles in der Welt ist nur mit Pelagie passiert? Darauf hätte Miriam antworten können: Nur das eine, daß sogar sie endlich wachgerüttelt worden ist und die Wirklichkeit erkannt hat.
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wischen dem Rapidan River im Norden und den weiten, leergeräumten Feldern von Spotsylvania im Süden lag eine zwölf bis zwanzig Meilen lange und sechs Meilen breite Wildnis aus stillem, unbewegtem Sumpfgelände und düsterem Wald, ein dichtes Labyrinth aus Kletterpflanzen, Dornsträuchern und hüfthohem Unterholz. Jetzt, in den zauberhaften, sonnigen Tagen Anfang Mai, rumpelten die weißgedeckten Wagen über die Turnpike und die Orange Plank Road der Auseinandersetzung mit Grants Armee am Potomac entgegen. Gabriels Körper und der lohfarbene Körper seiner Stute Polaris waren nach mehr als drei Kriegsjahren fast zu einer Einheit verschmolzen. Ohne jede Lenkung und ohne jeden Schenkeldruck blieb die Stute in der Reihe, so daß ihr Reiter seinen düsteren Überlegungen nachhängen konnte. 392
Vor einem Jahr waren sie bei Chancellorsville auf Grant gestoßen, und Lee hatte gesiegt. Dieses Jahr waren sie wieder an der Stätte des Sieges vorbeigezogen und hatten die Nachwirkungen der Schlacht gesehen, stumme, ausgebrannte Ruinen, die in verunkrauteten Feldern langsam zerfielen. An der Straße hatte ein Farmer gestanden: Ich habe nie einen einzigen Sklaven besessen. Mit meinen eigenen Händen habe ich diese Felder gerodet, dieses Haus gebaut; die Unionisten haben mir alles weggenommen, die Schweine, die Hühner und die Kuh, die Milch für meine Kinder gab; ein Lebenswerk haben sie zerstört. Was konnten einem solchen Mann die Staatsrechte bedeuten?! So schleppe ich mich dahin, dachte er, so stolpern wir zusammen weiter, durchwaten Flüsse, harren trotz einer unglaublichen Müdigkeit aus, ohne eine Ahnung zu haben, wo alles enden wird. Er hatte ein ungutes Vorgefühl. In diesem Frühling, dachte er, liegen die Blüten des Hartriegels flach in der Luft wie gestärkte Spitze, weiß und rosa; die Blätter glänzen feucht, der Südwind und die Sonnenwärme streichen über den lebendigen Hals meines Pferdes; in mir ist – ist das Wissen, daß ich das alles vielleicht nie mehr sehe. Er richtete sich auf. Genug! Das ist feige und tut dir nicht gut. Alle anderen rund um ihn, Offiziere und Mannschaften, waren seltsam still, auch sie. Sein Leutnant, der knapp hinter ihm ritt, hatte seit einer Stunde nichts gesagt. Beim gelegentlichen Schnauben eines der Pferde schrak man fast zusammen. Zu beiden Seiten wurden die Wälder dichter, rückten näher heran, machten die Straße schmäler und gaben dem fortschreitenden Tag etwas Düsteres. Drükkende, erstickende Hitze herrschte inzwischen; sie machte Polaris' Hals feucht und ließ den Schweiß unter Gabriels grauem Uniformrock brennen. Weit voraus sah er die Kolonne von der Straße abbiegen. Er brauchte die Karte nicht aus der Tasche zu ziehen; er hatte sie sich eingeprägt; er wußte, wohin sie zogen und wo sie Grant überrumpeln sollten. Also würde er seinen Verstand ausruhen lassen und versu393
chen, an das zu denken, was hinter ihm lag, in der Vergangenheit, statt an das, was ihm heute wahrscheinlich bevorstand. Ewig war er schon von zu Hause fort! Er fragte sich, was von seiner Heimatstadt noch übrig sein mochte. Rosas Haus hatten sie beschlagnahmt, das wußte er. Vielleicht war jemand anständig genug, um über seine kostbaren juristischen Fachbücher zu wachen, eine wertvolle Sammlung, die er von Henry geerbt und selbst dann mit Bedacht vergrößert hatte. Was für ein angenehmer Raum, die kleine quadratische Bibliothek mit dem bequemen Sessel und dem Fußschemel! Die Fenster gingen auf den Innenhof, durch sie strömte nach jedem Regen der scharfe Geruch nassen Steins herein, und man hörte das träge Tropfen des Regenwassers von den Bananenblättern. Unter dem Fenster blieb immer eine Pfütze stehen, an einer Stelle, wo das Pflaster eingesunken war; dort saß der winzigste grüne Frosch, den man sich denken konnte, leuchtend wie ein Smaragd, ein wahres Kronjuwel. Ewig hatte er sein Zuhause nicht gesehen! Und Miriam… Monate nach dem Ereignis hatte ihn die Nachricht von Eugenes Tod erreicht, aber Rosa schrieb nie etwas über Miriam, wollte ihn schonen, wie er wußte, und hielt sich für taktvoll. Mit einer Art trauriger Lustigkeit erinnerte er sich an Rosas ebenfalls taktvoll gemeinte Bemühungen, sein Interesse an einer ›akzeptablen‹ jungen Dame nach der anderen zu wecken. Unter ›akzeptabel‹ verstand seine Schwester: jung, gutmütig, angemessen hübsch und, was das Wichtigste war, aus guter Familie. Die liebe Rosa! Die Frage, ob er das jeweilige Mädchen liebte oder nicht, kam ihr nie in den Sinn. Oh, einige davon… Er erinnerte sich an ein Mädchen, sehr charmant, sehr bereitwillig, mit lohendem Kupferhaar – bei ihr wäre er vielleicht weitergegangen, hätte es Miriam nicht gegeben. Immer schob sich Miriams Bild zwischen ihn und andere Frauen. Der Schmerz in seinem Inneren war etwas, das er fast berühren konnte, wie eine Verbrennung oder einen Schnitt. Der Zorn – nicht auf sie, nein, niemals auf sie, sondern auf diesen Perrin – brannte wie Feuer. Er versuchte ihn zu ersticken, aber immer flackerte er von 394
neuem wieder auf. Jetzt, da sie Witwe und frei war, würden die beiden vermutlich heiraten; Perrin hatte allerdings schon eine Frau, aber ein Mann wie er würde bestimmt einen Weg finden, dachte Gabriel höhnisch. Dieser Kerl, dieser Kerl – wäre er hier, würde ich ihm mein Bajonett hineinrennen, dabei habe ich es noch nie benutzt, auch nicht im ärgsten Gemetzel, und ich war wirklich mitten drin. Aber ich mußte es gottlob nie benutzen. Eine Kugel ist schon schlimm genug, doch zu spüren, wie die Waffe sich ins Fleisch eines anderen Menschen bohrt! Polaris folgte dem Pferd vor ihr, stieg vorsichtig in den Graben am Straßenrand, kletterte auf der anderen Seite hinauf und gelangte in ein Gelände, wo sie Rinnen durchqueren mußte, in denen das abgefallene Laub vieler Jahre kniehoch lag; zwischen Stacheln und Dornen kämpfte sie sich durch, verfing sich in einem Gewirr aus jungen Schößlingen und Kletterpflanzen. Solche Stellen hatten sie schon früher durchqueren müssen. Nein, so schlimme nicht, dachte Gabriel, während sie sich weiter in eine Finsternis hineinarbeiteten, wie sie auf dem Meeresgrund herrschen mußte. Hohe Fichten bildeten weit über ihnen ein dichtes Dach. Eine steile Schlucht tat sich so plötzlich vor ihnen auf, daß ein unerfahrener Reiter leicht hätte kopfüber hinunterstürzen können. Mühsam drangen sie weiter vor. Wie soll hier eine Schlacht ausgefochten werden, wenn man weder Freund noch Feind sieht? Fragte sich Gabriel. Der Ruf, anzuhalten, lief durch die Kolonne nach hinten. Sehr gut, denn es war fast Mittag, und sie waren seit Tagesanbruch unterwegs. Inzwischen herrschte eine derartige Hitze, daß man, wäre das Vorwärtskommen nicht so schwierig gewesen, im Sattel hätte einschlafen können. Die Männer drängten sich auf die Lichtung, wo haltgemacht werden sollte. In einem Kreis fleckigen Sonnenlichts lag wieder der Hartriegel flach da, ein jubilierendes, köstliches Weiß in ominöser Düsternis. Und erneut spürte Gabriel das unregelmäßige Schlagen seines Herzens, des ›Soldatenherzens‹, wie sie es nannten. Er schrieb 395
die Unregelmäßigkeit der Anspannung oder der Hitze zu, doch er wußte, daß es mehr war als das: es war Angst. »Beratung dort vorn«, berichtete einer. »Kundschafter sagt, die Unionstruppen nähern sich uns.« »… sagt, Grant sitzt auf einem Baumstumpf, in einer Paradeuniform und mit Schwert.« Nervöses Gelächter. Der Körper hat Angst, vorzugehen, und der Geist, der Feigheit fürchtet, hat Angst, daß der Körper wirklich kehrtmacht und fliehen könnte, zur ewigen Schmach des Geistes. Polaris stampfte und drehte den Kopf nach hinten, soweit sie konnte, als ob sie sich mit Gabriel unterhalten wollte. Sie hatte die hochmütige, feine Nase einer Aristokratin, doch ihre klugen Augen waren sanft und mild. Sie kennt mich gut, dachte Gabriel. Wir sind schon eine lange Zeit zusammen. Jemand sagte laut: »Verdammt, das ist doch nichts für Pferde! Wie sollen wir hier drin kämpfen? Kommen nicht schneller voran als eine Meile in der Stunde, wenn überhaupt soweit.« Trotzdem rückten sie nach kurzem Halt weiter vor. Sie rutschten die schlammigen Ufer versteckter Bäche hinunter, kletterten jenseits wieder hinauf, kämpften sich weiter und weiter, bis sie schließlich ein Stück vorn das erste vereinzelte Gewehrfeuer hörten. »Laßt die Pferde hier. Sitzt ab. Es ist unmöglich.« Wieder das Soldatenherz. Gabriel stieg von Polaris und streichelte ihr Maul. Würde er sie je wiederfinden? Rechts von ihm schob sich eine Gruppe Scharfschützen geduckt in die Brombeer- und Himbeersträucher. Feldartillerie walzte knackend und krachend das Unterholz nieder. Guter Gott! Eine ganze blaue Division wurde plötzlich direkt vor ihnen lebendig, quoll aus der Düsternis hervor, benutzte Kartätschen und Hagelgeschosse. Ein Bleigewitter brach los. Guter Gott! Ein regelrechter Hagel ging nieder. »Vorwärts! Vorwärts!« Wer schreit da, wessen Kehle ist das, die rauh wird vom Südstaatenschrei, während die Männer stürmen, stürmen, 396
den Männern in Blau und dem funkelnden Silber der Bajonette entgegen? Meine Stimme? Er schießt. Gedeckt durch den Stamm einer alten Eiche, feuert er blindlings auf den Feind, den scharfer, beißender Rauch einhüllt. Der Lärm ist grauenhaft, hämmert auf die Trommelfelle und im Kopf. Hörner blasen, fordern Mut, geben Signale, die keiner versteht oder befolgen kann, weil keiner sieht oder weiß, wo der Feind ist. »Feuer! Feuer! Laden und nachladen.« Kugeln pfeifen durch das Laub, lassen Blätterfetzen herunterregnen. Ganz in der Nähe schreit jemand; es ist ein schrecklich hohes, tierisches Schreien. Keine Zeit, nachzuschauen. Gabriel schießt weiter, kniend, zusammengeduckt, denn nichts, was aufrecht steht, kann in dieser Hölle überleben. O Gott, das ist in tausend Tagen eines höllischen Kriegs die ärgste Hölle, die er erlebt! Ein Mann stößt mit einem anderen zusammen, kriecht auf Händen und Knien nach hinten, in die falsche Richtung. »Wo willst du hin? Zum Teufel, was denkst du dir denn?« »Ich bin verwundet, Sir. Nach hinten, ich bin verwundet.« »Verwundet? Wo? Zeig mir Blut oder mach kehrt und geh vorwärts. Verdammt noch mal, nach vorn sollst du!« »Die Unsrigen schießen auf uns, lieber Himmel!« »Ich kann's nicht ändern. Sie sehen nichts. Zu Boden! Runter!« Stunde um Stunde geht das Donnern, das Pfeifen vor dem Krachen, das Tosen und Bersten weiter… Wird es denn nie Nacht? Es wird Nacht. Die schwärzeste Nacht, die Gabriel je gesehen hat, legt sich auf die Wälder. Die Schüsse verklingen, und in der Finsternis lassen sich auf beiden Seiten die erschöpften Leute zu Boden fallen, wo sie gerade sind. Alles ist still. Die Verwundeten sind nach hinten gebracht worden. Der Boden ist übersät mit Gefallenen und Stummen. Stumm und frei, denkt Gabriel. Sie brauchen den Morgen nicht zu fürchten. Einmal ruft ein Ziegenmelker. Seine reine, wohltönende Stimme ist ein paar Sekunden zu hören, dann verstummt sie. Sogar die Vö397
gel ducken sich, denkt er, sie in ihren Nestern, wenn sie nicht samt diesen weggeschossen worden sind, und wir uns auf dem Boden. Er holt tief Luft, er ist zu müde, um irgendwelche Nachforschungen anzustellen; ohnehin ist es zu dunkel dazu; und seine Aufgabe ist es, bei seinen Leuten zu bleiben, vielmehr beim Rest seiner Leute, und zu warten. Er schläft mit dem Kopf zwischen den Knien. Dann der zweite Tag, ein Tag aufkommenden Windes. Während die Kugeln pfeifen und niederhageln, nimmt der Wind weiter zu und kleine Flammen, die aus Funken im Unterholz entstehen, werden vom Wind mitgetragen, von Ast zu Ast, von einem der seiner Blätter beraubten Zweige zum nächsten. Flammen kriechen wie Lebewesen über den Boden. Tastend und suchend klettern sie an Baumstämmen empor, zischeln leise dabei. Binnen Sekunden verwandelt sich eine Zwergkiefer in eine Fackel, ein einziges Flammengewoge. Weit hinter der vordersten Linie fangen auch die kunstvoll aus Baumstämmen errichteten Brustwehren Feuer. Asche und Funken wirbeln im Wind; der ganze Wald nichts als Pech und Harz, tost im Feuer. Allein schon die heiße Luft verbrennt einem die Lunge. Nun kommen die Flammen heran wie rasende Brandung, Welle um Welle. Die hilflosen Verwundeten schreien vor Grauen beim Nahen der Wellen; manche kreischen vor Angst und Qual, wenn die Wellen sie überrollen; sie schreien und sterben, während andere sich rechtzeitig erschießen, sofern sie stark genug sind, es zu tun. Männer in Blau und Männer in Grau hasten hin und her, um ihre Leute zu retten, und manche retten sogar Feinde. Gabriel zieht einen Mann in Sicherheit und denkt: Wäre Lorenzo hier, könnte er mir helfen. Zum erstenmal vermißt er ihn; aber Lorenzo ist schon vor Monaten auf die andere Seite übergelaufen und mittlerweile bestimmt in New York oder Washington. Unglaublicherweise denkt Gabriel inmitten dieses Chaos amüsiert: Rosa war sich seiner Treue so sicher! Warum, warum sollte er nicht treu sein? Er vergöttert dich! Nach ein paar Metern legt er den Mann am Rand einer flachen Senke nieder; wenn sie Glück haben, springt das Feuer nicht über 398
die Senke. Er ist jedenfalls zu erschöpft, um noch einen Schritt zu machen. Und sein Fuß schmerzt gräßlich. Er hält Ausschau nach einem Laubhaufen, auf den er sich legen kann, und stolpert einmal mehr, diesmal über einen Körper. Die Uniform ist blau. Er mustert das Gesicht: jung, jünger als ich, ich bin eine Million Jahre alt. Die Augen sind offen, starren Gabriel an, zu umwölkt, um den Feind zu erkennen. »Mir ist schrecklich kalt. Meine Schwester Margaret, nein, nicht Margaret, die andere, sie sagt, wissen Sie, wenn ich eine Decke hätte, meine hier hab ich vollgespien…« Gabriel neigt sich über ihn, obwohl selbst bei dieser leichten Bewegung ein stechender Schmerz durch seinen Fuß schießt. Der Junge brabbelt, würgt, erbricht Schleim aus seinen Eingeweiden und sinkt dann stumm zurück. Eine halbe Nacht später weiß Gabriel, daß der Junge tot ist. Am Himmel zwischen den Baumwipfeln funkeln zahllose Sterne, und in ihrem bläulichen Licht kann er das tote Gesicht sehen. Es ist außergewöhnlich würdevoll. Er hat sich auf den Ellbogen gestützt und betrachtet es, wünscht sich, eine Decke oder etwas Anständiges zu haben, um es zu bedecken. Dann fällt ihm ein, daß etwas gesagt werden müßte zu dem Gesicht, das in seiner Würde zu erwarten scheint, daß man ihm Anerkennung zollt. Also spricht er das Kaddisch. Es ist ein Gebet zum Lobe Gottes, ein jüdisches Gebet, aber das einzige, das er kennt, und bestimmt passend. Der Schmerz in seinem Fuß ist wie ein schneidendes Messer. Er muß einen Schuß abbekommen haben. Komisch, daß er sich nicht einmal erinnern kann, wann es passiert ist! Sein Kopf ist irgendwie benebelt. Er liegt still da, bewegt sich nicht. Auf allen Seiten rufen die Verwundeten: Wasser! Hilfe! Mutter! Jesus Christus! Aber niemand kommt. Es ist zu dunkel, sie sind zu weit weg. Langsam beginnt es zu tagen. Eine Fliege hat sich auf die Wange des toten Jungen gesetzt, und Gabriel verscheucht sie. Die Augen sind offen, und er streckt die Hand aus, um sie zu schließen. 399
Anstrengend, so weit hinüberzugreifen; die Schmerzen werden schlimmer dabei. Er versucht, in einer der Taschen irgendeine Adresse zu finden, und denkt an den Brief, den er den Eltern über das Sterben ihres Sohnes schreiben wird, aber plötzlich rutscht sein Bein weg, und er sinkt zurück auf den Boden. Nun versucht er seinen Stiefel auszuziehen, aber ihm fehlt die Kraft dazu. Er fragt sich, ob er den Fuß oder gar das Bein verlieren wird. Unter dem Stiefel fühlt es sich naß an. Alles ist still. Die Schlacht muß sich anderswohin verlagert haben. Er überlegt, wer wohl siegen wird oder gesiegt hat, aber im Grunde ist es ihm gleichgültig. Ihn betrifft das nicht. Hoch über ihm ist der kleine Fleck Himmel zwischen den Bäumen, an dem vor einer Weile noch die Sterne geleuchtet haben, nun strahlend blau, wunderbar blau. Also muß es heller Tag sein. Sie wird keinen Krüppel wollen, denkt er. Will mich ohnehin nicht. Will diesen – anderen. Er hat was? Eine galante Art, die ich nicht habe, nie gehabt habe? Zurück und vor, Ebbe und Flut, das ist mein Leben. Lieben, ohne es zu wollen. Kämpfen, ohne es zu wollen. Und doch kämpfe ich. Und doch liebe ich. Die Geschichte besteht aus Schlachten. Wie viele haben gekämpft, wie viele sind verwundet worden, wie viele gefallen? Eines Tages wird darüber geschrieben werden. Aber Zahlen und Worte sind unwichtig. Man wird darüber schreiben, aber das wird bedeutungslos sein. Falls ich diesen Krieg überlebe und jemand mich später fragt, wie er war, werde ich nicht in der Lage sein, ihn zu beschreiben. Jetzt hört er, daß unter dem weitgespannten Blätterdach ein leises Wispern eingesetzt hat. Es schwillt an, breitet sich aus, klingt wie das Rauschen der See. Nach einer Weile wird ihm klar, daß es das Stöhnen der Verwundeten ist. Er liegt still. Er ist erschöpft, sogar der Schmerz in seinem Fuß hat sich erschöpft. Ihm schwinden die Sinne.
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Als er die Augen wieder öffnet, sieht er, daß der blaue Fleck über seinem Kopf grau ist. Es muß wieder Abend sein. Jemand macht sich an seinem Fuß zu schaffen; der Stiefel ist herunter. »Er verliert vielleicht den Fuß«, sagt jemand. »Vielleicht nicht.« »Paß auf mit der Kerze. Laß eine einzige fallen, und jeder Mann hier auf dem Boden geht in Flammen auf.« Die beiden tragen Blau! Die Uniform der Unionstruppen, denkt er gleichgültig. Er muß ein Gefangener sein. Er wird aufgehoben, zu einer Straße getragen und in einen Wagen gelegt. Hunderte von Wagen müssen es sein, denn einer steht hinter dem anderen, so weit er die Straße entlang sieht. Er erkennt Munitionswagen, die zu Sanitätswagen umfunktioniert worden sind. Sie haben keine Federn. Als sie sich auf der holperigen Straße in Bewegung setzen, jagt jeder Stoß blutroten Schmerz sein Rückgrat hinab. Er will fragen, wohin sie fahren, aber das ist zu anstrengend, außerdem werden sie vermutlich nicht antworten. Doch das schwindende Licht sagt ihm, daß sie nach Osten fahren, nach Fredericksburg, vermutet er. »Ein Glück, daß wir einen Platz gekriegt haben«, sagt eine Stimme. »Allein dieser Transport muß siebentausend Mann umfassen. Die restlichen bleiben zwei Tage hier liegen, bis mehr Wagen kommen.« Wie viele Stunden nach Fredericksburg? Ein Mann stirbt, und der Wagen hält, damit der Tote abgeladen werden kann. Neben der Straße liegt ein riesiger, schwarzer, aufgeblähter Hügel, gewölbt wie ein gestrandeter Wal. Hier ein Wal?! Er hat einmal einen gesehen, vor ewiger Zeit in einem Sommer am Paß Christian. Er erinnert sich gut an jenen Sommer. Nichts als blaues und silbriges Wasser, bis Cat Island! Er denkt an den Krabbenfang, das Fischen, die kühle überdachte Veranda abends hinter der Klettertrompete, dazu die Musik, die von irgendwo am Strand zu hören war. Er schaut über die Wagenseite auf den Wal. Es ist kein Wal; es hat vier steife Beine, die in die Straße ragen, fast die Wagenräder berühren. 401
Es ist ein Pferd. Schwärme riesiger schillernder Fliegen bedecken seinen Rücken, summen um seine Ohren. Plötzlich schlagen seine Beine, und mit einem wilden Satz wälzt es sich auf die andere Seite, stößt in der grausamen Hitze einen schrecklichen Schrei der Verzweiflung aus. »Um Himmels willen«, ruft Gabriel, »man muß es töten! Erschießen!« »Erschießen? Wen?« Der Yankee-Sergeant an der Wagenseite, die Waffe im Arm, hat ihn gehört und lacht. Er hat große faulige Zähne. »Nicht erlaubt, Gefangene zu erschießen, das wissen Sie.« Gabriels Zunge ist geschwollen. Er deutet mit dem Finger zum Straßenrand. Der Sergeant schaut: »Ach, Sie meinen das Pferd?« Gabriel nickt. »Ihre Muskete«, bringt er hervor. »Wissen Sie, wie viele Männer in den letzten Tagen umgekommen sind? Und da machen Sie sich Sorgen wegen einem Pferd?« Aber das Pferd, denkt Gabriel jetzt ein wenig klarer, während sie weiterfahren, das Pferd weiß doch nicht, warum das alles. Das Pferd muß sich doch fragen, warum. Polaris fragt sich bestimmt, wo ich bin. Polaris braucht jemand, der sich um sie kümmert, damit sie nicht auch in einem Graben krepiert wie das da. In Fredericksburg tragen sie ihn in eine Art öffentliches Gebäude, ein Warenhaus oder eine Fabrik. Das Dach hat Löcher, und wo der Regen eindringt, entstehen Pfützen. Es gibt zu essen, etwas Schiffszwieback und Wasser, aber nie genug Wasser. Wie lange er dort liegt, weiß er nicht. »Sie brauchen den Fuß nicht zu verlieren«, sagt irgendwann dann jemand, ein müder Mann mit Säcken unter den Augen. Wie auf unserer Seite, sie haben nicht genug Ärzte. Wäre es nicht komisch, wenn David jetzt hier hereinkäme? Wäre das nicht wie Sonne im Finstern? »Nein, Sie werden ihn nicht verlieren. Ich habe ihn saubergemacht. Halten Sie ihn sauber, wenn Sie können.« 402
Weitere Tage, dann wieder auf Wagen, die nordwärts fahren. Natürlich, wohin denn sonst als in den Norden? Die Wagen halten an einem Fluß. Dort gibt es eine Anlegestelle, und ein Dampfer erwartet die lange Kolonne bereits. Wie eine schwimmende Höhle trägt ihn das Schiff fort von den Granaten, dem Rauch, den blutigen Gesichtern und den Angriffen im Morgengrauen, in eine tiefe Stille, einen Frieden, der kein Frieden ist. Ja, er empfindet Erleichterung, als sie den Fluß hinunterfahren, aber stärker ist sein drückendes Schuldgefühl, weil er ins Feindgebiet kommt, weg vom Kampfschauplatz, während andere weiterkämpfen müssen, solange sie… »Sie waren ohnmächtig«, sagt jemand, »aber jetzt sind Sie wieder in Ordnung.« Er liegt auf festem Boden. Etwas Weiches streicht über seine Nase, ein kleines Kiefernbüschel. Er kostet den würzigen Waldgeruch auf den Lippen. Man hat ihn unter einen Baum gelegt. »Wo sind wir?« fragt er. Der Mann tritt zurück, und Gabriel sieht ihn in voller Größe; breite Brust, bärtiges Gesicht, Arztabzeichen. Wegen seines deutschen Akzents hat Gabriel einen Moment an David gedacht. Warum auch nicht? Seltsamere Dinge geschehen. Aber das ist nicht Davids adlerartiges Gesicht. Es ist rötlich und rund, und der Bart ist graugesprenkelt. Die Nordarmeen haben so viele Deutsche. Auch Iren. Komisch. Die südlichen andererseits haben französischstämmige Arkadier und Iroschotten in Nordkarolina. Komisch das alles. Er döst weiter. Seine Füße sind jetzt in der Sonne, doch sein Kopf und seine Schultern sind noch im Schatten. Ein Glück. Die Dinge, für die man dankbar ist! Ein Stück Schatten. Außerhalb ist es so hell, daß sogar das Gras weiß aussieht. Reihenweise stehen Bahren in der weißen Sonne. An dem Fahnenmast breitet sich das Sternenbanner aus, wenn der Wind es anhebt, und wenn er aufhört, fällt es am Mast herunter. Jemand kommt und schaut sich seinen Fuß an, der wieder zu bluten begonnen hat. Er beißt sich auf die Lippen. Er wird keinen Ton von sich geben, nein, verflucht noch mal, nicht hier! 403
»So, das ist besser. Können Sie aufstehen und humpeln?« Eine andere Stimme, nicht die des Deutschen. Er zwingt sich zur Ruhe nach dem Schmerz. »Wie weit?« »Nicht weit. Nur ein paar Schritte bis zum Zug.« Der Mann bemüht sich, freundlich zu sein. »Nur bis zum Zug.« »Ich dachte – das ist Washington?« »Ja, aber Sie bleiben nicht hier. Haben Sie geglaubt, Sie würden hierbleiben?« Er fragt es voll müder Belustigung. »Sie kommen nach Elmira, dort werden Sie eingesperrt. Sie und dieser ganze Haufen.« Der glänzende Zug räkelt sich auf seinem Schlackenbett wie eine Schlange auf einem sonnigen Felsen. Die Lokomotive ist der Kopf der Schlange. Ungeduldige, zischende Laute kommen aus ihrer Kehle. Der Weg zum Zug ist auf beiden Seiten von Soldaten mit Musketen und Bajonetten gesäumt. Teufel, meinen die, wir würden weglaufen? Sogar jene unter uns, die keinen Kratzer abbekommen haben, können nicht fliehen. Wohin sollten wir denn gehen? Stumm, schlurfend kletterten die Verwundeten und die Gesunden in den Zug. »Hier, steigen Sie ein. Ich helfe Ihnen hinauf.« »Elmira«, sagt jemand. »Dort war ein Vetter von mir. Ein Junge aus Alabama, Verwandtschaft meiner Mutter. Ist im vergangenen Winter dort gestorben.« »Wahrscheinlich erfroren.« »Der Schnee reicht einem da bis zum Bauchnabel, habe ich gehört.« »Und ich hab meinen Wintermantel vergessen. Zu blöd!« Das ist der Spaßvogel, Gabriel erinnert sich an ihn aus der ersten Nacht in Fredericksburg. Typisch er. Nicht älter als siebzehn, eine hohe, noch mädchenhafte Stimme, reißt Witze, um nicht zu heulen. »Winter? Es ist doch erst Mai! Glaubt ihr, daß wir im Winter immer noch dort sein werden?« Keiner antwortet.
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o sich einst saftige hohe Gräser im Wind gebogen hatten, lag die rote Erde Georgias jetzt nackt da, hart und heiß wie Ziegel in der glühenden Sonne. Innerhalb der Palisade spendete kein einziger Baum Schatten für den Kopf. Kein Bach floß, in dem man seine Füße hätte kühlen können. Es gab keine Zelte, in die man hätte kriechen können, um Schutz zu suchen. Nur ein paar der Männer hatten klägliche, selbstgebaute Sonnendächer aus vier schwachen Stöcken und einer dazwischen gespannten zerlöcherten Decke. Unter einem davon hatte sich David Raphael einen Platzanteil gesichert, etwa sechs Quadratfuß, schätzte er. Die Männer krochen und lagen übereinander wie Käfer. Könnte man die Szene von oben betrachten, dachte David, würde man bestimmt glauben, eine einzige Masse festen Fleisches zu sehen. Wenn er die Beine ganz ausstreckte, berührten sie den Rücken eines anderen Mannes. Das spielte jedoch keine Rolle, denn der Mann spürte es wohl kaum; er hatte sich den ganzen Vormittag nicht gerührt und würde bald sterben, war vielleicht schon tot. In solchen Fällen hoffte man, daß sie ihn bald holen würden. Der Wagen würde irgendwann kurz vor Mittag kommen, und wenn sie ihn da übersahen, blieb er bis morgen liegen – Gott steh uns bei. Links von ihm bewegte sich einer und murmelte eine Frage. »Reden Sie lauter, ich verstehe Sie nicht.« »Dann drehen Sie sich doch um.« »Kann ich nicht.« Es kostete zuviel Kraft, sich umzudrehen. »Ich habe gefragt, wo man Sie erwischt hat.« »Wilderness. Schlacht in der Wilderness. Bin im Dunkeln in die falschen Linien gestolpert.« »Wie lange sind Sie schon hier?« »Paar Monate, denke ich, wenn wir jetzt Juli haben.« »Wir haben Juli.« 405
Schweigen. Der Mann bewegte sich erneut, veränderte schwerfällig seine Lage. Er klang jung. David seufzte. Es war anstrengend zu reden, aber vielleicht brauchte der Junge jemand, der mit ihm redete. »Ich bin David Raphael.« »Tim Woods. Artillerie. Und Sie?« »Arzt.« »So? Ich habe eine Verwundung. Fleischwunde zum Teil, Kniekehle. Woran erkennt man, ob sie brandig ist? Ich habe gehört…« O mein Gott, Sohn, woran man das erkennt? Am Gestank und an den Schmerzen, die so sind, daß du durch die Decke gingst, wenn es eine gäbe. »Keine Sorge, Sie haben keinen Brand. Sie würden es merken, wenn Sie ihn hätten.« »Ich weiß, daß ich noch keinen habe. Aber werde ich ihn kriegen?« »Ich würde sagen, nein. Ihnen kommt Ihre Jugend zugute, wissen Sie.« Eine Lüge schadet nicht, nützt vielleicht sogar eine Zeitlang. »In meiner Familie lebt man lang. Mein Großvater war neunundachtzig. Ich nehme an, das ist ein gutes Zeichen.« »Das beste. Erbanlage. Das zählt.« »Sagen Sie, Doktor, wie schätzen Sie unsere Chancen ein?« »Welche? Hier rauszukommen?« »Ja. Was meinen Sie?« »Bald, bald. Der Krieg kann nicht mehr lange dauern.« »Guter Gott, diese Hitze! Wie leben die Leute hier bloß?« »Sie leben.« Sie leben in Hütten unter den Bäumen und schlafen in Hängematten im Schatten. Oder sie leben in hohen Räumen mit überdachten Veranden, Palmettofächern und Getränken in gekühlten Gläsern.
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»Ich bin aus New Hampshire. Wir haben heiße Sommer, aber das hier…« Die Stimme verebbte. Nach einer Weile erklang sie wieder: »Dieses Bein, es tut höllisch weh.« »Dann sprechen Sie nicht. Das schwächt Sie. Es heilt besser, wenn Sie zu schlafen versuchen.« »Danke, Doktor, ich werde es versuchen.« Der Wind, ein heißer Luftzug wie aus einem offenen Backrohr, in dem Fleisch brät, sprang plötzlich um und trug die üble Luft aus einer Ecke heran, in der sich jemand übergeben oder beschmutzt hatte. Ein Gestank, der nichts gemein hatte mit dem Geruch eines gedüngten Feldes, das keineswegs nach Parfüm duftete, aber so natürlich roch, daß man es fast als harmlos empfand. Der Gestank hier dagegen war so scheußlich, daß einem der Mageninhalt in die Kehle stieg. Welcher Inhalt? Schimmliges Brot, irgendeine dünne Brühe, undefinierbares warmes Fett – und nicht einmal davon genug. Wir verhungern, dachte David. Er bewegte seine Zähne mit der Zunge. Drei hatte er schon verloren, nach der letzten Zählung. Bekäme er Zitronen, wäre es vielleicht nicht zu spät, die übrigen zu retten. Oder Zitronellen. Seine Zunge strich übers Zahnfleisch und spürte das saubere nasse Brennen von Zitronen. Oder von Zitronellen. Ein Mann schrie: »Scheiße! Ach, du Schätzchen!« »Maul halten! Halt's Maul, du verrückter Hund!« »Ach, du Schätzchen!« Vielleicht eine gute Sache, den Verstand zu verlieren. Dann wußte man nicht, daß man hier war. Dann gab es keine Vergangenheit, an die man sich erinnern konnte. Bis jetzt war Davids Verstand noch scharf. Vielleicht unnormal scharf, unnatürlich wach? So überlegte er, während er eine Laus beobachtete, die auf der Schulter des Mannes rechts neben ihm kroch. Ein anderer Mann, der stand, hatte einen dunklen Schweißfleck auf seinem zerlumpten Hemd. Der Fleck hatte die Form eines Fischs, mit Flossen und Schwanz, der sich bog, als der Mann den Ober407
körper nach vorn neigte. War es normal, solche Dinge zu bemerken, oder deutete es darauf hin, daß er den Verstand verlor? Weiß Gott, in einer Stunde phantasierte er vielleicht schon und sah Dinge, die es nicht gab. Der arme Kerl in dem Krankenhaus damals. Ich erinnere mich an ihn. Der christliche Pfarrer versuchte ihn zu bekehren, bevor er starb. Meinte es gut, aber es klappte nicht. Wenn ich sterbe, hätte ich gern, daß ein jüdischer Geistlicher einen Gottesdienst für mich hält. Es gibt ihrer nicht genug. Ich mußte für so viele tote Juden selbst Gebete sprechen. Ich glaube, ich werde sterben. Viel länger halte ich das hier nicht aus. So dreckig, ich verabscheue mich selbst. Durch das leise Gebrumm und Gemurmel der Leidenden waren mit einemmal Stimmen zu hören, nicht laut, aber klar und deutlich und ganz in der Nähe. »Ja, aber Dr. Joseph Jones von unserer Sanitätsabteilung hat erst vorigen Monat über die Zustände hier gesprochen.« Links neben ihm flüsterte der Junge aus New Hampshire: »Inspektion, was wird das nützen!« Mit ungeheurer Anstrengung hob David den Kopf ein Stück. Zwei Offiziere in Grau und ein Mann in Zivilkleidern standen beisammen. Der blonde Zivilist hatte einen Anzug aus schönem dunklem Tuch an. Also trugen noch immer Menschen solche Kleider und waren sauber. Der Zivilist fragte, wie viele sich im Lager befänden. »Etwa dreißigtausend«, antwortete der ältere Offizier. »Ich weiß Ihre Einladung zu schätzen. Hatte gerade geschäftlich hier zu tun… Seltsam, das zu sehen… Entsetzlich, trotzdem… Bedaure, daß ich herkam.« Aus den Stimmen, die der Wind hin und her trug, klang Verzweiflung. »Ein Gefangenenlager ist kein angenehmer Ort, darin pflichte ich Ihnen bei.« Der Mann in dem schönen Anzug wiederholte sich: »Ja, bedaure, daß ich herkam, mir das anzuschauen.«
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Diese Südstaatenstimme hatte etwas Vertrautes, etwas aus längst vergangener Zeit. Eine lässige Anmut. Sylvain? Nein, den hast du erschossen. Erinnerst du dich? Die drei standen noch immer auf dem Durchgangsweg. »Diese Hitze ist mörderisch«, sagte der Mann, der nicht Sylvain war. »Andererseits«, entgegnete der Offizier, »erfrieren unsere Leute in den Lagern im Norden, in offenen Güterwagen, im Schnee, sie tragen Baumwollsachen, die für New Orleans geeignet wären!« New Orleans. Wenn nicht Sylvain, wer ist er dann? Jemand, den ich nicht mochte. Warum mochte ich ihn nicht? Ich weiß es. Ich weiß es. Er tanzte – irgendwo – er tanzte… Wo war das, Gabriel war da und meine Schwester. Ich dachte immer, Gabriel sei halb in sie verliebt – oder mehr als halb. Er muß inzwischen tot sein, und sie und wir alle müssen tot sein oder werden es bald sein. Aber dieser Mann, wer ist er? Wo war das? Er hob den Arm, kämpfte darum, auf die Beine zu kommen, schaffte es, taumelte, hielt sich an der aufgespannten Decke fest, und das Sonnendach fiel über dem verwundeten Bein des Jungen aus New Hampshire zusammen. Bei dessen Schmerzensgebrüll drehten sich die beiden Offiziere und der Zivilist um. Schau mich an, wollte David rufen. Ich bin nicht verrückt, auch wenn mein Mund blutet, wie ich weiß. Ich bin nur dreckig, ich bin abstoßend, aber schau mich an. Statt dessen hörte er sich schreien: »Raphael, David Raphael!« Er sah Erstaunen auf dem hellen Gesicht des blonden Zivilisten. Der Mann machte einen Schritt, öffnete den Mund, um etwas zu sagen, und wurde energisch zurückgezogen. »Das ist nicht erlaubt«, erklärte der Offizier. »Tut mir leid, aber das ist unter keinen Umständen erlaubt.« Die drei Männer gingen rasch weg. David schluchzte, rief immer wieder: »David, David Raphael. Du weißt doch.« Und ins Deutsche verfallend: »Kennst du mich nicht? Kennst du…« Gleichzeitig war er sich bewußt, daß er phantasierte. 409
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erdinand bestand darauf, Miriam zu begleiten. »Bis zu dem Laden sind es elf Meilen«, gab er zu bedenken. »Ich bezweifle allerdings, daß es viel gibt dort.« Miriam antwortete fest: »Wir können alles brauchen, was es gibt, weil wir nichts haben. Faden. Mit ein bißchen Glück etwas Stoff. Wir haben nicht einmal Reste für Binden. Und Chinin. Ich fürchte, die arme Fanny bekommt Fieber.« »Chinin kriegst du bestimmt nicht«, erklärte Emma überzeugt. »Es ist heutzutage Gold wert.« Miriam verriet nicht, daß sie noch einige Goldstücke besaß, in ihr Kleid eingenäht. Sie sagte nur: »Wir werden es jedenfalls versuchen. Wenn Sie mitkommen wollen, Papa, dann kommen Sie.« Von den durchziehenden Truppen hatte die Straße so tiefe und krumme Rillen, daß das Pferd im Zickzack gehen mußte; seine Hufe versanken in dem vom Herbstregen aufgeweichten Boden. In einem Graben lag ein totes Maultier, an dem Truthahngeier rissen; gierig wühlten sich ihre nackten schwarzen, runzeligen Hälse in das tote Fleisch. Während langer Strecken sahen Miriam und Ferdinand in der verlassenen Gegend kein Lebewesen, weder Mensch noch Tier. Auf den leeren Feldern wuchs hohes Unkraut. Zertrampeltes Korn verfaulte. Nur ab und zu kamen sie an einem Haus vorbei, das wie Beau Jardin das Glück gehabt hatte, nicht niedergebrannt zu werden. Die Verwüstung ließ Vater und Tochter schweigen. Sogar das Geräusch leiser Stimmen wäre hier zu laut gewesen. Genau wie in einem leeren, dunklen Haus hätte in dieser leeren, grauen Landschaft das leiseste Geräusch unheimlich geklungen. Miriam schaute auf Ferdinands Pistole, die zwischen ihnen auf dem Sitz lag. Sie hatte dagegen protestiert, daß er sie mitnahm, aber vielleicht war es ganz gut. 410
»Kann nicht mehr weit sein«, murmelte er schließlich. »Nach dem Hügel an der Kreuzung noch etwa eine Meile. Ich erinnere mich, daß er immer sehr gut mit Waren versorgt war.« Ihre Finger betasteten die sechs Münzen an ihrer Taille. Sie fühlten sich von der Form und der Dicke her wie Pfefferminzpastillen an, und wie Pfefferminzpastillen die Erwartung von Süße und Saft erzeugten, so erzeugten sie die Erwartung von Schätzen. »Der Laden sieht leer aus«, sagte Ferdinand. Am Fuß des Hügels stand ein kleines Gebäude aus rohen Brettern, umgeben von einem Hof und ein paar Schuppen. Das Pferd, von seiner Last nun geschoben, fiel bergab in leichten Trab und bog in den Hof ein. Auch dort herrschte lastende Stille, als habe sich eine Art Käseglocke über die ganze Stätte gesenkt. Niemand war zu sehen. Die Tür stand weit offen. Ferdinand rang sich ein »Hallo« ab. Dann rief er: »Ist da jemand? Niemand da?« Kugeln aus grauem Staub liefen wie Mäuse über den Boden. Sämtliche Regale und der Ladentisch waren leer. Nicht eine Schachtel, kein Stückchen Zwirn oder Fetzchen Papier ließen erkennen, daß je etwas auf diesen Regalen und diesem Ladentisch gestanden hatte. »Er ist weg«, sagte Miriam verzweifelt. »Hat aufgegeben und ist weg oder zur Armee.« Plötzlich erklang im Hof ein Kreischen und Gackern. Die beiden fuhren erschrocken herum und sahen einen Jagdhund, der eine Henne jagte. Flügelschlagend und hüpfend schaffte sie es gerade noch, sich auf einer Stange in Sicherheit zu bringen. »Es muß jemand da sein«, sagte Ferdinand. Um die Ecke des Schuppens bog ein magerer Mann, knochig wie das Huhn und von unbestimmbarem Alter. Er nahm vor Miriam die Mütze ab und fragte mit deutlichem schottischem Akzent: »Sie wollten was, nicht?« »Ja«, antwortete sie wehmütig, »wir wollten alles! Überhaupt etwas, alles, was Sie haben.« 411
»Die haben mich ausgeplündert. Allerdings hatte ich nicht mehr viel. Und es waren keine Unionstruppen. Scalawags waren es, dieses weiße Gesindel. Frauen. Ich hätte nicht gedacht, daß Frauen so – verzeihen Sie, Ma'am – so wild sein können. Sie hatten Gewehre.« Die eingefallenen Augen sahen in dem schmutzigen, unrasierten Gesicht wie zwei Löcher aus. Man merkte dem Mann an, daß er seit der Katastrophe mit keiner Menschenseele gesprochen hatte und es ihn drängte, über das quälende Erlebnis zu reden. Aus Mitleid, aus Höflichkeit und wegen der Stärke seines Bedürfnisses hörten sie ihn an. »Verrückte Dinge haben die gesagt. Die Knappheit sei mein Werk! Ich hätte Sachen versteckt und würde auf höhere Preise warten! Wahrscheinlich denken Sie das auch.« »Nein«, entgegnete Miriam, doch weil dieser schreckliche arme Kerl vielleicht doch etwas versteckt hatte, fügte sie hinzu: »Allerdings würden wir mit Gold bezahlen.« »Da, sehen Sie! Sie denken es auch! Aber ich habe wirklich nichts! Nichts, das sage ich Ihnen! Jeder weiß, daß der Süden nie Waren hergestellt hat, alles ist aus dem Norden gekommen. Wie kann man also erwarten, daß ich Stoff oder Faden oder Medizin habe? Woher soll ich sie hier mitten im Niemandsland kriegen? Kann froh sein, daß sie mich nicht umgebracht oder mir das Dach über dem Kopf angezündet haben.« Ferdinand sagte sanft: »Natürlich, natürlich.« »Wir stammen aus Nordkarolina. Ich bin Schotte, aber meine Frau war dort geboren. Sie hatte Rheumatismus, und die Winter dort waren zu kalt für sie, darum sind wir hierher gezogen, und hier hat sie statt dessen das Fieber gekriegt. Ist voriges Jahr daran gestorben. Und da stehe ich jetzt, da stehe ich…« Die Stimme brach ihm, er warf die Arme zu dem grauen, gleichgültigen Himmel empor: »Scalawags! Scalawags! Wo ist der Unterschied zwischen ihnen und den Jay Hawkers, dieser Räuberbande in Kansas? Mich greifen sie an, 412
der nie im Leben einen Sklaven besessen hat! Ich konnte selber alles, was ich brauchte, um uns zu ernähren. Selber.« So behutsam sie konnten, zogen sie sich zurück und fuhren ab. Seine Stimme verfolgte sie den halben Hügel hinauf: »Ausgeplündert haben sie mich! Ausgeplündert!« Nach dieser Begegnung erschien ihnen die Stille auf der Heimfahrt noch unheilträchtiger. Das müde Pferd trottete langsam dahin. Ferdinand hielt die schlaffen Zügel mit einer Hand, die andere hatte er auf dem Sitz neben der dunkel glänzenden Pistole liegen. Einmal schaute er zu Miriam hinüber und sagte in dem vergeblichen Versuch, lustig zu sein: »Es ist lange her, daß ich Zügel in den Händen hielt. Das erinnert mich an die alte Zeit, nur war damals mein Wagen voll, und ich brauchte nichts zu fürchten.« Miriam gab keine Antwort. Ihre wachen, flinken Augen schossen hierhin und dorthin, musterten prüfend jede Baumreihe suchten die Straße vor und hinter ihnen ab. Ein ausgebranntes Herrenhaus stand am Ende einer langen Kastanienallee. Aus der Ferne wirkten die beiden Kamine wie hagere, unheimliche Riesen – eine bedrohliche Erscheinung in dieser Wildnis. »Der Landsitz von Johnson Hicks«, sagte Ferdinand, eine bekannte Tatsache konstatierend. »Sie kamen damals an dem Morgen auf der Flucht bei uns vorbei. Ich frage mich, wohin sie gegangen sind.« »Kann mir nicht vorstellen, wohin.« Die Hufe des Pferdes flüsterten nur noch, denn die Straße war jetzt mit Sand bedeckt. Die Stille wurde dick wie Nebel. Wieder von ihr eingehüllt, fuhren sie weiter. Angespannt saßen sie nebeneinander, nach vorn geneigt, ohne es zu merken, der Bewegung des Pferdes folgend, als wollten sie es anschieben, um schneller heimzukommen. Aus dem Unterholz sprang eine Frau auf die Straße, mit der Wucht eines geschleuderten Steins. Das Pferd schnaubte und wieherte erschreckt, als habe es eine Schlange gesehen, doch bevor es durch413
gehen konnte, packte die Frau die Zügel neben seinem Maul und brachte es mit einem Ruck zum Stehen. Sie richtete ihr Gewehr auf Ferdinand und Miriam. Ferdinand erhob sich auf dem Sitz. »Was wollen Sie?« brüllte er. »Was glauben Sie denn? Geld.« Ferdinand tastete nach der Pistole. Er hatte im Leben noch keine abgefeuert und Miriam natürlich auch nicht – sie beide waren dieser Angreiferin nicht gewachsen. Miriam schob die Pistole außer Reichweite. Ferdinand nahm den Angriff offenbar nicht ernst, er sprudelte verächtlich hervor: »Scalawags! Jay Hawkers! Anständige Bürger können nicht einmal mehr auf der Straße fahren!« Miriam stieß einen scharfen Warnruf aus: »Papa! Nein!« Sie senkte die Stimme, versuchte ruhig zu sprechen: »Wir haben kein Geld. Wir hätten selbst gern welches.« Die Frau kam näher. Das Gewehr war eine Verlängerung ihres hageren Armes und ihres zerrissenen Ärmels. Es hob sich mit dem Arm, seine Mündung zitterte. Und Miriams Herz bebte unter ihren Rippen: »Ich wäre Ihnen dankbar, wenn Sie dieses Ding von uns wegdrehen würden. Wenn Sie uns töten, kriegen Sie bestimmt nichts.« »Sie sind zum Laden gefahren, also müssen Sie Geld haben!« »Wir sind am Laden vorbeigefahren. Er war leer. So leer wie unser Haus.« Unter der Schute blickte ein junges Gesicht hervor, eingefallen und zahnlos. In den blauen Augen stand ein Ausdruck des Wahnsinns. »Ich kenne Sie«, sagte Miriam, die sich plötzlich erinnert hatte. »Sie sind vor dem Krieg, als mein Mann noch lebte, immer gekommen, um sich Lebensmittel zu holen.« »Warum nicht? Sie hatten mehr, als Sie brauchten.« »Das stimmt. Aber jetzt haben wir nichts mehr. Seit dem Durchzug der beiden Armeen fehlt es uns an allem.« »Höchste Zeit, daß Sie das auch kennenlernen. Sie und Ihre Nigger, die schuld sind, daß gute Leute keine Arbeit kriegen. Sie und 414
Ihre feinen Kinder, die nie Hunger leiden mußten, nie wußten, was Not ist.« Miriam musterte die Frau, die vermutlich nicht älter war als sie selbst und verzweifelt ihr Gewehr hielt. Wie mußten Damen ihres Schlags auf solche Frauen gewirkt haben, in jenen Glanzzeiten damals, als sie stolz hinter ihrem Kutscher saßen und kein Gewehr, sondern einen Sonnenschirm mit Rüschen hielten. »Vielleicht ist es wirklich Zeit«, entgegnete sie. »Aber meine Ermordung ernährt Ihre Kinder nicht.« Das Gewehr wurde gesenkt. Irgendwo in der Nähe, in den Sümpfen mußten sich die zerlumpten, ausgemergelten Kinder der Frau und ihr Mann versteckt halten, um der Aushebung zum Militärdienst für den Süden zu entgehen. Die mißtrauischen, wahnsinnigen Augen durchsuchten den leeren Wagen. »Ihre Ermordung vielleicht nicht. Aber das Niederbrennen Ihres Hauses könnte zum Vorschein bringen, was Sie drin versteckt haben.« Sie darf die Münzen nicht finden, dachte Miriam. Die muß ich behalten. Ohne sie stünde ich völlig hilflos in der Welt. »Hören Sie«, sagte sie. »Glauben Sie, ich will, daß Ihre Kinder verhungern? Ich bin eine Frau, eine Mutter. Wenn Sie ein paar Kartoffeln und Schrotmehl wollen, kommen Sie zu uns. Kommen Sie in Frieden, und sie kriegen etwas.« Wachsender Mut kräftigte ihre Stimme und straffte ihren Körper: »Aber ich warne Sie, wenn Sie kommen, um zu stehlen oder Feuer zu legen, melde ich Ihren Mann und seine Freunde den konföderierten Behörden. Und wenn Sie Ihre Männer zum Stehlen oder Feuerlegen schicken, lasse ich sie erschießen. Haben Sie mich verstanden?« »Ich komme heute abend. Aber keine Tricks. Wenn ich nicht heil zurückkomme, wird mein M… werden ein paar andere Sie dafür bezahlen lassen.« »Sie werden heil zurückkommen. Mit Lebensmitteln. Heute abend also.« 415
Die Frau verschwand im Unterholz, das sich hinter ihr schloß, ohne daß die geringste Spur blieb. Ferdinand gab dem Pferd die Peitsche, um es in Galopp zu versetzen. »Nicht, Papa! Lassen Sie es langsam gehen. Zeigen Sie keine Angst, das ist das Schlechteste, was Sie tun können.« Als sie endlich an der Zufahrt anlangten, war Miriams Mut längst verflogen. Sie zitterte im nachhinein am ganzen Körper. Im Haus empfing sie ein Halbkreis erwartungsvoller Gesichter. »Wir haben nichts mitgebracht. Der Mann in dem Laden hatte nichts.« »Er muß etwas gehabt haben!« Eulalies Mund war bitter vor Enttäuschung. »Wahrscheinlich hast du ihm nicht genug geboten. Leute dieser Art verstecken ihre Waren immer.« Miriams Nerven waren gereizt, als habe man sie angekratzt. Sie schrie fast: »Wer tut das? Leute welcher ›Art‹ meinst du?« »Wir brauchen das nicht näher zu erörtern«, antwortete Eulalie, jedes Wort so sorgfältig in seine Silben zerteilend, wie man einen kleinen Brotlaib für hungrige Mäuler zerteilt. Sie ging aus dem Zimmer. Miriam folgte ihr, holte sie in der Halle ein und faßte sie am Ellbogen: »Ich glaube schon, daß wir das näher erörtern müssen. Hier und jetzt. Natürlich weiß ich, wen du mit dem Ladenbesitzer gemeint hast. Juden hast du gemeint.« »Und wenn, dann bin ich wahrlich nicht die einzige.« Miriam rang nach Luft, sie schmeckte Blut im Mund: »Zu deiner Information, der Ladenbesitzer ist Schotte! – Hör zu, Eulalie, so können wir nicht weitermachen. Wir leben beide hier und können nirgends anders hin. Ich habe einen Sohn und eine Tochter, nicht zu reden von meinem Vater und deiner Mutter, und keiner ist zu irgend etwas nütze.« Als Eulalie empört den Mund aufriß, sagte sie rasch, jeden Einwand abwehrend: »Es ist doch wahr! Ich liebe sie, aber sie sind hilflos. Tatsachen sind Tatsachen, und jetzt ist zweifellos die Zeit da, ihnen ins Auge zu sehen. Du siehst also, 416
daß es hier eine Menge zu tun gibt, und alles wäre ein ganzes Stück leichter, wenn wir unsere Gefühle begraben könnten. Ich mag dich nicht, und du magst mich nicht. Du verabscheust Juden, und du bist entsetzt über das, was du meine Sünde nennst.« »O lieber Himmel«, rief Emma unter der Tür, den Tränen nahe. »Es ist schrecklich, alles fällt auseinander! Ich weiß nicht, was du gesagt hast, aber das Ganze ist häßlich. Alles ist häßlich. Ich habe mich weiß Gott bemüht, einen Schlag nach dem anderen mutig zu ertragen. Aber nimmt das denn gar kein Ende? Können wir nicht wenigstens versuchen, in Frieden zu leben? Ich hätte nie geglaubt, daß ich solche Zeiten mitmachen muß.« Die arme Emma! Für sie war es zu spät, sie war zu alt. Ihre besten Jahre hatte sie in einem sonnigen Garten verbracht. »Schon gut, Tante Emma«, sagte Miriam und tätschelte die bebenden Schultern. »Das ist nur Gerede. Wir sind alle überreizt und überanstrengt. Ich weiß, daß ich es bin, und kein Wunder. Es war ein schrecklicher Tag. Aber kein Grund zur Sorge, alles in Ordnung. Ich gehe jetzt eine Weile nach draußen, in den Stall zu Simeon.« Als Miriam wieder ins Haus kam, kniete Eulalie im Eßzimmer auf dem Boden und zerschnitt den Teppich. Pelagie war entsetzt. »Ein Aubusson! Eugenes schönen Aubusson zu zerschneiden! Was denkst du dir bloß dabei?« »Eulalie hat recht«, entgegnete Miriam eilig. »Die Nächte sind sehr kalt, und wir haben keine Decken.« Sie war schon wieder halb aus dem Zimmer, als Eulalie sprach, ohne sie anzuschauen: »Deine Zofe Fanny. Du sagst, sie sei krank. Ich habe ein Herzmittel aus Brombeerwurzeln. Das könnte ihr helfen.« »Sehr freundlich von dir, Eulalie. Vielen Dank.« »Eulalie«, fragte Emma, »hast du daran gedacht, Miriam ihren Brief zu geben?« »Habe ich vergessen. Hier ist er.« Sie zog einen Umschlag aus der Tasche. 417
»Ein Reiter brachte ihn vormittags, während du weg warst«, erklärte Emma. »Hoffentlich keine schlechten Nachrichten.« Zwei Blätter knisterten in Miriams Händen. »Er ist von André, von Mr. Perrin…« Der Schock, den ihr die ersten Zeilen versetzten, ließ sie verstummen. »Liebe Miriam, ich möchte Sie nicht erschrecken, aber ich muß gleich zur Sache kommen. Ihr Bruder ist in einem Gefangenenlager. Auf höchst seltsame Weise bekam ich ihn dort unter den vielen Tausenden zu Gesicht.« »Ruft Papa! Papa, wo sind Sie? Hören Sie! Mr. Perrin schreibt, daß David furchtbar krank ist – lieber Gott, schwerstkrank!« Sie las laut: »Aber ich hoffe, daß er, wenn dieser Brief Sie erreicht, durch einen Gefangenenaustausch auf dem Weg nach Norden ist. Das läßt sich nur sehr schwer arrangieren, aber man hat mir versprochen…« Erregt rief sie: »Papa! Stellen Sie sich vor, André – Mr. Perrin hat wahrscheinlich Davids Verlegung in ein Militärhospital in Washington erreicht, wie er schreibt. Gott segne ihn dafür! Gott segne seine Güte!« Ferdinand schien nicht gehört zu haben. Sein bleiches Gesicht war grün, und er schluckte, als sei ihm ein großer Bissen im Hals stekkengeblieben. »Er war oder ist in Georgia, in diesem grauenhaften Lager dort.« Ihre Augen wandten sich wieder dem Brief zu. Den nächsten Teil las sie leise. »Ich werde in einer persönlichen Angelegenheit (Welcher Angelegenheit? Einer Scheidung?) eine Zeitlang außer Landes sein. Ich möchte jetzt nicht verraten, worum es geht. Nur das eine – und die folgenden Worte sind nur für Dich bestimmt: Wenn ich 418
wiederkomme, um es Dir zu erzählen, wird ein Lächeln Dein Gesicht erhellen. Dein Lächeln ist so schön! Aber durch Umstände, für die Du nichts kannst, lächelst Du viel zu selten. Nun, ich gedenke dem abzuhelfen. Wir werden wieder tanzen, Du wirst ein Ballkleid tragen, Du wirst lachen, und ich werde Dich lieben…« Sie spürte den Zauber, die Verheißung in seinen schönen Worten. Doch sie mußte mehr über David wissen, überflog darum rasch die Zeilen. Den Schluß las sie wieder laut: »Meine Freunde, die Douglas Hammonds in Richmond, werden Ihnen helfen und werden Informationen über Ihren Bruder haben.« Sie senkte den Brief. »Papa, ich muß fahren. Ich muß dorthin fahren.« »Das ist unmöglich! Du kannst nicht fahren! Es ist viel zu gefährlich, du würdest Wochen, mindestens einen Monat unterwegs sein.« »Das ist mir gleichgültig. Ich fahre nach Richmond. Und weiter nach Washington, falls David wirklich dort ist. Ich weiß nicht, wie ich hinkomme, aber ich werde hinkommen. Gott allein weiß, wie es um David steht!« »Mama, bitte fahren Sie nicht«, flehte Angelique. Ihr Gesicht war blaß und dünn. »Du hast Angst, daß mir – daß auch mir etwas zustößt«, entgegnete Miriam sanft. »Aber mir wird nichts passieren. Ich werde sehr vorsichtig sein, das verspreche ich.« »Das können Sie nicht versprechen«, korrigierte Eugene seine Mutter. »Wie wollen Sie verhindern, daß eine Granate den Zug trifft oder…« »Ich weiß, ich weiß. Aber sag mir, Eugene, falls Angelique krank wäre und irgendwo allein läge, was der Himmel verhüte, würdest
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du nicht zu ihr eilen? Oder sie zu dir? Das hier ist dasselbe! David und ich…« Miriams Stimme zitterte. Da standen sie, diese beiden, ernst und ängstlich, noch jung genug, um eine Mutter zu brauchen. Und dort, weit weg, lag David, falls er noch lebte. »Er hat für mich gesorgt«, fuhr sie fort, »von meiner Geburt an. Er war noch ein kleiner Junge, aber sehr alt für seine Jahre! Er hat unsere Mutter sterben sehen, ich habe euch erzählt, wie das war, wie die Plünderer und Mörder von den Universitäten über uns herfielen! Gewalt, immer Gewalt und Krieg!« Nun war es an ihr zu flehen: »Versteht mich doch, bitte! Wollt Ihr versuchen zu verstehen, warum ich fahren muß?« Ferdinand schluckte wie vor einer Weile. Eugene legte Angelique die Hand auf die Schulter, eine rührende Geste, mit der er seiner Mutter versichern wollte, daß sie sich auf ihn verlassen könne. Er war seinen Kleidern entwachsen, darum ragte sein knochiges Handgelenk aus dem Ärmel. Seine Hand war seinem übrigen Körper entwachsen, es war eine schwielige, braune Hand, eine große, männliche Hand an einem noch kindlichen Handgelenk. Bei ihrem Anblick hätte Miriam am liebsten geweint. Tiefe Stille herrschte im Zimmer. Auch wenn es verwüstet, kalt und ungemütlich war, es blieb ein Zuhause. Wo immer ihr Sohn und ihre Tochter waren, dort würde das Zuhause sein. Sie wollte es nicht verlassen, wollte keine lange, beschwerliche Reise machen. Und dennoch wußte sie, daß nichts und niemand sie von der Reise abhalten konnte. Rosa brach schließlich das Schweigen: »Wirst du versuchen, etwas über meinen Henry und über Gabriel in Erfahrung zu bringen, wenn es geht?« »Und über meine Jungen?« fügte Pelagie hinzu. »Wie sollen wir bloß hier zurechtkommen, wenn du weg bist?« fragte Emma klagend. »Ihr werdet zurechtkommen müssen, bis ich wieder da bin. Ihr könnt es. Ihr müßt es einfach können.« 420
Der Zug fuhr langsam nordostwärts, in den Winter hinein. Stoßend und rumpelnd legte er auf dem verfallenden Bahnkörper und auf wackligen Brücken etwa sieben oder acht Meilen in der Stunde zurück. Gelegentlich hielt er mitten in einer trostlosen Landschaft, attackiert von heftigem, eisigem Regen, und dann konnte Miriam, deren Augen entzündet waren von dem durch die zerbrochenen Scheiben hereindringenden Staub, das Leben draußen beobachten: überladene Wagen, die Maultiere bis zu den Bäuchen im Schlamm; Rinder, die vorwärtsgetrieben wurden, so schnell sie sich treiben ließen; eine Farmerfamilie, im Freien auf auseinanderfallenden Möbeln hokkend, die Mutter mit einem Säugling auf dem Schoß und das kleinste Kind mit einer zappelnden Katze im Arm. Frauen, immer Frauen, dachte Miriam. Wie viele Witwen würde es am Ende dieses Krieges geben? Sie seufzte und murmelte leise: »Man käme zu Fuß fast schneller nach Richmond.« Weil es beißend kalt war, schlang sie die Arme um den Körper und vergrub sich tiefer in die Falten ihres Schals. Ein alter Mann und eine alte Frau, die einander fremd waren, hatten sich vor einiger Zeit zu unterhalten begonnen. Der alte Mann gab immer wieder Informationen weiter: »Schauen Sie diese halb verhungerten Kühe an! Die werden das letzte Fleisch liefern, das die Armee zu sehen kriegt, glaube ich. Wie ich höre, bekommen die Truppen immer nur eine Tagesration Brot.« Die Frau, die eine Witwenhaube trug, schnalzte zum zehntenmal mißbilligend mit der Zunge. »Wie ich höre«, fuhr der Mann fort, – »debattiert das Kabinett in Richmond darüber, ob man einige Lokomotiven einschmelzen soll, um Kanonen daraus zu machen.« Die Frau schnalzte diesmal nicht, offenbar raubte ihr diese Aufzählung schlimmer Dinge den Mut zu einer Reaktion. Sie neigte sich über den Gang in der Wagenmitte und fragte Miriam, als der Zug gerade mit einem heftigen Ruck wieder anfuhr: »Wollen Sie bis ganz nach Richmond?« Als Miriam nickte, erklärte sie: »Die Stadt ist zum Bersten voll, habe ich gehört. Man findet 421
kaum Unterkunft. Sogar die schlechtesten, dreckigsten Zimmer kosten mehr als eine Nacht in einem Schloß.« »Ich wohne bei Freunden – oder vielmehr bei den Freunden eines Freundes.« »Ein Glück für Sie. Es ist schrecklich dort. Meine Cousine hat mir geschrieben, daß die Leute ihre Wertgegenstände, Eheringe, alles, auf der Straße für Kuherbsen oder Reis tauschen.« Und wie zuvor der Mann, von dem sie sich abgewandt hatte, betete jetzt sie ihre Litanei herunter: »Meine Cousine schreibt, Eier kosten fünf Dollar das Dutzend, wenn man welche bekommt. Und Butter fünf Dollars das Pfund. Für uns auf der Farm ist's nicht ganz so schlimm. Mir ist es gelungen, ein paar Hennen zu retten, also haben wir wenigstens Eier. Aber keine Medikamente. Meine Cousine schreibt, Chinin kostet hundertfünfzig Dollar pro Unze. Ihr Baby ist gestorben, weil sie keines gekriegt hat. Sündig nenne ich das. Sündig.« Miriam nickte erneut, drehte den Kopf zum Fenster, schloß halb die Augen und stellte sich schlafend. Die Landschaft draußen mit dem niederprasselnden Regen und den Bäumen, die ihre kalten alten Arme zum eisengrauen Himmel reckten, war wirklich trostlos, aber nicht so deprimierend wie die Unterhaltung im Wagen. »Sie müssen ganz erfroren sein, meine Liebe«, sagte Mrs. Hammond. »Wissen Sie, wir haben derzeit die schlimmste Kälte in unserer Geschichte.« Im Gästeschlafzimmer knisterte ein wohltuendes Feuer. Miriam, die in einem Queen-Anne-Ohrensessel nahe davor saß, hielt ihre blauen Hände in die Wärme. Trotz der liebenswürdigen Gastfreundschaft, die ihr diese Fremden bezeigten, war sie steif vor Verlegenheit. Ihr Reisekleid, vorher schon schäbig, war von der Fahrt zerdrückt und voller Flecken, schlicht unpräsentabel. Früher hätte sie es nicht mehr gut genug gefunden, um es einem Dienstmädchen zu geben. Sie erinnerte sich an die Stöße guter Kleider, die im Haus ihres Vaters und später in ihrem eigenen Haus für die Dienstboten gesammelt worden waren. 422
Ihre Gedanken wanderten zurück in diese einstigen Häuser, wo in jedem Raum Feuer gebrannt hatte, wo Silber poliert worden war und goldene Damastdraperien schöne Falten geworfen hatten. Ihre Gedanken wanderten noch weiter zurück, bis in das ärmliche Heim ihrer Kindheit. Energisch rief sie sich wieder in die Gegenwart, denn ihre Gastgeberin wartete auf eine Reaktion. »Ein zauberhaftes Haus, Mrs. Hammond! Und es ist sehr gütig von Ihnen, mich hier aufzunehmen.« »Es ist mir eine echte Freude. Mr. Perrin hat uns erzählt, wie reizend Sie sind, und wie ich sehe, hat er nicht übertrieben.« »Ich fürchte, ich bin heute nicht sehr reizend. Ich komme mir ziemlich unansehnlich vor.« »Keineswegs. Sie haben eine lange Reise unter schrecklichen Bedingungen hinter sich. Bestimmt möchten Sie vor dem Diner ein heißes Bad nehmen.« »Das wäre wundervoll.« Miriam zögerte: »Kleiden Sie sich zum Diner um?« Dumme Frage! Natürlich kleidete man sich in einem solchen Haus zum Diner um. »Offen gestanden, heute ist ein besonderer Abend, der Geburtstag meines Mannes. Wir haben einige Freunde zu Gast.« Mrs. Hammond seufzte: »Leider nur sehr wenige, weil viele unserer Männer fort sind. Aber seien Sie bitte nicht schüchtern, meine Liebe. Ich verstehe sehr wohl, daß Sie nicht mit Abendkleidern versorgt sind. Darf ich Ihnen eines leihen?« »Wenn ich unten präsentabel sein soll, werde ich ja sagen müssen, fürchte ich.« »Natürlich. Wir sind etwa gleich groß. Ich werde Ihnen meine Zofe Lettie mit Badewasser und einem Kleid schicken. Zeigen Sie mir Ihre Füße. Ja, und mit Schuhen. Falls sie Ihnen ein bißchen zu groß sein sollten, werden Sie bestimmt so gehen können, daß niemand etwas merkt.« 423
Miriam ließ den Kopf an die Rücklehne sinken. Jetzt, wo sie allein war, hätte sie gleich in dem Ohrensessel schlafen können, lange und tief schlafen. Das Zimmer war warm und still. Licht blitzte auf dem messingen Kaminvorsetzer und dem silbernen Rahmen einer Fotografie. Es fiel auf den gebohnerten Boden und auf eine große Mahagonikommode. Die Fenster und das Himmelbett waren mit frischem rot-weißem Toile behängt, auf dem sich ein Muster aus Bäumen, springenden Hirschen und Schloßtürmchen in Medaillons aus verschlungenen Kletterpflanzen wiederholte. Am Fußende des Bettes lag eine zusammengefaltete rosarote Seidensteppdecke, die leichte, wunderbare Wärme in der kommenden Nacht versprach. Sie dachte, wie köstlich diese Bequemlichkeiten doch sein könnten, wie schön das ruhige, geordnete Leben, gäbe es die Politik nicht. Diese Gedanken beruhigten ihr Gemüt. Nach einer Weile ging die Tür auf, und die Zofe kam. Sie brachte erst heißes Wasser, dann Lavendelseife, angewärmte Handtücher und einen Morgenrock. »Mrs. Hammond sagt, ich soll Ihnen das Haar richten«, erklärte sie, nachdem Miriam gebadet hatte. »Eine Minute, ich hole Ihr Kleid.« Das Kleid, offensichtlich ganz neu, hatte ein französisches Etikett. Miriam strich über den flaschengrünen Samtrock und die weiße Spitzeneinfassung des Ausschnitts. »Ich wußte nicht, daß jemand noch Kleider aus Frankreich hat, Lettie.« »Aber ja, alle Damen bekommen ihre Kleider aus Frankreich«, antwortete Lettie, als müsse das jeder wissen. »Das hatte ich nicht erwartet. Man hat mir gesagt, die Lage in Richmond sei sehr schlecht.« »Warten Sie nur, bis Sie auf die Straße kommen. Dann werden Sie sehen, wie schlecht sie ist. Die Leute hungern. Sie müssen ihre Möbel verbrennen, um es ein bißchen warm zu haben. Am ärmsten sind die Frauen der Soldaten dran, sie kriegen die Löhnung, aber das Geld ist jeden Tag weniger wert. Man kann nichts damit kaufen.« 424
Wie seltsam, eine schwarze Sklavin voll Mitleid über arme Weiße reden zu hören! Alles war völlig auf den Kopf gestellt und umgekrempelt. Das Eßzimmer funkelte. Die meisten Männer trugen Uniform, die anderen geziemliche Abendkleidung. Die Frauen sahen prächtig aus. Voll Dankbarkeit für das Samtkleid dachte Miriam, daß sie noch nie, auch nicht zu Hause in der Oper, so viel Diamantschmuck gesehen habe. Aber vielleicht hatte sie nur vergessen, wie es damals gewesen war, es lag so lange zurück. Sie war auch nicht mehr an eine Ansammlung von Fremden gewöhnt. Halb amüsiert verglich sie sich mit einer Farmersfrau beim ersten Stadtbesuch, die staunend auf die fünfstöckigen Gebäude, die Kutschen und das Menschengewühl auf den Gehsteigen starrt. Doch alle waren freundlich und darum bemüht, südliche Höflichkeit zu zeigen, erkundigten sich interessiert nach ihrer Familie und den Ereignissen in Louisiana. An dem langen Tisch gab es junge und alte Gesichter, runde irische Gesichter, zwei oder drei jüdische Gesichter und viele aus den ältesten Familien Richmonds. Gemeinsam hatten sie das gepflegte Aussehen der Reichen. Und das erstaunte Miriam nach wie vor. Hier in diesem hohen Raum, wo Dutzende Kerzen brannten, Champagner in eisgefüllten Kübeln kühlte, Austern verspeist wurden, makelloses Kristall funkelte und faltenfreier Damast schimmerte, schien der Krieg gar nicht zu existieren. Wildenten, Truthahn, Aal, Puddings und Eis wurden auf silbernen Platten immer wieder rundum gereicht. »Meine Güte«, sagte eine Dame, »der Preis für Truthahn ist unglaublich. Dreißig Dollar! Wer hat je so etwas gehört?« »Truthahn?« meinte jemand anderer. »Erst der Champagner! Ich habe letzte Woche hundertfünfzig Dollar für die Flasche bezahlt. Der Himmel weiß, wieviel er nächste Woche kosten wird.« »Ich möchte Ihnen mitteilen«, verkündete der Gastgeber, »daß der Champagner, den wir heute abend trinken, ein Geschenk unseres Freundes ist. André meine ich natürlich. Ein großzügiger Freund 425
von uns allen. Und auch von Ihnen«, fügte er hinzu und verneigte sich vor Miriam. Sie hoffte, man würde das glühende Rot, das ihr in die Wangen stieg, der Wärme und dem Alkohol zuschreiben. »Ja«, sagte sie rasch, »er ist in der Tat ein guter Freund meiner Familie.« Da dies keine Neugier zu erregen schien, wurde sie kühner: »Zur Zeit ist er in Europa, wie er uns schrieb. Ich frage mich, wann er wiederkommt.« Mr. Hammond zuckte die Achseln: »Das weiß man bei ihm nie. Er sagt nichts, und wir fragen nicht.« Sie fühlte sich zurechtgewiesen. Wahrscheinlich hatte sie keinen Grund, dennoch meinte sie, getadelt worden zu sein. Verunsichert beschloß sie, nur noch zuzuhören. Sie versuchte einen roten Faden in den lebhaften Gesprächen zu finden, die am Tisch und über den Tisch hinweg geführt wurden. Was sie hörte, war eine Mischung aus Zynismus und gespielter Tapferkeit. »Was soll ein Pflanzer tun, wenn ihn der Krieg ruiniert? Er versteht sich auf nichts anderes als darauf, Pflanzer zu sein. ›Zur Arbeit gehen‹, heißt es. Zu welcher Arbeit? Er hat nie im Leben wirklich gearbeitet.« Ja, sie haben vergessen, wie man arbeitet, dachte Miriam. Ihre Vorfahren hatten gearbeitet! Miriam erinnerte sich an Tante Emmas Beschreibung der ersten bescheidenen Farm ihrer Urgroßeltern an der Deutschen Küste, ein Blockhaus und wenige Morgen Land. Das war der Anfang gewesen, aber er lag Generationen zurück. »Es heißt, daß die Legislative von Virginia Präsident Davis und das ganze Kabinett außer Trenholm zum Rücktritt auffordern wird. Wißt ihr, es ist eine Schande! Die Generäle telegraphieren um Verstärkung und Artillerie, aber von dieser Regierung bekommen sie nichts.« »Sie bekommen nichts, weil nichts da ist.« »Unsinn! Das glaube ich nicht. Zeitungsgerede. Unsere Zeitungen sollten endlich aufhören, die Regierung der Konföderierten Staa426
ten anzugreifen. Bei Gott, sie unterstützen den Feind mehr, als es die Zeitungen im Norden tun.« »Sie sind nicht die einzigen, die den Feind unterstützen.« Mißbilligend gehobene Augenbrauen waren die Reaktion auf diese Bemerkung, und am unteren Tischende erklang kurz ein ersticktes wissendes Lachen. Miriam vermutete, daß jemand aus dem Kreis der Anwesenden ertappt worden war. Gerüchten zufolge sollten Frauen aus den höchsten Gesellschaftskreisen Richmonds für die Union arbeiten. Vielleicht gehörte eine der Damen am Tisch dazu. Große Müdigkeit überkam sie plötzlich, und sie wünschte, es wäre Schlafenszeit. Links neben Miriam sagte ein Mann zu einem anderen: »Ich hörte, er habe als Blockadebrecher fünfzigtausend Dollar im Monat gemacht. Anfangs jedenfalls verdiente er soviel.« »Lange wird ihm das nicht mehr gelingen. Diese Zeiten sind vorbei. Keine französischen Weine, kein Champagner mehr. Nichts mehr aus Europa. Trinken Sie also lieber jetzt tüchtig.« »Ich mache mir in der Hinsicht keine Sorgen. Was wir haben wollen, kriegen wir aus Baltimore, und fertig.« Wer verdiente fünfzigtausend Dollar im Monat? Sie hatte den Namen nicht gehört. Und kamen vielleicht solche Dinge durch die Blokkade? Champagner und Samtkleider? Und Chinin kostete hundertfünfzig Dollar die Unze! Jetzt sagte der Mann rechts neben Miriam über den Tisch: »Das Geld wird bald wertlos sein.« Jemand antwortete: »Dann sollte man es lieber vorher ausgeben.« Kurz danach wechselte die Tischgesellschaft aus dem Eßzimmer ins Musikzimmer über. Dort hingen die beliebten goldgerahmten Spiegel an allen vier Wänden, so daß man sich von jeder Seite sah. Miriams Gesicht leuchtete blaß. Ihre frische, rosige Farbe vom frühen Abend war verschwunden, jetzt umgaben dunkle Ringe ihre Augen. Sie wirkte fremd inmitten dieser lebhaften Menschen, die sich um das Piano versammelt hatten, spielten und sangen. ›Annie Laurie‹, ›Listen to the Mockingbird‹ und ›Juanita‹ sangen sie. Bei ›My 427
Maryland‹ applaudierten alle und standen auf. Auch Miriam erhob sich, aber sie war eigentlich gar nicht da. Sie driftete in einem unbestimmbaren Raum, in dem Erinnerungen verschmolzen, Vater und Bruder eins wurden mit Eugene, mit Gabriel und André, mit den aufeinanderprallenden Armeen. »Sie sind sehr nachdenklich«, sagte der Hausherr, der sich über ihren Sessel geneigt hatte. »Entschuldigen Sie, ich bin nicht sehr unterhaltsam. Ich denke wirklich nach.« Sie zögerte, in diesem Raum und unter diesen Menschen von David zu sprechen, einem Soldaten der Unionsarmee. Doch war David nicht der Grund für ihre Anwesenheit in Richmond? Und wußte dieser Mann das nicht? »Ich denke über meinen Bruder nach.« »Verständlich, daß Sie das tun. Ich wollte es Ihnen morgen früh sagen, aber da Sie ihn erwähnen, kann ich es genausogut jetzt tun. Alles ist arrangiert. Sie können ihn in Washington im Militärhospital besuchen. Ihr Passierschein sollte in einem oder zwei Tagen vorliegen.« Diese Auskunft rührte sie in ihrem augenblicklichen Schwächezustand fast zu Tränen. »Wie ist das möglich?« fragte sie voll Unschuld. »Wie haben Sie es geschafft, etwas so Wunderbares für mich zu erreichen?« Der Hausherr war amüsiert. »Meine liebe Dame«, antwortete er freundlich, »nichts ist unmöglich, wenn man nur die richtigen Leute kennt. Und André Perrin kennt sie. Ihm müssen Sie danken, nicht mir.« Das Auffälligste auf den Straßen, durch die Miriam am nächsten Vormittag wanderte, war die große Zahl Verwundeter. Richmond schien eine Stadt der Verwundeten zu sein. Sie hinkten an Krücken. Sie gingen mit blutigen Verbänden um Hände, Arme und Köpfe herum. Wagen transportierten sie durch die Straßen und blieben wartend vor dem Eingang des St.-Charles-Hotels stehen, bis auf dem blanken Boden Platz für die neue Ladung gefunden war. 428
Andere Wagen brachten sie in Särgen weg. Eine Frau hielt Miriam an und bat um Geld für Milch. »Ich weiß, wo es welche gibt«, sagte sie flehend. »Eine Woche lang gab es keine, außerdem hatte ich das Geld nicht.« Miriam drückte ihr eine Münze in die Hand und ging weiter. Verzweiflung hing in der Luft wie Nebel, erzeugte ein Gefühl der Klammheit wie Nebel. Eine Frau hastete an ihr vorbei, an der Hand ein schmutziges, heulendes Kind nachziehend. Zwei Jungen prügelten sich um eine Tüte Bohnen, die auf dem Gehweg zerbarst, während sie aufeinander eindroschen. Eine Katze, deren sämtliche Knochen sich durch ihr räudiges Fell abzeichneten, wurde vor ihren Augen steif und verendete. Sie ging weiter. Das Schaufenster eines Juweliers war mit Rubinen dekoriert: Broschen, Armbänder und Colliers auf schwarzen Samtkissen. Angezogen von ihrer tiefen Glut, blieb sie einen Moment stehen und schaute. Plötzlich ertönte hinter ihr eine Stimme, die man nur als Quieken bezeichnen konnte: »Ooh, was für eine Pracht! Sag, hast du je solche Rubine gesehen? Hast du?« Das Mädchen hing am Arm eines Offiziers. Sie war eine hübsche Kleine, und er war ein hübscher Mann, zweimal so alt wie sie. Die beiden strahlten Zuversicht aus. Sie sahen aus wie Liebende. Sie traten in den Laden. Ein Stück weiter kam Miriam an einer Auslage mit Landschaftsgemälden vorbei, dann an einem Fenster mit französischen Antiquitäten und an einem mit importierter Spitze. Vor einer Buchhandlung verhielt sie den Schritt. Sie hatte so lange kein Buch gekauft! Bücher waren ihr Luxus gewesen oder, genauer gesagt, ihr großes Lebensbedürfnis. Hier nun gab es Blackwoods literarische Monatsschrift, das Edinburgh Magazine, eine Lieblingslektüre von ihr. Und sieh da! Hugos Les Mirerables auf Französisch, zum erstenmal in Amerika erhältlich! Ihre Finger tasteten nach dem Münzvorrat in ihrem Kleid, der seit dem Beginn ihrer Reise kleiner geworden 429
war. Trotzdem, argumentierte sie mit sich selber, es reichte für ein Buch. Sie ging hinein. Buchhändler waren in der Regel freundliche alte Männer, die natürlich eine Brille trugen. Dieser bildete keine Ausnahme. Als sie ihm zuschaute, wie er Les Mirerables einpackte, wurde sie von der alten vertrauten Freude und dem Verlangen erfaßt, Konversation zu machen. »Sagen Sie, ich sehe diese wunderbaren Geschäfte, so viele schöne, teure Dinge. Und andererseits die vielen Verwundeten und die zahllosen Bettler. Man fragt sich…« Der alte Mann lachte bitter. »Wie das möglich ist, fragen Sie sich? Ich frage Sie, war es in irgendeinem Krieg anders?« »Das weiß ich nicht. Ich bin nicht bewandert genug in Geschichte, um darauf zu antworten.« »Dann werde ich antworten. Nein, es war in keinem Krieg anders.« »Warum wird das gestattet? Ich sah gerade einen Mann Rubine kaufen. Ich sah einen Posten französischer Antiquitäten, soeben eingetroffen. Bringen die Schiffe solche Dinge herein? Keine Lebensmittel? Keine Medikamente?« »Natürlich hat der Kongreß die Einfuhr von Luxusgütern verboten, aber sie kommen trotzdem herein. Die ganze Zeit. Es gibt immer Leute, die sie herschaffen, und noch mehr Leute, die sie kaufen.« Langsam ging Miriam zum Haus der Hammonds zurück, ihr Buch in der Hand. Plötzlich schämte sie sich, es gekauft zu haben, wie diese Leute sich hätten schämen sollen, die Rubine kauften. Die kleine Summe, die das Buch gekostet hatte, wäre für ein hungriges Kind auf der Straße sicher besser angewendet gewesen. Sie erwog, das Buch zurückzugeben, doch dann sagte sie sich, daß der Buchhändler das Geld offensichtlich auch dringend brauchte. »Heute abend findet eine wunderschöne Theateraufführung statt, ›Die Rivalen‹.« Damit empfing Mrs. Hammond die heimkehrende Miriam. »Und anschließend ein Abendessen bei den Lloyds, die ein herrliches Haus haben! Natürlich sind Sie eingeladen.« 430
»Herzlichen Dank«, entgegnete Miriam, »aber werden Sie diesmal meine Entschuldigung annehmen?« »Ich hoffe, Sie machen sich keine Sorgen wegen eines Kleides. Ist das der Grund? Da besteht wirklich kein Problem«, versicherte ihr die Frau großzügig. »Ich kann Ihnen ein Satin-, Taft- oder Brokatkleid leihen. Sie können wählen.« »Nein, nein, Sie sind zu gütig. Aber ich bin einfach todmüde, vollkommen erschöpft.« »Das verstehe ich. Die Reise muß Sie mitgenommen haben.« Aber es war nicht die Reise. Nicht der kräftige, noch junge Körper war erschöpft, sondern die beunruhigte Seele. Am nächsten Tag erhielt Miriam den Passierschein. Immer wieder drehte sie das wunderbare dünne Fetzchen Papier in ihren Händen um – die Erlaubnis, ihren Bruder wiederzusehen. … dem Besitzer, Miriam Mendes, ist gestattet, unsere Linien zu passieren, nach Norden zu gehen und zurückzukehren. Sie hatten immer gesagt: Man muß nur überall die richtigen Leute kennen. Und André Perrin kennt sie. Zwar nicht alle, aber viele wichtige.
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D
er Verlust der Zähne hatte Davids Gesicht verändert, gab ihm von einem bestimmten Blickwinkel die eingefallenen Züge eines alten Mannes. Er war so mager, daß sich seine Wangen nach innen bogen. Miriam versuchte krampfhaft, ihn nicht allzu prüfend anzusehen, ihn ihr Entsetzen und Mitleid nicht merken zu lassen. Sie sagte sich, daß seine Wangen bei seiner Ankunft grau gewesen sein mußten. Jetzt hatten sie schon wieder ein bißchen Farbe an431
genommen. Die Augen waren klar, ein Zeichen, daß seine Kräfte langsam wiederkehrten. Tauwetter herrschte. Alle Bänke, die man auf den winterlichen Rasen vor dem Hospital gestellt hatte, waren besetzt. Über dem ausgebleichten, nassen Gras hing das Sternenbanner schlaff an seinem Mast. Stetes Tropfen, wie das Ticken eines Metronoms, klang von den Bäumen her. Die schwache Sonne wärmte angenehm, schien diesem Wiedersehen Segen zu spenden. »Du findest, daß ich wie ein Skelett aussehe. Ich werde ein ganzes Stück besser aussehen, wenn ich wieder Zähne habe«, sagte David. »Du hättest mich vor drei Monaten sehen sollen. Nein, ich bin froh, daß du mich damals nicht gesehen hast.« Sie drückte seine Hand: »Ich bin froh, daß du lebst, sonst nichts.« »Ja, und zu denken, daß ich mein Leben André Perrin verdanke! Einem Mann, den ich kaum kenne! An dem Tag, als ich ihn sah, hatte ich ganz sicher hohes Fieber, weißt du. Ich konnte nicht richtig auseinanderhalten, was Wirklichkeit und was Traum war. Dabei hatte ich das Gefühl, alles sei Wirklichkeit. Es ist schwer zu beschreiben.« Er runzelte die Stirn, versuchte sich zu erinnern. »Ja, als ich den Mann sah, wußte ich – da wußte ich, daß ich ihn schon irgendwo gesehen hatte! Er muß bei diesem ersten Mal starken Eindruck auf mich gemacht haben, findest du nicht?« Verwirrt schüttelte er den Kopf: »Man sieht im Leben so viele Gesichter! Warum sollte ich mir gerade seines gemerkt haben?« Sie hätte sagen können: Weil es ein außergewöhnliches Gesicht ist; man erinnert sich daran wie an das Aufblitzen und das Feuer eines außergewöhnlichen Schmuckstücks am Hals einer Fremden. Weil es leidenschaftlich, lebendig und nie müde ist… Noch immer verwirrt, fragte David: »Warum hat sich dieser Mann solche Mühe für mich gemacht? Gerade für mich und einzig für mich? Das begreife ich nicht.« Sie errötete. Es ärgerte sie, daß sie die heiße Röte nicht zu beherrschen vermochte, die aus ihren Achselhöhlen aufstieg, ihren Hals 432
überflutete und in ihre Wangen strömte. Davids scharfer, neugieriger Blick machte sie noch verlegener. Schließlich murmelte sie: »Du weißt nicht Bescheid über André und mich.« »Ach so«, sagte er, »ach so.« Er schaute weg, an Miriam vorbei, zu den anderen Bänken, wo andere Paare und Familienangehörige einander ihre Freuden und Kümmernisse enthüllten. Dann lenkte er seinen Blick zurück und richtete ihn bewußt nicht auf das Gesicht seiner Schwester, sondern auf ihre Hände, die sie nervös im Schoß verkrampft hatte. »Das also war es! Natürlich, deine Ehe ging nicht gut… Ich hatte immer das Gefühl, daß da noch etwas sei, und ich fragte dich auch mehr als einmal danach, erinnerst du dich? Aber du wolltest es mir nicht sagen.« »Bist du böse?« »Böse? Ich habe kein Recht, dir zu befehlen, wen du lieben oder hassen sollst. Ich kenne den Mann nicht einmal. Für mich ist er nur der Mann, der mir das Leben gerettet hat. Was kann man über jemand sagen, der einem das Leben rettet? Trotzdem, ich würde ihn gern von Angesicht zu Angesicht sehen.« Nun schaute er sie an, mit seinem alten Lächeln – weise, neugierig und sanft. »Erzähl mir, wie er ist.« Warum war es so schwer, Worte für etwas zu finden, das seit langem jeden verborgenen Winkel ihres Geistes ausfüllte? Sie konnte nur stammeln: »Er ist so – er liebt mich. Ich bin – war glücklich mit ihm.« Bei dem Gedanken, daß sich David unter dem, was sie mit ›glücklich‹ meinte, das Bett in dem weißen Zimmer von einst vorstellen könne, stieg ihr eine zweite Blutwelle ins Gesicht. »Erzähl mir von ihm«, bat David erneut. Sein gütiges Drängen machte es ihr leichter zu antworten: »Ich möchte ihm Gerechtigkeit widerfahren lassen… Erstens einmal ist er sehr großzügig! Er liebt es, großzügig zu sein, wie du an dem siehst, was er für dich getan hat. In ihm ist etwas Weiches, Sanf433
tes, sogar in der Art, wie er spricht… In seiner Gegenwart ist man heiter, freut man sich des Lebens! Am Morgen aufzuwachen und zu wissen, daß man ihn an diesem Tag sehen wird…« Leidenschaftlich schlug sie die Hände zusammen. »Es war so anders, eine solche Abwechslung für mich, David, du kannst das gar nicht wissen! So geliebt und so gepriesen zu werden! Verstehst du mich?« »Ja, meine Liebe. Ja.« »Mir ist jetzt viel wohler«, sagte Miriam ernst, »nachdem du Bescheid weißt! Es hat mich immer gestört, daß ich etwas so Wichtiges vor dir geheimhielt.« Davids Blick war nachdenklich, Sorgenfalten zerfurchten seine Stirn. Doch er fragte ruhig: »Was soll nun werden? Was wirst du tun? Du wirst etwas tun müssen, so oder so.« »Wir hoffen, wir dachten… André glaubt, daß Marie Claire eine Scheidung wünscht.« »Seltsamer Zufall, vor kurzem hat jemand ihren Namen erwähnt. Ein Arzt, dessen Bekanntschaft ich machte, hat sie in Paris in einem Konzert gehört. Er sagt, sie habe sich einen Namen erworben und sei großartig.« »Wie seid ihr auf das Thema gekommen?« »Er wußte, daß ich eine Zeitlang in New Orleans gelebt hatte, und wie es die Leute immer tun, fragte er mich, ob ich diesen oder jenen Stadtbewohner zufällig kenne. Dabei erwähnte er auch die bekannte Sängerin.« Also hatte Marie Claire, diese seltsame, verschlossene kleine Person mit dem Ehrgeiz, der immer zu groß für sie schien, doch recht gehabt in bezug auf sich selbst! Miriam empfand plötzlich eine seltsame Bewunderung, eine neue Achtung vor der Frau, mit der ihr eigenes Leben auf so eigenartige Weise verbunden war. »Ich sehe sie noch heute deutlich, obwohl ich sie nicht sonderlich gut kannte. Ihr Bild steht klarer vor mir als das der Mädchen, mit denen ich jeden Tag in der Schule saß. Sie wirkte so teilnahmslos und hatte doch diesen gewaltigen Ehrgeiz in sich.« 434
»Das Äußere und das Innere sind zwei verschiedene Dinge«, sagte David düster. »Man sollte sich das merken… Was mich angeht«, fuhr er fort, abrupt das Thema wechselnd, »ich sehe auch ein Gesicht, Pelagies Gesicht. Ich werde das Bild nicht los, wie sie ausgesehen haben muß, als man ihr Sylvains Tod und die Art seines Sterbens mitteilte.« Er schwieg ein paar Sekunden. »Wie geht es Pelagie?« »Sie ist bei uns, wie ich dir schon erzählt habe. Hält sich tapfer. Frauen tun das gewöhnlich, nicht wahr? Sogar die Schüchternen raffen sich nach einer Weile auf, wenn sie müssen. Es war schrecklich. Alles haben sie verloren, ihr prächtiges Haus, ein richtiges Schatzhaus, wurde ein Raub der Flammen. Aber man sollte sich schämen«, sagte sie, »von Häusern und solchen Dingen zu reden nach dem, was du durchgemacht hast. Und was alle diese Männer durchmachen mußten«, fügte sie leise hinzu, als ein Verwundeter auf einer Bahre vorbeigetragen wurde. »Du hast auch mehr als deinen Teil zu tragen. Die Art, wie Eugene starb – ein solches Ende hatte er nicht verdient.« »Nein, das hatte er wahrlich nicht verdient«, sagte Miriam ruhig. Eine Weile schwiegen beide. Dann fragte David: »Und Papa?« »Papa geht es gut. Ich glaube nicht, daß er sich klarmacht, was mit seinem gelobten Land passiert ist.« Sie schaute über das Gras auf eine Schar Tauben, die vor einem Soldaten im Rollstuhl Krumen vom Boden pickten. Plötzlich fiel ihr ein, daß man ihr in Richmond erzählt hatte, in den Parks gebe es keine Tauben mehr, die seien alle verspeist worden. »Ich habe mich noch gar nicht nach den wichtigsten Menschen von allen erkundigt, meinen Zwillingen. Ich denke die ganze Zeit über sie nach, weißt du. Wie lange ich auch lebe oder was ich auch tue, sie auf die Welt gebracht zu haben, das wird immer mein größter Triumph bleiben, glaube ich.« »Angelique wird eine Schönheit! Manchmal stelle ich mir vor, daß sie wie unsere Mutter aussieht, sie gleicht weder mir noch Eugene. 435
Und mein Junge – ach, ich habe solche Angst, daß sie ihn holen, wenn dieser Krieg noch länger dauert.« »Er wird nicht mehr lange dauern. Er ist fast zu Ende.« Wild fuhr er fort: »Ich glaube, wenn ich gewußt hätte, was Krieg wirklich bedeutet, hätte ich die Finger von allem gelassen.« Miriam lächelte: »Hättest du nicht.« »Sag mal, weißt du etwas von Gabriel?« »Seit fast einem Jahr hat niemand etwas von ihm gehört. Wir wissen nicht, ob er tot oder am Leben ist. Rosa hat mich gebeten, in Richmond zu versuchen, etwas über ihn in Erfahrung zu bringen. Nach allen soll ich suchen, auch nach Rosas Henry und Pelagies Söhnen. Aber das ist, als suche man eine Stecknadel im Heuhaufen.« »Vielleicht nicht ganz so hoffnungslos. Seit einiger Zeit werden Gefangene ausgetauscht. Wenn du wieder in Richmond bist, könntest du im Heeresamt nachfragen. Weißt du, bei welcher Einheit er war?« Er brauchte nicht zu sagen, daß er Gabriel meinte; selbstverständlich war Gabriel derjenige, um den er sich am meisten sorgte. »Beim Zehnten Louisiana.« Die Luft hatte nach Hitze und Staub gerochen damals, als das Zehnte Louisiana ausgerückt war. Der irre Lärm hatte ihr im Kopf gehämmert: Musik einer Blaskapelle, Kindergeschrei, Gelächter von Betrunkenen, Weinen und Schluchzen sich anklammernder Frauen. Bei der Abfahrt des Zuges hatte er auf dem Trittbrett gestanden, den Arm gehoben und ihnen zum Abschied zugewinkt, aber sein Blick war auf sie gerichtet gewesen. Sie sah ihn noch immer deutlich. »Ihm war schon die bloße Vorstellung von Kampf verhaßt«, sagte sie. »Und er hätte nicht einrücken müssen. Er hätte in der Regierung bleiben können. Aber er ging ins Feld. Ich verstehe das nicht.« »Natürlich verstehst du das! Es ist gar nicht schwer. Er hatte immer seine Überzeugungen und handelte nach ihnen, dafür liebe ich ihn. Ich hoffe nur, daß er, falls er in Gefangenschaft geraten ist, ein 436
besseres Lager erwischt hat als ich, daß es dort wenigstens Medikamente und Morphium für die Sterbenden gibt.« Die Erinnerung an das, was er durchgemacht hatte, schien wieder aufgeflackert zu sein, denn Davids Gesicht verzog sich zu einer Schmerzgrimasse. Bei der Erwähnung der Medikamente fiel ihr etwas ein: »Neulich in Richmond bei dem Diner wurde über Frauen gesprochen, Besucherinnen wie ich, die unter ihren Kleidern Medikamente mitbrachten. Es ist gefährlich, weil einen die Unionisten durchsuchen, aber manche kommen durch. Ich dachte also, daß ich…« »Was?!« unterbrach David sie. »Du willst für die Konföderierten schmuggeln? Meine Schwester eine Anhängerin der Südstaaten?« »Ist dir bekannt«, entgegnete sie ungehalten, – »daß die Männer in der konföderierten Armee zu einem vollen Drittel überhaupt keine Sklavenbesitzer sind? Ja, selbst Gabriel… Ich weiß nicht, wie du so etwas sagen kannst.« »Komm, ich wollte dich nur hänseln. Mir ist durchaus bekannt, daß großes Durcheinander herrscht. Rabbi Raphalls Sohn – erinnerst du dich an Rabbi Raphall? Sein Sohn trat in die Unionsarmee ein! Und verlor in Gettysburg einen Arm. Aber sag, meinst du das ernst«, flüsterte er, »daß du Medikamente mitnehmen willst?« »Ja.« David pfiff. »Es ist sehr gefährlich, Miriam.« Sie wollte es trotzdem tun. Sie hatte das Verlangen, möglicherweise ein leichtsinniges Verlangen, wenigstens einen kleinen Beitrag zur Korrektur des überwältigenden Chaos dieses Krieges zu leisten. »Gewöhnlich näht eine Dame die Packung in ihren Bischof ein«, sagte sie nachdenklich. »Ihren was?« »Bischof. Das kleine Seidenkissen, das man hinten am Gürtel unter dem Kleid trägt. Es hebt die Unterröcke an.« »Ich kann dir jederzeit in der Apotheke etwas besorgen, aber es ist gefährlich«, sagte er. 437
»Ich weiß. Ich habe gehört, daß die Unionisten mit einer Nadel in den Bischof stechen, um zu prüfen, ob dort etwas versteckt ist. Darum dachte ich, daß ich mir vor der Rückfahrt einen rundherum mit Blumen dekorierten Hut kaufe und die Sachen dort hineinstecke. Ach«, rief sie, »wenn du sehen könntest, wie es in Richmond ist! Solcher Hunger, solche Krankheiten. Ich sehe immer noch die Frau, die mich um Geld für Milch bat. Und die Verwundeten, die im Hotel auf dem schmutzigen, kalten Boden liegen. Was bedeuten denn da Wörter wie ›Feind‹, ›Staatenrechte‹, ›Schmuggel‹? Sie bedeuten nichts. Jedenfalls nicht für mich.« »Sie streckt ihre Hände aus nach den Bedürftigen«, sagte David, lächelte und küßte sie. In Richmond war es zu Unruhen gekommen. Hungernde Frauen, provoziert von den üppigen Auslagen, die Miriam so beunruhigt hatten, waren mit Äxten losgezogen, hatten in ihrer Verzweiflung zahlreiche Schaufenster eingeschlagen und sich nur durch die Androhung zerstreuen lassen, die Regierung werde Soldaten einsetzen. Andere Frauen hatten aus andersgearteter Verzweiflung begonnen, in den Reihen der ausgetauschten Gefangenen nach ihren Männern und Söhnen zu suchen. »Während Sie weg waren, ist ein Transport eingetroffen«, sagte Mr. Hammond zu Miriam. »Man hat die Leute von Elmira mit dem Zug nach Baltimore gebracht und dort auf ein Schiff verladen. Eine erschütternde Greueltat. Wie ich höre, waren sogar die UnionsÄrzte schockiert über den schrecklichen Zustand, in dem sich viele befinden. Zu alledem sind sie auf dem Weg nach Süden auch noch seekrank geworden.« »Ich weiß, es sind Tausende«, sagte Miriam, »aber trotz der geringen Chance möchte ich mich im Heeresamt erkundigen. Mein Bruder sagt, es bestünde durchaus die Möglichkeit, herauszufinden, ob einer der Männer, die ich suche, ausgetauscht worden ist.« »Nicht notwendig, daß Sie hingehen. Ich bin jeden Tag dort, und ich weiß, wen ich fragen muß. Nennen Sie mir nur die Namen.« 438
Tatsächlich kam er schon am gleichen Abend mit einer guten Nachricht heim: »Einen habe ich gefunden. Gabriel Carvalho. Er ist nicht im Hospital. Offenbar ist er nicht krank. Man hat ihn in einer Pension einquartiert. Hier haben Sie die Adresse.« Er war mager, aber unversehrt. Man hatte ihm bereits eine neue Uniform gegeben, deren Eleganz in traurigem Kontrast zu dem vernachlässigten, schäbigen Zimmer stand. In diesem Raum eines einst reichen Hauses, aus dem längst jede Vornehmheit verschwunden war, saßen die beiden vor einem ungeputzten Fenster, aus dem man in eine schmutzige Gasse und einen Hof voller Unkraut sah. »Du lächelst«, sagte Gabriel. Aus irgendeinem Grund mußte Miriam an Rosas Belter-Salon mit den auf blauem Satin fliegenden goldenen Bienen denken. Und die Ironie, daß sie sich gerade hier daran erinnerte, ließ ihre Mundwinkel amüsiert nach oben gehen. »Ich dachte an Rosas Salon, wo wir zusammen die Bücher durchgingen. Und jetzt das hier!« »Ihr letzter Brief – ich bekam ihn vor mehr als einem Jahr – war voll von deiner Güte ihr gegenüber.« »Sie wird alles über dich wissen wollen, wenn ich zurückkomme. Du hast mir noch nicht viel erzählt.« Er zuckte leicht die Achseln, als wollte er seine Leiden herunterspielen: »Es gibt nicht viel zu erzählen. Meine Verwundung ist geheilt, und ich habe Elmira überlebt. Dort sterben so viele, etwa ein Drittel, daß ich fast Schuldgefühle habe, weil ich am Leben bin. Ein Viertel hat Skorbut. Ratten, Kälte, Blattern, der Dreck – aber was für einen Sinn hat es, Rosa das alles zu erzählen?« »Sie wird mich fragen.« Also fuhr Gabriel fort, mit der tonlosen Stimme, die unerträgliche Gefühle verbirgt: »Wir bekamen zwei Mahlzeiten am Tag. Wurmige Kekse und Kaffee zum Frühstück. Einen Napf Bohnensuppe und wieder Kekse zum 439
Abendessen. Weißt du, ich glaube, wenn man später einmal endgültig Bilanz zieht, wird sich herausstellen, daß mehr Männer an Krankheiten starben als auf dem Schlachtfeld. Ich zumindest bin davon überzeugt.« »Es klingt wie das, was David in Georgia durchgemacht hat, nur daß es dort die Hitze war. Vielleicht war das sogar noch schlimmer, ich weiß es nicht.« »Keine Seite hat ein Monopol auf Grausamkeit. Gott sei Dank, daß er herauskam, bevor es zu spät war. Ich bin sicher«, fügte er liebevoll hinzu, »daß er seine Überzeugungen trotzdem behalten hat.« Aus irgendeinem Grund, ohne zu wissen, warum, erzählte sie: »Weißt du, daß André Perrin ihn dort herausgeholt hat? Es war eine besondere Glanztat, weil es damals noch keinen Gefangenenaustausch gab.« Einen Moment lang dachte sie, er habe nicht zugehört. Sie folgte seinem Blick. Auf der Gasse unten marschierte ein Militärbegräbniszug vorbei. Das reiterlose Pferd, die Steigbügel umgedreht, schritt zu den ernsten, gedämpften Tönen von Trommeln langsam dahin. Gabriel verfolgte den Zug bis zur Ecke, dann schaute er Miriam an: »Ein einflußreicher Mann. Welches Glück für David.« Mit diesem Kommentar wies er sie fraglos zurecht. Ein dummer, unverzeihlicher Fehler von ihr, André zu erwähnen. Ein grausamer Fehler. Sie hatte den Besuch verdorben. Ich wünschte, ich könnte ihm mein Herz ausschütten, dachte sie. Aber sie wußte nicht einmal, was sie hätte sagen sollen, wäre es möglich gewesen, die Hindernisse aus dem Weg zu räumen. Diesen Mann kannte man zwar, aber immer blieb eine Distanz, ein Raum um ihn, der einen fernhielt. Oder hielt er vielleicht nur sie fern? Was würde sie finden, würde er sozusagen die Tür aufmachen und sie einlassen? Diese Frage beantwortete sie gleich selbst: Er hatte die Tür längst aufgemacht. Sie war diejenige, die sie wieder geschlossen hatte, was also konnte sie von ihm erwarten? Und jetzt hatte sie ihn so grob an André erinnert, an den anderen. Doch sofort kam ihr auch die 440
Antwort darauf: Es ist besser, ehrlich zu sein. Gabriel ist der erste, der möchte, daß du ehrlich bist. Er sagte förmlich: »Du siehst trotz allem gut aus.« Sie betrachtete ihre rissigen Hände und bewegte die Spitzen ihrer hausgemachten Schuhe, die unter dem Rocksaum hervorlugten. »Mrs. Hammonds Kleid läßt mich besser aussehen.« »Hammond? Wohnst du bei ihnen?« »Ja, sie sind sehr gastfreundlich. In diesem Haus ist es, als sei die Zeit zurückgedreht worden«, plauderte sie nervös. »Alles ist wie früher, sie haben alles nur Denkbare zum Essen, und es herrscht eine Heiterkeit und Fröhlichkeit, du kannst dir das nicht vorstellen.« »O doch, das kann ich, sehr gut sogar«, sagte Gabriel. »Wenn Leute wie sie genug frisches Fleisch und – und andere Dinge haben, warum gibt es dann in den Läden nichts mehr?« »Ganz einfach. Weil es einträglicher ist, Alkohol und Luxusgüter hereinzubringen.« Der Champagner heute abend ist ein Geschenk von André Perrin. Nein, nein, es mußte noch eine andere Ursache geben. Ein Schauer unerklärlicher Angst überlief Miriam, und sie schüttelte den Kopf, als wollte sie diese Angst abschütteln. Gabriel stand auf. Er war älter geworden. Von seiner Nase verliefen zwei Linien zum Mund, an die sie sich nicht erinnerte; vermutlich würden sie sich auffüllen, wenn er wieder genug zu essen bekam. Doch er war nach wie vor der beeindruckende, distanzierte und korrekte Mann, als den sie ihn im Gedächtnis hatte. »Du wirst rechtzeitig zum Passahfest zu Hause sein, denke ich«, sagte Gabriel. Er machte Konversation, als sei er sich der kühlen Atmosphäre im Zimmer bewußt geworden und wolle sie verbessern. »Ja, Rosa und ich werden versuchen, uns den Festtag so gut wie möglich zu gestalten.« »Ich dachte voriges Jahr in Elmira daran. Wenn man hungert, erinnert man sich an Festtage, an die Art, wie der Tisch gedeckt wird, und sogar an den Geruch der Speisen. Vor zwei Jahren haben wir 441
in West Virginia in den Bergen gekämpft. Wir bekamen Eier und Hühner von einem Farmer und brieten sie im Freien über einem Feuer. General Lee schickte mit einem Versorgungszug Matzen und Gebetbücher; wir ritten dreißig Meilen zum Depot, um sie abzuholen. Ein großer, guter Mann, General Lee. Eine tragische Gestalt, in der Seele gespalten. Ich begreife, warum.« Der kurze Nachmittag verflog. Dunstiges Zwielicht kroch in das Zimmer und verhüllte die Flecken auf dem Teppich. Gabriel hatte sich in sich selbst zurückgezogen, schien mit sich selbst zu sprechen, als sei es ihm gleichgültig, ob sie zuhörte oder hören wollte, was er sagte. »Ja, ich verstehe es. In unserem südlichen Land hier ist soviel Schönheit! Die Kiefernhügel, die sanften Flüsse, die Art, wie der Frühling kommt. Die alten Häuser und die Liebenswürdigkeit. Zweihundert Jahre war es unser. Wie kann ein Mensch dem den Rücken kehren? Und doch – die Staatenrechte sind überholt, das stimmt, das sehe ich auch. Es muß eine neue Zeit kommen. Mit einem Volk.« »Glaubst du das jetzt?« »Ja, das glaube ich.« »Und was wirst du im Hinblick darauf tun?« »Tun?« wiederholte Gabriel verständnislos. »Mit dir selbst, meine ich. Jetzt. Nächste Woche.« »Nächste Woche? Ich gehe doch zu meinem Regiment zurück«, antwortete er, als überrasche ihn die Frage. Noch überraschter war nun Miriam: »Nach dem, was du mir eben gesagt hast?« »Selbstverständlich. Wenn man etwas anfängt, muß man es auch fertig machen, nicht wahr?« »Ich weiß nicht, ob man das muß, Gabriel.« Eine Last legte sich ihr aufs Herz. »Aber ich weiß es. Es gibt Zeiten, in denen man sich abwenden und weggehen kann, aber jetzt ist keine solche Zeit.«
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Mit einemmal verstand sie ihn. Sie begriff, daß das schlicht eine Frage des Ehrgefühls war: Man verließ ein sinkendes Schiff nicht. Ehrgefühl. Ohne es zu wollen, stieß sie einen kleinen Seufzer aus. »Meinst du, das sei eine Art theatralischer großer Geste? Es täte mir leid, wenn du das von mir dächtest.« »Das könnte ich nie von dir denken. Du bist der letzte, von dem man so etwas denken würde.« »Da bin ich froh. Weißt du, ich zog bei Kriegsbeginn mit Lee aus, ich habe mein Wort gegeben. Darum werde ich jetzt bleiben und schauen, was passiert.« »Du weißt, was passieren wird.« Sie dachte: Wenn sie dich töten, was für eine Vergeudung! Zu denken, daß eine einzige Kugel, der Bruchteil eines Augenblicks all dieses Wissen, all diese ruhige Kraft auslöschen kann! Doch sie zwang sich zu einem kleinen Lächeln, in der Absicht, mit irgendeinem glatten Scherzwort von ihm wegzugehen, ihren Besuch in anständigem Stil zu beenden. Zum zweitenmal an diesem Nachmittag fragte er sie, warum sie lächle. »Ach«, sagte sie und sprach das erstbeste aus, das ihr in den Sinn kam, »ich denke an Gretel.« »An welche?« »An beide, glaube ich. Du hast mir in gewisser Weise beide geschenkt. Aber die zweite ist jetzt eine alte Dame. Sie schläft die meiste Zeit. Ich hoffe, daß sie noch lebt, wenn ich heimkomme.« Beide waren aufgestanden. Zögernd sahen sie einander an, gefangen in einem dieser von Unsicherheiten geprägten Abschiedsmomente, in denen keiner schroff erscheinen will. »Gabriel, sag mir etwas. Sag mir, daß du nicht böse bist auf mich. Ich habe das Gefühl, daß du sehr weit weg bist! Ich möchte dich nicht so verlassen.« Er wurde ganz still, nicht nur still, sondern starr, der Gegenwart entrückt. Von der Furcht erfüllt, ihn jetzt wirklich böse gemacht zu haben, wartete sie. 443
Er streckte die Hand aus, ergriff die ihre leicht, drückte sie und ließ sie schnell wieder los. »Du hat recht. Du hast mich durchschaut. Ich habe mich verschlossen. Aber jetzt ist es vorbei.« Ein leidenschaftlicher Ausdruck von großer Schönheit erschien kurz auf seinem Gesicht. »Bitte sag meiner Schwester, daß ein Brief unterwegs ist. Da ich jetzt kein Gefangener mehr bin, müßte die Post eigentlich zuverlässiger funktionieren.« »Weißt du, daß wir kein Schreibpapier haben? Wir drehen alte Kuverts um und nutzen die leeren Seiten von Büchern. Aber Rosa wird bestimmt etwas finden, um dir zu schreiben, darauf kannst du dich verlassen.« »Und du? Du hast mir kein einziges Mal geschrieben, seit der Krieg begann.« Das stimmte. Warum hatte sie ihm nicht geschrieben? Weil er sie liebte und weil sie nicht wußte, was sie ihm schreiben sollte. »Warum hast du mir nie geschrieben«, drängte er. »War es wegen André? Wegen ihm?« »Ich weiß es nicht«, flüsterte sie und schaute zu Boden. »Du liebst ihn immer noch.« »Ja.« Der Klang von Andrés Namen rief in ihr einen Ansturm von Gefühlen hervor, schmerzlichen und wirren. Vor ein paar Tagen bei David hatte ihr inneres Auge ein ganz klares Bild von Andrés heiterem Gesicht gesehen; sie hatte in ihrem inneren Ohr sogar seine Stimme gehört. Hier war beides plötzlich weg, und sie konnte es nicht zurückrufen; alles war undeutlich und furchterregend. Warum bloß? »Ich beunruhige dich. Ich habe kein Recht dazu. Wenn du ihn liebst, ist das eben so. Verzeih mir. Ich wollte nur Gewißheit haben, wollte nur wissen, ob vielleicht eine Chance für mich besteht.« Bevor ich sterbe, meinte er.
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Ohne zu denken, legte sie den Kopf an seine Schulter. Wie tröstlich sie war, die Schulter dieses Mannes. Seine Arme umschlossen sie, und sie spürte seine Wange auf ihrem Haar. Scheu erfaßte sie, eine seltsame Scheu. Sie hörte ihn zweimal, dreimal sagen: »Gib auf dich acht; sei glücklich; ich liebe dich so…« Sie löste sich von ihm. »Ja, geh«, sagte er schnell, »geh jetzt nach Hause.« »Nach Hause?« »Ganz nach Hause, meine ich. Verlasse Richmond. Es ist wahrscheinlich bald nicht mehr sicher. Ich möchte wissen, daß du auf dem Heimweg bist.« Es war keine Vereinigung gewesen, aber eine Berührung; nein, es war mehr gewesen als eine Berührung, am ehesten etwas, das in einem Traum passiert und an das man sich, wie an einen Traum, am Morgen nur halb erinnert. Doch auf dem ganzen Rückweg zum Haus der Hammonds und auf der ganzen langen Heimfahrt blieb es bei ihr, im Wechsel strömte es von ihr weg und zu ihr hin, mit einer einzigen langen Wehklage.
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eine Hoffnung bestand mehr im Lande Louisiana. Gouverneur Aiken befand sich zwar noch in der Hauptstadt Shreveport, aber die Unionstruppen hatten sich fast über den gesamten Staat ausgebreitet. Beau Jardin lag auf einer kleinen, ständig schrumpfenden konföderierten Insel mitten in einem ansteigenden Meer. Auf den Straßen drängten sich Deserteure, die nicht mehr kämpfen wollten. Drei davon saßen zu Miriams Überraschung in der Küche, als sie nach Hause kam. Zu ihrer noch größeren Überraschung sah sie, daß die Küchenhilfen, die geschäftig mit den überm Feuer hängenden Eisentöpfen hantierten, niemand anderer waren als 445
Fanny und die Damen des Hauses, Eulalie, Rosa, Pelagie und Angelique. Keine von ihnen hatte nach Miriams Wissen je im Leben mehr getan, als kurz zur Küchentür hineingeschaut. »Die Köchin ist weg«, sagte Fanny, noch bevor Miriam die Frage stellen konnte, die ihr auf der Zunge lag. Angelique sagte: »Gehen Sie hinein, Mama. Großpapa muß Ihnen etwas sagen.« Und so erfuhr Miriam von Emmas Tod. »Es war Lungenentzündung.« Ferdinand wirkte verwirrt und irgendwie kleiner als zuvor. »Die Kälte hier war schrecklich. Wir konnten natürlich nicht über die Linien, um ihren Leichnam nach New Orleans zu bringen, aber die Diener sind gefahren, Sisyphus mit Blaise und ein paar junge Feldarbeiter. Sie haben Emma in der Familiengruft zur letzten Ruhe gebettet. Emma hat dir ihren Sternsaphir hinterlassen, Miriam. Und sie hat mir ein Testament diktiert. Eine Kopie liegt auf ihrem Schreibtisch.« Lange Minuten stand Miriam in Emmas Zimmer, bevor sie es über sich brachte, das Dokument auf dem kleinen Schreibtisch zu lesen. Alle Gegenstände in den Räumen kündeten von der Bewohnerin: die vielen spitzenbesetzten Kissen auf dem Bett; goldgerahmte Pastellzeichnungen von allen ihren Kindern als Babys; ihr Frisierumhang, der an der Tür hing. Halb unbewußt strich Miriam eine Rüsche des Umhangs glatt, berührte sie so sanft, als streiche sie über Emmas weichen, gepuderten Arm. Dank einer neuen Einsicht, die nur die Jahre vermitteln können, erkannte sie erstmals das volle Ausmaß der Liebe, mit der Emma sie als Kind in ihrem Haus aufgenommen hatte. Sie lächelte leicht, als ihr die vielen mütterlichen Hinweise über Kleidung, Manieren und Stammbäume einfielen. Sie war mir eine Mutter, dachte Miriam, ohne Zweifel eine ganz andere als jene, die mich zur Welt brachte, aber auf ihre Weise trotzdem eine Mutter, und ich habe sie geliebt. Plötzlich wirkte das Zimmer trotz seiner ordentlichen Überfülltheit sehr leer. Erst nach ein paar Minuten hatte sie sich soweit gefaßt, daß sie das Testament lesen konnte. In Ferdinands spitzer deutscher Schrift 446
geschrieben, verfügte es über die wenigen Besitztümer, die Emma Raphael, geborene Duelos, noch geblieben waren. Ich weiß, daß Sisyphus, Maxim und Chanute mir nicht mehr gehören, seit Mr. Eugene Mendes sie von den Gläubigern kaufte, um sie meiner Familie zu erhalten. Da ich nicht über sie bestimmen kann, bitte ich, bitte ich aus ganzem Herzen, daß meine Tochter Miriam Mendes sie bei sich behält, solange sie leben, und sie nicht an Fremde veräußert. Sie leisten treue Dienste, und ich betrachte sie als Teil meiner Familie. Ich konnte einen Beutel Goldmünzen retten und bitte des weiteren darum, daß der Inhalt unter den drei Vorgenannten aufgeteilt wird, den größeren Anteil soll Sisyphus erhalten, weil er der älteste ist und am längsten im Dienst meiner Familie steht. Dieses von Güte und Menschlichkeit kündende Dokument, das bald keine Bedeutung oder Gültigkeit mehr haben würde, ging Miriam ans Herz. Vielleicht besser für Emma, daß sie gestorben war! Schon jetzt war das Leben für sie zu hart gewesen, und sie hatte es nicht mehr verstehen können. Das Leben jedoch, das ihnen bevorstand, hätte sie wohl kaum ertragen. Behutsam legte Miriam das Blatt in die Schreibtischschublade. Draußen sproß der Frühling aus der Erde wie jedes Jahr. Die ferne Linie des Waldes war mit hellem Grün durchsetzt, und im Mittelgrund auf dem Indianerhügel hielt der Tulpenbaum, der Eugenes Grab beschattete, seine seidigen gelben Becher in die Höhe. Der Frühling scherte sich nicht um die Leiden oder Freuden des Menschen oder um die finsteren Unruhen seiner Kriege. Fanny öffnete die Tür und brachte einen Stapel sauberer Wäsche herein. »Wie ich sehe, Fanny, seid ihr sehr gut ohne mich zurechtgekommen«, sagte Miriam in dem Bemühen, sich wieder auf praktische Dinge zu konzentrieren. »O ja, alle waren fleißig, Miß Miriam. Miß Pelagie, sie ist die gleiche wie immer, sie schneidet Babykleider für die neuen Babys in 447
den Hütten zu und teilt Medizin aus und ist jede Minute beschäftigt. Alle lieben Miß Pelagie. Und Miß Angelique, sie ist erwachsen geworden, und sie lernt auch. Miß Eulalie unterrichtet sie.« »Miß Eulalie unterrichtet sie?« »O ja, die beiden machen Sarsaparillatee, um jetzt im Frühling das Blut zu reinigen. Und sie machen Färbemittel, blaues aus Indigo und rotes aus Kermesbeerensaft.« »Ich wußte nicht, daß Miß Eulalie so etwas kann. Woher sie wohl…« Fanny beantwortete die nur halb ausgesprochene Frage: »Miß Eulalie sagt, sie hat das zu Hause gelernt. Hat den Dienstboten zugeschaut, sagt sie.« Ja, so mußte es gewesen sein: Ein einsames Kind, das herumstand und beobachtete, nicht in den Salons, wo kleine Mädchen in ihren Rüschenkleidern hübsch zu sein hatten, sondern im verborgenen, an den Hintertüren, wo sich keiner um sie kümmerte. »Nun denn«, sagte Miriam und machte ein heiteres Gesicht, »es ist schön, daß meine Tochter lernt.« Wir alle waren viel zu lange nur dekorative Zierde, dachte sie, sprach es aber nicht aus. »Ich muß Miß Eulalie danken«, sagte sie. »Sie arbeitet wirklich hart. Strickt Socken und andere Sachen für die Soldaten. Auch nachts, bis ihr die Augen weh tun.« »Es klingt so, als ob ihr alle bestens miteinander ausgekommen wärt.« Fanny schnitt eine Grimasse: »Na ja, die meiste Zeit. Natürlich ist Miß Eulalie – na, Sie wissen ja, Miß Miriam, wie sie ist. Aber sie ist besser als früher.« »Freut mich, das zu hören.« »Ich glaube, sie fühlt sich gefragt«, erklärte Fanny. Das stimmte vermutlich. Zum erstenmal in ihrem Leben wurde Eulalie gebraucht. Ich verstehe offenbar nicht soviel von Menschen, wie ich meinte, dachte Miriam, nachdem Fanny das Zimmer verlassen hatte. Das sieht man schon daran, wie Eulalie mich überrascht! Und wie steht es mit den Sklaven? Hätten sie sich erhoben, während die Männer 448
alle weg waren, an der Front, dann wären die Konföderierten Staaten zusammengebrochen. Ganz ohne Zweifel. Aber sie hatten sich ruhig verhalten. Pelagie schrieb diese Tatsache, ohne unfreundlich sein zu wollen, ihrem Unterlegenheitsgefühl und ihrer mangelnden Intelligenz zu. Andere Menschen, auch Miriam selbst, hatten die Treue der Schwarzen für eine Maske gehalten und gemeint, die Aufstände würden schon noch kommen. Ein Irrtum, wie sich zeigte. Nein, ich bin in Wahrheit gar nicht erpicht darauf, ins Innere anderer Menschen zu sehen. Ich fürchte, daß ich nur arge Schwäche oder Unvollkommenheit zu sehen bekäme. Richmond fiel. Endlich kam ein Brief von André, in Richmond kurz vor dem Fall der Stadt aufgegeben. Miriams Finger öffneten ihn nervös, während ihr das Herz dumpf in den Ohren schlug. Ihr Herz benahm sich, als fürchte es etwas. »Ich werde bald wieder nach Louisiana kommen. Ich habe Neuigkeiten für Dich. O Miriam, ich kann es gar nicht erwarten.« Die Handschrift war groß und kühn und befahl Miriam, sie noch einmal zu lesen. Miriam las die wenigen Worte ein halbes dutzendmal, noch immer das dumpfe Pochen in den Ohren. Schließlich las sie weiter: »Jefferson Davis sagt, der Verlust Richmonds sei keine Katastrophe, die mutlos machen müsse. Die Armee ist beweglich und kann weiter zuschlagen. Es heißt, daß Lee nach Danville zurückweichen will, um sich mit Johnston zu vereinigen, daß er dann der Bahnlinie folgen und den Appomatox River überqueren will, aber ich glaube nicht, daß er das schafft.« Dieser Pessimismus, der so gar nicht zu André paßte, hallte ihr in den Ohren wie eine Glocke des Jüngsten Gerichts. Ihre traurige Vorahnung verwunderte sie. Schließlich hatte sie doch die Niederlage 449
der Konföderierten gewollt und erwartet! Diese Niederlage war notwendig. Und doch empfand sie großes Mitleid und Bedauern. »Ich glaube nicht, daß er das schafft.« Er hatte es nicht geschafft. Andrés Brief war erst nach Lees Kapitulation eingetroffen. Miriam hielt ihn einige Sekunden nachdenklich in der Hand, legte ihn dann weg und griff wieder nach der Zeitung. »Männer«, sagte Lee, »wir haben in diesem Krieg zusammen gekämpft. Ich habe mein Bestes für euch getan. Mein Herz ist zu voll, als daß ich mehr sagen könnte.« Sie las, wie Lee für seine Männer die Erlaubnis erbeten hatte, ihre Pferde mit nach Hause zu nehmen, die sie zum Pflügen brauchten, und wie Grant zugestimmt hatte; sie las, wie sich die Männer in Grau in einer Linie aufgestellt hatten, um ihre Waffen abzugeben, und wie einige bitterlich geweint hatten. Zu ihrer Überraschung weinte auch sie. Sie dachte an die gefallenen jungen Männer, Blaue wie Graue, die jetzt in der Erde verwesten. Und sie dachte an Gabriel, der Lee bis zum Ende gefolgt war. Sie legte die Zeitung beiseite. Eigentlich hätte sie doch an André denken sollen! Bald würde er da sein… Wo blieb die Freude? Oh, die blieb nur aus, weil es zuviel zu entscheiden gab! Sie hatte den Kopf zu voll, sagte sie sich, und klopfte mit den Fingernägeln auf die Tischplatte. Ja, es gab einfach zuviel zu tun. Gestern abend hatte Ferdinand sie gefragt, was sie jetzt machen sollten, nachdem der Krieg vorbei war. Scheinbar eine rein rhetorische Frage, doch in Wirklichkeit hatte er damit seine Tochter um Führung gebeten; seit Emmas Tod war er fügsamer geworden und hatte, ohne es sich einzugestehen, alle Entscheidungen in die Hände seiner Tochter gelegt. Sollten sie sofort nach New Orleans heimkehren? Das Haus würde man ihnen bestimmt zurückgeben. Sie selbst wollte in die Stadt, das wußte sie. Aber konnten sie einfach so aus Beau Jardin weg? Einst hatte sie den Landsitz als Zufluchtsstätte, als eine Art sicheres Gefängnis betrachtet, das sie in der Kriegszeit schützte. Sie erinnerte sich an ihr Schaudern und ihre Angst vor den endlosen, sinnlosen Tagen… Die 450
letzten Jahre jedoch waren anders gewesen. Hier hatte die Familie überlebt. Das Land hatte auf ihre mühevolle Arbeit reagiert und sie am Leben gehalten. Ihr schien, daß sie dem Land dafür jetzt etwas schuldeten. Auf dem umzäunten Wiesenstück jenseits der Zufahrt graste der Anfang einer neuen Schafherde; zwei aus der Verwüstung gerettete Mutterschafe und zwei Lämmer weideten friedlich und spazierten gemächlich umher. Näher beim Haus, auf dem Hof, saßen die Schwarzen seit Stunden beisammen. Jetzt warteten sie auf Miriam. Für sie würde der Frieden nicht so einfach sein wie für die Schafe, wahrscheinlich viel weniger einfach, als sie an ihrem Triumphtag heute meinten, am Tag ihrer Befreiung. Miriam versuchte sich vorzustellen, welche Gefühle man bei der Erfüllung einer Hoffnung hatte, die Generationen hindurch unerfüllt geblieben war. Unfaßbar mußte es sein! Vermutlich waren sie benommen vor überwältigender Freude, wie es zu sein pflegte, wenn ein großer Wunsch in Erfüllung ging. Seit dem Frühstück, seit sie die Begegnung mit ihnen vor sich herschob, beobachtete sie im Haus und draußen die Unterschiede zwischen diesen Menschen, die umhereilten und miteinander debattierten oder stritten. Zum erstenmal im Leben sahen sie sich mit der Möglichkeit konfrontiert, eine Wahl zu treffen, eine Entscheidung zu fällen, und jetzt wußten sie nicht, welche. Miriam sah vielerlei in den dunklen Gesichtern: verschämte, ausweichende Augen, trotzige und verächtliche Münder, aus denen sie nachher bestimmt zu hören bekam: »Das Land ist meins, ich habe es bearbeitet, und jetzt gehört es mir.« Andere dagegen verkündeten ihre Pläne, in den Norden zu gehen, »um reich zu werden, weil es da oben Geld gibt«. Simeon hatte beschlossen, wegzugehen, aber seine Frau hatte laut Fannys Bericht gesagt, er müsse sich zuerst eine Arbeit und ihr ein Haus besorgen, und bis dahin bleibe sie, wo sie ein Dach überm Kopf habe. Die beiden hatten erbittert gestritten, dann hatte Simeon sein Bündel geschnürt und war auf der Straße davon gestakt. So ging es seit Tagesanbruch. 451
Angesichts all dessen war Miriams Mund trocken geworden vor Bangigkeit. Doch sie mußte den Leuten gegenübertreten und es hinter sich bringen. Sie ging auf die Veranda hinaus, schaute auf die Versammelten hinunter und versuchte erneut, sich an deren Stelle zu versetzen. Weil ihr das nicht gelang, beschloß sie, einfach ohne Umschweife die Wahrheit zu sagen. »Ab heute gibt es keine Herren mehr, wie ihr wißt. Ab heute seid ihr frei und könnt gehen, wohin ihr wollt. Vielleicht wissen einige von euch schon, wohin sie wollen, und wenn das so ist, werde ich ihnen Lebwohl sagen und Glück wünschen. Andere haben vielleicht keinen Ort, wohin sie können. Und wenn ihr bleiben wollt, wenn ihr euch hier zu Hause fühlt, könnt ihr bleiben. Ich sage euch, was ich tun werde. Ich werde euch Lohn zahlen. Aber ihr müßt dafür arbeiten, eine Ernte erzeugen, die ich verkaufen kann. Sonst habe ich kein Geld, um Lohn zu zahlen. Das versteht ihr doch, nicht?« Einige nickten, andere schauten sie verdutzt an. Ein junger Bursche trat vor: »Wieviel, Missis? Wieviel zahlen Sie?« »Zehn Dollar im Monat«, antwortete sie. Als in den hinteren Reihen leises Murren einsetzte, fuhr sie schnell fort: »Ihr vergeßt, daß ihr ein Haus habt, Essen und Medizin, wenn ihr krank seid. Ihr werdet alles haben, was ihr braucht, wie bisher immer. Und dazu Geld, wenn ihr gut arbeitet. Aber wenn ihr nicht gut arbeitet«, sagte sie, kühner geworden, »stelle ich jemand anderen ein, und ihr müßt gehen. So ist das von jetzt an. Das ist alles, was ich euch zu sagen habe. Nur eins noch – ich möchte euch daran erinnern, daß wir, mein Mann und ich, euch immer gut behandelt haben. Andere haben ihre Schwarzen nicht gut behandelt, aber wir beide immer. Ich möchte, daß ihr euch daran erinnert. Und jetzt warte ich hier auf der Veranda, während ihr euch entscheidet. Jeder von euch soll dann zu mir kommen und mir sagen, ob er geht oder bleibt.« Bewegung kam in die Leute. Sie gingen auf dem Rasen umher, scharten sich zu Gruppen zusammen, schwatzten und berieten. Ma452
xim und Chanute schienen unter Eugenes riesiger Rotbuche in eine heftige Auseinandersetzung verwickelt zu sein. Nach einer Weile kam Maxim zu Miriam, nahm seine Kappe ab wie immer und erklärte: »Missis, Chanute und ich hatten einen großen Streit. Ich glaub, Chanute ist verrückt geworden. Alle die großen Reden von Gold, wo doch jeder sehen kann, daß das ganze Land fast verhungert. Wo soll das Gold herkommen? Also kann er gehen, wenn er will, aber ich bleib da. Ich bleib da und halte hier Ordnung für Sie. Vielleicht erhöhen Sie dann nach einer Zeitlang meinen Lohn.« Vor ihrem inneren Auge erschien ein Bild, die beiden in ihren Jacken mit den Spitzenmanschetten, einander ähnlich wie Zwillinge, fremdartig in ihrer Schwärze, als seien sie aus einer anderen Welt in das deutsche Dorf gekommen; und das waren sie ja auch. »Ihr wart nie getrennt, du und Chanute.« Maxim machte ein Gesicht, als würde er gleich anfangen zu weinen. »Ich weiß. Alles ist verrückt geworden. Aber ich werde nicht verrückt.« Nach ihm kam Sisyphus, und er weinte wirklich. »Ich bleibe, Miß Miriam. Haben Sie das nicht gewußt? Ich kam bei Miß Emmas Leuten auf die Welt, ich kam mit ihr zu Mr. Ferdinand, als sie ihn heiratete, und ich legte Miß Emma ins Grab. Wo könnte ich denn hingehen? Das hier ist mein Zuhause.« Sie traten heran, entweder um voll schüchterner Erleichterung zu erklären, daß sie bleiben würden, oder aber mit einer Art Trotz zu verkünden, daß sie gehen wollten. Einige gingen sogar ohne ein Wort, im Zorn. Als es endlich vorbei war, dachte Miriam, dies sei der härteste Arbeitstag in ihrem ganzen Leben gewesen. »Glaubst du, daß ein solches Lohnabkommen funktioniert?« fragte Ferdinand. »Nein, niemals«, behauptete Eulalie. Rosa war anderer Meinung: »Wie ich höre, hat man in New Orleans unter der Unionsherrschaft 453
festgestellt, daß freie Arbeitskräfte eineinhalb Oxhoftfässer Zucker am Tag mehr produzieren als Sklaven.« »Wir werden ja sehen«, sagte Miriam, mehr nicht. Das Härteste sollte jedoch erst noch kommen. Am nächsten Morgen, als Fanny eine Schüssel heißes Wasser in Miriams Zimmer brachte, ging sie nicht gleich wieder, wie gewöhnlich, sondern blieb stehen, eine Hand am Türpfosten. Ihre dunklen Augen wanderten durch den Raum, als suchten sie etwas oder versuchten sich alles einzuprägen. »Was ist, Fanny? Willst du mir etwas sagen?« »Ja. Und ich bring es nicht über mich.« »Sag es. Ich werde nicht böse sein, auch wenn es etwas Schlimmes ist. Ist es etwas Schlimmes?« Fannys Mund verzog sich zur häßlichen Form der Trauer: »Ich weiß nicht, ob Sie es schlimm finden oder nicht.« Plötzlich wußte Miriam Bescheid. Sie war fassungslos. Andere gingen, bei ihnen hatte sie es erwartet, aber ihr wäre nie in den Sinn gekommen, daß Fanny gehen könnte, genausowenig, wie sie sich hätte vorstellen können, daß Angelique sagte: »Mama, ich möchte nicht mehr Ihre Tochter sein.« In einer Geste stolzer Hinnahme hob sie den Kopf: »Du gehst weg, das ist es, nicht wahr?« Fanny nickte. Ihre flehenden Augen vermochten den Schmerz nicht zu lindern, der Miriam wie ein Klumpen im Hals saß. Es drängte sie zu sagen: Wir waren zusammen Kinder, bedeutet dir das so wenig? Ich dachte, du seist hier zufrieden, glücklich. Mit einemmal begann Fanny hastig zu sprechen: »Miß Miriam, ich muß gehen! Ich will nicht, aber ich muß gehen. In mir ist ein Teil, der sagt so, und ein Teil, der sagt anders. Blaise sagt, daß wir noch nie etwas gemacht haben, das wir nicht kennen, und jetzt haben wir unsere Chance. Sie sehen doch, daß er recht hat, nicht wahr?«
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Vermutlich schon, aber ich will es nicht sehen, dachte Miriam. »Ich hab Schmerzen hier drin.« Fanny legte die Hand auf ihr Herz. »Große Schmerzen.« Miriam lächelte traurig. »Und im Kopf auch. Er schmerzt vor lauter Überlegen, was du mit deinem Leben anfangen sollst. Ich weiß. Du hast das einmal, an einem sehr schweren Tag, zu mir gesagt.« Fannys Augen flehten noch immer. Wie die Augen eines klugen Kindes, das stumm um Verständnis bittet, weiteten sie sich und glänzten. Unvermittelt verschwand der Klumpen in Miriams Hals. Sie hätte sagen können: Du wirst es nie mehr so bequem haben wie in diesem Haus. Aber sie sagte es nicht, sondern breitete die Arme aus. »Natürlich mußt du gehen, es ist der einzige Weg, und Gott segne dich, Fanny, wohin du auch gehst.« »Nach allem, was Lincoln uns angetan hat, hätte ich nie gedacht, daß ich Trauer über seinen Tod empfinden könnte«, sagte Pelagie. »Aber jetzt, nachdem er ermordet worden ist, begreift man, wie gut er in Wirklichkeit war. Sogar unsere Zeitungen im Süden nennen das Verbrechen ›barbarisch‹.« Sie hielt die Zeitung ins Licht der Terrabenlampe. »Einen großzügigen Mann nennen sie ihn. Sie schreiben auch, daß Johnson nicht so sein wird wie er.« Ferdinand seufzte. »Lies Davids Brief noch einmal vor, Miriam. Lies, was er über Lincoln schreibt.« Und Miriam begann: »Wie Ihr wißt, geschah das Attentat am fünften Tag des Passahfestes. Alle wurden von Trauer erfaßt. Hier in New York verhängte man das Innere der Synagoge mit schwarzem Tuch. In welcher Schuld stehen wir Juden allein schon als Bürger bei diesem Mann! Bei den Trauerfeierlichkeiten gingen fünfzehn Logen unseres Ordens B'nai B'rith im Zug mit. Ich trug selbst eine Fahne. Sie war schwer für mich, ich habe meine Kräfte noch nicht hun455
dertprozentig wieder, komme dem aber mit jedem Tag näher. Ich bin so dankbar dafür, am Leben zu sein, zu wissen, daß Ihr gesund seid und der Krieg und das Gemetzel vorbei sind, daß ich zweimal soweit gegangen wäre, hätte ich es gewußt. In die tiefste Trauer mischte sich also Dankbarkeit.« »Das war in New York«, sagte Eulalie. »Aber in dem Land hier gibt es viele, die den Tod dieses Mannes nicht betrauern, das kann ich euch versichern. Und was den zu Ende gegangenen Krieg angeht, der Süden ist nur wegen der zahlenmäßigen Überlegenheit der anderen besiegt worden, wegen nichts sonst. Der alte Geist lebt noch, mehr noch, er wird immer am Leben bleiben.« Um den Frieden im Zimmer zu retten, sagte Ferdinand rasch: »Den alten Mut brauchen wir auch jetzt! Wir kämpfen einen neuen Kampf, den Kampf gegen die Armut.« Er lächelte wehmütig. »Ich habe das Gefühl, als hätte ich dies alles schon mal erlebt. Nun ja, es stimmt auch, damals in Europa, als ich viel jünger war als ihr alle, und Napoleon den Kontinent verwüstet hatte.« Er schaute Miriam an und fügte mit einer Spur seiner alten unbekümmerten Zuversicht hinzu: »Wir werden es schaffen. Ich habe es schon einmal geschafft. Wir werden es wieder schaffen.« Seine Zuversicht war mitleiderregend. In Wirklichkeit stand Ferdinand der Wende der Ereignisse hilflos gegenüber wie ein Mensch, dessen kleines Boot auf dem Kamm einer Flutwelle dahinschießt und der den Anschein erwecken muß, das Umschlagen des Bootes verhindern zu können. Ferdinands Versuch, diesen Anschein zu erwecken, war rührend tapfer. Am frühen Morgen hingen Nebelfetzen wie Spinnweben in den Bäumen. Waschbären strolchten noch durch das Sumpfgebüsch, die Vögel erwachten eben erst, und die rote Sonne war kaum über den Horizont gestiegen, als Miriam nach draußen ging. Ihr schien, sie wache jeden Tag früher auf. Sie schlief schlecht. Wohin führte das
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Leben sie? Um solche bangen Fragen zu ersticken, stand man morgens früh auf und füllte die Stunden mit anderen Problemen. Deren gab es mehr als genug. Sonnenblumen, diese staksigen, heiß aussehenden Dinger, hatten sich dort ausgebreitet, wo ein blühender Gemüsegarten hätte sein sollen. Die Schwarzen vernachlässigten alles schändlich. Die Ställe wurden nicht ordentlich gesäubert. Im Augenblick muhten die Kühe lautstark, denn die Melkzeit war längst vorbei. An den Zäunen waren viele Meter noch immer nicht repariert. Das große Haus gehörte gestrichen. Der ganze Besitz würde vermutlich nicht mehr als tausend Dollar einbringen, dachte Miriam, wenn sich ein Käufer dafür finden ließe. Eine Tür fiel zu, und Eugene und Angelique kamen aus dem Haus. »Tut irgend etwas«, ordnete ihre Mutter an. »Vielleicht könnt ihr ein gutes Beispiel geben. Einer von euch kann die Hühner füttern und der andere die Eier in die Küche bringen.« Miriam schaute ihnen nach, während sie in ihren plumpen Schuhen mit den Holzsohlen zum Hühnerstall gingen und ins Innere verschwanden. Als sie wieder erschienen, trug Eugene die Körnerschüssel. Es gefiel Miriam, daß er unaufgefordert die schwerere Arbeit übernahm. Jetzt, wo die beiden das Alter kindlicher Zänkereien hinter sich hatten, war etwas Beschützendes in seinem Verhalten gegenüber Angelique, etwas, das Miriam an David und sich selbst erinnerte. Oh, sei gerecht! Sie haben auch viel von ihrem Vater! Davids ärgerliches Stirnrunzeln ist bei Eugene nie zu sehen. Eine finstere Miene verträgt sich wahrscheinlich nicht mit seinem Naturell, aber selbst wenn es anders wäre, sein Vater hätte keine solche Miene geduldet. Beide sind, wie in ihrer gesellschaftlichen Klasse und Stellung üblich, zu Disziplin erzogen worden. Eugene ist umgänglich und Angelique bezaubernd in ihrer beginnenden Eitelkeit. Sie möchte richtige Kleider, und ich wünschte, ich hätte welche. Aber wenn ich welche hätte, wo sollte Angelique sie unter den derzeitigen Umständen tragen? 457
Die Hühner drängten sich um die Füße der beiden und gackerten in dem staubigen Körnerregen. Ein schiefes Lächeln huschte über Miriams Gesicht. Was würde ihr Vater zu einer solchen ländlichen Szene sagen? Sein Sohn und seine Tochter, Erbe und Erbin der Mendes', auf einem Hühnerhof? Egal, dachte sie. Arbeit schadet ihnen nicht. Ein Glück für sie, Arbeit zu haben, überhaupt etwas zu haben in diesen Zeiten, am Leben geblieben zu sein. Miriam blickte auf die trockenen, fahlen Felder, über denen bereits die Morgenwärme zu flirren begann. Sie sah durch den weißen Dunst lange Reihen blutverschmierter Männer in Richmond auf dem Boden liegen, sah wieder die Frau, deren bettelnde Hand nach Milch ausgestreckt war. »Was jetzt, Mama?« fragte Angelique. »Erkundigt euch bei Maxim, ob er euch für irgend etwas braucht. Er ist überarbeitet, und er verlangt nie Hilfe.« »Sisyphus auch«, sagte Eugene. »Er war gestern in der Scheune und wollte helfen, einen Wagen hochzuheben, während sie ein Rad festmachten. Er ist zu alt dafür. Ich habe seinen Platz eingenommen.« »Sag mal«, fragte Miriam unvermittelt, »was hat dich denn verändert, Eugene? Wann hast du in diesem Krieg die Seiten gewechselt? Das ist mir immer noch nicht klar.« Er antwortete: »Ich finde eigentlich nicht, daß ich das getan habe. Ich bin kein Verräter.« »Ich meine nicht, daß du einer bist. Ich meine deine Art zu denken.« »Über das Sklavensystem? Ich weiß es nicht genau. Das kam einfach so, als ich arbeiten mußte, um hier den Betrieb aufrechtzuerhalten, und als ich deutlicher sah, wie das Leben ist, wie hart. Da kamen mir diese Gedanken einfach.« Angeborene Güte, dachte Miriam erfreut. Anständigkeit von Grund auf, das und nichts anderes war es. Sie überlegte, ob er seine Denkweise wohl auch geändert hätte, wäre sein Vater am Leben und er unter dessen strenger Kontrolle geblieben. Verdankte der Sohn dem 458
entsetzlichen Tod des Vaters vielleicht die Freiheit, das zu werden, was er jetzt war? Sie behielt ihre Überlegungen für sich, sagte nur: »Da ist Maxim. Maxim, die beiden Helfer hier möchten wissen, ob du sie für irgend etwas brauchst.« »Nein, Ma'am, ich komme gut zurecht. Sollten sie nicht heute früh über ihren Büchern sitzen?« »Das würde nicht schaden. Warum holt ihr nicht eure deutsche Grammatik hervor, alle beide? Ich prüfe euch dann später.« Ein Jammer, daß sie nicht selbst mehr Bildung besaß und ihnen nicht besser durch diese verlorenen Jahre helfen konnte! Deutsch war das einzige, was sie gut genug beherrschte, um die beiden darin zu unterrichten. Immerhin besser als nichts. Maxim sinnierte, während die beiden davongingen: »Scheint mir, als wären sie erst letzte Woche in diesem Haus auf die Welt gekommen.« Letzte Woche und vor hundert Jahren! So süß hatten sie in ihren Körben gelegen… David war nach Hause gekommen, für ganz… Der Flußdampfer hatte gepfiffen, Gäste abgesetzt und Geschenke gebracht – Obst und Blumen, Musik und Wein… Gabriel war nach Hause gekommen… »Die machen Ihnen wirklich Ehre«, sagte Maxim. »Freundliche junge Leute. Aus gutem Stoff. Wirklich gutem Stoff.« »Nicht nur mir, sondern auch dir und Blaise und Fanny und Sisyphus machen sie Ehre, denk daran. Ihr alle habt geholfen, sie großzuziehen.« Ein Feldarbeiter, der Miriams Stimme gehört hatte, kam um die Ecke der Scheune. »Morgen, Missis. Sie sind früh heraußen.« »Ich bin immer früh heraußen. Es gibt viel Arbeit.« »Ich dachte, Missis, ob wir den da nicht erschießen sollen. Er war ja mal ein feuriges Maultier, aber jetzt hat er keinen Pfeffer mehr in sich.« 459
Das alte Maultier wedelte mit dem Schweif und kaute, den Kopf über den Zaun gehängt, ein Grasbüschel zwischen seinen großen gelben Zähnen. Seine aufmerksamen, melancholischen Augen schauten Miriam an. Das ganze Leid des Lebens vereinigte sich in diesem Maultier. »Laßt es in Ruhe. Hier wird nicht mehr geschossen«, sagte sie, riß eine Handvoll Gras ab und schob es in das weiche, schnaubende Maul. »Und hör zu«, befahl sie, »ich möchte, daß heute vormittag Kiefernstreu in den Kuhstall geschafft wird. Die Kühe werden krank, wenn sie im Nassen liegen.« »Ja, Missis. Sofort, Missis.« Niemand hatte ihr beigebracht, wie man Rinder versorgte, doch die meisten Dinge sagte einem der gesunde Menschenverstand. Sie ging ins Haus zurück, um die Reste des Silbers zu polieren. Erst vor einer Woche war sie mit Rosa losgezogen, um das einst so sorgfältig vergrabene Silber aus seinem Versteck zu holen. Die Hälfte hatte gefehlt. Das Service, das Eugene ihr zur Hochzeit geschenkt hatte, war vollständig vorhanden, doch Emmas Silber, genauso heimlich vergraben – hatten sie zumindest gemeint – war verschwunden. Irgend jemand mußte sie in jener Nacht beobachtet haben. Wie ärgerlich, daß es Emmas Silber war! Der Verlust ihres eigenen hätte Miriam weit weniger geschmerzt als der Verlust von Papas Silber, denn sie wußte, wieviel ihm solche Dinge bedeuteten. Im Eßzimmer wartete das Kaffeeservice auf dem Tisch. Miriam setzte sich und begann mit dem Poliertuch zu arbeiten. Es bereitete ihr Befriedigung, Dinge zu säubern, mit eigener Hand Ordnung zu schaffen, auch wenn Sisyphus immer noch entsetzt war, die Hausherrin bei solchen Arbeiten zu sehen. Ferdinand kam herein und schaute ihr zu. Ein paar Minuten saß er schweigend da, dann unterbrach er plötzlich das regelmäßige Tikken der Uhr: »Du wirst deiner Mutter immer ähnlicher.« »Ich dachte, ich sähe ihr überhaupt nicht ähnlich.« 460
Seine Worte hatten sie verblüfft. Sie erinnerte sich nicht mehr, wann er das letztemal von ihrer Mutter gesprochen hatte. »Ich sehe sie in letzter Zeit öfters. Nach vielen Jahren wieder«, sagte Ferdinand. Er erzählte: »Sie hatte einen karierten Wollschal um, als ich ihr zum erstenmal begegnete.« So sehe ich sie doch immer! Rief Miriam stumm. Warum sehe ich sie immer mit einem karierten Wollschal? Ich bin sicher, daß niemand mir je etwas von einem solchen Schal gesagt hat. Oder vielleicht doch? Sie konnte sich nicht daran erinnern. »Sie war bezaubernd, hatte ein ovales Gesicht, ruhig und ernst.« Sein Schaukelstuhl knarrte, und das Geräusch verschmolz mit seiner leisen Stimme zu einem träumerischen Rhythmus. »Seltsam, wie das Leben spielt. Hätte nicht ein vor Haß wahnsinniger Tölpel einen Stein geworfen, wären wir alle vielleicht noch in dem deutschen Dorf. Angelique und Eugene wären nicht zur Welt gekommen. Ja, du erinnerst mich an sie, aber David hat ihre Augen. Genau ihre Augen. Ich wünschte, ich könnte David wiedersehen. Er hat mich sehr zornig gemacht, aber er ist ein guter Mensch, davon bin ich überzeugt. Ich möchte ihn wiedersehen.« »Jetzt, wo der Krieg zu Ende ist, wird er Sie bestimmt besuchen, Papa. Ich weiß, daß er es tun wird.« Sie blickte zu ihrem Vater hinüber. Er ließ sich seit einiger Zeit einen Bart wachsen, weil Bärte wieder Mode waren, aber er sah damit nicht modern aus, sondern wie ein patriarchalischer Jude, als er so da saß und schaukelte, wie der Opa in ihrer Erinnerung. Sein Haar, einst ein dichter Schopf kastanienbrauner Locken, war vollkommen ergraut. Ach, dachte sie, wann habe ich gesehen, daß er alt ist, heute oder vorige Woche? So kommt das Alter, eines Tages plötzlich ist ein Mensch alt. Ferdinand schaute zum Fenster hinaus. »Da geht Eulalie. Sie trägt einen Eimer Wasser in den Hühnerhof. Ich kann die Veränderung, die mit ihr vorgegangen ist, noch immer nicht fassen.« »Vielleicht fühlt sie sich zum erstenmal im Leben gefragt.« 461
»Was? Indem sie Hühner versorgt? Sie, die aus einer solchen Familie stammt?« »Durch das und durch alles andere, was sie tut. Ich hatte keine Ahnung, daß sie soviel weiß. Sie ist mürrisch, das stimmt, aber ohne sie hätten wir hier viel weniger geschafft. Keiner von uns wußte, wie man Lebensmittel konserviert oder näht oder irgend etwas richtig macht, bis sie es uns zeigte.« Irgend etwas trieb Miriam zum Reden, nicht das Bedürfnis, Eulalie zu verteidigen, sondern persönliche Entrüstung und das Verlangen nach Gerechtigkeit: »Ihr ganzes Leben lang galt sie als Versagerin, weil sie in dem Einen nicht gut war, das ihr Männer von uns erwartet: eine Zierde zu sein. Ich weiß nicht, wie das kommt, aber ein Mann kann dick sein, eine Glatze oder vorstehende Zähne haben, und das ist vollkommen unwichtig; wenn jedoch eine Frau nur ein bißchen unansehnlich ist, wird sie sofort in die Ecke gestellt. Der Himmel sei ihr gnädig, wenn sie unverheiratet bleibt, dann kann sie sich nur vor Scham verkriechen. Ich möchte nicht, daß meine Tochter einmal so wird!« schloß sie in scharfem Ton. »Mach dir wegen Angelique keine Sorgen.« Ferdinand lachte leise. »Sie ist jetzt schon ein Schönheit.« Miriam wollte sagen: So habe ich es ganz und gar nicht gemeint, aber sie bezähmte sich. Was für einen Sinn hätte es? dachte sie. Er würde es nicht verstehen. Gabriel schon. Ihr wurde bewußt, daß Gabriel immer alles verstanden hatte. Weitere Überlegungen in dieser Richtung verhinderte die nächste Bemerkung ihres Vaters: »Ich würde dich gern wieder verheiratet sehen, Miriam.« Und ich möchte heiraten… Ich war nie verheiratet, weißt du das nicht? Verheiratet in dieser warmen, vertrauten Einheit, dieser Zufriedenheit. Wie erregend, einander anzugehören, keine Geheimnisse zu haben, sich körperlich und seelisch vollkommen hinzugeben! Den anderen vollkommen zu kennen… Ich versuche André zu sehen, seine Stimme zu hören und kann es nicht mehr.
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»Da kommt jemand«, sagte Ferdinand plötzlich. Er stand auf, um besseren Ausblick zu haben. »Ein Mann reitet auf der Zufahrt heran.« Miriam brauchte nicht zu fragen. Sie wußte – wußte ohne zu fragen oder hinauszuschauen, daß es André war. »Eine richtige Feier ist das!« rief Ferdinand. »Gott sei gepriesen, der Krieg ist endlich vorüber. Und wenn unsere Gedanken und Herzen auch wegen der gefallenen Söhne schmerzen«, mit feuchten Augen sah er Rosa und Pelagie an, »sind wir doch dankbar dafür, daß so viele überlebt haben und zurückkommen werden. Trinken wir jetzt auf den Retter meines Sohnes.« Ferdinand hob das Glas und sah André an. »Besonderen Dank heute an ihn und ein Prost mit dem guten Wein, den er uns gebracht hat. Aaah, ausgezeichnet, nichts geht über französischen Wein!« Er setzte sich, überwältigt von seinen Gefühlen und von der Glut des Weines. Doch er war noch nicht fertig: »Da kommt Sisyphus, der gute Sisyphus! Wann haben wir zuletzt ein solches Diner gehabt, Sisyphus? Ich weiß es nicht mehr. Sie dürfen nicht glauben, André, daß wir hier in Luxus leben. Nein, weit gefehlt«, erklärte er, als Sisyphus den gebratenen Truthahn auf einer der geretteten Silberplatten servierte. Auf der Anrichte standen Fruchtsäfte, die in einem abgelegenen Keller gefunden worden waren, und ein unter Eulalies Aufsicht zubereiteter Pudding, für den sie die letzten Eier verbraucht hatte, wie Miriam mit einiger Besorgnis dachte. »Ja«, erzählte André, »der Fall Richmonds war ein unvergeßlicher Anblick. Wissen Sie, Präsident Davis war gerade in der Kirche, als ein Bote kam, um ihm mitzuteilen, daß die Stadt evakuiert werden müsse. Die Menschen waren unvorstellbar schockiert; sie hatten keine Ahnung von der Lage gehabt, weil das Kriegsministerium die Wahrheit in den vergangenen Wochen aus den Zeitungen herausgehalten hatte. Statt dessen war eine Menge optimistischer Unsinn gedruckt worden. So kam es auf den Straßen zu einem Chaos. Wäh463
rend noch die Glocken zu den Sonntagsgottesdiensten läuteten, wurden in den Regierungsbüros die Archive in Wagen gepackt und zur Bahn gekarrt. Die Leute rannten hierhin und dorthin, um einen Platz in einem Zug zu ergattern, aber man bekam keinen ohne Passierschein vom Heeresminister. Und die wenigsten Leute haben Zugang zum Heeresminister, nicht wahr?« André erzählte seine Geschichte gut. Seine rasche Redeweise und seine volltönende Stimme enthielten genau das richtige Maß dramatischer Betonung. Miriams hungrige, fragende Augen, die ihn nicht losließen, erregten keine Aufmerksamkeit, weil alle anderen im Zimmer ebenfalls nur ihn ansahen. Seine schönen Züge waren unverändert. Der Krieg hatte bei allen anderen Spuren hinterlassen, hatte manche mit seiner Düsternis belastet und bei anderen die Nerven reizbar, die Stimme schrill oder den Ton barsch gemacht; Miriam selbst hatte er dunkle Flecken der Erschöpfung unter die Augen gemalt. Aber André strahlte. Fast als wäre er auf einem Ball. »Der Stadtrat befahl die Vernichtung aller alkoholischen Getränke. Man konnte Whisky in den Rinnstein fließen sehen. Welche Vergeudung!« André zog ein komisches Gesicht. »Aber viele tranken ihn lieber selbst, und so wankten auf den Strafen Betrunkene zwischen den zerbrochenen Flaschen umher und merkten nicht, was um sie passierte. Dann befahl das Militär, die Mühlen niederzubrennen. Idiotisch! Das Feuer breitete sich aus – hm, wie ein Lauffeuer breitete es sich aus! Wie denn nicht? Aber was kann man von Politikern und Soldaten schon anderes erwarten als Idiotie?« Eine Erinnerung aus der Kindheit drängte sich Miriam auf: Im Haus ihres Vaters hatte einmal ein alter Mann, ein aus Indien zurückgekehrter Weltreisender, seine Zuhörer fasziniert mit Schilderungen der Leichenverbrennung, des Mondlichts auf dem schmutzigen Ganges und der von der Morgensonne beschienenen Armen, die während der Nacht auf den Straßen gestorben waren. Damals war es ihr so vorgekommen, als erzähle der Mann die schrecklichen Dinge mit einem Kribbeln der Erregung; er war ein unbeteiligter 464
Betrachter von etwas Exotischem gewesen und hatte keinerlei menschliche Verwandtschaft oder Verbundenheit empfunden. Sie blinzelte, und die Erinnerung verschwand. »Natürlich breitete sich das Feuer zu den Arsenalen aus, und die Munition explodierte. Es war die reinste Hölle, das kann ich Ihnen versichern! Die Leute warfen Möbel aus ihren brennenden Häusern, sie verbrannten das konföderierte Geld, sie pferchten sich in Wagen und flohen. Ich stieg auf mein Pferd und ritt entlang der Eisenbahnschienen aus der Stadt. Das letzte, was ich von Richmond sah, waren glühende Asche und Rauch.« Die Geschichte war zu Ende. André griff nach einer Zigarre. Voll stummem Entsetzen schauten die anderen zu, wie er die Banderole abstreifte, das Ende abbiß, die Zigarre mit einem Zündholz in Brand steckte und sich dann zurücklehnte, um den ersten aromatischen Zug zu genießen. Lambert Labouisse brach das Schweigen: »Ich habe immer gesagt, daß Jeff Davis nicht mit ganzem Herzen zu uns steht. Er neigte der Union zu, seit jeher. Und das ist jetzt die Folge. Bei Gott, das ist die Folge.« Anklagend schaute er im Zimmer umher, auf Gesichter und Möbel, auf die Decke und die Wände, als ließe sich irgendwo dort vielleicht eine andere Erklärung für das Unglück finden. André erklärte unbeschwert: »Es ist sinnlos, Beschuldigungen vorzubringen. Sie müssen es so sehen: Ende gut, alles gut.« »Ende gut?« fragte Miriam düster. »Man muß die Verwundeten und Toten gar nicht einbeziehen, man braucht sich nur an unserer Zufahrt draußen die vorbeiziehenden Männer anzuschauen. Seit Wochen schon ziehen sie vorbei, mit ihren Entlassungsscheinen und sonst nichts, sie haben keinen Penny und keine Arbeit in Aussicht. Sie sind erledigt. Die Armut ist unglaublich. So gut ist das Ende.« »Oh, ich weiß.« Andrés Ton war mitfühlend. »Aber das ist nicht überall so, wie Ihnen bekannt ist. Einige Leute, auch im Süden, haben ein Vermögen gemacht, von dem sie früher nicht zu träumen gewagt hätten. Ja, in Memphis und in Vicksburg oben – ich versi465
chere Ihnen, daß genauso viele Ballen Baumwolle auf Kanonenbooten der Union flußaufwärts in den Norden gegangen sind wie flußabwärts zu den Häfen im Süden und nach Übersee.« Das stimmte zweifellos. Miriam hütete sich, Lambert Labouisse anzuschauen. Doch aus den Augenwinkeln beobachtete sie ihn, wie er in seinem alten, aber immer noch korrekten weißen Sommeranzug dasaß und eine von Andrés riesigen Havannazigarren rauchte. »Es tut mir leid«, sagte André, »das Gespräch ist zu tiefschürfend geworden. Ein Vortrag über die Schrecken des Krieges ist nicht die richtige Art, einen schönen Abend zu beenden.« Das strahlende Lächeln auf seinem Gesicht bat alle, ihm zu verzeihen. Seine letzten Worte wirkten als Signal, wie von ihm beabsichtigt. In der Tat war es spät geworden, woran jetzt auch das Rasseln und Schlagen der alten Uhr in der Halle erinnerte. »Ich dachte schon, sie würden uns nie mehr allein lassen«, sagte André, als die anderen nach oben gegangen waren. »Komm her! Komm her!« Er streckte die Arme aus, sie ging mit automatischem Gehorsam zu ihm, er umschlang sie, küßte sie und drückte sie wieder an sich. Ihre Augen waren nicht geschlossen in der Ekstase des Vergessens, sondern weit offen und wachsam, schauten über seine Schulter zur Feuerstelle, wo ein Dutzend kleine rote Augen aus der grauen Asche blinkten. An ihrem Ohr murmelte er: »Setz dich. Ich muß dir etwas zeigen. Zuerst das hier. Lies!« Er reichte ihr einen Ausschnitt aus einer Pariser Zeitung. Sie las: »Aus gut unterrichteter Quelle verlautet, daß Madame Marie Claire Perrin, die im vergangenen Winter in den Konzerthallen Europas riesige Erfolge feierte, in Kürze das endgültige Urteil über ihre Scheidung von ihrem Mann erhält, der dem Vernehmen nach irgendwo in den Vereinigten Staaten wohnhaft ist.« »Na, was sagst du dazu?! Sie hat sich von mir scheiden lassen! Bedenke, daß der Artikel drei Monate alt ist. Ich müßte die Papiere 466
in den nächsten Tagen erhalten. Aber warte, das ist nicht alles. Sieh her.« André zog ein kleines Samtkästchen aus der Tasche und legte es vor Miriam auf den Tisch. »Öffne es.« Ihre Finger zitterten, so daß sie den Verschluß nicht aufbekam. In seinem Eifer streckte André die Hand aus und ließ den Deckel hochspringen. »Wie gefällt er dir?« Es war der übliche Rubin-Verlobungsring, doch kein gewöhnlicher Rubin, sondern schlicht ein Prachtstück. Die vielen Facetten des Steins zogen das ganze Licht im Zimmer an und sprühten rötliche Funken. Sie starrte auf den Ring, als sei er lebendig. Und ihr Geist machte einen Rückwärtssprung, wie schon mehrmals an diesem Abend. Sie dachte daran, wie Eugene ihr seinen Ring gegeben hatte. Sie erinnerte sich sogar noch an das Kleid, das sie getragen hatte, an den glockigen Rock; aus cremefarbenem Batist war er gewesen, mit lavendelfarbenen Bändern besetzt. Ja, sie erinnerte sich auch, daß sie beim Anblick des Rings keine Besitzerfreude empfunden hatte, weder über seine symbolische Bedeutung noch über seine wirkliche Schönheit. Er hatte ihr Angst gemacht. Und das tat auch dieser Ring hier. »Er ist sehr schön«, sagte sie. »Gefällt er dir nicht?« fragte André. »Wie könnte ich anders als ihn bewundern? Aber er ist zu prächtig für mich.« Sie stockte kurz. »Er paßt nicht zu mir – und nicht zu der Zeit.« Mit halb unbewußter Geste deutete sie auf ihr Kleid, das ›gewendet‹ worden war, so daß das einstige Futter jetzt die Außenseite bildete. »Ach, du bist einfach alles leid, dir fehlt es an allem, das ist es! Du brauchst neue Kleider, und du brauchst wieder Freuden. Du bist aus der Übung!« Er zog sie an sich, um sie zu küssen, doch weil sie vor Verlegenheit linkisch dastand, streifte sein Mund den ihren nur. Er roch nach Wein. Er war grob. Der Wein war ihm zu Kopf gestiegen. Der Ring lag immer noch auf dem Tisch. 467
»Hier, steck ihn an. Probiere ihn.« Sie wollte nicht. Schreckliche Verwirrung und Schwäche erfaßten sie, und Tränen stiegen ihr in die Augen, ohne daß sie wußte, warum. Das versetzte sie in Panik. Wie schaute es aus, wenn sie jetzt weinte, in diesem Augenblick der Erfüllung, der sie beide an das heißersehnte Ziel bringen sollte? Sie kniff die Augen zu, preßte die Lider an die Augäpfel und drängte so die Tränen zurück. »Ich muß übermüdet sein… Einfach zuviel heute…« Ihre Lippen formten die Worte, wie sie ihr gerade kamen, ungeordnete halbe Sätze ohne rechten Sinn. »Ich habe Angst… Ich begreife nicht…« André fragte verwundert: »Was begreifst du nicht? Wovor kannst du bloß Angst haben?« »Ich weiß es nicht.« In der Feuerstelle blinzelten die kleinen roten Augen, eines nach dem anderen. Es hatte zu regnen begonnen. Die ersten schweren Tropfen hörte man immer auf dem Verandadach. Jetzt wurden es mehr, der Regen setzte voll ein. Warmer grauer Regen, wie Tränen. »Hier riecht alles nach Niederlage«, stieß André plötzlich in verächtlichem Ton hervor. Er machte eine ausholende Armbewegung, die alles umfaßte, was er am Nachmittag bei der Ankunft gesehen hatte: die morsch werdenden Bretter am Haus, denen Farbe fehlte, die dürren, abgebrochenen Baumwollstengel auf den Feldern… Seine Verachtung schlug in Zorn um: »Hör zu. Ich hole dich hier heraus, weg von dieser Ruine! Es lohnt ohnehin nicht, sie wieder aufzubauen. Was würdest du zu einem Schlößchen an der Loire sagen? Oder zu einem Landhaus in der Provence? Sie ist paradiesisch im Frühling. Wir nehmen die Kinder mit und deinen Vater natürlich auch.« Papa mitnehmen? Papa auffordern, Amerika zu verlassen und nach Europa zurückzukehren? Er kennt Papa nicht, dachte sie. »Oder möchtest du lieber ein Elisabethanisches Herrenhaus in Südengland? Du kannst wählen.« Als Miriam nicht antwortete, fuhr er leicht großspurig fort: »Ich habe ein Gemälde von Sir Edwin Land468
seer mit King-Charles-Spaniels, eigens in London für dich gekauft. Es würde glänzend wirken über dem Kamin eines alten englischen Hauses – oder auch anderswo. Die Spaniels schauen genauso aus wie Gretel.« Als Gretel ihren Namen hörte, hob sie den alten Kopf von ihrem Teppichstück und ließ ihn nach einem einzigen müden Schwanzwedeln wieder sinken. Gabriel brachte sie als Junges; das weiche, zappelnde kleine Ding war nicht viel größer als seine Handfläche. »Bist du so reich?« fragte sie leise. »Deine Freunde in Richmond haben über einen Mann geredet, der mit Importwaren fünfzigtausend Dollar im Monat verdiente. Warst du das?« »Ich weiß es nicht. Ich war nicht der einzige. Und ich habe solche Dinge auch nicht jeden Monat gemacht. Die Leute zählen gern das Geld der anderen. Es ist eine Übertreibung, aber nicht allzu weit von der Wahrheit entfernt.« Da Miriam sich dazu nicht äußerte, fragte er: »Was ist? Was hast du?« »Ich dachte nur…« Er unterbrach sie: »Schon wieder denken! Ich werde lange brauchen, um dir dieses viele ernste Denken abzugewöhnen.« »Ich dachte nur«, wiederholte sie hartnäckig, »an all den Schmerz – und dann fünfzigtausend Dollar im Monat…« »So ist der Krieg, Miriam. Wofür hast du ihn denn gehalten? Schmerz und Tod! Nimm es nicht so tragisch, ich bitte dich. Der Krieg ist eine verdammt idiotische, unsinnige Angelegenheit, aber die Menschen haben seit jeher Kriege geführt. Kriege brechen aus und enden wieder. Der hier ist vorbei, also vergiß ihn. Vergiß die ganze verdammte Idiotie.« »Verdammte Idiotie? So nennst du das?« »Ja, und einzig und allein Idioten haben ihn ernst genommen. Die Gescheiten haben für sich selbst gesorgt. Ich war kaum je in wirklicher Gefahr! Ja, ich habe in den ersten Monaten ein paar Fahrten mit dem Blockadebrecher gemacht, einfach aus jugendlicher Lust 469
an dem Nervenkitzel! Als es zu gefährlich wurde, habe ich aufgehört. Was sollen Fahnen und Schlagworte? Und der Ruhm, der keiner ist?! Mit einem Holzbein kommen sie heim, wegen eines dreckigen Fetzens mit ein paar Sternen darauf! Wofür? Konföderiertenflagge oder Unionsflagge, was ist da schon für ein Unterschied? Ist er vielleicht ein Bein oder einen Arm wert?« André lachte. »Nur Idioten oder kleine Jungen, dreißig oder vierzig Jahre alte kleine Jungen, geraten wegen solcher Dinge in Erregung.« Sie flehte stumm: Sprich nicht so, sei still. Jedes Wort ist ein Sargnagel. Er merkte nicht, daß sie litt. Selbstzufrieden schenkte er sich Brandy ein, ließ die hellbraune Flüssigkeit in dem Schwenker kreisen und roch genüßlich daran. Miriam beobachtete das elegante Ritual mit wachsender Beklommenheit. »Hör zu! Willst du die Wahrheit wissen? Mir war es immer völlig schnuppe, welche Seite gewinnt. Ich sicherte mich ab. Hätte der Süden gesiegt – ich wußte, daß er nicht siegen würde, aber hätte er es durch einen Glücksfall doch getan –, hätte mir mein Landbesitz weiterhin gehört, wie früher, aber mit einem Unterschied: Ich hätte die Mittel besessen, um ihn zu erhalten. Andersherum, wie es jetzt ja gekommen ist, bin ich für mindestens sechzig Lebenszeiten mit allem versorgt, was ich brauche. Meine Vettern können mein Land haben und sollen damit anfangen, was sie wollen – viel läßt sich damit ohnehin nicht machen.« Vor lauter Versunkenheit in seine Selbstdarstellung schien er vergessen zu haben, daß ihn wenige Minuten zuvor die Frage beschäftigt hatte, was mit ihr los sei. Miriam spürte, daß sich ihr Körper versteifte. Sie saß aufrecht da, die Hände im Schoß und die Nägel in die Handballen gepreßt. »Wäre es nicht viel einfacher gewesen«, fragte sie, »in Europa zu bleiben, wo du bei Kriegsausbruch warst? Was bewog dich, trotz der unruhigen Zeiten bei uns hierher zurückzukommen?«
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In dem Moment, wo sie die Frage stellte, wurde ihr bewußt, daß sie noch vor ein paar Monaten überzeugt gewesen wäre, er sei ihretwegen zurückgekommen, aus Liebe zu ihr. Er antwortete: »Wie kannst du nach allem, was ich eben erzählt habe, so fragen? Weil ein Vermögen zu machen war! Ich will dir etwas zeigen, was ich in meiner Reisetasche habe.« Er entnahm der kleinen Tasche, die er in einer Zimmerecke abgestellt hatte, einen Stoß Fotografien. »Da, schau. Das war im Jahr '62, als ich die Blokkade brach. Es ist in einem Café in Havanna aufgenommen, im ›Louvre‹. Dort trafen sich alle, Nordstaatler und Südstaatler, um Geschäfte zu machen. Hier sitze ich mit zwei Offizieren der Unionsarmee. Die beiden nahmen Verbindung mit Handelsschiffen aus dem Norden auf, weißt du, und ließen von ihnen eine Ladung Fertigwaren herunterbringen; die Blockadebrecher lieferten die Baumwolle an, und Zwischenhändler kauften und verkauften. Es klingt kompliziert, aber im Grunde war es ein ganz einfacher Handel und sehr vorteilhaft für alle. Für eine Schiffsladung Baumwolle konnte man Handelswaren im Wert von einer halben Million Dollar bekommen. So funktionierte das.« Miriam betrachtete die Fotografie. Ja, da saß er, blinzelte ein bißchen in der offenbar blendenden Tropensonne. Da saß er mit seinem alten charmanten, lebhaften Lächeln. Er hatte sich amüsiert, während ihr Bruder entsetzlich gelitten hatte! Sie sah Davids eingefallenes Gesicht mit den verlorenen Zähnen. Und Gabriel, von dem niemand wußte, ob er noch lebte oder nicht. Langsam sagte sie: »Es war ein Spiel für dich, nicht wahr? Ein Theater. Schauspielerei. Es war dir gleichgültig, wie du sagst, welche Seite recht oder unrecht hatte oder wie das alles enden würde. Du hast uns alle verachtet, nicht wahr? Solange du Dinge wie die hier haben konntest…« Mit einer Armbewegung deutete sie auf den Brandy und die Geschenke, die noch auf der Anrichte lagen. »Du hast dich doch gefreut über das, was ich mitbrachte. Damals die gelbe Seide und die Schuhe und Hüte, die Sachen machten dir doch Freude, oder?« 471
»Ja. Zu meiner Schande muß ich das gestehen.« Er lachte. Zum erstenmal fiel ihr auf, daß er zu oft lachte. Jetzt klang aus seinem Lachen leichte Ungläubigkeit. »Du bist ein dummes Ding. Ein dummes, frommes kleines Mädchen, aber trotzdem ein Schatz. Komm her.« Er wollte nach ihrer Brust greifen. Sie rückte außer Reichweite. »André, ich bin weder dumm noch klein. Und ich bin kein Mädchen, sondern eine Frau.« »Dann sei eine und rede nicht wie ein Mann. Miriam, sei du selbst. Sei, was du warst.« Konnte dies André sein? Was war mit ihm geschehen? Und mit ihr? Seine Worte strichen über sie hinweg wie Wind. Sie zitterte. »André… Wir haben nie über den Krieg gesprochen. Das größte Ereignis unserer Zeit, das größte in unserem Leben, und wir haben nie darüber gesprochen, weißt du das? Mir wird erst jetzt bewußt, daß wir kaum je über etwas gesprochen haben.« »Wir haben über das einzig Wichtige gesprochen, über dich und mich.« Seine Stimme schmeichelte. Trotzdem spürte sie, daß sich ihr Mund mißbilligend verzog, zu dem Abwärtsbogen, den sie durch Beobachtung im Spiegel beherrschen gelernt hatte; jetzt aber war dieser Abwärtsbogen auf ihrem Gesicht. Sie erkannte es an seiner Reaktion. »Das meiste Gerede ist ohnehin Quatsch«, sagte er. »Wirklich reden wollen die Leute, würden sie es nur zugeben, über das Überleben. Über Wege, in der Welt nach oben zu kommen und sich dort zu halten.« Sie konnte es immer noch nicht fassen, André so reden zu hören. »Das stimmt nicht«, protestierte sie. »Wie kannst du so etwas sagen? Du, der so gut zu meinem Bruder war. Das war kein ›Nachoben-Kommen in der Welt‹. Das war Güte.« »Damit wollte ich dir eine Freude machen! Ich kenne deinen Bruder kaum. Und was glaubst du, wie ich das bewerkstelligt habe? Nur 472
weil ich die Verbindungen und Geschäftsbeziehungen hatte, die dich jetzt offenbar schockieren. Warum bist du denn so schockiert? Du hast doch immer mit dem Norden sympathisiert. Glaubst du, das hätte ich nicht gewußt?« »Ja. Das tat ich und das tue ich. Aber ich muß mit meiner Familie hier leben, und ich war immer redlich gegenüber den Menschen, unter denen ich lebe. Wenigstens war ich redlich!« »Deine Redlichkeit ist ein Witz! Eben hier in diesem Haus hat ein Mitglied einer der sogenannten besten Familien auf beide Parteien gesetzt, um nicht zu verlieren. Du weißt das aber wahrscheinlich nicht.« »Doch, ich weiß es! Der alte Labouisse. Ich weiß es schon lange.« »Und es hat dir nichts ausgemacht?« »Natürlich war ich entsetzt, aber was konnte ich dagegen tun? Jedenfalls begriff ich endlich, daß die Menschen nicht immer sind, was sie zu sein scheinen.« »Das weiß jedes Kind, Miriam.« »Nicht immer. Wenn Mädchen aufwachsen wie hier, erfahren sie nicht viel über die Welt oder darüber, was sich hinter dem Lächeln und den Höflichkeiten verbirgt.« Sie holte tief Luft. »Was weiß ich schon über dich, André? Mir kommt der Verdacht, daß ich dich nicht kenne.« »Was, zum Teufel, meinst du damit?« »Ach, es ist nicht deine Schuld! Nein, bestimmt nicht. Denn du kennst mich ebensowenig. Keiner von uns hat sich dem anderen geöffnet.« Andrés Augenbrauen gingen nach oben. »So? Ich finde, wir taten es sogar sehr.« Sie errötete. Da war sie wieder, diese demütigende Glutwelle, die ihr bis in die Kopfhaut hochstieg. »Es gibt noch andere Arten als nur…«
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»Nur die körperliche, meinst du? Warum sagst du es nicht, Miriam? Ich begreife nicht, was heute abend los ist, was hier vorgeht. Du bist anders…« »O ja, aber du auch. Oder vielleicht sehe ich nur Dinge, die ich früher nicht gesehen habe. Du kommst hierher in diese Wüstenei und redest so! Daraus spricht Grausamkeit! Pelagies Zuhause ist abgebrannt, völlig zerstört. Sie hat einen Sohn verloren. Rosa ebenfalls und dazu jeden Cent, den sie besaß. Gabriel hatte ihr und sein ganzes Vermögen in Papieren der Konföderation angelegt, und die sind nichts mehr wert.« »Der unverbesserliche Narr Gabriel«, sagte André verächtlich. »Wäre er halbwegs bei Verstand gewesen, hätte er sein Geld auf eine New Yorker Bank verlagert.« Wenn du ihn liebst, sagte Gabriel, ist das eben so. Ich wollte nur Gewißheit haben… Sie hatte seine Wange auf ihrem Haar gespürt. Eine Militärkapelle hatte auf der schmalen Gasse unten einen düsteren Marsch gespielt… Ich zog bei Kriegsbeginn mit Lee aus, ich habe mein Wort gegeben. Sie schrie fast: »Wie kannst du es wagen, das zu sagen! Wie kannst du es wagen, Gabriel einen Narren zu nennen! Er hat an etwas geglaubt, vielleicht stark genug, um sein Leben dafür zu geben.« »Dein Gesicht! Schau bloß dein Gesicht an! Es glüht ja! Man könnte denken, daß du den Mann liebst!« »Hättest du nur an etwas geglaubt!« rief sie, ohne seine Worte zu beachten. »Was ist das Leben wert, wenn man an nichts glaubt?« »Ich glaube doch an etwas! Ich glaube ans Vergnügen! An die Liebe und ans Vergnügen. Sie gehören zusammen. Wir sind so kurze Zeit hier auf Erden! Ich möchte meine Zeitspanne nach Möglichkeit ausnützen! So einfach ist das. Leuchtet das nicht ein?« Sein altes schmeichelndes Lächeln bat um eine Reaktion. Sie hielt dem Lächeln nachdenklich stand. »Schließlich habe ich nie jemanden verletzt, Miriam, oder? Nie im Leben. Nicht daß ich wüßte jedenfalls.« 474
Nicht daß er wüßte. Daß er eben jetzt verletzte, würde er nicht verstehen, dies erkannte sie deutlich. Auf seinem hübschen hellen Gesicht stand Ratlosigkeit, Verständnislosigkeit gegenüber allem, was sie heute abend gesagt hatte. Ja, ein Mann fürs Vergnügen, willkommen in dunklen Tagen und an dunklen Orten, sei es in einer Ehe ohne Liebe oder in den Umwälzungen eines Krieges. Aber er hatte sonst nichts zu geben. Und auch sie hatte ihm nichts mehr zu geben. Das Bedürfnis war erloschen. Ja, so war es. Das Bedürfnis bestand nicht mehr. Sie hätte weinen können um ihn, um sie beide. »Miriam – mach kein solches Gesicht. Du runzelst die Stirn, als sei ich eine Art Schurke.« »Entschuldige«, sagte sie rasch, »ich wollte nicht finster schauen. Natürlich bist du kein Schurke, das warst du nie. Es ist nur, es ist nur so, daß…« Augenpaar forschte in Augenpaar, und lange herrschte Schweigen. Dann sagte André ganz langsam: »Daß es einen anderen Mann gibt, glaube ich. Das ist es, nicht wahr?« Mit einem Schlag ist alles verändert, dachte sie. Man sieht, was man zuvor nicht gesehen hat; das Verlangen ist vorbei; der Mann vor einem ist ein Fremder, war es immer, auch wenn man das bis jetzt nicht gewußt hat. Als sie nicht antwortete, ergriff er ihre Hände und fragte: »Gibt es einen? Gibt es einen?« Ihr lag alles daran, ihn nicht zu verletzen, ihm nur verständlich zu machen, daß sie beide nie zusammengepaßt hatten und nie zusammenpassen würden. Behutsam sagte sie: »Es gibt keinen, André. Aber es ist einfach so, daß wir nicht – nicht zusammenpassen. Das ist alles.« Er ließ ihre Hände fallen. »Nicht zusammenpassen?! Ich kann nicht glauben, was ich da höre.« »Ich weiß. Ich kann es selbst kaum glauben.« Wieder herrschte Schweigen, während auf das schlafende Haus der Regen niederprasselte. 475
»Du warst immer eine Puritanerin«, sagte André schließlich. »Eine bibelhörige Puritanerin, wie dein Bruder. Seltsam, weil du nicht wie eine aussiehst. Zumindest hast du früher nicht so ausgesehen! Vielleicht faszinierte an dir gerade dieser Widerspruch. Wer weiß?« Seine Stimme wurde rauh: »Aber da muß mehr dahinter sein, als du mir sagst! Ein anderer Mann also. Carvalho vermutlich. Darum hast du ihn verteidigt, als ich ihn einen Narren nannte.« »Du irrst dich, André. Vollkommen.« Sie war erschöpft. Sie litt unter seinem Blick, der sie prüfend musterte, vom schmutzigen Saum ihres Kleides bis zu ihrem müde gesenkten Kopf. Ein Lichtfunken fiel auf den prächtigen Ring, der noch immer vor ihr auf dem Tisch lag. Er wirkte mitleiderregend, schien ein Symbol des Verlassenseins, wie er da auf dem rohen Holz lag. Dabei war er so stolz angekommen in seinem Samtkästchen. André schlug die Faust ungeduldig in die andere Hand. Miriam kannte die Geste; sie bedeutete, daß er eine Lösung wollte, eine schnelle Lösung. »Kann ich irgend etwas tun? Du kennst mich, Miriam. Ich ertrage diese ganze Unbestimmtheit nicht, dein bekümmertes Gesicht. Sag mir einfach, ob du willst, daß ich etwas tue.« »Nein, du kannst nichts tun«, entgegnete sie unglücklich. »Dann hat es vermutlich keinen Sinn, daß ich weiter hier herumsitze, was? Besser, ich gehe wieder, wie ich gekommen bin. Nämlich schnell.« Mit einer wischenden Bewegung nahm er den Ring vom Tisch und steckte ihn in die Tasche. Miriam berührte ihn am Ärmel. »Hasse mich nicht, André.« »Ich hasse dich nicht. Das könnte ich nie. Du tust mir nur leid, Miriam. Ich bin nicht einmal wütend, was ich wegen der Zeitverschwendung sein könnte. Die ganze Reise umsonst gemacht zu haben…« »Ich wußte es zuvor nicht. Wirklich, ich wußte es bis heute nicht. Glaube mir.« »Ich glaube dir. Mir scheint, daß auch ich dich nicht gekannt habe, was?« Er bedachte sie mit einem schiefen Lächeln. »Ich hoffe nur, 476
daß du nicht einen schrecklichen Fehler begehst, den du bereust, wenn es zu spät ist.« »Falls ich das tue, sei's drum. Ich kann nicht anders.« Der Regen hörte schlagartig auf, und aus der einsamen Nacht wehte feuchter Wind zu den Fenstern herein. André schaute in die Finsternis. »Ich fahre mit dem Nachtschiff nach New Orleans zurück.« Sie hätte gern Ordnung in diese Trennung gebracht, wünschte sich ein sanftes Auseinandergehen, ein Ende mit einem ruhigen Akkord, wie in der Musik. »Nicht«, sagte sie, »geh nicht so.« »Wie willst du denn, wie ich gehe? Ich finde, daß ich es sehr gut nehme – mein erster Korb –, das erstemal, daß ich abgewiesen werde.« »So darfst du es nicht sehen. Ich weise dich nicht ab. Wir weisen einander gegenseitig ab oder hätten es schließlich getan. Dazu wäre es gekommen, André. Wir sind zu verschieden.« Er schluckte ein paarmal. Sie sah, wie sich sein Hals zusammenzog und wieder entspannte; Schmerz und verletzter Stolz hatten dort gegessen und waren hinuntergeschluckt worden. Nicht lange, und André fand in seine alte Fröhlichkeit zurück. »Hat keinen Sinn zu trauern, was? Wir können uns schließlich an einige schöne Dinge erinnern. Das heißt, falls du dich daran erinnern willst. Ich will es, Miriam. Es war zauberhaft – solange es dauerte.« Seine Lippen strichen über ihre Stirn. »Wir gehen also ins nächste Stadium über…« Er schaute auf die Uhr. »Ich beeile mich lieber. Nur noch eine halbe Stunde bis zur Abfahrt des Schiffs.« Sie hörte das Schließen der Tür, hörte seine festen Schritte auf dem Kies. Er hastete davon, wollte diesen Abend hinter sich lassen, so schnell er konnte. Und wie denn nicht? Das Stück ist aus und der Vorhang fällt. Manchmal jedoch bleiben die Zuschauer ergriffen ein paar Augenblicke sitzen, bevor sie ihre Garderobe holen und heimgehen. Miriam saß reglos da. Ihre 477
Augen füllten sich mit brennenden Tränen, die nicht herunterflossen, sondern nur den halbdunklen Raum verschwimmen ließen. Auf einmal hörte sie Schritte. Eulalie war gekommen, um den Brandy zu holen und vor den Dienstboten wegzuschließen. Neugier stand ihr ins Gesicht geschrieben, doch sie sagte nichts. »Ja, er ist fort, Eulalie. Es ist zu Ende. Und ich habe mich getäuscht. Vielleicht freut es dich, das zu hören, vielleicht ist es dir auch gleichgültig, aber ich sage es dir trotzdem. Ich habe falsch geurteilt. Ich hatte unrecht, nicht nur in dem einen Sinn oder aus den Gründen, die du wahrscheinlich meinst.« Ihr fiel etwas ein: »Übrigens habe ich dir nie dafür gedankt, daß du so taktvoll geschwiegen hast. Ich danke dir deshalb jetzt.« »Du hast mir Obdach gewährt«, entgegnete Eulalie steif. »Und ich achte das Andenken deines Mannes. Ich habe ihn bewundert. Er war ein echter südstaatlicher Herr.« »Ja, ich weiß, daß du ihn bewundert hast.« Miriam streckte die Hand aus. »Heute scheint für mich ein Abrechnungstag zu sein. Also, Eulalie, Waffenstillstand? Wir werden einander nie lieben, einander wahrscheinlich nie sonderlich gern mögen, aber trotzdem Waffenstillstand?« Sie schüttelten sich die Hände. Eulalie ergriff die Brandyflasche und sagte im Hinausgehen: »Vermutlich wird er zu seiner Frau zurückkehren, wie?« »Vermutlich.« Nicht notwendig, etwas zu erklären. Lange stand Miriam da und schaute ins Feuer. Feuer hielt die Gedanken fest, wie Wasser. In den Flammen sah man ein ganzes Leben. Hinten auf der Feuerstelle hatte ein glimmendes Holzscheit wieder zu brennen begonnen, es ließ das Feuer, das am Verlöschen gewesen war, noch einmal für eine Weile auflodern. Miriam stand davor wie in Trance. Jahre widerspiegelten sich in dem goldenen Schein. Der eben zu Ende gegangene, erstaunliche Tag spiegelte sich darin. Ja, dachte sie, André könnte eine Statue mit der Beschriftung ›Junger Grieche‹ sein. Genau das war er, An478
dré mit seinem Strahlen, das eine Frau bezauberte, aber nicht auf Dauer. Unter dem Strahlen gab es zuwenig, es bekam keine Nahrung, verbrauchte sich und erlosch, wie in ein paar Minuten das Feuer hier erlöschen würde. Gabriel sagte: ›Wie konnte er das tun – eine so weltfremde Frau ein romantisches, unwissendes Mädchen – deinen Untergang zu riskieren… Käme er hier herein, ich würde ihn umbringen.‹ Sie fuhr sich mit der Hand über die Augen, um die Erinnerung an Gabriels Zorn auszulöschen. Sie fragte sich, warum sie weine, und antwortete sich mit Andrés Worten: ›Weil es zauberhaft war, solange es dauerte.‹ Ja, das war es, dachte sie. Aber zuwenig war dahinter, und ich brauchte zu lange, um das herauszufinden. Ich weine nicht um seinetwillen; für André wird es immer eine andere geben, wenn er eine will. Wohin er auch geht, ob nach London, nach Paris, überall werden sie sich zu ihm hingezogen fühlen. Nein, keine Tränen für André. Nach einer Zeitlang war sie leergeweint. Die Asche war grau, und das Haus war still. Sie ging nach oben, empfand gedämpfte Erleichterung, wie man sie verspürt, wenn man geweint hat.
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eder Tag brachte neue Heimkehrer in Uniform oder Uniformresten; zu Fuß oder zu Pferd, hinkend oder heil kamen sie von Norden und Westen auf staubigen Straßen, die den Flußwindungen folgten, und von Osten über die Hügel. »Das erinnert mich an die Heimkehr von Napoleons Truppen in meiner Kindheit«, sinnierte Ferdinand. »Zerfetzte Stiefel oder gar keine Stiefel; einige froh, nach Hause zu kommen, einige voll Angst vor dem, was sie dort erwartete. Genau das gleiche.« 479
Gabriel fuhr bestimmt mit der Bahn und würde dann von New Orleans zu ihnen herauskommen, sofern er überhaupt heimkam. Pelagies Jungen trafen ein und überließen sich hilflos der überschwenglichen, tränenreichen Begrüßung, denn in ihrer schwer erworbenen Männlichkeit und mit ihren neu gesprossenen Bärten hätten sie sich geschämt zu zeigen, wie froh sie waren. »Was für ein Glück ich habe!« rief ihre Mutter nach dem ersten Weinen und Lachen. »Die arme Mama hat von ihren elf Kindern acht verloren, ich dagegen nur zwei von meinen sieben. Und ich habe meine Jungen wieder. Sie haben zwar kein Dach über dem Kopf, das sie ihr eigen nennen könnten, aber wenigstens sind sie am Leben.« Rosas Henry kam, unglaublicherweise vollkommen unversehrt, obwohl er sich durch ganz Georgia gekämpft und zweifellos die schwersten Gefechte des Krieges mitgemacht hatte. Er sah sehr jung aus für seine dreißig Jahre, war abgehärtet und braungebrannt und erregte ganz offensichtlich das scheue Interesse Angeliques, die mit Pelagies einzigem Seidenschal und einer aus Miriams Schmuckschatulle geborgten Granatkette zum Abendessen erschien. Das Mädchen hatte bisher kaum einen ›akzeptablen‹ Mann zu Gesicht bekommen. Als ich so alt war wie sie, dachte Miriam, manövrierte man mich schon in diese Ehe hinein, und ich glaubte, reif für eine Ehe zu sein, was zweifellos auch sie jetzt glaubt. Genau wie ich träumt sie vom Körper des Bräutigams und vom Hochzeitsbett. Ich muß ihr sagen, daß sie Henry nicht so anstarren darf, sonst merkt es Rosa. Nein, ich muß ihr nichts sagen. In Ruhe lassen muß ich sie. Sie soll selbst entscheiden, was sie mit ihrem Leben anfangen will. Es ist ihr Leben. Ein dutzendmal fragte Rosa ihren Sohn, ob er wirklich nichts von Gabriel gehört oder gesehen habe. Sie gab sich mit seiner abschlägigen Antwort nicht zufrieden; immer wieder sagte sie, irgend jemand müsse etwas wissen, auf irgendeinem Weg müsse es möglich sein, herauszufinden, was nach dem Durcheinander der letzten Schlacht und der Kapitulation mit ihm passiert war. Miriam, die keine Fragen stell480
te, begann seltsame Träume zu haben. Sie fingen mit dem Aufsteigen von Sehnsüchten an, anderen Sehnsüchten, als sie je verspürt hatte. In ihnen lag eine tiefe Zärtlichkeit, die an Trauer grenzte, etwas schwer Faßbares, so Flüchtiges, daß die Angst, es zu verlieren, genauso ausgeprägt war wie dieses Etwas selbst. Halb zwischen Schlaf und Wachen, aber wissend, daß sie träumte, hielt sie einen Männerkopf am Herzen und spürte dessen Gewicht. Oh, gib auf ihn acht, laß nicht zu, daß ihn etwas verletzt, niemals! Eines Tages dann kam Nachricht, überbracht von einem aus der fußwunden Schar, die auf der Flußstraße vorbeizog, einem Farmerssohn aus der Senke hinter Beau Jardin. Irgendwie war er in dem Chaos der letzten Kriegstage mit Oberst Carvalho zusammengekommen, und er hatte eine Botschaft zu übermitteln: Gabriel war ›in den Norden gegangen, um eine Verwundung behandeln zu lassen‹. Er sagte es mit einsilbiger Kürze und gab keine Antwort auf ihre verständlichen Fragen, was für eine Verwundung es sei, warum Gabriel nicht geschrieben habe und wann er nach Hause komme. Aber wenigstens lebte Gabriel. Nun konnte man nur warten. Der Sommer schritt seinem Höhepunkt zu, erzeugte eine allgemeine Unruhe und Ungeduld, den Drang, neue Wege zu gehen. Der Krieg war vorbei, es schien an der Zeit, ins ›wirkliche‹ Leben zurückzukehren, worunter Ferdinand und seine Familie im Gegensatz zu den Labouisses das Stadtleben verstanden. Eugene hatte viele Schuljahre verloren. Angelique hatte sich in tiefer ländlicher Einsamkeit verstecken müssen; ihre Reaktion auf die Gegenwart Henry de Riveras zeigte, daß sie bereit war für die nächste Phase. Und jetzt, nach der schweren Zeit, in der man Aufheiterung gebraucht hätte, begann sogar Ferdinands unerschütterliche Heiterkeit ins Wanken zu geraten. Eines Tages sagte Miriam, weniger aus Interesse an Ferdinands Meinung, sondern eher laut denkend: »Sanderson schreibt, daß er wieder in der Stadt ist und sich die Freiheit genommen hat, wie er es ausdrückt, ins Büro und ins Lagerhaus zu gehen. Beide stehen leer, sind aber unbeschädigt, berichtet er. Wahrhaftig, trotz Butlers Ent481
setzlichkeiten haben sie die Stadt nicht zerstört, was sie jederzeit hätten tun können. Sanderson schreibt, in der Post sei eine Bestellung von einem alten Kunden in England, mit einem Scheck als Vorauszahlung. Er glaubt, daß wir wieder anfangen können, ganz langsam und vorsichtig natürlich.« Ihre Finger falteten und entfalteten den Brief, spielten mit dem raschelnden Papier, während sie zurückdachte an ihre erste Freude über die Beherrschung der Geheimnisse des Hauptbuches, an ihre Freude beim Sichmessen mit anderen, beim Aufbau eines kleinen Reiches – wenn man es so nennen konnte – für ihre Familie. »Der Handel wird wieder aufleben«, sagte sie. »Der Himmel weiß wann, aber eines Tages wird er wieder blühen.« »Ich wünschte, ich könnte dir einen Rat geben.« Ferdinand stieß einen Seufzer der Sehnsucht und Bescheidenheit aus. »Aber ich habe Angst, es zu tun«, fügte er abrupt hinzu und lachte verlegen. »Ruhen Sie sich aus, Papa, Sie haben zu Ihrer Zeit das Ihre geleistet«, entgegnete sie in dem Wissen, daß er sich nur zu gern ›ausruhte‹. Pelagie fuhr mit ihren Söhnen nach Plaisance' um nachzuschauen, was dort noch übrig war. Der alte Herr Lambert war auf eigenes Verlangen zurückgelassen worden. Er hätte es nicht ertragen, die Verwüstung des prächtigen Besitzes zu sehen, der einst den Mittelpunkt seines Lebens gebildet hatte. »Es kann nie mehr das werden, was es war«, erklärten sie nach ihrer Rückkehr, »das wissen wir alle. Und wir werden allein schon ein paar Jahre brauchen, um irgendeine Art Haus zu bauen, eine kleine Behausung, in der wir wohnen können, während wir versuchen, Ordnung in die Wüstenei zu bringen, ein paar Leute anzustellen und ein paar Morgen zu bepflanzen…« Trostlose Zukunftsaussichten. Plötzlich hatte Miriam eine Idee. »Warum bleibt ihr nicht hier, bis ihr in Plaisance neu anfangen könnt? Ihr könntet Beau Jardin verwalten, und wir kehren in die Stadt zurück. Bringt die Ernte hier ein, verkauft sie, behaltet den 482
Erlös und benützt ihn als Beitrag zur Wiederherstellung von Plaisance.« Pelagie, die immer leicht weinte, vergoß jetzt Tränen der Dankbarkeit. »Du bist so gut zu uns! Du hast uns aufgenommen, uns ernährt, und jetzt das. Ich weiß nicht, wie du das alles schaffst.« »Meine Tochter schafft alles. Sie hat den Verstand eines Mannes«, sagte Ferdinand stolz. Den Verstand eines Mannes, dachte Miriam leicht spöttisch. Dann sagte sie zu Pelagie und zu Eulalie, die darauf wartete, miteinbezogen zu werden: »Auch ihr werdet es schaffen. Ihr habt ein gutes Erbe, alle beide. Erinnert ihr euch nicht an das, was eure Mutter immer von ihrer Ururgroßmutter an der Deutschen Küste erzählte? Ich glaube, ich habe sie es erzählen hören, als ich zum erstenmal in ihrem Haus am Eßtisch saß. Fünfhundert Arpent Land, sagte sie; das Haus bestand aus behauenen Baumstämmen, und die Schweine liefen frei in den Wäldern herum und suchten Eicheln. Ja, ich erinnere mich genau. Sie war sehr stolz auf dieses harte Leben! Das eure wird nicht so hart sein hier… Abgemacht also.« Allein ging Miriam ein letztes Mal über den Besitz, den sie einst so verabscheut hatte. Die Rinder waren aus dem Stall gelassen worden und bewegten sich auf das Tor zu, die Köpfe ins Gras gesenkt. Pelagies Söhne hatten bereits begonnen, Ordnung zu schaffen. Sie hatten die Melkzeiten geregelt und feste Zeitpläne für das Pflanzen und das Pflügen aufgestellt. Für sie war dies eine natürliche Lebensweise, nicht eine, die sie mühsam lernen mußten. Das Land und seine Geschöpfe verlangten nach Betreuung, dachte Miriam, und war froh, dieses Land und seine Geschöpfe Menschen anvertraut zu haben, die beides liebten. Auf der Veranda kontrollierte Sisyphus das spärliche Gepäck der Familie. Miriam dachte daran, mit welchem Gepränge sie früher in Beau Jardin angekommen oder von hier abgefahren waren, Wagen 483
voller Koffer, Kutscher in Federhüten und glänzende Pferde mit messingbeschlagenen Geschirren. Veränderungen. Veränderungen. Sie ging hinab in den Schatten der Zypressen und immergrünen Eichen, hinab zum Bayou. Der Tag war windstill, so still, daß die Wipfel der Tupelobäume nicht das kleinste Lüftchen einfingen und die flauschigen Schilfrohrköpfe am Bayourand dastanden, ohne zu schwanken. Das Wasser sah aus wie schwarzes Glas, hier und dort gesprenkelt mit Silber oder Bronze, wenn ein Sonnenstrahl das Blätterdach durchdrang. Doch in der Tiefe, unter der glatten Oberfläche, lauerten der dösende Alligator und die schreckliche Wassermokassinschlange. Wie das Leben, dachte Miriam. Gefahr liegt in der Schönheit und Schönheit in der Gefahr. Dann verspottete sie sich: Wie philosophisch wir heute morgen sind, Miriam! Sie ging zum Haus zurück. Es war Zeit für die Abfahrt. Jemand berührte ihre Schulter. Angelique hatte ihre Mutter mit einem Büschel derber, gezackter Zinnien aus dem verwilderten Garten angetippt. »Wir müssen das aufs Grab unseres Papas legen, bevor wir wegfahren«, sagte sie ernst. Miriam hob die Augen zu der Galerie im zweiten Stock und senkte sie dann zu der Stelle auf dem Kies, wo Eugene gelegen hatte. »Natürlich«, sagte sie weich. Sohn und Tochter legten ihre Blumen auf das Grab des Vaters. Stumm und mit lautlosen Schritten waren sie zu dem Grab gegangen, als könnte der Mann, der hinter der Hecke aus glattstämmigen weißen Rosen lag, ihre Anwesenheit wahrnehmen. Er ruhte für immer an dem Ort, den er geliebt hatte, seinem Beau Jardin. Miriam, die ein Stück abseits stand, betrachtete ihre Kinder. Die beiden befanden sich jetzt in der kurzen Periode unbestimmter Möglichkeiten und warteten, ohne zu wissen, auf den Eintritt ins Erwachsenenleben. Man konnte nicht vorhersehen, was letztendlich aus ihnen würde, aber was immer es war, sie würden es bald. Die Zeit dafür war reif. Der Junge, in den letzten Jahren ohne Schul484
unterricht, war ruhelos und linkisch geworden, fast schüchtern und derb wie ein Hinterwäldler. Auch offen wie ein Hinterwäldler oder offen und ehrlich wie David, hätte man auch sagen können. Nicht zu übersehen, die Ehrlichkeit in seinem Blick, der solche Ähnlichkeit mit jenem Davids hatte. Miriams eigener Blick wandte sich Angeliques gesenktem Kopf zu. Kupfer durchzog das offene schwarze Haar; mit einer raschen, fließenden Bewegung kniete sie sich nieder, um die Blumen zurechtzurücken, dann richtete sie sich hoch auf. Die seltsamen teefarbenen Augen, die im Gesicht ihres Vaters so geheimnisvoll und bedrohlich gewirkt hatten, waren im Gesicht des Mädchens exotisch und verlockend. Sie hatte den Stolz ihres Vaters, aber nichts von seiner Arroganz. Neidlos gestand sich die Mutter ein, daß die Schönheit ihrer Tochter ihre eigene jetzt schon übertraf. Der Junge betete das Kaddisch, und die Stimme versagte ihm fast vor Ergriffenheit. Angelique schaute auf den Grabhügel, über dem sich zwei Hummeln jagten. Wie sie ihren Vater geliebt haben! dachte Miriam. Sie wissen nicht, daß wir einander untreu waren. Sie wissen nicht, wie sie empfangen wurden, daß ich die Zähne zusammenbeißen mußte, um meine Wut nicht herauszuschreien. Und sie werden es nie erfahren. Er hat sie gezeugt und für sie gesorgt. Das ist alles, was zählt. Ach, wie sie ihn verabscheut hatte, wie bekümmert sie ständig gewesen war! Unvermittelt sagte sie zu ihren Kindern: »Wenn ihr einundzwanzig seid, könnt ihr entscheiden, ob ihr den Landsitz hier haben wollt. Ich will ihn nicht.« Die liebe Stadt, die teure Heimat! Das Haus befand sich in besserem Zustand, als sie gehofft hatten, auch wenn die Vorhänge ausgebleicht, die Parkettboden verdorben, der Garten verwildert und die Brunnenbecken voller Unrat waren. Im Briefkasten war ein Brief. Von Gabriel, dachte Miriam voll heißer Hoffnung. Aber er war nicht von Gabriel, sondern von Fanny. 485
Sie schrieb aus Washington, wo sie in einem schönen Haus angestellt war, die Kinder versorgte und allgemein ›aushalf‹. Kein Unterschied zu dem, was sie hier getan hat, dachte Miriam und las weiter. »Es sind gute Leute, die Stadt ist wunderbar, und ich bin glücklich, aber ich vermisse Sie alle trotzdem. Ich werde Sie nie vergessen und Sie immer lieben. Fanny.« Die Unterschrift bildete einen schönen Schnörkel auf dem Blatt. Ich war ein Kind, als ich sie schreiben lehrte. Ich unterrichtete sie, und sie unterrichtete auf ihre Weise mich. »Auf das Leben«, sagte Miriam laut. Es war eine Art Segen, fast ein Gebet, wenn man es so auffassen wollte, ein alter hebräischer Segen: »Auf dich, Fanny«, sagte sie weich, faltete den Briefbogen zusammen und steckte ihn weg. Der Sommer ging in den Herbst über, Goldblattkastanien und Feuerdorn färbten die Morgenstunden rötlich, während lebhafter Wind dünne Wolkenstreifen über den Himmel trieb, der hart und blau wie Porzellan aussah. Bald würden auf der Straße Wildenten feilgeboten, und bald würde Regen die abnehmenden Tage verdunkeln. Entlang der Friedhofsmauer kümmerten vertrocknete, braune Hortensien dahin, dürr geworden unter der letzten Sommerhitze. Miriam und Ferdinand standen vor dem kunstvollen Grabmal, das Ferdinand in seinen reichen Tagen auf Emmas Verlangen gekauft hatte. Volle fünf Minuten blickte er stumm auf die Inschrift. Ci-git Emma Raphael, geb. Duelos. Sie war eine gute Mutter, eine gute Freundin und wird von allen betrauert, die sie kannten. Passant priez pour elle. Miriams Augen wanderten über die langen Reihen der hochgebauten, für das Flutwasser unerreichbaren Grüfte, weiter zu den Gräbern mit ihren schwebenden Engeln und ihren Glasbehältern für künst486
liche Blumen, schließlich zu dem nur wenige Meter entfernten Grab von Sylvain Labouisse. Alte Feindschaften! Die schreckliche Nacht von Davids Flucht. Pelagie in einem dichten schwarzen Schleier, und David, der sanfteste aller Menschen, in dessen Phantasie das Bild ihres gramvollen Gesichts lebendig sein würde, solange er selbst lebte. Alle die alten Feindschaften. Ein Mann und eine Frau, denen man die Touristen ansah, schlenderten vorbei. Die Frau sprach im Yankee-Tonfall: »Kurios, was? Ich habe noch nie einen solchen Friedhof gesehen. Und alles in Französisch – die ganze Stadt –, sie scheint gar nicht amerikanisch zu sein.« »Falsch«, widersprach Ferdinand, als die beiden weg waren, »sie war die amerikanischste aller Städte. Sie war das amerikanische Paradies. Ach, ich weiß noch, wie ich den Fluß herunterkam und mühsam meinen Koffer vom Schiff schleppte… Hier gab es keine Unterschiede irgendwelcher Art. Wenn man hier hart arbeitete, konnte man etwas aus sich machen«, sinnierte er in seiner vertrauten Weise. »Aah, und das Leben, das süße Leben hier!« Er küßte seine Fingerspitzen. »Ja, gewiß«, sagte Miriam geduldig. Ferdinand strich mit beiden Händen über das Flachrelief, auf dem ein Engel mit Pausbacken und gefalteten Flügeln Trompete blies. Nach einer Weile seufzte er. »Sie war eine gute Frau.« »Sie war gütig, sie war lieb, und ich hatte sie lieb.« Zögernd fragte Miriam: »Wollen Sie auch hier liegen, Papa, wenn Ihre Zeit kommt?« »Nein. Habe ich dir das nicht gesagt? Ich habe mir schon vor langem ein Grab im Friedhof der Scha'arej-Chasset-Synagoge gekauft.« Als er die unverkennbare Überraschung seiner Tochter sah, fuhr er mit einer seltsamen Mischung aus Scheu und Stolz fort: »Morgen gehe ich hin und spreche das Kaddisch für Eugene. Und für viele andere. So viele andere.« Auf dem Rückweg zum Wagen sinnierte er weiter: »Weißt du, Amerika hat etwas, das mir bisher nie aufgefallen ist, glaube ich.« »Und was ist das?« 487
»Man braucht sich hier nicht selbst aufzugeben und nicht zu vergessen, wer man ist. Man kann in dem Ganzen aufgehen und trotzdem man selbst bleiben. Wie dem auch sei«, sagte er nachdenklich, »vor sich selbst kann man ohnehin nicht fliehen, auch wenn man es will, nicht wahr? Dieser Krieg und alle die falschen…« Miriam unterbrach ihn: »Und jetzt wollen Sie nicht mehr fliehen?« »Nein. Nein…« Er sah seine Tochter mit einem leuchtenden Blick an, der fast jugendlich war in seiner Glut. »Vermutlich könnte man sagen, daß ich alt werde und meinen Frieden mit der Welt machen möchte. Ich denke jeden Tag öfter an deine Mutter und an die Dinge, die ihr soviel bedeuteten. Aber das weißt du ja… Außerdem denke ich seltsamerweise an Judah Touro, den ich kaum kannte, und daran, wie er zu seinen Anfängen zurückkehrte. Irgend etwas war mit ihm geschehen. Was? Vielleicht geschieht es gegen das Ende zu mit uns allen. Wer kann schon sagen, warum? Vielleicht steckt es uns in den Knochen.« Miriam erinnerte sich undeutlich, daß Gabriel vor langem einmal erklärt hatte, manche Menschen wollten die Demütigungen vergessen, denen sie in Europa ausgesetzt gewesen waren, und würden dabei auch alles Wertvolle fallenlassen. Ja, das hatte Gabriel gesagt. Er braucht lange für den Heimweg, dachte sie. »Ich möchte deinen Bruder sehen, Miriam«, sagte Ferdinand wie in letzter Zeit so oft. »Ob ich ihn je wiedersehen werde?« »Ich glaube schon, Papa, ich weiß nur nicht, wann.« »Ich möchte ihm sagen, daß ich jetzt mehr Verständnis habe als früher. Ach, ich mußte diesen schrecklichen Krieg mitmachen, um meinen Sohn zu verstehen! Er hatte natürlich recht, auch wenn der Weg, den er einschlug, weiß Gott nicht der vernünftigste war! Trotzdem, er blieb sich selbst treu, worauf du mich immer hingewiesen hast.« Sich selbst treu. Wie Gabriel. Erinnerungen an Gabriel drängten sich ihr auf, lebendige Bilder, herausgefallen aus ihrer Zeit und ihrem Ort: der mit Papieren vollgestopfte Zylinder, die Flucht aus Da488
vids Haus durch die unheimlichen Straßen, das Zimmer über der finsteren Gasse in Richmond, seine Arme um sie… Maxim setzte die Pferde in Bewegung, zwei müde Klepper, billig verkauft von den Besatzungstruppen, die sich die Mühe sparen wollten, sie in den Norden zu transportieren. Der Wagen ratterte. Aus der Polsterung quoll das Werg. »Die sind sehr grob damit umgegangen«, klagte Ferdinand. »Ich erinnere mich an den Tag, an dem ich ihn kaufte, und an den Tag, an dem Eugene ihn aus meinem Konkurs für mich rettete. Welche Güte von ihm! War zu seiner Zeit ein schönes Gefährt. Ich liebte immer leuchtende Dinge, rote Räder, gutes Leder. Teure Dinge.« Er lachte wehmütig. Das gemächliche Klappklapp der Pferdehufe klang zu laut in den zu stillen Straßen. »Ach, die Stadt wird lange brauchen, um sich zu erholen«, sagte Ferdinand. »Aber sie wird sich erholen, Papa. Und für uns könnten unterdessen die Dinge schlechter stehen. Wenigstens haben wir ein Haus, mehr als viele andere haben.« »Richtig. Ein Haus. Und deine prächtigen Kinder. Weißt du, ich stelle mir oft vor, daß Angelique im Garten heiratet. Vielleicht Rosas Henry, was meinst du? Damit die alte Familie erhalten bleibt, die alte sephardische Linie weitergeht.« Seltsame Äußerungen von einem Menschen, der unter seinen eigenen Vorfahren keinen aus dieser alten sephardischen Linie hatte. Aber so war Papa; trotz aller Rückschläge und Niederlagen strebte er noch immer nach Großartigkeit, seiner Vorstellung davon! Sie unterdrückte ihre Belustigung. »Ach, ich weiß es nicht«, antwortete sie und dachte plötzlich mit einem Stirnrunzeln: Heirat, schon wieder? Angelique ist kaum sechzehn! Nein, nicht so früh, nicht noch mal ein Fehler im alten Stil, wenn ich es verhindern kann! »Und ich denke auch an dich, Miriam. Du bist noch immer eine junge Frau, zu jung, um allein zu bleiben. Wahrscheinlich hast du 489
es satt, mich das sagen zu hören. Weißt du, eine Zeitlang dachte ich, zwischen dir und Perrin könnte sich etwas anbahnen, falls seine Frau sich scheiden ließe. Emma redete immer davon, daß Scheidungsgerüchte kursierten. Ich bin sehr froh, daß zwischen euch nichts ist.« »Ich dachte, Sie mögen ihn. Sie schienen seine Gesellschaft zu genießen.« »O ja, in der Tat! Er hat eine einnehmende Art, eine gute Laune, die ansteckend wirkt. Aber etwas an ihm paßte nicht zu dir.« Eigenartig, daß er das bei Eugene nicht sah, als wir heirateten, dachte sie und antwortete nicht. Ihr Vater warf ihr einen verstohlenen Blick zu. Er erkannte, daß er irgendeinen Nerv getroffen hatte, und schwieg ebenfalls. Später am Tag servierte Sisyphus Tee in seiner ordnungsgemäßen Butlerkleidung, auf der er bestand, obwohl sie alt und abgetragen war. Ein Pferd trottete die Straße herauf und blieb am Bordstein stehen, ein Mann schwang sich aus dem Sattel, schlang die Zügel um den Pfosten und kam auf den Hauseingang zu. Sisyphus ließ fast den Rahmkrug fallen. »Aber – das muß Mister Gabriel sein!« rief er. »Ja, natürlich, er ist es!« Alle sprangen auf, ein Stuhl fiel um, alle rannten hinaus und die Stufen hinunter. Aber Miriam war die erste, die seinen Namen rief, die erste, die ihn in die Arme schloß. »Gabriel!« Sein linker Ärmel hing herab. Der Arm war weg. Entsetzt öffnete sie den Mund, stammelte: »Dein – Arm…« »In der letzten Schlacht. Bei Five Forks' bevor Richmond fiel.« »Dein Arm…« Ihre Stimme war fast schrill geworden. »Nicht doch, nicht doch«, ermahnte er sie sanft. »Ich bin am Leben und bin dankbar dafür.«
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Alle gingen ins Haus, Angelique und Eugene, Miriam, Ferdinand und Gabriel; Sisyphus, genauso von Gefühlen überwältigt wie die anderen, bildete den Schluß. »Komm hier herein, setz dich«, sagte Ferdinand zu Gabriel. »Laß dich anschauen.« »Dein Arm…«, wiederholte Miriam. Ferdinand gab sich betont herzlich, versuchte eine Art männliche Verschwörung einzugehen und das delikate Thema zu überspielen, um die empfindliche Frau zu schonen. »Wo warst du? Wir warten seit Monaten auf dich.« »Ich war im Norden. Wegen meinem Arm – und wegen anderen Dingen.« Miriam faßte sich, zwang ihre Augen weg von dem schrecklichen leeren Ärmel und hin zu Gabriels Gesicht. Aufmerksam und höflich lauschte er Ferdinands erregtem Gebabbel. Die Zurückhaltung war noch immer da; sein Gesicht war nie beweglich oder ausdrucksvoll gewesen; was er in sich trug, wurde zurückgehalten und behutsam freigesetzt, nicht verströmt… Sie dachte, daß sie noch nie ein so schönes, so männliches Gesicht gesehen habe. Sie dachte, daß sie es bisher nie wirklich gesehen habe. »Möchtest du Brandy oder Wein? Eine oder zwei Flaschen sind noch da. Viel haben sie uns nicht gelassen.« Wie immer war Ferdinand der besorgte Gastgeber. »Nein, nein, danke. Tee ist ausgezeichnet.« »Wenn ich an die alte Gastlichkeit denke«, begann Ferdinand und fragte dann: »Du bist doch für ganz nach Hause gekommen, oder?« »Ja. Ich habe den Eid geleistet und meinen Pardon erhalten.« Einen Augenblick lang wußte niemand etwas zu sagen. Eugene und Angelique waren offensichtlich in Ehrfurcht erstarrt vor diesem Kriegshelden. Trotz seiner veränderten Ansicht über den Krieg empfand Eugene Verehrung für Helden. Die Bewunderung stand ihm ins Gesicht geschrieben. Schließlich brach seine Neugier durch: »Wie lautet der Pardon?« Gabriel lächelte. »Er ist sehr lang. Eine Menge Wörter.« 491
»Gehört er zu der von Präsident Johnson verkündeten Amnestie?« »Nein, die gilt nur für Männer, die an der ehemaligen Rebellion teilnahmen, wie er es nennt, und das nur, sofern sie keine ranghohen Offiziere waren oder keinen besteuerbaren Besitz im Wert von mehr als zwanzigtausend Dollar hatten.« Gabriel verzog das Gesicht. »Na, ich habe gewiß keinen Besitz, der irgend etwas wert ist. Aber ich war ein ranghoher Offizier, also mußte ich um persönliche Begnadigung bitten.« Schweigen herrschte, während alle über diese Fakten nachdachten. Ferdinand fragte: »Er ist nicht wie Lincoln, dieser Johnson, was?« »Nein. Ich fürchte, bei ihm werden wir einen schwereren Stand haben als bei Lincoln, wäre er am Leben geblieben.« Eugene sagte fast schüchtern: »Lincoln war ein gerechter Mann.« »Stimmt. Er war unser bester Freund im Norden.« »Ich hätte nicht gedacht, dich einmal so etwas sagen zu hören!« rief Ferdinand. »Es gibt eine Menge Dinge, von denen ich nicht gedacht hätte, sie einmal von mir selbst zu hören.« Alle diese Reden wirbelten an Miriams Kopf vorbei, sie hörte sie nur halb. Ja, dachte sie, es ist ganz einfach! Warum habe ich es nicht früher erkannt? Er füllte den Raum mit seiner Gegenwart aus. Alle anderen schrumpften zusammen, auch die Wände; übrig blieben nur das vibrierende Nachmittagslicht und Gabriel in dessen Mitte. Und Miriam hatte den glücklichsten, närrischsten Gedanken: Ich bin froh, daß ich mich umgekleidet habe. Ich möchte tadellos aussehen. Er wird merken, wie froh ich bin. »Der Krieg hat uns alle verändert. Wißt ihr, daß es weniger gekostet hätte, alle Sklaven zu kaufen und dann freizulassen? Ja, das hätte weit weniger gekostet. Die Differenzen zwischen dem Norden und uns waren keinen Krieg wert. Er war ein Werk der Politiker.« »Warum hat man es dann nicht getan?« fragte Eugene. »Was getan?« »Die Sklaven gekauft und freigelassen.« 492
»Hm, das wäre zu einfach gewesen! Nein, im Ernst, dafür gab es viele Gründe. Einer davon ist Geld. Es ist immer einer.« Miriam dachte an die ungeheuren Profite, die aus dem Blut geschlagen worden waren, als ob diese ihr persönlich zur Schande gereichten – und traf das zu einem Teil nicht auch zu? Der unverbesserliche Narr, hatte André gesagt und gelacht. »Ruhm und Ehre«, murmelte sie. Die Worte kamen aus ihrem Mund, ohne daß sie es wollte. »Ruhm und Ehre bedeuten also nichts.« Auch das hatte André gesagt. »Ruhm gibt es keinen«, entgegnete Gabriel, »das steht fest. Aber Ehre gibt es, und sie ist wahrscheinlich das einzige, was uns geblieben ist.« Seine Schultern strafften sich: »Wir sind ehrenvoll in den Krieg gezogen und ehrenvoll daraus hervorgegangen, wie David sagt.« »David? Du hast mit David gesprochen?« rief Ferdinand. »Ich habe ihn in New York getroffen.« »Erzähle, erzähle!« drängte Ferdinand. »Ich fand, daß er recht gut aussieht. Er hat seine Gesundheit wiedererlangt. Das einzige, was er nicht wiedererlangen wird, sind seine Zähne. Übrigens habe ich gehört, daß dieser Satan Wirz, der Leiter des berüchtigten Lagers, für seine Verbrechen vor ein Kriegsgericht gestellt wird.« »Was hat er noch gesagt? Kommt er nach Hause?« Gabriel antwortete behutsam: »Ich bin sicher, daß er auf Besuch kommt, aber zu Hause fühlt sich David im Norden. Das müssen Sie doch wissen.« »Er eröffnet also eine Praxis in New York? Oder wo sonst?« »Ich glaube nicht, daß er sich schon entschieden hat. Er ist derselbe alte David, wissen Sie…« Gabriel lächelte. »Zieht aus in neue Kriege.« »Neue Kriege?!« »Ja, die Lohnsklaverei, hat er zu mir gesagt, sei nicht viel besser als die Negersklaverei. Sie bedeutet, daß man sich für einen Tag und nicht mehr verkauft. Er hat vor, jetzt dagegen zu kämpfen.« 493
»Dagegen kämpfen? Wie?« fragte Ferdinand entgeistert. »Nun, es ist kein Kampf im eigentlichen Sinn. Er will eine Erhöhung der Löhne durchsetzen, die an manchen Orten wirklich schandbar niedrig sind. Außerdem will er gegen die sanitären Zustände in Mietshäusern angehen, gegen die mangelnde Sicherheit in den Fabriken, gegen die Kinderarbeit und eine ganze Reihe anderer Mißstände.« »Guter Gott«, murmelte Ferdinand. »Armer Papa!« sagte Miriam fast boshaft. Die Bestürzung ihres Vaters hatte etwas Komisches. »Wir sollten uns inzwischen doch an unseren David gewöhnt haben, nicht?« »Er ist unser zorniger Prophet«, meinte Gabriel und fügte voll Ernst hinzu: »Die Welt braucht Menschen wie ihn, die uns übrigen meilenweit voraus sind. Und gottlob hat Amerika immer Menschen wie ihn gehabt.« Ferdinand seufzte: »Die Juden haben sie auch immer gehabt. Menschen wie er bilden den Kernpunkt unseres Glaubens.« Miriam sah ihren Vater erstaunt an. »Ja, ich werde alt, Miriam, aber ich habe noch nicht alles vergessen.« Gabriel sagte leise: »Es ist ein demokratischer Glaube. Sehr amerikanisch, wenn man es recht bedenkt.« Er hielt inne und schaute zum Fenster, an dessen obere Scheibe die dürren Blätter eines toten Astes klopften. Er schaute so lange hin, daß die anderen schließlich auch hinschauten, aber es gab dort nichts zu sehen als den toten Ast. Sie spürten Gabriels Versunkenheit und störten ihn nicht. »Na dann«, sagte er und wandte sich ihnen wieder zu, »wir bauen also neu auf. Eine neue Generation wird antreten. Nach einiger Zeit wird es uns allen bessergehen als je zuvor.« »Das hat Rabbi Gutheim vorige Woche gesagt«, berichtete Eugene. »Er hat recht damit«, erklärte Gabriel. Angelique, die Gabriel schon geraume Weile mit dem Kinn in den Händen musterte, platzte plötzlich heraus: »Wissen Sie was, mir ist gerade aufgefallen, daß Sie Lincoln ähnlich sehen!« 494
Allgemeines Gelächter brach aus und vertrieb die ernste Stimmung. Gabriel machte eine scherzhafte förmliche Verbeugung. »In vielen Kreisen würde das nicht als Kompliment aufgefaßt, Miß Angelique. Aber ich nehme es als eines.« Ferdinand erhob sich. »Ich habe einige Dinge zu erledigen. Entschuldigst du mich, bitte? Eugene, Angelique, kommt. Ihr habt auch zu arbeiten.« Die beiden hatten nichts zu tun, das wußte Miriam, aber ihr Vater wollte Gabriel und sie in gewisser Absicht allein lassen. Sie sagte das erstbeste, das ihr in den Sinn kam: »Dein Arm – schmerzt er? Ich habe gehört, daß man sogar Schmerzen hat, nachdem…« »Nur ein bißchen. Aber David hat mir versichert, daß das vergeht.« Wehmütig erklärte er: »Die Union gibt ihren Soldaten künstliche Glieder, aber unsere Seite kann sich das nicht leisten. Ich muß mir also selbst eines besorgen und dankbar sein, daß ich nicht ein Bein verloren habe.« Er neigte sich vor, um die Hündin zu streicheln, die neben seinen Füßen lag. Angelegentlich widmete er sich dem Tier, und Miriam wußte, daß er einen Grund brauchte, um nicht zu sprechen, um die Gefühle zu verbergen, die ihn bestimmten, wie sie am Zucken seiner Wangen sah. Fragen, Bruchstücke halb vergessener Unterhaltungen, stolze Überzeugungen, dunkle Ängste und Zweifel lebten fort, und sie summten jetzt in der Stille hier. Miriam erinnerte sich an sie und wußte, daß auch Gabriel sich an diese Geister aus den toten Jahren erinnerte; sie schienen im Zimmer anwesend zu sein und wie ein Schachtelmännchen darauf zu warten, daß man die Schnur durchschnitt, die Schachtel aus dem Papier wickelte und den Deckel hob. Sie hatte Angst, die Schnur durchzuschneiden. Nach einer Weile zwang sie sich zu sprechen und machte ihm einen sanften Vorwurf: »Du hast nie geschrieben. Du hättest jemand bitten können, für dich zu schreiben.« 495
»Ich kann schreiben«, entgegnete er schnell, dem eigentlichen Thema ausweichend. »Meinen rechten Arm habe ich noch.« »Bist du anders – verändert?« fragte sie und hätte die absurde, viel zu unklare Frage am liebsten gleich zurückgenommen. In Wirklichkeit meinte sie: Empfindest du noch das gleiche für mich? Er legte ihre Frage anders aus: »Natürlich habe ich mich verändert. Man konnte nicht durch die vergangenen Jahre gehen, ohne sich zu verändern. Ich habe gesehen, wie Männer ihr letztes Morphium einem verwundeten Feind gaben, und – verzeih mir die brutale Wahrheit – ich habe Männer in ihrer wilden Wut einem Verwundeten die Zunge herausschneiden sehen. Du willst wissen, ob ich mich verändert habe?« Sie drehte Emmas Saphirring an ihrem Finger, der noch dünner geworden war, seit sie den zu weiten Ring bekommen hatte. »Entschuldige. Das war eine dumme Frage.« »Ja… Aber ich habe die falsche Antwort gegeben«, sagte er rasch. »Ich bin manchmal zu reizbar. Es wird Mühe kosten… Ich versuche es…« Seine Stimme verebbte. »Was wirst du jetzt tun?« fragte sie leise. Er antwortete nicht gleich. Er hatte die Frage nur halb gehört. Sie saß so nahe bei ihm, daß er jede Pore ihrer zart bräunlichen Haut sehen konnte. Da saß sie, seine biblische Rebekka, genauso, wie er sie in Erinnerung hatte. Mit diesen schönen leuchtenden Augen, der stolzen, das Gesicht beherrschenden Nase und dem im Gegensatz dazu kindlich weichen Mund. Sie tut ihren Mund auf mit Weisheit, und auf ihrer Zunge ist holdselige Lehre. In Richmond war sie in seine Arme gekommen und hatte den Kopf an seine Schulter gelegt. Oh, was für eine geschwisterliche, milde Umarmung – keineswegs das, was er sich wünschte, damals nicht und heute nicht! Unter den Stoffschichten des Mieders, unter dem duftigen Rock, den unsinnigen Reifen und Drähten, dort wartete… Nicht auf ihn, sondern auf diesen anderen, der ihren kleinen Finger nicht wert war. 496
Er nahm sich zusammen. Sie hatte ihn gefragt, was er tun würde. Bitterkeit, die größte Bitterkeit seit seiner Verwundung erfaßte ihn. Was für Möglichkeiten hatte er denn? Er versuchte die Finger zu bewegen, die nicht da waren. Ein brennender, stechender Schmerz schoß durch den Arm, der nicht da war. Wenigstens ist es der linke, dachte er. Wäre es der rechte gewesen, ob er wohl gelernt hätte, mit der linken Hand Buchstaben zu formen? Die Überlegung verwirrte ihn, er runzelte die Stirn und stellte sich vor, seine linke Hand versuche die Buchstaben seines Namens zu schreiben: Die Anfangsschleife des großen G, dann den Abwärtsstrich, eine kurze Aufwärtskurve und nun den Schrägstrich zum kleinen a. Das Papier würde rechts von seiner Hand liegen, während er zitternd und linkisch wie ein kleines Kind die ersten Schreibversuche machte. Er rief sich in den gegenwärtigen Augenblick zurück. Sie wartete noch immer auf seine Antwort. »Tun? Als Anwalt arbeiten«, sagte er. »Versuchen, die Scherben zu kitten. Und du?« Er schaute sie nicht an. Er schaute auf den Boden, wo sich Lichtflecken wie Konfettiblättchen bewegten, hervorgerufen von den Sonnenstrahlen, die zitternd durch das Laub vor dem offenen Fenster drangen. »David hat mir gesagt, daß er – daß er bald frei sein wird.« »André, meinst du?« Er zwang sich, den Namen auszusprechen: »Ja, André.« »Er ist bereits frei.« Sie meinte, ihre Kehle würde zerspringen. »Er ist weg. Zurück nach Europa, glaube ich.« Einen Moment lang schwieg Gabriel. Dann sagte er sehr leise: »Das tut mir leid, Miriam.« »Leid? Warum?« »Weil du verletzt…« »Aber nein, ich bin nicht verletzt, Gabriel! Ich habe ihn weggeschickt.« Ungläubig schaute er sie an.
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»Ja, ja, ich ihn! Weil ich begriff, weißt du – ach, ich brauchte so lange, um es zu begreifen, aber ich erkannte endlich, daß alles ein Irrtum war, eine Täuschung. So etwas kann vorkommen, nicht wahr?« »Also ist alles zu Ende?« fragte Gabriel. »Ja, zu Ende! Und es gibt so viel, was ich dir sagen muß.« Mit einemmal schien ihr, daß sie diesen Mann um Vergebung bitten müsse für ihre dumme Blindheit, dafür, daß sie ihn nicht gesehen hatte, wie er war, daß sie nichts begriffen hatte. »Verzeih mir«, sagte sie und weinte. Sie holte einen Fußschemel und setzte sich vor ihn; sie ergriff seine Hand, preßte die Handfläche an ihre Wange, murmelte, flüsterte, ließ die Worte ohne Zögern oder Scham über ihre Lippen strömen, sprach Französisch mit ihm, aus dem einzigen Grund, daß die Worte der Liebe in dieser melodischen, vokalreichen Sprache weicher klangen. »Je t'aime… Ich liebe dich. Ach, ich fühle mich so seltsam, bin gar nicht ich selbst, glaube ich manchmal; wie kann das sein? Aber ich liebe dich.« Er streichelte ihr Haar. Sie spürte die warme Wölbung seiner Hand, die immer wieder über ihr Haar glitt, und in der Stille konnte sie seinen Atem hören, aber er antwortete nicht. Sie hob den Kopf. »Ich möchte dich heiraten, Gabriel. Ich möchte ein langes, ruhiges, wunderbares Leben mit dir führen. Ich möchte an jedem der Tage, die uns noch bleiben, bei dir sein. Wir sind noch jung, wir können noch…« Er drehte das Gesicht weg und bedeckte es mit der Hand. Sie glaubte ihn sagen zu hören: »Jetzt! Guter Gott, jetzt!« Mit kräftigerer Stimme sagte er: »Oh, meine Liebste, ich kann nicht. Wie könnte ich, so wie ich bin?« Sie sprang auf. »Was tut das? Glaubst du, das macht mir etwas aus? Das oder etwas anderes? Ich möchte nur…« Sie konnte nicht weitersprechen.
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»Ich weiß, dich stört es nicht. Aber mich. Ein einarmiger Liebhaber, der wieder ganz unten anfangen muß, mit nichts. Ich träumte davon, zu dir zu kommen, aber so wahrlich nicht.« »Du hast unrecht, du bist halsstarrig, du hast unrecht! Sag mir – gibt es einen anderen Grund? Ist es seinetwegen – wegen André? Vertraust du mir vielleicht nicht mehr, glaubst du nicht mehr an mich und willst es nicht sagen?« »Ich glaube nur an dich. Ich würde dir mein ganzes Leben anvertrauen.« »Dann tu es!« Gabriel stand auf. Sie trat zu ihm, fragte nicht nur mit Worten, sondern auch mit den Augen und den Armen, die sie um ihn schlang: »Liebst du mich?« »Mehr als alles auf der Welt.« »Dann nimm mich. Du kannst doch nicht einfach weggehen und mich verlassen.« Der Druck seines Armes auf ihrem Rücken war stark. Doch er sagte: »Siehst du, ich kann dich nicht mal richtig halten. Ich kann nicht das geringste für dich tun. Nicht mal einen Ring könnte ich dir geben.« »Was liegt mir an einem Ring!« »Quäl mich nicht, Miriam. Bitte nicht.« Er streichelte ihre glühende Wange. »Ich möchte – ich möchte…« Seine Stimme zitterte. »Aber so, wie die Dinge sind… Laß mich gehen.« Behutsam löste er sich von ihr. Sie konnte nicht sprechen. Alles war unwirklich, alles verschwamm. Fast ohnmächtig hielt sie sich an einer Stuhllehne fest, während Gabriel in den Flur hinauseilte. Als die Haustür zufiel, trat sie wankend ans Fenster. Aus tränenlosen Augen schaute sie ihm nach, wie er sich in den Sattel schwang. Sie hörte das Klappern der Hufe und konnte ihn bis ans Ende der Straße verfolgen. Dann ließ sie den Vorhang fallen.
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Aus einem anderen Fenster sah ich einen anderen Mann fortgehen, und es war in gewisser Weise traurig. Aber das hier ist anders, das macht mein Herz unglücklich. »Was?« fragte Ferdinand mit seiner heiteren Stimme. Er mußte im Salon auf der anderen Gangseite gewartet haben. »Gabriel ist so schnell wieder gegangen? Stimmt etwas nicht?« »Nur das eine, daß ich ihn bat, mich zu heiraten«, antwortete sie unverblümt. »Du – warte eine Sekunde – du hast ihn gebeten, sagst du?« »Richtig.« Ferdinands Gesicht legte sich in erstaunte Falten. Er warf den Kopf zurück und lachte schallend. »Du hast ihn gebeten? Du bist bestimmt die einzige Frau auf der Welt, die den Nerv hat, so etwas zu tun! Du und dein Bruder! Ihr beide werdet wohl nie aufhören, mich mit diesen ausgefallenen Dingen zu überraschen, die ihr tut. David wird sich sehr freuen, er wird sich unbändig freuen! Kannst du dir das nicht vorstellen? Sag, wann soll die Hochzeit sein? Bald, hoffe ich.« »Er hat mich abgewiesen, Papa.« Ferdinand starrte sie an: »Abgewiesen? Allmächtiger Gott! Rosa sagte mir, sie ließ mich schwören, es nicht weiterzusagen, sie sagte mir…« Rosa und ihre Geheimnisse! »…daß er dich liebt, solange…« »Solange er keinen Arm verloren hatte.« Ferdinand war bestürzt. »Das begreife ich beim besten Willen nicht. Das sollte doch keine Rolle spielen, wenn es dir nichts ausmacht.« »Stolz, Papa. Männerstolz, und davon hat er zuviel. Große Beredsamkeit wird nötig sein, um ihn umzustimmen.« Ferdinand legte seiner Tochter mitfühlend die Hand auf die Schulter. Mit gefurchter Stirn sagte er: »Es tut mir unendlich leid, Liebes. Du hast in deinen wenigen Jahren schon zuviel durchgemacht.« »Viel davon war meine eigene Schuld, Papa, manches aber nicht.« »Was wirst du jetzt tun?« 500
»Tun? So lange mit ihm reden, bis er umgestimmt ist. Aber fürs erste möchte ich eine Weile allein sein, wenn Sie nichts dagegen haben.« Er trat zur Seite, um sie vorbeizulassen, und sie ging in den alten Garten hinaus, dieses kleine Stückchen Erde, wo soviel in ihrem Leben passiert war. Noch immer stand die Aphrodite da. Die Taube zu ihren Füßen war von irgend jemandem zerschlagen worden, aber Ferdinand hatte eigenhändig die Becken des Brunnens gesäubert, und das Wasser fiel herab wie immer, in zwei Stufen, wie Volants an einem Frauenrock. Miriam saß auf der Bank, ohne sich zu rühren, bis ihr Herz wieder langsam schlug und ihr Atem wieder ruhig ging. Das Wasser gluckste und plätscherte; Stimmen und andere Geräusche drangen über die Mauer herein, denn allmählich begann das Leben wieder, das Leben in dieser alten Stadt an dem uralten braunen Fluß. Hier hatten ihre Kinder die ersten Schritte getan. Hier hatte sie zitternd gesessen bei ihrem ersten Besuch in diesem Haus, in dem ihr Leben als Frau begonnen hatte. Sie dachte an das Haus ihres Vaters zurück, in ihren Augen ein vornehmer Palast, als sie, an Davids Hand geklammert und verlegen in ihrem schönen neuen Kleid, in dieses fremde Land gekommen war. Sie erinnerte sich an die fremde Sprache, die sie auf dem Meer gelernt hatte, und an den Jungen Gabriel, der triefend auf dem Deck gestanden hatte, die zitternde Hündin in den Armen. Es war ein langer, langer Weg gewesen: ein Auf und Ab in der Welt, ein ständiges Auf und Ab. »Aber ich bringe etwas zuwege«, sagte sie laut. Ein Klumpen saß in ihrer Kehle, sie schluckte ihn hinunter und sprach dann weiter in die Luft: »Ich bringe viel zuwege. Ich habe Dinge fertiggebracht, die ich nie für möglich gehalten hätte. Und ich kann auch ihn umstimmen. Ja, Gabriel, ich kann es.« Ein Schmetterling hatte sich auf ihr Handgelenk gesetzt; seine Flügel, in der Ruhestellung aufrecht wie Segel, schimmerten bläulichviolett. Wahrscheinlich eine Gemeine Waldnymphe, dachte sie, über501
rascht darüber, daß sie das Bild dieses Falters auf dem Frontispiz in einem von Davids riesigen Büchern noch im Gedächtnis hatte. Die zarten Flügel aus schöner, lebendiger Materie waren gemustert wie orientalische Seide. Alles ist Muster, alles ist Leben, aber wir können das Muster nicht immer sehen, wenn wir ein Teil davon sind. Sie vermochte trotz allem zu lächeln. Hatte Fanny nicht immer gesagt, es sei ein gutes Omen, wenn ein Schmetterling auf einem landete? Das kleine Geschöpf erbebte, es senkte die Flügel und flatterte von ihrem ausgestreckten Arm weg. Taumelig flog es auf das Gebüsch zu und verlor sich in der silbernen und goldenen Lichtflut des Nachmittags.
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Anmerkung der Autorin In diesem Roman werden die Namen vieler Menschen erwähnt, die tatsächlich gelebt haben. Mit Ausnahme bekannter, historisch bedeutsamer Persönlichkeiten wie beispielsweise Lincoln und Davies werden sie nachstehend aufgeführt: Valcour Aime; Judah P. Benjamin; der Lehrer Dyson; Rabbi Einhorn; Manuel Garcia; Louis Moreau Gottschalk; Jesse Grant, Vater des Generals; Rebecca Gratz; Rabbi Gutheim; Henry Hyams; Rabbi Illowy; Manis Jacobs; Gershom Kursheedt; Isaac Leeser; Rabbi Lilienthal; Rowley Marks; Penina Moise; Father Moni; Eugenia Phillips; Baronin Pontalba; Rabbi Raphall; Ernestine Rose, Seignouret; Rabbi Seixas; Slidell; Pierre Soulé; Judah Touro; Rabbi Wise; Dr. Zacharie. Alle anderen Personen sind gänzlich frei erfunden.
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