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Das Buch Joji Kawai, ein biederer junger Ingenieur von 28 Jahren, lernt in einem Straßencafé in Tokio die erst vierzehnjährige Serviererin Naomi kennen und läßt sich bezaubern von ihrer stillen, zurückhaltenden Art und ihrem leicht europäischen Aussehen. Nach ersten tastenden Gesprächen beschließt er, das Mädchen zu sich zu nehmen und für ihre Ausbildung zu sorgen. Sein Wunsch ist, Naomi zu einer außergewöhnlichen Frau nach westlichem Vorbild zu machen. Aber der Lerneifer des jungen Mädchens läßt schnell nach, und Joji muß erkennen, daß seine kleine Freundin wohl doch nicht so intelligent ist, wie er annahm. Seine Enttäuschung weicht aber dem Entzücken über Naomis zunehmende körperliche Reize, die er nach und nach wahrnimmt und genießt. Doch die heranwachsende Naomi entwickelt sich immer mehr zu einer kapriziösen, eigenwilligen, lüsternen jungen Frau, die keine Gelegenheit ausläßt, Joji zu betrügen und zu demütigen. Als Joji endlich erkennt, was für einen bösartigen kleinen Vogel er sich da eingefangen hat, ist es bereits zu spät für ihn, sich aus der leidenschaftlichen Verstrickung zu lösen, und er unterwirft sich bedingungslos allen Forderungen und Launen des einst so stillen und liebenswerten Mädchens. – Der Roman wurde im Jahre 1967 von dem Regisseur Yasuzo Matsumura verfilmt.
Der Autor
Junichiro Tanizaki, der 1896 in Tokio geborene bedeutendste moderne japanische Schriftsteller, legt mit diesem Roman, der 1929 entstand, eines der letzten Werke aus seiner frühen Schaffensphase vor, in der er noch von der westlichen Lebensart fasziniert war. – Seine zahlreichen Arbeiten – er schrieb weit über hundert Romane, Essays und Bühnenstücke, von denen erst wenige in deutscher Sprache vorliegen – brachten ihm viele Ehrungen und Literaturpreise ein, unter anderem die Mitgliedschaft der japanischen Akademie der Künste und den Kaiserlichen Literaturpreis in Japan. Im Rowohlt Verlag erschienen seine Romane «Der Schlüssel» (1961), «Die Schwestern Makioka» (1964) und das «Tagebuch eines alten Narren» (1966). Tanizaki starb im Jahre 1965.
Junichiro Tanizaki
Naomi oder Eine unersättliche Liebe Roman
Rowohlt
Die Originalausgabe erschien bei Chuo Koron Sha, Ltd., Tokio, unter dem Titel «Chijin No Ai» Aus dem Japanischen übertragen von OSCAR BENL Umschlagentwurf Werner Rebhuhn unter Verwendung eines Szenenfotos aus dem Film «Naomi, die Unersättliche» (Inter-Verleih) DEUTSCHE ERSTAUSGABE
Veröffentlicht im Rowohlt Taschenbuch Verlag GmbH, Reinbek bei Hamburg, Oktober 1970 © Rowohlt Taschenbuch Verlag GmbH, Reinbek bei Hamburg, 1970 «Chijin No Ai» © Junichiro Tanizaki Gesetzt aus der Linotype-Garamond-Antiqua Gesamtherstellung Clausen & Bosse, Leck/Schleswig Printed in Germany ISBN 3 499 11335 X
1 Ich möchte hier möglichst aufrichtig und ganz freimütig über meine Ehe sprechen. Ich glaube, es gibt wenige Ehen dieser Art. Mir bedeuten meine Erlebnisse etwas unvergeßlich Kostbares, ja Heiliges, und vielleicht sagen sie auch manchem Leser etwas – gerade jetzt, da Japan langsam internationaler wird und Japaner häufiger mit Ausländern verkehren. Die verschiedensten Weltanschauungen und Ideen dringen bei uns ein und beeinflussen unsere Lebensformen. Das Leben wird immer moderner – man gibt sich westlich elegant. Ich könnte mir vorstellen, daß die Verhältnisse in meiner Ehe, die auf Außenstehende höchst seltsam gewirkt haben, bald nicht mehr ungewöhnlich sein werden. Wir beide, ich und meine Frau, waren eigentlich von Anfang an anders als andere Leute. Ich begegnete ihr zum erstenmal vor acht Jahren – ich erinnere mich nicht mehr genau, in welchem Monat und an welchem Tag es gewesen ist. Sie war damals vierzehn Jahre alt und arbeitete als Serviererin im Café Diamond nahe der Station Kaminarimon in Asakusa. Als ich sie kennenlernte, hatte sie ihre Stellung in diesem Café eben erst angetreten; sie war noch eine Anfängerin und keineswegs selbständig, sozusagen ein Kokon, aus dem vielleicht eines Tages eine richtige waitress schlüpfen würde. Wenn ich mich heute frage, was an diesem Kind eigentlich meine Aufmerksamkeit erregt hat – ich selber war schon siebenundzwanzig –, muß ich gestehen, daß ich es nicht recht weiß. Vielleicht hatte es mir zunächst der Name der Kleinen angetan. Sie wurde von allen ‹Nao-chan› gerufen, und ich erfuhr bald, daß sie 6
Naomi hieß. Es war ein bezaubernder Name, dessen fremdartiger Klang meine Neugier erweckte. Schrieb man ihn mit europäischen Buchstaben, dann erschien mir auch die Trägerin dieses Namens wie eine Europäerin. Allmählich schenkte ich ihr immer mehr Beachtung. Es schien mit ihrem Namen zusammenzuhängen, daß mir der Ausdruck ihres Gesichts irgendwie europäisch und besonders intelligent vorkam. Bald tat sie mir leid, weil sie in einem Café als Serviererin arbeiten mußte. Ihr Gesicht wirkte ein wenig westlich, und es erinnerte mich an Mary Pickford. Noch heute, da sie meine Frau ist, stellen viele diese Ähnlichkeit fest, die mich sogleich für sie eingenommen hatte. Nicht nur ihr Gesicht, ihr ganzer wundervoller Körper hat etwas Fremdländisches. Das habe ich aber erst viel später entdeckt. Damals habe ich ihre schlanken, bezaubernden Glieder unter den Falten des Kimonos nur geahnt. Wie es in einem vierzehn-, fünfzehnjährigen Mädchen aussieht, vermag außer Eltern und Schwestern kaum jemand zu sagen. Daher kann ich auf die Frage, wie Naomis Charakter damals beschaffen war, keine klare Antwort geben. Vielleicht hat sie nur wie in einem Traum dahingelebt. Beobachtete man sie aber genauer, hatte man das Gefühl, daß es sich um ein etwas schwermütiges Mädchen handelte. Ihre Gesichtsfarbe war bleich, die Haut wirkte durchsichtig wie farblose Glasscheiben, die man übereinandergelegt hat. Sie sah nicht sonderlich gesund aus. Vielleicht hatte ich diesen Eindruck auch nur deshalb, weil sie mit den Gästen noch nicht recht umzugehen wußte und meist schüchtern und schweigend in einer Ecke des Cafés herumhantierte. Vielleicht wirkte sie aus dem gleichen Grunde auch so besonders intelligent auf mich. 7
Es ist nun an der Zeit, daß ich über mich selbst berichte. Ich war Ingenieur in einer Elektro-Firma und verdiente im Monat hundertfünfzig Yen. Ich stamme aus Utsunomiya in der Tochigi-Präfektur, habe dort die Mittelschule und anschließend in Tokio die Höhere Technische Schule besucht und wurde, nach abgelegter Schlußprüfung, Ingenieur. Täglich, die Sonntage ausgenommen, ging ich von meiner Pension in Shibauchi nach Oimachi zur Arbeit. Da ich unverheiratet war, konnte ich mir mit meinen hundertfünfzig Yen im Monat ein sorgloses, bequemes Leben leisten. Ich bin zwar der älteste Sohn, aber meine Familie besitzt ein stattliches Gut auf dem Lande, und deshalb brauche ich meine Verwandten nicht von meinem Gehalt zu unterstützen. Mein Vater lebt nicht mehr, meine bejahrte Mutter führt zusammen mit meinem Onkel und dessen Frau ein zufriedenes, glückliches Leben. So war ich frei und hatte keinerlei Verpflichtungen. Aber es fehlte mir an einer Beschäftigung, die mir Spaß gemacht und mich ausgefüllt hätte. Ich war, könnte man sagen, ein geradezu vorbildlicher salary man: ernst, eher durchschnittlich. Ich klagte nie, war nie mürrisch und verrichtete Tag für Tag die mir zugewiesene Arbeit. Ein solcher Mensch war ich damals. Sprach man von mir, Joji Kawai, in der Firma, dann dachte jeder an einen musterhaften, höchst tugendhaften Mann. Meine Vergnügungen bestanden lediglich darin, daß ich abends manchmal ins Kino ging oder auf der Ginza auf und ab spazierte oder, wenn ich mir einmal etwas Besonderes leisten wollte, das Kaiserliche Theater besuchte. Als junger Mann im heiratsfähigen Alter fand ich natürlich auch Vergnügen daran, mit jungen Frauen zu verkehren. Da ich vom Lande stammte, war ich aber im Umgang mit Men8
schen etwas ungeschickt und hatte daher mit Männern überhaupt keinen Kontakt. Vielleicht hielt man mich deshalb für lebensfremd und tugendhaft. Das war aber eine Täuschung. Denn in Wirklichkeit hatte ich ständig ein Auge auf Frauen, wenn ich durch die Straßen ging oder morgens in die Bahn stieg, und so wurde ich auch eines Tages auf Naomi aufmerksam. Ich war damals keineswegs der Meinung, daß es keine hübschere Frau gebe als Naomi. In der Straßenbahn, in der Wandelhalle des Kaiserlichen Theaters und auf der Ginza sah ich selbstverständlich viele Frauen, die schöner waren. Ob Naomi noch hübscher werden würde, mußte die Zukunft erweisen; bei vierzehnjährigen Mädchen sieht man dem noch mit – freudiger oder auch ängstlicher – Erwartung entgegen. Ich hatte zunächst nur vor, sie zu mir zu nehmen, mich ein wenig um sie zu kümmern und für ihre Erziehung zu sorgen. Sollte ich später den Wunsch empfinden, sie zu meiner Frau zu machen, dann stand dem nichts im Wege. So ungefähr stellte ich es mir vor. Dieser Gedanke kam mir, weil ich Mitleid mit ihr empfand; aber andererseits wollte ich auch in mein allzu alltägliches, allzu monotones Leben etwas Veränderung bringen. Ich war des langjährigen Pensionslebens müde und wollte daher meinem prosaischen Dasein ein wenig Farbe und Wärme verleihen. Ich malte mir aus, wie schön es wäre, ein kleines Haus zu bauen, die Zimmer geschmackvoll einzurichten, Blumen zu pflanzen, ein Vogelbauer auf die sonnenbeschienene Veranda zu hängen und mir zum Kochen und Saubermachen ein Mädchen zu halten. Falls Naomi zu mir kommen wollte, könnte sie diese Arbeiten verrichten, und gleichzeitig wäre sie so etwas wie ein zwitschernder kleiner Vogel für mich. So ungefähr dachte ich es mir. 9
Man wird fragen, warum ich nicht eine Tochter aus begüterter Familie heiratete und einen ordentlichen Haushalt gründete. Nun, mir fehlte zum Heiraten einfach der Mut. Das muß ich vielleicht genauer erklären. Ich war durchaus normal veranlagt, besaß gesunden Menschenverstand, hatte nichts für Extravaganzen übrig, hatte aber andererseits von der Ehe eine ziemlich fortschrittliche und moderne Auffassung. Das ‹Heiraten› hat für die Menschen meist etwas außerordentlich Bedrückendes an sich, etwas mit tausend Förmlichkeiten Belastetes – und das mit Recht. Die alte Tradition der Heiratsvermittlung und Eheschließung war auch mir furchtbar lästig, und so wollte ich – falls ich überhaupt heiratete – es in einfacherer, freierer Form tun. Hätte ich damals beabsichtigt zu heiraten, wäre an Partnerinnen kein Mangel gewesen. Ich kam zwar vom Lande, war aber gesund und kräftig, führte ein solides Leben und wirkte – obgleich dies zu betonen etwas lächerlich klingen mag – ausgesprochen männlich. Auch in der Firma genoß ich Vertrauen. Aus all diesen Gründen hätten sicher viele gern bei mir die Heiratsvermittlung übernommen; aber gerade das wollte ich vermeiden. Ein Mädchen kann noch so schön sein, sieht man es aber nur ein- oder zweimal bei offiziellem Anlaß, kann man unmöglich ihr Gemüt, ihr Wesen oder ihren Charakter erkennen. «Sie ist nicht übel» oder «sie ist recht hübsch» könnte man allenfalls sagen, aber mehr auch nicht. Ich jedenfalls wollte nicht die Torheit begehen, die Gefährtin für mein ganzes Leben auf Grund eines solch flüchtigen Eindrucks zu wählen. Daher schien es mir das Beste, zunächst ein junges Mädchen – wie etwa Naomi – zu mir zu nehmen, zu beobachten, wie sie heranreifte, und sie dann, falls sie mir gefiele, zu meiner Frau zu 10
machen. An einer Tochter aus reichem Hause oder aus gebildeten Kreisen lag mir gar nichts. Außerdem stellte ich es mir reizvoll vor, ein junges Mädchen als Freundin bei mir zu haben und den spielerischen Versuch zu machen, von morgens bis abends heiter mit ihr unter ein und demselben Dach zu leben. Ein ‹Haushalt› auf Probe gewissermaßen. Der Gedanke an einen ‹normalen› Haushalt erschien mir schrecklich und bedrückend; ich wollte einfach ein sorgloses, fröhliches Leben führen. Das war alles, wonach ich mich sehnte. Zu einem richtig geführten japanischen Haushalt gehören besondere Kommoden, große Feuerbecken und Sitzkissen; die Aufgaben des Hausherrn, der Frau und des Dienstmädchens sind scharf voneinander getrennt, und der unvermeidliche Verkehr mit den Nachbarn und den vielen Verwandten ist außerordentlich lästig. Zudem verursacht ein solcher Haushalt beträchtliche Kosten, und sie sind schwer aufzubringen. Man fühlt ständigen Druck – was ein junger Mann meist höchst unangenehm findet. Deshalb schien mir mein Plan wirklich ein guter Einfall zu sein. Zwei Monate nachdem ich Naomi kennengelernt hatte, unterhielt ich mich zum erstenmal mit ihr. Damals ging ich, immer wenn ich etwas freie Zeit hatte, ins Café Diamond, um Naomi möglichst oft zu sehen und mich mit ihr anzufreunden. Da Naomi gern ins Kino ging, sahen wir uns an ihren freien Tagen oft Filme an und besuchten auf dem Heimweg ein ausländisches oder ein japanisches Restaurant. Aber das Mädchen blieb auch dann schweigsam, und es war nicht leicht zu erkennen, ob es ihr Freude machte oder nicht. Sie sagte jedenfalls nie nein, wenn ich sie einlud, antwortete nur schlicht: «Ja, gern» und ging mit, wohin ich sie auch führte. 11
Ich hatte keine Ahnung, was sie von mir dachte und warum sie mit mir ausging. Sie war eben wirklich noch ein Kind und schien einem Mann noch nicht mißtrauisch zu begegnen. Sie ging sicher noch ganz unbefangen mit dem ‹Onkel› in das von ihr so geliebte Kino und gelegentlich nachher irgendwo zum Essen. Ich war nichts weiter als der Gefährte eines Kindes, und für sie einfach ein freundlicher Onkel. Im übrigen schwieg sie. Wenn ich mich heute an diese stillen, sanften Tage und Monate erinnere, die wie ein Traum vorüberglitten, dann ist mir, als hätte ich in einer Märchenwelt gelebt. Heute sehne ich mich danach, noch einmal ein so unschuldiges Leben zu zweit führen zu dürfen. «Wie ist es, Naomi-chan, kannst du hier gut sehen?» fragte ich sie oft, wenn wir hinten im Kinoraum nebeneinanderstanden, weil kein Sitzplatz mehr frei war. «Nein, ich sehe überhaupt nichts!» sagte sie, während sie sich auf die Zehenspitzen stellte und eifrig versuchte, zwischen den Köpfen der Besucher vor uns durchzuschauen. «So kannst du nie etwas sehen! Steig auf die Brüstung und stütze dich auf meine Schulter!» riet ich ihr, hob sie hoch und setzte sie auf das hohe Geländer. Sie ließ die Füße herunterbaumeln, legte eine Hand auf meine Schulter und blickte, sichtlich zufriedengestellt, erwartungsvoll zur Leinwand. «Gefällt es dir?» fragte ich sie. «Ja, sehr!» Sie klatschte aber niemals fröhlich in die Hände oder zeigte sonstwie ihre Freude, sondern wirkte eher wie ein kluger Hund, der angespannt auf ein Geräusch in der Ferne lauscht. Man sah an ihrem aufmerksamen Gesicht und den strahlenden Augen, wie gern sie solche Filme sah. 12
«Naomi-chan, hast du keinen Hunger?» fragte ich sie manchmal. Aber sie entgegnete meist: «Nein, ich habe keinen Appetit!» War sie aber hungrig, sagte sie unbefangen: ja. Wenn ich sie dann fragte, ob sie lieber europäisch oder japanisch essen wolle, überlegte sie einen Augenblick und sagte dann ganz freimütig, worauf sie gerade Lust hatte.
2 «Naomi-chan, weißt du eigentlich, daß du Mary Pickford ähnlich siehst?» sagte ich eines Abends, als wir uns gerade einen Film mit dieser Schauspielerin angeschaut hatten und auf dem Heimweg in ein ausländisches Restaurant eingetreten waren. «Hm …» machte sie und schien nicht besonders geschmeichelt zu sein, «Findest du das nicht auch?» forschte ich weiter. «Ich weiß nicht, ob ich ihr wirklich ähnlich bin; aber viele meinen, ich sähe wie eine Eurasierin aus!» antwortete sie gelassen. «Ja, das könnte man glauben. Schon dein Name ist recht ausgefallen. Wer hat ihn dir denn gegeben?» «Das weiß ich nicht.» «Dein Vater oder deine Mutter?» «Ich weiß nicht, wer es war …» «Welchen Beruf hat eigentlich dein Vater, Naomichan?» «Mein Vater ist schon gestorben.» «Und deine Mutter?» «Sie lebt noch …» «Hast du Geschwister?» 13
«Ja, einen Bruder und auch Schwestern, ältere und jüngere …» Sobald ich später das Gespräch auf ihre Familie brachte, verzog sie stets mürrisch das Gesicht und wich aus. Wenn wir zusammen ausgehen wollten, verabredeten wir das meist am vorhergehenden Tage und trafen uns zur abgemachten Stunde im Park oder vor dem Kwannon-Tempel. Sie kam nie zu spät und hat mich nicht ein einziges Mal versetzt. Wenn ich selbst mich aus irgendeinem Grunde einmal verspätete und fürchtete, sie sei sicher schon nach Hause gegangen, fand ich sie doch immer auf mich warten. Sobald sie mich sah, erhob sie sich und kam geradewegs auf mich zu. «Verzeih, Naomi-chan. Du hast sicher lange auf mich gewartet?» entschuldigte ich mich. Doch sie sagte nur: «Ja, ich habe lang gewartet.» Dabei sah sie aber durchaus nicht verstimmt oder ärgerlich aus. Einmal, als wir uns auf einer Bank verabredet hatten, fing es plötzlich an zu regnen, und ich war sehr unsicher, ob sie wirklich kommen würde. Doch sie hatte unter dem Dachvorsprung eines Schinto-Schreins Schutz gesucht und wartete tatsächlich auf mich. Es war ein unvergeßlich rührender Anblick. Sie trug meist einen verschossenen Seidenkimono, den ihr wohl eine ihrer älteren Schwestern geschenkt hatte, mit einem Obi aus gemustertem Musselin. Ihre Haare waren zu der altjapanischen Pfirsichfrisur hochgesteckt, und sie puderte sich nur ganz leicht. Ihre kleinen Füße steckten in reizenden, weißen Tabisokken, die ihr ausgezeichnet standen. Als ich fragte, aus welchem Grunde sie sich nur an ihren freien Tagen japanisch frisiere, antwortete sie, man habe sie zu Hause 14
dazu aufgefordert, enthielt sich aber wie immer einer näheren Erklärung. «Heute abend ist es sehr spät geworden, ich werde dich bis vor dein Haus bringen», sagte ich gelegentlich zu ihr. Aber sie fand, das sei nicht nötig, sie wohne nicht weit entfernt und möchte lieber allein nach Hause gehen. Wenn wir dann bei der Menagerie von Asakusa ankamen, sagte Naomi plötzlich «Auf Wiedersehen!» und trippelte mit kleinen Schritten in eine Seitengasse hinein. Ich brauche nicht allzu ausführlich über jene Zeit zu schreiben. Nur ein Gespräch möchte ich noch erwähnen, das ich in aller Ruhe und sehr offen mit Naomi führte. Es war an einem lauwarmen, regnerischen Abend Ende April. Im Café Diamond war nicht viel zu tun, und ich setzte mich an einen langen Tisch und nahm gemächlich einen Drink. Wer das liest, meint vielleicht, ich sei ein starker Trinker. Doch das stimmt nicht. Ich hatte mir nur zum Zeitvertreib einen süßen Cocktail bestellt – wie ihn Frauen lieben –, und ließ ihn genießerisch über meine Zunge gleiten. Da erschien Naomi und brachte mir die Zuspeisen. «Naomi-chan, setz dich doch ein bißchen zu mir», forderte ich sie auf. Vielleicht hatte der Alkohol schon ein wenig auf mich gewirkt. «Was ist?» fragte sie und setzte sich brav neben mich. Als ich meine Shikishima-Zigaretten aus der Tasche nahm, reichte sie mir sogleich ein brennendes Streichholz. «Es hat doch sicher niemand etwas dagegen, wenn wir ein bißchen plaudern? Heute abend ist ja offenbar nicht viel zu tun.» «Ja, das kommt selten vor …» 15
«Mußt du viel arbeiten?» «Ja, von morgens bis abends. Ich habe überhaupt keine Zeit, mal ein Buch zu lesen.» «Oh, Naomi-chan, du liest also gern?» «Ja, sehr gern!» «Was liest du denn?» «Vor allem Zeitschriften. Aber eigentlich lese ich alles gern.» «Das freut mich aber, Naomi-chan. Wenn du so gern liest, solltest du in eine höhere Schule gehen.» Ich sagte das mit einer gewissen Betonung und sah Naomi dabei an. Sie starrte mit unbewegtem Gesicht in die Ferne, als hätten meine Worte sie verärgert, aber in ihren Augen glaubte ich deutlich einen tieftraurigen, hilflosen Ausdruck wahrzunehmen. «Was ist, Naomi-chan, möchtest du wirklich mehr lernen?» Und als sie immer noch schwieg, fuhr ich fort: «Sei nicht gar so schweigsam, Naomi-chan. Sag es mir doch. Ich will dir doch helfen. Möchtest du wirklich gern etwas lernen?» «Ich … ich möchte gern Englisch lernen.» «Englisch? Sonst nichts?» «Ich möchte auch musizieren lernen.» «Gut, ich werde den Unterricht bezahlen. Dann steht dem also nichts im Wege.» «Aber um in eine höhere Schule zu gehen, ist es zu spät. Ich bin doch schon vierzehn Jahre alt.» «Für einen Jungen wäre es wohl zu spät, aber bei Mädchen ist es etwas anderes. Wenn du nur Englisch und Musizieren lernen willst, brauchst du übrigens gar nicht in die höhere Schule. Dann genügt Privatunterricht. Naomi-chan, meinst du es auch wirklich ernst mit dem Lernen?» 16
«Ja! Und Sie wollen mir dabei helfen?» Bei diesen Worten blickte sie mich prüfend an. «Ja! Aber dann kannst du hier nicht mehr weiterarbeiten. Ich weiß zwar nicht, ob deine Familie damit einverstanden sein wird, aber wenn du hier aufhörst, will ich mich gern deiner annehmen und für dich sorgen. Ich würde gern alle Verantwortung für dich übernehmen und eine wundervolle Frau aus dir machen!» «Wenn Sie das wirklich für mich tun wollen …» Über diese Antwort, die ohne Zögern und ganz freimütig erteilt wurde, war ich doch ein wenig verblüfft. «Dann willst du also die Arbeit hier aufgeben?» fragte ich noch einmal. «Ja.» «Nun, Naomi-chan, das meinst du. Aber was werden deine Mutter und dein Bruder dazu sagen? Wir müssen ja wohl erst sehen, ob sie einverstanden sind.» «Meine Familie brauche ich nicht zu fragen. Da ist niemand, der etwas dazu sagen würde.» Ich sah ihr deutlich an, wie schwer es ihr fiel, diese Worte auszusprechen. Ich wußte ja, wie ungern sie mir von ihrem Zuhause erzählte. Ich wollte auch keineswegs in sie dringen, aber wenn ich ihr ihren Wunsch erfüllen wollte, würde es nicht zu vermeiden sein, mit ihrer Familie, mit ihrer Mutter und ihrem Bruder zu sprechen. Deshalb lenkte ich das Gespräch langsam darauf hin. Als ich Naomi wiederholt bat, mich mit ihrer Familie zusammenzubringen, sagte sie schließlich ziemlich unwirsch: «Sie brauchen nicht mit meiner Familie zu sprechen; ich frage sie selber.» Jetzt, da Naomi meine Frau ist, halte ich es mit Rücksicht auf die Ehre von ‹Frau Kawai› nicht für angebracht, die Frage ihrer Herkunft allzu ausführlich zu behandeln. Im Verlauf meines Berichts wird ohnehin 17
manches klarwerden, und sollte dies nicht der Fall sein, wird es nicht schwerfallen, sich vorzustellen, was für eine Familie das gewesen sein muß, die in Senzokumachi lebte und die erst vierzehnjährige Tochter in ein Café als Serviererin schickte. Mir selber genügte damals diese Vorstellung nicht. Ich überredete Naomi, mich zu ihrer Familie mitzunehmen, deren Wohnung sie bisher vor mir geheimgehalten hatte. So traf ich schließlich mit ihrer Mutter und ihrem Bruder zusammen. Beiden war es völlig gleichgültig, was aus ihrer Tochter beziehungsweise Schwester wurde. Ich erklärte ihnen, daß Naomi gern etwas lernen wolle, und sagte, ich fände sie für die Arbeit im Café Diamond zu schade und würde sie aus diesem Grund gern – falls sie beide nicht widersprächen – zu mir ins Haus nehmen, weil ich ohnehin gerade ein Dienstmädchen brauchte. Naomi könnte bei mir dann die Küche und die Wohnung betreuen, und zum Entgelt dafür würde ich ihr zu einer guten Bildung verhelfen. Ich erwähnte noch, daß ich selbstverständlich unverheiratet sei. «Wenn Sie so freundlich für Naomi sorgen wollen, ist es ja wirklich ein Glück für sie», war die Antwort, die mir in ihrer Gleichgültigkeit irgendwie mißfiel. Es verhielt sich tatsächlich so, wie Naomi gesagt hatte: Es wäre nicht nötig gewesen, die beiden aufzusuchen. Ich war recht erschüttert, daß es so verantwortungslose Eltern und Geschwister gab, und empfand nur noch mehr Mitleid mit Naomi. Die Mutter erzählte, man habe ursprünglich daran gedacht, Naomi Geisha werden zu lassen. Aber sie habe es nicht gewollt, und deshalb habe man sie in das Café geschickt, da sie ja irgend etwas habe tun müssen und man einfach nicht gewußt habe, was man sonst mit ihr anfangen sollte. Deshalb waren Mutter und Bruder mit meinem Plan, 18
Naomi zu mir zu nehmen und für sie zu sorgen, sehr einverstanden. Als ich diese Zusammenhänge erkannte, löste sich auch das Rätsel für mich, warum Naomi an ihren freien Tagen nie zu Hause sein wollte, sondern stets mit mir ins Kino ging. Immerhin wirkte sich die gleichgültige Haltung ihrer Familie günstig für Naomi und mich aus. Nachdem wir uns einig geworden waren, ließ Naomi sich vom Café beurlauben, und wir gingen Tag für Tag zusammen los, um uns ein passendes Haus zu suchen. Da ich in Oimachi arbeitete, wollten wir möglichst dort in der Nähe wohnen. Daher trafen wir uns an den Sonntagen schon in aller Frühe am Shimbashi-Bahnhof und an Werktagen, wenn ich meine Arbeit hinter mir hatte, am Bahnhof Oimachi und suchten in den Vorstädten Kamata, Omori, Shinagawa, Meguro und in den Vierteln Takanawa, Tamachi und Mita, die etwas näher zur Innenstadt lagen. Auf dem Heimweg aßen wir dann irgendwo zusammen zu Abend, besuchten, wenn noch Zeit dazu war, ein Kino oder flanierten über die Ginza, ehe Naomi nach Senzokumachi und ich nach Shibaguchi zurückfuhr. Da es damals wenig freie Häuser gab, mußten wir über einen halben Monat suchen. Was mögen die Leute wohl gedacht haben, wenn sie sonntags morgens im Mai den Mann, der wie ein Angestellter aussah, und das armselige Mädchen mit der Pfirsichfrisur beobachteten, die nebeneinander durch die grünenden Straßen der Vorstadt schritten? Der Mann nannte das Mädchen «Naomi-chan» Und das Mädchen den Mann «Kawai-san»; aber die beiden sahen nicht wie Herr und Dienerin aus, auch nicht wie Geschwister, man konnte nicht einmal mit Sicherheit sagen, ob sie ein Ehepaar waren oder nur befreundet; sie redeten wenig und fast scheu miteinander, suchten 19
nach einer Hausnummer, betrachteten die Umgebung ringsum und wandten sich manchmal entzückt den duftenden Blumen zu, die hinter Hecken, in Gärten und am Wegrand blühten. Diese beiden, die da auch an manchem langen Spätfrühlingsabend mit glücklichen Gesichtern einherwandelten, müssen fremden Augen höchst wunderlich vorgekommen sein. Bei unseren Gesprächen während dieser Spaziergänge stellte ich fest, daß Naomi unter den Blumen besonders die ausländischen liebte. Sie kannte die verschiedensten, mir ganz und gar unbekannten Arten, und bei vielen sogar die schwierigen englischen Bezeichnungen. Sie erzählte mir, daß sie während ihrer Tätigkeit als Serviererin im Café stets für die Blumen gesorgt und dabei die Namen gelernt habe. Auf den Grundstücken, an denen wir vorüberkamen, gab es manchmal Gewächshäuser, und dann blieb sie mit großen, klugen Augen plötzlich stehen und rief freudestrahlend: «Oh, was für herrliche Blumen!» Als ich sie einmal fragte: «Naomi-chan, welche Blumen liebst du am meisten?» antwortete sie: «Tulpen! Meine allerliebsten Blumen sind Tulpen.» Da Naomi in den staubigen, schmutzigen Straßen von Senzokumachi in Asakusa gelebt hatte, war es nur zu verständlich, daß sie Felder und Gärten liebte und vor allem Blumen in ihr Herz geschlossen hatte. Selbst wenn sie so bescheidene Pflanzen wie Veilchen, Löwenzahn oder chinesischen Bocksdorn zwischen den Reisfeldern und am Wegrain entdeckte, lief sie auf der Stelle hin, um sie zu pflücken. Wenn wir einen ganzen Tag lang gewandert waren, hatte sie stets die Hände voller Blumen, lauter kleine Sträuße, und achtete sorgfältig darauf, daß sie auf dem Heimweg auch kein Stengelchen verlor. 20
«Die Blumen sind schon welk, wirf sie doch fort!» sagte ich dann zu ihr, aber sie dachte nicht daran. «Wenn man sie ins Wasser steckt, werden sie sofort wieder frisch. Ich möchte, daß Sie die Blumen auf Ihren Tisch stellen, Kawai-san.» Beim Abschied gab sie mir dann alle Blumen mit. Obgleich wir sehr konzentriert suchten, fanden wir nur schwer etwas Passendes. Schließlich mieteten wir – etwa zwölf, dreizehn Cho vom Bahnhof Omori entfernt – ein äußerst schlicht aussehendes, kleines europäisches Häuschen. Es hatte ein steiles, mit bräunlichem Schiefer gedecktes Dach, in dem sich das obere Stockwerk befand. Vor der Eingangstür lag ein winziger Garten, der mehr wie ein kleiner, freier Platz wirkte. So also sah das Haus von außen aus. Wenn man es betrachtete, hatte man eher Lust, es zu malen, als darin zu wohnen. Tatsächlich war es von einem Maler gebaut worden, der sein Modell geheiratet und mit ihr darin gelebt hatte. Deshalb war auch die Anordnung der Zimmer für normale Bedürfnisse wenig geeignet. Unten befanden sich ein übermäßig großes Atelier und ein kleiner Vorraum, von dem man in die Küche und über eine Treppe in den ersten Stock gelangte. Dort gab es noch zwei winzige Zimmer von drei und viereinhalb Matten Größe. Unter dem spitzen Dach lag noch eine Art Speicher, der aber nicht bewohnbar war. Ging man die Treppe hinauf, kam man zunächst auf eine schmale Galerie mit einem Geländer, von der man, wie von einem Theaterrang, auf das Atelier hinuntersehen konnte. Als Naomi dieses Haus zum erstenmal sah, war sie entzückt und rief: «Oh, was für ein bezauberndes Haus! Das gefällt mir.» Da war ich sofort entschlossen, es zu mieten. 21
Vielleicht gefiel es Naomi deswegen so, weil es wie die Illustration zu einem Märchen wirkte. Es schien wirklich gerade das richtige zu sein für einen jungen Mann und ein Mädchen, die beide keine Lust verspürten, einen richtigen Haushalt zu führen, sondern nur sorglos und vergnügt zusammen leben wollten. Der Maler und sein Modell mögen ähnlich gedacht haben. Das große Atelier bot Raum genug für zwei Menschen zum Schlafen, Essen und Wohnen.
3 Es war Ende Mai, als ich Naomi zu mir nahm und mit ihr in unser Märchenhaus zog. Es stellte sich übrigens durchaus nicht als so unbequem heraus, wie ich befürchtet hatte. Von einem der sonnigen Zimmer unter dem Dach konnte man das Meer sehen, und der freie Platz auf der Südseite des Hauses eignete sich gut für einen kleinen Blumengarten. Der einzige Schönheitsfehler war, daß in der Nähe die Vorstadtbahn vorüberfuhr. Doch da einige Felder dazwischenlagen, war der Lärm nicht allzu stark. An dem Haus war wirklich nichts auszusetzen, zumal die Monatsmiete, da es sich nicht für jeden eignete, ziemlich niedrig war. Am Tage unseres Einzugs sagte ich zu Naomi: «Bitte, Naomi-chan, sag von jetzt ab nicht mehr ‹Kawai-san›, sondern ‹Joji-san› zu mir. Wir wollen jetzt wie gute Freunde leben.» Ich teilte meiner Familie mit, daß ich aus der Pension ausgezogen sei, ein eigenes Haus gemietet und als Hausangestellte ein junges Mädchen zu mir genommen hätte. Allerdings schrieb ich kein Wort davon, daß ich mit diesem jungen Mädchen ‹wie mit einer gu22
ten Freundin› leben wollte. Aus meiner Heimat kam nur selten jemand, mich zu besuchen, und sobald es sich als notwendig erweisen sollte, würde ich ihnen Genaues mitteilen. Eine Zeitlang verbrachten wir damit, die verschiedensten Haushalts- und Einrichtungsgegenstände zu kaufen; wir stellten das Mobiliar in diesem wunderlichen Haus auf und versuchten, unsere Behausung möglichst hübsch und gemütlich zu machen. Es war eine geschäftige, aber sehr glückliche Zeit. Um Naomis Geschmack zu bilden, ließ ich sie beim Einkauf – selbst der kleinsten Dinge – immer zuerst ihre Meinung sagen, sprach dann mit ihr darüber und kam ihren Vorstellungen, soweit dies möglich war, entgegen. Da man in unserem Haus die üblichen Möbelstücke wie Kommoden und Lang-Hibachi nicht brauchen konnte, waren wir in unserer Wahl völlig frei und konnten kaufen, was uns gefiel. Als wir einen billigen, indischen Kattun erstanden, nähte Naomi mit ungeübter Hand einen Fenstervorhang. In einem Laden in Shibaguchi, der ausländische Möbel führte, kauften wir einen alten Rohrstuhl, ein Sofa, einen Lehnsessel und einen Tisch. Das alles stellten wir ins Atelier, hängten ein Bild von Mary Pickford und die Fotografien einiger anderer amerikanischer Filmschauspielerinnen an die Wand und wollten auch die Schlafstätten möglichst europäisch gestalten. Richtige Betten waren uns allerdings zu teuer, zumal ich mir ohne weiteres noch einige bequeme Futons aus meiner Heimat schikken lassen konnte. Wir verzichteten also auf europäische Betten. Die Futons, die meine Familie für Naomi schickte, waren recht grobes Schlafzeug für Dienstmädchen. Sie tat mir leid und ich sagte: «Das wird ein bißchen zu 23
hart für dich sein; ich gebe dir einen von meinen Futons.» «O nein, das ist schon gut so. Mir genügt es», erwiderte Naomi, griff nach ihrem Futon und ging nach oben in das drei Matten große Zimmer, um dort zu schlafen. Ich selber schlief in dem danebenliegenden vier Matten großen Zimmer. Noch in den Futons liegend, begannen wir uns gleich beim Aufwachen von Zimmer zu Zimmer zu unterhalten: «Naomi-chan, bist du schon wach?» rief ich. Und sie antwortete: «Ja, ich bin wach. Wie spät haben wir es denn?» «Halb sieben. Soll ich heute den Reis aufsetzen?» «Du? Ach ja, natürlich. Gestern war ich dran. Heute darf Joji-san den Reis kochen.» «Hm. Meinst du wirklich? Oder wollen wir heute Brot essen? Ich finde das mit dem Reis so umständlich!» «Gut, essen wir Brot. Ich habe nichts dagegen. Aber eigentlich ist es raffiniert von dir, Joji-san, wie du dich um das Reiskochen drückst.» Wenn wir Reis aßen, brachten wir ihn gleich in dem kleinen Kochtopf auf den Tisch, öffneten mit irgendeinem Instrument ein paar Konserven und ließen uns das Ganze schmeckten. War uns das zu lästig, behalfen wir uns mit Brot, Milch und Marmelade oder auch mit ausländischem Kuchen. Abends machten wir uns Buchweizen- oder Makkaroninudeln, und wenn wir einmal besonders gut speisen wollten, gingen wir in ein nahe gelegenes ausländisches Restaurant. «Joji-san, darf ich heute ein Beefsteak essen?» fragte Naomi dann oft. Nach dem Frühstück ließ ich Naomi allein und ging zur Arbeit. Am Vormittag pflegte sie die vielen Blumen 24
innerhalb und außerhalb des Hauses, und nachmittags schloß sie das Haus ab und ging zum Englischunterricht oder zur Musikstunde. Da sie meinte, Englisch könne man am besten bei einem Ausländer lernen, hatte sie sich für eine alte Amerikanerin namens Miss Harrison entschieden, die in Meguro wohnte. Dort ging sie jeden zweiten Tag hin. Sie lernte Konversation und in englischen Schulbüchern lesen. Anfangs übte sie zu Hause allein weiter. Was nun die Musik betraf, so hatte ich zunächst überhaupt keine Ahnung, worin ich sie unterrichten lassen sollte. Aber eines Tages kam mir zu Ohren, daß eine Frau, die vor drei Jahren die Musikhochschule in Ueno absolviert hatte, bei sich zu Hause Klavier- und Gesangsstunden gab. So fuhr Naomi bald auch jeden Tag nach Shiba zur Klavierstunde. Dabei trug sie zu einem Seidenkimono eine dunkelblaue Hakama-Rockhose, schwarze Strümpfe und Halbschuhe, sah also ganz wie eine Mittelschülerin aus. Das Glück, nun endlich ihr Ideal verwirklichen zu können, schien ihr die schmale Brust zu sprengen. Wenn ich sie dann und wann auf meinem Heimweg traf, konnte ich mir kaum noch vorstellen, daß sie in Senzokumachi aufgewachsen war und in einem Café als Serviererin gearbeitet hatte. Auch ihr Haar war nun nicht mehr zu einer Pfirsichfrisur aufgesteckt, sondern mit einem vorn geflochtenen Band zusammengehalten. Ich schrieb vorhin, ich wollte mir Naomi wie einen kleinen Vogel halten. Als ich sie zu mir genommen hatte, wurde ihre Gesichtsfarbe gesünder, auch ihr Wesen veränderte sich langsam, und allmählich wurde sie tatsächlich so etwas wie ein fröhliches, heiteres Vögelchen. Das große Atelier war für sie ein geräumiges Bauer. 25
So ging der Mai zu Ende, das heitere Frühlingswetter hielt an, und die Blumen in den Beeten wuchsen mit jedem Tag und wurden immer farbiger. Kam ich abends von der Arbeit und sie vom Unterricht nach Hause, dann schien die Sonne so hell durch die Vorhänge aus indischem Kattun auf die blendendweißen Wände des Zimmers, als sei es noch heller Tag. Naomi zog dann ein bequemes Flanellgewand an und schlüpfte mit nackten Füßen in leichte Hausschuhe. Sie sang, während sie mit dem Fuß den Takt auf den Boden schlug, die Lieder, die sie im Unterricht gelernt hatte, oder wir machten irgendwelche Spiele. Mit verbundenen Augen rannten wir im Atelier umher, versuchten, einander zu fangen, sprangen über den Tisch, krochen unter das Sofa und warfen dabei alle Stühle um. Wenn uns das noch nicht genügte, rannten wir die Treppe hinauf und liefen auf der Galerie unter dem Dach wie die Mäuse hin und her. Einmal kniete ich mich auf den Boden, setzte Naomi, als sei ich ein Pferd, auf meinen Rücken und kroch durch das ganze Zimmer. «Hai-hai! Do-do!» rief sie begeistert. Dann drehte sie aus einem Handtuch einen Zügel und befahl mir, hineinzubeißen. An einem solchen Tag, als wir ausgelassen umhertobten und Naomi offenbar zu schnell die Treppe hinuntergelaufen war, vertrat sie sich plötzlich den Fuß, stürzte zu Boden und begann laut zu schluchzen. «Naomi, was ist? Zeig mir, wo du dir weh getan hast», rief ich, umfaßte sie und richtete sie auf. Sie schluchzte weiter, streifte dann ihren Ärmel hoch und zeigte mir eine blutige Stelle. Sie hatte sich beim Hinfallen an einem Nagel oder an einem anderen spitzen Gegenstand verletzt, und am Ellbogen ihres linken Armes war die Haut aufgerissen, und es blutete. 26
«Deswegen weinst du? Tut es denn so weh? Komm, ich verbinde dich!» Ich strich Salbe auf die Wunde, zerriß ein Tuch und band es um ihren Arm. Währenddessen schluchzte sie immer weiter, die Tränen liefen ihr über die Wangen – ihr Gesicht sah aus wie das eines unschuldigen, kleinen Kindes. Unglücklicherweise begann die Wunde zu eitern und heilte erst nach fünf, sechs Tagen. Immer wenn ich den Verband wechselte, brach sie erneut in Tränen aus. Ob ich Naomi bereits damals geliebt habe, weiß ich nicht. Ja, ich habe sie wohl geliebt. Aber da ich sie zu einer idealen Frau heranbilden wollte, glaubte ich allein in dieser Aufgabe mein Glück finden zu können. Aber als ich im Sommer dieses Jahres zwei Wochen Urlaub von meiner Firma erhielt und wie gewohnt zu meiner Familie aufs Land fuhr – Naomi brachte ich zu ihrer Familie nach Asakusa, unsere Wohnung in Omori war also leer –, erschien mir die Zeit der Trennung unerträglich eintönig und lang. Damals kam mir zum erstenmal der Gedanke, daß es vielleicht ein Zeichen beginnender Liebe sei, wenn ich mich ohne Naomi so furchtbar einsam fühlte. Daher ersann ich meiner Mutter gegenüber eine Ausrede, reiste nach Tokio zurück und fuhr – es war schon nach zehn Uhr abends – direkt vom Ueno-Bahnhof mit dem Taxi zu Naomis Familie. «Naomi-chan, ich bin wieder da. Das Taxi wartet noch vor der Tür. Komm schnell mit nach Omori.» «Ja, ich komme sofort!» rief sie, ließ mich nur wenige Augenblicke vor der Tür warten und erschien dann mit einem kleinen Furoshiki-Bündel in der Hand. Es war ein sehr schwüler, heißer Abend, Naomi trug ein weiches, hellila Musselinkleid und hatte um ihre Haa27
re ein breites, schwarzes Band geschlungen. Den Stoff mit dem Taubenmuster hatte ich ihr zum Obon-Fest gekauft, und sie hatte sich während meiner Abwesenheit ein Kleid daraus machen lassen. «Was hast du eigentlich all die Tage getrieben, Naomi-chan?» fragte ich, als der Wagen durch das lärmende Hirokojo-Viertel fuhr. Ich saß neben ihr und hätte nur zu gern meine Wange an die ihre gelehnt. «Ich war jeden Tag im Kino.» «Dann hast du dich also nicht einsam gefühlt?» «Hm … Ach, so furchtbar einsam eigentlich nicht», antwortete sie und fügte nach kurzem Nachdenken hinzu: «Joji-san, du bist doch früher zurückgekommen, als du vorgehabt hast, nicht wahr?» «Es war mir zu langweilig auf dem Land. Deshalb habe ich mich entschlossen, zurückzufahren. Es geht eben doch nichts über Tokio!» Ich seufzte erleichtert auf und betrachtete durch das Wagenfenster sehnsüchtig und liebevoll den nächtlichen Strahlenglanz der großen Stadt. «Ich könnte mir vorstellen», sagte Naomi zu meiner Überraschung, «daß es im Sommer auf dem Land recht angenehm ist.» «Das hängt von der Gegend ab. Wir wohnen ziemlich einsam, und die Landschaft ist nicht sehr schön. Es gibt überhaupt nichts Sehenswertes dort. Außerdem ist es unerträglich heiß, und schon am Tage summen die Moskitos und Fliegen herum.» «Ach, so eine häßliche Gegend ist das?» «Ja.» «Ich möchte zu gern einmal ans Meer!» Es war die sehnsüchtige Stimme eines verwöhnten Kindes. «Soll ich einmal mit dir irgendwohin fahren, wo es kühler ist? Nach Kamakura vielleicht oder Hakone …» 28
«Das Meer bei Kamakura ist mir lieber als die heißen Quellen von Hakone. Oh, ich möchte so gern einmal dahin. Wirklich!» Es war dieselbe unschuldige Stimme, mit der Naomi immer gesprochen hatte; aber nach den zehn Tagen, in denen ich sie nicht gesehen hatte, erschien mir ihr Körper plötzlich ein wenig erwachsener, und in mir regte sich das unwiderstehliche Verlangen, heimlich die runden Formen ihrer Schultern und ihrer Brüste zu betrachten, die sich unter dem dünnen Musselingewand atmend hoben und senkten. «Dieser Kimono steht dir ausgezeichnet. Wer hat ihn dir denn genäht?» fragte ich nach einer Weile. «Meine Mutter.» «Haben sie in deiner Familie über uns gesprochen?» «Meine Mutter meinte, ich sähe sehr, sehr modern aus.» «Hat deine Mutter das wirklich gesagt?» «Ja. Aber bei mir zu Hause versteht man nicht viel davon», antwortete sie, und während ihr Blick in die Ferne gerichtet war, fuhr sie fort: «Und dann haben sie auch behauptet, ich hätte mich völlig verändert.» «Inwiefern denn?» «Ich sei eben so modern geworden!» «Das stimmt. Wenn ich dich so ansehe, bin ich der gleichen Meinung.» «So? Wirklich? Sie wollten mich überreden, mir das Haar nach japanischer Art zu binden. Aber ich fand es lästig und habe mich geweigert.» «Und das Band, das du da trägst?» «Das habe ich mir in einem Laden vor dem Kwannon-Tempel gekauft. Gefällt es dir?» Während sie mich fragte, drehte sie den Kopf und ließ ihr wogendes, weiches Haar im Winde flattern. 29
«O ja. Ich finde auch, daß es dir viel besser steht als die steife japanische Frisur.» «Wirklich?» Sie lachte laut auf und streckte ihre kleine Katzennase ein wenig in die Höhe. Dieses Lachen und das Hochrecken der kleinen, frechen Nasenspitze gehörte zwar zu ihren Gewohnheiten; ich aber fand, daß sie in solchen Augenblicken immer besonders klug aussah.
4 Da mich Naomi von nun an fortgesetzt plagte, doch einmal mit ihr nach Kamakura zu fahren, entschloß ich mich Anfang August, zwei, drei Tage dort zu verbringen. «Warum nur drei Tage? Wenn wir schon hinfahren, sollten wir wenigstens eine Woche oder zehn Tage bleiben», sagte Naomi schmollend. Aber ich hatte meiner Mutter gegenüber für meine vorzeitige Abfahrt nach Tokio die Ausrede benutzt, ich würde dringend in der Firma gebraucht, und so wäre es mir peinlich gewesen, wenn sie die Wahrheit erfahren hätte. Deshalb sagte ich zu Naomi: «Gib dich doch jetzt mit den zwei, drei Tagen zufrieden. Im nächsten Jahr fahre ich mit dir dann in eine besonders schöne Gegend. Dort machen wir es uns dann gemütlich und bleiben länger. Einverstanden?» «Können wir wirklich nur für zwei, drei Tage fahren?» «Ja. Wenn es dir nur auf das Schwimmen ankommt, kannst du es ja auch hier am Strand von Omori tun.» «In das schmutzige Wasser gehe ich auf gar keinen Fall!» 30
«Sei nicht so unvernünftig! Du bist doch ein braves, kleines Mädchen! Ich kaufe dir auch ein neues Kleid, ja? Du hast doch schon immer ein europäisches Kleid haben wollen. Ich werde dir eines machen lassen.» Mit diesem Köder angelte ich mir schließlich Naomis Zustimmung. In Kamakura wohnten wir in dem keineswegs allzu großartigen Strandhotel Kimparo, dem Goldwellenpavillon. Die Wahl dieses Hotels hatte eine, wenn ich es mir heute überlege, höchst lächerliche Vorgeschichte. Ich trug in meiner Kimonotasche den größten Teil meines zur Jahresmitte erhaltenen Bonus, und so war es wirklich nicht nötig, bei diesem Aufenthalt von zwei, drei Tagen zu sparen. Oberglücklich, daß ich nun zum erstenmal gemeinsam mit Naomi verreiste, wollte ich unsere Reise möglichst schön gestalten, keinesfalls geizig sein und in einem erstklassigen Hotel mit ihr wohnen. So hatte ich es mir jedenfalls vorgenommen. Aber als schließlich der Tag unserer Abreise kam und wir in einem 2. Klasse-Wagen der YokosukaLinie einstiegen, verloren wir beide allen Mut. Dort saßen nämlich viele Frauen und Mädchen, die nach Zushi und Kamakura fuhren, in so feinen Kleidern, daß mir Naomi unter ihnen recht ärmlich vorkam. Da es Sommer war, hatten sich die jungen und älteren Damen nicht einmal sehr elegant angezogen, aber als ich Naomi mit ihnen verglich, wurde mir plötzlich klar, daß es zwischen den Menschen der oberen Gesellschaftsschicht und den anderen auch schon rein äußerlich unübersehbare Unterschiede gibt. Verglichen mit der Zeit, als Naomi im Café arbeitete, war sie ein ganz anderer Mensch geworden. Aber hier im Zuge ließ sich ihre bescheidene Herkunft und Erziehung nicht verleugnen. Vielleicht war eben doch nichts aus 31
ihr zu machen. Auch Naomi schien das offenbar sehr stark zu empfinden. Wie armselig wirkte ihr taubengemustertes Musselinkleid, in dem sie mir bisher so elegant erschienen war. Manche der Frauen im Zuge trugen nur ganz schlichte Sommermäntel, aber an ihren Fingern schimmerten Diamanten, und auch ihr Gepäck ließ erkennen, welchen Aufwand sie zu treiben pflegten. An Naomis Händen glänzte außer ihrer zarten Haut nichts, auf das sie stolz sein konnte. Ich erinnere mich noch heute, wie Naomi ihren Sonnenschirm beschämt in den Falten ihres Hakama versteckte. Und das mit gutem Grund, denn der Schirm war zwar nach der letzten Mode, aber jeder konnte sehen, daß er nicht mehr als sieben, acht Yen gekostet hatte. Obwohl ich ursprünglich im Sambashi oder sogar im Kaihin wohnen wollte, schüchterte uns der imposante prächtige Eingang des Hotels so ein, daß wir die HaseStraße einige Male auf und ab gingen, schließlich im zweit- oder gar drittklassigen Kimparo abstiegen. Dort wohnten viele junge Studenten, die schrecklichen Lärm machten, und so hielten wir uns, da wir dort keine Ruhe fanden, den ganzen Tag am Strand auf. Beim Anblick des Meeres wurde Naomi sofort guter Laune, ja, fast übermütig und hatte die gedrückte Stimmung in der Bahn ganz und gar vergessen. «Ich muß in diesem Sommer unbedingt schwimmen lernen», sagte sie, klammerte sich an meinen Arm und planschte ausgelassen in dem seichten Wasser umher. Ich umfing ihren Körper mit beiden Armen, ließ sie sich auf den Bauch legen und hielt sie über Wasser. Dann, sagte ich ihr, sie solle sich an einem Balken festhalten, und zeigte ihr, wie sie die Beine zu bewegen hätte. Manchmal zog ich die Arme unter ihr fort, so daß sie das salzige Meerwasser schluckte. Waren wir 32
müde, ließen wir uns von den Wellen umspülen, lagen herrlich träge am Strand und spielten mit dem Sand. Abends mieteten wir uns ein Boot und ruderten weit aufs Meer hinaus. Dann schlang Naomi ein großes Handtuch um ihren Badeanzug, setzte sich ins Heck oder benutzte den Bootsrand als Kopfkissen, sah zum blauen Himmel auf und sang ohne die geringste Scheu mit lauter Stimme das neapolitanische Fischerlied «Santa Lucia O dolce Napoli O sol beato» Während sie mit hellem Sopran die italienischen Worte sang und ich entzückt lauschte, wie sie über das abendliche Meer hallten, bewegte ich gemächlich die Ruder. «Dahin, dahin!» sang sie immer wieder. Sie wurde der Fahrt auf den Wellen nicht müde. Unversehens war die Sonne untergegangen, und glitzernd leuchteten vom Himmel die Sterne auf uns herab. Ringsumher wurde alles undeutlich, und die Konturen ihrer in ein weißes Handtuch gehüllten Gestalt verschwammen vor meinen Augen. Naomis Gesang wollte kein Ende nehmen; sie wiederholte Santa Lucia noch einmal, sang dann die Lorelei und Arien aus Mignon. So lauschte ich ihren Liedern, während unser Boot sanft auf dem Wasser schaukelte. So etwas hat wohl jeder in seiner Jugend schon einmal erlebt, aber für mich war es das erste Mal. Ich war Ingenieur, hatte kaum Beziehungen zu Literatur und Kunst und nahm höchst selten einen Roman in die Hand. Doch damals fiel mir plötzlich die Novelle ‹Ein Kopfkissen aus Gras› von Natsume Sôseki ein. Darin kamen – wie ich mich ganz bestimmt zu erin33
nern glaubte – die Worte vor: «Venedig versinkt! Venedig versinkt!» Als wir beide von der See her die Lichter auf dem Festland durch den abendlichen Nebel schimmern sahen, mußte ich seltsamerweise an diese Worte denken und geriet in eine sentimentale, euphorische Stimmung, in der ich am liebsten mit Naomi in eine unendlich ferne Welt geschwebt und nie zurückgekehrt wäre. Daß ich, der schlichte Mann aus der Provinz, so etwas erleben durfte, machte mir die drei Tage in Kamakura zu einem kostbaren Geschenk. Aber das war es nicht allein. Wenn ich die Wahrheit sagen darf – in diesen drei Tagen entdeckte ich etwas noch viel Wichtigeres. Obgleich ich schon geraume Zeit mit Naomi zusammen gelebt hatte, hatte ich noch kein einziges Mal ihren nackten, Körper gesehen. Nun sah ich ihn. Als sie am ersten Morgen in ihrem dunkelgrünen Badeanzug, den sie am Abend zuvor auf der Ginza gekauft hatte, zum Badestrand Yuigahama vor mir herging, betrachtete ich entzückt ihre wohlgeratenen Glieder. Ich war maßlos glücklich. Schon unter dem Kimono hatten sich die Linien ihres Körpers manchmal abgezeichnet, und nun entsprach die Wirklichkeit auf das Zauberhafteste meinen Vermutungen. Naomi! Naomi! Meine Mary Pickford! Wie harmonisch, wie hinreißend schön ist dein Körper! Was hast du für schmiegsame, weiche Arme! Was für glatte, schlanke Beine – fast wie ein Junge. So sprach mein Herz in seinem Glück. Wohl niemand mag gern allzu ausführlich über den Körper seiner Frau schreiben. Auch mir widerstrebt es, über den Körper von Naomi, meiner späteren Frau, prahlerisch zu reden und seine Vorzüge offen zu rühmen. Für diese meine Erzählung aber ist es unumgänglich; wenn ich davor zurückscheue, hat es überhaupt 34
keinen Sinn, diesen Bericht niederzuschreiben. Ich muß also schildern, wie die vierzehnjährige Naomi damals im Sommer am Strand von Kamakura ausgesehen hat. Sie war etwa einen Zoll kleiner als ich. Trotz meiner kräftigen, gesunden Konstitution bin ich nicht besonders groß. Naomis Arme waren kurz, ihre Beine jedoch lang. Daher wirkte sie aus der Ferne größer, als sie tatsächlich war. Ihr kurzer Rumpf war in der Taille sehr schmal, und an der schmälsten Stelle begann die Wölbung ihrer sehr fraulich runden Lenden. Wir hatten in jenem Sommer den Film ‹Das Meermädchen› mit der berühmten Schwimmerin Kraman gesehen. Als ich Naomi im Badeanzug vor mir sah, sagte ich zu ihr: «Versuch doch einmal, es der Kraman nachzumachen.» Darauf reckte sich Naomi auf dem Sand des Strandes hoch auf, streckte beide Arme über den Kopf und tat so, als wollte sie ins Wasser springen. In diesem Augenblick, als ihre Schenkel ganz eng, ohne den kleinsten Zwischenraum nebeneinanderlagen, sah sie aus wie ein Pfeil. Stolz fragte sie mich: «Was meinst du, Joji-san, sind meine Beine krumm?» Sie schritt vor mir auf und ab, blieb stehen, dehnte und streckte sich, und ich betrachtete ihre Figur voll Behagen. Ein weiterer Reiz an Naomis Körper war die Linie, die von ihrem Hals zu den Schultern verlief. Ihre Schultern hatte ich schon öfter berühren dürfen. Immer wenn sie den Badeanzug überstreifte, bat sie mich nämlich: «Joji-san, bitte, mach mir doch den Knopf hier zu!» Dann ließ sie sich die Träger auf den Schultern von mir zuknöpfen. Ich hatte eigentlich erwartet, daß eine so schmale Jungmädchenschulter mager aussieht, wenn sie nackt ist. Aber Naomi hatte zu meiner 35
Überraschung üppige, schöne Schultern und eine herrliche Brust. Wenn ich ihr die Knöpfe zumachte, sah ich, wie sich ihre Brust beim Atmen bewegte und zarte kleine Wellen über ihren Rücken liefen. Auch sonst schien mir ihr Badeanzug gleichsam zu bersten. Ihre gewölbten Schultern waren wunderbar elastisch. Beim Anblick dieser Schultern dachte man unwillkürlich an kraftvolle Jugend und Schönheit. Ich habe ihre Schultern mit denen vieler anderer junger Mädchen verglichen, aber ich stellte immer wieder fest, daß keine einzige so üppige Schultern und gleichzeitig einen so zarten, graziösen Hals besaß. «Naomi-chan, du mußt still stehen», sagte ich oft, «sonst kann ich diesen Knopf unmöglich zumachen.» Ich ergriff die Enden der Träger mit den Fingerspitzen und hatte Mühe, sie zusammenzubringen. Nun, da ich ihren wundervollen Körper gesehen hatte, konnte ich auch verstehen, warum sie sich so gern bewegte und wie wild herumtollte. Sie war äußerst geschickt und lernte in den drei Tagen in Kamakura schwimmen. Später trainierte sie eifrig weiter am Strand von Omori, so daß sie sich diese Kunst während des Sommers schließlich völlig aneignete. Sie ruderte auch und segelte; und wenn sie sich den ganzen Tag vergnügt hatte, war sie bei Sonnenuntergang völlig erschöpft. «Oh, bin ich müde!» seufzte sie dann und fügte, den tropfendnassen Badeanzug in der Hand, schnell hinzu: «Und entsetzlich hungrig!» Mit diesen Worten ließ sie sich träge auf einen Stuhl fallen. War uns die Zubereitung des Abendessens zu mühsam, gingen wir auf dem Heimweg in ein ausländisches Restaurant und aßen uns beide, gleichsam um die Wette, nach Herzenslust satt. Nach dem ersten Beefsteak verzehrten wir oft noch ein zweites, und ge36
legentlich wurden die Teller – weil Naomi Beefsteak so liebte – sogar dreimal gewechselt. Es würde kein Ende nehmen, wollte ich all die glücklichen Erinnerungen jenes Sommers niederschreiben. Deshalb lasse ich es damit bewenden und möchte nur zum Schluß eines nicht verschweigen: in jener Zeit nahm ich die Gewohnheit an, Naomi beim Baden mit einem Schwamm Arme, Beine und den Rücken abzuwaschen. Da sie meist sehr müde war und ich ihr nicht zumuten wollte, ins öffentliche Bad zu gehen, um sich das salzige Meerwasser abzuspülen, goß ich ihr in der Küche Wasser über den Körper. Das erste Mal sagte ich zu ihr: «Naomi-chan, wenn du so ins Bett gehst, bleibt deine Haut salzig. Ich spüle dich schnell ein wenig ab. Steig in den Zuber.» Als ich ihr so zuredete, tat sie es und ließ sich ohne Widerstreben von mir abwaschen. Daraus wurde dann allmählich eine Gewohnheit, und wir hörten auch im Herbst, als sie nicht mehr schwimmen ging, nicht damit auf. Schließlich stellten wir in eine Ecke des Ateliers eine europäische Badewanne, breiteten davor eine Badematte aus und umgaben das Ganze mit einem Wandschirm. So wusch ich sie auch im Winter.
5 Kluge Leser werden sicher im vorigen Kapitel meines Berichts vermutet haben, daß es zwischen mir und Naomi zu Beziehungen kam, die über ein rein freundschaftliches Verhältnis hinausgingen. Aber das war nicht der Fall. Im Laufe der Zeit stieg zwar in unser beider Herzen eine Art Verständnis füreinander auf, aber sie war schließlich erst ein vierzehnjähriges Mäd37
chen und ich, wie ich schon erwähnte, ein ernster, tugendhafter Mann, der mit Frauen noch wenig Erfahrung hatte. Darüber hinaus legte mir ihre Unberührtheit eine gewisse Verantwortung auf, und so habe ich nur aus gelegentlichen Impulsen die Grenzen dieses ‹Verhältnisses› ein wenig überschritten. Ich kannte außer Naomi keine Frau, die ich hätte heiraten wollen, und selbst wenn ich eine gekannt hätte, wäre ich nicht imstande gewesen, mich von Naomi zu trennen. Je mehr ich mir dessen bewußt wurde, desto tiefer und stärker wurden meine Gefühle für sie und um so weniger wollte ich sie für ein leichtfertiges Spiel mißbrauchen. Zu einer wirklichen Liebesbeziehung kam es erst im folgenden Jahr, im Frühling von Naomis fünfzehntem Lebensjahr, am 26. Tag des Monats April. Ich erinnere mich daran so genau, weil ich seit der Zeit, als ich Naomi abzuwaschen begann, ein Tagebuch führte, in das ich alles eintrug, was mich an ihr fesselte. Naomis Körper wurde in jener Zeit von Tag zu Tag weiblicher. Ich schrieb meine Beobachtungen mit der gleichen liebevollen Sorgfalt auf wie eine Mutter, die die Entwicklung ihres Neugeborenen verfolgt und sich notiert, wann es das erste Mal gelacht und es das erste Mal gesprochen hat. Ich nehme dieses Tagebuch auch jetzt gelegentlich noch zur Hand. Unter dem 22. September des 10. Jahres Taishô steht: «Abends um acht Uhr habe ich Naomi wieder gewaschen. Der Sonnenbrand von ihrem Aufenthalt am Meer ist noch immer nicht ganz verheilt. Nur dort, wo die Haut vom Badeanzug bedeckt war, ist sie weiß, alles andere ist dunkel. Bei mir ist es ähnlich. Aber da Naomis Hautfarbe von Natur aus heller ist als meine, fällt es bei ihr mehr ins Auge. Wenn sie nackt ist, 38
könnte man meinen, sie trüge einen Badeanzug. Als ich zu ihr sagte, sie sehe wie ein Zebra aus, lachte sie und fand das sehr komisch.» Einen Monat später, am 17. Oktober, heißt es: «Die von der Sonne verbrannte Haut hat sich nun abgeschält, und darunter ist eine noch seidigere Haut zum Vorschein gekommen. Als ich ihre Arme wusch, betrachtete sie schweigend die Seifenblasen, die sich auf ihrer Haut bildeten. ‹Wie hübsch!› sagte ich, und auch sie meinte: ‹Ja, sehr hübsch!› fügte aber gleich hinzu: ‹Die Seifenblasen.›» Am 5. November heißt es: «Heute abend benutzte Naomi zum erstenmal die europäische Badewanne. Da sie sich noch nicht daran gewöhnt hat, rutschte sie dauernd aus und mußte darüber laut lachen. ‹Großes Baby›, neckte ich sie, und sie erwiderte: ‹Papa-san.›» Von da an nannten wir uns öfter «Baby» und «Papa». Wenn Naomi um etwas bettelte oder eigensinnig irgend etwas durchsetzen wollte, pflegte sie scherzend «Papa-san» zu mir zu sagen. Das Tagebuch trägt die Überschrift «Naomi wächst heran» und enthält lediglich Aufzeichnungen über Naomi. Nach einiger Zeit kaufte ich mir einen Fotoapparat und nahm ihr Gesicht – das immer mehr dem der Mary Pickford glich – in den verschiedensten Beleuchtungen und von allen Seiten auf. Die Bilder klebte ich zwischen dem Text ein. Ich bin ein wenig abgeschweift. Nach meinen Aufzeichnungen war es am 26. Tag des Monats April im zweiten Jahr nach unserem Einzug in Omori, als es zwischen uns zu jener unwiderruflichen Beziehung kam. Da unsere Vertrautheit immer mehr zugenommen hatte, geschah es eines Tages wie von selbst und 39
ohne daß einer den anderen absichtlich verführt hätte, ja, beinahe ohne daß wir ein Wort darüber wechselten. Als es geschehen war, legte sie ihren Mund an mein Ohr und flüsterte: «Joji-san, du verläßt mich doch bestimmt nicht?» «Wie kannst du so etwas denken? Sei ohne Sorge. Das wird nie geschehen, Naomi-chan. Du kennst mein Herz doch gut genug.» «Ja, ich kenne es …» «Seit wann?» «Ja, seit wann?» «Was hast du eigentlich gedacht, als ich zu dir sagte, ich möchte dich gern zu mir nehmen? Hast du geglaubt, daß ich dir eine gute Erziehung geben und dich später heiraten will?» «Ja.» «Dann bist du also zu mir gekommen, weil du einverstanden warst, meine Frau zu werden?» Ohne ihre Antwort abzuwarten, nahm ich sie fest in die Arme und ließ sie nicht mehr los. «Ich danke dir, Naomi-chan. Ich danke dir so sehr. Du verstehst mich. Ich habe es damals kaum für möglich gehalten, daß du einmal eine Frau würdest, die meinem Ideal so vollkommen entspricht. Ich bin ein glücklicher Mann. Mein ganzes Leben lang werde ich dich hegen und pflegen. Ich werde dich lieben und dich ganz bestimmt nicht verderben, wie es so oft in einer Ehe geschieht. Du mußt mir glauben, daß ich nur für dich lebe. Ich werde dir jeden Wunsch erfüllen. Du kannst weiter lernen und immer bezaubernder werden.» «Ja, ich möchte gern noch mehr lernen und eine Frau sein, die dir gefällt, Joji-san.» In Naomis Augen schimmerten Tränen, und unversehens kamen sie auch mir. An jenem Abend sprachen 40
wir ausführlich und unermüdlich über unsere gemeinsame Zukunft. Bald darauf, an einem Sonnabendnachmittag, fuhr ich über das Wochenende in meine Heimat und erzählte meiner Mutter zum erstenmal offen, wie ich zu Naomi stand. Ich sagte ihr, daß ich Naomi heiraten wolle, und meine Mutter, die mir völlig vertraute, gab mir von Herzen ihre Zustimmung. Offiziell wollte ich erst in einigen Jahren heiraten, nur die behördliche Eintragung in mein Standesregister sollte möglichst schnell vorgenommen werden. Deshalb begab ich mich auch sofort nach Senzokumachi zu Naomis Mutter und Bruder. Da sich beide genauso gleichgültig verhielten wie immer, ging alles schnell und glatt. Nachdem dies erledigt war, wuchs die Vertrautheit zwischen mir und Naomi schnell. Wir wollten niemandem von unserer Ehe erzählen und auch nach außen hin weiter wie Freunde erscheinen. Andererseits waren wir nun gesetzlich verheiratet und brauchten uns vor niemandem zu schämen. «Naomi-chan», sagte ich eines Tages. «Wollen wir beide von jetzt an für immer wie wirkliche Freunde zusammenleben?» «Ja. Und du mußt mich jetzt immer Naomi-chan nennen.» «Gern. Oder soll ich lieber ‹okusan› zu dir sagen?» «Nein, auf keinen Fall.» «Oder vielleicht Naomi-san?» «Das mag ich nicht. ‹Chan› ist mir lieber. Aber zu dir möchte ich ‹san› sagen.» «Dann heiße ich also nun für alle Zeiten Joji-san?» «Ja, so werde ich dich immer nennen.» Naomi lag mit geöffneten Augen auf dem Sofa, hielt eine Rose in der Hand und führte sie von Zeit zu Zeit 41
an die Lippen. Plötzlich sagte sie: «Joji-san.» Sie streckte beide Hände aus, drückte meinen Kopf an ihre Brust. «Meine liebe, kleine Naomi-chan», sagte ich, während sie mich so fest umarmte, daß ich kaum atmen konnte. In die dunklen Falten ihres Ärmels stammelte ich: «Meine liebe, kleine Naomi-chan. Ich liebe dich nicht nur, sondern ich verehre dich auch. Du bist mein kostbarster Schatz! Du bist der Diamant, den ich gefunden und geschliffen habe. Ich kaufe dir alles, was du willst. Ich möchte nur eins: Du sollst eine wundervolle Frau werden. Du kannst über alles verfügen, was ich besitze.» «O nein, das ist nicht nötig. Ich will lieber noch mehr Englisch und Musik lernen.» «Ja, lerne! Lerne immer weiter! Ich kaufe dir ein Klavier; und dann wirst du bald eine Lady werden, die sich selbst vor Ausländerinnen nicht zu schämen braucht. Du hast Talent, du wirst es bestimmt schaffen.» Die Worte ‹selbst vor Ausländerinnen› oder ‹wie Europäerinnen› gebrauchte ich oft, und Naomi freute sich natürlich darüber. «Was meinst du? Sehe ich nicht aus wie eine Europäerin?» fragte sie oft, wenn sie vor dem Spiegel stand und Gesichter zog. Sie achtete genau auf die Mimik der Schauspielerinnen, wenn wir uns einen Film ansahen. «So lacht doch Mary Pickford, nicht wahr? Sehe ich dich jetzt nicht an wie Pina Manikelli? Hält Gerardin Fara ihren Kopf nicht auch immer so?» Schließlich geriet sie geradezu in Ekstase, ließ ihr Haar lose herabwallen, schlang es sich auf die mannigfachste Art und Weise um den Kopf, und dabei verstand sie es tatsächlich großartig, das Wesen dieser 42
Schauspielerinnen spontan zu erfassen und nachzuahmen. «Du hast wirklich Talent! So etwas können nicht einmal japanische Schauspieler. Sicher liegt es daran, daß dein Gesicht so europäisch aussieht.» «Findest du? Inwiefern denn?» «Deine Nase und die Zähne.» «Oh, meine Zähne?» Sie zog die Lippen breit, als wolle sie «i» sagen, und besah die schimmernden Reihen ihrer Zähne im Spiegel. Sie hatte wirklich herrliche Zähne, wie Reiskörner nebeneinandergereiht. «Du hast etwas Unjapanisches an dir, deshalb stehen dir die üblichen japanischen Kimonos auch gar nicht so gut. Findest du das nicht selber? Ich möchte dir zu gern einmal ein europäisches Kleid machen lassen oder ein japanisches Gewand von ganz besonderer Art.» «Wie soll es denn aussehen?» «Weißt du, ich finde, nachdem die Frauen immer selbständiger und aktiver werden, sind die schweren, steifen Gewänder, die bisher getragen wurden, gar nicht mehr recht am Platze. Nach meiner Meinung müßte man jetzt ganz neuartige, originelle Kleider tragen – in einem Stil, der weder ausgesprochen japanisch noch chinesisch, noch europäisch zu sein braucht. Ob sich so etwas nicht machen ließe?» «Willst du mir wirklich so ein Kleid schneidern lassen?» «Am liebsten möchte ich dir unzählige Kleider machen lassen, Naomi, und dich bitten, dich ständig umzuziehen. Dabei möchte ich dir natürlich zusehen. Kleider aus Musselin und aus verschiedenen Seidenstoffen, die im Dessin möglichst ausgefallen sein müssen. Sie brauchen nicht aus teurer Kreppseide zu sein, 43
Musselin oder Meisen würde genügen. Hauptsache, der Schnitt ist besonders schick!» Nach diesem Gespräch durchsuchten wir zusammen alle Tuchläden und Kaufhäuser nach einem passenden Kleiderstoff. Es gab kaum einen Sonntag, an dem wir nicht zu Mitsukoshi und Shirokiya gegangen wären. Aber weder ich noch Naomi waren mit dem üblichen zufrieden, und so war es nicht leicht, ein Muster zu finden, das uns gefiel. Wir fanden es schließlich sinnlos, in japanischen Tuchhandlungen herumzulaufen, und so fuhren wir nach Yokohama in die Läden des Chinesenviertels und gingen in einige Geschäfte, die von Europäern geführt wurden und Kissen, Decken, Hemden und anderes verkauften. Einen ganzen Tag liefen wir dort herum und suchten, obgleich unsere Beine schwer wie Blei waren. Auf den Straßen achteten wir auf die Kleidung der Ausländer und blieben vor allen Schaufenstern stehen. Entdeckten wir dort etwas Schickes, betraten wir sofort den Laden, ließen uns den Stoff aus dem Fenster zeigen und hielten ihn Naomi an, so daß er von ihrem Kinn bis zum Boden herabwallte. Diese fröhlichen Streifzüge machten uns beiden ein unbeschreibliches Vergnügen. Neuerdings ist es allgemein Mode geworden, daß japanische Frauen Kleider aus Organdy, Josette, Cottonboil und dergleichen tragen. Vielleicht waren wir die ersten, die sich in diese Stoffe verliebten. Sie standen Naomi jedenfalls glänzend. Sie machte sich daraus auch Schlafanzüge oder drapierte ein Stück Stoff um ihren Körper, steckte es mit einer Brosche fest und ging in dieser Aufmachung im Hause hin und her. Oft fand ich sie vor dem Spiegel, wie sie die verschiedensten Posen einnahm und in ihren eigenen Anblick versunken war. In die weichen, rosenroten oder lila 44
durchsichtigen Seidenstoffe gehüllt, war ihre Figur hinreißend, sie sah wie eine lebende Blume aus. «Sieh einmal das hier an!» rief sie aus. Oder: «Und das erst!» Dann nahm ich sie in meine Arme und hob sie hoch, oder ich legte sie auf den Boden oder ließ sie sich setzen oder vor mir auf und ab schreiten und wurde nicht müde, sie anzuschauen. So kam es, daß ihre Kleider innerhalb eines Jahres kaum mehr zu zählen waren. Da sie sich in Naomis eigenem Zimmer nicht mehr unterbringen ließen, hingen oder lagen sie überall herum. Es hätte sich empfohlen, eine Kommode oder einen Schrank zu kaufen, aber wenn wir das nötige Geld gehabt hätten, wären wir bestimmt gleich losgelaufen und hätten noch mehr Kleider gekauft. Da das Ganze nur ein Spleen war, hielten wir es für überflüssig, sie sorgfältig aufzubewahren. Die Zahl der Kleider war zwar sehr groß, aber es handelte sich nur um ziemlich billiges Zeug; und da Naomi sie ständig trug, ließ sie alles dort liegen, wo sie es gleich wiederfand und zur Hand hatte. So konnte sie sich, wann immer es ihr in den Sinn kam, überall umziehen. Letzten Endes waren diese Kleider so etwas wie der Schmuck unserer Wohnung. Das Atelier glich einer Theatergarderobe: auf den Stühlen, dem Sofa, in den Ecken und Nischen – sogar auf der Treppe und auf dem Geländer der Galerie lagen und hingen Naomis Kleider herum. Da sie sie nur selten wusch und sie obendrein auf der bloßen Haut zu tragen pflegte, war alles ein wenig angeschmutzt. Die meisten hatten einen so extravaganten Schnitt, daß Naomi sie außerhalb des Hauses nicht tragen konnte. Das Kleid, das Naomi beim Ausgehen besonders gern trug, war aus gefüttertem Satin mit einem Haori aus dem gleichen Material. Haori und Kimono 45
waren bräunlich. Sogar die Bänder der Strohschuhe und das Haoriband waren bräunlichrot; für den Halbkragen, den Obi, die Gürtelschnalle, das Futter des Unterkleides, Ärmelaufschlag und Kimonosaum zog Naomi ein zartes Hellblau vor. Auch der Obi war aus einem Baumwollsatin angefertigt. Den inneren Teil des Obi hatte Naomi ziemlich schmal arbeiten lassen, die Brust schnürte sie fest nach oben. Da sie auch für den Halbkragen etwas Satinartiges haben wollte, kaufte sie hierfür ein Band. Dieses Gewand trug Naomi meist, wenn wir abends ins Theater gingen, und während wir auf den Gängen des Yurakuza- oder des Teigeki-Theaters hin und her wandelten und Naomi ihr prachtvolles Kleid zur Schau stellte, gab es kaum jemanden, der sich nicht nach ihr umgedreht hätte. «Wer ist diese junge Dame?» «Eine Schauspielerin?» «Vielleicht eine Eurasierin?» Während solches Geflüster an unsere Ohren drang, gingen wir absichtlich langsam umher. Da sie schon mit diesem Kleid so großes Aufsehen erregte, wagte sie sich mit anderen, noch extravaganteren schließlich überhaupt nicht mehr aus dem Haus, auch wenn sie es sehr liebte, in der Menge aufzufallen. Ihre Kleider waren gewissermaßen Gefäße, in denen sie sich versteckte. Wenn sie sich umzog, hatte sie wohl das gleiche Gefühl, als stecke sie eine schöne Blume in eine andere Vase. Da Naomi für mich nicht nur meine Frau, sondern mein kostbarster Besitz war, wunderte ich mich nicht darüber. Im Hause jedenfalls trug sie kaum je ein normales Kleid. Der von einer amerikanischen Filmschauspielerin kreierte dreiteilige Straßenanzug aus schwarzem Samt war wohl ihr teuerster, luxuriösester Hausanzug. Wenn sie ihn trug, 46
steckte sie ihr Haar hoch und setzte sich eine leichte Sportmütze auf. Dann sah sie so weich und reizend aus wie eine Katze. Manchmal im Sommer, aber auch im Winter in der Nähe des Ofens, spielte sie müßig in einem weichen Schlafgewand oder in einem Badeanzug herum. Ich vermag nicht zu sagen, wie viele Pantöffelchen und bestickte, chinesische Schuhe sie besessen hat. Oft zog sie nicht einmal Tabi-Socken oder Strümpfe an, sondern schlüpfte mit nackten Füßen in diese zarten hübschen Gebilde.
6 So gab ich damals allen ihren Launen nach und ließ sie tun, was sie wollte. Doch dabei sorgte ich weiter für ihre Erziehung und gab die Hoffnung nicht auf, aus ihr eine ungewöhnliche und ideale Frau zu machen. Was ich darunter verstand, war mir allerdings selbst nicht recht klar. Ich hatte in meiner simplen Denkart nur eine außerordentlich vage Vorstellung von einer ‹modernen, smarten Dame, deren man sich nirgendwo zu schämen braucht›. Aber ob sich mein Wunsch, etwas Ungewöhnliches aus Naomi zu machen, damit vertrug, daß ich sie wie eine Puppe verhätschelte, weiß ich nicht zu sagen. Wenn ich es mir heute überlege, erscheint mir mein Vorgehen überaus töricht. Aber damals war ich in meiner Liebe zu ihr gleichsam untergetaucht, und meine Augen waren geblendet, so daß ich nicht einmal diese einfache Wahrheit zu erkennen vermochte. «Naomi-chan, hör einmal zu: Spiel ist Spiel und Lernen ist Lernen! Sobald wirklich etwas Besonderes aus dir geworden ist, kaufe ich dir, was du willst!» pflegte ich zu jener Zeit oft zu sagen. 47
«Ja, ja, ich lerne schon! Bestimmt wird dann etwas Besonderes aus mir», antwortete sie daraufhin. So übten wir zusammen Tag für Tag nach dem Abendessen eine halbe Stunde englische Konversation, und ich ließ sie etwas aus einem englischen Buch vorlesen. Oft trug sie dabei den schon erwähnten Samtanzug oder auch ein Nachtgewand und lehnte sich, während sie mit ihren Fußspitzen die Pantöffelchen wie ein Spielzeug hin und her wippen ließ, in ihren Stuhl zurück. Mochte ich auch noch so mahnend auf sie einreden, immer wieder vermischte sie ‹Spiel› und ‹Lernen›. «Naomi-chan, was machst du denn da? Beim Lernen setzt man sich gerade hin!» Ruckartig straffte sie dann ihre Schultern und bat mit süßer Stimme: «Sensei, verzeihen Sie mir!» oder «Kawa-chenchei, verzeih mir!» Dabei hatte ich meist das Gefühl, als werfe sie mir einen verstohlen prüfenden Blick zu. Aber gelegentlich stützte sie nach einer solchen Zurechtweisung auch kurz den Ellbogen auf ihr Knie, und Kawai-sensei fand nicht den Mut, dieser liebreizenden Schülerin gegenüber allzu streng zu sein. Gewöhnlich gingen meine Mahnungen in kindlich harmlosen Scherzen unter. Ich fand bald heraus, daß Musik nicht ihre Stärke war. Im Englischen hatte ich ihr seit ihrem vierzehnten Lebensjahr etwa zwei Jahre lang von Miss Harrison Unterricht erteilen lassen, und so hätte sie eigentlich schon eine ganze Menge wissen müssen. Beim Lesen war sie bis zur Mitte des zweiten Buches vorgedrungen, und für die Konversation benutzte sie das ‹English Echo› und die ‹Intermediate Grammar› von Kanda Nobu. Das entsprach ungefähr dem Pensum der 3. Mittelschulklasse. Aber Naomi schien mir – mochte man auch noch so milde urteilen – selbst einer Schüle48
rin der 2. Klasse unterlegen. Das kam mir recht seltsam vor, und deshalb suchte ich eines Tages Miss Harrison auf. «O nein, Sie irren sich. Naomi ist ein außerordentlich intelligentes Mädchen. Sie kommt gut voran.» Damit versuchte die dicke, freundliche alte Dame meine Bedenken lächelnd zu zerstreuen. «Ja, natürlich ist sie intelligent», entgegnete ich. «Aber dafür sind ihre Kenntnisse eigentlich doch recht dürftig. Sie kann zwar einigermaßen lesen, aber das Übersetzen ins Japanische und die Grammatik lassen doch sehr zu wünschen …» «Oh, da irren Sie sich. Sie haben eben falsche Vorstellungen», schnitt mir die alte Dame, immer noch liebenswürdig lächelnd, das Wort ab. «Die Japaner denken alle immer nur an die Grammatik und an die Übersetzung. Aber das ist nicht richtig. Wenn Sie Englisch lernen wollen, dürfen Sie auf keinen Fall, auf gar keinen Fall an Grammatik denken! Sie dürfen auch nicht ans Übersetzen denken. Das beste ist, immer wieder und immer wieder Englisch zu lesen. Naomi hat eine sehr gute Aussprache. Und da sie im Lesen so gute Fortschritte macht, wird sie bestimmt auch sonst weiterkommen.» An dem, was die alte Dame sagte, war sicher etwas Richtiges. Aber ich hatte ja gar nicht gemeint, daß man sich alle Grammatikregeln systematisch einprägen müsse. Naomi lernte schließlich schon zwei Jahre lang Englisch und las das dritte Heft des ‹Readers›, da hätte sie doch meiner Meinung nach die Verwendung des Plusquamperfekts, die Bildung des Passivs und des Konjunktivs kennen müssen. Aber wenn ich sie aus dem Japanischen ins Englische übersetzen ließ, kam sie damit einfach nicht zurecht. Ich begriff gar nicht, was 49
ihr Miss Harrison in den zwei Jahren eigentlich beigebracht hatte und was Naomi gelernt haben sollte. Doch Miss Harrison nahm meine Bedenken gar nicht ernst; sie nickte nur selbstgefällig vor sich hin und wiederholte ständig: «Das Mädchen ist außerordentlich begabt.» Mir kam der Verdacht, daß ausländische Lehrer ihren japanischen Schülern gegenüber befangen zu sein schienen. Wenn Ausländer einen etwas westlich aussehenden, hübschen Japaner oder eine schöne Japanerin sehen, glauben sie unwillkürlich, diese seien sehr klug. Besonders Miss Harrison schien dazu zu neigen, denn sie lobte Naomi geradezu überschwenglich. Naomis Klugheit stand für sie offensichtlich fest, zumal – wie Miss Harrison immer wieder betonte – Naomis Aussprache tatsächlich fließend und wohlklingend war. Aber das kam meiner Ansicht nach nicht zuletzt daher, daß Naomi Gesangsunterricht erhielt und außerdem tadellose Zähne hatte. Naomis Stimme klang immer schön, und so hörte sich auch ihr Englisch reizvoll an. Vielleicht ließ sich Miss Harrison also von Naomis Stimme täuschen? Wie sehr sie Naomi liebte, merkte ich zu meinem Erstaunen sofort, als ich das Zimmer betrat, denn ihr Toilettenspiegel war mit einer Menge Fotos von Naomi geschmückt. Ich war sehr unzufrieden über die Auffassung von Miss Harrison und über ihre Unterrichtsmethode. Aber andererseits fühlte ich mich geschmeichelt, daß eine Ausländerin Naomi so sehr in ihr Herz geschlossen hatte und sie sogar klug fand. Ich konnte nicht umhin, mich darüber geradezu zu freuen. Aber nicht nur dies. Es erging mir nicht anders als allen Japanern, wenn sie mit Ausländern sprechen: Ich verlor mein Selbstvertrauen und hatte keinen Mut, auf meiner 50
Meinung zu beharren. Als ich vor der alten Dame stand, die japanisch mit sehr wunderlichem Akzent sprach, äußerte ich schließlich überhaupt nichts von dem, was ich hatte sagen wollen. Ich nahm mir insgeheim vor, selber noch mehr mit Naomi zu arbeiten, und erwiderte Miss Harrison nur: «Hm, wenn es so ist, wie Sie sagen, bin ich beruhigt. Ich glaube, ich weiß nun Bescheid.» Ich begleitete diese Worte mit einem höflichen Lächeln und kehrte, keineswegs von ihrem Urteil überzeugt, niedergeschlagen nach Hause zurück. «Joji-san, was hat Miss Harrison gesagt?» fragte Naomi am Abend. In ihrer Stimme schwang so viel Vertrauen auf die Gunst der alten Dame mit, als wisse sie genau, daß ihre Lehrerin sich nur positiv über sie geäußert haben könne. «Sie hat behauptet, du könntest sehr gut Englisch. Aber nach meiner Meinung verstehen die Ausländer nichts von der Psyche der japanischen Schüler. Es ist ein absoluter Irrtum, zu behaupten, man beherrsche eine Sprache, wenn man fließend zu lesen versteht und eine gute Aussprache hat. Du hast nur ein gutes Gedächtnis und kannst daher mühelos auswendig lernen. Aber sobald du übersetzen sollst, verstehst du nicht einmal den Sinn. Du bist wie ein Papagei! Du verstehst nicht, was du lernst! Daraus kann nie etwas werden!» Dies war das erste Mal, daß ich Naomi ernstlich schalt. Ich ärgerte mich nicht nur, weil sie und Miss Harrison sich offenbar einig waren und mich nicht ernst nahmen, sondern es erfüllte mich vor allem mit Sorge, ob sie unter solchen Umständen überhaupt eine ungewöhnliche Frau werden konnte. Selbst wenn man zugab, daß Englisch an sich schwierig war, schien es doch bedenklich, daß jemand außerstande war, gram51
matische Regeln zu begreifen. Ich fürchtete wirklich für ihre weitere Entwicklung. Wozu lernt denn ein Junge in der Schule Geometrie und Algebra? Doch keineswegs nur wegen der praktischen Anwendung, sondern vor allem, um den Verstand zu schärfen und zu trainieren. Die japanischen Frauen hatten es zwar bisher nicht nötig gehabt, systematisch denken zu lernen, aber für die Zukunft konnten sie nicht mehr darauf verzichten, wenn sie den Ausländerinnen ebenbürtig sein wollten. Aber wenn Naomi nicht systematisch denken konnte, sah ich meine Hoffnungen schwinden. Ich wurde hartnäckig. Hatte ich bisher nur dreißig Minuten mit ihr geübt, wandte ich nun täglich über eine Stunde dafür auf und hängte schließlich noch eineinhalb Stunden an für Übersetzungen vom Japanischen ins Englische und für Grammatik. Während dieser Stunden verlangte ich von Naomi unbedingte Konzentration. Ich war unerbittlich. Da es bei Naomi vor allem am Begreifen fehlte, erklärte ich ihr absichtlich nicht die Details, sondern machte nur Andeutungen und zwang sie so, den Zusammenhang selber zu entdecken. Nahm ich etwa in der Grammatik das Passiv mit ihr durch, stellte ich ihr sofort praktische Aufgaben. «Übersetze das nun ins Englische», sagte ich und fügte hinzu: «Wenn du das eben Gelesene auch nur einigermaßen begriffen hast, mußt du das können.» Bis sie die Antwort gefunden hatte, wartete ich schweigend. War die Antwort falsch, wies ich sie nicht etwa auf den Fehler hin, sondern sagte nur: «Du verstehst es ja noch immer nicht! Lies dir die Regel noch einmal genau durch.» So drängte ich immer wieder. Versagte sie trotzdem, dann rief ich schließlich wütend mit lauter Stimme: 52
«Aber, Naomi-chan, nicht einmal so etwas Einfaches kannst du behalten! Wie alt bist du eigentlich! Immer wieder verbessere ich den gleichen Fehler, und immer wieder begreifst du es nicht! Was hast du denn in deinem Kopf? Miss Harrison meint zwar, du seist klug, aber das kann ich nun wirklich nicht finden. Wenn du in der Schule so versagtest, wärst du die schlechteste Schülerin!» Naomi verzog das Gesicht, und sie fing an zu schluchzen. Gewöhnlich verstanden wir uns ausgezeichnet. Wir hatten uns bisher noch kein einziges Mal richtig gezankt, und wenn sie fröhlich war, war ich es auch. Wir waren ein Paar, von dem man mit Recht sagen konnte, daß es so harmonisch zueinander paßte wie kein zweites auf Erden. Aber sobald die englische Stunde begann, senkte sich eine bedrückende Last auf uns herab, die uns gleichsam den Atem nahm. Schließlich verging kein Tag mehr, an dem ich nicht mindestens einmal in Zorn geriet und Naomis Gesicht sich verdrießlich verzog. Oft fingen wir gutgelaunt an, doch mit einem Schlag versteifte sich unsere Haltung, und wir sahen uns mit Augen an, in denen fast so etwas wie Feindschaft glomm. Während jener Stunden vergaß ich ganz meine ursprüngliche Absicht, eine ungewöhnliche Frau aus Naomi zu machen; ich ärgerte mich über ihre Begriffsstutzigkeit, und mein Herz füllte sich mit Haß. Wäre mein Gegenüber ein Junge gewesen, hätte ich ihm in einem Anfall von Zorn wahrscheinlich ins Gesicht geschlagen. Aber so schrie ich immer nur: «Baka! Du Dummkopf!» Einmal stieß ich sogar mit meiner Faust leicht an ihre Stirn. Naomi wurde dann erst recht verwirrt. Selbst wenn sie meine Fragen hätte beantworten können, schwieg sie mit 53
versteinertem Gesicht, während ihr die Tränen über die Wangen liefen. Hatte sie sich einmal so verhärtet, dann wurde sie unglaublich starrsinnig und gab nicht im geringsten nach. Deshalb war meist ich es, der kapitulierte und den Ausgang unseres Disputs im Ungewissen zu lassen suchte. Einmal geschah folgendes. Das Partizip Präsens doing oder going muß unbedingt mit dem Verb to be verbunden werden; aber diese Regel ging einfach nicht in Naomis Kopf, so oft ich sie ihr auch erklärte. Sie machte immer wieder den gleichen Fehler, sagte also «I going» oder «I making». Da geriet ich in einen maßlosen Zorn. Ich schleuderte ihr mein übliches «baka!» entgegen, konjugierte nahezu schreiend mit ihr Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft – aber seltsamerweise verstand sie es auch dann noch nicht. Nach wie vor schrieb sie «he will going» oder «he had going», da war meine Geduld plötzlich zu Ende. «Baka! Dieses Maß an Dummheit ist ja einfach nicht zu fassen! Man kann nicht ‹will going› oder ‹have going› sagen! Wie oft habe ich es dir jetzt schon erklärt! Du übst jetzt so lange, bis du es verstanden hast! Und wenn es den ganzen Abend dauert! Wir hören nicht eher auf, bis du es kannst!» Während ich wie wild mit dem Bleistift auf den Tisch hämmerte, schob ich Naomi das Heft zu. Aber sie hatte ihre Lippen fest zusammengepreßt, war kreidebleich und starrte mir mit leicht gesenktem Kopf unverwandt zwischen die Augenbrauen. Auf einmal packte sie das Heft, zerriß es und schleuderte die Fetzen auf den Boden. Dann starrte sie mir wieder mit haßerfülltem Blick ins Gesicht, als wollte sie mich durchbohren. Einen Augenblick lang war ich von diesem leiden54
schaftlichen Ausbruch, der mich an ein wildes Tier erinnerte, gelähmt. Doch nach einer Weile sagte ich: «Du willst dich mir also widersetzen? Ist dir das Lernen so gleichgültig geworden? Du hast mir versprochen, fleißig zu arbeiten und eine gebildete Frau zu werden. Hast du diesen Vorsatz aufgegeben? Wie kommst du dazu, das Heft zu zerreißen? Ich verlange, daß du dich auf der Stelle entschuldigst. Das lasse ich dir nicht durchgehen! Falls du dich nicht sofort entschuldigst, mußt du noch heute das Haus verlassen!» Aber Naomi schwieg starrsinnig. Um die Lippen in ihrem kreidebleichen Gesicht zitterte ein verlegenes Lächeln, als wollte sie jeden Augenblick anfangen zu weinen. Da schrie ich: «Gut! Wenn du dich nicht entschuldigen willst, soll es mir recht sein! Verlaß sofort das Haus! Verschwinde!» Eigentlich hatte ich sie mit meiner Drohung nur einschüchtern wollen, nun erhob ich mich aber entschlossen, ergriff einige ihrer Kleider und wickelte sie schnell in ein Furoshiki-Tuch. Dann holte ich meine Geldbörse aus dem ersten Stock, nahm zwei Zehn-YenScheine heraus und warf sie ihr mit den Worten zu: «Da, Naomi! Hier in dem Furoshiki habe ich das Notwendigste für dich zusammengepackt. Nimm es und kehr zu deiner Familie nach Asakusa zurück. Da hast du noch zwanzig Yen für den Notfall. Es ist nicht viel, betrachte es als Taschengeld. Dein Gepäck lasse ich dir morgen zuschicken. Was ist, Naomi? Warum sagst du nichts?» Sie hockte stumm da und schien nichts gehört zu haben. Sie war wirklich noch ein richtiges Kind. Dann erschrak sie aber doch ein wenig vor meinem wütenden Gesicht und ließ, als bereue sie alles bitterlich, den Kopf hängen. Nun wirkte sie auf einmal ganz hilflos. 55
«Du bist wirklich unglaublich verstockt, Naomi. Es bleibt bei dem, was ich gesagt habe. Wenn du dein Verhalten bereust, dann entschuldige dich! Tust du das nicht, dann geh nach Hause! Was ist dir lieber? Entscheide dich! Willst du dich entschuldigen, oder möchtest du lieber nach Asakusa zurück?» Daraufhin schüttelte sie den Kopf und sagte: «Nein, nein.» «Du willst also nicht zurück?» «Hm …» Sie deutete ein leichtes Nicken an. «Willst du damit sagen, daß du dich entschuldigen möchtest?» «Hm», nickte sie genauso wie vorher. «Gut, ich will dir verzeihen. Aber lege jetzt die Hände zusammen und entschuldige dich, wie es sich gehört!» Da sie nun nicht mehr anders konnte, legte sie beide Hände auf den Tisch – aber trotz dieser demütigen Geste sah es so aus, als wolle sie mich zum besten halten. Nachlässig machte sie eine leichte Verbeugung in meine Richtung. Ich war mir nicht klar darüber, ob ihr Charakter von Anfang an so stolz und eigenwillig gewesen war oder ob sie sich nur so entwickelt hatte, weil ich zu zärtlich zu ihr gewesen war. Jedenfalls bestand kein Zweifel daran, daß diese Züge nun von Tag zu Tag deutlicher hervortraten. Nein, es wurde nicht eigentlich schlimmer, sondern ich hatte bisher wohl nur darüber hinweggesehen, weil sie erst vierzehn, fünfzehn Jahre alt war und ich es für kindlichen Charme gehalten hatte. Doch nun, da sie älter war, ging es mir auf die Nerven. Bisher hatte sie mich wenigstens angehört, wenn ich sie schalt, aber neuerdings wurde sie mürrisch und trotzig, wenn ihr etwas nicht paßte. Oder sie schluchz56
te verzweifelt und hatte dann etwas Rührendes und Liebreizendes an sich. Manchmal jedoch vergoß sie nicht eine einzige Träne, tat so unschuldig, daß es auch schon wieder rührend war, oder sie sah mich, wie sie es gern tat, scharf von unten her an, als wolle sie mich mit ihren Blicken vernichten. Sollte es so etwas wie kreatürliche Elektrizität geben, dachte ich oft, dann war in Naomis Augen bestimmt eine Menge davon zu finden. Denn ihre Augen funkelten so furchterregend, daß sie kaum mehr wie Augen erschienen. Aber dabei hatten sie einen so unergründlichen Zauber, daß ich oft zusammenschauderte, wenn sie mich eine Zeitlang angestarrt hatte.
7 In meiner Brust stritten Verzweiflung und Liebe. Ich hatte die falsche gewählt: Naomi war nicht so klug, wie ich erwartet hatte. Diese Tatsache vermochte ich bei allem Wohlwollen nicht abzuleugnen. Meine Hoffnung, sie eines Tages zu einer vollendeten Dame zu machen, war wie ein Traum zerronnen. Unbegabte Mädchen mit mangelnder Bildung konnten sich eben nicht mit anderen messen, und für Töchter aus Senzokumachi war der Beruf einer Serviererin in einem Café eben durchaus angemessen. Wo die Voraussetzungen fehlen, ist alle Mühe umsonst, dachte ich resigniert. Aber andererseits fesselte mich ihr Körper immer stärker. Ja, ich sage bewußt ‹Körper›, denn es handelte sich um die Schönheit ihrer Haut, ihrer Zähne, ihrer Lippen, ihrer Haare, ihrer Pupillen und andere Reize ihres Körpers. Mit Geist hatte das freilich nichts zu tun. Obwohl ihr Verstand meine Erwartungen ent57
täuscht hatte, erschien sie mir immer idealer, hinreißender und schöner. Je öfter ich seufzte «wie dumm du bist» oder «mit dir ist wirklich nichts anzufangen», desto mehr schlug mich ihre Schönheit in Bann. Und darin lag mein Unglück beschlossen. Ich vergaß schließlich meine hochherzige ‹reine› Absicht, sie zu bilden, und ließ mich von ihr in die Niederungen des Körperlichen ziehen. Als ich mir darüber klar wurde, daß es nicht so weitergehen dürfe, war es bereits zu spät, mich dagegen zu wehren. In der Welt geht eben nicht alles so, wie man es sich wünscht, dachte ich. Ich war bemüht gewesen, sowohl den Geist wie auch die körperliche Schönheit Naomis zu steigern und zu vervollkommnen. Was den Geist betraf, war es mir mißlungen, aber bei ihrem Körper war mir der herrlichste Erfolg beschieden gewesen. Ich hätte es nie für möglich gehalten, daß Naomi so hinreißend schön werden könnte. Und wog dieser Erfolg nicht das Scheitern im anderen Bereich auf? Das jedenfalls redete ich mir ein und versuchte meine Gedanken damit zu beschwichtigen. «Joji-san, neuerdings nennst du mich in der Englischstunde gar nicht mehr ‹baka›. Wie kommt das?» Naomi durchschaute ziemlich schnell, daß ich mich gewandelt hatte. Mochte sie auf intellektuellem Gebiet auch versagt haben – wenn es galt, in meinem Gesicht zu lesen, besaß sie ein feines Gespür. «Du wirst immer starrsinniger, wenn ich mit dir schimpfe, und das führt zu gar nichts. Aus diesem Grunde habe ich mein Verhalten dir gegenüber geändert.» «Hm.» Sie lachte mit erhobener Nasenspitze und sagte dann: «Wenn du mir immer dein ‹baka› ins Gesicht geschleudert hast, habe ich gar nicht mehr zuge58
hört. Dabei habe ich das meiste durchaus gewußt; aber es machte mir Spaß, dich in Wut zu bringen. Deshalb habe ich so getan, als wüßte ich es nicht. Hast du das nicht bemerkt, Joji-san?» «So? Und das soll ich glauben?» Obwohl ich wußte, daß Naomi dies nur sagte, weil sie sich schämte, unterlegen zu sein, tat ich, als glaubte ich ihr und spielte den Erstaunten. «Natürlich! Du hast es also nicht gemerkt! Dann bist du der ‹baka›, Joji-san, weil du geglaubt hast, ich könnte es nicht. Ich fand es immer so komisch, wenn du wütend wurdest.» «Das ist ja unerhört! So raffiniert hast du mich also getäuscht?» «Nun? Findest du mich jetzt nicht doch ganz klug?» «Allerdings … Gegen dich kommt wirklich keiner an.» Da wurde Naomi ganz stolz und hielt sich vor Lachen die Seiten. Verehrter Leser, spotten Sie bitte nicht und hören Sie geduldig zu, wenn ich jetzt eine höchst wunderliche Geschichte erzähle. Es handelt sich um folgendes. Ich habe früher in der Mittelschule die Geschichte von Antonius und Cleopatra gehört. Auch Sie, verehrter Leser, werden sie kennen. Als Antonius der Heeresmacht von Octavian entgegentrat und am Nil gegen ihn kämpfte, erkannte Cleopatra, die ihm gefolgt war, daß es um Antonius’ Schlachtenglück schlecht stand, und fuhr mit ihrem Schiff eilends davon. Antonius, der die Flucht der hartherzigen Königin bemerkte, folgte ihr auf der Stelle, ohne sich weiter um die Schlacht zu kümmern, die vor der Entscheidung stand. Unser Geschichtslehrer hat uns damals gesagt: «Dieser Antonius ist einer Frau nachgelaufen und hat dadurch sein 59
Leben verloren. Es gibt keinen dümmeren Mann als ihn. In der Geschichte der alten wie der neuen Zeit ist ein so lächerliches Verhalten einfach beispiellos. So tief können selbst herrliche Helden sinken!» Da wir seine pathetischen Worte höchst komisch fanden, platzten wir Schüler fast vor Lachen. Aber wichtig erscheint mir hier folgendes. Ich verstand damals nicht, daß sich Antonius in eine so kalte Frau verlieben konnte. Aber es war ja nicht nur Antonius, vorher war ja auch das Herz Julius Caesars von solcher Leidenschaft zu Cleopatra erfüllt, daß er sich die Verachtung der Menschen zuzog. Solche Beispiele gibt es noch viele. Man braucht nur die Familienfehden in der Tokugawa-Zeit und die Ursache für die Kämpfe in den Provinzen zu untersuchen. Oft stecken die Machenschaften intriganter Frauen dahinter. Und wenn ich Machenschaften sage, so meine ich nicht das frivole, listige Ränkespiel, mit dem Frauen Männer so gern umgarnen. Wie klug Cleopatra auch gewesen sein mag, ich glaube nicht, daß sie klüger war als Antonius oder Caesar. Man braucht schließlich kein Held zu sein, um feststellen zu können, ob einen eine Frau wie Cleopatra ehrlich liebte oder ob sie einen nur mit Worten täuschte. Ich hielt es für einen absoluten Mangel an Verstand, sich solchen Täuschungen immer weiter hinzugeben, wenn man erkannt hatte, daß man sich damit nur zugrunde richtet. Wenn sich Antonius und Caesar tatsächlich so verhalten hatten, konnten sie nicht so großartige Helden gewesen sein, wie man immer behauptete. So dachte ich damals und machte mir das Urteil meines Lehrers zu eigen. Noch heute trage ich seine Worte im Herzen, zugleich aber auch die Erinnerung daran, wie lächerlich sie auf uns Schüler wirkten. Und heute ist mir bewußt, 60
daß ich das Recht verwirkt habe, darüber zu lachen. Denn jetzt begriff ich, warum diese Helden Roms sich zu Narren gemacht hatten und warum sich ein Mann wie Antonius so leicht von den Ränken einer intriganten, kalten Frau hatte betören lassen; ich begriff es und fühlte sogar Mitleid mit ihnen. Man redet oft davon, daß Frauen die Männer täuschen. Aber von Täuschen kann nach meiner Überzeugung gar nicht die Rede sein. Denn wenn ein Mann sich in eine Frau verliebt, dann klingt in seinen Ohren alles bezaubernd, was sie sagt – mag es nun die Wahrheit sein oder eine Lüge. Auch wenn sie gelegentlich falsche Tränen vergießt und sich dabei zärtlich an ihn schmiegt, denkt er: Sicher wird sie eines Tages versuchen, mich zu täuschen, aber was für ein reizvolles Wesen ist sie doch! Ich habe sie durchschaut, aber ich lasse mich gern von ihr täuschen, wenn sie Gefallen daran findet. Ja, ja, täusche mich nur. So denkt er und läßt sich auf das Spiel ein, als gelte es, einem Kinde zu Willen zu sein. Es ist also nicht die Frau, die den Mann täuscht, sondern er ist es, der die Frau täuscht. Bei diesen Überlegungen stieg ein Lachen in mir auf. «Ich bin eben doch klüger als du, Joji-san», hatte Naomi gesagt, im Glauben, mich wirklich getäuscht zu haben. Es machte mir nun die größte Freude, nicht etwa ihre durchsichtigen Lügen aufzudecken, sondern ihr den Triumph zu lassen, mich getäuscht zu haben, und dann ihr selig strahlendes Gesicht zu betrachten. Um mein Gewissen zu beruhigen, hatte ich sogar eine Ausrede parat. Wenn Naomi schon nicht klug war, sagte ich mir, dann war es das Beste, ihr wenigstens das Gefühl zu geben, klug zu sein, und damit ihr Selbstvertrauen zu stärken. Denn den japanischen Frauen mangelt es nun einmal vor allem an Selbstver61
trauen. Deshalb wirken Japanerinnen auch im Vergleich mit europäischen Frauen ein wenig zurückgeblieben. Die Wirkung einer modernen Frau liegt weniger in ihrem Äußeren als in ihrem unbefangenen selbstsicheren Auftreten. Und dabei kann Selbstvertrauen durch ganz gewöhnliche Selbsttäuschung erreicht werden. Wenn eine Frau sagt: «ich bin klug» oder «ich bin schön», dann ist sie es auch. Aus dieser Überzeugung heraus habe ich Naomi nicht getadelt, als sie sich für klug ausgab, sondern sie im Gegenteil noch dazu ermuntert. Ich war bereit, mich widerstandslos von ihr täuschen zu lassen, damit sich ihr Selbstbewußtsein noch weiter stärke. Das Folgende mag ein weiteres Beispiel sein. Ich und Naomi spielten damals öfter Soldatenschach oder Karten. Wäre ich mit Ernst bei der Sache gewesen, hätte ich wohl gesiegt. Aber ich spielte absichtlich so schlecht, daß sie gewann. Und allmählich kam sie zu der Überzeugung, daß sie besser spielen konnte als ich. «He, Joji-san, komm her. Ich werde es dir heute wieder einmal zeigen!» forderte sie mich heraus und ahnte nicht, wie sehr sie mich unterschätzte. «Na ja, dann will ich ein Revanche-Spiel gegen dich versuchen. Wenn ich mir Mühe gebe, verliere ich bestimmt nicht. Aber bisher habe ich dich beim Spiel immer nur als Kind betrachtet und habe daher manchmal nachlässig gespielt und verloren.» «Sag, was du willst – ich siege ja doch! Da darfst du den Mund ruhig ein wenig voll nehmen.» «Du wirst sehen: diesmal werde ich dich ganz bestimmt besiegen!» Trotzdem spielte ich dann absichtlich schlecht und verlor wie immer. «Na, Joji-san, ärgert es dich nicht, daß du gegen ein 62
Kind verloren hast? Sag es mir doch! Dreißig Jahre bist du nun schon alt – ein erwachsener Mann – und verlierst gegen ein siebzehnjähriges Mädchen! Gegen mich kommst du eben nicht an! Na ja, mein Joji-san ist eben ein schlechter Spieler.» Und dann fuhr sie fort: «Wichtiger als das Alter ist nun mal das Köpfchen!» Oder: «Sicher bist du jetzt wütend, daß du so dumm bist!» Sie wurde immer übermütiger, lachte laut und spottete über mich und reckte ihre hübsche Nasenspitze in die Höhe. Aber was mich bestürzte, waren die Folgen. Anfangs hatte ich mich ihren Launen gefügt und allem nachgegeben, um Naomi für mich zu gewinnen. Wenigstens war dies meine Absicht gewesen. Allmählich aber gewann Naomi ein kaum mehr zu erschütterndes Selbstvertrauen, und ich selber war nicht mehr fähig, mich gegen sie durchzusetzen, so verzweifelt ich mich auch darum bemühte. Es entscheidet keineswegs nur der Verstand, wer von zwei Menschen die Oberhand über den anderen gewinnt. Das Temperament, man könnte auch sagen, die persönliche Dynamik, ist dabei von mindestens ebenso großer Bedeutung. Ganz besonders galt dies beim Spiel. Wenn Naomi gewinnen wollte, setzte sie sich mit der ganzen Kraft ihres sprühenden Wesens dafür ein. Daher verlor ich immer mehr an Boden und wurde immer unsicherer. Eines Tages sagte sie: «Es macht keinen Spaß, wenn wir nicht um Geld spielen. Laß uns das doch tun.» So kam sie schließlich auf den Geschmack und spielte nur noch um Geld. Je mehr wir spielten, desto mehr verlor, ich. Naomi fing mit nichts an. Sie bestimmte den Einsatz – zehn oder zwanzig Yen –, und so verdiente sie ihr Taschengeld. 63
«Wenn ich zwanzig Yen hätte, könnte ich mir diesen Kimono kaufen …» sagte sie nun oft. «Wollen wir nicht ein Spielchen machen?» forderte sie mich dann heraus. Wenn sie wirklich einmal verlor, fand sie einen anderen Trick, mir das Geld abzuluchsen, kam also immer zu der Summe, die sie haben wollte. Einer dieser Tricks war, daß sie, meist in ein weiches Nachtgewand gehüllt, träge und nachlässig vor mir saß. Stand das Spiel für sie ungünstig, lehnte sie sich plötzlich lasziv zurück, entblößte ihren Hals, streckte die Beine von sich – und falls auch das nicht fruchtete, lehnte sie sich an mein Knie, streichelte meine Wangen und probierte alle möglichen Verführungskünste aus. Ich fiel tatsächlich immer wieder darauf herein und wurde schwach. Sobald sie ihren erfolgreichsten Trick anwandte – ich kann ihn hier unmöglich schildern –, verwirrten sich meine Gedanken, mir wurde schwarz vor den Augen, und ich vergaß sämtliche Spielregeln. «Du schreckst wirklich vor nichts zurück, Naomi! So etwas zu tun!» «Was tue ich denn so Schreckliches? Das ist doch nur ein kleiner Trick von mir.» Wie durch einen Dunst sah ich nur undeutlich Naomis schmeichelndes, weiches Gesicht, ihr verschwimmendes seltsames Lächeln. «Du bist wirklich raffiniert. Beim Kartenspiel ist so etwas unfair.» «Warum? Es ist doch ein Spiel zwischen Mann und Frau. Da ist jeder Trick erlaubt. Ich habe das früher schon als Kind beobachtet, wenn meine ältere Schwester mit einem Mann Ohana spielte. Dabei hat sie allerlei Kunstgriffe angewandt. Sind Kartenspiel und Ohana denn so verschieden voneinander?» 64
Ich kann mir vorstellen, daß Antonius auch auf diese Weise von Cleopatra unterjocht worden ist und so allmählich seiner Widerstandskraft beraubt wurde. Es ist gut, der Frau, die man liebt, Selbstvertrauen zu geben; aber man verliert dabei am Ende das eigene Selbstvertrauen und kann sich gegen das Überlegenheitsgefühl der Frau nicht mehr behaupten, und dann ist es um einen geschehen.
8 Es war im Herbst des Jahres, in dem Naomi achtzehn Jahre alt wurde, an einem heißen Spätsommerabend Anfang September. Da ich in der Firma nichts mehr zu tun hatte, ging ich eine Stunde früher nach Hause. Zu meiner Überraschung sah ich vorn im Garten hinter dem Tor einen mir unbekannten jungen Mann mit Naomi plaudern. Der Junge war etwa ebenso alt wie Naomi oder jedenfalls kaum älter als neunzehn und trug einen einfachen, weißen, leicht gemusterten Sommerkimono. Auf dem Kopf hatte er einen hellen Strohhut, wie ihn die Yankees lieben, und während er mit seinem Spazierstock auf die Spitzen seiner Geta-Schuhe trommelte, unterhielt er sich ungeniert mit Naomi. Er hatte ein rotes Gesicht, dicke Augenbrauen, war sonst keineswegs häßlich, aber seine Haut war mit Pickeln übersät. Naomi hockte zu seinen Füßen, doch genau konnte ich ihre Haltung nicht erkennen, da die Blumenbüsche sie verdeckten. Zwischen den blühenden Hunderttagegräsern, Oirsangusa und Indischem Blumenrohr sah ich nur ihr Profil und den Schimmer ihres Haares. 65
Als mich der junge Mann bemerkte, nahm er seinen Hut ab und verabschiedete sich von Naomi mit den Worten: «Also, bis bald!» Dann schritt er schnell auf das Tor zu. «Auf Wiedersehen!» rief Naomi hinter ihm her, während sie sich erhob. «Auf Wiedersehen!» erwiderte der junge Mann und wandte sich noch einmal nach ihr um. Als er an mir vorbeiging, hob er die Hand schnell zum Hut, als wolle er grüßen; offensichtlich lag ihm daran, sein Gesicht vor mir zu verbergen. «Wer war denn das?» fragte ich, weniger aus Eifersucht als aus Neugier; denn ich fand das Ganze recht merkwürdig. «Der? Das ist mein Freund. Er heißt Hamada.» «Seit wann ist er denn dein ‹Freund›?» «Schon lange. Er hat mit mir in Isarago Gesangsstunde genommen. Sein Gesicht ist zwar voller Pickel, aber er kann wunderbar singen. Er hat einen herrlichen Bariton. Neulich haben wir in einem Quartett zusammen gesungen.» Daß sie so abfällig von seinem Gesicht sprach, erregte plötzlich Verdacht in mir. Ich sah sie prüfend an, sie schien aber gelassen wie immer. «Besucht er dich oft?» «Nein, heute zum erstenmal. Er kam vorbei, weil er gerade in der Nähe war. Er will nächstens einen socialdance-club gründen und möchte, daß ich mitmache.» Ich war zwar etwas verstimmt, hielt aber ihre Erklärung keineswegs für eine Ausrede. Schon daß die beiden ganz ungeniert im Garten zusammen gewesen waren, genügte, um meinen Verdacht zu zerstreuen. «Hast du zugesagt?» «Ich habe gesagt, ich wollte es mir überlegen.» 66
Plötzlich fügte sie mit katzenhaft schmeichelnder Stimme hinzu: «Darf ich? Bitte, laß mich doch! Du kannst ja mit in den Club eintreten. Es wäre doch so schön, wenn wir beide tanzen lernten.» «Wie? Ich soll auch in den Club?» «Ja! Jeder kann eintreten. Eine Russin, die Frau Sugisaki aus Irago kennt, leitet den Unterricht. Sie ist aus Sibirien geflohen, und Hamada möchte ihr, weil sie kein Geld hat, ein wenig helfen. Aus diesem Grund hat er den Club gegründet. Jeder Teilnehmer ist daher willkommen. Ach, bitte, laß mich doch mitmachen!» «Ich habe nichts dagegen. Aber ob ich das noch lernen kann?» «Natürlich! Du lernst es sicher schnell.» «Aber ich habe doch kein Gefühl für Musik.» «Ach was, das kommt beim Tanzen ganz von selbst. Joji-san, du mußt unbedingt auch tanzen lernen. Für mich allein hätte es ja gar keinen Sinn. Wir wollen doch zusammen tanzen, ja? Es ist langweilig, Tag für Tag immer nur zu Hause herumzusitzen!» Es war mir schon aufgefallen, daß Naomi mit ihrem Leben nicht mehr recht zufrieden war. Seit wir unser Nest in Omori gebaut hatten, waren vier Jahre vergangen. Abgesehen von unseren Sommerreisen lebten wir in diesem ‹Märchenhaus› völlig zurückgezogen. Wir hatten immer nur beieinander gehockt, und so war es nur zu verständlich, daß es uns trotz aller amüsanten Spiele allmählich langweilig wurde. Besonders Naomi wurde einer Sache ja ziemlich schnell überdrüssig. Sie stürzte sich zwar mit wildem Eifer in jedes neue Spiel, hielt aber nie lange durch. Wenn sie des Kartenspiels, des Soldatenschachs, der Nachahmung von Filmschauspielerinnen müde war, spielte sie mit den Blumen in den ziemlich vernachlässigten Beeten, 67
grub die Erde um, säte Samen, goß Wasser darauf, aber auch das war immer nur ein flüchtiger Zeitvertreib. Sie war außerstande, auch nur eine Stunde ruhig sitzen zu bleiben. «Ach, wie langweilig! Gibt es denn nichts Amüsanteres?» rief sie oft, und während ich beobachtete, wie sie auf dem Sofa sitzend den eben angefangenen Roman zur Seite warf und mit weit offenem Mund gähnte, überlegte ich besorgt, womit ich in unser einförmiges Leben etwas Abwechslung bringen könnte. Deshalb erschien mir die Idee, tanzen zu lernen, gar nicht so übel. Naomi war nicht mehr die Naomi von vor drei Jahren. Anders als damals in Kamakura würde sie jetzt, wenn ich sie in ein prachtvolles Abendkleid steckte, in jeder Gesellschaft eine gute Figur machen. Bei dieser Vorstellung regte sich zum erstenmal Stolz in mir. Wie schon erwähnt, besitze ich eigentlich keinen Freund. Bisher hatte ich jeden gesellschaftlichen Verkehr gemieden, da ich vom Lande war und im Umgang mit anderen nicht gewandt; aber ich war im Grunde gar nicht abgeneigt, unter Menschen zu gehen. Und da sich Naomis Schönheit in der Ehe mehr und mehr entfaltet hatte, hatte ich große Lust, mich mit ihr zu zeigen. Ich hätte gern Komplimente gehört, wie: «Ihre Gattin ist eine wunderbare, sehr schicke Frau!» Wie Naomi erklärte, handelte es sich bei der russischen Tanzlehrerin um die Frau eines Grafen, einer Alexandra Shuremskaya. Ihr Mann war angeblich seit der Revolution verschollen. Es hieß, sie habe zwei Kinder, über deren Verbleib allerdings niemand etwas wußte. Sie war ganz allein nach Japan geflüchtet und verdiente sich hier ihren Lebensunterhalt mit Tanzunterricht. Naomis Musiklehrerin, Frau Sugisaki Harue, 68
hatte einen Club gegründet, und seine Leitung dem Keio-Studenten Hamada übertragen. Frau Shuremskaya gab montags und freitags zwischen vier und sieben bei Yoshimura, einem Geschäft für europäische Musikalien in Hijirisaka, Tanzunterricht. Das Honorar betrug für jeden von uns zwanzig Yen im Monat. Naomi und ich mußten also vierzig Yen zahlen. Das schien mir – obwohl ja hier eine Europäerin unterrichtete – sündhaft teuer. Naomi aber meinte, ob nun europäisch oder japanisch, es sei eben ein Luxus, tanzen zu lernen, und deshalb sei der hohe Preis gerechtfertigt. Wenn man sich geschickt anstelle, könne man es bei einigem Fleiß in einem Monat lernen, sonst dauere es vielleicht etwas länger, aber höchstens drei Monate. «Und vor allem täte es mir leid, wenn wir Frau Shuremskaya nicht helfen würden. Immerhin war sie ja eine Gräfin, und jetzt ist sie in Not. Hamada sagt, sie könne fabelhaft tanzen – nicht nur Gesellschaftstanz, sondern sie bilde auch für die Bühne aus. Bei ihr müsse man einfach tanzen lernen.» Ohne sie je gesehen zu haben, pries Naomi diese Frau in den höchsten Tönen. So trat ich denn schließlich mit Naomi in den Club ein. Zur ersten Stunde holte Naomi mich am Bahnhof Tamachi ab. Das Musikgeschäft befand sich in einem schmalen Haus auf einem Hügel. Unten im Laden standen Klaviere, Harmonien, Grammophone und andere Musikinstrumente herum. Im ersten Stock schien der Tanz bereits begonnen zu haben, man vernahm laute, schlürfende Schritte und Grammophonmusik. Als wir uns der Treppe näherten, musterten uns fünf, sechs Studenten der Keio-Universität. Mir war unbehaglich zumute. Plötzlich rief einer von ihnen in reichlich intimem Ton: «Naomi-san!» 69
Als ich genauer hinsah, bemerkte ich, daß der junge Mann eine Mandoline oder jedenfalls ein flaches, wie eine japanische Zither aussehendes Instrument im Arm hielt und stimmte. «Hallo!» antwortete Naomi recht burschikos. Dann fuhr sie fort: «Na, Ma-chan, tanzen Sie nicht?» «Ich habe keine Lust.» Der junge Mann, den sie Ma-chan genannt hatte, grinste und sagte, während er die Mandoline beiseite legte: «Ich bedanke mich! Zwanzig Yen im Monat dafür blechen zu müssen, finde ich die Höhe!» «Aber dafür lernt man doch tanzen.» «Ja, dann man zu. Ich laß es mir dann von euch beibringen.» «Sie sind aber gerissen, Ma-chan. Ausgesprochen raffiniert! Wo ist denn Hamada-san? Ist er schon oben?» «Ich glaube ja. Gehen Sie nur hinauf.» Der Musikladen schien für die Studenten eine Art Treffpunkt zu sein, und auch Naomi war offenbar oft hier, denn die Angestellten kannten sie alle gut. «Naomi-san! Wer waren die Studenten?» fragte ich, als wir die Treppe hinaufstiegen. «Sie gehören zum Mandolinen-Club der KeioUniversität. Sie reden zwar ziemlich ungeniert daher, aber im Grunde sind sie ganz nett.» «Sind das denn alles deine Freunde?» «Freunde nicht gerade, aber ich treffe sie gelegentlich, wenn ich zum Einkaufen hierherkomme.» «Wollen die denn alle tanzen lernen?» «Das glaube ich nicht. Das wollen eher die älteren. Laß uns hineingehen, dann werden wir es ja sehen.» Im Übungsraum sah ich fünf, sechs Gestalten, «one, two, three» vor sich hinmurmelnd, im Takt durch den 70
Raum schreiten. Aus dem Zashiki-Raum waren die Verbindungswände herausgenommen, und man hatte einen besonderen Fußboden gelegt, den man mit Straßenschuhen betreten durfte. Der Student Hamada, den ich bereits kannte, lief eifrig hin und her und streute feinen Puder auf den Boden, damit man beim Tanzen leichter dahinglitt. Da die Tage um diese Jahreszeit noch lang waren, schien durch das Fenster im Westen die Abendsonne herein. Auf der Schwelle zwischen beiden Räumen stand, den Rücken vom hellroten Sonnenschein übergossen, in einer weißen Georgettebluse und einem Rock aus dunkelblauem Serge Frau Shuremskaya. Dafür, daß sie wirklich zwei Kinder zur Welt gebracht haben sollte, sah sie verblüffend gut aus. Sie mochte fünf- oder sechsunddreißig Jahre alt sein, wirkte aber auf den ersten Blick bedeutend jünger. Ihre Miene war ernst und würdevoll, was ihr aristokratisches Aussehen noch unterstrich. Das mochte wohl nicht zuletzt an ihrer hellen Haut liegen, die so blaß war, daß man bei ihrem Anblick erschauerte. Ihr lebhaftes, energisches Gesicht, ihre elegante Kleidung und ihr Schmuck, der ihr an Brust und Fingern schimmerte, ließen kaum glauben, daß sie in einer Notlage sein sollte. Sie hielt eine Peitsche in der Hand, blickte mit kritisch gerunzelten Brauen starr auf die Füße der Übenden und wiederholte in ruhigem, aber befehlendem Ton «one, two, three». Das three sprach sie mit russischem Akzent wie tree aus. Die Übenden standen in einer Reihe und bewegten sich mit schlurfenden Schritten hin und her. Es wirkte, als drille ein weiblicher Offizier Soldaten, und ich dachte sofort an das Theaterstück ‹Frauen ziehen ins Feld›, das ich im Kinryûkan-Theater, im Haus des Golddrachens, in Asaku71
sa gesehen hatte. Drei von den Tanzenden waren junge Männer in Straßenanzügen – augenscheinlich keine Studenten –, bei den Mädchen handelte es sich offenbar um Töchter aus gutem Hause, die wohl gerade die Schule absolviert hatten. Sie waren ziemlich schlicht gekleidet, trugen eine Hakama-Rockhose und übten genauso eifrig und ernsthaft wie die jungen Männer. Alle sahen gepflegt aus und machten keineswegs einen schlechten Eindruck. Wenn einer der Tanzenden einen falschen Schritt machte, rief Frau Shuremskaya sofort mit scharfer Stimme «No!», ging zu dem Betreffenden hin und zeigte ihm den richtigen Schritt. Machte einer zu viele Fehler, dann rief sie «No good!» und schlug mit der Peitsche auf den Boden. Gelegentlich knallte sie dem Tanzenden, gleichgültig, ob es ein Mann oder eine Frau war, sogar die Peitsche um die Beine. «Ihre Art zu unterrichten ist sehr energisch. Aber nur so kommt etwas dabei heraus.» «Ja! Frau Shuremskaya nimmt die Sache sehr ernst. Die japanischen Tanzlehrer können ihr nicht das Wasser reichen. Ausländer, auch die Frauen, nehmen nun einmal alles sehr genau. Und das ist gut so. Frau Shuremskaya unterrichtet eine ganze Stunde lang und manchmal sogar zwei, ohne eine Pause einzulegen. Als ihr einmal jemand Eiskrem bringen wollte, weil er glaubte, die Hitze mache ihr zu schaffen, lehnte sie das entschieden ab. Sie nehme während des Unterrichts nichts zu sich!» «Sie wird überhaupt nicht müde!» «Ausländer haben eben eine kräftigere Konstitution als wir. Aber eigentlich ist Frau Shuremskaya zu bemitleiden. Früher führte sie ein sorgloses Leben, aber durch die Revolution ist sie gezwungen, hart zu arbeiten.» 72
Im Wartezimmer neben dem Übungsraum saßen zwei Frauen auf dem Sofa und unterhielten sich. Sie beobachteten Frau Shuremskaya und die Tanzenden voller Begeisterung. Die eine der Damen war eine etwa fünf- oder sechsundzwanzigjährige Frau mit schmalen Lippen, großen vorquellenden Augen und einem runden Kopf, der an einen chinesischen Karpfen erinnerte. Ihr Haar war ohne Scheitel hoch aufgetürmt, und oben steckte ein großer Kamm aus weißem Schildpatt. Auf ihrem ägyptisch gemusterten Rundobi aus ShioseSeide trug sie einen Obidome aus Nephrit. Sie war es, die sich so voller Mitleid und Begeisterung über Frau Shuremskaya geäußert hatte. Ihre Gesprächspartnerin stimmte ihr zu. Unter der vom Schweiß verwischten Puderschicht kam ihre faltige, rauhe Haut zum Vorschein. Sie war vermutlich schon an die vierzig. Sie trug eine europäische Frisur. Ihr rotbraunes Haar war ein wenig gelockt, was ungemein mondän wirkte. Aber sonst sah sie eher wie eine Krankenpflegerin aus. Außer diesen Frauen warteten noch einige andere geduldig darauf, daß die Reihe an sie kam. Manche hatten offenbar schon Tanzunterricht gehabt und übten, jeder für sich. Der Leiter des Clubs, Hamada, tanzte entweder mit einem der Teilnehmer, oder er wechselte die Grammophonplatten. Er war ständig in Bewegung. Als ich überlegte, aus welcher Gesellschaftsschicht die hier Anwesenden wohl kommen mochten, fiel mir auf, daß eigentlich nur Hamada elegant gekleidet war. Die anderen trugen eher provinzlerisch anmutende, dunkelblaue Anzüge. Es waren sicher einfache Leute mit bescheidenem Monatsgehalt. Die meisten waren jünger als ich, nur einer schien ebenfalls um die dreißig zu sein. Er trug eine Brille mit dicken Gläsern und Goldrand und einen 73
langen, etwas herunterhängenden, altmodischen Schnurrbart. Von allen Tanzschülern begriff er am schwersten. Frau Shuremskaya rief ihm immer wieder ihr «No good» zu und ließ ihre Peitsche um seine Beine knallen. Mit einem ziemlich törichten Grinsen versuchte er es dann wieder. «One, two, three …» Ich fragte mich, warum er in seinem Alter wohl noch tanzen lernen wollte. Dann kam mir zum Bewußtsein, daß ich ja genauso alt war wie er. Bei der bloßen Vorstellung, daß ich mich vor den Japanerinnen von einer Ausländerin zurechtweisen lassen mußte, brach mir der kalte Schweiß aus. Während ich den Tanzenden zuschaute, wartete ich angstvoll, daß die Reihe an mich käme. Hamada, der die letzten zwei, drei Tänze mitgetanzt hatte, trat – sich mit einem Taschentuch über das pikkelige Gesicht wischend – zu uns. «Wie geht es Ihnen?» fragte er und schien sich seiner Würde als Clubleiter bewußt zu sein. Dann wandte er sich Naomi zu und sagte: «Schön, daß Sie trotz der Hitze gekommen sind. Wären Sie wohl so nett, mir Ihren Fächer zu leihen? Assistent in einer Tanzschule zu sein, ist wirklich kein reines Vergnügen.» Naomi nahm ihren Fächer aus dem Obi und reichte ihn Hamada. «Sie machen Ihre Sache aber sehr gut. Wie lange arbeiten Sie denn schon bei Frau Shuremskaya?» «Etwa ein halbes Jahr. Sie lernen es bestimmt im Handumdrehen – so gewandt wie Sie sind. Beim Tanzen führt ja außerdem der Herr. Die Dame läßt sich nur führen – das ist ganz einfach!» «Was sind das denn eigentlich für Männer, die hier teilnehmen?» fragte ich. Hamada wurde plötzlich sehr höflich. 74
«Die meisten sind Angestellte der Ostasiatischen ÖlAktiengesellschaft. Ein Verwandter von Frau Sugisaki ist dort Direktor, und da hat sie einige der Angestellten hierher empfohlen.» Angestellte der Ostasiatischen Öl-AG und Gesellschaftstanz! Das ist wahrhaftig eine komische Kombination, dachte ich und fragte weiter: «Und da drüben der Herr mit dem Schnurrbart – gehört der auch dazu?» «Nein, er ist Arzt.» «Arzt?» «Ja, der Arzt, der die Angestellten der Firma betreut. Er behauptet immer, daß es nichts Gesünderes gebe als tanzen. Deshalb ist er auch hier!» «Finden Sie das auch, Hamada-san?» fragte Naomi. «Ja. Beim Tanzen transpiriert man ziemlich stark, sogar im Winter. Das Hemd ist oft ganz naß. Tanzen ist bestimmt gesund. Und Frau Shuremskaya ist eine strenge Lehrerin.» «Versteht sie Japanisch?» Diese Frage beschäftigte mich schon seit geraumer Zeit. «Nein, Japanisch kann sie fast gar nicht. Sie erklärt alles auf englisch.» «Oh, Englisch! … Wenn ich selber sprechen soll, bringe ich kein Wort heraus.» «Ach was! Das geht uns doch allen so. Auch Frau Shuremskaya spricht nur gebrochen Englisch. Schlechter als wir. Sie brauchen keine Angst zu haben. Außerdem braucht man nicht viel zu sprechen. Eigentlich nur ‹one, two, three›, alles andere wird durch Gesten ausgedrückt.» «Oh, Naomi-san! Wann sind Sie denn gekommen?» fragte die Frau, die wie ein chinesischer Karpfen aussah. 75
«Oh, sensei – das ist Sugisaki-sensei», sagte Naomi und führte mich zu dem Sofa, auf dem die beiden Damen saßen. «Erlauben Sie, sensei, daß ich Ihnen Kawai-Joji vorstelle.» «Oh!» Frau Sugisaki hatte, da Naomi über und über errötet war, begriffen. Sie stand auf und verneigte sich. «Ich freue mich, Sie kennenzulernen. Ich heiße Sugisaki. Wie schön, daß Sie gekommen sind. Naomi-san, holen Sie doch einen Stuhl für Kawai-Joji.» Darauf wandte sie sich wieder mir zu und fuhr fort: «Bitte, setzen Sie sich doch zu uns. Sie werden zwar bald an der Reihe sein, aber wenn Sie bis dahin stehen, sind Sie schon vorher müde.» Ich weiß heute nicht mehr genau, was ich darauf entgegnet habe. Ich murmelte etwas vor mich hin und fand das Gebaren dieser Damen unerträglich altmodisch. Außerdem wußte ich nicht, ob Naomi Frau Sugisaki über unsere Beziehungen aufgeklärt hatte. Das machte mich noch verlegener. «Darf ich vorstellen?» fragte mich Frau Sugisaki plötzlich, ohne meine Schüchternheit zu beachten, und deutete auf die Dame mit dem Lockenhaar. «Die Gattin von Mr. James Brown aus Yokohama – Kawai-Joji von der Elektrizitäts-Gesellschaft in Oimachi.» Oh, sie war also die Frau eines Ausländers! Und ich hatte sie für eine Krankenschwester gehalten. Ich machte eine förmliche Verbeugung. «Erlauben Sie eine Frage. Ich möchte nicht indiskret sein … aber nehmen Sie for the first time Tanzunterricht?» Damit nahm mich die Lockenhaarige ungeniert in Beschlag und fing an, mit mir zu plaudern. Aber ich 76
fand dieses first time unangenehm versnobt und angeberhaft. Außerdem sprach sie rasend schnell. «Wie bitte?» Ich war in größter Verlegenheit. «Die Dame meint, ob Sie heute das erste Mal hier sind», mischte sich Frau Sugisaki ein. Aber die Lokkenhaarige sprudelte weiter: «Ah! Wie soll ich sagen? Das ist für Genreman momo difficult als für Lady. Aber nur anfangen, wie soll ich sagen …» Dieses ‹mo-mo› verstand ich zunächst überhaupt nicht. Aber dann begriff ich, daß es ‹more-more› bedeuten sollte. ‹Genreman› war ‹gentleman›. Sie flocht ständig englische Worte ein und sprach sie höchst seltsam aus. Auch ihr Japanisch hatte einen wunderlichen Akzent. Sie züngelte drauflos wie Flammen an Ölpapier. Dann sprach sie von Frau Shuremskaya, vom Tanzen, vom Sprachenlernen, von Musik, den BeethovenSonaten, der Dritten Symphonie und welche Schallplattenaufnahme die beste sei. Ich war ganz erschlagen und schwieg nur. Dann unterhielt sie sich mit Frau Sugisaki, und ich entnahm dem Gespräch, daß sie ihre Klavierlehrerin war. Da ich nicht geschickt genug war, mich rechtzeitig mit einem «Verzeihen Sie einen Augenblick» zu empfehlen, mußte ich wohl oder übel den Redestrom der Damen über mich ergehen lassen. Als der Unterricht für den bärtigen Doktor und die Gruppe der Angestellten von der Öl-AG schließlich beendet war, führte Frau Sugisaki mich und Naomi zu Frau Shuremskaya und stellte zunächst Naomi und dann mich vor – offenbar entsprach das der europäischen Etikette, nach der den Frauen der Vorrang gebührt. Sie sprach fließend englisch und bezeichnete 77
Naomi als Mrs. Kawai. Ich war außerordentlich gespannt, wie sich Naomi vor Europäern verhalten würde, und mir schien, als geriete ihr sonst so starkes Selbstbewußtsein vor der Russin ein wenig ins Wanken. Als Frau Shuremskaya einige Worte an sie richtete und ihr mit zurückhaltendem Lächeln die Hand reichte, lief Naomi über und über rot an und ergriff die dargebotene Hand, ohne ein Wort zu sagen. Aber ich selber bot ein noch kläglicheres Bild. Ich war völlig außerstande, Frau Shuremskaya ins Gesicht zu sehen, das mir wie eine Skulptur aus blassem Marmor erschien. Ich verneigte mich schweigend und ergriff ihre Hand – eine Hand, auf der zahllose Diamanten schimmerten …
9 Der Leser hat sicher schon gemerkt, daß ich trotz meiner Herkunft aus der Provinz eine Schwäche für das Elegante habe und es gern den Ausländern gleichtun möchte. Hätte ich genügend Geld gehabt und tun und lassen können, was ich wollte, wäre ich längst im Ausland, vielleicht mit einer Ausländerin verheiratet. Aber meine Verhältnisse erlauben das nicht, und so habe ich mir mit Naomi eine möglichst fremdländisch wirkende Japanerin zur Ehefrau genommen. Abgesehen vom Geld, spielte es auch eine gewisse Rolle, daß meine Erscheinung mir nicht gerade Selbstvertrauen verlieh. Ich bin von kleiner Statur, nur fünf Shaku und zwei Sun groß, meine Hautfarbe ist dunkel, meine Zähne sind nicht sehr wohl geraten, und es wäre vermessen gewesen, eine Ausländerin zur Frau zu nehmen, denn Ausländerinnen haben meist eine ansehnliche Statur. Ich 78
fand mich also damit ab, daß für Japaner eben Japanerinnen das beste seien und eine Frau wie Naomi meinen Wünschen am meisten entsprach. Und doch freute ich mich und fühlte mich geradezu geehrt, daß ich nun mit einer Frau, die zur weißen Rasse gehörte, in Berührung gekommen war. Ich hatte mich nämlich – da ich nun einmal so ungeschickt im geselligen Umgang und so unbegabt für Fremdsprachen war – damit abgefunden, daß es für mich eine solche Chance nie geben werde, und fühlte mich schon wie im Traum, wenn ich einmal die Opernaufführung einer ausländischen Truppe sah oder mich im Film in das Gesicht einer Filmschauspielerin verliebte. Nun hatte ich völlig unerwartet die Chance, mit einer Ausländerin, ja sogar mit einer Aristokratin zusammenzukommen. Zum erstenmal hatte ich in meinem Leben die Ehre, einer Ausländerin die Hand zu reichen – abgesehen von der alten Miss Harrison. Als Frau Shuremskaya mir ihre ‹weiße Hand› entgegenstreckte, schlug mein Herz rascher, und ich wagte diese Hand kaum zu berühren. Auch Naomis Hände waren anmutig und reizvoll. Sie hatte lange, schlanke Finger. Frau Shuremskayas ‹weiße Hand› jedoch war nicht so zart wie die von Naomi, sondern weich, aber es war eine schöne Hand. An der Hand einer japanischen Frau hätte der große Diamantring, der wie ein Auge strahlte, vielleicht aufdringlich gewirkt. Aber an Frau Shuremskayas Hand erhöhte er den Eindruck von Vornehmheit und Luxus. Was ihre Hände jedoch am meisten von denen Naomis unterschied, war die erstaunlich weiße Hautfarbe. Die hellvioletten Adern unter diesem Weiß ließen an die Maserung von Marmor denken. Ich war überwältigt von der matten, durchsichtigen, fast erschreckenden 79
Schönheit dieser Hand. Manchmal hatte ich zu Naomi gesagt: «Deine Hände sind wirklich wundervoll! Weiß wie die Hände von Ausländerinnen.» Doch jetzt sah ich bekümmert, daß das gar nicht stimmte. Naomis Hände waren zwar weiß, aber dieses Weiß war ohne Helligkeit. Ja, als ich jetzt die Hand von Frau Shuremskaya sah, erschien mit Naomis Hand daneben ganz dunkel. Schließlich waren es Frau Shuremskayas Fingernägel, die mich in hohem Maße erregten. Ihre Fingerspitzen sahen aus wie eine Reihe schimmernder Muscheln. Die Nägel waren fein und schmal und leuchteten wie Kirschblüten. Entsprechend der damals herrschenden europäischen Mode liefen sie vorn spitz zu. Ich habe schon früher erwähnt, daß Naomi etwas kleiner war als ich. Frau Shuremskaya, obgleich sie für eine Ausländerin nicht sehr groß war, überragte mich beträchtlich. Beim Tanzen befand sich, zumal sie auch noch hohe Absätze trug, ihr ziemlich üppiger Busen fast in der Höhe meines Gesichts. «Walk with me!» forderte sie mich auf, legte ihren Arm um meinen Rücken und lehrte mich, während sie laut «one, two, three» dabei zählte, im Takt gehen. Ich achtete darauf, daß mein dunkles Gesicht nicht mit ihrer weißen Haut in Berührung kam. Diese glatte, wundervoll reine Haut nur von ferne bewundern zu dürfen, hätte für mich schon Seligkeit bedeutet. Ich verging fast vor Scheu, als ich ihrer Brust, die nur dünne Seide verhüllte, so nahe kam. Hoffentlich roch mein Atem nicht, und hoffentlich bereitete ihr meine feuchte Hand kein Unbehagen. Solche Gedanken verwirrten mich, als ich jetzt mit ihr tanzte, und ich erschauerte jedesmal, sobald mich ein Haar von ihr auch nur streifte. 80
«Der Schweißgeruch dieser Frau ist ja nicht auszuhalten!» hörte ich später die Studenten des Mandolinen-Clubs sagen. Ausländerinnen transpirieren ja oft stark unter der Achsel. Frau Shuremskaya schien ihre Achselhöhlen mit Parfüm betupft zu haben. Für mich war diese Mischung aus Parfüm und Schweiß, dieser süßlich-herbe Duft, eher reizvoll, zumal ich ihm zum erstenmal begegnete. Er ließ mich an ferne, nie gesehene Meeresküsten denken, an Blumengärten in exotischen Wunderländern. Vielleicht ist es auch der Geruch ihres weißen Körpers, dachte ich und war entzückt und hingerissen. Ich meinte, noch nie etwas Schöneres als diesen Duft eingesogen zu haben. Auf jemand so Ungeschicktes wie mich, der eigentlich gar nicht in ein so elegantes Milieu paßte, mußte diese Atmosphäre faszinierend wirken. Ich war sogleich entschlossen, ein oder auch zwei Monate bei Frau Shuremskaya Unterricht zu nehmen, vor allem, um ihre Nähe zu genießen. Jeden Montag- und Freitagnachmittag lag ich nun in ihren Armen. Diese Stunden waren für mich eine Quelle seligen Vergnügens. Bei Frau Shuremskaya vergaß ich Naomi ganz und gar. Diese eine Stunde wirkte auf mich wie köstlicher, starker Wein, der mich jedesmal aufs neue berauschte. «Joji-san, deine Begeisterung fürs Tanzen überrascht mich. Ich hatte schon Angst, du würdest bald die Lust verlieren.» «Wieso denn?» «Du hast doch selber gesagt: Ich lerne es bestimmt nie.» Immer wenn von den Tanzstunden die Rede war, hatte ich Naomi gegenüber ein schlechtes Gewissen. 81
«Ich war wirklich überzeugt, daß ich es nicht lernen würde. Aber nun macht es mir Spaß. Außerdem soll ja, wie der Doktor sagte, tanzen sehr gesund sein.» «Siehst du jetzt wenigstens ein, daß es viel besser ist, erst einmal etwas auszuprobieren, statt immer gleich ein Vorurteil zu haben?» sagte Naomi lachend. Sie schien mein Geheimnis nicht zu ahnen. Nach einiger Zeit glaubten wir, genug gelernt zu haben, und gingen im Winter dieses Jahres zum erstenmal zum Tanz ins Café Eldorado auf der Ginza. Es hatte bisher nur wenig Dancings gegeben, aber gerade damals begannen sie aus dem Boden zu schießen. Im Imperial Hotel und im Kagetsuen verkehrten vor allem die Ausländer. Dort ging es sehr formell zu, auch was die Kleidung anbelangte. Deshalb zogen wir das Eldorado vor. Naomi hatte irgendwo von dem Café gehört und drängte darauf, hinzugehen. Mir fehlte es zunächst an Mut, in aller Öffentlichkeit zu tanzen. Doch Naomi blitzte mich böse an und rief: «Sei doch nicht so ängstlich, Joji-san. Immer willst du dich drücken! Der Tanzunterricht allein macht es nicht, man muß in Übung bleiben!» «Das ist sicher richtig. Aber mir fehlt es eben an Mut.» «Gut, dann gehe ich allein. Hamada-san und Machan leisten mir sicher Gesellschaft. Dann tanze ich eben mit ihnen.» «Ma-chan? Ist das nicht der junge Mann vom Mandolinen-Club?» «Ja. Er hat nicht eine einzige Stunde Unterricht genommen, geht aber überallhin und tanzt mit jeder Frau. Darum beherrscht er seit einiger Zeit fast jeden Tanz. Er tanzt viel besser als du, Joji-san. Deswegen sage ich dir ja: Wer sich nichts zutraut, hat das Nach82
sehen. Bitte, bitte, komm doch mit! Ich tanze auch mit dir! Bitte, komm! Mein lieber, lieber kleiner Joji-san! Ich habe dich doch so lieb!» So war es schließlich beschlossene Sache, daß wir zusammen hingehen würden. Nun wurde endlos darüber diskutiert, was Naomi anziehen sollte. «Was findest du denn am passendsten, Joji-san?» Bereits vier, fünf Tage vorher war sie wie aus dem Häuschen. Sie kramte alle ihre Kleider hervor und zog sie der Reihe nach an. «Das ist das beste», sagte ich schließlich auf gut Glück, denn mir wurde das Ganze ein wenig zu lästig. «Meinst du? Sieht es nicht ein bißchen komisch aus?» Sie drehte sich vor dem Spiegel hin und her. «Ich finde es unmöglich! Nein, das gefällt mir gar nicht!» Sie zog das Kleid wieder aus und stieß es achtlos mit den Füßen beiseite. Dann zog sie das nächste an. Aber auch das gefiel ihr nicht und auch das übernächste nicht. Schließlich rief sie: «Also, Joji-san, du mußt mir ein neues machen lassen!» Ich schwieg. «Wenn man tanzen geht, braucht man unbedingt etwas Ausgefallenes! Diese Kleider da stehen mir alle nicht. Bitte, laß mir ein neues machen! Wir gehen doch von jetzt an öfter aus. Da braucht man als Frau eben viele Kleider!» Mit meinem Monatsgehalt allein vermochte ich Naomis luxuriöse Ansprüche längst nicht mehr zu befriedigen. Ich bin von Haus aus in Geldangelegenheiten sehr genau und ordentlich. Als Junggeselle nahm ich mir nur etwas Taschengeld und legte den Rest auf die hohe Kante. Deshalb hatte ich auch ein bißchen Bewegungsfreiheit, als ich mit Naomi in dieses Haus zog. Dann allerdings gewann meine Liebe zu Naomi 83
die Oberhand. Trotzdem vernachlässigte ich meine Pflichten gegenüber der Firma nicht im mindesten und blieb ein fleißiger, musterhafter Angestellter. Mein Gehalt stieg, und da alle halbe Jahre noch der Bonus dazukam, verfügte ich im Monat durchschnittlich über 400 Yen. Damit konnten zwei Personen bei normaler Lebensführung bequem zurechtkommen. Bei uns jedoch reichte es einfach nicht aus. Es sind zwar alles Kleinigkeiten, von denen ich hier schreibe, aber die Lebenskosten betrugen im Monat, selbst bei vorsichtiger Schätzung, über 250 Yen, gelegentlich sogar 300 Yen, davon 35 Yen für die Miete des Hauses – es waren ursprünglich nur 20 Yen gewesen, aber im Laufe der vier Jahre war die Miete um 15 Yen gestiegen –, Gebühren für Gas, Strom, Wasser, Heizung und chemische Reinigung. Danach blieben nur noch 200 Yen oder etwas mehr für alles andere. Anfangs konnte ich Naomi mit einem einfachen Beefsteak glücklich machen. Aber inzwischen war sie auf raffiniertere Speisen aus. Täglich überlegte sie genießerisch, was sie essen wollte, und stellte Ansprüche, die ihren jungen Jahren unangemessen waren. Da sie es zudem lästig fand, selber einzukaufen und zu kochen, bestellte sie sich ihr Essen oft in einem der nahe gelegenen Restaurants, die Speisen außer Haus lieferten. «Heute möcht ich aber mal etwas Besonderes essen!» war ihre ständige Redensart, sobald sie sich langweilte. Früher hatte sie europäische Gerichte allen anderen vorgezogen, aber neuerdings stand ihr der Sinn oft nach japanischem Essen. Da ich tagsüber in der Firma war, aß Naomi allein, und gerade dann schien sie die Lust nach feinen Speisen anzuwandeln. Wenn ich abends nach Hause kam, 84
sah ich in einer Ecke der Küche oft den Tragkorb eines japanischen oder den eines europäischen Restaurants stehen. «Naomi-chan, was hast du dir denn heute wieder kommen lassen? Es wird zu teuer, wenn du dir Tag für Tag Essen im Restaurant bestellst. Und es ist doch lächerlich, daß du als Frau – zumal wenn du allein bist – nicht selber kochst.» «Gerade weil ich allein bin, habe ich es mir bestellt! Es ist mir zu mühsam, für mich allein all die Zuspeisen zu bereiten!» antwortete sie in ungezogenem Ton und lehnte sich dabei herausfordernd auf dem Sofa zurück. Dagegen war ich machtlos. Ich wäre ja noch zufrieden gewesen, wenn es sich nur um die Zuspeisen gehandelt hätte. Aber sehr oft scheute sie auch die Mühe, den Reis selber zu kochen, und ließ sich welchen aus einem Restaurant kommen. Am Monatsende hagelte es dann von allen Seiten Rechnungen, von der Vogelrösterei, dem Rindfleisch-Gasthaus und aus zahlreichen Restaurants, in denen man nach japanischer oder europäischer Art kochte, Rechnungen von Sushiund Aalküchen, von Obstläden und Konditoreien. Die Gesamtsumme war oft so hoch, daß ich nur staunte, wie Naomi das alles hatte verzehren können. Was unsere Ausgaben außerdem so hoch trieb, war die chemische Reinigung. Naomi wusch nicht einmal ihre eigenen Tabisocken, sie gab die ganze Wäsche aus dem Haus. Tadelte ich sie, war jedes zweite Wort von ihr: «Ich bin doch kein Dienstmädchen!» oder «Wenn ich wasche, werden meine Finger dick, und dann kann ich nicht mehr Klavier spielen. Wie hast du dich nur verändert, Joji-san. Früher hast du mich deinen kostbarsten Schatz genannt, und jetzt willst du, daß ich mir meine Hände ruiniere.» 85
Anfangs hatte sie den ganzen Haushalt besorgt und auch gekocht. Aber das hatte nur ein Jahr gedauert oder vielleicht auch nur ein halbes. Nun, das Weggeben der Wäsche wäre noch zu ertragen gewesen, aber das schlimmste war, daß das ganze Haus von Tag zu Tag mehr verschmutzte. Was sie auszog, warf sie einfach auf den Boden, schmutzige Teller, Schüsseln und Teetassen blieben stehen, wo man sie hingestellt hatte, und überall lagen getragene Unterwäsche und Lendentücher herum. Tische und Stühle waren mit dickem Staub bedeckt, und der indische Vorhangstoff, dessen Kauf uns so glücklich gemacht hatte, starrte vor Schmutz. Das Märchenhaus, das ein fröhliches ‹kleines Vogelbauer› hätte sein sollen, war nicht mehr zu erkennen. Schon wenn man das Haus betrat, schlug einem ein dumpfer Geruch entgegen. Ich war verzweifelt. «Ich werde jetzt selber saubermachen, geh du solange in den Garten», sagte ich einmal. Ich fuhr überall mit dem Staubwedel herum, wirbelte aber nur noch mehr Staub auf. Von Aufräumen konnte keine Rede sein, da viel zuviel herumlag. In meiner Ratlosigkeit stellte ich einige Male ein Dienstmädchen ein. Aber diese Mädchen ergriffen alle schon nach ein paar Tagen bestürzt die Flucht. Schon daß wir für die Mädchen keinen Raum zum Schlafen hatten, war eine große Schwierigkeit. Als wir uns seinerzeit für dieses Haus entschieden, hatten wir ja an eine solche Möglichkeit nicht im Traum gedacht. Außerdem störte es uns, wenn ein Dienstmädchen im Hause war, weil wir dann nicht ungeniert unserem Liebesleben nachgehen konnten. Im übrigen wurde Naomi, sobald sie über eine zusätzliche Hilfe verfügte, noch träger und tat dann überhaupt nichts mehr. 86
Rücksichtslos kommandierte sie das Dienstmädchen herum; selbst nahm sie kaum noch etwas in die Hand. «Geh und bestell etwas für uns zu essen», hieß es fortan. Das war noch bequemer als bisher. So trieb Naomi einen immer schlimmeren Aufwand, und wir konnten uns schließlich ein Dienstmädchen gar nicht mehr leisten. Unser tägliches Leben verschlang immer mehr Geld. Ich hätte gern monatlich 10 oder 20 Yen gespart, aber Naomis hemmungslose Einkäufe machten das nicht möglich. Sie ließ sich in jedem Monat mindestens ein Kleid machen, kaufte dafür die kostbarsten Stoffe, sogar für das Futter, so daß jedes einzelne Kleid 50 bis 60 Yen kostete. Gefiel es ihr nicht, legte sie es weg und zog es nie wieder an. Gefiel es ihr, trug sie es so lange, bis es ihr fast vom Leibe fiel. Auch mit Schuhen trieb sie einen ungeheuren Luxus. Sie kaufte sich Sori, Komageta, Ashida, Hyorigeta, Ryoguri, gewöhnliche Geta und feine zum Ausgehen, die jeweils 7, 8, manchmal aber auch 20 oder 30 Yen kosteten. Da sie sich alle zehn Tage welche kaufte, ging das mächtig ins Geld. Also sagte ich eines Tages: «Müssen es denn immer Geta sein? Versuch es doch einmal mit europäischen Schuhen.» Früher hatte sie noch Freude daran gehabt, wie eine Schülerin brav einen Hakama-Hosenrock und europäische Schuhe zu tragen, doch neuerdings ging sie stolz und kokett in einem eleganten Straßenkleid zu ihren Stunden. «Damit sehe ich doch wie ein Edokko aus! Ich finde es schrecklich, wenn man nicht die passenden Schuhe trägt.» Sie behandelte mich wie einen Provinzler, der von den feineren Sitten nichts versteht. 87
Ihr Taschengeld gab sie für Konzerte, Straßenbahn, Lehrbücher, Zeitschriften, Romane und ähnliches aus, insgesamt waren es 3 bis 5 Yen. Dazu mußte ich jeden Monat pünktlich 25 Yen für den Englisch- und für den Musikunterricht bezahlen, und es fiel mir allmählich schwer, Monat für Monat gleichmütig mitanzusehen, wie wir immer mehr über unsere Verhältnisse lebten. Ich mußte meine bisherigen Ersparnisse nach und nach mitverwenden. Was ich in meiner Junggesellenzeit sorgsam zur Seite gelegt hatte, schmolz nun dahin. Und da Geld unheimlich schnell zerrinnt, hatte ich in den drei, vier Jahren alles verbraucht. Zudem ließ ich höchst ungern anschreiben, es bedrückte mich, wenn ich nicht jede Rechnung pünktlich bezahlte. Naomis Ansprüche aber brachten mich zu jedem Monatsende in immer größere Schwierigkeiten. Sagte ich zu ihr: «Wenn du weiter so unbedacht Geld ausgibst, reichen wir nicht bis zum Letzten», so antwortete sie: «Dann müssen die Leute eben noch ein wenig warten!» Und fügte hinzu: «Wir wohnen doch schon drei, vier Jahre hier. Die Leute kennen uns, und es wäre absurd, wenn wir nicht mal auf Kredit kaufen könnten. Wenn du ihnen sagst, daß du alle halbe Jahr bezahlen willst, wird man sich schon gedulden. Aber du bist eben zu ängstlich und bringst es deshalb zu nichts!» Sie stellte es sich so vor, daß alles, was sie selber kaufte, bar bezahlt werden sollte, während die monatlichen Rechnungen erst bezahlt werden sollten, wenn der halbjährliche Bonus fällig wurde. Schulden zu machen lag mir jedoch nicht, und so sagte ich: «Das paßt mir nicht. Ein Mann denkt da anders!» Ich kann jedenfalls behaupten, daß ich mein ganzes Gehalt für Naomi ausgegeben habe. Es war von An88
fang an mein sehnlichster Wunsch, Naomi hübsch zu kleiden, es ihr an nichts fehlen zu lassen und nicht geizig zu sein. Deshalb ließ ich sie – trotz meiner Bedenken, daß wir uns einen solchen Luxus eigentlich nicht länger leisten konnten – weiter gewähren und sparte an anderer Stelle. Zum Glück war ich selber äußerst anspruchslos, besuchte keine Geselligkeiten und entzog mich, soweit es irgend möglich war, auch allen Veranstaltungen, die von der Firma ausgingen. Ich kürzte energisch mein Taschengeld, die Ausgaben für Kleidung und Bento. Während Naomi in der Stadtbahn 2. Klasse fuhr, begnügte ich mich mit der 3. Klasse. Auch ich hätte mir lieber fertigen Reis aus einem Restaurant bestellt, aber ich kochte ihn aus Sparsamkeit lieber selber und bereitete mir auch die Zuspeisen. Aber das mißfiel nun wieder Naomi. «Steh doch nicht dauernd in der Küche. Du bist doch ein Mann! Das sieht ja blöde aus!» oder «Ich bitte dich, Joji-san, trag doch nicht das ganze Jahr über den gleichen Anzug. Laß dir doch endlich mal was Schickes machen. Es ist mir peinlich, wenn ich gut angezogen bin und du so fürchterlich herumläufst. Sonst lasse ich mich nicht mehr mit dir auf der Straße sehen!» Hätte sie diese Drohung wahrgemacht, wäre ich unglücklich gewesen, deshalb sah ich mich genötigt, mir einen ‹schicken› Anzug anfertigen zu lassen. Gingen wir zusammen aus, mußte ich auch 2. Klasse fahren. Da ich sie nicht verärgern wollte, blieb mir schließlich nichts anderes übrig, als den gleichen Aufwand zu treiben wie sie. Gerade als ich mir verzweifelt überlegte, wie ich dieser schwierigen Situation je Herr werden sollte, wurde meine Misere noch dadurch vergrößert, daß die 40 Yen für Frau Shuremskaya fällig waren und Naomi 89
schon wieder ein neues Kleid haben wollte. Was immer ich auch sagte, Naomi nahm keine Vernunft an. Wir hatten noch nicht einmal Mitte des Monats, und ich hatte daher noch etwas Geld, weigerte mich aber entschlossen, es für ein Kleid auszugeben. «Begreifst du denn nicht, daß ich sonst zum Monatsende in die fürchterlichste Verlegenheit komme?» «Irgendwie kommt das schon wieder in Ordnung.» «Wie denn? Ich wüßte nicht wie.» «Weshalb haben wir dann überhaupt tanzen gelernt? Also gut! Dann bleibe ich eben ab morgen zu Hause!» In ihren Augen standen Tränen. Sie starrte mich haßerfüllt an und sprach kein Wort mehr mit mir. «Naomi-chan, bist du mir böse? … Hör doch … Naomi-chan, bitte, hör doch mal! Dreh dich zu mir!» Ich rüttelte sanft an ihrer Schulter. Gleich nach dem Schlafengehen hatte sie mir den Rücken zugekehrt und tat, als schliefe sie. «Bitte, Naomi-chan, dreh dich doch zu mir.» Ich berührte sie behutsam mit der Hand und wollte sie, vorsichtig wie man einen Fisch beim Essen wendet, zu mir herumdrehen. Ihr zarter Körper widerstrebte nicht. Aber ihre Augen blieben geschlossen. «Was hast du?» fragte ich. «…» «Du hast wirklich keinen Anlaß, böse auf mich zu sein. Es wird schon irgendwie weitergehen …» «…» «Du! Mach die Augen auf! Deine Augen …» Als ich ihre lang bewimperten Augenlider hochschob, war mir, als blicke ich in das Innere einer Muschel. «Ich kaufe dir das Kleid. Ist dann alles wieder gut?» «Aber dann kommst du doch in Verlegenheit?» «Das macht nichts. Es wird schon irgendwie gehen.» 90
«Was willst du denn machen?» «Ich werde meiner Mutter schreiben, sie soll mir Geld schicken.» «Geld schicken?» «Ja! Ich habe meine Familie noch nie mit so etwas behelligt. Meine Mutter wird sicher verstehen, daß wir zu zweit in diesem Haus eine Menge Geld brauchen.» «Aber kannst du das deiner Mutter gegenüber wirklich verantworten?» Sie tat nur so, als belaste sie das. In Wahrheit war sie längst der Meinung, daß ich Geld von meiner Familie erbitten sollte. Es entsprach also genau ihrem Wunsch, wenn ich das tat. «Ach was! Das macht mir keine Sorgen. Ich habe es bisher nur deswegen nicht getan, weil es meinen Grundsätzen widersprach.» «So. Und warum hast du jetzt deine Grundsätze aufgegeben?» «Weil ich Mitleid mit dir hatte, als ich dich vorhin weinen sah.» «Wirklich?» Ihre Brust wogte heftig, und lächelnd sagte sie, als schäme sie sich: «Habe ich denn wirklich geweint?» «Deine Augen standen voller Tränen, als du vorhin sagtest, daß du von nun an zu Hause bliebst. Du bist und bleibst eben ein verwöhntes Kind, ein richtiges, großes Baby!» «Papa-san! Mein lieber, lieber Papa!» Naomi klammerte sich plötzlich an meinen Hals und drückte mir wie ein eilig stempelnder Postbeamter Küsse auf Stirn, Hals, Augenlider, Ohrläppchen, kurz überallhin. Ich hatte das Gefühl, als fielen Kamelienblüten, dicht, schwer und taufeucht, auf mich hernieder, und mir war, als versinke ich in ihrem Duft. 91
«Naomi-chan. Du bist ja wie von Sinnen!» «Ja, ich bin verrückt … ich liebe dich so sehr, Jojisan, daß ich den Verstand verliere. Ist dir das lästig?» «Ich bitte dich, wie kannst du nur so etwas sagen? Ich bin glücklich darüber, grenzenlos glücklich! Für dich bringe ich jedes Opfer … Oh, was hast du? Warum weinst du denn schon wieder?» «Danke, Papa-san. Ich bin dir unbeschreiblich dankbar. Ich weine aus Dankbarkeit. Verstehst du das? Laß mich weinen und wisch mir die Tränen ab!» Naomi drückte mir ihr Papiertüchlein in die Hand und sah mich unverwandt an. Bevor ich ihre Augen betupfte, preßte sie sie noch einmal bis zum Rand der Wimpern mit Tränen voll. Was hatte sie für wundervoll schimmernde, schöne Augen! Wie schade, daß ich diese Tränen nicht in Kristalle verwandeln und aufbewahren kann, dachte ich und wischte ihr über die Wangen, dann tupfte ich rund um die Augen, zärtlich darauf achtend, die dort angestauten Tränen nicht zu berühren. Als sich die Haut um Naomis Augen beim Wischen spannte, veränderte sich die Form der Tränen, sie wurden zu konkaven und konvexen Linsen und flossen schließlich, eine glänzende Spur hinterlassend, über die von mir schon getrockneten Wangen. Dann fuhr ich ihr noch einmal über das Gesicht, betupfte sanft die noch feuchten Augen und drückte das Tüchlein dann auf Naomis Nasenlöcher, wobei sie leise stöhnte. «Komm, schneuz dich!» Sie tat das mit lautem Geräusch und ließ sich dann noch einmal das Näschen wischen. Am nächsten Tag gab ich Naomi 200 Yen. Sie ging allein ins Mitsukoshi-Warenhaus, und ich schrieb während der Mittagspause in der Firma an meine 92
Mutter einen Brief, in dem ich sie bat, mir Geld zu schicken. «… In letzter Zeit sind die Preise sehr gestiegen, alles ist viel teurer als vor zwei, drei Jahren. Wir beide treiben wirklich keinen Luxus, aber die wachsenden Ausgaben bedrängen uns von Monat zu Monat mehr. Es ist wirklich schwer, in der Großstadt zu leben …» Als ich mir überlegte, wie schamlos ich meine Mutter belog, ekelte mir vor mir selber. Meine Mutter schöpfte jedoch keinen Verdacht, und sie schien auch meine geliebte Naomi von Herzen gern zu haben, das erkannte ich an ihrer Antwort, die einige Tage später eintraf. Sie schrieb unter anderem: «Kaufe Naomi doch einmal einen Kimono.» Und sie hatte außer der von mir erbetenen Summe noch weitere 100 Yen beigelegt.
10 Der Tanzabend im Eldorado fand an einem Samstag statt. Als ich um fünf Uhr von der Firma zurückkehrte, weil wir schon um halb acht da sein wollten, hatte Naomi gerade gebadet und war eben dabei, sich ihr Gesicht zurechtzumachen. «Oh, Joji-san, sieh mal, da liegt er.» Sie hatte mich im Spiegel entdeckt und deutete mit der einen Hand nach hinten. Auf dem Sofa lag der bei Mitsukoshi eilig angefertigte Kimono mit dem RundObi. Der Kimono war ein Hiyoku-Awase aus Kinshachirimen-Kreppseide mit schwarzrotem Grund, über und über mit gelben Blüten und grünen Blättern gemustert. Auf dem Obi waren mit Silberstickerei einige Wogen angedeutet, auf denen ein Schiff segelte. 93
«Was sagst du dazu? Ist er nicht schick?» Naomi vermischte in ihren Handflächen den Puder mit ein wenig Wasser und massierte ihn dann in ihre üppigen Schultern, die noch vom Bad dampften. Offen gestanden paßte der Kimono nicht zu ihrer Figur, zu den fülligen Schultern, den geschwungenen Hüften und der üppigen Brust. Naomi trug besser Merinsu- oder Meisen-Stoffe, in ihnen hatte sie die exotische Schönheit eines Mischlingsmädchens. Kleidete sie sich aber in das übliche, steife, japanische Gewand, wirkte sie seltsamerweise etwas gewöhnlich. Dieser Eindruck verstärkte sich, je auffallender und prächtiger ihre Kleider gemustert waren. Unwillkürlich mußte ich an die Frauen in den Freudenhäusern von Yokohama denken. Da Naomi aber auf ihren eben gekauften Kimono so stolz war, wollte ich ihr nicht die Freude verderben. Andererseits war es mir peinlich, mich mit ihr, aufgedonnert wie sie war, in der Bahn und in der Dancing Hall zu zeigen. Ich würde sicher vor Scham in den Boden sinken. Als Naomi sich fertig angezogen hatte, rief sie mir zu: «Joji-san, du ziehst doch den dunkelblauen Anzug an.» Was ich bisher kaum für möglich gehalten hatte, war geschehen: sie hatte meinen Anzug hervorgeholt, den Staub ausgeklopft und ihn sogar aufgebügelt. «Ich mag den braunen aber lieber als den dunkelblauen.» «Aber Joji-san!» Sie starrte mich empört an und schalt: «Bei Abendveranstaltungen muß man einen dunkelblauen Anzug tragen oder einen Smoking. Du darfst auch keinen weichen Hemdkragen nehmen, sondern einen gestärkten. Das verlangt die Etikette. Das mußt du dir ein für allemal merken!» 94
«So? Tatsächlich?» «Ja. Kaum zu glauben, daß du das nicht weißt, obgleich du so für das Moderne und Schicke bist. Der dunkelblaue Anzug ist zwar nicht mehr neu, aber bei ausländischen Anzügen genügt es, wenn sie gut gebügelt sind. Ich habe ihn dir ein bißchen hergerichtet, zieh ihn also, bitte, heute abend an. Du mußt dir sowieso nächstens unbedingt einen Smoking machen lassen, sonst geh ich nicht mehr mit dir zum Tanzen!» Außerdem müßte die Krawatte einfarbig schwarz sein, und natürlich müßte ich Lackschuhe haben oder wenigstens schwarze Schuhe, braune seien absolut unmöglich; die Strümpfe müßten eigentlich aus Seide sein, aber es genüge auch, wenn sie schwarz seien. Von wem hatte Naomi das nur alles gehört? Jedenfalls brauchten wir an diesem Abend ziemlich viel Zeit, bis wir zum Ausgehen fertig waren. So waren wir erst nach halb acht im Eldorado, und der Tanz hatte bereits begonnen. Eine lärmende Band dröhnte uns schon auf der Treppe entgegen, und am Eingang prangte ein Plakat mit der Aufschrift: «Dance Admission: Ladies free, Gentlemen Y. 30.» Ein Kellner kassierte das Geld ein. Da es eigentlich ein einfaches Café war und sich nur Dancing Hall nannte, war die Aufmachung nicht überwältigend. Es tanzten etwa zehn Paare, und es herrschte ein ziemlicher Lärm. An einer Längswand hatte man in zwei Reihen Stühle und Tische aufgestellt; dort saßen weitere Gäste, die sich ausruhten und den anderen beim Tanz zusahen. Als wir eintraten, fingen einige an zu tuscheln und musterten Naomi mit teils feindlichen, teils geringschätzigen Blicken. «Oh, wie sieht die denn aus!» und «Wer ist denn der Mann bei ihr?» hörte ich sie sagen. 95
Ich merkte, daß sie nicht nur Naomi, sondern auch mich, der ich hinter ihr stand, neugierig betrachteten. Die laute Musik der Band und die vor meinen Augen tanzende Menge – sie tanzten alle viel besser als ich – verwirrten mich. Mir wurde plötzlich bewußt, wie ich hier wirken mochte – ein kleiner Mann von 5 Shaku und 2 Sun mit dunkler Haut und schlechten Zähnen, in einem altmodischen dunkelblauen Straßenanzug –, und mir schoß das Blut ins Gesicht. Ich zitterte am ganzen Körper und schwor mir, nie wieder zu einer solchen Veranstaltung zu gehen. «Wir können doch nicht einfach hier stehenbleiben! Laß uns da drüben zu den Tischen gehen, ja?» flüsterte mir Naomi ins Ohr. Auch sie war wohl ein klein wenig befangen. «Darf man denn einfach zwischen den Tanzenden hindurchgehen?» fragte ich sie. «Sicher, ich glaube, das darf man. Man muß sich nur vorsichtig zwischen ihnen durchschlängeln. Sieh mal, der Herr dort geht auch einfach mitten hindurch.» Ich folgte Naomi durch die hin und her wogende Menge. Aber da meine Beine zitterten und das Parkett sehr glatt war, hatte ich meine liebe Not, ungefährdet auf die andere Seite zu gelangen. Einmal stolperte ich fast. Da zischte Naomi mir zu: «Paß doch auf!» und starrte mich böse an. «Da drüben ist noch ein Platz frei.» Viel mutiger als ich steuerte sie mit unbewegtem Gesicht durch die starrende Menge auf einen Tisch zu. Ich wunderte mich, daß sie sich hinsetzte und nicht gleich tanzen wollte. Irgendwie schien sie doch unsicher zu sein. Sie nahm ihren Spiegel aus dem Handtäschchen und machte ihr Gesicht zurecht. «Deine Krawatte ist verrutscht!» flüsterte sie mir zu 96
und warf gleichzeitig einen verstohlenen Blick zur Tanzfläche. «Naomi-chan, ist Hamada-kun da?» fragte ich. «Du darfst hier nicht Naomi-chan sagen! Sag –san!» Wieder sah sie mich böse an. Dann fuhr sie fort: «Hamada-san ist da, und Ma-chan wird auch da sein.» «Wo denn? Ach ja, da drüben.» «Man zeigt nicht mit dem Finger», schalt sie mich mit nur mühsam beherrschter Stimme. Nach dieser Zurechtweisung sagte sie lächelnd: «Ach ja, da drüben. Der mit der jungen Dame in dem rosa Kleid.» Ma-chan lächelte uns über die Schulter seiner Partnerin hinweg zu. Das rosa Kleid gehörte zu einer dikken, jungen Frau von großer Statur mit sinnlichen, langen, nackten Armen. Von ‹füllig› konnte man schon gar nicht mehr sprechen; die Person quoll geradezu auseinander. Um das schwarze Haar, das in Schulterhöhe abgeschnitten war und strähnig herunterhing, hatte sie ein Band geschlungen. Sie hatte große Augen, dicke Lippen – ein typisch japanisches, ovales Gesicht, wie man es auf Ukiyoe-Bildern sieht. Ich achte sehr auf Frauengesichter, hatte aber bisher noch nie eines von so seltsamer Disharmonie gesehen. Vielleicht war sie unglücklich, weil sie so japanisch aussah, und hatte sich darum verzweifelt bemüht, sich möglichst europäisch zurechtzumachen. Doch auf ihrer Haut lag eine viel zu dicke Puderschicht – als wäre sie mit Mehl bestäubt –, und um die Augen hatte sie sich ein schimmerndes Grünblau gestrichen, das wie Ölfarbe wirkte. Auch die hektische Röte auf ihren Wangen war bestimmt nur auf zuviel Rouge zurückzuführen. Ihre ganze Aufmachung war grotesk. 97
«Du, Naomi-chan», sagte ich gedankenlos, verbesserte mich aber eilends in «san» und fuhr fort: «Dieses Mädchen stammt doch wohl kaum aus gutem Hause?» «Ja, man könnte sie geradezu für ein Straßenmädchen halten!» «Kennst du sie?» «Ich kenne sie nicht persönlich, aber Ma-chan hat oft von ihr erzählt. Siehst du das Band über ihrer Stirn? Ihre Brauen sind nämlich sehr hoch gewachsen, deshalb hat sie sie einfach mit einem Band verdeckt und sich weiter unten neue aufgemalt. Sieh mal genau hin: es sind keine echten Augenbrauen.» «Ihr Gesicht ist gar nicht einmal so häßlich. Sie wirkt nur so lächerlich, weil sie sich so rot und blau angemalt hat.» «Ach, davon verstehst du nichts!» Naomi schien ihr Selbstbewußtsein schlagartig wiedergewonnen zu haben und fügte mit dem ihr eigenen, überlegenen Ton nachlässig hinzu: «Ich verstehe überhaupt nicht, was du an ihr findest.» «Ich habe ja auch nicht behauptet, daß sie eine Schönheit ist. Aber sie hat eine hübsche, große Nase, und ihre Figur ist auch nicht übel. Wenn sie sich nicht so gräßlich aufgeputzt hätte, wäre sie gar kein so unerfreulicher Anblick.» «Unsinn! Was gibt es denn an ihr zu sehen? Solche Gesichter laufen überall herum, es ist ein richtiges Durchschnittsgesicht! Um möglichst europäisch zu erscheinen, hat sie alle möglichen Kunstgriffe angewandt. Dagegen wäre an sich nichts einzuwenden, aber bei ihr hilft alles nichts. Sie sieht nicht im entferntesten wie eine Ausländerin aus. Eher wie ein Affe!» «Übrigens – haben wir die Dame, mit der Hamadakun tanzt, nicht schon irgendwo einmal gesehen?» 98
«Natürlich! Das ist die Schauspielerin Haruno Kirako vom Teigeki-Theater.» «Oh, kennt Hamada-kun denn die Kirako?» «Selbstverständlich! Er ist mit vielen Schauspielerinnen befreundet, weil er so hervorragend tanzt.» Hamada trug einen braunen Anzug und hatte Gamaschen über den schokoladebraunen Boxcalf-Schuhen. Er tanzte so gewandt, daß er allen auffiel. Die Art, wie er tanzte, fand ich freilich recht unangenehm, aber vielleicht tanzte man eben so. Hamada hatte seinen Kopf gegen den seiner Partnerin gelegt, und da diese erheblich kleiner war als er, beugte er sich zu ihr herab, als wolle er sich am Duft ihres Haares berauschen. Kirakos Haar berührte sein Ohr. Sie preßte ihre Stirn fest gegen seine Wange. So tanzten sie eng umschlungen und mit funkelnden Augen. Kirakos zarte Finger wirkten wie aus Elfenbein. Sie sah so zerbrechlich aus, daß man sie kaum anzurühren wagte; sie war aus der Nähe noch viel schöner als auf der Bühne. Sie trug einen prachtvollen Kimono und dazu einen Rund-Obi aus Donsu- oder Shuchin-Seide, der auf schwarzem Grund einen aus goldenen und dunkelgrünen Fäden gestickten Drachen zeigte. «Kennst du diesen Tanz, Joji-san?» «Nein, aber ich finde ihn etwas gewagt.» «Ich auch. Er ist ordinär», sagte Naomi ganz verächtlich. Dann fuhr sie fort: «Er heißt cheek-dance. In anständigen Tanzlokalen darf er gar nicht getanzt werden. In Amerika wird jeder, der ihn tanzt, aufgefordert, die Tanzfläche zu verlassen. Hamada-san kann nichts dafür, es liegt am Tanz.» «Aber die Dame macht doch mit.» «Schauspielerinnen sind nun mal so. Man sollte hier Schauspielerinnen keinen Zutritt gewähren. Wo die auftauchen, bleiben anständige Frauen bald weg.» 99
«Übrigens hast du mir vorhin einen strengen Vortrag über die Kleidung der Männer gehalten, aber nun sehe ich, daß nur wenige im dunkelblauen Anzug erschienen sind. Sieh dir einmal an, wie Hamada-kun angezogen ist!» Das war mir gleich beim Eintreten aufgefallen. Naomi, die immer vorgab, alles genau zu wissen, war offenbar doch nicht über die Etikette beim Tanz unterrichtet. Mich hatte sie gezwungen, diesen dunkelblauen Anzug anzulegen, aber sonst sah ich nur zwei, drei andere in Dunkelblau. Einen Smoking hatte überhaupt keiner an. Die meisten trugen einen einfachen, aber schicken Straßenanzug. «Ja, du hast recht. Aber Hamada-san ist nicht korrekt gekleidet. Der Herr muß beim Tanzen einen dunkelblauen Anzug tragen.» «Na, dann sieh dir doch mal den Ausländer da drüben an! Das ist doch ein Anzug aus Homespun. Demnach ist doch alles erlaubt?» «Nein, das ist es nicht. Wenn Ausländer in dieser Aufmachung bei unseren Tanzveranstaltungen geduldet werden, dann sind wir selber daran schuld. Bei Hamada-san ist es etwas anderes: er kann so wundervoll tanzen, daß er sich leisten kann, was er will. Aber jemand wie du, Joji-san, muß unbedingt korrekt und genau nach der Etikette angezogen sein.» Die Musik hatte aufgehört, und die Tanzenden klatschten plötzlich laut in die Hände. Offenbar wollten sie die Band ermuntern, weiter zu spielen. Einige pfiffen sogar und trampelten mit den Füßen. Daraufhin setzte die Band wieder ein, und der Tanz begann von neuem. Das wiederholte sich einige Male. Als die Band schließlich nicht mehr auf das Klatschen reagierte, gingen die Herren hinter ihren Damen, sie gleich100
sam beschützend, zu den Tischen zurück. Auch Hamada und Ma-chan begleiteten ihre Damen – Kirako und das rosa Kleid – zu ihren Tischen und verbeugten sich höflich, nachdem die Damen Platz genommen hatten. Dann kamen sie beide an unseren Tisch. «Guten Abend. Sie lassen sich aber viel Zeit», sagte Hamada. «Was ist denn los? Haben Sie keine Lust zu tanzen?» Ma-chan redete wie immer ein wenig ungezwungen daher. Er stand unmittelbar hinter Naomi, betrachtete ihre prächtige Aufmachung und sagte: «Falls Sie für den nächsten Tanz nicht schon vergeben sind, möchte ich gern einmal mit Ihnen tanzen.» «Ach, lieber nicht! Ich kann es noch nicht gut genug.» «Unsinn! Ich habe keinen Unterricht genommen, und es geht prima!» Dabei schnaubte er verächtlich durch seine grobe Nase und begann ordinär zu lachen, wobei sich seine Mundwinkel nach unten zogen. «Ich bin eben begabt», sagte er dann. «Ach», erwiderte Naomi, «geben Sie nicht so furchtbar an. Es sah reichlich komisch aus, als Sie eben mit dem rosa Kleid getanzt haben.» Zu meinem Erstaunen drückte sich Naomi, wenn sie mit Ma-chan sprach, recht frei aus. «Oh, die gibt es mir aber!» Ma-chan zog den Kopf ein, kratzte sich den Scheitel, wandte sich flüchtig nach dem rosa Kleid um, das ziemlich entfernt an einem Tisch saß, und sagte: «Ich bin ja eigentlich selber nicht auf den Mund gefallen, aber gegen diese Frau bin ich machtlos: sie wollte unbedingt in diesem Kleid mit mir tanzen gehen!» 101
«Sie sieht fürchterlich aus! Wie ein Affe!» «Wie? Affe? Großartig! Ja, wirklich – wie ein Affe!» «Hören Sie auf, Ma-chan. Sie haben das Mädchen doch selber mitgebracht! Aber im Ernst: sie sieht gräßlich aus. Anscheinend wollte sie unbedingt wie eine Ausländerin wirken, aber Sie müssen ihr sagen, daß das nicht zu ihrem Gesicht paßt. Sie hat einen ausgesprochen japanischen Gesichtsschnitt – typisch japanisch!» «Ja, ja, sie bemüht sich verzweifelt darum, europäisch auszusehen.» «Aber was dabei herauskommt, sieht man. Andere Frauen können manchmal wie Europäerinnen aussehen, selbst wenn sie japanisch angezogen sind!» «Damit meinen Sie sich wohl selber, was?» fragte Hamada. Naomi reckte die Nase in die Luft und lachte stolz und spöttisch. «Natürlich! Ich sehe wie eine Eurasierin aus!» «Kumagaya-kun!» wandte sich Hamada an seinen Freund Ma-chan. «Hast du Herrn Kawai heute erst kennengelernt?» «Nein, ich bin ihm schon öfter begegnet!» Ma-chan, den Hamada eben Kumagaya genannt hatte, warf mir über Naomis Schulter hinweg, hinter deren Stuhl er noch immer stand, einen verlegenen Blick zu. «Ich heiße Kumagaya Shotaro, aber man nennt mich auch Ma-chan!» Naomi sah von unten her in sein Gesicht. «Bitte, erzählen Sie doch ein wenig mehr von sich!» sagte ich. «Lieber nicht! Denn dann kommt nicht viel Gutes zum Vorschein. Fragen Sie Naomi-san, wenn Sie mehr über mich wissen wollen!» 102
«Oh, aber ich bitte Sie! Ich weiß doch selber nichts Näheres!» «Ha-ha …» Ich fühlte mich in dieser Gesellschaft höchst unbehaglich, aber Naomi war ausgelassen und sprühte geradezu. Deshalb wollte ich kein Spielverderber sein. «Hamada-kun und Kumagaya-kun, wollen Sie sich nicht an unseren Tisch setzen?» «Joji-san, ich habe furchtbaren Durst! Bestell mir bitte etwas zu trinken! Hamada-san, was wollen Sie? Lemon-Squash?» «Das ist mir ganz gleich!» «Ma-chan, und Sie?» «Wenn Sie mich schon einladen wollen, möchte ich um Whisky-Soda bitten.» «Oh, das überrascht mich aber. Trinker kann ich nämlich gar nicht leiden, ihr Atem riecht immer so nach Alkohol.» «Das macht doch nichts! Es gibt Leute, die das gar nicht stört.» «Den rosa Affen vielleicht?» «Aber, aber! Sie bringen mich in Verlegenheit!» «Ha-ha …» Naomi, die sich ungeniert auf dem Stuhl rekelte, sagte schließlich zu mir gewandt: «Joji-san, ruf doch den Kellner! Ein Whisky-Soda und drei Lemon-Squash! Oder warte! Keinen Lemon-Squash, lieber Fruit-cocktail!» «Fruit-cocktail?» Ich war verblüfft, Naomi kannte Getränke, deren Namen ich noch nicht einmal gehört hatte. «Aber da ist doch auch Alkohol drin?» fragte ich. «Aber nein! Joji-san, du weißt auch gar nichts! Sehen Sie, Hamada-chan und Ma-chan? Der da ist ein richtiger Provinzler!» 103
Als Naomi «der da» sagte, tippte sie mir mit dem Zeigefinger auf die Schulter. «Deshalb ist es so langweilig, mit ihm tanzen zu gehen. Immer hat er seine Gedanken woanders! Vorhin wäre er beinahe über sich selber gestolpert!» «Das Parkett ist eben recht glatt!» verteidigte mich Hamada. «Am Anfang ist es für jeden schwierig. Sobald Sie sich ein wenig daran gewöhnt haben, wird es Ihnen nichts mehr ausmachen.» «Und wie ist es mit mir? Bin ich auch ungeschickt?» «Nein, bei Ihnen ist das etwas anderes. Sie sind jeder Situation gewachsen, Naomi.» «Aber Hamada-san doch auch?» «Wie? Ich?» «Natürlich. Sie haben es doch geschafft, sich in ganz kurzer Zeit mit Haruno Kirako anzufreunden! Ist das etwa nichts, Ma-chan?» «Ja, ja …» Als Kumagaya das sagte, warf er die Lippen auf und nickte. «Hamada», fragte er seinen Freund dann, «hast du dich eigentlich in Haruno Kirako verliebt?» «Blödsinn!» «Aber Hamada-san! Sie sind ja ganz rot geworden! Es ist ja geradezu rührend, wie Sie nach Ausreden suchen! Aber das nimmt Ihnen keiner ab. Bitte, Hamada-san, sagen Sie doch Kirako, sie möchte sich zu uns setzen, ja? Holen Sie sie her und stellen Sie sie mir vor!» «Ach, Sie machen sich ja nur über mich lustig. Gegen Ihre giftige Zunge kann sich niemand wehren.» «Keine Angst, ich mache mich nicht lustig über Sie! Bitte rufen Sie Kirako zu uns. Es ist doch viel netter, wenn wir hier alle vergnügt zusammensitzen!» «Soll ich den rosa Affen auch herholen?» 104
«Ja, bitte, tun Sie das», sagte ich. Naomi wandte sich Kumagaya zu. «Ja, Ma-chan, holen Sie Ihren Affen auch an unseren Tisch. Wir wollen uns alle zusammensetzen.» «Na gut. Aber gerade fängt die Musik wieder an. Wollen wir nicht vorher tanzen?» «Eigentlich habe ich gar keine Lust, mit Ihnen zu tanzen, Ma-chan. Aber nun gut.» «Reden Sie bloß nicht so herablassend daher. Sie sind doch eine blutige Anfängerin.» «Joji-san, ich tanze jetzt mit Ma-chan. Schau gut zu. Nachher tanze ich dann mit dir.» Ich habe sicher ein sehr verdutztes und bekümmertes Gesicht gemacht. Trotzdem erhob sich Naomi mit einem energischen Ruck, Kumagaya reichte ihr den Arm, und schon waren beide im Strom der Tanzenden verschwunden. «Ich glaube, das ist jetzt der siebente Foxtrott …» sagte Hamada zu mir. Wir wußten beide nicht recht, worüber wir uns unterhalten sollten. Schließlich nahm er das Programm aus seiner Tasche, stand langsam auf und sagte: «Entschuldigen Sie mich für ein paar Augenblicke. Diesen Tanz habe ich Kirako-san versprochen.» «Oh, ich bitte Sie, lassen Sie sich nicht stören.» Nachdem alle drei verschwunden waren, saß ich allein vor dem Whisky-Soda und den sogenannten Fruitcocktails, die der Kellner inzwischen gebracht hatte, und sah gedankenverloren auf die Tanzfläche. Aber ich war im Grunde weniger zum Tanzen hergekommen, als um zu sehen, was für eine Figur Naomi machen und ob sie unter den anderen Damen angenehm auffallen würde. So fühlte ich mich jetzt, da ich allein war, recht wohl. Ich atmete erleichtert auf und suchte 105
mit den Blicken Naomi, deren Gestalt gelegentlich zwischen den Tanzenden auftauchte. Sie tanzte sehr, sehr gewandt, fand ich, und machte wirklich keine schlechte Figur. Auf so etwas verstand sie sich eben. Ihre Zehen in den weißen Tabi-Socken, die aus den hübschen Tanz-Sôri hervorsahen, waren nach oben gerichtet, ihr Körper, drehte sich hin und her, und die Kimono-Ärmel flatterten prachtvoll beim Tanzen. Jedesmal, wenn sie den Schritt wechselte, schwebte der Saum ihres Kimonos wie ein Schmetterling nach oben. Ihre weißen Finger umfaßten mit der gleichen Bewegung, mit der eine Geisha ein Plektron hält, die Schultern von Kumagaya. Der prächtige Obi, der ihren Oberkörper umschloß, ihr schlanker, langer Hals, ihr Profil, ihr Haaransatz im Nacken – als ich das alles betrachtete, kam mir die japanische Kleidung durchaus nicht veraltet vor, und gegen das rosa Kleid und andere Damen in extravaganten Gewändern schien mir Naomis prunkvolle Aufmachung, von der ich das Schlimmste befürchtet hatte, keineswegs gewöhnlich oder auch nur auffallend. «Ach, wie heiß! Es ist schrecklich heiß. Joji-san, hast du mir beim Tanzen zugesehen?» Mit diesen Worten kam Naomi an unseren Tisch zurück und zog sogleich einen der Fruit-cocktails zu sich heran. «Ja, natürlich habe ich zugesehen. Es ist kaum zu glauben, daß du erst vor kurzem tanzen gelernt hast.» «Wirklich? Den nächsten One-step tanze ich mit dir. Einverstanden? Das ist nämlich der leichteste Tanz.» «Was treiben denn die beiden anderen – Hamadakun und Kumagaya-kun?» «Sie werden gleich hier sein. Sie holen nur Kirako 106
und den rosa Affen an unseren Tisch! Bestell ruhig inzwischen noch zwei weitere Fruit-cocktails.» «Das rosa Kleid hat ja vorhin mit einem Ausländer getanzt!» «Ja, das hat mich auch gewundert.» Naomi blickte tief in ihr Glas. Dann schlürfte sie genießerisch den Cocktail und fuhr fort: «Diesen Ausländer kennt keiner von uns. Er ist plötzlich am Tisch des Affen erschienen und hat sie zum Tanzen aufgefordert. Dabei hat er sich nicht einmal vorgestellt. Sicher meint er, sie sei ein Straßenmädchen oder etwas Ähnliches.» «Sie hätte doch einfach nein sagen können!» «Eben, das ist ja das Verrückte. Sie hat nicht gewagt, ihm den Tanz abzuschlagen, nur weil er ein Ausländer ist! Sie ist wirklich zu dumm! Es ist eine Schande.» «So scharf mußt du nicht über sie herfallen!» «Keine Angst, ich weiß schon, was ich tue. Am liebsten würde ich ihr das direkt ins Gesicht sagen. Sonst werden nur auch wir noch belästigt. Selbst Ma-chan meinte, er müßte mich beschützen – wer weiß, was hier noch alles passieren kann!» «Jeder Mann täte das gern …» «Vorsicht! Da kommen Hamada-san und Kirako. Wenn eine Dame kommt, muß der Herr sich erheben!» Hamada blieb würdevoll vor uns stehen und sagte: «Darf ich vorstellen? Das ist Haruno Kirako.» Ganz unbewußt nahm ich Naomis Schönheit als Norm und prüfte, ob Haruno Kirako mit Naomi zu vergleichen sei. Kirako trat mit sanfter Koketterie und einem ruhigen, selbstbewußten Lächeln um die Lippen einen Schritt vor. Sie erschien mir ein oder zwei Jahre älter als Naomi, strahlte aber, vielleicht weil sie kleiner war als Naomi, dieselbe Lebhaftigkeit und denselben 107
mädchenhaften Charme aus. Auch die Pracht ihrer Kleidung stand der von Naomi nicht nach. «Ich freue mich …» sagte sie bescheiden, schlug dabei höflich ihre klugen, strahlenden Augen nieder und zog die Schultern etwas hoch. Sie sah wirklich wie eine Schauspielerin aus und hatte nichts von der Primitivität, die Naomi manchmal zeigte. Naomi wirkte oft ungezügelt, weil ihre Bewegungen und ihre Mimik meist zu lebhaft waren. Sie hatte leicht einen mürrisch-schmollenden Ton, es fehlte ihr an fraulicher Weichheit, und manchmal hatte sie etwas Gewöhnliches an sich. Mit anderen Worten, sie hatte etwas Animalisches. Kirako hingegen wirkte – ob sie sprach, die Augen bewegte, den Hals bog, die Hände hob – verfeinert und voll Empfindsamkeit. Sie glich einem mit Hingabe geschaffenen vollendeten Kunstwerk. Allein die Grazie, mit der ihre Hand nach dem Cocktailglas griff, entzückte mich. Selbst in den herabhängenden Kimono-Ärmeln lag noch etwas Schwebendes. An verführerischem Reiz stand sie Naomi in nichts nach. Ich weiß nicht, wie lange ich die Hände der beiden Mädchen miteinander verglich. Ihre Gesichter jedenfalls waren sehr verschieden voneinander. Naomi ähnelte Mary Pickford, also einem Yankee-Girl. Kirako hingegen war der Typ einer graziösen, leicht koketten, geheimnisvollen Schönheit aus Italien oder Frankreich. Verglich man die beiden mit Blumen, so blühte Naomi auf der Heide, Kirako in einem Treibhaus. Kirakos feine Nase in dem runden Gesicht war fast durchsichtig. Sie erinnerte an die einer Puppe, die ein großer Meister gefertigt hatte, ja, selbst die Nase eines Babys besaß kaum eine solche Zartheit. Schließlich fiel mir noch auf, daß auch Kirakos Zähne wie Perlen schimmerten – was mich an Naomi immer so bezaubert hatte. 108
Naomi spürte offenbar, daß der Vergleich mit Kirako nicht unbedingt zu ihren Gunsten ausfiel. Seit Kirako bei uns saß, hatte Naomi ihre arrogante Haltung aufgegeben, lästerte auch nicht mehr, sondern schwieg fast betroffen. Die fröhliche Stimmung an unserm Tisch war geschwunden. Doch Naomi pflegte nicht so leicht aufzugeben. Schließlich hatte sie selber Hamada gebeten, seine Partnerin zu holen. So kehrte ihre Ausgelassenheit bald zurück, und zu Hamada gewandt, rief sie fröhlich: «Hamada-san, seien Sie doch nicht so schweigsam. Erzählen Sie uns etwas! Seit wann sind Sie eigentlich mit Hamada-san befreundet, Kirako-san?» Kirakos helle, klare Augen leuchteten mit einemmal auf: «Erst seit kurzem.» «Ich habe Sie vorhin tanzen sehen. Sie tanzen wunderbar! Sie können es sicher schon lange?» «Ja, ich tanze schon lange, aber immer noch nicht gut genug. Mir fehlt die Begabung dazu.» «Ich bitte Sie, das stimmt aber nicht. Finden Sie das nicht auch, Hamada-san? Wie denken Sie darüber?» «Sie kann natürlich ausgezeichnet tanzen. Kirakosan ist doch in der Schauspielschule im Tanzen ausgebildet worden.» «Und dann sagen Sie so etwas!» Kirako blickte verlegen vor sich hin. «Sie können es wirklich phantastisch. Von allen Leuten hier tanzen Sie und Hamada-san am besten!» «Oh!» «Von den Herren kann selbstverständlich ich am besten tanzen! Ganz egal, was ihr sagt!» Mit diesen Worten trat Kumagaya mit dem rosa Kleid an den Tisch. Das rosa Kleid war nach Kumagayas Erklärung die 109
Tochter eines Unternehmers aus Aoyama. Sie hieß Inoue Kikuko und war etwa fünf- oder sechsundzwanzig Jahre, also über das übliche Heiratsalter schon hinaus. Wie ich später hörte, war sie vor einigen Jahren verlobt gewesen, aber da sie so ins Tanzen vernarrt war, war diese Bindung wieder aufgelöst worden. Sie ließ scheinbar absichtslos den Träger ihres Abendkleides von der Schulter gleiten, so daß man ihren Brustansatz sehen konnte. Man konnte glauben, sie wolle ihre füllige, sinnliche Schönheit geradezu anbieten. Aber wenn man ihr so gegenübersaß, wirkte ihr Körper weniger reizvoll, sondern eher wie der einer dicklichen Frau mittleren Alters. Diese Körperfülle paßte zu europäischer Kleidung zweifellos besser als eine schmächtige Figur. Aber ihr Gesicht war die reinste Katastrophe! Sie machte den Eindruck einer ausländischen Puppe, der man den Kopf einer KyôtoPuppe aufgesetzt hatte. Hätte sie doch bloß ihr Gesicht gelassen, wie es war! Aber sie hatte sich unbedingt europäisieren wollen und dabei die übertriebensten Mittel angewandt. Jedenfalls hatte sie den natürlichen Charme ihres Typs verdorben. Als ich sie genauer betrachtete, entdeckte ich, daß ihre natürlichen Brauen tatsächlich unter dem Stirnband verborgen waren und daß sie dicht über den Augen offensichtlich künstliche angeklebt hatte. Die blau umrandeten Augen, das Rot der Wangen, die Schönheitspflästerchen, die Linie der Lippen und der Nase – alles in ihrem Gesicht wirkte gekünstelt. «Ma-chan, ich kann den Affen nicht leiden», sagte Naomi plötzlich. «Was für einen Affen?» Kumagaya unterdrückte ein Lachen. «Was meinen Sie denn damit! Das klingt ja komisch.» 110
«Ich habe zu Hause zwei Affen», erklärte Naomi. «Wenn Sie einen haben wollen, schenke ich Ihnen einen. Wie ist es, Ma-chan? Wollen Sie einen abhaben?» «Ach, Sie haben zu Hause Affen?» fragte Kirako. Naomi machte es offensichtlich immer mehr Spaß, denn ihre Augen funkelten übermütig. «Ich liebe Tiere», sagte sie. «Auch Hunde und Katzen.» «Und Affen?» «Ja. Auch Affen!» Kumagaya wandte sich ab und hielt sich den Bauch vor Lachen. Hamada drückte ein Taschentuch auf den Mund und kicherte in sich hinein. Auch Kirako schien das Ganze nun zu begreifen und lächelte verstohlen. Kikuko war offensichtlich völlig naiv. Sie war anfangs zwar ein wenig verlegen, kam aber anscheinend nicht auf den Gedanken, die Anwesenden könnten sich über sie lustig machen. «Hm, sie ist wirklich zu dumm! Man könnte fast meinen, das Blut läuft bei ihr umgekehrt durch die Adern!» sagte Naomi bissig und nahm keinerlei Rücksicht auf Kirako. Kaum begann der 8. Tanz, ein Onestep, führte Kumagaya Kikuko zur Tanzfläche. «Finden Sie nicht, daß ich recht habe, Kirako-san?» «Was meinen Sie?» «Ach, dieses Mädchen erinnert mich wirklich an einen Affen. Ich habe es absichtlich gesagt.» «Oh!» «Sie ist dumm! Zu dumm, sie hat nicht einmal gemerkt, daß wir über sie lachten.» Kirako warf Naomi einen verstohlenen Blick zu, in dem Staunen und Verachtung lagen, und sagte noch einmal lakonisch: «Oh!» 111
11 «He, Joji-san, jetzt kommt der One-step. Jetzt darfst du mit mir tanzen. Komm!» sagte Naomi zu mir. Endlich hatte ich die Ehre eines Tanzes mit ihr. So scheu ich auch sonst war, beglückte es mich doch sehr, das, was ich bisher nur im Unterricht geübt hatte, nun auf einem richtigen Tanzparkett, und dazu noch mit der reizenden Naomi als Partnerin, anwenden zu können. Selbst wenn ich mich so ungeschickt anstellen sollte, daß sich alle über mich lustig machten, würde das nur Naomis Grazie in aller Augen hervorheben. Das entsprach ganz meinem Wunsch. Außerdem wollte ich, daß die anderen Gäste sagten: «Das also ist ihr Ehemann.» Ich wollte allen zeigen, daß dieses Juwel von einer Frau mir gehörte. Bei dem bloßen Gedanken daran erfüllten mich Stolz und ein fast brennendes Glücksgefühl. Mir war, als würde ich in diesem Augenblick für alle Schmerzen und alle Opfer belohnt, die ich um Naomis willen auf mich genommen hatte. Ich hatte nicht mehr zu hoffen gewagt, daß sie an diesem Abend überhaupt noch mit mir tanzen würde. Aber gerade, als ich resigniert hatte, forderte sie mich auf. Ich kann nicht beschreiben, welche Seligkeit ich dabei empfand. Wie im Fieber ergriff ich Naomis Hand und machte die ersten Schritte des One-step. Alles, was bis zu diesem Augenblick geschah, ist mir noch deutlich in Erinnerung; aber dann muß ich völlig außer mir geraten sein. Je erregter ich wurde, desto weniger hörte ich von der Musik. Meine Tanzschritte gerieten durcheinander, es flimmerte mir vor den Augen, und mein Herz pochte wie wild. Es war alles so anders als damals in 112
der Tanzschule, wo wir nach Schallplatten getanzt hatten. Als ich mich in das Gewoge der Tanzenden wagte, wußte ich nicht einmal mehr, ob ich mich vorwärts oder rückwärts bewegte. «Joji-san, warum bist du denn so aufgeregt? Reiß dich doch ein bißchen zusammen!» raunte mir Naomi ins Ohr. «He! Du bist ja schon wieder ausgerutscht! Das kommt daher, weil du dich viel zu schnell drehst. Ruhiger! Viel ruhiger!» Während sie so auf mich einredete, wurde ich nur noch aufgeregter. Außerdem war die Tanzfläche hier besonders glatt. Wenn ich nicht aufpaßte, rutschte ich dauernd aus. «Zieh doch deine Schultern nicht so hoch! Halt sie tiefer! Tiefer!» Sie befreite ihre Hand aus der meinen und versetzte mir einen schmerzhaften Schlag auf die Schulter. «Hör doch endlich auf, meine Hand so zu drücken. Man könnte meinen, du mußt dich irgendwo festklammern. Das ist lästig und unangenehm. Zieh doch nicht schon wieder die Schultern hoch!» Während des ganzen Tanzes schimpfte sie auf mich ein. Aber ihre Worte drangen gar nicht in mein Bewußtsein ein. «Joji-san! Jetzt habe ich aber genug!» Zornig ließ sie mich stehen – obwohl alle anderen noch begeistert klatschten, um die Band zum Weiterspielen zu animieren – und trippelte zu unserem Tisch zurück. «Es ist nicht zu fassen», sagte sie zu mir. «So bald werde ich nicht wieder mit dir tanzen. Du mußt erst einmal zu Hause tüchtig üben.» Als Hamada und Kirako und dann Kumagaya und Kikuko an den Tisch zurückkamen, ging es bald wie113
der lebhaft zu. Nur ich war traurig und hörte schweigend zu, wie Naomi sich über mich lustig machte. «Wenn Sie dauernd auf ihn einreden, Naomi-san, kann jemand, der ohnehin unsicher ist, überhaupt nicht mehr tanzen! Tanzen Sie doch mit dem da, ohne auf ihn einzureden.» Ich ärgerte mich über Kumagayas Worte «Tanzen Sie doch mit dem da!» Was war das für eine Ausdrucksweise! Wofür hielt er mich eigentlich, dieser freche, grüne Lümmel. «Ich finde nicht, Kawai-san, daß Sie so ungeschickt sind, wie Naomi-kun behauptet. Es gibt viele, die wesentlich schlechter tanzen», warf Hamada ein. Dann wandte er sich an Kirako: «Wie ist es, Kirako-san, wollen Sie nicht den nächsten Foxtrott mit Kawai-san tanzen!» «Mit dem größten Vergnügen …» Kirako nickte dabei mit vollendeter Grazie, wie sie nur Schauspielerinnen eigen ist. Ich wehrte hastig mit der Hand ab und stammelte verlegen: «Nein, nein! Das geht nicht. Das geht auf gar keinen Fall!» Ich war so verwirrt, daß mich alle amüsiert ansahen. «‹Das geht nicht›», imitierte mich Naomi. «Wenn du immer so schüchtern bleibst, wirst du nie tanzen lernen. Hab ich nicht recht, Kirako-san?» «Ich tanze wirklich gern mit Ihnen, wirklich …» «Heute abend wollen wir das lieber lassen. Wenn ich es besser kann, wird es mir ein Vergnügen sein.» «Aber sie hat es dir doch angeboten. Also tue es doch! Tanz doch mit ihr!» Naomi tat so, als handle es sich um eine hohe, für mich eigentlich viel zu hohe Ehre. «Joji-san möchte nämlich immer nur mit mir tanzen. 114
Deshalb macht er auch keine Fortschritte. Nun geh schon, der Foxtrott hat schon begonnen. Man lernt am besten tanzen, wenn man es mit möglichst vielen Partnern versucht.» «Will you dance with me?» hörte ich plötzlich eine Stimme. Ein junger, schlanker Ausländer stand vor Naomi. Er wirkte sehr gepflegt – geradezu feminin für einen Mann. Er schien sein Gesicht sogar gepudert zu haben. Es war der Ausländer, der vorhin mit Kikuko getanzt hatte. Er verbeugte sich devot vor Naomi und grinste. Offenbar sagte er ein paar Höflichkeitsfloskeln, jedenfalls hörte ich einen Schwall englischer Worte. Verstehen konnte ich nur «please, please!», das er immer wieder in ziemlich aufdringlichem Ton wiederholte. Naomi machte ein verlegenes Gesicht. Sie wurde so rot, als würden jeden Augenblick Flammen aus ihr hervorlodern. Trotzdem lächelte sie und schien außerstande, ihn abzuweisen. Er brachte seine Bitte in der Tat sehr eindringlich vor. Wie hätte sie ihm auch antworten sollen? Ihr Englisch reichte nicht aus, das Passende zu sagen. Der Ausländer schien Naomis Lächeln für ein Zeichen ihrer Zustimmung zu nehmen, denn er machte eine aufmunternde Bewegung und ließ sich einfach nicht abweisen. «Yes», erwiderte sie schließlich und stand unwillig auf. Dabei glühten ihre Wangen noch stärker als zuvor. Kumagaya lachte schallend: «Dieses Frauenzimmer! Erst tut sie so stolz; aber kaum redet sie ein Ausländer an, wird sie klein und häßlich.» Und Kikuko sagte: «Die Ausländer sind dermaßen unverschämt, daß man wirklich nicht weiß, wie man sie loswerden soll. Vorhin habe auch ich mich kaum retten können.» 115
«Darf ich bitten?» wandte ich mich jetzt an Kirako. Da sie auf meine Aufforderung gewartet hatte, konnte ich mich einem Tanz mit ihr nicht entziehen. Außer Naomi existierte für mich keine Frau – das galt nicht nur an diesem Tage, sondern immer. Wenn ich irgendwo eine schöne Frau sah, bemerkte ich natürlich, daß sie schön war, aber das war auch alles. Es genügte mir, sie aus der Ferne zu betrachten, und ich hatte keinerlei Verlangen, mich ihr zu nähern. Nur Frau Shuremskaya war eine Ausnahme gewesen. Aber die Verzückung, in die meine Tanzlehrerin mich versetzt hatte, hatte nichts mit sinnlicher Leidenschaft zu tun; dafür war dieses Gefühl zu vage, zu traumhaft. Außerdem handelte es sich bei Frau Shuremskaya um eine Ausländerin, von der mich Welten trennten. Kirako hingegen, die Japanerin und Schauspielerin im Teigeki war, war mir vertrauter. Kirako tanzte bewundernswert leicht und anschmiegsam. Ihr Körper war leicht wie eine Feder, und ihre Hände waren so zart wie die Triebe junger Blätter. Außerdem beherrschte sie die entsprechenden Schritte und vermittelte mir trotz meiner Ungeschicklichkeit den richtigen Rhythmus. Ihre Leichtigkeit war wohltuend. Ich gewann plötzlich Mut und Vertrauen, meine Füße machten ganz von selbst lebhafte, kleine Schritte, und ich glitt ohne die geringste Schwierigkeit völlig sicher dahin. Was für ein herrliches Gefühl, jubelte es in mir. Das hätte ich nie für möglich gehalten. «Ich finde, Sie tanzen doch eigentlich sehr gut! Ich verstehe gar nicht, wie man das Gegenteil behaupten kann.» Diese Worte Kirakos drangen an mein Ohr, während wir uns drehten, drehten und drehten. Ihre Stimme 116
klang freundlich und sanft, sie hatte eine bezaubernd süße Stimme. «Das meinen nur Sie. Sonst stelle ich mich recht ungeschickt an. Aber weil Sie selber so ausgezeichnet tanzen, geht es eben besser.» «Daran liegt es sicher nicht.» Nach einer Weile sagte sie: «Die Band spielt recht gut, finden Sie nicht auch?» «Ja.» «Wenn die Musik nicht gut ist, macht das Tanzen gar keinen Spaß.» Da merkte ich, daß Kirakos Lippen sich dicht neben meiner Wange befanden. Offenbar tanzte sie immer so. Genau wie vorhin bei Hamada berührte ihr Haar nun auch meine Wange. Mir war, als würde ich gestreichelt. Ich hatte das Gefühl, als würden die Wunden, die Naomi mir geschlagen hatte, von sanfter Hand gestreichelt. Als Naomi an unseren Tisch zurückkehrte, verteidigte sie sich verlegen: «Ich wollte seine Aufforderung eigentlich ablehnen, aber dann tat er mir doch leid. Die Ausländer sind hier ja so allein, sie haben überhaupt keine Freunde. Ein bißchen Mitleid muß man schon mit ihnen haben …» Gegen halb zwölf Uhr nachts wurde der letzte Walzer gespielt, und dann gab es noch ein paar Zugaben. Naomi schlug vor, bis zum Schluß zu bleiben und dann mit einer Taxe heimzufahren. Aber ich redete es ihr begütigend aus, und so gingen wir nach Shimbashi, um dort die Bahn zu erreichen. Kumagaya, Hamada und die beiden Damen begleiteten uns. Während wir gemächlich auf der Ginza dahinschritten, hatten alle noch die Musik der Band in den Ohren. Als jemand eine Melodie zu singen begann, fielen die anderen so117
fort ein. Aber ich verstand ja leider nichts von Musik und beneidete sie. «La-la-lalala …» sang Naomi mit hoher Stimme und tänzelte im gleichen Rhythmus dahin. «Hamada-san, was mögen Sie am meisten? Ich schwärme für ‹Karawanne›.» «O ja, die ‹Karawanne›», rief Kikuko begeistert. «Eine phantastische Melodie.» «Und ich», begann Kirako, «mag am liebsten ‹Hoyspring›. Man kann so schön danach tanzen.» «Ist nicht auch ‹Schmetterling, Schmetterling› bezaubernd? Ich habe das am liebsten.» Hamada pfiff in schnellem Tempo die ersten Takte davon. An der Sperre trennten wir uns von den anderen. Während Naomi und ich auf dem Bahnsteig standen, über den der winterliche Nachtwind wehte, und auf die Bahn warteten, sprachen wir kaum miteinander. Mich überkam ein Gefühl lähmender Trauer. Naomi hat sicher nichts dergleichen empfunden. «Es war heute abend wunderbar! Wir wollen bald wieder hingehen, ja?» wandte sie sich an mich. Aber ich sagte nur «Hm». Ich hatte meine Enttäuschung noch nicht überwunden. So war das also mit dem Tanzen. Erst belügt man seine Mutter, man streitet sich, man lacht und weint, und am Schluß bleibt nur Eitelkeit, Erniedrigung und Überheblichkeit. Warum war ich eigentlich hingegangen? Um vor den Leuten mit Naomi großzutun? Dann war ich also selber eitel. Aber wie stand es mit dem Juwel, mit dem ich hatte prahlen wollen? Hatten denn die Leute nun meine Frau wirklich bewundert, wie ich es erwartet hatte? Man sagt, der Blinde fürchtet sich vor Schlangen 118
nicht. Gewiß, für mich war diese Frau das Kostbarste auf dieser Welt. Wie aber wirkte sie im hellen Rampenlicht? Da zeigte sich mir Hochmut und Überheblichkeit! Niemand verkörperte diese Eigenschaften augenfälliger als sie. Herablassend und gehässig hatte sie über andere gesprochen und war dafür verachtet worden. Ein Ausländer hatte sie für eine Dirne gehalten, und sie hatte nicht einmal ein paar englische Vokabeln zur Abwehr bereit. Und wie abstoßend vulgär hatte sie dahergeredet! Sie mochte sich noch so sehr als Dame aufspielen – sie war keine. Kirako, ja selbst die von ihr so verachtete Kikuko hatten weit mehr Bildung und Geschmack. Solche bitteren Gedanken gingen mir auf dem Heimweg durch den Kopf. In der Bahn setzte ich mich Naomi gegenüber, um sie genau betrachten zu können. Was war eigentlich an ihr so bezaubernd, daß ich so maßlos in sie verliebt war? Vielleicht die Nase? Die Augen? Plötzlich erschien mir ihr Gesicht, das mir bisher unbeschreiblich reizvoll vorgekommen war, banal und unbedeutend. Aus der Tiefe meiner Erinnerung tauchte die Naomi auf, die ich zum erstenmal im Café Diamond gesehen hatte. Damals war sie noch ein schüchternes, ein wenig trauriges Kind. Schön, ich hatte mich damals in sie verliebt, und aus purer Trägheit hatte ich meine Einstellung ihr gegenüber nicht verändert, obwohl sie sich inzwischen in ein unerträgliches Wesen verwandelt hatte. Ihr arrogantes Gesicht schien ständig zu sagen: Ich bin die Schönste, keine ist so modern und europäisch wie ich. Dabei war sie nicht einmal fähig, die einfachsten Regeln der englischen Sprache zu begreifen. Naomi saß zurückgelehnt vor mir, die Katzennase, auf die sie so besonders stolz war, in die Luft gereckt, 119
so daß ich die dunklen Nasenlöcher und die weichen Nüstern sah. Wie vertraut war mir dieser Anblick! Wenn ich Naomi abends in die Arme schloß, strich ich zärtlich mit der eigenen Nase über ihre Nasenflügel. Dieses Stückchen Fleisch hatte ich mir gewissermaßen angeeignet, es war zu einem Teil meines eigenen Körpers geworden, gehörte keinem anderen als mir. Und wenn ich mir jetzt vorstellte, daß ich auch in dieser Nacht Wange an Wange mit ihr schlafen würde, empfand ich Widerwillen. Das war die Strafe dafür, dachte ich, daß ich meine Mutter belogen hatte. Aber, verehrter Leser, glauben Sie nur ja nicht, ich sei Naomis überdrüssig gewesen. O nein! Als wir nach Omori zurückkamen und uns allein in unserem Haus gegenüberstanden, war mein Widerwillen verflogen, und alles an Naomis Körper, ihre Augen, ihre Nase, ihre Hände, die Beine und die Füße, übte wieder einen unwiderstehlichen Reiz auf mich aus, und ich wurde nicht müde, ihn zu genießen. Und so erging es mir noch oft, wenn wir in der folgenden Zeit vom Tanzen zurückkehrten.
12 Seit wir öfter zum Tanzen gingen, kamen vor allem Hamada und Kumagaya immer häufiger in unser stilles Haus in Omori. Sie erschienen meist gegen Abend, wenn ich gerade nach Hause gekommen war, und legten dann Grammophonplatten auf. Da weder ein Dienstmädchen noch ältere Leute im Hause waren, auf die sie hätten Rücksicht nehmen müssen, und da das Atelier sich 120
ausgezeichnet als Tanzfläche eignete, blieben sie oft über die Zeit. Anfangs hielten sie sich noch zurück und empfahlen sich zur Essenszeit. Naomi suchte sie aber mit Gewalt zurückzuhalten. «Warum wollen Sie denn schon gehen? Bleiben Sie doch zum Abendessen hier.» So kam es, daß sie allmählich unser Haus als das ‹Omori-Restaurant› betrachteten und es zur festen Gewohnheit wurde, daß sie zum Essen bei uns blieben. An einem Abend während der Regenzeit waren Hamada und Kumagaya wieder einmal bei uns, und man unterhielt sich bis nach elf Uhr. Draußen stürmte es, der Regen schlug klatschend gegen die Fenster, und die beiden zögerten mit dem Aufbruch, obgleich sie immer wieder versicherten, sie wollten jetzt endlich gehen. «Ach, es ist ein gräßliches Wetter draußen, Sie können jetzt auf keinen Fall fortgehen. Bleiben Sie doch über Nacht bei uns», sagte Naomi plötzlich. «Bitte! Übernachten Sie doch hier, Ma-chan. Das bringt Sie doch zu Hause nicht in Schwierigkeiten, oder?» drängte sie weiter. «Mir ist es egal. Aber wenn Hamada-kun geht, gehe ich auch.» «Hamada-san, Sie bleiben doch auch hier, nicht wahr?» Bei diesen Worten sah sie mich an. «Es macht wirklich nicht die geringsten Umstände. Wäre es Winter, würden unsere Futons wohl nicht reichen, aber jetzt im Sommer läßt sich das schon irgendwie machen. Außerdem ist morgen Sonntag, und Joji-san bleibt zu Hause. Wir können also alle länger schlafen.» Da mir keine andere Wahl blieb, redete auch ich den beiden zu. «Nun, meine Herren? Wollen Sie nicht bei 121
uns bleiben? Bei diesem Regen können Sie unmöglich fortgehen!» «Bitte, bleiben Sie doch. Dann können wir morgen gleich weiterfeiern. Und abends gehen wir ins Kagetsuen!» Schließlich entschlossen sich die beiden tatsächlich zu bleiben. Als ich Naomi fragte: «Und wie machen wir es mit dem Moskitonetz?» antwortete sie: «Wir können doch alle zusammen darunter schlafen. Das wird ein Riesenspaß!» Diese Idee schien Naomi zu gefallen, und sie geriet in so ausgelassene Stimmung, als handle es sich um einen Schulausflug. Ich dagegen war von Naomis Vorschlag ziemlich überrascht. Ich hatte den Gästen das Moskitonetz überlassen und die Nacht mit Naomi auf dem AtelierSofa verbringen wollen, wo wir dann die Mücken durch Räucherkerzen vertreiben konnten. Nicht im Traum hatte ich daran gedacht, zu viert im gleichen Raum zu schlafen. Aber Naomi war so begeistert, daß ich kein Spielverderber sein wollte. Während ich noch, wie immer, zögerte, ging Naomi schon daran, ihren Plan in die Tat umzusetzen. «So, ich werde jetzt die Futons ausbreiten. Helft alle mit!» rief sie uns zu und stieg bereits zu dem viereinhalb Matten großen Zimmer hinauf. Als wir überlegten, wie wir die Futons am besten ausbreiten sollten, stellte es sich heraus, daß man unmöglich alle nebeneinander legen konnte, denn hierfür war das Moskitonetz zu klein. So legten wir schließlich drei nebeneinander und das vierte im rechten Winkel dazu. «Ja, ich glaube, so ist es am besten!» sagte Naomi. 122
«Ihr drei Männer legt euch hier nebeneinander, und ich schlafe zu euren Köpfen.» «Da haben wir ja kaum Luft zum Atmen!» meine Kumagaya und spähte durch die Maschen des Moskitonetzes, das wir gerade aufhängten. «Da liegen wir so eng wie in einer Sardinenbüchse!» «Das macht doch nichts! Seien Sie doch nicht so anspruchsvoll!» «Sie meinen, wir machen ohnehin schon genug Arbeit?» «Ich fürchte, zum Schlafen werden Sie heute ohnedies kaum kommen.» «Ich werde schlafen! Und wenn ich schlafe, schnarche ich!» Mit diesen Worten warf sich Kumagaya, so wie er war, auf sein Futon. «Ich lasse Sie aber nicht schlafen», sagte Naomi, «auch wenn Sie es noch so gern möchten! Hamadasan, rütteln Sie ihn wach, wenn er einschlafen sollte!» «Verdammt, es ist aber auch dermaßen schwül heute nacht, daß man wirklich nicht schlafen kann.» Rechts von Kumagaya, der sich auf das mittlere Futon gelegt und die Knie angewinkelt hatte, lag Hamada, der im Gegensatz zu Kumagaya europäisch gekleidet war und Hose, Unterwäsche und Hemd anbehalten hatte. Versonnen, als lausche er auf den strömenden Regen draußen, lag er da, die eine Hand auf der Stirn, in der anderen einen Fächer, den er unruhig hin und her bewegte. Das fächelnde Geräusch ließ die Hitze noch unerträglicher erscheinen. «Außerdem … na, wie soll ich sagen? Wenn eine Frau neben mir liegt, kann ich überhaupt nicht schlafen …» «Dabei haben Sie neulich einmal gesagt, Hamada123
san, bei mir hätten Sie gar nicht das Gefühl, daß ich eine Frau sei.» Durch das Moskitonetz sah man im Halbdunkel plötzlich den hell schimmernden Rücken Naomis, die gerade ihr Nachtgewand anzog. «Stimmt, das habe ich gesagt. Aber …» «Wenn ich neben Ihnen liege, haben Sie also doch das Gefühl, daß ich eine Frau bin?» «Na ja …» «Haben Sie gehört, Ma-chan?» «Seine Meinung interessiert mich nicht. Für mich sind Sie jedenfalls keine Frau.» «Was bin ich denn für Sie?» «Hm, eher ein Seeleopard.» «Ho! Was ist denn besser – ein Seeleopard oder ein Affe?» «Im Augenblick will ich nur schlafen!» Ich legte mich links neben Ma-chan und hörte schweigend zu, wie die drei ausgelassen herumalberten. Als Naomi dann zu uns trat, war ich gespannt, ob sie sich wohl mit dem Kopf zu Hamada oder zu mir legen würde. Als sie vorhin das Futon ausbreitete, hatte sie das Kopfkissen so hingelegt, daß beides möglich war. Nun stand sie in ihrem kirschfarbenen Nachtgewand vor uns und fragte: «Soll ich das Licht ausmachen?» «Ich wäre schon dafür», sagte Kumagaya. «Gut, dann schalte ich es aus.» «Au! Sie tun mir weh!» schrie Kumagaya plötzlich. Naomi war auf seine Brust getreten und knipste, auf seinem Körper wie auf einem Podest stehend, durch das Moskitonetz hindurch den Schalter aus. Es war dunkel, von draußen schien nur das Licht einer Straßenlampe herein. So war es im Zimmer 124
schummrig, und man konnte kaum Gesichter und Kleidungsstücke unterscheiden. Naomi stand einen Augenblick mit gespreizten Beinen über Kumagayas Kopf und sprang dann auf ihr Futon; dabei streifte der Saum ihres Schlafgewandes meine Nase. «Wollen Sie nicht rauchen, Ma-chan?» Naomi traf nicht die geringsten Anstalten zu schlafen. Sie hockte sich wie ein Mann, mit geöffneten Beinen, auf ihr Kopfkissen und sagte, während sie auf Kumagaya hinuntersah: «Drehen Sie sich doch zu mir her.» «Also, Sie haben es sich offenbar in den Kopf gesetzt, mich auf keinen Fall schlafen zu lassen?» «Hohoho … Drehen Sie sich um! Sonst lasse ich Ihnen keine Ruhe!» «Uch! Das tut weh! Hören Sie auf, hören Sie auf! Ich bin schließlich ein lebendes Wesen, auf dem man nicht herumtrampeln kann. Das hält ja der stärkste Mann nicht aus!» «Ha-ha …» Ich hatte starr zum Netz hinaufgeblickt, um nicht sehen zu müssen, was Naomi alles anstellte. Doch nun sah ich, wie sie mit den Zehenspitzen immer wieder gegen Kumagayas Kopf stieß. «Das ist ja zum Verrücktwerden!» rief Kumagaya schließlich und drehte sich mit einer ärgerlichen Bewegung um. «Warum hast du dich denn umgedreht, Ma-chan?» hörte ich Hamada fragen. «Diese Quälereien halte ich einfach nicht mehr aus.» «Hamada-san, drehen Sie sich auch zu mir um. Sonst quäle ich Sie auch.» Darauf legte auch Hamada sich auf den Bauch. Im gleichen Augenblick hörte ich, wie Kumagaya aus 125
seinem Kimono Streichhölzer hervorholte. Er zündete eines davon an, so daß der Lichtschein auf mein Gesicht fiel. «Joji-san, wie wäre es, wenn du dich auch umdrehen würdest?» «Mmmm.» «Oder schläfst du etwa schon?» «Ich war gerade eingenickt …» «Ach, du tust ja nur so, als würdest du schlafen! Stimmt’s! Beunruhigt dich irgend etwas?» Damit hatte sie genau ins Schwarze getroffen, und bei geschlossenen Augen spürte ich, wie mir das Blut ins Gesicht schoß. «Sei unbesorgt! Wir albern nur ein bißchen herum. Du kannst ruhig schlafen. Du kannst aber auch zusehen! Nur keine falsche Zurückhaltung.» «Vielleicht will er auch ein bißchen gequält werden?» sagte Kumagaya und sog genießerisch an seiner Zigarette. «Ach was! Das wäre völlig witzlos. Den quäle ich jeden Tag!» «Dank für die charmante Aufklärung!» sagte Hamada, wohl mehr aus Höflichkeit mir gegenüber. «Hör mal, Joji-san! Willst du auch gern gequält werden?» «Ach, laß mich in Frieden! Ich will meine Ruhe haben.» «Dreh dich zu mir um! Es ist doch lächerlich, wenn du dich immer ausschließt!» Ich warf mich also herum und legte mein Kinn auf das Kopfkissen. Naomi hockte mit angewinkelten Knien und gespreizten Beinen zu unseren Köpfen, den einen Fuß vor Hamadas, den anderen vor meiner Nase. Kumagayas Kopf lag direkt zwischen ihren Knien. Er rauchte gemächlich eine Shikishima-Zigarette. 126
«Na, was meinst du zu dieser Idylle?» fragte mich Naomi. «Mmmm.» «Was heißt das?» «Ich kann mich nur wundern: Du bist wirklich ein Seeleopard.» «Ja, ich bin ein Seeleopard. Und ihr drei da seid die Seeleoparden-Männchen.» Das hellgrüne Moskitonetz hing wie eine Wolke über meinem Kopf. Naomis bleiches Gesicht und ihre langen, aufgelösten schwarzen Haare schimmerten im Dunkel … Auch ihre Brust, ihre Arme, ihre Schenkel schimmerten da und dort unter dem Nachtgewand hervor. In solchen nächtlichen Augenblicken war sie unwiderstehlich. Dann wurde aus mir ein wildes Tier, das gefüttert werden will. Ich spürte, wie sie durch die Dunkelheit triumphierend zu mir herüberlächelte. «Du hast vorhin gesagt, du wunderst dich über mich! Dabei behauptest du doch sonst immer, es machte dich ganz verrückt, wenn du mich im Nachtgewand siehst. Heute tust du nur so gleichgültig, weil die anderen dabei sind. Hab ich nicht recht, Jojisan?» «Dummes Zeug!» «Ha-ha! Wenn du weiter so angibst, werde ich es dir schon zeigen. Wie wär das?» «Also nun seid doch friedlich! Ihr könnt ja morgen abend weiterstreiten.» «Ganz meine Meinung!» pflichtete Hamada bei. «Hier soll jeder auf seine Kosten kommen.» «Es kann sich doch wohl keiner beklagen: einen Fuß habe ich vor Hamada, den anderen vor Joji-san gesetzt.» «Und was ist mit mir?» 127
«Sie haben den besten Platz! Oder?» «Ich fühle mich auch sehr geehrt!» «Ja. Sie können sich wahrhaftig nicht beklagen.» «Wollen wir eigentlich die ganze Nacht wachbleiben? Wann wird endlich geschlafen?» «Ja, wenn ich nur wüßte, wo ich meinen Kopf hinlegen soll? Zu Hamada-san oder zu Joji-san?» «Das ist doch egal.» «Also so ist das nun auch wieder nicht!» rief Hamada. «Du hast es natürlich gut, Ma-chan, weil du in der Mitte liegst. Aber für mich hat das schon eine gewisse Bedeutung.» «So? Möchten Sie denn, daß ich mich mit dem Kopf zu Ihnen lege, Hamada-san?» «Das ist ja gerade das Problem! Wenn Sie ihn zu mir legen, beunruhigt es mich, und wenn Sie ihn zu Jojisan legen, beunruhigt es mich auch.» «Ich könnte mir vorstellen», warf Kumagaya ein, «daß derjenige, der zu ihren Füßen liegt, wahrscheinlich die ganze Nacht getreten wird.» «Stimmt das, Kawai-san? Schläft Naomi-san wirklich so unruhig?» «Das kann man wohl sagen.» «He, Hamada!» «Was willst du?» «Hast du schon einmal im Halbschlaf die Füße einer Frau geschmeckt?» fragte Kumagaya und lachte schallend. «Was ist denn schon dabei!» meinte Naomi. «Jojisan kennt das. Er findet die Beine und Füße einer Frau reizvoller als das Gesicht.» «Das ist ja der reinste Fetischismus.» «Allerdings. Oder stimmt es etwa nicht, was ich sage, Joji-san?» 128
Nach einer Pause fuhr sie fort: «Na also gut, ich werde sehen, daß jeder auf seine Kosten kommt.» Mit diesen Worten streckte sie erst mir und nach einer Weile Hamada ihre Füße hin. Alle fünf Minuten wechselte sie so die Lage. «So! Jetzt ist Hamada wieder an der Reihe», sagte sie, hob die Beine, wobei sie das Moskitonetz mit den Füßen streifte, und warf das Kissen von der einen Seite auf die andere. Es waren wirklich die Bewegungen einer Seeleopardin, kraftvoll und ungestüm. Bei diesen heftigen Bewegungen waren einige Moskitos unter dem Netz hindurchgeschlüpft. «Ach, das Mädchen ist einfach schrecklich! Jetzt haben wir es auch noch mit den Moskitos zu tun.» Kumagaya sprang auf und machte Jagd auf sie, trat dabei auf das Netz und riß einen der Aufhänger ab. Beim Wiederannähen veranstaltete Naomi ein heilloses Durcheinander. Es verging viel Zeit, bis das Netz wieder hing. Als ich mich von all dieser Aufregung ein wenig erholt hatte, dämmerte im Osten bereits der Tag. Das Trommeln des Regens, das Rauschen des Windes, das Schnarchen Kumagayas … all das drang an meine Ohren, und immer, wenn ich glaubte, endlich einschlafen zu können, wurde ich davon wieder wach. Schon für zwei Menschen war das Zimmer recht eng; der süßliche Duft von Naomis Parfüm und der Geruch, den ihre Haut ausströmte, hingen schwer in der Luft. In diesen vier Wänden war es so schwül, daß es einem den Atem benahm. Es war wie kurz vor einem Erdbeben. Wenn sich Kumagaya umdrehte, berührten sich unsere schwitzenden Arme und Knie. Naomis Kopfkissen lag zwar bei mir, einen Fuß hatte sie darauf ausgestreckt, das Knie des anderen Beines 129
war angewinkelt und der Fuß in mein Futon geschoben. Ihr Kopf war zu Hamada hin geneigt. Mit ausgebreiteten Armen und geöffneten Händen schlief sie wohlig wie ein Kind. «Naomi-chan», flüsterte ich, während ich ihren ruhigen Atemzügen lauschte. Ich versuchte, den in meinem Futon steckenden Fuß zu streicheln. Dieser wunderbar weiße, schöne Fuß, der da friedlich neben mir lag, gehörte mir ganz allein! Ich hatte diesen Fuß seit Naomis Mädchenzeit Abend für Abend in schäumendem Seifenwasser gebadet. Was für eine wundervoll weiche Haut sie doch hatte! Naomi war vierzehn Jahre alt gewesen, als ich sie kennenlernte. Seither war ihr Körper schnell herangewachsen, doch ihre Füße waren noch immer klein und süß wie die eines Kindes. Selbst ihre große Zehe war niedlich geblieben. Alles war unverändert, die runde Fülle der Fersen und die sanfte Wölbung des Fußrückens. Ich konnte der Versuchung nicht widerstehen und berührte den Spann ihres Fußes mit meinen Lippen. Gegen Morgen nickte ich ein. Ein Lachen weckte mich. Naomi hatte mir ein Papierröhrchen in die Nase gesteckt. «Bist du wirklich eben erst wach geworden, Jojisan?» «Wie spät ist es denn?» «Schon halb zwölf. Aber wir können doch noch liegenbleiben, bis es Mittag schießt.» Der Regen hatte aufgehört. Der Sonntagshimmel strahlte blau und klar. Aber in dem Raum, in dem wir zu viert lagen, lastete dumpfe, bedrückende Luft.
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13 In der Firma ahnte niemand, was für ein lockeres Leben ich führte. Aber ich hatte Naomis Bild auch während der Arbeit vor Augen, ohne daß es mich jedoch abgelenkt hätte. Meine Kollegen mußten mich noch immer für einen tugendhaften und vorbildlichen Mann halten. An einem schwülen, drückenden Abend während der Regenzeit wurde für Hamakawa, einen Ingenieur unserer Firma, im Seiyoken in Tsukiji eine Abschiedsfeier gegeben. Da ich mich, wie immer bei solchen Gelegenheiten, bald zurückziehen wollte, machte ich nach dem Essen und den Ansprachen, als sich alle in den Rauchsalon zurückgezogen hatten, Anstalten, möglichst unauffällig aufzubrechen. «He, Kawai-kun, nehmen Sie doch bei uns Platz!» Mit diesen Worten forderte mich einer meiner Kollegen namens S. grinsend zum Bleiben auf. Leicht angetrunken saß er mit drei anderen auf dem Sofa und wollte unbedingt, daß ich mich zu ihnen setzte. «Warum wollen Sie denn schon gehen? Was haben Sie denn noch vor? Bei diesem Regen!» fragte S., während ich unschlüssig dastand, und grinste mich breit an. «Ach, nichts Besonderes!» «Sie wollen also gleich nach Hause?» fragte H. «Nehmen Sie es mir nicht übel, aber ich wohne in Omori, und bei diesem Wetter bekomme ich später keinen Wagen mehr.» «Um Ausreden sind Sie aber nicht verlegen!» sagte T. «Wir wissen nämlich alles, Kawai-kun!» «Was denn?» Weil ich mir nicht erklären konnte, worauf T. mit dem Wort «alles» anspielte, hatte ich so töricht reagiert. 131
«Wir waren alle ganz schön erstaunt. Wir hatten Sie immer für einen Tugendbold gehalten.» K. sah mich an, als bewundere er mich geradezu. «Wir haben gehört, daß Sie sogar tanzen gehen! Ja, die Zeiten ändern sich eben.» «Hören Sie mal, Kawai-kun», dröhnte K. ungeniert los, «wer ist denn diese wunderschöne Frau, mit der man Sie immer sieht? Stellen Sie sie uns doch einmal vor!» «Das geht leider nicht … Sie ist keine Frau, die man anderen so einfach vorstellen könnte.» «Aber sie soll doch Schauspielerin am TeigekiTheater sein – oder stimmt das nicht? Andere behaupten, sie sei Filmschauspielerin. Und manche sogar, sie sei Eurasierin. Verraten Sie uns doch ihre Adresse. Eher lassen wir Sie nicht fort!» Ohne auf meine Verlegenheit zu achten, insistierte S. und fragte: «Oder kann man sie sich nur zum Tanzen bestellen?» Sie sind wohl verrückt! hätte ich ihn am liebsten angefahren. Mein Geheimnis hatte sich also doch bereits in der Firma herumgesprochen, und aus den Worten von S., der als Lebemann galt, schloß ich, daß man Naomi und mich offenbar nicht für ein Ehepaar hielt, sondern glaubte, Naomi sei eine jener Frauen, die man sich ‹bestellen› konnte. Diese unerhörte Beleidigung trieb mir das Blut ins Gesicht. Ich hätte gern losgeschrien, konnte aber kein Wort herausbringen. «Nun, Kawai, was ist mit der Adresse?» Diese grenzenlose Unverschämtheit glaubte H. sich leisten zu können, weil er mit meiner Gutmütigkeit rechnete. Als ich nichts erwiderte, wandte er sich an K. und fragte: «Sagen Sie, von wem wissen Sie das eigentlich alles?» 132
«Von einem Studenten der Keio-Universität.» «Und was hat er gesagt?» «Er ist ein Verwandter von mir, der leidenschaftlich gern tanzt und öfter zum Tanzen geht. Er kennt Ihre Schöne, Kawai-kun.» «Wie heißt sie denn?» mischte sich T. plötzlich ein. «Warten Sie mal – es war ein aparter Name – ich glaube, Naomi.» «Naomi? Dann ist sie also Halbjapanerin?» fragte S. und sah mir spöttisch in die Augen. «Dann kann sie kaum Schauspielerin sein.» «Kawai-kun, Sie scheinen ein großer Schwerenöter zu sein! Man sagt, dieses Mädchen bringe sämtliche Keio-Studenten um den Verstand!» Bis dahin hatte ich krampfhaft ein Lächeln versucht. Bei diesen Worten gefror es mir; ich spürte, wie meine Mundwinkel zitterten. «Das hört sich aber vielversprechend an!» rief S. entzückt. «Hat Ihr Verwandter, ich meine der Student, denn etwas mit ihr gehabt?» «Das weiß ich nicht. Aber unter seinen Freunden soll es einige geben …» «Seien Sie still! Kawai scheint das an die Nieren zu gehen! Sehen Sie bloß, was er für ein Gesicht macht.» Bei diesen Worten sahen mich alle an und lachten schallend. «Ach was, ein bißchen Eifersucht schadet nichts! Schöne Mädchen lassen sich nun einmal nicht verheimlichen.» «Ha, ha, ha … Kawai-kun, das Mädchen macht Ihnen doch keinen Kummer?» «Ha, ha, ha …» Ich hörte kaum, was gesagt wurde, und hatte nur 133
das widerliche laute Gelächter in den Ohren. Verzweifelt überlegte ich, wie ich mich verhalten sollte, um nicht noch mehr Spott auf mich zu ziehen. Sollte ich lachen? Mir war eher zum Weinen. Schließlich stürzte ich, ohne zu wissen, was ich tat, aus dem Rauchzimmer. Noch auf der schlammigen Straße im kalten Regen hatte ich das Gefühl, verfolgt zu werden. Ich rannte zur Ginza, als sei ich auf der Flucht. Hinter Owaricho bog ich nach links ab und ging nach Shimbashi. Meine Beine schlugen völlig mechanisch diese Richtung ein. Die Straßenlaternen spiegelten sich auf dem regennassen Pflaster. Trotz des schlechten Wetters waren viele Menschen unterwegs. Vor mir trippelte eine Geisha mit aufgespanntem Regenschirm und ein junges Mädchen in europäischer Kleidung; eine Straßenbahn ratterte vorüber, Autos fuhren vorbei … Naomi sollte es also mit Studenten haben? War das denkbar? Wenn ich daran dachte, wie sie sich in letzter Zeit aufgeführt hatte, begriff ich nicht, daß ich bisher so sorglos gewesen war. Gewiß, mir waren zwar gelegentlich Bedenken gekommen, aber gerade weil sie mit so vielen Männern befreundet war, glaubte ich, mich nicht beunruhigen zu müssen! Sie war schließlich noch ein Kind, wenn auch ein besonders temperamentvolles. Und wenn sie selber von sich sagte: «Ich bin keine Frau!», so war etwas daran. Und deshalb war sie auch so gern mit jungen Männern zusammen und alberte in aller Unschuld mit ihnen herum. Und sollte sie je auf etwas anderes aus gewesen sein, so hätte sie gar keine Gelegenheit dazu gehabt, weil allzu viele Augen sie beobachteten. Es war ausgeschlossen! War es das wirklich? 134
Naomi war mit den Jahren zwar kecker geworden, manchmal konnte sie sogar ausgesprochen frech sein, aber ihr Charakter war doch anständig. Das stand fest! Auch wenn sie mich manchmal ein wenig von oben herab behandelte, war sie doch dankbar für die Fürsorge, mit der ich sie all die Jahre umgeben hatte. Sie würde mich bestimmt nicht betrügen! Ich brauchte nur an die Liebesworte zu denken, die sie mir manchmal nachts weinend zuflüsterte. Vielleicht hatte dieser bösartige K. das alles nur behauptet, um mich eifersüchtig zu machen? Wer war wohl dieser Verwandte von ihm, dieser Keio-Student? Einige seiner Freunde sollten engere Beziehungen zu Naomi unterhalten? Hamada? Kumagaya? Sie erschienen mir am verdächtigsten. Aber sie waren doch ein Herz und eine Seele und besuchten Naomi immer nur zu zweit. War das Ganze nur ein Trick, um mich zu täuschen? Oder hatte Naomi es so geschickt eingefädelt, daß die beiden nichts voneinander ahnten? Konnte Naomi so verkommen sein? Wenn sie es wirklich mit beiden hatte, dann hätte sie sich doch nicht so ungezwungen, ja schamlos geben können, als wir alle zusammen in einem Zimmer schliefen. Sonst wäre sie ja schlimmer als eine Hure! Völlig verwirrt überquerte ich die Shimbashi-Brücke und ging die Shibaguchi-Straße hinunter bis nach Kanesugigashi. Himmel und Erde schienen durch den Regen gleichsam zusammenzufließen; von allen Seiten drang die Nässe auf mich ein und durchtränkte meinen Regenmantel. Genauso hatte es in jener Nacht geregnet! Und auch an dem Abend, als ich Naomi im Café Diamond den Vorschlag machte, sie zu mir zu nehmen. Ob sie auch bei diesem Regen heute abend nicht allein in Omori war? Plötzlich kam mir der 135
furchtbare Verdacht, daß sie wieder alle in einem Raum zusammen schliefen, Naomi in der Mitte, Hamada und Kumagaya rechts und links von ihr … mir stand die schamlose Szene noch deutlich vor Augen … Ich hastete zur Haltestelle von Tamachi. Noch nie waren mir die drei Minuten, bis die Bahn kam, so lang vorgekommen. Warum hatte ich sie bloß heute abend allein gelassen? Ich war überzeugt, sobald ich ihr gegenüberstand, würde sie meinen Verdacht auf der Stelle zerstreuen. Was aber sollte ich sagen, wenn sie mir wieder einmal vorschlug, mit den anderen zusammen zu schlafen? Wie sollte ich mich Hamada, Kumagaya und anderen gegenüber verhalten? Ich mußte doch wohl streng mit ihr sein, auch wenn sie dann aufsässig werden sollte. Ich werde in aller Ruhe zu ihr sagen: «Hör mal, Naomi, heute abend haben mich ein paar Kollegen aufs gemeinste beleidigt. In Zukunft mußt du unbedingt darauf achten, was du tust, damit es nicht zu solchen Mißverständnissen kommt!» Sicher würde sie das verstehen. Schließlich ging es ja um ihre Ehre. Sonst mußte ich ja annehmen, daß alles, was K. erzählt hatte, stimmte. Ich versuchte, mir das kühl und ruhig vorzustellen. Würde ich ihr dann verzeihen können? Ich mußte mir eingestehen, daß ich nicht einen einzigen Tag ohne sie leben konnte. Und wenn sie wirklich so verkommen war, traf ja auch mich Schuld … Wenn sie ehrlich bereute, wollte ich sie nicht weiter quälen. Aber was wäre, wenn sie eigensinnig und verstockt bliebe und sagte: «Gut, dann gehe ich eben!» War ich dann wirklich bereit zu sagen: «Dann geh!» Das war der springende Punkt. Solange sie mit mir zusammenlebte, konnte sie sich alle Wünsche erfüllen. 136
Jagte ich sie aber aus dem Haus – wo, außer in jenem ärmlichen Häuschen in Senzokumachi, konnte sie Zuflucht finden? Und wer würde sich dann um sie kümmern? Sie würde unweigerlich zur Hure herabsinken. Aber das hätte ihre Eitelkeit wohl nicht zugelassen! Vielleicht würden Hamada und Kumagaya sich ihrer annehmen. Aber sie als Studenten konnten ihr beim besten Willen kein so sorgloses Leben bieten wie ich. So gesehen, schlug es mir vielleicht zum Vorteil aus, daß ich Naomi jeden Luxus gestattet hatte. Als ich an der Station Omori ankam, hatte ich mich bis zu einem gewissen Grade wieder gefaßt. Es stand für mich jedenfalls fest, daß wir uns niemals trennen würden – was auch immer geschehen mochte. Das Atelier lag im Dunkeln; nichts deutete darauf hin, daß sie Besuch hatte. Es war totenstill. Nur in dem viereinhalb Matten großen Zimmer brannte Licht. Sie ist also allein! dachte ich erleichtert. Ich öffnete die verschlossene Haustür mit meinem Schlüssel und drehte das Licht im Atelier an. Wie immer herrschte große Unordnung, aber nichts ließ darauf schließen, daß Besuch hier gewesen war. «Naomi-chan, ich bin es!» rief ich und stieg die Treppe hinauf. In dem viereinhalb Matten großen Zimmer lag Naomi friedlich schlummernd auf dem Futon. Dieses Mädchen soll mich betrogen haben? dachte ich. Leise, um sie ja nicht zu wecken, setzte ich mich zu ihr und beobachtete sie mit angehaltenem Atem. Einst hatte sich eine Füchsin in eine hübsche junge Frau verwandelt, und es war ihr gelungen, ihren Mann zu täuschen; doch im Schlaf offenbarte sich ihre wahre Gestalt. An diese Geschichte, die ich als Junge einmal gelesen hatte, mußte ich jetzt denken. Naomi hatte die 137
Decke beiseite geschoben, ein Zipfel davon lag zwischen ihren Schenkeln, und auf ihrer nackten Brust ruhte der angewinkelte Arm wie ein abgebrochener Zweig. Der andere Arm war in einer sanften Gebärde zum Knie hingestreckt. Der Kopf lag schief auf dem Kissen und drohte herunterzugleiten. Neben ihrer Nasenspitze lag ein aufgeschlagenes Buch – ‹Die Nachkommen Kains›, ein Roman von Arishima Takeo, den sie für den besten modernen Autor hielt. Mein Blick wanderte von dem schlichten, weißen, europäisch aufgemachten Umschlag zu ihrer weißen Brust. Manchmal konnte ihre Haut auch gelb aussehen, aber wenn sie tief schlief oder eben erwachte, hatte ihre Haut etwas Reines und Schimmerndes, so daß man glauben mochte, sie überziehe sich während des Schlafes mit einem besonderen Schmelz. Im allgemeinen assoziiert man die Begriffe ‹Nacht› und ‹tiefschwarz› miteinander, ich aber mußte bei dem Wort ‹Nacht› immer an Naomis weiße Haut denken. In dem leicht verschmutzten Futon wirkte sie wie in Lumpen gehüllt, und das reizte mich besonders. Die im Schatten liegenden Brüste stiegen wie aus dem Grund eines tiefblauen Wassers empor. Am Tag wirkte ihr Gesicht heiter und lebhaft, aber im Schlaf nahm es einen geheimnisvollen, mystischen Ausdruck an, wie vom Tod oder Schmerz gezeichnet. Dieses Schlafgesicht liebte ich über alles. «Wenn du schläfst, bist du wie ein ganz anderer Mensch», sagte ich oft zu ihr. Manchmal dachte ich mir, daß sie noch im Tode schön sein müsse. Selbst wenn sie eine Füchsin wäre, würde ich mich gern von ihr betören lassen, so bezaubernd sah sie jetzt aus. Ich saß so etwa eine halbe Stunde bei ihr. Ihre Hand, die mit der Innenfläche nach oben im hellen Schein der Lampe lag, war leicht geöffnet wie eine Blüte. 138
Da verwirrten sich die friedlichen Atemzüge, und sie schlug die Augen auf. «Wann bist du gekommen?» fragte sie. Der schmerzliche Ausdruck war noch nicht ganz aus ihrem Gesicht gewichen. «Vor ein paar Minuten.» «Warum hast du mich nicht geweckt?» «Ich habe dich gerufen, als ich ins Haus kam. Aber du hast nicht geantwortet, deshalb ließ ich dich schlafen.» «Was hast du die ganze Zeit hier neben mir getan? Hast du mich beim Schlafen beobachtet?» «Ja …» «Was bist du doch für ein merkwürdiger Mann!» Dabei lachte sie wie ein unschuldiges Kind und legte mir die Hand aufs Knie. «Ich habe mich heute ziemlich einsam gefühlt. Es wäre schön gewesen, wenn mich jemand besucht hätte. Aber leider ist niemand gekommen. Geh du jetzt auch schlafen, Papa-san.» «Ja, laß uns schlafen», wiederholte sie, als ich nickte. «Ich wurde plötzlich so müde, daß ich einfach so eingeschlafen bin, und nun haben mich die Moskitos zerstochen. Sieh mal, hier! Kratz mich ein bißchen!» Ich kratzte sie eine Weile an den Armen und auf dem Rücken. «Oh, danke! Es juckt furchtbar, es ist kaum auszuhalten! Bitte, sei so nett und reich mir mein Schlafgewand. Es liegt da drüben. Ziehst du es mir an?» Ich brachte es ihr und richtete sie auf. Als ich ihr den Obi löste, schien sie so erschöpft, daß es mir vorkam, als hielte ich eine Tote in den Armen.
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14 Ich will hier nicht alles aufzeichnen, worüber wir uns in jener Nacht unterhielten. Als ich Naomi von dem Vorfall berichtet hatte, war sie empört: «Das ist eine Gemeinheit! Was diese Kerle da zusammenphantasieren!» Sonst aber nahm sie die Sache nicht allzu ernst. Der öffentliche Tanz sei eben bei uns in Japan noch immer nicht recht gesellschaftsfähig, meinte sie. Bloß weil Männer und Frauen sich beim Tanz die Hände reichen, schließe man schon auf unerlaubte Beziehungen und setze Gerüchte in Umlauf. Sogar manche Zeitungen lehnten in gehässiger Form die neue Mode ab. Deshalb hielten viele Menschen den Tanz für etwas Schlechtes, und jeder, der gern tanze, müsse sich mit solchen Vorurteilen abfinden. «Ich war bestimmt noch nie mit einem anderen Mann allein! Das kannst du mir glauben.» Sie ginge immer nur mit mir tanzen, beteuerte sie, und auch zu Hause empfinge sie ja nur Besuch, wenn ich dabei sei. Keiner ihrer Freunde habe ein so schlechtes Benehmen, allein bei ihr zu bleiben, wenn ich außer Haus sei. «Ich mag zwar manchmal eigensinnig und anspruchsvoll sein, aber ich weiß genau, was recht und was unrecht ist! Ich könnte dich leicht betrügen, aber ich tue es nicht, bestimmt nicht! Ich habe nichts vor dir zu verbergen.» «Ich glaube dir ja auch! Aber diese Anschuldigungen heute abend waren zu schrecklich!» «Das kann ich mir vorstellen. Aber wollen wir denn deshalb nicht mehr tanzen gehen?» «Das zwar nicht! Aber wir müssen wohl doch etwas vorsichtiger in unserem Umgang sein, damit es nicht zu weiteren Mißverständnissen kommt.» 140
«Aber ich bin doch schon vorsichtig!» «Ich weiß, zwischen uns gibt es ja auch keine Mißverständnisse.» «Das ist die Hauptsache. Was die Leute sagen, ist mir egal. Ich bin ohnedies nicht so beliebt, weil ich so wild bin und eine so spitze Zunge habe.» Ihr sei alles recht, wenn nur ich ihr weiter vertraute und sie liebte. Sie habe eben mehr Männerfreundschaften, weil die Männer ihre Offenheit zu schätzen wüßten. Aber von irgendwelchen schmutzigen Dingen könne keine Rede sein, beteuerte sie immer wieder. Schließlich sagte sie ganz sentimental und weich: «Ich werde nie vergessen, wie liebevoll du für mich seit meinem vierzehnten Lebensjahr gesorgt hast!» und mit Tränen in den Augen fügte sie hinzu: «Du bist gleichzeitig Vater und Ehemann für mich.» Dann ließ sie sich die Tränen von mir trocknen und überschüttete mich mit Küssen. Bei all dem hatte Naomi seltsamerweise nicht ein einziges Mal Hamada und Kumagaya erwähnt. Ich war versucht gewesen, die Namen selber ins Gespräch zu bringen, nur um ihre Reaktion zu beobachten. Aber dann fehlte mir doch der Mut dazu. Natürlich habe ich nicht jedes ihrer Worte geglaubt, und im übrigen wollte ich auch gar nicht so genau wissen, was nun wirklich geschehen war, denn wenn man erst einmal anfängt zu zweifeln, weiß man nicht, wo das aufhört. Es genügte, wenn ich in Zukunft mehr acht auf sie gab. Ich hatte zwar vorgehabt, sie in ein strenges Verhör zu nehmen, aber ihre Tränen, ihre Küsse, ihr Schluchzen und ihr Gestammel hatten mich nachsichtig gestimmt, und ich war nur zu gern bereit, ihre Worte für Wahrheit zu halten. Nach diesem Abend schien es mir, als ob sie ihr Ver141
halten ein wenig änderte. Wir gingen zwar noch zum Tanzen aus, aber nicht mehr so häufig wie bisher. Sie tanzte auch nicht mehr so viel und so wild wie früher. Es kam auch weniger Besuch, und wenn ich heimkam, war sie eigentlich immer allein, las Romane oder strickte, hörte sich Schallplatten an oder ordnete Blumen in den Vasen. «Warst du heute wieder den ganzen Tag allein?» «Es war niemand da, der mir hätte Gesellschaft leisten können.» «Hoffentlich hast du dich nicht zu einsam gefühlt?» Dann antwortete sie entweder: «Wenn ich mich darauf einstelle, allein zu sein, fühle ich mich nie einsam. Es macht mir gar nichts aus.» Oder aber: «An sich bin ich lieber in fröhlicher Gesellschaft. Aber manchmal ist mir das Alleinsein ganz recht. Als Kind habe ich überhaupt keine Freunde gehabt; ich habe immer allein gespielt.» «Ja, das stimmt!» erinnerte ich mich. «Als ich dich im Café Diamond kennenlernte, sah ich dich nie mit den anderen Mädchen sprechen. Damals machtest du eher einen melancholischen Eindruck auf mich.» «Im Grunde bin ich das immer noch. Ist das denn so schlimm?» «Schlimm nicht, aber wenn du zu melancholisch wirst, mache ich mir Sorgen.» «Ein bißchen Melancholie ist immer noch besser, als über die Stränge zu schlagen.» «Da hast du freilich recht …» «Bin ich nicht ein sehr braves Kind geworden?» Mit diesen Worten sprang sie plötzlich auf mich zu, schlang beide Arme um mich und küßte mich so wild und stürmisch, daß es mir dunkel vor Augen wurde. «Wir sind schon so lange nicht mehr tanzen gewe142
sen. Hast du heute nicht Lust?» forderte ich sie manchmal auf. Aber darauf erwiderte sie oft nur: «Mir ist es gleich. Wenn du gern willst …» oder: «Gehen wir doch lieber ins Kino. Zum Tanzen habe ich heute gar keine rechte Lust.» Das Glück, das wir vor vier, fünf Jahren gekannt haben, war also wiedergekehrt. Wir steckten ständig zusammen, gingen abends oft nach Asakusa, schauten uns Filme an, aßen auf dem Heimweg in einem Restaurant und schwelgten in gemeinsamen Erinnerungen. «Früher habe ich dich im Teigeki oft auf die Brüstung gesetzt, und du hast dir – auf meine Schultern gestützt – den Film angesehen», sagte ich etwa. Und Naomi sagte: «Als du anfangs ins Café kamst, Jojisan, sahst du immer recht mürrisch aus und hast kein Wort geredet. Du hast mich nur angestarrt, und mir war ganz unbehaglich dabei.» Ein anderes Mal sagte sie: «Papa-san, du steckst mich neuerdings ja gar nicht mehr in die Badewanne! Früher hast du mich so oft und gern gewaschen! Hast du das ganz vergessen?» «Ja, früher …» «Warum tust du es denn nicht mehr? Weil ich inzwischen erwachsen bin?» «Wie kommst du denn darauf? Ich würde dich auch jetzt noch gern baden. Aber …» «Ach, bitte: bade mich doch einmal wieder! Ich möchte wieder ein Baby-san sein!» Es war gerade Sommer. Deshalb holte ich ohne Zögern die europäische Badewanne aus der Dachkammer herunter, stellte sie ins Atelier und badete Naomi genau wie früher. «Großes Baby-san», hatte ich damals immer zu ihr gesagt; aber nun, nach vier Jahren, als ich ihren voll erblühten Körper in die Wanne hob, war 143
sie zur jungen Frau herangereift. Ihr fülliges Haar hing schwer herab wie eine dunkle Regenwolke. Sie hatte überall zierliche Grübchen im weichen Fleisch, und die Schultern waren anmutig gepolstert. Brust und Lenden waren wundervoll elastisch, und auch ihre Beine schienen länger geworden zu sein. «Joji-san, bin ich gewachsen?» «Das kann man wohl sagen. Ich glaube, du bist jetzt fast so groß wie ich!» «Bald werde ich schwerer sein als du. Neulich habe ich festgestellt, daß ich 14,2 Kan wiege.» «Alle Achtung! Ich wiege ja nur 16 Kan!» «Dann bist du also doch noch schwerer als ich.» «Natürlich bin ich schwerer. Bei Männern ist der Knochenbau massiver.» «Joji-san, traust du dich auch jetzt noch, Pferd mit mir zu spielen und mich auf dem Rücken zu tragen? Wie oft haben wir das damals gemacht, als ich zu dir zog! Entsinnst du dich noch, wie ich damals immer auf dir geritten bin und dir immer ein kleines Handtuch als Zügel zwischen die Zähne gegeben habe? Dann habe ich ‹hai-hai, do-do› geschrien, und wir sind im Zimmer umhergetobt.» «Ja, damals hast du noch weniger gewogen.» «Jetzt würdest du sicher unter mir zusammenbrechen!» «Ach was! Willst du es mal versuchen? Komm, setz dich auf mich.» Und so spielten wir wieder Pferd und Reiterin. Wieder hatte sie mir ein kleines Handtuch als Zügel in den Mund gelegt, aber ihr Gewicht machte mir jetzt doch zu schaffen. «Komm, ein bißchen schneller! Hai-hai, do-do!» Dabei drückte sie mir lachend die Knie in die Seite und 144
riß kräftig am Zügel. Ich hatte alle Mühe, nicht zusammenzubrechen, und kroch schweißbedeckt durchs Atelier. Erst als ich erschöpft zusammenbrach, gab sie das Spiel auf. Im August sagte sie eines Tages: «Joji-san, wollen wir in diesem Sommer nicht wieder einmal nach Kamakura fahren? Ich hätte solche Lust dazu! Ich bin nie wieder dort gewesen.» «Ja, das stimmt», sagte ich. «Wir sind nie mehr hingefahren.» «Eben! Darum laß uns doch bitte in diesem Jahr wieder nach Kamakura gehen. Ich habe diesen Ort in so schöner Erinnerung!» Diese Worte Naomis machten mich unendlich glücklich. Das sollte unsere zweite Hochzeitsreise werden! Es gab auch für mich keinen anderen Ort, mit dem ich so viele schöne Erinnerungen verband wie mit Kamakura. In den letzten Jahren waren wir im Urlaub immer woandershin gefahren und hatten Kamakura ganz vergessen. Deshalb fand ich Naomis Vorschlag wundervoll. «Gut, wir fahren hin!» sagte ich. Nachdem wir alles genau besprochen hatten, ließ ich mir zehn Tage Urlaub geben. Wir schlossen das Haus in Omori ab und fuhren los. In Kamakura mieteten wir uns bei einem Gärtner namens Uesô ein kleines Gartenhäuschen, das etwas abseits vom Haupthaus an der Straße zum Strand lag. Die Gelegenheit dazu hatte sich wie folgt ergeben: Eines Tages sagte Naomi zu mir: «Ich habe heute von Frau Sugisaki etwas Herrliches erfahren!» und berichtete mir von diesem Gartenhäuschen. Naomi meinte, ein Hotel sei zu teuer, außerdem müßten wir dort auf 145
die anderen Gäste Rücksicht nehmen – es sei doch geradezu ideal, ein Häuschen für uns zu haben. Ein Verwandter von Frau Sugisaki, Direktor der Ostasiatischen Öl-AG, habe zufälligerweise für Juni, Juli und August in Kamakura für 500 Yen ein Häuschen gemietet und bis Juli auch dort gewohnt, aber nun wollte er es weitervermieten. Frau Sugisaki solle das vermitteln und könne sogar die Mietsumme bestimmen. «Etwas Günstigeres können wir gar nicht finden, Jojisan. Und da es zudem billig ist, können wir den ganzen Monat dort bleiben.» «Aber ich muß ja nach zehn Tagen wieder in die Firma! So lange kann ich unmöglich Urlaub machen.» «Vielleicht kannst du von dort aus mit der Bahn nach Tokio fahren?» «Wer weiß, ob uns das Häuschen gefällt.» «Ich fahre gleich morgen hin! Darf ich es mieten, wenn es mir zusagt?» «Ja, einverstanden! Aber es wäre mir peinlich, gewissermaßen halb umsonst dort zu wohnen. Ich möchte unbedingt etwas dafür bezahlen.» «Ja, ich verstehe. Da du so wenig Zeit hast, werde ich es mit Frau Sugisaki besprechen. Ich denke, daß wir etwa mit 100 oder 150 Yen rechnen müssen.» Man einigte sich auf eine Mietsumme von 100 Yen für einen Monat. Also stand dieser Reise nichts mehr im Wege. Ich war angenehm überrascht, als ich das Haus zum erstenmal sah. Es hatte zwei Zimmer von viereinhalb und acht Matten Größe, einen Flur, einen Baderaum und eine Küche. Man hatte vom Haus aus einen direkten Zugang zur Straße, die zum Strand hinunterführte, und brauchte nicht erst durch den Garten zu gehen und die Gärtnersleute zu belästigen. Hier konnten wir 146
es uns zu zweit wirklich gemütlich machen. Ich freute mich darauf, nach japanischer Sitte auf neuen Tatami mit gekreuzten Beinen vor einem Lang-Hibachi zu sitzen. «Was für eine wohltuende Ruhe», sagte ich zu Naomi. «Ist es nicht ein hübsches Haus? Wo gefällt es dir besser? In Omori oder hier?» «Hier natürlich. Ich hätte wirklich Lust, länger hier zu bleiben!» «Siehst du? Ich habe es dir ja gesagt!» Sie war richtig stolz. Am dritten Tag nach unserer Ankunft gingen wir mittags an den Strand. Ich schwamm eine Stunde lang, und dann legten wir uns beide in den Sand. Plötzlich rief jemand über meinen Kopf: «Naomi-san?» Als ich aufsah, war es Kumagaya! Er schien gerade aus dem Wasser gekommen zu sein, denn der nasse Badeanzug klebte noch an seiner Brust, und auf seinen haarigen Unterschenkeln standen Wassertropfen. «Oh, Ma-chan! Seit wann sind Sie denn hier?» «Seit heute! Als ich Sie vorhin von ferne sah, glaubte ich, mich zu täuschen. Aber Sie sind es tatsächlich!» Dann hob er seine Hände vor den Mund und rief zum Meer hin: «Oi!» Jemand antwortete: «Oi!» «Wen rufen Sie denn?» fragte Naomi. «Hamada! Er, Seki, Nakamura und ich sind zusammen hier herausgekommen.» «Oh, dann wird ja allerlei los sein! In welchem Hotel wohnen Sie denn?» «So gut haben wir es nun wieder nicht. Wir fahren am Abend wieder nach Tokio zurück.» 147
Während Naomi und Kumagaya sich unterhielten, kam Hamada heran. «Wir haben uns aber lange nicht mehr gesehen. Wie geht es Ihnen, Kawai-san? Sie beide kommen ja gar nicht mehr zum Tanzen.» «Ich glaube, Naomi hat keine rechte Lust mehr zum Tanzen …» «Das ist aber abscheulich von ihr! Seit wann sind Sie hier?» «Seit ein paar Tagen. Wir wohnen bei einem Gärtner in Hase, in seinem Gartenhäuschen.» «Ja, es ist ein sehr schickes Haus! Wir haben es durch Vermittlung von Frau Sugisaki für den ganzen Monat gemietet!» «Das ist ja toll!» meinte Kumagaya. «Dann wollen Sie also längere Zeit hierbleiben?» fragte Hamada. «Übrigens», warf Kumagaya ein, «kann man auch in Kamakura tanzen. Heute abend im Strandhotel zum Beispiel! Wenn ich eine Partnerin hätte, würde ich hingehen …» «Ich komme dafür jedenfalls nicht in Frage!» sagte Naomi barsch, fügte aber hinzu: «Bei dieser Hitze sollte man gar nicht tanzen. Wenn es kühler ist, ginge ich gern einmal hin.» «Ja, tanzen ist nichts für den Sommer!» sagte Hamada und wandte sich dann etwas nervös an Kumagaya: «Wie ist es, Ma-chan? Wollen wir nicht noch einmal ins Wasser gehen?» «Keine Lust! Ich bin hundemüde und möchte lieber gehen. Wir müssen ja nachher noch da hin. Wenn wir uns noch ein wenig ausruhen wollen, können wir erst nach Sonnenuntergang nach Tokio zurückfahren.» «Wohin wollen Sie denn?» fragte Naomi. «Haben Sie etwas Interessantes vor?» 148
«Ach was! Sekis Onkel hat in Ogiyayatsu ein Haus, da hat er uns heute schon einmal hingeschleppt. Wir werden dort zum Abendessen erwartet. Aber mir ist es dort zu steif. Ich würde lieber auf das Essen verzichten und nach Tokio flüchten!» «So? Geht es da so steif zu?» «Ja, gräßlich! Die Dienstmädchen verbeugen sich so tief vor einem, daß ihre Stirn fast den Boden berührt! Es ist zum Davonlaufen! Da bleibt einem ja der Bissen im Halse stecken! Komm, Hamada, wollen wir nicht doch lieber nach Tokio zurückfahren und dort irgendwo essen?» Er machte jedoch nicht die geringsten Anstalten, aufzustehen, sondern saß weiter mit ausgestreckten Beinen da, griff in den Sand und ließ ihn über seine Knie rieseln. «Wie wäre es, wenn Sie mit uns zu Abend äßen?» forderte ich sie auf, denn Naomi, Hamada und Kumagaya waren plötzlich verstummt. Die Situation war etwas peinlich, ich mußte sie einfach einladen.
15 Nach langer Zeit waren wir also wieder einmal bei einem sehr fröhlichen Abendessen vereint. Hamada, Kumagaya, später auch Seki und Nakamura saßen mit uns um das Eßtischchen, und wir unterhielten uns vergnügt bis gegen zehn Uhr. Anfangs war ich etwas reserviert, weil ich fürchtete, die Burschen würden uns wieder lästig fallen. Aber dann gefiel mir doch ihre fröhliche, unkomplizierte, jungenhafte Art; schließlich fuhren sie ja wieder ab. Naomi war eine äußerst liebenswürdige und entgegenkommende Gastgeberin. Sie 149
war nicht zügellos ausgelassen wie sonst, und wie sie die Gäste unterhielt, und bewirtete, war schlechthin vorbildlich. Ich und Naomi begleiteten die jungen Leute, die mit dem letzten Schnellzug nach Tokio zurückfuhren, zum Bahnhof. Dann gingen wir Hand in Hand durch die Sommernacht zurück. «Es war wirklich sehr hübsch heute abend. Vielleicht wäre es gar nicht so schlecht, wenn wir sie dann und wann mal sähen», sagte ich. Der Abend war schön; am Himmel funkelten Sterne, und vom Meer her wehte eine kühle Brise. «So? Meinst du?» antwortete Naomi. Sie freute sich offenbar über meine gute Stimmung. Und nach einem Augenblick fügte sie hinzu: «Wenn man sie besser kennt, merkt man, daß sie eigentlich ganz nett sind.» «Ja, das scheint mir auch so.» «Ob sie uns wohl bald wieder besuchen? Seki-san hat gesagt, er und seine Freunde würden bald wieder einmal zu uns hereinschauen.» «Ich glaube jedenfalls nicht, daß sie uns lästig fallen werden.» «Wenn sie uns dann und wann besuchen, ist es ja ganz hübsch; aber zu häufig dürfen sie nicht kommen. Wir können ja das nächste Mal etwas zurückhaltender sein und brauchen sie auch nicht zum Abendessen einzuladen.» «Aber rauswerfen kann man sie doch auch nicht», gab ich zu bedenken. «Warum denn nicht? Wenn sie uns lästig fallen, schicke ich sie einfach weg.» «Dann wird dich Kumagaya-kun aber ganz schön aufziehen!» «Das ist mir egal. Jedenfalls wollen wir hier in Ka150
makura unsere Ruhe haben, und sie sollen uns hier bloß nicht stören.» Als wir in den dunklen Schatten einer großen Kieferngruppe traten, blieb Naomi plötzlich stehen und flüsterte: «Joji-san.» Ich begriff, was diese süße, leise, fast flehentlich klingende Stimme sagen wollte, und umarmte sie schweigend. Erregt genoß ich ihre vollen Lippen … Die zehn Urlaubstage gingen wie im Fluge vorüber; wir waren wunschlos glücklich. Danach fuhr ich täglich von Kamakura nach Tokio zur Arbeit. Obgleich Seki und seine Freunde uns versprochen hatten, öfter zu kommen, hatten sie uns nur nach einer Woche noch einmal besucht und ließen sich dann überhaupt nicht mehr sehen. Am Monatsende mußte ich in der Firma unvorhergesehen ein paar wichtige Untersuchungen durchführen und kam später als sonst in Kamakura an. Bisher war ich meist schon um sieben Uhr abends zurückgewesen und hatte dann mit Naomi zusammen zu Abend gegessen. Für fünf, sechs Tage aber mußte ich bis neun Uhr in Tokio bleiben und kam erst nach elf in Kamakura an. Am Abend des vierten Tages verließ ich die Firma jedoch bereits um acht Uhr, weil ich mit der Arbeit etwas früher fertig geworden war. Ich fuhr mit der elektrischen Bahn von Oimachi nach Yokohama, stieg dann in die Dampfbahn um und traf noch vor zehn Uhr in Kamakura ein. Da ich die Tage zuvor immer so spät zu Naomi zurückgekehrt war, brannte ich vor Ungeduld, nach Hause zu kommen, Naomi zu überraschen und gemütlich mit ihr zu Abend zu essen. Deshalb nahm ich mir am Bahnhof einen Rikschawagen. Ich hatte den ganzen Tag im heißen Tokio verbracht, 151
war müde von der Bahnfahrt und genoß die Nachtluft, die weich und erfrischend über meine Haut strich. Kurz zuvor war ein Regenschauer niedergegangen, und der leichte Dunst, der von den feuchten Gräsern und den regennassen Zweigen der Bäume aufstieg, duftete wundervoll. Regenpfützen schimmerten silbrig durch das Dunkel, und die Tritte des Rikschamannes, die kein einziges Staubkörnchen aufwirbelten, waren so leise, als liefe er über Samt. Aus einer der Villen drang Grammophonmusik, und ich sah die Bewohner in weißen Gewändern hin und her gehen. Hier hatten die Menschen aus der heißen Stadt Zuflucht gesucht und gefunden. Der Rikschamann hielt an der Pforte, und ich ging durch den Garten zur Veranda des Häuschens. Ich hatte erwartet, daß Naomi, sobald sie meine Schritte vernahm, die Shoji-Schiebefenster der Veranda öffnen und mir entgegeneilen würde. Aber obgleich hinter den geschlossenen Shoji die Lampe brannte, deutete nichts darauf hin, daß Naomi anwesend war. Es herrschte tiefe Stille. «Naomi-chan!» rief ich einige Male, erhielt aber keine Antwort. Daher stieg ich zur Veranda hinauf, schob die Shoji zurück und sah, daß das Zimmer leer war. Naomis Badeanzug, das Handtuch und ihr leichtes YukataGewand hingen an der Fusuma-Schiebetür und in der Tokonoma-Ziernische. Gebrauchtes Teegeschirr und volle Aschenbecher standen herum, die Sitzkissen waren durcheinandergeraten. Das Zimmer sah so unordentlich aus, wie ich es von Naomi gewöhnt war. Aber mit dem geschärften Sinn des Liebenden fühlte ich, daß Naomi nicht erst vor kurzer Zeit fortgegangen war. 152
Wo mag sie nur hingegangen sein? Sicher ist sie schon zwei, drei Stunden fort. Trotzdem suchte ich überall nach ihr, erst in der Toilette, dann im Bad und schließlich in der Küche. Als ich dort das Licht andrehte, entdeckte ich auf dem Tisch die Reste einer ausgiebigen Mahlzeit. Sogar eine leere Flasche Masamune-Sake stand da. Und daneben standen Aschenbecher voller Zigarettenstummel. Es gab keinen Zweifel, ihre Freunde waren dagewesen! Ich lief zum Haupthaus hinüber und fragte Frau Uesô: «Verzeihen Sie: Naomi ist nicht da, wohin ist sie wohl gegangen?» «Oh, das gnädige Fräulein?» Sie nannte Naomi immer das gnädige Fräulein. Obwohl wir verheiratet waren, ließen wir die Leute glauben, daß wir nur wie Freunde zusammen wohnten oder verlobt seien. Wenn man Naomi nicht mit «Gnädiges Fräulein» anredete, war sie sofort schlechter Laune. «Ja, das gnädige Fräulein ist heute abend kurz nach Hause gekommen, aber nach dem Abendessen mit den anderen zusammen wieder weggegangen.» «Mit wem denn?» «Mit …» Sie zögerte ein wenig und fuhr dann fort: «Mit dem jungen Herrn Kumagaya-san und den anderen. Ja, sie war mit allen zusammen …» Mich überraschte es, daß die Besitzerin des von mir gemieteten Häuschens Kumagayas Namen kannte und ihn außerdem noch respektvoll den «jungen Herrn Kumagaya-san» nannte. Im Augenblick hatte ich aber keine Zeit, der Sache nachzugehen. «Sie war nur kurz zu Hause – dann ist sie also den ganzen Tag am Strand gewesen?» «Nach dem Mittagessen ist sie zum Schwimmen ge153
gangen, und dann kam sie mit dem jungen Herrn Kumagaya-san …» «Mit ihm allein?» «Ja …» Ich war noch keineswegs aufgeregt; aber irgendwie schien es mir, daß Frau Uesô zögerte und verlegen war. Das beunruhigte mich etwas. Andererseits wollte ich mir nichts anmerken lassen und sprach daher hastig auf sie ein: «Sie war also nicht mit allen zusammen hier?» «Nein. Die beiden waren eine Zeitlang allein im Haus. Dann gingen sie fort, weil – wie sie sagten – im Hotel eine Tanzveranstaltung stattfinde.» «Und dann?» «Abends ist sie dann mit allen zurückgekommen.» «Haben sie denn alle zusammen zu Abend gegessen?» «Ja … wie soll ich sagen … es ist ziemlich laut und fröhlich zugegangen …» Sie sah mir abwartend in die Augen und lächelte gequält. «Wie spät war es, als sie nach dem Abendessen wegging?» «Ich glaube, es war gegen acht Uhr.» «Also vor zwei Stunden …» stieß ich hervor und fügte nach einem Augenblick hinzu: «Dann werden sie sicher jetzt im Hotel sein. Meinen Sie nicht?» «Ich weiß es nicht. Vielleicht sind sie auch in das Landhaus gegangen.» Ach, ja. Da war ja auch noch das Landhaus von Sekis Onkel. Ob sie das wohl meinte? Ich erinnerte mich, daß es in Ogiyayatsu liegen sollte. «Ins Landhaus? Dann werde ich ihr entgegengehen. Wissen Sie genau, wo es liegt?» 154
«Nicht weit von hier, am Strand von Hase.» «Hase? Aber ich kann mich doch genau erinnern, daß das Landhaus in Ogiyayatsu liegen soll. Das heißt, falls wir von demselben Landhaus sprechen: ich meine das von Seki-sans Onkel. Seki-san ist ein Freund von Naomi.» Sie schien zu erschrecken. «Meinen Sie denn nicht dieses Landhaus?» «Also …» «Wem gehört denn das Haus am Strand von Hase?» «Einem Verwandten von dem jungen Herrn Kumagaya-san.» «Von Kumagaya-kun?» Ich spürte, wir mir alles Blut aus den Wangen wich, und ließ mir den Weg beschreiben. Am Bahnhof sollte ich nach links abbiegen und die am Strandhotel vorbeiführende Straße immer geradeaus gehen, bis ich an den Strand käme. Das Landhaus von Okubo liege am Ende der Straße. So erklärte sie. Diesen Namen hörte ich zum erstenmal. Weder Naomi noch Kumagaya hatten ihn bisher erwähnt. «Geht Naomi denn öfter in dieses Landhaus?» «Ich weiß es nicht …» Sie war nun ängstlich geworden, das merkte ich deutlich. «Aber es dürfte heute abend doch wohl kaum das erste Mal sein?» bohrte ich weiter. Mir stockte der Atem, und meine Stimme begann zu zittern. Die Frau schien sich vor mir zu fürchten, denn sie wurde blaß und blasser. «Bitte, reden Sie ohne Scheu», sagte ich nun ruhiger. «Ich werde Ihnen bestimmt keine Ungelegenheiten bereiten. Wie war es denn gestern abend? Ist Naomi da auch weggewesen?» «Ja.» 155
«Und vorgestern abend?» «Ja.» «Da ist sie also auch weggegangen?» «Ja.» «Und am Abend davor?» «Ja, da auch.» «Seit ich später nach Hause komme, ist sie also Abend für Abend fortgegangen?» «Ja, ich weiß es allerdings nicht so genau …» «Um welche Zeit kommt sie denn gewöhnlich zurück?» «Ja, wann war das … ich glaube, kurz vor elf.» Naomi und Kumagaya hatten mich also von Anfang an hinters Licht geführt! Also deshalb wollte Naomi unbedingt nach Kamakura! In meinem Kopf drehte sich alles. Ich versuchte verzweifelt, mich an alles zu erinnern, was Naomi in letzter Zeit gesagt und getan hatte. Schlagartig wurde mir klar, in was für eine schmähliche Situation sie mich gebracht hatte. Ein so aufrichtiger Mensch wie ich konnte sich in einem solchen Lügengewebe gar nicht zurechtfinden und diese raffinierten Täuschungsmanöver durchschauen. Ich hatte mich so sicher gefühlt, und nun war ich in eine Fallgrube gestürzt, während Naomi, Kumagaya, Hamada, Seki und die anderen oben, hoch über mir, triumphierten. «Dann will ich mich mal auf den Weg machen», sagte ich zu Frau Uesô. «Sollte ich Naomi verfehlen, dann sagen Sie ihr bitte nicht, daß ich heute früher aus Tokio zurückgekehrt bin. Ich habe meine Gründe dafür.» Damit wandte ich mich um und ging eilig die Straße entlang, die sie mir angegeben hatte. Um nicht gesehen zu werden, versuchte ich, mich möglichst im tiefen Schatten zu halten. Zu beiden Seiten der ruhigen, 156
zur Nachtzeit kaum belebten Straße standen große Landhäuser. Im Licht einer Torlampe sah ich auf meine Uhr. Erst zehn Uhr. Ob sie wohl in dem Landhaus von Okubo mit Kumagaya allein war? Ich war entschlossen, das jetzt herauszufinden. Ich wollte, ohne daß sie etwas bemerkten, heimlich Beweise sammeln Und dann abwarten, was sie mir alles frech vorlügen würden. Und dann wollte ich sie erbarmungslos in die Enge treiben. Ich beschleunigte meinen Schritt. Nach kurzer Zeit hatte ich das gesuchte Haus gefunden. Ich ging einige Male davor auf und ab und beobachtete das Grundstück. Hinter dem prachtvollen Steintor lag ein üppiger Garten, durch den ein Kiesweg zu einem weiter hinten liegenden Haus führte. Die Schriftzeichen auf dem Namensschild «OkuboLandhaus» verrieten ein hohes Alter, und auch die moosbewachsene Steinmauer, die den geräumigen Garten umgab, ließ vermuten, daß es sich hier nicht um ein einfaches Sommerhaus, sondern um ein stattliches Anwesen aus älterer Zeit handelte. Ich wunderte mich darüber, daß Kumagaya einen Verwandten hatte, dem ein so herrliches Besitztum gehörte. Ich schlich durch das Tor ins Innere des Anwesens und achtete darauf, daß meine Schritte auf dem Kiesweg möglichst unhörbar blieben. Wegen der vielen Bäume war das Hauptgebäude zunächst nicht zu sehen gewesen, und als ich näher kam, fand ich zu meinem Erstaunen den Außen- wie den Innenflur, den ersten Stock und auch die Räume unten in tiefem Dunkel und die Türe verschlossen. Vielleicht liegt das Zimmer von Kumagaya nach hinten heraus, dachte ich und tastete mich vorsichtig um das Haupthaus herum. Tatsächlich entdeckte ich dort 157
einen Raum im ersten Stock und einen Kücheneingang, die beleuchtet waren. Ich sah mit einem Blick, daß es nur Kumagayas Zimmer sein konnte. Am Geländer der Veranda hing nämlich seine flache Mandoline und am Fenster ein weicher Hut. Obgleich die Shoji-Schiebefenster geöffnet waren, hörte ich keinen Laut. Offensichtlich war niemand in diesem Raum. Sie mußten das Haus durch die Küche verlassen haben. Plötzlich entdeckte ich in dem schwachen Lichtschein, der vom Kücheneingang in den Garten fiel, etwa zwei, drei Ken entfernt, ein Gartentor. Es bestand aus zwei großen, alten Holzpfosten. Zwischen ihnen sah ich in einiger Entfernung die schäumenden weißen Wellen, die an den Strand von Yuigahama schlugen. Herber Meeresduft drang zu mir. Sicher sind sie dort, dachte ich und ging durch das Tor auf den Strand zu. Fast im gleichen Augenblick hörte ich, ganz in meiner Nähe, eine Frauenstimme, die unzweifelhaft Naomi gehörte. Ich hatte sie wohl bisher nicht vernommen, weil das Meer zu stark rauschte. «Wartet einen Augenblick! Meine Schuhe sind voller Sand. So kann ich nicht weitergehen! Will mir denn keiner helfen? Ma-chan, zieh mir die Schuhe aus!» «Unsinn! Ich denke nicht dran! Ich bin doch nicht dein Sklave!» «Wenn du so mit mir redest, werde ich nie wieder nett zu dir sein! Danke, Hamada-san, danke! Du bist mir von allen der liebste!» «Das ist ja die Höhe! Du willst uns wohl alle für dumm verkaufen!» schimpfte nun Kumagaya los. «O nein, Hamada-san, bitte nicht! Du kitzelst mich ja an den Sohlen!» 158
«Ich kitzle dich doch gar nicht! Es klebt Sand an deinen Füßen, den muß ich doch wegwischen. Verstehst du?» «Na, dann nimm mal die Gelegenheit wahr und schlecke ihr die Sohlen ab – wie Papa-san!» rief Seki, und ich hörte vier, fünf Männer in lautes Gelächter ausbrechen. An der Stelle, wo ich stand, fielen die Dünen langsam zum Meer hin ab. Unten stand eine kleine Erfrischungsbude mit einem Schilfvorhang. Von dorther kamen die Stimmen. Ich war nicht mehr als fünf Ken davon entfernt. Da ich mich nicht umgezogen hatte, trug ich immer noch den braunen Alpaka-Anzug und ein weißes Hemd. Ich stellte den Rockkragen hoch und machte alle Knöpfe zu, damit das Weiß von Kragen und Hemd mich nicht verriet. Den Strohhut klemmte ich unter den Arm. Vorgebeugt rannte ich in den Schatten hinter der Bude. Da hörte ich Naomi: «So, jetzt ist es aber genug. Wir gehen weiter!» Offenbar gab sie den Ton an, denn ich sah, wie gleich darauf alle aus der Bude hervorkamen. Ohne mich zu bemerken, gingen sie auf den Strand zu. Hamada, Kumagaya, Seki und Nakamura waren mit leichten Yukata-Kimonos bekleidet. Naomi, in ihrer Mitte, trug einen schwarzen Umhang und hochhackige Schuhe an den Füßen. Beides hatte ich weder in Tokio oder in unserem Kamakura-Häuschen je an ihr gesehen. Irgend jemand mußte sie ihr geliehen haben. Der Wind riß den Saum ihres Umhangs immer wieder hoch, und sie suchte ihn von innen mit beiden Händen zuzuhalten. Ich sah, wie sich bei jedem ihrer Schritte ihr wohlgerundetes Hinterteil rhythmisch bewegte. Es sah aus, als sei sie betrunken. Sie schwankte zwischen ihren Begleitern hin und her. 159
Ich hielt den Atem an und blieb reglos stehen, denn sie gingen nur einen halben Cho von mir entfernt vorbei. Erst als ich ihre weißen Yukata kaum noch sehen konnte, folgte ich ihnen. Sie gingen zunächst am Strand entlang, und ich glaubte schon, sie wollten nach Zaimokuza. Doch dann bogen sie nach links ab und überquerten gemächlichen Schrittes die große Düne, die sie von der Straße trennte. Als sie meinen Blicken entschwunden waren, eilte ich, so schnell ich konnte, die Düne hinauf. Nun mußten sie in der dunklen Villenstraße sein. Im Schatten der Bäume dort konnte ich mich gut verstecken. Es bestand keine Gefahr mehr, von ihnen entdeckt zu werden, selbst wenn ich ihnen dicht auf den Fersen blieb. Als ich oben auf der Düne angelangt war, schlug ihr fröhlicher Gesang an mein Ohr. Nur fünf, sechs Schritte von mir entfernt, marschierten sie vor mir her und sangen im Chor: «Just before the battle, mother, I am thinking most of you.» Dieses Lied liebte Naomi über alles. Kumagaya ging an der Spitze und gab mit seinen Händen, als schwenke er einen Dirigentenstab, den Takt an. Naomi schwankte noch immer zwischen ihren Begleitern hin und her. Und auch diese torkelten von einer Seite zur anderen. «Ho-ho-ho-ho …» «Paßt auf! Wenn ihr euch weiter so anrempelt, fällt noch einer in die Hecke!» Naomi lachte schallend. «Laßt uns doch mal ‹Honika-uwa-uiki-uiki› singen.» «Gut! Dann muß die da aber den Hüfttanz von Hawaii dazu tanzen! Wir werden auch alle mitwackeln!» 160
«Honika uwa uiki uiki sweet brown maiden setsudo tômì.» Sie sangen und wackelten dabei mit den Hüften hin und her. «Ho! Seki-san, du wackelst am besten mit dem Hintern!» «Klar, das habe ich ja auch genau studiert!» «Wo denn?» «In der Friedens-Ausstellung im Saal der Zehntausend Nationen. Da haben Eingeborene getanzt, und ich habe sie mir zehn Tage lang angesehen.» «Du bist schon ein verrückter Kerl!» «Ihr hättet ja auch hingehen können! Bei euren Gesichtern hätte man euch allerdings sicher für Eingeborene gehalten.» «He, Ma-chan, wie spät ist es eigentlich?» fragte Hamada, der offenbar nicht getrunken hatte und noch klar bei Verstand war. «Ja, wie spät mag es sein? Hat denn niemand eine Uhr bei sich?» «Ham, ich …» sagte Nakamura und strich ein Streichholz an. «Es ist fünfundzwanzig nach zehn.» «Alles in Ordnung! Papa kommt erst um elf Uhr zurück! Dann laßt uns noch einen Umweg über die Hase-Straße machen. Irgendwie lockt es mich, in diesem Aufzug durch belebte Straßen zu ziehen.» «Eine herrliche Idee!» schrie Seki. «Was mögen sich die Leute wohl denken, wenn sie mich in diesem Aufzug sehen?» «Sie werden dich für die Anführerin halten!» «Dann steht ihr aber alle unter meinem Befehl!» «Wir sind die vier Männer von Shiranami!» 161
«Ich bin der junge Benten!» «Und unsere Anführerin ist Kawai Naomi …» rief Kumagaya pathetisch im Ton eines Filmerklärers. «In dunkler Nacht, einen schwarzen Umhang um den Leib geschlungen …» «Ach, hör doch auf mit deiner Plebejerstimme!» «… führt sie vier Schurken an, vom YuigahamaStrand zum …» «Hör auf, Ma-chan! Wenn du nicht sofort aufhörst …» Ich hörte ein klatschendes Geräusch. Offenbar hatte Naomi Kumagaya geschlagen. «Au! Das tut weh! Ich habe nun mal eine Plebejerstimme. Daß ich kein Naniwabushi-Sänger geworden bin, ist für die Welt ein schwerer Verlust!» «Aber Mary Pickford führt doch keine Schurken an!» «Dann ist sie vielleicht Prishra Dean?» «Ja, natürlich!» «La, la, la …» sang Hamada und begann dazu zu tanzen. Bei einem seiner Schritte wandte er sich ein wenig zur Seite und sah mich. Ich versteckte mich schnell hinter einem Baum, aber da rief er schon: «He! Wer ist denn da? Ist das nicht Kawai-san?» Wie mit einem Schlag verstummten alle. Sie blieben stehen und wandten sich mir zu. Ach, du lieber Himmel! dachte ich. Aber es war nicht mehr zu ändern. «Papa-san! Ist das wirklich Papa-san? Was machst du denn hier? Komm mit uns!» Naomi stand unmittelbar vor mir. In diesem Augenblick öffnete sich ihr Umhang, sie streckte den Arm aus und legte mir die Hand auf die Schulter. Unter dem Umhang war sie splitterfasernackt! «Das ist doch wohl nicht möglich! Du Hure! Eine solche Schande über mich bringen!» 162
«Ho-ho-ho …» lachte Naomi. Aus ihrem Munde schlug mir scharfer Sakedunst entgegen. Ich hatte noch nie erlebt, daß Naomi getrunken hatte …
16 Obgleich Naomi sehr verstockt war, gelang es mir, an jenem Abend und am darauffolgenden Tag wenigstens in groben Zügen aus ihr herauszubekommen, wie sie es eingefädelt hatte, mich in so unglaublicher Weise zu betrügen. Wie ich schon vermutete, hatte sie nur deshalb Kamakura für unseren Urlaub gewählt, um sich hier mit Kumagaya amüsieren zu können. Der Verwandte von Seki und das Landhaus in Ogiyayatsu waren reine Erfindung. Das Haus in Hase gehörte einem Onkel von Kumagaya. Aber es kam noch viel schlimmer. Kumagaya hatte auch die Vermietung des Häuschens vermittelt. Uesô war als Gärtner bei seinem Onkel beschäftigt, und Kumagaya hatte ihn veranlaßt, dem Gast, der bisher darin wohnte, zu kündigen, damit wir einziehen konnten. Das hatten Kumagaya und Naomi vorher abgesprochen. Frau Sugisaki und der Direktor der Ostasiatischen Öl-AG hatten nicht das geringste damit zu tun. Frau Uesô berichtete mir später, Naomi sei, als sie das Haus besichtigte, mit dem ‹jungen Herrn› Kumagaya erschienen und habe durchblicken lassen, daß sie eine Verwandte des ‹jungen Herrn› sei. Deshalb war Frau Uesô auch gar nichts anderes übriggeblieben, als den bisherigen Gast zum Auszug zu bewegen und uns das Häuschen zu überlassen. «Frau Uesô», sagte ich zu ihr. «Ich falle Ihnen vielleicht lästig, aber von all diesen Dingen ahnte ich ja 163
gar nichts. Erzählen Sie mir doch bitte, was Sie sonst noch wissen. Ich werde Sie auf keinen Fall in diese Sache hineinziehen und auch nicht mit Kumagaya-kun darüber sprechen. Ich möchte nur die ganze Wahrheit erfahren.» Am nächsten Tag ging ich zum erstenmal nicht zur Arbeit. Ich blieb in Kamakura und verbot Naomi, auch nur einen einzigen Schritt vors Haus zu setzen. Alles, ihre gesamte Kleidung, ihre Schuhe, ja sogar ihre Geldbörse gab ich Frau Uesô in Verwahrung. «Sagen Sie mir, bitte, ob die beiden sich schon früher hier getroffen haben, wenn ich nicht da war?» «Ja, manchmal kam der junge Herr hierher, und manchmal ist das gnädige Fräulein fortgegangen.» «Wer wohnt denn in dem Landhaus von Okubo?» «Der Besitzer und seine Familie sind dieses Jahr in ihrem Stammhaus geblieben, sie kommen nur selten her. Meist ist der junge Herr allein da.» «Und was ist mit den Freunden von Kumagaya-kun? Waren die auch manchmal hier?» «Ja.» «Hat Kumagaya-kun sie mitgebracht, oder sind sie allein gekommen?» «Ja …» Erst nachträglich fiel mir auf, daß Frau Uesô in diesem Augenblick außerordentlich verlegen geworden war. «… manchmal kamen sie allein, dann und wann mit dem jungen Herrn zusammen, je nachdem …» «Dann sind also außer Kumagaya-kun noch andere allein hierhergekommen?» «Ich glaube, einer von ihnen heißt Hamada. Aber auch sonst waren …» «Sind sie dann ausgegangen?» 164
«O nein. Meist haben sie sich zu Hause unterhalten.» Wenn wirklich intime Beziehungen zwischen Naomi und Kumagaya bestanden, warum hatte er dann seine Freunde mitgebracht? Sie störten doch nur! Und aus welchem Grunde mochten die anderen Naomi besucht haben? Was hatte sie für ein Interesse daran, sich mit ihnen zu unterhalten? Sollten sie andererseits alle hinter Naomi her gewesen sein, dann verstand ich nicht, wieso es nicht zum Streit zwischen ihnen gekommen war. Am Vorabend waren die vier doch höchst vergnügt zusammen gewesen! Wenn ich mir das alles so überlegte, begriff ich gar nichts mehr. Ich begann sogar daran zu zweifeln, ob zwischen Naomi und Kumagaya überhaupt etwas gewesen war. Von Naomi war darüber nichts zu erfahren. Sie betonte nur immer wieder, daß sie sich nichts Böses dabei gedacht habe und daß es ihr Spaß gemacht habe, mit ihren Freunden herumzutoben. Aber warum hatte sie mich dann so hinters Licht geführt? «Aber, Papa-san! Weil du immer so argwöhnisch bist! Du hättest dir nur unnötige Sorgen gemacht.» «Warum habt ihr mir denn vorgeschwindelt, ein Verwandter von Seki habe hier ein Haus? Ihr hättet doch genausogut sagen können, daß es einem Verwandten von Kumagaya gehört.» Da wurde Naomi verlegen. Sie sah zu Boden und schwieg. Dann biß sie sich auf die Lippen und sah mich von unten her an. «Gegen Ma-chan hast du doch das meiste Mißtrauen gehabt», sagte sie schließlich. «Deshalb fand ich es besser, Sekis Namen zu erwähnen.» «Hör endlich auf, ihn ‹Ma-chan› zu nennen! Er heißt Kumagaya!» 165
Ich hatte mir zwar vorgenommen, äußerst geduldig zu sein, aber jetzt explodierte ich doch. Es ekelte mich geradezu an, sie immer «Ma-chan», «Ma-chan» sagen zu hören! «Bestimmt hast du mit Kumagaya intime Beziehungen gehabt!» «Wie kannst du so etwas behaupten! Hast du denn Beweise dafür?» «Ich brauche keine Beweise. Ich habe dich durchschaut!» «Wie soll ich das verstehen?» Naomi reagierte so gelassen, daß es mir unheimlich war. Dann und wann spielte ein leichtes Lächeln um ihre Mundwinkel, das mich empörte. «Und dieser Aufzug gestern abend! Wie willst du den erklären?» «Sie haben mich gegen meinen Willen betrunken gemacht, und dann bin ich in diesem Aufzug herumgelaufen.» «Du willst also behaupten, es sei nichts geschehen?» «Ja!» «Kannst du das beschwören?» «Ja, das schwöre ich!» «Schön, dann vergiß das jedenfalls nicht. Ich glaube dir nämlich kein Wort!» Mehr sprach ich mit ihr nicht darüber. Da ich fürchtete, sie könnte Kumagaya schreiben, nahm ich ihr Briefpapier, Umschläge, Tinte, Bleistift, Füllfederhalter und Briefmarken weg und brachte es ebenfalls zu Frau Uesô. Ich ließ ihr nur ein Nachtgewand aus roter Kreppseide da, damit sie während meiner Abwesenheit nicht das Haus verlassen konnte. Drei Tage später, gab ich vor, wieder ins Geschäft zu müssen, und fuhr nach Tokio. Ich wollte erst einmal 166
unser Haus in Omori aufsuchen, das nun schon einen Monat lang leer stand, um dort nach Beweisen zu suchen. Vielleicht fand ich unter Naomis Sachen irgendwelche Briefe. Gegen zehn Uhr kam ich in Omori an. Ich schloß die Tür auf, durchquerte das Atelier und öffnete die Tür zu Naomis Zimmer. Wie angewurzelt blieb ich stehen und schrie auf. Vor mir lag Hamada! «Oh …» rief er, über und über rot, und sprang auf. Wir starrten uns eine Weile durchdringend an. «Hamada-kun, was machen Sie denn hier?» Hamada bewegte die Lippen. Er wollte offensichtlich etwas sagen, brachte aber kein Wort heraus. Schließlich senkte er den Kopf. «Sagen Sie, Hamada-kun, seit wann sind Sie denn hier?» «Ich bin gerade erst … gerade erst gekommen …» «Aber das Haus war doch abgeschlossen! Wie sind Sie denn hier hereingekommen?» «Durch die hintere Tür.» «Aber die war doch auch abgesperrt!» «Ich hatte den Schlüssel dazu.» Seine Stimme war so leise, daß ich ihn kaum verstand. «Den Schlüssel? Wie kommen Sie zu dem Schlüssel?» «Naomi-san hat ihn mir gegeben. Nun haben Sie ja wohl erraten, warum ich hier bin?» Hamada hob ruhig den Kopf und blickte mir fest ins Gesicht. Ich stand mit offenem Munde da. Hamadas Gesicht wirkte aufrichtig und lauter, wie bei einem wohlerzogenen Sohn aus gutem Hause. «Kawai-san, Sie können sich sicher denken, warum ich heute hier bin. Ich habe Sie betrogen … Ich bin bereit, die Strafe dafür auf mich zu nehmen, und sei sie 167
noch so schwer. Sie werden es mir vielleicht nicht glauben, aber ich hatte schon lange vor, Ihnen alles zu gestehen.» Während er sprach, füllten sich seine Augen mit Tränen. Sein Geständnis kam für mich völlig unerwartet, und so stand ich reglos vor ihm und hörte schweigend zu. Nur meine Augenlider flatterten. Ich war überzeugt, daß Hamada die Wahrheit sprach. Aber nun wurde mir alles noch unverständlicher. «Kawai-san, können Sie mir verzeihen?» «Hamada-kun, ich verstehe kein Wort! Sie sagten eben, Naomi hätte Ihnen ihren Schlüssel gegeben. Wozu denn? Warum sind Sie hier?» «Naomi wollte sich hier mit mir treffen.» «Wie? Naomi wollte Sie hier treffen?» «Ja. Es ist heute nicht das erste Mal. Wir haben uns schon öfter hier getroffen.» Ich erfuhr, daß er und Naomi sich dreimal hier in Omori getroffen hatten, seit wir in Kamakura waren. Wenn ich das Haus verlassen hatte, um in die Firma nach Tokio zu fahren, war Naomi mit dem nächsten oder übernächsten Zug ebenfalls nach Tokio gekommen. Sie war meist gegen zehn Uhr in Omori angekommen und gegen halb zwölf wieder aufgebrochen. Dann war sie mittags um eins schon wieder in Kamakura, deshalb hatte Frau Uesô nichts bemerkt. Auch an diesem Tag hatte sie sich um zehn Uhr mit Hamada hier treffen wollen; deshalb, erklärte er mir, habe er bei meinem Eintreten geglaubt, Naomi käme. Während dieses überraschenden Bekenntnisses blieb ich völlig empfindungslos und war keines Gedankens fähig. Ich stand nur benommen mit offenem Munde da. Damals war ich einunddreißig Jahre alt, Naomi achtzehn. Ein achtzehnjähriges Mädchen hatte mich 168
also betrogen, auf dreiste und wahrhaft gemeine Art betrogen! Daß Naomi so grausam sein konnte, hatte ich mir bis dahin nicht träumen lassen. Ich begreife es selbst heute noch nicht. «Seit wann bestehen denn diese intimen Beziehungen zwischen Ihnen beiden?» Ich brannte vor Ungeduld, die ganze schonungslose Wahrheit zu hören. «Schon ziemlich lange. Sie haben mich damals noch gar nicht gekannt …» «Zum erstenmal habe ich Sie, glaube ich, im Herbst des letzten Jahres gesehen, als ich eines Abends aus dem Geschäft zurückkam. Sie standen im Garten und unterhielten sich mit Naomi.» «Ja, das ist fast ein Jahr her.» «Und von da an …» «Nein, schon vorher. Seit März vorigen Jahres nehme ich bei Frau Sugisaki Klavierstunde; dort habe ich Naomi-san kennengelernt. Und nach etwa drei Monaten …» «Wo haben Sie sich denn mit ihr getroffen?» «Hier in diesem Haus. Naomi sagte, sie habe vormittags keinen Unterricht und fühle sich dann oft sehr allein. Ich möchte sie doch einmal besuchen. Anfangs habe ich das auch in aller Harmlosigkeit getan.» «Also Naomi hat Sie aufgefordert, hierherzukommen?» «Ja. Außerdem hatte ich keine rechte Vorstellung, wie Sie beide zueinander standen. Naomi hatte mir erzählt, sie stamme vom Lande und wohne im Hause eines Verwandten, eines Cousins. Daß es sich anders verhielt, habe ich erst gemerkt, als Sie beide zusammen zum Tanzen ins Eldorado kamen. Aber da konnte ich schon nicht mehr los von ihr …» 169
«Daß Naomi in diesem Sommer unbedingt nach Kamakura wollte, hing das auch mit Ihnen zusammen?» «Nein, nicht mit mir. Kumagaya hat Naomi-san zugeredet, nach Kamakura zu gehen.» Plötzlich wurde Hamadas Stimme fester: «Naomi-san hat nicht nur Sie betrogen, Kawai-san. Auch mich hat sie hintergangen.» «Dann hat Naomi also auch mit Kumagaya ein Verhältnis?» «Ja. Im Augenblick ist Kumagaya ihr Favorit. Ich habe schon seit langem gespürt, daß sie verliebt in ihn war. Aber ich hätte mir nie träumen lassen, daß sie zur gleichen Zeit mit mir und mit ihm intim ist. Sie hat immer wieder behauptet, sie sei nun einmal gern mit jungen Männern zusammen und tobe in aller Unschuld herum. Darüber hinaus passiere nichts. Und das habe ich ihr auch geglaubt.» Mir entfuhr ein Seufzer. «Ja, das hat sie mir auch gesagt», murmelte ich. «Und auch ich habe es ihr geglaubt. Sagen Sie, Hamada, wann haben Sie entdeckt, daß Naomi mit Kumagaya ein Verhältnis hatte?» «Im Herbst, als wir alle hier in einem Zimmer schliefen. Da ist es mir plötzlich klargeworden. Ich habe mit Ihnen, Kawai-san, damals wirklich tiefes Mitleid empfunden. Die beiden benahmen sich schamlos – und da wurde mir klar, wie es zwischen ihnen stand. Je eifersüchtiger ich wurde, desto mehr empfand ich mit Ihnen …» «Wie sind Sie denn dahintergekommen?» «An jenem Morgen, Kawai-san, als Sie noch schliefen, war ich schon wach und habe gesehen, wie die beiden sich küßten.» «Weiß Naomi das?» 170
«Ja. Ich habe später mit ihr darüber gesprochen und verlangt, daß sie mit Kumagaya bricht. Mir paßte es nicht, ihr Spielzeug zu sein. Wenn ich sie schon nicht heiraten konnte …» «Heiraten?» «Ja. Ich hatte schon lange die Absicht, offen mit Ihnen über unsere Liebe zu sprechen. Ich wollte Naomi unbedingt heiraten. Sie sagte mir, Sie hätten bestimmt Verständnis, wenn ich mich Ihnen offenbarte. Ich wußte und weiß ja auch heute noch nicht, wie die Dinge sich in Wahrheit verhalten. Naomi hat immer behauptet, Sie hätten sie zu sich genommen, um sie etwas lernen zu lassen. Nun lebten Sie zwar zusammen, Sie hätten aber keineswegs die Absicht, sie zu heiraten. Der Altersunterschied zwischen ihr und Ihnen sei auch zu groß.» «Das … hat Naomi gesagt?» «Ja. Sie hat mir immer wieder versprochen, bald mit Ihnen über uns zu reden. Aber dann hat sie es doch immer wieder hinausgeschoben und mich gebeten, noch zu warten. Sie hatte mir auch versprochen, sich von Kumagaya zu trennen, aber auch das tat sie nicht. Sie hat von Anfang an gar nicht vorgehabt, mich zu heiraten.» «Hat sie auch Kumagaya versprochen, ihn zu heiraten?» «Das weiß ich nicht; und ich kann es mir eigentlich auch nicht recht vorstellen. Naomi-san wird eines Mannes schnell überdrüssig, und Kumagaya hat wahrscheinlich gar keine ernsten Absichten.» Seltsamerweise fühlte ich keinerlei Haß gegen Hamada. Als ich ihm so zuhörte, empfand ich eher Mitleid mit ihm, wie man es mit einem Menschen empfindet, der unter der gleichen Krankheit leidet wie man 171
selbst. Um so mehr haßte ich dafür Kumagaya. Er war unser gemeinsamer Feind. «Hamada-kun, hier können wir uns nicht richtig aussprechen. Lassen Sie uns irgendwohin essen gehen. Es gibt noch so viel, was ich unbedingt von Ihnen wissen möchte.» Da man in einem Restaurant europäischer Art nicht so ungestört ist, führte ich ihn zum Gasthaus Matsuasa am Strand von Omori. «Kawai-san, gehen Sie heute nicht ins Geschäft?» fragte Hamada, nun nicht mehr so erregt, sondern fast vertraulich und so, als fühle er sich von einer schweren Last befreit. «Nein. Ich war auch gestern nicht dort. Zwar hätte ich im Augenblick dort furchtbar viel zu tun, aber seit vorgestern bin ich so verwirrt, daß ich zu nichts imstande bin …» «Weiß Naomi-san, daß Sie heute nach Omori gefahren sind?» fragte er mich gespannt. «Gestern bin ich in Kamakura geblieben. Ich habe ihr gesagt, ich führe ins Geschäft. Mag sein, daß sie es nicht recht glaubte, aber sie wird ja kaum auf den Gedanken kommen, daß ich nach Omori gekommen bin. Unterwegs kam mir plötzlich der Gedanke, daß ich hier vielleicht Liebesbriefe in ihren Sachen finden könnte. Deshalb bin ich hierhergekommen.» «Ach so! Und ich glaubte schon, Sie seien herausgekommen, um mich zu ertappen. Ob Naomi-san denn kommt?» «Damit rechnen Sie mal nicht mehr. Ich habe ihr alle Kleidungsstücke und auch ihr Geld weggenommen, damit sie das Haus nicht verlassen kann, während ich weg bin. In diesem Aufzug kann sie nicht einmal die Tür öffnen.» 172
«In was für einem Aufzug?» «Sie kennen doch sicher ihr kirschblütenfarbenes Nachtgewand aus Kreppseide?» «Ach, das!» «Ja! Und nur das habe ich ihr gelassen – und nicht einmal den Gürtel dazu. Sie kann also unmöglich aus dem Haus.» «Nicht auszudenken, was wohl passiert wäre, wenn Naomi hier aufgetaucht wäre.» «Eine Frage noch, Hamada-kun: Wann hat sich Naomi eigentlich für heute mit Ihnen verabredet?» «An dem Abend, als Sie uns alle trafen. Ich war böse auf Naomi gewesen, und um mich wieder zu versöhnen, hat sie mir versprochen, sich heute mit mir in Omori zu treffen. Ich habe selbst schuld an dem Ganzen. Ich hätte längst mit Kumagaya brechen müssen, aber dazu bin ich zu feige und zu träge. Ich bin eben ein Idiot!» Mir war, als sei von mir die Rede.
17 Hamada hatte mit großer Aufrichtigkeit gesprochen, und in seinen Augen schimmerten immer noch Tränen. Ich merkte, daß er Naomi ernsthaft liebte. Daran ließ die ergreifende Leidenschaft, die aus seinem Gesicht strahlte, keinen Zweifel. «Aber, Kawai-san! Ich bitte Sie: Verstoßen Sie Naomi nicht!» schloß er endlich. «Sonst gerät sie bestimmt ganz unter die Räder!». Wenn wir nicht so unterschiedlichen Altersstufen und gesellschaftlichen Stellungen angehört hätten und wenn ich von Anfang an ein besseres Verhältnis zu 173
ihm gehabt hätte, wäre ich in diesem Augenblick fähig gewesen, Hamadas Hand zu ergreifen und ihn mit Tränen in den Augen zu umarmen. «Hamada-kun, kommen Sie doch in Zukunft auch weiterhin zu uns. Ich würde mich darüber freuen», lud ich ihn ein, als wir uns trennten. «Danke, Kawai-san. Aber einige Zeit werde ich lieber doch nicht kommen», erwiderte er ein wenig zögernd und senkte den Blick, als wolle er nicht, daß ich ihm in die Augen sehe. Ich begab mich in die Firma; aber natürlich ging mir die Arbeit nicht von der Hand. Was mochte Naomi gerade treiben? Schließlich hielt ich es nicht länger aus, verließ eilends die Firma und kehrte in großer Hast nach Kamakura zurück. «Ich bin schon da!» rief ich Frau Uesô von der Pforte aus zu, wobei ich sie forschend ansah. Dann fragte ich: «Ist sie da?» «Ja, ich glaube.» «Ist jemand zu Besuch gekommen?» «Nein, niemand.» «Und wie sieht es da aus?» Erst jetzt sah ich, daß die Shoji des Zimmers, in dem Naomi sich aufhalten mußte, zugeschoben waren. Hinter dem Glas war es dunkel, und alles wirkte so still, als sei das Haus ausgestorben. Nun beschlich mich ein beunruhigendes Gefühl. Leise stieg ich zur Veranda hinauf, öffnete die Shojitüren und betrat das Häuschen. Es war kurz nach sechs Uhr abends. In einer Ecke des nur spärlich beleuchteten Raumes lag Naomi und schlummerte tief. Die Moskitos hatten sie völlig zerstochen. Sie schien sich ständig im Schlaf herumgewälzt zu haben, denn ihr Gewand war völlig verrutscht. Ich legte ihr ein Tuch über die 174
Hüften. Ihre schneeweißen Arme und Beine waren von den vielen Stichen geschwollen. Ganz gegen meinen Willen erregte mich dieser Anblick aufs höchste. Ich machte schweigend Licht, legte schnell japanische Kleider an und knarrte dabei absichtlich mit der Tür des Wandschranks. Aber ihr Atem blieb unverändert ruhig, und ich wußte nicht, ob sie mich gehört hatte. Eine halbe Stunde lang saß ich am Tisch und tat, als schriebe ich einen Brief. Schließlich war meine Geduld erschöpft, und ich rief: «Du, willst du nicht aufstehen? Es ist doch nicht Nacht! Du sollst aufstehen!» «Hm …» brummte sie nur und rührte sich nicht. «Was ist los? He, du!» Ich erhob mich und bohrte meine Fußspitze unsanft in ihre Hüfte. Sie rief «Au», reckte sich, wobei sie nur mühsam ein lautes Gähnen unterdrückte, und richtete sich langsam auf. Verstohlen blickte sie mich an, wandte sich dann aber schnell wieder ab, um sich ihre zerstochenen Füße, Beine und den Rücken zu kratzen. Ihre Augen waren – vielleicht vom Schlaf, vielleicht aber auch, weil sie geweint hatte – gerötet. Die Haare hingen ihr wirr auf die Schultern herab. Sie sah aus wie ein Gespenst. Ich ging ins Haupthaus, holte das Bündel mit ihren Sachen und warf es ihr hin. «Los, zieh dich an!» sagte ich. Stumm zog sie sich an. Auch beim Abendessen fiel zwischen uns kein Wort. Ich überlegte, wie ich sie dazu bringen konnte, mir alles zu beichten, aber ich mußte geschickt vorgehen, damit sie sich nicht in Starrsinn verrannte, andererseits aber merkte, daß ich es diesmal ernst meinte. Sie war nicht die Frau, die ohne weiteres zerknirscht zugeben würde, unerlaubte Beziehungen zu Kumagaya und zu 175
Hamada gehabt zu haben. Sie würde vielmehr bis zum Schluß alles leugnen. Wenn ich dann die Geduld verlor und in Wut geriet, war alles zu Ende. Ich begann also: «Als ich heute morgen um zehn nach Omori kam, traf ich Hamada im Haus.» «Hm.» Ihre Augen weiteten sich, sie reckte die Nase hoch, wich aber ängstlich meinem Blick aus. «Wir sind zusammen zum Essen ins Matsu-asa gegangen …» Naomi schwieg und blickte stumm zu Boden, schien mir aber doch ein wenig bleich geworden zu sein. «Hamada hat mir alles erzählt. Ich brauche dir keine weiteren Fragen zu stellen. Du brauchst mir nur zu sagen, daß es dir leid tut. Dann mache ich dir keine weiteren Vorwürfe. Versprich mir, daß so etwas in Zukunft nie wieder vorkommt. Hast du mich verstanden?» Ich war erleichtert, daß sie nickte und «Hm» murmelte. «Also gut. Du wirst Kumagaya nicht mehr sehen.» «Hm.» «Versprichst du mir das?» «Hm.» Mit diesem «Hm» ließen wir die Sache auf sich beruhen, ohne daß einer von uns sein Gesicht verloren hätte.
18 Als wir abends in unseren Futons lagen, unterhielten wir uns, als sei nichts geschehen. Aber im Grunde meines Herzens war ich doch sehr unglücklich. Ich verabscheute nicht etwa Naomi, sondern das, was ge176
schehen war. Mein kostbarster, heiligster Besitz – ihre Haut – war von widerlichen Räubern berührt und auf ewig verdorben worden. «Joji-san, bitte, verzeih mir doch!» flüsterte Naomi plötzlich, als sie sah, wie ich stumm in mich hineinweinte. Aber ich konnte nicht aufhören zu weinen und nickte nur. Doch die Bitterkeit und Trauer in meinem Herzen wurden dadurch nicht geringer. So hatte unser Sommer in Kamakura ein schreckliches Ende gefunden, und wir kehrten in das Omori-Haus zurück. Wir hatten uns zwar oberflächlich versöhnt, doch ich hatte ihr nicht wirklich verziehen und blieb weiterhin mißtrauisch. An manchem Morgen tat ich nur so, als ginge ich ins Geschäft, und folgte ihr heimlich, wenn sie zum Englisch- oder Klavier-Unterricht ging. Manchmal las ich in ihrer Abwesenheit sogar die Briefe, die für sie kamen, benahm mich also wie ein Detektiv. Naomi mußte das insgeheim bemerkt haben, denn sie wurde von Tag zu Tag feindseliger. «Naomi!» sagte ich eines Tages zu ihr und schüttelte sie, als sie mit abweisendem Gesicht neben mir lag. Ich nannte sie seit langer Zeit nur noch Naomi, nie mehr Naomi-chan. «Du haßt mich wohl?» Sie hob resigniert ein wenig die Augenlider, aber der Blick, den sie mir aus dem Schatten der Wimpern flüchtig zuwarf, war eiskalt. «Du kannst mich nicht mehr leiden. Sag es doch offen!» «Wie kommst du darauf?» «Ich merke es an deinem Verhalten. Sind wir eigentlich überhaupt noch verheiratet?» «Du willst eine Ehe mit mir führen, ohne mir zu vertrauen, ohne mir die Freiheit und die Rechte einer 177
Ehefrau zuzugestehen. Das geht nicht! Du liest heimlich meine Briefe und verfolgst mich wie ein Detektiv!» «Ja, gewiß. Das ist nicht recht. Aber meine Nerven sind eben wegen dieser Geschichte überempfindlich geworden.» «Aber du hast mir doch versprochen, nicht mehr über die Sache zu reden?» «Wenn du von nun an offen und ehrlich zu mir bist, werde ich mich schon wieder beruhigen.» «Dann mußt du mir erst wieder vertrauen.» «Also gut, ich will es versuchen.» Hier muß ich bekennen, wie wankelmütig und schwach Männerherzen sind. Sobald die Nacht anbrach, unterlag ich immer wieder kläglich. Aber hier war nichts mehr von reiner Hingabe der Liebenden zu spüren, nichts von ehelicher Liebe. Ich hing allein deshalb an dieser lasterhaften jungen Frau, weil mich die Reize ihres Körpers immer wieder aufs neue bezwangen. Darin lag unser beider Verderben. Ich hatte allen Stolz von mir geworfen und mich schamlos vor einer Dirne erniedrigt, ja sah geradezu zu ihr auf wie zu einer Göttin. Naomi, die meine Schwachheit durchschaute, fing an, mich zu unterjochen, sobald die Nacht einbrach. Sie schien zu denken: Diesem Mann da verkaufe ich nur die Frau in mir – darüber hinaus interessiert er mich nicht mehr. Er bekommt, was er von mir haben will, und damit soll er zufrieden sein. Aber dieser Zustand konnte nicht ewig währen. Eines Tages mußte es zur Explosion kommen. Einmal sagte ich in sanfterem Ton als gewöhnlich zu ihr: «Naomi, ich kann das alles nicht mehr länger ertragen …» 178
«Was hast du mir vorzuschlagen?» «Wollen wir nicht versuchen, wieder eine richtige Ehe zu führen? Ich wüßte vielleicht ein Mittel, wie wir wieder glücklich werden könnten.» «Was für ein Mittel?» «Willst du nicht ein Kind haben? Dann wären wir ein richtiges Ehepaar.» «Ein Kind? Auf keinen Fall!» rief sie schroff. «Du hast doch selbst immer gesagt, ich sollte kein Kind haben, sollte immer ein junges Mädchen bleiben!» «Sicher, früher habe ich so gedacht.» «Dann hast du dich also verändert und liebst mich heute nicht mehr so wie früher.» «Ich habe dich bisher wie eine Freundin geliebt und will dich von jetzt an wie eine Ehefrau lieben.» «Und dann, glaubst du, werden wir wieder glücklich wie früher?» «Vielleicht nicht wie früher, aber doch wirklich glücklich.» «Ich möchte aber so glücklich sein wie früher. Wenn das nicht geht, will ich überhaupt nichts. Ich bin damals nur zu dir gekommen, weil du mir all das versprochen hattest! Laß mich in Frieden!»
19 Naomi wollte also auf keinen Fall ein Kind haben. Aber vielleicht gab es einen anderen Weg, der uns wieder zusammenführen konnte. Ich war damals auf den exaltierten Gedanken verfallen, in diesem MalerAtelier mit ihr zu leben, und sicher lag es auch an diesem Haus, daß es so weit mit uns gekommen war. Wenn ein junges Ehepaar in einem solchen Haus ganz 179
allein wohnte, ohne Dienstmädchen, tun und lassen konnte, was es wollte, dann war es nur zu verständlich, daß Eigensinn und Launen sich einnisteten und man verschlampte. Ich hatte daher vor, ein Dienstmädchen und eine Köchin einzustellen und in ein normales, bürgerliches Haus japanischen Stils zu ziehen. Ich wollte unsere europäischen Möbel verkaufen und dafür japanische anschaffen; außerdem wollte ich Naomi ein Klavier kaufen, damit Frau Sugisaki sie bei uns zu Hause unterrichten konnte. Auch Miss Harrison wollte ich bitten, die Englischstunden im Haus zu geben. Dazu war allerdings eine größere Summe Geldes nötig, aber das hoffte ich von meiner Mutter ohne weiteres zu erhalten. Vorerst wollte ich Naomi jedoch nichts davon sagen. Meine Mutter schickte mir sofort einen Scheck über 1500 Yen. Da ich sie auch wegen des Dienstmädchens um Rat gebeten hatte, empfahl sie mir ein fünfzehnjähriges Mädchen, die Tochter von Sentaro, der schon lange bei unserer Familie arbeitete. Nach einer Köchin wolle sie sich noch umhören, schrieb meine Mutter. Eines Nachts – es waren einige Tage vergangen, seit der Brief meiner Mutter angekommen war – sagte Naomi plötzlich mit einschmeichelnder, sanfter Stimme: «Du, Joji-san, ich möchte so gern ein neues europäisches Kleid haben. Darf ich mir eines machen?» Ich war einen Augenblick betroffen und dachte: Offenbar hat sie herausgebracht, daß ich einen Scheck bekommen habe. «Bitte! Bitte, ich möchte so gern ein Kleid haben! Ich wäre auch mit einem japanischen zufrieden. Ich brauche es für den Winter.» «Du hast doch genug anzuziehen. Das wäre Verschwendung!» 180
«Wofür willst du denn dann das Geld ausgeben?» Aha, dachte ich, jetzt ist es soweit, tat aber, als hätte ich nichts begriffen, und fragte: «Geld? Was denn für Geld?» «Ich habe den eingeschriebenen Brief gelesen, Jojisan, der unter dem Bücherbord lag. Du liest ja auch die Briefe anderer Leute.» Damit hatte ich nicht gerechnet. Sie wußte also von meinem Plan. «Wenn du so viel Geld hast, kann ich dich doch wohl um ein einfaches Kleid bitten. Weißt du noch, was du früher einmal gesagt hast? Für mich würdest du auch in einem noch so engen Haus wohnen und jede Armut willig auf dich nehmen! Hast du das vergessen? Wie hast du dich doch verändert!» «In meinem Herzen hat sich nichts verändert. Ich liebe dich wie bisher. Nur in anderer Weise.» «Warum hast du mir dann verheimlicht, daß du umziehen willst, statt alles, wie früher, mit mir zu besprechen?» «Sobald ich ein passendes Haus gefunden hätte, wollte ich es dir ja sagen.» Ich versuchte, ihr die Dinge in aller Ruhe zu erklären. «Naomi! Meine Gefühle für dich haben sich wirklich nicht verändert. Ich möchte, daß du ein behaglicheres Leben führst und dich nicht nur hübsch machst, sondern auch in einem schönen Haus wohnst. Wie wäre es, wenn wir morgen zusammen auf die Suche gingen?» «Dann möchte ich aber in ein europäisches Haus! Auf gar keinen Fall in ein japanisches!» Während ich noch zögerte, weil ich nicht wußte, was ich darauf antworten sollte, sagte Naomi scharf: 181
«Wegen der Mädchen werde ich meine Familie in Asakusa fragen! Diese Provinzmädchen aus den Bergen kommen überhaupt nicht in Frage! Das kannst du deiner Mutter schreiben! Schließlich habe ja ich mit ihnen zu tun!» Wir stritten uns immer häufiger, und die Stimmung im Haus war bedrückend. Aber die ‹Explosion› erfolgte erst Anfang November. Ich hatte plötzlich den unwiderlegbaren Beweis, daß Naomi ihre Beziehungen zu Kumagaya doch nicht abgebrochen hatte. Eines Morgens war es mir verdächtig erschienen, daß Naomi sich besonders sorgfältig schminkte. Deshalb hatte ich das Haus nur zum Schein verlassen und mich im Garten versteckt. Um neun Uhr trat Naomi aufs schickste zurechtgemacht aus der Tür. Ich wußte aber, daß sie an diesem Tage keinen Unterricht hatte. Sie ging auch nicht zur Haltestelle, sondern in entgegengesetzter Richtung davon. Ich sprang ins Haus, warf Hut und Mantel ab und rannte hinter Naomi her. Ich sah sie gerade noch im Hotel Akebono verschwinden, und zehn Minuten später erschien Kumagaya. Fast eineinhalb Stunden lang schlich ich ruhelos in der Nähe des Hotels umher. Gegen elf Uhr erschien Naomi; von Kumagaya war nichts zu sehen. Ohne einen Blick um sich zu werfen, ging sie nach Hause. Ich folgte ihr und betrat kurz nach ihr das Haus. Sie stand vor den Sachen, die ich vorhin eilig zu Boden geworfen hatte. Daran hatte sie offenbar erkannt, daß sie entdeckt war. Ihr Gesicht war bleich. Sie sah so aus, als gebe sie sich geschlagen. «Verschwinde!» Ich schrie dieses Wort so laut, daß es mich in den Ohren schmerzte. Sonst sagte ich nichts. Auch Naomi 182
schwieg. Herausfordernd, gleichsam mit gezückten Schwertern, starrten wir uns an wie Kämpfer, die eine Schwäche beim Gegner suchen. Gerade in diesem Augenblick erschien mir Naomis Gesicht unsagbar schön. Ich hatte schon davon gehört, daß Frauen um so schöner werden sollten, je leidenschaftlicher ein Mann sie haßte. In diesem Moment konnte ich Don José verstehen, der Carmen vor allem deshalb tötete, weil auch sie immer schöner wurde, je mehr er sie haßte. «Verschwinde!» rief ich noch einmal und packte, plötzlich von meinem Haß und ihrer Schönheit aufgepeitscht, in rasender Wut ihre Schultern. Ich stieß sie zur Tür und schrie auf sie ein: «Verschwinde! Los! Sofort! Verschwinde!» Ihr Ausdruck hatte sich mit einem Schlag verändert. Ihre Augen waren bis an den Rand mit Tränen gefüllt. «Joji-san, verzeih mir noch einmal! Verzeih mir! Verzeih mir!» Ich schlug mit beiden Fäusten auf sie ein. «Du Bestie! Du Hündin! Du hast hier nichts mehr zu suchen! Ich habe gesagt, du sollst verschwinden! Geh endlich!» Da schien sie begriffen zu haben, daß sie endgültig verspielt hatte. Wieder änderte sich ihre Haltung; sie straffte sich und sagte in beiläufigem Ton: «Gut, also ich gehe.» «Verschwinde auf der Stelle!» «Ja. Aber ich darf mich doch wohl noch umziehen?» «Mach, was du willst! Aber schnell!» antwortete ich schroff, weil ich fürchtete, ihr erneut zu erliegen. Naomi ging in den ersten Stock hinauf, und ich hörte sie eine Zeitlang oben herumhantieren. Sie packte ihre Körbe und wickelte in Tücher ein, was sie schleppen konnte. Dann rief sie einen Rikschawagen. 183
20 Als Naomi abfuhr, nahm ich unwillkürlich meine Uhr heraus. Es war ein Uhr sechsunddreißig Minuten! Man sagt, daß Menschen, die bei einem Sterbenden sitzen, nach der Uhr sehen, sobald der Kranke den letzten Atemzug getan hat. In einem bestimmten Jahr der Ära Taisho, an einem bestimmten Tag im November mittags um ein Uhr sechsunddreißig Minuten war Naomi aus meinem Leben geschieden. Völlig erschöpft sank ich in einen Stuhl. Endlich ist es vorbei, jubelte es in mir. Aber dieses Gefühl währte nicht lange. Es war noch keine Stunde vergangen, da tauchte ihr Gesicht wieder vor mir auf, dieses aufreizende Dirnengesicht. So sehr ich mich darum bemühte, ich vermochte nicht, es auszulöschen, und allmählich verwandelte es sich vor meinen Augen wieder in jene unergründliche Schönheit, die mich vorhin so betroffen gemacht hatte. Jetzt konnte ich es gar nicht mehr begreifen, daß ich nicht augenblicklich zu ihren Füßen niedergekniet war. Woher hatte ich nur den Mut genommen, die Hand gegen diese furchteinflößende Göttin zu erheben. Du bist ein Narr! schoß es mir durch den Kopf. Glaubst du im Ernst, du fändest ein solches Gesicht, eine solche Schönheit noch ein zweites Mal auf der Welt? Hatte ich Naomi gerade noch als Last empfunden und ihre Existenz verflucht, so verfluchte ich mich jetzt selber. Verwirrt bemerkte ich, daß ich mich schon wieder nach dem Wesen sehnte, das mir eben noch so hassenswert erschienen war. Ich sprang von meinem Stuhl auf und lief verzweifelt hin und her. Bilder aus den Jahren unseres Zusammen184
lebens standen mir vor Augen. Ich malte mir aus, wie es wäre, wenn sie wieder zu mir käme, wie früher auf meinem Rücken ritte. Es blieb nicht bei der bloßen Phantasie: vor lauter Sehnsucht nach Naomi kroch ich auf allen vieren im Zimmer umher, als säße sie tatsächlich auf mir. Und dann – ich schäme mich, dies hier niederzuschreiben – ging ich in den ersten Stock hinauf, nahm einige ihrer angeschmutzten Kleider und vergrub meinen Kopf in ihnen. Der Leser wird sich meines Tagebuchs erinnern mit der Aufschrift: «Die Entwicklung Naomis», das ich früher einmal angelegt hatte. Nun fiel mir plötzlich ein, daß ich auch Fotos von ihr hineingeklebt hatte. Ich kramte das schon reichlich verstaubte Heft aus der Bücherkiste hervor und blätterte es Seite für Seite durch. Da diese Fotos keinesfalls anderen zu Gesicht kommen sollten, hatte ich sie selber entwickelt und abgezogen. Aber offenbar hatte ich sie nicht genügend fixiert, denn da und dort zeigten sie Flecken wie Sommersprossen, und einige waren unscharf geworden. Ich betrachtete sie, und mir war, als träumte ich einen Traum, der zehn oder zwanzig Jahre zurücklag. Auf einigen dieser Fotos trug sie ihre Lieblingskleider – das Luxuriöse, das Exzentrische, ja das Groteske ihrer Aufmachung, all das hatte ich getreulich fotografiert. Hier war sie in ihrem Samtanzug zu sehen. Hier hatte sie sich wie eine griechische Statue mit einem Tuch drapiert. Auf einem anderen Foto trug sie einen Haori aus Satin; auch der Kimono mit dem ziemlich hoch gebundenen schmalen Obi war aus Satin. Auf allen Fotos sah ihr Gesicht verschieden aus. Hier lächelte sie wie Mary Pickford, dort hatte sie den verhangenen Blick von Gloria Swanson, da die Dämonie der Pola Negri. 185
Ich blätterte wie fasziniert im Tagebuch weiter, vertiefte mich in Einzelheiten, ihre Nase, ihre Augen, ihre Lippen, ihre, Hände, in die Rundungen ihrer Arme und Schultern, ihres Rückens, der Beine und Füße, der Ellbogen und Knie. Ihr Körper war ein Kunstwerk, in meinen Augen schien er sogar noch vollkommener als die Buddha-Statuen der Nara-Zeit. Ich geriet geradezu in eine Art religiöse Ekstase. Draußen ging schon die Sonne unter. Es wurde kühl. Ich wanderte in dem langsam dunkler werdenden Haus umher. Schließlich kauerte ich mich auf den Boden des stillen Ateliers und stammelte ihren Namen. Wo war sie? Ich mußte sie zurückholen! Ich war bereit, bedingungslos vor ihr zu kapitulieren. Ich verbrachte die Nacht schlaflos. Bis sechs Uhr morgens wartete ich, dann hielt ich es nicht mehr länger aus, rannte aus dem Haus und begab mich eilends nach Asakusa. Als ich Naomis Elternhaus betrat, war es ungefähr sieben Uhr. Da ich mich schämte, öffnete ich die Hintertür nur ganz leise und rief in den Flur: «Hallo! Ich komme aus Omori. Ist Naomi hier?» «Ach, Sie sind es, Kawai-san?» rief Naomis Schwester, die meine Stimme sofort erkannte. «Naomi-chan? Nein, die ist nicht hier», sagte sie dann.
21 Zuerst hatte ich den Verdacht, daß die Schwester mit Naomi im Bunde war und sie vor mir verbergen wollte. Doch nach einigem Hin und Her erkannte ich, daß sich Naomi tatsächlich nicht im Hause befand. 186
«Das ist wirklich merkwürdig. Sie hat eine Menge Gepäck mitgenommen. Wo kann sie denn sonst damit hingegangen sein …» «Wie? Gepäck?» «Ja. Sie hat einige Körbe und Furoshiki mitgenommen. Wir hatten uns gestern, offen gestanden wegen einer Nichtigkeit, gestritten …» «Da ist sie weggegangen und hat gesagt, sie will hierher?» «Nein, das hat sie nicht ausdrücklich gesagt.» «So? Aha. Aber bei uns ist sie nicht. Vielleicht kommt sie ja noch.» «Unsinn! Hierher kommt sie bestimmt nicht», mischte sich Naomis Bruder ins Gespräch. «Suchen Sie lieber woanders. Bei uns hat sie sich schon seit zwei Monaten nicht mehr blicken lassen.» Plötzlich durchzuckte mich der Gedanke, daß sie zu Kumagaya gegangen war. Deshalb hatte sie auch einige Kleider mitnehmen wollen. Ja, so mußte es sein. Vielleicht hatten die beiden das schon früher für einen solchen Fall verabredet. Aber ich wußte ja nicht einmal, wo Kumagaya wohnte, und selbst, wenn ich das in Erfahrung brachte, half es auch nicht viel, denn es war ja nicht anzunehmen, daß Naomi im Hause seiner Eltern Unterschlupf gefunden hatte. Er selber war zwar ein etwas verkommener Bursche, aber seine Eltern waren hochangesehene Leute. ‹Wer in Not geraten ist, lernt wieder beten!› So sagt man. Ich ging in einen Kannon-Tempel und betete heißen Herzens: «Laß mich so schnell wie möglich herausfinden, wo Naomi steckt! Laß sie zu mir zurückkehren!» Ich weiß nicht mehr, wo ich sonst noch überall herumgeirrt bin. Ich muß in einigen Bars gewesen sein und mich sinnlos betrunken haben. Obwohl 187
ich betrunken war, konnte ich an nichts anderes als an Naomi denken. Sollte ich einen Privatdetektiv auf ihre Spur setzen? Da kam mir plötzlich eine glänzende Idee: Hamada! Ihn hatte ich ganz vergessen; er würde mir sicher helfen. Damals bei dem Essen im Matsu-asa hatte er mir seine Adresse gegeben. Ich könnte ihm also schreiben. Oder telegrafieren. Ein Brief dauerte so lange. Aber ein Telegramm wirkte vielleicht zu gewichtig. Vielleicht war er telefonisch zu erreichen. Ich würde ihn anrufen und bitten, zu mir zu kommen. Aber das war eigentlich auch unsinnig. Ich würde ihn lieber gleich selber bitten, nach Naomis Aufenthalt zu forschen. Am Morgen des nächsten Tages stand ich um sieben Uhr auf, rannte zum nächsten Telefonautomaten und fand zum Glück die Nummer seiner Eltern. «Sie wollen den jungen Herrn sprechen? Er schläft leider noch …» sagte mir das Dienstmädchen. «Es tut mir wirklich sehr leid, aber es handelt sich um etwas sehr Dringendes.» Nach einiger Zeit meldete sich tatsächlich mit verschlafener Stimme Hamada am Apparat: «Ach, Sie sind es, Kawai-san?» «Ja, ich bin es. Verzeihen Sie, daß ich Sie so früh am Morgen belästige … Naomi ist nämlich weggelaufen!» Kaum hatte ich das ausgesprochen, brach ich in Schluchzen aus. Es war ein außerordentlich kalter Morgen, fast winterlich, und da ich nur einen Dotera über meinen Schlafanzug geworfen hatte, zitterte ich vor Kälte und konnte kaum den Hörer halten. «Also doch!» erwiderte Hamada erstaunlich ruhig. «Sie wußten es schon?» «Ich habe sie gestern abend getroffen.» 188
«Wie? Sie haben Naomi gestern abend gesehen?» «Ich traf sie, als ich gestern abend ins Eldorado zum Tanzen ging. Mir fiel auf, daß sie sich ganz anders benahm als sonst. Daher ahnte ich so etwas …» «Mit wem war sie denn dort? Mit Kumagaya?» «Nicht nur mit ihm. Es waren fünf, sechs Männer in ihrer Begleitung, auch ein Ausländer.» «Ein Ausländer?» «Ja. Und Naomi-san trug ein phantastisches Kleid.» «Aber sie hat doch gar kein Abendkleid mitgenommen.» «Nun, jedenfalls hatte sie ein tolles Abendkleid an.» In meinem Kopf drehte sich alles. «Hallo! Hallo! Was ist denn? Kawai-san? Hallo! Hallo!» rief Hamada. «Hallo! Hallo!» «Ja …» brachte ich schließlich hervor. «Kawai-san?» «Ja.» «Was ist denn mit Ihnen?» «Was soll ich denn bloß tun?» «Aber darüber können Sie doch jetzt nicht nachdenken, während Sie mit mir telefonieren!» «Ich bin völlig verzweifelt, Hamada-kun. Ich leide entsetzlich. Sie sind meine letzte Rettung, Hamada-kun! Sie müssen unbedingt herausbringen, wo Naomi ist!» «Das kann ich vielleicht sogar sehr schnell in Erfahrung bringen», sagte Hamada leichthin. «Glauben Sie, daß Sie noch heute etwas in Erfahrung bringen können? Und wäre es Ihnen möglich, dann zu mir nach Omori herauszukommen?» «Ich werde sehen, was sich tun läßt. Also einstweilen auf Wiedersehen!» «Oh, hallo! Hallo!» rief ich schnell in meiner Angst, die Verbindung sei bereits unterbrochen. «Hallo! Ha189
mada-kun! Wenn Sie Naomi sehen, wäre ich Ihnen dankbar, wenn Sie ihr sagen wollten, daß ich ihr bestimmt keine Vorwürfe mache, denn ich weiß, daß ja auch ich schuld an all dem bin. Sagen Sie ihr, über das Geschehene würde ich kein Wort verlieren; und wenn sie schon nicht zurückkommen will, möchte ich sie wenigstens noch einmal sehen.» Am liebsten hätte ich noch hinzugefügt: «Wenn sie mir befiehlt, mich auf den Boden zu werfen, werde ich mich vor ihr auf den Boden werfen. Wenn sie will, daß ich die Stirn auf den Boden schlage und mich bei ihr entschuldige, werde ich auch das tun.» Als ich den Hörer auflegte, fühlte ich mich jedoch keineswegs erleichtert; denn jetzt begann das quälende Warten auf Hamada. Ich schlief nicht, ich aß nicht, ich rührte mich nicht. In einer solchen Situation nichts tun zu können, ist wirklich das Schlimmste, was einem Menschen begegnen kann. Schließlich liebte ich Naomi so sehr, daß ich fast wahnsinnig zu werden glaubte. Ich starrte nur den Uhrzeiger an und konnte es kaum ertragen, mein Schicksal einem anderen überlassen zu müssen. Wie unendlich langsam die Zeit verging. Eine Minute schien eine Ewigkeit zu währen. Und nach sechzig solcher Ewigkeiten war erst eine Stunde vergangen, nach einhundertzwanzig zwei Stunden … Müßte ich noch drei, vier, fünf Stunden, einen ganzen Tag oder gar zwei oder drei Tage warten, dann würde ich den Verstand verlieren! Schließlich redete ich mir ein, daß Hamada bestimmt noch heute abend kommen würde. Und tatsächlich – vier Stunden, nachdem ich mit ihm telefoniert hatte, klingelte es plötzlich an der Tür. Ich federte aus dem Stuhl hoch und eilte, ihm zu öffnen. «Hamada! Da sind Sie ja schon!» rief ich. 190
Ich hatte gehofft, hinter ihm vielleicht Naomi zu entdecken. Aber er war allein. «Haben Sie etwas herausgebracht?» bestürmte ich ihn. Er sah mich mitleidig an. «Eine ganze Menge, Kawaisan. Aber … geben Sie die Hoffnung auf! Da ist nichts mehr zu machen.» Dabei schüttelte er den Kopf. «Haben Sie sie denn gesehen? Haben Sie mit ihr gesprochen?» «Nein, ich habe sie nicht gesehen. Aber ich war bei Kumagaya, und was er mir erzählte, genügt.» «Ja, aber wo ist sie denn, Hamada-kun? Sagen Sie mir doch, wo sie ist!» «Sie scheint sich bei Freunden herumzutreiben.» «Aber so viele kennt sie doch gar nicht.» «Ach, wer weiß schon, wie viele Freunde Naomi hat – Freunde, von denen Sie, Kawai-san, überhaupt nichts ahnen! Nach dem Streit mit Ihnen ging sie gleich zu Kumagaya. Sie erschien mit ihrem ganzen Gepäck in seinem Elternhaus. Es war eine Riesenaufregung, denn Kumagayas Familie kannte sie doch gar nicht! Es war auch für ihn furchtbar peinlich. Er hat sie gar nicht erst ins Haus gelassen.» «Ja, was hat sie denn dann getan?» «Er hat ihr Gepäck in sein Zimmer gestellt, und dann sind die beiden weggegangen, in ein sehr zweifelhaftes Absteigequartier, Akebono heißt es oder so ähnlich. Es muß ganz hier in der Nähe liegen und ist vermutlich das gleiche, in dem Sie Naomi-san und ihn ertappten.» «Dann sind sie also am selben Tag noch einmal dort hingegangen?» «Ja! Und darauf war Kumagaya sogar noch stolz. Ich fand das einfach widerlich.» 191
«Und wo haben die beiden die Nacht verbracht?» «In der Nacht waren sie nicht zusammen. Sie sind bis gegen Abend im Hotel geblieben, gingen dann auf die Ginza und trennten sich dort.» «Ob Kumagaya da nicht schwindelt?» «Nun, hören Sie nur weiter. Als sie sich verabschiedeten, hat Kumagaya, wie er mir sagte, Mitleid mit Naomi-san gehabt und sie gefragt, wo sie denn übernachten wolle. Sie hat geantwortet, sie hätte genügend Angebote und führe nach Yokohama.» «Wen soll sie denn in Yokohama kennen?» «Das hat sich Kumagaya auch gefragt. Er nahm an, sie würde doch wieder zu Ihnen nach Omori zurückkehren. Aber am nächsten Abend rief sie bei ihm an und bat ihn, sofort ins Eldorado zu kommen. Dort saß sie in großer Aufmachung mit glitzerndem Schmuck an Hals, Armen und Fingern in Gesellschaft mehrerer Männer, darunter auch ein Ausländer, und war ausgelassenster Stimmung.» Naomi hatte die Nacht davor bei einem Ausländer verbracht, einem gewissen William McNeill; es war der gleiche Mann, der Naomi, als wir das erste Mal ins Eldorado zum Tanzen gingen, ohne sich vorzustellen, aufgefordert hatte. «Das kann ich nicht recht glauben!» sagte ich schließlich zu Hamada. «Wenn eine Frau zum erstenmal einen Mann besucht, bleibt sie doch nicht gleich die ganze Nacht bei ihm …» «Aber, Kawai-san! Naomi-san tut so etwas völlig ungerührt! Aber McNeill scheint sich auch gewundert zu haben, denn er fragte gestern abend Kumagaya, woher dieses Mädchen eigentlich komme.» «Wie kann man denn ein Mädchen bei sich übernachten lassen, das man gar nicht kennt …» 192
«Er hat sie nicht nur die Nacht über bei sich behalten, er hat ihr auch Kleider, Halsschmuck, Armreifen und Ringe geschenkt. Sie ist schon so vertraut mit ihm, daß sie ihn nur noch ‹Billy› nennt.» Hamada sah, daß mir Tränen in die Augen stiegen, und senkte mitfühlend den Blick. «Ich kann Ihnen nachfühlen, was Sie empfinden», sagte er. «Und leider ist da noch vieles andere, von dem Sie gar nichts wissen.» «Danke, Hamada. Was Sie mir erzählt haben, genügt mir. Ich … ich … ich verzichte für immer auf sie!»
22 Zwei Tage nach dem Zusammentreffen mit Hamada erhielt ich ein Telegramm, daß meine Mutter lebensgefährlich erkrankt sei. Es erreichte mich in der Firma, und ich eilte sofort zum Ueno-Bahnhof. Meine Mutter hatte einen Gehirnschlag erlitten und – als ich daheim ankam – das Bewußtsein bereits verloren. Sie erkannte mich nicht mehr. Ein paar Stunden später tat sie den letzten Atemzug. Die Bande zwischen meiner Mutter und mir waren so herzlich und eng gewesen, daß ich mich nicht erinnern konnte, mich ihr je widersetzt zu haben oder von ihr gescholten worden zu sein. Nun war mir meine Mutter plötzlich durch den Tod entrissen worden. Ich dachte daran, was sie mir in all den Jahren bedeutet hatte, und fand es unverzeihlich, was ich mir ihr gegenüber hatte zuschulden kommen lassen. Erneut brach ich in Tränen aus, Tränen der Reue. Ich lief auf die Berge hinter unserem Haus, lief schluchzend durch die Wälder, Wege und Felder, die so viele Kindheitserinnerungen bargen. 193
Diese Zeit der Trauer hat mich irgendwie geläutert, und allmählich gelang es mir, die Gedanken an jene verkommene Dirne, die meine Frau gewesen war, zu verdrängen. Ohne diese Trauer hätte ich noch lang unter dem Verhängnis meiner enttäuschten Liebe gelitten. Nein, ich durfte den Tod meiner Mutter nicht seines Sinnes berauben. Das ganze Leben in der Großstadt schien mir plötzlich widerwärtig. Jemand, der vom Lande kam, gehörte aufs Land – das wurde mir in diesen Tagen klar, und in mir erwuchs der Wunsch, mich dorthin zurückzuziehen. Aber mein Onkel, meine Schwestern und die anderen Verwandten redeten mir zu, nichts zu überstürzen. Meine Trauer sei ja nur zu verständlich, aber ein Mann dürfe nun einmal, nicht, auch wenn seine Mutter gerade eben gestorben ist, seine Pflichten im Stich lassen. Fast hätte ich ihnen geantwortet: «Darum allein geht es ja gar nicht! Mir ist doch meine Frau weggelaufen!» Aber davor schämte ich mich. Naomis Abwesenheit hatte ich mit einer plötzlichen Erkrankung erklärt. Nachdem die Totenfeierlichkeiten beendet waren, bat ich meinen Onkel und dessen Frau, künftig mein Vermögen verwalten zu wollen, und kehrte, wie mir alle geraten hatten, nach Tokio zurück. Ich lebte in der ständigen Furcht, Naomi irgendwo zu begegnen. Deshalb fuhr ich aus dem Geschäft meist sofort nach Omori zurück und aß in einer einfachen Gaststätte in der Nähe des Hauses irgendeine Kleinigkeit zu Abend. Wenn ich heimkam, wußte ich aber nie recht, was ich tun sollte. Meist ging ich gleich ins Schlafzimmer, aber irgendwie erinnerte mich hier alles – die Kleider, die noch herumhingen, und der Geruch, den sie ausströmten – an Naomi, so daß ich mich schließlich entschloß, auf dem Sofa im Atelier zu nächtigen. 194
Im Dezember, drei Wochen nach dem Tode meiner Mutter, faßte ich endlich den Entschluß, zum Jahresende meine Stellung aufzugeben, sprach aber mit niemandem darüber. Da ich mich nur noch einen Monat gedulden mußte, wurde ich bald ein wenig gelassener und entspannter. Ich las viel in meinen freien Stunden und ging spazieren, wobei ich jedoch alle Gefahrenzonen sorgsam mied. Eines Abends hatte ich auf einmal Lust, mir einen Film von Matsunosuke anzusehen. Ich betrat ein Kino, in dem bereits ein Filmlustspiel mit Harald Loyd und einigen jungen amerikanischen Filmschauspielerinnen lief. Mit einem Schlage waren die bösen Erinnerungen wieder da, und ich nahm mir fest vor, nie wieder in einen ausländischen Film zu gehen. An einem Sonntagmorgen etwas später im Dezember – ich schlief wieder im ersten Stock, weil mir das Atelier zu kalt geworden war – hörte ich unten ein Geräusch, als sei jemand ins Haus getreten. Aber ich hatte ja doch die Tür abgeschlossen, dachte ich. Dann vernahm ich aber mir bekannte Schritte, die die Treppe heraufkamen. Fast im gleichen Augenblick öffnete sich die Tür und Naomi stand vor mir. «Guten Tag», sagte sie und sah mich unsicher an. «Was willst du hier?» fragte ich ruhig und kühl und traf keinerlei Anstalten, mich zu erheben. «Ich? Meine Sachen holen.» «Gut. Dann nimm nur gleich alles mit. Wie bist du denn ins Haus gekommen?» «Durch die Haustür. Ich habe einen Schlüssel.» «Laß den Schlüssel nachher hier.» «Ja.» Daraufhin drehte ich ihr den Rücken zu und schwieg. Eine Weile hörte ich, wie sie ein Furoshiki195
Bündel zusammenschnürte; dann fing sie offenbar an, sich ihren Obi aufzubinden. Als ich mich überrascht umdrehte, sah ich, daß sie sich tatsächlich in einer Ekke des Zimmers umzog. Vorhin, als sie eintrat, hatte ich bemerkt, daß sie einen Kimono aus Meisen-Seide trug, den ich nicht kannte. Sie griff nach einem Unterkleid aus Kreppseide, das sie aus dem Haufen ihrer Sachen herausgezogen hatte, zog es sich über die Schultern, wippte leicht mit dem Körper hin und her und ließ das alte Musselin-Unterkleid auf die TatamiMatten gleiten. Es sah aus, als löse sie sich aus einer Schale. Dann zog sie einen Kimono aus Oshima-Seide mit Schildpattmuster über, band den Untergürtel, der ein Ichimatsugoshi-Muster hatte, und schnürte sich fest zusammen. Ich wartete darauf, daß sie sich nun den Obi binden würde; aber sie hockte sich auf den Boden und wechselte ihre Tabi-Socken. Naomi, die meine Schwäche für nackte Füße kannte, beobachtete mich genau, während sie die Füße wie Flossen hin und her bog. Aber als sie dann fertig angezogen war, räumte sie schnell die abgelegten Kleidungsstücke fort, nahm ihr Furoshiki-Bündel auf, sagte kurz «Auf Wiedersehen» und ging zur Tür. «Laß den Schlüssel da», rief ich ihr nach. «Ja, ja», murmelte sie und kramte den Schlüssel aus ihrer Handtasche. «Ich lege ihn hierhin. Aber ich kann meine Sachen unmöglich auf einmal mitnehmen; ich komme also vielleicht noch einmal wieder.» «Dann komm aber bitte das nächste Mal mit einem Wagen, damit du alles mitnehmen kannst. Noch lieber wäre es mir, du würdest die Sachen abholen lassen.» «Gut. Ganz wie du willst.» Mit diesen Worten ging sie hinaus. 196
Aber einige Tage später, um neun Uhr abends, als ich im Atelier die Zeitung las, hörte ich wieder ein Geräusch. Jemand schloß die Vordertür mit einem Schlüssel auf.
23 «Wer ist da?» «Ich bin es!» Und schon öffnete sich die Tür einen Spalt, und eine mir völlig unbekannte Europäerin stand in einem hellblauen Kleid aus Seidenkrepp vor mir. Um ihren schlanken Hals lag ein Kristallschmuck, der in den Farben des Regenbogens schimmerte. Das unter dem schwarzen Samthut halb verborgene Gesicht war von unnatürlicher Blässe, so daß es fast mystisch wirkte. Die Lippen waren dunkelrot geschminkt. «Guten Abend», sagte die schöne Fremde, während sie den Hut abnahm. Es war Naomi. Sie sah völlig verändert aus. Was für Teufelskünste mochte sie da nur angewandt haben? Hätte ich nicht gerade ihre Stimme gehört, wäre ich immer noch überzeugt gewesen, eine mir unbekannte Amerikanerin vor mir zu haben. Die schneeweißen, fast bis zu den Schultern nackten Arme, die ich da vor mir sah, hatten nichts Japanisches an sich. Ihr Kleid wippte hin und her, als sie jetzt auf hochhackigen Schuhen, die eine Hand in die Hüfte gestützt, kokett auf mich zutänzelte. «Joji-san, ich bin gekommen, um wieder ein paar Sachen von mir abzuholen.» «Ich habe dir doch gesagt, du sollst sie abholen lassen.» 197
«Aber ich kenne niemanden, den ich darum hätte bitten können.» Während sie mit mir sprach, hielt sie ihren Körper nicht eine Sekunde lang still. Sie tippte mit der Fußspitze auf den Boden, gestikulierte mit den Händen, reckte die Schultern und wand lasziv ihren Körper. Als ich ihr Gesicht genauer betrachtete, entdeckte ich, warum sie so verändert aussah. Sie hatte ihr Haar vorn zwei, drei Zoll kürzer geschnitten und ließ die Spitzen wie einen winzigen Vorhang in die Stirn fallen. Das übrige Haar hing im Pagenschnitt über die Ohren herunter – sie sah aus wie der Glücksgott Daikoku. Ihre Augenbrauen, die von Natur dick und stark ausgeprägt waren, hatte sie zu schmal geschwungenen Linien ausgezupft, unter denen es bläulich schimmerte. Daß ihre Augen so europäisch wirkten, mußte mit der neuen Form der Brauen zusammenhängen. Aber offenbar hatte sie bei den Lidern und den Wimpern auch noch Kniffe angewandt. Der Mund wirkte wie eine rote Kirschblüte. Aber was hatte sie wohl mit ihrer Haut gemacht? Ich konnte nicht die geringste Spur von Puder entdecken. «Darf ich in den ersten Stock hinauf, um ein paar Sachen einzupacken?» fragte sie. «Meinetwegen. Womit hast du denn die Tür geöffnet?» «Womit? Mit einem Schlüssel natürlich!» «Aber du hast doch neulich deinen Schlüssel dagelassen.» «Ach, davon habe ich eine ganze Menge.» In diesem Augenblick huschte ein feines Lächeln über die roten Lippen, und ihre Augen schienen lokkend-spöttisch zu funkeln. «Jetzt kann ich es dir ja sagen: Ich habe mir damals 198
gleich eine ganze Menge Schlüssel anfertigen lassen. Es macht mir also gar nichts aus, wenn ich einen hierlassen muß.» «Aber mir macht es etwas aus. Ich will nicht, daß du immer wieder hier auftauchst!» «Keine Angst. Wenn ich erst alle Sachen abgeholt habe, werde ich nicht mehr kommen – selbst wenn du mich darum bitten solltest!» Mit diesen Worten drehte sie sich auf dem Absatz um und stöckelte die Treppe zum Dachzimmer hinauf. Ich weiß nicht mehr, wie lange ich auf dem Sofa im Atelier saß und darauf wartete, daß sie wieder herunterkam. Waren es fünf Minuten, eine halbe Stunde, eine Stunde? Ich hatte kein Zeitempfinden mehr. Endlich kam sie wieder, fröhlich klappernd, die Treppe herunter. «Joji-san, in ein paar Tagen komme ich noch einmal. Ich habe heute abend nur ein paar Bücher geholt. Mehr kann ich heute nicht tragen. Zumal in diesem Kleid!» Ein feiner Duft, der mir irgendwie bekannt vorkam, stieg mir in die Nase. Er erinnerte mich an ferne Meeresküsten und Blumengärten in exotischen Wunderländern. Es war der gleiche Duft, den die Haut der Frau Shuremskaya damals ausgeströmt hatte. Naomi gebrauchte also wohl das gleiche Parfum wie sie.
24 Verehrter Leser, Sie werden es sicher schon geahnt haben, daß es zu einer Versöhnung zwischen mir und Naomi kam, und nicht weiter darüber erstaunt sein. Am folgenden Abend nämlich erschien Naomi wieder und auch am darauffolgenden Abend. Fast Abend 199
für Abend stieg sie in den ersten Stock hinauf, packte ein Bündel zusammen und kam dann jedesmal zu mir ins Atelier. Es waren immer nur ein paar Kleinigkeiten, die sie, in ein winziges Tuch aus Kreppseide gewickelt, bei sich trug. «Was hast du denn heute geholt?» fragte ich sie. «Nichts Besonderes. Nur ein paar Kleinigkeiten. Übrigens bin ich durstig. Willst du mir nicht eine Tasse Tee anbieten?» Mit diesen Worten setzte sie sich neben mich und begann ein Gespräch. «Wohnst du hier in der Nähe?» fragte ich sie eines Abends, als wir uns am Tisch gegenübersaßen und schwarzen Tee tranken. «Warum willst du das wissen?» «Darf ich es nicht wissen?» «Doch. Ich möchte nur wissen, mit welcher Absicht du das fragst?» «Mit keiner bestimmten Absicht! Ich bin nur einfach neugierig. Also, wo wohnst du? Das kannst du mir doch ruhig sagen.» «Nein, das sage ich dir nicht!» «Warum nicht?» «Wenn du es unbedingt wissen willst, geh mir doch nach. Du hast ja immer gern den Detektiv gespielt!» «So wichtig ist es nun auch wieder nicht. Jedenfalls wohnst du bestimmt hier in der Nähe!» «Wie kommst du denn darauf?» «Weil du Abend für Abend hier erscheinst.» «Es gibt auch Bahnen und Taxis!» «Ist das nicht etwas umständlich?» «Willst du damit andeuten, daß ich nicht mehr jeden Abend herkommen soll?» «Nein, das nicht. Du würdest dich ja ohnehin nicht darum kümmern.» 200
«Ja, damit hast du vielleicht recht. Ich bin nämlich boshaft und komme gerade dann gern, wenn es dir nicht paßt. Hast du etwa Angst vor mir?» «Diese Frage könnte ich mir nicht einmal selbst beantworten.» Sie warf den Kopf in den Nacken und lachte schallend. «Du brauchst keine Angst zu haben. Ich möchte nichts weiter als vergessen, was gewesen ist, und freundschaftlich mit dir verkehren. Oder ist dir das nicht recht? Wenn ich dich verführen wollte, könnte ich es ja auf der Stelle tun! Aber ich will es gar nicht! Ich habe Mitleid mit dir!» «Dann willst du also aus Mitleid mit mir befreundet sein? Das will ich nicht.» «Du kannst wählen: Entweder du willst mit mir befreundet sein, oder ich verführe dich! Dann wirst du wieder schön leiden müssen. Entscheide dich! Das ist ein Ultimatum!» «Also gut, laß uns Freunde sein. Drohungen mag ich auf die Dauer nicht.» Danach kam sie noch häufiger als bisher. Sie flog wie eine Schwalbe bei mir ein und aus. «Joji-san!» rief sie «Da bin ich! Willst du mich nicht heute abend zum Essen einladen? Unter Freunden darf man das tun!» Und ich lud sie ein. Meist in ein europäisches Restaurant. Wir ließen es uns schmecken, und dann kehrte sie wieder in ihr eigenes Leben zurück. An einem regnerischen Abend kam sie ziemlich spät und klopfte an meine Schlafzimmertür. «Joji-san! Schläfst du schon? Bleib ruhig liegen, du brauchst nicht aufzustehen! Ich will heute hier übernachten!» Völlig unbekümmert ging sie in das Nachbarzimmer, 201
breitete das Futon aus und legte sich schlafen. Am nächsten Morgen, als ich aufstand, entdeckte ich sie dort friedlich schlummernd. Ich merkte immer mehr, daß sie eine geborene Dirne war. Einerseits machte es ihr nicht das geringste aus, sich vor einem Manne zu entblößen. Andererseits verstand sie es, ihren Körper geschickt in Geheimnisse zu hüllen. Nicht die kleinste Stelle ihres Körpers zeigte sie ohne Bedacht. Gerade darin offenbart sich nach meiner Überzeugung der Instinkt der Dirne. Ihr Körper, ihre Haut waren für sie eine ‹Ware›. Selbst vor mir, der ich doch einst ihr Ehemann gewesen war, spielte sie dieses Spiel. Oft zog sie sich vor meinen Augen um, ließ ihr Unterkleid zu Boden gleiten, kreischte dann erschrocken auf, bedeckte mit beiden Händen die nackten Schultern und rannte ins Nebenzimmer. Gelegentlich ließ sie mich ein Stückchen ihres Körpers sehen, etwa ihren Nacken, einen Ellbogen, die Unterschenkel oder die Füße. Dabei erschien mir alles von hassenswerter Schönheit. Eines Tages sagte sie: «Joji-san, willst du meinen Körper sehen?» «Du zeigst ihn mir ja doch nicht.» «Natürlich nicht. Das tut man nicht unter Freunden. Also geh bitte aus dem Zimmer, bis ich mich umgezogen habe.» Schnell machte sie die Tür hinter mir zu. Auf diese Weise reizte Naomi ständig mein körperliches Verlangen nach ihr, errichtete aber zugleich eine Schranke zwischen uns, die mir verwehrte, mich ihr zu nähern. Wie nahe ich ihr auch gekommen zu sein glaubte, immer blieb eine Distanz, die nicht zu überwinden war. Manchmal tat sie so, als gäbe es diese 202
Schranke nicht mehr zwischen uns. Dann sagte sie neckend: «Komm, ich gebe dir einen Kuß!» Sie näherte ihre Lippen den meinen, aber gerade im entscheidenden Augenblick entzog sie sich mir stets und blies mir aus einer Entfernung von zwei, drei Zoll nur ihren Atem zu. «Das ist ein Freundschaftskuß», erklärte sie dazu spöttisch lächelnd. Ihr Atem war feucht und lau, süß und blütenhaft. Sie hatte wohl ihre Lippen ein wenig parfümiert, um mich zu verwirren. Naomi spielte dieses Freundschaftsspiel auf das raffinierteste. Sie wollte mich damit immer mehr verwirren und sich begehrlicher machen, um dann – sobald ihr der Zeitpunkt günstig erschien – die Taktik plötzlich zu ändern, die Maske der Freundschaft abzulegen und ihre Krallen nach mir auszustrecken. Schließlich konnte ich es kaum noch ertragen. Ich bettelte geradezu darum, von ihr verführt zu werden. Aber sie ging überhaupt nicht darauf ein und sagte nur: «Was soll das, Joji-san! Das widerspricht unserer Abmachung!» Ich wurde immer ungeduldiger und nervöser und litt schließlich geradezu unter Wahnvorstellungen. Mein Kopf war wie eine mit Samtvorhängen verkleidete Bühne, auf der nur ein einziger Akteur auftrat – Naomi. Die Scheinwerfer tauchten ihren sich hin und her wiegenden, weißen Körper in eine Flut von Licht, und wenn ich entzückt hinsah, schien ihre Haut zu phosphoreszieren. Diese Visionen bedrohten meine Sinne ebenso wie die gefährliche Wirklichkeit ihrer Gegenwart. Ich warf Stühle um, riß die Vorhänge herunter und zerschmetterte Blumenvasen. 203
Eines Abends sagte sie: «Joji-san, du bist in letzter Zeit so merkwürdig.» «Ich halte das mit uns beiden nicht mehr aus.» «Ich bin aber entschlossen, die Abmachung zwischen uns einzuhalten!» «Und wie lange soll das noch so gehen?» «Immer.» «Dann werde ich bestimmt noch verrückt!» «Heirate doch eine andere Frau, ich habe nichts dagegen. Vielleicht hörst du dann auf, hysterisch zu sein.» Als ich am nächsten Morgen aufwachte, stand sie, nachlässig in ein Schlafgewand gehüllt, neben meinem Kopfkissen. «Willst du nicht aufstehen? Es ist schon nach zehn. Ich habe gebadet.» Sofort hatte ich das Bild vor Augen, wie sie aus dem Bade stieg. Frauen sind fünfzehn, zwanzig Minuten, nachdem sie gebadet haben, schöner als unmittelbar nach dem Bad. Wenn der Körper abgekühlt ist, wird die Haut klar wie Wachs. Plötzlich fragte sie mich: «Joji-san, bist du im Augenblick auch nicht hysterisch?» «Nein. Warum?» «Dann möchte ich dich um etwas bitten. Rasiere mir doch die Augenbrauen und den Nacken aus.» «Ich glaube, ich leihe dir lieber meinen Rasierapparat, dann kannst du es selber machen!» «Das kann ich nicht. Die Brauen ja, aber nicht den Nacken.» Dabei ließ sie den Kimono von den Schultern gleiten. «Da, sieh her. Hier muß man rasieren, und deswegen kann ich es nicht selber tun.» Es ging ihr bestimmt nicht allein ums Rasieren; sie 204
wußte, daß mich der Anblick ihrer Haut nach dem Bad noch mehr reizen mußte. Während ich auf dem Gasherd Wasser heiß machte, es in eine Metallschale goß und eine neue GilletteKlinge in den Apparat legte, rückte Naomi einen Stuhl ans Fenster, stellte einen kleinen Spiegel darauf und hockte sich auf die Tatami-Matte. Ich stellte mich hinter sie und wollte gerade anfangen, als Naomi sagte: «Joji-san, du darfst mich also rasieren. Aber ich stelle eine Bedingung!» «Was für eine Bedingung?» «Ich will auf keinen Fall, daß du das Rasieren nur als Vorwand nimmst, um mich überall zu betasten. Du darfst meine Haut nicht berühren. Du darfst mich nur rasieren.» «Aber hör mal, das geht doch gar nicht!» «Was heißt das? Beim Rasieren berührt man die Haut doch nicht mit den Fingern! Man schlägt die Seife mit dem Pinsel schaumig und rasiert mit dem Apparat. Meinst du, beim Friseur berührt jemand die Haut? Ein geschickter Friseur bestimmt nicht.» «Ich bin schließlich auch nicht dein Friseur.» «Sei nicht so dreist! Möchtest du mich nun rasieren oder nicht?» Als ich auf den Haaransatz in ihrem Nacken starrte, konnte ich nicht anders als mich ihr fügen. «Paß also auf, daß du mich auf keinen Fall mit den Fingern berührst! Sonst mußt du sofort aufhören.» Die Rasierklinge in meiner Hand kroch wie ein silbernes Insekt sanft über Naomis Haut dahin. Wußte Naomi von der Schönheit ihres Rückens? Als ich ihren Nacken ausrasiert hatte, schob sie die Ärmel hoch, streckte den Arm aus und sagte: «So, jetzt die Achselhöhlen!» 205
«Du treibst es wirklich auf die Spitze!» «Inwiefern? Du bist ja komisch. Los, beeile dich. Mich fröstelt jetzt nach dem Bad.» Da warf ich den Rasierapparat beiseite, stürzte mich auf ihren Arm und biß mich darin fest. Als hätte Naomi das vorausgesehen, stieß sie mich blitzschnell mit dem Ellbogen zurück und schrie mit schriller Stimme: «Was fällt dir ein?» «Naomi! Naomi! Hör doch endlich auf, mich zu quälen. Ich will ja alles tun, was du willst!» Und damit warf ich mich vor ihr auf den Boden. «Sag etwas! Oder ich bringe mich um!» «Du bist ja wahnsinnig geworden!» «Ich kann nichts dafür!» «Soll ich mich etwa mit einem Wahnsinnigen einlassen?» «Laß uns doch wenigstens wieder Pferd und Reiter spielen wie früher!» Und damit begann ich bereits, auf allen vieren im Zimmer umherzukriechen. Einen Augenblick lang schien Naomi zu glauben, daß ich tatsächlich den Verstand verloren hatte. Dann schwang sie sich plötzlich mit einem triumphierenden Ausdruck im Gesicht auf meinen Rücken und rief mit verächtlicher Stimme: «Bist du nun zufrieden?» «Ja, ja!» «Und willst du von jetzt ab alles tun, was ich will?» «Ja!» «Gibst du mir soviel Geld, wie ich brauche?» «Ja!» «Läßt du mich alles tun, was ich möchte?» «Ja!» «Du mußt ab jetzt auch wieder Naomi-san zu mir sagen statt Naomi. Ich sage ja auch Joji-san zu dir!» 206
«Ja!» «Ganz gestimmt?» «Ganz bestimmt!» «Na, dann will ich dich nicht nur wie ein Pferd, sondern wie einen Menschen behandeln …» Und damit warf sie mich auf den Rücken. «Nun sind wir also endlich wieder vereint. Jetzt laß ich dich nicht mehr fort!» «Vergiß nur nicht, was du vorhin versprochen hast: Du läßt mich alles tun, was ich will! Dann erkläre ich mich damit einverstanden, daß wir verheiratet bleiben. Aber ich hasse kleinliche und pedantische Ehemänner! Wenn du diese Abmachungen nicht einhältst, laufe ich fort!» «Gut.» «Und du läßt mich auch zum Tanzen gehen und mit meinen Freunden verkehren?» «Ja.» «Mit Ma-chan habe ich gebrochen! Er ist ein widerlicher Kerl. Von jetzt an werde ich nur noch mit Ausländern umgehen. Sie sind interessanter als Japaner. Aber ich habe noch weitere Forderungen! Was willst du tun, wenn du deine Arbeit aufgibst?» «Wenn du nicht wiedergekommen wärst, hätte ich mich aufs Land zurückgezogen. Nun aber tue ich das natürlich nicht. Ich werde das Vermögen, das ich geerbt habe, irgendwie anlegen.» «Wieviel davon ist Bargeld?» «Ich könnte vielleicht 20 000 oder 30 000 Yen flüssigmachen.» «Mehr nicht?» «Das ist doch für zwei Menschen genug zum Leben. Oder nicht?» 207
«Kann man sich damit auch etwas Luxus leisten?» «Du kannst dir schon ein ganz schönes Leben damit machen. Aber ich habe die Absicht, eine eigene Firma zu gründen.» «Aber ich will nicht, daß du das ganze Geld da hineinsteckst! Einen Teil mußt du von Anfang an für mich auf die Seite legen! Ja?» «Gut, gut!» «Sagen wir: die Hälfte! Wenn es 30 000 sind, bekomme ich 15 000, und wenn es 20 000 sind, 10 000?» «Du nimmst es aber wirklich sehr genau!» «Natürlich. Ober solche Dinge muß man sich gleich am Anfang einigen. Oder ist es dir unangenehm, soviel Geld für deine Frau auszugeben?» «Ganz und gar nicht!» «Du kannst es ruhig sagen. Dann komme ich schon irgendwie zu dem, was ich brauche …» «Aber ich sagte dir doch, daß ich mit allem einverstanden bin!» «Noch etwas: ich habe keine Lust, länger hier zu wohnen. Wir wollen in ein moderneres Haus ziehen.» «Natürlich.» «Ich möchte in einer Straße leben, wo Ausländer wohnen. In einem europäischen Haus; außerdem brauche ich einen Koch und einen Boy!» «Ich weiß nicht, wo es solche Häuser in Tokio gibt?» «In Tokio nicht, aber in Yokohama. In der YamateGegend ist gerade ein solches Haus frei. Ich habe es mir neulich schon angesehen.» Da wurde mir klar, daß sie diesen Plan seit geraumer Zeit verfolgt hatte. Deshalb also hatte sie mich so geschickt eingefangen!
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25 Drei, vier Jahre sind seither vergangen. Wir zogen damals nach Yokohama in das Haus, das Naomi ausfindig gemacht hatte. Aber allmählich wuchsen ihre Ansprüche immer mehr, und sie fing an zu klagen, das Haus sei zu klein. Schließlich kaufte ich ein Haus in Hommoku, mitsamt der Einrichtung, in dem bis dahin eine Schweizer Familie gewohnt hatte. Wie geplant, gab ich damals meine Tätigkeit in der Firma in Oimachi auf, machte meinen Besitz auf dem Lande zu Geld und gründete mit einigen ehemaligen Schulkameraden eine Kommanditgesellschaft, die elektrische Geräte herstellt und vertreibt. Zum Ausgleich dafür, daß ich das meiste Kapital in die Gesellschaft eingebracht hatte, übernahmen meine Freunde die Hauptarbeit. Früher war ich außerordentlich fleißig gewesen und stand morgens stets früh auf. Doch neuerdings bleibe ich bis halb zehn oder zehn Uhr liegen. Wenn ich aufgestanden bin, gehe ich, noch im Schlafanzug, auf Zehenspitzen zu Naomis Schlafzimmer und klopfe leise an die Tür. Antwortet sie, dann gehe ich in ihr Zimmer und wünsche ihr einen guten Morgen. Antwortet sie nicht, ziehe ich mich zurück und fahre ins Büro. Nun ist es also dazugekommen, daß wir in verschiedenen Zimmern schlafen. Es war Naomis Vorschlag gewesen. Sie behauptete eines Tages, das Schlafzimmer einer Frau sei heilig, selbst der Ehemann dürfe es nicht nach Gutdünken betreten. Daraufhin nahm sie das große Zimmer für sich in Anspruch, das kleinere teilte sie mir zu. Obwohl die Zimmer nebeneinanderliegen, gibt es doch keinen unmittelbaren Zutritt von dem einen ins andere. Dazwischen liegen Naomis Baderaum 209
und die Toilette. Durch die beiden Räume muß ich hindurchgehen, wenn ich zu ihr will. Naomi steht gewöhnlich erst nach elf Uhr auf. Sie schläft dann zwar nicht mehr, sondern bleibt einfach wohlig liegen, raucht und liest Zeitungen und Zeitschriften. Ihre Zigarettensorte ist die schmale Dimitri, als Zeitung hält sie sich die ‹Miyako-Shimbun›, als Zeitschriften die ‹Classic› und die ‹Vogue›. Im Grunde sieht sie sich nur die Fotografien an, vor allem, um sich über die neueste westliche Mode zu orientieren. Naomis Zimmer geht nach Osten und Süden. Direkt vor der Veranda beginnt der Strand von Hommoku. Schon morgens ist es wundervoll hell in ihrem geräumigen Zimmer, das die Größe von etwa zwanzig japanischen Matten hat. In der Mitte des Raumes steht ihr Bett, kein gewöhnliches, billiges Bett, sondern eines mit Baldachin und weißen Vorhängen aus dünner Seide, das wir von einem ausländischen Diplomaten gekauft haben. Bevor sie ins Bad geht, trinkt sie im Bett schwarzen Tee und Milch. Inzwischen läßt die Haushälterin das Bad ein. Wenn Naomi fertig gebadet hat, läßt sie sich massieren. Dann frisiert sie sich und macht sich mit hunderterlei verschiedenen Salben und Wässerchen zurecht. Jeden Morgen überlegt sie lange, was sie anziehen soll. So wird es meist halb zwei Uhr, ehe sie herunterkommt und das Eßzimmer betritt. Abends sind wir entweder eingeladen oder haben Gäste. Manchmal gehen wir auch in ein Hotel zum Essen oder zum Tanzen. Ihre Freunde haben gewechselt. Von Hamada und Kumagaya ist keine Rede mehr; vorübergehend sprach sie noch von McNeill, aber bald trat an seine Stelle ein Mann namens Dewgan. Nach ihm hatte sie einen 210
Freund, der Justus hieß. Er verstand es vorzüglich, Naomi bei guter Laune zu halten. Einmal ging ich aus Wut bei einer Tanzveranstaltung mit Fäusten auf ihn los, und es gab eine fürchterliche Schlägerei. Alle warfen sich mir entgegen, um mich zurückzuhalten. «George! George!» schrien sie von allen Seiten auf mich ein – ich heiße zwar Joji, aber da dies ähnlich klingt wie George, sagen viele einfach George zu mir. Nach diesem Justus kam ein zweiter und dann ein dritter Justus. Aber ich bin jetzt so zahm geworden, daß ich das alles widerspruchslos über mich ergehen lasse. Ich kann noch immer nicht jene schreckliche Zeit vergessen, als Naomi mich verlassen hatte. Ich kenne ihre Flatterhaftigkeit und ihren Eigensinn. Ohne sie wäre sie nicht Naomi und verlöre ihre Eigenart und ihren Reiz. Sein Selbstvertrauen zu verlieren, ist etwas Furchtbares. Jetzt kann ich mich nicht einmal mehr mit Naomis Englisch messen. Wenn ich beobachte, wie sie auf einer Gesellschaft ihren Charme entfaltet und in fließendem Englisch parliert, dann kommt sie mir – auch ihrer guten Aussprache wegen – seltsam europäisch vor. Manchmal ruft auch sie mich «George». Damit schließe ich das Tagebuch meiner Ehe. Ich kann niemanden daran hindern, es belanglos zu finden. Anderen Lesern mag das, was hier geschildert ist, vielleicht als Warnung dienen. Mir ist nun alles gleichgültig, ich liebe Naomi.
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Ein subtiles erotisches Meisterwerk aus Japan. Der junge Ingenieur Joji Kawai verfällt einer Serviererin eines Tokioer Straßencafés, der schönen vierzehnjährigen Naomi. Aus ihr will er eine ungewöhnliche Frau mit westlicher Bildung machen. Naomi aber, die ihn erst betört, dann täuscht, betrügt, demütigt und trotzdem immer stärker an sich fesselt, erniedrigt ihn zum hörigen Sklaven seiner Leidenschaften.
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