KLEINE JUGENDREIHE
N. USTINOWITSCH
AUF DER SPUR DES ZOBELS
VERLAG KULTUR UND FORTSCHRITT BERLIN 1954
5. Jahrgang, ...
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KLEINE JUGENDREIHE
N. USTINOWITSCH
AUF DER SPUR DES ZOBELS
VERLAG KULTUR UND FORTSCHRITT BERLIN 1954
5. Jahrgang, Heft 1/1954 Russischer Originaltitel: В КРАЮ ДАЛЕКОМ Deutsch von Irene Müller
Copyright 1954 by Verlag Kultur und Fortschritt, Berlin Printed in Germany • Alle Rechte vorbehalten Lizenz-Nr. 3 Einband: Rudi Lehmann 5 Illustrationen: F. Glebow, nachgezeichnet Rudi Lehmann Satz und Druck: (HI/9/1) Sächsische Zeitung, Verlag und Druckerei, Dresden N 23, Riesaer Straße 32 14609 285/131/54
Den achten Tag schon streifte Jascha durch den dichten Wald. Die breitästigen, schneebedeckten Bäume, die endlosen Windbrüche und die mit dem grauen Himmel verschmelzenden Gipfel der weißen Berge sah er sogar schon im Schlaf. Er brauchte nur die Augen zu schließen, und die finstere, unermeßlich weite sibirische Taiga tauchte aus dem Dunkel auf. Sie lockte mit ihren Tierfährten, mit der verwirrenden Vielzahl alter und neuer Spuren. Auf Schritt und Tritt begegnete man ihnen. Da war der räuberische Vielfraß, dort das schneeweiße Wiesel, der flinke Feuermarder und das graue Eichhörnchen. Sogar ein Bär war einmal vorübergetrabt. Nur eine Spur, die Spur des Zobels, von der Jascha Tag und Nacht träumte, konnte er nicht finden. Wegen dieses seltenen, kostbaren Tierchens war der junge Jäger nun schon acht Tage unterwegs. Von morgens bis abends durchstreifte er den dichten Wald. Doch sein Suchen blieb erfolglos, und immer häufiger begann sich Jascha zu fragen, ob er sich nicht damals bei den Haselhühnern geirrt hatte, als er eine ganz frische Zobelspur zu sehen glaubte. Vielleicht hatte er sie doch nur verwechselt? Jascha Garanow war in diesem Herbst, ebenso wie im vergangenen Jahr, mit einer Kolchosbrigade zum Eichhörnchenfang ausgezogen. Die Jäger hatten sich tief in der Taiga ein neues
Jagdrevier gesucht und dort bereits im Sommer eine geräumige Hütte gebaut. In dieser Gegend gab es sehr viel Eichhörnchen. Abend für Abend kehrten die Kolchosjäger mit reicher Beute zurück. Eines Tages sagte der Brigadier zu dem Jungen: „Wir müssen den Zehntagebericht zur Verwaltung bringen. Geh du ins Dorf, Jascha.“ Und obgleich der Weg bis Malinowka fünfzig Kilometer betrug, antwortete der junge Jäger ruhig: „Gut, ich gehe.“ Am nächsten Morgen stand Jascha früher als die andern auf. Es war noch ganz dunkel. Er packte Zwieback, Salz, einen Kochtopf und Streichhölzer in seinen Rucksack. Dann schnallte er einen Patronengürtel um, steckte ein leichtes Beil hinein, warf das Jagdgewehr über die Schulter, schnallte die Schneeschuhe an und fuhr los. Der von den Jägern festgetretene Pfad war verweht, aber Jascha kannte den Weg gut. Kamen ihm Zweifel, so orientierte er sich nach den Bäumen, in die man im Sommer mit dem Beil eine Kerbe geschlagen hatte, oder an abgesteckten Pfählen, und setzte so seinen Weg fort. Gegen Abend erstieg Jascha eine Paßhöhe und machte halt. Wie ein weiches Bärenfell lag die Taiga zu seinen Füßen. So weit der Blick reichte, zog sie sich hin und löste sich am Horizont in bläulichen Dunst auf. In der Ferne leuchtete ein großes weißes Feld. Da hatte vor Jahren der Wald gebrannt. Jetzt befand sich eine Imkerei dort. Sommer und Winter wohnte der alte Bienenzüchter Lukitsch hier draußen. Bei ihm wollte Jascha übernachten. Als der Junge den steilen Hang hinabsauste, flatterte plötzlich vor seinen Schiern ein Volk Haselhühner auf, das sich bereits zum Schlafen im Schnee verkrochen hatte. Da hab ich ja gleich ein Abendbrot, dachte Jascha. Er hielt an, ging in Kniestellung, zielte ruhig und schoß. Ein
Vogel plumpste weich in den Schnee. Die Haselhühner flogen erschreckt fort. Jascha wollte sie verfolgen, da entdeckte er in einem dichten Gebüsch einen Hahn, der unruhig von einem Bein auf das andere trat und den Hals vorreckte, ein sicheres Anzeichen dafür, daß er gleich auffliegen würde. Jascha hob langsam die Büchse, Und in dem Augenblick, als Jascha den Gewehrkolben an die Schulter legte, fiel sein Blick auf eine frische Zobelfährte. Das kam so unerwartet, daß Jascha nicht wußte, ob er träumte oder wachte. In dieser Gegend waren Zobel kaum noch anzutreffen. Die jahrelange Verfolgung dieses kostbaren Pelztieres hatte zu seiner fast völligen Ausrottung geführt. Nur in der allertiefsten Taiga, an schwer zugänglichen Stellen, hielt es sich noch verborgen. Aber auch dort war es verboten, auf den Zobel zu schießen. In jedem Herbst zogen die besten Jäger der Kolchose auf Zobelfang. Und immer, wenn die Männer mit den flinken Tierchen aus der Taiga heimkehrten, gab Andrei Kusmitsch, der Kolchosvorsitzende, ein Blitztelegramm nach der Stadt auf. Gleich am nächsten Tag landete vor dem Dorf ein silberglänzendes Flugzeug. Die Käfige mit den Zobeln wurden verladen, und fort ging’s zur Pelztierfarm. Dort kamen die Tierchen in große Drahtnetzkäfige – Volieren – , in denen sie wie in der Freiheit lebten. Die Zobelzucht brachte reichen Ertrag und wurde von vielen Kolchosen betrieben. Nach dem Großen Vaterländischen Krieg aber, als die Sowjetunion ihre Wirtschaft nach dem neuen Fünfjahrplan wiederaufzubauen begann, wurden an zahlreichen neuen Orten Pelztierfarmen eröffnet. Jaschas Vater war vor Jahren der beste Zobeljäger der Kolchose gewesen. Den Jungen aber hatte er nie mitgenommen, weil er noch zu klein war und
außerdem die Schule besuchte. „Mein kleiner Gernegroß!“ pflegte der Vater auf Jaschas Bitten zu antworten. „Du bist kaum zwölf Jahre alt… Drei Jahre mußt du schon noch warten, mein Lieber. Jetzt hast du eine wichtigere Aufgabe: Du mußt lernen!“ Und so wartete Jascha geduldig darauf, daß man ihn nach Beendigung der Schule als vollberechtigtes Mitglied der Zobelfängerbrigade mit in die Taiga nehmen würde. Aber es kam anders. Der Vater zog in den Krieg gegen die deutschen Faschisten und fiel als einer der ersten für die Heimat. Jascha war nun der „Mann“ in der Familie, und als er die Schule beendet hatte, zog er auf Eichhörnchenjagd. Dazu brauchte man nicht so tief in die Taiga einzudringen und soviel Zeit beim Aufspüren zu verschwenden wie bei den Zobeln. Eichhörnchen zu jagen verstand Jascha schon seit seinem zehnten Lebensjahr, er stand darin kaum hinter den älteren Jägern zurück. Drei Jahre waren seit des Vaters Tod vergangen. Jeden Herbst sah Jascha voller Neid den Zobelfängern nach, wenn sie in die Taiga aufbrachen. Sie waren in der Kolchose hoch geachtet. Noch nie war einer der alten Jäger mit leeren Händen zurückgekehrt. Würde es Jascha jemals gelingen, auch nur einen einzigen Zobel zu fangen? Und jetzt hatte er eine Zobelspur entdeckt! So eine Gelegenheit konnte er unmöglich vorübergehen lassen. Diesen Zobel mußte er aufspüren und fangen! Ein gutes Netz besaß er, es stammte noch von seinem Vater. Das wichtigste war jetzt nur, den Brigadeleiter um die Genehmigung zu bitten, ihn für einige Tage zu beurlauben. Jascha bückte sich aufgeregt und tastete behutsam über die Fährte. Der lockere, noch nicht verharschte Schnee ließ sich leicht zur Seite schieben. Der Zobel war vor
höchstens einer Stunde hier durchgekommen. Jascha rückte seine Schneeschuhe gerade und schlug die Richtung zur Imkerei ein. Wieder flatterten die Haselhühner vom Schnee auf, aber Jascha achtete nicht mehr darauf. Nun ging schon der achte Tag zu Ende. Acht volle Tage war Jascha umhergeirrt, ohne eine Spur des Zobels zu finden. Wieder neigte sich die Sonne zum Horizont. Die bleiche Mondscheibe stieg auf. Von Norden blies ein eisiger Wind. Es herrschten dreißig Grad Kälte. Jascha lehnte sich müde an eine Lärche und schlug den Kragen der Pelzjoppe hoch. Es war Zeit, sein Nachtquartier aufzusuchen. Heute hatte er sich so weit von der Imkerei entfernt, daß er gut drei Stunden zum Heimweg brauchte. In Lukitschs warmem Häuschen summte gewiß schon der Samowar, und in einer Schüssel schmolz gefrorener Honig, den der Imker mit dem Beil aus einer Tonne herausgehackt hatte. Vielleicht briet der Alte jetzt gerade Kartoffeln und lauschte dabei, ob draußen nicht das Knirschen von Schiern zu hören war. Trat Jascha in das Häuschen ein, so schielte der Imker ohne ein Wort nach dem zusammengerollten Zobelnetz und machte sich eilig am Tisch zu schaffen. Gestern abend hatte es Jascha nicht mehr ausgehalten. „Es hat keinen Zweck mehr, Großvater, mich noch länger durchzufüttern“, hatte er seufzend erklärt. „Ich lauf jetzt schon eine ganze Woche umher, und alles umsonst!“ Doch Lukitsch hatte ihn fest angesehen, und geantwortet: „Beharrlichkeit führt zum Ziel. Was sind schon sieben Tage! Und wenn es einen Monat dauert, laß nicht locker! Ein Zobel läßt sich nicht so nebenbei fangen.“ „Aber vielleicht hat er diese Gegend wieder verlassen?“ meinte Jascha unsicher,
„Nein.“ Der Alte schüttelte den Kopf. „Der Zobel zieht nicht hin und her. Wenn er sich einmal hier festgesetzt hat, muß man ihn auch hier suchen.“ Diese Worte hatten Jascha wieder Mut gemacht. Und wenn er auch einen Monat lang dem Zobel nachspüren mußte, Hauptsache, er kehrte nicht mit leeren Händen heim. – Jascha rückte die Flinte zurecht, schnallte die Schier wieder an und schlug die Richtung zur Imkerei ein. Um den Weg abzukürzen, bog er vom Lauf eines kleinen Flüßchens ab und drang in einen dichten Nadelwald ein. Mächtige Zirbelkiefern, Tannen und Fichten von mehre-
ren Klaftern Umfang verdeckten den Himmel. Bei jedem Schritt türmten sich Berge von abgebrochenen Ästen auf. Der Wind war fast gar nicht zu spüren, im Halbdunkel des Waldes herrschte tiefe Stille. Jascha glitt auf seinen Schneeschuhen einen Hang hinab und landete vor einer dicken alten Lärche, an die eine schlanke, hohe Fichte lehnte. Ein Sturm hatte sie gebrochen. Seitdem waren Jahre vergangen. Die Zweige der Fichte waren längst verfault, aber der Stamm war noch fest. Gerade wollte Jascha um dieses Hindernis biegen, da blieb er plötzlich stehen. Durch den Schnee führten Zobelspuren. Teils waren sie frisch, teils leicht verschneit. Das war ja ein richtiger Zobelwechsel! Jascha traute seinen Augen kaum. Vorsichtig lief er an dem Wechsel entlang. Die Fährten bogen in dichtes Unterholz ein, trennten sich dann zwar, liefen aber alle in dieselbe Richtung. Gewiß war irgendwo in einem Baumstamm eine Höhlung, die der Zobel täglich aufsuchte. Vielleicht hatte das schlaue Tierchen dort Bienen entdeckt, und da der Honig zur liebsten Leckerei des Zobels gehörte, ging er hin, bis alle Waben leergefressen waren. Jascha hatte von den alten Pelztierjägern viel über Zobelwechsel gehört. Sie waren der Traum jedes Jägers, Auch sein Vater hatte ihm öfter davon erzählt. Einen solchen Wechsel zu finden, galt als seltener Glücksfall. Und ein Zobeljäger, der ihn entdeckte, aber nicht zu nutzen verstand, wurde für lange Zeit zum Gespött des Dorfes. Es war noch keine halbe Stunde vergangen, als Jascha vor einer dicken, ausgetrockneten Fichte stand, vor der die Spur aufhörte. In dem rauhen, mit Moos bedeckten Stamm hatte hoch über dem Erdboden ein Specht ein Loch gehackt. Durch dieses schien der Zobel zu dem
Honig zu klettern. Die Abendröte beleuchtete die obere Hälfte des Stammes. Jascha kniete nieder und untersuchte sorgfältig den Schnee am Fuß des Baumes. Unter Rindensplittern und Tannenzapfenschuppen lag ein kleines Stück Wabenwachs. Mehr brauchte ein Jäger nicht zu wissen. Es war klar, daß hier Bienen wohnten. Jascha kehrte eilig zu der alten Lärche zurück und schlich vorsichtig um den dicken Stamm herum. Er mußte sich beherrschen, um nicht vor Freude laut aufzujubeln. Nirgends war eine frische Ausgangsspur zu entdecken: Der Zobel mußte noch in seinem Versteck sitzen. Jetzt wußte Jascha, was er zu tun hatte. Nicht umsonst hatte er schon als kleiner Junge die Ohren gespitzt, wenn sein Vater oder andere erfahrene Pelztierjäger von ihren Jagderlebnissen erzählten. Nicht umsonst hatte er sich alle ihre Ratschläge genau gemerkt. Zuerst mußte man die Öffnung mit einem Fäustling verstopfen, damit der Zobel nicht entkommen konnte, und dann den Baum fällen. Darauf wurde das Netz ausgebreitet, der Fäustling wieder herausgezogen und mit dem stumpfen Beilende der Stamm so lange abgeklopft, bis das erschreckte Tierchen heraussprang. Es würde sich im Netz verfangen, und man brauchte es dann nur noch in den Käfig zu setzen. Aber als Jascha sich ans Werk machen wollte, tauchten zwei unüberwindliche Schwierigkeiten auf. Es war unmöglich, auf die Lärche zu klettern. Der Bau des Zobels lag hoch oben, und der Baum hatte fast bis zum Wipfel keine Äste. Dazu betrug der Umfang der jahrhundertealten Lärche an die drei Klafter. Man konnte sie nicht einmal mit dem Beil fällen. Jascha blieb nur der eine Ausweg: zu warten, bis der
Zobel seinen Bau verließ. Er nahm flink den Rucksack von der Schulter, schüttelte das Netz heraus und breitete es rings um den Baum aus. Dann machte er vorsichtig ein paar kleine Schellen am Garn fest. Als das getan war, klappte er den mitgebrachten Drahtkäfig auf und ging ein paar Schritte weg. Der Zobel war eingeschlossen! Schon bei dem Gedanken allein hätte Jascha singen, tanzen und Purzelbäume schlagen mögen. Aber da fiel ihm noch rechtzeitig ein, daß es zum Freuen noch zu früh war. Rasch versteckte er sich hinter einem dicken, morschen Baumstumpf, trat den Schnee fest und verhielt sich ganz still. In der Taiga war es unterdessen völlig dunkel geworden. Verloren schwamm der Mond im eisigen Nebel. Stille hüllte den Wald ein. Ganz selten nur klang ein kaum vernehmbares Rascheln, wenn Schnee von den Zweigen fiel oder ein hungriges Tier einer Fährte durch den toten Windbruch folgte. Dann wieder zerriß lautes Krachen die Stille. Der Frost sprengte einen Baum. Es klang wie ein scharfer Schuß. Ein vielfaches Echo hallte durch den Wald und versickerte m der Ferne. Jascha fühlte, wie die Kälte in den Ärmeln hochkroch und in die Filzstiefel drang. Langsam kühlte sein schweißfeuchtes Hemd ab und wurde hart und steif wie ein Panzer. Die langen Ohrenklappen der Pelzmütze bedeckten sich mit Reif. Jascha kuschelte sich zusammen und preßte sich fester an den Baumstumpf. Es war erst ungefähr eine Stunde vergangen, und die Kälte drang ihm schon bis ins Mark. Dabei fing die Nacht eben erst an, und wie lange er hier warten mußte, war nicht vorauszusehen. Vielleicht kam
das erschreckte Tierchen in dieser Nacht überhaupt nicht aus dem Loch heraus! Unwillkürlich schweiften Jaschas Gedanken zu dem gemütlichen Häuschen des Imkers Lukitsch, der umsonst auf Jascha gewartet hatte, trank jetzt gewiß heißen Tee. Darauf würde er ächzend auf den warmen Ofen klettern, eine Weile auf die im scharfen Frost knarrenden Bäume lauschen und ruhig einschlafen. Jascha holte ein Stück Brot aus der Tasche. Doch es war im Laufe des Tages steinhart gefroren. Unmöglich, daß man auch nur ein kleines Stück abbeißen konnte! Seufzend steckte der Junge das Brot wieder in die Tasche und wickelte den Wollschal fester um den Hals. Unerträglich langsam verstrich die Zeit. Manchmal fürchtete Jascha, er würde die grausame Kälte gar nicht überstehen und erfrieren. Viele Male wollte er aufstehen, um sich die absterbenden Füße zu vertreten und in die Hände zu klatschen! Aber bei der geringsten Bewegung knirschte der Schnee, und Jascha erstarrte wieder auf seinem Platz. Wieviel Stunden Jascha gewartet hatte, wußte er nicht. Der Mond war längst hinter den Bergen versunken. Immer schwärzer wurde die Taiga, nur der Schnee leuchtete schwach. Die Nacht schien kein Ende zu nehmen. Plötzlich klirrten die Schellen. Jascha sprang hoch und stürzte vor, obgleich er sich kaum noch auf den steifen Beinen halten konnte. Der Zobel warf sich hin und her und verstrickte sich mit jeder Bewegung mehr im Netz. Mit zwei Sprüngen war Jascha an der Laiche und stülpte den Käfig über die rollende Kugel. Das Tier kämpfte wie rasend. Jascha schob das Türchen zu. Die Enden des Netzes blieben draußen hängen, und der Junge wußte nicht recht, was er mit ih-
nen anfangen sollte. Nach kurzer Überlegung wickelte er sie um den Käfig und machte die Tür mit Draht fest. Als der Zobel sicher eingesperrt war, schüttelte sich Jascha den Schnee ab und hob seine Fäustlinge auf. Und erst als er das böse, spitze Schnäuzchen des kleinen Tieres ansah, begriff er, was eben geschehen war. „Ich hab ihn! Ich hab ihn!“ schrie er außer sich vor Freude, hüpfte auf einem Bein und klatschte dabei in die erstarrten Hände. Im Osten hellte sich der Himmel auf. Langsam dämmerte über der Taiga ein grauer Wintermorgen. Wenn die Jäger im Winter aus der Taiga kommen, sehen sie vom Belojarsker Paß aus ihr Dorf Malinowka liegen. Am Ende eines Schneefeldes heben sich die langen Reihen der im Schnee versinkenden Häuser ab, die einstöckige Schule und der Siloturm. Hinter den Gemüsegärten liegen die Gebäude der Viehzuchtfarm, und ein Stück weiter sind gerade noch die Umrisse des Elektrizitätswerkes zu erkennen. Bei klarem Frost stehen hohe Rauchsäulen über dem Dorf. Sanft schwanken sie in der stillen Luft und zerfließen am blaßvioletten Himmel. Hier auf der Paßhöhe pflegen die Pelztierjäger zum letztenmal zu rasten. Sie nehmen ihre Rucksäcke ab, legen sie in den Schnee, holen die Tabaksbeutel aus der Tasche und schauen zum Dorf hinüber. Und da jeder so schnell wie möglich nach Hause will, weil die Familie auf ihn wartet, schnallt sich bald einer nach dem anderen stumm die Schneeschuhe an, und hinab geht’s ins Tal, Auch Jascha hatte auf dem Belojarsker Paß haltmachen und sich ein Weilchen ausruhen wollen, um zu überlegen, wie er mit seinem Fang den Kolchosbauern gegenübertreten sollte. Aber als das Dorf vor ihm auftauchte, erfaßte ihn
so große Ungeduld, daß er weitersauste. Frostgerötet, mit bereifter Pelzjoppe, langte Jascha bei den ersten Häuschen an. Im Dorf war der Weg festgetreten. Jascha warf sich die Schneeschuhe über die Schulter und schritt würdevoll die Straße entlang. Vor dem Haus, in dem sein Freund Mischa wohnte, kläffte ein braunes Hündchen. Mischas Mutter kam gerade vom Brunnen, Sie trat vor das Tor und rief ihm zu: „Kommst du von der Brigade, Jascha? Wie geht es meinem Mischa?“ „Ich weiß nicht, Tante Lena“, antwortete Jascha und verlangsamte absichtlich seinen Schritt. „Ich war nicht bei der Brigade, ich war auf Zobelfang.“ Er sagte das mit solchem Nachdruck, daß die verblüffte Frau nur ein gedehntes: „So – o…“ hervorbrachte und keine Frage weiter stellte. Und was hätte sie auch fragen sollen? Sie sah ja, daß er mit einem Zobel ankam! Eine Anzahl Kinder rodelte einen großen Schneehaufen hinunter. Als sie Jascha erblickten, umringten sie ihn lärmend. Jeder wollte in den Käfig sehen. „Macht, daß ihr wegkommt, ihr…“ Jaschas Stimme klang rauh, und die Kinder wichen respektvoll zurück. Gleich darauf rannten sie, so flink sie konnten, nach allen Richtungen auseinander. Dabei schrien sie um die Wette: „Jascha hat einen Zobel gefangen! Einen Zobel! Einen Zobel!“ Als der Junge bei der Kolchosverwaltung anlangte, lehnte er die Schneeschuhe gegen eine Hausecke und fegte mit den Fäustlingen den Schnee von den Stiefeln, Dann machte er weit die Tür auf und trat über die Schwelle. „Guten Tag!“
„Guten Tag, mein Junge, guten Tag!“ antwortete der Vorsitzende lächelnd und kam hinter seinem Tisch hervor, um Jascha zu begrüßen und ihm den Käfig von der Schulter zu nehmen. Behutsam stellte er ihn auf einen Hocker, streifte den Zobel mit einem kurzen Blick und legte dem Jungen die Hand auf die Schulter. „Du bist ein ganzer Kerl, mein Junge!“ Und alle, die im Zimmer waren, schlossen sich dem Lob an und bewunderten die seltene und kostbare Beute. Unterdessen kam Jaschas Mutter herbeigeeilt, die durch die Kinder von der Rückkehr ihres Sohnes erfahren hatte. Der Vorsitzende und die anwesenden Kolchosbauern äußerten sich beifällig über Jascha, und ein großer mütterlicher Stolz erfüllte ihr Herz. Sie hätte ihren Jascha am liebsten gleich umarmt und an die Brust gedrückt, aber da wandte sich gerade der Vorsitzende an ihn. So konnte sie ihm nur schnell zuflüstern: „Jetzt haben wir wieder ein Familienoberhaupt…“ „Ich weiß nicht recht, was wir jetzt mit dem Tier anfangen sollen“, sagte der Vorsitzende nachdenklich. „Die Jäger kommen doch noch nicht so bald aus der Taiga zurück, und wegen dieses einen Zobels können wir nicht gleich ein Flugzeug anfordern. Wir müßten ihn im Käfig halten und solange füttern, bis der ganze Fang beisammen ist…“ „Nein, Andrei Kusmitsch, das geht nicht“, unterbrach ihn der Rechnungsführer. „Weißt du noch, wie wir vor zwei Jahren einen Zobel im Käfig hielten? Wir wollten auch erst den ganzen Fang abwarten. Aber er fraß nicht und ist uns krepiert.“ „Ja“, sagte der Vorsitzende. „Auf der Zuchtfarm verstehen sie mit den Tieren umzugehen, dort haben sie Fach-
leute.“ „Wir werden den Zobel mit der Bahn hinschaffen müssen“, sagte der Rechnungsführer. „Natürlich“, pflichteten ihm einige Kolchosbauern bei, „Anders geht es gar nicht. Aber wir müssen vorher ein Telegramm abschicken, damit ihn jemand auf der Station abholt.“ Jascha erhob sich von seiner Bank und bat: „Gestatten Sie, Alexei Kusmitsch, daß ich den Zobel selbst hinbringe?“ Der Vorsitzende schwieg einen Augenblick und sah die Anwesenden an, als warte er auf ihre Meinung. Dann fragte er: „Wirst du das auch richtig machen?“ „Ganz gewiß“, beteuerte Jascha. Einer der Kolchosbauern unterstützte ihn: „Wenn er ihn gefangen hat, wird er ihn auch hinbringen.“ „Gut, dann soll er fahren“, beschloß Andrei Kusmitsch. „Geh nach Hause, Jascha, erhol dich, schlaf dich aus, und morgen früh…“ „Kann ich nicht gleich fahren?“ „Gleich?“ Der Vorsitzende lächelte. „Willst du nicht erst mal nach Hause gehen?“ „Doch! Eine Stunde!“ Jascha lächelte jetzt auch. „Aber länger darf man es auf keinen Fall aufschieben! Der Zobel hat doch schon über einen Tag nichts gefressen.“ „Meinetwegen fahr gleich!“ Alexei Kusmitsch gab Anweisung, den besten Hengst anzuspannen. Nicht lange, nachdem Jascha sein Mittagessen heruntergeschlungen und der Mutter seine Erlebnisse erzählt hatte, knirschten vor dem Tor Schlittenkufen. Der alte Filipp trat ins Haus. „Bist du fertig?“ fragte er auf der Schwelle. „Sofort“,
antwortete Jascha und mummte sich in einen ebenso warmen Pelz ein, wie ihn der Alte trug. Sie traten vor die Tür. Der Saum des Mantels wirbelte den Schnee auf. Beide nahmen im Schlitten Platz. Der Hengst zog an, und fort ging’s. Bald hatten sie das Dorf hinter sich gelassen. Der Weg führte quer durch den Wald. Die beschneiten Bäume flogen vorbei, das Glöckchen klingelte, und die Kufen sangen ihr eintöniges Lied. Jascha wickelte sich fester in seinen warmen Pelz und schlief ein. Als er aufwachte, näherten sie sich bereits der Station. Kaum war Jascha munter, galt sein erster Gedanke dem Zobel. Schnell kniete er nieder und guckte unter den Bock, wo der Käfig stand. Das Tierchen, das sich müde getobt hatte, lag eng zusammengerollt in einer Ecke. Seine Äuglein funkelten böse. „Wo wirst du denn einsteigen?“ fragte der alte Filipp. „In einen Personenwagen wird man dich nicht hineinlassen, und da ist es auch zu warm für den Zobel. Er ist an Kälte gewöhnt. Wenn du ihn hinterher in die Kälte bringst, wird er vielleicht noch krank.“ „Daran hab ich noch gar nicht gedacht“, murmelte Jascha. „Wir wollen mit dem Stationsvorsteher sprechen“, erklärte der Alte. „Er wird uns schon einen Rat geben.“ Sie banden den Hengst an einen Zaun und betraten das Bahnhofsgebäude. Der Stationsvorsteher, ein älterer Mann mit einem starken schwarzen Schnurrbart, hörte den Alten an. Lange betrachtete er das seltene Tierchen, sah es sich erst von der einen, dann von der anderen Seite an und hielt schließlich sein Gesicht ganz nahe an den Käfig. Dem Zobel behagte anscheinend der starke Tabakgeruch nicht, der dem Schnurrbart entströmte. Aufgeregt sprang er zur
Seite. Der Vorsteher prallte zurück. „Der ist ja fix!“ murmelte er verdutzt. „Welcher Pfiffikus hat ihn denn gefangen?“ „Da steht er!“ Filipp wies mit dem Kopf auf Jascha. Der Stationsvorsteher sah den Jungen ungläubig an. „Aber setzen Sie sich doch. Setzen Sie sich, Genossen!“ bat er dann. „Bis zur Abfahrt des Zuges ist noch eine halbe Stunde Zeit. Und wenn er einläuft, werden wir schon weitersehen.“ Aber Jascha setzte sich nicht, sondern ging mit dem Käfig auf den Bahnsteig hinaus, damit es dem Zobel in dem warmen Raum nicht zu heiß wurde. Bald leuchtete das grüne Einfahrtsignal auf, und der Zug brauste heran. Der Stationsvorsteher verließ den Dienstraum, winkte Jascha und lief mit ihm ans Ende des Zuges. Der Zobelkäfig wurde in den kalten, mit Frachtgut vollgestopften Gepäckwagen gestellt. Für Jascha fand sich in dem kleinen Abteil des Begleitschaffners, das ein eisernes Öfchen durchwärmte, eine freie Pritsche. Er breitete seinen Pelz aus und richtete sich häuslich ein. Die Fenster waren vereist. Draußen erklang das Abfahrtsignal. Das Poltern der Wagen ging in das gleichmäßige Rollen der Räder über. Der Zug steigerte seine Geschwindigkeit und jagte über die schneebedeckte Ebene davon. In demselben Zug fuhr der vierzehnjährige Wasja Pawlow. Lang war sein Weg von der belorussischen Heimat bis ins ferne, ihm unbekannte Sibirien. Vor sechs Jahren noch hatte Wasja mit seinem Vater und seiner Mutter in dem kleinen Dörfchen Klinzy an der Olschanka gelebt. Wasja glaubte damals, daß es der schönste Ort auf der ganzen Welt sei. Hatte ein anderes
Flüßchen soviel Fische wie die Olschanka? Konnte man woanders so große Krebse finden wie am Mühlenwehr? Und erst der Wald! Einen so finsteren, großen Wald, in dem sogar Bären lebten, gab es gewiß sonst nirgends auf der Welt! Die Kolchose, in der Wasjas Eltern arbeiteten, war berühmt, nicht, umsonst hatte man sie „Udarnik“ genannt. In ihr gab es so viele Bienenstöcke, daß sicherlich nicht einmal der Imker Pawel Petrowitsch wußte, wieviel es waren. Von jedem Bienenstock bekamen die Kolchosleute jährlich mehrere Kilogramm Honig. Daher hieß es überall, daß im Kolchos „Udarnik“ ein Honigfluß von der Imkerei bis zum Dorf fließe. Wasja fürchtete sich ein wenig vor den Bienen, weil ihre Stiche so weh taten. Aber das hatte ihn nicht davon abgehalten, oft in die Imkerei zu kommen und Pawel Petrowitsch bei der Arbeit zu helfen. Zu guter Letzt gefiel Wasja die Sache so sehr, daß er beschloß, später auch einmal Bienenzüchter zu werden. Der Vater sagte nichts da gegen, aber erst mußte Wasja die Schule beenden. Doch an einem schönen Sommertag, als Wasja gerade bei dem Imker saß und eifrig mit einem Holzlöffel in einer Schüssel Honig rührte, sprengte plötzlich ein Reiter vorbei und rief nur das kurze und schreckliche Wort: „Krieg!“ Am selben Tag ging Wasjas Vater zur Verteidigung der Heimat an die Front. Der Junge weinte und sah dem Auto, das ihn fortbrachte, noch lange nach. Er sah seinen Vater nie wieder. Nach einigen Monaten kam die Nachricht, daß er bei einem ungleichen Kampf mit deutschen Panzern gefallen war. Und eines Tages erschien ein feindliches Flugzeug über der Kolchose. Der Pilot beschoß das Dorf mit einem Maschinengewehr. Als
er wegflog, lag Wasjas Mutter, von Kugeln getroffen, auf der blutigen Fensterbrett. Die Kolchosleute nahmen den verwaisten Knaben mit, als sie ins Innere des Landes evakuiert wurden. Von dort aus kam er in ein Kinderheim an der Wolga. Die Kinder wurden ernährt und gekleidet. Der Schulunterricht ging weiter. Doch dauerte es lange, bis Wasja sein seelisches Gleichgewicht wiederfand. Er war stets traurig, tief in Gedanken versunken und lächelte kaum. Nachts konnte es geschehen, daß er plötzlich aus dem Bett sprang und sich schreiend und bleich vor Angst in eine Ecke verkroch, als wollte er vor einem unsichtbaren Feind Schutz suchen. Die Erzieherinnen umgaben Wasja mit mütterlicher Fürsorge. Sie bemühten sich, den Jungen das Schreckliche vergessen zu lassen und ihm ein neues Zuhause zu schaffen. Und schließlich gelang es ihnen auch. Wasja wurde fröhlicher und fing an, ruhiger zu schlafen. Er nahm immer mehr Anteil an den Spielen, am Lernen und an der Arbeit. Das Kinderheim war in aller Eile während des Krieges eingerichtet worden. Man konnte es schwerlich vorbildlich nennen. Es fehlte an vielem. Doch die Kinder sollten bald umziehen. „Wir fahren ganz weit fort, nach Sibirien“, erzählten die Erzieherinnen. „Da werden neue Häuser für uns gebaut.“ Voller Ungeduld warteten die Kinder auf den Umzug. Immer wieder fragten sie, wie es in Sibirien aussehe. Und nun brachte der Zug Wasja Pawlow in dieses ferne Land. Wälder, Felder, Städte und Dörfer flogen vorüber. Überall gab es etwas Interessantes zu schauen. Wasja ging fast gar nicht vom Fenster fort, sondern blickte neugierig durch das vom Atem aufgetaute kleine Loch in der verei-
sten Scheibe. Jetzt erst begann er zu begreifen, wie groß seine Heimat war. Der Zug jagte schon mehrere Tage und Nächte durch das Land, und bis zum Ziel war es immer noch weit. „Wann sind wir denn in Sibirien?“ fragte er die Erzieherinnen. „Wir fahren schon längst durch“, wurde ihm geantwortet. Wasja schüttelte ungläubig den Kopf und drückte sein Gesicht wieder fest ans Fenster. Was er sah, paßte so gar nicht zu seiner Vorstellung von diesem Land. Der Wald sah ebenso aus wie bei Klinzy, vielleicht etwas dunkler. Ab und zu tauchte ein Dorf auf, ein ganz gewöhnliches russisches Dorf mit hohen Antennenmasten. Jetzt verlangsamte der Zug seine Fahrt und hielt endlich. Eine so günstige Gelegenheit, diese unbekannte Gegend näher kennenzulernen, durfte man nicht verpassen! Wasja warf seinen Mantel über und stieg heimlich aus dem Wagen. Er lief über die Gleise zum Stationsgebäude. Da lag eine kleine Siedlung. Sie war ganz von Wald umgeben. Die hohen Bäume waren stark bereift und glitzerten in der Sonne. Das ist gewiß die Taiga, dachte Wasja. Sie sieht aber gar nicht so finster aus, wie immer erzählt wird. Da tauchte am andern Ende des Bahnsteigs ein Junge in einem langen Pelz auf. Er trug einen Drahtkäfig in den Händen, in dem ein flinkes Tierchen hin- und hersprang. Bei jeder Bewegung schien das Fell silbrige Funken zu sprühen. „Ein Zobel“, bemerkte einer der Reisenden. Wasja hatte schon von diesen seltenen Tierchen gelesen, aber noch nie eins zu Gesicht bekommen. Hals über Kopf stürzte er dem Jungen mit dem Käfig nach. Hinter einem Kiosk holte er ihn ein, zupfte ihn am Ärmel und fragte
schüchtern: „Ist das wirklich ein Zobel?“ Der junge Bursche wandte Wasja sein sommersprossiges, von Wind und Wetter gerötetes Gesicht zu und antwortete ein wenig überlegen: „Ja, natürlich!“ „Und wo hast du ihn her?“ forschte Wasja weiter. Der Junge lächelte nachsichtig und erklärte: „Wo soll er anders herkommen als aus der Taiga? Ich hab ihn dort gefangen.“
Wasja wollte den Jungen noch fragen, wie man Zobel
fängt, aber da trat ein großer Mann in einem neuen Schafpelz zu dem jungen Jäger, nickte ihm freundlich zu und fragte: „Jascha Garanow, wenn ich nicht irre?“ „Garanow“, antwortete der Junge selbstbewußt. „Ich bin der Tierzüchter Sisych von der Staatsfarm“, stellte sich der Mann vor, und über sein ernstes Gesicht mit den forschenden grauen Augen glitt ein froher Zug. Er nahm den Käfig hoch und betrachtete das unruhige Tierchen. „Ein prächtiges Zobelweibchen! Du bist ein ganzer Kerl, Jascha! Ehrlich gesagt, es gibt selten so schöne Tiere.“ „Bitte, Iwan Danilowitsch, geben Sie recht gut acht auf sie“, bat Jascha. „Sie ist noch so scheu.“ Jascha wollte noch erzählen, wieviel Mühe es ihn gekostet hatte, dieses Zobelweibchen zu fangen, als Wasja, der die ganze Zeit über kein Auge von dem Tierchen gelassen hatte, plötzlich erschrocken aufschrie: „Mein Zug!“ Der Zobel hatte den Jungen so begeistert, daß er nicht merkte, wie das Abfahrtsignal gegeben wurde. Wasja stürzte gleich los, aber da versperrte ihm ein entgegenkommender Güterzug den Weg. Zu allem Unglück war er sehr lang, und als er endlich vorübergefahren war, sauste gerade der letzte Wagen des Personenzugs an dem ratlosen Jungen vorbei. Von Angst gepackt jagte Wasja hinterher, aber die Entfernung zwischen ihm und dem letzten Wagen wurde immer größer. Er konnte den Zug nicht mehr einholen. Trotzdem rannte er schreiend und gestikulierend weiter. Erst als der Zug hinter einer Kurve verschwand und die schwarzen Rauchwolken am frostigen Himmel zerflossen, verließen Wasja die Kräfte. Er ließ sich in den
Schnee fallen und fing bitterlich an zu weinen. Wie lange Wasja gelegen hatte, wußte er nicht. Der Knabe fühlte, wie die Kälte allmählich unter den Mantel kroch und seine Füße zu Eis erstarrten. Er hatte in der Eile die Fußlappen vergessen. Immer steifer wurden die tränennassen Hände. Ich erfriere, kam es Wasja in den Sinn. Er unterdrückte das Schluchzen und wollte aufstehen. Aber der Gedanke, daß er auf einer entlegenen Bahnstation tief in der Taiga allein und verlassen zurückblieb, war so schrecklich, daß er die Hände wieder vors Gesicht schlug und im Schnee liegenblieb. Plötzlich berührte ihn jemand behutsam an der Schulter. Wasja richtete sich ein wenig auf und sah den Tierzüchter. „Bist du nicht mitgekommen?“ fragte Iwan Danilowitsch leise und beugte sein verwittertes Gesicht zu dem Jungen hinab. „Das ist schlimm, mein Junge… Aber nun steh mal schnell auf. Wohin wolltest du denn fahren?“ Wasja erhob sich und sah Iwan Danilowitsch an. Und plötzlich wurde ihm leichter ums Herz. Die bloße Gegenwart dieses ruhigen, äußerlich rauhen Mannes machte ihm Mut. In der etwas derben Stimme lag ein väterlicher Klang. Sogar der borstige, kurzgeschnittene Schnurrbart schien dem Jungen vertraut. Und so erzählte er dem Tierzüchter seine ganze Lebensgeschichte. „Das ist schlimm“, wiederholte Iwan Danilowitsch, als Wasja zu Ende war. „Aber mit Tränen kann man dem Unglück nicht abhelfen, mein Junge.“ Der Tierzüchter zog ein Paar Pelzhandschuhe aus seinem Gürtel, reichte sie Wasja und sagte: „Zieh sie an. Wir gehen in den Bahnhof und wollen uns
dort die Sache überlegen,“ Im Warteraum bat Iwan Danilowitsch den Jungen, sich auf eine Bank zu setzen, und ging wieder hinaus. Er blieb ziemlich lange fort. Wasja begann schon unruhig nach dem Fenster zu blicken, aber durch die vereisten Scheiben war nichts zu sehen, und tief aufseufzend blieb er weiter sitzen. Bald hörte man vor dem Bahnhofsgebäude ein Auto vorfahren. Iwan Danilowitsch und Jascha traten zur Tür herein. Der Tierzüchter trug einen großen Schafpelz über dem Arm. Sisych setzte sich auf die Bank und drehte sich bedächtig eine Zigarette, während er von Zeit zu Zeit, wie zufällig, Wasja ansah. Dann fragte er beiläufig: „Also, wohin solltest du denn gebracht werden?“ „Nach Sibirien!“ antwortete der Junge. „Sibirien ist groß, auf welcher Station wolltet ihr aussteigen?“ „Ich weiß nicht…“ Wasja ließ niedergeschlagen den Kopf hängen. Iwan Danilowitsch rauchte eine Zigarette und erklärte dann bestimmt: „Zieh den Pelz da an!“ Wasja begriff nichts und sah den Tierzüchter fragend an. Der legte diesen Blick auf seine Weise aus und beruhigte den Jungen: „Es schadet nichts, wenn er dir zu groß ist. Dafür wirst du es schön warm drin haben.“ „Aber… wozu soll ich ihn denn anziehen?“ fragte Wasja schüchtern. „Hier ist es doch nicht kalt…“ „Was heißt: wozu?“ sagte Iwan Danilowitsch verwundert. „Wir können dich doch nicht auf dem Bahnhof sitzenlassen… Wir fahren zu unserer Sowchose. Und dort
beraten wir, wo du bleiben sollst.“ Wasja wickelte sich gehorsam in den viel zu langen Schafpelz ein, und alle drei verließen das Bahnhofsgebäude. Aus dem Führerhaus des Wagens sah neugierig ein Mädchen heraus und überschrie das Motorengeräusch: „Geben Sie den Passagier zu mir herein, Iwan Danilowitsch. Auf dem Wagen erfriert er uns sonst.“ „Nimm ihn, Katja“, sagte der Tierzüchter und half Wasja, ins Führerhaus zu klettern. Katja schlug die Tür hinter ihm zu, und in diesem Augenblick ließ sich Jaschas Stimme neben dem Wagenkasten vernehmen: „Iwan Danilowitsch, geben Sie meinen Zobel nicht dem ersten besten zur Pflege! Daß er mir nicht entwischt…“ Die Antwort des Tierzüchters verstand Wasja nicht mehr. Der Motor dröhnte lauter, und das Auto fuhr los. Um dieselbe Zeit wurde von der nächsten Station beim Fahrdienstleiter angeläutet und gefragt, ob nicht ein Junge aus dem Zug zurückgeblieben sei. Der Diensttuende lief auf den Bahnsteig hinaus, sah im Wartesaal nach und kam mit der Antwort zurück: „Hier ist niemand. Sicherlich ist er in einen anderen Wagen gestiegen.“ Damit endete das Telefongespräch. Das Auto von der Pelztierfarm hatte unterdessen die Siedlung hinter sich gelassen und drang auf einer kurvenreichen Straße immer tiefer in den Wald ein. Voller Spannung sah Wasja nach rechts und links. Solch einen Wald hatte er noch nie gesehen. Die dicken Lärchen, Zirbelkiefern und Tannen standen so dicht, daß es aussah, als ob man zwischen ihnen überhaupt nicht laufen könnte. Worüber der Junge aber am meisten staunte, das war die ungeheure Menge Bruchholz, die auf der Erde
lag. In dem Wald bei seinem Heimatdorf blieb kein Ast am Boden, alles wurde zu Brennmaterial gesammelt. Wasja wollte Katja fragen, warum man den Windbruch nicht zu Brennholz zersägte, aber das Mädchen war so vom Lenken in Anspruch genommen, daß er es nicht wagte. Und bald kam Wasja auch selbst darauf, wie es sich hier damit verhielt. Sie waren eine lange Strecke gefahren, aber der Wald nahm immer noch kein Ende; im Gegenteil, er wurde noch dunkler und dichter. Und da überlegte Wasja, daß man hundert Jahre brauchen würde, um den Windbruch in so einem Wald aufzuräumen. An einer Stelle, an der sich ein Baum über den Weg neigte, bemerkte Wasja ein Eichhörnchen auf einem Ast. Es zeigte keinerlei Furcht. „Sehen Sie nur, ein Eichhörnchen!“ rief der Junge und berührte Katjas Ärmel. „Da gibt es hier viel!“ erklärte das Mädchen gleichgültig. Wasja hatte sich kaum an dem Anblick des Tierchens erfreut, als sich schon eine weite Lichtung auftat. Das Auto raste einen Hügel hinauf, und Wasja erblickte eine hübsche kleine Siedlung. Zu beiden Seiten einer breiten Straße standen neue, einstöckige Häuser und junge Bäume. Etwas weiter waren Wirtschaftsgebäude zu sehen, von denen sich das Elektrizitätswerk deutlich abhob. Dahinter begann wieder die dunkle Taiga. Das Auto hielt vor einem kleinen, etwas abseits liegenden Haus, das fast bis unters Dach vom Schnee verweht war. „Das Kontor“, sagte Katja und stellte den Motor ab. Ein schwarzäugiges junges Mädchen in einer grünen Jakke und wattierten Hosen kam heraus. „Was gibt’s Neues in unserer Abteilung, Klawa?“ fragte Katja.
„Der Wildling hat endlich angefangen zu fressen.“ „Tatsächlich?“ Sisych staunte. „Stimmt das auch?“ „Ich hab es selbst gesehen, als ich Dienst hatte. Er hat fast die ganze Portion aufgefressen.“ „Fein!“ sagte Iwan Danilowitsch befriedigt. „Da haben wir es also doch erreicht!“ Er beugte sich über den Rand des Wagenkastens und übergab Klawa den Käfig mit dem Zobelweibchen. „Bring es bitte in die zwölfte Abteilung und trag im Tagebuch Ration C ein.“ Dann sprang der Tierzüchter vom Wagen und rief: „Steig aus, Wasja, wir sind da. Bist du auch nicht erfroren?“ „Nein!“ erwiderte der Junge und warf den großen Pelz ab. Sisych schlug mit Wasja den Weg zur Siedlung ein. Vor einem einstöckigen Haus machte er halt. „Nun sind wir da“, sagte er und öffnete die Tür. In der Küche wurden sie von einer hageren, eifrig hantierenden Frau empfangen. Sie stand am Herd und hatte ihre Ärmel bis über die Ellbogen aufgekrempelt. Als sie den fremden Jungen erblickte, zog sie erstaunt die schmalen Augenbrauen in die Höhe. „Ich habe einen Gast mitgebracht, Alexandra Sergejewna“, erklärte Iwan Danilowitsch lächelnd, und er erzählte seiner Frau alles, was er von Wasja wußte. Alexandra Sergejewna legte dem Jungen freundlich die Hand auf den Kopf. „Vor allen Dingen mußt du nach der Fahrt baden, Iwan“, sagte Alexandra Sergejewna. „Geh mit, Wasja, ich suche euch gleich Wäsche heraus.“ Sie stürzte zur Kommode, doch dann fiel ihr ein, daß die Wäsche ihres Mannes für den Jungen viel zu groß war.
„Ich lauf schnell mal zu Marja“, sagte sie, „ihr Sohn ist genauso groß.“ Schon hatte sie den Schal um, da dachte sie daran, daß Wasja gewiß sehr hungrig sei. Sie nahm schnell ein paar heiße Pasteten aus der Backröhre und steckte sie dem Jungen zu; dann erst eilte sie zur Nachbarin. Nach fünf Minuten war Alexandra Sergejewna mit zwei Wäschestücken wieder zurück, und Iwan Danilowitsch und Wasja gingen ins Badehaus am Ende der Siedlung. Dort kletterte Wasja durch die Dampfschwaden auf die obere Schwitzbank und schlug sich mit den Birkenreisern nicht schlechter als ein geborener Sibirier. Als sie zurückkamen, stand schon der Samowar auf dem gedeckten Tisch, vom Herd duftete es appetitlich nach Braten und gebackenen Plinsen. Wasja, der das Leben in einer Familie gar nicht mehr gewohnt war, fühlte sich unsicher. Aber Alexandra Sergejewna fragte ihn nach seinen Eltern und dem Leben im Kinderheim, und allmählich taute er auf. Bis in den späten Abend hinein blieb man am Tisch sitzen. Als aber Alexandra Sergejewna bemerkte, daß ihr kleiner Gast heimlich zu gähnen anfing, führte sie ihn in die Stube und legte ihn zu Bett. Wasja rollte sich unter der warmen Decke zusammen und schloß die Augen. Nicht lange, und er war fest eingeschlafen. Nur langsam dämmert in der Taiga der Wintermorgen. Lange kämpft die Sonne mit dem kalten Nebel, bis sie ihn endlich bezwungen hat, und es geschieht mitunter, daß die große rote Sonnenscheibe eine ganze Stunde über dem Horizont steht, während sich im Wald immer noch blau-violettes Dunkel ausbreitet. Wasja wachte auf. In der Küche hörte er Alexandra Ser-
gejewna laufen. Etwas zischte auf der Pfanne, im Herd knisterte trockenes Holz, und Geschirr klapperte. Dann öffnete sich kreischend die vereiste Tür, Iwan Danilowitsch kam anscheinend von der Straße herein. Wasja hörte, wie er die Hände gegeneinander schlug. Ohne seinen Pelz auszuziehen, warf er einen Blick in Wasjas Zimmer. „Bist du wach.?“ erkundigte er sich. „Dann steh auf und zieh dich an, wir wollen frühstücken!“ Und während er bereits im Begriff war, in die Küche zu gehen, fügte er hinzu: „Ich war schon zur Fütterung.“ Wasja ärgerte sich über sich selbst. Wäre er früher aufgestanden, hätte Iwan Danilowitsch ihn gewiß mitgenommen. Jetzt konnte er bis zum nächsten Morgen warten. Aber sein Ärger war umsonst. Nach dem Frühstück sagte Iwan Danilowitsch: „Jetzt wollen wir mal zu unsern Zobeln gehen.“ „Warum willst du das Kind bei dem Frost mitschleppen?“ mischte sich Alexandra Sergejewna ein. »Laß ihn doch erst ausruhen!“ „Ach was!“ sagte Iwan Danilowitsch. „Ein Junge muß sich an die Kälte gewöhnen.“ „Nein, nein, Tante, ich geh mit!“ warf Wasja eilig dazwischen. „Ich bin kein bißchen müde mehr von der Reise.“ Und damit der Tierzüchter sich die Sache nicht noch, anders überlegte, zog sich Wasja schnell an. Als er mit langen Schritten neben Iwan Danilowitschs die Straße hinunterging, fragte er: „Und was macht das Zobelweibchen von gestern? Sehnt es sich nicht nach seinem Wald?“ „Ja“, seufzte der Züchter, „es gewöhnt sich schwer ein. Es frißt nicht. Wir werden ihm etwas Süßes geben müssen.“ Wasja hätte zu gern gewußt, mit was für Süßigkei-
ten Iwan Danilowitsch den Zobel zu füttern gedachte, aber er unterließ es, danach zu fragen, Vielleicht hatte der Züchter nur Spaß gemacht. Auf einem schmalen Pfad, der zwischen hohen Schneehaufen festgetreten war, betraten sie den dichten Wald. Ringsum war nicht die kleinste Lichtung, nirgends ein Durchblick, nicht die geringste Spur von einem Menschen. Nur Baum an Baum und Gestrüpp. Als hätte Iwan Wasjas Gedanken erraten, sagte er: „Dieser Bezirk ist zum Naturschutzgebiet erklärt worden. Wie es hier vor hundert Jahren aussah, so ist es geblieben. Niemand schlägt hier auch nur einen Zweig ab. Der Zobel soll rings um sich die echte Taiga sehen, wie er es gewöhnt ist.“ Plötzlich versperrte ein Drahtgitter den Weg. Etwa fünf Schritt davon erst sah es Wasja und blieb erstaunt stehen. Es war an Pfosten festgemacht und bedeutend höher als ein Mensch. „Die sechste Station“, sagte Iwan Danilowitsch kurz und rüttelte an der Pforte. Wasja entdeckte hinter dem Zaun ein kleines Häuschen, das fast bis zum Schornstein im Schnee eingebettet lag. Das junge Mädchen, das am Tag vorher den Käfig mit dem Zobelweibchen in Empfang genommen hatte, kam heraus. Eine wunderbare, unbekannte Welt begann für Wasja hinter dem Zaun. Hier gab es so viel Neues, nie Gesehenes, daß er aus dem Staunen nicht herauskam. Zwischen den Bäumen standen mit Drahtgittern bespannte Gerüste. Jeder Bau gliederte sich in mehrere kleinere Abteile, die zu beiden Seiten eines langen, durchgehenden Korridors lagen. „Das sind Volieren“, erklärte Iwan Danilowitsch. Kaum
näherten sie sich der ersten, als ein wütendes Knurren zu hören war, wie das einer böse gewordenen Katze. In jedem der kleinen Käfige liefen die durch die menschliche Nähe aufgescheuchten Zobel hin und her. Dumpf sang der straff gespannte Draht, „Still, meine Tierchen, still“, sagte Iwan Danilowitsch einschmeichelnd. Aber die Tierchen, ließen sich nicht so leicht beruhigen. Die Aufregung griff auch auf die anderen Volieren über, und nach etwa einer halben Minute war die ganze kleine Stadt im Walde in hellem Aufruhr. Ein Zobel nach dem anderen sprang aus seinem mit Stroh gefüllten Kasten oder Schneeloch hervor, stürzte sich gegen das Gitter oder krallte sich daran fest.
Wasja sah sich um. Wohin er auch blickte, in allen Volieren jagten Zobel umher. „Wieviel sind denn hier?“ fragte der Junge erstaunt. „Sehr viele“, antwortete Iwan Danilowitsch lachend. „Wenn du nicht gut rechnen gelernt hast, kannst du sie nicht zusammenzählen.“ Der Tierzüchter blieb stehen. „Unsere Arbeit ist noch Neuland. Mit der Zobelzucht haben wir erst unter der Sowjetregierung angefangen. Vor der Revolution hatte man noch nicht einmal daran gedacht. Warum? Das ist ganz einfach. Du kennst doch
das Märchen von dem habgierigen Mann, der sein Huhn schlachtete, das ihm goldene Eier legte. Erinnerst du dich? Siehst du, die raubgierigen Kaufleute waren genauso. Sie dachten nur daran, möglichst schnell ihre Taschen zu füllen. Was nachher kam, interessierte sie nicht. Nun, und so rotteten sie allmählich die Zobel aus. Vor etwa fünfundzwanzig Jahren gab es schon fast keine mehr…“ Iwan Danilowitsch machte mit den Armen eine weit ausladende Bewegung… „Und sieh mal, was wir jetzt hier haben. In unserer Station allein steckt ein Millionenvermögen. Und wie viele solcher Stationen gibt es in unserer ganzen Sowchose!“ Durch eine Schneewehe watete der Tierzüchter auf die Tür einer Voliere zu. „Unser Land ist in einer äußerst günstigen Lage“, fuhr er fort. „Zobel gibt es nur in der sibirischen Taiga.“ Iwan Danilowitsch betrat die Voliere und blieb vor dem äußersten, leeren Käfig stehen. An der Tür hing ein Holztäfelchen mit einer kurzen Aufschrift. ,,Bär“, las Wasja und sah den Tierzüchter fragend an. „Dieser Zobel heißt so“, erklärte Sisych. „Er ist ein kleiner Faulpelz und kann den lieben langen Tag fressen, wenn man ihm nur etwas gibt.“ Iwan Danilowitsch klopfte mit dem Finger an das Gitter, und aus einem Holzkasten kam gemächlich ein dicker Zobel mit ungewöhnlich buschigem Fell heraus. Er lief eine Weile im Schnee umher, sprang dann auf ein an der Tür befestigtes Brettchen und sah die Menschen zutraulich an. Sein Schnäuzchen hatte einen gutmütigen Ausdruck, so daß Wasja meinte: „Er ist ja ganz zahm!“ Iwan Danilowitsch schüttelte den Kopf. „Das scheint nur so. An die Menschen hat er sich zwar etwas gewöhnt.
Aber steck mal einen Finger durch das Gitter. Er beißt so fest zu, daß du dich nicht mehr losreißen kannst.“ Der Züchter holte eine Hand voll Zedernüsse ans der Tasche und streute sie auf das Brettchen. Der Zobel schnupperte daran, biß sie flink auf und verschlang die Körne mitsamt den Schalen. „Und hier ist unser bestes Zobelweibchen“, sagte Sisych und trat an einen andern Käfig, in dem eine silbrigschwarze Schönheit hin- und herjagte. „Wir nennen sie die ,Königin’. Sie ist in Transbaikalien, in der Bargusinischen Taiga, geboren. Als sie zwei Jahre alt war, geriet sie in eine Falle und wurde im Flugzeug in die erste Zobelzüchterei bei Moskau gebracht. An ihrem neuen Wohnort führte die ,Königin’ ein ruhiges Leben. Da kam plötzlich der Krieg. Die Faschisten kamen immer näher an Moskau heran. Man konnte die kostbaren Zobel nicht dem Feind lassen. Sie wurden in Käfige gesetzt, mit der Eisenbahn verfrachtet und ins Hinterland, in unsere Sowchose geschickt.“ Sisych blieb fast vor jedem Käfig stehen und machte Wasja mit den Tieren bekannt. Iwan Danilowitsch wußte, wie jeder Zobel aussah, und kannte dessen Angewohnheiten und Eigentümlichkeiten, Von jedem einzelnen Pflegling erzählte er so interessante Geschichten, daß Wasja gespannt zuhörte, damit ihm ja kein Wort entging. Er erfuhr, daß die Zobel entsprechend ihrer Färbung und der Art ihres Fells nach Bezirken eingeteilt wurden. Auf der sechsten Station waren Zobel aus fast allen Gegenden vertreten; aus der Bargusinischen Taiga, dem Amurgebiet, vom Jenissei und aus Kamtschatka. „Und hier ist das ,hohe Köpfchen’.“ Sisych zeigte auf ein dunkles Tierchen mit einem breiten schwarzen Streifen über dem
Rücken. „Die beste Sorte. Diese Art findest du nicht in der Taiga. Sie ist auf unserer Farm gezüchtet.“ Iwan Danilowitsch hätte erzählen können, wieviel Mühe ihm die Züchtung dieser Sorte gemacht, wie er sich lange Zeit mit der Lösung dieser komplizierten biologischen Aufgabe abgequält hatte, Aber er sagte nichts davon. Wasja erfuhr das alles erst später. Als sie das Ende des Ganges erreicht htten, wies Sisych mit dem Kopf auf ein Abteil: „Erkennst du sie wieder?“ „Aber gewiß!“ rief Wasja erfreut „Das ist das Zobelweibchen…“ „Um derentwillen du den Zug versäumt hast“, beendete Iwan Danilowitsch. Der Junge senkte den Blick. Sisych bemerkte seine Verlegenheit und tröstete ihn: „Macht nichts, laß den Kopf nicht hängen. Vielleicht hat dir dieses Zobelweibchen den Weg gezeigt.“ Wasja verstand nicht recht, was er damit meinte. „Welchen Namen haben Sie ihr denn gegeben?“ fragte er, nur um das Schweigen zu brechen. „Darüber habe ich noch gar nicht nachgedacht.“ Der Züchter verlangsamte seinen Schritt, „Ach, mag sie Weschka heißen.“ „Was bedeutet denn das?“ erkundigte sich Wasja. „Das Wort ist in der Taiga gebräuchlich“, erklärte Sisych. „Da, wo weder Weg noch Steg ist, stecken die Jäger Ruten in die Erde. So ein Zeichen heißt Weschka. Wohin die angebrochene Spitze zeigt, muß man einbiegen… Verstehst du?“ „Ja“, antwortete Wasja. Aber warum gerade dieser Zobel so heißen sollte, wußte er immer noch nicht. Klawa trat hinzu. „Wir müssen uns
so abhetzen, Iwan Danilowitsch“, klagte sie. „Wir haben so viel Arbeit, und in unserer Schicht fehlt es an Leuten. Wir brauchen dringend einen Gehilfen…“ „Ich weiß, Klawa, ich weiß“, unterbrach sie Iwan Danilowitsch. „Habt noch etwas Geduld. Ich werde schon einen finden.“ Mit diesen Worten setzte Sisych seinen Weg fort. Jetzt lebte Wasja schon den dritten Tag bei Iwan Danilowitsch. Und was gab es hier nicht alles zu sehen! Fast jeder Schritt brachte eine neue Entdeckung. Einmal geriet Wasja in eine große Küche, in der elektrische Maschinen surrten. Große Stücke Fleisch krochen auf einem Fließband in eine zylindrische Trommel und wurden von einer Unzahl Messer zerhackt. Das war das Futter für die Zobel. Wasja wollte gerade in den nächsten Saal schlüpfen, in dem Frauen in weißen Kitteln an langen, mit Porzellangeschirr vollgestellten Tischen standen, als ihm ein großer, grauhaariger Koch den Weg vertrat: „Was treibst du dich hier herum? Weißt du nicht, daß hier nicht jeder herein darf?“ Wasja wich erschrocken zurück. Doch der Koch hatte inzwischen seine Brille zurechtgerückt und schaute sich den Eindringling näher an. „Bist du der Junge, den Iwan Danilowitsch mitgebracht hat?“ „Ja“, antwortete Wasja schüchtern. „Soso.“ Der Koch wurde freundlicher. „Das bist du also. Na, da komm herein, wenn es dich interessiert. Sieh dir mal unsere Küche an.“ Er führte Wasja selbst umher und erklärte ihm alles. Wasja wunderte sich sehr, als er in der „Tierküche“ außer
Fleisch auch Zucker, Honig, Nüsse und die verschiedensten anderen Nahrungsmittel und Leckerbissen entdeckte. „Wird denn hier auch für Menschen gekocht?“ fragte er. Der Koch schüttelte den Kopf und erzählte, was für eine komplizierte Angelegenheit die Zusammenstellung des richtigen Futters für die Zobel sei, Nach zahlreichen Versuchen und langen Beobachtungen hatten die Züchter festgestellt, welche Nahrung die Tierchen im jeweiligen Alter und in der entsprechenden Jahreszeit brauchten, um sich in der Gefangenschaft normal zu entwickeln und vor allen Dingen auch zu vermehren. In der einem Laboratorium ähnlichen Küche wurden die merkwürdigsten „Gerichte“ zusammengestellt. Wasja sah, wie eine Arbeiterin über eine sorgfältig abgewogene Portion gehacktes Fleisch ein ganzes Glas Honig goß und beides mit einem Löffel verrührte. „Das bekommen die Neulinge“, erklärte der Koch. „In der ersten Zeit wollen sie gar kein Fleisch anrühren. Aber Honig lehnt kein Zobel ab, der schmeckt ihnen gar zu sehr. Damit können wir ihn überlisten. Wir mischen Honig unter das Fleisch.“ „Und fressen sie das?“ „Und wie! Selbst mit Gewalt kriegt man sie nicht vom Futternapf weg!“ Ja, die Zobel hatten schon einen seltsamen Geschmack. Sicherlich wollte Iwan Danilowitsch Weschka ebenfalls mit diesen Leckerbissen füttern. An einem kleinen Tisch in einer Ecke schälte ein Mädchen Zedernnüsse aus. „Der Zobel ist kein Eichhörnchen; er versteht es nicht, Nüsse zu knacken“, sagte der Koch. „Das habe ich gesehen.“ Wasja erinnerte sich. „Er verschlingt die Nüsse mitsamt den Schalen.“
„Richtig“, bestätigte der Koch. „Die Schale kann aber Verdauungsstörungen hervorrufen. Daher muß man den Tieren zu Hilfe kommen.“ Lange schaute sich Wasja noch in der Küche um. Erst als die Kessel und Behälter in die einzelnen Abteilungen geschickt wurden, ging er wieder auf die Straße hinaus. „Wasja, he, Wasja!“ holte ihn plötzlich eine Stimme ein. Der Junge sah sich um, Klawa lief ihm durch den tiefen Schnee nach. Sie winkte mit einem Papier und rief schon von weitem: „Wassenka, Lieber, such mir doch mal Iwan Danilowitsch und gib ihm diesen Bericht. Er ist wahrscheinlich ins Büro gegangen. Ich habe keine Zeit…“ Wasja nahm das Papier ab und begab sich zum Büro. Er ärgerte sich etwas, daß Klawa seine Träume unterbrochen hatte. Er hatte sich gerade vorgestellt, daß er ein berühmter Tierzüchter sei, Auf einmal kam ihm ein kühner Gedanke. „Ich geh zum Direktor!“ flüsterte er. „Ich werde ihn bitten, daß ich hierbleiben darf. Ich bin schon groß und kann hier arbeiten.“ Wasja hatte den Direktor der Farm nur einmal flüchtig gesehen. Es war ein sehr geschäftiger, rundlicher kleiner Mann, Leise machte Wasja die Tür zum Bürogebäude auf. „Wen suchst du, Junge?“ Das junge Mädchen an der Schreibmaschine blickte auf. „Iwan Danilowitsch.“ „Genosse Sisych ist beim Direktor. Setz dich, er wird gleich herauskommen.“ Wasja nahm auf einem Sofa Platz. Das junge Mädchen hatte aufgehört zu schreiben, und man konnte hinter der dünnen Wand Iwan Danilowitschs Stimme hören. Er
sprach von irgendwelchen Brettern, die zu seiner Station gebracht werden mußten, und bat um ein neues Drahtgitter zum Ausbessern der Volieren. „Schön, ich werde es dem Wirtschaftsleiter sagen“, erwiderte der Direktor, Es trat eine kurze Pause ein, dann begann Iwan Danilowitsch von neuem: „Ich habe noch eine besondere Frage. Da ist doch der Junge hier…“ „Ich habe davon gehört“, unterbrach der Direktor. „Du willst ihn adoptieren? Bin damit einverstanden.“ „Daran habe ich vorläufig noch nicht gedacht“, antwortete Sisych. „An der Form liegt ja auch nichts. Ob ich ihn nun meinen Sohn nenne oder nicht, darauf kommt es nicht an. Die Hauptsache ist, daß man dem Jungen hilft.“ „Vielleicht müßte er ins Kinderheim zurück…“ „Hm“, brummte Iwan Danilowitsch, „Anfangs habe ich das auch gedacht. Es fragt sich nur, wo man ihn hinschicken soll. Er weiß es ja selbst nicht.“ „Ja, ja“, bestätigte der Direktor, und Wasja hörte, wie jemand auf dem Tisch trommelte. „Gewiß wird man nach ihm forschen“, fuhr Sisych fort. „Aber inzwischen…“ „Was schlägst du denn vor?“ „Ich möchte ihn gern auf meine Station nehmen. Mag er vorläufig den Mädchen helfen. Er ist anstellig – und das Weitere werden wir ja sehen…“ „Schön, nimm ihn“, willigte nach einigem Überlegen der Direktor ein, „wenn… wenn er selbst dahin will. Vielleicht sollte man ihm eine leichtere Arbeit geben? Wir brauchen auch einen Laufburschen fürs Büro.“ Da sprang Wasja vom Sofa auf, lief an dem verdutzten
Mädchen vorbei und riß die Tür zum Nebenzimmer auf. Er sah, wie der Direktor überrascht aufsah und Iwan Danilowitsch die dichten Brauen runzelte. „Schicken Sie mich in die Züchterei, Onkel!“ rief Wasja aufgeregt, „zu den Zobeln!… Ich… Ich… Wasja verstummte. Er schämte sich plötzlich, daß er so einfach ins Zimmer gerannt war. Der Direktor sah den Jungen durchdringend an. Dann stand er auf, trat zu Wasja, klopfte ihm auf die Schulter und sagte lächelnd: „Geh nur zu den Zobeln, geh! Das ist eine gute Sache. Aber denk daran: Wenn du sie nicht liebst, dann kommt nichts dabei heraus. Unsere Tierchen verlangen, daß man mit dem ganzen Herzen dabei ist.“ Am nächsten Morgen gingen Iwan Danilowitsch und Wasja gemeinsam zur sechsten Station. In dem Häuschen am Eingang trafen sie wieder Klawa. Sie war die Dienstälteste in ihrer Schicht und kam früher als ihre Kameradinnen zur Arbeit, um noch vor Beginn der Fütterung da zu sein. Sie schaute aufmerksam in ein dickes Buch. „Nein, der Wildling verdirbt mir die ganze Laune!“ rief sie aus. „Wieder rennt er dauernd gegen das Gitter, wieder frißt er fast nichts. Und da ist noch so ein launisches Wesen angekommen: Weschka. Die guckt ihr Futter überhaupt nicht an.“ Wasja warf einen Blick in das aufgeschlagene Buch. In sorgfältig liniierten Spalten wurden zweimal am Tage Eintragungen über das Verhalten der Zobel und über die für sie bestimmte Kost gemacht. In vielen Spalten wiederholte sich Tag für Tag dasselbe Wort: „Normal.“ Das bezog sich meist auf die Tiere, die schon lange auf der Farm lebten oder hier geboren waren. Aber was für Ein-
tragungen standen nicht alle über die Neulinge zu lesen, Wasja fand die Weschka gewidmete Seite: „Hat drei Stunden am Gitter genagt“, „Saß einen halben Tag in ihrer Höhle unter dem Schnee“, „Suchte sich in die Hand der Arbeiterin zu verbeißen, die ihr das Futter brachte.“ Aber er konnte nicht zu Ende lesen. Sisych sagte: „Hier, Klawa, nimm unsern neuen Gehilfen in Empfang! Führ ihn in die Arbeit ein und gib ihm die Aufsicht über die zwölfte Voliere.“ Das Mädchen warf einen raschen, befremdeten Blick auf Iwan Danilowitsch. „Die Überwachung der Zobel ist eine wissenschaftliche Arbeit“, sagte sie und wollte damit zu verstehen geben, daß sie diese Wasja nicht recht zutraute. „Das weiß ich“, sagte Sisych trocken und fügte nach einem Blick auf die Uhr hinzu: „Es ist Zeit zum Dienstantritt.“ „Komm, Wasja!“ Klawa erhob sich von ihrem Hocker, „Du mußt jeden Winkel der Station kennenlernen.“ Sie gingen gemeinsam alle Volieren durch. Wasja beobachtete Klawa genau und kam zu dem Schluß, daß die Arbeit gar nicht so schwierig sei. Man mußte nur nachprüfen, ob alle Tierchen in ihren Käfigen waren, die Gitter nachsehen und die im Buch eingetragenen Beobachtungen durchlesen. Kaum war Klawa mit ihrem Rundgang durch alle Volieren fertig, als am Eingang der Station Schlittenkufen knirschten. Das war die Fuhre mit dem Zobelfutter. Die Kutscher trugen die Behälter ins Häuschen. Klawa schlug das dicke Buch auf, das Wasja schon kannte, und ordnete an: „Möwe bekommt Ration G, Kleinchen B, Silberfell dasselbe…“ Wasja half den Arbeiterinnen der Farm das Futter in die
Volieren tragen und wunderte sich darüber, daß sie in der Eile nicht die Porzellannäpfe verwechselten und einem Tierchen etwas hinstellten, das ihm nicht zukam. Aber dann entdeckte er, daß auf jeder Schüssel ein Name stand. Jeder Zobel fraß aus seinem eigenen Napf. Als die Verteilung der „Diätportionen“ beendet war, sagte Klawa: „Die übrigen bekommen normal“, klappte das Buch zu und half mit bei der Verteilung. Eine halbe Stunde darauf ging Wasja mit den Arbeitern das Geschirr wieder einsammeln. Fast alle Schüsseln waren leer, nur das Futter der launischen Neulinge war unberührt stehengeblieben. An diesen Käfigen ging man vorüber und ließ die Näpfe auf dem Fach stehen. Wasja bemerkte, wie in einer der Volieren ein Zobel das übriggebliebene Fleisch im Schnee vergrub. „Ach. du Habgieriger!“ Klawa lachte. „Fressen will er nicht mehr, aber zurückgeben auch nichts!“ Wäre mehr Zeit gewesen, hätte das Mädchen vielleicht über diesen Vorfall nachgedacht. Aber Klawa beeilte sich, das Geschirr einzusammeln, und trug daher das merkwürdige Vorhalten des Zobels nicht ins Tagebuch ein. In der zwölften Voliere empfing sie Iwan Danilowitsch und führte sie in das Wächterhäuschen. Der Raum war nicht größer als ein Zobelkäfig. An der Wand standen zwei Hocker, auf einem kleinen Tisch, am Fenster lagen Schreibpapier und ein Bleistift. In der Ecke brannte ein eisernes Öfchen. Hier erzählte Iwan Danilowitsch lange und ausführlich, wie die Zobel überwacht werden mußten, wie die Eintragungen zu machen waren und wie sich Wasja in einer Voliere zu verhalten hatte. Dann ließ er ihn allein. Wasja trat ins Freie. In der Station wurde es still. Die beschneiten Zweige
der Bäume hingen schwer herab und warfen lange, bläuliche Schatten auf den Schnee. In der vom Frost regierten Taiga schien jedes Lebewesen erstarrt. Wasja wickelte sich fester in seinen Pelz und tat ein paar Schritte in den Mittelgang. Aufgeschreckt durch das plötzliche Geräusch, sprang Weschka in ihrem Käfig nach hinten und verkroch sich in eine Ecke. Wasja dachte an Iwan Danilowitschs Anweisung, die Zobel möglichst wenig zu beunruhigen, und blieb steif stehen. Seit Wasja auf der Pelztierfarm arbeitete, waren etwa zwei Wochen vergangen, doch zuweilen schien es ihm, als wäre er schon sehr lange hier. Tag und Nacht dachte er nur an die Zobel und bemühte sich, ja nichts zu übersehen. Jede Kleinigkeit konnte wichtig sein. Es gab noch viel Unerforschtes, Rätselhaftes im Leben eines Zobels. Jetzt begriff Wasja, warum Klawa diese Beobachtung eine wissenschaftliche Arbeit nannte: Je vollständiger und gewissenhafter die Eintragungen in den Tagebüchern gemacht wurden, um so schneller konnten die Zoologen und die Tierzüchter die angeblichen Launen der Zobel deuten. Wenn Wasja am Schluß seiner Schicht Klawa seine Notizen überbrachte, beobachtete er gespannt, wie sie das Mädchen in das dicke Buch übertrug. Er fürchtete immer, Klawa könnte etwas vergessen, und je mehr sie einschrieb, desto zufriedener war der Junge mit seiner Arbeit. Zu Hause erzählte Wasja mit Begeisterung von den Zobeln. Wenn der Züchter einen freien Abend hatte, gab es viel zu fragen und zu erzählen. Aber oftmals war Iwan Danilowitsch nicht zu Hause, und seine Frau ließen die Zobel ziemlich kalt. Das merkte Wasja bald. Sie interessierte sich viel mehr dafür, ob der Junge während
des Dienstes auch nicht fror oder zuwenig Pasteten und Milch mitnahm. An einem mondhellen Abend lief Wasja in der Umgebung der Farm Schi und stieß dabei auf ein im Schnee versunkenes Häuschen. Es stand mitten im Feld, und er hätte es gar nicht bemerkt, wenn nicht eine dünne Rauchsäule emporgestiegen wäre. Das geheimnisvolle Häuschen erregte Wasjas Neugier. Er glitt näher, blieb aber dann unschlüssig davor stehen. Gern hätte er gewußt, wer darin wohnte, aber eine plötzliche Schüchternheit hielt ihn zurück. Da wurde die Tür einen Spalt weit geöffnet, und eine rauhe Stimme rief: „Wer ist dort? Herein, wenn du ein guter Mensch bist!“ Wasja stellte die Schneeschuhe an die Wand und betrat das Häuschen. Ein kleiner, sehr beweglicher alter Mann mit einem Bärtchen wie ein Bastbüschel und einem grauen Schopf empfing ihn. „Ei der Tausend! Was da für ein Riesenkerl hereinschneit! Wer bist du denn?“ Es zeigte sich, daß der Wirt sehr gesprächig war. Und bald erfuhr Wasja, daß er Ilja Petrowitsch hieß und Wächter des Gemüsegartens war. Er lebte ganz allein und zog sogar im Winter, wenn alles abgeerntet war, nicht in die Siedlung. „Was soll ich da?“ fragte er achselzuckend. „In den Klub gehen? Dazu bin ich schon zu alt… Und hier lebe ich wie in einem Landhaus.“ Ilja Petrowitsch war ein leidenschaftlicher Zobelfänger. In seiner Jugend hatte er die hiesige Taiga kreuz und quer durchstreift. Das war seine schönste Zeit gewesen. Fast zehn Jahre ging er nun nicht mehr auf Jagd, aber wie in früheren Jahren hingen seine gereinigten und gut geölten
Flinten an der Wand, und unter seinem Bett lagen noch brauchbare Zobelnetze. „Du glaubst wohl, ich tauge zu nichts mehr?“ fragte der Alte. „Nein, einiges kann Ilja Petrowitsch noch. Als im vorigen Jahr ein Zobel aus der Voliere ausgerissen war, habe ich ihn im Nu wieder eingefangen.“ „Kommt das häufig vor, daß einer ausreißt?“ fragte Wasja interessiert. „Nicht gerade häufig, aber es kommt vor. Nur läuft er nicht weit…“ Und Ilja Petrowitsch erzählte, wie die Zobel gefangen werden. Der alte Jäger berichtete ihm viel Wissenswertes von der Taiga, so daß sie in ihrer ganzen rauhen Schönheit, mit all ihren großen und kleinen Tieren lebendig wurde. In Ilja Petrowitschs Häuschen lernte Wasja auch viele Kinder aus der Siedlung kennen. Oft kamen sie des Abends für eine Weile her, um den Erzählungen des alten Zobelfängers zu lauschen. Wasja besuchte seine neuen Freunde oder ging mit ihnen in den Klub. Bald fühlte er sich in der Siedlung wie zu Hause. Lange schon hatte es auf der Tierzuchtfarm nicht so aufregende Tage gegeben wie in der letzten Zeit. Den Direktor, die wissenschaftlichen Angestellten, die Tierzüchter und die Arbeiter, sie alle versetzte ein scheinbar unlösbares Problem in Aufregung. Eine Woche zuvor hatte das Flugzeug die erwartete Sendung Zobel, die in der Bargusinsker Taiga gefangen worden waren, zur Farm gebracht, zwanzig ungewöhnlich schöne Tiere. Als sie aus dem Flugzeug ausgeladen wurden, stürzten sie sich so wild gegen die Gitter, daß die Leute unwillkürlich zurücktraten.
„Macht nichts, sie werden sich auch eingewöhnen“, meinte der Direktor. Aber er irrte sich. Die Bargusinsker dachten nicht daran. Nach einer Woche jagten sie ebenso unruhig in den Volieren umher wie am ersten Tag. Doch das war nur die eine Seite des Unglücks. Einmal mußten sie schließlich müde werden und sich mit ihrem Geschick abfinden. Etwas anderes beunruhigte die Tierzüchter noch mehr: Wie auf Verabredung waren alle Bargusinsker in den Hungerstreik getreten. In der ganzen Woche hatte auch nicht einer das Futter angerührt. Umsonst zerbrachen sich die Zoologen die Köpfe, stellten das allerleckerste Futter zusammen – die Zobel fraßen nicht. Wie sie ohne Nahrung leben konnten, blieb den Züchtern ein Rätsel. Sieben Tage ohne Futter, das war keine Kleinigkeit. „Wir haben noch so einen Fall!“ erklärte Sisych. „Weschka. Seit über zwei Wochen sieht sie das Futter nicht an. Und hat dabei kaum abgenommen! Ich verstehe das einfach nicht…“ „Vielleicht lernen wir bei dieser Gelegenheit noch unbekannte Eigentümlichkeiten der Zobel kennen“, meinte einer der Zoologen. „Vielleicht können sie lange Zeit ohne Nahrung leben. Denken wir an den Bären: Er frißt doch auch den ganzen Winter nichts…“ „Nein, das ist nicht dasselbe!“ unterbrach ihn Iwan Danilowitsch. „Der Bär fällt in einen Winterschlaf und lebt während dieser Zeit von Fettablagerungen unter seiner Haut. Was für Fett hat dagegen der Zobel? Nichts als Muskeln… Er schläft außerdem auch gar nicht den Winter über.“
„Allerdings“, gab der Wissenschaftler zu. „Aber wie soll man es denn sonst erklären?“ „Ich weiß es nicht.“ Sisych seufzte. „Wir müssen die Tiere weiter beobachten.“ Und der Züchter verbrachte den größten Teil des Tages in der zwölften Voliere. Wenn er sich für noch so kurze Zeit entfernen mußte, gab er Wasja die strenge Anweisung, Weschka nicht aus den Augen zu lassen und womöglich, jede Bewegung des Zobelweibchens zu notieren. Einmal stand Wasja wie gewöhnlich auf seinem Lieblingsplatz, von dem aus er die ganze Voliere und besonders Weschkas Käfig übersehen konnte. Es kam der Abend. Die Sonne verschwand hinter den Bäumen, das Halbdunkel im Wald verdichtete sich. Nur im Westen färbte eine karge winterliche Abendröte den Himmel. Das Geflecht der Äste hob sich deutlich davon ab, und ein einzelnes Wölkchen, das gleichsam in Flammen stand, warf ein zartes violettes Licht auf den Schnee. Hatte die Kälte am Tage etwas nachgelassen, herrschte jetzt wieder klirrender Frost. Auf der Station war es still. Nur ab und zu hörte man das leise Schürfen eines Pfötchens. Dann flog eine Krähe über den Wald, in der eisigen Luft war das Rauschen der großen Schwingen klar zu hören. Sie fliegt zur Nacht in die Taiga, dachte Wasja. Jeden Augenblick mußte seine Ablösung erscheinen, und Wasja stellte sich vor, wie er zu Hause die erfrorenen Hände wärmen würde. Plötzlich raschelte es in Weschkas Käfig. Wasja fuhr zusammen und lugte hinter dem Pfosten hervor, wo er Deckung genommen hatte. Der Zobel war aus seiner kleinen Schneehöhle herausgesprungen und hatte dabei
einen dunklen Klumpen fallen lassen. Mit gespitzten Ohren sah er sich jetzt nach allen Seiten um, und da er offenbar nichts Verdächtiges bemerkte, begann er hastig an diesem Klumpen zu nagen und ihn gierig zu verschlingen. „Er frißt!“ Wasja entschlüpfte beinah ein Freudenschrei. Er tat einen Schritt vorwärts, um zu untersuchen, was das für ein Futter war. Doch im selben Augenblick entwischte die aufgeschreckte Weschka in ihre Schneehöhle. Auf dem Schnee lag gefrorenes Hackfleisch, das Futter, mit dem die Zobel gewöhnlich gefüttert wurden. Wasja überlegte. Wie war dieses Fleisch unter den Schnee geraten? Weschka hatte doch niemals das Futter, das sie bekam, auch nur angerührt! Folglich waren es Vorräte, die ein anderes Tier versteckt hatte. Und jetzt erinnerte sich Wasja an den Vorfall, den er am ersten Tag seiner Arbeit beobachtet hatte. Damals hatte ein Zobel, den Klawa als gierig bezeichnete, den Rest |seines Futters im Schnee vergraben. Aller Wahrscheinlichkeit nach hatte das Tierchen, das vor Weschka in diesem Käfig wohnte, dasselbe getan. Aber warum fraß das Zobelweibchen nur das gefrorene Fleisch? Schmeckte es besser als das frische? Mit diesen Gedanken beschäftigt, merkte Wasja gar nicht, wie Iwan Danilowitsch die Voliere betrat. „Was überlegst du denn, Junge?“ fragte er und blieb vor ihm stehen. Wasja erzählte sofort, was er gesehen hatte. Und je länger er sprach, desto aufmerksamer lauschte der Züchter. Der Junge hatte seinen Bericht längst beendet, als Iwan Danilowitsch immer noch dastand, ohne sich zu rühren. Schließlich öffnete er den Mund, sagte aber nur ein ein-
ziges Wort: „Interessant!“ Dann machte er schroff kehrt und ging mit großen Schritten davon. Wasja schaute ihm erstaunt nach. Er hätte so gern ausführlich mit Iwan Danilowitsch darüber gesprochen. Unterdessen kam die Ablösung. Wasja wollte gleich nach Hause gehen und sich mit Iwan Danilowitsch beim Abendessen unterhalten. Aber Wasja wartete vergeblich. Der Züchter ließ sich nicht blicken. Am nächsten Morgen erfuhr Wasja, daß Iwan Danilowitsch erst gegen Mitternacht nach Hause gekommen und schon vor Dienstantritt wieder in seine Abteilung zurückgekehrt war. Der Junge frühstückte in aller Eile und lief schnell zur Station. Bis zum Schichtwechsel fehlte fast eine Stunde, aber niemand wunderte sich darüber, daß Wasja so früh kam. In dem Häuschen traf er außer Iwan Danilowitsch und Klawa noch den Direktor der Farm an sowie den Tierzüchter der zweiten Abteilung und den ersten Zoologen. „Da ist ja unser tüchtiger Beobachter!“ sagte Iwan Danilowitsch in bester Laune, als Wasja den Schnee von den Filzstiefeln klopfte. „Und Sie, Genosse Direktor, wollten aus ihm nur einen Laufburschen machen!“ „Ich gestehe, daß ich seinen wahren Wert verkannt habe.“ Wasja, der nicht recht wußte, ob man im Scherz oder Ernst über ihn sprach, lächelte verlegen. Aber da sagte Iwan Danilowitsch:
„Du hast eine wichtige Entdeckung gemacht, Wasja! Weißt du, warum die neuen Zobel unser Futter nicht gefressen haben? Ganz einfach: Wir haben ihnen nicht das zu fressen gegeben, was sie im Winter in der Taiga gewohnt sind. Sie haben sich da meist von gefrorenem Fleisch ernährt. Wir aber haben ihnen immer frisches, nicht durchgefrorenes Fleisch gegeben. Und das war das ganze Geheimnis! Als der Zobel das Futter, das wir ihm gaben, im Schnee vergrub, tat er das nicht aus Habgier, sondern damit es gefror… Wir haben in allen Volieren den Schnee durchsucht. Fast in jedem Käfig gab es solche Vorräte. Davon also haben sich Weschka und die
anderen Neulinge ernährt. Wären diese Vorräte nicht gewesen, so hätten die Zobel natürlich – ob sie wollten oder nicht – das frische Fleisch fressen müssen. Aber so große Not hatten sie nicht.“ „Haben Sie Weschka schon mit gefrorenem Fleisch gefüttert?“ fragte Wasja. „Nein, das darfst du gleich tun, eine halbe Stunde vor der allgemeinen Fütterung.“ Klawa brachte vom Hof etwas gefrorenes Hackfleisch. Wasja legte es in einen Napf und lief damit zur zwölften Voliere. Hier stellte er die Schüssel in das kleine Fach und versteckte sich wieder hinter dem Pfosten. Einige Zeit ließ Weschka sich nicht sehen, dann sprang sie lautlos aus ihrem Nest heraus und sah sich um. Gleich darauf stürzte sie auf das Futter, ergriff das Fleisch und begann es leise knurrend zu verschlingen. Der Junge wartete, bis Weschka mit ihrem Frühstück fertig war, und lief dann zum Wächterhäuschen. „Sie hat alles aufgefressen, Iwan Danilowitsch!“ rief er strahlend. „Alles, bis aufs letzte Stückchen!“ Der Züchter nickte und sagte: „Siehst du jetzt, daß die Beaufsichtigung der Zobel eine wissenschaftliche Arbeit ist?“ Dabei warf er Klawa einen verschmitzten Blick zu und lachte. Diesen ganzen Tag wurde in der Farm von nichts anderem gesprochen als von Wasja Pawlow. Auf den Stationen, im Büro und bei zufälligen Begegnungen auf der Straße war er das einzige Gesprächsthema. „Der Bursche hat Köpfchen!“ sagten die Arbeiter anerkennend, „Wir haben doch so viele Beobachter, und kein
einziger hat das bemerkt.“ Wasja aber tat nach wie vor seinen Dienst in der Voliere und ahnte gar nicht, wie bekannt er inzwischen geworden war. Gegen Mittag kam Iwan Danilowitsch auf einen Sprung zu Wasja in die Voliere. Er erkundigte sich nach Weschka und fragte, ob genügend Brennholz für das Öfchen da sei. „Das Holz reicht noch für etwa drei Tage“, erwiderte Wasja. „Aber Weschka ist auf einmal so still geworden. Seit einer ganzen Stunde schon kommt sie nicht mehr aus ihrem Nest heraus.“ „Sie wird satt sein“, sagte der Züchter. „Jetzt, wo sie angefangen hat, richtig zu fressen, wird sie bald ruhiger werden.“ Er ging einmal den Gang entlang, räusperte sich dann und sagte: „Gehen wir einen Augenblick in das Wächterhäuschen, Wasja! Wir müssen miteinander reden.“ Nachdem er in aller Ruhe die Tür hinter sich geschlossen hatte, ließ er sich schwer auf einen Hocker nieder, blickte dem Jungen in die Augen und sagte: „Vom Bezirkskomitee ist ein Brief gekommen. Das Kinderheim hat in einem Telegramm gebeten, nach dir zu forschen und dich nachzuschicken.“ Freude und Aufregung spiegelten sich in Wasjas Gesicht. Wie gern hätte er seine alten Freunde wiedergesehen, mit denen er so lange zusammengelebt hatte! Wieviel konnte er den Jungen erzählen. Sicherlich würden sie vor Neid platzen, wenn sie hörten, daß er auf einer so wundervollen Farm gearbeitet hatte. Und die Erzieherin Maria Michailowna, die ihm eine zweite Mutter geworden war – wie würde sie sich freuen, ihn gesund und wohlbehalten in die Arme zu schließen!
Aber die Farm und die liebgewordene Arbeit, Iwan Danilowitsch, Klawa, die neuen Freunde… Konnte er sie wieder verlassen?… Hatte er nicht auch hier Menschen getroffen, die es gut mit ihm meinten? „Ich möchte gar nicht mehr von hier fort“, brachte Wasja leise hervor. „Ich möchte so gern auf der Farm bleiben… und Züchter werden.“ „Ich glaube auch, daß du nicht ins Kinderheim zurückzukehren brauchst“, stimmte ihm Iwan Danilowitsch bei. „Du bist doch schon vierzehn Jahre alt, hast eine passende Arbeit gefunden, bei der du etwas leisten kannst. Was brauchst du also noch? Weiterlernen mußt du, das ist wahr. Aber die Sowchose wird dir dabei helfen. Du erhältst eine ordentliche Ausbildung als Tierzüchter.“ „Ich brauche also nicht zu fahren?“ „Nein, Junge, du brauchst nicht“, antwortete der Züchter. „Ich habe schon mit dem Direktor gesprochen. Wir wollen versuchen, dich hierzubehalten. Morgen schreiben wir an das Kinderheim. Sie werden es schon verstehen…“ „Sicherlich werden sie das“, fiel Wasja ein. „Bei uns war auch ein Junge, der Kostja, der konnte gut zeichnen; den hat man auf eine Kunstakademie geschickt.“ „Und dich werden wir zum Tierzüchter ausbilden“, versprach Iwan Danilowitsch. In dem Öfchen knisterten und loderten die harzigen Holzscheite. In dem Häuschen war es schön warm. Als Sisych gehen wollte, erinnerte er sich plötzlich: „Fast hätte ich’s vergessen… Da ist heute noch ein Brief mit der Post gekommen, von Jascha Garanow. Hier.“ Er holte ein dreifach gefaltetes Blatt Papier aus der Tasche. „Lieber Iwan Danilowitsch!“ schrieb Jascha. „Entschuldigen
Sie, daß ich Ihnen schreibe. Sie haben ein paar tausend Zobel und natürlich keine Zeit, sich mit jedem Tier besonders abzugeben. Aber ich möchte zu gern wissen, wie es dort meinem Zobelweibchen geht. Schreiben Sie mir doch bitte ein paar Worte. Und teilen Sie mir auch mit, was aus Wasja geworden ist, dem Jungen, der den Zug verpaßt hat. Ich warte mit Ungeduld auf Nachricht. Ihr Jakow Garanow.“ „Ich werde ihm antworten“, sagte Iwan Danilowitsch, nachdem Wasja den Brief gelesen hatte. „Aber es wäre schön, wenn du auch ein Briefchen schreiben würdest. Du hast die Aufsicht über Weschka, so berichte ihm doch ausführlich über alles, was sich ereignet hat.“ „Ja, das tue ich!“ rief Wasja. „Gleich heute, wenn ich von der Arbeit komme, werde ich ihm schreiben.“ Und nicht ohne Stolz dachte er, daß Jascha beruhigt sein konnte. Weschka war auf die allerbeste Station geraten. Als Wasja allein war, ging er wieder ins Freie. Aufmerksam besichtigte er jeden einzelnen Käfig. Alles war in Ordnung: Die Tierchen sprangen darin umher, hingen sich ans Gitter oder wühlten im Schnee… Nur Weschka saß immer noch in ihrem Nest. Was hat sie nur heute? dachte Wasja und klopfte leicht an den Kasten. Weschka kam nicht zum Vorschein. Merkwürdig: Kein Zobel vertrug auch nur das leiseste Geräusch und sprang sofort heraus. Sie sitzt wohl in ihrer Schneehöhle? überlegte der Junge und sah sich den kleinen Schneehaufen an der Rückwand des Käfigs genau an. Doch plötzlich stand ihm das Herz still vor Schreck. Auf dem unbetretenen, lockeren Schnee hinter dem Gitter war deutlich eine frische Zobelspur zu sehen. Sie führte quer über einen freien Platz und verschwand zwischen den
Bäumen. Wasja riß die Tür des Käfigs auf und stürzte in die Ekke, wo die Spur ihren Anfang nahm. Und hier wurde dem Jungen alles klar: , Am Pfosten war eine verrostete Drahtmasche gerissen, und das hatte Weschka genügt. Sie vergrößerte das Loch und entwischte in die Taiga. Aber vielleicht hatte sie das Außengitter von der Flucht abgehalten, und sie lief noch innerhalb der Station umher? Wasja verfolgte die Spur. Bis an den Gürtel versank er im Schnee. An der Umzäunung aber brach seine letzte schwache Hoffnung zusammen. Das gewandte Tierchen war auf eine Tanne geklettert und hatte von einem ihrer langen Äste das Gitter übersprungen. Weschka war im Waldesdickicht verschwunden wie eine Stecknadel im Heuhaufen. Der Junge verspürte plötzlich eine lähmende Müdigkeit. Ohne den Blick von den frischen Abdrücken der Zobelpfötchen zu wenden, ließ er sich verzweifelt in den Schnee fallen. Im Wald war es ganz still, so still, daß Wasja meinte, sein Herzklopfen müsse man hören. Was hatte Jascha Garanow gesagt? „Geben Sie gut auf mein Zobelweibchen acht!“ Und Wasja hatte sie entkommen lassen, hatte nicht aufgepaßt! Jetzt war alles aus. Ein Wächter hatte einmal einen Verweis bekommen, weil er während der Dienstzeit eingeschlafen war. Sicher würde man Wasja sofort entlassen. Seine Fahrlässigkeit kam ihm ungeheuer groß vor. Langsam stand er auf und ging zurück. Wenn doch, alles nur ein Traum wäre! Wenn er nur die Voliere zu betreten brauchte und Weschka erblicken würde! „Was läufst du dort herum?“ hörte er Klawas Stimme.
Das Mädchen ging mit einer Schaufel über der Schulter den Mittelgang entlang. „Weschka ist fort!“ Klawa ließ die Schaufel fallen und rannte in die zwölfte Voliere. Sie kam gleich wieder zurück. „Ich werde sofort Iwan Danilowitsch und den Direktor anrufen“, rief sie. „Und du läufst schnell zu Ilja und erzählst ihm, was passiert ist. Mach so schnell du kannst, verstehst du?“ Wasjas Lebensgeister kehrten wieder. Er warf den schweren Pelz ab und rannte zum Tor. Von der sechsten Station bis zum Häuschen des Alten waren es zwei Kilometer. In welcher Zeit Wasja den Weg zurücklegte, hätte er später nicht sagen können. Als er ankam, war sein Hemd unter der wattierten Jacke naß vom Schwitzen, und sein Herz pochte, als wollte es ihm aus der Brust springen. Ilja Pelrowitsch war nicht da. Er hatte anscheinend die Siedlung aufgesucht, und mit seiner Rückkehr war nicht so bald zu rechnen. Der Alte verließ sein Häuschen selten. Hatte er sich aber erst einmal aufgemacht, kam er nicht eher zurück, bis er allen seinen zahlreichen Freunden einen Besuch abgestattet hatte. Wasja trat ein, ließ sich verzweifelt auf der Ofenbank nieder, nahm seine Mütze ab und trocknete sich die nasse Stirn. Darauf holte er, wozu, wußte er selbst nicht recht, eines der Zobelnetze unter dem Bett hervor und wischte den Staub ab. Wieviel Zobel hatte Ilja Petrowitsch schon mit diesem Netz gefangen? Der Alte wußte viele Schliche, den Zobel zu überlisten, und Wasja hatte sich heimlich gewundert, warum der Zobelfang als so schwierig galt. Die Sonne neigte sich langsam zum Horizont. Lange dunkle Schatten legten sich über das Feld. Im Westen kam ein leichter
Wind auf – das Wetter würde umschlagen. Wasja war ganz verzweifelt. Der Wind konnte die Zobelspur verwehen. Dann war Weschka nicht mehr zu finden. Wasja mußte in die Siedlung gehen und Ilja Petrowitsch suchen. Der Junge machte die Tür fest zu. Aber nach ein paar Schritten hielt er inne, kehrte wieder um und ging ins Häuschen zurück. Er fand ein Stück Papier und ein Bleistiftende, beugte sich über den Tisch und kritzelte eilig: „Lieber Ilja Petrowitsch! Seien Sie mir nicht böse, ich habe Ihre Schneeschuhe, das Netz und den Käfig genommen. Wenn ich Weschka gefangen habe, bringe ich alles zurück. Wasja Pawlow.“ Darauf warf Wasja das Netz und den Käfig über die Schulter, schnallte die breiten Jägerschneeschuhe an und sauste, ohne sich noch einmal umzusehen, davon. Wasja brach allein in die Taiga auf. Inzwischen saß Iwan Danilowitsch zu Hause und schrieb an den Direktor des Kinderheims. Plötzlich schrillte das Telefon. Der Tierzüchter runzelte ärgerlich die Stirn und hob den Hörer ab. „Entlaufen? Nicht möglich!… Vor einer Stunde? Teufel auch!“ Iwan Danilowitsch warf den Hörer auf die Gabel, nahm Mütze und Pelzjoppe vom Haken und stürzte zur Tür, Der Direktor der Farm empfing ihn mit der kurzen Frage: „Wie ist denn so was möglich?“ „Das Gitter war durchgerostet“, erwiderte der Tierzüchter. „Sie hatten mir ein neues versprochen…“ „…Und nicht gegeben“, schloß der Direktor. „Ich hatte den ganzen Vorrat in die zweite Station geschickt. Dort waren sie noch schlechter als bei dir. Ich dachte, bei dir ginge es noch eine Weile…“
Er schob einige Papiere zur Seite und rief die Sekretärin. „Geben Sie an alle Kolchosen durch, daß ein Zobel ausgebrochen ist.“ Der Direktor und der Tierzüchter wußten, daß noch am selben Tag aus jeder Kolchose Jäger aufbrechen würden, um Weschka zu suchen. Die Ausreißerin konnte ihnen nicht entwischen. Aber um ganz sicher zu gehen, schlug der Direktor vor, Ilja Petrowitsch zu benachrichtigen. Iwan Danilowitsch ging sofort los. Der Alte schien eben eingetroffen zu sein. Er hatte noch nicht einmal Zeit gehabt, sich auszuziehen und den Schnee von den Stiefeln zu klopfen. Er stand vor dem Tisch und trat von einem Fuß auf den anderen. „Da hat sich der Bengel was Rechtes ausgedacht!“ rief er, als Iwan Danilowitsch zu ihm trat. „Man könnte lachen, wenn es nicht so ernst wäre. Er kann ja umkommen!“ „Was ist denn los?“ Der Alte reichte Sisych den Zettel: „Da, lies!“ Der Tierzüchter sagte kein Wort. Aber sein Gesicht wurde sehr ernst. Dann drehte er sich um und machte einen Schritt auf die Tür zu. „Wohin willst du?“ Ilja Petrowitsch hielt ihn zurück. „Den Jungen suchen. Wenn ich morgen nicht zurück bin, schickt alle los.“ Iwan Danilowitsch ging hinaus. Am Horizont erhob sich eine große aschgraue Wolke. Sie überzog den Himmel und verdeckte die Sonne. Der Tag verblaßte. Der Wind nahm immer mehr zu. Schnee wehte über die Straße und erfüllte die Luft mit stechendem Staubschnee. 11
Unterdessen verfolgte Wasja die Spur des Zobels. Wo er sich befand, welche Richtung er einschlug, wußte der Junge nicht. Die Farm lag schon weit hinter ihm, alle menschlichen Spuren waren verschwunden. Nirgends sah Wasja einen Baumstumpf, ein Axtzeichen in der Rinde oder eine Feuerstelle. Wilde, unberührte Taiga umgab ihn. Die Bäume verdeckten den Himmel und verschlangen jeden Laut. Erst jetzt lernte Wasja die sibirische Taiga kennen. Der Wald in Klinzy kam ihm im Vergleich dazu winzig vor. Ebensogut hätte man einen Dorfteich mit dem Ozean vergleichen können. Doch langsam bekam Wasja Angst. Ohne Überlegung hatte er sich auf den Weg gemacht. Er besaß weder einen Kompaß, noch hatte er Streichhölzer, um zur Nacht ein Feuer anzuzünden. Der Brotkanten von Ilja Petrowitsch reichte höchstens einen Tag. Es mochten ungefähr zwei Stunden vergangen sein, seitdem Wasja in die Taiga eingedrungen war, aber in dieser Zeit hatte er bereits so häufig die Richtung gewechselt, daß er jede Orientierung verloren hatte. Er wurde unruhig. Wie sollte er wieder aus der Taiga herausfinden, wenn er nicht einmal wußte, nach welcher Seite er zu gehen hatte? Dazu bezog sich der Himmel wie zum Trotz mit dicken grauen Wolken. Meine Schispur! dachte Wasja. Ja, er konnte auf seiner eigenen Schispur zurückkehren! Das war eine ganz einfache Sache. Wasja atmete auf und faßte neuen Mut. Weschkas Fährte wand sich bald zwischen hundertjährigen Bäumen hindurch, bald lief sie an umgestürzten und gebrochenen Stämmen hinauf, bald verschwand sie im Unterholz. Immer tiefer lockte sie Wasja in den Wald. Der Junge kannte sich in den Listen des Zobels noch
nicht aus. Viel Zeit ging verloren mit dem Wiederaufsuchen der Fährte, bis Wasja dahinterkam, daß es gar nicht notwendig sei, dem Tierchen unter die geknickten Stämme nachzuschlüpfen. Es war einfacher, die Sperren zu umgehen und die Spur auf dem dahinterliegenden freien Platz zu suchen. Und wieviel Zeit und Kraft hatte er umsonst verbraucht! Inzwischen begann es zu dunkeln. Die Sträucher und das Unterholz verloren ihre scharfen Umrisse. Immer häufiger schlugen Wasja beschneite Zweige ins Gesicht, die er nicht gesehen hatte. Kalter, stechender Schnee rutschte in seinen Kragen. Weschkas Spuren waren kaum mehr wahrzunehmen, und da, wo das Zobelweibchen über Bruchholz gesprungen war, mußte Wasja niederknien, um den Abdruck der Pfötchen wiederzufinden. Unter einer moosbewachsenen mächtigen Lärche machte der Junge endlich halt. Es war unmöglich, Weschka weiter zu verfolgen. Man mußte den Anbruch des Tages abwarten. Wasja schnallte die Schneeschuhe ab, trat den Schnee fest und schaute sich um. Von allen Seiten rückte die Dunkelheit heran. Noch dichter und undurchdringlicher erschien ihm der Wald. Die Tannen und Fichten nahmen wunderliche Formen an, unheimlich wurde es zwischen den Bäumen. Ein Windstoß fuhr durch die Wipfel und schüttelte den Schnee von den Zweigen. Unweit barst krachend ein Stamm. Der Wind legte sich zwar ebenso rasch, wie er gekommen war, aber in der aufgestörten Taiga hörte man noch lange ein dumpfes Rauschen. Kläglich knarrte der gerissene Baum. Doch plötzlich begann es zu schneien. Kleine, leichte
Schneeflocken sickerten lautlos durch die Baumkronen und bedeckten alles. Langsam verschwand Weschkas Fährte, dann Wasjas Schispur, überall lag weicher Flaum. Das Schlimmste, was geschehen konnte, war eingetreten. Wasja konnte weder Weschka verfolgen noch zur Farm zurückkehren. Der Schneefall hatte alle Wege abgeschnitten. In Wasja kroch die Angst hoch. Er schnallte die Schier an und stürzte dann in die Richtung, wo er den Zobel glaubte. Die scharfen Äste peitschten ihm in der Dunkelheit ins Gesicht. Wasja blieb mit den Kleidern am Unterholz hängen und zerriß sie. Die Schier blieben im Windbruch stecken, aber er achtete nicht darauf, ohne Unterbrechung jagte er vorwärts. Und je schneller er lief, desto unheimlicher erschien ihm die finstere, lautlos wartende Taiga. Plötzlich glitt Wasja mit den Schiern aus. Er verlor das Gleichgewicht und rutschte kopfüber in eine Grube. Die Wange brannte und blutete. Er hatte sie an einem Wurzelknorren zerkratzt. Wasja spuckte den Schnee aus, der ihm in den Mund gekommen war, stand mühsam auf und kroch aus der Grube heraus. Oben suchte er lange nach den Schiern und der Mütze. Als er sie endlich gefunden hatte, war er so schwach vor Müdigkeit, daß er sich erst einmal an eine dicke Zirbelkiefer lehnen mußte. „Ich bin schon ein rechter Zobelfänger!“ sagte er laut und stellte sich vor, wie man auf der Farm über seine Kopflosigkeit lachen würde. Was war ihm denn bisher schon passiert? Daß der Schnee die Schispur verweht hatte, war doch kein großes Unglück! Am Morgen würde er die Richtung schon finden. Man durfte bloß nicht den Kopf verlieren! Jascha hatte den Zobel acht Tage lang
verfolgt und ihn schließlich doch gefangen. Wasja überlegte, wie sich Jascha an seiner Stelle verhalten würde. Auf jeden Fall wäre er nicht im Finstern durch den Wald gerannt. Nein, Jascha, der hätte es anders gemacht! Zuerst würde er einen geeigneten Platz zum Übernachten suchen. Wasja sah sich um. Hier zum Beispiel! Da war ein Baum mit der ganzen Wurzel herausgerissen. Da konnte man Schutz finden. Er brauchte nur Tannenzweige hinzulegen, denn auf dem bloßen Schnee konnte man nicht sitzen. Wasja holte sein Taschenmesser hervor und schnitt einige breite, buschige Zweige ab. Diese Arbeit nahm ihn so in Anspruch, daß er gar nicht merkte, wie der Wind immer stärker wurde. Nachdem sich Wasja unter dem Baum eine Art Höhle gebaut hatte, streckte er sich auf dem nach Harz riechenden Lager aus und merkte jetzt erst, wie müde und hungrig er eigentlich war. Ein Schneesturm brach los. Alles versank in tobender Finsternis. Dumpf schlugen die mächtigen Zirbelkiefern mit den Wipfeln aneinander. Die abgebrochenen Äste krachten zu Boden. Wie fernes Donnerrollen klang es, wenn jahrhundertealte Bäume zu Boden schlugen. Der Wind jagte pfeifend den eisigen Schnee vor sich her. Wasja wurde es kalt in seinem Schlupfwinkel. Die kurze wattierte Jacke gab ihm zuwenig Schutz. Trockene, stechende Schneeflocken krochen hinter den Kragen und in die Ärmel. Das durchschwitzte, kalt und steif gewordene Hemd jagte ihm bei jeder Bewegung Frostschauer durch den Körper. Wie lange Wasja unter den Wurzeln des vom Sturm gefällten Baumes saß, wußte er nicht. Es mußte aber eine
lange Zeit sein, denn am Eingang zur Höhle hatte sich inzwischen eine große Schneewehe aufgetürmt. Der ganze Körper schmerzte dem Jungen vom Liegen auf den harten Zweigen, und die Füße waren so erstarrt, daß er sie kaum noch fühlte. Plötzlich schreckte Wasja ein Gedanke hoch. Vielleicht war die Nacht schon längst zu Ende, und die Dunkelheit rührte von den schweren Wolken her? Wasja stand auf und arbeitete sich auf die Schneewehe hinauf. Der Sturm riß an der kurzen Joppe und warf ihm trockenen Staubschnee ins Gesicht. Wasja schwankte. Der Kopf war so schwer. Ihm schwindelte. Vor den Augen tanzten bunte Kreise. Das kommt nur vom langen Liegen, dachte er. Sein Mut durfte nicht sinken. Er warf Netz und Käfig über die Schulter, schnallte die Schier an und rutschte vorwärts. Als er jedoch an dichtes Unterholz kam, hielt er an. Welche Richtung mußte er einschlagen? Da fiel ihm Iwan Petrowitsch ein. Dieser erfahrene Jäger hatte ihm erzählt, wie man die Himmelsrichtung bestimmen konnte: an Baumstümpfen, Zweigen, ja selbst an Ameisenhaufen stellte er fest, wo Norden war. Wasja trat an eine Tanne heran und untersuchte sie von allen Seiten. In der Dunkelheit konnte er gerade noch erkennen, daß die längsten und dichtesten Zweige an einer Seite wuchsen. Das mußte Süden sein. Wasja drehte das Gesicht dorthin. Etwas weiter rechts lag demnach Südwesten. In dieser Richtung also mußte die Pelztierfarm sein. Wasja zog die Riemen über den Filzstiefeln fest und stapfte schwer durch den vom Schneesturm zusammengewehten lockeren Schnee. Er gab sich Mühe, weder nach rechts noch nach links abzuweichen.
Bald merkte Wasja, daß ihm warm wurde. Aber seltsam, je mehr er sich beim Laufen erwärmte, um so schwerer wurde ihm der Kopf. In den Ohren rauschte es. Oder summte das Drahtgitter des Käfigs im Sturm? Endlich begann es zu dämmern. Der bewölkte Himmel wurde einen Schein heller. Die Bäume zeichneten sich klarer ab. Und obgleich der Schneesturm noch nicht nachgelassen hatte, schien er doch weniger schrecklich als in der Dunkelheit. Doch plötzlich entdeckte Wasja an einer hohen, spitzen Tanne, daß sich die längsten und dichtesten Äste nicht nach der Seite reckten, wo seiner Berechnung nach Süden lag. Wenn er diesem Wegweiser glauben wollte, so mußte er seine Richtung um neunzig Grad ändern. Aber eine merkwürdige Gleichgültigkeit ergriff Wasja. Er war in die falsche Richtung gelaufen? Was tat das? Die Hauptsache war, weiterlaufen, immer nur weiterlaufen. Oder sollte er sich erst einmal ausruhen? Die Schier wurden so unendlich schwer… Wasja lehnte sich an einen morschen Baumstumpf, umfing ihn mit den Armen und rutschte plötzlich in den weichen Schnee. Er wollte noch das unbequem liegende Bein ausstrecken, aber er hatte schon nicht mehr die Kraft dazu. Dann tauchte wie im Nebel Iwan Danilowitschs Gesicht auf. Er bewegte die Lippen, sprach etwas, aber Wasja konnte ihn nicht verstehen. Das Rauschen im Ohr wurde immer lauter, und vor seinen Augen flimmerten ohne Unterlaß bunte Kreise… Es war ein warmer, sonniger Tag, Die bereiften Bäume glitzerten in der Sonne. Am blauen Himmel kreiste ein Schwärm Dohlen. Und obgleich die Erde noch in tiefem Schnee lag, wurde das Herz beim lauten Gekrächze der Vögel fröhlicher. Der Frühling nahte. Als Alexandra Ser-
gejewna auf den Hof hinausging, sah sie, wie sich von den am Dach hängenden Eiszapfen ein Tropfen löste. Das Eis begann zu schmelzen. Zu anderer Zeit hätte Alexandra Sergejewna diesem ersten Vorboten des Frühlings weit größeres Interesse geschenkt. Aber heute warf sie nur einen flüchtigen Blick auf den Dachrand und schaute dann die Straße hinunter. Es war keine Menschenseele zu erblicken. Nur ein hellgraues Hündchen lief über den Weg, humpelte über die Schneehaufen und bellte dabei die Dompfaffen an, die von einem Strauch zum anderen flatterten. Eben bog Iwan Danilowitsch um die Hausecke. Er kam zum Mittagessen. Als er seine Frau erblickte, rief er: „Sind sie noch nicht da?“ „Nein“, seufzte Alexandra Sergejewna. „Wenn es ihm nur nicht schlechter geht! Wer weiß, welche Krankheiten eine Lungenentzündung noch nach sich zieht. Und ich kenn doch die Ärzte. Kaum steigt die Temperatur ein bißchen, so muß man noch länger im Krankenhaus bleiben.“ „Sie werden ihn gesund geschrieben haben!“ entgegnete Iwan Danilowitsch. „Die Chefärztin hat doch selbst angerufen, daß er heraus kann. Gehen wir lieber ins Haus Mittag essen!“ Aber Iwan Danilowitsch hatte noch nicht die Treppe erreicht, als in der Ferne ein Auto auftauchte, Es kam mit großer Geschwindigkeit die Straße entlang gesaust. Vor dem Haus bremste es scharf. Katja riß die Wagentür weit auf und rief fröhlich: „Nehmt meinen Fahrgast in Empfang! Ich liefre ihn heil ab!“ Alexandra stürzte zum Wagen, aber Wasja stolperte ihr schon in einem langen Schafpelz entgegen. Mager, blaß
und nach Krankenhaus riechend, ähnelte er so gar nicht dem rotbäckigen Jungen, der er noch vor ein paar Wochen war. „Schaust noch recht blaß aus, mein Lieber“, sagte Iwan Danilowitsch und guckte den Jungen prüfend an. „Aber das macht nichts, wird schon werden!“ Der Tierzüchter zwinkerte Wasja zu und reichte ihm die Hand. Kaum hatten sie die Wohnung betreten, als Alexandra Sergejewna in die Küche ging und mit dem Geschirr klapperte. Wasja legte den Pelz ab und lief |n seine Stube. Dort war alles wie früher, nur über seinem Bett hing ein neuer Wandbehang mit einem gestickten Zobel. Der sah Weschka so ähnlich, daß Wasja sofort an seine mißglückte Zobeljagd denken mußte und ein wenig verlegen wurde. Unterdessen läutete Iwan Danilowitsch die sechste Station an: „Klawa, nimm für die zwölfte Voliere jemand anders und schick den Diensthabenden einen Augenblick zu mir ins Haus. – Ja, ja, sofort! – Wie, bitte? – Jawohl, er ist da. Dünn ist er geworden. Gut, komm mal nach Schichtwechsel herüber!“ Kaum hatte Iwan Danilowitsch den Hörer aufgelegt, als Alexandra Sergejewna zu Tisch bat. Wasja hatte noch keinen rechten Appetit, aber er mußte doch von der fetten Kohlsuppe und dem Hasenbraten kosten. Er sprach kein Wort. Irgend etwas schien ihn stark zu beschäftigen. Schließlich hielt er es nicht mehr aus. „Onkel…“, fragte er, „wer arbeitet denn an meiner Stelle?“ Iwan Danilowitsch schob den Teller zur Seite und antwortete: „Ein tüchtiger Junge. Kommt aus einer Kolchose. Sie wollen dort auch eine Zobelfarm gründen. Deshalb kam
er hierher. Wir haben nämlich jetzt Tierzüchterlehrgänge bei uns laufen…“ Wasja legte erstaunt die Gabel hin und verschlang Iwan Danilowitsch mit den Augen. Der aber tat, als merke er es nicht, und fuhr fort: „Die Lehrgangsteilnehmer sind schon angekommen und helfen vorläufig in den einzelnen Abteilungen, um die Arbeit kennenzulernen. Ich wollte dir eigentlich gar nichts davon erzählen, bevor wir gegessen haben, aber ich sehe, daß du sowieso nichts herunterbekommst. Da werde ich doch gleich alle Neuigkeiten auskramen müssen. Also, du nimmst auch an dem Lehrgang teil…“ „Ich?“ „Ja. Und weiter“, unterbrach ihn Iwan Danilowitsch, „Weschka ist eingefangen und wieder auf die Farm gebracht worden…“ Wasja wollte eben sagen, daß Katja ihm das bereits unterwegs erzählt habe, da wurde an die Tür geklopft, und ein stämmiger, breitschultriger Bursche trat ein. „Jascha!“ rief Wasja überrascht und sprang auf. „Ja, das ist er“, bestätigte Iwan Danilowitsch. „Er hat dich vertreten, als du im Krankenhaus warst.“ Nun hielt es Wasja nicht länger im Zimmer. Er suchte nach seiner Pelzjoppe. „Du willst wohl gar zur Station?“ fragte Alexandra Sergejewna beunruhigt. „Gleich nach der Krankheit?“ Iwan Danilowitsch lächelte. „Laß ihn nur, Mutter! Halt ihn nicht zurück!“ Er half Wasja, sich warm anzuziehen, und als die Jungen das Haus verlassen hatten, schaute er ihnen noch lange nach. Lebhaft gestikulierend schritten die beiden die breite Dorfstraße hinunter zur Pelztierfarm.