Freder van Holk Männer unter dem Eis
SUN KOH-Taschenbuch erscheint vierwöchentlich
im Erich Pabel Verlag KG, Pabelha...
29 downloads
517 Views
905KB Size
Report
This content was uploaded by our users and we assume good faith they have the permission to share this book. If you own the copyright to this book and it is wrongfully on our website, we offer a simple DMCA procedure to remove your content from our site. Start by pressing the button below!
Report copyright / DMCA form
Freder van Holk Männer unter dem Eis
SUN KOH-Taschenbuch erscheint vierwöchentlich
im Erich Pabel Verlag KG, Pabelhaus, 7550 Rastatt
Neu bearbeitet von Heinz Reck
Copyright © 1980 beim Autor und Erich Pabel Verlag, Rastatt
Agentur Transgalaxis
Titelbild: Nikolai Lutohin
Alle Rechte vorbehalten
Gesamtherstellung: Clausen & Bosse, Leck
Vertrieb: Erich Pabel Verlag KG
Verkaufspreis inkl. gesetzl. MwSt.
Unsere Romanserien dürfen in Leihbüchereien nicht verliehen
und nicht zum gewerbsmäßigen Umtausch verwendet werden;
der Wiederverkauf ist verboten.
Alleinvertrieb und Auslieferung in Österreich:
Pressegroßvertrieb Salzburg, Niederalm 300
A-5081 Anif
Abonnements und Einzelbestellungen an
PABEL VERLAG KG, Postfach 1780, 7550 RASTATT,
Telefon (0 72 22) 13-2 41
NACHDRUCKDIENST:
Edith Wöhlbier, Burchardstraße 11, 2000 Hamburg 1,
Telefon (0 40) 3 01 96 29, Telex 02 161 024
Printed in Germany
April 1980
Scan by Brrazo 04/2006
1.
Das Vermessungsschiff »Neptun II« hob und senkte sich träge unter den langen Wellen, die unter ihm hindurchliefen und die letzten brüchigen Eisschollen trugen. Im Funkraum stand Kapitän Gaadburn vor der großen Meßkarte mit ihren halbfertigen Schraffuren und ließ die Ergebnisse der bisherigen Lotungen und Messungen lebendig werden. Ein Stück von ihm ent fernt lehnten Sun Koh und Hal Mervin an der Tisch kante und hörten aufmerksam zu. Am Funkpult saß der Funker mit den Klemmen am Ohr und horchte nach hinten, während er seine Lampen beobachtete. »Die Schwelle ist also vorhanden«, faßte der Kapi tän zusammen, »aber es handelt sich mit einer schon fast an Sicherheit grenzenden Wahrscheinlichkeit um eine Bruchschwelle. Trotz der Jahrtausende und ihrer Sedimente sind die Bruchlinien noch klar feststell bar, und die Bodenproben bestätigen den Befund. Wir haben Basalte heraufgeholt, die…« »Danke«, unterbrach Sun Koh. »Das würde also bedeuten, daß wir jetzt die nördliche Bruchlinie des ehemaligen atlantischen Kontinents unter Kontrolle bekommen?« »Es sieht so aus.« »So weit nach Norden reichte Atlantis?« fragte 5
Hal. Sun Koh nickte. »Ja. Atlantis lag im Nordatlantik, und unter die sem Breitengrad war damals das Klima erheblich milder als jetzt. Der Golfstrom, der jetzt Europa zu gute kommt, wärmte damals das nördliche Atlantis auf.« Der Funker riß den dünnen Papierstreifen ab, der sich aus seinem Apparat herausschlängelte, erhob sich und trat an den Kapitän heran. »Auf Seenotwelle, Kapitän.« Kapitän Gaadburn überflog die Morsezeichen und gab sie an Sun Koh weiter. »SOS – SOS – Tauchschiff ›Nautilus‹, 86 Grad nördlich und 110 Grad östlich – haben Maschinen schaden – sind aufgestiegen, aber es ist uns nicht mehr gelungen, durch die Eisdecke hindurchzukom men. Wir bitten dringend um Hilfe und erwarten Antwort. SOS – SOS – Tauchschiff…« Die Blicke der Männer trafen sich. Nach einer Pause sagte Sun Koh nachdenklich: »Die ›Nautilus‹ ist nicht zum erstenmal unter dem Eis. Für ein Mari neboot ist es etwas merkwürdig, so unverschlüsselt zu senden, vor allem in dieser Position, nicht wahr?« »Hm, falls es die amerikanische ›Nautilus‹ ist«, überlegte der Kapitän laut. »Der Name scheint seit Jules Verne eine besondere Anziehung zu besitzen. Versuchen Sie, Sprechverbindung zu bekommen.« »Ja, Sir. Sie senden allerdings sehr schwach.« 6
Er kehrte zu seinem Platz zurück. »Auf jeden Fall schlecht«, meinte Kapitän Gaad burn. »Diese Position – das ist russisches Hoheitsge biet. Und die Russen lieben es nicht besonders, wenn…« »Sie lassen auch niemand in Seenot, aber es fragt sich, ob man an diese Leute herankommt. Eisbrecher nützen dort nichts, Flugzeuge…« »Die Sprechverbindung, Capt’n«, meldete der Funker. »Hallo, hier Vermessungsschiff ›Neptun II‹ auf Sendung. Versuchen Sie durchzukommen.« Er reichte dem Kapitän und Sun Koh Kopfhörer zum Mithören und sprach dabei weiter: »Gut, gut, Sie kommen. Sehr leise, aber wir hören. Geben Sie Ihre Nationale und die Situation. Ich schalte um.« »Tauchschiff ›Nautilus‹«, kam leise und zischelnd die Antwort. »Eigentümer und Kapitän Wilbur Bar deny, Heimathafen New York. Wir senden mit voller Kraft, haben aber nicht mehr viel Reserve in den Bat terien. Falls die Verbindung abreißt, bitten wir Sie, sich an James Mallin, den Sekretär von Kapitän Bar deny, zur Veranlassung alles Weiteren zu wenden. 16 Cypress Hills, Brooklyn. Das ist die Adresse von Kapitän Bardeny. Wir befinden uns auf Polfahrt un ter dem Eis. Gestern bekamen wir Maschinenscha den. Wir versuchten aufzusteigen. Das gelang uns zunächst, doch dann brannten die Wärmeleitungen durch, so daß wir auf halbem Weg steckenblieben 7
und einfroren. Wir befinden uns ungefähr fünf Meter unter dem Eis, können uns aber nicht mehr selbst freimachen. Mit Sauerstoff und Nahrung sind wir ausreichend versorgt, aber wir können uns nicht ge gen die zunehmende Kälte schützen. Dazu bedrückt die Ungewißheit über unser Schicksal. Wir bitten Sie, sofort Mallin in New York zu verständigen. Sie erreichen ihn auf der gleichen Welle. Unsere Sende energie reicht offenbar nicht mehr bis New York. Hören Sie uns noch?« »Wir haben alles gehört«, antwortete der Funker. »Sie sind jedoch kaum mehr hörbar. Hören Sie auf zu senden. Sie werden den Rest für die Peilung brau chen. Senden Sie erst wieder, wenn Sie Anweisung dazu erhalten. Wir werden alles tun, um Sie heraus zuholen. Schluß.« Er blickte zu Sun Koh auf. Dieser nickte ihm zu und nahm den Hörer ab. »Gut. Rufen Sie jetzt auf 18,72 unseren Vertreter in New York. Enßlen heißt er.« Der Funker nickte zurück und widmete sich seinen Skalen. Etwas später meldete er: »New York. Hallo, New York – Mr. Enßlen persönlich für Mr. Sun Koh – wir warten – Mr. Enßlen? Moment, bitte…« »Hallo, Mr. Enßlen? Sun Koh. Ich brauche einige Angaben über einen Kapitän Wilbur Bardeny, Hei matadresse 16 Cypress Hills, Brooklyn, New York, und dessen Sekretär James Mallin.« 8
»Moment, bitte, ich gebe sofort Auftrag. Sie mei nen diesen Bardeny, der im Tauchboot zum Nordpol wollte?« »Das wird der richtige sein.« »Eine umstrittene Persönlichkeit, soviel ich weiß. Er besaß einen guten Namen als Forscher, doch jetzt halten ihn die einen für einen Wirrkopf und die ande ren nur für einen Pechvogel. Er war der erste, der unter der Eisdecke des Polargebietes zum Nordpol vorstoßen wollte. Er hat darüber viel Lärm gemacht und die Reklametrommel rühren lassen, was das Zeug hielt. Das ist aber schon viele Jahre her. Da mals kaufte er auch der Marine ein altes Tauchboot ab, ließ es umbauen und bereitete sich mit großem Pressetamtam auf die Tauchfahrt unter dem Eis vor. Leider bekam das Boot dann Maschinenschaden, be vor es überhaupt richtig an das Polareis herange kommen war. Bardeny mußte sich kläglich ab schleppen lassen und sah sich dem allgemeinen Ge lächter preisgegeben. Seitdem ist es still um ihn ge worden. Der Erfolg, von dem er geträumt hat, fiel dann der ›Nautilus‹ zu, dem amerikanischen Marine boot, das als erstes unter dem Eis den Nordpol er reichte.« »Befindet sich Bardeny in New York?« »Das lasse ich eben durch meinen Sekretär… Aha, er ist eben fertig mit Telefonieren. Miß Ellinor Bar deny, die Tochter des Kapitäns, befand sich am Ap 9
parat. Sie erklärte, ihr Vater sei verreist, aber sie wis se nicht, wohin. Mr. Mallin, der Sekretär, befindet sich irgendwo in der Stadt und kommt erst am Abend zurück.« »Danke. Bitte, stellen Sie weitere Nachforschun gen an, insbesondere darüber, ob sich Kapitän Bar deny ohne Wissen der Öffentlichkeit auf einer neuen Tauchbootfahrt befinden könnte. Ich bin in wenigen Stunden persönlich bei Ihnen. Schluß.« »Komische Familie!« murmelte Hal Mervin. »Bar deny steckt am Nordpol und friert bis auf die Kno chen, seine Tochter weiß von nichts, und der Herr Sekretär macht einen Stadtbummel.« »Jetzt die Zentrale«, wies Sun Koh den Funker an. »Verlangen Sie Abteilung 0/16. Wir werden einige Spezialanweisungen brauchen. Hal, gib Nimba Be scheid. Wir starten in Kürze nach New York. Bis da hin läßt du mich besser allein.« »Bis dahin bessere ich mich allein«, murmelte Hal und verschwand. * Ellinor Bardeny war ein junges Mädchen von unge fähr achtzehn Jahren. Sie war hübsch, wirkte vor al lem aber deshalb sympathisch, weil sie schlicht und ungekünstelt blieb. »Am Telefon wurde mir gesagt, daß es sich um ei 10
ne Angelegenheit handelt, die meinen Vater betrifft«, sagte sie, nachdem sie Sun Koh begrüßt hatte. »Ja«, bestätigte er. »Ich hatte allerdings immer noch gehofft, Ihren Vater selbst sprechen zu kön nen.« »Da müßten Sie schon nach Europa fahren«, erwi derte sie lächelnd. »Er ist dort auf Reisen. Ich habe selbst seit fast zwei Wochen keine Nachricht von ihm und weiß nicht einmal, wo er sich jetzt befin det.« Sun Koh hatte das Gefühl, einen Umweg machen zu müssen. »Vielleicht begegne ich ihm noch durch Zufall. Hat Ihr Vater übrigens nicht einmal den Versuch gemacht, den Nordpol im Unterseeboot zu errei chen?« Das Gesicht des jungen Mädchens überschattete sich. »Ja, das stimmt, aber wenn Sie ihn treffen, spre chen Sie besser nicht davon. Mein Vater hat den Schlag nie recht verwinden können. Er ist leiden schaftlicher Forscher und hat schon manchen hervor ragenden Erfolg gehabt. Als er damals schon kurz nach Antritt seiner Reise umkehren mußte, weil er sich in technischen Dingen auf andere verlassen hat te, hat ihn der Spott unverständiger Leute fast zer brochen. Er hat sich nur schwer darüber hinwegge setzt, daß man alle seine bisherigen Verdienste ver 11
gaß und ihn gewissermaßen zum Harlekin machte. Ich habe ihn fast in Verdacht, daß er jetzt auch nur unterwegs ist, um die Vorbereitungen für eine neue Expedition zu treffen, die seine Ehre wiederherstel len soll.« Wenn Kapitän Bardeny sich auf Nordpolfahrt be fand – seine Tochter war bestimmt ahnungslos. »Ernsthafte Menschen werden ihn sicher nicht verurteilen«, sagte er. »Ich selbst hoffe jedenfalls, ihn noch kennenzulernen. Für heute müßte ich mich wohl an Mr. Mallin, den Sekretär Ihres Vaters, wen den. Könnten Sie mir noch heute eine Unterredung mit ihm ermöglichen?« Sie sah ihn aufmerksam an. »Mr. Mallin wird wie alle Tage sehr bald eintref fen. Aber Sie wollten doch mit mir etwas bespre chen, das meinen Vater betrifft?« »Es betrifft Ihren Vater vermutlich gar nicht«, sag te er zögernd. »Ich habe ganz zufällig eine Funk nachricht aufgefangen. Sie stammt angeblich von einem Tauchschiff, das sich unter der Leitung eines Kapitäns Bardeny auf der Fahrt zum Nordpol befin det. Ich wollte nun gern erfahren, ob Ihr Vater etwas mit dieser Angelegenheit zu tun hat.« Das junge Mädchen war sehr blaß geworden. »Also doch«, flüsterte sie, »also doch. Meine Ah nung.« Sun Koh sah, wie mühsam sie sich beherrschte. Er 12
war froh, daß er ihr nicht die volle Wahrheit gesagt hatte. »Sie nehmen an, daß Ihr Vater diese Expedition leitet?« »Ja, er ist es bestimmt.« »Sie wußten bereits davon?« »Nein, aber ich befürchtete es insgeheim. Ich war so unruhig. Vater verhielt sich beim Abschied so merkwürdig. Und dann war er vorher schon immer unterwegs gewesen, manchmal gleich wochenlang. Aber ich dachte nicht, daß es schon soweit ist. Ich ahnte nur, daß er nicht eher Ruhe finden würde, als bis ihm eine Ausführung seiner damaligen Absichten geglückt ist, aber ich glaubte immer, er stehe noch in den ersten Vorbereitungen.« Sun Koh schüttelte den Kopf. »Ich verstehe nicht, warum er Ihnen seine Absich ten verschwiegen haben sollte.« Sie lächelte traurig. »Ich hätte ihn nicht fahren lassen. Vielleicht hätte ich sogar die Presse mobil gemacht. Das wäre Grund genug für ihn gewesen, nicht zu fahren. Er fürchtete die Öffentlichkeit und sagte manchmal, daß er auf allerstrengste Geheimhaltung achten würde, wenn er sich wieder einmal auf Expedition begeben würde.« »Es scheint Ihnen also möglich, daß er sich jetzt im Polargebiet befindet, ohne daß jemand davon weiß?« 13
»Es ist sicher. Mallin müßte allerdings im Bilde sein.« »Die Nachricht, die ich auffing, war eigentlich für ihn bestimmt.« »Also weiß er genau Bescheid«, sagte sie mit ei nem Anflug von Ärger. »Können Sie mir sagen, was die Nachricht enthielt? Wie geht es meinem Vater?« »Zweifellos gut«, beruhigte Sun Koh. »Eigentlich handelte es sich nur um eine Mitteilung, daß alles wohlauf sei. Mr. Mallin wird die Nachricht sicher aufgefangen haben. Sie besitzen doch Empfangsap parate?« »Mehrere, sogar einen kleinen Kurzwellensender. Sie haben die Nachricht sicher gestern abend aufge fangen, nicht wahr, denn sonst war ja Mallin nicht im Haus.« »Es war gestern abend«, log Sun Koh abermals. »Ich entnahm übrigens aus ihr, daß sich Ihr Vater schon auf der Rückreise befindet und bald wohlbe halten wieder einzutreffen gedenkt.« »Gott sei Dank«, sagte sie aufatmend. »Übrigens scheint Mallin jetzt zu kommen.« Sie klingelte und gab dem erscheinenden Diener Anweisung, Mr. Mallin herzubitten. Mallin, der bald darauf erschien, war ein großer Mann Mitte der Dreißig mit dunklem Teint und glat tem, schwarzem Haar. Haltung, Bewegung und ein fast ausdrucksloses Gesicht verrieten sehr viel Be 14
herrschung. Er war sicher ein vorzüglicher Sekretär, wenn man auf Unauffälligkeit und Schweigsamkeit achtete. Ellinor Bardeny stellte vor und griff unmittelbar darauf schon an. »Ich erfahre eben, Mr. Mallin, daß sich mein Vater auf Expedition im Polargebiet befindet. Mit welchem Recht haben Sie mir das verschwiegen?« Mallin verbarg seine Überraschung leidlich ge schickt hinter einem Hüsteln. Sein Blick flackerte zu Sun Koh hinüber. »Äh, Ihr Vater ist doch in Europa und…« Sun Koh griff ein. »Ich fing gestern abend, wahrscheinlich zu glei cher Zeit mit Ihnen, eine Nachricht aus dem Polarge biet auf, die für Sie bestimmt war. Das Tauchboot Kapitän Bardenys teilte mit, daß es sich auf der Rückfahrt vom Nordpol befinde und…« Sun Koh setzte unwillkürlich ab, weil Mallin plötzlich alle Merkmale eines Schreckens zeigte. Ei ne Winzigkeit später fuhr er fort: »… und daß sich an Bord alles wohl befinde. Die Nachricht wird Ihnen nichts Neues bringen, nicht wahr?« »Allerdings nicht«, sagte Mallin etwas heiser. »Ich – Ihr Vater wollte es so, Miß Bardeny.« »Trotzdem hätten Sie mir davon erzählen kön nen«, beharrte sie. »Sie müssen Mr. Mallin schon entschuldigen«, 15
mischte sich Sun Koh wieder ein. »Er handelte ja nur seinen Anweisungen gemäß. Im übrigen bitte ich, mich verabschieden zu dürfen. Es genügt mir, die Bestätigung zu haben, daß die aufgefangene Nach richt keine Täuschung war. Wenn es Ihnen nichts ausmacht, Mr. Mallin, würde ich Sie allerdings noch bitten, mir Ihren kleinen Sender vorzuführen. Es handelt sich sicher um eine Spezialkonstruktion, und ich interessiere mich ungemein für solche Dinge.« Mallin deutete Sun Kohs Blicke richtig. »Sicher, der Apparat ist ganz bemerkenswert. Es wird mir ein Vergnügen sein.« »Wird mein Vater heute wieder Nachricht geben?« fragte das junge Mädchen. Mallin hob die Schultern. »Ich weiß nicht, aber es ist leicht möglich. Ich würde sie Ihnen sofort überbringen.« »Das will ich hoffen!« Sun Koh verabschiedete sich und ging zusammen mit Mallin hinaus. Nach Minuten standen sich die beiden Männer in einem dunkel gehaltenen Arbeitszimmer gegenüber. Mallin wies auf die Sessel. »Wenn ich Sie recht verstand, wollen Sie mich un ter vier Augen sprechen?« Das klang höflich, verriet aber doch, daß die Anti pathie gegenseitig war. »Ja«, bestätigte Sun Koh, »es würde mich freuen, 16
wenn Sie mir nähere Mitteilungen über Mr. Bardenys Expedition machen würden.« »Dazu bin ich leider nicht befugt«, lehnte Mallin ziemlich schroff ab. »Ich bin angewiesen, die Expe dition als Geheimnis zu wahren, bis Mr. Bardeny zu rückkehrt. Sie sahen ja selbst, daß sogar seine Toch ter nichts davon wußte.« »Ganz recht. Nachdem ich aber durch einen Zufall Mitwisser geworden bin, hat sich die Sachlage doch wohl geändert. Außerdem besagte doch die gestrige Nachricht, daß Mr. Bardeny sich bereits auf der Rückkehr befinde.« Mallin ging glatt in die Falle und gab damit Sun Koh die Bestätigung, die er brauchte. »Das ist richtig«, erwiderte er. »Aber bevor sich Mr. Bardeny nicht wieder hier befindet, muß ich be dauern.« Sun Koh ließ einige Sekunden verstreichen. »Vielleicht haben Sie recht, Mr. Mallin. Es kann sich ja immer noch allerlei ereignen. Können Sie sich eigentlich jederzeit mit Kapitän Bardeny in Verbin dung setzen?« »Gewiß – das heißt, es kommt natürlich ganz auf die atmosphärischen Verhältnisse an.« »Aber gestern abend haben Sie gut empfangen?« »Ausgezeichnet.« »Das ist recht bemerkenswert, Mr. Mallin.« Sun Koh ging zum Angriff über. »Sie haben gestern 17
abend eine Nachricht empfangen, die überhaupt nicht gesendet wurde.« Mallin zog die Brauen scharf zusammen. »Das – soll wohl ein Scherz sein?« »Nein«, gab Sun Koh kurz zurück. »Ich habe diese Nachricht frei erfunden.« Mallin legte die Handflächen gegeneinander und ließ sie langsam aneinander vorbeigleiten, eine Ge ste, durch die er seine Erregung ableitete. »Ah«, erwiderte er überlegen. »Dieses Zusammen treffen ist in der Tat bemerkenswert. Ich habe die Nachricht jedenfalls wirklich empfangen. Übrigens, woher stammen denn Ihre Kenntnisse von Mr. Bar denys Nordpolfahrt?« »Warum lügen Sie, Mr. Mallin?« fragte Sun Koh zurück. Mallin streckte sich. »Ich muß doch sehr bitten!« »Sie lügen«, beharrte Sun Koh. »Ich halte es für ausgeschlossen, daß Sie überhaupt eine Nachricht von Mr. Bardeny empfangen können. Dazu würde ein ganz außergewöhnlich konstruierter Apparat ge hören, den Sie sicher nicht im Besitz haben.« »Wie kommen Sie zu dieser Vermutung?« meinte Mallin hochfahrend. »Ich besitze einen solchen Empfänger von außer gewöhnlichen Eigenschaften und konnte trotzdem Mr. Bardenys Botschaft nur ganz schwach aufneh 18
men. Denn ich fing tatsächlich eine Nachricht auf.« »Aber Sie sagten doch eben…« »Meine Nachricht ist erst einige Stunden alt«, un terbrach Sun Koh. »Sie besagt nicht mehr und nicht weniger, als daß das Tauchboot im Eis eingefroren ist und sich die Besatzung als verloren betrachtet, wenn nicht bald Hilfe kommt.« Mallin ruckte schnell vor. »Ach!« Es war zwar eine große Überraschung für Mallin, aber keine schmerzliche. »Die Sendung erwähnt Sie als den Mann, der Hilfe zu bringen imstande ist«, fuhr Sun Koh fort. »Ich kam zu Ihnen, um Sie zu verständigen. Sie verstehen wohl, daß ich die volle Wahrheit nicht in Gegenwart von Miß Bardeny sagen wollte.« »Durchaus, durchaus«, versicherte Mallin hastig. »Es ist besser, wenn sie nichts erfährt, solange noch Hoffnung besteht. Ich habe ja Mr. Bardeny immer von dieser unglücklichen Expedition abgeraten.« »Nun, vorläufig ist ja noch kein Unglück gesche hen. Sie werden zweifellos alles tun, um Mr. Barde ny und seine Leute zu retten.« Mallin strahlte jetzt vollkommene Sicherheit aus. »Selbstverständlich. Es wird alles geschehen, was in meinen Kräften steht. Sie haben mich hoffentlich vorhin nicht mißverstanden. Ich befand mich gewis sermaßen in einer Zwangslage, da ich nicht wußte, 19
ob Sie mich etwa nur aushorchen wollten. Man hat mich nun einmal zum Schweigen verpflichtet. Ich kann Ihnen aber jetzt gestehen, daß ich bereits seit einigen Tagen ohne Nachricht bin und mir deswegen bereits die größten Sorgen mache. Ich bin Ihnen un geheuer dankbar dafür, daß Sie mich von dem Hilfe ruf verständigt haben. Mr. Bardeny ließ mich gewis sermaßen als Vertrauensmann zurück. Er wollte nicht, daß die Öffentlichkeit von der Expedition er fährt, bevor er nicht erfolgreich zurückgekehrt ist. Nur wenn ein Hilferuf von ihm käme, sollte ich die Öffentlichkeit aufmerksam machen und um Hilfe angehen. Das wird nun natürlich sofort geschehen, unverzüglich.« Sun Koh unterdrückte ein Gefühl des Widerwil lens. Der Mann sprach so, als dächte er in Wirklich keit etwas ganz anderes. »Dann dürfte aber Miß Bardeny doch von der La ge ihres Vaters erfahren?« Mallin breitete die Hände aus. »Das wird sich allerdings kaum vermeiden lassen. Ich will natürlich versuchen, zunächst ganz im stillen eine Hilfsexpedition zusammenzustellen, aber…« »Zusammenstellen?« unterbrach Sun Koh. »Hat Kapitän Bardeny nicht bereits alles für den Fall gere gelt, daß ihm ein Unglück widerfährt?« Mallin lächelte überlegen. »Aber ich bitte Sie! Ein Forscher, der erfolgreich 20
zurückkehren will, tut das nicht, wenn nicht aus Überzeugung, so aus Aberglaube. Doch innerhalb einiger Tage wird eine Hilfsexpedition unterwegs sein, um den Bedrängten beizuspringen.« Sun Koh blickte sehr unmutig. »Sie scheinen deren Lage zu verkennen. Wenn das Tauchboot eingefroren ist, kann nur eine Störung der Wärmeversorgung vorliegen. In dem Boot wird es sehr schnell so kalt sein wie im Eis selbst. Was glau ben Sie denn, wie lange es ein Mensch in einem sol chen Eissarg aushält?« »Mr. Bardeny ist gut mit Polarkleidung ausgerü stet«, schwächte Mallin ab. »Zweifellos wird die Be satzung einige Zeit aushalten. Ist Ihnen angegeben worden, wie tief das Boot liegt?« »Noch einige Meter unter dem Eis.« »Ah, man müßte also versuchen, mit Sprengungen heranzukommen. Eine genaue Ortsangabe haben Sie sicherlich.« »Sehr genau. 86 Grad nördlich und 110 Grad öst lich, das kann ein Gebiet von einigen tausend Qua dratkilometern bedeuten. Mit Hilfe von Funkpeilun gen könnte die genaue Lage des Bootes allerdings leicht bestimmt werden, vorausgesetzt, daß das Boot noch senden kann.« Mallins Hände glitten wieder aneinander vorbei. »Sehr interessant, in der Tat sehr interessant. Ich werde auf Ihre Hinweise Rücksicht nehmen. Ich bin 21
davon überzeugt, daß es gelingen wird, die Einge schlossenen zu retten.« »Dann sind Sie ein Optimist«, antwortete Sun Koh trocken. »Welche Maßnahmen dachten Sie zu tref fen?« Mallin überlegte anscheinend. »Hm, ich werde sofort ein Schiff ausrüsten lassen und…« »Sie scherzen wohl?« erkundigte sich Sun Koh scharf. »Bevor ein Schiff überhaupt in jene Gegend vordringt, sind die Leute längst tot. Die Rettung ist nur durch Flugzeuge möglich.« »Natürlich.« Mallin lächelte geschmeidig. »Ich dachte auch an Flugzeuge. Das Schiff erwähnte ich nur, weil es doch unter Umständen als Stützpunkt für die Flugzeuge nötig sein könnte. Man müßte Flug zeuge chartern. Es wird zweifellos gelingen, mutige Flieger zu finden, die an einer solchen Rettungsex pedition teilnehmen wollen.« Sun Koh begriff nicht, wie Bardeny diesen Mann als seinen Vertrauensmann hatte zurücklassen kön nen. Mallins Beweggründe waren noch nicht klar, aber entweder war er seiner Aufgabe überhaupt nicht gewachsen, oder er wollte ihr einfach nicht gewach sen sein. Auf alle Fälle war er nicht der Mann, der Bardeny Rettung bringen konnte. »Kapitän Bardeny braucht sofort Hilfe«, sagte Sun Koh. »Ich ersehe aus allem, daß Sie ihm diese nicht 22
bringen können. Ich werde also die Rettung selbst versuchen.« Mallins Hände preßten sich um die Armlehnen. »Sie? Ja, können Sie denn…« Sun Koh erhob sich. »Ich habe die Mittel zur Verfügung und werde so fort abfliegen.« Mallin stand ebenfalls auf. »Ach«, murmelte er, »das ist ja großartig. Sie glauben wirklich, daß es Ihnen gelingen wird?« Sun Koh gefiel das Lauern in den Augen des ande ren nicht. »Ich hoffe es«, gab er kurz zurück. »Bitte, sagen Sie Miß Bardeny einstweilen nichts über die Lage ihres Vaters, damit sie sich nicht unnötig beunru higt.« »Sie wollen doch nicht etwa schon gehen?« sagte Mallin schnell. »Erlauben Sie wenigstens, daß ich Ihnen einige Aufschlüsse gebe. Es dürfte für Sie sehr wichtig sein, wenn Sie genau im Bilde sind, zum Beispiel über die Beschaffenheit des Tauchbootes.« »Allerdings«, gab er überrascht zu, »es wäre für mich wertvoll, noch einige technische Einzelheiten kennenzulernen.« »Sehen Sie«, meinte Mallin, »ich werde mir erlau ben, Ihnen das Modell des Tauchbootes vorzuführen. Daran kann ich Ihnen alles erklären. Wenn ich Sie bitten dürfte, mir zu folgen? Wir müssen allerdings 23
in den Keller hinunter, denn Mr. Bardeny konnte sein Wasserbecken ja nicht hier oben in der Stube einbau en.« Der Vorschlag machte Sun Koh wieder mißtrau isch. Er beschloß, doch lieber auf der Hut zu sein. »Ich folge Ihnen«, willigte er ein. Mallin schritt voran, wobei er sich wiederholt ent schuldigte. Sie gingen über einige Flure und Treppen zu einem Seitentrakt des Gebäudes und kamen schließlich in den Keller, nachdem Mallin eine eiser ne Tür geöffnet und dabei erklärt hatte: »Miß Barde ny war natürlich noch nie hier unten. Ihr Vater sorgte dafür, daß seine Versuche ihr verborgen blieben. Wir hatten hier unten ein Wasserbecken mit einer regel rechten Eisdecke, unter der Mr. Bardeny sein Mo dellboot fahren ließ. Jetzt steht natürlich das Boot unten im Trockenen. Sie entschuldigen wohl, wenn ich als Ortskundiger vorausgehe.« Sun Koh hatte wenig dagegen einzuwenden. Er mißtraute noch immer. Erst als Mallin einen großen Kellerraum öffnete und das fast metergroße Modell eines Tauchbootes mit starken Rückenschienen sichtbar wurde, verschwand sein Mißtrauen. Es verschwand genau in dem Augenblick, in dem es am nötigsten gewesen wäre. Sun Koh ging neben Mallin auf das Modell zu. »Das ist es«, meinte Mallin. »Sie können alle Ein zelheiten genau erkennen. Es ist selbst innen… Doch 24
einen Augenblick, ich will nur die Pendellampe ho len, dann können Sie jede Einzelheit verfolgen. Sie werden staunen, wie vollkommen Mr. Bardeny alles berücksichtigt hat und wie ausgezeichnet…« Sun Koh achtete nicht darauf, daß Mallin zur Tür ging. Er nahm wirklich an, daß er noch die Pendel lampe holen wollte. Erst als die Tür plötzlich hart zuschlug, erwachte sein Mißtrauen wieder. Mallins Schritte verhallten zunächst, wurden aber wenig später wieder hörbar. Er kam zurück. Jetzt mußte er vor der Tür stehen. Sun Koh trat schleunigst zur Seite. Sollte ein An griff erfolgen? »Hallo, Mister«, kam die Stimme Mallins durch die Eisentür. »Hören Sie mich? Die Tür ist verse hentlich zugeschlagen und der Schlüssel in das Schleusenloch gefallen. Bitte, entschuldigen Sie, aber Sie müssen sich eine Weile gedulden.« »Nehmen Sie den Schlüssel doch aus dem Schleu senloch heraus!« rief Sun Koh zurück, aber Mallin entfernte sich schon wieder. Ein merkwürdiges Verhalten. Sun Koh zog die Sprechdose aus der Tasche und verständigte Hal, der draußen auf der Straße im Wa gen saß, in dem beide gekommen waren. Dann wid mete er seine Aufmerksamkeit dem Tauchmodell, das wirklich hervorragend in allen Einzelheiten aus gearbeitet war. 25
Zweifellos benutzte Bardeny zu dieser Expedition kein Boot, das für seine besonderen Zwecke umgear beitet war, sondern eine Spezialkonstruktion. Das bewiesen schon der gedrungene Bau des Bootskör pers und das durch die Außenhaut durchdringende Gitterwerk. Schnellfahrten konnte man damit nicht abhalten, aber stabil und druckfest war es sicher. Das Gitterwerk, das am großen Boot wohl aus starken Eisenschienen bestand, mußte alle Stöße abfangen. Hervorragende Einzelheiten gab es nicht, selbst das Ausstiegluk schmiegte sich fast in die Außenhaut ein. Die Innenausrüstung des Tauchbootes war vorzüg lich im Modell dargestellt, aber Sun Koh konnte aus ihr nicht viel ersehen. Das ganze Modell war letzten Endes nur eine nette Spielerei, der praktische Wert des Bootes ließ sich danach nicht beurteilen. * Hal Mervin langweilte sich am Steuer des Wagens. Als Sun Kohs Anruf kam, wollte er sofort in Tätig keit treten, aber Sun Koh untersagte es ihm. »Ich komme jederzeit allein hier heraus«, sagte er. »Mir liegt daran, daß Mallin beobachtet wird. Falls er das Haus verläßt, was sehr wahrscheinlich ist, wirst du ihm folgen. Es ist immer noch nicht recht klar, welche Absichten er hat.« 26
»Aber wenn er Sie einsperrte?« »Er hat schon Vorsorge für eine Entschuldigung getroffen. Warte jedenfalls ab und folge unter Um ständen Mallin.« Hal wartete ab. Es dauerte gar nicht lange, da kam ein Diener herausgestelzt. »Na, was bringen Sie denn Schönes?« erkundigte sich Hal wohlwollend. Der Diener hüstelte. »Sie haben doch einen Mr. Sun Koh hierhergefahren, nicht wahr?« »Stimmt.« »Ich soll Ihnen ausrichten, daß er das Haus durch den rückwärtigen Ausgang verlassen hat. Sie müßten in die Parallelstraße fahren, an die der Park auf der anderen Seite stößt. Mr. Sun Koh hatte es allerdings sehr eilig, so daß Sie ihn möglicherweise nicht mehr erreichen.« Hal kniff die Augen zusammen. »Hat er Ihnen das selbst gesagt?« »Mr. Mallin beauftragte mich, Ihnen diese Bot schaft auszurichten.« Hal hatte eine drastische Bemerkung auf der Zun ge, aber er beherrschte sich. »Na schön«, antwortete er gleichmütig, »dann will ich mal losfahren.« Er kurvte fort, blieb aber dicht hinter der Ecke der nächsten Kreuzung stehen, stieg aus und stellte sich so an die Ecke, daß er den Eingang des Bardeny 27
Grundstückes überwachen konnte, ohne selbst gese hen zu werden. Nach zehn Minuten fuhr ein Wagen vor. Ein älte rer Herr stieg aus. Hal fand das wichtig genug, um in größtmöglicher Deckung die Straße hinunterzuschlendern und sich auf der dem Haus abgewandten Seite des Wagens an den Fahrer heranzuschlängeln. »Hallo«, sagte er, »seit wann hat denn Mr. Brown einen neuen Fahrer und einen neuen Wagen?« Der Mann am Steuer schielte verständnislos. »Wieso? Wie meinen Sie das? Ich bin doch schon sechs Jahre bei Doktor Carper.« »Ach«, machte Hal verwundert, »war es nicht Mr. Brown, der aus dem Wagen stieg? Dr. Carper, sagten Sie? Da muß ich mich aber getäuscht haben. Meinen Sie den Arzt?« »Natürlich«, brummte der andere. »Das weiß doch jedes Kind.« »Ich bin eben kein Kind«, konterte Hal, um ver traulich fortzufahren: »Wissen Sie, bei einem Arzt möchte ich ja nun nicht gerade fahren. Der Dienst muß doch furchtbar schlecht sein. Tag und Nacht auf der Achse. Das wäre nichts für mich.« Der Fahrer taute unter der Anteilnahme auf. »Ja, jedermanns Sache ist es nicht.« »Meine bestimmt nicht. Andere Leute legen sich um die Zeit bald schlafen, und Sie müssen immer 28
noch unterwegs sein. Jetzt sitzen Sie ewig lange hier herum, bis Ihr Arzt drin mit der Behandlung fertig ist, dann geht’s an eine neue Stelle. Oder ist er nur zum Vergnügen hier?« »Da kennen Sie Doktor Carper schlecht. Alles be ruflich.« »Das muß immerhin ganz interessant für Sie sein. Sie erfahren doch so allerhand über das, was vorgeht. Oder wird Ihnen Dr. Carper nichts erzählen?« »Na, schon eine ganze Masse. Er ist bei vielen Leuten Hausarzt, da weiß unsereins auch bald Be scheid. Er wird mir nachher sicher so ganz beiläufig sagen, was mit Mr. Mallin los war.« »Wer ist das?« »Der Sekretär von Mr. Bardeny, dem das Haus gehört.« »Ach, dieser Mallin ist wohl krank?« Der Fahrer zuckte mit den Schultern. »Was weiß ich. Als Doktor Carper einstieg, sagte er, ich solle hierherfahren, Mallin habe Kopfschmer zen. Nachher werde ich schon mehr hören.« »Soso«, murmelte Hal. »Kopfschmerzen hat er. Na, dann guten Abend.« Er kümmerte sich nicht um die berechtigte Ver wunderung des Mannes, sondern ging in das Grund stück hinein. Dabei holte er die Sprechdose heraus und machte Sun Koh Mitteilung. »Ich befinde mich immer noch in dem Keller«, 29
sagte Sun Koh. »Das Modell hat mich so in An spruch genommen, daß ich die Zeit darüber vergaß. Also gut, stelle Mallin. Ich werde auch bald erschei nen.« Hal wurde in der Vorhalle von dem gleichen Die ner aufgehalten, der ihn weggeschickt hatte. »Was wünschen Sie?« erkundigte sich dieser. »Ich möchte Mr. Mallin sprechen.« »Bedaure sehr, Mr. Mallin ist nicht zu sprechen. Er ist krank.« »Erzählen Sie das Ihrer Oma«, entgegnete Hal derb. »Vor einer halben Stunde war er noch gesund.« »Der Arzt ist bei ihm. Da kommt er gerade.« Hal ging dem Arzt entgegen und streckte ihm freundschaftlich die Hand hin. »Wie geht es Ihnen, Doktor? Immer noch rüstig auf den Beinen? Was macht Mallin? Fehlt ihm etwas Ernstliches?« Dr. Carper, ein älterer, sehr merkwürdiger Herr, blickte erstaunt, schüttelte aber die gebotene Hand und erwiderte mechanisch: »Hat nichts zu besagen, vermutlich eine kleine Gehirnerschütterung. Einige Tage Bettruhe. Mit wem habe ich das Vergnügen?« »Hal Mervin«, sagte Hal. »Ich bin der Vetter von Mr. Mallin. Sie haben wohl nichts dagegen, wenn ich ihm einen kleinen Besuch abstatte?« »Nicht aufregen«, beschwor der Arzt hastig, denn Hal hatte seine Antwort gar nicht erst abgewartet, 30
sondern war die Treppe hinaufgelaufen. Da er sich oben erst umsehen mußte, holte ihn der Diener ein. »Was erlauben Sie sich!« entrüstete er sich. »Sie sind doch gar nicht mit Mr. Mallin verwandt! Verlas sen Sie sofort das Haus, oder…« »Bleiben wir bei ›oder‹, und führen Sie mich zu Mr. Mallin«, schlug Hal vor. »Ich muß ihn sprechen. Wenn Sie noch lange Umstände machen, schlage ich Lärm, daß das Haus zusammenläuft. Ich habe ihm eine wichtige Bestellung auszurichten.« Der Diener nahm eine drohende Haltung ein. »Verlassen Sie das Haus, sonst muß ich Sie mit Gewalt entfernen!« Hal klopfte ihm wohlwollend auf die Schulter. »Sie haben Mut, mein Lieber. Also Ihre Pflicht haben Sie nunmehr getan. Von mir aus können Sie jederzeit erzählen, ich hätte Sie gezwungen. So, nun seien Sie hübsch vernünftig. In dieser Richtung, nicht wahr?« Der Diener hielt ihn am Arm fest. »Warten Sie wenigstens, bis ich Sie gemeldet ha be.« »Na schön«, fügte sich Hal, »melden Sie mich.« Er wartete aber nur ab, bis der Diener eine Tür öffnete, dann eilte er hinterher. »Furchtbar nett von Ihnen, mir den Weg zu zei gen«, sagte er lachend. »Nun können Sie verschwin den.« 31
Im matt erhellten Zimmer, in dessen Türrahmen die beiden standen, regte es sich. »Was ist?« tönte es kläglich aus einer Ecke. Der Diener stotterte vor Aufregung. »Ich – der Herr, der den anderen Herrn, der…« »Ich habe Mr. Sun Koh hergefahren«, mischte sich Hal ein. »Sie haben wohl nichts dagegen, Mr. Mallin, daß ich Sie um eine Auskunft bitte.« »Ich – ich verstehe Sie nicht. James, Sie können gehen.« Hal schloß die Tür hinter sich und trat an das brei te Lager heran, auf dem Mallin mit einem nassen Lappen auf der Stirn lag. »Sind Sie krank, Mr. Mallin?« erkundigte Hal sich. Mallin ächzte schwach. »Mein Kopf! Gehirnerschütterung. Was wollen Sie?« Hal angelte sich mit dem linken Fuß einen Stuhl heran und setzte sich. »Vor allem möchte ich von Ihnen gern wissen, wo Mr. Sun Koh geblieben ist. Sie ließen mir bestellen, er habe das Haus auf der Rückseite verlassen, aber dort habe ich ihn auch nicht entdecken können.« »Ich weiß nicht«, stöhnte Mallin. »O mein Kopf, mein Kopf! Unter dem Kissen…« »Was ist denn unter dem Kissen?« »Unter dem Kissen…« 32
Hal beugte sich vor, um unter dem Kissen nachzu sehen. Da schnellte Mallin plötzlich auf, legte ihm die Hände würgend um den Hals und warf sich auf ihn. Hal reagierte instinktiv mit einem Fausthieb, traf aber nicht. Dann wälzte er sich herum, angelte mit den Händen, erwischte schließlich Mallins Nase und drückte sie so heftig zurück, daß Mallin mit einem Aufschrei losließ. Im nächsten Augenblick richtete Hal die Pistole auf ihn. »Hände hoch, Sie verflixter Gauner!« Mallin hob die Hände nicht, sondern streckte sich stöhnend und wimmerte: »Mein Kopf, mein Kopf.« Die Tür ging auf. Sun Koh erschien. »Er spielt den Kranken«, berichtete Hal, »dabei hat er vorhin versucht, mich zu erwürgen. Ein ganz heimtückischer Bursche!« Sun Koh packte Mallin kurzerhand vorn bei der Brust, hob ihn hoch und setzte ihn auf den Stuhl. Hal schaltete inzwischen das große Licht an. »So, Mr. Mallin«, sagte Sun Koh ernst, »nun wol len wir einmal offen miteinander reden. Welches In teresse haben Sie daran, die Rettung des Kapitäns zu hintertreiben? Warum haben Sie mich eingesperrt?« Mallin schien sich nur mühsam zu entsinnen. »Eingesperrt? Ach, der Schlüssel. Er fiel in die Schleuse.« »Dort lag er. Sie brauchten ihn nur herauszuneh 33
men, wie ich es tat.« »Ich – ich wußte es nicht. Ich dachte, er fiel tief hinunter.« »Warum gaben Sie Ihrem Diener nicht den Auf trag, mich zu befreien? Und warum versuchten Sie, meinen Begleiter fortzuschicken?« »Mein Kopf«, jammerte Mallin. »Ich habe es Ja mes gesagt, aber mein Kopf. Ich weiß nicht mehr.« Er spielte so überzeugend, daß Sun Koh nicht klug aus ihm wurde. »Hal, rufe den Diener her!« Hal brauchte nur die Tür zu öffnen. Der Diener stand schon draußen und lauschte. »Sie heißen James?« fragte Sun Koh, nachdem der Diener eingetreten war. »Ja«, bestätigte der Diener, »aber ich begreife nicht…« »Wußten Sie, daß ich im Keller eingeschlossen war?« Der Mann zitterte förmlich. »Nein, aber…« »Mr. Mallin gab Ihnen Auftrag, meinen Begleiter mit dem Wagen wegzuschicken?« »Ja, aber…« »Was wollen Sie sagen?« »Ich – es war so: Mr. Mallin kam nach oben. Er taumelte und hielt sich die Stirn. Als ich ihn er schrocken fragte, was geschehen sei, sagte er, er habe 34
sich gestoßen. Ich solle sofort einen Schlosser anru fen.« »Das hat er wirklich gesagt?« »Ja, aber er wurde dabei fast ohnmächtig. Als er wieder zu sich kam, sagte er dann, ich solle den Wa gen wegschicken, denn Mr. Sun Koh sei auf der Rückseite des Hauses fortgegangen. Ich fragte ihn wegen des Schlossers, aber er schien sich nicht mehr zu entsinnen, davon gesprochen zu haben. Darauf rief ich den Hausarzt an und gab dann diesem Herrn Bescheid.« Sun Koh hatte den Eindruck, daß der Diener die Wahrheit sagte. »Verbinden Sie mich mit dem Arzt.« Der Diener bediente den Apparat, der auf dem Tisch stand, dann reichte er Sun Koh den Hörer. Dr. Carper befand sich selbst am anderen Ende der Lei tung. Er erklärte Sun Koh, daß Mallin wahrschein lich irgendwo aufgeschlagen sei, wie die Prellung auf der Stirn beweise. Es sei nicht ausgeschlossen, daß dabei eine geringfügige Erschütterung des Gehirns stattgefunden habe. Gedächtnisschwund, Wahnvor stellungen und Anfälle seien dabei ausgeschlossen, aber man wisse ja bei Erschütterungen des Gehirns nie genau, wie der einzelne reagiere, und es sei des halb nicht unmöglich, daß die erwähnten Erschei nungen doch auftreten könnten. Er halte es doch für ratsam, eine abermalige Untersuchung vorzunehmen. 35
Sun Koh hängte ein, schickte den Diener hinaus und wandte sich dann an Mallin. »Vielleicht haben wir Ihnen unrecht getan, Mr. Mallin. Wahrscheinlicher ist, daß Sie sehr geschickt Ihre Rolle spielen. Berücksichtigen Sie auf alle Fälle, daß wir mit Kapitän Bardeny zusammen zurückkeh ren werden. Sollte dann irgend etwas nicht in Ord nung sein, werde ich Sie zur Rechenschaft ziehen.« Mallin erwiderte nichts. Sun Koh und Hal Mervin überließen ihn sich selbst. »Das ist ein ganz großer Schwindler«, behauptete Hal, während sie zurückfuhren. »Sehr wahrscheinlich«, stimmte Sun Koh bei. »Aber er hat sich gut gedeckt. Man kann ihm nichts nachweisen.« »Er ist ein Gauner«, beharrte Hal, »aber er hält sich Möglichkeiten offen. Wissen Sie, wie er mir vorkommt? Ich kannte da einen, der mit mir zusam men Page im ›Excelsior‹ war. Er mauste wie ein Ra be, aber man konnte es ihm nie recht nachweisen. Er holte zum Beispiel einem Gast eine Pfundnote aus der Manteltasche und schob sie unter den Nachttisch. Vermißte der Gast sie nicht, so hatte er gewonnen, schlug er Lärm, so kroch er selbst mit herum, bis sie von ihm oder anderen gefunden wurde. Lauter solche Tricks hatte er, aber stets brachte er das Gestohlene erst woanders unter, wo es auch durch Zufall hinge raten sein konnte. Das ging natürlich auch nur eine 36
Zeitlang, dann warf man ihn hinaus. Aber von der Sorte ist Mallin. Er gibt dem andern wie dem Schick sal eine Chance, weil er zu feige ist.« »Gut beurteilt«, lobte Sun Koh. »Hoffentlich ist ihm bei dieser Gelegenheit aufgegangen, daß er trotzdem erheblich zu Schaden kommen kann. Bar denys Rettung können wir ihm natürlich nicht anver trauen. Wir müssen selbst fliegen.« »Fein, Sir!« Sun Koh lächelte flüchtig. »Bei fünfzig Grad Kälte wirst du bald anders dar über denken.« »Ich werde mir einen Nasenwärmer zulegen.« »Untersteh dich.« 2. Die Maschine summte mit achthundert Kilometern Durchschnittsgeschwindigkeit unentwegt nach Nor den. In den ersten Stunden überwachte Nimba allein Steuer und Wetter, später leisteten Sun Koh und Hal, die Schlaf nachgeholt hatten, ihm Gesellschaft. Die Landschaft glitt mehr und mehr in die Hülle des ewigen Eises hinein. Es wurde langweilig, hinun terzustarren. Die automatische Wärmeregulierung brachte noch nicht einmal die Temperaturänderungen zum Bewußtsein. Die Nacht wich dem weißen langen Tag der Polar 37
zone. Die Sonne kam nicht mehr recht hoch, aber Eis und Schnee verstärkten ihre schwachen Strahlen bis zur Blendung. Die Maschine hielt sich ständig auf dem siebzig sten Grad westlicher Länge. Das war der kürzeste Weg, der nach dem Überfliegen des Nordpols direkt auf den gesuchten Schnittpunkt zuführen mußte. Immerhin handelte es sich um eine Strecke von fast sechstausend Kilometern. Die Zeit verstrich. Die weiße Einöde zeigte so wenig Abwechslung, daß die drei im Flugzeug oft das Empfinden hatten, über ihr stillzustehen. Mittag. »Wir müssen den Nordpol bald erreicht haben«, stellte Sun Koh nach einem Blick auf die Apparate fest. Die Landschaft selbst zeigte keine Hinweise. »Nichts zu sehen«, beschwerte sich Hal. »Ein geographischer Punkt«, sagte Sun Koh nach denklich. »Wieviel Heldenmut, Opfer, Entbehrungen und Mühen sind ihm gebracht worden.« »Eigentlich sinnlos.« »Höchstens zwecklos. Aber das heroische Ideal beginnt erst dort, wo die Zweckmäßigkeits- und Nützlichkeitsfragen aufhören.« Der Polpunkt blieb zurück. Eine Stunde später war die Kreuzungsstelle zwi schen dem sechsundachtzigsten Breitengrad und dem 38
Längengrad ungefähr erreicht. Sun Koh setzte den Sender des Flugzeugs in Tätigkeit. Erst kräftig, dann aber merklich schwächer wer dend, kamen die Antwortzeichen: »Wir hören. Es geht uns schlecht. Die Kälte ist furchtbar. Einige von uns sind schon trübsinnig geworden. Wann werden Sie kommen?« »Wir befinden uns schon in unmittelbarer Nähe«, funkte Sun Koh tröstend zurück. »Ihre Rettung ist gesichert. Bitte, senden Sie einfach weiter, solange der Strom reicht, damit wir Sie anpeilen können!« Lange Pause, dann tickte es: »Wir senden weiter.« Sun Koh stand selbst am Peilapparat und gab Nimba, der das Steuer führte, Anweisungen. »Wenn sie nur einige Minuten aushalten, dann ha ben wir sie. Tiefer, Nimba, einen Strich West.« Die Peilung arbeitete recht genau, aber erst die Feinpeilung konnte entscheiden, ob es gelang, die Eingeschlossenen zu retten. Die Zeichen wurden immer schwächer. »Immer noch ein Quadratkilometer Spielraum«, flüsterte Sun Koh besorgt. »Herunter, Nimba, fünfzig Meter.« Minuten voller Spannung verstrichen. Die Spirale, in der sich das Flugzeug bewegte, wurde immer enger. Die Zeichen des Tauchbootes blieben aus. »Stopp«, befahl Sun Koh, »senkrecht hinunter! Ich denke, wir haben sie.« 39
»Direkt unter uns?« fragte Hal. »Einige hundert Quadratmeter Spielraum. Wir müssen immerhin mit einer gewissen Brechung und Ablenkung rechnen.« Die Maschine setzte auf. Das Eis war wie abgefegt, glatt, schneelos, mit kleinen Höckern, die aber das Gesamtbild der Um gebung nicht beeinträchtigen konnten. Die drei Männer zogen sich im warmen Flugzeug die Polarkleidung an. Das Umziehen war recht mühsam. Danach hatten sich die drei stattlich verbreitert. »Du wirst wohl kaum durch die Tür kommen, Nimba«, prophezeite Hal. »Und du siehst endlich mal wie ein Mann aus«, entgegnete Nimba grinsend. Sun Koh öffnete die Tür spaltbreit. Sofort schlug beißend scharf die Kälte herein. Am Körper spürten sie sie nicht, im Gegenteil, sie schwitzten, aber das Gesicht empfand sie um so stärker. »Wir müssen unsere Haut erst ein bißchen an die Kälte gewöhnen, sonst werden wir bald schwarz vor Frost.« »Scharf wie Pfeffer«, meckerte Hal und hob die Nase. »Du bleibst vorläufig hier und läßt die Maschine leer weiterlaufen«, ordnete Sun Koh an. »Wir brau chen dann den Strom für die Heizkabel.« 40
»Da brauchte ich doch den Pelz nicht erst überzu ziehen!« »Die Tür bleibt auf. Sobald die Maschine angefro ren ist, mußt du mithelfen. Vorläufig besteht noch Gefahr, daß sie weggleitet.« »Und wenn sie anfriert, kommen wir nicht wieder los.« »Nicht zu befürchten.« Die Tür wurde vollends geöffnet. Rund fünfzig Grad Polarkälte eroberten sich trotz der allerdings gedrosselten Heizung die Kabine. Hal fühlte seine Haut zu Leder werden. Sun Koh und Nimba standen schon draußen. Hal reichte ihnen an. Das Heizkabel glitt als dünne Schlange hinaus, die Pumpe folgte, dann die Trans formatoren, die Widerstände und verschiedener Kleinkram. Kaum waren die Sachen draußen, so be schlugen sie sich mit weißen Schichten. Der Atem der Männer quoll wie dicker Rauch. Das Heizkabel wurde an der Stelle, die Sun Koh am hoffnungsvollsten erschien, zu einer weiten Schleife von rund zwanzig Meter Durchmesser ge legt. »Wir müssen vor allem die genaue Lage ermitteln. Später können wir uns darauf beschränken, das Aus stiegluk freizuschmelzen«, erklärte er. »Die An schlußblöcke, Nimba. Laß den Motor laufen, Hal.« Die Anschlüsse wurden hergestellt, dann wurde 41
die Pumpe montiert. Ihr Mundstück wurde an der Stelle angesetzt, an der sich das Kabel wahrschein lich am schnellsten einfressen würde, also kurz hinter dem ersten Auflager. »Könnten wir uns die Pumpe jetzt nicht sparen?« erkundigte sich Hal vom Flugzeug her. »Die Pumpe brauchen wir natürlich, denn das Wasser würde ja über dem Kabel wieder gefrieren. Du scheinst dir die Wirkungen dieser Temperatur nicht ganz klargemacht zu haben. Wenn sich die Pumpe nicht beim Arbeiten stark beheizen würde, könnten wir sie noch nicht einmal gebrauchen. Das Wasser würde im Durchlaufen gefrieren. Fertig, Nimba?« »Fertig, Sir.« Sun Koh sah alles noch einmal durch, dann winkte er Hal. »Schalte auf Strom, aber langsam.« Eine Minute später wurden die Apparate, die eben noch weiß eingehüllt gewesen waren, schwarz. Der Beschlag lief als Wassertropfen herunter und gefror unten an den Holzplatten, die untergelegt worden waren, von neuem zu Eis. »Stärker, Hal!« Im Flugzeug summte es immer mehr auf. Hinter dem isolierten Anschlußstück wurde das Kabel schmutzigrot. Die Farbe lief weiter nach dem Ende des Kabels zu, ihr folgten hellere Töne, das 42
Glühen setzte ein, zischend antwortete das Eis, die Pumpe schmatzte leise. Die Arbeit hatte begonnen. Schon lag das Kabel in einer Rinne unter Wasser, das von der Pumpe weggesogen und wieder ausge spien wurde, um sich zu einem schnell erstarrenden Eisberg zu formen. Gleichmäßig senkte sich das Kabel in das Eis hin ein, ganz einwandfrei gelang es nicht, das Wasser abzuziehen. Der schmale Schnitt wurde bald hier, bald dort überkrustet. Aber die Sicht blieb. Der Motor wirbelte jagend den Dynamo herum, von dessen knisternden Lamellen der elektrische Strom stürmisch in das Kabel jagte und sich in weiße Glut verwandelte. Sun Koh ging den runden Schnitt unermüdlich ab und prüfte zunächst mit freiem Auge, dann unter Zu hilfenahme von Lampe und Meßfaden. Drei Meter schon. Vier Meter. Bis fünf Meter wollte er das Kabel hinabschmel zen lassen und dann den Versuch an anderer Stelle machen. Die Leute vom Tauchboot hatten von eini gen Metern gesprochen. Sie mußten eigentlich Be scheid wissen, denn sicher besaßen sie entsprechende Apparate. 4,20 Meter. Sun Koh maß schnell noch einmal einen halben 43
Meter entfernt. Er holte das gleiche Maß heraus. Noch einen halben Meter weiter. Das gleiche Ergeb nis. Noch einen halben Meter. 5,10 Meter. »Gott sei Dank«, sagte Sun Koh aufatmend, »das ging schneller, als ich hoffte. Hal, langsam zurück schalten. Nimba, das Kabel aufholen.« Hier unten lag das Kabel auf einem festen Körper auf. Eis wäre geschmolzen, also konnte es sich nur um das Tauchboot handeln. Nimba zog mit einer isolierten Zange das Kabel aus seiner Rinne. Auf Sun Kohs Wink brachte er es dorthin, wo Sun Koh stand. »Haben Sie es gefunden?« fragte Hal an. »Nimm den Strom noch etwas zurück. Das Boot haben wir, wenigstens die Spitze.« »Das geht ja wie’s Brezelbacken«, rief Hal fröh lich. Sun Koh half Nimba. Das Kabel war jetzt nur sehr mäßig warm. Sie holten es aus den Rinnen heraus, in die es sich neu eingefressen hatte, und legten es zu einer Spirale, deren äußerster Ring knapp fünf Meter Durchmesser besaß. Dadurch ergab sich ein verhält nismäßig geringer Abstand zwischen den einzelnen Ringen, der von der Hitze des Kabels überwunden werden mußte. »Strom, Hal«, befahl Sun Koh, nachdem auch noch die Pumpe umgestellt worden war. Diesmal 44
schlossen sie an die Auswurföffnung gleich noch ein Stück Schlauch, um die Pumpe nicht zu schnell wie der umstellen zu müssen. Die Kabelschlange färbte sich wieder, begann zu glühen und sich einzufressen. Sie verschwand in den Rinnen. Die Eiskurven dazwischen blieben eine Wei le stehen, dann brachen sie und schmolzen mit, so daß ein fast kreisförmiges Loch von fünf Meter Durchmesser entstand. Das Eisloch war ein dampfender Kessel. Die glü hende Schlange brannte sich immer tiefer. Doch jetzt blieb trotz des Brodems wenigstens leidlich Sicht. Drei Meter. Vier Meter. »Strom zurück!« Tauchte es unten schwarz auf, oder war es eine Täuschung? »Strom zurück bis auf Strich eins!« Der Brodem lockerte sich. Am Boden des Schachtes schnitt ein schwarzer Körper schräg durch das Rund. Die kleinere Hälfte des Bodens war Eis, die andere war aber zweifellos das Tauchboot. Sie hatten ein Randstück getroffen. An dem Verlauf der Schienen, an verschiedenen Kleinigkeiten und vor allem am Ansatz einer Auf wölbung ganz an der Seite erkannte Sun Koh, daß sich das Ausstiegluk des Tauchbootes unmittelbar neben dem ausgeschmolzenen Loch befand. 45
»In einer Stunde können wir es frei haben«, sagte er zu Nimba. »Vorwärts, das Kabel hoch.« Sie gingen von neuem an die Arbeit. Diesmal leg ten sie das Kabel zu einer halben Spirale, die sich unmittelbar an das geschaffene Loch anschloß. Hal gab wieder Strom, dann stellte er sich an den Schlund und äugte hinunter. »Hm, wie kommen wir denn da hinunter, Sir?« »Wir müssen Treppen schlagen.« Die ersten Brocken stürzten vom Rand herunter und schlugen auf den Körper des Tauchbootes auf. »Das wird ein willkommenes Zeichen für die Ein geschlossenen sein. Versuche einmal, ihnen Nach richt zu geben, Hal. Vielleicht hat sich ihre Batterie wenigstens so weit erholt, daß der Empfänger arbei tet.« Nimba nahm die erste Seilschlaufe zwischen die Zange und scheuerte mit ihr an einer meterbreiten Stelle des neuen Kessels entlang, so daß eine schräge Bahn abschmolz. »Da brauchen wir nachher nur noch die Stufen hi neinzuschlagen, Sir«, erklärte er. »Es wird eine rich tige Treppe.« Die Glut fraß sich langsam tiefer. Endlich tauchte auch an dieser Stelle der schwarze Rumpf auf. Sun Koh ließ den Strom weiterarbeiten, bis die ganze Umgebung des Luks trocken lag, dann stellte Hal ab, und Nimba holte das Kabel auf. 46
»Soll ich Bescheid geben?« fragte Hal. »Nicht nötig, sie müssen uns sehen.« Sun Koh wußte, daß in die Oberhaut des Bootes starke Fenster eingebaut waren. Der Brodem erlaubte ihm allerdings noch nicht, zu unterscheiden, ob sich tatsächlich ein Gesicht an das Fenster im Luk gepreßt hatte. »Das Seil!« Hal brachte es. Nimba hielt es fest, legte das Ende aber in das letzte offene Wasser der Pumpe und ließ es einfrieren, dann hangelte Sun Koh sich am Seil hinunter. Der Lukendeckel war schon zwei Handbreit offen und kippte langsam zentimeterweise höher. Ein Ge sicht blickte durch den Spalt. »Hallo!« »Hallo, bekommen Sie den Deckel nicht hoch?« »Wir bedienen die Handwinde, die mechanische ist ja außer Betrieb«, klang es zurück. »Lassen Sie nur, ich werfe ihn zurück!« Sun Koh stemmte sich ein, und das Luk flog auf. * Bardeny selbst stieg als erster aus dem Tauchboot heraus, das fast zum Grab geworden wäre. Trotz sei nes ernsten Gesichts erkannte man die Freude des Mannes. 47
»Ich danke Ihnen«, sagte er leise, während er Sun Koh die eingehüllten Hände hinstreckte. »Mehr brau che ich Ihnen wohl jetzt nicht zu sagen. Wir hielten uns für verloren.« »Wie geht es den anderen?« »Gut und schlecht. Körperlich haben wir nicht viel gelitten, es sei denn unter dieser stillen Eiseskälte. Aber viele von uns sind verstört. Einige haben wir fesseln müssen.« »Wie viele sind Sie?« »Vierzehn Mann.« »Dann müssen wir zweimal fliegen, um alle weg zubringen. Doch das will nichts besagen.« Inzwischen war der nächste Mann ausgestiegen, andere folgten. Sie benahmen sich wie Menschen, die aus dem Grab kamen. Einige taumelten. Nimba hatte sich inzwischen ebenfalls herunterge lassen und mit der Arbeit begonnen. Er schlug auf der schrägen Bahn, die er mit dem glühenden Kabel geschaffen hatte, Stufen ein. Sun Koh wollte mithelfen, aber er sah bald ein, daß es wenig Zweck hatte. Sie behinderten sich nur gegenseitig. So unterhielt er sich einstweilen mit den Geretteten. Hal war dazugekommen. »Das Boot müssen wir natürlich aufgeben«, sagte Sun Koh zu Kapitän Bardeny unter anderem. »Selbstverständlich, es kommt darauf auch nicht an. Ich will froh sein, wenn sich die Besatzung in 48
Sicherheit befindet.« »Sie hatten sich vorgenommen, den Nordpol zu er reichen und dann wieder umzukehren, ohne über haupt aufzutauchen?« »Wir haben den Nordpol erreicht«, erwiderte Bar deny mit einem Anflug von Stolz. »Wir kehrten auch sofort um. Aber wir haben uns ja für alle Fälle einge richtet. An Bord befindet sich die gesamte Einrich tung für eine Schlittenreise durch das Polarland. Wir rechneten allerdings nicht damit, daß die Maschinen so versagen würden.« »Aber Hunde hatten Sie doch wohl nicht mit.« »Motorschlitten!« »Würden Sie die Inneneinrichtung des Bootes einmal zeigen?« »Gern.« »Fertig, Sir!« meldete Nimba von oben. »Dann wollen wir zuerst die Leute hochbringen. Sind noch welche drin geblieben?« »Die vier, die wir fesseln mußten, damit sie in ih rer Verstörtheit keinen Schaden anrichten konnten.« »Diese würden wir natürlich zuerst mitnehmen, dazu vier andere. Ich würde raten, daß der Rest unten bleibt, denn hier ist man geschützter!« »Gut, dann wollen wir gleich einteilen. Hört zu, Kameraden!« Die Männer schoben sich dichter heran, und Bar deny fuhr fort: »Außer den vieren, die noch unten 49
sind, kommen jetzt mit dem ersten Flug noch vier von euch mit fort. Ich selbst bleibe hier. Wir andern werden dann anschließend abgeholt. Ich denke, daß jetzt Dyckhoff, Bergson, Rimper und…« »Ich«, meldete sich einer unruhig. »Sie, Patson?« fragte Bardeny befremdet. Patson, dessen Gesicht sehr finster und verstört aussah, pendelte mit dem ganzen Oberkörper hin und her. »Ich will fort«, murmelte er. »Ich – ich habe es satt!« Bardeny blickte jetzt verächtlich. »Nein, Patson, Sie können noch warten. Abgese hen davon, daß Sie hier als Vorgesetzter gelten, ver gessen Sie bitte nicht, daß die Katastrophe durch das Versagen der Maschinen eintrat, die Ihnen anvertraut waren. Brendel wird mitfahren.« Patson beruhigte sich nicht. »So, und was geschieht mit uns, wenn ein Sturm kommt? Dann können wir hier verrecken.« Jetzt griff Sun Koh ein. Er trat dicht an den aufsäs sigen Mann ran. »Sie sollten sich schämen, Mr. Patson. Ein Wort noch, und ich bringe Ihnen Disziplin bei. Sie haben kein Recht, diejenigen unruhig zu machen, die zu rückbleiben müssen.« Patson schwieg. Sun Koh und Nimba stiegen mit Bardeny in das 50
Tauchboot hinunter und holten zwei der gebundenen Leute heraus. Bardeny wollte sich auch belasten, aber Sun Koh riet ihm ab. Ganz so einfach war es eben nicht, mit der Last eines unruhigen Menschen die Eisstufen hinaufzugehen. Die anderen Männer des Tauchbootes hatten in zwischen teilweise den Weg nach oben gefunden. Hal hielt ihnen bereitwillig das Seil straff. Die Kranken wurden in das Flugzeug eingeladen. Sun Koh ließ den Motor leicht anlaufen und schaltete die automatische Wärmeregulierung ein, um die Temperatur der Kabine wieder auf ein erträgliches Maß zu bringen. Die Kabinentür schloß er jetzt. »Fliegen wir bald ab?« erkundigte sich einer der Männer. »Sobald wir die beiden anderen geholt haben.« »Danke. Ich will nur schnell noch einige Kleinig keiten aus dem Boot holen.« Ein anderer hielt Bardeny an. »Kapitän, lassen Sie Patson an meiner Stelle mit fliegen. Ich kann gut noch einen Tag warten.« Bardeny schüttelte den Kopf. »Nett von Ihnen, Brendel, aber Sie husten mir recht verdächtig. Es ist besser, wenn Sie mitfahren. Patson fehlt nichts.« Der andere zuckte mit den Schultern. »Wie Sie wollen.« Bardeny wandte sich an seine Kameraden. 51
»Es ist vielleicht zweckmäßig, wenn ihr einen Teil der Zelte und der Schlafsäcke heraufholt. Wahr scheinlich hat niemand Lust, noch einmal in dem Tauchboot zu schlafen.« Die Mienen bewiesen deutlich, daß er recht hatte. Die Kälte war hier oben nicht geringer, aber sie wuß ten doch den Himmel über sich. Die seelische Be drückung war wesentlich geringer. Infolge Bardenys Aufforderung kehrte ein großer Teil der Männer zum Boot zurück. Nur zwei blieben oben. Patson und Brendel. Patson kreiste um das Flugzeug herum und be trachtete es mit gierigen Blicken. Dann stieg er hin auf und ließ die Tür zurückrollen. »Laß doch die Tür zu!« rief Brendel ihm ärgerlich zu. »Es soll doch warm drin werden. Was haben Sie überhaupt dort zu suchen?« Patson winkte ab. »Ich will mir die Kiste nur mal von innen anse hen.« Brendel fand die Neugier nicht ganz am Platze, aber er sah auch keinen Grund, sich groß aufzuregen. Und er sah Patsons Gesicht nicht, das ihn hätte stut zig machen können. Er stutzte erst, als die Flügelschaufeln langsam zu wirbeln begannen, dann immer schneller. »Patson!« schrie er auf. »Was machen Sie?« So schnell ihm seine Vermummung erlaubte, rann 52
te er zum Flugzeug, zog sich hoch und riß die Tür zurück. Patson stand über die Apparate gebeugt und fingerte an den Hebeln herum. Das Flugzeug zitterte und bebte bereits, als wollte es im nächsten Augen blick starten. »Patson, sind Sie verrückt?« Patson wandte sich um. Seine Augen glühten. Er lachte auf, während er heransprang. »Verrückt? Fort will ich! Fort!« Dabei schlug er schon zu. Brendel hatte keinen richtigen Halt und rutschte und stürzte. Oben rollte die Tür zu. »Patson!« Die Düsen heulten auf, die Maschine sprang förm lich. Sie tippte noch einmal auf das Eis zurück, dann stieg sie schräg nach oben. In diesem Augenblick kam Sun Koh wieder her auf. »Das Flugzeug?« Er lief ein Stück, dann ließ er seine Last abgleiten und starrte hinter dem Flugzeug her. Brendel stand auf und schüttelte beide Fäuste ver zweifelt hinter dem Flüchtling her. Von unten dräng ten die Männer nach. Fragen mischten sich mit Schreckensrufen. Sun Koh eilte auf Brendel zu. »Was ist hier geschehen?« »Patson!« keuchte Brendel. »Dieser Schuft! Er hat 53
die Maschine in Gang gesetzt und ist geflohen. Ge flohen! Und wir sitzen hier!« Sun Koh kniff die Lippen aufeinander. Er durfte jetzt die Beherrschung nicht verlieren, wenn den an deren nicht bewußt werden sollte, was diese Flucht bedeutete. Manche der Männer verloren tatsächlich die Be herrschung. Die Mehrzahl aber biß die Zähne aufein ander und hielt es wie Sun Koh. »Ruhe, bitte!« übertönte er nun die Stimmen. »Ich bitte um Ihre Aufmerksamkeit. Wir müssen uns mit dem Geschehenen abfinden. Das Flugzeug hätte eben nicht ohne Bewachung bleiben dürfen.« »Ich hätte Patson doch mitschicken sollen«, er klärte Bardeny zerknirscht. »Wir wollen nicht unnötig nach Schuldigen su chen. Niemand von uns konnte ahnen, daß er so an seinen Kameraden handeln würde. Und vielleicht kommt er noch zur Besinnung und kehrt um.« »Der nicht.« »Dann wird er wenigstens so viel Anstand besit zen, die Öffentlichkeit zu benachrichtigen, sobald er in bewohnte Gegenden kommt.« »Wenn ihm das gelingt.« »Wahrscheinlich wird es ihm gelingen. Das Flug zeug ist sehr einfach zu bedienen und arbeitet weit gehend automatisch. Und selbst wenn es ihm nicht gelingen sollte, dürfte unsere Rettung bald erfolgen. 54
Man wird mich vermissen und nach mir forschen. Meinen Leuten ist bekannt, daß ich hierhergeflogen bin. Sicher können noch Tage vergehen. Ich halte es nicht für ratsam, hier sitzen zu bleiben und zu war ten, sondern schlage vor, die Schlittenexpedition zu sammenzustellen und Richtung auf das Festland zu nehmen. Sollte ich mich in meinen Hoffnungen täu schen, haben wir wenigstens nichts verloren.« »Ich stimme Ihnen zu«, sagte Bardeny. »Verges sen wir am besten zunächst, daß für uns diese schnel le Rettungsmöglichkeit bestand. Wir befinden uns einfach in der vorgesehenen Lage, daß wir den Rück weg mit Hilfe der Schlitten antreten müssen. Jeder von uns übernimmt die Aufgabe, für die er eingeteilt wurde.« Sun Koh blickte zum Horizont, aber das Flugzeug war nicht wieder zu entdecken. Er hoffte trotzdem, daß die mühselige und gefahrvolle Schlittenreise un nötig sein würde. Morgen oder spätestens übermor gen mußten seine Leute unruhig werden und nach ihm suchen. Sie würden jedenfalls versuchen, über Richtstrahler Verbindung mit ihm zu bekommen. Er befand sich in einem durch den Pol irritierten elek tromagnetischen Feld, das die schwachen Sende ströme und Sprechdosen blockierte, aber mit einem entsprechend abgeschirmten Richtstrahler konnten sie die Blockierung leicht aufheben. Sun Koh ahnte in dieser Stunde noch nicht, wie 55
weit Patsons Gemeinheit ging. Er erreichte bewohnte Gebiete, aber er lud nur die beiden Kranken in der Nähe eines Dorfes ab und flog wieder weiter, um un tertauchen zu können. Während dieses Flugs wurde er angerufen. Die Zentrale erkundigte sich, ob Hilfe erforderlich sei. Patson erschrak erst fürchterlich, begriff aber ungefähr die Zusammenhänge und ant wortete, die Rettung sei glücklich verlaufen und das Flugzeug befinde sich schon wieder über Kanada. Mr. Sun Koh wäre im Augenblick unterwegs, hätte ihn aber für den Fall eines Anrufs mit der Mitteilung beauftragt, daß er in den nächsten zwei Wochen noch unterwegs sein würde. Die Expeditionsteilnehmer seien gut untergebracht, doch sollte aus bestimmten Gründen der Öffentlichkeit noch nichts über die miß glückte Expedition mitgeteilt werden. Die Zentrale beruhigte sich damit. Sie war es ge wöhnt, daß sich Sun Koh unterwegs befand und dann gelegentlich sich selbst überlassen bleiben wollte. Bardeny trat jetzt an Sun Koh heran. »Tut mir leid, daß auch Sie nun zu einer Polarfahrt gezwungen werden. Nicht leicht für jemand, der das nicht gewöhnt ist.« »Machen Sie sich keine Sorgen«, beruhigte Sun Koh. »So oder so – wir werden es schaffen.« Kapitän Bardeny war ein erfahrener Polarforscher, dessen Name mit Recht in der Geschichte der Arktis und der Antarktis hervorgehoben wurde. Er kannte 56
sich in den traditionellen Methoden gründlich aus. Auf Hunde, Schlitten und die eigene Kraft konnte er sich voll verlassen. Leider begnügte er sich nicht damit, sondern besaß den Ehrgeiz, sich wie andere auch die Maschine für die Polarforschung dienstbar zu machen. Von Maschinen verstand er jedoch nichts – noch nicht einmal so viel, um ihre Tücken und Möglichkeiten genügend erfahrenen Technikern ent gegenzusetzen. So war er damals als erster unter der Aufmerk samkeit der ganzen Welt mit einem Tauchboot losge fahren, um den Nordpol unter dem Eis zu unterque ren. Die Maschinen hatten versagt, bevor er noch den Eisgürtel erreicht hatte. Er hatte schmählich umkeh ren müssen – und die spätere »Nautilus« der ameri kanischen Marine hatte ihm gezeigt, wie leicht eine gemeisterte Technik die Unterquerung schaffen konnte. Ihn hatte der verfrühte und mißglückte Ver such den wissenschaftlichen Ruf gekostet und ihn fast in eine Reihe mit den Unfähigen gebracht. Anstatt nun durch eine echte Polexpedition seinen Ruf wiederherzustellen, verbiß er sich darauf, sein Ziel doch noch mit Hilfe eines Tauchbootes zu erreichen. Er verdankte es allein Sun Koh, daß er wieder aus dem Eis herauskam. Und es wäre leicht gewesen, ihn und die ganze Besatzung zu retten, wenn nicht die panische Angst den unsicheren Charakter des Ma schinenoffiziers überrannt hätte. 57
Vierzehn Mann blieben einschließlich Sun Koh und seiner beiden Begleiter auf dem endlosen Eis der Polarzone, vierzehn Mann, von denen die meisten noch unter den Nachwirkungen der Haft im Tauch boot litten. Doch nun zeigte sich, was in den Män nern steckte. Diejenigen waren zusammengebrochen, die Bardeny wegen der Maschinen mitgenommen hatte, aber die anderen, die Männer mit Polarerfah rung, waren bereit, den Kampf mit dem Eis und der Entfernung aufzunehmen. Und nun zeigte sich auch, wovon Bardeny wirklich etwas verstand. Die Ausrüstung, die aus dem Tauch boot geschafft wurde, entsprach seinen jahrzehntelan gen eigenen Erfahrungen. Sie war bis ins kleinste hin ein überlegt, durchdacht und vollkommen. Allerdings, das Wichtigste für Polarreisen fehlte ihm. Er besaß keine Schlittenhunde, jene zähen, uner müdlichen Läufer, denen die Erfolge der bedeutenden Polforscher zum wesentlichen Teil zu verdanken wa ren. Dafür holte man zwei Motorschlitten herauf, die gleiche und bessere Dienste als Hunde leisten sollten. Kapitän Bardeny war noch lange nicht endgültig geheilt. Er führte die beiden Motorschlitten mit ei nem gewissen Stolz vor, nachdem sie zusammenge baut worden waren. »Auf diese beiden wird man sich verlassen kön nen«, sagte er zu Sun Koh, während er seine pelzge schützte Hand auf den plumpen Rumpf eines Motor 58
schlittens legte. »Wie Sie sehen, können sie auf zweifache Art betrieben werden, einmal durch den Zugpropeller hier vorn, zum anderen durch diese Rä der neben den Kufen, die abgesenkt werden können. Die Schwierigkeit lag vor allem darin, daß wir viel Brennstoff mitnehmen mußten. Aber Sie bemerken, daß die Schlitten selbst eigentlich nur fahrbare Brennstoffbehälter sind. Wir führen insgesamt 600 Liter mit, was wohl hoffentlich ausreichen wird, um in bewohnte Gegenden zu kommen. Und dort kom men auch die anderen Schlitten für den Transport der Vorräte und Menschen. Sie werden an die Motor schlitten in einer Kette angehängt. Die Motorschlit ten sind also nur Zugschlitten.« Sun Koh behielt seine Bedenken für sich. Bardeny verstand schließlich mehr von Polreisen als jeder an dere. Sun Koh hielt es darum auch für selbstver ständlich, daß Bardeny die Führung der gesamten Expedition übernahm. »In welcher Richtung soll die Fahrt gehen?« er kundigte er sich. »Das nächste Landgebiet wäre Franz-Joseph-. Land«, gab der Kapitän Auskunft, »aber es ist uns nicht damit gedient, wenn wir es erreichen. Wir müs sen schon am besten nach Sibirien kommen, viel leicht in die Mündung des Jenissei. Dort haben wir am ehesten Aussicht, auf Menschen zu stoßen. Bis Dudinskoje, der nördlichsten Siedlung im Mün 59
dungsgebiet des Jenissei, sind es rund 1700 Kilome ter weiter, denn in jener Gegend ist die Landschaft nicht viel anders als hier. Wenn wir Turuchansk er reicht haben, können wir uns als gerettet betrachten.« »Wieviel Zeit werden wir brauchen?« »Das laßt sich schwer voraussagen, da das von den Eisformationen und vom Wetter abhängt. Auf leidli chem Eis können uns die Schlitten mit dreißig Stun denkilometer vorwärts ziehen, wobei wir keine Pause einzulegen brauchen. Man könnte vorsichtig einen Durchschnitt von zehn Kilometern mit zehnstündiger Fahrt pro Tag ansetzen, so kämen wir auf drei Wo chen. Aber das sind reine Spekulationen. Behalten wir dieses Eis und dieses Wetter, handelt es sich um eine Angelegenheit von Tagen, haben wir Pech, kön nen wir Monate unterwegs sein.« Die Stunden waren voller Arbeit. Jeder der Männer hatte zu tun. Und es war gar nicht so einfach. Zahllose Dinge erforderten die Griffe der bloßen Hand. Blieben die Finger aber nur Minuten der Kälte ausgesetzt, wurden sie zusehends weiß und gefühllos und drohten abzufrieren, so daß sie schnell wieder unter Fell und Pelz verschwinden und energisch bewegt werden mußten, am den Blutkreislauf wieder in Gang zu bringen. Infolgedessen ging die Arbeit langsam von statten und wechselte fortwährend mit Ruhepausen. Es war eine schwere Arbeit, aber gerade diese Ar beit bannte alle Schrecken. Selbst die beiden Ma 60
schinisten, die im Tauchboot die Beherrschung ver loren hatten, beruhigten sich unter dem Getriebe. Sie wurden losgebunden, griffen mit zu und gewannen dabei ihr Gleichgewicht wieder. Nimba fühlte sich vermutlich am wohlsten. Er kochte für alle. Brennstoff gab es genügend und Nahrungsmittel erst recht. Man mußte ohnehin alle Vorräte zurücklassen, die wohl für das Tauchboot, nicht aber für die Einwanderung geeignet waren. Hal Mervin griff zwar auch mit zu, aber er be schränkte sich im allgemeinen mehr auf den sozialen Kontakt mit den Leuten. Er war bald hier, bald dort, sah sich alles an, stellte Fragen und kannte die ein zelnen Leute bald bei Namen und Vornamen. Er freundete sich mit ihnen an und sagte ihnen allerlei witzige Dinge, die die Männer zum Lachen brachten. Er pulverte manchen mit seiner scheinbaren Schnoddrigkeit an und leistete damit der Gesamtheit gute Dienste. So blieb es auch später. Je härter und schwerer die Wanderung wurde, desto mehr neigte Hal dazu, durch eine lockere, kaltschnäuzige oder humoristische Bemerkung den anderen wieder Ab stand von der Tragik des Geschehens zu geben und die Spannung zu lösen. Hal nahm es durchaus nicht übel, wenn man über ihn lachte. Er scheute sich auch nicht, eine dumme Frage zu stellen, um Schweigsa me überhaupt zum Reden zu bringen.
61
*
Es hatte viel Mühe gekostet, die Motoren zum An laufen zu bringen, aber nun glitten sie mit dreißig Stundenkilometer vorwärts und zogen hinter sich die langen Ketten der flachen Schlitten, die hochbepackt mit Zelten, Schlafsäcken, Apparaten und Vorräten aller Art waren. Die Männer hockten frohgestimmt und zuversichtlich obendrauf oder standen auf den Schlittenkufen. Der Himmel war klar. Ein guter Anfang, aber nur selten gewährleistete ein guter Anfang auch ein gutes Ende. Zweitausend Kilometer lang lag die Reise vor der Expedition, und man freute sich über jeden Kilome ter, der zurückgelegt wurde. Das Glück schien bei den Männern zu sein. Eine Stunde nach der anderen verging. Das Eis blieb glatt und das Wetter ruhig. So ging es unaufhaltsam vor wärts. Bardeny hatte ursprünglich beabsichtigt, das Tem po in regelmäßigen Abständen herabzusetzen und dadurch Gelegenheit zu bieten, neben den Schlitten eine Weile herzulaufen. Es war nicht gut, wenn man ständig ruhig stand oder saß. Die Kälte schlug all mählich doch durch die Pelze hindurch und bedrohte die ruhenden Menschen. Er änderte diese Absichten sehr bald, um die gün stige Wetter- und Eislage auszunutzen. Ein Teil der 62
Schlafsäcke wurde ausgepackt, die halbe Mannschaft darin verfrachtet und auf die Schlitten gebunden, dann ging es weiter. Später wechselte man aus. Auf diese Weise konnte sich jeder gelegentlich durch wärmen und vor allem schlafen, während die Fahrt keine nennenswerte Unterbrechung erlitt. Das Glück war mit Bardeny. Zehn Stunden, zwanzig Stunden lang ging es vor wärts. Schließlich waren fünfhundert Kilometer ge schafft, ohne daß es den Männern richtig zum Be wußtsein kam. Und weiter ging die Fahrt. Man aß nebenbei, man schlief nebenbei, die Hauptsache war, daß die Moto ren dort vorn gleichmäßig weiter dröhnten, daß die Propeller summten und gelegentlich auch die Räder eingriffen, daß die eisige Bahn unentwegt unter den Füßen zurückglitt. Es war nebensächlich, daß die Gesichter rot brannten, daß die Lider schmerzten und daß an den Brauen das Eis hing. Wenn es nur weiter nach Süden ging. Dreißig Stunden! Fünfunddreißig Stunden. Rund neunhundert Kilometer war die Expedition in so unglaublich kurzer Zeit nach Süden gerückt. Aber in der sechsunddreißigsten Stunde begann das Unheil. Am Horizont türmte es sich in bizarren Formen auf – Eis, ein ganzes Gebirge von Eis. 63
Eine Barre, die sich quer über den Weg legte. Bardeny wollte sie umgehen. Sie fuhren ein Stück an ihr entlang, aber das Ende kam nicht. »Wir müssen versuchen hinüberzukommen«, ent schied der Kapitän schließlich. »Wenn wir Pech ha ben, zieht sich die Barre noch einige hundert Kilo meter hin, und wir geraten wieder weiter nach Nor den. Prüfen wir nach, wie es um den Übergang steht. Hoffentlich ist sie nicht zu breit.« Er übernahm die Streife selbst und wählte zwei seiner Leute als Begleiter aus. Er hatte auf Sun Kohs Bitte hin nichts dagegen, daß dieser sich anschloß. Die vier Männer erklommen eine Anhöhe, von der aus sie die Ausdehnung der Barre übersehen konn ten. Gott sei Dank, sie war nicht breit, nicht mehr als einige hundert Meter. Und hinter ihr setzte sich die glatte Eisfläche fort. Nein, breit war sie nicht, diese Barre, aber jeder Meter mußte bitter und sauer erkämpft werden. Die trotz ihrer Bepackung verhältnismäßig leichten Schlitten brachte man ohne besondere Schwierigkei ten hinüber, aber an den beiden schweren Motor schlitten hätte die Zähigkeit der Männer fast versagt. Was nützten Propeller und Räder zwischen diesen wirr verworfenen und durcheinandergepreßten Blök ken! Mit der Kraft ihrer Körper mußten die Männer die schweren Schlitten ziehen und schieben. Es war 64
überhaupt nicht daran zu denken, daß man etwa ge radlinig durchkam. Der Transport mußte in zahlrei chen Windungen und Kurven mit umfangreichen Umwegen an das Gelände angepaßt werden. Die wenigen hundert Meter kosteten der Expediti on zwei volle Tage. Und zwei Männer. Als der zweite Schlitten auf halbem Weg war, machten sich die Anstrengung und die Übermüdung schon bemerkbar. So passierte es, daß der völlig ver eiste schwere Schlitten an einer gefährlichen Ecke rutschte, umschlug und zwei Männer unter sich be grub. Dem einen, er war einer der beiden Maschinisten, die im Tauchboot die Nerven verloren hatten, war die Brust schwer eingequetscht worden, dem anderen hatte die Last die Beine zerdrückt. Man wuchtete sie frei und brachte sie zu den Zel ten, die man jenseits der Barre aufgestellt hatte. Sie lebten beide und behielten beide das Bewußtsein, bissen die Zähne aufeinander und ertrugen tapfer die rasenden Schmerzen. Bardeny selbst untersuchte sie. Er verhehlte ihnen die Wahrheit und tröstete sie mit baldiger Genesung, aber Sun Koh, der bei der Unter suchung dabei war, las von den Augen der beiden Männer ab, daß sie über ihren Zustand besser Be scheid wußten. Sie wurden verbunden, gebettet und eingehüllt. 65
Doch während sich die Männer noch draußen halb laut über die Möglichkeiten unterhielten, die beiden durchzubringen, knallten im Zelt kurz hintereinander zwei Schüsse auf. Zwei Männer hatten sich klargemacht, daß sie ih ren Kameraden zur Last fallen mußten, ohne selbst Aussicht auf Gesundung zu haben. Sie hatten die Folgerungen daraus gezogen, um ihren Kameraden Bewegungsfreiheit zu geben. Man schichtete Eisblöcke über ihre Leichen und sprach ein Gebet. Es war eine sehr, sehr ernste Stun de. Die beiden ersten Opfer. Dann ging die Arbeit weiter. Endlich stand auch der zweite Motorschlitten jen seits der Barre. Während ein Teil der Männer sich erschöpft niederlegte, ließen die andern die erstarrten Motoren wieder an. Dann wurden die Schlitten ge packt, und die Weiterfahrt begann. Doch nicht lange glitten die Schlitten dahin. Der Himmel färbte sich schiefergrau, senkte sich tiefer, Böen fauchten auf. »Ein Eissturm!« schrie Bardeny. »Halt! Die Schlitten zusammen, Zelte dazwischen, Schlafsäcke heraus!« Im Nu formte sich der Wall der Schlitten, die Schlafsäcke flogen herunter. Aber da brach er schon los, der Eissturm. Millio 66
nen und Milliarden feinster Eisnadeln hieben im heu lenden lüftezerreißenden Kreischen des Sturms her unter. Jeder sah seinen unmittelbaren Nachbarn gera de noch in schattenhaften Umrissen. Eine Verständi gung durch die Sprache war nicht mehr möglich. Noch unmöglicher war es, die Zelte aufzurichten. So kroch wenigstens jeder instinktiv in den dickgefütter ten Schlafsack hinein, in dem man Ruhe und Schlaf inmitten der Kälte erhoffte. Man drängte sich anein ander, barg das Gesicht im Rücken des Kameraden, lauschte dem Toben der Lüfte und schlief sacht dabei ein. Millionen und Milliarden Eisnadeln legten sich zu Hügeln über die Schlitten, über die plumpen Hüllen der leise weitertackenden Motoren und über die läng lichen Klumpen der Menschenleiber. Sie war ein Gewinn, diese weiche weiße Decke, denn sie hüllte warm ein. Man mußte nur verhindern, daß sie nicht zu hoch anwuchs und die Expedition für ewig einhüllte. Bardeny wachte, denn er fühlte sich verantwort lich. Aber als der Sturm nachließ, als keine Über schüttung mehr zu befürchten war, da nickte auch er ein. Und während alles schlief, noch erschöpft von der Überwindung der Barre, da kam der trockene Eis wind und blies über die staubfeinen Nadeln, daß sie aufstieben und davontanzten. Die schützende Decke 67
verschwand. Die Temperatur aber, die eben fast noch mild gewesen war, sank und sank. Der Wind pfiff, und sechzig Grad Kälte suchten sich tausend winzige Wege durch Fell und Pelz. Sun Koh hob als erster die schweren Lider. Er wunderte sich, stand auf und stampfte zu Bardeny hin, der am Rand des Menschenklumpens lag. »Hallo, Kapitän Bardeny!« Bardeny blinzelte mühsam. »Ist es nicht besser, wenn wir weiterfahren?« frag te Sun Koh. »Wir können ja wieder wechselweise schlafen.« Bardeny taumelte auf. »Teufel noch mal, sind wir eingeschlafen? Natür lich fahren wir weiter. Der Sturm hat ja schon alles wieder freigeblasen.« Er machte ein verwundertes Gesicht, als er an sei nen Beinen heruntertastete. »Hm, ich glaube, lange hätten wir nicht mehr so liegen dürfen. Dieser Wind hat’s in sich. Auf, Kame raden, wir fahren weiter!« Die Männer rappelten sich auf, die Schlitten for mierten sich. »Die Kälte wird zu stark«, stellte Bardeny bedenk lich fest. »Wenn wir uns auf die Kufen stellen oder auf den Schlitten setzen, haben wir im Handumdre hen alle die Beine erfroren. Wir werden langsam fah ren, so daß wir nebenherlaufen können. Oder…« 68
»Die Ladungen anders verstauen und alles in die Schlafsäcke«, schlug einer vor. »Gut«, erklärte Bardeny, »so können wir es auch machen. Es wäre schade, wenn wir die Zeit nicht ausnützten.« Man lud um. Zwei mußten natürlich die Motor schlitten führen, aber diese beiden wurden notdürftig gewärmt. Die Männer rechneten damit, daß diese Verzöge rung durch das schnellere Tempo bald aufgeholt werden mußte. Sie rechneten natürlich richtig, aber sie rechneten andererseits auch wieder grundfalsch. Der hoffnungsvolle Anfang dieser ganzen Reise ver leitete sie dazu, in Stunden zu messen, als ob die Fahrt immer so weitergehen könne. »Finden Sie diese Kälte nicht ungewöhnlich?« er kundigte sich Sun Koh bei Bardeny. »Ja und nein«, erwiderte dieser. »An sich haben wir ja noch Sommer, Polartag, wenn auch nicht mehr lange. Aber auch diese wärmere Jahreszeit hat ihre Temperaturschwankungen. Und überhaupt macht sich die nahe Polarnacht schon stark bemerkbar.« Die Schlittenreihe bildete sich zum zweitenmal. Die Männer schnallten sich im Schlafsack und extra noch unter allen vorrätigen Pelzdecken fest. Die Fahrt ging weiter. Allmählich stieg die Temperatur wieder an. Nach zweistündiger glatter Fahrt maß Bardeny noch vier 69
zig Kältegrade. Doch dann änderte sich auch die Landschaft. Hü gelige Formationen aus gepreßtem Eis tauchten auf, das unregelmäßig und uneben wurde. Die Motor schlitten polterten, die Schlitten dahinter kippten und taumelten, als wollten sie jeden Augenblick um schlagen. Gleichzeitig wurde der Himmel wieder ei sig. Es begann zu stieben, Eisnadeln und Schnee flocken tanzten durcheinander. Langsamer, vorsichtiger ging es weiter. Ein Teil der Männer zerrte sich aus seiner Verpackung heraus und machte sich einsatzbereit. Steigung. Die Propeller zogen nicht mehr durch, die Räder griffen ein und rumpelten mit ihren groben breitgeriffelten Radkränzen über das Eis. Der Boden senkte sich, wurde wieder eben. Vor wärts. Wenn nur der Blick frei gewesen wäre! Aber wei ter als drei Meter konnte man auf keinen Fall sehen. »Stopp!« schrie Bardeny wild auf. »Anhalten!« Zu spät. Der erste Motorschlitten brach durch die harsche Eisschicht durch und verschwand in der Schneewehe. Der Mann, der ihn bediente, konnte gerade noch rechtzeitig abspringen und sich auf die feste Decke werfen. Der vorderste Schlitten bäumte sich auf, die ande ren rutschten zu einem Knäuel nach, konnten aber von den Männern noch zum Halten gebracht werden. 70
Einer kappte das Tau, das mit dem Motorschlitten verband, der immer tiefer in die noch weiche Masse eindrang. Der zweite Motorschlitten stand sicher und unge fährdet auf dem Hang. Bestürzt drängten die Männer zusammen. »Eine übereiste Schneewehe«, erklärte Bardeny düster. »Mit Hundeschlitten hätten wir überhaupt nichts davon bemerkt, aber diese Motorschlitten sind zu schwer. Ich ahnte es zu spät.« »Bekommen wir ihn wieder heraus?« fragte einer. »Wir wollen es versuchen. Aber zunächst schlagen wir dort unten unser Lager auf.« Die erste Untersuchung versprach nicht viel. Der Motorschlitten war schon zu weit vorgefahren. Es fehlte der feste Grund in unmittelbarer Nähe. Trotz dem bemühten sich die Männer, ihn herauszuziehen. Nach Stunden erschöpfender Arbeit sahen sie ein, daß es unmöglich war. Der Motorschlitten mußte aufgegeben werden. Man trug das Unvermeidliche mit Würde. Es war immerhin beruhigend, daß der andere Motorschlitten noch hinreichend stark war, alle Schlitten auf einmal zu ziehen. Das Lager war inzwischen hergerichtet worden. Nimba hatte aus Eisstücken und dem Inhalt von Konservendosen heiße Mahlzeiten bereitet, die den durchfrorenen Männern zum Labsal wurden. Dann 71
legten sie sich hin, um gründlich zu schlafen. Zwischen Essen und Schlaf besprach Sun Koh mit Bardeny einige Angelegenheiten. Er berichtete ihm von dem merkwürdigen Verhalten seines Sekretärs, worauf Bardeny bedrückt meinte: »Mallin ist ein gu ter Sekretär, aber für eine Polfahrt schien er mir nicht im geringsten geeignet zu sein. Da er ohnehin in alles eingeweiht war, hielt ich ihn für den richtigen Mann, den ich zur Verwaltung meiner Angelegenheiten zu rücklassen konnte. Ich hatte keinen Grund zu der Annahme, daß er zum Schuft werden würde.« »Sein Verhalten war jedenfalls sehr zweideutig. Ich hatte den Eindruck, daß er auf Ihre Rückkehr keinen Wert legte und sogar eine Rettung verhindern wollte. Mein Eindruck kann mich natürlich täuschen, aber ich würde gern erfahren, ob er Gründe hat, be wußt gegen Sie zu handeln.« Bardeny zögerte. »Vielleicht. Ich habe ihn für alle meine Angele genheiten bevollmächtigt.« »Auch für Ihr Vermögen?« »Ja.« »Dann allerdings. Er kann ein Vermögen gewin nen, wenn Sie nicht zurückkehren. Das genügt für einen Menschen, der moralisch nicht gefestigt ist.« »Hm, da habe ich wohl einen Fehler gemacht. Für Ellinor wäre es schlecht. Sie würde mehr oder weni ger von Mallin abhängig werden.« 72
»Bestehen Beziehungen zwischen den beiden?« Bardeny schüttelte den Kopf. »Nein. Mallin hat zwar einmal den Versuch ge macht, sich ihre Gunst zu erringen, aber er hat dann doch lieber darauf verzichtet. Es könnte jedoch sein, daß sie in wirtschaftliche Schwierigkeiten gerät, falls Mallin wirklich der Schuft ist, für den Sie ihn halten. Er wird jedenfalls vorläufig noch mit meiner Rück kehr rechnen müssen, und daß diese erfolgt, davon bin ich überzeugt. Ich habe mich schon unter schlimmeren Umständen durch eine Eiswüste hin durchgeschlagen.« Sun Koh lenkte auf die Gegenwart über. »Sie betrachten unsere Lage trotz des heutigen Verlustes nicht als ungünstig?« »Nicht im geringsten«, erwiderte der Kapitän überzeugt. »Wir besitzen doch alles, was wir brau chen, und die Strapazen haben bisher noch nicht einmal das gewöhnliche Maß erreicht. Wir werden es schaffen.« Sun Koh hatte keine Bedenken entgegenzusetzen. Er war durchaus der gleichen Überzeugung und Hoffnung. 4. Die Fahrt ging mit einem Motorschlitten weiter. Die Schneewehen konnten umgangen werden. 73
Die Stunden flossen dahin. Tag und Nacht waren kaum mehr zu unterscheiden. Die Sonne kreiste matt dicht über der Horizontlinie hin, doch die Männer beachteten sie nicht. Der Kompaß wies den Weg nach Süden, und der Motor dröhnte gleichmäßig vor den gleitenden Schlitten. Mehr verlangten die Männer nicht. Fahrt nach Süden! Die Temperatur betrug ungefähr vierzig Grad. Das war für diese Gegend eine erträgliche Kälte. Den noch liefen die Männer lieber nebenher, was die stark verringerte Geschwindigkeit erlaubte. Die Gesichter wurden braunrot und rauh, bei man chen auch schwarz, aber das war den Männern gleichgültig. Sie hatten weder Zeit noch Gelegenheit, an Schönheit zu denken. Die Barte wuchsen. Schmutz setzte sich fest, Ruß und Ölflecken blieben auf den Gesichtern, aber auch das beachtete niemand. Hauptsache, daß es weiter nach Süden ging. Doch die unbehinderte Fahrt der ersten Zeit kehrte nicht zurück. Einige Stunden nach dem Aufbruch kamen sie in verschneite Gebiete. Nun zeigte es sich, daß diese Motorschlitten für eine Polarfahrt nur beschränkt ge eignet waren. Auf dem glatten Eis liefen sie großar tig, aber im Schnee waren sie Versager. Der Motorschlitten war zu schwer. Er sank in den Schnee ein und schob in kurzer Zeit einen Wall vor 74
sich zusammen, den er nicht mehr bewältigen konn te. Bis zwanzig Zentimeter Schnee preßte er noch zusammen und glitt darüber hin, aber bei höheren Schneelagen blieb er bald stecken. Räder und Propeller nützten da nichts. Der Propel ler war zu schwach, um über einen ernsthaften Wi derstand hinwegzuhelfen. Die Räder aber schaufelten die Schneegrube, in die sich der Schlitten gesenkt hatte, noch tiefer aus. Die zwölf Männer bekamen Arbeit. Sie mußten mit ihren Körperkräften das schaffen, was der Mo torschlitten nicht schaffen konnte. Zeitweise genügte es, daß sich einige die Schneeschuhe anschnallten und dem Schlitten voraus die Spur festtraten. Ge wöhnlich genügte es jedoch nicht. Die Männer muß ten sich an Lederriemen vorspannen und ziehen, was ihre Muskeln hergaben. Oft genug blieb der Schlitten trotzdem stecken und mußte ausgeschaufelt werden. Dann hieß es zurückfahren und einen besseren Weg wählen. Sun Koh und Nimba setzten zwar ihre Rie senkräfte ein, aber selbst die reichten gegen die Hin dernisse, die sich ihnen jetzt in den Weg legten, nicht immer aus. Jetzt vergaßen die Männer, die Stunden zu zählen. Sie begannen, in Tagen zu rechnen, und ahnten, daß dahinter Wochen liegen konnten. Die tatsächliche Fahrt wurde immer geringer. Es war nicht mehr daran zu denken, sich abwechselnd 75
auf den Schlitten auszuruhen. Nach wenigen Stunden mußte das Lager gebaut werden. Die Männer brauch ten kräftiges warmes Essen und Schlaf. Sie kamen nicht mehr zügig vorwärts, sondern verbrauchten sich zwischen Schnee, Eis und Sturm. Fünf Kilometer in vierundzwanzig Stunden! Schlimmer noch als die Schneefelder waren die Eisbarren, die immer häufiger auftauchten. Aufge schobenes, hochgebrochenes und wild verworfenes Eis türmte sich in den Weg. Manchmal konnten sie es umgehen, aber selbst dann opferten sie schon ei nen Tag, um einige hundert Meter nach Süden zu kommen. Manchmal schleppten sie den Schlitten über die Barre hinweg und kamen auch nicht schnel ler voran. Die Tage wurden unerträglich. Nahrung und Schlaf glichen nicht mehr aus, was Kälte und An strengung zehrten. Die Wangen der Männer wurden hohl, die Züge scharf und hart. Die ersten Stimmen wurden laut, die zur Aufgabe des Motorschlittens rieten. Man hoffte, ohne ihn schneller voranzukommen. Außerdem wurde be kannt, daß sich der Treibstoff allmählich erschöpfte. Kapitän Bardeny war nicht damit einverstanden. Er hoffte, bald wieder auf glattes, hindernisfreies Eis zu kommen, auf dem der Motorschlitten alles Ver säumte wiedergutmachen konnte. Bald teilte niemand mehr seine Hoffnung. 76
Sie schien jedoch richtig zu sein. Eines Tages sahen die Männer nach Überwindung einer kleinen Barre bis zum Horizont spiegelglattes Eis vor sich. Da außerdem der Himmel ungetrübt war und sich der Wind fast gelegt hatte, sahen sie die angenehme Zeit der ersten Tage zurückkehren. Auf atmend verstauten sie sich in ihre Schlafsäcke, um der zunehmenden Kälte zu entgehen, und dann glitt die Schlittenkarawane flott vorwärts. Wenn nur der Brennstoff lange genug reichte! Aber vorläufig war der Tank noch nicht leer, und die beiden Reservekanister standen auch noch zur Ver fügung. Eine herrliche Fahrt! Der Schwede Barnson saß eingemummt und zu sammengeduckt auf dem Motorschlitten und über wachte die Fahrt. Auf dem Schlitten hinter ihm lagen ein halbes Dutzend Männer in ihren Schlafsäcken und träumten von der Wärme eines Herdfeuers, von südlicher Sonne oder von den Menschen, die sie da heim gelassen hatten. Auf dem vierten Schlitten hockte Brendel, der Deutsche. Er war der erste der Männer, die bremsend ausgleichen mußten, wenn der Schlittenzug ins Schlingern geriet und umzuwerfen drohte. Auf dem siebten Schlitten verrichtete Sun Koh die gleiche Arbeit. Vor ihm lag Hal zusammengerollt. Nimba befand sich unter den sechs, die vorn lagen, 77
weil dort die Fahrt am ruhigsten war. Den zehnten Schlitten bremste Smith, den zwölf ten und letzten van Dyck, der immer schmunzelnd behauptete, ein Nachfahre des großen Malers zu sein. Die Schlitten glitten mit rund dreißig Stundenki lometern vorwärts. Ab und zu wurde das Eis höcke rig, aber dann spiegelte es wieder. »Wenn es so bleibt, erreichen wir morgen glatt die Mündung des Jenissei«, meinte Hal verträumt. »Wenn es so bleibt«, bekräftigte Sun Koh. »Es wäre langsam an der Zeit«, fuhr Hal fort. »Du lieber Gott, in Florida sagt sich das so hin, wenn man von vierzig Grad Kälte spricht, aber das muß man mal erleben! Ein bißchen Frieren ist ja ganz schön, aber so viel, daß man sich vor Wut in die Fingerspit zen beißen möchte – nee, das ist nicht mehr schön. Und die Männer haben es auch alle gründlich satt. Das sind tüchtige Kerle, nicht wahr, Sir? Die sagen sich: Wenn’s gar nicht mehr geht, fallen wir schon von allein um. Also keine Schwäche, bis wir tatsäch lich umfallen.« »Nicht schlecht getroffen.« »Und Bardeny ist vielleicht der beste. Haben Sie ihn beobachtet? Er hat Nierenkolik oder so etwas Ähnliches, hat gestern geschwitzt und ist nicht vor sichtig genug gewesen. Er bringt die Lippen kaum mehr auseinander, damit man nicht merken soll, was er für Schmerzen hat. Aber ansehen tut man es ihm 78
doch, deshalb haben ihn die anderen ja auch fast ge zwungen, sich mit hinzulegen und nicht eine Wache zu übernehmen. Aber…« Er vollendete den begonnenen Satz nicht mehr. Die herrliche Fahrt fand ihren furchtbaren Ab schluß. Sun Koh, der gedankenvoll vorausblickte, sah plötzlich Barnson vom Motorschlitten hochfahren. Ein Schrei des Schweden gellte auf. Eis brach, splitterte und knisterte, Wasser spritzte auf, der Mo torschlitten verschwand. Er verschwand im Wasser. Und zwölf Schlitten mit Menschen und kostbarer Fracht glitten ihm nach. Sun Koh sprang herunter, fast gleichzeitig vor ihm Brendel, hinter ihm Smith und van Dyck. Da glitt der erste Schlitten mit zwei in Schlafsäk ken eingehüllten Männern schon ins Wasser. Von den beiden nächsten Schlitten warfen sich die Män ner zur Seite herunter. Aber die Geschwindigkeit be trug immerhin dreißig Kilometer, das Eis war glatt, und keiner der Männer hatte die Arme frei, um sich abzubremsen. Und das Gewicht des Motorschlittens zog unauf haltsam die Karawane nach. Sun Koh stemmte sich gegen den nächsten Schlit ten, aber er rutschte mit weg. Die Lederseile, die die Schlitten verbanden, hielten aus. 79
Van Dyck und Smith und Brendel stemmten, aber schon wurde Brendel unaufhaltsam an den Abbruch gedrängt. »Das Beil, Hal!« schrie Sun Koh. Die Riemen mußten durchschlagen werden. Ein Messer hatte kei ner der Männer zur Hand. Die Messer steckten unter den Pelzen, und niemand hatte Zeit, danach zu wüh len. Nur das Beil konnte Rettung bringen, es steckte seitlich am Schlitten. Die Last im Wasser zog und zog. Brendel sprang im letzten Augenblick beiseite. Kurz vorher warf Sun Koh mit übermächtiger Kraftanstrengung den Schlit ten um, aber das half nicht viel. Die Riemen strafften sich sofort wieder und zogen den Schlitten nun auf der Seitenlast weg. Es war ein Glück, daß Hal weniger darauf bedacht gewesen war, vom Schlitten herunterzukommen, als sich zu orientieren. Er hatte sich aufgerichtet, nach vorn geblickt und dann die Arme herausgezerrt. Als Sun Koh nach dem Beil schrie, riß er es aus dem ver eisten Halter los und führte aus dem Liegen einen Schlag auf die Riemen. Doch die Riemen blieben trotz des Schlags straff gespannt. Da ließ Sun Koh den rückwärtigen Schlitten los und sprang vor. Mit der rechten Hand riß er Hal das Beil aus der Hand, mit der linken wischte er ihn mit samt seinem Pelzgefängnis vom Schlitten herunter 80
auf das Eis. Dann holte er im Laufen aus und schmetterte das Beil auf den Querriegel nieder, an dem die Riemen befestigt waren. Der Schlag ließ den Riegel wie Glas zerspringen. Die vorderen Schlitten schnellten ruckartig weg. Den nächsten riß Sun Koh nach einigen Schritten noch einmal herum und stemmte sich dagegen. Die fünf Schlitten am Schluß standen. Doch sieben Schlitten lagen im Wasser, und sie ben Männer kämpften zwischen ihnen fast aussichts los gegen den Tod. Nur Brendel, Sun Koh, Hal Mervin, Smith und van Dyck standen auf dem sicheren Eis. Hal Mervin kämpfte sich aus seinem Schlafsack heraus, während die anderen noch wie betäubt starrten. Doch nur sekundenlang. Da erschien ein Kopf im Wasser. Brendel, der am weitesten vorn stand, wollte sich hineinstürzen. Sun Koh riß ihn zurück. »Brendel, Sie bleiben. Schlagen Sie mit Hal ein Zelt auf und machen Sie Feuer. Schnell! Davon hängt alles ab.« Brendel durfte auf keinen Fall ins Wasser. Er hu stete schon immer. Seine Lunge war nicht ganz so, wie sie ein Polarfahrer brauchte. Die Kälte setzte ihm zu. Wenn er jetzt ins Wasser ging, war das Selbst mord. Dann schrie Sun Koh den beiden heraneilenden 81
Männern zu: »Nehmt Beile. Verankert euch flach auf den Boden. Niemand weiter ins Wasser.« Dann sprang er hinein. Der Kopf, der zuerst er schienen war, gehörte zu Nimba. Und Nimba ergriff jetzt schon den festen Eisrand. Er war stark genug, um sich allein herauszuhelfen. Doch da tauchte ein anderer auf. Es war Barnson. Er schwamm regelrecht, wenn auch schwerfällig und matt. Kein Wunder, das Was ser preßte sich wie ein Panzer immer enger auf den Körper, so daß die Glieder bleiern schwer wurden und das Herz mühsam schlug. »He, Barnson!« Sun Koh faßte ihn am Pelz und drückte ihn vor. Zwei Stöße, und Barnson war an das feste Eis ge langt. Da kroch van Dyck schon vor. Er hatte seine Handschuhe ausgezogen und griff fest zu. Sun Koh half nach. Barnson stieß heraus, knickte den Ober körper aufs Eis und wurde vollends herausgezogen. »Handschuhe über!« rief Sun Koh van Dyck zu und stieß sich wieder ab. Ein Stück seitwärts richtete sich Nimba triefend naß auf dem Eis auf. Drüben am Rand kam es dunkel hoch. Sun Koh arbeitete sich hinüber, griff den bewegungslosen Körper, bevor er wieder versinken konnte, und schwamm zurück zu der Stelle, an der die beiden Männer warteten. Wieder zog van Dyck, der an den 82
Füßen von Smith gehalten wurde, nach Leibeskräf ten, bis der Körper neben ihm lag. »Da!« rief van Dyck. Sun Koh schnellte sich ab. Das Wasser gab seinen Opfern die letzte Rettungsmöglichkeit. Während er den unförmigen Pelzwickel, in dem ein Mensch steckte, zum Eis schleppte, sprang van Dyck auf. »Laß doch los, verdammt noch mal!« brüllte er Smith an, der seine Füße noch hielt. »Komm vor!« Dann schoß er über Sun Koh hinweg ins Wasser. Sun Koh blickte zur Seite. Dort trieb ein anderer Körper an der Oberfläche. Van Dyck hatte sich rich tig gesagt, daß er wieder abgesunken sein würde, be vor Sun Koh umkehren konnte. »Zufassen, Smith. Ho…« Smith durfte nur halten, nicht ziehen, weil er allein nicht genügend Verankerung besaß und in Gefahr kam, ins Wasser zu rutschen. Sun Koh mußte den schweren Körper seitlich herausheben. Geschafft. Da war schon van Dyck heran. »Teufel«, schnappte er. Sun Koh nahm ihm die Last ab. »Halten Sie sich an mir fest.« Van Dyck war ziemlich fertig. Er krallte sich in Sun Kohs Schulter, griff aber dann weiter zum Eis rand, um Sun Koh das Arbeiten nicht zu erschweren. Smith hatte in der kurzen Pause schnell einige 83
Kerben für seine Ellbogen eingekratzt. Jetzt konnte er richtig festhalten. Sun Koh brachte den schlaffen Körper hoch, indem er unter ihn tauchte, sich mit der einen Hand notdürftig am Eis festhielt und mit der anderen die klitschnasse Last über seinen Kopf wuchtete. Dann kam van Dyck an die Reihe. Bei ihm ging es schneller, da er selbst nachhelfen konnte. Nun wurde es höchste Zeit für Sun Koh, daß er he rauskam. Er fühlte seinen Körper nicht mehr, und das Herz schlug, als wollte es verkrampft aussetzen. »Brendel und Hal«, keuchte er zu Smith hinauf, »sie sollen die Bewußtlosen ans Feuer schleppen. Brennt es?« »Es brennt. Aber nun machen Sie, daß Sie auch herauskommen«, schnauzte Smith besorgt. Sun Koh sah sich um. »Und die anderen?« »Sind schon zu lange im Wasser. Kommen Sie doch raus, zum Donnerwetter, ich bin doch auch schon angefroren!« Sun Koh reckte seine Hände hinauf, setzte seine Ellbogen ein und stemmte sich hoch. Dabei wurde ihm bewußt, daß er tatsächlich am Rande war. Auf der Grenze zwischen letzter Willenskraft und Versa gen, kämpfte er seinen Körper aus dem Wasser her aus. Er wollte oben zusammenbrechen. 84
Aber van Dyck, selbst ein lebender Eiszapfen und schwer erschöpft, mühte sich, eines der Bündel zu rückzuzerren. Da taumelte Sun Koh hin und griff mit zu. Smith nahm den letzten, der noch da lag. Den anderen hatte Nimba schon mitgenommen. Das Zelt war ein Patentzelt aus Leichtmetall, im prägniertem Stoff und Fellen, das im Handumdrehen aufgeschlagen werden konnte. Das Eis, das den Bo den bildete, war mit Fellen bedeckt. In der Mitte brannte das Petroleumöfchen und strahlte eine im Vergleich zur Außentemperatur geradezu unwahr scheinliche Hitze aus. Aber das Zelt faßte nicht mehr als vier Mann. Brendel und Hal, die fieberhaft gearbeitet hatten, stellten gerade das zweite Zelt auf. Die beiden ande ren Zelte mit ihrem Zubehör lagen jetzt im Wasser. Barnson, Nimba und der eine Bewußtlose befan den sich bereits im warmen Zelt. Die beiden andern, die die Männer angeschleppt brachten, wurden noch mit hineingezogen. »Und Sie, Sir?« rief Nimba besorgt hinaus. Sun Koh und van Dyck standen in einer Kruste von Eis. »Gleich, gleich!« schrie Hal und rannte nach dem zweiten Ofen. Die Männer traten in das Zelt, das we nigstens den eisigen Wind abfing. Draußen fummelte Hal an seinem Ofen. Er heulte vor Wut und heulte vor Kälte, dabei betete und fluch 85
te er abwechselnd, bis die Flamme endlich faßte. Mit Eiszapfen an den Backen und kalkweißen Händen brachte Hal den Ofen und damit die erste Wärme in das Zelt. Gewaltsam und mit viel Mühe zogen sich Sun Koh und van Dyck die durchgefrorenen Pelze herunter und die Sachen, die sie darunter trugen, bis sie split ternackt in der zunehmenden Wärme standen. Glück licherweise war der Frost an die Körper selbst noch nicht herangekommen. Die Temperatur des Wassers war ja im Vergleich zur Lufttemperatur milde gewe sen. Auch Smith hatte nicht wesentlich gelitten, ob wohl er lange auf dem Eis gelegen hatte. Er konnte sich selbst kräftig durchreiben, bis die scharfen Schmerzen und die Schwellungen kamen, die ihm zeigten, daß die Gefahr überwunden war. Brendel und Hal gingen zum Nachbarzelt. Eine Minute später brachten sie einen Mann herein, den Sun Koh aus dem Wasser geholt hatte. »Die beiden anderen werden schon von Nimba und Barnson versorgt«, berichtete Hal. »Wir müssen den Schlafsack aufschneiden, Sir.« Jetzt schaute Sun Koh auf Hals Hände. »Was ist mit deinen Händen?« Hal versteckte sie. »Ach, nichts Besonderes. Ich konnte doch mit den Handschuhen schlecht zugreifen.« 86
Sun Koh nahm Hals Hände. Sie sahen sehr be denklich aus. »Hm. Brendel, schneiden Sie den Schlafsack auf«, sagte Sun Koh. »Her mit deinen Händen. Und geh vom Ofen weg!« Auf dem unendlichen Eisfeld standen verloren die beiden winzigen Zelte, in denen Männer um Leben und Gesundheit ihrer Kameraden kämpften. Draußen standen und lagen Schlitten und eiligst herabgerisse ne Packen herum. Drinnen in dem engen Raum drängten sich sechs Menschen um das Wärme aus strahlende Öfchen, das noch nicht die Vereisung der Zelthaut verhindern konnte. Drei unbekleidete Män ner hockten zusammen, ein anderer lag ohne Be wußtsein auf den Fellen, nur Brendel und Hal steck ten noch in den Pelzen. Sun Koh und van Dyck wa ren zum Zusammenbrechen erschöpft, aber sie nah men sich wegen den andern zusammen. Die beiden kneteten Hals Hände durch, während Brendel und Smith wieder Leben in ihren Kameraden bringen wollten. Und als sie kraftlos wurden, wechselten sie mit Sun Koh und van Dyck die Arbeit. Im Nachbarzelt knieten ebenfalls zwei Gestalten über zweien, die bewußtlos am Boden lagen, und machten Wiederbelebungsversuche. Eine halbe Stunde verging, dann schrie Barnson auf: »Er lebt! Er lebt! Gott sei Dank. Haben wir denn keinen Schnaps mehr?« 87
Brendel erhob sich im Nachbarzelt von den Knien. »Mach allein weiter«, sagte er zu Smith, »ich komme gleich wieder.« Barnson half der schwachen Atmung weiter nach, als Brendel mit dem vereisten Kognak, den er aus einem Packen herausgezerrt hatte, eintrat. Minuten dauerte es, bis der Alkohol in einem Gefäß genügend Wärme angenommen hatte, dann konnte dem gerette ten Brook etwas von dem aufpeitschenden Getränk eingeflößt werden. Brook schluckte und schlug die Augen auf, um sie sofort wieder zum Schlaf zu schließen. Barnson weinte vor Freude, dann sank er vorn über, streckte sich neben Brook und tauchte in Be täubung und Schlaf hinein. Drüben biß Hal die Zähne aufeinander, um keinen Laut von sich zu geben. Seine Hände wurden rot und wund vom Kneten. Sie schwollen an. Das Leben kehrte mit kreisenden Messern in sie zurück. Brendel kam und berichtete von dem ersten Er folg. »Hals Hände sind auch außer Gefahr«, sagte Sun Koh darauf. »Bringen Sie ihm Kognak.« Hal trank nie Alkohol, aber jetzt schluckte er das scharfe Zeug hinunter. Er schüttelte sich erst, doch dann sagte ihm die rieselnde Wärme ungemein zu. Zwei Minuten später schlief er tief und fest. Die Männer arbeiteten verbissen weiter. 88
Brendel mußte ins andere Zelt, um Nimba gele gentlich abzulösen. Auch der schwarze Riese arbeite te unter den ungewohnten Lebensbedingungen an der Grenze seiner Kraft. Eine Stunde verging, dann eine weitere. Nach zwei Stunden gaben sie es hüben und drüben auf. Sie konnten einfach nicht mehr, bewegten sich nur noch im Dämmerzustand. Und bei den beiden zeigte sich weder eine Spur von Atem noch eine An deutung von Herzschlag. Sie waren tot. Tot. Sun Koh wälzte den Körper des Leblosen herum, um Platz zu schaffen. Dabei entdeckte er am Hinter kopf die tiefe Wunde, die bisher allen entgangen war. Unter den spürenden Fingern bewegten sich Kno chen und Splitter. Zwei Stunden hatten sie sich umsonst bemüht. Ihr Kamerad war nicht ertrunken, sondern erschlagen worden. Ein nachstürzender Schlitten hatte seine Schädeldecke eingeschlagen. Diese Erkenntnis war das letzte, dann sanken sie nieder. Nur Brendel, der tapfere kleine Brendel, der im mer leise hüstelte, blieb auf. Er ging gelegentlich von einem Zelt zum anderen und sorgte dafür, daß die Wärme weiter über seine erschöpften Kameraden strich und sie als schützende Decke einhüllte.
89
*
Hal Mervin erwachte nach einigen Stunden. Seine Händen waren dick und rot, aber sonst war er in Ordnung. Sun Koh, van Dyck und Smith lagen am Boden und schliefen. Über dem Ofen hingen an der Quer versteifung des Zeltes die Sachen der Männer in dik ken Bündeln zum Trocknen. Es dampfte noch immer leicht aus ihnen heraus. Hal erhob sich vorsichtig, schloß den Pelz, zog die angenähten Fäustlinge über und trat ins Freie. Das schwache Tageslicht wirkte auf der weißen Ebene im Vergleich zu dem nur andeutungsweise bläulich er hellten Dunkel des Zeltes grell und scharf, so daß er sich zuerst zwinkernd daran gewöhnen mußte. Die Kälte warf sich mit tausend feinen, stechenden Na deln auf sein Gesicht. Auf einer Seite lagen die Hau fen der geretteten Schlitten. Dicht am Zelt deckten vereiste Kleidungsstücke den nackten Körper eines Toten. Weiter vorn, wo vor Stunden noch Wasser gewesen war, dehnte sich blankes Eis, das der Frost in Stunden neu geschaffen hatte. Vorsichtig hob Hal die Klappe des Nachbarzeltes und schlüpfte hinein. Dicht am Ofen stand Brendel und richtete die Sachen, die zum Trocknen hingen. Er sah sehr müde und eingefallen aus. Am Boden lagen Nimba, Barnson und der gerettete Brook. Dicht 90
an der Außenhaut verhüllten abermals Kleidungs stücke einen Toten. Brendel wandte den Kopf und flüsterte: »Schon auf? Wie geht’s?« »Gut. Wie geht’s selbst?« »Auch gut.« »Na, Sie sehen aber ziemlich schlecht aus«, urteil te Hal offen. Brendel lächelte müde und hüstelte dabei. »Der Schlaf fehlt. Ich muß wieder einmal gründ lich ausschlafen, wenn die anderen munter sind.« »Das können Sie gleich haben. Ich werde weiter wachen. Ist er tot?« Brendels Blick folgte der weisenden Hand. »Ja, er war nicht wieder zu Bewußtsein zu brin gen. Ich wollte ihn nicht hinausschaffen, um die an deren nicht zu stören.« »Fassen Sie an, dann schaffen wir es.« Brendel nickte und griff zu. Gemeinsam hoben sie den toten Kameraden hoch und trugen ihn aus dem Zelt in die Kälte hinaus. »Hier können sie einstweilen liegenbleiben«, murmelte Brendel. »Wenn die anderen aufwachen, wollen wir das letzte Gebet über sie sprechen.« »Begraben können wir sie nicht?« »Nein, nur in dem Loch versenken, in dem auch die andern liegen.« »Verdammtes Wasser«, fluchte Hal leise. »Vier 91
Kameraden hat es gekostet.« »Und Kapitän Bardeny ist dabei. Aber jetzt müs sen wir daran denken, daß die anderen etwas Warmes zu essen bekommen, wenn sie aufstehen. Sehen wir nach, wie es mit den Vorräten steht.« Sie gingen zu den Schlitten hinüber. »Am Essen fehlt es sicher nicht«, meinte Hal. »Die Vorräte waren ja alle hinten.« »Aber die Kiste mit den Medikamenten ist nicht mehr da.« Hal sah den anderen aufmerksam an. »Sie sagen das so komisch. Brauchen wir Medizin?« Brendel nickte. »Es handelt sich um Barnson. Ich glaube, er hat Lungenentzündung.« Hal blieb vor Schreck stehen. »Deshalb wälzte er sich so unruhig.« »Er hat hohes Fieber. Die Kiste ist hier.« Sie arbeiteten eine Weile schweigend, dann fragte Hal: »Finden Sie es nicht komisch, daß sich hier plötzlich offenes Wasser befindet?« Brendel schüttelte den Kopf. »Es war nicht offen. Die Eisdecke war mindestens zehn Zentimeter stark. Und jetzt wird sie wieder ebenso stark sein. Aber der Motorschlitten war dafür zu schwer.« »Aber das Eis ist doch im allgemeinen hier meter stark!« 92
»Sicher«, erwiderte Brendel. »Wir sind eben in ein Warmwasserloch geraten. Von solchen Löchern gibt es in der ganzen Polgegend nur einige Dutzend, und sie sind alle nicht groß. Es war unser Pech, daß wir mitten in eins hineinfuhren.« Hal war noch nicht zufrieden. »Wieso Warmwasserloch? Ist das Wasser an sol chen Stellen wärmer?« »Ja. Dort steigt eine warme Quelle auf. Der Mee resboden ist hier im Norden nicht weniger vulka nisch als in anderen Gegenden der Erde. Man merkt nichts weiter davon, aber da steigen heiße Quellen oder Wasserwirbel auf und treiben ihre Wärme bis an die Oberfläche. Hier oben vereist das Wasser, weil die Kälte zu groß ist, aber die Eisschicht wird nie mals stark. Was von oben friert, taut von unten auf. So entstehen die Waken, die nur dünn gedeckt sind. Und wer in sie hineingerät, ist verloren. Freilich, mit Hundeschlitten wären wir glatt darübergekommen. Oder wir wären gar nicht erst hingekommen, denn die Polarhunde haben eine feine Nase für solche Fal len. Das Säckchen dort noch.« Sie schleppten die Nahrungsmittel, die sie aus den Packen herausgeholt hatten, zu dem zweiten Zelt zu rück. Barnson war sehr unruhig geworden. Seine Glie der zuckten, seine Hände stießen gelegentlich in die Luft. Feuerrot glühte sein Kopf. Zweifellos hatte er 93
hohes Fieber. »Wir müssen etwas dagegen tun«, flüsterte Bren del. »Aber was? Wir haben keine Medikamente. Und keiner von uns ist Arzt.« »Herrgott, ist das scheußlich, wenn man dasteht und nicht helfen kann. Wir wissen alle beide nichts. Machen wir jetzt etwas, und er stirbt, sind wir viel leicht schuld.« »Und wenn wir die anderen wecken«, meinte Hal, »stehen wir dann alle zusammen da und wissen uns nicht zu helfen. Dann genügt es, wenn ich allein die Verantwortung übernehme. Aber vorläufig wollen wir noch etwas abwarten. Legen Sie sich wenigstens einstweilen schlafen. Die Büchsen bekomme ich al lein auf, und die fertigen Konserven in den Topf wer fen und aufkochen kann ich auch.« Brendel legte sich nieder. Er wollte zwar nach Mi nuten wieder aufstehen, aber die Müdigkeit blieb Sieger. Er schlief sehr bald einen ohnmachtähnlichen Schlaf. Hal wirtschaftete allein. Dann und wann fühlte er nach Barnsons jagendem Puls. Er wollte Sun Koh wecken, wenn sich der Zustand des Kranken ver schlimmern sollte. Aber Barnson wurde allmählich ruhiger. Und Hal freute sich darüber. Was verstand er schon von dieser Krankheit? Er wußte nicht, daß Barnson auch nicht 94
mehr durch einen Arzt zu retten war. Im Notzelt ei ner Polarexpedition und ganz ohne Medikamente ist es unmöglich, eine Lungen- und Rippenfellentzün dung mit allen Nebenerscheinungen zu heilen. Langsam strichen die Stunden hin. Hal schlug mit dem Beil die zu Eisblöcken gefrorenen Gemüse- und Fleischkonserven in Stücken aus den Büchsen heraus und setzte sie auf, ließ sie aufkochen und stellte sie wieder weg, so daß sie nur noch aufgewärmt zu wer den brauchten. Schwieriger war es, das Trocknen der Kleidungs stücke zu überwachen. Die wollenen Untersachen der Männer konnte er bald abhängen, aber die schweren Pelze gaben nur zögernd die Nässe wieder frei. Er durfte sie auch nicht zu sehr ans Feuer bringen, um sie nicht unbrauchbar zu machen. Also mußte er wenden und umhängen und wieder wenden und um hängen. Die Stunden vergingen. Als Hal wieder einmal nach Barnson sah, lag die ser still und steif. Er war gestorben, während Hal im Nachbarzelt arbeitete. Das Ableben dieses Mannes, der einer Krankheit unterlegen und doch den Heldentod gestorben war, erschütterte ihn stärker als alle vorangegangenen Er eignisse. Der fünfte Tote an einem Tag, der siebte seit Be ginn der Fahrt. Und ein Schuft hatte sie alle auf dem 95
Gewissen. Wenn jener Patson nicht in panischem Schrecken mit dem Flugzeug davongeflogen wäre, hätten alle Männer ungefährdet ihre Heimat erreicht. * Die Stunde des Erwachens kam. Einer nach dem an deren kehrte aus der traumlosen Tiefe des Erschöp fungsschlafs zurück. Hal brachte das Essen, die Kleidungsstücke und die Pelze, soweit sie trocken waren. Dann wurde eine Beratung abgehalten. Sie bestand nicht aus langen Ansprachen, sondern aus knappen Bemerkungen, die sich auf das Nötigste beschränk ten. Es ergab sich von selbst, daß Sun Koh als der neue Führer der Expedition angesehen wurde. »Der Motorschlitten ist fort«, stellte van Dyck fest. »Wir müssen uns nun schon selbst vorspannen.« »Ja«, sagte Sun Koh. »Wir sind noch sieben Mann. Drei Schlitten müßten genügen, um das Nö tigste fortzubringen. Die andern geben wir auf.« »Zwei Mann für jeden Schlitten«, murmelte Smith. »Das ist nicht viel, aber zwei Mann können schon allerhand ziehen.« »Gelände und Wetter werden entscheiden«, sagte Sun Koh. »Ich denke, Sie, Smith, werden mit van Dyck einen Schlitten übernehmen. Den anderen zie he ich mit Hal zusammen. Den dritten werden Nimba 96
und Brook nehmen. Brendel teilen wir diesem Schlit ten als Reserve zu. Sie packen sich ein, Brendel, und halten sich bereit, einzuspringen.« Brendel schüttelte den Kopf. »Ich kann meinen Teil genauso leisten wie jeder andere.« Sun Koh wollte ihn schonen, aber er wußte, daß man ihm das nicht sagen durfte. »Sie werden mehr leisten müssen als jeder andere, Brendel«, beruhigte er ihn. »Wir brauchen einen Mann, der gut ausgeruht ist und in Notfällen ein springen kann. Irgendwer muß das schon sein.« Brendel wollte antworten, aber van Dyck kam ihm zuvor. »Reden Sie nicht, Brendel, es bleibt dabei. Sie werden sich Ihre Füße noch genug ablaufen können. Wie weit haben wir noch ungefähr?« »Rund fünfhundert Kilometer bis zur ersten menschlichen Wohnstätte am Jenissei.« »Donnerwetter!« Brook erschrak. »Doch noch so viel?« »Die letzten Tage haben uns viel Zeit gekostet. Die Zukunft läßt sich nicht absehen, aber ich denke, es wird genügen, wenn wir uns auf vier Wochen ein richten.« »Natürlich«, brummte Smith. »Wir dürfen uns nicht überlasten.« »Heute bleiben wir doch noch hier?« fragte Hal. 97
»Ja«, stimmte Sun Koh zu. »Wir wollen schlafen und essen. Außerdem müssen wir die Schlitten um packen und unsere Toten bestatten.« Sun Koh selbst schlug ein rechteckiges Loch in das Eis. Die Schollen mußte er sofort seitlich in die Tiefe drücken, sonst wäre das offene Wasser im Handumdrehen wieder zugefroren, aber die Schicht blieb wenigstens eine Weile dünn genug, um sie leicht durchzudrücken. Die drei Toten wurden auf einen leeren Schlitten geschnallt und dieser an das dünnverkrustete Loch geschoben. Sun Koh sprach wenige Worte, die Män ner senkten die Köpfe zum letzten Gebet und zum letzten Gedenken, dann glitt der Schlitten vorwärts, durchbrach die weiße Decke und verschwand in dunkler Tiefe. Über ihm zog der harte Frost seinen spiegelnden Sargdeckel von neuem auf das Wasser. Es war eine traurige Stunde. Doch dann forderten die Lebenden ihr Recht. Es war nicht leicht, die neuen Ladungen für die drei Schlitten zusammenzustellen. Alles, was eini germaßen überflüssig schien, wurde beiseite gelegt. Trotzdem blieb ein beachtlicher Haufen, der auf den Schlitten mitgenommen werden mußte. Aber sie brachten ihn unter. In einigen Tagen wa ren die Schlitten ohnehin leichter, da sich die Vorräte zwangsläufig vermindern mußten. Sie schufen sogar noch einen Platz für Brendel, an dem er mit seinem 98
Schlafsack unterkommen konnte. Was blieb, wurde zu einem Haufen geschichtet und mit Wasser übergossen, so daß es zusammenfror und selbst ein Sturm es nicht wegtragen konnte. Vielleicht fand eine spätere Expedition alle diese Dinge und konnte damit ihre eigenen Bestände auf frischen. Sun Koh legte in einer Blechdose einige Zettel bei, durch die er über die Umstände berichtete. Dann folgten die Stunden der Ruhe, in denen die Männer neue Kräfte für den bevorstehenden Marsch sammelten. Sie sprachen sehr wenig über das, was vor ihnen lag, aber jeder einzelne wußte, daß harte Tage auf sie warteten. * In dem einen Zelt streckten sich Sun Koh, Hal Mer vin und Nimba. Sie waren seit langem wieder einmal allein und konnten sich über Dinge unterhalten, über die seit dem Aufbruch vom Tauchboot geschwiegen worden war. »Man hat uns vergessen«, meinte Hal etwas weh mütig. »Ich verstehe nicht, daß man uns nicht schon längst vermißt hat.« »Ich finde es auch seltsam«, gab Sun Koh gedan kenvoll zu. »Von Tag zu Tag habe ich gehofft, daß die Sprechdosen reagieren würden. Mit dem Richt strahler hätte man es schon schaffen können. Aber 99
nichts. Ich kann mir höchstens denken, daß Patson seine Gewissenlosigkeit so weit getrieben hat, unsere Leute auf einen Anruf hin zu beruhigen, so daß man gar nicht nach uns forscht.« »Das wäre die Höhe!« erregte sich Hal. »Daß ei ner besinnungslos ausreißt, weil ihm die Angst in den Hosen sitzt, kann ich mit Ach und Krach noch begreifen. Aber wenn er hinterher auch noch vorge täuscht hat, daß bei uns alles in Ordnung sei, dann ist das eine ausgekochte Schufterei!« »Wir wissen ja noch nicht, was vorliegt«, besänf tigte ihn Sun Koh. »Ich halte es nur für eine mögli che Erklärung.« Pause. »Mallin wird sich aber freuen, wenn Kapitän Bar deny nicht zurückkehrt«, nahm Hal das Gespräch von neuem auf. »Vorläufig hat er keine Gewißheit. Er wird sich hüten, etwas Entscheidendes zu tun. Später werden wir uns nach ihm umsehen.« Hal seufzte leicht. »Es ist eigentlich scheußlich, wenn man so von al ler Welt abgeschnitten ist. Denken Sie, daß wir es schaffen werden, Sir?« »Ich hoffe es. Übrigens, Nimba, du hast wohl mei ne Anordnungen verstanden? Brendel muß auf dem Schlitten bleiben. Er darf auf keinen Fall zu heftigem Atmen gezwungen werden. Und Brook mußt du auch 100
nach Möglichkeit schonen.« »Gewiß, Sir«, versprach Nimba. »Ich brauche die beiden auch nicht. Meine Kräfte reichen für drei aus.« »Du ißt ja auch für drei«, knurrte Hal anzüglich, dann wandte er sich wieder an Sun Koh: »Treffen wir nicht einmal auf Eskimos, Sir?« »In diesem Gebiet wohl schwerlich.« »Aber was sind das für Leute am Jenissei?« »Samojeden, vielleicht auch Tungusen.« »Hm. Na, da bin ich ja neugierig.« Das Gespräch brach ab, denn der Schlaf wischte die Stunden weg. Ausgeruht und gekräftigt sammelten sich die Männer. Die Zelte wurden abgebrochen und mit al lem Zubehör verladen. Die Schlitten wurden vom Eis gerückt. Je einer von den Männern nahm vorn die Zugrie men, der zweite schob von hinten. Voraus, nach Süden zu! * Jetzt zählten nicht mehr die Stunden und die Tage, sondern die Wochen. Doch selbst diese wurden nicht mehr gerechnet. Der Maßstab hatte sich verschoben. Es zählten die Vorräte, die mehr und mehr schwan den, es zählte das über alle Maßen kostbare Feue rungsmaterial. 101
Am wichtigsten aber waren die ungeschwächte Gesundheit und Kraft jedes einzelnen Mannes. Wie es Bardeny bereits getan hatte, so überwachte jetzt Sun Koh die Gesundheit der Männer. Der ein zelne war gar zu leicht geneigt, sich zu sehr zu ver ausgaben oder minutenlang unbedacht zu handeln und dadurch seine Glieder zu gefährden. Er sorgte vor allem auch dafür, daß genügend Rast gehalten und genügend gegessen wurde. Er brauchte keinen der Männer anzuspornen. Jeder zog und schob nach besten Kräften und versuchte gleichzeitig den anderen zu entlasten. Die Aufgaben, die von der Natur gestellt wurden, wechselten dauernd. Zunächst hielt die glatte Eis bahn an. Sie bewirkte ein schnelles Weiterkommen. Die Schlitten glitten fast mühelos hin, so daß die Männer mit ihnen hätten um die Wette laufen kön nen. Aber es war nicht möglich, lange zu rennen. So bald die Lunge schneller und schärfer atmete, konnte jeder Atemzug Lebensgefahr bedeuten. Später kamen Eisverwerfungen und förmliche Eisgebirge, die mühsam und mit viel Zeitverlust überwunden werden mußten. Dann wieder tauchten Schneefelder auf. Sie wirk ten irgendwie beruhigend und angenehm auf die Männer, vielleicht deshalb, weil sie in ihnen bereits die Vorboten milderer Gegenden und zugleich Ver trautes sahen. Die Schneeschuhe wurden ange 102
schnallt. Manchmal war es eine glatte Fahrt, aber meistens mußten sie Schritt für Schritt Spur treten, um überhaupt vorwärts zu kommen, so daß sie das glatte Eis schließlich wieder als Erlösung betrachte ten. Auch das Wetter blieb nicht beständig. Es schwankte zwischen klirrendem Frost durch alle Schattierungen hindurch bis zum weichlich warmen, trüben Schneetreiben. Aber die Männer blieben beständig. Sie rutschten über Spiegeleis, stampften durch hohen Schnee, klet terten über Eisschründe, verhüllten das Gesicht vor dem Eisnadelsturm, keuchten unter der Bedrückung des fallenden Schnees, atmeten die Feierlichkeit ab soluter kristallharter Windstille – aber sie arbeiteten sich unter allen Umständen beharrlich nach Süden zu. Die Barte wucherten über Mund und Kinn, die Haare verfilzten. Immer dickere Schmutzkrusten leg ten sich über die schwärzliche erfrorene Gesichts haut, Schweiß und Schmutz fraßen sich am Körper fest, die Augen senkten sich tief in die Höhlen, die Backenknochen wurden kantig sichtbar, die Wäsche klebte auf dem Leib, man wusch sich nicht mehr, weil der Brennstoff, den das warme Wasser erforder te, zu kostbar war, man wuchs mit dem Pelz zusam men, man stank – aber man lebte. Die Männer aßen und schliefen, aber vor allem 103
kämpften sie sich unentwegt vorwärts. Und sie waren nicht einmal verzweifelt dabei. Die gegenseitige Kameradschaft gab ihnen eine Zuversicht, die stärker war als alle Mühen und Schwierigkeiten. Dabei vergingen drei Wochen. Der Polartag war inzwischen zu Ende gegangen, die halbjährige Nacht hatte begonnen. Jetzt war es tagsüber dunkler als in der Nacht, in der wenigstens der Mond schien, während der Tag nur fahlgraues Dunkel bot. Die Temperatur fiel immer öfter unter sechzig Grad. Zu Beginn der vierten Woche verständigte Sun Koh die Männer, daß man nun die vorhandenen Nah rungsmittel einteilen müsse. »Es ist möglich«, sagte er, »daß wir nach einer Woche auf Menschen treffen, wir müssen aber auch damit rechnen, daß es noch einige Tage länger dau ert. Bis jetzt hat sich jeder satt gegessen. Wir müssen jetzt ein Drittel reduzieren.« »Das wird auch reichen«, brummte van Dyck. »Hoffentlich kommt uns nicht wieder so eine ver dammte Barre in den Weg.« Sie hofften es alle, aber sie rechneten nicht ernst haft damit, daß sich solche Hoffnungen erfüllten. Weiter ging die Fahrt. Einen Tag kamen sie drei Kilometer vorwärts, ei nen anderen dreißig. Das jeweilige Gelände ent 104
schied. Wenn sie die Schlitten zwischen regellosen Eisblöcken ziehen, schieben und wuchten mußten, war der Tag fast verloren. Fanden sie aber glatte Bahn, kamen sie zusehends vorwärts. Nach acht Tagen hockten sie wieder zusammen. »Die Nahrungsmittel reichen noch für drei Tage«, teilte Sun Koh mit. »Wir müssen abermals reduzie ren.« »Halbieren wir eben«, knurrte Brook. »Ein paar Tage halten wir es schon aus.« »Auf sechs Tage können wir zur Not strecken. Wir müssen von morgen ab auch in einem Zelt unter kommen, der Brennstoff geht zu Ende.« »Wärmen wir uns gegenseitig«, murmelte Smith. »Wenn wir das eine Zelt zurücklassen, ist unser Schlitten ganz leer.« »Wird Zeit, daß wir ihn aufgeben«, brummte van Dyck. »Lieber noch nicht«, riet Sun Koh ab. »Auch das Zelt wollen wir mitnehmen. Die Schlitten sind alle so leicht geworden, daß sie kaum noch eine ernsthafte Belastung darstellen. Vielleicht brauchen wir sie noch.« »Vor uns liegt eine Barre«, machte van Dyck auf merksam. »Aber die Schlitten ziehen wir schon mit drüber.« »Werden wir die Mündung des Jenissei auch nicht verfehlen?« erkundigte sich Brendel. Er hüstelte 105
zwar noch immer, doch hatte sich sein Zustand dank der Schonung durch seine Kameraden nicht weiter verschlechtert. »Nein«, antwortete Sun Koh bestimmt. »Standort bestimmungen können wir ja leider nicht machen, aber da wir uns immer an den Kompaß gehalten ha ben, können wir sie unmöglich verfehlen. Ich persön lich vermute, daß die vor uns liegende Barre bereits das Mündungsgebiet kennzeichnet. Die Pressungen und Verwerfungen scheinen frisch zu sein.« »Dann hätten wir es bald geschafft«, sagte Hal hoffnungsvoll. »Aber ich will…« »Freu dich nicht zu früh«, unterbrach Sun Koh. »Selbst wenn meine Vermutung stimmt, haben wir noch lange Tage vor uns. Die Mündung des Jenissei ist eine Schlauchmündung von rund dreihundert Ki lometer Länge. Am Ende der Mündung liegt Du dinskoje. Über hundert Kilometer vorher ist zwar schon eine Siedlung Tolstoj Nos vermerkt, ich weiß aber nicht, ob sie dauernd bewohnt wird. Kapitän Bardeny sprach jedenfalls von Dudinskoje.« Hal schluckte. »Dreihundert Kilometer? Nun, wir werden es trotzdem schaffen.« »Wir werden es trotzdem schaffen«, murmelte van Dyck wie im Echo nach. Sie arbeiteten sich über die Barre hinweg, glitten über glattes Eis, überwanden eine neue Barre, über 106
querten Schneestreifen, kletterten wieder über Ver werfungen und bekamen schließlich auf eine lange Strecke glatte Fahrt. Die Tage vergingen. Die Nahrungsmittel schmolzen schnell zusammen, und der Augenblick, an dem sie vor dem Nichts ste hen würden, rückte heran. Nach drei Tagen einigte man sich auf eine neue Verknappung. Es gab wenigstens Schnee, so daß man sich den Bauch mit warmem Wasser füllen konnte. Dann ging der Brennstoff, mit dem man so lange die kleinen Öfchen versorgt hatte, zu Ende. Jetzt mußten die Schlitten herhalten. Mit den letzten Re sten Öl wurden die vereisten Hölzer zum Brennen gebracht. Aber es gab nicht viel Holz an einem solchen Schlitten, und die Nächte wurden immer länger, da die Männer mehr Ruhe zum Ausgleich für die feh lenden Nahrungsmittel brauchten. Eines Morgens stand man am Ende. Keiner der sieben hatte mehr zu essen. Zwei Schlitten waren verfeuert worden. Den letzten mußten sie erhalten, um Zelt, Schneeschuhe und andere lebenswichtige Dinge weiterzubringen. Der Tag brachte glatten Marsch auf hindernislo sem Eis. Dann kam die Rast. Die Pelze, die Schlafsäcke, 107
die gemeinsame Wärme und das Zelt, all das bewahr te die Männer während des langen Schlafs vor dem Äußersten. Sie konnten sich wieder mit gebrauchsfä higen Gliedern erheben. Weiter ging es. Abermals brachte sie eine glatte Tagesreise nach Süden. Als sie sich diesmal nieder legten, spürten sie den Hunger. Den Durst hatten sie tagsüber löschen können, wenn auch auf gefährliche Weise, indem sie nämlich Schnee aßen. Neuer Tag und neue Wanderung. Als sie sich zum drittenmal nach wärmeloser Nacht erhoben, beobachtete Sun Koh, wie ein Aus druck von Bestürzung über Smiths Gesicht glitt und wie er dann an seinen Beinen heruntertastete. »Was ist los, Smith?« fragte er. »Nichts«, brummte Smith. Sun Koh ließ sich nicht abspeisen. »Sind die Füße erfroren?« »Unsinn. Wollen wir nicht aufbrechen?« »Nicht eher, bevor wir nicht Bescheid wissen«, brummte van Dyck. »War verdammt kalt diese Nacht.« Sun Koh drückte Smith nieder. »Geben Sie Ihre Füße her, wir wollen mal die Stie fel ausziehen.« »Ist ja Unsinn«, wehrte Smith ab. »Vielleicht sind sie ein bißchen angefroren, aber das legt sich wie der.« 108
Niemand antwortete. Es kostete Mühe, die Stiefel herunterzuziehen. Der Befund war eindeutig. Smith hatte die Füße erfroren. »Nur angefroren«, stöhnte er. »Ziehen Sie los, ich komme schon langsam nach.« »Da könnten wir lange warten«, knurrte van Dyck. Smith richtete sich auf seine Ellbogen auf. »Lieber einer als alle sieben, verdammt noch mal! Ich habe eben Pech gehabt.« »Es fehlt uns an Essen, um die Körperwärme zu halten«, sagte Sun Koh leise. »Nimba und Hal, ihr holt Schnee. Einige hundert Meter seitlich muß wel cher liegen. Nehmt den Schlitten.« »Laßt doch den Quatsch!« schrie Smith wütend. »Bei der Temperatur könnt ihr doch meine Beine nicht wieder auftauen. Ihr holt euch nur selber den Frost!« »Hier im Zelt sind es höchstens dreißig Grad«, widersprach Sun Koh ruhig. »Van Dyck, Sie massie ren doch mit. Hier, Smith, legen Sie die Schlafsäcke einstweilen über Ihren Körper, damit Sie wenigstens oben warm bleiben.« »Ich…« »Halt’s Maul!« rief van Dyck grob. »Schreib auf, was du zu erzählen hast.« Nimba und Hal kamen mit der ersten Ladung Schnee zurück. Er war alt und zerfroren, aber er ver richtete noch seine Dienste. Die beiden Männer rie 109
ben damit Smiths Füße ab, daß sie selbst ins Schwit zen gerieten. Zwei Stunden vergingen. Ab und zu wurde neuer Schnee herangeholt, dann und wann lösten Nimba und Brook oder Brendel und Hal bei der Massage ab. Endlich tauchte ein feines Rot auf. Smith begann vor Schmerzen zu fluchen. Das Rot verstärkte sich. Die Füße waren gerettet. »Siehste«, grunzte van Dyck befriedigt, »das hät ten wir geschafft. Wirst an uns denken, wenn du wieder mal tanzen gehst.« Sie packten ihn gründlich ein und luden ihn auf den Schlitten. Mit mehrstündiger Verspätung wurde der Marsch nach Süden fortgesetzt. Die Bahn blieb glatt. »Es wird bereits der gefrorene Flußlauf sein«, meinte Sun Koh. »Lange dauert es sicher nicht mehr, dann stoßen wir auf Menschen.« Er trieb vorwärts. Der Hunger trieb mit. Und hin ter dem Hunger lauerte die Erschöpfung. Schon jetzt, nach einigen Stunden, trotteten Brook und Brendel bedenklich. Van Dyck hielt sich besser, aber sicher würde er auch nicht so lange durchstehen wie Sun Koh und seine beiden Begleiter, denen jetzt ihre grö ßere Zähigkeit zugute kam. Als die gewohnte Ruhestunde kam, ließ Sun Koh das Zelt nicht aufschlagen. »Ziehen Sie Ihre Schlafsäcke über«, befahl er den 110
Männern, »setzen Sie sich auf den Schlitten und stel len Sie die Füße auf die Kufen. Du ebenfalls, Hal. Nimba und ich werden noch ein Stück weiterziehen.« »Ich helfe mit«, meldete sich van Dyck sofort. »Wir können noch weitermarschieren«, erboten sich die anderen. »Später«, lehnte Sun Koh ab. »Erst sind wir beide dran, nachher können wir ja abwechseln.« Man gab sich zufrieden. Jeder der vier suchte sich einen leidlich festen Platz. Es war nicht so einfach, halb in die Schlafsäcke gehüllt auf dem Schlitten zu sitzen. Aber es war ja nicht schlimm, wenn man einmal herunterfiel. Sun Koh und Nimba spannten sich in die Riemen. Eine große Belastung stellte der Schlitten trotz der fünf Männer auf ihm nicht dar. Das Eis war glatt, der Schlitten lief mühelos weiter. Die beiden Männer marschierten und marschier ten. Die anderen hockten auf dem Schlittenrand und hielten im Instinkt des Halbschlafs das Gleichge wicht. Stunde um Stunde verrann, dann drängten die an deren auf Ablösung. Die beiden Männer brauchten wirklich eine Ruhepause. Van Dyck und Brook übernahmen den Schlitten. Drei Stunden hielten sie durch, dann hielt Sun Koh, der inzwischen geschlafen hatte, sie an. Brendel und Hal bestanden energisch darauf, daß sie nun an der 111
Reihe seien. Sun Koh mußte ihnen den Willen las sen. Für Hal fürchtete er nichts, und Brendel wollte nicht zurückstehen. Die beiden bildeten zwei Stunden lang das Ge spann. Dann spannte sich Sun Koh mit Nimba zu sammen wieder ein. Glatte Fahrt. Wenn nur der Hunger nicht gewesen wäre, der die Körper von innen auszehrte und die so bitter nötige Wärme raubte. Es wurde schwer, vor dem Schlitten herzugehen. Die Gespanne wechselten noch einmal in kürzeren Abständen. Gesprochen wurde überhaupt nicht mehr. Wieder zogen Sun Koh und Nimba. Ihre Gesichter waren starr und hart und nach vorn gerichtet, aber ihr Bewußtsein lag schon unter leichten Schleiern. Da blieb Sun Koh plötzlich stehen. Sein Arm wies voraus. Weit vorn, wo sich die glatte Eisfläche in der Dunkelheit verlor, bewegte sich ein Punkt. Der Schlitten rutschte nach und stieß den beiden Männern in die Kniekehlen. Die anderen hoben die Köpfe. Der Punkt näherte sich mit großer Geschwindig keit. Und dann jaulten struppige Hunde unweit von ih nen vor einem Schlittengespann, und ein Mann kam auf sie zugeschritten. Sein breitgeschnittenes Gesicht mit den mongolischen Augen war von Weißfuchs 112
dick umrahmt, über dem ein Tierschwanz als Spitze stand. Der Mann blieb drei Schritte vor den Erschöpften stehen und hielt ihnen eine Schußwaffe, ein moder nes Gewehr, vor. Zweifellos war er mißtrauisch und fürchtete einen Überfall. Das war etwas, was Sun Koh nicht begriff. Der Eingeborene, ein Awam-Samojede, wie sich später herausstellte, sagte etwas, was niemand verstand. Sun Koh versuchte mit Gebärden klarzu machen, daß sie vom Pol kamen. Erst später probier te er es mit der russischen Sprache. Der Mann verstand davon nur einige Brocken, aber es genügte. Er begriff, wen er vor sich hatte, hängte seine Waffe um, grinste freundlich und winkte sie an seinen Schlitten heran. Plaudernd nahm er aus seinem Packen gedörrtes Fleisch heraus, dazu erstaunlicherweise noch recht frisches Weizenbrot, und bedeutete den Männern, daß sie essen sollten. Dazu brauchte er kein zweites Mal aufzufordern. Sun Koh fragte nach Tolstoj Nos. Zu seiner Ver wunderung wies der Samojede nach Norden und deutete an, daß sie ja von dort kämen. Nach einigem Hin und Her begriff Sun Koh, daß sie an der Ort schaft vorübergefahren waren und daß diese nur zwanzig Werst zurücklag. Der Samojede erklärte sich ohne Umstände bereit, 113
sie mitzunehmen. Der Schlitten wurde angehängt, die Männer verstauten sich auf ihm und auf dem Schlit ten des Samojeden, die Hunde stemmten sich ein, und vorwärts ging es oder richtiger, rückwärts. Sie fuhren auf ihrer eigenen Spur, aber dann bog der Samojede ab, ließ die Hunde fast im rechten Winkel weiterjagen. Und dann tauchten in der Ferne einige dunkle Flecken auf – die Häuser von Tolstoj Nos. Die sieben Männer waren gerettet. 5. Ellinor Bardeny hielt nicht viel von Mallin, dem Se kretär ihres Vaters. Wenn sie ihn trotzdem fast täg lich zu sich bitten ließ, dann geschah das bestimmt nicht, um sich an seiner Gegenwart zu erfreuen. Sie hoffte von Tag zu Tag, daß er ihr tröstliche Nach richten bringen würde. Sun Koh hatte verschwiegen, daß sich Kapitän Bardeny in Not befand. Von Mallin erfuhr sie es ganz beiläufig in den nächsten Tagen. Seitdem verstärkten sich ihre Unruhe und Sorge mit jedem Tag. Von ihrem Vater traf kein Lebenszei chen ein. Sun Koh ließ nichts mehr von sich hören. Die Öffentlichkeit ahnte überhaupt nicht, daß sich ihr Vater unterwegs befand. Und Mallin? Und Mallin zuckte mit den Schultern. 114
»Es tut mir außerordentlich leid, Miß Bardeny, aber ich habe immer noch keine Nachricht erhalten. Ich bin wirklich sehr beunruhigt.« Das war sie selbst, deshalb entgegnete sie unmu tig: »Was nützt mir das? Mr. Sun Koh war vor zwei Wochen hier. Wenn sich mein Vater damals in Not befand, dann kann diese lange Verzögerung eigent lich nur das Schlimmste bedeuten!« Mallin hob seine gepflegten Hände zu einer Geste der Abwehr. »Oh, das wollen wir doch nicht befürchten. Es kann sich um einen kleinen Zwischenfall handeln.« »Es kann. Aber die Ungewißheit ist schrecklich. Es wäre besser, die Zeitungen und damit die Öffent lichkeit aufmerksam zu machen. Vielleicht wäre es möglich, eine Hilfsexpedition loszuschicken.« Mallin blickte sie kummervoll an. »Ich hätte das schon längst von mir aus veranlaßt, aber es widerspricht den ausdrücklichen Anweisun gen, die mir Kapitän Bardeny hinterließ. Er will kein zweites Mal schmählich zurückgeholt werden. Au ßerdem ist es sehr fraglich, ob es was nützen würde, wenn man jetzt die Öffentlichkeit verständigte.« »Aber wir können doch nicht immer nur abwar ten!« erwiderte sie verzweifelt. »Es stimmt schon«, meinte Mallin seufzend, »die ses Warten ist schrecklich. Die Anwesenheit Mr. Bardenys wird hier unbedingt erforderlich, schon 115
deshalb, weil hier sonst peinliche Verhältnisse eintre ten könnten. Es ist schrecklich!« Ellinor Bardeny horchte auf. »Wovon sprechen Sie jetzt?« Mallin wurde vor Bescheidenheit förmlich kleiner. »Verzeihen Sie, es ist mir entschlüpft. Ich möchte Sie keinesfalls mit gewissen Dingen behelligen, die zu regeln meine Angelegenheit ist. Es ließ sich aller dings nicht voraussehen, daß Kapitän Bardeny so lange…« »Reden Sie deutlicher«, bat sie kurz. »Handelt es sich um wichtige Angelegenheiten meines Vaters?« »Geldangelegenheiten«, gestand Mallin bedrückt. »Es sind da einige Gläubiger, die noch größere Be träge zu bekommen haben und nun auf Bezahlung drängen.« Sie sah ihn groß an. »Ja, ich verstehe Sie nicht, haben Sie denn nicht Blankovollmacht?« »Doch schon«, druckste er, »aber – aber das Konto weist keine genügende Deckung mehr auf. Es ist kein Geld mehr vorhanden.« Jetzt erhob sie sich langsam. Sie hatte ihren Vater nach allem, was sie über seine finanzielle Lage wuß te, für einen reichen Mann gehalten. »Was«, fragte sie ungläubig, »es ist kein Geld mehr vorhanden? Wollen Sie damit sagen, daß das Vermögen meines Vaters aufgebraucht ist?« 116
»Ja«, gestand er. »Es tut mir unendlich leid, aber…« »Wie ist das möglich?« unterbrach sie ihn. Er hob die Schultern. »Das Tauchboot hat allein ein Vermögen gekostet, dazu die Ausrüstung, die enormen Versicherungssätze und Hinterlegungssummen sowie zahlreiche Neben dinge. Mr. Bardeny hatte auch starke Börsenverluste.« Sie konnte es kaum fassen. »Mein Gott«, flüsterte sie vor sich hin, »über sol che Dinge habe ich nie nachgedacht. Wir haben also jetzt nichts mehr?« »Das Vermögen Mr. Bardenys ist augenblicklich erschöpft«, berichtete er. »Sie selbst haben ja nichts zu befürchten, da Ihr eigenes mütterliches Vermögen zu Ihrer Verfügung steht. Es ist zwar nicht die Ab sicht Mr. Bardenys gewesen, die Gläubiger so lange warten zu lassen, aber es ist auch nicht nötig, daß Sie mit Ihrem eigenen Vermögen einspringen.« »Wie können Sie so etwas sagen!« entrüstete sie sich. »Ich finde es selbstverständlich, daß ich ein springe. Wie groß sind die Verpflichtungen meines Vaters?« »Noch rund dreißigtausend Dollar.« »Und mein Vermögen?« »Etwas über hunderttausend Dollar.« »Gut, dann bereiten Sie die Schecks vor, damit die Rechnungen erledigt werden.« 117
Mallin verbeugte sich. »Ihre Entscheidung ist mir eine außerordentliche Erleichterung. Ich werde mir erlauben, Ihnen dann die quittierten Rechnungen vorzulegen. Nur – ich weiß nicht…« »Was ist denn?« »Hm, die laufenden Ausgaben«, murmelte er. »Es ist mir ungemein peinlich, aber es werden laufend kleinere Beträge für das Personal und die Lieferun gen benötigt. Und das Konto Mr. Bardenys…« »Ich werde das alles vorläufig auf mein Konto übernehmen. Mein Vermögen ist doch teilweise fest angelegt, nicht wahr?« »Allerdings.« »Gut, dann machen Sie es flüssig, damit stets das nötige Geld vorhanden ist. Ich werde Ihnen die nöti gen Vollmachten geben, Sie legen dann wöchentlich Bericht ab.« »Gewiß«, versicherte er und zog sich zurück, um alles Erforderliche vorzubereiten. Ellinor Bardeny war es selbstverständlich, daß sie ihr von der Mutter geerbtes Vermögen für die Schul den ihres Vaters opferte. Daß sie Mallin die Verfü gungsgewalt über ihr Vermögen einräumte, darüber machte sie sich keine Gedanken. So unangenehm ihr Mallin als Mensch auch war, so zuverlässig würde er als Sekretär sein, denn sonst hätte ihn ihr Vater wohl kaum in seine Dienste genommen. 118
*
Die Tage vergingen. Weder von Kapitän Bardeny noch von Sun Koh kamen Nachrichten. Drei Wochen nach Sun Kohs Besuch stand Mallin mit bedrücktem Gesicht wieder vor ihr. »Ich habe Nachrichten erhalten, Miß Bardeny«, bekannte er. Ihr Atem stockte. »Schlimme Nachrichten?« »Schlimme Nachrichten«, sagte er düster. »Ich bin untröstlich, der Überbringer…« »Mr. Mallin«, bat sie tonlos, »spannen Sie mich nicht auf die Folter. Was ist? Was haben Sie da in der Hand?« »Es ist ein Schreiben gekommen«, sagte er zö gernd. »Ein Brief? Von wem?« »Von Mr. Sun Koh.« »Von ihm? Er lebt also?« »Ja, er lebt.« »Und mein Vater?« »Er soll tot sein.« »O Gott!« »Bitte, fassen Sie sich, Miß Bardeny, Sie…« Sie stand starr vor ihm, aber sie behielt ihre Be herrschung. 119
»Ich bin nicht fassungslos«, unterbrach sie mit brüchiger Stimme. »Geben Sie mir den Brief.« Er überreichte ihn. Sie las das an Mallin gerichtete Schreiben. »… so daß es mir infolge dieser dringenden ge schäftlichen Angelegenheiten nicht möglich ist, in nächster Zeit nach New York zu kommen. Ich fühle mich jedoch verpflichtet, Ihnen über das Schicksal Kapitän Bardenys Nachricht zu geben, und bitte Sie zugleich, auch Miß Bardeny schonend zu verständi gen. Sie erinnern sich, daß ich New York verließ, um Kapitän Bardeny zu suchen und ihm nach Möglich keit Hilfe zu bringen. Es hat einige Tage gedauert, bevor ich in die Nähe des Nordpols das aus dem Eis aufgestiegene Tauchboot fand. Es wies erhebliche Zerstörungen auf, die durch eine Explosion verur sacht worden waren. Die Besatzung war zum größten Teil tot, es lebten nur noch zwei schwerverwundete beziehungsweise halberfrorene Männer, die aber noch im Laufe des Tages starben. Einer von ihnen war Kapitän Bardeny. Er sagte mir, daß eine Explo sion stattgefunden habe. Mit seinen letzten Worten bat er mich, seine Tochter und Sie zu grüßen und Sie gleichzeitig zu bitten, sich seiner Tochter anzuneh men. Vorher bat er mich noch, die Öffentlichkeit nie von dieser Tragödie erfahren zu lassen, damit sein Name nicht noch mehr leide. Ich habe die Toten dann so gut wie möglich im ewigen Eis bestattet. Auf 120
dem Rückweg hatte ich leider selbst Unglück, so daß ich erst dieser Tage unter vielen Strapazen in zivili sierte Länder zurückkam. Ich erfülle nunmehr die Wünsche des toten Kapitäns und bitte Sie, unter Vermeidung öffentlichen Aufsehens alles zu erledi gen und Miß Bardeny die letzten Grüße ihres Vaters zu überbringen. Genehmigen Sie den Ausdruck…« Ellinor Bardeny ließ das Schreiben sinken und hauchte: »Gehen Sie, Mallin. Ich möchte allein sein.« Mallin verbeugte sich und ging hinaus. Eine schwere Stunde kam für das junge Mädchen. Was sie insgeheim befürchtet hatte, machte dieses Schreiben zur schonungslosen Tatsache. Ihr Vater war tot. Neben dem Schmerz, den noch keine Tränen lin derten, bohrte eine Enttäuschung. Dieser Sun Koh, der ihr als beeindruckendes Vorbild eines Mannes erschienen war, begnügte sich mit dieser kurzen, sachlich kalten Mitteilung, obwohl er zuerst soviel Anteilnahme gezeigt und sogar einen Flug zum Nordpol gewagt hatte. Waren seine Geschäfte wirk lich so wichtig, um darüber menschliche Selbstver ständlichkeiten zu vernachlässigen? Oder hatte er ein schlechtes Gewissen? Sie konnte sich doch unmög lich mit diesen Zeilen zufriedengeben, sondern woll te hundert Einzelheiten wissen. Ihr Schmerz löste sich allmählich zu Tränen, ihr 121
Grübeln trieb sie zum Handeln. Sie ließ Mallin wie der rufen. »Was sagen Sie zu diesem Schreiben, Mr. Mal lin?« fragte sie. »Haben Sie nicht den Eindruck, daß es besser gewesen wäre, wenn Mr. Sun Koh gekom men wäre, um uns mehr zu erzählen? Nun weiß ich nicht viel mehr, als daß mein Vater eben tot ist.« »Es hat mich allerdings auch sonderbar berührt, daß sich Mr. Sun Koh auf diese kurze Mitteilung be schränkte. Ich selbst würde großen Wert darauf le gen, Näheres über jene Ereignisse zu hören. Ich dachte schon daran, sofort zu schreiben, aber ich hat te den Eindruck, daß uns damit auch nicht gedient ist. Besser wäre es, mit Mr. Sun Koh persönlich zu sprechen.« »Ja«, sagte sie. »Ich will von ihm selbst hören, wie mein Vater gestorben ist. Dieser Brief genügt mir nicht.« »Es wird nicht leicht sein, Mr. Sun Koh zu veran lassen hierherzukommen, wenn er in England zu tun hat.« »Aber uns wird es nicht schwerfallen, ihn aufzu suchen«, entschied sie sich plötzlich. »Wir fahren nach England.« Mallin zögerte. »Ich weiß nicht, ob nicht in der augenblicklichen Lage Ihre Anwesenheit hier nötiger ist. Wenn ich mir trotz der tragischen Ereignisse einen Hinweis erlau 122
ben darf, so möchte ich bemerken, daß im Interesse Ihrer Zukunft gewisse einschneidende Veränderun gen nötig werden könnten. Ihr Vermögen ist stark in Anspruch genommen, und dieses Haus verschlingt große Beträge. Vielleicht wäre es besser, erst hier alles zu regeln, bevor Sie nach England reisen. Ich selbst werde ja dann nicht mehr von Ihnen benötigt.« Sie schüttelte den Kopf. »Ich kann nicht wochenlang warten. Das Haus ge be ich natürlich auf, und auch sonst werde ich mich umstellen, aber das wird meine Reise nicht verzö gern. Sie kommen mit nach England, später können Sie sich dann eine andere Stellung suchen. Bereiten Sie jetzt alles schnell vor, was unbedingt nötig ist. Beauftragen Sie einen Makler, das Haus zu verkau fen. Im übrigen möchte ich spätestens übermorgen die Reise antreten. Sie müssen es schaffen.« »Ich werde es versuchen«, murmelte er. Sie kamen nach Schottland. Eines Abends betraten sie ein kleines Jagdschlößchen, das weitab von allen Dörfern inmitten der großartigen und zugleich düste ren Landschaft der schottischen Hochlande lag. Hier sollte Sun Koh wohnen. Sie wurden von einem alten, anscheinend schwer hörigen Ehepaar empfangen. Die Frau führte Ellinor Bardeny in ein warmes Zimmer, der Alte brachte später das Gepäck. Sie führten ein kurzes Gespräch, aber das junge Mädchen konnte den schottischen 123
Dialekt nur schwer verstehen. Es fiel ihr flüchtig auf, daß die beiden sie als Mrs. Mallin anredeten, aber sie legte keinen Wert darauf, den Irrtum aufzuklären. Nachdem er ihr genügend Zeit gelassen hatte, trat Mallin ein. »Ich bin untröstlich«, klagte er, »aber es scheint, daß wir Unglück haben. Mr. Sun Koh ist gestern von hier abgereist.« »Abgereist?« schrie sie bestürzt. »Obwohl er von unserer Ankunft wußte?« »Gerade deshalb«, bestätigte er bedauernd. »Er hat mir einen Brief hinterlassen.« »Geben Sie her!« »Lieber Mr. Mallin«, las sie. »Es ist mir leider nicht möglich, Ihre Ankunft abzuwarten, da mich meine Verlobte dringend zu sich rufen ließ. Offen gestanden ist es mir auch nicht ganz unlieb, denn ich möchte mir eine nutzlose Auseinandersetzung über die Tragödie Kapitän Bardenys gern ersparen, zumal ich nicht mehr sagen kann, als ich Ihnen bereits schriftlich mitteilte. Ich hoffe, daß es Ihnen gelingt, Miß Bardeny oder Mrs. Mallin davon zu überzeugen, daß es besser ist, sich in Unabänderliches zu fügen. Übrigens nehme ich an, daß Miß Bardeny inzwischen Ihre Gattin ge worden ist. Sie haben ja beide wohl meine Andeu tung von dem letzten Wunsch Kapitäns Bardenys richtig verstanden. Erlauben Sie mir, Ihnen meinen 124
herzlichsten Glückwunsch auszudrücken. Ich bitte Sie, mir nicht zu zürnen und für einige Wochen mei ne Gäste zu sein. Mit dem Ausdruck vorzüglicher…« Der Brief flatterte zur Erde. »Das ist – gemein«, flüsterte das junge Mädchen. »Das hätte ich nicht geglaubt.« »Seine Verlobte erwartet ihn«, murmelte Mallin. Ellinor Bardeny wurde plötzlich heftig. »Seine Verlobte erwartet ihn? Ist das ein Grund, derartig auszuweichen? Kann er sich nicht vorstellen, wie mir zumute ist? Mein Vater ist tot, und er ist der einzige, der mir Näheres darüber berichten kann. War es nicht seine Pflicht, das zu tun, bevor er ande re Dinge unternahm? Oh, ich verstehe das nicht!« Sie weinte. Mallin blieb am Tisch stehen und wartete. »Miß Bardeny?« sagte er nach einer Weile. Sie wischte ihre Tränen ab und blickte auf. »Ich weiß nicht«, meinte er unschlüssig, »ob Ihnen eine Aussprache jetzt angenehm ist. Ich will Sie auch gern allein lassen.« »Bleiben Sie«, sagte sie ruhiger. »Setzen Sie sich. Wir müssen Beschlüsse fassen, denn ich habe keine Lust, als Gast dieses Herrn hier zu leben. Doch sagen Sie mir vor allem, was diese eigenartigen Anspielun gen auf mein Verhältnis zu Ihnen bedeuten sollen.« Diese Frage brachte ihn offensichtlich in Verle genheit. 125
»Tja, verzeihen Sie, aber Mr. Bardeny wünschte wohl in seiner Todesstunde, daß Sie meine Frau wür den. Anders kann ich es nicht verstehen.« Sie sah ihn ungläubig an. »Mein Vater sollte das gewünscht haben?« »Ich glaube es«, hauchte er. »Er kannte meine tie fe Zuneigung zu Ihnen. Verzeihen Sie, daß ich jetzt davon spreche, aber ich habe Sie immer geliebt und wünsche mir kein größeres Glück, als daß der letzte Wunsch Ihres Vaters in Erfüllung gehen möge.« Sie konnte es nicht recht fassen. »Ich – ich soll Sie heiraten? Aber mein Vater wuß te doch, daß ich Sie gar nicht liebe.« »Ihr Vater nahm wohl an. daß Sie sich über Ihre Gefühle noch nicht recht im klaren seien. Und au ßerdem…« »Außerdem?« Sein Tonfall wurde sachlicher und kühler. »Erlauben Sie, daß ich ganz offen spreche Ihr Va ter kannte Ihre Lage so gut wie ich. Er wußte daß Sie nach seinem Tod so gut wie verarmt sein würden und in wirtschaftliche Abhängigkeit geraten mußten. Deshalb hielt er es für richtig, Ihre Zukunft mir an zuvertrauen. Es ist vielleicht nicht ganz passend, aber ich bitte Sie trotzdem in dieser Stunde, den letzten Wunsch Ihres Vaters und den tiefsten Wunsch mei nes Herzens zu erfüllen und meine Frau zu werden. Darf ich auf Ihr Jawort hoffen, Ellinor?« 126
»Nein!« erwiderte sie sofort entschieden. »Dar über wollen wir gar nicht sprechen. Mein Vater hat sich geirrt. Ich habe Ihnen schon früher einmal ge sagt, daß ich Sie nicht liebe und nie lieben kann. Ich werde Sie niemals heiraten.« Mallin wurde bei dieser eindeutigen Stellungnah me blaß. Jetzt begann seine Verwandlung, wenn er es zunächst auch noch mit warmer Überredung versuch te. »Bitte, urteilen Sie nicht übereilt, Miß Bardeny. So leicht mißachtet man den letzten, begründeten Wunsch des Vaters nicht. Ich bitte Sie, auch Ihre Zu kunft zu bedenken. Sie haben das Leben einer rei chen jungen Dam geführt. Es würde Ihnen wahr scheinlich schwerfallen, nun von dem zu leben, was Sie sich durch Ihre Arbeit verdienen können.« Sie reckte sich. »Ich verstehe Sie nicht. Mein Vermögen ist immer noch groß genug, um mir ein leidliches Auskommen zu sichern. Der Verzicht auf allerlei Luxus wird mir nicht schwerfallen, und zum Leben wird mein Geld ausreichen.« »Das ist leider ein Irrtum«, bedauerte er kälter. »Ihr Vermögen ist überhaupt nicht mehr vorhanden. Die täglichen Ausgaben werden bereits aus meiner Tasche bestritten.« »Soll das ein Scherz sein?« »Durchaus nicht, das entspricht den Tatsachen.« 127
»Aber das ist doch nicht möglich! Sie haben doch von meinem Vermögen noch rund siebzigtausend Dollar in Verwaltung!« »Sie vergessen, daß ich alle Verbindlichkeiten Ih res Vaters regeln mußte. Die siebzigtausend Dollar sind verbraucht, und auch der Erlös des Hauses wur de in Anspruch genommen. Sie haben nichts mehr.« »Nichts mehr? Das – darüber müssen Sie mir Re chenschaft ablegen.« »Gewiß. Ich habe die Bücher mitgebracht und werde mir erlauben, sie Ihnen morgen vorzulegen. Sie werden daraus ersehen, wie gut es Ihr Vater meinte, als er eine Verbindung zwischen uns wünschte. Falls Sie mich heiraten…« »Sprechen Sie nicht davon«, unterbrach sie müde. »Das kommt nicht in Frage, selbst wenn ich nichts mehr besitze. Ich werde dann versuchen zu arbeiten, wie viele andere junge Mädchen es auch tun.« Mallin erhob sich. »Es ist sehr unwahrscheinlich, daß ich Ihnen dazu meine Zustimmung geben kann. Berücksichtigen Sie bitte, daß Sie noch nicht mündig sind und daß ich auch Vollmacht für alle vormundschaftlichen Hand lungen und Anordnungen besitze.« »Ach so?« Mallin verließ das Zimmer. Ellinor Bardeny hatte plötzlich die Zusammen hänge begriffen. 128
Sie ging ihnen in den nächsten Stunden grübelnd nach. Solange ihr Mallin als zuverlässiger Sekretär erschienen war, hatte sie ihm bedenkenlos vertraut. Von seiner letzten Bemerkung an, die plötzlich Miß trauen in ihr weckte, ahnte sie Böses und übertrug gleichzeitig ihre Abneigung gegen den Mann auch auf dessen berufliche Tätigkeit. Wenn Mallin ein Be trüger war, wenn er unlautere Absichten verfolgte, dann wurde verständlich, was sonst unbegreiflich erschien. Das Vermögen ihres Vaters war aufgebraucht Mallin hatte es verwaltet. Seine Vollmachten hatten es ihm ermöglicht, das Vermögen verschwinden zu lassen. Ihr eigenes Vermögen war am Ende. Mallin hatte Verfügungsrecht besessen. Gewiß, er würde morgen Bücher vorlegen und Nachweise bringen. Aber wer bürgte dafür, daß seine Angaben stimmten? Sie selbst verstand nichts von diesen Dingen, erst das Gericht konnte seine Untreue nachweisen. Sie befand sich in einem fremden Land, dessen Einrichtungen und Verhältnisse sie nicht kannte. Ihre wenigen Freunde befanden sich jenseits des Meeres. Und dieses Haus lag so einsam, daß es schon Schwierigkeiten bereiten würde, zum nächsten Dorf zu kommen. Wenn Mallin ein Betrüger war, dann hatte er gut Vorsorge getroffen. 129
Und zu alledem war er auch noch ihr Vormund. Er konnte weitgehend über sie bestimmen, und sie konnte nur wenig ohne seine Einwilligung unter nehmen. Wahrhaftig, Mallin konnte zufrieden sein. Die nächsten Tage ließen ihr keine Zweifel. Mallin kam mit Erklärungen über den Vermögensschwund, aber sie mißtraute den glatten Zahlen wie seinen wortreichen Erläuterungen. Sie reizte ihn durch Zweifel, bis er höhnisch wurde und ziemlich deutlich die Wahrheit durchblicken ließ. Sie versuchte, das Haus zu verlassen, und machte die Erfahrung, daß er das geschickt zu verhindern verstand. Und als sie ihn stellte, machte er schließlich kein Hehl daraus, daß er ihre Abreise nicht wünsche und sie ihr verbiete. Die Verhältnisse spitzten sich schnell zu. Ellinor Bardeny bereitete ihre Flucht aus der Abgeschieden heit vor. Sie dachte gar nicht daran, den letzten Wunsch ihres Vaters zu erfüllen und zur tragischen Braut zu werden. Sie hielt nun alles, was Mallin ihr von ihrem Vater und Sun Koh erzählte, für Erfin dung und dachte nicht daran, eine Rolle zu spielen, die ihr nicht paßte. Wenn Mallin sie schon betrogen hatte, würde sie doch deswegen noch lange nicht sei ne Frau werden. Es gab genug Menschen, die kein Vermögen besaßen und doch ihr eigenes Leben leb ten. Mallin hatte zwar Trümpfe in der Hand, aber si cher verloren sie erheblich an Wert, wenn sie sich 130
einmal unter Menschen und in nächster Nähe der Po lizei befand. Und ihre Freunde in New York würden schon einspringen, wenn es galt, sie von Mallin zu befreien. Eines Nachts kletterte sie aus dem Fenster und be gann ihre Wanderung zum nächsten Dorf. Es war ein Marsch voller Ängste, aber sie lief unaufhaltsam weiter, bis sie endlich nach Stunden Häuser vor sich sah. Der Morgen war noch nicht angebrochen. Sie fand die kleine Postagentur, aber deren Verwalter schlief tief und fest. Sie wollte nicht warten, deshalb häm merte sie mit den Fäusten gegen die Fensterläden, bis ein brummiger Mann erschien und sich in unhöfli chen Bemerkungen über Betrunkene und Verrückte erging. Es dauerte lange, bevor der Mann begriffen hatte, daß Ellinor ein Telegramm nach New York senden wollte. Noch länger dauerte es, bis er die Größe der Stunde zu würdigen verstand. Aber er war nicht be reit, zur Bezahlung der hohen Rechnung ausgerech net amerikanische Dollarnoten in Empfang zu neh men, die er in seinem Leben noch nie gesehen hatte. Das junge Mädchen brachte ihn mit viel Bitten da zu, das Geld wenigstens anzunehmen. Sie legte ihre Armbanduhr drauf, von deren Wert der Postmeister so weit überzeugt war, daß er nun endlich das Tele gramm weitergab. Er versprach, die Uhr zurückzu 131
geben, falls sich die Banknoten als echt erweisen sollten. Ja, er lieh ihr großzügigerweise auch noch ein Fahrrad, damit sie zur nächsten Bahnstation ge langen könne. Ellinor Bardeny kam nach stundenlanger Fahrt über Berg und Tal vollständig erschöpft bei der klei nen Bahnstation an. Es war bereits Vormittag. Der nächste Zug ging erst in zwei Stunden. Sie er frischte sich in der Wirtschaft und kaufte dann eine der Zeitungen, die der Morgenzug gebracht hatte. Dabei entdeckte sie eine kleine Nachricht, die sie wiederholt lesen mußte. »Wie uns gemeldet wird, wurden vor einigen Wo chen in der Nähe von Thurso zwei Männer aufgefun den, über deren Herkunft zunächst nichts zu erfahren war. Sie behaupten, Teilnehmer einer Nordpolexpe dition zu sein, die unter Führung des amerikanischen Forschers Bardeny stand. Sie sind nicht imstande zu sagen, wie sie nach Thurso kamen. Da von einer Ex pedition des Kapitäns Bardeny bisher nichts be kanntgeworden ist, scheint es einstweilen ratsam, den Angaben der beiden Männer zu mißtrauen. Es ist nicht ausgeschlossen, daß es sich um Schwindler oder Geisteskranke handelt.« Diese Nachricht ließ das junge Mädchen nicht wieder im los. Sie erkundigte sich nach der Lage von Thurso und nach den Verbindungen zu diesem Ort. Sie war so beschäftigt, daß sie nichts von Mallins 132
Ankunft bemerkte, bis dieser unmittelbar vor ihr stand und sie höflich bat, unter vier Augen einige Worte mit ihr wechseln zu dürfen. Sie fürchtete Mallin nicht und schon gar nicht in mitten eines belebten Ortes. Deshalb folgte sie Mal lin bereitwillig ins Freie. Er war erheblich weniger höflich, als sie draußen stand. »Was sollen diese Unüberlegtheiten, Miß Barde ny?« fragte er barsch. »Ich habe Ihnen untersagt, das Haus zu verlassen. Sie kehren sofort mit mir zurück!« »Ich denke nicht daran«, lehnte sie entschieden ab. »Es wird Ihnen schwerfallen, mich wieder in das ein same Haus zu bringen.« Sein Gesicht zeigte Wut. »Treiben Sie es nicht zum Äußersten. Ich kann Sie durch jeden Schutzmann zwingen, mit mir zu kom men.« »Versuchen Sie es«, meinte sie verächtlich. »Viel leicht machen Sie die Erfahrung, daß eine Frau mehr Lärm schlagen kann, als Sie vertragen. Ich komme nicht mit Ihnen, sondern fahre nach Thurso.« »Nach Thurso? Was wollen Sie dort oben?« »Ich werde mich überzeugen, in welchem Ausmaß Sie mich belogen haben. Da, lesen Sie!« Sie reichte ihm die Notiz hin. »Das ist – höchst eigenartig«, murmelte er, nach dem er sie überlesen hatte. 133
»Ach, finden Sie auch?« fragte sie spöttisch. »Mit dem, was Sie mir bisher erzählten, stimmt es jeden falls nicht überein.« »Allerdings nicht, aber Sie können doch mich nicht dafür verantwortlich machen. Mr. Sun Koh teil te in seinen Briefen mit, daß alle Teilnehmer der Ex pedition gestorben seien.« »Fragt sich, ob die Briefe echt waren.« »Nein.« Er wehrte sich heftig. »Dann hat Mr. Sun Koh nicht die Wahrheit geschrieben. Ich werde so fort mit dem Wagen nach Thurso fahren und nach prüfen, was an dieser Nachricht eigentlich stimmt.« »Gut, ich komme mit.« Er blickte sie verdutzt an. »Sie wollen mitkommen?« »Natürlich, ich wollte ohnehin nach Thurso. Ich lege Wert darauf, mit den beiden Männern selbst zu sprechen.« »Wie Sie wünschen«, sagte er. * Als sie in der kleinen Ortschaft in der Nähe von Thurso den Wagen verließen, ging ein Mann über die Straße, der sicher auch nicht aus dieser Gegend stammte. Ellinor Bardeny beachtete ihn zunächst nicht, aber Mallin starrte mit allen Zeichen der Ver wunderung und des Schreckens auf ihn und stieß 134
halblaut hervor: »Patson?« Der andere stutzte, erblaßte und rief: »Mr. Mallin?« Mallin wandte sich hastig an das junge Mädchen. »Dort ist jemand, den ich unbedingt sprechen muß. Bitte, warten .Sie hier am Wagen, Miß Barde ny, ich komme bald zurück.« Er ging auf den Fremden zu, sprach auf ihn ein und führte ihn schließlich außer Sicht. Das junge Mädchen wartete eine Weile, dann ging sie auf die Suche nach den beiden Männern, von de nen die Zeitung geschrieben hatte. Sie fand sie bei dem ortsansässigen Arzt und unterhielt sich eine gute halbe Stunde mit ihnen, ohne dadurch Gewißheit über das Schicksal ihres Vaters zu erhalten. Kapitän Bar deny hatte zu dem Zeitpunkt, an dem die Erinnerung der Männer aussetzte, noch gelebt. Sein späteres Schicksal kannten die beiden sowenig wie ihr eigenes. Sie kehrte zum Wagen zurück. Einige Minuten später erschien Mallin mit dem Fremden. Die beiden mußten viel miteinander zu reden gehabt haben. »Das ist Mr. Patson«, stellte Mallin den anderen vor. »Er war Maschinist im Tauchboot Ihres Vaters und hat die Polfahrt mitgemacht. Sie werden von ihm einen ausführlichen Bericht erhalten, doch bittet er Sie, ihm zu seinem Flugzeug zu folgen. Ich werde inzwischen die beiden Männer aufsuchen.« »Ich habe die Unterlagen und verschiedene Dinge im Flugzeug«, erklärte Patson. »Es wird vieles davon 135
für Sie von Wert sein.« »Sie haben ein Flugzeug hier?« »Ja, es steht gleich am Dorfrand.« Sie schloß sich ihm an, während sich Mallin in an derer Richtung entfernte. »Ist – was ist geschehen?« fragte sie. »Ist mein Vater wirklich tot?« »Daran ist leider nicht zu zweifeln«, erwiderte Pat son. »Wir erreichten zwar den Nordpol, aber auf der Rückreise gab es ein Unglück. Unsere Maschinen versagten, so daß wir im Eis steckenblieben. Sie sind alle tot.« »Aber Sie sind doch gerettet!« »Ja, doch verzeihen Sie, wenn ich jetzt nicht dar auf eingehe. Ich will Ihnen im Flugzeug dann alles zusammenhängend schildern.« Sie stellte keine Fragen mehr, sondern schritt schweigend neben Patson her. Das Flugzeug, dessen seltsame Konstruktion ihr Interesse erregte, war von Kindern und Erwachsenen umlagert. Ein sehr lauter und sehr würdiger Dorfpo lizist sorgte dafür, daß niemand zu dicht herankam. Patson half ihr in die Kabine hinein, schloß die Tür hinter sich und nötigte sie auf einen der Sessel. Während sie sich noch zurechtsetzte, machte er sich hinter ihr zu schaffen. Plötzlich fiel ein Strick über sie und schnürte sie an die Sessellehne. Sie öffnete den Mund, aber schon stieß ihr Patson ein zusam 136
mengeballtes Tuch zwischen die Zähne. Sie konnte nicht mehr schreien oder sich wehren, sondern mußte es geschehen lassen, daß er ihre Füße verschnürte, später die Arme fesselte und sie dann an der Rück wand der Kabine auf den Boden legte. Draußen lachten die Kinder und grollte der Dorf polizist. Sie konnte nichts mehr sehen, da sie mit dem Ge sicht zur Wand lag. Sie hörte aber nach einer Weile die Stimmen von Mallin, Patson und anderen Män nern. Einer kam heraufgeklettert, dann kam ein ei genartiger Laut, der sich wiederholte. Schließlich hörte sie Mallins gedämpfte Stimme: »Geglückt?« »Wie Sie sehen«, antwortete Patson ebenso leise. »Dann nur schnell fort«, riet Mallin. »Bin schon dabei.« »Ich werde die beiden inzwischen fesseln.« Während Mallin hantierte, summte erst dumpf, dann immer heller ein Elektromotor auf. Das Flug zeug schwankte einige Sekunden lang leicht hin und her, dabei wurde der Lärm der Kinder draußen auf der Wiese immer leiser und verschwand endlich ganz. 6. Tolstoj Nos. Unter dem zweiundsiebzigsten Breitengrad, zwi schen der Schlauchmündung des eisstarrenden Jenis 137
sei und der schneeverhüllten unendlichen Tundra Si biriens, lag der vorgeschobene Posten menschlicher Zivilisation. Er bestand aus mehreren tiefgeduckten Häusern, von denen aber jetzt während der langen Polarnacht hur zwei bewohnt waren. Wenn während des kurzen Sommers der Jenissei träge vorbeirausch te, gab es auch Leben in den übrigen Häusern. Fünf Menschen lebten in Tolstoj Nos. Oberhaupt dieser winzigen Gemeinde war der Händler Matkoff, der sowohl im Sommer als auch im Winter seinen Handel mit Samojeden, Dolganen, Tungusen, Jaku ten und Ostjaken trieb. Ein alter Samojede vom Je nissei ging ihm dabei seit vielen Jahren zur Hand. Im Nachbarhaus lebte die Tochter Matkoffs. Sie war mit einem Mann verheiratet, der einst als Ver bannter nach Sibirien gekommen war. Er hieß Kar gasok und war ebenfalls Händler. In seinem Haushalt lebte eine Tungusin. Eigentlich bestand überhaupt keine Trennung zwi schen den beiden Familien. Die fünf Menschen leb ten an einem Feuer und einem Herd zusammen, nur zum Schlafen begaben sich die jungen Leute in ihr Haus. Die Nacht unter dem Polarkreis währt ein halbes Jahr. Gäste, die Abwechslung bringen, sind in dieser Einöde selten. Die Eingeborenen, die zum Handel erschienen, hielten sich selten länger auf, als nötig war. Kein Wunder, daß es für Matkoff und die Sei 138
nen zum freudigen Ereignis wurde, als der AwamSamojede gleich sieben Europäer anschleppte, sieben Polfahrer, die er halb verhungert auf dem Eis des Je nissei getroffen hatte. Das gab eine Geschäftigkeit. Matkoff ließ keinen von den sieben erst zu Wort kommen, nachdem er von dem Samojeden das Wichtigste erfahren hatte. Sie zerrten den Erschöpften und Durchfrorenen die Pelze herunter und führten sie in die warme Stube. Sie setzten ihnen dampfende Schüsseln mit mächti gen Fleischstücken, dazu köstlich duftendes Brot vor. Schließlich packten sie sie in die eigenen Betten. Und die Männer ließen mit sich geschehen, was die Gastfreundschaft dieser Familie erforderte. Sie schliefen. Sie schliefen in richtigen Federbetten, die mit Fel len übertürmt waren, in Schlaf bürgen, an die so leicht keine Kälte herankam. Und überdies knatterte und knisterte im dickbauchigen Ofen das Klobenfeu er und strahlte unwahrscheinliche Wärme aus. Und als sie erwachten, standen Schüsseln mit war mem Wasser vor ihnen. Und daneben lag Seife, rich tige Seife, dazu Tücher zum Abtrocknen, auch Ra sierapparate mit haarscharfen Klingen, Spiegel, Kamm und was noch alles. Eine herrliche Stunde der Verwandlung kam. Dann saßen sie wie Neugeborene rund um den großen Familientisch mit Matkoff, Kargasok und 139
dessen Frau zusammen und ließen sich auf sibirische Weise mit Unmengen von Speisen vollfüttern. Mat koff und Kargasok nötigten eifrig zum Zulangen, sonst wurde zunächst wenig gesprochen. Matkoff war ein dicker, behäbiger Mann, dem man nicht ansah, daß er in diesem Grenzgebiet menschlichen Lebens wohnte. Er lachte oft, wobei seine dicken Backen hin und her wackelten. Sein breites Gesicht strahlte von Gutmütigkeit und Wohl wollen, seine kleinen Augen funkelten dabei lebhaft, vergnügt und zugleich auch schlau. Sein Schwiegersohn war stillerer Natur. Er machte den Eindruck eines gebildeten Menschen, der früher viel geistig tätig gewesen ist. Etwas wie ein feiner Hauch von Schwermut lag immer über seinem Ge sicht, obwohl er sich ebenso freundlich besorgt um die Gäste zeigte. Seine Frau glich mehr ihrem Vater. Die sieben Männer erklärten einstimmig, daß es ihnen unmöglich sei, noch mehr zu essen, worauf die Schüsseln vom Holztisch verschwanden und die bei den Gastgeber kurze Pfeifen und richtigen Tabak, das betonten sie nachdrücklich, holten. Van Dyck, Smith, Brook und Brendel griffen mit Vergnügen zu, die anderen drei enthielten sich, wie sie schon den eifrig gebotenen Kognak abgelehnt hatten. Jetzt erst eröffnete Matkoff gewissermaßen das Gespräch, indem er mit dem Ärmel der rechten Hand vor sich über den Tisch wischte und meinte: »So, 140
jetzt wollen wir uns ein wenig unterhalten. Sie wis sen wohl, daß Sie sich in Tolstoj Nos befinden. Ich bin Matkoff und betreibe hier mit meinem Schwie gersohn Kargasok ein Handelsgeschäft. Außer uns lebt niemand hier. Wer von den Herren spricht denn eigentlich Russisch?« Sun Koh übernahm die Antwort. »Ich spreche Russisch. Ich heiße Sun Koh. Dieser Herr, van Dyck nennt er sich, versteht Sie ebenfalls. Die anderen beherrschen die Sprache leider nicht. Das sind die Herren Smith, Brook, Brendel, Hal Mervin und Nimba. Wir gehören zu einer Expediti on, die unter Führung eines Amerikaners, des Kapi täns Bardeny, stand. Er machte den Versuch, den Nordpol im Tauchboot zu erreichen. Es gelang ihm auch, aber auf dem Rückweg gab es ein Unglück, so daß wir vom sechsundachtzigsten Breitengrad an den Weg nach Süden mit Hilfe von Motorschlitten antre ten mußten. Ich brauche Ihnen wohl nicht zu sagen, was dieser Rückmarsch für uns bedeutete. Sieben Kameraden gingen uns nacheinander verloren, au ßerdem die Schlitten. Wir waren am Rand unserer Kraft, als wir gestern gefunden wurden. Wo ist ei gentlich unser Retter?« »Der Awam?« fragte Matkoff. »Er hat seine Reise in die Tundra fortgesetzt. Diese Leute haben es im mer eilig. Sie fürchten, Krankheiten mitzuschleppen, wenn sie zu lange in der Nähe von Russen bleiben. 141
Sind mächtig abergläubisch, die Burschen. Ich ver stehe mich ja ganz gut mit ihnen, aber ich habe noch keinen dazu bewegen können, die Nacht bei uns zu verbringen.« »Ich hätte mich wenigstens gern bei ihm bedankt.« Matkoff winkte ab. »Pah, darüber machen Sie sich keine Gedanken. Man ist es gewöhnt, daß man sich auf der Tundra aushilft, wenn es not tut. Er weiß, daß Sie ihm dank bar sind, das genügt ihm.« »Der Awam ist einer der Freien auf der Tundra«, ergänzte Kargasok. »Er besitzt infolgedessen alle Tugenden, die den freien Naturvölkern in gleichem Maß zu eigen sind.« »Aber er hat uns doch sein Gewehr unter die Nase gehalten«, warf van Dyck ein. Matkoff lachte schallend auf. »Hat er? Hat er wirklich? Nun, ich kann’s ihm nicht verdenken. Er wird Sie wohl für Mammutjäger gehalten haben. Er kam ja gerade von Dudinka her auf.« »Wofür soll er uns gehalten haben?« forschte Sun Koh erstaunt. »Für Mammutjäger«, wiederholte Matkoff sicht lich vergnügt. »Das sind verteufelte Halunken. Die Eingeborenen gehen ihnen aus dem Wege oder schießen sie einfach über den Haufen. Tja, da stau nen Sie, was? Es geht recht lebhaft bei uns am Ende 142
der Welt zu. Wenn Sie das liebe Dudinka erst mal kennengelernt haben, werden Sie verstehen, warum ich mich auf meine alten Tage noch nach hier ver flüchtigt habe.« Kargasok merkte wohl, daß Sun Koh von diesen Bemerkungen nicht viel verstand. Er erklärte deshalb sachlicher: »Sie haben Glück gehabt, daß der Awam Sie nicht ernstlich für Mammutjäger gehalten hat, sonst säßen Sie vielleicht jetzt nicht hier. Wissen Sie, was ein Mammutjäger ist?« »Eben nicht«, gestand Sun Koh lächelnd. »Es wird Ihnen aber sicher bekannt sein, daß die ses ganze endlose Tundrengebiet vor vielen Jahrtau senden und vielleicht Jahrzehntausenden tropisches Klima besaß. Die großen Klimazonen unserer Erde liegen ja nie ganz fest und waren früher beträchtli chen Schwankungen unterworfen. Man beutet auf Spitzbergen zum Beispiel mächtige Kohlenlager aus, ein Beweis, daß dort einst Urwälder gestanden ha ben, die tropisches Klima voraussetzen. So war auch Sibirien einst Tropenland und wurde unter anderem auch von Großtieren bewohnt, wie man sie heute noch in Afrika und Indien findet.« »Elefanten?« »Gewiß. Der Klimarückgang muß in Sibirien all mählich erfolgt sein, denn jene Elefanten blieben und paßten sich dem veränderten Klima an. Sie legten sich zum Beispiel einen dicken, struppigen Pelz zu, wäh 143
rend ihre tropischen Verwandten ja bekanntlich glatt sind. Es ist natürlich auch nicht ganz ausgeschlossen, daß diese bepelzten Elefanten, unsere Mammuts, die Ausgangsform darstellen, während die glatten Elefan ten der Tropen Spielarten sind. Ein wichtiges Kenn zeichen dieser sibirischen Mammuts sind übrigens die weit aufgebogenen, schon fast spiraligen Stoßzähne. Sie stellen zweifellos eine Entartung dar, denn als Waffe und Werkzeug sind nur die kurzen Stoßzähne der Elefanten anzusehen. Die aufgebogenen Mam mutzähne, deren Entwicklung allein Jahrtausende voraussetzt, konnten von den Tieren nicht mehr als Waffe benutzt werden und konnten auch beim Um brechen von Bäumen keine wirksame Hilfe mehr lei sten. Man darf daraus schließen, daß in jener Zeit die Tierwelt um die Mammuts herum verödete und daß die Tundra bereits damals so baumlos war wie heute. Doch alle diese Dinge werden Ihnen bekannt sein.« »Sie sind trotzdem fesselnd. Ich habe mich nie so mit Mammuts beschäftigt, wie das bei Ihnen der Fall sein wird.« Kargasok lächelte traurig. »Ich frische nur Erinnerungen an altes halbverges senes Wissen auf. Es haben sich kluge Köpfe mit der Geschichte dieser Mammuts beschäftigt, ohne damit wirklich zum Ende zu kommen. Es gibt nämlich ei nige recht bemerkenswerte Fragen, die sich nur schwer beantworten lassen.« 144
»Hat die Tundra ihre Geheimnisse?« »Die Natur hat sie. Sehen Sie, man findet die Mammuts ausschließlich im nördlichen Teil der Tun dra, dort, wo der Boden auch während des kurzen Sommers nie auftaut. Sie liegen völlig durchgefroren in dem steinharten Boden und sind vollkommen, bis in die letzte Kleinigkeit erhalten. Die ständige Kälte hat sie über Jahrtausende hinweg konserviert. Darin mag nichts Besonderes liegen. Aber – man findet die se Riesentiere, die unseren Elefanten bei weitem an Größe und Gewicht übertreffen, nicht einzeln, son dern in Trupps von Dutzenden und Hunderten beiein ander. Entdeckt man ein Mammut, kann man gewiß sein, in der Nähe noch Dutzende zu finden.« »Der Elefant ist ein geselliges Tier.« »Aber er bildet stets nur kleine Rudel. Und die Zu sammenballung scheint hier um so erstaunlicher, als vermutlich ein gewisser Nahrungsmangel, bestimmt aber kein Überfluß vorgelegen hat, während gleich zeitig Gründe für eine geschlossene Verteidigung kaum bestanden. Doch weiter. Man könnte vielleicht an sogenannte Mammutfriedhöfe denken. Sie wissen wohl, daß die Elefanten sich an einen bestimmten Fleck zurückziehen, sobald sie die Nähe des Todes spüren, um dort zu sterben, wo schon Generationen vor ihnen sich zum Sterben gelegt haben. Elefanten friedhöfe nennt man solche Grabstätten. Um solche handelt es sich aber in der Tundra nicht, denn hier 145
findet man alte und junge Tiere unmittelbar neben einander.« »Eine Seuche?« »Eine oft geäußerte Annahme, die aber durch mancherlei Befunde widerlegt wird. Die Tiere sind gesund gewesen. Doch nun eines der bisher unlösba ren Rätsel. Der Boden, in dem sie liegen, ist seit Jahrtausen den steinhart. Er muß damals weich gewesen sein, sonst hätten die Mammuts nicht ein Stück einsinken können. Nehmen wir an, die Tiere sind gestorben und versunken. Nun vollzieht sich aber die Zerset zung des Tierleibes unter klimatischen Verhältnissen, die den Boden weich lassen, bekanntlich sehr schnell. Es handelt sich dabei höchstens um einen Zeitraum von einigen Tagen. Das Fleisch der Mam muts ist aber so frisch und so wenig verdorben, daß man es zur Not auch noch essen könnte. Tod, Versin ken und Einfrieren müssen also gewissermaßen blitz schnell aufeinandergefolgt sein. Das ist das Rätsel. Welches elementare Ereignis kam damals mit solcher Schnelligkeit über die Tundra, daß auf einem Gebiet von vielen hunderttausend Quadratkilometern Tau sende von Mammuts in Stunden starben, versanken und für Jahrtausende hinaus konserviert wurden?« »In der Tat«, sagte Sun Koh zögernd, »das sind verblüffende Gedankengänge. Es wird schwer sein, Ihre Frage zu beantworten.« 146
»Es ist bis jetzt nicht gelungen«, gestand Karga sok. »Es ist natürlich leicht, einfach von einem Käl teeinbruch zu sprechen, aber das Wichtigste ist damit nicht geklärt. Man darf auch nicht vergessen, daß die Mammuts ja bereits auf ein kaltes Klima eingestellt waren.« Als er schwieg, fragte Sun Koh: »Was haben denn die Mammutjäger, von denen Sie sprechen, damit zu tun? Die Bezeichnung ist wohl nicht ganz ernst ge meint?« »Sie ist reine Ironie«, nahm Kargasok seine Erklä rung wieder auf. »Aasjäger wäre die richtige Be zeichnung dafür. Die Stoßzähne der Mammuts haben teilweise durch die Kälte gelitten und sind minder wertig geworden, die überwiegende Menge aber lie fert noch hochwertiges Elfenbein. Elfenbein ist teuer. Es lohnt sich, Mammutzähne zu finden und zu ver kaufen. Das geschah eigentlich schon seit Jahrzehn ten. Die Samojeden oder Tungusen brachten gele gentlich einmal einen Mammutzahn auf ihren Schlit ten, den sie zufällig gefunden hatten, und tauschten ihn bei den Händlern ein. Für die war es ein gutes Geschäft, blieb aber trotzdem eine seltene Gelegen heit. Das hat sich in den letzten Jahren mehr und mehr geändert.« »Die Samojeden gehen jetzt planmäßig auf die Suche?« Kargasok lachte kurz. 147
»Die Samojeden eben nicht. Die verwünschen das Elfenbein höchstens. Es handelt sich um Russen und allerlei Fremde, die vom Süden gekommen sind. Abenteurer sind es, zusammengewürfeltes Volk ohne jede Bindung. Es sind Männer, die schon an der Lena oder in anderen Erdteilen die Goldgräberlager bevöl kert haben. Für sie ist das Elfenbein der Mammuts so gut wie Gold, und tatsächlich wird es ja auch sehr hoch bezahlt. Sie nennen es selbst Mammutgold. Sie sind zäh, verwegen, mutig und abgehärtet, sie trotzen dem Winter auf der Tundra, obwohl sie keine Samo jeden sind. Aber wenn sie zurückkehren, werden sie zu Säufern und wilden Raufbolden, weil ihnen die Sinngebung fehlt. Und die Männer, die selbst hi nausziehen, um den Boden aufzuschmelzen und die Mammutzähne herausholen, sind noch nicht die schlimmsten. Gefährlicher sind die anderen. Die ha ben sich zu richtigen Banden zusammengeschlossen und setzen sich nicht unnötig Gefahren und Anstren gungen aus. Sie fahren schwer bewaffnet im Balok über die Tundra, nehmen den andern das Elfenbein ab, vertreiben die Samojeden aus ihren Lagern und plündern sie ganz nebenbei aus. Genaugenommen sind es Räuberbanden.« »Was ist ein Balok?« erkundigte sich Sun Koh. »Sie werden ihn noch kennenlernen. Es ist ein lan ger hoher Schlitten, der mit Rentierhäuten und Fellen eingedeckt ist, ein fahrbares Zimmer gewissermaßen. 148
In der Ecke steht gewöhnlich ein Ofen, außerdem sind Bett, Tisch und Stühle vorhanden. Man kann darin reisen, ohne die Kälte fürchten zu müssen. Ge wöhnlich werden sie von zwölf Rentieren gezogen.« »Duldet denn die Regierung dieses Räuberunwe sen?« Kargasok zuckte mit den Schultern. »Offiziell sind diese Banditen Händler, die sich mit dem Tausch von Mammutelfenbein gegen aller lei Waren befassen. Dagegen ist nichts zu sagen. Es dürften sich nur schwer Zeugen finden, die bezeugen, daß diese Männer auf der Tundra die Mammutgräber und die Samojeden mit vorgehaltenen Gewehren zwingen, ihre Sachen herauszugeben. Die Ausgebeu teten werden nämlich hinterher gewöhnlich erschos sen oder müssen in der Einöde umkommen.« »Bestien«, murmelte van Dyck. »Immerhin«, meinte Sun Koh, »kann es der Regie rung doch nicht entgangen sein, daß sich landfremde Elemente hier angesammelt haben. Sie gehören doch zur Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken und bilden sogar einen selbständigen Verband. Diese Art der Elfenbeingewinnung widerspricht wohl den…« Kargasok unterbrach. »Verzeihen Sie, aber Sie geben sich sicher fal schen Vorstellungen hin. Sibirien ist groß und sieht etwas anders aus als die netten Bilder, die gelegent lich veröffentlicht werden. Gewiß bilden Samojeden, 149
Tungusen, Dolganen, Ostjaken und wie sie alle hei ßen, einen eigenen Staatsverband. Der besteht aber nur in der Phantasie und allenfalls bei den Russen. Wenn Sie die Einstellung der Eingeborenen näher kennen würden, würden Sie begreifen, daß diese ganze politische Gliederung Unsinn ist. Die Eingebo renen selbst kommen höchstens einmal im Jahr in größeren Trupps zusammen, sonst leben sie vonein ander getrennt. Was man sich in Moskau oder in Tu ruchansk einbildet oder dort beschließt, ist für die Bewohner der Tundra so belanglos wie etwa die Be schlüsse einer südamerikanischen Republik. Von diesem Gesichtspunkt aus müssen Sie die Verhältnis se betrachten. Selbst wenn die Russen, die für die Verwaltung verantwortlich sind, das Beste und Vor trefflichste für die freien Eingeborenen beabsichti gen, würden diese entschieden ablehnen. Weiter im Süden hat man die Jenissei-Samojeden und Ostjaken gewaltsam gezwungen, ihre leichten Jurten zu ver nichten und feste Häuser zu bauen. Das hat unendli che Schwierigkeiten gekostet und ist auch nur des halb gelungen, weil diese Volksstämme im Süden ohnehin nichts anderes als verkommene und halb verhungerte Sklaven waren. Hier oben im freien Norden ist Rußland zu Ende, mag es zaristisch oder räterepublikanisch sein. Die Zivilisierung dieser Ein geborenen würde das Ende für sie sein, das wissen sie aus Instinkt und Erfahrung ziemlich genau und 150
verhalten sich entsprechend.« »Das leuchtet mir ein«, sagte Sun Koh. »Aber die Verwaltung des Landes müßte doch zu gleichen Er kenntnissen kommen beziehungsweise trotzdem die ses Volkstum pflegen und vor solchen Mammutjä gern schützen.« Kargasok hob die Schultern. »Die Verwaltung ist russisch. Das tatsächliche In teresse Moskaus erschöpft sich mit dem Wunsch, die Eingeborenen politisch zu erfassen. Alles andere kommt erst in zweiter Linie. Es ist ja nicht das er stemal in der Weltgeschichte, daß freie Völker ver nichtet werden sollen, um der Segnung einer Idee und einer politischen Meinung teilhaftig zu werden. Was versteht ein Russe, der im Hinterhof einer Großstadt aufgewachsen ist, schon von der Seele und dem ganzen kulturellen Eigenleben eines freien Tun gusen? Er haßt sie höchstens, wie der Sklave den freigeborenen Herrn haßt. Darüber hinaus ist Moskau heute noch genauso weit, wie es zur Zeit des Zaren war. Letzten Endes entscheiden die persönlichen Qualitäten des zuständigen Pristaws, der sich heute Volkskommissar nennt, trotzdem aber der Pristaw geblieben ist. Ich kenne die verantwortlichen Leute nicht, die in Turuchansk oder in Monastyrskoje sit zen, aber der Pristaw von Dudinka ist ein Halunke, der Hand in Hand mit den Mammut Jägern arbeitet. Und schließlich kann er sich deswegen jederzeit 151
rechtfertigen, denn die Regierung braucht nun einmal das Elfenbein und zahlt sogar hohe Fundprämien. Sie braucht ja auch keine Angst zu haben, daß jemand Kapitalist dabei wird, wenigstens die meisten nicht. Das Geld bleibt an Ort und Stelle und wird in Dudin ka versoffen und verspielt.« »Dudinskoje oder Dudinka, wie Sie es nennen, ist der Mittelpunkt für diese Mammutjäger?« »Ja, ein Schandfleck des Menschentums an der Grenze der heiligen Einsamkeit. Sie werden es ja kennenlernen.« Das Gespräch wandte sich weniger grundsätzli chen Erörterungen zu. Matkoff wollte zu Wort kom men. Er stellte Fragen, die Sun Koh und van Dyck beantworteten. Sie erzählten dabei zum größten Teil die Geschichte ihrer Rückfahrt. Außerdem gab es zahllose andere Kleinigkeiten, die den Männern ei nen Einblick in dieses seltsame Leben an der Grenze des ewigen Eises boten. Es schien von außen her so karg und spärlich zu sein, unter dem Druck des Eises zu leben, aber nun zeigte sich, wie reich und vielfäl tig bewegt es in Wirklichkeit war, wie aus dem Zu sammenstoß der freien heidnischen Nordvölker mit den von Süden kommenden Russen und Fremden die Spannungen und Kämpfe wuchsen. *
152
Drei Tage lang blieben die sieben Männer als Gä ste in Matkoffs Haus. Sie lernten in diesen Tagen mancherlei aus dem Leben dieser einsamen Händler kennen, die die Schätze des Nordens aufkauften und der Welt zugänglich machten. Sie beobachteten die scheu zurückhaltenden und dabei doch stolzen Ein geborenen, wie sie die herrlichsten Felle von Polar füchsen ausbreiteten und über den Preis verhandel ten, der gewöhnlich sofort wieder in Gegenstände ihres Bedarfs umgesetzt wurde. Da tauchten Samoje den mit ihren charakteristischen runden Stiefeln aus Rentierfell auf, dann Jakuten oder Tungusen, deren Kleidung mit farbigen Glasperlen benäht und deren Gürtel mit Pfeifen aus geschnitztem Mammutelfen bein und schönen Messern bestückt waren. Sie alle, die behäbigen Samojeden und die stolzen Tungusen, kamen auf Rentierschlitten durch die Nacht herangejagt und trugen den Hauch der unend lichen Eiswüste in die warme Stube des Händlers, um die der Sturm heulte und der Schnee in dichten Wolken stob. Der stille Kargasok erwies sich als unermüdlicher Erklärer und gab wertvolle Aufschlüsse über die selt samen Sitten und Gebräuche dieser Eingeborenen. Er war mit ihnen vertraut und nahm von höherer Warte zu dem Stellung, was Matkoff nur aus Erfahrung heraus berücksichtigte. Am dritten Tag lagerte unweit von Tolstoj Nos ein 153
ganzer Trupp Samojeden, die ein bestimmter Zweck hier zusammengeführt hatte. Einer der Ihren war krank. Ein Schamane befand sich bei ihnen, um den Kranken zu heilen. Als Sun Koh davon hörte, erkundigte er sich bei Kargasok, ob er nicht einmal der Tätigkeit eines sol chen Schamanen beiwohnen könne. Kargasok lehnte rundweg ab. »Es hat keinen Zweck, es überhaupt nur zu versu chen«, begründete er seine Ablehnung. »Die Samo jeden lassen nur dann einen Stammesfremden bei einer Beschwörung dabeisein, wenn sie wirklich mit ihm vertraut sind und ihn als ihren Freund anerken nen. Ich weiß, wieviel Mühe es mich gekostet hat, so weit zu kommen. Gewiß, Sie könnten den Schama nen sehen, man würde Ihnen vielleicht auch eine Ze remonie vormachen, aber das wäre eben nur für Sie berechnet. Das können Sie dann weiter unten im Sü den einfacher haben. Dort gibt es heruntergekommene Schamanen, die sich auf dem Markt für Geld se hen lassen.« »Der Schamane ist der Priester der Samojeden?« Kargasok nickte. »Der Priester, der Magier, der Medizinmann und Arzt. Seine Aufgaben sind vielseitig. Sie schwanken mit den verschiedenen Begriffen und Vorstellungen jedes einzelnen Stammes. Vielleicht kann man auch sagen, daß sie mit der Persönlichkeit des Schamanen 154
wechseln. Religion ist hier wie überall stark von der Individualität abhängig. Der Samojede hat zum Bei spiel in den meisten Fällen keine Furcht vor Leichen. Das einzige, was er gewöhnlich tut, ist, daß er die betroffene Hütte räumt. Das geschieht aber auch sonst wegen des Ungeziefers. Er fürchtet jedoch den Blick des Toten und bedeckt daher die Augen des Gestorbenen mit Kupfermünzen, damit sie sich nicht wieder öffnen können. Er glaubt nicht an eine See lenwanderung. Der Jurake dagegen ist überzeugt, daß die Seele in der Unterwelt rückschreitend jünger wird, bis sie in einem neugeborenen Kind ihre Wie dergeburt erlebt. Der Tunguse fürchtet die Toten und bringt sie an abgelegene Plätze, von denen die Leid tragenden in verschiedenen Richtungen davongehen, damit der Tote nicht folgen kann. Der Ostjake wie derum tauft alle Verwandten des Verstorbenen um, damit dessen Name kein Unheil anrichtet. So sind die Bräuche und die Auffassungen verschieden, auch innerhalb der einzelnen Samojedenvölker. Alles aber findet seinen Mittelpunkt im Schamanen, der bei die sen freien Völkern noch heute hohe Achtung ge nießt.« »Er trägt eine besondere Kleidung, nicht wahr?« »Einen dunklen Mantel, der oft reich verziert ist. Dazu hat er seine besonderen Schuhe und Handschu he sowie eine langbändrige Mütze mit dem Zeichen des Totemtiers. Sein Hauptwerkzeug ist eine Trom 155
mel aus Rentierhaut, die mit Zeichnungen, Glöck chen und Bändern geschmückt ist. Sie wird mit ei nem Metalllöffel geschlagen, der auf der Unterseite mit Leder versehen ist. Außerdem besitzt der Scha mane oft noch besondere Rasselwerkzeuge, die er bei seinen Beschwörungen braucht.« »Schade, daß man an einer solchen Beschwörung nicht teilnehmen kann.« »Ich will Ihnen wenigstens eine Andeutung vom Verlauf einer Beschwörung geben«, sagte Kargasok bereitwillig. »Sie beginnt meist am Abend und nur dann, wenn sich der Schamane völlig gesund fühlt. Er sitzt dabei im Hintergrund der Jurte, der Tür ge genüber, während die Zuschauer im Halbkreis um ihn herumliegen. Der Schamane nimmt zunächst die vorgewärmte Trommel, gähnt auf sie nieder und schläft für eine Weile ein. Er verläßt die diesseitige Welt. Wenn er aufwacht, sind Haltung und Stimme verändert und wirken somnambul. Leise beginnt er zu trommeln, zu singen, zu flüstern, zu gähnen und zu stöhnen. Allmählich wird er lauter und beginnt schließlich einen regelrechten Gesang, der von den Zuhörern wiederholt wird. Unter immer heftigeren Steigerungen, mit ständig zunehmendem Lärm schil dert der Schamane ausführlich seine Wanderung zu den Wohnungen der Geister, die mit wilden Aben teuern verknüpft ist. Hat er den richtigen Geist er reicht, wird er sekundenlang totenstill, um dann um 156
so toller und lauter dem Höhepunkt zuzuschreiten. Der Schamane gebärdet sich wie ein Rasender, seine Augen quellen weit hervor, sein ganzer Körper zuckt, er preßt die Worte nur noch heraus. Dann tanzt er wild und schauerlich, nimmt dabei die Messer aller. Anwesenden der Reihe nach und ritzt sich tiefe Wunden in Brust und Schultern, aus denen kein Blut fließen darf. Damit hat er bewiesen, daß er die Gei ster nicht fürchtet. Er verhandelt mit ihnen und tauscht das gefährdete Leben gegen entsprechende Opfer aus. Nun beginnt seine Rückkehr. Lärm, Ge sang und Tanz klingen allmählich ab. Er wirft vor jeden der Anwesenden seinen Löffel, entkleidet sich hüpfend und reinigt sich mit glühenden Kohlen und brennenden Scheiten. Endlich trinkt er etwas Wasser, betet und fällt zu Boden, um in einen stundenlangen Schlaf zu sinken. Die Beschwörung ist damit zu En de.« »Und hilft sie auch?« Kargasok lächelt flüchtig. »Die Samojeden glauben fest daran, und der Glau be versetzt Berge. Ich habe viele kennengelernt, die davon überzeugt waren, ihr Leben dem Schamanen zu verdanken. Das entscheidet.« »Der Europäer wird den Schamanen für einen Scharlatan, für einen Gaukler halten.« Kargasok machte eine wegwerfende Bewegung. »Das Urteil der Europäer ist so bedeutungslos, wie 157
es falsch ist. Man kann in solchen Dingen nur schwer urteilen. Es gibt noch heute gegen eine Menge von Krankheiten, etwa Krebs, keine hundertprozentig wirkenden Mittel. Trotzdem haben sich in den letzten Jahrzehnten Millionen aufgeklärter Europäer von ihren Ärzten gegen diese Krankheiten behandeln las sen. Waren diese Leute Narren und ihre Ärzte Schar latane?« »Die Ärzte taten nach dem jeweiligen Stand der Wissenschaft ihr Bestes.« »Das gleiche darf man von dem Schamanen be haupten, nur arbeitet er vielleicht mit wirksameren Mitteln. Der europäische Arzt repariert von außen, der Schamane geht an die Quelle des Lebens zurück, wenigstens seiner Auffassung nach. Übrigens ist man in Europa allmählich auch bei Heilmethoden ange langt, die sich der des Schamanen immerhin annä hern.« »Wieso?« »Heilt man nicht durch Hypnose und Suggestion? Oder wie steht es mit dem Handauflegen?« »Gewiß«, räumte Sun Koh ein. »Sehen Sie. Und warum auch nicht? Die aufge klärten Menschen haben einen Riesenumweg über maschinelle Kräfte, über Bestrahlungen und Dia thermie gemacht, um schließlich einzusehen, daß die wirksamen Einflüsse ebensogut aus der Persönlich keit eines geeigneten Magnetopathen herausströmen. 158
Zweifellos gibt es bei diesen Heilmethoden noch sehr viele offene Fragen, aber solange die nicht ein deutig beantwortet sind – was nie der Fall sein wird – muß man jedem das Recht abstreiten, die Beschwö rungen eines Schamanen zu belächeln. Naturvölker haben immer noch einen leidlichen Instinkt dafür gehabt, was ihnen zuträglich ist.« Sun Koh unterhielt sich oft mit Kargasok und er fuhr von ihm zahllose Einzelheiten, die merkwürdig und bemerkenswert waren. Nur über sich selbst schwieg Kargasok beharrlich. * Die letzte Nacht in Matkoffs Haus. Am Morgen wollte Kargasok die Männer auf den Rentierschlitten nach Dudinskoje bringen. Irgendwann in der Nacht schreckte Sun Koh aus dem Schlaf hoch. Er glaubte, den scharfen Knall von Schüssen außerhalb der Hütte gehört zu haben. Van Dyck, Smith und Hal reckten gleichzeitig mit ihm die Köpfe. »Wer schießt denn da herum?« brummte Smith schlaftrunken. »Matkoff wird wohl Besuch von Samojeden be kommen haben«, vermutete Hal. »Ich glaube nicht, daß die sich durch Gewehr schüsse anmelden«, widersprach Sun Koh und zog 159
dabei den nach innen gewendeten Unterpelz über, den die Samojeden Malitsa nannten. So leidlich ge gen die Kälte geschützt, ging er zur Tür. Den Gürtel mit Pistole und Messer nahm er gewohnheitsmäßig mit. Die beiden anderen stießen sich gegenseitig an und folgten seinem Beispiel. Wenn auch keine Schüsse mehr zu hören waren, drangen doch verwor rene und beunruhigende Geräusche herein, die Ge fahr vermuten ließen. Als Sun Koh die Tür aufstieß, bemerkte er flüchtig auf dem Schneefeld vor dem ausgeschaufelten Vor platz des Matkoffschen Hauses Rentiere und die ho hen langen Kästen von Baloks. Dann lenkte er seine Aufmerksamkeit auf den Mann, der eben auf die Tür zukam. Er war nur noch drei Meter entfernt. »Ach, da ist ja noch einer!« rief er überrascht und legte sein Gewehr an. Der Ruf sollte wohl seine Begleiter erreichen, aber von denen war augenblicklich nichts zu sehen. Sie befanden sich wohl in Matkoffs Haus. Da kam aus dem Gewehr ein Feuerstrahl. Sun Koh spürte, wie die Kugel über seine Schulter hinweg brannte. Glücklicherweise traf sie niemand von de nen, die sich noch hinter der Tür befanden. Bevor der andere zum zweitenmal abdrücken konnte, riß Sun Koh die Waffe heraus und nahm ihm durch einen Schulterschuß die Lust, weiterzufeuern. »Was ist denn los?« drängte es erregt hinter ihm. 160
»Überfall«, sagte Sun Koh. »Kommt!« Er rannte zum anderen Haus hinüber. Dort wollten gerade zwei Männer ins Freie. Sun Koh prallte mit ihnen zusammen, drückte sie zurück und stand dann in Matkoffs großem Wohnraum, der zugleich der Handelsraum war. Hinter ihm schoben Hal und Nimba sowie die anderen nach, so daß der Raum im Handumdrehen beängstigend voll war. Sun Koh sah sich einem halben Dutzend Männern in dicken Sackpelzen gegenüber, die bei seinem Ein dringen von den verschiedensten Tätigkeiten ablie ßen. Zwischen zweien hing Matkoff mit blutender Stirn wie ein Halbtoter, ein anderer war anscheinend im Begriff gewesen, die Handelsartikel in einen Sack zu verstauen, ein vierter hielt sein Gewehr auf Kargasok und den alten Samojeden gerichtet, die beide in einer Ecke standen. Die beiden anderen, die das halbe Dutzend der Fremden vollmachten, hatte Sun Koh bei seinem Eintritt zurückgeschleudert. »Was geht hier vor?« schrie Sun Koh die Männer an. Matkoff wurde losgelassen und rutschte zusam men. Einer der beiden, die ihn gehalten hatten, ant wortete mehr überrascht als erschrocken: »Donner wetter, was sind denn das für Leute? Wer sind Sie?« »Gäste dieses Hauses«, erklärte Sun Koh knapp. »Und wer sind Sie?« 161
Der andere, wie alle diese Eindringlinge ein Russe, verzog seine dünnen Lippen zu einer gering schätzigen Miene. Er war ein großer, starker Mann mit einem ausdrucksvollen, aber höchst unangeneh men Gesicht. Machtbewußtsein, Roheit und Rück sichtslosigkeit dominierten darin. »Wer wir sind?« fragte er gedehnt. »Nun, ich bin der Kaufmann Pupow aus Dudinka, wenn Sie das wissen wollen. Haben Sie die Absicht, mir noch lan ge die Pistole unter die Nase zu halten?« Sun Koh hatte den Namen dieses Mannes schon von Matkoff und Kargasok gehört. Pupow war der Führer der berüchtigsten Bande von Mammut Jägern. »Nein«, erwiderte Sun Koh gelassen, »nur so lan ge, bis wir Ihnen die Waffen abgenommen haben. Vorwärts, Hal und Nimba!« »Keinen Schritt!« drohte Pupow und griff zur Hüfte. Aber Hal sprang schon vor und rammte ihm die Faust in die Seite. »Sie sind wohl blöd, was?« fragte er und zog dabei geschickt die Pistole des andern aus dessen Gürtel. »Ihnen ist wohl der Nerv draußen eingefroren.« Die anderen waren nicht müßig gewesen. Im Au genblick sahen sich die Russen überwältigt. Mit ih ren Gewehren waren sie hier im Raum so gut wie hilflos, und ihre Pistolen steckten noch in den Gür teln, während die andern die Waffen schon die ganze Zeit über in der Hand hielten. 162
»Sie kamen zur rechten Zeit«, sagte Kargasok auf atmend. »Die Kerle waren drauf und dran, uns den Rest zu geben.« Sun Koh gab seinen Leuten einen Wink. »Fesselt sie an den Händen«, sagte er, »das wird einstweilen genügen. Und holt den andern noch her ein.« Dann wandte er sich an Kargasok. »Es sind Mammutjäger, nicht wahr?« »Die gefährlichste Räuberbande«, bestätigte Kar gasok. »Sie müssen wenig Erfolg auf der Tundra ge habt haben, daß sie hierherkamen.« »Wie geht es Ihrem Schwiegervater?« Der Samojede und Matkoffs Tochter bemühten sich schon um den Alten. »Es ist nichts«, wehrte der alte Mann stöhnend ab, während er sich aufrichtete. »Eine Kugel hat mich an der Stirn gestreift.« »Sie sind regelrecht überfallen worden?« »Sie machten sich bemerkbar«, berichtete Mat koff. »Ich wollte sie nicht hereinlassen, weil ich sie erkannte. Darauf schossen sie und brachen die Tür auf. Ich schoß zurück, aber dann fiel ich um.« »Sie waren so schnell drinnen, daß wir kaum zur Gegenwehr kamen«, ergänzte Kargasok düster. »Ich glaube, wir müssen uns zukünftig verbarrikadieren.« Jetzt mischte sich Pupow ein. »Besser wäre es, wenn ihr zukünftig nicht frieren 163
de Leute bei dieser Kälte von der Tür weisen würdet. Wir haben euch nicht überfallen, sondern sind über fallen worden und wehrten uns nur unserer Haut, verstanden? Im übrigen denke ich, daß dieser Auftritt nun lange genug gedauert hat. Es wird Zeit, daß Sie uns unsere Waffen zurückgeben und einsehen, daß Sie kein Recht haben, uns festzuhalten.« Sun Koh würdigte Pupow keiner Antwort, sondern fragte Kargasok: »Was, würden Sie raten, soll mit diesen Leuten geschehen? Hier können sie ja nicht bleiben.« Kargasok zuckte mit den Schultern. »Am besten wäre es, sie einfach zu erschießen. Dann hätten wir Ruhe vor ihnen. Aber es sagt sich leichter, als es getan ist. Also wird schon nichts an deres übrigbleiben, als sie nach Dudinka zum Pristaw zu schaffen.« »Sie versprechen sich nicht viel davon?« »Gar nichts. Der Pristaw wird Pupow kaum etwas tun.« »Auch dann nicht, wenn wir alle den Überfall be zeugen?« Kargasok hob wieder die Schultern. »Vielleicht kann er dann nicht umhin. Aber es hat wenig Zweck, darüber nachzudenken. Es bleibt oh nehin nichts anderes übrig, als die Leute nach Du dinka zu schaffen, ganz gleich, wie es ausgeht. Da Sie ohnehin in einigen Stunden aufbrechen wollten, 164
bringe ich Sie dann alle zusammen hinunter.« Er ließ sich jedoch klarmachen, daß er nicht gut weg konnte, da Matkoff verwundet und nicht voll handlungsfähig war. Es war auch nicht nötig, daß er seine Gäste selbst nach Dudinka brachte. Die beiden Baloks der Mammutjäger standen zur Verfügung, so daß ein weiteres Gespann unter der Führung des alten Samojeden vollauf genügte. Übrigens wurden die Baloks der Russen von zwei Ostjaken geführt, die so stumpf und gleichgültig waren, daß sie sich noch nicht einmal wunderten, als ihre Herren gefesselt verfrachtet wurden. Als der Morgen angebrochen war, nahmen die Po larwanderer Abschied von Kargasok und Matkoff. Dann ging es weiter, auf Dudinskoje zu. Der Aufenthalt in den Baloks war trotz der Wärme ungemütlich. Das lag einesteils daran, daß man stän dig die verbissenen Gesichter der Gefangenen vor sich sah, andererseits hatte man das Gefühl, in einem Sarg zu fahren. Herrlich dagegen war die Fahrt auf dem offenen Schlitten. Es war bitter kalt, und tausend Nadeln sta chen ins Gesicht, aber die Pelze und zahlreichen Decken schützten genügend vor dem Erfrieren. Die zwölf Rentiere vor dem Schlitten bewegten die Beine mit unglaublicher Geschwindigkeit, so daß der Schlitten im Tempo eines Eilzugs dahinglitt. Die Unebenheiten des Bodens brachten ihn dann und 165
wann ins Schwanken, so daß man sich festhalten mußte, um bei solchen Gelegenheiten nicht abgewor fen zu werden. Bemerkenswert war die Art, in der der vorn hok kende Samojede das lange Gespann lenkte. Er be nutzte dazu eine sehr lange biegsame Stange, mit der er je nach Bedarf die Rentiere auf Köpfe und Seiten schlug. Meistens genügten leichte Schläge, aber wenn eins der Tiere störrisch wurde und bockte, half sich der Samojede auch mit harten Stößen. Ernstliche Zwischenfälle gab es nicht, so daß sie nach Stunden in sausender Fahrt in Dudinka eintrafen. 7. Dudinskoje! Der Pristaw blickte reichlich einfältig, als die Männer ihre Gefangenen in seine Stube hereinbrach ten und sie dort auf den Boden legten. »Das – das ist doch Pupow!« stotterte er. »Was hast du denn, was machst du denn, Brüderchen Fjeo dorewitsch?« Das Brüderchen funkelte ihn zornig von unten herauf an. »Frag nicht soviel, schneide lieber diese verdamm ten Fesseln los!« Der Pristaw zog eilig ein Messer, aber Sun Koh hielt ihn am Arm fest. 166
»Einen Augenblick. Diese Leute sind Räuber. Sie haben das Haus des Händlers Matkoff in Tolstoj Nos überfallen und die Bewohner bedroht. Wir konnten gerade noch rechtzeitig eingreifen. Hier stehen sie ben Mann, die das bezeugen können.« »Das – das…«, stotterte der Pristaw, besann sich dann aber und wurde hochfahrend. »Wie kommen Sie dazu, so etwas zu behaupten? Wer sind Sie denn überhaupt?« »Schneid mich los, verdammter Narr!« schimpfte Pupow. Der Pristaw bückte sich wieder. »Sie geben überführten Verbrechern die Freiheit«, warnte Sun Koh. »Das wird das Verhör ergeben«, murrte der andere und schnitt die Riemen an Pupows Gliedern durch. »Na endlich!« stöhnte der, nahm dem Pristaw das Messer aus der Hand und säbelte seine Freunde frei. Sun Koh ließ es geschehen. Er war neugierig, was sich daraus entwickeln würde. Der Pristaw verschwand für einige Sekunden und kehrte mit zwei Männern zurück, die trotz der umge hängten Gewehre wie zwei vertrottelte Hunde aussa hen. Dann setzte er sich hinter seinen Tisch, streckte die Beine von sich, zog eine Mappe heran, leckte an einem Bleistift und wandte sich schließlich an Pupow. »Nun, Genosse Pupow, was hast du vorzubrin gen?« 167
Van Dyck drängte sich wütend vor. »Was? Erst sind wir wohl an der Reihe. Das sieht ja gerade aus, als ob…« »Schweigen Sie!« schrie ihn der Pristaw an. »Erst redet der Ankläger.« Pupow blickte hämisch grinsend auf Sun Koh, dann trat er an den Tisch, stützte sich mit der Faust auf die Platte und erklärte: »Diese Leute haben uns zusam men mit dem Händler Matkoff überfallen, als wir ah nungslos vor dessen Haus haltmachten. Sie haben ei nen von uns schwer verwundet, uns alle mit Erschie ßen bedroht und uns gefesselt. Es sind Verbrecher. Außerdem handelt es sich um Ausländer, die sicher keine Erlaubnis haben, sich hier aufzuhalten. Es sind feindliche Agenten, die das Wirtschaftsleben unserer Republik schädigen wollen, indem sie den anständi gen Handel durch räuberische Überfälle lahmlegen. Und wer weiß, mit welchen gefährlichen Absichten sie außerdem noch ins Land gekommen sind.« Er trat zurück. Der Pristaw reckte sich. »So steht die Sache also«, meinte er gewichtig und drohend zugleich. »Wollen Sie freiwillig gestehen?« Sun Koh schüttelte den Kopf. »Gestehen? Ich gestehe, daß ich selten zwei Lum pen getroffen habe, die so Hand in Hand arbeiten wie Sie und Pupow.« »Das ist eine Beleidigung, die…« 168
»Strengen Sie sich nicht an«, unterbrach Sun Koh kühl. »Darüber hinaus sind Sie ein Narr, wenn Sie sich einbilden, daß wir Ihnen diese Komödie glau ben. Kommt, Kameraden.« »Halt!« rief der Pristaw. »Sie dürfen den Raum nicht verlassen. Sie sind meine Gefangenen, bis die Untersuchung abgeschlossen ist. He, ihr beiden, fes selt sie!« Sun Koh wandte sich wieder zurück. »Zurechnungsfähig sind Sie auch nicht. Glauben Sie wirklich, daß Sie uns mit Ihrer Garde festhalten können? Sie übersehen wohl, daß wir bewaffnet sind. Wenn Sie nicht mehr Truppen zur Hand haben, rate ich Ihnen, die Finger von uns zu lassen. Im übrigen werde ich nicht verfehlen, in Moskau über Sie zu be richten.« Der Pristaw blickte verdutzt. »Was? Wieso? Sind Sie…« »Ich bin«, erwiderte Sun Koh vieldeutig und ging hinaus. Sie fanden Unterkunft bei einem Mann, der ihnen von Matkoff empfohlen worden war. Er hieß Larjat und war ein ehemaliger Händler, der jetzt gegen Leu te wie Pupow nicht mehr aufkam und sich seinen Lebensunterhalt mit allen möglichen Diensten in ei ner der Kneipen zusammenscharrte. Nachdem sie sich bei ihm eingerichtet hatten, ka men sie auf die Verhandlung bei dem Pristaw zu 169
rück. Sun Koh erklärte den anderen, wie die Verhält nisse lagen. »Eine Komödie«, sagte er. »Wir müssen uns aber auch im klaren sein, daß dieser Zwischenfall üble Folgen haben kann. Es ist hier gefährlich, unter dem Verdacht zu stehen, feindlicher Agent zu sein und Wirtschaftssabotage zu betreiben. Der Verdacht al lein kann schon töten. Ich habe es deshalb für richtig gehalten, den Mund noch voller zu nehmen und mit Moskau zu drohen. Wir tun aber auf jeden Fall gut daran, so schnell wie möglich weiter nach Süden zu reisen.« »Wir werden den Kerlen auf die Finger klopfen, wenn sie sich an uns vergreifen wollen«, brummte Smith. Die anderen nickten. Trotzdem stimmten sie natür lich alle zu, die Reise schnellstens fortzusetzen. Sie riefen Larjat. Der Russe, in dem auch ein Schuß Eingeborenenblut steckte, meinte, daß man gegen Geld alles haben könnte, auch Schlitten mit guten Rentieren. Er sei bereit, die Führung der Schlitten zu übernehmen und die Fremden bis Mona styrskoje zu bringen. Das wäre rund sechshundert Werst und man könnte die Strecke je nach Witterung in vier bis acht Tagen schaffen. Ein sofortiger Auf bruch sei jedoch nicht möglich. Er wollte sich aber dafür verbürgen, daß die Schlitten spätestens in zwölf Stunden bereitstehen würden. 170
Die Männer gaben sich damit zufrieden. Larjat eil te fort. Wenig später machte Sun Koh abermals einen Versuch, über die Sprechdose Verbindung mit der Sonnenstadt zu erhalten. »Wir müßten jetzt aus den magnetischen Störbe zirken des Polargebietes ziemlich heraus sein«, sagte er zu Hal, während er die Sprechdose herauszog. »Ich will es noch einmal versuchen.« Hal hielt nicht viel davon. »In Tolstoj Nos haben wir auch keine Verbindung bekommen. Der neue Empfänger scheint nicht in Ordnung zu sein. Und zu vermissen scheint man uns überhaupt nicht, obgleich doch schon viele Wochen verstrichen sind.« »Es wird sich später alles klären«, meinte Sun Koh gedankenvoll. »Wir müssen eben…« Er preßte den kaum handtellergroßen Empfänger an das Ohr. »Hal, sie senden!« »Tatsächlich?« Hal zerrte eifrig seine eigene Sprechdose heraus. Der Empfänger arbeitete. Klar und deutlich scholl es ins Ohr: »Wir suchen Sun Koh. Er wird gebeten, sich zu melden. Falls ein anderer diese Nachricht hört, soll er den Knopf auf der anderen Hälfte der Dose in Pfeilrichtung schieben und auf die Dose sprechen. Wir suchen Sun Koh.« 171
Die Nachricht wiederholte sich. »Das ist der Richtstrahler«, flüsterte Hal. Sun Koh hielt schon den winzigen Sender vor den Mund. Die schwachen Kurzwellen reichten nicht weit, aber wenn seine Leute den neuen, hochemp findlichen Apparat eingestellt hatten, mußten sie auch noch diese äußerst feinen Erregungen aufneh men und verstärken können. »Hier spricht Sun Koh«, meldete er sich. »Hier spricht Sun Koh.« Eine Pause, dann kam es hastig: »Wir hören. Sind Sie es selbst, Sir?« »Ja. Hal und Nimba sind bei mir, außerdem noch vier Männer von der Bardenyschen Expedition. Wir befinden uns in Dudinskoje an der Mündung des Je nissei. Ich möchte, daß man uns abholt.« »Wir kommen, Sir. Die Anweisungen werden sofort weitergegeben. Wir waren bereits in größter Sorge.« »Warum hat man uns nicht früher gesucht?« »Wir sind irregeführt worden. Als wir…« »Es ist gut«, unterbrach Sun Koh. »Ich möchte später Ausführliches darüber hören. Wir warten also auf das Flugzeug. Für jetzt Schluß.« »Jetzt haben wir’s geschafft«, rief Hal strahlend und schlug so heftig auf den Tisch, daß er es sofort wieder bereute. Auf den Gesichtern der anderen Männer lag un verhüllte Neugier. 172
»Sie haben mit Ihren Freunden gesprochen?« er kundigte sich van Dyck. »Ja«, sagte Sun Koh, »die Verbindung ist endlich geglückt, auf die ich schon vor sechs Wochen hoffte. Man wird uns mit dem Flugzeug hier abholen.« »Donnerwetter«, rief Brook, »das nenne ich eine Nachricht. Nun können wir die Rentiere wieder ab bestellen.« »Wird es bald kommen?« fragte Smith. »Spätestens morgen.« »Großartig!« Brendel freute sich. »Aber sagen Sie, wie können Sie mit diesen kleinen Apparaten über haupt senden und empfangen?« »Empfangen können wir nur, weil meine Freunde mit einem starken Richtstrahler arbeiten, der die Wellen gebündelt zusammenhält und fast unge schwächt in diese Gegend wirft. Und das Senden ist auch nicht unser Ruhm, sondern der eines hochemp findlichen Empfängers.« »Hm, Sie haben aber doch gar keinen Strom zur Verfügung?« »Doch«, sagte Sun Koh lächelnd. »Patentgeheimnisse werden nicht ausgeschnob bert«, mischte sich Hal ein. »Sie müßten mal über die Spektralanalyse eines eingebeulten Zylinderhutes nachlesen, dann würden Sie alles verstehen.« »Oder nicht«, knurrte van Dyck. »Sie sollten sich damit begnügen, Brendel, daß das Zeug uns Hilfe 173
bringt. Ich bin zwar auch ein bißchen neugierig, aber ich behalte meine Fragen für mich.« Hal verdrehte die Augen. »Haste Worte? Dabei haben Sie mich nach allen Regeln der Kunst ausgequetscht und alles herausge holt, was herauszuholen war.« »Ich werde mir eine Kohlsuppe davon anrichten lassen«, meinte van Dyck lachend. * In die zum erstenmal wirklich heitere und aufge räumte Stimmung drangen grelle jammernde Mißtö ne. Die Frau, die bei Larjat lebte, kam hereingestürzt, warf sich auf die Knie und jammerte und heulte. Erst nach einer Weile sprach sie so deutlich, daß Sun Koh verstehen konnte, was sie wollte. »Larjat ist tot?« fragte er ungläubig. Die Frau nickte heftig und sprudelte von neuem Worte heraus, aus denen zu entnehmen war, daß Lar jat einige Häuser weiter mit durchschossener Brust lag und daß er einen Streit mit Pupow gehabt hatte, in dessen Verlauf er von diesem niedergeschossen worden war. Sun Koh wandte sich ernst an die Männer. »Larjat ist ermordet worden. Ich nehme an, daß es geschah, weil er uns geholfen hat. Wir wollen uns 174
nach ihm umsehen. Und dann wird es Zeit, daß wir Pupow zur Verantwortung ziehen. Van Dyck, Sie bleiben am besten mit Ihren Kameraden hier. Meine beiden Begleiter genügen mir einstweilen.« »Sieben Mann sind besser als drei«, widersprach van Dyck. »Wir müssen vielleicht gegen die ganze Bande angehen.« »Die Geschwindigkeit des Handelns entscheidet«, lehnte Sun Koh ab. »Sie gefährden sich vorläufig unnötig. Vielleicht erweist es sich auch als nützlich, wenn Sie hier in Reservestellung bleiben. Auf alle Fälle zwingen wir dadurch unsere Gegner, sich zu teilen.« »Na schön, bleiben wir hier«, gab sich van Dyck zufrieden. »Das Nest ist ja nicht groß. Wir werden beobachten, und sobald es knallt, greifen wir mit ein. Aber – seien Sie vorsichtig. Es wäre schade, wenn einem von uns noch etwas passieren würde, nachdem wir uns so weit durchgeschlagen haben.« Sun Koh, Hal und Nimba verließen zusammen mit der leise weinenden Frau die Hütte. Dudinskoje bestand aus einigen Dutzend Häusern und Hütten. Ein Teil davon war stattlich und fest aus Stämmen gefügt und mit allem Zubehör versehen, die meisten aber waren fragwürdige Hütten, die of fenbar nur deshalb standen, weil man sie zur Hälfte in die Erde gesenkt hatte und der überwiegende Rest von Schneemauern umgeben war. 175
Die festen Bauten stellten das alte, friedliche Du dinka dar, die neuen bis auf die gutgebauten Kneipen und das Haus des Pristaws das neue, berüchtigte Du dinka, in dem die Mammutjäger und die Sucher des Mammutgoldes hausten. Trotz aller klimatischen und landschaftlichen Verschiedenheit machte dieser Ort den gleichen kulturlosen, flüchtigen und abstoßenden Eindruck wie jene berüchtigten Lager, die sich in anderen Weltgegenden die Goldgräber geschaffen hatten. Die Ähnlichkeit lag vor allem in einer gewissen Atmosphäre, die über der Ortschaft lag. Diese wie derum wurde hauptsächlich durch die Kneipen und ihre unmittelbare Umgebung bestimmt. Man sah keinen Menschen im Freien. Dazu war die Kälte mit rund fünfzig Grad auch zu hoch. Doch aus den Kneipen, die sich fast genau gege nüberlagen, drang typischer Lärm. Ein Grammophon dudelte mißtönig, Männerstimmen brüllten, Frauen lachten kreischend. Dazu drangen noch der charakte ristische Gestank von Schnaps, Tabak und Speisen sowie der Geruch von ungepflegten Menschen ins Freie. Drinnen, hinter den sicher gutgedichteten Tü ren, mußte eine entsetzliche Luft sein. Larjat lag unweit der Kneipe an der Rückwand ei ner Hütte. Sun Koh untersuchte ihn. Der arme Kerl war von vorn erschossen worden. Der Schuß hatte ihn ins Herz getroffen. Es handelte sich einwandfrei 176
um Mord. Larjat hatte vorhin nur ein Messer am Gürtel gehabt und trug es jetzt noch dort. Ein Angriff seinerseits schied also aus. »Pupow«, murmelte Sun Koh düster vor sich hin. Wie von ungefähr kam ein Mann herangeschlen dert, von dem man nicht viel mehr als einen mächti gen Vollbart sah. Er blieb bei der Gruppe stehen, nickte zu dem Toten hinunter und blickte dann auf Sun Koh. »Hm«, knarrte er in tiefem Baß, »gehören Sie zu den Fremden, die in Larjats Haus wohnen?« Sun Koh bejahte zurückhaltend, und der andere fuhr fort: »Ich würde mich an Ihrer Stelle mächtig in acht nehmen, sonst geht’s Ihnen genauso wie Larjat. Mir schien es vorhin, als ob ich so allerlei gehört hät te, bevor Pupow Larjat über den Haufen schoß.« Der Mann war sicher nicht feindlich gesinnt, Sun Koh fragte daher freundlicher: »Sie waren dabei?« »Das nicht gerade, aber ich befand mich in der Nähe.« »Warum haben Sie nicht eingegriffen?« Der andere hob bedächtig die Schultern. »Es ging verflucht schnell, und Pupow hat es nicht vorher erzählt, daß er schießen wollte. Außerdem mische ich mich grundsätzlich nicht in anderer Leute Angelegenheiten ein, zumal, wenn ich schlechter schieße als die anderen. Ich hoffe, Sie verstehen das.« 177
Sun Koh enthielt sich seines Urteils. »Warum hat Pupow diesen Mann ermordet?« »Er warf ihm vor, daß er Sie in seinem Haus auf genommen habe. Pupow stand auf dem Standpunkt, daß Sie ein bißchen im Schnee erfrieren könnten. Und dann verbot er Larjat, Schlitten und Rentiere für Sie zu besorgen. Als sich Larjat nicht darauf einließ, setzte Pupow eben seinen Willen auf diese Weise durch.« »Wissen Sie, wo er sich jetzt aufhält?« Der Vollbärtige machte eine Bewegung mit dem Kopf. »Wahrscheinlich dort drüben in der Kneipe. Und wenn er dort nicht sitzt, wird er wohl zu Hause sein. Es ist das große Haus, das fünfte von der Kneipe weg drüben auf der anderen Seite. Aber ich rate Ihnen, lassen Sie die Finger von ihm. Er läßt sich keine Vorhaltungen machen.« »Ich werde ihm trotzdem einiges sagen«, meinte Sun Koh und gab seinen Begleitern einen Wink. Sie gingen zur nächsten Kneipe. Es war eine fürchterliche Luft, die ihnen entgegen schlug, als sie die Tür öffneten. Die Männer hier schienen sich aber trotzdem recht wohl zu fühlen. Es war unerfindlich, wie einem Menschen dieser Ge stank von Tabak, Machorka und billigem Branntwein besser behagen konnte, als die kristallklare Reinheit der Luft außerhalb der Kneipe. 178
Die Kneipe bestand aus einem einzigen großen Raum. Nebenzimmer gab es nicht. Sun Koh über prüfte flüchtig die Gesichter. Pupow war nicht unter den Männern: Also verließ er, bevor die irgend etwas gemerkt hatten, die Kneipe wieder. Die andere Kneipe war nur eine zweite, vollkom men ähnliche Ausgabe der ersten. Auch in ihr befand sich Pupow nicht. Sie gingen jetzt zu seinem Wohnhaus. Die Tür war wie üblich nicht verschlossen, so daß ihr Eintritt die vier Männer in Pupows Wohnraum ziemlich über raschte. Pupow selbst ließ das Schnapsglas, das er eben zum Mund führen wollte, fallen, sprang auf und griff mit der rechten Hand zur Hüfte. In dieser Stellung verharrte er, da Sun Koh durch nichts die Absicht verriet, seine Pistole zu ziehen. Die drei, die Pupow Gesellschaft leisteten, erho ben sich ebenfalls und nahmen abwehrbereite Hal tungen ein. Hal Mervin schloß die Tür. »Pupow!« sagte Sun Koh kalt. »Sie haben Larjat ermordet?« Pupow fühlte sich als Herr der Lage. »Was fällt Ihnen ein, hier einfach hereinzukom men?« entrüstete er sich. Man merkte ihm aber an, daß seine Entrüstung nicht echt war. Er grinste dabei. »Sie haben Larjat ermordet?« fragte Sun Koh noch 179
einmal hart. Jetzt konnte es keinen Zweifel mehr geben, daß Pupow sich belustigte. »Und wenn?« höhnte er. »Was fällt dem Bastard ein, gegen mich aufzumucken? Aber es ist wirklich nett von Ihnen, hierherzukommen. Besser konnten Sie es wahrhaftig nicht einrichten. Sie haben wohl nichts dagegen, wenn ich mich gegen Überfälle ver teidige und Sie in Notwehr niederschieße? Da braucht sich selbst Genosse Volkskommissar kein unruhiges Gewissen darüber zu machen.« Sun Koh lachte ihm ins Gesicht. »Sie müssen uns für geistig minderwertig halten, Pupow. Wir sind nicht gekommen, um eine so ausge zeichnete Gelegenheit Ihnen zu geben, sondern uns. Halten Sie uns wirklich für so harmlos, zu vermuten, daß wir nur Worte mit Ihnen wechseln wollen?« Pupows Gesicht wurde finsterer. »Was soll das Geschwätz?« »Nur dies eine«, erwiderte Sun Koh mit Be stimmtheit. »Jeder von uns dreien ist ein hervorra gender Kunstschütze. Bevor Sie oder einer Ihrer Freunde dazu kommen, die Waffe zu ziehen, haben Sie selbst eine Kugel im Bauch. Sehen Sie, so – kei ne Bewegung!« Pupow war noch beim allmählichen Begreifen, als er schon Sun Kohs Waffe auf sich gerichtet sah. Und die anderen blickten in die Mündungen von Hals und 180
Nimbas Pistolen. Die vier standen steif und wagten keinen Finger zu rühren. Sie waren sehr blaß geworden. Sun Koh ging langsam an Pupow heran. »Stellen Sie sich vor«, sagte er langsam, »aus die ser Mündung wird die Kugel schießen und durch Ih ren Pelz hindurch in Ihr Herz schlagen. Stellen Sie sich das vor, Pupow, vielleicht begreifen Sie dann einmal, wie Ihren Opfern zumute gewesen ist. Neh men wir an, daß Sie noch drei Sekunden zu leben haben, drei Sekunden, Pupow, dann…« Pupow ächzte. »Verdammt, ich habe Ihnen nichts getan!« »Nichts?« »Äh«, preßte der Russe mühsam heraus, »es war doch nur ein Scherz und…« »Larjat ist an einem solchen Scherz gestorben«, gab Sun Koh unerbittlich zurück. Er war so weit an Pupow herangekommen, daß er ihm die Waffe auf die Brust setzen und ihm mit der freien Hand den Gürtel leeren konnte. Hal und Nim ba zögerten nicht, dies gleichzeitig bei den andern zu tun. Sun Koh trat zurück und fuhr fort: »Aber gut, Pu pow, lassen wir Sie am Leben. Der Tod ist nicht im mer die härteste Strafe. Halunken Ihrer Sorte verdie nen Prügel. Treten Sie vor, Pupow, wir wollen ein bißchen miteinander kämpfen.« 181
Pupow traute dem Vorschlag nicht. »Pah«, rief er, »Sie mit der Waffe und ich…« »Beide ohne Waffen«, unterbrach Sun Koh. »Und wenn ich Sie verprügele, dann schießen mich die andern nieder, was?« »Meine Begleiter werden sich auf keinen Fall einmischen.« Sun Koh gab seine Waffen an Hal. Pupow witterte nun doch Morgenluft. Er kam hinter seinem Tisch hervor und reckte seinen starken Körper. Unterlegen fühlte er sich auf keinen Fall. Er hielt sich für stärker als Sun Koh. Die nächsten Minuten überzeugten ihn völlig vom Gegenteil. Sun Koh schlug ihn dank seiner überlege nen Boxkunst erbarmungslos zusammen. Er züchtig te den Verbrecher, wie er es verdiente. Als Pupow stöhnend am Boden lag, nahm Sun Koh seine Waffen wieder an sich. »So«, sagte er drohend zu dem Geschlagenen und seinen Spießgesellen, »nun gebe ich euch zwei Stun den Zeit, um Dudinka für immer zu verlassen. Hütet euch davor, daß ich einen von euch nach diesem Zeitpunkt noch hier antreffe.« Sie verließen damit Pupows Haus. »Glauben Sie wirklich, daß er verschwinden wird?« erkundigte sich Hal. »Ich hoffe, daß meine etwas theatralische Drohung genügend wirkt. Menschen von Pupows Schlag sind 182
dafür ebenso empfänglich wie für Prügel. Es kann allerdings auch sein, daß er noch einmal eine Karte auszuspielen versucht. Aber das wollen wir getrost abwarten.« »Ein bißchen Frechheit wäre ihm schon noch zu wünschen«, brummte Nimba blutdürstig. »Was der Kerl auf dem Gewissen hat, ist nicht durch eine Tracht Prügel ausgeglichen.« * Pupow reiste nicht ab. Nach einer Stunde spürte van Dyck, der vor dem Haus stand, einen harten Schlag am Arm, dem der Knall eines Schusses folgte. Darauf verschwand er klugerweise im Innern des Hauses. Man hatte mit einem Gewehr auf ihn geschossen. Die Wunde war eine ungefährliche Fleischwunde. Sun Koh wollte nicht das Leben seiner Kameraden unnütz gefährden und stellte nun einen Beobach tungsposten auf dem Dachboden des Hauses auf und ließ ihn durch schnell geschaffene Lücken die Um gebung überwachen. Die Meldungen, die von oben kamen, klangen bald wenig erfreulich. Mindestens zwei Dutzend be waffnete Männer zogen sich um das Haus herum zu sammen, die Hälfte davon konnte mit den Gewehren den Eingang bestreichen. 183
»Wir wollen ihnen das Vergnügen einstweilen las sen«, beschwichtigte Sun Koh die aufbrandende Er regung. »Es nützt ihnen nicht viel, wenn sie draußen herumstehen. Und wenn sie die Schneewälle be schießen, können sie auch nicht viel Schaden anrich ten.« »Deswegen strengen sie sich sicher nicht an«, meinte Hal. »Der Pupow hat eine Teufelei ausge heckt.« »Sicher«, stimmten verschiedene Männer zu. Nach einer Weile meldete Nimba von oben: »Die beiden Soldaten kommen, die Leibgarde vom Pri staw.« Da. klopfte es schon. Sun Koh ließ die anderen zur Seite treten und stieß die Tür auf. Die erwarteten Schüsse blieben aus, die beiden Soldaten traten ein. »Sie sollen alle zum Kommissar kommen«, brummte der eine mürrisch. »Warum?« »Was weiß ich? Sie sollen aber recht bald kom men, alle zusammen. Es ist sehr wichtig.« »Das ist keine Teufelei, sondern eine Dummheit«, rief Brook gereizt. »Man will uns herauslocken, damit man uns in al ler Ruhe abknallen kann«, schimpfte Smith. »Blöde Einfälle«, kommentierte Hal. Sun Koh wies den beiden Soldaten die Tür. »Geht. Bestellt eurem Kommissar, daß er sich 184
selbst herbemühen soll, wenn er etwas von uns will. Und sagt ihm, daß es besser für ihn wäre, wenn er die Leute festnimmt, die sich um dieses Haus herum treiben.« Die Soldaten gingen. Keiner von den Männern nahm ernstlich an, daß sich der Pristaw bemühen würde. Sie waren daher alle überrascht, als Nimba nach einer Viertelstunde meldete: »Ein einzelner Mann kommt. Ich glaube, es ist der Pristaw. Genaues kann man noch nicht sehen, es hat zu schneien begonnen.« Es war der Pristaw. Er schüttelte sich den Schnee herunter und räus perte sich nachdrücklich, bevor er loslegte: »Was fällt Ihnen ein, meine Befehle so zu mißachten? Ich bin der zuständige Ortskommissar. Sie haben sich meinen Anordnungen zu fügen. Bei mir sitzen einige Samojeden, die gegen den Händler Pupow Klage er hoben haben. Sie wollten das doch ebenfalls tun. Ich habe es mit Pupow satt und werde ihn bestrafen, aber wenn keine Anklage gegen ihn vorliegt, kann ich na türlich auch nichts unternehmen. Sie wollen sich über ihn beschweren, und dabei haben Sie nicht ein mal so viel Zeit, daß ich ein Protokoll aufnehmen kann. Wie denken Sie sich das, he?« »Ich denke«, erwiderte Sun Koh gelassen, »daß es besser ist, Ihren Anordnungen nicht nachzukommen, als beim Verlassen des Hauses niedergeschossen zu 185
werden. Sie wissen doch, daß draußen zwei Dutzend Männer nur auf den Augenblick warten, in dem wir aus dem Haus treten?« Der Pristaw tat sehr erstaunt. »Was? Wieso? Wer hat Ihnen denn dieses Mär chen erzählt? Glauben Sie denn, daß sich jemand in dieses Schneetreiben hinausstellt? Draußen befindet sich kein Mensch. Ich bin doch hergekommen und habe nichts bemerkt.« »Wahrscheinlich haben Sie beide Augen zuge drückt!« höhnte van Dyck. »Dann sind wir besser unterrichtet als Sie«, stellte Sun Koh fest. »Und wir sind überzeugt davon, daß Sie nur gekommen sind, um uns in Pupows Auftrag herauszulocken.« »Das ist eine Beleidigung«, schimpfte der andere. »Ich befehle Ihnen mitzukommen und…« »Bitte, befehlen Sie draußen«, bat Sun Koh und drehte ihn herum. Der Pristaw drückte wütend die Tür auf. »Das werden Sie bereu…« Er vollendete nicht, sondern ruckte mit den Armen hoch, drehte sich herum und wollte lang hinschlagen. Der gedämpfte Knall eines Schusses schlug an die Ohren der Männer. Sun Koh fing den Stürzenden auf und zog ihn aus der Wolke stiebenden Schnees wieder ins Zimmer. Brendel sprang schnell vor und schlug die Tür zu. 186
»Jetzt haben Sie mich…«, murmelte der Pristaw verwundert und starb. Zufall oder Absicht? Es ließ sich schwer sagen, ob ein Schütze voreilig und irrtümlich gehandelt hatte oder ob Pupow durch diesen Schuß einen bestimmten Zweck erreichen wollte. Der Pristaw war jedenfalls tot. Draußen rührte sich nichts. »Es ist nichts mehr zu erkennen«, gab Nimba nach einer Weile neuen Bescheid. »Der Schnee fällt zu dicht.« »Also warten wir weiter ab«, bestimmte Sun Koh. »Wenn sich das Flugzeug meldet, ist es immer noch Zeit, durch eine etwa vorhandene Sperre durchzubre chen.« Den Männer stand der Sinn mehr nach Kampf als nach Schlaf, da sich aber nichts Neues ereignete, leg ten sich die meisten doch nieder und schliefen ein. * Über der unendlichen flachen Tundra stob der Schnee in gewaltigen Wolken und verhüllte Himmel wie Erde, soweit die Polarnacht sie nicht schon in eins verschmolzen hatte. Da kamen aus dem Norden und Osten Schatten durch das stiebende dichte Weiß herangehuscht. Die Samojedenschlitten. 187
Auf dem vordersten stand Olaschka, der Samoje de, dessen Jurte die Mammutjäger erst vor Tagen ausgeraubt hatten. Wie ein aufgerichteter Bär stand er auf dem gleitenden Schlitten, eingehüllt in seinen Sackpelz, an dem hinten am Hals die grellroten Bän der flatterten. »Ho«, rief er und stieß dem unsicher werdenden Leittier die lange Stange gegen den Hals. »Ho, lauf!« Zwölf Rentiere senkten die Köpfe und liefen über das Schneefeld der Tundra. Und hinter Olaschkas Schlitten tauchten andere auf, zwei, drei und immer mehr. Und auf allen hock ten die Männer, die sich sonst nur sahen, wenn der Jenissei aufgebrochen war und den Frühling nach Norden brachte, wenn die leise schaukelnden Kähne in einer langen Reihe lagen und fröhlicher Lärm tob te. Sie saßen stumm, hielten ihre Hände über den verhüllten Gewehren und starrten düster in die Rich tung, in der Dudinka lag. Alle waren sie gekommen, die Olaschka hatte ru fen lassen. Da waren Männer, die sich von andern beschenken lassen mußten, weil die Mammutjäger ihnen alles geraubt hatten. Da waren Männer, die ih re Frauen und Kinder tot vorgefunden hatten, als sie zur Jurte zurückgekehrt waren. Und andere waren da, die vom Pristaw und seinen Leuten halb totgeschla gen worden waren, weil sie es gewagt hatten, sich zu beschweren. 188
Alle hatten sich eingefunden, und in allen brannte ein großer Haß gegen die Männer, die in Dudinka hausten. »Ho!« murmelte Olaschka und zog die Riemen an, als er die Nähe von Dudinka ahnte. »Ho!« brummten die anderen und hielten ihre Schlitten neben dem seinen an. Die Rentiere legten sich in den Schnee. Sie waren es gewohnt zu ruhen, wenn ihre Herren von den Schlitten abstiegen. Die Männer versammelten sich zu einem Haufen. Über vierzig waren es, eine stattliche Ansammlung, von der man noch oft reden würde. Olaschka gab letzte Anweisungen, dann teilte sich der Haufen in drei Abteilungen. Alle drei rückten sie auf die Stelle zu, wo sich der Schnee auf den Dä chern von Dudinka wölbte. Graue Schatten im Schneegestöber. Dann flackerten Schüsse auf und reihten sich un ruhig aneinander, bald dumpf, bald grell. Die Samojeden nahmen Rache. Nach einer knappen halben Stunde kamen sie zu rückgetrottet. Manche trugen Verwundete und Tote mit sich. Viele waren es nicht, denn in Dudinka hatte niemand mit einem derartigen Überfall gerechnet, und die Samojeden hatten geschossen, ohne erst jemand viel Zeit zu lassen. Und die Nacht im Schneegestöber machte ihre Augen so blind wie die ihrer Feinde. 189
Die Männer in Larjats Hütte hörten die Schüsse in Dudinka, manche sogar in unmittelbarer Nähe. Sie fan den schnell heraus, daß dieser Kampf sie nichts anging. Später wurde es wieder laut in Dudinka. Hier und dort tauchten Männer auf, die ihre Waffen schußbereit hielten, aber hofften, sie nicht gebrauchen zu müssen. Pupow und seine Anhänger ebenso eine andere geschlossene Bande von Mammutjägern, die beiden Soldaten des Pristaws sowie verschiedene andere Leute wurden als Tote aufgefunden. Die Samojeden hatten sich hart gerächt. »Man kann diese armen Kerle schon verstehen«, sagte Sun Koh später zu Hal. »Ich fürchte nur, dieser Gewaltstreich wird ihnen auf die Dauer auch nichts nützen. Andere werden kommen und an die Stelle derer treten, die getötet wurden.« »Das Mammutgold, nicht wahr?« »Ja. Wenn die Gier sogar stärker ist als diese le bensfeindliche Natur, wird sie vor der Abwehr dieser schwachen Völker nicht zurückschrecken.« Einige Stunden später saßen die sieben Kameraden der Polarwanderung in einem durchwärmten Flug zeug, das sie nach Süden trug. 8. Wenige Tage später saß Sun Koh Dr. Heversham gegenüber, jenem Landarzt, der die beiden nach 190
Schottland verschlagenen Polarfahrer behandelt hat te. Dr. Heversham war ein derber, aber gescheiter und gutmütiger Mann, dessen Gesicht im Augenblick allerdings Mißtrauen zeigte. Sun Koh durchschaute ihn und lächelte ihn freund lich an. »Bitte, werfen Sie mich noch nicht hinaus. Ich bin nämlich der Mann, den Sie bisher vermißt haben. Ich kann Ihnen die Fragen beantworten, die Sie auf dem Herzen haben.« »Was haben Sie mit der Geschichte zu tun?« »Mir gehört zum Beispiel das Flugzeug, das die beiden Männer hierherbrachte.« »Was?« rief der Arzt erstaunt. »Ja, dann – aber…« Sun Koh befriedigte seine Neugier und gab ihm einen Abriß von allem, was sich ereignet hatte. Der Arzt hörte ihm gespannt zu und hielt ihm schließlich die Hand hin. »So ist das also. Entschuldigen Sie, daß ich Sie so abweisend behandelt habe. Jetzt verstehe ich natür lich, wie das alles zusammenhängt. Aber sollte man nicht diesen Kerlen die Polizei auf den Hals schik ken?« Sun Koh schüttelte den Kopf. »Es wäre besser, man könnte auf die Hilfe der Öf fentlichkeit verzichten. Sie müssen sich in die Lage eines Mannes wie Mallin oder Patson versetzen. Sie werden durch die Zeitungen wahrscheinlich erfahren, 191
daß wir zurückgekehrt sind, daß also ihr Spiel aufge deckt ist. Sie haben nun Miß Bardeny in ihrer Ge walt. Mallin will sie heiraten. Er ist ein Gelegen heitsverbrecher und wird sich kaum etwas anderes wünschen, als seinen Raub irgendwo friedlich genie ßen zu können. Solange man ihm Spielraum läßt, be steht die Hoffnung, daß er seine Absichten gegen Miß Bardeny nicht zum Äußersten treibt und den Ausweg in ein bürgerliches Dasein offenhält. Wird er aber von der Polizei der ganzen Welt gesucht, dann wird die Angst vor Entdeckung größer werden als die Furcht vor dem schwersten Verbrechen. Er weiß dann, daß eine Ehe mit Miß Bardeny nicht mehr möglich sein wird, da durch das junge Mädchen die Polizei leicht auf ihn aufmerksam werden kann. Er wird sie daher seiner Sicherheit opfern. Wenn ich eine Spur der Verschwundenen finden kann, werde ich die Leute stellen. Finde ich keinen Hinweis, wird mir allerdings nichts übrigbleiben, als die Polizei der ganzen Welt zu alarmieren.« »Tja«, brummte Dr. Heversham besorgt, »das sieht ja schlimm aus. Ich glaube nicht, daß Sie hier einen Hinweis finden. Miß Bardeny war bei mir. Sie hat sich mit Bergson und Rimper unterhalten und ist dann gegangen, um Mallin zu holen. Mallin ist später allein gekommen und hat die beiden gleich mitge nommen, weil er im Flugzeug mit ihnen wichtige Dinge besprechen wollte. Aber keiner von beiden hat 192
mir einen Ton verraten, wohin die Reise gehen soll te.« »Sie haben auch keine Andeutung gemacht?« »Nichts, leider gar nichts. Aber warten Sie, ich will Ihnen unseren Schäfer holen, vielleicht kann der Ihnen mehr sagen.« »Was hat er mit der Angelegenheit, zu tun?« »Er hat an dem bewußten Tag hinter einem Busch gelegen, auf dessen Seite zwei Männer ein merkwür diges Gespräch miteinander geführt haben. Die bei den können nur Mallin und Patson gewesen sein, denn der Schäfer nannte diese Namen. Er mischte sich ein, weil ihm die beiden nicht geheuer vorka men, und wurde von einem niedergeschlagen. Wenn Sie Lust haben, gehen wir ein Stück hinaus. Das Wetter ist schön, da wird er seine Herde hinausge trieben haben.« Wenig später wanderten die beiden Männer ins Freie. Sie fanden den Schäfer hinter einem Hang, über dessen kurzgefressenes Gras kühl der Herbst wind strich. »Tja, Sir«, grunzte der grauhaarige Alte, der wie ein verwitterter Baumstamm in der Landschaft stand, nachdem Dr. Heversham Sun Kohs Wünsche vorge tragen hatte, »Sie wollen gern wissen, worüber sich die beiden Männer unterhalten haben, die ich be lauschte?« »Ja.« 193
Der Schäfer nickte einige Male bedächtig. »Nun, es waren zwei Lumpen, und ihr Gespräch paßte zu ihnen. Sie hatten sich offenbar gerade zufäl lig getroffen, denn sie konnten es noch gar nicht fas sen, daß sie sich hier begegnet waren. Der eine war voller Angst. Der andere tat sehr überlegen und droh te mit der Polizei, bis der erste gestanden hatte, daß er in einem Flugzeug ausgerissen war und seine Ka meraden im Stich gelassen hatte. Nur die beiden, die bei Ihnen wohnten, Dr. Heversham, wollte er hier hergebracht haben. Darauf wurde der andere freund licher und verriet, daß er eigentlich nichts dagegen habe, daß ein gewisser Bardeny nicht zurückkehrte. Die beiden redeten hin und her. Ich habe nicht alles verstehen können, weil sie mit einem ausländischen Akzent sprachen. Jedenfalls lief alles darauf hinaus, daß der zweite, der Mallin genannt wurde, den ande ren in seinen Dienst nahm, um ein junges Mädchen zu entführen, das Mallin zu seiner Frau machen woll te. Und die beiden Fremden, die bei Ihnen wohnten, sollten auch mit weggeschafft werden. Als mir die Sache zu bunt wurde, mischte ich mich ein. Die Ker le waren sehr erschrocken, aber sie faßten sich schnell. Einer von ihnen schlug mir über den Kopf, während ich ihnen noch meine Meinung sagte, so daß ich umfiel und ein paar Stunden liegenblieb.« Sun Koh konnte aus diesem allgemeinen Bericht nicht viel entnehmen. 194
»Sie haben also fast das ganze Gespräch der bei den gehört?« »Ja.« »Ich müßte Sie bitten, es mir möglichst wortgetreu in allen Einzelheiten zu wiederholen, aber vielleicht können Sie mir schon jetzt die entscheidende Frage beantworten. Haben die beiden darüber gesprochen, wohin sie fahren wollten? Haben sie irgendeinen Ort oder ein Land genannt, das ihr Ziel sein sollte? Bitte, überlegen Sie genau, von Ihrer Auskunft hängen Menschenleben ab.« Der Schäfer strich sich über den Bart. »Ja, die beiden haben über ihr Ziel gesprochen. Jener Mallin fragte den anderen, der Patson hieß, ob er nicht einen Fleck wüßte, auf dem man einige Mo nate ungestört leben könne. Patson bejahte und schlug vor, zu einer der kleinen Galapagosinseln zu fahren. Dorthin komme nach dem damaligen Ein siedler-Spuk so leicht kein Mensch mehr. Mallin zeigte sich einverstanden. Ich glaube, Sie müssen die beiden dort suchen, wenn ich auch nicht weiß, wo diese Inseln liegen.« Sun Koh atmete auf. Er reichte dem Alten die Hand. »Ich danke Ihnen. Sie haben uns wirklich gehol fen.« Bereits eine Viertelstunde später gab Nimba dem Flugzeug Kurs nach Westen. 195
»Galapagosinseln?« fragte Hal Mervin, nachdem er von der Auskunft des Schäfers erfahren hatte. »Rund tausend Kilometer westlich von Quito und fast genau unter dem Äquator. Die Gruppe umfaßt eine Hauptinsel Albemarle, einige mittelgroße Inseln und mindestens ein halbes Dutzend kleiner Inseln. Sie sind alle unbewohnt. Vor Jahren hatten sich dort einmal verschiedene Leute als Einsiedler niederge lassen und den Inseln durch eine Reihe nie ganz ge klärter Ereignisse zu einem traurigen Ruhm verhol fen. Heute sind sie so verödet wie Jahrhunderte vor her.« »Sie hoffen, Mallin dort zu finden?« »Ich hoffe es«, erwiderte Sun Koh ernst. * Ellinor Bardeny lebte auf einer winzigen Insel. Ein niedriger Felskegel ragte aus dem Wasser, der von einem hellen Uferstreifen umgeben war. Der Berg war bewaldet, zwischen den Stämmen rann ein schmaler Wasserstreifen abwärts ins Meer. Ringsum dehnte sich das Meer. Am Horizont standen benach barte Inseln als dunkle Flecke. Als sie nach der Landung zu dritt nebeneinander im Sand standen, sprach Patson das junge Mädchen an. »So, Miß Bardeny, das ist Ihr zukünftiger Aufent halt. Übermäßig erfreulich ist es hier nicht. Sehen Sie 196
zu, daß Sie mit Mallin bald ins reine kommen, damit Sie nicht zu lange hier zu sein brauchen. Ich habe keine Lust, hier zu versauern.« »Ich habe Sie nicht veranlaßt hierherzufahren«, wehrte sie kühl ab. »Gibt es denn hier zu essen?« »Konserven. Ich habe eine ganze Menge mit, mußte schon einige Wochen auf ähnliche Weise le ben wie jetzt. Auch ein Zelt habe ich da, das sollen Sie einstweilen haben. Wahrscheinlich werden Sie aber lieber im Freien schlafen, es ist verdammt heiß hier.« Die Bemerkung hätte er sich sparen können. Die Sonne stand fast senkrecht am Himmel. Nur die Nä he des Meeres milderte die Hitze etwas. »Sie dürfen aber nicht denken«, ergänzte Mallin, »daß wir Ihnen hier für dauernd einen Ferienaufent halt bieten. Wenn Sie sich nicht fügen, werden Sie eines Tages ganz allein auf der Insel sein und von dem leben, was da an den Bäumen wächst, wenn Sie nicht gerade Fische fangen wollen.« Sie schwieg. »Noch eins«, begann Patson wieder. »Können Sie zufällig ein Flugzeug bedienen?« »Nein«, log sie ohne Bedenken, »ich habe es nie richtig gelernt.« »Sie haben den Pilotenschein«, widersprach Mallin. »Aber mein Vater hat mir verboten zu fliegen, weil ich es doch nie richtig lernen werde.« 197
»Hm«, brummte Patson, »auf alle Fälle empfehle ich Ihnen, nicht zu dicht an das Flugzeug heranzuge hen, sonst können Sie was erleben.« »Haben Sie Angst, daß ich wegfliegen könnte? Mit nem derartigen Flugzeug weiß ich überhaupt nicht Bescheid.« »Besser ist besser«, erwiderte er unfreundlich. »Es kam mir so vor, als ob Sie während des Fluges höl lisch auf meine Finger gesehen hätten. Also nehmen Sie sich in acht!« Sie drehte den beiden den Rücken zu und ging am Strand entlang. Die Männer schlugen ein kleines Zelt am Rand des Waldes auf und riefen sie später zum Essen. Sonst ereignete sich an diesem Tag nichts weiter. Ellinor Bardeny blieb vor dem Zelt sitzen, bis es dunkel wurde. Mallin und Patson hockten rauchend ein Stück seitwärts und unterhielten sich gelegentlich. Auch der nächste Tag verlief bis zum jähen Hinab tauchen der Sonne in das Meer ohne jedes nennens werte Geschehen. Es war grenzenlos langweilig, da zusitzen und in die flimmernde Luft zwischen Meer und Sonne zu starren. Nach der Abendmahlzeit erkundigte sich Mallin ungeduldig und spöttisch, wie ihr der Aufenthalt ge falle und ob sie sich nicht endlich dafür entschieden habe, freiwillig seine Frau zu werden. Als sie ver neinte, wurde er zudringlich. Sie schlug ihm ins Ge 198
sicht. Als er voller Wut zugreifen wollte, riß ihn Pat son zurück und knurrte ihn grob an: »Lassen Sie das Mädchen in Ruhe, Mallin!« Mallin war so bestürzt und fassungslos, daß er ei ne ganze Weile brauchte, bevor er fauchen konnte: »Was fällt Ihnen ein, sich in meine Angelegenheiten zu mischen? Was ich mit Miß Bardeny abzumachen habe, geht Sie nichts an!« »Doch, eine ganze Masse«, widersprach Patson überlegen. »Erstens bin ich in der Nähe, und zwei tens wäre es mir eine Menge wert, wenn sie sich auch so vernünftig zeigen würde.« »Sie wird überhaupt nicht vernünftig«, schimpfte Mallin. »Die hat einen Starrkopf und denkt nicht dar an, mich zu heiraten. Man muß ihr zeigen, wer der Herr ist.« Patson wippte breitbeinig hin und her. »Na, wenn schon, das heißt noch lange nicht, daß Sie das sein müssen. Verstanden?« »Unsinn«, murmelte Mallin, führte die Auseinan dersetzung aber nicht weiter. Der Zwischenfall war nur der Auftakt für alles, was sich in den nächsten Tagen abspielte. Mallin und Patson waren über Nacht Gegner geworden. Zwi schen ihnen stand Ellinor Bardeny. Sobald Mallin eine Annäherung versuchte, mischte sich Patson ein. Er tat es nicht aus allgemeiner Menschenliebe, son dern weil er seine eigenen Ziele zu erreichen hoffte. 199
Sobald er aber einen Schritt näher kam, war auch Mallin zur Stelle. Die beiden Männer machten sich gegenseitig Vorwürfe und beschimpften sich in allen Tonarten. Mit jedem Tag wurden die Auseinandersetzungen schärfer und spitzten sich zu. Sie begannen, sich gegenseitig zu belauern. Jeder wartete auf eine günstige Gelegenheit, um den an dern aus dem Weg zu räumen. Aber es war auch je der vorsichtig genug, um sich keine Blöße zu geben. Der Streit war zunächst um das Mädchen ent brannt, aber sie wurde bald überhaupt nicht mehr be achtet. Die beiden Männer hätten genug damit zu tun, sich gegenseitig im Auge zu behalten. Ellinor Bardeny blieb den ganzen Tag über unbehelligt. Das erklärte sich allerdings auch darin, daß zwischen Pat son und Mallin ein anderes Streitobjekt auftauchte, das beiden wichtiger wurde als Ellinor Bardeny. Es handelte sich um Geld. Patson besaß nichts, Mallin hingegen ein großes Vermögen. Da er in den ersten Tagen aus seiner erfolgreichen Gaunerei kein Hehl gemacht hatte, wußte Patson genau Bescheid. Er kannte sogar die Bank, bei der das Geld lag, und Mallins Decknamen. Er forderte die Hälfte. Mallin lachte ihn wütend aus, worauf Patson ebenso wütend schwor, sie würden alle so lange auf der Insel blei ben, bis er sein Geld in der Tasche habe. Später machte Mallin Zugeständnisse. Er versprach Patson 200
den halben Anteil, wenn er ihn zurückbringe. Patson mißtraute und forderte sofort einen Scheck, damit er seinen Anteil abheben könne, worauf er dann Mallin abholen wolle. Darauf ging Mallin wieder begreifli cherweise nicht ein. So blieb es bei dem schrecklichen Hin und Her, das von Tag zu Tag bedrohlichere Formen annahm und sogar während der Nacht nicht zur Ruhe kam. Jeder der beiden bewachte auch während der Nacht sich selbst, das Mädchen und das Flugzeug, weil er eine entscheidende Handlung des andern fürchtete. Die Folge war, daß sie sich immer mehr überreizten. Dabei gingen die mitgebrachten Konserven, von de nen alle drei lebten, allmählich dem Ende zu. Ellinor Bardeny wußte nicht, wie das enden sollte. Sie bemühte sich in all den Tagen, an das Flugzeug heranzukommen. Saß sie einmal allein drin, würde sie einfach abfliegen. Wie man die Maschine zum Fliegen brachte, hatte sie verstanden. Aber die stän dige Wachsamkeit der beiden Männer ließ alle ihre Versuche scheitern. Dann kam die Nacht, in der die Erde bebte. Sie erwachten von den heftigen Schwankungen und stürzten voller Schreck zum Strand hinunter auf das Flugzeug zu. Wenige Meter davon rangen die beiden Männer erbittert miteinander, wobei sie wütende Ausrufe ausstießen, aus denen Ellinor Bardeny ent nahm, daß Patson vor dem Erdbeben fliehen wollte 201
und Mallin ihn zurückhielt. Voll Grauen vor der Naturgewalt, entsetzt über den Streit der Männer und vor Angst zitternd, daß man sie bemerken könnte, rannte sie zum Flugzeug. In all den Tagen hatte sie sich ausschließlich mit ei ner solchen Gelegenheit beschäftigt, so ausschließ lich, daß sie nun wie unter Zwang handelte. Mit fliegenden Fingern tastete sie in dem schma len Schlitz, in dem der Öffnungshebel saß. Sie fühlte ihn, zwang die Finger gewaltsam zum Druck, die Tür rollte zurück. Das Flugzeug schlingerte unter den Erdstößen hin und her. Jetzt kamen die Wellen vom Meer herange rollt. Sie stemmte den Fuß in den Trittbügel, faßte mit den beiden Händen den Türrahmen rechts und links und zog sich dann hoch. Es kam ihr wie ein Wunder vor, daß sie es fertigbrachte, ganz in die Kabine hi neinzukommen und die Tür hinter sich zu schließen. Sie atmete tief – und schrie vor Schreck auf. Mal lin und Patson ließen voneinander ab, deuteten auf das Flugzeug und kamen angerannt. Man hatte sie bemerkt. Sie hastete nach vorn in den Steuerraum. Jetzt, Himmel, hilf! Diesen Hebel hatte Patson nach links gedrückt, als die Fahrt zur Erde ging. Also rüber nach rechts. Wild summte der Motor auf. 202
Und draußen brüllten die Männer wie die Wahn sinnigen. Ein scharfer Stoß ließ sie gegen die Wand tau meln. War das die Erde, oder versuchten die beiden, das Flugzeug umzuwerfen? Dort war der Hebel, den Patson langsam herunter gedrückt hatte, als er die Maschine landen ließ. Also herauf. Sie knickte in die Knie, so hart stieß das Flugzeug unter ihr nach oben. Halb zusammengerutscht blieb sie sekundenlang zwischen den beiden Pilotensitzen hängen und war unfähig, ein Glied zu rühren. Dann begriff sie, daß sie noch lebte und daß sie flog. Ein Blick zur Seite bestätigte ihre vage Vermu tung. Die Insel lag halb links etwas zurück unter ihr, und das Flugzeug stieg immer höher. Dort am Strand rannten zwei dunkle Gestalten – Mallin und Patson. Sie bekam den Blick nicht wieder los von der In sel. Das Meer schien plötzlich zu wachsen und flute te über die Insel hin. Die beiden Gestalten wurden hochgerissen, weggeschwemmt und gegen den Gip fel des Berges getrieben, der allein noch aus dem Wasser ragte. Ging die Insel unter? *
203
Sun Koh, Hal Mervin und Nimba suchten gleichzei tig von oben her die zweite der kleinen Galapagosin seln ab. »Nichts zu finden«, sagte Hal resigniert. »Das Flugzeug müßten wir schon längst gesehen haben. Im Wald können sie es kaum verstecken.« »Die nächste«, wies Sun Koh an. »Hoffentlich be finden sie sich überhaupt noch auf einer der Inseln.« Die nächste Insel erwies sich als außerordentlich winzig. Sie war einige hundert Quadratmeter groß, mehr nicht. Ein nackter Felskegel blickte ohne Strandübergang aus dem Wasser. »Na, dort sind sie bestimmt nicht drauf«, urteilte Hal, bevor er richtig hingesehen hatte. »Tiefer«, befahl Sun Koh. »Die Insel ist noch vor kurzem größer gewesen, wahrscheinlich hat sie sich infolge eines Bebens gesenkt. Dort sind noch rings um die Kronen von Bäumen dicht über dem Wasser zu sehen.« »Dort flattert ein weißes Tuch«, rief Nimba. »Ein Mensch bewegt sich daneben. Herunter!« »Dort liegt noch einer«, sagte Hal. »Das sieht aber seltsam aus. Hoffentlich sind es nicht unsere Leute, nach denen wir suchen. Von dem Mädchen ist näm lich nichts zu sehen.« Das Flugzeug setzte auf, Sun Koh und Hal spran gen heraus. Ein Mensch kam herangeschwankt. Seine Kleider 204
waren zerfetzt und beschmutzt, die Haare lagen wirr über der Stirn. Das Gesicht war rot verbrannt, zer schunden und verzerrt, die Augen glühten wie die eines Wahnsinnigen. Sun Koh erkannte ihn trotzdem. »Mallin«, sagte er leise. Mallin stolperte, richtete sich wieder auf und kam mit vorgestreckten Händen heran. Seine Lippen formten Worte, die erst zu verstehen waren, als er sich genähert hatte. »Wasser!« bettelte er. »Wasser! Ich verdurste!« Sun Koh wandte etwas den Kopf. »Bring ihm zu trinken, Hal.« Mallin sank dicht vor Sun Koh in die Knie und bet telte weiter um Wasser. Sun Koh trat zur Seite und ging den Hang hinunter. Dort, nicht weit vom Wasser, lag der andere mit dem Gesicht auf dem glühenden Felsen. Es war Patson. Er lebte, aber er war betäubt. An seiner Schläfe klebte geronnenes Blut. Sun Koh nahm ihn auf und kehrte zum Flugzeug zurück. Dort schlug Hal gerade dem gierig nach der Flasche greifenden Mallin auf die Hände und fuhr ihn an: »Nichts da, Sie haben genug getrunken. Sie wollen sich wohl den Tod ansaufen. Wäre nicht schade um solchen Halunken, aber ich denke, wir werden Sie noch brauchen. Pfoten weg!« Mallin sank zusammen. Hal wandte sich an Sun Koh. 205
»Ich habe ihm Wasser mit etwas Kognak gegeben, aber er will immer mehr haben. Ich dachte, die halbe Flasche würde fürs erste genügen.« »Genügt auch. Behalt ihn im Auge, Nimba.« Der Neger nahm den bewußtlosen Patson ins Flug zeug hinein und goß ihm dort Wasser zwischen die Zähne. Sun Koh ging zu Mallin zurück, packte ihn vorn am Kragen und zog ihn hoch. »Hören Sie mich, Mallin?« fragte er. Mallin stierte. »Ja, ich – ich habe Durst.« »Wo ist Miß Bardeny?« »Miß Bardeny?« Mallin suchte in seiner Erinne rung. »Sie ist weggeflogen, mit dem Flugzeug fort.« »Gott sei Dank.« Sun Koh atmete auf. »Wenn das wahr ist und sie einigermaßen bei klarem Verstand geblieben ist, wird sie das Festland erreichen. Wann war das, Mallin?« »Vor vielen Tagen. Geben Sie mir doch zu trin ken, ich habe solchen Durst.« »Sie werden erst meine Fragen beantworten«, lehnte Sun Koh kalt ab. »Was ist mit Patson?« »Er ist verrückt geworden. Der Durst, die Hitze, dann kämpften wir gegeneinander, und er schlug hin. Wasser – oh…« Er wurde schlaff. »Da hat das Schicksal mal einen Kerl richtig beim Genick erwischt«, meinte Hal schadenfroh. »Dieser 206
Lump von Patson hat ein paar Leute im Eis umkom men lassen und hat dafür in der Sonne geschmort und gedurstet, bis er verrückt wurde. Hoffentlich kommt er wieder zu Verstand, damit er auch noch einen Genuß von dem hat, was wir ihm zu erzählen haben. Und diesen Schuft hier ließe ich von mir aus noch ein Weilchen dursten.« »Gib ihm den Rest, den du in der Flasche hast.« Mallin schluckte, obgleich er nicht mehr richtig bei Bewußtsein war. Sie luden ihn ein und flogen weg. Patson begann bald zu toben und um sich zu schlagen, so daß sie ihn fesseln mußten. Er war tatsächlich verrückt gewor den. Immerhin konnten die Männer bereits aus dem, was er herauskeuchte, allerlei Schlüsse auf das zie hen, was sich auf der Insel zugetragen hatte. Später erwachte Mallin wieder. Er bekam wieder etwas zu trinken und dann auch zu essen. Danach schlief er wieder ein. Sie befanden sich schon längst in Yukatan, als er endlich soweit wiederhergestellt war, daß er zusam menhängend reden konnte. Er war völlig zusammen gebrochen und mürbe geworden. Nie machte er den Versuch auszuweichen. Er brachte einfach die Kraft nicht mehr auf, etwas zu wünschen oder zu erhoffen, so sehr hatten ihn die Tage auf der Felseninsel zer brochen. Mit monotoner, leiser Stimme erzählte er und gab auf alle Fragen Antwort. Dann und wann lief 207
ein Schauer über seinen Körper. Es war ein Drama und ein Strafgericht, was sich dort abgespielt hatte. * Die beiden Männer hielten in Wut und Verzweiflung das Flugzeug umklammert. Sie fielen in den Sand zurück, als sich der metallene Vogel mit einem Ruck hob. Ohnmächtig drohten sie ihm nach. Dann kam die Flut, und der Boden versank. Das Wasser hob sie hoch und warf sie zwischen die Bäume, spülte sie weiter in Wirbeln fort und drückte sie schließlich gegen einen Felsen, an den sie sich in letzter Angst anklammerten. Die Insel kam zur Ruhe, das Wasser kam zur Ru he. Durchnäßt und zerschunden kamen sie auf dem nackten Felskegel zur Besinnung. Die Nacht brachte ihnen noch Schlaf, aber dann kam der Morgen. Sie wurden sich bewußt, daß sie nichts besaßen, womit sie sich ernähren konnten. Sie entdeckten, daß es auf diesem Inselrest kein Wasser mehr gab. mit dem sie den schnell ansteigenden Durst löschen konnten. Sie besaßen nicht einmal einen Hut, um sich gegen die stechenden Sonnenstrahlen zu schützen. Sie erkann ten, daß sie mitten im Weltmeer verdursten mußten, wenn nicht von irgendwo Hilfe kam. Da flackerten die Vorwürfe auf. Einer beschuldig 208
te den anderen, die Flucht des jungen Mädchens er möglicht zu haben. Aus den Vorwürfen züngelten wieder Haß und Erbitterung auf und drängten zu Ent ladungen. Vielleicht hätten sie sich gegenseitig ver prügelt, wenn nicht die Hitze zu groß und die Körper zu schnell schlaff geworden wären. Die Hitze! Die Sonne stand Ewigkeiten lang senk recht über den ungedeckten Scheiteln und glühte er barmungslos auf die Körper nieder. Und sie prallte auf den Fels und machte ihn glühend heiß, so daß sie an ihm keine Linderung, sondern nur verschärfte Qual fanden. Und ringsum wogte das Wasser. Sie waren beide unklug genug, sich in das Wasser zu stürzen, um den Sonnengluten zu entgehen. Es milderte für den Au genblick, aber das Salz im Meerwasser zog durch tausend Poren die kostbare Feuchtigkeit aus dem Körper und verschärfte ihren Durst in einer Stunde schneller, als die Sonne das in einem ganzen Tag fer tiggebracht hätte. Der Durst! Mallin keuchte noch in der Erinnerung, wenn er vom Durst sprach. Ihre Lippen wurden trocken, spröde und rissig, die Zunge lag klumpig schwer in mitten klebrigen Schleims, in allen Fibern brannte das Verlangen nach Wasser. Zwei Tage vergingen, doch am dritten Tag kam Patsons Anfall, gerade als die Sonne im Scheitel 209
punkt stand. Er sprang plötzlich auf und stürzte sich mit verzerrter Miene auf Mallin, wobei er Schreie der Wut ausstieß und in seinen Augen der Wahnsinn flackerte. Er wollte Mallin erwürgen, aber dieser wehrte sich. Es kam zu einem grausigen Kampf, der mit den Kräften des Wahnsinns und den Kräften ver zweifelter Todesangst geführt wurde. Ein Zufall ret tete Mallin. Patson kam bei einem neuen Anlauf ins Stolpern, fiel hin und schlug mit dem Kopf gegen den Felsen. Dann rollte er langsam ein Stück ab wärts, um mit dem Gesicht auf der Erde liegenzu bleiben. Und dann kam wenige Stunden später das Flug zeug. * Das war Mallins Bericht. Obgleich die Zuhörer die ses Schicksal als gerechte Strafe empfanden, konnten sie doch ermessen, was drei solche Tage auf der nackten Felseninsel unter dem Äquator bedeuteten. Sun Koh stellte Fragen an Mallin, die sich auf zu rückliegende Ereignisse und seine Absichten bezo gen. Mallin beantwortete sie alle. Er gab auch zu, daß er das Vermögen von Bardeny und seiner Toch ter veruntreut habe, weil er damit rechnen durfte, daß Kapitän Bardeny nicht aus dem Polareis zurückkehr te. Er nannte auch die Bank, bei der er das Geld ver 210
wahrt hatte, und weigerte sich auch nicht, die Abtre tungen und sein ausführliches Schuldbekenntnis zu unterschreiben. »Ich hatte keine bösen Absichten«, murmelte er gelegentlich. »Es kam über mich, und dann kam eins zum anderen.« »Damit können Sie Ihre Schuld nicht verringern«, lehnte Sun Koh kühl ab. »Beten Sie, daß wenigstens Miß Bardeny nichts geschehen ist.« »Ich werde beten«, flüsterte Mallin. Einige Stunden später erhielt Sun Koh die Nach richt, daß Miß Bardeny in New York aufgetaucht sei. Er flog sofort hin und nahm Mallin und Patson gleich mit. Am nächsten Tag stand Sun Koh vor Ellinor Bar deny. Sie führten beide sehr lange Gespräche mitein ander. Sun Koh schilderte ausführlich die Ereignisse auf jener unglücklichen Polarwanderung, später auch das, was er auf der kleinen Galapagosinsel vorgefun den hatte. Ellinor Bardeny erzählte ihrerseits von ih ren Erlebnissen. Sun Koh verabschiedete sich mit der Überzeu gung, daß das junge Mädchen alle tragischen Erei gnisse bald überwinden würde. Der Tod ihres Vaters würde lange schmerzen, sie aber nicht für immer niederdrücken. Und alle sonstigen Ereignisse hatten ihre gesunde Seele nicht gefährlich beeindruckt. Nach Monaten, während derer Patson bereits hin 211
ter den Gittern einer Irrenanstalt lebte, fand alles tra gische Geschehen seinen nüchternen Abschluß in einem bedrückenden Gerichtssaal. Mallin, der alt geworden war, hörte gesenkten Hauptes, daß er seine Untreue und die Entführung mit fünf Jahren Zucht haus abzubüßen habe. Mit dem Zuschlagen der eisernen Tür hinter ihm klappte das Schicksal das Buch, auf das es den Na men des Kapitäns Bardeny verzeichnet hatte, endgül tig zu. ENDE
212
Als SUN KOH-Taschenbuch Band 29 erscheint:
Der Kaiser von Afrika
von Freder van Holk Die Fäden, die der Unbekannte gespannt hat, sind dicht wie ein Spinnennetz. Verräter fangen sich darin ebenso wie die Gegner des Mannes, dessen Ziel es ist, einstmals der Kaiser eines großen afrikanischen Reiches zu werden. In Mozambique hört Sun Koh zum erstenmal von diesem machtbesessenen Mann, der anschei nend gut ist für jedes gemeine Verbrechen. Er scheint die Hand im Spiel zu haben, als die In sassen eines Bootes durch den lautlosen Tod sterben. Er stellt die Falle, in der sich Sun Koh, Hal Mervin und Nimba fangen, und er liefert die Waffen, durch die ein ganzes Volk sterben soll. Doch erst als die junge Evelyn Roth den Fehler begeht Sun Koh auf Schritt und Tritt zu verfol gen, erwacht in dem Erben von Atlantis der Wunsch, den künftigen Kaiser von Afrika ken nenzulernen. Es wird eine unvergeßliche Be gegnung in einem Spiel auf Leben und Tod… Die SUN KOH-Taschenbücher erscheinen vierwöchentlich und sind überall im Zeitschrif ten- und Bahnhofsbuchhandel erhältlich.