Buch Als sich ihre verwitwete Mutter einer Operation unterziehen mu ß, ist Tess McPhail gezwungen, sich der Familienrei...
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Buch Als sich ihre verwitwete Mutter einer Operation unterziehen mu ß, ist Tess McPhail gezwungen, sich der Familienreise zu stellen. Ihre Schwestern Judy und Renee bestehen nämlich darauf, daß sich die . erfolgreiche und berühmte Country-Sängerin für eine Weile aus dem Showbusineß zurückzieht, um ihren Anteil an den töchterlichen Pflichten zu übernehmen. Und Tess ist entschlossen, den Aufenthalt in ihrer kleinen Heimatstadt Wintergreen im tiefsten Missouri von der positivsten Seite zu nehmen. Doch bald schon geraten alle guten Vorsätze ins Wanken, als sie feststellen muß, daß die Beziehung zu ihrer Mutter und zu den Schwestern nach all den Jahren der Abwesenheit nicht so problemlos wiederaufzufrischen ist. Hinzu kommt, daß der neue Nachbar ihrer Mutter ein alter Verehrer von Tess aus Schulzeiten ist, dem sie einst übel mitgespielt hat - und der sich zu einem sehr attraktiven und liebenswerten Mann entwickelt hat. Allerdings ist dieser Kenny Kronek von seinem ehemaligen Schwärm längst nicht mehr so angetan wie früher - und vor allem ist er ganz entschieden dagegen, daß Tess seine begabte Tochter als Sängerin ins Geschäft bringen will... Autorin LaVyrle Spencer begann ihre Karriere als Schriftstellerin im Jahr 1979. Seither hat sie sich mit ihren Büchern über moderne Frauen, die mit Schwung und Humor das Leben und die Liebe meistern, einen festen Platz auf den Bestsellerlisten erobert.
Als Taschenbuch von LaVyrle Spencer lieferbar: Vorbei und nie vergessen (42611) - Wildnis des Herzens (41472) -Wo der Traum die Nacht verläßt (41558) - Vergib, wenn du kannst (415 80) - Ein Traum von einem Mann (429 8 6) - Ein Haus im Himmel (42985) - Ein Sommer in Maine (43713)
LAVYRLE SPENCER
Melodie des Lebens Roman
Aus dem Amerikanischen von Elke Iheukumere
BLANVALET
Die amerikanische Originalausgabe erschien unter dem Titel »Small Town Girl« bei G. P. Putnam's Sons, The Putnam Berkley Group, Inc., New York.
Umwelthinweis: Alle bedruckten Materialien dieses Taschenbuches sind chlorfrei und umweltschonend. Das Papier enthält Recycling-Anteile. Blanvalet Taschenbücher erscheinen im Goldmann Verlag, einem Unternehmen der Verlagsgruppe Bertelsmann
Deutsche Erstveröffentlichung Juni 1998 © der Originalausgabe 1997 by LaVyrle Spencer © der deutschsprachigen Ausgabe 1998 by Wilhelm Goldmann Verlag, München Umschlaggestaltung: Design Team München Umschlagmotiv: G+J/Photonica Satz: Uhl + Massopust, Aalen Druck: Eisnerdruck, Berlin Verlagsnummer: 35017 Lektorat: SK Redaktion: Ilse Wagner Herstellung: Heidrun Nawrot Made in Germany ISBN 3-44Z-3 5017-4 13579 10 8642
Small Town Girl Um den alten Stadtplatz schleppt sich der Verkehr. Nach achtzehn langen Jahren kommt sie wieder her. Sie hat die Welt gesehen, jetzt kommt sie nach Haus. Der Kleinstadt fehlt so vieles, alles sieht anders aus. Eine Rückkehr ist ihr verwehrt, das hat sie das Leben gelehrt. Im Elternhaus lebt Mama schon eine Ewigkeit. Das alte Haus ist schäbig, ein Stück aus alter Zeit. Die gleiche alte Uhr tickt an der verblich'nen Wand. Mama will nichts ersetzen, läßt alles im alten Stand. Mama freut sich sehr, doch sich zu ändern fällt ihr schwer. Wie wir uns verändern, wenn wir flügge sind, wie sich alles wendet, was wir gewußt als Kind. Alle Leute reden über den Jungen von nebenan. Er gehört zum Gestern, das ich nicht mehr sehen kann. Die Fügungen des Lebens haben uns achtzehn Jahr' getrennt, Nur eine Nacht mit ihm beruhigt mein Herz, das brennt. Sag' ade, Tränen tun weh. Ohne zurückzusehen verläßt sie die Heimatstadt. Tief im Inneren weiß sie, daß sie sich verändert hat. Mit Augen voller Tränen blickt sie zu der verblich'nen Wand und flüstert dann ganz leise: Mama, laß bitte alles im alten Stand. Ich kehre zurück, muß noch viel lernen für mein Glück.
1. Kapitel Der schwarze 300 ZX mit den getönten Fenstern wirkte in Wintergreen, Missouri, mit einer Einwohnerzahl von eintausendsiebenhundertdreizehn Menschen, völlig deplaziert. Alle blickten sich nach ihm um, als einen Gang heruntergeschaltet wurde und er dann mit dröhnendem Motor um den Stadtplatz herumfuhr, hinter Conn Hendricksons schwerfällig polterndem Sin clair-Heizölwagen und Miss Elsie Bullards 78er Buick Sedan her, dessen Tachometer noch nie die Geschwindigkeit von fünfzig Meilen angezeigt hatte, seit sie ihn damals aus dem Ausstellungsraum gefahren hatte. Auf offener Straße fuhr Miss Elsie fünfundvierzig, aber in der Stadt zog sie ausgewogene fünfzehn Meilen vor. Der ZX war jetzt direkt hinter ihr, die Musik dröhnte durch die geschlossenen Fenster. Die Bremsen quietschten, und der Wagen brach nach hinten aus und zog so die Aufmerksamkeit aller auf das Nummernschild aus Tennessee. MAC, stand darauf. Und MAC sagte alles. Vier alte Männer kamen aus Wileys Bäckerei, ihr Atem roch noch nach Kaffee, sie bohrten sich mit Zahnstochern in den Zähnen und verfolgten den Wagen mit ihren Blicken. »Da ist sie.« »Sie ist wieder da.« »Und sie gibt ziemlich an.« »Das tut sie. Ein toller Wagen, den sie da fährt.« »Was macht sie überhaupt hier? Sie kommt nicht gerade oft nach Hause.« »Ihre Momma steht kurz vor einer Hüftoperation. Sie ist nach Hause gekommen, um sich eine Weile um sie zu kümmern, so habe ich es gehört.« »Wie kann sie überhaupt etwas sehen durch diese Fenster?« »Ich habe mir schon immer gedacht, daß Menschen, die so dunkle Fenster brauchen, etwas zu verbergen haben, ist das nicht so, Delbert?« Sie sahen dem eleganten Wagen nach, der sich hinter den von Miss Elsie geklemmt hatte. Der Verkehr um den Stadtplatz herum bewegte sich entgegengesetzt dem Uhrzeigersinn, und an diesem müßigen Dienstag im April lechzte Miss Elsie, die gerade von ihrer freiwilligen Schicht im Three-Rivers-Pflegeheim kam, nach einem Erdbeereis aus Miltons Drogerie. Sie tuckerte mit der Geschwindigkeit einer herunterbrennenden Kerze um den ganzen Stadtplatz herum und suchte nach einem Parkplatz. Der ZX folgte ihr nur einen Meter von ihrer schweren Chromstoßstange entfernt. Im Inneren des Sportwagens hörte Tess McPhail auf zu sin gen und sagte laut: »Beweg deinen Hintern, Miss Elsie!« In den letzten fünf Stunden hatte sie ihrer eigenen Stimme auf einem groben Mitschnitt ihres kurz vor der Veröffentlichung stehenden Albums gelauscht, das sie in den letzten Wochen in Nashville aufgenommen hatte. Ihr Produzent, Jack Greaves, hatte ihr das Band gestern gegeben, als sie gerade
das Studio verlassen wollte. »Hör es dir an auf dem Weg nach Missouri«, hatte er gemeint. »Und dann rufst du mich an, wenn du angekommen bist, und läßt mich wissen, was du davon hältst.« Das Band lief noch immer, während Tess ungeduldig mit einem langen, pflaumenblau lackierten Fingernagel auf das Lenkrad klopfte. »Elsie, würdest du voranmachen!« Miss Elsie, deren struppiges weißes Haar von hinten aussah wie ein Ball aus Flaumfedern, umklammerte mit beiden Händen fest das Lenkrad und fuhr weiterhin im Schneckentempo umden Platz herum. Endlich erreichte sie die Ecke, an der sie abbiegen wollte, blinkte nach rechts und machte Tess den Weg frei. Mit quietschenden Reifen fuhr Tess weiter, schaltete, trat den Gashebel durch und spurtete die Sycamore hinauf; dabei murmelte sie: »Gütiger Himmel, Kleinstädte.« Diese hier hatte sich nicht verändert, seit sie vor achtzehn Jahren von hier weggegangen war. Es gab noch immer das Gerichtsgebäude aus rotem Backstein auf dem Stadtplatz, die alten Ladenpassagen um den Platz herum, noch immer standen die alten Veteranen aus dem Zweiten Weltkrieg an den Straßenecken, sahen dem Verkehr zu und warteten auf die nächste Parade, die sie aus dem Alltagstrott herausholte. Und auch die alten Häuser entlang der Sycamo re waren die gleichen geblieben. Auch wenn die Hickorybäume jetzt größer waren, sahen die meisten Häuser noch genauso aus wie damals, als Tess den Abschluß von der High-School gemacht hatte. Dort drüben war Mindy Alversons Haus: Ob ihre Eltern wohl noch dort lebten? Und was war aus Mindy geworden, Tess' bester Freundin in dieser Zeit? Dort drüben lebte früher Mrs. Mabry. Sie hatte Geometrie unterrichtet, und es war ihr nie gelungen, in Tess auch nur ein Fünkchen Interesse für dieses Fach zu wecken. Tess war ein Mädchen gewesen, das all die Unterrichtsfächer, die nichts mit Musik oder den kreativen Künsten zu tun hatten, nur am Rande interessierten. Immer hatte sie behauptet, sie würde den Unterrichtsstoff nicht brauchen, weil sie doch nach ihrem Abschluß eine große Country-und-Western-Sängerin werden würde. Und dort war auch das Haus, in dem dieses vorlaute Gallamore -Mädchen gewohnt hatte, das Mädchen, das in dem Jahr die Hauptrolle bekommen hatte, in dem Tess' Klasse Oklahoma aufgeführt hatte! Tess hatte die Rolle der Laurie so gern spielen wollen, daß sie geweint hatte, als die Rollenbesetzung verkündet worden war. Alle hatten gesagt, daß eigentlich ihr diese Rolle zugestanden hätte; nur we il Cindy Gallamores Vater im Schulausschuß saß, war sie ausgewählt worden und nicht Tess. Nun, sie hatte es Cindy Gallamore gezeigt, oder etwa nicht? Sie fragte sich, was die gute alte Cindy heute wohl tat. Wahrscheinlich machte sie sich einmal im Monat die Dauerwelle selbst und beschäftigte sich damit, Windeln
zu wechseln - in einem dieser düsteren kleinen Häuser, die Keksschachteln glichen, während gerade Tess McPhails neuester Nummer-Eins-Country-Hit aus dem Radio dröhnte - hinter dem Stapel schmutzigen Geschirrs auf Cindys Anrichte. Tess ließ noch ein letztes Mal das Band von »Tarnished Gold« laufen und lauschte mit kritischer Aufmerksamkeit. Im großen und ganzen gefiel es ihr. Es gefiel ihr sogar sehr, mit Ausnahme eines einzigen Akkordes, der sie noch immer störte, auch nachdem sie das Stück schon etwa fünfzig oder sechzig Mal auf dem Weg hierher gehört hatte. Sie fuhr an Judys und Eds Haus an der Thirteenth Street vorüber. Die Garagentür stand offen, und ein Wagen war darin zu sehen, doch Tess sang weiter und warf nur einen flüchtigen Blick auf das Haus. Judy und ihre verdammt gebieterische Aufforderung. »Mommas andere Hüfte muß auch noch operiert werden, und diesmal wirst du dich um sie kümmern«, hatte Judy erklärt. Was hatte Judy schon für eine Ahnung von einer großen Karriere? Alles, was sie in ihrem Leben getan hatte, war, einen Schönheitssalon zu führen. Sie hatte nicht den leisesten Schimmer, was es bedeutete, mitten aus der Arbeit zu den Aufnahmen eines neuen Albums weggeholt zu werden. Eine ganze Plattenfirma plante die Herausgabe dieses Albums zu einem Datum, das schon vor mehr als einem Jahr festgesetzt worden war. Aber Judy war eifersüchtig auf den Erfolg ihrer Schwester, das war sie schon immer gewesen, und indem sie sich jetzt wichtig machte, rächte sie sich an Tess. Das letzte, was Judy ihr am Tele fon gesagt hatte, war: »Du wirst hier sein, Tess, und versuche nicht, dich zu drücken!« Dann gab es noch Tess' mittlere Schwester, Renee. Sie lebte am anderen Ende der Stadt, und ihre Tochter Rachel sollte in vier Wochen heiraten. Es war verständlich, daß Renee in den letzten wenigen Wochen vor der Hochzeit noch sehr viel zu tun hatte. Aber hätten sie die Operation nicht verschieben können? Immerhin hatte Mom schon seit ihrer ersten Operation vor zwei Jahren gewußt, daß auch die zweite Hüfte operiert werden mußte. Tess bog auf die Monroe Street ein, und Erinnerungen überfielen sie, während sie die Straße entlangfuhr. An diesen sechs Häuserblocks vorüber war sie sieben Jahre lang zur Schule gegangen. Sie hielt vor dem Haus ihrer Mutter an, stellte den Motor ab und starrte auf das Haus. Lieber Himmel, es sah heruntergekommen aus. Sie stöpselte ihr Telefon aus und stieg dann aus. Neben dem Wagen blieb sie stehen und schob sich die Hosenbeine ihrer engen Jeans hinunter, eine zierliche Frau mit einer übergroßen Sonnenbrille, Cowboystiefeln und baumeln den indianischen Ohrringen aus Silber und
Türkisen, mit Haar in der Farbe eines irischen Setters und heller, sommersprossiger Haut. Ihr Herz sank, als sie das Haus betrachtete. Warum, um alles in der Welt, hatte ihre Mutter es nur so herunterkommen lassen? Der Bungalow aus der Zeit vor dem Zweiten Weltkrieg war aus roten Ziegeln gebaut, aber die weiße Farbe der Holzverkleidung blätterte ab, und die Stufen, die zur Veranda führten, waren schiefgetreten. Der Garten sah bemitleidenswert aus. Die Steinplatten auf dem Fußweg waren brüchig und abgesunken, und der Lebensbaum war so groß geworden, daß er das Wohnzimmerfenster überragte. Löwenzahn wuchs im Vorgarten. Was tut Mom nur mit dem ganzen Geld, das ich ihr schicke? Noch vor einigen Jahren hätte Mary McPhail kein Unkraut auf der Wiese vor ihrem Haus geduldet. Aber damals waren ihre Hüften noch gesund gewesen. Tess holte ihre übergroße graue Tasche aus weichem Leder aus dem Wagen, schlug die Tür zu und lief zum Haus. Als sie über den brüchigen Gehweg ging, mußte sie wieder daran denken, wie ihre kleinen Freundinnen mit ihren Puppenwagen hier gespielt hatten, während sie mit Melody, ihrer singenden Puppe, auf den Stufen der Veranda Vorstellungen gegeben hatte. Noch ehe sie die Treppe vor der Haustür erreicht hatte, öffnete ihre Mutter die Tür und strahlte sie an. »Ich hatte doch recht, als ich glaubte, ich hätte eine Autotür gehört!« Mary McPhails Freude war unverkennbar, sie öffnete die Fliegentür und breitete dann beide Arme aus. »Tess, Liebling, du bist gekommen!« »Hey, Momma.« Tess lief die Stufen hinauf und drückte ihre Mutter an sich. Sie hielten sich fest und schaukelten hin und her. Hinter ihnen fiel die Tür zu, und sie waren gefangen in dem win zigen Vorraum. Mary war einen halben Kopf kleiner und fünfundvierzig Pfund schwerer als ihre Tochter, sie hatte ein rundes Gesicht und trug eine Brille mit einem Metallgestell. Als Tess sich ein wenig von ihr zurückzog, um sie anzusehen, entdeckte sie Tränen in Marys Augen. »Darfst du überhaupt herumlaufen, Momma?« In Tess' Stimme konnte man noch immer den Akzent des südwestlichen Missouri erkennen. »Natürlich darf ich das. Ich bin gerade aus dem Krankenhaus gekommen. Man hat mir den Operationssaal gezeigt, hat mir Blut abgenommen, und ich mußte in so eine kleine Plastikröhre pusten, damit sie sehen konnten, ob ich genug Luft in meinen Lungen habe, um die Operation zu überstehen. Und wenn ich all das habe tun können, dann werde ich wohl auch noch meine Tochter zur Begrüßung in den Arm nehmen dürfen. Nimm diese verflixte Sonnenbrille ab, damit ich erkennen kann, wie mein kleines Mädchen aussieht.« Tess lächelte und nahm die Sonnenbrille ab. »Ich bin es doch nur.« Sie
streckte beide Arme zur Seite aus. »Nur du. Ganz bestimmt - nur du, wo ich dich seit neun Monaten nicht mehr gesehen habe.« Mary drohte Tess mit dem Finger. »Ich weiß. Es tut mir leid, Momma. Es war eine verrückte Zeit, wie üblich.« »Dein Haar sieht anders aus.« Mary packte sie bei den Ellbogen und betrachtete sie aufmerksam. Tess' Haar war in Stufen geschnitten und fiel im Nacken zerzaust bis über den Kragen ihres T-Shirts, wogegen es vorn gerade die Ohren bedeckte. »Die Frisur haben sie mir für mein neues Album verpaßt.« .; »Wer? «Cathy.« >Cathy? Wer ist das noch gleich?« >Cathy Mack, meine Stylistin. Ich habe dir doch von Cathy erzählt.« Mary winkte ab. »Ich glaube schon, aber es arbeiten so viele Leute für dich, die kann ich gar nicht alle auseinanderhalten. Und, Himmel, Mädchen, du bist so dünn geworden. Geben sie dir denn da unten in Nashville nichts zu essen?« »Ich bemühe mich absichtlich, so schlank zu bleiben, Momma, das weißt du doch - und du weißt auch, daß so etwas nicht von selbst kommt-, also bitte, versuche gar nicht erst, mich zum Es sen zu zwingen, okay?« Mary wandte sich um und humpelte ins Haus. »Nun, ich würde denken, wenn du soviel Geld verdienst, dann könntest du auch ein wenig besser essen.« Tess widerstand dem Wunsch, mit den Augen zu rollen. Sie setzte ihre Sonnenbrille wieder auf und folgte Mary ins Haus. Sie gingen durch das niedrige Wohnzimmer, das die ganze Vorderseite des Hauses einnahm. Das Zimmer lag nach Westen, es hatte uneben verputzte Wände, und abgenutzte Möbel standen darin - das auffallendste Stück darunter war ein Klavier. Von den drei Bogengängen in der gegenüberliegenden Wand führte der mittlere nach oben, der rechte ins Bad und zu Marys Schlafzimmer und der linke zur Küche und dem hinteren Teil des Hauses. Mary humpelte durch den linken. »Ich dachte immer, Country-Sängerinnen trügen langes Haar.« »Schon lange nicht mehr, Momma. Die Dinge in der Country-Musik haben sich geändert.« »Aber du hast all deine hübschen Naturlocken geglättet. Ich habe deine Locken immer sehr geliebt.« »Sie möchten, daß ich modern aussehe.« Marys eigenes Haar könnte auch einen Friseur gebrauchen, dachte Tess und starrte auf eine Stelle auf ihrem Hinterkopf, wo sie die Kopfhaut sehen konnte. Mary hatte es aufgegeben, ihr Haar zu färben, sie ließ es natürlich wachsen, und es hatte jetzt eine silbrig-graue Farbe. Doch noch viel
schlimmer war die schmerzhafte Art, wie sie sich vorwärts bewegte. Immer wenn sie das Gewicht auf ihr rechtes Bein verlagerte, schwankte sie zu dieser Seite und mußte sich an Möbeln oder an der Wand festhalten. »Bist du sicher, daß es gut ist, wenn du herumläufst, Momma?« »Die Operation wird mich noch lange genug von den Beinen holen. Solange ich noch herumhumpeln kann, werde ich das auch tun.« Sie war eine gedrungene, untersetzte Frau von vierundsiebzig Jahren, in einen abscheulichen alten Hosenanzug aus Polyester gekleidet, der ausgebeult war. Die Hose war lavendelfarben, das Oberteil war einmal weiß gewesen, mit einem Muster aus Stiefmütterchen, die mittlerweile so verblaßt waren, daß sie kaum noch zu erkennen waren. Der Anzug war mindestens fünfzehn Jahre alt. Tess fragte sich, ob ihre Mutter heute im Krankenhaus wohl so gekleidet gewesen war. Sie fragte sich auch, was mit dem eleganten seidenen Hosenanzug geschehen war, den sie ihr bei Nordstroms gekauft hatte, als sie im letzten Herbst auf der Konzerttournee in Seattle gewesen war. »Die Küche sieht noch immer so aus wie früher«, bemerkte sie, als Mary Wasser in die Kaffeemaschine goß. »Sie ist alt, aber mir gefällt sie so.« Die Küche hatte weiße Schränke mit Arbeitsplatten aus braun beschichtetem Kunststoff, die so abgenutzt waren, daß sie an einigen Stellen schon ganz weiß waren. Tess hatte schon oft mit Mary geschimpft, weil sie keine Unterlage benutzte, aber Mary schnitt noch immer alle Sachen auf der Arbeitsplatte neben der Spüle. Die Wände der Küche waren mit einer gräßlichen Tapete mit orangefarbenen Blumen tapeziert, und an den Fenstern hingen orangefarbene Gardinen mit einem Blumenmuster. Dann gab es noch eine Uhr mit dem Bild eines Sees auf dem Zifferblatt und einen Ele ktroherd mit einer großen Beule. Die hatte er bekommen, weil Judy einmal mit dem Topf dagegen gestoßen war, als die drei Mädchen sich stritten, wer das Popcorn machen sollte. Und neben dem Herd thronte auf der in düsterem braun gestrichenen Anrichte ein selbstgebackener Nußkuchen, in dem sich in jedem Stück ungefähr dreihundert Kalorien versteckten. Tess unterbrach ihre Betrachtung. »Oh, Momma, du hast doch nicht etwa...« Mary wandte sich um und sah, wohin Tess' Blicke gingen. »Natürlich habe ich. Ich konnte doch nicht zulassen, daß mein kleines Mädchen nach Hause kommt, ohne daß ihre Lieblingsspeisen auf sie warten.« Etwas in der Art, wie sie die Worte »kleines Mädchen« aussprach, ging Tess auf die Nerven. Sie war fünfunddreißig Jahre alt, und sie war von zu Hause weggegangen, gleich nachdem sie ihren Abschluß an der High-School gemacht hatte. Ihr Gesicht und ihr Name waren den meisten Amerikanern so bekannt wie das des Präsidenten, und ihr Einkommen überstieg das seine um
ein Mehrfaches. Sie hatte das alles mit ihrem Talent, ihrer Kreativität und einer Geschäftstüchtigkeit geschafft, die der Wall Street würdig gewesen wäre. Doch ihre Mutter bestand noch immer darauf, Tess ihr »kleines Mädchen« zu nennen. Die wenigen Male, wo Tess sie korrigiert hatte, indem sie behauptete: Ich bin nicht mehr dein kleines Mädchen«, hatte Mary verwirrt und verletzt reagiert. Deshalb sagte Tess jetzt nichts. »Kochst du diesen Kaffee für mich?« fragte sie. »Du kannst doch keinen Nußkuchen essen, ohne dazu Kaffee zu trinken.« »Ich trinke kaum noch Kaffee, Momma... und ich sollte auch keinen Kuchen essen.« Mary warf ihr über ihre Schulter einen Blick zu. Ihre überschwengliche Laune verschwand, und sie drehte langsam den Wasserhahn zu. Der verwirrte Ausdruck lag wieder in ihren Augen, der Ausdruck einer Generation, die sich bemühte, die nachfolgende zu verstehen. »Oh... na ja... dann... was soll's...« Sie blickte auf den halbgefüllten Topf, dann ließ sie das Wasser wieder auslaufen. »Dann werde ich den Kaffee eben für mich selbst kochen.« »Hast du kein Obst, Mom?« Tess ging zum Kühlschrank und öffnete die Tür. »Obst?« fragte Mary, als habe ihre Tochter gerade pate de foie gras gefordert. »Ich esse sehr viel Obst, und ich könnte jetzt etwas brauchen. Ich habe seit dem Frühstück nichts mehr gegessen.« »Ich habe noch ein paar Dosenpfirsiche.« Mary öffnete die Tür eines Schrankes und beugte sich unbeholfen vor. »Ja, das wäre nett, aber ich kann sie mir selbst holen. Hey, warum setzt du dich nicht und läßt mich die Arbeit tun?« »Es geht mir auch nicht besser, wenn ich sitze. Ich mache das schon. Warum holst du nicht deine Sachen aus dem Wagen und bringst sie nach oben?« Mary hatte die Pfirsiche gefunden und suchte in der Schublade nach einem Büchsenöffner. Tess griff in die Schublade und legte ihre Hand auf die ihrer Mutter. »Weil ich nach Hause gekommen bin, um mich um dich zu kümmern, und nicht umgekehrt. Also, du läßt mich das jetzt machen.« Die Pfirsiche waren in dicken Sirup eingelegt und hatten eine verschrumpelte, gummiartige Haut über einem weichen Fruchtfleisch, doch Tess nahm eine Gabel und aß sie gleich aus der Dose. Dabei wanderte sie in der Küche hin und her, sie sah sich die Notizen an, die an einer Pinnwand neben dem Telefon hingen Die Pinnwand selbst war aus häßlichem Plastik und sah aus wie grüne Erbsen. Schulbilder ihrer Nichten und Neffen hingen daran, eine Notiz, die Telefonrechnung zu überprüfen, um festzustellen, ob
man ihre Gespräche falsch abgerechnet hatte, und einige Lebensmittelcoupons, die ihre Mutter aus d en Zeitungen ausgeschnitten hatte. Tide - fünfundzwanzig Cent billiger. Wie der einmal fragte sich Tess, was ihre Mutter wohl mit dem Geld tat das sie ihr schickte. Es irritierte sie, daß Mary noch immer Coupons aus den Zeitungen ausschnitt, mit denen sie fünfundzwanzig Cent sparen konnte, wenn das doch so verdammt unnötig war! Mary öffnete die Tür des Kühlschrankes. »Ich habe dir dein Lieblingsessen gemacht - Hamburger und Tater Tots. Ich könnte es jetzt gleich in den Ofen stellen, aber« - sie warf einen Blick auf die Uhr an der Wand - »es ist erst vier Uhr, und es dauert eine Stunde, bis es gar ist. Fünf Uhr ist zu früh zum Abendessen, vielleicht sollten wir also noch etwas warten und...« »Die Pfirsiche reichen aus für den Augenblick, Momma. Ich weiß, daß du immer erst um sechs Uhr zu Abend ißt.« Sie sah die Erleichterung in Marys Gesicht, als diese feststellte, daß sie ihren Zeitplan für das Abendessen nicht ändern mußte. Tater Tots waren Tess' Lieblingsessen gewesen, als sie zwölf Jahre alt war. Heutzutage aß sie nur noch einmal in der Woche Rindfleisch, und tiefgefrorene Tater Tots kamen bei ihr gar nicht mehr auf den Tisch. Schließlich besaß sie eine ganze Kollektion maßgeschneiderter Konzertkleidung in der Größe achtunddreißig, die zwischen acht- und zehntausend Dollar das Stück gekostet hatte. Sie nahm die Büchse mit den Pfirsichen mit an den Küchentisch und setzte sich. Mitten auf dem Tisch stand eine Topfpflanze auf einem Plastikuntersetzer, der so häßlich war, wie Tess noch keinen gesehen hatte. Genau wie das Oberteil von Marys Hosenanzug mußte er einmal weiß gewesen sein. Doch jetzt war er vergilbt und verbogen, wie alte Fischschuppen sah er aus. Mary goß sich eine Tasse Kaffee ein und setzte sich zu Tess an den Tisch. Vorsichtig sank sie auf dem Stuhl mit den Beinen aus Chrom und dem aufgeplatzten Sitz aus Vinyl, der sich unter einem Kissen aus braunen und orangefarbenen Blumen versteckte. Sie blickte auf Tess' übergroßes T-Shirt mit den vier Ge sichtern darauf und einem Logo. »Was bedeutet das, >Southern Smoke