Randall Garrett
LORD DARCY Die vollständigen Ermittlungen in Sachen Mord und Magie Ins Deutsche übertragen von Ralph T...
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Randall Garrett
LORD DARCY Die vollständigen Ermittlungen in Sachen Mord und Magie Ins Deutsche übertragen von Ralph Tegtmeier BASTEI-LÜBBE-TASCHENBUCH Fantasy Erste Auflage: August 1989 © Copyright 1966 by The Conde Nast Publications., Inc. © Copyright 1979 by Randall Garrett © Copyright 1981 by Randall Garrett All rights reserved Deutsche Lizenzausgabe 1989 Bastei-Verlag Gustav H. Lübbe GmbH & Co., Bergisch Gladbach Originaltitel: Too Many Magicians/Murder and Magie/ Lord Darcy Investigates Ins Deutsche übertragen von Ralph Tegtmeier Titelillustration: James Warhola Umschlaggestaltung: Quadro Grafik, Bensberg Satz: KCS GmbH, 2110 Buchholz/Hamburg Druck und Verarbeitung: Brodard & Taupin, La Fleche, Frankreich Printed in France ISBN 3-404-20127-2 Der Preis dieses Bandes versteht sich einschließlich der gesetzlichen Mehrwertsteuer.
Band 1 Komplott der Zauberer Teil l Commander Lord Ashley, Spezialagent Seiner Majestät Reichsmarine-Nachrichtenkorps, stand in der Tür eines billigen Mietzimmers in einer von der unteren Mittelklasse bewohnten Gegend der Stadt, in der Nähe der Reichsmarinedocks von Cherbourg. Die Tür war offen, und auf dem Fußboden lag ein Mann mit einem langen Messer mit schwerem Griff in der Brust. Seine Lordschaft blickte von der Leiche hoch und betrachtete das Zimmer. Es war sehr klein; er schätzte es auf acht mal zehn Fuß, und die Decke begann knappe sechs Zoll über seinem Kopf. An der rechten Wand befand sich ein niedriges Bett. Es war gemacht, aber die Falten auf der billigen blauen Bettdecke verrieten, daß jemand darauf gesessen hatte — wahrscheinlich der Tote selbst. Ein billiger Holztisch stand in der hinteren linken Ecke, daneben befand sich ein Holzstuhl. Ein uralter, klobig aussehender Liegestuhl — wahrscheinlich gebraucht gekauft — stand an der linken Wand, nahe
bei der Tür. Am Fußende des Bettes stand ein zweiter, ähnlicher Holzstuhl: das war die gesamte Möblierung. An den grüngestrichenen Wänden hingen keine Bilder, wie es denn überhaupt keinerlei überflüssigen Zierat im Zimmer gab. Der Mann, der hier lebte, hatte dem Raum wahrlich nicht seinen persönlichen Stempel aufgedrückt. Lord Ashley blickte wieder auf die Leiche herab. Dann schloß er vorsichtig die Tür hinter sich, schritt über den Toten hinweg und sah ihn sich genau an. Er hob eine Hand hoch und fühlte nach dem Puls. Es war nichts zu spüren. Georges Barbour war wirklich tot. Seine Lordschaft trat einen Schritt zurück und betrachtete nachdenklich die Leiche. In Seiner Lordschaft Gürteltaschen befanden sich einhundert goldene Sovereigns, Geld, das dem Sonderfonds entnommen worden war, um Edelmann Georges Barbour für seine Dienste für den Marinenachrichtendienst zu entlohnen. Doch Edelmann Georges, so dachte My Lord Commander, würde dem Sonderfonds nicht länger zur Last fallen. My Lord Commander stieg über den Körper hinweg und blickte auf die Papiere, die auf dem Holztisch in der Ecke lagen. Nichts Wichtiges dabei. Nichts, was diesen Mann mit dem Nachrichtenkorps der Reichsmarine in Verbindung bringen würde. Dennoch sammelte er die Papiere ein und steckte sie in seine Jackentasche. Es gab immer noch die Möglichkeit, daß sie Informationen, dechiffriert oder in Geheimtinte, enthalten könnten. Der kleine Schrank in der rechten Ecke des Raumes, nahe bei der Tür, enthielt nur einen Satz Kleidung zum Wechseln, genau solch einen billigen Anzug wie derjenige, den der Tote trug. Nichts in den Taschen, nichts im Futter. In den beiden Schubladen des Schranks fanden sich nur Unterwäsche, Socken und andere persönliche Gebrauchsgegenstände. Wieder betrachtete er die Leiche. Dieser Vorfall mußte natürlich sofort My Lord Admiral gemeldet werden, doch gab es gewisse Dinge, die die lokalen Behörden besser nicht finden sollten. Im Raum war nichts zu entdecken. Da Barbour erst am Tage zuvor das Zimmer bezogen hatte, war es höchst unwahrscheinlich, daß er in solch kurzer Zeit ein Geheimversteck angelegt haben konnte, das der gründlichen Suche von My Lord Commander entgangen wäre. Er durchsuchte den Raum noch einmal, aber ohne Erfolg. Auch die Untersuchung des Körpers ergab nichts. Offenbar hatte Barbour also alle Informationen, die er gehabt haben konnte, bereits an Zett weitergeleitet. Sehr gut. Lord Ashley sah sich noch einmal im Zimmer um, um sicherzugehen, daß ihm nichts entgangen war. Dann verließ er den Raum und ging die enge, schwach beleuchtete Treppe hinunter. Sein Gang war forsch, fast eilig. Die Concierge, die in ihrer Kammer neben der Eingangstür saß, war eine ziemlich verschrumpelte kleine Frau, die allerdings noch sehr wache Augen besaß. Sie blickte den großen, aristokratischen Commander mit einem Lächeln an, das ebensosehr glänzte wie ihre Augen. »Aye, Sir? Was kann ich für Euch tun?« »Ich habe recht traurige Botschaft für Euch, Edelfrau«, sagte My Lord ruhig. »Einer Eurer Mieter ist tot. Wir werden sofort einen Wachmann
rufen müssen.« »Tot? Wer denn? Ihr meint doch nicht etwa Edelmann Georges, edler Sir?« »Eben diesen«, sagte Seine Lordschaft. Er hatte der Concierge wenige Minuten zuvor mitgeteilt, daß er Barbour besuchen wolle. »Hat er ungefähr in der letzten halben Stunde irgendwelchen Besuch empfangen?« Die Leiche, so sagte sich My Lord Commander, war noch warm, das Blut noch nicht geronnen. Barbour konnte auf keinen Fall länger als eine halbe Stunde tot gewesen sein. »Besuch?« Die alte Frau blinzelte, offenbar um ihre Gedanken zu sammeln. »Außer Euch, Sir, habe ich keinen Besucher gesehen. Ach ja! Es mag sein, daß ich ihn vielleicht gar nicht sehen konnte. Ich war ein paar Minuten fort, nur wenige Minuten. Ich ging in das Geschäft von Edelmann Fentner, dem Tabakhändler, um ein wenig Schnupftabak, allwo die einzige Art Tabak ist, dem ich frone.« Commander Lord Ashley sah sie scharf an. »Wann genau seid Ihr gegangen, und wann seid Ihr zurückgekehrt, Edelfrau? Es mag von größter Bedeutung sein, die genaue Zeit zu wissen.« »Nun . . . nun . . . kurz bevor Ihr kamt war's, edler Sir«, sagte die alte Frau recht nervös. »Als ich wiederkehrte, da hörte ich die Glocke von St. Denys die Dreiviertelstunde schlagen.« Lord Ashley sah auf seine Uhr. Es war eine Minute nach elf. »Der Mann muß gewartet haben, bis er Euch gehen sah. Dann kam er herauf und ging wieder, bevor Ihr wiederkamt. Wie lange wart Ihr fort?« »Nur so lange wie es braucht, zur Ecke zu gehen und zurück, Sir. Ich liebe es nicht, tagsüber lange fernzubleiben, wenn die Tür nicht abgeschlossen ist.« Sie hielt inne und runzelte nachdenklich die Stirn. »Wer war's denn, allwo hochgegangen und zurückgekehrt sein soll, Sir?« »Wer immer es gewesen sein mag«, sagte My Lord Commander, »er stach Euren Mieter Georges Barbour, stach ihm mitten ins Herz. Er wurde ermordet, Edelfrau, und darum müssen wir unverzüglich einen Wachmann rufen.« Die arme Frau war jetzt völlig erschüttert, und Lord Ashley begriff, daß sie wohl kaum von Nutzen sein würde, wenn die Wachmänner kamen. Er war froh, daß er sie nach möglichen Besuchern gefragt hatte, bevor er erwähnt hatte, daß es sich bei dem Tod um einen Mord gehandelt hatte. Andernfalls wäre ihr die wertvolle Aussage gewiß entfallen. »Setzt Euch, Edelfrau«, sagte er in freundlichem Ton. »Sammelt Euch, es gibt nichts zu befürchten. Ich werde mich um die Wachmänner kümmern.« Während sie in ihrem überpolsterten Sessel förmlich zusammenbrach, ging Lord Ashley auf die Außentür zu und öffnete sie. Er hörte die schrillen Stimmen von spielenden Jungen draußen. Aufgrund seiner jahrelangen Marineausbildung war es für My Lord Commander ein leichtes, den Bengel auszumachen, der offenbar der Anführer der kleinen Gruppe war. »He, mein Junge!« rief er ihm zu. »Du, Junge, mit der grünen Mütze! Willst du dir einen Sechser verdienen?«
Der Junge blickte auf, und ein Lächeln überzog seine etwas schmutzigen Züge. »O ja, My Lord!« sagte er und riß die ziemlich verblichene Mütze von seinem Kopf. »Sehr gern, My Lord!« Er wußte gar nicht, ob der Mann, der ihn angespochen hatte, tatsächlich ein Lord war oder nicht, doch war es auf jeden Fall ein Gentleman, und einen Gentleman sprach man immer mit >My Lord< an, wenn es etwas zu verdienen gab. Die anderen Jungen wurden plötzlich still, offenbar in der Hoffnung, daß sie vielleicht auch ein wenig Geld bekommen würden von diesem anscheinend begüterten Gentleman. »Nun gut denn«, sagte Lord Ashley forsch. »Hier ist ein Zwölfer. Wenn du binnen fünf Minuten mit einem Wachmann hierher zurückkehrst, werde ich dir noch einen geben.« »Einen . . . einen Wachmann, My Lord?« Es war offensichtlich, daß er sich keinen Grund denken konnte, warum ein geistig gesunder Mensch einem Wachmann näher als tausend Yards sein wollte. »Jawohl, einen Wachmann«, sagte Lord Ashley mit einem feinen Lächeln. »Sage ihm, daß Lord Ashley, ein Offizier des Königs, seinen sofortigen Beistand wünscht, und dann führe ihn hierher. Hast du verstanden?« »Jawohl, My Lord Ashley! Ein Offizier des Königs, My Lord! Jawohl!« »Sehr gut, mein Junge. Und nun zu euch anderen. Hier habt ihr jeder einen Zwölfer. Wenn ihr auch in fünf Minuten mit einem Wachmann zurückkehrt, bekommt ihr ebenfalls einen weiteren Zwölfer. Und wer zuerst zurückkommt, bekommt noch zusätzlich einen Sechser. Nun lauft los, ab mit euch!« Sie liefen wie der Wind. l An diesem Nachmittag trafen sich um halb drei in einem komfortablen, klubähnlichen Raum im Hauptquartiergebäude der Admiralität Seiner Majestät Reichsmarinestützpunkt Cher-bourg drei Männer. Commander Lord Ashley saß groß, aufrecht und entspannt, sein leicht gewelltes braunes Haar war glatt gebürstet, seine Uniform war makellos. Erst zwanzig Minuten zuvor hatte er die Uniform angezogen, nachdem ihm der Lord Admiral mitgeteilt hatte, daß dies zwar nicht unbedingt ein förmliches Treffen war, Zivilkleidung aber weniger sei als die königsblaue und goldene Uniform eines voller! Commanders. Lord Ashley sah nicht besonders gut aus; sein eckiges Gesicht war dafür vielleicht ein wenig zu rauh und verwittert. Doch verehrten die Frauen ihn, und Männer bewunderten das Gefühl von Entschlossenheit, das seine Gesichtszüge vermittelten. Seine Augen waren grau-grün und braungefleckt, und hatten den Ausdruck eines Seemanns — so als blicke Lord Ashley stets auf irgendeinen fernen Horizont, um Sturmzeichen zu entdecken. Lord Admiral Edwy Brencourts Augen hatten den gleichen Ausdruck, doch war er etwa fünfundzwanzig Jahre älter als Lord Ashley, obwohl sein Haar auch mit zweiundfünfzig Jahren nur an den Schläfen leicht ergraut war. Seine Uniform, ebenso königsblau wie die des Commanders, war ein wenig mehr verknittert, da er sie bereits seit
dem Morgen trug, doch wurde dies zum Teil durch die zusätzlichen Goldstreifen wettgemacht, die seine Manschetten und Schulterklappen glitzernd verzierten. Verglichen mit all diesem Glanz erschien die schwarzsilberne Uniform des Obersten Waffenmeisters Henri Vert, Chief der Wachmannsbehörden von Cherbourg, eher einfach und schmucklos, obwohl sie meistens als recht imposant galt. Chief Henri war ein zäh aussehender Fünfziger von schwerem Körperbau, der das Aussehen und das Betragen eines etwas verfetteten Kämpfers hatte. Chief Henri sprach als erster. »My Lords, hinter diesem Mord muß mehr stecken, als es zunächst den Anschein hat. Zumindest mehr, als ich dahinter erkennen kann.« Er sprach das Anglo-Französische mit einer peinlichen Genauigkeit aus, die verriet, daß es nicht seine Muttersprache war. Er hatte viele Jahre darauf verwendet, den Akzent des einheimischen patois loszuwerden, der seine niedrige Herkunft verriet, doch war ihm sein Bemühen, korrekt zu sprechen, immer noch anzumerken. Er blickte My Lord Admiral an. »Wer war dieser George Barbour, Euer Lordschaft?« My Lord Admiral nahm die Brandykaraffe von dem flachen Tisch, um den die drei saßen, und schenkte sorgfältig drei Gläser ein, bevor er antwortete. »Chief Henri, Ihr versteht, daß dieser Fall durch die Tatsache verkompliziert wird, daß er den Marinegeheimdienst berührt. Nichts von dem, was in diesem Raum gesprochen wird, darf nach außen dringen.« »Selbstverständlich nicht, My Lord«, sagte Chief Henri. Er wußte sehr gut, daß dieser Teil der Admiralitätsbüros durch mächtige und teure Zauber sorgfältig geschützt war. Seiner Majestät Streitkräfte hatten einen Sonderetat, um sich die Dienste der mächtigsten Experten auf diesem Gebiet zu sichern. Magier, die einen hohen Rang in der Hexergilde innehatten. Diese Zauber waren viel kräftiger als die üblichen kommerziellen Zaubereien, die einem in Hotels und Privatwohnungen das Alleinsein und Ungestörtsein garantierten. Solch eine Taktik war wegen der internationalen Lage notwendig. Das letzte halbe Jahrhundert über hatten die Könige von Polen einen bemerkenswerten Ehrgeiz gezeigt. Im Jahre 1914 hatte König Sigismund III damit begonnen, eine Serie von Annexionen durchzuführen, die Stück um Stück den russischen Staaten Gebiet entrissen, so daß er bald das ganze Territorium zwischen Minsk und Kiew beherrschte. Solange Polen gegen Osten strebte, hatte das Anglo-Französische Reich dagegen nichts einzuwenden. Das Herrschaftsgebiet des Reichs hatte sich in der Neuen Welt rapide ausgedehnt, und Asien schien damals noch sehr fern zu sein. Doch Sigismunds Sohn, König Casimir IX, hatte Probleme mit seinem Quasi-Reich. Er wagte es nicht, weiter nach Osten vorzudringen. Die russischen Staaten hatten in den frühen dreißiger Jahren einen losen Bund errichtet, und der König von Polen beendete seinen Vormarsch. Sollten sich die Russen jemals tatsächlich vereinen, so wären sie ein ernstzunehmender Feind. Nun blickte Casimir IX nach Westen auf die deutschen Staaten, die so lange ein Puffer zwischen Polen und den anglo-französischen Grenzen gewesen waren. Aufgrund der Politik des Tauziehens zwischen Polen und dem Reich hatten die Deutschländer ihre eigene Unabhängigkeit bewahren können. Wollten Casimirs Truppen beispielsweise in Bayern einmarschieren, so würde
Prinz Reinhard VI das Reich um Hilfe bitten, die er auch prompt erhalten würde, wollte jedoch andererseits King John IV auch nur einen einzigen Sovereign Steuer in Bayern eintreiben, so rief Seine Hoheit von Bayern ebenso lauthals um polnische Hilfe. Da seine ehrgeizigen Pläne augenblicklich nicht verwirklicht werden konnten, versuchte Casimir statt dessen, so gut er konnte, das Anglo-Französische Reich zu zerbrechen, es bis zur Hilflosigkeit zu schwächen, bevor er versuchen konnte, die Deutschländer mit Waffengewalt zu erobern. Das war jedoch kein leichtes Unterfangen. Seit der Zeit von Henry II im zwölften Jahrhundert war das Reich zu einer wachsenden, funktionierenden, dynamischen Kraft geworden. Henrys Sohn, Richard Löwenherz, hatte das Reich zwar in den ersten zehn Jahren seiner Herrschaft vernachlässigt, doch hatte ihn seine knappe Rettung vor dem Tode bei der Belagerung von Chaluz grundlegend verändert. Die lange, fiebrige Infektion, von einem Armbrustbolzen verursacht, hatte in ihm einen Persönlichkeitswandel bewirkt. So regierte Richard I in den folgenden zwanzig Jahren geschickt und weise. Sein Neffe Arthur war drei Jahre nach dem Tod des verbannten Prinzen John 1219 zum König gekrönt worden und setzte die Politik seines Vaters sogar noch erfolgreicher fort. Er war als >Der Gute König Arthur< in die Geschichte eingegangen und wurde im Volksbewußtsein sehr häufig mit dem früheren König Artus im sechsten Jahrhundert gleichgesetzt. Seitdem hatte die Dynastie der Plantagenets, mit Diplomatie wenn möglich, mit dem Schwert wenn nötig, ein Reich aufgebaut, das jetzt schon fast zweimal so lange bestand wie das Römische Reich, ohne irgendwelche Zeichen des Verfalls zu zeigen. Casimir IX konnte sein Heer nicht einsetzen, und seine Marine war im Baltikum eingeschlossen. Keine polnische Flotte konnte die Nordsee passieren, ohne Schwierigkeiten entweder mit der Reichsmarine oder mit der Marine der skandinavischen Verbündeten des Reichs zu bekommen. Die Nordsee und das westliche Baltikum standen unter reichs-skandinavischer Oberhoheit. Polnische Handelsschiffe durften sie nur passieren, nachdem sie nach Waffen untersucht worden waren. Im Jahre 1939 hatte König Casimir versucht, diese Blockade zu durchbrechen; dafür war ihm seine Flotte aus dem Wasser gefegt worden. Nochmals würde er das kaum versuchen. Statt dessen war König Casimir zu einer anderen Form der Kriegsführung übergegangen — Sabotage, heimtückische Formen des Terrorismus, Wirtschaftskrisen, die durch ränkereiche und hinterrücks ins Gefecht geführte Methoden bewirkt wurden, sowie tausend andere Arten der subtilen Unterwanderung. Bisher hatte er keinen wirklichen Schaden anrichten können, seine Vorstöße hatten sich als bloße Nadelstiche erwiesen. Doch war es nur die Wachsamkeit des Reichs und der Offiziere des Königs gewesen, die seine Versuche bisher zum Scheitern brachte. Admiral Brencourt verschloß die Brandykaraffe sorgfältig, bevor er weitersprach. »Ich fürchte, ich muß mich bei Euch entschuldigen, Chief Henri. Meinen Anweisungen folgend, hat Commander Lord Ashley dem zivilen Wachsergeanten, der ihn heute morgen verhörte, einige Informationen vorenthalten. Das geschah natürlich aus Sicherheitsgründen. Ich habe ihn jedoch autorisiert, Euch die ganze Geschichte zu erzählen. My Lord, ich darf bitten . . .« Lord
Ashley nippte an seinem Brandy. Chief Henri wartete respektvoll darauf, daß er zu sprechen anfangen würde. Er wußte, daß einige Fakten immer noch ausgelassen würden, daß Lord Ashley Instruktionen erhalten hatte, welche Details er preisgeben und welche er verheimlichen solle. Dennoch würde die Geschichte wesentlich detaillierter werden, als er sie bisher kennengelernt hatte. Lord Ashley senkte sein Glas und stellte es ab. »Gestern morgen«, begann er, »Montag, den 24. Oktober, erhielt ich ein versiegeltes Spezialpaket aus dem Büro des Lord Hochadmirals in London. Meine Befehle lauteten, daß ich das Paket heute morgen Admiral Brencourt aushändigen sollte. Ich fuhr mit der Bahn von London nach Dover und gelangte mit einem Sonderkurierboot der Marine über den Kanal nach Cherbourg. Als ich ankam, war es fast Mitternacht.« Er hielt inne und sah Chief Henri offen ins Gesicht. »Ich möchte darauf hinweisen, daß ich My Lord Admiral das Paket sofort ausgehändigt hätte, wenn meine Befehle auf >Sehr Eilig< gelautet hätten; egal wie spät es geworden wäre. Doch sollte ich ihm das Paket erst heute morgen überreichen. Ich gebe Euch mein Wort, daß ich das Paket nicht aus den Augen gelassen habe, und daß es in der Zeit zwischen meiner Inempfangnahme und dem Erhalt des Pakets durch My Lord Admiral nicht geöffnet worden ist.« »Das kann ich bestätigen«, sagte Admiral Brencourt. »Wie Ihr wißt, Chief Henri, verhängen die Hexer unserer Admiralität Schutzzauber über die Umschläge und Siegel solcher Pakete. Es sind dies Zauber, die zwar nicht unbedingt verhindern, daß diese Pakete durch Unbefugte geöffnet werden können, die aber gewährleisten, daß dies nicht unbemerkt geschehen kann.« »Ich verstehe, My Lord«, sagte der Oberste Waffenmeister. »Euer Hexer hat das Paket also überprüft.« Es war eine Feststellung, keine Frage. »Genau«, sagte der Admiral. »Fahrt fort, Commander!« »Danke, My Lord«, sagte Lord Ashley. Dann wandte er sich an Chief Henri. »Ich verbrachte die letzte Nacht im Hotel Queen Jeanne. Heute morgen um neun händigte ich My Lord Admiral das Paket aus.« Er sah den Admiral an und wartete. »Ich öffnete das Paket«, sagte Admiral Brencourt sofort. »Das meiste von dem, was es enthielt, hat mit diesem Fall nichts zu tun. Es war jedoch auch eine Anweisung enthalten, die ich Lord Ashley übergeben sollte. Darin wurde ihm aufgetragen, eine bestimmte Geldsumme einem gewissen Georges Barbour zu überbringen. Das war das erste Mal, daß sowohl Lord Ashley als auch ich von Georges Barbour erfuhren.« Er blickte wieder Lord Ashley an und forderte ihn auf, fortzufahren. »Meinen Befehlen zufolge«, sagte Lord Ashley, »sollte ich das Geld sofort zu Barbour bringen, der scheinbar ein Doppelagent war. Offiziell arbeitete er für Seine Slavische Majestät Casimir von Polen, in Wirklichkeit jedoch für den Marinegeheimdienst der Reichsmarine. Das Geld sollte zwischen fünfzehn Minuten vor elf und fünfzehn Minuten nach elf überreicht werden. Ich kam an den angegebenen Ort, sprach mit der Concierge, ging nach oben und fand die Tür angelehnt. Ich klopfte, und die Tür öffnete sich weiter. Auf dem Boden liegend sah ich Georges Barbour. Ein Messer steckte in seinem Herzen.« Er hielt ein und spreizte die Hände. »Ich war von dieser Entwicklung natürlich überrascht, aber ich mußte meine Pflicht erfüllen. Ich nahm seine
persönlichen Papiere, die auf dem Pult lagen, an mich und durchsuchte den Raum. Die Papiere wurden dem Admiral übergeben.« »Ihr müßt verstehen, Chief Henri«, sagte Admiral Brencourt, »daß die Möglichkeit bestand, daß sich in einigen dieser Papiere geheime oder verschlüsselte Botschaften befanden. Das war jedoch nicht der Fall, und die Papiere werden Euch ausgehändigt werden. Lord Ashley wird Euch beschreiben, welches Stück wo im Raum gelegen hat.« Chief Henri sah den Commander an. »Würdet Ihr möglicherweise so freundlich sein, einen schriftlichen Bericht einzureichen mit einer Skizze, wo die Papiere und so weiter gelegen haben?« Er war zwar ziemlich verärgert über die anmaßende Art und Weise, mit der die Marine das Beweismaterial eines Mordfalls behandelte, aber er wußte auch, daß er nichts daran ändern konnte. »Es wird mir eine Freude sein, einen solchen Bericht vorzubereiten«, sagte Lord Ashley. »Danke, Euer Lordschaft. Eine Frage: Waren die Papiere auf irgendeine Weise in Unordnung gebracht worden, verstreut vielleicht?« Der Commander runzelte beim Nachdenken leicht die Stirn. »Nicht verstreut, nein. Das heißt, sie schienen nicht willkürlich in der Gegend verteilt worden zu sein. Aber sie befanden sich nicht alle auf einem Stapel. Ich würde sagen, daß sie ... eh ... säuberlich in Unordnung gebracht worden waren, wenn Sie verstehen, was ich meine. Als ob Barbour sie durchsucht hätte.« »Oder als ob jemand anderes sie durchsucht hätte«, sagte der Chief nachdenklich. »Ja, das ist natürlich möglich«, stimmte der Commander zu. »Doch hätte der Mörder Zeit dafür gehabt, Barbours Papiere zu durchsuchen?« »Angenommen«, sagte der Chief langsam, »es gab ein einzelnes Papier, oder einen Satz davon, hinter dem der Mörder her war. Und ferner angenommen, daß er genug darüber wußte, um diese Papiere sofort zu erkennen. Dann hätte er doch allenfalls ein paar Sekunden gebraucht, um sie zu finden, nicht wahr?« Der Commander und der Admiral sahen einander an. »Ja«, sagte der Commander nach einem Augenblick, »das könnte sein.« »Haben Sie irgendeine Vorstellung davon, um was für Papiere es sich dabei gehandelt haben könnte?« fragte Chief Henri mit verräterischem Desinteresse. »Nein«, sagte My Lord Admiral mit Bestimmtheit. »Und ich gebe Euch mein Wort, daß ich nichts verberge. Unser Büro hatte noch nicht einmal von Barbours Existenz gewußt. Wir haben keinerlei Ahnung, was er eigentlich tat oder mit welcher Art Papiere er zu tun hatte. Dies war das erste Mal, daß wir von ihm erfuhren, und aus London haben wir nichts weiteres erfahren. Bisher weiß London ja noch nicht einmal, daß er tot ist. Eines Tages mag irgendein Hexer eine Möglichkeit finden, Teleklang-Linien über den Kanal zu bekommen, doch bis dahin müssen wir uns auf Kurierbotschaften verlassen.« »Ich verstehe«, sagte Chief Henri und rieb sich etwas nervös die Hände. »Ich gehe davon aus, daß Euer Lordschaften Verständnis dafür haben, daß ich meine Pflichten erfüllen muß. Es ist ein Mord begangen worden. Er muß aufgeklärt werden. Ich bin dazu verpflichtet, alles zu unternehmen, den Mörder zu ermitteln und ihn der Justiz zu überstellen. Es gibt gewisse Maßnahmen, die ich von Gesetzes wegen einleiten muß.« »Das ist uns völlig klar, Chief Henri«, sagte der Lord Admiral. _Der Chief trank seinen Brandyrest
aus. »Zur gleichen Zeit haben wir auch nicht vor, die Marine in irgendeiner Weise zu behindern. Ebensowenig wollen wir selbstverständlich Informationen der Öffentlichkeit preisgeben, die den Feinden unseres Landes von Nutzen sein könnten.« »Selbstverständlich«, stimmte der Lord Admiral zu. »Aber dieser Fall ist schwierig«, fuhr Chief Henri fort. »Wir wissen dank der Aussage der Concierge auf zehn Minuten genau, wann der Mord verübt wurde. Wir wissen, daß Barbour die Nacht in diesem Raum verbracht hat, diesen Morgen um ungefähr fünf Minuten vor zehn fortging und um ungefähr zwanzig nach zehn wiederkehrte. Alle anderen Bewohner hatten das Haus viel früher verlassen, da sie berufstätig sind. Im Gebäude befand sich niemand außer Barbour und der Concierge. Aber in diesem Fall gibt es fast keine Spuren. Wir kennen Barbour nicht. Wir wissen nicht, wen er gekannt haben könnte, mit wem er sich getroffen haben mag oder mit wem er zu tun hatte. Wir haben keinerlei Ahnung, wer das recht gewöhnliche Messer besessen haben könnte, mit dem er ermordet wurde. Wenn man bei all dem auch noch die internationalen Verwicklungen dieser Angelegenheit berücksichtigt, dann muß ich zugeben, daß mir dieser Fall zu hoch ist. Das Gesetz ist in diesem Fall sehr eindeutig: Ich bin gezwungen, die Untersuchungsbehörde Seiner Königlichen Hoheit in Rouen zu benachrichtigen.« Admiral Brencourt nickte. »Das ist völlig klar. Selbstverständlich wäre jeder aus Seiner Hoheit Behörden von Nutzen. Können wir Euch noch auf irgendeine andere Weise behilflich sein?« »Möglicherweise schon, My Lord Admiral. Vermutlich weiß man in London mehr über diesen Barbour. Wenn es kein Bruch der Sicherheitsbestimmungen sein sollte, würde ich gern so viel wie möglich über ihn erfahren. Ich hätte gerne mehr Informationen aus London.« »Ich werde gerne sehen, was sich machen läßt, Chief Henri«, sagte der Lord Admiral. »Lord Ashley kehrt binnen Stundenfrist nach England zurück. Selbstverständlich muß das Büro des Lord Oberadmirals sofort über diese Entwicklung unterrichtet werden. Ich werde einen Brief schreiben, der um die von Euch gewünschten Informationen bittet.« Unwillkürlich grinste Chief Henri. »Potztausend! Lord Darcy irrt sich nie!« »Darcy?« My Lord Admiral hob die Augenbrauen. »Ich weiß nicht . . . Ach ja, jetzt erinnere ich mich. Chefinspektor Seiner Hoheit. Er löste doch letztes Jahr den Fall hier in Cherbourg, nicht wahr? Die Angelegenheit um den >Atlantischen FluchMedizin< und >Physik< verließen, um ihre Patienten zu kurieren. Als jenes brillante Genie, St. Hilary Robert, im vierzehnten Jahrhundert die Gesetze der Magie ausgearbeitet hatte, konnten >Blutegelsetzer< und >Mediziner< vom Kirchturm des kleinen englischen Klosters Walsingham, wo St. Hilary lebte, ihre eigenen Totenglocken vernehmen. Nicht jeder konnte diese Gesetze anwenden-, nur wer das Talent dazu hatte. Doch war die Zeremonie des >Auflegens der Hände< von jener Zeit an ebenso zuverlässig geworden, wie sie vorher zufällig gewesen war. Aber es war natürlich immer noch leichter, den Splitter im Auge des Nächsten zu sehen, ohne den Balken im eigenen Auge wahrzunehmen. Davon abgesehen war My Lord von Winchester ein sehr alter Mann, und die beiden Beschwerden, die nach wie vor nicht heilbar waren, waren das Alter und der Tod. Master Sean blickte wieder auf die botanischen Ausstellungsstücke. Doch Lord Bontriomphe war verschwunden, während der Bischof sich verabschiedet hatte, und so sehr er sich bemühte, der kleine dicke irische Hexer konnte den Chefinspektor von London nirgendwo in der Menge erkennen. Der Dreijährliche Kongreß der Heiler und Hexer war eine Veranstaltung, auf die sich Master Sean jedesmal wieder gefreut hatte, doch dieses Mal war ihm die Freude recht schlimm versauert worden. Daß ein Aufsatz, für den man drei Jahre der Forschung und sechs Monate des Schreibens geopfert hat, plötzlich von der Arbeit eines anderen vorweggenommen wird, ist nicht eben eine Erfahrung, die zu übermäßiger Freude verleitet. Aber da kann man wohl nichts machen, dachte Sean O
Lochlainn. Außerdem war Sir James Zwinge genauso bestürzt darüber gewesen wie er selber. »Ah! Guten Morgen, Master Sean! Ihr habt doch wohl gut geschlafen, wie ich hoffe?« Die forsche, recht trockene Stimme kam von Master Seans Linken. Er drehte sich schnell um und machte eine mittlere Verbeugung. »Guten Morgen, Großmeister«, sagte er freundlich. »Ich habe ausreichend gut geschlafen, ich danke Ihnen. Und Ihr selbst?« Master Sean hatte nicht gut geschlafen, und der Großmeister wußte nicht nur, daß dem so war, er wußte auch warum. Doch nicht einmal Master Sean O Lochlainn wollte sich mit Sir Lyon Gandolphus Grey, K.G.L., M.S., Th.D., F.R.T.S., Großmeister der Alten Überlieferten und Hochehrwürdigen Gilde der Hexer anlegen. »Genauso gut wie Ihr«, sagte Sir Lyon. »Aber in meinem Alter darf man nicht erwarten, daß man noch gut schläft. Ich möchte Euch einen vielversprechenden jungen Mann vorstellen.« Der Großmeister war eine imposante Figur, hochaufgeschossen, schlank, ja fast abgemagert, und doch mit einer Aura der körperlichen und geistigen Kraft umgeben. Sein Haar war silbriggrau, ebenso der recht lange Bart, den er zu tragen beliebte. Seine Augen lagen tief in ihren Höhlen und hatten einen stechenden Blick, seine Nase war dünn und gradlinig, seine Augenbrauen traten buschig hervor. Master Jean hatte den Großmeister viel zu oft gesehen, um sein Aussehen noch sonderlich zu beachten. Statt dessen zogen den kleinen, rundlichen irischen Hexer die Züge des jungen Mannes an, der neben Sir Lyon stand. Der Mann war mittelgroß, größer als Master Sean, aber längst nicht so groß wie Sir Lyon Grey. Die Ärmel seines blauen Anzugs waren mit Weiß versetzt, der den Mann als einen Wanderhexer von einem Master unterschied. Besonders sein Gesicht zog Master Seans Aufmerksamkeit auf sich. Die Haut war von einem dunklen Rotbraun, die Nase breit und wohlgeformt, während die fast schwarzen Pupillen seiner Augen von den schweren Lidern beinahe verborgen wurden. Sein Mund lächelte freundlich und war recht breit. »Master Sean«, sagte Sir Lyon, »ich möchte Euch Wanderhexer Lord John Quetzal vorstellen, den vierten Sohn seiner Hochwohlgeboren dem Herzog von Mechicoe.« »Es ist mir eine Freude, Euer Lordschaft kennenzulernen«, sagte Master Sean mit einer kleinen Verbeugung. Lord John Quetzals Verbeugung war wesentlich tiefer, wie es sich für einen Wanderhexer gegenüber einem Master gehörte. »Ich habe mich sehr auf dieses Treffen gefreut, Master«, sagte er in fast fehlerfreiem Anglo-Französisch. Master Sean konnte nur den allerleisesten Akzent aus dem Herzogtum Mechicoe wahrnehmen, das zu den südlichsten Herzogtümern Neu-Englands gehörte, nicht weit von dem Isthmus entfernt, der die Verbindung zum Kontinent von Neu-Frankreich herstellte. Doch war von einem Abkommen der Moqtessuma-Familie ein solcher einheimischer Akzent ja auch zu erwarten. »Lord John Quetzal hat sich dazu entschlossen«, sagte Sir Lyon, »Gerichtshexerei zu studieren, und ich glaube, daß er auf diesem Gebiet hervorragende Leistungen erbringen wird. Wenn Ihr mich jetzt entschuldigen würdet, ich muß mich mit dem Programmkomitee treffen und die Tagesordnungspunkte überprüfen.« So fand sich Master Sean mit Wanderhexer Lord John Quetzal alleingelassen. Er gönnte ihm sein
freundlichstes irisches Lächeln und sagte: »Nun, Euer Lordschaft, ich merke, daß Ihr nicht nur recht intelligent seid, sondern auch ein enormes Talent habt.« Der junge Mechicaner sah ihn mit erschrockener Bewunderung an. »So etwas könnt Ihr durchs bloße Ansehen merken?« fragte er mit unterdrückter Stimme. Master Seans Lächeln wurde breiter. »Nein, das habe ich geschlußfolgert.« Jetzt sollte Lord Darcy mich hören, dachte er. »Geschlußfolgert? Wie das?« »Aber ich bitte Euch«, sagte Master Sean mit einem amüsierten Glucksen, »die Einführung, die Ihr von Großmeister Sir Lyon erhalten habt, genügt mir, das zu erkennen. Er nennt Euch >einen vielversprechenden jungen MannIch glaube, daß er ausgezeichnet abschneiden wird«. Ach je, so würde Sir Lyon doch nicht einmal den König persönlich vorstellen, der ja auch keinerlei nennenswertes Talent besitzt. Wenn Ihr'den Großmeister beeindruckt habt, dann kommt Ihr allerdings mit den besten Referenzen. Außerdem schlußfolgere ich, daß Ihr nicht die Sorte Junge seid, die sich Lob zu Kopf steigen lassen — sonst hätte der Großmeister sich nicht in Eurer Gegenwart so geäußert.« Master Sean spürte, daß unter der glatten Mahagonihaut des jungen Mannes eine Verlegenheitsröte emporstieg. Deshalb wechselte er schnell das Thema. »Worauf habt Ihr Euch denn bis jetzt spezialisiert?« Lord Quetzal schluckte. »Nun ... eh ... Schwarze Magie.« Master Sean starrte ihn schockiert an. Er hätte nicht erstaunter sein können, wenn ihm ein Heiler oder Chirurgeon gesagt hätte, daß er sich darauf spezialisiert habe, Leute zu vergiften. Der junge Mechicaner sah für einige Sekunden noch verlegener aus, doch faßte er sich schnell wieder. »Ich meine nicht, daß ich sie praktiziere, um Himmels willen!« Er schaute sich um, als befürchte er, belauscht worden zu sein. Als er festgestellt hatte, daß dies nicht der Fall gewesen war, wandte er sich wieder Master Sean zu. »Ich meine damit nicht, daß ich sie praktiziere«, sagte er leiser, »ich habe sie studiert, um sie abwehren zu können. Ich weiß nicht, ob Ihr in Europa viel davon habt, aber . . . nun ja, in Mechicoe ist es anders. Selbst nach vierhundert Jahren gibt es bei uns immer noch Gläubige der Alten Religion, besonders den Kult des Huitsilopochtli, des Alten Kriegsgotts. Das gibt es zwar nicht in den Städten, auch nicht einmal in den meisten Ackerbaugebieten, dafür aber in den Bergen und Dschungeln.« »Ich verstehe. Was für ein Gott war denn dieser Hutzdings-bums?« fragte Master Sean. »Huitsilopochtli. Eine Art von Gott, wie man ihn sehr häufig bei barbarischen Völkern findet, besonders bei den kriegerischen. Strenge Disziplin, extreme Askese, freiwillige Opfer und Ritualopferungen, das erwartete er von seinen Gläubigen. Eine typisch satanische Übertreibung der Tugenden der Keuschheit, der Armut und des Gehorsams. Opferungen — das bedeutet, lebenden Menschen das Herz herauszuschneiden. Huitsilopochtli war ein ekelhafter, blutiger Teufel.« »Menschenopfer, oder zumindest Ansichten, die Menschenopfer befürworten, kennen wir bei uns aber auch«, wandte Master Sean ein. Lord John Quetzal nickte. »Ich weiß, worauf Ihr anspielt. Die sogenannte Alte Gesellschaft vom Heiligen Albion. Ihre Rädelsführer sind, glaube ich, im Mai 1965 aufgeflogen, wenn ich mich richtig erinnere, oder jedenfalls im frühen Juni.« »Aye«, sagte Master Sean, »und damit
sind wir längst noch nicht alle davon los. Schwarze Magie gibt es hier auch wesentlich häufiger, als Ihr zu glauben scheint. Man hat der Öffentlichkeit nichts davon gesagt, aber als Wanderhexer der Gilde habt Ihr vielleicht von dem Fall von Lord Duncan von Duncan gelesen, der im Jahre 1963 vorkam?« »O ja! Ich habe Euren Bericht darüber im Journal gelesen. Das war im Zusammenhang mit dem geheimnisvollen Tod des Comte D'Evereux. Ich wäre gerne dabei gewesen, als Lord Darcy diesen Fall löste!« In seinen Obsidianaugen glitzerte ein Licht. »Was hat Euer Interesse an Gerichtshexerei mit Schwarzer Magie zu tun?« fragte der irische Hexer. »Nun, wie ich schon sagte, gibt es in den entfernteren Landesteilen des Herzogtums ziemlich viel Huitsilopochtli-Verehrung. Im tiefen Süden ist es sogar noch schlimmer. Mein edler Cousin, der Herzog von Eucatanne, wird ständig von ihr bedroht. Wenn es nur ländlicher Aberglaube wäre, wäre es ja nicht weiter schlimm, aber viele von ihnen haben echtes Talent. Die Gebildeteren unter ihnen haben Mittel und Wege gefunden, die Gesetze der Magie im Dienste der Riten und Zeremonien des Huitsilopochtli anzuwenden. Dies geschieht stets zu bösen Zwecken. Es ist die übelste Form Schwarzer Magie, und ich will versuchen, alles zu tun, was in meiner Macht steht, sie auszuradieren. Sie beschränken ihr Tun nicht auf die abgelegenen Orte, wo ihre Tempel versteckt sind; ihre Agenten kommen in die Dörfer und terrorisieren die Bauern, in den Städten versuchen sie sogar, die lokalen Regierungen zu stürzen. So etwas muß unterbunden werden, und ich werde dafür sorgen, daß es auch tatsächlich unterbunden wird!« »Ein schwieriges Vorhaben — und ein lobenswertes dazu. Habt Ihr . . .« »Ah, Master Sean!« sagte eine ölige Stimme zur Linken, hinter Lord Quetzal. Master Sean hatte Master Ewen MacAlister kommen sehen und vergeblich gehofft, daß Master Ewen ihn nicht sehen würde. Er hatte auch so schon genügend Sorgen. »Master Ewen«, sagte Master Sean mit einem gequälten Lächeln. Noch bevor er Lord John Quetzal vorstellen konnte, begann Master Ewen, der den Wanderhexer völlig unbeachtet ließ, zu sprechen. »Habe gehört, daß Ihr eine kleine Auseinandersetzung mit Sir James hattet, Sean, eh? Gestern, he, he.« »Keine Auseinandersetzung. Wir . . .« »Ach, ich meine doch keinen Streit. Aber worüber habt Ihr Euch eigentlich gestritten? Keiner weiß das.« »Wahrscheinlich, weil es keinen etwas angeht«, schnappte Master Sean. »Natürlich nicht, he, he, natürlich nicht. Trotzdem, es muß ja heiß hergegangen sein, sonst hätte der Großmeister ja wohl nicht eingegriffen.« »Er hat überhaupt nicht >eingegriffenSir Lyondieser Raum wurde abgeschlossen und versiegelt. Sir James wurde zu einem Zeitpunkt erdolcht, als sich niemand sonst im Raum aufhielt. Was meint Ihr dazu?< Er strich einige Male über seinen Bart und sagte dann: >Ich verstehe Eure Frage. Ja, auf den ersten Blick würde ich sagen, daß er durch Schwarze Magie getötet wurde. Aber das ist nur eine Vermutung, die sich auf die körperlich wahrnehmbaren Tatsachen stützt. Ich nehme zwar an, daß Ihr es nicht selbst wahrnehmen könnt, aber dieses Hotel ist zur Zeit nicht nur mit den gewöhnlichen kommerziellen Zaubern ausgerüstet, um unbefugten Gebrauch des Hellsehtalents zu unterbinden. Bevor der Kongreß anfing, ist eine Spezialistengruppe von sechs Hexern das ganze Gebäude durchgegangen, die diese Zauber verstärkten und andere hinzufügten.
Diese Zauber verhindern zwar nicht das Sehen in die Zukunft, da es unmöglich ist, einen Bann in die Zukunft auszusenden; aber sie verhindern es, daß jemand mit seinen hellseherischen Fähigkeiten in das Zimmer eines anderen hineinblicken kann, und sie machen es auch sehr schwer, wahrzunehmen oder zu verstehen, was im Geist eines anderen vor sich geht. Bevor ich mit Bestimmtheit sagen kann, daß Sir James durch einen Akt Schwarzer Magie getötet wurde, möchte ich die ganze Angelegenheit noch gründlicher untersucht haben.« >Eine solche Untersuchung wird stattfinden«, sagte ich ihm. »Dann zur nächsten Frage: Wer hatte einen Grund, ihn zu ermorden? Hatte irgend jemand Streit mit ihm?< Glaubt mir, Lord Darcy, alle Augen richteten sich auf Master Sean. Außer seinen eigenen, natürlich. Also fragte ich ihn natürlich, was für ein Streit das gewesen sei. >Es war kein Streit«, sagte er bestimmt. >Beide, Sir James und ich, waren wir wütend, aber nicht aufeinander.« >Auf wen wart Ihr denn dann wütend?« >Auf niemanden. Wir hatten beide über einen bestimmten thaumaturgischen Effekt gearbeitet und hatten fast identische Spruchformeln entdeckt, die diesen Effekt bewirken konnten. Das ist in der Geschichte der Magie schon öfter passiert. Wir haben uns vielleicht gegenseitig angeknurrt und angekläfft, aber wir waren eigentlich nur auf diesen dummen Zufall wütend.« >Wie kam denn diese, eh, Diskussion zustande?« fragte ich ihn. >Eine zufällige Unterhaltung im Komiteeraum. Wir kamen miteinander ins Gespräch, und das Thema kam auf. Wir verglichen unsere Aufzeichnungen und ... na ja, da kam's dann heraus. Worüber wir uns wirklich uneins waren, das war die Frage, wer seine Untersuchungen als erster einreichen solle. Also baten wir Sir Lyon darum, für uns die Entscheidung zu fällen.« Ich sah Sir Lyon an. Er nickte. »Das stimmt. Ich entschied, daß es für sie beide das beste sei, wenn sie die Studie gemeinsam herausgeben würden, unter zwei Namen mit einer ausführlichen Erklärung, daß die Arbeit von beiden unabhängig voneinander geleistet worden war.< >Sagt doch bitte, Sir Lyondiese Studie, diese Papiere also, wären das ausschließlich thaumaturgische Gleichungen? < >Aber nein! Das wären lange Ausführungen über den Effekt. Natürlich gäbe es darin auch Gleichungen, aber der Text wäre eigentlich in Anglo-Französisch. Es gäbe verständlicherweise viele Fachwörter, Berufsjargon, wenn Ihr so wollt, aber . . .< >Wo befindet sich denn dann die Studie von Sir James? < fragte ich. >Im Raum ist sie nicht.< >Ich habe sieEs wurde ausgemacht, daß ich eine erste Zusammenfassung der beiden Studien schreiben sollte. Dann wollten wir die Sache heute morgen um neun Uhr dreißig noch einmal besprechen und eine zweite Fassung schreiben. < >Wann habt Ihr Sir James zum letzten Mal gesehen? < fragte ich. »Gestern abend gegen zehnIch kann nicht darauf bestehen, daß Ihr dem Chefinspektor diese Manuskripte zeigt, Master Sean; ich kann Euch nicht befehlen, den Vorgang preiszugeben. Aber ich habe das Gefühl, daß das Thema der Untersuchungen etwas mit dem Fall zu tun haben könnte. < Master Sean öffnete seinen Mund und schloß ihn wieder Nach einer Sekunde oder so sagte er: >Nun ja, das steht sowieso auf dem Programm. Meine Studie sollte lauten >Eine Methode zur Ermöglichung chirurgischer Eingriffe in unzugänglichen Organen«. Sir James betitelte seine Arbeit >Die chirurgische Inzision innerer Organe ohne Durchbrechung der Bauchdecke«. < Da quiekte Master Netly auf. >Ihr meint eine Methode, eine Klinge in einem geschlossenen Raum zu führen? Erstaunlich!' Dann wich er einige Schritte von Master Sean zurück und sagte: >Das meinte er also, als er schrie!< Ich hörte zum ersten Mal, daß Master Sir James etwas! Bestimmtes gerufen hatte. Die Worte hatten gelautet, darüber waren sich alle einig: >Master Sean! Hilfe!hier nichts zu suchen< habe. Es läßt sich guten Gewissens sagen, daß Bridget Courville wirklich nicht über das nachdachte, was sie gerade tat, als sie den Sack aufhob und in die Halle stellte, bevor sie das Zimmer abschloß und das nächste betrat. Um ein Uhr fünfzehn erblickte ein Dienstjunge, der die Gäste mit Getränken und Speisen zu versorgen hatte, den Sack in der Halle, der dort etwas deplaziert wirkte. Ohne darüber nachzudenken, nahm er ihn an sich und brachte ihn nach unten. Er legte ihn auf den Gepäckständer neben dem Haupteingang und vergaß ihn bald darauf. Hennely Grayme, Oberster Wachtmeister der City of London, verließ um fünf Minuten vor zwei das Hotel, nachdem er alles Erforderliche am Tatort protokolliert hatte. Am Eingang blieb er stehen und erblickte den Reisesack auf dem Ständer. Er las die Anfangsbuchstaben S.O.L. auf dem Griff und hob den Sack wie automatisch auf und nahm ihn mit. Als er im Tower vorbeischaute, wechselte er einige Worte mit dem Oberaufseher und ließ den Sack stehen, ohne ihn zu erwähnen. Bis fünfzehn Minuten vor drei blieb der Reisesack unbemerkt im Vorzimmer des Oberaufsehers stehen. Während dieser Zeit kamen viele Leute in das Vorzimmer und verließen es wieder, ohne den Sack wahrzunehmen. Keiner von ihnen ging in die richtige Richtung. Um zwei Uhr fünundvierzig erblickte Master Seans Zellenaufseher den Reisesack. Nachdem er dem Oberaufseher Meldung gemacht hatte, nahm er beim Hinausgehen den Sack mit und trug ihn die Wendeltreppe zu Master Seans Zelle hoch. Er schloß die Zellentür auf und klopfte höflich an. »Master Sean, ich bin es, Aufseher Linsy.« »Herein, mein Junge, hereinspaziert!« sagte Master Sean jovial. Die Tür ging auf. Als Master Sean den Reisesack in der Hand des Aufsehers erblickte, mußte er ein Lächeln unterdrücken »Was kann ich für Euch tun, Aufseher?« »Ich wollte mich erkundigen, was Ihr wohl zum Abendessen zu speisen wünscht, Master«, sagte Aufseher Linsy unterwürfig. Gedankenverloren setzte er den Reisesack im Zimmer ab. »Ach, mein guter Aufseher, das ist mir unwichtig«, sagte Master Sean. »Was immer der Oberaufseher bestimmen mag.« Aufseher Linsy lächelte. »Nett von Euch, Master.« Dann senkte er die Stimme. »Keiner von uns, wo dran glauben täte, daß Ihr es wart, Master Sean. Unsereiner weiß doch, daß ein Hexer niemanden umbringen tut. Nicht so, meine ich, nicht mit Schwarzer Magie.« »Danke für das Vertrauen, mein Junge«, sagte Master Sean wohlwollend. »Ich darf Euch versichern, daß es nicht unangebracht ist. Wenn Ihr mich jetzt entschuldigen wollt, ich muß über einiges nachdenken.«
»Selbstverständlich, Master Sean, selbstverständlich!« Und Aufseher Linsy schloß die Tür, betätigte sorgfältig den Schlüssel und ging weiter seinen Geschäften nach. Lord Darcys Fahrt vom Palace du Marquis zum Tower of London war nicht sonderlich ereignisreich. Die Droschke klapperte die Mark Lane hinaus, schwenkte und fuhr den Tower Hill hinunter. Am Tor von Water Lane hielt sie an. Lord Darcy stieg aus. Ein schwerer, weißlicher Nebel zog mit seinen Schwaden durch die Stäbe des hohen Eisenzauns und blieb an den Schatten der gotischen Gewölbe hängen. Von der Themse kamen, nur schwach zu hören, Glockenlaute von Schiffen herüber, die sich durch das nebelbeladene Wasser schoben. Die Luft war schal, und ein leiser Geruch von Meeresfäule zog die Wand entlang, die eine der Festungsmauern ausmachte. Lord Darcy rümpfte die Nase und schritt über die steinerne Brücke, die vom Middle Tower zu einem weiteren Turm führte. Dieser Turm war größer und von schwarzgrauer Farbe, die von vereinzelten weißen Wandsteinen unterbrochen wurde. Er schritt durch einen weiteren Torbogen, ging einen kurzen, geraden Weg entlang und bog schließlich nach rechts ab, um St. Thomas' Tower zu betreten. Binnen weniger Minuten öffnete der Aufseher das Schloß von Master Seans Zelle. »Ruft mich, wenn Ihr wieder fort wollt, My Lord«, sagte er. Er ging hinaus und schloß die Tür von außen ab. »Nun, Master Sean«, sagte Lord Darcy mit einem humorvollen Blinken im Auge, »ich nehme doch an, daß Ihr diese idyllische Erholung von Euren anstrengenden Tätigkeiten gebührend genießt, eh?« »Hm-m-m, ja und nein, My Lord«, sagte der kleine dicke Hexer. Er winkte mit der Hand in Richtung eines einfachen kleinen Tisches, auf dem sein Reisesack lag. »Ich kann nicht behaupten, daß es mir sonderlich gefällt, eingesperrt zu sein, aber so habe ich doch Gelegenheit bekommen, herumzuexperimentieren und nachzudenken.« »Ach ja? Und worüber?« »Darüber, wie man in verschlossene Räume eindringt und sie wieder verläßt, My Lord.« »Und zu welchem Ergebnis seid Ihr gekommen, mein guter Sean?« fragte Lord Darcy. »Ich bin zu dem Ergebnis gekommen, daß das Sicherheitssystem hier zwar gut ist, aber doch nicht gut genug. Um mich gefangenzuhalten, meine ich. Den Zauber auf diesem Schloß habe ich in zehn Minuten geknackt.« Er hob einen kleinen, blitzenden Messingstab hoch und zwirbelte ihn zwischen Daumen und Zeigefinger. »Natürlich habe ich alles wieder versiegelt, My Lord. Es gibt schließlich keinen Grund, den Aufseher zu beunruhigen, der ganz in Ordnung ist.« »Ich sehe, daß Ihr Euren Zubehörsack schnell genug zurückbekommen habt. Na ja, man kann ja auch nicht von einem gewöhnlichen Gefängnismagier erwarten, daß er es mit jemandem von Euren Fähigkeiten aufnimmt, Meisterhexer. Nun setzt Euch bitte und berichtet mir ausführlich, wie es dazu kommen konnte, daß Ihr in einem der ältesten Wahrzeichen von London eingekerkert wurdet. Laßt keine Einzelheiten aus.« Lord Darcy unterbrach Master Sean nicht, während dieser seine Geschichte erzählte. Er hatte schon seit Jahren mit dem kleinen Hexer zusammengearbeitet und wußte, daß Seans Gedächtnis zuverlässig und genau arbeitete. »Und dann«, beendete Master Sean seinen Bericht, »brachte mich Lord Bontriomphe hierher, unter, wie ich
zugeben muß, ehrlichen Entschuldigungen seinerseits. Ich kann es allerdings überhaupt nicht begreifen, warum mich der Marquis hat einsperren lassen. Ein Mann mit seinen Fähigkeiten müßte doch eigentlich sehen können, daß ich nichts mit dem Tod von Sir James zu tun gehabt habe.« Lord Darcy zupfte etwas Tabak aus einem ledernen Beutel und stopfte ihn mit dem Daumen in den goldverzierten Porzellankopf seiner Lieblingspfeife. »Natürlich weiß er, daß Ihr unschuldig seid, mein lieber Sean«, sagte er. »My Lord Marquis ist sowohl ein Geizhals wie auch ein Faulpelz. Bontriomphe ist ein ausgezeichneter Untersuchungsbeamter, doch fehlt es ihm an der Deduktionsfähigkeit in ihrer höchsten Form. My Lord Marquis aber vermag es, aufs brillanteste zu kombinieren und Schlüsse zu ziehen, aber er ist sowohl körperlich als auch geistig recht träge. Er verläßt sein Heim nur sehr selten und niemals kriminalistischer Untersuchungen wegen. Muß er es doch tun, so bringt er es fertig, die verzwicktesten und kompliziertesten Rätsel zu lösen, ohne mehr zur Hand zu haben als Lord Bontriomphes mündliche Berichterstattung. Sein Denkvermögen ist — brillant.« Lord Darcy zündete seine Pfeife an, und hüllte sich in eine Wolke wohlduftenden Rauches. »Wenn Ihr so etwas sagt«, sagte Master Sean, »dann ist das ein ziemlich großes Kompliment.« »Ganz und gar nicht. Es ist eine bloße Feststellung von Tatsachen. Vielleicht liegt es ja im Blut, wir sind immerhin Cousins, wie Ihr wißt.« Master Sean nickte. »Wenigstens fließt die Faulheit nicht in Eurem Blut, My Lord. Aber warum sollte er mich einsperren, wenn er faul ist?« »Faul und geizig, mein guter Sean«, berichtigte Lord Darcy den Hexer. »Beides ist dabei wichtig. Er hat bereits erkannt, daß dieser Fall viel zu kompliziert ist, um ihn den etwas dürftigen Fähigkeiten von Lord Bontriomphe anzuvertrauen.« Lord Darcy lächelte und nahm die Pfeife aus dem Mund. »Ihr habt gerade davon gesprochen, daß ich Seiner Lordschaft Scharfsinnigkeit ein Kompliment gemacht habe. Wenn dem so sein sollte, dann hat er, auf seine Weise, mir dasselbe Kompliment gemacht. Er ist ausgesprochen faul und sucht deshalb jemanden, der die Arbeit für ihn erledigt, und zwar jemanden, der fähig genug ist, das Problem mit der gleichen Leichtigkeit zu lösen wie er selbst, wenn er sich nur damit befassen würde. Er hat mich ausgewählt, und es schmeichelt mir, daß er wohl niemanden sonst dafür bestimmt hätte.« »Das erklärt aber noch nicht, warum er mich eingesperrt hat«, sagte Master Sean. »Er könnte Euch doch einfach um Hilfe bitten!« Lord Darcy seufzte. »Ihr habt schon wieder seinen Geiz vergessen, guter Sean. Würde er Seine Königliche Hoheit von der Normandie darum bitten, ihm für eine Weile meine Dienste zur Verfügung zu stellen, dann müßte er mein Gehalt aus seiner eigenen Börse bezahlen. Aber weil er Euch eingesperrt hat, hat er mich meines meistgeschätzten Helfers beraubt. Er weiß, daß ich Euch nicht eine Sekunde länger in Gefangenschaft dulden werde als nötig. Er weiß, daß ich also selbst um Urlaub bitten muß, um den Fall auf eigene Kosten zu lösen. So spart er eine hübsche Menge Geld.« »Erpressung!« sagte Master Sean. >»Erpressung< ist vielleicht ein etwas zu hartes Wort«, sagte Lord Darcy nachdenklich, »aber ich muß zugeben, daß es wohl kein treffenderes dafür gibt. Aber diese Angelegenheit wird noch zu ihrer Zeit erledigt werden. Jetzt müssen
wir uns zunächst einmal um den Tod von Sir James kümmern. Also, wie war das mit dem Schloß an der Tür von Sir James' Zimmer?« Master Sean lehnte sich im Stuhl zurück. »Nun, My Lord, wie Ihr wißt, sind die meisten kommerziellen Zauber recht einfach konstruiert, besonders solche, bei denen man mehr als einen Schlüssel benutzen muß, wie das ja in Hotels der Fall ist.« Lord Darcy nickte geduldig. Master Sean O Lochlainn hatte die etwas schulmeisterliche Angewohnheit, seine Erklärungen so abzufassen, als gelte es, Zauberlehrlinge aufzuklären. Das war allerdings kaum verwunderlich, denn der kleine dicke Hexer hatte früher tatsächlich in einer der Schulen der Hexengilde unterrichtet und hatte auch zwei Lehrbücher und einige Abhandlungen über das Thema verfaßt. Lord Darcy hatte es sich schon lange angewöhnt, genau zuzuhören, auch dann, wenn er Teile des Vertrags bereits kannte; denn immer gab es etwas Neues zu lernen, das man später vielleicht einmal verwenden konnte. Lord Darcy besaß nicht das angeborene Talent, das es erst ermöglicht, die Gesetze der Magie direkt anzuwenden, aber man wußte ja nie, ob nicht irgendein esoterisches Informationsstückchen auch einem Kriminalinspektor einmal von Nutzen sein konnte. »Ein durchschnittlicher kommerzieller Zauber arbeitet nach dem Gesetz der Übertragung, so daß jeder Schlüssel, der das Schloß berührt, während der Zauber verhängt wird, dieses Schloß öffnen und verriegeln kann«, fuhr Master Sean fort. »Aber das bedeutet natürlich auch, daß der Zauber Vergleichsweise abgeschwächt wird. Ein normaler Nachschlüssel würde zwar nicht funktionieren, aber jeder gute Lehrling der Hexergilde könnte den Zauber brechen, wenn er einen solchen Nachschlüssel besäße. Ein Master aber könnte ihn sogar ohne Schlüssel in ein bis zwei Minuten brechen. Der persönliche Zauber eines Masters aber operiert mit dem Gesetz der Relevanz, um den gesamten Schlüssel-und-Schloß-Mechanismus als Einheit zusammenzubinden, also: ein Schloß, ein Schlüssel. Der Zauber wird verhängt, während sich der Schlüssel im Schloß befindet, so daß die Bindung den Schlüssel als Teil des Schlosses umfaßt, wenn Ihr mir folgen könnt, My Lord. Kein anderer Schlüssel kann dann für das betreffende Schloß verwendet werden, auch wenn er dem eigentlichen Schlüssel gleicht wie ein Ei dem anderen.« »Und das Schloß von Master Sir James hatte also einen solchen Zauber, eh?« fragte Lord Darcy. »So ist es, My Lord.« »Könnte ein Master-Hexer den Zauber beseitigt haben?« Master Sean nickte. »Aye, das hätte er gekonnt, in etwa einer halben Stunde. Aber bedenkt bitte, was das bedeutet hätte, My Lord. Der Unbekannte hätte mindestens eine halbe Stunde lang im Gang stehen müssen, um das notwendige Ritual durchzuführen, möglicherweise sogar länger. Jeder, der vorbeigekommen wäre, hätte es bemerken müssen. Auf jeden Fall hätte Master Sir James es bemerkt, sofern er sich im Zimmer aufhielt. Aber nehmen wir einmal an, daß es so gewesen wäre. Nun öffnet der Unbekannte die Tür mit einem gewöhnlichen Nachschlüssel, geht hinein und tötet Sir James. So weit so gut. Danach kommt er aus dem Zimmer und verhängt einen weiteren Zauber über Schloß und Schlüssel, wobei der Schlüssel ja im Schloß stecken muß. Dazu braucht er eine weitere halbe Stunde. Und dann . . .« Master Sean erhob den Zeigefinger mit einer theatralischen
Geste. »Und dann — muß er den Schlüssel wieder in das Zimmer zurückbefordern!'« Master Sean spreizte die Hände, mit den Handflächen nach oben. »Ich muß zu bedenken geben, das so etwas nicht möglich ist, My Lord. Nicht einmal für einen Magier.« Lord Darcy zog nachdenklich an seiner Pfeife, dann sagte er: »Ist es nicht theoretisch möglich, einen Gegenstand von einem Punkt im Raum an einen anderen Punkt zu befördern, ohne den Zwischenraum tatsächlich zu durchqueren?« »Theoretisch?« Master Sean lächelte schief. »O ja, My Lord. Theoretisch ist die Transmutation der Metalle theoretisch auch möglich. Aber niemand hat das bisher geschafft. Wenn irgend jemand die notwendigen Riten und Zeremonien entdecken würde, dann wäre das der größte wissenschaftliche Durchbruch des Zwanzigsten Jahrhunderts. So etwas könnte man nicht geheimhalten. Beim gegenwärtigen Stand der Wissenschaft ist das einfach unmöglich, My Lord. Und sollte es tatsächlich durchführbar sein, My Lord, dann würde man das bestimmt nicht für solche triviale Dinge anwenden, wie einen großen Messingschlüssel ein paar Fuß weit zu bewegen.« »Nun gut«, sagte Seine Lordschaft, »das können wir also ausschließen.« »Das Problem besteht darin«, sagte Master Sean, »daß all diese Zauber, die einen abschirmen sollen, um das Privatleben zu sichern, es so schwierig machen, seine Aufgabe zu erfüllen. Wenn es die nicht gäbe, dann wäre Euer Beruf recht einfach.« »Mein lieber Sean«, sagte Cord Darcy lächelnd, »wenn es diese Zauber zur Absicherung des Ungestörtseins nicht in jedem Hotel, Privathaus, Bürogebäude und in allen öffentlichen Gebäuden jeder Art gäbe, dann wäre mein Beruf nicht einfach, es gäbe ihn überhaupt nicht. Obwohl das Hellsehtalent sicherlich nützlich ist, führt sein Mißbrauch natürlich zu solch starker Beeinträchtigung des Privatlebens, daß wir uns davor schützen müssen. Stellt Euch doch einmal vor, was ein Hellseher alles anrichten könnte, wenn es diese Schutzzauber nicht gäbe! Zwar könnte die Polizei jeden Fall sofort einem Hellseher unterbreiten, der ihn sofort aufklären würde; andererseits könnte aber auch jede korrupte Regierung Hellseher einsetzen, um jeden beliebigen Bürger zu bespitzeln. Ganz zu schweigen von den Möglichkeiten der Erpressung! Nein, wir müssen dankbar dafür sein, daß uns die modernen Schutzzauber davor bewahren, auch wenn es dadurch notwendig wird, Verbrechen auf der materiellen Ebene aufzuklären. Und auch so werde ich nie herbeigerufen, wenn auf dem Land irgend etwas passiert. Wenn jemand auf einem Feld oder im Wald ermordet wird, dann kann ein Wanderhexer für den örtlichen Wachtmeister den Fall mit Leichtigkeit aufklären, so wie er auch vermißte Kinder und entlaufene Haustiere wiederfindet. Meine Fähigkeit, Tatsachen aufgrund materiellen und thaumaturgischen Beweismaterials herauszufinden, wird vielmehr in den Großstädten, Kleinstädten und Dörfern in Anspruch genommen. Meine Aufgabe ist es, Methode, Motiv und Tatverlauf aufzuklären.« Er zog ein kleines silbernes Werkzeug mit Elfenbeingriff aus der Tasche und begann, die Asche in seiner Pfeife niederzudrücken. »Methode, Motiv und Tatverlauf«, wiederholte er nachdenklich. »Im Augenblick haben wir keine Kandidaten für die ersten beiden Fragen; was den Tatverlauf beziehungsweise die Tatgelegenheit angeht aber,
haben wir viel zu viele davon.« Er steckte den Pfeifenstopfer wieder in die Tasche und nahm die Pfeife erneut in den Mund. »Normalerweise, wenn ein Fall scheinbar mit Magie zu tun hat, mein lieber Sean«, fuhr er fort, »dann kommt es vor allem darauf an, den in Frage kommenden Magier ausfindig zu machen. Ihr werdet Euch an das hochinteressante Benehmen des Lord Duncan auf Schloß D'Evreux erinnern, an die seltsamen Gewohnheiten des einarmigen Kesselflickers auf dem Michaeli-Fest, an den polnischen Hexer, der im Fall des Atlantischen Fluchs eine Rolle spielte, an den fehlenden Magier in der Erpressungsaffäre von Canterbury sowie natürlich auch an die merkwürdige Affäre um Lady Overleighs Massivgoldnachttopf. In allen diesen Fällen war es immer ein einziger Hexer, der darin verwickelt war. Aber was liegt hier dagegen vor?« Lord Darcy wies mit seiner Pfeife in die ungefähre Richtung des Royal Steward Hotels. »Hier haben wir fast die Hälfte aller amtlich zugelassenen Hexer des Reichs versammelt. Darunter befinden sich ungefähr fünfund-siebzig oder achtzig Prozent der mächtigsten Magier der Erde! Wir haben es mit einer Gruppe, ja mit einer Menschenmenge von Verdächtigen zu tun, von denen jeder die Fähigkeit besitzt, gegen Master Sir James Zwinge Schwarze Magie anzuwenden, und von denen jeder auch die Möglichkeit hatte, dies zu tun.« Nachdenklich massierte Master Sean seine runde irische Nase mit Daumen und Zeigefinger seiner linken Hand. »Ich kann einfach nicht verstehen, warum irgendeiner von ihnen es getan haben sollte, My Lord. Jedes Mitglied der Gilde weiß doch, wie gefährlich das ist! >Der Geisteszustand, der für den Gebrauch des Talents zum Zwecke der Schwarzen Hexerei notwendig ist, ist auch ein Geisteszustand, der denjenigen, der davon Gebrauch macht, unweigerlich zerstören wird. < Das ist ein Zitat aus einem der Grundlehrbücher, My Lord, und jedes grimoire sagt in etwa dasselbe. Wie könnte ein Hexer denn so dumm sein?« »Warum werden denn manche Chirurgi von Opiumdestillaten abhängig?« fragte Lord Darcy. »Ich weiß, My Lord, ich weiß«, sagte Master Sean mit etwas müder Stimme. »Ein Akt Schwarzer Magie wirkt allein nicht verheerend; er bewirkt in vielen Fällen nicht einmal einen nach weisbaren geistigen oder moralischen Wandel bei demjenigen, der ihn durchführt. Aber das entscheidende Wort dabei ist eben >nachweisbarOh! Woher wußtest du denn, daß ich hier bin? Bist du etwa eine Seherin geworden? < Dann hättest du gelächelt und weise dreingeschaut und gesagt: >Ach weißt du, ich habe so meine Methoden!Bei Gott, Sir James! Ihr verurteilt ihn zum Tode! Ich warne Euch! Wenn er stirbt, sterbt Ihr auch!Begib dich dort-und-dort-hin, dort wirst du den-und-den vorfinden. Töte ihn!< Das tut er, und eine Stunde später geht er bereits wieder seinen gewöhnlichen Geschäften nach. Keine Verbindung zwischen ihm und dem Ermordeten, kein Motiv, das den Mörder mit seinem Opfer zu verbinden scheint. Nicht die geringste Spur.« Sie gingen durch die Tür und wendeten sich nach rechts. »Ich nehme an«, sagte Lord Darcy lächelnd, »daß Euer Pessimismus nicht vom gesamten Marinegeheimdienst geteilt wird?« »Nun, ich glaube leider«, sagte der Commander in einem etwas defensiven Ton, »daß das wohl doch der Fall ist. Wenn man die Mörder finden kann — um
so besser. Aber das ist dann eher eine Begleiterscheinung der eigentlichen Arbeit, versteht Ihr?« »Also nimmt die Marine an, daß etwas viel Gefährlicheres als die beiden Morde im Gange ist?« Die beiden Männer hielten vor der Tür mit dem goldenen und vielfarbenen Wappen, das den Empfangssalon der Queen Anette kennzeichnete. »Ja, das nehmen wir an. Der König ist wegen der Angelegenheit äußerst konsterniert. Er wird Euch alle weiteren notwendigen Informationen geben.« "Lord Ashley öffnete die verzierte Tür, und die beiden Männer traten ein. Lord Darcy erkannte die drei Männer an dem langen Tisch sofort, obwohl er nur einem von ihnen zuvor einmal begegnet war. Lord Bontriomphe sah so gelöst und umgänglich aus wie immer. Der aufrechte, silberbärtige Mann mit den stechenden Augen und der beeindruckenden Hakennase konnte nur Sir Lyon Grey sein, obwohl er gewöhnliche Morgenkleidung trug und nicht das formelle Blaßblau und Silber des Meisterhexers. Der dritte Mann besaß ein sehr bemerkenswertes und hervorstechendes Gesicht. Er schien Ende Vierzig oder Anfang Fünzig zu sein, obwohl sein dunkles, lockiges, leicht unordentliches Haar nur wenige dünne graue Strähnen aufwies, die man außerdem nur bei näherem Hinsehen bemerken konnte. Seine Stirn war steil und uneben; sie verlieh dem Kopf ein etwas gemeißelt wirkendes Aussehen. Seine Augen saßen tief unter dicken, buschigen Augenbrauen und besaßen schwere Lider, seine Nase war zwar auch so groß wie die von Sir Lyon, doch während dessen Nase dünn und fast messerscharf war, wirkte sie dagegen, als ob sie mindestens einmal gebrochen worden und ohne Zuhilfenahme eines Heilers verheilt war: breit und leicht verdreht. Sein Mund war breit und hatte gerade Lippen, und der Schnäuzer darüber war dicht und buschig, die Haare gingen an den Enden auseinander und strebten einzeln in die Höhe wie die Schnurrbarthaare einer Katze. Sein Kinnbart war voll, aber ziemlich kurz gestutzt und ebenso drahtig und kraus wie sein Kopfhaar, der Schnäuzer und die Augenbrauen. Auf den ersten Blick konnte man den Eindruck gewinnen, daß dieser Mann durch abweisende Skrupellosigkeit und mitleidloses Durchsetzungsvermögen gekennzeichnet war; erst bei näherem Hinsehen wurde offenbar, daß diese Eigenschaften durch Weisheit und Humor abgemildert wurden. Es war das Gesicht eines Mannes mit enormen inneren Kräften, der diese weise und richtig anzuwenden verstand. Lord Darcy hatte diesen Mann schon beschrieben bekommen. Seine Uniform in Königsblau, die schwer mit Gold besetzt war, offenbarte ihn schließlich als Peter de Valera ap Smith, Lord Hochadmiral der Reichsmarine, Commander der Vereinigten Flotten, Ritter und Kommandeur des Ordens vom Goldenen Leoparden und Stabschef der Marinekriegsführung. Hinter dem Lord Hochadmiral stand ein vierter, etwa gleichaltriger Mann, dessen Haar allerdings schon recht grau war und dessen Gesichtszüge derart durchschnittlich waren, daß sie jm Vergleich zur Bedeutungslosigkeit verblaßten. Lord Darcy erkannte ihn nicht, aber seine Uniform wies ihn als Marinekapitän aus, was darauf hinwies, daß er wohl mit dem Marine-geheimdienst zu tun hatte. Als Commander Lord Ashley die üblichen Vorstellungen durchführte, fand sich Lord Darcy in seinen Vermutungen bestätigt, auch was den
letzten Mann anging; es war Captain Percy Smollett, Chef des Marinegeheimdienstes (Abteilung Europa). Lord Darcy bemerkte, daß von den drei Marinern nur der Lord Hochadmiral sein Paradeschwert trug; er allein war von den dreien dazu berechtigt, damit vor den König zu treten. Plötzlich fühlte Lord Darcy sehr deutlich die Pistole an seiner rechten Hüfte, auch wenn diese durch sein Morgenjackett verborgen wurde. Nachdem die Vorstellungen gerade beendet waren, wurde plötzlich die Tür geöffnet, und ein Mann in der Livree eines Majordomus des Königlichen Haushalts trat ein. »My Lords und Gentlemen«, sagte er mit fester Stimme. »Seine Majestät der König!« Die sechs Männer sprangen auf. Als der König eintrat, verneigten sie sich, anstatt niederzuknien. Dies war eine hübsche Feinheit der Etikette, die oft mißverstanden wurde. Seine Majestät trug die Uniform des Oberbefehlshabers der Reichsmarine. Hätte er vollen Ornat getragen, oder auch nur gewöhnliche Straßenkleidung, so wäre ein Niederknien angebracht gewesen; doch in militärischer Uniform war er in der Rolle eines Offiziers — des allerhöchsten aller Offiziere zwar, doch immerhin eines Offiziers, und kein Offizier wurde mit Niederknien begrüßt. »My Lords und Gentlemen, bitte sich zu setzen«, sagte Seine Majestät. John IV, von Gottes Gnaden König und Kaiser von England, Frankreich, Schottland, Irland, Neuengland und Neufrankreich, Wächter des Glaubens et cetera, war das vollkommenste Modell eines Plantagenet-Königs. Groß, breitschultrig, blauäugig und stattlich blond, war John of England ein direkter Nachkomme von Henry II, dem ersten König der Plantagenet-Linie, denn er war der Sohn von Henrys Enkel King Arthur. Wie sein Vorfahr zeigte auch King John IV all die Kraft, Fähigkeit und Weisheit, die für die älteste in Europa herrschende Familie so charakteristisch war. Lediglich körperlich ähnelte er den Mitgliedern des wilden, labilen, verschwendungssüchtigen Seitenzweigs der Familie (der mittlerweile glücklicherweise ausgestorben war), der von dem jüngsten Sohn von Henry II abstammte, dem unglückseligen Johann Ohneland, der drei Jahre vor dem Tod von König Richard Löwenherz im Jahre 1219 im Exil gestorben war. Der König nahm am Kopfende des Tisches Platz. Zu seiner Linken saßen in der angemessenen Rangfolge der Lord Hochadmiral, Captain Smollett und Lord Bontriomphe. Zur rechten Hand saßen Sir Lyon, Commander Lord Ashley und Lord Darcy. »My Lords und Gentlemen, ich glaube, wir alle wissen, warum wir hier versammelt sind, doch damit wir die Tatsachen noch einmal in richtiger Reihenfolge hören, möchte ich My Lord Hochadmiral bitten zu erklären, womit wir es zu tun haben. My Lord, habt die Güte!« »Sehr wohl, Sire.« My Lord Admirals Stimme war ein leicht rauher Bariton, der sich so anhörte, als solle er lieber Befehle vom Kommandodeck brüllen, als in leisem Ton eine ruhige Unterhaltung in Westminster Palace zu führen. Er blickte mit seinem durchdringenden Seemannsblick um sich in die Runde. »Es geht um eine Waffe«, sagte er abrupt, »ich nenne es jedenfalls eine Waffe. Sir Lyon tut das nicht. Aber ich bin ja nur ein Mariner, kein Hexer. Wir wissen ja alle, daß die Hexerei ihre Grenzen hat, eh? Deshalb kann Magie auch nicht zu Kriegszwecken gebraucht werden; wenn ein Hexer ein feindliches
Schiff zerstören will, dann muß er Schwarze Magie anwenden, und kein Hexer im Besitz seiner geistigen Kräfte würde das tun wollen. Außerdem ist Schwarze Magie auch nicht sonderlich effektiv. '39 versuchte die polnische Marine damit zu arbeiten, und unsere Gegenzauber machten die ganze Sache schnell zunichte. Wir haben sie mit unseren Kanonen vom Wasser gefegt, während sie versuchten, ihre Zauber zu aktivieren. Aber wie ich höre, soll das ja gar keine Schwarze Magie sein.« Er sah den Großmeister an. »Es ist wohl besser, wenn Ihr jetzt etwas dazu sagt, Sir Lyon.« »Aber ja, My Lord«, sagte der Meisterhexer. »Vielleicht sollte ich damit beginnen, Euch klarzumachen, daß man leider nicht so messerscharf zwischen dem, was wir >Weiße< und dem, was wir >Schwarze< Magie nennen, trennen kann, wie die meisten Leute annehmen. Wir sagen zum Beispiel, daß die Kunst des Heilens Weiße Magie sei, während der Gebrauch von Flüchen, um Krankheit oder Tod zu bewirken, Schwarze Magie ist. Aber man könnte ja zum Beispiel fragen, ob es Weiße Magie sei, einem verrückten Massenmörder sein gebrochenes Bein zu kurieren, damit er wieder hinausgehen kann und noch mehr Leute umbringt. Oder, umgekehrt betrachtet: ist es Schwarze Magie, ihn zu verfluchen, so daß er stirbt und nie mehr tötet? Nun ja, in beiden Fällen muß man wohl Ja sagen. Man kann das nämlich durch die symbolologischen Gleichungen und die Mathematik der Theorie der Ethik beweisen. Ich will Euch nicht mit den Analogiegleichungen selbst langweilen, es mag genügen, daß die Theorie der Ethik in solchen Extremfällen recht klar ist. Dies wird in dem Merksatz zusammengefaßt, den jeder Zauberlehrling im ersten Jahr auswendig lernt: Schwarze Magie ist eine Sache des Symbolismus und des Vorhabens.« Sir Lyon lächelte und drehte die rechte Handfläche nach oben, wie um etwas zuzugeben. »Das gilt natürlich auch genauso für Weiße Magie — aber wir müssen ja vor der Schwarzen Magie warnen.« »Sehr einsichtig«, sagte Captain Smollett. »Ich will nicht weiter darauf eingehen«, sagte Sir Lyon, »außer noch zu erwähnen, daß die Theorie der Ethik es zuläßt, sich in die Handlungen eines anderen einzumischen, wenn dieser Zerstörung im Sinn hat. Als Ergebnis davon haben wir die ... eh ... >Waffe< entwickelt, die My Lord der Hochadmiral erwähnt hat.« Sir Lyon blickte wieder in die Runde und sah jeden einzelnen mit seinen tiefliegenden glänzenden Augen an. Dann beugte er sich vor, griff unter den Tisch und stellte einen Gegenstand auf die Tischplatte, damit ihn alle sehen konnten. »Dies ist sie, My Lords und Gentlemen.« Es war ein sehr merkwürdig aussehender Gegenstand. Der größte Teil bestand aus einem Messingzylinder von acht Zoll Durchmesser und achtzehn Zoll Höhe. Dieser Zylinder ruhte auf einem kurzen Dreifuß, der ihn vier Zoll in horizontaler Lage über der Tischplatte hielt. Arn einen Ende waren zwei Griffe befestigt, mit deren Hilfe man den Zylinder auf ein beliebiges Ziel richten konnte. Am anderen Ende trat ein weiterer, kleinerer Zylinder von etwa drei Zoll Durchmesser und zehn Zoll Länge hervor. Sein Ende war ausgeweitet und hatte einen Durchmesser von sechs Zoll, so daß es wie eine glockenartige Mündung aussah. Lord Bontriomphe lächelte. »Das ist aber eine sehr seltsam geformte Kanone, Sir Lyon.« Der Grand Master lachte
trocken. »Euer Lordschaft sieht natürlich, daß es keine Kanone und kein Gewehr ist — aber der Vergleich ist recht treffend. Ich kann ihre Wirkung hier nicht vormachen, aber eine Erklärung, wie das ganze funktioniert . . .« »Einen Augenblick, Sir Lyon.« Die Stimme des Königs unterbrach ihn elegant. »Sire?« Die Augenbrauen des Hexengroßmeisters hoben sich. Er hatte nicht erwartet, daß Seine Majestät ihn an diesem Punkt unterbrechen würde. »Läßt sich das Gerät gegen einen einzelnen Mann anwenden?« fragte Seine Majestät. »Selbstverständlich, Sire«, sagte Sir Lyon. »Aber Euer Majestät müssen verstehen, daß es nur eine bestimmte Art von Handlung verhindert, und wir .haben hier nicht die Möglichkeit, es . . .« »Geduldet Euch, Sir Hexer«, sagte der König. »Ich glaube, wir haben doch die Möglichkeiten, die Ihr erwähnt. Könntet Ihr Lord Darcy als Euer Ziel verwenden?« »Das könnte ich, Sire«, sagte Sir Lyon, in dessen Augen ein Verstehen aufzuleuchten begann. »Ausgezeichnet.« Der König blickte Lord Darcy an. »Wäret Ihr bereit, Euch für ein Experiment zur Verfügung zu stellen, My Lord?« »Euer Majestät brauchen nur zu befehlen«, sagte Lord Darcy. »Sehr gut.« Seine Majestät streckte die rechte Hand aus. »Würdet Ihr so gut sein, mir die Pistole zu geben, die Ihr an Eurer rechten Hüfte tragt, My Lord?« Ein Blitzstrahl schien jeden der anderen Anwesenden getroffen zu haben. Ihre Köpfe drehten sich abrupt herum, alle Augen starrten voll entsetzter Überraschung auf Lord Darcy. Der Lord Hochadmiral ergriff das Heft seines schmalklingigen Marineparadeschwerts und zog es einen halben Zoll aus der Scheide. Der Schock war offensichtlich. Wie konnte es jemand wagen, mit einer Pistole bewaffnet vor Seine Königliche Majestät zu treten? »Beruhigt Euch, My Lord Admiral!« sagte der König. »My Lord von Darcy kommt auf Unseren Befehl bewaffnet. Lord Darcy, Eure Pistole!« Kühl beging Lord Darcy eine Handlung, die jedem rechtschaffen Denkendem im gesamten Reich den Magen umgedreht hätte. Er zog eine Pistole in der Gegenwart Seiner Gefürchteten und Souveränen Majestät dem König! Dann stand er auf, lehnte sich über den Tisch und reichte die Pistole mit dem Griff nach vorn dem König. »Zu Befehl, Majestät«, sagte er ruhig. »Ich danke Euch, My Lord. Ah! Eine ausgezeichnete Waffe! Ich fand immer, daß die .40er MacGregor die beste Faustfeuerwaffe ist, die es gibt. Seid Ihr bereit, Sir Lyon?« Sir Lyon Grey hatte das Vorhaben des Königs offenbar inzwischen erraten. Er lächelte und drehte das glänzende Gerät herum, so daß die Glockenmündung genau auf Lord Darcy gerichtet war. »Ich bin bereit, Sire«, sagte er. Der König hatte mittlerweile die MacGregor entladen und alle Patronen vom Kaliber .40 auf den Tisch ausgelegt, während ihm fünf Augenpaare fasziniert dabei zusahen. »My Lord«, sagte der König aufblickend, »ich bitte Euch, nicht darauf zu achten, was Sir Lyon tut.« »Ich verstehe, Sire«, sagte Lord Darcy. ; »Ausgezeichnet, My Lord.« Die Augen seiner Majestät blickten suchend auf die gegenüberliegende Wand. »Hm, hm, ja! My Lord, ich bitte, Eure geschätzte Aufmerksamkeit auf jenes bemalte Fenster dort drüben zu richten, besonders auf die Szene, wo König Artus die Pergamentrolle hält, ein Symbol für die Errichtung des Hochehrwürdigen und Alten Ordens von der Tafelrunde.« Lord Darcy
blickte auf das Fenster. »Ich sehe, was Euer Majestät meinen«, sagte er. »Gut. Dieses Fenster, My Lord, ist ein unschätzbares Kunstwerk, und dennoch kann ich es nicht leiden.« Lord Darcy blickte wieder den König an. Seine Majestät gab der ungeladenen Pistole einen Stoß, so daß sie über die polierte Tischplatte rutschte und vor Lord Darcy liegen blieb. Dann schnippte er mit einem Finger, so daß eine einzelne Patrone neben die Pistole glitt. »Ich wiederhole, My Lord«, sagte der König, »daß ich dieses Fenster nicht leiden kann. Würdet Ihr mir den Gefallen tun und eine Kugel da durchschießen?« »Wie Ihr befehlt, Sir«, sagte Lord Darcy. Hätte er nicht gewußt, daß es sich um ein wissenschaftliches Experiment handelte, so wäre die darauffolgende Szene für Lord Darcy zu einer Quelle maßloser Beschämung geworden. Hinterher war er froh und dankbar, daß ihn niemand durch Kichern oder Lachen zu einer unbedachten Handlung verleitet hatte, die wohl noch beschämender gewesen wäre. Die Aufgabe war sehr einfach: die Pistole aufheben und laden, den Verschluß schließen, zielen und dann feuern. Lord Darcy griff mit der Rechten nach der Pistole, mit seiner linken Hand nach der Patrone. Irgendwie erwischte er die Pistole verkehrt herum, so daß ihn plötzlich die Mündung anstarrte. Zur gleichen Zeit entglitt seinen Fingern die Patrone und rollte über die Tischplatte fort. Er griff danach und wiederum entwischte sie ihm. Wütend klatschte er mit der Handfläche darauf und hatte sie endlich. Plötzlich war ein Klappern zu hören: während er seine Aufmerksamkeit auf die Patrone gerichtet hatte, war ihm die Pistole aus der Hand gefallen. Er biß die Zähne zusammen und griff fest mit der Linken um die Patrone. Dann atmete er tief durch und ergriff die Pistole mit der Rechten. Gut. Nun mußte der Verschluß geöffnet werden. Sein rechter Daumen fand den Hebel und schob ihn vor, doch entglitt die Waffe in diesem Augenblick seinen anderen Fingern und hing plötzlich am Abzughebelbügel von seinem Zeigefinger herab. Er versuchte, die Pistole hochzuschwingen, um den Griff umfassen zu können, aber nun rutschte sie von seinem Zeigefinger herunter und fiel mit lautem Knall wieder auf die Tischplatte. Lord Darcy atmete wiederum tief und beherrscht durch. Dann griff er mit ruhiger Hand ganz entspannt nach der Waffe und hob sie auf. Dieses Mal benutzte er den linken Daumen, um den Verschlußhebel zu betätigen; dabei fiel ihm die Patrone aus der Hand. Die nächsten paar Minuten waren ein Alptraum. Die Patrone entglitt immer wieder seinem Griff, und wenn er sie schließlich doch erwischt hatte, weigerte sie sich, in die Patronenkammer zu rutschen. Und wenn ihm dies endlich doch gerade zu gelingen schien, ließ er unweigerlich wieder die Pistole fallen. Mit zusammengebissenen Zähnen und angespannten Kiefernmuskeln gelang es ihm schließlich nach zahllosen Fehlschlägen doch, die Patrone endlich in die Kammer einzuführen und den Verschluß wieder zurückschnellen zu lassen. Sein Gefühl der Erleichterung war so groß, daß ihm prompt wieder die Pistole aus der Hand fiel. Wütend griff er nach der Waffe, zielte grob in die geplante Richtung und — Die Waffe ging mit einem Knall los, und zwar viel früher, als er es vorgehabt hatte. König Artus und seine Pergamentrolle blieben völlig unversehrt, während das Geschoß die zwei Fuß entfernte Steinwand
streifte und quer nach oben abprallte, wo es sich in einem eichenen Deckenbalken vergrub. Nach einem endlos wirkenden Schweigen sagte Sir Lyon Gandolphus Grey ruhig: »Ausgezeichnet! Majestät, in all unseren Versuchen ist es bisher noch nie jemandem gelungen, die Pistole zu laden oder gar beinahe das Ziel zu treffen. Es ist ein Glück zu wissen, daß es nicht viele derart superdisziplinierte Gemüter gibt — besonders in den Reihen der Polnischen Marine.« Seine Majestät schnippte die übrigen sechs Patronen über die Tischplatte. »Ladet wieder Eure Waffe und steckt sie wieder ein, My Lord. Bitte verzeiht etwaige ... äh ... Inkommoditäten, die Euch durch dieses Experiment eventuell auferlegt wurden.« »Aber nein, Sire! Es war eine höchst lehrreiche Erfahrung.« Er nahm die sechs Patronen und lud erneut die MacGregor mit der ruhigen Sicherheit eines Könners. Obwohl die Glockenmündung des Metallgeräts immer noch auf ihn zeigte, umgriffen Sir Lyons Hände die Griffe nicht mehr. »Ich gratuliere Euch, My Lord«, sagte der König. »Alle hier Anwesenden, mit Ausnahme von Lord Bontriomphe und Euch selbst, haben dieses Gerät schon erlebt. Wie Sir Lyon bereits sagte, seid Ihr der Erste, dem es bisher gelang, unter seinem Einfluß eine Waffe zu laden.« Er blickte Sir Lyon an. »Habt Ihr noch irgend etwas hinzuzufügen, Sir Hexer?« »Nichts, Sire . . . außer wenn es noch Fragen gibt.« Lord Bontriomphe hob die Hand. »Eine Frage, Sir Lyon.« »Aber gewiß, My Lord.« Lord Bontriomphe deutete auf das Gerät. »Kann dieser Apparat von jedem bedient werden, von jedem Laien, meine ich, ober benötigt man einen Hexer dazu?« Sir Lyon lächelte. »Glücklicherweise kann das Gerät nur von jemandem bedient werden, der ein geschultes Talent besitzt. Es muß jedoch kein Master sein, ein Lehrling im dritten Jahr könnte damit schon umgehen.« »Dann liegt also, Sir Lyon«, sagte Lord Darcy, Lord Bontriomphe unterbrechend, »das Geheimnis seines Funktionierens in zwei verschiedenen Bereichen, nicht wahr?« »My Lord«, sagte Sir Lyon nach einer kurzen Pause, »Euer Mangel an Zaubertalent ist ein großer Verlust für die Gilde. Wie Ihr richtig gefolgert habt, besteht der Zauber aus zwei Teilen. Der erste und wichtigste ist in diesen ... äh ... Apparat eingebaut. Der darin befindliche Symbolismus ist von allergrößter Wichtigkeit. Innerhalb dieses Messingzylinders befinden sich die Invariablen, das, was wir die >Hardware< des Zaubers nennen. Aber allein ist sie völlig nutzlos. Das Gerät kann nur von einem Hexer benutzt werden, der die richtigen verbalen Formeln dazu beherrscht. Diese Formeln nennen wir die >Software< des Zaubers, wenn Ihr mir folgen könnt, My Lord.« Lord Bontriomphe nickte grinsend. »Ihr habt Euch die Beantwortung meiner nächsten Frage geteilt, My Lords.« »Ich glaube, daß nun der Lord Hochadmiral weiterreden sollte«, sagte Sir Lyon. »Ich glaube, wir begreifen wohl alle«, sagte der Lord Hoch-admiral, ohne zu warten, bis sich Sir Lyon wieder gesetzt hatte, »was dieses Gerät mit feindlichen Schiffen anrichten kann, wenn es sich in der Hand eines Hexers befindet, der damit umzugehen weiß. Es hält den Feind nicht davon ab, sein Schiff weiterhin zu steuern — das wäre wohl Schwarze Magie, wie ich höre — aber jeder Versuch, ihre Kanonen zu laden und abzufeuern, wäre für die feindlichen Soldaten zum Scheitern verurteilt. Wir haben
gesehen, was passiert, wenn ein Mann so etwas versucht. Man stelle sich einmal vor, wie das aussehen muß, wenn eine ganze Gruppe von Leuten dabei wäre! Es wäre das Chaos: nicht nur, daß jeder vor sich hinfummelt, er gerät auch noch allen anderen dabei in die Quere. Wie ich sagte — Chaos. Mit diesem Gerät, My Lords und Gentlemen, kann die Reichsmarine die Königlich Slavische Marine solange im Baltikum eingekesselt halten wie nötig. Vorausgesetzt natürlich, daß wir es haben und sie nicht! Und da liegt die Crux der ganzen Angelegenheit, Gentlemen. Das Geheimnis dieses Geräts darf nicht in polnische Hände fallen.« Der König hatte begonnen, seine Pfeife zu stopfen; Lord Darcy, der Lord Hochadmiral und Captain Smollett hatten ebenfalls sofort nach ihren Rauchutensilien gegriffen. Aber Lord Darcy beobachtete dabei Captain Smollett. Er hätte fast aufs Wort genau voraussagen können, was der Lord Hochadmiral als nächstes sagen würde. »Wir sehen uns also«, sagte My Lord der Hochadmiral, »mit einem Problem der Spionage konfrontiert. Captain Smollett, bitte die Einzelheiten.« »Aye aye, My Lord.« Der Chef des Marinegeheimdienstes zog eine Minute lang bedächtig an seiner Pfeife. Dann sagte er: »Problem recht simpel, My Lords. Lösung schwieriger, es ist versucht worden, das Geheimnis an die Polen zu verkaufen, ja? Das ging so: Wir hatten einen Doppelagenten in Cherbourg, Name war Barbour, Georges Barbour. Kein Anglo-Franzose, übrigens, Pole. Hat uns aber verdammt gute Dienste geleistet. Absolut zuverlässig.« Smollett nahm die Pfeife aus dem Mund und stach mit dem Holm gestikulierend in der Luft herum. »Vor ein paar Wochen bekam Barbour einen anonymen Brief, daß das Geheimnis zu verkaufen wäre. Beschreibung des Äußeren und der Wirkung recht genau, versteht Ihr, My Lords? Gut. Barbour kontaktierte seinen Vorgesetzten — ein Mann, den er nur unter dem Kodenamen >Zett< kannte — und bat um Instruktionen. Zett kam zu mir, ich ging zu My Lord dem Hochadmiral. Zusammen haben wir drei eine Falle gebaut.« »Bitte um Verzeihung, Captain Smollett«, sagte Lord Darcy. »Aber ja, My Lord!« »Niemand wuße von dieser Falle außer Ihr selbst, My Lord der Hochadmiral und Zett?« »Niemand, My Lord«, sagte Captain Smollett emphatisch. Absolut niemand.« »Ich danke Euch. Verzeiht die Unterbrechung.« »Aber gewiß, My Lord. Auf jeden Fall.» Er zog erneut an seiner Pfeife. »Auf jeden Fall bauten wir diese Falle. Barbour sollte den Kontakt aufnehmen. Preis für Einzelheiten erfragen — fünftausend Goldsovereigns.« Und das war es wohl auch wert, dachte Lord Darcy bei sich. Ein Goldsovereign war fünzig Silbersovereigns wert, und ein >ZwöIferZettZett< genauestens zu studieren und ebenso >Zetts< eigene Berichte in London. In diesen Akten könnten sich mehr Hinweise finden, als wir bisher angenommen haben. Und schließlich müssen wir alle dafür Sorge tragen, daß die Geheimagenten Seiner Slavischen Majestät mindestens genauso sehr im Dunkeln umhertappen wie wir.« Einen Augenblick lang hatte Lord Darcy angenommen, daß das letzte Stückchen beißenden Sarkasmus Seiner Majestät den Lord Hochadmiral Peter de Valera ap Smith wütend gemacht hätte. Dann merkte er, daß der erstickte Gesichtsausdruck des Lords Hochadmiral von einem tapferen und erfolgreichen Versuch herrührte, ein Lachen zu unterdrücken. Beim Himmel, dachte Lord Darcy, ich muß diesen alten Piraten doch wirklich einmal besser kennenlernen! Als Lord Darcy und Lord Bontriomphe eingetreten waren, hatte der Marquis von London ein Buch, in dem er gelesen hatte, beiseite gelegt und »Guten Morgen, My Lords«, gepoltert, wobei er seinen Kopf vielleicht ein achtel Zoll verneigte. »Hier ist ein Brief für Euch, Lord Darcy«, sagte er und schob mit einem fetten Zeigefinger einen weißen Umschlag über die Tischplatte. »Wurde heute morgen per Sonderkurier überbracht.« »Danke«, hatte Lord Darcy höflich gemurmelt. Er hatte das Siegel aufgebrochen und war die drei eng beschriebenen Seiten durchgegangen. Schließlich hatte er sie wieder zusammengefaltet und hatte den Brief lächelnd beiseite gelegt. »Ein höchst aufschlußreicher Brief. Er stammt — wie Ihr zweifellos am Siegel erkannt habt — von Sir Eliot Meredith, meinem Stellvertretenden Chefinspektor. Und nun bin ich bereit, eine Verhaftung in der Mordaffäre um Master Sir James Zwinge vorzunehmen.« »Tatsächlich?« fragte My Lord der Marquis. »Ihr habt den Fall gelöst? Ohne das Beweismaterial persönlich zu überprüfen? Ohne Zeugen zu befragen? Wie außerordentlich scharfsinnig — selbst für Euch, mein lieber Cousin!« »Ihr seid wohl kaum der rechte Mann, Mangel an persönlichem Untersuchungseinsatz zu bemäkeln«, bemerkte Lord Darcy freundlich. »Was Zeugen angeht, so ist weiteres Befragen unnötig. Die Information liegt vor, wir müssen sie nur untersuchen.« Der Marquis legte die Handflächen flach auf die Tischplatte, atmete eine gute halbe Gallone Luft ein und ließ sie langsam wieder durch die Nase entweichen. »In Ordnung. Schießt los!« »Die Lösung ist derart einfach, daß man sie leicht übersehen kann, vor allem, was die Identität des Mörders angeht. Man überlege:
Ein Mann wird in einem verriegelten und versiegelten Raum umgebracht — in einem Hotel voller Magier. Natürlich denken wir alle sofort an Schwarze Magie. Ist ja auch offensichtlich. Allerdings ein bißchen zu offensichtlich. Denn es ist genau das, was wir glauben sollen.« »Wie geschah denn dann der Mord tatsächlich?« fragte der Marquis, der sich für die Sache zu erwärmen schien. »Zwinge wurde vor den Augen all der Zeugen erstochen, die dort waren, um bezeugen zu können, daß der Raum verriegelt und versiegelt war«, sagte Lord Darcy ruhig. My Lord der Marquis schloß die Augen. »Verstehe. Daher weht der Wind also!« Er öffnete wieder die Augen und sah Lord Bontriomphe an, der seinen Blick fest und ungerührt erwiderte. »Fahrt fort, Lord Darcy«, sagte der Marquis. »Ich möchte es gern alles hören.« »Wie Ihr schon gefolgert habt, lieber Cousin«, fuhr Lord Darcy fort, »konnte nur Lord Bontriomphe den Mord begangen haben. Er war es, der die Tür erbrach. Er war der erste, der ins Zimmer kam. Er befahl den anderen, draußen zu bleiben. Dann beugte er sich über den bewußtlosen Körper von Sir James und senkte das Messer in Sir James' Herz, wobei er seine Bewegungen mit seinem vorgebeugten Körper verbergen konnte.« »Woher konnte er wissen, daß Sir James bewußtlos sein würde? Warum stieß Sir James einen Schrei aus? Welches Motiv hatte Lord Bontriomphe?« Die drei Fragen wurden kühl, ja fast gefühllos ausgesprochen. »Ich nehme an, das Ihr dafür Erklärungen habt?« »Natürlich. Es gibt zahlreiche Pflanzen und Drogen in der materia medica des erfahrenen Kräuterkenners, die Bewußtlosigkeit und Koma bewirken können. Bontriomphe, der wußte, daß Sir James vorhatte, sich gestern morgen in seinem Hotelzimmer einzuschließen, schaffte es, dem Hexer eine solche Droge in den Kaffee zu schmuggeln — für einen Experten eine Kleinigkeit. Danach brauchte er bloß zu warten. Irgendwann würde man Sir James schon vermissen. Man würde sich wundern, warum er die eine oder andere Verabredung nicht einhielt, man würde an seine Tür klopfen und herausfinden, daß sie abgeschlossen war. Schließlich würde jemand den Leiter des Hotels bitten, nach dem rechten zu sehen. Wenn dieser dann feststellte, daß er die Tür nicht öffnen konnte, würde er schon um amtliche Hilfe bitten. Und glücklicherweise befand sich ausgerechnet Lord Bontriomphe, Chefinspektor von My Lord dem Marquis von London, an Ort und Stelle. Er läßt eine Axt herbeischaffen und . . .« Lord Darcy drehte eine Handfläche nach oben, als wollte er dem Marquis den ganzen Fall auf einem Servierteller darbieten. »Weiter.« Die Stimme des Marquis hatte jetzt einen gefährlichen Unterton. »Der Schrei ist schnell erklärt. Sir James befand sich nicht völlig im Koma. Er hörte Master Sean anklopfen. Nun hatte Sean zu dieser Zeit eine Verabredung mit Sir James, und dieser wußte, wer da anklopfte. Vom Klopfen aufgeweckt rief er: >Master Sean! Hilfe!< und brach dann wieder bewußtlos zusammen. Natürlich konnte Bontriomphe nicht wissen, daß das passieren würde, aber es war ein großes Glück für ihn, obwohl es völlig überflüssig war. Hätte es keinen Schrei gegeben, so hätte Master Sean auch so gemerkt, daß irgend etwas nicht in Ordnung war, und hätte die Hotelleitung verständigt. Der Rest -wäre dann genauso abgelaufen wie geplant.«
Lord Darcy verschränkte die Arme, ließ sich in seinem Stuhl '< zurückfallen und betrachtete den finster dreinblickenden De London schräg von unten. »Das Motiv ist recht eindeutig. Eifer-, sucht.« »Pah!« explodierte der Marquis. »Jetzt habe ich Euch! Bis jetzt wart Ihr ja recht gewitzt. Aber jetzt zeigt es sich, daß Euer Geist wohl doch nicht so gut funktioniert. Eine Frau? Pfui! Lord Bontriomphe mag sich ja manchmal wie ein Narr aufführen, aber nicht, was Frauen angeht. Ich will zwar nicht so weit gehen zu behaupten, daß die Frau, die er nicht bekommen könnte, wenn er wollte, noch geboren werden muß, aber ich möchte doch sagen, daß sein Stolz ein solcher ist, daß er keine Frau begehren würde, die ihn nicht haben wollte, oder die ihn wegen eines anderen fallen lassen würde! Wegen einer solchen Frau würde er noch nicht einmal mit den Fingern schnippen, geschweige denn einen Mord begehen.« »Zugegeben«, sagte Lord Darcy freundlich. »Ich habe ja auch nichts von einer Frau gesagt. Und ich habe auch nicht von seiner Eifersucht gesprochen.« »Von wessen Eifersucht denn?« »Von Eurer.« »Hah! Das ist ja lächerlich!« »Ganz und gar nicht. Mein Lieber, Euer Botanikerhobby ist ,. eine der größten Leidenschaften Eures Lebens. Ihr seid ein anerkannter Experte auf dem Gebiet und stolz darauf. Zwinge war auch ein Pflanzenkundler, aber Euch konnte er nicht das Wasser reichen. Aber trotzdem, wenn Ihr irgendeinen Rivalen auf diesem Gebiet hattet, dann war es Master Sir James Zwinge. Vor kurzem war es ihm gelungen, Polnische Teufelswurz vom Samen zu kultivieren und nicht von Ablegern, wie das gewöhnlich der Fall ist. Euch ist das bisher noch nicht gelungen. Folglich habt Ihr Euch pikiert an Lord Bontriomphe gewandt. Aus Loyalität hat er dann dafür gesorgt, daß Euer Rivale von der Bildfläche verschwand. Und da habt Ihr es, My Lord: Methode, Motiv und Gelegenheit. Quod erat demonstrandum.« My Lord Marquis drehte abrupt den Kopf, und starrte wütend Lord Bontriomphe an. »Steckt Ihr mit ihm bei dieser dämlichen Idiotie etwa unter einer Decke?« Lord Bontriomphe schüttelte den Kopf langsam und sagte »Nein, My Lord. Aber es sieht so aus, als säßen wir ganz hübsch in der Patsche, nicht wahr?« »Dämlack!« schnaubte der Marquis. Er sah aufs neue Lord Darcy an. »Also gut. Ich weiß genausogut wie Ihr, wenn man mich an der Nase herumführen will. Ich bereue es, Master Sean eingesperrt zu haben, das war leichtfertig. Und Ihr wißt genau, daß ich lieber selbst in den Tower ginge, als längere Zeit auf die Dienste von Lord Bontriomphe verzichten zu müssen. Außer halb dieses Gebäudes bedeutet er für mich Augen und Ohren. Ich werde sofort eine Freilassungsanordnung für Master Sean unterzeichnen. Da Ihr vom König mit diesem Fall beauftragt worden seid, werdet Ihr ja wohl auch aus dem Etat des Königs entlohnt?« »Ab heute, ja«, sagte Lord Darcy. »Aber da ist noch die kleine Angelegenheit von gestern zu klären, inklusive Reisekosten für eine Kanalüberquerung, Bahnfahrkarte und Droschkengebühr.« »In Ordnung«, knurrte der Marquis. Er unterschrieb eine Entlassungsurkunde und versiegelte sie mit flüssigem Siegelwachs. Schließlich drückte er mit der Petschaft des Marquisats von London das Wachs ein und erhob sich wortlos. »Lord Bontriomphe, gebt
meinem Cousin, was ihm zusteht. Nehmt es aus dem Wandsafe. Ich gehe in die Pflanzenzimmer.« Fest schlug er die Tür zu. Lord Bontriomphe sah Lord Darcy an. »Sagt mal, Ihr glaubt doch wohl nicht wirklich, daß . . .« »Pf! Werdet doch nicht albern! Ich weiß ganz genau, daß jedes Wort Eures Berichts genau stimmte. Und der Marquis weiß auch, daß ich das weiß.« In solchen Dingen irrte sich Lord Darcy nie, so auch hier nicht. »Gehen wir in den Tower«, sagte Lord Darcy. Lord Bontriomphe nahm eine Pistole aus seinem Schreibtisch. »Eine Sekunde noch, My Lord. Ich gehe nie hinaus, um einen Mordfall zu lösen, ohne selbst bewaffnet zu sein. Übrigens, meint Ihr nicht auch, daß es das beste wäre, wenn wir im Royal Steward ein provisorisches Hauptquartier errichteten? So könnten wir untereinander in Verbindung bleiben, vor allem auch mit Chief Hennelys zivilen Untersuchungsbeamten.« »Eine ausgezeichnete Idee«, sagte Lord Darcy. »Und da wir schon bei zivilen Untersuchungsbeamten sind: Habt Ihr von jedem der gestern Beteiligten eine Erklärung beigebracht?« »So viele wie nur möglich, My Lord. Natürlich konnten wir nicht jeden erreichen, aber ich glaube, daß die uns mittlerweile vorliegenden Berichte recht vollständig sind.« »Gut, dann nehmt sie doch bitte mit, ja? Ich würde sie gerne 'auf dem Weg zum Tower durchsehen. Seid Ihr fertig?« »Fertig, My Lord.« »Na gut«, sagte Lord Darcy. »Dann wollen wir Master Sean aus seiner mißlichen Lage befreien.« Während die Londoner Amtskutsche durch die Straßen in Richtung des Royal Steward Arms fuhr, lehnte sich Meisterhexer Sean O Lochlainn in seinem Sitz zurück und drückte seinen symbolverzierten Reisesack fest an seinen runden Bauch. »Ah, My Lords«, sagte er zu den beiden Männern, die ihm gegenüber saßen, »es ist schon eine Erleichterung, wieder frei zu ein. Vierundzwanzig Stunden im Tower zu verbringen ist nicht das, was ich mir unter einer angenehmen Beschäftigung vorstelle, das könnt Ihr mir glauben. Nicht, daß ich etwas dagegen hätte, in einem bequemen Zimmer eine Weile lang allein zu sein — jeder Hexer, der nicht mindestens einmal im Jahr für eine Woche Besinnungsexerzitien macht, wird schon bald merken, wie seine Kräfte nachlassen. Nein, aber wenn es Arbeit zu erledigen gilt . . .« Er unterbrach sich selbst. »My Lords, Ihr habt mich doch nicht etwa aus dem Tower dadurch befreit, daß Ihr diesen Fall gelöst habt, oder?« Lord Darcy lachte. »Keine Bange, mein guter Sean. Ihr habt noch nichts verpaßt.« »Seine Lordschaft«, sagte Lord Bontriomphe, »hat Euch durch einfache, aber wirkungsvolle Erpressung befreit.« »Gegen Erpressung, bitte«, berichtigte ihn Lord Darcy. »Ich habe De London lediglich gezeigt, daß Lord Bontriomphe aufgrund des gleichen fadenscheinigen Beweismaterials verhaftet werden könnte wie Ihr.« »Moment mal«, wandte Sean ein, »so fadenscheinig war das Beweismaterial ja wohl in beiden Fällen nicht. Es hätte genügt, in beiden Fällen, um jemanden zum Zwecke der Befragung zu verhaften.« »Gewiß«, stimmte Lord Darcy zu. »Aber My Lord Marquis hatte nicht die geringste Absicht, Master Sean zu befragen. Er klebte lieber am Buchstaben des Gesetzes, anstatt seinem Geist gerecht zu werden. Es
ist alles eine Sache von Familienrivalitäten. Der Marquis und ich besitzen beide ähnliche, wenn auch nicht dieselben Fähigkeiten. Das führt zu einem freundschaftlichen aber mitunter etwas gefühlsgeladenen Antagonismus. Er hätte es nicht gewagt, irgendeinen gewöhnlichen Untertan seiner Majestät aufgrund eines solchen Beweismaterials einzusperren, wenn er nicht ehrlich davon überzeugt gewesen wäre, den Schuldigen gefunden zu haben. Ich will noch weiter gehen: Er hätte nicht einmal an eine solche Tat gedacht!« »Es freut, daß Ihr das sagt«, meinte Lord Bontriomphe, »denn es stimmt genau. Aber ab und zu geht diese Familienrivalität ein wenig zu weit. Normalerweise halte ich mich ja da heraus, aber . . .« »Erlaubt mir, Euch zu berichtigen«, unterbrach ihn Lord Darcy lächelnd. »Normalerweise haltet Ihr Euch überhaupt nicht da heraus. Im Gegenteil, Ihr seid My Lord Marquis mit felsenfester Treue verbunden und stellt Euch folglich stets auf seine Seite, was mich dazu zwingt, Euch beide ausstechen zu müssen — ein ziemlich schwieriges Unterfangen, wie ich zugeben muß. Aber dieses Mal wart Ihr der Ansicht, daß es ein wenig zu weit ging, Master Sean einzusperren, nur um mir eins auszuwischen. Aber es ist mir völlig klar, daß die Dinge ganz anders liegen würden, wenn beispielsweise ich in den Tower gemußt hätte.« Lord Bontriomphe blickte verträumt an die Decke der Kutsche. »Also das ist mal ein Gedanke«, sagte er fast schwärmerisch. »Denkt nur nicht zu sehr darüber nach, My Lord«, meinte Master Sean mit einem sanft drohenden Unterton. »Nur nicht zu sehr, nur nicht zu sehr!« Lord Bontriomphe senkte abrupt den Kopf und wollte etwas - sagen, doch gingen seine Worte verloren, da die Kutsche plötzlich langsamer fuhr und der Kutscher die Klapptür im Dach öffnete und rief: »Das Royal Steward, My Lords.« Eine halbe Stunde später öffnete der Lakai die Tür, und die drei Männer stiegen aus. Lord Bontriomphe drückte ihm still einige große Münzen in die Hand. »Wartet auf uns, Barney. Sorgt dafür, daß die Kutsche und die Pferde versorgt sind, dann können Denys und Ihr im Pub dort drüben warten. Es wird wohl etwas länger dauern, also trinkt ein paar Bier und entspannt Euch. Ich werde Euch rufen lassen, wenn wir Euch brauchen.« »Sehr wohl, My Lord«, sagte Edelmann Barney. »Ich danke Euch.« Dann folgte Lord Bontriomphe Lord Darcy und Master Sean ins Royal Steward. Lord Darcy stand im Foyer und blickte durch die Glastüren auf die Menge in der Lobby. »Wo ist Master Sean?« fragte Lord Bontriomphe. »Dort drinnen, ich habe ihn vorgeschickt. Wie Ihr unschwer feststellen könnt, sind dort mindestens ein Dutzend Gratulanten und vermutlich mindestens zwei weitere Dutzend Neugierige, die alle Master Sean umringen, um ihm zu gratulieren und ihm zu sagen, daß sie die ganze Zeit schon gewußt hatten, daß er unschuldig sei, und die ihn jetzt wegen Informationen über den Mord an Sir James Zwinge ausquetschen möchten. Während sie dieserart abgelenkt sind, My Lord, werden wir beide unbemerkt eintreten und uns direkt ins Mordzimmer begeben. Kommt!« Sie konnten unbemerkt eintreten. Heute war Tag der Offenen Tür beim Hexerkongreß, und die Vorhalle wimmelte von Besuchern, die die Ausstellung und die Hexer selbst beäugen wollten. An einem der Ausstellungsstände war ein Wanderhexer dabei, zwei großäugigen
Kindern und ihrem Vater ein Spielzeug zu erklären. Es bestand aus einem sechs Zoll langen Stab mit einer weißen Spitze, fünf verschiedenfarbigen Kügelchen und einem ein Fuß langen Brett mit sechs Löchern, von denen fünf mit farbigen Ringen markiert waren, die den Farben der Kugeln glichen, während das sechste weiß umringt war. »Ihr seht also«, sagte der Wanderhexer, »daß die Bälle nicht in den richtigen Löchern sind, die Farben stimmen nicht miteinander überein. Bei diesem Spiel müßt Ihr versuchen, die Bälle in die richtigen Löcher zu bekommen, versteht Ihr? Dabei gilt die Regel, daß Ihr nur einen Ball auf einmal bewegen dürft, nämlich so.« Er richtete den Stab auf das Brett, das mehrere Fuß entfernt war. Einer der Bälle schwebte glatt über das Brett und fiel in das freie Loch. Dann bewegte sich ein weiterer Ball in das passende Loch. Der Vorgang wurde so lange wiederholt, bis sich alle Bälle im richtigen Loch befanden. »Seht Ihr? Also, jetzt bringe ich die Bälle wieder durcheinander und Ihr versucht's mal, ja? Komm Junge, fang du mal an. Einfach den Stab mit der weißen Spitze nach vorn auf das Brett richten und an den Ball denken, den du bewegen willst; wenn er dann schwebt, denkst du an das Loch, in das er fallen soll. So — genau, ganz richtig. Jetzt . . .« Lord Darcy wußte, daß dies mehr als ein bloßes Spielzeug war. Mit dem Zauber, der jetzt auf dem Gerät lag, konnte jeder damit Erfolge erzielen. Aber der Zauber war so eingerichtet, daß er nach einigen Monaten schwächer werden würde, um schließlich ganz zu verschwinden. Bis dahin hätten die meisten Kinder wohl sowieso jede Lust an diesem Spiel verloren. Aber wenn eines der seltenen Kinder mit dem Talent daran geriet, so verlor es gewöhnlicherweise das Interesse daran nicht. Es würde sogar ein Gefühl für den Zauber gewinnen, unterstützt durch das einfache Ritual und die Zeremonie des Spiels selbst. Wenn dies eintrat, so konnte das Kind den Trick auch noch ein Jahr später vollbringen, obwohl keiner seiner Kameraden ohne Talent dies noch vermochte. Der ursprüngliche Zauber war verblaßt und war durch die einfache Version des Kindes ersetzt worden. Zu dem Spiel gehörte ein Begleitheft, das Eltern darauf hinwies und sie bat, das Kind näher untersuchen zu lassen, wenn es das Spiel erfolgreich verlängern konnte. An einem anderen Stand verteilte ein Priester, im kirchlichen Schwarz mit weißen Rüschen an Kragen und Manschetten, Broschüren, in denen das neue Gebäude der Königlichen Thaumaturgischen Laboratorien in Oxford vorgestellt wurde, das sich noch im Bau befand. Das Ausstellungsstück bestand aus einem maßstabsgetreuen Modell des vollendeten Gebäudes. Mitten in ihrem Weg erblickten die beiden Männer einen ganz gewöhnlich aussehenden Türrahmen. In seiner Mitte schwebte ein Illusionsschild, das aus durchsichtigen blauen Buchstaben bestand, die den Satz bildeten: BITTE DURCHGEHEN. Als sie durchgegangen waren, verschwand das Illusionsschild, und sie fühlten, wie ihre Kleidung von einer Art Wind angesaugt wurde. Auf der anderen Seite erschien ein weiteres Illusionsschild. DANKE Wenn Ihr nun Eure Kleidung begutachtet, so werdet Ihr feststellen, daß jeder kleinste Staubfleck daraus verschwunden ist. Dieses Modell ist ein Prototyp, der sich noch in der Entwicklung befindet. Eines Tages wird man in keinem Haushalt mehr darauf verzichten wollen.
, WELLS & SONS THAUMATURGISCHE HAUSHALTSGERÄTE »Ganz nett, das«, sagte Lord Bontriomphe. »Schaut mal, sogar unsere Stiefel glänzen!« Sie schritten durch das zweite Illusionsschild, und es löste sich hinter ihnen auf. »Ganz nützlich«, stimmte Lord Darcy zu, »aber völlig verfehlt. Sean erzählte mir, daß sie auf dem letzten Kongreß schon einmal dasselbe vorgeführt haben. Eine ganz gute Reklame für die Firma, ja, aber kaum anzunehmen, daß es sich durchsetzt. Viel zu teuer, denn der Zauber muß mindestens einmal die Woche von einem Meisterhexer erneuert werden. Bei der Menschenmenge hier können sie froh sein, wenn es einen Tag durchgehend funktioniert.« »Hm. Wie dieses >London aus der Luft sehen9.20 Uhr: Meisterhexer Luzifer S. Beelzebub. Grund des Besuchs: Master Sir James Zwinge zu ermorden. Zeit des Fortgehens: 9.31 Uhr< vielleicht?« »Das wäre sehr nützlich gewesen«, gab Lord Bontriomphe zu. »Ich stelle fest, daß weder für Euch noch für die Wachmänner die Zeit des Fortgehens eingetragen wurde.« Er sah Edelmann Lewie an. »Warum?« Der Hoteldirektor war gerade dabei, ein Gähnen zu unterdrücken. »Eh? Wie bitte, Euer Lordschaft? Die Abgangszeit? Well, es kamen so viele Wachmänner herein und gingen wieder, daß ich die Türsteher anwies, jeden Königlichen Kriminalbeamten frei kommen und gehen zu lassen.« Abermals unterdrückte er ein Gähnen. »Entschuldigt mich. Schlafmangel. Der Nachtdirektor, der normalerweise die Schicht von Mitternacht bis neun Uhr morgens übernimmt, ist letzte Nacht nicht aufgetaucht, da mußte ich für ihn einspringen.« »Völlig in Ordnung«, sagte Lord Darcy, der immer noch ins Register blickte. Für den Nachmittag gab es mehr Einträge, hauptsächlich Besuche von Geschäftsleuten und Händlern, die entweder Hexerei in ihren Geschäften anwandten oder sich der Dienste von Hexern bedienten. Eine Eintragung aber machte ihn stutzig. »Was ist das denn?« fragte er und zeigte mit dem Finger darauf. Lord Bontriomphe las sie laut vor: >»14.54 Uhr: Commander Lord Ashley; amtliche Geschäfte mit Direktor Bolmer.< Kein Eintrag für das Fortgehen.« »Wah- . . . well, Euer Lordschaften, es kamen und gingen einige Marineleute. In offiziellem Auftrag.« »Offizieller Auftrag? Warum wollten sie denn mit Euch reden?« »Nicht mir mir. Mit . . . mit Paul Nichols, meinem Nachtdirektor.« »Worüber?« »Ich ... ich bin nicht berechtigt, darüber zu sprechen, Euer Lordschaft. Strikte Anweisung der Admiralität.« »Ich verstehe«, sagte Lord Darcy mit harter Stimme. »Danke, Edelmann Lewie. Der Wachsergeant wird später kommen, um l das Büro zu übernehmen. Kommt, Bontriomphe. « Er drehte sich um und schritt aus dem Zimmer. Lord Bontriomphe folgte ihm auf den Fersen. Sie waren bereits in der zweiten Hälfte der Empfangshalle und zwängten sich durch die übervölkerte Ausstellung, bevor Lord Bontriomphe sprach. »Sehe ich Blut in Euren Augen?« »Das könnt Ihr verdammt noch einmal sagen!« schnappte Lord Darcy. »Wie weit ist es von hier zum Admiralitätsbüro?« »Zu Fuß zehn Minuten. Wenn wir die Kutsche nehmen, sind es drei.« »Dann
nehmen wir auf jeden Fall die Kutsche«, sagte Lord Darcy. Barney, der Lakai, stand neben der Kutsche, die nahe dem Eingang des Royal Steward am Pflasterrand stand. »Barney«, rief Lord Bontriomphe, »wo ist Denys?« »Immer noch im Pub, My Lord«, rief der Lakai zurück. »Alles fertig machen zur Abfahrt, ich werde ihn holen«, rief Lord Bontriomphe und rannte über die Straße ins Pub, aus dem er dreißig Sekunden später mit dem Kutscher wieder hervorstürmte. »Zum Admiralitätsbüro!« befahl Lord Bontriomphe, während Denys seinen Kutscherschemel bestieg. »So schnell wie Ihr könnt!« Er stieg neben Darcy ein. »Smollett hält uns also im Dunkeln«, sagte er, während die Kutsche mit einem Ruck nach vorne sprang. »Jedenfalls weiß er etwas, das wir nicht wissen, so viel ist sicher«, sagte Lord Darcy. »Man darf nicht vergessen, daß dieser Befehl, nichts zu verraten, Bolmer gestern gegeben wurde, bevor uns der König auftrug, den Fall gemeinsam zu lösen.« »Das ist richtig«, sagte Lord Darcy, »aber wenn man bedenkt, daß die Marine völlig aufgeregt über einen Mann ist, der plötzlich vermißt wird, und wenn man ferner berücksichtigt, daß Edelmann Lewie Bolmer durch sein Verhalten zeigt, daß er davon überzeugt ist, daß sein Nachtdirektor nicht mehr zurückkommen wird, dann ist es doch wohl mehr als seltsam, daß weder Smollett noch Ashley heute morgen etwas davon erwähnt haben.« »Mehr als seltsam«, stimmte Lord Bontriomphe zu. »Das meinte ich ja: Smollett hält uns im dunkeln. Wollt Ihr ihn festhalten, während ich ihm ins Auge steche, oder machen wir es umgekehrt?« »Weder noch«, sagte Lord Darcy. »Wir nehmen jeder einen Arm und biegen ihn kräftig nach hinten.« Teil3 Keine vier Minuten später stiegen die beiden Männer die Treppen des Admiralitätsbüros hoch und gelangten durch die weiten Türen in ein großes Wartezimmer, das fast so groß wie ein Hotelempfangssaal war. Sie steuerten gerade auf den Informationsschalter zu, als Lord Darcy eine ihm bekannte Person wahrnahm. • »Da ist ja unser Täubchen«, murmelte er zu Lord Bontriomphe und rief laut: »Ah, Commander Ashley!« Lord Ashley drehte sich um, erkannte sie und lächelte freundlich. »Guten Tag, My Lords. Kann ich Euch behilflich sein?« »Das will ich doch hoffen!« sagte Lord Darcy. Lord Ashleys Lächeln verschwand. »Was ist denn los? Ist irgend etwas passiert?« »Das weiß ich nicht. Das möchte ich ja von Euch erfahren! Warum interessiert sich die Marine so sehr für einen gewissen Paul Nichols, den Nachtdirektor vom Royal Steward?« Lord Ashley zuckte etwas zusammen. »Hat Euch das Captain Smollett nicht gesagt?« »Klar hat er das gesagt«, sagte Lord Bontriomphe. »Alles hat er uns gesagt. Aber wir haben alles wieder vergessen. Deswegen sind wir jetzt hier und stellen Fragen.« Commander Ashley beachtete den Sarkasmus des Inspektors von London nicht. In seinen Seemannsaugen war ein etwas beunruhigter Ausdruck. Abrupt entschied er sich. »Diese Information muß Euch Captain Smollett selbst geben. Ich werde Euch in sein Büro führen. Darf ich ihm melden, daß Ihr gekommen seid, um die Sache direkt von ihm selbst erklärt zu bekommen?« »Aha«, sagte Lord
Darcy mit einem trockenen Lächeln, »Captain Smollett zieht es offenbar vor, daß seine Subalternen Schweigen bewahren, eh?« Lord Ashley lächelte schief. »Ich habe meine Befehle. Und sie haben ihren guten Grund. Schließlich hat der Marinegeheimdienst nicht die Angewohnheit, seine Informationen in alle Welt hinauszuposaunen.« »Das ist mir bekannt«, sagte Lord Darcy, »und ich verlange auch nicht, daß der Marinegeheimdienst seine Gewohnheiten ändert. Dennoch waren, meine ich, Seiner Majestät Befehle in diesem Punkt unmißverständlich.« »Ich bin sicher, daß der Captain das bloß übersehen hat. Diese Affäre hat das gesamte Geheimdienstkorps in Aufruhr versetzt, und Captain Smollett und sein Stab haben, wie ich Euch heute morgen bereits sagte, wenig Hoffnung, daß man die Mörder finden wird.« »Und haben vermutlich auch kein allzu großes Interesse daran«, sagte Lord Darcy. »So weit würde ich nicht gehen, My Lord; es ist bloß, daß wir meinen, daß es nicht unsere Aufgabe ist, gedungene polnische Attentäter zu jagen. Dafür sind wir nicht ausgerüstet. Unsere Aufgabe besteht in dem unmöglichen Auftrag, alles Erdenkliche über König Casimirs Marine herauszufinden und zu verhindern, daß er irgend etwas über uns herausfindet. Ihr seid dazu ausgebildet und ausgerüstet, Mörder zu fangen, und wir überlassen Euch, wie ich finde zu Recht, diese Aufgabe.« »Ohne die dazugehörigen Informationen können wir nicht arbeiten«, sagte Lord Darcy, »und die wollen wir uns jetzt holen.« »Well, ich weiß nicht, ob diese Information dazugehört oder nicht, aber kommt bitte mit, ich bringe Euch zu Captain Smollett.« In seinem Büro im hinteren Teil des Gebäudes saß im Vorzimmer ein mittelalter Subaltern-Offizier hinter einem Schreibtisch und blickte Commander Ashley an, ohne die beiden Zivilisten auch nur eines Blickes zu würdigen. »Ja, My Lord Commander?« fragte er. »Teilt bitte Captain Smollett mit, daß Lord Darcy und Lord Bontriomphe ihn zu sprechen wünschen. Er wird Bescheid wissen, worum es geht.« »Aye, My Lord.« Er stand auf, betrat das Büro und kam etwa eine Minute später wieder heraus. »Komplimente des Captains, My Lords. Er möchte Euch alle drei sofort in seinem Büro sprechen.« Es gibt drei Arten, so etwas zu machen, dachte Lord Darcy bei sich, die richtige Art, die falsche Art und die Marineart. Als sie eintraten, stand Captain Smollet hinter seinem Schreibtisch, eine Pfeife fest im Mund und sagte forsch: »Tach, My Lords. Nicht erwartet, Euch so schnell wiederzusehen. Nehme an, daß Ihr Informationen für mich habt.« »Ich hatte eigentlich eher gehofft, daß Ihr Informationen für uns hättet, Captain«, sagte Lord Darcy. Smollett hob die Augenbrauen. »Eh? Nicht viel, fürchte ich«, sagte er durch die Zähne. »Nichfs Neues seit heute morgen. Deswegen hoffte ich ja, daß Ihr Informationen habt.« »Ich will keine neuen Informationen, Captain Smollett. Inzwischen kann das ganze schon ziemlich veraltet sein. Gestern nachmittag ist Euer Agent Lord Ashley um 14.54 Uhr ins Royal Steward Hotel zurückgekehrt. Danach kamen und gingen zahlreiche andere Eurer Agenten. Der Generaldirektor, Edelmann Lewie Bolmer, hat uns mitgeteilt, daß er strikte Anweisungen der Marine erhalten hat, im Namen des Königs niemandem Informationen weiterzugeben; das schließt offenbar auch befugte Königliche Kriminalbeamte ein, die mit Sondervollmachten
arbeiten, mittels derer sie ebenfalls im Namen des Königs handeln und reden dürfen. Ich hätte ihn dazu zwingen können, uns die Information zu geben, aber er handelte in gutem Willen und hatte schon genug eigene Sorgen. Ich meinte, daß Ihr uns alle Informationen geben könnt und noch einiges darüber Hinausgehende. Wir trafen My Lord Commander unten, aber er steht zweifellos ebenfalls unter dem Befehl, also bin ich lieber gleich zu Euch gekommen, um meine Zeit nicht zu verschwenden. So viel wissen wir: Edelmann Paul Nichols, der Nachtdirektor, ist letzte Mitternacht nicht zum Dienst erschienen. Dies ist offenbar von Wichtigkeit; und doch haben Eure Agenten bereits neun Stunden zuvor nach ihm gefragt. Was wir wissen wollen, ist, warum. Ich werde Euch nicht fragen, warum uns diese Information heute morgen vorenthalten wurde; ich werde lediglich darum fragen, diese Information sofort zu bekommen.« Captain Smollett war einige Sekunden lang still und blickte mit kalten grauen Augen Lord Darcy gerade ins Gesicht. »Hm«, sagte er schließlich. »Das habe ich wohl verdient. Hätte es heute morgen erwähnen sollen. Gebe ich zu. Die Sache ist nur, das fällt eigentlich gar nicht in unseren Kompetenzbereich, jedenfalls normalerweise nicht. Wir suchen Nichols zwar überall, aber er hat nichts getan, was wir ihm nachweisen könnten.« »Was hat er denn vermutlich getan?« »Etwas gestohlen«, sagte Captain Smollett. »Das Problem ist, daß wir nicht einmal beweisen können, daß die Sache, die er gestohlen haben soll, jemals existiert hat. Und wenn sie existierte, wüßten wir nicht, wie wertvoll oder wertlos sie eigentlich ist.« »Sehr mysteriös«, sagte Lord Bontriomphe. »Für mich jedenfalls. Hat die Sache vielleicht auch irgendeinen Anfang?« »Hm, hm. Tschuldigung, wollte nicht mysteriös erscheinen. Eh, setzt Euch doch! Brandy ist da drüben auf dem Tisch. Commander, schenkt Brandy ein! Setzt Euch, macht es Euch bequem! Ziemlich lange Geschichte, das.« Er setzte sich hinter seinen Schreibtisch, griff nach einem Stapel Ordner und entnahm einem von ihnen einen Umschlag. »So sieht's aus: Zwinge war vielbeschäftigter Mann. Mußte auf tausend Sachen achten. Schon die Arbeit eines Obersten Gerichtshexers der Stadt London reicht aus, um einen Mann voll auszulasten.« Er sah Lord Bontriomphe an. »Hand aufs Herz, My Lord: Habt Ihr jemals vermutet, daß er für den Marinegeheimdienst arbeitet?« »Nie«, gab Bontriomphe zu, »obwohl er wirklich hart genug arbeitete. Er war dauernd beschäftigt und gehörte zu der Sorte Leute, für die mehr als fünf Stunden Schlaf pro Nacht ein Zeichen von Müßiggang sind. Sagt mir, Captain, wußte My Lord Marquis davon?« »Es wurde ihm nie mitgeteilt«, sagte Captain Smollett. »Zwinge sagte zwar, daß er vermute, daß My Lord de London von seiner Marinetätigkeit wisse, aber er hat es jedenfalls nie erwähnt.« »Das würde er auch nicht tun«, sagte Lord Bontriomphe. »Nein, natürlich nicht. Jedenfalls hatte Sir Zwinge viele Eisen im Feuer. Passiert noch mehr in Europa als nur diese Angelegenheit hier, kann ich beschwören! Trotzdem war es ihm wichtig, auf diesen Heiler- und Hexerkongreß zu gehen. Meinte, daß es dumm aussehen würde, wenn er das nicht täte, wo er schon in London war und so. Aber natürlich hat er auch dort noch weitergearbeitet.« »Deshalb hat er zweifellos den Zauber auf sein Türschloß gelegt«, sagte Lord Darcy.
»Zweifellos, zweifellos«, stimmte Captain Smollett zu. »Jedenfalls hat er mir gestern morgen diesen Brief per Boten aus dem Hotel überbringen lassen.« "Er reichte Lord Darcy den Umschlag. »Wie Ihr sehen könnt, wurde er um 7.45 Uhr abgestempelt.« Lord Darcy betrachtete die Aufschrift, die an Captain Smollett gerichtet und mit dem Vermerk >Persönlich< versehen war. Er öffnete den Briefumschlag und entnahm ihm ein einzelnes Blatt Papier. »Das ist kodiert«, sagte Lord Darcy. »Natürlich«, sagte Captain Smollett. Er nahm ein weiteres Blatt von dem Stapel und gab es Lord Darcy. »Hier ist die Dechiffrierung«, sagte er. Lord Darcy las den Text laut vor: »Sir: Ich befinde mich im Besitz eines besonderen Pakets für Euch, das hochwichtige Informationen enthält und das ich soeben erhalten habe. Im Augenblick ist es für mich unmöglich, das Hotel zu verlassen, und ich will die Nachricht keinem gewöhnlichen Boten anvertrauen. Folglich habe ich den Umschlag mit einem Siegel darauf dem Hoteldirektor, Edel-mann Paul Nichols, gegeben. Er hat ihn in den Hotelsafe gebracht und hat Anweisungen, ihn Eurem Kurier zu überreichen.« Unterzeichnet war der Brief mit einem einzelnen Buchstaben: >ZHerzogin< höre, zucke ich immer unwillkürlich zusammen.« »Das habe ich bemerkt«, sagte Mary, »und ich möchte Euch den Hinweis geben, daß jeder, der einen höheren Grad der Hexerei erlangen möchte, mit Symbolen besser umzugehen verstehen muß.« »Ich werde es versuchen«, versprach das Mädchen. »Ich bin sicher, daß es Euch auch gelingen wird«, sagte Mary. Dann wechselte sie abrupt das Thema. »Sagt mir doch, wo habt Ihr denn Anglo-Französisch gelernt? Ihr sprecht es ja ausgezeichnet.« »Mein Akzent ist fürchterlich!« wandte Tia ein. »Aber gar nicht! Wenn Ihr einmal hören wollt, was man einer armen Sprache alles antun kann, dann braucht Ihr nur auf manche unserer einheimischen Londoner zu achten. Wer immer es Euch beigebracht hat, war sehr erfolgreich dabei.« »Mein Onkel Neapeler, der Bruder meines Vater, hat es mir beigebracht«, sagte Tia. »Er ist Händler und hat einen Teil seiner Jugend im anglo-französischen Empire verbracht. Und Sir Thomas hat mir auch schon viel beigebracht, indem er mich beim Sprechen
korrigiert hat und mir die angemessenen Verhaltensweisen, so wie sie hier üblich sind, erklärte.« Die Herzogin nickte und lächelte Tia an. »Da wir gerade bei Sir Thomas sind — ich hoffe, daß Ihr Euch nicht vor seinem Titel fürchtet.« In Tias Augen kehrte der Glanz zurück. »Mich fürchten vor Sir Thomas? Aber nein, Euer Gnaden! Er war so gut zu mir. Viel mehr, als ich es verdient habe, fürchte ich. Aber eigentlich waren alle so gut zu mir, seit ich hier angekommen bin. Jeder. Nirgends findet man eine solche Freundlichkeit, ja Güte, wie im Reich Seiner Majestät King Johns.« »Nicht einmal in Italien?« fragte die Herzoginwitwe beiläufig. Tias Miene verfinsterte sich. »In Italien wollte man mich aufhängen.« »Aufhängen? Aber warum denn, um alles in der Welt?« Nach einem kurzen Schweigen sagte das Mädchen: »Es ist wohl kaum ein Geheimnis, daß ich der Schwarzen Magie angeklagt worden bin.« Die Herzogin nickte ernst und sagte: »Ja, das ist mir bekannt. Fahrt fort!« »Euer Gnaden, ich konnte noch nie dabeistehen und zusehen, wie Menschen leiden. Es liegt vielleicht daran, daß ich meine Eltern sterben sah, als ich noch sehr jung war, sie starben wenige Monate nacheinander. Ich wollte so gern, daß sie weiterleben, und es gab nichts, was ich hätte unternehmen können. Ich war völlig hilflos ihnen gegenüber. Euer Gnaden, alle Kinder spüren einmal dieses Gefühl entsetzlicher Hilflosigkeit, aber das eine Mal war es etwas sehr Besonders.« Eine dunkle Schwermut lag in ihren Augen. Mary De Cumberland sagte nichts, doch war Ihr Mitgefühl leicht zu bemerken. »Onkel Neapeler hat mich großgezogen, ein gütiger und wunderbarer Mann. Er besitzt auch das Heilertalent, wißt Ihr, aber er hat keine Ausbildung. Er hatte keine Gelegenheit, es zu trainieren. Vielleicht hätte er niemals gemerkt, daß er es überhaupt hat, wenn er nicht im Angevin-Empire gelebt hätte, wo man solche Dinge aufspürt. Er stellte fest, daß ich es auch habe, und brachte mir alles bei, was er wußte, was wenig genug war. In den Slavischen Staaten wird das Recht eines Menschen, ein Heiler werden zu dürfen, nach seinen politischen Beziehungen und seinem Zahlungsvermögen bemessen. Und das Recht, einen ausgebildeten Heiler in Anspruch zu nehmen, wird nach den gleichen Gesichtspunkten vergeben. Onkel Neapeler ist, nein war, ein Händler, ein harter Geschäftsmann. Aber er war nie reich, außer vielleicht im Vergleich mit den Dorfbewohnern, und er war politisch suspekt, weil er so lange im Herrschaftsgebiet des anglo-französichen Reichs gelebt hat. Er gebrauchte sein Talent, so unausgebildet es auch war, um den Dorfbewohnern und Bauern zu helfen, wenn sie krank waren. Sie wußten alle, daß er ihnen immer helfen würde, egal, wer sie auch seien, und deshalb liebten sie ihn. In dieser Tradition hat er mich erzogen, Euer Gnaden.« Sie hörte auf zu sprechen, preßte die Lippen kurz zusammen, nahm dann einen Schluck Bier und sprach weiter. »Dann geschah etwas. Die Beamten des Grafen . . .« Wieder hielt sie inne. »Darüber möchte ich nicht reden«, erklärte sie schließlich. »Ich, ich konnte fliehen. Nach Italien. Und da gab es auch kranke Leute, Leute, die Hilfe brauchten. Ich half ihnen, und sie beherbergten mich, gaben mir zu essen und zu trinken. Ich hatte kein Geld, um meinen Unterhalt bestreiten zu können. Ich
hatte nichts mehr, nachdem . . . aber lassen wir das. Die Armen halfen mir für die Hilfe, die ich ihnen zukommen ließ. Und den Kindern. Aber die nichts davon verstanden, die nannten es Schwarze Magie. . Zuerst in Belluno. Dann in Milano. Dann in Torino. Jedesmal verbreitete sich das Gerücht, ich würde Schwarze Magie praktizieren. Ich hatte geglaubt, daß ich irgendeine Stelle würde finden können, vielleicht als Zofenlehrling, da es ein ehrbarer Beruf ist. Und jedesmal mußte ich weiterziehen. Schließlich mußte ich auch aus Italien fliehen. Ich überquerte die Grenzen des Reichs und gelangte nach Grenoble. Ich dachte, daß ich nun in Sicherheit wäre. Aber der Großherzog von Piemonte hatte Nachricht vorangeschickt, und so wurde ich in Grenoble von den Wachmännern festgenommen. Ich hatte Angst. Ich hatte kein Reichsgesetz gebrochen, aber die Piemonteser verlangten meine Auslieferung. Ich wurde My Lord, dem Marquis von Grenoble vorgeführt, der mich anhörte und meinen Fall dem Gerichtshof Seiner Hoheit dem Herzog von Dauphine übergab. Ich dachte, daß sie mich sofort ausliefern würden, sobald sie von der piemonteser Anklage vernommen hätten. Warum sollten sie einen Niemand wie mich anhören?« »So läuft das nicht ab unter der Königlichen Gerichtsbarkeit«, sagte die Herzoginwitwe. »Ich weiß«, sagte Tia, »das habe ich dann auch erfahren. Ich wurde einer kirchlichen Sonderkommission übergeben, die mich überprüfen sollte.« Sie nahm einen Zug aus dem Bierkrug und sah Mary gerade ins Gesicht. »Sie haben mich freigesprochen«, sagte sie. »Ich hatte Magie ausgeübt, ohne eine Lizenz zu haben, das war wahr. Aber sie sagten, daß dies kein Auslieferungsgrund sei. Und die Sensitiven in der Kommission bestätigten, daß ich bei meinen Heilungen keine Schwarze Magie angewandt hatte. Sie warnten mich jedoch davor, im Reich Magie ohne Lizenz zu praktizieren. Father Dominique, der Vorsitzende der Kommission, sagte mir, daß ein Talent wie das meinige ausgebildet werden müßte. Er stellte mich Sir Thomas vor, der in einem Seminar für Meisterhexer in Grenoble eine Vorlesungsreihe abhielt. Sir Thomas brachte mich nach England und stellte mich Seiner Hoheit dem Erzbischof von York vor. Kennt Ihr den Erzbischof, Euer Gnaden? Er ist ein Heiliger, ein vollkommener Heiliger.« »Ich bin sicher, daß es ihm recht peinlich wäre, Euch so reden zu hören«, sagte die Herzoginwitwe lächelnd. »Aber unter uns gesagt, bin ich Eurer Meinung. Er ist ein erstaunlicher Sensitiver. Und offensichtlich«, sagte sie und wies auf das erzbischöfliche Wappen auf Tias Schulter, »hat Seine Hoheit zugestimmt. Sehr zugestimmt, möchte ich sagen.« Tia nickte. »Ja. Durch die Fürsprache Seiner Hoheit wurde ich als Lehrling in der Gilde zugelassen.« Mary de Cumberland spürte die Aura düsterer Vorahnungen, die um das Mädchen schwebte. »Well«, sagte sie voller Wärme, »nun, da Eure Zukunft gesichert ist, habt Ihr ja keinen Grund zur Furcht mehr.« »Nein«, sagte Tia mit einem kleinen Lächeln. »Nein. Kein Grund zur Furcht mehr.« Aber es war Leere in ihren Augen, und die dunkle Schwermut darin verschwand nicht. In diesem Augenblick erschien der Kellner und hüstelte höflich. »Verzeihung, Euer Gnaden.« Dann sah er Tia an. »Verzeihung, Demoiselle. Seid Ihr der Zauberlehrling Tia ... äh ... Einzig?« Er sprach das g eine Spur zu hart aus. Tia
lächelte ihn an. »Ja, das bin ich. Was gibt es?« »Nun, Demoiselle, an der Theke steht ein Mann, der Euch gerne sprechen möchte. Er sagt, daß Ihr ihn kennen würdet.« »Tatsächlich?« Tia drehte sich nicht um, um hinzuschauen. Sie hob eine Augenbraue. »Welcher?« Der Kellner drehte sich ebenfalls nicht um. Er sprach mit leiser Stimme. »Der Mann an der Bar, Demoiselle, auf dem dritten Hocker von rechts; der Händler in der malvenfarbenen Jacke.« Beiläufig wandte Tia einen Blick auf die Bar. Die Herzoginwitwe tat das gleiche. Sie sah den dunklen Mann mit buschigen Augenbrauen, einem schweren, herabhängenden Schnäuzer und tiefliegenden Augen, die umherschwirrten wie die eines Spions. Er trug eine Jacke im seltsamen >Douglas-StilGut, ich glaube, ich gehe mal nach draußen und verhökere das ganze an einen polnischen Agenten! So leicht findet man keine polnischen Agenten.« »Das ist richtig«, meinte Lord Darcy nachdenklich. »Es ist schwierig, etwas zu verkaufen, wenn man nicht weiß, wie man den Käufer erreichen soll. Fahrt bitte fort.« »Also gut. Um den Verdacht von sich abzulenken, setzte er dieses kleine Theaterstück in Szene. Jeder sucht nach dem mysteriösen Fitzjean, für den eine Falle ausgelegt wird. In der Zwischenzeit verhandelt Barbour mit den Polen und erzählt ihnen die gleiche Geschichte über Fitzjean.« »Wie sollte das Stück denn dann enden?« fragte Lord Darcy. »Das müssen wir einmal überlegen. Das Geheimnis wird den Polen ausgehändigt. Die Polen zahlen Barbour aus. Ich kann mir vorstellen, daß Zwinge einen Vorwand gefunden hat, zu der Zeit am Ort zu sein. Ich bezweifle, daß er Barbour die fünftausend Goldsovereigns anvertraut hätte. Die Falle für Fitzjean schlägt natürlich fehl, da es keinen Fitz-Jean gibt. Und nachdem wir;gemerkt haben, daß die polnische Marine den Konfusionssprojektor hat, lautet Zwinges Entschuldigung: >FitzJean muß Barbour plötzlich mißtraut haben und hat das Geheimnis woanders verkauft. Zwinge könnte vorgehabt haben, Barbour auszuzahlen, das Geld mit ihm zu teilen oder ihn zu töten, das können wir nicht feststellen.« »Interessant«, sagte Lord Darcy. »Solch ein. Plan wäre sicherlich nicht unmöglich gewesen, man hätte ihn entwerfen können. Aber wenn dem so gewesen sein sollte, dann ist er doch fehlgeschlagen. Warum glaubt Ihr, ist dies der Fall?« »Ich persönlich glaube«, sagte der Commander, »daß die Polen herausbekamen, daß Barbour für Zett arbeitet, und daß Zett Sir James Zwinge war. Sollte dies halbwegs der Wahrheit entsprechen, dann läßt meine Vermutung zwei Möglichkeiten offen. Erstens: Die Polen kamen zu der Überzeugung, daß die ganze Angelegenheit mit dem Konfusionsprojektor ein bloßer Versuch von Barbour und Sir James war, irgend jemanden aus irgendeinem Grund aufs Eis zu führen, und entschlossen sich dazu, beide zu eliminieren. Oder zweitens: Die Polen glaubten, daß Sir James tatsächlich ein Verräter war, der mit ihnen zu verhandeln bereit war. Sie haben sich gedacht, daß Sir James die Unterlagen irgendwo aufbewahren würde, wo sie für ihn leicht zugänglich waren. Während also die eine Gruppe in Cherbourg mit Barbour verhandelt, wird Zwinge von einer anderen in London überwacht. In Cherbourg einigt man sich auf das Geschäft, Barbour schickt eine Nachricht an Zwinge. Dieser weiß nicht, daß er beschattet wird, und besorgt die Pläne, um sie Barbour schicken zu können. Aber die Polen wissen jetzt, wo die Papiere sind. Sie geben Anweisung nach Cherbourg, daß Barbour beiseitegeschafft werden soll, und töten Zwinge hier, wobei sie die Unterlagen in die Hände bekommen und auf diese Weise fünftausend Goldsovereigns sparen.« »Ich muß
zugeben«, sagte Lord Darcy langsam, »daß mein Unwissen über die Gepflogenheiten internationaler Geheim-dienste ein Hindernis gewesen ist. Auf diese Theorie wäre ich niemals von alleine gekommen! Was war denn dann mit den technischen Fragen bei dem Mord an Sir James? Wie haben die Polen ihn denn umgebracht?« Commander Lord Ashley zuckte vielsagend mit der Schulter. »Da habt Ihr mich natürlich auf dem linken Fuß, My Lord. Von Schwarzer Magie verstehe ich eigentlich überhaupt nichts, und trotz allem, was Captain Smollett über mich sagte, habe ich auch keinerlei Erfahrungen in Mordsachen.« Lord Darcy lachte auf. »Na, das ist wenigstens ehrlich. Ich hoffe, daß Euch diese Unterschungen zeigen werden, wie wir armen Zivilisten solche Dinge angehen. Wie spät ist es eigentlich?« Er schaute auf seine Armbanduhr und rief: »Ach du lieber Gott! Es ist schon nach sechs! Ich dachte, die Admiralität würde um sechs schließen?« Der Commander grinste. »Ich möchte wetten, daß Captain Smollett Anweisungen gegeben hat, uns nicht zu stören.« »Natürlich«, bestätigte Lord Darcy. »Also gut. Packen wir die Akten wieder weg und gehen ins Hotel zurück. Ich möchte Sir Lyon Grey ein paar Fragen stellen, wenn ich ihn irgendwo erwischen kann. Und außerdem möchte ich gerne mit dem Erzbischof von York sprechen. Wir müssen etwas über ein Mädchen namens Tia Einzig herausbekommen.« »Tia Einzig?« Lord Ashley schaute verwundert drein. Er hatte den Namen noch nie gehört. »Ich sage Euch, was ich Weniges über sie weiß, während wir ins Hotel zurückkehren. Stellt uns die Admiralität eine Kutsche?« »Ich fürchte, daß die Kutschen der Admiralität alle um sechs eingeschlossen werden«, erklärte der Commander. »Wir werden wohl eine Mietdroschke nehmen müssen, sofern wir eine finden.« »Wenn nicht, dann können wir auch gehen«, meinte Lord Darcy. »Wir müssen ja nicht gerade durch die halbe Stadt laufen.« Wenige Minuten später schritten die beiden Männer durch die dunklen Flure des Admiralitätsgebäudes. In der Eingangshalle wurden sie von einem Subalternoffizier hinausgelassen. »Schrecklich neblige Nacht, My Lords«, sagte er. »Wünschen eine gute Fahrt. Captain Smollett hat Anordnung gegeben, daß man eine Kutsche für Euch bereithält.« »Gott sei gedankt für kleine Gaben«, sagte Lord Darcy. So bestiegen sie die Kutsche. Die Hinfahrt dauerte diesmal länger als zuvor am Nachmittag. Die meisten der Besucher waren des Nebels wegen nach Hause gegangen. Die Empfangshalle lag fast völlig verlassen. Ein Mann im Gewand eines Meisterhexers stand vor Ausstellungsstücken. Lord Darcy und Lord Ashley gingen auf ihn zu, und Lord Darcy tippte ihm von hinten auf die Schulter. »Entschuldigung, Meisterhexer«, sagte er förmlich, »ich bin Lord Darcy, Sonderinspektor im Auftrag Seiner Majestät des Königs, und ich wäre Euch sehr verbunden, wenn Ihr mir mitteilen würdet, wo ich Sir Lyon Gandolphus Grey finden kann.« Der Meisterhexer drehte sich mit einem unterwürfigkriechenden Lächeln um. »Ah, Lord Darcy«, sagte er. »Es ist mir ein Vergnügen, Euer Lordschaft kennenzulernen. Ich bin Master Ewen MacAlister. Mein guter Freund Master Sean O Lochlainn hat mir viel von Euch erzählt.« Dann verdüsterte sich sein Gesicht unvermittelt. »Es tut mir außerordentlich leid, My Lord, Euch mitteilen zu müssen, daß Großmeister Sir Lyon
im Augenblick verhindert ist. Er wohnt einer Sitzung der Sonderexekutivkommission des Vorstands der Königlichen Thauma-turgischen Gesellschaft bei. Kann-ich Euer Lordschaft noch auf andere Weise zu Diensten sein?« Lord Darcy verkniff es sich, daß er bisher noch überhaupt nichts getan hatte, um Ihren Lordschaften von Diensten zu sein. »Ach, das ist aber schade! Aber macht nichts! Sagt mir, nimmt Seine Hoheit der Erzbischof von York auch an dieser Sitzung teil?« »Nein, Euer Lordschaft, Seine Hoheit ist nicht Mitglied der Exekutivkommission. Seine kirchlichen Bürden sind viel zu groß, als daß er auch noch dieses Amt wahrnehmen könnte. Ich habe Seine Hoheit übrigens vor wenigen Augenblicken gesehen. Er nimmt seinen Tee im Restaurant, im Schildzimmer, Euer Lordschaft.« Er blickte auf seine Armbanduhr. »Ja, das war erst vor wenigen Minuten, Euer Lordschaft. Seine Hoheit müßte noch dort sein. Kann ich Euer Lordschaften noch auf andere Weise zu Diensten sein?« Bevor einer von ihnen etwas erwidern konnte, fuhr er fort: »Kann ich Euch irgendwie behilflich sein, den üblen Verbrecher zu finden, der diesen infamen, heimtückischen Mord an« — plötzlich sah er ausgesprochen traurig aus — »unserem guten Freund Master Sir James begangen hat? Eine verdammungswürdige Sache, das! Wird Euer Lordschaft eine Verhaftung vornehmen?« »Wir werden unser Bestes versuchen, Master«, sagte Lord Darcy forsch und fröhlich. »Wir danken Euch für die Auskunft, Master Ewen, und nochmals vielen Dank!« Lord Ashley und er schritten auf das Restaurant zu und ließen Master Ewen mit leerem Gesichtsausdruck zurück. »Master Ewen MacAlister, eh?« sagte Lord Ashley. »Öliger kleiner Fiesling, nicht wahr?« »Ich hätte ihn schon durch Master Seans Beschreibung erkannt, er hätte sich gar nicht vorzustellen brauchen«, sagte Lord Darcy. »Gibt es irgendeine Möglichkeit«, sagte Lord Ashley nachdenklich, »daß Master Ewen in den Mord verwickelt ist?« Lord Darcy machte zwei weitere Schritte, bevor er antwortete. »Ich will ehrlich zu Euch sein«, sagte er dann. »Obwohl ich keinen Beweis habe, habe ich das Gefühl, daß Master Ewen MacAlister einer der Hauptdrahtzieher in dem Geheimnis ist, das den Tod von Sir James umgibt.« Lord Ashley sah erstaunt aus. »Ihr habt ja gar keine Anstalten gemacht, ihn weiter zu befragen.« »Ich habe die Erklärung gelesen, die er gestern vor Lord Bon-triomphe abgegeben hat. Er hat sich den ganzen Morgen auf seinem Zimmer aufgehalten, bis zehn oder fünfzehn Minuten nach neun. Er weiß die Zeit nicht genau. Danach war er unten im Empfangssaal. Master Sean bestätigt einen Teil seiner Erklärung. Das Interessante daran ist jedoch, daß sich Master Ewens Zimmer genau über dem Zimmer befindet, in dem Sir James ermordet wurde.« »Das gibt zu denken«, sagte Ashley, während sie durch die Tür des Schildzimmers schritten. Sie spähten durch das von Gaslampen hellerleuchtete Restaurant und erblickten einen älteren Mann im Bischofspurpur, der allein an einem Tisch saß und an seinem Tee nippte. Lord Darcy sagte: »Das ist, glaube ich, Seine Hoheit von York.« Sie schritten auf den Tisch zu. Der Erzbischof schien in Gedanken versunken zu sein. Auf dem Tisch lag ein Notizbuch, in das er Symbole eintrug. »Bitte, diese Störung zu verzeihen, Euer Gnaden«, sagte Lord Darcy höflich. »Ich würde Eure Meditationen
nicht von allein stören, aber ich komme im Auftrag des Königs.« Der alte Mann blickte lächelnd auf, und der Schein der Gaslampen ließ sein weißes Haar um die Schädelkappe wie einen Heiligenschein erstrahlen. Ohne sich zu erheben, reichte er Lord Darcy die Hand. »Ihr stört mich nicht, My Lord«, sagte er sanft. »Meine Zeit sei Eure Zeit. Ihr seid doch Lord Darcy von Rouen, glaube ich?« »Das bin ich, Euer Gnaden«, sagte Lord Darcy, »und dies ist Commander Lord Ashley vom Geheimdienst Seiner Majestät Reichsmarine.« »Sehr gut«, sagte der weise alte Sensitive. »Setzt Euch, My Lords! Danke! Ihr kommt vermutlich, um über die Probleme zu reden, die der Tod von Sir James Zwinge aufgeworfen hat.« »Das tun wir, Euer Gnaden«, sagte Lord Darcy und setzte sich zurecht. Seine Hoheit von York faltete die Hände auf dem Tisch. »Ich stehe zu Euren Diensten. Alles, was Licht in diese Angelegenheit bringen könnte . . .« »Euer Gnaden sind zu gütig«, sagte Lord Darcy. »Wie Ihr wißt, besitze ich nicht das Talent, und deshalb gibt es vielleicht Hinweise, die Ihr geben könntet, die ich nicht von allein bekommen kann.« »Sehr wahrscheinlich. Was denn zum Beispiel?« »Soweit ich unterrichtet bin, wäre es sehr schwierig für einen Hexer, ein Schwarzmagisches Ritual hier durchzuführen, ohne Aufmerksamkeit zu erregen. Außerdem wurde jeder der Hexer vorher auf seine Rechtschaffenheit überprüft, und jeder von ihnen besitzt eine Lizenz seines Diözesenbischofs, die dies bestätigt.« »Und Eure Frage lautet wohl«, sagte der Erzbischof, »wie wir eine solche Person übersehen konnten?« »Genau.« »Nun gut, ich will versuchen, es zu erklären. Fangen wir mit der Lizenz, Magie ausüben zu dürfen, an. Diese Lizenz wird vergeben, wenn ein Hexer seine Lehrzeit beendet hat und nach den Statuten der Gilde qualifiziert ist, seine Kunst auszuüben. Alle drei Jahre wird er aufs neue geprüft, und wenn er die Prüfungen besteht, wird die Lizenz verlängert. Das wißt Ihr vielleicht?« Lord Darcy nickte. »Jawohl, Euer Gnaden.« »Nun gut«, sagte der Erzbischof, »aber wodurch würde ein Hexer sich disqualifizieren können? Was könnte die Kirche daran hindern, seine Lizenz zu erneuern? Nun, es gibt viele Möglichkeiten, aber die wichtigste wäre zweifellos das Praktizieren von Schwarzer Magie. Leider ist es aber für die allermeisten Sensitiven nicht möglich, festzustellen, ob jemand Schwarze Magie ausgeübt hat, solange es sich um kleinere Zauber handelt, wenn der angerichtete Schaden nicht allzu groß ist, wenn der Hexer noch nicht zu sehr von der Schwarzen Magie korrumpiert wurde. Könnt Ihr mir folgen?« »Ich glaube schon«, sagte Lord Darcy. »Dann werdet Ihr auch begreifen«, fuhr der Erzbischof fort und hob einen Finger, »wie es passieren kann, daß jemand einige Jahre Schwarze Magie praktizieren kann, bevor es seinen Geist derart verändert hat, daß das Prüfungskollegium es auch nachweisen kann. Ein Kapitalverbrechen wie beispielsweise Mord würde natürlich von der Sonderkommission sofort bemerkt werden. Der verdächtige Hexer müßte einige Tests durchlaufen, die er automatisch verfehlen müßte, wenn er seine Kunst dazu mißbraucht hätte, ein solch schändliches Verbrechen wie einen Mord zu begehen.« Er drehte die Handfläche nach oben. »Aber Ihr werdet begreifen, daß es unmöglich wäre, jeden Hexer hier einer solchen Untersuchung zu unterziehen. Die Gilde muß annehmen, daß ein
Hexer auf dem rechten Pfad ist, bis es genug Material gibt, das das Gegenteil beweist.« »Das verstehe ich völlig«, sagte Lord Darcy. »Aber ich weiß auch, daß Ihr einer der feinfühligsten Sensitiven der Welt seid und einer der mächtigsten Heiler der Christenheit.« Er sah dem Erzbischof direkt in die Augen. »Ich kannte Lord Seiger von Yorkshire.« Trauer spiegelte sich in den Augen Seiner Hoheit, als er sagte: »Ach ja, der arme Seiger! Eine gequälte Seele . . . Ich tat, was ich konnte für ihn, und doch wußte ich ... ja, ich wußte es ... daß er trotz allem nicht lange leben würde.« »Euer Gnaden erkannten ihn als psychopathischen Mörder«, sagte Lord Darcy. »Wenn wir einen solchen Mörder in unserer Mitte haben sollten, wäre er dann nicht ebenso leicht zu erkennen wie Lord Seiger?« Die kummervollen Augen des Erzbischofs wandten sich erst Lord Darcy und dann Lord Ashley zu. »My Lords«, sagte er bedächtig, »man kann das Gebiet der Magie nicht so leicht in >reines Weiß< und tödliches Schwarz« einteilen. Auch Menschenseelen kann man nicht so leicht beurteilen. Lord Seiger war ein Extremfall und konnte als solcher erkannt und isoliert werden, auch wenn seine Behandlung schwierig war. Aber man kann nicht einfach sagen: >Dieser Mann ist des Mordes fähig< und >dieser Mann hat getötet< und ihn deswegen schon aus der Gesellschaft ausschließen. Denn diese Züge sind ja nicht unbedingt böse. Die Fähigkeit zum Töten ist eine Eigenschaft, die für das Überleben des menschlichen «Tieres notwendig ist. Sie per Dekret abzuschaffen, käme einer Entmenschlichung gleich. Als Sensitiver nehme ich beispielsweise wahr, daß Ihr beide dazu fähig seid zu töten; außerdem sehe ich, daß Ihr beide auch schon Menschen getötet habt. Aber das sagt mir noch nicht, ob dieses Töten gerechtfertigt war oder nicht. Wir Sensitiven sind keine Engel, My Lords, wir maßen uns nicht Gottesgewalt an. Nur wenn es eine wahrhaftige und tiefverwurzelte böse Absicht gibt, wird diese so offensichtlich, daß man sie sofort aufspüren kann. Bei Euch spüre ich zum Beispiel keine solche Absicht.« Nach einer Schweigepause sagte Lord Darcy schließlich: »Ich verstehe, glaube ich. Aber ich gehe doch wohl nicht fehl in der Annahme, daß, wenn jeder Hexer hier einem Rechtschaffenheitstest unterzogen würde, jeder, der einen Mord mit den Mitteln Schwarzer Magie begangen hätte, durch solche Tests entlarvt werden könnte?« »Aber gewiß doch«, sagte der Erzbischof, »das ist völlig richtig. Ihr könnt versichert sein, daß diese Tests auch durchgeführt werden, wenn die weltlichen Behörden den Unhold nicht finden sollten. Aber bisher«, fuhr er fort und hob bestätigend den Zeigefinger, »bisher haben weder die Kirche noch die Gilde irgendwelche Anhaltspunkte dafür, daß Schwarze Magie im Spiel ist. Deshalb halten wir uns auch zurück.« »Ich verstehe«, sagte Lord Darcy. »Mit Verlaub, Euer Gnaden, eine weitere Frage. Was wißt Ihr über eine gewisse Demoiselle Tia Einzig?« »Demoiselle Tia?« Der heilige alte Mann lachte still in sich hinein. »Ah, My Lord, da habt Ihr aber jemanden, den Ihr sofort ausschließen könnt, wenn Euer Verdacht auf sie gefallen sein sollte. Sie wurde in den letzten paar Monaten zweimal von einem Prüfungsausschuß überprüft, der aus ausnahmslos kompetenten Mitgliedern bestand. Sie
hat niemals in ihrem Leben Schwarze Magie ausgeübt.« »Ich bin nicht Eurer Meinung, daß sie dies von jedem Verdacht entbinden müßte«, sagte Lord Darcy. »Man kann ja wohl in einen Mord verwickelt sein, ohne zuvor Schwarze Magie praktiziert zu haben. Oder irre ich da?« Der Erzbischof blickte nachdenklich drein. »Hm, ja, natürlich habt Ihr recht. Das wäre möglich, ja ... es wäre möglich, daß Demoiselle Tia ein Verbrechen begangen hätte, und solange es nicht das der Schwarzen Magie war, hätten wir es auch nicht feststellen können.« Er lächelte. »Ich versichere Euch, daß sie keiner Fliege etwas zuleide tun würde.« Plötzlich wurde seine Aufmerksamkeit von Mary De Cumberland abgelenkt, die auf den Tisch zukam, und ihr Bestes tat, um ihre Aufregung zu verbergen. »Euer Gnaden«, begann sie. Sie machte einen schnellen Hof knicks und blickte Lord Darcy an. »Ich . . .« Sie unterbrach sich und blickte Lord Ashley und den Erzbischof an. Dann fragte sie Lord Darcy: »Kann ich reden?« »Über den Auftrag?« fragte Lord Darcy. »Ja.« »Wir haben gerade über Tia gesprochen. Was gibt es Neues?« »Setzt Euch doch bitte, Euer Gnaden«, sagte der Erzbischof. »Ich möchte gern alles hören, was Ihr über Tia zu berichten habt.« Mit leiser Stimme berichtete Mary De Cumberland, was geschehen war. »Ich habe Euch überall gesucht«, sagte sie schließlich. »Ich bin ins Büro gegangen. Der Wachsergeant sagte, daß er Euch nicht gesehen habe. Ich bin rein zufällig hier hereingekommen.« Lord Darcy streckte die Hand aus. »Ich muß das Papier sehen!« schnappte er. Sie reichte es ihm. »Deshalb wollte ich dich auch so schnell finden«, sagte sie. »Alles, was ich lesen kann, sind die Zahlen.« »Es ist in Polnisch geschrieben«, sagte Lord Darcy. >»Im Hound and Hare um sieben UhrHilfepfiff< der Königlichen Wachmänner. Ein oder zwei Sekunden später vernahmen sie von beiden Seiten des Flusses die Antwortpfiffe weiterer Wachmänner. Wenige Sekunden später wiederholte der Wachmann die Pfiffe, um den Herbeieilenden einen Orientierungspunkt zu geben. »Wird gleich Verstärkung kommen«, versicherte er fröhlich. »Bis dahin können wir sowieso nichts unternehmen.« Er zog ein Notizbuch aus der Tasche. »Also, wenn Ihr so gut sein würdet, Euren Namen zu wiederholen, Euer Lordschaft. Und die Namen der anderen.« Der Commander wiederholte seinen eigenen Namen und sagte dann: »Der Name des Mädchens lautet Tia Einzig.« Er buchstabierte den Namen und fuhr fort: »Sie ist eine wichtige Zeugin in einem Mordfall, deshalb wollte der Mörder sie aus dem Weg schaffen. Der Mann, der ihr nachgesprungen ist, ist Lord Darcy, der . . .« »Lord Darcy, sagt Ihr?« Der Wachmann hob plötzlich den Kopf. »Der berühmte Inspektor aus Rouen?« »Genau der«, sagte Lord Ashley. »Derselbe Lord Darcy«, beharrte der Wachmann, der scheinbar hundertprozentig sicher sein wollte, daß es sich um den richtigen Mann handelte, »der aus der Normandie gekommen ist, um Lord Bontriomphe zu helfen, den Mord im Royal Steward Hotel aufzuklären?« »Genau der«, sagte Lord Ashley mißmutig. »Und der ist einfach in den Fluß gesprungen?« »Ja, das ist er, wie ich es gesagt habe. Er ist in den Fluß gesprungen. Er wollte das Mädchen retten. Inzwischen hat er genug Zeit gehabt, um bis Nordland zu schwimmen. Wenn wir noch ein bißchen warten, kommt er bestimmt bald zurück.« Der Wachmann sah ihn pikiert an. »Kein Grund, ungeduldig zu werden, Euer Lordschaft. Wir werden so schnell wir möglich zur Tat schreiten.« Er gab noch
einen dritten und schließlich einen vierten Notpfiff. Dann hörte man Hufeklappern, und der entfernte Klang schwoll zu einem Donner an, aIs das Pferd auf die Brücke galoppierte. Sie sahen, wie sich ein Licht näherte, und der Wachmann gab Lichtsignale mit seiner Laterne. »Da kommt der Sergeant, Euer Lordschaft.« Der berittene Sergeant stand plötzlich vor ihnen und zog sanft die Zügel an, während der Wachmann salutierte. »Was gibt es, Wachmann Arthur?« »Dieser Gentleman hier ist Commander Lord Ashley von der Reichsmarine, Sergeant.« Er blickte auf seine Aufzeichnungen und gab einen kurzen, präzisen Bericht über die Vorfälle. Inzwischen konnte man das Geräusch von Stiefeln und von Hufen hören, die sich von beiden Seiten der Brücke näherten. »Gut, My Lord Commander, wir werden uns darum kümmern«, sagte der Sergeant. »Wahrscheinlich ist er zum rechten Ufer geschwommen, weil es näher ist, aber wir suchen beide Seiten ab. Arthur, Ihr geht zur Station der Flußpatrouille in der Thames Street und sagt ihnen, daß sie ihre Boote aussetzen und den anderen Stationen flußabwärts eine Nachricht zukommen lassen sollen. Wir müssen von hier bis Chelsea alles abdecken.« »Sofort, Sergeant.« Wachmann Arthur verschwand im Nebel. »Darf ich um einen Gefallen bitten, Sergeant?« fragte Lord Ashley. »Was soll es sein, Euer Lordschaft?« »Schickt einen Reiter ins Royal Steward Hotel, wenn das möglich ist. Laßt ihn dort dem Wachsergeanten alles berichten. Außerdem wartet dort eine Kutsche der Admiralität auf mich. Laßt Euren Mann dem Subalternoffizier ausrichten, daß Commander Lord Ashley die Kutsche in die Thames Street an die Somerset Bridge gebracht haben will. Ich werde davon ausgehen, daß Lord Darcy versucht, das rechte Ufer zu erreichen, und werde Euren Leuten bei der Suche halfen.« »Sehr wohl, My Lord Commander. Ich schicke sofort einen Boten los.« Mary De Cumberland schritt durch die fast gänzlich leere Empfangshalle des Royal Steward und versuchte mühevoll, ihre nervöse Ungeduld zu zügeln. Sie hatte das Gefühl, irgend etwas tun zu müssen, aber sie wußte nicht was. Sie hätte gern mit jemandem geredet, aber es war niemand da. Sir Lyon und Sir Thomas waren immer noch in der Sitzung mit den höchstrangigen Hexern des Reichs. Master Sean war im Leichenschauhaus und assistierte bei der Autopsie von Sir James Zwinge. Lord Bontriomphe, so hatte der Wachsergeant vom Dienst ihr mitgeteilt, durchstöberte gerade die Stadt nach einem Mann namens Paul Nichols. Und Lord Darcy befand sich in einer Kneipe und beschattete Tia Einzig. Womit die Herzogin allein und untätig war. Sie ging in das vorläufige Hauptquartier. »Gibt es etwas Neues, Sergeant Peter?« »Nicht das geringste, Euer Gnaden«, sagte der Wachsergeant vom Dienst und erhob sich. »Lord Bontriomphe ist noch nicht zurück und Lord Darcy auch nicht.« »Ihr scheint Euch genauso zu langweilen wie ich, Sergeant. Habt Ihr etwas dagegen, wenn ich mich setze?« »Es wäre mir eine Ehre, Euer Gnaden. Bitte, nehmt diesen Stuhl. Nicht allzu bequem, fürchte ich allerdings. Sie haben ihrem Nachtdirektor nicht gerade das allerbeste Mobiliar zur Verfügung gestellt.« Sie wurden von einem anderen Wachsergeanten unterbrochen, der plötzlich durch die Tür kam. Er grüßte die Herzogin mit einem knappen Kopfnicken und sagte: »Abend, Madam«, und
wandte sich an Sergeant Peter. »Seid Ihr hier zuständig, Sergeant?« »Bis Lord Bontriomphe oder Lord Darcy zurückkehren, ja. Ich bin Sergeant Peter O Sechnaill.« »Sergeant Micheal Coeur-Terre, Flußbezirk. Möglicherweise wird Lord Darcy nicht zurückkehren. Ein Mädchen namens Tia Einzig wurde von der Somerset Bridge gestoßen, und Lord Darcy ist ihr nachgesprungen. Man sucht sie jetzt bis Chelsea mit Patrouillenbooten, aber ich glaube selbst nicht daran, daß sie noch eine Chance haben. Ein Commander namens Lord Ashley bat uns, hier Bericht zu erstatten. Er sagte, daß Lord Bontriomphe die Information brauchen kann.« Sergeant Peter nickte. »Jawohl, ich werde Seiner Lordschaft Meldung machen, sobald er kommt. Noch etwas?« »Ja. Wißt Ihr, wo hier eine Admiralitätskutsche wartet? Ein Subalternoffizier namens Hosquins ist für sie zuständig. Commander Lord Ashley wünscht, daß die Kutsche sofort in die Thames Street zur Somerset Bridge gebracht wird. Er will Transport für Lord Darcy, wenn sie ihn finden, obwohl ich glaube, daß es mit Seiner Lordschaft wohl zu Ende sein dürfte.« Mary De Cumberland war bereits aufgestanden. Nun sagte sie mit äußerst ruhiger Stimme: »Er ist nicht tot. Ich würde es wissen, wenn er tot wäre.« »Verzeihung, Madam?« sagte Sergeant Michael. »Nichts, Sergeant«, sagte sie ruhig. »In der Thames Street an der Somerset Bridge, habt Ihr gesagt? Ich weiß, wo sich die Admiralitätskutsche befindet, ich werde Subalternoffizier Hosquins verständigen.« Sergeant Michael bemerkte zum ersten Mal das Wappen der Cumberlands auf Marys Kleid. Gleichzeitig sagte Sergeant Peter: »Ihre Hoheit arbeitet mit an dem Fall.« »Das ist ... das ist sehr freundlich von Euch, Euer Gnaden«, sagte Sergeant Michael. »Aber nicht doch!« sagte Mary und verließ eilig das Zimmer. Sie lief durch die Empfangshalle vor die Eingangstür. Sie hatte nicht die geringste Ahnung, wo sich die Admiralitätskutsche befand, aber dies war nicht die Zeit, sich über Kleinigkeiten auszuregen. Es dauerte nicht lange, bis sie sie gefunden hatte. Die Kutsche stand in Richtung St. Sithin's Street, einen halben Block entfernt. Man konnte das Admiralitätswappen mühelos erkennen. Der Kutscher und der Lakai saßen oben auf dem Kutschbock, in Decken eingehüllt, und schmauchten ruhig an ihren Pfeifen. »Subalternoffizier Hosquins?« fragte Mary und verlieh ihrer Stimme einen gewichtigen Klang. »Ich bin die Herzogin von Cumberland. Lord Ashley hat befohlen, daß die Kutsche sofort in der Thames Street an der Somerset Bridge vorfahren soll. Ich werde mitkommen.« Bevor der Lakai auch nur absteigen konnte, war Mary bereits in die Kutsche eingestiegen. Subalternoffizier Hosquins öffnete die Dachluke und blickte sie an. »Aber Euer Gnaden«, wollte er anfangen. »Lord Ashley«, sagte die Herzogin kühl, »hat sofort befohlen. Es handelt sich um einen Notfall. Verdammt noch einmal, fahrt jetzt endlich los, Mann!« Subalternoffizier Hosquins zuckte zusammen. »Jawohl, Euer Gnaden«, sagte er. Er schloß die Dachluke, und die Kutsche setzte sich in Bewegung. Teil-4
Als Lord Darcy in das eisige Wasser der Themse tauchte, verspürte er einen Kälteschub, der ihn einen Moment lang fast zu lahmen drohte, bis er sich gefangen hatte und wieder hochtauchte, wobei er sich die Jacke vom Leib riß. Sein Kopf stieß aus dem Wasser heraus, er nahm einen tiefen Atemzug und tauchte wieder unter, um seine Stiefel auszuziehen. Und die ganze Zeit sagte Lord Darcy sich, daß er ein Narr sei, ein dämlicher, trotteliger Narr. Das Mädchen hatte sich ohne Gegenwehr von der Brücke stoßen lassen und war ohne den geringsten Schrei hinuntergefallen. Was gab es für eine Chance, sie hier in einer Welt des dunklen und feuchtes Todes wiederzufinden, mehr als hundert Yards vom nächsten Ufer entfernt? Ein schweres Gefühl an seiner Hüfte erinnerte ihn an etwas anderes. Er hätte seine Pistole ziehen können, aber niemals hätte er auf einen Mann geschossen, der nur mit einem Schwert bewaffnet war, und die Zeit, die dafür notwendig gewesen wäre, dem Mann die Waffe zu entreißen und ihn Ashley zu übergeben, hätten den Verlust wertvoller Sekunden bedeutet. Seine Chancen, das Mädchen jetzt noch zu finden, waren klein; im anderen Fall wären sie unendlich viel kleiner gewesen. Wenigstens hätte er die Pistole ziehen und auf die Brücke werfen können, wie seinen Umhang. Ihr zusätzliches Gewicht war jetzt nur ein Hindernis. Bedauernd zog er die Waffe aus ihrem Holster und übergab sie für immer den schlammigen Tiefen des mächtigen Flusses. Er tauchte wieder auf und blickte sich um. Es war heller, als er erwartet hatte. Die Lichter der Brücke waren schwach zu erkennen. »Tia!« rief er. »Tia Einzig! Wo seid Ihr? Könnt Ihr mich hören?« Sie hätte flußabwärts treiben müssen, unter der Somerset Bridge hindurch, aber wie tief wohl unter der Wasseroberfläche? Und dann hörte er ein Geräusch. Es gab einen sanften, prustenden, weinerlichen Ton und ein schwaches Platschen. »Tia Einzig!« rief er wieder. »Sagt irgend etwas! Wo seid Ihr?« Er erhielt keine Antwort. Statt dessen war der gleiche schwache Ton zu hören. Er kam von flußaufwärts, zwischen ihm und der Brücke. Sein Sprint über die Brücke und sein weiter Sprung hatten ihn flußabwärts von ihr ins Wasser kommen lassen, so wie er es vorgehabt hatte. Lord Darcy schwamm auf den Ton zu. Seine kräftigen Arme kämpften gegen den Strom der Themse an. Der Ton kam näher, eine Art mähendes Schluchzen, kaum menschlich zu nennen. Und dann berührte er sie. Sie strampelte wohl, aber nicht sehr stark, sondern eben genug, um mit dem Kopf über Wasser bleiben zu können. Er legte seinen linken Arm um sie und hielt sich und sie mit mächtigen Ruderbewegungen seines rechten Arms über Wasser. Ihr Strampeln hörte auf. Ihr Umhang war schon fortgetrieben worden. Der schluchzende Ton hörte auf, und ihr Körper entspannte sich völlig. Sie atmete regelmäßiger, während er versuchte, ihr Gesicht über Wasser zu halten, und auf das rechte Ufer zu schwamm, wobei er sie hinter sich herzog.Wo war eigentlich das verdammte Ufer? Wie lange braucht man, um gute hundert Yards Wasser zu durchqueren? Er fühlte sich, als hätte er schon stundenlang im Wasser schwimmen müssen, und die Schultermuskeln rechts spürten langsam die zusätzliche Belastung. Vorsichtig trat er das Wasser, um Tias Gesicht
hochzuhalten, und wechselte den Arm. Stunden schienen vergangen zu sein, und immer noch war nichts als Schwärze um ihn herum zu sehen. Die Lichter der Brücke waren schon längst verblaßt, und die Lichter des Flußufers — sofern dieser Fluß überhaupt ein Ufer hatte! — waren noch nicht sichtbar. Hatte er die Orientierung verloren? Schwamm er jetzt flußabwärts statt quer? Er konnte es nicht feststellen, sein Körper bewegte sich mit dem Wasser, und es gab keine sichtbaren äußeren Anhaltspunkte. Als er schließlich in einer endlos wirkenden Serie von Schwimmbewegungen wieder ausholte, stieß er plötzlich auf etwas Hartes, so daß ein stechender Schmerz durch seine Hand fuhr. Wieder tastete er sich vor, diesmal jedoch vorsichtiger. Es war eine Steinplatte, die zu einer Treppe gehörte, die ins Wasser führte. Er hob den Körper des Mädchens auf die Stufen und kletterte dann selbst aus dem Wasser. Soweit er das beurteilen konnte, ging es ihr einigermaßen gut; sie atmete noch. Plötzlich wurde ihm klar, daß er viel zu erschöpft war, um allein die Treppen zur Uferbefestigung hochzusteigen, ganz zu schweigen davon, Tia hochzutragen. Aber er konnte sie auch nicht einfach auf den kalten Steinen liegenlassen. Er hob sie hoch und hielt sie in seinen Armen, wobei er versuchte, ihren Körper mit seinem zu wärmen. Dann saß er lange einfach da — bewegungslos, kalt und naß, und sein Geist war fast so leer wie die unendliche Dunkelheit, die sie umgab. Nach einer unendlich lang wirkenden Zeit der geistigen und körperlichen Taubheit bewirkten leichte Verwandlungen in seiner Umgebung, daß Lord Darcys ermüdeter Geist wieder zu arbeiten begann. Was war das? Etwas zu seiner Linken. Er drehte den Kopf, um besser sehen zu können. Nichts; nur ein Lichtschimmer, der sich in weiter Entfernung befand und auf und ab bewegte, sich näherte und wieder entfernte. Er wurde schließlich immer größer; nein, nicht nur ein Licht, zwei waren dort zu sehen . . . drei . . . Dann rief eine Stimme: »Hallooo . . . Lord Darcy! Könnt Ihr uns hören, My Lord?« Lord Darcys Bewußtsein erwachte abrupt. Der Nebel mußte sich etwas aufgeklärt haben, dachte er sich. An der Stimme konnte er erkennen, daß die Suchenden noch entfernt waren, aber die Lichter waren mittlerweile klar zu sehen. »Hallooo«, rief er mit einer Stimme, die sogar seinen eigenen Ohren matt erschien. Er versuchte es wieder. »Hallooo!« »Wer ist da?« rief eine Stimme. Lord Darcy mußte trotz seiner Erschöpfung schmunzeln. »Lord Darcy hier«, rief er. »Habt Ihr nach mir gerufen?« Dann brüllte jemand: »Wir haben ihn! Hier ist er!« Eine Pfeife ertönte, und Lord Darcy merkte, wie er zu zittern begann. Reaktion, dachte er und versuchte, seine Zähne am Klappern zu hindern. Ich fühle mich schwach wie ein Baby. Seine Muskeln fühlten sich an, als seien sie von der Kälte zu Pudding gemacht worden; der einzige warme Fleck am Körper war sein Brustkasten, an den er Tia gedrückt hatte. Sie atmete noch, ruhig und regelmäßig. Aber sie lag schlaff in seinen Armen, völlig entspannt, und zitterte noch nicht einmal. Das ist schön, dachte Lord Darcy, jetzt zittere ich für beide. Die Lichter vermehrten sich, das Gepfeife wurde wiederholt, und überall war Fußtrappeln zu hören. Lord Darcy wunderte sich: Es schien, als hätten sie die ganze Armee alarmiert. Da stand schon ein
Wachmann mit seiner Laterne über ihm und sagte: »Alles in Ordnung, Lord Darcy?« »Ganz in Ordnung, nur etwas unterkühlt!« »Um Himmels willen, My Lord, Ihr habt das Mädchen ja!« Er rief zur Uferbefestigung hoch: »Er hat das Mädchen!« Aber Lord Darcy hörte kaum seine Worte. Das Licht der Laterne fiel direkt auf Tias Gesicht, und ihre Augen waren weit geöffnet. Ohne zu sehen, blickten sie leer ins Nichts. Man hätte meinen können, daß sie tot wäre, aber Tote atmen nicht. Nun war er von zahlreichen Männern umringt. »Mehr Licht für Seine Lordschaft!« »Ich helfe Euch aufzustehen, Euer Lordschaft.« Dann: »Darcy! Dem Himmel sei Dank! Und das Mädchen ist auch dabei! Es ist das reinste Wunder!« »Hallo, Ashley«, rief Darcy. »Danke, daß Ihr die Truppen mobilisiert habt!« Lord Ashley grinste. »Hier ist Euer Umhang. Ihr solltet nicht dauernd Eure Sachen auf Brücken herumliegen lassen.« Dann legte er seinen eigenen Umhang ab, um ihn um Tia zu hüllen. Er nahm sie aus Darcys Armen und hob sie hoch. Vorsichtig trug er sie langsam die Treppe hoch. Lord Darcy wickelte sich fest in seinen Umhang, doch hörte er nicht auf zu zittern. »Wir müssen Euch an einen warmen Ort bringen, My Lord, sonst holt Ihr Euch den Tod«, sagte ein Wachmann. Lord Darcy begann mühsam die Treppe hochzusteigen. Dann rief eine Stimme von oben: »Habt Ihr ihn gefunden?« »Wir haben beide gefunden, Euer Gnaden«, sagte ein Wachmann. Darcy sagte: »Mary! Was treibst du denn hier?« »Wie ich schon letzten Abend sagte: Ich bin genommen, um Euch abzuholen, Euer Lordschaft.« »Diesmal«, sagte Lord Darcy, »glaube ich dir sogar.« Als er oben ankam, sah er, wie Lord Ashley Tia in den Armen hielt. Zahlreiche Wachmänner umringten die beiden mit Laternen, und Mary, die jetzt nicht die Herzogin, sondern ganz die ausgebildete Krankenschwester war, betrachtete das Mädchen und betastete sie mit ihren Sensitivenfingern. »Wie geht es ihr?« fragte Lord Darcy. »Was hat sie?« »Du zitterst«, sagte Mary, ohne aufzublicken. »In der Kutsche gibt es Brandy, hol dir welchen.« Sie sah Lord Ashley an. »Bringt sie in die Kutsche. Wir fahren sie sofort nach Carlyle House. Father Patrique ist dort. Eine bessere Behandlung könnte sie in keinem Krankenhaus bekommen.« Zwei ordentliche Schlucke Brandy hatten Lord Darcys Nerven inzwischen beruhigt. »Was ist mit ihr?« fragte er erneut. »Kälteschock natürlich,« sagte sie. »Möglicherweise innere Verletzungen, aber nichts Ernstes. Aber sie steht unter einem Zauber, den ich nicht brechen kann. Wir müssen sie so schnell wie möglich zu Father Patrique bringen.« Sie legten das Mädchen behutsam auf einer Kutschenbank aus. »Wird sie durchkommen?« fragte Lord Ashley. »Ich glaube schon«, meinte die Herzogin. Dann sagte Lord Ashley: »Lord Darcy, kann ich Euch einen Augenblick sprechen?« »Aber gewiß, was ist denn?« Sie schritten außer Hörweite der anderen. »Der Mann auf der Brücke«, begann Lord Ashley. »Ach ja«, sagte Lord Darcy. »Ich hätte nach ihm fragen sollen. Ich sehe, daß Ihr unverletzt seid. Ich hoffe, daß Ihr ihn nicht habt töten müssen?« »Nein, ich muß leider gestehen, daß ich ihn nicht einmal festsetzen konnte. Ich bin auf dem Pflaster ausgerutscht, und er konnte entkommen.« »Habt Ihr ihn erkannt?« »Ja. Es war unser öliger Freund Master Ewen MacAlister.«
Lord Darcy nickte. »Ich hatte bemerkt, daß mir seine Stimme ''irgendwie bekannt vorkam, als er Tia befahl, auf das Geländer zu steigen. Er hatte sie unter einem Zauber, wie Ihre Hoheit ja soeben festgestellt hat.« »Das war nicht die einzige Schwarze Magie, die das kleine Schwein benutzt hat«, sagte Lord Ashley und erzählte Lord Darcy von dem verzauberten Schwert. »Dann braucht Ihr Euch nicht zu entschuldigen, daß Ihr ihn habt entkommen lassen«, sagte Darcy. »Ich bin froh, daß Ihr noch lebt!« »Ich auch«, sagte Lord Ashley. »Ich meine, daß die Kutsche zu klein für uns alle ist, wenn Tia eine ganze Bank für sich in Anspruch nehmen muß. Und außerdem wird man mich heute abend ohnehin nicht mehr brauchen. Fahrt ihr zwei also los.« Er ging zurück. »Subalternoffizier Hosquins«, rief er, »Ihre Hoheit und Seine Lordschaft fahren nach Carlyle House. Ein Wachmann wird mir eine Mietdroschke besorgen.« »Sehr wohl, My Lord Commander«, antwortete Hosquins. »Danke«, sagte Lord Darcy. »Würdet Ihr mir einen Gefallen tun? Würdet Ihr bitte ins Royal Steward fahren und Lord Bontriomphe alles berichten? Wenn Master Ewen weiß, daß Ihr ihn erkannt habt, wird er sich natürlich nicht mehr im Hotel blicken lassen. Sagt Lord Bontriomphe, daß er Sir Lyon Bescheid geben soll. In Ordnung?« »Selbstverständlich. Ich fahre sofort dort hin. Gute Nacht, My Lord, gute Nacht Euer Gnaden«, sagte er. Lord Darcy öffnete die Kutschentür. »Nach Carlyle House, Hosquins«, sagte er und stieg ein. Erst mehr als eine Stunde später fühlte sich Lord Darcy wieder auf dem Damm. Ein heißes Bad hatte dabei geholfen, den Geruch der Themse und die Kälte in den Gliedern zu vertreiben. Eine kurze Sitzung mit Father Patrique hatte alle Gefahren einer Erkältung gebannt. MaryJDe Cumberland und Father Patrique hatten beide darauf bestanden, daß er sich ins Bett legen solle, und so fand er sich in seidener Nachtwäsche wieder, vier oder fünf Kissen im Rücken aufgetürmt, einen schweren Schal um die Schultern und zahlreiche warme Decken um die Beine gewickelt, an seinen Füßen eine Wärmeflasche und im Bauch zwei Teller kräftige Brühe. Die Tür öffnete sich, und Mary De Cumberland kam mit einem Tablett ins Zimmer, auf dem ein dampfender Krug stand. »Wie geht es?« fragte sie. »Eigentlich ganz in Ordnung. Wie geht es Tia?« »Father Patrique sagt, daß sie wieder zu sich kommen wird. Er hat sie schlafen gelegt. Er meint, daß sie vor morgen mit niemandem reden sollte.« Sie setzte den Krug ab. »Hier, das ist für dich.« »Was ist das?« fragte Lord Darcy und blickte den Krug mißtrauisch an. »Medizin. Gut für dich.« »Was ist denn da drin?« »Wenn du es unbedingt wissen willst: Brandy, Portwein, Honig, heißes Wasser und einige Krauter, die Father Patrique verschrieben hat.« »Hmph!« machte Lord Darcy. »Bis auf das letztere klang es ja erst ganz gut.« Er nippte an der Flüssigkeit. »Nicht schlecht«, gab er zu. »Fühlst du dich kräftig genug, Besuch zu empfangen?« fragte sie. »Nein«, sagte er. »Ich liege auf dem Sterbebett, mein Atem ist flach, mein Puls ist schwach und hört bald auf. Wer will mich denn sprechen?« »Nun, Sir Thomas wollte dich sehen. Er möchte dir nur dafür danken, daß du Tia das Leben gerettet hast, aber der arme Mann sieht so aus, als würde gleich selbst zusammenbrechen, also habe ich ihm gesagt, daß er dir auch morgen
noch gratulieren kann. Lord John Quetzal sagte, daß er ebenfalls bis morgen warten könne, um dich zu sprechen. Aber Sir Lyon ist vor wenigen Minuten eingetroffen, und ich würde doch vorschlagen, daß du mit ihm sprichst.« »Und wo, darf ich fragen, ist Master Sean?« »Ich zweifle nicht daran, daß er gekommen wäre, wenn ihm jemand mitgeteilt hätte, daß du ein erfrischendes Bad in der Themse nehmen wolltest. Er ist immer noch im Leichenschauhaus.« »Armer Kerl«, bedauerte Darcy. »er hat einen langen Tag gehabt.« »Und was hast du gemacht? Konversation vielleicht?« Lord Darcy beachtete ihren Einwurf nicht. »Ich nehme an, daß er sich auf alle erdenklichen Weisen vergewissert, ob Drogen oder Gifte verabreicht wurden«, sagte er gedankenverloren. »Ich habe zwar starke Zweifel, daß dies der Fall ist, aber wenn Sean fertig ist, haben wir wenigstens Gewißheit.« »Das ist richtig«, sagte Ihre Hoheit. »Wirst du nun Sir Lyon empfangen?« »Aber ja, aber ja. Führe ihn bitte herein.« Die Herzoginwitwe von Cumberland ging hinaus und kehrte kurz danach in Begleitung von Sir Lyon Gandolphus Grey wieder. »Ich höre, daß Ihr ein ganz schön gefährliches Abenteuer hinter Euch habt, My Lord«, sagte er ernst. »Alles Routine für einen Königlichen Untersuchungsbeamten, Sir Lyon. Setzt Euch!« »Ich danke Euch«, sagte Sir Lyon. Dann, als die Herzogin den Raum verlassen wollte: »Bitte, Euer Gnaden, würdet Ihr die Güte haben, hierzubleiben? Das hier geht jedes Mitglied der Gilde an, nicht nur die Königlichen Untersuchungsbeamten.« »Sehr wohl, Großmeister.« Sir Lyon blickte wieder Lord Darcy an. »Commander Lord Ashley hat mir mitgeteilt, daß er Master Ewen MacAlister wiedererkannt hat. Er und Lord Bontriomphe haben alle Wachmänner der Stadt angewiesen, auf ihn zu achten, wenn er auftauchen sollte. Und ich habe jeden verfügbaren Meisterhexer in London ausgeschickt, um die Wachmänner zu unterstützen und dafür Sorge zu tragen, daß er nicht wieder entkommen kann.« »Sehr gut«, sagte Lord Darcy. »Lord Ashleys Aussage allein wäre allerdings nicht ausreichend, um Master Ewen vor den Sonderuntersuchungsausschuß der Gilde zu bringen.«Aber sie reichte, um uns zu ermöglichen, sofort alles Beweismaterial sicherzustellen.« »Ach ja?« fragte Lord Darcy interessiert. »Natürlich habt Ihr dieses Beweismaterial gefunden?« Sir Lyon nickte mit ernster Miene. »Ja, das haben wir. Ihr wißt vielleicht, daß ein Hexer einen Schutzzauber über seinen Reisesack verhängt?« »Selbstverständlich.« »Nun, mit einem Durchsuchungsbefehl, den Lord Bontriomphe beschafft hatte, sind wir in Master Ewens Zimmer eingedrungen. Auch er hatte einen eigenen Schutzzauber auf sein Türschloß gelegt, aber wir haben ihn nach fünfzehn Minuten unschädlich machen können. Dann haben wir den Schutzzauber auf seinem Reisesack gesprengt. Das Beweismaterial war dort: eine Flasche mit Friedhofserde, zwei mumifizierte Fledermäuse, zwei Menschenknochen, Schießpulver, das Schwefel enthielt, und allerlei andere Dinge, die kein Hexer in seinem Besitz führen darf, ohne eine besondere Forschungserlaubnis der Gilde und eine Sonderbefugnis der Kirche zu haben.« Lord Darcy nickte. »Außerdem«, sagte Sir Lyon, »haben wir Father Patriques Aussage, daß Ewen einen Zauber auf Tia Einzig gelegt hat. Diees Beweismaterial genügt, um ihn der
Schwarzen Magie zu überführen. Ob man genug Beweismaterial zusammen-bekommt, um ihn auch seiner anderen Verbrechen zu überführen, das ist natürlich eine ganz andere Frage, My Lord. Aber Ihr könnt Euch darauf verlassen, daß die Gilde alles in ihren Möglichkeiten Stehende unternehmen wird, damit Ihr dieses Beweismaterial bekommt. Ihr müßt es nur sagen, My Lord.« »Ich danke Euch, Sir Lyon. Eine Frage, nur um meine Neugierde zu befriedigen. Lord Ashley hat Euch doch von dem Schwertspiel auf der Brücke erzählt?« »Das hat er.« »Gehe ich recht in der Annahme, daß der Zauber, den Master Ewen auf seine eigene Klinge gelegt hat, eine Spielart des Tarnhelm-Effekts ist?« »Das ist völlig richtig«, sagte Sir Lyon mit einem etwas verwunderten Lächeln. »Es ist sehr scharfsinnig von Euch gewesen, das aus Lord Ashleys bloßen Beschreibungen zu erkennen.« »Aber gar nicht«, sagte Lord Darcy abwehrend. »Es ist nur so, daß Master Sean ein ausgezeichneter Lehrmeister ist.« »Das ist mehr als scharfsinnig, Großmeister«, sagte die Herzogin. »Ich finde es beunruhigend! Ich weiß natürlich, was man unter dem Tarnhelm-Effekt versteht, da ich bei meinem Studium darauf gestoßen bin, aber seine Anwendungsbereiche und seine Theorie verstehe ich nicht.« »Ihr solltet es nicht beunruhigend, sondern beglückend finden«, sagte Sir Lyon mit Bestimmtheit. »Ein großes Problem in dieser Welt besteht darin, daß so wenige Laien sich für die Wissenschaft interessieren. Wenn mehr Leute so wären wie Lord Darcy, dann könnten wir neunundneunzig Prozent der abergläubischen Vorurteile ausräumen, von denen neunundneunzig Prozent aller Leute heute noch befallen sind.« Er lächelte. »Ich weiß, daß Ihr zu scherzen beliebtet, aber es steht uns allen an, Laien weiterzubilden und aufzuklären, wann immer möglich. Es liegt nur an Unwissenheit und Aberglauben, daß Hexenmagier, Zauberer und andere Unbefugte operieren können. Es liegt nur am Aberglauben, daß so viele Leute meinen, daß man Schwarze Magie nur mit Schwarzer Magie wirkungsvoll begegnen kann, daß man das Übel nur durch ein anderes Übel zu zerstören vermag. Nur an Unwissenheit und Aberglauben liegt es, daß Scharlatane und Quacksalber, die nicht die geringste Spur des Talents besitzen, ihre wertlosen Amulette und Talismane verkaufen können.« Er seufzte, und Lord Darcy schien es, als sei er plötzlich etwas gealtert und erschöpft. »Natürlich wird eine solche Ausbildung und Erziehung nicht die Master Ewens dieser Welt abschaffen können. Die moderne Wissenschaft hat uns den Vorteil gegeben, daß wir, im Gegensatz zu früheren Zeiten, unsere Regierungen, unsere Kirche und unsere Gerichte besser von Korruption freihalten können. Aber nicht einmal die Wissenschaft ist unfehlbar. Es gibt immer noch seltsame Gedankengänge und Züge im menschlichen Geist, die wir erst bemerken können, wenn es zu spät ist, und Master Ewen ist ein vollendetes Beispiel dafür, daß wir in diesem Punkt versagt haben.« »Sir Lyon«, sagte Darcy, »ich glaube, daß Master Ewen noch mehr ist. In unserer eigenen Geschichte und sogar in einigen heutigen Ländern gibt es Organisationen, die versuchen, die Missetaten ihrer eigenen Mitglieder zu verheimlichen oder zu beschönigen. Es gab eine Zeit, da blickten Kirche, Regierung und Gerichte großzügig über Untaten hinweg, die ein Priester, ein
Gouverneur oder ein Richter begangen hatte, anstatt öffentlich zuzugeben, daß sie nicht unfehlbar waren. Jede Gruppe, die für sich Unfehlbarkeit in Anspruch nimmt, muß sehr vorsichtig sein, damit sie keine Fehler macht, und alle Fehler, die ja unweigerlich auftreten, müssen also geheimgehalten oder wegerklärt werden durch Lügen, Ausreden und Entstellungen. Und das bewirkt schließlich den Zusammenbruch des ganzen Gebäudes. Jeder, der heute im Reich Macht besitzt, sei sie geistlicher Art, weltlicher oder thaumaturgischer Art, besitzt das volle Vertrauen des kleinen Mannes, der keine Macht hat, und zwar genau deswegen, weil dieser weiß, daß wir unser Bestes tun, die vereinzelten Master Ewens zu entlarven und ihnen das Handwerk zu legen, anstelle sie zu verstecken und so zu tun, als gäbe es sie nicht. So wird Master Ewen selbst zu einer Verkörperung des Scheiterns, das man in einen Erfolg ummünzen kann.« »Gewiß«, sagte Sir Lyon, »aber es ist dennoch sehr unangenehm, wenn es einmal vorkommt. Das letzte Mal war im Jahre 1939, als Sir Edward Eimer Großmeister war. Ich war damals in der Untersuchungskommission und wünschte mir, daß ich so etwas in meinem Leben nicht noch einmal erleiden müßte. Aber wir werden tun, was getan werden muß.« Er stand auf. »Kann ich noch etwas für Euch tun?« »Ich glaube nicht, Sir Lyon, jedenfalls nicht im Augenblick. Ich danke Euch für Eure Mitteilungen. Ach ja, doch, noch eine Sache. Könntet Ihr wohl die Hexer, die nach ihm suchen, damit beauftragen, daß ich sofort informiert werde, sollte man Master Ewen noch heute nacht aufspüren, egal, wie spät es sein mag. Ich möchte ihm einige Fragen stellen.« »Ich habe solche Anweisungen bereits für mich gegeben. Ich werde dafür Sorge tragen«, sagte Sir Lyon, »daß Ihr benachrichtigt werdet. Gute Nacht, My Lord. Gute Nacht, Euer Gnaden. Falls ich benötigt werden sollte, ich befinde mich in meinem Zimmer.« Als der alte Hexer mit dem silbernen Bart fortgegangen war, sagte die Herzoginwitwe: »Nun, ich hoffe ja, daß sie ihn erst morgen früh fangen, du mußt dich ordentlich ausschlafen. Aber wenigstens ist diese abscheuliche Angelegenheit bald ausgestanden.« »Da sei mal nicht zu optimistisch«, sagte Lord Darcy. »Es sind noch viel zu viele Fragen offen. Wie du gesagt hast, Master Ewen haben sie noch nicht, und auch Paul Nichols hat es fertiggebracht, sich schon seit über sechsunddreißig Stunden zu verstecken. Wir wissen immer noch nicht, was bei Master Seans Herkulesarbeit herausgekommen ist. Es ist noch lange kein Licht in Sicht.« Er blickte in seinen leeren Krug. »Kann ich noch so einen haben? Aber diesmal ohne die guten Zutaten des Fathers, wenn's möglich ist.« »Aber gern.« Doch als sie zurückkehrte, war Lord Darcy schon fest eingeschlafen, und so wurde ihr eigener Nachttrunk daraus. »Ich hoffe, Euer Lordschaft Wohlbefinden haben sich gebessert.« Der immer freundliche Geffri stellte die Kaffeekanne und die Tasse auf den Nachtschrank. »Mir geht es wieder gut, Geffri, danke«, sagte Lord Darcy. »Ah, der Kaffee riecht ja köstlich! Selbst gebraut, vermute ich? Carlyle House ist der einzige Ort im ganzen Reich, sieht man von meinem eigenen Zuhause ab, wo man seinen Morgenkaffee genau richtig temperiert und bis zur Vollkommenheit gebraut bekommt.« »Es ist mir eine außerordentliche Freude, dergleichen zu hören, My Lord«, sagte Geffri und schenkte Kaffee
ein. »Ich war übrigens so frei, den heutigen Courier mitzubringen, My Lord. Es gibt jedoch eine Nachricht, die Euer Lordschaft möglicherweise noch vor der Lektüre der Zeitung lesen möchte.« Er holte einen Umschlag hervor, auf dem Lord Darcy sofort Master Seans eigenes Siegel erkannte. »Master Sean«, sagte Geffri, »kam spät letzte Nacht hier an, nachdem sich Eure Lordschaft bereits zurückgezogen hatten. Er bat darum, daß ich Euch diese Botschaft sofort nach Eurem Erwachen überreiche.« Lord Darcy nahm den Umschlag. Es war offensichtlich der Bericht, den der rundliche irische Hexer über seine thaumaturgischen Untersuchungen und seine Autopsie an Sir James Zwinge verfaßt hatte. Lord Darcy sah auf die Uhr. »Danke, Geffri. Würdet Ihr bitte Master Sean in fünfundvierzig Minuten wecken und ihm ausrichten, daß ich gern mit ihm hier um zehn Uhr frühstücken möchte?« »Sehr wohl, My Lord.« Geffri verschwand. Als die Stunde um war, hatte Lord Darcy sowohl den Bericht von Master Sean als auch den Courier gelesen und wartete auf das Klopfen an der Tür, das pünktlich um zehn Uhr erfolgte. Lord Darcy war angezogen, und das warme Frühstück für zwei Personen stand auf dem Tisch im Wohnzimmer. »Kommt herein, mein guter Sean«, sagte Lord Darcy. »Die Eier mit Speck warten schon.« Der Hexer trat lächelnd ein, aber Lord Darcy sah sofort, daß das Lächeln ein wenig gequält wirkte. »Guten Morgen, My Lord«, sagte er freundlich. »Ihr habt meinen Bericht gelesen?« Er setzte sich an den Tisch. »Das habe ich«, sagte Lord Darcy, »und ich sehe darin keinen Grund, trüb aus der Wäsche zu schauen. Wir reden nach dem Frühstück darüber. Habt Ihr schon den Courier von heute morgen gelesen?« »Nein, My Lord, das habe ich nicht.« Master Sean begann die Eier mit Speck zu bearbeiten. »Irgend etwas Interessantes?« »Nichts besonderes«, sagte Lord Darcy. »Von ein paar schmeichelhaften Bemerkungen über mich und ein paar noch schmeichelhafteren Bemerkungen über Euch einmal abgesehen. Ihr könnt es gerne lesen. Das einzige Wertvolle ist eigentlich die Nachricht, daß es heute nacht keinen Nebel geben wird.« Die nächste Viertelstunde verstrich in Stille. Der sonst so gesprächige Master Sean schien wenig zu sagen zu haben. Schließlich schob Lord Darcy etwas ärgerlich seinen Teller beiseite und sagte: »Alle Höflichkeiten einmal beiseite, Master Sean: Ihr seid nicht eben in Hochform, wie mir scheint. Wenn es irgend etwas geben sollte, was ich wissen muß und was nicht in Eurem Bericht steht, dann möchte ich es gern hören.« Master Sean lächelte ihn über den Rad der Kaffeetasse an. »Aber nein, es steht alles drin. Ich habe dem nichts zuzufügen. Ich will Euch nicht beunruhigen. Wahrscheinlich bin ich nur ein wenig müde!« Lord Darcy runzelte die Stirn, griff nach dem säuberlich geschriebenen Bericht und schlug ihn auf. »Also gut. Ich habe die eine oder andere Frage nur zur Klärung der Sache. Erstens die Wunde betreffend.« »Ja, My Lord?« »Eurem Bericht zufolge ist die Klinge senkrecht in den Körper eingetreten, zwischen der dritten oder vierten Rippe, so daß die Wunde etwa fünf Zoll tief ist. Sie durchstieß die Wand der Lungenschlagader und schlitzte auch das Herz selbst an, so daß diese Wunde einwandfrei als die Todesursache gelten darf.« »Ohne jeglichen Zweifel, My Lord.« »Nun gut.« Er stand auf. »Wenn Ihr so
gut sein würdet, Master Sean, diesen Löffel zu nehmen und so zu tun, als sei es ein Dolch? Ja, so! Nun seid bitte so freundlich, mich in genau demselben Winkel zu erstechen, wie es nötig wäre, um eine Wunde wie die von Sir James zu erzeugen.« Master Sean hielt den Löffelstiel fest und hob den Löffel hoch über den Kopf; dann zog er ihn langsam in einem weiten Bogen herunter und berührte Lord Darcys Brust. »Sehr gut, Master Sean, ich danke Euch. Wenn man die Wunde verlängerte, würde sie wohl bis in die Eigenweide reichen, nicht wahr?« »Well, My Lord, wenn ein Geschoß in diesem Winkel eingefallen wäre, so wäre es am Steiß wieder herausgetreten.« Lord Darcy nickte und blickte wieder in den Bericht. »Master Sean, wenn Ihr einen Menschen erstechen wolltet, wie würdet Ihr dabei verfahren?« Master Sean drehte den Löffel in seiner Hand so, daß sein Daumen auf das dicke Ende zeigte. Er bewegte die Hand vorwärts und berührte Lord Darcy. »So natürlich, My Lord.« »Ganz genau«, stimmte Lord Darcy zu. »Nach dem Autopsie befund, den uns Sir Eliot gestern aus Cherbourg geschickt hat, wurde Edelmann Georges Barbour auf eben diese gekonnte Art erstochen, die Ihr gerade vorgemacht habt. Und doch wurde Sir James auf eine Weise erstochen, wie sie kein erfahrener Messerstecher benutzen würde.« »Das ist wahr, My Lord. Niemand, der mit einem Dolch umzugehen weiß, würde auf diese Weise von oben nach unten stechen.« »Warum sollte derselbe Mann auf zwei so unterschiedliche Arten zustechen?« »Wenn es derselbe Mann war, My Lord!« »Also gut, nehmen wir einmal an, daß es zwei verschiedene Täter waren. Selbst dann war der Stich, der Sir James das |Leben kostete, nicht eben fachgerecht, oder? Hätte ein Berufskiller auf diese Weise zugestochen?« Master Sean lachte leise. »Na ja, wenn ich ihn einstellen müßte, hätte er keine Chance, My Lord.« »Schön gesagt«, sagte Lord Darcy lächelnd. »Habt Ihr übrigens das Messer genau untersucht?« »Den Kontaktzerschneider von Sir James? Ja.« »Ich auch, als der Dolch noch auf dem Boden neben der Leiche lag. Ich möchte Euch an den besonderen Zustand des Dolchs erinnern.« Master Sean runzelte die Stirn. »Aber der Dolch war doch überhaupt nicht in einem besonderen Zustand!« »Eben. Das war der besondere Zustand.« Während Master Sean darüber nachdachte, fuhr Lord Darcy Ifort: »Aber erst einmal zu etwas anderem.« Er setzte sich wieder und blätterte eine Seite in dem Bericht um. »Ihr schreibt hier, daß Sir James zwischen 9.25 und 9.35 Uhr gestorben ist.« »Der chirurgischen und thaumaturgischen Untersuchung Izufolge, ja. Da ich ihn selbst hörte, wie er um genau halb neun, plus minus ein paar Minuten — den Schrei ausstieß, kann, ich sagen, daß Sir James zwischen 9.30 und 9.35 Uhr starb.« »Gut«, sagte Lord Darcy. »Aber die Stichwunde erhielt er ungefähr fünf Minuten vor neun. Wenn ich nicht irre, zeigen die psychischen Muster sowohl die Zeit des Stichs und die des, Todes an. Und der Todesstoß stieß zwar durch die Wand der. Lungenschlagader, aber öffnete das Blutgefäß nicht richtig. Ein dünnes Stück der Wand war noch intakt. Doch die Wunde war schwer genug, um ihn in einen Schock verfallen zu lassen. Er wurde also zu dieser Zeit tödlich verwundet.« »Well, My Lord«, sagte Master Sean. »Es kann sein, daß die Wunde gar nicht tödlich gewesen wäre. Es ist durchaus denkbar,
daß ein guter Heiler, wenn er rechtzeitig eingetroffen wäre, sein Leben hätte retten können.« »Weil die Lungenschlagader noch halbwegs intakt war?« »Genau. Wenn diese Arterie zu der Zeit voll durchgeschnitten worden wäre, dann wäre Sir James tot gewesen, bevor er den Boden berühren konnte.« Lord Dacry nickte. »Ich verstehe. Aber die Wand der Arterie ist nicht voll durchschnitten worden, teilweise zwar, aber nicht völlig. Nachdem er dann etwa eine halbe Stunde auf dem Boden gelegen hatte, hörte er Euch klopfen, wodurch sein Schock nachließ. Er versuchte, sich hochzuziehen. Dazu griff er auf seinen Schreibtisch, auf dem unter anderem sein Schlüssel lag. Offensichtlich war sein Ruf ein Schrei um Hilfe, und er wollte seinen Schlüssel holen, um Euch die Tür zu öffnen. Diese Anstrengung bewirkte, daß die Wand der Schlagader endgültig riß. Sein Blut sprudelte auf den Boden, er ließ den Schlüssel fallen und starb. Seht Ihr das auch so, Master Sean?« Master Sean nickte. »So scheint es zu sein, My Lord.« »Ich stimme dem voll und ganz zu, Master Sean.« Lord Darcy blätterte in dem Bericht. »Also keine Drogen und kein Gift, ja?« »Ausgenommen, es ist eine unbekannte Substanz. Ich habe alle relevanten Tests durchgeführt.« »Und sowohl Gehirn als auch Schädeldecke waren völlig unversehrt . . . keine Schrammen . . . kein Bruch, hm.« Erfand eine andere Stelle im Bericht. »Jetzt kommen wir zum thaumaturgischen Teil. Euren Tests zufolge war alles Blut, das sich im Zimmer befand, das von Sir James?« »Jawohl, My Lord.« »Und woraus bestand jener merkwürdige, halbmondförmige Fleck nahe der Tür?« »Auf jeden Fall auch aus seinem Blut.« Lord Darcy nickte. »Wie ich vermutet habe. Den thaumaturgischen Tests zufolge befand sich niemand im Zimmer, als Sir James erstochen wurde. Das deckt sich mit der Information, die wir über Barbours Tod in Cherbourg haben.« Er lächelte. »Master Sean, ich bin mir darüber im klaren, daß Ihr nur wissenschaftlich beweisbare Tatsachen in einem solchen Bericht erwähnen könnt, aber habt Ihr irgendeinen Vorschlag, irgendeine Vermutung, die mir weiterhelfen könnte?« »Ich versuch's mal, My Lord«, sagte Master Sean zögernd. »Wie ich Euch gestern schon sagte, müßte ich eigentlich die Tat eines Schwarzen Zauberers nachweisen können. Wir Ihr wißt, ist der ankh ein fast unfehlbares Instrument für den Nachweis von Bösem.« Er atmete tief durch. »Und da wir jetzt über Master Ewen MacAlister Bescheid wissen, werden seine Taten wohl leicht aufzuspüren sein.« Dann zeigte Master Sean auf das Papier, das vor Lord Darcy lag. »Aber ich will nicht und kann nicht zurücknehmen, was ich dort geschrieben habe.« Nochmals atmete er tief durch. »My Lord, ich kann keine einzige Spur von Magie, weder von Weißer noch von Schwarzer, im Zusammenhang mit dem Mord an Sir James Zwinge entdecken. Es gab keinerlei . . .« Er wurde von einem Klopfen an der Tür unterbrochen. »Ja«, rief Lord Darcy mit leiser Ungeduld in der Stimme, »wer ist denn da?« »Father Patrique«, sagte eine Stimme vor der Tür. Lord Darcys Ungeduld verschwand. »Ah ja, kommt nur herein, Hochwürden.« Die Tür ging auf, und ein großer, recht blasser Mann in Benediktinerkleidung trat ein. »Guten Morgen, My Lord; guten Morgen, Master Sean«, sagte er lächelnd. »Ich sehe, daß Ihr wieder auf dem Damm seid, My Lord.«
»Wen wundert das, bei Eurer guten Behandlung, Hochwürden! Was kann ich für Euch tun?« »Ich glaube, daß Ihr etwas für mich tun könnt und dabei gleichzeitig selbst etwas davon haben werdet, wenn ich das mal so sagen darf.« »Auf welche Weise, Father?« Der Priester machte ein ernstes Gesicht. »Normalerweise«, sagte er vorsichtig, »darf ich nicht über die Beichte eines reuigen Sünders sprechen. Aber in diesem Fall hat mich die beichtende Person ausdrücklich beauftragt, mit Euch zu reden.« »Die Demoiselle Tia, nehme ich an«, sagte Lord Darcy. »Natürlich. Sie hat ihre Geschichte zweimal erzählt, einmal mir und einmal Sir Thomas Leseaux.« Er blickte Master Sean an, der ernst mit dem Kopf nickte. »Ah, Ihr versteht, was ich meine, Meisterhexer.« »Aber gewiß, Hochwürden. Die klassische Dreiheit: einmal der Kirche, einmal dem Geliebten und einmal«, er zeigte mit respektvoller Geste auch Lord Darcy, »und einmal den weltlichen Behörden.« »Genau«, sagte der Priester. »Es wird die Heilung beschließen.« Er blickte Lord Darcy an, der bereits aufgestanden war. »Ich werde Euch keine weiteren Einzelheiten erzählen, My Lord; es ist am besten, wenn Ihr sie selbst erzählt bekommt. Aber sie weiß genau, daß Ihr es wart, der ihr letzte Nacht das Leben gerettet hat, und Ihr müßt verstehen, daß Ihr dies nicht herunterspielen solltet.« »Ich verstehe, Hochwürden. Darf ich zuvor noch ein paar Fragen stellen?« »Aber gewiß, solange sie nicht das Beichtgeheimnis berühren.« »Sie beziehen sich lediglich auf den Zauber, der gestern abend auf sie gelegt wurde. Erinnert sie sich in irgendeiner Weise an das, was passierte, nachdem Master Ewen sie verzaubert hat?« Father Patrique schüttelte den Kopf. »Nein, das tut sie nicht. Sie wird es Euch erklären.« »Ja, aber was mich beschäftigt, Hochwürden, das ist die Schnelligkeit und Leichtigkeit, mit der der Zauber verhängt wurde. Ich habe es selbst beobachtet. Erst war sie völlig im Besitz ihrer geistigen Kräfte, und dann wurde sie von einem Augenblick zum anderen zu einem willenlosen Automaten, der alles tat, was Master Ewen verlangte. Ich wußte nicht, daß Hexer solch eine Macht über andere haben können.« »Um Gottes willen nein!« sagte Master Sean. »Aber gar nicht, My Lord! Nicht einmal der mächtigste Schwarze Zauberer kann einem anderen den Willen nehmen, indem er einfach mit der Hand wedelt!« »Nicht einmal Satan kann ohne gründliche Vorbereitungen Besitz von einer Menschenseele ergreifen, My Lord«, sagte Father Patrique. »Damit der Zauber so wirkungsvoll sein konnte, muß Master Ewen eine Menge vorbereitende Zauber durchgeführt haben.« »Ich meinte, mich zu entsinnen«, sagte Lord Darcy, »daß auf der letzten Dreijahresversammlung ein Straßenräuber am letzten Kongreßabend den Fehler beging, einen Meisterhexer auf der Straße anzugreifen. Kurz darauf berichtete der Hexer dem Wachmann, was geschehen war. Er selbst war unverletzt, aber der Straßenräuber war vom Hals abwärts gelähmt. Ich gebe zu, daß es ein geniales Stück Arbeit war. Der Zauber war so beschaffen, daß er nicht beseitigt werden konnte, bevor der Verbrecher ein volles Geständnis abgelegt hatte. Auf diese weise brauchte der Hexer nicht einmal vor Gericht auszusagen, den dieser Zauber muß in Sekundenschnelle durchgeführt worden sein.« »Das ist eine etwas andere Sache, My Lord«, sagte Father Patrique. »Wenn, wie in diesem Fall, das Böse angreift, dann
kann es zurückgespielt werden, um auf diese Weise den Angreifer zu lähmen. Jeder Meisterhexer kann diese Selbstverteidiungstechnik anwenden. Aber um einem Menschen, der einem ichts Böses will, einen Zauber anzuhexen, bedarf der Zauberer seiner eigenen Kräfte. Er kann nicht die körperliche Kraft des Angreifers zu Hilfe nehmen, da er ja nicht angreifen wird. Deshalb benötigen seine Zauber wesentlich mehr Zeit und Vorbereitung, um wirkungsvoll werden zu können.« »Ich verstehe. Danke, Father Patrique!« sagte Lord Darcy. »Das klärt die Sache auf. Gehen wir also, um die junge Dame zu besuchen.« »Mit Verlaub«, sagte Master Sean, »werde ich zurück ins Royal Steward gehen. Ziemlich wahrscheinlich, daß Lord Bontriomphe meinen Bericht lesen will.« Lord Darcy lächelte. »Und auch ziemlich wahrscheinlich, daß Ihr wieder auf den Kongreß wollt, eh?« Master Sean grinste zurück. »Well, My Lord, ja, das möchte ich wohl.« »In Ordnung. Ich komme nachher dort vorbei.« Vor der Gardeniensuite, in der Tia Einzig untergebracht worden war, stand Sir Thomas Leseaux und sagte: »Guten Morgen, My Lord. Ich . . . ich möchte Euch für das danken, was Ihr gestern nacht vollbracht habt, aber mir fehlen die Worte.« »Mein Sir Thomas, ich habe nichts getan, was Ihr an gleicher Stelle nicht auch getan hättet. Und es gibt auch keinen Grund, so besorgt dreinzublicken!« »Besorgt?« Sir Thomas quälte sich selbst ein Lächeln ab. »Habe ich besorgt geschaut?« »Aber ja, Sir Thomas. Warum auch nicht? Ihr habt Tias Geschichte gehört und habt nun Angst, daß ich sie wegen Spionage verhaften werde.« Sir Thomas zuckte zusammen und sagte nichts. »Na, na, na!« sagte Lord Darcy. »Allzu schlimm kann sie das Reich nicht verraten haben, sonst wärt Ihr genauso um ihre Verhaftung bemüht wie jeder andere. Ihr seid nicht der Mann, den Liebe blind macht. Außerdem gibt es dazu genaueste Königliche Gesetze. Ah, gut, Sir Thomas, jetzt sieht Euer Lächeln schon echter aus! Gentlemen, wenn Ihr mich nun entschuldigen würdet.« Er öffnete die Tür und trat ins Zimmer. Lord Darcy schritt durch das Wohnzimmer der Suite auf das Schlafzimmer zu, als er eine Stimme hörte: »My Lord Darcy? Seid Ihr es?« Lord Darcy ging an die Schlafzimmertür. »Jawohl, Demoiselle, ich bin Lord Darcy.« Sie lag, bis an die Schultern in wärmende Decken eingehüllt, im Bett. Sie lächelte, als sie ihn erblickte. »Ihr seht sehr gut aus, My Lord. Das freut mich. Ich möchte mein Leben nicht unbedingt einem häßlichen Mann verdanken müssen.« »Meine liebe Tia, solange eine Schönheit wie die Eure gerettet wurde, ist die Schönheit des Retters ohne Belang!« Er setzte sich in einen Sessel neben dem Bett. »Ich werde nicht danach fragen, wieso Ihr gerade dann dort wart, wo man Euch so dringend benötigte, My Lord«, sagte sie leise. »Ich möchte lediglich wiederholen, daß ich mich freue, daß Ihr hier seid.« »Ganz meinerseits, Demoiselle. Aber die Frage ist ja auch vielmehr weniger, warum ich dort auf der Brücke war, sondern warum Ihr Euch dort aufgehalten habt. Erzählt mir doch von Master Ewen MacAlister!« Einen Augenblick lang waren ihre Lippen fest und grimmig zusammengepreßt, dann begann sie wieder zu lächeln. »Das ist eine längere Geschichte; ich werde bei meinem Zuhause in Banat beginnen müssen.« Sie erzählte ihm auch das, was sie schon
Mary De Cumber-land erzählt hatte, wobei sie diesmal ein paar Ergänzungen hinzufügte. Ihr Onkel Neapeler war wegen Praktizierens seiner Heilkunst von einem Geschäftsrivalen denunziert worden, und da er politisch ohnehin als suspekt galt, wurden beide von der Geheimpolizei König Casimirs IX gesucht. Sie sollten in ihrem Haus verhaftet werden, doch Neapeler Einzig war auf so etwas gut vorbereitet gewesen; sein mächtiges, wenn auch ungeschultes Talent hatte ihn rechtzeitig gewarnt. Mit wenigen Minuten Vorsprung vor der gefürchteten Geheimpolizei waren sie in Richtung italienische Grenze geflüchtet. Doch die Geheimpolizei hatte sich auch ihrer Hexer bedient, so daß die beiden fast in eine Falle gelaufen wären, die man nur wenige hundert Yards vor der Grenze angelegt hatte. Neapeler hatte seiner Nichte befohlen, weiterzulaufen, während er den Geheimpolizisten die Stirn bot. Das war das letzte Mal, daß sie ihn gesehen hatte. Den Rest der Geschichte kannte Lord Darcy bereits. »Ich dachte, daß ich in Sicherheit wäre, als Sir Thomas mich hier nach England gebracht hatte«, sagte sie, »da kam Master Ewen, um mit mir zu sprechen. Damals wußte ich noch nicht, wer er war, und er sagte mir auch seinen Namen nicht. Aber er erzählte mir, daß man Onkel Neapeler festgenommen und in ein Gefängnis der Polnischen Geheimpolizei geworfen hätte. Er sagte, daß man ihn gut behandele, aber daß sein weiteres Wohlergehen ausschließlich von meiner Mitarbeit abhinge. Master Ewen sagte mir, daß Sir Thomas das Geheimnis einer Waffe kannte, die für die Anglo-Französische Reichsmarine entwickelt worden war. Er wußte nicht, um welche Art von Waffe es sich handelte, aber irgendwie hatte der Polnische Geheimdienst herausbekommen, daß es sie gab und daß Sir Thomas darüber höchst wertvolle Informationen besaß. Da er wüßte, daß Sir Thomas mir vertraute, forderte er mich dazu auf, ihm die Informationen zu beschaffen. Er drohte damit, daß man Onkel Neapeler foltern und sogar umbringen würde, wenn ich nicht täte, was er von mir verlangte!« Sie hob den Kopf und blickte Lord Darcy gerade und fest in die Augen. »Aber das habe ich nicht getan. Ihr müßt mir glauben, daß ich es nicht getan habe. Sir Thomas wird es Euch bestätigen, daß ich ihn nie, niemals über irgendwelche Geheimprojekte befragt habe, an denen er vielleicht arbeitete.« Lord Darcy dachte an das Gesicht von Sir Thomas, wie er es zuletzt gesehen hatte, und sagte: »Ich glaube Euch, Demoiselle. Fahrt fort.« »Ich wußte nicht, was ich tun sollte. Ich wollte ihnen nichts mitteilen, und Sir Thomas wollte ich auch nicht verraten. Ich erzählte ihnen, daß ich dabei wäre, es zu versuchen. Ich sagte, daß ich mir erst sein Vertrauen erwerben müßte. Ich erzählte ihnen . . .« Sie unterbrach sich für einen Augenblick und biß sich auf ihre Lippe. »Ich erzählte Master Ewen alles, was ich wußte und konnte, um meinen Onkel am Leben zu erhalten.« »Aber natürlich«, sagte Lord Darcy sanft. »Das kann Euch keiner verübeln.« »Und dann kam der Kongreß«, sagte sie. »MacAlister befahl mir, daran teilzunehmen, anwesend zu sein. Ich wies ihn darauf hin, daß ich, obwohl ich Mitglied der Gilde war, als Zauberlehrling normalerweise keinen Zutritt zum Kongreß hätte. Aber er sagte, daß ich ja über Sir Thomas und Seine Hoheit den Erzbischof genug Beziehungen hätte, und wenn ich nicht mein Bestes täte, dann
würde er dafür Sorge tragen, daß man mir für jeden Kongreßtag, an dem ich fehlen würde, einen Finger meines Onkels schicken würde. Ich mußte etwas unternehmen, Lord Darcy, versteht Ihr das?« »Das verstehe ich«, sagte Lord Darcy. »Ewen MacAlister«, fuhr sie fort, »hatte mich ausdrücklich davor gewarnt, in die Nähe von Master Sir James Zwinge zu geraten. Er sagte, daß Sir James ein hoher Spionageabwehrmann sei, daß er der Chef der europäischen Abteilung des Reichsgeheimdienstes sei. Also dachte ich, daß mir Sir James vielleicht helfen könne. Mittwoch morgen suchte ich ihn in seinem Zimmer auf. Ich traf ihn, als er gerade die Empfangshalle verließ, und fragte ihn, ob ich vielleicht mit ihm reden dürfe. Ich sagte ihm, daß ich wichtige Informationen für ihn hätte.« Sie lächelte leise. »Er war recht gruffig, aber schließlich bat er mich, ihm in sein Zimmer zu folgen. Ich erzählte ihm alles, über meinen Onkel, über Master Ewen, alles. Und er saß einfach nur da! Ich sagte, daß die Agenten des Reichs doch sicherlich meinen Onkel aus einem polnischen Gefängnis befreien könnten. Er sagte, daß er nichts von Spionagearbeit verstehe, daß er lediglich ein Justizhexer sei, der für den Marquis von London arbeite. Er sagte, daß er keinerlei Möglichkeit sehe, meinen Onkel aus einem polnischen Gefängnis zu befreien, genauer gesagt, aus überhaupt keinem Gefängnis. Ich war wütend. Ich weiß nicht mehr, was ich ihm alles sagte, aber auf jeden Fall war es — bösartig. Ich verließ sein Zimmer, und er verschloß die Tür hinter mir. Ich war vermutlich die letzte, die Master Sir James lebend gesehen hat.« Dann sagte sie schnell: »Das heißt natürlich, abgesehen von seinem Mörder.« »Demoiselle Tia«, sagte Lord Darcy so sanft wie möglich, »ich muß Euch jetzt etwas anvertrauen, und Ihr dürft es niemandem sagen, bis ich es Euch gestatte.« »Aber natürlich, My Lord.« »Es ist Folgendes. Ich glaube, daß Ihr die letzte Person wart, die Master Sir James lebend gesehen hat. Das Beweismaterial, das mir bisher vorliegt, legt das nahe. Aber ich möchte auch, daß Ihr wißt, daß ich Euch in keiner Weise für seinen Tod verantwortlich halte.« »Danke, My Lord«, sagte sie, und ihre Augen standen plötzlich voller Tränen.Lord Darcy ergriff ihre Hand. »Kommt, meine Liebe, jetzt ist nicht die beste Zeit zum Weinen.« Trotz ihrer Tränen lächelte sie jetzt. »Ihr seid sehr gütig, My (Lord.« »O nein, Tia, ich bin überhaupt nicht gütig. Ich bin grausam und hinterhältig und habe immer Hintergedanken.« Sie lachte. »Das haben die meisten Männer.« »Ganz so habe ich es nicht gemeint«, erwiderte Lord Darcy trocken. »Was ich damit sagen wollte, war, daß ich noch eine Frage habe.« Sie wischte sich die Tränen mit dem Handrücken fort und lächelte wieder verschmitzt. »Also keine Hintergedanken. Wie schade!« Dann wurde sie wieder ernst. »Welche Frage denn?« »Warum hat sich Master Ewen dazu entschlossen, Euch zu töten?« Lord Darcy war sich ganz sicher, daß er die Antwort bereits wußte, doch wollte er dem Mädchen nicht erklären, wie er dazu gekommen war. Jetzt hatte sie den gleichen kalten, rachsüchtigen Ausdruck im Lächeln wie am Abend zuvor. »Weil ich die Wahrheit herausbekommen habe«, sagte sie. »Gestern abend trat ein Freund meines Onkels, ein gewisser Edelmann Colin MacDavid, ein Bewohner der Insel Man, auf mich zu. Ich kannte ihn schon, als ich
noch ein kleines Mädchen war. Edelmann Colin hat mir die Wahrheit erzählt. Mein Onkel war aus der Falle damals entkommen. Edelmann Colin half ihm bei der Flucht, und seither arbeitet mein Onkel mit ihm zusammen auf der Insel Man. Er dachte, ich wäre tot, bis er meinen Namen im Londoner Courier in der Liste der Kongreßteilnehmer erblickte. Da schickte er Edelmann Colin her, um mich ausfindig zu machen. Edelmann Colin erzählte mir die Wahrheit. Aber Edelmann Colin erklärte mir auch, daß mein Onkel bei seiner Flucht Beweismaterial zurückgelassen hatte, das darauf hinwies, daß er getötet worden sei. Das tat er, um mich zu schützen. Die ganze Zeit über hatte Master Ewen das Leben meines Onkels als Faustpfand benutzt, dabei dachten sowohl er als auch der polnische Geheimdienst, daß er tot sei. Könnt Ihr Euch da noch wundern, daß ich wütend wurde, als ich davon erfuhr?« »Nein«, sagte er, »das kann ich wohl nicht. Das war gestern abend?« »Ja«, sagte sie. »Dann erhielt ich eine Nachricht von Master Ewen, der mir befahl, ihn in einem Pub namens Hound and Hare zu treffen. Kennt Ihr es?« »Ich weiß, wo es sich befindet«, sagte Lord Darcy. »Fahrt fort.« »Ich habe wohl die Beherrschung verloren«, sagte sie. »Ich abe wohl die falschen Dinge gesagt, genau wie bei dem armen 5ir James.« Ihre Augen wurden hart. »Aber es tut mir nicht leid, was ich Master Ewen gesagt habe! Ich sagte ihm, was ich von ihm hielt, und daß ich alles den Reichsbehörden melden würde. Ich sagte ihm, daß ich ihn aufgehängt sehen wollte, ich . . .« Sie hielt plötzlich ein und runzelte die Stirn. »Was danach passierte, weiß ich nicht mehr so genau. Er hob, glaube ich, die Hand und zog ein Symbol in die Luft, und dann . . . und dann . . . kann ich mich an nichts mehr erinnern. Bis ich heute morgen aufwachte und Father Patrique erblickte.« - Sie ergriff plötzlich Lord Darcys Rechte. »Ich weiß, daß ich nicht recht getan habe, My Lord. Werde ich nun . . . muß ich nun vors Gericht?« Lord Darcy lächelte und stand auf. »Ich glaube schon, meine ?,Liebe. Ihr werdet unsere wichtigste Zeugin gegen Master Ewen MacAlister sein. Ich kann Euch versprechen, daß Ihr in keiner anderen Funktion vor Gericht müßt.« Immer noch hielt sie seine Hand. Sie führte sie plötzlich an iihren Mund und küßte sie. »Danke, My Lord«, sagte sie. »Ich bin es, der Euch danken muß«, erwiderte Lord Darcy mit leiner Verbeugung. »Wenn ich Euch nochmals von Diensten sein .kann, Demoiselle, so braucht Ihr nur darum zu fragen.« Er verließ die Gardeniensuite. Inzwischen standen draußen |in der Halle nicht nur die beiden Männer, ein Dritter war hinzugekommen.»Wie geht es Ihr?« fragte Father Patrique. »Ganz gut, glaube ich.« Dann sah er den uniformierten Wachmann an. »Sergeant Peter hat Nachricht für Euch«, sagte Father Patrique, »aber ich habe es nicht gestattet, daß Ihr unterbrochen werdet. Wenn ich mich nun entschuldigen dürfte, ich will mich um meine Patientin kümmern.« Die Tür der Gardeniensuite schloß sich hinter ihm. Lord Darcy lächelte Sir Thomas an. »Alles in Ordnung, mein Freund. Kein Grund zur Besorgnis, für beide von Euch nicht.« Dann wandte er sich an den Wachsergeanten. »Ihr habt Nachricht für mich, Sergeant?« »Jawohl, My Lord. Lord Bontriomphe sagte, daß es sehr wichtig sei. Wir haben Edelmann Paul Nichols gefunden.« »Ach ja? Wo habt Ihr ihn denn ausfindig gemacht? Hat er eine Erklärung für
sein Verhalten abgegeben?« »Ich fürchte, nein«, sagte Sergeant Peter. »Man hat ihn in einem Zimmermannsraum des Hotels gefunden. Und er war tot, My Lord, mausetot.« Sergeant Peter hatte ihm erklärt, wo der Raum zu finden war, und so schritt Lord Darcy zielstrebig durch die Empfangshalle des Hotels. Der Raum war aber auch an den beiden Wachmännern zu erkennen, die davor Wache standen. Der Raum lag ungefähr auf halber Strecke zwischen Darcys und Bontriomphes Hauptquartier und der Hintertür. Es war ein Arbeitsraum für Möbelreparaturen. Es gab dort Arbeitsbänke, die um die Wände herum führten, und halbfertige Möbel, die umherstanden. Am Ende des Zimmers war eine offene Tür, hinter der sich Dunkelheit befand. • Neben der Tür standen Lord Bontriomphe und Master Sean O Lochlainn. Als Lord Darcy auf sie zuschritt, drehten sie sich um. »Hallo, Darcy«, rief Lord Bontriomphe. »Wir haben noch einen.« Er zeigte auf die offene Tür, die, wie Lord Darcy bemerkte, in eine kleine Abstellkammer führte, die mit beschädigtem Mobiliar, Holzstücken und so weiter angefüllt war. Hinter der Tür lag, gleich vorne, ein Mann. Es war kein angenehmer Anblick. Die Zunge hing heraus, und das Gesicht war schwarz angelaufen. Um den Hals hing ein verknotetes Seil, das sich tief ins Fleisch eingeschnitten hatte. Lord Darcy sah Lord Bontriomphe an: »Was ist denn geschehen?« Lord Bontriomphe wandte den Blick nicht von der Leiche ab. »Ich glaube, ich gehe mal nach draußen und haue mir den Schädel an die Wand. Seit gestern nachmittag habe ich diesen Mann gesucht. Ich habe London nach ihm durchkämmt. Ich habe jedem Hotelangestellten jede Frage gestellt, an die ich nur denken konnte.« Er sah Lord Darcy an. »Schließlich kam ich auf den lächerlich scheinenden Gedanken, daß Edelman Paul Nichols das Hotel niemals verlassen hatte.« Er lächelte Lord Darcy ziemlich schief an. »Und dann öffnete ein Hotelangestellter, der für Möbelreparaturen zuständig ist, diese Tür. Er brauchte ein Stück Holz und fand das da. Er lief schreiend heraus. Zum Glück waren Master Sean und ich gerade im Büro, so daß wir sofort herbeieilten.« »Es ist ganz gewiß Paul Nichols?« »O ja, ohne Zweifel.« Lord Darcy sah Master Sean an. »Keine Ruhe für die Müden, eh, Master Sean? Was meint Ihr dazu?« Master Sean seufzte. »Nun ja. Was Genaueres weiß ich erst, wenn der Chirurgus die Autopsie vorgenommen hat. Aber meiner Meinung nach ist der Mann schon mindestens achtundvierzig Stunden tot. An der rechten Schläfe hat er eine Schürfwunde, man kann sie wegen des geronnenen Blutes kaum erkennen; sie deutet darauf hin, daß er ohnmächtig geschlagen wurde, bevor man ihn umbrachte. Man hat ihn auf die rechte Kopfseite geschlagen und ihn dann mit einem Strick erwürgt.« »Achtundvierzig Stunden«, sagte Lord Darcy nachdenklich. Er sah auf seine Uhr. »Das wäre ja, plusminus eine Stunde, ungefähr die Zeit gewesen, als auch Master Sir James getötet wurde. Interessant.« »Da ist noch etwas, das Ihr vielleicht noch interessant finden werdet, My Lord«, sagte Master Sean. Er kniete nieder und (zeigte auf ein paar kleine blaue Stücke, die vorne auf dem (Hemd der Leiche lagen. »Was glaubt Ihr wohl, was das ist?« Lord Darcy kniete nieder und sah näher hin. »Siegelwachs«, |sagte er leise. »Blaues Siegelwachs.« Master Sean nickte. »Das scheint es mir auch zu sein.« Lord Darcy stand auf.
»Es tut mir furchtbar leid, Sean, aber ich muß Euch schon wieder mit derselben grauslichen Arbeit beauftragen. Ich muß wissen, wann er gestorben ist, und . . .« Master Sean stand auch auf. »Und etwas über diese Stücke blauen Siegelwachses, eh, My Lord?« »Genau.« »Nun«, sagte Lord Bontriomphe, »wenigstens wissen wir diesmal, wer es gewesen ist.« »Ja, ich weiß, wer ihn umgebracht hat«, sagte Lord Darcy. »Was ich nicht verstehe ist, warum!« »Ihr meint das Motiv?« fragte Lord Bontriomphe. »Ach was, das Motiv kenne ich. Was ich wissen möchte, das ist sozusagen das Motiv hinter dem Motiv, wenn Ihr mir folgen könnt.« Lord Bontriomphe konnte ihm allerdings nicht folgen. Eine halbe Stunde gründlichster Untersuchungen ergab nichts von Interesse. Der Mord an Paul Nichols schien ebenso einfach gewesen zu sein, wie es der an Sir James schwierig gewesen war. Keine verriegelte Tür, kein Hinweis auf Schwarze Magie, keine Frage hinsichtlich der Art des Tötens. Als er alles untersucht hatte, war sich Lord Darcy sicher, daß er den Mordablauf einigermaßen genau rekonstruieren konnte. Man hatte Paul Nichols in den Zimmermannsraum gelockt, hatte ihn ohnmächtig geschlagen und ihn erwürgt. Dann hatte man ihn in die Abstellkammer geworfen. Was» danach geschehen war, war nicht ganz klar, aber Lord Darcy hatte das Gefühl, daß es an der Grundannahme nichts wesentlich ändern würde. Befriedigt überließ Lord Darcy Lord Bontriomphe und Master Sean den Rest der Untersuchung. »Was jetzt?« dachte er. Er entschied sich dafür, den Palast des Marquis aufzusuchen und sich eine neue Pistole zu besorgen. Er hatte Lord Bontriomphe erzählt, daß er seine eigene Pistole in die Themse hatte werfen müssen, und Bontriomphe hatte gesagt: »Ich habe noch eine Heron 36er in meinem Schreibtisch. Ihr könnt sie benutzen, wenn Ihr wollt. Es ist eine gute Waffe.« Lord Darcy kam zu der Überzeugung, daß ihm ein guter kräftiger Drink vorher guttun würde. Er ging ins Schwertzimmer und bestellte einen Brandy mit Soda. Im Hotel war die angespannte Atmosphäre immer noch zu spüren; offensichtlich hatte man den Kongreß unterbrochen. Von allen Hexern, die er heute morgen gesehen hatte, hatte außer Master Sean niemand die silbernen Streifen eines Masters getragen. Am Ende der Theke sah Lord Darcy ein bekanntes Gesicht. Er stand auf und ging auf den Mann zu, der sich gerade eine Finte guten englischen Bieres zu Gemüte führte. »Guten Morgen, My Lord«, sagte er. »Ich hatte gedacht, daß Ihr Euch draußen auf der Jagd befindet.« Wanderhexer Lord John Quetzal blickte ein wenig erschreckt hoch. »Lord Darcy! Ich wollte mit Euch sprechen.« Sein Lächeln wirkte ein wenig traurig. »Man hat mich nicht darum gebeten, an der Suche nach Master Ewen teilzunehmen«, sagte er. »Man befürchtet wohl, daß es ein Wanderhexer nicht mit einem Master aufnehmen kann.« »Und Ihr glaubt, daß Ihr es doch könntet?« »Nein!« rief Lord John Quetzal aufgeregt. »Darum geht es doch überhaupt nicht! Master Ewen mag ein mächtigerer Hexer sein als ich, das will ich gar nicht bestreiten. Aber ich brauche mich ja gar nicht gegen ihn zu behaupten. Wenn er Magie anwendet, wenn man ihn eingekreist hat, dann kann ihn ein anderer, mächtigerer Hexer übernehmen. Es geht vielmehr darum, daß ich ihn finden kann. Ich kann herausfinden, wo er sich aufhält. Aber
es hört ja niemand auf einen Wanderhexer!« Lord Darcy sah ihn an. »Damit ich nichts falsch verstehe«, sagte er vorsichtig. »Ihr denkt, daß Ihr herausbekommen könntet, wo Master Ewen sich gerade versteckt hält?« »Das denke ich nicht nur, das weiß ich! Als Ihr die Demoiselle Tia letzte Nacht hereinbrachtet, da stank sie sieben Meilen gegen den Wind nach schwarzer Magie.« Er sah aus, als wollte er sich entschuldigen. »Ich meine natürlich keinen richtigen Geruch, versteht Ihr, nicht so, wie man Tabakgeruch wahrnehmen kann, oder . . .« er wedelte mit der Hand in die Richtung von Lord Darcys Glas, » . . . oder Brandy und so.« »Ich verstehe«, sagte Lord Darcy. »Es ist lediglich ein Vergleich eines geistigen Vorgangs mit dem Sinnesorgan, dem er am nächsten kommt. Deswegen nennt man Leute Eures Talents wohl auch Hexen-Riecher, nicht wahr?« »Genau, My Lord, so ist es. Und jeder Akt Schwarzer Magie hat seine eigene >Duftnote