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Die Göttin der Alten Welt lebt noch heute „verkörpert" in Landschaft, Mythos und Kultur. Rachel Pollack führt uns zu ihren Bildern und Formen: von den altsteinzeitlichen Höhlen von Lascaux über die Venus von Willendorf, die Steinkreise von Stonehenge und Avebury bis hin zu den Nanas der Niki de Saint Phalle. Auf dieser Reise durch Raum und Zeit erwachen die zentralen Göttinnenmythen zum Leben und lassen erkennen, welche Kraft die heiligen Orte noch heute in sich bergen.
Rachel Pollack
IM KÖRPER DER GÖTTIN Weibliche Weisheit in Mythos, Landschaft und Kultur
Aus dem Amerikanischen von Marita Böhm
DieOriginalausgabeerschienunterdemTitel TheBodyoftheGoddess beiElementBooksLtd.,Shaftesbury/Dorset ©RachelPollack1997
DieDeutscheBibliothek–CIPEinheitsaufnahme Pollack,Rachel: DerKörperderGöttin:weiblicheWeisheitinMythos,Landschaft undKultur/RachelPollack.AusdemAmerikan.vonMarita Böhm.–München:Hugendubel,1999 (Sphinx) ISBN3896312243
©derdeutschenAusgabeHeinrichHugendubelVerlag, München1999 AlleRechtevorbehalten Lektorat:ClaudiaGöbel,München Redaktion:BarbaraImgrund,München Umschlaggestaltung:ZembschWerkstatt,München,unter VerwendungeinerSkulpturvonBärbelHefter,Rohrdorf Produktion:TillmannRoeder,München Satz:DesignTypoPrint,Ismaning DruckundBindung:FranzSpiegelBuch,UlmJungingen PrintedinGermany
Inhalt
Danksagung
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Einführung:DiespiralförmigeReisevonBildern
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1.WiekanndieGöttineinenKörperhaben?
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2.DersichtbareundderunsichtbareKörper
46
3.DerbemalteSteinkörper 4.DergestalteteSteinkörperI
83 120
5.DergestalteteSteinkörperII
146
6.DerKörperimLand
197
7.DerKörperimLied
231
8.DerKörperbeidenToten
276
9.DerlebendigeKörper
310
Literatur
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ImKörperderGöttinistalljenengewidmet, diemitmirdieheiligenOrteaufgesuchthaben: EdithKatz,MaryanneReneeVrijdaghs, HelleAgatheBeierholm,WittaJensen,K.FrankJensen, SolPollack,TanaDineen,AnnOgborn, SusanCoker,AlmaRoutsong,LeslieHunt,FionaGreen, MargaretMcWilliams,MarianGreen,EvaM., DonnaHutchinson,FaraShawKelsey, PaulShawMalboeuf... undbesondersMariaFernandez,diemirFreundschaft, einensicherenHafenundeinenGranatapfelkernbot, unddasallesimrichtigenAugenblick.
Danksagung EinExpertewurdeeinmalalseinMenschdefiniert,derim mermehrüberimmerwenigerweiß.AlsichdiesesBuch schrieb,hatteichoftdasGefühl,immerwenigerüberim mermehrzuwissen.IndemVersuch,demThemadesGöt tinnenkörpersaufdieSpurzukommen,habeichaufdas Werk sehr vieler Menschen auf sehr vielen Gebieten des wissenschaftlichen Studiums und der Ausdrucksformen zurückgegriffen–aufdasWerkvonHistorikern,Archäolo gen,Künstlern,Priesterinnen,Naturwissenschaftlern,Psy chologen,Wahrsagern,Schriftstellern,Theologen,Altphi lologenundeinfachFreunden,dieaufReisenihreeigenen Forschungenangestellthatten.WennichIdeenoderEnt deckungenandererfalschdargestellthabe–unddasmag trotz meiner besten Absichten geschehen sein –, ist der Fehlerganzalleinbeimirzusuchen,unddafürmöchteich michandieserStelleentschuldigen.Woich,vonderFor schungandererausgehend,einenSprunginmeineeigene Richtungmachte,habeichversucht,dasklarhervorzuhe ben.SollteichdieArbeiteinesanderenmitmeineneigenen Spekulationen durcheinandergeworfen haben, bitte ich auchhierumEntschuldigung. DiesesBuchversuchtnicht,eingeschichtlichesoderwis senschaftliches, geschweige denn ein theologisches (oder thealogisches) Werk zu sein. Die Göttinnenreligion ist nicht nur ein historisches Thema: Sie ist heute lebendig, nichtnurinderumfassendenForschungsarbeitvonWis senschaftlern wie Marija Gimbutas, sondern auch in der Poesie,derKunstundindenRitualen,dieMenschenallein oder in Gruppen, in Tempeln und Höhlen oder auch in ihren Hinterhöfen und Küchen vollziehen. Ich habe ver sucht,alledieseEbenenderwiedererwachendenGöttin nenreligion zu ehren und meine Dankbarkeit für alle BeiträgezumAusdruckzubringen,diesowohlWissen
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schaftleralsauchAnbetergeleistethaben,besondersdieje nigen,derenWunschnachmehrWissensiezuexakterFor schung veranlaßt haben, und diejenigen, die festgestellt haben,daßdiewissenschaftlicheForschungsiezuGlau benundleidenschaftlichemEngagementgeführthat. Drei Wissenschaftler verdienen besondere Erwähnung. Als erste sei Marija Gimbutas genannt, die Archäologin, dieihreunermeßlicheForschungsarbeitmitdemMutver einte,sichaußerhalbderoffiziellenakademischenIdeolo giezustellenundeineweitreichende,komplexeReligion überallinderKunstundindenausgegrabenenRuinendes prähistorischen Europa als existent anzuerkennen. Die zweite,heutzutagewenigerbekannteAutorinistGertrude RachelLevy.Alsichanfing,diemodernenGöttinnenAu torinnenzulesen,fielmireinWerkauf,dasimmerwieder erwähntwurde,undzwarLevys TheGateofHorn.Levy, die dieses Buch vor mehr als einem halben Jahrhundert schrieb, hatte nicht nur die Gabe, eine überwältigende Menge an Informationen zu sammeln und darzustellen, sondern sievermochteauchdieeinzelnenInformationen miteinanderinZusammenhangzubringenundinklaren, originellenKonzeptenzudenken.EswarGertrudeRachel Levy,diealserstebemerkte,daßdieFormderprähistori schenTempelaufMaltademUmrißeinesFrauenkörpers entspricht.SchließlichseiVincentScullyerwähnt,derAu torvonTheEarth,theTemple,andtheGods.Scully,derkürz lichindenRuhestandgetretenist,wareinhochverehrter ProfessorfürArchitekturgeschichteanderYaleUniversity. AlsersichdengriechischenTempelnunddenaltenPalä stenaufKretawidmete,taterdasmiteinemAugefürdie Wahrheit der Landschaft und einer Leidenschaft für die heiligen Formen, die in der Schönheit der Erde lebendig sind.
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Einführung
DiespiralförmigeReisevonBildern AmEndedes20.JahrhundertssindwirZeugeneinesbe merkenswertenPhänomens–desWiederauftauchensei nerReligion,diesovieleJahrelangtotzuseinschien,daß dieWeltfastvergessenhatte,daßsieüberhauptexistierte. Im Mittelpunkt dieser Religion steht die Anbetung einer Großen Göttin, die viele Namen und Gesichter haben kann, aber die Gottheit stets als weibliche Präsenz dar stellt: lebenspendend, nährend, manchmal schrecklich, aberimmermitderNaturundderWahrheitunseresKör pers verbunden. Und nicht nur des Körpers von Frauen. AuchMännerhabendiespirituelleWirklichkeitimBildei ner lebendigen, allumfassenden Göttin entdeckt, die die WeltundallesLebenausihremKörpererschafft,nichtnur einmal vor langer Zeit, sondern fortwährend in den sich entfaltendenLebensprozessen. DieAuferstehungdieserReligionistzumTeilaufarchäolo gische Entdeckungen zurückzuführen. Die Ausgrabungen brachtennichtnurimmermehrvondermenschlichenVer gangenheitansTageslicht,sondernebenfallseineFüllevon weiblichen Bildnissen: Steinzeichnungen an Höhlenwän den;inGrabstätteneingeritzteVulvasymbole,diedenEin druckerwecken,dieWiedergeburtausdemgöttlichenKör perzuverheißen;FreskenvonGöttinnen,denenAnbeterin einemParadiesgartenLuftzufächeln;Statuenvonwilden, barbusigen Frauen mit Schlangen in den Händen; 30000 Jahre alte Statuetten von Frauen mit gewaltigen Brüsten undHüften;Göttinnen,die,flankiertvonLöwen,gelassen aufThronensitzenundgebären;Tempel,diedenidealisier tenUmrisseneinerFraunachgeformtsind.AlsdieseBild nissemitdembestehendenWissenumGöttinneninIndien, imaltenÄgypten,inMexikovorderEroberungdurchdie Spanier, inAfrikaundanderswo inVerbindunggebracht wurden,begriffmanwieineinerblitzartigenheiligenEin
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sicht,daßMenscheneinstaufderganzenWeltdieGottheit inGestalteinerFrauangebetethatten,unddasüberTau sende,sogarZehntausendevonJahrenhinweg. Durch die Entdeckung, daß einst etwas vorhanden war, wird diesem Etwas eine erneute Existenz ermöglicht. WenndieMenscheninderVergangenheitGöttinnenange betethaben,warumsolltensieesjetztnichtauchtun?Wie aberwürdesicheinesolcheAnbetungvonderReligionei nervonderWeltlosgelösten,allmännlichenGottheitun terscheiden?EinigebegannenBücherzuschreiben,inde nensieallearchäologischenErkenntnissezusammenfüg ten.AnderefertigtenneueStatuenan,errichtetenTempel oder reisten zu Höhlen oder Ruinen, um uralte Rituale wiederzubeleben. Wieder andere schlossen sich in ihren GemeindenzuKreisenvonAnbeternzusammen,umdie JahreszeitenunddiebesonderenAugenblickeinihremLe benfeierlichzubegehen.AusalldemistetwasNeuesund völlig Modernes hervorgegangen, das das Wissen um die VergangenheitmitdemVerständnisdessen,werwirjetzt sind,harmonischverbindet. Bestenfalls ersetzt dieses Etwas nicht einfach den Gott durchdieGöttin.StattdessenergründetesdieMöglichkei ten einer Religion, die auf dem Körper beruht: Denn währendeinGottdieWeltausreinemDenkenherauser schaffenmuß,bringteineGöttinsiesohervor,wieFrauen es schon immer getan haben, nämlich indem sie sie aus ihremreichenSchoßgebiert. Dieseeinfache Tatsacheläßt eineReligionzumVorscheinkommen,diedieNaturund unserenKörper,sowiesiewirklichsind,akzeptiert,nicht alsFeindeoderGefängnissederSeeleoderVersuchungen des Bösen, sondern als wunderbare Schöpfungen mit all ihrenStärkenundSchwächen. ZeitgenössischeGöttinnenanbeterwerdenmanchmalkriti siert,ForschungundPhantasie,ArchäologieundWunsch denkendurcheinanderzuwerfen.Mirscheint,daßeinesol cheKritikdasWesentlichenichterfaßt.DiemoderneGöt tinnenreligion versucht nicht, genau die gleichen Bedin gungenwiederherzustellen,dieinderSteinzeitoderimal
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tenKretaoderzuirgendeineranderenZeitoderanirgend einemanderenOrtgeherrschthaben.Vielmehrstrebenwir danach, von diesen Menschen zu lernen, während wir die GöttinaufeineWeiselebendigwerdenlassen,dieunserer Erfahrung entspricht. Für mich ist gerade die »hausge machte« Qualität der modernen Göttinnenanbetung, be sonders was die Rituale betrifft, schon immer einer ihrer Hauptreizegewesen. In ihrem Buch The Laughter of Aphrodite schildert Carol ChristeinRitual,dassieundAlexisMastersAphroditezu Ehren auf der Insel Lesbos vollzogen haben, der Heimat vonSappho,Aphrodites großerDichterin. AufdemWeg zumTempelwähltensiedieObjekteundKleider,diesie für das Ritual verwendenwollten, unter Dingenaus,auf die sie unterwegs und in Geschäften stießen – darunter waren eine Ansichtskarte mit einer webenden Frau, ein Flaschenöffner in der Form des Gottes Priapos mit einer ungeheurenErektionundeinweißesKleidmitGoldfäden. IndemAugenblickwurdedenbeidenFrauenklar,daßsie in Weiß und Gold gekleidet sein mußten,um dieGöttin umInitiationinihreMysterienzubitten.Danngingensie weiter und kauften in einem Lebensmittelgeschäft Rot wein, goldgelben Retsina, goldfarbene Kekse, Milch und Honig und Yoghurt, allesamt Speisen und Getränke, die denKörperderGöttinsymbolisieren. IndemwiraufObjekte,diewirzufälligfinden,undAspek te unseres täglichen Lebens zurückgreifen, ermöglichen wiresunseremreligiösenInstinkt,sichmitunsererunmit telbarenRealitätzuverbinden.AlsMariaFernandezund ichnachEleusisfuhren,umdenerstenTagderMysterien (2000JahrelangdaswichtigstereligiöseEreignisinderAl ten Welt) zu feiern, sahen wir in verschiedenen Büchern nach, was die Griechen und Römer dorthin mitgebracht hatten. Aber wir nahmen außerdem Speisen, Steine, die wiramWegesrandfanden,WildblumenundGegenstände aus unserem persönlichen Besitz mit. Auf diese Weise wurde Eleusis, dieser geschichtsträchtige Ort, für uns in unseremLebenreal.
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FürdiesesBuchhabeichwissenschaftlicheForschungser gebnisse, Kunst, Spekulationen und meine persönlichen ErfahrungenmitdemHeiligenherangezogen,persönliche Erfahrungen,dieichnichtnurananerkanntenStättenge machthabe,sondernauchananderenOrten,zumBeispiel imWalddichtbeimeinemHaus.BeimSchreibenhabeich meinBestesgetan,zwischenalldiesenQuellen,besonders zwischenhistorischenInformationenundmeineneigenen Ideenklarzuunterscheiden.Dennochwebensichalldiese FädenbeimErzählenzusammen,sowiesieesmeinerMei nung nach auch in der Göttinnenreligion selbst zu tun scheinen. UrsprünglichstellteichmirdiesesBuchalseineReihevon ReisenzuheiligenPlätzenvor.IchwolltegriechischeTem pel und die prähistorischen Höhlen in Frankreich besu chenunddieStättenundihreBedeutungbeschreiben.Als ichanfing,RecherchenüberdieHintergründeunddieAr chäologiedieserOrteanzustellen,wurdedasBuchaufei neandereWeiselebendig.DieWeltderGöttinwurdeeine WeltdesWissensundderIdeen,derGeschichteundder Kunst,eineWeltvonBildern,diemitallihrenBedeutun gen und ihrem Geheimnis vor uns leuchtet. Auf meiner Reise durch diese Welt blieben die tatsächlichen Reisen wichtig,dennesgibtDinge,diewirinderForschungnicht findenwerden,sondernnurmitunserenAugenentdecken können.AberzurgleichenZeitkönnendaskollektiveWis senunddieVermutungenalljener,dievorunsgegangen sind, uns für unerwartete Wunder öffnen. Und auch das einfache Denken wird wichtig. Das religiöse Bewußtsein wächst,währendwirüberdieBedeutungeinesBildes,die Zusammenhänge zwischen religiösem Glauben und All tagsleben oder darüber nachdenken, was es für einen Menschen bedeuten kann, sein Verständnis der heiligen WahrheitaufdieunmittelbareWirklichkeitdesKörperszu gründen. Kein Buch über das Heilige vermag auf jeden einzelnen Aspekt einzugehen, wie wir uns dieser Erfahrung nähern können.DasgiltbesondersfüreinBuch,daszumTeilauf
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persönlichenReisenbasiert.ZuBeginndieserArbeithatte ichvor,michinersterLinieaufdiePlätzezukonzentrie ren,dieichauchwirklichbesuchenwollte.Weilichzuder ZeitinEuropalebte,habeichmichhauptsächlichaufdie altenÜberlieferungendereuropäischenGöttinnen(undin geringeremMaßedernordamerikanischenGöttinnen)be zogenundsolchewichtigenQuellenwieIndien,China,Ja pan, Mittel und Südamerika und die vielen Traditionen AfrikasundderafrikanischenDiasporaaußerachtgelas sen.ObgleichichErkenntnisse,IdeenundSichtweisenaus meinenRecherchenüberandereTraditionenzusammen getragen und zitiert habe, wo immer es angemessen zu sein schien, habe ich mich vor allem an meine Entschei dung gehalten, die Nachforschungen mit den Reisen im Gleichgewichtzuhalten. Diese Konzentration auf die direkte Erfahrung bedeutet, daßichnichtversuchthabe,alleGöttinneninnerhalbder europäischen Traditionen aufzunehmen. So erzählen die Kapitel über Griechenland beispielsweise kaum etwas überAtheneundnochwenigerüberHera.Ichhabemich aufmeineIntuitionverlassen,diemichzujenenGöttinnen führte,dieammeistenüberdenKörpersprechen. DasBuchselbstisteineReisevonderSteinzeitbishinzur modernenWissenschaft.Aberauchwennessichdurchdie Zeitbewegt,verläuftdieReisenichtlinear.Ichwürdesie lieberalseineSpiralebezeichnen,diesichfortwährendum sichselbstwindet,sodaßzuvorgeseheneBildervoneiner anderen Seite betrachtet werden können. In seinem großartigen Werk The Earth, the Temple, and the Gods geht Professor Vincent Scully ausführlich auf die Prozession derEingeweihtenein,diesichvonAthennachEleusisbe gaben,umdieGroßenMysterienderGöttinnenDemeter und Persephone zu begehen. Scully schildert, wie Land schaftsbilder,dievonderKraftderGöttinzeugen(einke gelförmiger Berg, ein Doppelgipfel), auftauchten, ver schwandenundinverschiedenenEtappenderReiseaufs neueerschienen.AufetwadiegleicheWeisezeigensichin diesemBuchverschiedeneBilder,Themen,Ideen,sogarFi
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guren, erzählen uns ihre Botschaften und verschwinden dann – wieder nur um später wieder in Erscheinung zu treten und ausführlicher oder in einem anderen Zusam menhangdargestelltzuwerden. Die Göttinnenreligion selbst ist nicht linear. Aber sie ist auchnichteinfacheinKreis,nichtimSinnevonetwasSta tischem, das sich unaufhörlich und unverändert wieder holt. Ihre Zyklen sind die eines spiralförmigen Umzugs, sich immer wieder fort und zurückbewegend. Denn Zehntausende von Jahren beherrschte die schöpferische Kraft des göttlichen Weiblichen das spirituelle Bewußt sein.MitdemAufstiegvonKriegergötternundeinerüber weltlichen, von Natur und Körper abgetrennten Religion schiendieGöttinspurlosverschwundenzusein.Anvielen OrtenbliebnichteinmaleineErinnerungansieerhalten. Undtrotzdemistsieaufeinmalindieserunwahrschein lichsten aller Zeiten zu uns zurückgekehrt. Auch wenn diese Rückkehr zum Teil auf die archäologischen Ent deckungenunddieEntschlüsselunguralterTexteundBil derzurückzuführenist:EsistnichtmehrdieselbeGöttin wiedievorJahrtausenden.EineaufdemgöttlichenKörper beruhendeReligionisteineReligiondesWandels,dieser spiralförmigen Bewegung, die sich in neue Erfahrungen hinein dreht und öffnet. Einem individuellen Körper gleichverändertsichdieErdeselbst,nichtnurzyklischmit denJahreszeiten,sondernanhaltenderüberlangeZeiträu mehinweg,währendBergedurchEruptionentstehenoder durch Erosion abgetragen werden, Gletscher aufsteigen unduntergehenundselbstdieAtmosphäreihrechemische Zusammensetzungändert. AuchwenndasBuchderGöttinvonderSteinzeitzurmo dernenWissenschaftfolgt,beginntesmiteinerVorberei tungaufdieReise.DieerstenzweiKapitelbildeneineMe ditation über die eigentliche Vorstellung vom Körper der Göttin.Hierwirduntersucht,wasesfürunsbedeutet,als Körper zu existieren oder unser Gewahrsein des Heiligen ausderVerbindungvonNaturundImaginationhervortre tenzulassen.DiesebeidenKapiteldurchlaufendiegesam
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teWeltderBilderundVorstellungeninHinblickaufden göttlichenKörper. Die eigentliche Reise beginnt mit dem dritten Kapitel, wennwirindiealtsteinzeitlichenHöhlenEuropashinab steigen.Dortbegegnenwirdengroßartigen,20000Jahre alten Malereien und den vielen Schnitzwerken, die den weiblichen Körperdarstellen,einigemitriesigenBrüsten undHüften,anderegesichtslosodergarkopflos,einigeso garmitlangenphallischenHälsen,dieunsdazuverleiten, überdieVereinigungdesMännlichenundWeiblichenim göttlichenKörpernachzudenken. Im vierten und fünften Kapitel befassen wir uns mit der Jungsteinzeit und den enormen Veränderungen, die mit derEntwicklungdesAckerbauseinhergingen.Dasvierte Kapitel bewegt sich zwischen den Steinkreisen, riesigen GanggräbernundanderenMonumenten,dieaufgeheim nisvolleWeiseüberallindereuropäischenLandschaftund anderswoerhaltengebliebensind.ImfünftenKapitelwer dendiekulturellenMusterjenerZeitdurchleuchtet,vor nehmlich die Zeugnisse von Gesellschaften, die jahrtau sendelang ohne Gewalt existiert haben. Das Kapitel schließtmitderFrage,wieundwarumdieZivilisationder GöttinvonderBildflächeverschwand,nichtnurinEuropa undimNahenOsten,sondernauchinsoisoliertenGegen denwieJapanundFeuerland. DassechsteKapitelführtunsnachKreta,wodieeuropäi scheGöttinnenreligioninihreletzteundgrößteBlütezeit eintrat.WirlernendieinderLandschaftlebendigenKör performeneingehendzubetrachten.VomminoischenKre tawendenwirunsderspäterenKulturderGriechenzu,in deresdenarchaischenGöttinnentrotzihrerUmwandlung indieunbedeutenderenFigurenderklassischenMytholo giegelang,zuüberlebenundneueBedeutungenanzuneh men. ImsiebtenKapitelbegegnenwirderganzenKraftdieses Überlebens, wenn wir uns den Eleusinischen Mysterien zuwenden.Ichhabemichbemüht,dieseRiteneingehend zu untersuchen, die Göttin Persephone suchend, deren
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Name »Die in der Dunkelheit leuchtet« bedeutet. Sie strahlthellindendunklenÄngstenundimWunderunse res Lebens. Als ich den ersten Entwurf für dieses Buch nochmaldurchlasundkorrigierte,entdeckteich,daßsich eineHauptfigurabzeichnete,derHeldinineinemRoman gleich.DieseFiguristPersephone,dieindenfrühenKapi telnimmerwiederblitzartigauftaucht,sichkurzzeigtund dannwiederzurückzieht,bisdieZeitfürihrendgültiges Erscheinenreifist. ImMythostrittdienamenloseGöttinzuerstalsunschuldi ge Kore (»Mädchen« oder »Tochter«) auf, die Blumen pflückt, als plötzlichderTodausderErde hervorkommt undsieindieUnterweltentführt.Anstattzuakzeptieren, was die Götter als unwiderruflich,sogarrichtigbezeich nen,stelltPersephonesMutter,dieGöttindesAckerbaus Demeter, das Wachstum des ganzen Pflanzenlebens ein, bisZeussich bereiterklärt,dem Tod zubefehlen,Perse phone zurückkehren zu lassen. Aber als Persephone zurückkommt,istsienichtmehrdieselbe:Siehatihrewah re Macht als Königin der Toten gefunden und verbringt alljährlicheineZeitlanginderUnterwelt,uminderDun kelheit zu leuchten. Je länger wir über diese Geschichte nachdenken, um so mehr entdecken wir so viele unserer eigenen Fragen: die Zyklen des Jahres, unsere Angst vor demTod,dieTrennungundVersöhnungmitunserenMüt tern,denKampfgegendieBrutalitätvonVergewaltigung und Inzest, den Mut, der institutionalisierten Obrigkeit entgegenzutreten,undnochweitreichendereFragen.Der Mythos symbolisiert gerade diese Rückkehr der Göttin nenreligion aus einem 5000 Jahre währenden Scheintod, währenddemeinvonderWeltabgespaltener,überweltli cherGottgeherrschthat.Schließlichkönnenwirindieser GeschichtevonderMutterundderTochter,dievoneinem eindringendenManngetrenntwerden,denverschlüssel tenUrsprungvonSexualitätundTodentdecken. DieEntdeckungderbiologischenWirklichkeitinderGe schichte von Persephone führt zum letzten Kapitel und zur»GaiaTheorie«dermodernenWissenschaft.Beidieser
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Vorstellung von der Erde als einem einzelnen lebendigen Organismusstellenwirfest,daßsichdieSpiralewirklich herumgedreht und geöffnet hat, um die prähistorische GöttinaufeineneueundwichtigeWeisezurückzubringen. Sowohl die Eleusinischen Mysterien als auch die Gaia TheoriesprechenunserentiefenSinnfürdieWeltan,eine Welt,diesichausisoliertenBruchstückenzusammensetzt, vondenenjedeseinzelnescheinbaralleinistunddiezu gleichalle,jedervonuns,aufeinergrundlegendenEbene miteinanderverbundensind.DiemoderneBiologieführt unszuderselbenIdeezurück,wiesieauchdurchdieGöt tinPersephone,diesichvomLandderTotenerhebt,darge stelltwurde:nämlichdaßwirallelebendig,allemiteinan derverbundensind,mitdenTierenunddenPflanzen,den SternenunddemStaub,gemeinsamverbundenimKörper derGöttin.
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WiekanndieGöttineinen Körperhaben? Wiewirunserinnerten.WieihreErinnerungmirmeine Erinnerungbrachte.Wieichwußte,wassiewußte, wiesichdannihreBrüsteanfühlten,ihrKörper, wiewirmitErinnerungüberflutetwurden. SusanGriffin Wir treten in den Körper der Göttin ein, als wäre er ein fremdes Land – unsicher, aufgeregt, aber verwirrt, über unbekannte Bräuche und eine fremde Sprache staunend. Wie sprechen wir über diese Dinge? Wie betrachteten die AltendengöttlichenKörperundseinephysischeWirklich keit?UndwaswerdenwirüberunsselbstundunsereKör perherausfinden,wennwirunserBewußtseinundunser LebenderGöttinöffnen?
ArtemisGeburtstag Wasbedeutetes,einBuchüberdenKörperderGöttinzu schreiben?UnsmitdemKörperzubefassen,überdieIdee nachzudenken,unsGottoderdieGöttinmiteinemKörper vorzustellen?FürvieleMenschenistdieseIdeefremd,fast undenkbar.IndenJahren,dieichmitdemSchreibendieses Bucheszubrachte,erzählteichmanchmal,woranicharbei tete, nur um einen verwirrten Blick und die Frage: »Wie kanndieGöttineinenKörperhaben?«zuernten. VoreinigerZeitwurdeeinheiligerKalenderveröffentlicht, in dem neben heidnischen Jahreszeitenritualen und den FeiertagenderetabliertenReligionendieGeburtstagever schiedenerGottheitenausdemaltenGriechenlandundan derenKulturenverzeichnetwaren.Der28.Aprilwurdeals
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derGeburtstagdesBuddhaundderGöttinArtemis(deren KörperdieseSeitenfüllen,ebensowieihrKörpersichnoch immer in den Hügeln und Bergen Griechenlands erhebt) aufgeführt.UmArtemiszufeiern,gingichzueinemWas serfallindenBergennahemeinemHaus.Alsichspäterer zählte,wasichgetanhatte,blicktenvieleüberraschtdrein oderlachtensogar.»ArtemishatGeburtstag?«fragtensie. Nun,einigedieserLeutewarensogarHeiden,dieArtemis alsdierömischeMondgöttinDianaanbeteten.Anderehat tenkeinProblemdamit,daßBuddhaGeburtstaghat,denn schließlichwarereinSterblicher,nämlichPrinzSiddharta. Und die meisten Menschen feiern den Geburtstag von YehoshuabenMiryam,einemradikalenJuden,derdenAn spruchdarauferhob,GottesSohnzusein,unddessenJün gerbehaupteten,erseiderMessiasbeziehungsweiseChri stus.UndtrotzdemkamihnendieVorstellungabsonder lichvor,daßeineGöttin,einganzundgargöttlichesWe sen,wirklichgeborenseinsollte.VielleichthabensieMy thenüberihreGeburtunddieihresZwillingsbrudersApol longelesen–abereinwirklicherGeburtstag?
Weristdas»Ich«,daseinenKörperhat? FürdiemeistenMenschen,dieüberhauptüberdieseDin ge nachdenken, haben Sterbliche einen Körper, Göttinnen abernicht.DaßwirinunserenKörpern»eingeschlossen« sind, macht uns sterblich. Vor vielen Jahren schrieb eine Freundinvonmir(dievielZeitmitMeditierenundChan tenverbrachthatte)aneineWand:»WenndueinenKörper hast,mußtduetwasfalschgemachthaben.P.S.:Ichbinei neFrau.« Aberweristdieses»Ich«,daseinenKörperhat?Inwelcher HinsichtsindwirvondenKörperngetrennt,diesichbe wegenundschlafenundessenundsichliebenundschrei enundgebären?UnsereSpracheselbstisoliertunsvonder Wirklichkeit des Körpers. Wir sprechen von »meinem« Körper, »meinen« Armen, »meinen« Lungen oder »mei nem«Gesicht.WemgehörendiesekörperlichenObjekte?
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DerKörper istunseregrundlegendeRealität.Ergibtuns alles,vonunsererVerbindungmitderäußerenWeltbiszu unseren künstlerischen und intellektuellen Systemen. So weisenMenschen,diesichmitSymbolikbefassen,oftauf dieArtundWeisehin,wiedieZahlvierinvielenKulturen auftaucht–dieinvierHimmelsrichtungengeteilteLand schaft,vierJahreszeiten,vier»Elemente«(fürgewöhnlich Feuer,Wasser,LuftundErde),vierspirituelleGrundfarben (diegewöhnlichmitdenvierHimmelsrichtungenassozi iert werden) und dergleichen mehr. Und in Anbetracht dieser allgegenwärtigen Vier bemerken sie dazu, daß sie irgendwie grundlegend für den menschlichen Geistoder möglicherweise irgendwo in den Hirnlappen eingebettet sei.AberesgibteineeinfachereErklärungfürdieBedeu tungderZahlvier,eine,diemitunserenKörpernundden physischenEigenschaften–demKörper–derErdeverbun denist.ManunterscheidetvierJahreszeitenodervielmehr vierSonnenpunktedesJahres,dieSonnenwendenunddie Tagundnachtgleichen. Das sind keine Erfindungen, son dernTatsachenunsererExistenz.Wennwiraufrechtdaste hen,zeigenunsereKörperunsdievierHimmelsrichtun gen, denn wir können vor uns sehen, uns umdrehen, so daß wir hinter uns sehen, und unsere Arme nach rechts undlinksausstrecken. Und genaugenommen existieren vier Himmelsrichtungen auchunabhängigvonunsinderNatur.DieErdedrehtsich umihreAchseunddefiniertsodenNordunddenSüdpol. ZurZeitderTagundnachtgleichegehtdieSonnegenauim Osten auf, das heißt in einem Winkel von 90° von der Polarachse,undgehtwiederineinemWinkelvon90°ge nauimWestenunter.WennderVollmondzurZeitderTag undnachtgleicheaufgeht,kannmandievierHimmelsrich tungen unmittelbar im eigenen Körper erfahren. Stellen Sie sich einmal bei Sonnenuntergang mit seitlich ausge strecktenArmenhin.WennIhrerechteHandzurunterge henden Sonne zeigt, ist Ihre linke auf den aufgehenden Mond gerichtet, während Ihr Gesicht genau nach Norden blicktundhinterIhnenderSüdenliegt.
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Wirkönnenunsein»Symbol«alseinBildvorstellen,das unserBewußtseinfürverschiedeneVerständnisweisenöff net.EinSymbolläßtaufIdeenschließen,bringtverschie dene Vorstellungen und Empfindungen zusammen. Es berührt einen Teil von uns, den wir nicht leicht erklären oderinWortefassenkönnen.Symbole,Bilder:sieallebe wirkendieseDinge,weilsieausKörpernhervorgehen– unsereneigenenKörpern,denenvonTierenoderAspek tendesHimmelsoderderErde.Wirwissen,daßeinSym bolunsaufdiesertiefenEbenebeeinflußt,wennesunsere Körperbeeinflußt,wennsichunsdieNackenhaaresträu ben, wir eine Gänsehaut bekommen oder sexuell erregt werden.UnddennochbezeichnenwirSymbolenachwie voralsintellektuelleAbstraktionen. So wie unsere Sprache dazu neigt, den Körper von Geist oder Seele abzuspalten, bezieht sie zugleich fast wie eine vergrabene Schicht eine Gleichsetzung von Natur und Frauenkörpernmitein.WirsprechenvonMutterErdeoder MutterNatur,wirbetrachtenNationen(ganzzuschweigen vonKriegsschiffen)alsfeminin,wirgebensogarHurrika nen weibliche Namen (aufgrund der zahlreichen Be schwerden von Frauen wurde diese Praxis dahingehend geändert,MännernamenmitdenenvonFrauenabzuwech seln, aber niemand hat vorgeschlagen, auf Namen ganz und gar zu verzichten). Die Verbindung zwischen Natur undFrauenkörpernbewegtsichauchindieandereRich tung.DieBrüstevonFrauenwerdenalsHügel,Vaginenals Dschungel, Sümpfe oder sogar Vulkane beschrieben. Für diemeistenvonunssinddasjedochallesnurMetaphern, Redewendungen.DieGöttinkannkeinenKörperhaben.
EineReligionderTatsachen ÜberdenKörperderGöttinnachzudenkenbedeutet,über unseren eigenen Körper nachzudenken. Sich die Geburt von Artemis ins Gedächtnis zurückzurufen bedeutet, uns unsere eigene Geburt ins Gedächtnis zurückzurufen. Be stenfallsistdiegerade(wieder)erwachendeReligionder
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GöttineineReligionundeineBewegungdergrundlegen denTatsachen,vonGeburtundTod,derZyklenvonMond undSonne, MenstruationundSchwangerschaft,Erregung undOrgasmus.GertrudeRachelLevy,dieAutorinvonThe GateofHorn,charakterisiertReligionals»dieAufrechter haltungeinertragendenBeziehung«.DieseBeziehungzer brichtundReligionwirdzumAberglaubenodervielleicht zur Philosophie (oder Psychologie), wenn wir diese ur sprüngliche Bindung an das Göttliche in der physischen Weltverlieren,wennIdeenundSymbolevonKörpernlos gelöstwerden. Der Körper bleibt unsere grundlegende Wahrheit. Damit meineichnichtnurdenmenschlichenKörper.Dieafrikani sche Göttin Oya zeigte sich in Gestalt von Blitzen und Flüssen. Die prähistorischen Göttinnen Europas und des NahenOstensnahmendieFormvonFischen,Bienen,Bäu men,KrötenoderGeiernan.Heuteerscheinenunsdiese Bilder seltsam, sogar kindisch. Wir sind daran gewöhnt, unsGottalseineAbstraktionvorzustellen.AberdieseBil der sind nicht unvernünftig, geschweige denn nichtssa gend.Sieentstammeneinemfundiertenundspezifischen WissenüberTiere,PflanzenunddieProzessedesLebens. Dieses Wissen verband sich mit einem spirituellen Be wußtsein,einemSinndafür,daßdiegöttlicheWirklichkeit injedemAugenblickimLebenderMenschengegenwärtig ist.Wienatürlich,wierealesdochist,dasVerständnisder physischenExistenzunddasintuitiveWissen,daßSpiritu alitätdurchdasganzeLebenfließt,zusammenzubringen. Diese »tragende Beziehung« erstreckte sich auf alle Le bensbereiche, einschließlich dertäglichenExistenz.Heute denkenwirnurseltenandieTätigkeitdesKochensalsan etwasHeiliges.VielleichtbereitenwiranreligiösenFeier tagenbesondereSpeisenzu,abergewöhnlichnuralseine Familientradition. Als James Mellaart und andere jedoch eine10000 JahrealteStadtin derNähe desDorfesÇatal HüyükinderZentraltürkeifreilegten,fandensieStatuen von schwangeren Göttinnen, die auf Brotöfen standen. Dasmagunsseltsamvorkommen,aberdenkenSieeinmal
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nach–handeltessichbeiBrotundallengekochtenSpeisen nichtum einWunder?VerschiedeneZutatenwerdenmit einander vermischt, die Masse wird in eine bestimmte Form gebracht (es wäre wunderbar zu wissen, welche Brotformen die neolithischen Menschen sich dafür aus suchten)undineinenheißen,geschlossenenBehälterge legt,unddannentstehtetwasganzanderes,etwasLeben spendendesundsinnlichBefriedigendes.UnddenkenSie andasWunderderSchwangerschaft,aneinenFötus,der sich in der warmen Dunkelheit des weiblichen Körpers wieBrotbildetundwächst.BrotundBabyssindgleicher maßenwunderbar–göttlich.WirhabendenSinnfürdas Wunder in den alltäglichen Dingen des Lebens verloren, ebenweilwirdazuneigen,Gottalsetwaszusehen,dasab strakt,weitentfernt,irgendwodadraußen–losgelöstvom Körperhaften–ist. Unddennoch,istdieVerbindungzwischenBrotundBa bys wirklich so weit hergeholt? Von einer schwangeren FrausagenwirimEnglischen,siehabe»einBrotimOfen«. KönntedieserAusdruckdenganzenWegbisindieprähi storische Türkei zurück weisen? Oder gibt er einfach zu verstehen,daßdiemodernePhantasiedieselbeAssoziati on von Babys und Brot herstellt, wie sie auch die Men scheninderSteinzeithatten?EsbestehtjedocheinUnter schied: Der moderne Ausdruck enthält ein Glied nicht, nämlich die Spiritualität. Die Statuen auf den Brotöfen stellten nämlich keine gewöhnlichen Frauen dar, sondern schwangereGöttinnen.
Liebe,SexualitätunddergöttlicheKörper SelbstdieLiebeistabstraktgeworden.»Wahre«Liebeist fürunseinereineEssenz,währendwirdiekörperlicheLie befürfragwürdig,einenTrickodereineIllusionodergar etwasSchmutzigeshalten.Wirsagen»GottistLiebe«,aber weilGottkeinenKörperhat,dürfenwirdiegöttlicheLiebe nicht mit körperlichem Verlangen und Befriedigung be schmutzen.SexuelleLiebemachtunsTierengleich,sosa
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gen wir,undnehmendasalseinenGrund,siezuunter drücken.InanderenKulturenundzuanderenZeitenvoll zogen die Menschen keine Trennung zwischen heiliger LiebeundSexualität.InihrerfrühenFormwarAphrodite, dieGöttindersexuellenLeidenschaft,ebenfallsdieGöttin derGeburt,desTodes,deswogendenMeeresundderVö gelamHimmel.SiewareineMutterdesWandelsunddes WerdensundzugleichdesVerlangens,undesbestehenhi storischeZusammenhängezwischenihrundjenenuralten weiblichzentrierten Kulturen Anatoliens in der westli chen Türkei. Über die Jahrhunderte hinweg beschnitten die patriarchalenGriechenihreMachtundverengtenihr BildaufeinekleineKurtisane. Paul Friedrichs Buch The Meaning of Aphrodite entnehmen wir,daßAphroditeHeterosexuellenundlesbischenFrau enLeidenschafteinflößte,währendihrSohnEroshomose xuelleMännererregte.EssagtetwasüberdieHaltungun sererKulturgegenüberFrauenaus,daßderBegrifffürSe xualität»erotisch«undnicht»aphroditisch«lautetunddie NamenAphroditeundVenus–VenusistdierömischeBe zeichnungfürAphrodite– inso negativenodertrivialen sexuellen Begriffen wie »Aphrodisiakum« und »veneri sche« Krankheit beziehungsweise Geschlechtskrankheit weiterleben. Im Zuge der Machtübernahme der christlichen Religion wurdeAphroditevondenKirchenväternverbannt.Fried richzufolgewurdendiemeistengriechischenGötterinder neuenReligionzuHeiligenerklärt–außerAphrodite,die einfachverschwand(auchwennAspekteihrerAnbetung– ohnedensexuellenBezug–aufMaria,JesuMutter,über tragenwurden).DochselbstinerniedrigterFormbedrohte die Wirklichkeit von Aphrodites (weiblichem) Körper das christlicheParadox,dasParadoxeinerallmännlichenGott heit,diegleichzeitigkörperlosist. Im christlichen Mythos werden Engel als körperlos, ge schlechtslos beschrieben. Zugleich sind sie männlich und tragen männliche Namen, die noch heute in Gebrauch sind,wiezumBeispielGabrielundMichael.Unterdem
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ChristentumwurdedasMännlichevonderSexualitätab gespalten.»Vernunft«wurdezurwichtigstenmännlichen Eigenschaft losgelöst, als Kontrolle des Körpers, der im mer der Gefahr der Verunreinigung, vornehmlich durch Frauen,ausgesetztwar.DieneueReligionbetrachteteden KörpermitseinentierhaftenBegierdenalsdenFeindder wahrenVernunft.FürdieKirchestandenFrauendenTie ren näher. Frauen führten Männer in Versuchung und brachtensievonGottab.
GottesKörpermessen NacheinigentausendJahrenmiteinemabstrakten,unper sönlichenGottistesfastunmöglichgeworden,sichGottes KörperalsetwasmehralseineMetaphervorzustellen.In vielen Kulturen jedoch, wie zum Beispiel bei den Dschainas in Indien, existiert eine Tradition, in der das Universum als ein einziger Körper verstanden wird. Und dieser Körper wird in dschainistischen Schriften überaus detailliert erläutert. Diese Vorstellung ist nicht auf Asien beschränkt:InderjüdischesoterischenTraditionderKab balafindenwirdasBildvonAdamKadmon,demKosmos alsgigantischemUrweseninmännlicherGestalt.Manch malbeschriebendieKabbalistenAdamKadmonalseinen Hermaphroditenmitsowohlweiblichenalsauchmännli chenEigenschaften(siehedasfünfteKapitelzuweiteren Informationen über den androgynen Adam und andere mystischeHermaphroditen). AdamKadmonistGottesSchöpfungundnichtGottselbst. AberdieKabbalagehtnochweiter,indemsieaufeineIdee eingeht, die im Hebräischen als Shiur Komah bezeichnet wird,was»MessungdesKörpers«bedeutet.Soversuchten Mystiker,GotteskörperlicheGrößezuermitteln.FürGers homScholem,dengroßenGelehrtenderKabbala,wardie seIdee»absurd«und»lächerlich«,obwohlerebenfallser läutert, daß sie vom Hohenlied Salomos und seiner Be schreibung des Körpers der Geliebten inspiriert wurde. TrotzseinerErforschunguralterGeheimnissewarScho
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lemstetseinModernist,ErbederwestlichenTraditionmit ihrerVorstellungvonGottalsreinerGedankenformohne physischenKörper. WahrscheinlichwußteScholem,daßdieIdeevonShiurKo mahnichtnurbeidenJudenexistierte.Abgesehenvonden DschainasmitihrensehrgenauenMaßenvonGottesLip pen,Zehenspitzen,Ellbogenunddergleichenmehr,finden wirinvielenKulturendieüberlieferteGeschichtevonder physischenWelt,diesichauseinemeinzigenKörper,für gewöhnlichausdemKörpereinerGöttin,entwickelthat. InvielenVersionendiesesMythoswirdsiezerstückelt,in unzählige Teile zerlegt, oft durch männliche Gewalt. Es sindMythenvonmännlichdominiertenKulturen,dievie lekomplexeFragenaufwerfen(miteinigenvonihnenwer denwirunsinspäterenKapitelnbefassen).Trotzdemfin denwirüberdiesesZerreißenoderZerstückelnderGöttin hinauseintiefesintuitivesWissen–daßnämlichderKos mosundallesinihm,jederSteinundjederWassertropfen, lebendigwiewirundweiblichist,denMütterngleich,die unsdasLebenschenkten. Genaugenommen folgten die mittelalterlichen Kabbalisten ihrerIntuitionvonweiblicherGöttlichkeit.Siebeschrieben einenandrogynenGott,»sowohlmännlichalsauchweib lich«, wie es im 1. Buch Mose heißt, der einen Teil von »sich«abspaltete,damitetwasexistierenkonnte,umGot tesHerrlichkeitzubetrachtenundwiderzuspiegeln.Die sesEtwasstelltmansichgewöhnlichalsweiblichvor.Eini gesetztenesmitSchechinagleich,einembiblischenBegriff, der ursprünglichGottes»innewohnendePräsenz«bedeu tete,womitGottesphysischeManifestationimAllerheilig stengemeintist.ImMittelalterundspäterwurdeSchechina zueinerweiblichenPräsenz,diedieGläubigenmitihren Schwingen beschirmte. Gottes weibliche Hälfte trug außerdem den Namen Chochma oder Weisheit. Die Grie chennanntendieseGöttinSophia,dasgriechischeWortfür Weisheit.
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KörperformeninderLandschaftundinTempeln DiesesBuchbegannmitderIdeeeinerReihevonReisen. ImLaufederJahreunddurchdenEinflußvonFreunden undBüchernundmeineArbeitmitderBilderspracheund derSymbolikdesTarotbegannichmichfürdieReligion derGöttinzuinteressierenundwolltemichinmeinerAr beitmitdiesemThemaauseinandersetzen.Ichwußte,daß vieleMenschendiePraxisderPilgerfahrtwiederbelebten, indemsieKraftorteundalteTempelinvielenLändernauf suchten. Ungefähr zehn Jahre zuvor hatte ich mehrere HöhleninFrankreichbesichtigt,dieetwa20000Jahrealte Ritzzeichnungen und Malereien bergen. Diese Erfahrung hattemichtiefbewegt,undichwußte,daßichzurückkeh renunddieseWerkeineinemKontextvonheiligemWis sensehenwollte,wobeiesmirvornehmlichumdieVor stellungvonderHöhlealsGöttinnenschoßging. Alsichanfing,Recherchenanzustellen,stießichaufeine verblüffende Tatsache. An verschiedenen Orten, beson dersaufderInselMalta,ähneltendiederGöttingeweihten Tempel der vereinfachten Darstellung eines Frauenkör pers–dasheißt,siehattenRundkammernentsprechend denBrüstenoderHüftenundeinekleinerehintereKam meralsKopf.DieAnbeter,diesiebetraten,hattendasGe fühl,ineinengöttlichenKörpereinzutreten.ModerneBe sucher Maltas sprachen von einem überwältigenden Ge fühldesSchutzes,sogarderLiebe,dassieempfundenhat ten. Aber die Form des Göttinnenkörpers wurde nicht nur in denvonMenschenhandgeschaffenenBauwerkenwahrge nommen.DasLandselbstkonnteeinesolcheFormanneh men,wennmanesaufdierichtigeWeisebetrachtete.Inei nemArtikelderArchitektinMimiLobell(derselbeArtikel, indemichüberMaltalas)stießichaufeineIdee,diezuerst vonVincentScully,ProfessorfürArchitekturinYale,ver tretenwurde.Scullyhattefestgestellt,daßdiesogenannten »Paläste«desaltenKreta(derBegriff»Paläste«leitetesich vongriechischenVermutungenübereineMonarchieab,
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GrundrißdesTempelsGgantija,Insel Gozo/Malta,ca.4000 v. Chr.
die sich niemals bestätigt hatten) in besonderen Land schaftsformationenangelegtwaren.DieKretererrichteten alle großen Bauwerke auf einer(annähernden) NordSüd AchsemitBlickaufeinenkegelförmigenHügel,indessen UmgebungeingehörnterBerglag,indemsichwiederum eineHöhlebefand,welchealsSakralstättediente.UmLo bellzuzitieren: DierichtigePlazierungdesPalasteshobdieBedeutungderLandschaft alsdenGöttinnenkörperhervor.DasTalentsprachihrenumfassenden Armen,derkegelförmigeHügelkamihrerBrustbeziehungsweiseder nährendenPunktiongleich;dergehörnteBergwarihr»Schoß«oderih regespalteneVulva,dieaktiveKraftderErde,unddasHöhlenheilig tumihrgebärenderSchoß.
(Lobell,»TemplesoftheGreatGoddess«,Heresies,Nr.5) Diese Idee fesselte mich. Wie so viele andere Menschen auch hatte ich früher angenommen, daß die Vorstellung vonderGroßenGöttineinemoderneErfindung,einfemi nistischerMythossei.Obgleichichmichaufgrundmeiner
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frühen Recherchen, die mir die solide Forschung hinter demGöttinnenbildvorAugengeführthatten,einesBesse renbesann,warenesdieIdeenvonLobellundScully,die derGöttinphysischeRealitätverliehen.Indenherkömmli chenreligiösenIdeenmeinereigenenGesellschafthatteich niemalseinesolcheRealitäterfahren. Ichbegann,überdieGöttin,ihrenKörper,ihrePräsenzin derWelt,dieVerbindungzumeinemeigenenKörperund zudenKörpernvonFrauen(undMännern)imallgemei nen zu lesen und nachzudenken. Der kretische Brauch, HöhlenalsHeiligtümerzubenutzen,ließaufeineVerbin dungzudenfranzösischenundspanischenHöhlenmitih rerprähistorischenKunstschließen.WenndieErdeunsere Mutterist,dannwirdeineHöhlezueinemBildvonihrem SchoßundzueinemOrt,andemmanihrentatsächlichen Körperbetretenkann.ZogenesdieCroMagnonKünstler ausdiesemGrundvor,ihreMalereienundRitzzeichnun geninHöhlenzuverewigen?AufdieseFragewerdenwir nieeineAntwortfinden.Siehinterließenunskeineande renAufzeichnungenalsdieKunstselbst.Dochjemehrich überdieHöhlenlas,destonatürlicherfandicheswieso vieleandereauch,siemitmeinemKörperinnerenzuver gleichen. Und als ich mit einer Freundin die Höhle von PêchMèrlemitihrenriesigenTunnelnundKammernund feuchtrotenWändenbesuchte,fühltenwiruns(unabhän gig voneinander) wie Mikroben in einem gigantischen Körper. InvielenGebirgsgegendenhabengewisseGipfelÄhnlich keit mit einem Gesicht im Profil oder einer auf dem Rücken liegenden Frau, und die volkstümliche Überliefe rung macht diesen Zusammenhang oft deutlich. Dieser GebraucheinesstarrenBildeskannzustarkvereinfachend sein.EsgibtauchnochandereMöglichkeiten,diephysi sche Präsenz der Göttin in der Landschaft zu sehen. Die EingeborenenNordamerikashabendieErdeimmeralsdie MutterihresganzenVolkesbetrachtet–wobei»Volk«die Pflanzen und Tiere sowie die Menschen einschließt. In meinerJugendlernteichimGeschichtsunterricht,daßin
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dianischeMännersichweigerten,Bauernzuwerden,weil Landwirtschaft»Frauenarbeit«sei.InWirklichkeitsträub tensicheinigeIndianerstämmedagegen,wieichvielspä ter erfuhr, weil damit das Durchschneiden der Erde mit demPflugverbundenwar,eineTätigkeit,dieihrerAnsicht nachnichtsandereswar,alsdieBrüsteihrerMüttermitei nemMesserabzuschneiden.
MondundweiblicherKörper MirwarnichtnurdieVorstellungvonderLandschaftals dem Göttinnenkörper bekannt, sondern ich wußte auch von Traditionen, in denen bestimmte Aspekte der Natur aufgrundihrerÄhnlichkeitmitdenkörperlichenMerkma len der Frau als überaus weiblich galten. Viele Kulturen habendenMondalseineGöttinidentifiziert,dieunmittel barmitdemweiblichenKörperverbundenist(ineinigen Büchern wird diese Verbindung als eine universale Idee bezeichnet; jedoch kommen universale Ideen nur selten vor.DiealtenJapanerundGermanenzähltenzudenweni genKulturen,diedenMondalsmännlichunddieSonne alsweiblichbetrachteten). AmaugenfälligstenistdieTatsache,daßderMenstruati onszyklusdermeistenFrauenannähernddiegleicheLän geaufweistwiederZyklusdesMondesmitseinenStatio nen zunehmender Mond, Vollmond, abnehmender Mond und Neumond. Untersuchungen in Studentenwohnhei menundisoliertenDörfernlassenerkennen,daßengzu sammenlebendeGruppenvonFrauendazuneigen,gleich zeitig zu menstruieren, und zwar oft zur Zeit des Voll oder Neumondes. Einige Forscher glauben, daß diese FähigkeitvonFrauen,ihreZyklenmiteinanderzuverbin den,denProzeßdermenschlichenGemeinschaftundKul turinGanggesetzthabenkönnte(Näheresdazuimfünf tenKapitel). Es besteht außerdem ein noch subtilerer Zusammenhang. DerMondbewegtsichdurchdreiverschiedenePhasen.Er entstehtausderDunkelheitalseinSplitter,dersichstetig
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biszurPrachtdesVollmondesvergrößert.NachdreiTagen nimmterimmermehrab,biserschließlichstirbt.DreiTa gelangisternichtzusehen,umdannwiederaufsneuezu entstehen.FrauenundMännertretenausderDunkelheit desSchoßesihrerMütterindieWelt.DochbeiFrauenvoll ziehtsichderÜbergangvonderKindheitzurFruchtbar keitderErwachsenendurcheineinschneidendesEreignis –dieMenarche,dieersteMenstruation.Siebleibenfrucht bar,fähigzudemWunder,inihrenKörpernKinderentste henzulassen,biseszueineranderentiefgreifendenVerän derungkommt(auchwenndieseganzallmählichvonstat tengeht)–dieMenopause. Diese Phasen, Jungfrau, Mutter, altes Weib, stellen einen natürlichenVergleichzumzunehmenden,vollenundab nehmenden Mond dar. Die verschiedenen dreifaltigen Göttinnen in den diversen Mythologien (besonders den westeuropäischen Mythologien) haben dieser Gleichset zungzueinermachtvollenPräsenzindermodernenGöt tinnenreligionverholfen.ModerneHexenbetendenMond nichtalseinenHimmelskörperan,sondernalseineMani festationderweiblichenWahrheitundMacht.Siesindsich zwarwiealleanderenauchbewußt,daßderMondeindie Erde umkreisender Felsbrocken ist, aber sie untersuchen eingehenderdieBedeutungdesMondesinunseremLe ben.WiedieAltenstellensiedenMondalseinSymbolfür dieweiblicheFruchtbarkeitdar. Dochister»nur«einSymbol?Oderwirktsicheinephysi sche Eigenschaft des Mondes direkt auf den weiblichen Körperaus?AngesichtsderTatsache,daßdieAnziehungs kraftdesMondesdieGezeitensteuert,wirdmanchmaldie Fragelaut,warumsienichtauchEinflußaufdenmonatli chenMenstruationsverlaufnehmensollte.DerEinflußder GezeitenaufdieMeererührtvonderenormenGrößeder Erdeher.Dasheißt,dieErdeistsogroß,daßdieSchwer kraftdesMondesdieihmnächstliegendeSeiteandersbe einflußt als die entfernteste Seite. Dieser Unterschied in derSchwerkraftistfürdieEntstehungderGezeitenver antwortlich.Frauenkörpersindwedergroßnochschwer
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genug,umeinen solchenenormenUnterschiedzubewir ken.AberderMondbeeinflußtdieFruchtbarkeitaufeine direktereWeise.Dabeihandeltessichumdiebesondere Eigenschaft des Mondlichtes. Frauen, die Probleme mit ihrem Menstruationszyklus haben, zum Beispiel unregel mäßigePerioden,werdenoftHormoneverordnet.Seitei nigenJahrenjedochtestenverschiedeneÄrzte(undFrau en allein) eine andere Methode. Die Frauen schlafen bei MondlichtoderuntereinemKunstlicht,dasdemLichtdes Mondesentspricht.InvielenFällenpendelnsichihreZy kleninnerhalbwenigerWochenein. WennwirunsdiedreifacheGöttinvorstellen,neigenwir dazu,andasalteGriechenlandoderdaskeltischeIrland zu denken. Marija Gimbutas hat jedoch darauf hingewie sen,daßdiesesBildzumindestfürdasZeitalterdesMag dalénien in Frankreich, also vor ungefähr 12000 Jahren, belegt ist, denn die Höhle Abri Du Roc Aux Sorciers in AnglessurAnglin, Frankreich, enthält ein Relief, das Gimbutasals»dreiklassischeweiblicheGestaltenmitent blößtenVulven«beschreibt.Von3200v.Chr.anbegegnet unseinabstrakteresdreifachesBild,einegroßartiggravier te Dreifachspirale auf der Steinschwelle am Eingang zu demriesigenGanggrabinNewgrangeimirischenBoyne Tal. Wir können nicht mit Sicherheit behaupten, daß diese prähistorischenFormeneineMondgöttinoderdiePhasen imLebeneinerFraudarstellen.Abersiebeweisendieer staunlicheLanglebigkeitvondreifachenBildern;undSpi ralen fandmanbeivielenGöttinnenstatuenundTempeln, möglicherweisealsSymbolefürGeburt,TodundWieder geburt.DieSpiraleistnichtnureinphilosophischesGebil de. Auch wenn sie in der Kunst oft abstrakt dargestellt wird, ist sie eigentlich eine Grundform der Natur und kommtvielhäufigervoralsderKreis,deraußeralsBild vonderSonneoderdemMondkauminErscheinungtritt. Schlangenrollensichspiralförmigzusammen,Wasserbe wegtsichabwärtsineinerSpirale,Vögelfliegenspiralför mighimmelwärts,umsichdieWindströmungenzunutze
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DerEingangssteindesGrabes von Newgrange/Irland, ca. 3300 – 3200 v.Chr.DieDreifachspiraleistaufderlinkenSeitedesSteinszusehen.
zu machen, die Galaxien haben die Form von Spiralen, unddieHörnervonWiddernundanderenTierenverlau fenoftspiralförmig. AberwasistmitderviertenMondphase,derDunkelheit? Die naheliegende Antwort ist die, daß, sobald eine Frau stirbt und in die Erdezurückgeht,auchderMondstirbt, wennerinderDunkelheitverschwindet.AberderMond wirdnachdreiTagenwiedergeboren(diegleichezeitliche Länge wie beim Vollmond), woraus sich eindrucksvoll schließenläßt,daßderTodnichtendgültigist,daßdieGöt tin Wiedergeburt verheißt. Joseph Campbell hat darauf hingewiesen,daßvieleBildervondreifachenGöttinnenei nevierteFigurenthalten,beideressichoft,abernichtim mer,umeinenGottodersterblichenMannhandelt.Jesus bleibt drei Tage unter der Erde, bis er am Ostersonntag aufersteht.DerName»Ostern«leitetsichvonEostreoder Ostaraab,einergermanischenFrühlingsgöttin,derenNa me wiederum mit estrus (weibliche Fruchtbarkeit) ver wandtist.DieErdebringtPflanzenaufdiegleicheWeise hervor,wieFrauenBabyshervorbringen,nämlichausver
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borgener Dunkelheit heraus. Auch hier finden wir eine Verheißung auf Wiedergeburt, denn selbst die Pflanzen, dieimWinter»sterben«,kehrenimFrühlingzurück.
Wasser,derweiblicheKörperunddieGöttin So wie die Dauer des Mondzyklus den Mond mit dem Frauenkörper in Verbindung bringt, weist der weibliche Körper starke Ähnlichkeiten mit Wasserflächen auf. Ein Kind,dasimLeibseinerMutterwächst,schwimmtinei ner Blase mit Fruchtwasser, und wenn die Frau gebiert, »brechensichdieWasser«.DieGeburtselbstbringtBlu tungenmitsich,sodaßwiresmitzweirotenStrömenzu tunhaben,demderMenstruationunddemderGeburt. DasMeerhebtundsenktsich,deninnerenRhythmenei nerFraugleich.SelbstderMond,dersichzeigt,umdieRe gelblutung zu steuern, ruft den Rhythmus der Gezeiten hervor.DasMeeristsalzig,wiedieTränenunddasBlut vonFrauenundMännern.Undsoweitwirheutewissen, kam allesLebenursprünglichausdemMeer,sodaßdas MeerunsereGroßeMutterist. Bevor ich mit dem vorliegenden Buch anfing, hatte ich überdieses Themabereitsgeschrieben,soetwaineinem Kommentar zu dem von dem deutschen Künstler Her mannHaindlgestaltetenTarot.Dabeiversuchteichaufzu zeigen, daß diese Dinge eine grundlegende Wirklichkeit darstellen.Damalsschriebich: VielemoderneMenschenkönnenalldieseWechselbeziehungenakzep tieren. Sie können sogar glauben, daß die Schwerkraft des Mondes »wissenschaftlich beweisbar« das Fruchtbarkeitspotential einer Frau beeinflußt.AberdieAltensahendasanders.FürsiewarenderMond, dasMeerunddieFraueneinunddasselbe,einMysteriumdesLebens, dassiemittelsMondritualenundStatuenvonschwangerenGöttinnen anbeteten.
AlsichmeineRecherchenfortsetzteundzureisenanfing, stießichnachundnachaufweitereZusammenhängezwi schenweiblichemKörperundWasser.EinerdererstenOr
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te,dieichbesuchte,wardieenglischeStadtBathmitihrem elegantenBad,dasvondenRömernundvielspätervon denMenschendesViktorianischenZeitaltersbenutztwur de. Obwohl Bögen und Säulen den größten Teil der ur sprünglichenFormdieserStätteverbergen,kannderBesu cherdochnochimmerdasdampfendeWassersehen,das einemgroßenLochimgewachsenenFelsenentströmt.Die Autorin Marian Green, die mich dort herumführte, wies daraufhin,daßdasWasseraufgrundvonEisenablagerun gen im Gestein rotgefärbt sei und die Kombination von WärmeundRoteineintensiveVorstellungvonGeburts wassererzeuge,dasausdemSchoßderErdequillt. SpäterbesuchteichGlastonbury,wodasQuellwasserauch eineroteFärbungaufweist.Undichlas,daßvieleKathe dralen über uralten heidnischen Stätten erbaut wurden, die wiederum über unterirdischen Wasserläufen errichtet wordenwaren.BeimeinenRecherchenüberSilburyHill, einengigantischenHügelinEngland,dervorTausenden von Jahren von Menschenhandaufgeworfenwurde,fand ichheraus,daßdieSteinzeitmenschenihnamZusammen fluß von zwei derartigen verborgenen Wasserläufen er richtethatten.
DerKörperamHimmel Für viele Menschen, die den göttlichen Körper in der Mythologiesuchen,istdieGleichung:Erde=Göttin,Him mel=GottzueinemGemeinplatzgeworden.Indereuro päischen Kultur rührt diese Idee überwiegend von der griechischen und römischen Mythologie her, wo der HimmelsgottUranosdieErdgöttinGaiaschwängert.Eini ge indianische Kulturen sprechen von Großvater Him mel und Großmutter Erde. Offensichtlich erkennt diese Dualitätdie»TatsachendesLebens«an,eininteressanter, wenn auch altmodischer Ausdruck. Aber sind diese »Tatsachen«überdiemännlicheundweiblicheBeteiligung an der Fortpflanzung die endgültige Wahrheit über die Schöpfung?
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ImgriechischenMythosistnichtdieRededavon,daßUra nosgleichzeitigmitGaiaentstand.GanzimGegenteil,die ExistenzfängteinfachmitGaiaan,diedaraufhinUranos ausihremKörperhervorbringt,umeinenPartnerundGe mahlzuhaben. Der Körper der Göttin wird zum Ursprung aller Dinge, einschließlich des Himmelsgottes, dessen Sturz genauge nommen mit seiner arroganten Anmaßung, er sei seiner Schöpferin überlegen, seinen Anfang nimmt (einigen Ver sionendesgriechischenMythoszufolgeistUranosSturz mitderAbtrennungseinerGenitalienverbunden,ausde nenAphroditeentsteht–weitereEinzelheitenüberdiese erstaunlicheGeschichteundihreFolgenimsiebtenKapi tel).VieleKulturenhabendieMilchstraßebuchstäblichals Milchgesehen,dieausdenBrüstenderGöttinfließt.Elisa betSahtouriserzähltinihremBuchGaia:Vergangenheitund Zukunft der Erde von einemgriechischenSchöpfungsmy thos,indemGaiatanztunddieMilchstraßesichspiralför migausihremKörperherausbewegt.DieseVorstellungist bemerkenswert,wennmanbedenkt,daßdieMilchstraße unsere Galaxis ist und moderne Teleskope bewiesen ha ben,daßGalaxienihrenUrsprungineinerspiralförmigen Bewegunghaben–eineTatsache,dieausderBeobachtung derMilchstraßealleinnichtersichtlichist.
DasAuftretendesMannes Biologische und evolutionstheoretische Erkenntnisse be stärkendasPrimat desWeiblichen.Biologenbezeichnen diefrühestenOrganismenalsweiblich,diesichdurchdie Abspaltung der »Tochter« von der »Mutter« fortgepflanzt haben. In Anbetracht des langen Verlaufs der Evolution tratderMannrechtspätaufundkannalseineMutation desWeiblichenbetrachtetwerden. VoreinigenJahrzehntenfandenBiologenheraus,daßalle menschlichenFötenzunächstweiblichsindundindener stenzweiMonateneinemEntwicklungsmusterfolgen,aus demeinMädchenentstehenwürde.InderfünftenWoche
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entwickelt sich eine undifferenzierte Keimdrüse, aus der schließlich entweder weibliche oder männliche Ge schlechtsorganehervorgehen.EinFötusmitXXChromo somen wird dann bis zur sechzehnten Woche Eierstöcke bilden. Enthält der Fötus jedoch XYChromosomen, so wird das YChromosom die Keimdrüsen dazu bringen, Hormone auszuscheiden, die die »Differenzierung« för dern,dasheißt,siedeterminierendieKeimdrüseninRich tungHodenentwicklung.EinArtikelinderNewYorkTimes vom4.August1992beschreibt,wiederProzeßmitdemals »testisdeterminierender Faktor« bekannten Protein in Ganggesetztwird,dasdieDNSsokrümmt,daßverschie deneGenemiteinanderinVerbindungtreten. MonicaSjööundBarbaraMorschreibeninihremBuchThe GreatCosmicMother,daßderfrüheFötussowohlweibliche als auch männliche Entwicklungsmöglichkeiten in sich trägt. Sobald sich ein Sexualorgan ausbildet, verkümmert der andere Teil. Äußerlich jedoch sind die Organe bei Mann und Frau ursprünglich identisch. Man könnte sa gen,daßunterdemEinflußderAndrogene–dermännli chen Geschlechtshormone – die Klitoris zum Penis wird und die äußeren Schamlippen sichzum Hodensack ent wickeln. Man kann diese Wirklichkeit der Fötalentwicklung, diese »TatsachendesLebens«,aufzweierleiArtbetrachten.Ein weiblicherchauvinistischerAnsatzkönntedarinbestehen, MänneralseineArtnachträglichenEinfallimLebensplan zuverstehen.FallsMännerAblegereinerfundamentalen Wirklichkeit sind, sind sie zweifellos unterlegen. In der modernenGöttinnenreligionistjedochdieAchtungvoral len Wesen und eine Ablehnung dessen enthalten, was RianeEisleralsdas»Beherrscher«Modellbezeichnet–zu gunsten eines »Partnerschafts«Modells. Folglich können wir die Wahl treffen, um zu einer subtileren Auffassung vonderEvolutionzugelangen,einerAuffassung,vonder ich glaube, daß sie von der Göttinnenreligion unserer frühesten Vorfahren gestützt wurde. Es ist die Idee, daß MännerundFrauenkeinefremdenSpezies,keineewigen
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Feindesind,sondernTeileinunddesselbenheiligenSeins. DieGöttinnendarstellungenindersteinzeitlichenReligion zeugenvoneinemtiefenVerständnisdafür,daßderKör perderGöttinsowohldasMännlichealsauchdasWeibli cheumfaßt.Dieetwa30000Jahrealtensogenannten»Ve nus «Figurinen sind wohlbekannt für ihre übertrieben dargestelltenweiblichenFormen:riesigeBrüsteundHüf ten, übergroße Vulven, manchmal abstrahiert zu Drei ecken über der Schamgegend, ein stark betontes Gesäß. Weniger bekannt sind die Frauen mit langen phallischen HälsenoderdieHöhlenmalereien,dielediglicheinensehr langenHals,herabhängendeBrüsteundeinüppigesGe säßzeigen,alshättemandiemenschlicheFormaufdiewe sentlichenweiblichen–undmännlichen–Merkmaleredu ziert.Aufeinemauf15000–13000v.Chr.datiertengravier tenRentiergeweihinFrankreichhandeltessichlediglich umdieAbbildungeiner VulvauntereinemlangenHals, dermitdiagonalen,unterschiedlichlangenLinienverse henist.AlexanderMarshackhataufdieMöglichkeitauf merksamgemacht,daßdieseStriche(undanderevonähn lichen Knochengravuren) zur Berechnung des Verlaufs von Mondphasen und / oder Menstruationszyklen ge dienthabenkönnten(siehedazuauchdasdritteKapitel). BeieinervielspäterenRitzzeichnungvon5600–5300v. Chr.inUngarntrittdasHermaphroditischedeutlicherzu tage:DerzylindrischeKörpermitkleinen,spitzzulaufen denBrüstenundflachemGesichthateineeindeutigphalli scheQualität,währenddasausladendeGesäßimunteren Teil(essindkleineFüßezusehen,aberkeineBeine)offen kundigÄhnlichkeitenmitHodenaufweist.DasErgebnis ist eine elegante Verschmelzung von männlichen und weiblichenBildern. DieFigurinenstammeninersterLinieausdemPaläolithi kum,derAltsteinzeit,demZeitalterderHöhlen.ImNeo lithikum beziehungsweise derJungsteinzeitbegegnenwir den Anfängen von Tempeln, Steinkreisen und monumen talen Erdwerken. Auch hier finden wir subtile Verknüp fungenvonmännlichenBildernmitüberwiegendweibli
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DarstellungderVorderund Rückseite einer phallusförmigen weiblichen Figurine,Starçevo/Ungarn,ca.5600–5300v.Chr.(nachGimbutas)
chenFormen.DerKünstlerMichaelDameshatüberzeu genddieMöglichkeitgeäußert,daßSilburyHilleinegi gantischeGöttinnenskulpturdarstellt(vonobenbetrachtet weist der Hügel mit dem ihn umgebenden, unregelmäßig geformtenGrabeneineverblüffendeÄhnlichkeitmiteiner in Bulgarien gefundenen Figurine von einer schwangeren Göttin auf). Doch zugleich stieß man bei Ausgrabungen am Hügel auf Hirschgeweihe sowie auf Beweise, daß die Arbeiter rote Hirschgeweihe als Hacken benutzten. Der HirschzähltzudenwichtigstenmännlichenGeschöpfen, eristerfülltmitKraftundDynamik. Wir sind bereits darauf eingegangen, daß die prähistori schenTempelaufMaltademUmrißeinesweiblichenKör persentsprechen.DieserUmrißistziemlichabstrakt,denn ersetztsichausovalenFormenzusammen,diedurchenge
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Passagenmiteinanderverbundensind.Statuen,dieinden Tempelngefundenwurden,stelleneinerealistischereIn terpretationdesGöttinnenkörpersdar.Undtrotzdemwir kendieStatuen,vondeneneinigesehrgroßsind,mitihren rundlichenweiblichenHüftenundGesichtern,abervöllig flacher Brust oft androgyn. Lange Gewänder mit Volants verschleiernjedenHinweisaufdasGeschlecht.Diesemal tesischenFigurenstellenmöglicherweiseeineVerschmel zungvonmännlichenundweiblichenBilderndar,aberes könnte sich auch um eine buchstäblichere Vermischung derGeschlechterhandeln:VielealteKulturenwähltenihre PriesterinnenausdenReihenkastrierterMänneraus,die Frauenkleider und rollen annahmen. Diese »transsexuel len« Priesterinnen (um einen zeitgenössischen Begriff zu verwenden) veranschaulichen möglicherweise die Ver schmelzung von männlichen und weiblichen Formen im göttlichenKörper(siehedazuauchdassiebteKapitel). InÇatalHüyükfindenwirgeschnitzteBrüsteandenWän den, aus deren Brustwarzen manchmal Eberköpfe und Hauerhervortreten.StierköpfezierenoftdieWände,be sondersindenGeburtsräumen.Wirhabeneshiermitder bemerkenswertestenVerbindungzwischeneinemmacht vollenmännlichenTierunddemGöttinnenkörperzutun. Vermutlich symbolisierte der Stier die männliche Zeu gungskraft,daeineinzigerStierineinerHerdesämtliche Kühebefruchtet.Esistsehrwohlmöglich,daßdieseIdee hinter den auffälligen Stierköpfen in Çatal Hüyük stand. Die Verbindung wird jedoch enger, bezieht sich direkter auf den Körper, wenn wir anatomische Darstellungen des weiblichen Körpers betrachten. Denn hier entdecken wir eineverblüffendeÄhnlichkeitvonGebärmutterundEilei termitdemKopfeinesStiers. EinigeFeministinnenhabendasArgumentgebracht,daß dasbedeutet,derStierhabeursprünglichüberhauptnicht diemännlicheKraftsymbolisiert,sondernnurdieGöttin. Dennoch ist es unmöglich, einen Stier auf einem Feld zu betrachtenundnichtvonseinermaskulinenKraftbeein drucktzusein.DerStierwirdsozueinemBeispielfürdie
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DarstellungeinesStierkopfesauseinemGrabinS.Lesei,Bonnanaro/Sar dinien,ca.4000v.Chr.(links,nachGimbutas),verglichenmitderForm dermenschlichenGebärmutterundderEileiter(rechts,nachCameron)
VereinigungvonmännlicherundweiblicherErfahrungin nerhalbderphysischenWirklichkeit. Dasalles–diebiologischenTatsachenunddieheiligenBil der–läßtaufeinenWegschließen,derausderDualitätdes Geschlechterdenkens herausführt, weg von demStreit,ob dieGeschlechtergleichsindodereinesdemanderenüber legen ist. Beide Standpunkte akzeptieren die Annahme, daß das Weibliche und das Männliche grundlegend ver schiedensind,obwohlimMutterleiballeFötenzunächst gleichsind.AnstattvoneinemgrundlegendenGetrennt sein und Konflikt zwischen Mann und Frau auszugehen (die zusammenwirken können, aber getrennt bleiben), könnenwirsiealsimgöttlichenKörpervereinigtbetrach ten.Nichtmetaphorischvereinigtodereinfachnurineiner Partnerschaft,sondernaufdenfundamentalenphysischen Ebenen.
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WasistdieGöttin?WasistderKörper? AlsichmitdiesemBuchbegann,suchteichdenKörperder GöttinimwörtlichstenSinne,indemichnachBergenAus schau hielt, die Brüsten oder dem Umriß einer auf dem Rücken liegenden Frau glichen. Durch meine Nachfor schungenerschlossensichmeinemGeistsehrbaldsubtile reVorstellungen.LandschaftsformationenderGöttinkön nenandereMerkmaleandenTaglegen,wiezumBeispiel kegelförmige Berge oder die kretische Ausrichtung nach Norden und Süden. Tempel und Steinkreise können den KörpereinerFraudarstellen,abersiekönnenebenfallsals LandschaftsmarkierungenoderastronomischeObservato rien dienen, um die Sonnenwenden, Tagundnachtgleichen oder andere besondere Momente im Jahreslauf aufzu zeichnen. Was verstehen wir eigentlich unter »Göttin«? Und über haupt,wasverstehenwirunter»Körper«?DurchdieAr beitandiesemBuch,durchdieRecherchen,durchdieRei sensowohlalleinalsauchmitFreundenunddurchÜber legungendarüber,wasdieseDingefürmichundandere bedeuten,binichallmählichzueinemumfassenderenVer ständnisdieserbeidenBegriffegekommen.Fürmichbe deutet»dieGöttin«diehistorischenweiblichenGottheiten ausverschiedenenKulturen.Abersiebedeutetgleichfalls dasgöttlicheSeinoderdiespirituelleKraft,wiesieinuns undimUniversumumunsherumentsteht. Manche würden diese grundlegende spirituelle Wirklich keit»Gott«nennen.Fürandereisteseinunpersönliches, überweltlichesGeschlecht.IchverwendedenBegriff»Göt tin« aus zwei Gründen: Erstens verbindet er unsere Er kenntnisdesGöttlichenmitjenerlangenTradition,dieauf unsere frühesten Vorfahren mit ihren eleganten Darstel lungen von Frauen zurückgeht. Zweitens wird, indem mandemGöttlicheneinenweiblichenNamen–Göttin– gibt,dieKraft,LebenzuspendenundunsmitderMilch derspirituellenSchönheitzunähren,hervorgehoben.Hal lieIglehartAustenschreibtinihremBuchTheHeartofthe
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Goddess: »Letzten Endes glaube ich, daß die Göttin das ganzeSpektrumderExistenzinsicheinschließt,nichtnur das›Weibliche‹.«Sieschreibtweiter:»DieGöttinstellteine Einheit und Ganzheit dar ... Jeder einzelne von uns, die ganzeExistenz,istdasGöttliche.« InderSteinzeitwardieGöttindieGebärende,aberauch dieTodbringerin,siewardieGöttinderNatur,aberauch der Kunst, des Pflanzens und Wachsens, und auch der Träume.DieGöttinistgrundlegendeWirklichkeit. HierwirddieSprachezueinemSpiegel.Indenvergange nen Jahren haben viele feministische Linguistinnen und GesellschaftskritikerinnenaufdenstarkenEinflußhinge wiesen,dendieSprachedaraufhat,wiewirselbstunsere Gedanken formulieren. Die meisten europäischen und asiatischen Sprachen entstammen patriarchalen Struktu ren, in denen Männer und männliche Erfahrungen die GrundlagenderRealitätformen.DasWort»Göttin«leitet sich eindeutig von »Gott« ab, so wie sich im Englischen »female« (weiblich) und »woman« (Frau) von »male« (männlich)und»man«(Mann)ableiten.Aufgrunddieser abgeleitetenQualitätfälltesschwer,denBegriff»Göttin« nichtalseingeschränktundausschließlichvonmännlicher Erfahrung bestimmt zu verstehen. Und zugleich werden wir,wennwirdasWort»Gott«verwenden,indiekulturel leVerachtungweiblicherErfahrungverwickelt. WennwirvonderGöttinundderWeiblichkeitalsgrundle gendenWahrheitensprechen,magesdenAnscheinhaben, als würden wir die Dinge einfach auf den Kopf stellen. Aber das Neue an der modernen Göttinnenreligion gibt unsdieMöglichkeit,DingevoneineranderenSeitezube trachten–einzuschließenstattauszuschließen,spirituelle Erfahrungenzuergründenundnichteinfacheinzuschrän ken. UndderKörper?Nachundnachbinichdahingekommen, denKörperalsalldaszusehen,wasinderWeltentsteht. Wenn man auf den Hügeln von Delphi in Griechenland sitzt,zwischendenvonRissendurchzogenenKalksteinfel sennahedemTeachingRockvonPeterboroughinKanada
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entlanggeht,sichindieDunkelheitderGanggräberNord europas begibt oder an einem Ritual in einer Stadtwoh nungteilnimmt,umdenFrühlingsanfangzufeiern,wird einembewußt,daßderKörpermehristalseinObjekt.Der Körper umfaßt alle unsere Erfahrungen. Der Körper der Göttin beinhaltet nicht einfach nur die Formen der Erde oderderSterne,sondernauchihreEigenschaftenundihre Bedeutung.DerKörperistalles,waswiralsrealundprä sentinunseremLebenerfahren.
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Dersichtbareundder unsichtbareKörper Werauchimmerdubist, woherauchimmerdukommst überihremheiligenBoden, duvomMeer, du,derfliegt, esistsie, diedichnährt. HomerischeHymneandieErde WieesbeijederradikalenIdeederFallist,ziehtunsder KörperderGöttinaufgrundderFremdheitunddesWun dersseinesgrundlegendenThemasan,unddiesesThema ruftetwasUraltesinunswach,vondemwirbiszudem AugenblickseinesErwachensnichtwußten,daßesüber haupt existierte. Aber sobald wir diese Welt betreten ha ben,beginntsiesichzuerschließenundoffenbartimmer größereFeinheiten.DieMenschen,diedieGöttinangebe tet haben, sahen sie nicht nur in den beeindruckendsten Himmelskörpern, den offensichtlichsten Verbindungen vonNaturundmenschlicherFortpflanzung.Sieversuch tensieauchimEntsetzendesTodesoderinderspiralför miggewundenenEnergiederSchlangenzufinden.Sierie fensieindenFormenihrerTempelinsLeben.Undwenn wiranfangen,diesenWegenzufolgen,entdeckenwirun sereeigenenAbzweigungenundBiegungen,währendwir dieWirklichkeitdesGöttinnenkörpersinderKunst,inden Geheimnissen des Verlangens und der Freude der Kon templationerkennen.
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DersichtbareKörper DieGöttinhatnichtnureinensichtbaren,sondernauchei nenunsichtbarenKörper.DersichtbareKörperumfaßtal lesPhysischeundGreifbare.DerunsichtbareKörperistal les,wasrealist,abernichtberührtwerdenkann,undbein haltet Aspekte wie Imagination, Verlangen und Denken. DerheiligeKörperbeziehtHimmelundErdemitein,aber nicht nur in ihrem physischen Vorhandensein, sondern auch als Ausdrucksformen der mythischen Imagination. Dasheißt,dieWeltexistierteinfach.WennwirdiesesDa sein betrachten und anfangen, es vom spirituellen Stand punktauswahrzunehmen,lassenwirdenKörperderGöt tinsichtbarwerden. Sowohl das Sichtbare als auch das Unsichtbare werden durchdieKulturvermittelt.Dasheißt,Menschenbezeich nen gewisse Tiere, Landschaftsformen, künstlerische Bil der,IdeenundAusdrucksweisenodergewisseFormender gesprochenenundgeschriebenenSprachealsetwas,dasin besondererWeiseandiephysischeWirklichkeitderGöttin erinnert. Der sichtbare Körper nimmt in der Landschaft Gestalt an, in den Tempeln und Bäumen, vornehmlich in heiligenHainenundbestimmtenBaumarten,wiezumBei spielZypressenundPlatanen.ErlebtinallenTieren,aber hauptsächlichindenjenigen,diealsdieGefährtenderGöt tin geltenoderihrebesonderenEigenschaftenzumAus druck bringen. Dazu zählen Schweine, Schafe, Fische, Bären, Raubvögel und insbesondere Kühe, Stiere und Schlangen.DersichtbareKörperwogtimMeer,demUr sprungallenLebens,dessenSalzwasserunseremBlutent spricht.WirfindendenKörperderGöttininFlüssenund StrömenundimRegen,ohnedenwirnichtlebenkönnen. WirfindendenKörperderGöttinbeiderGeburtundder Menstruation, besonders wenn wir diesen körperlichen Funktionen einen heiligen und zeremoniellen Wert bei messen.AberwirfindenihrenKörperauchinKrankheit undTod,dennsiesindkeineIrrtümeroderStrafen,son dernBestandteilderExistenz.AndiesemPunktkommen
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wir zu einem entscheidenden Unterschied zwischen der Göttinnenreligion(hauptsächlichinderForm,wiesieheu teinErscheinungtritt)undderReligion,dieunsausunse rerErziehungundderoffiziellenGeschichtevertrautist. WennwirGottalsvollkommen,unsterblichundunverän derbar ansehen, wird der Tod zu einem Akt der Gewalt und einem Zeichen für unsere Entfernung von Gott. Um den Graffito meiner Freundin frei zu übersetzen: »Wenn deinKörperstirbt,mußtduetwasfalschgemachthaben.« AbersobaldwirdenTodalseinennatürlichenAspektdes heiligenKörpersannehmen,beginnenwirebenfallsunse ren eigenen Tod anzunehmen. Dieses Annehmen geht nichtautomatischvonstatten.WirkönnendenSchrecken desTodesnichteinfachverbannen,indemwirunseinre den,daßallesstirbtundzurNaturzurückkehrt.Aberwir könnenunsindieseRichtungbewegenundderTatsache des unvermeidlichen Todes die Schuldannahme abspre chen. DassindnichtnurmoderneSpekulationen.Wennwirdie Mythologien desgöttinzentriertenKretamitderspäteren patriarchalenReligiondesgriechischenFestlandesverglei chen, fangen wir an zu begreifen, daß die Idee von den »unsterblichenGöttern«,dieewigleben,fortwährenddie selben bleiben und getrennt von der Natur und dem menschlichen Leiden sind, sich erst entwickelte, als die GesellschaftsichvonderzyklischenGöttindesTodesund derWiedergeburtlosgesagthatte.Zeus,derHimmelsvater des Olymp, war eigentlich zunächst ein Gott der jahres zeitlichen Vegetation auf Kreta. Im Volkstum gilt der gehörnteBergDikteaufKretanochimmeralsseine»Grab stätte«.DaichdieHöhlewährendmeinesAufenthaltesauf Kretanichtbesuchenkonnte,gebeichhierdiefolgendeBe schreibungauseinemBriefdesAutorsSamuelR.Delaney wieder:»WennmandenHöhleneingangsieht,erscheinter einemwieeinegroße,nachhintengeneigte,natürlicheVa gina mit einer riesigen herabhängenden Steinklitoris, die vonsteinernenSchamlippenumgebenist.«
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Tod Das Sichtbare und das Unsichtbare durchdringen einan der.WirfindendieseBewegungimSpielzwischenGeburt, LebenundTod.WirmögennochsovielüberSamenzelle, Eizelle und Fötalentwicklung wissen, aber dennoch er schafftjedeGeburtnochimmerdasWunderdesSichtba ren–einesindividuellenmenschlichenWesens–,dasaus einemunermeßlichen,unsichtbarenGeheimniszumVor scheinkommt,neu.UndmitjedemTodkehrtdieSeele,die Person,insNichtszurück. Im Herbst lösen sich Pflanzen in einen scheinbaren Tod auf,verschwindeninderunsichtbarenUnterwelt,nurum im Frühling wieder sichtbar zu werden. Wenn wir über denTodnachdenken,erkennenwireinenSinndarin,daß derunsichtbareKörperderGöttinunermeßlicherundviel leichtwirklicheristalsdersichtbare.Über90Prozentaller Spezies,diejemalsaufderErdegelebthaben,sindausge storben,undvondenlebendenSpeziesmachtdieZahlder Individuen,diezurZeitleben,nureinenkleinenBruchteil dereraus,diebereitsgelebthaben. DastrifftaufalleSpezieszu,wennmanvondenMenschen absieht, von denen heute mehr leben als je zuvor in der ganzenGeschichte.DieseeinfacheTatsacheverzerrtunse reBeziehungzurNaturundzuunserereigenenExistenz wahrscheinlichmehralsalleanderenAspekteunseresLe bens.DadurchwerdennichtnurjeneTeilederWeltüber bevölkert, die für das menschliche Leben geeignet sind, sondernesermöglichtunsauch,diebeherrschendeRolle desTodesindernatürlichenWeltzuleugnen. Die Verzerrung ist jedoch ein modernes Phänomen. Den größtenTeildermenschlichenGeschichtehindurchwaren dieTotendenLebendenzahlenmäßigweitüberlegen.Und wenn die Toten zahlreicher vertreten sind, besitzen sie vielleichtauchmehrspirituelleMacht.Schließlichistdas Lebenkurz,aberderTodwährtfürimmer.UnddasLeben ist voller Einschränkungen. Wir können das Wetter oder KatastrophenwieErdbebennichtkontrollieren.Wirwis
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sennichtumdieZukunft. Aber wenn die Lebenden zu die senDingennichtinderLagesind,vielleicht,einfachnur vielleichtvermögenesdieToten.IndenmeistenKulturen wirddenAhnenoderanderenvorlangerZeitverstorbe nen Figuren große Macht zugeschrieben. In Mythen be sucht der Held oft das Land der Toten, um Wissen oder Hilfezuerhalten.DiegrößtenMagiersindsolche,dietote GeisterinsLebenzurückzurufenvermögen. Die Vorrangstellung des Todes taucht auf ungewöhnliche WeiseinderKosmologiederBellaCoolainBritishColum biaauf,dieJosephCampbellinTheWayoftheAnimalPo wersaufgezeichnethat.BeidenBellaCoolazeugtedieSon ne, bekannt als »Unser Vater«, mit einer Göttin namens Alkuntam die Menschen. Alkuntam selbst war jedoch die TochtereinerUrgöttin,einerKannibalenfigur,diedasGe hirnmenschlicherWesenverschlingt.UnddiezweiSöhne Alkuntams bewirken eine kannibalische Besessenheit bei lebendenMenschen,so daßdiemenschlicheGesellschaft vonZerstörungumgebenist. Durch denKannibalismusfindetderunsichtbareSchrek kenderZerstörungEingangindiesichtbareWelt.DerAkt des Verzehrs eines Toten vernichtet die Integrität von sichtbarenKörpern.Aberesgeschiehtnochetwasanderes. EsistnichtnurdasLeben,daszerbricht,sondernauchso zialeStrukturenundderSittenkodex,dasganzeAuffang becken der Zivilisation. Unsere moderne Zivilisation hat sichdavonüberzeugt,daßmoralischeGrundsätzeundSit tenderZivilisationeinegrundlegendeWirklichkeitsind. Die meisten Menschen erkennen an, daß wir uns soziale Strukturen auferlegen müssen, um zusammenleben zu können. Durch die Taten von Betrügern oder heiligen Clowns–oderdurchKannibalismus–läßtderMenschdie zügelloseWildheitdesLebensnebenderZivilisationge währen. CampbellgibtRuthBenedictsSchilderungeinerInitiation derkannibalischenGesellschaftderKwakiutlwieder(wie dieBellaCoolakommendieKwakiutlausdempazifischen Nordwesten).Derbesessene Initiierte biß Zuschauer und
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verzehrte»inaltenZeiten«,wie Campbellsagt, sogar Teile vongetötetenSklaven.AbergeradedieserAkt,derihnin die geheime Macht der KwakiutlGeisterwelt einweihte, verdarbihnzugleichfürmenschlicheBeziehungen,sodaß der Initiierte bis zu vier Monate in einem kleinen Raum isoliertundvoneinemBärentänzerbewachtwurde.Alser wiederindieGemeinschaftzurückkehrte,tatderInitiierte so,alshätteerseinMenschseinvergessen,undlerntewie derlaufen,sprechenundessen. DiegesellschaftlichenTabushattenmehrereJahreBestand bis zu einer Winterzeremonie, in deren Verlauf ein alter Mann als »Köder« für den Kannibalen auftrat. Als der KannibalesichdemaltenMannnäherte,alswolleerihn beißen,fandersichumstelltundwurdevoneinerFrau, diemiteinemLeichnaminihrenArmennackttanzte,in ein Haus gelockt – ihm wurde mit anderen Worten die zweifacheLebenskraftvonNahrungundSexangeboten. IndemHausfandeineReinigungstatt,beiderunterande rem »mit dem Menstruationsblut von vier edlen Frauen getränkteZedernrinde«benutztwurde.
Sexualität Der sichtbare Körper bringt sich weiter zum Ausdruck, trittinsSein,indieSexualitätein–durchdieFortpflan zungvonTierenundPflanzen,dieelektrischeVereinigung vonHimmelundErdebeiDonnerundBlitzunddieuner meßliche Vielfalt menschlicher sexueller Erfahrung. Und hierunterscheidetsichdieGöttinnenreligion,sowohldie alte als auch die moderne,deutlichvonderReligiondes überweltlichenGottes.DennwennGottkeinenKörperhat undvondemUniversum,dasererschaffenhat,getrennt existiert,werdenMenschenzuSeelen,dieentwedereinen KörperwieeinenGegenstandodereinKleidungsstückbe sitzenoderineinenKörpereingeschlossensind,alsGefange neineinemKäfigausFleisch.ReligionwirdzueinerSehn suchtdanach,demKörperzuentkommen,undgleichzei tigeinemBefehl,ihnzukontrollieren.InderReligioneines
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körperlosen, geschlechtslosen Gottes wird die menschli che Sexualität zu einer Störung und einem Verrat, einem SchrittwegvonGottaufeineverachteteNatur,eineSünde hin. Eine Religion, die den Göttinnenkörper anbetet, braucht keine solche Spaltung zwischen Spiritualität und Sexua lität. Als etwas für das Leben Grundlegendes nimmt die SexualitäteineheiligeRolleein:»AlleAktederLiebeund derFreudesindmeineRituale«,schreibtdiemoderneHe xeStarhawk–einManifestderBefreiungineinemeinzi genSatz. WissenschaftlerundPhilosophendiskutierenoftdarüber, wodurchMenscheneinzigartigsindundsichvonanderen Tierenunterscheiden.FüreinigeistesdieSprache,füran deredasabstrakteDenken.IngewisserWeiseverrätschon die Frage an sich ein ängstliches Bedürfnis danach, uns vonderNaturabzugrenzen.Aberesgibteinmenschliches Merkmal,dasunswirklicheinzigartigmacht–dieKlitoris. Menschliche Frauen sind die einzigen Säugetiere,fürdie sexuelles Verlangen und Vergnügen nicht direkt mit der Fortpflanzungverknüpftsind. Dadurch wird die menschliche Sexualität zu einem eher kulturellenalseinfachnurbiologischenPhänomen.Sexua lität wird zur Kommunikation und zu einem Ausdruck unseres Menschseins. Wenn strenggläubige Christen und andereSexalsden»tierischen«Teilvonunsbezeichnen, stellensiegenaugenommendieWirklichkeitaufdenKopf. DieIdee,daßwirunsnurkörperlichliebensollen,umKin derzuzeugen,hieße,dieEvolutionumzukehren,dennge nau das tun Tiere. Sexualität ist sichtbar, hat mit Berührung und anderen Empfindungen zu tun, ein schließlich dem Orgasmus, einem physischen Ereignis im Körper.UndzugleicherschließtdieSexualitätunsdenun sichtbarenKörperderBegierde.WiekanneineBerührung derLippen,derBrustoderderSchultereineReaktioninei nemTeildesKörpershervorrufen,vonderdieGenitalien überhauptnichtbetroffensind?Undwarumreagierenwir nurbeieinigenMenschenso,beianderenabernicht?Und
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wasistmitderReaktionin unserenKörpern, wenn wir et was Schönes oder sexuell Attraktives sehen, ohne es zu berühren–einenGeliebten,einenvölligFremdenoderein facheinFoto?UndwasistmitdenPhantasien,dieüber hauptnichtphysischinderWeltexistieren,sondernnurin unserenVorstellungen?WelcheunsichtbareLinieverbin det sie mit unseren Genitalien? Wenn manbehauptet,daß SexualitätimGehirnexistiert,gehtmaneinfachvoneiner falschen Prämisse aus. Mit Beschreibungen der biologi schenFunktionsweisekönnenwirdasGeheimnisderBe gierdenichtlösen. EbensowiederTodführtauchdieGeburtzumunsichtba renKörper.WenneinKindfragt:»WoherkommendieBa bys?«,erkundigtessichnichtnachdenMechanismendes Geschlechtsverkehrs.UnsereNervositätbeidiesemThema bringtunsdazu,überbiologischeFortpflanzungund»Ma maundPapaliebensich«zureden,wodurchdasKind,das jazumindesteineAntworterhält,vielleichtzufriedenge stellt wird. Die Frage berührt jedoch ein grundlegendes Geheimnis des Lebens. Woher kommen Babys? Wir wis sen,wieFötenwachsen,aberwodurchwirdeinFötuszu einem lebenden Menschen? Wie kommt ein individuelles Wesen aus dem Nichts hervor, um sich in einem physi schenKörperzuentwickeln?
Vögel,SchlangenundderunsichtbareKörper Vögel und die Himmelsobjekte stellen einen Aspekt des sichtbarenKörpersdar.AberzugleichführtunsdieLuftin dasReichdesUnsichtbaren.Wirkönnensiespüren,wenn sieunsanweht,undwirerfahrensieinunseremKörper, wennwiratmen.DerAtemträgtLebenundGeistmitsich, einWort,dassichvondemlateinischenBegriffspiritusab leitet,der»atmen,Lebensatem«bedeutet.Aberinunseren normalenSinnesbereichenkönnenwirdieLuftwederse hennochberühren. DieIdeevomunsichtbarenKörperderGöttinkammirin denSinn,alsichmirGedankenüberdieBedeutungvon
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Vögeln in den Religionen und Mythologien der Welt machte. In der neolithischen Kunst begegnen wir einer großen Zahl Vogelfrauen, die als Göttinnenstatuen, auf GefäßenundinMalereiendargestelltsind.VieleGöttinnen wie Aphrodite oder Athene haben Vögel als Gefährten. Andere Göttinnen und Götter verwandeln sich in Vögel oderempfangenBotschaftenvonihnen,wiebeispielswei se der skandinavische Gott Odin, dessen Zwillingsraben Hugin und Munin, Gedanke und Erinnerung, ihn mit NeuigkeitenausderganzenWeltversorgen.UndSchama nen in vielen Ländern verkleiden sich als Vögel, um zu denGeisternzureisen. VögelrepräsentierendieGöttin,weilsiesichinderLuft, ihremunsichtbarenKörper,bewegen,währendMenschen nur auf dem sichtbaren Körper der Erde reisen können (wennwirdasMeerüberquerenwollen,müssenwirBoote bauen,dieaufgrundihrerschoßähnlichenFormzuweibli chenWesenwerden).UndweilVögelinFormvonGesang »sprechen«,tragensiedieverschlüsselteWeisheitderGöt tinwieauchdieInspirationfürdieKunstmitsich,alseine andereMöglichkeitihresunsichtbarenKörpers,sichindas Sichtbarezubewegen. VögelverbindenunsmitSchlangen,wennauchnurdurch ihrensymbolischenGegensatz.Vögelbewegensichdurch die unsichtbare Luft, während Schlangen mehr als jedes andereGeschöpfdurchdenunsichtbarenKörperderIma ginationgleiten.MythologieninderganzenWeltbeschrei bendieengeVerbindung,oftAbneigung,zwischenVögeln undSchlangen.InfastallenKulturentretendiebeidenals die ersten GeschöpfederGöttininErscheinung.Siesind nicht immer Feinde. Viele Mythen und Märchen erzählen voneinemHelden,derdasBluteinerSchlange(odereines Drachen) kostet und daraufhin die »Sprache der Vögel« versteht,womitdasgesamteWissengemeintist.DerVogel fliegt nach oben in die unsichtbaren Welten, und die SchlangegleitetindieGeheimnisseunterderErde. Vögel und Schlangen scheinen die Spaltung (oder das Spiel) zwischen Bewußtem und Unbewußtem, Vernunft
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undInstinktzusymbolisieren.Esistleicht, die Faszination fürVögelundihreFähigkeit,anmutigindenHimmelzu fliegen, nachzuvollziehen. Aber wie kommen Schlangen zu ihrem Geheimnis, ihrem traumähnlichen Einfluß auf fastjedeMythologie? Dafür kann man sich mehrere Möglichkeiten vorstellen. Um zu wachsen, müssen Schlangen regelmäßig ihre alte Hautabstreifen.DasverleihtihneneineAuraderUnsterb lichkeit.SchlangenhabenetwasAndrogynesansich;aus gestrecktsehensieauswiePhalli,währendsiezusammen gerolltdenFaltenderVulvaähneln.Undtrotzdemistdie KraftderSchlangemehralsintellektuelleSymbolik.Mari jaGimbutassprichtvonderSchlangealszusammengeroll terEnergie. ObwohlwirSchlangenfürgiftighalten,könnensieauch positivaufdenKörpereinwirken.DasGiftvielerSchlan gen,besondersvonKobras,dientalsHalluzinogenunder zeugtekstatischeVisionen.1989untersuchteDr.Richard KuninausKalifornienSchlangenöl,dasoftalsSymbolfür sinnlose und betrügerische Kuren steht. Er fand heraus, daß das Öl von chinesischenWasserschlangen einenho hen Anteil an wichtigen Säuren undanderenNährstoffen enthält, einschließlich der höchsten Konzentration von Omega3Derivaten der Eicosapentaensäure (EPA). Udo ErasmusberichtetinseinemBuchFatsThatHeal,FatsThat Kill,daßsichdasNewEnglandJournalofMedicineweigerte, Dr.KuninsUntersuchungsergebnissezuveröffentlichen. Eine der eindrucksvollsten Schlangenbeschreibungen fin det sich in Roberto Calassos buchfüllender Meditation überdengriechischenMythosDieHochzeitvonKadmosund Harmonia:»WodieSchlangeist,strömtWasserhervor.Ihr Augeistflüssig.UnterihrenWindungenfließtdasWasser der Unterwelt. Ewig. Ihre Schuppen sind gleichartig, ihr Maul ist wellenförmig und sich fortwährend selbsterneu ernd, Wellen gleich.« Wenn wir Schlangen betrachten, scheinenwirzurückindieZeitundtiefinunserfrühestes Selbstzublicken.SchlangenverkörperneineEvolutions stufe,dienochimmerimKernunseresGehirnseingebettet
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ist.AufgrundihrerMischung von männlichen und weibli chen Bildernsind SchlangenfleischgewordeneSexualität. UndwennwirSchlangensehen,diesichumdieArmeder GöttinwindenodersichdurchihrHaarbewegen,erken nen wir die mit dem Bild von der göttlichen Macht ver bundeneKraftunsererfrühestenAnfänge.
AspektedesHimmels LichtinallenseinenFrequenzen,einschließlichRadiowel len,bewegtsichdurchdenunsichtbarenKörpervonRaum –undZeit–,umunsBilderundWissenvonseitlangem verschwundenenSternen,QuasarenundGalaxienzubrin gen.WennwirdieSternebetrachtenoderauchdieSonne, deren Licht acht Minuten braucht, um uns zu erreichen, wirddieVergangenheitsichtbar.DieZeitwirdzueinerOf fenbarungdergöttlichenWirklichkeit.Jetieferwirinden Raumsehen,umsoweiterblickenwirindieZeitzurück, biswirunsdemUrsprungderExistenzselbstnähern. UnsereKörperentstammendervergangenenWirklichkeit, denn alles in unserem Sonnensystem, einschließlich wir selbst und die Sonne, bildete sich aus dem Staub explo dierter Sterne. Und ohne die Sonne, deren Strahlen sich durchdenunsichtbarenKörpervonRaum,LuftundZeit zuunsbewegen,könnenwirnichtleben. ManerinneresichandieMythenvonunsererGalaxis,an dieMilchstraße,diedenBrüstenderGöttinentströmt(oft alsdersichtbareKörpereinerKuhodereinesBüffelsdar gestellt), oder die Sterne als Teil ihres Kleides, Umhangs oderTanzes.UndmandenkeebenfallsandieSteinkreise undErdhügel,diedenSonnenaufgang(oderSonnenunter gang)anbesonderenTagendesJahreskennzeichnen.Sie dienendemZweckderZeitmessung,desWissensdarum, wanngepflanztodergeerntetwerdensoll,abersieerfüllen eindeutig auch eine rituelle Funktion. Vielleicht bestand ein Teil dieser Funktion darin, den unsichtbaren Körper des Himmels in den sichtbarsten aller Körper, Stein und Erde,zubringen.WennamTagderWintersonnenwende
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derLichtstrahlindiekünstlicheHöhlevon Newgrange in Irlandeindringt,nimmterimBeiseinderBetendenForm an.FürkurzeZeitlassendieSteintunneldasLichteineArt Skulpturbilden,dieeinemstehendenMenschengleicht. EinevölligandereForm,denunsichtbarenHimmelindie sichtbare Erde einzuwurzeln, sind die »Träume« der australischenAborigines,manchmalHimmelsheldenge nannt.DiessindAhnenwesen,dievomHimmelherabstie gen,ihreGeschichtenaufderErdevortrugenunddannim Erdinneren verschwanden, um lediglich als einzelne Fa cettenderLandschaftwiederzuerscheinen:Steine,Pflan zen,Tiere,Teicheunddergleichenmehr.DieseVorstellung hateineinteressanteÄhnlichkeitmiteinerzurZeitimWe stenpopulärenMeditation.ZunächststelltsichderMedi tierende vor, in weißes Licht getaucht zu sein. Das Licht dient als ein Medium, um bestimmte benötigte oder ge wünschte Qualitäten anzuziehen – abstrakte Qualitäten wieLiebeoderHeilungoderStärke.UmsieWirklichkeit werdenzulassen,atmetderMeditierendesiedirektinden Körper ein. Schließlich »verankert« er sie, indem er sie symbolischindieErdehinunterschickt. JederkenntdasBildvonHexen,dieaufeinemBesendurch dieLüftereiten.WahrscheinlichgehtdieseVorstellungauf SchamanenundHeilerzurück,diesichalsVögelverklei detenoderaufTrommeln»flogen«–dasheißt,durcheine von Trommeln herbeigeführte Trance in die Geisterwelt reisten.DieVerbindungzwischenSchamanenundHexen besenwirddeutlicher,wennwirinErwägungziehen,daß europäische»Hexen«oftDorfheilerinnenoderweiseFrau enmiteinemspeziellenKräuterwissenwaren.DerBesen stielläßtaufeinenPhallusschließenunddaheraufeine VereinigungmitdermännlichensexuellenKraft,entweder durchtatsächlicheSexualmagieoderdurchdieArtvonge schlechtlicherVereinigung,wiemansiebeijenenprähisto rischen Göttinnenstatuen mit phallischen Hälsen findet. Zudem verbindet der Besen die tägliche Hausarbeit der Frauen – ein weiteres physisches Auftreten des Göttin nenkörpers–mitspirituellemGeheimnisundEkstase.Wir
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sollten unsauchdaran erinnern, daß die Borsten des Be sens, wenn sie zwischen den Beinen hervorkommen, nichtsähnlichersehenalsdemSchwanzeinesVogels.
NaturundKunst Auch die sichtbare Wirklichkeit der Welt führt uns zum Unsichtbaren.DieMachtdesLandesliegtteilweiseinun serer Abhängigkeit von ihm, um leben zu können, und teilweiseindemGefühlbegründet,daßetwasGrößeres, alswireszusehenvermögen,inseinemInnernlebtund derWeltderSinneBedeutungverleiht. DerAkt,dieGöttinsichtbarzumachen,gehtüberdiepas siveAnerkennunghinaus.WerkederImaginationmachen den unsichtbaren Körper sichtbar. Das Neolithikum war dieZeitdergroßenMonumente:SilburyHillinEngland, die riesigen Ganggräber von Newgrange, Knowth und Dowth in Irland und Cahokia in Illinois (der dortige Monks Mound, der »Hügel der Mönche«, ist mit sieben HektardasgrößteprähistorischeErdwerkderWelt)erfül lennebenanderenFunktionendenZweck,einmenschli chesGefühlfürdenKosmosalsetwasGeordnetes,Bedeu tungsvollesundLebendigessichtbarzumachen.Siever leihen Ideen von Schönheit, Rhythmus und Zweck eine physischeForm. DieErbauerderfrühenPyramidenundZikkurateahmten wahrscheinlichBergenach.Ein Erdhügelstellteinenoch direktereNachahmungdar.DerinnereGanginNewgran geoderKnowth(siehedazudasvierteKapitel)nimmtei nen kleinen Teil des riesigen Bauwerks ein. Diese Gänge imitieren die Höhlenheiligtümer in jenen Bergen, in die sichdieMenschenanOrtenwiezumBeispielKretabega ben,umdieGöttinanzubeten.DiegigantischenHügelmit ihren kleinen, schmalen Gängen imitieren gleichfalls die menschlicheGestalt,dennGebärmutterundGeburtskanal machennureinenkleinenTeildesweiblichenKörpersaus. EbensowiediemaltesischenTempelvielleichtdieUmrisse einerFraudarstellen,könnteeinHügeloderBergaufden
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Göttinnenkörper, hauptsächlich auf ihren schwangeren Bauch,hingedeutethaben. Die Steinzeitmenschen schufen in verschiedenen Ländern (und zu verschiedenen Zeiten) nicht nur Steinkreise und Hügel, sondern auch riesigeSkulpturen.DerSerpentMo und (»Schlangenhügel«) etwa, ein Erdwerk in Ohio, zieht sichübereineViertelmeilevonderSchwanzspitzebiszum Maulhin. Eine ähnliche Skulptur in der Nähe von Loch Nell in SchottlanderstrecktsichübereineLängevonüber90Me tern und erreicht eine Höhe von 6 Metern. Bei beiden SchlangenzeigtderSchwanznachWesten,undaufjeder stand ursprünglich ein Altar, der nach Osten zur aufge hendenSonneblickte.InbeidenFällen,wieauchinande renderartigenWerken,deutetedieFormderumgebenden Landschaft auf eine Schlangengestalt hin. Trotzdem exi stierte diese Gestalt nur in der unsichtbaren Verbindung vonLandschaftundImagination–etwas,dasMenschen nurimGeiste»sehen«konnten–,bisdieErbauersiedau erhaftsichtbarmachten.
ModerneSchöpfungen,dieden Göttinnenkörperimitieren EinigezeitgenössischeKünstlerhabendiePraxiswieder belebt,gigantischeWerkezuschaffen,diedenKörperder Göttindarstellen.Sohatbeispielsweisedieamerikanische Bildhauerin Christina Biaggi einen Betonhügel errichtet, dessenInnenraumdenKonturenderweiblichenKörper höhleentspricht.SeiteinigenJahrenarbeitenBiaggiund dieArchitektinMimiLobellandemBaueinesgroßenHü gelswieSilburyHill,dersowohlalsastronomischesOb servatoriumalsauchalsTempeldienensoll.DieGläubi genwerdendurchdasHügelinneregehen,umdieWieder geburtausdemSchoßderGöttinerfahrenzukönnen. Andere Künstler haben sogar noch getreuere Bilder in großem Stil geschaffen. Die französischamerikanische KünstlerinNikideSaintPhallestelltGöttinnenstatuen
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DieNanaGöttin,dieNiki de Saint Phalle für eine schwedische Messe schuf.(Foto:HansHammerskiold,AbdruckmitfreundlicherGenehmi gungvonNikideSaintPhalle)
her–»Nanas«,wiesie sie nennt –, die groß genug sind, um als Gebäude zu dienen. Während die Erbauer früherer KulturenihreKonstruktionenalsAbstraktionenvonKör pern gestalteten,machtsichdeSaintPhallediemoderne Technologiezunutze,umihreKunstwerkedirekterfahr barzumachen.FüreineMesseinSchwedenschufsieeine 25Metergroße,aufdemRückenliegendeGöttinmitei nemKino(daseinenGarboFilmzeigt)imlinkenArm,ei nembeweglichenHolzgehirnimKopf,einemPlanetarium in der linken Brust, einer Milchbar in der rechten Brust und so weiter. Die Besucher betraten und verließen sie durchdieVagina. VornichtlangerZeitlegtesieeinengigantischenSkulptu renparkausdreidimensionalenTarotkartenan.Einigevon ihnen sind Nanas und gleichzeitig Gebäude. Herkömmli cherweise symbolisiert die Tarotkarte »Herrscherin« die Große Mutter.Fürdiese »Karte« schuf de Saint Phalle eine
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Sphinx,indersieauchwährendderZeitwohnte, in der sie andemProjektarbeitete. VieleKünstlerbringendenGöttinnenkörpermitHilfeih reseigenenKörperszumAusdruck.Einigeunternehmen Pilgerfahrten,umuralteRitualeinHöhlenneuzuinsze nieren,anderebenutzenKostümeundObjekte,umtradi tionelle Göttinnenvorstellungen wachzurufen. Oft wird geglaubt,daßdieseKunstunserenKörpernKraftverleiht, indem diese mit heiligen Geschöpfen und Traditionen gleichgesetzt werden. Man könnte auch sagen, daß wir, wennwirunsereKörperinderGöttinnenkunsteinsetzen, der Göttin Kraft verleihen. Wir helfen ihr, aus der Ge schichte zurückzukehren, um noch einmal in Form von physischerRealitätaufzutreten. DieVerbindungvonSichtbaremundUnsichtbaremöffnet denWegfürdieKunst.FastjederKünstlerhatdasGefühl geäußert,einVermittlerfürdasWerkzusein,damitessich erschaffenkann.Wirsprechenvonden»Hilfsmitteln«ei nesKunstwerkes,womitwirdieverwendetenMaterialien meinen,wiezumBeispielFarben,Steine,Druckoderauf gezeichneteGeräusche.DaseigentlicheHilfsmittelistder Künstler,derdenWegfürallesöffnet,wasausdemun sichtbarenKörperhervorkommenmuß. Auch Mythen und Folklore sind der Körper der Göttin, was ebenfalls auf Prophezeiungen und Orakel zutrifft, denn all diese Äußerungen verleihen einem intuitiven Sinn für die heilige Wirklichkeit Form undgeistigeSub stanz.DieseRealitätistformlos,biswirihrinWortenoder BildernoderinSteinkonkreteFormgeben. Undso,wiesichunsereKörperverändernundentwickeln, wachsen und altern, sich häuten, menstruieren und schwangerwerden,sichvorBegierdehebenundsenken, istdersichtbareKörperderGöttininallseinenAspekten nicht festgelegt oder ewig, sondern verändert sich, ent wickelt sich, gebiert, stirbt und wird fortwährend durch denunsichtbarenKörperderZeitwiedergeboren.
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DiemenschlicheBeteiligung amKörperderGöttin Durch die Wirklichkeit unserer eigenen Körper kennen und wiedererkennen wir diese in jenen Dingen als den KörperderGöttin.AlserseineVisionvonSinnundZweck vonSilburyHillundAveburyCircleinEnglandaufzeich nete, schrieb MichaelDames,daßwirdieseuraltenBau werke als einen »Code« verstehen können, der auf dem menschlichen Körper, vornehmlich den Veränderungen durchSchwangerschaftundGeburt,basiert.Diemenschli che Erfahrung wird zum Hilfsmittel, um unser Gewahr seindesHeiligenzuerfassenundauszudrücken. InderpatriarchalenGottesvorstellungsinddieMenschen GottesGeschöpfeundUntertanen,ohneeineechteRolle imGöttlichenzuspielen,außeralsHerrscherüberGottes geringere Untertanen, die Pflanzen und Tiere. Wenn wir die Existenz selbst als den göttlichen Körper verstehen, schaffenwirdagegeneinewechselseitigeBeziehung.Die volle Erkenntnis dieses Körpers erfordert, daß das menschliche Bewußtsein seine Präsenz wahrnimmt und menschlichesHandelnihnvollständig»zurWeltbringt«. In Vincent Scullys Beschreibung der kretischen Paläste undgriechischenTempelmachendieGebäudesichnicht einfach bestimmte Landschaftsformationen zunutze. Sie vervollständigendieLandschaftsformendurchihreLagean einer solchen Stelle und mit einem solchen Aussichts punkt,daßeinBetrachteralleLandschaftselementeinex aktdemVerhältnissieht,diedasGefühlvoneinemweibli chenKörperevoziert.
DoppelgipfelundRundhügel In seinen Gedanken über die heilige Landschaft weist Scully darauf hin, daß ein Hügel zwischen zwei Gipfeln die Mutter verkörpert. In ihrem Buch Earth Wisdom ent wickeltDoloresLaChapelledieseIdeeweiterundmacht daraufaufmerksam,daßeinneugeborenesKindbei
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vollem Bewußtsein zur Welt kommt (wenn es nicht von Medikamenten betäubt ist, die der Mutter verabreicht wurden) und vom Körper seiner Mutter zuallererst den VenusbergunddenBauchmitdenBrüstendahintersieht. ErstwenndasKindweiternachobengelegtwird,siehtes das Gesicht seiner Mutter. Wenn wir also die dreifache Landschaftsformation betrachten, erwarten wir unbe wußt, daß das Gesicht der Muttergöttin gerade außer Sichtweiteliegt. InGriechenlandbringtdiedreifacheHügelformationins besondere Artemis ans Tageslicht. Artemis wachte über die Frauen bei der Entbindung. Außerdem gehörte sie zu denBergen,wosiemitihrenNymphenlebteunddieTiere nichtnurjagte,sondernauchbeschützte.ArchaischeArte misDarstellungenzeigensiemanchmalmitausgebreite ten Flügeln. Dieses Bild mag ebenfalls aus dem gleichen dreifachenGipfelentstandensein,mitdemmittlerenHü gelalsihremKörperunddenBergenaufbeidenSeitenals ihreFlügel. Wennwirakzeptieren,daßeinsolchesLandschaftsbilddie Göttindarstellt,erfordertdiesvorallem,daßmaneswahr nimmt und feiert, und zweitens, daß man an einer be stimmtenStellestehtundschaut.Ichhabedasambesten aneinemOrtinGriechenlandverstanden,woichnichtge radeintensivnacheinemsolchenBildAusschauhielt.In derNähedesTempelsderArtemisinBrauron(Vavrona aufneugriechisch)findetsicheinBeispielfürScullysund LaChapellesMutterbild. Das Verhältnis der drei Hügel zueinander ist von einer StelleabderStraßeeinpaarKilometervomTempelent ferntambestenersichtlich.Ichweißnicht,obdiemoderne StraßemitdemaltenWegübereinstimmt,aberesistdoch möglich,daßdiejungenMädchen,dieineinerProzession ausAthenkamen,umArtemiszudienen,hiervorbeige führtwurden.VielemoderneHauptstraßenfolgentatsäch lichuraltenRouten. GehtmandieStraßeinBrauronvomTempelausentlang, sohatmandasGefühl,daßderKörperderGöttinallmäh
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Die»Artemis«Hügelformation in der Nähe des ArtemisTempels in Brau ron/Griechenland
lichindieWirklichkeiteintritt.Zuerstsiehtmannurden nächstgelegenen Hügel und einen Teil des anderen, der weiterwegliegt.WennsichdanndiebeidenäußerenHü gel trennen, gewinnt man einen flüchtigen Eindruck von demkleinerenHügel,derzwischenihnenliegt.Aberder Blick auf diesen Hügel bleibt von dem Gipfel halb ver deckt,indessenNähemansichbefindet,sodaßsichdie wesentliche Form, ein Hügel in der Mitte, der von zwei gleichförmigen Gipfeln flankiert wird, nur an der Stelle aufderStraßezeigt,vonderausmandenmittlerenHügel sehenkann,wieersichingleichemAbstandvondenzwei größerenerhebt(dasistzumindestderEindruckeinesmo dernen Betrachters). Folglich entsteht diese kleine Vision vomLandschaftskörperderGöttinnur,wenneinmensch licher Betrachter an einer bestimmten Stelle steht und schaut. AnalldiesenOrten,andenenwirdenGöttinnenkörperals eine Landschaftsform erkennen können, benötigen wir denangemessenenBlickwinkel.WennwirScullysDeutun gen akzeptieren, errichteten die Kreter ihre Paläste, um Göttinnenanbetern einen festen Standort zu geben, damit sieihrenKörperbetrachtenundesihraufdieseWeiseer möglichenkonnten,indiephysischeWirklichkeiteinzu
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treten.AlsichdenPalastvonPhaistosimSüdenKretasbe suchte,wußteich,daßichangekommenwar,bevorichdie RuinenoderdasStraßenschildsah,dennichfuhrumeine KurveherumundsahplötzlicheinenkegelförmigenHü gel in einer erhabenen Hügelumgebung, der nahezu von der Straßenseite drohend aufragte. Einige Augenblicke spätererreichteichmitdemAutoeinenPunkt,andemdie umgebendenkleinenHügelzurücktraten–unddortlag derEingangzuderPalastanlage. Der vom physischen Universum getrennte, überweltliche GottbrauchtkeinemenschlichenBetrachter,dieihninsLe ben rufen. Da er keinen Körper hat, benötigt er keine Beihilfe,umdiesenKörperWirklichkeitwerdenzulassen. Esmaguns,diewirineineraufeinemsolchenGottberu henden Kultur aufgewachsen sind, merkwürdig erschei nen, eine Göttin anzubeten, die uns physisch erscheint, abernurdann,wennwiraneinerbestimmtenStelleste hen.UnddennochbringteinesolcheHilfestellungSchön heitundKraftansLicht.Damitwillichnichtsagen,daß die Göttin erst in dem Augenblick existiert, wo wir die richtigeStelleaufderStraßevonBrauronerreichthaben, und unverzüglich aufhört zu bestehen, gleich wenn wir verschwinden.EsgibtjedocheinebestimmteWirklichkeit, dieeinenBetrachtererfordert,einen,dergelernthat,wo hinmanschauenmuß,undbesonders,wiemanschauen muß – nämlich mit Ehrfurcht, Demut und der Anerken nungderSchönheitundlebenspendendenKraftderGöt tin. AufmerkwürdigeWeisehatdieQuantenphysik,dieintel lektuellsteallerWissenschaften,dasuralteSpieldesBeob achters,derdieWirklichkeiterschafft,wiederbelebt.Nach der Quantentheorie existieren Elementarteilchen nicht – biseinintelligenterBeobachtersiemißt.VordiesemAu genblicksindsieaufverschiedenenWahrscheinlichkeitse benenangesiedelt,dieineinerWellebeschriebenwerden. Erstwennjemandwirklichhinsieht,»kollabiert«dieWelle ineinefestgelegteWirklichkeit.EinigePhysikervertreten dieAnsicht,daßdieNotwendigkeiteinesBeobachtersso
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garauf derartiggigantische Objekte wie zum Beispiel den Mond zutrifft. Eine solche Meinung widerspricht dem, was wir als gesunden Menschenverstand bezeichnen. Es klingt absurd, zu behaupten, daß ein Elektron, ganz zu schweigen vom Mond, nicht wirklich existiert, bis ein Menschesbeobachtet.Undtrotzdemhabendieausgeklü geltsten Experimente immer wieder die Richtigkeit der Quantentheorie bestätigt. Vielleicht sollten wir akzeptie ren,daßdieTeilchenphysik,wiedieLandschaftsformatio nenderGöttin,demmenschlichenBeobachterwiedereine wichtige Rolle in der eigentlichen Wirklichkeit der Exi stenzzukommenläßt.Vielleichtistdie»Existenz«selbst als eine festgelegte WirklichkeittatsächlicheineFunktion desmenschlichenGeistes. Auch die maltesischen Tempel, die Ganggräber, Silbury HillunddergigantischeSerpentMoundimheutigenOhio manifestierendenGöttinnenkörper.Undauchsiekonnten nur durch menschliches Bewußtsein, menschliche An strengungundfortwährendes,menschlichesHandelnent stehen.DenndieFormalleinmachtdenKörperderGöttin nicht aus: Die Form muß betrachtet und verstanden und mit einem Akt der Ehrfurcht und Anbetung verbunden werden.AlsGertrudeRachelLevyundspäterMimiLobell darauf hinwiesen, daß die maltesischen Tempel riesige SkulptureneinersitzendenoderliegendenFraudarstell ten,tatensiedenerstenSchritt,umdiesenAspektdesKör persderGöttinindiezeitgenössischeWirklichkeitzubrin gen.Alsandere,vondieserIdeeinspiriert,zudiesenTem peln fuhren und die Präsenz der Göttin innerhalb der Mauern,inderErdeundimSteinsuchten,alssiedortRi tuale vollzogen oder einfach nur dasaßen und über die Kraft der Mutter nachdachten, taten sie den nächsten Schritt, um ihren Körper an diesem besonderen Ort zu vollenden. In Michael Dames Vorstellungen vom Körper als Code gehtdieheiligeKraftvonAveburyCircleundSilburyHill zumTeilvondennatürlichenQuellenaus,zumTeilvon denskulptiertenFormenderSteineunddemvonMen
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schenhandaufgeschüttetenHügelundzum Teil von den Prozessionen junger Frauen und Männer, die in Dames Phantasie die megalithischen Hauptstraßen entlangzo gen. Die »Skulptur« nahm Form an durch das Land, die Bauwerke und die präzise Ritualbewegung der Menschen. Ohne dieses letzte Element konnte sich die göttlichesexuelleVereinigungundGeburtnichtereignen. DenElektronengleichmachtdieGöttineineBeihilfeerfor derlich.
MiteigenenAugensehen DasausdemGriechischenstammendeWortAutopsiebe deutetwörtlich»miteigenenAugensehen«.Beieinerme dizinischen Autopsie zerlegen Ärzte einen Leichnam, um seineBestandteilezuuntersuchen.DieGöttinistzwarle bendig,abersieschienvieleJahrhundertelangtotzusein. Dies war das Zeitalter des Patriarchats, in dem man uns sagte,daßeinVatergottdieWeltschufunddieZivilisation, wennnichtgardasLebenselbst,vorungefähr5000Jahren mitdenerstenpatriarchalen,königzentriertenGesellschaf tendesNahenOstensihrenAnfangnahm(im19.Jahrhun dertbehaupteteeingewisserBischofUssher,nichtnurdas JahrderSchöpfungausgerechnetzuhaben–4004v.Chr.– sondern auch den Tag, den 23. Oktober, und sogar die Stunde,neunUhrfrüh). HeutewerdendiebruchstückhaftenBeweisefürdieGöt tinnenreligiondurchdieArbeitvonArchäologen,Mytho logen,KünstlernundKunsthistorikern,Priesterinnen,Na turwissenschaftlern, Altphilologen, Historikern, Anthro pologen, Philosophen und Psychologen wieder zusam mengesetzt.Tempelwurdenausgegraben,Texteübersetzt, Statuen, Malereien und Mythen katalogisiert, analysiert und erforscht. Aber all diese Versatzstücke bleiben ge trennt,voneinanderundvonihrerBedeutungisoliert,bis sie»gesehen«,vonMenschenmitEhrfurchtundRespekt betrachtetwerden,diediese»tragendeBeziehung«zurle bendigenGöttinanstreben.
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Anders als der Leichnam, der bei einer Autopsie zerteilt wird,istdieGöttineinlebendigerKörperinBruchstücken, undwennwirdieGöttinmiteigenenAugensehen,wenn wirinihreTempelgehenodersieindenBergenoderinRi tualensuchen,diewirinunserenHäusernerschaffen,erin nernwirunsansie,stellenwirihreGanzheitwiederher. UnddieserAktdesSehensstelltauchunsereGanzheitwie derher,dennwirheilendieBruchstückeunsereszerbro chenenLebens,indemwirdieVerbindungenzwischenun serenKörpernunddemKörperderGöttinfinden. DieGöttinbestehtnochineinemanderenSinnausBruch stücken.IcherwähntebereitsdievielenMythenvomUni versum,dasauseinemzerteiltenKörpererschaffenwird. Sielehrenuns,daßdieGöttinüberallumunsherumist,le bendig in allen Dingen, jedoch in so vielen Teilen und Stücken,daßunsnichtklarist,daßwirinjedemAugen blickinihrerMittegehenundleben.WennwirGöttinnen stätten aufsuchen oder Rituale vollziehen, wenn wir mit eigenenAugensehen,setzenwirdieisoliertenAspekteih rerWirklichkeitzusammen.
GeschichteundLeben zusammenbringen Dadurch, daß wir unsere Erfahrungen an heiligen Orten würdigen,wirdesuns(unddenen,mitdenenwirunsere Geschichtenteilen)möglich,dieSpaltungzwischenHisto rieundLebenzuüberwinden.Zuoftdenkenwirandie Göttin als einenAspekt derArchäologie,einemAusstel lungsstückineinemMuseumgleich.Wennwiretwashi storisch belegen können, halten wir es für wirklich oder echt.Alles,waswirselbsterfahren,nehmenwirnichternst oderbetrachtenesalsSchwärmerei.Esstimmtwohl,daß wirnichtmehrindenKulturenleben,diediegroßenTem pel,SteinkreiseundErdwerkeerrichtethaben;undinvie lenFällenwissenwirsogutwienichtsüberihretatsächli chen Glaubensvorstellungen und Praktiken. Aber durch unsere eigenen Erfahrungen können wir diesen Orten nochimmerBedeutungverleihen.
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InihremBuchTheLaughter ofAphroditeverteidigt Carol P. Christ das, was sie als»Geschichtenthealogie«bezeichnet (»Thealogie«istdieweiblicheFormvon»Theologie«,also dasStudiumderGöttinanstattdesGottes).»Ichkanndas Geschrei der Kritiker hören«, schreibt sie, ›die reduzie rend‹, ›maßlos‹, ›narzißtisch‹ sagen werden.« Und sie fügt hinzu:»Ichbeabsichtigenicht,ThealogieaufAutobiogra phie›zureduzieren‹.«Dochgleichzeitigbehauptetsie,daß dasWissenunddieVisionenvonFrauenvoneinerGrund lagederpersönlichenErfahrungherrühren. CarolChristgemäßfolgtdieherkömmlichewissenschaft liche Theologie einem »Mythos der Objektivität«, so als würden Theologen, Historiker und tatsächlich auch Ar chäologen Werke der absoluten Wahrheit hervorbringen, wennsienurnichtüberihreeigenenErfahrungenschrie ben.DieserMythosentstehtausdemumfassenderenKon textdeskörperlosenGottes,derganzGeistundlosgelöst vonderTeilnahmeanderphysischenWeltist.DieGelehr tenweltversucht,dasPersönlichezu»transzendieren«,um diesenangenommenenreinenZustandnachzuahmen. InderWissenschaftistdiesemythischeReinheithinfällig geworden.Feldforscher,diemitTierenarbeiten,wissenin zwischen um ihren Einfluß auf das Verhalten ihrer Ver suchstiere und die Notwendigkeit, diesen Einfluß so ge ringwiemöglichzuhalten,indemsieselbstsichlängere ZeitindennatürlichenLebensräumenderTiereaufhalten. InderPhysikbewiesWernerHeisenbergsberühmte»Un schärferelation«, daß wir das Universum nicht untersu chenkönnen,alswärenwiranihmnichtbeteiligt.Wenn wirsubatomareTeilchen»beobachten«,verändertsichihr Zustand eben durch diesen physischen Akt des Sehens. MitanderenWorten,Heisenbergmachtdaraufaufmerk sam,daßKörperExperimentedurchführenundkeinobjek tiver Geist. Und wir haben uns mit der Erweiterung der Unschärferelationbefaßt:derIdee,daßTeilchennichtein malexistieren,biswirsiebeobachten.
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DasPersönlicheist spirituell In den Anfangsphasen der modernen Frauenbewegung wurdeeineRedewendungzueinemPrüfsteinfürfemini stischesDenken.»DasPersönlicheistpolitisch«wurdeauf unterschiedlicheWeiseinterpretiert,abervielleichtkönnte man zwei der Hauptbedeutungen wie folgt beschreiben: Erstens entwickeln Frauen politisches Wissen und Ver ständnisdadurch,daßsieihreeigenenErfahrungenunter suchen,undzweitensgeschiehtdas,weilalles,waswirin Beziehungen,amArbeitsplatzoderinunserenFamiliener fahren,ineinempolitischenKontextstattfindet.Umesan dersauszudrücken:EsstehteineganzeSozialstrukturim Hintergrund, wenn ein Mann und eine Frau sich über Hausarbeit streiten oder eine Frau eine Abtreibung an strebtodergleichenLohnfordert.WennFrauenanfangen, ihreErfahrungenzuuntersuchenundmitzuteilen,eignen sie sich politisches Wissen an. Handeln in der Gemein schaftundVeränderungeninunseremLebenbeginnenmit diesemWissen. Wirkönntenauchsagen:DasPersönlicheistspirituell.Spi ritualität kommt nicht nur in uralten Zeiten oder in Büchernvor.Sieexistiert–sie trittindieExistenzein– durch unsere Begegnung mit dem Heiligen. Einige dieser BegegnungenwerdenanheiligenStättenstattfinden,an dere in unseren Versuchen, die Göttin in unserem tägli chen Leben wiederzuerkennen. Wenn wir unsere Sexua litätalsTeilderNaturzelebrieren,wennwirdieRhythmen unseresLebensmitdemMondundderSonneverbinden, wennwirunsereeigenenWegefinden,umderaltenFest tagezugedenken,wennwirunsereEmotionenanheiligen Orten erforschen, wenn wir mit eigenen Augen sehen, dannmachenwirdasPersönlichespirituell. DerGedanke,daßdasPersönlichepolitischist,erlaubtes Frauen, ihre eigene Wirklichkeit als gültig anzuerkennen unddem Glaubenzuentkommen,daßnurExpertenuns sagenkönnen,wiewirunserLebenzubetrachtenhaben. Dadurch,daßdasPersönlichespirituellist,werdendiehei
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ligenErfahrungeneinzelnerFrauenundMänner als gültig anerkannt. Damit wird zum Ausdruck gebracht, daß unsere Handlungen und die Art und Weise, wie wir die Welt verstehen, von Bedeutung sind. Für diejenigen von uns, die danach streben, die Göttinnenreligion (neu) zu erschaffen, ist diese Bestätigung wichtig. Die etablierten Religionen untermauern ihre Autorität mit alten Texten, Ritualen, die von offiziellen Priestern durchgeführt wer den,undoftmitgroßemReichtumundpolitischenOrga nisationen.InderGöttinnenreligionhabenwirvieleMy then und Bilder wiederentdeckt, aber noch mehr haben wirverloren.WirmüssendieGebeteundRitualeachten, die wir gemeinsam erschaffen, die Tänze, die wir unter demMondaufführen,dieWahrheiten,diewirinunseren Zirkelnerzählen,unddiekleinenWunder,denenwirauf unseren Pilgerreisen und in unseren täglichen Handlun genbegegnen.
DasSpirituelleistpolitisch Neben anderen Bedeutungen ist mit der Redewendung »Das Persönliche ist politisch« gemeint, daß alles, was auchimmerwirtun,einenpolitischenWertundeinepoli tischeAuswirkunghat.PolitikfindetnichtnurbeiWahlen oder auf Demonstrationen statt. Wie wir unser Leben führen,hateinepolitischeBedeutungsowohlfürdieGe sellschaft als auch für unsere Mitmenschen. Das gleiche trifftaufdieRedewendung»DasPersönlicheistspirituell« zu.WirerfahrendieGöttinnichtnurdann,wennwirinei nen Tempel gehen oder Rituale vollziehen. Statt dessen tunwirdieseDinge,umunsdesHeiligeninundumuns herumjederzeitinhöheremMaßebewußtzuwerden,um das Heilige in unseren Beziehungen, unseren Familien, denSpeisen,diewirzuunsnehmen,inderArtundWeise, wie wir gehen, wiederzuerkennen. Die Göttin schuf vor Tausenden von Jahren menschliche Wesen nicht als ein einmaliges Ereignis. Sie erschafft jeden von uns tagtäg lich–ebenso,wiewirsieerschaffen.
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WenndasPersönliche spirituell ist, dann ist das Spirituelle auch politisch. Die etablierten patriarchalen Religionen stellenihreOffenbarungenundLehrenoftalseinetrans zendentale Politik hin. Aber es gibt keine Religion ohne politische Auswirkungen. Durchdie Anbetung eines all männlichen und gleichzeitig körperlosen Gottes entsteht eineGesellschaft,dieFrauenalsminderwertigoderalsdas Eigentum von Männern behandelt. Die Anbetung eines zornigen Kriegergottes, eines Monarchen, kann zu einer Gesellschaftführen,dieaufSklavereibasiert(wieimho merischenGriechenland).DieAnbetungeinesmonothei stischen, »eifersüchtigen« Gottes fördert eine monolithi scheAnsicht überdiePersönlichkeit,nachderdieMen scheneineangeblichgrundlegendePersönlichkeitnieän dernkönnenundjederinHinblickaufGeschlecht,Rasse oderKlassebeurteiltwird. Wie Carol Christ sagt: »Symbole haben sowohl psycholo gischealsauchpolitischeAuswirkungen.«Undwennwir verschiedene Gesellschaften miteinander vergleichen, die aufunterschiedlichenreligiösenStrukturenbasieren,ent decken wir grundlegende politische Unterschiede. In den Kulturen, die die Große Göttin angebetet haben, stellen wiroftfest,daßessichdabeiumhochentwickelteGemein schaftengehandelthat,diejahrhundertelangohneBefesti gungen, ohne Krieg und Waffen, praktisch ohne Spuren vongewaltsamemTodbestandenhaben.
TeachingRock Wenn wir uns an einenheiligen Ort begeben,entdecken wir in seiner tatsächlichen Umgebung seine spirituelle Kraft.EinedererstenReisen,dieichimRahmendiesesBu chesunternahm,führtemichzueinemgroßenFindlingim WaldnahederStadtPeterboroughinKanada.Erwurdeim Jahr1956entdeckt(einJahr,nachdemdiekanadischeRe gierung ein Gesetz aufhob, das eingeborenen Kanadiern dasPraktizierenihrereigenenTraditionenverbot)undent hältetwa900Gravierungen(vondenen300deutlichzuer
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kennensind),dieinihneingeritztwurden, indem man die äußereSchichtvonweißem,kristallartigemKalksteinent fernte,sodaßsichdarunternundunkleresGesteinzeigt. Die Parkaufsicht bezeichnet die Stätte als die »Petrogly phen von Peterborough«, aber die Indianer nennen sie »TeachingRock«(der»LehrendeStein«),weilsieglauben, daßdieserSteinexistiert,umderWelteineFriedensbot schaftzuübermitteln. BeidenAbbildungenaufdemSteinhandeltessichunter anderem um abstrakte Symbole, wie zum Beispiel einen großenpfeilförmigenChevron,Strichfiguren,dieSchama nen in Trance darstellen könnten, Sonnenbilder, Vögel, Schildkröten,SchlangenundeinoffenbarmitMastenver sehenes Geisterboot, das auf mögliche Begegnungen mit WikingerschiffenausEuropahinweist. Zu den größten Figuren zählt die Ritzzeichnung einer Frau,derenBrüsteimProfilundihrUnterleibvonvorn zusehensind(vergleicheimdrittenKapiteldie»verzerrte Perspektive« der Stiere in der Höhle von Lascaux). Den ArchäologenJoanundRomanVastokaszufolgesindvier weibliche Figuren mit stark betonten Genitalien und zu sätzlichsiebeneinzelneVulvazeichenaufdemSteinvor handen. Bemerkenswert an der großen Figur ist, daß sieumzweigroßeLöcherimFelsherumangelegtist,von denen sich das eine auf Herz und das andere auf Schoßhöhebefindet.EineroteMineralschichtverläuftauf diesemBild,sodaßwireinstarkesGefühlfürdasweibli che Lebensblutbekommen,dasdurchdasHerzgepumpt wirdundbeiderMenstruationundderGeburtausderVa ginafließt. DiesesgroßeGöttinnenbildverleihtdemganzenSteineine weibliche, lebenspendende Qualität. Ich besuchte den Teaching Rock mit Tana Dineen, die dem Parkwächter Lorenzo gegenüber erwähnte, daß ich gerade ein Buch über die Göttin schrieb. Lorenzo erzählte uns, daß viele Leute glauben, Frauen hättendieRitzzeichnungen ange fertigt,dakeinederunzähligenAbbildungenmitGewalt, KriegoderJagdzutunhat(dasgleichewurdeüberdie
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prähistorischeHöhlePêchMèrle gesagt). Auch den Vasto kas zufolge könnte die gesamte Stätte ein symbolischer Mutterleibsein,dasZentrumderWelt(wiedergriechische omphalosoderNabelinDelphi)undEingangindieUnter welt. EsgibteinGefühl,einKörpergefühl,etwas,daswirtiefun ten in unseren Körpern wissen, nämlich daß die Unter welt,dasLandderToten,gleichfallsdieQuelledesLebens, derGeburtundWiedergeburtist.Auchwennwirversu chen,eszuvergessen,und dieäußereWeltdesLichtsin denMittelpunktstellen,soistesunsdochvernunftsmäßig undzugleichaufeinervieltieferenEbenebewußt,daßwir ausderDunkelheitunddemBlutdesSchoßeskommen. DieVastokasweisendaraufhin,daßfürdiePesanavom AmazonasSpalteninHügeln»dieGebärmutter,inderdie SchwangerschaftderFaunastattfindet«,darstellen. An der PeterboroughStätte heißt es auf einem Plakat: »Der Stein selbst, durchstoßen und durchlöchert, galt möglicherweise als ein idealisiertes weibliches Symbol undeinMittelfürdenSchamanen,umZugangzudenver borgenenKräftenoderdersexuellenEnergiederNaturzu finden.«
RitzzeichnungenundnatürlicheSprünge WasveranlaßtedieAlgonkin(dieVorfahrendesmodernen AlgonkinStammes,derindemselbenGebietlebt)vortau send Jahren, diesen bestimmten Stein für ihre Ritzzeich nungen auszuwählen? Abgesehen von der Eignung des KalksteinsunddergroßenflachenOberfläche,müssenwir unsmitderUmgebungbefassen.DerTeachingRockselbst und alle kleineren Steine um ihn herum sind von tiefen natürlichenSprüngendurchzogen.Alsichsienäherunter suchte,führteichKompaßlesungendurchundstelltefest, daßfastalleRitzenaufeinerNordSüdodereinerNord West bis SüdOstAchse verlaufen. Außerdem fließt ein unterirdischer Strom unter dem Fels. Wie in Silbury Hill auchvermitteltderunsichtbare Wasserlauf einen Sinn für
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NatürlicheSprüngeinSteineninderNähedes TeachingRock(»Lehrender Stein«)inPeterborough/Kanada
die Lebenskraft der Göttin. Unterirdische Flüsse erinnern andasBlut,dasunterderOberflächeunsereseigenenKör pers fließt. Am Teaching Rock ermöglichen es uns die SprüngeimGestein,demWasserlaufzulauschen,derin derDunkelheitunterunserenFüßenfließt. AberandiesenSprüngenistnochetwasanderes,etwas, dasgesehen,jasogargespürtwerdenmuß.DieRissestel len natürliche Bilder von großer Schönheit dar. Es sind Vulvenzusehen,deutlicherkennbaremenschlicheFigu ren, ein betender Schamane und eine göttinnenähnliche Gestalt mit grünen Farnkräutern, die aus dem Herzen wachsen,undbuntenBlumenandenGeschlechtsteilen– die vollendete Entsprechung zu der von Menschenhand geschaffenenRitzungindenStein. DurchnatürlicheProzessewurdenalldieseBilderindie kleinerenSteine»eingraviert«.LießensichdieAlgonkin
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vonihneninspirieren, wenn sie hierherkamen, um ihre ei genenBilderindengroßenSteinzuritzen,derspäterden Namen »Lehrender Stein« tragen sollte? Abgesehen von den zwei Löchern mit der roten Mineralschicht dazwi schen, weist der Teaching Rock noch weitere natürliche Risseauf,daruntereinenSprunginFormeinesVogels,der entlangdergesamtenUnterseitedesSteinsverläuft.
HeiligeBedeutungenanneueOrtetragen WennwirunserLandverlassen,umheiligeOrteinande renLändernkennenzulernen,verhaltenwirunswieBie nen,diePollenvoneinerPflanzezueineranderentragen, damitdiePflanzenartweiterlebenkann.Wirbringenunser WissenvoneinerKulturineineandere,undwirnehmen Erfahrungenmitunszurück,diewiraufunserLebenund unsereGesellschaftanwendenkönnen. UrsprünglichstelltedieReligioneinetragendeBeziehung nichtnurzurGottheitdar,sonderninhöheremMaßeso gar zu dem Ort. Für die Menschen war das Heilige un trennbar mit dem Land verbunden. Dolores La Chapelle schreibt,daßfrüheeuropäischeEntdeckeroftglaubten,es fehledeneingeborenenVölkerngänzlichanReligion,weil siekeinenbestimmtenNamenfürGotthatten;aberfürdie MenschendortlebteGottüberallumsieherum,inderNa turundinihrenRitualen. MitdemAufstiegvonimperialenReichen,etwademhelle nistischenGriechenlandoderRom,wurdeReligionzuei ner Exportware. Glaubenssysteme wie das Christentum und der Islam machten die Religion zu einer Sache von Doktrinen und Gesetzen; aus einer Religion der Natur wurde eine Religion der Bücher. Für einen Juden oder Christen kann es fast beunruhigend sein, Israel zu besu chenundfestzustellen,daßdieinderBibelbeschriebenen Ortewirklichexistieren.Beispielsweisehatdiechristliche Höllenvorstellung ihren Ursprung in einem hebräischen Mythos über »Gehenna«. Gehenna ist jedoch tatsächlich einWüstentalsüdwestlichvonJerusalem.
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Diejenigenvonuns,diesichanArtemis, Inanna oder Oya wendenodersichvonAmerikaoderEnglandzudenTem peln auf Malta begeben, riskieren es, fremde spirituelle TraditioneninseigeneLandzuimportieren.DasistfürEu roamerikaner ein akutes Problem. Unsere angestammte SpiritualitätrührtvonOrtenher,diewirniebewohnt,oft niegesehenhaben.Wasbewirkenwir,wennwirdaskelti sche Fest Beltane in Nordamerika feiern? Wenn wir kein griechischesErbehaben,abereineVerbundenheitmitgrie chischenoderrömischenGöttinnen,wiezumBeispielAr temis/Diana oder Aphrodite/Venus, empfinden, neh menwirGöttinnenvoneinemunsfremdenOrtundbrin gensieaneinenihnenfremdenOrt.Wennwirunsande rerseitsdeneingeborenenTraditionenAmerikasmitihren SchwitzhüttenundVisionssuchen zuwendenundversu chen,diesenWegen zufolgen,tretenwirmöglicherweise miteinerSpiritualitätinVerbindung,dieunsererkulturel lenErziehungfremdist.UnddieIndianerselbstempfin denunsvielleichtalsAusbeuter,wennwirvonihrenTra ditionen Gebrauch machen. Das trifft insbesondere dann zu,wennWeißefürdieDurchführungvonZeremonienin indianischemStilhoheHonorareverlangen. VielleichtliegteineLösungzudiesemProblemdarin,sich den verschiedenartigen Kulturen und einheimischen Tra ditionenmitDemutzunähern,währendmangleichzeitig weiterhinderWahrheitdereigenenErfahrungvertraut– dem, was wir mit eigenen Augen sehen. SowieBienenPollenvonPflanzezuPflanzetragen,brin gen Reisende spirituelle Ideen und Erfahrungen von ei nemLandineinanderes.Hoffentlichkönnenwirlernen, dasohne die imperialistische Haltung vonChristenoder Moslemszutun,dieversuchthaben,eingeboreneVölker überallinderWeltzuzwingen,ihreGötterundGöttinnen aufzugeben.DerWertderFremdbestäubungbestehtdar in,DingevoneineranderenSeitezubetrachten.
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DasÜberlebenderGöttin im AlltagslebenderMalteser Wenn wir heilige Stätten aufsuchen,könnenwirmanch mal etwas finden, das in Texten nicht beschrieben wird, weilesarchäologischnichtbelegtist.Manchmalhandeltes sichdabeiumeinkulturellesNebeneinander.Irgendwoim Westen Irlands befindet sich am Straßenrand ein kleiner Schrein für die Jungfrau Maria, fast direkt neben einem gleichermaßenbescheidenenSteinkreis.Diesebeidenhei ligenStättenliegenaufderfriedlichenWeideeinesmoder nenBauernhofes,aufderKühe–eineweltweitanerkannte GestaltderGöttin–grasen. AufderInselMaltafindensichnursehrwenigeDolmen zwischendenvielenTempeln.DochgibteseinenDolmen, vordemwirniederknienkönnen,umeinemoderneKirche durchseinenprähistorischenBogenhindurchzubetrach ten.AufderbenachbartenInselGozobegegnenwireinem noch faszinierenden Nebeneinander: Auf Gozo befindet sich»Ggantija«(derNamebedeutet»Riesin«),derälteste dermaltesischenTempelundeinervondenen,dieamehe stenwieeinFrauenkörpergestaltetsind(GrundrißaufSei te29).Ggantijaist6000Jahrealt,sodaßesAnspruchdar auf erheben kann, das älteste frei stehende Gebäude der Weltzusein.Wieinsovielenprähistorischenundeinhei mischen Traditionen wurden die Tempel und Statuen oft mitrotemOckerbemalt,alsAnspielungaufdasLebens blutderGöttin.DiesteinernenEinfriedungen,diedieBau ernaufdenFeldernerrichten,enthaltenmanchmalSteine mitSpurenvonjahrtausendealtemrotemOcker. EinähnlichesRot beherrschtdieArchitektur des moder nenGozo.DieKirchensinderdrotangestrichenundhaben roteKuppeln,unddickeroteSamtvorhängezierendasIn nere.SelbstfürdieInneneinrichtungenderHäuserscheint dasselbe tiefe Rot bezeichnend zu sein. Und die Formen derKirchenmitihrerBetonungaufKuppelnundgerunde tenMauernstellendenBezugzumweiblichenKörperauf ungefährdiegleicheWeiseher,wieGgantijadieUmrisse
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einer Frau eroziert. Die Erfahrung, erst die Tempel und danndiemodernenGebäudezusehen,implizierteineun bewußte Verbindung zwischen den prähistorischen Be wohnernundihrenheutigenNachfahren–eineimLand selbstenthalteneKörpererinnerung.
SchneckenhäuserundSchmetterlinge WährendmeinesAufenthaltesaufGozobesuchteichprak tischjedenTagdenTempelGgantija.EinesTages,alsich deneingefaßtenAltaram»Kopf«(derKammerimhinte renTeildesTempels)untersuchte,fandichvierSchnecken häuser. Auf Malta sind Schnecken reichlich vorhanden. Wenn man durch die Felder oder zwischen den Ruinen spazierengeht,findetmaneleganteSchnecken,oftgoldene mit braunen Punkten, die kleiner und dunkler werden, wenndieWindungenderSpiralezurMittehinengerwer den.AlsichaneinemNachmittagimTempelvonTarxien saßunddieperfekt eingeritztenSpiralenaufdengroßen Steinblöckenbetrachtete,kamesmirindenSinn,daßdie Spiralen,selbstwennsiesichzukomplexenAbstraktionen entwickelt hatten, ihren Ursprung in Schneckenhäusern gehabthabenkönnten. SpäterfandichinGgantijadieschwacheGravierungeiner Spirale, die der Form eines Schneckenhauses sehr viel näherkam,undbeimeinemBesuchimMuseumaufGozo entdeckte ich einen Steinblock mit einem eingeritzten Schneckenhaus. An dem Tag, als ich die vier Schneckenhäuser gefunden hatte,suchteicheinesvonihnenausundnahmesalsGe schenk für meine Freundin Eva mit, die ich an jenem AbendmitihrerFamilietreffensollte.Alsichihrerzählte, woichdasSchneckenhausgefundenhatte,fingEvaanzu lachen.Sieselbsthattesiedorthingelegt,undursprüng lich waren es fünf gewesen, in der Form eines Penta gramms, eines fünfzackigen Sterns, angeordnet. Das Pen tagrammistzumwichtigstenSymboldermodernen,wie derbelebtenHexenreligionderGöttingeworden.DieHe
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EingeritzteSpiralenimTempel von Tarxien/Malta, ca. 3000 v. Chr.
xenreligionselbstbasiertzumTeilaufderDreifachenGöt tin,beideressichumJungfrau,MutterundGreisinhan delt. Früher an jenem Tag hatte jemand eines der Schneckenhäuserweggenommen,undspäterhatteichdas zweite eingesteckt, so daß drei zurückgeblieben waren, umeinDreieckzubilden. AnEvasletztemTagaufGozobesuchtenwirgemeinsam den Tempel Ggantija, um der Göttin zu danken und um HeilungfürunsundfürdieErdezubitten.Wirtrugenfri sche Kleider und segneten einander mit der Erde vom Tempelboden,indemwirunsgegenseitigeinPentagramm aufdieStirnzeichneten.WirsangenundbatendieGöttin um Geschenke, nicht für uns selbst, sondernfüreinander undfürdieMenschen,diewirlieben. Die meiste Zeit unseres Rituals standen Eva und ich im »Kopf«desTempels.Zuerstwarenwirdieeinzigenauf
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demTempelgelände.MitteninunseremRitual kam jedoch eineFrauundnahmaufeinemSteinblockimGangzwi schen»Kopf«und»Oberkörper«nichtweitvonunsent ferntPlatz.LächelndundmitgeschlossenenAugensaßsie da, alswürdesiezurückindieZeitzu denruhmreichen TagendesTempelswandern.Siesaßnochimmerdort,mit geschlossenenAugenunddemfreundlichenGesichtsaus druck,alsEvaundichunsereGebetebeendetenundEvas zweikleineTöchter,gefolgtvonEvasMann,zuunsange laufenkamen,umunsihreAbenteuerzuerzählen.Alswir alleaufbrachen,saßdieFraunochimmerda,indieSteine undihre6000JahrealtenGeschichten,versunken. ZweiTagespäter,anmeinemletztenTagaufderInsel,be suchte ich auf meinem Weg zur Fähre ein letztes Mal Ggantija.AnjenemMorgenwarderganzeTempelbereich vonSchmetterlingenerfüllt.IndersandigenEinfarbigkeit der Tempelruinen erschienen die Schmetterlinge wie ein übernatürlicherAusbruchdesLebens.IchgingzumAltar im Kopfbereich, um nach Evas Schneckenhäusern zu se hen.DieHäuserwarenverschwunden,aberdafürhatteje mandeinBildvoneinemSchmetterlingindenBodenge zeichnet. Eswareineganzeinfache Darstellung,undein Flügelwarschonteilweiseweggewischt. Tagespäter,nachdemichMaltaverlassenhatte,dachteich überdieseZeichnungunddenZusammenhangnach,den sie zwischen denSchneckenhäusernunddenSchmetter lingen herzustellen schien. Dadurch, daß eine Seite der Zeichnungoffenwar,erschiensiewieeinEingangindie Geisterwelt, den unsichtbaren Körper der Göttin, so wie derTempelihrensichtbarenKörperöffnete.AuchdieGe schichteisteinunsichtbarerKörper,denndieHandlungen und die Menschen, die sie vollzogen haben, sind ver schwunden.UnddennochmachendieRuinenundübri gen Überreste, die Figurinen und die Töpferwaren, die Göttinnenstatuen und die Spiralen auf den Steinblöcken allesamtdieGeschichtesichtbar. DieTempelscheinenzuerstwieeinleeresSchneckenhaus zusein.SowiedieSchneckeseitlangemtotist,istdie
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prähistorische Religion der Göttin anscheinend mit den Menschengestorben,diedieseriesigenSteinblöckeineine demweiblichenKörperähnlicheFormbrachten.Aberdie Entdeckung dieser Tempel und das Staunen über ihre FormhatMenschenwieMimiLobell,Evaundmich,diese stilleFrauoderdievielenanderen,dieinGruppenoderal leinkommen,dazuinspiriert,unserWissenumdieGöttin inunseremLeben,inunseremKörper,inderWeltumuns herumlebendigwerdenzulassen.DerunsichtbareKörper derGeschichteverwandeltsichindensichtbarenKörper derFeier,desRitualsunddesveränderlichenLebens.An statt Schneckenhäuser zu bleiben, sind die Tempel, Höhlen,SteinkreiseundalldieanderenStättenzuSchmet terlingspuppen geworden, mit der Göttinnenreligion als einemSchmetterling,dernocheinmalindashelleLicht derlebendigenWelttritt.
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DerbemalteSteinkörper Manchmal,wennichschlafe, geheichandenAnfangzurück, weichemitteninderLuftzurück, weitergetragendurchmeinen natürlichenZustandalsdieSchlafmützederNatur, undinTräumenschwebeichweiter, umamFußgigantischerSteineaufzuwachen. PabloNeruda
Wege,umDingezutun,könnenneusein, Dinge,diegetanwerdenmüssen,imallgemeinennicht. JudithGuest,»MissManners« Sie lebten unter demSchattenvonGletschern,dieunge fähreineMeiledickwaren,undteiltenihreWeltmitHer denvonRentierenundwildenKühenundStieren,denso genanntenAuerochsen.WirhabenihreLagerfeuerausein andergenommen, ihre Werkzeuge katalogisiert und ihre Überresteausgegraben,umihreKnochenunterdemMi kroskop zu untersuchen. Wir haben Phantasien über ihr Lebenentwickelt,indenenwirunsvorstellten,wiewilde Männer mitKnüppelnaufFraueneinschlagen,umsiein dunkle Höhlen zurückzuzerren. Und dennoch verblüfft unseinAspektimLebenunsererfrühestenVorfahrennoch immer.EntgegenallunserenVermutungenschufendiese Steinzeitstämme vor Zehntausenden von Jahren eine großartige Kunst, von riesigen Stier und Pferdedarstel lungen bis hin zu den feingeschnitzten Figurinen des weiblichenKörpers,vondenenvieleinhohemMaßestili siertundabstrahiertsind. Wie sprechen diese Bilder zu uns? Welche Geschichten über sie können wir entdecken (und hervorbringen)? WennwirandenKörperderGöttindenken,denkenwir
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zuerst an Mutter Erde, so daß bemalte Höhlen zu einer RückkehrinihrenSchoßwerden.HabendieMalerdasso gesehen? Die in die Wände eingravierten Vulvazeichen lassendaraufschließen.DasgleichegiltfürdieFigurinen, denn ihre Schöpfer stellten sie zwar in einer handlichen Größeher,abersieverziertensieauchingroßemStil,Erin nerungen an die Berge selbst wachrufend. In der Höhle verschmelzendasBildvondermenschlichenFrau,diewil deKraftderTiereunddieewigePräsenzdesBergesmit einander.
Primitivismus SichmitdemGeheimnisderHöhlenkunstauseinanderzu setzen bedeutet zuallererst eine Auseinandersetzung mit unseren eigenen Vorurteilen. Als europäische Ethnogra phen anfingen, die Glaubensvorstellungen und Verhal tensweisennomadischerundanderertraditionellerVölker zuerforschen,erfandensiedenBegriff»Primitive«,womit Menschengemeintsind,diesichüberdiefrühestenStufen der Menschheitsentwicklung hinaus nicht weiterent wickelthaben.DurchdieErforschungderAfrikanerinder WüsteKalaharioderderaustralischenUreinwohnerkonn tendieEuropäerangeblichzurückindieZeitaufihreeige nen einfachen Anfänge blicken. In einigen Texten wurde dieWeltsichtder»primitivenStämme«mitdervonwestli chenKindernverglichen. Es ist kein Zufall, daß diese anthropologische Betrach tungsweisesichinderZeitnachderVeröffentlichungvon CharlesDarwinsÜberdieEntstehungderArtenweiterent wickelte. Das Evolutionskonzept veränderte die Art und Weise,wieEuropäerandereKulturenbetrachteten.Zuvor neigtensogarEuropäer,diediechristlicheDoktrinvonder Weltschöpfung Gottes vor 5000 Jahren ablehnten, dazu, nichteuropäischeKulturenfürunwissendunderbärmlich zu halten. Nach Darwin begann man in Europa, die MenschheitalsineinerstufenweisenEntwicklungbegrif fenzubeschreiben.
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DasscheintaufdieeuropäischeKulturselbst zuzutreffen. Die Altsteinzeit ging mit dem Aufkommen vonAckerbau und Monumentalbauten über die Mittelsteinzeit in die Jungsteinzeitüber.MetalleführtenzuerstzurBronzeund späterzurEisenzeit.DasPatriarchatundzentralisierteRe gierungen schienen Stammesgemeinschaften ersetzt zu habenundsoweiter. FürEuropäerwurdeesalsoselbstverständlich,jedeVerän derungalseinenAufstiegzueiner»höheren«Kulturzuse hen. Buchstäblich gilt das für die Archäologie, da man ZeugnissevonimmerälterenKulturenfindet,jetieferman indieErdegräbt.Möglicherweiseistdasjedochdereinzi geAspekt,derzutrifft.DennwährendwirdasWissen,die technische Perfektion und das tägliche Leben der Men scheninderSteinzeit,deraltenwieauchderjungen,erfor schen,fangenwiran,unszufragen,obVeränderungendie menschliche Gesellschaft oder das menschliche Wissen zwangsläufig weitergebracht haben. Erst mit Hilfe von ComputernundMikroskopenwaresunsmöglich,etwas vondemWissenwiederzuentdecken,dasmitderSteinzeit verlorenging.UndvorunsliegtnocheinweiterWeg,be vorwirdieWeisheitwiederentdecken. Da europäische Kulturen sich aus primitiven Wurzeln »entwickelt«zuhabenschienen,betrachtetendieEuropäer Stammes und vornehmlich nichtagrarische Gesellschaf tenalsunterentwickelt,beschränkt.Völkerwiedieaustra lischenAboriginesschieneninderSteinzeitsteckengeblie benzusein.Europäermachten(undmachennochheute) Gebrauch von dieser Einstellung, um die Eroberung von StammesgebietenunddieVernichtungeingeborenerVöl kerzurechtfertigen. Heute finden wir es vielleicht natürlich, kulturverglei chende Untersuchungen zwischen verschiedenen Stam meskulturenanzustellenoderunsmitzeitgenössischenJä gerSammlerKulturen zu beschäftigen, um die europäi scheAltsteinzeitzuverstehen.DochsolltenwirdieGren zeneinessolchenAnsatzeserkennen,dennjedeKulturist einzigartig.SokönnenwirbeispielsweiseInspirationund
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Entwicklungsmöglichkeiten bei den australischen Abori gines finden, aber keine Erklärungen für unsere eigene Vergangenheit. Die Aborigines haben eine hochkomplexe Zivilisation,eine,dieseit60000Jahrenbestehtundzudem lebendigunddynamischist. VieleJahrzehntelanghieltmandieKunstindenprähisto rischenHöhlenFrankreichsundSpaniensfüreinDurch einanderohneSinnfürKomposition.Eswurdeangenom men,daßdieMalerallesdarstellten,wasauchimmersie wollten,unddasanjederbeliebigenStelle,dieangemes sen zu sein schien. Fachleute vermuteten außerdem, daß isolierteKünstlersichüberlängereZeiträumehinwegden MalereienwidmetenunddenDingen,dievorihnenent wickelt wurden, kaum Beachtung schenkten. Schließlich warenunserefrühestenVorfahrendieprimitivstenvonal lenMenschen. Seit den fünfziger Jahren untersuchen Prähistoriker wie AndréLeroiGourhanundAnnetteLamingdieGestaltung derMalereien,wobeisiesichstatistischerAnalysenundei nes ästhetischen Sinns bedienen, um die Möglichkeit zu beweisen,daßLascauxundandereHöhlenalseineumfas sende,gigantischeKompositionvoneinereinzigen,enga giertenKünstlergruppegeschaffenwurden.TiereeinerArt habenvielleichteineandereArtergänzt–LeroiGourhan führt insbesondere das Gleichgewicht von Pferden und Rindern an. Tiergruppen rufen spezielle Wirkungen her vor: Eine Serie von fünf Hirschköpfen, in verschiedenen HöhenundWinkelngezeichnet,läßtandenRhythmusei nerWelledenken,alswürdendieTiereeinenStromüber queren.
DieKraftvonLascaux Mit eigenen Augen zu sehen hat den Vorteil, daß es uns helfen kann, die Ideologie desPrimitivismusloszulassen. Denn ironischerweise können wir, wenn wir Monumente dereuropäischenVorgeschichtebetrachten–wiezumBei spieldieSteinkreiseinStonehengeoderdievielälteren
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HöhlenvonLascauxoderPêchMèrle–,von der Vorstel lung,daßesjemalssoetwaswieeinprimitivesmenschli chesWesengab,befreitAbschiednehmen. Lascaux zu sehen bedeutet, die überwältigende Brillanz undVielschichtigkeitdervor17000JahrenlebendenCro MagnonMenschenzusehen.1963mußtediefranzösische Regierung Lascaux aufgrund der erhöhten Luftfeuchtig keitdurchdievielenBesucherschließen.Mansprengteei nezweiteHöhleamselbenHangeinpaarhundertMeter entfernt,umeineNachbildunganzulegen,diedemOrigi nal so exakt wie möglich – bis hin zur Färbung und den Umrissen der Wände – entsprach. Man fragt sich, was zukünftige Archäologen, die nicht imstande sind, unsere Sprachen zu entziffern, von einer solchen Nachbildung haltenwerden,diefast20000Jahrespäterangefertigtwur de. Man kann das Original noch immer besichtigen, wenn man nur früh genug um Erlaubnis bittet. Weil nur vier oder fünf Personen auf einmal Einlaß finden, haben die AufsehersicheinedramatischeFührungausgedacht,um die HöhleinihrerganzenPrachtzupräsentieren.Zuerst wirdmanineineindenHanggehaueneVorkammerhin untergeführt.DannwerdenalleLichterausgeschaltet,be vordieTürzurHöhleselbstgeöffnetwird.WenndieHöh lefürInitiationenverwendetwurde–wasmanchevermu ten –, traten die ursprünglichen Stammesmitglieder in ähnlicherWeiseindasGeheimnisein–dasheißtintiefer Dunkelheit,bisihreAnführerihreFackelnoderÖllampen anzündeten. Die Aufseher führen die Besucher in die Kammer und schaltendaselektrischeLichtein.Unddannstehtmanda, umgebenvonriesengroßenweißenWänden,diemitsprin genden, laufenden, schnaubenden Tieren bedeckt sind, von denen manche über fünf Meter groß sind, scheinbare HerdenvonPferdenundStieren,einigemitanderenTie ren, die aus ihren Körpern hervorkommen, und alle in kräftigen, leuchtenden Farben. Die Wirkung ist vonsol cherArt,daßmandenWunschverspürt,vorStaunenund
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Freude zu schreien oder zu weinen, während man die ganzeZeitdenkt:»Dasist17000Jahrealt.Vor17000Jah renhabenMenschendieseMeisterwerkegeschaffen.« EshatnichtnuretwasmitderGrößederMalereienzutun, den leuchtenden Farben oder dem großartigen Hinter grund, daß der Betrachter die Ideologien des Primitivis musvergißt.EsistdieTechnikunddieSchönheitdesWer kes.DieanatomischenDetailssindpräziseundelegant(in anderen Höhlen konnten Prähistoriker drei Pferderassen sowieBraunundSchwarzbärenaufgrundihreranatomi schen Unterschiede auseinanderhalten). Gleichzeitig sind einige der Stiere in einer Art Doppelperspektive gemalt, wobeimandenKopfimProfilunddieHörnerimHalb profilsieht.WieinanderenHöhlenauch,machtensichdie MalerdieFormderWändezunutze,umbeiihrenDarstel lungeneinedreidimensionaleWirkungzuerzielen.Beiei nigenFigurenritztendieKünstlerdenUmrißdesTieres ein,übermaltendieseGravierungundgraviertenschließ lichumdieMalereiherum–allesnur,umdenEindruck vonDynamikzusteigern.ImGegensatzzudenFigurenin einigenderanderenHöhlenscheinensichdieLascauxTie reinwilderBewegungzubefinden,wiebeispielsweiseein Pferd,dasverkehrtherummitgespreiztenBeinendarge stelltist,soalswürdeeshilflosdurchdieLuftpurzeln. Ein alter Witz bezeichnet die Prostitution als das älteste GewerbederWelt.Lascauxsehenheißterkennen,daßdas älteste Gewerbe sehr wohl die Kunst sein könnte. Es ist praktisch undenkbar, daß eine Gruppe umherziehender Menschen ohne Tradition oder Bildung auf eine interes sante Höhle stieß und beschloß, einige Bilder zu malen. HierwarenvorallemMenschenamWerk,diehochbegabt waren. Besorgen Sie sich einmal ein Buch mit Fotos von Lascaux.VersuchenSie,einigederAbbildungenaufeinem gewöhnlichenBlattPapierabzumalen–unddannstellen Siesichvor,wieMenschensiemalenundgravieren,drei bisüberfünfMetergroß,aneinerunregelmäßigenStein wand,oftaufeinemGerüstsitzendoderliegend.DieLas cauxKünstlermußtenbegabteMenschen,ganzbesondere
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Menschen in ihrer Gemeinschaft gewesen sein. Und sie mußteneineAusbildungindenbesonderenTechniken– undderkünstlerischenTradition–genossenhaben,diesie inihremgewaltigenProjekteinsetzten. AuchinintellektuellerHinsichtistLascauxnichtprimitiv. WenigerauffälligalsdiegroßenTiereisteinekomplexeSe rievonabstraktenZeichen,diedieWändeübersäen.Leroi Gourhan und seine Schüler haben ungefähr 400 solcher Zeichenkatalogisiert. Fürdiejenigenvonuns,dienichtLeroiGourhansAusbil dung haben, ist es noch immer der Akt des Sehens, des SichÖffnens für das Meisterwerk, der die Ideologie vom primitiven Menschen zerstreut und uns das Wunder der Kunst erkennen läßt, die dem Heiligen konkrete Form gibt.
DieAnfängederKunst Bevor wir untersuchen, welchen Zwecken die Höhlen kunstmöglicherweisegedienthat,solltenwirunsmitder Entwicklung dieser Kunst beschäftigen. Dadurch werden wirnichtnurindieErkenntnisseeingeführt,dieWissen schaftler von der menschlichen Frühgeschichte gewonnen haben,sonderneswirdauchhelfen,dieVorrangstellung derKunstindermenschlichenKulturaufzuzeigen.Viel leicht sollte man auch »Primaten«Kultur sagen. John PfeifferberichtetinseinemBuchTheCreativeExplosionvon einemSchimpansennamensCongoimLondonerZoo,der biszuseinemviertenLebensjahr384Zeichnungenanfer tigteunddabei»FortschrittevonKritzeleienbiszugroben KreisenundKreuzenmachte«,vondenenmanchesogarin einer Ausstellung verkauftwurden.Ein dreieinhalb Jahre alterSchimpansenamensMojaindenVereinigtenStaaten zeichneteeinBildvon»vierLiniensegmenten,einemrech tenWinkelundeinerschwungvollenKurve«.Mojahatte an einem Experiment über die Kommunikation zwischen verschiedenenSpeziesteilgenommenundeinenbegrenz ten Wortschatz der amerikanischen Zeichensprache ge
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lernt.AlsMojazuzeichnen aufhörte, signalisierte der an wesendeVersuchsleiter:»Probierweiter.«Mojagabdurch Zeichen zu verstehen:»Fertig.«DerVersuchsleiterfragte: »Wasistdas?«Mojaantwortete:»Vogel.«SpäterfuhrMoja fort,»Gras«,»Beere«,»Blume«zuzeichnen.Möglicherwei seentwickeltsichderImpuls,SpracheundKunsthervor zubringen,gleichzeitig. ZudenerstenmenschlichenSchöpfungenzählen»Faust keile«, Steine, die wegen ihrer länglichrunden Form ge wähltwurden.ManschlugdieSteinsplitterab,umsieab zuflachen,undschliffsieandenSeiten,umihnensowohl eine Schnittkante als auch Symmetrie zu verleihen. Sie tauchten vor etwa 1,5 Millionen Jahren auf. Gestalteten ihreHerstellersieausästhetischenGründensymmetrisch? EinFundstückausNorfolk,England,enthältgenauinder MitteeinefossileMuschel,alswäresiedortumderkünst lerischenSchönheitwillenangebrachtworden. PrähistorikerbezeichnendieseGegenständealsFaustkeile oder Handäxte, aber genaugenommen waren sie, wie Pfeiffersagt,»keineÄxteundwurdennichtzumHacken oderzueineranderenArtvonSchwerarbeitbenutzt«.Wa rensieüberhauptWerkzeuge?DieberühmtenDoppeläxte von Kreta wurden aus einem Metall hergestellt, das zu weichist,umfürWerkzeugeoderWaffenVerwendungfin denzukönnen.DieDoppeläxte,dieeineGrößezwischen einigen Zentimetern und fast zwei Metern aufweisen, dientenalsVotivgaben,DevotionalienfürdieGroßeGöt tin. Die vielen Siegel und anderen Bilder, mit denen sie versehensind,setzensienurzuFraueninBeziehung,nie mals zu Männern. Der Name für die kretischen Äxte, labrys,istmitlabia,denSchamlippen,verwandt. WirkönnennichtdasKretavonvor4000Jahrenmitdem Homoerectus,der1,5MillionenJahrefrüherlebte,verglei chen. Aber Belege deutendaraufhin,daßdieMenschen, langeZeitnachdemsiedasFeuerentdeckthatten,esnicht nurzumWärmenoderzurNahrungszubereitungverwen deten, sondern auch, um Rituale zu vollziehen. In Kürze werdenwirunsmitderArbeitvonAlexanderMarshack
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befassen,diezuverstehengibt,daßKunstund »Geschich ten«undnichtWerkzeugefürdieerstenMenschenkenn zeichnendsind.
FrüheweiblicheBildnisse MarijaGimbutasschreibtinDieZivilisationderGöttin,daß Feuersteinskulpturen von weiblichen Figuren schon vor 500000Jahrenaufgetauchtsind.JohnPfeifferzufolgeent standderälteste,sorgsambearbeiteteGegenstand,derin Frankreichgefundenwurde,vor200000bis300000Jahren. Dabei handelt es sich um eine etwa 15 Zentimeter lange Ochsenrippe, die, wie es scheint, mit einem Paar ge schwungener paralleler Linien versehen ist. Nur unter dem Mikroskop lassen diese sich als exakt ausgeführte Doppellinien erkennen. Professorin Gimbutas hat die BerühmtheitderspäterenGöttinnenkunstaufgenaudie ses Bild, parallel verlaufende, geschwungene Linien, zurückgeführt. Sie tauchen immer wieder an Tonwaren undStatuenauf. DieheutigenMenschenstammenvonderalsCroMagnon bekanntenevolutionärenLinieab.UnserefrühenKonkur renten,dieNeandertaler,scheinenebenfallszurkünstleri schen und religiösen Entwicklung in der menschlichen Kultur beigetragen zu haben. Eine Höhle im nördlichen IrakbargÜberresteeiner60000JahrealtenNeandertaler grabstätte mit Skeletten, die auf einem Bett aus Blumen, möglicherweise Heilpflanzen, aufgebahrt waren und den Eindruckerweckten,alsobsieschliefen.EinigeÜberreste weisendaraufhin,daßdieTotenmitrotemOckerbemalt wurden. Von späteren Kulturen wissen wir, daß roter OckerdasLebenundbesondersdasMenstruations/Ge burtsblut der Göttin symbolisiert. Ocker taucht oft in Grabstätten oder in der Grabkunst auf, vornehmlich bei den Göttinnenschoß betonenden Schnitzereien, die als Grabbeigaben dienten. Ähnlich waren viele der Figurinen undReliefskulpturenvonderGöttin,diemaninspäteren Höhlenfand,mitrotemOckerbemalt.Dasgleicheläßtsich
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vonden StatuenundTempelsteinen auf Malta und an an deren Orten sagen. Ein kürzlich erschienener Artikel im U.S.NewsandWorldReportbeschreibteinevonvierMau ernumgebeneSteinstruktur,dievonNeandertalerntiefin einerHöhleerrichtetwordenwar.DieVorstellungvonei nem Bauwerk in einer Höhle weist auf einen rituellen Zweckhin. ZudensehrfrühenKunstwerkenzählen»Becher«Verzie rungen,dievoretwa125000Jahrenentstandensind.Diese eingravierten, ausgehöhltenKreise habensichalseiner staunlichlanglebigesSymbolerwiesenundfindensichin derFelskunstüberallinderWelt,vonEuropaüberNord amerikabisAustralien.DiehohleFormläßtandieinnere Beschaffenheit des weiblichen Körpers, den Schoß, den ken. Die PomoIndianer in Nordkalifornien bezeichnen solcheeingeritzten,ausgehöhltenSteineals»Babysteine«. WennPaaresichKinderwünschen,gehensiezudenFel sen, um den Geistern Opfergaben und Gebete darzubrin gen.DannschlagensieeinwenigSteatitausdenLöchern ab,mahlenihnfeinundvermischenihnmitWasserzuei nerPaste,dieschließlichaufdenUnterleibunddieScham gegendderFraugemaltwird.
Die»schöpferischeExplosion« Vor ungefähr 35 bis 40 000 Jahren erlebten die CroMa gnonMenscheneine,wieJohnPfeifferesnennt,»schöpfe rischeExplosion«,diemitWandmalereien,feineingeritz tenKnochenundkunstvollgeschnitztenFigurineneinher ging–Werke,dieüberJahrtausendehinwegweiterhiner schaffenwurden. Damitistnichtgemeint,daßdiemenschlicheKulturnurin Europa begann. Der größte Teil unseres Wissens über das Paläolithikum stammt aus einem kleinen Gebiet in Süd frankreichundNordspanien,vornehmlichausdenDordo gne und Vezeretälern in Frankreich. Jedoch weiß man auchvonChinaundIndien,daßsiediesteinzeitlicheEnt wicklung durchgemacht haben, auchwennmankaum
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Kunstgegenstände gefunden hat, was möglicherweise nur auf weniger intensive Forschungen zurückzuführen ist. Felskunst findet man praktisch überall, wobei Südafrika diereichsteQuellemitetwa6000Fundstättendarstellt,die nichtwenigerals175000Malereienenthalten.Aufgrund neuererarchäologischerErkenntnissewurdendieAnfänge derKunst–unddesHandels–vonEuropaaufvielfrühe reZeitennachAfrikaverlegt.Vor100000Jahrenlegtendie Menschen in Afrika über weite Entfernungen reichende HandelsnetzefürverschiedeneWaren,einschließlichPer len,an. DiefrühenKunstwerke,vornehmlichdieWandkunstund dieFigurinen,zeigendiespirituelleMachtdesweiblichen Körpers. Die europäischen Wandmalereien begannen mit Vulvabildern, und auch wenn die Tiere später stärker in den Vordergrund traten, blieb die Vulvaeinmachtvolles Symbol in Höhlen und unter Felsüberhängen sowie auf Schnitzereien.PrähistorikerhabeninEuropamehrals770 Plattengefunden,indieVulvazeichnungeneingeritztwa ren. In der Höhle La Bastide fand man mit eingravierten VulvenverseheneSteine,diemitderVorderseitenachun tenkreisförmigangeordnetwaren(dieVorstellungvonei nemSteinkreisineinerHöhleistbesondersdannfaszinie rend,wennwirdievornichtallzulangerZeitaufgekom mene VermutunginBetrachtziehen,daßalleSteinkreise alsastronomischeObservatoriendienten). In Les Eyzies im französischen Dordognegebiet fanden Ausgräber mit rotem Ocker bemalte und mit Kaurimu scheln begrabene menschliche Überreste. Für gewöhnlich assoziierenwirKaurimuschelnmitAfrika,wosiefürreli giösePerlenkunst,KettensowieKopfschmuck,Geld,Sym bolederMachtundfürdieWahrsagereiverwendetwur den.KaurimuschelnstelleneinnatürlichesGöttinnenbild dar, denn die Schlitzseite ähnelt der Vaginaöffnung, während die gerundete Seite an die Schwellung eines schwangerenBauchesdenkenläßt.Hältmansievertikal, ähneln sie Schamlippen; horizontal sehen die Muscheln wieAugenaus.DietypischenmandelförmigenAugenbei
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einigenafrikanischenSkulpturenundMaskenrührenvon Kaurimuschelnher.ZwischenAugeundVaginabestehtei nesymbolischeBeziehung,dennbeideöffnensichinden Körperhinein.AufgrundseinerVerbindungmitdemGeist bringtdasAugekreativeIdeenhervor,ähnlichwiedieVa ginaBabyshervorbringt.R.J.Stewartzufolge(derüberdie PartikelsilinSilburyHillschreibt)bedeutetesulodersuil imAltirischen»Auge«oder»Höhle«undgleichfalls»Vagi na«.
SymbolischeAbstraktion DiegeschnitztenVulvenwarenkeinerealistischenDarstel lungen weiblicher Geschlechtsteile, sondern abstrakte Schlitze oder Dreiecke. Mit anderen Worten, sie waren Symbole. Und wo wir Symbole finden, können wir von IdeenundeinemSinnfürdasHeiligesprechen.DieMen schenjenerZeitlebtennichtindendüsteren,unzugängli chenHöhlen,sondernvielmehrunterFelsüberhängen– sogenannten»Abris«–,diesieebenfallsbemaltenundmit Gravierungen versahen. Unter dem Abri Pataud fanden ArchäologeneineFrauundeinKindvoreinerindenFels eingeritztenVulvabegraben.Immerwiederbegegnenwir der gleichen Verbindung von Leichnam und Vulva, von Ocker – der Farbe des Lebens – und den Toten, Tod und Wiedergeburt; eine Verbindung, die Tausende von Jahren zurückreicht. Spätere Wandmalereien von Frauen zeigen sogar noch symbolhaftereAbstraktionen.DieBildersindaufdasWe sentliche reduziert, wie zum Beispiel Brüste, Gesäß und Vulva.ManchmalfindenwirkeinenKopfoderkeineFüße. AuchdieFigurinenstellendenweiblichenKörperabstra hiertdar:WiebereitserwähnterscheintdasGesäßüber groß,verschwindenoftdieFüße,wirkenHüftenundBrü ste gewaltig und kann der Kopf glatt, vogelähnlich oder durch Löcher gekennzeichnet sein. Archäologen haben über 1000 steinzeitliche Figurinen gefunden, von denen fastalleweiblicheDarstellungensind.
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Die»VenusvonWillendorf«,Österreich,ca.30000v.Chr. (Abdruck mit freundlicherGenehmigungderArasArchives,JungianInstitute,San Francisco)
ZudenfrühestenbekanntenFigurenderWeltzähltdieso genannte»VenusvonWillendorf«,dievoretwa30000Jah renentstand.DabeihandeltessichumdieDarstellungei ner Frau mit dickem Bauch und üppigen Brüsten, abge schnittenenArmen,dieandenSeitenverschwinden(oder sich in schmale Linien oberhalb der Brüste verwandeln), kurzenBeinenohneFüße(möglicherweise,umsiebesser indieErdeoderdieAscheeinesFeuerszustellen)undei nem großen, wabenförmigen Kopf ohne Gesicht. Das wa benförmigeBildläßtdieBienenköniginahnen,dieJahrtau sende später auf Kreta, in Kanaan und anderswo auf taucht. Bezeichnenderweise scheint die Statue mit rotem Ockerbemaltgewesenzusein–einHinweisaufihrenSta tusalsheiligesKunstwerk.
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TrotzderBezeichnung »Venus« ist die Dame von Willen dorfnichtschwangerdargestellt,wasaufdiemeistender anderenGöttinnenfigurinenauchnichtzutrifft.Obwohlsie mitihrenübergroßenBrüsten,HüftenundGesäßenweibli cheMachtdarstellen,verkörpernsienichtnurFruchtbar keit, sondern etwas Weiterreichendes, Abstrakteres und Allumfassenderes.DieVulvabedeutetnichtalleindieGe burt, sondern die Heiligkeit und die schöpferische Kraft des Göttinnenkörpers als ein Ganzes. William Irwin Thompson schreibt, daß die Verbindung zwischen Men struationundMondzyklusdieVulvazueinemSymbolfür den Kosmos und nicht für die Physiologie macht. Doch warumsolltendiesebeidenAspekteeinanderwiderspre chen:DieKraftderGöttinnenreligionliegtinderWahrheit begründet,daßderweiblichemenschlicheKörperdenKos moswiderspiegeltundihmBedeutungverleiht.
Handabdrücke Zwei andere Formen der künstlerischen Gestaltung tau chenfrühaufundsetzensichdasPaläolithikumhindurch fort: verzierte Stäbe und Handabdrücke. Handabdrücke finden wir wie die Becherverzierungen in der Felskunst überall auf der Welt.Manchmalbegegnenwirihnenzu sammenmitanderenBildernunddannwiedereinfachfür sichallein.DieKünstlerkanntenzweiTechniken:»Positi ve«Handabdrückeentstanden,indemdieHändeinFarbe getauchtunddannandieWandgedrücktwurden.»Nega tive«Handabdrücke scheinenhergestelltwordenzusein, indemmandieHandmitgespreiztenFingernandieWand hieltunddanndieFarbedurcheinRöhrchenumdieHand herumblies.BeieinigenHandabdrückenfehlteinTeilei nesFingers,undinderHöhleMaltreviesoimwestlichen Spanien fehlen bei allen Handabdrücken die oberen zwei GelenkedeskleinenFingers.DaskönnteauchdieFolgeri tuellerAmputationsein,vielleichtalseinOpferandieGei ster;dochMarkNewcomer,einexperimentellerArchäolo ge,hataufdieMöglichkeitder»Fälschung«solcherBild
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nisse hingewiesen, indem der Finger vor dem Auftragen derFarbeumgebogenwurde. DieGrößederHändeläßtdaraufschließen,daßdieAb drücke von Frauen stammen, was die Idee stützt, daß Künstlerinnen auch die Malereien schufen. Im ländlichen IndienbeziehenzeitgenössischeMalerinnenoftHandab drückeinihrWerkein. Ebenso,wiediesbeidergesamtenprähistorischenKunst derFallist,kennenwirdiegenaueBedeutungderHand abdrücke nicht. Wir können verallgemeinernd annehmen, daß Menschen das generelle Bedürfnis haben, eine solche Art von Kennzeichnung zu hinterlassen. Wenn wir einen heiligenPlatzaufsuchen,andemwirEhrfurchterfahren, möchten wir oft den Boden, die Steine oder die Bäume berühren.WirwollenunsereHändezurErweiterungun seresBewußtseinsaufdrücken,denndieHändeführenei neEnergievonbesondererLadung.UnsereHändeunter scheidenunsnichtnurvonanderenLebewesen,sondern wirbenutzensieauch,umdieWeltumunsherumneuzu erschaffen. Handabdrücke geben eine machtvolle Er klärungab.SielasseneinZeichendesBewußtseinszurück. SiestellensowohleinenAktderErgebenheitdaralsauch eine verwegene Geste der Teilnahme an der spirituellen Kraft,dieandiesemOrtlebendigist.MitHandabdrücken nehmenwirdieKrafteinesheiligenPlatzesinunsaufund gebendafüretwasvonunszurück.WirdrückendieWirk lichkeitunseresKörpersaufdenKörperderErde. InderHöhlePêchMèrleisteineDarstellungzweierPferde von Händen in Negativabbildung umgeben. Die Hände bleibenaußerhalbderPferdekörperundvermittelnsoein Gefühldafür,daßMenscheninetwassoEhrfurchtgebie tendes wie ein Geisttier nicht eindringen dürfen. Diese strikteTrennungwirdnochinteressanter,wennwirbeden ken, daß Höhlenkünstler oft ein Tier zeichneten, dasaus einem anderen hervorkommt, wie zum Beispiel in Las caux,odervieleZeichnungeneinanderüberlagerten.
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VerzierteStäbe DiemarkiertenStäbesindeinkomplexeresThema,wenn auch nur aus dem Grund, weil sie mehr Informationen enthalten.Eshandeltsichdabeiumgeschnitzteundver zierteKnochenoderGeweihsprossen,manchmalmitmeh rereneinfachen,anscheinendabstraktenOrnamentenver sehen,dannwiederummitsorgsameingeritztenTierund Pflanzendarstellungen. In die meisten ist zumindest ein Loch gebohrt, während manche mehrere Löcher aufwei sen.Archäologennanntensiefrüherbâtonsdecommandant in der Annahme, daß sie ein Autoritätssymbol für einen Stammeshäuptling darstellten – eine Annahme, die viel leicht mehr über die Archäologen aussagt als über die Steinzeitkultur. Im Höhlenkunstmuseum von Les Eyzies werdendiewenigenausgestelltenStäbeheuteals»rätsel hafteObjekte«bezeichnet. Die verschiedenen Darstellungen von Menschen mit Tieren in der paläolithischen Kunst zeigen keine Men schen mit Waffen. Ganz wenige jedoch tragen zere monielle Gegenstände oder Scheiben, was darauf hin weist, daß die Menschen nicht danach strebten, heilige Tierezutötenoderzubezwingen,sondernihnenzubegeg nen.
DasWerkvonAlexander Marshack Alexander Marshack hat eine bahnbrechende Arbeit für die Untersuchung geschnitzter Knochen und Geweih sprossengeleistet,wobeiersichaufFundstückeausAfrika und Europa konzentrierte. Bei seiner Arbeit bediente er sichzweierHilfsmittel,einesMikroskopsundeinesVer stands, der willens ist, unvoreingenommen über Dinge nachzudenken.ImGegensatzzuvielenanderenAutoren erhebt Marshack keinen Absolutheitsanspruch bezüglich seinerInterpretationen,sondernweistnurdaraufhin,daß dieprähistorischenKünstlerdieseoderjeneIdeeimSinn gehabthabenkönnten.
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MitdemMikroskopsindihm mehrereEntdeckungen ge lungen.ErstenshattenjeneKünstlervorüber10000Jahren eine bemerkenswerte Technik: Sorgfältig verteilte Zeich nungeninregelmäßigenMusternvermischensichmitan mutigen Darstellungen von Hirschen und Steinböcken, PflanzenundSprossen,LachsenundanderenFischen.In vielenFällenistesnurmitdemMikroskopmöglich,die naturgetreueGenauigkeitderKunstzuerkennenundbe stimmteSpeziesklarzuunterscheiden.Feuersteinmesser warenoffenbarnichtdieprimitivenWerkzeuge,wiewir sie aus populären Vorstellungen vom Höhlenleben ken nen. André LeroiGourhan schreibt: »Bei Gravier und Schnitzarbeiten kann Feuerstein mit seinen Schneide eigenschaftenMetallwerkzeugengleichwertigsein.« Der gebräuchlichsten Theorie zur Höhlenkunst zufolge handeltessichbeidenBildernumJagdzauber.DenBeweis dafürerbringenangeblichBilder,aufdenenmitWiderha kenverseheneHarpunenundPfeilezusehensind.Jedoch zeigendie»Harpunen«indiefalscheRichtung.Marshack hataufdieMöglichkeithingewiesen,daßdiesemitWider haken versehenen Zeichen in Wirklichkeit Pflanzen sind, unddamiteinenvölligneuenInterpretationsspielraumfür diealtsteinzeitlicheKunsterschlossen,vondermanim mergeglaubthat,siestellenurMenschenundTieredar. Darstellungen von Pflanzen sind aus mehreren Gründen wichtig.ZumeinenzeigensieeinInteressefürdenSpeise zettelundmöglicherweisefürHeilung,dieEigenschaften wachsenderDinge.InLascauxtauchendiemitWiderha ken versehenen Zeichen neben trächtigen Tieren und Vul vabildern auf; vielleicht sind es Heilpflanzen für die Schwangerschaft.DasKräuterwissenvonVölkern,diekei nenAckerbaubetreiben,istoftsehrdetailliert–tatsächlich detaillierter als das von Ackerbaukulturen. Landwirte bauennureinigewenigeFeldfrüchtean,währendSamm lereineAuswahlauseinerVielfaltvonWildpflanzentref fen. Pflanzenzeichnungen,besondersnebenVulvenoder trächtigenTieren,könntendieErneuerungdesLebensim
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Frühling symbolisieren. Marshack hat diesen Punkt her vorgehoben, da er auf einer der untersuchten Geweih sprosseneineganzeMengeFrühlingsbilderfand:laichen de Lachse und Robben, frische Keimlinge,Blumen.Viel leichthaltenwirsoetwaseinfachnurfüreinfreundliches Bild, aber Marshack hat auf revolutionäre Bedeutungs möglichkeitenhingewiesen.Prähistorikersindimmerda von ausgegangen, daß Menschen sich bis zum Aufkom men desAckerbausin derJungsteinzeitnichtderRegel mäßigkeitvonZeitbewußtwaren.EineReihevonFrüh lingsbildern in Verbindung mit Schwangerschaft läßt je docheinBewußtseinfürdieJahreszeitenundbiologischen Prozesseerkennen, und dasbereitsJahrtausendevordem Ackerbau.
VerzierteKnochen Die Untersuchung der abstrakten Zeichen auf den Kno chenläßtnochstärkeraneinsolchesBewußtseindenken. DennwennMarshackrechthat,stellendieseReihenvon regelmäßigeneingeritztenLinien,diemanimmerfürbe deutungslosesGekritzelgehaltenhat,tatsächlicheinsorg fältigesAbzählenvonTagenoderMonatendar.DieLinien könntenaufzweiArtenvonzeitlichenAbfolgenhinwei sen,diebeidemitdemFrauenkörperassoziiertsind:zum einenaufdiesobedeutsammitderMenstruationverbun denenMondphasenundzumanderenaufdieDauereiner Schwangerschaft. AnstattphallischeStäbedarzustellen,diedieMachteines Häuptlingssymbolisieren,könntendiebâtonsdenHebam men,diedenVerlaufderSchwangerschaftenüberwach ten,alsKalenderstäbegedienthaben.WenndieseAnnah me zutrifft, würde ein solcher Kalender möglicherweise aufdasWissenhinweisen,daßBabysmitdererstenaus bleibenden Periode anfangen zu wachsen, wenn nicht gar aufeinWissenumdieVerbindungzumGeschlechtsver kehr.AlternativkönntendieStäbeFrauengeholfenhaben, dieheiligeKraftinihrenKörpernnachderzwingenden
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Spiritualität des Mondes auszurichten. Ein interessantes ZusammentreffenvonBedeutungenausvielspäterenKul turenunterstütztdieseMöglichkeit.ElinorGadonschreibt inihremBuchTheOnceandFutureGoddess,daßsichdas Wort »Ritual« von dem SanskritWort rtu ableitet, das »Menses,Menstruation«bedeutet.InKleinsComprehensive EtymologicalDictionaryoftheEnglishLanguagewird»Ritu al«aufdieindoeuropäischeWurzelrizurückgeführt,die »zählen,Nummer«bedeutet.EbensowieinderHöhlen kunstbegegnenwirderVorstellung,daßheiligesBewußt seinaufdasBewußtseinvonderdurchdieMenstruation erschaffenen,immerwiederkehrendenZeitzurückgeht.
DieVenusvonLaussei Eine der berühmtesten Höhlenkunstdarstellungen ist die sogenannte»VenusvonLaussei«,eineüber20000Jahreal teReliefskulptur,dieuntereinemFelsüberhangimDordo gnetalgefundenwurde. Wie bei anderen Reliefarbeiten auch, machte sich der KünstlerdieKrümmungenundWölbungenderWandzu nutze,umdemBildeinedreidimensionaleWirkungzuge ben.AusAnalysengehthervor,daßauchdieseFigurmit rotem Ocker bemalt war, dem allgegenwärtigen Symbol fürdasLebensblutderGöttin.DieVenusvonLausseiist alsSchwangeredargestellt.IhrelinkeHandruhtaufihrem Bauch, während die rechte ein Bisonhorn hält, das mit dreizehn Linien markiert ist. Dem Horn kommt große symbolischeBedeutungzu:EinJahrumfaßtentweder13 Vollmonde oder 13 Neumonde (ein Mondmonat dauert 29,5 Tage), und das Horn des Bisons oder der Kuh hat ÄhnlichkeitmitdemzuoderabnehmendenMond,eben sowieeinschwangererBauchdemVollmondähnelt. Esseidaranerinnert,daßRinder,StiereundKühedieam häufigsten dargestellten Tiere in der Höhlenkunst sind. UndmanrufesichinsGedächtniszurück,daßinspäteren KulturenüberallaufderWeltdieKuhoderderBüffeldie GroßeGöttinverkörpert,beispielsweisedieWeißeBüffel
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Die»VenusvonLaussei«,Frankreich,ca.15000v.Chr.(Abdruckmit freundlicherGenehmigungderArasArchives,JungianInstitute,San Francisco)
fraubeidenLakotaSioux,OyaalsBüffelinWestafrika,Eu ropa in der griechischen Mythologie, Hathor in Ägypten unddieKuhinderskandinavischenMythologie,dieanei nemgefrorenenSalzwasserblockleckt,umdieWeltzuge stalten.DieMilchstraße,sounserNamefürunsereGala xis,gehtzurückaufdenMythosvondenSternenalsMilch der(Kuh)Göttin,dieindenHimmelhinausfließt.Esister staunlich,daßdieserkomplexeZusammenhangvonBil dernundIdeenschonvorsolangerZeitexistierte,vorTau sendenvonJahren,nochvordenAnfängenderViehwirt schaft.DieVerbindungvonRindernundFrauenimGöt tinnenbildkönntesichzumTeilvonderTatsacheableiten, daßRinderneunMonatelangträchtigsind.
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GeschichtenundZeitzählung Für Marshack ist die entscheidende Fähigkeit, durch die sichderMenschauszeichnet,nichtdieWerkzeugherstel lung, sondern das, was er »Geschichtenerzählen« und »Zeitberechnung«nennt.DamitistdieFähigkeitgemeint, ProzesseundWiederholungen–mitanderenWortenZy klen – in der Welt um uns herum und in unserem Leben wahrzunehmenunddiesenDingenBedeutungzugeben. Ichwürdehinzufügen,ihneneineheiligeBedeutungzuge ben. Mythen, symbolhafte Kunst, abstrakte Zeichen, Ka lenderunddergleichenverleiheneinerbloßenErfahrung Bedeutung. Geschichtenerzählen und Zeitbestimmunggehenmitder Gehirnentwicklung einher und gehören demnach zum Körper. Wenn sich die ersten »Geschichten« von Men struationundSchwangerschaftherleitenunddieseErfah rungenmitdemMondundKüheninZusammenhangge brachtwerden,dannkommtdieGeschichtewiedieSchöp fungselbstausdemKörperderGöttinhervor–dasheißt von dem als göttlich wahrgenommenen weiblichen Kör per. Wir könnensovieleunserergrundlegendenGeschichten auf den Körper zurückführen, auf die Geburtserfahrung, dasGewahrseindesTodes,denimmerwiederkehrenden Menstruationsfluß,dasAnundAbschwellendesPhallus, die Tatsache, aufrecht auf zwei Beinen zu stehen, und so weiter. Dadurch wird die Spiritualität nicht auf »bloße« physische Tatsachen reduziert, sondern die Einheit von KörperundheiligerWahrheitwirdaufgezeigt. InderspäterenpaläolithischenKunstwerdendiewesent lichenweiblichenAspekte–Brüste,Gesäß,Vulva–manch mal als ein paar Zeichen dargestellt, beispielsweise als Kreis,durchdensicheineLiniezieht,fürdieVulva.Man chePrähistorikerbezeichnensolcheDarstellungenalseine »Degeneration« der Kunst. Marshack jedoch legt nahe, daßdie»Geschichte«,diesymbolischeBedeutungdesBil des,sobekanntwurde,daßeineinfachesZeichendasvolle
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Gewicht derBedeutung tragen konnte (man denke an alle christlichen Bedeutungen, die in der einfachen Form des Kreuzes verschlüsselt sind). Marshack schreibt: »Es ist nichtderanatomischesexuelleUrsprung,dersymbolisiert wird,sondernessinddieGeschichten,Eigenschaftenund derProzeß,mitdenendasSymbolassoziiertwurde.«Er fahrung, die Tatsachen des Lebens, wurden zu Symbol undMythosdestilliert. DermaßgebendenForschungsmeinungüberdiemenschli cheEntwicklungzufolgewirdangenommen,daßGöttin nenmythennichtvordemAufkommendesAckerbausent standen sind. Mit anderen Worten: Ein technologischer Durchbruch leitete neue symbolische Bedeutungen ein. Und trotzdem ist die WillendorfStatue 30000 bis 50000 Jahrealt.SowiediefrühestenArtefakterituellenZwecken undnichtdempraktischenGebrauchzudienenschienen, istdieTechnologievielleichtderKunstgefolgtundnicht umgekehrt.DieweiblichenDarstellungenderAltsteinzeit setztensichindieJungsteinzeithineinfort.Marshackbe zeichnetsiealsTeileines»intellektuellen,zeitbestimmten undzeitbestimmendenErbes,dasdenWegzumAckerbau vorbereitete«. Dieses intellektuelle Erbe rührte von der Anerkennung der Macht und der Wahrheit des Körpers her.
JägerSammlerÖkonomie JahrelanginterpretiertenPrähistorikerdieHöhlenmalerei en als »Jagdzauber«. In ihrem Bemühen, für einen kon stanten Fleischvorrat zu sorgen, malten die »Höhlenmen schen«angeblichBildervonihrergewünschtenBeuteund hofftenso,MachtüberdieTierezugewinnen.Aberdiear chäologischenBeweisewiderlegendieseTheorie. Vor allen Dingen wissen wir aufgrund der Knochen und Fossilfunde,daßWildnichtknapp,sondernreichlichvor handenwar.DiemeistenvonunssindmitderVorstellung von»Höhlenmenschen«aufgewachsen,dieeineerbärmli cheundverzweifelteExistenzführen.Auchdasgehörtzur
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IdeologiedesPrimitivismus,dennsiebesagt,daßesuns mit unserer modernen, technologischen Gesellschaft so vielbessergehtunddieganzeGeschichtezueinemsteti gen Fortschritt mit immer besseren Bedingungengeführt hat.WennwirunserLebenheuteunbefriedigendfinden, können wir uns einreden, daß uns keine andere Wahl bleibtunddieMenschenfrühervielmehrgelittenhaben alswir.EinesolcheAnsichtüberdasaltsteinzeitlicheLe benrechtfertigtnichtnurdiesogenannten»großenZivili sationen«,diemitSumerihrenAnfanggenommenhaben, sondern sogar auch den späteren Kapitalismus. Wenn ÖkologenundandereunserekonsumorientierteEinstel lungzurNaturangreifen,führenKonservativeoftdasan gebliche Elend an, das vor der menschlichen Herrschaft über die Natur verbreitet war. Die Forschung hat dieser MeinungüberdasprähistorischeLebenwidersprochen.In einem Artikel mit dem Titel »The First Affluent Society« (DieersteWohlstandsgesellschaft)zeigtMarshallSahlins auf, daß paläolithische Menschen nur 14 Stunden in der Wochearbeitenmußten,umsichzuernähren,einzuklei denundzuschützen. InAnbetrachtderTatsache,daßMenschen60Stundenpro Wocheodermehrarbeitenmüssen,einfachumüberleben zukönnen,ziehtdieseverblüffendeundrevolutionäreIn formation unsere Ansichten über unser heutiges Leben in Zweifel. Sie wirft ein schlechtes Licht auf verschiedene ZeitpunkteinderGeschichte,wiezumBeispieldie»Enclo sureActs«inGroßbritannienim18.Jahrhundert–Gesetze, durch die die Gemeindeflur in Privateigentum überführt wurde(welcheseinerkleinenKlassevonGrundbesitzern zufiel) und die von den Grundbesitzern im Namen des FortschrittsundderwirtschaftlichenEffizienzgerechtfer tigt wurden. Dies hilft uns bei der notwendigen und schwierigenAufgabe,geradedieBetrachtungderMensch heitsgeschichte als fortschrittliche Entwicklung von Bar bareiundElendzuZivilisationundBequemlichkeitinFra gezustellen.UndesführtunszuderÜberlegung,womit sichMenscheneigentlichbeschäftigen,wennsienur14
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Stunden inderWoche arbeiten müssen. Nun, zum einen wendensieZeit,EnergieunddievereintenKräfteauf,um großeWerkespirituellerKunstzuschaffen. VerfechterdesJagdzaubersalsErklärungfürdieHöhlen kunsthabendieAnsichtgeäußert,daß,selbstwennWild die meiste Zeit reichlich vorhanden war, die Herden manchmal»verunglückt«seienunddieJägerhofften,mit ihrer Magie derartige mögliche Katastrophen zu verhin dern.JedochmachtendieSteinzeitmenschenoffenbarkei neJagdaufdieTiere,diesiemalten.Untersuchungenvon Knochenfunden und Nahrungsresten haben den Nach weis erbracht, daß sie ihre Fleischkost fast ausschließlich von Rentieren bezogen. Aber Rentiere erscheinen in den MalereienvielwenigerhäufigalsandereTierarten,beson dersRinderundPferde.Esist,alshättendieMalerbewußt Tiere gewählt, die sie nicht domestiziert hatten (Leroi Gourhanhatdaraufhingewiesen,daßindereuropäischen HeraldikTierewiezumBeispielLöwenundAdlerdarge stellt sind und keine Kühe und Schweine, die auf dem Speisezettel des mittelalterlichen Adels standen). Eine ähnlicheSituationliegtbeidenFelszeichnungendesTea chingRockinKanadavor,dieungefähr16000Jahrespäter entstandensind.DerSteinweistzwarvieleTierbilderauf, aber keine Darstellungen der Tiere, die die Menschen tatsächlichverzehrthaben. Ferner sollten wir uns klarmachen, daß viele Menschen, besonders feministische Wissenschaftlerinnen, dieIdeein Fragegestellthaben,daßFleischinderErnährungvonJä gerSammlerVölkern vorherrscht. Fleisch ist wertvoll, aberdastäglicheLebenberuhtaufdergroßenVielzahlvon Pflanzen,diedieFrauensammeln.Wirhabengesehen,wie Alexander Marshacks Mikroskop den vernachlässigten StellenwertvonPflanzenbildernzwischendenaufsehen erregendenTierdarstellungenenthüllthat.
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GedankenüberdieHöhlenkunst WenndiesenBildernkeinJagdzauberzugrundelag,war umwurdensiedannangefertigt?WarumsolltemanTier darstellungenimtiefenInnereneinerdunklenHöhlema len oder einritzen, wo die Künstler beim Licht von Talglampen arbeiten und sich oft auf Gerüsten bewegen mußten? Und wieder werden wir den genauen Grund dafürnieerfahren,sondernkönnennurVermutungenan stellen.UnddieseVermutungenwerdenehervonunserem Sinn für Bedeutung und Schönheitherrührenalsvonden tatsächlichen Glaubensvorstellungen der Höhlenkünstler. Objektivität besteht nur im Aufzeichnen der physischen Tatsachen;jedeAussageüberdenSinnundZweckisteine Aussageüberunsselbst. InMarksinPlace,einemBuchmitFotosvonderFelskunst zeitgenössischerKünstler,schreibtPollySchaafsma,daßes keine »universellen Bedeutungen« gibt. Es existieren je dochBilder,diebeinaheuniversellsind,wiezumBeispiel dasKreuzoderdieSpirale.Undauchwenndiedargestell ten Spezies sich von Ort zu Ort unterscheiden, scheinen TiereetwasinMenschenzuberühren,dasunszurKunst führt.WennderbewußteGeistsichabmüht,denSinnstar kerBilderzuerfassen,ausihnenSymbolezumachen,dann nimmtdieKunstkulturspezifischeBedeutungenan. AbersymbolischeBedeutungengehennichtnurvonKul turen aus. Menschen überall und zu allen Zeiten teilen diegleichenLebensbedingungen–dieannäherndgleiche genetische Struktur, das gleiche Bedürfnis nach Nah rung und Schutz und sexueller Erfüllung, die Bande zu Kindern, die aus dem Körper ihrer Mutter kommen, die Beziehungen zu den Jahreszeiten und den wechselnden Mondphasen. In einem sehr weiten Sinne können wir behaupten, daß wir den »Zweck« der Höhlenmalereien kennen. Denn der Zweck jeder Kunst ist es, zwischen der unsichtbaren Geisterwelt und dem sichtbaren Körper derNaturzuvermitteln:dasUnsichtbaresichtbarzuma chen.
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Die verschiedenen Theorien zur Höhlenkunst beziehen dieästhetischeFreudeanderArbeit(KunstumderKunst willen), die Einrichtung von Initiationsräumen für junge Mitglieder der Gemeinschaft und Ausdrucksformen der ekstatischenErfahrungenderMalerselbstein.Dieseletzte Ideedeutetdaraufhin,daßdieMaler»Schamanen«wa ren,diesichimTrancezustandindieGeisterweltbegaben, den göttlichen Wesen in Tiergestalt begegneten und zurückkehrten, um sie zu malen. Das Wort Schamane kommtvondensibirischenTungusen.AlsinWesteuropa dieEiszeitaufhörteunddieRentierherdengenOstenzo gen,schlossensichdieMenschenihnenan.Sibirienwurde zueinemZentrumfürdieselbeKultur,diedieHöhlenma lereienhervorgebrachthatte.
Trancezustände Ist die Höhlenkunst aus Trancereisen hervorgegangen? DavidLewisWilliamshateineTheorieentwickelt,dieauf neuropsychologischen Erkenntnissen von Menschen in Trancezuständen basiert, deren Visionen mit den Höhlen bildern verglichen wurden. Beispielsweise sehen Men schen im Trancezustand geometrische Formen und ab strakteFiguren,ähnlichdenunzähligen»Zeichen«,diein Lascaux und anderswo gefunden wurden. Sie sehen machtvolleTierwesenundsprechenmitihnen.Siekönnen auch halb menschlichen und halb tierischen Geschöpfen begegnenoderselbstzusolchenWesenwerden.Obwohl die Höhlenwände überwiegend Tiere zeigen, finden wir auch einige wenige Mischwesen aus Mensch und Tier – beispielsweiseeinemenschenähnlicheGestaltmitHirsch kopfundHufen.MenschenimTrancezustanderfahrenzu BeginnihrerReisenofteinenAbstiegdurcheinenTunnel. EineHöhlebringtdiesenübersinnlicherfahrenenTunnel indiephysischeWirklichkeit.AlsTeilseinerForschungen untersuchte LewisWilliams die Felskunst der !Kung in Südafrika. Bei den !Kung zeichnen die Schamanen im Trancezustand,oftmalensieTupfenundandereabstrakte
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Zeichen,dieihnenindiesem verändertenBewußtseinszu standerscheinen. Das Interessante an dieser Trancetheorie ist, daß sie auf demKörperbasiert.SiebeziehtsichaufdirektesWissen umdieGeisterweltalsdieQuellederMalereien.Abersie betrachtet solche Reisen nicht als Halluzinationen, son dernalsKörpererfahrungen. UnsliegteineganzeReihevonInformationenüberTrance zuständevor.EinGroßteildavonbefaßtsichmitMessun gen der Gehirnelektrizität. Erst vor kurzem hat man im Westenangefangen,dieReisenselbstalsrealeErfahrun genzubetrachten.Erstvorkurzemhabenwir–sehrner vös–angefangen,dieGeisterweltalseinenrealenOrtund dieihrinnewohnendenWesenalsetwasanderesalsPro jektionen unserer Phantasievorstellungen zu sehen. Aber genau auf diese Art und Weise haben Menschen in allen KulturenjahrtausendelangdieGeisterweltgesehen. UmandieWirklichkeitvonTrancereisenglaubenzukön nen, sind zwei Arten von Vertrauen vonnöten. Erstens müssenwirdaraufvertrauen,daßdieMenschen,diediese ReisenübereinenZeitraumvonZehntausendenvonJah renunternommenhaben,wußten,wassietaten.Zweitens müssen wir unser Vertrauen auf die Erfahrung unserer Körpersetzen.FelicitasD.GoodmanhatinihremBuchWo dieGeisteraufdenWindenreiteneineReihevonExperimen tendokumentiert,indenenMenschenmitHilfevonKör perhaltungeninverschiedeneGeistreisengeführtwurden. GoodmanuntersuchteBilderundStatuenvonStammes undprähistorischenVölkerninverschiedenenStellungen – ob sie mit den Füßen unter dem Gesäß oder zur Seite saßen,ineinembesonderenWinkellagen,sogarobsiespe zielle Gesichtsfarben aufgetragen hatten und bestimmte Kleidungsstücke trugen. Dann wies sie ihre Versuchsper sonenan,dieseHaltungensogenauwiemöglichnachzu ahmen.SobalddieseHaltungeneingenommenwaren,ver setztensiesichmitHilfevonAtemtechnikenundrhythmi schem Röcheln in Trance. Die verschiedenen Körperhal tungenführtennichtnurzuunterschiedlichenArtenvon
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Erfahrungen, sondern verschiedene Versuchspersonen mit der gleichen Körperhaltung berichteten auch über sehr ähnliche Reisen und Begegnungen. Durch den Körper könnenwirdieGeisterweltalseinenrealenOrtentdecken.
DerLascauxSchamane EinevonGoodmansKörperhaltungenrührtevondenHöh lenmalereien von Lascaux her. Die einzige menschliche DarstellungindiesergroßartigenGaleriezeigteinaufdem RückenliegendesStrichmännchennebeneinemBison. Zuerstscheintesuns,alslägeerflachda,aberbeigenaue rerBetrachtungstellenwirfest,daßderKörperineinem Winkelvon37Gradaufgerichtetist.SeineArmesindaus gestreckt,undseinPenisisterigiert.Goodmanerrichtete Plattformen,sodaßihreVersuchspersonendieseHaltung sogenauwiemöglichnachahmenkonnten. ImTrancezu standerfuhrensowohlMänneralsauchFraueneinenstar kenEnergieschub,derindenGenitalienbegannodersich dort zentrierte und manchmal durch den Kopf oder die Brustaustrat,umindenHimmelhinaufzufliegen.EinBild ausdemaltenÄgypten,das12000JahrenachLascauxent
»Schamane«undBisoninder Höhle von Lascaux/Frankreich, ca.15000 v.Chr.
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stand,zeigtdenGottOsiris,derimgleichen Winkel von 37°wiedasStrichmännchenvonLascauxindenHimmel aufsteigt. Was uns bei der Betrachtung der LascauxZeichnung am meisten auffällt, ist die simple Darstellung des Mannes. Künstler,dieTieremitsolchenanatomischenEinzelheiten zu malen vermochten, daß wir Subspezies voneinander unterscheidenkönnen,zogenesvor,ihreeinzigemenschli cheFigursoeinfachwiemöglichdarzustellen–obwohl, wieGoodmanbemerkt,großeSorgfaltaufdieKörperhal tungverwendetwurde(imVergleichdazuenthaltenFels zeichnungen der nordamerikanischen Kwakiutl das, was CampbellGrantals»kleinemenschlicheStrichfiguren«ne ben»ziemlichrealistischenDickhornschafen«bezeichnet). Dasläßtdaraufschließen,daßdieKünstlerihrereigenen Erscheinungkeinerlei Bedeutung beimaßen. Mitanderen Worten,siestelltenReisenindieGeisterweltdarundkeine Selbstporträts.VonBedeutungwarnurdieKörperhaltung –dieArmeaufdieseWeiseausgestreckt,derRückeninei nemsolchenWinkel,dieGenitalienerregt. DieIdeenvonDavidLewisWilliamsundFelicitasGood mankönntendaraufhinweisen,daßdieHöhlenmalersich nichtfürdiegewöhnlicheWeltinteressierten,sonderndaß es ihnen nur um die Trancewelt ging. Aber wenn die Höhlentiere von Geistreisen herrühren, rühren sie eben fallsvomLebenher.Sobaldwirbeginnen,dengöttlichen Körperüberallumunsherumzusehen,fangenwiran,die Spaltung zwischen Natur und der »anderen Welt«, der WeltderGeister,zuheilen.Undwirfangenaußerdeman, ein umfassenderes Gefühl für »Körper« zu entwickeln. Denn wenn durch das Ausführen gewisser physischer Tätigkeiten – besondere Körperhaltungen einnehmen, in einer dunklen Höhle sitzen, tief atmen, nichts essen und dergleichen mehr – bestimmte Reaktionen herbeigeführt werden,einschließlicheinesGefühlsdafür,unserenKörper zuverlassen,dannistdas,waswirverlassen,inWirklich keit nur eine beschränkte Ansicht darüber, wer wir sind undwaseinKörperist.
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Fruchtbarkeitskult und »VenusFigurinen« DieVorstellungvon»Fruchtbarkeitskulten«oder»Frucht barkeitsmagie«kamalseinAblegerderIdeevomJagdzau ber auf. Angeblich stellten die Künstler Vulven dar und schufenFigurinenvonhalbabstraktenFrauen,umaufma gischeWeisesicherzustellen,daßdiejagdbarenTieresich weiterhin vermehren und die Herden ergänzen würden. WiederfindenwirdasBildvom»primitiven«Menschen, dervonsimplenWünschengetriebenistundkeinenwirk lichenSinnfürdasHeiligehat,zustarkvereinfachend. Bis auf den heutigen Tag bezeichnen die meisten Texte über paläolithische Kunst die wunderschön geschnitzten Figurinen oder Reliefskulpturen als »Venus«. Wir lesen von der »Venus von Willendorf« oder der »Venus von Laussei«.DerBegriffverweistaufdierömischeGöttinder geschlechtlichenLiebe,inGriechenlandalsAphroditebe kannt.IronischerweiseträgtderNamevielleichtmehrBe deutung,alsursprünglichbeabsichtigtwar.DennAphro dite/Venus war eine viel mächtigere Göttin als die ver spielteerotischeFigur,wiesieinderspätgriechischenMy thologiezufindenist.UrsprünglichwarsieeineGöttinder Meere,aberauchdesHimmels,desLebensundzugleich desTodes.VonElinorGadonerfahrenwir,daßdieRömer Nekropolen,MausoleenundKatakomben»Taubenschlä ge«nannten,derTaube,derheiligenGefährtinderVenus, zuEhren.AnfangssymbolisiertedieLiebesgöttinsowohl schöpferische Kraft als auch körperliche Freude. An spielungen auf ihre archaische Geschichte finden wir im MythosüberihrenUrsprung,dennhierwirdsiealseine Generation älter als Zeus und die anderen olympischen Götterdargestellt. IneinerVersionvonihrerEntstehungentsteigtAphrodite – mit der Taube – dem Meer und gelangt zunächst nach Zypern. Viele Mythologen vertreten die Ansicht, daß sie ursprünglichdieGroßeGöttinvonZypernwar,diespäter denHomerischengriechischenMytheneinverleibtwurde. Eineauf3000v.Chr.datierteTonfigurausZypernzeigtei
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neGöttinmitbreitenHüftenunddünnen,zusammenlau fendenBeinen.SiehatgroßeÄhnlichkeitmitjederpaläo lithischen»Venus«,diemitAphroditesrömischemNamen gesegnet wurde. Die zyprische Göttinnendarstellung weist eine schnabelähnliche Nase und große Vogelaugen auf. DiesteinzeitlicheGroßeGöttinmitdemNamenderGöttin der Sexualität zu versehen führt uns zu der Erkenntnis zurück,daßdieGöttinmehralsnureineintellektuelleAb straktiondarstellt.SieistrealundphysischundinderWelt präsent.Siehateinen,sieisteinKörper.DieseFigurinen, feingeschnitztundhandlich(notwendigfüreineNoma denkultur),haben inFormundStildasGewichtunddie rauheKraftderBerge.Kleinwiesiesind,sindsiedochin ihrerBedeutungsstärkedenHöhlenschößenebenbürtig. HierliegteinParadoxvor.Großwiesiesind,zeigenuns dieHöhlennureinenAspektderGöttinnengestalt,einelo kalisierte Vision ihres Schoßes (oder, allgemeiner ausge drückt,ihresKörperinneren).AberdieganzeErdeistihr Körper. Verglichen damit vermitteln uns die handlichen SchnitzereieneineVorstellungvondervollständigenGöt tin.
PornographieunddergöttlicheKörper Mehrere paläolithische Zeichnungen und Gravierungen des weiblichen Körpers zeigen lediglich einen Torso von denBrüstenbiszumGesäß,ohneKopf,ArmeoderBeine. ManchePrähistorikerhabendieAnsichtgeäußert,daßdie seBildersteinzeitlichePornographiedarstellen,denFotos in zeitgenössischen Männermagazinen ähnlich. Empört übereinesolcheMeinung,verteidigenanderedieHeilig keitderGöttinundbehauptenbeharrlich,daßdieseteil weiseabstrahiertenFigurenschöpferischeKraftsymboli sieren–alsobdasSchöpferischeundsexuellesVerlangen in keinerlei Beziehung zueinander stünden. Vor einigen JahrenveröffentlichteeinederhärterenMännerzeitschrif tenFotos,dieFrauenausschnittweisevomHalsbiszuden
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Knienzeigten,wasbei Feministinnen Entrüstung über die vollständige Objektivierung des Frauenkörpern hervor rief.WahrscheinlichdachteniemandaufbeidenSeitender Schlacht an die vielen alt und jungsteinzeitlichen Fels zeichnungenvonkopfundfußlosenFrauen.Istesmög lich,daßzeitgenössischeunpersönlicheBildervonweibli cherSexualität–aufeinesehrverzerrteWeise–tatsächlich auf ein Bewußtsein für die Frau als Trägerin einer uner meßlichen Macht jenseits des individuellen Lebens zurückgehen?VielleichtdeutendieBildervonweiblichen SexualobjektenaufeineuralteWahrheithin,daßdieKraft der sexuellen Kreativität über die Persönlichkeit hinaus geht. Die weibliche Gestalt auf diese Weise zu zeigen, nämlichnurdenTorso,erhebtdenKörperaufdieEbene einesSymbolsvonuniversellerBedeutung,dasnichtsde stowenigerGestaltannimmtundsichindenrealenKör pernvonFrauenzumAusdruckbringt. Das Problem mit der Pornographie rührt nicht von Dar stellungennackterFrauenher,sondernvonderAnnahme, daß die weiblichen Geschlechtsteile den Männern »gehören«.DieEinstellung,daßFrauennurzurBefriedi gung der Männer existieren, entzieht den Bildern des FrauenkörpersdiewahreKraft.SiedrängtFraueninun natürlicheFormenundlächerlichePosen.Obszönitätliegt nicht in der weiblichenSexualitätbegründet,sondernin derVorstellungvonFrauenalsdemEigentumvonMän nern,das,ohneeineeigeneIdentitätodereineeigeneBe stimmungzuhaben,zubenutzenist.
MenstruationsundSchwanger schaftsrituale DiemeistenAutoren,dieüberdie»VenusFigurinen«und »Fruchtbarkeitskulte« schreiben, gehen davon aus, daß Männer diese Figurinen herstellten, damit sie von Män nern benutzt wurden. Aber was ist, wenn Frauen sie für Frauenrituale schufen? In so weit voneinander entfernten LändernwieAfrikaund Indien und bei den Eskimos ver
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wenden Frauen Göttinnenfiguren ohne Füße oder sogar mit phallischen Hälsen in Ritualen, die mit der Geburt oderderPubertät,dasheißtdererstenMenstruation,ver bunden sind. Sie führen die Figurinen in die Vagina ein undentfernensiewährendderZeremonie. Falls die steinzeitlichen Europäer ihre »Venus«Figurinen auf ähnliche Weise verwendeten, würde sich eine ganze BandbreitevonBedeutungenauftun.Vorallemwürdees erklären, warum so viele der Statuen keine Füße haben. Die Beine mußten sich verjüngen, umproblemloseinge führtwerdenzukönnen.Undeswürdeunszueinemneu enVerständnisfürdieStatuenmitphallischenHälsenoder andere Darstellungen der männlichen Sexualität führen. IndemsieineinemRitualfürFrauenverwendetwerden, wird das männliche Organ zu einem Teil des heiligen weiblichen Körpers, nicht einfach in einem abstrakten, symbolischenSinn,sonderninderkonkretenPraxis. Es sei daran erinnert, daß diese Figurinen oft mit rotem Ockerbemaltwurden.InGeburtsoderMenstruationsri tualen angewendet, würden sie das Blut der einzelnen Frau mit dem Blut der Göttin verbunden haben, das so reichanLebenundsoreichanBedeutungist.Manmöge außerdeminBetrachtziehen,daßeinsolcherAktdenGe schlechtsverkehrimitiert.DiesewährendeinesGeburtsri tualsdurchgeführtePenetrationwürdedieGöttinsowohl zumsymbolischenVateralsauchzursymbolischenMut ter machen.DurcheinesolcheIdeewirddieBedeutung des tatsächlichen Vaters nicht herabgesetzt; statt dessen wird er aufgrund der Ähnlichkeit der beiden Akte, Ge schlechtsverkehrundrituellePenetration,ebensomitdem Göttinnenkörper verbunden. Und man beachte, daß dies aufdasWissenumdieNotwendigkeitdesGeschlechtsver kehrsfürdieEmpfängnishinweist. Wenn wir die Idee der Göttinnenpenetration von Mädchen,dieindiePubertäteintreten,betrachten,werden die Möglichkeiten sogar noch interessanter. Zuallererst würdedasRitualdasfrischfließendeBlutderjungenFrau mitdemBlutderGöttinund durchdieGöttin mit dem
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ganzen langenFlußdes weiblichen Lebensblutes verbin den.ZweitenswürdedamitihreSexualitätfürdieweibli cheWeltbeanspruchtwerden,bevorsiesichMännernhin gegebenhätte.DadurchwürdeesjedemMannvielschwe rerfallen,siealsseinenBesitzzunehmen,dernurfürseine eigeneBefriedigunggedachtist(indiesemLichtbetrach tet, wird die Phantasie von Höhlenmännern, die Frauen niederknüppeln,immermehrzueinerProjektionmoder nerEinstellungengegenübermännlichweiblichenBezie hungen).UndschließlichwürdediePenetrationmiteiner Göttinnenfigurine das Jungfernhäutchen reißen lassen undsomitdasMädchenaufdenGeschlechtsverkehrvor bereiten. Die Heiligkeit des Rituals würde helfen, diesen AktüberjeglicheBrutalitätoderAngsthinauszuerhöhen. Und natürlich würdesich sodiein späterenKulturen so zwanghaftgestellteFragenachderJungfräulichkeiteiner Frauvonselbstverbieten.
DieHöhlealsKörperinneres–PêchMèrle DieVorstellungvonderHöhlealsdasInneredesGöttin nenkörperskommtunswieeinekühneIdeevor,wennwir dasersteMaldavonhören.EskanneinsehrintensivesEr lebniswerden,wennwirwirklichinHöhlenhineingehen. InderfranzösischenHöhlevonPêchMèrlesinddieKam mern groß und unregelmäßig, die Tunnel breit und ge wundenundgewöhnlichmitBlickaufdieriesigenHallen. StalaktitenundStalagmiteninwunderbarenFormationen schwächendieEmpfindungvonnacktenFelswändenab. AußerdemnehmendieWändeaufgrundihreshohenGe haltsanEisenoxydeneineroteFärbungan;vontriefendem Kalksteinwerdensiefeuchtundrot.DieWirkungisthoch gradig organisch, so stark, daß meine Freundin Leslie HuntundichunswieMikrobenineinemriesigenKörper fühlten. Nach ihrem Besuch der Höhle von PêchMèrle schufdieBildhauerinChristina Biaggieinen »Hügel«mit einernachderweiblichenKörperhöhlegestaltetenInnen form.
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BiaggibesuchtePêchMèrleim Winternachder Touristen saison, so daß sie in den Genuß einer persönlichen Führungkam.DieFrau,diesieherumführte,betonte,daß PêchMèrle eine »Frauenhöhle« sei, und machte auf die eingeritzten Vulven in den Wänden aufmerksam. Auch anderenistdieweiblicheQualitätvonPêchMèrleaufge fallen.DieHandabdrückeandenWändenentsprechender Handgröße von Skelettfunden paläolithischer Frauen. Wie beimTeachingRockinKanadaistaufkeinemderBilder GewaltinirgendeinerFormdargestellt.Aberandererseits kommtGewaltinderpaläolithischenKunstkaumirgend wo vor. Es sei daran erinnert, daß Marshack und andere daraufhingewiesenhaben,daßzwareinigeMenschenze remonielleGegenständetragen,aberniemalseineWaffe– eine merkwürdige Sitte für eine Kunst, die angeblich als Jagdzauberbeabsichtigtwar.Desgleichenstellenwirfest, daßauchinderkretischenKunst,über10000Jahrenach demPaläolithikum,Waffenfehlen. AlexanderMarshackschreibtüberPêchMèrle,daß»weib licheFigureninderHöhleebenfallsmitSymbolen,Hand abdrücken, Reihen von farbigen Punkten, Hufeisenbögen undSchlangenlinienassoziiertsind«,undliefertsomitei nenHinweisdarauf,daßdieangeblichabstraktenZeichen hier und anderswo zu einer Göttinnenikonographie gehörthabenkönnen.Wieweiterobenerwähnt,tauchen die gleichen Zeichen bei den späteren Göttinnenstatuen undVasenderJungsteinzeitauf.Damitistnichtsicherge stellt,daßdieZeicheninbeidenZeiträumenmitdenselben Bedeutungenbelegtwurden.DochinbeidenFällen,Pêch Mèrle und Neolithikum, erkennen wir, daß die symboli schen Formen mit eindeutigen weiblichen Symbolen im Zusammenhangstehen. InPêchMèrlefindensichaußerdemeinigederrelativsel tenenDarstellungenvonFrauengestalten.Dazuzählteine Figur mit herabhängenden Brüsten, spitz zulaufenden Füßen, einem überbetonten Gesäß und schnabelähnlichen Kopf,dieBuffieJohnsonalsdie»ältestebekannteVogel gottheit«bezeichnet.
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Kopflose undvogelköpfigeschwangere Frauen, die tanzen, in nassen Ton gezeichnet;PêchMèrle/Frankreich,ca.20000v.Chr.(nachNoble)
NebenderVogelgöttinsindzweikopfloseFrauendarge stellt. Monica Sjöö und Barbara Mor bezeichnen die drei FigurenzusammenalseineDreifacheGöttin,dieüberek statischeTänzewacht.AlsmeineFreundinLeslieundich die Höhle besuchten, zeigte uns der Führer eine große Steinscheibenebeneinemoffenen,ebenenBereich.Experi mentemitSteinkeulenalsTrommelstöckehabendieMög lichkeit aufgezeigt, daß der Stein als Trommel und der RaumalsTanzflächegedienthabenkönnte. Wirsolltenunsdaranerinnern,daßaufHaitiundineinem Großteil Afrikas die Menschen den Tanz als wichtigstes Hilfsmittelbenutzen,umsichinTrancezuversetzen.An dersalsdieTrancezuständederSchamanen,indenendie seselbstaufReisengehen,habenjenedurchTänzeherbei geführtenZuständegewöhnlichmitBesessenheitzutun.
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Das heißt, ein Gott oder eine Göttin ergreift Besitz vom KörperderPerson.Mankannsagen,daßsichderTänzer vorübergehendalsSelbstzurückzieht,damitderGeisteine physischeFormannehmenkann. Vielleicht haben die Höhlenkünstler akustische Signale eingesetzt, um die intensiveKraftderMalereienzustei gern.DerbereitserwähnteArtikelimU.S.NewsandWorld ReportschildertinteressanteExperimentemitGeräuschen inmehrerenHöhlen.Mangingpfeifenddurchverschiede neHöhlenundverzeichnetedieStellen,wodieTöneam stärksten widerhallten. Fast immer waren genau dort Wandmalereienvorhanden.Lascauxliefertesogarnochin teressantereErgebnisse.IndenKammernmitdenDarstel lungenderrennendenStiereundPferdestelltenForscher fest, daß ihr Händeklatschen wie ein Echo widerhallte, wasdenEindruckeinersichinwildemGaloppnähernden Herdeerzeugte.LetztenEndesdientendieHöhlenmögli cherweise als Orte, um den göttlichen Körper sowohl durchTanzalsauchaufekstatischenReisen zu feiern.
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DergestalteteSteinkörperI DerKörperderGöttin ist der inkarnierte Ursprung. MarijaGimbutas Unsere frühesten Vorfahren waren Nomaden, Wanderer, dieinkleinenGruppendenjahreszeitlichenPflanzenund Rentierherdenfolgten.SeßhafteGesellschaftenundstädti scheKulturenkonntensichohneeinebedeutendetechno logischeEntdeckung,möglicherweisediebedeutendsteal ler Zeiten – die Entwicklung desAckerbaus–,nichtent wickeln. Was auch immer die menschliche Gesellschaft durchdieAufgabedesNomadenlebensverlor,derAcker bau erschloß den Weg zu neuen Erfahrungswelten, ein schließlich neuer Wege des Sehens und des Erschaffens desgöttlichenKörpers.DiesekulturerschütterndeRevolu tion führte zu weiteren Umwälzungen. Stabile Häuser, Tempel,Städtewurdenerrichtet–undeineReihevonBau werken, die so bemerkenswert sind, daß wir nochimmer stehenbleibenundnurnochstaunenkönnen,wennwirsie am Wegesrand zufällig sehen – Megalithen, Steinmonu mente.ZuvorgingendieMenscheninHöhlen,umsichmit dem Göttinnenkörper zu verbinden. Nun errichteten sie selbstHöhlenundsogarganzeHügelundverändertenso die Oberfläche der Erde selbst. UndfallsdieMegalithen diephysischePräsenzderGöttinzumAusdruckbrachten, leistetenvielevonihnennochetwasmehr:Sieverschlüs selteninsicheinfundiertesundkomplexesnaturwissen schaftliches Wissen um solche Dinge wie die Bewegung desJahresdurchseineverschiedenenJahreszeitenunddie Art und Weise, wie sich dasSonnenjahrmitdenPhasen undZyklendesMondesüberschneidet. WirlebenvondiesengroßenWesenamHimmel.Unsere Nahrung hängt von der Sonne ab. Die Fruchtbarkeit der FraufolgtdemMond.DurchdieunglaublicheVerwegen
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heit und Hingabe der Megalithenbauer vereinigten die MenschenderJungsteinzeitverschiedeneAspektedeshei ligen Körpers miteinander: die Weite und Offenheit des Himmels, die unumstößlichen Zyklen von Sonne und Mond und die seit langer Zeit bestehende Festigkeit des Gesteins. Bei so vielen dieser Konstruktionen, von den Steinkreisen über die Erdhügel bis zu den Ganggräbern, scheinendieErbauervoneinerbestimmtenÄsthetikinspi riertwordenzusein–derrundenFormundderFülledes weiblichenKörpers.
DieAnfängedesAckerbaus Autoren,dieüberdiefrühemenschlicheKulturschreiben, bieten unterschiedliche Zeiten undOrtefürdieAnfänge desbewußtenPflanzensundErntensan.JosephCampbell zufolge beginnt der Ackerbau ungefähr um die gleiche Zeit,10000v.Chr.,invierverschiedenenRegionen–Nord und Südamerika, Südostasien und Pazifik, Südwestasien sowieAfrika.MerlinStone,diesichaufdenNahenOsten konzentriert,schreibt,daßderfrühesteNachweisfürden AckerbauinSyrien,JordanienundJerichoaufetwa8500v. Chr. zurückgeht. James Mellaart datiert Ackerbaugeräte auf9000v.Chr.undschreibtaußerdem,daßSchafezuerst um8900v.Chr.domestiziertwurdenundderHandel(mit Obsidian) zwischen Anatolien, Türkei, und der Stadt Je richonahedemWestuferdesFlussesJordanbereitsfürdas Jahr8300v.Chr.belegtist. Im größten Teil Europas ereigneten sich diese enormen kulturellenUmwälzungenersteinigeZeitspäter.DieWis senschaft der Archäologie entstammt der europäischen Kultur,waseinGrunddafürist,daßwirsovielmehrüber frühe europäische und nahöstliche Ackerbaugesellschaf tenwissenalsüberdieKultureninAsien,AfrikaoderSüd undNordamerika. Ein anderer Grund sind die Megalithbauten selbst, die große Zahl der Erdhügel, Steinkreise, Tumuli, Dolmen, SteinhügelundanderenBauwerke,diesichvonIrland
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und Großbritannien über Westeuropa nach Skandinavien, Malta,Sizilien,Kretaunddarüberhinauserstrecken.Die Megalithen verdienen unsere Aufmerksamkeit, erfüllen unsmitEhrfurchtundNeugierde.Werhatsiewirklichge baut? Welchem Zweck dienten sie?Warumkamensiezur gleichenZeitwiederAckerbauauf?Undvorallem:Was bedeutensie?
MegalithkunstaußerhalbvonEuropa AuchananderenOrtengibtesÜberrestevonMegalithen undErdwerken.WirfindenSteinkreise,Dolmen,Menhire und andere Bauwerke unter anderem in Neuengland, Alaska,Madagaskar,PeruundaufdenNeuenHebriden. Durch den Kolonisierungsprozeß gerieten sie jedoch in Vergessenheit oder wurden sogar zerstört. Der heutige BundesstaatOhioindenVereinigtenStaatenumfaßteeinst TausendevonGrabhügelneinesVolkes,daszurZeitder AnkunftdererstenEuropäerbereitsausgestorbenwar.Die späteren Indianer waren zwar nicht die Erbauer dieser Hügel gewesen, zerstörten sie aber auch nicht. Europäi sche Bauern jedoch pflügten fast alle nieder, so daß nur nocheinwinzigerBruchteilvonihnenerhaltengeblieben ist, der heute in staatlichen und Nationalparks unter Schutzsteht.MitihrersanftanschwellendenFormlassen auchsieandasBildeinesschwangerenBauchesdenken. Die meisten Amerikaner haben von Stonehenge gehört undFotosgesehen.AbersehrwenigewissenvondenErd hügelninOhioodervonderSchlangenskulpturvonrund 400 Metern Länge im südlichen Ohio, von dem astrono misch ausgerichteten Erdhügel in Cahokia/Illinois, der zweieinhalbmalsogroßistwiedieCheopsPyramide. Können wir angesichts des Wissens um die enge Bezie hungzwischenSchlangenundGöttinneninsovielenTei len der Welt annehmen, daß diese eleganten Skulpturen von einer Zeit und einer Kultur berichten, als noch kein zorniger Gott »Feindschaft gesetzt hatte« zwischen der FrauundderSchlange?
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DasObservatoriumvonChacoCanyon Amerikanerhabenvielleichtdavongehört,daßdieaufge hendeSonneamTagderWintersonnenwendedenKam merhügel von Newgrange in Irland durchdringt, so wie dieerstenSonnenstrahlenamTagderSommersonnenwen dedenFersensteininStonehengeberühren;dochnursehr wenigewerdenvonChacoCanyoninNeuMexikogehört haben.DorterrichtetendieAnasazivor1000Jahreneinen SonnenkalenderinStein,dendieKünstlerinAnnaSofaer 1977 wiederentdeckte. Auf einer 150 Meter hohen Berg kupperitztendieAnasazizweispiralförmigeBilderinden Stein(Petroglyphen),dievondreigroßenSteinplattenge schütztwurden(wirwerdenbaldsehen,daßdieSpirale, auchinihrerzweitensymbolischenBedeutung,denLauf derSonnedurchdasJahraufzeichnet).JedenTagzurMit tagszeitfälltdasLichtdurchdieRitzenzwischendenPlat ten.AmTagderSommersonnenwende,wenndieMittags sonneihrenhöchstenPunktamHimmelerreicht,erscheint einLichtdolchinderMittedergrößerenSpirale;amTag der Wintersonnenwende berühren zwei Lichtdolche die Außenseiten der Spirale, und zurZeitder Tagundnacht gleichendurchdringtdasLichtdieMittederkleinerenSpi rale.Darüberhinauspassiertalle19JahreeinSchattendie MittedergroßenSpirale,andemTag,andemdieSonnein einer Position aufgeht, die der Vollmondnurdieseseine Mal in einem 19 Jahre dauernden Zyklus erreicht. Der Schatten halbiert die 19 Ringe der Spirale (der Pfad des MondesbildetebenfallsSpiralen)undrichtetsichaneiner eingeschnittenenKerbe aus.DerMondselbstwirfteinen Schatten, der den äußersten linken Rand der Spirale berührt. WiediemeistenanderenAmerikanerwußteichnichtsvon diesemWunderwerkderKunstundWissenschaftinmei nemeigenenLand.IchbinLucyLippardfürdieobenan geführteBeschreibungvonChacoCanyoninihremBuch Overlay zu Dank verpflichtet. Lippard weist darauf hin, daßdieErrichtungeinessolchenKalenderseinfundiertes
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Wissen über Astronomie, die Physik der gekrümmten Oberfläche und präzise Vermessungen voraussetzt, um dieGravierungeninderrichtigenGrößeanderrichtigen Stelleanbringenzukönnen.Wirkönnendemhinzufügen, daß sie gleichfalls mit dem Wunsch verbunden ist, den wechselhaften Himmelskörper in der Beständigkeit von Steinzuverwurzeln. TrotzsolcherWunderwerkeinmeinemeigenenLandwird sichdiesesKapitelinersterLinieaufdieneolithischePeri odeinEuropakonzentrieren.DaichwährendderRecher chen für dieses Buch in Europa lebte, besuchte ich hauptsächlich europäische Stätten. Darüber hinaus sind diearchäologischenFundeinEuropa,wiebereitserwähnt, vieldetaillierterdokumentiertalsanderswo.
DieSchönheitderMegalithbauten DieBandbreitedereuropäischenMegalithbautenerstreckt sich von dem erhabenen Steinkreis von Avebury (der so großist,daßinseinerMittesogareinmodernesDorfliegt) überStonehengebishinzuSteinkreisen,dienureinpaar Meter querfeldein außerhalb von Sligo in Irland zu fin den sind. Sie bewegen sich von den begehbaren Grab hügeln von Newgrange und Knowth, die jeweils eine FlächevonknappeinemhalbenHektareinnehmen,über kleinekünstlicheHügelinSkandinavienbishinzudeniri schen Cairns oder Steingrabhügeln, die gerade so groß sind,daßmaninsiehineinkriechenkann.Selbstdieeinzel nen Steine können ein großes Geheimnis in sich bergen. Massiv,imLaufevonJahrtausendenvonWindundWas serverwittert,stellensieseltsameFormendar,Traumbil derngleich. DerBesuchderMegalithbauten,besondersderSteinkrei se,führtunsindielangeundgeheimnisvolleGeschichte derMenschheitein.AuchwennwirihreBedeutungund ihrenZweckergründenoderintuitiverkennenmögen,so hinterließenihreErbauerwiedieHöhlenkünstlervorih nendochkeineweiterenAufzeichnungenalsdieWerke
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MenhireimSteinkreisvonAvebury/England,ca.2500v. Chr.
selbst.DieKreiseundHügelsindeinfachda,inzwischen mit der Landschaft verbunden, Teil des riesigen Körpers vonErdeundHimmelundWasser.Ausineinanderpassen denSteinenodereinzelnenFindlingenaufgebaut,entwe der nackt oder mit Erde bedeckt, vermitteln sietrotzder KomplexitätihrerGestaltungeinBildderEinfachheit.Sie scheinen voll und ganz dorthin zu gehören, wo sie sind. Wenn wir sie betreten,in die Hügelhineingehenoderin denKreisensitzen,werdenauchwirindieseVerbindung derMenschheitsgeschichtemitdenZyklenvonLebenund Tod, dem sich drehenden Jahr und dem Körper unserer Mutter,derErde,einbezogen.
GeheimnissederMegalithbauten DieeuropäischenMegalithbautenhabenzuvielenTheori en über ihre Ursprünge und ihren Zweck angeregt. Der britischenLegendeentnehmenwir,daßderwalisischeMa gier Myrrdin, im Französischen als Merlin bekannt, mit seinen Zauberkräften Stonehenge für König Artus Vater errichtete.DenMenschenspätererKulturen,diedashoch entwickelte technologische Wissen der Steinzeit verloren hatten,mußesvorgekommensein,alskönnemannurmit HilfevonMagiesolcheriesigenSteinblöckeanihrenPlatz befördern.
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InspäterenBerichtenwird behauptet, daß Stonehenge von den Druiden erbaut wurde, die dort angeblich Men schenopfer darbrachten. Als man schließlich zu der Er kenntnis gelangte, daß die Megalithbauten Kulturen wie der der keltischen Druiden zeitlich vorausgingen, wurde angenommen, daß die Erbauer sie unter dem Einfluß Ägyptens oder anderer »fortschrittlicher« Mittelmeerkul turengeschaffenhatten.ErstkürzlichhabenArchäologen mittels der Radiokarbonmethode undderDendrochrono logie (Datierung durch Baumringe) herausgefunden, daß es genaugenommen drei Stonehenges gibt, die im Laufe vonüber1500Jahrengebautwurden,wobeidasältesteet wa3100v.Chr.entstand,JahrhundertevordenPyramiden. DieDebattenüberMegalithbautenhabennichtaufgehört. InfreierWiedergabevonWallaceStevensGedichtThirteen Ways of Looking at a Blackbird werden im folgendendrei zehnMöglichkeitenaufgezählt,alswasmaneinenMega lithen betrachten kann, von denen jede eine zeitgenössi scheTheoriedarstellt,wiemansieinBüchernfindenkann. EinMegalithstellteineriesigeSkulpturdar. EinMegalithkennzeichneteinenOrtderheiligenKraftinderErde. EinMegalithbindetflüssigeErdenergie. Ein Megalith erzeugt »Ultraschall« und elektrische Energie durch Quarzkristalle,dievonLichtaktiviertwerden. EinMegalithist einComputer,derEklipsen,äußereAusrichtungen vonSonneundMond,PhänomenevonPlanetenundKonstellatio nenundandereEreignisseamHimmelaufzeichnet. EinMegalithmarkiertGebietsgrenzen. Ein Megalith bringt ästhetische Landschaftselemente miteinander in Einklang. EinMegalithisteineStättefürFestlichkeiten. EinMegalithisteineBegräbnisstätte. EinMegalithisteineWiedergeburtsstätte. EinMegalithisteineOpferstätte. EinMegalithkennzeichneteinenSchnittpunktderleyLinien. Ein Megalith weist auf einen Akupunkturpunkt auf dem Erdkörper hin.
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BögenaufeinerSteinschwelleamGanggrabvonDowth/Irland, ca.3500v.Chr.
DieVerfechterdieserverschiedenenAnsichtenwetteifern oft miteinander, als ob die Megalithkünstler nur einen Zweck beabsichtigt haben könnten. Die Befürworter der astronomischenTheoriebehauptenbeharrlich,daßessich beidenBögenundKreisenanirischenGanggräbernoder denMenhirenimbretonischenGavriniseinzigundallein um Sonnen und Mondmuster handelt, und belächeln die Theorie,daßdieBilderetwasAnthropomorphesoderReli giösesdarstellen.Anderewiederumbetonengenausohef tig,daßdieBögendieErneuerungdurchWassersymboli sieren. Und viele (obwohl nicht alle) Archäologen halten dieFelszeichnungenfürbloßeZierde,»Gekritzel«.
Astroarchäologie SeiteinigenJahrenrichtetsichdieAufmerksamkeitaufdie »Astroarchäologie«, die Entdeckung von umfassenden ParallelenzwischenSteinkreisenundHimmelsereignissen wiezumBeispieldenSonnenwendenundTagundnacht gleichen.GeraldHawkins,dermitseinemBuchStonehenge Decoded als erster der Öffentlichkeit diese Ideen zugäng lichgemachthat,bezeichnetStonehengealseinengiganti schenComputerzurKennzeichnungvonEklipsen,äuße ren Positionen von Sonne und Mond und natürlich dem berühmtenSonnenaufgangderSommersonnenwende.
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Beispielsweise geht der Vollmond jeden Monat nicht an derselben Stelle auf und unter, sondern bewegt sich in einem Zyklus, der durchschnittlich 18,61 Jahre dauert. Weil die Zahl einen Bruch (0,61) enthält und die Zeit ei gentlichzwischeneinemZyklusunddemnächstenvari iert,hatHawkinsausgerechnet,daß56Jahresichalsganze Zahlambesteneignen,umdieUmlaufbahndesMondes übermehrereJahrzehntezuverfolgen.Stonehengeenthält einenKreisvon56Löchern,dienachihremEntdeckerim 17. Jahrhundert als AubreyLöcher bezeichnet werden. Markiersteine,dieaufdemKreisderAubreyLöcherüber 56JahrehinwegvonLochzuLochversetztwurden,könn ten die Bewegung des Mondes graphisch dargestellt ha ben. Hawkins schreibt, daß esdermodernenWissenschaft nur durchdieErfindungvonComputernmöglichist,alleDa tenzuverarbeiten,diezurBestimmungallerAusrichtun genvonStonehengenotwendig sind.Wirkönntenaußer dem hinzufügen, daß ein gewaltiger Gedankensprung notwendigwar.DieIdeologiedesPrimitivismusmachtes unsschwer,SteinzeitmenscheneinsolcheskomplexesWis senzuzutrauen.SelbstheutedrehtsichderStreitumdie Astroarchäologie oft um das Thema, daß prähistorische MenschensoetwasKompliziertesnichthättenleistenkön nen. NichtalleMegalithbautensindnachdemHimmelausge richtet.InseinemBuchBeyondStonehengeerläutertHaw kinsdieUntersuchungen,diedurchgeführtwerdenmüs sen, bevor wir sagen können, daß eine bestimmteStätte astronomischeEreignissemarkiert.Aberselbstwennwir die größeren Steinkreise als Computer akzeptieren, wird damitnichtwirklicherklärt,warumMenschensieaufge stellt haben.Das WissenumdieEklipsen,dieMondzy klen oder sogar die Sonnenwenden und Tagundnacht gleichen dient eigentlich keinem praktischen Zweck. So solltenbeispielsweisedieFeldfrüchtezurZeitderSom mersonnenwende am 21. Juni schon längst gepflanzt sein.
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Naturwissenschaftliche Kenntnis um ihrer selbst willen ist eine Möglichkeit (so wie Kunst um der Kunst willen eine Möglichkeit ist, wenn wir an die Höhlenkunst denken).EinigedergrößtenwissenschaftlichenProjektein der modernen Gesellschaft, wie etwa hochentwickelte Teilchenbeschleuniger, dienen keinem unmittelbaren Zweck. Die Teilung von Atomkernen hilft uns zwar, die ersten Augenblicke der Schöpfung zu verstehen, aber nicht, unser tägliches Leben zu bewältigen. Betrachteten die Steinzeitmenschen Wissen als einen Nutzen an sich, desenormenAufwandsanRessourcenundArbeitwert, die erforderlich waren, um etwa ein Stonehenge zu er richten? Lassen Sie uns eine Hypothese durchspielen. Angenom men,daßinStonehengeundananderenMegalithstätten Ritualestattfanden,daßdieEreignisseamHimmelsichal lesowohlineinreligiösesalsauchwissenschaftlichesMu stereinfügten.Mancheinerfindetesvielleichtmerkwür dig,daßMenschen,diezupräzisenastronomischenBeob achtungen, komplexen Vermessungen und gewaltigen Bauleistungenfähigsind,dieganzeSacheimDienstevon Religion,ZeremonienundmythischenGeschichtensehen könnten.AbervielleichtistunsereKulturmerkwürdig.Wir haben Wissenschaft und Religion voneinander getrennt, alsobReligionnurinBüchernundEmotionenbegründet liegeundnichtinderphysischenWelt–alsobeinewis senschaftliche Suche nach den Anfängen des Universums nichtsmitReligionzutunhätte.
DieSonnevonNewgrange unddieVerrückten Viele professionelle Archäologen verachten die Anregun gen–undernsthaftenForschungen–vonNichtarchäolo gen,diesiealleineinenTopfwerfenundals»dieVerrück ten«bezeichnen.P.R.GiotschreibtineinemArtikelüber dieMegalithbautenFrankreichsübersie:»DasiedenAr chäologeneineständigePlagesind,istesoftschwierig,ih
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nendie wenigenIdeen, die man ihnen zu verdanken hat, hochanzurechnen.«AberdieArchäologenhabenihreei genen Vorurteile. Während Amateure allzu bereitwillig neueIdeenakzeptieren,gehenProfessionellevielleichtall zubereitwilligübersie–undauchübereinigealteIdeen– hinweg. SowiedieerstenSonnenstrahlenzurZeitderSommerson nenwende den Fersenstein von Stonehenge berühren, schicktdieaufgehendeSonneamTagderWintersonnen wendeeinenstarkenLichtstrahlhinabindiemittlereKam merdesGanggrabesvonNewgrangeinIrland.DasLicht bewegtsichlangsam,wandertdenBodenhinunter,bises die hintere Wand erreicht, wo es zu einem senkrechten Strahl emporsteigt, eine Zeitlang dort verweilt und sich dannwiederaufdemselbenWegentfernt,umdenBetrach teraufsneueindervölligenDunkelheitdieserbemerkens wertenkünstlichenHöhlezurückzulassen.BeimBaudie sesGrabhügelsvor5000JahrenrichtetenseineArchitekten ihnsosorgfältigaus,daßdasLichtauchamMorgenvor undnachderWintersonnenwendeindieKammerfielund jeden Tag eine bestimmte Stelle an der Wand berührte. SelbstwennWolkendieSonneamTagderWintersonnen wendeverdunkelten,wußtendieMenschennochimmer, umwelchenTagessichhandelte,indemsiedieMarkie rungenabzählten.SeitjenerZeithatsichdieErdneigung leichtverändert,sodaßdieWirkungwenigerperfektist, abernochimmerdeutlichsichtbar. Von1849anwarvonNewgrangesovielausgegraben,daß jederdiesesjährlicheEreigniserlebenkonnte.1867schil derteGeorgeRussell,derunterdemNamenA.E.schrieb, eineVisiondesGottesAengus,deralsLichtin»einerhoch ragenden, kreuzförmigen Höhle« erschien, womit New grange gemeint sein könnte. Bis zur Jahrhundertwende warderLichtstrahlzueiner»Legende«geworden,dievon demVerwalterRobertHickeyverbreitetwurde,derloka lenBesucherngestattete,demEreignis beizuwohnen,und vielenanderendavonerzählte.Außerdemschrieb1909Sir NormanLockyer,LeiterdesObservatoriumsfürSonnen
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physik,inseinemBuchStonehengeandOther British Stone Monuments Astronomically Considered, daß Newgrange nach der Wintersonnenwende ausgerichtet sei. Umdiese Zeit herum bezeichnete der Anthropologe W. Y. Evans Wentz,dersichmitirischemVolkstumbeschäftigte,New grangeunddieGrabhügelinGavrinisalsanderSonneori entiert(MarijaGimbutaszufolgeistGavrinisinersterLi nie nach den äußeren Positionen des Mondes ausgerich tet).LockyerundEvansWentzhabenwederdasLichtge sehennochdarübergeschrieben.AberHickeysahesund zeigteesJahrfürJahranderen. UndtrotzdemschriebGlynDaniel,dervielleichthervorra gendsteArchäologeseinerZeitaufdemGebietderMega lithbauten,erst1960überdiese»Legende«:»Esisteinselt samer Schwindel, der fast in toto wiedergegeben werden mußalsBeispielfürdasDurcheinandervonUnsinnund Wunschdenken,demsichdiejenigenhingeben,diedieAn nehmlichkeitendesIrrationalenunddieFreudenderUn vernunftdemangestrengtenDenken,dasdieArchäologie verlangt,vorziehen.«DasSeltsameandiesemVerrißvon HickeysBerichtist,daßmansichdasLichtnurhätteanse henmüssen.ErstimJahre1969fandsichderArchäologe MichaelJ.OKellyvorSonnenaufgangamTagderWinter sonnenwende in Newgrange ein und beobachtete das Licht.AlserseineBeobachtungenveröffentlichte,stießer aufgroßenWiderstand,undunteranderemwurdenVer mutungen,daßessichbeidemLichtnurumeinezufällige Erscheinunghandle,undsogarBeschuldigungenlaut,daß OKellydenBeweisgefälschthabe. DieserBerichtstammtausMartinBrennansBuchTheStars and the Stones. Brennan geht mit seinen Behauptungen manchmalrechtweit,undseinefrüherenSchriftenstellen einigeradikaleIdeenzurDebatte,aberseinWerkenthält bemerkenswerte Entdeckungen von komplexen solaren und lunaren Ausrichtungen in ganz Irland. Die meisten dieser Entdeckungen sind aufdirekteBeobachtungenvon BrennanundJackRobertszurückzuführen(sowohlBrenn analsauchRobertssindKünstler,wassieindieGesell
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schaft von Menschen wie Merlin Stone, Buffie Johnson, VincentScully,MonicaSjöö,BarbaraMor,DorothyCame ron,AnnaSofaerundMichaelDamesaufnimmt).IhreEr gebnisse stießen nicht nur auf enormen Widerstand; sie mußtenoftsogarheimlichindieverschiedenenGrabhügel eindringen,umdieWirkungenderunterschiedlichenAus richtungen zu beobachten (»archäologische Spionage«, wieBrennanesnennt).Undwiedereinmalhättendiejeni gen,dieversuchten,BrennansundRobertsArbeitinVer rufzubringen,einfachnurdasExperimentwiederholen– miteigenenAugensehen–müssen.
Körperformen BrennanselbstlehntdenGedankenaneineanthropomor pheDarstellungbeidenGrabhügelnab.Unddochistdie Formnichtstriktfunktionell.DieGängemüsseneinebe stimmteLängeaufweisen,damitdasLichtrichtigeindrin genkann,aberesistnichtklar,obsiekreuzförmigangelegt sein müssen – eine Form, die die heilige Architektur zur DarstellungdesmenschlichenKörpersimmerverwendet hat.DieenormeGrößederGrabhügel,ganzzuschweigen von ihrer Form, impliziert eine gewisse symbolische Be deutung,wennsienichtgargynäkomorph(wieeineFrau geformt) ist. Der gesamte Grabhügel von Newgrange nimmtbeiweitemmehrFlächeein,alsnotwendigist,um denInnenraumzuüberdecken.DerGangerinnertunsan eineHöhleineinemBerg–oderaneinenSchoß. AbgesehenvondengroßenGrabhügeln,findenwirinIr landviele»Hofgräber«,sobenanntnachdemhalbkreisför migen Eingang, der von zwei geschwungenen Reihen großerSteinegebildetwird.AuchsiehabendieseInnen form,einemKörpermitausgestrecktenArmenundBeinen gleich. Wir begegnen ihrauchinWestKennetLongBar row, dem rechteckigen Langhügelgrab in der Nähe des Steinkreises von Avebury, und wir finden sie in neolithi schenSchreineninsoweitentferntenLändernwiePolen unddemehemaligenJugoslawien.
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EinJahrestag EinevonBrennansEntdeckungenbeziehtsichaufDowth, den dritten der riesigen Grabhügel neben Knowth und Newgrange.ImGegensatzzudenbeidenanderenStätten wurdeDowthnichtrestauriert,sodaßmanlediglicheinen kleinen,mitBäumenundhohemGrasbewachsenenHügel sieht. Bei eingehenderer Betrachtung stellen wir jedoch fest, daß dieser natürlich aussehende Hügel an seinem Fußeeine»Höhle«miteinemEisentorenthält,dasdenZu tritt verwehrt. Und wenn wir den nacktenSteinamFuß des grasbedeckten Hügels untersuchen, entdecken wir eingeritzteSpiralen. Laut Brennan rührt das Licht, das in Dowth eindringt, nichtvonderaufgehendenSonnewieinNewgrangeher, sondern vom Sonnenuntergang der Wintersonnenwende. VielleichthabendieMenschen,diediesenHügelerrichte ten,einenrituellen»Tag«durchdasJahrhindurchbegan gen.EinesolcheeinjährigeZeremoniekönnteinbestimm tenAbständenstattgefundenhaben,vielleichtallesieben Jahre (die Bedeutung der Zahl sieben in der Religion ist weder willkürlich noch »archetypisch«, sondern bezieht sich aufdiesieben»Planeten«–einschließlichderSonne unddemMond–,diefürunserenVorfahrenohneTelesko pesichtbarwaren). DerJahrestagkönnteinNewgrangebeimMorgengrauen am Tag der Wintersonnenwende begonnen und sich das ganzeJahrhindurchanverschiedenenStättenfortgesetzt haben (wobei sich möglicherweise verschiedene Gemein schaften auf der ganzen Insel zusammenschlossen). Zur Zeit der Tagundnachtgleichen könnten in Knowth beson dereEreignissestattgefundenhaben.Knowth,dergrößte und möglicherweise komplexeste Grabhügel, weist zwei entgegengesetzte Eingänge auf, einer führt nach Osten undderanderenachWesten,umsowohldenSonnenauf gang als auch den untergang der beiden Tagundnacht gleichen zu markieren – oder vielleicht den Sonnenauf gang der Frühlingstagundnachtgleiche und den Sonnen
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UntergangderHerbsttagundnachtgleiche, wenn der »Jah restag«sichseinemEndenäherte.Schließlichendeteder Ritualtag wieder am Tag der Wintersonnenwende, aber dannbeiSonnenuntergang,inDowth. EinesolcheSpekulationkönnenwirnichtüberprüfen.Ich muß zugeben, daß ich sie bizarr finde, aber andererseits denkeich,daßsiedemgroßenNetzwerkvonMonumen teneinegewisseSymmetrieverleiht.Undsiestimmtmit derArtundWeiseüberein,wieandereKulturendieWelt und die großen Sonnenereignisse des Jahres betrachten, nämlichalseineeinzigeSchöpfung,lebendigundmithei ligerKrafterfüllt. Die Archäologen ziehen es vor, solchen phantastischen IdeenausdemWegzugehen(wassieauchtunsollten,da sie sichmit empirischenBeweisenbeschäftigenmüssen). Zugunsten einer Konzentration auf die wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Lebensbedingungen alter Völker zieheneszeitgenössischeArchäologenvor,FragenderRe ligionzuignorieren(ganzzuschweigenvondenZeugnis sen des Volkstums). In dem Buch The Megalithic Monu mentsofWesternEurope,herausgegebenvonC.Renfrew,zi tiertOKellyeinen1969veröffentlichtenArtikelvonA.Fle ming,demselbenJahr,indemOKellysichvondemLicht in Newgrange überzeugte: »Die Muttergöttin hat uns zu lange festgehalten; wir wollen uns aus ihrer Umarmung lösen.«Woraufdiejenigenvonuns,diedie(wieder)erwa chende Göttinnenreligion erforschen, vielleicht einfach antworten:»Wirwollendasnicht.«
GrabstättenundArchäologen Die professionelle Archäologie bezeichnet die Megalith bautenüberallinEuropaals»Grabstätten«unddieneoli thischeKulturzuweilenalsvomTodbesessenoderumei nenTotenkultzentriert.EinemNichtarchäologenmagdas Beharrendarauf,jedesMonumentalseinGrabanzusehen, zwanghaftvorkommen.AusgräberhabenineinigenMe galithstrukturenRestevonSkelettenundverbranntenLei
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chengefunden,aberkeineswegsinallen.Ruth Whitehou se,dieinTheMegalithicMonumentsofWesternEuropeüber kreisförmige Strukturen in Italien schreibt, zitiert Lillius Beobachtung, daß nur etwa 50 dieser Anlagen Hinweise auf Bestattungen lieferten. »Tatsächlich«, schreibt White house,»enthieltenlediglichdreiGrabstättenwirklichSke lettmaterial.«Undsiefährtfort:»IndenmeistenDolmen... wurdenwederSkelettrestenochArtefaktegefunden...Wir wissennicht,obdieDolmenfürEinzeloderKollektivbe stattungen bestimmt waren.« Sie scheint nicht die Mög lichkeitinBetrachtzuziehen,daßsieüberhauptnichtfür Bestattungenvorgesehenwaren. DieGesellschaft,dieNewgrangeerbaute,benutztedieAn lagewahrscheinlichjahrhundertelang.1967durchgeführte Ausgrabungen brachten verbrannte und unverbrannte menschlicheKnochenansTageslicht–voninsgesamtetwa fünfMenschen;fünffüreinderartkomplexesundriesiges Bauwerk!InihremBuchAConciseGuidetoNewgrangebe zeichnetClaireOKellydieseResteals»ausreichend,um zubeweisen,daßdieseStättefürBestattungenverwendet wurdeundnicht,wieangeregtwurde,alsZenotaphoder Tempeldiente.«FünfineinemriesigenHügel,dergebaut wurde,umjahrtausendelangdenSonnenaufgangimWin terexakteinzufangen. InvielenFällenhatniemanddieinMegalithstättengefun denenmenschlichenÜberrestedatiertundsodieMöglich keitoffengelassen,daßspätereKulturenodereinzelneGe meinschaftensiealsBestattungsplätzeverwendeten.Aber selbstwenndieSkelettfundezudenMenschenausderur sprünglichen Erbauerkultur gehörten, warum sollten die Stätten deswegen vornehmlich Grabstättengewesen sein? Brennanweistdaraufhin,daßinderKathedralevonWest minster innerhalb eines viel kürzeren Nutzungszeitraums weit mehr Leichen bestattet wurden als in Newgrange. Würden wir diese Überreste als »ausreichend« ansehen, umdie Behauptungaufzustellen,daßWestminsternicht fürreligiöseZweckeverwendetwurde?Diejenigen,dieal le Monumente als Grabstätten ansehen, argumentieren,
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daß Grabräuber die Beweise beseitigt hätten. Aber GrabräubertrachtengewöhnlichnachGoldundEdelstei nen. Warum sollten sie Knochen wegschleppen? Und selbstwennesmöglichist,daßGrabräuberamWerkwaren, liegendafürkeinekonkretenBeweisevor. DieGrabtheoriehateinelangeVorgeschichte.Inderkelti schen Legende wurdeNewgrangealsdieGrabstätteder alten Könige von Tara bezeichnet. Jahrhundertelang galt SilburyHillbeidenBewohnernvonWiltshirealseinriesi gesGrabfüreinenlegendärenKönigSil.Undauchwenn die Menschen die Steinkreise oder Dolmen gewöhnlich nichtalsFriedhöfebetrachteten,hieltenvielevonihnensie für Orte, an denen Menschenopfer dargebracht wurden. JedochrührtendieseMeinungenvonderEinstellungspä tererKulturenher,diemitdenMonumentenselbstüber hauptnichtszutunhatten. DerBegriff»Totenkult«beziehtsichvielleichteheraufun sereeigeneKulturalsaufdieneolithische.Welcheandere GesellschafthatjemalsjedeneinzelnenLeichnamineinem eigenen privaten Stück Land, in dekorativen, mit Samt ausgekleideten Särgen begraben, angekleidet und ge schminkt,umwiezuLebzeitenauszusehen,undmiteiner großen,graviertenMarmorplattegeehrt? DieGrabtheorieüberdieMegalithbauteninFragezustel lenbedeutetnicht,daßdieMenschensieüberhauptnicht alsBegräbnisplätzebenutzten.Offensichtlichdienteneini ge Megalithbauten vornehmlich als Grabstätten. Von 76 »Gräbern« auf den OrkneyInseln enthielten lediglich 26 menschlicheKnochen.Inzweivonihnenfandmanjedoch 157beziehungsweise341Skelette,genügend,um,wieMa rijaGimbutasschreibt,»alleToteneinerganzenGemein schaftzurepräsentieren«.WirbezweifelndieGrabtheorie, damitwireineVielfaltvonMöglichkeiten,sowohlwissen schaftlichewieauchreligiöse,zuerkennenvermögen,die imBewußtseinderErbauernebeneinanderexistierthaben könnten.WennGrabhügelalsGrabstättenverwendetwur den,danndeutetdiegewählteForm–undeineAusrich tungnachdemSonnenaufgangzurZeitderTagundnacht
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gleichenoderderWintersonnenwende–mit dem kreisför migen Hügel als Schoß und dem Gang als Geburtskanal aufeineIdeederWiedergeburthin.
Grenzmarkierung DerArchäologeColinRenfrewäußertdieAnsicht,daßdie Monumenteals»Landmarkierungen«dientenundzuver stehengaben,daßeinebestimmteGruppeübereinTerrito rium herrschte. Es ist nicht leicht einzusehen, wie das funktionierensollte.WiekönntebeispielsweiseeinStein kreisanzeigen,welchesStückLand»beansprucht«wurde? Oder warum erforderten einige Orte mehrere ziemlich dicht beieinander liegende große Hügel oder Kreise und anderewiederumüberhauptkeine?Oderwarumsollteein Steinhügel an einer Stelle, ein Dolmen an einer anderen undeinriesigesGanggrabaneinerdrittenausreichen.An dererseits,warumsolltenwirdieIdeekurzerhandabtun, wie es einige Befürworter megalithischer Spiritualität zu tunscheinen? MenschenverspürenoftdasBedürfnis,ihreAnwesenheit zukennzeichnen.InNeuenglandundimOstendesBun desstaatesNewYorkfindetmanrechtgroße(undoftschö ne)MenhireodersogarganzeReihenoderHalbkreisevon Steinen,dienebendenAuffahrten,Rasenflächen,Eingän gen oder Parkplätzen von unzähligen Häusern, Kirchen, BankenundEinkaufszentrenaufgestelltsind.Indemwin zigenDorfNorthSalemimStaatNewYorkkannmanei nengroßen,ungefähr90TonnenschwerenFindlingsehen, dessenFormeinwenigdemKopfeinerSchlangeoderei nerSchildkröteähneltundderaufmehrerenkleinen,ke gelförmigen Kalksteinstützen ruht, die zu einem gleich schenkligen Dreieck angeordnet sind. Befürworter der nordamerikanischen Megalithkultur halten dieses Gebilde für einen Dolmen (und einige behaupten, daß Menschen sichunterihmhindurchbewegten,umrituellwiedergebo renzuwerden);dieakademischeArchäologiedagegenbe trachtetesalsdiezufälligenÜberresteeinesGletschers.
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Dolmen odernicht,der Findling liegt sehr nahe bei der ört lichen Kirche, und vor der Kirche befinden sich zwei prachtvolleMenhire,wieeinTorzurgeistigenWelt. Warum könnten die Megalithen nicht als Markierungen und zugleich als spirituelle Wirklichkeit gedient haben? Die Menschen scheinen dem Land ihren Stempel auf drücken zu müssen. Wie bei den Handabdrücken in der Felskunst (Handabdrücke tauchen auch an den Wänden von Çatal Hüyük auf, darunter auch der Abdruck einer Kinderhand auf einer Statue, die den Körper der Göttin darstellt) könnten die viel größeren Steinbauten einen Platz als heiligen Bezirk ausgewiesen haben. Vielleicht stellensieeinBedürfnisdar,denunsichtbarenKörperder geistigenKraftinderWeltsichtbarzumachen. HandabdrückeineinergroßenHöhlehabenetwasZaghaf tesansich,sindeinekleineGestederAnwesenheit.Biszur ZeitdesNeolithikumshattendieMenscheninEuropaan Selbstvertrauen gewonnen, so daß sie in England die Landschaft selbst verändern konnten, indem sie ganze Hügelerrichteten,wiezumBeispielSilbury,odereinenbe stehenden Berghang zu einer labyrinthähnlichen Form skulptiertenundaufdieseWeisedasnatürlicheLandinet wasvonMenschenhandGeschaffenesverwandelten,wie in Glastonbury (zum »Labyrinth« von Glastonbury siehe Kapitel5). DieIdeevon»Wildheit«alsetwasUnberührtesundReines scheint ein relativ modernes, europäisches Konzept zu sein,beidemwirDualitätinunserezivilisierteWeltproji zieren–aufdereinenSeiteOrte,Plätze,dievonMenschen bewohnt werden, und andererseits die von Tieren und Barbaren bewohnte Wildnis. Im Zuge der Verstädterung der Welt haben wir eine Sehnsucht nach »Wildheit« ent wickelt,aberdasistinWirklichkeitnurdieandereSeite desälterenGlaubensdaran,daßdieNaturgefährlich,bö se,fremd–undweiblich–ist. VieleKulturenhabenkeineSpaltungzwischeneinemsi cheren,vonMenschenbewohntenGebietundderWildnis vollzogen.BetrachtetmandieganzeWeltalsdenKörper,so
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wirddieganzeWeltheilig.Das magzudemWunsch führen, dieLandschaftzuverstehenundsiekartographischzuer fassen,sowiediehebräischenMystikerShiurKomah,»die MessungdesKörpers«vonGott,durchführen(sieheKapi tel 1). Diese Kartographie ist spiritueller Natur, aber gleichfallspraktisch,dennMenschenmüssenumdieMu sterderNaturwissen.Siemüssenwissen,wiemanWild undWasserfindet.Siemüssenwissen,wodasTerritorium einer jeden Gruppe anfängt und aufhört, nicht nur um Konflikte zu vermeiden, sondern auch, um sich um das Landkümmernundfüresverantwortlichseinzukönnen. Diese praktischen Notwendigkeiten schließen nicht das spirituelleBedürfnisaus,unsereeigenenKörpermitdem Körper des Landes zu verbinden, sondern ergänzen es vielmehr. Oder um es andersherum auszudrücken, die Wahrnehmung der Landschaft als den göttlichen Körper lieferteinmachtvollesMotivfürdenpraktischenWertdes KartographierensvonTerritorium.
DieSonglinesderaustralischenAborigines Für die australischen Aborigines ist jedes landschaftliche Merkmal der Körper eines »Traums«, eines mythischen Ahnen,derindasLandhineingegangenistundjetztals einWasserloch,einHügelodereinBuschinErscheinung tritt.JedesMerkmalwirdkartographischerfaßt.DieMen schenkennendasLandganzgenauundkönnen,manch mal allein, riesige Entfernungen zu Fuß zurücklegen, in demsiediesenpräzisenundzugleichspirituellenKarten folgen. IndenletztenJahrzehntensinddieeleganten,abstrahier tenMalereienderAboriginesweltberühmtgeworden.Die Malereien stellendieLandschaftingroßartigensymboli schenEinzelheitendar.UnddennochbenutzendieAbori gines sie nicht als Karten. Sie kartographieren nicht mit Bildern,sondernmitLiedern.DasmagMenscheneuropäi scher Herkunft sonderbar vorkommen, so sonderbar, daß wireineReisemitHilfeeiner solchenLiedkarte fast für ei
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ne übersinnliche Leistung halten, eine Art Zauberei oder Telepathie.AberwarumsollteeinegraphischeDarstellung odereinStückPapieralsKartebesserfunktionierenalsein Lied?JedeKarteisteinemenschlicheSchöpfung,eineMe tapher für die Welt. Ihr Wert liegt darin begründet, wie präziseundsorgfältigdieMetapherdasGebietbeschreibt. DoloresLaChapelleschreibt,daßdieIndianerderkalifor nischen Wüste Pfaden folgten, die sie mit Liedern karto graphierten. Es liegen Belege vor, daß in prähistorischen ZeitenquerüberdenPazifikHandelbetriebenwurdeund Migrationenstattfanden,denganzenWegvonNeuguinea bisnachNordundSüdamerika.Einigeglauben,daßdie Seeleute,diedieseungeheurenEntfernungenzurückleg ten,vonInselzuInselzogenundmitHilfevonLiedkarten denSternenundStrömungenfolgten. Die songlines, wie sie der englische Schriftsteller Bruce Chatwinnennt,dieTraumpfade,dienennichtnuralsWeg weiserfürReisen,sondernsielegenauchTerritorienfest. Stammesgruppen oder einzelne Stammesangehörige sit zenanGrenzenundsingenihreLieder,diesiegemäßei nemkompliziertenSystemvonpersönlicherundkollekti verVerantwortungmiteinanderteilen.DasSystemfunk tioniertaufvielenEbenenpraktischundwirksamundhilft denMenschenseitZehntausendenvonJahren,indenver schiedensten, oft rauhen Umgebungen zu leben. Und außerdemistesheilig.DasPraktischeunddasHeiligewider sprecheneinandernicht,sondernunterstützensichgegenseitig. DieheiligeMachtderLiederbefähigtdieMenschen,sich an sie zu erinnern, und verleiht ihnen die Autorität, die schonseitsolangerZeitwährt.ImheutigenAustralienak zeptiertdieRegierungdieheiligeKunstunddieheiligen LiederalsBeweismittelinLandrechtsfällen. DieaustralischenAborigineslebenineinemLandundin einerKultur,dieinZeitundRaumsehrweitentferntvon den europäischen Megalitherbauern ist, und trotzdem könnenwirvonihnenlernen,daßeseinepraktischeBezie hungzurErdeeherverstärktalsausschließt,wennman dasLandalsdengöttlichenKörperansieht.
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SpiralenderSonneunddesMondes InunsererZeitbemühtsichdieWissenschaft,sichvonder Religionzutrennenundein»reines«Bildvonphysischen Tatsachen zu vermitteln. Diese Situation entstand zum Teil, weil sich die Religion im MittelalterundinderRe naissancevonderWissenschaftlossagteunddieoffiziellen LehrenderKirchesichverhärteten,nichtmehrmitÜberle gungendarüberbefaßtwaren,wasdieMenschentatsäch lichvonderExistenzwußten.DieseEntwicklungwieder umhatteihrenUrsprungineinerReligion,dieaufeinem überirdischenGottbasiert,derwichtigeristalsdiebloße physischeWelt,undaufeinemWissenumihn,dasausei nemBuchstammtundnichtausderBeobachtungderNa tur.UmsichvoneinerderartigenVerdummungzubefrei en,sahdieWissenschaftalleReligionenalsAberglaubean. Erstjetzthabenwirangefangen,dieerhabenenTiefender Beobachtungwiederzuentdecken,dieinneolithischenund anderen»primitiven«Sakralbautenverschlüsseltist. Wenn sich naturwissenschaftliche Kenntnisse mit dem göttlichenKörperderNaturverbinden,wennsiezueinem AspektdiesesKörperswerden,gewinnensieanKraftund zugleich an Bedeutung. Aus der Natur gewonnene Bilder werdenzuheiligenSymbolen,unddieseSymbolewieder umführenzueinemsubtilerenVerständnisderWelt.Wis senbewegtsichnichtgeradlinig,sondernineinerSpirale, die sich voneiner zentralgelegenenBeobachtungzuei nemimmerumfassenderenBewußtseinöffnet.DasBildist nichtnurausdemGrundgeeignet,weilwirSpiraleninder heiligenKunstderganzenWeltfinden,sondernauchdar um, weil die Spirale selbst ein Beispiel für die Vermi schung von wissenschaftlicher Kenntnis und spiritueller Symbolikist. Wirhabenbereitsgesehen,daßSpiralbildermöglicherwei se von Schnecken und anderen natürlichen Formen, von SeemuschelnhinbiszuGalaxien,herrühren.Spiralförmi ge Bilder können außerdem die Muster von Sonne und Mondnachahmen.DieaufunduntergehendeSonneim
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pliziert einen Kreis (dessen untere Hälfte unsichtbar ist), aberdieserKreiswirdaufgrunddersichtäglichändern denSonnenpositiongrößeroderkleiner.Währendwiruns von der Wintersonnenwende zur Sommersonnenwende bewegen,beginntderKreisjedenTaganeinementfernte renPunkt,sodaßdiesichtbareBewegungtatsächlicheine imUhrzeigersinnverlaufendeSpiraledarstellt(wennman nachSüdenblickt,indieRichtungderSonne).Inderande renJahreshälftebewegtsichdiesichtbareSpiraleweiterhin im Uhrzeigersinn, aber sie zieht sich zusammen, anstatt sichauszudehnen. WennwireinJahrlangdieunterschiedlicheSonnenpositi on zur Mittagszeit graphisch darstellen, zeigt sich eine komplexere Spirale. Charles Ross – schon wieder ein Künstler – hat den Lauf der Sonne aufgezeichnet. Dafür verwendeteereineLinseaufdemDachseinesNewYorker Ateliers,diealltäglichzurMittagszeiteinZeicheninHolz brannte.DieAnordnungallerZeicheninderrichtigenRei henfolge läßt eine Doppelspirale erkennen, die von der WinterzeitbiszumSommerdieRichtungändert.DieDop pelspiralform taucht bei den irischen Ganggräbern auf. AußerdemstelltesieeinMigrationssymbolbeideneinge borenenAmerikanernimSüdwestenderVereinigtenStaa tendar(inFormeinerMarkierungentlangdesWeges,den sie das ganze Jahr über benutzen, demselben Zeitraum, den die Sonne braucht, um dieses Doppelspiralbild her vorzubringen). DieBahndesMondesistkomplizierter,dennobwohlerim OstenaufundimWestenuntergeht,bildetseineBahnden Monathindurch,wieMartinBrennansagt,»eineSpirale, deren aufeinanderfolgende Windungen die scheinbare Sonnenbahnineinerwestlichen,gegendenUhrzeigersinn verlaufenden Bewegung kreuzen, welche der Richtung derSonneundderPlanetenentgegengesetztist«(aus:The StarsandtheStone). Wir können entgegengesetzte Spiralen als bildliche Dar stellungenvonSonneundMondinterpretieren.Verschie deneSpiralengebenalsodieMusterunsererwichtigsten
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DarstellungderSonnenbahnimJahresverlauf(nachRoss)
Himmelskörper wieder. Aber die Sonne und der Mond sindnichteinfachObjekteamHimmel,dieLichtundWär me abgeben, sondern sie sind auch Symbole. Sonne und MondstehenfürdieverschiedenenEigenschaftenvonTag und Nacht. Sie symbolisieren Einfachheit und Komple xität,VernunftundIntuitionundineinigenKulturendas MännlicheunddasWeibliche.Aufeinerkomplexerenpsy chologischen Ebene verbindet uns eine spiralförmig im Uhrzeigersinn verlaufende Bewegung mit der Sonne. RechtsläufigeSpiralenbeschwörendieBeziehungzurWelt undzurErhöhungvonEnergie.LinksläufigeSpiralenkön nen Trennung, LoslösungvonderäußerenWelt(einGe fühl der Wendung nach innen) oder ein Freiwerden von Energiebewirken.Unddaserreichensieaufeinerunbe wußtenEbene.WirerhaltendieseReaktioninderKörper bewegung,beispiralförmigenTänzen.OfttauchenSpira len während der Meditationspontanim Geisteauf.Diese intuitive, emotionale Reaktion auf Spiralen geht zurück aufSonneundMondunddarauf,welcheBedeutungsiein unseremLebeneinnehmen.DieseSymbole–Sonne,Mond, ihreBewegungenundihrespiralförmigenBahnen–sind nichteinfachintellektuellerNatur.Siebeeinflussenunsere Körperbewußtundzugleichunbewußt. WirbegegnenDoppelspiralbildernanvielenOrten,wieet wadenTempelnvonMalta,diekaumHinweiseaufastro nomische Ausrichtung liefern (Paul I. Micallef hat eine
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GöttinnenstatuettederCucuteniKultur mit Spiraldarstellung; Rumänien, ca.4300v.Chr.(nach Gimbutas)
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StudieüberdenmaltesischenTempelMnajdraverfaßt,der alseinKalenderdieSonnenwendenundTagundnachtglei chenkennzeichnet;jedochhältMicallefdiesenTempelfür einzigartig unter den maltesischen Monumenten). Dop pelspiralenfindensichferneraufvielenGöttinnenfiguri nen–aufsovielen,daßO.G.S.CrawfordDoppelspiralen (und andere Formen) als »die Augengöttin« bezeichnete, darauf hinweisend, daß dort, wo »Augen«Formen von selbsterscheinen,siedieGöttindurchihreMachtdesSe henszuverstehengeben. InIrlandtaucheneinfacheunddoppelte(undmanchmal dreifache) Spiralen auf den Steinen von Newgrange, Knowth, kleineren Grabhügeln sowie Cairns beziehungs weise Steingrabhügeln allein, und ohne andere bildliche Darstellungenauf.AnanderenOrtenjedochfindetman sie direkt am Körper der Göttin. Bei einer wunderbaren Statuette aus Rumänien, die in der CucuteniAZeit, ca. 4300v.Chr.,entstandenist,istdasGesäßmitgegenläufi genSpiralenverziert. WennwiranGrabhügelunddenweiblichenKörperden ken,fallenunszuerstBrüsteundderschwangereBauch ein.InderpaläolithischenundneolithischenKunstjedoch wirdoftdasGesäßbetontundmanchmalzueinerAndeu tungvonHügelnoderBergenübertrieben.Beidenmeisten SäugetierenbegattetdasmännlicheTierdasWeibchenvon hinten.FrüheHominidenhabenvielleichtdasgleichege tan,einePraxis,diebiszumAuftauchendesHomosapiens weitergeführt wurde. Beim Geschlechtsverkehr würde sichalsodasGesäßvordemEingangzudergeheimnisvol lenDunkelheitderVaginaerheben,QuelledesLebensund Tor zu den unsichtbaren Geheimnissen des weiblichen Körpers. Die entgegengesetzten Spiralen am Gesäß der CucuteniGöttin könnten die machtvollste Präsenz der sichtbaren lichten Welt bedeutet haben, von Sonne und Mond, genau an der Öffnung zum unsichtbaren Ort der schöpferischenDunkelheit.
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DergestalteteSteinkörperII UnsereHerzensind wund durch die Gewalt, die der OrdnungderaltenGöttinnenangetanwurde. JaneEllenHarrison WennwirandieJungsteinzeitdenken,fallenunsdieStein kreise und die Grabhügel ein und vielleicht Hollywood PhantasienvonMenscheninlangenRoben,dieunterdem Mond Rituale vollziehen. Aber auch weniger plakative AspektedieserfernenWeltlockenunsan.EswareineZeit, in der die paläolithische Anbetung von Tieren und dem weiblichenKörpermiteinanderverschmolz,sodaßwirne ben GöttinnenstatuenderalsBieneoderKuhangebeteten Göttinbegegnen.WirfindensieauchinbestimmtenBäu men und sogar von Menschenhand geschaffenen Objek ten,wieetwaKnoten,verkörpert.EswareineZeit,inder dieMenschenamAnfangeinerrevolutionärenEpocheder ErfindungenstandenundTechnologienundGesellschafts strukturenentwickelten,dieallespäterenGesellschaften, einschließlich unserer eigenen, möglich machen sollten. Undamverblüffendstenist,daßeseineZeitwar,inder sichdieMenschennichtgegenseitigtöteten. Wenn wir diese Zeit und ihre erstaunliche Leistung der Gewaltlosigkeit betrachten, ertappen wir uns dabei, wie wirunsverschiedeneFragenstellen.VorallenDingen,exi stierte sie wirklich? Oder ersinnen wir ein Hirngespinst, genährtvonTeilbeweisenundunserereigenenSehnsucht? KonnteeineKulturvonMenschen,dieeineGöttinanbete ten,wirklichohneMordoderKriegauskommen?Undwie hatdasallesaufgehört?Habenwirunsvoneinerfriedli chenmatrifokalenWeltzueinemgewalttätigenPatriarchat durcheinennotwendigenSchrittinderEvolutionbewegt, odergingalleseinfachschief,verirrtesichineineTragö die,diewirnichtimentferntestenermessenkönnen?
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DasZeitalterderGewaltlosigkeit Die moderne Göttinnenreligion bringt der neolithischen KultursehrvielAufmerksamkeitentgegen.Dafürgibtes mehrereGründe.Wieinderfrüheren,paläolithischenZeit weisendieFundeausdemNeolithikumweiblicheBildnis se in großer Zahl auf, angefangen bei Wandmalereien in SchreinenübergroßeStatuenbishinzukleinenFigurinen. UnddannsindnochdieMegalithbautenzuberücksichti gen,diemitihrenrundenFormenundschoßähnlichenIn nenräumen das Weibliche eher abstrahiert darstellen. Am verblüffendstenvonallem,wennnichtgarrevolutionärist jedoch, daß diese mehrere Jahrtausende währende Zeit praktischkeineAnzeichenfürKrieg,AggressionoderGe walterkennenläßt. WenndieseMenschenwirklichohneGewaltgelebthaben, könnenwirannehmen,daßsiediesmitHilfeeinerReligi onzustandebrachten,diesichumdieMutterschaftzen triert. Wir können außerdem annehmen, daß eine solche Friedfertigkeit von einer Haltung zur Welt herrühren könnte,dieinderErdeundunsereneigenenKörpernwur zelt. Der Mangel an Spuren von Gewalt in der neolithischen Zeitistsovollkommen,daßmaneskaumglaubenmag. Wo auch immer Ausgräber über längere Zeiträume ver wendete Massengrabstätten gefunden haben, ob nun von großen Gemeinschaften oder kleinen Gruppen: Praktisch keiner der Leichname zeigte Spuren eines gewaltsamen Todes – weder durch Krieg noch durch Überfälle, nicht einmal durch Auseinandersetzungen zwischen Nachbarn. Möglicherweise betrachteten die Menschen zu jener Zeit einen gewaltsamen Tod als Beschmutzung und begruben OpfervonGewalttätigkeitennichtzusammenmitdenan deren. Jedoch wurde für diese Annahme keinerlei Beweis gefunden,undselbstwennsiezuträfe,würdeesaufeine tiefeAbneigunggegenGewalthinweisen.Manvergleiche einesolcheHaltungmitderVerherrlichungdesheldenhaf tenTötens,dieinspäterenKulturenaufkam!
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Der Nachweis der Gewaltlosigkeit bezieht sich nicht nur aufdenTodeinzelnerPersonen.DieinderNähedesana tolischen Çatal Hüyük ausgegrabene neolithische Stadt (für gewöhnlich einfach Çatal Hüyük genannt) zählt zu denältestenStädtenderWeltunddatiertauf7250–6150 v.Chr.DerArchäologeJamesMellaartfandBeweisedafür, daß die Stadt 800 Jahre lang durchgehend bewohnt war. NichteinePlünderungundnichteinMassakeristarchäo logischbelegt–nichteineinzigesMalin800Jahren. DieErbauerderneolithischenStadtÇatalHüyükschienen wiedieGründervielerandererjungsteinzeitlicherStädte nichteinmalanVerteidigungalsKriteriumfürihreStand ortwahl gedacht zu haben. Von Mauern umgebene Fe stungenaufhohenBergentauchenerstinderBronzezeit auf,alsindoeuropäischeEindringlingediefrühereZivili sationvernichteten,dieüber3000Jahrebestandenhatte. In einigen Fällen scheinen die Siedler den Standort ihrer Stadt hauptsächlich aus ästhetischen Überlegungen ge wähltzuhaben,ausdemWunschnacheineransprechen den Umgebung heraus. Auf Kreta, wo gesellschaftliche undreligiöseneolithischeStrukturenineinespätereEnt wicklungsstufe hineingetragen wurden, errichtete man Städte und Paläste im Einklang mit bestimmten Land schaftsformationen. Oft ließ diese Vorgehensweise sie in militärischer Hinsicht in sehr ungeschützten Positionen zurück,undtrotzdemfindenwirkeineMauernoderBefe stigungen.Andere ErwägungenfürdieStandortwahlneo lithischerSiedlungenbezogensichaufgenießbaresWas ser,fruchtbarenBodenundgeeignetesWeidelandfürdie neudomestiziertenTiere.
GlastonburyTorundAvebury WährendspätereGesellschafteneinengroßenAufwandan Befestigungenbetrieben,bautendieMenschenimNeoli thikum Monumente. Glastonbury Tor in England ist ein eindrucksvoller Hügel, der durch seine Verbindung zur Legende von König Artus Berühmtheit erlangte. Irgend
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wann im Laufe der Geschichte hoben die Menschen die natürliche Schönheit des Hügels hervor, indem sie einen HangzueinerReihevonTerrassengestalteten.DieTerras sen bilden eine Art Labyrinth, so daß einige Menschen glauben,siewärenfürProzessionstänzeverwendetwor den(sohabenmoderne»Heiden«fröhlicheProzessionen inGlastonburyveranstaltet).EineBroschüreüberGlaston bury Tor bringt sehr interessante Gründe dafür vor, daß Steinzeitmenschen dieses Werk vollbracht haben müssen: ErstenseignetsichderHügelwederfürdieVerteidigung noch für den Ackerbau und muß daher einem religiösen Zweck gedient haben. Zweitens mußten spätere Kulturen zuvielZeit,Ressourcenund EnergiefürdieVerteidigung gegenEindringlingeaufwenden.Wirkönnenhinzufügen, daßspätereKulturensichnichtdemwidmeten,wasman als heilige Ästhetik bezeichnen könnte – einen ganzen BerghangineinezeremonielleTanzflächezuverwandeln. SowiedieKreterdieLandschaftdurchdenBaueinesPa lastes harmonisierten, die australischen Aborigines jeden AspektdesLandeswieeinengöttlichenAhnenkartogra phierten oder die altsteinzeitlichen Maler sich die Form derHöhlenwandzunutzemachten,umTierbilderhervor zubringen, impliziert die Skulptierung des Glastonbury Hügels,daßeinegöttlicheMachtinnerhalbdesLandesge sehen und die Notwendigkeit menschlichen Handelns empfundenwurde,umdiesenverborgenenKörperunmit telbarWirklichkeitwerdenzulassen. Die neolithischen Erbauer schufen Monumente, um mit denHügelnselbstzukonkurrieren,eineTätigkeit,dieei nen enormen Aufwand an Ressourcen erforderte. Der SteinkreisvonAveburyistTeileinerGruppevonMonu menten, zu denen auch Silbury Hill und das rechteckige Langhügelgrab von West Kennet Long Barrow gehören. Archäologenschätzen,daßfürdenBauderAveburyAnla ge 1,5 Millionen Arbeitsstunden aufgewendet werden mußten.
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Gewaltlosigkeitund Kunst InderneolithischenZeitfindenwirkeineVerherrlichung vonKriegundTöten,dieinspäterenGesellschaftensodo minantist.InÇatalHüyüksind150Wandmalereienerhal tengeblieben.DieKunstspielteindiesersehrfrühenStadt eindeutigeinebedeutendeRolle(Mellaartbetont,daßes wirklich eine Stadt war und keine Siedlung), und keine einzigeder150MalereienzeigtKampf,KriegsoderFol terszenen. Auch auf Kreta weisen die eleganten Kunstwerke, die überallindenRuinengefundenwurden,nichtaufKriegs szenen hin. An diesen Orten haben Archäologen jedoch Waffengefunden.JamesMellaartberichtet,daßfürÇatal HüyükderGebrauchvonSteinschleuder,PfeilundBogen, LanzeundSpeerbelegtist.Aberessindallesamtsowohl JagdgerätealsauchWaffen,sodaßsiekeinenzwingenden BeweisfürKriegeerbringen.VongrößererBedeutungist, daßinderKunstkeineWaffendargestelltsind.Stylianos AlexiouschreibtinseinemBuchMinoischeKultur,daßKre taeineKriegsflottebesaßundSeeschlachtenaustrug.Doch aufderInselselbstbliebenBefestigungenunbekannt,und inderKunstfindenwirkeineSeeschlachten.Vielleichtha ben die Kreter Außenstehende bekämpft, aber sie selbst lebtenfriedlichmiteinander. InderneolithischenKunstfindenwirnichtnurkeineSpu renvonGewalt,sondernauchkeineVerherrlichungeines HäuptlingsoderHerrschers,wedermännlichnochweib lich. Auf den kretischen Wandfresken und Siegeln sehen wir überwiegend Gruppen von Menschen, die sich ge meinsam Aktivitäten wie Stiertänzen oder Opferungen widmen.EinzelneFrauensindfürgewöhnlichGöttinnen oder möglicherweise Priesterinnen, aber keine Königin nen.EstauchtnureineDarstellungeineseinzelnenMan nesauf,unddieseFigur,einanmutigerjungerMann,der Blumenträgt,läßtkaumaufdenallmächtigen»KönigMi nos«schließen,wieervondenspäterenLegendendespa triarchalenGriechenland beschrieben wird.
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SozialeGleichheitunddie Frage desMatriarchats ZusammenmitHinweisendarauf,daßesanGewaltfehlte, finden wir Anzeichen für soziale Gleichheit.Neolithische ÜberresteweisenkeineIndikationenfürSklavereiauf,die inspäterenKulturensoselbstverständlichist.Sieoffenba renkeineStruktureinesallmächtigen(undreichen)Gott königs oder einer herrschenden Klasse, und sie scheinen keine großen Ungleichheiten zwischen Männern und Frauenzuzeigen. WirhabeneshiermiteinemschwierigenThemazutun.In manchenFällenfindenwireindeutigeHinweiseaufFrau enineinerhöherenPosition,sodaßwirunsmitderMög lichkeitkonfrontiertsehen,daßessichbeiallem,wasin denvergangenen5000Jahrengeschehenist,lediglichum eineUmkehrungdervorherigenSituationhandelt.AlsHi storikerundAnthropologenesinAngriffnahmen,dievor patriarchalenKulturenzuerforschen,stelltensiezweiVer mutungenauf:Zumeinennahmensiean,daßdieseKultu reneinefrüheevolutionäreStufeinderMenschheitsent wicklung darstellten und bis zu einem gewissen Punkt notwendigwaren,aberdaßesgenausonotwendigwar,sie zugunsten eines zivilisierten, dynamischeren Patriarchats zustürzen.WiewirspäterindiesemKapitelsehenwer den, war in Wirklichkeit die neolithische Periode mögli cherweisedieerfinderischsteZeitindermenschlichenGe schichte. Die zweite Annahme betraf die Idee des »Matriarchats«. Wenn Männer nicht geherrscht und Frauen unterdrückt haben,dannmüssenFrauengeherrschtundMännerun terdrückthaben.DiemodernefeministischeForschunghat ein anderes Modell der neolithischen Kultur entwickelt, dasModelleiner»matrifokalen«oder»matristischen«Ge sellschaft.DiesebeidenBegriffebeziehensichaufdieVor stellungeinereher»frauenzentrierten«alsfrauenbestimm tenGesellschaft(umgenauerzusein,bedeutet»matrifo kal«eigentlich»mutterzentriert«und»Patriarchat«wört
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lich »Herrschaft von Vätern«). In einer solchen Situation drehtensichspirituellesDenkenundspirituellePraktiken um eine Göttin, und Name und Besitz gingen von der MutteraufdieTochterüber. In diesem Modell fällten Frauenräte Entscheidungen für den Clan, aber weder versklavten sie die Männer noch schlossensiesievondergesellschaftlichenMachtodervon Entscheidungsprozessen aus. Dieses Modell hängt zum TeilvonderIdeeab,daßdieMuttergöttinihreweiblichen undmännlichenKindergleichermaßenliebt,undzumTeil vonMännerdarstellungeninderneolithischenKunst,bei spielsweiseeineMalereiinÇatalHüyükvoneinemMann undeinerFrau,dieeinanderumarmen.
Grabfunde BestattungenunddieEhrungen,dieeinzelnenMenschen undGruppenzuteilwerden,könnenunssehrvielüberdie relativen Positionen der verschiedenen Mitglieder einer Gesellschaft sagen. Die Beweise aus den Gräberfunden bieten kein widerspruchsfreies Bild im Hinblick auf den StatusvonMännernundFrauenimeuropäischenNeoli thikum.AneinigenOrtenstellenwirkaumeinenUnter schiedzwischenMannundFraufest.AnderePlätzewie derum zeugen von hochverehrten Frauen und fast mißachteten Männern. Aber nirgendwo finden wir solche extremenUnterschiedewiediejenigen,diespäter,zurZeit derKriegsherrenundKönige,dieNormwaren. Die Sesklo, Starçevo und KaranovoKulturen, zwischen 7000und6000v.Chr.inSüdosteuropaangesiedelt,begru benKinderundjungeMenschenbeiderleiGeschlechtsso wieerwachseneFrauenunterdenFußbödenderHäuser. Gräber mit erwachsenen Männern wurden nicht gefun den.ImGegensatzdazuweisenGräberaufdenOrkney Inseln, in der Bretagne, Normandie und Südengland die gleicheZahlvonMännernundFrauenauf.Währendanei nigenOrtenFrauenundMännergetrenntbegrabenwur den,fandmanananderenFrauenundMänner,Kinder
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und Erwachsene in Kollektivgräbern. Insgesamt ist kein ausgeprägtes Muster von extremen Machtunterschieden zwischenFrauenundMännernzuerkennen. Grabbeigaben liefern uns ebenfallsHinweiseaufdieun terschiedlichen Rollen von Männern und Frauen. Nach denWerkzeugenundGegenständenzuurteilen,dieihnen beigelegtwurden,scheintessichbeidenMännernoftum HandwerkerundbeidenFrauenumTöpferinnengehan delt zu haben. Manchmal schienen sich die Frauen der Schönheit und der Kunst verschrieben zu haben, sowohl um des persönlichen Schmucks als auch der spirituellen Symbolik willen. In den Gräbern der LengyelKultur im Donaubecken fand man bei den Männern Steinbeile und HammerbeileausGeweihmaterialundbeidenFrauenmit SpiralenundMäandernverzierteSchmuckstückeundVa sen.DieseSymbolebedeutenmehralsVerzierungen.Spi ralenundMäandererscheineninderGöttinnenkunstund aufGöttinnenfigurinenüberJahrtausendehinweg. InÇatalHüyükschliefendieFrauenaufgroßenPlattfor menmitBlicknachOsten,zuraufgehendenSonnehin.Die Männer schliefen auf kleinen Plattformen, die an keiner bestimmtenRichtungorientiertwaren.Solldasbedeuten, daß Männer keine Rolle gespielt haben? Oder heißt das, daßdieKörperderFrauendieheiligeKraftderFruchtbar keitinsichtrugen? WennFraueninderneolithischenKulturmehrAufmerk samkeit und Respekt entgegengebracht wurde als Män nern, dann geschah das mit Sicherheit auf einer subtilen Ebene,verglichenmitdenUngleichheiten,diespäterkom mensollten.InpatriarchalenGesellschaftenfindenwirdie Versklavung von Frauen, Frauen, die mit einem toten Häuptlinglebendigbegrabenwurden,Frauen,diealsper sönliches Eigentum angesehen wurden, und Frauen, die aufgrundvonGesetzendasHausihresMannesnichtver lassenundsomitnichteinmalaufdieStraßegehendurf ten.NichtsdeutetaufeineähnlicheBehandlungvonMän nernimNeolithikumhin,wederbeidenGrabfundennoch inderKunstoderbeiausgegrabenenÜberresten.
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InspäterenKulturenwurde der König oder der Häuptling mitunermeßlichenReichtümernundoftmitSklavenbe stattet.ImGegensatzdazulegtemaninderneolithischen KulturverehrtenPersonen–altenFrauenundinmanchen FällenMädchenimTeenageralter–Opfergabenundschö neGegenständebei,abernichts,wasdieAusbeutungder »unteren«Klassenverlangte.
Einzelbestattungen ManchmalhattendieEhrenzeichen,dieGräbernbeigelegt wurden,eheretwasmitSymbolikalsmitReichtümernzu tun.InPolenentdecktenArchäologendasGrabeinerFrau von50bis60Jahren,das»einenbiszumRandmitrotem Ocker gefüllten Topf enthielt«, wie Marija Gimbutas schreibt.* Diese Beigabe kann über eine Ehrenbezeigung oder sogar symbolische Bedeutung hinausgehen. Roter OckerbedeutetheiligeMacht,undeinganzesGefäßda von symbolisiert spirituellen Reichtum (man denke im Vergleich dazu nur an das viele Gold, das den späteren Kriegerhäuptlingen beigelegt wurde). Wenn die Frau zu Lebzeiten als Stammesälteste gewirkt hatte, wollten sich dieMenschenvielleichtnachihremTodihrWohlwollen alsAhnengeistsichern. In neolithischen Kulturen ehrte die Gemeinschaft ältere Frauen zum Teil vielleicht wegen ihrer Weisheit und Le benserfahrung, aber auch deswegen, weil nur wenige MenschendasmittlereLebensalterüberschritten.Manhät tebesondersFrauenAchtungentgegengebracht,weilein zelneFrauendieschöpferischeKraftderGöttinverkörper ten und diese Macht auf die natürlichste Weise von der MutteraufdieTochterüberging,nämlichdurchdenAkt desGebärens. Die Verkörperung der Göttin in Frauen verleiht Frauen Autorität.WeildieseMacht sich so natürlich entfaltet, sa *MarijaGimbutas:DieZivilisation der Göttin, Frankfurt am Main: Zweitausendeins1996,S. 334.
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hendieälterenFrauenvielleichtnichtdieNotwendigkeit ein, Männer zu unterdrücken. Die Macht kam aus ihren Körpernzuihnenundnichteinfachaufgrundvongesell schaftlicher Kontrolle. Bei einigen nordamerikanischen Völkern, besonders den verbündeten Irokesenstämmen, habendieMenscheneinGleichgewichtgeschaffen,indem der Rat der älteren Frauen die Entscheidungen traf, aber zugleich Männer in Machtpositionen in der Gemeinschaft einsetzte.VoreinigenJahrenführtedasVolkderMohawk einenAufstandgegendiekanadischeundnordamerikani scheRegierungdurch.BevorsieindenKampfzogen,teil ten die MohawkKrieger den Medien mit, daß sie ihre Großmütter zu Rate ziehen müßten. »Großmutter« ist ein indianischerBegrifffüreinemächtigeältereFrau. WenneineältereFraualsStammesältesteHochachtungge noß,washaltenwirdannvondenGräbernheranwachsen der Mädchen, denen Ehrengaben beigelegt waren? Auf demGräberfeldÇernica,dasbeiBukarestentdecktwurde, gehörte das Grab mit den kostbarsten Beigaben, nämlich zehn Armreifen und unzähligen Muschelperlen, einem ungefähr16JahrealtenMädchen.AufeinemGräberfeld ausderSpätenCucuteniZeitimrumänischenMoldauge bietfandmanzweiGräbervonetwaneunbiszehnJahre alten Mädchen. Die CucuteniGräber enthielten Vasen, Perlen, Spinnwirtel und jeweils drei Göttinnenfigurinen. KeinanderesGrabwiesdieseZahlvonFigurinenauf(man beachtedasimmernochbescheideneMaßanReichtumin diesenbesonderenGräbern).DieGemeinschaftkönntedie Mädchen einfach aufgrund des schmerzlichen Verlustes ihres frühen Todes geehrt haben. Möglicherweise waren sie die Töchter eines Anführers der Gemeinschaft, einer PriesterinoderStammesältesten. DieBedeutungvonsowohlälterenFrauenalsauchheran wachsendenMädchenkönnteihrenUrsprunginderMen struationsundGebärfähigkeithaben.IneinigenKulturen wirdgeglaubt,daßdiealtenWeisen–FrauennachderMe nopause – die Kraft ihres Menstruationsblutes in ihrem Körperaufrechterhalten.ImallgemeinennahmeineFrau
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ineinergöttinzentriertenGemeinschaft,diedasgebärfähi geAlterüberschrittenhatte,anWeisheitundoftanHeil kraftzu.ImGegensatzdazukanneinMädchen,dasstarb, bevoresdienächsteGenerationgebar,seineMachtalsei nenSegenfürdasLandinsGrabmitgenommenhaben,ei nenSegen,derdenPflanzenbeimWachstumhalf.
GöttinnenVielfalt FallsneolithischeVölkerwirklichohneGewaltoderKlas senunterschiede gelebt haben, ist dieser Umstand dann zwangsläufig auf Göttinnenanbetung zurückzuführen? Nicht alle akzeptieren, daß die neolithische Zeit frauen zentriert war. Einige Wissenschaftler und Kritiker haben MarijaGimbutasdafürkritisiert,inallemundjedemGöt tinnen zu sehen. Oft gehen die Kritiker davon aus, daß »Göttin«mit»Muttergöttin«gleichbedeutendist–alsob Frauen nur eine Funktion erfüllen würden. Wenn Bilder nichts Mütterliches an sich haben, kann es sich nicht um Göttinnenhandeln.JedochweistProfessorGimbutasdar aufhin,daßdieGöttinverschiedeneAspekteandenTag legte. Sie unterscheidet vier Kategorien von Gottheit im neolithischen»altenEuropa«,undzwar: 1.generativeKräftederNatur,besondersGeburtundLe benserhalt,eineKategorie,diediewachsendenPflanzen unddieMilchausdenBrüstenderGöttineinschließt, 2. Tod, 3.Erneuerung,dasheißtLebenszyklen, 4. männlicheGottheiten,die35Prozentderreligiösen Darstellungenausmachenundfürgewöhnlichmiteiner weiblichenFiguralsderGeliebteoderSohnderGöttiner scheinen. JederdieserheiligenBereicheleitetsichunmittelbarvom KörperundvonseinemAusdruckinGeburt,TodundSe xualitätab. Weibliche Bilder erscheinen in vielen Formen und in großerFülledieJahrtausendederJungsteinzeithindurch, ebenso wieschonzuvor in der Altsteinzeit. Außerdem er
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scheinensieingrößererMannigfaltigkeit.Wir finden so wohlwirklichkeitsgetreueSchnitzereienalsauchfastgeo metrische »starre Nackte«, manchmal mit langem Hals undohneKopf.ManfindetweiterhingeschnitzteFiguri nen sowie überlebensgroße Statuen. Auf Malta stießen Ausgräberaufkleine,handlicheSkulptureneinergebären denGöttin,eineraufeinemLagerschlafendenFrau,einer FigurmitgroßenBrüstenundbreitenHüfteninpaläolithi schemStil,anderenFigurenmitflachenBrüstenundbrei tenHüften,einigenackt,andereinRöckegekleidetundso weiter.AbersieentdecktenauchriesigeStatuen,wieetwa dieuntereHälfteeinergroßen,inRöckegekleidetenFigur; alleinderRockunddieBeineerreicheneineHöhevonei nemMeter. AlsArchäologenJerichoausgruben(eineStadt,dieJahr tausende älter war als der hebräische Bericht von ihrer Zerstörung),fandensieinallenRäumenGöttinnenstatu en.DerbiblischeAusdruck»Land,indemMilchundHo nigfließt«rührtwahrscheinlichvonderGöttinnenreligion her,denndieMilchströmteausihrenBrüsten,während die Bienen, die den Honig herstellen, über Jahrtausende hinwegbisindieklassischeZeithineinderGöttingeweiht blieben. WieJerichowarNinive(imBuchJonaalseineganzund garverruchteStadtbezeichnet)eineblühendeundkultu rellentwickelteneolithischeStadt.BeiAusgrabungenfand mankopfloseGöttinnenfigurineninhockenderGebärhal tung.DieBibelbezeichnetbeideStädtealsböse,ebenweil ihreBewohnerdieGöttinanbeteten. An verschiedenen Orten gefundene Baumodelle machen dieVerbindungderGöttinzuTempelnoderWohnhäusern deutlich. Diese Modelle zeigen ein Gebäude, das vom KopfodervonKopfundKörpereinerFraugekröntist.In derTatbetrachtenvieleMenschensogarinunsererheuti genWelt,beispielsweisedieDogoninAfrika,Häuserals denKörpereinerFrau(dieDogonbalancierendieseSicht weisewiederaus,indemsiedasganzeDorfnachdemUm rißeinesMannesanlegen).
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Mellaart bemerkt,daß sich zwar die Gebäude, die man in den Ruinen von Çatal Hüyük sehen kann, im Laufe der Jahrhunderte verändert haben, die Position bestimmter DingeimHausabergleichgebliebenist.Dabeihandeltes sichumdieLeiter(dieMenschenbetratendasHausüber dasDach),denHerdunddenOfen.AlldieseGegenstände lassenandenKörperderGöttindenken.DasHinunterstei genvomDach miteiner LeiterkönntedasEintretenaus der großen Welt, dem Himmel, in den Schoß der Mutter symbolisiert haben.DerHerdgibtdieWärmedesLebens selbstab,währendderOfendasWunderderSchöpfungan den Tag legt. Wie wir in Kapitel 1 gesehen haben, fand MellaartGöttinnenfigurinenaufdenOfen.
DieHerrinderTiere In den paläolithischen Höhlen legte die Beziehung zwi schen Göttinnenbildern und den Tiermalereien die Vor stellungvonderGöttinalsHerrscherinüberdieTiereoder, wieBuffieJohnsonsienennt,HerrinderTierenahe.Inneo lithischenZeiten(undspäterenPerioden)wirddieserZu sammenhangsehrvieldeutlicher,undwirsehendieGöt tinmitverschiedenenTieren.EineMalereiinÇatalHüyük zeigtsie,wiesie,aufeinemthronähnlichenStuhlsitzend undvonLöwenflankiert,ruhigundgelassengebiert.Oft erscheintsiemiteinemVogelkopfodermitSchlangen,die sichumihrenKörperwinden.Tiereselbstverkörpernoft die Göttin, unter anderem Schlangen, Hirsche, Fische, Bären, Igel, Schmetterlinge, Schweine, Kröten und Frö sche. DieseTierewarennichtdieGottheit,sonderneherVerkör perungen ihrer großen und vielfältigen Macht. Mellaart fand keinenNachweisfürkonkreteTieranbetungin Çatal Hüyük.Vielmehr,sosagter,wurdedieGöttininmenschli cherFormdargestellt.GleichzeitigverkörpertendieEigen schaften bestimmter Tiere Aspekte ihres menschlichen Körpers.SowurdendieKröteundderFroschwichtig,weil ihreFormeinerFrauähnelt,diesichzumGebärenhin
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hockt.DiefrühestebekannteägyptischeGottheit, die Göt tinHeket,nahmFroschgestaltan.SpätererschienHeket alsHebammebeiderGeburtderSonne. DemStierundimbesonderendemKopfunddenHörnern desStierskaminderneolithischenZeitaußerordentliche Bedeutungzu.InÇatalHüyükfindensichStierköpfeund hörneroderBukranienineinemRaum,deroffenbarzum Gebären diente. Die verblüffende Ähnlichkeit zwischen dem Kopf und den Hörnerneines Stiersundder Gebär mutterunddenEileiterneinerFraufielzuerstDorothyCa meronauf,alssiemitJamesMellaartzusammenarbeitete. AufSardinienfandmangroßeStierhörnerinGrabstätten; möglicherweisesymbolisierensiedieWiedergeburt.Eini ge neolithische Gemeinschaften bestatteten Kinder unter dem Fußboden des Hauses und legten ihnen Bukranien bei. Die Hörner von Kühen und Stieren ähneln dem zu und abnehmenden Mond, was ihre Bedeutung für die Göttin erkennen läßt. Durch den Mond werden die Hörner mit der Körperkraft der Menstruation assoziiert. Vielleicht glaubtendieMenschen,daßsichimHorndieenormeVita litätdesStierskonzentrierte.AufKretaführtenjungeMän nerundFrauenSpielemitStierenauf,indemsiedieHör ner des Tiers umfaßten und akrobatisch über seinen Rückenschnellten.WirwissenvondieserSportartdurch einFreskoimPalastvonKnossos.AufdiesemFreskosind dieMännerundFrauenfastidentischdargestellt,mitan mutigenundbiegsamenKörpern,ganzandersalsdiestei fen Matadore der späteren Jahrhunderte, die den Stier nichtalseineQuelledesLebensansehen,sondernalsei nenWeg,umihreMachtüberdieNaturdurchUnterwer fungundGemetzelzudemonstrieren. Interessanterweisesinddieweiblichen»Stiertänzer«Ho senbeutel tragend dargestellt, so daß der Eindruck von männlichenGenitalienentsteht.ImGegensatzdazuzeigen BilderMännerinreligiösenZeremonienRöckemitVolants tragend.DiesenBildernentnehmenwir,daßdieKreterge wisseAktivitätenwieetwaSportundStierspieledem
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DarstellungderIsisKrone(links), verglichen mit den kretischen WeihehörnernvonKnossos/Kreta(rechts,nachAlexiou)
männlichenElementzuordneten,währendanderewieder um, einschließlich der Opferung ebendieser Stiere, als weiblichgalten.Wirmüssenunsjedochdarüberimklaren sein,daßsie»männlich«und»weiblich«alskulturelleIdeen undnichtalsbiologischeTatsachenbetrachteten.Sowohl MänneralsauchFrauenkonntenanallenmöglichenAkti vitäten teilnehmen. Mit anderen Worten, die Anbetung ging vom weiblichen Körper aus, aber Männer konnten sichanihrbeteiligen,indemsiewährenddesRitualsinge wissemSinneweiblichwurden.ÄhnlichgehörtederSport offensichtlichzurmännlichenVitalität.Umsichdemanzu passen,wurdenFrauenbeidenStierspieleneinfachmänn lich. Diese geschlechtliche Flexibilität veranschaulicht die Vorstellung,aufdiewirinKapitel1eingegangensind,daß nämlich Männer und Frauen letzten Endes aus ein und demselben ursprünglichen Körper hervorgehen. Anstatt eine rigide Struktur zu sein, wurde das Geschlecht für Männer und Frauen zu einem offenen Haus, in das man hineinundwiederhinausgehenkonnte. AlsArthurEvansdenkretischenPalastvonKnossosaus grubund»restaurierte«(womiterAnfangdes20.Jahrhun dertsbegann),fanderdieÜberresteeinergroßenabstrak ten Schnitzerei von Hörnern, die seitdem als die »Wei hehörner«bekanntsind.SieähnelnderKronederägypti schenGöttinIsis.
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DieIsisKronesymbolisiertdenMondinseinen drei Pha sen,undwirkönnenannehmen,daßdiekretischenHörner ebenfallsdenMonddarstellten.DieHörneranderägypti schenKronebrachtenIsisaußerdemmitderfrüherenHa thor,derägyptischenVersionderüberallanzutreffenden Kuhgöttin,inVerbindung.Esistsehrwahrscheinlich,daß die kretischen Weihehörner die Kuh oder den Stier dar stellten.EvansfandsieamFußderMauermitBlickauf denBergJouchtas,dengehörntenBergmiteinemHöhlen heiligtumfürdieGöttin.DiekünstlicheSkulpturderHör nerrahmtewahrscheinlichdieSichtaufdiegrößeren,von derNaturgeschaffenenSteinhörnerein.DieFormderWei hehörnerhatteihrenUrsprungjedochnichtaufKreta.Wir kennensieausderneolithischenVincaKulturinSüdost europa,3000JahrevorihremErscheinenaufKreta.
Exkarnation DiealtenVölkerkönntendieVerbindungzwischenStier kopfundGebärmutterdurchdieExkarnationbeobachtet haben, einen Bestattungsvorgang, bei dem ein Leichnam vorderBeerdigungderNaturausgesetztoderaberfürei ne zweite Beerdigung exhumiert wird. Dabei könnten die MenschennichtnurdieEingeweidedesweiblichenKör pers, sondern auchdieGebärmuttergesehenhaben,und wennderKörpersodaliegt,nehmendieEileiterklarund deutlichdieFormvonStierhörnernan. InÇatalHüyükundananderenOrtenwurdeExkarnation praktiziert,indemderLeichnamdenGeiernzumFraßvor gesetzt wurde, welche dasverwesendeFleischentfernten undnurdieKnochenzurückließen.Knochensymbolisie ren das ewige Sein, das nicht verfällt. In ihren Initiati onstrancen erleben Schamanen oft, wie ihr Körper in Stücke zerrissen oder lebendig gekocht wird, so daß das Skelett freigelegt und dann mit Heilkraft erfüllt wird. SchamanensollendieFähigkeiterlangen,dieKnochenei nerPersondurchdasFleischzusehen(weitereEinzelhei tenzurschamanistischen ZerstückelungundihrerBezie
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hungzumspäterengriechischen Mythos, insbesondere zu DionysosinKapitel7). GeieralsAusführendederExkarnationsindaufWandma lereieninÇatalHüyüksehreindrücklichdargestellt.Eine Malerei,diesichübermehrereWändeerstreckt,zeigtstili sierte Geier mit großen besenähnlichen Schwingen und menschlichenFüßen.DieFüßeweisendaraufhin,daßsie eher die Göttin verkörpern, als daß sie wirkliche Vögel darstellen. InÇatalHüyükvermischensichdieBildervonLebenund Tod auf eine Weise, die uns vielleicht sonderbar vor kommt. Mellaarts Mitarbeiter entdeckten die Schädel von Geiern, Füchsen und Wieseln, die in Darstellungen von Brüsten eingebaut waren. Manchmal ragen die Mäuler dieserTiereoderauchvonWildschweinenausdenBrust warzen heraus. Mellaart beschreibt einen Schrein mit ei nemStierkopfundDoppelbrüstenmitoffenenBrustwar zen,ausdenenGeierschnäbelhervortreten.Einmiteiner ReihevonEberköpfenverziertesGebäudewarniederge brannt.AlsdieMenschenesneuverputzten,wandeltensie dasMauleinesjedenEbersineineweiblicheBrustum. VonunseremmodernenStandpunktausneigenwirdazu, dieHeiligkeitderNaturentwederalsnaivoderalsphilo sophischzubetrachten.Dasheißt,seitdemwirgelerntha ben,GottalsvonderNaturlosgelöstzu sehen,nehmen wiran,daßMenschen,dieTiereoderetwasanderesdirekt anbeteten, diese als Symbole für etwas anderes verstan den. Ich verwende in diesem Zusammenhang den Aus druck»verkörpern«,umaufeineAlternativehinzuweisen, eineAlternative,diealtenVölkernintellektuelleFeinsin nigkeit zuschreibt und sie (oder uns selbst) gleichzeitig nicht von der direkten Begegnung mit dem Heiligen im Lebewesenentfernt.WennmandieGöttinineinemGeier oderStierverkörpertsieht(undesgibtkeinenGrund,war um die Göttin sich nicht zugleich in einem männlichen und weiblichen Tier, in Männern und zugleich in Frauen verkörpernkann),erkennt man,daßdieseWesendiele bendigeKraftdesGöttlichenbesitzen.
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Bäume,Bergeundandere Verkörperungen NichtnurvonTierenglaubteman,daßsiedieGöttinver körpern würden. Bäume, Wasser und sogar Steine und BergebrachtenihreMachtzumAusdruck.Wirhabengese hen,wievielederneolithischenMonumente,zumBeispiel Silbury Hill, über unterirdischen Wasserläufen gebaut wurden.Menhire,aufrechtstehendeSteine,welcheandere Funktionen und Bedeutungen sie auch immer haben mochten,verkörperndieKraftderErde,diesichvoruns erhebt.BergeimbesonderenrepräsentierendieMachtder Göttin.AufKretafandVincentScullyeinsichwiederho lendesMustervonPalästenundStädten,dieinÜberein stimmung mit gehörnten Bergen errichtet waren. Mögli cherweisereichtdieseVerehrungfürgehörnteBergebisin die neolithische Zeit zurück. James Mellaart erwähnt in seiner Beschreibung von Çatal Hüyük einen Vulkan mit zweiGipfeln,inetwa130KilometernEntfernung,undei niges deutet darauf hin, daß Menschen aus der anatoli schen Gegend von Çatal Hüyük sich auf Kreta nieder ließen. Bäume verkörperten die Göttin in der ganzen Jungstein zeitundspäter.GertrudeRachelLevyzufolgehieltendie Ägypter den Maulbeerbaum für den »lebenden Körper« derKuhgöttinHathor,möglicherweiseweildieFruchtei ne weiße Flüssigkeit spendet. Als Maulbeerbaum säugte HathordiePharaokinder.NachägyptischenTextenistder getötete Vegetationsgott Osiris in einem Maulbeerbaum eingeschlossen. Levy führt außerdem den Ursprung des hebräischen siebenarmigen Kerzenleuchters auf diese jungsteinzeitliche Baumgöttin zurück. Im 5. Buch Mose wird das Anpflanzen einer »Aschera«, also eines Baums oder Pfeilers, der die Göttin darstellt, neben den Altären desJahweverurteilt. IchkönntenochvielmehrBeispielefürdenBaumalsdie Göttin anführen, besonders ihren Lebensbaum. In Donna ReadsFilmTheGoddessRememberederzählteinTempelauf seheraufMaltadenFilmemachernvomBild des Lebens
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baums im Hypogäum (einem unterirdischen Tempel): »Der Baum war das Medium zwischen Mutter Erde und denMenschen.«IneinervielspäterenZeitalsderneolithi schenschriebderAlchimistParacelsusüberFrauen:»Sie istderBaum,derausderErdewächst,unddasKindist derFruchtgleich,dievondemBaumgeborenwird.« SchreineaufKretaundananderenOrtenenthielteninder Mitte des Raums einen Pfeiler. Diese Pfeiler können SteinsäulenoderStalagmitendargestellt,aberauchBäume symbolisierthaben.VincentScullybeschreibtzylindrische HolzsäuleninkretischenPalästenalsdiePersonderGöt tin,eingeschlossenineinem»weiblichenSeinszustand«. Erschreibt:»SomitwirdderganzePalastzuihremKörper, sowieesdieErdeselbstinderSteinzeitwar.« EinBaumverbindetHimmel,ErdeundUnterweltmitein ander. Außerdem steht er für das Leben selbst. Wo ein Baum wächst, kann Leben existieren, und diese Tatsache wirdbesondersinheißenLänderngeschätzt.DerPalastist weiblich,weilerbeschützt,umschließt,nährt–einemTal gleich.FolglichwirdeinBaum(eineHolzsäule)ineinem Palast,derineinemTalliegt,zueinemvielschichtigenBild des Lebens, das innerhalb der schutzgewährenden Liebe derGöttinwächst. EinBaumverkörpertdieGöttininmehralsnursymboli scherHinsicht.EinBaumenthältdiezurLebensformkon zentriertenEnergienderErdeundderSonne.JederBaum ist einzigartig und weist Formenauf,dieaneinePerson mit erhobenen Armen denken lassen. Besonders Oliven bäume können aufgrund ihrer Langlebigkeit die Göttin verkörpern. Mit zunehmendem Alter werden sieknorrig, mitEnergiebeladen,undnehmenzuweilenandeutungs weiseweiblicheFormenan,wieeinegebeugtealteFrau. WegenihrerFormstandenPfeiler,aberauchSteinsäulen fürBäume.DieganzeAltundJungsteinzeithindurchde koriertenMenschenStalaktitenundStalagmitenmitClu sternvonBrüsten.Mellaartschreibt,daßmanfastüberall Stalaktiten zusammen mit heiligen Figurinen fand. Der TempelderArtemisimtürkischenEphesos,einesdersie
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benWunderderAltenWelt,enthielteineberühmte Statue derGöttin.DieSkulpturstelltesiealseineaufrechteSäule dar, einem Baum gleich, und ihr Torso war mit runden HalbkugelnwieEieroderBrüstebedeckt. InspäterenZeitenbetetendieMenschendieGöttinalsei nenSteinan,deroftschwarzund/oderkegelförmigwar. Kybele,diegroßeMutterderGötter,betratRomalljährlich aufzeremonielleWeisealseinkegelförmigerMeteorit,der in einemvonLöwengezogenenWagenbefördertwurde. KybelewarursprünglichdieGöttinvonPhrygien,einem anderenNamenfürWestanatolien.MonicaSjööundBar baraMorzufolgeverehrtedasVolkvonKanaandieGöttin AstarteaufdemBergSinaialseinemStein.DerNameSinai bedeutet»Mondberg«.DieKaaba,derinMekkaalsHeilig tum aufbewahrte große schwarze Stein und Fokus der moslemischen Hadsch (der Pilgerreise), verkörperte ur sprünglichdieGöttin.SjööundMorschreiben,daßdieal ten Araber Vulven auf ihre Oberfläche aufprägten. Als PriesterdieMachtderPriesterinnenübernahmen,erhiel tensiedenTitelbenishaybah,was»SöhnederGreisin«be deutet.
Knoten Nicht nur Aspekte der natürlichen Welt verkörperten das WesenderGöttin.AnvielenOrtensymbolisiertenKnoten ihreMacht,undKnotenbilderfindensichandenheiligen PfeilernvonunterirdischenKrypten.OftwirdbeiKnoten zeichnungen das Seil eine Schleife bildend dargestellt; merkwürdigerweise ähnelt die Form des Knotens selbst dermodernenKrawatte. EinKnotenscheintLevysKonzeptvonderReligionalsei ne fortandauernde Beziehung zu symbolisieren. Sie be zeichnetdenKnoten als ein Emblemder GöttinaufKreta undfügthinzu,daßdasägyptischeZeichenAnkein»ge knotetesSymbolfürLeben«war,dasdemÄgyptischenTo tenbuchzufolgevor»demgehörntenTordesgespaltenen Bergs«angebrachtist.DieBedeutungvonHörnernund
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Darstellungdesheiligen Knotens,Knossos/Kreta, ca.1700v.Chr.(nach Alexiou)
demBergmitzweiGipfelnkennenwirbereits.Dieägypti scheGöttinIsishatteebenfallseinenKnotenalsEmblem. Ein in Palästina ausgegrabener Bleisarg war mit Knoten und Reben verziert, und als Archäologen ihn öffneten, stelltensiefest,daßderMunddesSkelettsmitKnotenaus Blattgoldgefülltwar. WennKnotendieBandezwischenderGöttinundderWelt symbolisieren,stellensieebenfallsZwängedar,imbeson derensexuelleZwänge.Wirlösensie,umunsereWünsche freizulassen.InvielenKulturenöffnenverheirateteFrauen ihrHaarundlockernihreKleidungnurzumGeschlechts aktoderzurEntbindung.ImGegensatzdazuzeigensich unverheiratete Jungfrauen in der Öffentlichkeit mit offe nemHaar.IndermodernenwestlichenKulturbezeichnen wirdieHeiratnochimmeralseinenBund,der»geknüpft« wird,undsprechenimenglischsprachigenRaumvonlet ting ones hair down (wörtlich: »sein Haar aufmachen«), wennwirunsungezwungenbenehmen. Aber Knoten symbolisieren mehr als Unterdrückung. Als einemenschliche KonstruktionrepräsentierensieKultur, dieIdeenundBilder,dieunsmiteinanderverbinden.Die BedeutungdesKnotensüberlebteinspäterenKulturenim
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Volkstum und in magischen Praktiken. Barbara G. Walker gehtinihremBuchDasgeheimeWissenderFrauenaufver schiedenemagischeKnotenein,einschließlichbesonderer Knoten,dieHebammenindieNabelschnurschlingen.Der KnotensymbolisiertsowohlunserenUrsprunginunseren MütternalsauchunserGetrenntseinalseinzelneWesen. EinKnotenbindetdiemagischenKräftedesLebens.In demwirKnotenknüpfen,demonstrierenwirunserWissen undunsereFähigkeit,unsmitdenKräftenderWeltzube fassen.
DerGordischeKnoten KnotensymbolisierenauchTradition.Vielevonunsken nen die Legende von Alexander dem Großen und dem Gordischen Knoten. An diesem außerordentlich kompli zierten Knoten waren verschiedene Möchtegerneroberer Asiens gescheitert, und eine Prophezeiung verkündete, daß, wer den Knoten lösen könne, Herrscher über ganz Asienwerde.Alexander,wiewirvollerBewunderunger fahren,nahmeinfachseinSchwertundschlugdenKnoten durch(esistnichtganzklar,welcheLektionwirnachMei nungunsererLehrerdarauslernensollen–unsereProble me zu zerschlagen, anstatt zu versuchen, sie zu lösen?). DiesekleineMythegewinntanTiefe,wennwirherausfin den,daßGordiumdieHauptstadtvonPhrygienwar,Hei matderKybele,derGroßenMutter(wieauchderAphro dite, die sich im fünften Homerischen Gesang als eine TochterPhrygiensbezeichnet).BarbaraG.Walkerschreibt, daß der Knoten die Bindung in der mystischen Ehe von MutterundSohn/Gemahl/Königdarstellte(mandenke imVergleichdazuandasmoderne–negative–Bildvonei nem Mann, der an Mutters Schürzenzipfel hängt). Diesen Knoten durchzuhauen stellte eine Art Kindestötung dar, das Töten der Kinder der Göttin wie auchderMordver suchanderGöttinselbst.UndtatsächlichbrachteAlexan dersEroberungunzähligenMenschendenTodsowieVer gewaltigungundSklaverei.
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Die vielschichtigen Aspekte des Knotens symbolisierten dieJahrtausendederGöttinnentradition,derWissenschaft und des heiligen Wissens. Das durch Alexander verkör perte aufstrebende Patriarchat versuchte nicht, diese großartige Zivilisation zu verstehen oder gar ihre Glau bensvorstellungenundStrukturenzuändern,indemesih revielfältigenTraditionenkennenzulernenversuchte.Statt desseneroberteessieeinfachmitderMachtdesSchwertes und tut es auch weiterhin – in Nord und Südamerika, Australien,AfrikaundseitkurzemmittenindenRegen wäldern, wo der als »Fortschritt« bekannte Völkermord ganzemenschlicheKulturenausrottetundPflanzenund TierartenmiteinerRatevondreiStückproStundeausster benläßt. UndtrotzdembleibtderKnotenbestehen.AlexandersEr benbleibteigentlichkeineandereWahl,alsihnauchwei terhindurchzuhauen,immerundimmerwieder,dennder Knoten ist die Nabelschnur, die uns mit der Natur und dem Göttlichen verbindet, und ertauchtimmerundim mer wieder aufs neue auf – wiederverknüpft mit jedem Baby,jedemLebenszyklus.
DasZeitalterderErfindungen DerNachweis,daßdieneolithischeKulturinEuropagöt tinnenzentriert,egalitärundgewaltloswar,istschlagend. DasisteineradikaleInformation,dennsiebesagt,daßdie menschliche Natur sich nicht zwangsläufig Gewalttätig keitzueigenmacht.Krieg–undUngleichheit–sindnicht unumgänglich. Viele Menschen sträuben sich gegen diese Ideeundsagen,daßsiedasgernglaubenwürden,aberbe zweifeln,daßMenschenandershandelnkönnten.InWirk lichkeit möchten sie es wahrscheinlich gar nicht glauben. WirnehmenKriegundGewalthin,indemwirunsversi chern, daß wir keine andere Wahl haben, daß Menschen sichnichtandersverhaltenkönnen. Genetischbetrachtetunterscheidenwirunsnichtvonun serenVorfahren.Aber unsere Kultur hat sich verändert
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undunsgelehrt,daßniemals etwasanderes existiert hat. AuchdasistdiealexandrinischeEroberungsmethode,die Vergangenheit zu löschen. Wie wir gesehen haben, ist es keinZufall,daßdieBibelunserzählt,GotthabedieWelt vor 6000 Jahren vollständig geschaffen, und daß unsere Geschichtsbücher mit den ersten patriarchalen Kulturen anfangen und sie als den Ursprung der Zivilisation be zeichnen. Einige Menschen, die die Friedlichkeit der neolithischen ZeitalsTatsacheakzeptieren,erkennenzwardieVorteile einersolchen»Stufe«indermenschlichenKulturan,be harrenaberdarauf,daßdieMenschheitsichzumPatriar chat »weiterentwickeln« mußte. Eine mutterzentrierte Kultur,sobehauptensie,wirdzustatisch,zuselbstgefällig und leidet an Kreativitätsmangel. Das Patriarchat mag wohl Krieg und Gewalt und Sklaverei und Ungleichheit unddieEntmündigungvonFrauenmitsichbringen,aber esbringt(angeblich)auchDynamikmitsich. DiesistTeilderIdeologieunddesIrrtumsdesPrimitivis mus. Die matrifokale Gesellschaft war nützlich zu ihrer Zeit,solautetdasArgument,abersiemußteder»wahren« Zivilisationweichen.Mutterliebeerstickt.Diemenschliche KulturkannsichuntereinerMuttergöttinnichtentfalten. WirsindvonderDoktrindes»Fortschritts«sodurchdrun gen,daßesunsschwerfällt,inanderenKategorienzuden ken. In Wirklichkeit war das Neolithikum möglicherweise die dynamischsteZeitindermenschlichenGeschichte.Eser lebte die Einführung des Ackerbaus, die Domestizierung von Tieren, den Wachstum von Handel und Verkehr, die Entwicklung der Schrift und Mathematik, die Erfindung von Töpferei, Haus und Tempelbau, Monumentalbauten, AstronomieundzweifellosvonBegriffssystemen,vonde nen uns keine Aufzeichnungen vorliegen. Außerdem schwächte der Wechsel zum Patriarchat die Zivilisation, anstatt sie zu stärken, denn dieser Wechsel ging durch Krieg und Eroberung vonstatten. Als Angehörige der my kenischenKulturGriechenlandsinKretaeinfielen,über
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nahmen sieeinenGroßteil der kretischen Kultur und Reli gion,einschließlichderGöttinnenanbetung.Aberdadurch, daßsiesovielvonihrenKräftenfürdenKriegundfürden Reichtumeines einzigenAnführerseinsetzten,erreichten siekeineswegsdieLebensqualität,diedieKreterzuvorge nossenhatten.AlsdiespäterenDorerinGriechenlandein fielen und ihr Pantheon von Kriegsgöttern mitbrachten, setzten sie das in Gang, was Altphilologen »das dunkle Zeitalter«nannten,eine400JahrewährendeZeit,inderdie Griechen(lautVincentScully)nichtsBeständigesoderWe sentlicheserbauten.DieErrichtunggroßerBauwerkeistje dochnichtdereinzigeMaßstabfüreineZivilisation.Esist fastgenau400Jahreher,daßbarbarischeEindringlingeaus Europa mit der Eroberung Nordamerikas begannen, einer Eroberung,diebisaufdenheutigenTagandauert.Trotzder Dynamik – und großer Bauwerke –, die sich aus diesem Eindringenergebenhaben,werdendieeingeborenenVöl ker des Kontinents diese vergangenen 400 Jahre höchst wahrscheinlichalsdasdunkleZeitalterbetrachten.
ThesenüberdieschöpferischeKraft Die Idee, daß die Gesellschaft für schöpferische Kraft die männlicheEnergiebenötigt,stattdervereintenEnergievon FrauenundMännern,rufteinsehraltesVorurteilwach, dasvielleichtsoaltistwiedasPatriarchatselbst.Frauener schaffen aus ihrem Körper heraus. Irgendwann haben wir gelernt,daßdasnichtsmit»echter«Kreativitätzutunhat, daß echte Kreativität vom Kopf, von abstraktem Denken ausgeht.Undwirhabengelernt,daßMännersichaufgrund ihrerMännlichkeitdarinhervortun.Esist,alsdächtenwir, daß die Welt sich irgendwie ins Gleichgewicht bringen muß, indem Frauen die Fähigkeit verliehen wird, Babys hervorzubringen, und Männern die Fähigkeit, Ideen her vorzubringen–unddaßIdeenbessersindalsBabys. SchließlichsagtunsdasVorurteil,daßjedeFraueinBaby bekommenkann.DazubedarfeskeinerbesonderenBega bung.DenkenerfordertBegabung.UndMännerdenken
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angeblichbesseralsFrauen.Angeblichsind Frauen an ihre Körpergebunden,einfachweilsieandereKörperinihrem Inneren wachsen lassen können, während Männer, dem männlichen,überirdischenGottgleich,aufeinerabstrak tenEbene,losgelöstvonihrenKörpern,existieren. DieseuralteVerdrehungführtzufalschenBegrifflichkei ten.VonFrauen,diedenken,künstlerischtätigsind,oder einfach außer Haus arbeiten, meinen wir, daß sie Männer imitieren. Manche finden, daß diese Frauen den Frauen mitKindernüberlegensind,diewirals»Kühe«bezeich nen–nichtwissend,daßdieKuheinstfürMenschenüber allinderWeltGottsymbolisierte.Füranderedagegensind Frauen mit Kindern den denkenden Frauen überlegen, ebenweilsieihrer»wahren«Naturfolgen. Nichtsdeutetdaraufhin,daßirgendeinetatsächlicheSpal tungzwischenderKreativitätdesKörpersundderKreati vität des Geistes oder zwischen weiblicher und männli cherKreativitätexistiert.Wirkönnenannehmen,daßviele der neolithischen Neuerungen von Frauen ausgingen. WennzumBeispielimPaläolithikumFrauendiePflanzen sammelten (wie es in den meisten JägerSammlerGesell schaftenderFallist,diewiraushistorischenZeitenken nen),dannklingtesplausibel,daßFrauendieVorgänge des Säens und Wachstums beobachteten, was schließlich zumAckerbauführte.AufgrundderselbenLogikkönnten männliche Jäger durch ihr gründliches Tierwissen den WegzurfrühenZähmungvonSchafenundanderenArten gebahnthaben. DieTätigkeitdesJagenserfordert,daßMännerstillbleiben undsichmitHilfevonZeichenverständigen(eineSprache des Körpers). Als Nahrungssammlerinnen und Hüterin nenderKinderwerdenFrauensichmitWortenverstän digthaben.FolglichkönntendieErfindungderSchriftso wie naturwissenschaftliche Kenntnisse und andere intel lektuelleSysteme,diedieMitteilungkomplexerInforma tionen einschlossen, von Frauen ausgegangen sein. Eine solcheVermutungkönnenwirnichtbeweisen.Esgibtkei nenGrundfürdieAnnahme,daßFrauendiemenschliche
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KulturganzalleininsLeben gerufen haben, genausowenig wieeskeinenGrundgibt,dielandläufigeThese(dieman nochimmerindenmeistenBüchernüberdieVorgeschich tefindet)zuakzeptieren,daßMänneralleserfundenha ben,währendFraueneinfachnurKinderhatten.Wirkön nen nicht einmal die Vermutung anstellen, daß nur die Männerjagten,währenddieFrauennurmitdemSammeln vonPflanzenbeschäftigtwaren.InderFelskunstamRan de der Sahara in Afrika finden wir Darstellungen von GruppenweiblicherJäger. SowieunsereGesellschaftunslehrt,daß»Männerdenken und Frauen tun«, lehrt sie uns auch, daß das Denken in keinerVerbindungzumKörpersteht.»Ichdenke,alsobin ich.«(VickiNoblegehtaufeinealteInschriftein,diesich mit»IchhabeBrüste,alsobinich«übersetzenläßt.)Inun sererZeiterlebenwir,wieWissenschaftlerundIngenieure, die sich mit der Entwicklung von Waffen beschäftigen, vollerErregungSysteme»erschaffen«,diedafürbestimmt sind,MenscheningroßerZahlzutöten,unddiesegeistige ArbeitüberhauptnichtmitdemTodwirklicherMenschen inVerbindungzubringenscheinen.Unddennochmischt sichderKörperein.ImPentagonSlangwerdenmoderne RaketenundBombenals»sexy«bezeichnet.AlsWissen schaftler in Los Alamos die erste Atombombe zündeten, reichtensieZigarrenherumundverkündeten:»Dasistein Junge.« DieAufwertungdesabstraktenDenkensunddieZuwei sungeinersolchenKreativitätanMänneristvielleichtmit derNotwendigkeitentstanden,dieoffensichtlichsteTatsa che unserer Welt zu bestreiten, daß nämlich Frauen aus ihremKörpererschaffen.SichGottalsweiblichvorzustel len, stellt kaum Probleme dar. Die Frau gebiert, und das gleiche tut die Göttin. Ein Problem taucht nur auf, wenn MännersichzumeinenvonFrauenlossagenundzuman derendieHerrschaftüberFrauen und die Welterrichten wollen.DazumüssensiedieschöpferischeKraftvonder Natur trennen. Nur dann können sie sich einen männli chenGott,derdasUniversumerschafft,vorstellen.
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Einige Mythen über die männliche Schöpfung schildern, wiederSchöpfergottsichselbstaufschneidet,umdieWelt ausseinemKörperhervorzubringen.Wirkönnenunsvor stellen,daßMännerdiesesBildablehnen:Esistmiteiner offensichtlichen Nachahmung dessen verknüpft, was FrauenaufganznatürlicheWeisetun.Wiebefriedigender ist es doch, einen Gott vorauszusetzen, der aus »reinen« (körperlosen) Gedanken erschafft, der den Kosmos und das Leben erschafft, einfach indem er spricht oder, noch besser,auseinemBuchheraus,dadieMänneresdenFrau en verboten, lesen zu lernen (im September 1996 rissen fundamentalistischemoslemischeRebelleninAfghanistan dieMachtansich.AlsnahezuersteMaßnahmeuntersag tensiedenSchulbesuchfürMädchen).Indenvergange nen150Jahrenhabenwirangefangen,ausdiesembeson derenAspektunsereseigenendunklenZeitaltersheraus zutreten.UnddennochhabendiealtenAnmaßungennoch immervielMacht,dennunsereKulturhatsieüber50Jahr hunderte hindurch in uns gefestigt. Die Entdeckung von göttinnenzentrierten Kulturen in der neolithischen Zeit undihregroßartigenErrungenschaftenkönnenhelfen,uns vonsolcheingeschränktenAnsichtenüberdieKreativität vonFrauenundMännernzubefreien.
Wiekonntedasallesvergehen? Was geschah mit der Welt der neolithischen Menschen? WieundwarumwandeltesichdiemenschlicheKulturvon einer friedlichen, dynamischen, auf der Natur und der Göttin basierenden Gesellschaft zu einer, die auf Krieg, Klassenstruktur, Ungleichheiten zwischen Männern und FrauenundeinemmännlichenGott,derAngstundGehor samfordert,beruht?WenneinematrifokaleKulturwirk lich Zehntausende von Jahren lang existierte und diese ZeitdieEntwicklungvonWissenschaftundeinerstruktu rierten Zivilisation, einschließlich Städtebau und Acker bau, erlebte, warum gaben die Menschen sie auf? Wenn wirdasPatriarchatnichtalseinennotwendigenundun
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vermeidlichen Schritt in der menschlichen kulturellen Evolutionbetrachten,wiekamesdannsoweit? MehrereAutorenhabendetaillierteBerichteüberdiepatri archale Machtübernahme, hauptsächlich in Europa und imNahenOsten,vorgelegt.MerlinStonespürtdenVerän derungen nach, die in Palästina vor sich gingen. Marija GimbutasgibteineausführlicheChronologiedesWandels inderGegendwieder,diesiealsdasalteEuropabezeich net. Sie beschreibt die indoeuropäischen Invasionen aus den»Randzonen«derZivilisation,wiesiesienennt,und zeigtauf,wiesiedieälterenSymbolederGöttinnenkultur verzerrtenundersetzten.DerStierzumBeispielveränder tesichvoneinemSymbolfürVitalitätunddieGebärmut terzueinerEpiphaniedesDonnergottes. Feministische Darstellungen des Untergangs der matriar chalenKulturinEuropaschreibendenUmschwunginder RegelStammesgruppenzu,dieeinenmännlichenKrieger gottanbeteten.AbersiegehenvoneinerfalschenVoraus setzung aus. Wie entwickelten diese Gruppen ihre auf KriegberuhendeIdeologie?
DieEntdeckungderVaterschaft VieleMenschennehmenan,daßdasPatriarchatentstand, als Männer ihre Bedeutung bei der menschlichen Fort pflanzung entdeckten. Dieser Behauptung zufolge war den frühen, »primitiven« Menschen der Zusammenhang zwischen Sexualität und Schwangerschaft nicht klar. Schließlich werden Frauen nicht nach jedem Geschlechts verkehr schwanger, und eine Schwangerschaft ist auch nichtsofortspürbar.DieFrauenwurdenfürihremagische Fähigkeit,Babyszuerzeugen,verehrtundgefürchtet,aber alsdieMännerihreeigeneRollebeidiesemProzeßheraus fanden, wurden sie arrogant und hoben die männliche Überlegenheithervor. DieseTheoriescheintmiraufmehrerenfragwürdigenVor aussetzungen zu beruhen. Warum sollte die Entdeckung der Vaterschaft zwangsläufig zur männlichen Machter
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greifungführen?DieIdeerührtoffensichtlich von dem al tenGlaubenher,daßdasMatriarchatdieeinzigeAlternati vezumPatriarchatdarstellt.MitanderenWorten,alsdie MenschennichtsvonderBedeutungderMännerwußten, gaben sie den Frauen alleMacht, diedie Männerunter drückten.Als dieMänner ihrenWertentdeckten,unter drückten siedaraufhindieFrauen.WelcherinnereGrund sollteMenschendazuveranlassen,sichsozuverhalten? DieEntdeckungderVaterschaftbeseitigtenichtdieBedeu tung der Frauen, die schwanger wurden. Männer steuern zwardasnotwendigeSpermabei,aberdasBabymußden nochinderFrauwachsen.EsbedarfeineräußerstenVer zerrung der offensichtlichen Tatsachen, um den Männern alleMachtzugeben.Genaudashabeneinigepatriarchale Kulturen getan. Die Griechen entwickelten die Idee, daß derMenschganzundgarimSpermaexistiertunddieFrau lediglich als ein Gefäß, als Brutkasten dient, damit das Kindsolangewächst,bisesinsLebeneintretenkann.Ge rade eine solche Verzerrung der Wirklichkeit führt zur Spaltung von Denken und Beobachtung, von religiöser (und wissenschaftlicher) Ideologie und Natur. Aber wir könnennichtimErnstannehmen,daßMenschenvonNa tur aus oder zwangsläufig derartig verzerrte Ideen ent wickeln. EinegrundsätzlichereFrageist,warumwirdavonausge hensollten,daßdieSteinzeitmenschennichtsvommännli chenBeitragzurFortpflanzung wußten.Wirkönnenan nehmen, daß Menschen, die mehrere tausend Jahre lang Tiere domestizierten und Herden verschiedener Arten züchteten, sehr wohl dieMechanismen dergeschlechtli chenFortpflanzungverstanden.UndselbstinderAltstein zeitlassendieintensiveBeobachtungvonTieren,dasVer binden von phallischen Darstellungen mit Bildern von Vulven und dem Göttinnenkörper sowie der Gebrauch von rotem Ocker, der möglicherweise Menstruation und Geburt symbolisieren sollte, an die Möglichkeit denken, daß auch diese Menschen umdieFortpflanzungwußten. DieeingeritztenZeicheninKnochenundanderenGegen
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ständen sollten vielleicht dazu dienen, die Monate der Schwangerschaftzuzählen,wasaufdasWissenhinweist, daßdieEmpfängnismitdemGeschlechtsverkehrbeginnt. Das Konzept der männlichen Überlegenheit rührt nicht von irgendwelchen Naturbeobachtungen her, sondern ganz im Gegenteil – von einer Ideologie, die bewußt die WirklichkeitaufdenKopfstellt,umsichselbstzurechtfer tigen. Eine leicht abgewandelte Theorie über die Unwissenheit derVaterschaftfußtaufderVorstellung,daßFrauenund Männer überwiegend getrennt voneinander lebten. Die BefürworterdieserTheorieweisendaraufhin,daßFrauen wahrscheinlichdenAckerbauentwickeltenunddieStädte verwalteten,sodaßsie,abgesehenvonderFortpflanzung, keineMännerbrauchten.WeiterhingibtdieseTheoriezu verstehen, daß Frauen um die Mechanismen der Fort pflanzung wußten, aber den Männern diese Information bewußtvorenthielten,umsieandenRandderGesellschaft zudrängen.DieMänner,diekaumetwasandereszutun hatten, als ihre Kraft auf die Probe zu stellen, schlossen sich allmählich zu plündernden Banden zusammen, die dieMachtderGewaltzuentdeckenbegannen.Alssieihre eigeneBedeutunginderFortpflanzungentdeckten,rissen siedieMachtgänzlichansich.IndieserBehauptungwird von der Randstellung der Männer in einer matrifokalen Kulturausgegangen,wassichaberaufgrundderGrabfun deundderKunstnichtbelegenläßt.
GesetzezurUnterdrückungvonFrauen Vielesvondem,waswirfürnatürlichodergrundlegend für Menschenhalten, kannseinenUrsprunginderNot wendigkeit des Patriarchats haben, Frauen zu unter drücken,umdessenStrukturenaufrechtzuerhalten.Invie lerleiHinsichtrührtunsereSexualmoralüberwiegendvon der Institution der patrilinearen Abstammung her, das heißt,derBesitzgehtvomVateraufdenSohnüber,anstel ledesälterenmatrilinearenMusters,demzufolgederBe
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sitzvonderMutterandieTochterfiel.ImFalle der mütter lichenErbfolgeergebensichwenigProbleme,daalleKin der,sowohlSöhnealsauchTöchter,mitSicherheitwissen, wersieaufdieWeltgebrachthat.WennjedochderBesitz überdiemännlicheLinievererbtwird,wiestelltdannein Mannsicher,daßeinmännlichesKindwirklichseinSohn ist? Die Kontrolle der Vaterschaft bedeutet die Kontrolle derFrauenundderFrüchteihrerKörper.Gesetzemüssen eingeführtwerden,damiteineFraumiteinemMannund nurmiteinemMannschläft.SiemußbiszurHeiratJung fraubleibenunddarfsichniemalseinenanderenLiebha ber als ihren Ehemann nehmen. Um sicherzustellen, daß dieses System funktioniert, müssen Frauen davon über zeugt werden, daß sie sich »Sittsamkeit« wünschen und ihnen Monogamie leichtfällt. Es bedarf hoher Strafen für Frauen,die»vomrechtenWegabkommen«odersogarOp fereinerVergewaltigungwerden.Daserklärt,warumpa triarchale Gesetzgebungen das Vergewaltigungsopfer zu weilengenausoächtenundbestrafenwiedenVergewalti ger. SindFrauenvonNaturausmonogam?WollenFrauenin stinktiveinenPartnerfindenundniemalsherumstreifen? NachfünftausendJahrenPatriarchatfälltesschwerzusa gen, wieviel von unserem Verhalten, sogar von unseren Wünschen aus unserem Wesen kommt und wieviel aus kulturellenMustern. InderSchulelernenwir,daßZivilisationenmitgroßenGe setzgebern – Moses, Hammurabi, Konfuzius, Solon, Zara thustra, Mohammed – ihren Anfang nahmen, die die Menschheit durch dieEinführungvon Sittengesetzenaus Unwissenheit und Aberglauben befreiten. Heute wissen wir,daßdiemenschlicheKultursichzueinersehrhohen Stufe der Organisation und Technologie entwickelt hatte, langebevordieseFigurenihrepatriarchalenSystemeer richteten.UndwennwirunsdieseGesetzbüchernäheran sehen,stellenwirfest,daßsieinallenFällenmitdersyste matischen Beschränkung von weiblicher Macht, weibli chenEigentumsrechten,weiblichem Wissenundweibli
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cher Bewegungsfreiheit verbunden sind. Die mosaischen Gesetze machen Frauen zum Besitz erst ihrer Väter und dannihrerEhemänner,sodaßeinMannbuchstäblichseine BrautvomVaterderFraukauft.Frauendürfennichtanre ligiösenFeiernteilnehmen,unddieSexualitätvonFrauen wirdinhohemMaßeeingeschränkt.»SolonderGesetzge ber«,wieerinGriechenlandgenanntwurde,führteimal tenAthendenArrestvonFrauenein,indemeressogarfür ungesetzlich erklärte, daß Frauen die Höfe ihrer Männer verließenundaufdieStraßegingen.DieseEinschränkung hieltFrauennichtnurvonMachtundBesitzfern,sondern hinderte sie auch daran, sich miteinander auszutauschen undihreGedanken,WünscheundErfahrungenzuteilen.
DieDämonisierungvonFrauen DerzoroastrischeSchöpfungsmythos,wieerindemspä tenText, dem Bundahish,aufgezeichnetist,vermitteltuns eine Vorstellung von dem Bild der Frauen, das von den großenpatriarchalenGesetzgebernentworfenwurde.Hier wird beschrieben, wie das Prinzip des Bösen, Angra Mainyu, eingeschlafen war, nachdem es den Bösen Geist unddieLügeerschaffenhatte.EinweiblicherDämonna mensJahierschienundweckteihn.Sieversprach,Elendin dieWeltzubringen,»dengerechtenMann«unddieTiere, das Wasser, Pflanzen, selbst das Feuer und die ganze Schöpfungzuvergiften. JosephCampbellzufolge bedeutet derName Jahi »Men struation«. Ein gesonderter TextberichtetvoneinemBe suchimzoroastrischenJenseits,wo,wieinDantesGöttli cherKomödie,derBesucherSeelensieht,dieeinerindividu ellen Folter unterworfen werden. Er sieht die Seele einer Frau,diegezwungenwird,becherweisevon»derUnrein heitunddemSchmutzvonMännern«zutrinken.Erfragt sie,welchesVerbrechenzudieserStrafegeführthabe,und erfährt, daß die Frau »sich während der Menstruation Wasser und Feuer genähert hat« (aus Joseph Campbell, MythologiedesWestens).
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DasMusterder»Fortschritte«inderZivilisation auf Ko stenderFrauenhieltbisinmoderneZeitenhineinan.Wir haben gelernt, die Renaissance für ein großes kulturelles Erwachen, eine Zeit der Wiedergeburt aus Unwissenheit undAngstzuhalten.ErstkürzlichhabenfeministischeHi storikerinnendargelegt,daßFrauenimMittelaltereinge wisses Maß an Macht und Einfluß ausübten und wirt schaftlicheundgesetzmäßigeRechteinnehattenunddaß sieinderRenaissancedieserRechtesystematischberaubt undinwirtschaftlicherHinsichtihrenEhemännernausge liefertwurden.ÄhnlichentwickeltesichderAufstiegder modernenMedizinaufKostenderHebammenundDorf heiler,vondenendiemeistenFrauenwaren.DieHexen verbrennungen, die den Tod unzähliger Frauen, mögli cherweiseMillionen,herbeiführten,fandennichtimMit telalterstatt,wiediemeistenMenschenglauben,sondern inderRenaissance,alsdieMedizinzueinem»Beruf«wur deundeineformelleAusbildungerforderte,dienurMän nernzugänglichwar.UmdenFrauendieMachtdesHei lenszuentreißen,brandmarktedieGesellschaftdieHeiler innenalsTeufelsanbeterinnen,dieangeblichihrenKörper demrituellenGeschlechtsverkehrmitDämonenhingaben.
WeltweitverbreiteteMuster DasRätseldesÜbergangsvondermatristischenzurpatri archalenGesellschaftwirdnochkomplizierter,wennwir feststellen,daßVölkerinderganzenWelt,invielenver schiedenen Kulturformen, einschließlich nichttechnologi scher JägerSammlerGesellschaften, Anzeichen für den Vollzug des Übergang von frauenzentrierter zu männer zentrierterMachtaufweisen. VieledieserBelegesindindenMythenzufinden.Demüb lichenMusterzufolgewirdeinearchaischeGöttinvonei nemmännlichenGott,derdaraufhinalsallmächtiginEr scheinung tritt, unterworfen, dämonisiert und oft zer stückelt. Andere Geschichten erzählen von einer Zeit, in der Frauen einfach aufgrund ihrer weiblichen Körper
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großeMachtbesaßen; dann erhoben sich die Männer und rissendieMachtansich.Wiederandereerteileneine»mo ralische« Lektion über die Rechtmäßigkeit männlicher Herrschaft,derjedochdasBewußtseinzugrundeliegt,ei neältereOrdnungverändertzuhaben. Gleich werden wir uns mit einigen dieser Mythen näher befassen, aber zuerst müssen wir bedenken, was sie uns insgesamt sagen. Die Mythen und archäologischen Funde scheinen ein weltweites Muster der Macht anzudeuten, diedenFrauenweggenommenwurde.VieleAutorenund Autorinnen, einschließlich vieler Feministinnen, bezwei feln,daßesgeschichtlichgeseheneinenZeitpunktgab,zu demMännerdieMachtansichrissen.Sieargumentieren, daßMythenübermatrifokaleGesellschaftenundFrauen machtihreUrsacheeigentlichinBefürchtungenderMän nerundihrerAngstvorFrauenhaben.EinigeFeministin nenbetrachtenMythenüberdieeinstigeweiblicheMacht alsRechtfertigungderMännerdafür,Frauenauszubeuten undzuunterdrücken.PeggySandayführtinihremBuch FemalePowerandMaleDominance:OntheOriginsofSexual Inequality an, daß Geschichten von der früheren weibli chenHerrschaftdaraufhinweisen,daßFraueninderbe stehendenGesellschafteine»erheblicheinformelleMacht« ausüben,eineMacht,diedieherrschendenMännerbeun ruhigt. Aberwarumsolltenwirunberücksichtigtlassen,wasdie Mytheneigentlichallessagen?WennMännerineinerbe stimmten Kultur tatsächlich sagen: »Frauen hatten einst dieMachtinne,aberwirhabensieihnenweggenommen« (undauseinigenStammesberichtengehtganzgenaudas hervor),warumsolltenwirannehmen,daßsiedieseGe schichtenurerfundenhaben–besonderswenndiearchäo logischen Funde, zumindest in Europa, derart überzeu gendaufGesellschaftenschließenlassen,diesichaufdie (heiligeundschöpferische)MachtvonFrauenkonzentrier ten?UndesgibtnocheinenanderenPunktzubedenken: Wenn die MythenmännlicheÄngstevorder»formlosen« MachtderFrauenwiderspiegeln,könntedieseAngstvon
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etwas Tiefergreifendem herrühren als beispielsweise der wirtschaftlichen Macht von Frauen auf dem Marktplatz. WeiblicheMachtkannniemalsvergehen,umwelchege sellschaftlicheStrukturessichauchhandelnmag,dennsie beruht letzten Endes auf dem wunderbaren weiblichen Körper,demKörper,dermitdemMondblutetundder– sowohlJungenalsauchMädchen–neuesLebenspendet.
Lilith DieMethode,MythenundReligionzubenutzen,umFrau enzubeherrschen,warsowohlmitmoralischenLektionen alsauchmitDämonisierungverbunden.Ineinertypischen GeschichteagierteineFrauoderGöttinaufeinebestimmte Weise,wasUnheilzurFolgehat.EineandereweiblicheFi gur benimmt sich in der »richtigen« Weise, und die Welt kommt wieder in Ordnung. Diese Mythen rechtfertigen diemännlicheHerrschaftalsnotwendig,umdasangebli che Chaos zu verhindert, das entsteht, wenn Frauen die Macht übernehmen. Gleichzeitig weisen oft gerade diese GeschichtenauffrühereGesellschaftenhin,indenenFrau en mehr Macht ausübten, und sehr oft haben diese Ge schichten mit Sexualität oder einem anderen Aspekt des Körperszutun. Die alten Israeliten entwickelten viele ihrer mythologi schenundlegendärenThemenwährendihresExilsinBa bylon.BeispielsweisekönntesichderTurmvonBabelauf dieZikkurats(stufenförmigeTempeltürme)inBabylonbe ziehen,fürderenErrichtungSklavenausvielenverschie denenLänderneingesetztwurden.FeministischeWissen schaftlerinnen betrachtenMesopotamienoderBabylonals einÜbergangslandmiteinerälteren,nochimmervorhan denenGöttinnenkultur,diejedochunterdemPatriarchat massiv entstellt wurde. Die babylonische Göttin Lilith wurdeaufeineWeiseverändert,dieetwasüberdieIsraeli tenselbstaussagt. Lilith, deren Name »schreiende Eule« bedeutet, wurde zum MittelpunkteinerReihevonhebräischenLegenden,
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indenen siealsAdams erste Frau bezeichnet wird. Diesen GeschichtenzufolgeschufGottAdamundLilithgleichzei tig aus der gleichen Erde (der Name »Adam« leitet sich vondemhebräischenWortadamaab,das»Boden«bedeu tet; ähnlich ist das lateinische Wort humanus auf humus, »Erde«, zurückzuführen). Eine andere Version der Ge schichte enthält das radikale Detail, daß Gott Adam aus Erdeschuf,LilithaberausSchmutzundKot.Alssieden Geschlechtsverkehr vollziehen wollten, weigerte sich Li lith, unter Adam zu liegen, und sagte, Gott habe sie als gleichwertigeWesenerschaffen.FürdieseSündeverbann teGottsieunderschufEva.DaEvaausAdamhervorging, zeigtesiedieangemesseneUnterwürfigkeit. DerComicbuchAutorNeilGaimanistaufeineanderehe bräischeGeschichtegestoßen,indereinweiblichesSchöp fungswesen zwischen Lilith und Eva geschildert wird. GottstelltedenKörperdiesernamenlosenFrauStückfür Stückher,voninnennachaußen,währendAdamzusah. Adamweigertesich,mitihrzuschlafen,weil,wieesinder hebräischen Geschichte heißt, »er sie voll von Absonde rungenundBlutsah«. WirkönnendieGeschichtevonLilithundEva(undihrer namenlosen Schwester) einfach als eine Fabel betrachten unddieFrauenanihremPlatzlassen–oderwirkönnensie alseinen Hinweisauf eine Zeitverstehen,in derFrauen undMännergleichberechtigtwaren.UmdieseGleichheit zubeendenundsicherzustellen,daßFraueneineminder wertigePositionals»natürlich«akzeptierten,dachtensich dieRabbisdiesemoralischeLektionaus. Zusätzlichzuihren»politischen«Bedeutungensagenuns die Mythen von Adams anderen Frauen etwas über die Ängste vor dem Körper. Lilith, eine naturverbundene Frau,gehtausKothervor.AdamkonnteseinezweiteFrau nichtertragen,weilerdieinnerenFunktionenihresKör persgesehenhatte.ImGegensatzdazuentstehtdiezau berhafteEvaausAdamherausundnichtausdennatürli chenProzessenderphysischenWelt.
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EineesoterischeInterpretation DasalsdieKabbalabekannte,späterejüdischeSystemeso terischerIdeen,dasvom12.Jahrhundertbiszum16.Jahr hundertblühte,wiederbelebtedieVorstellungderGleich heitzwischenMannundFrauundbezeichneteGottsogar als androgyn. Einer früheren talmudischen Interpretation folgend,behauptetendieKabbalisten,daßderSatzim 1.BuchMose»...undschufsiealsMannundWeib«Gottals männlichundzugleichweiblichbeschreibt.Daraufüberar beitetensiedieGeschichtevonEvasSchöpfungausAdams Rippe,dieGeschichte,aufdiediemeistenstrenggläubigen ChristenundJudenverweisen,umzubeweisen,daßFrau en unbedeutendere Wesen sind. Dieser späteren Version zufolge schuf Gott Adam als androgynes Geschöpf, als MannundFraugleichzeitig,dieamBrustkorbmiteinander verbundenwaren.AberdiesesGeschöpfhattekeinenGe fährten,mitdemesErfahrungenaustauschenkonnte.Aus diesem Grund trennte Gott die beiden Teile voneinander. DieGeschichte,daßeineFrauausAdamsRippeerschaffen wurde,wirdzueinerMetapherfürdieseTrennung(ineini genVersionenwirdLilithundnichtEvaalsderandereTeil deshermaphroditischenAdamgenannt). ObwohldieseGeschichtevondenmittelalterlichenKabba listenstammt,erinnertsieanvielältereGeschichten.Zoro astrische Mythen enthalten die Vorstellung, daß Ahura Mazda ein androgynes erstes Wesen trennte. Platon er zählteineGeschichtevonGott–Zeus–,dereinehemals vollständigesmenschlichesWeseninzweiHälftenteilt.Im SymposionläßtPlatonAristophanesbeschreiben,wiePro metheushalbmännlicheundhalbweiblicheMenschener schafft. Wütend über diese gottesähnliche Vollkommen heit,spaltetZeussiemiteinemBlitz.Platonerzählt,daßei nige der ursprünglichen Wesen doppelte Männer oder doppelte Frauen waren, was die homosexuelle Liebe er klärt. DieseverschiedenenGeschichtenspiegelnvielleichtdas GeheimnisderbeidenGeschlechterunddie Art, wie sich
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Menschennacheinem Partner sehnen, wider – sie könnten aberauchaufeinefrühereGesellschafthinweisen,dieso wohldasWeiblichealsauchdasMännlichealsTeileiner größerenphysischenWirklichkeitanerkannte.
EinjapanischesGeschwisterpaar Ein japanischer Mythos erteilt eine ähnliche Lektion wie der von Lilith. Die Geschichte erzählt, wie verschiedene GeschöpfedurchdieHandlungeneinesBrudersundeiner Schwester, Gott und Göttin, Izanagi und Izanami, der »Mann,dereinlädt«und die»Frau,dieeinlädt«,entste hen.Alssiesichbegegnen,bewegensiesichimKreisum einen»ErhabenenHimmlischenPfeiler«–einHinweisauf einenälterenRitualtanz,derunsvielleichtandieGöttiner innert, die als Säule im weit entfernten Kreta angebetet wurde.IzanamipreistIzanagi,undaucherpreistsie,ob wohlesihmzusetzt,daßdieFrauzuerstgesprochenhat. Trotzdem vereinigen sie sich und bringen Blutegel und Schauminselhervor,zweiWesen,diealsFehlschlägebe trachtetwerden.AlsobefragensieeinOrakel,undwiewir unsvielleichtdenkenkönnen,erfahrensie,daßdieSchöp fungmißlang,weildieFraudasRechtdesMannes,alser ster zu sprechen, an sich gerissen hatte. Indem sie ihre Handlungeninder»richtigen«Weisewiederholen,bewir kensieeineordnungsgemäßeSchöpfung. Die Schöpfung geht nach Izanamis Tod weiter, denn als IzanagisichaufdieSuchemacht,umsiezurückzuholen, jagt ihm ihr verwesender Körper eine solche Angst ein, daßervorihrdavonläuft.AlssieundihreDienerihnver folgen,werdenverschiedeneTeileihrerKörperinTeileder Schöpfung verwandelt. Die Geschichte deutet auf eine Angst des Mannes vor dem weiblichen Körper und den TatsachendesTodeshin. AuchdieseGeschichtedientvielleichtnuralsPropaganda, odersieweistaufeinefrühereKulturzurück,inderFrau en Macht innehatten. Die japanischen Kaiser führen ihre mythologischeAbstammungnichtaufeinenmännlichen
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Gottzurück,sondernaufdieSonnengöttinund Schöpferin AmaterasuOmikami.Obwirnuneinefrüherematrifokale Kulturannehmenodernicht,wirbleibenmitderfaszinie renden Ähnlichkeit zwischen den Geschichten von Lilith und Izanami zurück. Und wie bei der Geschichte von Adams Reaktion auf seine namenlose zweite Frau bringt der japanische Mythos dasEntsetzenvorderphysischen WirklichkeitdesKörperszumAusdruck.
VerzerrteMythen Mythen,dieunsbizarroderseltsamerscheinen,leitensich zuweilenvoneinerpatriarchalenNotwendigkeitab,einen früherenMythosvonderGöttinzuverzerrenoderaufden Kopf zu stellen. Die griechische Göttin Athene war ur sprünglicheineFigurvongroßerMachtundvielenAspek ten, zu deren Tieren die Eule und die Schlange zählten, SymbolefürverschiedeneBewußtseinsebenen.Umsieun terdieHerrschaftvonZeuszubringen,entwickeltendie GriechendieGeschichte,daßZeusseineersteGemahlin, Metis,verschlang,umsiedaranzuhindern,einKindzu gebären,dasihnstürzenkönnte.AlsZeusvonschreckli chenKopfschmerzengeplagtwurde,spaltetederGottHe phaistosihmdasHauptmiteinerAxt.HervortratAthene, gerüstetundzumKampfbereit.AusderPerspektiveeiner früheren Göttinnenreligion können wir diesen Mythos als eineGeschichteüberdasPatriarchatentschlüsseln,dasdie Göttinnenkultur besiegt – verschlingt. Diese Kultur wei gertesichzusterbenundbereitetedemPatriarchatKopf schmerzen.UndderKopfsolltewirklichschmerzen,denn siehattendasDenkenüberdieSchöpfungausdemKörper herausgestellt. AlsdieDorerinGriechenlandeindrangen,begegnetensie dermächtigenGöttinAthene.DaAthenenichtverschwin denwollte,gestaltetensiesienachihremBildalsKriegerin um. Und in ihrer Version trat sie erwachsen aus dem HauptdesZeushervor–alsobdasPatriarchatsiekom pletterfundenhätte,alshättesienichtexistiert,bevorZeus
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sie »schuf«. Gleichzeitig fällt uns vielleicht auf, daß das HauptdesZeus,alsHephaistosesspaltet,sichineineVa ginaverwandelt.BenutzteHephaistoseineDoppelaxt,ei nelabrys,ausKreta? Eine ähnliche Umkehrung taucht in der Geschichte von PandoraundihrerBüchsemitÜbelnundPlagenauf.Der Name Pandora bedeutet wörtlich »AllGeberin«, ein Hin weis darauf, daß sie ursprünglich eine Muttergöttin war undkeintörichtesKind.EinenweiterenAnhaltspunktfin denwirineinerAnmerkungvonNorHallinThoseWomen, daßdasgriechischeWortkista,das»Korb«oder»Büchse« bedeutet,imaltenGriechenlandalseinWortspielzukustus (»Vagina«)verstandenwurde.
EvaundderApfel Die Geschichte von AdamundEvaund demApfelmag uns sonderbar vorkommen, bis wir ihre früheren Versio nen kennen. Als Kind ergab diese Geschichte, die ich natürlich als historische Tatsache lernte, keinen Sinn für mich:»DieWeltistvollerSchöpfungsmythen«,schreibtJo seph Campbell, »und tatsächlich sind sie alle unwahr.« Warum, fragte ich mich, sollte Gott diese beiden Bäume hervorbringen,wennerdochgarnichtwollte,daßAdam und Eva von ihnen aßen? Warum diese Umstände? Und warumerstdiesenganzenGartenfürsieanlegenundsie dannnurwegeneinesFehlersausihmvertreiben?Meine Lehrererklärten,daßGottdenMenschenmiteinemfreien Willen versehen hatte und die beiden Bäume dort an pflanzte,umihnaufdieProbezustellen.Aberdasschien einem üblen Trick gleichzukommen, besonders da diese beidenBäumedieZierdedesGartensdarstellten–undbe sondersdaeinallmächtigerGottdasErgebnisimvoraus gewußthabenmußte.EsergabeinfachkeinenSinn.Erst als ich Merlin Stones Als Gott eine Frau war und Joseph Campbeils Die Masken Gottes: Mythologie des Westens las, begannichzuverstehen,wasindieserverwirrendenGe schichtevorsichgeht.
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Wir haben gesehen, daß die Menschen der Jungsteinzeit undderfrühenBronzezeitdieGöttinalseinenBaumanbe teten und Tempel in Hainen errichteten. Und wir haben gesehen,daßüberallinderWeltdieSchlangedieLebens energiederGöttinverkörpert.Im1.BuchMosefindetsich einmerkwürdigerSatz,alsGottdieSchlangemitdenWor ten:»UndichwerdeFeindschaftsetzenzwischendirund demWeibe«verflucht.AuchdieseAussageergibtkeinen Sinn,biswirvondenSchlangenerfahren,diesichumdie ArmederGöttinunddurchihrHaarwanden.Statuender kretischenGöttinzeigensiemitSchlangeninjederHand. DieältestenBildervonAthenestellensienichtalsKriege rin dar, sondern als eine Schlangengöttin. Auch in Grie chenlandsätderGottFeindschaftzwischenderFrauund der Schlange, denn in den klassischen griechischen My then wird die Schlangengöttin zu Medusa. Athene hilft Perseus,MedusazutötenundihrenKopfabzuschlagen– aberMedusawarursprünglichAtheneselbst. AuchderApfelverkörpertdieGöttin.Schneidetmanei nenApfelquerdurch,soläßtseinKerngehäuseeinvoll kommenesPentagrammerkennen.DerPlanetVenusfolgt, vonderErdeausgesehen,übereinenZeitraumvonacht JahreneinerBahn,dieeinemPentagrammodereinerfünf blättrigen Blume gleicht (siehe dazu auch William Irwin Thompson,ImaginaryLandscapes).FolglichstelltderApfel eineirdischeVerbindungmitderHimmelsbahndesPlane tenVenusdar,dermitIshtar,Astarte,Aphrodite,derrömi schenVenusundanderenGöttinnengleichgesetztwird. InderGöttinnenversion,dievieleinfacheristalsderbibli sche Mythos von Eden, ist nicht die Rede von Verboten oder einem »eifersüchtigen« Gott oder Ungehorsam und Verbannung.StattdessenbeginntsiemitderWirklichkeit unseres Lebens und bietet uns ein Versprechen an. Die GöttinhateinenLebensbauminihremGartenderFreude gepflanzt, wo sie mit ihrer Schlange wartet. Sie hält uns ihrenApfelentgegen,undobwohlesderApfelder»Un sterblichkeit«ist,istergleichfallsderApfelderErkenntnis, dennnurdurchdieErkenntnis,daßdieGöttininallenDin
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genlebt,könnenwir uns von unserer Angst vor der per sönlichenZerstörungimTodbefreien. DiebiblischeGeschichtetutmehr,alsdenälterenMythos auf den Kopf zu stellen. Sie verschlüsselt den Sturz der göttinnenzentriertenWelt.DieErkenntnis,dieEvadurch die Schlange gewinnt, ist das Bewußtsein der heiligen Wirklichkeit–abersiesymbolisiertzugleichdasWissen umdieGeschichteselbst.DennderGartenistdieneolithi scheWeltderGroßenGöttin,undalsdieKriegerstämme siestürzten,verbanntensiesiesogarausdemGedächtnis –sodaßsiebiszudengroßenEntdeckungendermoder nenArchäologienurimVolkstumundinverworrenenGe schichtenvoneinem verlorenen Paradies existierte.
EindeutlicherMythos DiemöglicherweisespezifischeGeschichtevondermänn lichenMachtübernahmestammtvondenOnaaufFeuer land,einemVolk,beidemnichtdieRedevoneinerEvolu tionvon»primitiven«zu»höheren«StufenderZivilisation ist.InseinemBuchMythologiederUrvölker*erzähltJoseph Campbell,wiedieOnasichdenUrsprungderHütte(Hain) erklären,indersichderGeheimbundderMännertraf.In derFrühzeitderWelt,soerzähltendieOnaeinemgewis sen Lucas Bridges, hatten die Frauen die alleinige Macht inne,unddieMänner»lebteninäußersterFurchtundUn terwerfung«.AlsotötetendieMänneralleFrauenundver schonten nur die kleinen Mädchen, die noch nichts von der weiblichen Macht wußten. Um sicherzustellen, daß künftigeGenerationenvonFrauensichnichtzusammen schlossen,umihremagischeKraftwiederzuentdecken,er richtetendieMännereineHütte,zudernursiealleinZu gang hatten. Dann erfanden sie verschiedene Geisterwe sen,diedieFrauenverängstigenundvonderHütteund vomWissenfernhaltensollten.DieMännerselbstgaben *Joseph Campbell:DieMasken Gottes. Mythologie der Urvölker, Basel:Sphinx1991,S.352.
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sichfürdieseWesenaus.Das Erstaunliche an dieser Ge schichteistnichteinfachihreunverhohleneBrutalität,son dernihreklareBeschreibungeinerinstitutionalisiertenRe ligion als arglistige Täuschung, die ersonnen wurde, um Frauenzuverwirrenundzuunterwerfen. Die Männer der Ona ahmtenGötternach,umFrauen zuunterdrücken.AuchinanderenKulturenwurdenImi tation und Verkleidung zu einer Strategie für Männer. JudithGleasonschreibt,daßbeidenYoruba»dasWeibli che primär ist« und zugleich auch gefährlich, so daß die Männer es durch »männliche Strukturen des Den kensundderSprache«kontrollierenmüssen.EineSei te dieses InSchachHaltens bilden kunstvolle Kostüme, diezumTeilabstrakteMusterdarstellen,zumTeilüber natürlicheBilderundzumTeilNachahmungenvonFrau en odervielmehr weiblichenEigenschaften(zumBeispiel übertriebene Brüste und Hüften). An den meisten Orten sind diese egungun oder Verkleidungsrituale nur den Männern zugänglich. Jedoch werden sie in verschiedenen westafrikanischen Mythen als ursprünglich weibliche Kunstbeschrieben,diedazudiente,Männerzuängstigen undzubeherrschen,bisdieMännersiedenFrauenentris sen.
DenDrachentöten Viele patriarchale Mythen erzählen, daß die Weltordnung ausdemChaosdurchdieTötungeinesDrachen,einerRie sen oder Seeschlange errichtet wurde. Dieses Thema tauchtvornehmlichindergriechischenundnahöstlichen Mythologie auf. Der hebräische Gott tötet Leviathan, ApollontötetPython,wodurcherdieKontrolleüberdas DelphischeOrakelbegründet,ZeustötetTyphoeus(oder Typhon),dasletzteKindvonGaia,derErde,undsoweiter. InvielendieserGeschichtenwirddieSchlange/dasUnge heuerausdrücklichalsweiblichidentifiziertodermiteiner archaischenGöttinoderderStätteweiblicherMachtasso ziiert.
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Die berühmteste dieser Geschichten handelt von dem babylonischen Helden Marduk, der Tiamat tötet, die Urschlange, die GöttinMutter, die gleichfalls Marduks Urururgroßmutter ist. Tiamat, so erfahren wir im Enuma Elisch, war böse geworden und brachte Ungeheuer zur Welt. UmdieSchöpfungzuschützen,inthronisierendieGötter Mardukundsagenzuihm:»WirgebendirdieOberherr schaftüberdieganzeWelt.DeineWaffesollniemalsihre Machtverlieren«–einSatz,deraufPhallusanbetungund dieAngsthinweist,diedarausresultiert,wenndiemännli cheMachteinemOrganinnewohnt,dasvonNaturausan undwiederabschwellenkann(dieVerherrlichungundso gar Anbetung von Schwertern und anderen Waffen ent steht möglicherweise aus der Tatsache heraus, daß Schwerterniemalserschlaffen).DieGötterstattenMarduk mit dem Donnerkeil und anderen Waffen aus, und er machtsichauf,Tiamatzuvernichten.Ertötetsienichtnur, sondern zerschmettert ihren Schädel und halbiert ihren LeichnamwieeineMuschel. In ihrem Buch The Myth of the Goddess analysieren Anne BaringundJulesCashforddieGeschichtealseinepoliti scheBotschaft.SiesymbolisiertnichtnurdenAufstiegdes Patriarchats,sondernfälltzeitlichauchmitderEroberung SumersdurchBabylonzusammen.InSumer,sowirder zählt,brachtedieGöttindieWeltausihremKörperhervor, einen himmlischen Berg bildend. Marduk nun, der seine Urururgroßmutter zerteilt hat, »erschafft die Schöpfung vonneuem«,wieBaringundCashfordesausdrücken.Er häufteinenBergüberTiamatsKopfan,weitereBergeüber ihren Brüsten, durchbohrt ihre Brüste und Augen, um Flüssezubilden,stütztmitihremSchrittdenHimmelund soweiter.AußerdemführterdiezwölfMonatedesJahres ein, setzt die Sonne und den Mond in ihre Bahnen und machtausderWeltimgroßenundganzeneinenordentli chen Platz. Schließlich erschafft er den Mensch als ein demütigesWesen,umdenGötternzudienen,damit»sie sichwohlfühlenmögen«.
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Alles in dieser Geschichte läuft darauf hinaus, das poli tische System des »Beherrschers« für rechtsgültig zu erklären, ein System, in dem Männer über Frauen herr schenundderKönig,derGottaufErden,vonderArbeit seinerSklavenlebt,sowiedieGötterdieOpferundGebe tederMenschenempfangen.Aberwirkönnennocheine andereSchichtindieserGeschichteundderTötungaller anderen Schlangen / Drachen entdecken. Mehrere zeit genössische Forscher und Autoren über die Göttin, zum Beispiel Luisa Francia, die Autorin von Drachenzeit, und Mary K. Greer, die eine führende Rolle auf dem Gebiet weiblicherMenstruationsgeheimnissespielt,habendarauf hingewiesen, daß der »Drache« Menstruation bedeutet unddaßdieVernichtungdiesesDrachendasBrechender magischen / religiösen Macht bedeutet, die den Frauen durch ihr Blut zufällt. Ein Drache ist eine mythische Schlange,eineSchlangemitBewußtsein.Schlangenbewe gen sich über den Boden, einer Flüssigkeit gleich, einem fleischgewordenen Strom gleich – oder dem Blut gleich. Und man kann eine weitere Assoziation hinzufügen: Während der Menstruation stößt die Gebärmutter ihre Schleimhautab,sowiesichdieSchlangehäutet,um»wie dergeboren«zuwerden. Wirhabengesehen,daßdiemenschlicheKulturihrenAn fang möglicherweise mit Frauen genommen hat, die die Machtder»menstruellenGleichzeitigkeit«erfahrenhaben, daß heißt des gemeinsamen Menstruierens während des NeuoderVollmondes.Diemeistenderwestlichen»Dra chen« sind genaugenommen Seeschlangen, wie etwa Tia matundLeviathan,dieimSalzwasserleben,dasdemBlut soähnlichist.Andere,wiederdelphischePython,lebenin dunklen,feuchtenHöhlen. VieleKulturenhabendieMenstruationdämonisiert.Zara thustrabezeichnetedieMenstruationselbstalsdieQuelle allen Übels. Ausschlaggebend für das monströse Bild der Medusa, dem alptraumhaften Zwilling der Athene, mit ihrem Schlangenhaar und ihren Augen, die Männer in Steinzuverwandelnvermochten,warvielleichtdiemänn
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licheAngstvorderMenstruation. Freud bezeichnete Me dusaalseinemännlicheProjektionderweiblichenGenita lien.
MännlicheAneignung IneinigenGegendenkönnteeinaufstrebendesPatriarchat die mit der Menstruation assoziierte Macht übernommen haben. In einem Aufsatz mit dem Titel »Menstrual Syn chronyandtheAustralianRainbowSnake«(Menstrueller Synchronismus und die australische Regenbogenschlan ge)indemBuchBloodMagicschreibtChrisKnight,daßes KönigeninalteneuropäischenKulturennichterlaubtwar, dieSonnezusehenoderdenBodenzuberühren–dieglei chenTabus,diemenstruierendenMädchenauferlegtwur den.InchinesischenMythenheißtes,daßdieKaiseraus der Kopulation mit einem Drachen geboren wurden, der als »feucht«, »gefährlich« – und weiblich beschrieben wird. KnightgehtdenZusammenhängenzwischenMenstruati on und der Regenbogenschlange nach, die in vielen au stralischenMythenalsSchöpferauftritt.InihrerAngstvor dieser weiblichen Macht strebten die Männer danach, Kontrolle über sie zu gewinnen, indem sie ihre eigenen Blutritualeeinführten.AneinigenOrteninAustralienist die Initiation junger Männer mit der Subinzision, dem Aufschlitzen und Vernarben des Penis, verbunden. WährendderInitiationerfahrendieJungendieWiederge burtauskollektivenSchoßgruben.DieälterenMännerbe schreiben daraufhin den (ursprünglichen) weiblichen SchoßalseineGrubemitgierigenSchlangenunddieweib licheMacht(dieKnightmitmenstruellemSynchronismus gleichsetzt)alsein»kannibalischesUngeheuer«,vondem die Menschheit befreit werden muß – im Vergleich dazu habenMännerinwestlichenLändernimallgemeinenge glaubt, daß die Vagina Zähne haben kann, eine Vorstel lung, die Volkskundlern als vagina dentata bekannt ist. Knightberichtet,wiedieMännerdiedurchSubinzision
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beigebrachtenWundengemeinsamimRitualzurZeitdes Neumonds öffnen. Wie auf Feuerland bezeichnen einige männliche Geheimgesellschaften in Australien Macht als reine»Frauensache«undsagen,daßdieMännersieüberli stetundihnenihreMagiegeraubthätten. Die Männer der Ona erzählen, daß alle Frauen getötet wurden,diealtgenugwaren,umdieweiblicheMachtzu kennen. Damit ist die Menstruation gemeint. Aber auch zukünftigeGenerationenwerdenmenstruieren.DieMagie rührtnichtvonderMenstruationalleinher,sondernvon dem Verständnis, was Menstruation bedeutet. Wissen über denKörperundseineMachtistgenausowichtigwieder Körperselbst.
EineandereBeurteilungvon Menstruationstabus DiemeistenMenschenhabenvondenkompliziertenTa bus gehört, die menstruierenden Frauen in Kulturen, so weitentferntwiederNaheOstenundNordamerika,auf erlegtwerden.WirwissenvonFrauen,dieindunkleHüt ten eingesperrt werden, keine Speisen anrühren dürfen undsoweiter.VieledieserTabusgehenvonpatriarchalen Gesellschaftenaus,diedieMachtderFrauenübernommen undsieaufdenKopfgestellthaben.Sofördernbeispiels weisedieNährstoffeimMenstruationsblutdasPflanzen wachstum.UmdieseTatsachezuverschleiern,lehrtedas früheJudentum,daßmenstruierendeFrauenvonPflanzen ferngehaltenwerdenmüssen,umdiesenichtzuruinieren. Dieser Aberglaube hält sich noch bis heute. Vor einigen JahrenerzähltemirmeineSchwester,daßihrRabbibeharr lichbehauptethabe,einTropfenMenstruationsblutwürde eine Pflanze vernichten. Angesichts solcher Gedanken in derWeltkannmansichgutvorstellen,daßMännerglaub ten,»Medusa«(Menstruationsblut)könnesieinSteinver wandeln. Zur gleichen Zeit haben einige Anthropologen angefan gen,dasganzeKonzeptder»Menstruationstabus«zumin
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destinStammesgesellschaften in Frage zu stellen. Die Her ausgeber von Blood Magic, Thomas Buckley und Alma Gottlieb,weisendaraufhin,daßdiemeistenAnthropolo genmännlichenGeschlechtssindunddahermännlicheIn formantenausderuntersuchtenKulturbefragen.Vondie semGesichtspunktauskönntedieMenstruationfurchtein flößendundgefährlicherscheinen,diegegensiegetroffe nen Maßnahmen werden als Schutz vor der magischen EnergiederFrauenverstanden.WennAnthropologenje doch den Standpunkt der Frauen zu ergründen suchen, stellensieoftfest,daßdieselbenHandlungenineinemviel positiverenLichtgesehenwerden.FürdieMänneristdie »Frauenhütte«vielleichteinOrt,umFraueneinzusperren undsiedavonabzuhalten,dieSicherheitderGemeinschaft zugefährden.AufderanderenSeitekanndieFrauenhütte fürdieFraueneinOrtderMachtundderZelebrationdar stellen. Auf ähnliche Weise haben einige jüdischortho doxeFrauenangefangen,dasVerbotdesGeschlechtsver kehrswährendundnachderMenstruationvonderpositi venSeitezusehen.Anstattsieeinfachnurals»unrein«zu begreifen,verstehensieihreMonatsblutungenalseineZeit für sich, in der sie zu ihren Partnern und besonders zu ihremKörperineineandereBeziehungtretenkönnen.
EineReligionderWirklichkeit Menschen,diedermodernenGöttinnenbewegungkritisch gegenüberstehen,fragenmanchmal,warumdieFrauenih re Stellung verloren haben, wenndieGöttindochsoall mächtig ist. Wie konnten die Männer die Macht an sich reißenunddieFrauenunterdrücken,sieinUnwissenheit und sklavischer Abhängigkeit halten? Auch diejenigen, dieandieGöttinglauben,könnendieseFragenbeunruhi gend finden. Einige entwickeln mythische Ideen, daß die GöttinihreKinderverlassenhatoderunsdafürbestraft, sienichtangemessenangebetetodereinTabuverletztzu haben. Andere greifen auf die Fortschrittshypothese zurück,daßdieGöttinesalseinenotwendigeStufeinder
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Menschheitsentwicklung zuließ, daß die Männer die Machtergriffen. BiszueinemgewissenGradeentstehendieseFragenselbst aus einem patriarchalen Gottesmodell. Wir stellen uns Gott (Göttin) allmächtig vor, der alles, was mit Vorsatz, Absicht und unaufhaltsamer Macht geschieht, be herrscht und lenkt. Das ist der nach dem Bild des Men schen (oder vielmehr nach den menschlichen Phantasien vonAllmacht)geschaffeneGott,besondersnachdemauf Herrscher und Sklaven beruhenden»Beherrscher«Modell derWelt,wieRianeEisleresnennt.IneinersolchenReligi on distanziert sich Gott von der Welt, inszeniert sie und verlangt von uns vor allem, ihn zu fürchten (»Angst vor demHerrnistderAnfangvonWeisheit«,sagtunsdieBi bel). Die Religion der Göttin ist keine »fortdauernde Bezie hung« zu einem allmächtigen, kontrollierenden Wesen, das getrennt von der Welt existiert. Statt dessen können wirsiealseineBeziehungzuderWeltbezeichnen,sowie siewirklichist,mitihrenZyklen,ihremreichenLebenund ihrem allgegenwärtigen Tod, ihrer Freude und ihrem Schmerz. Die bleibende Beziehung geht aus dem Körper derWeltundunsereneigenenKörpernhervor.DieGöttin istfürdieGeschichtenichtverantwortlich.DieGöttinist GeschichtemitallihremSchmerzundEntsetzenundzu gleichihrenSchönheitenundEntdeckungen. Die Zeugnisse der neolithischen Zeit lehren uns,daßdie Göttin keine Spaltung zwischen Natur, Wissenschaft und demHeiligenerfordert.DieSchönheitvonOrtenwieSto nehenge,NewgrangeoderChacoCanyonliegtdarinbe gründet,daßsiedasHeiligedurchdieLenkungvonLicht inSteinwachrufen–undsodemveränderlichenKörper dernatürlichenWeltFormverleihen.WennwirdieSchöp fung als weiblichanerkennen,brauchen wirkeinenGott zupostulieren,dernurausGedankenherauserschafftund darumallesbestimmt,wasvorsichgeht.Wirmüssendie Religionnichtinetwas»Höherem«alsderWeltunmittel barvorunssuchen.
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EineReligion,dieaufderWeltbasiert,sowiesieist,befreit sowohlMänneralsauchFrauen.Icherwähnteschon,daß es zwangsläufig zu Angst führt, wenn man Macht und KontrolleaufdemPhallusbegründet,weilderPenisnicht nuran,sondernauchabschwillt.InKulturen,indenendie Göttin das Leben verkörpert, wird der Phallus zu einem Werkzeug des Lebens und folglich der Befreiung, aber nichtderEroberung.DerPhilosophundHistorikerMichel Foucault wies darauf hin, daß der Gedanke des heiligen Augustinus,»sichgegenGottzuerheben«,vonseinerei genenUnfähigkeitherrührt,seinenSexualtriebunterKon trollezuhalten.DaereinemüberirdischenGottdesbloßen Denkens folgte, glaubte Augustinus, daß er mit seinem Geist seine Sexualität besiegen könne. Die Tatsache, daß seinPenisohneseinenBefehlanschwellenkonnte,schien ihmderursprünglicheUngehorsamzuseinundführtezu seinenLehrenvonderErbsünde,davon,daßjedeGenera tionmitAdamsVergehenvergiftetwar,daßdasSperma selbstvergiftetwar(AugustinusschloßsichAristotelesan, derlehrte,daßdasBabyalsGanzesschoninderSamen flüssigkeit existieren würde), so daß unsere Schöpfung durchSexualitätfürunsereVerdammungsorgt.Wennwir jedochunsereReligionaufderWelt,sowiesieist,begrün den, dann macht der Phallus genau das, was er machen sollte–undnichtmehr. WirmüssenkeinegroßenSchlachtenaustragen,tötenoder zumMärtyrerwerden,umdieGöttin»zurückzubringen«, denn sie ist niemals weggegangen. Wir müssen einfach nur sehen, die Wirklichkeit der Natur und unsere eigene anerkennen.IngewissemSinnelebenwiralledenMythos derOnaaufFeuerlandaus.EineverzerrteReligionhatdie WeltaufdenKopfgestelltundalles,wasjemalsvorihrexi stierte,verworfen.DurchdieWiederentdeckungdesWis sens – durch die Wissenschaft, durch die Archäologie, durchdasWerkvonFrauen,Minderheitenundeingebore nenVölkern,dieihreeigeneGeschichteaufspüren–haben wirangefangen,unsselbstwiederzuentdecken.
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DerKörperimLand JedeWanderunggeht vonderMutteraus, fahrtzurMutter,geschiehtinderMutter. NorHall
DieeuropäischeJungsteinzeitverschwandnichtmiteinem Male.WährendeinigeGebieteEindringlingenindieHand fielen,entwickeltensichandereundblühtenweiter.Diese »ZivilisationderGöttin«,wieMarijaGimbutassienennt, erreichte ihren Höhepunkt vor 4500 Jahren auf der Insel Kreta. Bis ihre Welt durch Erdbeben in Verbindung mit aufeinanderfolgenden Invasionen vom Festland unter ging,lebtendieKreterineinersowohlkomplexenalsauch feinsinnigen Gesellschaft mit großen und prachtvollen Palästen,dieinHarmoniemitderphysischenPräsenzder GöttininderLandschafterrichtetwurden.DieKreterzele brierten die Sinnlichkeit des Lebens mit ihren gehörnten BergenundHöhlenheiligtümern,ihrenelegantenFresken, die unter anderem üppigwachsendeBlumenundsprin gende Delphine zeigen, ihren Stierspielen, ja selbst mit ihrenTieropfern,dieinihrerKunstalsfröhlicheProzessio nendargestelltsind.DieGriechen,dieihnenfolgten,ver zerrten diese Dinge, wobei sie insbesondere Alptraumge schichten von einem Minotaurus, einem Mischwesen aus MenschundStier,derhilflosejungeAthenerverschlingt, insLebenriefen.DurchdieArchäologieunddieEinsichten von Kunsthistorikern und Göttinnenanbetern – Frauen wieMänner–sindwirausdiesemAlptraumerwacht,um unsereVerehrungfürdasLebenzuentdecken. Wie die späten Griechen auch brachten die Kreter dem Körper und seiner Schönheit Achtung entgegen. Anders alsdieGriechen,dienachausgeglichenerVollkommenheit strebten,drücktendieKreterdieLebenskraftdesKörpers aus.DaserkennenwirschonandenGöttinnenfigurinen,
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mit bloßem Busen, mit Energie erfüllt, in jeder Hand Schlangenhaltend.UndwirselbstkönneneinfernesEcho davonerfahren,wennwirdenaltenProzessionswegenum diePalästeherumundinnerhalbihrerMauernfolgen,die vorderewigenPräsenzdergehörntenBergeerrichtetwur den.
EineältereKultur VomGesichtspunktderGöttinnengeschichteausstelltdie InselKretaeineKulturdar,diesichvomübrigenGriechen landunterscheidet.ObwohlKretaseitJahrtausendenzum griechischenStaatgehörte,seitdemdieFestlandMykener eskolonisiertenundihreeigenenGöttermitderkretischen Göttinverbanden,wardieursprünglicheKulturmitihren prachtvollen Palästen, ihrer eleganten Kunst und ihrer VerehrungfürgehörnteBergevorgriechisch,eineErweite rungderneolithischenKultur. Vieles von dem, was wir über diese Zivilisation wissen, wirdunsverzerrtdurchdieMythenbildungderspäteren griechischen Kultur überliefert. Obwohl die Namen und Geschichten über Kreta von der Insel selbst herrühren, spiegelnsieinWirklichkeitdiespäterepatriarchaleReligi onwiderundnichtdiegöttinnenzentriertenMythen,die sich in den kretischen Fresken, Siegeln und anderen von derArchäologieausgegrabenenÜberrestenerkennenlas sen. Sogar Zeus, das Oberhaupt der olympischen Götter, begann seine mythische Existenz wahrscheinlich als ein kretischer Vegetations oder Stiergott. Im Volkstum wird einerdergehörntenBerge,derIda,derdieLandschaftin derNähederwichtigstenkretischenPalästebeherrscht,als seinGeburtsortbezeichnet,währendeinanderer,derBerg Dikte,angeblichseinGrabbirgt.DadiegriechischenMy thendieUnsterblichkeitdesZeushervorheben,erscheint esseltsam,vonseinemGrabzusprechen.Einnochanderer Mythos bezeichnet den Dikte als den Schauplatz seiner »Heirat«mitEuropa;inderklassischenGeschichteheißtes jedoch,daßZeusinStiergestaltEuropavergewaltigte.Eli
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norGadonschreibtinihremBuchTheOnceand Future God dess, daß Europa »Vollmond« bedeutet und die Figur der Europa die Göttin als »Mondkuh« verkörperte.Wenn wir dieseMosaiksteinezusammensetzen,ahnenwir,daßZeus einst der Stiergemahl der Göttin auf Kreta gewesen sein könnte, der mit dem Land verheiratet war und geopfert wurde, um die alljährliche Erneuerung des Landes nach demWinteroderderleblosenDürredesSommerssicher zustellen. Zu den vielen Stierdarstellungen in der kreti schen Kunst zählen Bilder von Stieren, die der Göttin in fröhlichenProzessionengeopfertwurden. Den griechischen Mythen zufolge ernähren Bienen den jungen Zeus in seiner Höhle im Ida. Wenn wir uns noch einmal den kretischen Siegeln und Schmuckstücken zu wenden,entdeckenwirBienenbeiderGöttin.Bienenver körpern die Göttin überall in Südeuropa und im Nahen Osten. Der antike Schriftsteller Porphyrios bezeichnet die GetreidegöttinDemeteralseineBiene,undausdengrie chischen Mythen geht hervor, daß Demeter aus Kreta stammt. Tafeln von Knossos, auf Kreta selbst, die in der mykenischen Schrift, bekannt als Linear B, verfaßt wur den,beschreibenHonigopfer,diederGeburtsgöttinEileit hyiadargebrachtwurden. EinanderergriechischerStiergott,Dionysos,derGottdes Weins,könnteebenfallsseinenUrsprungaufKretagehabt haben. Griechische Vasen zeigen Europa, die mit Trauben schwer beladene Rebenträgt.IndenklassischenMythen heiratet Dionysos Ariadne, eine Prinzessin, die aber ur sprünglichvielleichteineGöttinvonKretawar.InderGe schichtewirdAriadnedurchihreHeiratmitDionysosin den göttlichen Stand erhoben. Ursprünglich funktionierte esvielleichtandersherum,daßnämlichderStierdurchsei neHeiratmitAriadnezumGottwurde.DerNameAriad ne bedeutet »die Heiligste«, ein Attribut, das auch auf Aphroditeangewendetwurde.IndennächstenzweiKapi teln werden wir mehr von Dionysos, diesem geheimnis vollenGottderEkstase,erfahren.
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GriechischeMythen als Puzzle So viele unserer Bilder von Kreta wurden uns durch die verwirrende Linse der griechischen Mythologie überliefert.DieLebendigkeitdergriechischenMythenläßt sich teilweise zurückführen auf ihre Verbindung von scharfemundklaremDenken–wieessichindenelegan ten Säulen der griechischen Tempel niederschlägt – und wilder Gewalt, einschließlich Mord, Kannibalismus, In zest,Vergewaltigung,VerstümmelungundZerstückelung. DurchalldasziehtsicheineAhnungvontieferenSchich ten, von anderen Geschichten und Bedeutungen, die verschleiertundverzerrtsind,mitElementen,diezusam mengefügt, und anderen, die auseinandergerissen wur den,sodaßdieLeserinbzw.denLeserderMythendasGe fühlüberfällt,eineeinfachereWahrheiterfassenzukönnen –abernichtganz.Esist,alsobeinbesondersneurotisches GeniedieseGeschichtenformuliertundsiedabeimitihrer eigenenBrillanzundihrereigenenüberwältigendenAngst gefüllt hätte. Bald werden wir uns mit der Möglichkeit, daßdieseAngstvonderVernichtungderGöttinnenreligi on herrührt, auseinandersetzen – einer Religion, die die Griechen selbst als älter anerkannten und die tiefer mit dem Land und den natürlichen Tatsachen der Existenz verbundenwaralsdieihrerbrutalenKriegergötter.Hier jedochsolltenwir,wenngleichnurkurz,daraufeingehen, wiediesesGeniedieTatsachenüberjeneprähistorischeZi vilisationverzerrte,dieArthurEvans»minoisch«genannt hat. WirsolltenmitdemBegriff»minoisch«beginnen,dervon Evansgeprägtwurde,alserdenPalastvonKnossosAn fangdes20.Jahrhundertsausgrub.DieBezeichnungleitet sich von einem König Minos ab, Sohn des Zeus und der Europa, der über Kreta vor dessen Untergang geherrscht haben soll. Diese Vermutung beeinflußt noch immer die DiskussionüberKreta.ArchäologenhabengewisseRäu meindenverschiedenenPalästenals»MegarondesKö nigs«bezeichnetundandere,kleinereRäumeder»Köni
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gin« zugewiesen. Evans und seine akademischen Nach kommenbeschriebeneinensteinernenStuhl,derineinem RauminKnossosgefundenwurde,alsdenKönigsthron. EsisteineinfacherundeleganterStuhlmitWandmalerei en dahinter, so daß er von Greifen flankiert wird, aber nichtsanihmweistzwangsläufigdaraufhin,daßessich umeinenThronfüreinenKönighandelt.Erkönnteauch für eine PriesterinodereinenPriesterbestimmtgewesen seinoderfürjemanden,demzueinerbestimmtenZeiteine Ehrungzuteilwurde,oderfüreinenZweck,dereinzigar tig in dieser Kultur und uns unbekannt ist. Der einzige Hinweis geht aus Fresken und Vasen mit Darstellungen von Greifen hervor, die eine sitzende Göttin beschützen. VielleichtwolltendieKretererreichen,daßderStuhlund die hinter ihm befindlichen Wandmalereien Leben in die Bilderbringen,währendeineFrauinderRollederGöttin majestätischdasaß. Marija Gimbutas ziehtdenTerminus»Palast«fürdievon EvansfreigelegtenRuinendergroßenGebäudekomplexe ansichinZweifel.InihremBuchDieZivilisationderGöttin schreibtsie,diePalästeseienkeineVerwaltungszentrenfür einen Herrscher gewesen, sondern Palasttempel, »in de nenkompliziertereligiöseRitualeimRahmeneinesthea kratischenSystemsstattfanden«. Auf Kreta gefundene Texte vermittelnden Eindruckvon einervielseitigenBürokratie.DieSchrift,inderdieseTexte abgefaßtwurden,LinearB,isttatsächlichgriechischund stammt von den mykenischen Eindringlingen, die nach und nach die Herrschaft über Kreta übernahmen. Die frühere,reinkretischeSchrift,vonArchäologenals»Linear A« bezeichnet, wurde nie entziffert. Wenn wir die kreti scheKunstbetrachten,findenwirkeineDarstellungenvon allmächtigen Herrschern, weder männlichen noch weibli chen, sondern nur von einer Göttin, die die Lobpreisung unddieFreudeihrerAnbetererfährt.
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PasiphaëundderStier Den griechischen Mythen zufolge heiratete Minos eine FraunamensPasiphaë,TochterdesHeliosundderPerseïs. Pasiphaë bedeutet »die für alle Scheinende«, während HeliosundPerseïsdieSonneundderMondsind.DieNa menlassendiesterblicheFraualsdieGöttindesHimmels erkennen. Griffen die Griechen den Namen einer kreti schen Himmelsgöttin auf und wiesen ihrselbsteineNe benrollealsKönigMinosFrauzu?DemMythosentneh men wir, daß der griechische Meeresgott Poseidon dem MinoseinenweißenStierausdemMeersandte,damitdie serihmdasTieropfere.AnderenVersionenzufolgeschick teZeusdenStier–wasplausibelklingt,daZeusdieGe stalt eines Stiers annahm, um Europa zu vergewaltigen. Zeus, der Himmelsgott, Poseidon, der Meeresgott, und Hades,derTodesgott,warenindenMythenBrüder,kön nenaberaucheineFigurgewesensein,dieindreiFunktio nenaufgeteiltwurde. Stieropferungen,dieinderkretischenKunstalseinderar tigmachtvollerAspektderReligioninErscheinungtreten, könntenihrenUrsprunginderTierzähmunghaben.Zur ZeitderJägerundSammlerhattendieMenscheneinehei ligeScheuvorTieren.EindringlicheBildervonStieren,rie sengroßundsowohlinallenEinzelheitenalsauchinwil derBewegungbegriffengemalt,sindinderHöhlevonLa scaux vorherrschend. Die Zähmung und Beherrschung solcherTierekönnteAngstoderSchuldgefühleerzeugtha ben. Paradoxerweise könnte gerade die rituelle Schlach tungundOpferungdesTieresfürdieGöttinvondemGe fühl befreit haben, daß durch die Domestizierung die MachtderTiereverringertodertrivialisiertwurde.Aufei ner praktischeren Ebene ruft mehr als ein Stier in einer HerdedieGefahrvonGewalthervor,dadiemännlichen Tiere um Vorherrschaft kämpfen. Der Bauer könnte die überschüssigen Stiere kastriert oder geschlachtet haben. UndwarumsolltemanderSchlachtungeinessolchenjun gen,herrlichenTiereskeineheiligeBedeutungbeimessen,
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diederErfahrunggleichwertig ist,ihmdenTod zu geben? Im klassischen Mythos konnte Minos es nicht über sich bringen,sichvondiesemprächtigenStierzutrennen,und dahertöteteereinenanderenanseinerStelle.Anscheinend dachteer,daßesPoseidonnichtauffallenwürde.Derwü tende Poseidon erfüllte Pasiphaë mit einer Leidenschaft fürdiesenStier.SiewandtesichanDaidalos,einenmei sterhaften Handwerker, und befahl ihm, eine hölzerne Kuhzubauen,indiesieschlüpfenkonnte,umdenStierzu verführen.SomitwirddieweltweitverbreiteteKuhgöttin in der griechischen Mythologie zu einem Witz herabge würdigt.
DerMinotaurus Als Folge dieser Verbindung von Frau und Stier gebiert PasiphaëeinKind,den»Minotaurus«oder»StierdesMi nos«,alsobMinosselbstdasUngeheuergezeugtodergar zurWeltgebrachthätte.NunerrichtetDaidaloseinriesi gesLabyrinth,indemdiesesSymbolfürMinosSchande verstecktwerdensoll,diesesMischwesenausMenschund Stier, das genaugenommen wie Zeus oder Dionysos in WirklichkeitdenmännlichenGefährtenderGöttinverkör pert.DerpatriarchalenAnsichtnachistdieAnbetungder NaturunddesLandesinGestaltderGöttin,desweibli chenKörpers,schrecklich,undalles,wasausdieser»Hin gabe«andasWeiblicheresultiert,kannnurmonströssein. UndsobautDaidalossein»Labyrinth«,umdenMinotau rus zu verbergen, während König Minos verlangt, daß AthenalleneunJahresiebenJünglingeundsiebenJung frauen sendet,diedemMinotaurusgeopfertwerdensoll ten.SowiedieZahlSiebenandiesichtbarenPlanetenerin nert, ist die Neun die höchste Zahl der Göttin, denn sie steht für die neun Monde der Schwangerschaft und die Magievondreimaldrei,dasheißtdieverdreifachtedrei gestaltige Mondgöttin. Demzufolge weisen beide Zahlen aufhimmlischeBewegungenhin.TatsächlichträgtderMi notaurus einen Namen, nämlich Asterios, griechisch für
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»(König) von denSternen«, ein weiterer Hinweis darauf, daßerursprünglichdenPartnerderKuhverkörperte,de renEuterdieMilchstraßehervorbrachte. Die Geschichte von Daidalos selbst, dem meisterhaften Handwerker,könntevondengriechischenKriegernstam men, die der hochentwickelten Zivilisation Kretas mit ihren Städten, ihren mehrstöckigen Palästen, ihren sa nitären Anlagen im Haus, ihrem Straßennetz und ihren ausgebautenHäfenbegegneten.Wahrscheinlichhattendie griechischen Piraten so etwas noch nie gesehen. Ähnlich könntedieIdeevondemLabyrinthihrenUrsprunginder Komplexität und der Pracht der Paläste haben, denn das Wort Labyrinth bedeutet »Haus der Doppelaxt«, und die Doppelaxt stellt das allgegenwärtige Symbol der Göttin aufganzKretadar.
DieDoppelaxt Wie in Kapitel 3 erwähnt, diente die Doppelaxt nicht als Waffe;dasBildtauchtnirgendwoinderKunstverbunden mitmännlichenFigurenauf,sonderneinzigundalleinan der Göttin geweihten Säulen oder in Darstellungen von der Göttin und ihrenweiblichenAnbetern,zuweilenne ben dem Lebensbaum im Paradiesgarten. Ein moderner ReiseführerüberKreta–KuriosumamRande–bezeichnet dieDoppelaxtalseinSymbolfürZeus:einBeispielfürdie ArtundWeise,wiediepatriarchaleVerzerrungindiemo derneKulturhineinfortgesetztwird. ProfessorGimbutashatdaraufhingewiesen,daßdielabrys sichvomSchmetterlingableitet,undtatsächlichfindenwir eingravierteSchmetterlingeaufeinigenderfrühestenÄx te, während manche der reicher verzierten Äxte fast ge nausoaussehenwieSchmetterlingszeichnungen.ImMu seumderkretischenHauptstadtHeraklionzeigteineVase aus der ausgegrabenen Stadt Kato Zakros einen Schmet terlingmitaxtähnlichenFlügeln.DasgriechischeWortpsy chebedeutetsowohl»Seele«alsauch»Schmetterling«,eine Verbindung,dieaufdiefrühekretischeKulturzurückge
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Doppeläxte,Museum vonHeraklion/Kreta
VasemitderDarstellung eines Schmet terlingsmitaxtähnlichenFlügelnvon derausgegrabenenStadtKato Zakros/Kreta,ca.1400 v. Chr.
henkönnte.DieSeelealsSchmetterlingimpliziert ein Ver ständnisdesmenschlichenLebensalseineStufezueiner erfüllenderenExistenz. Die Schmetterlingsflügel und die gebogenen Axtblätter symbolisierendenzuundabnehmendenMondundauch die Schamlippen der weiblichen Vulva. Labrys und labia (Schamlippen) sind etymologisch miteinander verwandt. Mit der Doppelaxt sind noch andere Bilder verbunden: DerGriffähnelteinemStengeloderBaumstamm,dersich nach unten zur Kraft der Erde hin ausbreitet. Das Blatt selbstbildeteineendloseSchleife,demUnendlichkeitszei chenindermodernenMathematikähnlich.Aufgrundder gegensätzlichenKrümmungen–inderHorizontalenaus gehöhlt,inderVertikalennachaußengewölbt–entsteht derEindruckvoneinerWelle,diedenGipfelerreichtund sichdannschwungvollindieandereRichtungnachunten
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bewegt. VersuchenSieeinmal, das Doppelblattmuster mit ausgestrecktemArmindieLuftzuschreiben,undfahren SiedabeimitIhrerHandweitinjederRichtungdurchdie Luft. Die Bewegung kann ein intensives Wachsen und FreiwerdenvonEnergiebewirken. DieDoppelaxtkannsehreinfachgehaltenoderreichver ziertseinundistmanchmalmitKränzenausBlätternoder mitLöwenoderGreifenversehen.DieÄxte,diemange funden hat, können wenige Zentimeter klein sein, währendanderedieGrößeeinesMenschenüberschreiten. DieDoppelaxttauchtauchinanderenGegendenauf,zum BeispielinÇatalHüyükinAnatolien–icherwähntebe reitsdieTheorie,daßsichAnatolieraufKretaniederließen. DerNameKybele,dieGroßeGöttinvonPhrygien(Anatoli en)undRom,hatmitcybellabeziehungsweiseHöhleund cybellis – Doppelaxt – den gleichen Ursprung. In Afrika trägt der YorubaGott Shango eine Doppelaxt, die er als Waffebenutzt(wieThorundseinHammer,Shangosskan dinavische Entsprechung).ShangoselbstistderGefährte von Oya, die Judith Gleason als »Büffelfrau« bezeichnet undmiteinerneolithischenFelsmalereivoneinertanzen denGöttinmithornartigenBrüsteninderSaharainVer bindung bringt. Eine Darstellung, die einer Doppelaxt ähnelt,findetsichinderpaläolithischenHöhlevonNiaux inFrankreichundinderneolithischenKulturvonTelHa lafimIrak.ChristinaBiaggiführtan,daßsichdieDoppel axt vielleicht von dem übertrieben betonten Gesäß der paläolithischenGöttinnendarstellungenableitet(manver gleichedieSpiralenaufdemGesäßderCucuteniGöttin, S.144).AufKretaistdieDoppelaxtauchinStalaktitensäu leninHöhleneingeritzt. IndensiebzigerJahrengingenvieleradikaleFeministinnen dazuüber,KopienderlabrysalsSchmuckzutragen.Alsei neinteressanteWiderspiegelungunsererKriegerkulturzo gendiemeistendieserFrauennichteinmalinErwägung, daßdieAxtvielleichtkeineWaffewar.DasiedasBildalsein WerkzeugderAmazonenverstanden,dieWiderstandge gendasPatriarchatleisteten,trugensiedielabrysalsein
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Symbol desKampfgeistes. AlsichdenPalast von Knossos besuchte, fiel mir im sogenannten Heiligtum der Dop peläxteeinmodernerHolzrahmenauf,indenjemandmit einemTaschenmesserdaslabrysBildnebendemdoppelten weiblichen (oder Venus) Zeichen eingeritzt hatte, dem zeitgenössischenSymbolfürfeministischeLesbierinnen.
Menschenopfer DiegriechischeGeschichtevondensiebenJünglingenund densiebenJungfrauen,diedemMinotaurusgeopfertwur den, wirft die Möglichkeit auf, daß auf Kreta nicht nur Stiere,sondernauchMenschengeopfertwurden.DieGrie chen und die Hebräer berufen sich auf angebliche Men schenopferalsRechtfertigungfürihreVernichtungderal tenGöttinnenreligion.InderTatläßtsichaufKretanurein einziges Menschenopfer belegen, das gegen Ende der mi noischenZeitvollzogenwurde,alseszumehrerenErdbe ben kam. Der Grund für den Untergang der kretischen Kultur und die Zerstörung der Paläste, besonders Knos sos,um1400v.Chrstehtnichteindeutigfest.Diemeisten Archäologenvermutenjedoch,daßderUntergangaufeine Reihe von Erdbeben zurückzuführen ist, von denen das stärkste1450v.Chr.auftrat.DiesesErdbebenkonzentrierte sichzwaraufdienahegelegeneInselThera,aberdurchdie Druckwellen wurden auch kretische Städte und Paläste zerstört.DieersteGenerationderPalästefieleinemfrühe renErdbebenimJahre1700v.Chr.zumOpfer.DieTatsa che,daßdieGebäudenachdemzweitengroßenErdbeben nicht wiederaufgebaut wurden, läßt eine verhängnisvolle SchwächunginderSozialstrukturwährendder250Jahre zwischendenbeidenKatastrophenerkennen. Vincent Scully zufolge errichteten die Kreter Knossos an einer Stelle, die ein Maximum an seismischen Störungen aufweist,alsobsiedieKraftderErdespürenwollten,die dieMauernlebendigwerdenließ.Vielleichtwarensiesich vordemerstenBebennichtüberdieGefahrimklarenund bautendenPalastanderselbenStellewiederauf,weilsie
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glaubten, daßerdorthingehöre. Oder vielleicht beschlos sen sie, wie die heutigen Bewohner von Los Angeles, zu bleibenund»dasgroßeBeben«zuriskieren. KleinereErdbeben,dieschließlichindemeinenaufThera kulminierten,bedrohtendiePalastkultureineZeitlang,in derdieMenschenmöglicherweiseerkannten,wasvorsich ging,unddurchGebeteversuchten,dieseKatastropheab zuwenden,diesiedurcheigeneBemühungennichtunter Kontrolle bringen konnten. Diese Erdbeben ereigneten sichzueinerZeit,inderdieurgriechischenMykenerdie HerrschaftinKnossoserrichtethattenundKriegeranfüh rereinführten,währendsieeinenGroßteilderGöttinnen religionihrerReligioneinverleibten. Archäologischbelegtist,daßgegenEndedieserErdbeben zeiteinPriestereinenjungenMannzueinemAltarineiner primitivenStätteindenBergenführteundihmeinMesser in den Rücken trieb. Diese einzigartige Stätte entdeckten Archäologenerstvorkurzem.DiekleineRuineerhebtsich ineinerrauhenBerglandschaft:ImGegensatzzurHafenge gendoderdenweitläufigenEbenenimLandesinnerener scheint das Land hier weder sanft noch einladend. Statt dessenstoßensichnackteGipfelundzerklüfteteFelsenwie Messer aus dem Boden. Die Opferstätte (viel zu primitiv undbehelfsmäßig,umsiealsTempelbezeichnenzukön nen)liegtaufeinerNordSüdAchsezwischendenBergen dahinterunddemMeerdavor.IchbesuchtesieEndeSep tember,alsdieSommerdürreaufgehörthatteunddasLand grauundwietotdalag.ImGegensatzzudenhöher»ent wickelten«Ruinen,denPalästen,istdieStättesorgfältigab grenzt,nichtbeschildertundmitStacheldrahtgesichert. Wirwissen,wassichandiesemPlatzabspielte,weilesge nauimAugenblickderOpferungzueinemweiterenErd bebenkam.SteinschuttbegrubdenMörderzusammenmit seinem Opfer unter sich, das Messer steckte noch im RückendesLeichnams.FallsdieKreterwirklichgeglaubt haben,daßderTodeinesMenschendieGöttinbeschwich tigenwürde,habensieesoffensichtlichfalschverstanden. DieBotschaftlautet:»Dashabeichnichtgewollt.«
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DerStiertanz VondenarchäologischenFundenherhatesdenAnschein, daßdieseeinzelneTötungimGegensatzzurfrüherenPra xissteht.WarumaberstelltensichdanndieAthenereinen stierköpfigen»KönigvondenSternen«vor,derihreKin derverschlingt?AbgesehenvondemnaheliegendenPro pagandazweck, könnten sie die berühmten kretischen Stierspiele verzerrt dargestellt haben, bei denen junge MännerundFrauendieTiereandenHörnernpacktenund anmutigüberihreRückensprangen–einewahrhaftstarke VerdrehungvonetwassoPositivemundFreudigem. DieKunstwerke,diedieStierspieleoderdenStiertanzzei gen,zelebrierennichtnurdenjugendlichenKörper,sondern sie tragen auch zur Veranschaulichung der Gleichheit von Frauen und Männern in der kretischen Gesellschaft bei. Jahrtausendevorunsererwestlichen»Unisex«Modeprakti zierten die Kreter das zwanglose Verschmelzen von ge schlechtsspezifischen Vorstellungen, das bereits erörtert wurde. Die am Stiertanz teilnehmenden Frauen mit ihren »Hosenbeuteln«unddieMännerinihrenRöckenbeidenRi tualen–eineranderenArtvonSpiel–verbindensichanmu tigmiteinander.InderKunstwerdenbeideGeschlechtermit schlankenTaillenundvielSchmuckdargestellt.AndereDar stellungen zeigen Frauen und Männer gemeinsam auf der Jagd.Trotzdemwarensienichtgeschlechtslosundsichder Unterschiedebewußt,dennandereBilderzeigenFrauenmit nacktemBusenundMännermiterigiertemPenis. WiereligiöseTänzeüberallaufderWeltbringtderStier tanzdieKraftunddieSchönheitdesheiligenKörperszum Ausdruck.WirsindeinemmöglichenTanzplatzinzumin desteinerpaläolithischenHöhle,nämlichPêchMèrle,be gegnet.TanzengehörtebensozudenInstinktenwieSex, wiedasGebären.NorHallweistdaraufhin,daßTanzund Geburtshilfe aus instinktiven Rhythmen entstehen. Eine griechischeHymnebeschreibtArtemis–Patroninderge bärendenFrauen,MutterderBerge,BeschützerinderTie re–,wiesievorderBehausungihresBrudersApollon
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ihrenBogenbeiseitelegt, um mit den neun Musen zu tan zen(siehedazuauchKapitel7). DurchdenTanzerfahrenwirunsereKörperalslebendig, undwirerfahrendasLeben,dasrhythmischdurchdiege samteSchöpfungfließt.IndenwunderbarenWorteneines Liedes der Pygmäen Gabons (gesammelt in Jerome Ro thenbergs Anthologie Technicians of the Sacred) ausge drückt,heißtdas:»Alleslebt,allestanzt,allestönt.« Zellen tanzen, Elektronen tanzen, Galaxien tanzen in ihremspiralförmigenWirbel.DerreligiöseTanzführtuns außerhalb unserer selbst in einen Zustand der Ekstase (wörtlich:»aussichheraustreten«).Abererträgtebenfalls zum Gemeinschaftswohl bei, denn indem wir gemeinsam einen Ritualtanz aufführen, bieten wir unser einzelnes Selbstan,»opfern«unserindividuellesEgoundgebenun serenKörperhin,umdieMachtderGöttinzubeschwören. InderkretischenKunsttrittderTanzalsThemaoftinEr scheinung.StylianosAlexioubeschreibtBilderaufeinem Sarkophag, die eine musikalische Darbietung bei einer Stieropferungzeigen.Desweiterenberichtetervoneinem Obstbehälter,aufdemTänzerinnendargestelltsind,dieei neGöttinmitBlumenindenHändenflankieren;ähnliche Szenen finden sich auf einer Schale, auf Tonfiguren, die vierMännerdarstellen,welcheeinanderdieSchulternum fassenundimKreistanzen,aufeinemRingmittanzenden barbusigen Frauen und einer Malerei aus Knossos, die in einem heiligen Olivenhain tanzende Priesterinnen dar stellt.AndemTag,alsichdiesePassageschrieb,wurdeich von der »Ersten Internationalen Minoischen Partner schaftsfeier«unterrichtet.DieTitelseitederBroschüreziert einMuseumsfotovondreiTonfiguren,dieeinenKreistanz umeinezentrale,LyraspielendeFiguraufführen.
TheseusunddasLabyrinth DasSpirituelleistpolitisch.JedeReligionübermittelteine sozialeBotschaft.EingroßerTeilderpatriarchalengriechi schenMythologiestärktedemdamaligenRegierungssy
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stemdenRückenundmachte gleichzeitigdie frühere Kul turschlecht.IndenathenischenMythenbautDaidalos– ein isoliertes männliches Genie – das »Labyrinth«, einen angeblich undurchdringlichen Irrgarten, der so kompli ziertist,daßihmniemandentkommenkann.Deratheni sche Held Theseus tötet den Minotaurus und findet den Weg aus dem Labyrinth mit Hilfe einer Rolle Garn, die Ariadneihmgegebenhatte.ErspultdasGarnab,während erindenIrrgarteneindringt,sodaßeresspäternurnoch zumAusgangzurückverfolgenmuß. Wieder stoßen wir auf ein Geheimnis von Verzerrungen, sowohl der Psyche als auch der historischen Tatsachen überreligiöseBräucheKretas.DieheutealsdasLabyrinth bekannteKonstruktionistüberhauptkeinIrrgarten,son derneineinzigergewundenerWeg,derohneAbzweigun gen zu einerMitteführt. Daer nur zur Mitteführt,muß man, um wieder zum Ausgang zurückzufinden, lediglich denselbenWegzurückgehen. Das Labyrinth symbolisiert die Gebärmutter der Göttin, durchdiewirineinemekstatischenTanzreisen,zurückzu derQuelleunsererExistenz,umdannwiederindieäußere Welt unseres täglichen Lebens zurückzukehren. Die Ver zerrungdiesesklarenMusters,einerArtvonTanzzuei nemIrrgarten,indemmansichfürimmerverlierenkönn te, veranschaulicht die Geheimnisse und Verwirrungen dergriechischenMythologieselbst.Siestelltaußerdemdie Angst davor dar, das Ego in Prozessionstänzen an das Herz der Göttin zu verlieren. Mit dem Garn in der Sage könnteursprünglichdieNabelschnurunddieewigeVer bindungzurMutterdesLebensgemeintsein,eineandere VersiondesKnotens,der,wiewirbereitsgesehenhaben, unser Leben mitderGöttinverbindet.In derGeschichte von Theseus wird der Faden jedoch zur Verbindung zu VernunftundKontrolle. Die Hinweise auf den Ursprung des Labyrinthmusters sindzahlreich.EskönntevoneinemerotischenTanzaus sichentwickelthaben,derimFrühlingaufgeführtwurde. InderIliaswirdineinerderSzenenüberden Schild des
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DasMusterdeskretischenLabyrinths
Achilles ein Tanzplatz beschrieben, den angeblich Daida losfürAriadneentwarf.G.R.Levyschreibtübereinkreti sches Siegel, das »Ariadne« darstellt, die einem ekstati schen Tanz zusieht (die Gleichsetzung der ungenannten FigurmitAriadneleitetsichwahrscheinlichvondengrie chischenMythenab).NorHallweistdaraufhin,daßder Labyrinthtanz die Zickzackbewegungen von Kranichen nachahmen könnte, die sie zur Paarungszeit vollziehen, währendRobertvonRankeGravesschreibt,daßdasLa byrinthmustervoneinerFallefürRebhühnerherrührt,die zurPaarungszeiteinenhumpelndenTanzaufführen. Obwohl das Labyrinthmuster den Namen »das kretische Labyrinth«erhaltenhat,tauchtesinderminoischenKunst nichtsehrhäufigauf.WirwissenvonseinemVorhanden seinaufKretaüberwiegendvonMünzdarstellungen.Selt
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samerweisetauchtgenaudasgleicheBildinderFelskunst des amerikanischen Südwesten auf. Anders als Symbole wiedasKreuzoderdieSpiralescheintdasLabyrinthzu kompliziertzusein,uminverschiedenenKulturenunab hängig voneinander aufzutreten.Fuhrendie Kreter3500 JahrevordenWikingernnachNordamerika? DieIdeeeinesinWindungenverlaufendenTanzeskönnte aufeinwesentlichesElementderkretischenReligionhin weisen,undzwaraufdieIdeeeinesProzessionswegs,der außerhalbeinesPalastesseinenAnfangnimmtundinei nem sich windenden oder spiralförmigen Muster in das verborgene Geheimnis der Säulenkrypta im Palastzen trumführt.
DieMachtdesLandes Klassische Archäologen schenken Vincent Scullys Theorie überheiligeLandschaftensehrwenigBeachtung–obwohl DonaldPreziosiinseinemBuchMinoanArchitecturalDe sign darauf hinweist, daß Scully mehr Achtung verdient, alsdiemeistenihmzuteilwerdenlassen.Auchwennerei nigenseinerAusführungenkritischgegenübersteht,räumt Preziosi die generelle Wahrscheinlichkeit seiner beiden Hauptargumenteein,daßnämlichdieKreterbewußtihre Paläste nach einer NordSüdAchse angelegt und sie an besonderenLandschaftsmerkmalenorientierthaben. ScullyselbstbringtimVorwortzuder1979erschienenen AusgabevonTheEarth,theTemple,andtheGodsseineVerär gerungzumAusdruck,daßfürdiemeistenAutoren,die über heilige griechische Stätten geschrieben haben, »die Landschaft immer noch nicht existiert«. Er weist darauf hin,daßMenschen»selektivsehen,abernichtempirisch«, daßihreSichtdurch»diebegrifflicheStrukturihrerKul tur«konditioniertist. Wenn professionelle Archäologen sich nicht für Scullys Landschaftsästhetikerwärmen,sohatdochdieBewegung zur Wiedererweckung der Göttinnenreligion viele Anre gungenausseinemWerkbezogen.DiesesInteresseistteil
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weise auf die Verbreitung von Scullys Ideen in anderen Schriften zurückzuführen, wie zum Beispiel Mimi Lobells ArtikelinderZeitschriftHeresies,ElinorGadonsBuchThe OnceandFutureGoddessoderDoloresLaChappellesEarth Wisdom.WiedasWerkvonMarijaGimbutasliefernProfes sorScullysSchriftenmehralsnurInformationen.Siever mitteln ein Gefühl für die Macht und die Schönheit der Göttin,derenKörperimLandnurdurchdiesymbiotischen HandlungenvonMenschenvollundganzinsLebentritt. ScullybezeichnetdiealteArchitekturals»einWunderdes Einklangs« zwischen menschlichen Bedürfnissen und der Natur.AufdemgriechischenFestlandverschobsichdieses empfindliche Gleichgewicht zum Menschen hin, so daß der Tempel ein Bild des »Sieges« darstellt. In der frühen kretischenKulturerstrebtemandurchdieErrichtungder PalästedieHarmoniemitderLandschaftalsdemGöttin nenkörper.EsgabkeineTempel,zumTeilweildieKreter wiediepaläolithischenMalerdieGöttininihremHöhlen schoß anbeteten. Der Bau von Tempeln signalisiert eine Religion, in der die Götter angefangen haben, sich vom Landzutrennen.MitderErrichtungvonTempelnfürihre AnbetungnehmendieGötterPersönlichkeitenan,diesich von der Natur unterscheiden. Obwohl die griechischen TempelsichindieLandschafteinfügen,beschwörenihre elegantenSäulenundStatueneineGottheit,dieeherdurch diemenschlicheKulturinspiriertwurdealsdurchdieZy klenderErde.DieSchreineindenkretischenPalästenha bendieKreterjedochnichtdarangehindert,ihreAufmerk samkeitweiterhindenBergenundHöhlenzuwidmen.
NaturundPolitik Scullyführtan,daßdieEigenschaftdesLandesselbstdazu beiträgt, einen Sinn für das Heilige zuwecken,daseiner bestimmten Gesellschaft eigen ist. Obwohl Kreta einige rauhe Gegenden aufweist, sind die Bergeimallgemeinen sanftunddieHügelrund.Scullybemerkt,daßdas»Ent setzen«,dassichmanchmalbeianderenKulturenvorder
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Muttergöttinfindet–dieErichNeumannals »die Furcht bareMutter«bezeichnet–,aufKretanichtexistiert.Anders alsbeispielsweisediegrausamehinduistischeGöttinKali verschlingt die kretische Göttin nicht, sondern erweckt Freude.DerArchäologeNicholasPlatonschreibtüberKre ta:»...vonüberallherscheintmaneineHymneandieNa turalsGöttinzuhören,eineHymnederFreudeunddes Lebens.«DiekretischeKunstistniemalsstatisch,sondern mitanmutigerBewegungerfüllt. WennwireineReligionpostulieren,dieausdenGegeben heiten der Natur erwächst, dann helfen die besonderen MerkmaleeinesOrtessicherlichdabei,diereligiöseErfah rungzubeeinflussen.GleichzeitigerwächstReligionauch auspolitischenBedingungen–biszudemPunkt,daßdie Furchtbare Mutter in Mythen existiert und keine Erfin dung moderner Psychologen ist; sie kann patriarchale ÄngsteumdieErsetzungeinerfrüherenKulturwiderspie geln. In Indien finden wir neben Kali andere kannibali sche, bluttrinkende Göttinnen. Moderne Interpretatoren haben diesen Bildern subtile Analysen gewidmet. Aber wirsolltenunsbewußtmachen,daßIndienwieauchGrie chenlandunddasalteEuropadieInvasionundEroberung vonIndoeuropäernerlebte,dieihrehimmlischenKrieger götter mitbrachten, um die erdbezogenen Göttinnen der Drawida–einervorderindischenVölkergruppe–zuüber winden.BisaufdenheutigenTagwirddieGöttinnachwie vorinvielenDörfernverehrt,unddieFigurderKali,ge nau dieses Bild von der Verschlingenden Mutter, behält ihrenEhrenplatzaufHausaltären. TatsächlichläßtProfessorScullydieBedeutungvonpoliti scher und sogar militärischer Notwendigkeit nicht un berücksichtigt. Er weist darauf hin, daß die Mykener die kretischen Prinzipien akzeptierten, sie jedoch ihrer Krie gersituation anpaßten (besonders in Mykene selbst), währenddieDorersichweigerten,die»Bedingungen«der kretischen Harmonie anzunehmen, »einschließlich des verborgenen Versprechens der Unsterblichkeit«, und Zeus überdieMutterstellten.
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CharakteristischeLandschaftsformen Von 2000 v. Chr. an wiesen Vincent Scully zufolge alle kretischen Paläste dieselben Landschaftselemente auf. DazuzählteneinumschlossenesTal,indemderPalastlag, ein sanft gerundeter oder kegelförmiger Hügel auf einer Achse mit dem nach Norden oder Süden ausgerichteten Palast und auf derselben Achse »ein höherer, gehörnter odergespaltenerBerg«.DieserBergkannnochanderecha rakteristische Merkmale besitzen, aber der Doppelgipfel beziehungsweise die eingeschnittene Spalte bleibt unver ändert.DurchdieseFormentstehtderEindruckvonHör nern im Profil, obwohl sie auch an erhobene Arme oder FlügeloderBrüsteerinnernkann,waseinwenigvonder GrößeundderFormdesDoppelgipfelsabhängt.DerBerg undderKegeldavorspringendemBetrachteralsauffällig stes Landschaftsmerkmal ins Auge. Dieses Merkmal hebt derPalastdurchseinenlangen,ebenenHofhervor,deruns direktzudenemporsteigendenHörnernführt.Scullybe zeichnet den Kegel als »die mütterliche Form der Erde« und den gehörnten Berg als »das Symbol ihrer aktiven Kraft«. AndieserStellelohntessich,MimiLobellsBeschreibung derLandschaftalsKörperzuwiederholen.»DasTalent sprachihrenumfassendenArmen,derkegelförmigeHü gelihrerBrust...dergehörnteBergwarihr>Schoßein Gliedabgeschnittenwordenwar