Lois Tilton
Babylon 5
Im Kreuzfeuer
Roman
scanned by Jamison corrected by Jez
1 Die Beobachtungskuppel von Babylon...
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Lois Tilton
Babylon 5
Im Kreuzfeuer
Roman
scanned by Jamison corrected by Jez
1 Die Beobachtungskuppel von Babylon 5. Wenn nicht viel los war, keine Schiffe die Station verließen oder anflogen, konnte man durch die gewölbten Fenster die Sterne vor dem schwarzen Hintergrund des Alls glänzen sehen. In solchen Momenten erahnte man die Unendlichkeit des Universums und besann sich auf den Platz der Menschen in der Riege der intelligenten Lebewesen. Aber so friedfertige Gedanken waren in der Kuppel nur selten möglich. Schließlich war sie die Kommandozentrale von Babylon 5, und Commander Susan Ivanova beschäftigte sich intensiver mit dem Bildschirm ihres Computers als mit dem Anblick der Sterne. Die Oberfläche ihres Kontrollpults war schwarz, schwarz wie der Weltraum, aber die Anzeigen blinkten und wechselten beständig die Farbe, während Informationen und Daten darüberhuschten. Auf dem Hauptschirm zeigten Symbole die Schiffe in Warteposition an, Schiffe, die abflogen oder sich den Andockvorrichtungen
näherten. Eines darunter war besonders gekennzeichnet: ein beschädigter Frachter, dessen zerstörte Stabilisatoren ein sehenswertes Anflugmanöver vorausahnen ließen. Ivanova hatte ihre Hände auf dem Rücken verschränkt und betrachtete die vorgezeichnete Landeschneise des Frachters auf dem Schirm. Die Farben der Anzeige tanzten auf ihrem Gesicht. Ihre Haut war von dem eng zusammengebundenen Pferdeschwanz gespannt. Selbstsicher gab sie ihren Befehl: »CentauriTransporter Gonfalion, hier ist Babylon Control. Ihr Einflugwinkel ist instabil. Ich fordere Sie auf, Ihre Triebwerke abzustellen. Wir werden Sie reinschleppen. Versuchen Sie nicht, ich wiederhole, versuchen Sie nicht, aus eigener Kraft anzudocken. Haben Sie mich verstanden, Gonfalion?« Das Gesicht des fremden Piloten auf dem Kommunikationsschirm sah nicht gerade erfreut aus. Für ihn bedeutete das Schleppmanöver zusätzliche Landegebühren. Aber das Bußgeld für eine Weigerung würde noch höher ausfallen. »Verstanden, Babylon Control. Ich stelle jetzt die Triebwerke ab.« Die Technikerin an den Scannern prüfte ihre Instrumente. »Sie stoppen ihre Maschinen, Commander.« Ivanova nickte. Ohne den Blick von ihrem Bildschirm zu lösen, befahl sie: »Schicken Sie ein paar Shuttles rüber, die das Schiff zum Frachtdock
acht schleppen. Halten Sie alle anfliegenden Schiffe von dieser Einflugschneise fern. Die werden viel Platz benötigen.« Es war ein kniffliges und kompliziertes Manöver, einen interstellaren Frachter dieser Größe mit Greifern zu packen und durch die knapp bemessene Landeschleuse der Station zu navigieren. Ivanova würde den Vorgang von der Konsole aus überwachen, damit nichts schief ging. Sie vertraute zwar den Piloten, aber in dieser Situation gab es nur ein wünschenswertes Ergebnis und jede Menge Möglichkeiten für eine Katastrophe. Angesichts dieser Tatsache wollte sie sich nicht allein auf ihr Glück verlassen. Das ist die Russin in mir, wie sie stets sagte. Andere, kleinere Probleme zogen ihre Aufmerksamkeit auf sich: der Kommunikationsschirm auf ihrer Anzeige meldete drei weitere Nachrichteneingänge. Ivanova hatte eine ziemlich genaue Vorstellung, worum es dabei ging. In den Korridoren außerhalb der Zentrale trieb sich eine kleine Meute von Schiffsspediteuren, Versicherungsagenten und hoffnungsvollen Rettungsunternehmern herum, die mehr über den Frachter und seine Ladung in Erfahrung bringen wollte. Aber die würden sich gedulden müssen, bis das Schiff sicher angedockt hatte. Sie hatte weder die Zeit noch die Absicht, sich jetzt mit diesen Leuten herumzuschlagen.
Auf dem Schirm näherten sich die Shuttles mittlerweile dem Frachter und fuhren ihre Greifarme aus. »Zentrale, ich hab' ihn«, meldete der Pilot von Shuttle A. »Gut gemacht«, lobte Ivanova. »Commander«, unterbrach die Kommunikationsabteilung das Gespräch, »noch ein weiterer Anruf. Dringend und persönlich.« »Wenn es persönlich ist, kann es warten«, beschied Ivanova sie kurz. Noch vor einigen Monaten hätte eine derartige Meldung in ihr sofort Sorge um ihren Vater ausgelöst, der sterbend in einem Hospital auf der Erde gelegen hatte, aber diese Phase ihres Lebens lag nunmehr hinter ihr. Mutter, Bruder, schließlich ihr Vater, sie alle waren tot. Es gab niemanden mehr, dessen persönliches Anliegen so dringend sein konnte, daß es ihren Dienst unterbrechen durfte. Mittlerweile hatten beide Shuttles den Frachter sicher in der Zange, und Ivanova konzentrierte sich wieder auf die Arbeit. »Okay, bringt ihn rein.« Es wurde noch einmal spannend, denn ein startendes Kampfschiff der Narn kam dem Frachter gefährlich nahe. Ivanova reagierte sofort: »Narn Kampfschiff 42, verringern Sie Ihre Geschwindigkeit, schwenken Sie in Ihre vorgesehene Route ein!« Das riskante Manöver war vermutlich Absicht gewesen. Die Narn und die Centauri lagen mit
Unterbrechungen seit hundert Jahren miteinander im Krieg. Die Feindseligkeiten schwelten unter der Oberfläche immer fort, selbst hier auf Babylon 5. Dabei war die Station der Versuch, den Frieden zwischen den intelligenten Völkern zu sichern. Mit den wieder aufgeflammten Konflikten der jüngsten Zeit schien dieses Vorhaben immer weltfremder und undurchführbarer, aber noch bestand das Gleichgewicht der Kräfte. Es war einfach ein Gebot des Selbsterhaltungstriebs, sich an die Verkehrsvorschriften einer Station zu halten, die so stark frequentiert wurde. Der Rest des Landeanfluges verlief reibungslos, sogar langweilig, und ab und an wanderten Ivanovas Gedanken zu jener persönlichen und dringenden Botschaft. Wer konnte sie geschickt haben? Was wollte man von ihr? Nachdem die Krise gemeistert war, übergab sie die Kontrolle des Flugbetriebs wieder an die diensthabenden Techniker. Sie zögerte, doch dann fragte sie den Computer nach dem Absender der Nachricht. »Der Name des Absenders ist J.D.« »J.D.?« wunderte sie sich. »Nur J.D.?« »Kein anderer Absender, keine weitere Identifikationskennung.« Da erinnerte sich Ivanova wieder. Ortega. J.D. Ortega. Aber was machte er hier auf Babylon5? Und was für eine dringende Angelegenheit wollte er mit ihr besprechen? Soweit sie sich zu erinnern
vermochte, war Ortega zum Mars zurückgekehrt und hatte damit eine vielversprechende Karriere bei der Earthforce sausen lassen, während sie schon vor ihrem dreißigsten Geburtstag zum Commander befördert worden war. Nun kehrte auch das Gesicht zurück: schwarzblaue Locken, ein warmherziges Lächeln. Zwischen ihnen hatte sich nie etwas abgespielt, aus einer Reihe von Gründen: J.D. war ihr Fluglehrer gewesen. Außerdem war er seiner Frau auf dem Mars absolut treu. Sie erinnerte sich, daß er stets ihr Bild bei sich getragen hatte. Wie war noch ihr Name gewesen? Constanzia? Ivanova hatte immer vermutet, daß er die Earthforce wegen Constanzia verlassen hatte. Man konnte sich ihn nur schwer in einer roten Grube in den marsianischen Minen vorstellen, wenn man ihn einmal im Cockpit eines Fighters erlebt hatte. Er hatte ihr alles beigebracht, was sie über das Fliegen wußte. Ja, sie konnte sich gut erinnern. »Nachricht abspielen«, wies sie den Computer an. »Nachricht wird abgespielt.« Das Gesicht, das jetzt auf dem Kommunikationsschirm erschien, war und war doch nicht das von J.D. Sein Vater, ein älterer Bruder? Dieses Gesicht sah älter aus, die Lachfalten hatten sich tiefer eingegraben, sie sahen überhaupt nicht mehr wie Lachfalten aus. Ivanova kämpfte den Drang nieder, ihr eigenes Gesicht in der spiegelnden
Konsole zu mustern. Haben wir uns so verändert? Wie lange ist es her? Zehn Jahre? Die Stimme war jedoch noch dieselbe. Die Nachricht war kurz und bündig: »Susan, ich bin in Schwierigkeiten. Man sagt, du bist auf der Station die Nummer zwei. Ich kenne niemanden sonst, der mir helfen könnte. Ich muß dir etwas berichten. Triff mich bitte im Bereitschaftsraum der Alpha-Staffel um 20:00.« »J.D.?« entfuhr es Ivanova, aber der Computer sagte nur: »Ende der Nachricht.« 20:00. Ivanova dachte nach. Zu dem Zeitpunkt würde sie außer Dienst sein. Natürlich würde sie sich mit J.D. treffen. Aber in was für Schwierigkeiten steckte er? Warum schien er so beunruhigt, sogar ängstlich? Was war los? »Computer, wie spät ist es?« »21:55.« Ivanova erhob sich, durchmaß den Raum, und setzte sich dann wieder hin. Der Bereitschaftsraum war verwaist, wie immer, wenn die Alpha-Staffel keinen Dienst hatte. Sie war nun schon seit fast zwei Stunden hier, sie hatte sich die Nachrichten auf dem Bildschirm angesehen, ein paar alte Zeitungen durchgeblättert, die auf dem Boden gelegen hatten, und sich schließlich mit einem kleinen Holo-Spiel abgelenkt, das sie unter einem Sitzkissen gefunden hatte. Bei diesem Spiel jagte man mit einem in den Raum projizierten Kampfflieger hinter den Minbari her. Das sollte eingezogen werden, dachte sie. Nun,
da endlich Friede zwischen den Menschen und den Minbari herrschte, sollte das Thema Krieg nicht ständig wieder aufgewärmt werden, besonders, da die Begegnung mit einem echten MinbariSchlachtschiff hier häufig genug vorkam. Trotzdem war das Spiel gar nicht so übel. Sie trug immer noch ihre Uniform, und ihr Haar war immer noch straff nach hinten gebunden, was zu den Kopfschmerzen beitrug, die sie über ihren Schläfen pochen fühlte. Fast zwei Stunden! Wo blieb J.D.? Ihre Sorge hatte sich unterdessen von »Warum kommt er nicht pünktlich?« über »Was dauert denn so lange?« bis zu »Was ist ihm zugestoßen?« gesteigert. »Computer, wie spät ist es jetzt?« »22:02.« Über zwei Stunden. Während der ganzen Zeit hatte niemand den Raum betreten. Nur eine weitere Person hatte sich sehen lassen: ein Mann orientalischer Herkunft, der aus dem Waschraum gekommen war, nachdem sie das Bereitschaftszimmer betreten hatte. Was also war mit J.D.? In seiner Nachricht hatte er von Schwierigkeiten gesprochen. Er schien Angst gehabt zu haben. Es war schwer zu glauben, daß jemand wie J.D. Feinde hatte, geschweige denn auf Babylon. Schließlich hatte er noch nie einen Fuß auf die Station gesetzt, bis ...
Ja, bis wann eigentlich? Wie lange war er jetzt bereits auf der Station? Warum hatte er sie nicht schon früher kontaktiert? »Computer, wann ist J.D. Ortega auf der Station angekommen?« »Die Registratur führt acht Individuen mit dem Namen Ortega; keine mit den Initialen J.D.« »Was? Das ist unmöglich!« Auf einem Tisch in der Ecke des Raumes stand eine Computerkonsole. Ivanova setzte sich und nahm die Stationslisten in Augenschein. Reihen von Namen flackerten über den Schirm. Es stimmte. J.D. Ortega war nicht darunter. Das war ein Fehler, ein ganz klarer Fehler. Wenn sich J.D. irgendwo auf der Station aufhielt, mußte sein Name im Register auftauchen. Sie rief seine Nachricht erneut auf und ermittelte ihren Ausgangspunkt. »Die Nachricht wurde um 13:08 in Sektor GRAU aufgenommen.« Er war also auf der Station. Es war Ortegas Gesicht, das sie vor sich sah. Und er sagte es erneut: »Ich bin in Schwierigkeiten.« Langsam machte sich Ivanova ernsthafte Sorgen darüber, in welchen Schwierigkeiten er stecken könnte. »Irgend etwas geht hier vor«, murmelte sie. Aber vielleicht war die Registratur ja auch der falsche Ausgangspunkt für ihre Suche. »Computer, durchsuche alle Datensätze nach dem Namen J.D. Ortega!«
Die Antwort war nicht das, was sie zu hören wünschte: »Die Datei ist geschützt.« Ivanova schnaubte. Sie gab das Paßwort ein, das sie als Mitglied des Kommandos auswies. »Paßwort akzeptiert. Sicherheitsfreigabe gültig. Zugriff auf Datei J.D. Ortega.« Wieder erkannte sie sein Gesicht auf dem Schirm, aber diesmal war es für alle Sicherheitskräfte der Earthforce gekennzeichnet: FLÜCHTLINGSALARM. STUFE ROT. ANKLAGE: HOCHVERRAT UND TERRORISMUS. J.D. Ortega ein Terrorist? Ein Teil von Ivanovas Weltbild geriet gefährlich ins Wanken. Nein, das konnte nicht sein, ausgeschlossen, ein Irrtum. Vielleicht ging es um einen anderen Mann. Aber das Gesicht auf dem Schirm war J.D.s Gesicht. Alarmiert, mit zitternden Händen, wählte sie ihre Privatverbindung an. »Garibaldi? Hier spricht Ivanova.« Erleichtert hörte sie die vertraute Stimme des Sicherheitschefs von Babylon 5. »Ivanova? Was gibt's?« »Ich weiß, Sie sind nicht im Dienst...« »Schlaf ist was für Memmen, und ich bin keine. Schießen Sie los.« Das war leichter gesagt als getan. Ivanova begann: »Ich bekam heute eine Nachricht von einem alten Freund. Mein Fluglehrer. Er bat mich um ein Treffen hier, im Bereitschaftsraum der Alpha
Staffel, um 20:00. Ich habe bis jetzt gewartet. Er ist nicht aufgetaucht.« Garibaldis Stimme klang belustigt: »Hat Sie sitzenlassen, wie? Sollen meine Leute Ihre Verabredung aufspüren?« Ivanova überging diese Bemerkung. Garibaldi war für seine schlechten Witze bekannt, doch sie war jetzt nicht in der Stimmung. »In seiner Nachricht erwähnte er Schwierigkeiten.« Sie zögerte. War das Verrat an J.D. ? »Als er nach zwei Stunden immer noch nicht aufgetaucht war, habe ich den Computer zu Rate gezogen. Zuerst konnte ich ihn in der Registratur nicht finden. Dann stieß ich auf eine Fahndung. Man sucht ihn wegen des Verdachts auf Terrorismus.« Garibaldis Stimme wurde sehr schnell ernst. »Der Name Ihres Freundes?« »J.D. Ortega.« Eine Pause. Dann ließ sich Garibaldis grimmige Stimme vernehmen: »Ich glaube, Sie sollten mich mal in der Sicherheitszentrale besuchen, Commander.« Er erwartete sie bereits. Wie immer saß er in seinem Drehsessel, der ihm Zugriff auf die Unmenge an Instrumenten und Bildschirmen gewährte, die die Hälfte seines Büros einnahmen. Garibaldis graue Earthforce-Uniform war wie gewöhnlich nicht so faltenfrei, wie es einem ehrgeizigen Offizier zukam. Er war schon zu lange dabei, um die Erscheinung für wichtiger zu erachten
als das Ergebnis. Ivanova hatte miterlebt, daß er meistens Ergebnisse lieferte. Der Hauptschirm zeigte eine Datei. Garibaldi wies sie darauf hin. »Ist das Ihr Freund?« fragte er. »Kommt er von der Mars-Kolonie?« Widerstrebend nickte sie. »Das ist J.D.« »Sieht so aus, als hätte sich Ihr Freund in die marsianische Politik eingemischt. Separatisten, >Freier MarsFreier MarsFreier Mars< etwas zu tun hat, hätte er doch zu denen gehen können. Vielleicht sind die hinter ihm her. Er sagte doch, er wäre in Schwierigkeiten.« »Das wüßte ich auch gerne. Wir müssen ihn also verhören, sobald er sich wieder mit Ihnen in Verbindung setzt.« Sie stimmte zu, aber in ihrem Innern nagte weiterhin der Zweifel. Ortegas Gesicht flimmerte immer noch auf dem Schirm. J.D. ? In was für Schwierigkeiten steckst du? Was ist geschehen? Wo warst du heute abend?
2 Das Notsignal wurde auf allen Frequenzen ausgesandt. Sämtliche Schiffe im Epsilon-Sektor empfingen es, auch auf Babylon 5 war es zu hören. Auf dem Kommunikationsbildschirm in der Beobachtungskuppel war das vor Angstschweiß glänzende Gesicht des Piloten zu sehen. Fassungslos rief er: »Mayday! Mayday! Wir werden angegriffen. Schiffe der Raiders; sie kommen rasch näher! Wir brauchen Unterstützung! Hier spricht das Transportschiff Cassini, unsere Koordinaten sind Rot 470-13-16. Mayday! Mayday!« Captain John Sheridan stand an der Kommandokonsole. Er reagierte ohne Zögern: »Commander Ivanova, veranlassen Sie umgehend den Start des Alpha-Geschwaders! Raiders-Alarm, Koordinaten Rot 470-13-16! Das ist draußen beim sekundären Transitpunkt in Sektion 13.« Ivanova war bereits unterwegs zu den CobraBays, wo ihr Kampfflieger startbereit wartete. Inzwischen befaßte sich Sheridan in der Beobachtungskuppel mit dem bedrohten
Transportschiff. Die Hauptstreitmacht der Piraten war im vergangenen Jahr eliminiert worden. Aber es gab noch immer ein paar unabhängige Einheiten, die auf eigene Faust operierten. »Cassini, hier Babylon Control. Wir schicken ein Kampfgeschwader. Wurden Sie getroffen? Können Sie sie abwehren, bis wir bei Ihnen sind?« »Wir versuchen, zum Hyperraumsprungtor zurückzugelangen«, rief der verzweifelte Pilot. »Das ist unsere einzige Chance. Flucht ist nicht möglich. Es sind zu viele, und sie sind zu schnell. Ich weiß nicht, ob wir es schaffen. Die haben uns eingekreist. Als wir das Tor passiert hatten, fielen sie über uns her; als hätten sie nur auf uns gewartet. Es war ein Hinterhalt!« »Halten Sie durch, Cassini! Hilfe ist auf dem Weg.« Als Sheridan sich vom Bildschirm abwandte, war alle Zuversicht aus seinen Zügen gewichen. Er wußte nur zu gut, daß nicht viel Hoffnung bestand. Ivanova konnte das Schiff kaum noch rechtzeitig erreichen. Auch der Pilot des Transporters mußte das wissen. Nach Verlassen des Hyperraums hatte das Alpha-Geschwader noch drei weitere Flugstunden in Sektor Rot 13 vor sich, ehe es das bedrängte Schiff erreichte. Und das bei Höchstgeschwindigkeit. Die Schotten der Cobra-Bay standen weit offen, bereit für den Abflug. Die Kommandozentrale hatte die Schiffe bereits für den Alarmstart freigegeben. Rasch führte Ivanova ihren Sicherheits-Check durch.
»Alpha-Geschwader, bereit zum Abwurf.« Alle neun Schiffe signalisierten ihr Okay. »Bereithalten zum Abwurf! Auf mein Zeichen, Alpha-Geschwader. Drei, Zwo, Eins, und Abwurf!« Die Abwurfzange schwang nach unten, und Ivanovas F 23 Starfury stürzte hinab in den Weltraum. Die anfangs gekrümmte Flugbahn, verursacht durch die Rotation der Raumstation, wurde jäh unterbrochen, als Ivanova die Schubtriebwerke zündete und der Kampfflieger von Babylon 5 wegkatapultiert wurde. Nacheinander folgten die übrigen Einheiten des AlphaGeschwaders. Sie bildeten eine Formation und beschleunigten in Richtung Hyperraumsprungtor. Angestrengt umklammerten Ivanovas Hände das Steuer, als könnte sie das Fluggerät durch bloße Willenskraft vorantreiben. Der kritische Faktor in solchen Situationen war stets die Zeit: die Zeit, bis die Kampfflieger starten konnten, die Zeit, bis der Hyperraumübergang erreicht war. Bis zu ihrem Eintreffen bei dem attackierten Schiff würde noch eine halbe Ewigkeit vergehen. Über ihren Kommandohelm verfolgte sie den Funkverkehr zwischen Sheridan und dem Piloten der Cassini. Für ihn und seine Besatzung sah es nicht gut aus. Die Entfernung zu dem. Transportschiff war einfach zu groß, und die Schiffe der Raiders waren ihm dicht auf den Fersen. Wenn das Geschwader sein Ziel endlich erreichte, konnte es längst zu spät sein.
In letzter Zeit waren sie sehr häufig zu spät gekommen. Ärgerlich versuchte Ivanova, die Erinnerung an diese jüngsten Zwischenfälle zu verdrängen. Das Sprungtor, der permanente Hyperraumgenerator der Raumstation Babylon 5, lag direkt vor ihnen. »Hier Alpha-Führer. Bereithalten für Hyperraumsprung«, befahl Ivanova, als sie an der Spitze des Geschwaders auf das Zentrum des Tores zuflog. Als ihr Starfury-Gleiter das Sprungtor passierte, wurde eine gewaltige Energiewelle erzeugt, der Eingang zum Hyperraum tat sich auf. Das Schiff wurde von dem Strudel, in dem Raum, Zeit und Licht ineinanderflossen, erfaßt und aufgesogen. Als es das unvorstellbar schwarze Zentrum des Transitpunktes erreicht hatte, verschwand es, um sich in der dunkelroten Alptraumwelt des Hyperraums wiederzufinden. Schließlich öffnete sich in Sektion Rot 13 ein blauer Energietrichter und entließ das Schiff wieder in den Normalraum, Lichtjahre von Babylon 5 entfernt. Ein Schiff nach dem anderen folgte, bis sich das Geschwader hinter Commander Ivanova wieder zur Formation einte. »Hier Alpha-Führer. Sehen wir zu, daß wir diesen Transporter erreichen«, sagte sie. »Voraussichtliches Eintreffen an der zuletzt gemeldeten Position der Cassini in einhundertsechsundsechzig Minuten. Heizen Sie schon mal Ihre Waffen vor, damit wir gerüstet sind für die Raiders.«
Als sie versuchte, den Transporter über ihre Ankunft in Kenntnis zu setzen, erhielt sie keine Antwort. »Irgendwelche Signale von der Cassini?« »Negativ«, meldete Alpha zwei. Der Pilot, Gordon Mokena, war ihr Flügelmann und verantwortlich für Scans und Kommunikation. Verdammt, dachte sie, kein gutes Zeichen. Sie öffnete einen direkten Subraum-TachyonKanal zu Babylon 5. »Babylon Control. Hier spricht Commander Ivanova, Sektion 13. Keine Verbindung zur Cassini möglich. Haben Sie noch Kontakt? Erbitte Daten über aktuelle Position!« Sheridans Stimme antwortete: »Ivanova, unser Kontakt zur Cassini riß ab, als Sie das Sprungtor passierten. Ihre letzte bekannte Position war 470-1318. Sie wollten zurück zum Sprungtor.« Mit bitterer Miene änderte Ivanova den Kurs, als bestünde noch immer eine reelle Chance, daß die Cassini überlebt hatte. Ein Zurück konnte es jetzt ohnehin nicht mehr geben. Man mußte alles versuchen, wie schlecht die Chancen auch standen. Vielleicht war irgendein zufällig eintreffendes Schiff in der Lage, die Raiders zu verfolgen. Vielleicht konnte man noch überlebende Schiffbrüchige aufnehmen. Und wenn das nicht möglich sein sollte, so konnte man vielleicht Vergeltung üben. Vielleicht gelang es ihnen, wenigstens ein Schiff der Raiders aufzuspüren. Ivanova stellte sich vor, wie es sich nach einem kurzen Aufglühen in Rauch auflöste,
nachdem der entzündete Treibstoff die Tanks zerfetzt haben würde. Aber Rache war allein Gott vorbehalten. Jedenfalls hatte man sie das als Kind gelehrt. Ivanova jedoch war das einerlei. Sie wollte die Raiders vernichten. Es gab Zeiten, da schien es ausgeschlossen, ihrer jemals ganz Herr zu werden. Hatte man einen ihrer Stützpunkte zerstört, machte man in einem anderen Raumsektor schon einen neuen aus. Je stärker sich der Handel zwischen den Sternen entwickelte, desto mehr blühte auch die Piraterie. Den Schwarzmarkt zu beliefern wurde immer lohnender. Menschen und Außerirdische, dachte Ivanova wütend, in ihrer Habgier unterscheiden sie sich kaum voneinander. Die Raiders waren berüchtigt für ihre Blitzangriffe. Dabei plünderten sie alles Brauchbare aus den geenterten Transportschiffen, töteten die Besatzung und überließen ihre Opfer der kalten Leere des Weltraums. Zuerst waren sie einfache Freibeuter gewesen, die sich in der Nähe der Verkehrsrouten herumtrieben und dann und wann Schiffe ausraubten. Seit der Vernichtung ihrer Hauptstreitmacht jedoch riskierten sie immer mehr. Sie überließen nichts mehr dem Zufall. Die verbliebenen Piratenkonsortien operierten nun von großen Mutterschiffen aus, die ihren eigenen Hyperraumübergang generieren konnten. Ihre Ziele wählten sie im voraus. Bestechung brachte sie in den Besitz aller Frachtlisten und Flugpläne, und es gab
praktisch keine Information, die nicht käuflich war. Nur der Preis mußte stimmen. Ivanova versuchte aufgebracht, an etwas anderes zu denken. Sie fragte den Computer nach der verbleibenden Flugzeit bis zur Cassini. »Voraussichtliches Eintreffen bei Koordinaten 470-13-18 in vierundzwanzig Minuten.« Nahe genug. Sie öffnete ihren Kommandokanal. »Alpha-Führer an alle. Langstrecken-Scanner aktivieren! Mal sehen, ob wir sie hier draußen finden.« Minute um Minute starrten sie auf ihre Monitore. Aber es tat sich nichts. Doch dann kam eine Meldung von Alpha zwei. »Ich empfange etwas. Sieht ganz nach den Raiders aus. Vier Schiffe ... nein, es sind fünf, vielleicht mehr!« »Nach meinen Werten befindet sich noch ein weiteres Schiff unter ihnen. Ziemlich groß. Könnte ein Transporter sein«, berichtete jetzt Alpha fünf. »Position?« Die Piloten der beiden Kampfflieger übermittelten Ivanova die Koordinaten sowie die übrigen Scanner-Daten. Sie deckten sich mit ihren eigenen Ergebnissen. Die Raiders befanden sich augenscheinlich auf dem Weg zum Hyperraumübergang von Sektion Rot 13. Demnach kamen sie nicht von einem Mutterschiff mit eigenem Hyperraumgenerator.
»Was ist mit der Cassini?« wollte Ivanova wissen. Doch von dem Schiff, das zu retten sie gekommen waren, fehlte noch immer jede Spur. Bei ihrer gegenwärtigen Beschleunigung würden die Raiders den Übergang in weniger als vierzehn Minuten erreichen. Sie waren zwar nicht mehr weit entfernt, aber der Transporter, den sie eskortierten, behinderte ihre Beweglichkeit erheblich. Die Starfury-Gleiter des Alpha-Geschwaders konnten es bei Maximalschub in zwölf Minuten schaffen. Aber was war mit der Cassini geschehen? Hatten die Raiders das Schiff gekapert und ins Schlepp genommen? Endlich eine Meldung von Alpha zwei: »Ich orte eine Masse von achthundertfünfzig Kilotonnen bei 470-13-18. Ich registriere nur Masse. Keine Beschleunigung, keine Lebenszeichen.« Die Cassini. Ivanova wußte es. Ihre schlimmsten Befürchtungen waren einmal mehr wahr geworden. Es war an der Zeit, eine Entscheidung zu treffen. »Alpha zwei, sechs, zehn! Sehen Sie nach! Wenn es der Transporter ist, wissen Sie, was zu tun ist. Der Rest folgt mir in Formation. Wir werden diese Mistkerle beim Übergang abfangen und einäschern. Ende.« Die drei Flieger lösten sich aus der Formation, während die übrigen, wie befohlen, hinter Commander Ivanovas Düsenschweif auf Abfangkurs gingen. Sie mußten den Übergangspunkt unbedingt als erste erreichen. Wenn es ihnen gelang, die
Raiders samt Beute dort zu stellen, waren die Piraten nur mehr heiße Asche. Keiner von ihnen würde entkommen. Die Starfury-Gleiter waren schneller, und verstecken konnten sich die Raiders im leeren Raum auch nicht. Es ging allein um Triebwerke und Feuerkraft, und da war ihnen das Alpha-Geschwader eindeutig überlegen. So überlegen wie die Freibeuter dem Transportschiff Cassini, als sie es angegriffen hatten. Ivanova sprach mit fester, kalter Stimme, als sie ihre Kommandos gab. Ihre Befehle genügten den strengen Vorschriften, ihre Hände umfaßten das Steuer, ohne zu zittern. Aber ihr angespannter Gesichtsausdruck verriet, daß sie keinen der Raiders schonen würde, wenn er erst einmal in ihrem Zielkreuz auftauchte. Vorschriftsmäßig öffnete sie einen Breitbandkanal. »Earthforce-Commander Ivanova an mutmaßliche Raiders. Schalten Sie Ihre Triebwerke ab, oder Sie werden beschossen!« Keine Entgegnung. Das konnte alles oder nichts bedeuten. Die Piraten flogen nach wie vor in Richtung Hyperraumübergang. Wie eine Speerspitze raste die Formation des Alpha-Geschwaders auf sie zu. Die Plasmaphasen-Waffen der Schiffe waren aufgeladen, und sie kamen näher und näher. Aber ihre Ziele waren weder blind noch hilflos. Sobald die Raiders die auf sie hereinstürzenden Earthforce-Flieger entdeckt hatten, drehte ein halbes Dutzend ihrer kleinen, flugeiförmigen Schiffe ab,
um die Schar der Verfolger auf sich zu ziehen. Ivanova vermochte auf dem Monitor das Transportschiff zu erkennen. Die Raiders, die es eskortierten, beschleunigten für den Eintritt in den Hyperraum. Was auch immer der Transporter geladen hatte, es mußte von großem Wert sein, wenn die Raiders bereit waren, ein solches Risiko einzugehen. »Hier Alpha-Führer. Alpha drei, vier, neun und zwölf, Sie kümmern sich um die Rückendeckung! Die anderen bleiben bei mir! Wir werden die Cassini da rausholen. Sobald Sie in Reichweite sind, eröffnen Sie das Feuer!« Jetzt war es deutlich zu erkennen: Das größere Schiff war nicht die Cassini, sondern ein wendiger leichter Frachter. Genau richtig, um Diebesgut schnell zu verstauen und sich dann aus dem Staub zu machen. Ohne Zweifel war das Schiff auch bewaffnet. Ivanova kam flüchtig der Gedanke in den Sinn, daß die Raiders ihren Raubzug offenbar gut vorbereitet hatten, worauf immer sie es abgesehen haben mochten. Doch angesichts des bevorstehenden Gefechtes blieb zum Nachdenken keine Zeit. Wenn das erste Schiff der Raiders in Reichweite kam, mußte sie gewappnet sein. »Ziel erfassen! Feuer!« Hocherhitztes Plasma zischte aus ihren Geschützen und traf die Defensivbewaffnung des Frachters. Die Schiffe der Formation um sie herum eröffneten ebenfalls das Feuer. Das Alpha
Geschwader stürzte geschlossen auf die feindlichen Schiffe herab. Eines raste direkt auf sie zu, doch Ivanova sah es kommen. Sie feuerte und beobachtete befriedigt, wie sich die Gaspartikel der Explosion auf ihrem Schirm ausbreiteten. Ein weiteres RaidersSchiff wurde von ihr getroffen. Zuerst trudelte es wie ein Kreisel, dann zerplatzte es in seine Bestandteile. Ein wildes Gefühl der Genugtuung überkam sie dabei. Auf Ivanovas Kommandokanal redeten alle gleichzeitig. »Raider auf zehn Uhr.« »Hab' ihn.« »Ich habe ein Triebwerk verloren, Alpha-Führer. Ich kann nicht mehr mithalten.« Ivanovas taktischer Monitor zeigte etwa zwanzig Grad hinter ihrer Position die kleinere StarfuryFormation mit Alpha drei an der Spitze, die auf die Abwehr der Raiders zuhielt. Das Hauptkontingent des Geschwaders verfolgte die übrigen Feindschiffe und nahm sich eines nach dem anderen vor. Ivanova konzentrierte sich nur teilweise auf den Kampf. Zwar verfolgte sie die Vorgänge und paßte ihren Kurs an, vor allem aber galt ihre Aufmerksamkeit dem Frachter der Raiders. Seine Distanz zum Hyperraumübergang verringerte sich ständig, während sie langsam, aber unerbittlich aufholte. Das Frachtschiff war sehr gut gerüstet. Die Plasmasalven seiner Heckgeschütze waren Ivanovas StarfuryGleiter alles andere als angenehm. Als sie jedoch das
Feuer erwiderte, landete sie einen direkten Treffer. Eine der hinteren Frachtsektionen sowie ein Schubtriebwerk wurden zerfetzt. Der Rest der Raiders schien jetzt einzusehen, daß die Beute verlorenging und es an der Zeit war, sich selbst zu retten. Die ersten beiden Schiffe beschleunigten in Richtung Sprungtor und verschwanden im Hyperraum, lange Lichtschweife hinter sich lassend. Verflucht, dachte Ivanova, die sind außer Reichweite! Jetzt gerieten die verbliebenen Raiders in Panik. Sie brachen den Kampf ab und waren nur noch darauf bedacht, ebenfalls durch das Tor zu entkommen. Den schwerfälligen Frachter ließen sie zurück und gaben ihre Beute auf. Wieder fluchte Ivanova. Frustriert mußte sie zusehen, wie ein Schiff nach dem anderen das Sprungtor passierte. Das Alpha-Geschwader hielt noch immer auf den angeschlagenen, kampfunfähigen Frachter zu. Commander Ivanova öffnete erneut einen Kanal und forderte die Übergabe. Doch zu einer Antwort kam es nicht mehr. Zwei Schiffe aus der Nachhut der Raiders hatten gleichzeitig beschleunigt, um in das Sprungtor einzutreten. Die beiden Schiffe kollidierten und gingen in einem riesigen Feuerball auf. Ein drittes Raiders-Schiff konnte nicht rechtzeitig abdrehen und zerschellte an einem Außenarm des Sprungtores. »Hochziehen!« befahl Ivanova. Sie brach jetzt mit ihren Schiffen die Treibjagd ab. Sonst wären sie
von der gewaltigen Energiewelle, die aus dem beschädigten Generator des Tores ausbrach, atomisiert worden. Die Energieanzeige an Ivanovas Scanner schoß weit über die Skala hinaus. Entsetzt starrte sie auf den manövrierunfähigen Frachter; hilflos trieb das Schiff auf die Gefahrenzone zu. Ein Blitz, blau und weiß, so grell, daß sie trotz Schutzschirm die Augen schließen mußte, aus dem hochaufgeladenen Feld des Sprungtores, und das Schiff war verschwunden. Seufzend befahl Ivanova: »Hier Alpha-Führer. Alle Einheiten zurück in Formation! Schadensbericht!« Mokena aus Alpha zwei hatte mit ernster Stimme seinen Bericht durchgegeben. »Wir haben die Cassini gefunden, Commander. Die Besatzung ist tot. Man hat das Schiff zerstört und die Frachtsektion aufgebrochen, um an die Ladung zu kommen.« Ivanova konnte die Verwüstungen jetzt selbst in Augenschein nehmen: das gebrandschatzte, leblose Schiff und das riesig klaffende Loch im Laderaum. Fast ohne Fahrt trieb sie an dem Wrack vorüber. Nahe genug, um die Kohlenstoffspuren von den Salven der Raiders an der Außenhülle ausmachen zu können. Sie blickte direkt in das Innere des Cockpits und in den leeren Frachtraum. Was war Wertvolles an Bord gewesen? Warum waren so viele Menschen ermordet worden?
Es gab Augenblicke, da Ivanova sich nicht sicher war, ob die Raiders den Tod verdienten. Mitansehen zu müssen, wie der Frachter der Raiders hilflos seinem sicheren Untergang entgegentrieb, war ein solcher Augenblick gewesen. Doch der Anblick der zerstörten Cassini hob alle Zweifel wieder auf. Manche Dinge konnte man nur bekämpfen. Die anderen Schiffe hatten die sterblichen Überreste der Cassini-Crew bereits an Bord genommen, außerdem die Aufzeichnungen, das Logbuch und den Flugschreiber. Vielleicht vermochten sie damit ein paar Rätsel zu lösen, wenn sie wieder auf Babylon waren. Ivanova aktivierte ihren Kommandokanal: »Hier Alpha-Führer. Alle Einheiten zurück in Formation! Wir können nichts mehr tun. Wir fliegen nach Hause.«
3 Währenddessen begann auf der Station die Suche nach dem Flüchtigen. Keine leichte Aufgabe, wenn man bedachte, daß es auf Babylon 5 nahezu eine Viertelmillion empfindungsfähiger Individuen gab. Selbst wenn man die Methanatmer und alle NichtHumanoiden ausschloß, blieb immer noch eine stattliche Zahl von Wesen übrig. Die Sektionen der Station, wo Außerirdische lebten, mußten ebenfalls durchsucht werden. Es war denkbar, daß Ortega sich irgendwo dort versteckte; möglicherweise hatte er einen Schutzanzug angelegt. Aber dies alles war Routine für Michael Garibaldi. Niemand auf Babylon 5 wußte besser Bescheid über alle An- und Abreisen. Schließlich war er nicht zufällig der Sicherheitschef der Station. Sein Beruf bedeutete Garibaldi viel. Dies war wahrscheinlich seine allerletzte Chance, und er hatte beinahe alles aufgegeben, um sie beim Schopfe zu packen. Auch Lise hatte er aufgeben müssen - und damit jede Möglichkeit, jemals reinen Tisch mit ihr zu machen. Nun würde er nie herausfinden, ob es für
sie eine Zukunft gegeben hätte. Sie war jetzt verheiratet. Und er freute sich für sie. Lange Zeit hatte er einen Tiefschlag nach dem anderen einstecken müssen. Mindestens seit der Sache auf Europa. Mehr als einmal hatte er den Bogen überspannt. Dann hatte sich Jeff Sinclair seiner angenommen und ihm diesen Job verschafft: die Chance, Sicherheitschef auf einem der heikelsten Außenposten der Earth Alliance zu werden. Jetzt lagen die Dinge wieder anders. Jeff Sinclair war nicht länger Commander von Babylon 5. Er hatte den Posten des Botschafters bei den Minbari angetreten. Hinter seinem Schreibtisch saß jetzt Captain John Sheridan. Sheridan hatte Garibaldis Akte studiert, und er wollte den Mann dahinter genau kennenlernen. Es lag auf der Hand, daß er Garibaldi den Job nicht gegeben hätte. Angesichts solcher Tatsachen konnte es sich Garibaldi nicht leisten, diese Sache zu vermasseln. Der Fall Ortega war wichtig; ein Flüchtlingsalarm der höchsten Dringlichkeitsstufe. Earth Central war brennend an dem Burschen interessiert, und Garibaldi hatte deshalb seine gesamte Mannschaft auf ihn angesetzt. »Alle Mann die Ohren gespitzt! Das ist unser Mann: J.D. Ortega. Sie haben alle eine Kopie seiner Akte erhalten, richtig? Lesen Sie sie sorgfältig! Wie Sie sehen, ist er auf dem Mars wegen Terrorismus und Verschwörung zur Fahndung ausgeschrieben. Er hatte vermutlich etwas mit dem Aufstand im letzten
Jahr zu tun, mit diesen Separatisten, die sich >Freier Mars< nennen. Irgendwie muß es ihm gelungen sein, sich nach Babylon 5 abzusetzen, ohne von unseren Scannern registriert worden zu sein, was die Annahme nahelegt, daß er im Besitz einer gefälschten Identicard ist. Möglicherweise hat er Komplizen auf der Station. Verlassen Sie sich darauf, daß wir uns auch damit noch befassen werden. Aber zu diesem Zeitpunkt müssen wir nur Ortega aufspüren und in Gewahrsam nehmen. Das bedeutet, wir werden durch sämtliche Ventilationsschächte kriechen und hinter jeder Wandverkleidung nachsehen, falls es nötig ist. Gut, Sie alle kennen Ihre Aufgabe. Gibt es dazu Fragen?« Zu Garibaldis Erleichterung gab es keine. Da auch Commander Ivanova in diese Affäre verwickelt war, wollte er gewisse Punkte lieber nicht mit seiner Mannschaft erörtern. Aus Sicherheitsgründen hatte er überdies bestimmte Abschnitte der Akte zurückgehalten. Earth Central verlangte in dieser Angelegenheit absolute Diskretion. Sie waren also auf der Suche nach einem Flüchtigen. Als ihm die Kommandozentrale über sein Com-Link mitteilte, daß in einer der Kampffliegerwerften eine Leiche gefunden worden war, befahl Garibaldi einem seiner Leute, Fähnrich Torres, die Meldung zu überprüfen. Kurz darauf erreichte Chief Garibaldi eine Nachricht von Torres. Sie sagte: »Chief, wir haben ihn. Der Tote in der Werft ist Ortega.«
»Ortega? Tot? Sie meinen, er wurde ermordet?« »Sieht ganz danach aus, Chief.« Also sind wir keinen Schritt weiter, dachte Garibaldi. Zwar hatten sie Ortega gefunden, doch jetzt mußten sie seinen Mörder suchen. Und wie würde Ivanova reagieren, wenn sie erfuhr, daß ihr alter Freund tot war? Seine Antwort fiel vorschriftsmäßig aus: »In Ordnung, Torres. Hoffentlich haben Sie den Fundort abgeriegelt. Die Sperre bleibt auf jeden Fall bestehen. Niemand darf rein oder raus, und niemand sagt irgend etwas, bis ich bei Ihnen bin. Haben Sie denjenigen, der die Leiche gefunden hat? Gut. Wir müssen jeden verhören, der den Toten gesehen hat oder davon weiß, verstanden? Ich bin schon unterwegs. Und denken Sie daran: Lassen Sie außer mir und Dr. Franklin vom Med-Lab niemanden rein! Ich werde ihn selbst unterrichten.« Wegen der Dringlichkeit der Nachricht wurde Garibaldi sofort zum Chefarzt von Babylon 5 durchgestellt. »Doc, hier spricht Garibaldi. Ich brauche Sie, um eine Leiche zu untersuchen.« »Schauen Sie, Garibaldi, ich arbeite gerade an einem Experiment, ich schicke Ihnen ...« »Nein, ich brauche Sie. Es handelt sich um Sicherheitsbelange. Earth Central wünscht Diskretion, und Sie haben die höchste Sicherheitsstufe in der medizinischen Abteilung.« »Ein gewaltsamer Tod?«
»Wahrscheinlich. Aber um das genau sagen zu können, brauche ich Sie.« Franklin seufzte: »Na schön, Garibaldi, ich komme. Wo, sagten Sie, wurde die Leiche gefunden?« »Kampffliegerwerft eins.« Während er dies sagte, wurde ihm klar, daß es sich dabei um die Wartungswerft des Alpha-Geschwaders handelte. Sie versammelten sich um den Spind mit den Ersatzteilen, dem Fundort der Leiche: Franklin, Garibaldi und Popovic, Garibaldis bester Mann vom Erkennungsdienst. Franklin und Popovic scannten gerade die Leiche und nahmen Proben von dem Schrank und dem Fußboden drumherum. Garibaldi blieb abseits und überließ die makabre Arbeit den anderen. Er hatte das Gesicht des Toten gesehen. Lange genug, um sicher zu sein, daß der Mann wirklich J.D. Ortega war. Mehr brauchte er nicht zu wissen. Sie hatten einen Flüchtigen gesucht und einen Toten gefunden. Und ein neues Rätsel. Nein, sie waren keinen Schritt weiter. Garibaldi stellte eine Verbindung zur Kommandozentrale her. »Hier spricht Garibaldi. Die Suche nach J.D. Ortega ist hiermit beendet. Wir haben ihn.« Nun wandte er sich zum anderen Ende des Decks, wo Torres damit beschäftigt war, eine maulende Gruppe von Leuten am Verlassen des Raumes zu hindern. Er sah den Vorarbeiter der Werft; neben
ihm stand der Mechaniker, der die Leiche entdeckt hatte; außerdem eine Kampfpilotin, die nach ihrem defekten Fluggerät sehen wollte, als der tote Mann gefunden worden war. War das wirklich Zufall? Vielleicht war die Pilotin irgendwie in die Sache involviert. Vielleicht hatte sie vorgehabt, die Leiche fortzuschaffen, und die Geschichte um ihr Schiff war nur eine Ausrede. Garibaldi war fest entschlossen, es herauszufinden. Zuerst nahm er sich den Mechaniker vor, der alles andere als schweigsam war. »Bin heute ziemlich früh zur Arbeit, um diesen Kahn zu reparieren. Das obere Steuerbordtriebwerk machte Ärger.« Garibaldi musterte kurz die ungeduldige Pilotin. Sie gehörte dem Alpha-Geschwader an, der Fliegerstaffel, die von Commander Ivanova befehligt wurde. Sie saß also fest, während der Rest ihres Teams draußen die Raiders jagte. Er fragte sich, ob dies für die Untersuchung irgendeine Bedeutung haben mochte. Der Mechaniker fuhr fort: »Ich will mir also meinen Lötkolben holen, da sehe ich, daß ihn wer anders benutzt hat. Die ganze Zufuhrleitung war verstopft. Ich hasse das, wenn irgendwer ohne zu fragen mein Werkzeug nimmt. Ich bin zum Ersatzteillager, um eine neue Zufuhrleitung zu holen. Und da seh' ich ihn.« »Den Toten.« »Ja-ah. Total steif liegt er da und starrt mich an. Ich rufe also Brunetti, der ruft die Sicherheit. Na ja,
und dann seid ihr Jungs auch schon hier aufgekreuzt.« Der Vorarbeiter bestätigte diesen Gang der Ereignisse. »Sonst war niemand da?« wollte Garibaldi wissen. »Nur sie.« Der Mechaniker schielte nach der Pilotin. »Sehen Sie«, begann diese, »ich kam hierher, um nach meinem Schiff zu sehen. Ich kam herein, und ich sah die beiden hier vor dem Schrank Maulaffen feilhalten. Als ich hinging, sah ich den nackten Kerl hier. Ich wollte nur nach meinem Schiff sehen.« »Schon gut, eins nach dem anderen. Ich würde gerne erfahren, ob dieser Mann einem von Ihnen bekannt vorkommt. Hat ihn irgend jemand schon mal gesehen?« Alle drei schüttelten einmütig die Köpfe. »Sind Sie da ganz sicher? Sie haben ihn nie zuvor gesehen? Möglicherweise während des Krieges? Auf der Erde oder dem Mars?« Alle drei waren sicher. »Der Mann scheint ein ganz und gar Fremder gewesen zu sein.« Er wandte sich wieder an den Mechaniker: »Haben Sie ihn genauso gefunden, wie er jetzt daliegt? Ohne Kleider?« »Ja. Nackt wie Adam.« »Und seine Kleider lagen nicht irgendwo hier auf dem Boden oder sonstwo? In einem anderen Spind zum Beispiel?«
»Keine Spur.« »Okay. Wann beginnen Sie gewöhnlich Ihre Arbeit? Waren Sie heute morgen zu spät dran oder vielleicht ein wenig zu früh? War jemand vor Ihnen da?« Garibaldi war nicht einmal annähernd mit seinen Fragen am Ende, als Dr. Franklin auf ihn zukam. »Ich habe alle Untersuchungen, die hier durchführbar sind, abgeschlossen. Für genaue Tests muß ich ihn ins Med-Lab schaffen lassen. Ich habe bereits eine Trage angefordert.« »Danke, Doktor, alles klar. Sie und Popovic kommen zurecht?« »Ja, und wir sind beide fertig. Sie brauchen diesen Raum nicht länger zu isolieren. Er wurde nicht hier getötet.« Die Pilotin sprang auf die Beine. »Das heißt, wir können endlich gehen, richtig?« Garibaldi hielt sie zurück. »Nicht ganz. Ich hätte da noch ein paar Fragen.« Als Garibaldi Ortegas Leichnam das nächste Mal sah, hatte er sich verändert. Als er gefunden wurde, war der Körper des Toten steif und auf groteske Weise verdreht gewesen, damit er in den Schrank hineinpaßte. Er hatte die Zähne gefletscht, und seine Augen waren blicklos starr gewesen. Als er nun zugedeckt auf dem Untersuchungstisch lag, sah es beinahe so aus, als schliefe er nur. Diesmal wandte sich Garibaldi nicht ab, als Dr. Franklin die Decke
wegzog. »Er sieht schon besser aus«, bemerkte er trocken. »Ich habe die Leichenstarre chemisch reduziert«, erklärte Franklin. »So läßt sich leichter eine Autopsie durchführen. Bisher wissen wir: Die Quetschungen und Abschürfungen sind postmortal. Wahrscheinlich verursacht, als er in den Schrank gestopft wurde. Das gilt aber nicht für diese Male hier. Es hat einen Kampf gegeben; er hat versucht, sie abzuschütteln.« »Dann war es definitiv ein gewaltsamer Tod?« »O ja.« Der Arzt deutete auf eine kleine, blasse Stelle in Ortegas Armbeuge. »Hier wurde das Gift injiziert.« »Aha. Was für ein Gift?« »Chloro-Quasi-Dianimidin. Direkt in die Blutbahn.« Garibaldi runzelte die Stirn. »Ich dachte, das sei wenige Minuten nach dem Ableben nicht mehr nachweisbar, weil es in der Blutbahn zerfällt. Oder verwechsele ich das mit etwas anderem, dessen Name genauso lang ist?« »Nein. Das wird allgemein angenommen. Aber glücklicherweise wurde aufgrund neuester Forschungen ein exakterer Test entwickelt. Dieser Umstand ist nur wenigen bekannt.« »Gott sei Dank, würde ich sagen.« »Da haben Sie recht. Der Tod dürfte übrigens gegen 20:00 gestern abend eingetreten sein.« Garibaldi kamen Ivanovas Worte in den Sinn, und wieder runzelte er die Stirn. »Sind Sie sicher?«
»Vielleicht plus-minus eine Stunde; auf keinen Fall mehr. Der Zerfall der Droge ist ein gutes Indiz, abgesehen von den anderen Dingen, zum Beispiel der Leichenstarre. Aber genauer läßt es sich beim besten Willen nicht sagen.« »Und Sie sind sicher, daß er erst nach seinem Tod in die Werft gebracht wurde, um die Leiche dort zu verstecken? Haben Sie eine Ahnung, wieviel Zeit dazwischen vergangen ist?« »Ich würde meinen, nicht mehr als ein paar Stunden.« »Und offensichtlich wurde er vorher entkleidet. Um ihn zu durchsuchen vermutlich.« Garibaldi dachte nach. Wonach könnten die Mörder gesucht haben? Franklin stellte die Frage laut: »Ich würde gerne wissen, ob sie fanden, wonach sie gesucht haben. Es muß etwas sehr Kleines gewesen sein, das leicht zu verstecken ist.« »Wie ein Datenkristall«, spekulierte Garibaldi. Da kam ihm eine Idee. »Könnte es ... nun ja, könnte es vielleicht in seinem Körper sein?« Franklin schüttelte den Kopf. »Kaum. Das hätte ich beim Scannen der Leiche bemerkt.« »Ich nehme an, die Mörder haben ihn auch gescannt.« »Das Equipment ist jedenfalls nicht schwer zu beschaffen«, entgegnete der Doktor, indem er den Leichnam wieder zudeckte. »Was geschieht jetzt mit ihm?«
»Warten Sie, bis ich Earth Central informiert habe. Vielleicht haben die besondere Anweisungen. Ich habe keine Ahnung, wie sie hierauf reagieren werden. Laut Befehl sollte ich ihn lebend fangen und zur Erde überführen.« »Also gut. Ich werde ihn konservieren.« »Ehe Sie ihn abtransportieren... Ich glaube, da gibt es eine Person, die ihn hundertprozentig identifizieren kann. Wir sollten warten, bis sie zurück ist.«
4 Commander Ivanova wollte eben den Konferenzraum verlassen, als sie Garibaldi draußen stehen sah. »Was gibt es, Garibaldi?« »Commander, mir ist bewußt, daß Sie gerade von einer anstrengenden Mission zurück sind, aber es gibt da etwas, das Sie sich ansehen sollten.« Ivanova schloß gereizt die Augen. Nach der langen Besprechung hatte sie sich auf ihr Bett gefreut. Im äußersten Fall hätte sie sich vorher noch zu einem Drink überreden lassen. Doch sie war sofort hellwach, als sie die nächsten Worte Garibaldis vernahm: »Wir haben Ihren Freund Ortega gefunden.« »Ortega? J.D.? Sie haben ihn festgenommen?« Er schüttelte den Kopf. »Ich denke, das sollten Sie selbst sehen.« Da bemerkte Garibaldi Captain Sheridan, der hinter ihr in der Tür stand. »Vielleicht wollen Sie uns begleiten, Sir.« »Vielleicht sollte ich das«, seufzte Sheridan.
Erschöpft erreichte Ivanova mit den anderen das Med-Lab. Als sie den verdeckten Körper auf dem Untersuchungstisch sah, ließ sie keine Reaktion erkennen, wenngleich Dr. Franklins ernste Miene sie auf das Kommende hätte vorbereiten müssen. »Also gut.« Niemand wagte zu atmen, als der Arzt die Decke zur Seite schlug und das leblose Gesicht entblößte. »Commander, können Sie diesen Mann identifizieren?« Sie blinzelte. Irgend etwas war sonderbar. Beim ersten flüchtigen Augenschein waren dies die Züge jenes J.D. Ortega, den sie seit zehn Jahren gekannt hatte, nicht die des Mannes, der sich letzte Nacht mit ihr hatte treffen wollen. Die tiefen Linien der Ermattung wirkten weicher. Sie sahen wieder wie Lachfalten aus. Es schien ihr, als würde er im nächsten Moment seine Augen aufschlagen und sie in seiner unnachahmlichen Weise anlächeln. Doch da bemerkte sie die allzu offensichtlichen Merkmale des Todes, die verfärbte Haut, die erschlafften Muskeln. Abrupt wandte sie sich ab, dankbar, daß seine Augen geschlossen waren. »Ja, das ist Ortega. Was ist passiert? Wie ist er gestorben?« »Er wurde ermordet«, entgegnete Franklin, der die Leiche vorsichtig wieder bedeckte. Der Chefarzt nahm Todesfälle stets sehr ernst. Für ihn war der Tod, was die Raiders für Commander Ivanova waren.
»Wie wurde er ermordet?« Sie hatte unterdessen ihren entschlossenen Tonfall wiedergefunden. »Durch eine Giftinjektion. Der Tod dürfte schmerzlos gewesen sein. Allerdings hat er zuvor mit seinen Mördern gekämpft.« »Ich verstehe.« Die Art, wie alle sie ansahen, verriet ihr jedoch, daß da noch irgend etwas war. Garibaldi klärte sie auf. »Er wurde in einem Werkzeugschrank auf der Wartungswerft eins gefunden. Er wurde nach seinem Tod dort hingebracht.« Ivanova begriff sofort, worauf er hinauswollte. »Unsere Werft. Sie liegt nur eine Etage unter dem Alpha-Bereitschaftsraum, wo wir verabredet waren.« Garibaldi nickte. Aber das war noch nicht alles. »Der Doktor hier schätzt die Todeszeit auf ungefähr 20:00 gestern abend.« »Gestern abend 20:00.« Ivanova fröstelte. Zu diesem Zeitpunkt hatte sie im Bereitschaftsraum auf Ortega gewartet und sich gewundert, daß er nicht erschien. Da hatte man ihm ein tödliches Gift injiziert, und sie hatte die ganze Zeit auf einen Toten gewartet. »Wenigstens wissen wir jetzt, warum er nicht aufgetaucht ist«, meinte Garibaldi. »Die haben ihn erwischt, ehe er Sie treffen konnte.« Sheridan meldete sich zu Wort: »Commander, Sie sagen, Sie haben keine Ahnung, warum dieser Mann Sie sehen wollte?«
»Nein, Sir. Nach dem, was er mir gesagt hatte, nahm ich an, er brauchte meine Hilfe. Vielleicht hatte er Feinde auf der Station.« »Was offensichtlich der Fall war«, bemerkte Chief Garibaldi. »Sie wußten also nicht, daß er auf der Fahndungsliste stand?« »Nein, Sir. Ortega war ein alter Freund aus der Nachkriegszeit. Da er nicht erschienen war, befragte ich den Computer und erfuhr von der Fahndung. Ich habe unverzüglich Garibaldi informiert.« »Ich verstehe.« Der Captain schien nicht sehr glücklich über diese Angelegenheit, die ihm in den Schoß gefallen war. »Nun, nach Mr. Garibaldis Angaben sieht es so aus, als hätte er sowohl Freunde als auch Feinde auf Babylon 5 gehabt. Ich hoffe, sie alle mit Ihrer Unterstützung ausfindig zu machen.« »Selbstverständlich.« Commander Ivanova richtete sich zu einer noch strafferen Haltung auf. »Ich werde nichts unversucht lassen.« Sheridan nickte. »Aber ich denke, das alles betrifft im Augenblick eher die Sicherheitsabteilung. Warum legen Sie sich nicht ein wenig aufs Ohr, Commander? Oder gibt es noch etwas, Mr. Garibaldi?« »Nein, Sir«, erwiderte Garibaldi. »Vorerst nicht. Die Ermittlungen sind noch nicht abgeschlossen. Die Zeugen, die die Leiche gefunden haben, müssen noch verhört werden.«
Ivanova sah ihn an. »Lassen Sie es mich wissen, wenn Sie etwas herausfinden!« »Natürlich.« »Mr. Garibaldi?« begann Captain Sheridan, als sie das Labor verlassen hatte. Ein Nerv in Garibaldis Gesicht regte sich. »Ja, Sir?« »Widersprechen Sie mir bitte, sagen Sie mir, daß die jüngste Entwicklung die Sache nicht noch verzwickter macht, als sie es ohnehin bereits war!« »Tut mir leid, Sir, aber das kann ich leider nicht. Alles, was wir zu tun hatten, war, Ortega zu schnappen und ihn der Earth Alliance zu übergeben; vielleicht noch herauszufinden, wie er unbemerkt auf die Station gelangen konnte. Nun sieht es so aus, als müßten wir nicht nur seine Mörder finden, sondern auch das, was er bei sich trug.« »Er trug etwas bei sich?« »Die Leiche war nackt, als man sie fand. Das deutet für mich darauf hin, daß er durchsucht wurde, und zwar sehr gründlich. Ja, ich denke, er trug etwas bei sich.« Sheridan seufzte. »Garibaldi, seit Sie mir den Fall gemeldet haben, habe ich die Akte studiert. Earth Central vermutet hinter dieser Geschichte anscheinend eine sehr heikle Sache. Ich verlasse mich darauf, daß Sie diesem Fall Ihre volle Aufmerksamkeit widmen. Haben Sie der Zentrale bereits einen Bericht über den Leichenfund geschickt?«
»Noch nicht, Sir. Ich wollte die Identifizierung des Toten durch Commander Ivanova abwarten.« »Das ist ja nun geschehen.« »Ich mache mich sofort an den Bericht, Sir.« »Und halten Sie mich auf dem Laufenden!« »Geht klar, Sir. Sobald wir etwas Neues wissen, gebe ich Ihnen Bescheid.« »Gut.« Sheridan wollte bereits das Labor verlassen, hielt aber noch einmal inne. »Mich würde wirklich interessieren, was er hier wollte. Warum dieses Treffen mit Ivanova?« »Ich hoffe, das erfahren wir, wenn wir wissen, wer für seinen Tod verantwortlich ist.« »Ja, das hoffe ich auch.« Auf dem Rückweg zur Werft begegnete Garibaldi einer der Personen, mit denen er reden wollte: Miss Talia Winters, lizenzierte Telepathin und die einzige Repräsentantin des Psi-Corps auf der Station. Obgleich sie kein Mitglied der Sicherheitsabteilung war, gehörte es zu ihren Aufgaben, in schwierigen Ermittlungen zu assistieren. Und in diesem Fall war Garibaldi froh über jede Unterstützung, die er bekommen konnte. »Oh, Miss Winters, sind Sie fertig mit den Zeugen? Haben sich alle scannen lassen?« Sie nickte ernst. Mit ihren Handschuhen strich sie über ihren langen Rock. In ihrer formellen, wenig attraktiven Kleidung wirkte sie stets ein wenig steif. Garibaldi hatte häufig bemerkt, daß der geistige Kontakt mit anderen Personen Telepathen nicht
sonderlich behagte. Es war beinahe, als schwebe eine Wolke aus Kummer über ihr. Das Psi-Corps machte Garibaldi immer ein wenig nervös. Die meisten Menschen, die er kannte, empfanden ähnlich. Jemand, der über die Vorgänge in jedermanns Kopf Bescheid wußte, war mit Vorsicht zu genießen ... Talia Winters' Tonfall war vollkommen sachlich. »Ja, alle haben zugestimmt, offenbar dachten sie, daß dies der einfachste Weg sei, das Verhör rasch zu beenden.« »Nun, ich bin froh, daß alle kooperiert haben. Was haben Sie herausgefunden?« »Nichts, fürchte ich. Keiner der Zeugen hat Ihnen etwas verheimlicht.« »Die Wahrheit also ...« »Ja, die Wahrheit«, bestätigte sie. »Die Pilotin kam wirklich nur in die Werft, um ihr Schiff zu begutachten. Sie nimmt es Ihnen äußerst übel, daß Sie sie zu den Verdächtigen zählen.« »Tut mir aufrichtig leid für die Dame«, entgegnete Garibaldi ungerührt. »Auch der Mechaniker, der die Leiche entdeckt hat, und sein Vorarbeiter haben Ihnen alles gesagt. Ich bedaure, aber mehr ist dazu nicht zu sagen.« »Auf jeden Fall danke ich Ihnen, Miss Winters. Jede noch so kleine Information kann nützlich sein, auch wenn sie anders als erwartet ausfällt.«
Ohne ihre distanzierte, unbefahrbare Haltung auch nur für einen Augenblick abzulegen, drehte sie sich um, um zu gehen. »Miss Winters?« »Ja, Mr. Garibaldi?« »Ich habe mich gefragt... also, mißverstehen Sie mich nicht, aber ist es möglich, einen Toten zu scannen?« Sichtlich schockiert wich sie zurück. »Nein. Und selbst wenn, würde ich so etwas niemals tun. Ganz unvorstellbar!« Er zuckte die Schultern und lächelte verlegen. »War nur so ein Gedanke. Nochmals vielen Dank, Miss Winters.« Die Tür schloß sich hinter ihr. »Verdammt«, fluchte Garibaldi.
5 Die Raiders waren überall. Wieder und wieder feuerte sie, doch es gelang ihr nicht, sie aufzuhalten. Sie war in der Falle. Sie hätte ihren Flügelmann decken müssen, er war in ernsten Schwierigkeiten. Sie hörte seine Stimme: »Commander Ivanova!« Sonderbar, die Stimme war nicht die Gordon Mokenas, sondern Garibaldis. Aber der war doch nicht ihr Flügelmann. Oder doch? »Commander Ivanova!« Gähnend versuchte sie, die Augen zu öffnen. Die Kommandozentrale? Nein, dort würde man nicht schon wieder nach ihr verlangen. Schließlich war sie gerade erst von einem Einsatz zurückgekehrt. Außerdem hatte sie dienstfrei und benötigte Schlaf. »Commander Ivanova!« »Ivanova hier«, murmelte sie schlaftrunken. »Commander, hier spricht Garibaldi. Sind Sie wach?« »Nein«, murrte sie widerstrebend, während sie wieder in ihr Kissen sank.
»Ich muß Sie leider wecken. Es gibt etwas, das Sie sich ansehen sollten.« »Garibaldi, falls Sie es nicht wissen: Ich komme gerade von einem Einsatz gegen ungefähr hundert Raiders-Schiffe. Ich habe mich eben hingelegt, und es ist mitten in der Nacht.« »Genaugenommen ist es 10:30.« »Nicht möglich.« Ivanova rappelte sich auf und öffnete die Augen. War es schon so spät? »Also, was ist los?« »Wir haben ein weiteres Beweisstück im OrtegaFall gefunden, und ich denke, daß Sie das was angeht.« »Ich komme sofort.« Ihr Leben beim Militär hatte sie gelehrt, wie man trotz Müdigkeit schnell in seine Uniform schlüpft, doch Garibaldis Nachricht hatte sie derart beunruhigt, daß sie längst hellwach war. Was für ein neues Beweisstück mochte das sein? Und was hatte sie damit zu tun? »Das ging aber flott«, begrüßte sie Chief Garibaldi, als sie den Konferenzraum betrat. Milde überrascht bemerkte sie die Anwesenheit von Captain Sheridan. Der Sicherheitschef griff in seine Beweisschachtel und holte ein kleines Stück Papier hervor, das in Folie eingeschweißt war. Behutsam nahm Ivanova das Papier entgegen. Ein Zettel, der offensichtlich zusammengefaltet gewesen, dann aber geöffnet und glattgestrichen worden war. Durch die Folie konnte man einige
Buchstaben entziffern: SI... hardw... r. Ivanova schüttelte den Kopf; das sagte ihr überhaupt nichts. »Sie haben das nie vorher gesehen? Und Sie wissen auch nicht, was es bedeutet?« fragte Garibaldi. »SI könnte für Susan Ivanova stehen. Aber mit dem Rest kann ich nichts anfangen. Wo haben Sie das her?« »Bereitschaftsraum. Wo Sie auf Ortega gewartet haben. Wir haben den Zettel gescannt und wissen daher sicher, daß er von Ortega kam. Zumindest hat er ihn in der Hand gehabt, wenn er nicht sogar den Text geschrieben hat.« »Im Bereitschaftsraum, sagen Sie?« In Ivanovas Stimme lag Mißtrauen. »Er hat mir eine Nachricht hinterlassen?« »Das Papier lag auf dem Fußboden vor dem Waschraum.« »Mir ist dort nichts aufge ... Sie meinen, es hat die ganze Zeit da gelegen? Während ich auf Ortega gewartet habe?« »Vermutlich hätten Sie es nie bemerkt. Meine Leute haben den Boden Zentimeter für Zentimeter abgesucht. Der Zettel lag unter einem der Tische. Sie wissen ja, wie Piloten sind. Sie werfen ihren Müll nicht immer in die Recycling-Anlage. Da lag noch eine Menge anderes Zeug auf dem Boden.« Sie mußte zugeben, daß er recht hatte. Wenn die Leute ihre Zeitung ausgelesen hatten, landete sie
zumeist achtlos auf dem Boden, zwischen anderen Papierhaufen. Garibaldi fuhr mit der Hand über seinen fliehenden Haaransatz. »Sagen Sie, Commander, kamen Sie pünktlich zu der Verabredung mit Ortega, oder ist es möglich, daß Sie fünf oder zehn Minuten zu spät dran waren?« Sie schloß die Augen, um sich zu erinnern. »Ich kam herein, der Raum war leer. Ortega war nicht da. Moment, da war dieser Typ...« »Was für ein Typ?« fiel ihr Garibaldi ins Wort. »Ich weiß nicht. Niemand, den ich kannte. Er kam aus dem Waschraum, und er hatte es ziemlich eilig. Er verließ den Raum.« »Glauben Sie, daß Sie ihn wiedererkennen würden?« »Keine Ahnung. Ich habe nicht auf ihn geachtet, nachdem ich sah, daß er nicht Ortega war.« »Na gut. Das prüfen wir später. Wie steht's mit der Uhrzeit?« »Daran erinnere ich mich. Es war... Ich kann es nicht mit absoluter Sicherheit sagen, aber ich kam etwa vier bis fünf Minuten zu spät. Nicht mehr. Ich habe den Computer nach der Uhrzeit gefragt. Das müßte im Logbuch festgehalten sein.« »Sie haben den Computer das erste Mal um 20:04 gefragt«, bestätigte der Chief. »Ja, unmittelbar nachdem ich reinkam. Ich erinnere mich wieder. Als er nicht erschien, prüfte ich die Zeit.«
Captain Sheridan ergriff jetzt das Wort: »Commander, diese Nachricht, wissen Sie, was sie bedeutet?« Ivanova las. noch einmal: SI... hardw ... r. Sie verneinte kopfschüttelnd. »Nein, Sir.« »Keine Idee?« bohrte Garibaldi. »Ich könnte mir vorstellen, es heißt hardware; militärische Hardware, Waffen und so...« Garibaldi nahm den Zettel und studierte den Text. »Oder es heißt hardwar, was immer das sein mag.« Er reichte ihn weiter an den Captain, der die Hand danach ausstreckte. »Das hier sieht mir eher wie ein i aus. Möglicherweise hardwire.« Garibaldi griff wieder nach dem Papier, um es abermals zu mustern. »Ja, Sie haben recht. Jetzt sehe ich es auch: Hardwire! Computer! Bedeutung dieses Begriffs!« Die mechanische Stimme antwortete: »Hardwire. Primäre Bedeutung: veralteter, primitiver elektronischer Computer; permanent in die physikalische Struktur eines Computers integrierte Anweisungen. Sekundäre Bedeutung: instinktives oder erblich bedingtes Verhalten. Tertiäre Bedeutung: zukunftsorientierte Literatur des späten 20. Jahrhunderts. Abgeleitete Bedeutung: Wetware, Cyberware. Sind zu einem Eintrag zusätzliche Informationen erwünscht?« Ivanova erschrak, als sie bemerkte, daß alle sie ansahen. »Tut mir leid.«
»Vielleicht hatte er nicht genug Zeit, seine Nachricht zu vollenden. Vielleicht wurde er gestört«, überlegte Chief Garibaldi. »Wenn der Text für Sie bestimmt war, müßte er Ihnen doch irgend etwas sagen.« »Nein. Tut mir leid«, wiederholte Ivanova gereizt. Hatte sie nicht längst alles gesagt? »War's das? Oder ist noch etwas?« »Nein, das war's fürs erste«, antwortete Garibaldi. »Nichts Definitives. Wir wissen noch immer nicht, wo Ortega ermordet wurde. Wir werden als erstes den Bereitschaftsraum checken, obwohl der eigentlich nicht in Frage kommt, wenn Sie ab 20:04 dort waren. Ich setze Sie davon in Kenntnis, wenn wir etwas haben.« »Danke.« Sheridan erhob sich. »Wissen Sie was, Commander? Da Sie einmal aufgestanden sind, werde ich Sie zum Frühstück einladen, ehe Ihr Dienst beginnt. Ich habe ein paar Neuigkeiten für Sie, die Ihnen besser gefallen werden als das hier.« »Eine ausgezeichnete Idee, Sir. Ich nehme dankend an.« Wie sich herausstellte, beinhaltete das Frühstück etwas überaus Seltenes und Begehrtes: echten Kaffee, Import von der Erde. Mit geschlossenen Augen hielt Ivanova die Tasse unter ihre Nase und sog den Duft ein. Als erstes nippte sie nur und trank dann in langen, kleinen Schlucken. »Oh, ist das wunderbar. Einzigartig. Wenn ich geahnt hätte, wie
schwer echter Kaffee zu bekommen ist, ich hätte mich wohl nie für diesen Job entschieden. Wie kann die Earthforce nur erwarten, daß irgend jemand morgens ohne Kaffee wach wird. Das ganze künstliche Zeug ist nichts dagegen.« »Ein Geschenk meines Vaters zu meinem letzten Geburtstag. Zwei Pfund, direkt von der Erde. Ich habe mich erinnert, wie sehr Sie Kaffee schätzen. Als wir damals nach dem Krieg vor Io stationiert waren, war er noch schwerer zu beschaffen.« »Ich erinnere mich.« »Na ja«, sagte Sheridan, während er seine geleerte Tasse absetzte, »auf jeden Fall habe ich die Informationen über die Cassini, um die Sie mich baten.« »Richtig. Die Fracht.« Nach der Konferenz und der Identifizierung der Leiche im Med-Lab war sie schlicht zu erschöpft gewesen, um selbst die Aufzeichnungen zu prüfen. »Ja, die Fracht. Was war so wertvoll, daß es sie alle das Leben kostete? Morbidium-Barren vom Raumhafen Mars.« »Morbidium? Das ist doch ein strategisches Metall. Der Handel damit unterliegt strengen Restriktionen.« Sheridan nickte. Morbidium war unentbehrlich für die Produktion von Plasmaphasen-Waffen; ein essentieller Bestandteil der Legierung, aus der ihre Hauptspulen bestanden. Die Herstellung war aufwendig und teuer. Die Earth Alliance hatte für
den Handel mit strategischen Metallen strenge Auflagen erlassen: Die Preise waren festgesetzt, jeglicher Verkauf an Unbefugte war untersagt. Die Nachfrage auf dem Schwarzmarkt war folglich beträchtlich. Schließlich gehörten Waffen sowie deren Bestandteile seit jeher zu den begehrtesten Handelsgütern. Und die hohen Profite ließen natürlich auch die Piraten auf den Plan treten. »Sie denken an eine undichte Stelle«, sagte Sheridan. »Jemand hat den Raiders die nötigen Hinweise gegeben.« »Genau das hat auch der Pilot der Cassini gesagt. Erinnern Sie sich: Er sprach von einem Hinterhalt. Sie wußten, wo und zu welchem Zeitpunkt sie den Transporter erwarten mußten, und sie wußten, woraus die Ladung bestand. Sie hatten sogar einen eigenen Transporter mitgebracht, um die gestohlene Fracht fortzuschaffen. Das alles mußte geplant werden.« Captain Sheridan teilte diese Auffassung. »Ich weiß. Wie gut die Sicherheitsvorkehrungen auch sein mögen, solange die Raiders für Informationen bezahlen, werden sie sie auch bekommen. Bieten Sie einer Sekretärin fünftausend Credits, und Sie kriegen jede Information, die Sie brauchen. Und je lohnender die Beute, desto mehr können die Raiders in Bestechung investieren.« »Die Raiders scheinen in festen Zyklen aufzutauchen. Ihre Bewaffnung konnten wir im vergangenen Jahr weitgehend eliminieren. Jetzt sind
sie offenbar wieder da. Es gab einfach zu viele Zwischenfälle in den letzten Monaten. Irgend etwas muß dahinterstecken: eine neue Bande von Raiders, ein neuer Informant. Es hat etwas zu bedeuten, wenn ich nur wüßte, was...« »Sie wollen der Sache auf den Grund gehen?« »Nur um zu sehen, was ich finde. Da das Hyperraumsprungtor in Sektion 13 beschädigt wurde, müssen einige der Routen umgeleitet werden. Vielleicht wird dadurch irgendein Muster sichtbar. Am besten wäre es, wenn die Earthforce regelmäßig Patrouillenflüge bei sämtlichen Hyperraumübergängen und Standardrouten fliegen würde.« »Angesichts der aktuellen politischen Lage auf der Erde können wir uns glücklich schätzen, wenn uns die Mittel nicht ganz gestrichen werden. Der Weltraum steht im Budgetplan der neuen Verwaltung leider nicht sehr weit oben. Ich würde an Ihrer Stelle nicht mit mehr Patrouillen rechnen.« »Ich weiß«, sagte Ivanova bitter. »Obwohl Schutzmaßnahmen für Transporte von strategischem Metall eigentlich in ihrem Interesse sein sollten. Wenn noch mehr Schiffe verlorengehen oder sich die Speditionsfirmen beklagen, wird vielleicht endlich etwas unternommen.« »Nun, viel Erfolg, Commander. Ich freue mich darauf, Ihren Bericht zu lesen, wenn Sie etwas gefunden haben.«
»Danke, Sir. Auch für den Kaffee.« Ivanova stand auf. In wenigen Minuten mußte sie bereits wieder ihren Dienst antreten. »Commander? Was diesen ermordeten mutmaßlichen Terroristen angeht: Ich weiß, es ist schlimm, wenn man bemerkt, wie sich alte Freunde verändern.« Mit einem Seufzen ließ sie sich noch einmal auf ihren Platz sinken. »Ich kann es noch immer kaum glauben. J.D. Ortega könnte aus Versehen in etwas geraten sein. Ehe die Leiche gefunden wurde, habe ich die ganze Zeit nach einer Erklärung gesucht. Ich dachte, wenn wir ihn finden, wenn wir der Sache nachgehen, würden wir am Ende feststellen, daß alles nur ein Irrtum war. Eine Verwechslung... Doch nun, ich weiß es nicht. Er wurde ermordet.« »Nun, ich hoffe, alles klärt sich rasch auf, wenn Garibaldi den Mörder hat.« »Das hoffe ich auch.« Als Ivanova die Beobachtungskuppel betrat, herrschte dort bereits rege Geschäftigkeit. Wegen des defekten Transitpunktes in Sektion Rot 13 mußten zahlreiche abflugbereite Schiffe umgeleitet werden. Bis das beschädigte Sprungtor repariert war, mußten alle Flugpläne geändert werden. Andernfalls bestand das Risiko, daß zwei Schiffe zum selben Zeitpunkt denselben Raum einnahmen, und das in einem Sektor, der drei Hyperraumsprünge entfernt lag.
Commander Ivanova registrierte ein paar neugierige Blicke, als sie die Kuppel betrat. Worüber sie wohl nachdenken mochten, fragte sie sich. Über ihren Kampf mit den Raiders? Über den Mord an Ortega? Offiziell durfte niemand über den Mord Bescheid wissen, und sie selbst verspürte nicht die geringste Lust, darüber zu sprechen. Zum Glück gehörten die Techniker zum erfahrenen Militärpersonal; sie wußten daher, daß man im Dienst besser keine persönlichen Fragen stellte. Lieutenant Nomura begrüßte sie knapp: »Schön, daß Sie noch in einem Stück sind, Commander.« Ivanova löste ihn an der Kontrollkonsole ab. Zu mehr schien er nicht bereit. Nicht einmal zu einer Gratulation zu ihrem Sieg über die Raiders. Sie waren beide lange genug in ihrem Job, um zu wissen, daß Ivanova keinen wirklichen Sieg errungen hatte. Soeben wurde die Entsorgung der Toten von der Cassini vorbereitet. Glückwünsche schienen da wenig passend. »Glücklicherweise sind wir alle heil zurückgekommen«, entgegnete sie ebenso beiläufig. Von nun an war jede Kommunikation dienstlich. Nomura informierte sie über die laufenden Vorgänge, und die Aussichten waren alles andere als rosig. »Jeder Pilot oder Eigner, dessen Abflug sich auch nur um fünf Minuten verzögert, verlangt, jemanden mit Einfluß zu sprechen. Captain Sheridan, Earth Central...«
»Damit werde ich fertig«, bemerkte Commander Ivanova. »Viel Glück.« Nomura übergab ihr die Konsole und überließ ihr damit alle Probleme. Er hatte sich lange genug damit herumschlagen müssen. Ivanova fand rasch heraus, daß ihr heute garantiert keine Zeit bleiben würde, ihre Spekulationen über die jüngsten RaidersAktivitäten zu überprüfen. Nicht bei der Flut von Anfragen, Beschwerden und Forderungen, verursacht durch die Umstellungen. Nomura hatte nicht übertrieben. Zeitpläne, abgelaufene Fristen, verderbliche Ware, Zeitklauseln in Lieferverträgen ... jeder schien anzunehmen, daß die Flugplanänderungen eine Verschwörung waren, allein angezettelt, ihn zu ruinieren. Und jeder war überzeugt, daß sein Fall der dringendste war. Ivanova war es bald leid, sich ständig zu wiederholen. »Ich glaube, Sie verstehen mich nicht. Ich muß meinen Zeitplan einhalten.« Es dauerte gar nicht lange, und sie mußte sich beherrschen, um nicht loszuschreien: »Ich glaube, Sie verstehen mich nicht. Jemand hat vielleicht schon Ihren Flugplan an die Raiders verraten. Durch die Verspätung bleibt Ihnen Ihre wertvolle Fracht vielleicht erst erhalten!« In Wirklichkeit sagte sie jedoch: »Ich habe durchaus Verständnis für Ihren Zeitplan, Skipper. Ich verspreche Ihnen, mich persönlich darum zu kümmern. Ihr Abflug erhält die höchstmögliche Priorität. Natürlich im Rahmen der Bestimmungen
von Babylon 5.« Das hieß im Klartext: Die Piloten hatten gar keine andere Wahl, als sich ihren Weisungen zu beugen. Schlimmer noch als die Handelsschiffe waren die Diplomaten und ihr Gefolge. Der Pilot eines Kurierschiffes der Minbari war ein charakteristischer Vertreter: ein überheblicher alter Krieger, der ernsthaft die Auffassung vertrat, es würde auf der Stelle wieder Krieg ausbrechen, wenn die Übergabe seiner Depeschen um mehr als eine Stunde verschoben würde. Wenn man ihm nicht umgehend eine Startfreigabe gewährte, würde er ein Kriegsschiff anfordern mit dem Potential, einen Hyperraumübergang zu generieren. Commander Ivanova schlug ihm unzweideutig vor, genau das zu tun. Schließlich war ihr Zeitplan eng genug. Oder der Captain der Narn, der tatsächlich bezweifelte, daß das Sprungtor überhaupt ausgefallen war. »Ein Trick, eine Verschwörung unserer Feinde, um uns auf dieser Station zu binden. Ich verlange augenblickliche Startfreigabe!« Ivanova atmete tief durch. »Captain Ka'Hosh, ich war dabei, als das Tor beschädigt wurde. Ich kann dieses Faktum persönlich bestätigen. Wenn Sie also nicht damit einverstanden sind, daß Ihr Flug umgeleitet wird, müssen Sie leider warten, bis die Reparaturarbeiten abgeschlossen sind. Das wird voraussichtlich binnen achtunddreißig Erdstunden der Fall sein. Wenn es soweit ist, wird Ihnen die angemessene Priorität eingeräumt werden, Sie haben
mein Wort. Bis dahin sitzen Ihre Feinde, sollten sie sich auf der Station befinden, ebenfalls fest.« Das schien den Narn für den Augenblick zufriedenzustellen. Ivanova sah nach der Uhrzeit und unterdrückte ein Gähnen. Es war erst zweieinhalb Stunden her, daß sie zum Dienst erschienen war. Und sie ahnte, daß der Tag für sie noch lange nicht zu Ende sein würde.
6 Später, viel später, saß Commander Ivanova in ihrem Quartier am Terminal. »Computer! Ich benötige die Aufzeichnungen aller Überfälle der Raiders auf Frachter im Gebiet der Earth Alliance. Über einen Zeitraum von einem Jahr. Graphischer Anzeigemodus!« »Bitte warten!« »Nach Art der Fracht sortieren! Anzahl der Schiffe, die strategische Metalle geladen hatten!« Die erwünschte Information erschien auf dem Monitor. Strategische Metalle. Ein Volltreffer. Ivanova schloß für einen Moment die Augen; sie fühlte sich müde, ausgelaugt. Der Tag war grauenvoll gewesen. Der Ärger mit dem beschädigten Sprungtor; in zwei Tagen würde es repariert sein. Doch welche neuen Krisen würden sie dann erwarten? Nun, da sie dienstfrei hatte, war es an der Zeit, endlich zu entspannen. Doch die Sache mit den Raiders war den Tag über nicht aus ihren Gedanken gewichen. Sie wußte, sie würde keinen Schlaf
finden, wenn sie zuvor nicht wenigstens einen Anhaltspunkt finden würde. Sie blickte wieder auf den Bildschirm. »Diebstähle strategischer Metalle! Zeitraum: die vergangenen zehn Jahre. Vergleichsanalyse. Sortieren nach Lademenge und Anzahl der Überfälle!« Sie nickte, als das Bild wechselte. Ja. Seit etwa einem Jahr waren beide Zahlen rasant angestiegen. Galt das für sämtliche strategischen Metalle - oder nur für bestimmte? Die Cassini hatte Morbidium an Bord gehabt, wie sie sich besann. »Die Statistik der strategischen Metalle nach Typen sortieren!« Die Antwort, die auf dem Monitor erschien, sprang sie an. Die Tonnage geraubten Morbidiums war während der letzten sechzehn Monate dramatisch in die Höhe geschossen. Einhundertvierundachtzig Prozent allein im vergangenen Jahr. Es war kaum zu glauben. Vielleicht war einfach mehr von dem Metall verschifft worden. Aber die Zahlen zeigten, daß der Anstieg der verschifften Tonnage keinesfalls die Menge des gestohlenen Metalls zu erklären vermochte. Und das sollte niemandem bei Earth Central aufgefallen sein? Immerhin ging es um strategische Güter. Für Ivanova war Morbidium gleichbedeutend mit Rüstung, besonders mit den Energiespulen von Plasmaphasen-Waffen. Und seit dem Krieg zwischen Menschen und Minbari war der Handel
mit Rüstungsgütern eines der begehrtesten Geschäfte. Ivanova massierte mit den Fingerspitzen ihre Schläfen. »Computer! Ist es möglich, die Preisentwicklung für strategische Metalle auf dem Schwarzmarkt aufzuschlüsseln? Zeitraum: die letzten zwei Jahre!« Doch hier zeigte sich der Computer unkooperativ. »Diese Daten sind nicht verfügbar«, lautete die schlichte Entgegnung. »Mist«, brummte Commander Ivanova. Wahrscheinlich gab der Schwarzmarkt einfach keine regelmäßigen Finanzberichte heraus. Erst recht nicht für die Datenbanken der Earthforce. Sie nahm an, daß Garibaldi ihr helfen konnte. Er schien über Informanten aus der Unterwelt zu verfügen. Sie notierte, daß sie ihn später fragen wollte, morgen oder so. Möglicherweise wäre es hilfreich, das Problem von einer anderen Seite anzugehen. Woher, zum Beispiel, erhielten die Raiders ihre Informationen? Existierte ein gemeinsamer Faktor? Welcher Personenkreis hatte Zugang zu diesen Daten? »Computer! Alle Überfälle der Raiders im letzten Jahr auf Schiffe, die strategische Metalle geladen hatten! Nach Spediteuren sortieren!« Angestrengt starrte sie auf den Schirm, doch kein Muster war zu erkennen. »Morbidium-Transporte markieren!« Sie schüttelte den Kopf. Noch immer kein Muster. Dann stellte sie enttäuscht fest, daß in
den Datenbanken der Station keine Informationen über die Frachteigner oder die Versicherungen der Ladungen gespeichert waren, mit Ausnahme der Transporte via Babylon 5. Schließlich verlangte sie: »Daten nach Frachtherkunft sortieren!« Da war es! Ein signifikanter Anstieg geraubter Fracht, die vom Raumhafen des Mars aus verschifft worden war, in den vergangenen sechzehn Monaten. Parallel dazu waren die Morbidium-Diebstähle angestiegen. Und die Cassini war ebenfalls vom Mars-Hafen ausgelaufen. Um sicherzugehen, befahl sie: »Überfälle auf Morbidium-Transporte markieren, die vom Mars kamen!« Ja, sie hatte die Lösung gefunden. Vom MarsRaumhafen wurde alle zwei bis drei Tage eine Ladung strategischer Metalle verschifft; zwanzig Prozent davon waren während der vergangenen sechzehn Monate den Raiders in die Hände gefallen. Da war sie, die undichte Stelle. Es gab keinen Zweifel. Irgend jemand auf dem Mars verkaufte den Raiders Informationen über Transportflüge, und die Ware, um die es dabei ging, war Morbidium. Es war unglaublich, daß bisher niemand darauf gestoßen war, aber möglicherweise war »unglaublich« nicht der angemessene Ausdruck. »Verdächtig« könnte das geeignetere Wort sein. Commander Ivanova lehnte sich zurück und streckte ihre Glieder. Nun, ein Anfang war gemacht. Und sie empfand Genugtuung darüber, daß es außer Plasmafeuer noch andere Wege gab, die Raiders zu
treffen. Ohne Informationen waren sie blind. »Man müßte nur diese undichte Stelle versiegeln«, überlegte sie laut. Der Computer, der stets alles wörtlich nahm, meldete sich zu Wort: »Es wird derzeit keine undichte Stelle angezeigt.« Ivanova schloß wieder die Augen. »Ende der Eingabe«, sagte sie. »Für heute bin ich fertig. Ich gehe schlafen. Keine Anrufe für mich durchstellen!« In der Offiziersmesse herrschte zur Frühstückszeit immer ein geschäftiges Treiben. Dutzende Uniformierte eilten mit ihren vollen Tabletts zu den Tischen und bereiteten sich auf die Frühschicht vor. Ivanova hatte Chief Garibaldi erspäht, der jetzt auf den freien Platz neben ihr zukam. Er stellte sein überladenes Tablett ab und setzte sich. »Sie wollen heute das Mittagessen auslassen?« erkundigte sie sich angesichts der Mengen. »Und das Abendessen offenbar auch.« »Ich habe schon häufig bemerkt, daß Frauen es gar nicht gern sehen, wenn ein Mann ein gutes, reichhaltiges Mahl verdrückt.« Sie zog eine Augenbraue hoch. »Das nennen Sie reichhaltig? Wenn Sie noch ein paarmal so reichhaltig essen, wird Ihr Herz Ihnen den Dienst verweigern.« Er ließ die Gabel sinken. »Sehen Sie, was ich meine?« »Übrigens«, fragte sie, »gibt es etwas Neues?«
Garibaldi zog die Stirn kraus. »Oh. Tut mir leid. Ich dachte, das hätte ich Ihnen bereits mitgeteilt. Aber Sie waren letzte Nacht nicht erreichbar. Wir wissen, wo Ortega getötet wurde. Im Waschraum.« Bestürzt wich sie zurück. »Der Waschraum unmittelbar vor dem Bereitschaftsraum? Das war der Tatort? Dann muß er die ganze Zeit dort gewesen sein. Wissen Sie das genau?« Der Chief nickte. »Wir haben Spuren des Giftes auf dem Fußboden gefunden sowie geringe Mengen von Ortegas Blut.« Ivanova schauderte. »Das würde bedeuten, daß der Typ, der so eilig an mir vorbeilief...« »... der Mörder war. Genau.« »Und wahrscheinlich wartete er die ganze Zeit vor der Tür darauf, daß ich gehe.« »Oder er wartete auf jemand anderen«, nickte Garibaldi. »Der Bursche muß Blut und Wasser geschwitzt haben. Hat sich bestimmt gefragt, was noch schiefgehen würde. Er hatte einen hübschen kleinen, intimen Mord geplant, und da platzen Sie herein.« »Ich wünschte, ich wäre ein paar Minuten früher gekommen«, bedauerte Ivanova. »Ich nicht. Sonst hätten wir vielleicht zwei Leichen indem Werkzeugspind gefunden. Dieser Kerl ist ein Profi. So ein Gift wird nicht von Amateuren verwendet. Wie auch immer, so wie's ausschaut, sind Sie der einzige Zeuge, der den Mann identifizieren kann. Kommen Sie bitte so bald wie
möglich in mein Büro, und versuchen Sie noch mal, diesen Typ zu beschreiben.« »Natürlich.« Sie schauderte abermals. Der Appetit war ihr vergangen. »Falls Sie wünschen, daß ich ein paar Sicherheitskräfte für Sie abstelle, zu Ihrem Schutz ...« »Nein. Das ist, glaube ich, nicht nötig. Es weiß doch sonst niemand Bescheid, oder?« »Nein, die Sache unterliegt der Geheimhaltung, ultraobergeheim. Obwohl mir nicht ganz klar ist, wieso.« Garibaldi beäugte interessiert ihr Tablett. »Übrigens, der Captain sagte, Sie führen auf eigene Faust Ermittlungen durch?« »Ich habe lediglich ein paar Daten durch den Computer laufen lassen. Ich habe mich gefragt, woher die Raiders ihre Informationen haben. Jetzt weiß ich es.« »Und?« »Vom Mars-Raumhafen. Irgendein Angestellter verkauft den Raiders Informationen über Transportflüge.« Jetzt war er an der Reihe mit Augenbrauenhochziehen. »Das war sicher kein Problem.« »Kein Problem? Ich habe mir die halbe Nacht um die Ohren geschlagen.« Sie unterbrach sich. »Nein, Sie haben recht. Wenn Sie sich die Statistiken genau ansehen, liegt es auf der Hand. Und der Stationscomputer hat nicht mal alle vorhandenen
Daten gespeichert. Irgend jemand auf der Erde oder dem Mars hätte das schon vor Monaten bemerken müssen; genaugenommen schon vor einem Jahr. Irgend jemand hat, aus welchem Grund auch immer, seine Hausaufgaben nicht gemacht. Ich werde noch heute einen Bericht an Earth Central schicken.« Garibaldi spießte ein Stück Obst mit seiner Gabel auf. »Halten Sie das für eine gute Idee?« »Was wollen Sie damit sagen?« »Ich meine, Sie kehren vor fremden Türen, Commander. Niemand hört es gerne, wenn ihm eine andere Abteilung Nachlässigkeit oder Schlimmeres unterstellt.« Sie glaubte, ihren Ohren nicht zu trauen. »Garibaldi, das ist nicht Ihr Ernst! Die Raiders überfallen da draußen Schiffe, und sie töten Menschen.« »Wahrscheinlich haben Sie recht. Aber seien Sie vorsichtig, okay? Die Dinge entwickeln sich nicht gerade günstig, Sie könnten es mit jemandem zu tun bekommen, dem Sie nicht gewachsen sind.« Er blickte wieder auf ihr Tablett. »Sagen Sie, essen Sie das nicht auf?« Er wollte gerade nach dem Tablett greifen, als sein Com-Link piepte. »Garibaldi.« »Hier Captain Sheridan, Mr. Garibaldi. Wir sind auf etwas gestoßen. Können Sie mich im Besprechungsraum treffen?«
»Schon unterwegs.« Als er aufblickte, sah er, daß Ivanova ihr nur zur Hälfte leergegessenes Tablett forttrug. Er seufzte. Gutgelaunt betrat Chief Garibaldi den Besprechungsraum. Sheridan sah zu ihm auf. »Ich habe gerade Ihren Bericht zu dem Ortega-Fall gelesen, Mr. Garibaldi. Gute Arbeit. Ich muß sagen, Ihre Ermittlungen in dieser Sache waren überaus gründlich. Ich möchte nicht, daß Sie jetzt denken, ich hätte irgend etwas gegen Ihre Arbeit einzuwenden.« Das hörte sich gar nicht vielversprechend an, dachte Garibaldi. »Aber leider muß ich die Einstellung Ihrer Ermittlungen anordnen.« »Wie bitte? Die Ermittlungen einstellen? Bei einem Mordfall?« Er glaubte an ein Mißverständnis. »Sir?« Sheridan machte einen verlegenen Eindruck. »Wie ich bereits sagte, das hat nichts mit Ihnen zu tun. Und es ist auch nicht meine Entscheidung. Meine Anweisungen kommen direkt von Earth Central. Sie schicken ein Spezial-Ermittlungsteam, das den Fall übernehmen wird. Offenbar ist man aufgrund der Verbindung zur Gruppe >Freier Mars< der Ansicht, daß die Angelegenheit für den regulären Sicherheitsdienst von Babylon 5 zu groß ist.« Chief Garibaldi setzte dazu an, etwas wie »Bockmist« zu sagen, doch verbiß er sich den Fluch.
Sheridan fuhr fort: »Sie erhalten hiermit den Befehl, Ihre gesamte Mannschaft unverzüglich von dem Fall abzuziehen und sämtliche Aufzeichnungen und Akten zu versiegeln, um sie den Spezialisten bei ihrer Ankunft auszuhändigen!« »Wann wird das sein?« »Sie sind bereits auf dem Weg hierher. An Bord der Asimov.« »Die Brüder wollen keine Zeit verlieren.« Captain Sheridan musterte ihn. Er schien etwas sagen zu wollen, entschied sich aber dagegen. »Wenn Sie keine weiteren Fragen haben, wäre das alles. Ich danke Ihnen, Mr. Garibaldi.«
7 »O je!« murmelte Garibaldi. Er beobachtete auf den Monitoren der Sicherheitszentrale, wie sich die Passagiere der Asimov der Zollkontrolle näherten. Er erhaschte einen ersten Blick auf das Spezialteam, das Earth Central geschickt hatte. »Sieht gar nicht gut aus.« Diese Leute waren unmöglich zu verwechseln. Sie wirkten steif und übertrieben militärisch in ihren blauen Uniformen der Earthforce. Drei Offiziere, zwei Männer, eine Frau. Alle drei hatten denselben unnachgiebigen Blick, der sagte: Wir wissen, Sie haben sich eines Vergehens schuldig gemacht. Und wir finden heraus, was Sie getan haben; wir haben viel Zeit! Auch die Zollbeamtin brauchte nur einen Blick auf die drei zu werfen, schon schoß sie wie von der Tarantel gestochen in die Höhe und nahm Haltung an. Garibaldi konnte sie sogar über den Bildschirm schwitzen sehen, während sie ihren Routine-Check erledigte: die Identicards entgegennehmen, die Abbildungen mit den Gesichtern ihrer Inhaber
vergleichen, die Karte durch das Sichtgerät ziehen, die Bestätigung der angezeigten Daten, schließlich die Reisenden, sofern alles in Ordnung war, auf Babylon 5 willkommen heißen. Als die drei die Zollkontrolle passiert hatten, verschwanden sie von Garibaldis Monitor. Sie gingen in Richtung der Aufzüge. In seine Richtung ... Er war gewappnet, als sie wie ein dreiköpfiges Überfallkommando in das Sicherheitsbüro eindrangen. Sie arbeiteten perfekt zusammen: Einer blieb im Hintergrund und sicherte den Eingang; die Hauptstreitmacht, dekoriert mit den auf Hochglanz polierten Insignien eines Commanders, stürzte sich derweil auf das eigentliche Ziel, die Computerkonsole. Garibaldi schickte sich an, sie aufzuhalten. »Der Zutritt zu diesem Büro ist untersagt«, erklärte er mit fester Stimme. »Haben Sie eine Genehmigung?« Der Earthforce-Commander, ein drahtiger Mann um die Vierzig, mit blondem Bürstenhaarschnitt und scharf geschnittenen Gesichtszügen, machte noch einen weiteren Schritt. Seine Miene war finster. Offenbar hatte er den Befehl, jeden allein mit seinem Blick einzuschüchtern. »Sind Sie Garibaldi?« »Ich bin Michael Garibaldi, der Sicherheitschef von Babylon 5.« »Sie sind angewiesen, uns Ihr Material über den Fall Ortega vollständig auszuhändigen. Ich benötige Ihr Paßwort«, forderte der Commander. Er klang wie
ein Drahthaarterrier oder ein ähnlich bissiger kleiner Köter. Garibaldi ließ sich nicht beirren. Immerhin konnte er sich auf die Regularien der Earthforce berufen. »Zuerst benötige ich Ihren Ausweis und Ihre Genehmigung!« Der Commander preßte die Lippen zu einer dünnen weißen Linie zusammen, dann holte er seine Papiere hervor und ließ sie auf Garibaldis ausgestreckte Hand klatschen. Der Chief überprüfte sie und nickte schließlich. Die Identicard war auf Commander Ian Wallace ausgestellt. Seine Genehmigung war in Ordnung - natürlich. Er hatte Zugang zu Informationen der Geheimhaltungsstufe Ultraviolett, vermutlich mehr. »Commander«, bestätigte Garibaldi, als er die Papiere zurückgab, dann fügte er hinzu: »Ich muß auch die Papiere Ihrer Mitarbeiter sehen.« »Sie haben meine Order gesehen, Garibaldi. Sie wissen, ich habe hier alle Befugnisse.« »Nicht ganz, Commander.« Garibaldi blieb stur. »Der Ortega-Fall gehört Ihnen. Aber dies hier ist das Sicherheitsbüro von Babylon 5, und ich habe hier auch Material zu anderen Fällen unter Verschluß, die mit Ihren Angelegenheiten nicht das mindeste zu tun haben. Folglich darf niemand ohne Zugangsberechtigung Einsicht in unsere Akten nehmen.« Verärgert winkte Wallace seine Assistenten heran und übergab Garibaldi auch deren Ausweise. Es
waren die Lieutenants Miyoshi und Khatib. Miyoshi hatte bemerkenswert weibliche Formen, die aussahen, als wären sie unter ihrer Uniform in ein Korsett eingeschnürt. Garibaldi schien die Frau ein wenig zu alt für den Rang eines Lieutenants. Und Khatib - Khatib wirkte eiskalt. Selbst Garibaldi hatte noch nicht viele von diesem Schlag getroffen. Er hatte schwarze Augen, eine Nase, die jedem Vergleich mit einem Adlerschnabel standgehalten hätte, und sein Mund war lippenlos wie der einer Schlange. Garibaldi wäre kaum erstaunt gewesen, wenn plötzlich die gespaltene Zunge eines Reptils zwischen seinen nicht vorhandenen Lippen hervorgeschossen wäre. Dies nahm keinen guten Anfang. Die Ausweise und Zugangsberechtigungen waren in Ordnung. Garibaldi trat von seinem Computerterminal zurück. »Sie sind zugangsberechtigt. Ich gebe Ihnen gleich die erforderlichen Paßwörter.« Kurz darauf übergab er sie Wallace mit einem aufgesetzten Lächeln. »Willkommen auf Babylon 5, Commander. Ich wünsche Ihnen einen angenehmen Aufenthalt.« »Wie ich diese dämlichen Spielchen hasse«, schimpfte Chief Garibaldi und stieß die Hände in die Hosentaschen. »Was für Spielchen?« fragte Ivanova beiläufig, ohne von ihrer Konsole aufzublicken.
»Machtspielchen, Rangspielchen. Wie die Hafenköter, die sich um einen Knochen balgen.« Ivanova war skeptisch. »Aber Sie waren im Recht. Sie haben sich genau an die Regeln gehalten. Vielleicht ist das nur so eine Männersache. Sie wissen schon, sich auf die Brust klopfen wie ein Gorilla, die alte Testosterongeschichte ...« Garibaldi schüttelte den Kopf. »Nein, hier geht es um mehr. Ich kenne diese Sorte. Wenn man so einem das erste Mal begegnet, muß man aufs Ganze gehen. Ich weiß, daß ich im Recht war, und das ist der Punkt. Er kann mich jetzt nicht ausstehen, aber wenn ich nachgegeben hätte, wäre es noch übler.« Er unterbrach seinen Redefluß und blickte durch die Beobachtungskuppel nach draußen, wo das strahlende Licht des Sprungtores aufschien, als ein Schiff im Strudel des Hyperraums verschwand. Ivanovas Aufmerksamkeit gehörte noch immer ihrer Konsole. »Wie auch immer«, fuhr der Chief fort, »das ist nicht mehr mein Fall, aber Sie sind immer noch eine wichtige Zeugin. Sicher müssen Sie früher oder später mit denen reden. Geben Sie nur acht! Diese Typen bedeuten nichts als Ärger.« »Garibaldi, Sie sehen das alles zu schwarz. Ich habe zehn Jahre Militärdienst erlebt, wissen Sie noch? Ich kenne die Sorte, die Sie meinen. Ich denke nicht, daß ich allzu große Schwierigkeiten mit denen haben werde.«
»Nun, manchmal gibt es gute Gründe, schwarzzusehen. Eines steht fest: Irgendwer ganz oben hat großes Interesse an dieser Sache.« Jetzt wandte sich Commander Ivanova von ihrem Bildschirm ab und sah ihn an. »Um die Wahrheit zu sagen, das ist es, was mich wirklich nervös macht. Die Raiders sind da draußen, Schiffe werden überfallen, die Besatzungen ermordet. Und was tun die dagegen? Sie kürzen uns die Mittel. Sie schicken nicht etwa mehr Patrouillen raus. Nein, sie ignorieren Berichte über die Unfähigkeit und Korrumpierbarkeit des Beamtenapparates. Aber man muß nur die richtigen Knöpfe drücken: Wenn sie Begriffe wie Terrorist hören, wenn sie ihre politischen Ämter in Gefahr wähnen, setzen sie ein Sonderkommando ins nächste Schiff; dann ist nichts zu aufwendig, koste es, was es wolle.« »Oh, ich verstehe. Sie haben keine Antwort auf Ihren Bericht über den Verrat der Transportwege an die Raiders erhalten?« Sie schüttelte den Kopf und wandte sich wieder der Konsole zu. »Ich habe ihn erst vorgestern abgeschickt. So etwas dauert.« »Seien Sie einfach vorsichtig, das ist alles! Sollten Sie trotzdem Ärger bekommen, weiß ich nicht, ob ich Ihnen eine große Hilfe sein kann. Diese Typen richten sich hier auf der Station ihr eigenes kleines Reich ein, unter Ausschluß der Sicherheitsabteilung. Wallace sagt, er duldet keine Störung oder Einmischung. Ich muß ein Team von
Sicherheitsleuten für ihn abziehen, das allein seinem Befehl untersteht. Er hat seine eigene Kommandozentrale in Besprechungsraum B eingerichtet, er hat seine eigenen Computer mitgebracht; unsere sind ihm nicht sicher genug. Er baut sogar seine eigenen Verschlußbehälter auf.« Garibaldi runzelte die Stirn. »Das gefällt mir ganz und gar nicht.« Ivanova kannte diesen Blick. »Was also wollen Sie tun?« »Tun? Gar nichts. So lauten meine Anweisungen.« »Sie sollten auch vorsichtig sein«, riet Ivanova. Sie kannte Garibaldi. Ein Teil der Raumstation unten in Sektor BRAUN wurde die Unterwelt genannt. Offiziell existierte dieser Ort nicht, aber alles Offizielle war in der Unterwelt ohne Bedeutung. Dort unten mußte man durch Wartungstunnel kriechen, um an sein Ziel zu gelangen. Die Bewohner der Unterwelt zapften verbotenerweise die Versorgungsleitungen der Station an, um sich mit Strom und Wasser auszustatten, sie schliefen in leeren Tonnen und hausten in mit Lumpen verhängten Winkeln. An einem Ort wie Babylon 5 gab es immer Individuen, die durch die Maschen des Netzes fielen und am Rande der Legalität in Behelfsunterkünften lebten. Einige überschritten die Grenze und fielen damit unter Chief Garibaldis Zuständigkeit. Für die übrigen lautete das Motto: Leben und leben lassen. In der Unterwelt konnte man fast alles käuflich erwerben. Das Spektrum des Handels reichte von
halblegalen bis zu Schwarzmarktgeschäften. Manche Bewohner verkauften sogar ihre Körper. Es gab richtige Läden ebenso wie zwielichtige Gestalten mit verborgenen Manteltaschen, die sich auf den Gängen herumdrückten. Wie jedes denkbare Gut, wurden hier auch Informationen feilgeboten. Nicht zuletzt aus diesem Grund duldete Garibaldi dieses Treiben. Auf diese Weise hielt er Verbindung zum Schwarzmarkt und war unterrichtet über das Kommen und Gehen von Personen und Waren, die auf der Station möglicherweise unerwünscht waren. Gleichwohl wurden sämtliche Transaktionen in der Unterwelt, legal oder illegal, augenblicklich eingestellt, wenn der Chief auf der Bildfläche erschien. Waren verschwanden, den Leuten fiel plötzlich ein, daß woanders wichtige Erledigungen ihrer harrten, dringende Geschäfte verloren mit einem Mal an Dringlichkeit. Der Sicherheitschef war einfach kein gern gesehener Gast in der Unterwelt. Wohin auch immer Garibaldi seinen Blick lenkte, jedermann tat noch geheimnisvoller als üblich. Seine Informanten hatten sich in Luft aufgelöst. Doch es gab andere Methoden, sich Informationen zu beschaffen. Garibaldi beschloß, Kapital aus den Reaktionen auf sein Erscheinen zu schlagen. Er schlenderte umher, verharrte hier und da, nahm die falschen Edelsteine auf dem Tisch eines ausgesprochen widerspenstigen Händlers einen nach dem anderen in Augenschein; er verlangte, die Lizenz eines Trios von Straßenmusikanten zu sehen
sowie die Zollpapiere für einen Schwung importierter Skunklederstiefel in einem Regal, das der Besitzer eines improvisierten Ladens unter einem kaum weniger verdächtigen Teppich zu verbergen versucht hatte. Garibaldi war Gift fürs Geschäft, und er machte keine Anstalten zu verschwinden. Endlich machte es sich der Chief an einem Tisch der Hazy Daze Bar bequem. Eine bleiche Gestalt kam heran, während er an seinem Mineralwasser nippte. Die Bar besaß keine Lizenz zum Ausschank alkoholischer Getränke. Garibaldi war der einzige Gast. »Was du wollen, Garibaldi?« fragte Mort, der den Beinamen »das Ohr« trug, Informant, Händler und gegenwärtig Besitzer der Bar. »Wollen? Tja, eigentlich nichts Bestimmtes, Mort. Ich dachte nur, ich geh' mal ein bißchen bummeln, schau' mir die Sehenswürdigkeiten an, besuche ein paar alte Freunde.« »Wieso du hast jetzt übrig so viel Zeit, Garibaldi? Vor zwei, drei Tagen, viel fragen, groß Fall. Jetzt...« Mort machte eine Pause und verzog seinen Mund zu einem schiefen Grinsen. Garibaldi fragte sich, wie lange es dauern würde, bis sich die Neuigkeiten über Commander Wallace und sein Ermittlungsteam herumgesprochen haben würden. Vorausgesetzt, die gesamte Station wußte nicht schon längst Bescheid. Wallace' Ankunft auf Babylon 5 war nicht besonders unauffällig
vonstatten gegangen. Garibaldi grinste zurück. »Na ja, ich dachte, ich nehme mir frei, komme hier runter und besuche einen alten Freund. Louie. Ja, Louie ist ein alter Kumpel von mir. Ich hab' ihn ewig nicht mehr gesehen. Er ist vor ein paar Jahren auf den Mars gezogen, hat hier und da gejobbt. Und was kommt mir jetzt zu Ohren? Er ist hier, auf Babylon 5. Also sag' ich mir: Mike, du mußt den alten Louie besuchen, so dicke, wie wir miteinander waren. Also werfe ich einen Blick in unsere Akten, und jetzt rate mal! Kein Hinweis darauf, daß er die Station überhaupt betreten hat; keiner der Kontrollpunkte hat seine Ankunft registriert. Wenn das nicht verrückt ist. Du weißt, wie das läuft: Wenn jemand die Zollkontrolle passiert, ziehen wir seine Identicard durch das Sichtgerät und tragen seinen Namen in das Register ein. So wissen wir immer, wer sich auf der Station aufhält. Wenn wir wen suchen, wissen wir, wo wir ihn finden. Also hab' ich mir gedacht, ich hänge einfach für eine Weile auf der Station rum und halte die Augen offen. Vielleicht läuft mir der alte Louie ja zufällig über den Weg. Dann könnten wir ein bißchen Spaß haben, über die alten Zeiten quatschen. Vielleicht kriege ich sogar raus, was bei seiner Ankunft mit seinem Ausweis falsch gelaufen ist, damit so was nicht wieder vorkommt. Dann könnt' ich Louie finden, wenn ich Lust dazu habe. Ich müßte nicht jedesmal hierherkommen und nach ihm suchen.«
»Du Blödsinn reden, Garibaldi.« »So? Dann muß ich wohl deutlicher werden, Mort. Jemand ist durch die Hintertür auf die Station gekommen; vielleicht mit einem gefälschten Ausweis. Und das gefällt mir nicht. Ich will wissen, was das für eine Fälschung war, die unsere Sichtgeräte überlisten konnte. Die will ich sehen.« »Du wollen falsch' Ausweis?« »Genau, Mort.« »Ich viel haben falsch' Ausweis. Du wollen?« Er wühlte in den verborgenen Taschen seiner Kleider herum, Kleider, die seine dürre Gestalt nur spärlich verhüllten. Garibaldi bremste seinen Eifer. »Nicht doch, Mort! Nicht diesen Ramsch, den du den Touristen andrehst. Ich interessiere mich ausschließlich für das wirklich gute Zeug.« »Ich rumfragen«, versprach Mort mürrisch. »Na also«, strahlte Garibaldi ihn an. »Das hört sich doch schon viel besser an. Vielleicht mache ich in ein bis zwei Tagen noch so einen Einkaufsbummel. Schließlich hab' ich im Moment, wie du so treffend sagst, übrig viel Zeit.« Damit schlenderte er davon. Es handelte sich für den Chief um so etwas wie einen Angelausflug. Man konnte nie wissen, was vielleicht anbeißen würde. Er zögerte, den nächsten Schritt zu unternehmen. Er bewegte sich dicht an Wallace' Territorium. Was soll's, dachte Garibaldi. Typen, die sich auf Babylon 5 mogelten, gehörten noch immer in die Zuständigkeit der Sicherheitsabteilung. Und wenn
gefälschte Identicards im Umlauf waren, so mußte er sie finden. Weiter oben, in einem weniger verrufenen Teil des Sektors BRAUN, führte eine Frau namens Hardesty das Wet Rock, eine Spelunke, in der die Arbeiter der Station bei Schichtende ein, zwei Bier tranken. Das Bier war hier so billig, wie es mitten im Nichts des Weltalls nur sein konnte, das Essen schwer und fett. Garibaldi mochte es. »Wie geht's, Hardesty?« »Alles klar«, entgegnete die Angesprochene in einem Tonfall, als wolle sie fragen: Bist du privat oder dienstlich hier, Garibaldi? »Du hast in letzter Zeit nicht zufällig Meyers gesehen?« »Ich glaube, er hat die Station verlassen. Könnte sein, er ist vor ein paar Tagen mit einem Eisschlepper weg.« »Und wie steht's mit Nick?« »Nick Patinos?« »Genau der.« »Ich glaube, der arbeitet jetzt in der Wechselschicht. Schwer zu erwischen.« »Kommt er noch manchmal hierher?« »Ja, nach der Arbeit. Die meiste Zeit treibt er sich allerdings in diesem dämlichen Spielsalon rum. Oder in der Sporthalle.« Garibaldi wußte, wo sich der Spielsalon befand. Nick war einer von den etwa zwölf Gästen, die an den Tischen saßen, auf denen substanzlose Autos
um virtuelle Rennstrecken jagten und geisterhafte holographische Gladiatoren gegeneinander kämpften. Garibaldi mischte sich für kurze Zeit unter die Zuschauer, bis eine der Spielfiguren in die Knie ging und ihr künstliches Leben aushauchte. Ein neuer Herausforderer nahm Platz, um gegen den Sieger anzutreten. »Du wirst besser mit dem Säbel, Nick«, bemerkte Garibaldi. Der Mann sah von seinem Bier auf. Er war Hafenarbeiter. Seine Augen waren dunkel, sein Haar wurde an den Schläfen bereits grau. »Mike. Ja, mit Cass schaff' ich jetzt schon manchmal zehn Minuten.« »Vielleicht spielen wir mal gegeneinander. Oder wir gehen rüber in die Sporthalle, ein, zwei Runden Sparringskampf im schwerkraftreduzierten Ring. Wie damals auf dem Mars.« »Ja, kann sein.« Er schwieg und musterte Garibaldi. »Aber du bist heute nicht hier aufgekreuzt, um Holo-Spielchen mit mir zu spielen, hab' ich recht, Mike?« Garibaldi bestätigte das stumm. »Nach dem, was ich gehört habe, schnüffelst du rum.« Nick Patinos blickte wieder in sein Bier. »Und zwar in Sachen, die eine Menge Ärger bedeuten können.« Gute Nachrichten verbreiten sich schnell, dachte Garibaldi mißmutig. »Du hast also schon davon gehört.« Nick machte eine vage Geste. »Hier und da.«
»Es gab einen Flüchtlingsalarm vor ein paar Tagen. Ein mutmaßlicher Terrorist.« Nick knallte wütend sein Bierglas auf die Tischplatte. »Terrorist! Weißt du was? Seit dem Aufstand letztes Jahr habt ihr Earthforce-Typen nur noch die verfluchten Terroristen im Kopf. Man zeigt seine Identicard, und jedesmal derselbe Spruch: Sie sind vom Mars. Wir müssen Ihr Gepäck kontrollieren. Nur für den Fall, daß Sie Sprengstoff zwischen Ihren dreckigen Socken versteckt haben. Ich kann's nicht mehr hören, Mike.« »Hey, Nick! Du kennst mich! Ich bin nicht bloß einer von der Earthforce, klar? Kann sein, jemand schnüffelt in dieser Terroristensache rum, aber der bin nicht ich. Zumindest nicht im Moment. Komm schon, du kannst mir glauben. Das weißt du. Wir kennen uns vom Mars seit... wieviel... drei Jahren?« »Schon. Aber jetzt ist alles anders. Du gehörst nicht mehr dazu.« Für einen Augenblick überkam Garibaldi die unangenehme Erinnerung an Lise. Sie hatte ihn nicht nach Babylon 5 begleiten, er nicht bei ihr auf dem Mars bleiben wollen. Richtig, er gehörte seit langem nicht mehr dazu. »In Ordnung«, sagte er energisch und verbannte sie aus seinen Gedanken. »Wir sind jetzt nicht auf dem Mars, sondern auf Babylon 5. Eine Raumstation. Eine kleine Welt für sich. Und ich bin hier für die Sicherheit verantwortlich. Mich interessiert nur eins: Wie kommt jemand auf die
Station, ohne die Kontrollen zu passieren? Wird er mit einer Frachtlieferung reingeschmuggelt? Benutzt er eine gefälschte Identicard, oder was? Denk darüber nach, Nick, und vergiß die Politik für einen Moment! Die Erde, >Freier Mars< und das alles! Niemand will, daß ein Irrer auf die Station gelangt, der Sprengstoff, biologische Waffen oder sonstwas mit sich herumträgt. Komm schon! Hilf mir in dieser Sache!« »Ich denke darüber nach, Mike. Ich höre mich um, aber der Zeitpunkt ist nicht günstig. Die Dinge ...« Er schüttelte den Kopf. »Man wird sehen.« »Wenn du irgendwas weißt?« »Ich weiß nichts über Gefahren für die Station. Das kann ich dir versichern.« »Über illegale Einreise? Gefälschte Identicards?« Nick Patinos schüttelte abermals den Kopf, stellte sein leeres Bierglas ab, erhob sich und wollte gehen. »Ich höre mich um. Aber der Zeitpunkt ist wirklich nicht günstig.« Das kannst du laut sagen, dachte Chief Garibaldi. Und er ahnte, daß es schon bald noch viel schlimmer kommen würde.
8 Die Befragung nahm keinen freundlichen Anfang. Lieutenant Miyoshi hob kaum den Kopf, als Commander Ivanova den Raum betrat. Ivanova wartete, dann bemerkte sie: »Lieutenant, der Anzahl der Nachrichten, die Sie mir heute zukommen ließen, entnahm ich, daß Sie mir einige Fragen stellen wollen. Aber wenn Sie beschäftigt sind, werde ich später wiederkommen.« Als Miyoshi nun doch aufblickte, kam Ivanova wieder die Warnung in den Sinn, die Garibaldi am Morgen ausgesprochen hatte. »Keineswegs, Commander, ich bin froh, daß Sie sich endlich die Zeit nehmen konnten, uns bei unseren Ermittlungen behilflich zu sein.« Ivanova nahm unaufgefordert Platz. »Ich bin sicher, Lieutenant, Sie werden verstehen, daß ich meine Pflichten auf dieser Station nicht jederzeit vernachlässigen kann. Ich bin der leitende Offizier vom Dienst. Ein Hyperraumsprungtor fiel aus,
andere dringende Angelegenheiten erforderten meine Anwesenheit.« »Ja, ich weiß. Sie waren in diesen, hm, Unfall verwickelt. Nun, in der Zwischenzeit hatte ich Gelegenheit, Ihre Akte zu studieren - insbesondere Ihren Briefwechsel mit dem flüchtigen Terroristen J.D. Ortega.« Briefwechsel? Ivanova zog die Stirn kraus. Das behagte ihr nicht. »Sie wollen sagen, mutmaßlicher Terrorist?« »Wenn Sie darauf bestehen. Also, seit wann kannten Sie diesen mutmaßlichen Terroristen, Commander?« »Seit ungefähr zehn Jahren. Ich habe ihn kurz nach dem Krieg kennengelernt. Er war mein Fluglehrer während meiner Ausbildung.« »Sie standen sich nahe?« »Nicht näher als sich Kadetten und ihre Ausbilder gewöhnlich stehen.« Miyoshi zog zweifelnd eine Augenbraue hoch. »Und nach dem Krieg blieben Sie in Verbindung?« »Eigentlich nicht. Nicht mehr, seit er auf den Mars zurückgekehrt war.« »Tatsächlich? Was würden Sie sagen, wenn ich Ihnen mitteilte, daß wir Briefe in Ihrer Handschrift besitzen, von Ihnen unterzeichnet?« Ivanovas Entgegnung darauf war knapp: »Wenn Sie ein paar Glückwunschkarten als Briefwechsel bezeichnen wollen, hatten wir etwa zwei Jahre lang einen solchen Briefwechsel.«
»Können Sie irgendwelche Briefe, die er Ihnen geschrieben hat, vorweisen?« »Ich bin Berufsoffizier der Earthforce, Lieutenant. In den vergangenen Jahren wurde ich ein halbes Dutzend Mal versetzt. Da hebe ich doch Glückwunschkarten von ehemaligen Kameraden nicht auf.« »Also haben Sie nach Ihrem letzten offiziellen Zusammentreffen mit dem mutmaßlichen Terroristen alle Korrespondenz vernichtet?« Da wurde Ivanova zornig. Sie stand abrupt auf. »Ich muß nicht hier sitzen und mir das anhören!« Aber Miyoshi schien auf einen solchen Ausbruch nur gelauert zu haben. Ein Lächeln erschien auf ihrem breitflächigen Gesicht. »Doch, Commander, das müssen Sie. Ich darf Sie daran erinnern, daß wir für diese Ermittlung mit allen Vollmachten ausgestattet sind. Mit allen Vollmachten, Commander. Ich könnte Sie auf der Stelle verhaften lassen. Sie würden in einer Arrestzelle schmoren, bis Sie sich bereit finden, meine Fragen zu beantworten.« Ivanova funkelte sie wütend an, aber sie setzte sich wieder. »Fahren wir also fort.« Indes blieb Miyoshi nun, nachdem sie ihren Standpunkt deutlich gemacht hatte, bei den Fakten. »Sie behaupten, als Ortega Sie kontaktierte, wußten Sie nicht, daß er verdächtigt wurde, einer terroristischen Vereinigung anzugehören oder auf der Flucht zu sein?«
»So ist es.« »Aber Earth Central hatte doch angeordnet, die Angelegenheit vordringlich zu behandeln.« »Die diesbezügliche Anweisung erging an alle Einheiten der Earthforce, an die jeweiligen Sicherheitsabteilungen. Es gab keinen Anhaltspunkt, daß er sich auf Babylon 5 aufhielt.« »Aber Mr. Garibaldi erinnerte sich an seinen Namen?« »Mr. Garibaldi ist der Chief der Sicherheitsabteilung hier. Das ist sein Job, nicht meiner.« »Und als Ihnen klar wurde, daß nach Ortega gefahndet wurde, meldeten Sie das der Sicherheitsabteilung, richtig?« »Richtig. Ich habe Mr. Garibaldi verständigt.« »Aber wie erklären Sie die Verzögerung? Wieso haben Sie sich erst gemeldet, als Ortega bereits seit zwei Stunden tot war?« »Was wollen Sie damit sagen?« »Ich will damit sagen, daß uns Fakten vorliegen. Ortega wollte sich um 20:00 im Bereitschaftsraum eins mit Ihnen treffen. Laut Dr. Franklin, dessen Einschätzung uns mehr als glaubhaft erscheint, wurde er etwa zu diesem Zeitpunkt getötet, vermutlich im angrenzenden Waschraum. Im Protokoll des Stationscomputers finden sich Eintragungen, die Ihre Anwesenheit am Tatort zwischen 20:04 und 22:06 bestätigen. Sie selbst
räumen ein, mehr als zwei Stunden in unmittelbarer Nähe der Leiche gewesen zu sein.« »Stimmt.« »Ungefähr dreiundzwanzig Stunden nach dem Mord wurde Ortegas Leiche im Gerätespind einer Kampffliegerwerft aufgefunden, nur ein Stockwerk vom Tatort entfernt. Sein Körper war völlig nackt, und weder seine Kleider noch seine persönlichen Sachen sind in der Zwischenzeit gefunden worden.« »Richtig. Was wollen Sie damit sagen?« »Ich stelle nur die Fakten dar. Diese Fakten lassen sich unterschiedlich interpretieren. Betrachten wir noch ein paar Fakten. Sie haben keine Zeugen für Ihre Anwesenheit im Bereitschaftsraum für den Zeitraum zwischen Ortegas Ableben und Ihrem Treffen mit Mr. Garibaldi zwei Stunden später. Niemand hat Sie gesehen, abgesehen von einem Mann, den Sie am Schauplatz gesehen haben wollen, kurz nachdem Sie dort eingetroffen waren. Sie haben diesen Mann jedoch nicht erkannt, richtig? Sie hatten ihn nie zuvor gesehen, und Sie sind ihm seitdem nicht wieder begegnet. Tatsächlich gibt es keinen Grund, an die Existenz dieses geheimnisvollen Mannes zu glauben, abgesehen von Ihrer Aussage, oder?« Ivanova fühlte sich wie betäubt, außerstande, darauf etwas zu erwidern. »Nun gibt es ein weiteres Beweismittel, Commander. Eine Nachricht, adressiert an S.I. Wir alle glauben zu wissen, wer S.I. ist, nicht wahr?
Susan Ivanova. Diese an Sie gerichtete Botschaft lautet: hardw... r. Sie behaupten, keine Ahnung zu haben, was das bedeutet: hardw ... r?« Miyoshi beugte sich vor und fixierte Ivanova. Ihre Haare waren pechschwarz, streng zurückgekämmt, glänzend. Offenbar hatte sie sie mit einer Art parfümiertem Öl behandelt. »Diese Nachricht gehört zu den wenigen konkreten Beweisen, die wir haben, Commander. Sie steht nachweislich in Verbindung mit Ortega. Sowohl unsere eigenen gerichtsmedizinischen Untersuchungen als auch die Überprüfungen der Sicherheitsabteilung Ihrer Station bestätigen das. Und ich denke, was die Identität von S.I. angeht, bestehen keine Zweifel, nicht wahr?« Sie beugte sich noch weiter vor. »Diese Nachricht war für Sie bestimmt, Commander Ivanova. Er wollte, daß Sie sie verstehen. Behaupten Sie noch immer, nicht zu wissen, was sie bedeutet?« Ivanova verschlug es die Sprache. Sie war zornig, verwirrt. Endlich erklärte sie: »Sie haben meine Zeugenaussage.« »Ja, die haben wir.« Miyoshi richtete sich wieder auf und blickte geraume Zeit auf den Monitor. Dann fuhr sie fort: »Es wäre von Vorteil, Commander, wenn Ihnen einfallen würde, was diese Nachricht bedeutet. Für Sie selbst und alle Beteiligten. Das wäre vorerst alles.« Ivanova erhob sich. Sie war noch immer zu erschüttert, um zu sprechen. Sie verließ den Raum. Schauer liefen ihr über den Rücken, sie empfand
Zorn, Zweifel und einen Anflug wirklicher Furcht, die Kontrolle zu verlieren. Was geschah mit ihr? Was ging hier vor? Sie fühlte sich, als habe sie den festen Boden unter den Füßen verloren. Konnten sie ihr das wirklich antun? Garibaldi hatte versucht, sie zu warnen. Er hatte gesagt, die machen das mit Absicht. Sie machen einen so wütend, daß einem ein Fehler unterläuft, daß einem etwas herausrutscht, was man für sich behalten wollte. Aber warum? Die konnten doch nicht ernsthaft denken, sie habe Ortega ermordet? Erst vor wenigen Augenblicken hatte sie Miyoshi doch beschuldigt, mit ihm unter einer Decke gesteckt zu haben, mit ihm einen unerwünschten Briefwechsel gehabt zu haben. Das ergab keinen Sinn. Warum also taten sie ihr das an? Was wollten sie? Was glaubten sie, wo sie stand?
9 Irgend etwas war im Gange. Garibaldi war schon eine ganze Weile im Sicherheitsgewerbe, und er hatte im Laufe der Jahre gewisse Instinkte entwickelt. Manchmal sah man, was sich zutrug. So wie im vergangenen Jahr, als die Dockarbeiter einen Streik vorbereitet hatten. Manchmal war Ärger im Anzug, und niemand unternahm etwas, um das zu verbergen. Aber diesmal war es anders. Die Art, wie die Leute es vermieden, ihm geradeaus in die Augen zu schauen; sie blickten zu Boden oder ins Leere; sie wußten etwas, das sie lieber nicht wissen wollten. Das Problem war nur, es bestand eine Verbindung zu der Ortega-Sache, da war er sicher. Und das bedeutete: Terroristen, Separatisten, die Bewegung »Freier Mars«, alles Dinge, die für ihn eine Nummer zu groß waren. Captain Sheridan hatte gesagt: »Earth Central übernimmt den Ortega-Fall. Das ist ab jetzt die Angelegenheit von Wallace. Halten Sie sich da raus!«
Ein guter Rat. Vielleicht sollte er ihn befolgen. Doch gute Ratschläge zu befolgen hatte noch nie zu seinen Stärken gezählt. Zurück zu Nick Patinos. Netter Kerl. Wartungsingenieur für Lebenserhaltungssysteme. Er hatte an allen großen Kuppeln auf dem Mars gearbeitet. Er war bereits auf Babylon 5 gewesen, als die Station sich noch im Bau befunden hatte. Garibaldi war ihm zum ersten Mal in Gerrys schwerkraftreduzierter Sporthalle im MarsRaumhafen begegnet. Sie hatten ein wenig miteinander trainiert. Dann war er eine gute und zuverlässige Informationsquelle geworden, Garibaldi konnte sich stets auf Nicks Offenheit verlassen. Aber er war kein Spitzel, nein. Dessen mußte er sich bewußt sein. Jemand wie Nick würde niemals seine eigenen Leute verraten. Hey, Nick, ich habe gehört, aus dem Warenlager von Syrtis verschwindet dauernd irgendwelches Zeug. Glaubst du, das organisierte Verbrechen hängt da mit drin? Nick, es geht das Gerücht, Biggie Wiszniewski ist wieder am Hafen aufgetaucht, um seine alten Geschäfte wieder aufzunehmen. Weißt du was darüber? So lief das. Nick Patinos gab ihm Auskunft. Ein guter Kontakt. Doch diesmal schwieg sich Nick aus. Er hatte Angst davor zu reden. Und das bedeutete, daß irgend etwas oberfaul war. Zurück in seinem Büro, wollte Chief Garibaldi einen Blick in Nicks Akte werfen. Vielleicht fiel ihm
dabei etwas ein. Aber er hatte nicht damit gerechnet, die nüchterne Stimme des Computers sagen zu hören: »Diese Datei kann nicht aufgerufen werden.« Garibaldi versteifte sich vor seiner Computerkonsole: »Die Akte Patinos, Nikolas. P-AT-I-N-O-S.« »Diese Datei kann nicht aufgerufen werden. Sie ist als Verschlußsache klassifiziert.« »Wie bitte?« »Die Sicherheitsakte Patinos, Nikolas, P-A-T-IN-O-S, ist als Verschlußsache klassifiziert. Zugriff verweigert.« »Sicherheitschef Michael Garibaldi. Zugangsberechtigung: Ultraviolett-Alpha. Mein aktuelles Paßwort: Ginseng-Hase-Apache. Bestätigung? Oder muß ich es eintippen?« »Zugangsberechtigung und Paßwort bestätigt. Die angeforderte Datei ist als Verschlußsache klassifiziert. Zugriff verweigert.« »Wer hat Zugriff, verdammt noch mal?« »Diese Information ist geheim.« »Wallace! Dieser Hundesohn hat meine Dateien gesperrt!« »Diese Information ist geheim.« Garibaldi überlegte einen Moment. »Ich verlange eine Liste aller nicht gesperrten Personalakten der gesamten Station! Nein, das wären zu viele ... Die nicht gesperrten Dateien aller Personen, die bekanntermaßen auf der Mars-Kolonie gearbeitet haben!« Diese Liste war ausgesprochen kurz. Sein
eigener Name war darauf; außerdem zwei weitere Namen, die zum Personal der Sicherheitsabteilung zählten. Das war alles. Garibaldi starrte auf den Monitor. »Dieser Hundesöhn! Er hat tatsächlich alle meine Dateien gesperrt!« Captain Sheridan hatte sich zwischen Garibaldi und Wallace plaziert. Das war eine gute Idee. Sein Sicherheitschef würde wohl kaum einen Versuch unternehmen, um ihn herumzufassen, um den Sonderermittler zu erwürgen. Garibaldi war bleich wie der Tod. »Er kennt alle meine offiziellen Paßwörter; er hat Zugriff auf alle sicherheitsrelevanten Dateien von Babylon 5; er hat sich in die Datenbanken der Station eingeklinkt und alle Dateien gesperrt. Nicht bloß die über Ortega, nein, er hat sämtliche Personalakten von Leuten gesperrt, die jemals auf dem Mars gearbeitet haben. Ich kann nicht eine davon aufrufen. Er hat die Handlungsfähigkeit der Sicherheitsabteilung dieser ganzen verdammten Raumstation lahmgelegt.« Commander Wallace warf ihm einen kurzen, kalten Blick zu, dann wandte er sich mit seiner Entgegnung an Sheridan. »Woher will er das wissen? Woher will er wissen, daß die Ortega-Akte gesperrt ist, wenn er nicht versucht hat, sie aufzurufen? Oder die Akten über diese anderen Verdächtigen? Das beweist lediglich, daß meine Vorsichtsmaßnahmen gerechtfertigt waren. Diese Angelegenheit hat ausgesprochen delikate Aspekte,
die weder Mr. Garibaldi noch sonst jemanden auf dieser Station irgend etwas angehen. Ich will nicht, daß jedes kleine Licht in der Registratur oder der Sicherheitsabteilung die Aufzeichnungen über meine Ermittlungen aufrufen kann. Und, offen gesagt, ich habe ernste Zweifel in bezug auf einige Angehörige des Stationspersonals.« »Wenn irgend etwas die Sicherheit der Station beeinträchtigt, habe ich verdammt noch mal das Recht, das zu erfahren!« schnauzte Garibaldi zurück. Captain Sheridan fiel ihm ins Wort, indem er mit einer Handbewegung die Luft zwischen den beiden Männern durchschnitt. »Also gut. Klären wir die Sache. Commander Wallace, Sie geben zu, den Zugriff auf diese Dateien gesperrt zu haben? Sie verweigern dem Sicherheitschef von Babylon 5 den Zugriff auf die Sicherheitsakten?« »Meine Vollmachten ...« »Ihre Vollmachten unterstellen Babylon 5 nicht Ihrem alleinigen Kommando! Das ist zufällig Teil meiner Aufgabe! Sie sind hier, um im Fall Ortega zu ermitteln, nicht um die Sicherheitsabteilung zu übernehmen oder meine Offiziere an der Erfüllung ihrer Pflichten zu hindern.« »Wenn ich Sie korrigieren darf, Captain, meine Vollmachten beschränken sich keineswegs darauf, den Tod eines Bergbauingenieurs zu untersuchen. Wir sind hier, um die Verschwörung einer terroristischen Vereinigung aufzuklären, die eine
Gefahr sowohl für diese Station als auch für die rechtmäßige Regierung der Mars-Kolonie darstellt.« »Das mag ja stimmen, Commander, aber ich kann nicht zulassen, daß die Sicherheit von Babylon 5 dadurch in Mitleidenschaft gezogen wird. Sie haben Ihre Kompetenzen überschritten. Als befehlshabender Kommandant dieser Station erteile ich Ihnen die Order, diese Dateien umgehend wieder freizugeben!« Wallace' Stimme klang gepreßt, als er erwiderte: »Ich muß darauf bestehen, daß die Ortega-Akte unter Verschluß bleibt, auch für Mr. Garibaldi hier. Ich habe meine Gründe.« »Also schön. Aber lediglich die Aufzeichnungen, die in direkter Verbindung mit dem Ortega-Fall stehen. Alle übrigen werden unverzüglich wieder zugänglich gemacht! Und ich will nicht erleben, daß Sie so etwas noch einmal veranstalten! Ist das klar?« »Captain«, bestätigte Wallace formell. »Und was Sie betrifft, Mr. Garibaldi«, fuhr Sheridan jetzt fort, »Sie werden sich befehlsgemäß nicht in die laufenden Ermittlungen von Commander Wallace einmischen!« »Okay. Aber wie weit reicht das ? Wenn sich jemand auf diese Station schmuggelt, muß ich das herausfinden. Ich muß in der Lage sein, die Löcher zu verstopfen, ehe noch mehr Ratten an Bord kriechen. Und was, wenn sich Typen mit gefälschten Identicards hier rumtreiben? Eine Beeinträchtigung der Sicherheit der Station. Soll ich so etwas nicht
verfolgen? Ein paar meiner zuverlässigsten Kontakte sind Typen vom Mars. Darf ich mich mit denen nicht mehr treffen, nur weil sich das vielleicht mit seinen Ermittlungen überschneidet?« Der Captain schüttelte den Kopf. »Was das betrifft, muß ich dem Commander zustimmen, Mr. Garibaldi. Herauszufinden, wie Ortega auf die Station gelangte, gehört sehr wohl zu den Ermittlungen in diesem Fall. Wenn Sie andere Hinweise darauf finden, daß jemand gefälschte Identicards in Umlauf bringt, so ist das Ihre Sache. Aber nicht, wenn es um Ortega geht. Dann lassen Sie Ihre Finger davon!« Wie soll ich Beweise finden, wenn ich nicht ermitteln darf? dachte Garibaldi, ohne die Frage laut zu stellen. Immerhin erhielt er seine Akten zurück, und das war die Hauptsache. Aber Wallace war noch nicht fertig. »Da ist noch etwas, Captain. Eine ernste Angelegenheit. Tatsächlich einer der Beweggründe für mich, den Zugriff auf diese delikaten Dateien einzuschränken. Meiner Auffassung nach ist die Sicherheit dieser Station in Gefahr, in ernster Gefahr. Ihrem Kommando gehört ein Offizier an, der in diesen Fall verwickelt ist. Ich muß darauf bestehen ...« Garibaldi begriff zuerst, von wem er sprach. »Augenblick mal, Sie ...!« Wallace schenkte ihm keine Beachtung. »Captain, ich muß darauf bestehen, daß die
betreffende Person bis zur Beendigung unserer Ermittlungen unter Arrest gestellt wird.« Sheridan machte große Augen. »Falls Sie glauben...« »Sie muß in ihrem Quartier arretiert werden, oder zumindest muß sie ihrer Pflichten enthoben werden.« »Commander Ivanova.« »Sie müssen den Verstand verloren haben«, platzte Garibaldi heraus. Wallace jedoch erwies sich als zäh. »Sie haben mir die Order erteilt, diese ausgesprochen heiklen Akten freizugeben, um die Sicherheit von Babylon 5 zu gewährleisten. Commander Ivanova hat als Mitglied Ihrer Mannschaft selbstverständlich Zugang zu diesen Akten. Um offen zu sprechen, Captain, Commander Susan Ivanova gehört in diesem Fall zu den Verdächtigen. Sie stand in enger Verbindung mit einem mutmaßlichen Terroristen, sie arrangierte ein konspiratives Treffen mit diesem Terroristen, und sie hielt sich zur Tatzeit, oder ungefähr zur Tatzeit, unter überaus verdächtigen Umständen in der Nähe des Tatorts auf. Eine Nachricht, die der Terrorist an sie gerichtet hatte, wurde am Tatort gefunden. Offenbar war die Nachricht verschlüsselt, und Commander Ivanova hat sich geweigert, den Text zu decodieren. Während der Befragung verhielt sie sich meinen Mitarbeitern gegenüber feindselig; nur unter Androhung von Arrest erklärte sie sich damit
einverstanden, die ihr gestellten Fragen zu beantworten. Sie gibt an, einen Tatverdächtigen gesehen zu haben, doch es gibt keine weiteren Zeugen; es gibt überhaupt niemanden, der ihre Version der Ereignisse bestätigen würde.« Garibaldi ging wutschnaubend dazwischen. »Sie haben keine Beweise!« Wallace fuhr fort, ohne davon Notiz zu nehmen: »Vor allem jedoch haben wir Grund zu der Annahme, daß der mutmaßliche Terrorist Ortega gewisse Informationen mit sich führte, als er auf die Station kam; Informationen, eine Angelegenheit betreffend, über die zu sprechen mir nicht gestattet ist. Als die Leiche gefunden wurde, fehlte von diesen Informationen jede Spur; Kleidung sowie persönliche Gegenstände wurden nicht gefunden. Deshalb müssen wir davon ausgehen, daß sich diese nun im Besitz einer dritten Person befinden. Vielleicht hat sie Ortega vor seinem Tod jemandem übergeben, vielleicht hat sie ihm jemand gestohlen. Vielleicht sein Mörder oder jemand, der die Leiche fand, nachdem der Mörder bereits verschwunden war. Wir halten es keineswegs für ausgeschlossen, daß einer dieser Beteiligten Commander Ivanova war. Unter diesen Umständen und angesichts der Sensibilität des Falles halte ich es für unumgänglich, daß Commander Ivanova unter Arrest gestellt wird. Es ist ganz undenkbar, sie ihre gegenwärtige Arbeit weiter verrichten zu lassen, da sie jederzeit Zugang zu den Akten hätte.«
Garibaldi starrte Wallace an, als wären ihm während seines Redeflusses Schuppen und ein Schweif gewachsen. Captain Sheridan machte einen irritierten Eindruck. »Diese Anschuldigungen stehen in Ihrem Bericht?« »Oh, das sind keine Anschuldigungen, Captain. Jedenfalls vorerst nicht. Allerdings steht das alles, wie all unsere bisherigen Ergebnisse, in unserem Bericht. Lesen Sie ihn, Captain! Lassen Sie Ihre bisherige Beziehung zu Commander Ivanova außer acht, und urteilen Sie unvoreingenommen!« Garibaldi riß der Geduldsfaden. »Captain, Sie können doch nicht zulassen, daß dieser ...!« Der Captain fiel ihm ins Wort: »Das genügt, Mr. Garibaldi. Das gilt auch für Sie, Commander. Ich werde über die Angelegenheit nachdenken und Ihnen meine Entscheidung mitteilen. Das wäre alles.« Captain Sheridan war wieder allein. Wallace' Report lag vor ihm auf seinem Schreibtisch. Er hatte während seiner Laufbahn vieles tun müssen, das ihm schwergefallen war: Briefe an die Angehörigen der Soldaten zu schreiben, die unter seinem Kommando gefallen waren, das war am schlimmsten gewesen. Aber auch dies hier fiel ihm kaum leichter. Er hatte sich den Bericht angesehen. Wallace' Rat folgend, hatte er ihn mit den Augen eines Mitarbeiters der Earthforce gelesen, auf dessen Schreibtisch er gelandet war. Die Fakten waren
verdreht, so verdreht, daß sie kaum wiederzuerkennen waren. Aber die Fakten ließen sich dennoch nicht abweisen. Ivanova war unbestreitbar verdächtig. Sein Interkom piepste leise. »Captain, hier Ivanova. Sie wollten mich sprechen?« Sheridan zwang sich, ihr offen in die Augen zu sehen, als sie kurz darauf sein Büro betrat. Sie wirkte nervös, vermutlich ahnte sie, worum es ging. »Nehmen Sie Platz, Commander! Ich mache es kurz: Es gefällt mir ganz und gar nicht, aber Wallace' Report läßt mir keine andere Wahl. Bis auf weiteres entbinde ich Sie von allen Pflichten als Mannschaftsangehörige von Babylon 5.« Es schmerzte sie, das konnte er sehen. Sie erbleichte, blieb stehen, blickte starr geradeaus, beinahe als nehme sie Haltung an. Wenn sie auch geglaubt hatte, hierauf vorbereitet zu sein, traf es sie doch schwer. »Möchten Sie etwas sagen?« »Nur«, sie schluckte, »schenken Sie diesen Anschuldigungen Glauben, Sir?« Mit Nachdruck schüttelte er den Kopf. »Nein, aber was ich glaube, spielt leider keine Rolle. Commander Wallace' Standpunkt ist... einleuchtend, wie er ihn darstellt. Und er hat bedauerlicherweise recht: Wir haben nichts als Ihr Wort, daß sich alles nicht so abgespielt hat, wie er behauptet.« »Ich gebe Ihnen mein Wort als Offizier der Earthforce.«
»Das genügt mir«, sagte Sheridan mit Bestimmtheit. »Aber auf einem Posten wie diesem muß der Offizier vom Dienst über jeden Zweifel erhaben sein. Bis zum Beweis des Gegenteils stehen Sie unter Verdacht. Es tut mir leid, Susan.« Ivanova nahm Haltung an. »Würde mich der Captain jetzt entschuldigen ?« »Selbstverständlich.« »Verdammt«, fluchte er, als sie gegangen war. Warum mußte so etwas einem Offizier wie Susan Ivanova geschehen? Er war vertraut mit ihrem Schlag. Nicht ein negativer Eintrag in die Personalakte in all den Jahren. Sie hatte ihr Leben der Armee verschrieben. Ihre Karriere bedeutete ihr alles. Sie hatte sich auf dem Weg nach oben befunden, über den Rang eines Captains hinaus - bis heute. Ganz gleich, ob Wallace offiziell Anklage erheben würde, aus ihrer Personalakte war der Vermerk ihrer Suspendierung vom Dienst nicht mehr zu tilgen. Der Verdacht. Jedesmal, wenn sie künftig auf der Beförderungsliste erschiene, würde er auffallen. Man würde sie übergehen. Sie würde niemals ein eigenes Kommando bekommen. Ihre Karriere war praktisch beendet. Eine verdammte Schande.
10 Garibaldi stand auf dem Korridor vor der geschlossenen Tür. »Kommen Sie, Ivanova! Ich weiß, daß Sie da drin sind. Ich bin's, Mike Garibaldi. Lassen Sie mich rein, ja?« Nichts rührte sich. Er stieß gepreßte Verwünschungen aus. »Ivanova, das bringt doch nichts.« Keine Antwort. »Wissen Sie was, ich geh' hier nicht weg. Ich warte einfach hier draußen, laufe den Korridor auf und ab ...« Von drinnen ließ sich ein gedämpftes »In Ordnung, kommen Sie rein, wenn Sie ohnehin nicht verschwinden!« vernehmen. Die Tür glitt auf. Garibaldi trat zaghaft ein. Ivanovas Quartier war nur schwach beleuchtet. Sie erhob sich von der Couch und kam auf ihn zu. Sie trug ein schlichtes, ziemlich zerknittertes kragenloses Hemd sowie eine wahllos herausgegriffene Zivilhose. Sie ließ die Schultern
hängen, und Garibaldi konnte an ihren Augen erkennen, daß sie geweint hatte. »Also«, sagte sie ohne Anteilnahme, »jetzt sind Sie drin und gehen in meinem Quartier auf und ab. Besser so?« »Schauen Sie, Ivanova, Sie können doch nicht einfach hier im Dunkeln rumhocken. Sie müssen sich dieser Sache stellen. Sie dürfen sich nicht unterkriegen lassen!« »Ich bin erledigt, Garibaldi. Ich wurde vom Dienst suspendiert. Meine sämtlichen dienstlichen Privilegien sind aufgehoben. Ich stehe unter Verdacht. Ich habe einen Eintrag in meiner Personalakte. Was immer geschieht, dieser Eintrag wird nie wieder gelöscht werden. Wenn ich in Zukunft einen Sicherheits-Check über mich ergehen lassen muß, wird das wirken, als blinke in meiner Akte eine Warnlampe auf. Wußten Sie, daß meine Akte bisher tadellos war?« Sie wandte sich ab. »Ich verstehe nicht, wie der Captain das zulassen konnte. Ich meine, er kennt mich. Ich habe schon auf Io unter ihm gedient. Er weiß, was für ein Offizier ich bin. Wenn mir das bei einem anderen Vorgesetzten passiert wäre, aber...« »Hören Sie«, unterbrach Garibaldi ihr Plädoyer. »Ich war dabei in Sheridans Büro. Ich habe mitgekriegt, was Wallace von sich gegeben hat. Er wollte Sie einsperren lassen. Jede Wette, daß er mit seinen ganzen Vollmachten bis zu Earth Central gegangen wäre. Hätten Sie das lieber gesehen?
Sheridan hat versucht, Sie davor zu bewahren. Was hätte er sonst machen können?« Sie zog unbehaglich die Schultern hoch. »Er sagt, er glaubt mir, vertraut meinem Wort.« Ihr Blick wanderte zur Seite, an die Decke, verlor sich schließlich in irgendeinem Winkel des Raumes. »Ich sehe kommen, daß sie mich auf einen anderen Posten versetzen, wo ich weniger Schaden anrichten kann, außerhalb des Kommandostabes. Vielleicht als Shuttle-Pilotin, oder auf irgendeiner Technikerstelle in der Kommandozentrale. Dafür bin ich ausgebildet. Ich schätze, wenn man mich zur Erde zurückschickt, könnte ich einen Job als ...« »Jetzt kommen Sie schon! Ich kann nicht glauben, was ich da höre. Sie werden nicht zulassen, daß diese Schweine damit durchkommen! Sie werden Wallace doch nicht kampflos die Lorbeeren überlassen.« Mit einem Mal wurden die aufgestauten Emotionen in ihrer Stimme hörbar. »Wieso? Das ist es, was ich wissen will. Wieso tun die mir das an? Glauben die im Ernst an diese verrückte Anschuldigung? Wissen Sie, was die behaupten? Das ergibt nicht mal einen Sinn. Zuerst behaupten sie, ich stecke mit Ortega unter einer Decke, im nächsten Atemzug soll ich ihn umgebracht haben. Was geht hier vor, Garibaldi? Wieso ...?« Da blieben ihr die weiteren Worte in der Kehle stecken, und Garibaldi schloß sie unversehens in seine Arme. Er fühlte, wie sie zitterte, als sie versuchte, ihre Tränen
zurückzuhalten. Er verspürte die beunruhigende Wärme ihres Leibes, des Leibes einer Frau an seinem eigenen. In Zivilkleidung, die Haare offen ... Er wollte über ihr Haar streicheln, um ihr Trost zu spenden. Doch das wäre ein Fehler, der größte Fehler, den er machen konnte. Nicht Ivanova, nein. Unbeholfen tätschelte er ihre Schulter. Sie löste sich von ihm, straffte ihren Körper und wischte sich energisch die Tränen aus den Augen. »Tut mir leid.« Er räumte ihr Zeit ein, die Fassung wiederzuerlangen, und fragte sich, warum es Frauen gestattet war zu weinen. Oder warum es Männer als so schwierig empfanden, es ihnen gleichzutun. Während der zurückliegenden Jahre hatte es genug Situationen gegeben, in denen es ihm zum Weinen gewesen war, er sich gewünscht hätte, Trost in jemandes Armen zu finden. Am schlimmsten war gewesen, daß es niemanden gegeben hatte. Er begann allmählich zu glauben, daß es in seinem Leben niemals wieder jemanden geben würde. Doch das war ein anderes Thema, über das er jetzt nicht nachdenken wollte. Sie setzten sich beide. Garibaldi legte sich seine Worte zurecht. »Ivanova, ich weiß, wie das ist, wenn man aufs Kreuz gelegt wird. Ich habe so was schon mal erlebt; und das hier sieht ganz danach aus.« »Aber wieso?« »Tja, ich sag's ungern, aber wenn die einen Verdächtigen gebraucht haben, sind Sie erste Wahl.
Wen sonst hätten sie sich aussuchen sollen? Niemand auf dieser Station außer Ihnen scheint irgendeine Verbindung zu Ortega gehabt zu haben. Also mal angenommen, die wollten jemanden decken. Die vielversprechendste Strategie ist es, jemand anders die Schuld in die Schuhe zu schieben. Sie standen zur Verfügung, die Beweise waren leicht zu manipulieren. Der Fall ist abgeschlossen. Ich weiß, daß Sie davon nichts hören wollen, aber wenn Sie beweisen könnten, daß Sie die Wahrheit sagen...« »Nein!«Ivanova kam aufgebracht auf die Beine. »Nein! Das haben wir doch alles bereits durchgekaut. Das lasse ich nicht mit mir anstellen; niemand wird in meinem Kopf herumschnüffeln. Nicht einmal, wenn es dem Psi-Corps erlaubt wäre, Verdächtige zu scannen. Und das ist es nicht!« Garibaldi seufzte resigniert. Er kannte Ivanovas Ressentiment gegen das Psi-Corps. Sie machte das Corps für den Tod ihrer Mutter verantwortlich. Sie tat sich sogar schwer, Telepathen mit Höflichkeit zu begegnen. »In Ordnung. Dann gibt es nur noch eine Alternative.« »Sie meinen, Ortegas wahren Mörder zu finden?« Er nickte. »Das sollte eigentlich kein Problem darstellen. Immerhin ist das mein Job, bloß im Augenblick ...« »Der Fall wurde Ihnen entzogen.« »Nicht einfach nur entzogen; ich darf nicht einmal über den Fall nachdenken. Sheridan hat mir
einen ausdrücklichen Befehl erteilt: Halten Sie sich aus Wallace' Ermittlungen raus! Keine Einmischung! Wußten Sie, daß der Hurensohn die Hälfte aller Sicherheitsdateien der Station gesperrt hatte? Nicht nur die Ortega-Akte. Nein, die Akten über beinahe jeden, der jemals auf dem Mars gearbeitet hat, waren auf einmal unter Verschluß. Die wollen wirklich nicht, daß irgend jemand mitkriegt, was sich in dieser Sache tut. Ich wünschte, ich könnte an diese Dateien rankommen.« »Ich nahm an, Sie hätten wieder Zugriff.« »Auf alles, ja, ausgenommen Ortegas Akte. Die ist noch immer blockiert. Aber wenn ich auch nur in die Nähe dieser Datei käme, ginge auf der Stelle eine Alarmsirene los, die bis nach Earth Central zu hören wäre. Und jede Wette, Wallace wartet nur darauf, daß ich es versuche.« Ivanova ließ sich wieder neben ihm nieder. »Glauben Sie, die wollten auch Ortega reinlegen? Ich kann mir noch immer nicht vorstellen, daß er etwas mit den Terroristen zu tun hatte.« Garibaldi zog die Schultern hoch. »Wer weiß. Wenn wir nicht rausfinden, warum er überhaupt hierher kam ...» Ivanova dachte nach. »Wissen Sie, Miyoshi hat gesagt...« »Was gesagt?« wollte Garibaldi wissen. »Sie sagte, sie hätten Grund zu der Annahme, daß Ortega Informationen nach Babylon geschmuggelt und an jemanden weitergegeben hat.«
»Jemanden wie Sie.« »Das glaubt sie anscheinend.« Ivanova blickte besorgt drein. »Garibaldi, ich denke, ich verstehe allmählich. Hören Sie zu! Ortega läßt mir eine Nachricht zukommen. Ich treffe ihn, wie vereinbart, um 20:00. Er übergibt mir die Informationen. Da bringe ich ihn um und schleppe die Leiche in die Leitstelle. Ich warte zwei Stunden. Ich lasse mir vom Computer die Zeit ansagen, um den Eindruck zu erwecken, er sei niemals erschienen ...« »Und Sie kommen schnurstracks zu mir gerannt, um ihn als vermißt zu melden und sich so ein Alibi zu verschaffen.« »Auf wessen Seite stehen Sie eigentlich, Garibaldi?« Er war erleichtert, daß sie sich so weit erholt hatte, einen Scherz zu versuchen. »Nein, ernsthaft, Sie brauchten diese zwei Stunden, um ihn auszuziehen und zu durchsuchen.« »Warum das, wenn ich die Informationen schon hatte?« »Richtig. Aber vielleicht hatten Sie sie nicht. Vielleicht hat er sich geweigert, Ihnen diese Informationen zu geben, und deshalb haben Sie ihn umgebracht. Dann haben Sie ihn gefilzt, die Informationen gefunden und die Leiche weggeschafft, um sie zu verstecken.« »Hatte ich die Zeit? In den zwei Stunden?« »Ich glaube schon. Laut Dr. Franklin wurde der Körper ziemlich bald, nachdem der Tod eingetreten
war, in den Schrank gesteckt. Später, nachdem Sie bei mir gewesen waren, hatten Sie dazu keine Zeit mehr.« Es überlief sie kalt. »Allmählich bekomme ich es mit der Angst zu tun. Denken Sie, die glauben das wirklich? Glauben die, ich habe diese Informationen? Wollen die versuchen, sie aus mir rauszuquetschen?« Wieder tätschelte er ihre Schulter wie ein großer Bruder. »Keine Ahnung. Ich wünschte...« »Was?« »... ich könnte die Bedeutung von Ortegas Nachricht entschlüsseln. Hardware. Hardwire. Hardwir... Er muß gedacht haben, Sie wüßten damit etwas anzufangen.« »Möglicherweise hat er sie nicht zu Ende schreiben können. Möglicherweise reichte die Zeit dazu nicht. Er war beunruhigt. Ich habe das wieder und wieder bedacht. Jemand war hinter ihm her. Nehmen wir an, er dachte, seine Verfolger kannten den vereinbarten Treffpunkt, so daß er mich nicht mehr sprechen könnte. Aber er mußte sichergehen, daß ich die Informationen erhalte. Er erschien also etwas früher und begann, die Nachricht an mich zu schreiben, um sie da zu hinterlegen, wo ich sie sicher finden würde. Wer immer ihn getötet hat, kam ihm zuvor, ehe er noch die Gelegenheit hatte, seine Nachricht zu beenden.« »Und der Mörder übersah den Zettel?«
»Ich habe ihn auch nicht gesehen. Und auch sonst niemand, bis Ihre Leute von der Spurensicherung alles durchsucht haben. Er lag zerknüllt auf dem Fußboden. Er wußte, daß es zu spät war, und er wollte nicht, daß sie die Nachricht finden.« »Schon möglich«, bemerkte Garibaldi skeptisch. »Im Augenblick jedenfalls scheint diese Nachricht der Schlüssel zu dem ganzen Schlamassel zu sein. Wenn Sie nur eine Idee hätten.« Sie preßte ihre Fingerspitzen gegen die Schläfen. »Habe ich aber nicht. Glauben Sie mir, ich habe mir bereits den Kopf zerbrochen.« »Nun, ich werde es herausfinden.« »Was meinen Sie?« »Ich meine, daß ich der Sache auf den Grund gehen werde, von Anfang an.« »Das können Sie nicht.« »Wieso nicht?« »Sheridans ausdrücklicher Befehl.« Er schnaubte. »Zum Teufel damit! Sie nehmen doch hoffentlich nicht an, daß ich mich davon aufhalten lasse, wenn Ihre Karriere auf dem Spiel steht? Vielleicht sogar mehr.« Vielleicht sogar mehr. Diese Worte ließen sie ihren Protest hinunterschlucken. »Und was ist mit Ihrer Karriere?« »Lassen Sie das meine Sorge sein!« »Nein, Garibaldi, ich kann nicht zulassen, daß Sie ...«
»Sehen Sie, ich bin doch längst in die Sache verwickelt. Ich stehe bei Wallace auf der schwarzen Liste. Also ist der einzig mögliche Weg, unser beider Karrieren zu retten, dieser Geschichte auf den Grund zu gehen.« »Anscheinend«, sagte Ivanova vorsichtig. »Da bin ich mir ganz sicher«, sagte Garibaldi im Brustton der Überzeugung. »Was also haben Sie vor?« »Herumfragen. Mag sein, Wallace hat die Unterlagen, aber ich habe etwas, das er nicht hat: Kontakte. Trotzdem«, fügte er hinzu, »wird es nicht leicht sein, sie zu nutzen. Die Leute sind beunruhigt, sie fürchten sich.« »Wovor?« »Wenn ich das wüßte.« »Und was mache ich?« »Nachdenken. Versuchen Sie, sich zu erinnern! An alles, was Sie über Ortega wissen. Schreiben Sie alles auf! Und hören Sie, trauen Sie dem Computer nicht! Nicht einmal Ihrem persönlichen Tagebuch, verstanden? Ich habe keine Ahnung, auf was Wallace alles Zugriff hat. Er hat alle meine Paßwörter, und kann sein noch ein paar, von denen wir nichts wissen. Dieser Hurensohn!« schloß er zornig.
11 Man legt einen Köder aus. Dann legt man sich auf die Lauer und folgt den Spuren, die von der Falle wegführen, um herauszufinden, wer den Köder geschluckt hat. Garibaldi mochte die Trapper, über die er in einem alten Buch gelesen hatte. Im Sicherheitsgewerbe gab es bisweilen Zeiten der Muße zum Lesen. Seit er auf Babylon 5 war, allerdings nicht mehr. Wenn er es recht bedachte, konnte man das Leben auf der Station mit dem während der Pionierzeit auf der Erde vergleichen, dem Leben an der Grenze zum Unbekannten. Gefahren und Risiken waren allgegenwärtig; von den meisten ahnte man kaum, daß es sie gab. Ihm gefiel es so. Es bedeutete, er hatte keine Zeit, untätig zu sein und über die Vergangenheit nachzugrübeln. Während er über Fallen, Köder und seine mögliche Beute nachdachte, schlenderte er in Richtung Unterwelt. Er wollte wissen, was nach seiner Unterhaltung mit Mort dem Ohr an die Oberfläche gespült worden war.
Zuerst fiel ihm nichts Außergewöhnliches auf. Lediglich die vertrauten übellaunigen, feindseligen Blicke, die ihm die üblichen übellaunigen, feindseligen Unterweltbewohner zuwarfen, die vergrätzt waren über den Rückgang ihrer Geschäfte, verursacht durch die Gegenwart des Arms des Gesetzes. Doch dann bemerkte er, daß diesmal etwas anders war. Er betrachtete das Schild der Happy Daze Bar, endlich hatte jemand das ohne Unterlaß flackernde D repariert. Garibaldi runzelte verwundert die Stirn, schlüpfte durch die automatische Eingangstür und bahnte sich seinen Weg durch Rauch und Dunst, die man hier für Atemluft hielt. Anstelle von Mort fand er einen unbekannten Barmann vor. Einen der Drazi, die neuerdings in diesem Sektor einen Laden nach dem anderen zu eröffnen schienen. »Sag mal, Freund, hast du meinen Kumpel Mort gesehen? Mort das Ohr? Das ist sein Laden. Ich hab' gehofft, ihn heute hier zu treffen.« »Mort weg.« Garibaldis Verwunderung wuchs. »Was heißt weg? Wohin weg?« Der Drazi machte eine Geste, als wolle er etwas Imaginäres wegwischen. »Weg. Von Station. Hat genommen Transport gestern. Geschäft verkauft. Weit unter Wert«, erläuterte er. »Was?« Der Drazi vollführte eine weitere Geste, wohl um die folgende unglaubwürdige Begründung zu
unterstreichen. »Mort sagen, zuviel Ärger jetzt hier. Verkaufen Bar. Ziehen in Euphrat-Sektor, wegen Frieden und Ruhe.« Garibaldi stieß eine Verwünschung aus. Damit hatte er nicht gerechnet. Die Falle war leer. Die Dinge schienen schlechter zu stehen, als er erwartet hatte. Viel schlechter. Wahrend er noch nachdachte, erreichte ihn ein Anruf über sein Com-Link. »Mr. Garibaldi?« »Garibaldi hier.« Der Anruf kam aus der Sicherheitszentrale. Er war ganz Ohr. »Was gibt es?« »Möglicherweise einen zweiten Mord.« »Ich bin schon unterwegs.« Auf Babylon 5 gab es keine Friedhöfe, doch auch hier starben Individuen. Es gab verschiedene Möglichkeiten, ihre sterblichen Überreste zu entsorgen, entsprechend den Gebräuchen und der paar Dutzend Rassen und etwa hundert bedeutendsten Religionsgemeinschaften auf der Station. Manchmal wurde die Leiche in die Heimat des Verstorbenen überführt, damit dort die Zeremonien durchgeführt werden konnten. Andere wurden in die benachbarte Sonne geschossen. In einigen Ausnahmefällen wurde der tote Körper im Rahmen eines Rituals von den Verwandten und Freunden des Verblichenen verzehrt. Ein Brauch, der von der Leitung der Station hingenommen wurde; Toleranz war der oberste Grundsatz auf Babylon 5.
In jedem Fall galt die Regel, daß die sterblichen Überreste einer intelligenten Lebensform keinesfalls dorthin befördert wurden, wo der gesamte übrige organische Abfall der Station unweigerlich landete: in das Wiederaufbereitungssystem. Aber dennoch, Garibaldi, ein Wiederaufbereitungstechniker, dessen Vorgesetzter sowie die beiden Sicherheitsleute, die als erste auf die Meldung reagiert hatten, nahmen das dort entdeckte Objekt in Augenschein. Und sie gelangten zu dem einstimmigen Urteil: Bei dem Objekt handelte es sich um den Fuß eines Humanoiden, oberhalb des Knöchels sauber abgetrennt. Wahrscheinlich der Fuß eines Menschen. »Haben Sie einen Beutel für Beweismittel?« fragte Garibaldi. »Hier, Chief.« Einer der Sicherheitsleute hielt ihm einen Klarsichtbeutel unter die Nase. Unter Zuhilfenahme einer Zange, die ihm der Leiter der Recycling-Abteilung zu diesem Zweck zur Verfügung stellte, beförderte Garibaldi das Beweismittel in den Beutel, den er verschweißte. »Bringen Sie das ins Med-Lab, und übergeben Sie es Dr. Franklin zur Untersuchung! Er wartet bereits.« Der Sicherheitsmann eilte von dannen, augenscheinlich erleichtert, diesen ungastlichen Ort verlassen zu dürfen. Garibaldi wandte sich an den Abteilungsleiter, einen Mann namens Ryerson, ungefähr in seinem Alter. »Ist das alles?« »Soweit ja.«
»Dann können wir jetzt wohl hier raus.« Sie gingen auf dem Steg, der über das riesige Faß führte, zurück. Ryerson vorneweg, gefolgt von der zweiten Sicherheitswache, der jungen, schmächtigen Torres. Garibaldi folgte. Sie stiegen einige schmale Stufen hinab und überquerten das Netzwerk von Rohren, das zu der Anlage führte. Die Rohre waren an ihren unterschiedlichen Farben zu unterscheiden; der Durchmesser eines jeden übertraf die durchschnittliche Körpergröße eines Humanoiden. Wie das Fusionskraftwerk, war dieser Ort auf seine eigentümliche Weise beeindruckend. Und riesig. Immerhin diente er zweihundertfünfzigtausend Bewohnern einer autarken Welt. »Kommt so etwas häufiger vor?« erkundigte sich Garibaldi und sog die frische Luft am Ausgang ein. Auf Babylon 5 war dergleichen bisher jedenfalls nicht vorgekommen. »Häufiger, als Sie glauben«, erwiderte Ryerson und nickte. »Niemand denkt gern daran, wie das Wiederaufbereitungssystem tatsächlich arbeitet. Das Zeug kommt hier rein und da drüben, am anderen Ende, wieder raus. Alles automatisch, ohne daß irgend jemand es anfaßt oder auch nur zu sehen bekommt. Hübsch sauber und hygienisch. Das funktioniert so lange, wie sich die Leute an die Recycling-Vorschriften halten. Tun sie aber nicht, wie man sieht. Tun sie nie. Immer wieder verstopft etwas die Rohre und Leitungen. Wir müssen dann herausfinden, wo, damit wir wissen, welchen Teil
des Systems wir abschalten müssen. In neun von zehn Fällen hat jemand die Vorschriften mißachtet. Die Leute werfen immer wieder Zeug rein, das im System nichts verloren hat. Sie würden staunen, was wir schon alles aus den Rohrleitungen gefischt haben. Ganz besonders aus denen im Alien-Sektor. Manchmal frag' ich mich wirklich ...« »Wie steht's mit einer menschlichen Leiche, die ein Rohr verstopft?« »Eine Leiche würde uns keine allzu großen Schwierigkeiten machen. Nicht, wenn sie sauber zerlegt wurde, damit sie hineinpaßt. Eine menschliche Leiche besteht zu hundert Prozent aus organischem Material, damit wird das System problemlos fertig. Nein, unser Pfropfen hier bestand aus ungefähr fünfundfünfzig Pfund Solarscheiben aus Silikon, die irgendein Idiot in die organische Müllverwertungsanlage gesteckt hat, ohne sie zuvor in kleine Stücke zu reißen. Die Regeln schreiben das vor. So etwas kommt andauernd vor. Einige lernen es nie. In dem Fall müssen wir da rein, die Rohrleitungen aufmachen und alles reinigen. Ihr Fuß hatte sich da bloß verfangen.« »Haben Sie keine Scanner? Die würden so etwas wie Körperteile in Ihrem System doch bemerken?« »Zum Teufel, ja, Scanner! Die verwenden wir in erster Linie, um Ärger zu vermeiden, um Verstopfungen rechtzeitig zu erkennen. Angenommen, jemand spült einen Datenkristall mit runter, auf dem sämtliche Verteidigungs-Codes der
Station gespeichert sind - den können wir mit dem Scanner finden. Aber Sie haben keine Ahnung, wie viele Kilometer Rohr das gesamte System hat, was es heißen würde, jedes Bröckchen Müll, das hier jede Sekunde durchkommt, zu scannen und zu kontrollieren. Können Sie sich vorstellen, wie Earth Central auf die Kosten für den Aufwand reagieren würde?« »Na schön. Sie meinen also, man könnte eine menschliche Leiche in den Wiederaufbereiter werfen, ohne daß die Kontrollen Laut geben?« »Werfen Sie sie am Stück rein, und es kommt eine Meldung. Eine ganze Leiche würde irgendwo die Rohrleitungen verstopfen. Aber wenn man sie in handliche kleine Stücke zerlegt, würde sie durchrutschen. Wenn die Leute bloß die Vorschriften befolgen würden. Ich erinnere mich, einmal auf der Luna-Kolonie, da hat eine Frau ihren Mann und seine Freundin kaltgemacht. Sie hatte die beiden in flagranti erwischt, wissen Sie? Sie hat sie mit 'nem Küchenmesser kleingeschnitten und in unser System geworfen. Aber der Kopf von ihrem Alten ist irgendwo im Rohr hängengeblieben. Er wurde rausgefischt, und so hat man die Sache dann bis zu ihr zurückverfolgt. Das muß allerdings eine kleine Rohrleitung gewesen sein. Oder der Typ hatte 'nen Riesenschädel.« Ryerson unterbrach sich, als sein Com-Link sich meldete. »Ja?«
»Chef, wann können wir diese Leitung wieder in Betrieb nehmen? Im Zulauf von BRAUN 62 staut sich schon alles.« Ryerson sah Garibaldi fragend an. »Nun?« »Sie haben bestimmt alles abgesucht? Da sind nicht noch mehr Leichenteile drin?« »Nicht in der Hauptleitung. Nicht stromaufwärts von der verstopften Stelle. Stromabwärts, tja, da wird's schon schwieriger. Hinter dem sogenannten Zersetzungsbottich da drüben ... Also wenn Ihr Fuß die Kreuzung da passiert hätte ...« »Okay«, fiel Chief Garibaldi ein, »das heißt, wir können hier nichts mehr tun.« Torres, seiner Assistentin, schien ein Stein vom Herzen zu fallen, als er das sagte. Gemeinsam verließen sie die Wiederaufbereitungsanlage. Garibaldi rieb sich die Stirn an der Stelle, von der sich sein Haaransatz erst kürzlich verabschiedet hatte. »Immer wenn man glaubt, alles zu wissen, alles gesehen zu haben, kommt etwas Neues.« »Da fragt man sich, wie viele Leichen da hineingeworfen werden und nie wieder auftauchen«, sinnierte Torres. »So ist es«, entgegnete Garibaldi. Sie stiegen in den Lift zum Med-Lab, wo sie bereits von Dr. Franklin erwartet wurden, der ihnen mitteilte, daß er die Untersuchung des Leichenteils beinahe abgeschlossen hatte. »Wenn das so weitergeht«, sagte Franklin, als er schließlich sein Büro betrat, »muß die
Sicherheitsabteilung ihren eigenen Gerichtsmediziner einstellen. Nicht, daß diese Untersuchungen en passant nicht interessant wären, aber ich habe noch meine eigene Arbeit und außerdem ein oder zwei Patienten.« »Schon gut«, drängte Garibaldi. »Sagen Sie mir ganz einfach, was Sie herausgefunden haben!« »Es handelt sich um den Fuß eines Menschen, eines Mannes, genau gesagt. Bedenkt man den Zustand des Objektes, so habe ich einen ziemlich guten Abdruck der Fußsohle.« »DNS?« »Wird noch geprüft.« »Todesursache?« »Unbekannt.« »Was ist mit der ungefähren Todeszeit?« Dr. Franklin schüttelte den Kopf. »Nicht in diesem Fall, Garibaldi. An der Zellstruktur erkennt man, daß das Gewebe eingefroren war, ehe es im Wiederaufbereitungssystem landete. Man kann unmöglich feststellen, wie lange. Das kann ein Jahr gewesen sein.« »Noch etwas?« Franklin nickte. »Der Fuß wurde mit einem Laser abgetrennt. Man kann genau erkennen, wo das Gewebe versengt wurde.« »Also zuerst einfrieren, dann zerteilen. Gar nicht übel, so gibt's am wenigsten Dreck. Die Teile kann man so lange eingefroren lassen, wie man will, und dann Stück für Stück mit Hilfe der
Wiederaufbereitungsanlage loswerden. Hier ein Stück, da ein Stück ... Große Klasse.« »Vielleicht ein Serienmörder«, meldete sich Torres eifrig zu Wort. »Der hätte uns hier gerade noch gefehlt«, entgegnete Garibaldi weit weniger eifrig. »Ein Serienmörder, ein Profikiller, Zivilist oder Soldat, Alien oder Mensch, wir haben die Auswahl.« Dr. Franklin musterte die beiden mit einem sonderbaren Gesichtsausdruck. »Sind das nicht ein paar Schlußfolgerungen zuviel bei einer Leiche?« Die Stimme des Computers unterbrach sie: »Die DNS-Analyse der Probe ist abgeschlossen.« Garibaldi fragte schnell: »Computer! Von wem stammt die Gewebeprobe?« »Suchvorgang läuft.« Alle warteten gespannt. Ein Chor von drei Stimmen fragte ungeduldig: »Wer?« Der Computer antwortete prompt: »DNSIdentifizierung: Yang, Fengshi; Ankunft Babylon 5: 18:4:2259; Abreise Babylon 5: 20:4:2259.« Fähnrich Torres stellte die Frage, die allen auf der Zunge lag: »Er ist ohne seinen Fuß abgereist?«
12 Garibaldi zog sich in die Sicherheitszentrale zurück, um das Rätsel um Fengshi Yang zu lösen. Wenn es keine zwei Yangs gab, völlig identische Zwillinge, oder der Mann, wie Torres vermutet hatte, mit nur einem Fuß von der Station abgereist war, lag etwas ernstlich im argen. Als Garibaldi die Passagierlisten der Schiffe checkte, die während der fraglichen Zeit an der Station festgemacht und sie wieder verlassen hatten, formte sich rasch ein Bild. Tatsächlich war Yang vor fünf Tagen, am 18., auf Babylon 5 angekommen; an einem Tag, den Garibaldi so schnell nicht vergessen würde. An jenem Tag war J.D. Ortega getötet worden. Obwohl er der Registratur zufolge die Station zwei Tage später mit der Asimov wieder verlassen hatte, war kein Fengshi Yang auf der Passagierliste des Schiffes verzeichnet, als es am 20. startete. Damit gab es eine Unstimmigkeit in den Berichten. Nun waren dem Chef der Sicherheitsabteilung von Babylon 5 Unstimmigkeiten in seinen Berichten
grundsätzlich zuwider. Ihm gefiel die Vorstellung nicht, daß sich auf der Station Individuen herumtrieben, die den Eintragungen der Registratur zufolge gar nicht da waren oder sie nach deren Angaben bereits vor drei Tagen verlassen hatten. Und am allerwenigsten gefiel es ihm, wenn der Gegenstand der Unstimmigkeiten .in kleine Stückchen zerhackt und in die Wiederaufbereitungsanlage der Station geworfen wurde. Solche Vorfälle erregten sein Mißtrauen. Zu der Zeit, da Yang Babylon 5 offiziell den Rücken gekehrt hatte, darauf würde Garibaldi jede Wette eingehen, war er längst tot, tiefgefroren und im Begriff, sich in seine chemischen Bestandteile zu zersetzen. Doch das war es nicht, was Garibaldis Interesse weckte. Was ihn von der Passagierliste buchstäblich ansprang, war Yangs Abflughafen: Mars. Garibaldi glaubte an Zufälle etwa ebensosehr wie an die Zahnfee. Zwei Männer tot, beide vom Mars. Nur daß Yang, seiner Akte nach, gar nicht vom Mars kam. Seiner Akte nach war er Außenhandelsvertreter einer Kleiderfirma auf der Erde. Schön, aber zumindest war er unmittelbar vor seiner Ankunft auf Babylon 5 auf dem Mars gewesen. Zwei Ermordete, beide vom Mars, beide mit Unstimmigkeiten in den Berichten der Stationsregistratur. Zufall? Garibaldi schnaubte verächtlich.
Gut. Erste Vermutung: Sie wurden beide von derselben Seite getötet. Vielleicht aber auch nicht. Die Beseitigung der Körper war unterschiedlich. Den von Ortega hatte man überaus auffällig deponiert. Oder war der Werkzeugspind nur ein Notbehelf gewesen, um ihn später einzufrieren und ihn dem Wiederaufbereitungssystem zuzuführen, wie sie es mit Yang getan hatten? Zuviel der Vermutungen. Was noch? Er dachte einen Augenblick nach, dann drückte er die Verbindungstaste. »Doc? Garibaldi hier. Ich habe noch eine Frage in der Mordsache Yang.« »Ja?« »Als Sie sagten, Sie könnten die Todesursache nicht feststellen, hatten Sie da den Test gemacht, von dem Sie mir erzählt haben, mit dem man dieses Gift, Chloro-Quasi-Dia-Dingsda, nachweisen kann?« »Dianimidin. Ich hab's probiert, ja, aber bei dem Gewebezustand konnte ich nichts mehr feststellen.« »Es könnte also dasselbe Zeug gewesen sein, das Sie ... in einem anderen Fall gefunden haben, den wir mal auf der Station hatten?« Er erwähnte den Ortega-Mord absichtlich nicht und hoffte, daß Franklin den Wink verstehen würde. »Richtig. Das wäre durchaus möglich. Aber ich kann mich unmöglich festlegen. Außer wenn Sie mir einen Teil von ihm bringen, der besser erhalten ist.«
»Laut Ryerson eher unwahrscheinlich. Danke, Doc.« »Sonst noch etwas?« »Nein. Im Augenblick nicht.« Garibaldi lehnte sich einen Moment nachdenklich zurück, ehe er Fähnrich Torres kommen ließ. Sie war jung, klug, sehr engagiert, obgleich letztere Eigenschaft ihre Grenzen kannte, sobald das Abfallsystem ins Spiel kam. Mit Sicherheit war sie imstande, eine unabhängige Aufgabe zu übernehmen. »Chief?« »Fähnrich Torres, es sieht so aus, als habe jemand die Akten von unserem Mr. Yang durcheinandergebracht.« »Es hat den Anschein. Wissen Sie, ich habe mich bereits gefragt, ob dieser Fall nicht in Beziehung zu dem anderen stehen könnte. Dem anderen Mord. Keines der Opfer ist ordnungsgemäß in der Stationsregistratur aufgeführt.« Vielleicht ist sie ein wenig zu klug, dachte Garibaldi. Sehr vorsichtig entgegnete er: »Ich glaube nicht, daß es eine Verbindung zwischen den Fällen gibt, Torres. Wenn dem so wäre, könnte es womöglich an Dinge rühren, die wir nicht zu untersuchen autorisiert sind.« Das ernüchterte sie. »Ja, Chief, Sie haben recht. Genaugenommen sehe ich überhaupt keine Ähnlichkeit zwischen den beiden Fällen.«
»Wenn das so ist, wie war's dann, wenn Sie sich mal in den Yang-Fall reinknien?« Sofort hellte sich ihre Miene auf. »Gern, Chief.« »Gut. Hier ist Yangs Akte. Wie Sie feststellen werden, ist alles ein bißchen dünn. Aber er war im Kleidergeschäft, das könnte ein Anfang sein. Überprüfen Sie die Händler auf der Station, finden Sie raus, mit wem er Geschäfte gemacht hat, wer seine Partner waren, ob er Feinde hatte. Trug er Wertsachen bei sich? Sie werden schon wissen, welche Fragen zu stellen sind.« »Ich fange gleich damit an. Danke, Chief.« »Schön. Ich erwarte Ihren Bericht.« Torres verließ das Sicherheitsbüro voller Stolz und hellauf begeistert. Garibaldi tadelte sich, daß er sich eigentlich schämen sollte, bei einer so reizenden und smarten jungen Dame wie Torres einen solchen Trick zu versuchen. Die Erfahrungen während ihrer Ermittlungen würden ihr jedoch nicht schaden, und, wer weiß, vielleicht würde sie dabei sogar auf etwas Nützliches stoßen. Und während sie andernorts beschäftigt war... Garibaldi wandte sich wieder seinem Monitor zu, wo Yangs offizielle Akte zu sehen war, daneben die Passagierliste der Asimov, und ein Eintrag, ein Wort, das der Schlüssel zu allem sein konnte: Mars. Dieses Mal fischte er nicht bloß im trüben ... oder legte auf gut Glück Köder aus. Dieses Mal ging er zielstrebig vor. Er hatte Fragen, und er wollte Antworten.
Er fand Nick Patinos in der schwerkraftreduzierten Sporthalle bei Taekwondo Übungen mit einer großen dunklen Alienfrau, die mit Zeitlupen-Grazie tanzte und schwebte, als sie Nicks Schläge parierte. Ihre Schritte und Sprünge waren in der niedrigen Schwerkraft langsam und kontrolliert; jede Bewegung schien endlos gedehnt. Nick hatte Mühe, mit seiner Gegnerin mitzuhalten. Garibaldi wußte jedoch genug über Kampfsport, um zu erkennen, daß sein alter Freund eine Menge dazugelernt hatte, seitdem sie beide das letzte Mal gegeneinander angetreten waren. Er hegte Zweifel, ob er Nick nun noch zu schlagen vermochte, und er bedauerte, daß ihn tausend Dinge, die Zwänge seines Jobs, daran gehindert hatten, in der Form zu bleiben, in der er sein sollte. Das hieß indes nicht, daß er sich außer Form fühlte. Der Kampf war zu Ende. Nick verbeugte sich vor seiner Partnerin und stieß sich dann mit einer langen, langsamen Rolle in Garibaldis Richtung ab. Zwei Meter vor ihm kam er zum Stehen. »Mike.« Er hielt den Stab in der Ausgangsposition. »Bereit für eine Runde oder zwei?« Garibaldi lehnte ab. »Nicht heute. Ich bin dienstlich hier, Nick.« Nick drehte sich so schnell weg, wie es die niedrige Schwerkraft erlaubte. »Mike, ich dachte, ich hätte mich klar genug ausgedrückt. Ich sage nichts. Nicht jetzt. Nicht darüber.«
»Nicht worüber?« Garibaldi bemühte sich, seine Stimme im Zaume zu halten, als er sah, wie einige Leute in der Sporthalle die Köpfe in ihre Richtung drehten. »Verdammt, was geht hier vor, daß keiner mit mir reden will?« Nick führte ihn weg, in den Umkleideraum, wo das Geräusch von Duschen und Gebläsen ihre Stimmen überdeckte. »Ich sag' dir, Mike, ich weiß nicht, was los ist. Alles, was ich weiß, ist... daß ich nichts wissen will. Ist sicherer so. Was ich nicht weiß, kann keiner aus mir rausholen.« »Worüber redest du überhaupt? Ich bin der Sicherheitschef dieser Station.« »Ja, aber diese Typen von Earth Central arbeiten nicht für dich, oder? Sie arbeiten für jemanden ein gutes Stück weiter oben. Die sind überall auf der Station aufgetaucht, sie haben Leute zum Verhör weggeschleppt, Leute, die nichts getan haben. Sie sagen nicht, warum, sie sagen nicht, wonach sie suchen. Ich möchte nicht, daß mich diese Typen auflesen und in meinem Hirn nach was rumstochern, von dem ich nichts weiß.« »Worüber redest du überhaupt? In deinem Hirn rumstochern?« Nick wirkte plötzlich verunsichert. »Das hab' ich jedenfalls gehört.« »Du glaubst, sie haben einen Telepathen, der für sie arbeitet? Aber es gibt nur einen Telepathen auf der Station.« Er hielt inne. War er sich dessen so sicher?
»Mike, es ist mir gleich, wie viele Telepathen die haben.« Er unterbrach sich, schaute sich um. Der Umkleideraum war in diesem Augenblick leer. »Du willst wissen, was vorgeht? Gut, ich sag' dir, wie es ist. Du warst letztes Jahr nicht auf dem Mars, oder? Während des Aufstands? Du warst auf der Station.« »Du doch auch.« »Ja, aber ich habe Bruder und Schwester daheim. Was die mir erzählt haben ... Es war schlimm dort, Mike. Soldaten überall, Verhaftungen, sie haben nicht mal Fragen gestellt, bevor sie die Leute mitnahmen. Die zwei Kinder meiner Schwester waren in der Schule, der Olympus-Universität. Es gab Demonstrationen. Truppen marschierten auf, schlossen den Bau, nahmen jeden mit, den sie sahen. Drei Monate lang hielten sie die Kinder meiner Schwester fest. Keine Anklage, sie hatten nichts gegen sie in der Hand, sie waren bloß am falschen Ort, als die Unruhen losgingen. Genug, um sie als Terroristen zu verdächtigen. Hörst du, was ich sage? Ich kenne diese Kinder, ich habe sie mit großgezogen, nachdem ihr Vater bei einem Bergwerksunglück ums Leben gekommen war. Sie haben vielleicht bei einer friedlichen Demonstration mitgemacht, aber bestimmt nicht beim >Speer des Ares< oder einer von diesen Gruppen für einen freien Mars. Aber machte das Earthforce was aus? Nein, sie hielten sie drei Monate lang fest.
Und jetzt hast du diese Typen auf der Station, die andere bloß deswegen zum Verhör wegschleppen, weil sie vom Mars kommen. Du willst wissen, was los ist? Das ist los. Und es macht den Leuten angst. Und ich sage dir noch was. Einige von denen, die sie verhört haben, sind nicht zurückgekommen.« »Was sagst du da?« »Ein Kumpel von mir hatte letzte Nacht eine Verabredung zum Essen mit einem Mädchen aus den Vermessungsbüros. Sie sagte, sie wäre nicht sicher, ob sie's schafft, sie müßte zuerst zu diesem Earthforce-Offizier, um ein paar Fragen zu beantworten. Nun, sie tauchte nie zu der Verabredung auf, ging nicht ans Interkom. Angeblich hat man sie auf die Erde gebracht. Ohne Grund.« Garibaldi war bestürzt. Weniger über das, was er gerade gehört hatte. Er war alles andere als naiv. Wallace, das lag auf der Hand. Aber weshalb hatte er nichts davon mitbekommen? Warum hatte ihn niemand davon unterrichtet? Natürlich, er hatte versucht, Ivanova zu helfen, und dann dieser Mord an Yang. Trotzdem ... »Nick, ich versichere dir, ich hatte keine Ahnung. Aber ich werde mich darum kümmern, versprochen! Dein Freund, wie heißt der?« »Kein Kommentar.« »Verdammt! Nick!« »Hey, ich liefere meine Freunde nicht ans Messer, Mike. Das habe ich nie getan. Ich setze dich
höchstens über ein paar Dinge ins Bild, aber das war's dann schon.« »Dein Freund könnte also da mit drinhängen?« »Das habe ich nicht gesagt. Ich weiß es nicht. Alles was ich weiß, ist, daß er nicht will, daß irgendwer bei der Earthforce seinen Namen kennt.« »Also gut«, seufzte Garibaldi, »noch mal von vorne. Der Bursche, nach dem ich suche, hat nichts zu tun mit... dieser anderen Geschichte. Wie du weißt, bin ich den Fall los. Dies ist eine eigenständige Untersuchung.« Das war zumindest die offizielle Version. Nick zog die Stirn kraus und wartete. Garibaldi holte einen Viewer aus der Tasche und klickte das Holo-Bild von Fengshi Yang aus dessen Akte an. Wie ein Geist schwebte es zwischen ihnen. »Kennst du diesen Typ ? Hast du ihn schon mal gesehen ?« Nick schüttelte den Kopf. »Wo zum Beispiel?« »Hier auf der Station? Oder auf dem Mars?« »Tut mir leid, nein. Warum? Wer ist das?« »Wer war das, paßt besser. Heute früh tauchte seine Leiche auf.« »Du meinst, man hat ihn ermordet?« »Sieht so aus. Wir versuchen, seine Wege zu rekonstruieren, mit wem er zusammengewesen sein könnte.« »Und warum kommst du damit zu mir?« »Er könnte vom Mars gekommen sein. Zumindest war sein letzter Abflughafen Mars.«
Da ging Nick Patinos an die Decke. »Du willst mir weismachen, daß das nichts mit dieser anderen Sache zu tun hat? Erwartest du im Ernst, daß ich das glaube? Eine eigenständige Untersuchung? Komm schon, Mike! Ein Typ wird umgebracht, und die einzige Spur, die du hast, führt zum Mars? War er auch noch des Terrorismus verdächtig? Wer ist als nächstes dran?« »Ich weiß es nicht. Warum, glaubst du denn, versuche ich das rauszufinden? Wenn die Morde miteinander in Verbindung stehen, will ich das wissen. Aber ich habe keinen Anhaltspunkt. Ich weiß ja nicht mal, ob sein Name wirklich Yang ist. Jemand hat seine Akte in der Stationsregistratur manipuliert. Das einzige, was ich bis jetzt rausgefunden habe, ist eben, daß er vom Mars kam. Also arbeite ich mit dem, was ich habe. Und wenn sich rausstellt, daß beide Fälle miteinander zusammenhängen und dieser Earthforce-Wallace dahinterkommt, übernimmt der das Kommando und läßt mich im Regen stehen.« Nick wiegte den Kopf. »Tut mir leid. Ich kann dir wirklich nicht helfen.« Er wandte sich zum Gehen. Garibaldi unternahm einen letzten Versuch. »Ist wohl nicht anzunehmen, daß dieser Freund von dir weiß, wer Yang war?« »Ich frage ihn, okay? Ich hör' mich um. Mehr kann ich nicht tun, Mike. Nicht mal für dich.« »Danke«, sagte Garibaldi. Nick schob sich durch die Tür und war verschwunden. Ein paar Männer
kamen in die Duschräume und warfen Garibaldi fragende Blicke zu. Er steckte den Betrachter mit Yangs Holo-Bild weg. Es gefiel ihm nicht, was er zu hören bekommen hatte. Und was war es, das Nick Patinos vor ihm zu verbergen suchte? Immerhin hatte er dafür einen guten Grund. Und dieser Grund hieß Commander Ian Wallace.
13 In meinem Hirn rumstochern, hatte Nick Patinos gesagt. Garibaldi fragte sich, wie sich das wohl anfühlen mochte. Die Leute hatten Angst vor Telepathen, jedenfalls die meisten. All seine Schwächen entdeckt zu sehen, alle schlimmen Geheimnisse, die Dinge, die nie jemand erfahren sollte. Er hatte mit Sicherheit genug von der Sorte. Und selbst angesichts all der Psi-Corps-Regularien und Restriktionen hatte er immer wieder die unangenehme Vorstellung, daß Talia Winters stets sagen konnte, was er dachte. Die Lifttüre öffnete sich, und da war sie. Ein Zufall? Sie blickte ihn an, schloß dann die Augen. Sie sah niedergeschlagen aus, erschöpft, bleich. Wovon? Garibaldi hatte eine ziemlich genaue Vorstellung, wovon. Zumindest offiziell war Miss Winters gegenwärtig der einzige Telepath auf Babylon 5. Wenn also jemand in Gehirnen herumstocherte, dann mußte sie das sein. Nur wollte diese Vorstellung nicht recht zu dem passen, was er von
Talia Winters wußte. Sie war einfach nicht der Typ, der in Gehirnen herumstöberte. Nicht, daß es den Typ nicht gab. Garibaldi war auf wenigstens einen Psi-Polizisten getroffen, der einem das Hirn ausbrannte, wenn man ihm nur zublinzelte. Aber so sehr Talia Winters auch ihre kühle, unnahbare Erscheinung wahren mochte, war sie doch überaus empfindsam. In ein grausames oder abwegiges Bewußtsein einzudringen war für sie eine schmerzhafte Erfahrung. Dennoch war es ihr Job. Wenn so etwas getan werden mußte, war es ihre Pflicht. Das Psi-Corps nahm sie unter seine Fittiche, das war der Preis. Und heute nacht sah es so aus, als sei der Preis hoch gewesen. Garibaldi hatte seine Unterredung mit Nick Patinos mit dem Gefühl beendet, ein paar Köpfe abreißen zu wollen. Vornehmlich den von Wallace, aber er konnte sich auch ein paar andere vorstellen, die ihm genügen würden. Auf seiner Station wurden Leute eingesperrt, und er wußte nichts davon. Unerwartet bot sich ihm hier eine weitere Informationsquelle. »Miss Winters? Talia?« Sie hob müde ihren Blick. »Mr. Garibaldi?« »Sie sehen erschöpft aus. Möchten Sie vielleicht einen Drink?« »Ich weiß nicht...« »Es gibt etwas, was ich Sie gern fragen würde.« Sie seufzte. »Einen Drink könnte ich vertragen. Es ist ein langer Tag gewesen.«
Im Restaurant sank sie auf einen Stuhl und wischte mit einer behandschuhten Hand ihr blondes Haar aus ihrem blassen Gesicht, während Garibaldi ihren Wein und sein Wasser holte. »Danke«, sagte sie und nahm ihr Glas entgegen. »Ein harter Tag, hm?« fragte Garibaldi. »Ich nehme nicht an, daß er die Überwachung der Verhöre durch Commander Wallace beinhaltete, oder?« Sie richtete sich abrupt auf und versuchte, abweisend dreinzuschauen. »Mr. Garibaldi, Sie wissen, daß ich mit Ihnen nicht darüber sprechen darf, wenn es das ist, was Sie im Sinn haben.« »Sehen Sie, Miss Winters, ich möchte ja keine Abschrift von den Befragungen. Ich versuche keinesfalls, mich in seine Untersuchungen einzumischen ...« Eine kurze Pause, während der er daran dachte, daß sie spüren konnte, ob er log. »Ich habe mit einigen Leuten geredet, und sie haben Angst. Es gibt Verhaftungen, Verhöre. Jemand erwähnte Telepathen, die in Gehirnen rumstochern. Und wenn das nicht Sie sind ...« »Ich verstehe.« Sie seufzte abermals. »Gut. Commander Wallace hat mich gebeten, an seinen Ermittlungen teilzunehmen. Aber niemand schnüffelt in irgendeinem Gehirn herum. Ich sage lediglich, ob die Zeugen bei der Wahrheit bleiben. So wie ich es bei jeder anderen Ermittlung auch tun würde.«
»Und alle machen freiwillig mit? Die ganzen Zeugen? Keiner wird gezwungen?« »Mr. Garibaldi, ich kann nicht sagen ...« »Aber die Leute haben Angst, nicht wahr?« »Es ist ganz natürlich, daß jemand angespannt ist, wenn er von den Behörden vernommen wird. Sie sollten das wissen.« »Aber die Erkenntnisse eines Telepathen sind vor Gericht nicht zugelassen.« »Ich glaube nicht, daß das hier zur Debatte steht«, räumte sie widerstrebend ein. »Haben Sie etwas darüber gehört, daß bestimmte Zeugen für weitere Verhöre zur Erde gebracht werden?« »Nein, darüber weiß ich nichts.« »Und was ist mit Commander Wallace? Sagt er die Wahrheit?« »Mr. Garibaldi!« »Gut, gut.« Er fand sich mit kaum verhülltem Widerwillen in seine Niederlage. »Ich weiß ja nicht mal, weshalb Sie mir all diese Fragen stellen. Schließlich wurde ein Mann umgebracht, es gibt eine schwerwiegende Attentatsdrohung ...« »Die gibt es? Tatsächlich?« »Ich weiß nicht, was Sie meinen.« »Nicht?« Nun war seine Neugier endgültig angestachelt.
»Ich habe Ihnen doch gesagt, daß es gegen die Psi-Corps-Regeln ist, in die Gedanken einer Person einzudringen.« »Na schön, dann wissen Sie halt nicht, was ich meine. Sagen Sie mir eins: Könnte Commander Ivanova mit der Bewegung >Freier Mars< zu tun haben? Mit Terroristen? Hatte sie irgendwas mit Ortegas Tod zu schaffen?« »Ich kann wirklich nicht sagen ...« »Aber Wallace wollte sie ihres Kommandopostens entheben. Wissen Sie, warum? Glaubt er es?« Sie schüttelte den Kopf, drehte sich von ihm weg. »Sie wissen, daß ich darüber nicht sprechen kann. Warum fragen Sie mich aus?« »Weil ich Ivanova helfen will. Und die Wahrheit darüber rausfinden möchte, was hier im Gange ist. Deshalb.« Talia Winters fand ihren Wein auf dem Tisch, nahm einen Schluck. »Ich bin mir nicht mal sicher, ob sie meine Hilfe will«, sagte sie langsam. »Ich bin nicht gerade Commander Ivanovas Busenfreundin.« »Sie wissen, daß es nichts Persönliches ist«, sagte Garibaldi. »O ja, ich weiß. Und ich verstehe ihre Beweggründe. Ich weiß, wie ihr wegen ihrer Mutter zumute ist, was das Psi-Corps ihr angetan hat. Sie schaut mich an, und was sie sieht, ist das Psi-Corps. Ich weiß das. Aber das macht es nicht leichter, mit ihr auszukommen. Ich habe es versucht.«
»Helfen wollen Sie ihr aber?« »Wenn ich kann. Doch ich kann nicht. Nicht, wenn sie nicht mitmacht. Verstehen Sie? Ich möchte ihr ja helfen ...» »Ich verstehe.« »Es gibt Regeln.« »Klar.« Talia Winters verknotete ihre Finger, schaute in ihr halbleeres Weinglas. »Und Sie sind sicher, daß sie nicht... in irgendwas drinsteckt?« »So sicher, als würde ich ihre Gedanken lesen«, erwiderte Garibaldi fest. »Man hat sie hochgenommen. Reingelegt. Wallace hat das getan. Ich kenne den Grund nicht, aber ich bin mir vollkommen sicher.« »Ich verstehe«, flüsterte Talia und drehte ihr Glas. »Ich denke, ich verstehe.« Es war noch früh am Morgen, aber Captain Sheridan war bereits in der Kommandozentrale. Es gab viel zu tun. Babylon 5 war anders als jeder Kommandoposten, den er bis dahin innegehabt hatte, in diplomatischer Hinsicht mindestens ebenso wie in militärischer. Mit all den Zivilisten, die kamen und gingen, war es beinahe so, als würde er eine Stadt befehligen. Aber er hatte über einen erfahrenen ausführenden Offizier verfügt - bis jetzt. Er vermißte Ivanovas Unterstützung. Natürlich gab es auch andere Offiziere auf der Station, aber da war niemand mit ihrer Erfahrung bei der Leitung dieses Ortes. Ohne sie schien es zehnmal so viele Anfragen
zu geben, zehnmal so viele Notfälle, die er an niemanden delegieren konnte. Wenn sich Ivanova bloß nicht auf diese verdammte Ortega-Affäre eingelassen hätte. Das war etwas, das er sobald wie möglich auf geklärt und beseitigt wissen wollte. Neu auf Babylon 5, hatte er schon genug Probleme ohne die Terroristendrohung, die über der Station hing. Garibaldi war noch spät in der letzten Nacht bei ihm gewesen, feuerschnaubend, und hatte sich beschwert, daß Wallace auf Babylon 5 einen Polizeistaat installierte. Auf der ganzen Station liefen Gerüchte um über Leute, die aus keinem anderen Grund verhaftet wurden, als daß sie vom Mars kamen. Es gab Gerüchte über erzwungene telepathische Sondierungen, selbst über Folterungen und Drogen. Aber trafen diese Gerüchte zu? Gab es denn überhaupt eine Grundlage dafür? »Ich bin mir noch nicht sicher, inwieweit sie begründet sind«, hatte Garibaldi auf Sheridans Fragen erwidert. »Ich weiß nur soviel, daß sie nicht völlig gegenstandslos sind. Aber selbst wenn es sich dabei um nichts weiter als um Gerüchte handelt, verweist das doch auf eine reale Unruhe auf der Station. Die Arbeiter, die Leute, auf die wir bei der Führung dieses Ortes angewiesen sind, haben Angst. Sie haben Angst, und sie sind wütend. Meiner Ansicht nach stellen diese Gerüchte eine ernsthafte Bedrohung der Ordnung und Sicherheit dar.«
»Und noch was«, war er nach einer Pause fortgefahren, als ob das nicht schon genug gewesen wäre. »Meines Wissens hat Commander Wallace den ihm unterstellten Mitgliedern des Sicherheitsdienstes befohlen, von mir keine Order entgegenzunehmen und mir keine Details von dem mitzuteilen, was er auf der Station treibt. Diese ganzen Verhaftungen ... Meinen eigenen Leuten wurde befohlen, sie vor mir zu verbergen. Verdammt, die halbe Station wußte vor mir darüber Bescheid!« Das war ein weiteres Problem, dem sich Captain Sheridan irgendwann heute stellen mußte. Wieder einmal Garibaldi und Wallace, die sich um Kompetenzen stritten. Er seufzte. »Captain Sheridan?« Sheridan unterdrückte einen Fluch und holte tief Luft. Ebensogut könnte er gleich aufgeben. Wenn es einmal begonnen hatte, würde es nicht mehr aufhören. »Ja? Was gibt es?« »Captain, Miss Winters würde Sie gern aufsuchen. Haben Sie Zeit?« Resigniert entgegnete er: »Ja, lassen Sie sie reinkommen. Gibt es noch weitere Anrufe?« »Bis jetzt nicht, Captain.« Die Telepathin betrat das Büro. Sie schien besorgt, wegen irgend etwas beunruhigt. Er lächelte, um es ihr leichter zu machen. »Miss Winters. Kommen Sie rein, setzen Sie sich. Gibt es ein Problem, bei dem ich Ihnen helfen kann?«
»Nun, Captain ...« Sie saß hochaufgerichtet auf der Kante ihres Stuhles. »Sie werden wissen, daß mich Commander Wallace gebeten hat, ihn bei der Befragung von Zeugen im Ortega-Fall zu unterstützen. Ich weiß, es gehört zu meinen Pflichten, den Behörden in derartigen Belangen zu helfen, aber ich möchte wirklich ... Captain, kann er mir befehlen, das zu tun?« Sheridan runzelte die Stirn, als er sich daran erinnerte, was Garibaldi letzte Nacht gesagt hatte. »Warum? Ist etwas nicht in Ordnung daran?« »Ich bin mir nicht sicher. Einige scheinen nicht freiwillig zugestimmt zu haben, sich scannen zu lassen. Commander Wallace nennt sie Zeugen im Mordfall Ortega, aber die meisten wissen darüber überhaupt nichts. Er spricht von Terrorismus, aber er scheint mir derjenige zu sein, der hier terroristische Methoden anwendet. Ich bin einfach nicht glücklich darüber, in all das verwickelt zu sein.« »Schon klar. Nun, Miss Winters, wenn Sie wissen wollen, ob Commander Wallace Ihnen die Mitarbeit befehlen kann, ist die Antwort: Nein, er kann es nicht. Sie unterstehen nicht militärischer Befehlsgewalt. Andererseits macht es, wie Sie wissen, Ihre Lizenz als Telepathin nötig, mit den legalen Behörden zu kooperieren. Sie können sich weigern, aber dann hätte Commander Wallace das Recht, sich beim Psi-Corps über Sie zu beschweren, und möglicherweise um die Mitarbeit eines anderen Telepathen nachzusuchen. Sie wissen wohl besser
als ich, wie das Psi-Corps in diesem Fall reagieren würde.« Talia sah unglücklich aus. »Nun, ja, ich bin mir dessen bewußt. Ich habe mich nur gefragt... Ich meine, Sie stehen über ihm, Sie tragen die Verantwortung für Babylon 5. Können Sie Commander Wallace befehlen, seine Untersuchung auf andere Weise durchzuführen?« »Nun ja«, begann Sheridan. Die Antwort ließ dieses Mal länger auf sich warten. »Da haben wir ein Problem. Ich habe zwar das Kommando über die Station, aber in der Angelegenheit dieser Untersuchung kommen Commander Wallace' Befehle direkt von der Zentrale. In dieser Hinsicht ist er mit der vollen Befehlsgewalt ausgestattet. Wenn Sie also wissen wollen, wo mein Zuständigkeitsbereich endet und der seine beginnt ... Das ist so eine Art Grauzone. Was aber keiner von uns in dieser Situation will, ist eine Einmischung von Earth Central.« »Ich verstehe.« »Natürlich kann ich mit dem Commander sprechen. Ich kann ihm Ihre Besorgnis mitteilen.« »Danke, Captain.« »Tut mir leid, daß ich Ihnen keine größere Hilfe sein kann, Miss Winters, aber ich fürchte, wenn der Commander auf Ihrer Mitarbeit besteht, wird das eine Sache zwischen Ihnen und dem Psi-Corps sein.«
Sie erhob sich. »Ich bin froh, daß Sie sich die Zeit für mich genommen haben.« Sheridan sah ihr nach, glücklich darüber, daß er kein Telepath war. Das Psi-Corps hatte seine eigene Disziplin, die anders war als die des Militärs. Hermetisch. Die stärksten Telepathen wurden Polizisten, um die übrigen zu kontrollieren. Er nahm an, daß das so sein mußte, aber da war doch etwas Finsteres um das Corps in den schwarzen Uniformen. Er hoffte, daß mit Miss Winters alles in Ordnung war, aber er hatte ihr nichts als die Wahrheit gesagt; er konnte sich nicht wirklich einmischen, um ihr beizustehen. Jedenfalls nicht, ohne Wallace herauszufordern. Aber vielleicht war Wallace ja vernünftigen Argumenten zugänglich. Jedenfalls hoffte er das. Er kippte den Schalter seiner Interkom. »Hier Captain Sheridan. Commander Wallace, ich würde gern mit Ihnen bei der frühestmöglichen Gelegenheit sprechen.« Er erhielt keine Antwort. Sheridan befahl der Kommandozentrale: »Kontaktieren Sie Commander Wallace für mich! Er soll mich anrufen. Dringend.« Einen Augenblick später kam die Antwort. »Captain, keine Rückmeldung von Commander Wallace.« Sheridans Gesichtsausdruck verdüsterte sich. »Kontaktieren Sie ihn noch mal! Machen Sie das,
bis es klappt! Ich befehle ihm, sich in meinem Büro zu melden. Jetzt.« Wallace tauchte weder in der nächsten Minute auf noch in den nächsten zehn. Mit zwei Stunden Verspätung erschien er in der Kommandozentrale. Sheridan konnte ihm die kalte Wut darüber ansehen, daß man ihn herzitiert hatte. Aber es war ihm einerlei. »Commander, ich habe Sie bereits vor geraumer Zeit gerufen. Sie haben nicht geantwortet.« »Ich habe einen Zeugen verhört. Ich befahl die Abschaltung aller Verbindungen.« »Commander, ich fange an, einige Fragen hinsichtlich der Ausübung Ihrer Autorität auf dieser Station zu haben. Und genau in diesem Augenblick steuern Sie noch eine bei. Als kommandierender Offizier von Babylon 5 erwarte ich eine Antwort, wenn ich Sie kontaktiere. Oder halten Sie sich für ausgenommen von den üblichen Regeln und Verfahrensweisen der Earthforce?« Wallace entgegnete steif: »Nein, dem ist nicht so.« »In diesem Fall erwarte ich, daß Sie in Zukunft eine Leitung für Notfälle offenhalten. Jetzt möchte ich Ihnen, wie ich schon sagte, einige Fragen hinsichtlich der Art und Weise stellen, wie Sie Ihre Untersuchung durchführen. Es gibt Gerüchte, daß Sie unzulässige Methoden zur Erlangung von Informationen anwenden, und das sorgt für Unruhe auf der Station bis zu einem Grad, der Sorgen über
die Sicherheit aufkommen läßt. Auch die lizensierte Telepathin der Station hat ihren Vorbehalten Ausdruck verliehen.« Wallace' Miene blieb hart. »Captain, ich bin Ihnen über die Durchführung meiner Ermittlungen keine Rechenschaft schuldig. Wenn Ihre Station Sicherheitsprobleme hat, muß Mr. Garibaldi damit fertig werden. Das ist sein Job, wie er wiederholt betont hat. Und wenn Sie meine Autorität in Frage stellen wollen, schlage ich vor, daß Sie Earth Central kontaktieren.« »Das werde ich, Commander.« »Ist sonst noch etwas, Captain?« »Nein. Sie können gehen. Aber bleiben Sie erreichbar. Das ist ein Befehl.«
14 Das Atmen in der Kommandozentrale schien leichter, nachdem Wallace draußen war. Sheridan hatte jedoch die unangenehme Empfindung, einen Fehler gemacht zu haben. Zu dumm, daß er die Geduld verloren hatte, ein Effekt, den Commander Wallace allgemein auf andere zu haben schien. Und jetzt würde er bei Earth Central um Klarstellung nachsuchen müssen, wo die Grenzen seiner Autorität lagen, und es gab keine Garantie dafür, daß ihm die Antwort gefallen würde. Aber vielleicht war diese Zuspitzung von Beginn an unausweichlich gewesen, von dem Zeitpunkt an, da Wallace seinen Fuß auf Babylon 5 gesetzt hatte. Garibaldi hatte es kommen sehen, und er hatte versucht, ihn zu warnen. Nun, wenn es ohnehin unausweichlich war ... »Einen Goldkanal zur Übermittlung einer Nachricht zur Erde, bitte!« ... könnte er es ebensogut gleich hinter sich bringen.
Talia Winters hielt kurz inne, bevor sie die Tür zum Interviewraum öffnete. Verhörzimmer schien ihr zutreffender. Der Raum war ein Bestandteil von Commander Wallace' privaten Befragungsmethoden, das, was er seinen Kommandobereich nannte. Ein Mann saß auf einem Stuhl in der Mitte des Raumes, und an ihrem Tisch thronte Lieutenant Miyoshi, die mit ihren flachen, schwarzen Augen aufblickte. »Sie sind spät dran.« »Ich hatte zu tun. Und eine Verabredung mit dem Captain.« »Jede Minute, die Sie zu spät sind, verzögert diese Untersuchung.« Miyoshi funkelte sie an. »Von nun an haben Sie nichts anderes zu tun. Sie sind die einzige lizensierte Telepathin auf dieser Station. Unsere Ermittlung benötigt Ihre Dienste. Uns wurde zugesichert, daß Sie verfügbar sind.« »Nun machen Sie aber mal halblang!« »Nein, ich habe lange genug gewartet. Es ist genug. Ich habe heute noch vier Zeugen zu befragen, die möglicherweise alle lügen.« Miyoshi wandte sich wieder ihrem Tisch zu, zog eine Schublade auf und nahm etwas heraus. »Ich möchte, daß Sie sich das hier ansehen, Miss Winters. Commander Wallace teilte mir mit, daß Sie unsere Befehlsgewalt in Frage stellen.« Talia berührte widerstrebend den Gegenstand. Es war eine Systemkarte, und bei der Berührung ihrer behandschuhten Finger nahm ein Holo-Symbol Gestalt an, das sich schillernd von der Karte erhob.
Gleichzeitig erzwang eine Botschaft Zugang zu ihrem Bewußtsein: Gehorche! Keine Fragen! Gehorche! Talia fuhr mit einem verhaltenen Schreckensruf zurück, und die Karte nahm wieder ihr flaches, merkmalloses Aussehen an. Miyoshi, die sie beobachtet hatte, trug ein vages Lächeln auf den Lippen. »Stellen Sie immer noch meine Autorität in Frage, Miss Winters?« Talia erschauerte. »Nein«, sagte sie lahm. »Sehr gut«, schnappte Miyoshi. »Dann an die Arbeit. Ich habe schon zuviel Zeit vergeudet und noch eine Menge Fragen.« »Commander Ivanova wie befohlen angetreten, Captain.« Sheridan seufzte innerlich. Pünktlich, korrekt, uniformiert. Ihr Salut hätte in einem Lehrbuch gezeigt werden können. Nur ihre Augen waren anders als sonst, ein anderer Ausdruck stand in ihnen, wie nach einer Niederlage. Er versuchte vorzugeben, dies nicht zu bemerken. »Commander, bitte setzen Sie sich. Sie wissen, daß ich über eine zeitweilige Verwendung anderenorts für Sie nachgedacht habe, bis die Dinge wieder ins Lot gekommen sind. Und nun habe ich Ihren Report gelesen.« Er legte eine Pause ein und sah, wie ihr Gesicht einen verwirrten Ausdruck annahm. »Ihr Bericht über die gegenwärtige Lage hinsichtlich der Freibeuter«, erklärte er. »Wie sie die Lieferungen
strategischer Metalle ausspionieren. Sehr gute Analyse. Und etliche exzellente Vermutungen.« »Dann haben Sie ... von Earth Central Antwort erhalten?« »Nein. Noch nicht. Von dort ist nichts gekommen, außer, daß sie die Sache weiter prüfen.« »Oh.« »Nun, wie ich schon sagte, finden sich hier einige exzellente Vorschläge. Wenn Ihre Analyse korrekt ist, stimme ich besonders der Auffassung zu, daß es ein leichtes sein sollte, die Transporte mit dem höchsten Angriffsrisiko zu identifizieren, um sie mit einer Eskorte zu versehen. Ich weiß, Ihr Report unterstreicht die Tatsache, daß unsere Mittel zu begrenzt sind, um Geleitschutz für jeden Frachter bereitzustellen, der durch den Epsilon-Sektor kommt. Wenn wir jedoch, wie Sie vorschlagen, die Transporte identifizieren, die mit einer Ladung Morbidium oder anderen strategischen Metallen vom Mars-Hafen kommen, schätze ich, daß wir Resultate erhalten, die die Mühe mehr als rechtfertigen.« Er wartete. Ivanova sah plötzlich verblüfft drein. »Commander?« »Ja, Sir. Transporte, die vom Mars-Hafen kommen. Morbidium-Ladungen. Ganz genau.« »Ja. Was ich also jetzt von Ihnen will, ist, daß Sie das Kommando über die Alpha-Staffel übernehmen und diese Strategie so gründlich wie möglich verfolgen. Wenn erst einmal die anfälligen Ladungen identifiziert sowie Route und Zeitplan
festgestellt sind, werden Sie in der Lage sein, die Transporte abzufangen und zu eskortieren. Haben Sie noch Fragen?« »Nein, Sir. Aber ich weiß es sehr zu schätzen, daß Sie mir diesen Auftrag gegeben haben.« »Ich will Resultate, denken Sie daran.« Ihr Lächeln war etwas verrutscht. »Ich habe doch schon immer gesagt, daß ich mehr Flugzeit haben möchte, oder? Danke, Sir.« Ihre erste Handlung war, sich dem Interkom zuzuwenden, um sich mit Garibaldi in Verbindung zu setzen. »Hier Ivanova. Ich glaube ... ich weiß, was es ist!« »Was was ist?« »Die Verbindung. Der wahre Grund, warum sie mich reinlegen wollen. Es geht um den Mars.« Garibaldi hatte plötzlich ein paranoides Bild von Wallace vor Augen, der mittels eines Lecks im Kommunikationssystem der Station zuhörte. »Ich denke, wir reden lieber unter vier Augen darüber«, warnte er Ivanova. Ein Augenblick verwirrten Schweigens von der anderen Seite der Verbindung folgte. Dann: »Ich bin gerade bei der Kommandozentrale.« Sie trafen sich dort und entschieden sich für Ivanovas Quartier. Doch ehe er sie zu Wort kommen ließ, deaktivierte Chief Garibaldi den Computer und durchsuchte die Räume nach Mikrophonen. »In Ordnung«, sagte er schließlich, »was war das über
den Mars? Sie meinen, Ortega war ein Teil der Bewegung >Freier Mars