François Lelord
Hector und die Entdeckung ...
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François Lelord
Hector und die Entdeckung der Zeit Aus dem Französischen von Ralf Pannowitsch
Piper München Zürich
Die französische Ausgabe erscheint 2006 unter dem Titel »Le nouveau voyage dʹHector. Á la poursuite du temps qui passe« bei Éditions Odile Jacob in Paris. Von François Lelord liegen außerdem im Piper Verlag vor: Hectors Reise oder die Suche nach dem Glück Hector und die Geheimnisse der Liebe Die Macht der Emotionen und wie sie unseren Alltag bestimmen (mit Christophe Andre; Serie Piper 4631) ISBN‐13: 978‐3‐492‐04936‐8 ISBN‐10: 3‐492‐04936‐2 © François Lelord, 2006 Deutsche Ausgabe: © Piper Verlag GmbH, München 2006 Satz: Satz für Satz. Barbara Reischmann, Leutkirch Druck und Bindung: Clausen & Bosse, Leck Printed in Germany www.piper.de
Gewidmet all jenen, die Hector inspiriert haben
Hector ist kein richtig junger Psychiater mehr Es war einmal ein junger Psychiater namens Hector. Eigentlich war er kein ganz junger Psychiater mehr, aber Vorsicht, ein alter Psychiater war er eben auch noch nicht! Von weitem hätten Sie ihn für einen jungen Mann halten können, der seinen Doktortitel noch nicht erworben hatte, aber aus der Nähe erkannten Sie besser, daß er bereits ein richtiger Doktor mit einer gewissen Erfahrung war. Als Psychiater hatte Hector eine sehr wichtige Eigenschaft: Wenn man mit ihm sprach, wirkte es immer so, als würde er viel nachdenken über das, was man ihm erzählte. Die Leute, die in seine Sprechstunde kamen, mochten ihn dafür sehr, denn sie hatten den Eindruck, daß er über ihren Fall nachsann (was auch fast immer stimmte) und das Mittel herausfinden würde, mit dem es ihnen wieder besser ging. Zu Beginn seiner Karriere hatte sich Hector beim Nachdenken den Schnurrbart gezwirbelt, aber jetzt trug er keinen mehr. Als debütierender Psychiater hatte er sich einen wachsen lassen, um älter auszusehen, und heute war das nicht mehr nötig, weil er eben kein wirklich junger Psychiater mehr war. Die Zeit war, wie man so sagt, nicht spurlos an ihm vorübergegangen. An den Möbeln seines Sprechzimmers allerdings war sie durchaus ein bißchen vorübergegangen, denn Hector hatte die Einrichtung seiner Anfänge behalten – mit einer altertümlichen Couch, die ihm von seiner Mutter geschenkt worden war, als er sich niedergelassen hatte, mit hübschen Bildern, die er sehr mochte, und sogar einer kleinen Skulptur, die ihm ein Freund aus dem Land der Eskimos mitgebracht hatte: einem Bären, der
sich gerade in einen Adler verwandelte, was bei einem Psychiater ziemlich originell war. Von Zeit zu Zeit, wenn Hector den Patienten zuhörte und sich schon allzulange in seinem Sprechzimmer eingezwängt fühlte, blickte er auf den Bären mit den großen Flügeln, die ihm aus dem Rücken wuchsen, und dann träumte er, daß er selbst abheben und davonfliegen würde – aber nur eine kleine Weile, denn schnell kamen ihm Schuldgefühle, wenn er der Person, die da vor ihm saß und von ihrem Unglück erzählte, nicht richtig zuhörte. Hector war nämlich ein gewissenhafter Bursche. Die meiste Zeit sah er erwachsene Leute, die einen Psychiater zu konsultieren beschlossen hatten, weil sie zu traurig waren oder zu unruhig oder nicht zufrieden mit ihrem Leben. Hector ließ sie reden, stellte ihnen Fragen und gab ihnen manchmal auch kleine Pillen – und oft alles drei zusammen, ein bißchen wie jemand, der mit drei Bällen gleichzeitig jongliert, und min‐ destens ebenso schwierig ist die Psychiatrie auch. Hector Liebte seinen Beruf sehr, zuallererst einmal, weil er oft das Gefühl hatte, nützlich zu sein. Außerdem interessierte ihn fast immer, was seine Patienten ihm erzählten. Von Zeit zu Zeit sah Hector zum Beispiel eine junge Dame, Sabine, die ihm stets Sachen berichtete, über die er nachden‐ ken mußte. Denn mit Hectors Beruf ist es kurios: Wenn man seinen Patienten zuhört, lernt man eine Menge Dinge, wäh‐ rend die Patienten häufig annehmen, man wüßte schon bei‐ nahe alles. Das erste Mal war Sabine in Hectors Sprechstunde gegangen, weil ihr bei der Arbeit zu viele Emotionen hochkamen. Sabine arbeitete in einem Büro, und ihr Chef war nicht nett zu ihr, er brachte sie oft bis an den Rand der Tränen. Zum Weinen versteckte sie sich selbstverständlich immer, aber ganz schön ärgerlich war es trotzdem. Nach und nach ließ Hector das Gefühl in ihr entstehen, daß sie vielleicht etwas Besseres verdient hatte als einen unnetten
Chef, und Sabine gewann genügend Selbstvertrauen, um sich eine neue Stelle zu suchen, und jetzt war sie glücklicher. Allmählich hatte sich Hectors Arbeitsweise gewandelt. Zu Beginn hatte er den Leuten vor allem helfen wollen, ihren Cha‐ rakter zu ändern. Das tat er natürlich immer noch, aber jetzt versuchte er ihnen auch zu helfen, ein neues Leben zu finden, das besser zu ihnen paßte. Denn – um einen schönen Vergleich anzustellen – wenn Sie eine Kuh sind, werden Sie es niemals schaffen, sich in ein Pferd zu verwandeln, selbst mit einem gu‐ ten Psychiater nicht, und es wäre besser, Sie fänden eine hüb‐ sche Weide an irgendeinem Fleck, wo man Milch braucht, statt immerfort zu versuchen, auf der Pferderennbahn herumzu‐ galoppieren. Und vor allem sollten Sie keine Stierkampfarena betreten, denn so etwas ist immer eine Katastrophe. Sabine wäre nicht besonders erfreut gewesen, wenn man sie mit einer Kuh verglichen hätte, die doch ein sanftmütiges und sympathisches Tier ist und außerdem, wie Hector schon immer gedacht hatte, eine sehr gute Mutter. Man muß dazu sagen, daß Sabine auch sehr intelligent war, und bisweilen machte sie das nicht froh, denn wie Sie vielleicht selbst schon bemerkt haben, bedeutet Glück manchmal, daß man nicht alles begreift. Eines Tages meinte Sabine zu Hector: »Manchmal sage ich mir, daß das Leben ein einziger Betrug ist.« Hector schreckte hoch. »Was wollen Sie damit sagen?« fragte er. (Das waren seine üblichen Worte, wenn er es beim ersten Mal nicht richtig ver‐ standen hatte.) »Na ja, man wird geboren, muß sofort funktionieren, in die Schule gehen, arbeiten, Kinder kriegen, und dann sterben einem die Eltern weg, und wutsch, schon wird man selber alt, und es ist vorbei.« »Aber das dauert immerhin eine gewisse Zeit, nicht wahr?« »Ja, aber es geht alles so schnell vorüber. Vor allem, wenn man nie Zeit hat, mal richtig innezuhalten. Ich zum Beispiel –
tagsüber der Job, abends die Kinder und mein Mann. Und auch er kommt nie zum Atemholen, der Ärmste.« Sabine hatte einen netten Ehemann (einst hatte sie auch einen netten Väter gehabt, was die Chancen erhöht, gleich beim ersten Versuch einen netten Mann zu finden). Er arbeitete eine Menge, und zwar ebenfalls in einem Büro, und dann hatten sie noch zwei kleine Kinder, von denen das eine gerade in die Schule gekommen war. »Ich habe immer das Gefühl, mir würde eine Uhr im Bauch stecken«, sagte Sabine. »Morgens muß ich alles vorbereiten, dann rechtzeitig loskommen, um die Kleine zur Schule zu brin‐ gen, danach flitze ich ins Büro, und es gibt Sitzungen, zu denen man pünktlich erscheinen muß, während sich die restliche Arbeit immer mehr anhäuft, und auch abends muß ich mich beeilen, das Kind abholen oder pünktlich dasein, wenn das Kindermädchen Schluß hat, und dann ist das Abendessen zuzubereiten, und die Hausaufgaben sind durchzusehen, und dabei gehöre ich ja noch zu den Glücklichen, denn mein Mann hilft mir. Spät am Abend haben wir gerade noch ein paar Augenblicke Zeit, miteinander zu reden, und dann schlafen wir sofort ein, weil wir so erledigt sind.« Hector wußte das alles, und vielleicht war dies auch ein wenig der Grund gewesen, weshalb er eine Menge Zeit damit verbracht hatte, darüber nachzudenken, ob man es nicht in Er‐ wägung ziehen könnte, es sich vielleicht einmal zu überlegen, ob man sich dafür entscheiden sollte, allen Ernstes daran zu denken, sich zu verheiraten und Babys in die Welt zu setzen. »Ich wünschte mir, die Zeit würde langsamer verrinnen«, sagte Sabine. »Ich möchte Zeit haben, das Leben auszukosten. Zeit für mich selbst, um all das machen zu können, was mir vorschwebt.« »Und wie ist es im Urlaub?« fragte Hector. Sabine lächelte. »Sie haben keine Kinder, nicht wahr?«
Hector gab zu, daß er tatsächlich kinderlos war, vorläufig jedenfalls. »Ich glaube, letzten Endes komme ich auch deshalb in Ihre Praxis«, sagte Sabine. »Diese Konsultation ist der einzige Au‐ genblick, an dem der Zeiger für mich stillsteht und die Zeit voll und ganz mir gehört.« Hector verstand Sabine gut, um so mehr, als auch er während des Arbeitstages oft den Eindruck hatte, eine Uhr im Bauch zu tragen – und all seinen Kollegen erging es ebenso. Wenn Sie Psychiater sind, müssen Sie immerzu auf die Zeit achten, denn wenn Sie einen Patienten zu lange reden lassen, sitzt im Warte‐ zimmer schon der nächste und wird ungeduldig, und dann geraten Sie mit allen restlichen Terminen in Verzug. {Manchmal war es sehr schwierig, denn es konnte passieren, daß drei Minuten vor Ende der Konsultation, gerade in dem Moment, wo Hector in seinem Sessel hin‐ und herzurutschen begann, um anzudeuten, daß die Zeit gleich vorüber war, die Person ihm gegenüber plötzlich sagte »Doktor, im Grunde glaube ich, daß meine Mutter mich niemals geliebt hat« und daraufhin in Tränen ausbrach.)
Die Uhr im Bauch, sagte sich Hector. Das war ein Problem für so viele Menschen. Was aber sollte er tun, um ihnen zu helfen
Hector und der Hundeliebhaber Ein andermal hörte Hector Fernand zu, einem leicht seltsamen Herrn, der nichts Besonderes an sich hatte, außer daß er keine Freunde besaß. Eine Frau hatte er auch nicht und eine kleine Freundin ebensowenig. Ob das wohl an seiner eintönigen Re‐ deweise lag oder an der Tatsache, daß er ein bißchen wie ein Reiher aussah? Hector wußte es nicht, aber jedenfalls fand er es sehr ungerecht, daß Fernand keine Freunde hatte, denn er war nett und sagte sehr interessante Dinge, wenngleich sie zugege‐ benermaßen ein wenig bizarr klangen. Eines Tages sagte Fernand plötzlich: »Wie dem auch sei, Dok‐ tor, in meinem Alter bleiben mir eh bloß noch zweieinhalb Hunde.« »Pardon?« sagte Hector. Er erinnerte sich, daß sein Patient einen Hund hatte. Eines Ta‐ ges war Fernand mit ihm in die Praxis gekommen, und es war ein wohlerzogener Hund gewesen, der während der ganzen Konsultation geschlafen hatte. Aber er besaß doch keine zwei Hunde, und noch weniger verstand Hector, was ein halber Hund sein sollte. »Na ja«, meinte Fernand, »ein Hund lebt so vierzehn, fünf‐ zehn Jahre, nicht wahr?« Und da begriff Hector, daß Fernand die ihm verbleibende Zeit nach den Leben der Hunde zählte, die er noch als Gefähr‐ ten würde haben können. Gleich mußte sich auch Hector daranmachen, die Lebens‐ frist, die er noch vor sich hatte (die er wahrscheinlich noch vor sich hatte, denn Sie kennen ja weder den Tag noch die Stunde,
wie schon vor langer Zeit jemand gesagt hatte, der ziemlich jung gestorben war) – gleich also mußte er seine eigene Lebens‐ frist in Hundeleben zählen, und er schwankte zwischen drei und vier. Natürlich sagte er sich, daß diese Berechnungen noch kippen konnten, falls die Wissenschaft außergewöhnliche Fort‐ schritte dabei machen sollte, einem das Leben zu verlängern, aber letzten Endes würden sie vielleicht doch nicht kippen, weil man dann wohl auch das Leben der Hunde verlängern würde – und dies, wohlgemerkt, ohne sie nach ihrer Meinung zu fragen. Hector berichtete seinen Freunden von jener Methode, das eigene Leben nach Hundeleben zu berechnen, und sie reagier‐ ten völlig entsetzt: »Aber das ist ja schrecklich!« »Und außerdem ist es doch sehr traurig, an den Tod seines Hundes zu denken.« »Genau! Ich werde mir nie wieder einen anschaffen – der Tod unseres kleinen Darius war einfach zu bitter!« »Du triffst wirklich Leute, die total plemplem sind!« »Die Zeit in Hunden zählen! Warum nicht gleich in Katzen oder Papageien?« »Und wenn er zu Hause eine Kuh hätte, würde er in Kühen zählen, oder was?« Als Hector all seinen Freunden dabei zuhörte, wie sie über Fernands Idee sprachen, begriff er, daß ihnen eine Sache über‐ haupt nicht gefiel: Wenn man sein Leben in Hunden zählte, er‐ schien es gleich viel kürzer. Zwei, drei oder vier Hunde, selbst fünf – das verschafft uns nicht gerade den Eindruck, daß wir noch eine lange Spanne Zeit vor uns hätten! Jetzt verstand er besser, weshalb Fernand den Leuten ein biß‐ chen angst machte mit seiner sonderbaren Sicht auf die Dinge. Hätte er sein Leben in Kanarienvögeln oder Goldfischen ge‐ zählt, wäre er womöglich leichter zu Freunden gekommen. Mit seiner Einsamkeit und seiner bizarren Art hatte Fernand den Finger auf ein wirkliches Problem in Sachen Zeit gelegt.
Eine Menge Poeten hatten davon seit jeher gesprochen und Sa‐ bine auch: die dahinfliegenden Jahre, die Flucht der Stunden, die zu schnell verrinnende Zeit.
Hector und der Junge, der die Zeit beschleunigen wollte Von Zeit zu Zeit kamen auch Kinder in Hectors Sprechstunde, und dann waren es natürlich die Eltern, die es so beschlossen hatten. Keine Kinder, die richtig krank waren, sondern eher solche, deren Eltern es schwerfiel, sie zu verstehen, oder auch allzu traurige, allzu ängstliche oder allzu zappelige Kinder. Eines Tages unterhielt er sich mit einem kleinen Jungen, der amüsanterweise ebenfalls Hector hieß. Petit Hector langweilte sich in der Schule schrecklich, die Zeit schien ihm dort viel zu langsam zu verstreichen, und so hörte er nicht richtig zu und hatte hinterher miese Noten. Der große Hector fragte den kleinen: »Und was würdest du dir heute von allen Dingen auf der Welt am meisten wün‐ schen?« Petit Hector brauchte nicht eine Sekunde nachzudenken: »Ich will sofort erwachsen sein!« Hector war überrascht. Er hatte damit gerechnet, daß Petit Hector antworten würde »Meine Eltern sollen wieder zusam‐ menkommen« oder »Ich möchte bessere Schulnoten haben« oder vielleicht »Ich möchte mit meinen Freunden in den Ski‐ urlaub fahren können«. Er fragte Petit Hector, weshalb er auf der Stelle erwachsen werden wolle. »Um selbst zu entscheiden!« antwortete Petit Hector. Wenn er nämlich jetzt sofort ein Großer wäre, erklärte der kleine Hector weiter, könnte er selbst bestimmen, um wieviel Uhr er schlafen ging, wann er aufstand, wohin er in die Ferien
fahren und welche Freunde er sehen wollte; er könnte sich ver‐ gnügen, womit er mochte, er brauchte die Erwachsenen nicht zu sehen, die er nicht sehen wollte (die neue Freundin seines Vaters beispielsweise), und er könnte einen richtigen Beruf ha‐ ben, denn in der Schule zu sitzen war doch kein richtiger Beruf, und außerdem hatte man es sich auch gar nicht ausgesucht, und trotzdem mußte man dort Stunden und Jahre damit zubringen, die Zeit schneckenhaft langsam dahinkriechen zu sehen und sich furchtbar zu langweilen. Hector dachte, daß sich Petit Hector falsche Vorstellungen vom Erwachsenenleben machte, denn immerhin mußten auch die Großen Dinge tun, die sie nicht gern taten, und Leute treffen, die sie lieber gemieden hatten. Das sagte er ihm aber nicht, denn für den Augenblick war es keine schlechte Sache, wenn Petit Hector von einer glücklichen Zukunft träumte, wo es doch mit seiner Gegenwart nicht so rosig aussah. Und so fragte er Petit Hector: »Aber wenn du jetzt auf der Stelle ein Erwachsener wärst, würde das doch auch bedeuten, daß du schon eine ganze Menge Jahre hinter dir hättest und daß dir eine kürzere Spanne Leben übrigbliebe. Würde dich das nicht ärgern?« Petit Hector überlegte. »Einverstanden – das ist ein bißchen, als wenn man im Vi‐ deospiel ein Leben weniger hat, ärgerlich ist das schon ... Aber es verdirbt einem doch nicht den Spaß am Weiterspielen!« Und dann blickte er Hector an. »Ärgert es Sie denn, daß Sie schon ein oder zwei Leben weni‐ ger haben?« Und der große Hector sagte sich, daß Petit Hector eines Tages vielleicht Psychiater werden würde.
Hector denkt nach Wenn sein Arbeitstag zu Ende war, dachte Hector oft an all die Menschen, denen er zugehört hatte und die ihren Kummer mit der Zeit hatten. Er dachte an Sabine, die die Zeit gern angehalten hätte. An Fernand, der die Zeit in Hundeleben zählte. An Petit Hector, der die Zeit beschleunigen wollte. Und er dachte noch an viele andere ... Hector verbrachte immer mehr Zeit damit, über die Zeit nachzudenken.
Hector ist gewissenhaft Hector stellte fest, daß beinahe alle Leute, die in seine Sprech‐ stunde kamen, von zweierlei Sorgen geplagt wurden. Die einen hatten Angst vor der zu rasch verrinnenden Zeit, und dies ist eine ziemlich lästige Angst, denn gegen die Schnelligkeit der Zeit können wir nicht groß was ausrichten. Es ist ein bißchen, als wenn wir auf einem galoppierenden Pferd säßen, das nicht auf unsere Kommandos hört. (Genau das war Hector schon einmal passiert, und es hatte ihm mächtig Angst eingejagt.) Andere Leute wiederum fanden, daß die Zeit zu langsam da‐ hintröpfelte, und für sie war es, als säßen sie auf einem Esel, der einfach nicht lostraben wollte. Man muß dazu anmerken, daß es vor allem die jungen Leute waren, die Hector so etwas sagten, oder auch Leute, die sich sehr unglücklich fühlten und bessere Zeiten herbeisehnten, und währenddessen schien ihnen jeder Tag Wochen zu dauern. Hector dachte, daß er den von der Zeit geplagten Leuten viel‐ leicht helfen konnte, indem er ihnen kleine Übungen vorschlug, mit denen sie zum Nachdenken angeregt wurden. Hector griff nach seinem Notizbüchlein. Er dachte an Fer‐ nand und schrieb: Zeit‐Etüde Nr. 1: Berechnen Sie Ihre Lebensfrist in Hundeleben. Dies war vielleicht eine gute Übung, wenn man sich klar‐ machen wollte, daß man mit den Dingen, die man gerne ma‐ chen würde, nicht zu lange warten soll. Andererseits konnte sie einem noch größere Angst einjagen vor der verstreichenden Zeit und besonders vor der Frist, die einem selbst blieb. War es wirklich eine so gute Übung? Hector erinnerte sich, einst in der
Schule gelernt zu haben, daß gewisse Philosophen ein Leben für gut hielten, in dem man sich tagtäglich vor Augen führte, daß es einmal zu Ende sein würde. Es hatte sogar einen gege‐ ben, der jeden Abend zum Schlafengehen Musik erklingen und Sänger an sein Bett treten ließ, die ihm vorsangen »Er hat ge‐ lebt!«, ganz als wäre es jedesmal sein Begräbnis. Aber Hector wußte ja, daß manche Leute ein bißchen verrückt waren, selbst unter den Philosophen (ja selbst unter den Psychiatern, aber er‐ zählen Sie das nicht weiter). Hector dachte an Petit Hector. Zeit‐Etüde Nr. 2: Listen Sie alles auf, was Sie sich als Kind zu tun und zu werden vorgenommen hatten, wenn Sie erst einmal erwachsen sein würden. Auch diese Übung konnte einem dabei helfen, sich mit dem zu beeilen, wozu man Lust verspürte. Sie konnte einen jedoch auch entmutigen, indem man sich nämlich sagte, daß es so‐ wieso schon zu spät war. Gern hätte Hector eine Übung gefun‐ den, die unter allen Umständen funktionierte. Er dachte an Sabine. Zeit‐Etüde Nr. 3: Messen Sie an einem bestimmten Tag die Zeit, die Sießr sich selbst haben. Schlafen zählt nicht mit (außer wenn Sie es im Büro tun). Es war wiederum schwer vorauszusehen, was diese Übung brachte. Manche Leute würden dabei merken, daß sie nicht eine ein‐ zige Minute für sich selbst hatten, sondern ihre ganze Zeit für andere Menschen hergaben – er mußte an Sabine denken –, manche Leute hingegen würden sich bewußt werden, daß sie nichts anderes zu tun hatten, als sich zu amüsieren oder an sich selbst zu denken. Aber Hector hatte schon herausgefunden, daß diese Leute davon nicht immer glücklich wurden und einige sich sogar umbringen wollten! Als Hector die drei Übungen beisammen hatte, spürte er deutlich, daß seine Liste noch ein wenig kurz war. Wenn er den
Leuten, die in seine Sprechstunde kamen, weiter gut zuhörte, konnte ihn das vielleicht auf neue Ideen bringen ... Und falls das nicht genügte? Nun, darüber konnte man auch später noch nachdenken.
Hector und ein Herr, der die Zeit zurückdrehen will »Schau an«, sagte sich Hector, »ich spüre, da ist eine neue Idee im Anmarsch.« Er hörte gerade Hubert zu, einem Herrn, der in der For‐ schung arbeitete, wie man so sagt. Hubert war Astronom: Er schaute die Sterne an und horchte sie aus, und zwar mit Ap‐ paraten, die so teuer waren, daß sich mehrere Länder der Welt zusammentaten, um sie sich leisten zu können, und dann stell‐ ten Hubert und seine Kollegen sehr komplizierte Berechnun‐ gen an, mit denen sie herausfinden wollten, wie es vor sehr langer Zeit mit der Welt angefangen hatte. Und sie fragten sich sogar, was vor dem Anfang der Welt gewesen war, und selbst, ob die Zeit damals schon existiert hatte, aber das würde jetzt ein bißchen kompliziert zu erklären sein und auch nicht ganz einfach zu verstehen. Hubert jedenfalls hatte eine schwere Depression durchge‐ macht, als er eines Tages merkte, daß er sich zwar die ganze Zeit für die Sterne interessiert, darüber aber nicht genug auf seine Frau geachtet hatte, und so war sie mit einem Herrn fort‐ gegangen, der es im Leben nicht groß zu was gebracht hatte, ansonsten aber ein ziemlich lustiger Kerl war. Hector hatte Hubert zu der Einsicht verholfen, daß er nicht immerzu auf die Vergangenheit zurückkommen durfte (ein bißchen wie bei den Forschungen über den Anfang der Welt verbrachte Hu‐ bert seine Zeit nämlich damit, herauszufinden, wann die Ge‐ schichte zwischen seiner Frau und jenem Herrn begonnen hatte). Hector erklärte ihm auch, daß es nicht so schrecklich
wichtig war zu wissen, bei wem die Schuld lag, sondern daß sich Hubert lieber der Zukunft zuwenden sollte, wobei er frei‐ lich versuchen mußte, sich um die nächste sympathische Frau, die ihm über den Weg lief, besser zu kümmern – selbst wenn das die endgültige Theorie über den Ursprung der Welt ein wenig verzögern sollte. Aber Hubert meinte immer noch: »Ich würde gern in die Zeit zurückkehren, als sie mich noch liebte.« Und wenn Hubert sagte »als sie mich noch liebte«, konnte er die Tränen nicht zurückhalten, und es war alles sehr traurig. »Und dann würde ich sie richtig lieben, ich würde aufmerk‐ sam sein und nicht wieder die gleichen Fehler machen. Wenn ich doch bloß zurück könnte ...« Mit den hochkomplizierten Studien, die er über die Sterne anstellte, hätte es Hubert eigentlich am besten wissen müssen, daß man in der Zeit nicht rückwärts reisen konnte – jedenfalls hätte so etwas all unsere Erklärungen über das Funktionieren der Welt über den Haufen geworfen –, aber trotzdem mußte er pausenlos daran denken. »Ach Doktor«, sagte Hubert, »wir in unserem Alter haben auf jeden Fall schon Bilanz zu ziehen.« Hector zuckte zusammen, denn er hielt sich für viel jünger als Hubert. Er entgegnete nichts, aber hinterher schaute er in den Karteikarten nach, wann Hubert geboren war. Und na ja, Hector war tatsächlich jünger, aber letzten Endes auch nicht so viele Jahre. Hector war ein bißchen enttäuscht. Die einzige Idee, zu der ihn Hubert inspiriert hatte, war die, daß er kein wirklich junger Psychiater mehr war, und das hatte er schon vorher gewußt. Aber jetzt hatte er es auch gefühlt, und wie den Psychiatern gut bekannt ist, gibt zwischen Wissen und Fühlen im Zweifelsfall das Fühlen den Ausschlag. Und schließlich hatte Hubert ihn doch noch an etwas Wichti‐ ges erinnert:
Zeit‐Etüde Nr. 4: Denken Sie an alle Personen und Dinge, denen Sie gegenwärtig nicht genügend Beachtung schenken, denn eines Ta‐ ges wird aus der Gegenwart Vergangenheit geworden sein, und dann ist es zu spät.
Hector und eine Dame, die jung bleiben möchte Gleich nachdem Hubert fortgegangen war, empfing Hector Marie‐Agnes, eine ziemlich charmante junge Frau, die dazu neigte, ihren Freunden den Laufpaß zu geben, sobald sie sich ein bißchen zu sehr in sie verliebt hatten. Und so hatte Hector länger mit ihr durchgehalten als all ihre früheren guten Freun‐ de, denn wenn Sie Psychiater sind, dürfen Sie sich nicht in Ihre Patienten verlieben, selbst wenn diese ziemlich nach Ihrem Ge‐ schmack sein sollten. Allmählich dämmerte es Marie‐Agnes, daß all ihre guten Freundinnen verheiratet waren und die meisten Männer, die Marie‐Agnes interessant fand, ebenso. »Wenn ich an die tollen Männer denke, die ich, als ich noch jünger war, einfach fallen gelassen habe ...« »Vielleicht waren es nicht die Richtigen für Sie«, schlug Hec‐ tor vor. »Oh, doch, und wenn ich heute sehe, was aus ihnen gewor‐ den ist, sage ich mir, daß ich doppelt bescheuert war, sie nicht bei mir zu halten.« »Wie? Alle miteinander?« »Natürlich nicht! Nur einen.« »Wird Ihnen diese Erfahrung vielleicht für die Zukunft nütz‐ lich sein?« wollte Hector wissen. »Zukunft? Aber in meinem Alter habe ich doch eine viel ge‐ ringere Auswahl. Ich glaube, meine Zukunft wird nie wieder so gut wie meine Vergangenheit.« »Wenn Sie in Zukunft genauso leben wollen, wie Sie es in Vergangenheit getan haben«, sagte Hector, »dann vielleicht.«
»Wollen Sie damit sagen, daß man mit neununddreißig nicht einfach so weiterleben kann wie mit zwanzig?« »Was meinen Sie denn selbst?« fragte Hector zurück. »Ach«, sagte Marie‐Agnes, »so um die Zwanzig, das ist trotz‐ dem der schönste Abschnitt des Lebens.« Hector dachte, daß dies nicht für jedermann zutraf, aber bei Marie‐Agnes stimmte es wahrscheinlich. »... man ist so unbekümmert, man kann sich die Männer aus‐ suchen, lebt frei dahin, denkt nicht daran, wie die Zeit ver‐ rinnt, und hat das Gefühl, es liege noch endlos viel Leben vor einem ... Wie gern würde ich wieder dorthin zurück!« »Sie sagten, Sie würden das nutzen, um sich schnell einen guten Ehemann auszusuchen ...« »Ja ... na gut, da widerspreche ich mir. Vielleicht würde ich alles genauso machen wie damals.« »Warum also der Vergangenheit nachtrauern?« fragte Hector. »Wegen des Gefühls, daß ich noch ein endlos langes Leben vor mir hatte«, meinte Marie‐Agnes, »denn jetzt habe ich dieses Gefühl nicht mehr.« Hector hatte Untersuchungen zu diesem Thema gelesen. Es gibt einen Moment, an dem einem das Leben, das man noch vor sich hat, wie eine unendlich lange Stoffbahn erscheint, aus der man Kleider aller Art schneidern kann, und dann gibt es einen Augenblick, in dem man merkt, daß die Stoffrolle ein Ende hat und man gut messen und rechnen muß, um noch eine einzige Garderobe herauszubekommen. (Natürlich haben Sie von Anfang an gewußt, daß die Rolle ein Ende hat, aber Wissen und Fühlen sind bekanntlich nicht dasselbe.) Je nach Person stellte sich der Eindruck, daß die Stoffbahn ein Ende hatte, ungefähr dann ein, wenn man noch zweieinhalb bis drei Hunde vor sich hatte. Die Psychiater nannten so etwas eine midlife crisis, und es verschaffte ihnen eine Menge Arbeit. »Ach, Doktor, und könnten Sie mir noch ein Rezept für meine Vitamine ausstellen?«
Und Hector fiel wieder ein, daß Marie‐Agnes, wenn sie schon die Zeit nicht aufhalten konnte, doch jedenfalls versuchte, die Auswirkungen der Zeit auf ihren Körper aufzuhalten, und da mangelte es nicht an sehr guten Tricks: Es gab mit Vitaminen an‐ gereicherte Ergänzungsmittel und für diese Ergänzungsmittel wiederum Ergänzungsmittel in allen möglichen Farben, und Marie‐Agnes bestellte sie per Internet; dreimal wöchentlich ging sie ins Fitneßstudio und machte eine Menge Gymnastik, und es stimmte schon, daß sie, wie auch Hector manchmal bemerkte, immer noch eine verdammt gute Figur hatte. Wenigstens vier‐ mal pro Tag aß sie Gemüse und Obst (was ihrer Mutter Freude machte, denn früher hatte sie es nie geschafft, ihre kleine Marie‐ Agnes zum Gemüseessen zu überreden); Zigaretten mied sie in‐ zwischen ganz und gar, Wein trank sie auch nicht mehr viel, und von den Fetten nahm sie nur die guten zu sich, das heißt, nicht solche, die von Kühen oder Schweinen stammten – ein Grund mehr, diese sympathischen Tierchen nicht zu essen. Vor allem aber vermied es Marie‐Agnes, sich von der Sonne bräunen zu lassen, denn sie wußte, daß es die Haut alt machte, und für ihr Gesicht nahm sie mindestens drei verschiedene Sorten von Cremes, je nachdem, ob es morgens, tagsüber oder abends war, und die für den Abend nannte sich »Anti‐Aging‐ Creme«. Hector dachte, daß all dies bestimmt sehr gut für die Ge‐ sundheit war und Marie‐Agnes noch eine ganze Weile jünger aussehen lassen würde, aber trotzdem hinderte es die Zeit nicht daran, weiter zu verrinnen. Und übrigens mußte auch Marie‐Agnes bisweilen das gleiche denken, denn eines Tages sagte sie zu Hector: »Wenn ich mich im Spiegel des Fitneßstudios herumhüpfen sehe oder vor meiner Batterie von Cremes stehe, frage ich mich manchmal, welchen Sinn das eigentlich hat. Warum soll man sich nicht einfach gehen lassen ... Warum nicht einfach lachen über diesen ganzen Plunder? Denn im Grunde ist es eine Sklaverei.«
Sklaven unseres Wunsches, jung zu bleiben – Hector fand diese Idee richtig gut, aber er wußte auch, daß Marie‐Agnes noch eine ganze Weile solch eine Sklavin bleiben würde, denn der Blick der Männer war für sie noch sehr wichtig. Als Marie‐Agnes gegangen war, machte er es ihr nach und schaute sich im Spiegel über dem Kamin an, und dabei ent‐ deckte er, daß er – und da war kein Zweifel möglich – zum er‐ sten Mal in seinem Leben ein paar weiße Haare hatte, knapp über den Ohren und ganz deutlich zu erkennen. Also war er kein wirklich junger Psychiater mehr. Am Ende sagte er sich, er müsse wie jedesmal, wenn er ein wichtiges Thema im Kopf hin‐ und herschob, unbedingt mit seiner Freundin Clara darüber reden. Aber er nahm sich noch die Zeit zu notieren: Zeit‐Etüde Nr. 5: Stellen Sie sich Ihr Leben als eine große Rolle Stoff vor, aus welcher man alle Kleidungsstücke geschneidert hat, die Sie seit Kindheitstagen getragen haben. Stellen Sie sich dann vor, welche Garderobe Sie aus der restlichen Rolle noch schneidern könnten.
Hector liebt Clara, Clara liebt Hector Mit Hector und Clara, das war eine lange Geschichte, selbst wenn sie beide noch ziemlich jung waren. Wir werden versuchen, es Ihnen zu erklären, aber wie bei allen Liebesgeschichten ist es nicht immer leicht zu verstehen, sogar für die nicht, die selbst in die Geschichte verwickelt sind. Clara und Hector hatten sich auf einem großen Kongreß für Psychiater kennengelernt, der von einem Konzern ausgerichtet worden war, der Medikamente herstellte und in dem Clara ar‐ beitete – zu viel arbeitete ... Hector hatte Clara ernsthafte Fragen nach den Medikamenten gestellt, und Clara hatte sie auch ganz ernsthaft beantwortet, aber gleich danach hatte Hector sie zum Lachen gebracht, und wieder danach hatte er sie angerufen, und wieder danach hatten sie festgestellt, daß sie beide verliebt waren. Und jetzt lebten Clara und Hector zusammen. Manchmal dachten sie daran, zu heiraten oder ein Baby in die Welt zu setzen, aber meistens war es so, daß sie nicht zur gleichen Zeit daran dachten. Bisweilen brach Hector zu einer Reise auf, und dabei, man muß es schon sagen, war es ihm pas‐ siert, daß er Dummheiten gemacht hatte, und eine Zeitlang hatte er nicht recht gewußt, wie es mit ihm stand. Clara hatte sich ihrerseits gefragt, ob Hector und sie es wohl je schaffen würden, ein Ehepaar zu werden, und manchmal hatte auch sie nicht mehr recht gewußt, wie es mit ihr stand. Aber in diesem Moment unserer Geschichte lebten Hector und Clara zusammen und dachten gerade mal wieder nach, ob sie nicht heiraten und ein Baby bekommen sollten.
Ob sie es wohl schaffen werden? Wenn Sie das Buch bis zum Ende durchlesen, werden Sie es wissen! Jedenfalls sprach Hector mit Clara eines Tages über dieses seltsame Phänomen: Fast niemand war mit der Zeit zufrieden. Und nachdem er von einigen Überlegungen seiner Patienten berichtet hatte, sprach er auch über sein Gefühl, kein richtig junger Psychiater mehr zu sein. Clara aber sagte zu ihm: »Ach, ihr Männer hinkt wirklich im‐ mer ein Stück hinterher!« Und sie erklärte Hector, daß sich der Eindruck, nicht mehr so ganz jung zu sein, bei Frauen schon viel früher einstellte. »Woran merken sie es denn?« wollte Hector wissen. »Das Nachrücken der Konkurrenz«, sagte Clara. Hector begriff nicht gleich, was Clara damit ausdrücken wollte, und das beweist, daß Psychiater auch nicht immer so pfiffig sind. Clara fuhr fort: »Und dann fühlen wir Frauen ohnehin viel stärker, wie die Zeit verrinnt. Wenn man jung ist, redet man sich lange Zeit ein, das wahre Leben werde ein bißchen später anfangen, und eines Tages wird einem klar, daß dieses ›Später‹ schon Vergangenheit ist. Meistens passiert das in dem Augenblick, wenn man im Gesicht die ersten Fältchen entdeckt, die anderen noch verborgen bleiben. Manchmal sage ich mir, daß ich mit meinem ewigen ›Später‹ eines Tages erleben werde, daß es zu spät ist. Zum Beispiel, um ein Kind zu bekommen ...« Und sie schaute Hector an, und der schaute Clara an. All das zeigt, daß Clara zwar wie eine optimistische junge Frau aussah, aber in manchen Augenblicken dennoch in tiefes Nachdenken versank. Das wußte Hector allerdings schon, und überhaupt war es einer der Gründe, weshalb er Clara liebte. Hector sagte sich einmal mehr, daß zwar nicht jeder über das Verstreichen der Zeit redete, aber alle Welt darüber nach‐ dachte. Außer vielleicht die Babys, aber selbst da konnte man es nicht genau wissen.
Hector träumt In der folgenden Nacht hatte Hector einen Traum. Er saß im Abteil eines Zuges, der aussah wie die Züge seiner Kindheit – mit einem großen Korridor und Fenstern, die man mit einer Kurbel herunterdrehen konnte. Er selbst aber war eine erwachsene Person wie der Hector von heute. Er war allein und fühlte eine leise Unruhe. Draußen zog eine ländliche Gegend vorüber, die im schönen Licht der Spätnachmittagssonne lag, aber seltsam daran war, daß dieses Land so aussah wie in Hectors Kindheit: Auf den Feldern sah man noch Kornblumen und Klatschmohn, es gab hohe Hecken mit Brombeeren und Himbeeren, in denen sich die Vögel und Kaninchen versteckten, er erblickte Teiche, an denen die Kinder auf dem Nachhauseweg von der Schule ihre Angeln auswarfen, während die Fahrräder im Gras lagen, und an den Wegrändern weideten angepflockte Kühe und Schafe, die man zur Nacht heimholen würde. Sogar der Himmel sah anders aus, er hatte ein sanfteres Blau, und die Wolken waren von reinerem Weiß. Hector war von diesem Anblick gerührt und hätte ihn gern mit jemandem geteilt – vielleicht würde er im Zug ja auf Freunde treffen? Er trat auf den Korridor hinaus, aber dort fand er niemanden, und alle anderen Abteile seines Waggons waren ebenfalls leer. Ein wenig beunruhigt ging Hector in den nächsten Waggon, aber auch hier war niemand. Nun schritt er immer weiter der Spitze des Zuges entgegen und sagte sich, daß ja zumindest in der Lokomotive jemand sitzen mußte. Unterwegs wurde Hector etwas Merkwürdiges bewußt: Je
schneller er den Korridor entlangging, desto gemächlicher fuhr der Zug, und die Landschaft zog immer langsamer vorüber – er hatte sogar Zeit, eine hübsche Bäuerin auszumachen, die in der Abendsonne ihre braven Schafe von der Weide holte. Aber wenn Hector stehenblieb, um die Szenerie besser sehen zu kön‐ nen, nahm der Zug wieder Fahrt auf, und das nervte ein wenig. Also begann Hector zu rennen, um den Zug damit zu zwingen, noch mehr abzubremsen. Hector lief so schnell, daß er den Zug schließlich vollends zum Stehen brachte. Aber das war kein so guter Einfall gewesen, denn nun sah Hector, daß die Landschaft draußen vor dem Fenster zu einer Einöde aus Eis und Schnee geworden war, als wäre der Zug direkt am Nordpol angelangt. Hector hörte zu rennen auf, damit die Bahn wieder anfuhr und diese eisigen und trostlosen Gefilde rasch verließ. An den Scheiben begann schon das Eis emporzukriechen. Er vernahm, wie sehr weit entfernt, irgendwo am Zugende, eine Tür zuschlug und begriff, daß jemand (oder etwas?) zugestie‐ gen sein mußte. Schritte, sehr schwere Schritte und sehr lang‐ same, näherten sich seinem Waggon. Hector hätte den Zug schrecklich gern verlassen, aber nir‐ gendwo fand er eine Tür, die sich nach draußen öffnete! Er wollte eines der Fenster herunterleiern, aber sie waren alle fest‐ gefroren. Hector begann sich in seinem Traum zu wünschen, er möge sofort aufwachen, und gleichzeitig hörte er, wie die Schritte immer näher kamen. Aber siehe da, der Zug ruckelte langsam an, und dann rollte er immer schneller dahin, und von neuem tauchte jene schöne ländliche Gegend auf. Diesmal aber sah Hector keinen einzigen Menschen mehr, als hätte sich jeder‐ mann, Kühe und Schafe inbegriffen, zeitgleich mit der unterge‐ henden Sonne zum Schlafen zurückgezogen. Er sah nichts als einen großen Eskimohund, der einen fröhlichen Eindruck machte und einen Weg entlang rannte.
Hector fuhr fort, die im Dämmerlicht liegende Landschaft zu betrachten. Plötzlich hatte er überhaupt keine Angst mehr vor den Schritten, die vor seinem Abteil angelangt waren. Die Abteiltür wurde aufgeschoben, und Hector erblickte einen jungen Mönch. Aber es war mitnichten ein Mönch aus Hectors Land, sondern eher so einer, wie es sie in China gibt, mit kahlrasiertem Schädel und bekleidet mit einer Art großem orangem Tuch, das eine Schulter unbedeckt ließ. Der Mönch war jung, aber seltsamerweise wußte Hector, daß er in Wahrheit ein ganz alter Mönch war, dem er auf seinem Lebensweg bereits begegnet war. In diesem Traum jedoch schien es ihm völlig natürlich zu sein, daß jener Mönch sehr jung aussah. »Nun«, sagte der alte Mönch, der sehr jung war, »wie läuftʹs bei Ihnen denn so?« Und in diesem Moment wachte Hector auf. An seiner Seite schlief Clara. Er griff nach seinem kleinen Notizbuch und dem Leuchtstift, mit dem er schreiben konnte, ohne jemanden aufzuwecken, und dann notierte er seinen Traum. Hector hatte zwar nicht die Gewohnheit, alle seine Träume aufzuschreiben, doch er spürte, daß dieser hier wichtig gewesen war.
Hector redet mit dem alten François Gern hätte Hector mit jemandem über seinen Traum gespro‐ chen, um besser zu begreifen, was er bedeuten sollte. Zunächst dachte er an Clara, die manchmal richtig gute Ideen hatte, aber er sagte sich, daß sein Traum ein bißchen sonderbar gewesen war und Clara vielleicht beunruhigen würde. Und dann fand er auch, daß Clara seit dem letzten Gespräch ziem‐ lich traurig wirkte, und mit noch traurigerer Miene schaute sie sich von Zeit zu Zeit ihr Spiegelbild an. Hector war aufgefallen, daß auf der Konsole des Badezimmers neuerdings ein sehr schönes blauweißes Töpfchen stand, auf dem man lesen konnte »Anti‐Aging‐Creme«. Er hatte Clara gesagt, daß sie ihm noch arg jung schien, um sich mit solchen Cremes einzuschmieren, aber Clara hatte entgegnet, er solle sich bitte schön um seine ei‐ genen Angelegenheiten kümmern. Vielleicht war es also keine gute Idee, Clara den Traum zu erzählen, denn Hector ahnte be‐ reits, daß er von der verstreichenden Zeit gehandelt hatte. Und dann dachte Hector an einen alten Psychiaterkollegen, der François hieß. François zählte beinahe so viele Jahre wie Hectors Großvater und trug stets eine Fliege. Hector sagte sich, daß François in seinem Psychiaterleben schon vielen Leuten dabei zugehört haben mußte, wie sie ihre Träume erzählten, und bestimmt auch gute Ideen zu Hectors Traum haben würde. Der alte François arbeitete in einem großen Raum, der wie ein altmodischer Salon aussah und voll von Gemälden und alten Möbeln war. Auch er selbst hatte mit seiner Fliege ein al‐ tertümliches Aussehen, wenngleich Hector wußte, daß seine Ideen ziemlich modern waren.
Und so berichtete er seinem Kollegen von dem Traum und fragte, was er von alledem hielt. Der alte François dachte nach und sagte dann: »Das Problem mit den Träumen ist, daß man nie weiß, ob das Gehirn einfach aus ein paar Erinnerungsfetzen irgend etwas zusammenrührt, um sich ein wenig zu beschäftigen, oder ob es daran arbeitet, eine Geschichte zu konstruieren, die wirklich Sinn hat.« Hector war erstaunt. Er erinnerte sich, daß der alte François die Psychiatrie in einer Epoche erlernt hatte, in der die Psychia‐ ter den Träumen großes Gewicht beimaßen. Der alte François merkte, daß Hector ein bißchen enttäuscht war, und so sagte er: »Nun ja, es gab natürlich eine Zeit, in der man dachte, daß Züge in einem Traum ein Symbol waren. Der Wunsch nach sexuellen Beziehungen oder die Angst vor ihnen, etwas in dieser Art. Aber wissen Sie, diese Idee datiert aus einer Epoche, in der man die sexuellen Beziehungen sowieso verteufelte. Während es heute ja genau umgekehrt ist ...« Der alte Psychiater schien an diese hergebrachten Geschich‐ ten mit den sexuellen Bedeutungen nicht gerade fest zu glau‐ ben. »Wissen Sie«, sagte er, »Ihr Traum erinnert mich an et‐ was, das ich auf dem Gymnasium gelernt habe. Etwas über die Zeit. Wenn Sie in einem Zug stehen und einen Ball den Korridor entlang werfen, dann wird er jemandem, der drau‐ ßen auf der Wiese liegt und seine Flugbahn beobachtet, viel schneller zu fliegen scheinen als Ihnen selbst. Für ihn kommt zur Fluggeschwindigkeit des Balles nämlich noch das Tempo des Zuges hinzu. Genauso verhält es sich, wenn Sie im Zug sitzen und einen Lichtstrahl in Fahrtrichtung aussenden. Aber weil das Licht immer dieselbe Geschwindigkeit hat, egal von wo aus man es betrachtet, bedeutet dies, daß die Geschwin‐ digkeit ... nein, die Zeit... für Sie nicht dieselbe ist... oder für ihn nicht... Mist! Ich erinnere mich nicht mehr so genau. Am Ende läuft es sogar auf eine Relativitätsgeschichte hinaus, die‐ ses Einsteinsche Dings, wissen Sie – die Zeit ist für uns nicht
dieselbe, wenn wir uns mit unterschiedlichen Geschwindig‐ keiten fortbewegen.« Auch Hector erinnerte sich vage. Er mußte wieder daran denken, was man über Lehrer und ihre Schüler sagt: Die Schü‐ ler hören die Hälfte von dem, was der Lehrer sagt, sie begreifen die Hälfte von dem, was sie gehört haben, sie behalten die Hälfte von dem, was sie begriffen haben, und sie nutzen die Hälfte von dem, was sie behalten haben – also letzten Endes herzlich wenig. Hector empfing in seinem Sprechzimmer oft Lehrer und Lehrerinnen, und häufig waren sie traurig, weil sie meinten, mit ihrem Beruf nichts Nützliches ausrichten zu kön‐ nen. Hector versuchte ihnen zu helfen, selbst eine andere Mei‐ nung zu finden, aber jetzt sagte er sich, daß er ihnen lieber nicht erzählen sollte, was der alte François und er selbst von der Relativitätstheorie im Gedächtnis behalten hatten. Sein Kollege hatte indessen schon weitergesprochen: »Mei‐ ner Ansicht nach ist Ihr Traum eine Geschichte über das Thema Zeit, genauer gesagt, über den Kampf gegen die Zeit, die dahin‐ rinnt. Die Bahnfahrt steht für die Zeit, man kann nicht ausstei‐ gen und den Zug nicht verlangsamen – und leider weiß man, wie die Endstation aussieht.« Der alte François hielt inne, und Hector spürte, daß er an diese Endstation dachte. »Und der alte Mönch, der sehr jung war?« fragte Hector, da‐ mit der alte François aufhörte, über die Endstation zu grübeln. »Ich weiß nicht«, sagte sein Kollege. »Man könnte sagen, daß seine Gegenwart beruhigend auf Sie wirkt. Sie sind ihm schon einmal begegnet, nicht wahr?« Tatsächlich war Hector eines Tages dort unten in China zu einem Spaziergang in eine schöne grüne Gebirgslandschaft aufgebrochen, um sich auf andere Ideen zu bringen, und zufäl‐ lig war er dabei auf ein chinesisches Kloster gestoßen, das kleine quadratische Fenster und ein hübsches Dach mit hoch‐ gebogenen Ecken hatte. Und genau dort lebte der alte Mönch
inmitten jüngerer Glaubensbrüder, und alle trugen sie orange Umhänge, welche ihnen über die eine Schulter hingen, wäh‐ rend die andere mit rein gar nichts bedeckt war. Hector hatte sich mit dem alten Mönch sofort gut verstanden. Er war in sei‐ nem Leben viel herumgekommen. Als er ganz jung gewesen war, hatte er sogar Hectors Land besucht und dabei tatsächlich als Tellerwäscher in einem Restaurant gearbeitet, in dem Hector noch heute von Zeit zu Zeit mit seinem Vater zu Mittag speiste. Seit ihrer ersten Begegnung hatten Hector und der alte Mönch immer gern miteinander gesprochen. Der alte Mönch hatte Hector ein paar Dinge über das Leben begreifen lassen (und das, ohne sie ihm zu erklären), und Hector hatte das genutzt, um seinen Patienten zu helfen. Seitdem waren der alte Mönch und Hector Freunde geblieben, auch wenn sie sich nicht gerade oft sahen. Auf jeden Fall war Hector mit dem alten François einver‐ standen: Der Traum hatte etwas mit der Zeit zu tun gehabt, mit der verstreichenden Zeit. Und er hatte sie in seinem Traum an‐ zuhalten versucht, wie es auch Marie‐Agnes oder Clara tun wollten, aber sehr gute Resultate hatte es nicht gebracht. Dann wieder war er bestrebt gewesen, der Zeit zu entfliehen, indem er aus dem Zug aussteigen wollte, aber gelungen war es ihm nicht. Natürlich wäre es das beste gewesen, wenn er seinen Traum dem alten Mönch erzählt hätte, aber schon seit einer ganzen Weile bekam Hector keine Antwort mehr, wenn er ihm eine Botschaft übers Internet schickte. Hector sagte sich, daß der alte Mönch vielleicht an der Endstation angekommen war, und es machte ihn traurig. Dennoch bemühte er sich, nicht allzu traurig zu sein, denn gerade dies gehörte zu den Dingen, die ihm der alte Mönch hatte begreiflich machen wollen: Traurig‐ keit war ein Zeichen dafür, daß man das Leben nicht gut ver‐ standen hatte.
Hector entdeckt ein großes Geheimnis Zu jener Zeit bemerkte Hector, daß nicht wenige seiner Kolle‐ gen noch kein einziges weißes Haar hatten, selbst jene nicht, die deutlich älter waren als er. Er fragte sich schon, ob er vielleicht ein großes Geheimnis gelüftet hatte: Psychiater altern niemals! Aber gleich nach seiner außergewöhnlichen Entdeckung hörte er, wie in dem Hospital, in dem er jeden Mittwoch eine Sprech‐ stunde hatte, eine Krankenschwester zu einer anderen sagte: »Der Chef sollte mal den Frisör wechseln – ich finde, man sieht zu sehr, daß er sich die Haare färbt.« Hector erinnerte sich, daß man in jenen Zeiten, als er ein klei‐ ner Junge gewesen war, ziemlich verächtlich auf Männer mit gefärbten Haaren herabgeblickt hatte, denn entweder dachte man, daß es Männer waren, die Männer hebten –und damals spotteten die Leute mächtig und auf gemeine Weise über diese Art von Liebe –, oder aber wenig seriöse Männer, die weiterhin von Blume zu Blume flattern wollten, obwohl sie in ihrem Alter besser daran getan hätten, sich um ihre Familie zu kümmern und die Geburt ihrer Enkelkinder zu feiern. Aber Hector wußte ja, daß diese Zeiten vorbei waren und heutzutage die allermännlichsten Männer – ja selbst Psychiater, und das sagt wohl alles – ihre Haare färben ließen, um nicht zu zeigen, daß der erste Schnee ihre Gipfel in Weiß zu hüllen begann. (Wenn Sie solche poetischen Vergleiche lieben, werden wir uns anstrengen, noch weitere zu finden.) Er wußte auch, daß dieselben Kollegen ganz wie Marie‐Agnes eine Menge Dinge taten, um den Anschein von Jugendlichkeit zu erwecken: viel Sport, haufenweise Obst und Gemüse, strenge Gewichts‐
kontrolle ... Die meisten von ihnen verwendeten allerdings noch keine Gesichtscreme, oder wenn schon, dann nur eine einzige Sorte. Der alte François hingegen trug sein Haar weiterhin in strah‐ lendem Weiß. Hector erzählte ihm, was er bei seinen Kollegen in Sachen Haarfarbe bemerkt hatte. Bedeutete es nicht, daß sogar die Psychiater ein Problem mit der verrinnenden Zeit hatten? Der alte François lächelte. »Sie sind noch in der Phase des Kampfes«, sagte er. »Ich für meinen Teil habe die Waffen ge‐ streckt ...« Und doch wußte Hector, daß der alte François noch immer an der Liebe interessiert war, und eines Abends am Eingang eines Restaurants hatte er ihn sogar in Begleitung einer viel jüngeren Frau getroffen, die verliebte Augen hatte. Hector fragte sich, wie es der alte François schaffte, sein Alter und seine weißen Haare vergessen zu machen. »Als ich so zwischen vierzig und fünfzig war«, sagte sein Kollege, »gefiel ich den ganz jungen Frauen, die ungelöste Pro‐ bleme mit ihren Vätern hatten.« »Und jetzt?« fragte Hector. »Immer noch«, sagte der alte François. »Sie müssen bloß Vä‐ ter gehabt haben, die schon etwas älter waren. Oder sonst eine komplizierte Geschichte mit ihrem Großvater. Solche Frauen gibt es natürlich weniger.« Weil der alte François ziemlich gut in Form zu sein schien, fragte ihn Hector, ob vielleicht diese Frauen das Geheimnis sei‐ ner ewigen Jugend waren. »Nein«, sagte der alte François. »Immer wenn wieder so eine Geschichte beginnt, fühle ich mich natürlich auf einmal sehr jung, aber wenn sie dann zu Ende geht ... Und selbstverständ‐ lich kommt jedesmal der Augenblick, wo sie mich so sehen, wie ich wirklich bin – ein Großväterchen, das Medikamente nimmt. Und dann fühle ich mich gleich viel älter ...«
Hector hätte am liebsten gefragt, warum er dann immer auf die gleiche Tour weitermache. Natürlich traute er sich nicht, eine solche Frage zu stellen. Doch der alte François erriet wahr‐ scheinlich, was Hector durch den Kopf ging. »Ich würde gern so etwas wie innere Ruhe und Heiterkeit erleben«, sagte er, »oder nur noch an meine Enkelkinder den‐ ken. Oder natürlich auch Trost im Glauben finden. Aber diese Gnade ist mir nicht gewährt worden. Nun ja, und deshalb lese ich jetzt viel Philosophie.« Und er zeigte Hector ein großes Regal voll mit Büchern, auf deren Rücken Namen wie Aristoteles, Seneca, Epiktet, Augusti‐ nus, Pascal, Heidegger, Bergson, Kierkegaard, Nietzsche oder Wittgenstein standen. »Und das hilft?« fragte Hector. »Es läßt die Zeit verstreichen«, sagte der alte François la‐ chend. »Wenn Sie möchten, kann ich Ihnen ja kurze Resümees liefern ... auf meine Art freilich.« Hector hielt das für eine sehr gute Idee, denn allein die Vor‐ stellung, all diese Bücher selbst lesen zu müssen, machte ihn ein bißchen müde. Außerdem war er sicher, daß der alte François interessante Dinge zu sagen haben würde über diese Philoso‐ phen. Aber ein bißchen mehr wollte er dennoch sofort erfahren. »Welche Fragen stellen sich die Philosophen denn im allge‐ meinen?« »Zunächst versuchen sie, die Zeit zu definieren, und das ist nicht gerade leicht, denn man kann die Zeit weder sehen noch berühren. Ebensowenig kann man aus ihr heraustreten. Wenn mich niemand danach fragt, weiß ich, was die Zeit ist, aber will ich es einem Fragenden erklären, weiß ich es nicht mehr. Das ist der heilige Augustinus.« »Recht hat er«, meinte Hector. »Übrigens sagt Pascal, jener Philosoph, der auch die erste Rechenmaschine erfand, daß es nichts bringe, die Zeit zu defi‐ nieren, denn jedermann wisse doch, wovon die Rede sei, und
wenn man trotzdem eine Definition versuche, drehe man sich am Ende immer im Kreis.« »Auch damit wäre ich ziemlich einverstanden«, meinte Hector. »Gut, aber es gibt dennoch eine Definition, die ich sehr mag. Die Zeit ist die Maßzahl der Bewegung hinsichtlich des Davor und Danach. Sagt Aristoteles.« »Pardon?« meinte Hector. Er begann die Philosophie ein bißchen kompliziert zu finden. »Aber es ist doch ganz einfach. Man muß nur definieren, was ›Zahl‹ bedeutet. Aristoteles unterscheidet nämlich einerseits das ›Zählende‹ – wenn Sie so wollen, die Sekunden, die Ihre Armbanduhr mißt –, andererseits gibt es aber auch das, was gemessen wird, das Ihnen im Leben Widerfahrende, und diese Sekunden Ihres Lebens nennt Aristoteles das ›Gezählte‹. Sie werden mir zustimmen, daß sich die Sekunden auf Ihrer Arm‐ banduhr alle gleichen. Eine Sekunde ist stets ebenso lang wie eine andere Sekunde. Auf das ›Gezählte‹ trifft dies hingegen nicht zu. Die Sekunden Ihres Lebens – eine Sekunde Glück, eine Sekunde Unglück, eine Sekunde Langeweile – dauern immer unterschiedlich lange ...« In diesem Augenblick klingelte das Telefon auf dem Schreib‐ tisch, und es war die Sekretärin. »So ein Mist«, sagte der alte François, »ich habe einen Patien‐ ten im Wartezimmer vergessen!« Hector verließ das Sprechzimmer mit mehreren neuen Ideen und griff schnell nach seinem Notizbüchlein, um sie niederzu‐ schreiben. Zeit‐Etüde Nr. 6: Schreiben Sie alles auf, wodurch Sie sich jünger fühlen. Notieren Sie danach alles, wodurch Sie sich älter fühlen. Hector sagte sich, daß der alte François auf beide Fragen die‐ selbe Antwort hätte: die Liebe. Dann erinnerte er sich auch an das, was François über den Glauben gesagt hatte – »diese Gnade ist mir nicht gewährt wor‐
den.« Das klang kurios, denn normalerweise war es doch der liebe Gott, der eine Gnade gewährte. Es hörte sich so an, als würde der alte François denken, daß es einen Gott gab, der ihm aber nicht die Gnade gewährt hatte, an ihn zu glauben! Zeit‐Etüde Nr. 7: Wenn Sie nicht an Gott glauben, stellen Sie sich einmal vor, Sie würden an ihn glauben. Wenn Sie an ihn glauben, stellen Sie sich vor, Sie glaubten nicht mehr an ihn. Beobachten Sie, ob sich dadurch Ihre Sicht auf die verstreichende Zeit ändert. Und schließlich sagte sich Hector, daß zwar die Philosophen ihre liebe Not damit hatten, die Zeit zu definieren, aber daß wir uns davon nicht abschrecken lassen und es nichtsdestotrotz einmal versuchen sollten, denn selbst wenn wir keine Lösung fänden, würden wir immerhin zum Nachdenken gezwungen. Zeit‐Etüde Nr. 8: Organisieren Sie ein Spiel mit Freunden. Versu‐ chen Sie, eine Definition der Zeit zu finden. Erster Preis: eine Uhr! Hector war sich dessen oft bewußt, daß all seine kleinen Übungen um die gleiche Frage kreisten: Ist es besser, mit der Zeit zu kämpfen und sie in ihrem Lauf aufzuhalten, indem man so tut, als würde sie nicht verstreichen und man wäre immer noch jung, oder soll man im Gegenteil akzeptieren, daß sie da‐hinrinnt und man ohnehin nichts dagegen ausrichten kann, und seine Gedanken lieber auf etwas anderes lenken? Oder gar ein wenig von beidem? Sollte man so leben, als würde man ein ewiges Leben vor sich haben, oder lieber stets daran denken, daß man vielleicht schon morgen, auf jeden Fall aber in nicht allzu ferner Zeit sterben wird? Hector spürte immer deutlicher, daß es den Menschen helfen könnte, wenn er Antworten auf diese Fragen fände – daß es ihnen beinahe ebensoviel helfen würde wie die Anti‐Aging‐ Cremes oder die Ergänzungsmittel zu den Nahrungsergän‐ züngsmitteln.
Hector und der alte Mönch Am nächsten Morgen im Sprechzimmer griff Hector nach sei‐ ner Zeitung, um sie in aller Ruhe zu lesen, denn ein Patient hatte seinen Termin abgesagt. (Wenn Sie Psychiater sind, und ein Patient sagt einen Termin ab, ist es ein bißchen wie früher, wenn Sie in die Schule kamen, und der Lehrer war krank ge‐ worden: Es verschafft Ihnen eine Extrapause.) Plötzlich zuckte Hector zusammen. Wen hatte er da gerade auf der Titelseite abgebildet gesehen? Den alten Mönch mit sei‐ ner orangen Decke über der Schulter, und er blickte ihm aus der Zeitung vergnügt entgegen! Einen Augenblick lang freute sich Hector sehr, denn wenn man auf Seite eins von dem alten Mönch sprach und dazu ein Foto veröffentlichte, auf dem er lachte, dann hieß das doch be‐ stimmt, daß er noch lebte! Dann aber las Hector den Artikel. Der alte Mönch war verschwunden, und alle Welt geriet dar‐ über in Streit. Leute aus verschiedenen Ländern beschuldigten China, es habe ihn verschwinden lassen, denn schon früher hatte der alte Mönch Probleme mit den Leuten gehabt, die über China herrschten. Er dachte nicht wie sie, und so hatte er eine Menge Zeit in ziemlich kalten Gefängnissen zugebracht, wo er lernen sollte, richtig zu denken, das heißt haargenau wie jene Leute, die damals in China das Sagen hatten. Weil ihm das aber nicht gelang – nun ja, er hatte sich auch nicht besonders angestrengt –, hatte man ihn viele Jahre lang hinter Schloß und Riegel sitzen lassen. Doch all das war schon eine ganze Weile her, das Land hatte sich immerhin verändert, und die Leute, die derzeit wich‐
tig waren in China, versicherten, nichts mit dem Verschwinden des alten Mönchs zu tun zu haben. Vielleicht steckten eher die Länder dahinter, die da behaupteten, alles wäre Chinas Schuld? Und so kam es zu einem mächtigen Streit zwischen den Ländern der Welt, bedeutende Personen sagten sich auf großen Versammlungen per Mikrofon ziemlich unnette Dinge, und es war recht amüsant, dazu das Foto des Mönchs zu betrachten, der so in sich hineinlachte, als hätte er der ganzen Welt gerade einen schönen Streich gespielt. Hector hatte natürlich nur noch einen Gedanken: Er mußte den alten Mönch finden! Zunächst einmal, weil es ihn beun‐ ruhigte – er wollte wissen, was dem Mönch widerfahren war, und vielleicht hatte er sogar Hilfe nötig. Außerdem sagte sich Hector, daß ihm der alte Mönch mit all seiner Weisheit und Er‐ fahrung ganz gewiß etwas sehr Wichtiges zu sagen hatte über die Zeit, die verstrich. Und so schickte er seinem Freund Édouard, der den alten Mönch ebenfalls kannte, eine Nachricht übers Internet.
Hector und Édouard sind gute Kumpel Hector kannte Édouard seit der Schulzeit und erinnerte sich, daß es Édouard schon immer sehr eilig gehabt hatte. Im Unter‐ richt hatte er seine Aufgaben als erster fertig, und weil er au‐ ßerdem gute Noten einsackte, nervte das seine Mitschüler ein bißchen und manchmal sogar seine Lehrer, die ihm dann sag‐ ten: »Édouard, hören Sie auf, Ihre Klassenkameraden zu ent‐ mutigen!« Später hatte Édouard eine Schule besucht, wie man sie braucht, um Ingenieur zu werden und Brücken zu errichten oder Raketen ins All zu schießen, aber am Ende war er kein In‐ genieur geworden, sondern hatte bei einer Bank zu arbeiten be‐ gonnen. Eines Tages hatte Hector ihn gefragt, weshalb er sich diese Arbeit ausgesucht hatte, denn ihm persönlich schienen Brücken oder Raketen interessanter zu sein. »Ich habe keine Lust zu warten«, hatte Édouard geantwortet. »Erst mal will ich so schnell wie möglich reich werden, und hinterher habe ich genug Zeit, um mir zu überlegen, was ich sonst noch mit meinem Leben anfange.« Édouard stellte komplizierte Berechnungen über Geld an, und er konnte einem sagen, ob man zum Beispiel ein paar Stückchen von einer großen Firma kaufen sollte oder lieber nicht. Dank dieser Berechnungen verschaffte er Leuten, die oh‐ nehin schon reich waren, eine schöne Stange Geld, und auch er selbst verdiente nicht gerade wenig. Außerdem wechselte Édouard häufig seinen Posten, denn er langweilte sich ziemlich schnell, wenn er zu lange bei dersel‐
ben Bank oder im selben Land blieb. Mit seinen kleinen Freun‐ dinnen lief es ähnlich, aber ein‐ oder zweimal hatte er sich dabei sehr weh getan, denn manchmal müssen Sie einen Men‐ schen erst verlassen, um zu merken, daß Sie ihn wirklich ge‐ liebt haben, aber dann ist es leider zu spät, und die Nächte können sehr lang sein, wenn man es eilig hat, daß der Morgen anbricht, damit man die geliebte Person anrufen kann. Immer‐ hin hatte sich Édouard die Zeit genommen, zu heiraten und zwei Kinder in die Welt zu setzen, aber dann hatte er sich auch wieder scheiden lassen, und jetzt sah er sie nur noch von Zeit zu Zeit. Das letzte Mal hatten sich Hector und Édouard in China ge‐ troffen, genau dort, wo sie beide auch den alten Mönch kennen‐ gelernt hatten. Oder eigentlich hatte Hector ihn kennengelernt, und dann hatte er ihn Édouard vorgestellt, denn das schönste Geschenk, das man jemandem machen kann, ist die Begegnung mit einem anderen Menschen. Später hatte Édouard den alten Mönch häufig in seinem Klo‐ ster besucht, um viele Dinge mit ihm zu besprechen, und wie‐ der einige Zeit danach war Édouard endlich sogar das Geld langweilig geworden. Er fand sich jetzt reich genug und ver‐ spürte Lust, nützliche Dinge für die Menschen zu tun. Und so hatte er begonnen, für eine große Organisation zu arbeiten, die Leute wie Édouard in die ganze Welt ausschickte, um den ziem‐ lich armen (wenngleich nicht zwangsläufig unglücklichen) Menschen zu helfen. Hector freute das sehr, denn er hatte den Eindruck, daß diese neue Tätigkeit Édouard vielleicht endlich glücklich machen würde. Gleich nachdem er den Artikel in der Zeitung gelesen hatte, schickte Hector Édouard eine E‐Mail, um ihn zu fragen, ob er womöglich Neuigkeiten von einer Person habe, die sie beide kannten. (Hector paßte auf, nicht »der alte Mönch« zu schrei‐ ben und auch seinen chinesischen Namen nicht zu nennen, denn wenn das Verschwinden des Mönchs so eine bedeutende
Angelegenheit war, sollte man lieber diskret sein.) Und Édouard kapierte sofort und schrieb zurück: Komm mich doch besuchen, mein Freund. Hier können wir unge‐ stört miteinander reden. Bei uns hat die Zeit eine andere Bedeutung. Zum ersten Mal in meinem Leben fühle ich mich nicht gehetzt. Und dann gibt es in dieser Gegend auch Leute, die ab und zu wirklich einen guten Psychiater brauchen. Also, bis bald! Unter diesen Sätzen stand der Name des Ortes, an dem sich Édouard gerade befand. Er lag so weit im Norden, daß fast alle Landkarten kurz vorher abgeschnitten waren. Kurz gesagt, es war das Land der Eskimos oder vielmehr ganz bestimmter Es‐ kimos, denn wie es unter den Indianern die Irokesen, Apachen, Huronen, Mohikaner oder Algonkin gibt (und Petit Hector würde noch jede Menge andere kennen), gibt es auch verschie‐ dene Sorten von Eskimos – oder besser gesagt von Inuit, denn so soll man sie heutzutage nennen, nachdem gutwillige, aber schlecht informierte Personen selbst glaubten und hinterher alle Welt glauben machten, daß ›Eskimo‹ ein unfreundliches Wort wäre. Toll, sagte sich Hector, das sah ganz nach einer schönen Reise für Clara und ihn aus und noch dazu nach einer nützlichen. Es würde Clara vielleicht auch guttun, auf Reisen zu gehen, denn in letzter Zeit war sie ihm ein bißchen traurig vorgekommen. Aber als Hector endlich die passende Landkarte gefunden hatte und Clara darauf den Ort erblickte, wo Édouard sich auf‐ hielt, bekam sie eine Gänsehaut und meinte, so etwas komme gar nicht in Frage, und sie habe keine Lust, sich dort oben tief gefrieren zu lassen. Hector stand ein bißchen dumm da, denn eigentlich hatte er beschlossen, nur noch mit Clara wegzufah‐ ren, um keine Dummheiten mehr anzustellen. Clara schaute ihn an und sagte mit einem kleinen Lächeln: »Wenigstens wirst du bei solcher Eiseskälte nicht zu viele Dummheiten machen können!«
Aber Claras Lächeln war trotzdem ein bißchen traurig, und Hector schwor sich, nie wieder vom Pfad der Tugend abzuwei‐ chen. Wird ihm das gelingen? Sie werden es wissen, wenn Sie die‐ ses Buch usw. usf.
Hector und die kleinen Blasen Das letzte Flugzeug auf dieser Reise war das kleinste, in dem Hector jemals geflogen war: Man konnte nicht aufrecht gehen, wenn man auf die Toilette wollte, und überhaupt gab es in die‐ sem Flugzeug auch gar keine Toiletten. Von seinem Sitz aus konnte Hector den Piloten sehen oder vielmehr das Rückenteil eines dicken Anoraks und die Hinterseite einer Pelzmütze. Man hätte beinahe glauben können, ein Bär steuere das Flugzeug. Hector war übrigens ähnlich angezogen, er hatte all die Klei‐ dungsstücke jener kleinen Liste gekauft, die man ihm zuge‐ schickt hatte, und darunter waren einige leicht bizarre Sachen gewesen wie zum Beispiel Unterstrümpfe aus Seide oder ein Anorak aus dem gleichen Material wie die Raumfahrtanzüge der Astronauten, die auf den Mond geflogen waren, und dazu noch eine schwarze Brille, die so ähnlich aussah wie jene, die Sie sich im Schwimmbad aufsetzen. Draußen sah man nichts außer der schwarzen Nacht und den Schneeflocken, die an den Scheiben landeten. Hector saß neben dem einzigen weiteren Passagier – einem großen Amerikaner mit enormen Pranken, der in dieses Land der allergrößten Kälte zurückkehrte, um kleine und sehr tiefe Löcher ins Eis zu bohren. Damit wollte er herausfinden, wie die Luft vor sehr, sehr langen Zeiten beschaffen gewesen war. Schon wieder eine Geschichte, die mit Zeit zu tun hat, dachte Hector. »Das Eis enthält kleine Blasen«, erklärte der große Amerika‐ ner, »und zwar mit Luft von vor Hunderttausenden Jahren.« Er sprach sehr laut, um das Motorengeräusch zu übertönen, und Hector taten beim Zuhören ein bißchen die Ohren weh,
und dann hatte er auch den Vornamen des großen Amerikaners nicht richtig verstanden, und nun traute er sich nicht, ein zwei‐ tes Mal zu fragen. »Und was erzählen uns all diese kleinen Luftblasen?« fragte Hector. »Daß die Luft früher sauberer war!« sagte der große Amerika‐ ner und brach in Gelächter aus. Dann bückte er sich, um etwas aus seiner Tasche zu ziehen. »A propos Luftbläschen ...«, meinte er. Hector glaubte seinen Augen nicht zu trauen, als er sah, was der große Amerikaner aus der Tasche geholt hatte: eine Flasche Champagner! »Ich hatte sie für einen besonderen Anlaß mitgenommen«, erklärte er, »aber dort oben versteht man so was nicht zu trin‐ ken. Die mögen lieber hochprozentigere Wässerchen. Also ist der Anlaß jetzt, daß ich sie mit Ihnen leeren kann – Sie wissen das ja wenigstens zu schätzen!« Hector fühlte, daß er sich mit dem großen Amerikaner gut anfreunden würde, sobald er erst einmal seinen Vornamen rich‐ tig verstanden hatte. Der Pilot hörte den Korken knallen und drehte sich um – und es war keineswegs ein Bär, sondern eine sehr hübsche Frau mit eisblauen Augen, bei der man sofort spürte, daß sie sich nicht alles gefallen ließ. Im übrigen schrie sie auch schon: »In meinem Flugzeug wird nicht getrunken!« Der große Amerikaner jedoch wies auf die Champagnerfla‐ sche und reichte der Pilotin einen Plastikbecher nach vorn, und da mußte sie lächeln. Sie hatte ein sehr schönes Lächeln, das so weiß war wie der Schnee. Hector dachte sehr angestrengt an Clara. Glücklicherweise erlaubte die hübsche Pilotin auch nur, daß man ihr den Becher halbvoll goß – vielleicht wollte sie ihren Passagieren bloß eine Freude machen. Dann drehte sie sich wieder nach vorn, um sich für die ganze übrige Reise auf den Flug zu konzentrieren. Auf jeden Fall war Hector froh, all diesen Champagner ge‐
trunken zu haben, ehe das Flugzeug wieder auf dem Erdboden landete, denn eigentlich landete es überhaupt nicht auf dem Erdboden: Es setzte auf dem Eis auf, und zwar mit Kufen, die ein wenig wie Skier aussahen, und es schüttelte einen tüchtig durch, und auch das Rutschgeräusch war leicht beunruhigend. »Uff!« sagte der große Amerikaner. »Daran werde ich mich niemals gewöhnen!« Inzwischen hatte Hector auch seinen Vornamen verstanden. Er hieß Hilton, genau wie die Hotelkette, es war wirklich amü‐ sant, und nach einigen Bechern Champagner hatte sich Hector sogar einen Spaß erlaubt und seinen Mitreisenden gefragt: »Aber sagen Sie mal, Hilton, wo sind denn Ihre Freunde Hyatt und Sofitel abgeblieben?« Darauf hatte Hilton nur mit halber Kraft gelacht, und hinterher hatte sich Hector gesagt, was er doch für ein Blödmann gewesen war, denn Witzeleien dieser Art hatte sich Hilton sicher schon oft anhören müssen seit sei‐ ner Schulzeit. Die Tür des Flugzeugs ging auf, und nun erinnerte sich Hec‐ tor, wie er eines Tages in ein heißes Land gereist war. Als sich dort die Flugzeugtür geöffnet hatte, war es ein wenig gewesen, als Öffnete man einen Backofen, um nachzuschauen, ob der Braten gar ist. Nun, und jetzt war es, als würde man den Deckel der Gefriertruhe aufmachen oder gleich kopfüber hineinfallen. Dazu kam noch, daß es weiterhin tiefe Nacht war und man nur ein paar Lampen sehen konnte, die jemand aufs Eis gestellt hatte, wahrscheinlich damit sie dem Flugzeug den Weg weisen sollten. Und da hörte Hector, wie jemand »Hector!« rief, und sah sei‐ nen alten Freund Édouard, der ebenfalls wie ein Bär angezogen war und auf einem Motorschlitten angefahren kam und winkte. Als er später hinter Édouard saß, der Vollgas gab, sagte sich Hector, daß dies ein gutes Sinnbild für die verstreichende Zeit war: ein Motorschlitten, der in die Polarnacht sauste.
Das Camp bestand aus mehreren sehr modernen Zelten, in denen Personen aus verschiedenen Herkunftsländern wohnten Hilton mit seinem Team von Bläschenforschern, die hübsche Pilotin (immer wenn sie mit ihrem kleinen Flugzeug nicht gleich wieder aufbrechen konnte) und schließlich Édouard. »Dort hinten liegt das Dorf der Inuit«, sagte Édouard. Hector konnte in der Dunkelheit ein paar Lichter schimmern sehen. Die Wirkung des Champagners begann sich zu verflüchtigen, und er fragte sich, wozu er eigentlich in diese Hundekälte gekommen war, so weit entfernt von seinem Bett und von Clara. Jede Minute kam ihm jetzt wie eine Stunde vor. Schon wieder eine Zeit‐Erfahrung, dachte er bei sich, aber diesmal war es eine eher schmerzhafte Übung. Im Zelt, das nicht besonders gut ausgeleuchtet war, fühlte sich Hector ein wenig besser, während er Édouards Erläuterungen zuhörte. »Wir haben uns nicht allzu nahe beim Dorf eingerichtet, um ihre Lebensweise nicht zu stören. Aber selbstverständlich helfen wir ihnen, zum Beispiel mit medizinischen Untersuchungen, und dann ermöglichen wir ihnen auch, Dinge zu verkaufen und zu erwerben, aber zu gerechten Preisen.« »Aber was machst du hier eigentlich?« fragte Hector. »Banker bin ich, und Banker bleibe ich«, sagte Édouard und lachte. Und das war Édouards neue Beschäftigung: Er hatte eine Vertriebskette für Pelze aufgebaut, aber zu Preisen, die sich für die Eskimos lohnten. Weiterhin hatte er seine Organisation ge‐ beten, ihnen Geld zu leihen, damit sie sich selbst Motorschlitten kaufen und dann nach und nach abzahlen konnten. »Ihre Lebensweise wird sowieso verschwinden, wie das bei den anderen Stämmen ja schon geschehen ist. Sie wollen jetzt Motorschlitten und die Segnungen der modernen Medizin für sich selbst und ihre Kinder, aber mit meinem System ist das ein allmählicher Übergang. Sie wahren noch ihre Identität als Jäger,
sie lernen den wirklichen Preis der Dinge und lassen sich nicht übers Ohr hauen!« Édouard erklärte, daß es eine Zeit gegeben hatte, in der die Weißen, die durch jene Landstriche kamen, den Inuit gnädiger‐ weise ein Messer im Tausch gegen einen Stapel von Polar‐ fuchsfellen überließen, und dieser Stapel mußte so hoch sein wie das aufgestellte Messer! »Die Armen haben sich so was von ausbeuten lassen«, sagte Édouard. »Nur in einer Hinsicht hatten sie Glück im Vergleich zu den Indianern: Weil niemand sonst Lust hatte, sich in ihrer Gegend anzusiedeln, sind sie nicht massakriert worden.« Édouard goß seinem Gast ein wenig Kaffee nach. Hector dachte, daß sich sein Freund sehr verändert hatte, denn früher waren, wenn sie sich trafen, stets vorzügliche Weine aufge‐ tischt worden. »Es ist schon spät«, sagte Édouard, »Zeit zum Schlafengehen, sonst hängst du morgen total durch, und hier lautet Regel Nummer eins, daß man sich in Form halten muß.« Und da merkte Hector, daß er gar nicht mehr wußte, an wel‐ cher Stelle des Tages er sich befand, und als er auf die Arm‐ banduhr schaute, konnte er nicht sagen, ob es Mittag war oder Mitternacht. Wie ihm Édouard erklärte, war das ganz normal angesichts der Zeitverschiebung im Vergleich zu Hectors Hei‐ matland sowie der nächtlichen Anreise mit dem kleinen Flug‐ zeug. »Na schön«, sagte Hector, »und der alte Mönch?« »Der alte Mönch?« fragte Édouard mit erstaunter Miene. An den alten Mönch hatte er nicht im geringsten gedacht, als ihn Hector um Neuigkeiten von einer Person gebeten hatte, die sie beide gut kannten! Statt dessen war Édouard davon ausge‐ gangen, daß Hector eine reizende Chinesin meinte, die sie einst in China kennengelernt hatten. Zu jener Zeit hatte die reizende Chinesin in einer ziemlich üblen Lage gesteckt, aber Hector und Édouard war es gelungen, sie daraus zu befreien. Und jetzt
konnte Édouard seinen Freund beruhigen: Ying Li (denn so hieß die reizende Chinesin) ging es weiterhin gut, sie hatte un‐ längst sogar ihr zweites Kind bekommen, und zwar mit einem Mann, der sie liebte. Hector freute sich, über Ying Li solche guten Neuigkeiten zu erfahren, aber sie halfen ihm nicht viel dabei, den alten Mönch wiederzufinden. Édouard erklärte, daß auch er mit dem alten Mönch Botschaften übers Internet auszutauschen pflegte, doch seit einiger Zeit hatte der alte Mönch nicht darauf geantwortet, was früher niemals vorgekommen war. Hector machte das ein bißchen traurig, denn wenn der alte Mönch vielleicht doch ge‐ storben war? Das Feldbett war bequem, aber kaum daß die Lichter ausge‐ knipst waren, war Hector klar, daß er wegen des Kaffees kei‐ nen Schlaf finden würde. Wenn er gleich gewußt hätte, daß es Abend war, hätte er nie im Leben welchen getrunken! Édouard gehörte hingegen zu jenem Menschenschlag, der von Kaffee nicht am Schlafen gehindert wurde (und der auch jede Menge Flaschen leeren konnte, ohne jemals Kopfweh zu bekommen). Weil die Zeit wieder sehr, sehr langsam zu vergehen begann, machte sich Hector ans Nachdenken.
Hector und die Gegenwart, die es nicht gibt Eigentlich gelang Hector das Nachdenken nicht wirklich, er ließ einfach nur die Erinnerungen herankommen, und sie stiegen in ihm auf wie an die Oberfläche eines großen Tümpels, der mit Champagner gefüllt war, mit Kaffee und einer Art Schlaf, der es nicht schaffte, sich in richtigen Schlaf zu verwandeln. Seltsamerweise waren es die Gymnasialjahre, die ihm ins Ge‐ dächtnis gerufen wurden. Es mochte daran liegen, daß ihm auch damals die Minuten so lang wie Stunden vorgekommen waren – ein bißchen so, wie es heute Petit Hector erging. Außer bei wirklich interessanten oder witzigen Lehrern hatte sich Hector auf dem Gymnasium sehr gelangweilt, und jedesmal, wenn er in der Hoffnung, mindestens zehn Minuten mochten verstrichen sein, auf seine Armbanduhr guckte, waren es bloß drei gewesen, ein bißchen wie jetzt, wenn er halb aufwachte, um auf die leuchtenden Ziffern seiner Uhr zu schauen. All dies zeigt deutlich, daß unsere Empfindung der Zeit sehr davon abhängt, was mit uns gerade passiert oder womit wir beschäftigt sind. Wenn wir interessante Dinge tun, ver‐ streicht sie schneller. Gleichzeitig wurde Hector bewußt, daß all jene Stunden im Gymnasium in seiner Erinnerung nur we‐ nig Raum beanspruchten, als hätten sie eine ganz kurze Zeit ausge‐füllt, während sie sich doch in Wahrheit zu etlichen Jah‐ ; ren summiert hatten. Manche Ferien hingegen schienen ihm jetzt sehr lange gedauert zu haben, als hätte er Jahre damit zugebracht, am Strand zu spielen oder auf dem Lande, wo es noch Kornblumen und Klatschmohn gab. Das rief ihm einen Satz ins Gedächtnis, den er auf dem Gymnasium gehört hatte:
Das intensive Leben läßt die Stunden kurz und die Erinnerungen lang erscheinen. Alles zusammen führte zu einer großen Frage, an die sich Hector ebensogut erinnerte wie an die Relativitätstheorie: Exi‐ stiert die Zeit außerhalb von uns? Und wenn unser ganzes Le‐ ben nur ein Traum sein sollte? Aber wessen Traum wäre es in diesem Fall, und wo schläft der Träumende? Und wenn man im Grunde nur eines anderen Traum war, würde es nicht auch in umgekehrter Richtung funktionieren? Erzählten unsere Träume das Leben von Personen, die irgendwo existierten? Über solcherlei Fragen kam Hector eine andere Erinnerung. Er mußte wieder an ein Gespräch mit Madame Irina denken. Madame Irina war eine Hellseherin, und sie war in seine Sprechstunde gekommen, weil sie eines Tages gemerkt hatte, daß sie nicht mehr »sah«. Hector wußte nicht recht, was er von der Wahrsagerei halten sollte. Er wußte nur, daß es für sie keine Erklärung gab, die mit der Wissenschaft von heute vereinbar war, aber andererseits hatte man sich vor zwei Jahrhunderten auch noch nicht erklären können, wie sich Blitze bildeten oder wie genau ein Baby entstand. Und so hatte sich Hector in Madame Irinas Fall damit be‐ gnügt, die schwere Depression zu behandeln, an der sie er‐ krankt war, nachdem sie ein gewisser Herr, den sie sehr liebte, verlassen hatte. Einige Zeit darauf hatte Madame Irina wieder zu »sehen« begonnen. Später kam sie – wie recht viele andere ehemalige Patienten – noch ab und zu in Hectors Praxis vorbei, damit er nachprüfen konnte, wie es mit ihr stand. Eines Tages fragte er sie, ob sie die Zukunft sehe. »Aber was heißt denn Zukunft für Sie?« fragte Madame Irina zurück. Hector sagte sich, daß Madame Irina schon genauso zu reden begann wie er. »Nun ja, das noch nicht Geschehene. Morgen. Nächstes Jahr. Das, was nach der Gegenwart passiert.«
»Doktor«, sagte Madame Irina, »Sie wissen doch genau, daß die Gegenwart nicht existiert. Es gibt nichts als Vergangenheit und Zukunft. Sobald Sie an die Gegenwart denken, ist sie schon wieder Vergangenheit – genau wie das schon wieder Vergan‐ genheit ist, was ich Ihnen vor einem Augenblick erzählt habe.« »Und damit existiert es ebensowenig«, sagte Hector, »denn ies ist ja vergangen.« »Exakt«, meinte Madame Irina, »und weil die Zukunft noch nicht eingetroffen ist, gibt es sie ja noch nicht, und damit exi‐ !stiert sie ebensowenig.« Hector sagte sich, daß jemand, der wie eben Madame Irina den Beweis führte, daß weder Gegenwart noch Vergangenheit oder Zukunft existierten, schnell zu der Frage gelangte, ob er überhaupt selbst existierte. Das war ein bißchen beängstigend, und so stellte er rasch eine Frage: »Einverstanden, aber was sehen Sie denn nun? Die Zukunft?« Madame Irina dachte nach. »Ich will ehrlich zu Ihnen sein, Doktor. Oft weiß ich nicht, was ich eigentlich sehe. Bilder, Empfindungen, aber mir ist nicht immer klar, ob sie sich auf die Vergangenheit meines Kun‐ den beziehen oder auf seine Zukunft. Das muß ich erraten, in‐ dem ich ihm Fragen stelle.« »Und es kann vorkommen, daß Sie überhaupt nichts sehen?« »Natürlich, das Hellsehen läßt sich ja nicht herbeibefehlen. In solchen Fällen sage ich das meinem Kunden oder meiner Kun‐ din auch ganz offen und schlage einen neuen Termin vor. Oder manchmal«, meinte Madame Irina lächelnd, »manchmal weiß ich mir auch anders zu helfen.« »Und was geschieht Ihrer Meinung nach, wenn Sie in die Zukunft schauen?« Madame Irina zögerte. »Im Grunde glaube ich, daß Zukunft, Gegenwart und Ver‐ gangenheit von dem Augenblick der Zeit abhängen, an dem man sich gerade befindet. Für die Kinder, die wir einmal waren,
sind wir in diesem Moment Zukunft, aber wir sind Vergangen‐ heit für die Menschen, die wir in zehn Jahren sein werden. Jeder Augenblick ist Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft gleichermaßen. Aber natürlich ist jeder von uns in seine kleine persönliche Zeitlokomotive eingezwängt, und die Landschaft rauscht immer in derselben Richtung vorbei.« »Und was folgt daraus?« sagte Hector, der sich in Madame Irinas außergewöhnlichen Erklärungen zurechtzufinden be‐ gann. »Ich glaube einfach nur, daß ich und einige andere Personen ... daß wir die Fähigkeit besitzen, aus unserer persönlichen Zeitlokomotive zu entfliehen und hin und wieder in andere Lokomotiven zu springen, die zu ganz unterschiedlichen Zeiten losgefahren sind.« »Und soll das bedeuten, daß es zur gleichen Zeit mehrere Zeitströme gibt? Parallelwelten vielleicht?« »Nennen Sie es, wie Sie möchten«, sagte Madame Irina. Und dann beugte sie sich nach vorn, um Hector die Wange zu tätscheln. In diesem Moment sagte sich Hector, daß er wirklich einge‐ schlafen sein mußte. Aber halt, es war eine Zunge, die ihm die Wange ableckte, und plötzlich erblickte er vor seiner Nase die hechelnde Schnauze eines großen Eskimohundes und hörte Édouards Stimme rufen: »Raus, Noumen! Sofort raus!« Und Hector er‐ wachte vollends, als Noumen sich anschickte, die Pfote auf sein Bett zu legen, aber da zog Édouard den Hund auch schon weg. Draußen war es immer noch Nacht, und Hector fragte sich, ob er einen vollen Tag verschlafen hatte, aber dann merkte er, daß es dennoch eine Veränderung gab: Die Farbe des Himmels war von einem totalen Schwarz in ein bläuliches Schwarz über‐ gegangen, und hinten am Horizont erblickte man sogar einen Streifen in leicht ausgewaschenem Tintenblau. Hector besann sich auf das, was er einmal in der Schule gelernt hatte: In die‐
sen Gegenden jenseits des nördlichen Randes aller Landkarten dauerte die Nacht eine sehr lange Zeit. »Wir werden jetzt mal die Inuit besuchen gehen!« sagte Édouard, während Noumen um ihn herumwirbelte und vor Freude bellte. Hector sagte sich, daß Menschen, die jeden Winter eine drei Monate lange Nacht erlebten und jeden Sommer einen drei Mo‐ nate langen Tag, ganz sicher interessante Dinge über die Zeit zu erzählen hatten. Er nahm sich ein paar Sekunden, um etwas in sein Notizbuch zu schreiben, und das war schwierig, denn er hatte ganz klamme Finger. Zeit‐Etüde Nr. 9: Nehmen Sie sich Zeit zum Überlegen. Die Ver‐ gangenheit existiert nicht mehr, also existiert sie nicht. Die Zukunft existiert noch nicht, also existiert sie nicht. Die Gegenwart existiert . nicht, denn sobald wir von ihr reden, ist sie Vergangenheit. Aber was existiert dann überhaupt? Als Hector die in Nacht getauchte Landschaft sah, seinen Freund Édouard, der mit Noumen spielte, und in der Ferne die Lichter des Eskimodorfes, sagte er sich, daß man hätte meinen können, er träumte immer noch. Zeit‐Etüde Nr. 10: Und wenn Ihr Leben nur jemandes Traum wäre? Wo schläft der Träumende in diesem Fall?
Hector lernt Eskimoisch Hector hatte mit einem Iglu aus Schnee gerechnet, aber dann saßen sie alle in einem großen steinernen Iglu. Ein Iglu aus Stein ist nämlich das Haus der Inuit, während ein Iglu aus Schnee für sie wie ein Zelt ist, das man schnell aufstellt, um mal die Nacht darin zu verbringen. Hector, Édouard, der Dorfhäuptling und drei jüngere Jäger saßen auf einem sehr schönen Bärenfell und waren auch selbst in Felle gehüllt. All das erinnerte an vergangene Zeiten, aber das Licht kam trotzdem von sehr modernen elektrischen Glüh‐ lämpchen, die ganz wenig Strom verbrauchten. »Darin liegt ja eben das Problem«, hatte Édouard gesagt. »Wie kann man ihnen helfen, ohne ihre Lebensweise zu zerstö‐ ren? Hier siehst du die letzten nomadischen Inuit der Region und vielleicht der ganzen Welt...« Die Frauen der Inuit hielten sich mit den Kindern ein wenig abseits; es waren sogar Babys dabei, denen einige Mütter gerade die Brust gaben, wobei sie Édouard und Hector hin und wieder anschauten und ihnen zulächelten. Manche waren wirk‐ lich niedlich mit ihren reizenden pelzumhüllten Gesichtern, aber Hector vermied es, sie so genau anzugucken, erinnerte er sich doch, gelesen zu haben, daß es bei manchen Eskimos zum guten Ton gehört, dem durchreisenden Fremden für die Nacht eine Frau anzubieten – und was wäre dann aus seinem Vorsatz geworden, keine Dummheiten mehr anzustellen? »Halabonvot!« sagte der Inuit‐Häuptling und erhob sein Glas oder vielmehr seinen Plastikbecher. Hector glaubte, daß dies ein Inuit‐Wört war, aber in Wirklich‐
keit hatte Édouard ihnen einfach nur den französischen Trink‐ spruch »Á la bonne vôtre!« beigebracht, und die Inuit hatten das Wort gleich übernommen. Hector fragte sich, was sie da eigentlich tranken. Es war bitter und süß und salzig zugleich mit einem Nachgeschmack von Felsgestein und vielleicht auch ein wenig von Geflügel, aber nicht gerade den besten Stücken. »Das wird aus den Flechten gemacht, die sie im Frühjahr sammeln«, sagte Édouard. »Und ist es sehr alkoholisch?« »Kein Problem, wenn man nicht gerade drei Liter trinkt.« Hector sah, daß die Inuit ihn anschauten. Er lächelte, um zu zeigen, daß er dieses Flechtenbier sehr zu schätzen wußte. »Trink dein Glas leer«, sagte Édouard. Jetzt merkte Hector, daß alle anderen schon ausgetrunken hatten, also hopp! tat er es ihnen gleich. Die Inuit lächelten wieder, und sogleich wurde ihm mit dem Ausruf »Halabonvot!« nachgeschenkt, und Hector begriff, daß er sie austrinken würde, die drei Liter. Die Zeit tröpfelte nach Hectors Geschmack sehr langsam da‐ hin. Er fragte sich, wie die Inuit es mit dieser schleichenden Zeit aushalten konnten, und vor allem, wie Édouard es schaffte, wo er es doch immer so eilig hatte. »Ich habe mich daran gewöhnt«, sagte Édouard. »So ist es eben während der Polarnacht. Man kann nichts machen, als im Iglu zu bleiben; sie können nicht auf die Jagd gehen und müs‐ sen von den Reserven leben, die sie im Sommer angelegt haben. Auf diese Weise sind ganze Stämme vor Hunger gestor‐ben, wenn die Vorräte nicht ausreichten, um bis zum nächsten Früh‐ jahr durchzuhalten. Heutzutage hilft man ihnen. Aber wenn man ihnen zu sehr hilft, gehen sie nicht mehr auf die Jagd und werden zu unselbständigen Sozialfällen. Alkohol, Fernsehen, Pornofilme – und dann brauchen sie auch bald Psychiater!« Édouard erklärte, daß es weiter im Süden Dörfer aus Fertig‐
häusern gab, in denen die Inuit den ganzen modernen Komfort hatten und kaum noch jagten. Resultat: Jede Woche mußte ein Psychiater vorbeikommen, der sich um all die jungen Leute kümmerte, die tranken, Benzin schnüffelten oder sich gegen‐ seitig die Fresse einschlugen, besonders im Winter, denn inzwischen war ihnen der Winter langweilig geworden und das Leben überhaupt, und die Schule ödete sie noch mehr an, als sie seinerzeit Hector gelangweilt hatte. »Dort hat man sie aus ihrer natürlichen Zeit herausgerissen«, sagte Édouard, »um sie in unsere Zeit, die Zeit der Weißen, zu zwängen. Also kracht es überall in den Fugen.« Hector wurde plötzlich bewußt, daß zwar die Sekunden sei‐ ner Armbanduhr überall auf der Welt gleich waren, aber daß die Zeit für die Menschen verschiedener Weltgegenden auch unterschiedlich schnell verging. Das Zählende und das Ge‐ zählte, hätte Aristoteles gesagt, obwohl er doch nie einen Es‐ kimo zu Gesicht bekommen hatte. »Im Winter läuft ohnehin alles noch langsamer ab«, sagte Édouard. »Und wie ist es im Frühling?« »Na ja, dann passiert ganz das Gegenteil von dem, was du heute erlebst. Alles kommt in Bewegung, sie gehen auf die Jagd, ziehen umher, suchen andere Lager auf und feiern Feste. Und ... sie hören gar nicht mehr auf mit dem Liebemachen. Die Frauen kriegen übrigens wieder ihre Regel, während sie den Winter über keine haben.« Hector bedauerte es, nicht im Frühling gekommen zu sein; die Zeit wäre ihm dann gewiß weniger lang vorgekommen. Édouard hatte begonnen, sich mit dem Häuptling zu unter‐ halten, denn wie ihm einst sämtliche Schulfächer leicht gefallen waren, hatte er auch jetzt die Sprache der Inuit ziemlich schnell erlernt. Dann machte der Häuptling »oooh« und schaute Hec‐ tor beunruhigt an. »Ach Mist«, sagte Édouard. »Ich habe ihm erzählt, daß du
Psychiater bist, und nun denkt er, du bringst das Unheil mit, das die anderen Stämme schon getroffen hat.« »Sag ihm einfach, daß ich nur in den Ferien bin«, meinte Hec‐ tor. »Und daß ich mich für die verstreichende Zeit interessiere.« Édouard begann wieder mit dem Häuptling zu reden. Der hörte ihm aufmerksam zu und ließ dabei Hector nicht aus den Augen, und schließlich lächelte er und sagte etwas zu Édouard. »Er fragt, ob du glaubst, daß die Zeit der Inuit dieselbe ist wie die Zeit der Kablunak«, sagte Édouard. »Kablunak ist ihr Wort für uns Weiße. Wenn unsere Welt zur gleichen Zeit begonnen hat wie die unsere ... nein, ich meine, wie ihre ... also wenn die Welt der Inuit im gleichen Moment gestartet ist wie wir ...« (Wir haben es nicht ausdrücklich gesagt, aber die ganze Zeit über war es mit den »Halabonvot!« so weitergegangen, und in‐ zwischen hatte selbst Édouard ein bißchen Mühe, seine Gedan‐ ken auszudrücken.) Hector antwortete, daß in seinem Land manche Menschen meinten, die Zeit sei für alle Welt gleich, aber andere sich frag‐ ten – und dabei dachte er an Hubert und Madame Irina –, ob es nicht verschiedene Zeiten gab, die alle mehr oder weniger zu‐ gleich abliefen. Der Häuptling lächelte und sprach zu einem jungen Mann, der sich erhob und aus dem Iglu ging. Dabei entstand ein schrecklich kalter Luftzug, der Hector sehr lange zu dauern schien. Gleichzeitig sah er, wie die kleinen Inuitkinder ganz nackt auf einem Bärenfell spielten und lachten, und er sagte sich, daß man wahrscheinlich sehr früh anfangen mußte, um einmal ein guter Inuit zu werden. Der junge Mann kehrte mit einem sehr alten Inuit zurück, der von Kopf bis Fuß mit Schneefuchsfellen bekleidet war, und das konnte man sogar erraten, ohne ein großer Pelzkenner zu sein, denn an allen möglichen Stellen hingen Fuchsköpfe von seinem Kostüm herab. Hector bemerkte, daß dieser alte Herr nur mit einem Auge sah, während das andere ganz weiß war.
Eine leicht furchteinflößende Narbe zog sich quer über jene Ge‐ sichtshälfte. Kurz gesagt, wenn Sie ihm nachts in Ihrer Woh‐ nung auf dem Weg zum Pinkeln begegnet wären, hätten Sie einen solchen Schrei ausgestoßen, daß der ganze Straßenzug davon aufgewacht wäre. »Ich weiß, wer er ist«, sagte Édouard, »aber zu Gesicht be‐ komme ich ihn das erste Mal. Du hast wirklich Glück ... Sein Auge, das ist mit einem Bären passiert, als er noch jung war.« Der alte Inuit blickte Hector mit seinem einzigen Auge lange Zeit an, und Hector spürte, daß auch alle übrigen Inuit ihn an‐ schauten. Schließlich setzte sich der alte Inuit Hector gegenüber; er griff nach Hectors Händen und nahm sie in die seinen, und Hector fand, daß sie so eiskalt waren wie die eines ... aber daran mochte er lieber nicht denken, und der Alte redete zu ihm in der Inuit‐Sprache, auf jeden Fall vermutete Hector das, denn er verstand kein Wort. Der alte Inuit blickte Hector immer noch ins Gesicht, aber Hector hatte das Gefühl, daß ihn vor allem das ganz weiße Auge anblickte, und er begann schläfrig zu werden. Er sagte sich, daß er zu viel getrunken hatte, und zugleich fühlte er sich ganz leicht, und dann schlief er ein. Das glaubte er jedenfalls.
Hector reist in der Zeit umher Hector schritt über eine große verschneite Ebene, vielleicht ein Eisfeld, er wußte es nicht. Überall war dermaßen nichts, daß es ihm schien, als sähe er am Horizont jene leichte Krümmung, die uns daran erinnert, daß die Erde rund ist. Während er so dahin‐ schritt, konnte er sich selbst sehen, und sein Haar war so weiß geworden wie das des alten François und sein Gesicht genauso faltig. Kalt war ihm nicht, obwohl er so angezogen war wie zu Hause: mit einer alten Hose, einem alten Hemd und verschlis‐ senen Schuhen, die er vor sehr langer Zeit zum Segeln getragen hatte. Es herrschte eine vollkommene Stille, er hörte nur, wie sein Atem ging und sein Herz schlug, das im übrigen ein biß‐ chen müde zu werden schien. Hector wußte nicht, wohin er ging, aber er wollte wirklich herunter von diesem Eisfeld, denn selbst wenn ihm klar war, daß er nur träumte, begann sich die Kälte in ihm auszubreiten. Jetzt wurden Häuser sichtbar. Blockhütten, manchmal etwas größere Chalets, und Hector sah, daß man in ihrem Inneren Feuer entzündet hatte. Auf der Schwelle eines jeden Hauses standen Frauen und schauten zu, wie er vorüberging. Manche von ihnen waren Hector bekannt – ehemalige kleine Freundin‐ nen, die ihm erstaunt oder manchmal auch ein bißchen traurig nachblickten –, andere hatte er noch nie gesehen; sie waren von allen Hautfarben, die es auf Erden gibt, und manche von ihnen sahen sehr, sehr reizend aus. Jedesmal wenn Hector an einem dieser Häuser vorüberkam, überlegte er, ob er nicht stehenblei‐ ben sollte, er spürte, daß die Frau ihn freundlich aufnehmen und wärmen würde, aber gleichzeitig drängte es ihn auch zum
Weitergehen, und er sagte sich, daß er vielleicht ein noch gast‐ freundlicheres Haus finden würde und eine Freundin, die noch reizender war als die vorangegangenen. Er hatte die nebulöse Vorstellung, daß er ja keine Dummheiten machen durfte, und dachte an Clara, aber schließlich war sie nicht dabei, und über‐ haupt – betrügt man seinen Partner wirklich, wenn man nur im Traum daran denkt? Wie er so weiter ausschritt, brach die Nacht herein. Nach und nach hörten die Häuser auf, und bald war keines mehr in Sicht‐ weite. Er wollte kehrtmachen, aber da war er schon zu weit ent‐ fernt, er fand die Häuser, die er hinter sich gelassen hatte, nicht mehr wieder, und während der Tag hinter dem völlig flachen Horizont verschwand, wußte er gar nicht mehr, woher er ge‐ kommen war, selbst seine Spuren hatten sich verwischt, und es konnte gut sein, daß er immerzu im Kreis ging. Ein Wind erhob sich, die Nacht brach an, und Hector konnte weder weitergehen noch zurückkehren. Plötzlich wünschte er sich, der alte Mönch möge erscheinen; es hätte ihn sehr froh gemacht. Aber nein, es wurde dunkler und dunkler, und mitten in der weiten Ebene hatte Hector keine anderen Begleiter als das Pfeifen des Windes und die Schläge seines schon ziemlich erschöpften Herzens. Und mit einem Mal sah er sich in dem großen steinernen Iglu sitzen; der alte Inuit sprach zu ihm und hielt ihn bei den Hän‐ den, Édouard schaute zu und alle anwesenden Inuit auch, ja sogar die Babys, die ein wenig verängstigt wirkten. Hector sah diese Szene von oben, als wäre er ein Vogel, der über das Dach aus Stein und Schnee hinwegflog, und dann gewann er noch an Höhe, und plötzlich war es schwarze Nacht. Dann wachte Hector auf. Er lag im steinernen Iglu und sah, daß alle schliefen, selbst Édouard, der ziemlich schnarchte. Man hatte nur eine Öllampe brennen lassen, von der die steinerne Wölbung mit einem sanften orangen Schein erhellt wurde. Hector begann an seinen Traum zu denken und sagte sich, daß es vielleicht wirklich an der Zeit war, Clara zu heiraten.
Hector hat die Weisheit mit Löffeln gefressen Am nächsten Tag (wenn das Wort hier überhaupt einen Sinn hat, denn es war immer noch dunkle Nacht) kehrten Hector und Édouard zum Mittagessen ins Camp zurück. In einem gro‐ ßen Zelt saßen Hilton und seine Freunde sowie die hübsche Pilotin an einem langen Eßtisch. Die Stimmung war ziemlich ausgelassen und erinnerte Hector an die Ferienlager seiner Kinderzeit. »Na, schon auf dem Weg der Gewöhnung?« fragte ihn Hilton. »Sie sehen sehr ausgeruht aus«, meinte die hübsche Pilotin, die mit Vornamen Eleonore hieß. »Mein Freund ist dem Schamanen begegnet«, sagte Édouard. Eleonore schien das sehr zu interessieren: »Hat er Sie Ihre Zukunft sehen lassen?« »Ich fürchte mal«, sagte Hector. Er verspürte keine große Lust, mehr zu erzählen. War das, was er gesehen hatte, tatsäch‐ lich seine Zukunft – ganz allein in einer unendlichen Einöde alt zu werden –, oder konnte man an dieser Zukunft noch etwas ändern? »Auf jeden Fall läßt sich die Zukunft überhaupt nicht voraus‐ sagen«, stellte Hilton fest. »Ach so«, meinte Eleonore, »und der Wetterbericht? Ist das nicht vielleicht auch eine Voraussage?« Hilton mußte zugeben, daß man das Wetter vielleicht für ein, zwei Tage im voraus berechnen konnte, blieb aber dabei, das Leben der Menschen lasse sich nicht vorhersehen. »Warum eigentlich nicht?« sagte Eleonore. »Es ist nur kom‐ plizierter, weil mehr Faktoren eine Rolle spielen.«
»In meinem früheren Job hat man versucht, die Börsenkurse vorauszusagen«, erzählte Édouard, »und das war genauso schwierig wie die Wetterprognose.« »Um den Lebensweg eines Menschen vorherzusagen, würde man noch mehr Ausgangsdaten benötigen als für eine einfache Unwetterwarnung«, sagte Eleonore, »aber im Prinzip ist es nicht unmöglich. Die Zukunft ist immer von der Gegenwart determiniert, und das Problem liegt darin, daß wir die ganze Gegenwart nicht gut genug kennen, um die ganze Zukunft vorhersagen zu können.« Was Eleonore sagte, ließ Hector an ein Wort denken, das ihm eines Tages, als er sich im Gymnasium gerade einmal nicht ge‐ langweilt hatte, zu Ohren gekommen war: Determinismus. Ein Philosoph mit einer hübschen Perücke hatte gesagt, daß je‐ mand, der über sämtliche Umstände der Vergangenheit und Gegenwart Bescheid wußte, die Zukunft exakt voraussagen könnte. Noch eine Frage, die man dem alten François stellen mußte. »Es gibt ja Leute, die glauben, daß man etwas über seine Zu‐ kunft erfahren kann, indem man sein Horoskop liest«, sagte Hilton. »Darüber habe ich mich schon immer schiefgelacht!« »Und wenn vielleicht doch ein Körnchen Wahrheit darin steckt?« sagte Eleonore, und es hörte sich ein wenig gereizt an. »Also wirklich«, sagte Hilton, »wie kann man nur glauben, man konnte die Zukunft vorhersagen, indem man die astrono‐ mischen Angaben des Altertums zu Hilfe nimmt...« »Was man nicht begreift, läßt sich immer wunderbar leug‐ nen«, sagte Eleonore. Hector erriet daraus, daß sie ihr Horoskop las. Eleonore steu‐ erte ein Flugzeug unter schwierigen Bedingungen, sie berück‐ sichtigte dabei die Wettervorhersagen und die Position der Sterne, wie man sie auf hundertprozentig wissenschaftliche Weise bestimmt hatte, und trotzdem las sie vorher noch ihr Horoskop. Ganz wie Clara übrigens. Wenn sie ein Magazin für
Damen kaufte, schlug sie jene Seite immer zuerst auf. Und da‐ bei war Clara doch in der Lage, auf ihrem kleinen Computer sehr komplizierte Berechnungen anzustellen. Erstaunlich, nicht wahr? »Horoskope lassen sich auf jeden Fall interpretieren, wie man gerade will«, meinte Hilton, »sie sind das Gegenteil von Wissenschaft.« »Von wegen! Es kommt ganz darauf an, welche Art von Horoskopen ...« Hector wollte diese Diskussion, deren schlechten Ausgang er schon voraussah, am liebsten in andere Bahnen lenken. Es war klar zu erkennen, daß sich hinter diesem Streit eigentlich ein anderer verbarg – wie bei allen Diskussionen, die schlecht aus‐ gehen. Er spürte, daß Hilton einmal in Eleonore verliebt gewe‐ sen war, aber daß sie davon nichts hatte hören wollen, und jetzt machte es Hilton Spaß, Eleonore ein bißchen zu reizen, sei es, weil er ihr böse war, daß sie ihn nicht gewollt hatte, oder weil er ihr beweisen mußte, daß er ein richtiger Mann war und nicht das gehorsame Hündchen, das er vielleicht einige Zeit lang in ihrem Beisein gewesen war. »Die Zukunft ist ja schon eingetroffen«, sagte Hector. Alle, die an dem langen Tisch saßen, schauten ihn an. Er hatte gar nicht gemerkt, wie laut er geredet hatte. Nun versuchte er, sich besser zu erklären. »Was Sie Zukunft nennen, ist doch schon Vergangenheit, an‐ derswo, in einer anderen Zeit.« Noch immer schauten ihn alle wortlos an. Hector fühlte sich ein wenig verlegen. Er versuchte, die Lage wieder in den Griff zu bekommen, indem er etwas Spaßigeres sagte. »Und im übrigen ist das, was wir hier und jetzt erleben, viel‐ leicht nur der Traum einer anderen Person. Und dieser Traum hängt womöglich davon ab, was diese Person vor dem Schla‐ fengehen gegessen hat... Ein guter Tag für Sie entsteht, wenn dieser jemand zum Abendbrot eine köstliche Gemüsesuppe
und Scholle mit Petersilienkartoffeln ißt und hinterher schone Traume träumt; ein schlechter Tag kommt durch zuviel Sauer‐ kraut und Weißwein vor dem Schlafengehen zustande.« »Komm, laß uns draußen ein paar Schritte machen«, sagte Édouard. Als sie vor dem Zelt standen, schaute Édouard seinen Freund beunruhigt an. »Ist alles okay mit dir?« fragte er. Hector antwortete, er fühle sich ausgesprochen gut, und wupp, da kippte er aus den Latschen.
Hector singt im Schnee Sie fuhren mit dem Motorschlitten ins Lager der Inuit zurück. Édouard dachte, daß Hector den Abend zuvor vielleicht ein bißchen zu viel Flechtenbier getrunken hatte und an so ein Getränk nicht gewöhnt war und daß die Inuit vielleicht ein Me‐ dikament für solche Fälle hatten. Hector ließ es mit sich ge‐ schehen, aber trotzdem war er ein wenig beunruhigt: Wenn das Medikament nun schlimmer als das Übel war? Während ihm der Fahrtwind ein kleines Stück Wange, das weder von der Schneebrille noch vom Schal bedeckt war, mehr und mehr vereiste, fiel Hector auf, daß sich in der Landschaft etwas verändert hatte: Man sah am Horizont einen Streifen hel‐ len Himmels, als wollte die Sonne bald aufgehen. Hector erblickte die Inuit neben ihren Iglus: Angesichts des wiedergeborenen Tages waren sie alle auf die Knie gesunken. Édouard stellte seinen Motorschlitten ab, um keinen Lärm zu machen. »Sie haben gerade zu beten begonnen«, sagte er. Es war jene Jahreszeit, in der die Inuit täglich beteten, damit die Sonne sich endlich zeigte. »Sie haben uns gegenüber einen Vorteil«, sagte Édouard. »Sie erwarten vom Leben einfach nur das, was es ihnen schon ein‐ mal an Besserem gegeben hat ... den Frühling zum Beispiel. Jedenfalls waren sie so, bis sie die Bekanntschaft der Weißen machten. Jetzt wollen sie Motorschlitten haben und bald auch Fernseher.« Ein alter Eskimo hatte sie erblickt und kam ihnen entgegen. Als er sich näherte, erkannte Hector den Schamanen, aber er
schien ihm viel kleiner als am Abend zuvor, und heute war er nur mit Bärenfellen bekleidet wie alle anderen auch. Édouard sagte ihm etwas in der Eskimosprache. Der Scha‐ mane antwortete mit einem Lächeln. »Er sagt, daß du für einen Kablunak ein großer Reisender bist«, meinte Édouard. »Und er sagt auch, daß er dich noch ein‐ mal auf die Reise schicken kann.« »Frag ihn, ob er mich in meine eigene Zukunft geschickt hat.« Édouard übersetzte die Frage. »Er sagt, er wisse es nicht. Vielleicht in eines deiner früheren Leben, vielleicht in ein späteres, das kann er beim besten Willen nicht wissen.« Diese Antwort erinnerte Hector an das, was Madame Irina über ihre Kunden gesagt hatte, und er dachte, daß auch sie ein bißchen eine Schamanin war. »Glaubt er denn, daß ich mehrere Leben habe?« »Für die Inuit ist die Zeit kreisförmig«, sagte Édouard. »Es gibt eine ewige Wiederkehr, ganz wie die Jahreszeiten wieder‐ kehren oder wie die Sonne erst verschwindet und dann zurückkommt. Wie die Sonne sterben auch wir, und dann werden wir wiedergeboren.« Hector sagte sich, daß er auf einer weiteren Reise mit dem Schamanen nicht so gern entdeckt hätte, welche Dummheiten er in seinen früheren Leben angestellt hatte – höchstens noch, welche er in seinen nächsten Leben vielleicht vermeiden konnte. »Und wie messen sie die Zeit?« fragte Hector. »Manche haben inzwischen Armbanduhren.« »Ja, aber früher?« »Sie hatten ein Gefühl für die Zeit, und dann sahen sie na‐ türlich auch, wie sich der Himmel veränderte. Hier tust du gut daran, ins Lager zurückzukehren, bevor die Nacht herein‐ bricht.« Hector erinnerte sich, in einer Zeitschrift für Psychiater ge‐ lesen zu haben, daß die meisten Leute in der Lage sind, ohne
Uhren die Zeit zu bestimmen, und sich dabei nicht allzu sehr verschätzen – außer vielleicht, wenn sie schlafen, und selbst da funktioniert es noch so einigermaßen. Aber mit all den Arm‐ banduhren, Wanduhren, Turmuhren und so weiter hat man einfach das Gefühl dafür verloren. Er nahm sich vor, etwas in sein Büchlein einzutragen. Zeit‐Etüde Nr. 11: Verstecken Sie Ihre Uhr. Notieren Sie von Zeit zu Zeit, wie spät es Ihrer Meinung nach ist. Vergleichen Sie dann mit der Zeit auf Ihrer Armbanduhr. Der alte Schamane hörte zu, wie Hector und Édouard mitein‐ ander redeten, und schien dabei keine Ungeduld zu verspüren. Plötzlich mußte Hector an all die von der Zeit bedrängten Leute denken, die er in seinem Land kennengelernt hatte. An die Uhr im Bauch. »Kannst du ihn fragen, ob die Leute hier manchmal unter Zeitdruck stehen?« »Das läßt sich ein bißchen schwer übersetzen«, sagte Édouard und seufzte. Er begann mit dem Schamanen zu reden, der vor seiner Ant‐ wort ein Weilchen nachdenken mußte. »Ja, er sagt, daß sie sich manchmal von der Zeit bedrängt fühlen.« »Aber in welchen Fällen?« Der Schamane hob zu singen an, und seine Stimme war der‐ maßen tief, daß man hätte meinen können, ein Fels riebe sich an anderen Felsen. Édouard hörte ihm zu und machte sich ans Übersetzen; er versuchte sogar, einen ähnlichen Gesang hervorzubringen. »Der Wind erhebt sich, laßt uns rasch das Iglu errichten ... Nanuk, der Bär, läuft über den Schnee, wir müssen ihm nach‐ stellen und die Hunde antreiben ... Die Eisscholle beginnt zu krachen, wir müssen schnell hinüber mit unserem Schlitten ... Meine Liebste ist im Dorf geblieben, ich muß zurückkehren, ehe sie einen anderen Jäger erhört ...«
Der Schamane nahm seinen Gesang wieder auf, diesmal je‐ doch mit einem Kichern. Auch Édouard lachte. »Der schnellrechnende Kablunak kommt ins Lager zurück, wir müssen rasch unsere Felle zählen. Und uns in Inuit verwandeln, die schnell auf und davon sind ...« Früher also hatten sich die Eskimos von ihresgleichen nie‐ mals antreiben und hetzen lassen. Man hatte sich nur hin und wieder beeilen müssen, um vor Einbruch der Nacht im Lager zu sein, um das davonflitzende Wild noch zu erwischen oder seine Liebste nicht zu verlieren. Und selbst wenn Sie Pech hat‐ ten und sich eines Abends mit Ihrem Schlitten auf einer ausein‐ anderbrechenden Eisscholle wiederfanden, war es letztendlich nicht so schlimm, denn Ihr Leben würde ja neu beginnen. Und diese Art von Zeit war viele tausend Jahre lang die Zeit aller Menschen gewesen, eigentlich sogar die längste Zeit, seit es Männer und Frauen gab! Plötzlich hatte Hector Lust zu singen, und das war ganz von selbst über ihn gekommen. Also stellte er seine Füße im Schnee nebeneinander und intonierte: Grauschwarze Wolken sich türmen, Flieh vor Gewitter und Stürmen! Bären durchs Dämmerlicht schleichen, Eile, das Dorf zu erreichen! Kabeljau in hellen Scharen, Flugs nun den Fang eingefahren! Und fühlst dein Herz du erbeben, Renne der Liebsten entgegen! Doch jage niemals der Zeit nach, Die jäh über uns hereinbrach, Seit wir die Kablunak kennen, Die stets nur hetzen und rennen!
Hector nimmt kein Blatt vor den Mund »Ich glaube, du solltest nicht zu lange in dieser Gegend blei‐ ben«, sagte Édouard. »Warum denn nicht? Ich amüsiere mich hier ganz gut. Und außerdem ist es sehr interessant mit der Zeit der Inuit.« »Einverstanden, aber ich finde, daß du ein bißchen ... ein biß‐ chen seltsam wirst.« »Nein«, sagte Hector, »ich lasse einfach nur ein bißchen lok‐ ker.« Bei diesen Worten hielt er sich allerdings durchaus gut am Sitz des Motorschlittens fest, denn sie waren gerade über einen mächtigen Eisbuckel gefahren. Als sie sich von den Inuit verabschiedet hatten, hatte der Schamane Hector einen Bärenzahn geschenkt. »Wenn wir noch länger geblieben wären, hätten sie dir eine Frau angeboten«, sagte Édouard. Also waren sie wieder aufgebrochen, und Hector freute sich, diesmal keine Dummheiten angestellt zu haben, und in gewis‐ ser Weise konnte er es sich sogar als Verdienst anrechnen, denn er hatte bemerkt, daß die Inuit‐Frauen sein bis dahin unent‐ decktes musikalisches Talent durchaus zu schätzen wußten. Während jener sehr langen Winternächte war es immer ange‐ nehm, einen Sänger im Haus zu haben. Sie erreichten den Fuß eines Gletschers, den man ziemlich gut sehen konnte, denn am Horizont war es beinahe Tag, auch wenn sich die Sonne noch nicht zeigte, und die restliche Nacht war hellblau geworden. Einen Gletscher muß man sich wie eine enorme Portion Eis vorstellen, die aus der Waffeltüte gerutscht und auf den Kopf gefallen ist, und nun beginnt die‐
ses Eis ganz langsam zu zerlaufen, wobei es allerdings gefroren bleibt. Dieser Gletscher jedoch war seit einigen Jahren kaum noch vorangekommen, er begnügte sich damit, in jedem Sommer ein bißchen abzuschmelzen. Vielleicht hatten sich Hilton und sein Bläschenforscherteam deshalb hier einge‐ richtet: Man mußte von dem Gletscher profitieren, solange es ihn noch gab! Auch Eleonore war da, Hector konnte ihr kleines rotes Flug‐ zeug erkennen, das ein Stück weiter auf dem Eis abgestellt war. Édouard stoppte den Motorschlitten neben einem großen Bohrgerät, das auf drei Beinen stand und sehr tief unten im Eis nach Blasen suchen sollte. Dick eingemummelte Leute bedien‐ ten den Apparat, während sich Hilton und Eleonore in der Nähe unterhielten. Sie schienen über Hectors und Édouards Ankunft erfreut zu sein. »Gehtʹs wieder besser?« fragte Eleonore. »So gut wie nie zuvor«, sagte Hector. Hilton fragte Édouard, ob die Inuit ihm wohl helfen würden, die Ausrüstung zu einer anderen Bläschenlagerstätte zu trans‐ portieren. »Kein Problem«, meinte Édouard. »Die Vorstellung, daß man mit Hilfe kleiner Blasen in die Vergangenheit zurückkehren kann, gefällt ihnen sehr. Und ihrer Lebensweise ähnelt diese Praxis im Grunde auch: Auf der Grundlage von fast nichts las‐ sen sich eine Menge Dinge tun und erfahren.« Hector erinnerte sich, daß die Inuit vor der Ankunft der er‐ sten Weißen niemals Holz gesehen hatten. Ihre Schlitten bauten sie aus den Knochen und Häuten der Tiere, die sie jagten, und mit dem Fett jener Tiere gelang es ihnen, ein Feuer zu ent‐ zünden. Hector fragte Hilton und die Pilotin, ob sie noch lange in die‐ ser Weltgegend bleiben wollten. »Ich fliege ja gern«, sagte Eleonore, »und hier ist es nicht schlimmer als anderswo. Oder doch, schlimmer ist es schon,
aber gerade das reizt mich, und außerdem sind die Landschaf‐ ten im Frühling so herrlich.« Hector fragte Eleonore, wo sie normalerweise wohnte, und sie antwortete, daß sie ihre Siebensachen in einem Hotelzim‐ mer ließ – in der letzten Stadt der Weißen vor dem Land der Inuit. Da verstand Hector, daß Eleonore weder einen Mann hatte noch ein Haus, sie schien ganz ohne Bindungen zu sein, als würde sie immer nur über Eisfelder dahinschweben. Er fragte sich, ob auch sie an die verstreichende Zeit dachte (in ihren Augenwinkeln hatte er schon die kleinen Falten entdeckt, von denen Clara gesprochen hatte) und an die Zeit, die ihr noch blieb, um ein Baby zu bekommen. »Eigentlich laßt einen solch ein Leben vergessen, daß man ein Erwachsener ist«, sagte Eleonore. »Man vergißt, daß die Zeit vergeht.« Und während sie das sagte, blickte sie lächelnd auf ihr klei‐ nes rotes Flugzeug, das von weitem wie ein hübsches Spielzeug aussah, das man auf dem Eis abgestellt hatte. »Vergessen kann man es ja«, meinte Hilton, »aber erwachsen sind wir trotzdem geworden, und die Zeit verrinnt – sogar im‐ mer schneller.« Und Hector erriet wieder, welches andere Ge‐ spräch sich hinter diesem verbarg. »In sehr vielen Jahren«, sagte Eleonore, »werde vielleicht auch ich ein Haufen kleiner Blasen im Eis sein, weil ich eines Tages mit meiner Maschine abgestürzt bin. Und Leute wie du werden dann herauszufinden versuchen, was eine Frau des einundzwanzigsten Jahrhunderts im Blut hatte ...« Sie hatte ein kleines verrücktes Auflachen, das ganz reizend war. Hector sagte sich, daß er schon anderen Frauen begegnet war, die man schwer an sich binden konnte, aber Eleonore kam in dieser Hinsicht dem Weltrekord ziemlich nahe, wie man es auch aus Hiltons betrübter Miene ablesen konnte. »Ein Psychiater wie Sie«, meinte Eleonore und wandte sich
Hector zu, »würde mir bestimmt erklären, daß die Flucht nach vorn auch ein Mittel ist, um einer Situation zu entrinnen! Ich kenne diese Masche ...« Offenbar mokierte sie sich ein wenig über das, was die Psych‐ iater sagten. »Problematisch ist es nur«, sagte Hector, »wenn man es nicht schafft, seinem Wunsch zu entrinnen, der Zeit zu entrinnen, die uns entrinnt.« »Dem Wunsch zu entrinnen, der Zeit zu entrinnen, die uns entrinnt?« fragte Eleonore. »Ja, denn der Wunsch, immerzu der Zeit zu entfliehen, ist auch wie ein Gefängnis. Die Gitterstäbe sind unsichtbar, man trägt sie immer mit sich herum.« Er mußte an seinen Traum denken, an die Haarfarbe seiner Psychiaterkollegen, an Marie‐Agnes und die Ergänzungsmittel zu den Nahrungsergänzungsmitteln, an Clara und die Anti‐ Aging‐Creme, an die Liebschaften des alten François und schließlich auch an Eleonore, die nicht wie eine Erwachsene leben wollte. »Und natürlich«, fuhr Hector fort, »ist es vielleicht noch schwieriger, aus diesem Gefängnis herauszukommen, als bei Nacht und Schneesturm über Eisfeldern dahinzufliegen.« Eleonore schaute Hector an, Hector schaute Eleonore an, und dann sagte er sich, daß Édouard recht haben mußte: Das Flech‐ tenbier ließ ihn Dinge aussprechen, die er sonst für sich behal‐ ten hatte. Und jetzt sagte er sich auch, daß er besser nicht zu lange in dieser Weltgegend bleiben sollte.
Hector und die Perdurantisten Hector trank sehr heißen Kaffee und las auf Édouards Compu‐ terbildschirm die Antwort des alten François. Lieber Freund, amüsant an der Philosophielektüre ist, daß wir dabei merken, wie wir ohne unser Wissen allesamt Philosophen sind. Der Philosoph, der dachte, daß man die Zukunft komplett voraussagen könnte, wenn man nur die gesamte Vergangenheit kennen würde, war Laplace, ein Astronom zu Zeiten der Französischen Revolution, der wußte, daß man die Bewegung der Planeten durchaus vorausberechnen konnte. Da ihm aber klar war, daß man es niemals schaffen würde, die Vergangenheit lückenlos zu kennen, sagte er sich, daß man sich für Zukunftsvoraussagen der Wahrscheinlichkeitsrechnung bedienen müsse, und so erfand er auch gleich diese Art von Berechnungen, und es gibt sogar ein Wahrscheinlichkeitsgesetz, das seinen Namen trägt. Ich spreche von einer Epoche, in der manche Philosophen auch sehr gut in Mathe waren ... Die Vergangenheit, die nicht existiert, weil sie eben vergangen ist, die Zukunft, die ebensowenig existiert, weil sie noch nicht eingetroffen ist, und die Gegenwart, die auch nicht existiert, weil sie auf der Stelle Vergangenheit wird, diese Idee finden Sie heim heiligen Augustinus! Er schlußfolgert daraus, daß die Zeit nur in uns selbst existiere, denn wir erfassen in jedem Augenblick Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft, und zwar in einer, wie er es nennt, »Dehnung der Seele«. Die Geschichte mit den Parallelwelten erinnert mich an eine
andere große Debatte unter Philosophen. Manche denken, daß Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft wirklich nicht dasselbe seien. Wir leben in der Gegenwart in einer dreidimensionalen Welt, und so eine Welt könne auch nur in der Gegenwart existieren. Auf Vergangenes hingegen besinne man sich bloß, und Zukünftiges könne man sich höchstens ausmalen. Andere wieder meinen, daß Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft alle von gleicher Natur seien und alles nur eine Frage des Augenblicks sei, an dem wir uns gerade befinden. Jeder Gegenstand habe drei Dimensionen und dazu noch eine vierte, die Zeit. Die Vertreter der ersten Richtung nennt man Endurantisten, die der anderen Perdurantisten. Ihre hellsehende Patientin ist eine Perdurantistin! Aber hier mache ich lieber Schluß, denn am Nordpol haben Sie bestimmt ziemlich kaltes Wetter, und da ist es wohl besser, nicht zu lange stillzusitzen.
Hector und die halbleeren Gläser Hector zog sich die Handschuhe aus und öffnete sein Notiz‐ büchlein. Er dachte an die Zeit der Inuit und auch an die Zeit seiner Kindheit auf dem Lande, und das brachte ihn auf eine Idee: Zeit‐Etüde Nr. 12: Denken Sie über Ihre ganze Vergangenheit nach, und versuchen Sie davon ausgehend Ihre ganze Zukunft vorauszuse‐ hen (oder jedenfalls die Zukunft, die für Sie am wahrscheinlichsten ist). Hector fiel auf, daß man diese Übung manchmal für andere Leute machte: Man sagte voraus, ob ihre Ehe halten oder ob sie in ihrem Beruf Erfolg haben oder ihre Kinder einmal ein glück‐ liches Leben führen würden – aber für sich selbst machte man diese Übung fast nie! »Auf, auf, es ist soweit, der Motor ist warm.« Es war Édouards Stimme. Das Flugzeug war also startklar für Hectors Abreise. Sie verabschiedeten sich voneinander und versprachen sich, daß es bis zum nächsten Wiedersehen nicht lange dauern sollte. Und schon saß Hector im Flugzeug mit Eleonore sowie einer Inuit‐Mutter, die ihr Baby einem Doktor weiter im Süden zeigen wollte, weil es einfach nicht dicker wurde, obwohl es eifrig an der Brust saugte. Trotz der Motorengeräusche war das Baby sehr ruhig, und es wirkte hochkonzentriert, während es gestillt wurde. Um Mutter und Kind nicht zu stören, setzte sich Hector neben Eleonore. Sie war sehr damit beschäftigt, auf ziemlich viele Leuchtanzeigen in allen möglichen Farben zu achten und dabei an noch mehr verschiedenen Hebelchen herumzuschie‐ ben oder zu ziehen, und hopp, schon begannen sie schneller
und schneller über das Eis zu gleiten, und plötzlich stieß der Motor ein schreckliches Röhren aus, das sich anhörte wie der Schrei eines verwundeten Tieres, und dann fanden sie sich be‐ reits in den Lüften wieder und stiegen immer höher. Das Baby saugte weiter mit geschlossenen Augen an der Brust, und seine Inuit‐Mutter schaute es beunruhigt an. Hector dachte, daß sich die Idee eines alten bärtigen Engländers ein‐ mal mehr bewahrheitete: Ganz gleich, welche Hautfarbe die Menschen haben oder in welcher Weltgegend sie leben, es sind dieselben Emotionen, die sie lachen und weinen lassen oder ihnen einen sorgenvollen Blick bescheren. In der Epoche des al‐ ten bärtigen Engländers hatte diese Vorstellung seinen Lands‐ leuten überhaupt nicht gefallen, denn sie gehörten zu der Sorte von Leuten, die dachten, daß sie viel mehr wert wären als die sonstigen Bewohner des Erdballs und vor allem mehr taugten als Menschen von anderer Hautfarbe. Und dann hatte sie der alte Engländer, der doch ein sehr freundlicher Herr war, noch viel mehr aufgeregt, indem er verkündete, daß jedermann (und wohlgemerkt auch jede Frau) vom Affen abstammte, einschließ‐ lich der Leute, die beim Teetrinken den kleinen Finger abspreiz‐ ten und vornehm hüstelten. Auch Hector hoffte, das Baby möge nicht allzu krank sein. »Nun«, meinte Eleonore, »hat es Ihnen hier gefallen?« »Ja«, sagte Hector. »Es war wie eine Zeitreise. Die Inuit leben ein bißchen wie wir vor sehr vielen Jahren.« »Aber nicht mehr lange«, sagte Eleonore. »Ja, und es liegt an uns.« »Das stimmt«, sagte Eleonore. »Andererseits werden ihre Babys jetzt medizinisch betreut. Früher sind viele gestorben.« Hector dachte, daß man der Zivilisation, aus der Eleonore und er selbst kamen, zumindest einen Pluspunkt anrechnen konnte: Die Babys hatten bessere Überlebenschancen und die entbindenden Frauen auch. Und überhaupt lebte man hier jetzt deutlich länger als die Inuit von einst.
»Aber überlegen Sie mal«, meinte Eleonore. »Wenn ich sehe, was wir aus unserer hinzugewonnenen Lebenszeit machen, frage ich mich wirklich, ob es so eine gute Sache ist. Dem Leben im Altersheim kann ich jedenfalls herzlich wenig abgewinnen.« Hector erinnerte sich, daß auch dies eine neumodische Erfin‐ dung seiner berühmten Zivilisation war – die Altersheime. Ob man darauf wirklich stolz sein sollte? Er sagte sich, daß Eleonore gute Chancen hatte, dem Alters‐ heim zu entgehen, wenn sie weiterhin von Eisfeldern abhob, durch Schneestürme flog und auf anderen Eisfeldern landete. Andererseits: Wenn sie sich nicht beeilte, einen Haufen Babys in die Welt zu setzen, die später einmal zu netten Kindern heranwachsen würden und sich, wenn sie erst einmal alt war, um sie kümmerten, so wie es in allen anderen Kulturen der Welt üblich war, steigerte sie damit trotzdem das Risiko, eines Tages für immer im Zimmer »Vergißmeinnicht« zu landen und sich jeden Tag anhören zu müssen »Na, haben wir denn heute Appetit auf Pflaumenkompott?« – und der dies sagte, würde in Eleonore nicht unbedingt die junge Frau wiedererkennen, die sie einmal gewesen war. Das brachte Hector auf eine Idee: Alte Leute sollten an ihren Zimmerwänden stets ein paar Fotografien aus ihrer Jugendzeit hängen haben, damit alle richtig begriffen, daß sie tatsächlich einmal jung gewesen waren. Denn selbst wenn die Vergangen‐ heit nicht mehr existiert, kann es doch nützlich sein, sich an sie zu erinnern, um einen anderen Menschen zu verstehen. Und Hector notierte die Zeit‐Etüde Nr. 13: Wenn Sie eine betagte Person sehen, sollten Sie sich immer vorstellen, wie sie einmal als junger Mensch gewesen sein mochte. Bei genauerem Nachdenken sagte sich Hector nämlich, daß das Vergangene durchaus existierte, wenn auch nur im Gegen‐ wärtigen, wenn man es erlebte oder die Resultate des Vergan‐ genen sah.
Nach solchen Gedanken fühlte sich Hector ein bißchen trau‐ rig, und plötzlich bekam er große Lust auf ein Glas Champa‐ gner. »Und Sie«, fragte Eleonore, »was werden Sie mit der Zeit an‐ fangen, die Ihnen noch bleibt?« Na so etwas, dachte Hector, auch das Zukünftige existiert nur im Gegenwärtigen, nämlich wenn wir es erleben oder von ihm sprechen. Verschiedene Antworten spazierten ihm durch den Kopf, und dann riß er sich mächtig am Riemen und sagte: »Vielleicht werde ich mit der Frau, die ich liebe, ein Kind haben.« Eleonore sagte eine Weile gar nichts, und dann meinte sie: »Ich glaube, ich bin nicht optimistisch genug, um ein Baby auf die Welt zu bringen. Ich sage mir immer, das Leben ist zu kom‐ pliziert, die Welt wird vielleicht immer schlechter, und ich habe keine Lust, einem Kind das Leben zu schenken, wenn dieses Leben voller Leiden sein wird ...« Schon wieder die Wahl, das Leben als halbleeres oder halb‐ volles Glas zu betrachten, dachte Hector. Und er sagte sich auch, daß Eleonore, um so zu denken, eine Menge halbleerer Gläser ins Gesicht geschleudert bekommen haben mußte, als sie ein kleines Mädchen war.
Clara und die Zeit, die vergeht Hector fand seine Stadt so vor, wie er sie zurückgelassen hatte,ʹ mit ihren Bewohnern, die viel mehr Dinge besaßen als die Inuit,.; aber sich viel größere Sorgen um ihre Zukunft machten und um 1 die verstreichende Zeit. Von dem alten Mönch gab es keine Neuigkeiten, noch immer fehlte von ihm jede Spur, und Hector war sehr bekümmert von der Vorstellung, der Mönch könnte vielleicht tot sein, und er würde ihn niemals wiedersehen, und so machte er sich Vor‐ würfe, ihn nicht häufiger besucht zu haben. Um sich abzulenken, befragte er Clara zum Thema »Gefärbte Haare bei Männern«. War es ihrer Meinung nach eine gute oder eine schlechte Sache? »Ich persönlich mag es nicht«, meinte Clara. »Aber anderer‐ seits, wenn es gut gemacht ist ... Es stimmt schon, daß ein Mann dadurch jünger wirkt, und um heutzutage einen Job zu finden, tut man gut daran, sein wahres Alter nicht zu sehr hervorzukehren. Du hast ja das Glück, bei deiner Arbeit von niemandem abhängig zu sein. Im Gegenteil, ein Psychiater mit weißen Haaren – da denkt man doch an einen Kerl, der jede Menge Erfahrung und Weisheit angesammelt hat.« Na schön, dachte Hector, aber warum gab es dann gewisse Kollegen, die ... »Meiner Ansicht nach tun sie das nicht wegen ihrer Patien‐ ten«, sagte Clara. »Sie wollen einfach Leuten gefallen, die jün‐ ger sind. Aber paß bloß auf – sollte einmal der Tag kommen, wo ich dich beim Haarefärben erwische, dann haue ich dir die Flasche über den Kopf!«
Dieser Gedanke gefiel Hector, denn bedeutete es nicht, daß Clara sich ausmalte, sie wären noch immer zusammen, wenn er schon jede Menge weißer Haare hatte? Er erinnerte sich an den Traum, in dem er mit einem Haarschopf, der genauso weiß war wie der des alten François, über das unendlich öde Eisfeld getrabt war. Vielleicht hatte ihn der alte Inuit in ein früheres Leben reisen lassen? Um sich auf andere Gedanken zu bringen, schaltete Hector den Computer ein und schaute nach, ob er Post bekommen hatte. Und tatsächlich – Édouard hatte ihm eine Nachricht geschickt. Lieber Hector, der Schamane redet jetzt jeden Tag von Dir. Für ihn bist Du »der reisende Kablunak«. Und weißt Du, was er mir gestern gesagt hat? Der reisende Kablunak muß hoch in die Berge steigen. Er muß den Nicht‐Kablunak‐und‐Nicht‐Inuit‐der‐viel‐lacht wiederfinden. Wenn nicht, werden er und jemand, den er liebt, später ein sehr schlechtes Leben haben. Was hältst Du davon? Als Hector Clara erklärte, daß er den alten Mönch besuchen wollte, sofern der noch in seinem Kloster dort oben in den chi‐ nesischen Bergen war, und daß sie am besten gleich alle beide dorthin fliegen sollten, machte Clara einen verlegenen Ein‐ druck. »Ich würde ja gern«, sagte sie, »aber ich fühle mich müde. Und außerdem, wenn ich jetzt Urlaub nehme, wird es für mich die Hölle, wenn wir zurück sind.« Also wirklich, dachte Hector, da reiße ich mich am Riemen, um keine Dummheiten anzustellen, aber geholfen wird mir da‐ bei nicht gerade! Er sah jedoch, daß Clara nicht unruhig wurde bei dem Ge‐
danken, ihn allein fortgehen lassen zu müssen. Vielleicht hatte sie ja gespürt, daß er keine Dummheiten mehr machen wollte. Und vielleicht sagte sie sich auch, daß Hector, wenn er einen alten Mönch in seinem Kloster aufsuchte, wahrscheinlich nicht in der richtigen Stimmung für Dummheiten sein würde. Das beweist wieder einmal, daß Frauen bisweilen ein bißchen zu optimistisch sind – aber andererseits müssen sie das auch sein, um sich dazu durchzuringen, Babys zu bekommen und sich dann jahrelang um sie zu kümmern, und an alledem läßt sich demonstrieren, daß die Natur gut eingerichtet, wenngleich nicht immer lieb und nett ist. In unserem speziellen Fall nun fand Hector, daß Clara zwar keinen beunruhigten Eindruck machte, dafür aber einen traurigen. »Bist du traurig, weil ich wegfahre?« »Ja ... Nein ...«,sagte Clara. »War das ein neiniges Ja oder ein jaiges Nein?« fragte Hector in höchst ernsthaftem Ton, und es gelang ihm, Clara zum La‐ chen zu bringen. Aber sogar ihr Lachen hatte etwas Trauriges. »Und?« fragte Hector. Am Ende sagte Clara, daß sie sich inzwischen ganz sicher war, daß sie und Hector einander liebten. Sie fragte sich aber, ob sie es tatsächlich soweit bringen würden, zu heiraten und ein Kind zu bekommen. »Ich habe das Gefühl«, sagte sie, »wir haben den Moment verstreichen lassen, wo man so etwas einfach tun muß, ohne lange zu überlegen.« Hector war ein bißchen verdattert, aber sie erklärte es ihm. Sie fand, daß es mit der Biographie einer Beziehung zwischen zwei Menschen ein wenig so lief wie mit der Biographie einer einzelnen Person. »Weißt du, ich glaube, wenn es mit einer Partnerschaft los‐ geht, ähnelt sie zuerst einem Kind, und alles kommt einem un‐ beschwert und neu vor. Dann wächst sie heran, man begreift besser, wie die Dinge laufen, sie wird erwachsen und später
dann reif und schließlich richtiggehend alt, und wie ein alter Mensch stirbt am Ende auch so eine Partnerschaft, weil einer der beiden Partner stirbt oder, wie es heutzutage häufiger ist, weil man sich trennt. Ich glaube, daß ein Paar wie ein lebendi‐ ges Wesen ist, das geboren wird, altert und schließlich stirbt.« »Und denkst du, daß unsere Partnerschaft nicht mehr am Leben ist?« »Nein«, sagte Clara, »so einfach ist das nicht. Ich glaube aber, daß es mit dem Heiraten und Kinderkriegen leichter geht, wenn das Paar sehr jung ist und man sich noch nicht so gut kennt. Lebt man aber zusammen, ohne sich für etwas zu entscheiden, kommt die Partnerschaft in die Jahre, und dann ist es schwerer, sich zu einer Veränderung durchzuringen. Es herrscht nicht mehr der Zauber, der jedem Anfang innewohnt.« »Du hast also keine Lust, ein Baby zu bekommen?« Und da brach Clara in Tränen aus. »Ich glaube, daß ich gerade nicht besonders gut in Form bin«, sagte sie schniefend. »Die Zeit vergeht so schnell, und das Le‐ ben wird bald zu Ende sein ... und dann werde ich nichts be‐ sonders Interessantes vollbracht haben. Und überhaupt – bin ich denn selbst eine so interessante Person?« In Hectors Gehirn leuchteten kleine rote Warnlichter auf: Ne‐ gative Lesart der Vergangenheit, Pessimismus, Selbstabwertung. Alle Psychiater der Welt wissen, daß dies Anzeichen dafür sind, daß Sie vielleicht eine veritable Depression durchmachen. Und Hec‐ tor erinnerte sich auch daran, daß Clara in letzter Zeit traurig ausgesehen hatte – sogar wenn sie sich vor dem Schlafengehen die Anti‐Aging‐Creme auftrug. Er nahm Clara in die Arme, und sie ließ ihn gewähren und weinte mit dem Gesicht gegen seinen Hals weiter vor sich hin, und während Hector in sich jede Menge Zärtlichkeit für sie verspürte, war er gleichzeitig auf sich selbst wütend, weil er es nicht mitbekommen hatte, daß Clara vielleicht schon eine ganze Weile depressiv war.
Allerdings weiß man ja, daß oft gerade die Schuhmacher mit dem schlechtesten Schuhwerk herumlaufen, und Hector kannte Kollegen, die erst an dem Abend, als ihre Tochter ein ganzes Röhrchen Schlaftabletten geschluckt oder ihre Frau sich an der Gardinenstange aufzuhängen versucht hatte, überhaupt mitge‐ kriegt hatten, daß es zu Hause ein Problem gab. Denn wenn Sie Psychiater sind und abends nach Hause kommen, ist es, als würden Sie Ihre psychiatrische Brille absetzen; Sie verwandeln sich wieder in jemanden, der nicht unbedingt so viel heller ist als Monsieur X oder Madame Y, und weil Sie außerdem den ganzen Tag über vielen Leuten zugehört und Ratschläge erteilt haben, sind Sie manchmal dermaßen müde, daß Sie nicht ein‐ mal mehr Lust haben, den Leuten zuzuhören, die Sie lieben, und das kann Ihre Familie ziemlich unglücklich machen. Hector dachte, daß Clara schnell einen Psychiater konsul‐ tieren mußte, zu dem er Vertrauen hatte – den alten François nämlich, denn der würde einen Blick dafür haben, ob Clara de‐ pressiv war oder ob es sich nur um eine trübselige Stimmung handelte. Währenddessen hörte er, wie Clara an seinem Hals schluchz‐ te und ihm wieder sagte, daß es ihr so schien, als wäre die Zeit zu schnell vergangen und jetzt beinahe schon alles vorbei, und da fragte sich Hector, was wohl schlimmer war – wenn man die Zeit nicht verstreichen sah oder wenn man immerzu an ihr Verstreichen denken mußte?
Hector und das himmlische Königreich Am Tag vor seiner Abreise nach China empfing Hector in sei‐ nem Sprechzimmer einige Patienten, die er noch einmal sehen wollte. Ging es ihnen gut genug, um eine gewisse Zeit ohne ihn zurechtzukommen, oder mußte er sie schnell an einen Kollegen überweisen oder sogar gleich zur Erholung an einen ruhigen Ort schicken, wo es viele sehr nette Damen und Herren in wei‐ ßen Kitteln gab? Zuerst war Roger dran. Roger war ein großer, stämmiger Bursche, der nicht gerade gemütlich aussah, aber im Grunde war er keineswegs bösartig. Das Problem lag darin, daß Roger schon seit langen Jahren glaubte, Gott (und manchmal der Teufel) würden zu ihm ganz persönlich sprechen. Er hörte die Stimmen sogar in seinem Kopf, und oft antwortete er ganz laut, was die Leute, denen er auf der Straße begegnete, ein bißchen verwunderte. Und wenn es auch stimmt daß Roger keineswegs bösartig war, so konnte er doch leicht fuchsteufelswild werden, wenn sich die Leute über ihn oder gar über den lieben Gott lustig machten, und so hatte er in seinem Leben etliche Zeit in psychiatrischen Kran‐ kenhäusern zugebracht, wo er tagtäglich so viele Medikamente nehmen mußte, daß man mit ihnen ein Pferd hätte einschläfern können oder sogar mehrere Ponys, wenn Ihnen dieser Ver‐ gleich lieber ist. Inzwischen war es Hector allerdings gelungen, Roger davon zu überzeugen, seine Gedanken lieber für sich zu behalten und nur mit Hector und ein paar anderen Personen, die er gern hatte, darüber zu reden. Seitdem ging es Roger viel besser, oder
jedenfalls nahm er weniger Medikamente und mußte auch nicht mehr so oft ins Krankenhaus. »Sie wollen also wegfahren?« fragte Roger. »Ja, aber nicht sehr lange, maximal zwei oder drei Wochen.« »Man weiß nie«, sagte Roger. »Was weiß man nie?« »Wir wissen weder den Tag noch die Stunde ... Es liegt in der Hand des Allerhöchsten ...« Hector war ein wenig beunruhigt, denn wenn Roger erst ein‐ mal mit solchen Erörterungen anfing, konnte es lange dauern, und schließlich hatte er hinterher noch andere Patienten. Aber dann kam ihm eine Idee: »Sagen Sie mir doch bitte, Roger, was denken Sie über die verrinnende Zeit?« Roger runzelte die Stirn, was ziemlich ... imponierend wirkte, aber Hector wußte ja, daß es vom Nachdenken kam. Schließlich sagte Roger: »Es ist nicht die Zeit, die vergeht ... Wir sind es, die vergehen.« Hector hielt das für einen sehr guten Einfall. »Ich habe das gelesen ... Oder vielleicht gehört ...« Hector sah, daß sich Roger wieder auf seine Stimmen zu kon‐ zentrieren begann, also fragte er schnell: »Und wenn Sie wis‐ sen, daß wir vergehen, daß wir alt werden, welches Gefühl löst das bei Ihnen aus?« »Es bringt uns dem himmlischen Königreich näher«, sagte Roger. »Dann wird die Zeit zu Ende sein und die Ewigkeit an‐ heben!« Der Gedanke ans himmlische Königreich schien Roger sehr glücklich zu machen. »Also macht Ihnen das Älterwerden keine Angst? Sie haben nicht den Wunsch, die Zeit aufzuhalten?« Eine solche Vorstellung schockierte Roger offensichtlich ein bißchen. »Aber die Zeit gehört doch Gott allein!« rief er. Hector sagte sich, daß Roger womöglich nicht alle Tassen im Schrank hatte, wie man so sagt, aber daß er andererseits mit
der Zeit, die vergeht, viel zufriedener schien als die meisten an‐ deren Leute. Wenn er über all dies doch nur ruhiger reden könnte... Später notierte Hector in seinem Notizbüchlein: Zeit‐Etüde Nr. 14: Denken Sie einmal daran, daß Sie das Älterwer‐ den vielleicht dem himmlischen Königreich (oder wie dieser Ort in Ihrer Religion heißt) näher bringt. Bestimmte Leute konnten natürlich auch annehmen, daß sie mit den Jahren der Hölle immer näher kamen, aber das pas‐ sierte selten, denn die Personen, die sich ihren Platz in der Hölle wirklich verdient hatten, hielten sich oft für Männer ohne Fehl und Tadel. Die Angst vor der Holle schreckte sie nicht eine Sekunde davon ab, entsetzliche Taten zu verüben.
Hector ist ein Hundepsychiater Die Sprechstundenhilfe sagte Hector, daß noch jemand um einen dringenden Termin gebeten hatte. Es war Fernand mit seinem Hund. »Ich habe ein Problem«, erklärte Fernand. »Wenn ich ihn al‐ lein zu Hause lasse, jault er, macht überall Pfützen und knab‐ bert die Füße vom Sofa an.« Wenn man sich diesen ruhigen und wohlerzogenen Hund anschaute, war es kaum vorstellbar, daß er sich so schlecht auf‐ führen sollte. »Glauben Sie, er will mich damit für meine Abwesenheit be‐ strafen?« fragte Fernand. »Nein«, sagte Hector. »Wenn Sie fortgehen und er plötzlich allein zu Hause sitzt, kann er nicht wissen, ob es vielleicht für immer ist. Es ist eine Panikreaktion.« Sie werden es sehr schlau von Hector finden, daß er Fernands Hund so schnell verstand, aber es lag daran, daß er schon Tierärzte getroffen hatte, die auf Hundepsychologie speziali‐ siert waren, und je tiefer diese Leute das Verhalten der Hunde erforschten, desto mehr schien es ihnen dem Verhalten von erwachsenen Leuten oder Kindern zu ähneln. »Ihr Hund kann sich die Zukunft nicht vorstellen«, sagte Hector. »Er lebt einzig in der Gegenwart oder höchstens in einer unmittelbaren Zukunft.« »Das stimmt«, meinte Fernand. »Wenn er hört, daß ich den Futternapf fertig mache, weiß er, daß es etwas zu fressen ge‐ ben wird. Und wenn ich zur Leine greife, wedelt er mit dem Schwanz, weil er weiß, daß wir gleich rausgehen werden.«
»Sehen Sie«, sagte Hector, »das ist alles unmittelbare Zu‐ kunft. Aber wie es mit ihm in fernerer Zukunft aussehen wird, kann er sich nicht ausmalen. Er lebt in einer ewigen Gegen‐ wart.« Fernand blickte auf seinen Hund, und dann sagte er: »Wenig‐ stens einer, der seine Zeit nicht in Hundeleben zählt ...« Schließlich verschrieb Hector dem Hund ein Medikament, das bei Menschen gegen Angst wirkte. Eigentlich war es ein Medikament gegen Depressionen, denn bei einer Depression hat man ebenfalls ein bißchen dieses Gefühl, von allen verlas‐ sen zu sein, und so funktionierte das Medikament auch gegen die Angst vor dem Verlassenwerden. Als Fernand gegangen war, brachte die Szene Hector auf mancherlei Gedanken. Die Tiere lebten weder in der Zukunft noch in der Vergangenheit. Das ersparte ihnen eine Menge Sor‐ gen, und sie mußten beispielsweise nicht an die Dauer ihres Lebens denken. Andererseits sah die Gegenwart manchmal übel aus, und dann konnten all diese braven Tiere sie nicht mit der Hoffnung auf eine bessere Zukunft aufhellen oder mit guten Erinnerungen an eine glückliche Vergangenheit erträglicher machen. Die Hölle der Gegenwart schien ihnen ewig zu sein und weder Anfang noch Ende zu haben. Wenn man aber den Menschen die Wahl ließe, würden sie dann lieber so leben wie Tiere? Im übrigen gab es ja auch Leute, die uns empfohlen haben, immer im gegenwärtigen Augenblick zu leben und uns weder über die Zukunft den Kopf zu zerbrechen noch dem Vergange‐ nen nachzugrübeln. Bedeutete das nicht, daß sie uns eigentlich geraten haben, zu denken wie eine Kuh? Dennoch nannten sich manche dieser Leute Philosophen, und das heißt, falls Sie sich nicht mehr erinnern sollten, »die Weisheitsliebenden«. Die Weisheit der Kühe also? Die Sorglosigkeit des Horn‐ viehs? Ihr Kuh‐in‐der‐Welt‐Sein, hätte ein Philosoph mit einem kleinen Schnurrbart gesagt, ein Philosoph, dessen Bücher so
schwer zu verstehen waren, daß selbst die Leute, welche Bücher über diese Bücher schrieben, sich nicht einig waren, was er mit ihnen eigentlich hatte sagen wollen. Schon wieder ein Bündel Fragen für den alten François ... Hector notierte: Zeit‐Etüde Nr. 15: Stellen Sie sich vor, Sie wären eine Kuh. Sie erin‐ nern sich nicht daran, daß Sie einmal ein Kalb gewesen sind. Sie wis‐ sen nicht, daß Sie eines Tages sterben werden. Wären Sie dann glück‐ licher? Würden Sie gern eine Kuh sein, wenn man Sie vor die Wahl stellte? Oder vielleicht lieber ein anderes Tier? Wenn ja, welches? Hector erinnerte sich auch, daß ein anderer Philosoph, dies‐ mal einer mit einem riesigen Schnurrbart, genau dies geschrie‐ ben hatte: Die Kühe hätten wirklich Glück, in ewiger Gegen‐ wart zu leben und nicht von Erinnerungen behelligt zu werden. Dieser Philosoph hatte nämlich gedacht, man könne im Leben \ nur stark und glücklich sein, wenn man imstande sei zu vergessen! Und das Seltsame und Schreckliche daran war, daß der Philosoph später an einer Krankheit sterben sollte, die alle Erinnerungen und sogar alle Gedanken in seinem Kopf auslöschte ... Hector überlegte gerade, in welches Tier er gern schlüpfen würde – in eine Möwe? einen Delphin? –, als die Sprechstun‐ denhilfe ihm sagte, daß Marie‐Agnes im Wartezimmer saß.
Hector und die verlorene Zeit »Ich habe jemanden gefunden, der noch verrückter ist als ich«, verkündete Marie‐Agnes. »Verrückter als Sie?« »Ja, aber absolut!« Und nach einem kurzen Auflachen, das ihre hübschen strah‐ lend weißen Zahne freilegte (sie ließ sie sehr häufig reinigen), erklärte Marie‐Agnes, sie habe einen ziemlich bedeutenden Herrn gefunden, der sehr verliebt in sie sei, und das war eher eine gute Neuigkeit. »Er ist beinahe zwanzig Jahre älter«, sagte sie. »Na und?« meinte Hector. »Oh, man sieht ihm sein Alter überhaupt nicht an, und für mich ist es sowieso kein Problem.« »Aber wo ist dann der Pferdefuß?« wollte Hector wissen. Marie‐Agnes hatte eine Fotokopie vom Terminkalender jenes Herrn mitgebracht. Alle Seiten waren vollkommen ausgefüllt mit Eintragungen wie »Hauptversammlung« oder »Ankunft in München« oder »Exekutivausschuß«. Und dann gab es unten auf jeder Seite eine kleine Extrazeile. Hector las: Verlorene Zeit: 35 Minuten. Verbleibende Zeit: 7456 Tage. »Er trägt jeden Tag die Zeit ein, die er verloren zu haben glaubt. Wenn er unter zehn Minuten kommt, ist es für ihn ein guter Tag gewesen.« »Und die 7456 Tage?« »Er glaubt, so viele Tage habe er noch zu leben.« Und Marie‐ Agnes erklärte, dieser Herr (dessen Name Paul war) habe es sich ausrechnen lassen. Man kann nämlich ermitteln, wieviel
Lebenszeit Ihnen wahrscheinlich noch bleibt, wenn man das Al‐ ter berücksichtigt, in dem die Leute in Ihrer Familie normaler‐ weise sterben, und dazu noch Ihren Blutdruck heranzieht und andere Dinge, mit denen sich die Ärzte auskennen. Paul hatte also seine eigenen Zeit‐Übungen erfunden! Jeden Tag führte er sich vor Augen, daß sein In‐der‐Welt‐Sein, wie der Philosoph mit dem kleinen Schnurrbart gesagt hätte, bald ein Ende finden oder kurz gesagt, daß er eines Tages sterben würde. Hector hätte Paul gern kennengelernt, um herauszufin‐ den, ob ihm dieser Gedanke wirklich half. »Ich hätte mich gefreut«, sagte Marie‐Agnes, »wenn er mit in die Sprechstunde gekommen wäre und wir einiges gemeinsam hätten bereden können. Aber leider, er hatte keine Zeit!« Auf jeden Fall hatte auch Hector nicht viel Zeit, er mußte ja nach China abfliegen. Was denn, wird er wirklich nach China fliegen? Und Clara ganz allein lassen, wo sie ohnehin schon so viele Sorgen hat? Tatsächlich hatte Hector daran gedacht, erst einmal daheim zu bleiben und abzuwarten, bis es Clara wieder besser ging. Aber als er Clara mitgeteilt hatte, daß er seine Reise vielleicht ein bißchen verschieben werde, hatte sie nein gesagt, und das solle er auf gar keinen Fall machen, es sei notwendig, daß er sofort nach China aufbreche, denn sonst hätte sie den Eindruck, es wäre alles bloß ihre Schuld, wenn er den alten Mönch nicht wiedersähe. »Aber trotzdem ...«, meinte Hector. Und da hatte Clara einen sehr liebenswürdigen und sehr pfif‐ figen Einfall (und Sie werden gleich verstehen, weshalb Hector sie so liebte). Sie sagte, daß ihm der alte Mönch vielleicht eine Menge über die Zeit, die verstreicht, erklären könnte, und wenn Hector zurück war, könnte er ihr alles erzählen, und es sei mög‐ lich, daß es ihr sehr helfen würde. Als Hector das hörte, mußte er auch wieder daran denken, was der Schamane von den Inuit gesagt hatte. Und so machte er sich auf nach China und dachte dabei viel an seine Freundin Clara.
Hector gewinnt an Höhe Im Flugzeug gab es an der Trennwand einen kleinen Fernseh‐ bildschirm, auf dem Hector lesen konnte: Uhrzeit am Abflugort: 16.00 Uhr Uhrzeit am Zielort: 23.00 Uhr Verbleibende Flugzeit: 9 Stunden Voraussichtliche Ankunftszeit: 8.00 Uhr Das rief einem jene seltsame Tatsache ins Gedächtnis, die die Menschen erst spät begriffen hatten: Die Uhrzeit ist an den ver‐ schiedenen Orten der Welt nicht dieselbe. Das liegt daran, daß die Erde rund ist und sich im Angesicht der Sonne um sich selbst dreht, ein bißchen wie eine etwas pummelige Tänzerin, die vor einem Holzfeuer Pirouetten dreht. Die Mittagsstunde, in der man der Sonne genau gegenüber sitzt, kommt für die verschiedenen Bewohner der Erde also zu unterschiedlichen Zeiten, genau wie sich die Tänzerin nicht von allen Seiten gleichzeitig wärmen lassen kann. Auf der Toilette hatte Hector einen Einfall (ihm kamen die Einfälle häufig im Bad): Wenn es nun im ganzen Flugzeug keine Uhr gegeben hätte, wie hätte er die Zeit, die vergeht, dann messen können? Hector hätte sich daran orientieren können, wann die Ste‐ wardessen Frühstück, Mittagessen und Abendbrot servierten, oder er hätte danach spähen können, wie die verschiedenen Landschaften aussahen, über die das Flugzeug hinwegstrich. Aber wenn er nun ganz allein im Flugzeug gesessen hätte und alle Fensterchen zugeklebt gewesen wären? Wenn er weder im Inneren noch außerhalb des Flugzeugs irgendeine Bewegung
hätte ausmachen können oder wenn er sich gleich für den gan‐ zen Flug auf der Toilette eingeschlossen hätte? Hector hätte her‐ ausfinden können, wieviel Zeit verstrich, indem er die Schläge seines Herzens zählte, aber auch diese Methode funktionierte nur, weil sich etwas in ihm bewegte. Und wenn Hector nun ge‐ fesselt dagelegen hätte und es ihm nicht möglich gewesen wäre den Puls zu messen? Er hätte trotzdem mitbekommen, wie die Zeit verging, indem er nämlich spürte, wie ihm die Gedanken einer nach dem anderen durch den Kopf zogen. Aber selbst hier bewegte sich noch etwas, auch wenn es nur kleine Moleküle waren, die in Hectors Kopf umherschwirrten. Hector sagte sich daß er gut nachgedacht hatte. Er verließ die Toilette, nahm seinen Sitzplatz wieder ein, zog das Notizbüchlein hervor und! notierte: Zeit‐Etüde Nr. 16: Konzentrieren Sie sich, und machen Sie sich be‐ wußt, daß es keine Zeit ohne Bewegung gibt und keine Bewegung ohne Zeit. Die Zeit ist das Maß der Bewegung. Hector las die Eintragung noch einmal durch, aber jetzt ver‐ stand er schon nicht mehr richtig, was er hatte sagen wollen, denn der Gedanke in seinem Kopf war ein Stück weitergezogen und hatte sich dabei ein bißchen verwischt. Und plötzlich erinnerte er sich an die Worte des alten Fran‐ çois: »Die Zeit ist die Maßzahl der Bewegung hinsichtlich des Davor und Danach.« Aristoteles. Er mußte unbedingt Aristote‐ les lesen – oder vielmehr, er mußte ihn wiederlesen, denn auf dem Gymnasium hatten sie schon ein paar Bröckchen aus sei‐ nen Schriften kennengelernt. Hector fing wieder mit dem Nachdenken an, aber nicht sehr lange, denn es war die Stunde des Mittagessens, und die Ste‐ wardeß stellte ihm ein Tablett mit lauter guten Sachen vor die Nase, oder eigentlich waren es nicht so richtig gute Sachen denn diesmal reiste Hector im billigsten Teil des Flugzeugs, was ihm seine Knie auch langsam vorzuwerfen begannen. Er sagte sich, daß ihm die Zeit hier noch mächtig lang werden
würde, ein bißchen so wie die Nacht in Édouards Zelt, aber im‐ merhin konnte er sie ja nutzen, um an Clara zu denken und an alles, was er nach seiner Rückkehr anstellen würde, um sie glücklicher zu machen.
Hector redet mit seinem Nachbarn
Neben Hector saß ein chinesischer Herr mit einer kleinen run‐ den Brille, der eine chinesische Zeitung las. Es war ein sehr höflicher Herr, denn als sein Ellenbogen einmal Hectors Ellen‐ bogen berührt hatte, hatte er ihn sofort von der Armlehne ge‐ nommen, und weil Hector ebenfalls ziemlich höflich war, hatte auch er seinen Ellenbogen zurückgezogen, und jetzt hielten sie beide ihre Arme an den Körper gepreßt, und die Armlehnen zwischen ihnen blieben frei. Der chinesische Herr sah schon ziemlich betagt aus, aber Hector fiel auf, daß er sich die Haare gefärbt hatte. Die Angst vor der verstreichenden Zeit war also das, was die Ärzte eine Pandemie nennen – eine Krankheit, die überall auf der Welt vorhanden ist. Und ein Impfstoff dagegen wird bestimmt nicht bis morgen früh erfunden, dachte Hector und seufzte. Die Stewardeß kam vorbei und fragte ihn, ob er lieber Garne‐ len mit Nudeln essen wollte oder Ente mit Gemüse, und Hector entschied sich für die Garnelen, denn er dachte, daß er selbst imstande sein würde, solche Garnelen zu töten (es reichte schon, wenn man sie aus dem Wasser nahm). Ganz bestimmt aber würde er keine Ente umbringen, denn sie ist fähig, ein bißchen wie Sie und ich Angst, Freude und Schmerz zu empfinden, und wenn Sie sie gleich mit nach Hause nehmen, nachdem sie aus dem Ei geschlüpft ist, kann sie sogar anhänglich werden wie ein kleiner Hund, während Sie von Garnelen in dieser Hinsicht stets enttäuscht würden. Die Stewardeß war hübsch wie eine Stewardeß, aber sie wirkte auch ein bißchen mürrisch, als hätte sie die Nase voll da‐
von, Dutzende Male fragen zu müssen »Garnelen oder Ente?«, und Hector dachte einmal mehr, daß er großes Glück hatte, eine Arbeit zu verrichten, die jeden Tag ein bißchen anders aussah. Das intensive Leben läßt die Zeit kurz erscheinen und die Jahre lang – ja, aber der Satz hatte auch seine Kehrseite: Je stärker sich Ihre Arbeit Tag für Tag gleicht, desto mehr riskieren Sie sich zu lang‐ weilen, und gleichzeitig rauschen die Jahre schnell vorbei. Er hoffte für die Stewardeß, daß man sie befördern würde oder daß sie einen guten Ehemann fände oder aber eine neue Arbeit, die ihr interessanter vorkam, wenigstens am Anfang. Hector spielte auch mit dem Gedanken, der Stewardeß ein bißchen Abwechslung zu bereiten, indem er ein Gespräch mit ihr anknüpfte, aber er erinnerte sich daran, wie Clara an seinem Hals geweint hatte, und das nahm ihm gleich den Elan. Dies bewies einmal mehr, daß die Vergangenheit, wenn sie schon nicht existiert, weil sie eben vergangen ist, doch zumindest Spuren hinterläßt, und so existierte sie in der Gegenwart doch noch ein bißchen. In Hector aber trugen einige dieser Spuren den Namen Clara. Hector warf einen Blick auf die Zeitung des chinesischen Herrn, und was sah er? Sie werden es schon erraten haben – ein Foto des alten Mönchs, ein sehr fröhliches, auf dem er gerade in sich hinein‐ lachte! Doch es war seltsam, denn es gab noch ein anderes Foto, das ihn als Mönch zeigte, aber es sah so aus, als wäre es vor ziemlich langer Zeit aufgenommen worden. Um ihn herum standen chi‐ nesische Damen und Herren, die wie früher angezogen waren – ein bißchen wie die Figuren aus Der blaue Lotos, dem Tim‐und‐ Struppi‐Band, den Hector am liebsten mochte –, und trotzdem hätte man meinen können, daß der alte Mönch auf jenem Foto schon fast so alt war wie heute. Wahrscheinlich war es ein Foto von seinem Vater, dachte Hector, denn der alte Mönch gehörte einer Religion an, in der bestimmte Mönche Kinder haben durf‐
ten, während so etwas in Hectors Religion immer nur heimlich passierte. Er fragte den chinesischen Herrn sehr höflich, was die Zeitung über den alten Mönch zu berichten hatte, und der Herr antwortete in ziemlich gutem Englisch, daß der alte Mönch ver‐ schwunden sei. Hector sagte, das wisse er schon, denn es stehe seit einigen Tagen auch in den Zeitungen seines Landes mitsamt all dem Zank und Streit zwischen China und den anderen Ländern, welche China die Schuld am Verschwinden des alten Mönchs gegeben hatten. »Ja«, sagte der chinesische Herr, »aber es gibt auch Neues.« Und er erklärte Hector, daß man lange Zeit geglaubt hatte, der alte Mönch wäre der Sohn eines anderen berühmten alten Mönchs, und plötzlich hatte man gemerkt, daß es nicht stimmte und der alte Mönch gar nicht der Sohn eines anderen alten Mönchs war, sondern dieser selbst, sein Vater also oder viel‐ mehr auch nicht sein Vater, denn es gab ja keinen Sohn dazu. Um es ein bißchen klarer auszudrücken, es war von Anfang bis Ende derselbe alte Mönch, und mit Vater und Sohn war da überhaupt nichts. Und seit die Leute das mitbekommen und darüber zu reden begonnen hatten, war der alte Mönch ver‐ schwunden. »Aber wie alt wäre er denn heute?« fragte Hector. »So hundertzwanzig, hundertdreißig Jahre«, sagte der chine‐ sische Herr, wobei er Hector durch seine kleine runde Brille ansah und ihm zulächelte, und dieses Lächeln wirkte beinahe wie eine Entschuldigung dafür, daß er einem Mann aus dem Westen etwas so Bizarres geantwortet hatte. Hector aber verstand nun, weshalb der alte Mönch so weise war. Er hatte wirklich genügend Zeit gehabt, die Dinge richtig zu begreifen.
Hector und das Lied der Zeit Und da sah Hector sie wieder, die chinesische Stadt am Ufer des Meeres und am Fuß der Berge. Er fand den Geruch des Meeres wieder, die wie Rasierklingen blitzenden Hochhaus‐ türme (seit seinem letzten Besuch waren ein paar neue empor‐ gewachsen) und natürlich das Gebirge, in das er eines Tages mit einem kleinen Zug gefahren war und in dem er, als er zu Fuß weitergegangen war, das Kloster des alten Mönchs ent‐ deckt hatte. Sein Hotel war nicht dasselbe wie beim letzten Mal; Hector hatte es extra so eingerichtet, denn er wollte nicht, daß das Zim‐ mer zu viele Erinnerungen in ihm wachrief – beispielsweise die Erinnerung daran, wie Ying Li, die nette Chinesin, morgens in seinem Badezimmer vor sich hin gesungen hatte. Aber nun fühlte sich Hector ein bißchen allein, denn sein Freund Édouard lebte nicht mehr in dieser Stadt, sondern bei den Inuit, der alte Mönch war verschwunden, und er fragte sich wirklich, ob es eine gute Idee war, die einzige andere Person anzurufen, die er in dieser Stadt kennengelernt hatte, nämlich Ying Li. Hector hatte nur ganz kurz mit diesem Gedanken gespielt, als er sich entschied, lieber Clara anzurufen. Als Clara seine Stimme hörte, wirkte sie sehr erfreut, und ihm ging es genauso, und sie führten ein richtig schönes Tele‐ fongespräch. Zugleich wußte Hector jedoch, daß sich Clara be‐ stimmt zusammenriß, um ihn nicht zu beunruhigen, daß sie vielleicht noch immer sehr traurig war und er den alten Mönch rasch finden mußte.
Er trat auf die Straße hinaus und fand sich inmitten einer Menge von Chinesen und Chinesinnen wieder, die fast alle so gekleidet waren, wie man ins Büro geht, denn es war früh am Morgen, und außerdem befand er sich in einem Teil Chinas, wo die Leute viel in Büros arbeiteten und überhaupt nicht auf den Feldern. Alle diese Menschen schienen es sehr eilig zu haben, und um ein Haar wäre Hector tüchtig zur Seite geschubst wor‐. den auf den Gehwegen, wo ein ziemliches Gedränge herrschte. Da war kein Zweifel möglich: Selbst wenn die Leute hier ein wenig den Inuit ähnelten (immerhin waren das ihre entfernten Verwandten), waren sie komplett in die Zeit der Weißen hin‐ übergekippt und trugen jetzt ebenfalls eine Uhr im Bauch. An‐ dererseits verdienten sie dadurch viel mehr Geld als die Chine‐ sen im übrigen China, und so konnten sie bessere Wohnungen haben oder ihre Kinder lange zur Schule schicken. Dies wie‐ derum würde ihren lieben Kleinen ermöglichen, später eben‐ falls mehr Geld zu verdienen undsoweiterundsofort – es schien gar nicht mehr vorstellbar, daß sie in die Zeit der Inuit zurück‐ kehrten, und überhaupt wünschten sich ja selbst jene Polar‐ bewolmer, aus ihrer Zeit auszusteigen. Am Fuße der Hochhaustürme fand Hector das kleine höl‐ zerne Bahnhofsgebäude wieder. Ein alter Chinese mit Schirm‐ mütze verkaufte die Fahrkarten und lächelte Hector zu, als ob er ihn wiedererkennen würde. Dann setzte sich Hector in den kleinen Zug und wartete auf die Abfahrt. Zu dieser Tageszeit gab es noch keine anderen Fahrgäste – oder schließlich doch, denn zwei Touristen, ein Ehepaar wahrscheinlich, betraten den Waggon. Es waren bejahrte Leute, die aus einem Land kamen, das nicht weit entfernt von Hectors Land liegt und zu dem diese chinesische Stadt eine ganze Weile gehört hatte. Sie hatten alle beide so weiße Haare wie der alte François und dazu blaßblaue Augen, und sie bewegten sich ein wenig langsam wie alte Leute eben, aber dazu lächelten sie auch und schienen sehr glücklich
zu sein. Freundlich wünschten sie Hector einen guten Morgen, und dann nahmen sie ihm gegenüber Platz. Hector war erfreut, auf Leute zu treffen, die es so glücklich zu machen schien, daß sie lebten und einander immer noch lieb‐ ten, nachdem sie wahrscheinlich eine Menge Zeit zusammen verbracht hatten und ihnen, wie Fernand gesagt hätte, wohl nur noch ein knapper Hund übrigblieb. Vielleicht lieferten sie ihm für seine Zeit‐Etüden gute Anregungen, mit denen man etlichen Leuten helfen konnte? Das Problem in der Psychiatrie ist nämlich, daß man vor allem Leute untersucht, denen es schlecht geht. Würde man hingegen die Leute ein wenig näher erforschen, denen es sehr, sehr gut geht, könnte einen das womöglich auf gute Ideen bringen, um den übrigen zu helfen. Andererseits wußte Hector auch, daß manche Menschen eine Begabung fürs Glücklichsein hatten, aber nicht groß darüber berichten konnten – ein bißchen wie jemand, der beim Singen immer den richtigen Ton trifft, Ihnen aber nicht erklären kann, wie er es anstellt. Der Zug ruckelte nun langsam los, und dabei knirschte es, denn weil die Steigung viel zu stark war für einen normalen Zug, hatte man diesen an Drahtseilen festgemacht, ungefähr wie einen Lift. Nach einer Weile war er so hoch gestiegen, daß man die Häuser von oben sehen konnte, und dann fuhr er in einen Wald ein, der so ähnlich aussah wie ein Dschungel, und es war bizarr, einen so wilden Wald so nahe an einer so zivili‐ sierten Stadt anzutreffen. Schließlich aber verließ der Zug den Wald wieder, und jetzt wurde die Aussicht herrlich; in der Ferne erblickte man das Meer, das an manchen Stellen dunkel wie Blei war, dort jedoch, wo es von der durch Wolkenlücken stoßenden Sonne beschie‐ nen wurde, wunderbar funkelte; und in diesem Meer konnte man Inseln ausmachen und noch weiter hinten andere Berge und den größeren Teil von China. Der alte Herr und die alte Dame wiesen sich gegenseitig auf
all diese Herrlichkeiten hin und sagten dabei how beautiful oder look at this, darling, als wollte jeder sichergehen, daß der andere nichts von dem Schauspiel verpaßte. Hector fragte, ob sie zum ersten Mal hier wären. Nein, sagte ider alte Herr, sie seien erst in ihr Heimatland zurückgekehrt, als sie in Rente gegangen waren, aber vorher hätten sie recht viele Jahre in dieser Stadt gelebt, denn sie hatte ja zu ihrem Land gehört. Aber nun kehrten sie gern jedes Jahr hierher zu‐ rück, und jedesmal aufs neue finde er die Landschaft einfach wunderschön. Trevor und Katherine – so hießen sie mit Vornamen – waren alle beide Lehrer gewesen. Katherine hatte Zeichnen unter‐ richtet, Trevor hatte die großen Romanschriftsteller und Poeten behandelt, und manche ihrer Schüler hatten sie in so guter Erinnerung behalten, daß sie ihnen immer noch jedes Jahr Neujahrskarten schickten. »Wir wären auch hiergeblieben«, sagte die Dame, »aber wir wollten unsere Kinder und Enkelkinder gern öfter sehen.« »Und ohnehin ist es nicht mehr wie früher«, meinte der alte Herr, »selbst wenn es immer noch herrlich ist.« Hector wollte wissen, was nicht mehr so war wie früher. »Die Stadt hat sich verändert ...«, sagte der alte Herr. »Aber Darling«, sagte die alte Dame, »vor allem sind es doch wir, die sich verändert haben!« Und über diesen Gedanken mußten sie alle beide lachen, ob‐ wohl er im Grunde gar nicht so lustig war. Hector sagte sich, daß diese beiden offenbar immer den rich‐ tigen Ton trafen, wenn sie das Lied der Zeit sangen.
Hector gewinnt Freunde Trevor und Katherine unterhielten sich noch eine Weile mit Hector. Als der Zug bei der Bergstation anlangte, stiegen sie ge‐ meinsam aus und begannen die Straße entlangzuspazieren, die mitten zwischen den schönen chinesischen Bergen hindurch‐ führte. Hector achtete darauf, daß er ganz langsam ging, um seine neuen Bekannten nicht zu sehr anzustrengen. Und wie er sich so mit ihnen unterhielt, stellte sich heraus, daß auch sie den alten Mönch gekannt hatten! »Er war hier sehr berühmt«, sagte Trevor. »Als er zurück‐ gekehrt ist nach all den Jahren, die er dort verbracht hatte ...« Und Trevor wies am Horizont auf den größeren Teil von China, wo in einer bestimmten Epoche Dinge geschehen waren, die nicht gerade angenehm gewesen waren für Mönche. »Wir sind manchmal bis zum Kloster hochgestiegen, um einen Tee mit ihm zu trinken«, sagte Katherine. »Ich wollte ihn auch in unsere Wohnung einladen, aber er entschuldigte sich und meinte, er würde uns lieber im Kloster sehen, in seinem Alter habe er keine Lust mehr auf die Stadt, wo ihm alles zu schnell gehe. In seinem Kloster aber könne er vergessen, daß sich die Dinge so sehr verändert haben.« Nanu, dachte Hector, sollte auch der alte Mönch Probleme mit der verstreichenden Zeit gehabt haben? »Und diese Geschichte mit seinem Alter?« fragte Hector. »Ach«, meinte Trevor, »die Zeitungen ...« »Wenn es wahr sein sollte«, sagte Katherine, »dann wären nicht einmal wir alt genug, um ihn noch als jungen Mann erlebt zu haben!«
Bald gelangten sie in Sichtweite des Klosters, und sie erblick‐ ten seine quadratischen Fensterchen und seine hübschen Dä‐ cher mit den nach chinesischer Art hochgebogenen Ecken. Es war aber nicht mehr so ruhig wie beim letzten Mal, denn jetzt standen dort Autos herum, etliche Leute schienen darauf zu warten, ins Kloster eingelassen zu werden, und es gab sogar Sendewagen von verschiedenen Fernsehanstalten. Man konnte auch ein paar uniformierte Polizisten erkennen, die vor der Klosterpforte standen, um zu verhindern, daß allzu viele Leute ins Kloster vorzudringen versuchten und dabei den Mönchen lästig fielen. Neben einem Sendewagen stand eine chinesisch aussehende Dame vor einer Fernsehkamera und sprach in ein Mikrofon. Ihr Englisch war ebenso perfekt wie das von Katherine, und ihre Frisur verrutschte fast überhaupt nicht im Wind. »Der Sprecher der Mönche hat uns noch einmal gesagt, er habe keine Erklärung abzugeben«, verkündete sie. Hector sah hinter ihr auf dem Sendewagen einen großen – Fernsehbildschirm, und auf dessen einer Hälfte zeigte man die chinesisch aussehende Dame, während man auf der anderen einen Nachrichtensprecher mit grauen Haaren und ruhigem Auftreten erkennen konnte. Er saß in einem Studio und fragte die Dame, die er Jennifer nannte, ob es sonst nichts Neues vom alten Mönch gebe, und Jennifer sagte »Nein, John«, präzisierte aber, daß sie sich direkt vor der Pforte des Klosters befand, in welchem der alte Mönch bis zu seinem Verschwinden gelebt hatte. Dann erinnerte John seine Zuschauer daran, daß er live mit Jennifer sprach und daß Jennifer genau vor dem Kloster des alten Mönchs stand. Und Jennifer antwortete, daß sie tatsächlich dort war und alle Welt sich frage, was wohl aus dem alten Mönch geworden sei. Und so unterhielten sie sich noch eine Weile über große Entfernungen hinweg, ohne wirklich etwas zu sagen. Weil aber das Verschwinden des alten Mönchs und das ihm zugeschriebene Alter ein bedeutendes Ereignis waren,
mußten sie wohl oder übel zu jeder vollen Stunde ziemlich ausführlich darüber sprechen, und Hector sagte sich, daß es be‐ stimmt schwierig und eintönig für sie war – ein bißchen so, als wenn man Hunderte von Malen »Ente oder Garnelen?« fragen mußte. Die Zeit kam ihnen sicher sehr lang vor, denn wenn die Dauer ein ununterbrochenes Emporsprudeln von Neuigkeiten war, wie es ein Philosoph, an den sich Hector vage erinnerte, einmal ausgedrückt hatte, so gab es hier für Jennifer und die Leute, die überall in der Welt vor dem Fernseher saßen, nicht eben viele von diesen Neuigkeiten. Die Fernsehbilder flogen sehr schnell von einer Weltgegend zur andern – beinahe mit Lichtgeschwindigkeit –, und all das, damit den Zuschauern die Zeit sehr langsam zu vergehen schien! Plötzlich hatte Hector eine Idee. Ihm war ziemlich klar, daß sich der alte Mönch nicht mehr im Kloster aufhielt, weil ihn die Leute sonst garantiert schon entdeckt hätten und die chinesi‐ sche Polizei sowieso, denn sie war daran interessiert, ihn wie‐ derzufinden, damit man China nicht länger belästigte. Ande‐ rerseits sah man fast überall auf der Welt fern – in den feinen Hotels, aber auch in allen möglichen Hütten oder Zelten. Und Hector hatte herausgefunden, wie er dem alten Mönch so etwas wie ein Zeichen geben konnte. Er entschuldigte sich bei Trevor und Katherine für einen Au‐ genblick, und während Jennifer weiter couragiert ins Mikrofon sprach, ohne etwas zu sagen, erklärte er den jungen Chinesen aus ihrem Sendeteam, daß er den alten Mönch gut gekannt habe. Er sei nämlich ein Psychiater, der sich auf die Zeit spe‐ zialisiert habe, und oft sei er in das Kloster zu Besuch gekom‐ men, denn der alte Mönch habe verdammt gut über die Men‐ schen Bescheid gewußt und sei ein wahrer Experte in Sachen Zeit gewesen.
Hector kommt im Fernsehen Und so hatte Hector fast auf der ganzen Erde einen dreiminü‐ tigen Fernsehauftritt, und im Hintergrund sah man die schö‐ nen grünen chinesischen Berge, die er so liebte. Er erklärte, daß heutzutage alle Welt mehr und mehr von der verrinnenden Zeit geplagt werde und sich Fragen stelle. Und er glaube, daß der alte Mönch gewiß Antworten auf diese Fragen hätte. »Welche Frage zum Beispiel?« wollte Jennifer wissen. »Soll man lieber gegen die Zeit ankämpfen, indem man ver‐ sucht, sehr lange jung zu bleiben, oder akzeptiert man es besser, daß sie vergeht und man älter wird?« Jennifer schaffte es, weiterhin ruhig und seriös in die Kamera zu blicken, aber Hector spürte deutlich, daß seine Frage ihr einen kleinen Stich versetzt hatte. Er ärgerte sich, nicht schlauer gewesen zu sein, vielleicht war es ja immer noch eine Nachwirkung des Flechtenbiers ... In Jennifers Augenwinkeln hatte er gerade die berühmten Fältchen entdeckt, von denen Clara immer sprach. Wahrscheinlich begann sie schon unruhig zu werden, wenn sich eine Kamera auf sie richtete, und an das Vorrücken der Konkurrenz zu denken, an all diese jungen Dinger, die ihren Platz einnehmen wollten. Der grauhaarige Nachrichtensprecher hingegen konnte ganz gelassen bleiben. Wenn ein Mann ein paar Falten hat, verschreckt das die Frauen nämlich nicht gleich, und manchen gefällt es sogar, während die Falten der Frauen überhaupt nicht den gleichen Effekt bei Männern auslösen. Jennifer dankte Hector sehr, und er sah auf dem Bildschirm, daß auch John zufrieden war. Es war ein bißchen, als wenn das
Interview ihnen erlaubt hätte, zu Ente und Garnelen noch ein weiteres Gericht auf die Speisekarte zu setzen: »Ente, Garnelen oder Risotto mit Meeresfrüchten?« »Bravo«, sagte Trevor, »Sie kamen sehr gut rüber.« Und Katherine meinte: »Eigentlich haben wir uns diese Frage nie richtig gestellt: Soll man gegen die Zeit ankämpfen oder...« Trevor und Katherine sangen das Lied der Zeit ohne eine fal‐ sche Note. Und doch hatten sie sich niemals Fragen zu diesem Thema gestellt! Hector wollte unbedingt verstehen, wie sie das machten.
Hector singt in den Bergen Trevor, Katherine und Hector saßen in einem kleinen Cafe un‐ weit des Gipfels. Hector war sehr zufrieden, denn sicher wür‐ den sie ihm jetzt etwas über die verstreichende Zeit beibringen. Gleichzeitig aber paßte er auf, ihnen nicht allzu direkte Fragen zu stellen und nicht etwa herauszuplatzen: »Wie fühlt man sich denn so, wenn man bloß noch einen Hund lang zu leben hat oder vielleicht sogar nur einen halben?« Aber dann brauchte er überhaupt keine Fragen zu stellen, denn Trevor und Katherine hatten Lust, Hector, der ihnen sofort sympathisch vorgekommen war, etwas zu erzählen. »Eigentlich sehen Katherine und ich die Dinge nicht auf die‐ selbe Weise«, begann Trevor. »Sie glaubt zum Beispiel an Gott, ich nicht.« »Und denken Sie sich bloß«, sagte Katherine, »auch nach sechsundvierzig Jahren Ehe hat er sich nicht geändert!« Hector erinnerte sich an jene von seinen Bekannten, die rich‐ tig fest an den lieben Gott glaubten. Er hatte bemerkt, daß es manchen von ihnen sehr half, das Älterwerden zu ertragen, und ihnen sogar das Sterben leichter machte, denn wenn man an den lieben Gott glaubte, glaubte man ja, daß die Welt, in die man hineingeboren war, nicht das Allerwichtigste war, sondern daß es hinterher eine wichtigere gab (und vielleicht auch vorher gegeben hatte). Trevor gelang es hingegen, das Älterwerden zu ertragen, ohne an den lieben Gott zu glauben. Hector wollte wirklich gern erfahren, wie er das machte. »Nun ja«, meinte Trevor, »um das Verrinnen der Zeit gut zu
verkraften, muß man Glück haben – und ein bißchen Philosoph sein.« »Glück haben?« fragte Hector. Er konnte sich schlecht ausmalen, seinen Patienten erklären zu müssen: »Haben Sie doch einfach etwas mehr Glück, und alles wird besser!« »Ja«, sagte Trevor, »man muß das Glück haben, die Lust an bestimmten Dingen genau zu der Zeit zu verlieren, in der man auch die Fähigkeit zu ihrer Ausführung verliert. Ich zum Bei‐ spiel habe leidenschaftlich gern Tennis gespielt...« »Er war ein toller Spieler«, sagte Katherine, »und mich hat das sogar ein bißchen geärgert, denn alle Frauen des Tennis‐ klubs umschwärmten ihn.« »Aber als ich mich von Match zu Match früher abgekämpft fühlte und die Schmerzen im Knie zunahmen, hat mich auch die Lust am Spielen verlassen. Ich erinnere mich gern an diese Zeit, aber ich weine ihr nicht nach. Und ungefähr so ist es, glaube ich, mein ganzes Leben lang gewesen, man verliert ein‐ fach die Lust an bestimmten Dingen und vermißt sie dann nicht mehr.« Und Trevor erklärte, er hoffe, das gleiche Glück zu haben, wenn sein Ende herangerückt sei – des Lebens müde zu sein genau in dem Augenblick, in dem man es verlassen muß. »Natürlich hilft es auch«, fügte er hinzu, »wenn man ziemlich zufrieden mit dem ist, was man erlebt hat.« »Und wenn man sieht, daß die Kinder glücklich sind«, sagte Katherine. »Das ist auch so ein erfreulicher Zufall«, sagte Trevor. »Da untertreibst du aber – immerhin haben wir selbst einen Anteil daran, wenn unsere Kinder glücklich sind!« »Stimmt«, meinte Trevor, »vor allem du, Darling.« »Und die Philosophie?« wollte Hector wissen. Trevor sagte, er habe gar nicht so viele philosophische Texte gelesen, aber ein Satz sei ihm im Gedächtnis geblieben und
habe ihm sehr geholfen: Tue, was in deiner Macht steht, akzeptiere, was nicht in deiner Macht steht, und lerne den Unterschied zwischen beiden zu erkennen. Trevor erklärte, daß ein Kaiser aus der Zeit der alten Römer diese Maxime gefunden habe, denn außer daß dieser Kaiser als General Schlachten gewonnen habe, sei er auch Philosoph ge‐ – wesen. Hector fand den Satz dermaßen schön, daß er sich vor‐ nahm, eine seiner kleinen Zeit‐Übungen daraus zu fabrizieren. »Und dann ist es auch hilfreich, Poesie zu lesen«, sagte Katherine. »Oh, das ist wahr«, meinte Trevor. »Hören Sie mal: Die Zeit vergeht, Madame, die Zeit verstreichet, Ach! nicht die Zeit – wir sind es, die vergehn, Schon bald wird uns der Schnitter niedermähn. Wenn eure Liebe nur zu Worten reichet, Muß sie, sind wir einst tot, wie Rauch zerwehn, Drum hört doch: Liebet mich, derweil ihr jung und schön! Und als Trevor diesen letzten Vers gesprochen hatte, nahm er Katherines Hand und küßte sie. Katherine schien davon ganz bewegt zu sein, und so über‐ nahm Hector den Staffelstab und begann vor sich hin zu sin‐ gen: Gelassen stieg die Nacht ans Land, Lehnt träumend an der Berge Wand, Ihr Auge sieht die goldne Waage nun Der Zeit in gleichen Schalen stille ruhn; Und kecker rauschen die Quellen hervor, Sie singen der Mutter, der Nacht, ins Ohr, Vom Tage, vom heute gewesenen Tage.
Das uralt alte Schlummerlied, Sie achtetʹs nicht, sie ist es müd; Ihr klingt des Himmels Bläue süßer noch, Der flüchtʹgen Stunden gleichgeschwungʹnes Joch. Doch immer behalten die Quellen das Wort, Es singen die Wasser im Schlafe noch fort Vom Tage, vom heute gewesenen Tage. Katherine und Trevor applaudierten, und dann begann Ka‐ therine zu singen, und ihre Stimme hörte sich plötzlich sehr jung an: As time goes by... Itʹs still the same old story A fight for love and glory A case of do or die. The world will always welcome lovers As time goes by. Oh yes, the world will always welcome lovers As time goes by ... Diesmal war es Trevor, der tief bewegt zu sein schien. Später, auf der Rückfahrt mit dem kleinen Zug, notierte sich Hector: Zeit‐Etüde Nr. 17: Legen Sie sich eine Sammlung von schönen Ge‐ dichten über die verstreichende Zeit an. Lernen Sie sie auswendig und rezitieren Sie sie vor Freunden, die alter beziehungsweise jünger sind als Sie. Aber er hatte auch Trevors Philosophie und den römischen General nicht vergessen. Zeit‐Etüde Nr. 18: Verbringen Sie Zeit mit dem Versuch, Dinge zu ändern, die geändert werden können? Bemühen Sie sich, das hinzu‐ nehmen, was nicht geändert werden kann ? Denken Sie darüber
nach,wie sich das eine vom anderen unterscheiden läßt? Je häufiger Sie diese Fragen mit Ja beantworten können, desto besser. Wenn es nun aber eine Sache gab, die man ganz bestimmt nicht ändern konnte, so war es die Flucht der Zeit. Also war es wohl besser, nicht zu oft daran zu denken ...
Hector und die wiedergefundene Zeit All das hatte Hector eine Weile beschäftigt, aber er wußte nur zu gut, daß er am Ende trotzdem Ying Li anrufen würde, die reizende Chinesin, die er auf seiner vorletzten Chinareise ken‐ nengelernt hatte. Sie hatten nur zwei Abende miteinander verbracht und zwei Nächte, und dann, wie man so sagt, hatte das Leben sie ge‐ trennt, aber Hector war noch immer sehr gerührt, wenn er sich an Ying Li erinnerte – wie sie ein bißchen schüchtern war am ersten Abend, als er sie zum Essen eingeladen hatte, wie fröh‐ lich sie war, als sie morgens im Badezimmer vor sich hin träl‐ lerte, und wie traurig, als sie im nächtlichen Taxi in seinen Ar‐ men weinte. Er beschloß, sich mit ihr in einer Cafeteria zu verabreden, die sich in der obersten Etage eines der städtischen Museen befand. Auf diese Weise würden ihnen nicht so viele Erinnerungen kommen, denn bisher hatten sie sich ja nur nachts gesehen, und das an Orten, wo man erst zu sehr später Stunde hingeht. Hector und Ying Li, das war, wie es so heißt, eine unmögliche Liebe, aber trotzdem hatte sie bei Hector ziemlich tiefe Spuren hinterlassen und vielleicht, so fragte er sich, auch bei Ying Li. Ganz genau wußte er allerdings, daß sie einen netten Burschen geheiratet hatte, der aus demselben Land kam wie Hector, und daß sie gerade ihr zweites Kind zur Welt gebracht hatte. Und er, Hector, liebte selbstverständlich Clara! Also war es inzwischen eine noch unmöglichere Liebe als zu Beginn, denn sowohl Hec‐ tor als auch Ying Li waren jetzt anderweitig glücklich. Aber als er sie dann in dem großen Cafe auf seinen Tisch zu‐
kommen sah, fühlte er sich im Innersten durch‐ und durchge‐ schüttelt. Von weitem war sie genau die gleiche Ying Li wie in seiner Erinnerung, genauso schön und zart und reizend. Als sie ihm zulächelte, merkte er, wie bewegt sie war, und als sie sich setzte, schlug sie schüchtern die Augen nieder, genau wie bei ihrer ersten Begegnung. Ihre Wangen waren ganz gerötet, und Hector spürte, daß seine genauso aussehen mußten. Und dann sah Hector, daß auch für Ying Li Zeit verstrichen war; sie war ein wenig rundlicher geworden, und wenn man ganz genau danach suchte, konnte man sogar ein paar von den berühmten Fältchen finden. Genauso mußte Ying Li seine er‐ sten grauen Haare sehen und seine eigenen kleinen Falten. Hector wollte Ying Li sagen, daß sie so schön war wie eh und je, denn er dachte es wirklich, aber gleichzeitig fragte er sich, ob man einer verheirateten Frau so etwas sagen sollte. Schließlich sagte er es trotzdem und merkte, daß sich Ying Li darüber freute, und vor allem mußte sie schon aus seinem Blick gelesen haben, daß er sie so schön fand wie damals, obwohl die Zeit an ihr nicht vorbeigegangen war, und das beweist, daß Hector im‐ mer noch Liebe für sie verspürte und nicht einfach nur das Ver‐ langen nach ihrer vergänglichen Schönheit. Sie begannen miteinander zu reden. Aber was sagten sie sich? Sehr einfache Dinge, wie sie Leute aussprechen, die einander immer noch lieben, obwohl jeder der beiden auch eine andere Person liebt, von der er seinerseits ge‐ liebt wird und mit der er zusammenbleiben wird. Sie tauschten Neuigkeiten aus. Hector wollte wissen, wie es dem Baby ging, und es ging ihr sehr gut, denn es war eine kleine Tochter. Ying Li wollte wissen, ob Hector inzwischen mit Clara ver‐ heiratet war, und er sagte, noch nicht, aber wahrscheinlich bald. Und da lächelte Ying Li wieder und meinte, sie wünsche es ihm, denn Glück bedeute letzten Endes doch, daß man hei‐ ratet und Kinder bekommt – jetzt wisse sie es, und sie würde
es gern sehen, wenn auch Hector diese Erfahrung machte. Hector fragte, was es Neues von ihrem Sohn gebe, der jetzt schon fast acht Jahre alt sein mußte. Ying Li sagte, daß er ge‐ rade mit einer ihrer Schwestern das Museum unter der Cafete‐ ria besichtige und daß beide hinterher bei ihnen vorbeischauen würden. Und tatsächlich dauerte es nicht lange, bis eine junge Dame, die Ying Li ziemlich ähnlich war, wenn auch weniger außerge‐ wöhnlich, mit einem kleinen Jungen an der Hand näher kam. Das Kind sah ein bißchen chinesisch aus, aber nicht ganz und gar, und das war auch normal so, denn sein Vater kam ja aus Hectors Land. Hector erinnerte sich, daß der Junge nach seinem Paten Édouard benannt war und Eduardo hieß. Ying Li bat Eduardo, Hector guten Tag zu sagen, und der Kleine reichte ihm die Hand und bückte ihn dabei verwundert an. »Du bist ja schon ein großer kleiner Junge«, sagte Hector, dem Eduardo tüchtig groß für sein Alter vorkam. Eduardo schien über diese Worte nachzudenken und sagte dann: »Könnte man nicht auch sagen, daß ich schon ein kleiner großer Junge bin?« »Na klar«, sagte Hector, »und bald wirst du schlicht und ein‐ fach ein großer Junge sein.« »Ich weiß nicht, ob mir das gefallen wird«, sagte Eduardo. »Warum denn nicht?« »Weil aus mir dann schnell ein erwachsener Mann wird und dann eines Tages ein alter Herr, so wie Großvater.« Der kleine Eduardo dachte völlig anders als Petit Hector! Er hätte die Zeit lieber aufgehalten. Wie Hector wußte, bedeutete so etwas, daß er mit seiner Mutter und seinem Vater sehr glücklich war und es gern gesehen hätte, wenn es einfach immer so weiterginge. Ying Li sagte, daß Eduardo sich immer eine Menge Fragen stelle und viel nachdenke, aber daß er auch beinahe immer froh
und zufrieden sei. Ying Lis Schwester begnügte sich damit zu lächeln, denn sie sprach überhaupt kein Englisch. Hector und Ying Li redeten noch eine Weile miteinander. Auch Ying Li war mit Édouard bei dem alten Mönch zu Besuch gewesen, aber seitdem hatte sie ebensowenig Neuigkeiten von ihm. Hector sagte, er wolle versuchen, ihn wiederzufinden. Ying Li entgegnete, daß es sie freuen würde, wenn Hector noch einmal bei ihr anriefe, falls er ein wenig länger in dieser Gegend bleibe, oder sonst bei seinem nächsten Besuch. Hector sagte ja und selbstverständlich, aber gleichzeitig dachte er, daß er Ying Li in seinem Leben lieber nicht allzu oft wiedersehen sollte, und er wußte, daß Ying Li im Grunde genauso dachte. Und dann verabschiedeten sie sich voneinander, und der kleine Eduardo drückte Hector noch einmal die Hand und sagte: »Auf Wiedersehen, Monsieur.« Und Hector sah sie alle drei da‐ vongehen, und Ying Li schenkte ihm ein letztes Lächeln und ein kleines Abschiedswinken, und dann saß Hector allein da. Er bestellte ein Glas Rotwein, überlegte ein wenig, und dann griff er nach seinem Notizbüchlein und schrieb: Zeit‐Etüde Nr. 19: Treffen Sie die Kinder der Menschen, die Sie lie‐ ben – aber dann strich er »lieben« schnell durch und verbesserte: geliebt haben, als Sie jünger waren.
Hector und der Sterngucker Hector sagte sich, daß er vielleicht nach Hause fliegen sollte, denn vom alten Mönch fehlte tatsächlich jede Spur, und es brachte nicht viel, hier auf ihn zu warten. Aber dann erinnerte er sich, daß Hubert, der Herr, der in die Sterne schaute, sich gerade in der Nähe aufhielt. Wenn man nämlich immer weiterfuhr in Richtung der chinesischen Berge, dann wurden diese Berge hö‐ her und höher, und auf dem Gipfel eines solchen befand sich eines jener großen Teleskope, die so teuer waren, daß sich meh‐ rere Länder zusammentun mußten, um ein einziges davon an‐ zuschaffen, ein bißchen so, als wenn alle Kinder etwas dazu‐ geben müssen, um ihrer Mama zum Muttertag ein Geschenk zu kaufen. Von der Stadt, in der sich Hector gerade aufhielt, gab es Di‐ rektflüge in fast alle Orte der Welt. Und schon saß Hector in einem Flugzeug, auf das chinesische Schriftzeichen geschrie‐ ben waren und in dem die Stewardeß ihm diesmal Garnelen mit Reis oder Ente mit Nudeln anbot, aber auch so etwas wie über Dampf gegarte Krapfen. Im Flugzeug war es nicht gerade voll, denn in der Region, in die Hector reisen wollte, neigten die Vögel dazu, sich einen ziemlich üblen Schnupfen an den Hals zu holen, und so gingen die Touristen lieber in andere Welt‐ gegenden, wo es Krankheiten gab, die für Menschen viel gefähr‐ licher waren, von denen aber Jennifer nicht alle Tage im Fern‐ sehen sprach. Der Flughafen, auf welchem er anlangte, war sehr schlicht: eine einzige Start‐ und Landebahn und ein Gebäude aus Beton, das ihn an die Häuser erinnerte, die man in seiner Kindheit
hochgezogen hatte. Es blies ein schrecklicher Wind, und die Einheimischen, die so ähnlich aussahen wie Chinesen und Chi‐ nesinnen, trugen allesamt Fellmützen. Auch Hector nahm sich vor, eine zu kaufen. Er freute sich sehr, als Hubert in einem Wagen vorfuhr, der ihn ebenfalls an die Autos seiner Kindheit erinnerte. »Es ist mir ein Vergnügen, hier oben Besuch zu empfangen«, sagte Hubert. »Wenn man immer nur Kollegen sieht, kann das auf die Dauer ganz schön ermüdend sein.« Und Hector konnte das gut nachfühlen, denn auch er hatte auf Psychiaterkongressen nach zwei Tagen nur noch einen Wunsch: schnell abzureisen. Selbst wenn er manchen Kollegen, für sich allein genommen, durchaus schätzte – in der Gruppe waren sie wie ein riesiger Teller voll Makkaroni, den man ein‐ fach nicht leeressen kann. Sie werden jetzt vielleicht fragen, ob es gut ist, wenn ein Psychiater seinen Patienten außerhalb der Sprechzeiten be‐ sucht. Sicher läßt sich darüber streiten. Aber Hector betreute ja Hubert nicht in einer jener Therapien, die sich über Jahre hin‐ ziehen und bei denen der Psychiater immer sehr schweigsam und geheimnisvoll sein muß. Hector half ihm vielmehr, einen schwierigen Moment zu überwinden. Es ähnelte eher der Be‐ ziehung zwischen einem normalen Arzt und seinem Patienten, und so war es für die weitere Behandlung kein Problem, wenn Hector Hubert besuchen kam. Das Auto hatte die Stadt recht schnell hinter sich gelassen. Das war auch kein Kunststück, denn sie war nicht groß, und ;wegen der Kälte und des Windes wimmelte es auf den Straßen nicht gerade von Leuten. Sie begannen auf einer kleinen Land‐ straße den Berg hinaufzufahren. Die Landschaft war sehr schön, doch Hector konnte sie nicht so richtig würdigen, weil ihnen von Zeit zu Zeit Lastwagen entgegenkamen, die so groß wie Häuser waren und talwärts rauschten, ohne sich groß um Hu‐ berts Wagen zu scheren. Manchmal erblickte Hector am Rande
einer Schlucht das Wrack eines Lasters, der seine Räder gen Himmel streckte. »Daran gewöhnt man sich«, sagte Hubert. »Hier haben die Leute nicht das gleiche Gefahrenbewußtsein wie bei uns.« Er erklärte, daß die Urahnen jener Leute, die heute mit den Lastwagen dahinrasten, vor sehr langer Zeit auf ihre kleinen langhaarigen Pferde gestiegen waren und die halbe Welt er‐ obert hatten. Es war also ein bißchen normal, wenn ihre Nach‐ kommen nicht besonders ängstlich waren. Schließlich langten Hubert und Hector bei der Talstation einer Seilbahn an, und bald saßen sie in einer kleinen Gondel, die für Hectors Ge‐ schmack ein wenig zu sehr schaukelte. »Das Teleskop hat so viele Mittel verschlungen«, sagte Hu‐ bert, »daß es für die Seilbahn nicht mehr ganz gereicht hat.« Hector dachte, daß man sich gemeinhin vorstellte, Astrono‐ men führten mit ihren Sternguckereien ein sehr ruhiges Leben. In Wahrheit konnte man als Astronom beinahe so gefährlich leben wie als Astronaut, außer daß man von weniger weit oben abstürzte, wenngleich es durchaus reichte, um sich verdammt weh zu tun. Auf dem Gipfel wurde Hector an das Camp von Hilton und Eleonore erinnert: kleine vorgefertigte Gebäude und schließlich, in einer Art riesiger Blase, das große Teleskop, das durch einen enormen Sehschlitz in den Himmel starrte. Rundherum standen eine Menge Antennen, die man dort in‐ stalliert hatte, damit sie die Geräusche der Sterne auffingen. »Sie kommen gerade im richtigen Moment«, sagte Hubert. »Letzte Woche war hier die Hölle los, wir waren in Verzug!« Hector ließ seinen Blick über die weite Landschaft mit ihren fernen Gipfelketten schweifen und durch den unendlichen Himmel über ihren Köpfen, und dabei fragte er sich, wovon man sich hier oben zur Eile antreiben lassen konnte. Hubert erklärte, daß Sternforscherteams aus aller Welt dieses Teleskop für eine gewisse Zeit reservierten, damit sie hier ihre Beobachtungen machen konnten. Ein anderes Team wartete be‐
reits ungeduldig, auf den Berg zu kommen. Es war ein bißchen wie mit den Patienten, die in Hectors Sprechstunde kamen. Man durfte also nicht in Verzug geraten, weil sonst alle anderen Terminplanungen verrutschten und die Sterne nicht mehr am richtigen Platz standen. »Und hinterher muß man sich wieder beeilen, damit man seinen Vortrag bis zum nächsten Weltkongreß fertigbekommt. Man bringt ganze Nächte am Computer zu ...« Hector verstand nun ein wenig besser, weshalb Huberts Frau sich eines Tages aus dem Staub gemacht hatte. Er sagte sich auch, daß die Inuit und einige andere Völker der Erde wirklich nicht wußten, wie glücklich sie sich schätzen konnten, niemals in Eile zu sein.
Hector und die Reise in die Zukunft »Aha«, sagte Hector, »und lernt man auch etwas über die Zeit, wenn man immerzu die Sterne anschaut?« »Es sollte uns vielleicht innere Ruhe und Heiterkeit lehren«, meinte Hubert, »aber Sie sehen ja, daß es nicht bei jedem funk‐ tioniert.« Sie gingen auf einem Pfad nicht weit vom großen Teleskop spazieren, und über ihnen wölbte sich eine herrliche sternenrei‐ che Nacht, die einen an Gott denken lassen konnte. Hector erin‐ nerte sich, daß der Philosoph, den er sehr mochte, im Angesicht jener so weit entfernten Sterne gesagt hatte: »Das ewige Schwei‐ gen dieser unendlichen Räume erschreckt mich.« Und dennoch hatte er, Pascal, an Gott geglaubt. Hubert erklärte Hector verschiedene Dinge. Zunächst einmal war im Universum alles dermaßen weiträumig, daß man selbst mit Lichtgeschwindigkeit eine verrückt lange Zeit brauchte, um von einem Ort zum anderen zu gelangen. »Wenn zum Beispiel die Sonne auf einen Schlag erlöschen würde«, sagte Hubert, »würden wir es erst acht Minuten später mitbekommen. So lange braucht ihr Licht nämlich, bis es zur Erde gelangt. Und dabei ist sie der Stern, der uns am nächsten liegt!« »Und die anderen? Was ist mit denen, die weiter weg sind?« »Manche sind schon vor Millionen Jahren verschwunden«, sagte Hubert. »Aber so lange ihr Licht noch bei uns eintrifft, sehen wir sie, als wären sie unsere Zeitgenossen.« Schau an, dachte Hector, also hat man doch eine Möglichkeit gefunden, in der Zeit zurückzuwandern.
»Wenn man sehr weit von hier entfernt schneller als mit Lichtgeschwindigkeit losreisen würde, könnte man demnach unsere Erde so sehen, wie sie vor Hunderten oder Tausenden von Jahren beschaffen war?« »Ja, schon, aber das ist unmöglich. Schneller als das Licht kann man nämlich nicht vorankommen. Bestenfalls könnte man sich mit Lichtgeschwindigkeit von der Erde entfernen, und dann würde man sie immer exakt so sehen wie zum Zeitpunkt der Abreise, womit man natürlich nicht viel gewonnen hätte.« »Aber warum kann man nicht schneller als das Licht reisen?« »Darauf gibt es mehrere Antworten. Wir sind aus ziemlich schweren Atomen zusammengesetzt. Allein deshalb kommen wir nicht schneller voran als das Licht, das weder Masse noch Gewicht hat. Und je schneller ein Körper unterwegs ist, desto mehr Energie braucht man, um ihn noch mehr zu beschleunigen. Allgemeine Relativitätstheorie, Sie wissen schon. Wenn man also die Lichtgeschwindigkeit erreicht hat, würde es unendlich viel Energie kosten, um noch schneller voranzukommen, und nichts und niemand ist mit unendlicher Energie ausgestattet.« Hector dachte, daß Roger jetzt bestimmt gesagt hätte, Gott habe diese unendliche Energie, und Gott allein könne uns die Zeit zurückdrehen lassen. Im übrigen hatte er sie ja selbst er‐ schaffen, wenn man verschiedenen Philosophen, die an ihn glaubten, vertrauen wollte. »Man kann also nicht in die Vergangenheit zurückkehren?« »Nein.« »Und in die Zukunft kann man auch nicht reisen?« »Oh, doch«, sagte Hubert. Unglaublich, dachte Hector, man konnte in die Zukunft rei‐ sen, und in den Zeitungen stand nichts darüber geschrieben! »Wie soll das denn funktionieren?« »Wie Sie vielleicht wissen, liegt die große Entdeckung der Relativitätstheorie darin, daß die Zeit nicht immer und überall mit derselben Geschwindigkeit abläuft.«
Hector erinnerte sich vage. »In groben Zügen erklärt, ist es so, daß die Zeit für Sie langsa‐ mer verrinnt, je schneller Sie unterwegs sind oder wenn Sie an einem sehr schweren Körper vorbeikommen, an der Erde zum Beispiel. Wenn Sie in einem Flugzeug sitzen, das fast mit Licht‐ geschwindigkeit unterwegs ist, und ich bleibe währenddessen auf der Erde und schaffe es, mit einem Teleskop Ihre Armband‐ uhr zu betrachten, dann würde ich sehen, wie deren Zeiger sich langsamer drehen als die auf meiner Uhr, selbst wenn wir genau das gleiche Modell tragen...« «Und wenn ich auf die Erde zurückkehre?« »Darm werde ich zwanzig Jahre älter sein als Sie, während Sie von Ihrem Standpunkt aus nur ein paar Stunden verreist gewesen wären.« Hector sagte sich, daß man eine solche Zeitreise nicht unbe‐ dingt gern unternehmen würde! In die Zukunft zu reisen und dort erfahren zu müssen, daß alle Leute, die man liebte, steinalt oder längst gestorben sind! »Und eine Rückfahrkarte würde es nicht geben«, fügte Hu‐ bert noch hinzu
Hector und das Lotterielos Hector fragte Hubert, ob man an Gott zu glauben lernte, wenn man sich die Sterne ansah. »Kennen Sie die Geschichte vom ersten Kosmonauten, der nach seiner Rückkehr zur Erde sagte ›Ich bin im Himmel gewe‐ sen, aber Gott oder die Engel habe ich dort nirgends zu Gesicht bekommend« »la, die kenne ich.« »Nun, ein Chirurg, der an Gott glaubte, hat darauf erwidert ›Ich habe schon eine Menge Gehirne operiert, aber nie habe ich auch nur einen einzigen Gedanken zu Gesicht bekommen!‹ ...« Hector sagte sich, daß es verdammt intelligente Chirurgen gab, obwohl unter Psychiatern manchmal das Gegenteil be‐ hauptet wurde. Sie beschlossen zurückzugehen, denn nun begann es wirklich kalt zu werden, und Hector sehnte sich nach dem Super‐ anorak, den er bei den Inuit getragen hatte. »Manche meiner Kollegen halten es für einen Gottesbeweis, daß wir nicht existieren würden, wenn die Gesetze der Physik auch nur ein bißchen anders ausgefallen wären.« Und Hubert erklärte, daß die Welt nach drei oder vier Geset‐ zen funktionierte. Jedem dieser Gesetze entsprach eine Zahl, die man Konstante nannte, weil sie sich niemals veränderte. Hector erinnerte sich, in der Schule die Konstante g gelernt zu haben. Das dazugehörige Gesetz erklärte, mit welcher Ge‐ schwindigkeit die Dinge hinunterfielen – womöglich auch die Seilbahngondel, in der Hector zur Talstation zurückkehren würde. Hubert kannte noch ein paar andere Konstanten, die zu
komplizierteren Gesetzen gehörten, so zum Beispiel die Licht‐ geschwindigkeit oder die Art und Weise, in der die Atome eins übers andere purzelten. »Na ja, und wenn diese vier Konstanten nur ein bißchen an‐ ders aussähen, wären die physikalischen Gesetze nicht mehr dieselben. Das Universum hätte sich nicht ausdehnen können, wenn Sie so wollen, sondern die Sterne wären einer auf den an‐ dern gekracht, und alles wäre miteinander verschmolzen. Das wäre dann nicht mehr der big bang gewesen, sondern der big crunch. Oder das Gegenteil hätte geschehen können, und alles hätte sich einfach verflüchtigt. Und dann hätte es jenen big bang nicht gegeben, und wir hätten heute nicht dieses hübsche ex‐ pandierende Universum mit günstigen Bedingungen für das Leben zumindest auf einem seiner Planeten. Meine Kollegen sagen, es könne kein Zufall sein, wenn die Konstanten der Phy‐ sik unter Millionen verschiedener Möglichkeiten gerade so sind, wie sie eben sind, und es sei der Beweis dafür, daß Gott existiert!« »Und wie denken Sie darüber?« »Wären die Gesetze anders ausgefallen, würden wir uns die Frage nach der Existenz Gottes jedenfalls nicht stellen, denn es gäbe uns gar nicht. Wenn wir also das Resultat einer von Millionen möglichen Kombinationen sind, beweist das noch nicht, daß ausgerechnet Gott es so entschieden hat. Genauso ist es doch, wenn ausgerechnet Sie in der Lotterie unter Millionen von Losen den einzigen Hauptgewinn ziehen – es beweist nicht, daß Gott dieses Los gebastelt hat ...« »Heißt das, Sie ... ?« setzte Hector an. »Ich glaube an Gott«, sagte Hubert. Und dann zeigte er auf den Himmel und fügte hinzu: »Aber mit all dem dort hat es nichts zu tun.« In diesem Augenblick trat ein junger Astronom an sie heran und sagte zu Hubert, er müsse sich schnell mal etwas an‐ schauen kommen. Hector folgte ihnen, aber dann wurde er ein
bißchen enttäuscht. Er hatte erwartet, mit dem Teleskop in den Sternenhimmel schauen zu können. Aber nein, es gab nichts als Computerbildschirme, auf denen allerlei Wellen und Ziffern nur so dahinsausten. »Wir überprüfen gerade eine Hypothese«, sagte Hubert. Er versuchte Hector diese Hypothese zu erläutern: Je weiter sich die Sterne voneinander entfernten, mit desto größerer Geschwindigkeit taten sie dies ... Es war ein bißchen wie bei einer Person, die von Ihnen wegrennt und im Wegrennen im‐ mer noch einen Zahn zulegt, aber diesen Vergleich wollte Hec‐ tor Hubert lieber nicht zumuten. »Und die Paralleluniversen?« fragte Hector. Er hatte sich an Madame Irina erinnert und an den Scha‐ manen. »Das ist eine gute Frage«, sagte Hubert. »Und gibt es schon gute Antworten?« »Manche Physiker haben sich vorgestellt, daß es nicht nur eine einzige Raumzeit gibt – eben die, in welcher ich hier und jetzt mit Ihnen spreche –, sondern daß noch weitere existieren, jede mit einer anderen Existenz Wahrscheinlichkeit.« »Es ist also möglich?« »Sagen wir mal, es wäre mit den Theorien höchst seriöser Leute vereinbar.« Hector dachte an Madame Irina und ihre kleinen Zeitloko‐ motiven, und er dachte an den Schamanen und seine seltsamen Reisen. Sollten es diese und ein paar andere Menschen schaffen, in den Krümmungen der verschiedenen Raumzeiten umherzuwandern? »Manchmal«, seufzte Hubert, »manchmal sage ich mir, daß es ein Paralleluniversum gibt, in dem meine Frau mich nicht verlassen hat und in dem wir sehr glücklich miteinander sind. Aber Pech gehabt, ich stecke ausgerechnet in der Raumzeit fest, in der es schlecht ausgeht!« Hector dachte, daß es den Psychiatern eine Menge Arbeit er‐
sparen würde, wenn man eines Tages in der Zeit umherreisen könnte. Vor dem Schlafengehen notierte er noch: Zeit‐Etüde Nr. 20: Lesen Sie ein gutes populärwissenschaftliches Buch über die Zeit und die Relativitätstheorie. Denken Sie eine Weile darüber nach, wie Ihr Leben in einem Paralleluniversum aussehen könnte, in dem Sie an einem entscheidenden Punkt mehr Glück hat‐ ten, und wie es in einem dritten verlaufen würde, wo sie es weniger gut getroffen haben. Er erinnerte sich daran, daß ein großer Gelehrter mehrere Bücher dieser Art verfaßt hatte, und in einigen gab es schöne Bilder, mit denen schwierige Dinge gut erklärt wurden. Der Körper dieses Gelehrten war nach und nach von einer schreck‐ lichen Krankheit gelähmt worden, welche die Ärzte noch nicht zu heilen verstanden, doch auch wenn sich sein Körper schon fast nicht mehr bewegen konnte, begleitete sein Geist unauf‐ hörlich das Licht der Sterne, das sich dehnende Universum und die Zeit.
Hector und Ying Li auf den Bergeshöhen Hector stand auf dem Gipfel des Berges. Er sah, wie Ying Li auf einem kleinen Weg zu ihm hinaufstieg. Es war sehr kalt, und Ying Li war in einen dicken Pelzmantel mit Kapuze gehüllt, mit dem sie so ähnlich wie eine Inuitfrau aussah. Sie lächelte, als sie auf Hector zuging. In diesem Moment merkte er, daß sie gar nichts zu sagen brauchten, weil schon ihre Gedanken miteinander kommunizierten. Und Ying Li sagte, gestern habe sie ihm dafür danken wollen, daß er ihr Leben verändert hatte, aber dann habe sie sich nicht getraut. Hector erwiderte, eher sei es das Leben gewesen, das sie alle beide verändert habe. Früher oder später hätte ohnehin jemand Lust verspürt, Ying Lis Leben zu ändern, denn es war einfach so traurig, sich klarmachen zu müssen, weshalb Ying Li an dem Ort gewesen war, an dem Hector sie getroffen hatte. Ying Li machte eine kleine Kopfbewegung, und vor ihnen erstand die Bar mit den sanften Lichtern, in der sie einander begegnet waren. Aber nun sah man keinen Hector, sondern nur jede Menge hübsche junge Frauen, und Ying Li lehnte am Tresen, ganz dicht herangerückt an einen Chinesen mit nach hinten gekämmten, geltriefenden Haaren und einer goldenen Armbanduhr, der Kognak trank und lachte, während er ihr über den Arm strich. Ying Li tat so, als würde sie das mögen und als fände sie den Mann witzig. Und dann sah man sie in einem Hotelzimmer traurig auf dem Bett sitzen, während ein dicker Weißer, der ganz nackt war, ihr aus dem Badezimmer zurief, sie solle zu ihm reinkommen. Und man sah auch, wie sie spätabends in einem kleinen Cafe chinesische Nudeln aß
und sehr müde war, und an ihrer Seite saß eine zu stark ge‐ schminkte Freundin, die genauso gähnte, und dann sah man sie wieder in jener Bar mit anderen Männern, die sie um die Taille faßten und ihr etwas ins Ohr flüsterten, und gleich darauf saß sie im Halbdunkel auf einem großen Sofa, und an ihrer Seite waren Männer, die ihr die Hand hielten und über die Brüste strichen. Und während dieser Zeit trank Ying Li immer mehr Kognak, und man konnte zusehen, wie sie dicker und älter wurde. Und dann sah man, wie sie mit dem Zug in einer ziem‐ lich tristen chinesischen Stadt ankam, in der es eine Menge Fa‐ brikschlote gab, und man sah ein großes Werk, in dem Ying Li inmitten von Hunderten Arbeiterinnen Schräubchen in kleine Geräte drehte, und abends sah man sie dann in ein ziemlich schönes Haus heimkehren, in dem ihre Mutter und die beiden Schwestern lebten, und im Erdgeschoß gab es einen kleinen La‐ den, den ihre Mutter führte, denn dies waren die Früchte all je‐ ner in Bars und Hotels zugebrachten Jahre, das hübsche Haus und der kleine Laden, während die anderen Arbeiterinnen nach der Schicht in große Schlafsäle heimkehrten. Und Ying Li half ihrer Mutter abends ein bißchen im Laden und kümmerte sich auch ein wenig um ihre Nichten und Neffen. Die Schwe‐ stern waren verheiratet, und ihre Männer arbeiteten ebenfalls in Fabriken. Aber Ying Li hatte keinen Mann, denn niemand hatte eine Frau nehmen wollen, die nicht mehr ganz jung war und zu viel Zeit in der fernen großen Stadt mit ihren vielen Bars und Hotels verbracht hatte. Hector begriff, daß sie gerade Ying Lis Leben ohne Hector ge‐ sehen hatten, und daß dieses Leben ebenso wirklich war wie das andere; vielleicht existierte es sogar in einem Paralleluni‐ versum wie dem von Madame Irina und ihren perdurantisti‐ schen Freunden. Und im gleichen Augenblick, wie sich ihm das Herz zusam‐ menkrampfte beim Anblick der anderen Ying Li, die jenes Le‐ ben weiterlebte, wußte er nicht, wem er dafür danken sollte,
daß er der Ying Li begegnet war, die jetzt neben ihm stand. Sie aber wußte, wem sie danken sollte, denn sie erwies Hector einen kleinen Gruß, indem sie ihre Hände faltete und den Kopf neigte – ganz wie man es im Land des alten Mönchs vor sehr ehrenwerten Leuten tut oder vor der Statue des Mannes, den man den Erleuchteten nennt.
Hector schafft es nicht, in Ruhe zu träumen Genau in diesem Moment wachte Hector auf. In seinem Hotel‐ zimmer läutete das Telefon. Es war Édouard! »Wieder mal der Schamane. Jetzt sagt er, du sollst auf eine Insel fahren.« »Aber da komme ich doch gerade her«, sagte Hector. Tatsächlich war die chinesische Stadt, die er eben verlassen hatte, eine Insel. »Nein, es muß eine andere sein. Der Schamane sagt: Eine In‐ sel, auf der die Kablunak ein bißchen wie die Inuit leben.« Hector konnte Édouard nicht besonders gut verstehen, denn es gab eine Menge Musik und Hintergrundgeräusche. Édouard erklärte ihm, er sei in der letzten Stadt der Kablunak vor dem Inuitland, und es gebe hier ziemlich viele Bars und.auch einige Hotels. »Mein Gott«, sagte Édouard, der sich ein bißchen mühsam ausdrückte, »ich glaube, ich bin noch immer nicht geheilt.« Wie Hector sich erinnerte, war Édouard früher ein Stamm‐ gast der Bar mit den sanften Lichtern gewesen, in der er Ying Li kennengelernt hatte. Dann fiel er wieder in den Schlaf zurück. Hector sauste auf einem Motorschlitten über den Schnee, und neben ihm saß Roger, der in seine Bärenfelle gehüllt noch riesiger wirkte, während neben dem Schlitten der große Hund Noumen rannte. »Man muß doch wirklich einmal begreifen«, sagte Roger und runzelte die Stirn, »daß Ewigkeit etwas anderes ist als immer‐ fort andauernde Zeit! Die Ewigkeit steht außerhalb der Zeit, sie
umschließt alles zugleich, Vergangenheit, Gegenwart und Zu‐ kunft. Gott allein ist ewig!« Als er diese Worte hörte, blickte Noumen aus seinen hellen Augen zu ihnen hoch und sagte: »Gewiß, aber was hat Gott vor der Erschaffung der Welt getan? Hat es damals schon die Zeit gegeben?« »Gott sieht Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft im glei‐ chen Augenblick«, sagte Roger. »Für ihn verstreicht die Zeit nicht. Gott steht außerhalb der Zeit, er ist in der Ewigkeit!« »Das war keine Antwort auf meine Frage«, sagte Noumen und ließ ein vergnügtes Kläffen erschallen. »Die Gegenwart ist nur ein Widerschein der Ewigkeit in der Zeit!« schrie Roger. »Hübsche Formulierung«, entgegnete Noumen, »aber sollte sich die Lösung des Rätsels unseres Lebens in Raum und Zeit wirklich außerhalb von Raum und Zeit finden? Und wenn es so ist, wo genau steckt sie?« Roger wollte antworten, aber sie waren zu schnell auf einen Buckel aus hartem Schnee zugefahren, und plötzlich fanden sich Roger, Hector und der Motorschlitten in den Lüften wieder, während Noumen bellte und das Telefon klingelte. Es war Clara. »Ich hatte einen schrecklichen Traum«, sagte sie, und sie wirkte ganz mitgenommen. »Hier ist alles in Ordnung«, sagte Hector. »Was für ein Traum war es?« »Du kamst nicht mehr zurück«, sagte Clara. »Du wurdest zu einer Art Mönch mit glattrasiertem Schädel und oranger Tu‐ nika, irgendwo ganz oben auf einem Berg. Jede Menge hübsche Chinesinnen erwiesen dir ihren Gruß und beteten dich an.« »So schrecklich ist das doch gar nicht«, sagte Hector und lächelte. »Hör auf, es war schrecklich – schrecklich!« rief Clara und lachte und weinte zugleich.
Hector fragte sie nach ihrem Befinden, und Clara meinte, es gehe ihr besser. Sie hatte den alten François konsultiert und mit ihm über die Zeit, die vergeht, gesprochen. »Er wird dir schreiben. Aber natürlich nicht über mich ...« Der alte François durfte Hector nichts über Clara erzählen. Man nennt das die ärztliche Schweigepflicht, und die Psychia‐ ter wahren sie fast immer. Nach dem Anruf versuchte Hector wieder einzuschlafen, aber es gelang ihm nicht recht. Eine Insel, auf der die Kablunak ein bißchen wie die Inuit leben? Diesmal fand er sich im Bahnhof des kleinen hölzernen Zuges wieder, der ins Gebirge fuhr, und der alte Chinese mit Schirmmütze reichte ihm seine Fahrkarte. »Erkennen Sie mich wieder?« fragte er Hector. Aber Hector erkannte ihn nicht. Und dann klingelte schon wieder das Telefon. Diesmal war es Marie‐Agnes. »Ach«, sagte sie, »ich hatte ja solche Mühe, Sie zu erreichen!« »Warum versuchen Sieʹs nicht über Internet?« fragte Hector ein wenig gereizt, weil er nun zum dritten Mal geweckt worden war. »Oh, mit dem Ding bin ich noch nie so richtig klargekom‐ men ... Also, mein Paul möchte Sie zu einem großen Kollo‐ quium einladen. Zu einem Kolloquium über die Zeit mit jeder Menge Stars aus allen Bereichen.« Hector wußte, daß man heutzutage zu einem Kolloquium über egal welches Thema immer auch einen Psychiater einlud. Es war ein bißchen wie mit dem Räucherlachs auf einem kalten Büffet: Er ist nicht immer schmackhaft, aber wenn man keinen hinstellt, finden die Leute, daß etwas fehlt. Hector war nicht besonders hingerissen von der Idee, zu diesem Kolloquium zu fahren. »Ich verstehe ja gut, daß der Gedanke Sie nicht begeistert«,
sagte Marie‐Agnes, »aber ich möchte wirklich gern, daß Sie kommen.« »Warum denn?« »Mein Paul hat gerade eine schwere Angstkrise durchge‐ macht. Als ich aufwachte, lag er neben mir und zitterte am gan‐ zen Leibe. ›Ich kontrolliere alles‹, sagte er, ›und doch habe ich nichts unter Kontrollen Da merkte ich, daß es wirklich schlimm um ihn stand, und dachte, daß ihm ein Termin bei Ihnen gut täte, und zwar so bald wie möglich. Aber natürlich würde er nie im Leben zugeben, daß er einen Psychiater nötig hat. Also habe ich ihm gesagt, ich würde Sie anrufen, um das Kolloquium vorzubereiten ...« Marie‐Agnes sagte noch, wo sie und Paul Hector erwarten würden – und mit einem Mal war sich Hector ganz sicher, daß er sofort dahin aufbrechen mußte! Eine Insel, auf der die Kablunak wie die Inuit lebten ...
Hector macht die Bekanntschaft eines bedeutenden Herrn »Es freut mich sehr, daß Sie gekommen sind«, sagte Paul, »und es tut mir leid, daß wir Sie in letzter Minute benachrichtigt haben.« Hinter Paul erblickte Hector die Säulen einer Tempelruine, die sich vor dem tiefblauen Meer abhoben. Sie saßen zu dritt auf einer steinernen Bank, die im Schatten eines großen Öl‐ baums stand und beinahe so alt aussah wie der Tempel. Marie‐Agnes schien ganz entzückt zu sein, denn es machte sie sehr stolz, Hector ihren hinreißenden Paul vorführen zu können und Paul ihren Superpsychiater, und außerdem dachte sie, daß sich die beiden vielleicht gut verstehen würden. Und dennoch hatte Hector in Pauls Blick ein Aufflackern von Panik bemerkt. Er fragte sich, wann sie soweit wären, darüber zu sprechen. »Ihr Name steht noch nicht auf dem Programm, aber wir las‐ sen gerade ein neues drucken. Es wird in ... in wenigen Minu‐ ten eintreffen«, sagte Paul und schaute auf seine Armbanduhr. Auf den ersten Blick wirkte er kaum älter als Hector. Es fiel auf, daß er kein einziges graues Haar hatte, aber dank der Bemerkungen seiner Krankenschwestern wußte Hector inzwi‐ schen ja, daß Paul einfach nur einen exzellenten Friseur be‐ suchte. Hector sah auch, daß Paul so gut wie keine dieser klei‐ nen Falten in den Augenwinkeln hatte. Ob es wohl daran lag, daß Hectors Kollegen, die Arzte und Chirurgen, jene Spuren der Zeit erfolgreich ausradiert hatten? Paul redete schnell und rutschte immerzu auf dem Stuhl hin und her. Man erriet, daß er richtige Muskeln unter seinem
Hemd stecken hatte, und man spürte, daß er sich im Fitneßklub in Form hielt. Alles in allem konnte man ihn also für viel jünger halten, als er eigentlich war. Außer, wie Hector aufgefallen war, unter einer gewissen Beleuchtung ... Wenn das Licht steil von oben einfiel wie jetzt in der Stunde der gleißenden Mittagssonne, erkannte man plötzlich, daß Pauls Gesicht das Gesicht eines Mannes war, der gut anderthalb Hunde mehr hinter sich hatte als Hector. Und Hector dachte an die Zeit‐Etüde Nr. 21: Wenn Sie immer jung wirken möchten, sollten Sie stets im Schatten bleiben (oder sich höchstens bei Kerzenlicht präsentieren). Aber weil Hector wußte, daß Paul das Gefühl haßte, seine Zeit zu verlieren, wollte er diese Übung lieber später notieren. »Nun«, sagte Marie‐Agnes, »was halten Sie davon?« Hector schaute auf das Programm des Kolloquiums, das Paul organisiert hatte. Das Ganze trug den Titel Die Zeit arbeitet für uns. Es gab, wie man so sagt, verschiedene Referenten, und alle waren sie ziemlich berühmt. Sie hatten sich vorgenommen, über die Zeit zu sprechen, jeder aus seinem Blickwinkel natür‐ lich: ein Philosoph mit struwweligen Haaren, ein Mönch von derselben Religion wie Hector, ein großer Konzernberater und Zeitexperte, ein bedeutender Biologe, der erklären wollte, wes‐ halb man altert, und auch ein Formel‐1‐Fahrer, der seine Ren‐ nen gewann, indem er die Kurven ein paar Zehntelsekunden schneller nahm als seine Konkurrenten. Und dann wollte Paul selbst sprechen, denn er hatte dieses große Kolloquium schließlich organisiert, und es waren auch eine Menge Leute aus seinem Konzern eingeladen und dazu noch etliche Journalisten oder vielmehr die Chefs der Journali‐ sten, denn Paul hoffte, daß man von seinem Kolloquium spre‐ chen würde und damit auch von seinem Konzern. Was stellte Pauls großes Unternehmen eigentlich her? Cremes aller Art, darunter die allerberühmteste Anti‐Aging‐Creme, und außerdem Färbemittel für die Haare und jede Menge Pro‐
dukte, mit denen man schöner und jünger wirken sollte, für die Frauen und auch für die Männer auf der ganzen Welt! Hun‐ derte von Forschern arbeiteten jeden Tag daran, immer noch etwas Besseres zu finden, indem sie alle möglichen Substanzen in Reagenzgläsern zusammenrührten. Alle Gäste waren in Ferienhäusern gleich neben dem Tempel untergebracht. Früher war es ein gewöhnliches Dorf mit ein‐ heimischen Bewohnern gewesen, aber nach und nach hatte der Fischfang nicht mehr ausgereicht, um genügend Familien zu er‐ nähren, und so war das Dorf aufgegeben worden. Später hatten es die auf der Insel verbliebenen Bewohner so umgestaltet, daß man dort Leute empfangen konnte, die von anderswo kamen, um zum Beispiel solch ein Kolloquium abzuhalten. Einst waren sie Makrelenfischer gewesen, doch inzwischen waren sie zu Touristenfischern geworden. »Das Programm macht einen sehr guten Eindruck«, sagte Hector. »Ganz verschiedene Blickwinkel, da werden die Leute nicht das Gefühl haben, ihre Zeit zu verlieren.« »Nicht wahr?« sagte Paul mit einem erleichterten Lächeln. Eine junge Dame, die so angezogen war wie Clara, wenn sie ins Büro ging, näherte sich ihnen mit einem Packen neuer Pro‐ gramme, die sie über dem Kopf hielt, um sich vor der Sonne zu schützen. Auf dem steinigen Pfad verknackste sie sich in ihren Stöckelschuhen die Knöchel. Paul prüfte nach, ob Hectors Name auch wirklich mit im Programm stand, und dann begann er mit der jungen Dame über die Platzverteilung für das Abendessen zu sprechen. »Na schön, vielleicht sollten wir eine kleine Runde drehen«, sagte Marie‐Agnes, die sich bei solchen organisatorischen Fra‐ gen sichtlich langweilte. Von dem Hügel, auf dem sie gerade standen, konnte man sehr gut den kleinen Fischerhafen sehen, der lange Jahre ausgereicht hatte, um alle Inselbewohner zu er‐ nähren. Es gab dort noch etliche Boote, die in heiteren Farben gestrichen waren, und Hector sah Fischer, die ihren im Sonnen‐
licht blitzenden Fang an Land brachten. Ein Stück weiter im Schatten der Bäume saßen auf ein paar Bänken die alten Män‐ ner des Dorfes und schauten zu, wie die Kinder an der Kirchenmauer Ball spielten. Eine Insel, auf der die Kablunak wie die Inuit leben, hatte der Schamane gesagt. Hector dachte, daß es Clara hier gefallen hätte. Trotzdem fragte er sich, weshalb der Schamane ihn auf diese Insel geschickt hatte, denn anders als das In‐der‐Welt‐Sein des Lachses, der eines Tages geräuchert auf dem Büfett landen würde, war Hectors In‐der‐Welt‐Sein zur Zukunft hin offen und gleichzeitig von Sorge gequält, wie der berühmte Philo‐ soph mit dem kleinen Schnurrbart es ausgedrückt hätte.
Hector arbeitet sogar am Meeresstrand Am Ende ließ Marie‐Agnes Hector mit ihrem Paul allein. Die beiden Männer gingen hinüber zur Villa, in der Paul und Ma‐ rie‐Agnes einquartiert waren, und wollten dort ein Glas trin‐ ken. Die geschlossenen Faltrollos ließen ein wenig Sonne in die Zimmer, und es ergab eine hübsche Beleuchtung, in der alle Leute jung aussahen. Hector hätte gern ein Bier getrunken, aber weil sich Paul einen Gemüsesaft eingoß, tat er es ihm nach. Er sah auch, daß Paul erleichtert wirkte, mit ihm allein zu sein. »Daß man immer eine gute Figur machen muß ...«, seufzte Paul. Mit einigen Fragen half ihm Hector über seine Befangenheit hinweg, denn schließlich war das ja sein Job, und ziemlich bald erzählte ihm Paul, daß er sich überhaupt nicht gut fühlte. Seit beinahe einer Woche hatte er jeden Morgen schlimme Angst‐ anfälle. »Gewöhnlich stehe ich sehr früh auf, trinke einen Kaffee und denke dabei über meine Tagesplanung nach. Aber hier, mit dem Blick aufs Meer, habe ich mich so unwohl gefühlt, als müßte ich bald sterben. Zittern, Herzrasen, Schweißausbrüche und all so was. Aber das ist noch nicht das schlimmste. Ich habe auch den Eindruck, das Leben würde mir durch die Finger gleiten. Das Gefühl, nichts wäre zu irgendwas gut. Die Zeit verrinnt, und ich muß ohnmächtig zusehen und marschiere ... geradewegs ins Leere.« Hector merkte, daß Paul nur über seinen letzten Angstanfall zu sprechen brauchte, damit sich in ihm der nächste zusam‐
menbraute. Er riet ihm, sich ein wenig auf dem Sofa auszustrek‐ ken und ruhig zu atmen. Es gelang Paul auch, ein wenig ruhiger zu werden, und dann blickte er an die Zimmerdecke und fuhr fort: »Mein ganzes Le‐ ben lang habe ich gegen die Zeit angekämpft! Auf der Schule habe ich niemals getrödelt. Ich maß mich immer an den Jahr‐ gangsbesten.« Paul sprach natürlich nicht von seiner Grund‐ schule, sondern von einer späteren Schule, in der die Leute lernen, bedeutende Persönlichkeiten zu werden. »Wer von uns würde als erster Vorstandsvorsitzender wer‐ den – so sahen die Fragen aus, die wir uns dort stellten. Ich war sehr stolz, als ich es mit zweiunddreißig bis zum Vorstandschef gebracht hatte. Dann führte ich immer größere Unternehmen. Natürlich bin ich auch zweimal geschieden, aber egal, meinen Kindern geht es gut. Der Konzern ist zum global player gewor‐ den, und alle sagen, es sei mein Verdienst. Aber dann, an jenem Morgen ...« »An jenem Morgen?« fragte Hector. (Wir verraten Ihnen hiermit einen Psychiatertrick: Wenn je‐ mand nicht weiterredet, sollten Sie einfach das Ende seines letzten Satzes wiederholen.) »An jenem Morgen hatte ich das Gefühl, alles sei nur eine große Luftblase. Ja, ich habe mir das alles erarbeitet, ich bin wirklich so weit gekommen. Aber jetzt bin ich einfach nur noch ein alter Mann, der sich selbst und anderen vormacht, er wäre noch jung. Wozu hat dieses ganze Leben denn gedient, wenn ich mich in diesem Augenblick derart mies fühle? Und alles, was ich vollbracht habe, hätte bestimmt auch ein anderer eben‐ sogut hinbekommen ... Für den Schönheitsmarkt waren die Aussichten ohnehin glänzend, da wäre auf jeden Fall was draus geworden, egal ob mit mir oder sonst jemandem ...« Hector wußte, daß Leute wie Paul nur bescheiden werden, wenn sie an der Schwelle einer richtig schlimmen Depression stehen.
»... und an jenem Morgen hatte ich den Eindruck, daß mein ganzes Leben nichts als heiße Luft gewesen war. Dabei hatte ich stets geglaubt, es gut ausgefüllt zu haben – ich wollte die Zeit immer gut vollpacken. Die Zeit ausfüllen! Daran kann ich einfach nicht mehr glauben! Selbst wenn man sie ausfüllt, rinnt sie einem unaufhörlich zwischen den Fingern hindurch. Und man marschiert weiter, marschiert geradewegs ins große Vakuum!« sagte Paul und richtete sich auf dem Sofa auf, ein wenig wie jemand, der noch schnell aus dem Auto springen will, bevor es in den Abgrund stürzt. Hector sagte sich, daß Paul noch längere Zeit und in mehre‐ ren Sitzungen mit ihm sprechen mußte, aber erst einmal mußte es ihm ein bißchen besser gehen. Also gab er ihm ein paar kleine Pillen, die er für den Notfall immer bei sich trug. Manche enthielten ungefähr die gleichen Stoffe wie die Tabletten, die er Fernands Hund verschrieben hatte. Aber das sagte er Paul natürlich nicht. Später notierte er in seinem kleinen Büchlein: Zeit‐Etüde Nr. 22: Was ist Ihrer Meinung nach ein gut ausgefälltes Leben?
Hector drückt wieder die Schulbank Und dann begann das Kolloquium. Eigentlich hatte Paul vorgesehen, daß Hector am Vormittag sprach, aber Hector hatte ihm erklärt, daß Psychiater morgens selten in Bestform sind (sonst wären sie nämlich Chirurgen ge‐ worden). Also würde er erst am Ende des zweiten Tages spre‐ chen, genau vor dem Abendessen. Alle Teilnehmer – ungefähr hundert Personen, hatte Hector gezählt – saßen auf den steinernen Bankreihen eines Theaters, das ebenso alt war wie der Tempel. Zum Glück hatte man auf den Stein schöne blaue Kissen gelegt, die sehr bequem waren. Ein großes blauweißes Zeltdach schützte die Leute vor der Sonne, und einheimische Frauen mit blauen Kleidern und wei‐ ßen Schürzen brachten oft Erfrischungen vorbei. Wir werden Ihnen das Kolloquium nicht in allen Einzelheiten schildern, denn das wäre ein bißchen langweilig. Auch Hector langweilte sich nicht wenig, ungefähr wie einst auf dem Gym‐ nasium, wenn er seinen Lehrern zuzuhören versuchte. Eigent‐ lich wußte er, daß die Referate interessant waren, aber bei ihm lief es nun mal so: Er hörte gern Leuten zu, die ihm ihr Leben erzählten, aber Vorträge las er sich lieber durch, statt sie sich anhören zu müssen. »Es scheint Sie ja nicht besonders zu interessieren«, sagte Marie‐Agnes, die neben ihm saß. »Doch, doch!« sagte Hector schnell. Um sich ein bißchen mehr zu konzentrieren, beschloß er die interessantesten Dinge in sein kleines Notizbuch zu schreiben. Und das las sich dann so:
Der Philosoph. Sehr kompliziert. Aber interessante Fragestellungen. Ist die Zeit wie der Raum? Alle beide sind von Gott im gleichen Atemzug mit der Welt erschaffen worden. So dachte zum Beispiel Leibniz, aber Newton war der Ansicht, die Zeit sei ein Attribut Gottes und habe wie Gott selbst seit jeher existiert. Sie sind über diese Frage in Streit geraten, und Newton war ziemlich garstig. Oder sollten Zeit und Raum nur Entwürfe des Menschen sein, mit de‐ nen er die Welt auf seine Weise erfassen kann? Für Kant oder Spi‐ noza existierte die Zeit nur durch uns. Also würde es gar keine Zeit geben, wenn wir sie nicht spüren oder messen würden? Ich denke, sie hat trotzdem vor uns existiert, denn wie sonst hätten die Menschen Zeit gehabt, ins Rampenlicht zu treten? In diesem Punkt stimme ich eher mit Aristoteles und Hobbes überein und weniger mit dem heiligen Augustinus und Kant, aber ich habe schon wieder ein bißchen vergessen, was letztere gesagt haben. Viele Philosophen des vergangenen Jahrhunderts haben über folgendes Problem nachgedacht: Man braucht Zeit, um zu sein, und gäbe es die Zeit nicht, hätte man also auch keine Zeit zum Sein. Sobald man da ist, gibt es also Zeit. Sein und Zeit wären für manche Philosophen also ein und dasselbe, und sie haben ganze Bücher verfaßt, um sich genauer zu erklären. Heidegger (kleiner Schnurrbart), Sartre (dicke runde Brillengläser). Philo‐ sophie ist was Schönes, aber auch ein bißchen wie Mathematik: Man muß alle Tage üben, um Spaß daran zu finden. Und man muß sich ans Deutschlernen machen ... Schade, daß nicht von der Relativitätstheorie die Rede war, sie hätten einen Sternen‐ spezialisten wie Hubert einladen sollen. Paul fürs nächste Mal Bescheid sagen! Hector sah, daß Marie‐Agnes an seiner Seite ein Nickerchen machte, und das erinnerte ihn daran, daß Philosophen meistens Männer waren. Wenn aber doch Frauen Philosophie betrieben, fragten sie seltener nach Richtig oder Falsch, sondern es interes‐
sierte sie eher, was gut oder schlecht für die Menschen war – und damit letztendlich für die Babys. Der Zeitexperte für Großunternehmen. Zu simpel. Seine tolle Erkenntnis: zwischen dem Dringenden und dem Wichtigen unterscheiden. Wichtig und dringend: so‐ fort selbst erledigen! Wichtig, aber nicht dringend: jeden Tag ein wenig darüber nachdenken. Dringend, aber nicht wichtig: an jemanden weiterdelegieren. Weder wichtig noch dringend: schnellstmöglich über Bord werfen. Sagt mit tiefer Befriedigung, daß dank der modernen Kommunikationsmittel alles in jeder Hinsicht viel schneller geht – da vergißt er aber, daß man das gleiche hätte behaupten können, als der Mensch aufs Pferd zu steigen lernte oder als das Telefon erfunden wurde. Verwendet gern Wörter wie »Augenblicklichkeit«, »Hyperzeit«, »Weltzeit und Zeitwelt«. Fast noch komplizierter als der Philosoph mit dem Schnurrbärtchen. Eine Dame hatte eine Frage an den Zeitexperten: Sie wollte wissen, ob all diese kleinen Apparate, mit denen man rund um die Uhr und überall auf der Welt einander anrufen, schreiben oder sogar sehen konnte, nicht dazu führten, daß man gar keine Zeit mehr zum Nachdenken hatte. »Überhaupt nicht«, sagte der Zeitexperte mit einem breiten Lächeln. »Ganz im Gegenteil. Wenn man schneller arbeitet, ge‐ winnt man mehr Zeit für sich selbst!« Hector war sich da nicht so sicher. Er mußte an Clara denken, die immerzu in ihren Handynachrichten oder ihrem E‐Mail‐ Briefkasten nachschaute, sogar am Wochenende. Auch Marie‐Agnes stellte eine Frage: »Ihre Geschichte mit ›dringend‹ und ›wichtig‹ ist interessant. Aber wenn Sie drin‐ gend oder wichtig sagen, auf wen bezieht sich das eigentlich? Auf mich selbst? Auf meinen Chef? Oder auf Gott?« »Gott – na ja, ich weiß nicht«, sagte der Zeitexperte und
lachte. »Sie müssen selbst entscheiden, wo Ihre Prioritäten liegen.« Hector sagte sich, daß er Marie‐Agnes beim Fragenstellen nicht allein lassen sollte. Er wollte ihr das Gefühl geben, daß sie ihn zu Recht hatte einladen lassen. Dank der vielen Patienten, die ihm von ihrer Arbeit berichtet hatten, und auch seiner Freunde, die ein bißchen wie Clara ar‐ beiteten, hatte er sich inzwischen selbst eine Vorstellung davon gemacht, auf welche Weise die Leute ihre Angelegenheiten in dringend und wichtig einteilten, und er hatte auch gesehen, wer damit am besten fuhr. Er meldete sich, und man reichte ihm das Mikrofon hinüber. Bei der Arbeit, erklärte Hector, müsse man beispielsweise drei Sorten wichtiger Dinge unterscheiden: zuerst alles, was wichtig ist, damit die Arbeit gut erledigt wird; zweitens das, was nach Meinung unseres Chefs wichtig ist; drittens die Dinge, die für uns selbst wichtig sind. »In einer idealen Welt«, sagte Hector, »sollten es exakt diesel‐ ben Dinge sein!« Diese Überlegung brachte alle zum Lachen – die Leute wuß‐ ten ja, daß sie nicht in einer idealen Welt lebten! Hector hatte schon oft bemerkt, daß Menschen, die »gut gemachte Arbeit« auf Platz eins setzten, dafür seltener belohnt wurden als Leute, bei denen »wichtig für den Chef« oder »wichtig für mich selbst« vor allem anderen kam. Und so verfielen diese gewis‐ senhaften Leute oft in Trübsinn, weil sie weder ein Dankeschön noch eine Gehaltserhöhung oder eine Beförderung bekamen, aber trotzdem den Eindruck hatten, gute Arbeit geleistet zu haben. Hector half ihnen dabei, über die anderen Prioritäten nachzudenken – über das, was für ihren Chef und für sie selbst wichtig war. Was den Chef anging, so mußte man wiederum erraten, wo seine Prioritäten lagen: bei der gut gemachten Ar‐ beit, bei seinem eigenen Chef oder einfach bei seiner Karriere. Schließlich konnte man auch versuchen zu erraten, wie der Chef
des Chefs dachte, aber da wurde es ein bißchen kompliziert, beinahe wie die Relativitätstheorie. »Aber«, warf jemand ein, »ich verstehe nicht so richtig, wo der Unterschied ist zwischen ›wichtig für meine Karriere‹ und ›wichtig für meinen Chef‹, denn immerhin entscheidet doch der Chef über meine Karriere.« »Nicht allein«, sagte Hector. In Sachen Karriere mußte man auch etwas Zeit dafür auf‐ wenden, noch ein paar andere Chefs kennenzulernen, man mußte sich darüber auf dem laufenden halten, was anderswo passierte, mußte Freundschaften schließen und neue Dinge ler‐ nen, die später einmal nützlich sein konnten. »Zum Beispiel Chinesisch«, sagte jemand. Hector war zufrieden, denn die Leute schienen seine kleinen Überlegungen interessant zu finden. Während man auf den Biologen wartete, der erklären wollte, weshalb die Menschen alterten, holte Hector sein Notizbüch‐ lein hervor. Zeit‐Etüde Nr. 23: Legen Sie sich eine schöne Tabelle mit vier Fel‐ dern an: Dringend + Wichtig, Dringend + Nicht wichtig, Nicht drin‐ gend + Wichtig, Nicht dringend + Nicht wichtig. Ordnen Sie alles, was Sie zu tun haben, in diese vier Felder ein. Überlegen Sie dann, ob es Ihnen etwas gebracht hat. Danach freute er sich, seine eigene kleine Übung hinzufügen zu können: Zeit‐Etüde Nr. 24: Ordnen Sie alle Ihre Tätigkeiten in folgende drei Kategorien ein: »wichtig, um die Arbeit gut zu erledigen«, »wichtig für den Chef«, »wichtig für mich selbst«. Wieviel Zeit verbringen Sie mit jedem dieser drei Bereiche? Plötzlich dachte sich Hector, man könne dies auch aufs Fami‐ lienleben anwenden. Zeit‐Etüde Nr. 24 a: Listen Sie auf, wieviel Zeit Sie damit verbrin‐ gen, wichtige Dinge für Ihre Kinder zu erledigen, für Ihren Partner und für Sie selbst. Präsentieren Sie Ihrer Familie das Ergebnis.
Er spürte allerdings, daß diese Übung ein bißchen gefährlich für den Hausfrieden werden konnte, und nahm sich vor, sie nicht jedem zu empfehlen. Danach langweilte sich Hector wieder ein bißchen, aber dann trat zum Glück der Biologe aufs Podium. Es war ein groß‐ gewachsener, ernsthafter Mann, und Hector dachte, daß er be‐ stimmt interessante Dinge zu sagen hatte, um uns zu erklären, weshalb wir Ärmsten alterten.
Hector erfährt, warum wir altern Der Biologe. Sehr interessant, wenn er über die Ursachen unseres Alterns spricht. Die wichtigste: Unsere Zellen reproduzieren sich unauf‐ hörlich durch Teilung, aber jedesmal ist es wie die Fotokopie von einer Fotokopie – die Kopien werden immer ein bißchen schlech‐ ter. Und so arbeitet auch jede neue Generation von Zellen ein wenig schlechter als die vorangegangene. Dies führt dazu, daß unser Körper allmählich Funktionsstörungen aufweist und wir altern. Der unaufhörliche Kopierprozeß der Zellen wird von klei‐ nen Enden von Chromosomen bestimmt, den Telomeren. Wenn man es also schaffen würde, das Wirken der Telomere zu kontrol‐ lieren, wären die Fotokopien perfekt, die neue Zelle wäre iden‐ tisch mit der vorangegangenen, und man würde niemals altern, sondern einfach bei dem Alter stehenbleiben, das man gerade hat. »Das wäre großartig!« sagte Marie‐Agnes. »Wir arbeiten daran«, sagte Paul, der wieder neben ihr Platz genommen hatte, mit leiser Stimme. Hector wurde es ein bißchen schwindlig, wenn er daran dachte, welche Folgen eine solche Kontrolle über die Telomere haben würde. Die Leute schlucken ein Medikament, und hopp, sie behalten für ewige Zeiten ihr aktuelles Alter. Für Menschen, die schon sehr alt sind, wäre das wahrscheinlich nicht gerade lustig. Und die Jungen, in welchem Alter würden sie sich ent‐ scheiden, mit dem Alterwerden aufzuhören? Und wer hätte überhaupt Zugang zu diesem Medikament? Wahrscheinlich zunächst mal die Reichen, die dann viel länger leben würden
als die armen Leute. Könnte das nicht sogar Kriege auslösen? Wenn jemand umgebracht wird oder bei einem Unfall stirbt, wäre das ein noch viel schlimmeres Unglück als heute, denn er verlöre dadurch wirklich Hunderte von Lebensjahren. Also würden die Leute womöglich sehr furchtsam werden und es niemals mehr wagen, ein wenig riskantere Dinge zu unterneh‐ men? Würde es einen am Ende nicht langweilen, am Leben zu sein? Und würde in einer Gesellschaft, die aus lauter jungen Leuten besteht, die Jugend nicht ihren vergänglichen und wun‐ derbaren Charme verlieren? Und wenn niemand mehr an Al‐ tersschwäche sterben würde, wie wollte man dann die vielen neuen Erdenbürger ernähren? Sollte man vielleicht aufhören, Babys in die Welt zu setzen? Aber wenn niemand mehr Vater oder Mutter würde, welche Wirkung hätte das auf das Denken der Leute? Würden sie nicht alle sehr egoistisch werden und damit nicht gerade glücklich leben? Wenn es soweit ist, werden wir ja sehen, dachte Hector, aber er war nicht sicher, ob er es noch miterleben mochte. Anderer‐ seits, mit Clara niemals zu altern ... In diesem Moment schob der Biologe ein Lichtbild in den Projektor. Man erblickte einen dicken und ganz weißen Wurm, der nicht gerade appetitlich aussah, und Hector fand, daß es keine so gute Idee war, ihn direkt vor dem Abendessen zu präsen‐ tieren. »Normalerweise leben solche Würmer drei Monate«, sagte der Biologe. Hector bekam leichte Gänsehaut, weil er schon voraussah, wie es weitergehen würde. »Wir haben jedoch an den Telomeren seiner Chromosomen gearbeitet, die viel einfacher beschaffen sind als die unsrigen.« Der Biologe machte eine kleine Kunstpause und fuhr dann fort: »Dieser Wurm hier lebt schon ein Jahr.« Alle Anwesenden machten »Oooooh!« Hector fragte sich, was der alte Mönch von alledem halten mochte, und über‐
haupt, wo steckte er eigentlich, und warum hatte der Schamane gewollt, daß Hector auf diese Insel kam? »Na schön«, sagte Marie‐Agnes, »und jetzt gehen wir zum Diner. Das Menü ist super, Sie werden sehen.« Hector war überzeugt, nur gute Fette auf der Speisekarte zu finden, und mit Freude dachte er an all die Schafe und Schweine, die ihr In‐der‐Welt‐Sein weiterhin ohne Sorge genie‐ ßen konnten...
Hector begreift, daß Diät nicht alles im Leben ist In dieser Nacht träumte Hector nicht. Er wachte jedoch sehr früh am Morgen auf und beschloß, eine kleine Dorfrunde zu drehen und die Fischerboote zu betrachten, bevor die Sonne wieder zu heiß brannte. Unterwegs begegnete er dem Biologen, der wohl dieselbe Idee gehabt hatte, und so machten sie ihren Spaziergang ge‐ meinsam. »Ich bin schon gespannt, was Sie morgen auf dem Kollo‐ quium erzählen werden«, sagte der Biologe. »Ich auch«, meinte Hector. Der Biologe lachte, weil er glaubte, einen guten Scherz gehört zu haben. Aber es stimmte wirklich: Hector wußte noch nicht so recht, was er erzählen sollte. Andererseits sagte er sich, daß ihm noch fast zwei Tage blieben, um sich darüber Gedanken zu machen – warum sollte er also in Eile verfallen? Im Grunde ge‐ hörte es in die Kategorie »wichtig, aber noch nicht dringend«, und es reichte, wenn man von Zeit zu Zeit darüber nachdachte. Der Biologe hieß Olivier und war ein großer hagerer Kerl mit eingefallenen Wangen. Er wirkte noch ziemlich jung, auch wenn Hector erriet, daß er mindestens einen Hund mehr auf dem Buckel haben mußte als er selbst. Hector fragte sich, ob Olivier nach Arbeitsschluß an seinen eigenen Telomeren her‐ umbastelte, um jung zu bleiben. »Wissen Sie, warum diese Insel außergewöhnlich ist?« fragte Olivier, als sie den Dorfplatz betraten. Es gab hier einen kleinen Markt mit Leuten, die vom Festland hinübergekommen waren, um Dinge zu verkaufen, die man auf
der Insel nicht herstellen konnte: Lampen, Nähmaschinen, Kaf‐ fee oder sogar bedruckte Kleiderstoffe für die Damen. »Keine Ahnung«, sagte Hector. »Es ist einer der Orte auf der Welt mit sehr vielen Hundert‐ jährigen.« Hector blickte um sich. Im Schatten der Platanen sah man steinalte Herren und Damen auf ihren Bänken sitzen. Wahr‐ scheinlich waren auch unter ihnen einige Hundertjährige. An den Kais unterhielten sich die Fischer neben ihren Netzen und den Holzkisten, die voller Fische waren. Ein Stück weiter sah man die Frauen auf den Markt gehen. Und überall hatten die Kinder begonnen zu spielen und einander zu haschen, denn es war Sonntag, und niemand mußte zur Schule. Die Kirchturmglocke schlug sehr sanft sieben Uhr. Hector und Olivier beschlossen, einen Kaffee zu trinken, und setzten sich auf die Terrasse eines kleinen Bistros, das auch als Lebensmittelgeschäft, Tabakladen, Angelausrüster und Fahr‐ radverleih diente. Die Dame, die das Cafe führte und – Überraschung! – ein bißchen der Mutter von Ying Li in Hectors Traum ähnelte, fragte sie, ob sie auch etwas essen wollten, und sie wollten tat‐ sächlich. So bekamen sie zum Kaffee ein paar Scheiben von einem sehr guten und ziemlich dunklen Brot, ein Tellerchen Olivenöl, zwei oder drei frische Tomaten und einen kleinen Topf marinierte Heringe. »Genau das ist ihr Geheimnis!« rief Olivier aus. »Ihre Ernäh‐ rungsgewohnheiten! Gemüse, Fisch, Nüsse. Nichts als gute Fette!« Hector erinnerte sich daran, daß solch eine Kost als mediter‐ ran bezeichnet wurde. Das war auch kein Zufall, denn diese Insel lag mitten in jenem Meer, das man in Hectors Sprache Méditerranée nannte, das Mittelmeer. »Und es kommt noch etwas hinzu: Sie essen wenig, jedenfalls
weniger als wir. Wenn man Ratten leicht unterernährt, leben sie länger.« Als Hector die hohlen Wangen des Biologen sah, dachte er, daß sicher auch Olivier es vermied, zu viel Nahrung zu sich zu nehmen. »Wenn alle Leute in unseren Ländern dazu übergingen, we‐ niger zu essen, würde die Lebenserwartung um mindestens zehn Jahre steigen«, sagte Olivier und schluckte einen marinier‐ ten Hering herunter. Na gut, dachte Hector, aber soll man mit knurrendem Magen leben? Sein Blick streifte wieder über die spielenden Kinder, die Männer, die von Zeit zu Zeit, wenn ihre Gespräche verebbten, eine Fischkiste abluden, die Frauen, die sich über die beste Nähmaschinenmarke unterhielten, und die alten Damen und Herren, die gleich neben Hector auf ihren Bänken saßen. Manche von ihnen schauten wahrscheinlich ihren Ur‐Ur‐ Enkeln beim Spielen zu. Hector erinnerte sich noch an etwas anderes: Vor sehr langen Jahren, als Hectors Religion hier noch nicht angekommen war, hatten auch die Leute auf dieser Insel und überhaupt auf allen Inseln der Gegend geglaubt, daß das Leben nach dem Tod neu beginnen würde und sogar die ganze Welt von Zeit zu Zeit neu anfinge, ganz wie die Sonne jeden Morgen frisch emporsteigt. Eine Insel, auf der die Kablunak wie die Inuit leben. Hector sagte sich, daß die mediterrane Kost zwar sicher sehr förderlich für die Gesundheit war, es für die große Zahl von Hundertjährigen auf dieser Insel aber noch andere Gründe ge‐ ben mußte. Sollte ihn das nicht für seinen Vortrag auf dem Kol‐ loquium inspirieren?
Hector ruht sich aus Weil Hector bei seiner Rückkehr aufs Zimmer immer noch nicht wußte, weshalb er eigentlich hier war, beschloß er, erst einmal ein bißchen herumzutelefonieren. (Eigentlich wußte er doch, weshalb er hier war, Paul und Marie‐Agnes hatten ihn ja eingeladen, aber wie in einem Gespräch, hinter dem sich ein anderes versteckt, schien auch diese Erklärung eine andere zu verbergen, und den wahren Grund für sein Hiersein kannte wahrscheinlich der Schamane. Das erinnerte Hector an eine Frage, die einst ein Philosoph gestellt hatte, von dem der struwwelige Referent in seinem Vortrag gesprochen hatte: Weshalb gibt es ein Universum und nicht etwa überhaupt nichts?) Zuerst rief er Clara an. Sie sagte, es gehe ihr besser, und sie vermisse ihn. Hector war darüber so erfreut, daß er fühlte, wie ihm die Tränen in die Au‐ gen stiegen, aber er riß sich zusammen, denn ein Mann darf be‐ kanntlich nicht weinen – außer beim Begräbnis seiner besten Freunde. Er sagte Clara, daß auch sie ihm sehr fehle und daß er schon sehr bald zurückzukommen gedenke. Sie küßten sich per Telefon, und Hector spürte von neuem, wie zwischen ihnen starke Wellen der Liebe mit Lichtgeschwindigkeit hin‐ und herströmten, als wäre überhaupt keine Zeit verstrichen, und ihre Liebesgeschichte hatte eben erst begonnen. Dann versuchte er Édouard anzurufen, aber wie Sie sich den‐ ken können, war das nicht ganz einfach. Schließlich rief Édouard einige Minuten später zurück. »Ich bin wieder im Camp«, sagte er.
Hector stellte sich vor, wie sein Freund in dem großen Zelt saß, wo sie mit Hilton und Eleonore gegessen hatten, und daß in seiner Reichweite die Apparate lagen, die es möglich mach‐ ten, über die ganze Welt hinweg miteinander zu sprechen, und die der Zeitexperte so liebte. »Und der Schamane?« fragte Hector. »Er hat uns tüchtige Angst eingejagt«, sagte Édouard. Und er erklärte, daß der Schamane nicht nur zu viel Flech‐ tenbier getrunken hatte, sondern auch eine Menge von dem Wodka, den sich die Inuit in einem anderen Dorf beschafft hat‐ ten. Jetzt lag er regungslos in einem Bett der Kablunak‐Kran‐ kenstation, und um ihn herum blinkten eine Menge Apparate, die darauf achtgaben, daß er nicht für immer einschlief. »Der Arzt sagt, er wird durchkommen.« Dieses Abenteuer bewies, daß die Schamanen (ein bißchen wie die Psychiater übrigens) sehr schlau sein konnten, wenn es um andere Leute ging, in ihren eigenen Angelegenheiten je‐ doch nicht immer. Keine neue Botschaft des Schamanen also – Hector war nicht gerade vorangekommen. Dann rief er beim alten François an. »Ich habe mich wieder angekoppelt an den kleinen Zug, den ich so liebe«, sagte der alte François. »Und im Augenblick denke ich überhaupt nicht mehr an die Endstation! Heidegger würde mir eine schlechte Note geben!« Hector fragte sich, wie wohl die neue Lokomotive aussehen mochte, die einen derart alten Waggon so fröhlich machte. Der alte François sagte Hector auch, daß es Clara wieder bes‐ ser gehe, aber wegen der ärztlichen Schweigepflicht wollte er es nicht im einzelnen erklären. Sie brauche ihre kleinen Pillen nicht mehr, aber es wäre eine gute Idee, wenn Hector recht bald zu ihr zurückkehrte. »Wie Sie ja wissen, lieber Freund, ist in der Liebe alles eine Frage der Übereinstimmung der Zeiten!«
Hector fand diesen Einfall sehr gut und nahm sich vor, ihn in sein Notizbüchlein zu schreiben. Kurz und gut, alles ging seinen Gang, und weil Hector für einen Psychiater ziemlich früh aufgestanden war, sagte er sich nun, er könne sich ruhig noch fünf Minuten auf seinem Bett ausstrecken, ehe er zum Kolloquium ging und die ersten Refe‐ renten des Vormittags hörte, nämlich einen Mönch von Hectors Religion und danach den Rennfahrer. Aber dann schlief er ein, und das war ein bißchen schade, denn diese Leute hatten gewiß interessante Dinge zu erzählen.
Hector und die beiden Hundertjährigen Hector lag auf einem Bett, in seinem Nasenloch steckte ein dünner Schlauch, ein dickerer Schlauch reichte ihm in den Schlund hinein, und überall hatte man kleine Drähte an ihm befestigt, mit denen seine Herztöne und sein Atem überwacht wurden. Um ihn herum blinkten medizinische Apparaturen. Das Lästige daran war, daß er weder sprechen noch sich irgendwie bewegen konnte. Dennoch fühlte er sich vollkom‐ men wach und hörte sogar, wie draußen der Wind über die Eisfelder strich. Er sah eine junge Frau auf sich zukommen, es war eine Inuit‐Krankenschwester mit einem weißen Häubchen, und zack, schon richtete sie ihm den Strahl einer kleinen elektrischen Lampe direkt ins linke Auge und gleich darauf ins rechte. Es war sehr unangenehm, aber er konnte ihr nichts sagen. Dann verschwand sie wieder aus seinem Gesichtsfeld, aber weil er ja den Kopf nicht drehen konnte, war es gut möglich, daß sie ganz in der Nähe geblieben war. Wirklich, es war so etwas von lästig, wach zu liegen und sich nicht rühren zu können, von nichts umgeben als nur vom Pie‐ pen der Apparaturen! Die einzige Möglichkeit, dieser Lage zu entfliehen, wäre es gewesen, einen Traum zu träumen, aber wie sollte man träu‐ men, ohne zu schlafen? Hector strengte sich trotzdem an, und plötzlich fand er sich auf dem Dorfplatz wieder, gleich neben der Kirche, und er erblickte Olivier. Der Biologe warf mari‐ nierte Heringe in die Luft, um sie mit den Zähnen aufzufangen und hinunterzuschlingen, was für die Dorfkinder, die um ihn herumrannten, eine lustige Attraktion darstellte.
Auf einer Bank im Schatten einer Platane saßen zwei alte Herren aus dem Dorf und schauten Hector an. Er beschloß, sie anzusprechen. Die beiden Männer lächelten, als sie ihn näher kommen sa‐ hen. Sie schienen wirklich sehr alt zu sein, so alt, daß die Zeit sogar ihre Falten wieder ein wenig ausradiert hatte. Ihre Augen waren ein bißchen verschleiert, aber sie wirkten trotzdem er‐ freut, Hector zu sehen. Er sagte sich, daß sie bestimmt hundert Jahre alt waren. »Sie haben ja ein schönes Stück Weg hinter sich«, sagte der Hundertjährige, der eine Schirmmütze trug. »Ich reise sehr gern.« »Wir auch«, sagte der andere Alte, der so eine Baskenmütze trug, wie sie vor langer Zeit in Hectors Land modern gewesen war. Hector und die beiden Hundertjährigen unterhielten sich in derselben Sprache, auch wenn es schwer herauszufinden war, um welche Sprache es sich eigentlich handelte. »Setzen Sie sich«, sagte der Hundertjährige mit der Schirm‐ mütze, »bleiben Sie nicht in der Sonne stehen, sonst kriegen Sie einen Hitzschlag!« Hector freute sich, im Schatten Platz nehmen zu können, denn mit all den Fuchspelzen begann es ihm warm zu werden. Und dann schauten sie wieder den Kindern beim Spielen zu und blickten aufs reinblaue Meer zu den Schiffen hinüber. »Ich frage mich, ob sie genauso lange leben werden wie wir«, sagte der Alte mit der Schirmmütze. »Sie werden bessere Medikamente haben«, meinte der andere Hundertjährige. »Aber nicht das gleiche Leben wie wir. Sie werden immer un‐ ter Zeitdruck stehen.« »Schlecht ernähren werden sie sich vielleicht auch. Und dazu kommt noch, daß sie mehr allein sein werden.« »Und eines Tages geht̕s dann ab ins Altersheim.«
Sie schwiegen eine Weile, und man spürte, daß es für sie ein ziemlich trauriges Gesprächsthema war. »Mag sein, man gewöhnt sich dran«, sagte der Hundertjäh‐ rige mit der Schirmmütze. »Vielleicht, aber den ganzen Tag nur alte Leute zu sehen ...« »Übertreib nicht, es gibt ja noch das Personal.« »Ja, aber kannst du dir vielleicht vorstellen, in einem kleinen Zimmer zu hocken, statt all das um dich zu haben«, sagte der Alte mit der Baskenmütze und wies auf den blauen Himmel, den Dorfplatz, die Schiffe, das Meer und die Kinder. Dann nahm er die Mütze ab, und ein sehr schöner weißer Haarschopf kam zum Vorschein. Jetzt bemerkte Hector auch, daß der Alte eine Fliege trug. »Ich möchte Ihnen eine Frage stellen«, sagte Hector. »Eine Frage?« meinte der Hundertjährige mit der Fliege. Man hat mir schon lange keine Fragen mehr gestellt.« »Mir machen Fragen Spaß«, sagte der andere Alte, »aber die Antworten ermüden mich.« »Nun ja«, sagte Hector, »was ist Ihrer Meinung nach ein gut ausgefülltes Leben?« Die beiden Hundertjährigen schauten einander an, und dann brachen sie in Gelächter aus. Das war zwar schön anzusehen, aber es brachte Hector kein bißchen weiter. Schließlich hörte der Hundertjährige mit der Fliege zu lachen auf und sagte in sehr ernsthaftem Ton: »Das mit dem ausgefüll‐ ten Leben ist eine ziemlich schlechte Idee. Man kann es näm‐ lich nie mit allem füllen, was einem vorschwebt. Außerdem füllt man notgedrungen auch Fehler und Irrtümer mit hinein. Was aber zählt, ist, bestimmte Momente gut auszufüllen. Oder, wenn Sie so wollen, gewisse Augenblicke voll auszuleben.« »Um die Gegenwart gut ausfüllen zu können«, sagte der Alte mit der Schirmmütze, »müssen wir auch oft unser Inneres ent‐ rümpeln und freien Raum schaffen.« Hector begriff, was er damit sagen wollte. Wenn man einen
Augenblick wirklich auskosten wollte, mußte man sich ganz von ihm erfüllen lassen und durfte sich nicht wegen anderer Dinge den Kopf zerbrechen. »Das Leben ist ja keine Flasche, in die man etwas hineingie‐ ßen soll«, meinte der Hundertjährige mit der Fliege, »sondern eher wie eine Musik, die manchmal weniger gelungene oder langweilige Stellen hat und manchmal sehr intensive. Die Mu‐ sik vermittelt uns eine sehr gute Vorstellung von der Zeit. Eine einzelne Note berührt Sie nur, weil Sie sich an die vorangegan‐ gene erinnern und die nächste erwarten ... Jede gewinnt ihren Sinn nur dadurch, daß sie in ein wenig Vergangenheit gehüllt ist und in ein wenig Zukunft.« Der Hundertjährige mit der Fliege hob zu pfeifen an, und der andere Alte stimmte sogleich ein. Hector erkannte eine Melodie, die ein großer perückentra‐ gender Musiker komponiert hatte. Dieser Mann mußte das Ge‐ fühl gehabt haben, sein Leben gut auszufüllen: Er hatte Hun‐ derte von Musikstücken hervorgebracht und war gleichzeitig Vater von achtzehn Kindern gewesen! Hector hatte sein Büchlein nicht bei sich, aber er nahm sich vor, darin zu notieren: Zeit‐Etüde Nr. 25: Hören Sie Musik, und sagen Sie sich dabei, sie seiein Sinnbild für die Zeit. Welche Melodie hat Ihr Leben?
Hector und die ewige Wiederkehr In diesem Augenblick trat die Dame, die das Cafe bewirtschafte‐ te, auf den Dorfplatz hinaus und näherte sich den beiden Alten. »Herumpfeifen mag ja auch ganz hübsch sein«, sagte sie, »aber vielleicht sollten Sie langsam ans Mittagessen denken!« »Ach«, meinte der Hundertjährige mit der Fliege, »wir haben doch alle Zeit der Welt.« »Man muß auch ein Gedeck für unseren Freund mit hinstel‐ len«, sagte der Alte mit der Schirmmütze und zeigte auf Hector. »Längst passiert«, entgegnete die Dame, und mit diesen Worten machte sie kehrt und entfernte sich. »Meine Güte, die ist vielleicht hektisch!« sagte der Hundert‐ jährige mit der Fliege. »Du übertreibst mal wieder, sie ist einfach ein bißchen wie ihre Mutter. Und ihre Großmutter war genauso, ich erinnere mich noch gut.« »Wie kannst du dich daran erinnern, wo du doch gar nicht von hier bist?« fragte der Hundertjährige mit der Fliege. »Du aber auch nicht«, meinte der andere Alte. »Ah ja, stimmt ...« Und alle beide schauten Hector an. »Werden Sie bald wieder abreisen?« fragte der Hundertjäh‐ rige mit der Baskenmütze. »Ich weiß nicht«, sagte Hector. »Ich freue mich, daß ich hier bin, aber ich weiß nicht, weshalb ich die Reise eigentlich ge‐ machthabe.« »Ich glaube, Sie werden nicht mehr lange bleiben«, sagte der Alte mit der Schirmmütze und seufzte ein wenig.
In diesem Augenblick wurde Hector bewußt, daß der Alte ja die Schirmmütze eines Bahnhofsvorstehers trug, und das war kurios, denn auf der Insel gab es keine Züge. »Sind Sie etwa Bahnhofsvorsteher?« fragte Hector. »Nur vorübergehend«, antwortete der Alte. »Er arbeitet immer noch!« sagte der Hundertjährige mit der Fliege. »Aber nicht mehr lange«, meinte der Hundertjährige mit der Schirmmütze. »Und wenn ich nun einen Zug in Ihrem Bahnhof nehmen wollte?« fragte Hector. »Da müssen Sie sich beeilen«, sagte der Alte mit der Schirm‐ mütze und lachte leise auf, »denn wissen Sie, ich habe nicht mehr viel Zeit vor mir.« Und plötzlich wußte Hector, wer vor ihm saß. Eine der Apparaturen in seinem Krankenzimmer begann zu klingeln, und er wartete darauf, daß die Schwester angelaufen kam. Doch nein – es war das Telefon. Hector nahm den Hörer ab. »Was ist denn passiert?« fragte Marie‐Agnes. »Sie haben den Mönch versäumt.« »War es interessant?« »O ja, ich habe den Unterschied zwischen Ewigkeit, unbe‐ grenzter Fortdauer und Unsterblichkeit gelernt.« »Sie können mir das gleich erzählen«, sagte Hector. »Ich komme sofort.« Aber zunächst einmal rief er Trevor und Katherine an. Trevor war am Apparat. »Haben Sie noch einmal den kleinen Zug zum Kloster hinauf genommen?« wollte Hector wissen. »Ich nicht, aber Katherine ist gestern mit Freunden dort ge‐ wesen.« »Der alte Herr, der die Fahrkarten verkauft, ist der immer noch da?«
Trevor rief seine Frau. »Nein, stimmt«, sagte Katherine, »diesmal war es ein junger Mann. Er hat mir erzählt, daß der alte Chinese zu erschöpft war.« »Ich bin sofort bei Ihnen«, sagte Hector. Paul und Marie‐Agnes würden natürlich nicht gerade begei‐ stert sein, aber sie würden es verstehen. Außerdem hätte viel‐ leicht der alte François Zeit, um morgen mit seiner neuen kleinen Lokomotive hier einzutreffen, und sie wäre gewiß bezaubert von dieser schönen Insel und vom alten François, der so intelligente Dinge vorzutragen verstand. Hector war sicher, daß sein Kollege sich auf einer Bank am Dorfplatz auch mit einem Hundertjährigen unterhalten würde. Und wenn es nicht möglich sein sollte, könnte der Zeitexperte für Unternehmen einmal mehr »Augenblicklichkeit« sagen und den alten François auf einer großen Videoleinwand mitten im Amphitheater erscheinen lassen. Vorher aber würde die Dame, die sich auf dem steinigen Weg die Knöchel verdrehte, zu Paul hinübergestakst kommen und ihm einen Stapel neuer Programme überreichen, an denen man noch die Druk‐ kerschwärze roch. All das bewies, daß die Welt vielleicht ein ewiges Neubeginnen ohne jede Verbesserung war, und wie schon der Philosoph mit dem riesigen Schnauzbart gesagt hatte, mußte man sehr mutig sein, um diese Vorstellung ertra‐ gen zu können. Übrigens erinnerte sich Hector sogar an seinen Namen, nur wie er geschrieben wurde, wußte er nicht mehr so genau ... NIETZTCHE?
Hector ist ein guter Arzt Bevor er am nächsten Tag abreiste, besuchte Hector noch ein‐ mal Paul. Sie tranken einen Kaffee und blickten aufs Meer hinaus, das jetzt in einem sehr blassen Blau schimmerte, und Hector dachte, daß der Himmel am Nordpol in Richtung der aufgehenden Sonne genau die gleiche Farbe gehabt hatte. Und dann war es auch die Farbe von Eleonores Augen, aber diesen Gedanken verscheuchte er schnell wieder. »Ihre Pillen haben mich ruhiger gemacht«, sagte Paul. »Aber die Fragen, die ich mir stelle, haben sich nicht verändert.« »Über Ihr gut ausgefülltes Leben?« »Ja. Ich sage mir, daß es gar nicht so schlecht gefüllt ist, aber trotzdem steckt auch eine Menge Leere in ihm. Außerdem muß es irgendwo auf dem Flaschenboden ein Loch geben ...« Paul schaffte es immerhin, ein bißchen über sich selbst zu lachen; es ging ihm also etwas besser. »Statt dieses Bild mit der Flasche zu bemühen«, sagte Hector, »sollten Sie Ihr Leben lieber mit einem Musikstück ver‐ gleichen.« Und er berichtete Paul, was ihm die beiden Hundertjährigen in seinem Traum enthüllt hatten. (Natürlich sagte er nicht, daß es ein Traum gewesen war, denn man erwartete von Hector, daß er ein moderner Psychiater war und kein Schamane, oder jedenfalls sah ihn Paul nicht als solchen.) »Die Zeit sollte also wie Musik sein?« fragte Paul verwun‐ dert. »Genau. Jede Note hat nur einen Sinn dank der vorangegan‐ gen und der darauffolgenden Note. Eine Note ist wie Gegen‐
wart, die unaufhörlich zu Vergangenheit wird. Und dennoch existiert die Musik!« Als Hector später fortging, vernahm er, daß Paul zu pfeifen begonnen hatte. Ziemlich falsch zu pfeifen übrigens, und schau an, es war schon wieder eine Melodie jenes großen Komponisten mit den achtzehn Kindern und dem gut ausgefüllten Leben ...
Hector trinkt zu viel Eleonore schlug das Notizbüchlein auf und begann zu lesen. Zeit‐Etüde Nr. 1: Berechnen Sie Ihre Lebensfrist in Hundeleben. Zeit‐Etüde Nr. 2: Listen Sie alles auf, was Sie sich als Kind zu tun und zu werden vorgenommen hatten, wenn Sie erst einmal erwachsen sein würden. Zeit‐Etüde Nr. 3: Messen Sie an einem bestimmten Tag die Zeit, die Sießr sich selbst haben. Schlafen zählt nicht mit (außer wenn Sie es im Büro tun). Zeit‐Etüde Nr. 4: Denken Sie an alle Personen und Dinge, denen Sie gegenwärtig nicht genügend Beachtung schenken, denn eines Tages wird aus der Gegenwart Vergangenheit geworden sein, und dann ist es zu spät. Zeit‐Etüde Nr. 5: Stellen Sie sich Ihr Leben als eine große Rolle Stoff vor, aus welcher man alle Kleidungsstücke geschneidert hat, die Sie seit Kindheitstagen getragen haben. Stellen Sie sich dann vor, welche Garderobe Sie aus der restlichen Rolle noch schneidern könnten. Zeit‐Etüde Nr. 6: Schreiben Sie alles auf, wodurch Sie sich jünger fühlen. Notieren Sie danach alles, wodurch Sie sich älter fühlen. Zeit‐Etüde Nr. 7: Wenn Sie nicht an Gott glauben, stellen Sie sich einmal vor, Sie würden an ihn glauben. Wenn Sie an ihn glauben, stellen Sie sich vor, Sie glaubten nicht mehr an ihn. Beobachten Sie, ob sich dadurch Ihre Sicht auf die verstreichende Zeit ändert.
Zeit‐Etüde Nr. 8: Organisieren Sie ein Spiel mit Freunden. Versuchen Sie, eine Definition der Zeit zu finden. Erster Preis: eine Uhr! Zeit‐Etüde Nr. 9: Nehmen Sie sich Zeit zum Überlegen. Die Vergan‐ genheit existiert nicht mehr, also existiert sie nicht. Die Zukunft exi‐ stiert noch nicht, also existiert sie nicht. Die Gegenwart existiert nicht, denn sobald wir von ihr reden, ist sie Vergangenheit. Aber was existiert dann überhaupt? Zeit‐Etüde Nr. 10: Und wenn Ihr Leben nur jemandes Traum wäre? Wo schläft der Träumende in diesem Fall? Zeit‐Etüde Nr. 11: Verstecken Sie Ihre Uhr. Notieren Sie von Zeit zu Zeit, wie spät es Ihrer Meinung nach ist. Vergleichen Sie dann mit der Zeit auf Ihrer Armbanduhr. Zeit‐Etüde Nr. 12: Denken Sie über Ihre ganze Vergangenheit nach, und versuchen Sie davon ausgehend Ihre ganze Zukunft vorauszuse‐ hen (oder jedenfalls die Zukunft, die für Sie am wahrscheinlichsten ist). Zeit‐Etüde Nr. 13: Wenn Sie eine betagte Person sehen, sollten Sie sich immer vorstellen, wie sie einmal als junger Mensch gewesen sein mochte. Zeit‐Etüde Nr. 14: Denken Sie einmal daran, daß Sie das Älterwerden vielleicht dem himmlischen Königreich (oder wie dieser Ort in Ihrer Religion heißt) näher bringt. Zeit‐Etüde Nr. 15: Stellen Sie sich vor, Sie wären eine Kuh. Sie erin‐ nern sich nicht daran, daß Sie einmal ein Kalb gewesen sind. Sie wis‐ sen nicht, daß Sie eines Tages sterben werden. Wären Sie dann glück‐ licher? Würden Sie gern eine Kuh sein, wenn man Sie vor die Wahl stellte? Oder vielleicht lieber ein anderes Tier? Wenn ja, welches? Zeit‐Etüde Nr. 16: Konzentrieren Sie sich, und machen Sie sich be‐ wußt, daß es keine Zeit ohne Bewegung gibt und keine Bewegung ohne Zeit. Die Zeit ist das Maß der Bewegung.
Zeit‐Etüde Nr. 17: Legen Sie sich eine Sammlung von schönen Ge‐ dichten über die verstreichende Zeit an. Lernen Sie sie auswendig und rezitieren Sie sie vor Freunden, die älter beziehungsweise jünger sind als Sie. Zeit‐Etüde Nr. 18: Verbringen Sie Zeit mit dem Versuch, Dinge zu ändern, die geändert werden können? Bemühen Sie sich, das hinzunehmen, was nicht geändert werden kann? Denken Sie darüber nach, wie sich das eine vom anderen unterscheiden läßt? Je häufiger Sie diese Fragen mit ja beantworten können, desto besser. Zeit‐Etüde Nr. 19: Treffen Sie die Kinder der Menschen, die Sie geliebt haben, als Sie jünger waren. Zeit‐Etüde Nr. 20: Lesen Sie ein gutes populärwissenschaftliches Buch über die Zeit und die Relativitätstheorie. Denken Sie eine Weile darüber nach, wie Ihr Leben in einem Paralleluniversum aussehen könnte, in dem Sie an einem entscheidenden Punkt mehr Glück hat‐ ten, und wie es in einem dritten verlaufen würde, wo sie es weniger gut getroffen haben. Zeit‐Etüde Nr. 21: Wenn Sie immer jung wirken möchten, sollten Sie stets im Schatten bleiben (oder sich höchstens bei Kerzenlicht präsen‐ tieren). Zeit‐Etüde Nr. 22: Was ist Ihrer Meinung nach ein gut ausgefülltes Leben? Zeit‐Etüde Nr. 23: Legen Sie sich eine schöne Tabelle mit vier Feldern an: Dringend + Wichtig, Dringend + Nicht wichtig, Nicht dringend + Wichtig, Nicht dringend + Nicht wichtig. Ordnen Sie alles, was Sie zu tun haben, in diese vier Felder ein. Überlegen Sie dann, ob es Ihnen etwas gebracht hat. Zeit‐Etüde Nr. 24: Ordnen Sie alle Ihre Tätigkeiten in plgende drei Kategorien ein: »wichtig, um die Arbeit gut zu erledigen«, »wichtig für den Chef«, »wichtig für mich selbst«. Wieviel Zeit verbringen Sie mit jedem dieser drei Bereiche?
Zeit‐Etüde Nr. 24 a: Listen Sie auf, wieviel Zeit Sie damit verbringen, wichtige Dinge für Ihre Kinder zu erledigen, für Ihren Partner und für Sie selbst. Präsentieren Sie Ihrer Familie das Ergebnis. Zeit‐Etüde Nr. 25: Hören Sie Musik, und sagen Sie sich dabei, sie sei ein Sinnbild für die Zeit. Welche Melodie hat Ihr Leben? Und ein paar Seiten weiter stand zu lesen: Der Philosoph. Sehr kompliziert. Aber interessante Fragestellungen – und was Hector auf dem Kolloquium sonst so aufgeschrieben hatte. Eleonore las noch ein Weilchen, aber dann klappte sie das Notizbüchlein zu und sagte: »Ich mochte ja nicht herumnör‐ geln, aber Ihre Sicht auf die Philosophie ist ein bißchen simpel!« »Es ist ja nur ein Resümee«, meinte Hector, »und fertig ist es auch noch nicht.« »Womit machen wir weiter«, fragte Édouard, »Pinot oder Cabernet?« »Die Entscheidung überlasse ich dir«, sagte Hector. Und Édouard rief von neuem den chinesischen Weinkellner herbei. Sie speisten zu dritt in einem schönen und ganz verglasten Restaurant zu Abend. Es befand sich in der obersten Etage eines Hotels, und man konnte seinen Bück über die chinesische Stadt schweifen lassen, die in der Nacht funkelte, und oben auf den Bergen blinkte sogar ein kleiner Leuchtturm, damit die Flugzeuge nicht dagegenstießen. Als Hector wieder nach China aufgebrochen war, hatte er Édouard angerufen. Er sagte sich, daß zwei Leute bestimmt nicht zuviel waren, wenn es darum ging, den alten Mönch zu finden. Und dann zog er es auch vor, diesmal nicht wieder allein in jener chinesischen Stadt zu sein. Womöglich wäre er sonst Gefahr gelaufen, Ying Li ein zweites Mal anzurufen ... Das Problem bestand darin, daß Eleonore mit Édouard in die chinesische Stadt gekommen war. Zunächst einmal hatte sie ihn
mit ihrem kleinen Flugzeug ziemlich weit in den Süden geflo‐ gen, und dann hatte sie gesagt, daß sie ein bißchen Urlaub brauche, und da könne sie ihn doch gleich begleiten ... Stimmt, hatte Édouard gesagt, warum nicht? »Also was Sie beide so wegpicheln!« sagte Eleonore. »Sie wissen schon, daß Alkohol einen schneller altern läßt?« Hector und Édouard blickten einander an. »Vielleicht fürchten wir uns ja nicht vor der Zeit, die ver‐ geht«, meinte Hector. »Männer! Da haben wir es wieder! Sie wissen, daß Sie immer noch eine finden werden, die Ihre Falten liebt oder wenigstens so tut, als würden sie ihr nicht auffallen!« »Vielleicht läßt uns das Trinken vergessen, wie die Zeit ver‐ rinnt«, sagte Édouard. Um sie herum an den übrigen Tischen saßen etliche Chinesen und Chinesinnen, die sich sehr fein angezogen hatten und ge‐ rade damit beschäftigt waren, die verstreichende Zeit zu ver‐ gessen. Édouard hatte Hector erklärt, daß China und Japan den Kognak gerettet hatten, und in diesem Restaurant konnte man gut sehen, daß sie nicht nachließen in ihrem Rettungseifer. Sie waren recht spät am Abend in China gelandet, zu spät, um sofort nachzuschauen, wer die Fahrkarten für den kleinen Zug verkaufte. Vor dem nächsten Morgen blieb ihnen nicht groß was zu tun, außer ein interessantes Gespräch zu führen. Eleonore hatte sich noch einmal Hectors Zeit‐Übungen vor‐ genommen. »Sie haben Aristoteles und den heiligen Augustinus neu erfunden ... oder sich an sie erinnert, ich weiß nicht ...« Hector wußte es ebensowenig. »Schon damals sagte man: ›Es gibt eine Gegenwart des Ver‐ gangenen, eine Gegenwart des Zukünftigen und eine Gegen‐ wart des Gegenwärtigen‹.« Hector war beeindruckt. Eleonore erklärte, sie habe neben ihrem Flugunterricht auch Philosophiestudien betrieben.
»Ich wollte verstehen, wozu es dient, auf der Erde zu sein«, sagte sie. Hector aber sagte sich einmal mehr, daß Eleonore ein paar Probleme mit ihrem Vater oder ihrer Mutter gehabt haben mußte oder vielleicht mit beiden. »Dem heiligen Augustinus ist bewußt geworden«, fuhr Eleo‐ nore mit vor Aufregung glänzenden Augen fort, »daß alles nur in der Gegenwart existiert. Vergangenheit und Zukunft gibt es nur in dem Augenblick, wo sie Gegenwart sind. Manche Leute behaupten, die Gegenwart existiere nicht, aber man kann auch das Gegenteil sagen – nichts existiert außerhalb der Gegenwart! Man kann immer nur Gegenwart erleben, es gibt gar keine Möglichkeit, der Gegenwart zu entfliehen! Egal was wir den‐ ken oder was wir tun, es ist immer heute!« Und sogleich begann Édouard mit recht schöner Stimme zu singen: »Today is my moment, now is my story I’ll laugh and I’ll cry and I’ll sing Today while the blossoms still ding to the vine ...« Und er erhob sein Glas, damit Hector ihm nachschenkte. »Sie singen ja verdammt gut«, sagte Eleonore mit erstaunter Miene. »I’ll taste your strawberries, I’ll drink your sweet wine A million tomorrows shall all pass away Ere I forget all the joy that is mine toooo‐daaaay ...« Einmal mehr mußte Hector sich sagen, daß es die Dichter bes‐ ser als die Philosophen hinbekamen, wenn es darum ging, uns die Dinge fühlen zu lassen. »Dann könnte man also sagen, daß die Gegenwart ewig an‐ dauert?« fragte Édouard, als er sein Glas geleert hatte.
»Genau, und deshalb kann man auch behaupten, die Gegen‐ wart sei der Widerschein der Ewigkeit in der Zeit.« Hector erinnerte sich: Das war doch Rogers letzter Satz auf dem Motorschlitten gewesen! »Dieser Satz ist von Kierkegaard, einem dänischen Philoso‐ phen«, sagte Eleonore. »Er war der erste Existentialist. Seiner Meinung nach muß man mit Leidenschaft leben. Leben heißt für ihn, die Wahl zu treffen, auf ein wildes Pferd zu steigen, und sich nicht etwa dafür zu entscheiden, auf dem Heukarren zu schlafen. Ich mag ihn wirklich sehr.« Eleonore sagte das mit der Ergriffenheit eines jungen Mädchens, das über einen Rockstar spricht. Hector fand, daß Eleonore mit ihrem kleinen Flugzeug tat‐ sächlich so lebte wie die Reiterin eines ungezähmten Pferdes. Im übrigen hatte sie womöglich ihn, Hector, als neues Pferd ins Auge gefaßt, was in gewisser Weise schmeichelhaft für ihn war. »Er sagte auch, daß es eine leidenschaftliche und rein persön‐ liche Entscheidung sein muß, an Gott zu glauben oder zu heiraten, und daß es keinen vernunftmäßigen Grund dafür gibt, es zu tun oder zu lassen. Man muß aber seine Wahl treffen und entschlossen handeln.« Hector nahm sich vor, Kierkegaard zu lesen, denn sowohl in Sachen Gott als auch in puncto Heiraten hatte er sich immer noch nicht entschlossen, einen Entschluß zu fassen. Plötzlich erinnerte er sich auch daran, was Noumen Roger geantwortet hatte. »Und was hat Gott vor der Erschaffung der Welt getan?« fragte er. »Hat es da schon Zeit gegeben?« »Nicht für den heiligen Augustinus. Gott habe Zeit und Raum als Bestandteile des Universums geschaffen. Kant wiederum meinte, daß uns Gott die Zeit als Hilfsmittel zum Verständnis der Welt mitgegeben habe, und er nennt das eine ursprüngliche Form des Empfindungsvermögens. Der Zeit komme also nur in unserer Seele Realität zu. Für Leibniz hingegen ist die Zeit nicht
in unserer Seele beheimatet, sondern sie entspricht einer physi‐ kalischen Realität außerhalb von uns, in welcher die Ereignisse aufeinanderfolgen. Natürlich sei diese Realität aber von Gott geschaffen. Für diese Philosophen hat es vor der Schöpfung keine Zeit gegeben. Gott war – oder vielmehr, Gott ist in der Ewigkeit, die außerhalb der Zeit steht.« »Und was sagen die Physiker dazu?« wollte Édouard wissen. »Der big bang und alles sowas ...« »Die Physiker lehren uns, daß die Zeit nicht überall mit der‐ selben Geschwindigkeit abläuft«, sagte Hector, der sich an sein Gespräch mit Hubert und an die Zukunftsreise erinnerte. Und Édouard sagte: »Die Physiker können ja wenigstens Ex‐ perimente machen, um ihre Theorien zu überprüfen und her‐ auszufinden, wo sie sich täuschen und wo sie vielleicht recht haben. In der Philosophie dagegen kann man alles und auch das Gegenteil davon behaupten!« »Ja«, meinte Eleonore, »aber die Philosophie lehrt uns den‐ ken. Und am Ende können wir uns auch unsere kleine persön‐ liche Lehre aussuchen.« »Zum Beispiel?« fragte Hector. Eleonore schaute ihn an, und er war nicht sicher, ob er die Frage hätte stellen sollen. »Zum Beispiel habe ich die Wahl getroffen, nur in der Gegen‐ wart zu leben. Ich vermeide es, an die Zukunft zu denken, und erst recht nicht denke ich an die Vergangenheit... wenn über‐ haupt, interessiert mich nur die unmittelbare Zukunft.« Und Eleonore tauchte ihren sehr blauen Blick in Hectors Augen. »Aber was wird aus Hilton?« fragte Hector. Eleonore lachte auf. »Ist das wieder so ein Psychiatertrick? Oh, Hilton geht es gut, aber er ist das genaue Gegenteil von mir: Er lebt mit seinen kleinen Blasen in der Vergangenheit, und wenn er daran denkt, eine Familie zu gründen, auch in der Zukunft.« Hector sagte sich, Eleonore hätte eigentlich Gefallen finden
müssen an Hilton. Auch er traf in seinem Leben leidenschaft‐ liche und gar nicht vernunftmäßige Entschlüsse: Er bohrte bei minus fünfzig Grad Löcher ins Eis oder, noch schwieriger, er wollte mit einer Frau wie Eleonore eine Familie gründen ... Aber so läuft es eben, die Liebe ist oftmals ungerecht, und Eleo‐ nore bevorzugte Hector, der doch nicht gerade Weltmeister in der Disziplin »leidenschaftliche Entschlüsse« war. »Wie wär̕s, wenn wir mit Champagner aufhören würden?« fragte Édouard, denn Hiltons kleine Blasen hatten andere Erin‐ nerungen in ihm geweckt, was einmal mehr beweist, daß die Vergangenheit nur in der Gegenwart existiert und sehr schnell zu unmittelbarer Zukunft werden kann, also zur Gegenwart des Zukünftigen, wenn Sie mir folgen können.
Hector gerät in Versuchung Nach dem Abendessen waren sie alle ziemlich erschöpft, be‐ sonders Édouard und Hector. Sie beschlossen, in ihr Hotel zu‐ rückzufahren. Es war dasselbe Hotel, in dem Hector bei seinem allerersten Aufenthalt in dieser Stadt gewohnt hatte – damals, als er Ying Li und dem alten Mönch begegnet war. Aber an diesem Abend hatte er genug Champagner getrunken, um sich unbeschwert und heiter zu fühlen, und ohnehin lenkte es ihn von seinen Erinnerungen ab, wenn er Édouard und Eleonore an seiner Seite hatte. Als sie aus dem Lift traten, wünschten sie sich eine gute Nacht, und dann strebte ein jeder seinem Zimmer zu, wobei es Hector gelang, Eleonores letztem Blick auszuweichen. Das Zimmer war sehr komfortabel und hatte ein großes Bett, das für mindestens zwei Personen gemacht schien. Hector fühlte sich ziemlich müde. Er dachte, daß er sich ruhig fünf Mi‐ nuten ausruhen könnte, ehe er ins Bad ging, und so streckte er sich völlig angezogen auf dem Bett aus. Das Kolloquium war inzwischen im selben großen Amphithea‐ ter weitergegangen, aber jetzt herrschte plötzlich eisige Kälte, und statt der schönen meerblauen Sitzkissen hatten sich die Zuhörer Tierfelle untergelegt. Wie Hector besonders auffiel, waren sie auch alle schrecklich alt geworden, mit kahlem Kopf oder weißem Haar, und viele der Augen, die ihn anschauten, machten schon einen leicht ge‐ trübten Eindruck. Er bemerkte eine kleine Alte, die noch ein schönes Lächeln hatte. Es war Marie‐Agnes. Was Paul anging,
so wirkte er dermaßen alt, unbeweglich und verstummt, daß man sich fragte, ob er nicht vielleicht schon gestorben war, aber dann klappte er ein Auge auf und machte Hector ein kleines Zeichen mit dem Kopf. Auch Olivier, der Biologe, war schreck‐ lich gealtert, und dennoch sah man ihn an einem marinierten Hering herumlutschen. Hector sagte sich, daß er wirklich Glück hatte, zunächst ein‐ mal wegen seines hübschen Gewandes aus Schneefuchspelzen, das schön warm hielt, aber auch, weil er zwar ebenfalls gealtert war – er konnte es an seinen ganz faltigen Händen erkennen –, sich aber trotzdem ausgezeichnet in Form fühlte. »Nun denn, ich werde Ihnen von einem Phänomen berichten, das die Psychiater sehr interessiert und ihnen eine Menge Arbeit beschert ... Die Rede ist von der midlife crisis. Aber ich sehe natürlich, daß mein Vortrag für Sie schon ein bißchen spät kommt.« Ein Gemurmel erhob sich im Halbrund. »Nein, nein«, rief Marie‐Agnes, »es ist keineswegs zu spät für uns!« »Sie hat absolut recht«, sagte Olivier, »wir stecken gerade mittendrin!« Und Hector kam sich ein bißchen wie ein Trottel vor: Er hatte ganz vergessen, daß all diese steinalten Leute dank der Fort‐ schritte der Medizin wirklich erst in der Mitte ihres Lebens an‐ gekommen waren. »Na gut«, sagte er, »die midlife crisis also ist jener Augenblick, in dem man beginnt, an das noch verbleibende Leben zu den‐ ken, denn wenn man jünger ist, macht man sich darüber weni‐ ger Gedanken, man lebt eher in der nahen Zukunft und grübelt nicht viel über die Grenzen des eigenen Lebens, selbst wenn man weiß, daß es eines Tages zu Ende sein wird.« »Kann man sagen, daß diese Krise einsetzt, wenn man seine Lebensfrist in Hunden zu zählen beginnt?« Hector erkannte Fernand, der in der hintersten Reihe stand.
Auch er war älter geworden und sah nun noch hagerer und steifer aus. Er hielt einen großen Hund an der Leine, und Hector sah, daß es Noumen war. Der hatte sich überhaupt nicht verändert und richtete seinen hellen und intelligenten Blick auf Hector. »Ja«, sagte Hector, »wenn man sein Leben in Hunden zählt, ist das vielleicht ein Anzeichen dafür. Aber es ist nicht das ein‐ zige Symptom. Man kann sagen, daß die midlife crisis der Mo‐ ment ist, an dem man immer häufiger Zwischenbilanz zieht und vor allem vergleicht, was man sich in jüngeren Jahren vor‐ genommen hatte und wie man jetzt lebt. Manchmal geht das gut aus, und man sagt sich am Ende, daß man das Erhoffte er‐ reicht oder es sogar besser getroffen hat.« »Genau das denke ich, auch wenn es nicht jeden Tag leicht ist«, rief eine Dame, und Hector erkannte Sabine, seine Patien‐ tin, die ihm oft sagte, daß das Leben vielleicht ein gigantischer Betrug war. Hector war überrascht: Sabine sah gar nicht so viel älter aus. Sie saß zwischen ihren beiden Kindern, einem jungen Mann und einer jungen Frau, die um die Zwanzig sein mußten und beide ein bißchen größer waren als ihre Mutter. »Bravo«, sagte Hector. »Aber manchmal geht es auch weni‐ ger gut aus, und man hat nicht erreicht, was man sich vorge‐ nommen hatte. Oder man hat es erreicht, aber es ist gar nicht so wunderbar, wie man es sich einst ausgemalt hatte. Und dann erzählen Sie uns Psychiatern, daß Sie mit dem, was Sie sich in Ihrer Jugend vom Leben erhofften, auf dem Holzweg waren, daß Sie von Ihren Eltern und Lehrern in die falsche Richtung geleitet wurden. Und jetzt bekommen Sie Lust, die Richtung zu ändern! Aber natürlich ist es schon ein bißchen spät dafür ...« »Das sage ich mir manchmal auch«, meinte Sabine. »Na, schau an«, rief Marie‐Agnes, »das beweist doch wohl, daß Kinderkriegen nicht alle Probleme aus der Welt schafft!« »Das hat auch niemand behauptet«, entgegnete Sabine leicht gereizt.
Plötzlich fühlte Hector eine Angst in sich aufsteigen, denn er wußte gar nicht mehr, ob er mit Clara Kinder bekommen hatte. Er machte schreckliche Anstrengungen, um sich zu erinnern, und währenddessen sprach er kein einziges Wort mehr. »Aber Herr Doktor«, sagte Marie‐Agnes, »reden Sie doch weiter!« »Jawohl«, stimmte Paul ein, »wir verlieren sonst Zeit!« »Achtung«, sagte Olivier, »unsere Telomere altern!« Aber Hector fühlte sich völlig blockiert. Hatte er mit Clara Kinder, ja oder nein? Paul begann auf dem Stapel mit Programmheften herumzu‐ trommeln, der ihm auf den Knien lag. Es war, als wollte er Hector damit aufwecken, und es machte immer lauter bumm – bumm‐bumm! Jemand klopfte an die Zimmertür, und Hector ging aufmachen. Er wußte schon, wer da vor ihm stehen würde, und sagte sich, daß er vielleicht besser nicht öffnen sollte, aber er war noch ein bißchen schläfrig, und während er all das dachte, hatte sein Körper schon die Tür aufgemacht. »Ich habe ein paarmal geklingelt«, sagte Eleonore, »aber weil keine Reaktion kam, bin ich unruhig geworden und habe mir gedacht, daß Sie sich nicht gut fühlen oder sonst was.« Sie hatte sich graziös in einen Sessel gesetzt und zündete sich eine Zigarette an. »Sie wissen schon, daß Tabak einen schneller altern läßt?« sagte Hector. »Ach, Sie erst! Natürlich weiß ich das, aber ich rauche nur in langen Abständen mal eine ... oder wenn ich nicht richtig weiß, was ich sagen soll.« Und wieder traf Eleonores blauer Blick Hector direkt in die Augen. Er fühlte, wie sein eigener Körper (derselbe, der gerade die Tür aufgemacht hatte) sich zu rühren begann, denn er hatte Eleonores Körper ganz in seiner Nähe gespürt, und es
war ein bißchen, als wenn zwei Tiere einander in der Nacht witterten. Er sagte sich, daß es ziemlich schwierig war, der Versuchung zu widerstehen, wenn sie einem so dicht auf den Pelz rückte. Das Gebet, das man ihn in seiner Kindheit hatte aufsagen las‐ sen, hatte das alles bedacht, denn es hieß darin zum Beispiel »Führe uns nicht in Versuchung.« Vielleicht hätte er es öfter aufsagen sollen! Er versuchte, sehr stark an Clara zu denken, aber es klappte nicht besonders, denn Eleonore, die ganz nahe bei ihm stand und ihn anschaute, hatte eine zu starke Präsenz. Und dann wachte Hector vollends auf, die Wirkung des Champagners war verflogen, und auf einen Schlag sah er über‐ deutlich alle Einzelheiten des Hotelzimmers, das so viele Erin‐ nerungen in ihm weckte, und selbst die Mattglastür des Bade‐ zimmers, hinter der er eines Morgens eine gewisse Person hatte singen hören. Und so geschah es, daß Hector keine Dummheiten anstellte und Clara treu blieb.
Édouard ist ein guter Schüler Am nächsten Morgen erwachte Hector sehr früh, und er hatte überhaupt keine gute Laune. Als er sich die Zähne putzte, sagte er sich, daß man daran vielieicht die wirklich guten Taten erkannte: Man fühlt sich hinterher nicht unbedingt besser. Er tröstete sich mit dem Gedanken, daß er sich jetzt vielleicht noch schlechter fühlen würde, wenn er, wie man so sagt, der Versuchung nachgegeben hätte. Er hätte Clara anrufen können, aber dann dachte er, daß er es besser bleiben ließ, denn er war ihr ein bißchen böse. Ein biß‐ chen böse, weil sie nicht mit nach China gekommen war; mit ihr wäre er der Versuchung gar nicht erst ausgesetzt gewesen. Und wenn so eine Versuchung nahte wie gestern abend, mußte er eine ziemlich schmerzhafte Anstrengung unternehmen, um ihr zu widerstehen. Er wußte, daß es ungerecht war, Clara deswe‐ gen böse zu sein, aber anrufen wollte er sie doch lieber später. Verständlicherweise hatte Hector an diesem Morgen keine große Lust, Eleonore zu sehen oder Édouard, der sie mitge‐ bracht hatte. Am besten war es, wenn er sofort zum Bahnhof des kleinen Zuges ging, um Neuigkeiten über den alten Mönch zu erfahren. Vorher aber würde er noch Trevor und Katherine anrufen. Sie haben inzwischen natürlich begriffen, daß der alte Chinese, welcher die Fahrkarten verkaufte, niemand anders als der alte Mönch war. Hector aber hatte ihn nicht auf Anhieb erkannt, denn wenn man erwartet, daß jemand stets mit einer orangen Decke über der Schulter bekleidet ist, und dann begegnet man ihm als Bahnhofsvorsteher, sieht man eben nicht, daß er es ist.
Der alte Mönch hingegen hatte Hector bestimmt erkannt, war‐ um aber hatte er kein Wort gesagt? Er wählte die Nummer von Trevor und Katherine. Hatten sie Neuigkeiten vom alten Mönch? »Ah«, sagte Trevor, »allerdings. Aber wir müßten uns ir‐ gendwo treffen, um darüber zu reden.« Und er gab Hector seine Adresse auf dieser Insel – ein Haus an einem der Berghänge. Sie erwarteten Hector zum Frühstück. Aber wer lief Hector über den Weg, als er aus dem Hotel trat? Édouard! »Ich konnte heute nacht überhaupt nicht einschlafen«, er‐ klärte er, »und da bin ich noch mal ausgegangen.« Hector fragte lieber nicht, wohin. Am Ende beschlossen sie, Trevor und Katherine zu zweit einen Besuch abzustatten. Und auf wen stießen sie, als sie aufs Taxi warteten? Auf Eleo‐ nore, die gerade von einem sehr zeitigen Morgenspaziergang zurückkehrte, der ihr ganz rosige Wangen beschert hatte, denn morgens ging Eleonore im Laufschritt spazieren. Am Abend zuvor hatte Hector nicht zu einem jener leeren Gläser werden wollen, die man Eleonore im Laufe ihres Lebens ins Gesicht geschleudert hatte, und so hatte er ihr sehr freundlich erklärt, weshalb es für sie beide besser war, wenn jeder in seinem Bett schlafen ging, selbst wenn in einer Paral‐ lelwelt oder, warum nicht, in einem früheren oder späteren Le‐ ben die Zeit für sie beide vielleicht auf andere Weise verflossen wäre. Und jetzt am Morgen schenkte Eleonore Hector ein kleines Lächeln, als wollte sie ihm zeigen, daß sie ihm nicht allzu böse war. Am Ende beschlossen sie, Trevor und Katherine zu dritt einen Besuch abzustatten. Trevor und Katherine erwarteten sie im Garten ihres Hauses, der ein wenig an einen Garten in ihrem Heimatland erinnerte; es gab eine Menge Blumen und vor allem herrliche Hortensien.
(Das waren jedenfalls die einzigen Blumen, die Hector mit Na‐ men kannte.) Sie nahmen das Frühstück in der Veranda ein, von der man eine schöne Aussicht über die Stadt hatte und weiter hinaus aufs Meer mit seinen Inseln oder fernen Küsten, und ganz im Hintergrund sah man die Berge, oder waren es Wolken? Es war schwer zu entscheiden. Katherine und Trevor erklärten, das Haus habe ihnen gehört, als sie in dieser Stadt gelebt hatten. Jetzt wohnten Freunde hier, und sie überließen ihnen das Haus, wenn sie in die Ferien fuhren. »Wieder in dieser Veranda zu sitzen«, sagte Katherine, »das ist für mich, als würde ich in der Zeit zurückreisen.« Wenn die Zeit die Maßzahl der Bewegung war und man die Bewegung in den Rückwärtsgang umschaltete, mochte man tatsächlich glauben, die Zeit zurückzudrehen. Aber es stimmte nicht ganz, denn anderswo schritt die Bewegung unterdessen voran, in den Telomeren beispielsweise. Der Tee, das weißblaue Porzellan, die perfekt getoasteten Brotscheiben und die Konfitüren mit all ihren Namen auf – berry, alles erinnerte Hector an die Zeit, als er ein kleiner Junge gewesen war und in den Ferien zum Englischlernen bei einer Familie gewohnt hatte, die ein bißchen so war wie Trevor und Katherine. »Eine solche Aussicht macht mir gleich wieder Lust aufs Flie‐ gen«, sagte Eleonore und blickte über die Stadt und das ferne Meer mit seinen unzähligen Inselchen. »Ah, Pilot zu sein, das ist immer mein Traum gewesen!« sagte Katherine. Sie unterhielt sich noch eine Weile mit Eleonore, und beide schienen sich sehr gut zu verstehen. Hector begriff, daß Katherine als junge Frau Eleonore geähnelt haben mußte. Und wenn das bedeuten sollte, daß Eleonore im Alter so ähnlich wie Katherine werden würde, dann hatte sie wirklich Glück. Natür‐ lich mußte sie bis dahin noch ihren Trevor finden ... äh, nein,
nicht den, an den Sie jetzt denken, denn der ist doch schon unter der Haube. Vom vielen Teetrinken mußte Hector auf die Toilette. Als er auf der Suche nach dem kleinen Raum durchs Haus ging, stieß er auf ein altes Schwarzweißfoto von Trevor und Katherine, das in einem Rahmen an der Wand hing. Man sah sie darauf in sehr jungen Jahren, wie sie mit Shorts inmitten einer Gruppe kleiner Kinder standen, die verwundert in die Kamera blickten und so arm aussahen, daß manche von ihnen beinahe nackt waren. Hinter ihnen gab es einen Bretterverschlag, der das Klassenzim‐ mer sein mußte, und wieder dahinter begann der Dschungel. Hector erinnerte sich daran, was Trevor gesagt hatte: Das Verrinnen der Zeit ließ sich ertragen, wenn man sich darum kümmerte zu ändern, was geändert werden konnte. Als er wieder am Tisch saß, begann Hector mit Trevor über den alten Mönch zu sprechen. »Jetzt wird es wirklich schwierig«, sagte Trevor. Dann erhob er sich und ging etwas holen. Édouard war währenddessen auf seinem Sessel eingeschla‐ fen, aber alle taten so, als würden sie es nicht merken. Trevor kam mit einer großen Landkarte zurück und breitete sie auf dem Tisch aus. Zuerst sah Hector nichts als Berge, dann Seen, und schließ‐ lich, in einer Ecke der Karte, war eine Grenze markiert. »Es ist eine alte Karte«, sagte Trevor, »denn jetzt gehört das alles zu China.« Die Gipfel trugen so schöne Namen wie Shishapangma, Gurla Mandhata oder Karakal. Trevor zeigte auf ein Tal zwischen drei Bergrücken, wo über‐ haupt keine Stadt und kein Dorf eingezeichnet waren und auch sonst nichts. Es lag ganz am Rand jenes Landes, das ein Teil von China geworden war. »Dort ist er geboren«, sagte Trevor, »und deshalb wollte er auch zum Sterben wieder dorthin zurück.«
Hector hatte schon eine Zeitlang so ein Gefühl gehabt, aber jetzt war es für ihn trotzdem ein kleiner Schock zu erfahren, daß der alte Mönch bald sterben würde. »Aber wie soll man da hinkommen?« »Mit dem Flugzeug natürlich«, sagte Eleonore. Und Hector merkte, daß sie sich die Landkarte vom ersten Augenblick an genau angeschaut hatte und in ihrem Kopf schon Berechnungen anstellte, denn obwohl Eleonore ihr Horo‐ skop las, glaubte sie doch, daß ein Teil ihrer nahen Zukunft da‐ von abhing, was sie in der allernächsten Gegenwart tat. In diesem Moment schreckte Édouard aus dem Schlaf hoch. »Oh, entschuldigen Sie bitte«, sagte er und wurde ganz rot, als er merkte, daß ihn alle anstarrten. Dann drehte er sich zu Hector hinüber. »Ich habe geträumt«, sagte er. »Ein Tal ... ein abgeschiedenes Tal ...« Hector dachte, daß der Schamane, sofern er in jenem Camp am Nordpol wieder aufgewacht war, sehr zufrieden sein konnte. Im Unterschied zu den vielen Lehrern, denen Hector kleine Pillen verschreiben mußte, konnte er sich nämlich sagen, er habe zumindest zwei gute Schüler gehabt.
Hector und die ewige Wiederkehr (Fortsetzung) Man hätte meinen können, ein Bär steuere das Flugzeug, aber natürlich war es Eleonore, die sich eine große Kapuze aus Pelz aufgesetzt hatte. Vielleicht kehrte auf der Welt ja wirklich alles immer wieder, sagte sich Hector. Was ihm ebenfalls diesen Gedanken eingab, war der sehr gute Champagner aus einer Flasche, die Édouard mitgenom‐ men hatte – und diesmal hatten sie richtige Sektschalen, was wiederum zeigt, daß die Welt bei einem neuen Anlauf manch‐ mal auch besser sein konnte als beim vorigen Durchgang, und das war ganz anders, als es sich der Philosoph mit dem riesigen Schnauzbart hatte vorstellen wollen. Ein bißchen weniger gut war hingegen, daß sie nicht durch die Polarnacht flogen, wo man ohnehin nichts sah und deshalb auch keine große Angst hatte, sondern daß sie diesmal zu allen Seiten von riesigen und furchteinflößenden Bergen umgeben waren. Jedesmal, wenn Hector und Édouard schon meinten, das Flugzeug würde mitsamt seinen wertvollen Passagieren an einem dieser Gipfel zerschellen, fand Eleonore doch noch eine Passage durch einen verschneiten Korridor aus Felsen, denn vor dem Abflug hatte sie sich die Landkarte genau angeschaut und alles exakt berechnet. Wahrscheinlich hatte sie auch noch ihr Horoskop gelesen. Hector erinnerte sich, daß der Philosoph mit dem großen Schnauzbart solch eine Lebensweise den Gro‐ ßen Stil nannte. Und auf Eleonore paßte das haargenau, da gab es keine Zweifel. »Das einzige Problem ist, daß ich nicht sicher bin, ob wir einen Landeplatz finden«, hatte sie gesagt.
Die große Schwierigkeit für einen Piloten besteht darin, daß man am Ende immer irgendwo landen muß. Eleonore dachte ihre ganze Flugreise von der Landung her, so wie der Philosoph mit dem kleinen Schnurrbart dachte, daß unser In‐ der‐Welt‐Sein nicht richtig auf der Höhe sein konnte, wenn wir uns nicht stets vor Augen hielten, daß es eines Tages in den Tod münden würde, daß unser In‐der‐Welt‐Sein demnach ein Sein‐zum‐Tode war, wenn Sie verstehen, was ich meine. Vielleicht war dem Philosophen diese Idee gekommen, als er das passende Alter für die midlife crisis erreicht hatte? Hector sagte sich, daß er es nachprüfen wollte, unter der Bedingung freilich, daß Eleonore ihr Flugzeug sicher auf die Erde brachte. In diesem Augenblick sah es so aus, als wollte sie über einen hohen Bergrücken hinwegfliegen, der ihnen schnell entgegen‐ kam. Wahrscheinlich hatte sie keine Passage gefunden, und das Flugzeug begann mit einem Geräusch der Anstrengung, das nicht gerade beruhigend war, in die Höhe zu steigen, aber dann waren die Berge doch zu hoch, als daß man sie hätte über‐ winden können, Édouard goß Hector schnell noch eine letzte Schale Champagner ein, sie prosteten sich zu und kreuzten die Finger. Und plötzlich geriet das Flugzeug in die Wolken, und sie sahen überhaupt nichts mehr und hatten viel weniger Angst, wenngleich ihnen immer noch ein bißchen zum Fürchten zu‐ mute war. Sie wußten, daß der Berg ganz nahe war, aber sie füh‐ lten es nicht mehr. Eleonore hatte ihre Kapuze weggeschoben, und Hector konnte deutlich sehen, daß auch sie nicht besonders entspannt wirkte. Und dann schien sich die Wolke zu verflüchtigen, das Flug‐ zeug kehrte in die Waagerechte zurück, und in der Ferne, zwi‐ schen den Wolken, erblickten sie ein sonnenbeschienenes Tal. »Da wären wir also«, sagte Eleonore. Hector schaute auf das sich nähernde Tal hinab, es lag wie ein
sanftgrüner Schmelzfluß inmitten gewaltiger Bergmassen. Er begriff, warum jemand, der diesen Ort einmal kennengelernt hatte, zum Sterben hierher zurückzukehren wünschte. Als sie noch näher kamen, sah Hector ein Dorf und, ein we‐ nig höher an der Bergflanke gelegen, ein Kloster. Und dann sah er, wie die Leute zusammenliefen und in den Himmel starrten, ein kleiner Junge trieb eine Herde langhaari‐ ger Büffel vor sich her, Mönche in orangen Gewändern stiegen auf einem Pfad vom Kloster ins Tal hinab, und Frauen in Um‐ hängen, die alle erdenklichen Farben hatten, wuschen im Fluß ihre Teppiche. Eleonore flog eine Kurve, und Hector und Édouard bewun‐ derten die feine Architektur des Klosters, die Schönheit der in der Sonne trocknenden Teppiche und die Freundlichkeit der Menschen, die ihnen ausladende Willkommensgesten entge‐ gensandten. Hector erinnerte sich auch, daß man die hiesigen Büffel Yaks nannte. Es war alles wunderbar, aber sie fanden es ein bißchen we‐ niger großartig, als sie spürten, daß Eleonore nicht immerzu Schleifen drehte, damit sie die landschaftlichen Schönheiten besser bewundern konnten, sondern weil sie einfach keinen Platz entdeckte, an dem sie mit ihrem kleinen Flugzeug landen konnte. Dabei war es sowohl mit Gleitflächen für den Schnee ausgestattet als auch mit kleinen ausfahrbaren Rädern. Am Ende des Tals erstreckte sich ein See. »So ein Mist!« rief Eleonore. »Hier hätte man ein Wasserflug‐ zeug gebraucht!« Hector wagte die Bemerkung, Eleonore hätte vor dem Start vielleicht noch etwas mehr nachdenken und ein solches Was‐ serflugzeug nehmen sollen. Sie erklärte ihm aber, daß der See nicht auf der Karte verzeichnet war. »Man kann versuchen, auf der Wasseroberfläche aufzuset‐ zen«, sagte sie, »das verringert die Gefahr eines Crashs. Aber was den Rückflug betrifft ...«
Hector stellte sich vor, er müßte den ganzen Rückweg mitten durch das gigantische Gebirge hindurch zu Fuß zurücklegen. Das war natürlich unmöglich. Und so sagte er sich am Ende, daß sie alle drei ihre Reise in diesem Tal beschließen würden, auf welche Weise auch immer.
Hector und das abgeschiedene Tal Am Ende machte Eleonore tatsächlich eine Wiese ausfindig, die ganz in der Nähe des Sees lag und einigermaßen eben war. Sie landeten, ohne allzusehr durchgeschüttelt zu werden, aber die Yaks bekamen einen tüchtigen Schreck und rannten in alle Richtungen davon. Eine kleine Prozession kam zu ihrer Begrüßung, Leute aus dem Dorf, Mönche, Kinder und sogar ein oder zwei Yaks, die vor Neugier wieder kehrtgemacht hatten und ziemlich zutrau‐ lich waren, schließlich wurden hier Tiere niemals getötet. Ein junger Mönch sprach Englisch. Er erklärte, daß die Be‐ wohner des Tals und die Yaks erst zum zweiten Mal in ihrem Leben ein Flugzeug sahen. Das erste war jene Maschine gewe‐ sen, die den alten Mönch vor einer Woche hergebracht hatte. »Und wie ist es wieder weggekommen?« fragte Eleonore. Der junge Mönch zeigte auf den See, und Hector begriff, daß jenes erste Flugzeug das Tal nie wieder verlassen würde. We‐ nigstens hatte man noch die Zeit gehabt, den alten Mönch her‐ auszuziehen. Sie machten sich zu Fuß in Richtung Dorf auf. Immer wieder sprangen kleine Kinder vor ihnen auf dem Weg herum, lachten und machten große Augen, denn auch wenn es schon das zweite Flugzeug war, das sie zu Gesicht bekommen hatten, so waren Hector, Eleonore und Édouard doch die ersten Weißen in diesem Tal. Über Eleonores blaue Augen kamen sie gar nicht mehr aus dem Staunen heraus. Hector bemerkte, daß die Kin‐ der, ganz wie ihre Eltern übrigens, mit allen möglichen wolle‐ nen Umhängen bekleidet waren, die man wahrscheinlich aus
Yakhaar gemacht hatte. Die Frauen waren genauso reizend wie bei den Inuit, aber großer. Sie hatten rosigere Wangen und hel‐ lere Augen, und sie trugen Halsketten mit vielen bunten Stei‐ nen. Alle hatten hier ein wunderbares Lächeln, und doch war in diesem Tal sicher noch niemand beim Zahnarzt gewesen. Und es gab eine Menge Kinder, denn die Frauen hatten hier das Recht, so viele zu bekommen, wie sie wollten – ganz anders als in dem Teil des Gebirges, der jetzt zu China gehörte. Hector dachte, daß man zwar immer von der Mittelmeerkost redete, aber ruhig auch einmal die hiesige Ernährungsweise untersuchen sollte. Als er im Dorf anlangte, fühlte er sich sehr erschöpft von dem kleinen Fußmarsch. Die Kinder jedoch, die bestimmt die doppelte Strecke zurückgelegt hatten, weil sie immerzu vor ihnen hin‐ und hergerannt waren, sahen überhaupt nicht müde aus – im Gegensatz zu Édouard, der sich sofort hinsetzen und am besten etwas trinken wollte. Der junge Mönch sagte, daß sie im Kloster etwas zu trinken bekommen würden, aber jetzt sollten sie sich lieber ein bißchen beeilen, wenn sie den alten Mönch noch zu sehen wünschten. Keine Zeit also, als Touristen durch dieses Dorf zu spazieren, dessen Häuser mit Dachziegeln aus Steinplatten gedeckt waren, oder sich mit seinen freundlichen Bewohnern zu unterhalten. Sie begannen den steilen, steinigen Pfad zu erklimmen, der zum Kloster hinaufführte. Hector und Édouard waren schnell außer Atem, aber Eleonore überhaupt nicht. »Das ist die Höhenluft«, sagte sie. »Sie sind nicht daran ge‐ wöhnt.« »Mir macht das nichts aus«, versicherte Édouard, denn für einen Mann ist es immer peinlich, wenn er zugeben soll, nicht so stark zu sein wie eine junge Frau. Im Kloster durchquerten sie mehrere Räume, deren Holzwände mit uralten Malereien bedeckt waren. Auf ihnen lieferten sich mit Eckzähnen be‐ wehrte Dämonen einen Kampf mit sehr schönen Göttern, die Ohrringe trugen, aber es waren auch gewöhnliche Leute dar‐
gestellt und manchmal sogar Affen. Es war alles viel kompli‐ zierter, als es sich hier anhört, aber weil der alte Mönch wartete, blieb ihnen nicht viel Zeit zum Angucken, und auch wir haben nicht genug Zeit, es Ihnen in allen Einzelheiten zu schildern. Sie kamen an Mönchen vorbei, die hingekauert beteten, und keiner von ihnen schien auch nur im geringsten darüber ver‐ wundert, Hector, Édouard und Eleonore zu erblicken. Und schließlich blieb der junge Mönch vor einer uralten Tür mit Holzschnitzereien stehen, auf welcher man eine gekrönte Figur sah, die inmitten eines großen Kreises auf einem Bein balancierte. Der junge Mönch klopfte, und ein anderer Mönch, der dicker und weniger jung war, öffnete ihnen die Tür. Édouard und Eleonore gaben Hector ein Zeichen, daß sie ihn lieber allein hineingehen lassen wollten. Hector trat ein paar Schritte vor. In einem sehr kargen Zimmerchen, den Kopf auf ein Kissen gebettet, lag der alte Mönch auf der Seite und blickte Hector lächelnd an.
Hector, der alte Mönch und die Zeit, die vergeht »Sie verstehen es hoffentlich«, sagte der alte Mönch. »Als man über mein wahres Alter zu reden begann, habe ich mir gesagt, daß ich lieber verschwinden sollte.« Hector entgegnete nichts, denn er wollte, daß die ganze Zeit vom Wort des alten Mönchs ausgefüllt wurde; es sah nämlich so aus, daß ihm nur noch ein kleiner Rest blieb, in dieser Welt wenigstens. »All diese Leute ...«, sagte der alte Mönch. »All diese armen Leute mit ihrer Furcht vor dem Tod. Ich bin so eine Art Symbol, verstehen Sie. Also habe ich mir gedacht, daß sich nach der Enthüllung meines wirklichen Alters eine Menge Leute auf meine Religion stürzen würden, als könnten sie aus ihr Langlebigkeit schöpfen.« Und Hector mußte gleich an die vielen Menschen in seinem Heimatland denken, die unbedingt Jahre auf Jahre häufen und die Krise in ihrer Lebensmitte so spät wie möglich durch‐ machen wollten. Manche praktizierten schon ein paar Schnip‐ sei von der Religion des alten Mönchs, ein bißchen so, als wenn sie zur Mittelmeerkost übergegangen wären – einfach, um nicht so schnell zu altern. »Jung bleiben zu wollen oder auf ein langes Leben zu hof‐ fen«, sagte der alte Mönch, »wären die schlechtesten Gründe, sich uns anzunähern.« Und er erinnerte daran, daß es eine große Fessel war, wenn man sich zu sehr ans Erdenleben klammerte, und das galt so‐ wohl für die Anhänger seiner Religion als auch für die von Hec‐ tors und beinahe allen übrigen auch.
Hector entgegnete darauf nichts, denn er selbst war nicht be‐ sonders fromm und praktizierte seine Religion nicht gerade eif‐ rig. Selbst vor einem alten Mönch, der einer anderen Religion angehörte, hätte es ihn ein bißchen verlegen gemacht, so etwas zugeben zu müssen. (Manche Leute werden Ihnen sagen, die Lehre des alten Mönchs sei gar keine Religion, aber darüber könnte man lange streiten, und solche Definitionsfragen brin‐ gen einen auch nicht groß weiter, wie schon Pascal gesagt hatte, der Philosoph, den Hector so gut leiden konnte.) Schließlich fragte Hector trotzdem, ob diese Geschichte mit dem Alter wahr sei. »Ach«, sagte der alte Mönch, »hat das am Ende viel zu be‐ deuten? Wie finden Sie den Tee? Hier trinkt man ihn mit Butter und gemahlener Gerste.« Aber der alte Mönch spürte, daß Hector, selbst wenn er nicht nachzufragen wagte, das mit dem Alter doch gern gewußt hätte. »Nun, weil ich immer jünger aussah, als ich war, ließ es sich relativ leicht einfädeln mit der Geschichte vom Vater, der ab‐ tritt, und dem halbvergessenen Sohn, der plötzlich auftaucht. Es war ja eine Zeit, in der es noch wenig Fotos gab und über‐ haupt noch kein Fernsehen, und ich mußte damals ziemlich viel umherziehen. Das hat mir ein paar Jahre der Freiheit ver‐ schafft ... und ich hatte die nötige Zeit, so einiges zu organi‐ sieren.« Der alte Mönch hustete, und er brauchte eine ganze Weile, bis er wieder Luft bekam. Hector hätte gern irgend etwas getan, aber er wußte auch, daß es nicht mehr viel zu tun gab. Der alte Mönch hatte nicht in einem Krankenzimmer inmitten von blin‐ kenden Apparaturen liegen wollen. »Es war ja alles notwendig damals«, sagte der alte Mönch. Hector fand es interessant zu erfahren, daß auch der alte Mönch ein Mann der Tat gewesen war, ganz wie Trevor und der römische General. Dabei gab es viele Leute, die es für gut hiel‐
ten, lockerzulassen, sich von allem zu lösen und viel Zeit mit der Suche nach innerer Heiterkeit zu verbringen, ohne sich noch groß zu rühren. Doch selbst das Mitgefühl mit unseren Feinden – noch so ein Gebot, das man auch in Hectors Religion fand – sollte uns nicht daran hindern, ihr Handeln zu durch‐ kreuzen und in dieses Ziel sogar viel Mühe zu investieren. Aber jetzt sah Hector deutlich, daß für den alten Mönch die Zeit des Handelns verstrichen war. »Und als Bahnhofsvorsteher, wie hat Ihnen das gefallen?« fragte Hector, um sich ein wenig von diesen traurigen Gedan‐ ken abzulenken. Der alte Mönch lachte leise auf. »Oh, sehr gut! Zunächst einmal war es das beste Mittel, um sich zu verbergen; wissen Sie, das beste Versteck ist manchmal ein Ort, an dem man für jedermann gut sichtbar ist. Selbst Sie haben mich ja nicht erkannt! Und Trevor und Katherine, meine lieben Freunde, auch nicht! Aber als ich Sie kommen sah, habe ich nichts gesagt, denn der Bahnhof wurde überwacht, und überhaupt war ich sicher, daß wir uns noch einmal begegnen würden ...« Hector bot dem alten Mönch ein bißchen Tee an, und er nahm einen Schluck. »Und dann hatte ich ja so viele Jahre fernab der Welt in jenem Kloster zugebracht, und die Jahre davor erst ...« Hector erinnerte sich, daß der alte Mönch viele Jahre an Or‐ ten verbracht hatte, wo man ihn zum richtigen Denken hatte zwingen wollen. Um das hinzubekommen, hatte man ihn für sehr lange Zeit in eine Einzelzelle gesperrt. Aber jetzt dachte der alte Mönch nicht mehr an all diese Jahre mit Blick auf eine kahle Mauer, sondern er mußte lächeln, als er von seinen Erlebnissen als Bahnhofsvorsteher berichtete. »Wie sich die Welt verändert hat! Vor allem die Frauen aus Ihren Ländern! Heutzutage sind alle viel mehr unterwegs als früher. Gleichzeitig habe ich gespürt, daß die meisten Men‐
schen nicht wissen, wonach sie eigentlich suchen. Mir ist klar‐ geworden, daß für viele Leute auf der Erde das Leben deutlich mehr Zerstreuungen zu bieten hat als früher; sie können es sich als ein unaufhörliches Emporsprudeln von Neuigkeiten organi‐ sieren, wie einer Ihrer Philosophen sagte. Reisen, mehrfache Berufswechsel, auch neue Liebschaften. Ich verstehe, daß die Menschen zu Gefangenen dieses Hoffens auf ständige Erneue‐ rung und Verbesserung geworden sind. Aber daß man älter wird und diese vielversprechende Welt bald verlassen muß, ist jetzt viel schwerer zu akzeptieren als zu einer Zeit, wo alle noch auf dem Lande wohnten in einer sehr rauhen Umgebung, die sich im Laufe eines Lebens kaum wandelte. Sie werden eine Menge Arbeit bekommen!« sagte der alte Mönch mit seinem kurzen Auflachen, das Hector so mochte. Ein wenig später kamen Édouard und Eleonore herein, und der alte Mönch sagte Eleonore, daß Katherine in ihrem Alter ganz ähnlich ausgesehen habe. Eleonore errötete, und dann fragte sie den alten Mönch, ob seiner Ansicht nach Gegenwart und Ewigkeit das gleiche wa‐ ren. Natürlich, sagte der alte Mönch, auch die Gegenwart sei Ewigkeit und gleichzeitig ein Nichts, denn löste sie sich nicht auf, kaum daß sie da war? »Es ist die Ewigkeit, das Nichts und zur gleichen Zeit alles, was existiert«, sagte der alte Mönch, »denn nichts existiert au‐ ßerhalb der Gegenwart. Und dieses große Ganze schließt wirk‐ lich alles in sich ein, also auch Sie und mich und sogar die Wol‐ ken, die Yaks und die Berge dort draußen ...« Er schloß die Augen, er war sehr erschöpft. Hector, Édouard und Eleonore schauten einander an und gaben sich gegenseitig das Zeichen zum Aufbruch. Der alte Mönch aber öffnete die Augen wieder und richtete seinen Blick auf Édouard. »Lieber Édouard«, sagte er, »mein schnellrechnender Kablu‐ nak ... Möchten Sie mein genaues Alter erfahren?«
Édouard aber sagte, er wollte es lieber nicht genau wissen, doch hätte er gern erfahren, wie der alte Mönch so lange jung geblieben war. »Gute Chromosomen«, sagte der alte Mönch und lächelte. Dann schloß er wieder die Augen und schlief ein.
Hector und die Ewigkeit Später am Tag kehrte Hector noch einmal zurück, um den alten Mönch zu sehen, und dann ein weiteres Mal am nächsten Mor‐ gen. Am dritten Tag sagte ihm der junge Mönch, daß er nicht mehr hineinzugehen brauche. Natürlich sollte es eine Zeremonie geben mit allen Mönchen, den Leuten vom Dorf und sogar mit den Yaks, die ja ein Teil des großen Ganzen waren. Hector wäre gern so lange geblieben, aber Eleonore sagte, sie sollten besser sofort abfliegen, weil man bei den Wolken, die sie über den Bergen heraufziehen sah, schwer sagen konnte, wann es das nächste Mal möglich sein würde – vielleicht nicht vor dem Frühling. Hector wollte es wirklich vermeiden, inmitten von Yaks lange Wochen mit Eleonore über Zeit und Ewigkeit reden zu müssen, denn er wußte, daß es ihm dann trotz aller Anstrengungen nicht gelungen wäre, die Rechte Wahrnehmung und die Rechte Le‐ bensführung aufrechtzuerhalten, und bestimmt hätte alles un‐ ter einer Decke aus Yakwolle geendet. So war er mit dem sofor‐ tigen Abflug einverstanden. Er flitzte ins Dorf, um Édouard zu holen. Der hatte nämlich genug Zeit gehabt, um das lokale Ge‐ bräu zu entdecken, eine Art vergorene Yakmilch, und unter den Männern des Dorfes hatte er neue Freunde gefunden, die sogar schon »alabonvot« zu rufen gelernt hatten. Die unverheirateten jungen Frauen fanden Édouard sehr spaßig, wie Hector, der ge‐ rade zur Mittagszeit hineinplatzte, unschwer feststellen konnte. Édouard sagte ihm, er wolle in diesem Tal bleiben. »Aber bist du denn verrückt«, sagte Hector, »was soll aus den Inuit werden?«
Édouard erklärte, daß die Inuit ihn nicht mehr nötig hatten. Inzwischen waren sie in der Lage, ihr Vertriebssystem ganz allein am Laufen zu halten. Auf jeden Fall würde er mit dem nächsten Flugzeug heimkehren, das irgendwann in diesem Tal vorbeikam, und weil er inzwischen eine schöne Landebahn ab‐ stecken würde, müßte es auch nicht auf dem See aufsetzen. Aber Hector verstand trotzdem nicht, weshalb sein Freund hierbleiben wollte. »Immer noch diese Sucht nach Neuem«, sagte Édouard. »Aber hier habe ich vielleicht die Möglichkeit, mich endgültig davon freizumachen.« »Willst du etwa unter die Mönche gehen?« »Ach wo«, sagte Édouard, »ich glaube, dafür bin ich nicht aus dem richtigen Holz geschnitzt! Einfach eine Luftveränderung. Und dann wird mir dies hier helfen, Zeit und Ewigkeit tiefer zu empfinden.« Und dabei zeigte er auf die riesigen Berge, die Mönche, die den Bergpfad hinabstiegen, und die Yaks, die friedlich über die Wiese spazierten. Hector fand, daß Édouard ziemlich gute Gründe genannt hatte. Er konnte ihn mit Eleonore ja immer noch heimholen, wenn der Winter vorbei war. Als er zum Flugzeug ging, nahm er sich noch kurz Zeit, um etwas in sein Notizbüchlein einzutragen: Zeit‐Etüde ohne Nummer: Versuchen Sie zu empfinden, daß die Gegenwart Ewigkeit ist und alles und nichts zur gleichen Zeit. Hector wußte, daß dies eine schwierige Übung war, aber wenn man jeden Tag ein bißchen trainierte, konnte sie einem in manchen Augenblicken glücken. Im Angesicht der verrinnen‐ den Zeit ließe es sich mit ihr entspannter leben. Er trat zu Eleo‐ nore, die sehr zufrieden aussah. Sie hatte eine kleine Wiese gefunden, von der man abheben konnte; wie Hector jedoch be‐ merkte, war es eigentlich mehr eine kurze, abschüssige Strecke, und gleich dahinter gähnte ein Abgrund, in den er lieber nicht hineingucken wollte.
»Natürlich werden wir erst im Sinken Geschwindigkeit auf‐ nehmen«, sagte Eleonore, »aber dann müßte es gehen.« Als das Flugzeug herabzufallen begann, mußte Hector sehr stark an den alten Mönch denken, der ihm gesagt hatte, daß es eine große Fessel sei, wenn man sich zu sehr an das Erdenleben klammerte, und die Sekunden schienen ihm sehr, sehr lange zu dauern. Und dann zog Eleonore die Maschine hoch, und sie nahmen ihren Weg über die Bergkette hinweg. Hector betrachtete sie noch lange, jene hohen Berge, die von der Sonne vergoldet dalagen. Und als er sich sagte, daß auch sie nur in der Gegenwart exi‐ stierten, spürte er für einen kurzen Augenblick die Ewigkeit.
Hector kehrt heim Als Hector den alten François wiedertraf, fragte er ihn, was ihm all die Philosophen genützt hätten, die er in den letzten Jahren noch einmal hervorgekramt oder erstmals gelesen hatte. »Es zwingt einen zum Selberdenken«, meinte der alte Fran‐ çois. Hector erinnerte sich, daß Eleonore das gleiche gesagt hatte. Da hörte Hector ein »François? Bist du da?« – und eine Dame öffnete die Tür des Sprechzimmers und steckte ihren Kopf hin‐ ein. An der Miene des alten François erriet Hector, was ihn daran so glücklich machte. Weil die Dame endlich einmal so alt war wie die Mütter jener jungen Frauen, die der alte François gewöhnlich liebte, sagte sich Hector, daß diese Geschichte ge‐ wisse Zukunftsaussichten hatte. Und er sagte sich auch, daß der alte François durch seine Philosophielektüre vielleicht zu einer anderen Art des Liebens gefunden hatte, und das wäre doch die Mühe wert gewesen. Hector sah auch seine Patienten wieder, und einige waren be‐ reits unruhig geworden, weil er so lange fortgeblieben war. Die Zeit war ihnen lang vorgekommen. Roger sagte zu Hector, er habe ihn in den Fernsehnachrichten gesehen. »Ich wußte gar nicht, daß Sie Mönche besuchen wollten«, meinte er. »Es sind ja nicht so richtig die gleichen wie hier«, sagte Hec‐ tor vorsichtig. »Das fragt sich noch!« sagte Roger. Und er erzählte Hector, daß bestimmte Leute geglaubt hat‐
ten, der Begründer von Hectors und Rogers Religion und der Begründer der Religion des alten Mönchs wären in Wahrheit ein und dieselbe Person gewesen, und sie wäre in zwei ver‐ schiedenen Epochen und zwei verschiedenen Weltgegenden erschienen, um eine Runde auf Erden zu drehen. Die Bewohner jener recht weit voneinander entfernten Gegenden hätten von diesem Erdenwallen jeweils auf ihre Weise berichtet. Sie hätten auch alles mit ihren ortsansässigen Religionen vermischt, die im übrigen nebenher weiter bestanden hatten. »Das weltumfassende Mitgefühl, selbst für die Feinde, die in‐ nere Ablösung von den Gütern dieser Welt, die Vorstellung von einem Ende der Zeiten«, sagte Roger, der offensichtlich sehr in Form war. Hector wußte nicht recht, was er davon halten sollte, aber er nahm sich vor, ein paar gute Bücher zum Thema zu lesen, falls er einmal die Zeit dazu hatte. Dann erklärte Roger, daß er unbedingt alle seine Medika‐ mente absetzen wolle, und Hector geriet für die übrigen Patienten des Tages in Verspätung. Später kam Hubert zu ihm in die Sprechstunde. Hector sah sofort, daß er sehr glücklich war. »Doktor, ich hatte doch recht, immer an unsere Liebe zu glau‐ ben! Es ist wie mit einem Kometen: Sie war fortgegangen, aber dann ist sie zurückgekommen!« Hector sagte sich, daß man den Vergleich mit dem Kometen auch noch ein bißchen weiter treiben konnte, und dann könnte man sagen, daß Huberts Frau eines Tages erneut verschwinden würde, aber das behielt er jetzt lieber für sich. Er wollte, daß Hubert die Gegenwart auskostete und es vielleicht schaffte, sich in der Zukunft eine bessere Gegenwart zu bereiten. Fernand hatte sich überhaupt nicht geändert, außer daß er jetzt zwei Hunde hatte. Hector war ein bißchen verwirrt, als er sah, daß der neue Hund von der gleichen Rasse war wie Nou‐ men. Man hätte ihn für dessen Zwillingsbruder halten können,
und er hatte denselben klaren und hellen Blick, der Hector nicht losließ. »In gewisser Weise kann ich meine Lebensfrist damit verdop‐ peln«, sagte Fernand mit einem kleinen Krächzen. »Jetzt blei‐ ben mir noch zweimal zweieinhalb Hunde ...« Und Hector begriff, daß dieses kleine Krächzen Fernands Lachen war. Er hatte es zum allerersten Mal gehört. Vielleicht würde Fernand jetzt sogar Freunde finden? Petit Hector sagte, er würde sich im Moment weniger lang‐ weilen in der Schule. »Wie kommt das?« fragte Hector. »Ich habe eine Freundin«, sagte Petit Hector. »Wir schieben uns immer Zettelchen zu.« Hector spürte, daß es Petit Hector sehr stolz machte, mit einem Mädchen seines Alters Zettel auszutauschen. Und das Lernen, werden Sie sagen? Einverstanden, aber ist es für je‐ manden, der im Leben glücklich sein will, nicht genauso wich‐ tig, sehr früh mit den Mädchen zu reden und sie verstehen zu lernen? Sabine wirkte gelöster als beim letzten Mal. »Jetzt habe ich mich doch auf Teilzeit setzen lassen«, sagte sie. »So stehe ich weniger unter Streß, und mir bleibt mehr Zeit für die Kinder. Natürlich ist es nicht gerade toll für die Karriere, aber mein Mann sagt, für ihn sei das kein Problem.« Hector wünschte Sabine, daß ihr Mann immer so denken möge, und er sagte sich, daß es wirklich immer die Frauen wa‐ ren, die im Leben die größten Risiken auf sich nahmen. Er sagte sich auch, daß es all diesen Leuten besser ging als bei seiner Abreise. Das zeigte doch, daß er sich ruhig noch einmal auf den Weg machen durfte. Auch Marie‐Agnes begegnete er wieder. »Ach, wissen Sie, ich habe ihm inzwischen den Laufpaß ge‐ geben, diesem Paul.« »Aber weshalb denn das?« fragte Hector.
Er konnte es nicht begreifen – Paul und Marie‐Agnes schie‐ nen sich doch so gut verstanden zu haben. »Wir hatten beide die gleiche Macke«, sagte Marie‐Agnes. »Immer mehr und mehr und mehr ... Wissen Sie, was ich meine?« Hector wußte es sehr gut. »Ich habe keine Lust, mich zu ändern«, sagte Marie‐Agnes. »Ich will so lange wie möglich jung bleiben. Aber ich möchte an der Seite eines Mannes leben, der sich überhaupt nicht den Kopf zerbricht über all das. So eine Art Intellektueller, der für seine Arbeit schwärmt und dem es schnurz ist, wenn seine Haare weiß werden und er einen Bierbauch kriegt ... na ja, nicht gleich so extrem. Oder vielleicht jemand aus der Kategorie ›graumelierter Cowboy, der nur an seine Pferde denkt‹ ...« Hector nahm sich vor, es eines Tages so einzurichten, daß sich Hubert und Marie‐Agnes in seinem Wartezimmer begegnen würden – eines Tages, wenn der Komet wieder verschwunden war.
Hector und Clara und ... Der Arzt oder eigentlich ein Freund von Hector hatte ihnen ge‐ sagt, das Baby scheine in Topform zu sein. Hector schaute auf das Foto, das in Claras Bauch aufgenommen worden war, und sagte sich, dies sei ein Beweis dafür, daß die Zeit keine Erfin‐ dung der Menschen war, denn an Zeit brauchte es so einiges, bis das Baby größer wurde und sich überhaupt der verstreichen‐ den Zeit bewußt werden konnte. Und dann würde es vielleicht sogar Deutsch lernen, warum nicht, und am Ende beschließen, philosophische Bücher über die Zeit zu schreiben ... Clara sah sich das Foto an und sagte: »Das ist ja unglaublich – man könnte sagen, das Baby ähnelt dir!« Hector sagte Pardon, er verstehe nicht, wieso das unglaublich sein solle. »Aber nein«, sagte Clara, »ich meinte nur, es ist unglaublich, daß es dir schon jetzt ähnelt!« Hector wußte, daß das Baby zu anderen Zeiten eher Clara ähneln würde und dann wieder mehr dem Vater, und eines Ta‐ ges schließlich würde es immer noch jung sein, wenn er und Clara es schon nicht mehr waren. Da merkte er, daß er noch eine sehr wichtige Zeit‐Etüde notieren mußte. Und so nahm Hector sein Büchlein und schrieb sie auf. Clara schaute ihm über die Schulter und lachte los. Hector sah erst Clara an, dann wieder das Foto ... Die Ewigkeit, sagte er sich. Auf daß dieser Augenblick Ewig‐ keit werde.
Hector hat es gefunden Hector spazierte durch einen Sommergarten. Der Himmel war von einem tiefen Blau, und in allen Richtungen waren weiße Wölkchen so perfekt angeordnet wie auf einer hübschen Tapisserie. Er folgte einer Allee, die von riesigen Hortensien gesäumt war und von anderen Blumen, deren Namen er nicht kannte. In der Ferne erblickte er einen Mann, der auf ihn zukam. Es war der alte Mönch. Der alte Mönch hielt etwas in der Hand, und als er näher kam, erkannte Hector sein kleines Notizbuch! Selbst wenn er wußte, daß der alte Mönch die Dinge immer freundlich aus‐ sprach, war er bei dem Gedanken, was er wohl von den kleinen Übungen hielt, ein wenig beunruhigt. Sie begannen nebeneinanderher zu spazieren, und Hector paßte auf, daß er nicht zu schnell ging. Der Garten hatte keine Grenzen, Hector spürte es deutlich. In der Ferne sah er Leute, die andere Alleen entlanggingen oder sich im Schatten ausruhten. »Wo sind wir?« fragte er. »An einem Ort Ihrer Religion«, sagte der alte Mönch. »Aber auch in meinem Traum«, sagte Hector. »Wer kann das so genau wissen ...«, meinte der alte Mönch. »Ich habe Ihre Zeit‐Übungen gelesen und fand sie interessant. Sie sind ein ganzes Stück vorangekommen.« »Danke«, sagte Hector. »Aber ich habe den Eindruck, daß ich noch keine alles übergreifende Sicht gefunden habe.« »Das ist normal«, sagte der alte Mönch, »Sie sind ja noch so
jung ...« Sie setzten sich auf eine steinerne Bank im Schatten einer großen Hortensie. »Es gibt zwei Ebenen«, sagte der alte Mönch. Hector war sehr glücklich, er fühlte deutlich, daß der alte Mönch ihm wichtige Dinge sagen würde. »Die erste Ebene praktizieren Sie in Ihrer Zivilisation. Sie umfaßt alles, was darauf hinausläuft, die Zeit besser zu orga‐ nisieren, die eigene Zeit nicht zu verschwenden und natürlich alles zu tun, um so lange wie möglich jung zu bleiben. Sie ha‐ ben ja Hunderte von Büchern, die Ihnen dabei helfen können.« »Und das nützt wirklich was?« fragte Hector. Der alte Mönch lachte kurz auf, und es war genau das kleine Auflachen, das Hector so liebte. »So lange man es nicht schafft, diese Ebene zu verlassen«, sagte er, »soll man doch ruhig das Bestmögliche daraus ma‐ chen.« Hector sagte sich, daß Paul, Marie‐Agnes und viele andere erfreut zur Kenntnis nehmen würden, daß ihre Anstrengungen in den Augen des alten Mönchs nicht lächerlich waren. »Natürlich bereitet es einen nicht gerade aufs Altern und auf den Tod vor«, sagte der alte Mönch, »und entgehen kann man diesen Dingen sowieso nicht.« »Und die zweite Ebene?« wollte Hector wissen. Der alte Mönch lächelte. »Erinnern Sie sich noch an Ihre letzte Etüde? Zu spüren, daß die Gegenwart Ewigkeit ist. Es ist immer heute.« »Ja«, sagte Hector. »Das ist schon eine Eintrittspforte«, meinte der alte Mönch. »Aber nicht jeder ist dafür geschaffen ...« Dies gehörte zu den Dingen, die Hector an dem alten Mönch mochte: Er wollte niemanden zwingen, die Dinge genauso zu sehen wie er. »Und dann die Loslösung ... Wenn man sich um jeden Preis loslösen und über den Dingen stehen will, kann es am Ende
soweit kommen, daß man sich zu sehr am Loslösen festklam‐ mert ...« Das erinnerte Hector daran, was er zu Eleonore über den Wunsch, der Zeit zu entfliehen, gesagt hatte – einen Wunsch, der seinerseits zum Gefängnis werden konnte. »Also?« sagte Hector. »Mir hat der eine Satz sehr gefallen: Andern, was geändert werden kann, hinnehmen, was nicht geändert werden kann, und zwischen beidem gut unterscheiden.« »Er ist nicht von mir«, sagte Hector. »Ich weiß, aber eine sehr gute Übung ist es trotzdem. Eine, die man täglich machen sollte. Loslassen ja, aber nicht untätig sein.« Loslassen, aber nicht untätig sein, wiederholte Hector. War das nicht ein ausgezeichneter Satz, um seine kleinen Übungen zu beschließen? »Aber das ist noch nicht alles«, sagte der alte Mönch. Mist, dachte Hector, er hatte den Stein der Weisen noch nicht gefunden, um der verstreichenden Zeit zu trotzen. »Und was fehlt?« fragte er. Der alte Mönch lächelte wieder. »Sie müssen noch ein wenig nachdenken, mein lieber Freund. Tätigsein, na gut, aber warum eigentlich? Warum nicht lieber Untätigkeit?« Hector wußte darauf keine Antwort. »Nun denn, auf Wiedersehen, wahrscheinlich ...«, sagte der alte Mönch. Und mit diesen Worten drehte er sich um und ging gemäch‐ lich von dannen. Hector aber sah, daß er das Notizbüchlein auf der Bank liegenlassen hatte. Er hob es auf und notierte: Loslassen, aber nicht untätig sein. Und wie der alte Mönch ihm geraten hatte, überlegte er weiter. Tätigsein, aber warum?
Er begann über Édouard nachzudenken. Sein Freund war nicht mehr so ungeduldig, seit er sich um die Inuit gekümmert hatte. Und dann dachte er an das Foto mit Trevor und Katherine inmitten einer Schar kleiner Kinder im Dschungel. Es fiel ihm auch wieder Eleonore ein, die sich immer freute, wenn sie jemanden in ihrem Flugzeug mitnehmen konnte. Und er mußte an Ying Li denken, die so glücklich wirkte, wenn sie ihren kleinen Sohn anschaute oder an das hübsche Haus dachte, in dem ihre Mutter und ihre Schwestern wohnten. Die zweite Ebene! – »Ja, ich habʹs gefunden!« sagte er sich. »Sprichst du jetzt schon im Schlaf?« fragte Clara. Doch als es Morgen wurde, merkte Hector, daß er den Schluß seines Traumes vergessen hatte. Er konnte sich einfach nicht mehr an die Idee erinnern, bei der er ausgerufen hatte »Ja, ich hab̕s gefunden!«. Aber wenn Sie dieses Buch aufmerksam gelesen haben, konn‐ ten Sie es sicher schon erraten.
Dank Mein Dank geht an meinen Vater und an Helene für ihr Zu‐ hören und ihre Ratschläge. Auch danke ich meinen Freunden aus den beiden Deltas, wo sich die Zeit so gut gemeinsam verbringen läßt. Sehr dankbar bin ich natürlich Odile Jacob, Bernard Gotlieb und ihrem ganzen Team für die Aufmerksamkeit, die sie Hec‐ tors neuen Abenteuern geschenkt haben. Und schließlich danke ich ganz besonders Eva Brenndörfer, Britta Egetemeier, Wolfgang Ferchl und dem ganzen Team des Piper Verlages, die Hectors Glück gemacht haben, und natür‐ lich Ralf Pannowitsch, Hectors Übersetzer, der ihn so gut ver‐ standen hat.
François Lelord ... wurde am 22. Juni 1953 in Paris geboren, sein Vater war Kin‐ derpsychiater, seine Mutter arbeitete in der Stadtverwaltung von Paris. »Mein Vater war ebenfalls Psychiater, und so verbrachte ich meine Kindheit und Jugend in einem Haus aus dem neunzehnten Jahrhundert, das zu der Klinik im sechsten Arrondissement gehörte, in der mein Vater tätig war. Seine Patienten arbeiteten – wie es damals üblich war – bei uns als Hausmädchen und Gärt‐ ner. Mit manchen von ihnen freundete ich mich an und gewöhnte mich an ihre delirierenden Ausbrüche: mit dem Gärtner, der sich unter den Rasensprenger legte, um sich vor Strahlungen vom Mars zu schützen, mit den Köchinnen, die am Herd mit denen sprachen, deren Stimmen sie immerzu hörten ... Bestimmt beeinflußten diese frühen Begegnungen Hectors Sicht auf die Welt.« ... Mit 11 Jahren liest er Freuds »Einführung in die Psycho‐ analyse«. ... 1981 bis 1985 Assistenzarzt am Centre Hospitalier Universi‐ taire de Tours. ... 1985 Doktor der Medizin, Certificat dʹEtudes Speciales de Psychiatrie. Thema der Doktorarbeit: Kognitive Therapiefor‐ men bei Depressionen.
... 1985 Das kalifornische Jahr. Post‐Doktorat an der Universität von Los Angeles bei Professor Robert Paul Liberman. »Kalifornien machte es mir leicht. Der blaue Himmel, Palmen, der Pazifik, die Hollywood‐Partys und zugleich die besten Ar‐ beitsbedingungen in einem hervorragenden Forschungsteam, das den Post‐Doktoranden mit dem schrecklichen Englisch so herzlich aufnahm ... Ich werde nostalgisch, sobald ich Santa Mo‐ nica, Pacific Palisades oder Malibu höre. Und erst mein Pontiac Le Mans Cabriolet...« ... 1986 bis 1988 Oberarzt am Hôpital Necker – Université René Descartes, Paris. ... 1989 bis 1996 Psychiater in Paris mit Arbeitsschwerpunkt in den Bereichen Angst, Depression, Streß. 1996 schließt Lelord seine Praxis, um sich und seinen Lesern die wirklich großen Fragen des Lebens zu beantworten. Er ist viel auf Reisen, besonders gerne in Asien. ... 1993 Veröffentlichung der »Contes d̕un psychiatre ordi‐ naire« bei Editions Odile Jacob: Fallstudien aus der Psychiatrie in Erzählform. Eine überarbeitete Ausgabe ist bei Piper in Vor‐ bereitung. ... 1996 bis 2004 Beratung der Personalabteilungen öffentlicher Institutionen und Firmen zu den Themen »Zufriedenheit im Beruf« und »Streß«. »Wie Hector war ich jahrelang als Berater für große Firmen tä‐ tig. Die Welt der Arbeit hat mich immer interessiert, und ich finde es nie langweilig, wenn jemand von seinem Berußalltag erzählt. Das Hickhack am Arbeitsplatz ist ein faszinierendes Thema, solange man nicht direkt betroffen ist! Zusammen mit
anderen Psychiatern arbeitete ich an verschiedenen empirischen Studien über Zufriedenheit im Beruf und Streß. Assessment und Recruiting waren allerdings nie mein Ding. Für Psychiater geht es doch um das Gegenteil: Wie bestehe ich ein Bewerbungs‐ gespräch, ohne über meine turbulente Vergangenheit sprechen zu müssen ...« ... 2002 »Hectors Reise oder die Suche nach dem Glück« er‐ scheint zunächst in Frankreich. Der Bestseller wird in vierzehn Länder verkauft und steht in Deutschland seit Erscheinen im Mai 2004 ganz oben auf der Bestsellerliste. »Hectors Erfolg in Deutschland macht mich glücklich. Ich fühle mich meinen so zahlreichen Lesern sehr verbunden, obwohl ich nicht einmal ihre Sprache spreche. Ich bedaure, Griechisch und Latein gelernt zu haben und nicht Deutsch. Ein Jammer, Aristo‐ teles wird meine Bücher niemals lesen ...« ... seit 2004 Psychiater am Hôpital Français in Hanoi, Vietnam, sowie am Centre Medical International (Fondation Alain Car‐ pentier) in Ho‐Chi‐Minh‐Stadt. »Asien ist eine Zäsur für mich, hier beginnt der zweite Teil mei‐ nes Lebens. Wenn alles neu ist, fühlt man sich selbst wie neuge‐ boren, also sehr jungt Und in Ländern wie Vietnam oder Kambo‐ dscha denkt man sehr viel über das Glück nach ...« »Viele fragen sich, ob Hector und ich ein und dieselbe Person sind. Da ist etwas Wahres dran, aber mir wird immer klarer: Die Person, der Hector wirklich ähnelt, ist mein Vater. Kürzlich sagte ein sehr kluger Freund, der Hectors Reise gelesen hatte, zu ihm: ›Hector, das bist doch eindeutig du!‹ Aber natürlich ähneln auch wir beide uns.« Zentaur 2007‐01‐26
INHALT Hector ist kein richtig junger Psychiater mehr..............6 Hector denkt nach.........................................................16 Hector ist gewissenhaft.................................................17 Hector und ein Herr, der die Zeit zurückdrehen will ..20 Hector und eine Dame, die jung bleiben möchte..........23 Hector liebt Clara, Clara liebt Hector ..........................27 Hector träumt ...............................................................29 Hector redet mit dem alten François ............................32 Hector entdeckt ein großes Geheimnis .........................36 Hector und der alte Mönch ..........................................41 Hector und Édouard sind gute Kumpel .......................43 Hector und die kleinen Blasen......................................47 Hector und die Gegenwart, die es nicht gibt................53 Hector reist in der Zeit umher .....................................63 Hector hat die Weisheit mit Löffeln gefressen..............65 Hector singt im Schnee.................................................69 Hector nimmt kein Blatt vor den Mund ......................73 Hector und die Perdurantisten.....................................77 Hector und die halbleeren Gläser .................................79 Clara und die Zeit, die vergeht.....................................83 Hector und das himmlische Königreich .......................88 Hector ist ein Hundepsychiater....................................91 Hector und die verlorene Zeit ......................................94 Hector gewinnt an Höhe ..............................................96 Hector redet mit seinem Nachbarn...............................99 Hector und das Lied der Zeit......................................102 Hector gewinnt Freunde.............................................106 Hector kommt im Fernsehen ......................................109
Hector singt in den Bergen.........................................111 Hector und die wiedergefundene Zeit ........................116 Hector und der Sterngucker .......................................120 Hector und die Reise in die Zukunft ..........................124 Hector und das Lotterielos..........................................127 Hector und Ying Li auf den Bergeshöhen ..................131 Hector schafft es nicht, in Ruhe zu träumen..............134 Hector macht die Bekanntschaft eines bedeutenden Herrn ..........................................................................138 Hector arbeitet sogar am Meeresstrand .....................142 Hector drückt wieder die Schulbank ..........................145 Hector erfährt, warum wir altern...............................151 Hector begreift, daß Diät nicht alles im Leben ist......154 Hector ruht sich aus ...................................................157 Hector und die beiden Hundertjährigen ....................160 Hector und die ewige Wiederkehr ..............................164 Hector ist ein guter Arzt ............................................167 Hector trinkt zu viel ...................................................169 Hector gerät in Versuchung .......................................178 Édouard ist ein guter Schüler ....................................183 Hector und die ewige Wiederkehr (Fortsetzung) .......188 Hector und das abgeschiedene Tal..............................192 Hector, der alte Mönch und die Zeit, die vergeht ......195 Hector und die Ewigkeit.............................................200 Hector kehrt heim .......................................................203 Hector und Clara und ... ............................................207 Hector hat es gefunden ...............................................208 Dank ...........................................................................212 François Lelord ...........................................................213