Dolly Buster Hard Cut Roman
Über die Autorin: Dolly Buster, als Katja-Nora Bochnikovä in Prag geboren, ist hauptberuflich Ikone, Diva, Star und Moderatorin. Neben ihrer schriftstellerischen Tätigkeit arbeitet sie als Produzentin von beliebten Videos.
Von Dolly Buster ist außerdem erschienen: Alles echt! Redaktion: Volker Ludewig Besuchen Sie uns im Internet: www.knaur.de Originalausgabe 2001 © 2001 bei Droemersche Verlagsanstalt Th. Knaur Nachf., München Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf - auch teilweise nur mit Genehmigung des Verlags wiedergegeben werden. Umschlaggestaltung: DBA1 Videovertrieb Umschlagabbildung: Dolly Buster GmbH Satz: Ventura Publisher im Verlag Druck und Bindung: Norhaven A/S Printed in Denmark ISBN 3-426-61963-6
hard cut (engl.): Bezeichnet in der Filmfachsprache einen harten Schnitt ohne Überblendung. »Heute in der Stadt: Porno-Superstar Lilly DeLight. Lilly steigt ab im Hotel Aster, wo sie um 12.3O Uhr zu einer Pressekonferenz lädt.« (Aus der BZ, 3O.O8.2OOO)
Prolog Die Erregung der Versammelten war so durchdringend wie der Duft der Lilien in den großzügig im Raum verstreuten Blumenarrangements. Ihre Erwartungen waren vermutlich so klebrig und süßlich wie der Geruch der vulgären Blume. »Friedhofsblumen«, dachte er und musste das erste Mal an diesem Tag lächeln. Symbole der Reinheit. Er schaute sich die Menschen um sich herum an - die Männer waren in der Überzahl. Sie taten cool, machten grobe Witze und rutschten doch unruhig auf ihren Stühlen hin und her. Blass sahen sie aus. Zerknittert. Ungeduldig. Die Nervosität der Anwesenden steckte ihn nicht an - sie beruhigte ihn. Er lehnte sich in seinem Stuhl zurück und streckte die Beine von sich. Sol ten die anderen auf ihre Uhren und immer wieder zur Tür schauen, er hatte Zeit. So lange wie er gewartet hatte, sie wieder zu sehen, fielen ein paar Minuten mehr oder weniger nicht mehr ins Gewicht. Er hatte lange Jahre auf diesen Moment hingearbeitet, und jetzt würde er ihn auskosten wie ein Kind, das am Weihnachtsabend auf die Bescherung wartet. Sie wieder zu sehen - von Angesicht zu Angesicht, darauf hatte er gewartet und gleich würde es so weit sein. Und dann wäre es nur noch eine Frage der Zeit, bis er sie retten würde, er Ösen. Auch dafür würde er nichts überstürzen. Er hatte Demut gelernt. Vertrauen in die Wege des Herrn. Ehrfurcht vor den Gesetzen Gottes. Diese Gesetze würde er ihr nahe bringen. Denn Gott war mit ihm. Und schon ganz bald würde sie auch wieder bei Gott sein.
Kapitel l »Jetzt mach doch mal bitte endlich, das Handy aus, ich kann so nicht arbeiten!« Sein Ton war so eindeutig, dass er nicht einmal wie Rumpelstilzchen mit dem Fuß aufstampfen musste. Tim befand sich mal wieder am Rande der Hysterie. Die ersten Anzeichen waren immer dieselben. Erst schürzte er die Lippen, was ihm gar nicht so gut stand. Eigentlich war er ein ganz Hübscher, aber mit dem verkniffenen Blick bekam er eine sauertöpfische Note, die nicht zu seinen Nasen- und Ohrenpiercings passte. Dann wedelte er mit den Händen, um zu signalisieren, dass sie arbeiten wollten. Wahrscheinlich sehnte er sich gerade furchtbar nach einer Zigarette, aber er hatte ein Nichtraucherseminar belegt und war fortan zwar vom Nikotin entwöhnt, aber immer etwas zappelig. Er war einer dieser Techno-Friseure, die an jedem verfügbaren Körperteil mehrfach gepierct sind, sodass man sie nicht in die Nähe eines Magneten kommen lassen durfte. Wenn ich Störgeräusche im Handy hatte, dann entstanden sie oft genug durch die Metallmenge an meinem Stylisten. Ging man mit ihm durch den Metalldetektor am Flughafen, wurde einem immer sofortige Aufmerksamkeit zuteil. Tatsächlich hätten wir am Vorabend beinahe den Flug nach Berlin verpasst, weil der Detektor nicht aufhörte zu schrillen, obwohl Tim fast allen Schmuck abgelegt hatte. Es war ihm sehr peinlich gewesen, der mittelalterlichen Flughafenangestellten mitzuteilen, dass er seit neuestem einen Prince-Albert in der Hose hatte und dieser - abgesehen von der Lärmbelästigung und der unerwünschten Aufmerksamkeit der anderen Passagiere auch noch Schmerzen verursachte. An diesem Tag galt auch für Tim, was man über die meisten Männer sagen kann - sie denken mit dem Schwanz. Und der hängt bekanntlich die meiste Zeit schlaff herunter.
»Kein Stress, okay?«, zischte ich, mit der Hand die Hörmuschel abdeckend und reichte ihm ein Haarteil, damit er etwas zu tun hatte. Während ich das Gespräch zu Ende brachte, beobachtete ich im Spiegel, wie er mit dem Toupierkamm rücksichtslos das blondierte Echthaar attackierte. Kaum, dass seine Hände beschäftigt waren, entspannte sich sein Mund, und er machte einen glücklichen, selbstvergessenen Eindruck. Ich wusste, dass ich mich jetzt beeilen musste, denn wenn ich ihm zu viel Zeit ließ, würde er es mit den Haarteilen übertreiben - das Ergebnis wäre, dass ich aussähe wie Marie Antoinette und mit fiesen Kopfschmerzen schlafen gehen würde. Unser gemeinsamer Rekord waren vier Haarteile und ein falscher Zopf. Damit war ich im Juni 1998 durch die Eröffnungsparty meines ersten Lilly-DeLight-Sex-Shops gewandelt und hatte ausgesehen wie das letzte Einhorn oder eine haarwuchsmittelabhängige Cousine von Rapunzel. Die Perücken waren so schwer und so fest verankert gewesen, dass ich in der Nacht vor Kopfschmerzen kaum einschlafen konnte. Ich warf Tim durch den Frisierspiegel einen Augenrunzelblick zu und konzentrierte mich wieder auf mein Telefongespräch. »Okay Rita - sag ihnen, dass ich noch ungefähr eine halbe Stunde brauche, dann erscheine ich in zwanzig Minuten, und alle sind happy, weil sie denken, dass ich mich ganz schrecklich für sie beeilt habe.« »Alles klar, Lilly. Bis gleich.« Ich klappte das Handy zu, nahm Tim den Dutt aus der Hand und legte ihn mir auf den Kopf. »Ich weiß nicht, wie du das kannst - die Leute so warten zu lassen. Macht dich das nicht nervös?« »Timmi, es reicht doch, wenn die anderen Leute nervös sind. Außerdem steigert Abwarten die Erregung«, erklärte ich ihm. Manchmal kam ich mir wie seine Mutter vor. »Dass du so ruhig sein kannst, wenn unten ein Saal voller Journalisten auf dich wartet... nee, ich könnte das nicht. Hast du keine Angst, dass die schlechte Laune bekommen?« »Schau mal: die bekommen ein Journalistengedeck, das in diesem Laden hundertsechzig Mark pro Person kostet. Gratis. Sie können Klatsch austauschen und was weiß ich noch. Und wenn wir das alles hinter uns haben, dann haben sie eine geile Story, und morgen geht ihre Auflage hoch, weil ich auf den Titelseiten bin. Mach bitte nicht so hoch am Hinterkopf.« Er drückte auf das honigblonde Haarteil, bis es gerade noch ein klitzekleines bisschen übertrieben, aber nicht mehr wie der Schädel einer Außerirdischen aussah. »Weißt du, den richtigen Stress, den hat Rita. Und der macht es Spaß.« Rita war seit anderthalb Jahren meine persönliche Assistentin und kümmerte sich um meinen Terminkalender und meine Öffentlichkeitsarbeit. Heldenhaft meisterte sie den Umgang mit Presse, Pornostars und sonstigen Promis und war sich auch nicht zu schade, mich vor Bekloppten abzuschirmen, die es zwangsläufig zu geben scheint, wenn ein Mädchen die Gabe hat, nicht nur
ihren Geist, sondern auch ihre Genitalien Gewinn bringend einzusetzen. Heute war es Ritas Aufgabe, die Reporter in Schach zu halten, die in einem Konferenzraum ein paar Meter Luftlinie entfernt gespannt auf die Mitteilung warteten, die Deutschlands Porno-Star Nummer eins (also ich) abzugeben hatte. Der Rahmen war auch mir neu. In der Regel empfing ich die Presse nicht in Rudeln, sondern in kleineren Einheiten. Normalerweise begleiteten sie mich in Zehnertrupps bei Lilly-DeLight-Sex-Shop-Eröffnungen, Kino-Premieren, Opernbällen, und Benefiz-Veranstaltungen zu Gunsten der AIDS-Forschung, des Tierschutzes und der Mukoviszidose-Stiftung, oder sie besuchten mich in Zweierspähtrupps für aufschlussreiche, reich bebilderte Homestorys in Villen, die ich extra für diesen Zweck mietete, denn mein Heim sollte für die Presse tabu bleiben. Der eine oder andere Einzelkämpfer mit Kamera hatte sich auch schon im Supermarkt an meine Fersen geheftet und mich vor dem Kartoffel-Chips-Display abgelichtet. Aber große Anlässe erfordern einen großen Auftritt und so musste es halt heute das Astor sein, die Vertreter der gesamtdeutschen Presse, das honigblonde Haarteil und das ärmellose hellgraue Cashmere-Twinset mit den passenden ManoloBlahnik-Pumps kombiniert mit einem herrlich understateten zartrosa Pashmina-Schal. Was ich vorhatte, erforderte ein gewissenhafteres Outfit, als für die Zehn-Jahres-Feier eines Autohauses erforderlich gewesen wäre. Und solche Events überließ ich gern den Nachkömmlingen meiner Branche: Kopf hoch Mädels – und Brust raus! Tim sinnierte kopfschüttelnd über die Berufswahl meiner Assistentin, während er mir die Locken und Strähnen arrangierte, als mit der Erkennungsmelodie vom »DenverClan« mein Handy klingelte. »Ich bin's.« Mein Mann Max. Kein »Hallo Engelchen«, kein »Na, Süße«, nicht einmal »Hey, Braut«. »Ich bin's.« Ein Teletubbie stapfte mit einem »Oh oh« von rechts nach links an meinem geistigen Auge vorüber. »Ganz schlechter Zeitpunkt Schatz - Tim bringt mich um, wenn ich nicht in drei Minuten fertig bin.« Tim nickte mir eifrig zu und begann mich mit dem Haar-Spray einzunebeln, das auch Kate Moss und Heather Locklear benutzten, weil er fand, dass ich es mir wert war. »Was ist denn, du klingst komisch.« »Wir müssen reden.« Seine Stimme hörte sich nicht angespannt an. Seine Stimme schien aus dem Grabe zu kommen. Aus einem arktischen Grab. »Was ist denn los?« »Das sag bitte du mir.« »Max, ich kann jetzt keine Rätselspiele machen - da unten warten achtzig Leute auf mich«, versuchte ich mich herauszureden, während ich fieberhaft überlegte, was ich getan haben könnte. Ich liebe meinen Mann, aber manchmal ist er etwas anstrengend. Meistens dann, wenn er glaubt Anlass zur Eifersucht zu haben. Da erschien wieder das Teletubbie und ging von links nach rechts durchs Bild. Oh oh ...
Der Brief. Er hatte den Brief von Ronny gefunden. »Ich halte hier etwas in den Händen, für das du mir eine Erklärung schuldig bist.« Max. Seit zwei Jahren der Mann meines Lebens. Ich hatte ihn kennen gelernt, als meine Produktionsfirma expandierte und ich einen neuen, größeren Firmensitz gesucht hatte. Ich fand ihn in den Gelben Seiten der Stadt Goslar unter der Rubrik »Immobilien«. Sein Name hatte mir auf Anhieb gefallen - Maximilian Winter nur eine Silbe trennte ihn von dem Romanhelden in Rebecca – und ich liebte das Buch und den Film von Hitchcock noch viel mehr. Bei unserem ersten Besichtigungstermin war er offensichtlich überrascht von mir gewesen. Wahrscheinlich hatte er erwartet, dass ich oben ohne erscheinen und ihm zur Begrüßung an die Hose gehen würde. Er schien zunächst etwas angespannt, dank seiner ausgezeichneten Umgangsformen gelang es ihm aber, dies fast völlig zu überspielen. Nach der dritten Besichtigung schmolz das Eis, als sich auf der Rückfahrt mein Boxer Mikey in seinen Jeep erbrach. Das war insofern gut so, als dass ich sonst wahrscheinlich noch heute mit diesem Mann Höflichkeiten austauschen und Gewerbeimmobilien besichtigen würde. Ich kann, was Gefühle angeht, manchmal ganz schön verklemmt sein und hätte bei Max nie den ersten Schritt gewagt. In der Notsituation fühlte er sich gefordert und fuhr uns schnurstracks zum Tierarzt. Ich kenne Typen einige davon Kollegen von mir -, die hätten Frau und Hund aus dem Wagen geschmissen und wären in die nächste Werkstatt gefahren, um erst mal die Sitze zu reinigen. Wie das Schicksal manchmal so spielt, fand ich an diesem Tag nicht nur zu Max, sondern darüber hinaus einen kompetenten Tierarzt (Tierbesitzer wissen, wie wichtig das ist) wie auch den ehemaligen Gutshof, in dem heute meine Firma residiert, direkt neben der Tierarzt-Praxis. Ein Dreier-Treffer! Ein Vierteljahr später heirateten wir Max und ich, nicht ich und der Doktor. Man sollte ja meinen, dass die Ehemänner von Porno-Stars gelernt haben, ihre Eifersucht zu zügeln. Aber nein. Es war und blieb für Max problematisch, dass ich in diesem Metier tätig bin, aber er hatte sich immer bemüht, es als das zu akzeptieren was es ist mein Job. Man durfte ihm nur nicht den Eindruck vermitteln, dass der Job mitunter auch Spaß macht. Sobald ich gut gelaunt von Dreharbeiten nach Hause kam, war seine Reaktion absehbar. Er bockte. Erst wurde er launisch, dann zynisch und schließlich meist beim Abendessen – feindselig genug, einen Streit vom Zaun zu brechen. Nach zwei Jahren Ehe hatten wir aufgehört, uns direkt über meinen Beruf zu streiten, aber unterschwellig war seine Eifersucht auf meine Co-Stars immer der Auslöser für den Krach. Ich konnte ja verstehen, dass es für ihn nicht einfach war, aber da ich persönlich nie Eifersucht verspürt habe (höchstens mal Neid, aber das ist was anderes), fällt es mir schwer, die Folgen davon zu ertragen. Ich hatte vernünftig argumentiert, dass er in seinem Beruf als Makler ja auch ständig andere Frauen trifft und die Möglichkeit hätte, mich nach Strich und Faden zu betrügen, dass es nur aber gar nicht einfallen würde, ihm das zu unterstellen. Und dass die Ausübung meines Berufes seit wir uns kannten, nie meine Gefühle für ihn verändert hatte. Aber Max war total verbohrt und irgendwann ließen wir das Thema sein. Fortan fand er dann andere Vorwände, sich mit mir anzulegen. Wir sind - vorsichtig ausgedrückt - ein
sehr Konflikt erprobtes Paar. Ich erzähle dies aus zweierlei Gründen: Erstens hatte ich gerade aus der aufreibenden Ehesituation meine Konsequenzen gezogen, und diese Konsequenzen waren ein Anlass für die Pressekonferenz, und zweitens hatte Max dieses eine einzige Mal mit seinem Vorwurf .leider Recht gehabt. Ronnys Brief... Ronny. Bis vor sechs Jahren der Mann meines Lebens. Kennen gelernt hatten wir uns in Peine im November 1990, als wir gerade im Porno-Geschäft anfingen. Die Tatsache, dass wir beide blutige Anfänger waren, hatte unsere Zusammenarbeit in den ersten Wochen besonders charmant und erfolgreich gemacht. Begegnet sind wir uns auf dem Set einer Greta-Giehse-Produktion. Es war ein trister grauer Tag, bis wir uns in einem Wohnzimmer mit Schrankwand und überdimensionierter Plastikledercouch gegenüberstanden. Er, mit nacktem, leicht gebräunten Oberkörper in einer zerfetzten Jeans, in der sich eine beachtliche Beule abzeichnete, die unter Beobachtung noch erschreckend zu wachsen schien. Ich in einem leopardengemusterten Acetat-Negligee, das ich mir schnellstmöglich vom Leibe reißen lassen wollte, um keinen Ausschlag zu kriegen. Es hatte nicht gefunkt zwischen Ronny und mir, es hatte geknallt. Seine blaugrünen Augen waren in meinen grünen versunken und das war es. Blitze zuckten am Firmament. Kometen regneten vom Himmel, die Engel trällerten für uns und der Schock der großen Liebe führte zu einer sensationell geilen Performance, die in den Videotheken immer noch ein Renner und längst Kult geworden ist. Ich bedauere sehr, dass an diesem Film nur Greta Giehse verdient. Ronny war von Natur aus sandblond, wie ein junger Gott gebaut und sah aus, als könne er aus dem schäbigen Set in Peine direkt nach Hollywood gehen und dort Karriere in Melrose Place oder Beverly Hills machen. Das wäre jedoch eine Schande gewesen, denn sein größtes Talent hing dort, wo amerikanische TV-Kameras keine Großeinstellungen machen. Da ich so etwas wie eine Expertin auf diesem Gebiet bin, kann ich mit Fug und Recht behaupten, dass Ronnys Schwanz der schönste und wohlproportionierteste war, den ich je gesehen habe. Und ich hatte oft und ausgiebig Gelegenheit dazu. Wir verließen den Set unserer ersten gemeinsamen Produktion als Paar und das blieben wir für die nächsten vier Jahre. Nein, wir steigerten uns: wir wurden zum Traumpaar. Ronny & Lilly, das waren Romeo und Julia im Pornoland, zwei blonde Strandkinder, aber ohne die störenden Familien, die die Verbindung nicht zulassen wollten. Wir waren ein Volltreffer. Ich, als Waage mit Aszendent Zwilling, er, als Zwilling mit Aszendent Waage. Wir hätten eigentlich nie reden müssen, denn im Grunde war zwischen uns immer alles klar. Trotzdem quatschten wir die Tage und Nächte durch. Ironisch, wenn man bedenkt, dass wir erst einmal in fünf Stellungen miteinander gefielet hatten, bevor wir das erste Wort wechselten ... Von Anfang an war es unser Plan gewesen, bei Greta Giehse viel viel Geld zu machen, bis wir genug zusammenhatten, um unsere eigene Produktion zu gründen, aber als es fast so weit war, hatte sich Ronny ein teures Hobby zugelegt: Koks. Unsere Liebe endete nicht, sie scheiterte an Ronnys neuer Vorliebe. Ich wäre nie im Traum auf den Gedanken gekommen, mich mit chemischen Substanzen zu pushen, ich hatte schon im Normalzustand ein Übermaß an Energie, aber für Ronny entwickelte es sich zum Normalfall, sich vor dem Dreh eine Line reinzuziehen und nach dem Dreh noch mal, und mit den anderen auf Partys zu gehen und sich auch dort noch den Kopf zuzudröhnen. Ich feierte zwar mit, aber es macht auf Dauer
keinen Spaß, mit Koksern unterwegs zu sein - sie haben auf einmal einen anderen Sinn für Humor, sind hyperaktiv und selbstüberzeugt und nach einer Weile einfach nur noch anstrengend und nervtötend. Ich stellte Ronny vor die Wahl und er traf die falsche. Ende der Liebesgeschichte, Anfang der Erfolgs-Story. Ich nahm einen Kredit auf und startete durch. Wenn ich zurückblicke, kann ich sagen, dass das einzig Gute am Trennungsschmerz war, dass ich jede freie Minute in die Arbeit steckte, um bloß nicht andauernd über sein Leid, mein Elend und den Schmerz, den ich ihm verursacht hatte, nachzudenken und heulend auf dem Sofa zu liegen. Er fehlte mir so, dass es manchmal körperlich wehtat. Ich wachte morgens auf und in den ersten Sekunden war alles gut, bis mir auf einmal klar wurde, dass er nicht neben mir lag und auch nicht wieder neben mir liegen würde. Dann hätte ich jedes Mal sofort zu heulen anfangen können, aber nach zwei Wochen des exzessiven Trauerns war keine Tränenflüssigkeit mehr übrig. Von da an schnappte ich mir morgens um sechs den Hund, der meist noch total verschlafen war, und trabte durch den Park, um mich dann in die Arbeit zu stürzen. Entgegen aller psychologischen Ratschläge habe ich verdrängt, verdrängt, verdrängt. Oder es zumindest tagtäglich aufs Heftigste versucht. Ich traf mich mit Bankern und Unternehmensberatern, schaute mir Exposees für Büroräume an, führte Einstellungsgespräche mit Angestellten, recherchierte, wie andere Firmen arbeiteten, und machte mir Gedanken, wie bestimmte Arbeitswege zu optimieren wären. Vielleicht wäre die Lilly DeLight GmbH nicht so erfolgreich geworden, wenn es mir damals nicht so beschissen gegangen wäre, als ich die schwere Aufgabe hatte, achtzehn Stunden täglich mit sinnvoller produktiver Tätigkeit zu füllen. Ich gab mir keine Zeit für Tränen. Und vielleicht haben die Psychologen Recht, und das ist letztlich der Grund, warum ich nie ganz über Ronny hinweggekommen bin. Mit der Firmengründung begann meine Karriere erst richtig zu boomen - seine begann sich innerhalb des nächsten Jahres in Luft aufzulösen. Irgendwann galt es als riskant, ihn zu buchen, weil man nie sicher sein konnte, ob er am Set auftauchen würde, und wenn: dann in welchem Zustand? Es gab Darstellerinnen, die sich schlichtweg weigerten, mit ihm zu spielen, und bald bekam er keine Rollen mehr und verschwand vollständig von der Bildfläche. Einige Kollegen, die ihn nie leiden konnten, behaupteten, er sei jetzt ganz am Ende, sei auf Heroin und würde auf Bahnhöfen anschaffen gehen, aber das waren sicher nichts als Gerüchte, und ich hatte nie jemanden getroffen, der sie bestätigte. Ich stand kurz davor, zur eisernen Jungfrau des Porno-Business ausgerufen zu werden, als ich Max kennen lernte, der so ziemlich das Gegenteil von Ronny war. Besonnen, dunkelhaarig-markant, gut situiert. Er, der Fels, ich, die Brandung. Wenn zwei Männer so grundverschieden sind, dann kann man es einem Mädchen doch nicht zum Vorwurf machen, wenn ihr Herz für beide schlägt, oder? Was Max jetzt in den Händen hielt, war der erste Brief, den ich je von Ronny bekommen habe und das, nachdem wir seit sechs Jahren keinerlei Kontakt gehabt hatten.
"Los Angeles im Juni 2000
Liebe Lilly, es ist nicht leicht für mich, Dir diesen Brief zu schreiben, aber ich will, das Du weißt, das ich Dir nicht böse war, weil Du mich rausgeschmissen hast. Ich war ein Schwein und hätte uns beide kaputtgemacht. Deshalb war es besser, ich mach nur mich kaputt. Denn Du bist ein Engel. Engel muss man beschützen. Ich bin jetzt seit einem Jahr clean (11 Monate, 17 Tage). War bei der Hazelden Foundation in Minnesota, die haben mir das Hirn wieder saubergewaschen. War harte, schmutzige Arbeit, aber ich bin jetzt ein neuer Mensch. Nur leider pleite. Das Therapie-Geld hat mir ein Typ geliehen, der mich aus der Gosse aufgelesen hat, und das meine ich ernst. LG letzten Sommer – da hatte mich mein Dealer zusammengeschlagen, kannst Dir ja denken wieso war ein bisschen im Rückstand. Ließ mich auf der Straße liegen. Glück gehabt, das David vorbeikam und mich aufgegabelt hat. Ich will ihm das Geld zurückzahlen, kann aber grad nicht. Deshalb bitte ich Dich, Lilly, gib mir einen Part, ich bin immer noch gut, jetzt besser als damals Habe oft an uns gedacht, als ich wieder zu mir kam, und weiß jetzt, dass ich nie jemanden so sehr geliebt habe wie Dich. Liebst du mich noch ein bisschen? Hilfst Du mir? In Liebe, Ronny"
Handschriftlicher Vermerk: "Anfrage bestätigen, Termine durchgeben (Drehbeginn, »Lilly DeLights Hexen«, August 2000), Kontoverbindung checken und DM 5.000 Vorschuss anweisen"
Da ich wie erwähnt Waage, Aszendent Zwilling, bin und da ich glaube, dass Liebe nicht stirbt, und da ein Freund mich um Hilfe bat, sagte ich ihm die Rolle zu. Dass Max bei der Vorstellung durchdrehte, dass ich die nächsten Wochen mit einem liebeshungrigen Ex-Kokser am Set verbringen würde, war bei seinem Charakterbild logisch. Und verzeihlich. Man konnte es drehen wie man wollte. Er hatte Recht, ich war im Unrecht, ich war der Täter, er das Opfer. Denn das Schlimmste: Ich freute mich wahnsinnig auf Ronny. »Ich kann dir das alles erklären, dreh jetzt bitte nicht gleich durch ...«, bat ich ihn. »Hier gibt es wohl nichts zu erklären, die Sache scheint ja eindeutig. Dein Ex kommt aus dem Schlamm gekrochen, und du nimmst ihn mit offenen Armen wieder auf.« »Ja soll ich ihn denn zurückweisen, wenn er Hilfe braucht?« »Seit wann bist du Mutter Teresa?« Wie macht man jemanden das Unbegreifliche begreiflich?
»Hör mal Max, ich kann eine Szene jetzt grad nicht brauchen. Wir können gerne morgen über alles reden.« Ich bemühte mich redlich, einen sanften Tonfall zu finden, während ich vor Aufregung fast zitterte. »Ich frage mich, ob es überhaupt noch etwas zu bereden gibt.« Und klick. Aufgelegt. Einfach so. Tim war während des Telefonats dezent drei Schritte in den Hintergrund getreten und vermied Augenkontakt mit mir. Ich schaute in den Spiegel, holte tief Luft, griff meinen Pashmina Schal und meine Handtasche und holte noch einmal tief Luft. Und noch einmal. Dann blinzelte ich ein paar Mal und die Tränen waren zurückgedrängt, ohne dass sie mir den Lidstrich ruiniert hatten. Jetzt schaute Tim zu mir rüber und murmelte: »Na dann kann's ja losgehen ...«
Kapitel 2 »Ich trete ab.« In der ersten Reihe klappten zwei Kinnladen runter, und im ganzen Saal wurden Augenbrauen hochgezogen, Stirnen gerunzelt, skeptisch Blicke ausgetauscht. Ich konzentrierte mich darauf, die Kunstpause zu dehnen und dabei ein völlig gleichgültiges Gesicht zu machen, weil ich wusste, dass das nachher im Fernsehen toll rüberkommen würde. Ich ließ meinen Blick langsam durch den Saal schweifen und erkannte das eine oder andere bekannte Gesicht. Der hübsche Homo von der BZ, die wuselige Fotografin der Hamburger Morgenpost, Gerd Bartels, der KlatschChef der Leute-Illustrierte (mit dem man wunderbar klatschen kann), ein süßer neuer Hiwi beim Drehteam von Exclusiv. Die Arme gingen so synchron hoch, wie man es sonst nur beim Wasserballett sieht. Rita, die neben mir saß, erteilte den Zuschlag der Dame von der Bunten Woche. »Lilly, was heißt, Sie treten ab?« »Das heißt, dass ich nicht mehr gedenke, als Pornodarstellerin zu arbeiten.« Die Männer schauten sich an, um zu sehen ob ihren Kollegen auch das Pokerface entglitt und Enttäuschung in ihren Zügen flackerte. Voller Genugtuung stellte ich fest, dass dies der Fall war. »Wie kam es zu dieser Entscheidung?« »Das hat sowohl persönliche wie auch professionelle Gründe.« Style-Magazin: »Können Sie das ausführen?« »Eigentlich lasse ich mich ja lieber ausführen, aber okay ... Schauen Sie, ich werde dieses Jahr dreißig. Ich habe alles erreicht, was ich in dieser Branche als Darstellerin
erreichen konnte, und man muss wissen, wann es Zeit ist abzutreten und dem Nachwuchs eine Chance zu geben.« Gerd Bartels von der Leafe-Illustrierte war am Zug: »Das war der professionelle Grund, wie steht es mit der privaten Seite?« »Ich möchte Sex nur noch als Hobby betreiben. Und zwar ausschließlich mit meinem Mann.« Financial Times Deutschland: »Was bedeutet das für Ihre Firma? Verkaufen Sie?« »Nein. Die Lilly DeLight GmbH wird es natürlich weiterhin geben, und ich habe jetzt viel mehr Zeit, mich intensiv um die Firma zu kümmern und zum Beispiel neue Produktreihen zu entwickeln und unseren Internet-Auftritt zu optimieren. Darüber hinaus werde ich das Wissen, das ich vor der Kamera gesammelt habe, jetzt verstärkt als Produzentin einbringen und beginne Anfang nächster Woche mit den Arbeiten zu der ersten Produktion, in der ich auch Regie führen werde. Und für das nächste Jahr plane ich den Gang an die Börse.« Die Bunte Woche: »Ist es wahr, dass Sie mit RTL 2 bezüglich der Moderation eines neuen Erotik-Magazins verhandeln?« »Da bringen Sie etwas durcheinander. Ich verhandle zwar mit einem namhaften TVSender, aber es geht nicht um eine Erotikshow. Die haben ihre besten Zeiten längst hinter sich, wenn Sie mich fragen.« »Was halten Sie von Produzentinnen, die auch jenseits der sagen wir neundunddreißig noch in ihren eigenen Produktionen spielen?« Die Frage gefiel mir und ich schaute mir die Journalistin, die sie gestellt hatte, genauer an. Sie saß am Sät 7-Tisch, aber ich kannte sie aus einem anderen Zusammenhang. Vornehm-blasses Gesicht, ein harter Zug um die paloma-picassoroten Lippen, ein schwarz gefärbter Pagenkopf, diese raue Stimme ... Elke Brenner! Sie schien immer noch in den Achtzigern zu leben, nur dass sie zu alt war für ein Styling wie die Mädchen auf den Fotos von Helmut Newton. Wie kam man denn vom ELLE-Magazin in die Redaktion von News Alive, einer Sendung, die sich neben der Promiberichterstattung auf Boulevard-Interviews mit Unfallopfern, Hinterbliebenen und vom Schicksal Gezeichneten spezialisierte? »Hallo Frau Brenner! Hier gibt's doch keine Kollegenschelte!« Ich lächelte süffisant. »Wenn Greta Giehse meint, in ihren eigenen Pornos spielen zu müssen, dann kann ihr das niemand verbieten. Inge Meysel hat ja auch noch niemand ins Altenheim gesteckt.« Ich zuckte gemächlich die Schultern, was meinem Dekolletee immer sehr schmeichelt. Und natürlich klickten die Kameras in diesem Moment besonders rasant. Rita trat mir unter dem Tisch gegen die Wade und Elke Brenner lächelte mich an. So freundlich sie konnte. Und das war immer noch frostig. BZ: »Das hört sich an, als haben Sie - sagen wir – Animositäten gegen Frau Giehse?« Lilly: »Nein, und auch nicht gegen Frau Meysel, wenn das Ihre nächste Frage ist. Die leisten beide noch gute Arbeit. Aber schauen Sie: Es wäre doch schrecklich, wenn
alle Fernsehgroßmütter nur von Inge gespielt würden und in allen Pornos Greta Giehse oder Lilly DeLight mitmachen. Es gibt doch so viele Darstellerinnen und Produzentinnen, die auch eine Chance verdient haben! Ich habe jetzt sechs Jahre lang in meinen eigenen Filmen gespielt und das reicht. Ich möchte jedenfalls nicht die Porno-Oma der Nation werden.« Ich warf Rita einen kurzen Seitenblick zu. Sie war ziemlich blass. Vielleicht sollte ich einen Gang zurückschalten. Jetzt meldete sich wieder Gerd Bartels von der Leute zu Wort, und ich freute mich schon. Er lieferte immer die besten Vorlagen. »Frau DeLight, wie erklären Sie sich eigentlich, dass Ihre Firma innerhalb von zwei Jahren die Giehse-Produktion vom Platz eins der deutschen Porno-Produktionen verdrängt hat und sich nach wie vor an der Spitze hält? Was ist das Geheimnis Ihres Erfolgs?« Ich musste grinsen. Die Frage hätte nicht besser sein können, wenn ich sie selbst geschrieben hätte. »Auf diese Frage gibt es mehrere Antworten. Erst mal eine Gegenfrage: Warum ist Beate Uhse erfolgreich?« Er setzte schon zur Antwort an, aber ich war schneller. »Weil sie viel Zeit hatte, ihre Firma aufzubauen, und weil sie sich immer den Wünschen des Publikums angepasst hat. Das ist sicher auch ein Grund, warum sie nie eine Karriere als Darstellerin verfolgt hat - sie weiß schließlich, was sich verkauft, und ist sehr uneitel. Ich weiß auch, was die Leute wollen, und ich bemühe mich, grundsätzlich Top-Qualität abzuliefern. Was die Locations angeht, die Storys und natürlich auch die Darsteller. Ich steh auf Qualität. Und deshalb liefere ich sie auch. Ich war nie aus Eitelkeit Darstellerin, sondern aus Professionalität. Diese Professionalität wird auch immer prägendes Merkmal meiner Firma sein. Wenn man etwas gut kann, dann muss man damit Geld verdienen. Und wenn man etwas sehr gut kann, dann muss auch sehr viel Geld dabei rausspringen.« »Was ist Ihr nächstes Projekt?« »Übermorgen beginne ich in Koproduktion mit TV l mit den Dreharbeiten an einem neuen Video, und es freut mich sehr, Ihnen mitteilen zu können, dass ich einen der besten Darsteller aus diesem Metier überzeugen konnte, sein Comeback zu starten. Ronny Sanchez ist zurück, meine Lieben, und ich kann euch sagen - er ist in TopForm!« (So hoffte ich inständig ...) Elke Brenner war gut vorbereitet, aber schien nicht recht bei der Sache zu sein. Sie wirkte mit einem Mal fahrig und konnte kaum meinen Blick halten, als ich ihr einen Augenaufschlag widmete. »Sie waren doch jahrelang ein Paar - ist das ein Fall von >On revient toujours a son premier amour?< « »Meine Französischkenntnisse erstrecken sich leider auf ein anderes Feld, Frau Brenner. Können Sie das mal übersetzen?« »Es heißt, man kehrt immer zu seiner ersten Liebe zurück.« Ich griff nach dem erstbesten Satz Französisch, der mir einfiel.
»>Merci mon ami, es war wunderschönoh lala< und vielleicht >plus ça change, plus ça reste la même choseEine Laus über die Leber gelaufen?< Wo kommt sie her, wo geht sie hin? Als Nächstes zur Niere oder zur Milz? Was sucht sie dort, ausgerechnet auf der Leber?« Ich schaute durch den Raum und sah aus dem Fenster vor der Straße Elke Brenner stehen. Mit einer schlecht imitierten Louis-Vuitton-Umhängetasche, die bei ihr aussah wie ein Hexenkoffer. Sie blickte in das Panoramafenster und ich nickte ihr zu, aber sie schien mich nicht zu sehen. Dann drehte sie sich abrupt zu ihrer Rechten, als habe sie jemand gerufen, und verschwand aus meinem Blickfeld. »Ich hatte vor der Pressekonferenz eine kleine Auseinandersetzung. Weiter nichts.« »Ärger mit Max?«
»Siehst du eigentlich Johann noch?« »Ahhhh, nein.« »Kennst du Elke Brenner?« »Ja klar. Die ist in der Redaktion von News Alive.« »War sie nicht mal beim FAKT?« »Ziemlich lange, wenn ich mich nicht irre. In der Kultur, und sie hat oft das FAKT Gespräch gemacht.« »Ist das denn kein Abstieg, vom FAKT zum Infotainment?« »Na klar. Da war auch irgendwas. Sie ist jedenfalls nicht freiwillig gegangen.« »96 war sie nicht beim FAKT, da hat sie mich für RTL interviewt, aber die haben das Gespräch nie gesendet. Ich hatte Einspruchsrecht - sie hat mich in dem Interview als blöde geldgeile Kuh dargestellt. Ich dachte, mich tritt ein Pferd, als ich sah, was sie aus meinen Antworten gemacht hat. Ziemlich unverschämt.« »So was höre ich nicht zum ersten Mal über die Brenner. Frauke und Bärbel meinten auch, die Brenner sei ziemlich stutenbissig.« »Kein schöner Zug.« »Wusstest du, dass sie mal Model für Helmut Newton war?« »Das ist ja witzig, genau das hab ich gedacht, als ich sie vorhin gesehen habe. Ein Newton-Model zwanzig Jahre danach.« »Vor zwanzig Jahren war sie fast Jetset. Ganz nah dran. Wenn du dir die Münchner Partykolumnen aus der Zeit anschaust, ist sie auf jedem dritten Bild dabei. Sie hatte wohl auch was mit diesem Herz-Verpflanzungs-Doktor.« »Christian Bernhard, Barnhard oder so?« »Ja, so was. Und dann mit diesem Promi-Arzt - der Name fällt mir nicht mehr ein. Irrenarzt oder Schönheitschirurg, ich kann mich nicht erinnern - irgendwas mit dem Kopf jedenfalls. Ein Kollege hat mir mal erzählt, dass man sie damals >Lernschwester Elke< nannte, weil sie sich immer an reiche Arzte ranmachte.« Der Kellner hatte einen Tisch für uns eingedeckt und servierte nun das Essen. Tim und Rita hatten ihre Karten wieder zusammengepackt. Ich verspürte den starken Impuls, Max anzurufen, aber weder hatte ich den Mut, noch gönnte ich ihm, die Erste zu sein, die klein beigibt. Obwohl es eine meiner Ehemaximen war, jeden Streit vor dem Zubettgehen zu bereinigen, war ich noch nicht so weit. Es war gerade erst früher Nachmittag.
»Wie ist das eigentlich mit Greta und dir. Hattet ihr überhaupt noch Kontakt, seit du bei ihr aufgehört hast?«, fragte Gerd und kaute geräuschvoll auf einer Stange Sellerie. »Nicht direkt. Die ist mir immer noch böse, dass ich nicht bei ihrer Produktion geblieben bin. Ich habe wirklich nichts gegen die Frau, aber sie hat sich mir gegenüber nie fair verhalten.« »Inwiefern?« »Sie ist nachtragend. Meine Herren. Und zwar richtig. Die macht mich allein dafür verantwortlich, dass sie nicht mehr die Nummer eins ist. Als ob ich was dafür könnte. Wenn sie rechtzeitig angefangen hätte umzudenken, dann könnten wir uns den Platz an der Spitze auch teilen. Aber flexibel war die nie. Und du siehst ja, was sie davon hat.« »Scheint, als ob sie es persönlich genommen hat, dass du damals deine eigene Firma gegründet hast.« »Absolut. Wenn ihre Firma mir größere Chancen und mehr Geld geboten hätte, wäre ich vielleicht ein oder zwei Jahre länger dabeigeblieben, aber letztlich musste ich ja auch an meine Zukunft denken. Ich meine, wie lange kann man vor der Kamera stehen?« »Man sieht es ja bei ihr. Irgendwann wollen die Leute etwas Frisches.« »Und ehe jemand von mir behauptet, ich hätte meinen Höhepunkt überschritten, wechsle ich lieber die Fronten.« Tim lachte auf. »Was denn?«, wollte ich wissen. »Ich stelle mir gerade bildlich vor, wie du deinen Höhepunkt überschreitest.« Er lachte und lachte und konnte gar nicht mehr aufhören. Rita mischte sich ein. »Pass auf, Tim, sie guckt ganz böse. Als Nächstes schickt sie dir noch eine Laus über die Leber!« »Oder ich schiebe dich ab und du musst bei Greta anheuern.« »Bitte nicht, bitte nicht- Blondinen machen mehr Spaß!« Gerd meldete sich wieder zu Wort. »Stimmt es eigentlich, dass sie versucht hat, dich zu sabotieren?« »Das behältst du jetzt aber für dich, okay?« »Okay.«
Ich verfiel in einen Flüsterton. »Also - wenn ich ihr irgendwas hätte nachweisen können, dann hätte ich sie verklagt. Ein paar Dinger, die sie sich geleistet hat, waren zwar nicht koscher, aber auch nicht wirklich strafbar. Ist dir schon mal aufgefallen, dass kein Darsteller, der in meinen Produktionen mitmacht, je wieder für Greta gearbeitet hat?« Er schaute stirnrunzelnd in die Luft. »Jetzt, wo du's sagst...« »Das liegt nur zum Teil daran, dass ich besser zahle und das Catering am Drehort immer vom Feinsten ist. Sie hat eine Sperre verhängt. Wer mit mir gearbeitet hat, bekommt bei ihr keinen Job. Bums aus. In den ersten zwei Jahren war das für mich gar nicht so einfach. Die Top-Stars wollten es erst nicht riskieren, bei mir zu spielen. Konnte ja damals keiner wissen, ob das was wird, mit meiner Firma. Was, wenn Lilly Pleite macht? Dann hätten sie zwei Auftraggeber weniger gehabt. Der Witz ist, damit ist sich Greta gegen den eigenen Karren gefahren. Ich habe fast nur mit Anfängern gearbeitet, und das war zu einer Zeit, wo die Leute wirklich neue Gesichter sehen wollten.« Tim fühlte sich zu einer Zwischenbemerkung verpflichtet: »Gesichter?« Ich ignorierte die Frage und bedachte Tim nur mit einem genervten Blick. »Und letztlich hat sie so dafür gesorgt, dass meine Firma einen prima Start hatte.« »Und was waren das für fast-kriminelle Aktionen?« »Ich kann es natürlich nicht beweisen, aber ich glaube, dass sie die Gerüchte gestreut hat, die Ronnys Karriere kaputt gemacht haben. Da war von Drogen die Rede und von Ich-weiß-nicht-was-noch. Ich möchte gar nicht wissen, was sie über mich in Umlauf gebracht hat. Sie hat mit der halben Industrie geklüngelt, um mich auszubooten, aber die Industrie ist ja nicht blöd, sondern profitorientiert. Die interessiert doch nicht, mit wem Pornoproduzentin XY eine Fehde hat. Das lässt die ganz unbeeindruckt.« »Meine Güte, was muss diese Frau verbittert sein.« »Bitte nicht weinen, Herr Bartels, okay?« Ich tätschelte ihm mitleidsvoll die Wange. »Dann hat sie mir einen Spion in die Firma gesetzt - sobald eine storyline festlag, konntest du sicher sein, dass Greta alles dransetzen würde, mit einer ähnlichen Story vor mir auf den Markt zu kommen.« »Und was hast du dagegen unternommen?« Ich musste lachen. »Das hat richtig Spaß gemacht. Ich habe mich hingesetzt und für zwei Filme die Storys selbst entwickelt, damit nichts nach außen dringen konnte, und währenddessen in der Firma zwei ganz absurde Scripts schreiben lassen. Die haben mich für völlig durchgeknallt gehalten, als ich sagte - in diesem Film brauchen wir ein rasiertes Mädchen im Minnie-Maus-Kostüm und einen transsexuellen Polizisten, der nur kommt, wenn Minnie Maus ihm den Schwanz in Military-Tarnfarben anmalt und
er ihr ihn dann ins Schnäuzchen stecken darf. Mir dreht sich immer noch der Magen um, wenn ich es mir vorstelle. Und im ändern gab es ein wiederkehrendes Motiv, einen griechischen Porno-Chor, der die Handlung begleitet und in allen Szenen im Hintergrund steht und summt: eine Gruppe alter nackter Frauen in Gummistiefeln.« »Gott, ja - an den Minnie-Maus-Film von Greta kann ich mich erinnern.« »Dann gehörst du zu den ungefähr sieben Kunden, die das Video gekauft haben.« »Das habe ich umsonst gesehen - ein Freund von mir hat es bei einer Faschingsparty laufen lassen.« »Den Film mit den nackten alten Frauen hatte sie wohl auch schon angefangen, aber dann hat sie doch noch mitgekriegt, dass es ein Trick war.« »Und der Spion?« »Keine Ahnung, das haben wir nie rausgefunden. Sie ist nicht blöd genug, den gleichen Fehler zweimal zu machen, aber sicher ist sicher: Scripts lagern seitdem bei mir im Safe.« Die American Bar war - wie das gesamte Hotel – hervorragend schallisoliert deshalb musste der Lärm, der plötzlich von draußen hereindrang, wirklich ohrenbetäubend sein. Ich erschrak so sehr, dass ich meinen Löffel in die Tomatencremesuppe fallen ließ und mein kostbares Cashmere-Jäckchen von oben bis unten mit roten Flecken besprenkelt war. Ich sprang auf, und der Kellner eilte mit einer Serviette herbei. Wo ich nun schon einmal stand, ging ich ans Fenster, um herauszufinden, was den Lärm ausgelöst hatte. Es war nichts zu sehen. Gerd Bartels stand neben mir, und auch Tim und Rita waren auf den Beinen. Bartels war am neugierigsten, und so folgten wir ihm auf die Straße, wo noch immer nicht zu sehen war, was dieses schreckliche Scheppern und Bersten ausgelöst hatte. Kaum dass Gerd um die Ecke des Hotels verschwunden war, hörten wir ihn »Oh mein Gott!« ausrufen. Als wir bei ihm waren, hatte er schon sein Handy gezückt. »Schickt mir bitte sofort einen Fotografen vorbei, Wilhelmstraße Richtung >Unter den Linden< direkt rechts vom Astor.« Ich war starr vor Schreck, als ich sah, was passiert war. Die gläserne Erdgeschossfront am Gebäude gegenüber vom Astor war auf einer Breite von etwa vier Metern zerstört - eingefahren. Ein schwarzer Fiat Uno schien zwischen zwei Verstrebungen eingekeilt, sein Motor heulte laut und die Reifen machten quietschende Geräusche, als der Wagen versuchte, im Rückwärtsgang rangierend aus dem Scherbenhaufen herauszukommen. Wie benommen tupfte ich noch immer an den Flecken auf meinem Oberteil. Erst als der Wagen jaulend und quietschend rückwärts in Richtung Straße schoss, sah ich das Blut auf den Glasscherben und auf dem Beton - und im selben Moment die Umhängetasche, deren Inhalt zermalmt auf dem Bürgersteig lag, dann erst Elke Brenner. Das Geräusch, das der Wagen machte, als er mit dem Vorderreifen gegen ihren Schädel stieß und gegen das Hindernis erst nicht ankam, sodass er erst noch einmal einen halben Meter vorfahren musste, um dann, mit größerer Geschwindigkeit zurückzusetzen – das Geräusch als der Reifen ihren Schädel zerquetschte - ich werde es nie vergessen können.
Kapitel 3 Der Wagen war in einem solchen Tempo auf sie losgerast, dass er sie auf Bauchhöhe erfasst, gegen die Scheibe gepresst und so mit ihr die Scheibe durchbrochen hatte, dass sie längs hinschlug, auf den Rücken fiel und überrollt wurde. Ich wünschte ihr nur, dass sie bereits beim ersten Überfahren oder durch die Glassplitter getötet worden war und nicht noch miterleben musste, wie der Wagen ihr beim Rückwärtsfahren den Schädel zerquetschte, denn bis der Reifen dieses Hindernis überwunden hatte, vergingen mehrere qualvolle Sekunden. Rita und ich waren uns gleichzeitig in die Arme gefallen, Tim stand reglos da, seine Sonnenbräune war zu einem Grau verblichen und Bartels konnte offenbar selber nicht glauben, dass er angesichts dieser Tragödie nichts anderes getan hatte, als Fotoverstärkung anzufordern. Wenn nicht Rita so völlig aufgelöst gewesen wäre, dass ich sie bemuttern musste, hätte ich wahrscheinlich selbst auch die Fassung vollständig verloren. So hielt ich meinen Arm um sie und versuchte sie zu beruhigen. Ich fasste Tim am Ellbogen, woraufhin er erschrak. »Tim, bring bitte Rita rein. Geht auf meine Suite und nehmt euch was aus der MiniBar. Ich komme gleich nach. Gerd, hast du dir das Kennzeichen gemerkt?« »Ah, ja-ich ...« »Dann schreib es auf, damit du es nicht vergisst. Und ruf um Gottes willen endlich die Polizei an und auf alle Fälle auch noch den Notarzt.« »Für den gibt es hier wohl nichts mehr zu tun.« »Quatsch nicht - ruf an!«, zischte ich ihm zu. Mittlerweile waren einige Wagen vorbeigefahren und hatten die Geschwindigkeit verlangsamt, um das Unglück genau unter die Lupe nehmen zu können. Von Unter den Linden bog eine Gruppe Touristen in die Straße und schaute auf die gegenüberliegende Straßenseite und dann zu uns. Im Erdgeschoss des Hauses fanden sich Männer in dunklen Anzügen ein, die hektisch hin und her liefen. »Lilly - geh rein. Es muss doch nicht sein, dass die Leute dich so sehen. Du siehst fast aus, als hättest du unter dem Auto gelegen.« Er hatte Recht. Die Flecken auf meinem Oberteil ... Ich war ihm dankbar dafür, dass er seinen beruflichen Ehrgeiz hintanstellte und den Gedanken an eine Cover-Story ä la »Lilly Zeugin von Tragödie« schnell verworfen hatte. Ich kannte ihn gut genug, um zu wissen, dass er so eine Idee zumindest kurzzeitig erwogen haben musste. Also drückte ich ihm kurz die Hand und eilte zurück in die Bar. Ich nahm meine Tasche, den Schal, meine Schuhe, die immer noch neben dem Sessel standen, in dem ich vor dem Essen gesessen hatte, und ging zum Fahrstuhl. Ich nahm rings um mich herum kaum etwas wahr und hatte das Gefühl, durch Wasser zu laufen - ganz langsam begann der Schock zu wirken und ich fing an, am ganzen Körper zu zittern. Ich stieg in die Kabine und holte den Fahrstuhlschlüssel für mein Stockwerk aus der Tasche. Ich bekam ihn kaum ins Schloss, so unsicher war meine Hand.
Dann sah ich mich im Spiegel an der Wand gegenüber - kreidebleich, mit riesigen Augen, die Haare zerzaust. In diesem Augenblick dachte ich »so sieht also eine Mordzeugin aus«. Wenn ich damals geahnt hätte, dass dies nur der Anfang war und dass alles noch viel, viel schlimmer werden würde - ich glaube, ich hätte das Hotel nie mehr verlassen. »Habt ihr den Fahrer gesehen?«, war die erste Frage, als ich in meiner Suite ankam, wo Tim und Rita auf der Couch saßen, beide mit einem großen Glas Weinbrand vor sich. Ich konnte nicht stillsitzen und tigerte durch den Salon. Ich zog mein bespritztes Jäckchen aus und warf es auf den Fußboden - eine Angewohnheit von mir. Gott sei Dank war der Fleck nicht auf das ärmellose Cashmere-Top durchgesickert. Rita schüttelte den Kopf. »Nee. Ich hab die ganze Zeit nur auf das Auto geschaut und auf diese Handtasche ...«, sagte Tim leise. »Aber ich glaub, es war ein Mann.« Ich versuchte, die Szene noch einmal vor meinem inneren Auge ablaufen zu lassen, aber der Fahrer des Wagens wurde dadurch nicht plastischer. Es war verrückt. Wie wenn man nachts aufwacht und versucht, sich an den Traum zu erinnern, aus dem man gerade hochschreckte, und dieser Traum einem unwiderruflich entglitten ist. »Meinst du, wir müssen jetzt länger hier bleiben, wegen Zeugenaussagen und so?« Tim war besorgt - er hatte ein Problem mit Autoritätspersonen und neigte zur Panik, wenn er ein Gespräch mit einem Beamten führen musste. »Ich glaube nicht. Bartels war ja auch da und hat das Gleiche gesehen wie wir. Was denkst du, Rita?« »Ich möchte am liebsten sofort abreisen. Aber ist das richtig? Wenn dich irgendjemand draußen gesehen und erkannt hat und wir jetzt keine Aussagen machen, dann wirft das ein seltsames Licht auf dich.« »Bartels wäre der Erste, der irgendwann tratscht. Wir rufen jetzt die Pressefrau vom Hotel an und sagen ihr, dass sie die Polizei informieren soll, dass wir Zeugen waren. Wenn die sich innerhalb einer Stunde nicht bei uns melden, reisen wir ab wie geplant. Dann müssen sie sich eben in Goslar melden. Rita, kannst du das bitte übernehmen?« Sie stand noch sichtlich unter Schock, aber Routinearbeit würde ihr vielleicht helfen, sich wieder zu fangen. Nachdem sie den Anruf getätigt hatte, kam langsam die alte Rita wieder zum Vorschein. »Wenn Bartels nur seinen eigenen Fotografen verständigt hat, dann wird die Story frühestens übermorgen erscheinen können. Wenn sonst noch Presse da war, dann könnten sie es eventuell noch bis Redaktionsschluss schaffen.« »Wie kommst du jetzt darauf?«
»Ich denke nur wegen Titelschlagzeilen. Wenn wir Pech haben, hat die - die - wie hieß sie noch gleich?« »Elke Brenner.« »Genau, dann hat sie die Titelseite.« »Entschuldige mal Rita, geht's dir noch gut? Vor deinen Augen ist eben eine Frau umgekommen«, ich brachte das Wort Mord noch nicht über die Lippen, »und du machst dir Sorgen um die Pressearbeit?« »Tschuldigung. Ich war nur ...« Sie brachte den Satz nicht zu Ende, stand auf und ging ins Bad. Während wir auf eine Nachricht von der Rezeption warteten, versuchte ich Max zu erreichen. Streit hin oder her - ich wollte seine Stimme hören. Er war weder in seinem Büro noch zu Hause. Sein Handy war abgestellt und seine Sekretärin Frau Schröder konnte mir auch nicht sagen, wo er gerade war. Ich bat Tim, mir beim Abmontieren der Haarteile zu helfen und schickte ihn dann in sein Zimmer, um zu packen. Dann zog ich mir eine Jeans und Turnschuhe an und bürstete mir die Haare glatt. Die dicke Fernsehschminke ersetzte ich durch ein leichtes Tages-Make-up. Es fehlte nur noch eine Brille und man hätte mich für eine Kindergärtnerin halten können. Während ich mich reisefertig machte und jede Minute mit dem Anruf der Polizei rechnete, stellte ich mir immer wieder die eine Frage: Wie konnte nur ein Mensch einen anderen Menschen umbringen? Was veranlasst jemanden, eine solche Tat zu begehen, das allerletzte Tabu zu brechen? Ich hatte keine großen Sympathien für die lebende Elke Brenner gehabt, aber trotzdem ließ mich ihr Ableben alles andere als kalt. Niemand verdient es, ermordet zu werden. Ich fragte mich, ob sie eine Familie hinterließ, und wie sich ihre Eltern fühlen mussten, wenn die Polizei vor ihrer Tür stand und ihnen mitteilen würde, dass ihre Tochter tot sei. Dass sie liiert war, konnte ich mir nicht vorstellen, aber was wenn? Wie verdaut man die Nachricht, dass der Partner plötzlich nicht mehr da ist, dass er einem brutalen Verbrechen zum Opfer gefallen ist? Freunde, Bekannte bestimmt gab es Menschen, die sie mochten und in deren Leben nun eine Lücke klaffte. Und nicht genug damit, dass ein Menschenleben ausradiert war - Elke Brenner war auf entsetzliche Art und Weise ums Leben gebracht worden: kalt, brutal und schonungslos. Ich stellte mir vor, dass ich vielleicht der letzte Mensch war, der mit ihr gesprochen hatte. Man kehrt immer zu seiner ersten Liebe zurück - das wäre dann ihr letzter Satz gewesen. Doch da fiel mir wieder ein, dass sie aussah, als habe jemand sie angesprochen, als sie vorm Fenster der Bar stand und zu uns herschaute. Das war vielleicht zwanzig Minuten, bevor sie überfahren wurde. Wahrscheinlich war ihr letztes Gespräch ein Wortwechsel mit ihrem Mörder. Hatte er gewusst, dass er an diesem Tag die Tat begehen würde? Hatte er langfristig geplant, dass Elke Brenners letzter Tag mit dem Besuch meiner Pressekonferenz enden sollte? Es ekelte mich, mir vorzustellen, dass dieser Mensch, wer immer es war, auch nur meinen Namen kannte.
Noch immer hatte sich die Polizei nicht gemeldet, also setzte ich mich an den Schreibtisch, holte das Briefpapier heraus und fasste zusammen, was ich gesehen hatte, solange es noch frisch in Erinnerung war. Während ich die Pressekonferenz Revue passieren ließ, fiel mir wieder ein, wie fahrig die sonst so souveräne Reporterin auf einmal gewirkt hatte. Mir wurde mulmig bei der Vorstellung, dass sie eine Vorahnung gehabt hatte, was mit ihr geschehen würde, dass sie vielleicht ihren Mörder im Konferenzsaal erblickt und dass er im Publikum meiner Pressekonferenz gesessen hatte. Und in meinem Blickfeld. Erst jetzt, ganz langsam, setzte die Angst ein. Wahrscheinlich hatte er uns an der Straße stehen sehen. Bestimmt hatte er uns oder zumindest mich erkannt. Und ganz sicher befürchtete er, dass wir ihn identifizieren würden können! Mir wurde schwindelig und ein bisschen übel. »Warum jetzt?«, fragte ich in den leeren Raum hinein. »Warum ausgerechnet jetzt und warum ich? Scheiße.« Als das Telefon klingelte, bekam ich last einen Herzinfarkt. Am anderen Ende war Gerd Bartels. »Wie geht's dir? Hast du dich vom Schock erholt?« »Der Schock fängt gerade erst an, und wie! Glaubst du, dass er uns gesehen hat?« »Ziemlich wahrscheinlich. Wenn wir Glück haben, war er so in Rage, dass er nichts wahrgenommen hat.« »Darauf möchte ich mich aber nicht verlassen.« »Die Polizei hat mich befragt. War sie auch schon bei dir?« »Bislang noch nicht.« »Die haben mich gebeten, noch keine weitere Presse zu verständigen. Sie wollen nicht, dass es in der Zeitung steht, bis sie die Familie der Brenner ausfindig gemacht haben.« »Sie hat also Familie.« »Eine Schwester. Zwillingsschwester sogar. In Köln.« »Auch das noch.« »Tja.« Es klopfte an der Tür und Rita kam ins Zimmer. »Gerd, ich muss Schluss machen. Wir bleiben in Kontakt, okay? Halt mich auf dem Laufenden!« »Alles klar Lilly, und nimm es dir nicht so zu Herzen.« »Die Damen von der Kripo sind jetzt hier, Lilly.« »Okay, sag ihnen doch, sie sollen ...«
Sie standen bereits im Raum, als ich »reinkommen« noch nicht einmal ausgesprochen hatte. Ich hatte augenscheinlich Hauptstadtkommissarinnen vor mir. Die beiden waren in Zivil und machten einen erfreulich toughen, selbstsicheren Eindruck. Der »Doppelte Einsatz« leibte und lebte. »Rita, wenn nichts Weiteres ist, dann kannst du jetzt packen gehen.« »Gut. Ich bin dann in meinem Zimmer.« Rita ging hinaus und schloss die Tür hinter sich. »Guten Tag Frau äh - DeLight, mein Name ist Sylvia Haberlik, das ist meine Kollegin Sabine Vogt. Wir haben ein paar Fragen an Sie.« »Bitte nehmen Sie doch Platz.« Bitte nehmen Sie Platz war eindeutig Derrick-Sprache und ich hatte so etwas nie zuvor Über die Lippen gebracht. Normalerweise sagte ich in solchen Situationen einfach »setzt euch«, gegebenenfalls »Setzen Sie sich«. Aber da ich nun eindeutig im Krimi-Genre gelandet war, schien die Wortwahl nur adäquat. Ich wies ihnen den Platz auf der Couch an und setzte mich in den Sessel gegenüber. Sylvia Haberlik war etwa Anfang vierzig, dezent geschminkt und nicht besonders groß, eins fünfundsechzig etwa, hatte sehr langes, dunkles Haar, das ihr fast bis zur Hüfte reichte. Ihre Stimme hatte ein angenehm rauchiges Timbre. Kommissarin Vogt war jünger - etwa in meinem Alter. Sie war blond gesträhnt und hatte einen sehnigen Körper, der durch ihre engen Klamotten noch betont wurde. Ich schätze, sie wurde täglich schwer angebaggert und wusste sich zu verteidigen. Sie machte einen überaus selbstsicheren Eindruck, wirkte aber ein klitzekleines bisschen angespannt. Ich schaute auf ihre Hände und sah, dass Zeige- und Mittelfinger ihrer rechten Hand quittengelb waren. Ich deutete auf den leeren Aschenbecher aus Lalique-Glas. »Rauchen Sie ruhig. Das stört mich nicht.« »Danke. Der Aschenbecher sieht eher nach Deko aus.« »Das ist noch gar nichts - Sie müssten mal das Bidet sehen.« Die Damen grinsten und Kommissarin Vogt kramte erleichtert ein Päckchen Lights aus ihrer Tasche. »Ich habe schon alles aufgeschrieben, was ich gesehen habe ich kann Ihnen den Zettel für Ihre Unterlagen mitgeben.« Ich reichte Frau Haberlik das Blatt Papier. Sie überflog es und legte es auf den Tisch. »Sie sind ganz sicher, dass Sie den Fahrer oder die Fahrerin nicht identifizieren können, Frau DeLight?« »Leider. Ich versuche schon die ganze Zeit, die Szene noch einmal ablaufen zu lassen, aber ich sehe den Fahrer nicht. Trotzdem glaube ich, dass es ein Mann war. Fragen Sie mich nicht weshalb.«
»Obwohl Sie ihn nicht identifizieren könnten, sind Sie sich dessen sicher?« Frau Haberlik lächelte mich skeptisch an. »Ich weiß, hört sich blöd an, aber so ist es. Hat Gerd Bartels Ihnen das Fahrzeugkennzeichen sagen können?« Frau Vogt antwortete. »Das Kennzeichen gehört zu einem Mietwagen, der heute Morgen bei Europcar in der Karl-Marx-Straße gemietet wurde. Und wie es der Teufel will, kann sich in der Vermietung kein Mensch mehr an den Kunden erinnern. Er hat nicht einmal eine Personalausweis-Kopie abgegeben. Nur eine polizeiliche Anmeldung - ohne Foto. Und die wurde vor ein paar Tagen als gestohlen gemeldet. Und zwar keine zehn Minuten, nachdem sie ausgestellt wurde - direkt auf dem Meldeamt.« »Aber muss man denn keinen Führerschein vorlegen, bevor man einen Leihwagen mietet?« »Eigentlich schon, aber der Kunde sagte, er habe ihn vergessen, und die Angestellte bei Europcar hat mal eine Ausnahme gemacht.« »Eine Ausnahme? Na prima ...« »Was hat Sie dazu veranlasst, den Ort des Verbrechens zu verlassen, Frau DeLight? Sie wissen, dass man Sie dafür belangen könnte, nicht wahr?« Bei ihrer warmen Stimme und dem freundlichen Lächeln klang der Vorwurf viel milder, als er eigentlich sollte. »Schauen Sie, ich wollte nicht, dass man mich dort sieht und erkennt. Es ist ja nicht so, dass ich abgehauen bin oder eine Vernehmung verweigert habe oder so.« »Schon gut. Sie kannten die Tote?« Frau Vogt drückte ihre Zigarette aus. »Flüchtig. Sie war früher Reporterin beim Fakt-Magazin und hat vor ein paar Jahren das muss so 96 gewesen sein - ein Interview mit mir geführt. Heute habe ich sie allerdings das erste Mal seitdem wiedergesehen.« »Ist Ihnen irgendetwas an ihrem Verhalten aufgefallen?« »Wenn ich zurückdenke, ja. Sie schien irgendwann nicht mehr ganz bei der Sache zu sein und wirkte auf einmal unruhig. Nervös. Keine Ahnung, warum.« »Wäre es möglich, eine Aufstellung der geladenen Journalisten zu bekommen?« »Natürlich - meine Assistentin Rita kann sie Ihnen geben.« »Schön. Mit Ihrer Assistentin sprechen wir als Nächstes.« Die beiden erhoben sich, und ich brachte sie zur Tür. »Eine letzte Frage noch, Frau DeLight. Wo genau standen Sie, als Frau Brenner überfahren wurde?« »Auf der anderen Straßenseite auf dem Bürgersteig.«
»Mit Ihrer Assistentin, Ihrem Frisör ...« »Stylisten. Wenn Sie ihn sprechen, dann nennen Sie ihn bitte nicht Frisör. Er hasst das.« »... Ihrem Stylisten und Herrn Bartels, mit dem Sie befreundet sind.« »Ich würde nicht sagen befreundet, er ist ein guter Bekannter.« Kommissarin Vogt blickte mir tief in die Augen. »Haben Sie eine Erklärung dafür, wie Blut auf Ihre Kleidung kam?« Oh nein - dachte ich, Bitte nicht auch noch das. »Blut?« »Es gibt Zeugen dafür, dass Sie mit einem blutbefleckten Oberteil aus der Bar kamen und in den Lift stiegen.« Ich konnte mich nicht daran erinnern, auf dem Weg zum Fahrstuhl jemandem begegnet zu sein, aber ich war auch wie in Trance durch die Gänge gewandert. »Das war Tomatensuppe. Ich hatte Tomatensuppe zu Mittag. Als wir diesen Lärm hörten, fiel mir der Löffel in den Teller.« »Tomatensuppe?«, fragte Sabine Vogt etwas penetrant. »Ja, Frau Vogt. Tomatensuppe.« »Sie haben sicher nichts dagegen, wenn wir Ihr Oberteil untersuchen? Verstehen Sie uns nicht falsch - wir müssen solchen Hinweisen natürlich nachgehen.« Sylvia Haberlik lächelte entschuldigend, und ich schaute auf den Boden, um mein Cashmere-Jäckchen aufzuheben. »Na klar. Ist schon okay. Suchen Sie mal mit, es hat die gleiche Farbe wie mein Oberteil. Ich hab es vorhin hier irgendwo hingeworfen.« Wahrscheinlich hielten sie mich für eine Schlampe, aber vielleicht waren sie als Karrierefrauen in ihrem Privatleben auch nicht eben Ordnungsfanatikerinnen. Und in ihrem Beruf hatten sie sicherlich schon Schlimmeres erlebt als eine Frau, die ihre Klamotten auf den Fußboden wirft. Ich suchte den weichen weinroten Teppich ab. »Moment! Wahrscheinlich hat es Rita eingesammelt. Wir sind nach der Geschichte draußen zuerst alle auf mein Zimmer gegangen, und sie hat es bestimmt aufgehoben, als sie danach in ihr Zimmer ging.« »Ihre Assistentin, Frau Weinen?« »Ja. Sie wollten jetzt sowieso zu ihr, oder?« Wir verließen mein Zimmer und gingen über den Gang zu Rita. Sie hatte bereits gepackt. »Rita, hast du die Cashmere-Jacke gesehen, die ich vorhin anhatte?«
»Die habe ich in die Express-Reinigung gegeben, damit die Flecken nicht erst eintrocknen.« Ich schaute die Kommissarinnen an und zum x-ten Mal an diesem Tag wurde mir sehr, sehr flau im Magen. »Frau Weinert, dürfen wir bitte Ihr Telefon benutzen?« Das sollte sich erübrigen, denn im gleichen Moment klopfte es an der Tür und ein knackiger Page strahlte mich an. »Ich soll das hier aus der Reinigung abgeben. Äh, ich darf das eigentlich nicht, aber, würden Sie mir vielleicht ein Autogramm geben? Für meinen Bruder - der ist ein ganz großer Fan von Ihnen.« Ich glaube nicht, dass sie mich ernsthaft verdächtigten, etwas mit dem Mord an Elke Brenner zu tun zu haben. Sie konnten beim Kellner überprüfen, dass ich tatsächlich Tomatensuppe gegessen hatte, und es gab drei weitere Zeugen, die bestätigen würden, dass ich Elke Brenners Leiche nie näher als fünfzehn Meter gekommen bin. »Sie glauben doch nicht ernsthaft, dass Lilly« »Entschuldigen Sie, Frau Weinert, aber wir müssen jeden Hinweis verfolgen«, schnurrte Sylvia Haberlik. »Dann wenden Sie sich doch bitte an den Sicherheitsbeamten, der uns zugeteilt war. Er hat vielleicht gesehen, dass die Jacke schon Flecken hatte, als wir auf die Straße gingen. Und er ist Hotelangestellter, also mit Lilly weder verwandt noch verschwägert.« Sie machte das wunderbar. An den Security-Mann hatte ich gar nicht mehr gedacht. »Frau DeLight sagte uns, dass Sie eine Gästeliste für die Pressekonferenz besitzen. Könnten Sie uns die freundlicherweise zur Verfügung stellen?« »Natürlich. Einen Moment bitte.« Rita holte ihr Palmtop aus der Handtasche, tippte mit einem kleinen Stäbchen auf die Tastatur und reichte es dann der Oberkommissarin. »Geben Sie einfach Ihre E-Mail-Addresse ein und drücken Sie dann den Zeilenschalter.« »Ich fürchte, wir brauchen die Liste hier und nicht erst auf dem Revier.« Wahrscheinlich war ihr Dezernat noch nicht vernetzt. »Kein Problem, dann sende ich es als Fax an unser Gerät hier.« Sie bearbeitete die Tastatur mit dem Stäbchen und nach einer Minute druckte das Faxgerät die Gästeliste aus. Es ist gespenstisch, wenn man sich vorstellt, wie viele technische Neuerungen es in den letzten Jahren gegeben hatte, von denen wir als Kinder nicht einmal zu träumen gewagt hätten. Noch gespenstischer ist allerdings, dass diese technischen Errungenschaften noch nicht bis in die Ämter unserer Bürokratien vorgedrungen sind. Ich war mir zwar anfangs etwas fehl am Platz vorgekommen, als ich vor zwei Jahren an der Goslarer Volkshochschule einen Einführungskurs ins Internet belegt hatte, aber ich hatte enorm davon profitiert.
Das Durchschnittsalter in dem Seminar lag irgendwo bei vierzehn Jahren und die Mütter, die ihre Jungs anschließend abholten, waren ein wenig nervös ob meiner Teilnahme. Das legte sich, und ich schloss sogar Freundschaft mit einer Ratsherrin. Dank meiner Internetkenntnisse baute meine Firma den E-Commerce-Sektor so weit aus, dass wir seit letztem Jahr der europäische Netzmarktführer im Bereich erotische Wäsche und Sex-Spielzeuge sind. Sylvia Haberlik studierte die Presseliste, und Sabine Vogt schaute ihr über die Schulter. »Sie können bei den Sendern die Videobänder von der Konferenz anfordern. Die Telefonnummern haben Sie ja jetzt.« »Vielen Dank für den Hinweis, Frau DeLight, genau das hatten wir vor.« Sabine Vogt ließ sich nicht die Butter vom Brot nehmen - und konnte es nicht durchgehen lassen, dass ich ihr einen Tipp gab, wie sie ihren Job zu machen hatte. »Wenn es Ihnen nichts ausmacht, dann wurden wir Ihre Jacke gern mitnehmen und auf Spuren überprüfen. Das ist wie gesagt nur eine Routine-Maßnahme und durchaus in Ihrem Interesse.« Rita warf mir einen fragenden Blick zu. Ich nickte und zuckte die Schultern. »Wenn Sie meinen ...« Dann übergab sie die in Klarsichtfolie gehüllte Jacke an Sabine Vogt. Ich überlegte kurz und zog mein Top aus. »Nehmen Sie das doch bitte auch gleich mit. Das hatte ich drunter.« Sylvia Haberlik blickte mir anerkennend auf den Busen, der ungefähr auf ihrer Augenhöhe war. »Hübscher BH.« »Aus meiner Kollektion - wir schicken Ihnen gerne einen Katalog.«
Kapitel 4 Die Heimreise nach Goslar verlief ausgesprochen ruhig. Selbst Tim war schweigsam und grüblerisch, Rita blickte selbstverloren aus dem Autofenster. Und ich hatte auch nicht viel zu sagen. Wahrscheinlich ging es den beiden ähnlich wie mir - die Geschehnisse des Vormittags liefen wie durcheinander gewirbelte Bilder ohne Unterlass vor meinem inneren Auge ab bis ich schließlich im Wagen einschlief. Im Traum wachte ich noch einmal im fremden Hotelbett auf, und auf dem Nachttisch lag Ronnys Brief. Auf der Rückseite war die Liste der Anwesenden der Pressekonferenz abgedruckt. Sabine Vogt und Sylvia Haberlik kamen in Gestalt von Thelma und Louise ohne anzuklopfen in mein Schlafzimmer und sprachen gemeinsam: »Wenn keiner seinen Kopf verliert, muss keiner seinen Kopf verlieren!« Sie zerrten mich aus dem Bett und führten mich durch endlos lange Korridore, bis wir vor einer riesigen Tür standen, die mit Leder bespannt
und mit Messingknöpfen versehen war. Die Tür öffnete sich wie von selbst, und wir schritten in einen Gerichtssaal, an dessen Wänden sich rechts und links Autoreifen stapelten. »Bitte erheben Sie sich!« War das die Stimme von Max? Drei Richter in schwarzen Kutten und Kapuzen kamen aus einer Seitentür und traten hinter den Richtertisch, auf dem Mikrofone mit bunten Schaumstoffköpfen aufgereiht standen. Die Eurovisionshymne erschallte und Richter Nummer eins sprach mich mit donnernder Stimme an: »Wetten, dass Sie, Angeklagte Lilly DeLight, nie wieder Tomatensuppe essen werden?« Er zog die Kapuze zurück. Ja, es war Thomas Gottschalk. Richter Nummer zwei war an der Reihe: »Wetten, dass Sie, Angeklagte Lilly DeLight, nie wieder unkeusche Gedanken hegen werden und Ihrem angetrauten Ehemanne von heute an eine bis in alle Ewigkeit treue und liebevolle Gattin sein werden?« Die Kapuze fiel - es war Papst Johannes Paul I. Selbst im Traum fragte ich mich, warum es nun ausgerechnet Johannes Paul I. und nicht Johannes Paul II. war, aber schon trat der dritte Richter des Tribunals vor und klopfte gegen ein gelbes Mikro, auf dem das Sät 7-Logo abgebildet war. »Wetten, dass ...« Er nahm seine Kapuze ab und mir standen alle Haare zu Berge er hatte kein Gesicht, sein Kopf bestand nur aus einem mit Haut straff bespannten Schädel, seine Stimme klang blechern aus dem Nirgendwo. »Wetten, dass ich dich kriege, Lilly DeLight?« Hinter mir standen Thelma Haberlik und Louise Vogt und sagten: »Top, die Wette gilt.« Ich wachte schreiend auf und unser Fahrer machte eine Vollbremsung. Der Wagen kam exakt auf Höhe des Straßenschildes der Stadt Goslar zum Stehen. Ich werde häufig gefragt, warum ich ausgerechnet in eine Kleinstadt im Harz gezogen bin, wo mir im Grunde doch die ganze Welt offen stand. Das ist ganz einfach - ich fühle mich dort wohl. Ich hab dort meine Ruhe. Wenn ich Aufregung will, gehe ich zur Arbeit oder ich verreise. Eine Zeit lang hatte ich in Hamburg gelebt und fast zwei Jahre in Berlin und mir stand die Großstadt irgendwann bis hier. Ich hatte es satt, nicht einmal Brötchen holen zu können, ohne von der Seite angequatscht zu werden. Außerdem fand ich es umständlich, stundenlang im Auto unterwegs zu sein, nur um einmal ungestört mit dem Hund durch den Wald zu laufen. Die Wälder um Großstädte herum sind ja so etwas wie Vorgärten, in denen es von anderen stadtflüchtigen Großstädtern nur so wimmelt. Wo immer man hinkommt, es ist schon jemand anders dort. Ich hatte das satt und sehnte mich nach einem stillen, ruhigen Fleck, wo man nicht täglich drei Leute unbeabsichtigt beleidigt, weil man von fünf Einladungen unmöglich mehr als zwei pro Abend annehmen kann. Wenn man dreihundert Kilometer entfernt von der nächsten Großstadt lebt, dann wird es irgendwann akzeptiert, dass man nicht auf jeder Party tanzen, jedes Fernsehinterview geben und bei jedem Benefiz gratis auftreten kann.
Schon die Fahrt in die Stadt ist wundervoll, sobald man von der Autobahn runter ist. Ich genoss es jedes Mal, wenn ich von Promo-Auftritten oder Location-Dreharbeiten zurückkam. Die Strecke führt durch Ortschaften, die sich bemühen, bei »Unser Dorf soll schöner werden« die vorderen Ränge zu belegen, in denen noch Schützen- und Feuerwehrfeste gefeiert werden, wo alte Frauen Kopftücher über ihren Heimdauerwellen tragen, abends auf der Veranda Bier aus der Flasche trinken und kernige Bauern längst vergessene Zigarettenmarken rauchen. Die Goslarer und Goslarerinnen sind dagegen schon fast großstädtisch. Gepflegt, konservativ gekleidet und daran gewöhnt, zu Fuß zu laufen. Schlaue Stadtplaner haben es geschafft, die Innenstadt fast völlig autofrei zu halten. Es ist nahezu unmöglich in die Einkaufsstraßen zu fahren, was dem historischen Stadtkern und dem Einzelhandel sehr zugute kommt. Will man zum Beispiel zu Karstadt, so muss man zunächst einmal durch diverse Fußgängerzonen pilgern und kommt an unzähligen Klamottenläden und Schmuckgeschäften vorbei. Okay, Karstadt hat auch ein Parkhaus, aber ich glaube nicht, dass es besonders frequentiert wird, da die meisten Kunden den Weg durch die Einkaufsgassen bevorzugen. Goslar hat ein Schwimmbad, mehrere Kinos (seit einiger Zeit sogar so etwas wie ein Multiplex), ein Theater, in dem in unregelmäßigen Abständen Gastspiele stattfinden, einen eigenen Bahnhof, in dessen Buchhandlung man internationale Presse kaufen kann, und diverse Cafes, Kneipen und Diskos. Das Goslarer Nightlife ist nicht so ganz nach meinem Geschmack, aber ich bin ja auch nicht wegen der atemberaubenden Clubs hierhergezogen. In einer Stunde ist man in Braunschweig, einer Studentenstadt, wo das kulturelle Leben schon etwas üppiger ausfallt, bis Hannover ist es etwa eine Autostunde und nach Berlin braucht man drei Stunden. Im Winter ist die Stadt voller skandinavischer Touristen, denn der Harz ist das erste nennenswerte Gebirge südlich von Dänemark und somit eine gute Anlaufstelle für Skitouristen. Fährt man weiter hoch in die Berge, ist man plötzlich in den Wäldern von Grimms Märchen. Die Ortschaften haben verrückte Namen wie Walkenried, Clausthal-Zellerfeld und Buntenbock. Dort gibt es glasklare Badeseen und etwas, was man in Berlin/Hamburg/Frankfurt vergeblich sucht: absolute Stille. Zen in Niedersachsen. Für ein Mädchen, das in der Großstadt aufgewachsen ist, kam es mir wirklich wie eine Art Märchenland vor. Zu den wichtigsten Harzern gehören Dr. Albert Niemann, der innerhalb seiner kurzen Lebensspanne, von 1834 bis 1861, das Kokain entdeckt hatte und vielleicht zu viele Selbstversuche damit angestellt hatte, was seinen frühen Tod erklären mochte, die Brockenhexen, Peter vom PopDuo Rosenstolz und seit nur mehr zwei Jahren auch meine Wenigkeit. Der höchste Berg des Harzes, der Brocken, hat 1142 Meter und ich ein großzügig geschnittenes zweistöckiges Haus mit einem Dreißig-Quadratmeter-Pool und einem großen Garten direkt am Waldrand im Stadtteil Steinberg. Als ich seinerzeit Immobilien besichtigte, wollte ich die Firma eigentlich im Industriegebiet ansiedeln. Das heißt in Goslar »Bassgeige«, was sich zwar sehr musikalisch anhört, aber alles andere als ein musischer Ort ist. Dort steht eine Betonhalle neben der nächsten, spukhässliche, zweckmäßige Siebziger-Jahre-Architektur. Wäre Goslar ein Vorgarten, dann wäre die Bassgeige der Hundehaufen darin. Ich konnte mir nicht vorstellen, jeden Morgen dorthin zur Arbeit zu fahren, an Autohäusern und Reparaturwerkstätten vorbei, aber ich hatte Glück, einen Immobilienmakler und einen kotzenden Boxer, und so fand ich meinen Firmensitz am schöneren Ende der
Stadt, unweit von unserem Haus. Um dorthin zu gelangen, fährt man eine unbenannte Straße, die eher ein breiter Weg ist, in Richtung »Haus Hessenkopf« (evangelisches Bildungszentrum). Linker Hand gibt es nur zwei Gebäude - meine Produktion und die Tierarztpraxis Hofmeier. Die Firma ist in einem alten Gutshof untergebracht. Auf dem Gelände stehen noch vier große Nebengebäude, die ehemals als Scheunen und Ställe dienten. Im alten Gutshaus war ausreichend Platz für die Büroräume der Verwaltung, einen Schnittraum für die Filmproduktion und das Grafikstudio, das sich um die Gestaltung der Videokassetten und der Magazine kümmert. Die Scheunen dienen uns als Lager und Vertrieb. Die zwei Dutzend Angestellten, die ich fest beschäftigte, waren besonders angetan von dem Pool im Garten auf der Rückseite des Hofes, der in den 30er-Jahren angelegt wurde und dessen Sanierung mich fast so viel kostete wie die Ausstattung der Lagerhallen und das Equipment des Schnittstudios zusammen. Aber des einen Leid - des ändern Freud: das komplette Grundstück hatte nur einen Bruchteil seines Werts gekostet, da der Vorbesitzer bankrott gegangen war. Bis ich mich in Goslar niederließ, war der offizielle Schandfleck noch die »Eisenplatte« von Richard Serra. Eine rostige Skulptur neben dem historischen Breiten Tor, die viele als Schandfleck betrachteten. Als sich herumsprach, wer gerade neue Stadtbürgerin geworden war, ließen die Hardcore-Harzer vom Metallklotz ab und hatten einen neuen Grund zur Entrüstung. Mich. Es gibt noch heute einige Geschäfte, in denen man mich nicht bedienen würde. So etwas nervt mich, es ist ein bisschen verletzend, es ist dumm. Vor allen Dingen ist es verlogen, denn selbst der vertrocknetste Spießer hat sexuelle Bedürfnisse und geht denen nach, sofern er nicht auch noch mental gestört ist. Die »sexuelle Revolution« war kein Ereignis, das 1968 stattfand und dann wieder endete. Es ist ein Prozess, der anhält. Das Ziel einer Revolution ist die Befreiung. Das Ziel der sexuellen Revolution, die Befreiung der Menschen vom schamhaften Umgang mit ihren Triebbedürfnissen, steckt immer noch in den Kinderschuhen. Ein äußerst charmanter TV-Intellektueller nannte mich einmal eine »erotische Erwachsenengärtnerin«, das fand ich sehr treffend. Man spricht auch nicht umsonst von »Sexspielzeug« - ich bin eine Spielwarenfabrikantin der Lüste und mache Laster für die großen Jungs und Plastikwaren für die Mädchen. Im Rahmen meiner Funktion als sexuelle Revolutionärin des Internet-Zeitalters befreite ich nur die, die auch befreit werden wollten. Die bigotten Idioten, die die Straßenseite wechselten, wenn sie mich kommen sahen, sollten sich meinetwegen doch alle gehackt legen, bitteschön ... Maximilians Freundeskreis war in den ersten Monaten, die wir zusammen waren, zwar auch etwas skeptisch, was mich betraf, aber bei den meisten legten sich die Berührungsängste. Diejenigen, die sich nicht damit abfinden konnten, dass Max einen Porno-Star an Land bzw. in die Berge gezogen hatte, verschwanden sang- und klanglos aus seinem Adressbuch und er hat sie mit keinem Wort je wieder erwähnt. Meine neuen Nachbarn, die vermutlich den Einzug von Sodom und Gomorrha befürchtet hatten, beruhigte ich mit einer Gartenparty-Einladung, die zu einer Art »Tag der offenen Tür« ausartete. Den Mutigen hatte ich eine Führung durch die Geschäftsräume versprochen. Es stellte sich heraus, dass alle »mutig« waren. Beim
anschließenden Grillabend am türkis blitzenden Pool unterhielten sich dann die Männer (Ärzte, Studienräte und Anwälte) über ihre Lieblingsvideos und die Frauen (Studienrätinnen, Kommunalpolitikerinnen und Ehefrauen/Mütter) überlegten, ob sie eine Art Tupper-Party mit Lilly-DeLight-Dessous veranstalten sollten. Ich hatte jahrelang hart dafür geschuftet und hier hatte ich sie endlich gefunden: meine Idylle. Und die würde bereits innerhalb der nächsten Tage auf dem Spiel stehen. Nachdem der Fahrer Tim und Rita abgesetzt hatte, fuhren wir erst einmal in die Firma. Es war früher Abend und Max war bestimmt noch nicht zu Hause. Unser Hund Mikey fühlte sich in meinem Büro am wohlsten, wenn ich mal ein paar Tage unterwegs war, und so brachte ihn Max morgens zu unserer bayrischen Verwaltungssekretärin Anni, einer allein stehenden Mittvierzigerin, die früher selbst Hunde gehabt hatte und sich freute, wenn sie Mikey ein bisschen bemuttern durfte. Sie hatte riesige Kulleraugen, eine extrem quiekige Stimme, die der Hund vergötterte, war besessen von amerikanischen Fernsehserien und binnen kürzester Zeit zur Seele des Betriebs geworden. Wir holperten über das Kopfsteinpflaster auf den Hof. Im Lager und im Vertrieb war bereits Feierabend, aber Anni war morgens die Erste und abends die Letzte, die den Betrieb verließ. Die Tür zum Empfang war noch offen, also trat ich ein und ging die Treppen hoch zu Annis Büro. Komisch, dass mir Mikey noch nicht bellend entgegenstürmte - normalerweise kannte er kein Halten, wenn er den Wagen hörte und Frauchen von Reisen zurückkehrte. »Lilly, grüß Gott! Schön, dass Sie wieder da sind! Wie war's denn in der Hauptstadt?« »Hallo Anni, fragen Sie nicht - es war der Horror!« »Was ist denn passiert, um Gottes willen?« »Ich erzähl's Ihnen morgen, okay - ich will jetzt nur noch einen Happen essen und die Beine hochlegen.« »Aber wir schaun schon erstmal, ob s' was von der Konferenz bei Frauke bringen, gell.« »Na gut. Wo ist denn Mikey eigentlich?« »Ich weiß gar nicht, wie ich Ihnen des beibringen soll.« Mir blieb fast das Herz stehen. »Er hat sich gebissen. Mit dem schrecklichen Köter von der Pamela Anders, diesem Bullpit-dog.« »Mit dem Pitbull, oh mein Gott!«
»Nein nein - is ja gar net so schlimm. Er hat des Biest ganz schön zugrichtet, unser Mikey. Ich wollt nicht, dass Sie hier vor verschlossenen Türen stehen und deshalb bin ich hier geblieben. Er is jetzt drüben beim Tierarzt Hofmeier mit der Pamela Anders und dem Biest. Ich sag's Ihnen, es war wie im Irrenhaus heut den ganzen Tag.« Sie sprach den Namen »Pamehla« aus, was diese sicher nicht gern gehört hätte, da sie sich aus Fantasielosigkeit den Namen ihrer Lieblingsschauspielerin geklaut hatte und auf korrekter Aussprache bestand. Sie nannte sich »Pemmela«, außer wenn sie mal versehentlich in ihren Dialekt zurückfiel, dann klang es eher wie »Bämmela«. Sie kam aus Halle und Baywatch hatte ihr Leben verändert: dem neuen Namen folgte eine neue Haarfarbe – ein scheußliches Neonblond, das sie schonungslos alle zwei Wochen nachkolorierte, sodass ihr Spliss schon fast bis zum Haaransatz reichte und die Mähne von jedem Glanz befreit war. Sie beschränkte die gefährlichen Bleichaktionen übrigens nicht nur auf ihr Kopfhaar, und immer, wenn ich ihre gelbstichigen Schamhaare sah, fragte ich mich, ob sie sich nicht langfristig gesundheitlich schädigte. Ich hätte jedenfalls starke Bedenken, so aggressive Chemie an so wertvolle Körperteile heranzulassen ... »Was macht die denn hier? Die ist doch erst übermorgen dran.« »Die wollt Sie sprechen, ich denk die will wieder mal einen Vorschuss.« »Jedesmal macht diese Frau Stress. Wo sie auftaucht. Ich geh rüber und hol den Hund. Haben Sie Max Bescheid gesagt?« »Den hab ich nicht erreichen können.« »Ja - ich hab es auch ein paar Mal probiert. Gut, Anni, dann machen Sie den Laden dicht und gehen Sie nach Hause. War ein langer Tag heute.« »Na dann servus, Lilly, ich hab schon noch ein bisschen zu tun und die Frauke schau ich mir hier noch an - ist ja nur noch eine halbe Stunde bis Exclusiv. Und ach - fast hätt ich's vergessen: Der Herr Sanchez hat angerufen - der ist auch schon in der Stadt. Er ist im Hotel Kaiserworth zu erreichen.« »Alles klar, Anni - dann bis morgen.« Ronny musste warten. Erstmal musste ich Mikey von der Gegenwart Pamelas und ihres Monsterhundes erlösen und dann stand Max auf der Liste. Ich nahm den Gartenweg. Die Tierarztpraxis war in einem zweigeschossigen Fachwerkhaus untergebracht, das rechts neben dem Hof lag. Früher hatte ein Garten dazugehört, der hinter dem Haus lag, der war aber irgendwann von einem früheren Besitzer des Hofes aufgekauft worden, sodass mein Anwesen - Hof inklusive Garten - L-förmig war und der Gartenteil mit Pool hinter dem Tierarzthaus lag. Allerdings von einem halben Dutzend alter Obstbäume abgeschirmt und durch eine niedrige Steinmauer getrennt. Neugierige Tierarzt-Klienten hatten nur im Winter einen freien Blick auf diesen Teil meines Gartens. Im Sommer guckten sie sich vergebens nach der berühmt-berüchtigte Nachbarin die Augen aus. Auch der Tierarzt hatte einen Garten, der befand sich jedoch hinter dem Haus und würde von einer unserer Scheunen links und von einem Stall und einer Pferde-Praxis rechts eingerahmt. Der Hof zwischen
Haus und Nebengebäuden war asphaltiert und nicht, wie bei uns, mit Kopfstein gepflastert. Ich hüpfte über die Mauer und ging auf die Rückseite des Hauses zu. Das machte ich eigentlich immer so, der Weg war kürzer und wir hatten ein gutes nachbarschaftliches Verhältnis. Herrn Hofmeier war es auch gestattet, morgens ein paar Bahnen in unserem Pool zu ziehen. Das freute unsere Sekretärinnen, denn er war nicht gerade hässlich, was es in ihren Augen verzeihlich machte, dass er nie seinen Doktor gemacht hatte. Er war unverheiratet, braun gebrannt und dunkelhaarig, etwa eins neunzig groß, hatte ein breites Kreuz und ein einnehmendes Lächeln. Und eine erstklassige Schwimmerfigur. Als er das erste Mal den Pool benutzte, war er sogar nackt geschwommen und wir standen alle schwärmend am Fenster, aber ich musste ihn dann doch bitten, sich in Zukunft bedeckt zu halten, um den Arbeitsablauf in meinem Betrieb nicht zu gefährden. Für meinen Geschmack war er mit den Tieren etwas zu grob, aber nachdem ich das einmal klargestellt hatte, gab er sich mit Mikey mehr Mühe. Der Hof war leer und ruhig, die Hintertür zur Praxis angelehnt, also trat ich ein und ging durch den Raum, der früher wohl mal eine Waschküche war und jetzt als Lager diente. An der Praxistür blieb ich stehen und lauschte, ob er gerade bei einer Behandlung war. Ich öffnete die Tür einen Spalt und ertappte mich bei der für eine ländliche Tierarztpraxis zutreffenden, aber ansonsten nicht besonders poetischen Metapher »Ich glaub, mich tritt ein Pferd«. Hofmeier und Pamela waren über einen blitzblank verchromten Behandlungstisch gebeugt und zogen sich mit Strohhalmen zwei fette Lines Koks in die Nasen. »Tschuldigung, ich will ja nicht stören, aber wo ist Mikey?« Die beiden bewegten sich wie ein Mann und standen verlegen und gleichzeitig euphorisch hinter dem Tisch. Pamela zog noch mal geräuschvoll die Nase hoch. »Lilly! Hallo, ä'h...« Peter Hofmeier errötete und trat schnell vor den Tisch, als ob er verbergen wollte, was ich schon längst gesehen hatte. Pamela blieb wo sie war und wirkte wie ein Schulmädchen, das man beim Abschreiben erwischt hat. »Hallo Peter, ich möchte den Hund abholen - was ist überhaupt mit ihm los? Wie geht es ihm?« »Alles halb so schlimm. Er ist nebenan. Ich musste mit ein paar Stichen nähen, aber er wird wohl gerade wieder aus der Narkose aufwachen.« Wir gingen in einen Nebenraum und dort lag Mikey auf einem Stapel Wolldecken. Er wackelte mit dem Hintern und gab ein paar quiekende Laute von sich. Ich setze mich zu ihm und tätschelte ihn. Hofmeier hockte sich dazu. »Das da eben, das...« »Das interessiert mich nicht, Peter. Wir sind erwachsene Menschen und was mich angeht - ich habe nichts gesehen. Ich möchte dich nur darum bitten, meine Darsteller nicht mit Koks zu versorgen, solange sie für mich arbeiten. Jemand, der zugedröhnt am Set erscheint, fliegt raus. Behalte das einfach im Hinterkopf, okay?«
»Aber klar. Natürlich. Wird nicht wieder vorkommen. Also, wenn du was möchtest...« »Nein danke, ich möchte nicht. Ich möchte nur Mikey mit nach Hause nehmen und einen ruhigen Abend haben. Morgen wird ein harter Tag.« »Okay.« »Na komm, Kleiner«, sagte ich, und Mikey rappelte sich auf. Er war noch etwas benommen und torkelte neben mir her, als wir zurück in den Behandlungsraum gingen. »Komm übermorgen mit ihm vorbei, dann will ich ihn mir nochmal anschauen.« »Lilly, hast du einen Moment Zeit?«, wisperte Pamela mich an - normalerweise konnte man selbst ihr Flüstern durch einen ganzen Raum hören. »Komm mit rüber - ich muss noch meine Sachen holen. Wie geht's deinem Hund?« »Der schläft noch. Wird aber wieder, sagt der Doktor.« »Na gut.« Ich wandte mich Peter zu. »Wir sehen uns dann übermorgen. Können wir das mit der Rechnung dann erledigen?« »Ach Schwamm drüber. Das war doch Nachbarschaftshilfe.« »Dann dank ich dir, Peter.« Wir gingen durch die Hintertür auf den Hof. Pamela war jetzt sehr zappelig. »Nicht dass du denkst, dass ich ein Drogenproblem habe, Lilly, also echt nicht. Es war nur so - wir sind ins Gespräch gekommen, und dann fing er an zu schwärmen, dass er das reinste Zeug hat medizinische Qualität. Und das wollte ich schon gern testen.« »Du weißt was passiert, wenn du zugekokst zur Arbeit erscheinst?« »Natürlich - das wird nicht passieren, ich schwör's dir!« Wir waren an der Mauer zum Garten angelangt, und ich musste Mikey darüber hinweghelfen, er war noch zu benebelt, um den Sprung alleine zu schaffen. Ich kletterte hinüber und drehte mich zu ihr um. »Okay. Dann sehen wir uns übermorgen. Tschüss.« »Da wäre noch was.« »Pamela, wenn du schon wieder einen Vorschuss brauchst, dann komm morgen ins Büro. Mehr als fünfhundert Mark sind nicht drin. Und wenn ich nur den leisesten
Verdacht habe, dass das Geld durch die Nase geht, dann hast du das letzte Mal für mich gearbeitet.« »Ist ja gut«, schmollte sie und fingerte an ihren Haaren herum. »Danke.« »Bis dann.« Ich packte meine Reisetasche in den Kofferraums meines Wagens und verfrachtete Mikey auf den Beifahrersitz. Dann setze ich mich hinters Steuer. Brave Kleinstädter befürchten ja immer, dass es die Großstädter sind, die Unzucht und Kriminalität in ihr beschauliches Leben bringen. Das war in der Regel gar nicht nötig, denn wenn man richtig hinschaute, wurde man auch in der Kleinstadt fündig. Drogen in der Tierarztpraxis - wenn das ans Licht käme, dann würde man zweifellos sofort den Bezug zur Nachbarin herstellen, denn der Tierarzt war einheimisch und hatte einen guten Ruf. Kein Wunder - bei dem Aussehen rannten ihm die Leute die Praxis ein, sobald ihr Hamster auch nur einen melancholischen Blick zu haben schien. Ich musste wieder an Elke Brenner denken. Wer rechnet schon damit, in einen Kriminalfall hineingezogen zu werden. Zwei Straftaten, auf die Gefängnis stand, an einem Tag! Wenn man mit so etwas wie Mord konfrontiert wird, dann fühlt man sich hilflos, schutzlos, bedroht. Das wacklige Urvertrauen, das ich in die Gerechtigkeit des Schicksals hatte, geriet gerade heftig ins Wanken. Aber ich würde mich nicht aus der Bahn werfen lassen von Ereignissen, auf die ich keinen Einfluss nehmen konnte. Schicksal ist das, was man nicht eingeplant hat. Damit zu leben hieß, sich wieder auf seine Pläne zu konzentrieren. Dabei half eine feste Umarmung von zwei starken Armen eigentlich immer. Ein liebender Partner ist ein wertvolles Gut, und ich sehnte mich in diesem Augenblick so sehr nach Max, dass ich fast ins Schluchzen kam. Die Fahrt von der Firma nach Hause dauerte kaum fünf Minuten. Trotzdem erschien sie mir viel zu lang. Ich stellte den Wagen vor dem Haus ab, ließ Mikey heraus, der noch immer torkelte und beinahe umfiel, als er das Bein hob, um seine Lieblingskastanie zu begrüßen. Max' Jeep war nirgends zu sehen. Ich schnappte mir meine Reisetasche und ging die Treppen zur Haustür hinauf. Durch das Glas in der Tür sah ich, dass im Hausflur kein Licht brannte. Normalerweise ließen wir es immer an. Die Tür war nur einmal abgeschlossen, auch das war nicht üblich. Die Villengegend von Goslar war für Einbrecher äußerst attraktiv, und wenn einer von uns das Haus verließ, dann stellte er die Alarmanlage ein und ließ das Licht im Flur an. Mikey trödelte die Treppe herauf und drückte sich an meinen Beinen vorbei ins Haus. »Max?«, rief ich, als ich die Tür hinter mir zuzog. Mikey bellte. Niemand antwortete. »Maax?«
Es blieb still im Haus. Auch Mikey begriff, dass Max nicht hier war, und ging in die Küche, um seinen Fressnapf zu überprüfen. Ich stellte meine Tasche ab, ging in die Küche und kochte mir einen Tee. Die Uhr an der Mikrowelle zeigte achtzehn Uhr achtundzwanzig. Lilly hatte ihm die größte Suite gebucht, die das Hotel Kaiserworth zu bieten hatte. Er erkannte es sofort, als er sie betrat, und wusste die Geste zu schätzen. Sein abenteuerliches Leben hatte ihn schon in Hotels jeglicher Kategorie residieren lassen, und es beruhigte ihn, dass der Standard der Räumlichkeiten von gehobenem Niveau war und ihn nicht an die schlimmen Absteigen erinnerte, in denen er die letzten Wochen seiner Drogen-Karriere verbracht hatte, bis man ihm selbst dort keine Zimmer mehr gab, weil seine Zahlungsunfähigkeit ihm ins Gesicht geschrieben stand. Nach der gepflegten, ganzheitlich orientierten Unterbringung in der amerikanischen Entzugsklinik hätte ihn ein Kleinstadthotel der niedrigen Preisklasse schwer deprimiert. Und er hatte sich das Versprechen abgerungen, sein Leben nicht durch äußere Einflüsse in Gefahr zu bringen, die nur eine Rechtfertigung darstellten, zum Telefon zu greifen und den Dealer anzurufen. Er wusste, dass er von nun an Verantwortung übernehmen musste und dass die bequeme Möglichkeit des Ausklinkens und Verdrängens für ihn nicht mehr in Frage kam. Sie hatte ihn fast das Leben gekostet, und wenn er in der Klinik etwas gelernt hatte, dann war es, das Leben selbst in die Hand zu nehmen - etwas, was Lilly ihm schon vor Jahren erfolglos und beinahe penetrant gepredigt hatte. Sie hatte Recht behalten, aber er war damals noch nicht so weit gewesen. Er hatte erst den Horror durchleben müssen, dem er gerade entronnen war, um das Prinzip der Selbstverantwortung zu begreifen. Vielleicht - wenn Lilly ihm etwas Zeit gegeben hätte ... Doch stattdessen hatte sie ihn aus ihrem Leben geworfen, als es ihm schlecht ging. Genau das war das Problem mit dem Prinzip der Selbstverantwortung - manchmal musste man über Leichen gehen, um das zu bekommen, was gut und richtig für einen selbst war. Das Erste, was er tat, noch bevor er seine Koffer ins Schlafzimmer brachte um auszupacken, war, die zwei kleinen Schachteln aus seinem Seesack zu holen. Es grenzte an ein Wunder, dass sie sich noch in seinem Besitz befanden und nicht wie der Rest seiner Habe irgendwann gestohlen, versetzt oder in einem fremden Haus vergessen worden waren. Die größere war etwa dreißig Zentimeter lang und zehn Zentimeter hoch, sie war sorgfältig gearbeitet. Eine schwarze Lackschatulle verziert mit indischen Symbolen. Er legte sie auf den Couchtisch. Die zweite Schachtel war kleiner und schmuckloser. Sie bestand aus rauem Holz, das unsauber mit schwarzer Farbe angemalt war. An einigen Stellen konnte man noch die graue Holzfaser durchschimmern sehen. Der Deckel der Schachtel war mit einem schlampig ausgeführten weißen Kreuz bemalt. Er erinnerte sich vage daran, dass er es mit zwei energischen Strichen mit einem Tippex-Pinsel aufgetragen hatte. Er warf den Seesack auf einen Sessel und setze sich an den Tisch. Es vergingen mehrere Minuten, in denen er nur dasaß und auf die beiden Schachteln schaute. Die beiden kleinen Särge seines Lebens.
Das Kreischen einer Krähe, die am angelehnten Hotelfenster vorbeiflog, riss ihn aus seinen Gedanken, er öffnete die größere Schatulle und holte die hölzerne Statue heraus, die Lilly ihm im ersten Jahr ihrer Liebe geschenkt hatte. Sie waren über einen indischen Jahrmarkt geschlendert, und es war einer der wenigen Tage gewesen, an denen er nicht vierundzwanzig Stunden lang stoned von preiswertem und hochwertigem Hasch war. Er hätte sonst die fremde Kultur nur durch einen Schleier der Gleichgültigkeit wahrgenommen und Lilly wäre ausgerastet. An diesem Tag, an dem sein Verstand klar war und seine Augen fast übergingen von der Andersartigkeit des Lebens in diesem Land, an diesem Tag machte ihm Lilly ein Geschenk. Die Skulptur, die jetzt vor ihm auf dem Couchtisch des Goslarer Hotels stand. Damals war sie allerdings noch unbeschädigt gewesen. Er öffnete die Schatulle, die mit einem Kreuz verziert war, und legte das abgebrochene Stück Holz neben die Statue. Lilly hatte an ihrem letzten Abend nach der Figur gegriffen und sie verzweifelt und hasserfüllt gegen eine Wand geworfen. Ihn schauderte, als er sich an die Szene erinnerte, die das Ende ihrer Liebe beschrieben hatte. Ihr letztes gemeinsames Erlebnis, der Abend, der damit endete, dass sie ihn vor die Tür setzte. Der Anfang seines zähen, langwierigen und gnadenlos demütigenden Abstiegs. Die Statue war aus grob geschlagenem Holz, das in krassem Widerspruch zu der kunstfertigen Schatulle stand, und stellte einen archaischen Mann mit überdimensioniertem Kopf dar. Daneben auf dem Tisch lag der ebenso überdimensionierte Phallus, der durch Lillys Wutattacke abgebrochen war. Er nahm den Phallus in die Hand und betrachtete ihn eingehend. Aus seiner Jackentasche zog er eine kleine Tube Alleskleber, die er im Drogeriemarkt am Bahnhof gekauft hatte, und begann mit sorgsamen Strichen den Stumpf des Holzpenis' damit zu bestreichen. Als er ihn an der Statue angeklebt hatte, lehnte er sich in seinem Sessel zurück und starrte das Kunstwerk an. Zufrieden griff er noch einmal in die kleine schmucklose Schatulle. Er legte das Briefchen neben die Figur auf den Tisch. Darin befand sich ein Gramm Kokain. Erst, als es draußen dunkel wurde, merkte Ronny Sanchez, wie viel Zeit vergangen war- hatte nicht irgendwann das Telefon geklingelt? Er stand auf, machte Licht und ging wieder zurück, setzte sich, legte die Beine übereinander und ließ seinen Blick über die Objekte auf dem Tisch wandern. Hin und her. »Das ist Exclusiv, ich bin Frauke Ludowig, und das sind unsere Themen: Jenny und Container-Alex - geheimes Liebesnest in Berlin? Gotthilf Fischer und die Spätwirkungen der Love-Parade-Pille und Lilly DeLight: Nur noch Sex mit Max.« Frauke Ludowig sah hervorragend aus, leicht gebräunt, perfekt gesträhnt und strahlte wie immer die perfekte Mischung aus Klasse, Sex und Warmherzigkeit aus. »Hallo, liebe Zuschauer, es ist schon etwas ganz Besonderes, wenn eine Königin dem Thron entsagt, doch genau das ist heute in Berlin geschehen. Lilly DeLight hatte am Mittag Vertreter der gesamtdeutschen Medien zu einer Pressekonferenz ins Luxushotel Astor eingeladen. Und machte es zunächst einmal spannend. Mit halbstündiger Verspätung erschien sie in einem für ihre Verhältnisse recht bedeckten Gucci-Ensemble und ließ die Bombe platzen.« Das Fernsehbild wechselte von der Studioanmoderation auf den Filmbeitrag.
Man sah mich mit Rita hinter dem Rednertisch sitzen. »Ich trete ab.« - »Ich habe alles erreicht, was ich in dieser Branche als Darstellerin erreichen konnte, und man muss wissen, wann es Zeit ist abzutreten und dem Nachwuchs eine Chance zu geben.« - »Wenn Greta Giehse meint, in ihren eigenen Pornos spielen zu müssen, dann kann ihr das niemand verbieten. Inge Meysel hat ja auch noch niemand ins Altenheim gesteckt.« Na, das hatten sie ja prima zusammengeschnitten! »Lilly beruhigte uns jedoch mit der Ankündigung, weiterhin in der Branche tätig zu bleiben und ab sofort hinter der Kamera zu stehen. Bekannterweise ist ihre Produktionsfirma mittlerweile eine der erfolgreichsten in ganz Europa. Neben professionellen Gründen gab Lilly auch private Faktoren an, die ihren Rücktritt von der Porno-Front beeinflusst haben - ihren Ehemann Maximilian Winter, der in Zukunft den Exklusivitätsanspruch auf Sex DeLight haben wird. Ob da vielleicht gerade eine kleine Familie in Planung ist? Die nächsten Monate werden es zeigen. Und wir bei Exclusiv bleiben natürlich dran am Thema. Von hier aus schon einmal ein herzlicher Glückwunsch an Lilly und Maximilian.« Das durfte doch nicht wahr sein! Jetzt unterstellten sie mir auch noch eine Schwangerschaft. In den nächsten Wochen würde die ganze Welt auf meinen Bauch starren. Es ärgerte mich, dass Max nicht hier war. Er hätte so eine Meldung sicherlich gleich als Aufforderung verstanden, sie zu erfüllen. Ich schaltete den Ton weg und nippte an meinem Tee. Die bunten Fernsehbilder rauschten vorbei, ohne dass ich auf die Geschichten achtete. Meine Gedanken wanderten von Max zu Elke Brenner, deren finsteres Ableben offenbar noch nicht bis in die Extra-Redaktion vorgedrungen war. Vielleicht war es auch nicht spektakulär genug, einfach so umgebracht zu werden, das mochte eher Stoff für Explosiv sein, aber nicht für das Star-Magazin. Der Zusammenhang mit meiner Konferenz könnte allerdings ausreichen, den Beitrag bei Frauke zu senden. Drei Minuten Sendezeit. Für fünfundvierzig Jahre Leben. Ich stellte mir vor, was die Vollblutjournalistin Brenner wohl davon gehalten hätte, einmal in ihrem Leben eine Schlagzeile zu liefern und das nicht etwa, weil sie sie selbst verfasst hatte, sondern nur, weil sie in Verbindung mit einer Promi-Berichterstattung gestorben war. Als ich aufwachte, musste ich mich erst einmal orientieren, wo ich war. Auf der Couch im Wohnzimmer. Es war dunkel und nur der Fernseher schickte flackernde Lichter durch den Raum. Ich sah eine Werbung für meine Telefon- Sex-Hotline - so spät war es also schon! Mikey hatte sich zu meinen Füßen auf die Couch gelegt. Ich stand auf und schaute auf die Uhr - kurz nach Mitternacht. Der Hund war offenbar noch nicht ganz über seine Narkose hinweggekommen, denn er blieb auf dem Sofa liegen, anstatt mein Aufstehen als Anlass für eine Runde Gassi gehen zu betrachten. Ich streckte mich und machte mich auf den Feg die Treppe hoch ins Schlafzimmer. Ich dachte noch, was es für eine verzickte Unverschämtheit von Max war, nach
Hause 21 kommen und mich nicht einmal zur Begrüßung zu wecken, als ich die Tür zum Schlafzimmer öffnete. Das Bett war leer. Mir wurde kalt. In zwei Jahren Ehe war es noch nicht vorgekommen, dass einer von uns beiden über Nacht weggeblieben wie, ohne den anderen zu informieren. Das gab es einfach nicht. Es war nicht einmal eine Frage der Höflichkeit, sondern schlichtweg selbstverständlich, dass Max und ich immer wussten, wo der andere war. Wozu ist man denn sonst auch bitteschön verheiratet? Wir konnten uns aufeinander verlassen. Und nun das. Klar, es war sein gutes Recht, wegen Ronny sauer zu sein, aber das war nah lange keine Rechtfertigung, sich die Nacht irgendwo um die Ohren zu schlagen wer weiß wo und wer weiß mit wem. Das war ein so typisches MännerKlischee, dass es mich fuchsteufelswild machte. Anstatt, dass man die Sache bespricht, die Fronten klärt und den Streit aus der Welt schafft, absentiert sich der Held geht dem Stress aus dem Weg, damit er am längeren Hebel sitzt und ausgiebig schmollen darf. Und davon natürlich jede Minute auskostet. Wann kommt er denn sonst schon dazu, das so genüsslich zu tun? Diesmal würde die Rechnung allerdings nun aufgehen, weil er wenn er nicht total verkorkst war sich so gründlich dafür schämen würde, mir an einem Tag wie diesem nicht zur Seite gestanden zu haben, dass er sich ein Erdloch suchen wird, um darin vor Scham zu versinken. Es sei denn - es sei denn, ihm war etwaspassiert... Obwohl es unwahrscheinlich war, dass er sich bei Rita gemeldet hatte, rief ich bei ihr an. »Hast du schon geschlafen?« »Nein, ich lese gerade noch. Was gibt's Jenn?« »Max ist nicht nach Hause gekommen.« »Es ist doch erst zwölf, er ist bestimmt unterwegs.« »Ich weiß nicht - sowas macht er sonst nicht. Ich mach mir Sorgen.« »Ruf doch seine Sekretärin an und frag sie, ob sie etwas weiß. Es ist doch klar, dass du besorgt bist - nach diesem Tag!« »Wenn ich seine Sekretärin um diese Uhrzeit aus dem Bett klingele, dann weiß es morgen Mittag die ganze Stadt! Ich kann die doch jetzt nicht anrufen und fragen: >Wo ist mein Mann?kein Kommentare« Ich mischte mich ein: »Um es noch einmal auf einen Punkt zu bringen. Die Fakten sind die folgenden: erstens Johann Werner ist ermordet worden und zweitens mein Mann ist unauffindbar. Ihr alle habt Max erlebt und wisst, dass da kein Zusammenhang bestehen kann. Ich kann und will euch nicht verbieten, der Presse Auskunft zu geben, aber bitte behaltet im Hinterkopf: Wir haben einen Film fertig zu stellen, und ich möchte nicht, dass die Arbeit daran durch das Verbreiten von Gerüchten oder Spekulationen erschwert wird. So schlimm es ist - die Rolle von Johann muss umbesetzt werden und wir sind für Vorschläge dankbar.« »Wir müssen davon ausgehen, dass Johanns Familie die Schuld an seinem Tod der Porno-Industrie zuschieben wird. Einige von euch kennen seinen Background. Es hängt viel davon ab, wie ihr euch präsentiert, denn ein Teil der Medien wird die
ganze Branche unter Beschluss nehmen und versuchen, uns alle, die wir hier versammelt sind, moralisch zu verurteilen. Es liegt also auch an euch, dieses Bild gerade zu rücken und deshalb noch einmal: ein >kein Kommentar< ist in einigen Fällen dienlicher als ein unkontrollierter Redefluss.« Als Rita das sagte, bedachte ich Pamela mit einem eindringlichen Blick und sie senkte die Augen. Ich ließ meinen Blick zu Tim wandern. Er schaute selbstvergessen aus dem Fenster. »Soviel also zum Umgang mit der Presse. Lilly, hast du noch etwas hinzuzufügen?« Rita schaute mich fragend an. »Sollte sich jemand bei euch erkundigen, ob ich tatsächlich schwanger sei, könnt ihr ruhigen Gewissens sagen, das sei nichts als ein Gerücht. Anni wird euch jetzt die überarbeiteten Drehpläne geben und ich hoffe, dass die Terminänderungen für euch akzeptabel sind. Wenn nicht, dann sagt es bitte gleich, damit wir noch Zeit haben, umzudisponieren. Der Drehbeginn wird nicht verschoben, das heißt wir beginnen Morgen um zehn Uhr mit den Dreharbeiten im Krummen Haus.« Pamela meldete sich zu Wort. »Vielleicht hat Rolf Wagner Zeit, Johanns Rolle zu übernehmen.« »Rolf haben wir noch nicht erreichen können.« Rita log diplomatisch. Wir hatten Rolf noch gar nicht kontaktiert. Er kam wirklich nur im Notfall in Frage. Er war PitbullBesitzer, grobschlächtig und laut und überhaupt nicht für den Part des Priesters geeignet. »Das war's jetzt von unserer Seite. Wenn ihr noch Fragen oder Vorschläge habt, dann kommt in mein Büro.« Ich stand auf und wandte mich an Anni. »Ruf bitte im Kaiserworth an und erkundige dich nach Ronny Ich drehe durch, wenn noch ein Mann verschwindet.« Zu diesem Zeitpunkt fürchtete ich tatsächlich durchzudrehen, aber wenn da Schlimmste eintritt, dann fährt der Körper Energiereserven auf von denen man nicht ahnt, dass man sie besitzt. »Wie war's mit Christopher?« Dana lehnte sich vor, um ihre Zigarette auszudrücken. Sie saß mit den anderen Hauptdarstellern und den beiden Kameramännern Rick und Daniel auf der Sitzgruppe in meinem Büro. »Ich dachte der dreht nur für Greta.« Pamela musste natürlich gleich die NegativAspekte ins Spiel bringen. »Aber wenn man ein vernünftiges Angebot macht, lässt er sich vielleicht überreden.« »Das hat keinen Zweck«, sagte ich, »er hat einen Exklusivvertrag.« »Man kann es doch trotzdem mal probieren.« Das war der Grund, warum Pamela so schwer zu ertragen war. Sie nervte ganz einfach. »Pamela, ich habe keine Lust, Stress mit Greta zu bekommen. Christopher steht nicht zur Debatte. Ende der Diskussion.« Sie schob die Unterlippe vor und schmollte wie ein Schulkind. »Wo ist überhaupt Ronny? Hat jemand von euch ihn gesehen?«
»Nee. Beim Frühstücksbüfett war er nicht. Gestern Abend habe ich ihn im Hotel gesehen. Er hat im Fitness-Studio trainiert. Mann, sieht der geil aus.« Dana nickte anerkennend mit dem Kopf. »Kennt ihr Angel?«, fragte Simone. »Den habe ich in einer amerikanischen Produktion gesehen. Er hat sogar Ähnlichkeit mit Johann.« »Weißt du, welche Agentur ihn vertritt?« Rita hatte den Kugelschreiber schon auf dem Papier. »Ich hab nur seine Privatnummer.« Sie kramte in ihrem Rucksack nach dem Adressbuch. Draußen rumpelte ein Auto über das Kopfsteinpflaster des Hofes. Ich konnte nicht anders - ich sprang auf und hechtete zum Fenster, um zu sehen ob es Max' Jeep war. Aber nein, es war nur ein Taxi. Die Autotür öffnete sich und im selben Moment riss der Himmel auf und zwischen den grauen Wolken trat für einen kurzen Augenblick die Sonne hervor und badete Ronny in einem traumhaften Morgenlicht. Dana hatte Recht gehabt. Die letzten Jahre mochten hart mit ihm umgesprungen sein, aber man sah ihm nicht an, dass er durch die Drogenhölle gegangen war. Er strahlte und leuchtete - die Sonne war vermutlich aus purer Neugier hervorgekommen, um einen Blick auf ihn zu erhaschen und nun, da sie ihr Licht auf ihn geworfen hatte, zog sie sich wieder hinter schweren grauen Wolkenschwaden zurück. Gott, war ich erleichtert ihn zu sehen! Aber Erleichterung war längst nicht alles was ich fühlte. Ich ärgerte mich darüber, dass ich mich so über seinen Anblick freuen konnte. Dass er uns hatte warten lassen und nicht zur Versammlung erschienen war. Aber dieser Arger war gar nichts im Vergleich zu der Enttäuschung und der Wut darüber, dass ich sechs Jahre darauf hatte warten müssen, ihn wieder als den Menschen zu sehen, in den ich mich einmal Hals über Kopf verliebt hatte. Und nun stand er da - schaute sich im Hof um, und ich schob die Wut beiseite. Kann man eifersüchtig sein auf die Zeit? Auf die sechs Jahre, die sie zwei Menschen voneinander fern gehalten hat? Selbst, wenn ich Schluss gemacht hatte mit ihm und selbst wenn ich wusste, dass die vergangenen Jahre für ihn ein Horrortrip gewesen sein mussten und selbst wenn ich in dieser Zeit mein eigenes Leben in die richtigen Bahnen gelenkt hatte - ich hatte eine Sehnsucht nach dem Unmöglichen. Dass damals alles anders gelaufen wäre. Besser, harmonischer. Dass es nie vorbeigegangen wäre. Trauer, Wut, Enttäuschung, Erleichterung, in mir lärmten die Emotionen wie ein eingespieltes Orchester. Ronny schaute zum Fenster hoch und unsere Blicke trafen sich. Mir schössen Tränen in die Augen. Sechs Jahre lang hatte ich fast jeden Tag an diese blaugrünen Augen gedacht. »Fast«, sage ich ... eine Lüge. Jeden Tag, seit wir getrennt waren. Das hatte ich mir noch nie zuvor eingestanden. Es war in der Tat kein Tag vergangen, an dem ich nicht an Ronny gedacht hätte. Und hier stand er nun. In Jeans, mit einem für das Wetter viel zu dünnen T-Shirt mit dem Logo von
Drei Engel für Charlie, das sich über der breiten Brust spannte. Seine blonden Haare waren länger als früher. Etwas verwuselt und mit vom Sonnenlicht ausgeblichenen hellen, fast weißen Strähnen. Er war schlanker, markanter und wirkte doch jünger als damals. Keine Spur von der harten Zeit, die er durchlebt hatte. Ich war so in diesem Anblick gefangen, dass ich das Telefon überhaupt nicht wahrgenommen hatte. Anni stand neben mit und reichte mir den Hörer. »Hallo, hier Klein, wir haben den Wagen Ihres Mannes im Parkhaus des Hannoveraner Flughafens aufgefunden. Eine Überprüfung an den Terminals der einzelnen Fluggesellschaften hat jedoch noch nichts ergeben.« Die Klimaanlage lief auf Hochtouren und trotzdem rannen kalte Schweißtropfen an seinen Armen herab. Er roch an seiner Achsel und grunzte zufrieden. Vor sich auf dem Schreibtisch lag eine Plastiktüte mit der Aufschrift »Hustler«, daneben ein Stapel Videokassetten. Er saß in seiner weißen Calvin-Klein-Unterwäsche a m Tisch, zog die Cover aus den Plastikhüllen und legte sie sorgfältig auf einen Stapel. Es klopfte an der Zimmertür. Er erhob sich schwerfällig und öffnete dem Portier. »Sie hatten um eine Schere gebeten.« »Danke«, stieß er widerwillig hervor und registrierte den gierigen Blick des jungen Mannes in der Hoteluniform. »Drecksschwuchtel«, zischte er kaum hörbar und knallte ihm die Tür vor der Nase zu. Mit langsamen Schritten durchquerte er den luxuriösen Raum und ging zurück an seine Arbeit. Wenn Lilly etwas anpackte, dann machte sie es richtig. Die Unterbringung der Crew war vom Feinsten. Er hatte andere Drehs bei anderen Produktionen erlebt und nahm den Unterschied anerkennend zur Kenntnis. Ein Teufelsweib. Was sie anpackte gelang ihr. Sie hatte den Sprung geschafft. Sie war die Einzige in der Branche, die Hardcore drehen und bei Wetten dass auftreten konnte. Nicht nur die Boulevardpresse liebte sie, auch die Feuilletons der großen Tageszeitschriften schrieben wohlwollende Artikel. Das musste doch für einen Mann auch zu schaffen sein. Eddie Hart schaute prüfend in den Spiegel, der über dem Schreibtisch hing, und strich sich über das stoppelige Kinn. Er mochte, was er da sah. »Hey, Alter. Du bist der Beste.« Er gönnte seinem Spiegelbild ein verwegenes Lächeln. Zwischen seinen Schneidezähnen hafte sich ein Wurstrest vom Frühstück festgesetzt, den er jetzt mit dem Fingernagel entfernte und in die Luft schnipste. Er nahm die große silberne Schere und griff sich das obenliegende Videocover, das ihn in einer Reihe mit zwei männlichen Kollegen zeigte. Die drei standen in Polizeiuniform und mit Schlagstöcken vor einem weißen Hintergrund. Vor ihnen auf einem Barhocker thronte Lilly in einem transparenten weißen Fummel, die Hände unter dem Busen verschränkt, der Mund leicht geöffnet, der Gesichtsausdruck eine Mischung aus Einladung und Überlegenheit. »Du kannst mich haben«, schien dieses Gesicht zu sagen, »aber du musst der Beste sein.« Bullenreiten stand über dem Foto
und darunter in großen Lettern der Name Lilly DeLight. Etwas kleiner gesetzt folgten die Namen der drei männlichen Darsteller. Seiner war erst an zweiter Stelle genannt. Akribisch genau setzte er die Schere an und bearbeitete das Cover, bis seine Kollegen nur noch ein Papierstreifen waren, den er mit einem hörbaren Schnipp der Schere vom Titelbild abtrennte. Zufrieden betrachtete er sein Werk und schob das beschnittene Cover zurück in die Plastikhülle. »Schon besser«, dachte er, nahm den Papierstreifen, auf dem seine beiden Kollegen zu sehen waren und überlegte kurz wohin damit. Aus irgendeinem Grund widerstrebte es ihm, die Schnipselfiguren in den Papierkorb zu werfen, also zog er die Schreibtischschublade auf und deponierte die beiden vorerst dort. Es würde ihm schon noch etwas Passendes einfallen. Wieder rann eine Schweißperle an seinem Körper herab, er spürte ihren Weg auf seiner Haut, wischte sie fort und nahm sich das nächste Coverblatt vor.
Kapitel 6 »Tut mir Leid, dass ich es nicht pünktlich geschafft habe, aber als dein Büro anrief, war ich gerade bei meinen Yoga-Übungen. Dabei kann ich mich nicht aus dem Konzept bringen lassen. Wenn ich nicht anderthalb Stunden Yoga gemacht habe, laufe ich durch die Gegend wie ein halber Mensch.« Aus der Nähe betrachtet waren die Spuren der Zeit in seinem Gesicht schließlich doch sichtbar. Um seinen linken Mundwinkel zogen sich zwei haardünne Linien, auf der rechten Seite war es nur eine. »Ich kann nur mit einer ganz straighten Disziplin leben. Wenn ich mich davon ablenken lasse, dann ...« »...brechen die alten Gewohnheiten wieder durch?«, schlug ich vor und versuchte so beiläufig zu klingen, wie es mit heftig schlagendem Herzen nur möglich war. »Nein, so würde ich das nicht sagen. Das ist vorbei. Ich weiß genau, dass ich das hinter mir habe. Das heißt, dass das nächste Mal wirklich das Ende bedeuten würde. Aber an Tagen, wo ich nicht konsequent meine Disziplinen durchgezogen habe, hatte ich viel häufiger Verlangensattacken.« »Verlangensattacken!« Ich konnte mir sehr gut vorstellen, wie sich sowas anfühlt, steckte ich doch gerade mitten in einer solchen drin. »Ja - du musst dir das so vorstellen: in den Momenten, wo du früher eine Line gezogen hättest, empfindest du jetzt eine Leere. Fast wie ein Sog. Mieses Gefühl. Man kommt nur drüber weg, wenn man diese Leere füllt. Anders besetzt.« »Und dann machst du den Lotossitz, und alles ist gut.« Es war als netter Joke gedacht, aber ausgesprochen hörte es sich gemein an. »Na ja. So einfach ist es auch nicht, aber beim Yoga lernst du, deinen Körper zu lieben und ihn als ein wertvolles Gefäß für deine Seele zu betrachten. Etwas, womit man sorgsam umgeht. Ihn vernünftig zu bewohnen. Es ist eine Form von
Konzentration und gleichzeitig ist es Loslassen - ich kann es nicht besser beschreiben.« »Na, wenn es dir hilft - wunderbar.« Ich fand es nicht ganz einfach, Ronnys neue Beseeltheit mit dem Mann in Einklang zu bringen, den ich so gut gekannt hatte. Es schien ihm gut zu gehen. Ich musste mich zwingen, es ihm zu gönnen. Aber irgendwie kam er mir hirngewaschen vor. Wir saßen zu zweit in meinem Büro. Ich hinter dem Schreibtisch, er davor. Der Schreibtisch schien eine Mauer zu sein, die uns trennte und ich war froh über diese Grenzlinie zwischen uns. »Wie ist es dir ergangen, Lilly?« »Abgesehen davon dass mein Mann verschwunden ist und einer meiner Hauptdarsteller letzte Nacht umgebracht wurde, gut. Du siehst ja selbst.« Ich wies mit der Hand aus dem Fenster. Er wurde aschfahl. »Ermordet? Wer?« »Johann Werner - ich glaube nicht dass du ihn gekannt hast. Er hat erst vor ein paar Jahren angefangen.« »Weiß man denn von wem?« »Nein - die Polizei tappt noch völlig im Dunkeln.« »Das ist - entschuldige - merkwürdig. Ich habe ganz starke negative Strömungen gespürt, als ich hier angekommen bin. Eine Aura von ... Dunkelheit.« Wenn die Situation nicht so tragisch gewesen wäre, hätte ich mich vielleicht innerlich darüber lustig gemacht, dass Begriffe wie »Aura« Einzug in Ronnys Wortschatz gehalten hatten. Aber ich zwang mich, seinen reformierten Lebensstil zu akzeptieren, auch wenn er mir irgendwie sehr forciert schien. »Und dein Mann, warum ist der verschwunden?« »Ich weiß es nicht, Ronny. Ich möchte im Moment auch nicht darüber reden.« Seine Augen versprühten Anteilnahme. Und wenn es einen Erotik-Killer gibt, dann zur Schau gestelltes Mitgefühl. Meine »Verlangensattacke« war vorübergegangen. Ganz ohne Yoga. »Weltliche Güter nützen einem wenig in solchen Momenten, nicht wahr, Lilly?« Genau so gut hätte er mir eine Ohrfeige verpassen können. Zu gern hätte ich ihm vor Augen geführt, dass es meine weltlichen Güter waren, die es ihm ermöglichen sollten, seine Drogenschulden zu bezahlen. Ich tat es nicht. Dieses Treffen, auf das ich tagelang hingefiebert hatte, war nun im Begriff, das Boot meiner Selbstbeherrschung zu versenken. Erwartungen sind Einbahnstraßen ohne
Wendemöglichkeit. Und trotzdem fährt man immer wieder hinein und wundert sich, dass die Erwartungen des anderen einer unerreichbaren Parallelstraße folgen. Erst jetzt wurde ich mir bewusst, wie allein ich war. Richtig allein. Allein und bedroht. Ich schaute Ronny in die vertrauten Augen und sah doch nur einen Fremden mir gegenüber. Es tat weh. »Nein, Ronny, Geld allein macht nicht glücklich. Aber es schafft die besten Voraussetzungen.« Am Nachmittag saßen Rita, Anni und ich mit drei Telefonen bewaffnet haareraufend in Annis Büro und waren noch keinen Schritt weiter, was den Ersatz für Johann anging. Es war, dem Film-Sujet entsprechend, wie verhext. Für diese Produktion hatten wir nur die Besten gebucht und bekanntlich gibt es in jeder Branche nur eine begrenzte Anzahl von Top-Acts. Was von der ersten Porno-Liga noch zur Auswahl stand, war entweder bereits ausgebucht, anderweitig beschäftigt oder bestand, unsere Notlage ausnutzend, auf unzumutbaren Konditionen. Anni hatte es geschafft, den Drehplan so umzustellen, dass wir keinem der Darsteller andere Termine vermasselten und auch niemanden länger buchen mussten, als geplant. Die vier Drehtage, an denen wir Szenen mit dem Priester zu filmen hatten, waren auf die letzten Tage verschoben worden, damit wir möglichst viel Spielraum hatten, jemanden neu zu besetzen. Doch wir kamen keinen Schritt weiter. Unsere Arbeit wurde durch unzählige Anrufe seitens der Presse, die Statements zu Johanns Tod wollte, nicht gerade erleichtert. Rita betete brav immer wieder denselben Text über meine Betroffenheit herunter. Ich wunderte mich, dass ihre Stimme noch immer bei jedem Anrufer gleichermaßen berührt und traurig klang. Jeder Anruf riss uns erneut aus der Arbeit, denn natürlich war es schwer, sich angesichts der Umstände überhaupt auf die Computerdateien zu konzentrieren. Seit Mittag fuhren draußen die ersten Ü-Wagen der Fernsehsender vor, denn mittlerweile waren die Infos über Johann und Elke Brenner durch den Ticker gegangen. Normalerweise stand das Tor zum Hof auf, aber heute hielten wir es geschlossen, da ein normales Arbeiten nicht möglich gewesen wäre, wenn ein halbes Dutzend Nachrichten-Teams das Firmenareal belagert hätte. »Ich fühl mich, als wenn ich drei Tage durchgearbeitet hätte.« Anni rieb sich die Augen. »Wie sehen alle ziemlich übernächtigt aus. Vielleicht sollten wir eine halbe Stande Pause machen, um wieder fit zu werden.« »Ich habe keine Ruhe, bis wir jemanden gefunden haben, der zusagt.« Rita war eine Besessene. Ich bewunderte sie für ihr Durchhaltevermögen, aber manchmal fragte ich mich, ob so ein Lebensstil nicht zu hart war.
»Nein, Rita. Zwangspause. Hiermit verordnet. Schau mal in den Spiegel. Du siehst schrecklich aus. Es hat keinen Zweck wenn wir uns hier verrückt machen, ab Morgen wird es richtig anstrengend, da können wir nicht jetzt schon alle Power verschießen.« »Aber die Zeit rennt uns weg.« »Ein bisschen Spielraum haben wir. Lasst uns die Telefone ausschalten und eine Runde an die frische Luft gehen.« Da der Garten hinter dem Haus lag, konnten uns die Berichterstatter nicht sehen. Das war sehr gut, denn wir mussten wie die Hexen von Eastwick wirken, wie wir mit hängenden Köpfen zwischen hochgezogenen Schultern durch das Gras stapften. Der Anblick des Firmen-Pools hatte mich für eine Schrecksekunde sehr detailliert an den Fund der letzten Nacht erinnert, aber ich schob das Gefühl fort - anderer Pool, anderer Tag - dachte ich mir. Auf der Wasseroberfläche schwamm erstes Laub. »Warum war Ronny eigentlich nicht bei der Versammlung?«, erkundigte sich Rita. »Er war mit seinen Yoga-Übungen beschäftigt.« »Gut schaut er aus.« »Hm.« Die nächsten Tage würden zeigen, wie ich mit dem »neuen« Ronny klarkam. Ich schwankte zwischen rückblickender Gefühlsduselei und Befremdung. Vielleicht hatte er mich gar nicht als unheilige Kapitalistin abstempeln wollen und ich hatte seine Bemerkung viel zu ernst genommen. In dem Szenario, das ich mir in meinen Gedanken gebastelt hatte, war er der Sünder und nicht ich. Es war verwirrend, dass er eine ganz andere Sicht auf die Dinge hatte. Wir setzten uns auf eine Steinbank, schauten auf das beruhigende Grün der Obstbäume und atmeten die saubere Landluft ein. Das Geräusch geschäftiger Menschen drang von der Straße bis in diesen abgelegenen Winkel des Gartens, doch es klang wie von fern, als habe der Menschenauflauf nichts mit uns zu tun. Ein reißendes Quietschen zerriss die Scheinstille und wir drei sprangen fast gleichzeitig auf. »Herrgottsakra!« »Tschuldigung die Damen. Ich wollt Sie nicht erschrecken.« In einem blutbefleckten weißen Kittel stand Peter Hofmeier vor uns und zog die verrostete Pforte, die unsere Grundstücke trennte, hinter sich zu. »Peter! Guten Tag.« Er hatte den Drogenexzess vom Vortag offensichtlich besser verkraftet als Pamela, denn er sah wie immer aus, als sei er gerade dem OttoKatalog entstiegen. Abgesehen von seinem Outfit, das war Berufsrisiko. »Ich habe versucht anzurufen, aber es war ständig besetzt. Und die Straße ist voll mit Journalisten, da wollte ich nicht langgehen.« »Das ist auch besser so, solange du in diesem Aufzug bist.«
»Ich glaube - mir wird schlecht, Entschuldigung.« Rita hielt sich die Hand vor den Mund und rannte auf das Haus zu. Ich hätte nie gedacht, dass sie zu den Leuten gehörte, die kein Blut sehen konnten. Sie schaffte es nicht bis zur Tür und erbrach sich in einen Oleanderbusch. »Oh, sorry.« Hofmeier schaute an sich herab und schien erst jetzt zu bemerken, wie besudelt sein Kittel war. Anni schaute Rita hinterher und wandte sich ab, während Rita ihr Frühstück von sich gab. »Ich kann da nicht hinschaun, da muss ich gleich selber ...« »Tief durchatmen und ein paar Schritte gehen«, empfahl der Tierarzt. Anni folgte seinem Rat und spazierte staksig von Obstbaum zu Obstbaum. »Lilly, ich - äh. Wie soll ich sagen ...« Er druckste herum wie ein Schuljunge. »Sag's einfach.« »Also ja. Die Kripo war vor anderthalb Stunden bei mir und hat mir seltsame Fragen gestellt.« »Was für Fragen?« »Ob ich das Mordopfer gekannt habe. Meine Güte, das muss ja schrecklich für dich sein, wenn jemand umgebracht wird, den du kennst. Mein Beileid, Lilly.« »Ja, es ist schrecklich. Was wollten sie sonst noch wissen?« »Wann ich Max zuletzt gesehen habe, und ob ich dich gestern gesehen habe und was du für einen Eindruck auf mich gemacht hast. Ob du irgendwie auffällig gewirkt hast.« »Ah ja.« »Sie sagten, dass Max verschwunden sei und sein Wagen in Hannover am Flughafen gefunden wurde. Sie wollten wissen, ob ich etwas über seine Reisepläne wusste, aber ich hatte keine Ahnung.« Hofmeiers Statement betreffs der Erkundigungen, die die Polizei über meine »Auffälligkeit« einzog, kam mit einer Retardwirkung bei mir an. »Was ich für einen Eindruck auf dich gemacht habe?« Wenn ein Tatort-Kommissar einem Zeugen eine solche Frage über jemand anderen stellte, dann konnte das nur eines bedeuten: diese Person zählte zum Kreis der Verdächtigen. Ich konnte es nicht fassen. »Ich habe natürlich gesagt, dass mir nichts auffällig vorgekommen ist. Dass du gestern kurz in der Praxis warst, um den Hund abzuholen und dass Pamela das bezeugen kann.« »Pamela. Ausgerechnet. Na die wird sich freuen, wenn sie sich mal richtig über mich auslassen kann. Was wollten sie sonst noch wissen?«
»Nichts Besonderes. Wie lange ich euch kenne, wie das nachbarschaftliche Verhältnis ist, ob ihr eine glückliche Ehe führt. Und ob ich etwas über deine Produktion sagen kann.« »Und was hast du geantwortet?« »Dass ihr einen glücklichen Eindruck macht. Dass Max sich mit deiner Arbeit langsam abgefunden hat.« »Wieso langsam abgefunden?« »Na ja, als ihr euch kennen gelernt habt, da war er schon sehr schockiert über deinen Job.« »Wie kommst du darauf, Peter?« »Er hat es mir selbst gesagt, als wir einen trinken waren, damals.« »Ich bin gespannt, wie die Polizei so etwas einstuft.« Vielleicht musste man Erfahrungen mit der Presse haben, um in einem verhör-ähnlichen Gespräch nicht alles auszuplaudern, was man wusste. Vielleicht reichte aber auch emotionale Intelligenz in Verbindung mit Sympathie für die Menschen, um die es im Verhör ging. Beides war bei Peter Hofmeier nicht in ausreichendem Maße vorhanden. Das war ganz offensichtlich. »Stimmt denn mit euch beiden etwas nicht?« »Irgendetwas stimmt sicher nicht, wenn der Mann auf einmal verschwindet, aber ich kann dir leider nicht sagen, was es ist.« Wenn die Polizei schon den Tierarzt über uns ausfragte, dann hatte sie sicherlich auch die gesamte Nachbarschaft, den Stadtrat und vermutlich auch noch Bäcker, Schlachter und Videothekar abgegrast. Die Vorstellung, was all diese Leute über mein Privatleben sagen würden, drehte mir den Magen um. »Hat sich Mikey gut erholt?« »Ja, Peter. Danke. Ich muss jetzt wieder zurück an die Arbeit.« »Lilly, du weißt - wenn du ein Problem hast, dann kannst du immer zu mir kommen.« Er bewegte sich so schlangenartig schnell, dass ich mich gar nicht wehren konnte und mit einem Mal seine Zunge in meinem Hals, seine Hand auf meinem Hintern hatte. Es dauerte nur eine Sekunde, aber ausgerechnet in dieser Sekunde sah ich Kommissar Klein in den Garten trotten und blickte ihn mit weit aufgerissenen Augen an. Dann schubste ich den Tierarzt mit aller Kraft von mir, sodass er ins Taumeln kam und fast hinten überfiel. »Auf diese Art von Hilfe kann ich verzichten«, zischte ich ihn an und wischte mir den Mund ab.
»Ich weiß nicht, wie es auf Sie gewirkt hat, aber es ist nicht das, wonach es aussieht, das kann ich Ihnen versichern.« Klein schaute mich aus seinen warmen Augen an, die Stirn leicht gerunzelt und ließ mich zappeln wie den metaphorisch überstrapazierten Fisch am Haken. »Er ist praktisch über mich hergefallen, in einer Sekunde fragt er mich, wie es meinem Hund geht, in der nächsten schiebt er mir springt er auf mich los und ich weiß nicht wie mir geschieht. Herr Klein, ich bitte Sie: ziehen Sie bloß keine falschen Schlüsse, das ist der erste Annäherungsversuch dieser Art. Ich habe nichts mit Herrn Hofmeier. Sie sehen doch selbst, ich müsste irre sein, wenn ich unter diesen Umständen knutschend mit dem Nachbarn im Garten meiner Firma herumlungern würde!« Der Tierarzt hatte auf der Stelle kehrt gemacht und war kommentarlos verschwunden. Ich stand mit Klein im Garten und tobte innerlich. Manche Leute hatten Pechsträhnen - ich hatte eine ganze Pech-Perücke auf mein unschuldiges Haupt gestülpt bekommen. »Frau DeLight, ich weiß nicht, was ich glauben kann. So ist das nun mal in meinem Beruf. Ich bekomme diverse Informationen, Eindrücke und die fügen sich bestenfalls zu einem Gesamtbild, aus dem ich Rückschlüsse ziehen kann, was passiert ist. Was ich gerade gesehen habe, verzerrt das Bild in eine bestimmte Richtung. Ich habe keinen Anlass Ihnen zu misstrauen, aber auch keinen, Ihnen zu glauben, wenn Sie mir sagen, dass dies hier ein erster Annäherungsversuch war und nicht ein leidenschaftlicher Ausrutscher zu den ungünstigsten Bedingungen. Sosehr ich mir das wünschen würde.« Er zog die Augenbrauen zusammen und blickte auf seine Füße. »Bislang haben wir zwei Fälle, die nun in Verbindung stehen oder auch nicht und noch nicht die geringste Ahnung, wie ein einziger dieser Fälle motiviert ist.« »Dann sollte man vielleicht einmal anfangen, sich über Motive Gedanken zu machen.« »Glauben Sie mir - das tun wir. Aber das setzt voraus, dass Sie mir wahrheitsgemäß Auskunft geben. Haben Sie ein Verhältnis mit Peter Hofmeier?« »Ich habe nichts mit ihm, ich schwöre es Ihnen!« »Er ist immerhin ein sehr attraktiver Mann.« Klein wurde rot. »Ich habe jeden Tag mit sehr attraktiven Männern zu tun, aber deshalb muss ich doch kein Verhältnis mit ihnen haben. Was ist denn das für ein blödes Klischee. Ich liebe meinen Mann.« Jetzt errötete ich. »Ihre Nachbarn sagen, dass in Ihrem Haus mitunter recht lauthals gestritten wird.« Na prima. So viel zum Thema gute Nachbarschaft. »Wir sind nicht gerade konfliktscheu. Aber das heißt nicht, dass unsere Ehe gefährdet ist oder er sang- und klanglos verschwindet, um mich zu ärgern. Geschweige denn, dass er mich verlassen will. Das ist eine absurde Vorstellung!« »Schade, dass Ihr Mann Ihre Aussagen nicht bestätigen kann. Das sage ich nicht aus Polemik, sondern weil es eine Tatsache ist.«
»Dann fragen Sie doch die Nachbarn nicht danach wie laut wir uns streiten, sondern was wir sonst für einen Eindruck machen!« Ich war stinkwütend. »Das haben wir, Frau DeLight.« »Ja und?« »Einige scheinen der Auffassung zu sein, dass Sie und Ihr Mann einfach nicht zusammenpassen. Dass es ständig zu Konflikten gekommen ist und die Ehe zerrüttet sei.« Das konnte nur dieses Aas Frau Schröder gewesen sein, Max' Sekretärin. Die hatte natürlich jeden Telefonstreit mitbekommen und sich jedes Mal gewünscht, Max würde mich endlich rausschmeißen, damit sie nach all den Jahren als Tippse und Kaffeekocherin zur First Lady avancieren könnte. Ein aufrichtiger Blick in den Spiegel hätte ihr klar machen müssen, dass dies nie geschehen würde. »Das ist Quatsch. Die Ehe ist nicht zerrüttet. Wir reden miteinander, wenn uns etwas nicht passt. Wir beherrschen Streitkultur, verstehen Sie?« »Diese Ansicht teilen Ihre Nachbarn.« Die Bemerkung hätte er sich sparen können. »Herr Klein.« Es kostete mich große Mühe, mich zu beherrschen. »Ich muss zugeben, dass es mich überrascht, nach all den Jahren die ich hier lebe, aber offenbar haben einige Leute noch Vorbehalte gegen mich und glauben, ich sei nicht die Richtige für Max.« »Das habe ich mir auch gedacht.« »Da sind wir ja mal einer Meinung, Gott sei Dank.« »Hatten Sie einen Streit mit Ihrem Mann, bevor er verschwunden ist?« »Das haben Sie mich schon einmal gefragt.« »Dann gebe ich Ihnen hiermit die Möglichkeit, die Antwort noch einmal zu überdenken.« Es war zum Durchdrehen. Egal, was ich sagen würde, ich hatte mich schon in eine beschissene Situation hineinmanövriert. Sagte ich ja, wäre klar, dass ich beim ersten Mal gelogen hatte. Verneinte ich, log ich, und das Wort der ehrbaren Frau Schröder stand gegen meins. »Vielleicht sollten Sie besser nicht antworten, sondern Ihren Anwalt einschalten.« Grußlos ging er den Weg zurück, den er gekommen war und ließ mich sprachlos im Garten stehen. »Um Gottes willen, das ist doch nicht möglich!« Rita war fassungslos.
»Doch - ich werde verdächtigt. Die wissen zwar noch nicht genau wegen was, aber Klein hat mir empfohlen, meinen Anwalt anzurufen.« »Das ist doch irrsinnig. Wieso solltest du Max verschwinden lassen? Und wie denn überhaupt? Wir waren doch die ganze Zeit unterwegs.« »Die versuchen irgendetwas zurecht zu puzzeln, und bis sie eine bessere Idee haben, puzzeln sie mit mir.« »Wir sollten wirklich einen Anwalt beauftragen.« »Kennst du einen, der auf Strafrecht spezialisiert ist?« »Ich werd mich umhören.« »Aber bitte äußerst diskret, Rita, okay?« »Selbstverständlich.« Sie stand auf und wollte das Büro verlassen. »Irgendwelche Fortschritte in der Besetzungsarie?« »Es ist zum Verrücktwerden. Wir kommen einfach nicht weiter.« Die Gegensprechanlage summte. »Ja bitte, Anni?« »Der Toni vom Vertrieb steht im Büro und sagt, dass ein Diebstahl stattgefunden hat. Es sind drei Lilly-Gummipuppen verschwunden, und zwar die teure Ausgabe, die für siebenhundert Mark.« Anni konnte ja nicht wissen, dass zumindest eine der Puppen den Weg zu ihrem Vorbild zurückgefunden hatte. Ich will nicht behaupten, dass ich in diesem Moment schon das Ausmaß der Information begriffen hatte, die mir Anni gerade gegeben hatte. Aber ich hatte eine Bildassoziation und vor meinem inneren Auge erschien mit einem Mal Jodie Foster in einem verschwitzten FBISweatshirt. »Ruf bitte die Kripo an und lass dir Kommissar Schultz geben.« »Das mach ich. Sagen Sie Lilly - haben Sie das Packerl scho gsehn, das ich Ihnen auf den Schreibtisch glegt hab?« Ich wühlte unter den Papieren und fand einen DIN-A5Umschlag. »Nein, wo kommt das her?« »Des war in der Post, aber net frankiert, 'smuss jemand abgegeben haben.« Lilly DeLight - persönlich stand auf dem Adressfeld. Ein Absender war nicht angegeben. Ich öffnete den Umschlag und zog ein Buch heraus. Als Rita meinen Gesichtsausdruck sah, trat sie besorgt näher.
Das Buch trug den Titel Serienmörder: Hintergründe und Fallstudien. War das ein schlechter Scherz? Aber wer hat einen so kranken Sinn für Humor? Das Buch allein hätte schon ausgereicht, mich zu verunsichern, aber Panik überfiel mich erst, als ich die Polaroids sah, die zwischen die Seiten gelegt waren. Jetzt wurde klar, wer der Absender war, auch wenn seine Identität noch nicht feststand. Eines der Fotos zeigte eine Nahaufnahme von Johann Werners blutverschmiertem, verstümmeltem Schritt, auf dem zweiten lag die Lilly-Puppe mit Johanns abgeschnittenem Schwanz in der Vagina neben dem kastrierten Johann. Der Hintergrund war dunkel - es war unmöglich zu erahnen, wo das Foto aufgenommen worden war. Das dritte zeigte das Gesicht der Puppe mit dem runden, offenen Mund. Sie schien höhnisch »Oh!« zu sagen.
Kapitel 7 Wir konnten nur einen flüchtigen Blick auf Lilly DeLight werfen, die einen sichtlich besorgten Eindruck machte. »Lilly hatte durch ihre Presse-Agentin verlauten lassen, wie bestürzt sie über den Tod Johann Werners sei und seiner Familie ihr tiefes Mitgefühl ausgedrückt. Die genaue Todesursache wurde noch nicht bekannt gegeben. Bleiben Sie dran und sehen Sie nach der Pause folgende Themen - Wut und Trauer: Johann Werners Mutter rechnet ab. Deutschland-Pornoland: vom Frust mit der Lust. Und seien Sie mit dabei, wenn wir Deutschlands berühmteste Sex-Talkerin Lilo Wanders beim Shopping begleiten.« »Besorgt« war noch geschmeichelt. Die Kamera hatte mich eingefangen, als ich vom Hof gefahren war. Die schmale Straße war so vollgestellt mit Kamerateams, dass wir nur im Schritttempo vorwärts kamen und mit zwei Reifen auf dem Grünstreifen fahren mussten. Es war ein klassisches Paparazzi-Szenario, wie man es aus Nachrichtenbildern und Klatschzeitungen kennt und wahrscheinlich das erste Mal, dass sich so ein Schauspiel in Goslar abspielte. Drehteams, die um die beste Perspektive rangelten, Schaumstoffkappen von Mikrofonen, die sich gegen die Autoscheiben drückten, Fotografen, die sich dem Wagen in den Weg stellten, um den besten Schnappschuss zu machen. Ich erkannte sogar einige der Anwesenden von meiner Pressekonferenz wieder. In der ersten Reihe stand der Mann im grauen Anzug, der so verschämt reagiert hatte, als ich ihn am Tag zuvor angesprochen hatte, und stierte mich aus braunen Knopfaugen an. Ich saß sonnenbebrillt und zusammengesunken auf dem Beifahrersitz und war einfach fertig. Rita, die den Wagen fuhr, wirkte dagegen konzentriert, elegant und super-effizient. Ich schaute mir News Alive an, auf der Couch liegend, Mikey ausnahmsweise zu meinen Füßen auf dem Sofa, weil ich den Gedanken nicht ertragen konnte, allein zu sein. Während ich versuchte, mich auf die Fernsehbilder zu konzentrieren, plagten mich innerlich tausend Fragen und Sorgen. Was für eine Rolle spielte ich in der kranken Fantasie des Mörders? War der Titel des Buches, das er mir geschenkt hatte, ein Hinweis darauf, dass er bald wieder zuschlagen würde? Dass er eine Serie plante? »Bevor wir die Familie des Mordopfers in ihrem Gartenhaus in Goslar besuchen, noch eine Mitteilung in eigener Sache.« Der Moderator runzelte die Stirn und schaute kurz betroffen nach unten, als lese er seine Moderationen altmodisch von einer Karteikarte ab und nicht von einem
Teleprompter. »Gestern kam durch eine tragischen Unfall und unter noch nicht vollständig geklärten Umständen unsere Redaktionsmitarbeiterin Elke Brenner in Berlin ums Leben.« Der Moderator stand in seinem quietschbunten Studio, während im Hintergrund ein Schwarzweiß-Foto von Elke Brenner eingeblendet wurde. Es war ein Shot von Helmut Newton, entstanden in den besseren Tagen der Journalistin. Sie sah atemberaubend aus: kalkweiß, mit einem geometrisch perfekten Pagenschnitt, schwarzgetuschten Lidern und einem glänzend lackierten vollen Mund. »Elke Brenner gehörte seit drei Jahren zu unserem Team und hat in den Jahren ihrer Tätigkeit als News AliveReporterin journalistische Maßstäbe gesetzt. Schon zu ihrer Zeit beim Nachrichtenmagazin FAKT galt Elke Brenner als eine der viel versprechendsten Reporterinnen Deutschlands. Sie starb gestern Nachmittag, kurz nachdem sie anlässlich der Pressekonferenz von Lilly DeLight im Nobelhotel Astor einen Beitrag für News Alive produziert hatte. Elke Brenner galt als eine der großen Hoffnungen des Investigativ-Journalismus und ihre Berichte und Beiträge über Drogenmissbrauch in Ärztekreisen und die Missstände im Klinikwesen haben nicht nur empörte Reaktionen ausgelöst, sondern auch Konsequenzen provoziert. Wir alle trauern um eine Kollegin, die ihrem Beruf Ehre gemacht hat, deren Leben und Wirken immer im Dienste der Öffentlichkeit gestanden hat und die wir alle hier beim Team von News Alive sehr, sehr vermissen werden.« Offenbar hatte »Lernschwester Elke« irgendwann die Seiten gewechselt und den Berufsstand, in den sie nicht einheiraten durfte, zur Zielscheibe ihres Jobs gemacht. »Während sich die Presse um Lilly DeLights Produktionsstätte drängelte, um einen Kommentar der Porno-Queen über den Mord an ihrem Darsteller zu bekommen, ging es auf der anderen Seite der Stadt ruhig zu. Die Hinterbliebenen trauerten in Stille, unbehelligt von der Massenaufmerksamkeit. News Alive war exklusiv dabei.« Rita kam mit einem Tablett ins Wohnzimmer und setzte sich auf den Fußboden vor dem Sofa. Sie schenkte uns Tee ein und stellte einen Teller mit Schnittchen und Gemüse auf den Couchtisch. »Dies ist das Haus, in dem der Porno-Star Johann Werner seine glückliche Kindheit verbracht hat. Es liegt fern der Villengegend, in denen Porno-Produzentin Lilly DeLight residiert, in einer guten Nachbarschaft. Die Anwohner sind Menschen wie du und ich, und heute, einen Tag nach der Tragödie, ist es ruhig in der kleinen Straße, die Trauer und das Entsetzen über das Verbrechen sind spürbar.« Die News Alive-Redaktion hatte eine neue Außenreporterin mit dem Beitrag beauftragt, wahrscheinlich die Nachfolgerin von Elke Brenner. Sie hatte eine entfernte Ähnlichkeit mit der ermordeten Journalistin, nur dass sie offensichtlich zwanzig Jahre jünger war und noch am Anfang ihrer Karriere stand. Ich nahm einen Schluck Tee und verbrühte mir fast die Zunge. »Bertha und Horst Werner haben ihre Wohnung heute noch nicht verlassen. Einige Nachbarn sind gekommen, haben ihr Mitleid bekundet und das Rentnerehepaar mit dem Nötigsten versorgt. In der idyllischen Harz-Stadt werden Nachbarschaft und Unterstützung noch großgeschrieben, die Ansässigen halten in Zeiten der Krise fest
zusammen. Die Eltern des Mordopfers sind s fassungslos und zutiefst schockiert. Ich hatte Gelegenheit mit Bertha Werner zu sprechen.« Rücksicht und Feinfühligkeit sind Eigenschaften, die sich eine Jung-Journalistin nicht leisten darf, und so hatte die Redaktion sich tatsächlich nicht gescheut, die bigotten Eltern zu einem Zeit- punkt zu bedrängen, an dem die Leiche ihres Sohnes wahrscheinlich noch nicht einmal kalt war. »Frau Werner, was empfinden Sie heute?« Die beiden saßen am Küchentisch einer engen Eichenholz-Imitatküche, im Hintergrund hing eine Kuckucksuhr neben einem Christus-am-Kreuz-Wandbild. Ein Fenster gab den Blick frei auf einen penibel gepflegten Garten mit symmetrisch angeordneten Blumenbeeten in leuchtgrünem Gras. Wenn mich mein Blick nicht täuschte, stand ein einsamer Gartenzwerg in der Blumenrabatte. Johanns Mutter war Mitte sechzig, hatte dauergewellte, graue Haare und ein hartes, ungeschminktes Gesicht. Ihre Augen waren leergeweint. Auf dem Tisch lag ein geschirrtuchähnlicher Läufer und darauf stand ein Teller mit Keksen. »Es ist eine Schande. Ich wusste, dass es einmal böse enden würde.« Sie kniff die Lippen fest zusammen, sodass sie nur noch ein dünner Strich in dem verhärmten Gesicht waren. »Auch wenn es schmerzt, Frau Werner, bitte erzählen Sie uns von Ihrem Sohn Johann.« »Der Johann war immer ein gutes Kind.« Ihre Augen füllten sich mit Tränen. »Aber in der Realschule ist er auf die schiefe Bahn gekommen. Hat sich da mit den falschen Leute rumgetrieben und ist nachmittags mit den anderen in der Fußgängerzone auf der Pennermauer rumgesessen.« »Hat er damals mit dem Drogenkonsum angefangen?« Ich wusste nicht, dass Johann ein Drogenproblem hatte. »Jawohl. Rauschgift haben die geraucht und schon nachmittags Alkohol getrunken. Schule geschwänzt hat er auch.« Rita schaltete sich ein. »Das ist ja wohl die Höhe - jetzt tut die so, als ob Johann ein Junkie war!« »Sei mal still, es kommt bestimmt gleich noch dicker.« Leider hatte ich Recht. Die Reporterin fuhr fort. »Wann ist er denn in die Porno-Szene abgerutscht?« Ich wünschte der Frau, dass sie mir nie begegnen sollte, denn ich hätte mich nur schwer beherrschen können, ihr nicht rechts und links eine runterzuhauen. »Abrutschen« in die Porno-Szene war nun das Letzte, was man Johann attestieren konnte. Für ihn war es ein eindeutiger Aufstieg gewesen. Insbesondere wenn ich mir
sein Elternhaus anschaute. Johanns Mutter war aus anderen Gründen schockiert von der Formulierung der Journalistin und eine Träne kullerte ihr über das Gesicht. »Der Junge war doch von den Drogen ganz getrieben, das muss es gewesen sein. Anders kann ich mir das nicht erklären. Der hatte ja vorher nie mit diesem Schweinkram zu tun gehabt. Einmal, da muss er so fünfzehn gewesen sein, da hab ich so ein Schmutzblatt bei ihm unterm Bett gefunden, da gab es eine Tracht Prügel und gut war's.« Frau Werner tupfte sich mit einem Papiertaschentuch die Tränen, und man konnte hören, wie draußen lautstark ein Rasenmäher in Betrieb genommen wurde. »Wenn ich das so sehe, dann tut sie mir fast schon wieder Leid ...« »Bitte, Lilly! Die haben ihn rausgeschmissen und wollten nichts mehr mit ihm zu tun haben. Das ist doch die pure Heuchelei.« Rita war empört. »Nein. Heucheln tut die nicht. Sie hat sich für ihren Sohn etwas anderes gewünscht und kam mit der Realität nicht klar. Die heuchelt nicht. Die trauert. Mag ja sein, dass sie verklemmt ist und ihren Sohn ganz beschissen erzogen hat, aber es tut ihr weh, dass er nicht mehr da ist. Das sieht man doch. Wenn hier jemand heuchelt, dann diese abgerückte Interviewerin. Tut so, als ob Kiffen und Porno Johanns Tod war! Meine Güte, wenn er Bäcker oder Tischler wäre, dann würden sie überhaupt nicht darauf kommen, solche Fragen zu stellen - das ärgert mich. Was hat das alles damit zu tun, dass ein Irrer ihn getötet hat?« Ich fing wirklich an mich aufzuregen. Mikey merkte das, erhob sich, trampelte unruhig auf dem Sofa hin und her und legte sich wieder hin. »Frau Werner - haben Sie den Eindruck, dass Ihr Sohn durch seine Arbeit im PornoGeschäft auf die schiefe Bahn geraten ist?« Jetzt konnte sie die Tränen nicht mehr zurückhalten, sie liefen ihr in einem Sturzbach über das Gesicht und es krampfte mir das Herz zusammen. »Als er mit dem Studium anfing, da dachte ich er sei weg von dem Dreckskram, aber nein, das war wie eine Sekte für ihn. Diese Person, der war er verfallen, hörig war er der.« »Von welcher Person reden Sie, Frau Werner?« Ihre Stimme triefte vor geheuchelter Anteilnahme. Wirkliche Anteilnahme, ein Akt wahrer Beileidsbekundung wäre gewesen, Johanns Mutter in ihrer Trauer in Ruhe zu lassen, anstatt sich wie ein Geier auf ihr Leid zu stürzen und auch noch die letzte Träne aus der armen Frau herauszupressen. »Diese Lilly. Wenn die mit ihrem Sündenpfuhl geblieben wäre, wo sie hingehört, dann war mein Sohn heut noch am Leben!« Sie sackte völlig in sich zusammen, ließ den Kopf hängen und ihr Körper wurde von Heulkrämpfen geschüttelt. »Verdammte Scheiße.« Rita legte mir ihre Hand auf den Unterarm. »Jetzt knallt sie aber völlig durch.«
Ich musste schlucken. »Wenn das die anderen aufgreifen, dann gnade mir Gott.« »Unterlassungsklage?« Ich konnte es nicht fassen, dass Rita so etwas in diesem Moment vorschlagen konnte. »Rita, ob wir sie nun mögen oder nicht - diese Frau trauert. Da werd ich doch nicht noch eine Klage veranlassen und sie noch mehr quälen! Irgendwo ist Schluss. In was für einer Welt leben wir denn eigentlich?« Das entsetzliche Interview war vorbei und wieder sahen wir den betroffenen Moderator in seinem farbenfrohen Studio. »Schwere Vorwürfe einer trauernden Mutter gegen Deutschlands beliebteste PornoHeldin, die zu diesem Thema noch keinen Kommentar abgeben wollte. Der hätte vielleicht folgendermaßen ausgesehen.« Jetzt zeigten sie eine Szene von der Pressekonferenz. Man sah mich in einer Großaufnahme »Nein, das ist nichts als ein Gerücht« sagen. Es war unfassbar. »Mehr über Lilly DeLight und ihr Porno-Imperium sehen Sie morgen bei News Alive. Wir waren zu Besuch bei Greta Giehse und Viola Eisner - ehemals Porno-Star, heute Journalistin bei der Emma. Bleiben Sie dran und seien Sie dabei, wenn wir Lilo Wanders beim Einkaufsbummel begleiten.« Mein Handy klingelte. »Hallo Lilly, hier ist Gerd Bartels, du musst etwas unternehmen, das kann man denen nicht durchgehen lassen.« »Wenn jetzt auch noch herauskommt, dass Max verschwunden ist und dass ich Johanns ...« Beinahe hätte ich mich verplappert und genau das getan, was mir Klein verboten hatte: die Details verraten. Ich stockte und fuhr fort. »Dann bin ich geliefert. Selbst wo ich nichts mit all dem zu tun habe, es sind so viele schreckliche Dinge passiert, und irgendwie war ich immer dabei oder in der Nähe und das schafft eine, wie sag ich's am besten - schlechte Aura.« Ich kam mir vor wie Ronny. Es war spät, das Telefon hatte nicht aufgehört zu klingeln und alle Freunde und Bekannte, die den absurden Beitrag gesehen hatten, hatten angerufen, um ihre Bestürzung zu äußern. Theresa Orlowsky hatte eine minutenlange Tirade über den Umgang der Öffentlichkeit mit ihren Sex-Symbolen losgelassen. Sogar Lilo Wanders hatte sich gemeldet, um ihr Mitgefühl auszudrücken. Lilo hatte eine E-Mail an die News Alive-Redaktion verfasst und ihnen Doppelmoral, Sensationsgeilheit, Rücksichtslosigkeit und miesen Schmierenjournalismus vorgeworfen und sich ausdrücklich mit mir und meiner Lage solidarisiert. Es tat mir gut, das zu hören, denn am nächsten Tag würde schließlich dank eines durchgeknallten News AliveRedakteurs Viola Eisner - die Alice Schwarzer für Arme - über mich Gericht halten. Es war das vierte Gespräch, das ich an diesem Abend mit Gerd Bartels führte. »Wir kriegen das schon hin. Ich habe morgen mit der Mutter ein Interview und bei mir kommt sie nicht so gut weg wie bei der Tussi von Sät 7, das kann ich dir versprechen.« »Sei bitte nicht zu brutal. Die machen gerade schon genug durch.«
»Hast du den Alten gesehen, wie er mit dem Rasenmäher durchs Bild gelaufen ist?« »War das der Vater?« »Ja. Der war früher Berufssoldat. Johanns Kindheit möchte ich nicht gehabt haben. Und dann dieses Ende ...« »Du hast ja Recht, aber Gerd - ihr Sohn ist tot. Die haben ein Anrecht auf ihre Wut und Trauer.« »Und einen frisch gemähten Rasen. Was du eben gesagt hast mit Anrecht auf Wut und Trauer - lass Rita ein Presse-Statement daraus machen. Willst du dich vor der Kamera äußern?« »Ich weiß es noch nicht, ich kann heute nicht mehr klar denken.« »Du hast doch einen guten Draht zu Frauke, oder?« »Frauke?« »Lu-do-wig.« Er sagte es, als sei ich geistig zurückgeblieben und als gebe es nur eine Frauke auf der ganzen Welt. »Ja, die mag mich. Die ist nett.« Das Gespräch strengte mich an. War ich denn die Einzige, die begriff, dass jemand gestorben war, dass er Familie hinterließ, dass Menschen wegen des Todes litten? Ich fing selber fast schon an, Johann nicht mehr als Mensch zu betrachten, den ich kannte und mochte und den ich vermissen würde, sondern nur noch als Anlass für eine Serie von Ärgernissen und meine Karriere bedrohende Stressfaktoren. »Rita muss morgen mit der Redaktion in Kontakt treten und ihr müsst einen Beitrag für Exclusiv produzieren.« »Gerd, ich kann nicht mehr. Ich lass Rita machen, was sie für richtig hält und geh jetzt ins Bett. Morgen ist Drehtag und ich muss mich erstmal neu sortieren. Lass uns morgen Mittag nochmal sprechen, okay?« »Alles klar. Ruh dich aus. Es wird ein harter Tag.« Als ob ich das nicht wüsste. Menschen wie Gerd Bartels tat es gut, in Katastrophensituationen die Führung zu übernehmen. Sie waren gefordert, konnten brillieren und merkten erst dann richtig, dass sie am Leben waren. Ich war zwar in der Lage, mein Boot im Sturm über Wasser zu halten, aber einen Kick gab es mir ganz sicher nicht. Ich war da anders gestrickt. Ich fühlte mich leer, unsicher, ausgepowert. Als ich mit Mikey in den Garten ging - für einen richtigen Spaziergang war ich zu müde und auch zu ängstlich -, fiel mir das letzte Gespräch mit Kommissar Klein ein. Die Kripo hatte das Buch und die Polaroids sorgfältig untersucht, aber keinerlei Hinweise wie beispielsweise Fingerabdrücke gefunden. Was mich nicht überraschte. Man musste als Täter schon ziemlich blöd sein, wenn man nicht auf so etwas
achtete. Das perverse Geschenk vom Mörder war Beweismaterial im Mordfall Johann Werner und somit hatte es die Kripo einbehalten. Nicht, dass ich Wert darauf gelegt hätte, die Polaroids in meinem Besitz zu haben - aber das Buch. Der Täter hatte es mir ja nicht von ungefähr zukommen lassen. Ich bekam wieder eine Gänsehaut, als ich daran dachte, dass der Umschlag nicht frankiert war und der Mörder selbst ihn auf das Firmengelände gebracht haben musste. Zweimal war er mir schon viel zu nahe gekommen, und die Tatsache, dass einmal in der Stunde ein Streifenwagen vor meinem Haus vorbeifuhr, reichte nicht aus, mich zu beruhigen. Als ich wieder im Haus war merkte ich, dass ich viel zu angespannt war, um mich schlafen zu legen, und setzte mich stattdessen in Max' Arbeitszimmer. Mein Blick fiel auf unser erstes Urlaubsfoto. Eine ältliche englische Touristin hatte diesen Schnappschuss von uns beiden gemacht - wir lagen uns lachend und braun gebrannt in den Armen und trugen beide den gleichen Seemanns-Pulli. Mir war nach Heulen zu Mute. Ich schaltete den Computer an. Ich gehöre nicht gerade zu den Internet-Junkies, aber als berufstätige Frau weiß ich es zu schätzen, dass man nicht an Ladenöffnungszeiten gebunden ist, wenn man seine Einkäufe auch im Netz erledigen kann. Außerdem surfte ich natürlich regelmäßig die Seiten anderer Anbieter ab, um zu sehen, was es an Innovationen gab und welche gegebenenfalls für meine FirmenWeb-Site in Frage kamen. Ich checkte unsere Mailbox, aber sie war leer. Dann hatte ich einen Geistesblitz - ich rief die Option »Gelesene Mails« und schaute nach, was für Post während meiner Reise eingegangen war. Aus Frankfurt hatte ich Max eine kurze Gruß-Mail geschickt. Aber da war noch eine weitere Mail von mir, datiert am 30.8.2000. Selbst wenn ich unter kurzfristiger Amnesie litt - diese Mail konnte unmöglich von mir stammen, denn zum Zeitpunkt des Versands hatte ich meine Pressekonferenz abgehalten. Ich klickte zweimal auf das Briefsymbol und das Fenster öffnete sich. Wir müssen dringend reden. Es ist etwas passiert. Ich komme früher zurück. Hol mich bitte um 15.00 Uhr vom Flughafen in Hannover ab.
Kapitel 8 Lilly war offenbar nicht mehr auf dem Revier, denn sein unangenehmer Kollege, Otterkopf Schultz, nahm den Hörer ab. Seine Stimme klang heiser und angespannt. »Aber wie sollte denn jemand in Ihrem Namen eine E-Mail versenden können, Frau DeLight? Könnten Sie mir das wohl erklären?« »Haben Sie denn keinen Internetanschluss? Man braucht wirklich nicht besonders helle zu sein, um eine Mailbox zu öffnen.« »Nein, wir Kleinstädter sind noch nicht so weit. Wir kamen bislang auch ganz gut ohne die neuen Medien klar.«
Und dies war nun das Bundesland, das gerade die Expo ausrichtete. Kein Wunder, dass die Besucherzahlen eine Katastrophe waren. Ich begann mich zu fragen, wie es um die Verbrechensaufklärungsquote der Goslarer Kripo bestellt war. »Um eine Mailbox zu öffnen, muss man nur ein Passwort kennen, Herr Schultz. Dreimal dürfen Sie raten, wie unser Passwort lautet.« »Frau DeLight, ich habe keine Zeit, mit Ihnen Spielchen zu spielen.« Ich schwieg. »Na gut. Heißt Ihr Passwort vielleicht Lilly?« »Nein - aber Sie sind schon ganz nah dran.« »Max?« »Noch ein dritter Versuch.« »Wie heißt Ihr Hund?« »Bingo. Sie sehen ja, wie einfach es ist.« »Also hat jemand Ihr Passwort geknackt und Ihrem Mann in Ihrem Namen die Mail geschickt. Hätte Ihr Mann denn nicht 129Grund zum Misstrauen gehabt? Sie hatten doch laut Ihrer Aussage gerade erst mit ihm telefoniert.« »Nein. Ich kann meine Mails von jedem beliebigem Computer abfragen. Das ist sehr praktisch, wenn man viel unterwegs ist und nicht immer das Laptop dabei hat. Und natürlich kann ich auch von jedem Computer Mails versenden. Wenn Sie eine Mail von mir bekommen, dann steht im Feld >>Absender>
[email protected]. Warum hätte er daran zweifehl sollen, dass die Mail von mir stammt?« »Sie sagen doch selbst, dass Sie zu diesem Zeitpunkt in der Konferenz waren.« »Ja, aber woher soll Max wissen, wie lange die Konferenz geht? Warten Sie mal einen Moment, ich schau mal, um wie viel Uhr er die Mail gelesen hat. Dreizehn Uhr siebenundzwanzig.« »Anderthalb Stunden Zeit, um nach Hannover zu kommen.« »Da musste er sich ganz schön beeilen.« »Warum hat er nicht sein Büro kontaktiert, um sich abzumelden?« »Dafür gab es keinen Grund. Sein nächster Termin wäre um siebzehn Uhr gewesen, das hätte er geschafft.« »Aber wenn Sie nun so dringend mit ihm hätten sprechen wollen - und das muss er ja aufgrund der Mail angenommen haben -, dann hätte er doch den Siebzehn-UhrTermin sicher verschieben wollen.«
Ich seufzte. »Mein Mann ist sehr pragmatisch. Der verschiebt keinen Termin einfach so. Wie ich ihn kenne, hätte er den Termin nur dann abgesagt, wenn etwas wirklich Schwerwiegendes vorgefallen wäre - und das hätte er erst einmal wissen wollen, bevor er es sich mit einem Klienten verscherzt.« »Kollege Klein hat mir mitgeteilt, dass Ihr Mann tatsächlich am Flughafen angelangt ist. Das ließ sich anhand der Videoüberwachung an der Einfahrt überprüfen. Aber er hat das Parkhaus offenbar nicht verlassen. Auf den Bändern, die innerhalb des Flughafengebäudes aufgenommen worden sind, taucht er nicht mehr auf. Entweder, er wurde im Parkhaus entführt oder er ist sehr geschickt abgetaucht.« »Aber dafür gibt es doch überhaupt keinen Grund.« »Das herauszufinden, junge Frau, ist unsere Aufgabe. Zerbrechen Sie sich nicht Ihren hübschen Kopf.« »Herr Schultz, ich habe Angst. Ich brauche Personenschutz.« Ich hasste es, ihm gegenüber zuzugeben, dass ich mich fürchtete und bedroht fühlte. Aber wenn es je eine Situation gab, in der ich meinen Stolz bekämpfen musste, dann jetzt. »Tut mir Leid, das geht nicht. Das hat der Gesetzgeber nicht vorgesehen.« »Wie meinen Sie - nicht vorgesehen?« »Wenn jemand Sie akut bedroht, können Sie uns rufen, aber ich habe nicht genug Beamte, um Sie Ihnen vor die Haustür zu setzen. Es gibt schließlich noch ein paar weitere Verbrechen in Goslar, in die Sie nicht verwickelt sind. Wir können nicht alles stehen und liegen lassen, weil Sie sich bedroht fühlen. Für so etwas gibt es Sicherheitsfirmen.« Seine Kaltschnäuzigkeit machte mich fassungslos. »Wir haben Sie im Auge, eine Streife ist in Ihrer Gegend unterwegs.« Ich hätte ihn getreten, wäre er mir gegenübergestanden. Stattdessen ließ ich eine sekündlich eskalierende Tirade vom Stapel, wie ich es einem fremden Mann gegenüber in meinem Leben noch nicht getan hatte. »Also dann, Herr Kommissar, wünsche ich Ihnen noch einen schönen Abend auf dem Revier. Trinken Sie eine nette Tasse Instant-Kaffee, sitzen Sie Ihren Sessel flach und schmökern Sie in der Verbrecherkartei, oder was immer Sie da auch tun, wenn Sie Langeweile haben, Menschen verschwinden und ein Killer durch die Stadt läuft. Wissen Sie eigentlich, was das ist - Verbrechensbekämpfung? Sie bekämpfen doch gar nicht, Sie warten darauf, dass etwas passiert, und dann kümmern Sie sich nicht einmal darum. Wenn Sie meinen, dass ein Mensch meines Berufszweiges es nicht verdient, ein anständiges Begräbnis zu bekommen - mit seinem vollständigen Leib im Sarg - und dass der Mann einer Pornoschauspielerin es nicht wert ist, gesucht zu werden, wenn er vermisst wird, und dass jemand wie ich keinen Polizeischutz verdient, dann lieber Herr Schultz, muss ich mich wohl wirklich selbst darum kümmern. Ich werde mich jetzt jedenfalls mal ins Internet begeben und tun, was ich kann, denn ob Sie es sich vorstellen können oder nicht —«, ich holte tief Luft, »ich mache mir gerade große Sorgen, und wenn Sie, Herr Kommissar, zu altmodisch sind,
um die neuen Medien für Ihre Ermittlungen zu nutzen, weil Sie einen Computer nicht von einer Mikrowelle unterscheiden können, sofern Sie überhaupt wissen, was eine gottverdammte Mikrowelle ist, dann hören Sie halt ein bisschen Polizeifunk und lesen Sie den beknackten Kurzroman in der Goslarschen!« Mein Ton hatten sich hoch geschraubt wie ein Kettenkarussell, das an Fahrt gewinnt, und das Crescendo lieferte das Geräusch meines eingehängten Hörers. Gott, war ich wütend. Es konnte doch wohl nicht wahr sein, dass die Polizei einen Hinweis, wie ich ihn geliefert hatte, nicht weiterverfolgen wollte oder konnte. Max war am Hannoveraner Flughafen von irgendeinem Wahnsinnigen geschnappt und verschleppt worden und nur der liebe Gott wusste, was dieser ihm angetan hatte oder noch antun würde. Und währenddessen saß ein Kleinstadt-Columbo griesgrämig in seinem Linoleumkabinett von Revier und bedachte mich mit herablassenden, frauenfeindlichen Sprüchen. Und dies sollte die heile Welt sein, die ich mir so ersehnt hatte. Ha! Mein Wutausbruch hatte mir Antriebskraft verliehen und ich war jetzt erst recht entschlossen, mich weder auf eine glückliche Wendung des Schicksals noch auf die Ermittlungen der Kripo zu verlassen. Ich rief Rita an und bat sie, mir schnellstmöglich einen Bodyguard zu besorgen. Innerhalb von fünf Minuten rief sie mich zurück und sagte, dass es heute nichts mehr werden würde, aber ab morgen Mittag jemand verfügbar sei. Wirklich beruhigt war ich nicht. Der einzige Schutz, den ich in dieser Nacht hatte, war mein Mikey und eine unregelmäßig patrouillierende Polizeistreife. An einen ruhigen Schlaf war vorerst nicht zu denken, also klickte ich mich auf die Seite eines Anbieters, um mir Informationen über das Buch zu besorgen, das mir der Mörder hatte zukommen lassen. Nachdem ich eine E-Mail-Bestellung an meinem Lieblingsbuchladen in der Innenstadt geschickt hatte (man muss die Kleinwirtschaft fördern, damit das Internet sie nicht wegfegt!) las ich mir die Inhaltsangabe auf dem Bildschirm durch und rief die Option »Mehr zu diesem Thema« auf. Eine lange Liste von Büchern mit SerienmörderThematik erschien auf dem Bildschirm. Das Schweigen der Lämmer schien einen echten Trend ausgelöst zu haben ... Kaum ein Krimi, der ohne Serienmörder auskam. Auf der anderen Seite war das Thema älter als Edgar Wallace, nur dass es damals den Begriff noch nicht gab. Das Angebot umfasste allein vier Sachbücher, die die »wahre Geschichte« von Jack the Ripper versprachen - jede natürlich eine andere Version der »Wahrheit« -, diverse Biografien überführter Serienkiller wie Jeffrey Dahmer, John Wayne Gacy und Fritz Haarmann und den Tatsachenbericht eines amerikanischen Profilers. Das brachte mich auf eine Idee. Ich öffnete ein neues Fenster, gab die Adresse einer amerikanischen Suchmaschine ein und ließ nach dem Stichwort »Profiling« fahnden. Jemand wie Kommissar Schultz wusste wahrscheinlich noch nicht einmal, wie man das Wort buchstabierte, da konnte es nicht schaden, wenn ich mich selbst etwas fortbildete. Wie schon bei der Literatursuche gab es eine Unmenge von Einträgen zu diesem Thema. Webseiten mit Namen wie serialkiller.com oder murder.org, hannibal-lectorfan-site.uk und eine besonders geschmacklose die-die-my-darling.com. Außerdem gab es professionelle Anbieter, die Kurse in »Profiling« und Gesprächsforen zu aktuellen ungeklärten Mordserien anboten. Nachdem ich mich zehn Minuten durch sensationslüsterne Webangebote geklickt hatte, wurde ich fündig. Ein amerikanischer Gerichtsmediziner hatte einen zehnseitigen Text zum Thema »Profiling« ins Netz
gestellt. Ich drückte die »Print-Taste« und kochte mir eine Kanne MandarinOrangentee, während der Drucker ratterte. Ich hatte es mir im Bett bequem gemacht, wenn man unter diesen Umständen überhaupt von »Bequemlichkeit« reden kann. Der Tee dampfte und duftete, Mikey lag schnarchend auf dem Teppich und ich arbeitete mich mit Kugelschreiber und Notizblock durch das zehnseitige Dokument. Dann und wann fiel mein Blick auf die leere Betthälfte neben mir und ich musste jedes Mal erneut um meine Konzentration kämpfen, wenn meine Gedanken zu Max schweifen wollten. Schon nachdem ich die ersten Absätze gelesen hatte, wurde mir klar, dass zumindest Kommissar Klein auf der richtigen Spur war. Er hatte nach Motiven gesucht und schnell festgestellt, dass die Suche danach nicht besonders ergiebig war. Neunzig Prozent aller Tötungsdelikte geschehen im Bekannten- und Verwandtenkreis und sind durch Habgier oder Eifersucht motiviert. Wenn man diese beiden Tatmotive und den Bekannten- und Verwandtenkreis j ausschließen kann, muss man sich anderer Methoden bedienen, um Licht ins Dunkel zu bringen. Man konzentrierte sich auf den ) Fundort. Wenn es keine Verdächtigen gab, so lautete die These. des Profiling-Experten, dann musste man anhand des Tatorts ver- suchen, ein Bild des Täters zu zeichnen. Jedes kleinste Detail könnte Rückschlüsse auf den Mörder zulassen. Für Klein und sein Team hatte das bedeutet, den Fundort genauestens abzusuchen - »spiralförmig« hieß es im Text, und ich konnte mich erinnern, vom Schlafzimmerfenster auf die Untersuchungsbeamten herab- geschaut zu haben, die auf der Suche nach Indizien in eigentümlicher Formation um den Pool kreisten. Das Schwierigste beim Profiling schien mir zu sein, dass es nichts nützte, eine MordTheorie zu entwickeln, sondern nur anhand des Tatorts eine Deutung vorzunehmen, eine Rekonstruktion zu vollziehen und sich zu bemühen, die Gedankengänge des Irren quasi nachzuempfinden - anhand der sichtbaren Spuren auf einen Charakter zu schließen und ein Profil, ein Psychogramm zu erstellen. Mir grauste es davor, die Gedankenwelt eines Psychopathen zu betreten, aber wenn dies der einzige Weg war, die Geschehnisse zu erklären, dann blieb mir wohl nichts anderes übrig. Ich las, dass von den meisten der in den letzten Jahren gefangenen Serienmörder Profile erstellt worden waren, die sich als erstaunlich zutreffend erwiesen hatten und in denen oft schon Körperbau, Schulbildung, Elternhaus und sogar erste dokumentierte Straftaten beschrieben worden waren. Die Reihenfolge der Analyse sah also folgendermaßen aus: der Tatort bzw. der Fundort liefert Hinweise darauf, welches Verhalten stattgefunden hat. Wenn man das Verhalten rekonstruieren kann, bleibt die Absichten herauszufinden, die hinter diesem Verhalten standen. Ich erinnerte mich daran, wie ich in einem Kölner Museum eine Dalf-Ausstellung besucht hatte. Die Details seines Werks waren eindeutig - hier floss eine Uhr, da brannte ein Pferd, aber was um Himmels willen wollte mir der Künstler damit sagen? Ich fand die Gemälde zu verstörend, um mir Gedanken über die Motivation des Künstlers machen zu wollen und ließ sie einfach wirken, ohne sie zu hinterfragen. Und das war nur Dali gewesen, im Museum, und nicht ein Mörder in meinem Garten. Ich las, dass die Logik eines Killers anders funktioniert als die eines normalen Menschen, dass ein Mörder ein anderes Wertesystem hat. Das war nachvollziehbar das Beispiel allerdings, mit dem der Autor diese These zu untermauern versuchte,
fand ich denkbar ungeeignet: er stellte heraus, dass ein Killer Aggression und Erregung gleichzeitig empfinden könne. Das schien mir aber nicht gerade ein Grundsatz, der Mörder von Nicht-Mördern unterschied. Nicht jeder Mensch, der S/M praktizierte, war nämlich automatisch ein Serienmörder. Hätte er geschrieben, dass ein Killer nur dann Erregung verspüren kann, wenn er aggressiv ist, dann hätte ich es vielleicht akzeptieren können - das erschien mir nahe liegender, aber ich war keine Psychoanalytikerin und auch kein 13$ Gerichtsmediziner. Vielleicht gäbe es weniger Serienmörder, wenn diese ihre Triebe in S/M-Szenarios ausleben würden, anstatt ihren aggressiven Sex-Trieb zu verdrängen, bis er massiv ausbrach und andere Menschen ihm zum Opfer fielen. Das war mein aufklärerbischer Standpunkt, und ich hatte keine Ahnung, ob ich richtiglag. Wenn man dem Text glauben konnte, hatte ich Unrecht. Wie um meine Theorie zu widerlegen, gab der Autor jetzt zwei wichtige Grundlagen für das Profiling preis. Erstens - der Täter hat schon lange entsprechende Fantasien gehabt, ohne sie auszuleben. Seine Fantasie war schon immer brutal, aber um sie in die Realität zu übertragen, bedurfte es eines Auslösers. Bis es dazu kam, hatte er sich möglicherweise völlig unauffällig verhalten. Oft genug waren Serienmörder jedoch schon wegen geringerer Taten vorbestraft. Er lieferte ein einleuchtendes Beispiel. Wenn ein Spanner geschnappt wird, der ein Messer bei sich trägt, es aber nicht benutzt hat, dann ist es nicht unwahrscheinlich anzunehmen, dass er es eines Tages doch verwenden würde. Die Statistiken belegten, dass viele Mörder schon in ihrer Kindheit so massiv traumatisiert waren, dass sie Mordgelüste entwickelt und sie an Tieren ausgelebt hatten. Ich musste an Matthias denken, ein Nachbarskind aus meiner Kindheit. Er war zu uns anderen Kindern unglaublich brutal gewesen und hatte die Tauben seiner Eltern verhungern lassen, als sie ohne ihn verreist waren. Schon damals sagten die Leute, dass es wahrscheinlich einmal ein schlimmes Ende mit ihm nimmt und dass aus ihm vermutlich eines Tages ein Terrorist werden würde. Bei alldem, was ich gerade las, schien es mir wahrscheinlicher, dass aus ihm früher oder später ein Mörder würde. Dann fiel mir wieder ein, dass ich als Kind selbst nicht ganz ohne gewesen war, aber keinerlei Anstalten machte, mich in eine gefährliche Mörderin zu verwandeln. Ich hatte zwar keine Tiere gequält, aber aus purer Gemeinheit den Anorak meiner Schulkollegin Katrin in einen Gully gestopft, während zwei meiner Freundinnen sie fest gehalten und ihr Zigarettenrauch ins Gesicht geblasen hatten. Die arme Katrin war immer wieder unseren Gemeinheiten zum Opfer gefallen, und ich fragte mich, ob wir sie mit unseren kindischen Quälereien so weit traumatisiert hatten, dass sie einen Knacks fürs Leben abbekommen hat. Vielleicht schlug sie heute ihre Kinder oder, ein ebenso schlimmer Gedanke, vielleicht hatte sie sich nicht getraut, Kinder in die Welt zu setzen, weil wir ihre Kindheit zur Hölle gemacht hatten. Jahrelang hatte ich nicht an sie gedacht und jetzt auf einmal fiel sie mir wieder ein und ich schämte mich abgrundtief. Die zweite Grundlage: Das Verhalten des Mörders dient dazu, eine Lust, einen Trieb, einen Wunsch zu befriedigen. Diese Fantasien waren, anders als bei normalen Menschen, keine Tagträumereien, sondern entwickelten sich über die Zeit zu komplexen Szenarios, die mehr und mehr in den Vordergrund des Bewusstseins
traten, bis sie eines Tages nicht mehr nur Fantasien blieben, sondern in die Tat umgesetzt würden. Und dabei allein blieb es nicht - der Mörder holte sich seinen Kick in der Wiederholung. Wenn es einmal geklappt hatte, würde er es weiterhin tun. Wenn das Ausleben seiner Fantasie ihn erregt, ihn befriedigt hatte, dann würde er diesen Zustand der Erregung und der Befriedigung wiederherstellen wollen. Das war nachvollziehbar. Wer auf Oralsex steht, wird sich nicht davon abbringen lassen zu lecken und zu blasen, selbst wenn es in einigen Staaten bis zum heutigen Tag unter Strafe steht. (Ich gestehe, dass ich schon straffällig geworden bin, aber ich wurde nie erwischt. Man stelle sich die Schlagzeile vor!) Bevor ein Killer ein weiteres Mal zuschlug, befriedigte ihn der Gedanke an den letzten Mord. Häufig dokumentierten die Mörder ihre Tat, sammelten Zeitungsausschnitte und machten Video- und Fotoaufnahmen. Als ich von den Fotos las, bekam ich eine Gänsehaut und sah die drei Polaroids, die in dem Buch gesteckt hatten, viel zu deutlich vor meinem inneren Auge. Obwohl ich langsam die Strukturen begriff, in denen sich ein Serienmörder entwickelt, war eine Frage noch ungeklärt: Was waren seine Grunde? Weshalb erregte es ihn, zu quälen, zu töten und sich an der Erinnerung an den Mord und an der Vorfreude auf den nächsten aufzugeilen? In einem philosophischen Moment war ich einmal zu dem Schluss gekommen, dass es im Leben in der Regel nur um zwei Dinge ging: Freude am Leben und Angst vor dem Tod. Die Natur hatte es so eingerichtet, dass die wesentlichen Dinge, die dem Erhalt des eigenen Lebens und dem Überleben der Menschheit dienten, mit Lustgefühlen verbunden waren - Essen, Trinken, Picken. Man konnte es sich im Grunde rund um die Uhr gut gehen lassen, wenn man ausreichend Nahrung und Sex hatte. Doch irgendwo schlich sich immer die Angst ein. Ich glaube, jede Form von Angst steht für die eine große Angst - dem eigenen Tod, den man nicht voraussehen kann, den man nicht einplanen kann, der ein Ende darstellt oder einen Neuanfang - wer kann das schon wissen. Jede kleine Angst vorm Scheitern, ob im Beruf, ob in der Beziehung, ist eine Angst vor dem Ende - werde ich rausgeschmissen, gehe ich Pleite, macht er mit mir Schluss? Wenn die Antwort ja ist, dann ist mein Leben, wie es mir vertraut war, beendet. Ein neuer Abschnitt wird eröffnet, etwas ist gestorben. Das Ende ist der Moment, wo uns die Kontrolle entgleitet, der Plan nicht nur schief geht, sondern komplett weggefegt wird. Die Sorge, dass dies eines Tages geschehen kann, steht vielen Menschen so sehr im Weg, dass sie nicht einmal an den alltäglichen Dingen des Lebens Freude haben können. Angst und Trauer, die rechte und die linke Hand des Todes. In unserer durchorganisierten Gesellschaft, die permanent im Umbruch ist und in der man sich wöchentlich an neue Realitäten gewöhnen musste, hat man viel zu oft Anlass zu Angst und Trauer. Kein Wunder, dass jemand Prozac erfunden hat. Es überraschte mich nicht, als ich las, dass die Angst in den Augen des Opfers der Fetisch des Mörders war. Dass die Panik, die sich in den Gesichtern spiegelte, ihn antrieb, ihn erregte, ihn zur Wiederholung zwang. Nur, wenn er jemanden tötete, zerstörte, auslöschte, verspürte er so etwas wie Macht.
Dann fühlte er sich groß und gottgleich. Dann war er ungestört mit seiner Sehnsucht allein. Mir fielen sämtliche Selbsthilfebücher ein, die ich in Krisenzeiten meines Lebens gelesen hatte - alle schlugen den gleichen Grundtenor an: Wenn du willst, dass sich dein Leben ändert, dann nimm es selbst in die Hand. Übe Kontrolle aus, wo immer du kannst, und spezialisiere dich auf das, was du kannst. Das Prinzip des Serienmörders schien mir auf einmal nichts anderes als eine übersteigerte Form von Selbstbestimmung und Selbstfindung, ein besonders kaputtes Abfallprodukt unserer Gesellschaft, in der Macht und Leistung die obersten Ideale waren. Wenn nun jemand diesen Ansprüchen nicht gerecht wird, dann wäre es eine mögliche Konsequenz, sich auf einem Gebiet zu spezialisieren, in dem er erfolgreich war. In dem er sich auskannte. Das ihm Befriedigung verschaffte. Wie jeder Spezialist suchte auch er Anerkennung. Und die bekam er nicht allein durch die Erniedrigung seiner Opfer, sondern durch die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit. Deshalb hatte er mir die Fotos geschickt - er wollte Aufmerksamkeit. Was mich ängstigte, war die Frage, warum er ausgerechnet mich ausgesucht hatte, seine Taten zu entdecken. Es kam mir fast vor wie bei einer Katze, die ihrem Besitzer stolz das Beutetier zu Füßen legt. Er wollte sich profilieren, ich wollte ihn profilieren. Die Frage war: Wer würde schneller zum Ziel kommen? Es musste etwa fünf Uhr morgens sein - die Sonne ging gerade auf- als ich über meinen Notizen aufwachte. Es war eine Gnade gewesen, einfach so wegzudämmern, ohne vor dem Einschlafen noch sämtliche Ängste Revue passieren lassen zu können. Ich rang mit mir, ob ich noch einmal die Augen schließen oder die Gunst der Morgenstunde nutzen sollte, und entschied mich für Letzteres - ich wollte um halb neun die Erste am Set im Krummen Haus sein, da konnte es nicht schaden, etwas Extra-Zeit zu haben. Also nahm ich eine Dusche und machte mich fertig, mit dem Hund rauszugehen. Bevor ich das Haus verließ, schaute ich aus dem Fenster, um mich zu vergewissern, dass noch kein Kameraobjektiv auf mich gerichtet war. Ein Blick auf die Straße zeigte mir, dass vor dem Haus die Luft rein war und sich noch kein Drehteam eingefunden hatte. Ich beschloss, dem Hund einen kleinen Spaziergang zum Kinderspielplatz zu gönnen, er war am Vortag viel zu kurz gekommen und hatte sich eine Runde Stöckchenjagen verdient. Wenn ich nur noch in meinem Garten herumlaufen könnte, bis der Mörder gefasst war, wenn ich permanent unter der Beobachtung von Security und Presse und dann und wann auch einem promi-geilen Streifenpolizisten stünde, dann würde ich durchdrehen, das wusste ich. Ich würde mich nicht einsperren lassen und zur Gefangenen in meinem eigenen Haus werden, nur noch den Weg von der Haustür zur Autotür und vom Auto auf das Firmengelände zurücklegen. So hatte ich mein Leben nicht geplant, und ich würde mir von nichts und niemandem hereinpfuschen lassen und mir das Stück Lebensqualität, das ich mir hart erarbeitet hatte, nehmen lassen. Obwohl ich die halbe Nacht mit Forschungen über Serienmörder verbracht hatte, war ich nicht halb so ängstlich wie am Tag zuvor. Vielleicht waren die Recherchen ein Grund dafür, dass es mir besser ging - ganz in der Tradition »Stell dich deinen Ängsten«.
Der Spielplatz lag keine fünf Minuten entfernt, es war heller Tag und bald würde die Nachbarschaft aus dem Schlaf erwachen. Was konnte mir schon passieren? Rückblickend könnte ich mich für meinen Leichtsinn ohrfeigen, aber die Atmosphäre dieser Sommermorgenstunde war Idylle pur und nahm mir jede Furcht. In Horrorfilmen kreischt man über die Dummheit der blonden Kuh, die dem Killer die Tür öffnet, in den düsteren Keller hinabsteigt oder des nachts auf die Straße geht, wo der Killer schon auf sie lauert, darauf geifernd, ihr Schicksal zu besiegeln. Ich schloss jedoch völlig undramatisch und ohne jede böse Vorahnung die Haustür hinter mir ab und machte mich auf den Weg mit dem Hund in Richtung Spielplatz. Wenn ich vielleicht den Bruchteil einer Sekunde gezögert hatte, dann beruhigte mich der Gedanke, den Hund angeleint bei mir zu haben und mein Reizgas in der Jackentasche. Und wenn je ein Morgen unschuldiger und ungefährlicher gewirkt haben mochte, dann musste ich ihn wohl verschlafen haben. Mikey freute sich sichtlich, etwas Bewegung zu bekommen und der Anblick meines glücklichen Hundes, dessen zielstrebiger Gang durch sein vorfreudiges Hinternwackeln erschwert wurde, brachte mich zum Lächeln. Das erste Mal seit langem. Auf den Hecken und dem Rasen in den Vorgärten glitzerte der Tau in der Morgensonne. Die Luft war noch frisch und es lag eine entspannte Ruhe über der Nachbarschaft, die nur durch das Gezwitscher der aufwachenden Vögel durchbrochen wurde. Ich fühlte mich wieder zu Hause, dies war meine Nachbarschaft, wie ich sie kannte und wie ich sie mochte. Ich ließ den Gedanken nicht zu, dass sich hinter der Fassade etwas Bedrohliches verbarg. Am Park hinter dem Spielplatz angekommen, ließ ich Mikey von der Leine und in Windeseile hatte er einen Stock gefunden und mir vor die Füße gelegt. Ich setzte mich auf die Rückenlehne meiner Lieblingsbank, holte weit aus und warf den Stock über die Wiese. Der Hund jagte hinterher, schnappte ihn noch im Flug und trabte stolz zu mir zurück. Ich warf erneut, diesmal unterschätzte ich meine Wurfkraft und der Stock landete weit entfernt auf der gegenüberliegenden Seite des Parks im Unterholz des Waldes. Mikey rannte aufgeregt auf das Gebüsch zu und fing an zu bellen, frustriert, dass der Stock für ihn nicht erreichbar war. Ich rief ihn zurück, aber er beachtete mich nicht. Also machte ich mich auf den Weg über die Wiese, um einen neuen Stock zu finden und den Hund von dem verloren gegangenen abzulenken. Als ich etwa in der Mitte der Lichtung angekommen war, ließ mich etwas abrupt stehen bleiben. Ich kann heute nicht mehr sagen, ob es ein Geräusch war oder eine Bewegung, die ich aus dem Augenwinkel gesehen habe. Ich blieb wie angewurzelt stehen und mit einem Mal setzte das Gefühl der Panik wieder ein - der Zauber des Sommermorgens war gebrochen, und mir wurde kalt. Ich ließ meinen Blick wandern, und es schauderte mich, was ich würde entdecken können. Ich konnte jedoch nichts Ungewöhnlich feststellen. Bis ich mich umdrehte und in Richtung der Bar schaute, auf der ich eben noch gesessen hatte. Ich stand stocksteif, panisch, unfähig mich zu bewegen und sah auf der Bank rechts neben der, auf der ich bis vor einer Minute noch gesessen hatte, mein Ebenbild in Plastik. Ich brauchte keine große Fantasie, um aus der Entfernung zu erkennen, was die Puppe im Mund stecken hatte. Der Anblick war grausam, aber noch nicht das Schlimmste. Neben der Puppe hockte, mir den Rücken zuwendend, ein Mann in schwarzen Trainingsanzug und band seelenruhig den rechten Arm der Puppe an der Bank fest, der linke Arm war bereits
festgemacht, und die Plastik-Lilly saß in oral vergewaltigter Kreuzigungspose fünfzehn Meter entfernt von meiner Lieblingsbank. Auf dem Rücken der Trainingsjacke prangten die Initialen CVJM. Gemächlich und fast elegant richtete sich der Mann auf und drehte sich langsam in meine Richtung. Ich erwachte aus der Starre, als ich in sein Gesicht sah, das durch einen schwarzen Damenstrumpf entsetzlich verzerrt war. Langsam hob er die Hand und winkte mir zu. Ich brüllte los, hatte binnen einer Sekunde Mikey an meiner Seite und rannte in den Wald, denn der Weg nach Hause war mir abgeschnitten.
Kapitel 9 Ich rannte durch den dichten Wald bis mir Seitenstiche den Atem raubten. Die ersten hundert Meter nahm ich nichts um mich herum wahr. Mein Herz schlug heftig, das Blut rauschte mir durch die Adern und mein gesamtes System war nur auf eines programmiert: Flucht. Äste schlugen mir ins Gesicht, ich riss mir die Hände am Gestrüpp auf, aber all das nahm ich nur am Rande wahr. Mikey schien den Lauf durch den Wald als Spiel zu begreifen und preschte voran. Der Schweiß rann in Strömen an mir herab und ich beendete meinen Sprint nur unfreiwillig, als sich mein rechter Fuß in einer Wurzel verfing und ich auf den weichen Waldboden stürzte. Nach einer Sekunde der Benommenheit wagte ich es, über die Schulter zurückzuschauen. Es war niemand zu sehen. Er war mir nicht gefolgt. Oder er versteckte sich geschickt. Der Hund war zu mir zurückgekommen, ich leinte ihn an und wir setzen den Weg in einem gemächlicheren Tempo fort. Mein Knöchel schmerzte. Erst jetzt begann ich mich zu fragen, ob Flucht die richtige Reaktion gewesen war. Ich hatte den Hund dabei, Reizgas in der Tasche - vielleicht hätte ich in die entgegengesetzte Richtung auf die Straße rennen und es riskieren sollen, dass er sich mir in den Weg stellt. Aber ich war meinem Instinkt gefolgt und einfach blind in den Wald gelaufen. Ich schaute mich um, um eine Ahnung zu bekommen, wo ich mich befand und stellte fest, dass ich auf halbem Wege zum Krummen Haus war. Anstatt über den asphaltierten Weg zu gehen, blieb ich ein paar Meter weit links daneben im Unterholz, sodass man mich von der Straße aus nicht sehen konnte. Ich versuchte mich zu erinnern, ob mir in der Nähe des Spielplatzes ein Auto aufgefallen war, konnte mich jedoch an keines erinnern. War es vorstellbar, dass der Mörder zu Fuß unterwegs war oder musste ich damit rechnen, dass er gleich in einem Wagen den Weg neben mir entlang fuhr, nach mir Ausschau haltend? Ich traute mich nicht einmal, das Handy aus der Tasche zu holen, um die Polizei anzurufen, weil ich Angst hatte, mein Verfolger - sollte er überhaupt noch hinter mir her sein - könnte meine Stimme hören und so leichter zu mir finden. Es musste jetzt kurz nach sechs sein und ich betete, dass Ingo, mein Regieassistent im Haus sein würde. Der Aufbau hatte gestern Abend stattgefunden, und wir hatten vereinbart, dass jemand über Nacht dableiben sollte, um das Equipment zu bewachen. Seltsam, wie man sich nach einem Haus sehnt, wenn man panisch durch den Wald läuft. Als ob vier Wände einen nennenswerten Schutz darstellen könnten, wenn
jemand mordlustig und psychopathisch genug war, in einem öffentlichen Park am helllichten Tag eine Gummipuppe mit Schwanz im Mund zu kreuzigen ... Gerne hätte ich die Erinnerung an das Bild des Mörders abgeschüttelt, aber weder gelang es mir, noch durfte ich mir diesen Luxus leisten. Ich versuchte, das verzerrte Gesicht einzuordnen kam es mir bekannt vor? Es hatte keinen Zweck. Er war zu weit weg gewesen und mit der Strumpfhose über dem Kopf war es unmöglich, charakteristische Gesichtszüge ausmachen. Das Gesicht war zu einer Fratze verzerrt und dieser Anblick war mir fast unerträglich gewesen. Als Kind hatte ich manchmal Aktenzeichen XY geschaut, wenn meine Eltern nicht zu Hause waren und nichts hatte mir mehr Angst gemacht, als der Anblick dieser Strumpffratzen. Wir spielten früher manchmal »Aktenzeichen«, und selbst der Anblick der Gesichter meiner Spielkameraden unter der Strumpfmaske hatte in mir eine irrationale panische Angst ausgelöst. Die weite Trainingsjacke hatte den Oberkörper des Mannes kaschiert, aber er schien eher von schmaler Statur gewesen zu sein. Nicht größer als eins achtzig. Und auch wenn ich ihn nicht einordnen konnte - er kam mir bekannt vor. Es gab noch eine weitere quälende Frage, die ich nicht beantworten konnte - wer war diesmal dem Killer zum Opfer gefallen? Ich schob sie immer wieder weg, ich wollte es nicht wissen, um wen es sich handelte, denn das wäre einfach zu viel für mich gewesen. Hier, allein im Wald, geplagt von der Ungewissheit, ob ich ihn wieder lebend verlassen würde. Es war ein absurdes Detail, das mir den unfreiwilligen Spaziergang schließlich erleichterte - der Schriftzug auf seiner Jacke. Als ich an CVJM dachte, fiel mir ein Lied ein, das mir die nächsten Tage nicht mehr aus dem Kopf gehen sollte: »It's fun to stay at the Y-M-C-A«. In diesem Moment war es mir sehr willkommen und ich bemühte mich, rhythmisch zur Melodie zu stapfen, während ich mich versuchte zu erinnern, welche Verkleidung die Jungs von Village People getragen hatten. Ich mochte etwa zehn Minuten gelaufen sein, da hörte ich das Geräusch eines herannahenden Wagens - und warf mich sofort auf den Boden, um durch das Gebüsch auf die Straße zu spähen. Ich wollte Mikey zu mir heranziehen, aber er stand aufrecht, zog an der Leine, bellte laut und wäre mir beinahe entwischt, wenn ich nicht die Leine fest in der Hand gehalten hätte. »Bist du still!«, zischte ich ihm zu, drückte mich noch tiefer in den Boden und lauschte auf das Geräusch des Autos. Am liebsten hätte ich mein Gesicht gegen die moosige Erde gepresst wie ein Kind, das seine Augen hinter den Händen verbirgt und nun glaubt, unsichtbar zu sein, aber ich unterdrückte den Impuls, während der Wagen langsam immer näher kam. Er schien im ersten Gang zu fahren, was zwar ein adäquates Tempo für einen Waldweg sein mag, aber gleichzeitig eines, das kein normaler Autofahrer einhalten würde. Obwohl der Boden kühl und feucht war, hörte ich nicht auf zu schwitzen und begann am ganzen Leib zu zittern. Der Hund spürte meine Unruhe und bellte erneut. Ich betete, dass niemand ihn gehört hatte und spürte, wie eine Träne über mein Gesicht
lief. Als ich sie abwischte, hörte ich, wie die Handbremse des Wagens angezogen und der Motor ausgeschaltet wurde. Ich gab dem Impuls nach, den ich vor einigen Momenten noch wegdrängen konnte, und drückte mein Gesicht in die Erde. Ich war gar nicht da. »Was machst du denn hier?« Rita bückte sich zu mir herunter und half mir auf die Beine. »Gott sei Dank«, war alles, was ich erleichtert hervorbrachte, als mir klar wurde, dass ich dem Tod von der Schippe gesprungen war. Auch Mikey war sichtlich glücklich über die Entspannung der Lage und sprang bellend an uns hoch, als wir zum Wagen gingen. »Ich habe dich überall gesucht. Ich war erst bei dir zu Hause, aber da warst du nicht mehr. Mach sowas bitte nie wieder, ich habe mir furchtbare Sorgen gemacht!« Ich schnallte mich an und hörte ihr zu - überglücklich über die vertraute Stimme, überglücklich, dass sich außer mir selbst noch jemand um mich Sorgen machte. Sie sah gut aus, ausgeschlafen und rosig und roch frisch geduscht nach »ck one«. »Ich habe Brötchen geholt und wollte mit dir frühstücken. Dann hätten wir zusammen zum Set fahren können, na ja, aber das machen wir ja jetzt auch. Jetzt sag mal, was du allein im Wald zu suchen hast. Ich an deiner Stelle hätte viel zu viel Angst, um mutterseelenallein spazieren zu gehen, bei diesen - na ja du weißt schon ...« »Rita«, ich schluckte, »ich bin nicht einfach so spazieren gegangen. Ich bin geflüchtet. Wir müssen die Polizei anrufen. Es ist ein neuer Mord passiert.« Wir saßen in der geräumigen Küche des Krummen Hauses, die wir zur Bürozentrale für den Dreh umfunktioniert hatten. Als wir angekommen waren, war das Haus leer, und ich war sauer, dass mein Regieassistent Ingo nicht, wie vereinbart, die Nacht im Haus verbracht hatte. Der Verstoß gegen die Absprache würde eine wunderbare Grundstimmung für den ersten Drehtag schaffen, aber die Stimmung war meinerseits sowieso auf dem Tiefpunkt, und ich fragte mich, wie ich an diesem Tag ein Dutzend Leute zum Arbeiten motivieren sollte. Glücklicherweise traf Harry Klein noch vor dem Drehteam ein, sodass ich ihm einen Schnellabriss meiner frühmorgendlichen Erlebnisse geben konnte. Um kurz vor halb acht saß ich mit Klein und Schultz über der dritten Tasse Kaffee. Als Schultz mit seinen Leuten kam, hatte ich ein zweites Mal das zweifelhafte Vergnügen gehabt, den grausigen Vorfall zu schildern. Während ich mit den Ermittlern am Tisch saß, suchte ein Team von Beamten den kleinen Park nach Spuren ab und hatte den separierten Schwanz zur Untersuchung in die Gerichtsmedizin gebracht. »Wäre es möglich, dass ich mir den Penis anschauen kann, Herr Klein?« »Was soll denn das nun wieder?« Schultz war so unglaublich schwer von Begriff, dass es zum Verzweifeln war. »Den von gestern konnte ich identifizieren - und vielleicht ist es auch diesmal jemand, den ich kenne.«
»Sie hat Recht. Wenn es stimmt, was sie erzählt hat«, Klein warf mir einen tröstenden Blick zu, »und wir haben keinen Grund daran zu zweifeln, dann kann es sein, dass diese Serie speziell für Frau DeLight inszeniert wird. Offenbar kennt sich der Mörder genau aus, was ihre Tagesabläufe und Gewohnheiten angeht, und hat es beide Male so eingerichtet, dass Frau DeLight, diejenige war, die das Szenario entdeckt. Es könnte sein, dass sie die Adressatin ist.« Schultz grummelte, holte sein Handy raus und schnauzte einen Mitarbeiter an, mit Polaroids zu uns heraufzukommen. »Frau DeLight, ich will Ihnen was sagen. Das Verhalten, das Sie heute Morgen an den Tag gelegt haben, war grob fahrlässig. Wenn ich eine Beleidigungsklage riskieren wollte, würde ich von Dummheit sprechen. Allein in den Wald zu gehen. Wirklich.« »Darf ich Sie daran erinnern, dass Sie es waren, der mir Personenschutz verweigert hat?« Er schnaufte - es sollte wohl ein höhnisches Lachen sein, weil er sich nicht vorstellen konnte, dass jemand wie ich überhaupt Schutz verdiente. Ich hätte ihm gerne seinen heißen Kaffee in den Schoß gegossen. Klein schaltete sich ein und ich hoffte, dass von ihm ein konstruktiver Beitrag kommen würde, und nicht noch ein Urteil über mein zugegebenermaßen etwas unüberlegtes Verhalten. Bislang war er derjenige gewesen, der mit größerer Flexibilität agierte. »Frau DeLight, für unsere Ermittlungen ist es zuträglicher, wenn Sie nicht offensichtlich überwacht werden. Der Mörder beobachtet Sie, und ich weiß nicht, wie er reagiert, wenn wir ihm so offensichtlich seine Pläne durcheinander bringen. Ich möchte nicht das Risiko eingehen, dass er wütend wird und Amok läuft. Sie können sich darauf verlassen, dass wir alles tun, um für Ihre Sicherheit zu sorgen, aber wir werden Ihnen keine uniformierten Beamten zuteilen können. Es gibt außerdem Vorschriften, an die wir uns zu halten haben, selbst wenn sie unter gewissen Umständen fragwürdig sind. Aber ich habe eine Idee, wie wir einen Kompromissweg finden können.« »Klein«, Schultz war vor Wut rot angelaufen und eine Ader pochte sichtbar auf seiner Stirn: »Was fällt Ihnen ein, vor diesen Frauen meine Anweisungen in Frage zu stellen ...« Rita und ich schauten uns lange in die Augen. »Sollte Ingo nicht längst hier sein?«, fragte sie. »Eigentlich wollte er hier schlafen.« Wir harten im selben Moment die gleiche Ahnung. »Ruf ihn an.« Ingo war unauffindbar. Weder unter seiner Handynummer, noch unter seiner Privatnummer war er zu erreichen und er hatte sich auch nicht in der Firma
krankgemeldet oder mitgeteilt, dass er aus irgendeinem Grund verhindert sei. Anni saß seit sieben in ihrem Büro und war jetzt schon der Verzweiflung nahe, da sie noch keinen Ersatz für Johann hatte auftreiben können und nun auch noch hinter Ingo hertelefonieren musste. Während wir also versuchten, den Drehtag zu retten, und die Techniker, Ausstatter und das Catering langsam im Krummen Haus eintrafen, schwer bepackt den schmalen Weg heraufstapfend, überprüfte die Gerichtsmedizin meinen neusten Fund und verglich die medizinischen Werte mit Ingos Krankenakte. Ich blickte aus dem Fenster und sah gerade Dana und Tim auf die Lichtung vor dem Haus treten, als die beiden Kommissare mich noch einmal aufsuchten. »Und?« Schultz hielt mir provokativ ein Polaroid vor, das eine Großaufnahme vom Gesicht der Gummipuppe zeigte. Der Schwanz war diesmal mit der Eichel voran in die Plastiköffnung eingeführt, und man konnte deutlich erkennen, dass er mit einem exakten Schnitt vom Körper abgetrennt worden war. Er sah fast aus wie ein schlaffer Dildo. Im Gegensatz zu Johanns Schwanz war diesmal kein Blut zu sehen - der Anblick wirkte künstlicher, weniger brutal. Wenn ich nicht die Wahrheit gewusst hätte, dann hätte ich vielleicht angenommen, dass es ein Paket war. Dass der Schwanz, genauso wie die Puppe, aus Plastik war. Aber das Wissen, dass dem nicht so war und der Mörder vielleicht diesmal mehr Zeit für die Details seiner Inszenierung aufbringen konnte, reichte aus, mir das Frühstück, das ich an diesem Morgen nur in Form von Milchkaffee gehabt hatte, nach oben steigen zu lassen. Ich musste mich zusammenreißen, nicht zu kotzen. Beim ersten Fund hatte mich der Schock davor geschützt, diesmal war ich nicht entsprechend konditioniert. Ich musste würgen und gab Schultz das Bild zurück. »So kann ich ihn nicht erkennen. Man sieht die Eichel ja gar nicht.« Wortlos präsentierte er ein neues Foto, auf dem nur der Schwanz zu sehen war. »Gott sei Dank«, stieß ich hervor und schämte mich schon im selben Moment für den unsensiblen Fauxpas, »es ist nicht Max.« Und in Gedanken fügte ich hinzu: »Und Gott sei Dank auch nicht Ronny.« »Ich habe keine Ahnung, zu wem er gehört.« Und das ließ wieder die Vermutung zu, dass der Schwanz zu Ingo gehörte, den ich nicht genau genug kannte, um ihn anhand seines Glieds zu identifizieren. »Wir haben nachgedacht und eine sinnvolle Lösung für Ihren Personenschutz gefunden.« Klein mied den Blickkontakt mit mir, als er mich ansprach und Schultz stand mit verkniffenen Lippen neben seinem Untergebenem. »Kommissar Klein möchte offenbar zum Film, Frau DeLight, und er hat den Vorschlag gemacht, als verdeckter Ermittler und zu Ihrer persönlichen Sicherheit hier am Drehort zu bleiben. Vielleicht kann er Ihnen die Kabel tragen?« »Nein, aber wie es aussieht, stehe ich ohne Regieassistenten da, und ein Darsteller fehlt mir wie Sie wissen auch. Suchen Sie sich was aus.«
Obwohl er durchaus aussah, als könne er in einer Produktion wie dieser seinen Mann stehen, hatte sich Klein für die ihm unverfänglicher scheinende Aufgabe entschieden, und ich gab ihm ein kurzes Briefing, worauf es in seinem neuen Job ankam: »Es ist im Grunde das Gleiche, was Sie bei der Kripo machen Sie führen Anweisungen aus, halten die Augen auf, ob und wo man etwas verbessern kann, und helfen mir, meine Vorstellungen in die Tat umzusetzen. Die Crew ist größtenteils sehr nett - ein paar Idioten, die meinen, etwas Besseres zu sein als der Regieassistent, gibt es hier natürlich auch. Bei denen müssen Sie von vornherein böser Cop spielen - denken Sie einfach an Ihren Chef, dann wissen Sie, was ich meine. Die Mädchen haben lieber jemanden, der nett mit ihnen umgeht. Da brauchen Sie dann etwas Einfühlungsvermögen. Aber seien Sie kein Weichei.« »Weiß irgendjemand außer Ihrer Assistentin davon, dass ich bei der Kripo bin?« Ich überlegte, ob ich irgend jemandem gegenüber Kleins Namen erwähnt hatte, aber mir fiel niemand ein. »Nein. Außer Rita weiß keiner Bescheid. Denen, die Sie in der Firma gesehen haben, erzählen Sie, dass Sie da waren, um sich zu bewerben. Anni wird Ihre Unterlagen brauchen, wir sind da sehr genau. Kann man bei der Kripo was anfertigen lassen?« »Das wird bereits erledigt.« »Okay, dann können wir ja mal die Runde machen und Sie überall vorstellen. Wir sind hier übrigens per Du. Wie heißen Sie mit Vornamen?« Er schaute mich mit einem Ausdruck von trotzigem Stolz an. »Harald.« Ich riss mich zusammen und verkniff mir ein Grinsen. »Harry Klein. Ich glaub es nicht.« Gemeinsam mit Rita machten wir eine Runde durch das Haus, und ich erklärte meinem Regieassistenten die Sets und die Abläufe. »Der gesamte untere Bereich des Hauses ist Drehort, die Küche natürlich ausgenommen. Was früher der Gastraum war, haben wir umfunktioniert zu einem variablen Set. Sie sehen, dass der Pächter vorne einige Wände herausgerissen hat, die Gaststube machte zwei Drittel des Erdgeschosses aus und hat Fenster in drei Richtungen. Unser Ausstatter hat ziemlich gut mit Vorhängen und Stellwänden gearbeitet - ein Umbau ist in einer Stunde zu schaffen. Und schon wird aus der Hexenküche ein Schlafzimmer. Im hinteren Bereich des Erdgeschosses, da wo früher die Speisekammern waren, haben wir die Technik untergebracht. Wir drehen auch im Garten und in der Scheune und im Wald natürlich auch, aber nicht direkt hier, sondern ein paar Kilometer weiter oben. Im zweiten Stock sind die Garderoben, eine für die Jungs, eine für die Mädchen. Es gibt zwei ehemalige Schlafzimmer, beide liegen nach vorne raus, da haben wir die Maske untergebracht. Und auf der Rückseite ist ein Bad und noch ein großer Raum - das ehemalige Wohnzimmer des Pächters, das ist der Aufenthaltsraum.«
Wir standen auf dem Flur des ersten Stocks vor einer Tür, die zu einer schmalen Treppe in den zweiten Stock führte. Hier war es kühl und zugig. Meine Stimme hallte durch den großen leeren Raum. Ich hatte jedes Mal ein unangenehmes Gefühl, wenn ich diese Etage betrat. Vielleicht lag es daran, dass hier das Scheitern des einstigen Besitzers so offensichtlich wurde und mir jedes Mal sein schreckliches Ende einfiel. »Dieses Stockwerk steht leer, es gibt nur einen Raum, den wir verwenden und zwar als Wohnung des Priesters. Dieser Teil des Hauses sollte ursprünglich auch renoviert werden. Der vordere Teil ist exakt so geschnitten wie der Gastraum im Erdgeschoss. Wahrscheinlich wollten sie die Gaststube bis in den ersten Stock erweitern, aber dann ist dem Pächter das Geld ausgegangen.« Ich erzählte Klein nicht, dass für die Dreharbeiten der erste Stock viel günstigere Voraussetzungen geboten hätte als das Erdgeschoss. Dadurch, dass er komplett leer stand, wäre es viel einfacher gewesen, den Set aufzubauen, aber ich hatte meine Entscheidung aus dem Bauch getroffen und argumentiert, dass es den Transport der Technik vereinfachen würden, wenn wir im Erdgeschoss drehten. Der wahre Grund, den ersten Stock so gut es ging zu vermeiden war, dass mich dieser Ort gruselte. Ich hatte das Einschussloch in der Wand gesehen, vor der sich der Besitzer die Kugel gegeben hatte. Sein letzter Blick hatte den Trümmern seiner Existenz gegolten. Einem Ausflugslokal, das keiner wollte. Einem leeren kalten Raum, der sein ganzes Geld verschlungen hatte. Wir stiegen die steile Treppe hinauf, und prompt fühlte ich mich wohler. Rita erklärte Klein die Abläufe. »Wir fangen morgens um halb acht an. Dann geht Dana zu Tim in die Maske. Bei ihr dauert es immer etwas länger, weil sie stark tätowiert ist und Body-Make-up braucht.« Sie klopfte an die Tür zur Maske und wir steckten unsere Köpfe hinein. »Morgen, Sweeties!«, rief Tim, während er konzentriert mit einem Schwämmchen Camouflage auf Danas Hintern auftrug. »Morgen ihr beiden«, gab ich zurück. »Ich möchte euch unseren neuen Regieassistenten vorstellen. Das ist Harry.« Als Tim ihn erblickte, ließ er von Danas Hintern ab und setzte sein strahlendstes Lächeln auf. »Hi, ich bin Tim!« Dana ergriff die Chance, sich eine Zigarette anzustecken und fragte »Was ist mit Ingo?« »Frag nicht.« Rita schloss die Tür zur Maske und wir setzen unsere Tour fort. »Ab acht kommen die Jungs von Licht und Ton und die Kameramänner, um neun dann die anderen Darsteller und wir fangen mit dem Einleuchten an.« Sie schaute in
ihre Dispo und reichte Klein eine Kopie. »Das ist der Drehplan für heute und morgen. An Darstellern haben wir heute Dana, Simone, Ronny und Frederic. Morgen kommen dann Pamela und Eddie dazu.« Dann zog sie aus ihrer Umhängetasche ein Skript und reichte es unserem neuen Regieassistenten. »Es wäre sinnvoll, wenn Sie sich damit vertraut machen.« »Du«, sagte Klein. »Wir sollten uns an das Du gewöhnen.« Er lächelte sie freundlich an. Rita fuhr sich durch die kurzen Haare und blickte auf die Dispo. »Alles klar, Harald. Wir beginnen heute Morgen mit Szene vier. Die ersten Einstellungen spielen draußen, die drehen wir sofern wir es zeitlich schaffen -, heute ab vierzehn Uhr. Für das Opening brauchen wir nur Ronny, Dana und Simone.« Ich schaltete mich wieder ein. »Ursprünglich war geplant, dass während des Außendrehs parallel im Haus eine Szene mit Frederic gefilmt wird, aber das hätte Ingo allein übernommen und ich weiß nicht, ob Sie ...«, ich korrigierte mich, »ob du dich der Porno-Regie schon gewachsen fühlst.« »Vielleicht morgen.« Klein errötete. »Ich habe eine schnelle Auffassungsgabe.« Kaum dass wir wieder in der Küche angekommen waren, füllte sich das Haus mit Mitarbeitern. Die Jungs von Licht und Ton erschienen und berichteten, dass das Firmengelände bereits wieder von der Presse belagert wurde. Ich hoffte inständig, dass niemand ihnen verraten würde, wo wir drehten, denn es wäre schwer gewesen, die Atmosphäre des 19. Jahrhunderts zu erzeugen, wenn vor der Haustür Handys klingelten und Fernsehteams Anekdoten austauschten und »Bericht erstatteten«, von wo es nichts zu berichten gab. Ich saß am Küchentisch, ein Laptop vor mir, klickte mich durch diverse Porno-Seiten auf der Suche nach einem Priester-Darsteller und aß ein Muffin, das Rita mir hingestellt hatte, damit ich nicht ohne Frühstück zur Arbeit schreiten musste. Harry hatte ich auf den Set geschickt und durch die offen stehende Tür konnte ich beobachten, wie er die Technik von dem umgestellten Drehplan informierte und ihnen die aktualisierten Dispos reichte, als hab er nie irgendwo anders gearbeitet als in einer Filmproduktion. Die Techniker schienen ihn in seiner Rolle zu akzeptieren. Frederic und Simpne kamen kurz herein und wir tauschten Luftküsschen aus, bevor sie in die Maske gingen. Ich war froh, dass die beiden sich auf Anhieb gut verstanden - sie passten toll zusammen. Vielleicht hatte die Krisensituation sie zueinandergebracht - denn obwohl Frederic einen ausgeglichenen Eindruck machte, machte ihm der Tod seines Freundes mit Sicherheit zu schaffen. Trotz der Umstände war die Atmosphäre am Set angenehm ruhig. Was zum Teil auch daran lag, dass wir Pamela nicht gleich am ersten Tag ertragen mussten. Einmal mehr in meinem Leben war ich dankbar, dass ich Arbeit hatte, dass ich Routinen absolvieren musste, dass ich in ein Team eingebunden war. All das trug dazu bei, dass ich die Ereignisse, die ich in den vergangenen Tagen und noch an diesem Morgen miterlebt hatte, ertragen konnte. Ich hatte keine Zeit für einen Zusammenbruch, denn Zeit war ein Luxus, den ich mir nicht leistete. Ich trug Verantwortung. Mich in meine Ängste zu vertiefen, stand nicht zur Debatte. Allein im
Haus zu sitzen und auf die Übertragungswagen der Presse zu starren, sinnierend, wo mein Mann war, wie es ihm ging, ob er noch am Leben war - das hätte mir den Verstand geraubt. Ich fragte mich, was Menschen dazu verleitete, sich ins Private zurückzuziehen anstatt weiterzuarbeiten, wenn sie genug Geld hatten, nie wieder einen Finger rühren zu müssen. Ich war mir sicher, dass Greta Garbo an den Spätfolgen einer chronischen Langeweile gestorben war, die schlimmere Nebenwirkungen hatte als jede andere tödliche Krankheit. Vierzig Jahre aus eigener Entscheidung arbeitslos die Vorstellung war für mich grausam. Wie mochte es wohl sein, jahrzehntelang durch die gleichen Straßen zu spazieren, wo jeden Tag die gleichen Paparazzi lauerten - bis sie starben und durch neue ersetzt wurden, die dann wieder jahrelang Gretas Schlapphut nachjagten. So ein Leben war für mich unvorstellbar, denn obwohl auch mir die Paparazzi auflauerten, hatte ich genug Ablenkung, mir nicht achtzehn Stunden jeden Tag darüber den Kopf zu zerbrechen. Ich hatte meine Arbeit. Mein Leben hatte einen Sinn. Was wäre der Sinn, wenn ich nicht arbeiten könnte? Sollte ich mich über die Zinsgutschriften auf meinen Kontos freuen, Kissen besticken und frische Schnittblumen in schlichten teuren Vasen arrangieren? Gerade jetzt, wo mein bisheriges Leben durch scheinbar sinnlose Geschehnisse bedroht wurde, war es meine Arbeit, die meine Angst mäßigte und dafür sorgte, dass ich mich auf andere Dinge konzentrierte als mein angeschlagenes Gefühlsleben. Die moderne Psychologie mochte anderer Ansicht sein, aber Verdrängung ist ein Mechanismus, dessen sich die Seele nicht von ungefähr dann und wann bedient, wenn die Realität einem gerade allzu übel mitspielt. Vielleicht würde ich in fünf Jahren bei einem Psychiater sitzen und ihm meine Traumata der letzten Tage um die Ohren hauen. Vielleicht wäre ich in fünf Tagen tot. Sei's drum. Im Moment zählte einzig und allein das Jetzt. »Johanns Vater hat vor mir ausgespuckt, kannst du dir das vorstellen?« Bartels klang gleichzeitig amüsiert und fassungslos. »Sehr bizarr. Sehr American Beauty.« »Gerd, wir haben in einer Viertelstunde Drehbeginn, sei nicht böse, wenn ich dich gleich abwürge.« »Ach Schätzchen, mir ist alles recht - solange du mir nichts abschneidest.« »Ich kann darüber nicht lachen, tut mir Leid.« Ich fand die Bemerkung wirklich geschmacklos. Es entstand eine Gesprächspause, und langsam machte es bei mir klick. »Ich hab dich erwischt, Lilly.« »Es dämmert mir, Gerd. Woher wusstest du das mit dem Abschneiden?« »War nur so eine Vermutung - wenn die Polizei keinerlei Details herausgibt, dann bezweckt sie damit eins: Sie wollen verhindern, dass irgendein Durchgeknallter aus Profilierungszwang den Mord zugibt. Und wenn sie dermaßen auf ihren Fakten sitzen bleiben wie in diesem Fall, dann muss es ein aussagekräftiges Szenario gewesen sein. Nenn mich Sherlock, aber wenn ein Pornostar getötet wird und von einem >brutalen Verbrechern< die Rede ist, dann braucht man nur etwas Fantasie um zu
ahnen, was das brutale Moment ist - Verstümmelung. Und immer wenn ich an Johann denke, sehe ich zuallererst seinen Schwanz.« »Geht dir das mit all deinen Exfreunden so?« »Sei nicht zickig. Du weißt was ich meine - Johann hatte den perfekten Champignon.« »Schreib das doch in deinem Artikel. Gerd, tut mir Leid, ich muss an die Arbeit.« »Jetzt sei nicht beleidigt, du weißt, dass ich es nicht böse meine.« »Heute morgen ist ein weiteres Leichenteil gefunden worden. Die Polizei vermutet, dass es von meinem Regieassistenten stammt.« »Nein!« Er war fasziniert bis zur Schmerzgrenze. »Ein Serienmörder in der Kaiserstadt Goslar! Warum kann er nicht in Hannover töten - dann hätten wir einen tollen Aufhänger: der Expo-Killer.« »Mir wäre es auch lieber, es würde nicht hier passieren, Gerd. Aber die Geschichte ist alles andere als lustig, und ich kann deinen Humor beim besten Willen nicht teilen.« »Ich meinte das gar nicht komisch.« »Okay. Das macht es noch schlimmer. Nimm's mir nicht übel, aber ich muss jetzt an die Arbeit.« Vielleicht funktionierte Gerd Bartels auch so ähnlich wie ich und kompensierte seinen Schmerz mit Arbeit. Und sein Arbeitsfeld waren nun einmal die Sensationen. Trotzdem wollte ich mir keine geschmacklosen Spekulationen mehr anhören. »Eines noch, Lilly. Wusstest du, dass Elke Brenners ehemaliger Doktor-Freund im Februar unter sehr mysteriösen Umständen ums Leben gekommen ist?« Ich war - um ein überstrapaziertes Klischee zu benutzen - ganz Ohr, er hatte meine ungeteilte Aufmerksamkeit zurückgewonnen. »Erzähl!« »Du erinnerst dich an die Geschichte mit dem zurückgezogenen FAKT?« »Sie hat einen Artikel geschrieben und mit den Fakten so jongliert, dass es ihren Freund in das beste Licht rückte.« »Genau. Dann haben sie die Ausgabe nicht ausgeliefert, das ist einmalig in der Geschichte des Blatts. Großer Skandal beim Verlag, großer Skandal in der Ärztekammer und jeder, den ich anspreche, ist zutiefst verschämt und will schnellstmöglich weg vom Thema.« »Interessant. Und worum ging es nun eigentlich in dem Artikel?« »Du kennst mich ja ganz gut, oder?« »Gerd, bitte jetzt keine Spielchen. Ich bin neugierig.«
»Du kennst mich gut genug um zu wissen, dass ich alles herausfinde, wenn ich mich dahinter klemme. Alles. Ausnahmslos. Bislang. Wenn ich nicht so viel beschäftigt wäre, würde ich dir auch den Mord an Kennedy aufklären.« »Spann mich nicht auf die Folter!« »Okay. Ich weiß nicht, was in dem Artikel stand. Alle, ausnahmslos alle, mit denen ich gesprochen habe, halten dicht.« »Unglaublich!« »In der Tat.« »Und was waren das für mysteriöse Umstände, unter denen der Arzt ums Leben kam?« »Halten Sie sich fest, Frau DeLight, und wenn Sie noch nicht sitzen, dann nehmen Sie besser Platz. Elkes Arzt starb bei einem Autounfall mit Fahrerflucht. Der Fahrer konnte nie gefasst werden und bei dem Wagen handelte es sich um einen Mietwagen.« Das Handy wäre mir vor Schreck fast aus der Hand gefallen. Mir wurde schwindlig und eine Panikattacke setzte zum Ansprang an. Wer noch nie einer zum Opfer gefallen ist, kann sich davon keinen Begriff machen. Zu sagen, es sei ein Gefühl, ist unzureichend. Es ist mehr. Es wird nicht umsonst als Attacke bezeichnet. Panik ist ein Gefühl jenseits der Angst. Der Angst kann man rational beikommen, wenn man sich fragt, wovor man sich fürchtet. Meist sind das Konsequenzen, die man auf sich zukommen sieht. In der Regel kann man sich beruhigen, indem man der bedrohlichen Situation ausweicht oder ihr die Stirn bietet faceyourfears. Panik das ist der Zustand, in dem Körper und Geist sich geschlagen geben und es einem unmöglich machen, sich der Angst zu stellen oder einfach die Flucht zu ergreifen. Man weiß manchmal vielleicht nicht einmal, wie die Angst entsteht, was ihr zu Grunde liegt. Und selbst wenn man das weiß, zum Beispiel, wenn man mit einer Mordserie ungeahnten Ausmaßes konfrontiert ist und eine zentrale Rolle in der Besetzungsliste spielt, ohne eine Ahnung zu haben, was für Konsequenzen das Skript bereithält, hilft einem die Erkenntnis, dass die panische Reaktion vielleicht irrational ist, kein Stück weiter. Die Panik, die einen ergreift, wenn man auf der Flucht ist und von einem beilschwingenden Irren verfolgt wird, hat einen handfesten Anlass. Die Panik, die einen ergreift, wenn man sich gerade in Sicherheit wähnt, wenn ein Dutzend schützender Menschen um einen herum ist, trifft viel härter. Sie ist ein Eingeständnis an die Angst. Ein lähmendes Kapitulieren vor der Bedrohung. Die ultimative Erfahrung von Einsamkeit. Panik liefert dich aus. Panik ist ein Anfall von Sterblichkeit. Ich zitterte am ganzen Körper, jede Farbe war mir aus dem Gesicht gewichen, ich brach in Schweiß aus, gleichzeitig kam es mir vor, als habe mich jemand an einen Stock gefesselt - ich war nicht fähig, meinen Kopf nach links oder rechts zu bewegen und dennoch fühlten sich meine Gliedmaßen an, als seien die Knochen darin zerfasert, aufgeweicht, ich war wie ein Mensch aus Gummi, der nur von den dünnen
Drähten des Schocks zusammengehalten wird. Ich weiß nicht, wie viel Zeit verging, Zeit war auf einmal kein Begriff mehr. Plötzlich stand Ronny vor mir, aufgetaucht aus dem Nichts, wie der Geist, den er in meinem Film spielen würde. Er schaute mich aus blaugrünen, verständnisvollen Augen an, die feucht wurden, als er meinen Schockzustand wahrnahm, einordnete und - behandelte. Er runzelte die Stirn, machte einen Schritt auf mich zu und schloss mich fest in die Arme. Mein Körper sackte völlig in sich zusammen, und ich fing an zu schluchzen, während ich seinen warmen, sehnigen Körper an meinem spürte und all die Panik fließen ließ, bis ich sie herausgeheult hatte, bis sie aus meinem System verschwunden war und wie eine dunkle Gewitterwolke wieder abzog. Der Moment kam mir endlos vor, ich verlor mich in diesem Schwall widersprüchlicher Gefühle von Furcht und Aufgehobensein, Angst und Liebe, Panik und Erleichterung, von Leben und Tod. Ich lehnte mich in der Umarmung zurück, ohne meine Arme von ihm zu lassen, und schaute ihm in die Augen. Was für einen Anblick er jetzt vor sich hatte - mein Gesicht war tränennass, die Augen verquollen, ich war durchgeschwitzt, restlos ausgelaugt. Und er blickte mich aus seinen strahlenden Augen an, meine Tränen auf seiner Wange, und sein Blick strahlte nichts aus als Wärme, Verständnis, Beruhigung. Als Liebe. Langsam, unaufhaltsam kamen sich unsere Gesichter näher, waren in ihrer ZeitlupenBewegung nicht zu bremsen. Seine Lippen waren warm und weich, als sie auf die meinen trafen und wir in einem Kuss versanken. Ich erkannte ihn wieder. Aber gleichzeitig war dieser Kuss etwas Neues, etwas anderes. Er schien mir Energie zu schenken. Es war wie umgekehrter Vampirismus - anstatt mir Kraft zu rauben, erlebte ich einen Rausch von Stärke. Wo eben noch blinde Panik, purer Terror mein System regiert hatten, machte sich jetzt Begierde breit und wurde angeheizt durch die Stärke seiner Umarmung, das Tempo unserer Zungen. Sein ver- trauter Geruch, der Druck seines steifen Schwanzes - all das war zu gut, um Vernunft walten zu lassen. Ohne voneinander abzulassen verschwanden wir im hinteren Bereich der Küche, zerrten uns noch die Kleider vom Leib, während wir in eine sichtgeschützte Ecke stolperten, und gaben uns dem unglaublichsten Quickie hin, das ich je erlebt hatte. Es wäre nicht ganz einfach gewesen, angesichts der Situation, in der ich mich befand, jemandem diese Szene zu erklären. Ich habe später lange nachgedacht, ob ich mich dafür schämen sollte, und Scham ist ein Gefühl, das ich in Bezug auf Sex nie sehr intensiv erlebt habe. Wenn Klein es gesehen hätte, wäre sein Klischee , des Porno-Stars wahrscheinlich ein für alle Mal zementiert gewesen. Aber wir hatten keine Zeugen. Wir hatten nur einander. In diesem gloriosen Moment der Wiedervereinigung. Noch während Ronny mich fickte und kurz bevor wir gleichzeitig kamen, was normalerweise ein überbewerteter Moment ist, in diesem Augenblick jedoch das einzig Wahre war, während wir uns so tief in die Augen schauten, dass wir uns fast darin verloren, fiel mir eine Gedichtzeile ein, die für immer meine Beziehung zu ihm beschreiben würde: »Wer nie sein Herz im Spiegel sah, der kann das nicht verstehn.«
Kapitel 10 Porno oder Erotik, das ist letztlich nur eine Frage der Einstellung. Der Kameraeinstellung. Und der Häufigkeit. Für den Hexen-Film hatten wir fast doppelt so viel Drehzeit veranschlagt wie für jeden anderen Film, der in meinem Hause
gedreht worden war, und das, obwohl wir bereits aufgerüstet hatten und mit drei Kamerateams, anstatt wie üblich mit zweien drehten. Diese beiden Faktoren sowie die opulente Ausstattung machten Lilly DeLights Hexen zu unserer bislang teuersten Produktion. Der vordere Bereich der Gaststube des Krummen Hauses war in eine Art Kräuterküche verwandelt worden und die Szene, die wir an diesem Morgen drehten, zeigte Dana und Simone bei einem Beschwörungsritual. Während Dana in einem alten Buch blätterte und die Anweisungen für einen Zauber vorlas, bei dem es darum geht, den männlichen Geist zu beschwören, mischte Simone die Ingredienzien für einen Hexentrunk zusammen. Nach dem Genuss einer tüchtigen Dosis Belladonna und Hexenpfeffer geraten die beiden in einen heftigen Rausch, der sich (für die TV1 Variante) in eine lesbische Soft-Sex-Szene steigert, die wiederum für den »Director's Cut« etwas ausführlicher, detaillierter und mit viel mehr Großaufnahmen in Szene gesetzt werden sollte. Der Orgasmus der Hexen hat zur Folge, dass sich Ronny materialisiert - in der Fernsehfassung nackt und schön (sichtbar nur bis zum Bauchnabel), in der Videofassung nackt, schön und erigiert. Er tritt aus einem Gemälde heraus, auf dem er als Faun abgebildet ist, mit wildem Blick und stählernem Leib. Ein echter Porno-Star-Auftritt, bei dem der Zuschauer lange darauf warten muss, den geheimnisvollen Mann zu sehen und ihn dann schließlich auf einem Silbertablett serviert bekommt. Mit Special effects satt, mit Glanz und Glamour und stimmungsvollem Soundtrack. Es sollte ein 161wirklich stilvolles Comeback für Ronny werden, und ich hatte mir Dutzende alter HollywoodSchinken angeschaut, um Ideen zubekommen, wie man so etwas am spannendsten inszeniert. Das hatte sich ausgezahlt. Ich betrachtete mir die Einstellungen auf dem Monitor, und selbst ohne die Special effects, die in der Post-Production eingebaut werden würden, war seine Präsenz einfach spektakulär. Ein Star ist ein Star, wenn man ihn als solchen erkennt und nicht erst, wenn er in allen Talkshows gesessen hat und die Gesellschaftsmagazine Home-Storys mit ihm machen. Ein Star betritt einen Raum und die Leute drehen sich nach ihm um. Manche Stars mussten erst viele Räume zum Leuchten bringen, bevor auch die Produzenten begriffen, was sie da vor sich haben und beschlossen, diese StarQualität für ihre Filme auszunutzen. Wenn es mir glücklicherweise mal passiert, dass ich einen Star entdecke bzw. wiederentdecke, dann bin ich als Produzentin natürlich überglücklich. Ich weiß, dass ich ein Juwel besitze und pflege es behutsam. In meiner Zeit bei Greta Giehse hatte ich erlebt, wie der Neid einer Produzentin der Geburt eines Stars im Wege stehen kann. Anstatt sich damals über den Erfolg zu freuen, den sie mit den Filmen von Ronny und mir verbuchen konnte, wurde sie immer unleidlicher und die Bedingungen unter denen wir arbeiteten, immer schwieriger. Fazit war, dass sie ihre Stars verlor und den Grundstein für meine Produzentinnen-Karriere legte. Ich habe mal eine Anekdote über Marilyn Monroe gelesen. Marilyn war nach Jahren in billigen Zweitklasse-Filmen bei widerlichen Produzenten ausgebrochen und hatte Amerikas berühmtesten Sportler Joe DiMaggio geheiratet. Den Ring frisch am Finger hatte sie angeblich direkt vom Standesamt einen Freund angerufen und triumphal ausgerufen: »Marilyn Monroe hat ihren letzten Schwanz gelutscht.« Womit sie sprichwörtlich und sinnbildlich und vielleicht auch ganz konkret die fiese Produzentenriege meinte, die ihr nie die verdiente Chance gegeben hatte
und sie erniedrigte, wann immer sie konnte. Das hoffe ich jedenfalls für Joe DiMaggio. Ich konnte mich mit dieser Geschichte sehr identifizieren, nur dass es bei mir natürlich hätte heißen müssen: »Lilly bläst nur noch, wen sie will.« Ich hatte beide Seiten der Medaille gesehen und war mir nur zu gut darüber im Klaren, dass die Stars das Butter auf dem Brot meines Produktionserfolgs sind. Als wir die Einstellung abschlossen, bei der Ronny sich aus dem Bild in den Raum katapultiert - mit wehenden Haaren und sehnigem Leib, fein benetzt von frischem Schweiß, war die gesamte Crew in spontanen Szenenapplaus ausgebrochen - das hatte ich noch bei keiner Produktion erlebt. Ich freute mich für ihn, denn die Anerkennung der Crew ist das Beste, was man als Darsteller erleben kann. Abgesehen natürlich von diversen, multiplen Orgasmen pro Drehtag. Und es war für alle Beteiligten augenscheinlich - dieser Mann war nicht nur ein Profi. Dieser Mann war der Beste in seinem Metier. Und das sah man bereits jetzt, wo er nichts anderes getan hatte als aus einem Bilderrahmen in den Raum zu hüpfen. Der Stress und die Angst der vergangenen Tage fiel ein wenig von mir ab, endlich schien mal wieder etwas zu gelingen. Aber natürlich war die Freude nur von kurzer Dauer. Die Crew saß versammelt an zwei Tischen, groß wie Rittertafeln, in der Küche. Die Szene war in Rekordzeit abgedreht worden, und bevor wir mit den Außenaufnahmen beginnen wollten, hatten wir noch Zeit für ein leichtes Mittagessen. Dana erzählte Simone schmutzige Witze und schaffte es tatsächlich, sie zum Erröten zu bringen. Tim suchte immer wieder verstohlen den Blickkontakt zu Harry Klein, der seinen Job wacker absolviert hatte und genüsslich einen Rucolasalat aß. Rita hing schon wieder am Handy, um Neuigkeiten mit Anni auszutauschen und Ronny saß neben mir. Leuchtend, zentriert und gelassen. Unter anderen Vorzeichen wäre dieser Tag vermutlich als der idyllischste Arbeitstag meiner Laufbahn in die Geschichte eingegangen, aber die Umstände waren nun mal nicht danach und der Tag war noch lange nicht vorbei. Kaum, dass wir eine Arbeitspause eingelegt hatten, machte ich mir wieder Gedanken über die Morde. Die beiden Doppelmorde - denn dass Elke Brenners Freund eines natürlichen Todes gestorben war, konnte ich mir nicht vorstellen - zwischen denen vielleicht oder vielleicht auch nicht ein Zusammenhang bestand. Einen gab es jedenfalls: mich als Zeugin in beiden Fällen, und das erschien mir zu ungewöhnlich, um reiner Zufall zu sein. Nach und nach beendeten alle ihre Mahlzeit und kamen miteinander ins Gespräch. Ich hatte noch keine Gelegenheit gehabt, mit Harry alleine zu reden, und so wusste er noch nichts von den Neuigkeiten, die Gerd Bartels mir mitgeteilt hatte. Im Moment wurde er von Tim in Beschlag genommen und musste sich Schminkanekdoten aus der Welt der Reichen, Berühmten und der Nackten anhören. »Und als Prince in Berlin war und in der Waldbühne auftrat, da brach sich seine Stylistin die Hand und Prince selbst - stell dir das mal vor - also Prince ruft bei mir an und sagt: >Hey guy I have a problem, canyoufix it?< Du, da war ich schon ein bisschen excited.« »Sag bloß. Welcher Prinz war das denn?«
Tim schaute ihn verständnislos an und ich musste grinsen. Nicht nur, weil Harry unbeeindruckt blieb, sondern weil die Geschichte eine reine Erfindung war und Tim sie Vorjahren in Umlauf gebracht hatte, um den Salon, den er damals führte, in die Schlagzeilen zu bringen. Was ihm gelungen war. Er hatte es sogar zu kurzzeitigem Talkshow-Ruhm gebracht und war mit seiner Erzählung bei Bärbel und Arabella gewesen. Nachdem er TV-Blut geleckt hatte, kündigte er an, sich in Zukunft auf das Frisieren im Intimbereich zu spezialisieren und schaffte es sogar zu Hans Meiser, Ilona Christen und als krönenden Abschluss ins Abendprogramm: Zu Margarete Schreinemakers! Dort hatte ich ihn aufgegabelt. Er hatte neben mir in der Maske gesessen und Hand an mein Haar gelegt, das durch die Behandlung der offiziellen Maskenbildnerin aussah wie ein vergessener alter Dutt aus dem DenverClan. Auf einmal verstand ich Margaretes Haarprobleme. Tim war mir auf Anhieb sympathisch gewesen. Bereits beim Sekt-Umtrunk nach der Sendung berichtete er mir verstohlen, dass die Prince-Anekdote eine Erfindung war und dass die Schamcoiffure alles andere als erfolgreich lief - er hatte bislang nur zwei Kunden gehabt: seinen damaligen Freund und sich selbst. Von da an engagierte ich ihn regelmäßig als Stylisten, wenn ich offizielle Auftritte hatte und, nachdem ich die Produktionsfirma gegründet hatte, stellte ich ihn fest ein. »Na der Prince natürlich. Prince, Madonna, Michael Jackson.« »Ach ja, kenn ich. Klar.« Ronny stand auf und legte mir die Hand auf die Schulter. Ich schaute ihn an und wir tauschten einen intensiven Blick aus. »Na, dann kann's ja jetzt weitergehen. Wir treffen uns alle in einer halben Stunde vor der Tür, dann marschieren wir zusammen in den Wald, okay? Kamera-Team Eins kommt bitte jetzt mit vors Haus, wo wir ein paar Einstellungen mit Frederic aufzeichnen, der ins Fenster schaut und die Mädchen beobachtet. Frederic - bist du so weit?« Er nickte. Tim mischte sich ein. »Lass mich nochmal kurz sein Gesicht nachpudern, er glänzt.« »Alles klar. Wir sehen uns in fünf Minuten.« »Rita - hilf den Jungs doch bitte beim Aufbau. Hast du das Storyboard?« »In der Tasche. Alles klar.« Die Jungs vom Kamera-Team erhoben sich und gingen zum Set, um das Equipment für den Transport zu verstauen, und auch der Rest der Crew machte sich auf den Weg, die Sachen zusammenzupacken, die sie für den Außendreh im Wald benötigten.
»Harry, kannst du bitte mal kommen - ich würde gern noch ein paar Sachen mit dir durchsprechen.« »Klar, Lilly.« Er lächelte freudig. Wir saßen jetzt allein am Tisch, nur eine Küchenhilfe, die ich mir vom Haus der Landfrauen ausgeborgt hatte, war mit Abräumen beschäftigt. »Was den Mord an Elke Brenner angeht - ein Freund von mir ist Journalist in Berlin und er hat herausgefunden, dass Elke Brenners Exfreund unter genau den gleichen Bedingungen ums Leben gekommen ist wie sie. Unfall mit Fahrerflucht. Ich hatte noch keine Zeit, Ihnen das zu sagen. Gerd Bartels hat mich erst kurz vor dem Dreh angerufen.« »Das hört sich nicht nach einem Zufall an.« »Ganz genau. Meinen Sie, dass die beiden Geschichten irgendwie zusammenhängen?« »Dazu müsste ich mehr über die Fälle in Berlin wissen. Ich informiere Schultz und der setzt sich mit der dortigen Kripo in Verbindung.« »Na, der wird sich freuen. Der Fall wird nämlich von zwei Kommissarinnen bearbeitet. Schultz hat auf mich bislang nicht den Eindruck gemacht, dass er Frauen etwas zutraut. Jedenfalls nichts Gutes.« »Das muss nicht unsere Sorge sein. Wissen Sie, welcher Abschnitt den Fall betreut?« »Abschnitt? Passiert ist es in Berlin-Mitte. Die Kolleginnen heißen Haberlik und Vogt.« »Kann ich Ihr Handy benutzen?« »Sicher. Und fragen Sie bitte gleich, ob es etwas Neues von Max gibt.« Ich reichte ihm das Telefon und Rita kam in die Küche. Sie war aschfahl. Ich sah sie und dachte nur »Was ist jetzt?« Ich musste die Frage nicht stellen. »Ich weiß nicht, wie ich's sagen soll ... Die Bänder von heute Morgen sind verschwunden. Alle. Unauffindbar.« »Was heißt unauffindbar? Habt ihr überall gesucht?« Harry Klein antwortete. »Die Bänder lagen in einem Alu-Koffer am Set. Ich habe gesehen, wie der Kameraassistent von Team Eins sie hineingelegt hat.« »Natürlich, da haben wir zuerst geschaut. Der Koffer ist leer.« Rita war der Verzweiflung nahe. Ich zwang mich, innerlich bis zehn zu zählen, und verhinderte so einen gewaltigen ziellosen und arbeitsklimabedrohenden Gefühlsausbruch. Die Wut schwelte in mir, wie all die anderen schrecklichen Gefühle - die Sorge um Max, die Angst vor dem
Unbekannten, die Frustration darüber, nichts an der Situation ändern zu können, und die Anspannung, unter diesen Bedingungen auch noch vernünftig arbeiten zu müssen. »Hier will mich jemand zerstören. Aber das lasse ich nicht zu.« Langsam erhob ich mich vom Tisch und stützte mich mit beiden Armen auf die Tischplatte. »Wir finden diese Bänder, und wenn ich persönlich eine Taschenkontrolle durchführen muss. Und wenn die Polizei es nicht schafft, dann finde ich eben meinen Mann. Und wenn ich schon mal dabei bin, dann finde ich auch heraus, wer das ist, der hier herumläuft und unschuldige Menschen auf die widerlichste Art und Weise ums Leben bringt. Es reicht. Ich lasse mir nicht mein Leben verpfuschen und stehe dabei und kucke zu. Jetzt ist Schicht!« »Lilly - Sie wissen, dass ...« Harry musste sich natürlich einmischen, aber ich hob die Hand und wehrte ihn ab »Still. Ich will nichts mehr hören. Rita, sag allen, dass wir eine freiwillige Taschenkontrolle machen, bevor wir in den Wald gehen. Wer sich weigert, weiß, was auf ihn zukommt. Harry, du hilfst mir dabei.« Auf der einen Seite war es mir sterbenspeinlich, im Gepäck meiner Crew herumzuwühlen, auf der anderen Seite sah ich keine andere Lösung. Wenn wir den Dieb am ersten Tag finden könnten, wäre der Spuk vielleicht vorbei und wir würden unter halbwegs normalen Umständen unserer Arbeit nachgehen können. Vor allem gäbe es dann kein gegenseitiges Misstrauen mehr, das einem die Konzentration raubte und die Atmosphäre vergiftete. Gemeinsam mit Harry wanderte ich von Raum zu Raum, sagte ein paar entschuldigende Worte im Vorfeld und begann Taschen, Tüten und Koffer zu leeren. Niemand widersetzte sich. Die Taschenkontrolle ergab ein paar skurrile Überraschungen. Bei Frederic fand ich eine Tüte Gras, sparte mir aber einen Kommentar und ließ sie ihm. Ich wechselte einen Blick mit Kommissar Klein und er zuckte mit den Schultern und signalisierte, dass es auch für ihn kein Drama war. Dana trug zwei Stangen Marlboro mit sich und besaß ein Sammelsurium von Glücksperlen-Bändern in allen Schattierungen des Regenbogens - sie schien auf Nummer sicher gehen zu wollen. Ronny hatte keine Lektüre außer einem Yogabuch dabei, als Lesezeichen diente ihm ein altes Foto von uns beiden aus glücklichen Tagen. Ich nahm das Foto in die Hand und schaute ihm in die Augen. Er lächelte mich offen an. Ein Kameraassistent las das Buch Wenn Frauen zu sehr lieben, Simone nahm ihre Rolle offenbar ernst und studierte Die Sturmböhe von Emily Bronte und Tim hatte Poppers in diversen Geruchsrichtungen dabei - ich fragte mich für wen und wann oder ob er einfach nur für den Fall gerüstet sein wollte, ähnlich wie Inge Meysel mit ihrer Todespille oder Dana mit ihren Glücksbändern. Natürlich musste ich auch Harry überprüfen, was mir ein bisschen unangenehm war. Wenn ich es nicht getan hätte, wären die anderen berechtigterweise misstrauisch geworden. In seiner Tasche befand sich eine umfangreiche Pressemappe mit Artikeln über mich, die er offenbar aus dem Internet gezogen hatte. Nach einer Stunde des Wühlens in der Intimsphäre meiner Crew waren die Bänder noch immer verschollen und blieben wie vom Erdboden verschluckt. Ich hatte die
leise Vermutung, dass es sich wieder um einen Fall von Sabotage handelte, der den Stempel Greta Giehse trug, doch natürlich sagte ich das niemandem. Wenn die Giehse die Bänder bekäme, wäre es ihr zuzutrauen, die Szenen eins zu eins nachzustellen und zwei Wochen vor mir mit einem ihrer billig produzierten Videos auf dem Markt zu sein. Da hatte ich es geschafft, das Drehbuch wochenlang geheim zu halten, und am ersten Drehtag funkte mir jemand dazwischen und bedrohte die Produktion. Wenn wir einen Saboteur am Set hatten - und so sah es mittlerweile aus -, dann würde es noch unzählige weitere Mittel und Wege geben, die Dreharbeiten zu unterminieren. Mir grauste davor. Wenn die Bänder sich nicht in den Taschen eines der Crew-Mitglieder befanden, dann konnten sie nur irgendwo im Haus versteckt sein. Niemand war an diesem Vormittag zurück zu den Wagen gegangen - der Weg zum Parkplatz dauerte zu Fuß fast zehn Minuten, und ich hätte es gemerkt, wenn einer vom Team länger als zwanzig Minuten verschwunden gewesen wäre. Frederic war der einzige Darsteller, den wir am Vormittag nicht gebraucht hatten, aber er hatte sich die ganze Zeit am Set aufgehalten und die Dreharbeiten beobachtet. Ebenso hätte es einer von uns gemerkt, wenn ein Eindringling aufgetaucht wäre - mit Schaudern dachte ich wieder an den Morgen, an die Begegnung mit dem Killer von Angesicht zu Angesicht, an seinen Arm, der sich langsam hob, um mir gelassen zuzuwinken. Nachdem ich mit allen Taschen, Koffern und Tüten durch war, hatten Harry und ich im gleichen Moment dieselbe Eingebung. Die einzige noch unkontrollierte Tasche war meine eigene. Sie hatte die ganze Zeit unbeaufsichtigt in der Küche gestanden, und jeder hätte die Möglichkeit gehabt, in einem unbeobachteten Augenblick etwas herauszunehmen oder hineinzulegen, in der Hoffnung, dass ich meine eigene Tasche nicht filzen würde. Das setzte natürlich einen enormen Wagemut voraus, da in der Küche ständiges Kommen und Gehen herrschte, aber ausgeschlossen war es nicht. Selbst bei einer Durchsuchung des ganzen Hauses wäre meine Tasche vielleicht als einzige unkontrolliert geblieben. Wir stürmten in die Küche, gingen schnurstracks zu meinem Louis Vuitton-Modell und tatsächlich: hier fanden sich vier Beta-Videos ä dreißig Minuten Dauer. Mit zitternden Händen kontrollierte ich die Tapes. Ich öffnete vorsichtig die vordere Klappe und sah, was ich befürchtet hatte. Die Bänder waren durchgeschnitten. Im ersten Augenblick war ich wie versteinert, aber dann riss ich mich zusammen. Ich würde mich nicht von irgendeinem Betriebsspion kaputtmachen lassen. »Rita!«, brüllte ich durch das ganze Haus und binnen zwanzig Sekunden stand sie vor mir. »Nimm die Bänder, fahr sofort in die Firma und lass die Jungs im Schnittstudio überprüfen, ob sie noch zu retten sind. Wenn nicht, dann finde jemand anderen, der sie repariert. Egal wie. Geld spielt keine Rolle, hier geht's ums Prinzip. Ich lass mich nicht kleinkriegen, und wer das denkt, der hat die Rechnung ohne mich gemacht!« Es war ein subtiler Schlag gewesen. Hätte jemand das Equipment zerstört, dann wäre uns das vielleicht teuer gekommen, aber wir hätten kurzfristig etwas anmieten können. Den Film zu vernichten, auf dem Ronnys geniales Comeback festgehalten war, schien eine weitere Botschaft für mich zu beinhalten. »Freu dich nicht zu früh!« Es war ein Schlag gegen mich, aber auch gegen Ronny.
Wir waren auf dem Weg nach draußen - die Crew würde weiter hinauf in den Wald gehen, Rita zum Parkplatz, um zurück zur Firma zu fahren. »Harry - könntest du bitte Rita begleiten? Ich möchte nicht, dass sie alleine durch den Wald läuft. Vielleicht nehmt ihr noch jemand Dritten mit, dann muss Harry den Weg nicht alleine zurückgehen.« Ich hatte kaum durch die Runde geschaut, da volontierte bereits jemand. »Ich geh mit!« Tim war kaum zu bremsen. Harry schaute mich stirnrunzelnd an. Ihm war sichtlich unwohl dabei, mich allein zu lassen, aber ich war schließlich von meinem Team umgeben. »Beeilt euch - wir treffen euch an der Location. Und nehmt den Hund mit - der freut sich, wenn er ein bisschen Bewegung bekommt.« »Na gut. Dann mal los.« Ich reichte Rita die Hundeleine - Mikey schaute mich etwas verdutzt an, als er sah, dass ich nicht mit ihm ging, aber er gehorchte anstandslos. Die drei machten sich auf den Weg und Tim fing sofort an, zu plappern und zu gestikulieren. Es hätte nicht viel gefehlt und er hätte Luftsprünge gemacht oder sich bei Harry eingehakt. Der trübe, dunstige Morgen hatte sich aufgeklärt und jetzt war es ein milder Spätsommernachmittag mit strahlender Sonne, die den Wald in tausenden von GrünSchattierungen leuchten ließ. Eichhörnchen raschelten durch die Büsche und sprangen an den Bäumen hinauf. Vereinzelte Blätter segelten durch die Luft, wenn ein leichter Wind aufkam. Es roch nach frischer weicher Erde, nach Tannen und nach Heimat. Mit der technischen Crew war ich bereits am Drehort gewesen, also ließ ich sie die Porno-Prozession in den Wald anführen und bildete mit Ronny die Nachhut. Das bot mir die Gelegenheit über unser heftiges Erlebnis am Vormittag zu reden. »Ich weiß nicht, wie ich es dir erklären soll, aber es war schon ziemlich verrückt. Weißt du, ich liebe Max ...« Ich merkte, dass ich einen Satz konstruiert hatte, der hoffnungslos auf ein kleines, entlarvendes Wörtchen zusteuerte. »Aber?«, nahm Ronny den Faden auf. »Aber seit ich deinen Brief gelesen habe, da muss ich ununterbrochen an dich denken. An uns.« »Das verwirrt dich?« »Im Moment weiß ich nicht mehr, was mich am meisten verwirrt. Aber du bist sicherlich auch ein Faktor.« Er nahm meine Hand und wir gingen eine Weile sprachlos weiter. Ich schaute auf den Boden vor mir.
»Lilly, mach dir keine Sorgen um uns. Was du und dein Mann teilen, das ist etwas Besonderes. Was du und ich gemeinsam erlebt haben und was wir jetzt fühlen, das ist etwas Besonderes, aber es findet auf einer ganz anderen Ebene statt. Ich liebe dich und vielleicht liebst du mich auch, und auch deinen Mann. Das ist ein Gottesgeschenk. Sei froh, dass so viel Liebe in dir ist.« Einerseits war ich erleichtert, dass er es so unkompliziert sah, andererseits zweifelte ich stark daran, dass Max seine liberale Beziehungsauffassung teilen würde. Und es nagten Zweifel an mir, wie lange ich den neuen sanften, heiligen Ronny ertragen würde, ohne den wild-verwegenen Mann zu vermissen, der er war, bevor er mit dem verdammten Koks angefangen hatte. Dass er weg war von den Drogen war ja schön, aber musste er von irdischer Sucht gleich zu himmlischer Erleuchtung gelangen, hatte er nicht ein paar Stationen übersprungen? Als wir Händchen haltend den Weg entlangspaziert waren, hatte ich kurz gedacht »Wie Hansel und Gretel«. Jetzt kam ich mir eher wie die Hexe vor. Das ist der Fluch, wenn man Waage, Aszendent Zwilling ist - man ist nicht gespalten, man ist gleich multipel. Aber das ging einem Zwilling, Aszendent Waage, nicht anders. Eingleisigkeit ist bei Menschen wie Ronny und mir gar nicht angelegt, und ich fragte mich, wie lange ihm sein Esoterik-Trip genügen würde. Ich drückte seine Hand und wir gingen schweigend weiter. Wir hatten fast den Anschluss verloren, waren geschlendert, wo der Rest der Crew marschiert war. Ich sah Danas rote Jacke hinter einer Biegung verschwinden, als hinter uns ein Geräusch hörbar wurde. Jemand folgte uns. Ronny blieb abrupt stehen und gemeinsam drehten wir uns um. Dreißig Meter hinter uns trabte ein Schrank von einem Mann den Weg entlang auf uns zu. Wo wir auf demselben Weg ästeknackend laut gewesen waren, schien dieser Mann kaum ein Geräusch zu machen, und das, obwohl er im Jogging-Tempo lief und wahrscheinlich so viel wog wie Ronny und ich zusammen. Ich wusste kaum, wie mir geschah, da hatte Ronny mich schon in Richtung der Prozession geschubst und gesagt »Renn!«, aber ich blieb wie angewurzelt stehen. »Lauf, Lilly, mach schon!«, schrie er mich an, aber ich konnte mich nicht bewegen, starrte auf den Riesen, der uns immer näher kam und jetzt die Hand hob. »Ruhig, ruhig - Rita schickt mich.« Erst jetzt machte es klick. »Ist schon okay«, sagte ich zu Ronny, »ich weiß wer das ist.« Ronnys Warnruf war bis zur Crew vorgedrungen und Dana, Frederic und zwei Kameramänner waren zu uns gerannt und bestaunten nun mit uns das Wunder von Mann, das vor uns stand. Zwei Meter groß, ein Körper wie Mr. Universum, ein Gesicht wie Markus Schenkenberg. Ich war platt. Dana trat vor und sprach mit ihrem schärfsten Timbre: »Hi, ich bin Dana - ich nehme an, du bist der Neue.« »Ah ...«
Der Riese schaute mich mit Kinderblick an, um dann, von sich selbst überrascht, seine Antwort zu geben. »Ja. Das bin ich. Ich bin Marco Oldenburg.« Die Lichtung präsentierte sich in der Nachmittagssonne als ein wahrgewordener Musikantenstadl-Traum. Unberührte Landschaften haben diesen Effekt der Zeitlosigkeit - man könnte in jedem Jahrhundert sein - Wald und Wiesen wie diese waren älter als die Menschheit. Es wäre keine Überraschung gewesen, wenn ein keulenschwingender Neandertaler aus dem Forst herausgebrochen wäre oder ein mächtiger Braunbär. Wenn sieben kleine Männer einen Glassarg vorbeigeschleppt oder zwei magere Kinder gefragt hätten, ob wir ihre Brotkrumen vernascht hätten. Die Schauspieler überarbeiteten ihr Make-up und die Kameraleute bauten sich an verschiedenen Positionen auf. Ich führte mein Einstellungsgespräch mit Marco, der für meinen Geschmack etwas zu mächtig für die Rolle des Priesters war. Nichtsdestotrotz war ich erleichtert, dass die Suche nun ein Ende hatte, und ob er nun meinen Idealvorstellungen entsprach oder nicht, schien belanglos - Herr Oldenburg war schlicht und ergreifend ein Haupttreffer für den Porno-Film. Wer das nicht auf den ersten Blick sah, hatte ein Problem mit den Augen. »Die Anni hat mich hierhergeschickt, und ich kann dir sagen es war gar nicht einfach, aufs Firmengelände zu kommen. Es ist total belagert von der Presse.« »Aber nun bist du ja da.« »Ich wäre noch viel früher hier gewesen, aber zwei Wagen sind mir gefolgt, da musste ich erst durch die ganze Stadt fahren, bis ich sie abgeschüttelt hatte.« »Wie ist die Stimmung in der Firma?« »Grob. Im Radio laufen schon den ganzen Tag Beiträge über die Porno-Morde und die stellen dich nicht gerade freundlich dar.« Es überraschte mich zwar nicht, aber leicht konnte ich es trotzdem nicht nehmen. Mit einem Mal schien es, als sei ich all die Jahre, die ich nun in der Öffentlichkeit stand, nur geduldet worden. Kaum dass der Lack meines Ruhms angekratzt worden war, beschloss man einhellig, dass man ihn komplett herunterreißen konnte, damit ich schneller Rost ansetzte. Von einem Tag auf den anderen hatte man mich von meinem Luxusliner auf ein kleines Rettungsboot verfrachtet, das ich mit Ute Lemper (zu erfolgreich) und Hera Lind (Ehebrecherin) teilte. Man stelle sich vor, was das für einen Filmstoff abgeben würde: Die Geächteten, oder - noch besser - Die drei Musketiere. Leider war ich nie ein Fan von Frauen-Dreiern und wollte schnellstmöglich zurück an Bord. Wenn man mich dort partout nicht mehr wollte, blieb mir immer noch Neuland zu erkunden. »Wie hast du überhaupt hierher gefunden?« »Ich hab auf dem Parkplatz Harry und Rita getroffen, die haben mir erklärt, welchen Weg ich nehmen muss.«
»Du hast uns ganz schön erschreckt.« »Tut mir Leid. Das wollte ich nicht.« »Wie lange bist du schon in der Branche? Ich hab dich noch nie vorher gesehen. Wo hast du vorher gearbeitet?« »Eigentlich die meiste Zeit in Goslar, manchmal in Braunschweig und Hannover. Ich mach das selbstständig erst seit zwei Jahren. Vorher war ich bei der Polizei.« Er riss einen Grashalm aus, steckte ihn in den Mund und kaute darauf herum. Sein Gesichtsausdruck wirkte mit einem Mal angespannt. »Sag bloß! Und wie kommt man von der Polizei zum Porno?« »Ha?« Bei jedem anderen hätte so ein »Ha« plump und ein bisschen dämlich gewirkt, bei ihm stand es jedoch mehr in Clint Eastwood- als in Al-Bundy-Tradition. »Na, ich mein, das ist doch schon eine eigentümliche Karriere, oder?« Er blickte mich verdutzt und rehäugig an. Dann schaute er hektisch von den Darstellern zu den Kameras, bis sein Blick wieder auf mich fiel. Eine klitzekleine Schweißperle stand auf seiner Oberlippe. »Ich glaub, hier liegt ein Missverständnis vor. Ich bin dein Bodyguard. Harry Klein hat mich deiner Assistentin empfohlen.« Wir hatten alle ganz selbstverständlich angenommen, dass Super-Marco Johanns Ersatzdarsteller war. Aber wir lagen falsch. Leider, denn Marco war der Fleisch gewordene Traum einer jeden Pornoproduzentin. Wenn der Rest seiner Physiognomie das hielt, was die gigantische Silhouette versprach, dann hatten wir hier ein potenziell potentes Merchandise-Wunderkind am Haken: Marco-Filme, die Marco-Web-Site (einmal im Monat live im Chat), Marco-Magazine, Marco-Dildos, Marco-Telefon-Hotline. Die schwule Community würde ihn zum Helden ausrufen, Rocco Siffredi und Jeff Stryker würden ernsthaft Konkurrenz bekommen. Marco würde man per Kusshand an Playgirl für kitschige Softsex-Fotos vermitteln können; es war nicht unvorstellbar, dass sich selbst die Lifestyle-Magazine für Mode für ihn begeistern und Designer ihn als Promi-Model über die Laufstege schicken würden. Nächster Schritt wären die freitäglichen Talkshows. Alida Gundlach würde sich die Finger nach ihm lecken, Giovanni di Lorenzo tief verstört in seinem Sessel versinken ... Mir wurde schwindlig bei der Vorstellung. Eines stand fest - Marco mochte glauben, seine Zukunft liege in der Personenüberwachung, aber die nächsten Wochen würden für mich arbeiten. Ich hatte auf unbestimmte Dauer vierundzwanzig Stunden täglich Zeit, ihm das Business schmackhaft zu machen. Irgendwie würde ich ihn um den Finger wickeln, und wenn ich für ihn meine Bücher öffnen musste, um ihm zu zeigen, wie rosig seine finanzielle Zukunft aussehen würde, wenn er nur ein, zwei Jahre ins Geschäft einstiege. Mein Plan stand fest. Dieses Wunderkind würde in die Annalen der Porno-Geschichte eingehen. Ob er wollte oder nicht. Manchmal muss man die Menschen zu ihrem Glück zwingen.
Dass die gesamte Crew ihn sofort als Johann-Ersatz eingestuft hatte und keine Ahnung hatte, was Marcos wirkliche Funktion war, kam nicht ungelegen. Auch wenn ich noch nicht wusste, wie wir damit umgehen würden, wenn der unvermeidliche Drehtag kommen würde, an dem die Szenen mit dem Priester auf dem Plan standen und Marco seinen Luxuskörper entblättern müsste. Doch bis dahin waren noch ein paar Tage Zeit, und ich hatte die Hoffnung, dass der Spuk, der seit drei Tagen von meinem Leben Besitz ergriffen hatte, längst vorbei sein würde und ich mit ausreichend Überzeugungskraft auf Marco eingewirkt haben würde, um ihm klar zu machen, dass er für diesen Film geboren war. »Wie habe ich mir das vorzustellen? Die persönliche Überwachung? Bist du jetzt Tag und Nacht an meiner Seite?« Ich schenkte ihm ein Lächeln voller Liebreiz. »Es wäre sinnvoll, wenn ich bei dir wohnen könnte - du hast doch ein Gästezimmer?« »Sechs.« Ich seufzte schwer und zwirbelte an einer blonden Locke. »Pardon?« Gibt es eigentlich so etwas wie Freud'sche Verhörer? Zu seiner Schweißperle auch der Oberlippe hatte sich eine zweite gesellt und auch auf der delikaten Stelle zwischen Unterlippe und Kinn, für die das anatomische Wörterbuch bedauerlicherweise keine Bezeichnung gefunden hat, glitzerte ein Perlchen. »Sechs Schlafzimmer. Du kannst dir eins aussuchen.« »Ah ja. Gut. Du willst nicht, dass jemand erfährt, dass ich dein Bodyguard bin?« »Je länger wir es verheimlichen können, desto besser. Ich will nur, dass der Killer weiß, dass ich nicht mehr alleine wohne. Dann fühle ich mich besser. Harry hat dich empfohlen, sagtest du?« »Ja, wir haben zusammen die Ausbildung gemacht.« »Warum hast du bei der Polizei aufgehört?« Er zögerte für den Bruchteil einer Sekunde. »Ach, lange Geschichte. Ich hab nebenher Bodybuilding und Kampfsport gemacht und hatte halt viele Wettkämpfe. Das hat dann irgendwann nicht mehr zusammengepasst.« »Und? Auch ein paar Wettkämpfe gewonnen?« »Ich bin der amtierende Mister Niedersachsen. Im Oktober komme ich in die Endausscheidung für Mister Germany.« Ich konnte mir gut vorstellen, wie Kommissar Schultz mit einem Landesmeister auf seinem Revier umgehen würde. Mein Handy klingelte. Es war Rita. »Lilly, ist Marco bei euch angekommen?«
»Er hat uns einen Riesenschrecken eingejagt, aber jetzt ist alles geklärt. Außer Harry und dir weiß keiner, dass er mein Bodyguard ist.« »Okay.« »Was ist mit den Bändern?« Sie atmete hörbar erleichtert auf. »Kein Problem - sie können gerettet werden.« »Endlich mal wieder eine gute Nachricht! Wann kommt ihr zurück?« »Ehrlich gesagt weiß ich nicht, ob es sinnvoll ist zurückzufahren. Du kannst dir nicht vorstellen, was hier los ist. Wir sind kaum auf den Hof gekommen, so sehr wimmelt es von Presse-Teams. Ich habe Angst, dass die uns zum Set folgen.« »Dann bleibt, wo ihr seid. Um das Make-up können wir uns selber kümmern, ist nicht so schlimm.« »Es gibt da noch etwas, was ich dir sagen muss.« Mein erster Schreckgedanke galt natürlich Max. »Also?« »Ein Anruf von TV l.« Ich war erleichtert, obwohl Ritas Ton nichts Gutes verhieß, »Ja, und?« »Sie deuten an, dass sie sich unter den gegebenen Umständen von der Produktion verabschieden.« »Bitte???« »Sie machen sich Gedanken wegen deines Rufs.« Ich dachte, ich höre nicht mehr richtig. »Ich bin doch nicht O. J. Simpson, mein Gott!« »Die Presse hat dich total unter Beschuss genommen. Sie stellen dich als kaltblütig und machtgeil dar - im Fernsehen laufen in jeder Sendung Ausschnitte aus der Pressekonferenz, wie du über Greta Giehse herziehst.« »Das macht mich doch noch lange nicht zu einer Kriminellen! Wer ist denn hier Täter und wer Opfer?!« »Mir musst du das nicht sagen.« »Schalte sofort die Anwälte ein. Wenn TV1 den Vertrag bricht, dann kommt sie das teuer zu stehen.« »Lilly - sie haben noch nicht unterschrieben, also gibt es noch keinen Vertrag, den sie brechen könnten. Wir haben da kaum eine Chance zu gewinnen.«
»Das ist mir scheißegal - es gibt ja wohl sowas wie mündliche Verträge! Alles, was noch gefehlt hat, war die Unterschrift vom Intendanten. In so einer Phase können die doch nicht mehr zurücktreten - und dann auch noch mit einem so lausigen Argument!« »Ich rufe den Anwalt an und erkundige mich.« »Du kannst ihn gleich bitten, eine Klage wegen Rufschädigung aufzusetzen. Wenn die mit solch einer Argumentation den Abschluss verweigern, dann ist das, als ob sie mit dem Finger auf mich zeigen.« »Lilly, bitte.« »Bitte? Bitte was? Für wen arbeitest du eigentlich? Für die oder für mich?« »Ich versuch ja nur —« »Dann versuch etwas anderes, Rita, verdammt nochmal.« Schon in dem Moment, in dem ich sie anschnauzte, tat es mir wieder Leid. Mir war klar, dass sie nur mein Bestes wollte, aber im Moment war für mich das Beste ein bisschen Rückenstärkung. Ich hätte mich für meinen Ton entschuldigen sollen, aber meine Güte - es musste doch verzeihbar sein, einmal nicht die ideale Arbeitgeberin, verständnisvolle Zuhörerin, beste Freundin zu verkörpern. Es war schließlich mein Leben, das gerade von allen Seiten in den Dreck gezerrt wurde, und es kam mir langsam so vor, als könne sich außer mir niemand ein Bild davon machen, wie man sich fühlt, wenn so etwas geschieht. »Gibt es etwas Neues von Max?« »Nichts, tut mir Leid.« »Danke, Rita. Bis später.« »Schlechte Neuigkeiten?«, erkundigte sich Marco. »Jede Menge, Marco, jede Menge.« Er tätschelte mir mit seiner Pranke unbeholfen die Schulter. »Wird schon wieder! Kopf hoch.« Es war tatsächlich schön, etwas so Lapidares wie »Kopf hoch, wird schon« mal aus fremdem Mund zu hören, anstatt es sich permanent selbst einreden zu müssen. Wenn ich eine Sekunde länger über Marcos tröstliche Geste nachgedacht hätte, wäre ich in Tränen ausgebrochen. Aber Tränen gönnte ich mir heute nicht heulen konnte ich morgen auch noch. Der Exbulle hatte bei mir einen Stein im Brett. Einen Stein in der Größe eines Felsbrockens.
Kapitel 11 Dass die Wald- und Wiesen-Szenen, die wir an diesem Nachmittag in den Kasten brachten, so außerordentlich gut ausgefallen waren, war ganz sicherlich nicht mein Verdienst. Die Schauspieler gaben ihr Bestes, die Lichtstimmung über dem Wald und auf der blumenübersäten Lichtung war märchenhaft, und die Kamera-Teams hatten das Auge dafür, diese Stimmung auf Film zu bannen. Ich war die ganze Drehzeit über abgelenkt und angespannt. Obwohl Super-Marco ein sympathischer Kerl und ein echter Hingucker war, machte mich seine Anwesenheit befangen. Ich hatte zwar schon Erfahrung mit Security-Personal, aber die Umstände waren nie so extrem gewesen. Personenschutz war in der Regel eine Vorbeugungsmaßnahme für einen Fall, der nur selten eintrat, und diente mehr der visuellen Abschreckung als einem tatsächlichen Beschützen des Klienten. Ein Statussymbol, das besagt »Rühr mich nicht an!«, ein Hund, der bellt, aber nicht beißt. In all den Jahren meiner Karriere war mir in der Öffentlichkeit noch nie etwas zugestoßen - dann und wann erhielt ich obszöne beleidigende Briefe, einmal hatte ich meine Telefonnummer wechseln müssen, weil ein weiblicher Teenie-Fan sie herausgefunden hatte und mich mit Liebesschwüren nervte. Aber normalerweise ging ich ohne Bedenken »unbetreut« arbeiten, einkaufen oder spazieren - egal ob in Goslar oder sonst wo in der Welt. Oft hatte ich Rita oder Max an meiner Seite und in Goslar war fast immer Mikey dabei. Unerkannt blieb ich selten, aber meistens reagierten die Menschen freundlich. Während ich Frederic und Simone bei einem historisch eindrucksvollen 69er filmte, machte ich in Gedanken Listen. Auf der ersten standen nur Begriffe wie: • Verschwinden • Mord • Fahrerflucht • Serienmord • Verstümmelung • Sabotage • Rechtsstreit • Miese Presse • Beerdigungen • Hinterbliebene Auf einer weiteren versuchte ich die Stichpunkte festzuhalten, die die Morde und die Fundorte charakterisierten, aber es war nicht möglich, die vielen Details in einen Zusammenhang zu bringen, der Sinn machte. Ich musste mich zwingen, mich auf meine Arbeit zu konzentrieren, anstatt gleichzeitig Porno-Regisseurin und Miss Marple zu spielen. Dies gelang mir nur leidlich, aber die Dynamik meiner Besetzung war an diesem Tag einfach fantastisch. Das würde sich schon am nächsten Tag ändern, denn da würde Pamela am Set erscheinen und angesichts Marcos wahrscheinlich in heißer Liebe auflodern. Ihre Namensvetterin Frau Anderson wanderte gerade mit Home-Storys durch die Presse, da sie einen Supertreffer gelandet und sich Markus Schenkenberg geangelt hatte. Dem würde unsere Pammi in nichts nachstehen wollen, und wenn schon der echte Markus vergeben war, dann würde sie eben mit Super-Marco vorlieb nehmen. Aber der war viel zu schade für sie. Nach ersten Befangenheitsmomenten, als Frederic und Simone zur Sache kamen und die Kameras um sie zu tänzeln begannen, hatte er sich akklimatisiert und nahm die Erfahrung mit einer Coolness und Gelassenheit, die sicherlich größtenteils mit Selbstkontrolle zu erklären war. Fast jeder, den ich kenne, der zum ersten Mal einen Porno-Set betritt, ist erst einmal bemüht, sein Poker-Face zu wahren und dann ein wenig enttäuscht, wenn er sieht, dass die Intimität, die später auf der Videokassette
oder im Film suggeriert wird, das Produkt effizient zusammenarbeitender Mitarbeiter ist. Gerade beim Porno vergessen die Betrachter allzu oft, dass sie Darstellern zuschauen, Schauspielern, die wie alle Schauspieler mehr oder minder bemüht sind, ihr Bestes zu geben, und die unter schwierigen Umständen eine Rolle spielen, in der sie sehr viel von sich preisgeben. Licht, Ton, Regie und Make-up wuseln um sie herum, Kameraobjektive nähern sich ihren Körpern gefährlich nah und bei all dem Trubel dürfen sie sich nicht aus der »Erregung« bringen lassen. Die zwei absoluten »No« in einer Produktion sind schlaff und trocken. Gegen Letzteres gibt es Gleitmittel, aber Ersteres ist erst seit der Erfindung von Viagra behandelbar und trotzdem eher eine Sache des Kopfes als des Unterleibs. Während Frederics einwandfrei funktionierender Kopf in rhythmischen Abständen zwischen den Beinen der über ihm ausgestreckten Simone auftauchte, seine Hände ihre Pobacken massierten, ohne dabei unansehnliche rote Flecken zu hinterlassen und seine Zunge tief in ihr arbeitete, bekam er, wenn er die Augen öffnete, zwei Kamera-Teams in Jeans und Turnschuhen zu sehen, die die Kamera auf sein Gesicht hielten und ein Drittes, das Simones Mundarbeit an seinem Schwanz für die Nachwelt einfing. Ich schätze, der durchschnittliche, sexuell aktive Mann bekommt schon Erektionsprobleme, wenn die Schlafzimmertür aufgeht und unerwarteter Besuch auftaucht. Einen Porno-Star darf so etwas nicht aus der Fassung bringen. PornoDarsteller sind bestenfalls sexuelle Stuntmänner, oder schlimmstenfalls exhibitionistische Egoisten, die sich über nichts anderes definieren können oder wollen als über ihre Schwänze. Ich hatte mit beiden Kategorien gearbeitet und die Einstellung änderte in der Regel nichts an ihrer Leinwandwirkung. Als Regisseur musste man seine Darsteller nicht notwendigerweise mögen - das galt für Hollywood wie für Goslar. Es half, es machte die Arbeit angenehmer, aber es war kein Muss. Wenn ich die Wahl hatte, war jedoch nie Sympathie entscheidend, sondern Kamerawirkung. Ich war schließlich nicht Mutter Teresa, sondern Geschäftsfrau. Vom Erfolg meiner Produkte hing das Schicksal meiner Firma und ihrer Mitarbeiter ab. Gegen siebzehn Uhr zogen Wolken auf, und die Lichtstimmung veränderte sich so dramatisch, dass wir den Dreh abbrechen mussten. Es sah aus, als könnte jeden Moment ein Gewitter losbrechen - der Himmel hatte die Farbe von Schwefel und es roch nach Ozon. Ein Wind war aufgekommen und strich durch den Wald wie ein Musikinstrument. Blätter fielen und es sah aus, als sei der Sommer bald vorüber. Wir hatten in Windeseile abgebaut, da wir das Equipment noch durch den Wald schleppen mussten, und hofften, dass uns der Regen nicht unterwegs überraschen würde. Die Kamera-Teams würden mit dem Material zunächst in die Firma fahren und es auf Qualität überprüfen und dann im Safe verwahren. Ich wollte nach allem, was wir am Vormittag durchgemacht hatten, keine Risiken mehr eingehen. Auf dem Weg zum Parkplatz entwickelte sich der Wind zu einem Sturm und zerrte an unseren Kleidern, riss ganze Äste aus den Baumkronen und peitschte durch das Unterholz. Wir mussten uns gegen die Böen stemmen, um überhaupt vorwärts zu kommen. Der Sturm war laut, und dennoch konnte man hören, wie aufgeregte Tiere durch den Wald flitzten, um sich an einen Ort zu begeben, wo sie das drohende Unwetter unbeschadet überstehen würden. Als wir endlich am Parkplatz
angekommen waren, erwarteten wir fast jede Sekunde den Wolkenbruch. Doch der Regen blieb aus. Ich verabschiedete mich von der Crew, nicht ohne mit Ronny einen tiefen Blick ausgetauscht zu haben, der bis auf den Grund unserer Seele zu gehen schien. Eine Böe unterbrach diesen intensiven Moment und schubste mich förmlich zu Marco in den Wagen. Wir beschlossen, nach Hause zu fahren, damit er sich häuslich einrichten und ich meine E-Mails checken konnte. Ich hoffte immer noch auf ein Lebenszeichen von Max oder irgendeine Nachricht, die mir die Ungewissheit nehmen würde. In die Firma zu fahren konnte ich mir nicht vorstellen - nicht bei all dem Trubel und der Belagerung, die mich dort erwarteten. Ich würde mit Anni und Rita telefonieren müssen, um die Neuigkeiten im Streit mit TV1 in Erfahrung zu bringen. Obwohl es erst Spätnachmittag war, mussten wir das Licht einschalten und konnten den Waldweg nur im Schritttempo hinabfahren. Als wir an der Stelle vorbeifuhren, an der mich Rita an diesem Morgen gefunden hatte - den Kopf in den Erdboden gedrückt -, bekam ich eine Gänsehaut, und das Szenario im Park, meine Flucht durch den Wald war mir plötzlich wieder sehr gegenwärtig. Den ganzen Tag lang hatte ich es geschafft, meine Eindrücke zu verdrängen, aber mit einem Mal stiegen die Erinnerungen wieder auf. Als wir uns der Firma näherten, duckte ich mich im Beifahrersitz, was den Vorteil hatte, dass ich nicht zu sehen bekam, wie groß das Aufgebot an Presse mittlerweile geworden war. Ich konnte es allerdings erahnen, denn Marco kam auf dieser schmalen Straße nur im Stop-and-go-Verfahren an den Wagen der Medien vorbei. Ich blieb unentdeckt - schließlich wusste niemand, wo wir drehten und was wir drehten, also hielten sie Marco vermutlich für einen Forstarbeiter auf dem Heimweg von der Arbeit. Einen außergewöhnlich schönen Forstarbeiter ... Aber die Aufmerksamkeit der Presse schien sich auf das verschlossene Tor zu konzentrieren und das vermutlich schon seit den frühen Morgenstunden. Nachdem wir die Pressemeute erfolgreich passiert hatten, beschrieb ich Marco den Weg zu meinem Haus. Als wir in die Straße einbogen, wirkte die Nachbarschaft wie ausgestorben. Der Himmel schien bleiern, die Fenster der Häuser waren verschlossen - teilweise sogar die Rollläden herunter gelassen. Das einzige Anzeichen von Leben waren zwei Wagen, auf denen das Logo von Sät 7 prangte: ein Pfau mit einem Schwanz in den Farben des Regenbogens. In dem Augenblick, wo wir die Wagen vor meinem Haus erblickt hatten, schlug mit einem lauten Knall ein Hagelbrocken von der Größe eines Taubeneis auf die Motorhaube von Marcos Wagen und hinterließ eine kleine Delle im Metall und einen Riss im Lack. Als habe sich eine Schleuse geöffnet, begannen auf einmal weitere Hagelbrocken vom Himmel zu prasseln, knallten auf die Straße, die Häuserdächer, die Vorgärten und zerschellten in einem ohrenbetäubendem Stakkato auf dem Asphalt, rissen Schindeln von den Dächern, schlugen auf die Segeltuchverdecke teurer HollywoodSchaukeln und brachten die Metallschirme der Straßenbeleuchtung zum Klingen. Marco hatte den Wagen unter einen mächtigen Kastanienbaum manövriert, der zumindest einen geringen Schutz gegen das Bombardement versprach, und wir konnten zuschauen, wie die Busse von Sät 7 ihre Türen verriegelten, um ihre
Kameras in Sicherheit zu bringen, die den ganzen Tag vergebens auf mein Erscheinen gewartet hatten. Das Naturschauspiel war bedrohlich und faszinierend zugleich. Das Licht war wie auf einem schummrigen Filmset, wie in einem Traumszenario - die berstenden Hagelkörner blitzten auf wie Diamanten. Aus der Ferne erklang eine Feuerwehrsirene. Sprachlos starrten wir aus den Autofenstern und sahen zu, wie die Übertragungswagen schlingernd abfuhren. So schnell und heftig der Hagelsturm losgebrochen war, so abrupt endete er. Anstatt in einen Regenschauer überzugehen, knallte noch ein letzter Brocken auf das Autodach und es trat wieder Stille ein. Marco startete den Wagen, fuhr hundert Meter weiter und parkte ihn vor meinem Haus. Die Hagelbrocken knirschten unter unseren Füßen, als wir zur Haustür gingen. Marco ging vor und schloss auf. »Bitte warte hier und lass mich erst die Wohnung überprüfen, okay?« »Wenn du meinst...« Es kam mir absurd vor, meine eigene Wohnung nicht betreten zu können, ohne dass ein Security-Mann sie überprüfte, aber die Geschehnisse der letzten Tage waren nicht minder absurd und hatten sich trotzdem zugetragen. Während Marco jedes einzelne Zimmer überprüfte, stand ich verloren im Eingang und ließ meinen Blick über die Nachbarhäuser wandern. Bei der Arztfamilie gegenüber ging das Licht in der Küche an, eine Gestalt - hinter den Gardinenstores war nicht zu erkennen, wer es war - trat ans Fenster und schaute zu mir herüber. Ich hob meinen Arm und winkte, wie es gute Nachbarn tun. Anstatt meinen Gruß zu erwidern, zog die Person die Gardine zu. Ich schaute, ob jemand dieses brüskierende Schauspiel beobachtet hatte, sah aber niemanden. Gerade als ich wieder anfangen wollte, das Schicksal zu verfluchen, das mich in all diese Miseren gestürzt hatte, sprang Marco die Treppe herab und rief: »Alles klar - du kannst reinkommen.« Ich zog die Tür hinter mir zu, warf meine Tasche auf den Fußboden, ging schnurstracks ins Arbeitszimmer und schaltete den Computer ein. Warum dauerte es jedes Mal so lange, bis sich das Ding hochbootet? Auf der einen Seite leben wir im Zeitalter der Technologie, auf der anderen scheinen wir erst in der Steinzeit des Computers angekommen zu sein, wenn es fünf Minuten dauert, bis der Bildschirm hochgefahren ist und man eine Internetverbindung hergestellt hat. »Sie haben Post« stand im Fenster meines Servers zu lesen. Ich doppelklickte und ein neues Fenster öffnete sich. »Fünf Kilo in acht Wochen« war die Überschrift der Junk-Mail, die ich ungelesen löschte. Ich ging in die Küche und setzte Teewasser auf. Marco nahm am Küchentisch Platz, und ich stand vor dem Schrank und war mit einem Mal so k.o., dass mir selbst die Entscheidung für eine von zwölf Teesorten zu viel war. Der letzte Rest an Energie, die mich durch den Tag gerettet hatte, zischte aus mir heraus wie die Luft aus einer kaputten Lilly-Gummipuppe.
Ich wandte mich dem Exbullen zu. »Grün, schwarz oder Rooibos?« »Hast du Anding Yunwu?« »Nein, den muss ich erst wieder besorgen. Hier ist aber noch Kaihua Longding.« »Wunderbar. Hervorragender Tee!« Ich füllte die Blätter in das Teesieb. »Marco - könntest du Rita anrufen und sie bitten, den Hund hier abzuliefern, wenn sie nach Hause fährt? Ich kann jetzt nicht mit ihr reden. Ich will gar nicht wissen, was es noch für Katastrophen gegeben hat.« »Na sicher.« Er strahlte mich an. Der Mann hatte ein sonniges Gemüt, das gefiel mir. Und es machte Spaß, ihn anzuschauen. Unter anderen Umständen, wenn ich nicht verheiratet gewesen und an diesem Tag meinen Mann nicht schon einmal betrogen hätte - wer weiß ... Aber ich war nicht in anderen Umständen, in keiner Hinsicht. Mein Blick fiel auf die Uhr an der Mikrowelle. »In fünf Minuten beginnt News Alive, willst du's dir mit anschauen?« »Klar. Wenn ich dich nicht nerve. Ich muss nicht die ganze Zeit mit dir in einem Zimmer sein, wenn es dich stört. Ich hab was zu lesen dabei.« »Bleib nur. Ich glaub, wenn ich Schutz brauche, dann jetzt. Die werden den Müll kiloweise über mich ausschütten.« Nachdem er den Anruf getätigt hatte, saßen wir im Wohnzimmer - ich auf der Couch, er im Fernsehsessel - und ließen die Boulevard-Nachrichtensendung über uns ergehen. Wäre es nicht um mich gegangen, so hätte ich mich bei dem Interview mit Viola Eisner, der Porno-Feministin totgelacht. Sie wetterte gegen die Sünden der zur Schau gestellten Sexualität und warnte alle Fernsehzuschauerinnen - das weibliche Anhängsel groß geschrieben und zweimal fett unterstrichen - vor dem Besuch von Sex-Shops und Porno-Kinos. Pornografie sei menschenfeindlich, die Branche mafios, der Konsument versaut, die Jugend verroht und die Welt schlecht. Bla bla bla. Ich konnte .mich an sie erinnern. Sie war so etwas wie ein Alt-Star in Greta Giehses Produktionen gewesen, als Ronny und ich dort anfingen. Ein Alt-Star auf dem Weg nach unten. In den Siebzigern hatte sie kleine Rollen in Streifen wie Die nackten Weiber vom Titti-See und Rock hoch - Schwarzwaldmädel! gespielt, dann war sie ins Hardcore-Geschäft eingestiegen und hatte alles gedreht, was man ihr anbot, bis man ihr nichts mehr anbot. Anstatt wie ihre damaligen Kolleginnen ein Videocafe im Ruhrgebiet oder eine Strandbar auf Mallorca zu eröffnen, hatte sie einen doppelten Salto rückwärts gemacht und war zum Aushängeschild der Kampagne PorNO auserkoren worden. Ich habe großen Respekt vor Aktivistinnen wie Alice Schwarzer, die die Frauenbewegung stark gemacht haben, aber Viola Eisner konnte ich beim besten Willen nicht ernst nehmen. Sie war eine paranoide Opportunistin und so mediengeil, dass es ihr egal war, vor welchen Karren man sie spannte, Hauptsache sie konnte ihr dramatisch ungeschminktes Gesicht in eine Kamera halten. Alice
Schwarzer mochte eine in meinen Augen fragwürdige Einstellung zur Pornografie haben, aber sie hatte etwas bewegt und folgenden Generationen von Frauen den Weg geebnet. Dasselbe hatte Madonna auf ihre Art getan: nur eben mit Titten und Arsch. Viola Eisner war und blieb ein selbststilisiertes Opferweib, und wann immer sie in einer Talkshow ihre betroffene Miene zur Schau stellte, schnellte mein Arm in Richtung Fernbedienung. Heute unterdrückte ich diesen Automatismus und ließ ihr Gebrabbel über mich ergehen. Die ehrenwerte Dame betete salbungsvolle Warnungen herunter und schwafelte, ohne dabei irgendwelche interessanten Informationen preiszugeben. Das einzige Spannungsmoment dieses Interviews war die Korrespondenz zwischen Birkenstock-Latschen und Sex-Vergangenheit, aber das hätte man auch spektakulärer inszenieren können. Wenn dieser Beitrag auf der Ärgerlichkeits-Skala zirka acht Punkte machte, dann sprengte der darauf folgende das Maß. Die gute Viola hatte mich mit keinem Wort erwähnt - wir kannten uns nicht gut genug, außerdem hätte sie nichts gegen mich vorbringen können, was nicht auch für Greta Giehse, Beate Uhse und Teresa Orlowski galt. In den folgenden vier Minuten jedoch fiel mein Name siebzehnmal. »Lilly DeLight - ein Name, den, wenn man den Meinungsumfragen Glauben schenken darf, 98 Prozent aller Deutschen kennen. Lilly DeLight, eine hübsche junge Frau mit Geschäftssinn und Gespür für Sex-Trends. Lilly DeLight, Porno-Queen und Powerfrau. Seit zwei Tagen sind Wolken aufgezogen am Karrierehimmel der blondierten Schönheit. Seit zwei Tagen ist Lilly gefangen in einem Sumpf aus Mord und Geheimnis. News Alive wollte es genau wissen - wer ist diese Lilly, wer ist die Frau hinter der Kunstfigur? Begleiten Sie uns nach der Pause auf der Spurensuche.« Marco und ich schauten uns an und schwiegen. Er wusste, es war Irrsinn, aber er konnte nicht anders. Minutenlang hatte er einen inneren Kampf ausgetragen, während er auf seinem Sofa saß, die rechte Hand auf seinem Schritt, die linke auf der Fernbedienung des Videorekorders. Es war eine Sequenz von dreißig Sekunden, die er sich immer und immer wieder anschauen musste, zwanghaft getrieben von seiner Geilheit. Es war der beste Porno in seiner riesigen Sammlung und er zeigte Lilly DeLight und Ronny Sanchez in ihrem ersten gemeinsamen Film. Die Dekoration war schäbig, der Ton mies, das Bild von schlechter Qualität - was nicht nur daran lag, dass er den Film bereits dutzende Male gesehen und insbesondere diese eine Szene hunderte Male hin- und hergespult hatte. Es war eine Billig-Produktion und trotzdem ein Klassiker. Lilly sah umwerfend aus wie sie da vor dem nackten erigierten Ronny stand - ihre blonden Haare wild und lang, ihr schlanker, junger Körper bekleidet nur mit einem hauchdünnen Fetzen, der ihre Brustwarzen und ihre Schamhaare durchscheinen ließ. Ihr Atem ging schwer, ihre Brust hob und senkte sich, während sie den Mann, der ihr gegenüberstand, betrachtete. Endlich wurde Ronny aktiv und riss ihr in einer einzigen Bewegung den Fetzen vom Leib, versenkte sein Gesicht in ihrem Busen, schob sein Glied in sie und warf sich mit ihr auf das Bett, wo Lilly die Beine um ihn wand, den Kopf zurückwarf und für den Bruchteil einer Sekunde ekstatisch in die Kamera schaute. Ihn anschaute. Ihn wollte. Begehrte. Harry musste es einfach tun, jetzt, wo er endlich ihre Telefonnummer hatte. Es war ein Zwang, dem er sich zu unterwerfen hatte. Wenn jemand auf dem Revier davon
erfahren würde, dann wäre er seinen Job los - das war ihm klar. Und doch konnte ihn nichts davon abhalten. Er schaltete den Videorekorder auf Standbild, sah in Lillys Gesicht und wählte ihre Nummer. Das Telefon klingelte, und ich hob ab. Ich dachte es sei Rita oder vielleicht Annijemand, der mich auf den Fernsehbeitraghinweisen wollte. »Hallo?« Keine Antwort. »Wer ist da?« Am anderen Ende der Leitung hörte ich ein unterdrücktes Aufatmen. »Sagen Sie etwas!« Die Antwort beschränkte sich auf ein schneller werdendes Atmen, das sich früher oder später erfahrungsgemäß in ein orgiastisches Keuchen verwandeln würde. Ich knallte den Hörer auf. Marco schaute mich fragend an. »Ich habe offenbar einen neuen Telefonfreund.« Wieder klingelte das Telefon. Ich hob ab und schwieg, ich kannte mich auf dem Gebiet des Telefonterrors schon etwas aus. Ein Keuchen erklang. In flüsterndem Ton raunte ich in die Muschel: »Hol dir ruhig einen runter, aber wenn ich dich erwische, dann schneide ich dir deinen Mikropimmel ab und nagele ihn an die nächste Litfasssäule.« Ich griff in die Schublade der Kommode und holte eine kleine Trillerpfeife heraus, die mir schon viele gute Dienste erwiesen hatte, pfiff durchdringend in den Hörer, hörte das schmerzhafte Stöhnen am anderen Ende der Leitung und legte auf. Ich erntete einen entsetzten Blick von Marco. »Das mit dem Schwanz-Abschneiden hätte ich mir vielleicht sparen sollen, aber es wirkt normalerweise Wunder.« Die Werbeunterbrechung schien sich endlos lange hinzuschleppen, aber ich wagte es nicht wegzuzappen, aus Angst, den Anfang des Beitrags zu verpassen. »Erst vorgestern hielt die Porno-Königin der Nation Audienz im Berliner Luxus-Hotel Astor, um eine Nachricht verlauten zu lassen, die sie einmal mehr in sämtliche Boulevard-Magazine bringen würde.« Der Moderator pirschte durch die Resopal-Deko seines Studios, als sei ihm jemand auf den Fersen. Ich dachte wehmütig an die Tage zurück, als Moderatorinnen statisch auf Stühlen saßen und durch vornehme Zurückhaltung nicht die Aufmerksamkeit von den Beiträgen auf sich ablenkten. Heute musste alles in Bewegung sein. Ob eine Berichterstattung inhaltlich korrekt war, stand nicht zur Debatte, das Motto lautete: »Ist bunt und bewegt sich.« »Ich trete ab.« Schon wieder wurde mein Eröffnungssatz der Pressekonferenz zitiert. »Lilly kehrt der Porno-Leinwand den Rücken - mit dieser Nachricht wollte Lilly DeLight, die bekanntlich eine Freundin schnörkelloser Reden ist, ihre Fans schocken. Der wahre Schock kam jedoch erst eine Stunde später, als Elke Brenner, langjährige Starreporterin von News Alive unter mysteriösen Umständen keine hundert Meter vom Astor entfernt ums Leben kam.« Ein Foto vom Publikum der Pressekonferenz wurde eingeblendet. Es zeigte Elke Brenner im Profil - etwas hinter ihr saß der verschämte Journalist im grauen Anzug, der mir bis nach Goslar gefolgt war. Der Moderator tigerte durch seine Deko und kam erst beim dramatischen Wendepunkt seiner Rede zum Stehen.
»Was bislang niemand wusste - News Alive hat herausgefunden, dass Lilly DeLight am Ort des Verbrechens gesehen wurde, dass Lilly DeLight kurz darauf in einem blutbefleckten Oberteil durch das Hotel Astor lief.« Mir stockte der Atem. Marco warf mir einen kritischen Blick zu. »Das war Tomatensuppe - das weiß sogar die Polizei, es ist ein Skandal, dass die sowas im Fernsehen sagen, wo sie wissen müssen, dass ich nichts damit zu tun habe.« Völlig zusammenhangslos wurden jetzt die Bilder eingeblen191det, die mich und Rita beim Verlassen des Firmengeländes zeigten. Das Material war zwei Tage alt und diente offenbar nur dazu zu zeigen, dass ich nicht immer wie aus dem Ei gepellt aussah. Eine Offstimme verkündete mit Betroffenheitsklang: »Kaum zurück in ihrer Wahlheimatstadt Goslar, setzt sich die Serie von mysteriösen Unglücksfällen fort. Einer ihrer Stars, Johann Werner, wird ermordet aufgefunden. Lilly lässt verlauten, dass sie betroffen ist, und drückt ihre Sympathie den Hinterbliebenen des dreißigjährigen Johann Werner aus. Diese Beileidsbekundung stößt bei den fassungslosen Eltern des getöteten Darstellers auf taube Ohren und ein dramatischer Vorwurf wird laut.« Großaufnahme Mutter Werner: »Wenn die mit ihrem Sündenpfuhl geblieben wäre, wo sie hingehört, dann war mein Sohn heut noch am Leben!« »Die sonst nicht gerade pressescheue Lilly DeLight schweigt zu diesen Anschuldigungen und versteckt sich vor den Medien. Heute Morgen dann ein weiterer Schock - ihr Regieassistent Ingo Jensen ist Opfer Nummer drei. Ein weiterer sinnloser, brutaler Mord, und erneut stellt sich die Frage: Was weiß Lilly? Und vor allem: Wer ist überhaupt diese Lilly, die in Deutschland seit wenigen Jahren einen Bekanntheitsgrad genießt wie sonst nur der Bundeskanzler, Thomas Gottschalk und Wolfgang Joop? Wir begaben uns auf Spurensuche und trafen ihre ehemalige Arbeitgeberin, die Erotikproduzentin Greta Giehse in ihrem Penthouse in Feine.« Ausgerechnet. Greta saß in einem schwarzen Lederkostüm auf einem roten Ledersofa vor einem Airbrush-Plakat, das ihr Gesicht in besseren Tagen zeigte. Sie sah erstaunlich gut aus - mein Unglück schien ihr gut zu bekommen. »Das Mädchen hatte doch damals gar keine Orientierung, die war völlig naiv. Wir haben sie aufgenommen, ihr Rollen verschafft und sie wie ein Familienmitglied behandelt. Der Dank war, dass sie bei mir die Tricks des Geschäfts lernte und dann hinterrücks ihre eigene Firma startete. Sogar ihren Namen haben wir für sie gefunden!« Ein Bild aus meiner Jugendzeit wurde eingeblendet, damit der Schnitt nicht offensichtlich würde, der notwendig war, damit der Interviewer, der während des Gesprächs unsichtbar blieb, seine Frage stellen konnte. Einmal mehr fragte ich mich, was der Vorteil von diesen Interviews war, in denen der Befragte dargestellt wurde, als habe er spontan monologisiert, wo er stattdessen die Fragen beantwortete, die ihm gestellt wurden und zwar in einer Formulierung, die die Antwort mit beinhaltete. Wenn einen ein Journalist fragte, »Wie hieß sie denn
früher?«, durfte man nicht antworten, »Lieschen Müller«, sondern musste formulieren: »Ihr bürgerlicher Name war Lieschen Müller.« »Ihr bürgerlicher Name ist Julia Bäcker, und sie war gerade mit der Schule fertig, da sprach sie bei uns vor. Dann lernte sie Ronny Sanchez kennen - wir wollten sie noch warnen, der war für seinen Drogenkonsum bekannt, aber sie wollte nicht auf uns hören.« Diese Frau, die nicht arbeiten konnte, wenn nicht für ihren Tagesvorrat von Jack Daniels gesorgt war, verurteilte vor laufenden Kameras Ronnys Koks-Konsum. Das war scheinheilig und widerwärtig, aber das war noch lange nicht alles. »Ich möchte fast sagen, dass sie da Kontakte zum kriminellen Milieu aufgenommen hat. Ich meine - überlegen Sie mal. Wie kommt man denn in so kurzer Zeit zu einem solchen Imperium? Das ging doch nicht mit rechten Dingen zu!« Es war nicht nur schockierend, was die Giehse von sich gab, es war mir peinlich, dass Marco es mit ansah. Und nicht nur Marco saß vor dem Fernseher, sondern vermutlich auch meine Eltern, meine Freunde, meine Angestellten und zwei Millionen Deutsche, denen einmal mehr verkauft wurde, dass Sex & Crime unwiderruflich miteinander verbunden sind. Dieses Konstrukt basierte wissenschaftlichen Untersuchungen zufolge einzig und allein darauf, dass die Menschen Sex immer noch mit Schuld in Verbindung brachten, und Sexualität und Kriminalität deshalb auf die gleiche Ebene setzten. Trotz Emanzipation, trotz sexueller Revolution, trotz Sex in der Werbung konnten oder wollten die Medien nicht davon ablassen, Sex als etwas Schmutziges abzustempeln und so einer wirklichen Befreiung vehement entgegenzuarbeiten. »So ein Imperium baut man auf, wenn man nicht sein ganzes Einkommen durch die Nase zieht«, erklärte ich Marco, in dessen Blick ich leise Skepsis las. Aber vielleicht war ich auch nur im Begriff, etwas paranoid zu werden. »Hast du eigentlich auch Freunde?« Es war schockierend, eine solche Frage zu hören von jemandem, der einen gerade erst ein paar Stunden kannte. Was musste mein Leben für einen Eindruck auf ihn machen, wenn er sich nicht vorstellen konnte, dass ich einen Freundeskreis hatte? Ich war so von der Frage eingenommen, dass ich einen Moment lang das Fernsehen vergaß und erst wieder aufhorchte, als Greta sagte: »Und mit ihrer Kleinstadtidylle scheint es auch nicht weit her. Wo ist denn ihr Mann - hat den in den letzten Tagen einer gesehen? Der müsste ihr doch beistehen, wenn sie wirklich unschuldig ist, aber so wie es aussieht, hat er sie sitzen gelassen.« Als sie merkte, dass ihre Behauptung ausreichend für eine Unterlassungsklage war, fügte sie schnell hinzu: »So kommt es mir vor, das ist nur meine persönliche Vermutung.« Schnitt auf den Resopaltiger im Studio. »Lilly DeLight verweigerte uns jeglichen Kommentar, aber folgendermaßen hätte ein Statement aus ihrem Munde sich wohl angehört.« »Das ist nichts als ein Gerücht«, sah ich mich selber sagen.
Ich betätigte die Fernbedienung und klickte mein Angesicht vom Bildschirm. »Das darf doch alles nicht wahr sein!« »Was hast du der denn angetan?« »Ich war erfolgreicher.« »Das kenn ich.« Ich schaute ihn fragend an. »Na ja - in meiner Zeit bei der Polizei hatte ich auch viele Neider.« »Wegen deiner Wettkämpfe?« »Auch. Aber ich hatte auch eine sehr hohe Erfolgsquote, als ich noch Streife gefahren bin. Du weißt schon - Ehestreitigkeiten, sowas.« »Und wie erklärst du dir das?« »Na ja ...«, er zögerte, »wenn wir wegen Ruhestörung auf eine Party gerufen wurden, haben sie immer mich vorgeschickt.« »...?« »Wenn ich klingelte und mir die Tür aufgemacht wurde, dann war es fast immer so, dass die Leute mich für ein Glückwunschtelegramm hielten. Weißt du - einen Stripper im Polizeikostüm. Das hat irgendwie eine sympathische Grundstimmung geschaffen.« Ich musste lachen, als ich mir vorstellte, wie ein Haufen Besoffener um den Streifenpolizisten gestanden und »Ausziehn! Ausziehn!«, gebrüllt hatte. Hier war ein Mann, der wusste, was es bedeutete, ein Sexsymbol zu sein. Der kurze Moment der Heiterkeit endete abrupt, als mit einem lauten Scheppern ein Stein gegen das Fenster knallte. Wir sprangen gleichzeitig auf und rannten zum Fenster. Das Sicherheitsglas sah aus wie ein Spinnennetz, hatte aber dem Anschlag standgehalten. Vage konnte man eine Silhouette erahnen, die sich durch die Büsche schlug. Unmöglich zu sagen, ob es sich um ein Kind handelte oder um einen Erwachsenen. Während wir noch standen und in den Garten schauten, klingelte es an der Haustür. »Lass mich gehen«, sagte Marco, und ich ließ ihn gewähren. Ich war endlos erleichtert, als er mit Rita und Mikey ins Wohnzimmer zurückkam. Der Hund sprang mich vor Wiedersehensfreude an und lief dann schnuppernd um Marco herum - sichtlich angetan von dem smarten Riesen. »Wie sieht es in der Firma aus?«, fragte ich Rita.
»Es normalisiert sich. Sie haben wohl gemerkt, dass heute kein Bild mehr zu holen ist und bauen ab. Vielleicht hat auch nur der Hagel sie verscheucht.« »Und vor dem Haus?« »Ich habe niemanden gesehen.« »Gott sei Dank!« »Bleibt er über Nacht hier?« Sie deutete diskret auf Marco, der mit Mikey spielte. »Ja - solange der Fall nicht geklärt ist, möchte ich nicht alleine sein.« »Wenn du möchtest, kann ich natürlich auch bei dir bleiben.« »Ist schon gut, Rita. Ich fühl mich mit ihm ganz sicher. Aber danke für das Angebot.« »Na gut. Dann mache ich mich mal auf den Weg.« Als ich die Tür hinter ihr geschlossen hatte, fiel mir siedend heiß etwas ein. »Marco - wir müssten nochmal in die Stadt fahren. Ich habe mir ein Buch bestellt.« »Na, läuft doch alles prima. Wie von selbst. Nee-so gut hätte man das gar nicht planen können.« Er lachte, streckte sich auf seinen Versace-Sitzkissen aus, wobei ihm beinahe das Telefon aus der Hand rutschte, und hörte der Frau am anderen Ende der Leitung zu. »Nein, du hast toll ausgesehen im Interview. Ganz toll. Nein, das Licht war sehr gut und die Haare auch. Marlies Möller? Ah ja. Nicht schlecht, wirklich. Ich hätte es nicht besser machen können. Das mit den Tapes hat nicht geklappt, sie haben sie reparieren können, aber was soll's. Die kriegen den Film so doch nie fertig. TV l springt ab. Ja, ich schwör's dir! Im stummgeschalteten Fernseher lief gerade ein weiterer Bericht über die Porno-Morde, und er schaute aufmerksam, ob ihn vielleicht eine Kamera erwischt hatte. »Ach was - die haben keinen blassen Schimmer. Das mit Ronny scheint auch zu laufen, ein Freund von mir hat ihm in Frankfurt am Flughafen den Koks untergejubelt - dem müsstest du auch ein paar Mark überweisen. Never leave your luggage unattended - ha ha, genau. Ist nur noch eine Frage der Zeit. Im Grunde könnte man jetzt alles einfach laufen lassen ...« Sie musste ziemlich heftig reagiert haben, denn er hielt den Hörer ein Stück vom Ohr weg. »Du, ich meinte ja bloß ... Nein. Okay. Okay. Aber hast du mal daran gedacht, dass das alles nicht ganz ungefährlich ist? Ich habe den ganzen Tag gearbeitet, verdammt nochmal. Die Frau ist doch gnadenlos und zieht mit einem Tempo durch, du kannst es dir nicht vorstellen. Wir haben heute fünf Szenen abgedreht - und zwar geiles Material. Ständig lungert jemand um einen herum. Ich bin doch nicht bescheuert und riskiere, dass mich jemand erwischt. Am schlimmsten ist es mit Rita, ich frage mich, ob die nicht vielleicht schon etwas ahnt.« Er griff sich in den Schritt, denn sein frisches Piercing schmerzte.
»Morgen. Okay. Wie ist eigentlich die Sache mit Max gelaufen? Hm. Na ja. Okay. Was anderes - hast du mal über eine Gefahrenzulage nachgedacht? Das Ganze wird langsam ziemlich riskant. Reg dich nicht gleich auf - ich hob ja nur laut gedacht. Aber mit den Bullen und so weiter ... Hm. Na gut. Tschüssi Greta. Ich melde mich.« Tim legte auf, rekelte sich auf seinem Kissenlager und machte einen Schmollmund.
Kapitel 12 Kaum dass Marco meinen Jeep aus der Einfahrt zurückgesetzt hatte und wir auf der Straße standen, schaltete ich das Tapedeck ein. Ich kam tagsüber selten dazu, Musik zu hören und so lief in meinen Autos eigentlich ständig eine CD oder Kassette. Mein Autobahnfavorit war Bon Jovi und deshalb wunderte ich mich, dass nicht gleich laute Musik erklang, sondern eine Stimme, die ich mit frühesten Kindheitserinnerungen in Verbindung brachte. Fast jeder um die dreißig, der in Deutschland aufgewachsen ist, hätte diese Stimme erkannt - sie war alt, rau und trotzdem von einer vertraulichen Wärme. Es war der Mann auf fast allen Märchenplatten, die ich als Kind besessen hatte. Der Ideal-Opa eines jeden Märchenplatten besitzenden kleinen Mädchens. Von »Hansel und Gretel« über »Die Schneekönigin«, »Schneewittchen«, »Das hässliche Endein« bis zur »Prinzessin auf der Erbse«: Ich hatte sie alle geliebt, trotz ihrer unglaublichen Brutalität oder vielleicht sogar deswegen. Die Märchen waren mein erster Kontakt mit der Grausamkeit des Erwachsenenlebens gewesen. Drei Engel für Charlie durfte ich mir im Fernsehen nicht anschauen, weil ich angeblich zu jung dafür war, nichtsdestotrotz hatte ich seit meinem vierten Lebensjahr diese Schallplatten gehört, in deren Erzählungen Eltern ihre Kinder im Wald aussetzten, Wölfe Großmütter verspeisten, Meerjungfrauen die Füße bluteten und Jäger Mordaufträge ausführten und zum Beweis die Lunge und die Leber des kindlichen Opfers heimbringen mussten, damit ihre Auftraggeberin sie zum Abendessen verspeisen konnte. Bei all der Grausamkeit des Erzählten - der Erzähler sorgte für ein sofortiges Gefühl der Entspannung. Ein früher Fall von »The medium is the message ...« Diese unverwechselbare Stimme, die vermutlich das Produkt einer Theaterausbildung und heftigen Tabakkonsums war, hörte sich noch brüchiger, noch rauchiger an als damals. Ich dachte zunächst, ich hätte versehentlich das Tapedeck von Kassettenauf Radiobetrieb umgeschaltet, aber ich war so fasziniert, diese Stimme wieder zu hören, dass ich auf Bon Jovi verzichtete. Ich blickte aus dem Autofenster auf die Straße, aber schon nach wenigen Augenblicken nahm ich den Weg kaum noch wahr, sondern war gebannt von der Stimme des Märchenerzählers und gefangen von der Geschichte, die er vortrug. Die Schwestern Ich und Du In einem kleinen Haus auf Rädern an einem großen, reißenden Fluss lebten einmal zwei Schwestern mit ihrer Mutter. Leider hatte die Mutter vergessen, ihren Kindern Namen zu geben, aber das wäre vielleicht auch überflüssig gewesen, denn die Schwestern glichen einander wie ein Ei dem anderen, und man konnte sie nicht auseinander halten. Hätte die eine »Sonne« geheißen und die andere »Mond«, so wäre das unpassend gewesen, denn wie man weiß, sind Sonne und Mond so unterschiedlich wie Tag und Nacht. Man hätte ihnen vielleicht denselben Namen geben sollen oder vielleicht zwei sehr sehr ähnliche. Aber dies war
nicht geschehen, und wenn die Mutter nach ihnen verlangte, dann rief sie »Töchter!« und beide kamen. Wenn die Schwestern einander ansprachen, dann sagten sie »du« und wenn sie von sich selbst sprachen, dann sagten sie »ich«. Die Schwestern »Du« und »Ich« waren unzertrennlich. Sie schliefen im selben Bett, spielten zusammen am Flussufer, pflückten gemeinsam Blumen und hielten sich an den Händen, wenn sie durch den Wald spazierten. Sie waren sich selbst genug und kannten auf der ganzen weiten Welt keine Menschenseele außer ihrer Mutter. Als sie eines Tages am Ufer standen und Kieselsteine über das Wasser hüpfen ließen, tauchte ein neuer Mensch auf, und die beiden waren erstaunt, aber nicht ängstlich, denn Angst hatten die beiden nie kennen gelernt. Der Mensch war ihr Vater und er nahm Ich und Du in den Arm und Tränen rannen über sein Gesicht, als er sagte: »Ich habe euch endlich gefunden und ein Vater ist kein Vater ohne seine Töchter.« »Wie ist dein Name, Kind?«, fragte er die eine Tochter. »Töchter«, antwortete sie darauf. »Und wie heißt du«, wollte er von der anderen wissen. »Töchter«, sprach sie. Der Vater schaute seine Kinder traurig an. Ich und Du waren froh, einen Vater zu haben, auch wenn sie ihn vorher nie vermisst hatten, und deshalb konnten sie Mutter nicht verstehen, die den Besen schwingend aus dem Haus mit Rädern stürmte und auf den Vater einschlug. Sie weinten, als der Vater fortging und die Mutter ihm böse Worte hinterherbrüllte, und sie aßen drei Tage lang kein Frühstück, kein Mittag und kein Abendbrot, so übel nahmen sie der Mutter, dass sie ihnen den Vater weggenommen hatte. Doch der Vater hatte sie nicht vergessen und am vierten Tag kam er den Weg zum Fluss herunter und hatte sogar neue Menschen mitgebracht. Eine Frau mit einem Malblock und zwei Männer, die sich fast so glichen wie die Schwestern, denn sie trugen die gleiche Hose, die gleiche Jacke und die gleiche Mütze. Kaum dass die Mutter gesehen hatte, wer auf das Haus zukam, rief sie die Töchter zu sich, zog die Haustür ins Schloss und wollte mit dem Haus fortfahren, aber es hatte schon zu lange am Fluss gestanden. Die Räder steckten im sumpfigen Boden fest und der Motor, der das Haus ins Rollen bringen sollte, wollte und wollte nicht anspringen. Ich und Du beobachteten die Mutter und mussten fast lachen, dass die Flucht nicht gelang. Sie schauten, wie die Mutter wütete, und standen daneben, Hand in Hand, lächelnd, denn jetzt, wo sie einen Vater hatten, würden sie ihn sich gewiss nicht mehr wegnehmen lassen. Von draußen pochte es laut an der Tür, doch die Mutter öffnete nicht, sondern stemmte sich mit all ihrer Macht dagegen. So sah sie nicht, wie Ich
und Du ein schmales Fenster auf der Rückseite des Hauses öffneten und hinausschlüpften, Hand in Hand um das Haus herumliefen und dem Vater in die Arme fielen. Die Frau mit dem Malblock, der Vater und Ich und Du gingen gemeinsam fort, und dies war das letzte Mal, dass die Schwestern ihre Mutter sahen. Ihr lautes Rufen sollte sie manchmal in ihren Träumen verfolgen. Es war der letzte Tag, den Ich und Du angstlos waren und es war der letzte Tag, den sie keine Namen hatten, denn der Vater beschloss, dass die eine Tochter Ellen und die andere Tochter Katrin hieß. »Ellen?«, sagte Ich zu Du. »Katrin?«, sagte Du zu Ich. Mit einem Mal waren sie nicht mehr sie selbst, sondern zwei völlig verschiedene Mädchen und es war ihnen, als sei etwas zerbrochen. Des Vaters Haus hatte keine Räder - es war auch kein Haus, es war ein Schubfach in einem großen grauen Schrank. Von diesem Schrank war es ein weiter Weg bis an das nächste Wasser, und den Mädchen fehlte der Lärm, den der Fluss machte, das Spiel am Ufer und die Stille des Waldes. Überall waren Menschen, und die beiden wurden scheu und wollten gar nicht mehr das kleine Kästchen im Schubfach des Schranks verlassen, in dem ihre Bettchen standen. Der Vater sah, wie traurig und trübsinnig die beiden wurden, und schickte sie immer öfter zu der Frau mit dem Malblock, die in einem riesigen weißen Schrank voller Glastüren lebte, wo sie den Mädchen beim Spiel zuschaute, ihnen viele Fragen stellte, welche zu beantworten den Mädchen nicht leicht fiel. Manchmal vergaßen sie ihre Namen und Ellen antwortete, wenn Katrin gefragt wurde. Als bald ein Jahr ins Land gezogen war und die Schwestern sich ihre Namen noch immer nicht merken konnten, war die Frau mit dem Malblock ganz verzweifelt. Es konnte doch nicht so schwer sein, sich zu merken, wer ich bin und wer du bist und wo das eine aufhört und das andere beginnt, so dachte sie sich. Und folglich schmiedeten der Vater und die Frau mit dem Malblock einen Plan. Was man besitzt, merkt man manchmal erst, wenn man es verloren hat, und wo man selber aufhört und das Gegenüber beginnt, das stellt man erst dann fest, wenn das Gegenüber fehlt. Eines Morgens - es war noch sehr früh und die Sonne war noch nicht aufgegangen da stahlen sich der Vater und die Frau mit dem Malblock in das Zimmer der beiden Schwestern, als sie noch schliefen. Sie waren leise und vorsichtig und wollten nur die Schwester wecken, die sie Katrin nannten. Doch ein feiner Draht schien die Schwestern zu verbinden, und wann immer eine aufwachte, konnte auch die andere nicht mehr schlafen. Die, die sie Ellen nannten, sah nun, wie die Erwachsenen ihre Schwester aus dem Bett hoben, sie anzogen und aus dem Zimmer führten. Als sie merkte, dass nur die Schwester abgeholt wurde, war es ihr, als hätte man ihr die Hand abgeschlagen, und sie fing an zu weinen. Die Frau mit dem Malblock saß neben ihr und blieb an ihrer Seite, redete mit ihr und wollte sie trösten, aber es konnte keinen Trost für sie geben. Sieben Tage lang flössen ihre Tränen, und doch waren es nicht genug, einen Fluss zu bilden, der sie zur verlorenen Schwester tragen könnte. Sieben Nächte wollte sie nicht schlafen und nicht essen und sich nicht
trösten lassen. Am achten Tage versiegten die Tränen. Am neunten Tage dachte sie zum erstenmal wieder an ihre Mutter, am zehnten Tage war sie erwachsen und wusste, dass sie Ellen hieß. Die, die sie Katrin nannten, wurde in ein Haus gebracht, das inmitten eines großen, grünen Parks stand. Die Hecken waren gerade gestutzt und an den Rändern der Kieswege blühten bunte Blumen. Das Haus gehörte einem Magier, der Kinder verzauberte und ihnen so die Seele schenkte, die sie verloren hatten. Manchmal gab er ihnen ihre alte Seele zurück, manchmal schenkte er ihnen eine ganz neue Seele, und es tat ihnen gut, denn sie vermissten die alte nie. Am ersten Tag ihrer Ankunft weinte das Mädchen acht Stunden - dann gab man ihr ein magisches Getränk und sie fiel in einen tiefen Schlaf. Am zweiten Tag war sie ganz matt und ruhig und konnte kaum denken, da fühlte sie sich aufgehoben wie in einem warmen Bett. Am dritten Tag versetzte sie der Magfer in einen eigentümlichen Zustand - sie war wach und doch schlief sie - sie war sie selbst und doch fühlte sie sich, als denke jemand anderes für sie. Am vierten Tag war ihr für einen kurzen Augenblick, als habe sie einmal eine Mutter gehabt, am fünften schaute sie, ob ihre Hand noch am Arm saß und wunderte sich, wie sie denken konnte, dass dem nicht so sei. Am sechsten malte sie ein Haus auf Rädern - das kam ihr falsch vor. Am siebten bastelte sie einen grauen Schrank mit vielen Schubladen - der gefiel ihr nicht. Am achten kam eine Frau mit Malblock und nahm sie in den Arm. Am neunten zeichnete sie den Park, in dem der Magier stand. Am zehnten schrieb sie dem Vater einen Brief und unterzeichnete mit »Deine Katrin«. Der Magier hatte Katrin in sein Herz geschlossen und darin sollte sie bleiben. Stolz schritt er mit ihr durch den Park und führte sie den Zauberlehrlingen vor: »Schaut, was für eine prachtvolle Seele ich dem Mädchen geschenkt habe!« Katrin war verlegen, aber zu spüren, dass jemand stolz auf ihre Seele war, das war ein schönes Gefühl und sie sonnte sich darin. Es kam der Tag, da Katrin das Haus des Magiers verlassen und in den Schrank, in dem ihr Vater lebte, zurückgebracht werden sollte. Sie weinte und auch in den Augen des großen Zauberers standen Tränen. Doch die Frau mit dem Malblock nahm sie an der Hand und führte sie den Kiesweg hinab. Warum musste sie hier fort - sie mochte das Grün des Parks so sehr, hatte sich an das Lob und die Aufmerksamkeit des Magiers gewöhnt, ihr fehlte es hier an nichts, und sie wollte gar nichts anderes als bei den Menschen bleiben, die sie mochten, die sich so um sie kümmerten und für die sie etwas Einzigartiges, etwas ganz Besonderes, etwas Wertvolles war. Sie fürchtete, wieder in eine Schublade gesteckt zu werden in dem grauen Schrank, in dem ihr Vater lebte. Und noch etwas beunruhigte sie, aber sie konnte nicht sagen, was das war und sie war auch viel zu beschäftigt damit, zu weinen und ihr Leid zur Schau zu stellen, auf dass es das Mitleid der Frau mit dem Malblock erregte und sie sich vielleicht doch darauf besann, Katrin hier zu lassen, wo sie hingehörte. Doch obwohl diese Frau Mitleid hatte, denn Mitleid war ihr Beruf, so ließ sie sich nicht dazu verleiten, auf ihr Herz zu hören, denn wenn sie auf ihr Herz hörte, dann würde sie ihren Beruf bald nicht mehr ausüben können.
So musste sie Katrin fast in den großen gelben Autobus zerren - das Mädchen krümmte und wand sich, sträubte sich und trat. Als die beiden vor dem Schrank angelangt waren, in dem der Vater wohnte, stellte Katrin erstaunt fest, dass es gar kein Schrank war, sondern nichts als ein hässliches großes Haus. Und als sie auf dem Flur vor der Wohnung standen, wo es nach Bitterkeit roch und nach gekochtem Kohl und als sei kürzlich etwas verbrannt, da sehnte sie sich in das Haus des Zauberers zurück, aus dem sie gerade entlassen worden war, nach den schmalen geraden Wegen des Parks, nach den Menschen in den weißen Anzügen. Und als sie den Vater auf der Schwelle stehen sah, da wollte sie ihn nicht zurück- sie brauchte keinen Vater, sie brauchte Zauberer! Doch die Frau mit dem Malblock schob sie in die enge Wohnung. Dort - im Wohnzimmer saß etwas, das man nur schemenhaft erkennen konnte, so düster war es im Raum, saß etwas am Tisch wie ein schlecht gehütetes Geheimnis. Katrin starrte, blickte, suchte nach einer Erinnerung, aber kein Erkennen stellte sich ein. Der Vater und die Frau mit dem Malblock standen ungeduldig neben Katrin, und die Frau schaltete das Licht ein. Und dort am Tisch saß ein Mädchen, das Katrin so ähnelte wie ein Ei dem anderen, nur, dass man die beiden von jetzt an nie mehr verwechseln würde, denn die Schwester Du und die Schwester Ich würden sich von nun an nur noch auf die Hände schauen müssen, um zu erfahren, wer Ellen und wer Katrin war. Ellen hatte sich aus Gram über den Verlust der Schwester die linke Hand abgeschlagen. Und die Moral von der Geschieht: Wer nie sein Herz im Spiegel sah, der kann das nicht verstehen! »Das ist ja wohl das scheußlichste Märchen, das ich je gehört habe!« Was mich aber am meisten berührte, mehr als die Grausamkeit der Geschichte, das war, dass mein Lieblingszitat vom Herz im Spiegel in so einen grausamen Zusammenhang gebracht worden war. »Ziehst du dir sowas öfter rein?«, fragte Marco skeptisch und bedachte mich mit einem Seitenblick, der zum erstenmal Zweifel an meiner Unschuld oder aber an meiner gesunden Seele durchschimmern ließ. »Um Gottes willen, nein.« Ich hatte mich die ganze Zeit gefragt, was für ein Sender das war, der am Spätnachmittag schaurige Märchen-Hörspiele im Programm hatte, und erst das Klicken des Tapedecks beantwortete meine Frage. Ich drückte die Eject-Taste. »Wer hat mir denn das ins Auto getan?« Ich las Marco den Aufdruck auf der Kassette vor: >»Die Schwestern Ich und Du und andere Erzählungen von Karin Berger.< Karin Berger, Karin Berger ... sagt dir der Name was?« Marco schüttelte den Kopf und manövrierte den Wagen in eine Parklücke in einer Seitenstraße nahe der Buchhandlung, die nur über die Fußgängerzone zu erreichen war. »Ich habe als Kind immer nur Bibi Blocksberg und Benjamin Blümchen gehört. War wohl irgendwie B-fixiert...«
Das Unwetter hatte die Fußgängerzone leergefegt. Ich war froh, dass noch nicht allzu viele Menschen unterwegs waren, denn diejenigen, die mich sahen und erkannten, bedachten mich mit nicht eben freundlichen Blicken. Ein kleines Mädchen von vielleicht sieben Jahren, das ein Pflaster über dem linken Auge trug, schaute mich an. Ich lächelte freundlich zurück, und das Kind begann zu schreien und warf beide Hände um die Mutter herum, sein Gesicht an ihrem Bauch verbergend. Die Mutter legte die Hände schützend um das Mädchen und bedachte mich mit einem panischen Blick. Ich blieb vor Schreck stehen. Marco zog mich weiter und versuchte mich zu trösten. »Mach dir nichts draus, die werden sich schon wieder beruhigen.« »Dein Wort in Gottes Ohr«, murmelte ich und war froh, als wir endlich den Buchladen erreicht hatten und von den Leuten auf der Straße weg waren. Die Buchhändlerin war die Mutter eines Jungen, mit dem ich den Internet-Kurs an der Volkshochschule belegt hatte. »Hallo, Frau DeLight, Ihr Buch ist heute Mittag gekommen!« Sie lächelte mich mit einer Wärme und mit einem Ausdruck von Mitleid an, der einerseits tröstlich war, aber andererseits deutlich machte, dass ich in der Tat bemitleidenswert war. In meinem Leben war ich schon vieles gewesen, aber niemals Adressatin für Mitleid. Das war eine ganz neue Erfahrung und keineswegs eine, die mir gefiel. »Tag, Frau Müller. Packen Sie es schon mal ein. Sagen Sie, haben Sie Bücher von einer gewissen Karin Berger?« »Bei den Kinderbüchern. Ich persönlich finde diese Geschichte ja nicht sehr geeignet für Kinder, aber nun ja ...« Sie ging voran zum Regal mit Pippi Langstrumpf und Peter Pan, dem Regenbogenfisch und der kleinen Raupe Nimmersatt, zog einen schmalen Band heraus und reichte ihn mir. Kindergeschichten, Band 11: Märchen aus dem Nirgendwo lautete der Titel. Ich drehte das Buch um und las den Text auf der Rückseite. Mir war, als habe mir jemand einen Schlag in den Magen versetzt - vor Schreck fiel mir das Buch aus der Hand, ich trat einen Schritt zurück und riss dabei einen Stapel Harry Potter vom Büchertisch. Auf der Rückseite des Buches war ein Foto von Elke Brenner abgebildet. Ich weiß nicht, warum mich dieses Gesicht auf dem Buch so aus der Fassung bringen konnte - es hätte nur schlimmer sein können, wenn Elke Brenner höchstpersönlich in dem Geschäft aufgetaucht wäre. »Ist alles in Ordnung? Kann ich Ihnen ein Glas Wasser bringen?«, erkundigte sich die Buchhändlerin.
»Danke, Frau Müller. Das wäre nett.« Marco war damit beschäftigt, die Bücher aufzulesen, die ich vom Verkaufstisch gestoßen hatte, während ich mich an das Regal lehnte und das Buch aufschlug, um den Text über die Autorin zu lesen. Dort stand geschrieben: »Karin Berger lebt als Kinderpsychologin und Autorin in Köln. Zu ihren wissenschaftlichen Veröffentlichungen zählen Das Fort/Da-Spiel: neue Aspekte frühkindlichen Verhaltens, Spieglein, Spieglein an der Wand: Der Spiegel als Märchenmetapher und Wechselwirkung: Ebenenverschiebung im geschwisterlichen Mit- und Gegeneinander. Neben ihren wissenschaftlichen Texten schrieb sie die Kindergeschichten - moderne Kunstmärchen, die sich an erwachsene Leser richten. Seit dem Jahr 1989 veröffentlicht sie alljährlich einen neuen Band.« Es dämmerte nur langsam, aber ich begann mich an ein Gespräch mit Gerd Bartels zu erinnern - Elke Brenner hatte eine Zwillingsschwester, die in Köln lebte. Ich hatte nicht etwa einen dramatischen Fund gemacht, der belegte, dass Elke Brenner ein Doppelleben führte, sondern war auf ein Buch ihrer Schwester gestoßen. Gestoßen worden. Wer hatte das Tape in mein Auto geschmuggelt? Frau Müller kam mit dem versprochenen Glas Wasser zurück, und ich trank es dankbar aus. »Das Buch nehme ich auch noch mit.« »Gut. Kann ich Ihnen sonst noch helfen?« »Danke, Frau Müller. Ich würde dann gern zahlen.« Wir verließen den Buchladen mit zwei so widersprüchlichen Werken wie Serienmörder: Hintergründe und Fallstudien und Märchen aus dem Nirgendwo. Irgendetwas verband diese Bücher. Irgendjemand hatte etwas damit bezweckt, als er sie mir zukommen lassen wollte. Und dieser irgend jemand war mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit der Mörder von Johann, Ingo und in irgendeiner Form auch am Ableben von Elke Brenner beteiligt, auch wenn die Fälle auf den ersten Blick nichts miteinander zu tun zu haben schienen. Vielleicht würde eine ausgiebige Lektüre Licht ins Dunkel bringen. Nachdem ich noch aus dem Auto mit Harry Klein telefoniert hatte, um ihn von den neuesten Entwicklungen in Kenntnis zu setzen, hatten Marco und ich einen Schlachtplan entwickelt. Wir würden an diesem Abend die Ereignisse der letzten Tage wissenschaftlich genau zusammenfassen und uns bemühen, selbst das kleinste Detail zu analysieren. Wenn die Polizei vor uns erfolgreich sein würde, hätten wir uns zwar umsonst angestrengt, aber weiter tatenlos darauf zu warten, dass Hilfe von der Kripo kam, war mir eine Horrorvorstellung. Ich hatte auch versucht Gerd Bartels zu erreichen, um über ihn Informationen über Karin Berger herauszubekommen, aber er hatte seine Mailbox eingeschaltet. Langsam wurde es mir unerträglich, Telefonnummern zu wählen und nur Aufzeichnungen oder endlose Freizeichen zu hören, denn Unerreichbarkeit schien der erste Schritt vor dem Verschwinden und dem nur teilweisen Wieder-Auftauchen zu sein.
Das Arbeitszimmer hatten wir zur Kommandozentrale umfunktioniert. Ich hatte die Bilder von den Wänden genommen und Platz für unsere handgeschriebenen Listen geschaffen, die wir mit Fotos und Zeitungsausschnitten vervollständigten. »Fangen wir am dreißigsten August an - der Tag, an dem dein Mann verschwindet und Elke Brenner überfahren wird.« »Es hat früher angefangen, Marco. Der Arzt, mit dem die Brenner liiert war, wurde schon im Februar umgebracht.« »Aber wir können nicht sicher sein, dass es der gleiche Täter war.« »Sicher können wir mit gar nichts sein, aber die Wahrscheinlichkeit ist ziemlich groß, oder?« »Okay. Gibt es ein Todesdatum?« »Bartels sagte nur - im Februar - ich weiß nicht mal wie der Arzt heißt.« »Wir können das nachtragen, wenn du mit Bartels gesprochen hast.« Marco heftete ein DIN-A-4-Blatt mit der Beschriftung »Fakten: Februar 2000: Tod durch Überfahren - unbekannter Arzt, Ex von E.B.« an die Wand. »Was wissen wir über den Arzt, über sein Verhältnis zu Elke Brenner?« »Er war vor einigen Jahren in einen Medizin-Skandal verwickelt, über den heute kein Mensch reden will. Die Brenner hat damals für FAKT geschrieben und über seine Arbeit berichtet, aber nach dem Druck der Auflage stellte sich heraus, dass sie die Tatsachen ziemlich geschönt hatte und die Auflage musste zurückgezogen werden.« »Heftig!« Er notierte in Stichworten und klebte ein weiteres Blatt unter das bereits platzierte. Ich schrieb mittlerweile auf einem zweiten Blatt die Fragen auf, die sich aus den Fakten ergaben: Wer war der Arzt? Worum ging es in dem Artikel? Welches waren die genauen Todesumstände? Wie war das Verhältnis zwischen Arzt und Reporterin zu dieser Zeit? Das nächste Blatt widmete Marco dem Verschwinden meines Mannes. »Wann hast du ihn das letzte Mal gesehen?« »Montagmorgen. Wir haben noch zusammen gefrühstückt, dann ist Rita gekommen und hat mich abgeholt. Wir sind nach Frankfurt geflogen. Zuletzt gesprochen habe ich ihn vorgestern, kurz vor der Pressekonferenz, das war so um Mittag.« »Und hat ihn danach irgend jemand sonst gesehen oder mit ihm geredet?« Marco notierte: »Max Winter verschwindet: 30/08/00.« »Um 14.45 Uhr wurde er von den Überwachungskameras im Parkhaus vom Hannoveraner Flughafen gefilmt. Den Wagen hat man dort gefunden, aber Max ist seitdem verschwunden.«
»Und es ist sicher, dass er sich nicht einfach in einen Flieger gesetzt hat, um einen Kurzurlaub zu machen?« »Das ist ausgeschlossen. Sowas macht Max einfach nicht. Er hat ja auch überhaupt kein Gepäck bei sich gehabt. Er ist doch nur zum Flughafen gefahren, weil er eine Mail von mir bekommen hat, in der ich ihn ganz dringend bat, mich abzuholen - nur dass die Mail gar nicht von mir war.« »Jemand hat ihn also dorthin gelockt.« »So sieht es aus. Wir hatten einen Streit gehabt, und wahrscheinlich hat er gedacht, dass ich eine dramatische Offenbarung machen würde oder so.« Ich musste mir vorstellen, wie er angespannt über die Autobahn geprescht war, nicht sicher, was ich mit so einer drastisch formulierten Nachricht meinen könnte. Verunsichert und vielleicht ängstlich oder wütend. Wahrscheinlich am ehesten wütend — er hasste Ultimaten, und es wäre genau so gut denkbar gewesen, dass er auf eine so vage formulierte Nachricht wie »Hol mich ab, wir müssen reden« aus Trotz gar nicht reagiert hätte. »Darf ich fragen, worum es in dem Streit ging?« »Max hatte einen Brief von Ronny in meinen Sachen gefunden und daraus falsche Schlüsse gezogen.« »Ronny ist der schlanke Blonde?« »Genau.« Ich hoffte, dass Marco nicht weiterfragen würde. Es war schon schwer genug, mir meine Gefühle für Max und Ronny klar zu machen, geschweige denn jemand anderem erklären zu müssen, was sich in meinem Inneren abspielte. »Ist Max ein sehr eifersüchtiger Mensch?« »Leidenschaftlich. Der einzige Mann in meinem Umfeld, auf den er nur manchmal eifersüchtig reagiert, ist Mikey.« Als er seinen Namen hörte kam der Hund hinternwackelnd angetrottet und legte sich mir vor die Füße. »Hat sich schon jemand von der Polizei um die Uberwachungsvideos gekümmert?« »Das müssen sie ja - wie hätten sie sonst wissen sollen, dass Max dort war.« »Nein, ich meine die Videos, die vor seiner Ankunft aufgezeichnet wurden. Man sollte nachprüfen, wer alles an diesem Tag im Parkhaus war.« »Wir müssen Harry anrufen und fragen.« Die Nachfrage ergab, dass die Videos von der Goslarer Kripo angefordert waren, aber noch in Hannover lagen. Man hatte sich noch nicht für eine Versandart entscheiden können ... Klein versprach nachzuhaken und mich unverzüglich zu verständigen, sobald die Videos eingetroffen wären. Ich legte auf und schaute an die Wand, wo sich auf DIN-A4-Blättern die Opfergalerie ausbreitete.
»Fällt dir zu Max sonst noch irgendetwas ein, was in diesem Zusammenhang wichtig sein könnte?« »Hm. Wenn Max dem Killer zum Opfer gefallen wäre, dann wäre er der Einzige, von dem der Mörder mir kein Körperteil präsentiert hat.« Einerseits schauderte es mich, in diesem Zusammenhang von meinem Mann zu sprechen, andererseits war dieser Aspekt im Moment meine einzige große Hoffnung. »Was auch immer mit ihm passiert ist - es unterscheidet sich von den Morden.« »Das sehe ich genauso. Wir müssen jetzt nur noch herausfinden, ob sein Verschwinden ein Puzzle-Teil in der Mordserie ist oder etwas ganz Anderes stattgefunden hat, was möglicherweise in keinem Zusammenhang mit den Morden steht.« Das kleine Wörtchen »nur« wirkte ob der vor uns liegenden Aufgabe ein wenig untertrieben. »Ich möchte mich für die folgende Frage jetzt schon entschuldigen Lilly - aber ich muss sie stellen ...« Ich würgte ihn ab. »Du willst wissen, ob ich es Max zutraue, dass er hinter allem steckt.« »So ist es.« »Das ist absolut, und ich sage ab-so-lut undenkbar.« Als ich es aussprach, fiel mir sinnigerweise ein Abendessen mit Gästen ein, das Max und ich vor einigen Wochen gegeben hatten. Peter Hofmeier hatte bei uns am Tisch gesessen, als wir uns über Sinn und Unsinn von Metaphern unterhielten. Wir stritten uns um den Ausspruch »Man hat schon Pferde kotzen sehen«. Da wir ja nun einen Experten auf diesem Gebiet am Tisch hatten, fragten wir den Tierarzt, ob Pferde sich nun erbrechen können oder nicht. »Nein, das können sie nicht. Und wenn, dann nur, wenn sie im Sterben liegen.« »Also können sie doch.« »Nein. Nur wenn sie wirklich todkrank sind.« »Na also - sterbende Pferde können sehr wohl kotzen.« Man mag also durchaus schon Pferde kotzen gesehen haben, aber die Vorstellung, dass Max Amok lief und Männern aus meinem Umfeld die Schwänze abschnitt, war schlichtweg absurd. Ich hatte in meinem Beruf oft genug mit Psychopathen zu tun gehabt um zu wissen, dass Max keiner war. »Es ist schon allein deshalb ausgeschlossen, weil Max unmöglich Elke Brenner überfahren haben kann. Erstens hätte ich ihn bestimmt erkannt - und wenn ich nur
seine Silhouette im Wagen gesehen hätte, zweitens hätte er es nie und nimmer in so kurzer Zeit von Berlin nach Hannover geschafft.« »Wenn hier aber nun wirklich zwei ganz verschiedene Mordserien stattfinden, dann könnte man Max nicht ausschließen, für die beiden Männermorde verantwortlich zu sein - tut mir Leid, wenn ich das so krass sagen muss.« Ich atmete tief durch. »Okay. Faktisch richtig. Aber ich halte es nach wie vor für ausgeschlossen.« Auf dem Blatt mit der Überschrift »FRAGEN, Max« hatte ich notiert: »Wo ist er«, »Warum ist er weg« und »Gibt es Bezüge zu a) Brenner und b) den Männermorden.« Die Notiz »Überwachungsvideos checken« hatte ich dreimal fett unterstrichen. »Nächster Zettel bitte. Elke Brenner, 30.08.2000. Ermordet durch Überfahren um ca. 14.00 Uhr. Verwickelt in medizinischen Skandal. Liiert mit dem Arzt, der im Februar auf dieselbe Art und Weise umgebracht wurde. Zufall ausgeschlossen.« »Sofern man die Gesetze der Wahrscheinlichkeit in Betracht zieht.« »Und etwas anderes bleibt uns nicht übrig.« »Das Bindeglied zwischen den beiden ist ihre Liaison und der FAKT-Artikel. Wir müssen in Erfahrung bringen, um was es darin ging.« »Daran hat sich schon Gerd Bartels die Zähne ausgebissen. Und es ist immerhin sein Job, den Leuten Sachen aus der Nase zu ziehen, die sie eigentlich nicht an die Öffentlichkeit bringen wollen.« »Wenn man Hany davon überzeugen kann, dass die Fälle verknüpft sind, müssen sie reden. Wenn es um Ermittlungen im Rahmen eines Tötungsdelikts geht, dann wäre es gesetzeswidrig die Untersuchungen zu behindern, und es ist eine Sache, mit einem Klatschreporter zu reden und eine andere, der Kripo Auskunft zu geben.« »Das mag stimmen, Marco, aber selbst wenn die Kripo etwas herausfindet, werden sie uns kaum Details verraten. Da kommen wir nicht weiter.« »Bleibt die Schwester.« »Probieren können wir's. Vielleicht sollten wir bei dem Märchen anfangen, das man mir ins Auto geschmuggelt hat. Das wird ja nicht grundlos ausgewählt worden sein.« »Der biografische Bezug ist offensichtlich. Elke und Karin waren Zwillingsschwestern und die Namen Ellen und Katrin sind ja holzhammermäßig nah dran.« »Ich nehme an, du hattest in der Schule eine Eins in Literaturanalyse!« »Nein - in Deutsch hatte ich immer eine Vier, aber ein Verbrechen zu untersuchen oder einen Text - das ist fast das Gleiche. Wenn du ein Drehbuch schreibst, dann ist dir der Aufbau auch von vornherein klar, und unser Mörder geht genauso vor. Diese Morde sind Inszenierungen - er will ja, dass wir sein Verhalten deuten.«
Der Text zum Thema Profiling fiel mir ein. Viele Mörder gestalteten ihre Morde so spektakulär, damit sie damit in die Zeitung kamen. Sie suchten die Öffentlichkeit lieferten Hinweise, schrieben Briefe, schickten Fotos und hofften insgeheim darauf, gestoppt zu werden, weil ihr Mordtrieb schließlich für sie selbst unhaltbar wurde. Einige hatten sich sogar mit Aufforderungen, sie zu fassen und zu stoppen, an die Öffentlichkeit gewandt. »Meinst du, er will gefasst werden?« Marco kratzte sich am Kinn. »Ich glaube nicht, dass man das so formulieren kann. Ich denke, die Prägung, die zu einem solchen Mordrausch führt, muss so schrecklich sein, dass die Morde nur Ausdrucksmittel sind. Er inszeniert jedes Mal einen Aspekt seiner Traumatisierung als Psychodrama. Das ist bloß die Spitze des Eisbergs einer sehr kaputten Seele. Er will nicht gefasst werden - er will, dass es aufhört, beendet wird. Er erlebt sich ja als andersartig, ob nun überlegen oder ausgegrenzt, und das Gefühl macht ihn einsam. Im besten Fall fühlt er sich wie Gott und im schlimmsten wie ein Freak, der seine Begierden nicht mehr unter Kontrolle hat.« Ich hatte mit einem Mal eine fürchterliche Einsicht. »Deshalb will er meine Aufmerksamkeit. Er denkt, ich sei genauso einsam wie er.« »Und?« Er schaute mir tief in die Augen und zwischen seinen Brauen stand steil eine Sorgenfalte. »Bist du das?« »Natürlich nicht. Aber so wie die Presse mich darstellt - du weißt schon - als die Königin des Pornos, einsam auf dem Gipfel ihres Erfolgs. Wenn du von der Öffentlichkeit zu einem Symbol für etwas gemacht wirst, dann ist man - wie kann ich das sagen, ohne dass es sich wie Eigenlob anhört...« »Dann ist man einzigartig. Im Sinne des Wortes. Und wenn man es so sieht, dann passt Max' Verschwinden in den Zusammenhang.« »Du meinst, Max hat nicht in sein Bild von mir als einsam^ Königin gepasst?« »Genau.« Er begann im Zimmer auf und ab zu wandern. »Aber es ist schwierig - wir versuchen eine Psyche zu durchschauen, die höchstwahrscheinlich anders funktioniert als die unsere. Wir beurteilen ihn nach dem, was für uns vorstellbar ist.« »Ein Verstoß gegen die Regeln des Profiling.« »Man kann sich selbst in so einer Analyse nicht völlig herausnehmen. Die Deutung nimmt man immer aufgrund der eigenen Erfahrung vor.« »Oder aufgrund der eigenen Vorstellungskraft.« »Ja, Miss Marple.« Ich musste lachen. Man hatte mir schon viele Namen gegeben, aber Miss Marple war noch nie dabei gewesen. »Jetzt sind erst mal die Reich-Ranickis in uns gefragt.«
»Okay, Deutsch - das scheußliche Märchen. Eine Literaturanalyse: Zwillingskinder wachsen bei ihrer emotional nicht ganz gesunden allein erziehenden Mutter auf. Was sie da schreibt mit >Haus auf Rädern< - kann das vielleicht ein Campingplatz sein oder so ein Trailerpark, wie in den Staaten?« »Vielleicht ja, vielleicht ist es auch nur ein Bild für einen Karren, der im Dreck steckt.« »Egal. Der Vater erscheint in Begleitung der Polizei und einer Frau >mit Malblocknormales< Verhalten.« »Ja, sie sehen nur schwarz/weiß, männlich/weiblich. Und haben überhaupt kein Verständnis dafür, wenn jemand der Rolle nicht entspricht. Also hat das Mädchen nicht nur mit den Ärzten zu kämpfen, sondern auch noch mit der Diskriminierung in der Schule.« »Ich sehe es vor mir.« Bilder aus meiner Kindheit flogen mir zu. Ich behielt sie für mich, denn sie waren nicht sehr charmant.
Ich hatte nie zu den getriezten Kindern gehört, sondern zu denen, die austeilten. Ich war schon immer der Chef-Typ gewesen. »Vogel hat sich regelrecht ausgetobt an den beiden. Fast zehn Jahre lang.« »Bis sie sich wehren konnten.« »Und hat an einem Buch über den Fall gearbeitet. Eine Langzeitdokumentation über Geschlechtsidentität. Elke Brenner wiederum hat über ihn und seine Erfahrungen geschrieben. Sie hat den Fall zwei Jahre lang intensiv beobachtet - sie saß quasi mit im Sprechzimmer. Übrigens sind die beiden getrennt und parallel behandelt worden. Vom zwölften Lebensjahr ab gab es keinerlei Kontakt mehr. Vogel hatte argumentiert, dass die Konfrontation mit dem Bruder eine ständige Konfrontation mit der eigenen Minderwertigkeit sei und dass sie sich erst in ihrer weiblichen Rolle wohl fühlen könne, wenn sie nicht täglich ihren Bruder als Ideal vor Augen hätte.« »Es hört sich nicht total unlogisch an.« »Aber Lilly: Würdest du ein Zwillingspaar trennen?« »Hm. Natürlich nicht. Nein. Definitiv nicht.« »Für mich sieht es aus, als hätte er nur den Geschwisteraspekt analysiert und dann geschlossen, dass die beiden zusammen nicht glücklich werden können. Dabei war das Unglück ganz anderen Ursprungs, und konsequenterweise hätte man den Kleinen in völliger Isolation aufziehen müssen, damit er sich nicht mit >richtigen< Jungs oder Mädchen vergleichen kann.« »Und das wäre keine Behandlung, das wäre Kindesmisshandlung.« »So seh ich das auch.« »Wie geht die Geschichte aus?« »Es ist eine Geschichte ohne Ende. Jedenfalls was die Zwillinge angeht. Die Brenner hat in ihrem Artikel das Trennen der beiden als wagemutige medizinische Revolution gepriesen. Sie hat die beiden zwei Jahre nach der Behandlung aufgesucht und ihre Verhältnisse - sagen wir - etwas idealisiert geschildert, damit Dr. Vogel als Held aus der Geschichte hervorging. Vogel und Brenner beschrieben den Fall als einen Durchbruch in der Erforschung der biologischen und der sozialisationsbedingten Geschlechtsidentität, dabei waren die Resultate nicht nur geschönt, sondern tatsächlich erlogen.« »Beide Zwillinge hatten einen Knacks?« »Ja. Die Eltern der beiden waren bei einem Autounfall ums Leben gekommen. Alkohol war im Spiel. Die Kinder sind in Pflegefamilien aufgewachsen. Das >Mädchen< hatte die Schule abgebrochen und jobbte in einer Kfz-Werkstatt und der Junge war religiös abgedriftet - Scientology, oder so.« »Gott, das hört sich schlimmer an als Charles Dickens.«
»Ja. Wenn man die Geschichte hört, dann kommt einem die eigene Kindheit vor wie das Paradies. Und meine war das bestimmt nicht - ich hatte eine massive Akne, von elf bis vierundzwanzig.« Ungewollt musste ich lachen. »Wer hat die Veröffentlichung verhindert?« »Die Chefredaktion. In den letzten Recherchegesprächen flog auf, dass die Fakten nicht stimmten. Die Frau, die als Junge geboren war, hat sich telefonisch über Elke Brenner beschwert. Die hatte versprochen, ihr den Artikel vor der Veröffentlichung zukommen zu lassen, damit sie die Fakten überprüfen könnte. Das hat Elke Brenner jedoch nie getan. Aus gutem Grund. Ein kritischer Blick hätte ihr die ganze Geschichte zerstört.« »Was ist aus den Zwillingen geworden?« »Das wüsste ich auch gern, aber ich glaube, die Frage kannst du beantworten. Es scheint ja einen Grund zu haben, dass du auf die Story gestoßen bist.« Mein Akku kündigte mit einem penetranten elektrischen Piep an, dass er in Kürze den Geist aufgeben würde. Ich dankte dem Himmel, dass das nicht schon passiert war, als ich auf dem Balkon vor Ronnys Suite gestanden hatte. »Nicolette - mein Handy seilt sich gerade ab. Tu mir einen Gefallen - schreib alles auf, und wenn du bis morgen Mittag nichts von mir gehört hast, dann mach es öffentlich.« »Aber mir fehlt doch noch die Verbindung zu deinem Fall!« Panik klang in ihrer Stimme - sie hatte Angst, dass ich meinen Teil der Vereinbarung nicht einhalten würde. »Die liefere ich nach, sobald ich sie entdecke.« »Kannst du mir nicht irgendwas sagen - einen kleinen Hinweis?« »So weit bin ich noch nicht.« Vom Tode Gerd Bartels konnte ich ihr nicht erzählen bis ich wusste, was Marco der Polizei erzählt hatte. »Lilly, bitte!« »Die Leichen von Johann und Ingo wurden noch nicht gefunden.« »Was?« »Nur ihre Schwänze sind aufgetaucht. Im Gegensatz zu Peter Hofmeier. Peter Hofmeiers Leiche war geschminkt wie eine Frau und ihm war nicht nur der Schwanz sondern auch die rechte Hand abgeschnitten worden.« Nicolette schluckte. »Na wenn das keine Verbindung ist. Die Schwestern Ich und Du ...«
Er wollte kleine Jungs in kleine Mädchen verwandeln, hatte der Serienmörder Miguel Rivera zu Protokoll gegeben. Wir hatten nicht ausgeschlossen, dass der Mörder ein Problem mit seiner latenten Homosexualität haben könnte. Jetzt schien es, als sei das Problem eher biologischer Natur. Der Mörder lebte im falschen Körper. Hany und Ronny mochten sich verdächtig verhalten haben, aber vom Tatverdacht konnte man sie jetzt wohl ausschließen. »Was willst du jetzt machen, Lilly? Gehst du zur Polizei?« »Nicht mehr heute Nacht. Ich stehe mitten auf der Straße und schlafe gleich im Stehen ein.« »Du bist nicht zu Hause?« Wieder fiepte das Handy, sodass ich es ein Stück vom Ohr weghalten musste. »Nein - das schien mir zu riskant. Ich erzähl dir morgen den Rest.« »Wo bist du denn jetzt, um Gottes willen. Es ist fast drei Uhr morgens!« »Auf dem Weg zu Rita. Ich will heute Nacht nicht allein sein.« Mit einem finalen Piep gab mein Handy den Geschäftsbetrieb auf und ich stand wieder verloren und allein auf der dunklen Straße. Am liebsten hätte ich mich hingesetzt, an Mikey gekuschelt und die Augen zugemacht. Aber das war keine gute Idee. Also setzte ich mich in Bewegung. Dank Nicolette hatte ich jetzt zwar das Motiv des Mörders geklärt, aber ich konnte es nicht mit einer Frau in meiner Umgebung in Verbindung bringen. Vielleicht wollte ich es auch nicht. Mein Gehirn weigerte sich, die logischen Konsequenzen zu ziehen. Alle Frauen, mit denen ich in den letzten Tagen zu tun hatte, zogen wie eine mentale Verbrecherkartei an meinem inneren Auge vorbei, und bei jeder einzelnen verwarf ich den Gedanken, dass sie für die bestialischen Morde verantwortlich sein könnte. Es war jenseits meines Vorstellungsvermögens. Anni, Rita, Dana, Simone, Pamela. Absurd. Anni und Rita konnten es nicht gewesen sein, da Anni nicht in Berlin war, als Elke Brenner ermordet wurde und Rita hatte neben mir gestanden. Meine drei Schauspielerinnen konnte ich mir beim besten Willen nicht als ehemaligen Jungen vorstellen - mochte Danas Stimme auch noch so tief sein. Ich schob die Gedanken weg und konzentrierte mich auf den Weg. Der Wind hatte zugenommen, es war noch dunkler geworden, Wolken hatten sich vor den Mond geschoben und ein Unwetter lag in der Luft. Mikey trottete vor mir her und sein helles Fell war in der Finsternis der einzige Lichtblick. Irgendwo gab es einen Denkfehler in meinem Konstrukt und ich zermarterte mir das Hirn auf der Suche danach. Wenn ich die Frauen in meiner Umgebung ausschloss wer käme noch in Frage? Wieder fiel mir nur eine absurde Lösung ein. Wenn die Mörderin sich in ihrer auferlegten Frauenrolle so unwohl fühlte, bestand die Möglichkeit, dass sie ein Leben als Mann führte? Für so einen Film hatte es in diesem Jahr den Oscar für die beste weibliche Hauptrolle gegeben. Ganz so weit hergeholt
war der Gedanke also nicht. Aber wieder war es unvorstellbar, dass die Männer in meiner Umgebung ein derartiges Täuschungsspiel erfolgreich durchhielten. Meine Darsteller kannte ich nackt und sie waren ganz offensichtlich und eindeutig männlichen Geschlechts. Harry und Marco hatten die Polizeischule absolviert - wie hätten sie in Gemeinschaftsduschen die Tatsache verbergen sollen, dass sie, wenn auch keine biologische, so doch immerhin eine operative Frau waren? Der Vize-Mister Niedersachsen in Wahrheit eine Miss? Unmöglich. Ich stolperte fast über Mikey, der an einer Gartenmauer sein Bein hob, so sehr war ich in Gedanken versunken. Endlich waren wir vor Ritas Haus angekommen. In der Einfahrt stand unser Firmen Pick-up-Truck, den wir ihr geliehen hatten, um darin Dekos für die Produktion ins Krumme Haus zu befördern. Die Ladefläche war voller Kartons und Plastikfolien. Die hölzernen Fensterläden des Hauses waren verschlossen. Ich ging über die Einfahrt zum Haus. Gerade als ich auf der Schwelle angekommen war und den Finger auf die Klingel legen wollte, wurde links von mir in der Küche Licht gemacht. Ein paar dünne Linien zeichneten sich durch die Lamellen der Läden ab und durchdrangen die Dunkelheit. Ich zögerte und meine Hand verharrte wenige Zentimeter von der Türklingel. Die Nachbarschaft war so still, dass ich aus dem Haus Geräusche hören konnte. Etwas Schweres wurde über die Fliesen der Küche gezerrt - das Schleifen und das Anstoßen an den Küchenmöbeln war deutlich zu hören. Was um alles in der Welt machte Rita um diese Uhrzeit arrangierte sie ihre Möbel um? Ich trat erschreckt einen Schritt zurück, als es hinter dem Glas in der Eingangstür plötzlich hell wurde. Ohne nachzudenken stieg ich die Treppe wieder herab, zog Mikey mit mir und kauerte mich hinter den Wagen. Das Licht im Hausflur erlosch wieder, doch Sekunden später öffnete sich die Tür und schemenhaft konnte ich erkennen, wie Rita herausspähte. In der Ferne grummelte der erste Donnerschlag dieser Nacht und ein Regentropfen von der Größe eines Taubeneis klatschte mir in den Nacken. Als der dazugehörige Blitz über den Himmel zuckte und die Nacht in ein grelles Licht tauchte, stand Rita wieder in der Tür, mit dem Rücken zur Treppe und in leicht gebückter Haltung. Sie zog etwas auf den Hausstein, und die zwei Sekunden Helligkeit durch den Blitz waren genug gewesen um zu ahnen, worum es sich dabei handelte. Das Paket hatte nicht nur die Größe eines ausgewachsenen Menschen, sondern auch dessen Silhouette. Ich hätte versuchen können unentdeckt zu entkommen - mich vorsichtig auf die Straße zu schlagen und dort hinter einer Gartenmauer oder einer Hecke zu verstecken. Aber es ging nicht. Ich kauerte hinter dem Wagen und konnte mich nicht bewegen. Starrte wie gebannt auf die schemenhafte Figur, die unter Keuchen und Ächzen etwas über den Gartenweg zerrte, das mehr wog als sie selbst, während überdimensionierte Regentropfen niedergingen - erst nur wenige, in längeren Abständen, dann, als habe sich eine Schleuse geöffnet, ein Sturzbach, der lärmend auf die schlafende schwitzende Stadt herabprasselte, sodass der Asphalt zu dampfen begann. Ein weiterer Donnerschlag, heftig und laut, riss mich aus meiner Starre. Rita hatte den halben Weg zum Wagen zurückgelegt - sie kehrte mir immer noch den Rücken zu. Mikey stand neben mir im Regen und wackelte freudig mit dem Hintern. Es war zu spät, die Flucht zu ergreifen - mir blieb nur eins: mich unter den
Plastiktüten und Pappkartons, die auf der Ladefläche des Wagens lagen, zu verstecken. Die hintere Klappe des Tracks war offen, sodass Mikey problemlos aufspringen konnte. Mit einem Seitenblick auf Rita kroch ich auf die Ladefläche und versuchte so vorsichtig wie möglich unter Pappe und Folie zu verschwinden, ohne dabei das Packmaterial zu sehr in Bewegung zu versetzen. Trotz des kühlenden Regens schwitzte ich. Während ich kopfüber unter dem Schrott und Krempel verschwand und Mikey vor mir herschob, verlor ich Rita aus dem Blickfeld. Ich robbte mich so weit vor, bis ich mit den Händen die Fahrerkabine erfühlen konnte und zog mich dann weiter, bis ich parallel dazu an der Wand lag. Mikey hielt ich mit beiden Armen umschlungen und hoffte und betete, dass er Ruhe geben und sich nicht bewegen würde. Der Regen lief in Rinnsalen in unser Versteck und der Grund, auf dem wir lagen, war schon nass, als mit einem dumpfen Geräusch das Gewicht, das Rita durch den Vorgarten geschleppt hatte, auf den Wagen gehievt wurde. Trotz des Stakkato der trommelnden Regentropfen konnte ich sie schwer atmen hören. Hatte sie mich gesehen? Ich spürte mein Herz rasen. Ich kniff die Augen zu und zählte die Sekunden - eins zwei - drei - vier - fünf - sie zogen sich endlos - bis ich hören konnte, wie Rita die Ladeklappe hochschlug und um den Wagen herum zur Fahrertür ging. Erst als der Wagen sich in Fahrt setzte, öffnete ich die Augen. Eine Sturmbö riss an der Folie, die mich bedeckte. Gerade noch rechtzeitig bekam ich sie zu packen und hielt sie fest. Ein weiterer Blitz zuckte und durch einen Spalt sah ich einen Pappkarton mit dem Lilly-DeLight-Firmenemblem durch die Luft fliegen. Mir fiel ein Bild aus einem Kinderfilm ein - ein Haus, das von einem Tornado durch die Luft getragen wird und in einem Märchenland zu Boden kommt - und dabei eine Hexe erschlägt, von der dann nur noch zwei Füße, gekleidet in rote Glitzerpumps, unter dem Haus rausschauen. Unwillkürlich zog ich meine Beine an und stopfte die Folie fest, an der der Wind riss und zerrte. Ein Regentropfen fiel mir ins Auge, und ich musste mehrmals blinzeln, bis ich wieder sehen konnte. Meine Finger begannen zu schmerzen, so fest hielt ich die Folie, die mich und den Hund bedeckte. Der Wagen begann zu rumpeln -wir rasten mit einem irrsinnigen Tempo über eine unbefestigte Straße. Mikey versuchte sich hochzurappeln, um den Stößen besser ausweichen zu können, doch ich hielt ihn an mich gepresst und wir wurden schmerzhaft durchgeschüttelt. Der Wind riss mehr und mehr an unserem Versteck, und ich konnte hören, wie er in die Kartons fuhr und sie aufstieben ließ wie Papierdrachen. Ich betete - und wusste nicht zu wem - dass er die Ladefläche nicht vollständig abdecken würde. Ich bekam zwei größere Schachteln zu fassen und ließ sie nicht los, um sie über mich zu legen, sobald der Wagen Halt machte. Sie waren schwerer als die anderen und offenbar nicht leer. Ein Donnerschlag und ein Blitz, der keine zwei Sekunden später aufflackerte wir fuhren mitten in das Unwetter hinein. Die Aufschrift auf einem der Kartons wurde erkennbar. Ich sah das Adressfeld, den Namen Hofmeier und die Absenderadresse einer Pharmafirma. Ein Schlagloch - wir flogen ein paar Zentimeter in die Höhe und schlugen dann hart wieder auf, mein ganzer Körper schmerzte und der Hund jaulte kurz auf. Ob sie das bei diesem Lärm hören konnte? Bitte, bitte nicht! Eine Schachtel war beim Aufschlag aufgesprungen und Packungen mit Medikamenten wirbelten heraus.
»L-Polamivet für Tiere: Pferde, Hunde« stand darauf. Ich hatte keine Ahnung, wofür man es verwenden mochte, aber ich steckte eine Schachtel ein. Dann, zeitgleich, ein Quietschen der Bremsen, ein schweres Gewicht, das sich beim Aufprall gegen uns schob und gegen die Fahrerkabine drückte und ein Rumpeln - der Wagen setzte über einen Gegenstand, der auf der Straße lag, kam ins Schlingern, dann hatte Rita wieder Kontrolle über ihn, schaltete einen Gang herunter und fuhr weiter. Vorsichtig begann ich, das Gewicht von mir wegzuschieben. Als meine Hände ertasteten, was sich unter der Folie verbarg, begann ich am ganzen Körper zu zittern. Ich weiß nicht, warum der Schock so groß war - ich hatte längst geahnt, was Rita durch den Garten geschleift hatte - aber den menschlichen Körper mit den eigenen Händen zu berühren, zu spüren, dass er noch warm war, das war zu viel für mich. Es gelang mir noch, ihn außer Reichweite zu schieben, dann presste ich mich so nah wie möglich an die Rückwand der Fahrerkabine und wünschte, ich würde mit dem Metall verschmelzen. Ich weiß nicht wie viel Zeit verging, bis der Wagen zum Halten kam. Es hätten Minuten sein können oder eine halbe Stunde - in diesem Albtraum verlor ich völlig das Zeitgefühl. Als Rita die Ladeklappe öffnete, hielt ich den Atem an. Mikey begriff instinktiv, dass er Ruhe bewahren musste und blieb geduldig neben mir liegen. Für eine Sekunde hob sich die Folie, die mein Gesicht bedeckte, einen Spalt und ich konnte Rita sehen, die mit zusammengekniffenen Lippen und gerunzelter Stirn an der Person zerrte, die wie ein Stück Schlachtvieh neben mir gelegen hatte. Sie zog sie an den Rand der Ladefläche und ließ sie dann auf den Boden fallen. Schwer atmend transportierte sie sie ab. Wohin, das wusste ich zu diesem Zeitpunkt noch nicht. Ich wagte nicht, mich zu rühren, und begann, langsam und stumm von eins bis sechzig zu zählen. Erst nachdem ich das zehnmal getan hatte, hob ich die Folie ein Stück weit an, um zu sehen, wo wir uns befanden. Zunächst war ich völlig orientierungslos - wir waren im Wald, soviel war klar. Die Bäume schluckten auch noch den letzten Rest Mondlicht, das durch die Gewitterwolken drang. Erst ein weiterer Blitz erleuchtete das Dunkel: wir befanden uns auf dem Parkplatz, von dem der Waldweg zum Krummen Haus abging. Wie lange würde Rita brauchen, bis sie dort war? Normalerweise war es eine Strecke von zehn Minuten, aber mit einem so schweren Gewicht würde es mindestens doppelt so lange dauern. Der aufgeweichte Boden, Aste, die den Weg versperrten ... Was sollte ich tun - zurück in die Stadt laufen, um Hilfe zu holen? Der Körper war noch warm gewesen. Vielleicht lebte der Mensch im Plastiksack noch, dann wäre es fahrlässig, in die Stadt zurückzukehren. Mir schlug das Herz bis zum Hals und ich war nass bis auf die Haut. Hatte ich gegen eine Verrückte überhaupt eine Chance? Und wenn ich dabei umkäme, hätte keiner was davon. Andererseits ging es wahrscheinlich um Minuten. Wer auch immer in dem Sack steckte, brauchte sofort Hilfe. Und dann war da noch die verdammte Neugier. Sie siegte. Die Entscheidung fiel mir wirklich nicht leicht, und ich dachte laufend ans Umkehren, aber schließlich machte ich mich doch auf den Weg, den auch Rita gegangen war.
Kapitel 19 Sie hatte deutliche Spuren hinterlassen. Es waren Furchen im aufgeweichten Boden zurückgeblieben, in denen sich jetzt das Wasser sammelte. Selbst ohne eine schwere Last war es schwierig, auf dem Weg zu laufen - der morastige Boden saugte förmlich an meinen Schuhen. Nach etwa hundert Metern sahen die Spuren auf einmal anders aus. Es gab keine Furchen mehr, dafür waren die Abdrücke von Ritas Schuhen tiefer und breiter. Ich spürte es, bevor ich es im Licht eines Blitzes sah - ich war in eine ihrer Fußstapfen getreten, gestolpert und fast gefallen und hatte mir das Fußgelenk verstaucht - ausgerechnet der Fuß, den ich mir schon bei der Flucht aus dem Park verletzt hatte. Jeder weitere Schritt war eine Tortur. Obwohl sie nur einen kurzen Vorsprung hatte, holte ich Rita nicht ein. Ich fragte mich, wie sie ein solches Tempo zu Stande brachte — bei diesem Wetter und mit dieser schweren Last. Kurz bevor ich die Lichtung erreichte, verließ ich den Weg. Vom Haus aus hatte man sie immer gut im Blick - ich wollte es nicht riskieren, gesehen zu werden, also schlug ich mich durch die dornigen Büsche am rechten Wegrand, um so weit wie möglich an das Haus heranzukommen und dabei die Lichtung zu vermeiden. Als ich das Haus schließlich sah, entdeckte ich auch Rita wieder. Sie hatte die Person geschultert, ihr Gang war trotz des Gewichts stetig, und während ich mich langsam um die Lichtung herum durch den Wald schlug, schloss sie die Tür zum Krummen Haus auf und trat ein. Ich bleib stehen und wartete. Nichts tat sich im Haus. Sie machte kein Licht an, zog nicht einmal die Tür hinter sich zu. Vielleicht brauchte sie eine Verschnaufpause. Ich gönnte mir auch eine, um meinen schmerzenden Fuß zu schonen und die Lage zu sondieren. Von der östlichen Seite des Hauses zum Waldrand - der kürzesten Verbindung - war eine Strecke von hundert ' Metern zu überbrücken. Unter normalen Umständen wäre ich gesprintet, aber mit meinem schmerzenden Knöchel konnte ich das vergessen. Die Rückseite des Hauses schmiegte sich an den Waldrand, aber der Weg dorthin war durch ein Gatter versperrt. Klettern oder Rennen - es war wieder einmal in dieser Nacht die Wahl zwischen Pest und Cholera. Noch immer gab es im Haus kein Lebenszeichen. Wenn sie wenigstens das Licht angemacht hätte, sodass ich eine Vermutung gehabt hätte, in welchem Raum sie sich aufhielt - aber nichts. Ich beschloss, den Weg über die Lichtung zu nehmen. Gerade, als ich mich aus dem Gebüsch aufmachen wollte, zuckte ein greller Blitz auf und eine Sekunde später erklang ein Donnerschlag so laut, dass ich mir die Ohren zuhielt. Ich hörte ein gigantisches Krachen, und als ich mich umschaute, sah ich, wie eine Fichte aufloderte und wie in Zeitlupe auf den Weg stürzte, den ich vor wenigen Minuten beschriften hatte. So etwas sieht man in Filmen, man liest davon in Büchern - so etwas erlebt man nicht am eigenen Leib. Und wenn es dann geschieht, ist man sprachlos - es war ein Naturschauspiel - das Unwetter, die surrealen Farben durch die Blitze und jetzt das orangerote Flackern, das Wabern der Flammen, die den Baum auffraßen. Trotz des heftigen Regens dauerte es nicht lange, bis die Fichte vollständig in Brand war. Das Knacken und Knistern war über die ganze Lichtung hinweg zu hören. Wenn Rita im vorderen Bereich des Hauses war, dann würde sie
das Feuer wahrnehmen. Ich ergriff meine Chance und hoffte, dass der Brand sie ablenken und sie nicht in Richtung Osten schauen würde, wo ich in gebückter Haltung das schützende Unterholz verließ und auf das Haus zuhumpelte. Dort angekommen, lehnte ich mich mit dem Rücken an die Wand und verlagerte mein Gewicht auf mein heiles Bein. Der Knöchel schmerzte und ich spürte, wie es darin zu pochen begann. Nachdem der schlimmste Schmerz abgeklungen war, tätschelte ich Mikey, der den Ernst der Lage zu begreifen schien und merkte, dass es keine gute Zeit für ein Spiel war. Widerstrebend schaute ich durch das Fenster hinein in den Raum, den wir hauptsächlich als Set nutzten. Da wir die Fenster, die in nördlicher Richtung auf die Lichtung gingen, abgehangen hatten, konnte ich nichts sehen außer tiefstem Schwarz. Es war, als blickte ich in die Seele des Gemäuers. Von unserer Arbeit war keine Spur, und in diesem Augenblick hatte ich das Gefühl, dass ich auf einer Zeitreise war und sich in dem Dunkel nicht ein Filmset verbarg, sondern ein leeres, desolates Ausflugslokal, dessen Ruin den Pächter in den Selbstmord getrieben hatte. Ich bekam eine Gänsehaut, die sich verstärkte, als ich meinen kranken Fuß belastete, um ein Stück um das Haus herumzugehen. Die Vordertür war durch das Feuer beleuchtet - ich wagte es nicht, dorthin zu gehen. Also bahnte ich mir den Weg durch die struppigen Büsche und Sträucher, die früher vielleicht einmal eine bunte Blumenrabatte geschmückt hatten, jetzt jedoch nur gespenstisch und verwildert an der Hausseite wucherten. Dornen verhakten sich in meiner Jeans und ritzten mir die Arme. Mikey bewegte sich eng an der Hauswand, wo der Wildwuchs sich aufgrund der Lichtverhältnisse weniger stark hatte ausbreiten können. Er war schneller als ich und saß brav vor der Hintertür, als ich es endlich um die Ecke geschafft hatte und auf der Rückseite des Hauses angekommen war. Ein Lichtschein fiel aus der Küche in den ehemaligen Terrassengarten, von dem innerhalb der vergangenen Jahrzehnte der Wald Besitz ergriffen hatte. Noch ein paar Jahre mehr, und es würde keinerlei Spur mehr übrig sein von dem aufgeschütteten Kies und den Schiefersteinen, die um die Wege herum aufgeschichtet worden waren und jetzt langsam vom Erdböden zugedeckt wurden. Ich duckte mich, während ich an den Fenstern vorbeiging, und hoffte, dass jemand die Tür geölt hatte, die am ersten Drehtag so laut gequietscht hatte, dass wir eine Szene zweimal abbrechen mussten. Auf mein Team war Verlass - die Tür öffnete sich lautlos, und ich betrat den dunklen Flur. Im Haus herrschte Stille. Das Peitschen des Windes und das Aufschlagen der Regentropfen waren die einzigen Geräusche. Normalerweise beruhigte mich der Klang eines Unwetters, allerdings nur, wenn ich teetrinkend mit einem guten Buch auf meiner Couch lag und meine schützenden vier Wänden mich umgaben. Hier jedoch kam es mir vor wie der Soundtrack eines alten Horrorfilms. Wenn ich je eine Vorliebe für dieses Genre hatte, dann schwand sie in dieser Nacht, als ich mich in einem wiederfand. Mikeys Pfoten schienen sich auf dem steinernen Fußboden in lärmende Pferdehufe verwandelt zu haben. So leise, wie ich nur konnte, tastete ich mich den Gang entlang und überlegte fieberhaft, ob das Telefon in der Küche der einzige Festnetzanschluss war, den wir für die Dreharbeiten reaktiviert hatten. Ich verfluchte mein Handy und das Mobiltelefon an sich - immer wenn man es brauchte, war der Akku leer, immer wenn man es nicht gebrauchen konnte, klingelte es. Dann fiel mir ein, dass das
Küchentelefon tragbar war. Die Basisstation war an die Wand neben der Gefriertruhe montiert, aber das Telefon tauchte ständig irgendwo anders auf. Während ich mich an der Tür zur Küche vorbeidriickte, überlegte ich fieberhaft, wie ich mich im Dunkeln auf dem Set zurechtfinden - und darüber hinaus auch noch ein Telefon von der Größe einer Zigarettenschachtel ausfindig machen sollte. Dies war nun mal meine einzige Hoffnung. Eine schwache Hoffnung, aber nichtsdestotrotz eine Hoffnung. Die Tür zum Set stand offen und Mikey, dem die Dunkelheit weniger Probleme machte als mir, ging voran. Ich tastete mich gerade zur Fensterseite des Raumes vor, als die Sache mit dem Telefon sich von selbst erledigte. Ein schrilles Fiepen ließ mich wie angewurzelt stehen bleiben, und hektisch schaute ich mich um. Ein kleines rotes Licht blinkte auf. Das Haustelefon lag neben der Steadycam und kündigte an, dass es zurück zur Basisstation wollte. Konnte man das Geräusch bis in die Küche hören? Ich machte einen Schritt auf das blinkende Licht zu und stieß dabei gegen ein Kamerastativ, das laut scheppernd umfiel und gegen meinen lädierten Knöchel knallte. Ich hielt die Luft an, unterdrückte einen Schmerzensschrei und sondierte panisch den Raum nach einem möglichen Versteck für Mikey und mich. Doch es blieb ruhig. Wenn Rita etwas gehört hatte, dann brachte es sie nicht aus der Ruhe. Wieder fiepte das Telefon und in dem Moment, als ich meine Hand danach ausstreckte, begann es zu klingeln. Vor Schreck machte ich einen Schritt rückwärts, strauchelte und wäre beinahe hingefallen. Als ich mich wieder gefangen hatte, riss das Klingeln abrupt ab und aus der Küche kamen Geräusche: Fluchen, Scheppern, zersplitterndes Glas. Rita hatte die Kabel aus der Wand gerissen und die Basisstation durch das geschlossene Fenster geschmettert. Meine letzte Chance auf Hilfe von außen war dahin. Ich stand mitten im Raum, als die Küchentür sich öffnete und sie auf den Flur trat. Das wenige Licht, das aus der offenen Tür in den Flur fiel, reichte aus, mich zu blenden, so sehr hatten sich meine Augen an die Finsternis gewöhnt. Ich duckte mich hinter die Kamera und die Weichspülfahrstuhlmusik aus dem Hotel fing an in meinem Kopf zu spielen - »Hello darkness my old friend ...« In dieser Lage war die Dunkelheit tatsächlich meine Rettung. Wenn das Licht mich blendete, dann würde Rita umgekehrt Schwierigkeiten haben, sich in der Dunkelheit zu orientieren. Ich sah, wie ihre Silhouette sich in Richtung der Treppe bewegte, die in die oberen Stockwerke führte. Aber sie ging nicht nach oben. Sie schob eine Tür auf, die mir noch nie vorher aufgefallen war, und erst als ich einen kalten Luftzug verspürte und modriger Geruch mir in die Nase stieg, wurde mir bewusst, dass das Krumme Haus unterkellert war. Langsam bewegte ich mich zurück in den Flur, während ich auf die Geräusche achtete, die dumpf wie ein Echo aus dem Keller drangen. Sie entfernten sich, ich hörte eine schwere Tür in den Angeln kreischen und zuschlagen. Ich überprüfte die Tür, die mir wochenlang nicht aufgefallen war. Eine Tapetentür mit genau der gleichen Holztäfelung wie die restliche Wand. Sie hatte nicht einmal einen Griff- und leider auch kein Schloss. Und sie öffnete sich nach innen - ich hätte sie nicht zustellen können. Dann drehte ich mich um. Das Licht aus der Küche zog mich magisch an. Wie in Trance ging ich darauf zu, ahnend, das ich etwas sehen würde, was ich nicht sehen wollte. Aber nicht ahnend, dass der Anblick, der mir bevorstand, mich derart an den Rand einer Ohnmacht bringen würde, wie nie zuvor in meinem Leben.
Seine Füße waren noch voller Sand, als er die Treppe zum Steg hinaufstieg. Die Sonne brannte ihm in den Nacken, und das erste Mal seit Wochen fühlte er sich frei und entspannt. Er hatte so etwas noch nie getan - Zeit seines Lebens war er der Fels in der Brandung gewesen, absolut verlässlich, ausgeglichen und kopfgesteuert. Als Greta Giehse ihm die Fotos von Lilly und Ronny Sanchez vorgelegt hatte, war er aufgesprungen, als läge eine giftige Schlange vor ihm auf dem Bistrotisch des Flughafenrestaurants. Er konnte Greta nicht ausstehen - schon aus Solidarität zu Lilly, aber was sie ihm da präsentiert hatte, waren eindeutige Beweise von Lillys Untreue. Das Zimmer, in dem die beiden sich aufhielten sah nach einem billigen Motel aus. Sanchez stand hinter Lilly und streifte ihr ein nuttig aussehendes Nachthemd von den Schultern. Im nächsten Bild stand sie schon nackt da, das Nachthemd lag zerknüllt auf dem Teppichboden und Sanchez spielte mit ihren Brüsten. Greta Giehse hatte zu ihm aufgeschaut, den braunen DIN-A 4Umschlag in der Hand, und ihn angelächelt. »Ich hob noch mehr wollen Sie mal sehen?« Ihre Cognacfahne wehte ihm ins. Gesicht. Noch nie zuvor in seinem Leben hatte er den Impuls verspürt, eine Frau zu schlagen, jetzt aber war es so weit, und es kostete ihn eine fast unmenschliche Anstrengung, den Impuls zu unterdrücken. Er nahm ihr den Umschlag aus der Hand. Als er nach seiner Aktentasche griff, stieß er gegen den wackligen Tisch, die Kaffeebecher und der Cognacschwenker fielen um, rollten klackernd über den Tisch. Der Cognakschwenker zerbrach, und die braune Flüssigkeit ergoss sich über die Marmorfläche auf Greta Giehses weißes Lederkostüm. Ohne eine Entschuldigung und ohne einen Blick zurück verließ Max das Restaurant und ging zum nächsten Counter. Er dachte nicht nach, er handelte. Es waren noch Plätze frei. Er zahlte bar. Eine Stunde später war er in Frankfurt, wo er eine Maschine nach Puerto Vallarta über Mexico City bestieg. Er war noch nie in Mexiko gewesen, aber das war nicht entscheidend für seine Wahl. Er hatte die Anzeige »now boarding« gesehen und am Counter war nicht viel los, also stellte er sich an und hatte Glück - die Maschine war nicht ausgebucht. Er war müde, aber er konnte nicht schlafen. Fünfzehn Flugstunden lang sah er vor seinem inneren Auge die Fotos. Kurz nach Mitternacht Ortszeit setzte er sich in Puerto Valerta in einen Bus und wachte erst Stunden später wieder auf. Die Sonne stand schon hoch, es musste Mittag sein. Die Landschaft war karg, jenseits der Küstenstraße funkelte der Pazifik. Der nächste Halt war in einem kleinen Fischerdorf. In einer buntgestrichenen Holzbaracke am Strand nahm er das erste Mal seit zwanzig Stunden Nahrung zu sich und blickte auf das Meer hinaus. Als er die heruntergekommene Segelyacht mietete, wusste er noch nicht, ob er sie je wieder an Land steuern würde, aber nach drei Tagen auf dem Wasser in der brennenden Sonne hatte er sich wieder unter Kontrolle. Oder vielleicht auch nicht. Er hatte viel nachgedacht und war zu dem Schluss gekommen, dass Kontrolle etwas war, was im Übermaß sein Leben regierte. Abhauen und Abtauchen - das Leben an sich vorbeirauschen zu lassen, hatte ihm ein unbeschreibliches Gefühl gegeben: er hatte Mut verspürt, Freiheit. Seit ihrer Hochzeit war dies die längste Zeit, die Max und Lilly getrennt verbracht hatten, und wenn er am ersten Tag auf dem Meer nichts als Wut und Enttäuschung über ihr Verhalten verspürt hatte, so war er am zweiten Tag
gleichmütiger. Die Routinen, die ihm das Boot abverlangte, die Konzentration auf das Meer - er erlebte das Leben auf seine elementarste Art und Weise. Allein im Nirgendwo, wo die Gesetze von Sonne und Wasser regierten und der Kleinstadtalltag plötzlich wie eine absurde Utopie erschien. Max war kein Mann, der sich über Gefühle Gedanken machte. Wenn er Eifersucht verspürte, dann glaubte er, das sei sein gutes Recht. Wenn er mit Lilly stritt, dann fühlte er seinen Standpunkt nur bestätigt. Hier, auf dem Boot, drängte ihn niemand in die Ecke, keiner forderte ihn auf, sich zu äußern, sich zu verteidigen oder jemanden zu beschuldigen. Und ohne das Gegenüber stellte er fest, dass seine Weigerung, Lillys Standpunkt zu akzeptieren, ihr auch nur zuzuhören eine ziemlich kindische Möglichkeit war, den Realitäten aus dem Weg zu gehen, anstatt sich mit den Gegebenheiten auseinander zu setzen und die Probleme, die sie in ihrer Ehe hatten, anzugehen. Selbst seine Flucht nach Mexiko zeugte von Unreife. Dennoch - sie hatte einiges bewirkt: er hatte begriffen, dass es seine Eifersucht war, die die Liebe bedrohte. Mit dieser Eifersucht hatte er Lilly so lange bedrängt, bis sie meinte ausbrechen zu müssen, und da erschien plötzlich Ronny auf der Bildfläche. Das, was Max immer befürchtet hatte, dass Lilly ihm nicht allein gehörte, war wahr geworden. Erst jetzt begriff er, dass es schon immer wahr gewesen war. Lilly gehörte niemandem. Nicht ihm, nicht Ronny, nicht der Öffentlichkeit. Sie war so frei wie er es jetzt war. Das schlimmste Szenario war eingetreten - sie hatte ihn betrogen und plötzlich wurde ihm klar, dass es viel schlimmere Dinge gab. Seine Gefühle für sie hatten sich nicht geändert. Er liebte sie immer noch. Er würde sich diese Liebe von nichts und niemandem zerstören lassen - und schon gar nicht von sich selbst. Braungebrannt und mit einem Dreitagebart saß er in der Holzbaracke, in der er bei seiner Ankunft gegessen hatte und holte den Umschlag aus der Aktentasche. Erst jetzt konnte er sich den Bildern wieder stellen und erst jetzt schaute er sie sich genau an. Erst wurde er bleich, dann stieg ihm die Schamesröte ins Gesicht. Die brisanten Fotos, die Greta Giehse ihm so dringend vorlegen wollte, mussten mehrere Jahre alt sein, denn sie zeigten keine Spur von der Narbe, die Lillys Blinddarmoperation vor zwei Jahren zurückgelassen hatte. Das zweite Mal innerhalb von drei Tagen brachte Max Winter einen Tisch fast zum Umstürzen, als er sich erhob und versuchte, in dem Hundert-Seelen-Dorf ein Telefon ausfindig zu machen. Ich zog die Küchentür hinter mir zu und lehnte sie an. Ich wagte nicht, sie ins Schloss zu ziehen, aus Angst ein Geräusch zu verursachen, das bis in den Keller drang. Mein Blick fiel zunächst auf die Küchenzeile und auf das eingeschlagene Fenster, durch das Regentropfen hereinprasselten, die auf dem Schleifsteinfußboden eine Pfütze gebildet hatten. Eine einzelne Neonröhre warf kaltes bläuliches Licht in den großen Raum und surrte, als ob sie gleich durchbrennen würde.
Mikey stand neben mir in Habtachtstellung, seine Nackenhaare waren gesträubt, aber er verhielt sich ruhig. Ich bewegte mich leise an der Wand entlang, auf den Essbereich zu, der um die Ecke lag. Ein warmer Lichtkegel leuchtete aus dieser Richtung. Obwohl ich wusste, dass Rita nicht im Zimmer war, bewegte ich mich so leise und vorsichtig wie ein Dieb. Als lauere jemand in den Schatten, bereit, mich zu attackieren. Als ich weit genug gegangen war, spähte ich um die Ecke und unterdrückte einen Schrei. Auf dem Esstisch lag Rita - nackt, regungslos, an Armen und Fußknöcheln mit Lederriemen an den Tisch geschnallt. Doch etwas stimmte nicht, konnte nicht stimmen - ich hatte Rita selbst in den Keller gehen sehen. Durch das Fenster blies ein kühler Windzug herein, ließ mich frösteln und ich erwachte aus der Schockstarre. Ich ging auf den Tisch zu. Rechts und links daneben, auf Höhe von Ritas Kopf standen zwei große Kandelaber mit jeweils sieben Kerzen - sie gehörten zur Deko des »Hexen«-Sets. Ich schritt weiter auf den Tisch zu und sah, dass zwischen Ritas Beinen eine blutdurchtränkte Binde klebte. Ein metallischer Geruch lag in der Luft. Die Lichter der Kerzen flackerten im Luftzug und warfen Reflexe auf den leblosen Körper. Ich war abgestoßen von dem Anblick, der sich mir bot, aber gleichzeitig zog mich etwas wie ein Magnet immer näher an den Tisch. Obwohl ich wusste, dass es nicht Rita war, nicht sein konnte, die dort aufgebahrt lag, wollte mein Verstand es nicht akzeptieren. Eine Algebraaufgabe, von der man weiß, dass sie lösbar ist, aber nicht von einem selber, ein Trick, den einem das eigene Gehirn spielt. Der Körper war der eines Mannes und doch war die Ähnlichkeit beängstigend. Statur, Gesichtsschnitt, selbst die kurzen Haare glichen denen Ritas. Vor mir lag Ritas Zwilling, hergerichtet wie sie selbst, verstümmelt wie die Opfer der Mordserie. Das dick aufgetragene Make-up konnte nicht darüber hinwegtäuschen, dass der Mann Blut verloren hatte - viel Blut, und zwar erst vor kurzem, denn der Körper lag in einer im Kerzenlicht schwarzfunkelnden Lache. Vom Hals ab war er aschfahl. Wenn dies der Körper war, den sie im Wagen hierhergebracht hatte, dann hatte sie die Verstümmelung erst hier im Haus vorgenommen. Ich konnte nicht erkennen, ob sich sein Brustkorb hob und senkte - ob er noch am Leben war oder schon tot. Sein Mund war mit einem schwarzen Streifen Gaffer-Tape zugeklebt. Die Augen waren geschlossen. Während ich wie gelähmt vor dem Tisch stand, spürte ich, wie Mikey an meinen Beinen vorbeischlich und anfangen wollte, das Blut vom Boden zu lecken. Ich rief ihn zurück und erschreckte mich über die Lautstärke meiner eigenen Stimme. Ich sandte ein Stoßgebet - und wusste wieder nicht an wen. Was sich mir hier präsentierte, schien die Möglichkeit auszuschließen, dass es einen Gott gab. Plötzlich kam ein enormer Windzug auf, brachte einen Schwall Regen in den Raum und blies die Kerzen aus. »Da bist du ja endlich«, sagte Rita und schloss die Küchentür hinter sich. Der Windstoß verebbte. »Du hast ziemlich lange gebraucht.« Mikey rannte freudig auf sie zu, sie trat einen Schritt zurück zur Tür, öffnete sie und mit einer eleganten Bewegung hatte sie den Hund, der sie begrüßen wollte, auf den Flur gesperrt. Mit einem Mal wusste ich, wie es sich anfühlt, wenn einem das Blut in den Adern gefriert. Sie hatte die ganze Zeit gewusst, dass ich mich auf der Ladefläche versteckt
hatte. Unwillkürlich wich ich vor Rita zurück und prallte hart mit dem Oberschenkel gegen den Tisch. »Vorsichtig, wir wollen die Kleine doch nicht aufwecken!« Ein kurzer Blick auf Ritas Zwilling zeigte, dass mit seinem Aufwachen nicht zu rechnen wäre. Jetzt nicht und wahrscheinlich nie wieder. »Rita, was ist mit dir los? Was soll das Ganze? Der Mann braucht einen Arzt.« »Das ist kein Junge, das ist ein Mädchen.« Sie sprach mit mir wie ein Kind mit einem Erwachsenen, der seines Erachtens etwas schwer von Begriff ist. »Bitte. Wenn er noch nicht tot ist, dann verblutet er hier. Das kannst du nicht wollen. Er ist doch dein Bruder.« »Jetzt nicht mehr. Jetzt ist er die Schwester.« Sie lächelte mich freudig an und machte einen Schritt auf mich zu. Ich trat hinter den Tisch und schaute mich verzweifelt nach etwas um, womit ich mich verteidigen könnte. »Du hast doch keine Angst vor mir, Lilly?« Auf ihrer Stirn lagen Sorgenfalten. In dem kalten Licht wirkte sie zehn Jahre älter. »Doch, Rita, du machst mir Angst. Bleib stehen wo du bist.« Ich hatte keine Ahnung was ich sagte, wollte nur eines - Zeit schinden und eine Möglichkeit finden, heil aus der Situation herauszukommen. »Wie kannst du so etwas tun? Wir hätten über alles reden können. Wir hätten eine Lösung für dich gefunden.« »Ich habe doch die Lösung.« Die Logik eines Kindes. Sie stand mir gegenüber, zwischen uns der Tisch, auf dem sie ihr kindliches Trauma inszeniert hatte. In der Tat - sie hatte eine Lösung gefunden, mit ihrem Schicksal umzugehen. Eine unorthodoxe, kranke, kriminelle Lösung, aber eine, die für sie funktionierte. Die Puppenspiele, die Verstümmelung - Ritas Therapieverlauf hatte »Fortschritte« gemacht - sie arbeitete am lebenden Objekt. Dr. Vogel hätte stolz auf sich sein können. Sie blickte an sich herab, und ich nutzte den Moment, die Schachtel mit dem Betäubungsmittel aus meiner Hosentasche zu zerren und hinter meinem Rücken die Verpackung zu öffnen und den Inhalt zu ertasten - eine gläserne Ampulle. Rita machte sich am Reißverschluss ihrer Hose zu schaffen. »Schau her!«, sagte sie und zog die Hose herunter. Ihre Unterhose war blutbeschmiert. Rita griff stolz die Wölbung, die sich hinter dem Stoff abzeichnete. 315»Ich hab ihn wieder!« Sie strahlte mich an. »Endlich der Richtige. Und du bist auch da. Grad wo mir die Puppen ausgegangen sind!« In meinem Kopf begann sich alles zu drehen, und für eine Sekunde wurde mir schwarz vor Augen.
»Guck doch mal!« Sie hatte die Unterhose heruntergestreift und hielt mit der rechten Hand den schlaffen blutigen Penis ihres Bruders gegen ihr Schambein. Ich handelte impulsiv - griff die Tischplatte, stemmte mich mit aller Macht dagegen und stürzte den Tisch um. Rita schrie schrill auf, als ihr Bruder auf sie fiel und sie unter dem schlaffen Gewicht zu Boden ging. Ohne einen Blick zurück stürzte ich aus dem Zimmer, knallte die Tür hinter mir zu und brüllte »Mikey«. Anstatt herbeizueilen, reagierte er mit einem Bellen. Das Bellen kam aus dem Keller. Ich fluchte, rief ihn noch einmal, aber wieder kam von ihm nur ein Bellen. Diesmal verfluchte ich mich selbst und meinen Hund - ich konnte ihn hier nicht zurücklassen, also nahm ich zwei Stufen auf einmal die Kellertreppen herab, die Schmerzen ignorierend, die mein verstauchter Fuß bei jedem Auftreten verursachte, atmete die modrige Luft ein, in der noch ein anderer unverwechselbarer Geruch hing, und rannte einen düsteren Flur entlang. Mikey hörte nicht auf zu bellen. Ich folgte dem Geräusch und fand mich in einem fensterlosen Raum wieder, in dem nur eine einzelne nackte Glühbirne brannte. Mikey hockte vor drei Feldbetten, die mitten im Zimmer standen, und eilte auf mich zu, als ich eintrat. Eines der Betten war leer, in den beiden anderen lagen Ingo Jensen und Johann Werner. Wie Ritas Bruder waren sie bizarr geschminkt und lagen nackt und an Fuß- und Handgelenken ans Bett gefesselt regungslos da. Johanns Körper war blau angelaufen, sein Kopf lag auf der Seite, der Mund war geöffnet. Die Sekunden, die ich dort stand und die beiden Männer betrachtete, zogen sich wie eine Stunde - ich war wie gelähmt, fassungslos, eine Marionette, deren Fäden man gekappt hatte. Als durch den Körper Ingos ein Zittern ging und sein rechter Arm hochschnellte, hörte ich einen ohrenbetäubenden Schrei. Und stellte fest, dass er aus meinem eigenen Mund kam. Ich taumelte vorwärts, auf sein Bett zu und sah, wie er versuchte, die Augen zu öffnen. Neben dem Bett auf dem Fußboden lag ein Haufen achtlos hingeworfener Spritzen. Ohne zu überlegen griff ich mir eine, stieß die Nadel in die Ampulle mit Betäubungsmittel und zog sie auf. Als die Ampulle auf den Steinfußboden fiel und in Scherben ging hörte ich Schritte. »Was machst du denn?« Rita stand wütend in der Tür. Sie war über und über mit dem frischen Blut ihres Bruders beschmiert. Ihre Hose stand immer noch offen. »Ich hab doch alles so schön gemacht, da kannst du doch nicht weglaufen.« »Rita. Wir brauchen einen Arzt. Gib mir bitte dein Handy.« »Wozu denn einen Arzt - ich hab doch alles selbst gemacht.« Sie kam langsam auf mich zu. »Reiß dich zusammen - Ingo stirbt, wenn wir nichts unternehmen. Willst du das auch noch verantworten?« Ich brüllte sie an. »Reicht es nicht, was du bisher angerichtet hast?«
Sie blieb stehen, »Den brauchen wir doch gar nicht mehr. Er ist doch nur ein krankes Mädchen.« Sie setzte sich wieder in Bewegung. Ich konnte eine Ader auf ihrer Stirn pochen sehen. »Du kannst dich jetzt ausziehen Lilly. Ich helfe dir.« Sie zog ein Skalpell aus der Hosentasche und kam immer näher auf mich zu. Ich hielt die Spritze hinter dem Rücken und fing an zu zittern. Uns trennten weniger als zwei Meter und ich konnte mich nicht bewegen, stand wie eingefroren. Ich war unfähig, die Spritze nach vorne zu bringen, und wusste, dass es ihr ein Leichtes sein würde, mit dem Skalpell in meinen Arm zu stechen, wenn ich versuchte, ihr den Schuss zu versetzen. Als sie ihren Arm ausstreckte und das Skalpell mein T-Shirt berührte, durch den Halsausschnitt ging wie durch Butter und den Stoff mit einem einzigen Schnitt von oben nach unten teilte, kam Mikey angesprungen und verbiss sich laut knurrend in Ritas Arm - sie schrie auf und taumelte, der Hund hing an ihrem Arm, und sie ließ das Skalpell fallen. Ich drehte mich nach rechts, machte zwei Schritte um sie herum und versenkte die Spritze in ihrer Schulter — sie traf auf Knochen, Ritas Schrei wurde lauter, sie warf ihren Kopf herum und blickte mich mit einem gequälten Ausdruck an, in dem Wut, Enttäuschung und Trauer lagen. Ich drückte ab. Die Spritze zerbrach und die Nadel ragte aus ihrer Schulter heraus. Ich weiß nicht, was mich dazu brachte, aber wie sich später herausstellte, war es genau das Richtige - ich griff in Ritas Hose und zog den Schwanz ihres Bruders heraus - er war kalt und glitschig von Blut. Dann rannte ich los, nach Mikey brüllend. Er schoss an mir vorbei, die Kellertreppen herauf und wartete oben auf dem Flur. Hinter mir hörte ich Ritas Schreie, dann, wie sie sich in Bewegung setzte und die Verfolgung aufnahm. Ich riss die Hintertür auf und rannte hinaus in den Regensturm, Tränen schössen mir in die Augen, liefen mir über die Wangen, als ich meinen kaputten Knöchel überlastete. Sie vermischten sich mit den eisigen Tropfen, die auf mich niederprasselten. Ich schaffte es um das Haus herum auf die Lichtung, hörte Rita hinter mir fluchen und unter Schmerzen stöhnen. Sie holte auf, ihr schweres Atmen kam näher - die Kraft verließ mich, die Schmerzen in meinem Fuß waren unerträglich. In dem Augenblick, als Rita mich an den Haaren packte, lösten sich etwa zwanzig Meter entfernt von mir zwei Gestalten aus dem Dunkel. Ich knallte meinen Ellbogen Rita gegen die Brust, hob meinen Arm und schleuderte den Penis in Richtung Marco Oldenburg, dann wurde ich zu Boden gerissen, hörte einen Schuss durch die Nacht peitschen, spürte das Gewicht von Rita schwer auf mir zusammenbrechen und verlor die Besinnung.
Kapitel 20 DIE LEIDEN DER LILLY DELIGHT Von Nicelette Rubin FAKT-Magazin, Montag, 18. Dezember 2OOO Es erinnert ein wenig an Passionsspiele: Jedes Jahr aufs Neue kürt die oft fälschlich so bezeichnete Sensationspresse einen Menschen des berechtigterweise so genannten öffentlichen Lebens und sorgt dafür, dass dieses Leben nun wirklich und wahrhaftig offen gelegt wird. Spätestens seit dem Jahr 1997 hinterlassen diese Passionsspiele mitunter nicht nur ein dumpfes Schamgefühl bei der Presse selbst und beim Leser, sondern produzieren auch drastische Folgen in Gestalt von Trümmern und Tränen und Hinterbliebenen, die fortan ihre Zeit damit zubringen müssen, sich für Taten zu rechtfertigen, die keine sind und mit denen sie nur am Rande zu tun hatten - »guilty by association« bezeichnet der Engländer diesen Sachverhalt.
Die mediale Hetzjagd auf den Versace-Mörder Andrew Cunanan verunstaltete die Tragödie, die sich auf Cunanans Crosscountry-killing-spree zugetragen hatte, zu einer sensationellen Seifen-Oper. Kein Magazin ohne Beitrag, keine Boulevard-Show ohne düstere Prophezeiungen - selbst die Night-Talker ließen es sich nicht nehmen und knöpften sich die Mordserie vor, als sei sie so harmlos und belustigend wie das schiefe Toupet eines Nachrichtensprechers. Cunanan wurde erst aus der Presse verdrängt, als die Frau, die auf Versaces Beerdigung einen Tränen vergießenden Elton John tröstete, auf ihre letzte Reise ging. Prinzessin Dianas Tod stellte alles in den Schatten, was zuvor (möglich) gewesen war und wurde verheizt als Mahnmal und Warnung, als Ausrufungszeichen, als Sinnbild der Menschenjagd, die in unserer Kultur die Religion und die hohe Kunst abgelöst zu haben scheint. Was damals keiner zu sagen wagte: Endlich konnte sich die Prinzessin nicht mehr wehren, nicht mehr entziehen - im Tode gab es kein Entkommen mehr. Nur eine allerletzte, ultimative edle und anachronistische Geste wurde ihr zuteil: man verzichtete pietätvoll auf die Veröffentlichung der Todesfotos. Einstweilen. Der Sommer 2000 lief für die deutsche Sensationspresse etwas zäh an. Die Protagonisten der ersten Big-Brother-Staffel bemühten sich redlich, ihre fünfzehn Minuten des Ruhms auf sechzehn bis siebzehn Minuten auszudehnen, Jenny Elvers lieferte tatkräftige Unterstützung und gönnte so auch sich selbst einen Aufschub. In Ermangelung von Neuigkeiten real existierender Personen gönnte man sogar dem Romanhelden Harry Potter eine spektakuläre Berichterstattung. Noch Mitte August konnte niemand ahnen, dass ein neues Drama mit Opernqualität kurz bevorstand und an Glitz und Glamour, Sex und Tragik die Bumsereien der medialen Zweitliga weit überbieten und dieselben aus der Yellow Press wegbombardieren würde. Auftritt - Abtritt Lilly DeLight. Ab 30. August 2000 regiert die Porno-Königin. Mit ihrer schockierenden Ankündigung, in das Lager derjenigen hinter der Kamera zu wechseln, blitzt exclusiv und taff die gewiefte Blondine ins sonst nicht sehr spektakuläre Tagesgeschehen. Jenny und Alex haben mal einen Tag Ruhe. Nicht aber Lilly, denn keine Stunde nach Abschluss der Pressekonferenz wird sie Zeugin des Mordes an der Fernsehjournalistin Elke Brenner, die auf offener Straße von einem Auto überfahren wird. Wie sehr Lilly DeLight in den Fall verwickelt ist, steht zu diesem Zeitpunkt noch nicht fest - selbst die Tatsache, dass sie den Mord bezeugt hat, ist noch nicht zur Presse durchgedrungen; trotzdem stürzen sich die Medien auf den Promi-Aspekt des Todesfalls. Der verlöcherte Sommer ist endlich vorbei, und eine .Story, für Fortsetzungen wie geschaffen, wird gesponnen. Das wahrscheinlich erste Mal in ihrem Leben ist Lilly DeLight für Aufmerksamkeit nicht dankbar, denn sie hat zu diesem Zeitpunkt noch ein paar weitere gravierende Probleme. »Nicht mehr zu drehen, das war eine Entscheidung, die ich zu Gunsten von Max getroffen habe. Und ich habe mir die Entscheidung nicht leicht gemacht und zu lange damit gewartet. Als ich die Pressekonferenz gab, da saß Max schon im Flieger nach Mexiko.« Der Immobilienmakler Max Winter, mit dem DeLight seit 1998 verheiratet ist und mit dem sie in der Kleinstadt Goslar lebt, hatte mit der Berufung seiner Gattin zu Deutschlands bekanntester Porno-Diva zunehmend Schwierigkeiten bekommen. Die Entscheidung, seine Frau zu verlassen, beruht jedoch auf einer Intrige, wie sie nur Shakespeares Geist oder vielleicht dem Laptop eines Daily-Soap-Autoren entspringen
könnte. Abtritt/Auftritt Greta Giehse, ihres Zeichens Deutschlands zweitplatzierte Pornokönigin mit Produktions- und Wohnsitz in Peine. Zeitgleich mit dem rasanten Aufstieg der Erzrivalin DeLight war die Nachfrage nach Pornos aus Peine kontinuierlich geschrumpft - eine Entwicklung, die insbesondere in dieser Branche nicht gerne gesehen wird. Während die DeLight GmbH im Eilverfahren auch die neuen Medien eroberte und im Filmsektor auf einen Koproduktionsvertrag mit dem privaten Fernsehsender TV1 hinarbeitete, konzentrierte man sich in Peine auf das, was man bis dato am besten gekonnt hatte: Porno-Videos Marke Eigenbau. Greta Giehses Frustration ob sinkender Absatzzahlen wurde durch den Spott innerhalb der Branche noch geschürt. Vor allem Lilly DeLight wurde nicht müde, sich öffentlich über die schauspielerischen Talente der neunundvierzigjährigen Giehse lustig zu machen. DeLight behauptet jetzt, ihre öffentlichen Attacken seien eine direkte Reaktion auf die wachsenden Aktivitäten im Bereich der Betriebsspionage und Sabotage gewesen und keineswegs das Resultat persönlicher Missgunst. »Der Fall wird im Augenblick verhandelt und ich möchte mich nicht detailliert äußern. Ich kann aber sagen, dass es im Moment so aussieht, als habe Greta Giehse einen meiner engsten Mitarbeiter bezahlt, um die Produktion von Lilly DeLights Hexen lahm zu legen. Schauspielerisch ist sie im Grunde gar nicht so schlecht. Es kann in diesem Geschäft schließlich nicht nur junge Talente geben.« Um wen es sich bei dem Spion handelt, kann man nur mutmaßen - auffällig ist indes, dass DeLight sich von ihrem langjährigen Frisör und Maskenbildner Tim B. getrennt hat. Noch vor Beginn der Dreharbeiten des »Hexen«-Projekts hatte Greta Giehse zu einem Schlag angesetzt, der unumstritten belegbar ist: Während DeLight in Berlin ihren Rücktritt von der Pornoleinwand bekannt machte, präsentierte Giehse am Hannoveraner Flughafen Max Winter getürkte Sex-Fotos seiner Gattin mit einem Exliebhaber, dem attraktiven Ronny Sanchez. »Ja, Max ist eifersüchtig. Aber wir arbeiten an dem Problem.« Der 30. August soll nicht nur in DeLights Erinnerung haften bleiben als der Tag, an dem Winter die Flucht ergreift, Sanchez in Goslar für Dreharbeiten an DeLights erster TV-Produktion eintrifft und Lilly Zeugin des Mordes an Elke Brenner wird - in der Nacht macht sie einen schrecklichen Fund: einen abgetrennten Penis, der in die Vagina einer Gummipuppe eingeführt auf ihrem Pool treibt und den sie als Körperteil des Darstellers Johann Werner identifiziert. Es bleibt nicht bei diesem Einzelfall. Am folgenden Tag fällt ihr Regieassistent Ingo Jensen einem ähnlichen Anschlag zum Opfer, wieder einen Tag später der Tierarzt Peter Hofmeier, dessen Praxis an die Gewerberäume der DeLight GmbH angrenzt. Im Gegensatz zu den Fällen Werner und Jensen wird Hofmeier tot aufgefunden - von den Leichen der beiden anderen Männer fehlt zu diesem Zeitpunkt jegliche Spur. »Stellen Sie sich einmal vor, um Sie herum sterben die Leute und Ihr Mann ist unauffindbar. Ich hatte die ganze Zeit schreckliche Angst um Max. Und Albträume! Es hat ja nicht jeder Mensch eine Gummipuppe von sich selbst, aber ich kann Ihnen sagen, dass man sie nicht in dieser Art und Weise missbraucht sehen möchte - schon gar nicht auf dem eigenen Grund und Boden!« Die Kleinstadt-Polizei reagiert auf die Geschehnisse mit einem archaisch anmutenden Misstrauen. DeLight, die auf große Hindernisse gestoßen war, als sie ihre Produktion in Goslar etablieren wollte und nur langsam in der Stadt Fuß fassen konnte, erlebt
das, was sie gerade parallel für TV und Video inszeniert: eine Hexenjagd. Die Kaiserstadt will keine Porno-Königin. Obwohl keinerlei Anlass zum Tatverdacht besteht, konzentrieren sich die Ermittlungen auf das Umfeld von Lilly DeLight. Und obwohl der Täter in diesen Reihen zu finden ist, werden maßgebliche Untersuchungsergebnisse komplett ignoriert und die Unterstützung der Diva weitestgehend abgelehnt. Kriminalhauptkommissar Schultz, in dessen Verantwortungsbereich die Fälle lagen, hat seinen Posten aufgegeben und verweigert jeglichen Kommentar. Sein Nachfolger Harry Klein räumt ein: »Es wurden in der Tat einige Dinge versäumt und die Ermittlungen durch lange Dienstwege in der bürokratischen Organisation schwer behindert.« So traf zum Beispiel ein Überwachungsvideo des Hannoveraner Flughafens, das Max Winter im Gespräch mit Greta Giehse zeigte, und ein weiteres, das seinen Abflug nach Frankfurt dokumentierte, erst am frühen Morgen des 3. September in Goslar ein. Da dieses Band sowohl belegt, dass Max Winter das Land lebend verlassen hat und somit weder zum Kreis der Opfer noch der Täter gezählt werden kann, als auch dass Greta Giehse sich bemühte, DeLight das Leben zu erschweren, wäre es gut möglich gewesen, dass es nicht zu den schrecklichen Ereignissen gekommen wäre, denen DeLight in den frühen Morgenstunden des 3. September ausgesetzt war und die sie in tödliche Gefahr brachten. Nachdem DeLight sich vergeblich um eine polizeiliche Überwachung bemüht hatte, die mit dem Argument abgelehnt wurde, man könne nichts für sie tun, bis sie sich in akuter Gefahr befände - tatsächlich eine Gesetzeslücke, die vielen Stalking-Opfern zum Verhängnis wird -, kümmert sie sich selbst um Personenschutz und engagiert den ehemaligen Polizisten und selbstständigen Security-Mann Marco Oldenburg. Paparazzi-Fotos geraten in die Presse, die eins und eins zusammenzählt, und, wie so oft, kommt dabei nichts heraus. Die Tatsache, dass Oldenburg ein Bild von einem Mann ist und bei Mister-Wahlen europaweit antritt, ist für die Medien ein zusätzlicher Anreiz. DeLight wird jetzt nicht nur öffentlich kriminalisiert, sondern - für eine Kleinstadt wie Goslar vielleicht noch viel schlimmer - demoralisiert. Es kommt zu Steinwürfen auf ihr Haus, öffentlichen Demütigungen und Telefonterror. Jeder Mensch, der etwas Schlechtes über die Diva zu sagen hat, wird vor eine Fernsehkamera gezerrt. Betrachtet man die Berichte aus der zeitlichen Distanz, so fallen die Auslassungen auf. So mag die Familie des ersten Opfers, Johann Werner, Lilly DeLight laut beschuldigt haben, die Neiderin, Porno-Starlet Pamela Anders den Verdacht geschürt und Rivalin Greta Giehse ihre Konkurrentin als machtgeil und skrupellos porträtiert haben, aber die Angehörigen der Opfer Jensen und Hofmeier waren zu keinem schlechten Urteil zu bewegen. Dies wird durch gefilmtes und nie zur Sendung gekommenes Filmmaterial von mindestens drei selbstständigen TVProduktionen belegt, die sämtlich im Auftrag des Senders Sät 7 arbeiteten. Was nicht ins Bild passte, an dem die Medien gerade bastelten, landete ganz einfach im Archiv. In der Nacht zum 3. September ist DeLight so verunsichert und beunruhigt, dass ihr praktisch jeder in ihrem Umfeld tatverdächtig erscheint. »Es war ziemlich drastisch ich hatte den Überblick verloren. Auf einmal schien jeder einen Grund zu haben, mir eins auswischen zu wollen, und einer davon musste wohl der Mörder sein. Ich hatte kein Vertrauen mehr zur Polizei und sogar mein Security-Mann kam mir suspekt vor. Wissen Sie auf der einen Seite haben wir zusammen Miss Marple gespielt, auf der
anderen war mein ganzes Umfeld von diesen Verleumdungen und Spekulationen selber schon völlig paranoid. Ich wollte nicht allein mit ihm in meinem Haus bleiben. Außerdem hatte die Presse das Gerücht in die Welt gesetzt, dass Marco mein neuer Liebhaber sei. Ein Alibi, das wir uns gegenseitig geben würden, hätte bei der Polizei wahrscheinlich keinen Bestand gehabt.« Als Oldenburg DeLight ins Hotel Kaiserworth bringen will, überfahren die beiden den Reporter Gerd Bartels, einen Vertrauten der Regisseurin. Was sie noch nicht wissen ist, dass Bartels bereits tot war, als er auf die Straße gelegt wurde. »Das war das schrecklichste Dejà vu meines Lebens. Erst zu sehen, wie Elke Brenner niedergefahren wird, dann ein paar Tage später mit dem Wagen Gerd Bartels zu überfahren. Aber es war auch der Moment, wo mir langsam zu dämmern begann, was die beiden Mordserien verband.« DeLight erkennt den Bezug zum Mord an Elke Brenner und einem Fahrerfluchtmord, der schon länger zurückliegt - der Kinderpsychologe und Zwillingsforscher Dr. Bertram Vogel starb auf dieselbe Art und Weise und war nicht nur der Lebenspartner von Elke Brenner gewesen, sondern zuvor auch noch der behandelnde Arzt ihrer Zwillingsschwester. Die bekannte Märchenerzählerin und Psychotherapeutin Karin Berger, Schwester von Elke Brenner und ehemalige Patientin von Dr. Vogel, äußert sich hier zum ersten Mal zum Tod ihrer Schwester und zu den Entwicklungen, die diesen Tod zur Folge hatten. »Elke und ich sind bis zu unserem vierten Lebensjahr bei unserer Mutter aufgewachsen, die als psychisch gestört eingestuft wurde, sodass unserem Vater das alleinige Sorgerecht zugesprochen wurde. Ich kann heute nur noch schwer beurteilen, inwiefern Elke und ich tatsächlich eine geistige Störung hatten - dadurch dass wir von der Außenwelt isoliert aufwuchsen, man kann wohl regelrecht von abgeschüttet sprechen, kam mir eher die normale Welt, in die uns unser Vater brachte, als anormal vor. »Dr. Vogel übernahm damals meine Behandlung - und schaffte es, die Bande zwischen Elke und mir zu kappen. Unser schwesterliches Verhältnis war von da an schlecht, aber wir entwickelten uns ansonsten so, wie man es von normalen Kindern erwartet. Heute halte ich diese Trennungsmethode für äußerst brachial. Vogel hat vieles unwiderrufbar zerstört und nie eingesehen oder eingestanden, dass seine Theorie der Trennung in der Praxis keine Früchte tragen kann. Elke entwickelte Neid und Eifersucht auf mich, da ich in der Klinik behandelt wurde und sie zu Hause blieb und einmal die Woche eine Kinderpsychologin besuchte. Als ich hörte, dass Elke später ein Verhältnis mit Vogel einging, war mir klar, dass das ein reiner Kompensationsakt war. Endlich durfte sie auch zu meinem Doktor.« Mit Hilfe einer Kassette, die der Mörder ihr zuspielte und auf der eine Erzählung von Karin Berger zu hören war, konnte DeLight die Hintergrundfakten so ordnen, dass sie den Schlüssel ergaben zum Rätsel um die Porno-Morde und den Tod von Vogel, Brenner und später Gerd Bartels. Was nun noch fehlte, war eine Information, an die sie nicht selbst herankam: ein journalistischer Skandal, der im März 1990 dazu geführt hatte, dass ein einziges Mal in der Geschichte des Magazins eine FAKTAusgabe mit eintägiger Verspätung auf den Markt kam, da in allerletzter Minute eine Geschichte gekippt werden musste. Es handelte sich um eine Geschichte von Elke Brenner.
Dr. Vogel hatte im Jahr 1980 seinen spektakulärsten Fall gefunden: ein Zwillingspaar, beide Kinder als Jungen geboren, einer jedoch bei einer missglückten Beschneidung derart verstümmelt, dass den Eltern zu einer Geschlechtsumwandlung geraten wurde. Die Eltern vertrauten auf die Einschätzungen der Mediziner und befolgten den Rat. Die als »Hendrik« geborene Rita Weinert erlebte eine Kindheit, die an Grausamkeit das bei weitem überschritt, was »natürliche« Transgender - also Männer oder Frauen, die das Gefühl haben, im falschen Körper geboren worden zu sein und deren größtes Ziel die Geschlechtsumwandlung ist - von ihren frühen Erfahrungen berichten. Hendrik/Rita war nicht im falschen Körper geboren, sondern zum falschen Körper gezwungen worden. Im Alter von zwei Jahren wurden seine Hoden entfernt, im siebten Lebensjahr wurde eine künstliche Vagina angelegt und in unregelmäßigen Abständen musste sich das Kind diversen Operationen und Nachbehandlungen unterziehen. Hendrik/Rita verbrachte einen Großteil seiner Kindheit in Krankenhäusern und Arztpraxen. Doch so sehr man sich auch bemühte, ihm eine weibliche Geschlechtsidentität zuzuweisen - das Kind verweigerte sich, zunächst nicht wissend, dass es als Junge geboren war. Ein Argument, das für die Geschlechtsumwandlung gesprochen und die Eltern überzeugt hatte, war, dass Rita/Hendrik angesichts ihres intakten Bruders Alexander immer Minderwertigkeitsgefühle verspüren würde. Dass die Zuweisung einer falschen Geschlechtsidentität den Terror der Gegenüberstellung in den Schatten stellen würde, hatte keiner der behandelnden Ärzte vorausgesehen. Die ganze Familie litt unter den Anforderungen, die die Behandlungen an sie stellte, und insbesondere an der rebellischen Haltung des Kindes. Rita machte Ärger, wo sie nur konnte, gebärdete sich als der Junge, der sie war und steigerte sich im gleichen Maße mehr in die männliche Rolle, in dem man versuchte, sie zum Mädchen zu machen. Als sie und ihr Bruder zehnjährig in die Behandlung von Dr. Vogel gegeben wurden, war die Familie bereits so zerrüttet, dass der Vater wegen Alkoholismus seinen Arbeitsplatz verloren hatte. Die Mutter, die nie eine Ausbildung gemacht hatte, lebte von Sozialhilfe und stand ob der permanenten Anspannung, die die familiäre Atmosphäre prägte, vor einem Zusammenbruch. Dr. Vogels erste heroische Tat war es, die Mutter auf Kur zu schicken. Zumindest die Eltern hatten nun volles Vertrauen in die Integrität und Fähigkeiten des Mediziners. Nachdem weder die ersten Behandlungsansätze Erfolge zeigten noch der Versuch einer massiven Gehirnwäsche, unterstützt durch Hypnosebehandlungen, Rita von ihrer aufoktroyierten Geschlechtsidentität überzeugen konnte, ging der meritenhungrige Arzt zu experimentelleren Methoden über. Vom zehnten bis zum zwölften Lebensjahr standen so genannte fucking games auf dem Therapieplan. Zunächst wurde anhand von anatomisch korrekten Puppen heterosexuelles Paarungsverhalten veranschaulicht, dann hatte sich der Bruder auf die »Schwester« zu legen und Geschlechtsverkehr zu simulieren. Unvorstellbar, was dieser erzwungene Inzest in den pubertierenden Geschwistern ausgelöst hat. Zweifellos kann festgestellt werden, dass Vogels Behandlung mehr Schaden anrichtete als Hilfe brachte. Nachdem er der Methode zweieinhalb Jahre lang eine Chance gegeben hatte, resignierte der Arzt und besann sich auf ein früheres Experiment der Zwillingstrennung als effektiver Weg einer Individuationsmaßnahme. Nicht genug damit, dass bei einem Autounfall im Jahre 1983 die Eltern der beiden ums Leben
kamen, beschloss der Arzt, die verwaisten Kinder in unterschiedlichen Pflegefamilien unterzubringen und von nun an getrennt zu »therapieren«. Akribisch genau notierte er seine Beobachtungen bereits im Hinblick auf eine mögliche Publikation. Im Jahr 1987 traf er auf Elke Brenner, die sich ihm, so beschreiben es Beobachter, regelrecht »an den Hals warf«. Eine renommierte Journalistin passte Vogel gut ins Konzept, und so wurde Elke Brenner auserkoren, an der Langzeitbehandlung beobachtend teilzunehmen. Am achtzehnten Geburtstag von Rita W. wartete Dr. Vogel vergebens auf seine »Patientin«. Und auch am folgenden Tag, als eine Sitzung mit Alexander auf dem Plan stand, saß er eine Stunde lang allein im Sprechzimmer. Rita sollte er niemals Wiedersehen und Alexander nur ein einziges Mal, und dieses Mal nur kurz und flüchtig - durch die Windschutzscheibe des Mietwagens, der ihn am 20. Februar 2000 im Parkhaus seines Apartmenthauses niederfuhr. Vielleicht war es ein Liebesbeweis, den Elke Brenner Dr. Vogel unterbreiten wollte, vielleicht glaubte sie wirklich an den Erfolg seiner unorthodoxen Therapiemethoden. Zwei Jahre nachdem die Zwillinge die Therapie abgebrochen hatten und kurz bevor der Arzt einen Buchvertrag unterschrieb, machte sich Elke Brenner auf die Suche nach den beiden. Was sie herausfand, trug keineswegs dazu bei, den Ruf ihres Liebhabers zu festigen. Während Alexander in einer Pastorenfamilie in einem Dorf am Ammersee aufgewachsen war, verlebte Rita ihre Jugend in wechselnden Pflegefamilien in und um München. Am Tag ihres achtzehnten Geburtstages zog sie aus und finanzierte sich fast zwei Jahre lang mit Gelegenheitsjobs in KfzWerkstätten. Zweimal taucht sie in Polizeiakten des Jahres 1990 auf: Beide Male hatte sie gegen einen Kollegen Anzeige wegen sexueller Belästigung erhoben, beide Male wurde ihr Recht zugesprochen, beide Male kostete es sie ihren Job. Ihre Attraktivität als Frau machte es ihr unmöglich, in einem klassischen Männerberuf zu arbeiten. Ihrem Bruder Alexander gelang es ebenso wenig, Fuß zu fassen. Zunächst rutschte er ins Münchner Drogenmilieu ab, bis er Zuflucht in der Glaubensgemeinschaft der Erhabenen fand - einer obskuren Sekte, die sich an Scientology orientierte, aber nie deren Breitenwirkung und wirtschaftliche Macht erreichte. Was vielleicht durch die massenuntaugliche Anforderung an die Sektenmitglieder bedingt war, ein zölibatäres Leben zu führen. Die Gehirnwäsche, die jeder Anhänger verabreicht bekam, musste Alexander bekannt vorkommen nach desaströsen Psychotherapien fühlte er sich aufgehoben im Kreis einer Sekte, die mit ähnlichen Mitteln arbeitete. Als sich die Glaubensgemeinschaft der Erhabenen im Oktober 1999 aufgrund polizeilicher Untersuchungen, die mit Unterschlagung, Erpressung und Nötigung zu tun hatten, auflöste und ihre Hauptinitiatoren untertauchten, erlebte Alexander W. einen Nervenzusammenbruch, der zur Einweisung in die Psychiatrie führte. Im Januar 2000 wurde er in die Karl-Bonhoeffer-Nervenklinik in Berlin umverlegt. Am 2. Februar gelang ihm die Flucht. Der Weg seiner »Schwester« scheint auf den ersten Blick weniger homogen. Nach den misslungenen Versuchen, in handwerklichen Berufen tätig zu werden, schloss sie
zunächst ihre abgebrochene Gymnasialbildung ab und bewarb sich an den Schauspielschulen in Hannover, Berlin und München, wurde jedoch nirgends aufgenommen. An der Otto-Falckenberg-Schule in München schafft sie es zwar bis in die letzte Prüfungsrunde, wird am Ende dennoch ausgemustert. Schließlich immatrikuliert sie sich am Institut für Theaterwissenschaften der Freien Universität Berlin. Das Institut lässt seinen Studenten die Wahl zwischen zwei Studienschwerpunkten - Theater und Film. Rita befasst sich hauptsächlich mit Filmthemen. Kommilitonen erinnern sich nicht an die schweigsame, unauffällige Frau. Ihre Professoren attestieren ihr überdurchschnittliche Intelligenz und einen kritischanalytischen Blick, wie er für frühe Semester unüblich ist. Was am Institut niemand vermutet, ist, dass Rita ihr Studium als Verkäuferin in einem Sex-Shop finanziert. Anstatt, wie ihr Zwillingsbruder die traumatischen fucking games durch manisch-religiöse Enthaltsamkeit zu kompensieren, entwickelt Rita eine Faszination für Sex in all seinen Spielarten. Es beschränkt sich allerdings auf ein theoretisches Interesse. Über ein sexuelles oder partnerschaftliches Verhältnis, das Rita in dieser Zeit oder zu einem späteren Zeitpunkt geführt haben könnte, ist nichts bekannt. Der Inhaber des Sex-Shops Gerhard K. beschreibt seine Angestellte als »ruhig, kompetent, fast unscheinbar. So eine fragst du nicht nach ihrem Privatleben. Manchmal dachte ich - das ist ne Lesbe, aber welche Lesbe sucht sich nen Job, wo überall um sie rum Schwänze sind?« Rita Weinert absolviert im Jahr 1992 ihre Zwischenprüfung mit ausgezeichneten Ergebnissen und belegt einen Studiengang für Kulturmanagement. Bereits nach fünf weiteren Semestern schließt sie das Studium als Magister der Künste ab, unternimmt aber keinerlei Anstrengungen, in ihrem Berufsfeld tätig zu werden. Als sie im Winter 1997/98 erfährt, dass in Berlin-Mitte der erste Lilly-Delight-Shop eröffnet wird, bewirbt sie sich um eine Anstellung, wird jedoch als überqualifiziert eingestuft und abgewiesen. Die Ablehnung hält sie nicht davon ab, eine weitere Bewerbung direkt an den Firmenhauptsitz in Goslar abzusenden. Im Februar reist sie für das erste Vorstellungsgespräch in den Harz. »Sie war mir auf Anhieb sympathisch«, sagt Lilly DeLight heute. »Wir hatten einen Draht - sie strahlte eine Ruhe aus, die mich beeindruckte. Sie war gelassen, elegant - jemand, den man einfach gerne um sich hat. Wir wurden sehr schnell Freunde.« Für überqualifiziert hat DeLight ihre neue Assistentin nicht gehalten. »So ein Job kann ein Sprungbrett sein - wenn ich das Gefühl habe, dass einer meiner Angestellten eine Beförderung verdient, dann bekommt er sie auch. Wir bereiteten uns damals gerade auf die neuen Märkte vor, und es war noch nicht abzusehen, wie weit der Sektor ausgebaut werden würde. Nach ein paar Monaten der Zusammenarbeit hatte ich den Eindruck, Rita wäre die Richtige, dieses Aufgabenfeld zu übernehmen.« Aber Rita lehnte das lukrative Angebot ab und bevorzugte es, ihren Posten als persönliche Assistentin und PresseAgentin beizubehalten. »Im Grunde war ich froh darüber - wir verstanden uns hervorragend und es tat mir gut, jemanden an meiner Seite zu haben, der mich so genau kannte.« Wie genau Rita Weinert ihre Arbeitgeberin kannte, kam eine Woche nach dem Ende der Tragödie ans Licht - bei der Räumung ihrer Wohnung. Sie hatte eineinhalb Jahre lang Tagebuchaufzeichnungen geführt, die jeden Schritt, jeden Kommentar der
Porno-Königin dokumentierten. Auf Hunderten von Videokassetten war jeder öffentliche Auftritt der Diva archiviert und selbstverständlich war auch das Filmarchiv lückenlos bestückt. Mit einem komplexen Bewertungssystem, das siebzehn Kategorien umfasste, hatte sie akribisch jeden Auftritt analysiert und eingestuft. Nicht nur über DeLight wurde Buch geführt - auch die Berichterstatter sämtlicher Beiträge wurden von Rita erfasst und einer gnadenlosen Analyse unterzogen. Die Schulhefte, in denen sie ihre Untersuchungen zusammenfasste, lesen sich wie ein bundesdeutsches Medienregister der Jahrtausendwende. Mit der Sammlung konfrontiert überkam Hauptkommissar Klein »noch nachträglich ein schauderhaftes Gefühl«. Was war der Auslöser für die erste Bluttat, der am 31. August 2000 der PornoDarsteller Johann Werner zum Opfer fiel? Unvorbereitet ihren Bruder nach siebzehn Jahren der Trennung als Gast auf der Pressekonferenz im Hotel Astor wiederzusehen, wo Lilly DeLight ihren Abschied von der Porno-Leinwand bekannt gab? Zu erleben wie Elke Brenner von ihm umgebracht wurde und dadurch an die qualvolle Therapie und die Nachforschungen der Journalistin erinnert zu werden? Wir werden es vermutlich nie mehr erfahren. Johann Werner hat zwar die Verstümmelung und die tagelange Folter überlebt, nicht jedoch die letzte Nacht im Mordhaus. Tatsache ist, dass Rita Weinert noch in der Nacht, die auf die Ereignisse in Berlin folgten, den ersten der sensationsgeil so bezeichneten »Porno-Morde« beging. Es ist anzunehmen, dass Werner und Rita Weinert auf dem Firmengelände zusammentrafen. Vielleicht war sie gerade damit beschäftigt, die DeLightGummipuppen, die sie für ihr Ritual benötigte, aus dem Firmenlager zu stehlen. Möglicherweise hatte sie auch der Tierarztpraxis Peter Hofmeier einen Besuch abgestattet und war auf dem Rückweg über das Firmengelände ihrem ersten Opfer begegnet, denn große Mengen des Medikaments Polamivet, ein Methadonpräparat, das zur Betäubung größerer Hunde und Pferde eingesetzt wird, waren im August spurlos verschwunden, wie die Monatsinventur später ergab. Die Obduktion hat erwiesen, dass Johann Werner an den Folgen einer Überdosierung des Medikaments starb. Rita W. muss Werner überzeugt haben, sie zum Drehort - dem besagten »Krummen Haus« zu fahren - einem ehemaligen Waldlokal wenige Kilometer von Firmensitz und Privathaus Lilly DeLights entfernt. Spätestens dort muss sie ihn betäubt und mit einem Skalpell, das ebenfalls aus den Beständen der Tierarztpraxis stammte, verstümmelt, die Wunde provisorisch gereinigt und mit einer Slipeinlage »verbunden« haben. Mit Handschellen, Ledergürteln und Schnüren aus dem SexToy-Repertoire der Firma DeLight fesselt sie den betäubten und verstümmelten Mann an ein Feldbett. Es ist unwahrscheinlich, dass sie ihn schon jetzt schminkt, denn zu ihrem Ritual gehört noch ein weiteres Element: die Präsentation des Gliedes. Und dieser Akt lässt sich zeitlich recht genau einordnen. Mit Johann Werners Penis und einer Lilly-DeLight-Gummipuppe macht sie sich auf den Weg zum Wohnhaus ihrer Chefin. Im Garten arrangiert sie Puppe und Penis auf einer Luftmatratze, die auf dem Pool treibt. Bereits in den frühen Morgenstunden des 31. August 2000 entdeckt Lilly DeLight das bizarre Tableau. Rita befindet sich vermutlich noch in unmittelbarer Nähe des Fundorts, entkommt jedoch unerkannt, bevor sich Kommissar Klein, der in der Nachbarschaft wohnt, alarmiert von Lilly DeLights Schreien einfindet.
Schon am nächsten Vormittag macht Lilly DeLight in einer kleinen Parkanalage unweit ihrer Wohnung den zweiten schrecklichen Fund - keine hundert Meter von ihr entfernt sieht sie eine Gummipuppe, die mit dem Penis des Regieassistenten Ingo Jensen bestückt ist. Lilly erblickt neben dem Arrangement sogar eine Person - wobei es sich ihrer Aussage nach rückblickend sowohl um Rita in Männerkleidung wie auch ihren Zwillingsbruder Alexander gehandelt haben könnte. An diesem Morgen im Park erkennt sie den Täter jedoch noch nicht. Der Regieassistent Ingo Jensen befindet sich noch in postoperativer Behandlung, nachdem ihm ein italienisches Chirurgenteam in einer mehrstündigen Operation den Penis Alexander Weinerts transplantiert hat. Diese Operation, die seit 1998 möglich ist, wurde erst im Jahr 2000 an zwei Männern vor Ingo Jensen durchgeführt. Der Endverlauf der Behandlung ist noch nicht bekannt. Jensen schildert die Vorkommnisse der Nacht, an die er sich jedoch nur noch bruchstückhaft erinnert: »Ich verbrachte die Nacht am Set, weil am nächsten Morgen Drehbeginn sein sollte und das Equipment schon installiert war. Ich weiß nicht wie spät es war, aber in der Nacht wachte ich auf und hörte Geräusche, also schlich ich durchs Erdgeschoss um zu schauen, was da vor sich geht. In der Küche sah ich Rita - sie war über den Esstisch gebeugt, und ich konnte nicht sehen, was sie da macht - es war ziemlich dunkel. Ich erinnere mich noch an einen komischen Geruch, der in der Luft lag, und dass ich ihr etwas zurief. Ich weiß nicht mehr, was ich gesagt habe. Sowas wie, »Was machst denn du hier um die Uhrzeit?«, oder so. Da springt sie mir schon an die Kehle und knallt mir eine Spritze in den Arm. Von da an habe ich kaum noch Erinnerungen. Dass ich versuche aufzuwachen - alles irgendwie neblig ist um mich und dass ich mich nicht bewegen kann. Schmerzen zwischen meinen Beinen. Das müssen die Momente gewesen sein, wo die Drogen, die sie uns spritzte, in ihrer Wirkung nachgelassen haben. Einmal, kann ich mich erinnern, waren die Schmerzen besonders schlimm, ich hatte das Gefühl, sie legte irgendetwas auf mich drauf und drückte es auf meinen Körper. Aber ich kann mich auch irren.« Rita W. inszenierte mit den beiden Männern und unter Verwendung einer LillyDelight-Gummipuppe die Fucking games ihrer Kindheit. Betrachtet man die Umstände der beiden Fälle und zieht man auch den Fall Hofmeier in Betracht, so scheint es, dass die Opfer willkürlich ausgesucht waren. Das Treffen mit Johann Werner war keineswegs geplant und auch Ingo Jensen wurde seine zufällige Anwesenheit im »Krummen Haus« zum Verhängnis. Der Tierarzt Peter Hofmeier ertappte Rita W. vermutlich bei dem Versuch, sich in den Besitz zusätzlichen Polamivets zu bringen - es war die Nacht zum 2. September. Im Gegensatz zu Werner und Jensen, brachte sie Hofmeier noch in derselben Nacht um. Und verstümmelte nicht nur seine Genitalgegend, sondern trennte ihm auch die rechte Hand ab - eine Tat, die auf eine Erzählung der Zwillingsschwester Elke Brenners, Karin Berger, verweist. Das bizarre Make-up, das sie ihren Opfern verpasste, sollte die Geschlechtsumwandlung perfekt machen. Während das Hotel Kaiserworth Anfang September 2000 eine Anzahl ungewöhnlicher Filmstars beherbergt, hat sich in der christlichen Begegnungsstätte Haus Hessenberg ein weiterer Gast einquartiert, der mit dem Fall in Verbindung steht - Alexander Weinert, der Mörder von Dr. Vogel und Elke Brenner. Er ist seiner »Schwester« gefolgt. Dass sein Rechtsempfinden schwer gestört ist, belegen die Notizen, die er
zurückgelassen hat. Ähnlich wie seine Schwester notierte er akribisch genau, was ihn beschäftigte, in DIN-A4-formatigen Schulheften. Mehrere Kladden sind gefüllt mit absurden Theorien über Macht und Sexualität. Drei eng beschriebene Hefte beschreiben die Eindrücke, die er vom neuen Leben seiner »Schwester« hatte. Es sind paranoide Unterstellungen, aus denen die Verzweiflung über den Verlust der Schwester an eine »dunkle, triebhafte Macht« spricht, sowie Pläne, Rita zu retten und zu erlösen. Wann immer sich Rita in der Öffentlichkeit zeigt, ist Alexander nicht fern - zunächst als Beobachter aus der Ferne. Aufgrund der massiven Pressepräsenz fällt das unbekannte Gesicht in der Menge niemandem auf. Fast niemandem. Nach einem Gespräch mit dem SocietyKolumnisten Gerd Bartels, der zu diesem Zeitpunkt als Einziger die Verbindung zwischen den beiden Mordserien hergestellt und in Alexander Weinert den Bruder von Lilly DeLights Assistentin erkannt hat, begeht Weinert einen letzten Fahrerfluchtmord - Gerd Bartels wird jedoch nicht einfach umgefahren und liegen gelassen - wie um ihn doppelt für sein Wissen zu bestrafen, zerrt Weinert die Leiche auf die Straße, wo sie ein zweites Mal, diesmal vom Wagen Lilly DeLights, erfasst wird. Aus Angst, noch mehr in den Fall verwickelt und von Presse und Öffentlichkeit gebrandmarkt zu werden, begeht DeLight einen Tatbestand, der juristisch nicht erfassbar ist: Beifahrerflucht. Auf dem Weg ins Hotel Kaiserworth wird sie von zwei Skinheads, Ralf P. und HansPeter K., belästigt. Dieser Vorfall wird ihr später das Leben retten, denn die Polizei hat keine Informationen über DeLights Aufenthaltsort. »Marco war wegen des Unfalls im Verhör und durfte offiziell nicht wissen, wo ich bin. Ich ging ins Hotel, um nicht allein zu sein. Ich konnte dort nicht bleiben, weil jemand Verdachtsmomente gestreut hat, über die ich nicht reden möchte - jedenfalls fühlte ich mich dort nicht sicher und machte mich auf den Weg zu meiner Assistentin. Die einzigen Leute, die eine Ahnung hatten, wo ich war, waren diese beiden Idioten, die mich bedroht hatten.« Ralf P. wird von Lilly DeLights Hund angegriffen, der seine Besitzerin verteidigt, als die jungen Männer versuchen, sie zu belästigen. DeLight flüchtet zunächst ins Hotel. Die beiden Männer fahren in die Notaufnahme des Krankenhauses, um die Bisswunde behandeln zu lassen. Ralf P. hält Lilly DeLight noch heute für eine »Gefahr für die Menschheit« und hat sie auf einen Schmerzensgeldbetrag in Millionenhöhe verklagt. Der Fall ist noch nicht verhandelt, aber in juristischen Kreisen reagierte man mit großem Amüsement. »Auf dem Weg ins Krankenhaus haben wir uns gesagt - die Alte ist doch nicht normal, läuft mit ihrem Kampfhund rum und schneidet Männern die Dinger ab. Das kannste doch nicht machen! Wir sind echt keine Bullenfreunde, aber als deutscher Staatsbürger hast du doch die Pflicht, einen Verbrecher ins Gefängnis zu bringen. Da sind wir dann zu den Bullen und haben sie angezeigt.« Fünf Minuten Ruhm ... Es ist vier Uhr morgens, als die Polizei Informationen über die nächtlichen Aktivitäten Lilly DeLights erhält. Kommissar Klein begibt sich ins Hotel Kaiserworth, dann zur Wohnung Rita Weinerts.
Anstatt selbst das Wohnhaus zu überprüfen, folgt er einem Instinkt, schickt eine Streife vorbei und macht sich auf den Weg ins »Krumme Haus«. Begleitet wird er von DeLights Bodyguard, dem seit Oktober amtierenden Mister Germany, Marco Oldenburg. »Gerade in dem Moment, wo wir auf der Lichtung ankamen, rannte uns Lilly entgegen, klatschnass, mit einem zerfetzten T-Shirt. Rita war hinter ihr her. Dann warf mir Lilly etwas zu sie hat einen ziemlich kräftigen Wurf - beinahe hätte ich gesagt für ein Mädchen - und wurde von Rita niedergerissen. Klein zielte auf Ritas Arm und erwischte sie, sie ging zu Boden. Ich hatte plötzlich einen Penis in der Hand, an dem noch Blut klebte. Es war schrecklich. Klein fesselte Rita mit Handschellen - sie war bewusstlos - und orderte Verstärkung und einen Krankenwagen und dann ging er ins Haus. Ich kümmerte mich um Lilly.« Klein entdeckt im Erdgeschoss des Hauses die Leiche von Alexander Weinert. Auch er wurde Opfer der bizarren Geschlechtsumwandlung, die seine Schwester ihren Opfern angedeihen ließ. Sein Tod lag kaum eine Stunde zurück. Seinen Aufzeichnungen ist zu entnehmen, dass er in dieser Nacht den ersten Kontakt zu seiner Schwester aufnehmen wollte. Wieder hat Rita Weinert zufällig ein Opfer gefunden - und in diesem Fall eines, das mit ihrem Trauma eng verknüpft ist. Lilly DeLight äußert sich nicht öffentlich zu dem, was zwischen ihr und ihrer Assistentin im Krummen Haus vorgefallen ist. Es liegt jedoch nahe, dass Rita vorgehabt hatte, Lilly DeLight mit dem abgetrennten Penis ihres Zwillingsbruders zu vergewaltigen. Hatte sie den Ritus zuvor mit der Gummipuppe vollzogen, musste ihr die schicksalhafte Fügung der Anwesenheit ihres Bruders und ihrer Obsession in Fleisch und Blut wie eine Bestimmung vorkommen. Im Keller entdeckt Kommissar Klein Johann Werner und den noch lebenden Ingo Jensen. Für Werner kommt jede Hilfe zu spät, doch Jensen wird von den mittlerweile eingetroffenen Sanitätern zunächst ins Städtische Krankenhaus eingeliefert und noch in der selben Nacht nach Rom geflogen, wo am Krankenhaus Umberto l die Vorbereitungen für die weltweit dritte Penistransplantation getroffen werden. Drei Monate später haben sich die Wogen geglättet. Als ich diese Formulierung Lilly DeLight gegenüber fallen lasse, wird sie wütend und ihre Augen beginnen zu funkeln. »Wie kann man denn so etwas sagen? Es sind Menschen gestorben - Menschen, die Familien und Freunde hinterlassen. Erzählen Sie denen mal, die Wogen haben sich geglättet.« Natürlich hat sie Recht. Und natürlich ist auch die gesamtdeutsche Presse wieder auf ihrer Seite und feiert sie als Heldin. »Ich war in einer beschissenen Zeit zur richtigen Zeit am richtigen Ort.« Das ist alles, was sie zu ihrer Funktion in dieser Nacht sagen will. Obwohl die Presse mit ihrer Belagerung der Kaiserin der Kaiserstadt jetzt erst richtig anfängt, werden die Dreharbeiten zu Lilly Delights Hexen in Rekordzeit abgeschlossen. Der Sender, der bereits aus Image-Gründen von der Produktion zurücktreten wollte, reserviert DeLights Regie-Debüt einen traumhaften Sendeplatz.
Die unter ungünstigsten Bedingungen hergestellte Produktion, die am ersten Weihnachtstag auf TV1 ausgestrahlt wird, hat in Pressevoraufführungen Szenenapplaus bekommen. Der Sender rechnet mit einer Sensationsquote. Hauptdarsteller Ronny Sanchez kann sich schon jetzt vor Angeboten nicht retten und auch DeLight-Fans werden auf ihre Kosten kommen. Die Diva tritt in einer kleinen, aber prägnanten Rolle - »ein allerletztes Mal - ich versprech's« - vor die Kamera. Ob Mister Germany Marco Oldenburg seine schauspielerische Karriere fortsetzen wird, ist Lilly DeLight noch nicht bekannt. »Bei seinen offensichtlichen Vorzügen wäre es eine Schande, wenn er's bei diesem einen Film beließe.« Ob Rita Weinerts größter Traum - die Geschlechtsumwandlung - jemals wahr wird, ist stark anzuzweifeln. Voraussetzung dafür wäre ihre vollständige geistige Genesung. Als gesunde Frau wäre sie jedoch auch voll verantwortlich für die Morde, die im September 2000 die Schlagzeilen der deutschen Presse bestimmten. Lilly DeLight hat die besten Ärzte für ihre ehemalige Assistentin gefunden und kommt für die Kosten der Behandlung in einer Privatnervenklinik in einem Dorf nahe Goslar auf. Als ich mich von ihr verabschiede und sie mir mit ihrem Hund Mikey zum Gartenzaun folgt, wo ein halbes Dutzend Fotografen eifrig ihrer beruflichen Verpflichtung nachkommen, sagt sie einen letzten Satz zu mir. »Wenn etwas einen Knacks hat, dann ist es anscheinend viel leichter, es wegzuwerfen, als es zu reparieren. Kaum einer denkt daran, dass man die Möglichkeit der Reparatur hat.« Es ist dieser schnörkellose Pragmatismus, der die Königin des Porno menschlich und beruflich groß gemacht hat und der sie zweifelsohne noch viel weiter bringen wird, als sie sich heute vorstellen kann. Aber wer weiß - vielleicht weiß Lilly DeLight viel mehr, blickt viel weiter, als wir es uns auch nur annähernd vorstellen können.
Kapitel 21 »Er ist größer als mein eigener es war - also hatte das Ganze auch was Gutes.« »Ich bin froh, dass es dir wieder gut geht, Ingo.« »Dank dir, Lilly. Ein paar Stunden später, und es wäre zu spät gewesen. Die Ärzte haben mir gesagt, dass die nächste Spritze die letzte hätte sein können. Sie vermuten, dass Johann so gestorben ist.« »Ist er denn voll funktionstüchtig?« Er zögerte, bevor er antwortete. »Noch nicht so ganz, aber die Ärzte sagen, es wird. Ich bin immer noch in Nachbehandlung diese Operation haben sie vor mir erst bei zwei anderen Patienten vorgenommen. Schon verrückt, was die heute alles machen können.« Ich musste an die Therapiemethoden von Dr. Vogel denken, brachte sie aber nicht ins Gespräch. Wir alle hatten bei den Geschehnissen Anfang September an Glauben und Vertrauen eingebüßt und es war gut, dass wenigstens Ingo in hoffnungsvoller Stimmung und voller Zuversicht auf eine vollständige Genesung war. Es grenzte
immerhin an ein Wunder, dass sein Körper den Penis von Alexander nicht abgestoßen hatte und der Heilungsprozess zufrieden stellend verlief. Während ich mit Ingo telefonierte, schaute ich aus dem Fenster in den Garten. In der Nacht hatte es angefangen zu schneien, und schon jetzt war alles mit einer sauberen weißen Schneeschicht überzogen. Der Pool war mit einer Plane abgedeckt. Max und Ronny zerrten einen gigantischen Weihnachtsbaum über die Wiese und unterhielten sich ernsthaft. Bis Max ins Rutschen kam, mit den Armen ruderte und stürzte. Ronny sprang zu ihm hin, um ihn aufzufangen, aber bei dem Versuch verlor er das Gleichgewicht und landete ebenfalls im Schnee. Die beiden schauten sich an und brachen in schallendes Gelächter aus. Sie schienen sich überhaupt nicht mehr beruhigen zu können. »Ist es wahr, was ich heute in der Zeitung gelesen habe?«, fragte Ingo. Bei der Flut von Artikeln, die auch fast vier Monate nach den Porno-Morden nicht abebben wollte, hatte ich es längst aufgegeben, die Presse zu verfolgen - das erledigte Anni für mich. Was ihr nicht koscher vorkam, reichte sie direkt an meinen Anwalt weiter. Allerdings hatte sich der Ton der Presse um 180 Grad gedreht und plötzlich war Deutschlands Porno-Queen Nummer eins wieder die Heldin. Das stimmte mich ein klitzekleines bisschen zynisch, aber trotzdem war ich natürlich froh, dass man mich mit nur leicht versengten Flügeln wieder vom Scheiterhaufen heruntergelassen hatte. »Ich weiß nicht, was du gelesen hast, aber ich rate dir eins glaub nichts, was in der Zeitung steht. Kauf dir heute den FAKT. Da steht alles drin, was man über den Fall wissen muss. Exklusiv und autorisiert.« »Genau das meine ich. Ich habe gelesen, dass du die Geschichte für hunderttausend an FAKT verkauft hast.« »Bist du wahnsinnig? Für hunderttausend?« Ich musste lachen. Nicolette Rubin und ich hatten uns die Filmrechte gesichert und wären verrückt, sie für hunderttausend zu verschachern, so viel stand fest. »Weißt du was von Rita?« »Sie ist in Behandlung, aber es sieht nicht gut aus.« »Ich wache immer noch nachts auf und sehe sie vor mir - mit diesem irren Blick und der Kinderstimme. Ich hoffe, ich muss sie in meinem Leben nie wieder sehen.« »Da brauchst du dir keine Sorgen machen. Es sei denn, die Psychiatrie macht so sensationelle Fortschritte wie die Organtransplantation. Und damit ist, glaube ich, vorerst nicht zu rechnen.« Ich verschwieg ihm, dass ich versucht hatte, Rita in der Klinik zu besuchen. Man hatte mich nicht zu ihr gelassen, aus Angst, dass mein Anblick einen Rückfall in ihre Obsession auslösen könnte. Noch bestand ihre Therapie aus einem Cocktail Psychopharmaka - die Arzte waren überfragt, wann und wie sie mit einer analytischen Behandlung beginnen könnten. Es war nicht einfach,
jemanden zu therapieren, dessen Psychose so eng mit ärztlicher Versorgung verknüpft war. Alles, was ich jetzt noch tun konnte, war, ihr den Aufenthalt in der besten Klinik zu ermöglichen. »Was machst du an Heiligabend?« »Heiligabend feiern wir im kleinen Kreis. Und am ersten Weihnachtstag kommt die Hexen-Crew - mit einigen Ausnahmen, wie du dir denken kannst - und wir schauen uns zusammen den Film im Fernsehen an. Schade, dass du nicht dabei sein kannst.« »Vielleicht nächstes Jahr. Aber ich hoffe, dass du an mich denkst, wenn die Geschichte verfilmt wird.« »Okay Ingo. Lass es dir gut gehen und erhole dich schnell, ja?« »Mach's gut. Grüß mir alle - auch Mister Germany! Und danke noch mal.« Ich legte den Hörer auf und schaute zu den beiden Männern hinaus, die immer noch mit der Tanne kämpften. Ich hatte einiges erlebt in meinem Leben und noch viel mehr in der kurzen Spanne von vier Tagen im September diesen Jahres. Es gab Nächte, in denen ich schweißgebadet aufwachte, weil meine Träume mich ins Krumme Haus zurückversetzt hatten. In solchen Momenten, wenn ich mich zitternd im Bett aufsetzte und die Nachttischlampe anschaltete, weil ich das Dunkel nicht ertragen konnte, dachte ich an die Hinterbliebenen der Mordfälle, die einen schwereren Kampf zu kämpfen hatten als ich. In ihr Leben war eine unheilbare Wunde gerissen worden, und an dieser Wunde hatte sich die Presse geweidet. Ich hatte Freunde verloren und Angestellte, aber meine Familie war am Leben. Mein Ruf war wiederhergestellt und in mein Leben war wieder so etwas wie Ruhe eingekehrt. Aber die Trauer der Angehörigen würde niemals vorbei sein, sie würde im Lauf der Zeit weniger schmerzen, aber aus der Wunde würde eine Narbe werden, die immer ein wenig wehtun wird. Wenn ich durch die Vorfälle etwas gelernt habe, dann eines: Nichts ist wie es scheint. Für viele Menschen mag das ein Grund zum Verzweifeln sein. Aber wenn ich darüber nachdenke, muss ich sagen - im Grunde ist es auch so etwas wie ein Versprechen. Das Leben hört nie auf, mich zu überraschen. Als ich jetzt auf die beiden Männer im Schnee hinabschaute, schienen jene vier Tage weit zurückzuliegen. Es kam mir fast vor, als habe sie jemand anderer erlebt. Bei all dem Schrecken und all dem Schmerz, der Trauer, der Wut hatten sie doch etwas Gutes bewirkt. Wir, die wir uns liebten, hielten zusammen. Wir passten aufeinander auf. Und etwas, das so wertvoll und manchmal auch so schmerzhaft war wie das Leben selbst, das warfen wir nicht weg, das reparierten wir lieber.
Nachwort Liebe Leserin,
lieber Leser, ich kenne das - man liest einen Thriller, und bei der Auflösung stellt man sich vorsichtig die Frage - ist das nicht ein bisschen weit hergeholt? Was Ritas Geschichte angeht, ist die Antwort ein schlichtes Nein. Das Leben ist oft bizarrer, als man es sich wünschen würde. Die Idee zu Hard Cut kam mir bei der Lektüre eines Spiegel-Artikels. Das Schicksal, das die Rita in meinem Roman erlebt, beruht auf der wahren Geschichte einer ungewollten Geschlechtsumwandlung. Der Originalfall endete natürlich nicht so dramatisch wie die Geschichte, die ich auf den vorhergehenden Seiten erzählt habe. Der Junge, der aufgrund einer verpatzten Beschneidung in ein Mädchen umoperiert wurde, kam zwar Zeit seines Lebens als Frau nicht mit sich selber klar, er wurde jedoch später erfolgreich umoperiert und lebt jetzt wieder als Mann. Sein Fall hat unterdessen Furore gemacht, weil der Psychologe, in dessen Behandlung er war, ein Buch veröffentlichte, in dem er den positiven Ausgang der Therapie beschrieb - wovon jedoch überhaupt keine Rede sein konnte. Diverse Psychologen hatten sich an dem Jungen und seinem Zwillingsbruder mit unterschiedlichen Behandlungsmethoden ausgetobt, die ihm ein Leben als Mädchen verpassen sollten, aber sämtlich fehlschlugen. Dieser Originalfall war die Inspiration für Hard Cut, aber alle Ausführungen und die Handlungen der Figur Rita beruhen auf meiner Fantasie und stehen in keinem Verhältnis zu tatsächlichen Ereignissen oder Erlebnissen lebender oder verstorbener Personen, Beim Schreiben habe ich mich manchmal gefragt, ob Ritas persönlicher Werdegang als Grund für eine so schlimme Psychose ausreicht, die sie dazu bringt, anderen Menschen solchen Schaden zuzufügen. Das Lexikon der Serienmörder (München 2000) hat mich davon überzeugt, dass ihre Geschichte nicht unrealistisch ist - andere Menschen haben schon aus weniger dramatischen Gründen getötet oder irrationale Handlungen begangen. Es ist mir jedoch sehr wichtig festzuhalten, dass natürlich nicht jeder Mensch, der unter einem Schicksal zu leiden hat, wie ich es am Beispiel Ritas schildere, zum Mörder wird. Hard Cut ist ein Thriller, ein Produkt meiner Fantasie. Was die Penistransplantation im letzten Kapitel angeht, so entspringt auch die meiner Fantasie. Meine Recherchen haben ergeben, dass im Jahr 1998 ein italienischer Arzt die Erlaubnis, derartige Operationen durchführen zu können, bei den Gesundheitsbehörden beantragt hat. Ich habe jedoch keine Informationen, die belegen, dass es je zur Durchführung kam. In den Internet-Foren internationaler Urologen finden sich keine Hinweise auf eine derartige Operation. DOLLY BUSTER