Gerhard Gründer - Dtto Benkert (Hrsg.) Handbuch der Psychopharmakotherapie
2., vollständig überarbeitete und aktualisierte Auflage
Gerhard Gründer Otto Benkert
(Hrsg.)
Handbuch der Psychopharmakotherapie 2., vollständig überarbeitete und aktualisierte Auflage Mit 191 Abbildungen und 157Tabellen
~ Springer
Prof. Dr. med. Gerhard Gründer Klinik für Psychiatrie, Psychotherapie und Psychosomatik Pauwelsstr. 30, 52074 Aachen E-Mail:
[email protected] Prof. Dr. med. Otto Benkert Luisenstr. 19, 55124 Mainz E-Mail:
[email protected] ISBN-13 978-3-642-19843-4 Springer-Verlag Berlin Heidelberg New York Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt. Die dadurch begründeten Rechte, insbesondere die der Übersetzung, des Nachdrucks, des Vortrags, der Entnahme von Abbildungen und Tabellen, der Funksendung, der Mikroverfilmung oder der Vervielfältigung auf anderen Wegen und der Speicherung in Datenverarbeitungsanlagen, bleiben, auch bei nur auszugsweiser Verwertung, vorbehalten. Eine Vervielfältigung dieses Werkes oder von Teilen dieses Werkes ist auch im Einzelfall nur in den Grenzen der gesetzlichen Bestimmungen des Urheberrechtsgesetzes der Bundesrepublik Deutschland vom 9. September 1965 in der jeweils geltenden Fassung zulässig. Sie ist grundsätzlich vergütungspflichtig. Zuwiderhandlungen unterliegen den Strafbestimmungen des Urheberrechtsgesetzes. SpringerMedizin Springer-Verlag GmbH ein Unternehmen von Springer Science+Business Media springer.de © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2012 Produkthaftung: Für Angaben über Dosierungsanweisungen und Applikationsformen kann vom Verlag keine Gewähr übernommen werden. Derartige Angaben müssen vom jeweiligen Anwender im Einzelfall anhand anderer Literaturstellen auf ihre Richtigkeit überprüft werden. Die Wiedergabe von Gebrauchsnamen, Warenbezeichnungen usw. in diesem Werk berechtigt auch ohne besondere Kennzeichnung nicht zu der Annahme, dass solche Namen im Sinne der Warenzeichen- und Markenschutzgesetzgebung als frei zu betrachten wären und daher von jedermann benutzt werden dürfen. Planung: Renate Scheddin, Heidelberg Projektmanagement: Renate Schulz, Heidelberg Lektorat: Karin Dembowsky, München Umschlaggestaltung: deblik Berlin Coverbild: © Anette Linnea Rasmus, fotolia.com deblik.de Satz: Fotosatz Detzner, Speyer SPIN: 12634743 Gedruckt auf säurefreiem Papier
26/2126 – 5 4 3 2 1 0
V
Vorwort Seit dem Erscheinen der ersten Auflage des vorliegenden Handbuches sind vier Jahre vergangen. In diesen Jahren hat sich das Umfeld, in dem wir unsere Patienten mit Psychopharmaka behandeln, vor allem politisch und wirtschaftlich erheblich verändert. Teure Rückschläge bei der Entwicklung neuer Neuropsychopharmaka haben dazu geführt, dass sich mehrere große, international operierende pharmazeutische Unternehmen weitgehend aus dem Indikationsbereich »ZNS« zurückgezogen haben. Allenfalls neurodegenerative Erkrankungen werden noch als Indikationen betrachtet, die relativ kurzfristig noch wirtschaftliches Potenzial versprechen. Erkrankungen wie Schizophrenien oder affektive Störungen werden im Vergleich dazu und zu vielen internistischen Erkrankungen als zu komplex angesehen, als dass wirtschaftliche Chancen und Entwicklungsrisiko noch in einem vernünftigen Verhältnis zueinander stehend empfunden werden. Hinzu kommt, dass nahezu alle Psychopharmaka in wenigen Jahren ihren Patentschutz verloren haben werden. Was sich bereits jetzt positiv auf die Kassen der Kostenträger und die Budgets von Ärzten und Krankenhäusern auswirkt, wird den Zwang, Einsparungen vorzunehmen, bei der Industrie zusätzlich erheblich verschärfen. Es ist zu befürchten, dass auch dies ungünstige Folgen für die auch als »Innovationskrise« bezeichnete derzeitige Situation haben wird. Unklar ist im Moment, welche Konsequenzen das Anfang 2011 in Kraft getretene Arzneimittelmarkt-Neuordnungsgesetz (AMNOG) für den deutschen Arzneimittelmarkt haben wird, insbesondere, was die Einführung neuer Arzneimittel angeht. Das Gesetz sieht vor, dass sich die Preisbildung für neue Medikamente an dem »Zusatznutzen», das diese bieten, orientiert. Die Bewertung dieses Zusatznutzens obliegt dem Institut für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen (IQWiG). Es ist zu befürchten, dass das AMNOG zu einem Wiederaufleben der »Me-too-Debatte« führen wird. Das hat schon die Diskussion um die angebliche Austauschbarkeit der Antipsychotika der zweiten Generation gezeigt. Wenn Endpunkte für einen Therapieerfolg schlecht definiert sind, wie dies z. B. für schizophrene Störungen gilt, so wird auch der Nachweis eines »Zusatznutzens« eines neuen Medikaments schwer fallen. Auch dieses Umfeld macht es für die Pharmaindustrie nicht unbedingt attraktiver, die erheblichen Risiken der Neuentwicklung eines Neuropsychopharmakons einzugehen. Für den Wissenschaftler und Kliniker, der neue Arzneimittel in Kooperation mit der Industrie entwickelt, der die Wirksamkeit und Sicherheit von Arzneimitteln prüft oder ihre Wirkungsmechanismen am Menschen erforscht, ist das gesellschaftliche Umfeld nicht günstig. Nicht nur bestehen weiterhin erhebliche Vorurteile gegenüber Psychopharmaka in der Öffentlichkeit; die Kritik an Ärzten, die die Zusammenarbeit mit der Industrie nicht scheuen, ist auch – unter durchaus berechtigtem Hinweis auf ihre potenziellen Interessenkonflikte – in wohl keinem Fach so populär wie in der Psychiatrie. In diesem politischen, gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Umfeld sind wir erneut mit dem Anspruch angetreten, den aktuellen Stand einer rationalen Therapie mit Psychopharmaka darzustellen und ein modernes und umfassendes Handbuch der psychiatrischen Pharmakotherapie vorzulegen. Der Fortschritt auf dem Feld der präklinischen Grundlagen war in den letzten vier Jahren wieder sehr groß. Demgegenüber hat sich die klinische Psychopharmakotherapie nur in kleinen Schritten fortentwickelt. Dennoch darf auch hier, trotz der oben skizzierten Schwierigkeiten, von wichtigen Fortschritten gesprochen werden. Gerade im neu konzipierten einleitenden Kapitel, das die Wege zu einer »funktionalen« Psychopharmakotherapie weist, werden vielerlei Neuentwicklungen aufgezeigt, die die Behandlung psychischer Störungen in den kommenden Jahren und Jahrzehnten erheblich verändern werden. Die Grundstruktur des Buches aus der ersten Auflage haben wir weitgehend unverändert gelassen. Um jedoch Redundanzen, teilweise auch Widersprüche, zu reduzieren, haben wir uns bemüht, für komplementäre Kapitel (z. B. Neurobiologie von Essstörungen/Medikamente zur Behandlung von Essstörungen/Therapie von Essstörungen) möglichst identische Autoren zu gewinnen. Dadurch musste zum Teil auf Autoren der ersten Auflage verzichtet werden, ohne dass Unzufriedenheit mit deren Arbeit an der ersten Auflage bestanden hätte. Einzelne Autoren, die inzwischen in der pharmazeutischen Industrie tätig sind, haben auf die weitere Mitarbeit verzichtet, um sich selbst, ihrem Arbeitgeber und auch der Neutralität des Buches nicht zu schaden. Das ist jedoch nicht in jedem Fall erfolgt, da die Anstellung in der Industrie und die produktneutrale Darstellung sich nach der festen Überzeugung der Herausgeber nicht ausschließen. Einzelne Kapitel wurden ganz
VI
Vorwort
neu geschrieben (z. B. Cognitive Enhancers), um aktuellen Entwicklungen der Psychopharmakotherapie Rechnung zu tragen. Ebenso waren die Herausgeber bemüht, widersprüchliche Aussagen in den einzelnen Kapiteln zu glätten. Wenn dies nicht in jedem Fall gelang, wurde der abweichenden Aussage des Autors Vorrang gegeben. Auch das Herausgeberteam hat sich verändert. Florian Holsboer konnte aufgrund seiner vielen Aufgaben innerhalb der Max-Planck-Gesellschaft an der Neuauflage nicht mehr mitarbeiten. Um auch zukünftig die durch ihn repräsentierte Expertise gerade in der präklinischen Pharmakologie ausreichend abzubilden, haben die Herausgeber Herrn Professor Michael Koch, Institut für Hirnforschung der Universität Bremen, gebeten, den ersten Teil des Buches mitzugestalten und zu redigieren. Diese Zusammenarbeit war sehr zweckdienlich und zielorientiert, um auch in dieser zweiten Auflage des Buches die Bedeutung der präklinischen Grundlagen für die Prinzipien der klinischen Pharmakologie zu betonen. Frau Scheddin und Frau Schulz vom Springer Verlag, Heidelberg, danken wir für die beständige Unterstützung des Projekts. Viele Abbildungen der ersten Auflage wurden neu gezeichnet, was ihre Qualität zum Teil erheblich verbessert hat. Ganz besonders zu danken ist Frau Karin Dembowsky, München, für die hervorragende Lektorierung des Buches und die unermüdliche und außerordentlich engagierte Unterstützung der Herausgeber. Frau Hedwig Erkens, Aachen, danken wir für die zuverlässige Unterstützung im Sekretariat. Frau Cornelia von Hoegen, Aachen, danken wir für die sorgfältige Korrektur der Druckfahnen. Unser abschließender Dank gilt allen Autoren, ohne deren Beiträge diese Neuauflage nicht entstanden wäre. Aachen und Mainz, im Oktober 2011 Gerhard Gründer und Otto Benkert
VII
Inhaltsverzeichnis 1
Konzeption und Grundlagen einer funktionalen Psychopharmakotherapie . .
13 1
Schlaf-EEG bei Mäusen und Ratten . . . . . . . . . . . . .
129
Mayumi Kimura und Frauke Ohl
Gerhard Gründer und Otto Benkert 14
Historische Entwicklung
Die moderne Psychopharmakologie aus wissenschaftshistorischer Sicht . . . . . . . . . . . . .
133
Elmira Anderzhanova und Carsten T. Wotjak 15
2
Die Mikrodialysetechnik und ihre Anwendung im Bereich der experimentellen Neurowissenschaften . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
In-vivo-Bildgebung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Thomas Michaelis, Susann Boretius und Eberhard Fuchs
143
Genetisch veränderte Tiere . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
149
23
Matthias M. Weber
16
Ralf Kühn und Wolfgang Wurst
Pharmakologische und präklinische Grundlagen
3
Pharmakologische Grundlagen . . . . . . . . . . . . . . . . .
17
Aminosäuren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Wulf Hevers und Hartmut Lüddens
169
18
Amine. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Patrick Schloss
185
19
Peptide . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Martin E. Keck und Rainer Landgraf
197
20
Steroide . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Rainer Rupprecht
211
Endocannabinoide . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
219
39
Anne Eckert und Walter E. Müller 4
Grundlagen der Physiologie von Nervenzellen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
51
Matthias Eder 5
Prinzipien neuronaler Signalketten . . . . . . . . . . . . .
61
Georg Köhr
21
Beat Lutz 6
Entdeckungsstrategien in der Wirkstoffforschung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
69
22
Ronald Kühne und Gerd Krause
Tiermodelle für neurodegenerative Erkrankungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
223
André Fischer 7
Psychopharmaka-Entwicklung: von der Entdeckung bis zur Zulassung . . . . . . . . . .
87
23
Ion-George Anghelescu 8
Verhaltenspharmakologie – Eine Übersicht . . . . .
105
24
Eberhard Fuchs 9
Tiermodelle . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
Klinische Relevanz von Tiermodellen für psychiatrische Störungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
231
Tiermodelle für schizophrene Störungen . . . . . . .
239
Ulrich Schmitt 107
25
Ulrich Schmitt 10
Tiermodelle für abhängiges Verhalten . . . . . . . . . . Daniel Bachteler und Rainer Spanagel
Tiermodelle für affektive Störungen. . . . . . . . . . . . .
245
Gabriele Flügge und Eberhard Fuchs 26 111
Tiermodelle für Zwangsstörungen . . . . . . . . . . . . . .
253
Christine Winter
Frauke Ohl und Saskia S. Arndt 27 11
Neurotransmitterhypothesen . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
115
Gabriele Flügge 12
Elektrophysiologische In-vivo-Methoden in der Grundlagenforschung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Thomas Fenzl und Carsten T. Wotjak
125
Tiermodelle für Angststörungen . . . . . . . . . . . . . . . . Alexandra Wigger und Rainer Landgraf
259
VIII
Inhaltsverzeichnis
41
Neurobiologie 42 28
Alzheimer-Demenz und weitere neurodegenerative Erkrankungen . . . . . . . . . . . . . .
Abhängiges Verhalten bei Suchterkrankungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
267
Schizophrene Störungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
281
297
Johann Steiner und Bernhard Bogerts 31
Affektive Erkrankungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
33
34
Angststörungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Jens Plag und Andreas Ströhle Essstörungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Beate Herpertz-Dahlmann, Kerstin Konrad, Kristian Holtkamp und Johannes Hebebrand Schlafstörungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
325
Sexuelle Funktionsstörungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
Persönlichkeitsstörungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
45
Positronen- und Einzelphotonenemissionstomographie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
Schmerz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
46
Neuropsychologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ulrich Michael Hemmeter und Bernd Kundermann
47
Psychiatrische Genetik und genetische Epidemiologie . . . . . . . . . . . . . . . . . .
48
49 361
383
Aufmerksamkeitsdefizit-/ Hyperaktivitätsstörung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
483
495
509
Nosologische Klassifikationssysteme und Psychopharmakologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
523
Matthias J. Müller
351
373
465
Thomas G. Schulze, Petra Franke und Wolfgang Maier
50
Studien mit Psychopharmaka . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ralf Kohnen, Heike Beneš, Karl Broich und Thomas Fischer
533
Evidenzbasierte Medizin . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
553
Jürgen Fritze 51
Psychopharmakoökonomie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
563
Aloys Prinz
Walter Zieglgänsberger 38
441
Gerhard Gründer
Thomas Bronisch 37
Pharmakokinetik, Pharmakogenetik und therapeutisches Drug Monitoring . . . . . . . . . .
Magnetresonanzverfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ralf Schlösser, Kathrin Koch und Stefan Smesny
Matthias J. Müller 36
435
44
337
Axel Steiger 35
43
315
Hubertus Himmerich, Marianne B. Müller und Jürgen-Christian Krieg 32
Neuroimmunologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
Christoph Hiemke, Pierre Baumann und Julia Stingl
Thorsten Kienast und Andreas Heinz 30
425
Hubertus Himmerich
Christian Behl 29
Neuroendokrinologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Volker Ott, Felix Machleidt und Jan Born
52
Neurobiologie der Plazebowirkung . . . . . . . . . . . . .
575
Matthias J. Müller
391
Andrea G. Ludolph
Substanzgruppen Grundlagen und Methoden der klinischen Psychopharmakologie
53
Antidepressiva . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
589
Edith Holsboer-Trachsler und Florian Holsboer 39
Elektroenzephalographie in der Psychopharmakotherapie . . . . . . . . . . . . . . . .
399
54
Oliver Pogarell, Tilman Hensch und Ulrich Hegerl 40
Klinische Elektrophysiologie im Schlaf . . . . . . . . . . Thomas-Christian Wetter und Edith Holsboer-Trachsler
Medikamente zur Behandlung bipolarer affektiver Störungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
629
Heinz Grunze und Michael Bauer 417
55
Antipsychotika . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Gerhard Gründer
659
IX Inhaltsverzeichnis
56
Anxiolytika und Hypnotika . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
695
70
Hartmut Lüddens
Kokain, Amphetamin und andere Stimulanzien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
903
Anne Koopmann, Christoph Fehr und Falk Kiefer 57
Antidementiva. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
713
Isabella Heuser und Hans Förstl 58
Medikamente zur Behandlung von Abhängigkeit und Entzugssymptomen . . . . .
71
733
72
Falk Kiefer und Michael Soyka 59
Medikamente zur Behandlung sexueller Funktionsstörungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
Halluzinogene . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Euphrosyne Gouzoulis-Mayfrank
913
MDMA und andere moderne Designerdrogen . .
919
Euphrosyne Gouzoulis-Mayfrank 73
Nikotin . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Norbert Scherbaum und Markus Gastpar
925
74
Lösungsmittel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Markus Lorscheider und Christoph Fehr
933
75
Schizophrene Störungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . W. Wolfgang Fleischhacker und Alex Hofer
937
76
Unipolar depressive Störungen . . . . . . . . . . . . . . . . . Natascha Schwertfeger, Francesca Regen, Armin Szegedi und Otto Benkert
961
Bipolare affektive Störungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
993
751
Matthias J. Müller, Otto Benkert und Frank Sommer 60
Psychostimulanzien und verwandte Substanzen bei psychisch Kranken . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 765 Michael G. Kölch, Paul L. Plener und Jörg M. Fegert
61
Cognitive Enhancers . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
773
Gerhard Gründer 62
Medikamente zur Behandlung von Essstörungen und Adipositas . . . . . . . . . . . . . . .
785
Beate Herpertz-Dahlmann und Johannes Hebebrand
77
Ute Lewitzka und Michael Bauer
Nichtpharmakologische somatische Therapien
63
Hirnstimulationsverfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
793
78
Angststörungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1005 Jens Plag und Andreas Ströhle
79
Zwangsstörungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1021 Andreas Kordon, Bartosz Zurowski und Fritz Hohagen
80
Reaktionen auf schwere Belastungen und Anpassungsstörungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1029
Thomas Schläpfer und Sarah Kayser 64
Schlafentzugstherapie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
817
Martin Hatzinger und Edith Holsboer-Trachsler 65
Lichttherapie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
Michael Paulzen und Gerhard Gründer 823
Nicole Praschak-Rieder
81
Somatoforme Störungen und Somatisierungssyndrome . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1043 Hans-Peter Kapfhammer
Klinische Psychopharmakotherapie
66
Demenzen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
831
82
Essstörungen und Adipositas. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1059 Beate Herpertz-Dahlmann und Johannes Hebebrand
83
Schlafstörungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1067 Thomas Pollmächer und Thomas-Christian Wetter
Marion M. Lautenschlager, Nicola T. Lautenschlager und Hans Förstl 84 67
Alkohol . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
Sexuelle Funktionsstörungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1085 Matthias J. Müller
871
Falk Kiefer und Anne Koopmann 85 68
Opiate . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
Persönlichkeitsstörungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1097 Sabine C. Herpertz
885
Norbert Scherbaum und Markus Gastpar 86 69
Cannabis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . F. Markus Leweke und Carolin Hoyer
897
Aufmerksamkeits-/Hyperaktivitätsstörung (ADHS) im Erwachsenenalter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1111 Michael Colla
X
Inhaltsverzeichnis
Spezielle Psychopharmakotherapie
87
Pharmakotherapie psychiatrischer Notfallsituationen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1123 Matthias J. Müller und Christian Lange-Asschenfeldt
88
Psychopharmaka und Recht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1137 Matthias M. Weber, Sonja Lange und Christian Wolf
89
Psychopharmaka bei internistischen Erkrankungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1151 Christian Lange-Asschenfeldt und Günter Stalla
90
Psychopharmaka bei neurologischen Erkrankungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1163 Manuel Dafotakis
91
Psychopharmaka im Alter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1173 Marion M. Lautenschlager, Nicola T. Lautenschlager und Hans Förstl
92
Psychopharmaka im Kindesund Jugendalter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1185 Michael G. Kölch, Paul L. Plener und Jörg M. Fegert
93
Psychopharmaka in Schwangerschaft und Stillzeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1199 Michael Paulzen, Thomas F. Dielentheis und Gerhard Gründer
94
Psychopharmaka und Fahrtüchtigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1217 Yvonne Kaußner und Hans-Peter Krüger
Serviceteil
Farbtafeln . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1228 Stichwortverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1237
XI
Autorenverzeichnis Anderzhanova, Elmira, PhD Max-Planck-Institut für Psychiatrie Kraepelinstr. 2–10, 80804 München E-Mail:
[email protected] Bogerts, Bernhard, Prof. Dr. Klinik für Psychiatrie, Psychotherapie und Psychosomatische Medizin Otto-von-Guericke-Universität Magdeburg Leipziger Str. 44, 39120 Magdeburg E-Mail:
[email protected] Anghelescu, Ion-George, Prof. Dr. Turnhoutseweg 30, 2340 Beerse, Belgien E-Mail:
[email protected] Arndt, Saskia S., Dr. Department »Animals, Science & Society« Faculty of Veterinary Medicine, University of Utrecht PO Box 80.166, 3508 TD Utrecht, Niederlande E-Mail:
[email protected] Bachteler, Daniel, PhD Colgate-Palmolive 300 Park Ave, PK-10, New York, NY 10022, USA E-Mail:
[email protected] Bauer, Michael, Prof. Dr. Dr. Direktor der Klinik und Poliklinik für Psychiatrie und Psychotherapie Universitätsklinikum Carl Gustav Carus Fetscherstr. 74, 01307 Dresden E-Mail:
[email protected] Boretius, Susann, Dr. Biomedizinische NMR Forschungs GmbH am Max-Planck-Institut für biophysikalische Chemie 37070 Göttingen E-Mail:
[email protected] Born, Jan, Prof. Dr. Institut für Neuroendokrinologie, Universität zu Lübeck Ratzeburger Allee 160, 23538 Lübeck E-Mail:
[email protected] Broich, Karl, Dr. Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM) Kurt-Georg-Kiesinger-Allee 3, 53175 Bonn E-Mail:
[email protected] Bronisch, Thomas, Prof. Dr. Max-Planck-Institut für Psychiatrie Kraepelinstr. 2–10, 80804 München E-Mail:
[email protected] Baumann, Pierre, Prof. Dr. Unité de biochemie et psychopharmacologie clinique Départment universitaire de psychiatrie adulte (DUPA) Université de Lausanne, Hộpital de Cery 1008 Prilly-Lausanne, Schweiz E-Mail:
[email protected] Colla, Michael, Dr.
Behl, Christian, Univ.-Prof. Dr.
Dafotakis, Manuel, Dr.
Institut für Physiologische Chemie und Pathobiochemie Johannes-Gutenberg-Universität Mainz Duesbergweg 6, 55099 Mainz E-Mail:
[email protected] Universitätsklinikum Aachen, Neurologische Klinik Pauwelsstr. 33, 52074 Aachen E-Mail:
[email protected] Klinik und Hochschulambulanz für Psychiatrie und Psychotherapie, Charité Campus Benjamin Franklin Eschenallee 3, 14050 Berlin E-Mail:
[email protected] Dielentheis, Thomas, Dr. Dr. Beneš, Heike, Dr. MU Dr. Neurologische Klinik der Universität Rostock und Somni bene Institut für Medizinische Forschung und Schlafmedizin Schwerin GmbH Arsenalstraße 10, 19055 Schwerin E-Mail:
[email protected] LVR-Klinik Langenfeld, Abt. Psychiatrie I Kölner Str. 82, 40764 Langenfeld E-Mail:
[email protected] Eckert, Anne, Prof. Dr.
Benkert, Otto, Prof. Dr.
Neurobiologisches Forschungslabor Psychiatrische Universitätsklinik Basel Wilhelm Klein Str. 27, 4025 Basel, Schweiz E-Mail:
[email protected] Luisenstr. 19, 55124 Mainz E-Mail:
[email protected] Eder, Matthias, Dr. Klinische Neuropharmakologie, Max-Planck-Institut für Psychiatrie Kraepelinstr. 2–10, 80804 München E-Mail:
[email protected] XII
Autorenverzeichnis
Fegert, Jörg, Prof. Dr.
Fuchs, Eberhard, Prof. Dr.
Kinder- und Jugendpsychiatrie, Universitätsklinikum Ulm Steinhövelstr. 5, 89075 Ulm E-Mail:
[email protected] Deutsches Primatenzentrum Kellnerweg 4, 37077 Göttingen E-Mail:
[email protected] Fehr, Christoph, PD Dr.
Gastpar, Markus, Prof. Dr.
Chefarzt der Klinik für Psychiatrie Psychotherapie und Psychosomatik, Markus-Krankenhaus Wilhelm-Epstein-Str. 2, 60431 Frankfurt am Main E-Mail:
[email protected] Fliedner Klinik Berlin Ambulanz und Tagesklinik für psychologische Medizin Charlotenstr. 65, 10117 Berlin E-Mail:
[email protected] Fenzl, Thomas, Dr.
Gouzoulis-Mayfrank, Euphrosyne, Prof. Dr.
Max-Planck-Institut für Psychiatrie Kraepelinstr. 2–10, 80804 München E-Mail:
[email protected] Ärztliche Direktorin, LVR Klinik Köln-Merheim Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie Wilhelm-Griesinger-Str. 23, 51109 Köln E-Mail:
[email protected] Fischer, André, Prof. Dr. Abteilung für Psychiatrie und Psychotherapie Universitätsmedizin Göttingen, Georg-August-Universität DZNE, Deutsches Zentrum für Neurodegenerative Erkrankungen Grisebachstr. 5, 37077 Göttingen E-Mail:
[email protected] Gründer, Gerhard, Prof. Dr. Klinik für Psychiatrie, Psychotherapie und Psychosomatik Pauwelsstr. 30, 52074 Aachen E-Mail:
[email protected] Grunze, Heinz, Prof. Dr. Fischer, Thomas, Dr. Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM) Kurt-Georg-Kiesinger-Allee 3, 53175 Bonn E-Mail:
[email protected] School of Neurology, Neurobiology and Psychiatry Newcastle University, Laezes Wing, Royal Victoria Infirmary Queen Victoria Road, Newcastle upon Tyne NE1 4LP, United Kingdom E-Mail:
[email protected] Fleischhacker, W. Wolfgang, Univ.-Prof. Dr. Universitätsklinik für Psychiatrie Innsbruck Abteilung für Biologische Psychiatrie Anichstr. 35, 6020 Innsbruck, Österreich E-Mail:
[email protected] Hatzinger, Martin, Prof. Dr. Chefarzt Erwachsenenpsychiatrie, Professor für Psychiatrie Universität Basel, Psychiatrische Dienste Weissensteinstr. 102, 4503 Solothurn, Schweiz E-Mail:
[email protected] Flügge, Gabriele, Prof. Dr. Klinische Neurobiologie, Deutsches Primatenzentrum Kellnerweg 4, 37077 Göttingen E-Mail:
[email protected] Förstl, Hans, Prof. Dr. Klinik und Poliklinik für Psychiatrie und Psychotherapie Klinikum rechts der Isar der TU München Ismaniger Str. 22, 81675 München E-Mail:
[email protected] Hebebrand, Johannes, Prof. Dr. LVR-Klinikum Essen, Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie des Kindes- und Jugendalters, Universität Duisburg-Essen Virchowstr. 174, 45147 Essen E-Mail:
[email protected] Hegerl, Ulrich, Prof. Dr. Klinik und Poliklinik für Psychiatrie, Universitätsklinikum Leipzig Semmelweisstr. 10, 04103 Leipzig E-Mail:
[email protected] Franke, Petra, PD Dr. Abteilung für Abhängigkeitserkrankungen, LVR-Klinikum Düsseldorf Kliniken der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf Bergische Landstr. 2, 40629 Düsseldorf E-Mail:
[email protected] Heinz, Andreas, Prof. Dr.
Fritze, Jürgen, Prof. Dr.
Hemmeter, Ulrich Michael, PD Dr. Dr.
Verband der privaten Krankenversicherung e.V. Bayenthalgürtel 26, 50968 Köln E-Mail:
[email protected] St. Gallische Kantonale Psychiatrische Dienste Sektor Nord (KPD-SN) Zürcherstr. 30, Postfach 573, 9501 Will, Schweiz E-Mail:
[email protected] Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie Charité, Campus Mitte Charitéplatz 1, 10117 Berlin E-Mail:
[email protected] XIII Autorenverzeichnis
Hensch, Tilman, Dr.
Holsboer-Trachsler, Edith, Prof. Dr.
Klinik und Poliklinik für Psychiatrie, Universitätsklinikum Leipzig Semmelweisstr. 10, 04103 Leipzig E-Mail:
[email protected] Abteilung für Depressionsforschung, Schlafmedizin und Neurophysiologie Universitäre Psychiatrische Kliniken Wilhelm Klein Str. 27, 4025 Basel, Schweiz E-Mail:
[email protected] Herpertz, Sabine C., Prof. Dr. Direktorin der Klinik für Allgemeine Psychiatrie der Universität Heidelberg Voßstr. 2, 69115 Heidelberg E-Mail:
[email protected] Holtkamp, Kristian, PD Dr. DRK Fachklink Bad Neuenahr Lindenstr. 3-4, 53474 Bad Neuenahr E-Mail:
[email protected] Herpertz-Dahlmann, Beate, Univ.-Prof. Dr. Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie und -psychotherapie Universitätsklinikum Aachen Neuenhofer Weg 21, 52074 Aachen E-Mail:
[email protected] Hoyer, Carolin, Dr. Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie Zentralinstitut für Seelische Gesundheit J5, 68159 Mannheim E-Mail:
[email protected] Heuser, Isabella, Prof. Dr. Klinik und Hochschulambulanz für Psychiatrie und Psychotherapie Charité Campus Benjamin Franklin Eschenallee 3, 14050 Berlin E-Mail:
[email protected] Kapfhammer, Hans-Peter, Univ.-Prof. Dr. Dr. Direktor der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie Medizinische Universität Graz Auenbrugger Platz 31, 8036 Graz, Österreich E-Mail: Hans-p
[email protected] Hevers, Wulf, PD Dr. Max-Planck-Institut für evolutionäre Anthropologie Abteilung für Evolutionäre Genetik Deutscher Platz 6, 04103 Leipzig E-Mail:
[email protected] Kaußner, Yvonne, Dr. Interdisziplinäres Zentrum für Verkehrswissenschaften an der Universität Würzburg (IZVW) Röntgenring 11, 97070 Würzburg E-Mail:
[email protected] Hiemke, Christoph, Prof. Dr. Psychiatrische Klinik der Johannes-Gutenberg-Universität Mainz Untere Zahlbacher Straße 8, 55101 Mainz E-Mail:
[email protected] Himmerich, Hubertus, Prof. Dr. Klinik und Poliklinik für Psychiatrie Semmelweisstr. 10, 04103 Leipzig E-Mail:
[email protected] Hofer, Alex, PD Dr. Universitätsklinik für Psychiatrie Innsbruck Abteilung für Biologische Psychiatrie Anichstr. 35, 6020 Innsbruck, Österreich E-Mail:
[email protected] Hohagen, Fritz, Prof. Dr. Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie Universitätsklinikum Schleswig-Holstein, Campus Lübeck Ratzeburger Allee 160, 23538 Lübeck E-Mail:
[email protected] Holsboer, Florian, Prof. Dr. Dr. Dr. h. c. Direktor des Max-Planck-Instituts für Psychiatrie Kraepelinstr. 2–10, 80804 München E-Mail:
[email protected] Kayser, Sarah, Dr. Ärztin für Neurologie, Psychiatrie und Psychotherapie Brain Stimulation Group, Klinik und Poliklinik für Psychiatrie und Psychotherapie, Universitätsklinikum Bonn Sigmund-Freud-Str. 25, 53105 Bonn E-Mail:
[email protected] Keck, Martin E., PD Dr. Dr. Zentrum für Neurowissenschaften Zürich (ZNZ) und Klinik Schlössli AG Privatklinik für Psychiatrie und Psychotherapie 8618 Oetwil am See, Schweiz E-Mail:
[email protected] Kiefer, Falk, Prof. Dr., Dipl. oec. med. Klinik für Abhängiges Verhalten und Suchtmedizin Zentralinstitut für Seelische Gesundheit J5, 68159 Mannheim E-Mail:
[email protected] XIV
Autorenverzeichnis
Kienast, Thorsten, PD Dr.
Koopmann, Anne, Dr.
Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie Schön Klinik Hamburg Eilbeck Dehnhaide 120, 22081 Hamburg E-Mail:
[email protected] und Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie Charité Campus Mitte Charitéplatz 1, 10117 Berlin E-Mail:
[email protected] Klinik für Abhängiges Verhalten und Suchtmedizin Zentralinstitut für Seelische Gesundheit (ZI) J5, 68159 Mannheim E-Mail:
[email protected] Kimura, Mayumi, Dr. Max-Planck-Institut für Psychiatrie Kraepelinstr. 2–10, 80804 München E-Mail:
[email protected] Koch, Kathrin, Dr. Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie Friedrich-Schiller-Universität Jena Philosophenweg 3, 07743 Jena E-Mail:
[email protected] Koch, Michael, Prof. Dr. Institut für Hirnforschung, Abteilung Neuropharmakologie Zentrum für Kognitionswissenschaften COGNIUM Hochschulring 18, 28359 Bremen E-Mail:
[email protected] Kohnen, Ralf, Prof. Dr. Dipl.-Psych. RPS Research Germany GmbH Scheurlstr. 21, 90478 Nürnberg E-Mail:
[email protected] Köhr, Georg, PD Dr. Molekulare Neurobiologie Max-Planck-Institut für Medizinische Forschung Jahnstr. 29, 69120 Heidelberg E-Mail:
[email protected] Kölch, Michael, PD Dr. Kliniken für Kinder- und Jugendpsychiatrie, Psychotherapie und Psychosomatik, Vivantes Klinikum im Friedrichshain Vivantes Klinikum Neukölln Zadekstr. 53, 12351 Berlin E-Mail:
[email protected] Kordon, Andreas, Dr. Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie Universitätsklinikum Schleswig-Holstein, Campus Lübeck Ratzeburger Allee 160, 23538 Lübeck E-Mail:
[email protected] Krause, Gerd, Dr. Forschungsinstitut für Molekulare Pharmakologie Robert-Rössle-Str. 10, 13125 Berlin E-Mail:
[email protected] Krieg, Jürgen-Christian, Prof. Dr. Phillipps-Universität Marburg, Fachbereich Medizin Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie Rudolph-Bultmann-Str. 8, 35039 Marburg E-Mail:
[email protected] Krüger, Hans-Peter, Prof. Dr. Interdisziplinäres Zentrum für Verkehrswissenschaften an der Universität Würzburg (IZVW) Röntgenring 11, 97070 Würzburg E-Mail:
[email protected] Kühn, Ralf, Dr. Helmholtz Zentrum München, Institut für Entwicklungsgenetik 85764 Neuherberg E-Mail:
[email protected] Kühne, Ronald, Dr. FMP, Leibniz-Institut für Molekulare Pharmakologie Campus Berlin-Buch Robert-Rössle-Str. 10, 13125 Berlin E-Mail:
[email protected] Kundermann, Bernd, Dr. Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie Universitätsklinik Marburg Rudolph-Bultmann-Str. 8, 35039 Marburg E-Mail:
[email protected] Konrad, Kerstin, Prof. Dr., Dipl.-Psych. Klinische Neuropsychologie des Kinder- und Jugendalters Klinik für Psychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie des Kindes- und Jugendalters, Universitätsklinikum der RWTH Aachen Neuenhofer Weg 21, 52074 Aachen E-Mail:
[email protected] Landgraf, Rainer, Prof. Dr. Klinisches Institut, AG Verhaltensneuroendokrinologie Max-Planck-Institut für Psychiatrie Kraepelinstr. 2–10, 80804 München E-Mail:
[email protected] Lange, Sonja, Rechtsanwältin Dr. Matzen und Partner Neuer Wall 55, 20354 Hamburg E-Mail:
[email protected] XV Autorenverzeichnis
Lange-Asschenfeldt, Christian, Dr.
Machleidt, Felix, Dr.
Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie Kliniken der Heinrich-Heine Universität Düsseldorf Rheinische Kliniken Düsseldorf Bergische Landstr. 2, 40629 Düsseldorf E-Mail:
[email protected] Universitätsklinikum Schleswig-Holstein, Campus Lübeck Medizinische Klinik I, Haus 50 Ratzeburger Allee 160, 23538 Lübeck E-Mail:
[email protected] Maier, Wolfgang, Prof. Dr. Lautenschlager, Marion, Dr. Dipl.-Chem. Spezialambulanz für Psychosen Charité-Universitätsmedizin Berlin Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie Campus Charité Mitte Charitéplatz 1, 10117 Berlin E-Mail:
[email protected] Lautenschlager, Nicola T., Prof. Dr. Academic Unit for Psychiatry of Old Age University of Melbourne St. George’s Campus, St. Vincent’s Hospital 283 Cotham Road Kew, Victoria, 3101, Australia E-Mail:
[email protected] Klinik und Poliklinik für Psychiatrie und Psychotherapie Universitätsklinikum Bonn Siegmund-Freud-Str. 25, 53105 Bonn E-Mail:
[email protected] Michaelis, Thomas, Dr. Biomedizinische NMR Forschungs GmbH am Max-Planck-Institut für Biophysikalische Chemie 37070 Göttingen E-Mail:
[email protected] Möller, Hans-Jürgen, Prof. Dr. Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie Klinikum der Universität München Nußbaumstr. 7, 80336 München E-Mail:
[email protected] Leweke, Markus, Prof. Dr. Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie Zentralinstitut für Seelische Gesundheit J5, 68159 Mannheim E-Mail:
[email protected] Müller, Marianne B., Dr.
Lewitzka, Ute, Dr.
Müller, Matthias J., PD Dr. Dipl.-Psych.
Klinik und Poliklinik für Psychiatrie und Psychotherapie Universitätsklinikum Carl Gustav Carus Fetscherstr. 74, 01307 Dresden E-Mail:
[email protected] Vitos Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie Marburg Vitos Gießen-Marburg gemeinnützige GmbH Cappeler Str. 98, 35039 Marburg und Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie Gießen und Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie Marburg-Süd Zentrum für Soziale Psychiatrie, Mittlere Lahn Licher Str. 106, 35394 Gießen E-Mail:
[email protected] Lorscheider, Markus, Dr. Klinik für Psychiatrie, Psychotherapie und Psychosomatik AGAPLESION, Markus-Krankenhaus Wilhelm Epstein Str. 4, 60431 Frankfurt am Main E-Mail:
[email protected] Max-Planck-Institut für Psychiatrie Kraepelinstr. 2–10, 80804 München E-Mail:
[email protected] Müller, E. Walter, Prof. Dr. Lüddens, Hartmut, Univ.-Prof. Dr. Psychiatrische Klinik der Johannes-Gutenberg-Universität Mainz Untere Zahlbacher Straße 8, 55131 Mainz E-Mail:
[email protected] Pharmakologisches Institut für Neurowissenschaftler Biozentrum – Gebäude N260 Johann-Wolfgang-Goethe-Universität Frankfurt Max-von-Laue-Str. 9, 60438 Frankfurt am Main E-Mail:
[email protected] Ludolph, Andrea, PD Dr. Kinder- und Jugendpsychiatrie, Universitätsklinikum Ulm Steinhövelstr. 5, 89075 Ulm E-Mail:
[email protected] Lutz, Beat, Univ.-Prof. Dr. Institut für Physiologische Chemie und Pathobiochemie Johannes-Gutenberg-Universität Mainz Duesbergweg 6, 55099 Mainz E-Mail:
[email protected] Ohl, Frauke, Prof. Dr. Department »Animals, Science & Society« Faculty of Veterinary Medicine, University of Utrecht PO Box 80.166, 3508 TD Utrecht, Niederlande E-Mail:
[email protected] XVI
Autorenverzeichnis
Ott, Volker, Dr.
Rupprecht, Rainer, Prof. Dr.
Institut für Neuroendokrinologie, Universität zu Lübeck Ratzeburger Allee 160, 23538 Lübeck E-Mail:
[email protected] Abteilung für Klinische Neurophysiologie, Psychiatrische Klinik und Poliklinik, Klinikum der Universität München Nußbaumstr. 7, 80336 München E-Mail:
[email protected] Paulzen, Michael, Dr., Dipl.-Kfm. Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie Universitätsklinikum Aachen Pauwelsstr. 30, 52074 Aachen E-Mail:
[email protected] Scherbaum, Norbert, Prof. Dr. LVR-Klinikum Essen, Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie der Universität Duisburg-Essen Virchowstr. 174, 45147 Essen E-Mail:
[email protected] Plag, Jens, Dr. Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie, Charité Campus Mitte Charitéplatz 1, 10117 Berlin E-Mail:
[email protected] Schläpfer, Thomas, Prof. Dr.
Plener, Paul, Dr.
Schloss, Patrick, Prof. (apl.) Dr.
Kinder- und Jugendpsychiatrie, Universitätsklinikum Ulm Steinhövelstr. 5, 89075 Ulm E-Mail:
[email protected] Zentralinstitut für Seelische Gesundheit J5, 68149 Mannheim E-Mail:
[email protected] Pogarell, Oliver, Dr.
Schlösser, Ralf, PD Dr.
Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie der LMU München Nußbaumstr. 7, 80336 München E-Mail:
[email protected] Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie Friedrich-Schiller-Universität Jena Philosophenweg 3, 07743 Jena E-Mail:
[email protected] Psychotherapie, Universitätsklinikum Bonn Siegmund-Freud-Str. 25, 53105 Bonn E-Mail:
[email protected] Pollmächer, Thomas, Prof. Dr. Zentrum für psychische Gesundheit, Klinikum Ingolstadt GmbH Krumenauerstr. 25, 85049 Ingolstadt E-Mail:
[email protected] Praschak-Rieder, Nicole, Prof. Dr. Klinische Abteilung für Biologische Psychiatrie Universitätsklinik für Psychiatrie und Psychotherapie Medizinische Universität Wien Währinger Gürtel 18–20, 1090 Wien, Österreich E-Mail:
[email protected] Schmitt, Ulrich, PD Dr. Psychiatrische Klinik und Poliklinik der Johannes-Gutenberg-Universität Mainz Untere Zahlbacher Str. 8, 55131 Mainz E-Mail:
[email protected] Schulze, Thomas G., Prof. Dr. Abteilung für Psychiatrie und Psychotherapie Universitätsmedizin Göttingen, Georg-August-Universität Von-Siebold-Str. 5, 37075 Göttingen E-Mail:
[email protected] Prinz, Aloys, Prof. Dr. Institut für Finanzwissenschaft II, Wirtschaftswissenschaftliche Fakultät, Westfälische Wilhelm-Universität Münster Wilmergasse 6–8, 48143 Münster E-Mail:
[email protected] Schwertfeger, Natascha, Dr.
Regen, Francesca, Dr.
Smesny, Stefan, Dr.
Klinik und Hochschulambulanz für Psychiatrie und Psychotherapie Charité Campus Benjamin Franklin Eschenallee 3, 14050 Berlin E-Mail:
[email protected] Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie Philosophenweg 3, 07743 Jena E-Mail:
[email protected] Klinik und Hochschulambulanz für Psychiatrie und Psychotherapie (CBF), Charité Campus Benjamin Franklin Eschenallee 3, 14050 Berlin E-Mail:
[email protected] XVII Autorenverzeichnis
Sommer, Frank, Prof. Dr.
Wetter, Thomas C., Prof. Dr.
Klinik für Männergesundheit, Klinik und Poliklinik für Urologie Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf Martinistr. 52, 20246 Hamburg E-Mail:
[email protected] Psychiatrische Universitätsklinik Zürich Lenggstr. 31, 8008 Zürich, Schweiz E-Mail:
[email protected] Wigger, Alexandra, Dr. Soyka, Michael, Prof. Dr. Privatklinik Reichenbach b. Meiringen AG Postfach 6 12, 3860 Meiringen, Schweiz E-Mail:
[email protected] Ehemals: Max-Planck-Institut für Psychiatrie Klinisches Institut AG Verhaltensneuroendokrinologie Kraepelinstr. 2–10, 80804 München
Winter, Christine, Prof. Dr. Spanagel, Rainer, Prof. Dr. Zentralinstitut für Seelische Gesundheit Abt. Psychopharmakologie J5, 68159 Mannheim E-Mail:
[email protected] Klinik und Poliklinik für Psychiatrie und Psychotherapie Universitätsklinikum Carl Gustav Carus an der Technischen Universität Dresden, Haus 25 Fetscherstr. 74, 01307 Dresden E-Mail:
[email protected] Stalla, Günter K., Prof. Dr.
Wolf, Christian, Prof. Dr.
Max-Planck-Institut für Psychiatrie Kraepelinstr. 2–10, 80804 München E-Mail:
[email protected] FB Rechtswissenschaften, Lehrgebiet Zivil- und Zivilprozessrecht Universität Hannover Königsworther Platz 1, 30167 Hannover E-Mail:
[email protected] Steiger, Axel, Prof. Dr. Max-Planck-Institut für Psychiatrie Kraepelinstr. 2–10, 80804 München E-Mail:
[email protected] Wotjak, Carsten, Dr. Max-Planck-Institut für Psychiatrie Kraepelinstr. 2–10, 80804 München E-Mail:
[email protected] Steiner,Johann, PD Dr. Klinik für Psychiatrie, Psychotherapie und Psychosomatische Medizin, Otto-von-Guericke-Universität Magdeburg Leipziger Str. 44, 39120 Magdeburg E-Mail:
[email protected] Wurst, Wolfgang, Prof. Dr. Helmholtz Zentrum München, Institut für Entwicklungsgenetik 85764 Neuherberg E-Mail:
[email protected] Stingl, Julia, Prof. Dr. Universitätsklinikum Ulm Institut für Naturheilkunde und Klinische Pharmakologie Helmholtzstr. 20, 89081 Ulm E-Mail:
[email protected] Zieglgänsberger, Walter, Prof. Dr. Klinische Neuropharmakologie Max-Planck-Institut für Psychiatrie Kraepelinstr. 2–10, 80804 München E-Mail:
[email protected] Ströhle, Andreas, PD Dr. Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie der Charité Campus Mitte, Charité – Universitätsmedizin Berlin Charitéplatz 1, 10117 Berlin E-Mail:
[email protected] Szegedi, Armin, Prof. Dr. Neuroscience Clinical Research Merck Research Laboratories 126 East Lincoln Avenue, Rahway, NJ 07065, USA E-Mail: szegediqmerck.com
Weber, Matthias, Prof. Dr. Historisches Archiv der Klinik Max-Planck-Institut für Psychiatrie Kraepelinstr. 2–10, 80804 München E-Mail:
[email protected] Zurowski, Bartosz, Dr. Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie, Universitätsklinikum Schleswig-Holstein, Campus Lübeck Ratzeburger Allee 160, 23538 Lübeck E-Mail:
[email protected] XIX
Abkürzungsverzeichnis A Aβ AADC AAV ABC ABP AC ACE ACEA ACh AChE AChI ACPD aCSF ACTH AD ADAS-cog-Skala ADDCT ADE ADH ADHS ADHS-SB ADHS-DC ADME AES AESB AGE AGNP AgRP AHI AIDS AIF AIMS ALDH ALPHA screen ALS AMG AMNOG AMPA AMPT AN ANKTM1 ANP APA APGAR ApoE APP APV ART-2020 ASEX ASG ASI ASIC ATP AUDIT AVP AWMF
B β-Amyloid aromatische Aminosäuredecarboxylase adeno-assoziiertes Virus ATP binding cassette AMPA-Rezeptorbindeprotein Adenylatcyclase angiotensin converting enyzme Arachidonoyl-2-chlorethylamid Acetylcholin Acetylcholinesterase Aceltycholinesterasehemmer (1S,3R)-1-Aminocyclopentandicarboxylat artificial cerebrospinal fluid adrenokortikotropes Hormon Alzheimer-Demenz Alzheimer Disease Assessment Scale State of California Alzheimer’s Disease Diagnostic and Treatment Centers Alkoholdeprivationseffekt antidiuretisches Hormon Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung Selbstbeurteilungsskala ADHS ADHS-Diagnosecheckliste Absorption, Distribution, Metabolisierung, Exkretion Alkohol-Entzugsskala Alkoholentzugssymptombogen advanced glycation endproducts Arbeitsgemeinschaft für Neuropsychopharmakologie und Pharmakopsychiatrie Agouti-related-Peptid Apnoe/Hypopnoe-Index acquired immune deficiency syndrome apoptosis-inducing factor Abnormal Involuntary Movement Scale Aldehyddehydrogenase amplified luminescent proximity homogeneous assay amyotrophe Lateralsklerose Arzneimittelgesetz Arzneimittelmarkt-Neuordnungsgesetz α-Amino-3-hydroxy-5-methyl-4-isoxazolpropionsäure α-Methyl-para-tyrosin Anorexia nervosa ankyrin-like protein atriales natriuretisches Peptid American Psychiatric Association Punkteschema zur Beurteilung des Zustands von Neugeborenen Apolipoprotein E amyloid precursor protein 2-Amino-5-phosphonovaleronsäure Act-React-Testsystem 2020 Arizona Sexual Experience Scale auditory sensory gating Addicton Severity Index acid sensing ion channel Adenosintriphosphat The Alcohol Use Disorders Identification Test Arginin-Vasopressin Arbeitsgemeinschaft der wissenschaftlichen medizinischen Fachgesellschaften
BA BAC BAK BCS BDI BDNF BES BfArM BGB BGT BISFW BLA BMBF BMI BN BNST BOLD BORB BPRS BPS BPSD BRET BSG Btm BtmG BtmVV BUB-Richtlinien BVerfG BVerwG BZ/BZD BZgA BZL
Brodmann-Areal bacterial artificial chromosome Blutalkoholkonzentration Biopharmaceuticals Classification System Beck Depression Inventory brain-derived neurotrophic factor Binge-Eating-Störung Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte Bürgerliches Gesetzbuch Betain/GABA-Transporter Brief Index of Sexual Functioning for Women basolateraler Kern der Amygdala Bundesministerium für Bildung und Forschung body mass index Bulimia nervosa bed nucleus of the stria terminalis blood oxygen level-dependent Birmingham Object Recognition Battery Brief Psychiatric Rating Scale Borderline-Persönlichkeitsstörung behavioral and psychological symptoms in dementia Biolumineszenz-Resonanzenergietransfer Bundessozialgericht Betäubungsmittel Betäubungsmittelgesetz Betäubungsmittelsmittelverschreibungsverordnung Richtlinien über die Bewertung ärztlicher Untersuchungs- und Behandlungsmethoden Bundesverfassungsgericht Bundesverwaltungsgericht Benzodiazepine Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung Benzodiazepinrezeptorliganden
C CAA CAARS CACA CACNA1A CADASIL CamKII cAMP CAPS-Skala CART CATIE CB 2-CB CBASP CBD CBP CBT CCK CCT CDC Cdk5 cDNA CDR CDR-SB
cerebral amyloid angiopathy Conners’ Adult ADHS Rating Scale cis-4-Aminocrotonsäure gene encoding for the alpha1A subunit of a neuronal P/O type calcium channel cerebral autosomal dominant arteriopathy with subcortical infarcts and leukoencephalopathy Ca-Calmodulin-Kinase II zyklisches Adenosinmonophosphat Clinician-Administered PTSD Scale zur Diagnose und Schweregraderfassung der PTBS cocaine and amphetamine regulated transcript Clinical Antipsychotic Trials of Intervention Effectiveness Cannabinoidrezeptor 4-Brom-2,5-dimethoxyphenylethylamin cognitive behavioral analysis system of psychotherapy kortikobasale Degeneration CREB-bindendes Protein kognitive Verhaltenstherapie Cholezystokinin kraniale Computertomographie Centers for Disease Control Cyclin-abhängige Kinase 5 komplementäre DNA clinical decision rule Clinical Dementia Rating
XX
Abkürzungsverzeichnis
CDT CEA CES CFS CGI cGMP CGRP ChAT ChE ChEI CHMP Cho CHO CIBIC-plus CIDI CIPS CISM CIWA cM CMV CNP CNQX CNTF CNV CoMFA COMT CONSORT COX CPA CPAP CPP Cr CRD CREB CRF CRH CRO CS CSF CSI CT CTD CUtLASS CVS CYP
carbohydrate-deficient transferrins (Marker zur Erkennung von Alkoholmissbrauch) cost-effectiveness analysis kraniale Elektrostimulation chronic fatigue syndrome Clinical Global Impressions zyklisches Guanosinmonophosphat calcitonin gene-related peptide Cholinacetyltransferase Cholinesterasen Cholinesterasehemmer Committee for Medicinal Products for Human Use Cholin Chinese hamster ovary Clinician’s Interview-Based Impression of Change plus Caregiver Information Composite International Diagnostic Interview Collegium Internationale Psychiatrae Scalarum Critical Incident Stress Management Clinical Institute Withdrawal Assessment of Alcohol Scale Zentimorgan Cytomegalovirus C-type natriuretic peptide 6-Cyano-7-nitrochinoxalin-2,3-dion ciliary neurotrophic factor copy number variants comparative molecular field analysis Katechol-O-Methyltransferase Consolidated Standards of Reporting Clinical Trials Cyclooxygenase Cyproteronacetat continuous positive airway pressure conditioned place preference (konditionierte Platzpräferenz) Kreatinin Centre for Reviews and Dissemination cAMP response element binding protein case report form Kortikotropin-Releasing-Hormon contract research organization konditionierter Reiz Zerebrospinalflüssigkeit chemical shift imaging Computertomographie clinical trials directive Cost Utility of the Latest Antipsychotic Drugs in Schizophrenia kalorische vestibuläre Stimulation Cytochrom-P450
D Da DA DAG DALY DAOA D-AP7 DAR DAT DBI DBS DBT DETC-MeSO Dex DGPPN
Dalton Dopamin Diacylglycerin disability-adjusted life years D-amino acid oxidase activator, früher G72 2-Amino-7-phosphonoheptansäure Disulfiram-Alkohol-Reaktion Dopamintransporter diazepam binding inhibitor Tiefenhirnstimulation (deep brain stimulation) dialektisch-behaviorale Therapie S-Ethyl-N,N-diethylthiolcarbamat-sulfoxid Dexamethason Deutsche Gesellschaft für Psychiatrie, Psychotherapie und Nervenheilkunde
DβH DHDOC DHEA DHP DHPE DHPG DHS DISC DLPFC DLK DLMO DMT DNQX DOB DOM DPA DREAM DRPLA DRUID DSM DST DTI dTMS DTNBP DTPA DUP
Dopamin-β-Hydroxylase Dihydrodesoxykortikosteron Dehydroepiandrosteron Dihydroprogesteron Dihydroxyphenylessigsäure 3,4-Dihydroxyphenylglykol Deutsche Hauptstelle für Suchtfragen disrupted in schizophrenia dorsolateraler präfrontaler Kortex Demenz mit Lewy-Körperchen dim-light melatonin onset Dimethyltryptamin 6,7-Dinitrochinoxalin-2,3-dion 2,5-Dimethoxy-4-bromamphetamin 2,5-Dimethoxy-4-methylamphetamin Dipropylacetamid downstream regulatory element antagonistic modulator dentatorubropallido-luysianische Atrophie driving under the influence of alcohol, drugs and medicines Diagnostic and Statistic Manual of Mental Disorders Dexamethason-Suppressionstest diffusion tensor imaging tiefe transkranielle Magnetstimulation dystrobrevin binding protein, Dystrobrevin-bindendes Protein (Dysbindin) Diethylentriaminpentaessigsäure duration of untreated psychosis
E EAAT EbM EBV ECD ECS ED EDS EEG EFNS EFTA EKG EKT ELK1 EM EMDR EMA EMG EMMA eNOS ENU EOG EPA ePCS EPI EPM EPS EPSP erfMRT ERK ES-Zellen ESS ETP EudraCT Europ-ASI
excitatory amino acid transporter evidenzbasierte Medizin Epstein-Barr-Virus EEG mit Dipolanalyse Endocannabinoidsystem erektile Dysfunktion exzessive diurnale Schläfrigkeit Elektroenzephalogramm European Federation of Neurological Societies European Free Trade Association Elektrokardiogramm Elektrokrampftherapie Komponente des ERK MAP-Kinase-Signalwegs extensive metabolizer eye movement desensitization and processing European Medicines Agency Elektromyogramm Archiv Europäischer Mausmutanten endotheliale NO-Synthase Ethylnitrosoharnstoff Elektrookulogramm Eicosapentaensäure extradurale kortikale Stimulation Echo-Planar-Imaging elevated plus maze extrapyramidalmotorische Störungen exzitatorisches postsynaptisches Potenzial ereigniskorrelierte, funktionelle Magnetresonanztomographie durch extrazelluläre Signale regulierte Kinasen embryonale Stammzellen Epworth Sleepiness Scale epilepsietypische Potenziale European Clinical Trials Database European Addiction Severity Index
XXI Abkürzungsverzeichnis
F FAAH FDA FDG FFT FGF2 FGG FIH fMRT FMS α-FP FPS FRET FSAD FSFI FSH FTD FTDP-17 FTLD FTND
fatty acid amide hydrolase Food and Drug Administration Fluordesoxyglucose Fast-Fourier-Transformation fibroblast growth factor Gesetz über die Freiwillige Gerichtsbarkeit first in human funktionelle Magnetresonanztomographie (funktionelle Kernspintomographie) Fibromyalgiesyndrom α-Fetoprotein fear potentiated startle Fluoreszenz-Resonanzenergietransfer female sexual arousal disorder Female Sexual Function Index follikelstimulierendes Hormon frontotemporale Demenz frontotemporale Demenz mit Parkinsonismus frontotemporale Lobärdegeneration Fagerström Test for Nicotine Dependence
G GABA GAD GAF GAPs GAQ GAS GAT GCP GDNF GDP GFAP GG GGT GGTC GH GHRH GLAST GLT GluR GLYT GnRH GOT GPCR GPI GPT Grb GRB-2 GRIP GRK GSK-3 GTP GTS GWAS
γ-Aminobuttersäure Glutamatdecarboxylase Global Assessment of Functioning GTPase aktivierendes Protein Global Assessment Questionnaire generalisierte Angststörung GABA-Transporter gute klinische Praxis glial cell-derived neurotrophic factor Guanosindiphosphat glial fibrillary acidic protein Grundgesetz γ-Glutamyltransferase German Genetrap Consortium Wachstumshormon (growth hormone) Wachstumshormon-Releasing-Hormon Glutamat-Aspartat-Transporter Glutamattransporter Glutamatrezeptor Glycintransporter Gonadotropin-Releasing-Hormon Glutamat-Oxalacetat-Transaminase G-Protein-gekoppelter Rezeptor Globus pallidum internum Glutamat-Pyruvat-Transaminase growth factor receptor-bound Gerüstprotein mit src-Homologiedomänen zur Koordination des MAP-Kinase-Signalwegs Glutamatrezeptor-interagierendes Protein G-Protein-gekoppelte Rezeptorkinase Glykogensynthase-Kinase-3 Guanosintriphosphat Gilles-de-la-Tourette-Syndrom genomweite Assoziationsstudien
H haChoT HADAC HAM-A HAM-D HAT HAWIE-R HD HDAC
hochaffiner Cholintransporter Histondeacetylase Hamilton-Angstskala Hamilton-Depressionsskala Histonacetyltransferase Hamburg-Wechsler-Intelligenztests für Erwachsene Chorea Huntington (Huntington’s disease) Histon-Desacetylasen
HERG HHG-Achse HHL HHT-Achse 5-HIES HIV HLA hnRNP HPA-System HPLC HSDD HSP HSV 5-HT HTA HTBS HTC HTRF HTS 5-HTT 5-HTTLPR HVL HVS
human ether-a-go-go-related gene Hypothalamus-Hypophysen-Gonaden-Achse Hypophysenhinterlappen Hypophysen-Schilddrüsen-Achse 5-Hydroxyindolessigsäure human immune deficiency virus humanes Leukozytenantigen heterogeneous nuclear ribonucleoprotein hypothalamus-pituitary-adrenal system (Hypothalamus-Hypophysen-Nebennieren-System) Hochleistungsflüssigkeitschromatographie hypoactive sexual desire disorder heat shock protein Herpes-simplex-Virus 5-Hydroxytryptamin, Serotonin health technology assessment Health Technology Board of Scotland High-throughput-Chemistry Homogeneous Time-Resolved Fluorescence high-throughput screening (Hochdurchsatztestung) Serotonintransporter serotonin transporter-linked polymorphic region Hypophysenvorderlappen Homovanillinsäure
I I4AA IASP IBD IBZM ICADTS ICH ICD ICH ICSD IEG IELT IES IFSF IIEF IHT IIT IFN-γ IGF IGFBP IL IM IMPD IND IP IP3 IP4 IPSC IPSP IPSRT IPT IQWiG IRLS-Skala ITC ITT
Imidazol-4-essigsäure International Association of Pain identity by descent Iodbenzamid International Council on Alcohol, Drugs and Traffic Safety International Conference on Harmonisation International Classification of Diseases International Conference on Harmonization International Classification of Sleep Disorders immediate early gene mittlere Verlängerung der intravaginalen Ejakulationslatenz Impact of Event Scale Derogatis Interview for Sexual Functioning International Index of Erectile Function Insulin-Hypoglykämie-Test investigator-initiated trial Interferon-γ insulin-like growth factor IGF-bindendes Protein Interleukin intermediate metabolizer investigational medicinal product dossier investigational new drug intellectual property Inositol-1,4,5-trisphosphat Inositol-1,3,4,5-tetraphosphat inhibitory postsynaptic currents (inhibitorische postsynaptische Auswärtsströme) inhibitorisches postsynaptisches Potenzial interpersonal and social rhythm therapy interpersonale Psychotherapie Institut für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen International RLS Study Group Severity Scale isothermale Titrationskalorimetrie intention to treat
J JAK-Kinasen
Januskopf-Kinasen (just another kinase)
XXII
Abkürzungsverzeichnis
K KD KM kb keV KHK K.O. KVT
Dissoziationskonstante Michaeliskonstante Kilobase Kiloelektronenvolt koronare Herzerkrankung knock-out kognitive Verhaltenstherapie
L L-AP4 LAAM LC LGT-3 LH LIF LOCF LOLA LORETA LPA LPH LQTS LSD LSG LT LTD LTP LV
2-Amino-4-phosphonobuttersäure Levo-1-α-Acetylmethadol Locus coeruleus Lern- und Gedächtnistest luteinisierendes Hormon leucemia inhibitory factor last observation carried forward L-Ornithin-L-Aspartat low-resolution electromagnetic tomography langsam progrediente Aphasie lipotropes Hormon Long-QT-Syndrom D-Lysergsäurediethylamid Landessozialgericht Lichttherapie Langzeitdepression Langzeitpotenzierung lentiviraler Vektor
M mAChR MAD MADRS MAGL 6-MAM MANOVA MAO MAOI MAP-Kinase MARS- Studie MATRICS MBDB m-CCP MCH MCI MCST MCV MDA MDE MDMA MDR MeCP2 MEK MEKK1 5-MeODMT mGluR MHPG MHRA MKT MI MID mIns MLR MMAS MMSE
muskarinischer Acetylcholinrezeptor multiple-ascending dose Montgomery-Asberg Depression Scale Monoacylglycerinlipase 6-Monoacetylmorphin multivariate Varianzanalyse Monoaminoxidase Monoaminoxidaseinhibitor mitogenaktivierte Proteinkinase Munich Antidepressant Response Signature Study Measurement and Treatment Research to Improve Cognition in Schizophrenia N-Methyl-1,1,3-benzodioxol-5-yl-2-butanamin m-Chlorpiperazin melaninkonzentrierendes Hormon mild cognitive impairment Modified Card Sorting Test mean corpuscular volume Methylendioxyamphetamin 3,4-Methylendioxyethylamphetamin Methyldioxymethamphetamin, »Ecstasy« multi-drug resistance Methly-CpG-Bindeprotein Komponente des ERK MAP-Kinase-Signalwegs MEK-Kinase 1 5-Methoxy-N,N-dimethyltryptamin metabotroper Glutamatrezeptor 3-Methoxy-4-hydroxyphenylglykol British Medicine and Healthcare Products Regulatory Agency Magnetkrampftherapie Myokardinfarkt Multiinfarktdemenz myo-Inositol Melanokortinrezeptor Massachussets Male Aging Study Minimental State Examination
MNS MOPEG mPFC MPG MPOA MRS MRS SADS-C MRT MSA MSH MSLT MST MT MTI MTOC MUSE MVG MWCO
malignes neuroleptisches Syndrom 3-Methoxy-4-hydroxyphenylethylenglykol medialer präfrontaler Kortex Medizinproduktegesetz mediale präoptische Region Magnetresonanzspektroskopie Mania Rating Scale Magnetresonanztomographie (MRI MagnetresonanzImaging) Multisystematrophie melanozytenstimulierendes Hormon multipler Schlaflatenztest Morphinsulfat 3-Methoxytyramin magnetization transfer imaging microtubule organizing center Medicated Urethral System for Erection Münchener Verbaler Gedächtnistest molecular weight cut-off
N NA NAA NAAG NAALADase naChoT nAChR NAD NADP NaSSA NAT NBQX NCAM NCEP NDRI NET NFκB NFT NGF NIAAA NICE NIDA NIMH NINDS-AIREN
NK NKA NMDA NME NMR NMSP NNK NNR NNT NOAEL NOEL NOS nPGi NPI NPY NRT NSAID NSE NT
Noradrenalin N-Acetylaspartat N-Acetylaspartyl-Glutamat N-acetylated alpha-linked acidic dipeptidase niederaffiner Cholintransporter nikotinischer Acetylcholinrezeptor Nikotinsäureamid-Adenin-Dinukleotid Nikotinsäureamid-Adenin-Dinukleotid-Phosphat noradrenerge und spezifisch serotonerge Antidepressiva Noradrenalintransporter 6-Nitrosulfamoylbenzo(f )-chinoxalin-2,3-dion neuronal cell adhesion molecule National Cholesterol Education Program selektiver Noradrenalin- und Dopaminwiederaufnahmehemmer Noradrenalintransporter (Norepinephrintransporter) nuclear factor kappa B neurofibrillären Tangles nerve growth factor National Institute on Alcohol Abuse and Alcoholism National Institute of Clinical Excellence National Institute on Drug Abuse National Institute of Mental Health National Institute of Neurological Disorders and Stroke & Association Internationale pour la Recherche et l’Enseignement en Neurosciences Neurokinin Neurokinin A N-Methyl-D-Aspartat new molecular entity nukleare Magnetresonanztomographie N-Methylspiperon number needed to kill Nebennierenrinde number needed to treat no observed adverse effect level no observed effect level nitric oxide synthase Nucleus paragigantocellularis Neuropsychiatric Inventory Neuropeptid Y nicotine replacement therapy nichtsteroidale antiinflammatorische Substanzen neuron-specific enolase Neurotrophin
XXIII Abkürzungsverzeichnis
NT3 NTS NUB-Richtlinien
neurotrophic factor 3 Neurotensin Richtlinien über neue Untersuchungs- und Behandlungsmethoden
O OCD 8-OH-DPAT OMFD OPD OR OROS OSAS OXT
obsessive-compulsive disorder 8-Hydroxy-2(di-n-propylamino)tetralin O-Methyl-[18F]F-DOPA operationalisierte psychodynamische Diagnostik Odds-Ratio osmotic release oral system obstruktives Schlafapnoe-Syndrom Oxytozin
P Pi PANDAS PANSS PCA PCOS PCP PCr PCR PD PDD PDE PDE5 PDGF PET PFC PGE Pgp PHF phMRI PI PI3 PICK1 PIP2 PKA PKC PLC PLE PLMD PLMS PLP PM PMDD PME PMN PMS PoC POCD POMC PPA PPHN PPI PPY PREDI PRL Prp PS
PSD PSE PSP PTBS PTP PVN PXR
postsynaptic density protein present state examination progressive supranukleäre Blickparese (Steele-Richardson-Olszewski-Syndrom) posttraumatische Belastungsstörung permeability transition pores Nucleus paraventricularis Pregnan-X-Rezeptor
Q QALY QSAR QTL
quality-adjusted life years quantitative structure/activity relationship (quantitative Struktur-Aktivitäts-Beziehungen) quantitative trait locus
R anorganisches Phosphat pediatric autoimmune neuropsychiatric disorders associated with streptococcal infections Positive and Negative Symptoms Scale p-Chloramphetamin Syndrom der polyzystischen Ovarien Phencyclidin Phosphokreatinin Polymerasekettenreaktion Parkinson-Erkrankung Parkinson-Syndrome mit Demenzentwicklung (Parkinson’s disease with dementia) Phosphodiesterase Phospodiesterase-Typ-5 platelet-derived growth factor (thrombozytärer Wachstumsfaktor) Positronenemissionstomographie präfrontaler Kortex Prostaglandin E P-Glykoprotein gepaarte helikale Filamente (neurofibrillary tangles) pharmacological magnetic resonace imaging Phosphoinositid Phosphatidylinositol-3 Protein interagierend mit C-Kinase Phosphatidylinositol-4,5-bisphosphat Proteinkinase A Proteinkinase C Phospholipase C paraneoplastische limbische Enzephalitis periodic limb movement disorder periodic limb movements in sleep Pydridoxal-5-phosphat poor metabolizer prämenstruelle dysphorische Störung Phosphomonoester progressive Motoneuropathie prämenstruelles Syndrom Proof-of-Concept postoperative kognitive Dysfunktion Proopiomelanokortin primäre progressive Aphasie pulmonale Hypertension des Neugeborenen Präpulsinhibition Peptid YY (Darmhormon mit appetithemmender Wirkung) Prozess- und ressourcenorientierte psychosoziale Diagnostik Prolaktin Prionprotein Präsenilin
Raf Ras rCBF RCT REM RGS RIMA RISC RLS RNAi ROI RONS ROS Rsk-2 RTS RZPD
Komponente des ERK MAP-Kinase-Signalwegs Komponente des ERK MAP-Kinase-Signalwegs regionaler zerebraler Blutfluss randomized controlled trial rapid eye movement regulation of G-protein signaling reversibler Hemmer der Monoaminoxidase Typ A RNA-induced silencing complex Restless-legs-Syndrom RNA-Interferenz region of interest reactive oxygen and nitrogen species Sauerstoffradikal ribosomale S-6 Kinase Rubinstein-Taybi-Syndrom Deutsches Ressourcenzentrum für Genomforschung
S SAD SAE SAR by NMR SARI SAS SB SBMA SCA SCID SCL-90-R SCN SD SE SERM SERT SGA SGB SHBG SHR shRNA SIADH SIH siRNA SKAT SMA SMARD SMAST-Fragebogen SNc SNP SNRI snRNP
saisonal abhängige Depression subkortikale arteriosklerotische Enzephalopathie structure/activity relationships by nuclear magnetic resonance Serotoninantagonist/-wiederaufnahmehemmer Sipson-Angus-Skala Servere Dementia Battery spinobulbäre Muskelatrophie (Kennedy-Erkrankung) spinozerebelläre Ataxie Strukturiertes klinisches Interview für DSM-IV-TR Symptom-Checkliste von Derogatis Nucleus suprachiasmaticus semantische Demenz Schlafentzug selektive Östrogenrezeptormodulatoren Serotonintransporter second generation antipsychotic Sozialgesetzbuch sex hormone binding globulin spontaneous hypertensive rat short hairpin RNA Syndrom der inadäquaten ADH-Sekretion stressinduzierte Hypothermie small interfering RNA Schwellkörperautoinjektionstherapie supplementary motor area (supplementärmotorischer Kortex) spinale Muskelatrophie mit Atemnot Michigan Alcoholism Screening Test Substantia nigra pars compacta single nucleotide polymorphism selektiver Noradrenalinwiederaufnahmehemmer small nuclear ribonucleoprotein
XXIV
Abkürzungsverzeichnis
SOD SODAS SOMS SOWS SP SPA SPC SPECT SPRINT SPT SRC SRE SRI SRIF SSDS SSLP SSNRI SSRI STAR*D STAT STAXI StGB SUSAR SWA SWS
Superoxiddismutase spheroidal oral drug absorption system Screening für somatoforme Störungen Short Opiate Withdrawal Scale Substanz P Scintillation Proximity Assay summary product characteristics single-photon emission computed tomography (Einzelphotonenemissionstomographie) Short Posttraumatic Stress Disorder Rating Interview sleeping period time steroid receptor coactivator steroid-responsive element Serotoninwiederaufnahmehemmer somatostatin release inhibiting factor sudden sniffing death syndrome simple sequence length polymorphism selektiver Serotonin-Noradrenalin-Wiederaufnahmehemmer selektiver Serotoninwiederaufnahmehemmer Sequenced Treatment Alternatives to Relieve Depression signal transducers and activators of transcription State-Trait-Ärgerausdrucks-Inventar Strafgesetzbuch suspected/unexpected serious adverse reaction slow-wave activity slow-wave sleep
TST TTX tVNS TZA
trans-4-Aminocrotonsäure Treatment of Adolescents with Depression Study Testbatterie zur Aufmerksamkeitsprüfung tubulinspezifisches Chaperon E t-Butylbicyclophosphorothionat Theta-burst-Stimulation tardive Dyskinesien transkranielle Gleichstromstimulation temper dysregulation disorder therapeutisches Drug Monitoring Torsades de pointes transforming growth factor Tyrosinhydroxylase Δ9-Tetrahydrocannabinol Tetrahydrodesoxykortikosteron Tetrahydroprogesteron tiefe Hirnstimulation thymus cell antigen 1 transiente ischämische Attacke Transmembranregion transkranielle Magnetstimulation Trail Making Test Tumornekrosefaktor transdermale Nikotinsubstitution time of flight Theory-of-Mind Tryptophanhydroxylase (1,2,5,6-Tetrahydropyridin-4-yl)methylphosphinsäure Thyreoidperoxidase Transmembran-AMPA-regulierendes Protein Thyreotropin-Releasing-Hormon Tyrosinkinaserezeptoren für NGF, BDNF, NT Track-Rezeptor transient receptor potential channel (Vanilloidrezeptor) transkranielle Rauschstromstimulation Thyreotropin
W
total sleeping time Tetrodotoxin transkutane Vagusnervstimulation trizyklische Antidepressiva
U UAW UCN UM UPDRS UTP
unerwünschte Arzneimittelwirkung Urokortin ultrarapid metabolizer Unified Parkinson’s Disease Rating Scale Uridintriphosphat
V vAChT VBR VCI VD VGSC VIP VLPFC VMAT VNS VNTR VOI VOSP VRET VSV VTA
vesikulärer Acetylcholintransporter ventricle-to-brain ratio vascular cognitive impairment vaskuläre Demenz spannungsabhängiger Na+-Kanal vasoaktives intestinales Peptid ventrolateraler präfrontaler Kortex vesikulärer Monoamintransporter Vagusnervstimulation variable number of tandem repeats volume of interest Testbatterie zur visuellen Objekt- und Raumwahrnehmung virtual reality exposure therapy vesicular stomatitis virus Area tegmentalis ventralis
T TACA TADS-Studie TAP TBCE TBPS TBS TD tDCS TDD TDM TdP TGF TH THC THDOC THP THS Thy1 TIA TM TMS TMT TNF TNS TOF ToM TPH TPMPA TPO TRAP TRH TRK A,B,C Trk-Rezeptor TRPV1 tRNS TSH
WAPI-Skalen WDI WFSBP WHI WHO WMA WMS-R WURS-k
Work-activity-productivity-impairment-Skalen World Drug Index World Federation of Societies of Biological Psychiatry Women’s Health Initiative World Health Organization World Medical Association Wechsler Memory Scale-revised Wender-Utah Rating Scale (Kurzfassung)
X XR
extended release
Y Y-BOCS YMRS
Yale-Brown Obsessive Compulsive Scale Young Manic Rating Scale
Z ZVT
Zahlenverbindungstest
1
Konzeption und Grundlagen einer funktionalen Psychopharmakotherapie Gerhard Gründer und Otto Benkert
1.1
Die Dekonstruktion nosologischer Systeme im 21. Jahrhundert – 2
1.2
Vom Endophänotypus zur funktionalen Klassifikation und Therapie – 3
1.3
Psychopharmakotherapie der Zukunft: »selektiv unselektive« Medikamente oder »rationale Polypharmazie«? – 5
1.4
Wunsch und Wirklichkeit in der Arzneimittelforschung: alte Medikamente für neue Indikationen – 6
1.5
Grundzüge einer funktionalen Psychopharmakotherapie – 7
1.5.1 1.5.2 1.5.3 1.5.4 1.5.5 1.5.6
Überblick – 7 Positivsymptomatik – 8 Negativsymptomatik – 10 Suizidalität – 12 Aggression – 14 Kognitive Störungen – 15
1.6
Ausblick: Die Zukunft der Psychopharmakotherapie – 17 Literatur – 18
G. Gründer, O. Benkert (Hrsg.), Handbuch der Psychopharmakotherapie, DOI 10.1007/978-3-642-19844-1_1, © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2012
1
1
2
Kapitel 1 · Konzeption und Grundlagen einer funktionalen Psychopharmakotherapie
1.1
Die Dekonstruktion nosologischer Systeme im 21. Jahrhundert
Die von Emil Kraepelin vor mehr als hundert Jahren formulierte und konzeptualisierte Dichotomie zwischen »Dementia praecox« und »manisch-depressivem Irresein« steht prototypisch für die psychiatrischen Klassifikationssysteme auch zu Beginn des 21. Jahrhunderts. Die zentrale Grundannahme der Kraepelinschen nosologischen Taxonomie postuliert, dass psychische Störungen nicht nur auf einer Achse – der psychopathologischen Phänomenologie – gruppiert werden können, sondern in einer festen Beziehung zu anderen Variablen wie Schweregrad, Verlauf oder Komorbidität mit anderen Erkrankungen stehen. Danach lassen sich psychische Störungen in distinkte Krankheitsentitäten einteilen, denen eine je eigene Ätiologie zugrunde liegt. Dieser nosologische Ansatz dominiert das Denken in der akademischen Psychiatrie seit der Mitte des 19. Jahrhunderts, als Rudolf Virchow mit seiner »Zellularpathologie« die Grundlagen für eine kategoriale Klassifikation von somatischen Erkrankungen nach ihrer Histopathologie legte. In dem Begehren einer wissenschaftlichen Psychiatrie, den Anschluss an allgemeine medizinische Standards zu gewinnen, hat man sich bis heute bemüht, die neuropathologischen Wurzeln der von Kraepelin (und später von der International Classification of Diseases ICD und dem Diagnostic and Statistic Manual of Mental Disorders DSM) definierten Entitäten zu identifizieren. Dieser Ansatz muss heute revidiert werden. Für keine einzige nosologische Krankheitsentität in der Psychiatrie – mit Ausnahme der Demenzen – existiert ein biologischer Marker oder ein spezifischer Organbefund, anhand derer eine solche Störung zweifelsfrei zu identifizieren wäre. Nahezu alle biologischen Befunde haben sich als diagnostisch unspezifisch erwiesen. Angesichts der extremen phänomenologischen Heterogenität, die viele Krankheitsgruppen auszeichnet, ist dies auch nicht verwunderlich. Die alltägliche klinische Beobachtung, dass die typische »Schizophrenie« und die typische »manisch-depressive Krankheit« Idealtypen eines phänomenologischen Kontinuums darstellen, führte dann auch zur Forderung, dass kategoriale durch dimensionale Klassifikationssysteme abzulösen seien (z. B. Crow 1990). Bereits 1955 hatte Freyhan vorgeschlagen, die Therapie nicht an Krankheitsentitäten, sondern an Zielsymptomen (target symptoms) zu orientieren (Freyhan 1955). Für ganze Störungsgruppen waren schon vor mehr als 20 Jahren multiaxiale, phänomenologisch orientierte Klassifikationssysteme vorgeschlagen worden (Benkert et al. 1985). Alle diese Bestrebungen fanden ihren Niederschlag auch in den letzten Revisionen der ICD und des DSM, mit denen Schritte zu einer phänomenologischen Betrachtungsweise psychischer Störungen gemacht wurden. Die nächste Revision des DSM (DSM-V), die im Mai 2013 vorgestellt werden soll, wird zwar an der klassischen kategorialen Betrachtungsweise festhalten; sie wird der modernen funktionalen Betrachtungsweise jedoch wahrscheinlich durch die Einführung einer dimensionalen Betrachtungsebene (»dimensional« bzw. »cross-cutting assessments«) Rechnung tragen (Details auf www.dsm5.org). Diese Dimensionen
sollen die Beschreibung und quantitative Erfassung von Symptomkomplexen über nosologische Grenzen hinweg ermöglichen. Sie werden als diagnoseunspezifisch betrachtet, ihre Erfassung geht der Diagnosestellung in der Regel voraus. Beispiele sind depressive Stimmung, Angst, Substanzgebrauch oder Schlafstörungen. Die wesentliche Grundlage für den langwierigen Weg von einer kategorialen zu einer dimensionalen, funktionalen Betrachtungsweise psychischer Störungen hat im letzten Jahrzehnt die molekulargenetische und -biologische Forschung gelegt. So legen beispielsweise zahlreiche Linkage-, Familien- und Zwillingsstudien nahe, dass das genetische Risiko für Schizophrenien und bipolare affektive Störungen über die Kraepelinschen nosologischen Grenzen hinweg übertragen wird (O’Donovan et al. 2009; Lichtenstein et al. 2009). In der größten derartigen Studie, die jemals durchgeführt wurde (mehr als 2 Mio. Kernfamilien), war das Risiko, an irgendeiner der beiden Störungen zu erkranken, für die Angehörigen eines erkrankten Indexprobanden – unabhängig davon, ob dieser Proband an einer schizophrenen oder einer bipolaren Störung erkrankt war – erhöht (Lichtenstein et al. 2009). Die Grundlage für die genetische Verwandtschaft der beiden Störungen ist in der voneinander unabhängigen Transmission verschiedener Risikogene für die beiden Störungen zu sehen (O’Donovan et al. 2009). Nach dem derzeitigen Kenntnisstand erhöhen bestimmte Varianten im DTNBP1-Gen (dystrobrevin binding protein 1, Dysbindin) v. a. das Risiko für schizophrene Störungen, während die Gene für DAOA/G30 (DAOA: d-amino acid oxidase activator, früher G72) und BDNF brain-derived neurotrophic factor) besonders mit dem Risiko für bipolare Störungen assoziiert sind. Varianten der Gene für DISC1/2 (disrupted in schizophrenia) und NRG1 (Neuregulin) wiederum scheinen das Risiko für beide Störungen zu erhöhen. . Tab. 1.1 zeigt, welche Gene mit welcher Gewichtung nach unserem aktuellen Verständnis mit dem Risiko für eine schizophrene, schizoaffektive oder bipolare Störung assoziiert sind. Daraus folgt unmittelbar, dass der im individuellen Patienten ausgeprägte Phänotyp durch die individuelle Ausprägung und Kombination der verschiedenen Risikogene bestimmt wird. . Abb. 1.1 illustriert die Beziehung zwischen spezifischen Risikogenen und verschiedenen klinischen Phänotypen. Zwar basieren diese Beobachtungen primär doch wieder auf den klassischen, psychopathologisch orientierten Diagnosen, doch wird deren Unschärfe deutlich. Die Entwicklungen, die durch Modelle solcher Art aufgezeigt werden, legen eine Restrukturierung der psychiatrischen Klassifikationssysteme in den nächsten Jahrzehnten nahe, die mit der Einführung einer dimensionalen Betrachtungsweise in Form von »cross-cutting assessments« in DSM-V (s. oben) beginnen wird. Gegenwärtig sind bestimmte, klassisch-nosologisch definierte Störungen nur lose mit bestimmten Risikogenen assoziiert. Da Gene nicht für Krankheiten, sondern für Proteine kodieren, wird man in den nächsten Jahren bemüht sein, diesen Risikogenen bestimmte funktionelle Teilaspekte der klassischen psychischen Störungen zuzuordnen. Diese als intermediäre Phänotypen (oder Endophänotypen) bezeichneten Charakte-
3 1.2 · Vom Endophänotypus zur funktionalen Klassifikation und Therapie
. Tab. 1.1 Die aktuelle Evidenz für die Bedeutung verschiedener Risikogene für die Pathophysiologie schizophrener, schizoaffektiver und bipolarer affektiver Störungen. (Nach Craddock et al. 2006) Gen/Locus
Chromosomale Lokalisation
Bedeutung bei schizophrenen Störungen
Bedeutung bei gemischt psychotischen/ affektiven Symptomen
Bedeutung bei bipolaren Störungen
Dysbindin
6p22
+++++
+
–
Neuregulin 1
8p12
++++
+
+
DISC 1
1q42
+++
++
+
COMT
22q11
+
–
+
DAOA (G72)/G30
13q33
++
–
++
BDNF
11p13
+
–
++
DISC disrupted in schizophrenia, COMT Katechol-O-Methyltransferase, DAOA D-amino acid oxidase activator, BDNF brain-derived neurotrophic factor. Mehr +-Zeichen zeigen einen höheren Grad der Evidenz an. Die Skalierung ist relativ. Es ist zu beachten, dass verhältnismäßig wenige Studien mit einer schizoaffektiven Phänomenologie durchgeführt wurden.
Risikogene
Prototypische Schizophrenie
Dysbindin
DISC1 NRG1
DAOA BDNF
Prominente psychotische und affektive Merkmale
DSM-IV Schizophrenie
DSM-IV Schizoaffektive Störung
Prototypische affektive Störung
DSM-IV Affektive Störung
. Abb. 1.1 Vereinfachtes Modell für die Beziehung zwischen spezifischen Suszeptibilitätsgenen (oberhalb der schwarzen Linie) und klinischen Phänotypen (unterhalb der schwarzen Linie). Die überlappenden Ellipsen repräsen-
tieren überlappende Sätze von Genen. DISC disrupted in schizophrenia, NRG Neuregulin, DAOA D-amino acid oxidase activator, BDNF brain-derived neurotrophic factor. (Nach Craddock et al. 2006)
ristika kennzeichnen spezifische, umschriebene Hirnfunktionen, die bei psychiatrischen Erkrankungen in meist definierter Weise gestört sind. Sie stellen Marker dar, die näher am genetisch-biologischen Substrat einer Störung lokalisiert sind als die heterogene psychopathologische Phänomenologie, die das Resultat der komplexen Interaktion zahlreicher intermediärer Phänotypen ist. Durch die exakte genetische und biologische Charakterisierung dieser Endophänotypen werden sich neue Konzepte von gesunder und gestörter Hirnfunktion entwickeln. Dies wird auch völlig neue Ansätze für die Psychopharmakotherapie eröffnen.
1.2
Vom Endophänotypus zur funktionalen Klassifikation und Therapie
Endophänotypen sind Korrelate neurobiologischer Funktionen, die von Geneffekten unmittelbarer beeinflusst sind und vermutlich einer weniger komplexen genetischen Determination unterliegen als der Krankheitsphänotyp (7 Kap. 48). Das Prinzip der Endophänotypen geht zurück auf ein Konzept von John und Lewis (1966), mit dem sie die geographische Verteilung von Heuschrecken nicht auf ihren »Exophänotyp« zurückführten,
1
4
1
Kapitel 1 · Konzeption und Grundlagen einer funktionalen Psychopharmakotherapie
sondern auf Eigenschaften des »Endophänotyps«, »not the obvious and external but the microscopic and internal« (John u. Lewis 1966). Gottesman und Shields (1973) führten das Konzept mit ihrer Analyse der Genetik schizophrener Störungen nur wenig später in die Psychiatrie ein. Sie beschrieben Endophänotypen als »interne Phänotypen«, die durch einen biochemischen Test oder eine mikroskopische Untersuchung zu charakterisieren seien (Gottesman u. Shields 1973). Ein Endophänotyp sollte eine Reihe von Kriterien erfüllen (Gottesman u. Gould 2003):
Kriterien für einen Endophänotypen 1. Er ist mit der Erkrankung in der Population assoziiert. 2. Er ist erblich. 3. Er ist Status-unabhängig (d. h., er ist auch nachweisbar, wenn die Erkrankung nicht aktiv ist). 4. Innerhalb von Familien vererben sich Erkrankung und Endophänotyp gemeinsam. 5. Der bei einem von der Erkrankung betroffenen Familienangehörigen gefundene Endophänotyp findet sich bei nicht von der Erkrankung betroffenen Familienangehörigen häufiger als in der Allgemeinbevölkerung.
. Abb. 1.2 zeigt die diesem Konzept zugrunde liegende Bezie-
hung zwischen einer Vielzahl von Risikogenen und dem Krankheitsphänotyp. Der Krankheitsphänotyp auf der komplexen Verhaltensebene wird durch alle diese Suszeptibiliätsgene (und ihre Interaktionen mit einer Vielzahl von Umweltfaktoren) beeinflusst, jedoch werden die Assoziationen zwischen einzelnen Genen und diesem Phänotyp immer gering sein. Die intermediären Phänotypen A, B und C stellen demgegenüber Korrelate von Hirnfunktionen dar, die durch nur eines oder wenige Gene beeinflusst werden. Sie sind einerseits durch das einzelne Gen stärker determiniert, andererseits repräsentieren sie oft einen wichtigen Teilaspekt gestörter Hirnfunktion bei psychischen Störungen. Das Konzept der intermediären Phänotypen erklärt zwanglos, warum zahlreiche Studien, die kategorial Patienten einer nosologischen Krankheitsentität mit einem gesunden Kontrollkollektiv vergleichen, keinen Gruppenunterschied hinsichtlich der Ausprägung definierter Biomarker dokumentieren, Assoziationen dieser Marker mit bestimmten Charakteristika der Störung aber sehr wohl gefunden werden. So konnte eine kanadische Arbeitsgruppe in einer Studie mithilfe der Positronenemissionstomographie in einem kategorialen Gruppenvergleich keinen Unterschied zwischen depressiven Patienten und gesunden Kontrollen hinsichtlich der Verfügbarkeit des zerebralen Serotonintransporters finden (Meyer et al. 2004). Es ließ sich jedoch ein signifikanter Zusammenhang zwischen der Serotonintransporter-Verfügbarkeit mit dem Ausmaß von dysfunktionalen Einstellungen bei den Patienten nachweisen. Die Patienten mit den ausgeprägtesten dysfunktionalen Einstellun-
gen wiesen die höchste Serotonintransporter-Verfügbarkeit auf (Meyer et al. 2004). Auch hinsichtlich der Verfügbarkeit des Serotonin-5-HT2-Rezeptors erscheinen Zusammenhänge mit psychopathologischen Charakteristika besser belegt als Assoziationen mit dem Krankheitsphänotyp an sich. Dies legen auch Befunde zur dopaminergen Neurotransmission bei depressiven Störungen nahe. So weisen depressive Patienten mit dem Charakteristikum einer motorischen Hemmung eine erhöhte D2-Rezeptorverfügbarkeit im Putamen auf, was nach heutigen Modellen auf verminderte synaptische Dopaminkonzentrationen in dieser Hirnstruktur hinweist (Meyer et al. 2006). Ein solcher Typus einer depressiven Störung mit einer verminderten dopaminergen Neurotransmission, der neben der motorischen Verlangsamung auch durch eine ausgeprägte Anhedonie gekennzeichnet ist, könnte einen neurobiologisch definierten Subtyp der heterogenen Entität »Depression« darstellen, der aufgrund seiner spezifischen Biologie auch einer besonderen Therapie bedarf. Bei Patienten mit einer Substanzabhängigkeit scheint die reduzierte Dopamin-D2-Rezeptorverfügbarkeit im ventralen Striatum, einer zentralen Struktur des Belohnungssystems des Menschen, ein Befund zu sein, der Substanzabhängigkeit per se kennzeichnet. Gleichzeitig ist bei diesen Patienten – und auch das offenbar unabhängig von der Substanz – die Dopaminfreisetzung auf ein Stimulans deutlich vermindert bzw. sogar aufgehoben (Martinez et al. 2005). Beide Veränderungen zusammen werden als neurobiologisches Substrat einer verminderten Sensitivität gegenüber verstärkenden Substanzen aufgefasst. Die Aktivität dopaminerger Systeme könnte auch einen Teil der Vulnerabilität für Substanzabhängigkeiten darstellen. So erleben gesunde Probanden mit der niedrigsten striatalen D2-Rezeptorverfügbarkeit die stärksten positiven Wirkungen nach Applikation von Methylphenidat. Neuere Befunde deuten an, dass die Söhne alkoholabhängiger Väter ein geringeres Risiko für die Entwicklung einer Abhängigkeit haben, wenn sie eine hohe striatale D2-Rezeptor-Verfügbarkeit aufweisen (Volkow et al. 2006). Diese und viele andere inzwischen vorliegende Befunde zeigen, dass sich die klassischen Krankheitsentitäten Schizophrenie, Depression oder Alkoholabhängigkeit besser durch heterogene neurobiologische Funktionsstörungen beschreiben lassen, die vielfach überlappen und so nicht nur die phänomenologische Heterogenität erklären, sondern auch z. B. das Phänomen der Komorbidität. In Zukunft wird man diese Störungen durch eine Komposition von Endophänotypen (und eventuell der für sie kodierenden Gene) und die dadurch bestimmten Funktionsstörungen beschreiben. Eine derart an intermediären Phänotypen entwickelte Klassifikation stellt die Fortführung der »funktionalen Psychopathologie« nach van Praag dar, der eine Assoziation zwischen psychopathologischen Dimensionen und definierten Störungen der monoaminergen Neurotransmission postulierte (van Praag et al. 1990). Benkert hatte vorgeschlagen, die Klassifikation psychischer Störungen aufgrund ihres Ansprechens auf eine spezifische Pharmakotherapie vorzunehmen (Benkert 1990; 7 Kap. 48). Für die Gruppe der Störungen, die
5 1.3 · Psychopharmakotherapie der Zukunft: »selektiv unselektive« Medikamente oder »rationale Polypharmazie«?
Ätiologische Faktoren Gene
1
Gehirnstrukturen/ -funktionen
Psychopathologisch
Frühe Umweltfaktoren
A
Ungünstige Umwelt
2
Krankheit
3 4
Unterschwellige Symptome
B
5 6
Protektive Umwelt
C
7
Keine Dysfunktion Behaviorale Phänotypen
Intermediäre Phänotypen
. Abb. 1.2 Hypothetische Beziehung zwischen Suszeptibilitätsgenen (links) und dem Phänotyp der Erkrankung (rechts). (Aus Zobel u. Maier 2004)
auf einen SSRI (selektiver Serotoninwiederaufnahmehemmer) ansprachen, schlug er den Terminus »Serotonin-DysfunktionsSyndrom« vor (Benkert 1990). Eine derart funktional definierte Störung wird dann notwendigerweiser Ausgangspunkt für eine stärker individualisierte, an Endophänotypen orientierte Pharmakotherapie sein, die man – in Anlehnung an die von Benkert und van Praag vorgeschlagenen Termini – »funktionale Psychopharmakotherapie« nennen kann. Eine solche funktionale Psychopharmakotherapie wäre ein wesentlicher Schritt zu einer gänzlich personalisierten Medizin in der Psychiatrie.
1.3
Psychopharmakotherapie der Zukunft: »selektiv unselektive« Medikamente oder »rationale Polypharmazie«?
Während die pharmazeutische Industrie auf allen Gebieten der Medikamentenentwicklung bestrebt ist, möglichst selektive Substanzen zu schaffen, die nur an eine definierte molekulare Zielstruktur binden, ist in der Psychopharmakologie das interessante Phänomen zu beobachten, dass Medikamente mit »angereicherter« Pharmakologie klinisch am erfolgreichsten sind. Der amerikanische Pharmakologe Bryan Roth bezeichnet diese Substanzen als magic shotguns (magische Schrotkugeln), womit er deren Eigenschaft bezeichnet, in der Art einer Schrotkugel eine Vielzahl von Zielmolekülen zu beeinflussen (Roth et al. 2004). Er stellt diesen Substanzen magic bullets gegenüber, die selektiv für ein einzelnes Zielmolekül sind. Obwohl in den letzten 20 Jahren v. a. selektive Antidepressiva (z. B. SSRI) entwickelt wurden, zeigen Metaanalysen, dass nichtselektive Medikamente den selektiven Substanzen gerade bei schwereren Störungen überlegen zu sein scheinen.
Ein besonders anschauliches Beispiel für die weite Verbreitung von Substanzen mit »angereicherter« Pharmakologie stellt jedoch die Gruppe der sog. atypischen« Antipsychotika1 (besser: Antipsychotika der zweiten Generation, im Englischen »second generation antipsychotics«, SGA; zur Diskussion 7 Kap. 55) dar. Mit der Ausnahme von Amisulprid sind alle bis heute zugelassenen Antipsychotika der zweiten Generation nicht selektiv für D2-artige Dopaminrezeptoren. Alle Substanzen dieser Gruppe binden auch mit mehr oder weniger hoher Affinität 4 an verschiedene Serotoninrezeptoren (v. a. 5-HT1A- und 5HT2-Rezeptoren, an denen sie nicht nur als Antagonisten, sondern auch als Agonisten wirken können, dann aber auch an 5-HT6- und 5-HT7-Rezeptoren, über die zumindest teilweise ihre »atypischen« Eigenschaften erklärt werden), 4 an muskarinische Acetylcholinrezeptoren, 4 an Į1-adrenerge Rezeptoren und teilweise auch 4 an Serotonin- und Noradrenalintransporter (Ziprasidon, Zotepin). 1
Die Einteilung der Antipsychotika erfolgt in diesem Werk nicht einheitlich. In den Kapiteln, in denen Antipsychotika eine zentrale Rolle zukommt (7 Kap. 55: »Antipsychotika« und 7 Kap. 75: »Schizophrene Störungen«), sowie in diesem Einleitungskapitel werden diese Substanzen in »Antipsychotika der ersten Generation« und »Antipsychotika der zweiten Generation« eingeteilt, weil die Autoren dieser Kapitel diese Nomenklatur für die wissenschaftlich ausgereiftere halten. In allen anderen Kapiteln wird weiterhin die klinisch gebräuchlichere Einteilung in »konventionelle« und »atypische« Antipsychotika vorgenommen. Die Herausgeber sind sich der Problematik dieser unterschiedlichen Nomenklaturen bewusst. Solange eine Einteilung nach dem Wirkmechanismus bzw. nach dem zu behandelnden Zielsyndrom nicht möglich ist, sind solche Differenzen jedoch unvermeidlich. Beide Systeme werden der Heterogenität innerhalb der Substanzklasse als Ganzes nicht gerecht.
1
6
1
Kapitel 1 · Konzeption und Grundlagen einer funktionalen Psychopharmakotherapie
Der ausgeprägte Antagonismus an H1-Histaminrezeptoren, der v. a. Clozapin und Olanzapin auszeichnet, wird von einigen Autoren nicht nur für die Nebenwirkungen (Sedierung, Gewichtszunahme) dieser Substanzen verantwortlich gemacht, sondern soll auch günstige Einflüsse auf Negativsymptome vermitteln. Clozapin ist der Prototyp einer magic shotgun. Kein Antipsychotikum bindet an derart viele unterschiedliche molekulare Targets und entfaltet derart heterogene pharmakologische Effekte. Bis heute jedoch ist nicht geklärt, welche pharmakologischen Eigenschaften Clozapin trotz aller Neuentwicklungen der letzten Jahre aus der Gruppe der Antipsychotika der zweiten Generation herausheben. Zwar hat es in den letzten Jahren und Jahrzehnten vielfältige Bemühungen gegeben, Antipsychotika zu entwickeln, die nicht an D2-artige Dopaminrezeptoren binden, sondern an andere Zielmoleküle, für die sich zwanglos ein Rationale für eine Beteiligung an der Pathophysiologie schizophrener Störungen konstruieren ließ. Die meisten dieser Substanzen waren selektiv für einen Rezeptor bzw. ein Zielmolekül (d. h., sie waren konzipiert als magic bullets), ganz so, wie man sich dies als Ziel einer naturwissenschaftlich fundierten Pharmakotherapie wünscht. Dennoch war diese Entwicklungsstrategie bis heute nicht erfolgreich (zu den Erfolg versprechenden aktuellen Entwicklungen 7 Kap. 55). Keines dieser magic bullets hat Marktreife erreicht, und viele der hoffnungsvollsten Substanzen haben sich in der klinischen Prüfung als den etablierten Substanzen nicht ebenbürtig erwiesen, obwohl sie in den einschlägigen Tiermodellen antipsychotische Wirksamkeit nahe legten. So war der selektive 5-HT2-Rezeptorantagonist M100907 in der präklinischen Entwicklung durch eine Charakteristik wie Clozapin ausgewiesen. In der klinischen Prüfung war die Substanz dann zwar Plazebo überlegen, sie hat sich jedoch im Vergleich mit Haloperidol als diesem nicht gleich wirksam erwiesen. Darauf wurde die weitere Entwicklung der Substanz in der Indikation Schizophrenie eingestellt. Beispiele für Substanzen, die in der klinischen Prüfung selbst Plazebo nicht ebenbürtig waren, sind der partielle D3-Rezeptorantagonist (+)-UH232, der CB1-Cannabinoidrezeptorantagonist SR-141716 oder der kombinierte D4-/5-HT2-Rezeptorantagonist Fananserin. Ob sich selektive Liganden an metabotropen Glutamatrezeptoren, die sich derzeit in der klinischen Prüfung befinden, klassischen und »atypischen« Substanzen überlegen oder zumindest ebenbürtig zeigen, bleibt abzuwarten. Analoge Beispiele finden sich in der Antidepressivaforschung. Derzeit scheint die Gabe »selektiv unselektiver« Arzneimittel die aussichtsreichste medikamentöse Strategie für viele phänomenologisch heterogene, multifaktoriell bedingte und polygenetische Erkrankungen, wie psychische Störungen sie darstellen, zu sein. Die in der Psychiatrie extrem weit verbreitete Polypharmazie ist das klinische Korrelat für diese von vielen Klinikern intuitiv als richtig empfundene Strategie. Erst die exakte Charakterisierung eines individuellen Patienten auf der Ebene der intermediären Phänotypen jedoch wird den gezielten Eingriff in gestörte Hirnfunktionen erlauben. Dies wird den Einsatz mehrerer unterschiedlicher Substanzen mit unterschiedlichem Angriffspunkt bedingen und wäre der Beginn einer
genuin neurobiologisch fundierten »rationalen Polypharmazie«. Der Weg dorthin setzt gänzlich neue Wege der Arzneimittelprüfung und der Zulassungspraxis voraus. Beide sind heute vollständig an den auch in den nächsten Versionen noch fast vollständig auf der klinische Phänomenologie basierenden Systemen ICD und DSM orientiert. Neben diesen Hürden stellt die Risikoscheu der pharmazeutischen Industrie die größte Barriere auf dem Weg dorthin dar.
1.4
Wunsch und Wirklichkeit in der Arzneimittelforschung: alte Medikamente für neue Indikationen
Die pharmazeutische Industrie befindet sich heute in der Situation, dass trotz stetig weiter steigender Ausgaben für Forschung und Entwicklung die Zahl der neu zugelassenen Medikamente seit Jahren stagniert. So stiegen in den USA die Aufwendungen für die Medikamentenentwicklung zwischen 1990 und 2003 von knapp 10 Mrd. US$ auf mehr als 33 Mrd. US$, während in der gleichen Zeit die Zahl der Neuzulassungen mit etwa 60 Substanzen pro Jahr konstant blieb (Ashburn u. Thor 2004). Die Neuentwicklung eines Pharmakons bis zur klinischen Reife beansprucht heute bis zu 17 Jahre, im günstigsten Fall dauert es immer noch 10 Jahre, bis mit einem Medikament Profite erwirtschaftet werden. Die Wahrscheinlichkeit, dass eine Substanz, für die ein Erfolg versprechendes Target ausgemacht wurde, tatsächlich den Markt erreicht, beträgt weniger als 10%. Dabei kann eine Substanz auch nach Jahren der aufwendigen und kostenintensiven Entwicklungsarbeit noch scheitern, so z. B. wenn sich ihre Pharmakokinetik im Menschen als ungünstig herausstellt oder wenn sich nach Beginn der Studien am Menschen plötzlich Sicherheitsbedenken ergeben, die vorher nicht absehbar waren. Und selbst nach der erfolgreichen Vermarktung einer Substanz kann eine neue Risikoeinschätzung ein über viele Jahre erfolgreich verkauftes Medikament am Markt diskreditieren, wie das Beispiel Olanzapin in den USA zeigt. Vor diesem Hintergrund ist es nachvollziehbar, dass die pharmazeutische Industrie in den letzten Jahren verstärkt die Strategie verfolgt, bekannten, bereits zugelassenen Medikamenten neue Indikationen zu erschließen (Ashburn u. Thor 2004). Dadurch entfallen oder vermindern sich zumindest ganz wesentliche Risiken gerade aus der Spätphase der Medikamentenentwicklung, und die Kosten für die frühen Entwicklungsphasen fallen nicht an oder reduzieren sich deutlich. Pharmakokinetik und Sicherheitsrisiken einer Substanz sind dann bereits bekannt. Die Zeit bis zur Zulassung einer »alten« Substanz in einer neuen Indikation verkürzt sich dadurch auf 3–12 Jahre. Das Verhältnis zwischen Ertrag und Risiko ist bei der Strategie der »Repositionierung« einer bekannten Substanz in einer neuen Indikation für die pharmazeutische Industrie am günstigsten (während die Neuentwicklung einer Substanz für eine »Nischenindikation« die ungünstigste Ertrags-Risiko-Relation darstellt). Gerade im Bereich der Psychopharmakologie gibt es viele Beispiele aus den letzten Jahren, bei denen eine solche Reposi-
7 1.5 · Grundzüge einer funktionalen Psychopharmakotherapie
tionierung stattgefunden hat (Ashburn u. Thor 2004). So wurde der Dopamin- und Noradrenalinwiederaufnahmehemmer Bupropion 1996 in den USA zunächst als Antidepressivum zugelassen (als Wellbutrin), 1997 dann als Medikament zur Unterstützung der Nikotinentwöhnung (als Zyban). In Deutschland wurde Bupropion erst 2007 als Elontril in der AntidepressivaIndikation zugelassen. 2003 wurde Wellbutrin weltweit im Wert von 1,56 Mrd. US$ verkauft, Zyban zusätzlich im Wert von 125 Mio. US$. Der Noradrenalin- und Serotoninwiederaufnahmehemmer Duloxetin, der vor einigen Jahren in Deutschland als Antidepressivum zugelassen wurde (als Cymbalta), wurde parallel in den Indikationen Depression und Stressinkontinenz entwickelt. Das weltweite Umsatzpotenzial in der Antidepressiva-Indikation wurde 2004 auf 1,2 Mrd. US$ geschätzt; immerhin weitere 800 Mio. US$ Umsatz wurden in der Indikation Stressinkontinenz für möglich gehalten. Noch bedeutsamer für die psychiatrische Pharmakotherapie sind die Erweiterungen der Indikationen für die Gruppe der Antipsychotika der zweiten Generation. Während diese bis vor einigen Jahren lediglich für die Behandlung von schizophrenen Störungen zugelassen waren, hat sich eine ganze Reihe von Substanzen dieser Gruppe auch bei bipolaren Störungen als wirksam erwiesen. So sind fast alle dieser Substanzen inzwischen auch zur Behandlung von manischen Syndromen zugelassen. Olanzapin und Quetiapin wurden unter bestimmten Bedingungen zur Prophylaxe von bipolaren Störungen zugelassen, Quetiapin auch zur Behandlung bipolarer Depressionen. Zuletzt wurde Quetiapin zur Augmentationsbehandlung von Patienten mit unipolarer Depression, die nicht ausreichend auf eine Monotherapie mit einem Antidepressivum angesprochen haben, zugelassen. Die Zulassung der Substanz auch für die Behandlung der generalisierten Angststörung ist bei den Zulassungsbehörden beantragt. Alle diese Entwicklungen zeigen, dass der Begriff des Antipsychotikums einem gravierenden Bedeutungswandel unterworfen werden muss, ähnlich wie dies vor vielen Jahren schon für den Begriff des Antidepressivums hätte geschehen müssen, da doch diese Substanzen schon lange nicht mehr allein zur Behandlung depressiver Syndrome benutzt werden (und für viele andere Indikationen zugelassen sind). Die hier aufgezeigte Entwicklung der zunehmenden Erweiterung von Indikationen für einige wenige Substanzen, die sich als besonders erfolgreich erwiesen haben, mag aus der Sicht der forschenden Industrie nachvollziehbar sein, maximiert sie doch den Profit bei gleichzeitiger Risikoreduktion. Auf der anderen Seite ist diese Strategie jedoch hochgradig innovationsfeindlich, da sie die Identifizierung neuer Zielmoleküle bzw. -strukturen und die Entwicklung innovativer Behandlungsstrategien behindert oder diesen zumindest nicht förderlich ist. Nach dem gegenwärtig geübten Konzept ist die Firma am erfolgreichsten, deren Substanz die breiteste, unselektivste Pharmakologie aufweist. Die Entwicklung zeigt aber auch sehr eindrücklich, dass gemeinsame neurobiologische Fundamente für viele psychische Störungen existieren, die in den bisherigen nosologischen Systemen künstlich getrennt sind. Die Aufgabe, eine »selektiv unselektive« Pharmakotherapie nach dem Schrotschussprinzip durch
eine »selektive« Polypharmazie zu ersetzen, ist eine der größten Herausforderungen der Psychiatrie der nächsten Jahrzehnte.
1.5
Grundzüge einer funktionalen Psychopharmakotherapie
1.5.1
Überblick
Eine funktionale Psychopharmakotherapie, wie sie in ihrer Grundlegung hier formuliert wird, ist ein innovativer Ansatz, der bislang noch nicht systematisch in der Praxis umgesetzt wird. Es gibt zwar Bestrebungen, die an klassischen nosologischen Entitäten orientierte Pharmakotherapie durch eine an Zielsymptomen orientierte Therapie zu ersetzen. Noch immer aber ist dieses Behandlungsprinzip an meist unspezifischen psychopathologischen Symptomen oder Syndromen ausgerichtet. Von dem Ziel, die Behandlung gegen gestörte intermediäre biologische Prozesse (Endophänotypen) zu richten, ist die psychiatrische Pharmakotherapie noch sehr weit entfernt. Es fehlen bisher nicht nur ausreichende Kenntnisse über die Endophänotypen, die in ihrem Zusammenspiel letztendlich einen Krankheitsphänotyp ausmachen. Noch viel weniger ist darüber bekannt, wie sich diese Endophänotypen gezielt pharmakologisch beeinflussen lassen. So zeigt schon die Gliederung dieses Abschnitts, dass die Psychopharmakotherapie, die sich heute schon ambitioniert »funktional« nennt, in ihrer Orientierung an klinisch definierten Syndromen eigentlich noch funktionale Psychopathologie im Sinne van Praags ist (van Praag et al. 1990). Überall dort jedoch, wo zumindest gute Hypothesen zur biologischen Basis definierter Funktionsstörungen existieren, kann eine gezielte pharmakologische Intervention erfolgen. Beispielhaft zeigt dies . Abb. 1.3, die die wesentlichen vermuteten Ursachen und Konsequenzen gestörter dopaminerger Signaltransduktion im dorsolateralen präfrontalen Kortex bei schizophrenen Störungen zusammenfasst. Aus diesen Hypothesen zur Pathogenese, die Ergebnis der aktuellen neurobiologischen Forschung sind, lassen sich pharmakologische Strategien entwickeln, mit denen die gestörten Prozesse moduliert werden können (7 1.5.6). Von einem Verständnis der neurobiologischen Basis vieler psychopathologischer Konstrukte sind wir noch weit entfernt (z. B. Negativsymptomatik, 7 1.5.3). Dennoch soll hier der Versuch unternommen werden, einzelnen klinischen Syndromen verschiedene zugrunde liegende biologische Prozesse insoweit zuzuordnen, wie sie nach dem derzeitigen Wissensstand bereits heute gezielt pharmakologisch beeinflussbar erscheinen. Der spekulative Charakter dieses Unterfangens lässt es angeraten erscheinen, sich hier zunächst auf einige wenige zentrale psychopathologische Phänomene zu beschränken. Dabei könnten auch syndromale Konstrukte wie »Angst«, »Depression«, »Zwang« oder »Sucht« hier besprochen werden. Da diese Syndrome aber in den gegenwärtigen Klassifikationssystemen eigene Krankheitsentitäten definieren und dementsprechend auch in diesem Buch in eigenen Kapiteln besprochen werden, wird auf die Diskussion dieser Dimensionen hier (noch) verzichtet.
1
8
1
Kapitel 1 · Konzeption und Grundlagen einer funktionalen Psychopharmakotherapie
1.5.2
Präfrontaler Kortex D1 ↑
↓ DA-
Aktivität
NMDAHypofunktion
P
α2 ↑
D1 ↑
GAT1 ↓
Ch GAD67 ↓
NMDA-Hypofunktion
↑ DA-Output
zum Striatum
↓ Exzitatorische Aktivität
DA GABA
DA
Mesenzephale DA-Zellkörper . Abb. 1.3 Übersicht über die wesentlichen vermuteten Ursachen und Konsequenzen gestörter dopaminerger Signaltransduktion im dorsolateralen präfrontalen Kortex bei schizophrenen Störungen. Eine Minderfunktion von NMDA-Rezeptoren, die exzitatorischen Input zu präfrontalen Pyramidenzellen (P) vermitteln, führt zu verminderter Aktivität von kortikalen exzitatorischen Projektionen zu mesenzephalen dopaminergen Neuronen. Dies wiederum hat einerseits eine verminderte Aktivität dieser dopaminergen Neuronen, die zum dorsolateralen präfrontalen Kortex zurückprojizieren, zur Folge; andererseits wird die Aktivität von Neuronen, die zum Striatum projizieren, gesteigert. Reduzierte Dopaminkonzentrationen im präfrontalen Kortex führen zu einer kompensatorischen, aber funktionell insuffizienten Heraufregulation von D1-Rezeptoren. Die Verminderung der NMDA- wie auch der D1-vermittelten Transmission reduziert die Aktivität von Chandelier-Neuronen (Ch), was zu einer Abnahme der aktivitätsabhängigen Expression von GAD1-mRNA, die für GAD67 kodiert, führt. Eine Reduktion von GAD67 führt zu verminderter GABA-Freisetzung, was wiederum einerseits eine Herunterregulation von GAT1 in Chandelier-Neuronen, andererseits eine Heraufregulation von postsynaptischen α2-GABAA-Rezeptoren auf den initialen Segmenten der Axone von Pyramidenzellen zur Folge hat; DA Dopamin, GAT GABA-Transporter, GAD Glutamatdecarboxylase. (Aus Gründer 2008)
Positivsymptomatik
Positivsymptome werden nicht nur im Rahmen von schizophrenen Störungen beobachtet. Sie treten bei so heterogenen Erkrankungen wie manischen oder depressiven Syndromen, Demenzen oder Deliren auf. Dennoch ist für keine andere Gruppe von Symptomen, unabhängig von der Störung, in deren Rahmen sie beobachtet werden, die Notwendigkeit, diese mit einer spezifischen Substanzklasse zu behandeln, so evident wie für Positivsymptome. Jede Substanz, die gegen Halluzinationen, Wahn oder positive formale Denkstörungen wirkt, entfaltet ein Minimum an Antagonismus an D2-artigen Dopaminrezeptoren (7 Kap. 55). Das gilt auch für die Gruppe der partiellen D2-Rezeptorantagonisten mit ihrem ersten und bisher einzigen Vertreter Aripiprazol. Vor allem die nuklearmedizinischen bildgebenden Verfahren haben konsistent gezeigt, dass bei psychotischen Störungen, unabhängig von der nosologischen Zuordnung, in subkortikalen Kernen ein Exzess der dopaminergen Neurotransmission vorzuliegen scheint. So ist die Aktivität der Dopa-Decarboxylase, eines Enzyms im Dopaminmetabolismus, im Striatum von Patienten mit einer schizophrenen Störung ebenso gesteigert wie bei Patienten mit komplex-partiellen zerebralen Anfällen, die gleichzeitig psychotische Symptome aufweisen, nicht jedoch bei Patienten mit einer solchen Epilepsie ohne psychotische Symptome (Reith et al. 1994). Der Befund eines beschleunigten Dopaminmetabolismus bei schizophrenen Störungen wurde von verschiedenen Arbeitsgruppen bestätigt (z. B. Kumakura et al. 2007). Er findet sein Korrelat in einer bei Schizophrenien erhöhten Sensitivität gegenüber Amphetamin (Laruelle et al. 1996). Eine solche Hypersensitivität gegenüber Amphetamin findet sich auch bei Patienten mit einer schizotypen Störung, sie ist allerdings geringer ausgeprägt (Abi-Dargham et al. 2004). Die Autoren der beiden letztgenannten Studien folgern aus ihren Befunden, dass die bei Störungen aus dem schizophrenen Spektrum zu beobachtende dopaminerge Dysregulation eine Trait-Komponente hat, die sowohl bei Patienten mit einer schizotypen als auch bei solchen mit einer remittierten schizophrenen Störung vorliegt. Bei einer Exazerbation einer schizophrenen Störung nimmt die Dysregulation im Sinne einer State-Komponente zu. Bemerkenswerterweise sprechen jene Patienten auf eine antipsychotische Therapie am besten an, die den größten subkortikalen Dopaminexzess aufweisen (Abi-Dargham et al. 2000). Ein weiterer subkortikaler dopaminerger Marker für psychotische Symptome scheint auch die striatale D2-Rezeptordichte zu sein. Sie findet sich nicht nur bei Schizophrenien erhöht, sondern auch bei Manien mit, nicht jedoch bei solchen ohne psychotische Symptome (Pearlson et al. 1995).
D2-Rezeptorantagonisten Die gesteigerte dopaminerge Neurotransmission wird durch Antipsychotika reduziert (Gründer et al. 2003). Dabei ist die Behandlung mit einem niedrigaffinen D2-Rezeptorantagonisten für eine suffiziente antipsychotische Wirkung völlig ausreichend (7 Kap. 55). Substanzen wie Clozapin und Quetiapin, die mit
9 1.5 · Grundzüge einer funktionalen Psychopharmakotherapie
relativ niedriger Affinität D2-artige Dopaminrezeptoren antagonisieren, haben den Vorteil, selbst bei sehr hohen Dosierungen D2-Rezeptoren im Striatum nicht in einem Ausmaß zu blockieren, dass extrapyramidalmotorische Störungen (EPS) auftreten. Auch Aripiprazol weist aufgrund seines besonderen Wirkmechanismus eine niedrige Inzidenz von EPS auf. Alle D2-Rezeptorantagonisten mit einer gewissen Affinität zum D2-artigen Dopaminrezeptor bergen dosisabhängig das Risiko, dass unter der Behandlung EPS auftreten. Ziel jeder künftigen, gegen Positivsymptome gerichteten Pharmakotherapie muss es daher sein, die dopaminerge Neurotransmission in temporolimbischen Hirnstrukturen gerade so weit zu vermindern, dass keine EPS auftreten. Dies erscheint gegenwärtig am ehesten mit niedrigaffinen D2-Antagonisten oder mit partiellen D2-Agonisten mit niedriger intrinsischer Aktivität möglich (Gründer et al. 2009). Unklar ist derzeit, ob Substanzen ohne jede Affinität zu D2artigen Dopaminrezeptoren für die Behandlung von Positivsymptomen geeignet sind. Die pharmazeutische Industrie sucht seit Jahrzehnten, bisher ohne Erfolg, nach derartigen Pharmaka. So haben sich z. B. ı-Rezeptorliganden ebenso wie selektive 5HT2A-Rezeptorantagonisten entweder als unwirksam oder Referenzsubstanzen wie Haloperidol unterlegen gezeigt. Es ist bemerkenswert, dass auch diese Substanzen im Tiermodell die dopaminerge Aktivität in mesolimbischen Projektionen hemmen. Diese Pharmaka weisen in kontrollierten Studien der Phase II oftmals eine gewisse, einem Plazebo überlegene, antipsychotische Wirkung auf. Werden sie dann mit Referenzsubstanzen wie Haloperidol verglichen, so reicht ihre Wirksamkeit gegen Positivsymptome nicht an jene des klassischen D2Antagonisten heran.
Andere Wirkmechanismen Zahlreiche neuartige Wirkmechanismen werden gegenwärtig auf ihre Wirksamkeit gegenüber Positivsymptomen geprüft. Beispielsweise wurden in einer einzigen Studie vier potenzielle neue Antipsychotika mit jeweils unterschiedlichem Wirkmechanismus, aber ohne relevante Affinität zu D2-artigen Dopaminrezeptoren, gegen Haloperidol und Plazebo auf ihre Wirksamkeit bei schizophrenen Störungen geprüft (Meltzer et al. 2004; 7 Box: »Meta«-Studie). Es handelte sich um den NK3Neurokininantagonisten SR142801, den 5-HT2A/2C-Antagonisten SR46349B, den CB1-Cannabinoidrezeptorantagonisten SR141716 und den NTS1-Neurotensinantagonisten SR48692. Während weder der CB1- noch der NTS1-Antagonist in irgendeiner Hinsicht Plazebo überlegen waren, reduzierten sowohl der NK3- als auch der 5-HT2A/2C-Antagonist die psychotische Symptomatik. Allerdings bildete sich die Wirksamkeit des 5-HT2A/2C-Antagonisten SR46349B vor allem in den Dimensionen Negativsymptomatik und Depression ab, während der NK3-Antagonist SR142801 auch gegen Positivsymptome wirkte (Meltzer et al. 2004). Die Studie wies keine ausreichende Power auf, um einen statistischen Vergleich zwischen Haloperidol und den experimentellen Substanzen zu ermöglichen, doch reichte numerisch keine der experimentellen Substanzen an Haloperidol heran, wenn die Wirksamkeit an der Reduktion der gesamten schizophrenen Psychopathologie (gemessen mit der Positive
and Negative Syndrome Scale, PANSS) gemessen wurde. Während jedoch Haloperidol in dieser Studie keinerlei Einfluss auf eine depressive Symptomatik (gemessen mit der Calgary Depression Scale, CDS) hatte, wurde diese durch den 5-HT2A/2C-Antagonisten SR46349B signifikant gebessert.
»Meta«-Studie Diese wichtige Studie von Meltzer et al. (2004) legt zweierlei Schlussfolgerungen nahe: (1) die deutlichsten Wirkungen gegen Positivsymptome lassen sich – zumindest nach gegenwärtigem Kenntnisstand – mit D2-Antagonisten/partiellen Agonisten erzielen, und (2) möglicherweise lassen sich die differenziellen Wirkungen der heute verfügbaren Antipsychotika der zweiten Generation auf bestimmte Dimensionen schizophrener Psychopathologie zu differenziellen Wirkungen an bestimmten molekularen Zielmolekülen in Beziehung setzen.
Sehr interessante neuere Ansätze auch zur Behandlung von Positivsymptomen (insbesondere aber auch von Negativsymptomen 7 1.5.3 und kognitiven Störungen 7 1.5.6) ergeben sich derzeit durch eine Reihe von sich momentan in der klinischen Prüfung befindlichen Substanzen, die an der glutamatergen Synapse angreifen (7 Box: Nichtantidopaminerge Pharmaka bei schizophrenen Störungen). Dazu gehören v. a. LY404039, ein Agonist an metabotropen Glutamatrezeptoren vom Typ mGlu2/3, der von Eli Lilly entwickelt wurde, und Inhibitoren des Glycintransporters vom Typ GlyT1, die von verschiedenen Firmen geprüft werden (u. a. Roche RG1678, Sanofi-Aventis SSR 504734 und SSR 103800, Organon/Merck Org 25935). In der ersten Phase-II-Studie gegen Plazebo und Olanzapin war LY404039 (ebenso wie Olanzapin) Plazebo hinsichtlich der Reduktion des PANSS-Score signifikant überlegen, allerdings waren die Effekte numerisch nicht ganz so ausgeprägt wie unter Olanzapin (Patil et al. 2007). Eine zweite Phase-II-Studie, die der Dosisfindung dienen sollte, war eine »failed study«, da keine der vier geprüften Dosierungen von LY403939 noch Olanzapin signifikant wirksamer als Plazebo waren (Kinon et al. 2011). Jedoch reduzierte Olanzapin auch in dieser Studie den PANSS-Gesamtscore numerisch stärker als jede Dosis von LY404039 und Plazebo; zudem war die Reduktion des PANSS-Positiv-Score in der Olanzapin-Gruppe – und nur in dieser – signifikant. Die vorliegenden Daten lassen es fraglich erscheinen, dass LY404039 eine Wirkung gegen Positivsymptome aufweist, die der von D2-Rezeptorantagonisten vergleichbar ist. So zielen die derzeit durchgeführten Studien nun auch eher darauf ab, eine Wirksamkeit der Substanz als Add-on-Behandlung zu einer bestehenden Therapie mit einem der üblichen Antipsychotika nachzuweisen. Die Wirkung von Inhibitoren des Glycintransporters vom Typ 1 (GlyT1) beruht auf der Erhöhung der Konzentration der Aminosäure Glycin, die als obligater Ko-Agonist an NMDARezeptoren auf Gliazellen wirkt. Nachdem verschiedene klinische Studien eine Wirksamkeit des GlyT1-Inhibitors Sarkosin (N-Methylglycin; ein natürlich vorkommender, intermediärer Metabolit im Aminosäurestoffwechsel) als Add-on zu einer be-
1
10
1
Kapitel 1 · Konzeption und Grundlagen einer funktionalen Psychopharmakotherapie
stehenden antipsychotischen Therapie gezeigt haben (erstmals berichtet in Lane et al. 2005), lag es nahe, diese Substanz als Prototyp für die Entwicklung einer neuen Klasse von Antipsychotika zu betrachten. Sarkosin bewirkt zwar auch eine leichte Besserung von Positivsymptomen, deutlichere Effekte zeigt die Substanz allerdings in den Dimensionen »Depression« und »Negativsymptomatik« (Tsai u. Lin 2010). Ergebnisse von Studien mit den neuen synthetischen GlyT1-Inhibitoren liegen bisher nur in Form von Pressemitteilungen vor (z. B. http://www. roche.com/de/media/media_releases/med-cor-2010-12-06b.htm). Sie legen jedoch ebenfalls eine Wirksamkeit v. a. gegen Negativsymptome nahe, die der Wirkung von Plazebo überlegen ist, wenn diese Substanzen als Add-on zu einer bestehenden antipsychotischen Therapie gegeben werden (7 1.5.3).
Nichtantidopaminerge Pharmaka bei schizophrenen Störungen Möglicherweise sind nichtantidopaminerge Pharmaka in Zukunft v. a. in Frühphasen schizophrener Störungen oder bei Krankheitsprodromen indiziert. Sie könnten die Ausbildung von dopaminergen Dysbalancen in subkortikalen Kernen, wie sie offenbar nicht in allen Krankheitsphasen bestehen, verhindern. In prodromalen Krankheitsstadien, die v. a. durch Negativsymptome gekennzeichnet sind, könnten dann möglicherweise glutamaterge Pharmaka auch in Monotherapie wirksam sein.
Es ist jedoch nicht ausgeschlossen, dass bei Positivsymptomen, die nicht im Rahmen von Schizophrenien, sondern z. B. im Rahmen von demenziellen Syndromen auftreten, doch auch andere Mechanismen eine den traditionellen Antipsychotika äquivalente Wirkung entfalten. So ist offensichtlich bei Demenzen der dopaminerge Tonus durch einen Verlust an cholinergem Tonus gesteigert. Die Verbesserung der cholinergen Neurotransmission kann somit auch antipsychotische Wirkungen entfalten. So wurde der M1/M4-Rezeptoragonist Xanomelin zunächst als Antidementivum bei Patienten mit Alzheimer-Demenz (AD) geprüft. In einer großen plazebokontrollierten Studie an 343 Patienten mit einer AD war die Substanz nicht nur hinsichtlich ihrer prokognitiven Effekte Plazebo überlegen, sie entfaltete – ganz unerwartet – auch antipsychotische Wirkungen (Bodick et al. 1997). Wegen der häufigen gastrointestinalen Nebenwirkungen (Übelkeit und Erbrechen) wurde die Substanz allerdings in dieser Indikation nicht fortentwickelt. Jedoch wurde Xanomelin kürzlich in einer – allerdings sehr kleinen – doppelblinden, plazebokontrollierten Studie auch bei Patienten mit einer schizophrenen Störung geprüft (Shekhar et al. 2008). Hier war Xanomelin Plazebo sowohl hinsichtlich der Verbesserung von Positiv- als auch von Negativsymptomen signifikant überlegen, zudem wurden einzelne kognitive Domänen günstig beeinflusst. Basierend auf diesen Erfolg versprechenden Studien wurden verschiedene Subtyp-selektive allosterische Modulatoren an muskarinischen M1- bzw. M4-Rezeptoren entwickelt. Beide Substanzgruppen sind in Tiermodellen durch Eigenschaften charakterisiert, die antipsychotische Wirkungen prädizieren (Übersicht in Conn et al. 2009). Jedoch stehen klinische Studien mit diesen
Substanzen aus. In jedem Fall bleibt auch hier abzuwarten, ob diese Substanzen gegen Positivsymptome ggf. ähnlich effektiv sind wie antidopaminerg wirksame Antipsychotika oder ob sie ggf. sinnvolle Ergänzungen zu solchen Pharmaka sind.
1.5.3
Negativsymptomatik
Das Konzept der Negativsymptomatik hat eine lange Geschichte, die historisch eng an die schizophrenen Störungen gekoppelt ist. Dabei ist das Syndrom, phänomenologisch gekennzeichnet durch flachen Affekt, sozialen Rückzug, Anhedonie, Antriebsmangel und Alogie, zunächst diagnostisch völlig unspezifisch. Es finden sich Überlappungen mit depressiven Syndromen, v. a., wenn diese chronifizieren. Zudem kann ein solches Negativsyndrom auch bei anderen psychischen Störungen, z. B. bei bestimmten Persönlichkeitsstörungen, auftreten. Gerade bei diesen fällt die diagnostische Abgrenzung zu einem Prodrom einer schizophrenen Störung gelegentlich schwer. Die enge Assoziation von Positiv- und Negativsymptomen sowie kognitiven Störungen bei Schizophrenien führte in der Arzneimittelentwicklung dazu, ein »Breitspektrum-Antipsychotikum« zu suchen, das gegen alle diese Dimensionen mehr oder weniger gleichmäßig wirksam ist. Daher war (und ist in weiten Teilen immer noch) die gesamte Arzneimittelforschung auf diesem Gebiet durch den Versuch geprägt, ein »atypisches Antipsychotikum« zu finden, das neben der Wirksamkeit gegen Positivsymptome auch gegen Negativsymptome wirksam ist (zur Kritik dieses Ansatzes s. Gründer et al. 2009). Dabei ist heute klar, dass diesen Dimensionen sehr unterschiedliche neurobiologische Substrate zugrunde liegen, die völlig unterschiedlicher pharmakologischer Interventionen bedürfen. Zur Dimension »Kognitive Störungen« gibt es zwar ebenfalls einen Überlappungsbereich, es handelt sich jedoch zweifellos um voneinander zu trennende Domänen schizophrener Störungen (Harvey et al. 2006). Selbst die einzelnen Dimensionen des Konstrukts »Negativsymptomatik« (s. oben, z. B. Anhedonie, Antriebsmangel) sind zwar miteinander korreliert, haben aber womöglich eine unterschiedliche neurobiologische Basis. Diese ist allerdings heute noch weitgehend unbekannt. Untersuchungen dazu wurden, konzeptuell bedingt, v. a. bei schizophrenen Störungen durchgeführt. Hier gehen die Konzepte vorrangig von einem präfrontal-kortikalen Defizit der dopaminergen Neurotransmission aus (Weinberger 1987). Es liegen aber kaum kontrollierte Therapiestudien vor, in denen dopaminomimetische Pharmaka spezifisch gegen Negativsymptome evaluiert wurden. Eine syndromgerichtete Therapie mit nicht genuin antipsychotisch wirksamen Pharmaka beginnt sich gerade erst zu entwickeln.
Dopaminerge Pharmaka Da alle Stimulanzien extrazelluläres Dopamin erhöhen, liegt es nahe, diese Substanzen spezifisch zur Verbesserung von Negativsymptomen einzusetzen (7 Box: Dopaminerges Defizit und Negativsymptomatik). Auch l-DOPA wurde therapeutisch bei schizophrenen Störungen versucht. Dopaminerge Pharmaka
11 1.5 · Grundzüge einer funktionalen Psychopharmakotherapie
wurden auch angewandt, um kognitive Leistungen zu steigern (7 1.5.6). Erstaunlich ist jedoch, dass es nur eine einzige Studie gibt, die plazebokontrolliert spezifisch die Wirksamkeit von Amphetamin gegen Negativsymptome untersucht hat (Sanfilipo et al. 1996). Das mag daran liegen, dass gerade diese Substanzgruppe das erhebliche Risiko in sich birgt, Positivsymptome zu provozieren bzw. zu exazerbieren. Partielle Dopaminrezeptoragonisten wie Roxindol, die eine relativ hohe intrinsische Aktivität am D2-Rezeptor aufweisen, haben möglicherweise günstige Wirkungen auf Negativsymptome, sind gegenüber Positivsymptomen wirkungslos oder haben bei einzelnen Patienten sogar ungünstige Wirkungen (Wetzel et al. 1994). Substanzen mit niedrigerer intrinsischer Aktivität wie Aripiprazol weisen diesen Nachteil nicht auf, ihre dopaminagonistischen Wirkungen sind aber geringer. In der o. g. Studie war Amphetamin im Mittel Plazebo nicht signifikant überlegen. Mäßige positive Wirkungen wurden jedoch bei jenen Patienten beobachtet, bei denen die Negativsymptomatik besonders ausgeprägt war. Auch Methylphenidat war in einer kleinen Studie im Crossover-Design an acht Patienten mit einer schizophrenen Störung nicht wirksam. Das Stimulans Modafinil, das zur Behandlung von pathologisch gesteigerter Tagesmüdigkeit bei Narkolepsie zugelassen ist, wurde in insgesamt sechs Studien – davon fünf doppelblind und plazebokontrolliert – auf seine Wirkungen bei Schizophrenien geprüft (Übersicht in Saavedra-Velez et al. 2009). Jedoch untersuchten nur zwei Studien explizit die Wirksamkeit bei Negativsymptomatik. Beide fanden keine über die Effekte eines Plazebos hinausgehende Effektivität. Zur Wirkung auf kognitive Funktionen 7 1.5.6. l-DOPA wurde in mehreren älteren kleinen, auch doppelblinden und kontrollierten Studien auf seine Wirkungen bei Schizophrenien untersucht. Obwohl die Wirksamkeit als insgesamt positiv beschrieben wird, wurde die Substanz in den letzten 20 Jahren nicht mehr systematisch untersucht. Wirkungen auf spezifische Dimensionen wie Negativsymptomatik werden in diesen alten Untersuchungen nicht berichtet.
Dopaminerges Defizit und Negativsymptomatik Trotz der heute dominanten Hypothese, dass Negativsymptome mit einer defizitären dopaminergen Neurotransmission assoziiert sind, gibt es relativ wenige Daten zu den Wirkungen von dopaminomimetischen Pharmaka auf Negativsymptome. Am besten untersucht ist Modafinil. In den vorliegenden kontrollierten Studien waren Stimulanzien sämtlich nicht besser wirksam als Plazebo. Die fehlende Wirksamkeit gegen eine Negativsymptomatik spricht in gewisser Weise gegen eine bedeutsame Rolle eines dopaminergen Defizits als Grundlage dieser Symptomdimension.
Glutamaterge Pharmaka Eine verminderte glutamaterge Neurotransmission wird heute als zentraler Pathomechanismus in der komplexen Genese schizophrener Störungen betrachtet. Das Phencyclidin-Modell gilt gegenwärtig als das beste pharmakologische Modell für schi-
zophrene Störungen (7 Kap. 24 und 7 Kap. 30). Anders als durch Stimulanzien lassen sich durch die Gabe des NMDA-Antagonisten Phencyclidin nicht nur Positivsymptome, sondern auch Negativsymptome und kognitive Störungen provozieren. Auch andere NMDA-Rezeptorantagonisten wie Ketamin oder MK801 können schon beim gesunden Probanden zu einem psychopathologischen Bild mit einer prominenten Negativsymptomatik führen. Pharmaka, die die glutamaterge Neurotransmission positiv modulieren, sind daher bei schizophrenen Störungen inzwischen recht gut evaluiert (7 Box: NMDA-Rezeptorantagonisten und GlyT1-Inhibitoren bei Negativsymptomatik). Auch bei depressiven Störungen liegen inzwischen mehrere kontrollierte Studien vor. Bei Demenzen wurden sie hinsichtlich ihrer prokognitiven Wirkungen geprüft (7 1.5.6). Unter den glutamatergen Pharmaka sind Agonisten (Glycin, d-Serin) bzw. partielle Agonisten (d-Cycloserin) an der Glycinbindungsstelle des NMDA-Rezeptors sowie Inhibitoren des Glycintransporters vom Typ 1 (GlyT1) gut evaluiert (Übersicht in Tsai u. Lin 2010). In inzwischen mehr als 20 plazebokontrollierten Studien konnte gezeigt werden, dass sie insgesamt eine moderate Wirksamkeit gegen Negativsymptome haben, wenn sie zusätzlich zu dopaminantagonistischen Antipsychotika gegeben werden. In der ersten kleinen (n = 14) doppelblinden, plazebokontrollierten Studie zur Wirksamkeit von Glycin war Glycin als Add-on-Therapie zu einer stabilen antipsychotischen Therapie Plazebo hinsichtlich der Beeinflussung von Negativsymptomen signifikant überlegen (Javitt et al. 1994). Dieser Befund wurde in mehreren Studien bestätigt. Glycin reduziert Negativsymptome, wenn diese mit der PANSS quantifiziert werden, innerhalb von 4–6 Wochen um 20–30%. Die deutlichste Verbesserung von Negativsymptomen findet sich bei den Patienten, die vor Behandlungsbeginn die niedrigsten Glycin-Plasmakonzentrationen aufweisen. Studien mit d-Serin kamen zu ähnlichen Ergebnissen, während die Wirkungen von d-Cycloserin insgesamt zweifelhaft erscheinen und offenbar dosisabhängig sind (Tsai u. Lin 2010). In einer plazebokontrollierten Studie mit 47 Patienten führte D-Cycloserin in einer Dosierung von 50 mg zu einer signifikant besseren Reduktion von Negativsymptomen als Plazebo (Goff et al. 1999a). In einer Studie mit höheren Dosen von d-Cycloserin (100 mg/Tag) hatte die Substanz nicht nur keinen Einfluss auf Negativsymptome, sie führte sogar zu einer Zunahme von Positivsymptomen (Van Berckel et al. 1999). Die Autoren begründen dies mit einer Verdrängung des endogenen Liganden Glycin durch diese hohen Dosen von d-Cycloserin, wodurch letztlich möglicherweise die glutamaterge Neurotransmission reduziert wird. d-Cycloserin hat partialagonistische Eigenschaften an der Glycinbindundungsstelle, womit die dosisabhängigen Wirkungen erklärt werden könnten. In der neuesten Studie, die doppelblind über 6 Wochen den GlyT1-Inhibitor Sarkosin (7 1.5.2)und d-Serin mit Plazebo als Add-on zu einer Therapie mit verschiedenen Antipsychotika der zweiten Generation verglich, war Sarkosin Plazebo in allen Outcome-Parametern (PANSS-Gesamtscore, SANS, Quality of Life QOL, Global Assessment of Functioning GAF) statistisch signifikant überlegen, d-Serin jedoch nicht (Lane et al. 2010). Allerdings zeigte
1
12
1
Kapitel 1 · Konzeption und Grundlagen einer funktionalen Psychopharmakotherapie
auch d-Serin numerisch eine deutlichere Besserung der Psychopathologie als Plazebo, die statistische Power der Studie reichte jedoch nicht aus, um in dieser Hinsicht eine Signifikanz zu zeigen. Insgesamt legen die inzwischen zahlreichen Studien mit Glycin-Agonisten und GlyT1-Inhibitoren eine klare Wirksamkeit dieser Substanzgruppe gegen eine Negativsymptomatik im Rahmen schizophrener Störungen nahe, wobei die Wirkungen von Sarkosin am überzeugendsten belegt sind (7 Box: NMDA-Rezeptorantagonisten und GlyT1-Inhibitoren bei Negativsymptomatik). Für diese Substanz existieren mindestens vier doppelblinde,
plazebokontrollierte Studien, die ihre Wirksamkeit belegen. Vor diesem Hintergrund sind die erheblichen Anstrengungen der pharmazeutischen Industrie, synthetische GlyT1-Inhibitoren zu entwickeln, gut begründet. Zur Wirksamkeit von GlyT1-Inhibitoren bei Positivsymptomatik 7 1.5.2. Interessant ist in diesem Zusammenhang die einzige kontrollierte Studie mit d-Cycloserin bei Patienten mit einer therapieresistenten Depression (Heresco-Levy et al. 2006). Hier wurden 250 mg/Tag zusätzlich zu der fortlaufenden antidepressiven Medikation verabreicht. Es fand sich kein signifikanter Unterschied zwischen d-Cycloserin und Plazebo hinsichtlich depressiver Symptome. Die Dosis mag jedoch zu hoch gewesen sein, um antidepressive Eigenschaften nachzuweisen. Noch komplexer wird das Bild jedoch, wenn die Wirkungen des NMDA-Antagonisten Ketamin auf depressive Syndrome betrachtet werden. In einer Studie bei Patienten mit therapieresistenter Depression hatte eine Infusion subanästhetischer Dosen von Ketamin antidepressive Eigenschaften, die außerordentlich rasch einsetzten und bei einem Drittel der Patienten auch für eine Woche anhielten (Zarate et al. 2006). Die gleiche Arbeitsgruppe berichtete kürzlich über ähnliche Wirkungen auch bei Patienten mit therapieresistenter bipolarer Depression (Diazgranados et al. 2010). Diese Beobachtungen deuten auf eine außerordentlich komplexe Bedeutung glutamaterger Systeme bei Negativsymptomatik/depressiven Syndromen hin, die mit einer einfachen Hyper- oder Hypofunktion dieser Systeme nicht hinreichend erklärt sind. Verschiedene Firmen entwickeln derzeit Antagonisten an metabotropen Glutamatrezeptoren (mGluR2/3 und mGluR5) als potenzielle Antidepressiva. Studien an Patienten werden derzeit durchgeführt. Sie werden die Bedeutung glutamaterger Systeme bei affektiven Störungen erhellen. Bemerkenswert sind auch die Interaktionen der Glycinagonisten, wenn sie zusammen mit Clozapin gegeben werden. Bei Patienten, die Clozapin erhalten, sind sie nicht nur unwirksam, sondern reduzieren teilweise ihre antipsychotische Wirkung (Potkin et al. 1999). d-Cycloserin verstärkt zwar in einer Dosierung von 50 mg/Tag, anders als Glycin, in Kombination mit Clozapin Positivsymptome nicht, verschlechtert aber Negativsymptome (Goff et al. 1999b). Diese Wirkungen werden auf positiv modulierende glutamaterge Wirkungen von Clozapin zurückgeführt. Ein partieller Agonist an der Glycinbindungsstelle des NMDA-Rezeptors wie d-Cycloserin kann die positiven Wirkungen, die Clozapin hier offenbar entfaltet, sogar reduzieren. Auch die positiven Wirkungen des Inhibitors des Glycintransporters 1 (GlyT1), Sarkosin (s. oben), werden bei Kombination mit Clozapin nicht beobachtet.
In einer doppelblinden, plazebokontrollierten Studie an 65 Patienten konnte gezeigt werden, dass Sarkosin nicht nur Plazebo, sondern auch d-Serin hinsichtlich verschiedener psychopathologischer Dimensionen überlegen ist (Lane et al. 2005). Alle Patienten waren stabil auf Risperidon eingestellt. Sarkosin wirkte besser als Plazebo und d-Serin hinsichtlich depressiver, kognitiver und Negativsymptome. Hingegen war d-Serin in dieser Studie der Behandlung mit Plazebo nicht signifikant überlegen. Andererseits war Sarkosin in dieser Studie auch bei akut Erkrankten wirksam, während die Wirksamkeit der Glycinagonisten bisher nur bei chronisch-stabilen Patienten gezeigt werden konnte.
NMDA-Rezeptorantagonisten und GlyT1-Inhibitoren bei Negativsymptomatik Die Wirksamkeit von positiven Modulatoren an der Glycinbindungsstelle des NMDA-Rezeptors und des GlyT1-Inhibitors Sarkosin erscheint hinsichtlich der günstigen Beeinflussung von Negativsymptomen relativ gut belegt. Besonders überzeugend erscheint die Wirkung von Sarkosin.
Zur Wirksamkeit der o. g. glutamatergen Substanzen gegen kognitive Störungen 7 1.5.6.
1.5.4
Suizidalität
Der Suizid ist die zehnthäufigste Todesursache weltweit (Übersicht in Hawton u. van Heeringen 2009). 1,5% aller Todesfälle gehen auf einen Suizid zurück, das sind geschätzt 1 Mio. Todesfälle pro Jahr. Die Mortalität durch Suizid wird auf 14,5 Todesfälle pro 100.000 Menschen geschätzt. Wahrscheinlich sind diese Zahlen noch erheblich unterschätzt, da Suizide in vielen Staaten nicht zuverlässig erfasst werden. Mehr als 90% der Menschen, die einen Suizidversuch unternehmen (Beautrais et al. 1996) bzw. einen Suizid vollziehen (Cavanagh et al. 2003), leiden an einer psychischen Störung, und selbst bei den verbleibenden 10% werden retrospektiv Symptome einer psychischen Störung oder Persönlichkeitsauffälligkeiten beschrieben. Somit sind praktisch alle Suizide mit einer psychischen Störung assoziiert. Lediglich in China hat man diese strenge Assoziation nicht gefunden; hier begehen auch mehr Mädchen und Frauen einen Suizid als Männer. Etwa 60% der Suizide entfallen auf Patienten mit affektiven Erkrankungen, der Rest auf Patienten mit Alkohol- und anderen Substanzabhängigkeiten, Schizophrenien und Persönlichkeitsstörungen. Aber auch bei jeder anderen psychischen Störung (z. B. Angststörungen, Essstörungen, ADHS) ist das Suizidrisiko erhöht. Damit stellt die Suizidalität eine psychopathologische Dimension dar, die über jegliche klassifikatorischen Grenzen hinweg vorkommt. Andererseits unternehmen die meisten Patienten, selbst wenn sie an einer der Störungen mit dem höchsten Suizidrisiko erkrankt sind, keinen Suizidversuch, was auf eine genetisch/biologisch determinierte Prädisposition für suizidales Verhalten hinweist.
13 1.5 · Grundzüge einer funktionalen Psychopharmakotherapie
Suizidales Verhalten hat ein klar belegtes genetisches Fundament (Übersicht in Ernst et al. 2009). Zahlreiche Familien-, Zwillings- und Adoptionsstudien belegen die familiäre Häufung von suizidalem Verhalten unabhängig von der mit psychischer Störung assoziierten Psychopathologie. Obwohl einzelne Gene (Tryptophan-Hydroxylase, Serotonintransporter) mit erhöhtem Suizidrisiko assoziiert wurden, wird das Risiko wohl nicht durch einzelne Gene direkt vermittelt, sondern durch bestimmte Endophänotypen. Impulsiv-aggressiven Persönlichkeitseigenschaften und Persönlichkeitseigenschaften aus dem Cluster B (7 Kap. 85) scheint eine solche Vermittlerfunktion zuzukommen (Ernst et al. 2009). Wesentliche Erkenntnisse über die Neurobiologie der Suizidalität wurden an Patienten gewonnen, die einen Suizidversuch überlebt haben. Sie unterscheiden sich klinisch und demographisch nicht von Patienten, die einen Suizid vollzogen haben. Die Entschlossenheit zum Suizid und seine Letalität sind miteinander korreliert, und es existieren biologische Determinanten, unter denen Funktionsstörungen serotonerger Systeme beim gegenwärtigen Kenntnisstand die wichtigste Rolle zu spielen scheinen (Mann 2003). Neben Serotonin spielen auch andere Transmittersysteme für suizidales und aggressives Verhalten eine Rolle, v. a. Dopamin, Glutamat und GABA. Suizidalität ist auch mit niedrigen Cholesterinkonzentrationen assoziiert. Suizidales Verhalten ist oft vergesellschaftet mit Impulsivität und Aggressivität (7 1.5.5). So berichten Patienten, die einen Suizidversuch unternommen haben, häufiger als Kontrollpatienten ohne Suizidversuch über impulsive und aggressive Verhaltensweisen. Serotonergen Systemen scheint im Rahmen der Verhaltenskontrolle eine zentrale Bedeutung zuzukommen. Zu den vielen Befunden, die auf eine verminderte Funktion serotonerger Systeme bei Suizidopfern und Patienten mit Suizidversuchen hindeuten (Übersicht in Mann 2003), zählen z. B. 4 reduzierte Liquorkonzentrationen des Serotoninmetaboliten 5-Hydroxyindolessigsäure (5-HIES), 4 reduzierte Dichten des Serotonintransporters in verschiedenen Hirnregionen, 4 eine verminderte Prolaktinfreisetzung auf Fenfluramin. Fenfluramin führt zu einer Serotoninfreisetzung, die einen Anstieg der Prolaktinkonzentration im Plasma zur Folge hat. Je schwerer und ernsthafter ein Suizidversuch, desto stärker fanden sich die Fenfluramin-induzierte Prolaktinfreisetzung und die 5-HIES-Liquorkonzentration bei den Patienten vermindert (Mann 2003). Bei Nagern und Primaten führt die Serotonindepletion zu gesteigerter Impulsivität und Aggressivität; Steigerung der serotonergen Neurotransmission reduziert diese. Beim Menschen ist die Situation weniger eindeutig. Zwar stellt eine nicht behandelte Depression das höchste Risiko für einen Suizid bzw. einen Suizidversuch dar, doch wurden in klinischen Studien bei Kindern und Jugendlichen mehr suizidales Verhalten und Suizidideationen unter Antidepressiva als unter Plazebo beobachtet (Friedman u. Leon 2007). Die FDA warnt auch vor der Anwendung bei jungen (18–24 Jahre alten) Erwachsenen, während bei
älteren Patienten das Risiko für suizidales Verhalten durch eine antidepressive Pharmakotherapie reduziert wird. Auch für die Gruppe der Antikonvulsiva wurde ganz allgemein – unabhängig von der Indikation – eine suizidfördernde Wirkung vermutet, die 2008 zu entsprechenden Hinweisen der FDA führte. Die Studienlage hierzu ist jedoch nicht einheitlich, einzelne Studien konnten erhöhte Suizidversuchsraten bei Patienten mit bipolaren Störungen nicht nachweisen (z. B. Gibbons et al. 2009). Unabhängig von dieser Diskussion ist beim Einsatz von Antikonvulsiva sorgfältig auf das Suizidrisiko zu achten. Antisuizidale Wirkungen von Psychopharmaka wurden bisher kaum systematisch evaluiert. Eine unbestrittene antisuizidale Wirkung wird gegenwärtig nur zwei Substanzen zugeschrieben: 4 Unabhängig von seinen stimmungsstabilisierenden Wirkungen reduziert Lithium suizidales Verhalten sowohl bei Patienten mit bipolaren Störungen als auch jenen mit rezidivierender unipolarer Depression. Neuere Daten aus epidemiologischen Studien lassen vermuten, dass diese Wirkungen sich auch auf andere Störungen erstrecken könnten. 4 Clozapin vermindert suizidales Verhalten bei Patienten mit schizophrenen Störungen unabhängig von seinen antipsychotischen Eigenschaften. In einer großen retrospektiven Kohortenstudie wurden die Krankenversicherungsunterlagen von mehr als 20.000 Patienten mit einer bipolaren Störung, die innerhalb eines Zeitraums von 8 Jahren mindestens ein Rezept für Lithium, Valproat oder Carbamazepin erhalten hatten, auf Suizidversuche oder Suizide geprüft (Goodwin et al. 2003). Während die Zahl der Patienten, die mit Carbamazepin behandelt worden waren, für einen Vergleich nicht ausreichte, traten unter Lithium signifikant weniger Suizidversuche und vollzogene Suizide als unter Valproat auf. Die Zahl der Suizide in der Lithium-Gruppe betrug 0,7 pro 1000 Personenjahre, in der Valproat-Gruppe 1,7. Lithium wurde bei anderen als affektiven Störungen hinsichtlich seiner antisuizidalen Wirkungen bisher praktisch nicht evaluiert. Eine Metaanalyse von 32 Studien bei Patienten mit affektiven Störungen, die Lithium im Rahmen randomisierter, kontrollierter Studien erhalten hatten, bestätigte diesen Befund (Cipriani et al. 2005). Im Vergleich zu Plazebo oder anderen Vergleichssubstanzen reduzierte Lithium sehr deutlich (um 60%) das Suizidrisiko und vorsätzliches selbstschädigendes Verhalten. Auch die Mortalität aus jeglicher Ursache wurde reduziert. Zudem wurde eine bereits vor 20 Jahren vermutete Beziehung zwischen Lithiumkonzentrationen im Trinkwasser und Suizidraten kürzlich in einer großen epidemiologischen Studie aus Österreich bestätigt (Kapusta et al. 2011). Hier fand sich eine hochsignifikante negative Korrelation zwischen Lithiumkonzentrationen, die in mehr als 6000 Trinkwasserproben aus ganz Österreich bestimmt wurden, und den lokalen Suizidraten. Auch für Clozapin werden spezifisch antisuizidale Wirkungen schon lange vermutet. In der gegenwärtig größten Studie, in der diese Hypothese überprüft werden sollte, wurden 980 Patienten mit einer schizophrenen Störung randomisiert entweder mit Clozapin oder mit Olanzapin behandelt (Meltzer
1
14
1
Kapitel 1 · Konzeption und Grundlagen einer funktionalen Psychopharmakotherapie
et al. 2003). In der Gruppe der mit Clozapin behandelten Patienten traten signifikant weniger Suizidversuche auf als in der mit Olanzapin behandelten Gruppe, und weniger Patienten mussten auch wegen Suizidalität hospitalisiert werden oder bedurften anderer Intervention. Die suizidpräventiven Wirkungen von Clozapin wurden nicht über nosologische Grenzen hinweg evaluiert. Es ist gegenwärtig unklar, über welche Mechanismen Lithium und Clozapin ihre antisuizidalen Effekte entfalten. Beide Substanzen entfalten profunde Wirkungen auf serotonerge Systeme. Lithium verstärkt die Aktivität der serotonergen Neurotransmission (7 Kap. 54), und Clozapin ist ein potenter 5HT2A-Antagonist (7 Kap. 55). Ersteres gilt jedoch auch für viele Antidepressiva und Letzteres für die meisten Antipsychotika der zweiten Generation. So ist z. B. auch Olanzapin ein hochaffiner 5-HT2A-Antagonist; dennoch entfaltet die Substanz nicht die gleichen antisuizidalen Eigenschaften wie Clozapin (s. oben). Die Frage, ob Antipsychotika der zweiten Generation, die mit Ausnahme von Amisulprid sämtlich 5-HT2A-Antagonisten sind, Suizidalität wirksamer reduzieren als Antipsychotika der ersten Generation, die dieses Charakteristikum nicht aufweisen, ist ungeklärt. Ein Faktor, der zur Reduktion der Suizidalität unter der Therapie mit Lithium und Clozapin beitragen könnte, ist das engmaschige Monitoring, das beide Substanzen erforderlich machen, und die dadurch bedingte enge Beziehung zum Therapeuten. Im präfrontalen Kortex von Suizidopfern korreliert die 5HT2A-Rezeptorbindung positiv mit der Ausprägung ihrer Aggressivität zu Lebzeiten (Oquendo et al. 2006). Dieser Befund könnte nicht nur die Basis für den pharmakotherapeutischen Ansatz von Suizidalität und Aggression mit 5-HT2A-Antagonisten bilden, sondern auch eine gemeinsame neurobiologische Basis dieser beiden Domänen repräsentieren.
1.5.5
Aggression
Aggression ist ein komplexes Sozialverhalten, das sich im Kontext der Erlangung oder der Verteidigung von Ressourcen entwickelt hat. Es umfasst offene Verhaltensweisen, die zum Ziel haben, einem anderen Individuum (physischen) Schaden zuzufügen. Aggression entsteht immer dann, wenn die Interessen zweier oder mehrerer Individuen miteinander kollidieren. Ein gewisses Maß an aggressivem Verhalten kann einem Individuum Vorteile verschaffen; wenn es jedoch gesteigert ist, durchgängig gezeigt wird oder nicht mehr an einen Kontext gebunden ist, muss es oftmals als pathologisch betrachtet werden. Aggressives Verhalten kann bei zahlreichen psychischen Störungen und in allen Altersklassen beobachtet werden. Es kann durch so unterschiedliche Emotionen wie Wut, Irritation, Frustration, Angst oder auch Freude motiviert sein. Aggressives Verhalten ist insbesondere in der Akutpsychiatrie außerordentlich häufig. Wegen der besonderen davon ausgehenden Gefahr für Behandler und unbeteiligte Dritte, aber auch für den Patienten selbst, stellt es eine besondere therapeutische Herausforderung dar.
Aggressives Verhalten ist oft mit Impulsivität vergesellschaftet (7 1.5.4). Diese psychopathologischen Dimensionen treten ihrerseits überzufällig häufig auf 4 zusammen mit Alkohol-, Nikotin- und anderer Substanzabhängigkeit, 4 nach körperlichem oder sexuellem Missbrauch während der Kindheit, 4 nach Schädel-Hirn-Trauma oder im Rahmen von anderen neurologischen Erkrankungen. Diese Risikofaktoren sind nicht voneinander unabhängig (Übersicht in Mann 2003). Aggressiv-impulsive Merkmale, Nikotin- und Substanzmissbrauch sowie Depression treten häufig als Syndromcluster auf. Auch Schädel-Hirn-Traumata werden häufiger bei aggressiv-impulsiven Personen oder bei solchen mit Alkohol- oder Substanzmissbrauch beobachtet. Dabei ist die Kausalität bidirektional. Aggressives Verhalten und Substanzmissbrauch können einem Schädel-Hirn-Trauma folgen. Obwohl die neurobiologische Forschung auch für aggressives und impulsives Verhalten die zentrale Rolle serotonerger Funktionsstörungen plausibel gemacht hat, stellt die primäre Interventionsstrategie gegen Aggression bei psychiatrischen Patienten seit Jahrzehnten unverändert die Behandlung mit Antipsychotika dar. Das liegt auch daran, dass randomisierte, doppelblinde Untersuchungen mit dem primären Endpunkt der Aggressionsreduktion noch rar sind. Wenn diese Größe erfasst wird, betrachtet man die Effekte von Psychopharmaka auf diese psychopathologische Domäne oft als sekundäre Zielgröße. Dabei wird gerade die Behandlung mit der klassischen Substanz Haloperidol noch als Standard betrachtet. Welche Bedeutung dem 5-HT2A-Antagonismus der Antipsychotika der zweiten Generation für die antiaggressiven Eigenschaften dieser heterogenen Substanzgruppe zukommt, ist noch weitgehend unklar (7 1.5.4). Wohl am besten und systematischsten untersucht sind die antiaggressiven Eigenschaften von Antipsychotika bei Demenzen (Übersicht in Ballard et al. 2009). Hier stellen Agitation und Aggression (behavioral and psychological symptoms of dementia, BPSD) insbesondere in fortgeschrittenen Krankheitsstadien eine erhebliche therapeutische Herausforderung dar. Antipsychotika werden seit Jahrzehnten als Therapie der Wahl bei BPSD betrachtet. Sowohl für Antipsychotika der ersten (insbesondere Haloperidol) wie auch der zweiten Generation
liegen mehrere randomisierte, plazebokontrollierte Studien vor, die in der Summe eine signifikante, wenn auch nur mäßige Überlegenheit hinsichtlich der antiaggressiven Wirkungen gegenüber Plazebo zeigen. Allerdings wird die Anwendung von Antipsychotika bei älteren Patienten, insbesondere solchen mit Demenzen, durch die in den letzten Jahren in zahlreichen Studien nachgewiesene Erhöhung der Mortalität bei Anwendung bei dieser Patientengruppe erheblich eingeschränkt (7 Kap. 55). Daher wurden in den letzten Jahren zunehmend andere pharmakologische Ansätze geprüft. Positive Studien bei Patienten mit Demenzen liegen für Memantin, einzelne SSRI (insbes. Citalopram) und Carbamazepin vor (Ballard et al. 2009). Bei Anwendung dieser Substanzen scheint das Nutzen-Risiko-Verhältnis
15 1.5 · Grundzüge einer funktionalen Psychopharmakotherapie
günstiger zu sein als beim Einsatz von Antipsychotika, allerdings ist die Datenbasis erheblich schmaler. Clozapin scheint hinsichtlich seiner antiaggressiven Eigenschaften eine Sonderrolle zu spielen. So wurden Clozapin, Olanzapin, Risperidon und Haloperidol bei einer Gruppe von 154 Patienten mit einer therapieresistenten schizophrenen Störung doppelblind miteinander verglichen (Volavka et al. 2004). Die Patienten zeichneten sich durch besonders ausgeprägtes aggressives Verhalten aus. Clozapin war Haloperidol signifikant überlegen hinsichtlich der Zahl und des Schweregrades aggressiver Ausbrüche. Die Patienten mit persistierender Aggressivität zeigten auch die geringste Besserung von psychotischen Symptomen. Auch fand sich eine Interaktion zwischen Aggression, Medikationstyp und Ansprechen auf die antipsychotische Medikation: Risperidon und Olanzapin wirkten am besten bei Patienten mit geringerer Aggressivität, während Clozapin bei dieser Patientengruppe besonders gut wirkte. Wie bei der Pharmakotherapie der Suizidalität gilt auch für die des aggressiven Verhaltens, dass der 5-HT2A-Antagonismus von Clozapin keine hinreichende Erklärung für die besonderen antiaggressiven Eigenschaften der Substanz zu sein scheint. Bei Kindern mit aggressivem Verhalten im Rahmen verschiedener Störungen (Autismus, ADHS, conduct disorder) spielt Risperidon eine besondere Rolle. Mit dieser Substanz liegen sogar mehrere doppelblinde Studien gegen Plazebo vor, die ihre antiaggressiven Eigenschaften belegen. Allerdings ist fraglich, ob dies ein Substanzspezifikum ist oder lediglich der weiten Verbreitung der Substanz aufgrund ihres Zulassungsstatus zuzuschreiben ist (7 Kap. 55). Die antiaggressiven Eigenschaften von Lithium sind nicht so gut belegt wie seine suizidpräventiven Wirkungen. In einer randomisierten, kontrollierten Studie bei Kindern mit conduct disorder reduzierte Lithium aggressives Verhalten signifikant besser als Plazebo (Malone et al. 2000). In der mit Lithium behandelten Gruppe wurden 16 von 20 Patienten als Responder gewertet, in der Plazebogruppe lediglich 6 von 20. Allerdings war die Lithiumtherapie mit erheblichen Nebenwirkungen belastet. Auch verschiedene andere kontrollierte Studien bei verschiedenen Patientengruppen machen dessen antiaggressive Effektivität wahrscheinlich. Obwohl auch Antikonvulsiva, insbesondere Valproat, zur Behandlung von impulsivem und aggressivem Verhalten eingesetzt werden, ist die Datenlage, die dies rechtfertigen würde, relativ unzureichend (zu Carbamazepin bei BPSD s. oben). Es liegen verschiedene kleine, auch plazebokontrollierte Studien bei verschiedenen Störungen (Autismus, AD, Borderline-Störung u. a.) vor, die teilweise keine Überlegenheit von Valproat über Plazebo zeigen. Dies gilt auch für dessen Anwendung bei BPSD (Ballard et al. 2009). Allerdings reduzierte Valproat in einer der methodisch besten dieser Studien bei 52 Patienten mit einer Borderline-Störung die impulsive Aggressivität signifikant besser als Plazebo (Hollander et al. 2005). Dabei waren Impulsivität und Aggression vor Behandlungsbeginn wichtige Prädiktoren für ein Ansprechen auf Valproat. Obwohl die Bedeutung serotonerger Systeme für die Kontrolle aggressiven Verhaltens nahe legen würde, serotonerge
Pharmaka intensiv bei Patienten mit aggressiven Verhaltensstörungen zu prüfen, liegen auch für SSRI nur einzelne kontrollierte Studien an kleinen Patientenzahlen vor. In einer randomisierten, doppelblinden Studie an 40 Patienten mit einer Persönlichkeitsstörung, bei denen die impulsive Aggressivität im Vordergrund stand, reduzierte Fluoxetin die Zielsymptomatik signifikant besser als Plazebo (Coccaro u. Kavoussi 1997). Als die am besten untersuchte Indikation für SSRI muss aggressives Verhalten bei Patienten mit Demenzen gelten. Hier liegen relativ überzeugende Daten v. a. für Citalopram vor (Ballard et al. 2009) (7 Box: Antiaggressive Eigenschaften von Psychopharmaka: Datenlage).
Antiaggressive Eigenschaften von Psychopharmaka: Datenlage Die aktuelle Datenlage lässt sich so zusammenfassen, dass die antiaggressiven Eigenschaften einer ganzen Reihe verschiedener Substanzen wahrscheinlich sind, aber der weiteren Absicherung in größeren Studien bedürfen. Diese Wirkungen scheinen über nosologische Grenzen hinweg zu bestehen.
1.5.6
Kognitive Störungen
Kognitive Störungen bilden die zentrale psychopathologische Dimension bei demenziellen Syndromen. Erst in den letzten Jahren ist deutlich geworden, dass das Ausmaß kognitiver Störungen auch die wesentliche Determinante der sozialen und beruflichen Leistungsfähigkeit von Patienten mit schizophrenen Störungen darstellt. Während bei diesen beiden Gruppen von Störungen zahlreiche unterschiedliche neuropsychologische Domänen von dem Krankheitsprozess betroffen sind, finden sich umschriebene Defizite auch bei anderen Störungen, z. B. bei der ADHS. Diesen Störungen liegen völlig unterschiedliche neurobiologische und -pathologische Veränderungen zugrunde (Übersicht in Gründer 2012). Zu der Frage, ob sich kognitive Störungen, die diese Erkrankungen kennzeichnen, dennoch nosologieübergreifend durch die gleichen Substanzen behandeln lassen, liegen inzwischen gute Studien mit verschiedenen Substanzgruppen vor. Der Überlegung, dass sich die neurobiologischen Prozesse, die kognitiven Funktionen zugrunde liegen, unabhängig von einer gestörten Funktion positiv beeinflussen lassen, liegt die Anwendung auch bei Gesunden zugrunde. Diesen Aspekten ist 7 Kap. 61 gewidmet.
Cholinerge Pharmaka Unter der Vorstellung, dass wie bei der AD auch bei schizophrenen Störungen eine Erhöhung des Angebots an synaptischem Acetylcholin zu einer Verbesserung der kognitiven Leistung führen müsste, sind in den letzten Jahren alle Acetylcholinesteraseinhibitoren (AChI) bei Patienten mit schizophrenen Störungen geprüft worden. Allerdings sind die vorliegenden Studien weder hinsichtlich der Gruppengrößen noch
1
16
1
Kapitel 1 · Konzeption und Grundlagen einer funktionalen Psychopharmakotherapie
hinsichtlich der Beobachtungszeiträume mit den Untersuchungen, die mit diesen Substanzen bei der Therapie demenzieller Syndrome vorliegen, zu vergleichen. In allen Studien wurde der AChI zusätzlich zu einer fortlaufenden antipsychotischen Medikation verabreicht. Zahlreiche Einzelfallberichte und Fallserien hatten über positive Wirkungen des AChI Donepezil auf kognitive Störungen bei Patienten mit schizophrenen Störungen berichtet. Diese Befunde ließen sich in kontrollierten Studien nicht bestätigen. Die überwiegend negativen Befunde aus doppelblinden, plazebokontrollierten Studien wurden zuletzt in einer großen Studie mit Plazebokontrolle an 250 Patienten über 12 Wochen bestätigt (Keefe et al. 2007). Die Patienten erhielten Donepezil oder Plazebo zusätzlich zu einem Antipsychotikum der zweiten Generation. In beiden Gruppen kam es zu einer leichten bis mäßigen Besserung der kognitiven Funktionen. Eine Überlegenheit von Donepezil über Plazebo konnte nicht nachgewiesen werden. Zwar sind die Erfahrungen mit Rivastigmin bei schizophrenen Störungen deutlich begrenzter, doch sind auch diese überwiegend negativ. In der einzigen kleinen doppelblinden, plazebokontrollierten Studie über 24 Wochen konnte eine positive Wirkung von Rivastigmin auf kognitive Störungen bei Patienten mit einer schizophrenen Störung nicht nachgewiesen werden (Sharma et al. 2006). Für Galantamin liegen uneinheitliche Ergebnisse vor. Galantamin unterscheidet sich von den beiden anderen verfügbaren AChI dadurch, dass die Substanz neben der Enzymhemmung zusätzlich eine agonistische Modulation nikotinischer Acetylcholinrezeptoren entfaltet. In der größten randomisierten, plazebokontrollierten Studie an 86 Patienten war Galantamin Plazebo hinsichtlich Beeinflussung von Verarbeitungsgeschwindigkeit und verbalem Gedächtnis überlegen, jedoch beeinflusste die Substanz Übungseffekte negativ (Buchanan et al. 2008). Derartige Beobachtungen sind auch aus Studien mit Donepezil bekannt. Die fehlenden Wirkungen von AChI auf kognitive Störungen bei Schizophrenien wurden z. T. damit zu erklären versucht, dass die meisten der untersuchten Patienten Raucher waren. Bei diesen geht man davon aus, dass nikotinische Acetylcholinrezeptoren desensitisiert sind. Aber auch eine Studie, in der Galantamin bei Nichtrauchern geprüft wurde, zeigte keine Überlegenheit der Substanz über Plazebo (Dyer et al. 2008; 7 Box: Ace-
wenn diese Substanzen in Tiermodellen durch Eigenschaften charakterisiert sind, die antipsychotische Wirkungen prädizieren (Übersicht in Conn et al. 2009). Klinische Studien stehen hierzu gegenwärtig jedoch noch aus.
tylcholinesteraseinhibitoren und direkte Agonisten an Acetylcholinrezeptoren bei kognitiven Störungen – Bewertung).
tylcholinesteraseinhibitoren und direkte Agonisten an Acetylcholinrezeptoren bei kognitiven Störungen – Bewertung). Diese wur-
Die Situation mag für direkte Agonisten an Acetylcholinrezeptoren anders sein. Wie in 7 1.5.3 dargestellt, wurde der M1/ M4-Rezeptoragonist Xanomelin zunächst bei Patienten mit AD
den in den letzten Jahren v. a. bei Patienten mit schizophrenen Störungen geprüft. In einer ersten Pilotstudie erhöhte DMXB-A, ein partieller Agonist am nikotinischen α7-Rezeptor, bei 12 Patienten in einem randomisierten, doppelblinden CrossoverDesign die neuropsychologische Leistung signifikant mehr als Plazebo (Olincy et al. 2006). Die Verbesserung war mit einer Verbesserung des auditiven sensorischen Gatings assoziiert. DMXB-A steigert auch die kognitive Leistung von gesunden Probanden. In einer zweiten, größeren Studie mit ähnlichem Design hatte DMXB-A jedoch keine signifikanten Effekte auf kognitive Leistungen; sie führte jedoch zur Verbesserung von Negativsymptomen (Freedman et al. 2008). Auch für den α7-
geprüft. Die Substanz erwies sich nicht nur als antidementiv, sondern auch als antipsychotisch wirksam. In einer Studie bei Patienten mit einer schizophrenen Störung war Xanomelin Plazebo nicht nur hinsichtlich der Verbesserung von Positiv- und Negativsymptomen signifikant überlegen, sie führte auch zu einer Verbesserung einzelner kognitiver Domänen (Shekhar et al. 2008). Von der Entwicklung Subtyp-selektiver allosterischer Modulatoren an muskarinischen M1- bzw. M4-Rezeptoren muss man sich wohl v. a. prokognitive Wirkungen erhoffen, auch
Acetylcholinesteraseinhibitoren und direkte Agonisten an Acetylcholinrezeptoren bei kognitiven Störungen – Bewertung Kontrollierte Untersuchungen an großen Patientenkollektiven unter sorgfältiger Kontrolle der antipsychotischen Basismedikation und des Raucherstatus sind notwendig, um die Bedeutung von AChI zur Behandlung kognitiver Störungen bei schizophrenen Störungen abschätzen zu können. Damit kann gegenwärtig diese Substanzgruppe nicht als prokognitiv gelten. Anders als AChI versprechen nach ersten begrenzten Erfahrungen direkte Agonisten an muskarinischen oder nikotinischen Acetycholinrezeptoren, kognitive Leistungen ätiologieunabhängig zu verbessern. Allerdings bestehen erhebliche Unklarheiten bezüglich der richtigen Dosierungen bzw. Dosierungsintervalle, da der nikotinische Acetylcholinrezeptor sehr schnell desensitisiert.
Besondere Hoffnungen setzte man in die klinische Entwicklung von Desmethylclozapin. Der Hauptmetabolit von Clozapin entfaltet am muskarinischen Acetylcholinrezeptor vom Typ M1 eine agonistische Wirkung, während Clozapin dort als Antagonist wirkt (7 Kap. 55). Über diese Wirkung von Desmethylclozapin wird eine kortikale Dopamin- und Acetylcholinfreisetzung vermittelt, wovon man sich positive Wirkungen der Substanz auf kognitive Störungen erhofft. Zudem wirkt Desmethylclozapin wie Aripiprazol an D2- und D3-Rezeptoren als partieller Agonist, die Muttersubstanz aber invers agonistisch. Während Desmethylclozapin wahrscheinlich wesentlichen Anteil an den besonderen klinischen Wirkungen von Clozapin hat, waren die klinischen Studien mit der Substanz in Monotherapie eher enttäuschend (Übersicht in Mendoza u. Lindenmayer 2009). Zudem sind die metabolischen Nebenwirkungen von Clozapin wohl zu einem beträchtlichen Teil auf seinen Metaboliten zurückzuführen. Es ist daher wohl nicht damit zu rechnen, dass die Substanz den Markt erreicht. Als sehr aussichtsreiche Substanzgruppe zur Behandlung kognitiver Störungen gelten derzeit Agonisten an nikotinischen Acetylcholinrezeptoren, insbesondere vom Typ α7 (7 Box: Ace-
17 1.6 · Ausblick: Die Zukunft der Psychopharmakotherapie
Nikotinrezeptoragonisten Tropisetron gibt es erste Hinweise für mögliche prokognitive Effekte bei Patienten mit Schizophrenien (Shiina et al. 2010). α7-Nikotinrezeptoragonisten stellen auch aussichtsreiche Substanzen zur Behandlung von demenziellen Syndromen dar. Publizierte Studien liegen hierzu jedoch bisher nicht vor.
Glutamaterge Pharmaka Auch glutamaterge Therapieansätze bieten sich prinzipiell für eine Behandlung kognitiver Störungen unabhängig von der zugrunde liegenden Neuropathologie an (7 Box: Glutamaterge Pharmaka bei kognitiven Störungen – Bewertung). Während sie bei schizophrenen Störungen bereits als relativ gut evaluiert gelten können, liegen bei Demenzen bislang erst sehr kleine Studien vor. Die meisten Studien wurden bisher mit Agonisten an der Glycinbindungsstelle des NMDA-Rezeptors wie Glycin, d-Serin oder d-Cycloserin durchgeführt, in den letzten Jahren auch Inhibitoren des Glycintransporters vom Typ 1 (GlyT1). Allerdings wurde in vielen, v. a. den früheren Studien, lediglich die Wirksamkeit gegen Negativsymptome evaluiert (7 1.5.3). Erst in den letzten Jahren hat man kognitive Störungen als Zielgröße mit untersucht.
Glutamaterge Pharmaka bei kognitiven Störungen – Bewertung Die Wirksamkeit von positiven Modulatoren an der Glycinbindungsstelle des NMDA-Rezeptors gegen Negativsymptome erscheint zwar relativ gut belegt, die Wirksamkeit gegen kognitive Störungen wurde allerdings erst in den letzten Jahren als wichtige Zielgröße erkannt. Besonders aussichtsreich erscheinen auch hier GlyT1-Inhibitoren (7 1.5.3).
Der partielle Glycinagonist D-Cycloserin reduzierte in einer Studie an insgesamt 47 Patienten zwar Negativsymptome, kognitive Defizite wurden jedoch nicht differenziell beeinflusst (Goff et al. 1999a). Bemerkenswerterweise verringerte d-Cycloserin in einer kleinen plazebokontrollierten Studie im Crossover-Design kognitive Störungen bei 17 Patienten mit AD (Tsai et al. 1999). Allerdings wurden die Wirkungen erst bei Tagesdosen von 100 mg gesehen. Bei Patienten mit Schizophrenien wird bei diesen Dosierungen eine Zunahme von Positivsymptomen beobachtet, was auf den dann zunehmenden Antagonismus von NMDA-Rezeptoren zurückgeführt wird (Van Berckel et al. 1999). So scheinen hier zwar die prinzipiell gleichen pharmakologischen Mechanismen aktiv zu sein, die unterschiedliche dopaminerg-glutamaterge Balance bei diesen unterschiedlichen Störungen führt jedoch zu differenziellen biologischen Wirkungen. Sarkosin verbesserte in einer doppelblinden, plazebokontrollierten Studie kognitive Störungen (und Negativsymptome) signifikant besser als Plazebo (Lane et al. 2005). Quantitativ waren die Wirkungen von Sarkosin überzeugender als mit dem Glycinagonisten d-Serin. Studien mit synthetischen GlyT1Inhibitoren werden derzeit durchgeführt. Auch Erfahrungen bei Demenzen liegen leider bisher nicht vor.
Dopaminerge Pharmaka Dopaminerge Therapieansätze kommen wahrscheinlich weniger für Demenzen in Betracht als für alle jene Störungen, bei denen die präfrontal-kortikale Funktion gestört ist. Dazu gehört neben den schizophrenen und benachbarten Störungen z. B. auch die ADHS. Für die Behandlung der Letzteren bereits zugelassen ist der selektive Noradrenalinwiederaufnahmehemmer Atomoxetin. Die Substanz sollte theoretisch auch bei anderen Störungen wirksam sein, bei denen ein präfrontal-kortikales dopaminerges Defizit vermutet wird. Im präfrontalen Kortex wird Dopamin wegen des Fehlens des Dopamintransporters über den Noradrenalintransporter in das präsynaptische Neuron wiederaufgenommen. Daher sollte Atomoxetin die synaptische Dopaminkonzentration im präfrontalen Kortex erhöhen. Beim Tier erhöht Atomoxetin nicht nur die präfrontalen Konzentrationen von Dopamin, sondern auch von Acetylcholin. In einer ersten kleinen randomisierten, plazebokontrollierten Studie an 32 Patienten mit einer schizophrenen Störung hatte Atomoxetin jedoch keinerlei Wirkung auf kognitive Funktionen (Kelly et al. 2009). Auch die Behandlung mit Tolcapon, einem Inhibitor der Catechol-O-Methyl-Transferase (COMT), hat die Erhöhung synaptischer Dopaminkonzentrationen im präfrontalen Kortex zum Ziel. Auch über die COMT wird im präfrontalen Kortex Dopamin inaktiviert. Seine Hemmung führt daher zu einer Steigerung synaptischer Dopaminkonzentrationen. Tolcapon ist zur Behandlung von Patienten mit M. Parkinson zugelassen. Publizierte Daten aus Studien an Patienten mit schizophrenen Störungen liegen auch weiterhin nicht vor. Bei Gesunden erhöht die Substanz, in Abhängigkeit vom COMT-Genotyp, die kognitive Leistung (Apud et al. 2007). Probanden mit dem val/val-Genotyp profitieren von der Substanz, während sich Probanden mit dem met/met-Genotyp verschlechtern. Bei Letzteren führt die Erhöhung der synaptischen Dopaminkonzentration vermutlich zu einer dopaminergen Überstimulation, die dann wiederum negative Effekte auf die kognitive Leistung hat. Inzwischen liegen mehrere, wenn auch in der Regel kleine, randomisierte kontrollierte Studien für das Stimulans Modafinil bzw. sein länger wirksames Isomer Armodafinil vor. Die Ergebnisse sind uneinheitlich. Während mehrere der verfügbaren Studien weder positive Effekte auf kognitive Störungen noch auf Negativsymptome nachweisen konnten, zeigen einzelne Studien schwache positive Wirkungen in diesen Domänen (z. B. Kane et al. 2010). Andere Stimulanzien wie Amphetamine haben zwar bei gesunden Probanden z. T. prokognitive Effekte, ihre Wirksamkeit hinsichtlich solcher Wirkungen, insbesondere aber auch ihre Sicherheit, ist bei vielen psychischen Störungen bisher nicht evaluiert.
1.6
Ausblick: Die Zukunft der Psychopharmakotherapie
Die psychopharmakotherapeutische Praxis ist gegenwärtig dadurch gekennzeichnet, dass für die Therapie immer zahlreicherer psychischer Erkrankungen, über deren Pathophysiologie immer
1
18
1
Kapitel 1 · Konzeption und Grundlagen einer funktionalen Psychopharmakotherapie
mehr Wissen angehäuft wird, immer weniger Medikamente eingesetzt werden. Diese Substanzen – beste Beispiele sind die Antipsychotika der zweiten Generation – beeinflussen eine solche Vielzahl molekularer Zielstrukturen, dass die Prinzipien, nach denen diese Medikamente wirken, nicht mehr erkennbar sind. Ähnlich wie die Elektrokrampftherapie, die eine unüberschaubare Zahl neurochemischer Veränderungen nach sich zieht, ohne dass das therapeutische Prinzip dieser Therapie bekannt wäre, ist diese Art der Schrotschuss-Pharmakotherapie darauf gerichtet, schon irgendwie auch jenen Mechanismus zu »treffen«, der für die Störung des individuellen Patienten verantwortlich ist. Nach einer Phase der Euphorie in den ersten Jahrzehnten der psychiatrischen Pharmakotherapie stehen wir heute vor einer paradoxen Situation. Setzen sich die Bestrebungen der pharmazeutischen Industrie in der weiter oben (7 1.3 und 7 1.4) skizzierten Weise weiter fort, wird man Substanzen, die einst »Antipsychotika« genannt wurden, auch zur Behandlung von unipolaren Depressionen und Suchterkrankungen einsetzen, und es lässt sich die Situation in einigen Jahren überspitzt vielleicht so beschreiben, dass nahezu jeder Patient, der zur stationären Aufnahme in eine psychiatrische Klinik kommt, unabhängig von seiner Störung mit nur einem einzigen Pharmakon (mit einer dann »äußerst angereicherten« Pharmakologie) nicht schlecht behandelt wäre. Diese Situation steht in sehr deutlichem Gegensatz zu unserem explosionsartig anwachsenden Wissen über die biologischen Ursachen psychischer Störungen und über die molekularen Wirkmechanismen von Psychopharmaka, zumindest in vitro und im Tiermodell. Jedoch steht diese Elaboriertheit der pharmakologischen Modelle in krassem Gegensatz zu der inzwischen täglich geübten Praxis der psychiatrischen Pharmakotherapie, einzelne Substanzen immer ungerichteter bei immer breiteren Indikationen zu verabreichen. Dieser Ansatz führt auch in die Sackgasse, denn er behält zwar den therapeutischen Status Quo aufrecht, er hat aber keinen Fortschritt mehr zur Folge. In 7 1.5 haben wir zu zeigen versucht, dass die Grundlagen für eine funktionale Pharmakotherapie, die sich nicht mehr streng an klassischer Nosologie, sondern an intermediären Phänotypen orientiert, geschaffen sind. Die meisten der Überlegungen, auf denen der funktionale Ansatz basiert, kommen aus der universitären Medizin. Sie werden jedoch von der pharmazeutischen Industrie immer noch aufgenommen und in prüfbare Produkte umgesetzt. Dies ist die Voraussetzung dafür, dass breite Patientengruppen von neuen Entwicklungen profitieren. Die Entwicklung geht aber noch weiter. Mit den Mitteln der Genomik und Proteomik wird es, zusammen mit der Charakterisierung von Endophänotypen, durch moderne bildgebende Verfahren sowie durch elektrophysiologische und neuropsychologische Methoden in absehbarer Zeit zumindest prinzipiell möglich sein, die molekulare Pathophysiologie, die der individuellen Störung des einzelnen Patienten zugrunde liegt, im Detail zu definieren. Schon heute sind bestimmte genetische Polymorphismen bekannt, die das Risiko für bestimmte Nebenwirkungen, die mit einer definierten Pharmakotherapie verbunden sind, und das klinische Ansprechen auf diese Substanz determi-
nieren. Es wird in absehbarer Zeit theoretisch möglich sein, für eine bestimmte individuelle genetische und neurobiologische Ausstattung des individuellen Patienten eine Pharmakotherapie festzulegen, von der dieser Patient maximal profitiert, ohne dabei unter Nebenwirkungen zu leiden. So ist, wenn nur genügend Aufwand getrieben wird, eine maßgeschneiderte personalisierte Therapie für den einzelnen Patienten, der sich in unsere Behandlung begibt, zumindest in theoretischer Reichweite. Dieses Dilemma ist mit der Metapher »Medikamente nach Maß oder für die Masse?« zutreffend beschrieben. Es ist jedoch sehr unwahrscheinlich, dass sich die Industrie auf eine so individualisierte Therapie einstellen wird, da sie zumindest aus heutiger Sicht kaum profitabel erscheint. Auch die Kostenträger begegnen der Perspektive der personalisierten Medizin mit großer Reserviertheit. Aus dieser Perspektive erscheint es zunächst plausibler, eine künftige Pharmakotherapie an Endophänotypen zu orientieren, weil dieser Ansatz die Varianz erheblich reduziert. Hier wäre durch eine endliche Zahl von spezifischen Substanzen in gestörte Hirnfunktionen einzugreifen, die einerseits hinreichend klar mit einigen definierten Genen assoziiert sind, andererseits aber auch einen Teilaspekt der klinischen Phänomenologie des Patienten abbildet. Der Anspruch einer rationalen »funktionalen Pharmakotherapie« muss es sein, die genetischen und neurobiologischen Ursachen psychischer Störungen zu definieren und die Pharmakotherapie daran so individuell wie möglich auszurichten. Dies kann nur durch die Zusammenarbeit von Wissenschaft, Pharmaindustrie und Politik gelingen.
Literatur Abi-Dargham A, Rodenhiser J, Printz D et al (2000) Increased baseline occupancy of D2 receptors by dopamine in schizophrenia. Proc Natl Acad Sci USA 97: 8104–8109 Abi-Dargham A, Kegeles LS, Zea-Ponce Y et al (2004) Striatal amphetamineinduced dopamine release in patients with schizotypal personality disorder studied with single photon emission computed tomography and [123I]iodobenzamide. Biol Psychiatry 55: 1001–1006 Ashburn TT, Thor KB (2004) Drug repositioning: identifying and developing new uses for existing drugs. Nature Rev Drug Discov 3: 673–683 Apud JA, Mattay V, Chen J et al (2007) Tolcapone improves cognition and cortical information processing in normal human subjects. Neuropsychopharmacology 32: 1011–1020 Ballard CG, Gauthier S, Cummings JL et al (2009) Management of agitation and aggression associated with Alzheimer disease. Nat Rev Neurol 5: 245–255 Beautrais AL, Joyce PR, Mulder RT et al (1996) Prevalence and comorbidity of mental disorders in persons making serious suicide attempts: a casecontrol study. Am J Psychiatry 153: 1009–1014 Benkert O (1990) Functional classification and response to psychotropic drugs. Psychopharmacol Ser 8: 155–163 Benkert O, Maier W, Holsboer F (1985) Multiaxial classification of male sexual dysfunction. Br J Psychiatry 146: 628–632 Bodick NC, Offen WW, Levey AI et al (1997) Effects of xanomeline, a selective muscarinic receptor agonist, on cognitive function and behavioral symptoms in Alzheimer disease. Arch Neurol 54: 465–473 Buchanan RW, Conley RR, Dickinson D et al (2008) Galantamine for the treatment of cognitive impairments in people with schizophrenia. Am J Psychiatry 165: 82–89 Cavanagh JT, Carson AJ, Sharpe M, Lawrie SM (2003) Psychological autopsy studies of suicide: a systematic review. Psychol Med 33: 395–405
19 Literatur
Cipriani A, Pretty H, Hawton K, Geddes JR (2005) Lithium in the prevention of suicidal behavior and all-cause mortality in patients with mood disorders: a systematic review of randomized trials. Am J Psychiatry 162: 1805–1819 Coccaro EF, Kavoussi RJ (1997) Fluoxetine and impulsive aggressive behavior in personality-disordered subjects. Arch Gen Psychiatry 54: 1081–1088 Conn PJ, Jones CK, Lindsley CW (2009) Subtype-selective allosteric modulators of muscarinic receptors for the treatment of CNS disorders. Trends Pharmacol Sci 30: 148–155 Craddock N, O’Donovan MC, Owen MJ (2006) Genes for schizophrenia and bipolar disorder? Implications for psychiatric nosology. Schizophr Bull 32: 9–16 Crow TJ (1990) The continuum of psychosis and its genetic origins. The sixtyfifth Maudsley lecture. Br J Psychiatry 156: 788–797 Diazgranados N, Ibrahim L, Brutsche NE et al (2010) A randomized add-on trial of an N-methyl-D-aspartate antagonist in treatment-resistant bipolar depression. Arch Gen Psychiatry 67: 793–802 Dyer MA, Freudenreich O, Culhane MA et al (2008) High-dose galantamine augmentation inferior to placebo on attention, inhibitory control and working memory performance in nonsmokers with schizophrenia. Schizophr Res 102: 88–95 Ernst C, Mechawar N, Turecki G (2009) Suicide neurobiology. Prog Neurobiol 89: 315–333 Freedman R, Olincy A, Buchanan RW et al (2008) Initial phase 2 trial of a nicotinic agonist in schizophrenia. Am J Psychiatry 165: 1040–1047 Freyhan FA (1955) Course and outcome of schizophrenia. Am J Psychiatry 112: 161–199 Friedman RA, Leon AC (2007) Expanding the black box – depression, antidepressants, and the risk of suicide. N Engl J Med 356: 2343–2346 Goff DC, Tsai G, Levitt J et al (1999a) A placebo-controlled trial of D-cycloserine added to conventional neuroleptics in patients with schizophrenia. Arch Gen Psychiatry 56: 21–27 Goff DC, Henderson DC, Evins AE, Amico E (1999b) A placebo-controlled crossover trial of D-cycloserine added to clozapine in patients with schizophrenia. Biol Psychiatry 45: 512–514 Gibbons RD, Hur K, Brown CH, Mann JJ (2009) Relationship between antiepileptic drugs and suicide attempts in patients with bipolar disorder. Arch Gen Psychiatry 66: 1354–1360 Gottesman II, Gould TD (2003) The endophenotype concept in psychiatry: etymology and strategic intentions. Am J Psychiatry 160: 636–645 Gottesman II, Shields J (1973) Genetic theorizing and schizophrenia. Br J Psychiatry 122: 15–30 Goodwin FK, Fireman B, Simon GE et al (2003) Suicide risk in bipolar disorder during treatment with lithium and divalproex. JAMA 290: 1467–1473 Gründer G (2008) Pharmakotherapie kognitiver Störungen. In: Kircher T, Gauggel S (Hrsg) Neuropsychologie der Schizophrenien. Springer, Berlin Heidelberg New York Gründer G (2012) Kognitive Pharmakologie. Die pharmakologische Optimierung unseres Gehirns. Springer, Berlin Heidelberg New York (im Druck) Gründer G, Vernaleken I, Müller MJ et al (2003) Subchronic haloperidol downregulates dopamine synthesis capacity in the brain of schizophrenic patients in vivo. Neuropsychopharmacology 28: 787–794 Gründer G, Hippius H, Carlsson A (2009) The »atypicality« of antipsychotics: a concept re-examined and re-defined. Nat Rev Drug Discov 8: 197–202 Harvey PD, Koren D, Reichenberg A, Bowie CR (2006) Negative symptoms and cognitive deficits: what is the nature of their relationship? Schizophr Bull 32: 250–258 Hawton K, van Heeringen K (2009) Suicide. Lancet 373: 1372–1381 Heresco-Levy U, Javitt DC, Gelfin Y et al (2006) Controlled trial of D-cycloserine adjuvant therapy for treatment-resistant major depressive disorder. J Affect Disord 93: 239–243 Hollander E, Swann AC, Coccaro EF et al (2005) Impact of trait impulsivity and state aggression on divalproex versus placebo response in borderline personality disorder. Am J Psychiatry 162: 621–624 Javitt DC, Zylberman I, Zukin SR et al (1994) Amelioration of negative symptoms in schizophrenia by glycine. Am J Psychiatry 151: 1234–1236
John B, Lewis KR (1966) Chromosome variability and geographical distribution in insects: chromosome rather than gene variation provide the key to differences among populations. Science 152: 711–721 Kane JM, D‘Souza DC, Patkar AA et al (2010) Armodafinil as adjunctive therapy in adults with cognitive deficits associated with schizophrenia: a 4week, double-blind, placebo-controlled study. J Clin Psychiatry 71: 1475–1481 Kapusta ND, Mossaheb N, Etzersdorfer E et al (2011) Lithium in drinking water and suicide mortality. Br J Psychiatry 198: 346–350 Kelly DL, Buchanan RW, Boggs DL et al (2009) A randomized double-blind trial of atomoxetine for cognitive impairments in 32 people with schizophrenia. J Clin Psychiatry 70: 518–525 Kinon, BJ, Zhang L, Millen BA et al (2011) A multicenter, inpatient, phase 2, double-blind, placebo-controlled dose-ranging study of LY2140023 monohydrate in patients with DSM-IV schizophrenia. J Clin Psychopharmacol 31: 349–3 Kumakura Y, Cumming P, Vernaleken I et al (2007) Elevated [18F]fluorodopamine turnover in brain of patients with schizophrenia: an [18F]fluorodopa/positron emission tomography study. J Neurosci 27: 8080–8087 Lane HY, Chang YC, Liu YC et al (2005) Sarcosine or D-serine add-on treatment for acute exacerbation of schizophrenia: a randomized, double-blind, placebo-controlled study. Arch Gen Psychiatry 62: 1196–1204 Lane HY, Lin CH, Huang YJ et al. (2010) A randomized, double-blind, placebocontrolled comparison study of sarcosine (N-methyl glycine) and D-serine add-on treatment for schizophrenia. Int J Neuropsychopharmacol 13: 451–460 Laruelle M, Abi-Dargham A, van Dyck CH et al (1996) Single photon emission computerized tomography imaging of amphetamine-induced dopamine release in drug-free schizophrenic subjects. Proc Natl Acad Sci USA 93: 9235–9240 Lichtenstein P, Yip BH, Björk C et al (2009) Common genetic determinants of schizophrenia and bipolar disorder in Swedish families: a populationbased study. Lancet 373: 234–239 Malone RP, Delaney MA, Luebbert JF et al (2000) A double-blind placebocontrolled study of lithium in hospitalized aggressive children and adolescents with conduct disorder. Arch Gen Psychiatry 57: 649–654 Mann JJ (2003) Neurobiology of suicidal behaviour. Nat Rev Neurosci 4: 819– 828 Martinez D, Gil R, Slifstein M et al (2005) Alcohol dependence is associated with blunted dopamine transmission in the ventral striatum. Biol Psychiatry 58: 779–786 Meltzer HY, Alphs L, Green AI et al; International Suicide Prevention Trial Study Group (2003) Clozapine treatment for suicidality in schizophrenia: International Suicide Prevention Trial (InterSePT). Arch Gen Psychiatry 60: 82–91 Meltzer HY, Arvanitis L, Bauer D, Rein W; Meta-Trial Study Group (2004) Placebo-controlled evaluation of four novel compounds for the treatment of schizophrenia and schizoaffective disorder. Am J Psychiatry 161: 975– 984 Mendoza MC, Lindenmayer JP (2009) N-desmethylclozapine: is there evidence for its antipsychotic potential? Clin Neuropharmacol 32: 154– 157 Meyer JH, Houle S, Sagrati S et al (2004) Brain serotonin transporter binding potential measured with carbon 11-labeled DASB positron emission tomography: effects of major depressive episodes and severity of dysfunctional attitudes. Arch Gen Psychiatry 61: 1271–1279 Meyer JH, McNeely HE, Sagrati S et al (2006) Elevated putamen D(2) receptor binding potential in major depression with motor retardation: an [11C]raclopride positron emission tomography study. Am J Psychiatry 163: 1594–1602 O‘Donovan MC, Craddock NJ, Owen MJ (2009) Genetics of psychosis; insights from views across the genome. Hum Genet 126: 3–12 Olincy A, Harris JG, Johnson LL et al (2006) Proof-of-concept trial of an alpha7 nicotinic agonist in schizophrenia. Arch Gen Psychiatry 63: 630– 638
1
20
1
Kapitel 1 · Konzeption und Grundlagen einer funktionalen Psychopharmakotherapie
Oquendo MA, Russo SA, Underwood MD et al (2006) Higher post-mortem prefrontal 5-HT2A receptor binding correlates with lifetime aggression in suicide. Biol Psychiatry 59: 235–243 Patil ST, Zhang L, Martenyi F et al (2007) Activation of mGlu2/3 receptors as a new approach to treat schizophrenia: a randomized Phase 2 clinical trial. Nat Med 13: 1102–1107 Pearlson GD, Wong DF, Tune LE et al (1995) In vivo D2 dopamine receptor density in psychotic and nonpsychotic patients with bipolar disorder. Arch Gen Psychiatry 52: 471–477 Potkin SG, Jin Y, Bunney BG et al (1999) Effect of clozapine and adjunctive high-dose glycine in treatment-resistant schizophrenia. Am J Psychiatry 156: 145–147 Reith J, Benkelfat C, Sherwin A et al (1994) Elevated dopa decarboxylase activity in living brain of patients with psychosis. Proc Natl Acad Sci USA 91: 11651–11654 Roth BL, Sheffler DJ, Kroeze WK (2004) Magic shotguns versus magic bullets: selectively non-selective drugs for mood disorders and schizophrenia. Nature Rev Drug Discov 3: 353–359 Saavedra-Velez C, Yusim A, Anbarasan D, Lindenmayer JP (2009) Modafinil as an adjunctive treatment of sedation, negative symptoms, and cognition in schizophrenia: a critical review. J Clin Psychiatry 70: 104–112 Sanfilipo M, Wolkin A, Angrist B et al (1996) Amphetamine and negative symptoms of schizophrenia. Psychopharmacology 123: 211–214 Sharma T, Reed C, Aasen I, Kumari V (2006) Cognitive effects of adjunctive 24-weeks rivastigmine treatment to antipsychotics in schizophrenia: a randomized, placebo-controlled, double-blind investigation. Schizophr Res 85: 73–83 Shekhar A, Potter WZ, Lightfoot J et al (2008) Selective muscarinic receptor agonist xanomeline as a novel treatment approach for schizophrenia. Am J Psychiatry 165: 1033–1039 Shiina A, Shirayama Y, Niitsu T et al (2010) A randomised, double-blind, placebo-controlled trial of tropisetron in patients with schizophrenia. Ann Gen Psychiatry 9: 27 Tsai GE, Lin PY (2010) Strategies to enhance N-methyl-D-aspartate receptormediated neurotransmission in schizophrenia, a critical review and meta-analysis. Curr Pharm Des 16: 522–537 Tsai GE, Falk WE, Gunther J, Coyle JT (1999) Improved cognition in Alzheimer’s disease with short-term D-cycloserine treatment. Am J Psychiatry 156: 467–469 Van Berckel BN, Evenblij CN, van Loon BJ et al (1999) D-cycloserine increases positive symptoms in chronic schizophrenic patients when administered in addition to antipsychotics: a double-blind, parallel, placebocontrolled study. Neuropsychopharmacology 21: 203–210 Van Praag HM, Asnis GM, Kahn RS et al (1990) Nosological tunnel vision in biological psychiatry. A plea for a functional psychopathology. Ann NY Acad Sci 600: 501–510 Volavka J, Czobor P, Nolan K et al (2004) Overt aggression and psychotic symptoms in patients with schizophrenia treated with clozapine, olanzapine, risperidone, or haloperidol. J Clin Psychopharmacol 24: 225– 228 Volkow ND, Wang GJ, Begleiter H et al (2006) High levels of dopamine D2 receptors in unaffected members of alcoholic families: possible protective factors. Arch Gen Psychiatry 63: 999–1008 Weinberger DR (1987) Implications of normal brain development for the pathogenesis of schizophrenia. Arch Gen Psychiatry 44: 660–669 Wetzel H, Hillert A, Gründer G, Benkert O (1994) Roxindole, a dopamine autoreceptor agonist, in the treatment of positive and negative schizophrenic symptoms. Am J Psychiatry 151: 1499–1502 Zarate CA, Singh JB, Carlson PJ et al (2006) A randomized trial of an N-methyl-D-aspartate antagonist in treatment-resistant major depression. Arch Gen Psychiatry 63: 856–864 Zobel A, Maier W (2004) Endophänotypen – ein neues Konzept zur biologischen Charakterisierung psychischer Störungen. Nervenarzt 75: 205– 214
21
Historische Entwicklung Kapitel 2
Die moderne Psychopharmakologie aus wissenschaftshistorischer Sicht – 23 Matthias M. Weber
I
23
Die moderne Psychopharmakologie aus wissenschaftshistorischer Sicht Matthias M. Weber
2.1
Grundprobleme der wissenschaftshistorischen Darstellung der modernen Psychopharmakologie – 24
2.2
Aktuelle Ausgangspunkte einer wissenschaftshistorischen Analyse – 25
2.3
Die Entstehung der zentralen Begriffe Psychopharmakon und Serendipity – 26
2.4
Die traditionelle Pharmakotherapie psychischer Störungen am Beispiel von Opium – 27
2.5
Chloralhydrat – das erste moderne Psychopharmakon – 29
2.6
Industrie und Wissenschaft – 30
2.7
Chlorpromazin, Imipramin und die biologische Psychiatrie – 32
2.8
Neue »Serendipities« nach alten Strategien? – 34 Literatur – 34
G. Gründer, O. Benkert (Hrsg.), Handbuch der Psychopharmakotherapie, DOI 10.1007/978-3-642-19844-1_2, © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2012
2
24
Kapitel 2 · Die moderne Psychopharmakologie aus wissenschaftshistorischer Sicht
» Vor gröberen therapeutischen Illusionen wird die Erinnerung 2
daran schützen, dass viele dieser Kranken bei einer nur nicht positiv schädlichen Behandlungsweise von selbst genesen; der Gedanke an etwaige Specifica gegen das Irresein im Ganzen … wird sein Gegengewicht in der Erwägung finden, wie ausserordentlich verschieden in Bezug auf den anatomischen Gehirnzustand und auf die Pathogenie die Erkrankungen sind, welche die Symptome des Irreseins geben. (Wilhelm Griesinger 1867, S. 481)
«
2.1
Grundprobleme der wissenschaftshistorischen Darstellung der modernen Psychopharmakologie
Es gehört zur guten Übung medizinischer Handbücher, in einem einleitenden Kapitel die historische Entwicklung des jeweiligen Fachgebiets zu schildern. Die Behandlung psychischer Störungen kann in der Medizin der Hochkulturen auf eine ungefähr zweieinhalb Jahrtausende umfassende Entwicklung zurückblicken (Leibbrand u. Wettley 1961). In nahezu allen Epochen sind hierbei zwei methodische Ansätze nachweisbar, die in der Praxis meist kombiniert wurden: 4 die Beeinflussung des Patienten durch Interaktion in Gespräch und Ritual, d. h. durch Psychotherapie im weitesten Sinne, 4 die Gabe von psychotropen Substanzen zur Modifikation der körperlichen Vorgänge, die für den auffälligen psychischen Zustand verantwortlich gemacht wurden. Die nichtpharmakologischen, somatisch orientierten Verfahren, wie z. B. die traditionelle Hydrotherapie, die heutige physikalische Medizin oder auch die verschiedenen Formen der Konvulsionstherapie, bilden dabei ein breites und in ihren theoretischen Annahmen sehr heterogenes Übergangsfeld zwischen Psychotherapie und Pharmakotherapie. Im Falle der modernen Psychopharmakologie scheint sich jedoch auf den ersten Blick eine eingehende historische Erörterung zu erübrigen, da sie im Vergleich zu anderen, seit Jahrhunderten bestehenden medizinischen Disziplinen als eine Entwicklung der jüngsten Vergangenheit ohne relevante wissenschaftsgeschichtliche Dimension gilt. Befragt man etwa heute tätige Ärzte nach den Ursprüngen dieser für den klinischen Alltag außerordentlich wichtigen Therapiemethode, wird häufig die Meinung geäußert, die gegenwärtige Psychopharmakologie sei in den 1950er und 1960er Jahren als Ergebnis der systematischen Forschungen der sog. biologischen Psychiatrie entstanden (Benkert 1995). Einerseits mag diese verbreitete Einschätzung auf den pädagogischen Notwendigkeiten der Wissensvermittlung in medizinisch-psychologischen Lehrbüchern (Möller 2000) und Lexika (Arnold et al. 1980) beruhen, deren Aufgabe selbstverständlich darin bestehen muss, den jeweils aktuellen Kenntnisstand zu referieren. Andererseits trägt auch das Forschungsinteresse der Medizingeschichte selbst zu dieser Tendenz bei (Scull 1994). Im Vergleich zur kaum überschaubaren Zahl der Veröffentlichungen über die Entwicklung und kultur-
historische Bedeutung der psychotherapeutischen Verfahren, insbesondere der Psychoanalyse (Weber 1996), setzen sich nämlich nur wenige Untersuchungen in gleicher Weise mit der Geschichte der Psychopharmakologie auseinander (Balz 2010; Ban et al. 1998; Bangen 1992; Caldwell 1970; Hall 1997; Healy 2002; Hummel 1987; Linde 1988; Swazey 1974; Weber 1999). Besonders schwierig zu beantworten ist dabei die Frage, in welchem Umfang und mit welchen Substanzen Psychopharmakotherapie in den vergangenen medizinhistorischen Epochen konkret praktiziert wurde (Leibrock 1998), da einschlägige Quellen, z. B. Krankenakten, entweder nicht überliefert wurden, keine geeigneten Angaben enthalten oder nur unter erheblichen methodischen Schwierigkeiten auszuwerten sind. Viele entscheidende Quellen befinden sich außerdem in Firmenarchiven, die der Öffentlichkeit nicht immer zur Verfügung stehen. Schließlich ist der Umstand zu berücksichtigen, dass die biomedizinischen Wissenschaften seit der Mitte des 19. Jahrhunderts zunehmend durch interdisziplinäre Ansätze und die Arbeit in Forschungsgruppen geprägt sind, weshalb einzelne Ergebnisse immer seltener nur einem Wissenschaftler oder nur einem ideengeschichtlichen Entwicklungsprozess zugeordnet werden können. Der häufig anzutreffende Streit um Entdeckungsprioritäten (Saunders 1965) sollte daher nicht mehr im Zentrum wissenschaftshistorischer Untersuchungen stehen. Derartige Auseinandersetzungen lenken eher von der Untersuchung des komplexen Bedingungsgefüges ab, das die Voraussetzung für die Entstehung pharmakologischer Innovationen darstellt. Die Entwicklung eines Gebietes wie der Psychopharmakologie wird von zahlreichen fachinternen Faktoren (z. B. Kenntnisstand der Grundlagenfächer, hermeneutische Potenz der Labormethoden, Reichweite und Systematisierungsgrad der Theoriebildung) und fachexternen Faktoren (z. B. ökonomische, patentrechtliche, berufspolitische) bestimmt, deren Gewichtung und Bedeutung mithilfe wissenschaftstheoretischer und -historischer Modelle interpretiert werden können. Wie v. a. Ludwik Flecks Lehre vom Denkstil darlegte (Fleck 1935), steht jeder wissenschaftliche Prozess unweigerlich im kulturellen Gesamtzusammenhang mit den leitenden Ideen einer Epoche. Verglichen mit der bekannteren Theorie Thomas Kuhns über die »Struktur wissenschaftlicher Revolutionen« (Kuhn 1962), die sog. Paradigmenwechsel aufgrund wachsender Widersprüche innerhalb eines Theoriemodells als Agens des Erkenntnisfortschritts annimmt, kommt Flecks Auffassung nicht nur das zeitliche und ideengeschichtliche Primat zu. Sie zeichnet sich auch dadurch aus, dass sie nicht aus dem Vorbild mathematisch-physikalischer Erkenntnisprozesse abgeleitet wurde, sondern aus der medizinischen Mikrobiologie und Serologie. Vor diesem Hintergrund muss die Entstehung der Psychopharmakologie insgesamt als Resultat des seit der Mitte des 19. Jahrhunderts kontinuierlich wachsenden Einflusses des naturwissenschaftlichen Denkstils in der Psychiatrie verstanden werden.
2
25 2.2 · Aktuelle Ausgangspunkte einer wissenschaftshistorischen Analyse
2.2
Aktuelle Ausgangspunkte einer wissenschaftshistorischen Analyse
Bereits eine kursorische Betrachtung der öffentlichen und fachinternen Diskussionen um die moderne Psychopharmakologie zeigt mehrere Aspekte auf, die zu einer näheren Analyse aus medizinhistorischer Sicht anregen. Hier fällt zunächst die Diskrepanz zwischen dem »empirischen Heilvermögen« einerseits und der häufig kritischen Bewertung des »Heilanspruchs« der Psychopharmaka andererseits auf (Weber 2000). Ihre enorme praktische Bedeutung steht aufgrund gesundheitsökonomischer und epidemiologischer Daten zweifelsfrei fest. Im Zuständigkeitsbereich der gesetzlichen Krankenversicherungen Deutschlands wurde z. B. im Jahr 1999 mit 39,2 Mio. Psychopharmakaverordnungen ein Umsatz von annähernd 2 Mrd. DM erzielt (. Tab. 2.1). Phytotherapeutika, überwiegend Hypericum-Extrakte, machten dabei etwa ein Sechstel aller rezeptierten Psychopharmaka aus, berechnet auf der Basis definierter durchschnittlicher Tagesdosen (Schwabe u. Pfaffrath 2001, S. 557). Zählt man die Hypnotika und Sedativa mit 12,8 Mio. Verordnungsfällen hinzu, nehmen Arzneimittel zur Behandlung psychischer Störungen in der Rangfolge aller Indikationsgruppen den zweiten Platz hinter den Analgetika und Antirheumatika ein. Insbesondere für die Antidepressiva ist hierbei langfristig eine steigende Tendenz zu beobachten, die sich auch in neueren Erhebungen bestätigt (Schwabe u. Pfaffrath 2009). Dieser breiten therapeutischen Anwendung von Psychopharmaka im klinischen Alltag nahezu aller medizinischen Fachgebiete steht häufig eine zurückhaltende bis ablehnende Haltung der Öffentlichkeit gegenüber (Angermeyer 1994; Benkert et al. 1995), die keineswegs nur von Laienkreisen geäußert wird. Auch Strömungen innerhalb der akademischen Medizin propagieren ein vermeintlich menschlicheres Gesundheitssystem als Gegenmodell zur »chemischen Keule« einer »repressiven Psychiatrie«, das hierdurch zum Allheilmittel für psychische Störungen erhoben wird. Buchtitel wie Liebe statt Valium (Huber 1993) spiegeln dabei eine ideengeschichtliche Entwicklungslinie der Ambivalenz gegenüber der akademischen Medizin in den bürgerlichen Gesellschaften Europas und Amerikas wider, die sich seit dem Ende des 19. Jahrhunderts vom Umkreis der Lebensreformbewegung bis zur gegenwärtigen »alternativen« Heilkunde verfolgen lässt (Jütte 2001). Man gewinnt daher häufig den Eindruck, dass auch die sog. Antipsychiatrie weniger die psychotropen Arzneimittel als solche kritisch hinterfragt, sondern eher die naturwissenschaftlich-technisch fundierte Medizin insgesamt (Szasz 1991). Die Skepsis scheint nicht nur dadurch begründet zu sein, dass »chemisch« induzierte Veränderungen der unmittelbaren subjektiven Erlebniswelt häufig als Bedrohung der Individualität aufgefasst werden, sondern dass Psychopharmaka aus der Sicht des Patienten – im Gegensatz zu vielen psychotherapeutischen Verfahren – kaum existenziell sinnstiftende Deutungen für psychisches Kranksein bieten (Benkert 1995, S. 131). Zu dieser kritischen Grundeinstellung bildet die Akzeptanz von psychotropen Genussmitteln und Drogen in großen Teilen der Bevölkerung einen ebenso auffälligen Kontrast wie die über-
. Tab. 2.1 Arzneimittelgruppen nach Verordnungsrang in Deutschland 1999 (Schwabe u. Pfaffrath 2001, S. 5) Gruppe
Verordnungena
Umsatzb
1
Analgetika/Antirheumatika
91,5
1871,7
2
Antitussiva/Expektoranzia
53,9
691,3
3
β-, Kalzium-, Angiotensinblocker
48,1
2980,0
4
Antibiotika
46,3
2176,1
5
Magen-Darm-Mittel
41,4
2259,8
6
Psychopharmaka
39,2
1919,8
7
Dermatika
33,4
846,4
–
–
–
Sedativa/Hypnotika
12,8
Rang
18 a
– 262,1
Verordnungen (in Mio.), b Umsatz (in Mio. DM).
höhten Erwartungen, die in den Medien anlässlich der Markteinführung einzelner Psychopharmaka immer wieder geweckt werden. Anfang der 1990er Jahre veranlassten etwa die selektiven Serotoninwiederaufnahmehemmer (selective serotonin reuptake inhibitors, SSRI) zu weit reichenden Spekulationen über die ethischen, soziologischen und kulturellen Implikationen dieser Gruppe von Antidepressiva, wobei insbesondere die 1993 von dem amerikanischen Psychiater Peter D. Kramer veröffentlichte essayistische Darstellung Listening to Prozac über Fluoxetin bekannt wurde (Kramer 1993). Sowohl in der weltanschaulich motivierten Ablehnung als auch in den unbegründeten Erwartungen an eine zukünftige »Psychotechnik« erscheint das Psychopharmakon dabei als ein ambivalentes Faszinosum, dessen tatsächliche Probleme der Entwicklung und Anwendung nur selten in der Öffentlichkeit zur Sprache kommen. Daher bleibt festzuhalten, dass es der Psychiatrie bislang nur sehr begrenzt gelang, in den Medien eine rationale Haltung zur Psychopharmakotherapie zu vermitteln. Dies gilt auch für die Diskussion um das »Neuro-Enhancement«, der jüngsten Variante der öffentlichen Auseinandersetzungen über die Bedeutung und Aufgaben von psychotropen Substanzen (Schäfer u. Groß 2008). In den vergangenen Jahrzehnten wurden jedoch auch innerhalb der Psychopharmakologie immer wieder Bedenken über die Entwicklung des Faches geäußert. Bedeutende Repräsentanten sowohl der klinischen Psychiatrie als auch der neurobiologischen Grundlagenforschung, wie etwa der schwedische Nobelpreisträger Arvid Carlsson, postulierten v. a. eine »Innovationskrise« der Arzneimittelentwicklung (Pichot 1990). Obwohl einerseits kein Zweifel daran besteht, dass nicht zuletzt durch die klinische Forschung das theoretische Wissen über die Wirkungsweise der Psychopharmaka in den letzten 5 Jahrzehnten enorm anwuchs und in der Praxis z. B. hinsichtlich der Indikationsstellung, Anwendungssicherheit und unerwünschten Wir-
26
2
Kapitel 2 · Die moderne Psychopharmakologie aus wissenschaftshistorischer Sicht
kungen erhebliche Verbesserungen erreicht wurden, ist andererseits festzustellen, dass genuin neuartige Wirkprinzipien seit den 1960er Jahren kaum mehr implementiert wurden (Lassen 1988). In diesem Zusammenhang ist z. B. zu erwähnen, dass der prinzipielle Mechanismus der SSRI bereits Ende der 1960er Jahre aufgeklärt war (Carlsson et al. 1969). Auch das Synthese- und Prüfungsprogramm der Firma Wander für Dibenzodiazepine, in dem u. a. Clozapin im Mai 1960 als vielversprechendes psychotropes Pharmakon identifiziert wurde, beruhte auf den Konzepten der 1950er Jahre über die Modifizierung des Trizyklikagrundkörpers (Gross u. Langner 1966; Stille u. Hippius 1971). Die gesundheitsökonomischen Daten über die Verordnungshäufigkeiten weisen ebenfalls darauf hin, dass viele psychiatrische Patienten trotz der Markteinführung neuerer Substanzen nach wie vor mit Medikamenten behandelt werden, deren Ausbietungsdaten bereits mehr als 2 Jahrzehnte zurückliegen (Schwabe u. Pfaffrath 2009). Dies mag einerseits auf die zunehmend restriktiven ökonomischen und juristischen Rahmenbedingungen für die Entwicklung neuer Wirkstoffe zurückzuführen sein, insbesondere auf die erheblich gestiegenen Research-und-Development-Kosten oder die wachsenden Anforderungen an die arzneimittelrechtlichen Genehmigungsverfahren. Andererseits fällt auf, dass in einer Disziplin, die sonst mit naturwissenschaftlichen oder psychophysiologischen Modellen arbeitet, wissenschaftstheoretische Denkfiguren verwendet werden, um die postulierte Innovationskrise zu deuten und zu überwinden (DiMiasi u. Lasagna 1995). Für viele bedeutende psychopharmakotherapeutische Fortschritte machen Experten insbesondere das Phänomen der Serendipity verantwortlich. Die vermeintliche oder tatsächliche Häufung von Zufällen bei der Entwicklung psychotroper Arzneimittel veranlasste sogar dazu, den Wissenschaftscharakter der bisherigen Psychopharmakologie generell kritisch zu überprüfen. Nicht zuletzt die Formulierung der für die Ätiologie der paranoiden und affektiven Psychosen zentralen Neurotransmitterhypothesen als Resultat von Beobachtungen ex juvantibus wurde als »intellektuell wenig befriedigend« empfunden (Leonard 1994; Pichot 1990). Die in der Praxis erfolgreichen Resultate der psychopharmakologischen Forschung verdecken somit nicht selten ihre Genese in einem komplexen Erkenntnisprozess, der keineswegs immer zielgerichtet wirkt oder eindeutig rekonstruiert werden kann. Der Aphorismus Friedrich Nietzsches, man glaube vor einer Wirkung an andere Ursachen als danach (Nietzsche 1867), spiegelt dieses charakteristische Merkmal wissenschaftlicher Erkenntnisprozesse und ihre oft irreführende retrospektive Selbstinterpretation durch die beteiligten Forscherpersönlichkeiten prägnant wider. Nachfolgend sollen daher einige der Wege und Bedingungen aufgezeigt werden, die für die Entstehung der modernen Psychopharmakologie aus medizinhistorischer Sicht verantwortlich waren. Schon aufgrund der Vielzahl der in den letzten 150 Jahren verwendeten Substanzen ist dabei keine erschöpfende Darstellung möglich. Einige wichtige Beispiele sollen vielmehr die prinzipiellen Faktoren näher veranschaulichen. Der Wissenschaftshistoriker muss sich zudem insbesondere bei der Darstellung der allerjüngsten Entwicklungen Zu-
rückhaltung auferlegen, da hier die zur Beurteilung notwendige zeitliche Distanz noch fehlt. Der Schwerpunkt der nachstehenden Darstellung liegt daher auf den langfristigen Tendenzen seit der Mitte des 19. Jahrhunderts, welche die moderne Psychopharmakologie nach 1950 überhaupt erst ermöglichten. Zunächst muss hierzu die Herkunft und Bedeutung zweier zentraler Begriffe erläutert werden.
2.3
Die Entstehung der zentralen Begriffe Psychopharmakon und Serendipity
Die heute gebräuchlichen Begriffe Psychopharmakon – bzw. Psychopharmakologie oder Psychopharmakotherapie – stammen trotz ihrer altgriechischen etymologischen Wurzel weder aus der antiken Heilkunde noch überhaupt aus der Medizin. Erstmals ist der Begriff Psychopharmakon im Titel des 1548 erschienenen Werks Psychopharmacon, hoc est: medicina animae nachzuweisen. Hierbei handelt es sich jedoch nicht um eine pharmakologische Abhandlung aus der Renaissance, sondern um die humanistenlateinische Übersetzung eines in deutscher Sprache verfassten christlichen Erbauungstextes, eines sog. Trost- und Sterbebuchs des ausgehenden Mittelalters (Roth 1964). Ursprünglich bildete der Terminus Psychopharmakon somit eine medizinische Metapher für religiöse Methoden zur Lebensbewältigung. Während der nachfolgenden Jahrhunderte wurde diese Bezeichnung in der ärztlichen Fachsprache nicht verwendet. Da die Idee eines Arzneimittels, das spezifisch kausal auf psychopathologische Zustände einwirkt, der Medizin bis in die jüngste Vergangenheit mangels praktischer Erfahrungen und einschlägiger Krankheitskonzepte weitgehend fremd war, fehlte auch ein entsprechender Begriff. Vermutlich benutzte erstmals der amerikanische Pharmakologe David I. Macht den Terminus in seiner modernen Bedeutung im Titel seines 1920 erschienenen Aufsatzes über die analgetischen und neuropsychologischen Effekte von Opiumalkaloiden (Macht 1920). Der heutige Begriff des Psychopharmakons verbreitete sich somit als unabhängige Wortneuschöpfung in der psychiatrischen Fachsprache der 1950er Jahre. Die bis heute gängige Definition wurde 1960 in den ersten Übersichtsartikeln zu den damals neuen Substanzen Chlorpromazin und Imipramin geprägt (Ross u. Cole 1960); seitdem erscheint der Terminus auch in medizinischen Lexika und Bibliographien. Weitaus schwieriger sind Herkunft und ursprüngliche Bedeutung von Serendipity zu klären, eines anderen, in der modernen Psychopharmakologie häufig benutzten Begriffs. Pharmazeutische Unternehmen, v. a. im angelsächsischen Raum, benutzen das Wort als Symbol ihrer Innovationskraft ebenso großzügig wie Medizinhistoriker oder Soziologen. Meist wird es im Deutschen als »Zufallsfund«, »Entdeckung durch glückliche Umstände« oder »nicht vorhersehbares Nebenprodukt« umschrieben. Die paradoxe Problematik der Ausweitung dieses Begriffs ergibt sich aus dem Umstand, dass damit der Zufall, der eigentlich eine störende Singularität im normalen Forschungsund Wissenschaftsbetrieb darstellt, nicht nur als regelmäßiges, sondern auch als notwendig eintretendes Ereignis interpretiert
27 2.4 · Die traditionelle Pharmakotherapie psychischer Störungen am Beispiel von Opium
wird. Daher scheint die Beliebtheit von Serendipity in der Psychopharmakologie v. a. die Unsicherheit über den Ablauf ihrer Erkenntnisprozesse widerzuspiegeln. Der Terminus Serendipity kann dabei auf eine ungewöhnlich interessante Überlieferungsgeschichte zurückblicken. Das persische Wort Serendip (lateinisch: serendivi, italienisch: serendippo) war die geographische Bezeichnung des Altertums für die Insel Sri Lanka. Der indische Hofpoet Amir Khusrau verfasste im Jahr 1302 nach älteren Vorbildern der persischen Literatur eine Sammlung belletristischer Episoden mit Rahmenhandlung, wobei eine der Erzählungen die Erlebnisse der »Drei Prinzen von Serendip« schildert. Ihre märchenhaften Abenteuer enden jeweils glücklich infolge überraschender Wendungen, welche die Protagonisten nicht zuletzt aufgrund ihrer Klugheit und Weltläufigkeit für scheinbar ausweglose Situationen finden (Cammann 1967). Diese Erzählung wurde in den nachfolgenden Jahrhunderten häufig in europäische Sprachen übersetzt und war auch Horace Walpole bekannt, einem englischen Literaten der Aufklärungszeit. In einem Brief aus dem Jahr 1745 benutzte er unter Hinweis auf die orientalische Erzählung erstmals das Wort serendipity, und zwar in der Bedeutung von sagacity (»Scharfsinn, kluges Erkennen«) (Lewis 1960, S. 407). Der bereits bei Walpole erkennbare spätere Bedeutungswandel des Wortes zum »Zufälligen« verschleiert, dass mit Serendipity das aktive Erkennen eines latent vorhandenen Lösungszusammenhangs gemeint war und keineswegs das passive Eintretenlassen eines unvorhersehbaren Ereignisses. Serendipities ereignen sich immer dann, wenn ein Wissenschaftler aufgrund seiner persönlichen Eignung in Verbindung mit den jeweiligen institutionellen, technischen und erkenntnistheoretischen Rahmenbedingungen die Möglichkeiten wahrnimmt, die eine spezifische wissenschaftshistorische Entwicklungssituation seines Faches bietet. Dabei scheint die Offenheit für ästhetische Kriterien, wie etwa für die Eleganz von Strukturformeln und Molekülen, eine ebenso wichtige Rolle zu spielen wie verbesserte Labormethoden, etwa die Einführung neuer chromatographischer Verfahren in den 1930er Jahren, oder wissenschaftssoziologische Faktoren. Hierfür existieren zahlreiche Beispiele, u. a. die 1943 erfolgte Entdeckung der halluzinogenen Wirkung von d-Lysergsäurediethylamid (LSD) durch Albert Hofmann oder die Strukturaufklärung der Benzodiazepine durch Leo Hendryk Sternbach Ende der 1950er Jahre (Hofmann 1979; Sternbach 1988). Die Medikamente, welche die moderne Psychopharmakologie als Ergebnis von »Zufällen« begreift, stellen sich daher im Rückblick häufig als nachvollziehbare Resultate des Zusammenwirkens ihrer langfristigen Entwicklungsbedingungen heraus. Dabei kann sicherlich nicht das konkrete Endprodukt im Detail vorhergesagt werden. Der naturwissenschaftliche Denkstil, der seit etwa 1850 die Medizin bestimmte, lieferte jedoch in Theoriebildung, Labortechnik und Klinik die Forschungsmöglichkeiten, die einzelne Wissenschaftler in der Arzneimittelentwicklung seither immer wieder nutzten.
2.4
Die traditionelle Pharmakotherapie psychischer Störungen am Beispiel von Opium
Die Praxis der medikamentösen Behandlung psychischer Störungen wies in der abendländischen Medizin von der Antike bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts eine erstaunlich hohe Kontinuität auf. Seit dem griechischen Altertum wurden hauptsächlich alkaloidhaltige pflanzliche Arzneidrogen verwendet, insbesondere Papaver somniferum, Hyoscyamus niger und Helleborus (. Tab. 2.2). Einer der ältesten Belege für den Einsatz von Opium ist in der Odyssee Homers die Erwähnung von »Nepenthes«, einem Trank zur Beeinflussung von »Kummer und Groll«, wobei es sich wahrscheinlich um eine opiathaltige Zubereitung auf alkoholischer Basis handelte. Noch um 1900, d. h. etwa zweieinhalb Jahrtausende später, empfahl das damals weit verbreitete Compendium der Arzneiverordnung von Oscar Liebreich und Alexander Langgaard (1896) Helleborus zur Behandlung der Manie und der Melancholie. Die über Jahrhunderte dominierende Humoralpathologie führte gemäß ihrer systematischen Korrespondenzlehre zwischen Soma und Psyche alle psychopathologischen Zustände auf eine Dyskrasie, ein Ungleichgewicht der vier Körpersäfte Blut, Schleim, schwarze und gelbe Galle zurück. Die Arzneimittel mussten ebenfalls in dieses humoralpathologische Erklärungsmuster eingeordnet werden, da die somatopsychischen Entsprechungsvorstellungen auch die Therapie leiteten (Rothschuh 1978, S. 197). Diese Konzeption blieb jedoch nur begrenzt erfolgreich: Bis zu den Anfängen der naturwissenschaftlichen Pharmakologie blieb z. B. heftig umstritten, ob Opium eher erregend oder sedierend wirkt (Weber 1987). Abgesehen von den erheblichen praktischen Problemen, wie etwa der Standardisierung der Zubereitungen von natürlich vorkommenden Pflanzendrogen, reichten die tradierten physiologischen Vorstellungen der Humoralpathologie, aber auch der konkurrierenden Theorien der Iatrochemie oder der Iatromechanik von Paracelsus bis Descartes, zur theoretischen Deutung komplexer Arzneimittelwirkungen offensichtlich nicht aus. Die praktische Therapie blieb daher von einem eklektischen Pragmatismus bestimmt, dem die jeweiligen Ideengebäude unterlegt wurden. Allerdings fällt auf, dass die seit Jahrhunderten tradierten Elementarkategorien zur Beschreibung von Psychopharmaka, die sich wie »Erregung« und »Sedierung« an der unmittelbar beobachtbaren Wirkung orientieren, ihre Bedeutung im klinischen Alltag beibehielten, obwohl heute weitaus differenziertere Möglichkeiten zur verhaltenspharmakologischen Charakterisierung von Wirkstoffen existieren. Auch die ausgefeilten pharmakologischen Systeme der sog. romantischen Medizin um 1800, die eine Verbindung aus überlieferter Humoralpathologie, der Naturphilosophie im Stil Friedrich Schellings und dem damals aktuellen chemischen Wissen darstellten, änderten an dieser Situation nur wenig (Oldenburg 1979). Häufig blieb das Arzneimittel ein bloßes Additiv der »moralischen« Therapie. Seine Wirkung bestand – in Umkehrung zur heutigen Auffassung – darin, die im Sinne der idealistischen Philosophie als autonom vorgestellte Seele über
2
28
Kapitel 2 · Die moderne Psychopharmakologie aus wissenschaftshistorischer Sicht
. Tab. 2.2 Typische Psychopharmaka um 1840 (Weber 1999, S. 48)
2
Rezepturname
Deutscher Name
Hauptinhaltsstoff
Sedativa und Hypnotika Papaver somniferum
Schlafmohn
Morphin
Atropa belladonna
Tollkirsche
Atropin
Hyoscyamus niger
Schwarzes Bilsenkraut
Hyoscyamin
Digitalis purpurea
Fingerhut
Digitoxin
Cinnamomum camphora
Kampfer
1,7,7-Trimethylbicyclo-[2,2,1]heptan-2-on
Arnica montana
Bergwohlverleih
Arnicin
Moschus orientalis
Bisammoschus
Makrozyklische Ketone und Lactone
Phosphorus
Phosphor
Phosphor
Tartarus stibiatus
Brechweinstein
(KSbO • C4H4O6)2 H2O
Helleborus
Nieswurz
Helleborin
Ipecacuanha
Brechwurzel
Emetin
Nervina (Tonica, Exzitanzia)
Drastica (Purgiermittel)
eine unspezifische somatische Umstimmung des »Gemeingefühls« zu beeinflussen. Die Vorstellung, dass die Wirkung psychotroper Medikamente lediglich eine »indirekt psychische« sei, vertrat etwa Johann Christian Reil in seinen berühmten Rhapsodieen über die Anwendung der psychischen Curmethode auf Geisteszerrüttungen von 1803. Obwohl Reil ebenfalls den »Mohnsaft« bevorzugte, um die »Kräfte der Seele zu spannen«, blieb die Art des Pharmakons daher oft beliebig (Reil 1803, § 15). Dies zeigte sich besonders deutlich in der Verwendung von »Drastica«, die in der sog. Ekelkur einen Gegenreiz zur postulierten übermäßigen Erregbarkeit des psychisch Kranken durch »Ableitung« und Purgierung setzen sollten. Derartige therapeutische Konzepte fanden sich sowohl bei den »Psychikern« als auch bei den »Somatikern« der romantischen Medizin (Heinroth 1818; Jacobi 1844). Gleichzeitig förderten jedoch Praktiker die Entwicklung einer pragmatischen Pharmakotherapie. In diesem Zusammenhang ist v. a. die von Friedrich Engelken sen. und seinen Nachfolgern propagierte »Opiumkur« zur Behandlung schwerer depressiver Erkrankungen zu nennen. Die Ärztefamilie Engelken betrieb seit dem Ende des 18. Jahrhunderts bei Bremen eine der ältesten psychiatrischen Privatanstalten Deutschlands (Weber 1987). Das Verfahren war durch eine systematische, in definierten Intervallen vorgenommene Dosiserhöhung bzw. -reduktion der Opiumtinktur in Abhängigkeit vom individuellen psychopathologischen Zustand des Patienten gekennzeichnet. Es soll bei adäquater Indikation, insbesondere bei Melancholia hypochondriaca, d. h. nach heutiger Terminologie bei schweren depressiven Episoden mit Somatisierung oder hypochondrischen Wahninhalten, keine Abhängigkeit verursacht haben
(Engelken 1851). Vereinzelt wurde die Opiumkur noch in den 1950er Jahren durchgeführt (Meggendorfer 1950, S. 171). Eine Ärztegeneration nach der romantischen Medizin markierte die apodiktische Feststellung Wilhelm Griesingers, dass Geisteskrankheiten Gehirnkrankheiten seien, den Beginn der modernen Psychiatrie in Deutschland. Im Gegensatz zu seinem differenzierten Ätiologiekonzept, das sich keineswegs in einem einseitigen hirnorganischen Reduktionismus erschöpfte, war Griesinger allerdings von der Existenz spezifisch wirkender Arzneimittel für psychische Störungen nicht überzeugt (Griesinger 1867). Zu diesem Zeitpunkt hatte jedoch die medizinische Forschung den naturwissenschaftlichen Denkstil bereits in großem Umfang rezipiert, da diese den einzig plausiblen Ausweg aus den unfruchtbaren theoretischen Auseinandersetzungen der tradierten medizinischen Schulen boten, obwohl daraus zunächst kaum praktische therapeutische Erfolge resultierten (Petersen 1877; Rothschuh 1978, S. 420). Die langfristige Tendenz der weiteren Forschung drückte etwa Immanuel Kant 1796 in seiner Ergänzung zu Samuel Thomas Soemmerrings Schrift Über das Organ der Seele aus, in der er explizit eine dynamische Organisation des Nervensystems auf chemischer Grundlage vorschlug (Kant 1977). Schließlich musste die Medizin nicht zuletzt infolge der wachsenden Industrialisierung und der damit verbundenen politischen Emanzipation des Bürgers in der Mitte des 19. Jahrhunderts dem technischnaturwissenschaftlichen Denkstil folgen. Der französische Physiologie Claude Bernard charakterisierte diesen Wandel mit der Äußerung, das Krankenhaus sei das Vestibül der Heilkunde, ihr »Allerheiligstes« jedoch nunmehr das Labor (Cunningham u. Williams 1992). Es verwundert daher nicht, dass auch das erste
29 2.5 · Chloralhydrat – das erste moderne Psychopharmakon
moderne Psychopharmakon aus dem Labor der organischen Chemie stammt.
2.5
Chloralhydrat – das erste moderne Psychopharmakon
Der Berliner Pharmakologe Oscar Liebreich (. Abb. 2.1) publizierte 1869 drei Veröffentlichungen, in denen er Chloralhydrat, das Monohydrat des Trichloracetaldehyds, als Hypnotikum und Sedativum präsentierte (Liebreich 1869). Chloralhydrat war nicht nur das erste vollsynthetische Medikament seiner Indikationsgruppe, seine Entwicklung, Markteinführung und therapeutische Verwendung wiesen nahezu bereits alle strukturellen Merkmale auf, die bis heute die moderne Psychopharmakologie kennzeichnen. Entscheidend für die Genese innovativer Arzneimittel war v. a. die Vorbildfunktion der organisch-chemischen Forschung. Justus von Liebig hatte Chloralhydrat erstmals 1832 durch die Einwirkung von Chlorkalk auf Ethanol im Rahmen seiner grundlegenden Studien über die chemischen Eigenschaften einfacher organischer Verbindungen synthetisiert (Liebig 1832). Diese Untersuchungen dienten sowohl der quantitativen Vermehrung der charakterisierten Substanzen als auch der qualitativen Erweiterung der organisch-chemischen Theoriebildung. Seit etwa 1850 war als ein Resultat dieses Wissenszuwachses zu beobachten, dass eine Verbindungsklasse etwa 3–4 Jahrzehnte nach der prinzipiellen Strukturaufklärung ihres Grundkörpers als Ausgangsprodukt in die Arzneimittelherstellung transferiert wurde. Dies galt nicht nur im Fall des Chloralhydrats für die Aliphaten, sondern insbesondere für die verschiedenen Heterozyklen, wie das Beispiel der Barbiturate und Phenothiazine zeigte. Ein weiterer Faktor für die Entstehung neuer Psychopharmaka stellt das aus wissenschaftshistorischer Sicht äußerst bemerkenswerte Phänomen der sog. falschen Theorie dar. Liebreich ging nämlich von der Annahme aus, Chloralhydrat zerfalle im alkalischen Milieu des Blutes zu Chloroform, weshalb es als oral zu verabreichendes Anästhetikum sedierende und hypnotische Wirkungen entfalte. Die klinischen Erfolge schienen diese Hypothese zu bestätigen, die aufgrund der Einführung der Ätherinhalationsnarkose seit den 1840er Jahren eine hohe medizinische Aktualität und Plausibilität beanspruchen konnte. Obwohl die ursprüngliche Vermutung Liebreichs wenige Jahre später u. a. von Joseph von Mering durch den Nachweis der Ausscheidung eines Glukuronids von Chloralhydrat im Urin widerlegt wurde (Mering u. Musculus 1875), hatte sie sich für die Arzneimittelentwicklung als äußerst produktiv erwiesen. Dieser Vorgang dient häufig als historisches Beispiel für den vermeintlichen Widerspruch zwischen der praktischen Wirksamkeit eines Psychopharmakons einerseits und seiner »falschen« theoretischen Fundierung andererseits. Bei dieser Interpretation handelt es sich jedoch um eine präsentistische Betrachtungsweise ex posteriori: Relativ ältere pharmakologische Theorien werden regelmäßig durch neuere abgelöst, die dem jeweiligen Wissensstand der Grundlagenwissenschaften besser
. Abb. 2.1 Oscar Liebreich (1839–1908), der Begründer der modernen Psychopharmakologie (Max-Planck-Institut für Psychiatrie/Deutsche Forschungsanstalt für Psychiatrie, Historisches Archiv der Klinik, Photosammlung)
entsprechen. Liebreichs Hypothese war 1869 ebenso »richtig« oder »falsch« wie 120 Jahre später die Differenzierung von Serotonin- oder Dopaminrezeptorsubtypen zur Charakterisierung verschiedener Typen von Antipsychotika und Antidepressiva. Die Einführung von Chloralhydrat bildet aber nicht nur ein Modell für den Ablauf psychopharmakologischer Theoriediskussionen, sondern auch für die hiermit verbundenen Änderungen der Forschungsmethoden. Zwischen 1830 und 1860 setzte sich diesbezüglich der Tierversuch als Standard durch, wobei zunächst elementare Verhaltensweisen und physiologische Parameter beobachtet wurden, wie Vigilanz, Atemfrequenz, Körpertemperatur und Reflexe (Langjahr 1977). Liebreich überzeugte sich zunächst an Kaninchen und Fröschen von der hypnotischen und sedierenden Wirkung des Chloralhydrats und ermittelte eine ungefähre Letaldosis, bevor er in der Medizinischen und der »Irrenabtheilung« der Berliner Charité unter der Leitung von Rudolf Virchow und Carl Westphal mit den »therapeutischen Versuchen« begann. Hierbei bediente er sich noch überwiegend der kasuistischen Untersuchung. Ansätze zu kontrollierten klinischen Studien und zur statistischen Auswertung existierten zwar bereits seit dem Anfang des 19. Jahrhunderts, wurden aber erst nach dem Zweiten Weltkrieg endgültig zur Norm (Gerken 1977; Winau 1986). Aufgrund seiner Beobachtungen zahlreicher Einzelfälle empfahl Liebreich das Chloralhydrat ohne spezifische Indikation als nebenwirkungsarmes und sicheres Hypnotikum und Sedativum für alle »nervösen Affectionen«, insbesondere für psychisch Kranke. Das Präparat setzte sich in der Praxis trotz seines widerwärtigen Geschmacks als Novität rasch durch. Psychiater betonten v. a. die positiven Veränderungen auf den »Tobabtheilungen«, da Chloralhydrat eine Behandlung von psychomotorischen Erregungszuständen ermöglichte, die auf Alkaloide oder die damals weit verbreiteten Dauerbäder keine Besserung zeigten. Einerseits wurde bald deutlich, dass auch die synthetischen Medikamente keine kausale Therapie psychischer Störungen darstellten, andererseits trugen sie jedoch dazu bei, dass der kustodiale Charakter der Psychiatrie ganz allmählich in den Hintergrund trat. Darüber hinaus gab Chloralhydrat der klinischen Forschung neue Impulse. Für den damaligen Wissenschaftsbetrieb war eine ungewöhnliche Veröffentlichungstätig-
2
30
2
Kapitel 2 · Die moderne Psychopharmakologie aus wissenschaftshistorischer Sicht
keit zu verzeichnen: Schon in den ersten 2 Jahren nach der Markteinführung erschienen mehr als 300 einschlägige Aufsätze, was zur Bekanntheit des Medikaments in der Ärzteschaft erheblich beitrug (Hummel 1987, S. 77; Linde 1988, S. 63). Seitdem wurde die psychiatrische Fachliteratur immer häufiger von Arbeiten über Psychopharmaka bestimmt. Allerdings mehrten sich mit der breiten klinischen Anwendung auch die Publikationen über unerwünschte, teilweise gefährliche Wirkungen, hauptsächlich über kardio- und hepatotoxische Erscheinungen (Arndt 1872). Probleme der Dosissteigerung, des Wirkungsverlusts und des Entzugssyndroms, d. h. der Entwicklung einer iatrogenen Substanzabhängigkeit, wurden ebenfalls bereits nach kurzer Zeit beschrieben. Seit etwa 1880 überwog in der Fachliteratur die Meinung, dass aufgrund des »schnell eintretenden heftigen Verlangens« insbesondere bei »hysterischen Frauen« von einer Therapie chronifizierter psychischer Störungen mit Chloralhydrat dringend abzuraten sei (Rehm 1886). Unter Berücksichtigung der Terminologie ist dies durchaus mit den aktuellen Empfehlungen zu den Kontraindikationen etwa einer Benzodiazepinbehandlung vergleichbar. 4 Die Herkunft von Chloralhydrat aus der organischen Chemie, 4 seine therapeutische Einführung aufgrund der Übernahme des naturwissenschaftlichen Denkstils durch die Medizin, 4 die Probleme der theoretischen Beschreibung seines Wirkmechanismus, 4 die Prüfung im Tierversuch und in der klinischen Beobachtung, 4 die fluktuierende Umgrenzung seines Indikationsgebiets und 4 die Notwendigkeit der frühzeitigen Erkennung seiner unerwünschten Wirkungen zeigen insgesamt auf, dass sich wichtige und bis heute gültige Merkmale der modernen Psychopharmakologie bereits anhand der Markteinführung des ersten vollsynthetischen Sedativums beschreiben lassen. Darüber hinaus stellt sich jedoch die Frage, wie Psychiatrie und Pharmakologie als Wissenschaften auf die neuartigen Substanzen reagierten, die von der Industrie in immer größerer Zahl zur Verfügung gestellt wurden.
2.6
Industrie und Wissenschaft
Die moderne Psychopharmakologie, wie die heutige medikamentöse Therapie überhaupt, beruhte nicht nur auf dem Wandel wissenschaftlicher Konzepte, sondern auch auf der Entstehung chemisch-pharmazeutischer Großunternehmen. Mit der Ablösung der handwerklichen Herstellung in der Apotheke durch die chemische Verfahrenstechnik in der Fabrik vollzog sich in der Arzneimittelproduktion der Industrialisierungsprozess, der das 19. Jahrhundert insgesamt kennzeichnete. Damit gewann nicht nur das Medikament den Charakter eines Massenprodukts statt eines offizinell gefertigten Einzelstücks, sondern auch die wirtschaftliche Dimension der tradierten Rollen von Patient, Arzt, Apotheker und Forscher erhielt ein bis dahin unbekanntes Aus-
maß (Ridder 1990). Die Auswirkungen dieses Vorgangs erstrecken sich bis zu den gegenwärtigen Reformen des Gesundheitswesens. Die Entwicklung der Pharmazeutika zur Handelsware resultierte langfristig nämlich u. a. darin, dass 4 der Patient als Konsument durch eine immer restriktivere Gesetzgebung vor den tatsächlichen oder vermeintlichen Gefahren des Arzneimittelmarktes geschützt wurde, 4 die Unternehmen zur Sicherung ihrer steigenden Investitionen auf die Patentierung ihrer Herstellungsverfahren und pharmazeutischen Produkte drangen (Fleischer 1984), 4 die Ärzteschaft, teilweise auch Patienten, zum Ziel von ausgefeilten Werbemaßnahmen wurden und 4 eine erfolgreiche akademische Forschung ohne Kooperation mit der Industrie nicht mehr denkbar ist. Seit 1830 konzentrierte sich hauptsächlich in den Industrieregionen an Rhein und Main die Gründung der bis heute federführenden Firmen (Vershofen 1958). Nach 1945 gewannen allerdings Hersteller aus den USA und Japan in dem bis dahin von Frankreich und Deutschland dominierten Marktsegment zunehmende Bedeutung. Zunächst hatte die chemische Industrie ihre wesentlichen wirtschaftlichen Impulse aus der Nachfrage nach Teerfarben erhalten. Etwa ab 1880 kam jedoch die Herstellung von Pharmaka als weiterer wichtiger Ertragsfaktor hinzu: Zwischen 1869 und 1930 stieg die Zahl der im deutschen Arzneimittelhandel verfügbaren synthetischen Psychopharmaka von einem auf 54 (Pohlisch u. Panse 1934). Beide Produktbereiche waren nicht nur kommerziell eng verflochten; die Teerfarbengewinnung lieferte sowohl die für eine Arzneimittelherstellung im großen Maßstab notwendigen verfahrenstechnischen Voraussetzungen als auch die erforderlichen organischchemischen Ausgangssubstanzen. Ein aus der Sicht der Psychopharmakologie besonders eindrückliches Beispiel für die Bedeutung dieses Zusammenhangs bildet die als Methylenblaureaktion bekannte Synthese und Strukturaufklärung des Phenothiazingrundkörpers der späteren klassischen Antipsychotika, die der Heidelberger Chemiker August Heinrich Bernthsen 1883 im Rahmen einer Versuchsreihe der BASF über neue Alizarinfarben durchführte (Bernthsen 1883). Darüber hinaus wurde die Pharmakologie von der Farbstoffchemie auch auf theoretischer Ebene beeinflusst. Der deutsche Pathologe Paul Ehrlich gelangte 1878 in seiner Dissertation über die Färbung organischer Gewebe für histologische Untersuchungen zu dem Ergebnis, dass hier keine stöchiometrische Bindung vorliegen könne (Parascandola u. Jasensky 1974). In seiner Habilitationsschrift äußerte Ehrlich anhand des Problems der Farbstoffreduktion durch organische Gewebe die Vermutung, dass die Sauerstoffbindung nur an bestimmten lokalen Strukturen erfolgen könne. Die später als »Seitenkettentheorie« bekannte Hypothese stellte gemeinsam mit Emil Fischers Modellvorstellung von Schloss und Schlüssel für enzymatische Vorgänge eine wichtige ideengeschichtliche Voraussetzung der Rezeptorkonzepte dar (Travis 1989). Nach 1900 galt zumindest für Arzneimittel bereits die Theorie des non agunt, nisi fixata (Wassermann 1914).
31 2.6 · Industrie und Wissenschaft
Allgemein nahm die chemisch-pharmazeutische Industrie in der Arzneimittelforschung eine immer aktivere Rolle ein, mit der die Institutionalisierung der Pharmakologie als medizinische Disziplin an den Universitäten kaum Schritt halten konnte (Eulner 1970). Hierfür implementierten die einzelnen Firmen unterschiedliche organisatorische Modelle. Carl Duisberg errichtete etwa bei Bayer ein eigenes »pharmazeutisches Labor« und integrierte die Forschung in die Unternehmensleitung, während z. B. Hoechst und Schering die Kooperation mit herausragenden externen Wissenschaftlern wie z. B. Adolf Butenandt förderten (Wimmer 1994). Die konkrete Psychopharmakaentwicklung blieb jedoch trotz dieser Anstrengungen in weiten Teilen durch die Suche nach Derivaten bzw. Nachahmungspräparaten gekennzeichnet. Nach dem Modell des molecular roulette wurden – und werden – die Grundkörper von Medikamenten nachgebildet und modifiziert, die sich bereits als klinisch wirksam und kommerziell erfolgreich erwiesen haben. Auf diese Weise folgten auf Chloralhydrat zahlreiche, inzwischen längst vergessene Präparate, wie z. B. das unter dem Handelsnamen Isopral seit 1903 von Bayer vertriebene Trichlorisopropanolol (Impens 1903). Die regelmäßig erfolgte Ankündigung einer besseren Verträglichkeit und geringerer Nebenwirkungen wurde durch die praktischen Erfahrungen häufig widerlegt. Die sulfonierten aliphatischen Sedativa lösten z. B. einen der ersten Arzneimittelskandale aus, nachdem eine von Sulfonal verursachte Porphyrie u. a. zum Tod einer Patientin Sigmund Freuds geführt hatte (Voswinckel 1988). Lediglich Paraldehyd, das Trimerisat von Acetaldehyd, wurde wegen seiner guten Verträglichkeit von Klinikern wie Emil Kraepelin als genuine Verbesserung empfohlen (Kraepelin 1892). Derivate und Nachahmungspräparate spielen in der Psychopharmakotherapie nach wie vor eine große Rolle. Sowohl die pharmakologische als auch die psychiatrische Theoriebildung blieb dabei lange Zeit hinter dem praktischen Erfolg zurück. Die Deutung kam über Vermutungen zu Struktur-Wirkungs-Beziehungen nicht hinaus und drang selten zu physiologischen Modellen vor. Die um 1900 entstandene Theorie von Hans Meyer und Ernst Overton brachte die sedierende Wirkung einer Substanz mit ihrer Lipidlöslichkeit in Zusammenhang (Overton 1901), während der in Straßburg tätige Pharmakologe Ernst Schmiedeberg in seiner Lehre von der »Fettstoffreihe« die strukturelle Anordnung der Alkoholgruppen und der Sauerstoffatome als entscheidend erachtete (Schmiedeberg 1883). Langfristig größere Bedeutung erlangten die Seitenkettentheorie von Paul Ehrlich sowie die Schlossund-Schlüssel-Theorie von Emil Fischer, die eine lokalisierbare Arzneimittelwirkung nahelegten und die späteren Rezeptorkonzepte vorbereiteten. Jedoch existierten zahlreiche Medikamente, deren Effekte durch solche Vorstellungen nicht erklärt werden konnten, wie etwa die seit den 1860er Jahren in der Epilepsieund Neurastheniebehandlung gebräuchlichen Bromide (Balme 1976). Schmiedebergs Zusatzhypothese, dass Amidgruppen die Atem- und Kreislauffunktion stimulieren und deshalb unerwünschte Wirkungen verhindern, lenkte die Aufmerksamkeit auf Harnstoffderivate und führte zu zahlreichen Präparaten auf
der Basis von Carbaminsäureestern (Schmiedeberg 1886). Noch in den 1950er Jahren wurde mit Meprobamat ein CarbamatTranquilizer entwickelt, der sich jedoch gegen die Benzodiazepine nicht mehr durchsetzen konnte (Koppanyi 1983). Diese Forschungsrichtung führte schließlich auch zu den Barbituraten. Joseph von Mering, Direktor der Medizinischen Klinik in Halle, erkannte in der von Emil Fischer 1902 aus Diethylmalonsäure und Harnstoff mittels Alkoholaten synthetisierten Barbitursäure – nach seiner retrospektiven Darstellung – ein »geeignetes« Sedativum, da es ein »mit mehreren Aethylgruppen beladenes und tertiär oder quaternär gebundenes Kohlenstoffatom« enthielt (Fischer u. Mering 1903, S. 97). Bayer und Merck führten das Präparat unter dem Handelsnamen Veronal ein Jahr später ein, obwohl Experten von vornherein erhebliche Bedenken wegen der geringen therapeutischen Breite geäußert hatten (Weber 1999). Nicht zuletzt infolge der steigenden Zahl von Suiziden und der Missbrauchsproblematik wurden die Barbiturate und damit die psychotropen Arzneimittel insgesamt in der Zeit zwischen den Weltkriegen zu einem öffentlichen und literarischen Thema, wie etwa in Arthur Schnitzlers Novelle Fräulein Else. Für die neue Substanzklasse sprach aber nicht nur der im Vergleich zu den bisherigen Sedativa angenehme Geschmack, sondern v. a. der Umstand, dass damit erstmals eine kausal orientierte Therapie mit hoher Wirksamkeit für Epilepsien zur Verfügung stand, die damals noch zu den psychiatrischen Erkrankungen gerechnet wurden (Hauptmann 1912). Dies förderte die Akzeptanz psychotroper Arzneimittel in der Ärzteschaft erheblich, insbesondere in den psychiatrischen Kliniken. Für die zeitgenössische Theoriebildung der Psychiatrie, die einerseits durch elaborierte nosologische Überlegungen, andererseits durch die ätiologischen Spekulationen der Entartungslehre bestimmt war, spielten klinisch-pharmakologische Beobachtungen dagegen eine geringere Rolle. Der nach Karl Jaspers »unendliche Bezirk« zwischen der somatischen Ebene, der Funktionsweise einer psychotropen Substanz und der psychischen Symptomatik erschien unüberbrückbar (Jaspers 1973), eine spezifische Beeinflussung komplexer psychopathologischer Syndrome nahezu undenkbar. Die gängigen Unterrichtswerke räumten den Arzneimitteln daher im Vergleich zur Hydrotherapie oder zu den sozialpsychiatrischen Maßnahmen der »aktiven Krankenbehandlung« nur eine untergeordnete Rolle ein. Das damals weit verbreitete, 802 Seiten umfassende Lehrbuch der Psychiatrie von Theodor Ziehen äußerte sich etwa nur auf 4 der 22 Seiten über »allgemeine Therapie« zu den pharmakologischen Methoden (Ziehen 1908). Auch für Emil Kraepelin, der in der Literatur häufig als der wichtigste Initiator der modernen psychopharmakologisch-klinischen Forschung genannt wird, stand bei seinen Untersuchungen psychotroper Arzneimittel keineswegs eine therapeutische Intention im Vordergrund, sondern die Rolle als modifizierende Versuchsbedingung im Sinne einer pharmakologischen Experimentalpsychologie (Kraepelin 1883).
2
2
32
Kapitel 2 · Die moderne Psychopharmakologie aus wissenschaftshistorischer Sicht
2.7
Chlorpromazin, Imipramin und die biologische Psychiatrie
Die zeitliche Distanz zur Entstehung der Phenothiazin- und Butyrophenon-Antipsychotika, der trizyklischen Antidepressiva und der hieraus abgeleiteten neuesten Psychopharmaka ist noch gering. Schon deshalb bleibt jeder Versuch einer historischen Beschreibung oder gar Bewertung vorläufig. Hinzu kommt, dass aufgrund der Vielzahl der beteiligten Ideen, Institutionen und Personen lineare Darstellungen den tatsächlichen Abläufen des modernen Wissenschaftsbetriebs nicht mehr entsprechen. Nachfolgend können daher nur einige der entscheidenden Faktoren benannt werden. Zunächst hatten die in der Zeit zwischen den Weltkriegen entwickelten nichtpharmakologischen Behandlungsmethoden, insbesondere die Insulinkur und der Elektrokrampf, die Psychiatrie zunehmend mit dem Gedanken vertraut gemacht, dass eine Therapie schwerer psychischer Störungen durch somatische Verfahren überhaupt möglich ist. Die von Jakob Klaesi entwickelte »Dauerschlafkur« (Klaesi 1921), die u. a. bei schizophrenen Psychosen mittels eines Barbituratgemisches durchgeführt wurde, war dabei trotz ihrer gefährlichen Komplikationen eine bedeutende Übergangsform zwischen psychotherapeutischen, pharmakologischen und somatischen Behandlungsmethoden. Die entscheidende Rolle der Farbstoffchemie bei der Synthese des Phenothiazingrundkörpers wurde bereits erläutert. Der Psychiater Pietro Bodoni berichtete bereits um 1900 anhand von 14 Kasuistiken über einen positiven Einfluss von Methylenblau auf paranoide und manische Syndrome (Bodoni 1899). Das Fehlen jeglicher Resonanz auf diese Veröffentlichung liefert ein anschauliches Beispiel dafür, dass weder die Feststellung noch die Beschreibung eines neuartigen Behandlungseffekts allein genügt, um eine therapeutische Innovation durchzusetzen. Eine derartige Beobachtung sollte nicht nur aus einer renommierten Institution stammen, sondern auch aus theoretischer Sicht eine plausible Erweiterung des vorhandenen Arzneischatzes darstellen. Die Publikation eines unbekannten italienischen Arztes über den sedativen Effekt eines Teerfarbenderivats erfüllte in Anbetracht der großen Zahl der damals bereits vorhandenen einschlägigen Präparate keine der Voraussetzungen. Allerdings verschwand Methylenblau seitdem z. B. als Anthelminthikum niemals völlig aus dem Arzneischatz (Campbell et al. 1934). Maßgeblich wurde jedoch die Entwicklungslinie, die von den frühen Rezeptorkonzepten nach 1870 zu den Antihistaminika der 1940er Jahre führte. Der englische Mediziner John Newport Langley beobachtete 1878 einen physiologischen Antagonismus der Alkaloide Atropin und Pilocarpin an der Speicheldrüse der Katze und nahm daher für beide Substanzen eine identische zelluläre Wirkungsstelle an, nachdem bereits ein Jahr vorher der deutsche Physiologe Emil DuBois-Reymond eine chemische Transmission der nervalen Aktion vorgeschlagen hatte (Langley 1878). Dieses Gebiet wurde in den folgenden Jahrzehnten zu einem zentralen Forschungsthema der Physiologie. Aufgrund der Studien von Henry Dale, Walter Cannon, Charles Richet, Otto Loewi u. a. waren in den 1930er Jahren Acetylcholin, Adrenalin und Histamin nicht nur strukturell auf-
geklärt, sondern auch ihre physiologischen Funktionen bekannt, insbesondere beim anaphylaktischen Schockzustand und der Allergie (Kohl 1997; Swazey 1974, S. 37). Diese Kenntnisse veranlasste David Bovet und seine Mitarbeiter am Pariser Institut Pasteur, nach potenziellen Antihistaminika zu suchen, wobei sie sich näher mit Phenolethern und aromatischen Aminen befassten (Staub u. Bovet 1937). Hieraus ging 1942 das von der Firma Specia bzw. Rhône-Poulenc hergestellte Phenbenzamin hervor (Halpern 1942). Obwohl die Sedierung durch die neuen Antihistaminika unübersehbar war, verhinderte der vorherrschende medizinische Denkstil zunächst eine Erweiterung ihres Indikationsgebietes auf die Psychiatrie. Infolge der bekannten anthelminthischen Eigenschaften von Methylenblau analysierte Paul Charpentier, ebenfalls pharmazeutischer Chemiker bei Rhône-Poulenc, ab 1944 verschiedene Phenothiazine als eventuelle Malariatherapeutika. Die von ihm hergestellten Substanzen, v. a. Promethazin, zeigten wiederum nicht nur antihistaminische, sondern auch deutliche sedierende Eigenschaften (Charpentier 1947) (. Abb. 2.2). Diese Ergebnisse führten zu einer eingehenden Untersuchung der zentralnervösen Effekte der Phenothiazine. An ein Antipsychotikum dachte allerdings nach wie vor niemand, obwohl in einem firmeninternen Memorandum vom Oktober 1950 neben der Anästhesie auch die Psychiatrie als denkbares Indikationsgebiet genannt wurde. Vielmehr stand zunächst die Optimierung der Narkose im Vordergrund, nachdem Ende der 1950er Jahre der französische Militärchirurg Henri Laborit bei Rhône-Poulenc ein Phenothiazin mit starken zentralen Eigenschaften für die von ihm entwickelte »potenzierte Anästhesie« angefordert hatte (Laborit 1950, 1996). Die tatsächliche Bedeutung Laborits für die Entwicklung der Phenothiazin-Antipsychotika ist umstritten (Caldwell 1970; Swazey 1974); zweifellos stellte sein Konzept der hibernation artificielle und des stabilisateur végétatif jedoch eine wichtige ideengeschichtliche Verbindung zur Anästhesie und Dauerschlafbehandlung her, was sich für die Psychopharmakologie schon mehrfach als fruchtbar erwiesen hatte (Laborit 1951; Laborit et al. 1952). Aus der nachfolgenden Syntheseserie ging im Dezember 1950 Chlorpromazin hervor, bei dem die »ataraktischen« die antihistaminischen Effekte deutlich überwogen (Charpentier et al. 1952). Aufgrund dieser medizinisch und kommerziell aussichtsreichen Feststellungen begannen die Prüfungen an Patienten. Bereits im Mai 1952 berichteten die Pariser Psychiater Jean Delay und Paul Deniker über spektakuläre und völlig unerwartete Behandlungserfolge bei manischen und paranoid-halluzinatorischen Syndromen (Delay et al. 1952). Obwohl viele Psychiater zunächst skeptisch blieben, verdrängten die offensichtlichen Erfolge von Chlorpromazin binnen weniger Jahre die bisherigen nichtpharmakologischen Verfahren. Bis 1955 konnten die Ergebnisse Delays und Denikers in wenigstens 10 Studien reproduziert werden (Cowden et al. 1955). Die geradezu revolutionären Konsequenzen für die gesamte klinischpsychiatrische Behandlung, auch in sozialpsychiatrischer Hinsicht (Staehelin 1953), zeichneten sich rasch ab. Einerseits waren die Antipsychotika zwar nicht als Resultat eines zielgerichteten Innovationsprozesses entstanden, andererseits beruhten sie
33 2.7 · Chlorpromazin, Imipramin und die biologische Psychiatrie
zweifellos auf den keineswegs zufälligen institutionellen und theoretischen Voraussetzungen der damaligen pharmakologischen und physiologischen Forschung. Es verwundert daher nicht, dass auch nach der Markteinführung von Chlorpromazin jene Mechanismen der Arzneimittelentwicklung zutage traten, die bereits anhand von Chloralhydrat identifiziert werden konnten. Einer davon, das Nachahmungspräparat, erschloss den neuen Substanzen den Indikationsbereich der depressiven Störungen. Anfang der 1950er Jahre engagierte sich auch die Basler Firma Geigy nach dem Vorbild der französischen Konkurrenz im Bereich der sedierend wirkenden Antihistaminika. Nicht zuletzt aus patentrechtlichen Gründen griff Geigy dabei auf die seit 1898 bekannten Benzazepine zurück, die sich durch den mittleren 7-gliedrigen N-Heterozyklus hinreichend von den Phenothiazinen unterschieden. Im Rahmen dieses Syntheseprogramms stellte der Chemiker Walter Schindler bereits im August 1949 Imipramin her, das große Strukturähnlichkeiten zu dem mehr als ein Jahr später synthetisierten Chlorpromazin aufwies. Da die klinische Prüfung der Benzazepine, die u. a. der Psychiater Roland Kuhn leitete, zunächst auf antihistaminische und sedierende Effekte ausgerichtet war, blieben die vermuteten Resultate aus (Weber 1999, S. 163). Nach der Ausbietung von Chlorpromazin forderte Kuhn bei Geigy die Prüfungssubstanzen mit »Largactil-Wirkung« allerdings nochmals an, wofür nicht zuletzt der hohe Preis dieses Antipsychotikums verantwortlich war. Während der erneuten klinischen Beobachtung zeigte Imipramin zwar nicht die erhoffte antipsychotische Wirkung, jedoch machten im Januar 1956 die Abteilungsärztin und die Stationsschwester Kuhn auf einen überraschenden stimmungsaufhellenden Effekt bei einer schizodepressiven Patientin aufmerksam. Kuhn erklärte den Umstand, dass er seine klinischen Studien nicht nur auf schizophrene Patienten beschränkte, rückblickend mit einer umfassenden psychopathologischen Betrachtungsweise in der Tradition von Karl Jaspers und Kurt Schneider (Kuhn 1957). Wie im Falle Laborits (s. oben) existieren allerdings auch hier über die Verantwortlichkeiten und den genauen Ablauf der Entscheidungen unterschiedliche Darstellungen (Broadhurst 1998; Healy 1997, S. 52; Weber 1999, S. 165). Weitaus wichtiger als die Frage der Entdeckungsprioritäten war jedoch die Tatsache, dass sowohl die Antipsychotika als auch die Antidepressiva nicht das Resultat einer bereits existierenden psychopharmakologischen Forschung bildeten, sondern diese erst anstießen. Die Wirkungen der Medikamente konnten durch die theoretischen Modelle der akademischen Psychiatrie der 1950er Jahre, die von existenzialphilosophischen Einflüssen geprägt war, nicht mehr befriedigend beschrieben werden (Ditfurth 1961). Für die rasche Verbreitung neuen Psychopharmaka spielte die damalige Gesamtsituation der Psychiatrie in den 1950er Jahren, insbesondere die nach wie vor beschränkten Möglichkeiten der klinischen Therapie, eine wichtige Rolle. Obwohl der Effekt von Arzneimitteln sicherlich einer kulturellen und sozialen Interpretation und Überformung unterliegt (Balz 2010), zeichneten sich die neuen psychotropen Substanzen im Unterschied zu den tradierten Arzneimitteln nicht zuletzt da-
. Abb. 2.2 Französisches Werbeplakat für Chlorpromazin aus den 1950er Jahren, das die wirkungsverstärkende Eigenschaft von Chlorpromazin in der Anästhesie herausstellt (Fa. Aventis/Rhône-Poulenc)
durch aus, dass sie ein überprüfbares naturwissenschaftliches Verständnis psychischer Krankheiten in Aussicht stellten. Der Begriff der »biologischen Psychiatrie« im heutigen Sinne erschien erstmals 1953 in der amerikanischen Literatur (Bennett 1953). Nach der Einführung von Chlorpromazin setzte bald die internationale Institutionalisierung der neuen Forschungsrichtung ein (Ban u. Ray 1996): 1957 wurde das Collegium Internationale Neuro-Psychopharmacologum (CINP) gegründet, ein Jahr später initiierte Dieter Bente im deutschen Sprachraum die Gründung der Arbeitsgemeinschaft für Neuropsychopharmakologie (AGNP). Wissenschaftlich richtungweisend waren zunächst die Untersuchungen der von Bernhard B. Brodie am National Institute of Mental Health geleiteten Arbeitsgruppe über die Veränderungen des zentralen Dopaminstoffwechsels durch Reserpin (Brodie et al. 1957), des Hauptalkaloids von Rauwolfia serpentina. Die antipsychotische Wirkung dieser Pflanze soll bereits in der ayurvedischen Medizin bekannt gewesen sein (Kähler 1970; Sen u. Bose 1931). Indische Ärzte hatten seit den 1930er Jahren darüber hinaus auf extrapyramidalmotorische Nebenwirkungen der Reserpintherapie hingewiesen, die seit 1953 auch für Chlorpromazin beschrieben wurden (Staehelin 1953, S. 360, 368). Die Vermutung eines physiologischen Zusammenhangs mit den Ef-
2
34
2
Kapitel 2 · Die moderne Psychopharmakologie aus wissenschaftshistorischer Sicht
fekten der Antipsychotika erhärteten Herbert Ehringer und Oleh Hornykiewitz (1960) durch den Post-mortem-Nachweis eines signifikant erniedrigten Dopamingehalts im Nucleus caudatus von Parkinson-Patienten. Arvid Carlsson und Margit Lindqvist wiesen schließlich 1963 nach, dass gewisse Antipsychotika die Konzentration von Dopaminmetaboliten im Gehirn deutlich erhöhen, jedoch nicht die von Dopamin. Dieses zunächst paradoxe Ergebnis erklärte Carlsson mit der Hypothese, dass Antipsychotika eine Blockade der durch Dopamin vermittelten zentralnervösen Signalübertragung verursachen (Carlsson u. Lindqvist 1963). Diese Feststellung wurde zur Grundlage der Dopaminhypothese der Schizophrenie. Parallel dazu formulierten Joseph Schildkraut und Alec Coppen die Noradrenalin- bzw. Serotoninhypothese der Depression (Coppen 1967; Schildkraut 1965). Obwohl etwa Manfred Bleuler bereits 1956 auf die erkenntnistheoretische Problematik der ätiologischen Theoriebildung ex juvantibus hingewiesen hatte, beeinflusste dieser methodische Ansatz die weitere Forschung erheblich. Peter Greengard wies 1972 die Blockierung der dopamininduzierten cAMP-Stimulierung durch einige Antipsychotika nach (Greengard et al. 1972). Die direkte Identifizierung der Dopaminrezeptoren durch Bindungsstudien von Solomon Snyder und Philipp Seeman leitete schließlich zu den neurobiologischen Konzepten der Gegenwart über (Seeman u. Lee 1976).
2.8
Neue »Serendipities« nach alten Strategien?
Die psychiatrische Pharmakotherapie war in den vergangenen 150 Jahren von erheblichen Wandlungen in Theorie und Praxis gekennzeichnet. Die Ausbietung der zahlreichen Psychopharmaka, die ihre Entstehung diesem Prozess verdanken, scheint sämtliche Zweifel am Erfolg der zugrunde liegenden Konzepte zu widerlegen. Dennoch stellt sich die Frage nach ihrer zukünftigen Tragweite. Tatsächlich ist es heute kaum mehr vorstellbar, dass ein Antipsychotikum wie Haloperidol als Ergebnis eines Syntheseprogramms für Propylaminanalgetika entsteht (Janssen et al. 1959) oder dass ein Phasenprophylaktikum wie Lithium durch die naturphilosophisch anmutenden Spekulationen eines wissenschaftlichen Außenseiters über eine Autointoxikation durch Harnsäure bei Manien identifiziert wird (Cade 1949; Schioldann u. Berrios 2009). Die innovative Potenz der Strategien, welche die Psychopharmakaentwicklung in den vergangenen 5 Jahrzehnten leiteten, erscheint begrenzt, obwohl durch das Zusammenwirken der Forschung in Klinik und Industrie weiterhin erfolgreiche Indikationsgebiete erschlossen wurden, z. B. für die SSRI im Bereich der Angsterkrankungen. Wie vor 150 Jahren dürften stattdessen neue Anstöße aus den Grundlagenfächern erforderlich sein, nunmehr z. B. aus der Humangenetik oder der Neuroendokrinologie. Die »unerwarteten Zufälle« werden dabei auch in Zukunft nur dann eintreten, wenn in Klinik und Labor Erfolg versprechende Beobachtungen trotz sich widersprechender theoretischer Überlegungen weiterverfolgt und die Offenheit für eine grundsätzliche Erweiterung
des gängigen Denkstils gefördert werden. Zuletzt sollte die zeitliche Dimension wissenschaftshistorischer Abläufe beachtet werden: Vergleicht man die wenigen Jahrzehnte, die seit der Einführung von Chloralhydrat und Chlorpromazin vergangen sind, etwa mit der bereits Jahrhunderte umfassenden Entwicklung der Chirurgie, so besteht aus wissenschaftshistorischer Perspektive kein Anlass zur Annahme, dass die moderne Psychopharmakologie nicht zu weiteren entscheidenden Innovationen fähig wäre.
Literatur Angermeyer MC (1994) Einstellung der Bevölkerung zu Psychopharmaka. In: Naber D, Müller-Spahn F (Hrsg) Clozapin, Pharmakologie und Klinik eines atypischen Neuroleptikums. Springer, Berlin Heidelberg New York, S 113–124 Arndt R (1872) Wirkungen des Chloralhydrats. Arch Psychiatrie Nervenkrankh 3: 673–696 Arnold W, Eysenk J, Meili R (1980) Lexikon der Psychologie. Herder, Freiburg Balme RH (1976) Early medicinal use of bromide. J R C Phys 10: 205–208 Balz V (2010) Zwischen Wirkung und Erfahrung – Eine Geschichte der Psychopharmaka. transcript, Bielefeld Ban TA, Ray OS (1996) A history of the CINP. JM Productions, Brentwood, TN Ban TA, Healy D, Shorter E (1998) The rise of psychopharmacology and the story of CINP. Animula, Budapest Bangen HC (1992) Geschichte der medikamentösen Therapie der Schizophrenie. Verlag für Wissenschaft und Bildung, Berlin Bennett AE (1953) Biological psychiatry. Am J Psychiatry 110: 244–252 Benkert O (1995) Psychopharmaka. Medikamente – Wirkungen – Risiken. Beck, München Benkert O, Kepplinger HM, Sobota K (1995) Psychopharmaka im Widerstreit. Eine Studie zur Akzeptanz von Psychopharmaka und zur Darstellungen in den Medien. Springer, Berlin Heidelberg New York Bernthsen AH (1883) Zur Kenntnis des Methylenblau und verwandter Stoffe. Ber Dt Chem Ges 16: 1025–1028 Bleuler M (1956) Psychiatrische Irrtümer in der Serotonin-Forschung. Dt Med Wochenschr 81: 1078–1081 Bodoni P (1899) Dell’ azione sedativa del bleu di metilene in varie formi di psicosi. Clin Med Ital [Archivio Italiano di Clinica Medica] 38: 217–222 Broadhurst AD (1998) The discovery of imipramine from a personal viewpoint. In: Ban TA, Healy D, Shorter E (eds) The rise of psychopharmacology and the CINP. Animula, Budapest, pp 69–75 Brodie BB, Olin JS, Kuntzman RG, Shore PA (1957) Possible inter-relationship between release of brain norepinephrine and serotonin by reserpine. Science 125: 1293–1294 Cade, JFC (1949) Lithium salts in the treatment of psychotic excitement. Med J Austral 36: 349–352 Caldwell AE (1970) Origins of psychopharmacology (American Lecture Series, 777). From CPZ to LSD. Thomas, Springfield, IL Cammann SVR (1967) Christopher the Armenian and the Three Princes of Serendip. Comp Lit Stud (Urbana) 4: 229–258 Campbell FL, Sullivan WN, Smith LE, Haller HL (1934) Insecticidal tests of synthetic organic compounds – chiefly test of sulfur compounds against culicine mosquito larvae. J Econ Entomol 27: 1176–1185 Carlsson A, Lindqvist M (1963) Effect of chlorpromazine or haloperidol on formation of 3-methoxytyramine and normetanephrine in mouse brain. Acta Pharmacol Toxicol 20: 140–144 Carlsson A, Corrodi H, Fuxe K, Hökfelt T (1969) Effect of antidepressant drugs on the depletion of intraneuronal brain 5-hydroxytryptamine stores caused by 4-methyl-alpha-ethyl-meta-tyramine. Eur J Pharmacol 5: 357–366 Charpentier P (1947) Sur la constitution d’une diméthylamino-propyl-Nphénothiazine. C R Hebd S Acad Sci 225: 306–308
35 Literatur
Charpentier P, Gailliot P, Jacob R et al (1952) Recherches sur les diméthylaminopropyl-N-phénothiazines substituées. C R Hebd S Acad Sci 235: 59– 60 Coppen A (1967) The biochemistry of affective disorders. Br J Psychiatry 113: 1237–1264 Cowden RC, Zax M, Hague J, Finney RC (1955) Chlorpromazine: alone and as an adjunct to group psychotherapy in the treatment of psychiatric patients. Am J Psychiatry 112: 898–902 Cunningham A, Williams P (1992) The laboratory revolution in medicine. Cambridge University Press, Cambridge Delay J, Deniker P, Harl JM (1952) Utilisation thérapeutique psychiatrique d’une phénothiazine d’action centrale élective. Ann Médico-Psychol 110: 112–117 Ditfurth H (1961) Zur Problemlage der Pharmakopsychiatrie. In: Achelis JD, Ditfurth H (Hrsg) Befinden und Verhalten. Verhaltensphysiologische und anthropologische Grundlagen der Psychopharmakologie (Starnberger Gespräche 1960). Thieme, Stuttgart, S 36–50 DiMiasi JA, Lasagna L (1995) The economics of psychotropic drug development. In: Bloom FE, Kupfer DJ (eds) Psychopharmacology. The fourth generation of progress. Raven, New York, pp 1883–1895 Ehringer H, Hornykiewitz O (1960) Verteilung von Noradrenalin und Dopamin (3-Hydroxytyramin) im Gehirn des Menschen und ihr Verhalten bei Erkrankungen des extrapyramidalen Systems. Klin Wochenschr 38: 1236–1239 Engelken F (1851) Die Anwendung des Opiums in Geisteskrankheiten und einigen verwandten Zuständen. Allg Z Psychiatrie 8: 393–434 Eulner HH (1970) Die Entwicklung der medizinischen Spezialfächer an den Universitäten des deutschen Sprachgebietes. Enke, Stuttgart Fleck L (1935) Entstehung und Entwicklung einer wissenschaftlichen Tatsache. Einführung in die Lehre vom Denkstil und Denkkollektiv. Schwabe, Basel Fischer E, Mering J (1903) Über eine neue Klasse von Schlafmitteln. Therapie der Gegenwart 44: N.F. 5, 97–100 Fleischer A (1984) Patentgesetzgebung und chemisch-pharmazeutische Industrie im deutschen Kaiserreich, 1871–1918 (Quellen und Studien zur Geschichte der Pharmazie, 25). Deutscher Apotheker-Verlag, Stuttgart Gerken G (1977) Zur Entwicklung des klinischen Arzneimittelversuchs am Menschen. Dissertation, Universität Mainz Greengard P, McAfee DA, Kebabian JW (1972) On the mechanism of action of cyclic AMP and its role in synaptic transmission. Adv Cycl Nucleotide Res 1: 337–355 Griesinger W (1867) Die Pathologie und Therapie der psychischen Krankheiten für Aerzte und Studirende, 2. Aufl. Krabbe, Stuttgart Gross H, Langner E (1966) Das Wirkungsprofil eines chemisch neuartigen Breitband-Neuroleptikums der Dibenzodiazepingruppe. Wien Med Wochenschr 116: 614 Hall F (1997) Psychopharmaka – Ihre Entwicklung und klinische Erprobung. Zur Geschichte der deutschen Pharmakopsychiatrie von 1844 bis 1952. Kovac, Hamburg Halpern BN (1942) Les antihistaminiques de synthèse. Essais de chimiothérapie des états allergiques. Arch Int Pharmacodynamie 68: 339–408 Hauptmann A (1912) Luminal bei Epilepsie. Münch Med Wochenschr 59: 1907–1912 Healy D (1997) The antidepressant era. Harvard University Press, Cambridge, MA Healy D (2002) The creation of psychopharmacology. Harvard University Press, Cambridge, MA Heinroth JCA (1818) Lehrbuch der Störungen des Seelenlebens oder der Seelenstörungen und ihrer Behandlung. Zwey Theile. Vogel, Leipzig Hofmann A (1979) Planung und Zufall in der pharmazeutischen Forschung. Sandoz Bull 15: 50 Huber E (1993) Liebe statt Valium. Plädoyer für ein neues Gesundheitswesen. Argon, Berlin Hummel S (1987) Zur medikamentösen Therapie in der Psychiatrie in den Jahren 1844 bis 1914. Eine Analyse anhand deutschsprachiger psychiatrischer Fachzeitschriften. Dissertation, Universität Leipzig Impens E (1903) Pharmakologisches über ein neues Schlafmittel, das Isopral. Ther Monatshefte 17: 469–475, 533–541
Jacobi M (1844) Die Hauptformen der Seelenstörungen in ihren Beziehungen zur Heilkunde nach der Beobachtung geschildert. Weidmann, Leipzig Janssen PAJ, Westeringh C, Jageneau AHM (1959) Chemistry and pharmacology of CNS depressants related to 4-(4-hydroxy-4-phenylpiperidine)but yrophenone. Part I: synthesis and screening data in mice. J Med Pharm Chem 1: 281–297 Jaspers K (1973) Allgemeine Psychopathologie, 9. Aufl. Springer, Berlin Heidelberg New York Jütte R (2001) Naturheilkunde. In: Bucholz K, Latocha R, Peckmann H, Wolbert K (Hrsg) Die Lebensreform. Entwürfe zur Neugestaltung von Leben und Kunst um 1900, Bd 1. Häusser, Darmstadt, S 387–390 Kähler HJ (1970) Rauwolfia Alkaloide. Eine historische, pharmakologische und klinische Studie. Boehringer, Mannheim Kant I (1977) Aus Sömmering über das Organ der Seele (Schriften zur Anthropologie, Geschichtsphilosophie, Politik und Pädagogik, I). Suhrkamp, Frankfurt/M Klaesi J (1921) Über Somnifen, eine medikamentöse Therapie schizophrener Aufregungszustände. Schweiz Arch Neurol Psychiatrie 8: 131–134 Kohl F (1997) Henry Hallett Dale (1875–1968). Pionier der Neuropharmakologie und Transmitterforschung. Nervenheilkunde 16: 566–570 Koppanyi T (1983) Sleep and hypnotics. In: Parnham MJ, Bruinvels J (eds) Discoveries in pharmacology. Vol 1: Psycho- and neuropharmacology. Elsevier, Amsterdam, pp 423–446 Kraepelin E (1883) Über die Einwirkung einiger medicamentöser Stoffe auf die Dauer einfacher psychischer Vorgänge. [Wilhelm Wundt’s] Philosophische Studien 1: 417–462 Kraepelin E (1892) Über die centrale Wirkung einiger Arzneimittel. Arch Psychiatrie Nervenkrankh 24: 641–642 Kramer S (1993) Listening to Prozac. Viking, New York Kuhn R (1957) Über die Behandlung depressiver Zustände mit einem Iminodibenzylderivat (G 22355). Schweiz Med Wochenschr 87: 1135–1140 Kuhn TS (1962) The structure of scientific revolutions. Chicago University Press, Chicago, IL Laborit H (1950) Le phénomène de potentialisation des anesthétiques généraux. La Presse Médicale 58: 416 Laborit H (1951) L‘hibernation artificielle. Acta Anaesthesiol Belg 2: 710–715 Laborit H (1996) Founding members. Personal accounts. In: Ban TA, Ray OS (eds) A History of the CINP. Brentwood, TN, pp 218–221 Laborit H, Huguenard P, Alluame R (1952) [Actualités thérapeutiques:] Un nouveau stabilisateur végétatif (Le 4560 RP). La Presse Médicale 60: 206–208 Langjahr HG (1977) Der pharmakologische Tierversuch in der deutschen Fachliteratur 1830–1860. Dissertation, Universität Mainz Langley JN (1878) On the physiology of the salivary secretion. Part II. On the mutual antagonism of atropin and pilocarpin, having especial reference to their relations in the submaxillary gland of the cat. J Physiol 1: 339– 369 Lassen N (1988) Die Geschichte der Thioxanthene In: Linde O (Hrsg) Pharmakopsychiatrie im Wandel der Zeit. Tilia, Klingenmünster, S 170–183 Leibbrand W, Wettley A (1961) Der Wahnsinn. Geschichte der abendländischen Psychopathologie (Orbis Academicus II/12). Karl Alber, Freiburg Leibrock E (1998) Die medikamentöse Therapie psychisch Kranker in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Eine Untersuchung am Beispiel der pfälzischen Heil- und Pflegeanstalt Klingenmünster (Monographien zur Geschichte der Pharmazie, 1). Palatina, Heidelberg Leonard BE (1994) Biochemical strategies for the development of antidepressants. CNS Drugs 1: 285–304 Liebig J (1832) Über die Verbindungen, welche durch die Einwirkung des Chlors auf Alkohol, Aether, ölbildendes Gas und Essiggeist entstehen. [Justus Liebigs] Annalen der [Chemie und] Pharmazie 1: 182–220 Liebreich O (1869) Das Chloralhydrat, ein neues Hypnoticum und Anaestheticum und dessen Anwendung in der Medicin. Eine Arzneimitteluntersuchung. Müller, Berlin Liebreich O, Langgaard A (1896) Compendium der Arzneiverordnung, 4. Aufl. Fischer, Berlin Lewis WS (1960) The Yale edition of Horace Walpole’s correspondence, vol 20. Oxford University Press, London
2
36
2
Kapitel 2 · Die moderne Psychopharmakologie aus wissenschaftshistorischer Sicht
Linde OK (1988) Pharmakopsychiatrie im Wandel der Zeit. Erlebnisse und Ergebnisse. Tilia, Klingenmünster Macht DI (1920) Contributions to psychopharmacology. Johns Hopkins Hosp Bull 31: 167–173 Meggendorfer F (1950) Allgemeine und spezielle Therapie der Geistes- und Nervenkrankheiten. Wissenschaftliche Verlagsgesellschaft, Stuttgart Mering J, Musculus FA (1875) Sur un nouveau corps qu’on trouve dans l’urine après l’injection d’hydrate de chloral. Bull Soc Chim France 23: 486–491 Möller HJ (2000) Therapie psychiatrischer Erkrankungen, 2. Aufl. Thieme, Stuttgart Nietzsche F (1887) Die fröhliche Wissenschaft (»La gaya scienza«). Fritzsch, Leipzig Oldenburg D (1979) Romantische Naturphilosophie und Arzneimittellehre 1800–1840 (Veröffentlichungen aus dem pharmaziegeschichtlichen Seminar der TU Braunschweig, 20) Deutscher Apotheker-Verlag, Braunschweig Overton E (1901) Studien über die Narkose. Zugleich ein Beitrag zur allgemeinen Pharmakologie. Fischer, Jena Parascandola J, Jasensky R (1974) Origins of the receptor theory of drug action. Bull Hist Med 48: 199–220 Petersen J (1877) Hauptmomente in der geschichtlichen Entwicklung der Medizinischen Therapie. Höst, Kopenhagen Pichot P (1990) Geschichte der Psychopharmaka und Zukunftsausblick. In: Herz A (Hrsg) Psychopharmaka heute. Springer, Berlin Heidelberg New York, S 75–81 Pohlisch K, Panse F (1934) Schlafmittelmißbrauch. Thieme, Leipzig Rehm E (1886) Chronischer Chloralmißbrauch. Arch Psychiatrie Nervenkrankh 17: 36–62 Reil JC (1803) Rhapsodieen über die Anwendung der psychischen Curmethode auf Geisteszerrüttungen. Curt, Halle Ridder P (1990) Im Spiegel der Arznei. Sozialgeschichte der Medizin. Hirzel, Stuttgart Ross S, Cole JO (1960) Psychopharmacology. Ann Rev Psychol 11: 415–438 Roth G (1964) Psychopharmakon, hoc est: medicina animae. Confina Psychiatrica 7: 179–182 Rothschuh KE (1978) Konzepte der Medizin in Vergangenheit und Gegenwart. Hippokrates, Stuttgart Saunders JC (1965) Lasker Award priority claim. J Am Med Ass 191: 865 Schäfer G, Groß D (2008) Enhancement: Eingriff in die personale Identität. Dtsch Arztebl 105(5): A 210–212 Schildkraut JJ (1965) The catecholamine hypothesis of affective disorders. A review of supporting evidence. Am J Psychiatry 122: 509–522 Schioldann J, Berrios GE (2009) History of the introduction of lithium into medicine and psychiatry. Adelaide Academic Press, Adelaide. Schmiedeberg O (1883) Grundriß der Arzneimittellehre. Vogel, Leipzig Schmiedeberg O (1886) Über die pharmakologischen Wirkungen und die therapeutische Verwendung einiger Carbaminsäure-Ester. Arch Exp Pathol Ther 20: 203–216 Schwabe U, Pfaffrath D (2001) Arzneiverordnungs-Report 2000. Springer, Berlin Heidelberg New York Schwabe U, Pfaffrath D (2009) Arzneiverordnungs-Report 2009. Springer, Berlin Heidelberg New York Scull A (1994) Somatic treatments and the historiography of psychiatry. Hist Psychiatry 5: 1–12 Seeman P, Lee T (1976) Antipsychotic drugs. Direct correlation between clinical potency and presynaptic action on dopamine neurons. Science 188: 1217–1219 Sen G, Bose KC (1931) Rauwolfia serpentina – a new Indian drug for insanity and high blood pressure. Indian Med World [J Indian Med Ass] 2: 194 Staehelin JE (1953) Largactil-Symposion in der psychiatrischen Universitätsklinik Basel am 28. November 1953. Schweiz Arch Neurol Psychiatrie 73: 288–369 Staub AM, Bovet D (1937) Action de la thymoxyéthyldiéthylamine (929 F.) et des éthers phénoliques sur le choc anaphylactique du cobaye. C R Seances Soc Biol Fil 125: 818–823 Sternbach LH (1988) Die Benzodiazepin-Story. In: Linde O (Hrsg) Pharmakopsychiatrie im Wandel der Zeit. Tilia, Klingenmünster, S 271–299
Swazey JP (1974) Chlorpromazine in psychiatry. A study of therapeutic innovation. MIT Press, Cambridge, MA Szasz TS (1991) Ideology and insanity. Essays on the psychiatric dehumanization of man. Syracuse University Press, Syracuse, NY Stille G, Hippius H (1971) Kritische Stellungnahme zum Begriff der Neuroleptika. Pharmakopsychiatrie/Neuropharmakologie 4: 182–191 Travis AS (1989) Science as receptor of technology. Paul Ehrlich and the synthetic dyestuff industry. Sci Context 3: 383–408 Vershofen W (1958) Die Anfänge der chemisch-pharmazeutischen Industrie. Edition Cantor, Aulendorf Voswinckel P (1988) Der Fall Mathilde S. Eine akute Porphyrie. Arzt und Krankenhaus 61: 177–185 Wassermann A (1914) Die Seitenkettentheorie. In: Apolant H (Hrsg) Paul Ehrlich. Eine Darstellung seines wissenschaftlichen Wirkens. Fischer, Jena, S 134–150 Weber MM (1987) Die »Opiumkur« in der Psychiatrie. Ein Beitrag zur Geschichte der Psychopharmakotherapie. Sudhoffs Arch 71: 31–61 Weber MM (1996) Psychotherapie – reflektierte Geschichte. Psychotherapie in Psychiatrie, Psychotherapeutischer Medizin und Klinischer Psychologie 1: 4–10 Weber MM (1999) Die Entwicklung der Psychopharmakologie im Zeitalter der naturwissenschaftlichen Medizin (Angewandte Neurowissenschaft, 4). Urban & Vogel, München Weber MM (2000) Die Entstehung der modernen Psychopharmakologie. Heilanspruch und Heilvermögen eines psychiatrischen Therapiesystems aus medizinhistorischer Sicht. Medizin, Geschichte und Gesellschaft 19: 123–142 Wimmer W (1994) »Wir haben fast immer was Neues«. Gesundheitswesen und Innovation der Pharma-Industrie in Deutschland, 1880–1935. Duncker & Humblot, Berlin Winau R (1986) Vom kasuistischen Behandlungsversuch zum kontrollierten klinischen Versuch. In: Helmchen H et al (Hrsg) Versuche mit Menschen in Medizin, Humanwissenschaft und Politik. de Gruyter, Berlin Ziehen T (1908) Psychiatrie für Ärzte und Studierende, 3. Aufl. Hirzel, Leipzig
37
Pharmakologische und präklinische Grundlagen Kapitel 3
Pharmakologische Grundlagen – 39 Anne Eckert und Walter E. Müller
Kapitel 4
Grundlagen der Physiologie von Nervenzellen – 51 Matthias Eder
Kapitel 5
Prinzipien neuronaler Signalketten – 61 Georg Köhr
Kapitel 6
Entdeckungsstrategien in der Wirkstoffforschung – 69 Ronald Kühne und Gerd Krause
Kapitel 7
Psychopharmaka-Entwicklung: von der Entdeckung bis zur Zulassung – 87 Ion-George Anghelescu
Kapitel 8
Verhaltenspharmakologie – Eine Übersicht – 105 Eberhard Fuchs
Kapitel 9
Tiermodelle – 107 Ulrich Schmitt
Kapitel 10
Klinische Relevanz von Tiermodellen für psychiatrische Störungen – 111 Frauke Ohl und Saskia S. Arndt
Kapitel 11
Neurotransmitterhypothesen – 115 Gabriele Flügge
Kapitel 12
Elektrophysiologische In-vivo-Methoden in der Grundlagenforschung – 125 Thomas Fenzl und Carsten T. Wotjak
Kapitel 13
Schlaf-EEG bei Mäusen und Ratten – 129 Mayumi Kimura und Frauke Ohl
Kapitel 14
Die Mikrodialysetechnik und ihre Anwendung im Bereich der experimentellen Neurowissenschaften – 133 Elmira Anderzhanova und Carsten T. Wotjak
II
Kapitel 15
In-vivo-Bildgebung – 143 Thomas Michaelis, Susann Boretius und Eberhard Fuchs
Kapitel 16
Genetisch veränderte Tiere – 149 Ralf Kühn und Wolfgang Wurst
Kapitel 17
Aminosäuren – 169 Wulf Hevers und Hartmut Lüddens
Kapitel 18
Amine – 185 Patrick Schloss
Kapitel 19
Peptide – 197 Martin E. Keck und Rainer Landgraf
Kapitel 20
Steroide – 211 Rainer Rupprecht
Kapitel 21
Endocannabinoide – 219 Beat Lutz
Kapitel 22
Tiermodelle für neurodegenerative Erkrankungen – 223 André Fischer
Kapitel 23
Tiermodelle für abhängiges Verhalten – 231 Daniel Bachteler und Rainer Spanagel
Kapitel 24
Tiermodelle für schizophrene Störungen – 239 Ulrich Schmitt
Kapitel 25
Tiermodelle für affektive Störungen – 245 Gabriele Flügge und Eberhard Fuchs
Kapitel 26
Tiermodelle für Zwangsstörungen – 253 Christine Winter
Kapitel 27
Tiermodelle für Angststörungen – 259 Alexandra Wigger und Rainer Landgraf
39
Pharmakologische Grundlagen Anne Eckert und Walter E. Müller
3.1
Klassifikation und Terminologie – 40
3.2
Neuronale Wirkprinzipien der Psychopharmaka – 40
3.2.1 3.2.2 3.2.3 3.2.4 3.2.5 3.2.6 3.2.7
Wirkung auf die Neurotransmittersynthese – 41 Wirkung auf die Neurotransmitterfreisetzung – 41 Inaktivierung von Neurotransmittern – 41 Rezeptorvermittelte Wirkung – 41 Konzentrations-Wirkungs-Beziehungen – 43 Methoden zur Rezeptoranalyse – der Radiorezeptorassay – 44 Praxisrelevante Interpretation von Rezeptoraffinitäten – 46
3.3
Kompensatorische Mechanismen – 46
3.4
Adaptationsphänomene und der klinische Wirkungseintritt – 48
3.4.1 3.4.2
Adaptationsphänomene bei Antidepressiva – 48 Toleranz – 49
3.5
Pharmakologische Selektivität und funktionelle Spezifität – 50
3.5.1 3.5.2
Pseudoselektivität der Benzodiazepine – 50 Funktionelle Selektivität und klinische Spezifität – 50
Literatur – 50
G. Gründer, O. Benkert (Hrsg.), Handbuch der Psychopharmakotherapie, DOI 10.1007/978-3-642-19844-1_3, © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2012
3
3
40
Kapitel 3 · Pharmakologische Grundlagen
3.1
Klassifikation und Terminologie
Wie in vielen anderen Bereichen der Psychiatrie gibt es auch bei der Einteilung der Psychopharmaka kein einheitliches allgemein anerkanntes Unterteilungsprinzip. Die Klassifikation der Psychopharmaka ist von Lehrbuch zu Lehrbuch unterschiedlich. Tendenziell setzt sich aber in den letzten Jahren mehr und mehr eine auf der klinischen Anwendung beruhende Klassifikation der Psychopharmakagruppen durch (. Tab. 3.1). Diese hat zwar den großen Vorteil eines direkten Bezugs zur klinischen Praxis, gleichzeitig aber den Nachteil, dass eine Reihe von Substanzen nicht eindeutig klassifiziert werden können, sondern vielmehr verschiedenen Psychopharmakagruppen zugeordnet werden müssen. Sedierende und affektiv dämpfende Wirkungen weisen sowohl Antipsychotika (Neuroleptika) wie auch Tranquillanzien auf. Beide Substanzgruppen haben daher in der Behandlung von Angst und Spannungszuständen eine überschneidende klinische Anwendung; allerdings werden bei diesem Einsatz die Antipsychotika sehr niedrig dosiert. Dieser in gewissem Sinn ähnlichen Wirkung trägt die alte Unterteilung in Major- und Minor-Tranquilizer Rechnung. Der wesentliche Unterschied zwischen beiden Substanzgruppen ist aber die nur bei den Neuroleptika in hoher Dosierung vorhandene antipsychotische Wirksamkeit. Sie führt dazu, dass Neuroleptika heute im angelsächsischen Sprachgebrauch, aber auch vermehrt im deutschsprachigen Raum, auch als Antipsychotika (antipsychotics) bezeichnet werden, ein Begriff, der ihrer klinischen Anwendung wesentlich näher kommt als die Bezeichnung Neuroleptika, die sich eher auf die Nebenwirkungen dieser Substanzklasse bezieht. Trotzdem hat sich im deutschen und europäischen Sprachgebrauch der Begriff Neuroleptika erhalten. Affektiv aufhellende Wirkungen haben sowohl Antidepressiva wie auch Psychostimulanzien. Antidepressiva zeigen diesen Effekt weniger beim affektiv Gesunden als beim depressiven Patienten, Psychostimulanzien können ihre stimmungsaufhellende Wirkung unabhängig von pathologischen Veränderungen der Affektivität zeigen. Auch heute noch häufig gebrauchte Synonyma für Antidepressiva sind die Begriffe Thymoleptika oder Thymeretika, wobei bei letzterem primär Monoaminoxidasehemmstoffe gemeint sind. Die letzte indikationsbezogene Psychopharmakagruppe, die heute zunehmend an Bedeutung gewinnt, sind die Antidementiva (früher Nootropika genannt) – im angelsächsischen Sprachgebrauch auch gerne als cognition enhancers bezeichnet. Diese Substanzen werden therapeutisch bei Hirnleistungsstörungen besonders im Alter eingesetzt. Heute steht die Behandlung der Demenz im Vordergrund, sodass sich der Begriff Antidementiva mehr und mehr durchsetzt. Losgelöst von diesen 5 Psychopharmakagruppen sollte auch die Gruppe der Halluzinogene oder Psychodysleptika betrachtet werden. Es handelt sich um Substanzen, die zurzeit nicht als Psychopharmaka eingesetzt werden und die im Gegensatz zu den Psychostimulanzien weniger eine unspezifische zentrale Stimulation zeigen, sondern spezifisch psychoseartige Symptome auslösen können. Natürlich sind hier die Übergänge fließend,
und viele Psychostimulanzien haben in Abhängigkeit von der Dosis und der Anwendung deutliche halluzinogene Wirkungen. Neben diesen Substanzgruppen mit relativ spezifischen Effekten auf bestimmte psychische Funktionen könnten noch verschiedene andere Arzneimittelgruppen erwähnt werden, die auch alle zentral wirksam sind, deren primäre Indikationen aber nicht auf Veränderungen der Psyche abzielen. Auch hier sind die Übergänge fließend, z. B.: 4 Viele Benzodiazepinderivate können sowohl als Tranquilizer wie auch als Hypnotika eingesetzt werden. 4 Analgetika vom Opiattyp haben auch stimmungsaufhellende euphorisierende Effekte. 4 Bestimmte Antikonvulsiva wie Carbamazepin haben heute auch Indikationen als Psychopharmaka. 4 Antiparkinson-Substanzen wie l-DOPA können im Sinne von psychoseähnlichen Nebenwirkungen in psychische Funktionen eingreifen. Obwohl sich die vorliegende Klassifikation (. Tab. 3.1) in den letzten Jahren immer mehr durchgesetzt und im Prinzip auch bewährt hat, hat sie auch ihre Grenzen. Die indikationsspezifische Einordnung vernachlässigt das oft sehr breite therapeutische Wirkungsspektrum der einzelnen Substanzen (z. B. den Einsatz von Antipsychotika als Tranquillanzien), was dazu führt, dass viele Psychopharmaka in mehr als eine dieser Substanzklassen eingeordnet werden müssten (Benkert u. Hippius 2011; Möller et al. 2000; Riederer et al. 2002–2006; Schatzberg et al. 1997; Schatzberg u. Nemeroff 1998). Ein wichtiges Beispiel ist hier die aktuelle Differenzialtherapie der Angsterkrankungen, wo heute Substanzen aus praktisch allen Psychopharmakaklassen eingesetzt werden.
3.2
Neuronale Wirkprinzipien der Psychopharmaka
Die chemische Neurotransmission im zentralen Nervensystem (ZNS) beruht auf der Ausschüttung von Neurotransmittern in den synaptischen Spalt zwischen zwei Neuronen (. Abb. 3.1). In der Regel wird der Transmitter vom präsynaptischen Neuron synthetisiert, wobei hier oft der Zellkörper von größerer Bedeutung ist als das Axon selbst. In vielen Fällen muss das Neuron zur Synthese des Transmitters bestimmte Vorstufen aufnehmen. Da dies oft gegen einen Konzentrationsgradienten geschieht, ist das Neuron mit Energie verbrauchenden Aufnahmesystemen für diese Vorstufen versehen. Der Transmitter gelangt dann über axonalen Transport in die Präsynapse, wo er in Vesikeln gespeichert wird. Die Entladung des Axons führt zu einer exozytotischen Freisetzung des Transmitters, der über den synaptischen Spalt die postsynaptische Membran und die dort vorhandenen Rezeptoren des rezeptiven Neurons erreicht. Damit das ganze System wieder erneut in Gang gesetzt werden kann, muss der Transmitter im synaptischen Spalt oder am Rezeptor schnell inaktiviert werden. Dies wird entweder erreicht durch enzymatischen Abbau, durch Wiederaufnahme in das präsynaptische
41 3.2 · Neuronale Wirkprinzipien der Psychopharmaka
Neuron oder durch Aufnahme in Gliazellen, die die Synapse umgeben. Im Hinblick auf die Wirkungsmechanismen der heute zur Verfügung stehenden Psychopharmaka haben die einzelnen Schritte des Transmissionsprozesses sehr unterschiedlichen Stellenwert (Müller u. Eckert 2011).
3.2.1
Wirkung auf die Neurotransmitterfreisetzung
Während die durch Exozytose vermittelte Freisetzung des Transmitters in den synaptischen Spalt als Angriffspunkt von Psychopharmaka keine Rolle spielt, ist eine Beeinflussung regulativer Faktoren der Transmitterfreisetzung als Wirkungsmechanismus von Psychopharmaka durchaus relevant. So kann z. B. an einer noradrenergen Synapse die Menge des synaptisch freigesetzten Noradrenalins durch sog. inhibitorische Autorezeptoren vom α2-Typ im Sinne einer negativen Rückkopplung reguliert werden. Autorezeptoren können entweder die Menge des freigesetzten Transmitters beeinflussen oder seine Syntheserate regulieren. Eine Blockade inhibitorischer α2-Rezeptoren und eine damit verbundene initiale Erhöhung der Noradrenalinkonzentration an zentralen Synapsen spielt wahrscheinlich für die Wirkung des Antidepressivums Mianserin eine große Rolle. Darüber hinaus ist eine Blockade dopaminerger Autorezeptoren (vom Typ D2) im Gesamtwirkungsspektrum von Antipsychotika, v. a. bei ihrem Einsatz in niedriger Dosierung als Tranquilizer, von Bedeutung.
3.2.3
Psychopharmakagruppen
Beispiel
Synonym
Antipsychotika
Haloperidol Olanzapin
Neuroleptika Major-Tranquilizer
Tranquillanzien
Diazepam Lorazepam
Minor-Tranquilizer Ataraktika
Antidepressiva
Citalopram Amitriptylin Tranylcypromin
Thymoleptika Thymeretika (speziell für MAO-Hemmer)
Psychostimulanzien
Amphetamine Methylphenidat
Psychoanaleptika Psychotonika
Antidementiva
Donepezil
Nootropika Cognition enhancers
Wirkung auf die Neurotransmittersynthese
Effekte auf die Biosynthese von Neurotransmittern spielen für Psychopharmaka fast keine Rolle. Das klassische Beispiel für einen solchen Mechanismus ist die Verstärkung der relativen dopaminergen Unteraktivität im nigrostriatalen dopaminergen System durch Gabe der Dopaminvorstufe l-DOPA. Der erfolgreiche Einsatz dieser Substanz in der Behandlung des idiopathischen Morbus Parkinson ist mehrfach herangezogen worden, um rationale Pharmakotherapien zentralnervöser Erkrankungen zu initiieren, bei denen als Ursache der Mangel eines bestimmten Neurotransmitters vermutet wird. Beispiele hierfür sind die Behandlung der Alzheimer-Krankheit mit Acetylcholinvorstufen wie Cholin und Lecithin oder die Depressionsbehandlung mit l-Tryptophan oder l-Hydroxytryptophan. Im Gegensatz zu den guten therapeutischen Erfolgen der l-DOPABehandlung bei Morbus Parkinson haben die anderen Behandlungsstrategien keine oder nur minimale klinische Erfolge gezeigt. Ebenso fielen Behandlungsversuche der Depression mit der Noradrenalinvorstufe l-Tyrosin weitgehend negativ aus.
3.2.2
. Tab. 3.1 Klassifikation von Psychopharmaka und anderen zentral wirksamen Substanzen
Inaktivierung von Neurotransmittern
Für eine repetitive Aktivierung postsynaptischer Rezeptoren muss der in den synaptischen Spalt freigesetzte Transmitter sehr
Psychotrope Nichtpsychopharmakagruppen Halluzinogene
LSD
Psychodysleptika
Andere zentral angreifende Pharmakagruppen Hypnotika
Benzodiazepine
Schlafmittel
Analgetika
Morphin
Opiate
Antikonvulsiva
Carbamazepin
Antikonvulsiva
AntiparkinsonSubstanzen
L-DOPA
– Zentrale Anticholinergika
Biperiden
MAO Monoaminoxidase, LSD Lysergsäurediethylamid.
schnell wieder daraus entfernt werden. Neben enzymatischem Abbau sind hier vor allen Dingen die Wiederaufnahme in das präsynaptische Neuron und die Aufnahme in die die Synapse umgebenden Gliazellen von Bedeutung. Die Blockade solcher Inaktivierungsmechanismen ist für Psychopharmaka ein wichtiger Zielpunkt. So blockieren z. B. viele klassische Antidepressiva die neuronale Wiederaufnahme der Transmitter Noradrenalin und Serotonin (5-HT). Inhibitoren des in den Mitochondrien lokalisierten Enzyms Monoaminoxidase hemmen den intra- und extraneuronalen Abbau aminerger Transmitter. Verschiedene Substanzen, die über eine Hemmung der Acetylcholinesterase die synaptische Konzentration von Acetylcholin im ZNS erhöhen, sind zurzeit in klinischer Erprobung bei der Behandlung der Alzheimer-Krankheit.
3.2.4
Rezeptorvermittelte Wirkung
Die Informationsweitergabe wird auf der postsynaptischen Seite von Rezeptoren übernommen, die vom freigesetzten Transmitter besetzt werden. Das hierdurch ausgelöste Signal wird über verschiedene Transduktionsmechanismen im rezeptiven Neuron weitergeleitet. Ähnlich wie im peripheren Nervensystem ist dieser Teil der chemischen Neurotransmission im ZNS ein wesentlicher Angriffspunkt für Pharmaka.
3
42
Kapitel 3 · Pharmakologische Grundlagen
Axonterminale
3
Mitochondrium Vesikel Präsynaptische Membran Synaptischer Spalt Gliazelle
Postsynaptische Membran
. Abb. 3.1 Chemische Synapse als Kommunikationsprinzip zwischen 2 Nervenzellen. Aufnahme des Transmitters (oder seiner Vorstufe) in das Neuron (A), axonaler Transport an die Nervenendigungen (B), Speicherung in Vesikeln (C); durch das Aktionspotenzial des Axons und einen damit verbundenen Ca2+Einstrom Freisetzung des Transmitters durch Exozytose aus den Vesikeln in den synaptischen Spalt (D), nach Diffusion (E) Reaktion mit Rezeptoren auf der
postsynaptischen Seite (F); Inaktivierung des Transmitters durch Abbau oder Aufnahme an der postsynaptischen Membran (G) oder durch Rückdiffusion (H) und Aufnahme in das präsynaptische Neuron (I) bzw. in umliegende Gliazellen (J). Präsynaptische Autorezeptoren (K) oder Heterorezeptoren (L) können die Menge des freigesetzten Transmitters beeinflussen oder auch die Syntheserate regulieren
Die spezifische Bindung des Pharmakons an seinen Rezeptor ist die Voraussetzung für die meisten Psychopharmakawirkungen. Ihre mathematische Beschreibung beruht auf dem Massenwirkungsgesetz:
Substanzen, die das Gegenteil von Agonisten bewirken, heißen inverse Agonisten. Der inverse Agonist bindet mit hoher Affinität an R und mit niedriger Affinität an R* und verschiebt dadurch das Gleichgewicht noch stärker als im Grundzustand zur inaktiven Rezeptorkonformation. Wichtige Beispiele für Psychopharmaka, die über eine Rezeptoraktivierung bzw. Blockade wirken, sind 4 Antipsychotika (D2-Blockade), 4 Anticholinergika vom Biperiden-Typ (Antagonisten an zentralen Muskarinrezeptoren), 4 Benzodiazepine (Agonisten am Benzodiazepinrezeptor).
R + P a RP Der freie ungebundene Rezeptor liegt in der Regel in zwei Konformationen vor, in der inaktiven Form R und der aktiven Form R*. So befinden sich z. B. im Gleichgewicht 90% der Rezeptoren in der inaktiven Form R und 10% in der aktiven Form R*. Neben Agonisten, die die Funktion des physiologischen Transmitters nachahmen und eine dem Rezeptor zugeordnete Funktion aktivieren, gibt es Antagonisten, die durch eine Blockade der Rezeptoren die Informationsweitergabe verhindern, indem die Bindung des Agonisten und damit die vom Agonisten induzierte Wirkung verhindert wird. Substanzen mit dieser Eigenschaft werden als kompetitive Antagonisten bezeichnet. Der Antagonist bindet mit gleicher Affinität an die R- und die R*-Konformation und verschiebt dadurch das Gleichgewicht zwischen inaktivem und aktivem Rezeptor nicht. Dagegen bindet der Agonist mit hoher Affinität an R* und mit niedriger Affinität an R. Dadurch wird das Gleichgewicht nach dem Massenwirkungsgesetz zugunsten der aktiven Rezeptorkonformation verschoben.
Bei Letzteren ist die Wirkung von Agonist, inversem Agonist und Antagonist an der Benzodiazepinbindungsstelle des GABAA-Rezeptors gut untersucht. Diazepam wirkt als Agonist an der Benzodiazepinbindungsstelle, ohne den Chloridkanal direkt zu öffnen, erhöht aber die Öffnungswahrscheinlichkeit des Kanals, wenn γ-Aminobuttersäure (GABA) bindet. β-Carboline sind inverse Agonisten an der Benzodiazepinbindungsstelle des GABAA-Rezeptors. Durch die Bindung vermindern sie die Öffnungswahrscheinlichkeit der Chloridkanäle bei GABA-Bindung. Auf diese Weise wirken sie im Gegensatz zu den Benzodiazepinen angstverstärkend. Sowohl die Wirkung des Agonisten
43 3.2 · Neuronale Wirkprinzipien der Psychopharmaka
Diazepam als auch die Wirkung des inversen Agonisten, z. B. Ethyl-β-carbolin-3-carboxylat, wird durch den reinen Antagonisten Flumazenil aufgehoben. Darüber hinaus erlangen in den letzten Jahren sog. partielle Agonisten immer größere Bedeutung, die zwar den Rezeptor aktivieren können, bei denen aber die Signalübertragung in das rezeptive Neuron trotz hoher synaptischer Konzentrationen nur abgeschwächt ist. Partielle Agonisten binden mit ähnlicher Affinität an R und R*, wobei die Affinität zu R* etwas höher ist. Die relative Affinität zu R und R* bestimmt ihre intrinsische Affinität a, die ein Maß für die maximale Wirkstärke ist. Für Agonisten gilt: a=1 Für Antagonisten gilt: a=0 Alle Pharmaka, die einen a-Wert zwischen 0 und 1 haben, sind partielle Agonisten und vermindern die Wirkung reiner Agonisten, da sie einen Teil der Rezeptoren in den inaktiven R-Zustand überführen. Der mögliche therapeutische Vorteil von partiellen Agonisten liegt darin, dass sie sich in Abhängigkeit von der Aktivität des neuronalen Systems und der synaptischen Konzentration des Neurotransmitters (per Definition: immer volle intrinsische Aktivität) entweder als Agonist oder als Antagonist verhalten. Ein Beispiel ist die Beeinflussung dopaminerger D2-Rezeptoren durch das neue atypische Antipsychotikum Aripiprazol, einen partiellen Agonisten (. Abb. 3.2 und 7 Box: Der partielle Agonist Aripiprazol).
Der partielle Agonist Aripiprazol Als Modell in . Abb. 3.2 diente eine experimentelle Zelllinie, die den humanen D2-Rezeptor stabil exprimiert (CHO-D2L). In diesen Zellen kann mit Dopamin die durch Forskolin induzierte Aktivierung der Adenylatcyclase konzentrationsabhängig gehemmt werden, wie an der Dosis-Wirkungs-Kurve für Dopamin gezeigt. Die durch Dopamin (100 nM/l) ausgelöste Hemmung lässt sich durch den reinen Antagonisten Haloperidol aufheben, mit einer halbmaximalen Hemmkonstanten, wie sie für Haloperidol zu erwarten ist. Haloperidol als reiner Dopaminantagonist hat keine eigene Wirkung auf die Aktivität der durch Forskolin stimulierten Adenylatcyclase.
Anders ist es bei Aripiprazol, das als partieller Agonist selbst konzentrationsabhängig zu einer Hemmung der stimulierten Adenylatcyclaseaktivität führt. Als partieller Agonist hat die Substanz aber keine 100%ige intrinsische Aktivität, daher ist das Ausmaß des Effekts deutlich geringer als beim vollen Agonisten Dopamin. Anhand der Kurve lässt sich abschätzen, dass die intrinsische Aktivität von Aripiprazol deutlich unter 0,5 liegen muss. Wird Aripiprazol dagegen zusammen mit Dopamin eingesetzt, dann verhält es sich eher wie Haloperidol und führt zu einer Abnahme der maximalen Dopaminwirkung. Wenn kein anderer Agonist vorliegt, verhält sich Aripiprazol damit wie ein schwacher Agonist; liegt dagegen eine deutliche Stimulation
durch einen vollen Agonisten (hier Dopamin) vor, verhält sich die Substanz eher wie ein Antagonist. Eine wesentliche Kennzahl eines Pharmakons P ist seine Affinität zum Rezeptor R, die durch die Dissoziationskonstante KD bestimmt wird. Aufgrund des Massenwirkungsgesetzes ergibt sich: [R]f × [P]f /[RP] = KD wobei [ ]f für die freie Konzentration von R bzw. P steht. Der KDWert wird in mol/l angegeben. Je kleiner der KD-Wert, desto höher ist die Affinität des Pharmakons zum Rezeptor. Wenn die freie Konzentration des Pharmakons [P]f gleich KD ist, ist die Hälfte aller Rezeptoren mit Pharmakon besetzt, also [R]f = [RP]. Bei Anwesenheit mehrerer Liganden, z. B. eines als Agonist wirkenden Pharmakons und eines endogenen Neurotransmitters, bestimmen die individuellen KD-Werte die relative Sättigung des Rezeptors. Der aktive Rezeptor benötigt zur Signalweiterleitung einen weiteren Partner, den Effektor. Der Effektor, z. B. ein G-Protein, hat eine hohe Affinität zur R*- bzw. RP-Konformation des Rezeptors. Die Annahme, dass eine 1:1-Beziehung zwischen der Zahl der aktiven Rezeptoren und der Stärke der Wirkung besteht, gilt nur dann, wenn die Wirkung eine direkte Funktion des Rezeptors ist, wie z. B. bei Enzymen. Dagegen ist diese Annahme nur bedingt richtig bei Hormonen und Neurotransmitterrezeptoren, die an einen Effektor koppeln. Einer großen Zahl von aktiven Rezeptoren steht in einigen Fällen nur eine kleine Zahl von Effektoren, z. B. G-Proteinen, zur Verfügung. Deshalb ist es möglich, dass die maximale Wirkung bereits durch Kopplung nur eines kleinen Teils von R* bzw. RP an den Effektor erzielt wird. Die Rezeptoren, die nicht an der Kopplung beteiligt sind, werden als Rezeptorreserve bezeichnet. Die Pharmakonkonzentration, die halbmaximale Wirkung auslöst, und die Konzentration, bei der die Hälfte der Rezeptoren besetzt ist, kann um ein Vielfaches auseinanderliegen (EC50 84.000.000 Substanzen
http://pubchem.ncbi.nlm.nih.gov
Comprehensive Medicinal Chemistry (CMC)
Enthält zwei- und dreidimensionale Strukturmodelle, biochemische und physikochemische Eigenschaften von pharmazeutischen Substanzen, enthält ca. 7500 Moleküle und 7100 Modelle, kommerzielle Datenbank
http://accelrys.com/
MDL Drug Data Report (MDDR)
Enthält biologisch relevante Strukturen einschließlich der therapeutischen Wirkung und biologischen Aktivität, wertet Patentliteratur und Zeitschriften aus, ca. 180.000 Einträge (jährlicher Zuwachs etwa 10.000 Einträge), kommerzielle Datenbank
http://www.akosgmbh.de
NCI DIS 3D Database
Enthält 3D-Strukturen biologisch aktiver Substanzen besonders aus dem Bereich der Krebs-, AIDS-Forschung etc., > 400.000 Einträge, frei verfügbar
http://dtp.nci.nih.gov/docs/3d_database/ dis3d.html
Available Chemical Directory (ACD)
Enthält chemische Strukturen aus einer Vielzahl von Katalogen, keine biologischen Daten verfügbar, ca. 300.000 (> 3.870.000) Einträge, kommerziell vertriebene Datenbank
http://accelrys.com/products/databases/ sourcing/available-chemicals-directory.html
Symyx Screening Compounds Directory (SCD)
Enthält Verbindungen für Hochdurchsatz-Assays, (erlaubt Substruktursuchen), erleichtert die Zusammenstellung von Substanzbibliotheken für die Testung, enthält > 500.000 Einträge (> 6,8 Mio. einzigartige Substanzen)
http://www.akosgmbh.de/Symyx/software/ databases/acd-sc.htm
Merck Index
Sammlung biologisch aktiver Verbindungen, ca. 20.000 Einträge, kommerziell vertriebene Datenbank, enthält > 10.000 Monographien über einzelne Substanzen oder Wirkstoffklassen
http://www.merckbooks.com/mindex/
Chem Sources – Online
Online-Suchmaschine für kommerziell verfügbare Substanzen, kommerzielle Datenbank
http://www.chemsources.com/csonline.htm
eMolecules
Suchmaschine für kommerziell verfügbare Substanzen
http://www.emolecules.com
CHEMCATS
Datenbank kommerziell verfügbarer Substanzen mit > 43 Mio. Produkten
http://www.cas.org/expertise/cascontent/ chemcats.html
ZINC
Frei verfügbare Datenbank kommerziell erhältlicher Substanzen zum virtuellen Screening mit > 13 Mio. Einträgen
http://zinc.docking.org/
SPRESIweb
Wissenschaftliche Datenbank mit > 4,5 Mio. Molekülen, 3,5 Mio. Reaktionen, 380.000 Referenzen und 98.000 Patenten der Jahre 1974–2009
http://www.spresiweb.de
Crystallography Open Database
~ 34.000 Einträge
http://www.crystallography.net
ChemSub Online
Frei verfügbare Datenbank mit Informationen über 237.000 Substanzen
http://chemsub.online.fr/
CML Reference Collection
Kommerzielle Datenbank für > 120.000 3D-Molekülstrukturen
http://www.randomfactory.com/cml.html
ChEBI
Frei verfügbare Datenbank kleiner Moleküle
http://www.ebi.ac.uk/chebi/
Eigenschaftsdeskriptoren Unter Eigenschaftsdeskriptoren werden Parameter verstanden, die physikochemische oder elektronische Eigenschaften der Verbindungen beschreiben. Ein häufig benutzter Eigenschaftsdeskriptor ist der Oktanol/Wasser-Verteilungskoeffizient (log P), der die Hydrophobie des Liganden beschreibt. Inzwischen sind mehrere Methoden zur Berechnung von log P verfügbar. Diese Methoden benutzen aus experimentellen Daten abgeleitete Fragmentkonstanten in Verbindung mit ebenfalls experimentell abgeleiteten Korrekturfaktoren für bestimmte Fragmentkombinationen, Nachbarschaftseffekte von Atomen und intramolekulare Wasserstoffbrücken.
Gebräuchliche Programme zur log P-Berechnung sind ClogP (http://www.biobyte.com/bb/prod/bioloom.html) und MlogP, das in einer Reihe von Softwarepaketen wie ChemOffice (www.cambridgesoft.com) oder MOE (www.chemcomp.com) enthalten ist. Zur Beschreibung der elektronischen Eigenschaften sind partielle Atomladungen, Ionisationspotenziale oder Elektronendichten gebräuchlich. Häufig werden auch einfache Eigenschaftsparameter wie z. B. das Molekulargewicht oder die Molrefraktion (http://www.biobyte.com/bb/prod/bioloom.html) zur Beschreibung der molekularen Eigenschaften von chemischen Verbindungen verwendet. Einige kommerzielle Programmpa-
6
82
Kapitel 6 · Entdeckungsstrategien in der Wirkstoffforschung
kete, innerhalb derer die Berechnung verschiedenster molekularer Deskriptoren ermöglicht wird, sind ChemOffice (www. cambridgesoft.com), MOE (www.chemcomp.com), Sybyl (www. tripos.com) sowie Pipeline Pilot (http://accelrys.com/products/ pipeline-pilot/).
Hauptkomponentenanalyse
6
Die Ähnlichkeit chemischer Verbindungen kann nur in Form der Ähnlichkeit eines Satzes molekularer Deskriptoren ausgedrückt werden. Welche davon tatsächlich in Bezug auf die biologische Fragestellung relevant sind, lässt sich von vornherein nicht ohne Weiteres entscheiden. Daher werden im Normalfall zunächst möglichst viele solcher Deskriptoren berechnet, und anschließend wird versucht, die Dimensionalität des Ähnlichkeitsproblems chemischer Verbindungen zu reduzieren. Ein geeignetes Verfahren zur Datenkompression ist die Hauptkomponentenanalyse. Das Ziel dieses Verfahrens besteht in der Transformation der Datenmatrix in eine kleinere Matrix bestehend aus wenigen orthogonalen Variablen, die als Hauptkomponenten bezeichnet werden. Dabei wird jede Verbindung Xi als Linearkombination von orthonomalen Eigenvektoren {vi}, die aus der Kovarianzmatrix der Originaldaten berechnet werden, dargestellt: m
X i = ∑ (Yji ) v j i = 1, 2,... n j=1
Aus dem mathematischen Modell folgt, dass der Anteil der durch die Hauptkomponenten beschriebenen Varianz von der ersten bis zur m-ten Komponente stark abnimmt. Somit werden häufig nicht mehr als drei Hauptkomponenten benötigt, um mehr als 70% der Datenvarianz zu beschreiben. Da die Hauptkomponenten orthogonal sind, lassen sich die Verbindungen in einem Koordinatensystem darstellen, dessen Hauptachsen denen der ersten drei Hauptkomponenten entsprechen. Ähnliche Verbindungen sind dann solche, die nahe beieinander liegen, diverse Verbindungen sind weiter voneinander entfernt.
6.4.2
Quantitative Struktur-AktivitätsBeziehungen
Die quantitative Beschreibung der Zusammenhänge von biologischer Aktivität von Wirkstoffen und deren strukturellen Eigenschaften ist das Hauptziel von Verfahren, die als QSAR-Methoden (QSAR: quantitative structure-activity-relationships) Eingang in die Wirkstoffforschung gefunden haben. Grundlegende Annahme dieser Methoden ist, dass die physikochemischen Eigenschaften von Wirkstoffen die relative Stärke ihrer Wechselwirkungen mit dem biologischen Zielmolekül bestimmen und ebenso die für die biologische Wirkung wichtigen Prozesse der Absorption, Distribution, Metabolisierung und Extraktion beeinflussen. Die letzteren Prozesse werden unter dem Kürzel ADME zusammengefasst (Lombardo et al. 2003). Die Anfänge der QSAR reichen bis in das 19. Jahrhundert zurück, als auffiel, dass chemisch nicht reaktive, aber fettlösliche
Stoffe, die sich gut in biologischen Systemen verteilen, narkotisch wirken. Diese von Overton 1893 aufgestellte Regel kann als eine der ersten QSAR bezeichnet werden. Aber auch in der organischen Chemie wurden Regeln gefunden, um die Reaktivität organischer Verbindungen in Abhängigkeit von den elektronischen Eigenschaften der Substituenten zu beschreiben. Dabei wurde von Hammett gefunden, dass die relativen Beiträge elektronenziehender und elektronenschiebender Substituenten zur Elektronendichte in einem aromatischen System weitgehend konstant sind und durch eine Substituentenkonstante δ (auch als Hammett-Konstante bezeichnet) beschrieben werden können. Für verschiedene chemische Reaktionen von aromatischen Verbindungen konnte gezeigt werden, dass sich die Reaktionsgeschwindigkeit durch die nachstehende Gleichung beschreiben lässt: ρδ = log KR–X – log KR–H Dabei ist ρ die von der Art der Reaktion abhängige Reaktionskonstante, log KR–X ist der Logarithmus der Gleichgewichtskonstante der betreffenden chemischen Reaktion für den substituierten Aromaten und log KR–H der entsprechende Beitrag der nichtsubstituierten Verbindung.
Hansch-Analyse Die Geburtsstunde der QSAR lässt sich auf 1964 datieren, als von Hansch und Fujita die erste Hansch-Gleichung publiziert wurde: log 1/C = –a1 (log P)2 + a2 log P + a3δ + … + an In dieser Gleichung beschreibt C die Konzentration eines Wirkstoffs, die notwendig ist, um einen standardisierten biologischen Effekt hervorzurufen, log P ist der Logarithmus des Oktanol/ Wasser-Verteilungskoeffizienten als Maß der Lipophilie des Wirkstoffs und δ die Hammett-Konstante zur Beschreibung elektronischer Substituenteneigenschaften. Die Koeffizienten a1, a2, …, an werden mittels multivariater Regressionsanalyse berechnet. Die Güte der Regressionsgleichung wird dabei vom Korrelationskoeffizienten und der Standardabweichung bestimmt. Die Hansch-Analyse gehört zum Standardrepertoire in der Wirkstoffforschung und ist durch eine Vielzahl von Parametern zur Beschreibung der hydrophoben, elektronischen und sterischen Eigenschaften von Molekülen ergänzt worden. Hansch-Gleichungen sind durchaus in der Lage, biologisch aktive Verbindungen vorherzusagen. Dies gilt besonders dann, wenn die vorhergesagte Verbindung innerhalb des durch die HanschGleichung untersuchten Parameterraums zu finden ist.
3D-QSAR und CoMFA Eine wesentliche Erweiterung erfuhren die QSAR-Methoden mit der Einführung der 3D-QSAR. Dabei werden Eigenschaften, die direkt aus der Raumstruktur der Wirkstoffe abgeleitet sind, mit der biologischen Aktivität korreliert. Eine Voraussetzung aller 3D-Verfahren ist die Überlagerung der Raumstrukturen
83 6.4 · Computergestützte Methoden in der Wirkstoffforschung
der zu untersuchenden Verbindungen. Dies ist zweifellos das Hauptproblem dieser Verfahren, da dabei nicht nur die Kenntnis der jeweiligen bioaktiven Konformation notwendig ist, sondern die Moleküle in der Weise übereinandergelegt werden müssen, wie sie in der Bindungsstelle des biologischen Zielmoleküls orientiert sind. In den meisten Fällen sind beide Informationen selbst bei bekannten Kristallstrukturen von ProteinLigand-Komplexen nicht mit Sicherheit verfügbar, da bereits kleine Strukturänderungen im Wirkstoff zu verändertem Bindungsmodus führen können. Solche Effekte führen zu falschen Hansch-Gleichungen. Das wohl bekannteste 3D-QSAR-Verfahren ist CoMFA (comparative molecular field analysis). Bei diesem Verfahren wird jedes Molekül des Datensatzes in seiner vorher überlagerten »bioaktiven« Konformation in ein für alle Moleküle identisches Gitter eingepasst. Dieses Gitter umfasst die Moleküle weiträumig und verfügt über Gitterpunkte in einem definierten Abstand zueinander (meist 1 Å oder 2 Å). Für jeden dieser Gitterpunkte wird nun die Wechselwirkung zum jeweiligen Molekül berechnet. Auf diese Weise können sowohl 4 elektrostatische Wechselwirkungen unter Benutzung des Coulomb-Potenzials, 4 sterische Wechselwirkungen unter Benutzung des LennardJones-Potenzials, aber auch 4 hydrophobe Wechselwirkungen unter Benutzung eines hydrophoben Potenzials für jeden Gitterpunkt berechnet werden. Die Gesamtheit der Wechselwirkungsbeiträge an den Gitterpunkten bezeichnet man als Feld des Moleküls. Normalerweise werden die Feldbeiträge für mehr als 100.000 Gitterpunkte berechnet.
PLS-Methode Um die berechneten Moleküleigenschaften mit der biologischen Aktivität in Beziehung zu setzen, wird die PLS-Methode (partial least square) verwendet. Diese Methode eignet sich speziell für Fälle, bei denen die Anzahl der unabhängigen Variablen (Feldbeiträge) die Anzahl der abhängigen Variablen (gemessene biologische Aktivitäten des Datensatzes) erheblich überschreitet. PLS ist ein Regressionsverfahren, bei dem ein lineares Modell schrittweise ermittelt wird. Im Gegensatz zur Hauptkomponentenanalyse, bei der die orthogonalen Hauptkomponenten unabhängig von Zielvariablen berechnet werden, sind die orthogonalen Variablen bei der PLS-Methode so berechnet, dass eine maximale Korrelation mit der gegebenen abhängigen Variablen, also der biologischen Aktivität, erreicht wird. Ein solches Verfahren bedarf einer strengen statistischen Kontrolle. Bewährt hat sich die Kreuzvalidierung (cross validation). Dabei wird bei der Berechnung des PLS-Modells nur ein Teil des gesamten Datensatzes benutzt, und anhand dieses Modells werden die vorher herausgenommenen Daten berechnet. Durch mehrfache Wiederholung dieses Vorgehens lässt sich erreichen, dass alle Mitglieder des Datensatzes bei der Modellberechnung weggelassen wurden. Die Güte der Vorhersagen gibt dann Auskunft über die Verlässlichkeit des Modells.
Vorhersage von Eigenschaften Das CoMFA-Verfahren beschreibt, wie auch die oben beschriebenen QSAR-Verfahren, die Beziehung zwischen Moleküleigenschaften von Verbindungen und deren biologischer Aktivität mit dem Ziel, die biologischen Eigenschaften neuer Verbindungen vorherzusagen. Damit unterliegt auch dieses Verfahren einer Reihe von Einschränkungen. Das Ergebnis einer CoMFAUntersuchung hängt ursächlich von der Art und Weise der Überlagerung der Moleküle des Datensatzes und deren angenommener Konformation ab. Reflektiert die gewählte Überlagerung nicht den gebundenen Zustand der Moleküle des Datensatzes, muss die Methode versagen. Eine weitere Begrenzung besteht darin, dass Vorhersagen nur innerhalb des durch den Datensatz beschriebenen Eigenschaftsraums erfolgen. Ist z. B. ein Substitutionsort im CoMFA-Datensatz nicht belegt, kann die CoMFA-Analyse keine Vorhersage für die betreffende Position leisten. Durch die bekannte räumliche Position der Gitterpunkte um die Moleküle des Datensatzes ist es möglich, CoMFA-Ergebnisse graphisch auszuwerten. Das Modell liefert die Information, welche Gitterpunkte signifikant zur Korrelation mit den Bindungsdaten beitragen. Diese Gitterpunkte lassen sich nun entsprechend ihrer jeweiligen Feldwerte konturieren und erlauben auf diese Weise eine schnelle graphische Auswertung. CoMFA ist als Teil des kommerziell verfügbaren Programmpakets SYBYL (www.tripos.com) verfügbar.
6.4.3
Virtuelles Screening
Durch die Entwicklungen der kombinatorischen Chemie und die Automatisierung von Testsystemen ist die absolute Zahl der auf ihre biologische Wirkung getesteten Verbindungen extrem angestiegen. Es zeigt sich allerdings, dass der Einsatz dieser Techniken die Kosten einer einzelnen Testung zwar erheblich reduziert, jedoch durch die möglich gewordene massenhafte Testung eine erhebliche Kostensteigerung zur Folge hat, ohne dass die Auffindungsrate von neuen Wirkstoffen verbessert worden wäre. Es liegt daher nahe, mit computergestützten Methoden zu versuchen, aus großen Strukturdatenbanken diejenigen herauszufiltern, die eine erhöhte Wahrscheinlichkeit besitzen, mit dem biologischen Zielmolekül in Wechselwirkung zu treten. Die Voraussetzung der virtuellen Bewertung von chemischen Verbindungen bezüglich ihrer Affinität zu einem biologischen Zielmolekül ist die möglichst genaue Kenntnis der Raumstruktur der Bindungsstelle. Deshalb werden diese Methoden auch häufig als proteinbasiertes virtuelles Screening bezeichnet.
Pharmakophor-Suche in chemischen Datenbanken Sind für ein biologisches Zielmolekül Raumstrukturen im Komplex mit biologisch aktiven Liganden bekannt, ist es möglich, diese Informationen zur Formulierung von strukturbasierten Pharmakophor-Hypothesen zu nutzen. Ein Pharmakophor beschreibt ein Ensemble geometrisch definierter Eigenschaften von Wirkstoffen, die für die Wechselwirkung mit dem biologischen Zielmolekül von entscheidender Bedeutung sind. Als Eigenschaften können sowohl verschiedene funktionelle Grup-
6
84
6
Kapitel 6 · Entdeckungsstrategien in der Wirkstoffforschung
pen, die Verteilung von Wasserstoffbrückendonoren und -akzeptoren, aber auch die Positionen hydrophober Zentren relativ zu anderen Eigenschaften definiert werden. Unterschieden werden – ähnlich wie bei den oben diskutierten molekularen Deskriptoren – 2D- und 3D-Pharmakophoren. 2D-Pharmakophoren leiten sich direkt aus der Strukturformel der biologisch aktiven Liganden ab und können das Vorhandensein/Nichtvorhandensein bestimmter funktioneller Gruppen sowie Nachbarschaftseffekte beschreiben, deren Vorhandensein für die biologische Wirkung essenziell ist. 3D-Pharmakophoren beinhalten Informationen über die bioaktive Konformation der Liganden und die räumliche Verteilung von Wechselwirkungszentren. Mithilfe des 3D-Pharmakophors ist es möglich, eine Datenbank chemischer Strukturen nach Verbindungen zu durchsuchen, die das gesuchte Muster enthalten und damit möglicherweise eine gesuchte biologische Eigenschaft besitzen. Je nach Komplexität der Pharmakophordefinition und zur Verfügung stehender Computerkapazität können große Datenbanken mit mehreren hunderttausend Verbindungen innerhalb von Minuten oder wenigen Stunden nach möglicherweise biologisch aktiven Verbindungen durchforstet werden. Der Vorteil besteht weiterhin darin, Datenbanken zu durchsuchen, die weit über den hausinternen Pool chemisch verfügbarer Verbindungen hinausgehen. Solche vorerst nur im Computer existierenden Sammlungen chemischer Strukturen werden virtuelle Datenbanken genannt. Um die Suche nach 3D-Pharmakophoren zu ermöglichen, müssen die in der Datenbank enthaltenen Verbindungen in sinnvoller Weise in dreidimensionale Strukturen übersetzt werden. Dies ist keinesfalls trivial, da bereits für kleine Moleküle leicht mehrere tausend Konformationen erzeugt werden können, die energetisch »erlaubt« sind, d. h. in der Nähe der Konformation minimaler Energie liegen. Man ist aber nur an der bioaktiven Konformation interessiert, die zwar im Bereich der erlaubten Konformationen liegen sollte, aber keinesfalls die Konformation mit der niedrigsten Energie sein muss, da der Beitrag der Wechselwirkungsenergie mit dem biologischen Zielmolekül oft entscheidend ist. Daher ist man gezwungen, entweder pro Verbindung in der Datenbank mehrere »relevante« Konformationen abzuspeichern oder die dreidimensionale Struktur der Moleküle bei jeder Datenbanksuche neu zu berechnen. Im ersten Fall ist man bestrebt, den Raum erlaubter Konformationen durch möglichst wenige repräsentative Konformationen zu erfassen. Diese Konformationen können durch die Verwendung der Clusteranalyse gefunden werden, bei der die Konformeren durch Distanzen ihrer Heteroatome beschrieben und Konformere mit ähnlichen Distanzmustern in Clustern zusammengefasst werden. Der zweite Fall erfordert nur die Berechnung einer erlaubten Konformation pro Verbindung in der Datenbank. Bei diesem Ansatz wird während der Datenbanksuche versucht, die Raumstruktur jeder Verbindung möglichst optimal auf das entsprechende 3D-Pharmakophor anzupassen. Dabei wird eine Energiefunktion verwendet, bei der die Änderung der Energie des angepassten Konformers einen vorgegebenen Wert nicht überschreiten darf.
Virtuelles Docking Im Unterschied zur Suche nach Strukturen, die einen vorgegebenen Pharmakophoren beinhalten, besteht das Ziel des virtuellen Dockings darin, die Bindung einer großen Anzahl von Substanzen in einer Proteinbindungsstelle zu berechnen und deren Bindungsaffinität vorherzusagen. Trotz vieler verschiedener Ansätze sind die beiden Hauptprobleme beim virtuellen Docking – das automatische Einpassen der Liganden in die vorgegebene Bindungsstelle und die quantitative Vorhersage ihrer Bindungsaffinität – nach wie vor nicht umfassend gelöst. Zur Lösung des Dockingproblems müssen sowohl die Flexibilität des Liganden als auch die der Bindungsstelle des Liganden einbezogen werden, da bei der Bindung Veränderungen in der Orientierung der beteiligten Aminosäuren induziert werden können. Dies führt zu einer kombinatorisch bedingten Explosion möglicher Bindungsmodi eines einzelnen Liganden, von denen jeder bezüglich der Bindungsaffinität bewertet werden muss, um den wahrscheinlichsten herauszufinden. Aus diesem Grund vernachlässigen viele der gegenwärtig verfügbaren Programme zum virtuellen Docking die konformationelle Flexibilität der Bindungsstelle.
»Dock«: Atome als Kugelzentren Eines der ersten Docking-Verfahren ist das Programm Dock (Ewing et al. 2001), bei dem in einem ersten Schritt in der Bindungsstelle Punkte definiert werden, an denen sich Atome der Liganden befinden können. Diese Punkte sind Mittelpunkte von Kugeln, die in der Weise überlappt werden, dass die gesamte Bindungsstelle möglichst vollständig ausgefüllt wird. Eine Nebenbedingung ist, die Oberflächengestalt der Bindungsstelle mit einer möglichst geringen Anzahl von Kugelzentren zu beschreiben. Das bedeutet, dass die Bindungsstelle während des gesamten Dockingprozesses nicht verändert werden kann. Der Ligand wird zunächst in Fragmente aufgeteilt, die durch flexible Bindungen miteinander verknüpft sind. Aus diesen Fragmenten kann dann automatisch oder manuell ein sog. Ankerfragment (meist das größte gemeinsame Fragment innerhalb einer Serie von Strukturen) ausgewählt werden. Dieses Fragment wird dann in der Weise in die Kugelzentren gelegt, dass möglichst jedes Atom des Fragments die Position eines Kugelzentrums einnimmt. Dabei werden alle möglichen Orientierungen des Ankerfragments ausprobiert und mittels einer kraftfeldbasierten Bewertungsfunktion beurteilt. Die am besten bewerteten Orientierungen des Ankerfragments werden dann benutzt, um das nächste Fragment des Liganden an den Anker zu knüpfen und erneut die beste Orientierung des nun vergrößerten Fragments zu suchen und zu bewerten. Dies wird so lange wiederholt, bis der komplette Ligand aus den Fragmenten aufgebaut ist. Es ist natürlich klar, dass die Ergebnisse von der gewählten Bewertungsfunktion abhängen. Im Falle von Dock wird eine Funktion benutzt, die auf der Berechnung des Lennard-JonesPotenzials zur Berechnung der Van-der-Waals-Wechselwirkungen und dem Coulomb-Potenzial zur Berechnung der elektrostatischen Wechselwirkungen beruht. Beide Potenziale sind nicht in der Lage, die häufig sehr wichtige entropische Kompo-
85 6.5 · Ausblick
nente der freien Bindungsenergie zu beschreiben. Aus diesem Grund wird die Bindung von großen und polaren Liganden durch die Bewertungsfunktion bevorzugt.
und damit der Orientierung des gebundenen Liganden erreicht.
Monte-Carlo-Simulation und simulated annealing »FlexX«: Wechselwirkungseigenschaften Ähnlich wie Dock ist auch FlexX (Rarey et al. 1996) ein Inkrementverfahren, bei dem der Ligand in Fragmente zerlegt wird und die Geometrie der Bindungsstelle unveränderlich ist. Im Unterschied zu Dock werden die Fragmente nicht auf mögliche vordefinierte Atompositionen gebracht, sondern das Programm definiert die Position möglicher Wechselwirkungspartner in Abhängigkeit von den Eigenschaften der Bindungsstelle. Diesen Wechselwirkungspositionen werden die Wechselwirkungseigenschaften, z. B. hydrophobe Wechselwirkung, H-BrückenDonor, H-Brücken-Akzeptor usw. zugeordnet. Die Wechselwirkungspositionen werden dabei ähnlich wie bei Dock durch ein Zentrum und eine das Zentrum umgebende Kugel repräsentiert. Das Ankerfragment wird dann in der Weise orientiert, dass mindestens drei der möglichen Wechselwirkungszentren besetzt sind. Natürlich ist auch hier eine Bewertungsfunktion notwendig, um wahrscheinliche von weniger wahrscheinlichen Orientierungen zu unterscheiden. FlexX benutzt eine aus der Analyse von bekannten Protein-Ligand-Komplexen berechnete empirische Funktion, die aus der Anzahl der rotierbaren Bindungen des Liganden, einem Anteil für H-Brücken und Salzbrücken, einem Anteil für Aromat-Aromat-Wechselwirkungen sowie einem Anteil für hydrophobe Wechselwirkungen besteht. Die Gewichtsfaktoren der einzelnen Anteile an der freien Bindungsenthalpie wurden aus den Regressionskoeffizienten einer Regressionsgleichung abgeleitet, die für experimentell bestimmte Raumstrukturen von Protein-Ligand-Komplexen berechnet wurde.
»Gold«: genetische Algorithmen Im Gegensatz zu den oben aufgeführten Inkrementverfahren beruht das Programm Gold (Jones et al. 1997) auf der Anwendung sog. genetischer Algorithmen. Diese Verfahren imitieren den Prozess der Evolution durch die Manipulation der verschiedenen möglichen Orientierungen des Liganden in einer Bindungsstelle. Ein »Chromosom« kodiert genau eine mögliche Protein-Ligand-Orientierung. Dem Chromosom wird eine Bewertungsfunktion zugeordnet, welche die Protein-LigandWechselwirkung bezüglich der gewählten Orientierung beschreibt. Beginnend mit einer zufällig generierten Population von Orientierungen (Chromosomen) werden die wesentlichen genetischen Operatoren, Mutation und Kreuzung, durchgeführt. Die Kreuzung benötigt zwei »Eltern«, d. h. zwei verschiedene Orientierungen des Liganden in der Bindungsstelle, und produziert zwei »Kinder«, bei denen Eigenschaften der »Elternorientierungen« in der »Kindergeneration« neu gemischt werden. Die Mutation verändert zufällig das Elternchromosom, d. h., eine neue Wechselwirkung wird anstelle einer anderen eingeführt. Durch den Vergleich der Bewertungsfunktion von Eltern- und Kindergeneration wird ein »evolutionärer« Druck in Richtung einer Optimierung der Bewertungsfunktion
Unabhängig von der gewählten Docking-Strategie ist das Ergebnis aller Verfahren direkt von den gewählten Bewertungsfunktionen abhängig. Es wird also vorausgesetzt, dass die Bewertungsfunktion die Eigenschaften richtig erfasst, die bei der Bindung der Liganden in die Bindungsstelle tatsächlich von Bedeutung sind. Ist dies nicht der Fall oder erfolgt eine konformationelle Veränderung der Bindungsstelle, versagen diese Methoden. Damit wird deutlich, dass das virtuelle Docking einer intensiven experimentellen Kontrolle bedarf, bei der geklärt werden muss, ob die zugrunde liegenden Postulate für die entsprechende Fragestellung anwendbar sind. Der Vorteil der o. g. Methoden besteht darin, dass sie geeignet sind, eine große Anzahl von Liganden auf ihre Bindung an ein biologisches Zielmolekül hin zu untersuchen. Dies ist bei den rechenzeitintensiven Verfahren des simulated annealing und den Monte-Carlo-Simulationen häufig nicht der Fall. Trotzdem werden diese Docking-Methoden ebenfalls häufig beim computergestützten Screening angewendet. Simulated annealing ist eine Spielart der MoleküldynamikSimulationen. Bei dieser Methode wird in bestimmten Intervallen die Temperatur des Systems stark erhöht und anschließend wieder schrittweise reduziert. Damit lassen sich viele unterschiedliche Bindungsmodi der Liganden generieren und bezüglich der berechneten Wechselwirkungsenergie mit der Bindungsstelle sortieren. Häufig wird diese Methode bei der Berechnung von Protein-Peptid-Komplexen benutzt, die mit den einfachen virtuellen Docking-Methoden nicht erfolgreich untersucht werden können. Ein weiterer Vorteil ist, dass mit dieser Methode auch die Bindungsstelle konformationell veränderbar ist. Bei der Monte-Carlo-Simulation werden innerhalb eines Zyklus mit konstanter Temperatur zufällige Veränderungen der Konformation des Liganden und seiner Orientierung in der Bindungsstelle erzeugt. Ein neuer Zustand wird dann erreicht, wenn die Energie des neuen Zustands geringer als die des vorhergehenden Zustands ist.
6.5
Ausblick
Das wesentliche Kennzeichen der modernen Wirkstoffforschung ist der hohe Grad der Vernetzung vieler Forschungsgebiete. Aufgabe moderner Wirkstoffforschung ist es, neue Erkenntnisse der Bioinformatik, der Strukturaufklärung von Proteinen, der Synthese kombinatorischer Bibliotheken, der Computerchemie, dem Hochdurchsatz-Screening, dem virtuellen Screening, der quantitativen Beschreibung von Struktur-Wirkungs-Beziehungen und des Transportverhaltens von Wirkstoffen möglichst schnell und effizient für die Auffindung neuer aussichtsreicher Substanzen nutzbar zu machen. In diesem Kapitel wurde versucht, einige der Probleme und methodische Ansätze im Prozess der Wirkstofffindung zu beleuchten. Es ist aber auch deutlich geworden, dass trotz enorm erweiterter tech-
6
86
Kapitel 6 · Entdeckungsstrategien in der Wirkstoffforschung
nischer Möglichkeiten kein Werkzeug zur Verfügung steht, das den Erfolg garantieren könnte. Keine dieser Methoden kann den kreativen Forscher ersetzen, aber diese Methoden können in der Hand des kreativen Forschers wichtige Hilfsmittel sein, die ungeheure Datenflut zu ordnen und in einer Weise zu verdichten, dass daraus sinnvolle Schlussfolgerungen für die Wirkstofffindung gezogen werden können.
Literatur
6
Adda CG, Anders RF, Tilley L, Foley M (2002) Random sequence libraries displayed on phage identification of biologically important molecules. Comb Chem High Throughput Screen 5: 1–14 Boyle NA, Janda KD (2002) Formats for combinatorial synthesis : solid phase, liquid phase and surface. Curr Opin Chem Biol 6: 339–346 Bratkovič T (2010) Progress in phage display: evolution of the technique and its applications. Cell Mol Life Sci 67: 749–767 Breinbauer R, Vetter I, Waldmann H (2002) From protein domains to drug candidates – natural products as guiding principles in the design and synthesis of compound libraries. Angew Chem 114: 3002–3015 Eglen RM, Reisine T, Roby P et al (2008) The use of AlphaScreen technology in HTS: current status. Curr Chem Genomics 1: 2–10 Ewing TJA, Makino S, Skillmann AG, Kuntz ID (2001) DOCK4.0: search strategies for automated molecular docking of flexible molecule databases. J Comput Aided Mol Design 15: 411–428 Flower RJ (2003) The development of COX2 inhibitors. Nature Rev Drug Disc 2: 179–191 Frank R (1992) SPOT-synthesis: an easy technique for the positionally addressable, parallel chemical synthesis on a membrane support. Tetrahedron 48: 9217–9232 Frank R (2002) The SPOT-synthesis technique. Synthetic peptide arrays on membrane supports – principles and applications. J Immunol Methods 1: 13–26 Geysen HM, Schoenen F, Wagner D, Wagner R (2003) Combinatorial compound libraries: an ongoing challenge. Nature Rev Drug Disc 2: 222– 230 Hoess RH (2001) Protein design and phage display. Chem Rev 101: 3205– 3218 Inglese J, Johnson RL, Simeonov A et al (2007) High-throughput screening assays for the identification of chemical probes. Nat Chem Biol 3(8): 466–479 Jones G, Willett P, Glenn RC et al (1997) Development and validation of a genetic algorithm for flexible docking. Mol Biol 267: 727–748 Kappe CO (2002) High-speed combinatorial synthesis utilizing microwave irradiation. Curr Opin Chem Biol 6: 314–320 Klabunde T, Hessler G (2002) Drug design strategies for targeting G-protein coupled receptors. ChemBioChem 4: 928–944 Krausz E (2007) High-content siRNA screening. Mol Biosyst 3: 232–240 Lipinski CA, Lombardo F, Dominy BW, Feeney PJ (1997) Experimental and computational approaches to estimate solubility and permeability in drug discovery and development settings. Adv Drug Deliv Rev 23: 3–25 Lipinski CA, Lombardo F, Dominy BW, Feeney PJ (2001) Experimental and computational approaches to estimate solubility and permeability in drug discovery and development settings. Adv Drug Deliv Rev 46: 3–26 Lohse MJ, Vilardaga JP, Bunemann M (2003) Direct optical recording of intrinsic efficacy at a G protein-coupled receptor. Life Sci 74(2–3): 397–404 Lombardo F, Gifford E, Shalaeva MY (2003) In silico ADME prediction: data, models, facts and myths. Mini Rev Med Chem 3: 861–875 Mayr LM, Bojanic D (2009) Novel trends in high-throughput screening. Curr Opin Pharmacol 9(5): 580–588 Nixon RE (2002) Phage display as a tool for protease ligand discovery. Curr Pharm Biotechnol 3: 1–12 Otto S, Furlan RLE, Sanders JKM (2002) Recent developments in dynamic combinatorial chemistry. Curr Opin Chem Biol 6: 321–327
Pande J, Szewczyk MM, Grover AK (2010) Phage display: concept, innovations, applications and future. Biotechnol Adv 28: 849–858 Peters WB, Frasca V, Brown RK (2009) Recent developments in isothermal titration calorimetry label free screening. Comb Chem High Throughput Screen 12(8): 772–790 Petrenko VA (2008) Evolution of phage display: from bioactive peptides to bioselective nanomaterials. Expert Opin Drug Deliv 5: 825–836 Rakonjac J, Bennett NJ, Spagnuolo J et al (2011) Filamentous bacteriophages: biology, phage display and nanotechnology applications. Curr Issues Mol Biol 13: 51–67 Ramström O, Lehn JM (2002) Drug discovery by dynamic combinatorial libraries. Nature Rev Drug Disc 1: 26–36 Rarey M, Kramer B, Lengauer T, Klebe G (1996) A fast flexible docking method using an incremental construction algorithm. J Mol Biol 261: 470–489 Reed NN, Janda KD (2000) Stealth star polymers: a new high-loading scaffold for liquid-phase organic synthesis. Org Lett 2: 1311–1313 Reineke U, Volkmer-Engert R, Schneider-Mergener J (2001) Application of peptide arrays prepared by the SPOT-technology. Curr Opin Biotechnol 12: 59–64 Rocheville M, Jerman JC (2009) 7TM pharmacology measured by label-free: a holistic approach to cell signaling. Curr Opin Pharmacol 9(5): 643–649 Sidhu SS, Fairbrother WJ, Deshayes K (2003) Exploring protein-protein interaction with phage display. ChemBioChem 4: 14–25 Stahl P, Kissau L, Mazitschek R et al (2002) Natural product derived receptor tyrosine kinase inhibitors: identification of IGF1R, Tie-2, and VEGF-3 inhibitors. Angew Chem 114: 1222–1226 Szardenings M (2003) Phage display of random peptide libraries: applications, limits, and potential. J Recept Signal Transduct Res 23: 307–349 Toepert F, Knaute T, Guffler S et al (2003) Combining SPOT synthesis and native peptide ligation to create large arrays of WW protein domains. Angew Chem 115: 1168–1172 Turk BE, Cantley LC (2003) Peptide libraries: at the crossroads of proteomics and bioinformatics. Curr Opin Chem Biol 7: 84–90
Weiterführende und vertiefende Literatur Höltje H-D, Sippl W, Rognan D, Folkers G (2008) Molecular modeling: basic principles and applications, 3rd edn. Wiley-VCH, Weinheim Klebe G (2009) Wirkstoffdesign. Spektrum Akademischer Verlag, Heidelberg Schlick T (2010) Molecular modelling and simulation, 2. Aufl. Springer, Berlin
87
Psychopharmaka-Entwicklung: von der Entdeckung bis zur Zulassung Ion-George Anghelescu
7.1
Einführung – 88
7.2
Grundlagenforschung – 88
7.2.1 7.2.2 7.2.3
Tiermodelle – 88 Neue Zielstrukturen – 89 Unterschiedliche Ansätze bei der Psychopharmaka-Entwicklung – 91
7.3
Psychopharmaka-Entdeckungs- und -Entwicklungsphasen – 91
7.3.1 7.3.2 7.3.3 7.3.4 7.3.5 7.3.6
Medikamentenentdeckungsphase (discovery phase) und erste frühe Entwicklungsphase – 92 Phase 0 – 96 Phase I – 96 Phase II – 97 Phase III – 98 Phase IV – 99
7.4
Herausforderungen in der Psychopharmaka-Entwicklung – 99
7.5
Zukunftsperspektiven – 102 Literatur – 103
G. Gründer, O. Benkert (Hrsg.), Handbuch der Psychopharmakotherapie, DOI 10.1007/978-3-642-19844-1_7, © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2012
7
7
88
Kapitel 7 · Psychopharmaka-Entwicklung: von der Entdeckung bis zur Zulassung
7.1
Einführung
Da psychische Erkrankungen eine sehr große Belastung für Individuen, die an ihnen leiden, aber auch für ganze Gesellschaften darstellen, und in Anbetracht der immer noch gebotenen sog. unmet needs (ungedeckter Bedarf) in der Behandlung dieser Störungen, werden gegenwärtig intensive Anstrengungen unternommen, um die Behandlung psychischer Erkrankungen zu verbessern. Neben nichtpharmakologischen somatischen Therapieverfahren (Elektrokrampftherapie oder Tiefenhirnstimulation) und Psychotherapien wie der kognitiven Verhaltenstherapie stellt die Pharmakotherapie bei psychischen Erkrankungen nach wie vor einen wichtigen Baustein dar. Um innovative pharmakologische Behandlungsmöglichkeiten zu entwickeln, sind die folgenden drei Punkte essenziell: 1. Verbesserung des Verständnisses der Pathophysiologie psychiatrischer Erkrankungen, 2. Klärung, wie Medikamente, die bereits auf dem Markt sind, ihre klinische Wirkung entfalten, 3. Identifikation neuer biologischer Zielstrukturen und – daraus abgeleitet – neuer Behandlungskonzepte. Bereits in antiken Schriften ist der Gebrauch von Pflanzenextrakten mit psychoaktiven Eigenschaften und ihre zeitweise Nutzung zur Behandlung von ZNS-assoziierten Erkrankungen beschrieben. Im 19. Jahrhundert wurde es durch die Fortschritte in der Chemie möglich, aktive Ingredienzen solcher Extrakte zu identifizieren und zu synthetisieren. Einige Beispiele liefert . Tab. 7.1. Während der Entwicklung der chemischen Industrie im 19. Jahrhundert wurde mit der rational begründeten Behandlung von ZNS-Erkrankungen begonnen, zunächst mit Substanzen wie Chloralhydrat und Bromiden zur Behandlung von Angststörungen. Insgesamt muss die pharmakologische Behandlung von psychischen Erkrankungen jedoch als dem 20. Jahrhundert zugehöriges Phänomen angesehen werden (überwiegend nach 1950; 7 Kap. 2). . Tab. 7.2 enthält einige Beispiele hierfür. Es gibt bislang nur eine relativ geringe Anzahl primärer Zielstrukturen, die von den Medikamenten zur Behandlung von psychischen Erkrankungen beeinflusst werden, und diese sind hauptsächlich mit der Interferenz der chemischen Transmission von Neurotransmittern assoziiert.
7.2
Grundlagenforschung
Die Grundlagenforschung ist für die Entdeckung von Medikamenten wichtig und kann mittlerweile auf bessere pharmakologische Werkzeuge zurückgreifen. Eine enge Zusammenarbeit zwischen Chemikern und Pharmakologen ist notwendig, um durch neue Substanzen zelluläre und Tiermodelle neu zu definieren und daraus neue Substanzen und Substanzklassen zu generieren (. Abb. 7.1). Die humanen Daten sind allerdings von entscheidender Bedeutung, weil sie die einzige reale Validierung der Tiermodelle,
der Behandlungsstrategie und innovativer Substanzen darstellen (. Abb. 7.2) (Hunter et al. 2010). Psychopharmaka können auf vier verschiedenen Zielproteintypen Effekte ausüben: 1. Ionenkanäle, 2. Rezeptoren, 3. Enzyme, 4. Transportproteine. Die gegenwärtig erhältlichen Psychopharmaka wirken hauptsächlich auf Rezeptoren, und zwar ionotrope und G-Protein-gekoppelte Rezeptoren (des Weiteren gibt es kinaseassoziierte und nukleäre Rezeptoren), und auf Transporter (v. a. für biogene Amine). Mittlerweile wurde auch eine Reihe nichtklassischer Mediatoren wie Stickstoffoxid, Eicosanoide, Wachstumsfaktoren u. a. entdeckt. Es gibt eine sehr große molekulare Diversität bekannter Rezeptoren und Ionenkanäle. Dieselbe Substanz (z. B. Glutamat) kann durch ligandengesteuerte Kanäle und G-Protein-gekoppelte Rezeptoren sowohl als Neurotransmitter als auch als Neuromodulator fungieren. Viele chemische Mediatoren (z. B. Glutamat, Stickstoffoxid, aber auch andere) werden sowohl von Gliazellen als auch von Neuronen produziert. Mediatoren wie Zytokine, Chemokine, Wachstumsfaktoren und Steroide kontrollieren die langfristigen Veränderungen im Gehirn, wie z. B. synaptische Plastizität, und beeinflussen das »Remodelling«, indem sie die Gentranskription affizieren. Alle Rezeptoren und Kanäle werden mindestens in drei verschiedenen Subtypen exprimiert, mit charakteristischen Verteilungen auf verschiedene Hirnareale. In den meisten Fällen ist jedoch die funktionale Bedeutung dieses Expressionsmusters unklar. Die molekulare Verschiedenheit solcher Zielstrukturen kann theoretisch hilfreich sein, um selektive Substanzen zu entwickeln, die spezifische krankheitsassoziierte Veränderungen positiv beeinflussen. Zu beachten sind neben der primären Interaktion der Substanz mit der Zielstruktur auch sekundäre Antworten des Gehirns auf diesen primären Effekt. Dieser sekundäre und nicht der primäre Effekt ist häufig mit dem klinischen Nutzen assoziiert. Beispiele hierfür sind die verzögerte Antwort bei der Gabe von Antidepressiva (nachdem die Konzentration biogener Amine innerhalb von Minuten bis Stunden um das über 50Fache ansteigt) und Toleranz- und Abhängigkeitsentwicklungen bei Opiaten.
7.2.1
Tiermodelle
Tiermodelle (7 Kap. 10 und 7 Kap. 22–27) spielen im Zusammenhang mit präklinischer Medikamentenevaluation eine große Rolle, stellen aber auch eine besondere Herausforderung dar, da die Translatierbarkeit der Ergebnisse, die am Tier gewonnen werden, auf den Menschen und vom gesunden Menschen auf den Patienten gerade in der Psychiatrie nur beschränkt möglich ist. Die sog. »translationale Forschung« hat zum Ziel, besser wirksame psychotrope Substanzen zu finden, wobei die Wirkung am Patienten so gut wie möglich und so früh wie möglich
89 7.2 · Grundlagenforschung
. Tab. 7.1 Psychoaktive Substanzen in der Antike Substanz
Aktive Verbindung
Gebrauch
Bier, Wein
Ethanol
Anxiolyse
Opium
Morphin
Analgesie
Kokablätter
Kokain
Gegen Erschöpfung
Cannabis
Tetrahydrocannabinol
Sedativum, Analgesie
Kaffee
Koffein
Psychostimulans
Tabak
Nikotin
Psychostimulans
vorhersagbar sein sollte. Tiermodelle sind insbesondere in der präklinischen Phase der sog. target validation (Gültigkeit der Zielstruktur für bestimmte psychische Erkrankungen), drug selection (Auswahl einer geeigneten Substanz für die weitere Entwicklung) und drug characterization (Charakterisierung der Substanz) von Bedeutung. Wichtig bei der Validierung der Zielstruktur ist selbstverständlich die Hirnspezifität, weil Targets, die ubiquitär vorhanden sind, durch direkte Beeinflussung sekundäre, unerwünschte Effekte, die schwer kontrollierbar sind, erwarten lassen (z. B. FKBP5 als Target bei Depression, Horstmann et al. 2010). Dosisbereiche für den Einsatz beim Menschen lassen sich zumindest schätzungsweise angeben, wobei beachtet werden sollte, dass es bei manchen Substanzen speziesspezifische Metaboliten geben kann (Reagan-Shaw et al. 2007). Umrechnungsfaktoren in humane Äquivalenzdosen betragen für die Maus 0,08, für die Ratte 0,16 und für den Hund 0,54 (die im Tier verwendete Dosis muss also mit diesem Koeffizienten multipliziert werden, um die Dosis beim Menschen abzuschätzen). Translationale Modelle versuchen, präklinische und klinische Studien bidirektional zu überbrücken, indem sie gemeinsame Parameter und Techniken verwenden (z. B. Messung kognitiver Funktionen). Die Entwicklung translationaler Tiermodelle könnte durch die Hinzunahme genetischer funktioneller Befunde dazu führen, vom Tiermodell zum Modelltier bestimmter psychischer Störungen zu gelangen (Malkesman et al. 2009).
7.2.2
Neue Zielstrukturen
Der Begriff »präklinisch« bezieht sich im Zusammenhang mit der Medikamentenentwicklung auf die Phase, in der ein Pharmakon noch keinem Menschen verabreicht wurde (im Gegensatz zur allgemeinen Definition in der Medizin, die mit »präklinisch« die Phase vor der Behandlung von Patienten meint). Neue Targets stellen Gliazellen, intrazelluläre Proteine, neuronale Plastizität und Epigenetik dar, die sich mit putativen Zielstrukturen für zukünftige Behandlungsoptionen beschäftigen (Chen et al. 2010; Millan 2006) (. Abb. 7.3). Ein Trend, der sich in der Psychopharmaentwicklung feststellen lässt, ist die Abweichung von orthosterischen Medikamenten (in erster Linie Ant-
. Tab. 7.2 Meilensteine der pharmazeutischen Entwicklung von (Neuro-)Psychopharmaka Jahr
Wirkstoff
Störung
1912
Phenobarbital
Epilepsie
1940–1949
Lithium
Bipolare Störungen
1950–1959
Iproniacid (erster MAOH), Chlorpromazin (Antipsychotikum der ersten Generation), Imipramin (erstes TZA)
Depression, Schizophrenie
1960–1969
Diazepam, Chlordiazepoxid (erste Benzodiazepine)
Angststörungen
1970–1979
Clozapin, Carbamazepin
Schizophrenie, Epilepsie
1980–1989
SSRI
Depression
1990–1999
Tacrin (erster AChI), Antipsychotika der zweiten Generation, neue Generation von Antikonvulsiva, Mirtazapin
Alzheimer-Demenz, Epilepsie, Schizophrenie, Depression
2000–2009
AChI der zweiten Generation, Memantin, Acamprosat
Alzheimer-Demenz, Alkoholabhängigkeit
MAOH Monoaminoxidasehemmer, TZA trizyklisches Antidepressivum, SSRI selektiver Serotoninwiederaufnahmehemmer, AChI Acetylcholinesteraseinhibitor.
agonisten) zu allosterischen Modulatoren (positiv und negativ allosterische Modulatoren, »PAM« und »NAM«) (Alderton et al. 2009). Im Gegensatz zur direkten Stimulation einer Erkennungsstruktur für endogene Liganden bietet die allosterische Modulation einige Vorteile: 4 Es ist einfacher, Selektivität zu erzielen, indem eine modulatorische Bindungsstelle in der transmembranösen Domäne als Zielstruktur definiert wird, die phylogenetisch seltener Mutationen aufweist als eine Bindungsstelle, welche eine direkte physiologische Rolle spielt. 4 Modulatorische Substanzen sollten lipophiler sein und damit besser hirngängig. 4 Es scheint physiologischer zu sein, endogene Signale zu modulieren, anstatt spezifische Rezeptoren tonisch zu beeinflussen. Die wichtigste Schnittstelle, um mit einer Translation präklinischer experimenteller Daten zu humanen Experimenten zu beginnen, stellt eine Substanz und ihre pharmakokinetischpharmakodynamischen Eigenschaften selbst dar. Die in silico, in vitro und im Tierversuch in vivo gewonnenen Daten müssen in Beziehung gesetzt werden zu den erwarteten oralen Humandosen, um eine möglichst genaue Prädiktion des therapeutischen Fensters zu ermöglichen. Dies geschieht mit bestimmten statistischen Verfahren (wie den Bayes-Analysen), die zu pharmakokinetisch-pharmakodynamischen Modellen führen.
7
90
Kapitel 7 · Psychopharmaka-Entwicklung: von der Entdeckung bis zur Zulassung
Bildgebung PET, fMRT etc.
EEG
Genesche Marker
Phase 1 Sicherheit
Klinische Studien
Funkonale Parameter: Kognion, Neuroendokrinologie etc.
Phase 2/3 Wirkung
Phase 4 Pharmakovigilanz
Translaonale (Tier-)Modelle
7
Chemie Medizinische Chemie/HTS Pharmakologie
Grundlagenforschung Industrie/Akademie Medikamentenentdeckung
. Abb. 7.1 Interdisziplinäres Entwicklungsteam
Serum (Neuroendokrinologie, Biochemie)
Bildgebung (fMRT, PET, MRS)
EEG (Schlaf, ERP) Elektrische Akvität (patch-clamp)
Evaluierbare Parameter
Neurochemie (Neurotransmiersynthese und -sekreon)
Genregulaon (z.B. Transkriponsfaktoren)
Transdukon (z.B. Rezeptordichte)
Neuroplaszität (Neurogenese, Synaptogenese)
. Abb. 7.2 Komplementäre Untersuchungen beim Tier in der Psychopharmaka-Entwicklung. Grau: Untersuchungen zur Translatierbarkeit beim Menschen
7
91 7.3 · Psychopharmaka-Entdeckungs- und -Entwicklungsphasen
Neuregulin, DISC-1
Neurotrophe Faktoren, Neurosteroide
GSK-3βKaskade
ER, GR Rezeptoren
Zukünige Psychopharmaka?
Transdukon, Signalproteine (Kinasen, Phosphatasen etc.)
. Abb. 7.3 Membranständige und intrazelluläre Zielstrukturen für Psychopharmaka. DISC disrupted in schizophrenia, GSK Glykogensynthase-Kinase, ER Östrogenrezeptor, GR Glukokortikoidrezeptor
7.2.3
Unterschiedliche Ansätze bei der Psychopharmaka-Entwicklung
Es gibt im Prinzip zwei unterschiedliche Ansätze der Entdeckung neuer Psychopharmaka: 1. Ein direkter Pharmakologieansatz: Eine neue Substanz wird appliziert, wodurch es zu einer Veränderung der biologischen Funktion im ZNS kommt, woraufhin der Wirkmechanismus festgestellt wird. Dieser Prozess wird von der Physiologie der Zelle oder des Organismus bestimmt und beinhaltet die Feststellung des Wirkmechanismus durch Invitro-Methoden. 2. Ein »reverser Pharmakologieansatz«: Zunächst wird die therapeutische Zielstruktur isoliert (die z. B. auch zufällig über die Wirkung eines »Nichtpsychopharmakons« gefunden wird) und anschließend eine Substanz gesucht, die an diese Zielstruktur bindet, um dann die Substanz chemisch zu modifizieren und die In-vivo-Effekte zu maximieren (Wong et al. 2010). Abschließend wird die erwünschte biologische Funktion in vivo nachgewiesen. Dieser Prozess wird durch die molekularen Zielstrukturen angestoßen, die Substanzen zeigen zunächst In-vitro-Aktivität, um anschließend In-vivo-Aktivität nachweisen zu können. Die Substanz wirkt über einen zunächst vermuteten und anschließend validierten Wirkmechanismus (. Abb. 7.4, . Abb. 7.5 und . Abb. 7.6).
7.3
Psychopharmaka-Entdeckungsund -Entwicklungsphasen
Die Entdeckung und Entwicklung einer neuen ZNS-wirksamen Substanz kann in verschiedene konsekutive Stadien, die allerdings in ihrer Sequenz variieren können, eingeteilt werden. Der Prozess beginnt immer mit dem Versuch, biochemische und physiologische Elemente zu identifizieren, die bei einer psychischen Erkrankung nicht adäquat funktionieren. Nach diesen Untersuchungen kann eine Serie von biologischen Zielstrukturen, die »druggable« sind (d. h. so beschaffen, dass Medikamente entwickelt werden können, die daran binden), identifiziert werden, die der experimentellen Untersuchung von Medikamentenkandidaten dienen können. Diese Evaluationen dienen dazu, v. a. drei Fragen zu beantworten: 1. Hat ein Medikamentenkandidat den erwarteten therapeutischen Effekt? 2. Ist der Medikamentenkandidat sicher? 3. Greift der Medikamentenkandidat an die gewünschte Zielstruktur an? Dies geschieht durch einen Medikamentenentdeckungs-/Medikamentenentwicklungsprozess (. Abb. 7.7). Am Ende der Medikamentenentdeckung und in der präklinischen Entwicklung sollte eine sog. lead compound (Leitsubstanz) gefunden werden, die die gewünschten Eigenschaften auf-
92
Kapitel 7 · Psychopharmaka-Entwicklung: von der Entdeckung bis zur Zulassung
Zufällige Beobachtung eines Verhaltenseffekts eines »nichtpsychiatrischen Pharmakons
Besmmung des Wirkmechanismus als reverse Pharmakologie
Synthese und Testung neuer Substanzen in Tiermodellen
ZielstrukturValidierung beim Menschen (Gesunde und Paenten)
. Abb. 7.4 Typischer Psychopharmaka-Entdeckungsprozess in den letzten 50 Jahren
Klinische Beobachtung
Klinische Beobachtung
Molekulare Zielstruktur
Fokussierte, hypothesengeleitete klinische Beurteilung
Fokussierter Proof-ofMechanism in präklinischen Modellen
7
Prädikves Tiermodell
Wirkmechanismus/ modifizierte Struktur
. Abb. 7.5 Vereinfachte historische Perspektive der Psychopharmaka-Entwicklung
. Abb. 7.6 Moderne Version der Psychopharmaka-Entwicklung mit dem Startpunkt: molekulare Zielstruktur
weist, zumindest soweit sich dies in vitro und in vivo (Tiermodelle) beurteilen lässt. Anschließend, ab Phase I, kommt es zu einer Evaluation beim Menschen (pharmakokinetische und am besten auch pharmakodynamische Studien). Am Ende dieser Phasen steht dann die Zulassung, wobei der Medikamentenevaluationsprozess hier nicht stehen bleibt, da anschließend PostMarketing-Studien durchgeführt werden, um die Sicherheit anhand vieler behandelter Patienten praxisgerecht nachzuweisen. Die Medikamentenentdeckung und -entwicklung beinhaltet den Einsatz relevanter und angemessener Modelle, um die drei vorher besprochenen Fragen zu beantworten. So kann dieser Prozess als evidenzbasierte Entscheidungsfindung angesehen werden, wobei an bestimmten Stellen die Frage gestellt wird, ob eine Fortführung des Entwicklungsprogramms angestrebt wird oder nicht. In den Phase-III-Studien wird dann die Substanz gegen entweder aktive Vergleichssubstanzen und/oder Plazebo durchgeführt. Es werden also prinzipiell 5–6 Entwicklungsphasen in der Psychopharmakologie unterschieden, wobei der Gesamtprozess interdisziplinär ist (. Abb. 7.1).
turen identifiziert und aussortiert, wenn bestimmte Kriterien (physikochemische, pharmakodynamische Eigenschaften) negativ beurteilt werden (Sundberg 2000). Es findet anschließend eine Charakterisierung der Moleküle hinsichtlich ihres Bindungsaffinitätsprofils bezüglich anderer Transporter/Rezeptoren statt. Die medizinische Chemie schließlich fokussiert auf eine kleinere Anzahl relevanter Strukturen, die häufig nicht von HTC abgeleitet sind. Tierversuche werden im Allgemeinen erst angewandt, wenn eine bereits weiterführende Untersuchung stattgefunden hat, die »ernsthafte« Kandidaten identifiziert hat. Dies erfolgt parallel zur Evaluation der Sicherheit und der metabolischen Profile, die auch die Bindung von Substanzen an Zielstrukturen (Targets) im Gehirn beinhalten. Es ist wichtig zu betonen, dass diese Phase der Tierversuche zwar vor den Humanversuchen beginnt, aber mit diesen überlappen kann. Um zu verhindern, dass toxische Substanzen mit einer geringen therapeutischen Breite zur Marktreife kommen, wird vermehrt bereits in der Entdeckungsphase, also vor der Medikamentenentwicklung, nach effizienten Filtermethoden gesucht, um potenziell toxische Präparate zu identifizieren. In dieser Phase wird zum einen also die therapeutische Breite beurteilt, zum anderen die Art der potenziellen Toxizität, die auftreten könnte, evaluiert und schließlich nach möglichen klinischen Biomarkern für diese Art von Toxizität gesucht. Außerdem wird beurteilt, ob die Effekte reversibel sind. Es wird ein Risiko-Nutzen-Quotient gebildet und die relative Häufigkeit solcher Effekte in der Zielpopulation abgeschätzt. Im ersten Stadium der präklinischen toxikologischen Beurteilung wird ein bestimmter Dosisbereich für einen relativ kurzen Zeitraum untersucht (bis zu
7.3.1
Medikamentenentdeckungsphase (discovery phase) und erste frühe Entwicklungsphase
Während dieser Projektphase findet eine sog. High-throughput-Chemistry (HTC) statt, die unzählige, meist nutzlose Struk-
93 7.3 · Psychopharmaka-Entdeckungs- und -Entwicklungsphasen
Hypothese
Festlegung eines Medikamenten- Evaluation aller kandidaten präklinischen Daten
Auswahl Zielstruktur
Exporative Wissenschaft (2-3 Jahre): Identifikation und Validierung von Zielstrukturen
StrukturAktivitätsbeziehung in-vitro; In vivo-Modelle, initiale PK/SicherheitsBestimmungen: 2-5 Jahre
Anzahl Moleküle: 10-10000
Ausführliche pharmakologische Charakterisierung (2-3 Jahre)
Phase 0-3 (6-10 Jahre): Beurteilung der Entwickelbarkeit Sicherheit Toxikologie
Anzahl Moleküle: Anzahl Moleküle: 3-10 2-3
Einreichung zur Zulassung
Zulassung
Registrierungsprozess: 1-2 Jahre
Phase 4 (? Jahre): Pharmakovigilanz, andere Indikationen
Anzahl Moleküle: Anzahl Moleküle: 1-2 1-2
In silico
In vitro Tiermodelle Human-Studien
Zeit . Abb. 7.7 Prototypischer Zeitverlauf der Psychopharmaka-Entdeckung und -Entwicklung
28 Tage). Dabei werden die hauptsächlichen Zielorgane für eine mögliche Pathologie und die physiologischen Systeme, die in der Toxikologie der jeweiligen Substanz involviert sind, identifiziert. Während dieser Phase muss noch nicht nach GLP-Standards (good laboratory practice) vorgegangen werden, was jedoch in der nächsten Stufe der Entwicklung erfolgt. Dies ist dann der Fall, wenn FIH-Untersuchungen (first in human, zuerst am Menschen) erfolgen. Dies geschieht – zumindest in den USA im sog. IND-Zulassungsstadium (investigational new drug, neue zu erforschende Substanz). Die Untersuchungen, die diese FIHDosis unterstützen sollen, beinhalten Studien in zwei Tierspezies (eine in einem Nagetier, eine in einem Nichtnagetier), Invitro- und In-vivo-Genotoxizitätstests, Sicherheitspharmakologie und reproduktive Toxizitätsuntersuchungen. Es gibt noch eine Frühphase der Zulassung auf dem sog. NME-Niveau (new molecular entity, neue molekulare Entität). Dieses chemische und pharmazeutische Entwicklungsstadium beinhaltet die Synthese und Aufreinigung der Substanz (kiloweise Herstellung), die Beurteilung der Stabilität der Substanz unter verschiedenen Bedingungen und die Entwicklung einer Darreichungsform, die für klinische Studien geeignet ist. GLP-Standards erfordern strikte Disziplin, die die kreative Forschungsphase in früheren Stadien behindern würde, sodass diese nur dann, wenn die Entwicklung fortgeschritten ist, angewandt werden. Substanzbibliotheken, wie sie in großen pharmazeutischen Unternehmen existieren, können bis zu 1 Mio.
verschiedene Substanzen beinhalten. Durch kombinatorische Chemie werden dann relativ schnell mehrere Tausend verwandte Präparate simultan untersucht. Theoretisch existieren weltweit etwa 1060 medikamentenähnliche Moleküle. Nachdem eine lead compound gefunden wurde, kommt es zur Optimierung der physikochemischen Eigenschaften, um z. B. die Potenz der pharmakodynamischen Wirkung, die Selektivität oder die metabolische Stabilität zu erhöhen. Die meisten neuen Verbindungen im ZNS-Bereich gehören zu den sog. Klasse-2-Molekülen mit den in den . Abb. 7.8 dargestellten Eigenschaften (Benet et al. 2008; Wu u. Benet 2005). Insbesondere die geringe Löslichkeit führt nicht selten zu Herstellungsproblemen, was die Einstellung der Entwicklung ansonsten vielversprechender Substanzen bedeuten kann. Die begleitenden präklinischen toxikologischen Studien beinhalten die chronisch-wiederholte Gabe (3–12 Monate) der zu untersuchenden Substanz wieder in zwei Spezies, dann auch langfristige (18–24 Monate) Karzinogenitätsstudien und Untersuchungen, ob es sich um reproduktive Schäden durch die Substanz handelt. Zusätzlich werden Tests, die als notwendig erachtet werden, um spezifische Typen von Toxizität zu detektieren, mit eingeschlossen. Folgende Fragen müssen in diesem Prozess, der nach sog. ICH-Richtlinien zu erfolgen hat (ICH: International Conference on Harmonisation; Draft International Guidelines: www.ich.org), beantwortet werden, wenn eine Zulassung angestrebt wird:
7
Niedrige Löslichkeit
Klasse 1
Klasse 2
35 % der zugelassenen Medikamente 5% der NME Metabolismus
30% der zugelassenen Medikamente 70% der NME Metabolismus
Klasse 3
Klasse 4
25% der zugelassenen Medikamente 5% der NME Renale/biliäre Elimination ohne Metabolismus
10% der zugelassenen Medikamente 20% der NME Renale/biliäre Elimination ohne Metabolismus
Niedrige Absorptionsrate
Niedrige Absorptionsrate
7
Hohe Löslichkeit
Hohe Absorptionsrate
Kapitel 7 · Psychopharmaka-Entwicklung: von der Entdeckung bis zur Zulassung
Hohe Absorptionsrate
94
. Abb. 7.8 BCS (Biopharmaceuticals Classification System): Klassifikationssystem zur Prädiktion von In-vivo-Pharmakokinetik nach In-vitro-Absorptionsund Löslichkeitseigenschaften (Amidon et al. 1995, Wu u. Benet 2005). NME new molecular entities
Vor einer Medikamentenzulassung zu beantwortende Fragen 4 Welche akuten Dosierungen der Substanz sind notwendig, um Letalität hervorzurufen, und was sind Näherungswerte für NOEL (no observed effect level) und NOAEL (no observed adverse effect level)? 4 Was sind die maximal tolerierten Dosen, ohne toxische Effekte zu provozieren? 4 Gibt es negativ beeinflusste Zielorgane bei der beabsichtigten therapeutischen Dosis? 4 Nach mehrmaliger Anwendung einer beabsichtigten therapeutischen Dosis: Kommt es zu Sicherheitsbedenken, die bereits bei anderen ZNS-wirksamen Substanzen in Post-Marketing-Studien identifiziert wurden? 4 Welche Zielorgane bezüglich toxischer Dosen der Substanz können nach akuter verlängerter oder chronischer Gabe identifiziert werden? 4 Hat die Substanz mutagenes Potenzial, wenn sie in vitro und in vivo angewandt wird? 4 Induziert die Substanz bei chronischer Anwendung Tumore? 4 Wie ist das teratogene Potenzial der Substanz? 4 Hat die Substanz einen Einfluss auf die normale Entwicklung eines Neugeborenen? 4 Hat die Substanz einen Einfluss auf die reproduktive Kapazität? 4 Ist die Substanz innerhalb des therapeutischen Fensters (klinische Untersuchung) sicher? 4 Gibt es Biomarker, die für die ersten Humanstudien eingesetzt werden können, um die Sicherheit der Substanz zu untersuchen?
Für die Beantwortung dieser Fragen stehen im Prinzip vier verschiedene Methoden zur Auswahl: 1. In silico mit Computermodellierung. Hier wird eine quantitative Strukturaktivitätsanalyse durchgeführt, um bereits frühzeitig stark toxische Substanzen in der Entwicklung zu stoppen. 2. In vitro beinhaltet verschiedene Assay-Systeme, z. B. immortalisierte Zelllinien. Dies kann dazu dienen, toxische Substanzen vor den Tierversuchen zu stoppen. In diesem Zusammenhang können auch High-throughput-Techniken eingesetzt werden, um strukturell verwandte Substanzen und deren relative Kapazität für die Induktion bestimmter Toxizitätstypen zu evaluieren (Schoonen et al. 2009). 3. Ex vivo, abgeleitet von lebenden Tieren, z. B. Zellen, Gewebeproben oder isolierten Organen. 4. In vivo stellt die Untersuchung an lebenden Organismen dar, hauptsächlich Ratten und Mäuse. Nagetiere werden hier bevorzugt wegen ihrer Größe, der Kenntnisse über diese Spezies bei toxikologischen Tests und der geringeren Kosten im Vergleich zu größeren Tierspezies. Genetisch modifizierte Mäuse können zudem einen Hinweis auf toxikologische Mechanismen liefern. Für spezifische Sicherheitsaspekte werden auch Nichtnagetier-Spezies wie Hunde (für kardiovaskuläre Evaluationen) eingesetzt. Drei verschiedene pharmakologische Bereiche können unterschieden werden, wenn es um unerwünschte Wirkungen von Psychopharmaka geht: 1. Primäre Pharmakologie: Darin geht es um die unerwünschten Effekte, die mit dem primär erwünschten Effekt eines Psychopharmakons im Zusammenhang stehen. 2. Sekundäre Pharmakologie: Bei Substanzen, die verschiedene Rezeptor- oder Zielstruktursubtypen beeinflussen und
95 7.3 · Psychopharmaka-Entdeckungs- und -Entwicklungsphasen
in der modernen Medikamentenentwicklung eher seltener werden. 3. Mechanismusbasierte Toxizität: Diese entsteht durch die Bildung von reaktiven Metaboliten (Park et al. 2011) durch Bioaktivierung (z. B. Gingiva-Hyperplasie durch Phenytoin). Solche Reaktionen sind schwer vorherzusagen und können nicht immer durch präklinische toxikologische Untersuchungen festgestellt werden. Die Sicherheitspharmakologie unterscheidet sich von der Toxikologie dadurch, dass es v. a. um funktionelle und nichtstrukturelle Endpunkte geht (wie z. B. Erbrechen und damit assoziierte Gewichtsabnahme bei bestimmten Tierspezies). Außer der Durchführung von toxikologischen Tests zur Prüfung der Letalität wird eine explorative Toxikologie durchgeführt, um folgende Fragen zu beantworten: 4 Dosislimitierende Toxikologie, 4 Identifikation von Zielorganen, 4 Feststellung der therapeutischen Breite, 4 Feststellung des möglichen Dosisbereichs für längerfristige toxikologische Untersuchungen, 4 Notwendigkeit von speziellen Untersuchungen, die nicht routinemäßig von den Zulassungsbehörden gefordert werden. Bei der Genotoxizität werden Mutagenitätsstudien und chromosomale Untersuchungen unterschieden. Reproduktive Toxizität spielt eine sehr große Rolle für viele ZNS-Substanzen, insbesondere in der psychiatrischen Pharmakotherapie, da diese häufig bei Patientinnen im gebärfähigen Alter eingesetzt werden (ACOG 2008) (negatives Beispiel: Thalidomid in den 1960er Jahren). Die reproduktiven Toxikologieuntersuchungen lassen sich in drei Segmente nach ICH-Richtlinien aufteilen (. Tab. 7.3): 4 Segment 1 – Effekte auf die Fertilität: Führt die Substanz zu einer Abnahme der Fertilität? 4 Segment 2 – Embryonale und fetale Entwicklung oder Teratologie: Führt die Substanz zu einer Malformation des sich entwickelnden Feten? 4 Segment 3 – Prä- und postnatale Entwicklung: Hat die Substanz einen Einfluss auf das normale Wachstum des Föten? Wird die Substanz in die Muttermilch aufgenommen und führt sie zu Nebenwirkungen beim Neugeborenen? Biomarker werden nicht nur als Surrogatmarker für klinische Effektivität entwickelt, sondern auch um Nebenwirkungen vorherzusagen. In diesem Zusammenhang ist es insbesondere in der Alzheimer-Forschung zu Fortschritten gekommen (Roses 2009). Computergestützte Modelle sind in der Neuropsychopharmakologie besonders herausfordernd, da die meisten psychischen Erkrankungen keine klar definierte Neuropathologie aufweisen (Ausnahmen stellen insbesondere die Demenzen dar). Biomarker lassen sich aufgrund ihrer Eigenschaften in drei Haupttypen unterteilen:
. Tab. 7.3 Zusammenfassung der in den verschiedenen Segmenten verwendeten Tiere und der Untersuchungs-Endpunkte Segment
Tiere
Endpunkt
Segment 1
Männliche und weibliche Ratten werden 14 oder 28 Tage mit der Substanz vorbehandelt
Messung des Spermiengehalts und Zählung der lebenden und toten Embryonen am 6. Gestationstag
Segment 2
Weibliche Tiere zweier oder dreier Spezies (Ratte, Maus, Kaninchen) erhalten die Substanz zwischen dem 6. und 18. Gestationstag
Anzahl der Feten und struktureller Abnormalitäten
Segment 3
Weibliche Ratten erhalten die Substanz während der Gestation und Laktation
Nachwuchs wird bezüglich Motilität, Reflexniveau etc. beurteilt (während und nach der Stillzeit)
4 Typ-0-Biomarker begleiten den natürlichen Verlauf der Erkrankung. 4 Typ-1-Biomarker untersuchen den Effekt einer Intervention, die mit dem Wirkmechanismus der Substanz zusammenhängt, ohne sich strikt an eine Beziehung zum klinischen Outcome zu halten. 4 Typ-2-Biomarker sind ein wirklicher Surrogat-Endpunkt, bei dem eine Veränderung des Biomarkers prädiktiv für das klinische Resultat ist. Pharmakokinetische Eigenschaften dürfen in der Medikamentenentwicklung keinesfalls unterschätzt werden, und auch die regulatorischen Vorgaben bezüglich der toxikologischen Untersuchung spielen eine große Rolle. So können Substanzen, die keine Organtoxizität beim Tier aufweisen, aber funktionale Nebenwirkungen, die die weitere Erhöhung der Dosis unmöglich machen, zu einem Abbruch der Entwicklungsprogramme führen. Folgende Bereiche können mittels Tierversuchen, die z. T. auch behördlich angeordnet sind, in der ZNS-Medikamentenentwicklung abgedeckt werden: 1. Toxizität in akuten Überdosissituationen: mittels LD50-Test und seinen Modifikationen, 2. Mechanismus der Toxizität: Zielorgane, In-vivo-Telemetrie und Elektrophysiologie, 3. Nebenwirkungen bei therapeutischen Dosen: durch Sicherheitspharmakologie, 4. die Sicherheitspharmakologie wiederum kann Effekte auf Blutparameter, Leber und Lipide durch Kurzzeit- und chronische Toxizitätsstudien nachweisen, des Weiteren Effekte auf den sich entwickelnden Feten durch Reproduktions- und Fertilitätsstudien ebenso wie Effekte auf Neugeborene.
7
7
96
Kapitel 7 · Psychopharmaka-Entwicklung: von der Entdeckung bis zur Zulassung
7.3.2
Phase 0
Zunehmendes Interesse besteht an Phase-0-Studien, in denen die Administration subpharmakologischer Mikrodosen von Substanzen (mehrere 100-fach niedrigere als die, die vorausgesagt wird, effektiv zu sein) mittlerweile vor den Phase-I-Studien durchgeführt werden kann. Eine andere Definition von Phase0-Studien ist die einer Untersuchung, die ohne Substanz durchgeführt wird, um biomarkerassoziiert und reversibel krankheitsähnliche neurobiologische Veränderungen bei gesunden Probanden zu induzieren (z. B. Ketamin-Challenge-Test für Psychosen oder CO2-Challenge-Test für Angststörungen). Phase-0-Studien sind explorative FIH-Studien, die dazu dienen, möglichst schnell bei Menschen festzustellen, ob die präklinischen Daten anwendbar sind. In typischen Phase-0-Studien wird eine Studiensubstanz in einzelnen subtherapeutischen Dosen einer kleinen Anzahl (10–15) gesunder Probanden verabreicht, um pharmakodynamische und -kinetische Parameter zu erheben. Die Phase-0-Studien können eine frühe Einschätzung der Pharmakokinetik und manchmal sogar der Pharmakodynamik mit der Detektion von ausgeprägten und unerwarteten Medikamentenwirkungen verbinden. Eine solche Information ist tatsächlich sehr hilfreich, um die Dosis für Phase-IStudien zu bestimmen, kann aber nur eingeschränkt beurteilt werden, weil die Substanz in derart niedrigen Dosen auch anderen Regeln und Mustern als in therapeutischen Dosen folgen, wo andere Faktoren wie Enzymsättigung oder Enzyminduktion intervenieren können. Eine Phase-0-Studie gibt keinerlei Auskunft über Sicherheit und Wirksamkeit, da es sich um eine per definitionem zu niedrige Dosis handelt, um irgendeinen therapeutischen Effekt erwarten zu lassen. Phase-0-Studien sollen verschiedene Medikamentenkandidatenmoleküle miteinander vergleichen, um diejenigen mit den besten pharmakokinetischen Parametern im Humanmodell zu finden und damit die weitere Entwicklung zu erleichtern. Sie erlauben Entscheidungen, die auf relevanten Humanmodellen basieren, anstatt von manchmal inkonsistenten Tierversuchsdaten abzuhängen. Es wird jedoch diskutiert, ob Phase-0-Studien wirklich dahingehend nützlich sind, den Entwicklungsprozess zu beschleunigen.
7.3.3
Phase I
Phase I bezeichnet sowohl ein bestimmtes Stadium der Medikamenten-Entwicklung als auch eine bestimmte Art der Untersuchung unabhängig vom Stadium der Entwicklung. In Phase-IStudien werden typischerweise 20–300 gesunde Probanden, manchmal jedoch auch mehr, untersucht. Es geht hier darum, Sicherheitsaspekte (Pharmakovigilanz) zu berücksichtigen (Jones 2007), Tolerabilität, pharmakokinetische und pharmakodynamische Aspekte. In Phase-I-Studien werden auch verschiedene Dosen untersucht (Dosiseskalation). Meist beinhalten die Dosierungen nur einen Bruchteil der Dosen, die bei Tierversuchen zu toxischen Phänomenen führten. Die Probanden in Phase-I-Studien sind meist Gesunde, es können jedoch auch einige Aspekte bei Kranken untersucht werden (z. B. D2-Antagonisten
bei schizophrenen Patienten). Das erfolgt dann, wenn eine Substanz zu viele Nebenwirkungen oder gar toxische Effekte bei Gesunden erwarten lässt. FIH-Studien werden v. a. mit einer kleinen Anzahl von jungen, typischerweise männlichen gesunden Probanden durchgeführt. Diese Art von Studien hat sich in experimentellen Designs innerhalb der letzten Jahre kaum verändert. Es gibt jedoch Initiativen, bereits früher in der Entwicklung Frauen zu einzuschließen, da es nicht nur pharmakokinetische Unterschiede (z. B. geringere glomeruläre Filtrationsrate, geringeres Distributionsvolumen, höhere Serumkonzentationen des Medikaments, geringere Organdurchblutung etc. bei Frauen), sondern möglicherweise auch pharmakodynamische Unterschiede gibt (Anderson 2008). Obwohl FIH-Studien eine große Variabilität aufweisen, werden im Durchschnitt 5 Dosislevels und eine Plazebokontrollgruppe untersucht, wobei im Durchschnitt 32 Probanden in einer Doppelblindstudie inkludiert werden. Am häufigsten werden parallele Gruppendesigns gewählt, wobei jeder Proband eine einmalige Dosis erhält. Abweichungen davon stellen MADStudien mit einem Crossover-Design dar. Folgende pharmakokinetische Untersuchungen werden durchgeführt: 1. SAD-Studien (single-ascending dose), in denen eine kleine Gruppe (5–10) Teilnehmern eine Dosis des Medikaments erhält. Dann erhält eine andere Kohorte eine höhere Dosis usw., was so lange wiederholt wird, bis die maximal tolerierte Dosis (MTD) gefunden ist. 2. MAD-Studien (multiple-ascending dose), um die pharmakokinetischen und -dynamischen Eigenschaften nach multipler Dosierung zu beurteilen. Dabei erhält ein Proband die gleiche tägliche Dosis, z. B. 7 Tage lang. Es werden gleichzeitig pharmakokinetische Daten erhoben (durch Serumkonzentrationsbestimmungen). Schließlich besteht ein Teil der Phase I auch darin, Nahrungseffekte festzustellen, wobei meist Probanden zwei identische Dosen unter verschiedenen Bedingungen erhalten, eine unter Nahrungskarenz, eine nach der Gabe eines Standardmahls. Es erfolgt eine Überprüfung, ob die Ergebnisse aus Tiermodellen auf den Menschen übertragbar sind, und Dosierrichtlinien werden entwickelt. Zuvor folgen nach Abschluss der sog. lead optimization (Optimierung der Leitsubstanz) umfassende In-vitro- und In-vivo-Untersuchungen (Modellsystem bestehend aus Zellen, Zellverbänden und Tierversuchen) an den sog. lead candidates (Leitsubstanz-Kandidaten). In diesem Stadium erfolgt auch die Patentanmeldung (intellectual property, IP). Zumeist werden chemische Serien mit spezifischen Strukturen patentiert, im Verlauf auch neue Darreichungsformen und neue therapeutische Indikationen. Von der Hypothese bis zur Marktreife dauert es im Durchschnitt etwa 15 Jahre oder sogar länger. Sobald ein Patent angemeldet ist, stehen im Allgemeinen 20 Jahre zur Verfügung, bis die Substanz generisch wird. Daher besteht eine Tendenz, trotz des Risikos eines fehlenden Patentschutzes die Patentierung so lange wie möglich hinauszuzögern, um den Zeitraum für die Patentierung während der Post-Marketing-Phase zu verlängern.
97 7.3 · Psychopharmaka-Entdeckungs- und -Entwicklungsphasen
Verbindungen erhalten zumeist in diesem Stadium einen Namen, der sich von dem ursprünglich eingesetzten unterscheidet. Wenn sich eine Substanz in einem In-vitro-Experiment als wirksam erweist, bedeutet das noch nicht, dass sie auch ein geeigneter Medikamentenkandidat ist. In der frühen Entwicklungsphase geht es darum, möglichst frühzeitig ungeeignete Verbindungen zu erkennen und diese dann nicht weiter zu entwickeln. Nur eine Substanz pro 1000 in der ZNS-Forschung entdeckte Verbindungen wird dann tatsächlich bis zur Marktreife gebracht. Konzentrationsbestimmungen von Serumproteinen während Phase-I- und Phase-II-Studien können als Biomarker dienen. Als Beispiel dient die Messung der Plasmakonzentration von D-Serin, einem endogenen Koagonisten am NMDA-Rezeptor, die im Gleichgewicht mit der im Liquor steht, sodass eine Erhöhung als Index für die antipsychotische Aktivität bestimmter Substanzklassen dienen könnte. Die Serumkonzentration von L-Tryptophan, das zentral zu Serotonin metabolisiert wird, kann einen ebenfalls sinnvollen Biomarker für Medikamentenwirkungen darstellen. Die Bestimmung von Medikamentenkonzentrationen im Liquor cerebrospinalis stellt eine prinzipiell gute Möglichkeit dar, die intrazerebralen Vorgänge zu messen; allerdings handelt es sich – zumindest in der Psychiatrie – nicht um ein Routineverfahren, und bei der Untersuchung von Gesunden stellt sie eine invasivere Maßnahme als die Entnahme venösen Blutes dar. Außerdem unterliegt diese Untersuchung einigen Störfaktoren, die berücksichtigt werden müssen (z. B. orthostatisches Konzentrationsgefälle, Abhängigkeit der Ergebnisse vom Zustand der Blut-Hirn-Schranke). Ein pharmakogenomisches Screening kann z. B. über Cytochrom-Genpolymorphismen informieren, die pharmakokinetische und funktionale Studien bei dann homogeneren Gruppen von gesunden Probanden (Auswahl der Probanden z. B. nach Cytochrom-P450 2D6Status) vereinfachen können. Sobald sog. FIH-Phase-I-Studien abgeschlossen werden, um die Sicherheit und Tolerabilität von Medikamentenkandidaten herauszufinden, kommt es zur aufwendigsten und längsten Entwicklungsphase, nämlich der Evaluation der klinischen Wirksamkeit in Phase-II- und Phase-III-Studien. In Phase III werden typischerweise randomisiert doppelblinde, plazebokontrollierte Studien durchgeführt, die eine aktive Vergleichssubstanz enthalten können, falls es eine solche etablierte Substanz für eine bestimmte Störung gibt. Klinische Studien in frühen Phasen beinhalten meistens ein Honorar für die gesunden Probanden, die daran teilnehmen. Während der Dosierungsphase bleiben die Gesunden meist mehrere Nächte in der klinisch-pharmakologischen Untersuchungseinheit, obwohl dies nicht zu den offiziellen Vorgaben gehört.
Pharmakokinetische Eigenschaften und Toxikologie In den Phase-I-Studien wird das, was bereits präklinisch als »ADME« (Absorption, Distribution, Metabolismus, Elimination) festgestellt wurde, verifiziert (. Tab. 7.4). Folgende pharmakokinetische Eigenschaften bieten sich für eine ideale ZNS-Substanz an:
. Tab. 7.4 Methoden zur präklinischen ADME-Bestimmung Pharmakokinetische Phase
Untersuchte Eigenschaften
Methodologischer Ansatz
Absorption
Physikochemische Eigenschaften, Permeabilität, Löslichkeit und Bioverfügbarkeit
In silico, in vitro, in vivo
Distribution
Plasmaproteinbindung, ZNSPenetration, Distributionsvolumen
In silico, in vitro, in vivo
Metabolismus
»Reaktivität«, Phase I/Phase IIMetabolismus
In vitro, in vivo
Elimination
Biliäre/renale Exkretion
In vitro, in vivo
4 Hohe orale Bioverfügbarkeit, unbeeinflusst von der Nahrungsaufnahme, 4 Halbwertszeit von ca. 24 h, die eine einmal tägliche orale Einnahme ermöglicht, 4 geringe Plasmaproteinbindung, 4 linear vorhersagbare Kinetik, 4 keine Enzyminhibition oder -induktion, 4 Ausscheidung zumindest teilweise in unveränderter Form über die Nieren und teilweise durch Hydrolyse in einen inaktiven Metaboliten ohne Einbezug oxidativer und konjugierender Enzyme. In-silico-Methoden zur Medikamentenentdeckung beinhalten
mathematische Modellierung und setzen sog. Chemoinformatik, Bioinformatik und Computerprogramme (Software mit hoher Kapazität) voraus. Insgesamt wird dieser Bereich als »computationale Neuropharmakologie« zusammengefasst.
7.3.4
Phase II
In der Phase II wird eine Prüfung der Wirksamkeit und der relativen Ungefährlichkeit eines Psychopharmakons an Patienten durchgeführt. Idealerweise sollte der klinisch wirksame Dosisbereich oberhalb der FIH-Dosis liegen und sowohl unterhalb der NOAEL in der präklinischen Toxikologie als auch unterhalb der maximal tolerierten Humandosis, die wiederum unterhalb der Maximalwerte in der präklinischen Toxikologie liegen sollte . Abb. 7.9 und . Abb. 7.10). Dies ist jedoch in der Praxis nur selten der Fall, was den klinischen Nutzen stark einschränken kann, wenn z. B. eine höhere Dosis, die aber bei Patienten nicht untersucht werden kann, für eine klinische Wirkung notwendig wäre. Phase-II-Studien sind das Stadium, von dem an die meisten neuen Substanzen nicht mehr weiter entwickelt werden, weil sie entweder bezüglich der Wirkungen oder toxischer Effekte negativ beurteilt werden. In der Phase II werden einige Studien als Fallserien durchgeführt, andere als randomisierte klinische Prüfungen, und sie beinhalten meist weniger Patienten (20–500) als Phase-III-Studien. Phase-II-Studien werden manchmal auch in
7
98
Kapitel 7 · Psychopharmaka-Entwicklung: von der Entdeckung bis zur Zulassung
GLP-Toxikologie: Maximalwerte
MTD (human)
MTD (human)
GLP-Toxikologie: Maximalwerte Klinisch wirksamer Dosisbereich
NOAEL GLP-Toxikologie
NOAEL GLP-Toxikologie Möglicher Dosisbereich
Möglicher Dosisbereich Klinisch wirksamer Dosisbereich
First-in-human-Dosis (1/10 kein Effekt)
7
First-in-human-Dosis (1/10 NOEL)
. Abb. 7.9 Idealer Dosisbereich für klinische Wirksamkeit. MTD maximal tolerierte Dosis, NOAEL no observed adverse effect level, GLP good laboratory practice
. Abb. 7.10 Dosisbereich für klinische Wirksamkeit: nicht selten in der Entwicklungswirklichkeit. MTD maximal tolerierte Dosis, NOAEL no observed adverse effect level, GLP good laboratory practice
Phase IIa und IIb unterteilt, wobei Phase IIa insbesondere Dosisfragen beantworten soll, während Phase IIb dann meist ein Proof-of-Concept (PoC) untersucht wird, also ob das angenommene Wirkprinzip tatsächlich bei einer bestimmten Störung positive Effekte zeigt. Ein Proof-of-Mechanism (PoM), also eine Bestätigung des angenommenen Wirkmechanismus, sollte bereits in früheren Entwicklungsphasen stattgefunden haben.
chopharmaka-Entwicklung sind sog. patientennahe OutcomeParameter wie Lebensqualität, die sog. QUALYs (Quality Adjusted Life Years) beinhalten, aber auch Kosteneffektivitätsuntersuchungen. Folgende Fragen spielen bei der Entwicklung neuer Substanzen in der Psychopharmakotherapie eine entscheidende Rolle, die gerade in Phase-III-Studien adressiert werden. Neben der Beurteilung der Lebensqualität in klinischen Studien spielen auch die enge Zusammenarbeit mit Patienten- und Angehörigengruppen eine große Rolle für die Psychopharmaka-Entwicklung, um die Studien entsprechend der Patientenbedürfnisse zu konzipieren. Nach dem Erhalt der Studienergebnisse aus der Phase III erfolgt bei positiver Beurteilung die Einreichung bei den Zulassungsbehörden: in USA FDA (www.fda.gov/cder), in Europa EMA – vorher EMEA (www.emea.eu.int). Ein Beispiel für die formalen Anforderungen kann unter folgender Internet-Adresse der amerikanischen Zulassungsbehörde eingesehen werden (Guidance Notes): http://www.fda.gov/Drugs/DevelopmentAppro valProcess/HowDrugsareDevelopedandApproved/ApprovalApp lications/NewDrugApplicationNDA/default.htm.
7.3.5
Phase III
In der Phase III erfolgt der Nachweis der Wirksamkeit und Unbedenklichkeit an einer größeren Anzahl von Patienten (u. a. auch auf Nebenwirkungen mit anderen Medikamenten). Meist handelt es sich bei Phase-III-Studien um randomisierte, kontrollierte Multicenter-Studien mit großen Patientengruppen (300–3000, manchmal auch mehr). Diese Phase ist am teuersten und am aufwendigsten. Wenn sich eine Substanz in Phase III befindet, hat sie im Durchschnitt eine etwa 40%ige Chance, zur Marktreife zu gelangen. Zunehmend von Bedeutung in der Psy-
Bei der Entwicklung neuer Substanzen in der Psychopharmakotherapie zu beantwortende Fragen 1. Bezogen auf alle psychischen Erkrankungen: 4 Wird die Substanz bei Überdosierungen sicher sein und minimale Nebenwirkungen unter Langzeitbehandlung aufweisen? 4 Wird die Substanz einen Wert als alleinige (Monotherapie-)Behandlung haben oder nur als Augmentation für eine bereits existierende pharmakologische Behandlung?
2. Bezogen auf Depressionen: 4 Wird die Substanz bei allen Patienten hilfreich sein? 4 Wird die Substanz eine schnellere substanzielle Wirkung entfalten als die bereits bestehende Behandlung? 3. Bezogen auf Schizophrenien: 4 Wird die Substanz auf positive, negative und kognitive Symptome wirken? 4 In welchem Krankheitsstadium ist sie gut einsetzbar, und kann sie evtl. sogar präventiv genutzt werden?
99 7.4 · Herausforderungen in der Psychopharmaka-Entwicklung
Folgende Fragen muss die Zulassungsbehörde klären, bevor ein positives Votum erteilt werden kann:
Durch die Zulassungsbehörde zu klärende Fragen 4 Ist das Medikament sicher und effektiv bezüglich des vorgeschlagenen Einsatzgebiets, und ist das NutzenRisiko-Verhältnis positiv? 4 Ist die vorgeschlagene Packungsbeilage angemessen, und was sollte sie enthalten? 4 Sind die Herstellungsmethoden des Medikaments und die benutzen Kontrollmechanismen angemessen, um die Identität des Medikaments, die Wirkstärke, die Qualität und die Reinheit zu gewährleisten?
7.3.6
Phase IV
Nach der Markteinführung kommt es zur Phase IV, die, ähnlich wie in der Phase III, eine höhere Anzahl von Patienten untersucht. Es kommt zu einem Erfassen von seltenen Nebenwirkungen, es werden Langzeitstudien durchgeführt und ein Nachweis der Kosteneffizienz erbracht. Die Phase-IV-Studien werden als sog. post-marketing surveillance trials bezeichnet, wo es v. a. um Pharmakovigilanzfragen geht. Sie werden manchmal von den Zulassungsbehörden verlangt, um z. B. bestimmte pharmakologische Interaktionen zu evaluieren oder auch Subpopulationen von Patienten zu untersuchen. Wenn in dieser Phase negative Effekte beobachtet werden, kann es zu einer eingeschränkten oder vollständigen Rücknahme des Präparats vom Markt kommen.
7.4
Herausforderungen in der Psychopharmaka-Entwicklung
Jede Phase in der Psychopharmaka-Entwicklung hat ihre eigenen Chancen und Risiken. Es muss klar sein, dass bereits die Wahl des Fokus auf bestimmte Zielstrukturen den Erfolg dieses Forschungsprozesses stark beeinflussen kann. So können z. B. Zielstrukturen außerhalb des Fokus trotzdem klinische Effekte haben (. Abb. 7.11), ebenso wie Zielstrukturen innerhalb des Fokus klinischen Nutzen außerhalb der psychiatrischen Indikation aufweisen können (. Abb. 7.12). Bei der Arzneimittelentwicklung im ZNS-Bereich lassen sich vor allem drei Risikofelder identifizieren (Pritchard 2008): 1. Entwicklungsrisiko: Rechtfertigt die Wahrscheinlichkeit, Marktreife zu erreichen, die Investitionen? Die potenzielle Anzahl von Zielstrukturen, das gegenwärtige Nutzen-Risiko-Verhältnis existierender Therapien und die Hürden, eine wirklich innovative Behandlungsoption zu entwickeln, haben einen großen Einfluss auf dieses Risiko. 2. Patientenrisiko: Wird es ein positives Nutzen-Risiko-Verhältnis für den einzelnen Patienten geben? Das Sicherheitsprofil einer Substanz wird wirklich erst dann beurteilbar
sein, wenn es möglicherweise mehrere Jahre auf dem Markt ist und potenziell Millionen von Patienten die Substanz erhalten haben. 3. Therapeutisches Versagensrisiko: Wird die Substanz eine therapeutische Wirkung entfalten, die messbar ist? Wenn nicht, kann dies auch außerhalb des entwickelnden Unternehmens weitreichende Folgen haben, weil neue Zielstrukturen dann auch von anderen Wettbewerbern nicht mehr weiterverfolgt werden. Obwohl gerade im ZNS-Bereich die Risiken groß sind, entfallen etwa 15% der Gesamtumsätze für Pharmaka auf den neuropsychopharmakologischen Bereich, von dem zwei Drittel zur Behandlung psychiatrischer Erkrankungen eingesetzt werden. Wie viel es letztendlich kostet, eine Substanz zur Marktreife zu bringen, wird kontrovers diskutiert. Häufig zitiert wird eine Zahl von 802 Mio. US$, die durch das Tufts Center for the Study of Drug Development errechnet wurde und auf den Daten von 10 pharmazeutischen Unternehmen und 68 Substanzen beruht (Collier 2009). Sicher ist, dass die Summe auf jeden Fall in den letzten 10–15 Jahren dramatisch zugenommen hat. Die Länge der Entwicklungsphase hat von etwa 4 Jahren in den 1960er Jahren einen Höhepunkt 1990 mit 10 Jahren erreicht, mittlerweile liegt sie etwa bei 8 Jahren. Psychiatrische Erkrankungen zeigen einen hohen Anteil an Komorbidität, insbesondere Angst und Depression, und teilen sich viele gemeinsame Symptome, was eine große Hürde bei der Charakterisierung von Tierversuchen, Behandlungskonzepten und möglichen Substanzen, die dann zu Medikamenten werden könnten, darstellt (Merikangas u. Kalaydjian 2007). Es gibt Implikationen bezüglich verschiedener zerebraler Netzwerke (Kortex, limbisches System und Basalganglien) mit multiplen genetischen, entwicklungsbezogenen und umweltbedingten Triggern (. Abb. 7.13). Die hauptsächliche Herausforderung in der Medikamentenentdeckung und -entwicklung spielt die Voraussagbarkeit klinischer Wirkung, Sicherheit und Tolerabilität. Dies gilt mehr oder weniger für alle Bereiche der Medizin, aber insbesondere für die Psychopharmakologie. Im Tierversuch, aber auch im frühen Humanversuch, geht es um sog. read-outs, die helfen sollen, psychiatrische Zustände zu beschreiben und Substanzen (oder andere Therapien) zu evaluieren. »Herausgelesen« werden soll, wie sich ein Tier, das mit einer bestimmten Substanz behandelt wird, von einem unterscheidet, das nicht mit dieser Substanz behandelt wird. Obwohl Verhaltensveränderungen als »klinische Endpunkte« nach wie vor benötigt werden, werden sie mittlerweile von anderen Strategien der Phänotypisierung begleitet (. Abb. 7.2). Beispielweise kann durch bildgebende Verfahren wie Magnetresonanzspektroskopie die Neurogenese im menschlichen Gehirn und die Konzentration von Glutamat, GABA und anderen Neuromodulatoren quantifiziert werden.
7
100
Kapitel 7 · Psychopharmaka-Entwicklung: von der Entdeckung bis zur Zulassung
Zielstrukturen
Klinische Indikaonen
Tierversuche Klinische Pharmakologie
7
. Abb. 7.11 Forschungsfokus in der Psychopharmaka-Entwicklung. Blau markiert sind virtuelle Räume, in denen sich alle ZNS-Zielstrukturen, alle Mechanismen, die durch Tierversuche untersuchbar sind, alle Substanzen,
die an die vorgegebene Zielstruktur angreifen und alle klinischen Indikationen, die mit der Zielstruktur im Zusammenhang stehen, befinden; dunkelgrau markiert ist der Forschungsfokus
Zielstrukturen
Indikaonen
Tiermodelle Klinische Pharmakologie
. Abb. 7.12 Forschungsfokus in der Psychopharmaka-Entwicklung. Blau markiert sind virtuelle Räume, in denen sich alle ZNS-Zielstrukturen, alle Mechanismen, die durch Tierversuche untersuchbar sind, alle Substan-
zen, die an die vorgegebene Zielstruktur angreifen und alle klinischen Indikationen, die mit der Zielstruktur im Zusammenhang stehen, befinden; hellgrau markiert ist der Forschungsfokus
Obwohl es etliche interessante Befunde bezüglich der genetischen Untersuchungen gibt, um neue Zielstrukturen für die
1. psychopathologische Dimensionen wie »Stimmung« oder »Positivsymptome« eher mit Netzwerken von interagierenden Genen und Neuronen und nicht mit individuellen Proteinen zusammenhängen, 2. dass im Wesentlichen alle Proteine multiple Funktionen haben, welche auf die Modulation einen positiven oder negativen Effekt haben können und 3. multiple und variable genetische, epigenetische, entwicklungsbezogene und umweltbedingte Faktoren für die heterogenen psychiatrischen Zustände verantwortlich sind.
Entdeckung innovativer Substanzen in der Psychopharmakologie zu identifizieren, bleibt die Reliabilität und Reproduzierbarkeit der Daten eine große Herausforderung (Bromley et al. 2009; Armstrong et al. 2009; Akkari et al. 2009). Wenn nur einzelne Gene bei psychiatrischen Erkrankungen als Untersuchungsmodell dienen, wird meist vernachlässigt, dass
101 7.4 · Herausforderungen in der Psychopharmaka-Entwicklung
Schizophrenie
Abhängigkeitserkrankungen
Smmung
Depressive Störungen
Kognion Psychomotorik Sensomotorisches Gang Schlaf/zirkadiane Rhythmik Libido/Appet
Angststörungen
Hyperakvitätssyndrom
. Abb. 7.13 Hohe Komorbidität bei psychischen Erkrankungen und symptomatische Überlappung mit Implikationen für die Psychopharmaka-Entwicklung (multiple neuronale Netzwerke involviert)
Die Durchführung klinischer Studien in der Psychopharmakologie ist mit einigen herausfordernden Fragestellungen assoziiert:
Folgende Sicherheitsbedenken liegen vor, wenn ZNS-wirksame Substanzen bei psychiatrischen Patienten eingesetzt werden:
Für die Durchführung klinischer Studien in der Psychopharmakologie zu klärende Fragen
Sicherheitsbedenken beim Einsatz ZNS-wirksamer Substanzen
4 4 4 4 4 4 4 4
4 Hohes Suizidrisiko in dieser Population 4 Hoher Anteil an Frauen im gebärfähigen Alter 4 Neurodegenerative ZNS-Erkrankungen bei älteren Patienten (mit hoher psychiatrischer Komorbiditätsrate in dieser Population) 4 Psychopharmakaverordnung bei Kindern, Adoleszenten und jungen Erwachsenen 4 Viele ZNS-Erkrankungen benötigen eine kontinuierliche Behandlung wegen der hohen Rückfallrate und der Chronifizierungstendenz 4 Hohes Maß an Komorbidität mit anderen (somatischen) Erkrankungen
Welche Patientenpopulation soll gewählt werden? Welche Studiendauer soll gewählt werden? Welche Studien-Endpunkte sind sinnvoll? Responder und Non-Responder (Definition à priori)? Plazeboeffekt (7 Kap. 49) (Khin et al. 2011)? Welche Komorbiditäten können zugelassen werden? Patientenrekrutierung (7 Kap. 49)? Extrapolierbarkeit auf die »reale Welt« (7 Kap. 49)?
7
7
102
Kapitel 7 · Psychopharmaka-Entwicklung: von der Entdeckung bis zur Zulassung
7.5
Zukunftsperspektiven
In der sog. »F&E« (Forschung & Entwicklung) wurde der Ausdruck der rationalen Medikamentenentdeckung eingeführt, um deutlich zu machen, dass die Zeit der zufälligen Psychopharmaka-Entdeckung vorbei sei (Serendipity) und man von der Kenntnis des Genoms und den hierin entdeckten Unterschieden zwischen psychisch Gesunden und Kranken theoretisch zu selektiven Substanzen mit einer spezifischen Wirkung gelangen kann (Kramer u. Cohen 2004). Dies erleichtert möglicherweise zwar das Auffinden chemischer hits, nicht jedoch die Entwicklung sog. leads (Leitverbindungen) bis zu tatsächlichen Medikamenten, was kosten- und zeitintensiv ist (. Abb. 7.7). Von Genome-Wide Association Studies (GWAS) erhoffte man sich, zusätzliche ähnliche Ergebnisse wie z. B. beim NRG-1/ERPB4-Gen zu finden, um biologische Zielstrukturen, die auch »druggable«, d. h. die von Medikamenten direkt beeinflussbar sind, zu detektieren, um die zugrundeliegende Pathophysiologie von z. B. schizophrenen Störungen (Cohen u. Insel 2008) besser zu verstehen. Damit könnte ein »Bottom-up-Ansatz«, also von der Pathophysiologie der Erkrankung zum Medikament, verfolgt werden, der Substanzen entwickeln hilft, die bei der Störung wirksam sind. Allerdings weiß man mittlerweile, dass Gen-GenInteraktionen und Geneffekte, die positiv oder negativ sein können, diesen Ansatz wesentlich komplizierter machen als ursprünglich vermutet. Auch muss bedacht werden, dass der Weg vom Auffinden einer Leitsubstanz zu einem zugelassenen Medikament langwierig und schwierig ist. Diese rationale Entdeckung von Medikamenten führt zu hochselektiven Substanzen, was auch impliziert, dass neue Tiermodelle gefunden werden müssen, da die bestehenden Modelle wahrscheinlich eher für Substanzen mit einem Multirezeptorenprofil geeignet sind. Die Vorgehensweise der Medikamentenentdeckung und frühen -entwicklung in der Psychopharmakologie der letzten Jahre führt also zu immer selektiveren Substanzen mit meist einem, höchstens zwei Wirkprinzipien, um einerseits eine bessere Voraussagbarkeit der klinischen Wirkung zu gewährleisten und andererseits den Sicherheitsbemühungen Rechnung zu tragen. Andererseits hat diese Strategie zur Folge, dass hochwirksame Substanzen wie z. B. Clozapin in heutiger Zeit nicht entdeckt würden, da sie über die frühe Entwicklungsphase (meist sogar Entdeckungsphase) aufgrund der befürchteten Nebenwirkungen, die vom Rezeptoraffinitätsprofil ableitbar wären, nicht hinauskämen. Daher werden in Zukunft wahrscheinlich einerseits Kombinationsbehandlungen gerade der degenerativen ZNS-Erkrankungen, der schizophrenen und affektiven Störungen zunehmend erforscht werden, andererseits Substanzen mit spezifischen Wirkmechanismen, die bei verschiedenen Störungen einsetzbar sind, entwickelt werden, weil sie gegen bestimmte, diagnoseübergreifende Syndrome wirksam sein könnten (z. B. Anti-Impulsivitätsmedikamente, Stressmodulatoren etc.). Gleichzeitig ist es beachtenswert, dass die hauptsächlichen Wirkprinzipien, die für die Behandlung psychischer Erkrankungen bereits seit mehreren Jahrzehnten bekannt sind, per Zufall gefunden wurden; die Folgesubstanzen, die ein besseres Si-
cherheitsprofil bei gleichzeitiger, zumindest nicht schlechterer Wirksamkeit aufwiesen, sind dann durch tatsächlich rationale Vorgehensweise zur Verbesserung physikochemischer Eigenschaften entwickelt worden. Um pathophysiologische Zusammenhänge bei psychischen Erkrankungen am besten zu verstehen, werden zunehmend Partnerschaften (s. unten) zwischen pharmazeutischen Unternehmen und akademischen Einrichtungen gegründet (Conn u. Roth 2008). So können möglichst zielgenau die Ressourcen gebündelt werden, um aus dem pathophysiologischen Verständnis heraus zu neuen Zielstrukturen und damit zu innovativen Behandlungsoptionen zu kommen. In der Psychiatrie handelt es sich heutzutage zumeist noch um sog. small molecules, obwohl zunehmend auch »Biologics« (Proteine, Peptide und Polysaccharide; z. B. Antikörperbehandlungen gegen inflammatorische Prozesse, die zunehmend auch bei psychiatrischen Erkrankungen evaluiert werden) Beachtung finden (Chen et al. 2010). Bei der Entwicklung biologisch aktiver Substanzen wie z. B. Antikörper oder Antigene, die dann zu peripheren Reaktionen führen, ist es von besonderer Bedeutung, auch die intrazerebrale Wirkung nachzuweisen. So ist es keinesfalls als selbstverständlich anzunehmen, dass die Substanzen, die peripher verabreicht werden, entweder selbst in das Gehirn über die Blut-HirnSchranke gelangen oder die peripher vermittelte Veränderung im ZNS wirksam wird (z. B. Antikörper, die die Blut-HirnSchranke passieren und dann zu intrazerebraler Wirkung führen). Um eine wirksame Therapie, die auf diesen Grundlagen basiert, finden zu können, müssen Voruntersuchungen stattfinden, die diese Frage beantworten (de Boer u. Gaillard 2007). Die Frage nach differenzieller Verbesserung des klinischen Effekts wird natürlich bei den psychischen Erkrankungen, für die bereits Medikamente zur Verfügung stehen, eine viel größere Rolle spielen als z. B. im Bereich von Abhängigkeitserkrankungen, in dem bereits zugelassene Substanzgruppen erhältlich sind, jedoch die klinische Wirksamkeit eher limitiert ist. Bereits erhältliche Substanzen in neuen Indikationen zu testen, ist eine in letzter Zeit verbreitete Strategie (z. B. Einsatz von Antipsychotika der zweiten Generation bei Depressionen). Schließlich spielt die Entwicklung anderer Applikationsformen eine Rolle. So wird neben Depotverabreichungsformen auch an intranasalen, transkutanen oder sonstigen Applikationsformen geforscht, um bestimmte pharmakokinetische Parameter (z. B. Bioverfügbarkeit) zu verbessern. Schwere psychiatrische Erkrankungen präventiv zu behandeln und bereits bestehende schwere Erkrankungen in ihrem Verlauf positiv zu beeinflussen (transformationale, kausale Therapie), stellen die höchsten Ziele der gegenwärtigen Psychopharmaka-Entwicklungsforschung dar. Es besteht Hoffnung, dass durch die Entwicklung von quantitativen laborbasierten Biomarkermessungen die Abhängigkeit von qualitativen diagnostischen Kriterien für bestimmte Erkrankungen reduziert wird, um innovative Behandlungsansätze zu verfolgen. Letztendlich spielt die weitere Entwicklung diagnostischer Manuale in diesem Zusammenhang auch eine Rolle, da sie phänomenologisch diagnostische Entitäten festlegt, die bislang in der Psychiatrie kaum neurobiologisch fundiert sind und somit die rationale
103 Literatur
Arzneimittelforschung in der Psychopharmakologie nicht erleichtern. Ein weiterer, sich zunehmend erweiternder Bereich stellt die Entwicklung von Präparaten dar, die in Kombination mit anderen Behandlungsverfahren (z. B. Elektrokrampftherapie, Psychotherapie) im Sinne einer gegenseitigen positiven Effektverstärkung ihre Wirkung entfalten. Es wird geschätzt, dass es mehrere Hundert neue Gene, die mit Erkrankungen assoziiert sind und prinzipiell »druggable« sind, gefunden werden. Jedes dieser Gene kodiert für ein Protein (Rezeptor, Transporter oder intrazelluläre Struktur), das in der Pathophysiologie einer Erkrankung involviert sein kann. Die Rezeptoren haben ihrerseits verschiedene Bindungsstellen und können modulierend auf andere Neurotransmittersysteme wirken. Ob eine bestimmte Zielstruktur tatsächlich von Belang für die Entstehung und den Verlauf einer psychischen Erkrankung ist, lässt sich nicht leicht beantworten. Hilfreich wäre es in diesem Zusammenhang, wenn die chemische Transmission des Zielsystems bei bestimmten ZNS-Erkrankungen pathologisch verändert ist, wie z. B. in Post-mortem-Untersuchungen nachgewiesen werden kann oder durch neuropsychiatrische Bildgebung (Wong et al. 2009). Neue Substanzen könnten bei ZNSErkrankungen zu adaptiven Veränderungen in dieser neuen Zielstruktur führen (z. B. in der Rezeptordichte oder in intrazellulären Kaskaden). Es wäre hilfreich, wenn identifizierbar wäre, ob bereits vorhandene ZNS-wirksame Substanzen auf die jeweilige neue Zielstruktur Einfluss haben. Die moderne Psychopharmakologie-Entwicklung basiert auf verschiedenen Plattformen, die sich mit einem Wirkmechanismus beschäftigen (z. B. metabotrope Glutamatrezeptoren und positiv/negativ allosterische Modulatoren, Phosphodiesteraseinhibitoren). Dies ermöglicht, verschiedene Substanzen an unterschiedlicher Stelle der Entwicklung sequenziell zu untersuchen und dabei das aufgrund seiner pharmakodynamischen und -kinetischen Eigenschaften beste Präparat zur Marktreife zu bringen. Es wird geschätzt, dass nur etwa 8% der Psychopharmaka, die sich in Phase I befinden, später tatsächlich zugelassen werden – die Anzahl der NME (new molecular entity) nimmt entsprechend ab (seit 1990 auf etwa die Hälfte). Außerdem werden etwa 4% der bereits auf dem Markt befindlichen Substanzen wieder zurückgenommen, was meist an Sicherheitsproblemen liegt. Weil gleichzeitig der Forschungs- und Entwicklungsbereich in der pharmazeutischen Industrie vom Verkauf aktueller Substanzen abhängt und viele der in den 1990er Jahren entwickelten Präparate generisch werden, könnte es zu einer weiteren Abnahme dieser Zahlen kommen. Dies kann nur durch sog. Private-public-partnership-Initiativen aufgefangen werden, wie sie z. B. im Bereich der Schizophrenie mit EU-gestützten Programmen, z. B. Innovative Medicine Initiative, IMI (http://www.imi.europa.eu) oder NewMeds-Initiative (http:// www.newmeds-europe.com), bewerkstelligt wird. Neben den private-public partnerships gibt es auch Harmonisierungsbestrebungen zwischen den Zulassungsbehörden der verschiedenen Länder, um die Arzneimittelforschung im Allgemeinen und im ZNS-Bereich im Besonderen zu unterstützen. Schließlich gilt es, den Entwicklungsprozess zu optimieren, um schneller zu klaren
Entscheidungen zu gelangen, ob eine Substanz ein positives Nutzen-Risiko-Verhältnis aufweist (Agid et al. 2007; Paul et al. 2010). So könnte die Psychopharmaentwicklung einer positiven Zukunft im Spannungsfeld zwischen medizinischer Chemie, Grundlagenforschung, klinischer Wirksamkeit und behördlicher Kontrolle entgegensehen.
Literatur ACOG Practice Bulletin: Clinical management guidelines for obstetriciangynecologists (2008) Use of psychiatric medications during pregnancy and lactation. Obstet Gynecol 111: 1001–1020 Agid Y, Buzsáki G, Diamond DM et al (2007) How can drug discovery for psychiatric disorders be improved? Nat Rev Drug Discov 6: 189–201 Akkari PA, Swanson TW, Crenshaw DG et al (2009) Pipeline pharmacogenetics: a novel approach to integrating pharmaco-genetics into drug development. Curr Pharm Des 15: 3754–3763 Alderton W, Karran E, Ward S (2009) Current and Future Perspectives in Psychiatric Drug Discovery. Drug News Perspect 22(6): 360–364 Amidon GL, Lennernäs H, Shah VP, Crison JR (1995) A theoretical basis for a biopharmaceutic drug classification: the correlation of in vitro drug product dissolution and in vivo bioavailability. Pharm Res 12(3): 413–420 Anderson GD (2008) Gender differences in pharmacological response. Int Rev Neurobiol 83: 1–10 Armstrong M, Bromley C, Cohen N et al (2009) Developing the evidence base for applying pharmacogenomics: proceeds from DIA Workshop IV – Breakout Session 1. Pharmacogenomics 10: 117–125 Benet LZ, Amidon GL, Barends DM et al (2008) The use of BDDCS in classifying the permeability of marketed drugs. Pharm Res 25: 483–488 Bromley CM, Close S, Cohen N et al; Industry Pharmacogenomics Working Group (2009) Designing pharmacogenetic projects in industry: practical design perspectives from the Industry Pharmacogenomics Working Group. Pharmacogenomics 9: 14–22 Chen G, Twyman R, Manji HK (2010) p11 and gene therapy for severe psychiatric disorders: a practical goal? Sci Transl Med 2: 54 Cohen JD, Insel TR (2008) Cognitive neuroscience and schizophrenia: translational research in need of a translator. Biol Psychiatry 64: 2–3 Collier R (2009) Drug development cost estimates hard to swallow. CMAJ 180: 279–80 Conn PJ, Roth BL (2008) Opportunities and challenges of psychiatric drug discovery: roles for scientists in academic, industry, and government settings. Neuropsychopharmacology 33: 2048–2060 de Boer AG, Gaillard PJ (2007) Strategies to improve drug delivery across the blood-brain barrier. Clin Pharmacokinet 46: 553–576 Horstmann S, Lucae S, Menke A et al (2010) Polymorphisms in GRIK4, HTR2A, and FKBP5 show interactive effects in predicting remission to antidepressant treatment. Neuropsychopharmacology 35: 727–740 Hunter AM, Muthén BO, Cook IA, Leuchter AF (2010) Antidepressant response trajectories and quantitative electroencephalography (QEEG) biomarkers in major depressive disorder. J Psychiatr Res 44: 90–98 Jones D (2007) Keeping vigilant about drug safety. Nat Rev Drug Discov 6: 855–856 Khin NA, Chen YF, Yang Y et al (2011) Exploratory analyses of efficacy data from major depressive disorder trials submitted to the US food administration in support of new drug applications. J Clin Psychiatry 72: 464– 472 Kramer R, Cohen D (2004) Functional genomics to new drug targets. Nat Rev Drug Discov 3: 965–972 Malkesman O, Austin DR, Chen G, Manji HK (2009) Reverse translational strategies for developing animal models of bipolar disorder. Dis Model Mech 2: 238–245 Merikangas KR, Kalaydjian A (2007) Magnitude and impact of comorbidity of mental disorders from epidemiologic surveys. Curr Opin Psychiatry 20: 353–358
7
104
7
Kapitel 7 · Psychopharmaka-Entwicklung: von der Entdeckung bis zur Zulassung
Millan MJ (2006) Multi-target strategies for the improved treatment of depressive states: conceptual foundations and neuronal substrates, drug discovery and therapeutic application. Pharmacol Ther 110: 135–370 Park BK, Boobis A, Clarke S et al (2011) Managing the challenge of chemically reactive metabolites in drug development. Nat Rev Drug Discov 10: 292–306 Paul SM, Mytelka DS, Dunwiddie CT et al (2010) How to improve R&D productivity: the pharmaceutical industry’s grand challenge. Nat Rev Drug Discov 9:203–214 Pritchard JF (2008) Risk in CNS drug discovery: focus on treatment of Alzheimer‘s disease. BMC Neurosci 10: S1 Reagan-Shaw S, Nihal M, Ahmad N (2007) Dose translation from animal to human studies revisited. FASEB J 22: 659–661 Roses AD (2009) The medical and economic roles of pipeline pharmacogenetics: Alzheimer’s disease as a model of efficacy and HLA-B(*)5701 as a model of safety. Neuropsychopharmacology 34: 6–17 Schoonen WG, Westerink WM, Horbach GJ (2009) High-throughput screening for analysis of in vitro toxicity. EXS 99: 401–52 Sundberg SA (2000) High-throughput and ultra-high-throughput screening: solution- and cell-based approaches. Curr Opin Biotechnol 11: 47–53 Wong DF, Tauscher J, Gründer G (2009) The role of imaging in proof of concept for CNS drug discovery and development. Neuropsychopharmacology 34: 187–203 Wong EH, Yocca F, Smith MA, Lee CM (2010) Challenges and opportunities for drug discovery in psychiatric disorders: the drug hunters‘ perspective. Int J Neuropsychopharmacol 13:1269–1284 Wu CY, Benet LZ (2005) Predicting drug disposition via application of BCS: transport/absorption/elimination interplay and development of a biopharmaceutics drug disposition classification system. Pharm Res 22: 11–23
105
Verhaltenspharmakologie – Eine Übersicht Eberhard Fuchs
G. Gründer, O. Benkert (Hrsg.), Handbuch der Psychopharmakotherapie, DOI 10.1007/978-3-642-19844-1_8, © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2012
8
106
8
Kapitel 8 · Verhaltenspharmakologie – Eine Übersicht
Pharmakologie und Neurowissenschaften stehen in enger Beziehung zueinander. Pharmaka, die auf neuartige und unerwartete Weise Hirnaktivitäten und Verhalten verändern, ermöglichen einen völlig neuen Einblick in die Organisation und Arbeitsweise des Gehirns. Daher hat das Wechselspiel zwischen der Entwicklung und therapeutischen Verwendung von Psychopharmaka sowie der Aufklärung der Funktionsweise des Gehirns und der Steuerung von Verhalten entscheidend zur rasanten Entwicklung der Neurowissenschaften beigetragen, die vor etwa 50 Jahren eingesetzt hat und bis heute fortdauert. Die Verhaltenspharmakologie ist eine relativ junge, tierexperimentelle Forschungsrichtung, die primär in den angelsächsischen Ländern entwickelt wurde. Ihre Methoden und Techniken erlauben eine Beschreibung und Quantifizierung der Wechselwirkung zwischen Pharmakon und Verhalten. Dabei ist zu beachten, dass Pharmaka Verhaltensabläufe und -formen nur innerhalb des artspezifischen Repertoires modifizieren können. Messungen der durch Pharmaka induzierten Verhaltensänderungen sind komplizierte Vorgänge, da sie durch eine Vielzahl von Faktoren beeinflusst oder gestört werden können. Dazu gehören Art und genetischer Hintergrund der Tiere, ihre individuelle Vorerfahrung, Geschlecht und Alter, aber auch die Art der Applikation (oral oder Injektion) und die verabreichte Dosis. Viele Paradigmen der verhaltenspharmakologischen Forschung quantifizieren artspezifische Verhaltensweisen. Artspezifisches Verhalten umfasst Verhaltensweisen, die nahezu alle Individuen einer Art zeigen, zumindest Artgenossen gleichen Alters und gleichen Geschlechts. Zu den häufig untersuchten artspezifischen Verhaltensweisen und deren Modulation durch Pharmaka gehören 4 Körperpflege (grooming), 4 lokomotorische Aktivität, 4 Explorationsverhalten, 4 Nahrungsaufnahme, 4 Sexualverhalten, 4 Aggressions-, Defensiv-, Angstverhalten. Eine wichtige Rolle bei der Untersuchung von Psychopharmaka spielen Lernparadigmen (klassische und operante Konditionierung) und zunehmend »seminatürliche« Testsysteme wie z. B. das radiale Labyrinth oder das Morris-Wasserlabyrinth. Ausführliche Beschreibungen der heute für Verhaltensstudien verwendeten Testsysteme finden sich in einer Reihe von Lehr- und Handbüchern (z. B. Poling u. Byrne 2000; Van Haren 1993; speziell für Mäuse: Gould 2009). Die nachstehenden Ausführungen haben zum Ziel, ausgewählte Aspekte moderner verhaltenspharmakologischer Forschungsansätze darzustellen. Untersuchungen an Tieren werden vorgenommen, wenn In-vitro-Systeme die gestellten Fragen nicht hinreichend beantworten können oder ethische Gründe Untersuchungen am Menschen nicht erlauben. Tiermodelle werden fälschlicherweise oft als die verkleinerte Darstellung des menschlichen Organismus, seines Gehirns und dessen Leistungsfähigkeit verstanden. Wozu Tiere modellhaft eingesetzt werden können, wird in den anschließenden Kapiteln (7 Kap. 9–15) diskutiert.
Die Biotelemetrie ist in den letzten Jahren zu einer wichtigen Methode für die Erfassung bioelektrischer und physiologischer Kenngrößen, aber auch von Verhaltensparametern geworden. Spezielle Techniken wie In-vivo-Telemetrie (7 Kap. 12), In-vivo-Elektrophysiologie (7 Kap. 12) und EEG-Messungen (7 Kap. 13) werden vorgestellt. Mit der Mikrodialyse (7 Kap. 14) lassen sich am frei beweglichen Tier die Freisetzung verschiedenster chemischer Botenstoffe im Gehirn verfolgen. Aufgrund einer bemerkenswerten technischen Entwicklung, die eng mit den Fortschritten in der Computertechnologie verbunden war, ist es heute möglich, das intakte, lebende Gehirn zu untersuchen. Räumlich hochauflösende oder bildgebende Verfahren liefern Bilder des Gehirns von Mensch und Tier, die sowohl anatomische als auch funktionelle Aspekte sichtbar machen. Beispiele der nichtinvasiven In-vivo-Bildgebung mittels Magnetresonanztomographie (MRT) sind in 7 Kap. 15 zusammengefasst.
Literatur Gould TD (2009) Mood and anxiety related phenotypes in mice. Neuromethods 42. Humana Press, Springer Science + Business Media, LLC 2009 Poling AD, Byrne T (eds) (2000) Introduction to behavioral pharmacology. Context Press, Reno, NV Van Haren F (ed) (1993) Methods in behavioral pharmacology. Elsevier, New York
107
Tiermodelle Ulrich Schmitt
9.1
Allgemeine Charakteristika – 108
9.2
Klassifikation von Verhaltensmodellen – 108
9.2.1 9.2.2 9.2.3
Screening-Tests – 108 Bioassays – 108 Simulationen – 109
Literatur – 109
G. Gründer, O. Benkert (Hrsg.), Handbuch der Psychopharmakotherapie, DOI 10.1007/978-3-642-19844-1_9, © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2012
9
108
Kapitel 9 · Tiermodelle
9.1
Allgemeine Charakteristika
Tiermodelle dienen der Untersuchung wissenschaftlicher Sachverhalte dort, wo In-vitro-Ansätze keine hinreichenden Antworten geben können oder wo es aus ethischen, moralischen oder anderen Gründen nicht möglich ist, diese Fragen am Menschen selbst zu untersuchen. Der Begriff des (Tier)Modells (7 Box: Was ist ein (Tier)Modell?) wird für ein äußerst vielfältiges Methodenspektrum verwendet, speziell in den modernen Neurowissenschaften. Dies geschieht dabei oft fälschlicherweise, da Modelle gerne als kleine Nachbildungen von großen Systemen gesehen werden. So wird das Tiermodell oft als die verkleinerte Darstellung des menschlichen Organismus im Tier verstanden. Dass sich hinter dieser falschen Sichtweise aber nur ein geringer Teil dessen verbirgt, wozu und wie Tiermodelle eingesetzt werden, und welche Kriterien sie erfüllen müssen, soll nachfolgend dargestellt werden. Was ist ein (Tier)Modell?
9
Ausgehend von einem abstrakten Modellbegriff ist im weitesten Sinne jegliches System A ein Modell für System B, wenn die Untersuchung von A Aufschlüsse zum Verständnis von B zulässt, ohne dass zwischen A und B ein kausaler Zusammenhang besteht. Als Konsequenz daraus sind Tiermodelle z. T. lebende experimentelle Präparationen in einer Spezies, die entwickelt wurden, um Phänomene, die in einer anderen Spezies auftauchen, zu untersuchen. Modelle sind hierbei als heuristische Werkzeuge zu betrachten, die je nach Fragestellung eingesetzt werden. Ihre Komplexität hängt vom Zweck oder von der zu lösenden Fragestellung ab.
unabhängig von ihrem Wirkmechanismus, mit dem Vorteil, dass neue Wirkprinzipien gefunden werden können. 2. Überprüfung bezüglich spezifischer biochemischer Mechanismen als Ziel der Substanzwirkung: Sie ist sinnvoll, wenn der Wirkmechanismus von Substanzen bekannt ist. Diese biochemisch-mechanistische Strategie hat den Nachteil, dass sie neue Wirkmechanismen ausschließt, die damit unentdeckt bleiben. Screening-Tests müssen die mit der Substanzgabe verbundene, erwartete Verhaltensänderung voraussagen können. Dabei sind aber prinzipiell zwei Fehleinschätzungen möglich: 4 falsch positiv oder 4 falsch negativ. Falsch positiv bedeutet, dass der Test eine ineffektive Substanz akzeptiert. Falsch negativ heißt, dass der Test eine wirksame
Substanz verwirft. Während der erste Fehler bei späteren Untersuchungen noch auffallen wird, geht im zweiten Fall die Substanz und damit u. U. ein ganzes Wirkprinzip verloren. Im Rahmen der Aussagekraft eines Screening-Tests sei bedacht, dass dieser sich konzeptionell auf die zuverlässige Voraussagekraft im Sinne einer Ja-nein-Antwort beschränkt. Zusätzlich wird an Screening-Tests gerade im Bereich der industriellen Nutzung noch eine Anzahl ökonomischer Ansprüche wie z. B. »schnell«, »preiswert in der Durchführung«, »einfach und verlässlich« usw. gestellt.
9.2.2
Eine eingängige Einteilung für Tiermodelle lässt sich aus ihrem Anwendungsbereich ableiten. In der (Neuro)Psychopharmakologie vereinen sich drei Disziplinen, in denen u. a. verhaltensorientierte Tiermodelle Anwendung finden: Neurowissenschaft, Psychologie und Pharmakologie. Daraus ergeben sich drei Klassen von Modellen, in denen das Verhalten von Tieren benutzt wird zur Darstellung von 1. Gehirnfunktionen (Neurowissenschaft), 2. psychologischen Prozessen (Psychologie), 3. Substanzwirkungen (Pharmakologie).
Bioassays
Auf Verhaltensänderungen basierende Assays werden üblicherweise benutzt, um Mechanismen veränderter Hirnfunktionen zu untersuchen. Hierbei wird das gesamte Tier als Messgröße zur funktionellen Untersuchung des zugrunde liegenden Systems innerhalb des Gehirns benutzt. Exakt die gleiche Aussage könnte auch in einer In-vitro-Anordnung getroffen werden. Bioassays bieten aber im Vergleich mehrere Vorteile:
Vorteile von Bioassays gegenüber In-vitro-Systemen
Diese drei Klassen lassen sich als verhaltensorientierte Bioassays, Simulationen und Screening-Tests bezeichnen (Willner 1991).
9.2
Klassifikation von Verhaltensmodellen
9.2.1
Screening-Tests
Screening-Tests beziehen sich auf Substanzwirkungen; sie werden einzig für das Entdecken neuer Medikamente entwickelt und eingesetzt und lassen dabei zwei unterschiedliche Strategien erkennen: 1. Überprüfung anhand der Wirkung: Hier wird nach Substanzen mit einer bestimmten klinischen Wirkung gesucht. Screening-Tests dieser Art entdecken wirksame Substanzen
4 Verhaltenstests sind nichtinvasiv, das Gehirn muss dem Organismus nicht entnommen oder anderweitig zugänglich gemacht werden. 4 Verhaltensänderungen zeigen die Bioverfügbarkeit, d. h. ob die Substanz auch in vivo das Gehirn erreicht. 4 Verhaltensmessungen sind biologische Funktionsmessungen – viele biochemische Parameter sind dies aufgrund der künstlichen (In-vitro-)Messbedingungen nicht. 4 Verhaltensänderungen beruhen auf der integrierten Aktivität des gesamten Gehirns. Sie berücksichtigen alle auftretenden Veränderungen zum Zeitpunkt der Messung. 4 Im Ergebnis kann ein Verhaltensassay zwar die Veränderungen innerhalb des Gehirns weniger genau bestimmen, die Aussagen zur funktionalen Signifikanz der Wirkung sind aber deutlich besser als beim biochemischen Assay.
109 Literatur
9.2.3
Simulationen
Nach der Diskussion von Modellen der Substanzwirkung (Screening-Tests) und Modellen der Hirnfunktion (verhaltensorientierte Bioassays) wird deutlich, dass der alltägliche Begriff des »Tiermodells für …« für eine dritte Klasse von Modellen stehen muss: die Simulation (menschlichen Verhaltens). In einer Simulation wird versucht, ein Symptom, eine Gruppe von Symptomen einer Krankheit oder – als Ausnahme – ein ganzes Syndrom zu simulieren. Hierbei variieren die Methoden erheblich: Man findet Läsionsmodelle ebenso wie selektive Zucht, die Selektion extremer Individuen wie auch das Anwenden einer Reihe von Faktoren, die bei der Ätiologie von psychischen Störungen als wichtig erachtet werden. Ziel all dieser Manipulationen ist es, eine oder mehrere Verhaltensweisen zu erzeugen, die als Werkzeuge zur Untersuchung verschiedener Aspekte einer Krankheit genutzt werden können. Wird ein Tiermodell zur Untersuchung menschlichen Verhaltens verwendet, steht dessen Aussagekraft oder Validität diesbezüglich zur Diskussion.
Validität von Simulationen Modelle sind Werkzeuge und besitzen keinen eigenen inneren Wert; ihr Wert erwächst aus der Aussage, die mit ihnen getroffen werden kann. Schlussfolgerungen aus Simulationen sind sämtlich Hypothesen, die gegen die klinische Bedingung getestet werden müssen. Die Ermittlung der Validität einer Simulation beurteilt sozusagen das Vertrauen, das in die Daten gesetzt werden kann. Die Validität ist somit eine Beurteilung, keine Messung und stellt damit ein Gütekriterium dar. Dieses kann sich auf eine Anzahl von Teilaspekten stützen. In Anlehnung an Paul Willner (1991) können 3 übergeordnete Aspekte zur Beurteilung der Validität herangezogen werden: 1. predictive validity – Voraussagekraft, prognostische Validität, 2. face validity – Ähnlichkeit, Augenscheinvalidität, 3. construct validity – theoriebasierte Validität.
valide, wenn das dargestellte Symptom mehreren Krankheiten zugeordnet werden kann. Ein zusätzliches wichtiges Kriterium für die face validity einer Simulation ist die Art und Dauer der Behandlung. Face validity wie auch construct validity einer Simulation sind ein dynamischer Zustand, der vom jeweiligen Wissensstand abhängt.
Construct validity Construct validity beurteilt den theoretischen Hintergrund, auf dem die Simulation beruht, und ist die Steigerung der face validity. Die face validity erreicht ihre natürliche Grenze bei dem Versuch einer Punkt-zu-Punkt-Übereinstimmung zwischen Erkrankung und Simulation: Es gibt keinen schlüssigen Hinweis darauf, das sich ein gegebenes Phänomen einer Erkrankung in einer anderen Spezies genauso darstellt. Die Simulation homologer Verhaltensweisen mindert zwar die face validity, erhöht aber u. U. die construct validity. Die Homologie verschiedener Verhaltensweisen in unterschiedlichen Spezies, z. B. eine bestimmte Bewegung, beruht auf theoretischen Überlegungen, die noch andere Faktoren mit einbeziehen als alleine die Art der Bewegung. Solche theoretischen Überlegungen als Basis einer Simulation beurteilt die construct validity. Sie prüft dabei die Zulässigkeit der Aussagen, die aus der Simulation gewonnen werden. Bei der Entwicklung dieses Konzepts wird vorausgesetzt, dass es prinzipiell möglich ist, Theorien zur Psychopathologie aufzustellen, die sich in den verschiedenen Spezies unterscheiden. Die Unterscheidung verschiedener Validitäten einer Simulation hat einen praktischen Nutzen: Sie lassen schnell erkennen, in welchen Bereichen eine Simulation Defizite hat oder keine Aussage zulässt. Darüber hinaus ermöglicht die Bestimmung der Validität einer Simulation das Vergleichen von Daten aus dann vergleichbaren Simulationen.
Literatur
Predictive validity Predictive validity bewertet die Vorhersagekraft der Simulation bezogen auf die klinische Situation. Diese Bewertung betrifft meist eine Verhaltensänderung nach Medikamentengabe. Somit ähnelt die Beurteilung der predictive validity einer Simulation sehr der Beurteilung eines Screening-Tests. Die predictive validity einer Simulation verstärkt sich aber durch die Abbildung sowohl von Verbesserung als auch Verschlechterung und dadurch, dass verschiedene Substanzklassen untersucht werden können. Auch ist die relative Potenz einer Wirkung und deren Korrelation mit der Klinik ein wichtiges Kriterium.
Face validity Face validity bezieht sich auf die Bewertung äußerlicher Ähnlichkeiten zwischen der Simulation und den pathologischen Gegebenheiten. Sie setzt ein sehr gutes Verständnis der Krankheit voraus und ist deshalb sehr häufig nur symptombezogen; dabei wird durch Simplifizierung fehlendes Wissen kompensiert. Die Validität einer Simulation verringert sich mit Abnahme der Spezifität des Verhaltens: Eine Simulation ist offensichtlich weniger
Willner P (1991) Behavioural models in psychopharmacology. In: Willner P (ed) Behavioural models in psychopharmacology: Theoretical, industrial and clinical perspectives. Cambridge University Press, Cambridge, pp 3–18
9
111
Klinische Relevanz von Tiermodellen für psychiatrische Störungen Frauke Ohl und Saskia S. Arndt
10.1
Psychopathologische Verhaltenscharakteristika – 112
10.2
Angstverhalten – 112
10.3
Biologische und klinische Relevanz von Tierverhalten – 113 Literatur – 113
G. Gründer, O. Benkert (Hrsg.), Handbuch der Psychopharmakotherapie, DOI 10.1007/978-3-642-19844-1_10, © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2012
10
112
Kapitel 10 · Klinische Relevanz von Tiermodellen für psychiatrische Störungen
Psychiatrische Störungen sind komplexe pathologische Phänomene, die zu einer drastischen Beeinträchtigung des alltäglichen Lebens der betroffenen Patienten führen. Aufgrund ihrer Komplexität ist nach wie vor wenig über ihre Entstehung und die zugrunde liegenden Mechanismen bekannt. Daher sind Tiermodelle für psychiatrische Störungen auch heute noch unverzichtbar, und jedes Tiermodell, das unser Verständnis dieser Erkrankungen auch nur im Bezug auf Teilaspekte dieser Störungen erweitern kann, ist äußerst bedeutsam.
10.1
10
Psychopathologische Verhaltenscharakteristika
Die Diagnose psychiatrischer Störungen stützt sich maßgeblich auf die Feststellung bestimmter Verhaltenscharakteristika der Betroffenen. Einige dieser Symptome sind menschenspezifisch und daher nicht im Tiermodell darstellbar. Hierzu gehören v. a. solche Symptome, die ausschließlich subjektiv verbal darzulegen sind, wie z. B. die »Angst zu sterben« bei Patienten mit Panikstörungen oder das Wiedererleben traumatischer Ereignisse bei Patienten mit posttraumatischem Stresssyndrom. Trotzdem lassen sich auch bei Tieren psychopathologische Zustände feststellen, die dann als Verhaltensstörungen bezeichnet werden, und die zumindest als analog, wenn nicht homolog, zu bestimmten Symptomen psychiatrischer Störungen des Menschen einzustufen sind. In diesem Kontext ist jedoch die Erkenntnis von grundlegender Wichtigkeit, dass der unzweifelhafte Nutzen von Tiermodellen in der Möglichkeit zur Untersuchung distinkter Symptome psychiatrischer Störungen liegt und gleichzeitig auf diese begrenzt ist (Geyer u. Markou 1995): Die Komplexität einer psychiatrischen Störung im Tier vollständig zu modellieren, ist jedoch nicht möglich. Wie bereits erwähnt, sind bei Tieren Verhaltensstörungen zu erkennen, die mit pathologischen Veränderungen des Verhaltens bei psychisch kranken Menschen vergleichbar sind. Außerdem ist die Effizienz bestimmter psychoaktiver Substanzen aus der Humanmedizin auch für Tiere belegt. Ebenso sind bestimmte Aspekte des normalen Verhaltens bei Mensch und Tier ähnlich, wobei dieses Verhalten zudem identische Steuerungsmechanismen aufweist (Overall 2000). Entsprechend sind Tiermodelle in der präklinischen Forschung zuverlässig einzusetzen bei 4 der Untersuchung der zugrunde liegenden Mechanismen pathologisch veränderten Verhaltens, 4 der Analyse der Verhaltenseffizienz potenzieller Behandlungsstrategien. Dies wird im Folgenden am Beispiel des Angstverhaltens näher erläutert.
10.2
Angstverhalten
Evolutionär betrachtet ist Angst eine sehr ursprüngliche, essenzielle Emotion. Ihr adaptiver Charakter ermöglicht es, Unbe-
kanntes vorsichtig zu erkunden, Reize qualitativ zu beurteilen und sich basierend auf Erlerntem durch Vermeidungsverhalten vor Gefahr zu schützen. Angst ist also nicht grundsätzlich als pathologisch zu verstehen, sondern als Emotion, die ein biologisch relevantes, dem Kontext entsprechendes Verhalten auslöst. Probleme entstehen erst dann, wenn Angst die biologische Relevanz verliert und nichtsituationsadäquates Verhalten hervorruft (Ohl et al. 2008). Dies ist bei Angststörungen der Fall (Rosen u. Schulkin 1998). Pathologische Angst stellt somit nicht eine an sich krankhafte Emotion dar, sondern vielmehr eine normale Emotion, die nicht situationsgerecht ausgelöst wird und ihren adaptiven Charakter verloren hat. Es ist daher davon auszugehen, dass am Tiermodell gewonnene Erkenntnisse über die zentralnervöse Steuerung der »normalen« Angst für die Entstehung von Angststörungen bedeutsam sind. Die Stärke des Empfindens von Angst und somit auch das daraus resultierende Verhalten hängen letztlich immer von der individuellen und damit subjektiven Interpretation von Umwelteindrücken ab: Ein Mensch mit einer entsprechenden Angststörung empfindet beispielsweise eine normale Situation wie das Betreten eines offenen Platzes als lebensbedrohend. Während der Patient diese Empfindung verbal mitteilen kann, sind wir bei Tieren auf die Interpretation von Verhalten angewiesen. Ausdruck pathologischer Angst bei einem Tier
Auch hier liegt der Schlüssel in der Kontextbezogenheit, d. h. der biologischen Relevanz des Verhaltens. So zeigen Nagetiere beispielsweise eine Tendenz, die offenen, hell erleuchteten Flächen eines ihnen unbekannten Areals zu vermeiden und zunächst dessen geschützte Bereiche zu erkunden. In einer Experimentalbox würde eine Maus dementsprechend zunächst einen Weg entlang der Wand wählen, bevor sie den zentralen, ungeschützten Bereich betritt (. Abb. 10.1a, b). Dieses Vermeidungsverhalten lässt sich auch bei frei lebenden Nagetieren beobachten; es stellt eine biologisch sinnvolle Explorationsstrategie dar, um dem Zugriff durch Beutegreifer zu entgehen. Um Futter oder einen Sexualpartner zu finden, ist es eine biologische Notwendigkeit, dass eine Maus auch offene Flächen durchqueren muss. Pathologische Angst unterscheidet sich also u. a. von normaler Angst durch ihren nichtadaptiven Charakter. Betritt die Maus nicht doch irgendwann die offene Fläche, so ist ihr Überleben bzw. der Fortbestand der Art nicht gesichert, und das Vermeidungsverhalten ist nicht länger biologisch sinnvoll. Ein Tiermodell für pathologische Angst sollte sich also durch biologisch nichtadaptive Reaktionen auszeichnen. Ein pathologisch ängstliches Tier sollte sich also nicht an einen aversiven Reiz gewöhnen. Dieses Gewöhnungs- oder Anpassungsvermögen lässt sich z. B. testen, indem man ein Tier mehrfach ein und demselben aversiven Reiz aussetzt. In einer Experimentalbox würde eine pathologisch ängstliche Maus auch nach mehreren Tests noch stets den Weg entlang der Wand wählen und das offene Areal vermeiden. Durch die Verstärkung des aversiven Charakters der offenen Fläche, z. B. durch Einsatz einer hellen Lichtquelle, kann selbst eine Zunahme von angstbezogenem Vermeidungsverhalten auftreten (Sensitisierung; . Abb. 10.1c).
113 30.2 · Beschreibung
a
b
c
Vermeidungsverhalten
hoch/adaptiv
nichtadaptiv
gering/adaptiv
Zeit . Abb. 10.1a-c Nagetiere zeigen ein natürliches Vermeidungsverhalten gegenüber ungeschützten Arealen. Eine ängstliche Maus zeigt ein stärker ausgeprägtes Vermeidungsverhalten (a) als eine weniger ängstliche Maus (b), die in einem definierten Zeitraum mehr Zeit im ungeschützten Areal verbringt. (c) Nagetiere, die bei der wiederholten Konfrontation mit einem
bestimmten aversiven Reiz keine (ausreichende) Verhaltensadaptation zeigen, spiegeln Charakteristika humaner pathologischer Angst wieder. Dieses Vermeidungsverhalten kann experimentell, z. B. durch den Einsatz einer zusätzlichen Lichtquelle, noch verstärkt werden (Sensitisierung)
Analog hierzu ist auch das Verhalten eines an einer Angststörung leidenden Menschen in bestimmten Situationen unangemessen und nichtadaptiv und wirkt sich daher nachteilig auf seine Lebensqualität aus.
gischen Relevanz des Verhaltens eines Tieres und somit für die Beurteilung der klinischen Relevanz eines Tiermodells.
Angst oder Aktivität? Die Notwendigkeit der detaillierten Verhaltensanalyse 10.3
Biologische und klinische Relevanz von Tierverhalten
Die biologische Relevanz des Verhaltens eines Tieres steht also in unmittelbarem Zusammenhang mit seiner klinischen Relevanz als Tiermodell. Hieraus folgt zwingend, dass die zur Verhaltensanalyse bei Labortieren eingesetzten Tests die Untersuchung biologisch relevanten Verhaltens erlauben müssen. Diese Grundvoraussetzung ist jedoch in vielen artifiziellen Testsituationen nicht gegeben. Um die biologische Relevanz des Verhaltens von Versuchstieren einschätzen zu können, sind valide Testsysteme (van der Staay et al. 2009) erforderlich, die es dem Tier erlauben, ein möglichst breites Verhaltensspektrum zu zeigen und die – hierauf basierend – detaillierte ethologische Verhaltensanalysen ermöglichen. Dies ist nur auf der Basis von Testverfahren möglich, die eine Vielzahl von Verhaltensdimensionen erfassen, z. B. Angst, lokomotorische Aktivität, exploratives Verhalten und soziale Affinität (Lister 1990; Ohl et al. 2001; Rodgers et al. 1997). Solch eine differenzierte Charakterisierung des basalen Verhaltens von potenziellen Tiermodellen ist v. a. insofern von großer Bedeutung, als alle in einem Individuum repräsentierten Verhaltensdimensionen in enger Interaktion miteinander stehen (7 Box: Angst oder Aktivität? Die Notwendigkeit der detaillierten Verhaltensanalyse). Zudem erfordert die Untersuchung pathologischen Verhaltens eine Analyse des adaptiven Charakters bestimmter Verhaltensweisen. Ohne Erkenntnisse über die Dynamik – mit anderen Worten die zeitliche Veränderung – biologisch sinnvollen Verhaltens, sind Rückschlüsse im Bezug auf pathologische Zustände nicht möglich. Die Analyse von Verhaltensdimensionen auf der Basis komplexer ethologischer Untersuchungen ist daher eine wichtige Grundlage für die Einschätzung der biolo-
Ein Individuum, ob Mensch oder Tier, dessen allgemeine Aktivität deutlich reduziert ist, kann in seinem Angstverhalten nur schlecht eingeschätzt werden. Andererseits kann ein Individuum, das exploratorisch überdurchschnittlich aktiv – also neugierig – ist, möglicherweise seine Angst schneller überwinden und erscheint dadurch weniger ängstlich als ein »normal« neugieriger Artgenosse (Weiss et al. 1998).
Literatur Geyer MA, Markou A (1995) Animal models of psychiatric disorders. In: Bloom FE, Kupfer DJ (eds) Psychopharmacology: The Fourth Generation of Progress. Raven, New York, pp 787–798 Lister RG (1990) Ethologically based animal models of anxiety disorders. Pharmacol Ther 46: 321–340 Ohl F, Sillaber I, Binder E et al (2001) Differential analysis of basal behavior and diazepam-induced alterations in C57BL/6 and BALB/c mice using the modified hole board. J Psychiatr Res 35: 147–154 Ohl F, Arndt SS, van der Staay FJ (2008) Pathological anxiety in animals. Vet J 175(1): 18–26 Overall KL (2000) Natural animal models of human psychiatric conditions: assessment of mechanism and validity. Prog Neuropsychopharmacol Biol Psychiatry 24: 727–776 Rodgers RJ, Cao BJ, Dalvi A, Holmes A (1997) Animal models of anxiety: an ethological perspective. Braz J Med Biol Res 30: 289–304 Rosen JB, Schulkin J (1998) From normal fear to pathological anxiety. Psychol Rev 105: 325–350 Van der Staay FJ, Arndt SS, Nordquist RE (2009) Evaluation of animal models of neurobehavioral disorders. Behav Brain Funct 5: 11 Weiss SM, Wadsworth G, Fletcher A, Dourish CT (1998) Utility of ethological analysis to overcome locomotor confounds in elevated maze models of anxiety. Neurosci Biobehav Rev 23: 265–271
10
115
Neurotransmitterhypothesen Gabriele Flügge
11.1
Serotonin – 116
11.1.1 11.1.2 11.1.3 11.1.4 11.1.5 11.1.6
Serotonerge Neuronen – 116 Serotonintransporter – 116 Serotoninrezeptoren – 117 Tryptophanhydroxylase – 117 Monoaminabbauende Enzyme – 117 Zusammenfassung – 118
11.2
Noradrenalin – 118
11.2.1 11.2.2 11.2.3
Noradrenalintransporter – 118 Adrenerge Rezeptoren – 118 Zusammenfassung – 119
11.3
Dopamin – 119
11.3.1 11.3.2 11.3.3 11.3.4 11.3.5 11.3.6
Dopaminerge Neuronen – 119 TH-Transgene Mäuse – 119 Dopamintransporter – 119 Dopaminrezeptor-Knock-out-Mäuse – 120 Catechol-O-Methyltransferase – 120 Zusammenfassung – 120
11.4
Brain-derived neurotrophic factor (BDNF) – 120
11.5
GABA und Glutamat – 121
11.5.1 11.5.2 11.5.3
GABAA-Rezeptor – 121 Glutamatdecarboxylase – 121 Zusammenfassung – 122
11.6
Fazit – 122 Literatur – 123
G. Gründer, O. Benkert (Hrsg.), Handbuch der Psychopharmakotherapie, DOI 10.1007/978-3-642-19844-1_11, © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2012
11
11
116
Kapitel 11 · Neurotransmitterhypothesen
11.1
Serotonin
Das Monoamin Serotonin (5-Hydroxytryptamin, 5-HT) wird in Neuronen des Hirnstamms synthetisiert. Es ist an der zentralnervösen Regulation einer großen Zahl physiologischer Prozesse beteiligt und beeinflusst während der Entwicklung des Gehirns die Ausprägung der Morphologie von Neuronen. Der Neurotransmitter scheint für eine normale Entwicklung des gesamten Organismus essenziell zu sein, denn transgene Mäuse, die aufgrund des Fehlens eines Transkriptionsfaktors kein Serotonin produzieren können, leiden unter Atemstörungen und weisen eine hohe Mortalität auf (Hodges et al. 2009). Zahlreiche Verhaltensuntersuchungen im Tiermodell lieferten Hinweise, dass 5-HT an der Kontrolle von emotionalen Prozessen beteiligt ist. Die Annahme, dass eine ausreichende Menge 5-HT im Gehirn Voraussetzung für eine positive Stimmung ist (Serotonin als »Glückshormon«), beruht v. a. auf der Tatsache, dass viele der heute verwendeten Antidepressiva im Gehirn einen Anstieg des extrazellulären 5-HT bewirken. Die Konzentration des zentralnervösen 5-HT im Gehirn hängt u. a. ab von der Verfügbarkeit der Aminosäure Tryptophan, aus der 5-HT gebildet wird (. Abb. 11.1). Ein Mangel an Tryptophan in der Nahrung kann bei empfindlichen Individuen panische bzw. aggressive Reaktionen auslösen. Die Monoamindefizit-Hypothese besagt, dass Depressionen durch einen Mangel an Monoaminen (Serotonin, Noradrenalin, Dopamin) im Gehirn verursacht werden, zumindest in einigen Patienten (Holsboer 1999). Diese Hypothese konnte allerdings bisher nicht durch Messungen der 5-HT-Konzentration in der Zerebrospinalflüssigkeit von Patienten belegt werden, möglicherweise deshalb, weil das Monoamin schnell oxidiert wird. Untersuchungen des Blutes aus der Jugularvene von Patienten mit unipolarer Depression (major depression) zeigten aber einen beschleunigten Serotoninumsatz (Barton et al. 2008). Die Monoamindefizit-Hypothese wird auch durch die Tatsache gestützt, dass die derzeit effektivsten Antidepressiva selektive Serotoninwiederaufnahmehemmer (selective serotonin reuptake inhibitors, SSRI) sind. Allerdings haben auch die effektivsten SSRI meist erst nach einer Anwendung über mehrere Wochen eine positive Wirkung auf die Stimmung der Patienten. Vermutlich ist nicht das extrazellulär erhöhte 5-HT selbst verantwortlich für die Verbesserung der Stimmung der Patienten, sondern die nachgeschalteten neuroplastischen Prozesse (Castren u. Rentamäki 2010).
11.1.1
Serotonerge Neuronen
Der Neurotransmitter 5-HT wird im Zytoplasma der serotonergen Neuronen mittels des Enzyms Tryptophanhydroxylase (TPH) aus der Aminosäure Tryptophan synthetisiert; als Zwischenprodukt entsteht 5-Hydroxytryptophan (5-HTP) (. Abb. 11.1). Serotonin wird über den vesikulären Monoamintransporter (VMAT) in Vesikel eingeschleust und wird – wenn das Neuron aktiv ist – exozytotisch in den synaptischen Spalt ausgeschüttet. Die Autorezeptoren 5-HT1A und 5-HT1B steuern die
Ausschüttung des Transmitters; extrazelluläres 5-HT bindet an diese präsynaptischen Rezeptoren und hemmt so die Aktivität des Neurons (Rückkopplungshemmung). Der 5-HT1A-Rezeptor ist somatodendritisch lokalisiert, kommt aber auch als postsynaptischer Rezeptor in nichtserotonergen Neuronen vor (7 11.1.3). Im Unterschied dazu ist der 5-HT1B-Rezeptor nur in der Plasmamembran von Terminalen der Neuronen lokalisiert. Mittels des Serotonintransporters (7 11.1.2) wird extrazelluläres 5-HT wieder in das Neuron eingeschleust. Das Enzym Monoaminoxidase A (MAO-A) (7 11.1.5), welches in der äußeren Mitochondrienmembran lokalisiert ist, metabolisiert 5-HT zu 5-Hydroxyindolessigsäure (5-HIES).
11.1.2
Serotonintransporter
Der Serotonintransporter (5-HTT) ist in der Plasmamembran des serotonergen Neurons lokalisiert und transportiert extrazelluläres 5-HT zurück in das Neuron (. Abb. 11.1). In 5-HTTdefizienten Mäusen wurden 6-fach erhöhte Konzentrationen des extrazellulären 5-HT nachgewiesen, während die Konzentration des Neurotransmitters in den terminalen Vesikeln auf bis zu 70% reduziert war (Torres et al. 2003). Der Promotor des humanen 5-HTT-Gens kann infolge von Deletionen bzw. Insertionen eine kürzere (short, s-Allel) bzw. längere Sequenz (long, l-Allel) aufweisen. Das s-Allel vermindert die Effizienz der Transkription des Gens und reduziert damit die Expression des Transporters. Eine Studie mit etwa 500 Probanden wies auf einen Zusammenhang zwischen dem Vorliegen des s-Allels und Angsterkrankungen hin (Lesch et al. 1996). In einer Untersuchung mit etwa 100 gesunden Probanden zeigten diejenigen mit dem s-Allel beim Anblick von Bildern, die negative Emotionen auslösten, eine stärkere Aktivierung der Amygdala (der für die Empfindung von Furcht bzw. Angst besonders wichtigen Hirnregion) verglichen mit Probanden, die Träger des l-Allels waren (Heinz et al. 2005). Allerdings lieferte eine Metaanalyse der Daten von etwa 14.000 Probanden keine Belege für eine Korrelation zwischen depressiven Erkrankungen und dem s-Allel (Risch et al. 2009). Es wird diskutiert, ob ein solcher Zusammenhang möglicherweise nur in bestimmten humanen Populationen vorliegt. Eine weitere Studie an etwa 850 Probanden wies aber auf einen Zusammenhang zwischen dem s-Allel und der Reaktion auf stark belastende Lebensereignisse hin. Nach traumatischen Erlebnissen (Schicksalsschläge wie Verlust eines nahen Angehörigen, andauernde Probleme am Arbeitsplatz etc.) erkrankten Personen mit dem s-Genotyp mit höherer Wahrscheinlichkeit an einer Depression als Individuen mit dem l-Genotyp (Caspi et al. 2003). Außerdem war das Volumen des Hippokampus von depressiven Patienten mit dem s-Allel, die während ihrer Kindheit traumatische Erfahrungen gemacht hatten, reduziert (Frodl et al. 2010). Diese Befunde gelten als Hinweise darauf, dass nicht nur genetische Dispositionen, sondern auch äußere Einflüsse wie z. B. starke Stressoren darüber entscheiden, ob es zu einer psychischen Erkrankung kommt.
117 11.1 · Serotonin
11.1.3
Serotoninrezeptoren
Von den mehr als 15 bekannten Serotoninrezeptoren ist der 5HT1A-Rezeptor der am besten untersuchte. Im Gehirn ist er sowohl als somatodendritischer Autorezeptor in serotonergen Neuronen als auch postsynaptisch in anderen Neuronen exprimiert. Beim Menschen wirken Agonisten, die diesen Rezeptor stimulieren, anxiolytisch (z. B. Buspiron). Zahlreiche klinische Untersuchungen deuten darauf hin, dass Veränderungen in der Funktion des 5-HT1A-Rezeptors mit psychischen Störungen zusammenhängen, nur zwei dieser Studien seien hier genannt: 4 Durch Positronenemissionstomographie (PET) wurde bei Patienten mit unipolarer Depression ein reduziertes Rezeptorbindungspotenzial in den Raphe-Kernen nachgewiesen (Drevets et al. 1999). 4 Im Gehirn von Patientinnen mit Persönlichkeitsstörungen (borderline personality disorder) war das Volumen der Amygdala in der Gruppe mit einer bestimmten Mutation (G-Allel) reduziert im Vergleich zu Patientinnen mit dem C-Allel (Zetzsche et al. 2008). Auch Mutationen in Genen für andere Serotoninrezeptoren sind mit psychiatrischen Erkrankungen in Verbindung gebracht worden bzw. mit der Reaktion auf SSRI (z. B. Kato u. Serretti 2010). Ein neueres Antidepressivum, Agomelatin, blockiert 5HT2C-Rezeptoren und stimuliert Melatoninrezeptoren (Kasper u. Hamon 2009).
11.1.4
Tryptophanhydroxylase
Enzyme, die Serotonin aus Tryptophan synthetisieren, werden durch zwei verschiedene Gene kodiert, Tryptophanhydroxylase 1 und 2 (TPH1, TPH2). TPH2 gilt als das vorherrschende Enzym in den Raphe-Kernen von Tier und Mensch (Walther et al. 2003; Zill et al. 2007), während TPH1 im Pinealorgan und in der Peripherie stark vertreten ist. TPH1, das katalytisch aktivere Enzym, ist aber auch in den Raphe-Kernen präsent, und im Tiermodell stimuliert chronischer Stress die Synthese von TPH1Transkripten in diesem Kern des Hirnstamms (Abumaria et al. 2008). Polymorphismen in beiden Genen (TPH1, Zaboli et al. 2006; TPH2, Zill et al. 2004) wurden mit psychiatrischen Erkrankungen bzw. mit der Responsivität auf Antidepressiva in Verbindung gebracht (Kato u. Serretti 2010). Transkripte des humanen TPH2-Gens liegen in verschiedenen Formen vor, was auf komplexe Mechanismen der Expression des Gens hinweist (Grohmann et al. 2010).
11.1.5
Monoaminabbauende Enzyme
5-HT wird ebenso wie Katecholamine von Monoaminoxidasen (MAO) abgebaut, die in der äußeren Mitochondrienmembran von vielen Zellen in Gehirn und Körper lokalisiert sind (. Abb. 11.1) . MAO-A metabolisiert 5-HT, Noradrenalin und Adrena-
. Abb. 11.1 Serotonerge Nerventerminale. Die Ziffern1–4 bezeichnen molekulare Elemente, die nach dem gegenwärtigen Wissensstand bei psychiatrischen Erkrankungen eine Rolle spielen. 5-HT 5-Hydroxytryptamin (Serotonin), 5-HTP 5-Hydroxytryptophan, TPH Tryptophanhydroxylase, VMAT vesikulärer Monoamintransporter, 5-HTT 5-HT-Transporter, MAO-A Monoaminoxidase A, 5-HIES 5-Hydroxyindolessigsäure
lin, während MAO-B Dopamin abbaut. Untersuchungen an Mäusen mit einer Insertionsmutation im MAO-A-Gen lieferten wichtige Erkenntnisse über die Rolle der Monoamine bei der Steuerung neurobiologischer Prozesse. Im Gehirn von MAO-Adefizienten Mäusen war die 5-HT-Konzentration 8-fach erhöht und die Noradrenalinmenge verdoppelt (Picciotto 1999). Mehrere Verhaltensweisen der MAO-A-negativen Mäuse reflektierten serotonerge Hyperaktivität, die Tiere waren z. B. sehr aggressiv und stressempfindlich. Ihre verstärkte Tendenz zu ängstlichem Verhalten unterstützt die Vorstellung, dass Serotonin bei der Regulation emotionaler Prozesse wichtig ist. Somatosensorische Projektionsgebiete in den Kortizes (barrel fields) der MAO-A-defizienten Mäuse zeigten morphologische Anomalien, deren Ausbildung durch antiserotonerge Substanzen unterbunden werden kann, was die essenzielle Rolle von 5HT bei der Differenzierung von Neuronen unterstreicht. Eine Variante des MAO-A-Gens kommt gehäuft bei Patienten mit einer generalisierten Angststörung vor (Tadic et al. 2003). Eine Mutation im MAO-A-Gen des Menschen, die zu verringerter Expression des Enzyms führt, erhöht möglicherweise die Wahrscheinlichkeit für die Ausprägung aggressiven Verhaltens (Buckholtz u. Meyer-Lindenberg 2008). Es wird diskutiert, ob im Laufe der Gehirnentwicklung ein Überschuss an 5-HT die emotionalen Zentren von Menschen mit dieser Mutation so sensitiviert, dass äußere Stimuli leicht zu aggressivem Verhalten führen können. Letztlich bedingt aber nicht nur eine einzelne Mutation den Verhaltensphänotyp, sondern, neben äußeren Einflüssen wie Stress, auch der genetische Hintergrund, der durch bestimmte Konstellationen die Folgen einer Mutation modifizieren kann.
11
118
Kapitel 11 · Neurotransmitterhypothesen
11.1.6
Zusammenfassung
Defekte im Serotoninsystem – Ergebnisse 4 Mutationen im Gen für den Serotonintransporter können zur Disposition für Angsterkrankungen oder Depressionen beitragen. 4 Patienten mit unipolarer Depression haben in ihren Raphe-Kernen ein reduziertes Bindungspotenzial des 5-HT1A-Rezeptors. 4 Polymorphismen der Enzyme Tryptophanhydroxylase 1 und 2 werden mit depressiven Erkrankungen in Verbindung gebracht. 4 Polymorphismen des MAO-A-Gens tragen möglicherweise zu Angsterkrankungen bzw. zu aggressivem Verhalten bei.
11.2
11
Noradrenalin
Ebenso wir 5-HT ist Noradrenalin (NA) an der Regulation einer Vielzahl physiologischer Funktionen beteiligt, z. B. steuern NANeuronen in Kerngebieten der Medulla oblongata autonome Funktionen wie Blutdruck und Herzschlag. NA-Neuronen im Locus coeruleus (LC), einem Kerngebiet in der Brücke, die u. a. zum Neokortex projizieren, steuern die Aufmerksamkeit (Bear et al. 2009). Die Monoamindefizit-Hypothese impliziert, dass im Gehirn von depressiven Patienten nicht nur das serotonerge, sondern auch das noradrenerge System gestört ist. Möglicherweise trägt eine mangelnde Aktivität des NA-Systems auch zu Angsterkrankungen bei. Im sympathischen Nervensystem ist NA der wichtigste postganglionäre Neurotransmitter, der über periphere Mechanismen Blutdruck und Metabolismus reguliert (sympathomimetische Wirkung). NA wird aus Tyrosin gebildet, wobei in den ersten Schritten zunächst Dihydroxyphenylalanin (Dopa) und Dopamin entstehen. Dopamin wird mittels des vesikulären Monoamintransporters (VMAT) in die terminalen Vesikel eingeschleust, wo es durch die Dopamin-ß-Hydroxylase in NA umgewandelt wird. Infolge eines Aktionspotenzials schüttet das NA-Neuron den Transmitter aus, welcher an prä- und postsynaptische adrenerge Rezeptoren bindet. Wenn die Aktivität des VMAT durch Reserpin blockiert wird, können die terminalen Vesikel nicht mehr befüllt werden (noradrenaline depletion), sodass der extrazelluläre NA-Spiegel sinkt. Reserpin senkt über seine Wirkung auf das sympathische Nervensystem den Blutdruck und kann wegen des induzierten NA-Mangels in Gehirn auch zu Depressionen führen. Noradrenalin wird durch MAO-A und, wie Dopamin, durch die extrazelluläre Catechol-O-Methyltransferase (COMT) abgebaut (7 11.3.5).
11.2.1
Noradrenalintransporter
Der Noradrenalintransporter (auch Norepinephrintransporter, NET) ist in der Plasmamembran von NA-Neuronen lokalisiert und sorgt – ähnlich wie der Serotonintransporter in 5-HT-Neuronen – für die Wiederaufnahme von extrazellulärem NA in das Zytoplasma des Neurons. Mäuse ohne einen funktionsfähigen NET hatten in verschiedenen Hirnregionen veränderte Konzentrationen von extrazellulärem NA und zeigten Defizite in der NA-Synthese (Gainetdinov u. Caron 2003). In einer neuen Umgebung zeigen NETKO-Mäuse eine verminderte lokomotorische Aktivität; dies wurde als mangelnder innerer Antrieb interpretiert, der vermutlich auf funktionellen Störungen der LC-Neuronen beruhte. Normalerweise sorgt die tonische Aktivität der LC-Neuronen (ein gleichmäßiger Rhythmus elektrischer Entladungen) für eine fluktuierende Menge von NA im Neokortex. Dies moduliert die Aktivität kortikaler Neuronen und steuert so Aufmerksamkeit und Reaktionsfähigkeit. Messungen an Synaptosomen sprechen dafür, dass der NET in einigen Hirnregionen auch als Transporter für DA fungiert (z. B. im frontalen Kortex). Zahlreiche häufig verschriebene Antidepressiva sind SNRI (Serotonin-Noradrenalin-Wiederaufnahmehemmer), sie blockieren also neben dem 5-HTT auch den NET (z. B. Venlafaxin). Ob Substanzen, die nur den NET blockieren, effektiv wirkende Antidepressiva sind, wird zurzeit diskutiert. Genetisch bedingte Unterschiede in den Leberenzymen, welche diese Medikamente abbauen (Cytochrom-P450Enzyme), bestimmen u. a. die individuelle Reaktion auf Antidepressiva. Eine bestimmte Variante des NET-Gens wurde mit der Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitätsstörung (ADHS) in Verbindung gebracht. Jüngere Studien an Menschen zeigten aber keinen direkten Zusammenhang zwischen definierten NET-Genotypen und ADHS, stattdessen einen möglichen Zusammenhang zwischen Polymorphismen des NET-Gens und der Sensitivität gegenüber Amphetaminen (Dlugos et al. 2007). Mäuse ohne einen funktionsfähigen NET reagierten auf Kokain und Amphetamin hypersensitiv, d. h. hyperlokomotorisch. Da diese Psychostimulanzien in erste Linie auf den Dopamintransporter einwirken, zeigen die Experimente, dass noradrenerge und dopaminerge Transmissionsprozesse eng miteinander verflochten sind.
11.2.2
Adrenerge Rezeptoren
NA und Adrenalin binden an adrenerge Rezeptoren, die in zwei große Gruppen eingeteilt werden: 4 α-adrenerge und 4 β-adrenerge Rezeptoren. In der Peripherie spielen adrenerge Rezeptoren eine Schlüsselrolle bei der Regulation des Blutdrucks und des gesamten Metabolismus, im Gehirn sind sie ebenfalls an einer Vielzahl von Funktionen beteiligt, u. a. an der Steuerung emotionaler Pro-
119 11.3 · Dopamin
zesse. Extrazelluläres NA bindet präsynaptisch an α2-adrenerge Autorezeptoren, welche die Ausschüttung von NA inhibieren. Eine Dysregulation dieser Autoinhibition könnte bei Angsterkrankungen eine Rolle spielen (Coupland et al. 1996). Unter Stress nimmt die Zahl der α2-adrenergen Autorezeptoren im Locus coeruleus ab, was eine Ursache für eine andauernde Hyperaktivität der NA-Neuronen und eine mangelnde Kontrolle der zentralnervösen NA-Ausschüttung nach chronischem Stress sein könnte (Flügge et al. 2003). Eine zahlenmäßige Abnahme bzw. Desensitivierung der Autorezeptoren im sympathischen Nervensystem trägt wahrscheinlich zur Hyperaktivität der Sympathikusneuronen unter chronischem Stress bei. Einige Studien wiesen auf Zusammenhänge zwischen Mutationen in den Genen für den α2A-Adrenozeptor bzw. für den NET und der Responsivität auf Methylphenidat hin, dem sympathotonen Wirkstoff gegen die Symptome der ADHS. Allerdings handelte es sich hierbei um Untersuchungen mit nur kleinen Fallzahlen, die darüber hinaus noch nicht repliziert wurden (Froehlich et al. 2010).
11.3.1
Das Enzym Tyrosinhydroxylase (TH) synthetisiert Dopamin (DA) aus der Aminosäure Tyrosin; TH ist das Schrittmacherenzym des DA-Biosynthesewegs. Der Neurotransmitter moduliert die Aktivität von Neuronen, indem er an spezifische Rezeptoren bindet: 4 D1-ähnliche Rezeptoren (D1, D5) stimulieren die Adenylatcyclase, 4 D2-ähnliche (D2, D3, D4) hemmen das Enzym (Holmes et al. 2004). Freigesetztes DA wird durch den in der Plasmamembran lokalisierten Dopamintransporter (DAT) wieder in das Neuron eingeschleust. Über den vesikulären Monoamintransporter (VMAT) gelangt zytoplasmatisches DA in die terminalen Vesikel; das vesikuläre DA wird exozytotisch in den synaptischen Spalt ausgeschüttet.
11.3.2 11.2.3
TH-Transgene Mäuse
Zusammenfassung
Das noradrenerge System im Zusammenhang mit psychischen Prozessen 4 Zahlreiche häufig verschriebene Antidepressiva sind SNRI (Serotonin-Noradrenalin-Wiederaufnahmehemmer). 4 Polymorphismen im Gen für den Noradrenalintransporter korrelieren mit Reaktionen auf Kokain und Amphetamine. 4 Eine reduzierte Expression von Autorezeptoren kann zur Hyperaktivität des noradrenergen Systems führen.
Zur Aufklärung möglicher neuropathologischer dopaminerger Mechanismen wurden KO-Mäuse für zahlreiche molekulare Elemente des Systems hergestellt (Picciotto 1999). TH-KOMäuse waren nicht lebensfähig, weil das Enzym auch für die Synthese der anderen Katecholamine (Noradrenalin, Adrenalin) essenziell ist. Transgene Mäuse jedoch, die das TH-Gen nur in noradrenergen Neuronen exprimierten und daher zwar NA, aber kein DA synthetisierten, waren lebensfähig, wenn auch extrem hypoaktiv. Ihre lokomotorische Aktivität konnte durch l-Dopa normalisiert werden, was die Notwendigkeit von DA bei der Steuerung von innerem Antrieb und Motorik unterstreicht. Neben der Hypomotorik zeigten die TH-transgenen Tiere zahlreiche weitere Verhaltensstörungen.
11.3.3 11.3
Dopaminerge Neuronen
Dopamintransporter
Dopamin
Dopamin (DA) gilt, ebenso wie Serotonin, als »Glückshormon«. Psychostimulanzien, welche die DA-Ausschüttung in Hirnregionen stimulieren, die zum Belohnungssystem gehören, verursachen euphorische Gefühle (flow) (Bear et al. 2009). Die Dopamin-Hypothese der Schizophrenie besagt, dass Störungen im zentralnervösen Dopaminsystem zu der Erkrankung beitragen. Es wird angenommen, dass die Produktion bzw. Ausschüttung von Dopamin in den Gehirnen von Schizophrenen verstärkt ist und/oder dass DA-Rezeptoren hypersensitiv sind. Die Hypothese beruht u. a. darauf, dass einerseits Antipsychotika DA-Rezeptoren blockieren und andererseits DA-Rezeptoragonisten wie Amphetamine über ihre stimulierende Wirkung hinaus psychotische Zustände induzieren können.
In Analogie zum 5-HTT und zum NET transportiert der Dopamintransporter (DAT) extrazelluläres DA zurück in das Zytosol des Neurons. Kokain blockiert diesen Transport und bewirkt so einen Anstieg des extrazellulären DA. Allerdings interagiert Kokain nicht nur mit dem DAT, sondern auch mit NET und 5-HTT. Eine Hyperaktivität des DA-Systems liegt bei Mäusen vor, die kein funktionsfähiges DAT-Gen besitzen. Daher wurden DAT-KO-Mäuse im Hinblick auf ihre Eignung als Tiermodell für Schizophrenie untersucht. Die Tiere waren lokomotorisch hyperaktiv, in Übereinstimmung mit dem Befund, dass DA in ihren Gehirnen wesentlich länger im Extrazellularraum verblieb als bei normalen Tieren. Als Konsequenz des ständig erhöhten DA nahm die Zahl der D1- und D3-Rezeptoren ab (receptor down regulation), bzw. die Rezeptoren wurden desensitiviert (Gainetdinov u. Caron 2003). Dies führte u. a. zu einer Störung der Autorezeptorfunktion, also zu einer Beeinträchtigung der
11
120
11
Kapitel 11 · Neurotransmitterhypothesen
Rückkopplungshemmung der DA-Ausschüttung, die eine dopaminerge Hyperaktivität bedingte. In DAT-KO-Mäusen reagierten aber einige postsynaptische Rezeptoren überraschenderweise hypersensitiv auf Agonisten, diese DA-Rezeptoren waren also nicht desensitiviert. Es könnte sich hierbei um Anpassungsphänomene handeln, mit denen die Gehirne der mutierten Mäuse im Laufe ihrer Entwicklung auf die erhöhten DA-Mengen reagierten. Insgesamt zeigten die Untersuchungen, dass ein funktionsfähiges Transportermolekül nicht nur für die Wiederaufnahme des Neurotransmitters in die Zelle wichtig ist, sondern auch für die Steuerung seiner Synthese. In Übereinstimmung mit der Hypothese, dass bei DAT-KOMäusen die dopaminerge Neurotransmission in ähnlicher Weise verändert ist wie bei schizophrenen Patienten, konnte die Hyperlokomotion der Mäuse durch Rezeptorantagonisten wie Haloperidol und Clozapin unterbunden werden. Reaktionsweisen, die möglicherweise Psychosen widerspiegeln, wurden bei den DAT-KO-Mäusen aber nicht beobachtet. Überraschenderweise hemmten Psychostimulanzien wie Amphetamine die Hyperlokomotion der Mausmutanten, und nach Applikation von Kokain bzw. Amphetamin nahm die extrazelluläre DA-Konzentration in ihrem Nucleus accumbens zu, möglicherweise weil diese Psychostimulanzien auch auf den NET einwirken (Carboni et al. 2001). Darüber hinaus wirken Amphetamine nicht nur auf die Monoamintransporter in der Plasmamembran, sondern auch auf diejenigen in der Membran der terminalen Vesikel, was ebenfalls zur Stimulation der Monoaminausschüttung beiträgt (Robertson et al. 2009). Daher ist es fraglich, ob DAT-KO-Mäuse als Modell für Schizophrenie gelten können. Beim Menschen sind zahlreiche Gene bekannt, die offensichtlich eine Prädisposition für die Ausprägung einer Schizophrenie bedingen (Kornhuber et al. 2004), und die Strategie, in Tiermodellen die Auswirkungen von Mutationen in diesen Kandidatengenen zu untersuchen, erscheint vielversprechend (Chen et al. 2006). Im Gehirn von Patienten mit ADHS scheint die dopaminerge Neurotransmission gestört zu sein, möglicherweise wegen eines DA-Mangels in striatalen und limbischen Hirnregionen (Volkow et al. 2007). SPECT-Untersuchungen zeigten, dass im Striatum von Patienten mit ADHS der spezifische DAT-Ligand 123I-FPCIT schwächer bindet als in Gehirnen von gesunden Probanden (Hesse et al. 2009). Methylphenidat, das bekannte Pharmakon gegen ADHS, blockiert den DAT, wodurch die neuronale Ausschüttung von DA und NA reguliert wird (Heal et al. 2009; Iversen u. Iversen 2007).
11.3.4
Dopaminrezeptor-Knock-out-Mäuse
Um die Funktion von DA-Rezeptoren aufzuklären, wurden KOMäuse für alle bisher bekannten Rezeptoren (D1–D5) hergestellt (Picciotto 1999; Holmes et al. 2004). Untersuchungen an diesen Tieren zeigten deutlich, dass der D2-Rezeptor als Autorezeptor fungiert, also die Ausschüttung von DA aus den Nerventerminalen reguliert. Der D1-Rezeptor ist offensichtlich entscheidend an der Wirkung von Psychostimulanzien auf Verhaltensparameter beteiligt. Andere Befunde, die an DA-Rezeptor-KO-Mäusen
erhoben wurden, stehen im Widerspruch zu früheren Experimenten. DA-Rezeptorantagonisten verminderten nur leicht die basale motorische Aktivität, z. B. von D2-Rezeptor-KO-Mäusen, während sie bei genetisch intakten Mäusen eine starke Hypoaktivität bzw. Katalepsie hervorriefen. Vermutlich hatten die KO-Mäuse im Laufe ihrer individuellen Entwicklung Mechanismen ausgebildet, die den Gendefekt teilweise kompensierten (Holmes et al. 2004). Es sollte aber berücksichtigt werden, dass Ergebnisse aus solchen pharmakologischen Untersuchungen von begrenzter Aussagekraft sind, da viele der verwendeten Liganden nicht nur mit einem Rezeptortyp interagieren.
11.3.5
Catechol-O-Methyltransferase
Dopamin wird durch die MAO-B abgebaut und, wie andere Katecholverbindungen auch, durch das Enzym Catechol-OMethyltransferase (COMT), das in vielen Zellen vorkommt (im Gehirn in Gliazellen). Eine häufige Mutation (Austausch der Aminosäure Valin an Position 158 gegen Methionin) reduziert die Enzymaktivität um 40% und erhöht damit vermutlich den Dopaminspiegel in bestimmten Hirnregionen (Chen et al. 2004). Testpersonen mit dem Valin-Allel zeigten in einem Kognitionstest bessere Leistungen als Probanden mit dem Methionin-Allel (Krämer et al. 2007). Diese und andere Mutationen im COMT-Gen wurden als mögliche SchizophrenieRisikogene erörtert; allerdings konnte bisher kein eindeutiger Zusammenhang zwischen bestimmten genetischen Konstellationen im COMT-Gen und Schizophrenie bzw. Psychosen nachgewiesen werden.
11.3.6
Zusammenfassung
Ergebnisse über zentralnervöse Katecholaminsysteme 4 Mäuse, die wegen eines Defekts im Gen für die Tyrosinhydroxylase keine Katecholamine synthetisieren können, sind nicht lebensfähig. 4 Studien an Menschen zeigten, dass die individuelle Sensitivität gegenüber Amphetamin mit bestimmten Polymorphismen im NET-Gen korreliert. 4 Der spezifische Dopamintransporter-Ligand 123I-FP-CIT bindet im Striatum von ADHS-Patienten schwächer als im Striatum von gesunden Probanden. 4 Testpersonen mit einer Variante des Gens für CatecholO-Methyltransferase (Valin-Allel) zeigten in einem Kognitionstest bessere Leistungen als Probanden mit dem Methionin-Allel.
11.4
Brain-derived neurotrophic factor (BDNF)
Das Protein BDNF (brain derived neurotrophic factor) gehört zur Familie der Neurotrophine, die sowohl im Gehirn als auch im
121 11.5 · GABA und Glutamat
Körper vorkommen. Neurotrophine binden an Rezeptoren auf der Oberfläche von Neuronen und Gliazellen, z. B. an den TrkB(track B)-Rezeptor und an p75. Bei TrkB-Rezeptoren handelt es sich um Kinasen, deren Stimulation zu Phosphorylierung bestimmter Proteine führt und damit zur Aktivierung von intrazellulären Signalkaskaden, die letztlich auch die Genexpression in den Zellen verändern (Bear et al. 2009). BDNF wird u. a. in dopaminergen Neuronen synthetisiert. Es stimuliert die mesolimbische DA-Ausschüttung und spielt daher möglicherweise eine Rolle bei der Generierung von Belohnungsgefühlen. Männliche Mäuse, deren BDNF-Synthese im Nucleus accumbens mit gentechnischen Methoden gezielt ausgeschaltet wurde, zeigten im sozialen Kontext gestörte Reaktionen: Ihnen fehlte das aggressive Verhalten, das normalerweise nach sozialer Unterwerfung zu beobachten ist (Berton et al. 2006). Möglicherweise spielt BDNF auch eine Rolle bei der Entstehung von depressiven Erkrankungen. Nach der Network Hypothesis ist die Fähigkeit des Gehirns, Informationen zu speichern und zu verarbeiten, bei Depressiven gestört. Es wird angenommen, dass Antidepressiva nicht nur die o. g. Prozesse der Neurotransmission, sondern auch die BDNF-Expression verändern und dass dies zur positiven Wirkung der Medikamente beiträgt (Castren u. Rentamäki 2010).
11.5
GABA und Glutamat
Der inhibitorische Neurotransmitter GABA (γ-amino butyric acid, γ-Aminobuttersäure) wird durch das Enzym Glutamatdecarboxylase (GAD) aus der Aminosäure Glutamat synthetisiert, die selbst als exzitatorischer Neurotransmitter fungiert (. Abb. 11.2). Über den vesikulären GABA-Transporter gelangt der Neurotransmitter in die terminalen Vesikel, deren Inhalt nach einem Stimulus in den synaptischen Spalt ausgeschüttet wird. Extrazelluläre GABA, die auch nichtvesikulär freigesetzt werden kann, gelangt durch den GABA-Transporter zurück in Neuronen bzw. in Gliazellen. GABA bindet an verschiedene Rezeptoren, von denen im Zusammenhang mit psychischen Erkrankungen v. a. der postsynaptische GABAA-Rezeptor von Interesse ist (7 11.5.1). Der präsynaptisch lokalisierte GABAB-Rezeptor fungiert als Autorezeptor, der über Rückkopplungshemmung die Ausschüttung des Transmitters reguliert. In Astrozyten wird aus GABA Succinat (durch das Enzym Succinat-Semialdehyd-Dehydrogenase), aus dem im Zitratzyzlus α-Ketoglutarat entsteht, welches wiederum durch die GABA-Transaminase in Glutamat umgewandelt wird. Im Zytoplasma von Gliazellen entsteht daraus dann Glutamin, welches über Membrantransporter in Neuronen und in deren Mitochondrien gelangt. Dort wird Glutamin unter Mitwirkung von Transaminasen und Glutaminase in Glutamat überführt, aus dem durch die Aktivität der GAD dann GABA entsteht. Bildgebende Verfahren mit Protonen-Magnetresonanzspektroskopie zeigten, dass in den Gehirnen von Patienten mit unipolarer Depression die Konzentration an GABA reduziert ist, und es wurde vermutet, dass ein Zusammenhang mit Störungen im Glutamat/Glutamin-GABA-Metabolismus vorliegt
(Price et al. 2009). Tatsächlich zeigte eine andere Studie reduzierte Glutamin- bzw. Glutamatkonzentrationen im anterioren zingulären Kortex von depressiven Patienten (Auer et al. 2000). Im okzipitalen Kortex von Depressiven war die Zahl eines bestimmten Typs von GABAergen Neuronen reduziert, nämlich derjenigen, die das Protein Calbindin exprimieren (Maciag et al. 2010). Bestätigt wurden diese Ergebnisse, die aus humanem Post-mortem-Material gewonnen wurden, durch Tiermodelle für depressive Erkrankungen. Beispielsweise zeigte sich, dass chronischer sozialer Stress, der auch bei Tieren zu depressionsähnlichen Symptomen führen kann, die Zahl der GABAergen Interneuronen im Hippokampus reduziert, die das kalziumbindende Protein Parvalbumin exprimieren (Czeh et al. 2005). Eine Störung der GABAergen Neurotransmission im Hippokampus nach Stress wurde ebenfalls elektrophysiologisch nachgewiesen. Die inhibitorische Neurotransmission ist wichtig für die Generierung von rhythmischen Netzwerkoszillationen, die bei kognitiven Prozessen eine entscheidende Rolle spielen (Hu et al. 2010).
11.5.1
GABAA-Rezeptor
Der GABAA-Rezeptorkomplex bildet einen durch GABA regulierten Ionenkanal, durch den Chlorid in die Zelle einströmt, was zu deren Hemmung führt. Der Rezeptor besteht aus verschiedenen Untereinheiten (α, β, γ usw.), deren Präsenz über die pharmakologischen Eigenschaften des Komplexes entscheidet (Rudolph u. Möhler 2006). Außer der Bindungsstelle für GABA selbst befinden sich auf dem Komplex Bindungsstellen für andere Substanzen, welche die Aktivität des Rezeptors modulieren, u. a. für Benzodiazepine, Steroidhormone (Progesteron) und Barbiturate. Die sedierende, anxiolytische und muskelrelaxierende Wirkung von Benzodiazepinen beruht z. B. auf einer Verstärkung des GABA-evozierten Chloridstroms. Die modulierende Wirkung von Neurosteroiden hat psychogene Wirkungen, die mit affektiven Erkrankungen in Verbindung gebracht werden. Verschiedene Polymorphismen der Gene für die Untereinheiten des GABAA-Rezeptors werden mit psychischen Erkrankungen wie Depressionen oder posttraumatischer Belastungsstörung in Verbindung gebracht (Henkel et al. 2004; Luscher et al. 2010).
11.5.2
Glutamatdecarboxylase
GAD, das Enzym, welches aus Glutamat synthetisiert, liegt in zwei Isoformen vor, die sich im Molekulargewicht unterscheiden: 4 GAD67 (Synonym: GAD1) und 4 GAD65 (Synonym: GAD2). Post-mortem-Untersuchungen von verschiedenen kortikalen Regionen zeigten eine erhöhte Immunreaktivität für GAD65/67 bei Patienten mit unipolarer Depression im Vergleich zu Patienten mit bipolarer Depression bzw. im Vergleich zu Nichtdepres-
11
122
Kapitel 11 · Neurotransmitterhypothesen
11
. Abb. 11.2 GABAerge Nervenendigung. Der inhibitorische Neurotransmitter GABA wird aus Glutamat synthetisiert. Der Abbau von GABA erfolgt z. T. in Gliazellen (hier: ein Astrozyt). Die Ziffern 1 und 2 bezeichnen molekulare Elemente, die nach dem gegenwärtigen Wissensstand bei psychiatri-
schen Erkrankungen eine Rolle spielen. GABA-T GABA-Transaminase, GAD Glutamatdecarboxylase, SSADH Succinatsemialdehyd-Dehydrogenase, VGAT vesikulärer GABA-Transporter
siven (Bielau et al. 2007). Eine andere Studie zeigte allerdings, dass die Messenger-RNA für GAD67 in den Schichten III und IV des orbitofrontalen Kortex von Patienten mit bipolarer Depression bzw. mit Schizophrenie reduziert ist (Thompson et al. 2009). Obwohl die Mechanismen, die zum Anstieg der GADImmunreaktivität bzw. zur Abnahme der Transkripte führen, bisher nicht erklärbar sind, weisen die hier erwähnten Untersuchungen insgesamt doch auf Störungen der GABA-Neurotransmission in den Gehirnen von Patienten mit psychischen Erkrankungen hin.
11.6
11.5.3
Zusammenfassung
Ergebnisse zu BDNF und GABA 4 Das Neurotrophin BDNF spielt möglicherweise eine Rolle bei der Entstehung von depressiven Erkrankungen. 4 Störungen der GABA-Neurotransmission können wahrscheinlich zu psychischen Erkrankungen führen.
Fazit
Rolle von Neurotransmittersystemen bei psychischen Erkrankungen 4 Reduzierte Konzentrationen der monoaminergen Neurotransmitter Serotonin, Noradrenalin bzw. Dopamin im Gehirn können zu Depressionen führen. 4 Erhöhte Mengen von Monoaminen, z. B. verursacht durch Mutationen in den metabolisierenden Enzymen, können zu aggressivem Verhalten führen. 4 Neben der monoaminergen scheint auch die GABAerge Neurotransmission im Gehirn von depressiven Patienten gestört zu sein.
123 Literatur
Literatur Abumaria N, Ribic A, Anacker C et al (2008) Stress upregulates TPH1 but not TPH2 mRNA in the rat dorsal raphe nucleus: identification of two TPH2 mRNA splice variants. Cell Mol Neurobiol 28: 331–342 Auer DP, Putz B, Kraft E et al (2000) Reduced glutamate in the anterior cingulate cortex in depression: an in vivo proton magnetic resonance spectroscopy study. Biol Psychiatry 47: 305–313 Barton DA, Esler MD, Dawood T et al (2008) Elevated brain serotonin turnover in patients with depression: effect of genotype and therapy. Arch Gen Psychiatry 65: 38–46 Bear MF, Connors BW, Paradiso MA (2009) Neurowissenschaften. Ein grundlegendes Lehrbuch für Biologie, Medizin und Psychologie. 3. Aufl. Spektrum Akademischer Verlag, Heidelberg Berton O, McClung CA, Dileone RJ et al (2006) Essential role of BDNF in the mesolimbic dopamine pathway in social defeat stress. Science 311: 864– 868 Bielau H, Steiner J, Mawrin C et al (2007) Dysregulation of GABAergic neurotransmission in mood disorders: a postmortem study. Ann NY Acad Sci 1096: 157–169 Buckholtz JW, Meyer-Lindenberg A (2008) MAOA and the neurogenetic architecture of human aggression. Trends Neurosci 31: 120–129 Carboni E, Spielewoy C, Vacca C et al (2001) Cocaine and amphetamine increase extracellular dopamine in the nucleus accumbens of mice lacking the dopamine transporter gene. J Neurosci 21: RC141: 1–4 Caspi A, Sugden K, Moffitt TE et al (2003) Influence of life stress on depression: moderation by a polymorphism in the 5-HTT gene. Science 301: 386–389 Castren E, Rentamaki T (2010) The role of BDNF and its receptors in depression and antidepressant drug action: reactivation of developmental plasticity. Dev Neurobiol 70: 289–297 Chen J, Lipska BK, Halim N et al (2004) Functional analysis of genetic variation in catechol-O-methyltransferase (COMT): effects on mRNA, protein, and enzyme activity in postmortem human brain. Am J Hum Genet 75: 807–821 Chen J, Lipska BK, Weinberger DR (2006) Genetic mouse models of schizophrenia: from hypothesis-based to susceptibility gene-based models. Biol Psychiatry 59: 1180–1188 Coupland NJ, Wilson SJ, Nutt DJ (1996) α2-Adrenoceptors in panic and anxiety disorders. J Psychopharmacol 10: 26–34 Czeh B, Simon M, van der Hart MG et al (2005) Chronic stress decreases the number of parvalbumin-immunoreactive interneurons in the hippocampus: prevention by treatment with a substance P receptor (NK1) antagonist. Neuropsychopharmacology 30: 67–79 Dlugos A, Freitag C, Hohoff C et al (2007) Norepinephrine transporter gene variation modulates acute response to D-amphetamine. Biol Psychiatry 61: 1296–1305 Drevets WC, Frank E, Price JC et al (1999) PET imaging of serotonin 1A receptor binding in depression. Biol Psychiatry 46: 1375–1387 Flügge G, van Kampen M, Meyer H, Fuchs E (2003) α2A and α2C-adrenoceptor regulation in the brain: α2A changes persist after chronic stress. Eur J Neurosci 17: 917–928 Frodl T, Reinhold E, Koutsouleris N et al (2010) Childhood stress, serotonin transporter gene and brain structures in major depression. Neuropsychopharmacology 35: 1383–1390 Froehlich TE, McGough JJ, Stein MA (2010) Progress and promise of attention-deficit hyperactivity disorder pharmacogenetics. CNS Drugs 24: 99–117 Gainetdinov RR, Caron MG (2003) Monoamine transporters: from genes to behavior. Annu Rev Pharmacol Toxicol 43: 261–284 Grohmann M, Hammer P, Walther M et al (2010) Alternative splicing and extensive RNA editing of human TPH2 transcripts. PLoS One 5: e8956 Heal DJ, Cheetham SC, Smith SL (2009) The neuropharmacology of ADHD drugs in vivo: insights on efficacy and safety. Neuropharmacology 57: 608–718
Heinz A, Braus DF, Smolka MN et al (2005) Amygdala-prefrontal coupling depends on a genetic variation of the serotonin transporter. Nat Neurosci 8: 20–21 Henkel V, Baghai TC, Eser D et al (2004) The gamma amino butyric acid (GABA) receptor α-3 subunit gene polymorphism in unipolar depressive disorder: a genetic association study. Am J Med Genet B Neuropsychiatr Genet 126B: 82–87 Hesse S, Ballaschke O, Barthel H, Sabri O (2009) Dopamine transporter imaging in adult patients with attention-deficit/hyperactivity disorder. Psychiatry Res 171: 120–128 Hodges MR, Wehner M, Aungst J et al (2009) Transgenic mice lacking serotonin neurons have severe apnea and high mortality during development. J Neurosci 29: 10341–10349 Holmes A, Lachowicz JE, Sibley DR (2004) Phenotypic analysis of dopamine receptor knockout mice; recent insights into the functional specificity of dopamine receptor subtypes. Neuropharmacology 47: 1117–1134 Holsboer F (1999) Molekulare Mechanismen der Depressionstherapie. In: Ganten G, Ruckpaul K (Hrsg) Handbuch der molekularen Medizin. Springer, Berlin Heidelberg New York, S 273–318 Hu W, Zhang M, Czeh B et al (2010) Stress impairs GABAergic network function in the hippocampus by activating nongenomic glucocorticoid receptors and affecting the integrity of the parvalbumin-expressing neuronal network. Neuropsychopharmacology 35: 1693–1707 Iversen SD, Iversen LL (2007) Dopamine: 50 years in perspective. Trends Neurosci 30: 188–193 Kasper S, Hamon M (2009) Beyond the monoaminergic hypothesis: agomelatine, a new antidepressant with an innovative mechanism of action. World J Biol Psychiatry 10: 117–126 Kato M, Serretti A (2010) Review and meta-analysis of antidepressant pharmacogenetic findings in major depressive disorder. Mol Psychiatry 15: 473–500 Kornhuber J, Wiltfang J, Bleich S (2004) The etiopathogenesis of schizophrenias. Pharmacopsychiatry 37(Suppl 2): S103–112 Krämer UM, Cunillera T, Camara E et al (2007) The impact of catechol-Omethyltransferase and dopamine D4 receptor genotypes on neurophysiological markers of performance monitoring. J Neurosci 27: 14190– 14198 Lesch KP, Bengel D, Heils A et al (1996) Association of anxiety-related traits with a polymorphism in the serotonin transporter gene regulatory region. Science 274: 1527–1531 Luscher B, Shen Q, Sahir N (2010) The GABAergic deficit hypothesis of major depressive disorder. Mol Psychiatry 16(4): 383–406 Maciag D, Hughes J, O’Dwyer G et al (2010) Reduced density of calbindin immunoreactive GABAergic neurons in the occipital cortex in major depression: relevance to neuroimaging studies. Biol Psychiatry 67: 465– 470 Picciotto MR (1999) Knock-out mouse models used to study neurobiological systems. Crit Rev Neurobiol 13: 103–149 Price RB, Shungu DC, Mao X et al (2009) Amino acid neurotransmitters assessed by proton magnetic resonance spectroscopy: relationship to treatment resistance in major depressive disorder. Biol Psychiatry 65: 792-800 Risch N, Herrell R, Lehner T et al (2009) Interaction between the serotonin transporter gene (5-HTTLPR), stressful life events, and risk of depression: a meta-analysis. JAMA 301: 2462–2471 Robertson SD, Matthies HJ, Galli A (2009) A closer look at amphetamine-induced reverse transport and trafficking of the dopamine and norepinephrine transporters. Mol Neurobiol 39: 73–80 Rudolph U, Möhler H (2006) GABA-based therapeutic approaches: GABAA receptor subtype functions. Curr Opin Pharmacol 6: 18–23 Tadic A, Rujescu D, Szegedi A et al (2003) Association of a MAOA gene variant with generalized anxiety disorder, but not with panic disorder or major depression. Am J Med Genet B Neuropsychiatr Genet 117B: 1–6 Thompson M, Weickert CS, Wyatt E, Webster MJ (2009) Decreased glutamic acid decarboxylase(67) mRNA expression in multiple brain areas of patients with schizophrenia and mood disorders. J Psychiatr Res 43: 970– 977
11
124
Kapitel 11 · Neurotransmitterhypothesen
Torres GE, Gainetdinov RR, Caron MG (2003) Plasma membrane monoamine transporters: structure, regulation and function. Nat Rev Neurosci 4: 13–25 Volkow ND, Wang GJ, Newcorn J et al (2007) Depressed dopamine activity in caudate and preliminary evidence of limbic involvement in adults with attention-deficit/hyperactivity disorder. Arch Gen Psychiatry 64: 932– 940 Walther DJ, Peter JU, Bashammakh S et al (2003) Synthesis of serotonin by a second tryptophan hydroxylase isoform. Science 299: 76 Zaboli G, Jonsson EG, Gizatullin R et al (2006) Tryptophan hydroxylase-1 gene variants associated with schizophrenia. Biol Psychiatry 60: 563– 569 Zetzsche T, Preuss UW, Bondy B et al (2008) 5-HT1A receptor gene C-1019 G polymorphism and amygdala volume in borderline personality disorder. Genes Brain Behav 7: 306–313 Zill P, Baghai TC, Zwanzger P et al (2004) SNP and haplotype analysis of a novel tryptophan hydroxylase isoform (TPH2) gene provide evidence for association with major depression. Mol Psychiatry 9: 1030–1036 Zill P, Buttner A, Eisenmenger W et al (2007) Analysis of tryptophan hydroxylase I and II mRNA expression in the human brain: a post-mortem study. J Psychiatr Res 41: 168–173
11
125
Elektrophysiologische In-vivo-Methoden in der Grundlagenforschung Thomas Fenzl und Carsten T. Wotjak
12.1
Polysomnographie beim Versuchstier – 126
12.2
Technische Prinzipien der Polysomnographie und Schlafanalyse beim Versuchstier – 126
12.3
Grenzen der EEG-Ableitungen und weiterführende In-vivo-Methoden – 127
12.4
Telemetrische Ableitungen – 127
12.5
Mikrostimulation – 127
12.5.1 12.5.2
Elektrische Mikrostimulation – 127 Optische Mikrostimulation – 128
Literatur – 128
G. Gründer, O. Benkert (Hrsg.), Handbuch der Psychopharmakotherapie, DOI 10.1007/978-3-642-19844-1_12, © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2012
12
126
Kapitel 12 · Elektrophysiologische In-vivo-Methoden in der Grundlagenforschung
Einige moderne Methoden, die sich elektrophysiologischer Ansätze zur Messung physiologischer Zustände des Gehirns am Menschen bedienen, werden in späteren Kapiteln dieses Buches vorgestellt (7 Kap. 39 und 7 Kap. 40). Viele dieser Techniken werden parallel zum klinischen Bereich erfolgreich in der Grundlagenforschung eingesetzt und weiterentwickelt bzw. zuerst im Bereich der Grundlagenforschung eingeführt und evaluiert, bevor sie in die klinische Forschung und weiterhin auch in die klinische Diagnostik transferiert werden.
12.1
12
Polysomnographie beim Versuchstier
Wie beim Menschen, so ist es auch am Versuchstier möglich, ein Elektroenzephalogramm (EEG) zu messen und daraus detaillierte Rückschlüsse auf das Schlaf-/Wachverhalten der Tiere zu ziehen. Neben so exotischen Tieren wie z. B. Reptilien (Ctenosaura pectinata) oder Schnabeltieren (Ornithorhynchus anatinus), an denen v. a. grundlegende Befunde zur Evolution von Rapid-eye-movement(REM)-Schlaf erarbeitet wurden, sind Nagetiere (Rodentia), v. a. Maus (Mus musculus) und Ratte (Rattus norvegicus), die »Standard-Versuchstiere« der präklinischen Forschung. Im Hinblick auf die technischen Aspekte der Elektrophysiologie macht es in erster Näherung keinen Unterschied, ob die Maus oder die Ratte für ein bestimmtes Experiment herangezogen wird. Ähnlich wie beim Menschen müssen dem Versuchstier für polygraphische Untersuchungen kortikale Ableitelektroden auf dem Schädel platziert werden. Im Gegensatz zu Humanstudien werden im Tierversuch die Elektroden permanent in den Schädelknochen eingelassen, um eine stabile Ableitung der neuronalen Aktivitäten zu gewährleisten. Zusätzlich zu dem EEG werden heutzutage standardmäßig Elektromyogramme (EMG) abgeleitet, um die Muskelatonie während des REMSchlafs zu quantifizieren. Eine weitere Parallele zu Humanstudien bietet die Aufzeichnung von Elektrookulogrammen (EOG), welche zeitgleich zu den EEG- und EMG-Ableitungen durchgeführt werden.
12.2
Technische Prinzipien der Polysomnographie und Schlafanalyse beim Versuchstier
Im Gegensatz zur klinischen Analyse der Schlafstadien, die auf der Grundlage international anerkannter Grundsätze erfolgt (Rechtschaffen u. Kales 1968), gibt es bei der Auswertung der Polysomnogramme beim Versuchstier keine bindenden Übereinkünfte. In der Regel werden 1–2 EEG-Elektroden epidural in frontale Bereiche des Schädelknochens implantiert, deren Potenziale über eine differenzielle Messung mit einer okzipitalen Referenzelektrode verglichen werden. Die EMG-Elektroden befinden sich zumeist bilateral in der Nackenmuskulatur des Versuchstiers und zeichnen ohne Referenzbezug die muskuläre Aktivität auf.
Eine typische EEG-Aufzeichnung neuronaler Muster erstreckt sich über ein Frequenzband von 0,25 Hz bis hin zu etwa 30 Hz bei einem Verstärkungsfaktor von bis zu 10.000 gegenüber den Eingangssignalen. Der enge Rahmen des gewählten Frequenzbandes hat historische Gründe und ist sicherlich in Zukunft nicht mehr zu rechtfertigen, denn gerade im höheren Frequenzbereich von 30 Hz bis hin zu 90 Hz könnten sich interessante neue Erkenntnisse verbergen. Das Frequenzband bis 30 Hz wird, je nach Labor und Tradition, in etwa in folgende Bereiche eingeteilt: δ-Band: 0,5–5 Hz, θ-Band: 6–9 Hz, α-Band: 10–15 Hz, η-Band: 16–22 Hz, β-Band: 23–30 Hz. Die grundlegende Aufteilung in diese Frequenzbänder kann sich von Labor zu Labor unterscheiden. Generell lassen sich jedoch mit geeigneten Algorithmen (Fenzl et al. 2007; Tobler u. Borbely 1986) distinkte Frequenzbänder über die experimentelle Zeit integrieren und somit jedem definierten Zeitfenster ein definiertes Schlafstadium zuordnen. Bei Mäusen wird in der Regel unterschieden zwischen den Stadien 4 wach, 4 Non-rapid-eye-movement-Schlaf (Non-REM-Schlaf) und 4 Rapid-eye-movement-Schlaf (REM-Schlaf). Manche Autoren definieren darüber hinaus noch einen preREM-Schlaf. Eine weitere Unterteilung des Non-REM-Schlafs in die Stadien S1–S4 (seit 2007 nur noch Stadium N1–N3; AASM 2007) wie beim Menschen ist bei Mäusen und Ratten nicht üblich. Die bei den Tieren definierten Schlafstadien unterscheiden sich – wie beim Menschen – in den Amplituden und Frequenzbereichen. So sind z. B. während einer aktiven Phase einer Maus v. a. geringe EEG-Amplituden mit Power-Maxima im Bereich des θund v. a. α-Bandes anzutreffen, während bei Non-REM-Schlaf eher vergleichsweise hohe EEG-Amplituden mit Power-Maxima im niederfrequenten Bereich vorherrschen (der Begriff »Power« beschreibt hierbei den absoluten Wert einer distinkten Signalenergie). Komplexer gestaltet sich die Erkennung von REM-Schlaf, denn hierbei finden sich – ähnlich wie in den Aktivitätsphasen der Tiere im wachen Zustand – geringe EEG-Amplituden und Power-Maxima im Bereich des θ-Bandes. Eine sichere Unterscheidung zwischen einer aktiven Phase und REM-Schlaf ist jedoch unter Einbeziehung des EMG möglich: Aufgrund der während des REM-Schlafs vorherrschenden Atonie besitzt das EMG-Signal von den Elektroden in der Nackenmuskulatur – im Gegensatz zu aktiven Phasen im Wachzustand – keine Amplitude. Weiterführende Spektralanalysen des EEG-Signals ermöglichen auch bei Versuchstieren eine detaillierte Beschreibung des Schlafverhaltens und die Interpretation der Schlafqualität, ähnlich wie wir sie aus dem klinischen Bereich kennen. Durch das Verfahren der Fast-Fourier-Transformation (FFT) lässt sich die »Power« eines tiefen Frequenzbands (in der Regel 0,5–4 Hz), die sog. slow wave activity, während des Non-REM-Schlafs bestimmen. Mathematisch wird während einer FFT das aufgenommene Potenzialmuster, das sich aus einer Vielzahl einzelner
127 12.5 · Mikrostimulation
Frequenzen zusammensetzt, durch eine Annäherung an sinusförmige Harmonische ersetzt. Letztendlich erhält man dadurch eine Aussage über die Stärke (»Power«) und das Vorhandensein aller dem EEG-Muster zugrunde liegenden Einzelfrequenzen.
12.3
Grenzen der EEG-Ableitungen und weiterführende In-vivo-Methoden
Obwohl EEG-Ableitungen sowohl in der klinischen als auch in der Grundlagenforschung etabliert sind und gute Dienste leisten, sind der Anwendung und Interpretierbarkeit der Methode Grenzen gesetzt. Wird mit adäquater Technik – v. a. im Bereich der analog-digitalen Wandlung – eine gute zeitliche Auflösung des aufgenommenen Signals erreicht, so ist die räumliche Auflösung eher gering. Dies liegt an der Art und Weise der verwendeten Elektroden, welche epidural auf dem Kortex aufliegend einen relativ großen Messbereich im Sinne einer geringen räumlichen Auflösung besitzen, d. h. die Summenaktivität einer Vielzahl von Neuronen abbilden. Will man die Aktivität einer vergleichsweise geringen Anzahl von Neuronen erfassen, so bedarf es feiner Mikroelektroden mit Spitzendurchmessern von wenigen Mikrometern. Diese Elektroden können sowohl kortikal als auch subkortikal mithilfe stereotaktischer Methoden an jeden beliebigen Punkt im Gehirn eines Versuchstiers gebracht werden, um vor Ort neuronale Aktivitäten zu messen. Messtechnisch basiert dieses Verfahren auf ähnlichen technischen Prinzipien wie die EEG-Ableitungen. In der Praxis werden die Ableitungen entweder akut am narkotisierten oder am wachen und fixierten Tier eingesetzt. Seltener werden Ableitungen von permanent implantierten Mikroelektroden an frei beweglichen Tieren vorgenommen. Die Kombination von Ableitungen mittels kortikaler EEG-Elektroden und Tiefenhirn-Mikroelektroden erlaubt es z. B., neuronale Aktivitäten bestimmter subkortikaler Neuronengruppen mit dem Schlafverhalten des Versuchstiers in Echtzeit zu korrelieren. Eine noch bessere räumliche Auflösung erhält man durch die Verwendung feinster Glaselektroden, die in der Lage sind, neuronale Aktivitäten einzelner Neuronen zu erfassen. Dabei wird die Spitze der flüssigkeitsgefüllten Elektrode direkt an ein Neuron herangeführt. Da dies in vivo geschieht, ist der einzige Anhaltspunkt für eine erfolgreiche Annäherung die dabei erhaltene neuronale Aktivität, die sicher interpretiert werden muss. Es lässt sich leicht nachvollziehen, dass dieser Vorgang in der Regel im fixierten (und narkotisierten) Tier zu realisieren ist. Dennoch gibt es einige Arbeitsgruppen, die in der Lage sind, dies auch mit einem hohen technischen Aufwand mittels sog. Elektrodenarrays oder multipolarer Elektroden in Verbindung mit permanent implantierten Mikromanipulatoren am frei beweglichen Tier zu leisten. Implantierte Mikroelektroden ermöglichen es auch, die Entstehung von Gedächtnisinhalten infolge von veränderter neuronaler Aktivität zu dokumentieren. Gedächtnisinformationen werden nach allgemeiner Lehrmeinung durch die Stärke von synaptischen Verbindungen repräsentiert, welche z. B. beim räumlichen Lernen an hippokampalen Pyramidalneuronen ent-
stehen (Dragoi et al. 2003). Lernt eine Ratte, in welcher Ecke eines Labyrinths Futter zu finden ist, werden ganz bestimmte Neuronen aktiviert, was letztendlich zu einer Langzeitpotenzierung (long term potentiation, LTP) synaptischer Eingänge an diesen Neuronen führt (Neves et al. 2008). Diese Neuronen sind sowohl bei der wiederholten räumlichen Orientierung als auch beim Wiederauffinden der Futterquelle selbst aktiv und repräsentieren in letzter Konsequenz ein neuronales Korrelat einer Landkarte (des Labyrinths). Da individuelle Neuronen dabei nur an den ihnen in der neuronalen Landkarte zugewiesenen Positionen vermehrt aktiv sind, werden diese Neuronen als Ortszellen (place cells; Derdikman u. Moser 2010) bezeichnet. Unser Verständnis der neuronalen Grundlagen räumlicher Orientierung konnte durch die Entdeckung der Koordinatennetzzellen (grid cells) im entorhinalen Kortex erheblich erweitert werden (Derdikman u. Moser 2010). Neben lerninduzierten LTP-ähnlichen Veränderungen in der synaptischen Plastizität (Whitlock et al. 2006; Gruart et al. 2006) bieten sich In-vivo-Methoden auch für das direkte Studium zellulärer Grundlagen von LTP an (Davis et al. 1997).
12.4
Telemetrische Ableitungen
Alle bisher genannten Methoden zur Ableitung neuronaler Aktivitäten basieren auf kabelgestützten Systemen. Dies bedeutet, dass zwischen dem Versuchstier und den Messverstärkern eine Verbindung in Form eines mehr oder minder starren Kabels besteht. Obwohl diese Systeme so gut wie gewichtsneutral ausbalanciert sind, ist doch zumindest die träge Masse des Kabels dem Versuchstier in seiner freien Bewegung hinderlich. Seit einiger Zeit wird diese Limitation mit telemetrischen Ableitungen umgangen. Hierbei werden miniaturisierte Operationsverstärker mit integrierter Spannungsversorgung direkt am/im Versuchstier angebracht. Diese Verstärker senden das aufgenommene Biosignal direkt an eine Empfangseinheit, die sich außerhalb des Käfigs bzw. der Versuchsapparatur befindet (z. B. Schregardus et al. 2006). Neben der Erfassung neuronaler Aktivitäten können auch physiologische Parameter wie z. B. Pulsfrequenz oder Blutdruck permanent und ohne Beeinträchtigungen übertragen werden. Diese moderne Technik gewährleistet ein Höchstmaß an Bewegungsfreiheit für das Versuchstier und bietet große Freiräume für diverse Versuchsaufbauten, welche bisher durch ein Kabel nicht möglich waren.
12.5
Mikrostimulation
12.5.1
Elektrische Mikrostimulation
Im Gegensatz zu der in erster Linie passiven Beobachtung neuronaler Aktivitäten bei den o. g. Verfahren kann man Neuronen auch aktiv stimulieren und Aktionspotenziale auslösen. Das dabei verwendete Verfahren wird als elektrische Mikrostimulation bezeichnet. Hierbei werden feine Metallelektroden stereotaktisch an die zu aktivierenden Neuronengruppen herange-
12
128
12
Kapitel 12 · Elektrophysiologische In-vivo-Methoden in der Grundlagenforschung
führt. Ein über die Elektrodenspitze intrakraniell applizierter Strom im Bereich von wenigen bis mehreren hundert Mikroampere (μA) bewirkt, dass Neuronen mit ihrem Ruhemembranpotenzial von etwa –65 mV depolarisiert werden und Aktionspotenziale generieren. Da dieses Verfahren auch mit permanent implantierten Mikroelektroden angewendet werden kann, kann man am frei beweglichen und wachen Tier über die Stimulation distinkter Neuronenpopulationen etwas über deren Funktion erfahren. So bewirkt z. B. eine elektrische Stimulation einer bestimmten anatomischen Untereinheit des zentralen Höhlengraus (eine Gruppe von Neuronen rund um den Aquädukt zwischen dem III. und IV. Ventrikel) – exakt für die Dauer der Stimulation und abhängig von der Stimulationsstärke – eine speziesspezifische Furchtreaktion im Versuchstier, die in Abhängigkeit von der Stromstärke sogar eine Panikreaktion zur Folge haben kann (Sudrq et al. 1993). Im klinischen Bereich kommt die elektrische Mikrostimulation z. B. bei chirurgischen Eingriffen zur Linderung von Epilepsien oder zur Entfernung von Tumoren zur Anwendung. Hierbei wird am geöffneten Schädel und bei vollem Bewusstsein des Patienten im Umfeld des zu entfernenden kortikalen Bereichs durch elektrische Mikrostimulation eine »Landkarte« der im Kortex repräsentierten und unverzichtbaren Funktionen erstellt, bevor Epilepsie- bzw. Tumorherde unter Minimierung von operationsbedingten Ausfällen v. a. im Sprachvermögen entfernt werden können. Ein weiteres Beispiel ist die permanente Implantation von Elektroden in den Bereich des subthalamischen Nukleus von Parkinsonpatienten. Eine Stimulation dieser Bereiche ermöglicht eine Inhibition des für dieses Krankheitsbild typischen Tremors. Derzeit kommt es zu einem Wiederaufleben der Tiefenhirnstimulation bei der Therapie bestimmter psychiatrischer Störungen (Albert et al. 2009).
12.5.2
Optische Mikrostimulation
Eine Weiterentwicklung der elektrischen Stimulation stellt die optische Stimulation dar (Zhang et al. 2007). Hierbei wird – in der Regel über eine virale Transfektion – eine ausgewählte Gruppe von Neuronen dazu gebracht, lichtsensitive Ionenkanäle in ihre Zellmembran einzubauen. Diese Ionenkanäle lassen sich nun äußerst spezifisch mit Licht einer definierten Wellenlänge aktivieren. Eine Depolarisation und somit eine Aktivierung eines Neurons erreicht man, wenn sog. Channel-Rhodopsine in die Zellmembran eingebaut werden, welche bei einer Wellenlänge von 480 nm als Kationenkanäle positiv geladene Ionen in das Zellinnere strömen lassen. Eine Hyperpolarisation und somit Hemmung der neuronalen Aktivität wird durch den Einbau von Halorhodopsinen erreicht, welche nach der Aktivierung durch Licht mit einer Wellenlänge von 580 nm Chloridpumpen in Gang setzen, die dem Zellinneren nun negativ geladene Ionen zuführen. Das zur neuronalen Kontrolle benötigte Licht wird über feinste Lichtleiter zugeführt, welche auf ähnliche Weise wie die zuvor beschriebenen Mikroelektroden permanent implantiert werden können. Ein großer Vorteil dieser Methode gegenüber der elektrischen Mikrostimulation liegt in ihrer Selektivität. Über ge-
eignete virale Transfektionssysteme lassen sich selektiv ausgewählte Neuronengruppen eines zu aktivierenden Zielgebiets stimulieren, wohingegen während einer elektrischen Stimulation bei allen Neuronen im Einzugsbereich der Stimulation eine Depolarisation erfolgt. Ein weiterer Vorteil besteht darin, dass man durch die Verwendung von Halorhodopsinen aktive Neuronen in Echtzeit inhibieren kann. Eine Hemmung neuronaler Aktivität war bisher nur pharmakologisch oder durch Läsionen möglich. Pharmakologische Inhibitionen beziehen größere Hirnareale ein und erfolgen nicht in Echtzeit (d. h. im Millisekundenbereich). Zudem klingt ihre Wirkung durch das langsame »Auswaschen« des Wirkstoffs über einen längeren Zeitraum hinweg ab. Läsionen haben letztendlich aufgrund ihres permanenten Charakters oft eine geringe Aussagekraft. Die optische Stimulation umgeht derartige Nachteile auf elegante Weise. Zurzeit kommt diese Methode noch ausschließlich in der Grundlagenforschung zur Anwendung. Es ist jedoch zu vermuten, dass sie in Zukunft ihren Weg in die klinische Praxis finden könnte.
Literatur AASM (2007) The AASM Manual for the Scoring of Sleep and Associated Events: Rules, Terminology and Technical Specifications. American Academy of Sleep Medicine, Darien, IL Albert GC, Cook CM, Prato FS, Thomas AW (2009) Deep brain stimulation, vagal nerve stimulation and transcranial stimulation: an overview of stimulation parameters and neurotransmitter release. Neurosci Biobehav Rev 33: 1042–1060 Davis S, Bliss TV, Dutrieux G et al (1997) Induction and duration of long-term potentiation in the hippocampus of the freely moving mouse. J Neurosci Methods 75: 75–80 Derdikman D, Moser EI (2010) A manifold of spatial maps in the brain. Trends Cogn Sci 14: 561–569 Dragoi G, Harris KD, Buzsaki G (2003) Place representation within hippocampal networks is modified by long-term potentiation. Neuron 39: 843– 853 Fenzl T, Romanowski CP, Flachskamm C et al (2007) Fully automated sleep deprivation in mice as a tool in sleep research. J Neurosci Methods 166: 229–235 Gruart A, Munoz MD, Delgado-Garcia JM (2006) Involvement of the CA3–CA1 synapse in the acquisition of associative learning in behaving mice. J Neurosci 26: 1077–1087 Neves G, Cooke SF, Bliss TV (2008) Synaptic plasticity, memory and the hippocampus: a neural network approach to causality. Nat Rev Neurosci 9: 65–75 Rechtschaffen A, Kales A (1968) A manual of standardized terminology, techniques and scoring system for sleep stages of human subjects. U.S. Government Printing Office, Washington, DC Schregardus DS, Pieneman AW, Ter Maat A et al (2006) A lightweight telemetry system for recording neuronal activity in freely behaving small animals. J Neurosci Methods 155: 62–71 Sudrq ECM, de Barros MR, Sudrq GN, Schenberg LC (1993) Thresholds of electrically induced defense reaction of the rat: short- and long-term adaptation mechanisms. Behav Brain Res 58: 141–154 Tobler I, Borbely AA (1986) Sleep EEG in the rat as a function of prior waking. Electroencephalogr Clin Neurophysiol 64: 74–76 Whitlock JR, Heynen AJ, Shuler MG, Bear MF (2006) Learning induces longterm potentiation in the hippocampus. Science 313: 1093–1097 Zhang F, Aravanis AM, Adamantidis A et al (2007) Circuit-breakers: optical technologies for probing neural signals and systems. Nat Rev Neurosci 8: 577–581
129
Schlaf-EEG bei Mäusen und Ratten Mayumi Kimura und Frauke Ohl
13.1
EEG-Ableitungen – 130
13.1.1 13.1.2 13.1.3 13.1.4
Schlaf-EEG bei Nagetieren – 130 Schlaf-EEG bei Säugern – 130 Speziesunterschiede – 130 Quantitative Analysen – 131
13.2
Das Schlaf-Wach-Verhalten von Nagetieren als Modell für den menschlichen Schlaf – 132 Literatur – 132
G. Gründer, O. Benkert (Hrsg.), Handbuch der Psychopharmakotherapie, DOI 10.1007/978-3-642-19844-1_13, © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2012
13
13
130
Kapitel 13 · Schlaf-EEG bei Mäusen und Ratten
13.1
EEG-Ableitungen
Ein EEG wurde bereits vor vielen Jahrzehnten am Menschen erstmals registriert (Berger 1929). Als neurophysiologische Methode wurde es jedoch erst einige Jahre später akzeptiert, nachdem Bergers Beobachtungen 1934 durch E. D. Adrian bestätigt wurden (Adrian u. Matthews 1934). Für eine EEG-Registrierung werden Potenzialschwankungen innerhalb der Großhirnrinde durch einen Elektroenzephalographen verstärkt und visualisiert. Die EEG-Aktivität wird hierbei v. a. durch die Synchronisation und Desynchronisation von exzitatorischen und inhibitorischen postsynaptischen Potenzialen, einschließlich des Einflusses von Gliazellen, abgeleitet. Bereits wenige Jahre nach der Entdeckung des EEG konnte gezeigt werden, dass sich die hirnelektrische Aktivität im Wachvon der im Schlafzustand unterscheidet (Loomis et al. 1936). Darüber hinaus lassen sich auf EEG-Basis auch verschiedene Schlafstadien voneinander differenzieren. EEG-Messungen werden daher nicht nur zu Untersuchungen des Schlaf-WachZyklus, sondern auch zur Analyse des Schlafverhaltens eingesetzt. Für ein vollständiges Polysomnogramm wird zusätzlich zum EEG häufig auch die Aktivität von Kopf-, Augen- und Nackenmuskeln aufgezeichnet. Die im EEG gemessenen Frequenzen werden in verschiedene Frequenzbereiche eingeteilt: 4 das δ-Band (0,5–5 Hz), 4 das θ-Band (6–9Hz), 4 das α-Band (10–15 Hz) und 4 das β-Band (>16 Hz). δ- und θ-Wellen werden hierbei als langsame Wellen den schnellen α- und β-Wellen gegenübergestellt. Des Weiteren wird die mittlere Amplitude der jeweiligen Wellen berechnet, die dazu verwendet werden kann, die Schlafintensität zu beurteilen.
13.1.1
13.1.2
Schlaf-EEG bei Säugern
Bei Säugern lassen sich zwei physiologisch unterschiedliche Schlafstadien vom Wachstadium abgrenzen. Im Wachzustand zeigt die EEG-Aktivität eine hohe Frequenz bei niedriger Amplitude (. Abb. 13.1). Schnelle Augenbewegungen sind namengebend für den REM-Schlaf (rapid eye movement). Das REMSchlaf-EEG zeigt charakteristischerweise eine schnelle Aktivität (. Abb. 13.2), und gleichzeitig sollte eine deutliche Reduktion des Muskeltonus (muscle atonia) auftreten. Dem REM-Schlaf gegenübergestellt wird der Non-REM-Schlaf (non-rapid eye movement). Das Non-REM-Schlaf-EEG zeigt typische, sog. Schlafspindeln und eine niederfrequente, hochamplitudige Aktivität (. Abb. 13.3). Die im Schlaf-EEG beim Menschen gezeigte Unterteilung des Non-REM-Schlafs in mehrere Untergruppen ist bei Tieren nicht deutlich erkennbar (Bjorvatn et al. 1998). Jedoch wird bei Nagetieren der Prä-REM-Schlaf von den zuvor genannten Stadien abgegrenzt. Der Prä-REM-Schlaf, der auch Zwischenstadium genannt wird (Glin et al. 1991; Gottesmann 1996), geht zumeist dem REM-Schlaf voraus und ist durch lang anhaltende, spindelähnliche EEG-Aktivität mit hoher Amplitude charakterisiert (. Abb. 13.4). Was die Funktionen der verschiedenen Schlafstadien anbelangt, gibt es unterschiedliche Hypothesen. Eine von ihnen geht davon aus, dass Non-REM-Schlaf ein Zustand der »physiologischen Wiederherstellung« ist (Hartmann 1973; Moruzzi 1972; Oswald 1970). Ihm wird aber auch Bedeutung für die Speicherung und Konsolidierung von Informationen, die im Wachzustand gesammelt wurden, zugeordnet. Eine Funktion des REMSchlafs kann in der während der Ruhephase notwendigen Eigenaktivierung liegen (Ephron u. Carrington 1966). Insgesamt wird dem Schlaf eine maßgebliche Funktion bei der Erholung des Organismus von der vorangegangenen Periode des Wachseins zugesprochen.
Schlaf-EEG bei Nagetieren 13.1.3
Die Ableitung eines Schlaf-EEG bei Nagetieren erfordert, anders als beim Menschen, einen invasiven Eingriff. Die Elektroden werden unter Vollnarkose epidural implantiert und mit Verschraubungen im Schädeldach befestigt. Ein zusätzliches Elektrodenpaar wird in die Nackenmuskulatur eingeführt und dient der Ableitung des Elektromyogramms (EMG). Alle Elektroden laufen in einer Buchse zusammen, die mit Acrylharz auf dem Schädeldach fixiert ist. Mit der Ableitung des Schlaf-EEG kann einige Wochen nachdem sich die Tiere von dem Eingriff erholt haben, in einer schallgedämpften Klimakammer begonnen werden. Die Ableitkabel sind durch einen flexiblen Haltegurt mit einem an einem Schwenkarm befindlichen Schleifkontakt verbunden. Somit ist eine relativ freie und ungestörte Bewegung der Tiere gewährleistet.
Speziesunterschiede
Bei allen Säugetieren wechseln sich die Schlafstadien REMSchlaf und Non-REM-Schlaf miteinander ab, wobei jedoch die Dauer dieser alternierenden Zyklen speziesspezifisch variiert. Die Zyklusvariation kann zur Körpergröße und auch zur Größe des Gehirns in Beziehung gesetzt werden. So dauern die REM-/ Non-REM-Schlaf-Zyklen beim Menschen etwa 90 min, während sie bei der Ratte nur ca. 10 min dauern. Die gesamte Schlafdauer beim Menschen liegt bei 30%, bei der Ratte dagegen umfasst sie ca. 50% des Tages. Diese Unterschiede werden durch artspezifische Metabolismusraten, Umweltfaktoren wie die Nahrungsaufnahme oder die Lebenserwartung begründet (Allison u. Cicchetti 1976; Meddis 1983; Zepelin u. Rechtschaffen 1974).
131 13.1 · EEG-Ableitungen
. Abb. 13.1 Die EEG-Aktivität während des Wachzustands bei der Maus zeigt eine hohe Frequenz bei niedriger Amplitude. (Aus Storch 2002)
. Abb. 13.2 Das REM-Schlaf-EEG bei der Maus zeigt charakteristischerweise eine schnelle Aktivität. (Aus Storch 2002)
. Abb. 13.3 Der Non-REM-Schlaf bei der Maus zeigt typische, sog. Schlafspindeln (rasche Wellen mit niedriger Amplitude) und eine niedrigfrequente, hochamplitudige Aktivität. (Aus Storch 2002)
. Abb. 13.4 Der Prä-REM-Schlaf ist durch lang anhaltende, spindelähnliche EEG-Aktivität mit hoher Amplitude charakterisiert. (Aus Storch 2002)
13.1.4
Quantitative Analysen
In neueren Schlafstudien wurden auch quantitative Analysen des Schlaf-EEG durchgeführt. Spektralanalysen bei verschiedenen Säugetierarten zeigen, dass der während des Non-REMSchlafs auftretende sog. Slow-wave-Schlaf (SWS, im EEG indiziert durch die slow-wave activity, SWA), der auch als Tiefschlaf bezeichnet werden kann, das Schlafbedürfnis widerspiegelt: Die
SWA ist zu Beginn des Schlafs meist hoch und nimmt im Verlauf der REM-/Non-REM-Schlaf-Zyklen beim Menschen während der Nacht ab (Borbely et al. 1981). Bei Nagetieren ist die SWA nach einer verlängerten Wachphase, wie z. B. bei Schlafentzug, sogar proportional intensiviert (Borbely et al. 1984). Ebenso zeigt sich, dass nach einer nur sehr kurzen Wachphase die SWA nur sehr schwach ausgeprägt ist (Huber et al. 2001). Die SWA ist somit ein Indikator für die Schlaftiefe oder Inten-
13
132
Kapitel 13 · Schlaf-EEG bei Mäusen und Ratten
sität des Non-REM-Schlafs und scheint insgesamt homöostatisch reguliert zu werden, wobei diese homöostatische Kontrolle während verschiedener Spannungszustände variieren kann (Franken et al. 2001). Auch die Aufwachschwelle verändert sich mit dem Schlafbedürfnis: Untersuchungen an Ratten konnten beispielsweise zeigen, dass die Aufwachschwelle nach einer verlängerten Periode des Wachseins deutlich erhöht war (Frederickson u. Rechtschaffen 1978).
13.2
13
Das Schlaf-Wach-Verhalten von Nagetieren als Modell für den menschlichen Schlaf
Grundlegende Schlafcharakteristika lassen sich bei Säugern stabil im EEG darstellen. Schlaf-EEG-Untersuchungen an Nagetieren bieten daher eine gute Möglichkeit, grundlegende Mechanismen des menschlichen Schlafs modellhaft zu untersuchen. Zur Einschätzung der Effektivität und Wirkungsweise pharmakologischer Manipulationen des Schlaf-Wach-Verhaltens werden häufig Nagetiere untersucht; je nach Eigenschaft der Medikamente entweder zu Beginn ihrer Aktivitätsphase oder während der Ruhephase, da Ratten und Mäuse hier stark fragmentierte, mehrphasige Schlafmuster zeigen, die beim Menschen als pathologisch einzustufen wären. Obwohl die Definition eines artspezifischen Charakteristikums als Modell für einen pathologischen Zustand kritisch betrachtet werden sollte, ist die Reaktion der nachtaktiven Nagetiere auf Hypnotika, Psychostimulanzien oder Antidepressiva mit der des Menschen häufig gut vergleichbar (Kimura u. Steiger 2008). Darüber hinaus trägt die Untersuchung des Schlaf-WachVerhaltens in bestimmten Mutanten oder genetischen Modellen zur Entdeckung von Krankheitsmechanismen beim Menschen bei, die mit Schlafstörungen einhergehen, wie z. B. psychische Erkrankungen und Bewegungsstörungen (Kimura u. Winkelmann 2007).
Literatur Adrian ED, Matthews BHC (1934) The Berger rhythm: potential changes from the occipital lobes in man. Brain 57: 355–385 Allison T, Cicchetti DV (1976) Sleep in mammals: ecological and constitutional correlates. Science 194: 732–734 Berger H (1929) Über das Elektroenkephalogramm des Menschen. Arch Psychiatr Nervenkr 87: 527–570 Bjorvatn B, Fagerland S, Ursin R (1998) EEG power densities (0.5–20 Hz) in different sleep-wake stages in rats. Physiol Behav 63: 413–417 Borbely AA, Baumann F, Brandeis D et al (1981) Sleep deprivation: effects on sleep stages and EEG power density in man. Electroenceph Clin Neurophysiol 51: 483–493 Borbely AA, Tobler I, Hanagasioglu M (1984) Effects of sleep deprivation on sleep and EEG power spectra in the rat. Behav Brain Res 14: 171–182 Ephron HS, Carrington P (1966) Rapid eye movement sleep and cortical homeostasis. Psychol Rev 73: 500–526 Franken P, Chollet D, Tafti M (2001) The homeostatic regulation of sleep need is under genetic control. J Neurosci Res 21: 2610–2621
Frederickson CJ, Rechtschaffen A (1978) Effects of sleep deprivation on awakening thresholds and sensory evoked potentials in the rat. Sleep 1: 69–82 Glin L, Arnaud C, Berracochea D et al (1991) The intermediate stage of sleep in mice. Physiol Behav 50: 951–953 Gottesmann C (1996) The transition from slow-wave sleep to paradoxical sleep: evolving facts and concepts of the neruophysiological processes underlying the intermediate stage of sleep. Neurosci Biobehav Rev 20: 367–387 Hartmann EL (1973) The functions of sleep. Yale University Press, New Haven, CT Huber R, Deboer T, Tobler I (2001) Topography of EEG dynamics after sleep deprivation in mice. J Neurophysiol 84: 1888–1893 Kimura M, Steiger A (2008) Sleep EEG provides biomarkers in depression. In: Turck CW (ed) Biomarkers for psychiatric disorders. Springer, New York, pp 273–298 Kimura M, Winkelmann J (2007) Genetics of sleep and sleep disorders. Cell Mol Life Sci 64: 1216–1226 Loomis AI, Harvey EN, Hobart G (1936) Electrical potentials of the human brain. J Exp Psychol 19: 249–279 Meddis R (1983) The evolution of sleep. In: Mayes A (ed) Sleep mechanisms and functions. Van Nostrand Reinhold, London, pp 57–106 Moruzzi G (1972) The sleep-waking cycle. Ergeb Physiol 64: 1–165 Oswald I (1970) Sleep the great restorer. New Scientist 46: 170–172 Storch C (2002) Validierung der lokomotorischen Aktivität als Korrelat zum Schlaf/Wach-Verhalten bei Mäusen, Diplomarbeit, München Zepelin H, Rechtschaffen A (1974) Mammalian sleep, longevity and energy metabolism. Brain Behav Evol 10: 425–470
133
Die Mikrodialysetechnik und ihre Anwendung im Bereich der experimentellen Neurowissenschaften Elmira Anderzhanova und Carsten T. Wotjak
14.1
Prinzipien der chemischen Signalübertragung – 134
14.2
Prinzipien der Mikrodialysetechnik – 134
14.2.1 14.2.2 14.2.3 14.2.4 14.2.5 14.2.6
Passive Diffusion und Dialyse – 134 Mikrodialysesonde – 135 Dialysemedium – 137 Ausbeute – 138 No-Net-Flux-Methode – 139 Nachweis von Freisetzungsprozessen – 139
14.3
Vorzüge und Grenzen der Mikrodialysetechnik – 139 Literatur – 141
G. Gründer, O. Benkert (Hrsg.), Handbuch der Psychopharmakotherapie, DOI 10.1007/978-3-642-19844-1_14, © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2012
14
14
134
Kapitel 14 · Die Mikrodialysetechnik und ihre Anwendung im Bereich der experimentellen Neurowissenschaften
14.1
Prinzipien der chemischen Signalübertragung
Der Großteil der Neuronen kommuniziert auf chemischem Weg miteinander, wobei Änderungen in elektrischen Membranpotenzialen (d. h. Depolarisation) eine Freisetzung niedermolekularer Substanzen, sog. Neurotransmitter, zur Folge haben können (7 Kap. 4). Neurotransmitter bewirken über ihre Interaktion mit spezifischen Bindungsstellen (Rezeptoren) dann ihrerseits Änderungen im Membranpotenzial der Zielzellen. Veränderungen in der Neurotransmitterkonzentration im extrazellulären Raum bieten somit einen direkten Hinweis auf den Charakter und die Intensität interneuronaler Kommunikation. Die chemische Signalübertragung erfolgt in der Regel an spezifischen Nervenzellendigungen (Synapsen). Hierbei führt die Depolarisation der an Axonterminalen gebildeten Präsynapse zu einem Anstieg in der intrazellulären Kalziumkonzentration, die essenziell für die Verschmelzung der synaptischen Vesikel mit der synaptischen Membran ist. In den synaptischen Spalt freigesetzt, gelangen die Neurotransmitter durch Diffusion zu den in der postsynaptischen Membran befindlichen Rezeptoren. Die Postsynapse kann sich an Dendriten ohne oder mit spezifischen Dornenfortsätzen (spines), an Axonterminalen oder am Zellkörper befinden. Berücksichtigt man, dass Synapsen häufig durch Bestandteile der extrazellulären Matrix und Gliazellen eingefasst sind, so ergibt sich ein räumlich stark begrenzter Wirkungsbereich. Dieser bedingt eine schnelle und spezifische Punkt-zu-Punkt-Übertragung von Signalen (wired transmission; Fuxe et al. 2007), was v. a. bei klassischen Neurotransmittern, wie z. B. neuroaktive Aminosäuren (d. h. Glutamat, GABA etc.) und Acetylcholin, der Fall ist (. Abb. 14.1). Bei bestimmten neuroaktiven Substanzen tritt jedoch eine extrasynaptische Übertragung auf (. Abb. 14.1). So können eine Reihe von Neuromodulatoren, wie z. B. Dopamin, Serotonin, Noradrenalin und diverse Neuropeptide, nicht nur aus dem synaptischen Spalt diffundieren, sondern auch außerhalb von Synapsen aus Axonschwellungen (varicosities) oder von dendritischen und somatischen Membranen freigesetzt werden (Ludwig u. Leng 2006). Man spricht in diesem Fall von einer parakrinen Freisetzung und von einer Signalübertragung durch Diffusion im Extrazellularraum (volume transmission; Fuxe et al. 2007; Wotjak et al. 2008). »Exotischere« Gruppen an chemischen Botenstoffen können aufgrund ihrer physikochemischen Eigenschaften (Stickstoffmonoxid, Kohlenmonoxid oder Fettsäurederivate wie z. B. Endocannabinoide) sogar ohne Exozytose frei bzw. assistiert durch die Zellmembran diffundieren. Eine spezielle Gruppe von Botenstoffen vermittelt die Signalübertragung von der Post- zur Präsynapse auf retrogradem Weg (. Abb. 14.1). Anders als die wired transmission erstreckt sich die volume transmission über größere Distanzen und erreicht ganze Nervenzellpopulationen. Die Spezifik der Signalübertragung ergibt sich in diesem Fall aus der Selektivität der Bindung an entsprechende Rezeptoren. Wired transmission und volume transmission unterscheiden sich in der Geschwindigkeit und Dauer der Signalübertragung.
Neuronen können sich in erheblichem Maße in den in ihnen ablaufenden anabolen und katabolen Prozessen unterscheiden. Lange Zeit spiegelte sich dies in dem Konzept »Ein Neuron – ein Neurotransmitter« wider. Beim heutigen Wissensstand ist von einer Koexistenz von Neurotransmittern und Neuromodulatoren innerhalb eines einzelnen Neurons auszugehen. Dennoch bestimmt die Vorherrschaft eines Neurotransmitters zu einem hohen Grad den Charakter postsynaptischer Effekte (exzitatorische/erregende vs. inhibitorische/hemmende Aktivität). Das Phänomen der Kotransmission, d. h. die Freisetzung weiterer neuroaktiver Substanzen durch ein Neuron, ist jedoch ebenfalls ein bedeutender Faktor der interneuronalen Kommunikation. So kann z. B. Glutamat gleichzeitig mit Glycin und Dopamin freigesetzt werden. Neuronen sind außerdem in der Lage, die Freisetzung von Neuropeptiden von dendritischen und somatischen Membranen von der axonalen Freisetzung zu entkoppeln (Wotjak et al. 1998; Ludwig u. Leng 2006). Nicht zu vergessen ist die Möglichkeit der chemischen Kommunikation zwischen Astroglia und Neuronen (Fields u. Stevens-Graham 2002). Die extrazelluläre Verfügbarkeit von Neurotransmittern und Neuromodulatoren hängt von einer Reihe von Parametern ab, wie 4 Syntheserate, 4 Abbauprozesse, 4 Regulation von exozytotischen Prozessen, 4 Rückkopplungsmechanismen über präsynaptische Autorezeptoren, 4 Internalisierung von Rezeptor-Ligand-Komplexen, 4 passiver Diffusion aus dem Zielgebiet, 4 aktiver Wiederaufnahme. Letztere involviert spezifische transmembranale Transporterproteine, die sich in der Regel durch eine hohe Substratspezifität auszeichnen. Physikalisch wird die Diffusion im Extrazellularraum hauptsächlich durch Eigenschaften der extrazellulären Matrix, die Gewebetortuosität und das Vorhandensein von Gliazellen eingeschränkt.
14.2
Prinzipien der Mikrodialysetechnik
Unter der Vielzahl von Methoden, die es erlauben, extrazelluläre Konzentrationen von neuroaktiven Substanzen zu überwachen, kommt der Mikrodialyse (MD) eine herausragende Bedeutung zu (Wotjak et al. 2008).
14.2.1
Passive Diffusion und Dialyse
Dialyse bezeichnet die Trennung bestimmter Moleküle auf der Grundlage der passiven Diffusion, d.h. dem Netto-Transport von Molekülen entlang eines Konzentrationsgradienten, durch eine künstliche Membran. Bei einer bestimmten konstanten Temperatur erfolgt die Diffusion passiv ohne weitere Energiezufuhr. Bei gleichmäßiger Verteilung des Stoffs ist das thermo-
135 14.2 · Prinzipien der Mikrodialysetechnik
WIRED TRANSMISSION
VOLUME TRANSMISSION
Neurotransmitter (Aminosäuren, biogene Amine)
Neuromodulatoren (biogene Amine, Neuropeptide)
Retrograde Botenstoffe (CO, Endocannabinoide)
Antwort: • schnell • phasisch
Antwort: • langsam • tonisch
. Abb. 14.1 Prinzipien der interneuronalen Kommunikation mittels chemischer Botenstoffe. (Mod. nach Wotjak et al. 2008, mit freundlicher Genehmigung von Elsevier)
dynamische Gleichgewicht erreicht, ohne dass ein weiterer Nettotransport erfolgt. Mathematisch lassen sich Diffusionsprozesse durch das Erste und das Zweite Ficksche Gesetz beschreiben (. Abb. 14.2a). Bei der Mikrodialyse erfolgt die Diffusion durch eine permeable Membran, wobei – in Abhängigkeit von den Membraneigenschaften (Porengröße etc.) – höhermolekulare Stoffe zurückgehalten werden können. Das Zweite Ficksche Gesetz bezieht neben den örtlichen auch zeitliche Konzentrationsunterschiede ein, wie sie bei dem konstanten Durchspülen des Membranschlauchs einer MD-Sonde gegeben sind (. Abb. 14.2b Ziel der Mikrodialyse ist jedoch nicht die Trennung von Molekülen im weiteren Sinne, sondern das Erfassen körpereigener neuroaktiver Substanzen und/oder bestimmter Pharmaka in vivo im Extrazellularraum einer bestimmten Hirnregion über einen längeren Zeitraum. Die Substanzanalyse erfolgt ex vivo im Dialysat. Auf diese Weise lassen sich Rückschlüsse auf Änderungen in der Neurotransmitter-/Neuromodulatorfreisetzung im Zusammenhang mit Verhaltenstests, Pharmakagaben und/ oder genetischen Eingriffen ziehen.
14.2.2
Mikrodialysesonde
Bei der Mikrodialysetechnik spielen die Charakteristika der MD-Sonde eine bedeutende Rolle. Die MD-Sonde besteht aus einem Plastikkörper, der mit einer Kanüle verbunden ist, durch
die zwei flexible Kapillarröhren geführt werden. Eine der Röhren, die dem Zufluss dient, überragt die Kanüle; die andere, über die der Abfluss erfolgt, endet mit der Kanüle. Die überstehende Röhre wird von einem Membranstrumpf umhüllt, der an der Spitze verschlossen ist (konzentrische MD-Sonde, . Abb. 14.3a). Wird nun Flüssigkeit (Dialysemedium) in den Zufluss gepumpt, so tritt diese an der Spitze der überstehenden Röhre aus. Aufgrund des Membranstrumpfs gelangt das Dialysemedium nicht in direkten Kontakt mit der Umgebung, sondern fließt passiv über die andere Kanüle ab. An der Membran kann durch Diffusion ein Stoffaustausch mit der Umgebung erfolgen. Bei Implantation in ausgewählte Hirnareale stellt sie somit ein virtuelles Fenster zum umgebenden Nervengewebe dar. Es wird eine Vielzahl von Sondendesigns mit linearen, U-förmigen oder konzentrischen Formen unterschieden, wobei in der experimentellen Hirnforschung v. a. konzentrisch geformte Sonden zur Anwendung kommen. Um die Neurotransmitter-/Neuromodulatorfreisetzung verfolgen zu können, wird die Mikrodialysesonde entweder direkt (akute Experimente) oder aber über zuvor permanent implantierte Führungskanülen (chronische Experimente in frei beweglichen Tieren) in den Zielbereich eingeführt. Anschließend wird die MD-Sonde konstant mit einer physiologischen Lösung mit geringer Durchflussrate (1–10 μL/min) durchströmt. Der Aufbau eines MD-Arbeitsplatzes für Experimente an frei beweglichen Tieren ist in . Abb. 14.3b dargestellt. Die Mikroinfusionspumpe spült das Dialysemedium durch die perma-
14
136
Kapitel 14 · Die Mikrodialysetechnik und ihre Anwendung im Bereich der experimentellen Neurowissenschaften
a
b
Erstes Ficksches Gesetz
Zweites Ficksches Gesetz
äC J= _D äx
äC = _ ä C D 2 äx ät
Membran
Ca
2
Diffusion
Gleichgewicht
Niedrige Entropie
Hohe Entropie
t=0 C = [C0]
t=t C = [Ct]; ÄC = [C0] – [Ct]
Diffusion t=0 Ca = C0; Ci = 0
Ci
Gleichgewicht t=t Ca = Ci = Ct
. Abb. 14.2 a Passive Diffusion und Teilchenstromdichte (J) als Funktion des Konzentrationsgradienten entgegen der Diffusionsrichtung (δc/δx), D Diffusionskoeffizient, b Dialyse, d. h. passive Diffusion von Substanzen durch eine Membran
a
14 b
. Abb. 14.3 a Schematische Darstellung einer kommerziell verfügbaren konzentrischen MD-Sonde. b Aufbau eines MD-Arbeitsplatzes für MD-Experimente an frei beweglichen Tieren (Erläuterungen s. Text)
137 14.2 · Prinzipien der Mikrodialysetechnik
nent implantierte MD-Sonde mit einer konstanten Geschwindigkeit, die in der Regel im Bereich von 2–10 μl/min liegt. Um ein Verdrehen der sehr dünnen zu- und abführenden Schlauchsysteme zu verhindern, werden die Schläuche über eine Drehverbindung (Flüssig-Drehgelenk, liquid swivel) und einen stabilisierenden Draht (tether) flexibel mit dem Tier verbunden. Die entsprechende Konstruktion wird gewichtsneutral ausbalanciert, sodass kein Zug oder Druck auf das Tier ausgeübt wird. Das Dialysat wird nach seiner Passage durch die MD-Sonde aufgefangen und entweder online oder offline analysiert. Als Beispiel ist hier die Analyse mittels HPLC-Technik angeführt. Obwohl kein direkter Kontakt zwischen Dialysemedium und umgebendem Gewebe besteht, kommt es zu einem Stoffübergang, der v. a. von den Membraneigenschaften abhängt (. Abb. 14.4). So gibt es beispielsweise einen engen Zusammenhang zwischen dem maximalen Molekulargewicht der Moleküle, die durch die Membran diffundieren können, und der Porengröße der Membran (molecular weight cut-off, MWCO). Die einzige treibende Kraft für den molekularen Transfer aus dem extrazellulären Raum in das Dialysemedium ist die passive Diffusion entlang einem Konzentrationsgradienten (. Abb. 14.2). Prinzipiell können somit die Moleküle die Membran in beide Richtungen durchdringen. Wenn die MD-Sonde nicht permanent durchspült wird, so bildet sich nach einer bestimmten Zeit ein dynamisches Konzentrationsgleichgewicht zwischen Dialysemedium und Umgebung heraus. Im Falle eines permanenten Durchflusses durch die MD-Sonde wird dieses Gleichgewicht gestört bzw. kann sich gar nicht erst aufbauen. Der auf diese Weise künstlich aufrechterhaltene Konzentrationsgradient bewirkt den fortdauernden Eintritt der Moleküle von der Umgebung in das Dialysemedium. Der direkte Austauschpool, aus dem sich der Moleküleintritt rekrutiert, besteht aus einer relativ dünnen Schicht in der nächsten Umgebung der Membran (. Abb. 14.4). Dieser Raum wird durch den Dialyseprozess jedoch nicht künstlich »geleert«, da ständig Moleküle aus der weiteren Umgebung nachströmen. Die mathematische Modellierung eines solchen Diffusionssystems mit mehreren Kompartimenten zeigt, dass die Konzentration in der Austauschschicht lediglich von der Freisetzung der infrage kommenden Substanz und der Wiederaufnahme/ dem Abbau der Neurotransmitter/Neuromodulatoren durch Neuronen/Gliazellen (d. h. von der Konzentration im Extrazellularraum) abhängt, nicht jedoch von der Geschwindigkeit, mit der die Moleküle durch die Sondenmembran diffundieren.
14.2.3
Dialysemedium
Grundsätzlich sollte die Zusammensetzung der Perfusionslösung (Dialysemedium) starke Ähnlichkeit mit der extrazellulären Flüssigkeit haben. Dies trifft v. a. auf den Ionengehalt und die Osmolalität des Mediums zu, da sowohl Hyper- als auch Hypoosmolarität zu Änderungen in der neuronalen Aktivität führen können. Zudem gibt es eine starke Abhängigkeit vom pHWert, die sogar Verhaltensrelevanz erreichen kann (Ziemann
et al. 2009). Neben der pH-adjustierten Ringerlösung kommen deshalb v. a. künstliche Zerebrospinalflüssigkeiten (artificial cerebrospinal fluid, aCSF) zur Anwendung. Letztere enthalten neben verschiedenen Ionen auch Nährstoffe (z. B. Glukose). Dies erhöht jedoch das Risiko einer bakteriellen Infektion. Generell muss beachtet werden, dass das Dialysemedium nicht bakteriell kontaminiert ist. Es reicht bereits aus, wenn Spuren von Lipopolysacchariden (LPS) enthalten sind, um Artefakte in der Hirnaktivität zu bewirken. In Abhängigkeit von den physikochemischen Eigenschaften der zu analysierenden Neurotransmitter/Neuromodulatoren kann sich die Notwendigkeit von Zusatzstoffen ergeben, die 4 die Lipophilität des Dialysemediums erhöhen (z. B. Cyclodextran im Fall von Endocannabinoiden), 4 unspezifische Bindungsstellen in Dialyseschläuchen und MD-Sonden blockieren (z. B. Serumalbumine im Fall bestimmter Neuropeptide) 4 die Stabilität im Dialysemedium (z. B. Antioxidanzien wie Ascorbinsäure bei Monoaminen) bzw. im Extrazellularraum (z. B. Cholinesterasehemmer, um den sofortigen Abbau von Acetylcholin im synaptischen Spalt zu verhindern) erhöhen. Prinzipiell kann die Mikrodialyse auch für die lokale Substanzapplikation verwendet werden (Retrodialyse). Wieder-
aufnahmehemmer, Freisetzungsregulatoren oder andere Pharmaka, die in das Dialysemedium eingeschlossen wurden, diffundieren – dem Konzentrationsgradienten folgend – in das die Membran umgebende Hirnparenchym. Dadurch kann die neuronale Aktivität auch über längere Zeiträume hinweg beeinflusst werden, ohne dass die Tiere in ihrem Verhalten gestört werden.
14.2.4
Ausbeute
Die Ausbeute (recovery) ist die wichtigste Kenngröße der MDTechnik. Sie beschreibt das Quantum der infrage kommenden Moleküle, das in die Perfusionsflüssigkeit gelangt und dort zurückgehalten wird. Die Ausbeute hängt u. a. ab von 4 der Dialysegeschwindigkeit, 4 dem Diffusionswiderstand des Hirnparenchyms, 4 den physikalischen Eigenschaften der Moleküle, 4 der Größe der aktiven Austauschmembran (Sondenlänge) und, in einem geringeren Maß, 4 vom cut-off der Membran und der Zusammensetzung des Dialysemediums. Es besteht ein Unterschied zwischen relativer und absoluter Ausbeute. Erstere bezeichnet die Konzentration der Substanz, die im Verhältnis zur extrazellulären Konzentration in der Sonde zurückgehalten wurde, ausgedrückt in Prozent. Die zweite bezeichnet eine absolute Menge des Stoffs, die während eines bestimmten Zeitraums in das Dialysemedium gelangte, ausgedrückt in Mol pro Minute. Relative und absolute Ausbeute korrelieren negativ bzw. positiv mit der Dialysegeschwindigkeit. Bei
14
138
Kapitel 14 · Die Mikrodialysetechnik und ihre Anwendung im Bereich der experimentellen Neurowissenschaften
14
. Abb. 14.4 MD-Sonde im Hirnparenchym (7 Box: MD-Experimente im Hirnparenchym frei beweglicher Tiere). Dunkelblau: Neurotransmitter, grau: Neuromodulator, hellblau: Makromolekül, schwarz: Pharmakon
einer Durchflussrate von 0,5–2,0 μL/min findet sich in der Regel eine relative Ausbeute im Bereich von 5–20%. Sowohl die absolute als auch die relative Ausbeute können in vitro bestimmt werden und dazu dienen, eine ungefähre Einschätzung der Ausbeute von bestimmten Substanzen für die jeweiligen Sondentypen vorzunehmen. Die tatsächliche Ausbeute in vivo erreicht jedoch niemals den In-vitro-Wert und variiert je nach Probenumgebung. Da die Ausbeute auch eine Funktion der Substratkonzentration ist, steigt oder fällt sie leicht mit entsprechenden Veränderungen im Extrazellularraum. Daher wird der in vitro gewonnene Recovery-Wert nicht für die Sondenkalibrierung verwendet, und der konventionelle Mikrodialyse-
ansatz wird hauptsächlich zur Untersuchung relativer Veränderungen im extrazellulären Gehalt an Neurotransmittern bzw. Pharmaka angewendet. Die relativen Veränderungen werden hierbei als prozentuale Veränderung des Basalniveaus ausgedrückt, das sich aus der Substanzfreisetzung im ruhenden Tier ohne experimentelle Beeinflussung ergibt. Es ist internationaler Standard, zunächst die Stabilität der Basalfreisetzung nachzuweisen, ehe mit dem Experiment begonnen wird. Hierfür werden wenigstens drei Basalproben aufgefangen, deren Mittelwert die Basis für zukünftige Berechnungen der Freisetzungsdynamik ergibt.
139 14.3 · Vorzüge und Grenzen der Mikrodialysetechnik
MD-Experimente im Hirnparenchym frei beweglicher Tiere (. Abb. 14.4) Die MD-Sonde wird in ein bestimmtes Hirnareal eingeführt. Im Bereich der Membran kommt es zu einem Stoffaustausch, wobei Neurotransmitter oder Neuromodulatoren – dem Konzentrationsgefälle folgend – in das Dialysemedium diffundieren. Die zuführende und die abführende Kapillarröhre ragen unterschiedlich weit in den an der Spitze verschlossenen Membranstrumpf der MD-Sonde hinein, sodass der Abfluss des Dialysats – bei aktivem Zufluss – passiv erfolgen kann. Gliazellen und Blutgefäße sind verantwortlich für ein hochkomplexes Dialyseareal, wobei sie nicht nur an der Substanzaufnahme beteiligt sind, sondern auch natürliche Diffusionsbarrieren und Quellen möglicher »Kontamination« des Dialysats darstellen. Mithilfe der MD-Technik lassen sich Konzentrationsänderungen von Neurotransmittern, Neuromodulatoren und Pharmaka im Extrazellularraum erfassen. Freisetzungsprozesse, die v. a. auf den synaptischen Spalt beschränkt bleiben (wie es bei einer Vielzahl von Neurotransmittern der Fall ist), werden jedoch deutlich schlechter abgebildet als Freisetzungsprozesse mit anschließender Diffusion durch den Extrazellularraum (Neuromodulatoren).
14.2.5
No-Net-Flux-Methode
Eine Reihe ausgeklügelter Kalibrierungsmethoden gestattet es, das Problem der niedrigen und z. T. variierenden Ausbeute (recovery) einer Lösung zuzuführen und auf diese Weise exakte Angaben über die Substanzkonzentration im Extrazellularraum zu gewinnen. In diesem Zusammenhang sind v. a. die No-NetFlux- oder die Zero-Net-Flux-Methode zu erwähnen (. Abb. 14.5). Anders als beim konventionellen MD- Ansatz, bei dem das Dialysemedium frei von zu analysierenden Substanzen ist, wird im Falle der No-Net-Flux-Methode die Sonde seriell mit Lösungen durchspült, die verschiedene bekannte Konzentrationen der infrage kommenden Substanzen enthalten und die dem zu erwartenden Wert nahe kommen (4–5 Niveaus). Wenn die Konzentration im Dialysemedium höher ist als im Hirnparenchym, wird es zu einem »Ausströmen« der Substanz aus dem Dialysemedium kommen, wodurch sich die Konzentration im aufgefangenen Dialysat im Vergleich zur Ausgangssituation verringert. Im umgekehrten Fall erfolgt ein »Einströmen« in das Dialysemedium, das zu einer Zunahme der Substanzkonzentration im Dialysat führt. Stellt man die Konzentrationsunterschiede im Dialysat als Funktion der Ausgangskonzentration dar, so entspricht der Kreuzungspunkt zwischen Abszisse und experimenteller Linie demjenigen Punkt, an dem kein effektiver Substanzaustausch erfolgt (no-net flux; . Abb. 14.5), d. h. die Substanzkonzentration im Dialysat entspricht der im Extrazellularraum des umgebenden Hirnparenchyms. Die No-Net-Flux-Methode ist sehr zeitaufwendig, bietet jedoch äußerst valide Daten zur tatsächlichen Substanzkonzentration im Extrazellularraum. MD mit extrem langsamer Flussrate je Zeiteinheit (Ultra-slow flow rate-MD) ermöglicht es, dem stabilen Maximalzustand der recovery nahe zu kommen, ist aber nicht geeignet, um relativ rasche Veränderungen in der Subs-
tratkonzentration festzustellen. Im Falle pharmakokinetischer Untersuchungen erfordert sie zudem eine relativ hohe Halbwertszeit des Arzneimittels.
14.2.6
Nachweis von Freisetzungsprozessen
Eine Reihe standardisierter Verfahren gestattet es nachzuweisen, dass im Dialysat gemessene Botenstoffe tatsächlich Freisetzungsprozesse reflektieren und nicht von einer durch die Mikrodialysesonde hervorgerufen Zerstörung neuronaler Strukturen oder von metabolischen Prozessen in Gliazellen herrühren. Zum einen kann die axonale Signalfortpflanzung unterbunden werden, indem Tetrodotoxin, das spannungsabhängige Natriumkanäle blockiert, in das Dialysemedium eingeschlossen wird. Zum anderen lässt sich die Konzentration von freiem, intrazellulärem Kalzium, das essenziell für die Fusion synaptischer Vesikel mit der Zellmembran ist, durch die Dialyse mit einer kalziumfreien Lösung bei gleichzeitigem Einschluss eines Kalziumchelatbildners (z. B. EDTA) als Puffer für endogenes Kalzium deutlich reduzieren. In beiden Fällen wird ein deutlicher Abfall in der Neurotransmitterkonzentration im Dialysat erwartet. Im Umkehrschluss führt die Dialyse mit einer Kalium-hypertonen Lösung zu einer Depolarisation der in Membrannähe befindlichen Nervenendigungen und somit zu einer abrupten Freisetzung von Neurotransmittern.
14.3
Vorzüge und Grenzen der Mikrodialysetechnik
Vor über 40 Jahren wurde die Anwendung des Dialyseprinzips zur Probenentnahme in der Mikroumgebung des Gehirns erstmalig beschrieben (Übersicht in: Benveniste u. Huttemeier 1990). Heute ist die Mikrodialysetechnik eine gut etablierte und weit verbreitete Methode, die im Zusammenhang mit Studien zur Neurochemie, Neurotoxikologie und Neuropharmakologie zur Anwendung kommt (beim PubMed-Bibliotheksservice finden sich unter dem Stichwort »brain microdialysis« bis 2011 insgesamt 10.000 Treffer). Eine Reihe von Vorzügen haben der MD-Technik in den letzten beiden Jahrzehnten zum Durchbruch verholfen und ihren Status als maßgebliche neurochemische Methode bis heute bestätigt: 4 Die MD-Technik ermöglicht es, Substanzkonzentrationen in frei beweglichen Tieren über den Zeitraum von einigen Tagen ohne Unterbrechung zu untersuchen. 4 Die MD-Technik ist minimalinvasiv (Durchmesser des Membranschlauchs: < 250 μm). 4 Im Gegensatz zu anderen Techniken der Probenentnahme im Gehirn (z. B. Push-pull-Perfusion oder Punktion) verhindert die Trennung von Dialysemedium und Hirnparenchym durch die Dialysemembran das Eintreten von großen Molekülen wie Proteinen/Enzymen in das Dialysat, was die Stabilität der Neurotransmitter/Neuromodulatoren im Dia-
14
Kapitel 14 · Die Mikrodialysetechnik und ihre Anwendung im Bereich der experimentellen Neurowissenschaften
Experimentelle Daten
C Dialysat - C Dialysemedium
140
0
C Dialysemedium C extrazellulär
. Abb. 14.5 No-Net-Flux-Methode zur exakten Bestimmung der Substanzkonzentration im Extrazellularraum (Erläuterungen s. Text). Der Schnittpunkt der Geraden durch die experimentell erhobenen Werte mit der Abszisse gibt
4
14
4
4
4
4
4
lysat erhöht. Zudem ist die Druckbelastung für das Hirngewebe vernachlässigbar, da es im Extrazellularraum nicht zu signifikanten Flüssigkeitsschwankungen kommt. Effiziente räumliche und zeitliche Auflösung (Mikrometer und Minuten) ermöglichen es, dynamische Freisetzungsprozesse in relativ eng umrissenen Hirnarealen zu verfolgen. Verbesserungen auf analytischer Seite (HPLC mit elektrochemischer Detektion, Kapillarelektrophorese, Gaschromatographie/Massenspektroskopie, Radioimmunoassays etc.) gestatten es nicht nur, die Analyseintervalle auf wenige Minuten zu reduzieren, sondern auch, die Liste der nachweisbaren Substanzen zu erweitern und ggf. Metaboliten in die Analysen einzubeziehen, um Rückschlüsse auf katabolische Prozesse ziehen zu können. Vor der Analyse ist keine Reinigung der Stichproben erforderlich. Dies ermöglicht eine On-line-Kopplung zwischen MD-Aufbau und Detektionseinheit (selbstverständlich können die Proben jedoch auch offline analysiert werden). Durch verfeinerte Kalibrierungsansätze (z. B. No-NetFlux-/Zero-Net-Flux-MD, Ultra-slow flow rate-MD) lassen sich die tatsächlichen Konzentrationen im Extrazellularraum exakt ermitteln. Da die MD-Technik die freie Konzentration eines Arzneimittels im Hirngewebe (d. h. in der »Biophase«) erfasst, ist diese Methode die bislang einzige, die klinisch relevante Daten über pharmakokinetische und -dynamische Charakteristika der Behandlung im Gehirn liefern kann. Da der Molekültransfer prinzipiell bidirektional verlaufen kann, eignet sich die MD-Technik auch für die lokale Substanzapplikation (Retrodialyse).
die Konzentration der Substanz im Extrazellularraum wieder (d. h., an diesem Punkt kommt es zu keinem Nettofluss der Substanz zwischen Dialysemedium und Hirnparenchym = no-net flux)
Wo viel Licht ist, gibt es aber auch Schatten. So lassen sich auch für die MD-Technik eine Reihe von Einschränkungen aufführen: 4 Die stereotaktische Implantation stellt einen stressreichen chirurgischen Eingriff dar, der eine Erholungsphase der Tiere von wenigstens 4–7 Tagen erforderlich macht. 4 Das Einführen der MD-Sonde ruft lokale Veränderungen im umgebenden Hirngewebe hervor (Hypervaskularisation, Ödeme, bisweilen Blutungen). Die meisten Anzeichen dieser Reaktionen verschwinden innerhalb von 12–24 h. Daher sollte mit dem eigentlichen Experiment nicht eher als 18– 24 h nach dem Implantieren der Sonde begonnen werden. Nach dieser Zeit ist auch die Blut-Hirn-Schranke wieder intakt, was von entscheidender Bedeutung für Untersuchungen zur Pharmakokinetik ist, da eine Kontamination des Extrazellularraums mit Blut ausgeschlossen sein muss (bei Untersuchungen zur Freisetzung endogener Substanzen ist diese Gefahr vernachlässigbar, da diese meist in deutlich höheren Konzentrationen im Extrazellularraum als im Blut vorliegen). 4 Lokale Gewebereaktionen (v. a. Gliosen) schränken das Diffusionsareal im Extrazellularraum sowie die Durchlässigkeit der Membran in z. T. erheblichem Maße ein, was die Dauer der MD-Experimente auf wenige Tage beschränkt. 4 Der technische Fortschritt der vergangenen Jahre gestattete zwar eine weitgehende Miniaturisierung der MD-Sonden. Gerade bei Mäusen erweist sich jedoch ein Probendurchmesser von 200–300 μm als zu groß für bestimmte Hirnregionen (z. B. Amygdala, Locus coeruleus), was die Anwendung der MD-Technik bei diesen Tieren weitestgehend auf Hirnareale wie das Striatum, die Hippokampusformation oder den Präfrontalkortex beschränkt.
141 Literatur
4 Biologisch aktive Substanzen finden sich nur in sehr geringen Konzentrationen im Dialysat wieder. Trotz des Fortschritts auf analytischem Gebiet sind deshalb Analyseintervalle im Minutenbereich erforderlich. Auf diese Weise integriert die MD-Technik lokale Freisetzungsprozesse nicht nur räumlich, sondern auch zeitlich. Dies mag bei der Freisetzung von Neuromodulatoren und der anschließenden Signalübertragung über volume transmission nicht weiter problematisch sein. Bei einer weitgehenden Beschränkung der Signalübertragung auf den synaptischen Spalt (wired transmission), wie es z. B. bei der phasischen Dopaminfreisetzung im Nucleus accumbens oder der Glutamatfreisetzung im Hippokampus der Fall ist, können hingegen die Freisetzungsprozesse oft nicht mittels MD verfolgt werden. Hier bieten neue Verfahren Abhilfe, bei denen Potenzialdifferenzen zwischen den freigesetzten Neurotransmittern und sensitiven Elektroden als Spannung (Voltametrie) oder Strom (Amperometrie) in Echtzeit gemessen werden können. 4 Hydrophobe Moleküle lassen sich nur sehr schwer auffangen und analysieren. Alles in allem ist die MD-Technik eine verlässliche und weitgehend konkurrenzlose Methode zur Evaluierung von dynamischen Veränderungen in der Neurotransmitter-/Neuromodulatorfreisetzung und im Anfluten pharmakologischer Substanzen in sich frei bewegenden Tieren. Ihre hohe Reliabilität und Robustheit wird ihr auch in Zukunft einen festen Platz in Neurochemie, Verhaltensbiologie, funktioneller Pharmakologie und Arzneimittelforschung sichern.
Literatur Benveniste H, Huttemeier PC (1990) Microdialysis – theory and application. Prog Neurobiol 35: 195–215 Fields RD, Stevens-Graham B (2002) New insights into neuron–glia communication. Science 298: 556–562 Fuxe K, Dahlstrom A, Hoistad M et al (2007) From the Golgi–Cajal mapping to the transmitter-based characterization of the neuronal networks leading to two modes of brain communication: wiring and volume transmission. Brain Res Rev 55: 17–54 Ludwig M, Leng G (2006) Dendritic peptide release and peptide-dependent behaviours. Nat Rev Neurosci 7: 126–136 Wotjak CT, Ganster J, Kohl G et al (1998) Dissociated central and peripheral release of vasopressin, but not oxytocin, in response to repeated swim stress: new insights into the secretory capacities of peptidergic neurons. Neuroscience 85: 1209–1222 Wotjak CT, Landgraf R, Engelmann M (2008) Listening to neuropeptides by microdialysis: echoes and new sounds? Pharmacol Biochem Behav 90: 125–134 Ziemann AE, Allen JE, Dahdaleh NS et al (2009) The amygdala is a chemosensor that detects carbon dioxide and acidosis to elicit fear behavior. Cell 139: 1012–1021
14
143
In-vivo-Bildgebung Thomas Michaelis, Susann Boretius und Eberhard Fuchs
15.1
MRT-Untersuchungen des Gehirns – 144
15.2
Lokalisierte Protonen-MR-Spektroskopie – 144 Literatur – 147
G. Gründer, O. Benkert (Hrsg.), Handbuch der Psychopharmakotherapie, DOI 10.1007/978-3-642-19844-1_15, © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2012
15
144
Kapitel 15 · In-vivo-Bildgebung
Die Organisation des Gehirns und besonders seine Funktion lassen sich nicht allein aus der Kenntnis seiner zellulären Komponenten und deren Wechselwirkungen erklären. Für ein tieferes und weiterführendes Verständnis seiner Funktionen bedarf es neuer, nichtinvasiver Ansätze, die ergänzend zu elektrophysiologischen Methoden (z. B. In-vivo-Elektrophysiologie, EEG) oder Mikrodialyse eine wiederholte Untersuchung des intakten, lebenden Gehirns auch über einen längeren Zeitraum ermöglichen. Dieses Ziel verfolgen räumlich auflösende und bildgebende Verfahren wie CT (Computertomographie), SPECT (single-photon emission computed tomography, Einzelphotonenemissionstomographie), PET (Positronenemissionstomographie) und MRT (Magnetresonanztomographie) (Übersicht bei Sandhu et al. 2010). Ausgehend von Technologien, die seit einigen Jahren erfolgreich beim Menschen zur Untersuchung der Anatomie, des Stoffwechsels und der Funktion des Gehirns eingesetzt werden, konnten gerade in den letzten Jahren große Fortschritte bei der Anwendung dieser bildgebenden Verfahren auf Labortiere erzielt werden. Stimuliert wurde diese Entwicklung durch die Fortschritte besonders in der Neurogenetik. So gibt es heute eine Vielzahl genetisch modifizierter Mausstämme für die unterschiedlichsten Erkrankungen des Menschen. Bei der In-vivo-Bildgebung am Gehirn der Maus besteht die besondere technische Herausforderung in der Kleinheit des Untersuchungsobjekts, die das zeitliche und räumliche Auflösungsvermögen einschränken. Typische Abmessungen eines Mäusehirns sind: 4 Länge 14 mm, 4 Breite 9 mm, 4 Höhe 6 mm.
15
Techniken, die ionisierende Strahlung oder spezielle radioaktive Substanzen benötigen, verfügen zwar über eine gute zeitliche Auflösung, haben aber – mit Ausnahme der CT – physikalisch bedingt nur eine unzureichende räumliche Auflösung. Die MRT erlaubt eine mehrfache, zerstörungsfreie Darstellung auch kleiner Hirnstrukturen der Maus, z. B. ohne den Einsatz radioaktiver Substanzen. Die Aufnahme eines geeigneten dreidimensionalen MRT-Datensatzes mit entsprechender Auflösung (etwa 0,1 mm in den drei Raumrichtungen) dauert etwa 1 h. Ein weiterer Vorteil ergibt sich aus der Möglichkeit, aus diesem Datensatz Schnittbilder in beliebiger Orientierung rekonstruieren zu können. Daher soll im Folgenden auf einige neue Aspekte der MRT eingegangen werden.
15.1
MRT-Untersuchungen des Gehirns
Die MRT beruht auf der Messung von Radiofrequenzsignalen, die von den Atomkernen vieler Elemente abgestrahlt werden, wenn sie sich in einem starken Magnetfeld befinden und mit einem kurzen Hochfrequenzimpuls (UKW-Bereich) angeregt werden. Die meisten Anwendungen der MRT verwenden die Kerne des Wasserstoffs (Protonen), da er – in Wasser und Fetten
gebunden – in hoher Konzentration in fast allen Geweben vorhanden ist. Eine Stärke der MRT liegt in der Vielfalt der Gewebeeigenschaften, die das gemessene Signal beeinflussen. Die z. T. deutliche Kontrastierung der verschiedenen Gewebearten beruht vorrangig auf Konzentrationsunterschieden der Protonen (»Spindichte«) und unterschiedlichen Relaxationszeiten (T1 und T2) in verschiedenen Geweben. Daneben stehen Verfahren zur Verfügung, die sensitiv gegenüber Blutfluss und Sauerstoffgehalt (Angiographie, funktionelle MRT), Diffusionsprozessen oder dem Gehalt von Makromolekülen sind. Durch die entsprechende Wahl geeigneter Messparameter kann das gemessene Signal verschieden stark betont und »gewichtet« werden; es können also gezielt einzelne dieser Eigenschaften »abgebildet« werden. Damit ermöglicht die MRT die quantitative Darstellung und Lokalisierung anatomischer Strukturen, struktureller oder pathologischer Veränderungen sowie physiologischer und funktioneller Eigenschaften. Die Darstellung neuroanatomischer Strukturen mit nahezu lichtmikroskopischer Auflösung ist in . Abb. 15.1 gezeigt. Es lassen sich die verschiedenen zellulären Schichten z. B. in Kleinhirn, Hippokampus und zerebralem Kortex unterscheiden (Boretius et al. 2009a). Neben der Zuordnung von Strukturen sind auch volumetrische Untersuchungen wie die Ermittlung der Größe der Liquorräume oder der Hippokampi möglich. Eine weitere Anwendungsmöglichkeit liegt in der Darstellung funktionaler Projektionen. Hierbei wird der axonale Transport von Ionen genutzt. So können Manganionen (Mn2+) analog zu Kalziumionen (Ca2+) von Neuronen aufgenommen und entlang von Axonen transportiert werden. Für die MRT ist wichtig, dass Mn2+-Ionen aufgrund ihrer paramagnetischen Eigenschaften die Relaxationszeit T1 stark verkürzen, sodass in T1-gewichteten Schnittbildern das mit Mn2+ angereicherte Gewebe besonders hell zur Darstellung kommt. Dieses Prinzip kann zur Darstellung der Projektionen von der Retina in das Gehirn der Maus benutzt werden (Übersicht bei Watanabe et al. 2004; . Abb. 15.2). Zu einem neuen und wichtigen Werkzeug der MRT hat sich in den letzten Jahren die nichtinvasive Messung von Diffusionsprozessen entwickelt. Von besonderem Interesse ist die Diffusions-Tensor-Bildgebung der weißen Hirnsubstanz. Mit ihr kann die Orientierung der Nervenfasern bestimmt und damit der Verlauf von Nervenfaserverbindungen rekonstruiert werden. Diese Information eröffnet die Möglichkeit, die Verschaltung verschiedener Zentren im lebenden Gehirn zu untersuchen (Boretius et al. 2009b). Darüber hinaus liefert der Diffusionstensor wichtige Informationen über die Mikrostruktur des Gewebes, die u. a. zur Erkennung pathologischer Veränderungen genutzt werden können (. Abb. 15.3).
15.2
Lokalisierte Protonen-MR-Spektroskopie
Zunehmend gewinnt die lokalisierte Protonen-MR-Spektroskopie im Gehirn der Maus an Bedeutung. Sie liefert aus kleinen Messvolumina detaillierte Informationen über den Stoff-
145 15.2 · Lokalisierte Protonen-MR-Spektroskopie
wechsel in unterschiedlichen Hirnregionen (. Abb. 15.4). Die spektroskopische Messung erlaubt die Bestimmung der Konzentrationen wichtiger Metaboliten und damit eine neurochemische Charakterisierung der untersuchten Hirnregion (Übersicht bei Michaelis et al. 2009). Beispiele für detektierbare zelluläre Marker und Neurotransmitter sind: 4 N-Acetylaspartat (neuronaler Marker), 4 myo-Inosit (glialer Marker), 4 Kreatin und Phosphokreatin (Marker des Energiestoffwechsels), 4 cholinhaltige Verbindungen (Marker der Integrität von Zellmembranen), 4 Glutamin/Glutamat (Neurotransmitter).
. Abb. 15.1 T2-gewichtetes MR-Bild des Gehirns einer Maus in vivo in einer horizontalen Schichtführung mit 30 μm Bildauflösung. In den Vergrößerungen (rechts) lassen sich zelluläre Schichten in Kleinhirn (unten), Hippokampus (Mitte) und zerebralem Kortex (oben) unterscheiden
. Abb. 15.2 Hochauflösende T1-gewichtete 3D-MRT des Gehirns einer Maus in vivo. Die Applikation von Mn2+-Ionen in das linke Auge führt nach 20 h zu einer Signalverstärkung entlang der Sehbahn. 1 linke Retina,
2 linker Nervus opticus, 3 Chiasma opticum, 4 rechter Tractus opticus, 5 rechtes Corpus geniculatum laterale, 6 rechter Colliculus superior. (Mod. nach Natt et al. 2002)
15
146
Kapitel 15 · In-vivo-Bildgebung
. Abb. 15.3 Diffusions-Tensor-Bildgebung des Gehirns einer Maus in vivo. Helle Regionen in den Karten der fraktionalen Anisotropie (FA) kennzeichnen Gewebe mit hoher Richtungsabhängigkeit der Diffusion wie z. B. im Corpus callosum (cc). Die farbkodierte Hauptdiffusionsrichtung (MDD) lie-
fert Informationen über die Ausrichtung der Nervenfasern (rot: rechts-links, blau: rostral-kaudal, grün: anterior-posterior). Die 3D-Ansicht der Faserverbindungen (unten) zeigt den räumlichen Verlauf der Fimbria hippocampi (fi) und der Fornix (fx). (s. auch Farbtafel am Buchende)
. Abb. 15.4 Protonen-MR-Spektren verschiedener Hirnregionen einer Maus in vivo. Die wesentlichen Resonanzen entsprechen den Hirnmetaboliten Laktat (Lac), Alanin (Ala), N-Acetylaspartat (NAA), N-Acetylaspartat-
glutamat (NAAG), Glutamat (Glu), Glutamin (Gln), γ-Aminobuttersäure (GABA), Aspartat (Asp), Kreatin (Cr), Phosphokreatin (PCr), cholinhaltige Verbindungen (Cho), myo-Inosit (Ins), Taurin (Tau) sowie Makromolekülen (MM)
15
147 Literatur
Literatur Boretius S, Kasper L, Tammer R et al (2009a) MRI of cellular layers in mouse brain in vivo. NeuroImage 47: 1252–1260 Boretius S, Michaelis T, Tammer R et al (2009b) In vivo MRI of altered brain anatomy and fiber connectivity in adult Pax6 deficient mice. Cerebr Cortex 19: 2838–2847 Michaelis T, Boretius S, Frahm J (2009) Localized proton MRS of animal brain in vivo: models of human disorders. Prog NMR Spectrosc 55: 1–34 Natt O, Watanabe T, Boretius S et al (2002) High-resolution 3D MRI of mouse brain reveals small cerebral structures in vivo. J Neurosci Methods 120: 203–209 Sandhu GS, Solorio L, Broome AM et al (2010) Whole animal imaging. WIREs Syst Biol Med 2: 398–421 Watanabe T, Frahm J, Michaelis T (2004) Functional mapping of neural pathways in rodent brain in vivo using manganese-enhanced three-dimensional magnetic resonance imaging. NMR Biomed 17: 554–568
15
149
Genetisch veränderte Tiere Ralf Kühn und Wolfgang Wurst
16.1
Inzuchtstämme und selektives Züchten – 150
16.1.1 16.1.2 16.1.3
Standardinzuchtstämme – 150 SSLP-Marker und QTL-Analysen – 151 Selektive Zucht – 151
16.2
Transgene Mäuse – 152
16.2.1 16.2.2 16.2.3 16.2.4 16.2.5
Transgentechnologie – 152 Transgenkonstrukte – 152 Induzierbare Transgene – 153 Herstellung transgener Mäuse – 154 Transgene Mäuse als Krankheitsmodelle – 154
16.3
Gezielte Gendeletion und Geninsertion (Knock-out/Knock-in) – 155
16.3.1 16.3.2 16.3.3
Knock-out- und Knock-in-Mäuse – 156 Konditionale Knock-out-Mäuse – 157 Knock-out-Mausmodelle – 159
16.4
Gene-trap-Mutagenese – 159
16.5
ENU-Mutagenese – 161
16.5.1 16.5.2 16.5.3
Auswirkungen von ENU – 161 Durchführung – 162 Komplementationsanalyse und Identifizierung der Kandidatengene – 162
16.6
Virale Vektoren – 163
16.6.1 16.6.2 16.6.3
AAV- und LV-Vektorsysteme – 163 Produktion viraler Vektoren – 164 Bisherige Ergebnisse – 164
16.7
Antisense-Inhibition und RNA-Interferenz – 164
16.7.1 16.7.2 16.7.3
Antisense-Oligonukleotide – 164 Reichweite der Antisense-Technik – 165 RNA-Interferenz – 165
Literatur – 166
G. Gründer, O. Benkert (Hrsg.), Handbuch der Psychopharmakotherapie, DOI 10.1007/978-3-642-19844-1_16, © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2012
16
16
150
Kapitel 16 · Genetisch veränderte Tiere
16.1
Inzuchtstämme und selektives Züchten
Die als Labormäuse verwendeten Mausstämme stellen genetisch ein Gemisch aus den verschiedenen Subspezies domesticus, musculus und castaneus der Hausmaus Mus musculus dar. Der Ursprung der klassischen Inzuchtstämme liegt in der frühen Mausgenetik, als W. Castle ab 1909 in Harvard begann, aus als Haustiere gehaltenen Mäusen durch selektive Zucht genetisch uniforme Stämme zu entwickeln. Zur Etablierung eines Inzuchtstamms werden die Nachkommen eines Zuchtpaars in aufeinanderfolgenden Bruder-Schwester-Verpaarungen miteinander gekreuzt. Durch Inzucht erhöht sich in jeder Generation die Wahrscheinlichkeit, dass ein genetischer Locus homozygot und somit eines der im ersten Zuchtpaar vorliegenden Allele dieses Locus in der Zuchtpopulation fixiert wird. Nach 20 Generationen erreicht eine derartige Zucht einen Grad genetischer Homogenität von ca. 99% und wird als Inzuchtstamm bezeichnet (Silver 1995). Jeder Inzuchtstamm stellt eine fixierte Kombination bestimmter, in allen Tieren dieses Stammes homozygot vorliegender Allele der ca. 30.000 im Mausgenom vorhandenen Gene dar. In den letzten Jahrzehnten sind mehrere hundert Inzuchtstämme entwickelt worden (Lyon u. Searle 1989), die zum Großteil bei der weltweit umfangreichsten Stammkollektion des Jackson Laboratory (Bar Harbour, USA) erhältlich sind (www. jax.org). Durch die jeweils einzigartigen Allelkombinationen differieren die verschiedenen Inzuchtstämme in ihren biologischen Eigenschaften, wie z. B. Lebensdauer, Fertilität, Metabolismus oder Verhalten, ähnlich wie die Individuen einer Auszuchtpopulation. Der Vorteil bei der Verwendung von Inzuchtstämmen liegt darin, dass die Tiere eines Inzuchtstamms nur eine sehr geringe Varianz aufweisen, sodass der Einfluss eines Eingriffs (z. B. Knock-out eines Gens) auf einen bestimmten Untersuchungsparameter genau bestimmt werden kann. Bei der fortlaufenden Zucht von Inzuchtmäusen fallen abweichende Individuen, bei denen ein Genlocus durch ein spontanes Mutationsereignis verändert wurde, leicht auf. Durch die systematische Aussonderung und Vermehrung derartiger Varianten sind v. a. am Jackson Laboratory mehrere hundert »klassische« Mutantenstämme isoliert worden, die in der Arbeit von Lyon und Searle (1989) katalogisiert sind. Bei vielen dieser Mutanten sind inzwischen die von der Mutation betroffenen Gene isoliert worden; dies führte zu interessanten Aufschlüssen über den Zusammenhang von Genotyp und Phänotyp. Durch die Ausarbeitung neuer Methoden zur induzierten Mutagenese, wie des gezielten Knock-out (7 16.3), der Gene-trap- (7 16.4) oder der Ethylnitrosoharnstoff(ENU)-Mutagenese (7 16.5), wurde es während der letzten Dekade möglich, eine weit größere Mutantenressource zu erzeugen, die zurzeit im Bereich von mehreren tausend Stämmen liegt und auf die sich die meisten aktuellen Forschungsarbeiten beziehen.
Ca, DBA/2 oder 129Sv mit ihren jeweiligen charakteristischen biologischen Eigenschaften. Da ein bei verschiedenen Züchtern propagierter Inzuchtstamm im Lauf der Generationen einer gewissen genetischen Drift unterliegen kann, wird zur exakten Bezeichnung dem Namen eines verwendeten Inzuchtstamms noch ein züchterspezifisches Kürzel angefügt, z. B. »J« für die vom Jackson Laboratory stammenden Linien. Trotz der häufigen Verwendung von Standardstämmen gibt es bisher keine umfassende Übersicht hinsichtlich der wichtigsten biologischen Grundparameter dieser Inzuchtstämme. Ein hierauf abzielendes Vorhaben, das Mouse Phenome Project, wird seit dem Jahr 2000 vom Jackson Laboratory koordiniert. In dem verwandten europäischen Eumorphia-Projekt werden u. a. einheitliche Richtlinien für Phänotypisierungsverfahren erarbeitet (www. eumorphia.org). In Bezug auf das Angst-, Lern- oder Aktivitätsverhalten liegen Einzeluntersuchungen vor, die den Anteil an genetischer Determination beim Verhalten verschiedener Inzuchtstämme aufgezeigt haben (Belzung u. Griebel 2001). Dabei sind diese Verhaltensuntersuchungen an Mäusen zurzeit schwer vergleichbar, weil in jedem Labor unterschiedliche Versuchsaufbauten verwendet werden und weil unterschiedliche Umgebungsfaktoren bestimmte Verhalten beeinflussen können. Bei induzierten Mutanten ist ferner zu berücksichtigen, dass verschiedene Erzeugungsmethoden aus technischen Gründen fast immer nur mit wenigen bestimmten Inzucht- oder Hybridstämmen durchführbar sind. So werden transgene Mäuse (7 16.2) in der Regel auf einem gemischten Hybridhintergrund, Knock-out-Mäuse auf dem Hintergrund eines »129«-Stamms (7 16.3) und ENUinduzierte Mutanten (7 16.5) häufig auf dem Hintergrund des C3H-Stamms etabliert. Transgene und Knock-out-Mäuse werden nach der Etablierung meist auf den Hintergrund des am häufigsten verwendeten Standardinzuchtstamms, C57BL/6, rückgekreuzt. Der genetische Hintergrund, in dem sich ein bestimmtes mutiertes Gen befindet, kann aufgrund der Wechselwirkung mit verschiedenen Allelen anderer Gene zu einer unterschiedlich starken Beeinflussung des Phänotyps der Mutante führen. Untersuchungen zeigen, dass die von genetischem Hintergrund und Umgebungsfaktoren ausgehenden Einflüsse das Verhalten von Versuchstieren stärker beeinflussen können als eine bestimmte genetische Veränderung (Wolfer u. Lipp 2000). Nur in wenigen Fällen handelt es sich bei den genetischen Modifikatoren (modifiers) um einzelne Gene, deren Identität durch genetische Kartierung zielgerichtet aufgeklärt werden kann, wie es z. B. bei dem für eine Phospholipase kodierenden mom1(modifier of min-1)-Modifikatorallel mit starken Einfluss auf die Entstehung von Darmtumoren bei der APCMin-Mausmutante gelungen ist (MacPhee et al. 1995).
Erzeugung kongener Stämme 16.1.1
Standardinzuchtstämme
Der größte Teil dieser Forschungsarbeiten basiert auf ca. 15 Standardinzuchtstämmen wie z. B. Balb/c, C3H/He, C57BL/6, CBA/
Werden Angehörige zweier Inzuchtstämme miteinander verpaart, entstehen in der ersten Generation F1-Hybriden, die je einen haploiden Chromosomensatz von jedem Parentalstamm enthalten. Wie Inzuchttiere sind F1-Hybriden genetisch und phänotypisch einheitlich, weisen aber ein hohes Maß an Hetero-
151 16.1 · Inzuchtstämme und selektives Züchten
zygosität auf, das zu hoher Viabilität und Fertilität führt (hybrid vigour). Werden F1-Hybriden wieder mit einem der Parentalstämme rückgekreuzt, ist es möglich, einen spezifischen Genlocus von einem Inzuchtstamm (Donor) in den genetischen Hintergrund des zweiten Stamms (Rezipient) zu übertragen, um die biologische Wechselwirkung dieses Gens mit dem Rezipientengenom zu testen. Zur Erzeugung eines solchen kongenen Stamms müssen die Nachkommen jeder Rückkreuzung hinsichtlich des Vorliegens des Donorlocus typisiert und positive Nachkommen wieder mit dem Rezipientenstamm gekreuzt werden. Nach zehn Rückkreuzungen ist das Donorgenom in einem kongenen Stamm bis auf einen Restanteil von ca. 0,2% ausverdünnt, abgesehen von dem in direkter Nähe des interessierenden Donorlocus gelegenen Chromosomenabschnitts, der mit einer mittleren Größe von 20 cM (Zentimorgan) noch ca. 1% des Donorgenoms umfasst (Silver 1995).
Rekombinante Inzuchtstämme Werden jedoch F1-Hybriden zweier Inzuchtstämme weiter untereinander verpaart und nicht rückgekreuzt, führen zufällige Segregation und unabhängige Vererbung heterozygoter Loci zu Nachkommen der F2-Hybridgeneration, bei denen jedes Individuum eine unterschiedliche Mosaikverteilung der beiden Inzuchtgenome besitzt. Bei nachfolgender Inzucht dieser F2-Hybriden innerhalb ausgewählter Familien ist es möglich, die Mosaikverteilung nach 20 Generationen genetisch zu fixieren, sodass aus jeder Familie ein neuer Inzuchtstamm entsteht, in dem unterschiedliche Chromosomenabschnitte der beiden Parentalstämme homozygot enthalten sind. Derartige Gruppen rekombinanter Inzuchtstämme können für die chromosomale Kartierung von Genen (z. B. von Modifikatoren), die den Parentalstämmen unterschiedliche biologische Eigenschaften verleihen, verwendet werden. Durch den Vergleich von Verhaltenspräferenzen mit genetischen Markern konnten in rekombinanten Inzuchtstämmen z. B. Genloci, die das Aktivitätsverhalten (Plomin et al. 1991) modifizieren, kartiert werden.
16.1.2
SSLP-Marker und QTL-Analysen
Das Genom der Maus enthält zahlreiche Sequenzabschnitte, deren Länge in den verschiedenen Inzuchtstämmen um wenige Basenpaare variieren kann. Über 6000 dieser als SSLP (simple sequence length polymorphism) bzw. als Mikrosatelliten bezeichneten genetischen Marker sind beschrieben und in ihrer chromosomalen Position kartiert worden. Der Nachweis der SSLPMarker erfolgt durch PCR-Amplifikation mit sequenzspezifischen Primer-Paaren, bei der ein DNA-Fragment charakteristischer Länge entsteht. Zur Unterscheidung von Chromosomenabschnitten verschiedener Inzuchtstämme stehen jeweils ca. 200 unterschiedliche, über das Genom verteilte SSLP-Marker mit einer mittleren Distanz von 6,8 cM zur Verfügung. Diese Kollektion genetischer Marker ermöglicht die Kartierung und relative Gewichtung verschiedener Genloci, die eine biologische Eigenschaft beeinflussen, durch QTL(quantitative trait locus)-Analyse (Belknap et al.
2001). Bei der QTL-Analyse werden Nachkommen einer Kreuzung von zwei Mausstämmen (z. B. F2-Hybriden) phänotypisch auf eine zwischen den Stämmen variierende biologische Eigenschaft sowie genotypisch mit einem Satz von SSLP-Markern untersucht. Diese Daten werden mithilfe statistischer Methoden auf Phänotyp-Genotyp-Korrelationen hin untersucht und gewichtet. Aufgrund der relativ geringen Auflösung der Marker können mit der QTL-Analyse allerdings nicht direkt Einzelgene, sondern vielmehr bestimmte Chromosomenabschnitte, die in der Regel zahlreiche Gene enthalten, identifiziert werden. Einen Überblick über die Verwendung der QTL-Analyse zur Kartierung polymorpher Loci, die das Verhalten von Mäusen beeinflussen, gibt die Arbeit von Flint (2003). Durch die vollständige Entschlüsselung des Mausgenoms sind neuerdings genetische Analysen wesentlich vereinfacht worden, da alle Gene und genetischen Marker in ihrer Sequenz und Position genau bekannt sind und mit dem menschlichen Genom verglichen werden können. Dies ermöglicht u. a. den einfachen Abgleich von Chromosomenabschnitten, die durch QTL-Analyse von Mausstämmen bzw. menschlichen Populationen gewonnen wurden, und damit die Identifikation von Genen, die in beiden Spezies bestimmte biologische Eigenschaften in ähnlicher Weise regulieren.
16.1.3
Selektive Zucht
Zur Untersuchung der genetischen Grundlagen biologischer Eigenschaften kann neben der Generierung von Inzuchtstämmen auch das Verfahren der selektiven Zucht angewendet werden. Hierzu werden diejenigen Tiere einer Population, die eine bestimmte, für die experimentelle Fragestellung interessante Eigenschaft aufweisen, selektiv miteinander verpaart. Nach zahlreichen Generationen selektiver Zucht sind die dieser Eigenschaft zugrunde liegenden Gene in der Population fixiert und liegen in allen Nachkommen vor. Selektiv gezüchtete Maus- und Rattenstämme wurden insbesondere in der Alkoholismusforschung im Hinblick auf starke oder schwache Alkoholpräferenz, Alkoholtoleranz oder Entzugssymptome entwickelt (Crabbe 2002) und mit der QTL-Analysemethode untersucht. Interessanterweise wurde hierbei festgestellt, dass sich selektierte Stämme auch in nichtselektierten Eigenschaften unterscheiden können, sodass auf eine genetische Kodetermination durch eine pleiotrop wirkende Gruppe von Genen geschlossen werden kann. So weisen Mausstämme, die starke Alkoholentzugssymptome zeigen, eine schwache Alkoholpräferenz auf, Stämme mit starker Alkoholpräferenz zeigen umgekehrt nur schwache Entzugssymptome. Die Identifikation der diesen Eigenschaften zugrunde liegenden Gene kann durch die Kombination verschiedener genetischer Zuchtstämme und Zuchtverfahren wesentlich vereinfacht werden. Zur Kartierung von drei QTL-Regionen, die die unterschiedliche Stärke von Entzugssymptomen bei den Inzuchtstämmen C57BL/6 und DBA/2 bestimmen, wurden z. B. rekombinante Inzuchtstämme, F2-Hybriden und hieraus selektierte Linien
16
152
Kapitel 16 · Genetisch veränderte Tiere
verwendet. Die weitere Untersuchung einer QTL-Region auf Chromosom 4 erfolgte durch kongene Stämme, die mit dem C57BL/6-Stamm rückgekreuzt wurden. Hierdurch konnte die dem Phänotyp zugrunde liegende Region auf einen Bereich von weniger als 20 Genen eingeengt werden: Eines dieser Gene (mpzd) weist als wahrscheinlichstes Kandidatengen zahlreiche Sequenzunterschiede beim Vergleich der C57BL/6- und DBA/2Inzuchtstämme auf (Fehr et al. 2002).
16.2
Transgene Mäuse
Als transgen werden Mäuse bezeichnet, bei denen definierte Genkonstrukte – sog. Transgene – als zusätzliche Erbinformation stabil in das Genom integriert sind. Als neuer Teil des Genoms werden solche Transgene über die Keimbahn an die Nachkommen weitervererbt. Meist wird der Begriff transgen zur Bezeichnung von Stämmen verwendet, bei denen ein Genkonstrukt an einer nicht vorherbestimmten Position des Genoms integriert ist. Hiervon zu unterscheiden sind Knock-in-Mäuse, bei denen ein bestimmtes Segment eines chromosomalen Gens durch homologe Rekombination in embryonalen Stammzellen (ES-Zellen) an einem definierten Ort im Genom gegen ein anderes Segment ausgetauscht wird (7 16.3.1).
16.2.1
16
Transgentechnologie
Die Herstellung transgener Mäuse erfolgt durch Mikroinjektion des Genkonstrukts als gelöstes DNA-Fragment in die Vorkerne befruchteter Eizellen (Nagy et al. 2002). In jedem transgenen Embryo integriert sich das injizierte DNA-Fragment in variabler Kopienzahl in Zufallspositionen; dieser Embryo wird zu einem neu erzeugten transgenen Gründertier (founder). Ausgehend von mehreren Founder-Tieren können dann durch Verpaarung dieser Tiere mit Wildtypmäusen transgene Mausstämme für einen definierten Expressionsvektor etabliert werden. Die Transgentechnologie wird seit 1982 systematisch zur Untersuchung von Genfunktionen verwendet und ermöglichte als erste Routinetechnik die Veränderung des Mausgenoms auf molekularbiologischer Grundlage. Das Ziel bei der Erzeugung transgener Mäuse besteht im Regelfall darin, die biologische Funktion des vom Transgen kodierten Proteins in einem bestimmten Zelltyp oder Organ von Mäusen zu untersuchen, die ansonsten ein unverändertes Genom besitzen. Diese Vorgehensweise führt immer dann zu eindeutigen Ergebnissen, wenn das neue Protein über eine dominante Funktion verfügt, die von keinem der körpereigenen Proteine erfüllt wird (gain of function). Krankheiten, die durch dominant wirkende, veränderte Proteine ausgelöst werden, können charakterisiert werden durch die Einführung von DNA-Fragmenten in das Versuchstier, die diese Proteine kodieren, auch wenn im Organismus die unveränderte Normalform noch gebildet wird. So konnten z. B. mithilfe transgener Mäuse, die veränderte Formen des humanen Amyloid-Vorläuferproteins (amyloid precursor protein, APP) im Gehirn exprimieren, ein Mechanismus zur Entstehung von
Amyloid-Plaques bei der Alzheimer-Demenz im Tiermodell aufgeklärt werden (Bornemann u. Staufenbiel 2000). Umgekehrt kann mit dem Verfahren des transgenic rescue auch die Normalform eines Gens in eine Mausmutante, die eine Krankheit entwickelt, eingeführt werden (Heintz 2001). Liegt der Mutante eine defekte Form des eingeführten Gens, die zu Funktionsverlust führt, zugrunde, kommt es durch die Einführung des normalen Gens in den transgenen Tieren zur Rettung des Phänotyps und zur Heilung des Gendefekts. Mit diesem Verfahren wurde z. B. clock als auslösendes Gen einer zirkadianen Rhythmusstörung identifiziert. Eine weitere Möglichkeit zur Charakterisierung von Genfunktionen, insbesondere während der Embryonalentwicklung, ist die Fehlexpression (ektopische Expression) eines regulatorischen Proteins in Zellen, in denen dieses Gen normalerweise nicht aktiv ist. Dies kann in den transgenen Tieren zu einem Phänotyp führen, der Rückschlüsse über die Genfunktion ermöglicht.
16.2.2
Transgenkonstrukte
Ein vollständiges Transgenkonstrukt muss zumindest drei Grundelemente enthalten, die für die Funktion eines proteinkodierenden Gens essenziell sind (Nagy et al. 2002): 1. Die regulatorische Promotorregion dient als Bindungsstelle für den RNA-Polymerase-Komplex und bestimmt das Expressionsmuster und die Expressionshöhe der mRNA eines Transgens. 2. Der proteinkodierende Abschnitt des Transgens wird von der Promoterregion ausgehend in eine mRNA transkribiert und umfasst das Leseraster für ein Protein, dessen Translation an Ribosomen mit einem Startkodon (ATG) beginnt und einem der drei Stopcodons (UAA, UGA, UAG) endet. 3. Es muss der kodierenden Region des Transgens eine Signalsequenz zur Polyadenylierung folgen, an der die Transkription der mRNA endet und diese mit einer Kette von ca. 200 Adenosinresten (polyA, pA) verknüpft wird. Die PolyA-Sequenz erhöht die Stabilität der mRNA und wird zudem für deren Export vom Zellkern in das Zytoplasma benötigt, wo die Translation des Proteins stattfindet.
Herstellung Zur Herstellung eines Transgenkonstrukts werden verschiedene DNA-Fragmente, die zusammen die drei o. g. Grundelemente enthalten, in einem Plasmidvektor durch molekularbiologische Klonierungsmethoden zusammengefügt. Dann wird der Vektor in Bakterien vermehrt. Die üblicherweise verwendeten Plasmidvektoren können ein Transgenkonstrukt von bis zu ca. 15.000 Basenpaaren (15 kb) stabil tragen. Da chromosomale Gene aufgrund langer Intronregionen die Größe von 15 kb oft überschreiten, wird als kodierende DNA meist komplementäre DNA (cDNA) integriert. Diese cDNA wird aus der mRNA eines Gens, in der keine Intronsequenzen mehr enthalten sind, durch reverse Transkription erzeugt. In die kodierende Region der cDNA können ferner durch Methoden der gezielten Mutagenese Mutatio-
153 16.2 · Transgene Mäuse
nen in das Transgen eingeführt werden. Da beobachtet wurde, dass die mRNA von Transgenen ohne Intronregionen in Mausgeweben nur geringe Stabilität besitzt, wird in ein solches Transgenkonstrukt als weiteres Element meist noch eine kurze Intronregion an einem der cDNA-Enden eingefügt. Als Promotorregionen werden in Transgenen Segmente chromosomaler Gene verwendet, deren Expressionsmuster und Aktivität genau bekannt ist. Aufgrund der Größenbeschränkung von Plasmidvektoren enthalten diese 1–10 kb großen Promotorfragmente zwar einen wichtigen Teil, aber nicht immer die vollständige regulatorische Region eines Gens. Die Expression eines Transgens wird daher stark durch die individuelle genomische Integrationsstelle beeinflusst. Mausstämme, die ein bestimmtes Transgenkonstrukt enthalten, weisen daher meist ein variables Expressionsmuster des Transgens auf.
Erzeugung definierter Expressionsmuster Um eine transgene Linie mit einem gewünschten Expressionsmuster zu erhalten, ist es daher essenziell, mit dem entsprechenden Transgenkonstrukt mehrere Stämme zu etablieren und in diesen die Expression des Transgens zu charakterisieren. Aufgrund der variablen Expression von Transgenen werden zur Erzeugung von definierten Expressionsmustern zunehmend auch Knock-in-Mäuse verwendet. Hierbei wird z. B. ein Teil der kodierenden Region eines chromosomalen Gens durch homologe Rekombination gegen ein verändertes Segment dieses Gens ausgetauscht. Der Vorteil dieser Methodik liegt darin, dass alle regulatorischen Elemente des verwendeten Gens unverändert funktional sind und die Expression des veränderten Gens dem Wildtypmuster entspricht (7 16.3). Viele Promotorregionen sind nur in bestimmten Zelltypen und Entwicklungsphasen aktiv. Zur spezifischen Expression von Transgenen in Neuronen des Zentralnervensystems werden häufig die Promotorregionen des prp-, nse- oder thy1-Gens bzw. des camKII-α-Gens (spezifisch in Neuronen des Vorderhirns exprimiert) eingesetzt. Spezifisch für Schwann-Zellen und Astrozyten sind die Promotoren des p0- bzw. gfap-Gens.
BAC-Vektoren Seit mehreren Jahren wird zunehmend ein zweiter Typus von Transgenkonstrukten verwendet, der auf speziellen Plasmidvektoren beruht, mit denen Fragmente bis zu einer Größe von ca. 200 kb in Bakterien vermehrt werden können (Heintz 2001). Mit diesen als BAC (bacterial artificial chromosomes) bezeichneten Vektoren können Genomsegmente gehandhabt werden, die meist ein komplettes chromosomales Gen inklusive der regulatorischen Elemente und der Intronregionen enthalten. Mithilfe einer speziellen Klonierungstechnik (ET cloning, recombineering; ET: Verwendung der bakteriellen Rekombinationsproteine recE und recT) kann die Sequenz von BAC-Vektoren gezielt verändert werden, z. B. um Mutationen in die kodierende Region eines Gens einzuführen. Ein Vorteil beim Einsatz von BAC-Vektoren als Träger für Transgenkonstrukte liegt in der geringen Beeinflussbarkeit ihrer Expressionseigenschaften durch unterschiedliche chromosomale Integrationsstellen. Aufgrund ihrer Größe sind diese Vek-
toren allerdings fragiler und schwieriger zu handhaben als Standardplasmide. In transgenen Mäusen werden BAC-Vektoren oft dazu verwendet, die Rolle eines in einer Mausmutante als defekt charakterisierten Gens eindeutig zu verifizieren. Revertiert nämlich ein BAC-Vektor mit dem Wildtypallel eines solchen Kandidatengens den Phänotyp der Mutante, wird hierdurch das betroffene Gen eindeutig identifiziert. Das Genom der Maus ist als BAC-Klonbibliothek vom Deutschen Ressourcenzentrum für Genomforschung (RZPD) in Berlin erhältlich.
16.2.3
Induzierbare Transgene
Die Promotorregionen von Säugetiergenen sind so aufgebaut, dass sie von spezifischen Transkriptionsfaktoren aktiviert werden, die in bestimmten Zelltypen und Entwicklungsstadien vorkommen. Diese vorprogrammierten Expressionseigenschaften können von außen nicht experimentell beeinflusst oder gesteuert werden. Promotoren, die durch niedermolekulare Substanzen gut induziert werden können, sind bei Säugern nicht bekannt. Um die Expression eines Transgens durch Aktivierung oder Inhibierung der Promotorregion zu einem selbst gewählten Zeitpunkt ein- oder ausschalten zu können, entwickelten Bujard und Mitarbeiter ein artifizielles Genexpressionssystem, das auf dem in Bakterien vorkommenden tetrazyklinregulierten Operon basiert (Mansuy u. Bujard 2000). Dieses tetrazyklinregulierte Expressionssystem (Tet-System) umfasst zwei Komponenten, die von zwei verschiedenen Vektoren kodiert werden (. Abb. 16.1): 4 den Tetrazyklintransaktivator (tTA) und 4 den Ptet-Promotor, einen stark verkürzten viralen Promotor mit minimaler Transkriptionsaktivität.
Das Tet-System Die tTA-Komponente ist ein Fusionsprotein des bakteriellen Tet-Repressors mit der carboxyterminalen Domäne des Herpessimplex-VP16-Proteins, die als starker Transkriptionsaktivator wirkt. Die Tet-Repressordomäne des tTA-Proteins ist ein DNAbindendes Protein, das als Dimer mit hoher Affinität an eine 19 Basenpaare lange Sequenz des Tet-Operators bindet. Nach Zugabe von Tetra- oder Doxyzyklin durchläuft die Tet-Repressordomäne eine Konformationsänderung, die zur Ablösung des Fusionsproteins von der Tet-Operator-DNA führt. Die zweite Komponente des Tet-Systems, der Ptet-Promotor, wurde mit mehreren Tet-Operatorelementen verbunden. Der Ptet-Promotor wird in tTA-exprimierenden Zellen durch Bindung des VP16-Fusionsproteins an die tet-Operatorsequenzen stark aktiviert, sodass ein dem Promotor nachgeschaltetes cDNA-Transgen in eine mRNA transkribiert wird. Nach Zugabe von Tetraoder Doxyzyklin wird die Aktivierung des Ptet-Promotors unterbrochen und das Transgen abgeschaltet. In einer modifizierten Version, dem reversen Tet-System, werden mutierte Tet-Repressordomänen mit umgekehrten DNA-Bindungseigenschaften (rtTA, rtTA2S-M2) eingesetzt, um die vom Ptet-Promotor ausgehende Genexpression durch Doxyzyklin induzieren zu können.
16
154
Kapitel 16 · Genetisch veränderte Tiere
. Abb. 16.1 Das Tetrazyklin(Tet)-Genexpressionssystem. tTA Tetrazyklintransaktivator, tetR Tet-Repressor, VP16 Herpes-simplex-VP16-Protein, tetO Tet-Operator, Pmin Minimalpromoter. Unten: reverses System mit Induktion durch Doxyzyklin (Dox). rtTA mutiertes Tet mit umgekehrten DNA-Bindungseigenschaften, rtetR reverser Tet-Repressor, Pmin stark verkürzter viraler Promotor mit minimaler Transkriptionsaktivität, verbunden mit mehreren Tet-Operatorelementen
16
Zur Anwendung in Mäusen müssen die beiden vektorbasierten Komponenten des Tet-Systems zunächst unabhängig voneinander in transgene Stämme eingebracht werden. Durch Verpaarung von tTA- oder rtTA-transgenen Mäusen mit PtetStämmen resultieren doppelt transgene Mäuse, in denen die Transgenexpression durch Doxyzyklinzugabe in das Trinkwasser inhibiert (tTA) bzw. induziert (rtTA) werden kann (. Abb. 16.1). Die Expression des tTA- oder rtTA-Proteins in transgenen Mäusen kann von zelltypspezifischen Promotoren aus erfolgen. Es sind über 20 tTA- und rtTA-transgene Stämme beschrieben worden, die durch Kreuzung mit spezifischen Ptet-Stämmen generell verwendbar sind. Das Tet-System wurde u. a. erfolgreich eingesetzt, um mutierte, dominant negativ wirkende oder konstitutiv aktive Signaltransduktionsproteine in Neuronen des Vorderhirns induzierbar zu exprimieren. Untersuchungen mit Ptet-CamKII-αoder Ptet-Calcineurin-transgenen Mäusen zeigten die Beteiligung dieser Proteine an den Signaltransduktionsprozessen zur Bildung des Langzeitgedächtnisses (Mansuy et al. 1998). Ein Modell der Chorea Huntington durch Induktion einer mutierten Form von Huntingtin, dem Huntington-Protein, mithilfe des Tet-Systems wurde von Yamamoto et al. (2000) beschrieben.
16.2.4
Herstellung transgener Mäuse
Transgene Mäuse werden durch Mikroinjektion des linearisierten, gelösten Transgenfragments in die Vorkerne befruchteter Eizellen hergestellt (. Abb. 16.2) (Nagy et al. 2003). Um die Kointegration bakterieller DNA-Sequenzen zu vermeiden, wird das Transgenfragment zuvor vom Plasmidvektor abgetrennt und gereinigt. Die Transgenfragmentlösung wird dann in eine
Mikroinjektionskapillare gefüllt und ein Volumen von ca. einem Picoliter in einen der beiden Vorkerne einer befruchteten Eizelle injiziert. Die Injektion erfolgt unter starker Vergrößerung mithilfe von Mikromanipulatoren, die jeweils eine Kapillare zum Festhalten und zur Injektion der Eizelle tragen. Durch die Injektion werden ca. 1000 Kopien des Transgenkonstrukts in einen Vorkern der Eizelle eingeführt. Ein Teil der DNA-Fragmente (1–50 Kopien) wird durch einen DNA-Reparaturmechanismus an einer zufallsbestimmten Stelle des Genoms integriert. Insgesamt wird die Integrationsfrequenz des Transgenkonstrukts durch die offenen, linearen Enden des DNA-Fragments stark erhöht, sodass es in ca. 20% der injizierten Eizellen zu einer stabilen Integration des Transgens kommt. Meist wird eine variable Anzahl zusammengefügter Transgenkopien in der gleichen Ausrichtung (tandem repeat) in eine einzige Position des Genoms integriert. Bei einem typischen Experiment werden an einem Tag ca. 300 Eizellen mit einem Transgenkonstrukt injiziert und die überlebenden Embryonen (50%) in das Ovidukt von Ammenmüttern transferiert (. Abb. 16.2). Bei einer Geburtenrate und Integrationsfrequenz des Transgenkonstrukts von jeweils 20% können unter 30 Nachkommen fünf transgene, sog. Gründertiere (7 16.2.1) erwartet werden. Nach Erreichen der Geschlechtsreife können diese durch Verpaarung vermehrt und so transgene Mausstämme etabliert werden. Durch die Integration des Transgens kommt es in 10–15% der Fälle zur Insertionsmutagenese eines Allels eines chromosomalen Gens. Aus diesem Grund werden transgene Mausstämme oft in heterozygoter Konfiguration vermehrt und untersucht. Die Beeinflussung der im Transgenkonstrukt enthaltenen Promotorregion durch die chromosomale Umgebung führt oft zu starker Variabilität des Genexpressionsmusters. Dieses muss in den einzelnen Mauslinien untersucht und verglichen werden, um einen transgenen Mausstamm mit den gewünschten Eigenschaften zu erhalten. Die zur Mikroinjektion benötigten befruchteten Eizellen werden aus nicht geschlechtsreifen Weibchen isoliert, in denen die Ovulation durch hormonelle Stimulation induziert wird (Superovulation). Nur bestimmte Stämme, wie Hybriden aus Inzuchtmäusen (z. B. C57BL/6 x CBA), Auszuchtstämme (z. B. CD1) oder der Inzuchtstamm FVB reagieren effizient auf die Hormongabe und werden routinemäßig zur Herstellung transgener Mäuse eingesetzt. Die in solchem genetischem Hintergrund etablierten transgenen Gründertiere werden dann meist auf den für die biologischen Untersuchungen bevorzugten Hintergrund rückgekreuzt. Eine Zusammenstellung von Arbeitsprotokollen zur Herstellung transgener Mäuse findet sich in Nagy et al. (2003). Kollektionen publizierter transgener Stämme bestehen am Jackson Laboratory (Bar Harbour, USA) und dem Archiv europäischer Mausmutanten (EMMA), Monterotondo, Italien.
16.2.5
Transgene Mäuse als Krankheitsmodelle
Transgene und Knock-in-Mäuse eignen sich als genetisches Krankheitsmodell für die menschlichen Erkrankungen, die auf
155 16.3 · Gezielte Gendeletion und Geninsertion (Knock-out/Knock-in)
. Abb. 16.2 Erzeugung transgener Mäuse durch Pronukleusinjektion. pA Signalsequenz zur Polyadenylierung
dominant wirkenden Mutationen beruhen, d. h., ein durch das mutierte Transgen kodiertes, verändertes Protein hat einen stärkeren Einfluss auf den Organismus als die gleichzeitig noch vorhandene Normalform dieses Proteins. Zur Auslösung einer Erkrankung kommt es daher bereits dann, wenn im Genom nur ein Allel des entsprechenden Gens mutiert ist. Der überwiegende Teil genetischer Erkrankungen beruht allerdings auf rezessiven Verlustmutationen und ist durch transgene Modelle nicht zugänglich. Jedoch haben transgene Mausmodelle zum Verständnis der dominant wirkenden krankheitsauslösenden Gene entscheidend beigetragen (Watase u. Zoghbi 2003). Vor allem für neurodegenerative Erkrankungen sind transgene Mausmodelle erfolgreich etabliert worden. Neben ihrer Verwendung zur Untersuchung von Krankheitsentstehung eignen sich diese Mausstämme auch als Modelle für therapeutische Interventionen. Als genetische Modelle der Alzheimer-Demenz wurden zahlreiche transgene Stämme generiert, die mutierte Formen des humanen APP in Neuronen überexprimieren (Bornemann u. Staufenbiel 2000). Mutationen, die bei familiär auftretender Alzheimer-Demenz identifiziert wurden, führen auch bei Mäusen zu ähnlichen Krankheitssymptomen, wie z. B. Ablagerung von Amyloid-Plaques, Neurodegeneration und Beeinträchtigung von Gedächtnisleistungen. Transgene Mausmodelle sind auch erfolgreich zur Untersuchung verschiedener neurodegenerativer Erkrankungen eingesetzt worden, die durch die Expansion von CAG-Tripletts in der kodierenden Region bestimmter Proteine charakterisiert sind. Die für Glutamin kodierenden CAG-Tripletts führen hierbei zum Vorkommen von Polyglutaminsequenzen in den betroffenen Proteinen. Es wird angenommen, dass diese Proteine toxische Eigenschaften besitzen, die letztlich zum Verlust von Nervenzellen führen.
Als ein Modell der Chorea Huntington wurden Knock-inMäuse generiert, die mutiertes Huntingtin exprimieren. Ferner wurden transgene Modelle für spinozerebellare Ataxie Typ 1 (Expression von mutiertem Ataxin) und spinobulbäre Muskelatrophie (Expression von mutierten Androgenrezeptoren) beschrieben. Vereinzelt sind auch transgene Modelle mit Mäusen entsprechenden Symptomen (intermediate traits) psychischer Störungen (Schizophrenie, Depression) charakterisiert worden, deren kausaler Zusammenhang mit der Genese menschlicher Krankheiten nicht gesichert ist. Mausstämme mit Überexpression von BDNF (brain-derived neurotrophic factor) oder CRH (dem Kortikotropin-Releasing-Hormon) sind von Croll et al. (1999) bzw. Stenzel-Poore (1994) untersucht worden.
16.3
Gezielte Gendeletion und Geninsertion (Knock-out/Knock-in)
Als Knock-out-Mäuse werden gezielt hergestellte Verlustmutanten bezeichnet, in denen ein bestimmtes Gen so modifiziert wurde, dass kein funktionales Protein mehr gebildet werden kann (Capecchi 1989). Eine Knock-out-Mutation liegt im Genom aller somatischen Zellen und der Keimzellen vor und wird daher innerhalb eines Knock-out-Stamms an die Nachkommen weitervererbt. Solche Verlustmutanten werden bezüglich ihrer biologischen Eigenschaften charakterisiert und mit Wildtypmäusen als Kontrollgruppe verglichen. Aus dem Phänotyp der Mutanten wird dann ein Rückschluss auf die biologische Funktion des veränderten Gens gezogen. Die Knock-out-Technik ist somit methodisch der reversen Genetik zuzuordnen, bei der – von bekannten Genen ausgehend – gezielt nach den phänotypischen Konsequenzen spezifischer Mutationen gesucht
16
156
16
Kapitel 16 · Genetisch veränderte Tiere
wird. Bei der hierzu komplementären Vorgehensweise der forward genetics werden nach chemischer Zufallsmutagenese (z. B. ENU-Mutagenese, 7 16.5) zunächst phänotypische Mutanten isoliert und dann die diesen Phänotypen zugrunde liegenden Gene identifiziert. Da das Genom in Mäusen nicht direkt für genetische Manipulationen zugänglich ist, wird die gezielte Mutagenese eines Gens in Kulturen embryonaler Stammzellen (ES-Zellen) durchgeführt, aus denen wieder Mäuse etabliert werden können. Durch die Verfügbarkeit pluripotenter ES-Zelllinien, die die Herstellung von Knock-out-Stämmen erst ermöglichen, ist die Maus zum wichtigsten genetischen Säugetiermodell geworden (Capecchi 1989). Funktionale ES-Zelllinien konnten nämlich bisher von keiner anderen experimentell verwendeten Säugerspezies gewonnen werden. Das Knock-out-Verfahren in ES-Zellen (gene targeting) wurde 1987 von Capecchi und Mitarbeitern eingeführt. Seit der Beschreibung des ersten Knock-out-Mausstamms im Jahr 1991 sind nach diesem Verfahren ca. 3000 Stämme hergestellt worden, die in der Mausgenom-Datenbank des Jackson Laboratory (Bar Harbour, USA) erfasst sind (www. informatics.jax.org). Kollektionen publizierter Knock-out-Stämme bestehen am Jackson Laboratory und dem Archiv europäischer Mausmutanten (EMMA, Monterotondo, Italien). Eine Zusammenstellung von Arbeitsprotokollen zur Herstellung von Knock-out-Mäusen bieten Nagy et al. (2003). Durch die stabile Ausschaltung eines Gens in der Keimbahn von Mäusen und folglich auch in allen Geweben und Entwicklungsphasen ihrer Nachkommen stellen Knock-out-Mäuse ein gutes Modell zur Nachbildung und Untersuchung menschlicher Erbkrankheiten dar (Watase u. Zoghbi 2003). In etwa 25% der Fälle führt die Geninaktivierung durch den Ausfall einer essenziellen Funktion bereits während der Embryonalentwicklung zu einem letalen Phänotyp. Um die Funktion solcher essenzieller Gene in adulten Mäusen zu untersuchen und um die Funktion eines Gens in verschiedenen Zelltypen differenzieren zu können, wurde die Knock-out-Technik weiter modifiziert. Die 1994 eingeführte Methode der konditionalen Mutagenese ermöglicht es, die Inaktivierung eines Gens auf einen bestimmten Zelltyp zu beschränken oder die Geninaktivierung spezifisch in juvenilen oder adulten Tieren zu induzieren.
16.3.1
Knock-out- und Knock-in-Mäuse
Die Knock-out-Methodik basiert auf der gezielten Veränderung des Genoms durch homologe Rekombination (gene targeting) eines Zielgens mit einem spezifischen Gene-targeting-Vektor in embryonalen Stammzellen (Capecchi 1989) (. Abb. 16.3). ES-Zellen sind Zelllinien, die aus Blastozysten isoliert und in Kultur unter Bewahrung des pluripotenten Entwicklungspotenzials vermehrt werden können. Werden ES-Zellen wieder in Blastozysten eingeführt, beteiligen sie sich an allen somatischen Geweben und auch an der Keimbahn des sich entwickelnden chimären Tieres. Dabei werden in Chimären auch Keimzellen gebildet, deren Genom dem der eingeführten ES-Zellen entspricht, womit die Etablierung eines Mausstamms mit deren genetischen Eigenschaften ermöglicht wird. Die Mehrzahl der ver-
wendeten ES-Zelllinien wurden aus einem der neun eng verwandten »129«-Inzuchtstämme etabliert. Aufgrund der hohen Nachkommenzahl männlicher Chimären werden für das gene targeting fast ausschließlich männliche ES-Zelllinien verwendet.
Konstruktion eines Gene-targeting-Vektors Zur Veränderung eines Gens in ES-Zellen muss zunächst ein Gene-targeting-Vektor als bakterielles Plasmid konstruiert werden, das durch Elektroporation in eine große Zahl von ES-Zellen (ca. 107) eingeführt wird. Im Regelfall wird das zu untersuchende Gen durch eine Knock-out-Mutation verändert, indem ein Neomycinresistenzgen mit eigener Promotorregion (neo) in ein Exon dieses Gens inseriert wird oder kodierende Sequenzen dieses Gens gänzlich durch das neo-Gen ersetzt werden. Dieser dem Wildtypgen nichthomologe Bereich muss beiderseits mit genomischen Fragmenten des Wildtypgens flankiert werden, um homologe Rekombination zwischen Wildtypgen und verändertem Gene-Targeting-Vektor zu ermöglichen. Im Gegensatz zu Knock-out-Mutationen enthalten Knockin-Mäuse zusätzlich die kodierende Region eines neuen Proteins, das unter die Kontrolle des verwendeten Zielgens gestellt wird. Vektoren zur Generierung von Knock-in-Mäusen werden meist so konstruiert, dass das Leseraster eines neu zu exprimierenden Proteins ab dem Startkodon das Leseraster des Zielgens ersetzt. Dem neuen Leseraster, meist einem Reportergen wie gfp oder lacZ, folgt ein eigenes Polyadenylierungssignal sowie das neo-Resistenzgen zur Selektion rekombinanter Klone. Durch das Einführen (Knock-in) des Reportergenkonstrukts erfolgt gleichzeitig der Knock-out des Zielgens.
Anreicherung homolog rekombinanter Klone Nach der Elektroporation eines Gene-targeting-Vektors in ESZellen werden aus den transfizierten Einzelzellen Klone selektioniert, die das Resistenzgen exprimieren und damit eine stabile genomische Vektorintegration enthalten. Die Mehrzahl resistenter Klone besitzt eine Zufallsintegration des Vektors in einen nichthomologen genomischen Locus; die Frequenz der homologen Rekombination mit dem Zielgen liegt meist im Bereich von 0,5–2% der resistenten Klone. Durch das Verfahren der positivenegative selection ist es möglich, homolog rekombinante Klone anzureichern, indem zusätzlich zum neo-Resistenzgen an ein Ende des Gene-targeting-Vektors noch ein negativer Selektionsmarker (Herpes-simplex-Virus(HSV)-Thymidinkinase oder Diphterietoxin) angefügt wird, der bei einem homologen Rekombinationsereignis verloren wird. Nach dem Aufwachsen neomycinresistenter ES-Zellklone werden mehrere hundert Kolonien isoliert und durch Analyse genomischer DNA auf das Vorliegen des gesuchten homologen Rekombinationsereignisses getestet. Jeweils 10–15 Zellen eines rekombinanten Klons werden dann durch Mikroinjektion in 50–100 Blastozysten eines Spenderstamms eingeführt und in den Uterus von Ammenmüttern übertragen. Hieraus resultiert in der Regel die Geburt mehrerer männlicher Chimären, die durch Verpaarung auf eine Keimbahnbeteiligung des verwendeten ES-Zellklons getestet werden (. Abb. 16.3).
157 16.3 · Gezielte Gendeletion und Geninsertion (Knock-out/Knock-in)
. Abb. 16.3 Herstellung von Knock-out-Mäusen durch gene targeting in embryonalen Stammzellen (ES-Zellen)
Phänotypische Analyse Die meisten der verwendeten ES-Zelllinien sind von »129«Mausstämmen abgeleitet, die eine braune (A/A, agouti) Fellfarbe besitzen. Sie werden in Blastozysten des schwarzen (a/a, nonagouti black) C57BL/6-Stamms injiziert, sodass Chimären durch das Auftreten agoutifarbener Fellbereiche identifizierbar sind. Werden diese Chimären mit C57BL/6-Weibchen verpaart, weisen Nachkommen, die von ES-zellbasierten Spermien abstammen, (A/a)-agouti-Fellfarbe auf, da A das dominante Allel darstellt. Bei Verwendung eines heterozygot mutierten ES-Zellklons trägt die Hälfte der agoutifarbenen Nachkommen das Knockout-Allel, das z. B. mit einem PCR-Test nachgewiesen werden kann. Aus der Verpaarung heterozygoter Mutanten werden dann homozygote Knock-out-Mäuse sowie Wildtyptiere als Kontrollen (litter mate controls) mit einem Anteil von jeweils 25% erhalten, die für die phänotypische Analyse eingesetzt werden können. Diese Tiere stellen ein heterogenes Gemisch aus dem Genom des »129«- und des C57BL/6-Stamms dar, sodass die einzelnen Mäuse in bestimmten biologischen Parametern stark variieren können. In diesem Fall können Knock-out-Allele durch mehrfache Rückkreuzung in einen reinen genetischen Hintergrund überführt werden. Bei Verwendung von ES-Zelllinien, die von »129«Stämmen mit guten Zuchteigenschaften abstammen (z. B. 129Sv/Pas, 129S6/SvEvTac), können Chimären direkt mit dem entsprechenden Stamm verpaart werden, sodass die Knock-outMäuse von Anbeginn als Inzuchtstamm etabliert werden.
16.3.2
Konditionale Knock-out-Mäuse
In Standard-Knock-out-Mäusen wird ein Gen stabil in der Keimbahn inaktiviert und ist somit auch in allen somatischen Geweben während der gesamten Ontogenese ausgeschaltet. Im Mittel zeigen etwa 25% der beschriebenen Knock-out-Stämme aufgrund des Ausfalls einer essenziellen Genfunktion einen embryonal letalen Phänotyp. Bei bestimmten Proteinfamilien kann dieser Anteil auch wesentlich höher liegen, wie z. B. bei Rezeptoren und Liganden, die Angiogenese und Vaskulogenese steuern. Diese führen als Knock-out-Allel alle zu früher Letalität. Mit der Methode der konditionalen Mutagenese kann die Inaktivierung eines Gens auf einen bestimmten Zelltyp beschränkt und/oder ab einem gewählten Zeitpunkt induziert werden (Kühn u. Schwenk 2002).
Konditionale Mutagenese Zu diesem Zweck werden zunächst nur die Intronregionen eines Zielgens so modifiziert, dass dessen Inaktivierung durch Deletion eines kodierenden Gensegments später, in einem zweiten Schritt, erfolgen kann. In einem konditionalen Gene-Targeting-Vektor werden zwei 34 bp lange loxP-Sequenzen in Intronregionen des Zielgens so eingesetzt, dass sie ein oder mehrere für die Genfunktion essenzielle Exons flankieren. LoxP-Sequenzen stellen Erkennungsstellen der Cre-DNA-Rekombinase dar, die ein loxP-flankiertes DNA-Segment unter Verbleib einer einzigen loxP-Sequenz von einem parentalen DNA-Strang deletiert. Zur Selektion rekombinanter ES-Zellklone wird im Gene-targeting-Vektor neben einer der loxP-Sequenzen ein neo-Resistenzgen eingesetzt, das von frt-Sequenzen, den Erkennungsstellen
16
158
Kapitel 16 · Genetisch veränderte Tiere
Abhängig von den Eigenschaften des zur Cre-Expression verwendeten Promotors beginnt die Deletion in einem spezifischen Zelltyp während der Embryonalentwicklung oder erst postnatal. Die Mausgruppe ohne cre-Transgen (+/+; loxP/loxP) wird meist als Wildtypkontrolle verwendet. Bisher sind konditionale Allele von ca. 100 Genen beschrieben worden (Kwan 2002).
Cre-Rekombinase-transgene Mäuse Die Mehrzahl der cre-transgenen Mausstämme wurde durch Pronukleusinjektion mit Konstrukten generiert, in denen cre von einem zelltypspezifischen Promotor aus exprimiert wird. Alternativ wurden einige Stämme durch die Knock-in-Methode in ein endogenes Gen hergestellt, um cre von dessen Kontrollelementen aus zu exprimieren. Etwa 100 Stämme mit verschiedenen Spezifitäten sind beschrieben worden (www.mshri.on.ca/nagy/Cre-pub.html). Zur konditionalen Inaktivierung im Zentralnervensystem stehen mehrere Linien zur Verfügung, die cre in allen Neuronen exprimieren bzw. nur in Neuronen des Vorderhirns, des Kleinhirns, der Hypophyse, in Oligodendrozyten oder Schwann-Zellen.
Induzierbare Kontrolle
. Abb. 16.4 Herstellung konditionaler Knock-out-Mäuse. Abkürzungen s. Text
16
der FLP-DNA-Rekombinase, flankiert ist (. Abb. 16.4) (Kwan 2002; Nagy et al. 2003). Nach homologer Rekombination in ES-Zellen können Keimbahnchimären mit transgenen Mäusen verpaart werden, die entweder die Cre- oder FLP-Rekombinase im frühen Embryo exprimieren (Cre/FLP deleter). Durch Verpaarung mit einem Cre-deleter-Stamm wird das Zielgen in der Keimbahn der loxP-Mäuse inaktiviert, sodass parallel zu konditionalen Mutanten ein Standard-Knock-out-Stamm etabliert werden kann (. Abb. 16.4). Nach Verpaarung mit einem FLP-deleterStamm wird das frt-flankierte neo-Gen aus dem Genom entfernt, sodass das konditionale Allel des Zielgens mit zwei loxPSequenzen verbleibt, die mit der Genexpression nicht interferieren. Diese Mäuse können dann mit einem transgenen Mausstamm verpaart werden, der die Cre-Rekombinase unter der Kontrolle eines zelltypspezifischen oder induzierbaren Promotors exprimiert (7 Box: Cre-Rekombinase-transgene Mäuse). Nach einer weiteren Verpaarung werden Tiere erhalten, bei denen das loxP-modifizierte Allel des Zielgens homozyot vorliegt. Jeweils ein Teil dieser Tiere besitzt dann das auf einem anderen Chromosom integrierte cre-Transgen oder das entsprechende Wildtypchromosom. Die cre-transgene Gruppe (cre/+; loxP/ loxP) umfasst diejenigen konditionalen Mutanten, bei denen beide Kopien des loxP-flankierten Zielgens entsprechend dem Expressionsmuster der Cre-Rekombinase aufgrund von Deletion eines Exonbereichs inaktiviert werden.
Zur induzierbaren Kontrolle von cre in Mäusen werden zwei verschiedene Systeme eingesetzt, mit denen die Rekombinaseaktivität entweder transkriptional durch Doxyzyklin oder posttranslational durch die Steroidantagonisten Tamoxifen und RU486 reguliert werden kann. Die Regulation über Steroidantagonisten kann durch Fusion des Cre-Proteins mit einer veränderten, steroidantagonistenbindenden Domäne des Östrogen(CreER) bzw. Progesteronrezeptors (CrePR) erreicht werden. Durch Bindung des Steroidrezeptorfusionsproteins an Chaperonproteine (z. B. HSP-90) im Zytoplasma ist cre inaktiv. In Gegenwart des Östrogenantagonisten Hydroxytamoxifen bzw. des Progesteronantagonisten RU486 wird das CreER- bzw. CrePRFusionsprotein von den Chaperonen abgelöst; dies führt zur Aktivierung der Cre-Rekombinasedomäne. CreER- und CrePRFusionsproteine können zunächst in transgenen Mäusen durch zelltypspezifische Promotoren konstitutiv exprimiert werden, ohne dass Rekombinaseaktivität auftritt. Die Injektion des spezifischen Induktors führt dann zu transienter cre-Aktivierung und zur Deletion eines loxP-modifizierten Allels (Feil et al. 1997). Bei dem ersten oben erwähnten, in Mäusen verwendeten System wird die Transkription eines cre-Transgens unter Verwendung des Tet-Genexpressionssystems (7 16.2.3, . Abb. 16.1) und von Doxyzyklin angeschaltet. Die Expression des Transaktivatorproteins erfolgt hierbei von einem zweiten Transgen aus unter Kontrolle einer zelltypspezifischen Promotorregion. Mit beiden Systemen wurde in Mäusen die Deletion eines loxP-flankierten DNA-Segments in verschiedenen Zelltypen erreicht. Im Gegensatz zu Mausstämmen mit konstitutiver zelltypspezifischer cre-Expression werden induzierbare Cre-Mausstämme bisher in der Praxis nicht routinemäßig verwendet. Neben der Verwendung zur konditionalen Inaktivierung von loxP-Allelen ermöglicht das cre/loxP-Rekombinationssys-
159 16.4 · Gene-trap-Mutagenese
tem weitere Genommodifikationen in ES-Zellen oder Mäusen, wie z. B. den Austausch von loxP-flankierten Genen durch Inversion, chromosomale Translokationen oder die Aktivierung loxP-flankierter Transgene (Branda u. Dymecki 2004).
16.3.3
Knock-out-Mausmodelle
Als Modell für monogenetische Erbkrankheiten des Menschen haben sich Knock-out-Mäuse vielfach bewährt (Watase u. Zoghbi 2003). Es gibt viele Knock-out-Stämme, bei denen verschiedene, in neurodegenerative Krankheiten involvierte Gene ausgeschaltet wurden (. Tab. 16.1). Im Gegensatz zu monogenetischen Erbkrankheiten werden psychiatrische Krankheiten nur in seltenen Fällen durch ein einzelnes Gen verursacht, wie z. B. das Brunner-Syndrom durch einen Defekt im Monoaminoxidase-A(MAO-A)-Gen, für das ein entsprechender Knock-outStamm generiert werden konnte (Cases et al. 1995). Komplexe psychiatrische Erkrankungen wie Depression, Schizophrenie oder Autismus basieren jedoch nicht auf einem einzelnen Gendefekt und sind zudem von spezifisch menschlichen Gegebenheiten abhängig, die in Mäusen keine Entsprechung besitzen. Daher können diese Krankheiten als Ganzes in Mausmodellen nicht nachgebildet werden. Es ist jedoch möglich, bestimmte, häufig auftretende Teilaspekte psychiatrischer Krankheiten (intermediate traits, Endophänotypen) experimentell in Mäusen zu untersuchen. Bei zahlreichen Mausmutanten wurden Veränderungen im Angstverhalten oder der Präpulsinhibition (PPI) festgestellt (. Tab. 16.2 und 7 Box: Tests zum Angstverhalten bei Mäusen), die als Endophänotyp bei Depression bzw. Schizophrenie angesehen werden (Seong et al. 2002).
Eine Auswahl publizierter Knock-out-Stämme, deren Angstverhalten verstärkt oder verringert ist oder die PPIDefizite aufweisen, ist in . Tab. 16.2 aufgeführt. Neben Knock-outs von Neurotransmitter- und Neuropeptidrezeptoren, bei denen aufgrund von Vorkenntnissen ein veränderter Phänotyp erwartet werden konnte, gibt es auch Mutanten intrazellulärer Signaltransduktionsproteine, bei denen sich überraschenderweise ein Zusammenhang mit Angstverhalten zeigte. Das bei Mäusen am besten untersuchte Regulationssystem von Stress und Angst stellt die HPA-Achse (HypothalamusHypophysen-Nebennieren-Achse) mit CRH als zentralem Regulator dar. Eine detaillierte Übersicht von Mausmutanten zur HPA-Achse gibt die Arbeit von Müller et al. (2004). Seit 2005 wurden mit den EUCOMM-, KOMP- und NORCOMM-Projekten internationale Konsortien gebildet, die zum Ziel haben, für sämtliche Gene des Mausgenoms konditional mutierte Allele in ES-Zellen mit dem genetischen Hintergrund C57BL/6 zu generieren und zu wissenschaftlichen Zwecken zur Verfügung zu stellen. Diese Ressource kann über die Webseite des Internationalen Knockout-Maus-Konsortiums (www.knock outmouse.org) abgerufen werden und umfasst zurzeit ca. 5000 Allele und 600 Mausstämme. Komplementär zur systematischen Mutagenese in ES-Zellen arbeiten Phänotypisierungszentren an der standardisierten Erfassung der phänotypischen
Veränderungen von Mausmutanten. Ein Zusammenschluss von 18 derartigen Zentren stellt in Europa die European Mouse Disease Clinic dar (www.eumodic.org). Bei der im Helmholtz Zentrum München ansässigen Deutschen Mausklinik können akademische Nutzer auch individuelle Mausstämme zur Analyse anmelden (www.mouseclinic.de).
Tests zum Angstverhalten bei Mäusen Zur Untersuchung des Angstverhaltens von Mäusen werden häufig »naturalistische« Konflikttests eingesetzt (Wood et al. 1998) wie 4 das elevated plus maze, 4 die light-dark box und 4 der Open-field-Test. Beim elevated plus maze handelt es sich um eine Laufbahn in einem Meter Höhe, deren vier Arme im rechten Winkel zueinander angeordnet sind. Zwei dieser Arme sind mit schützenden Seitenwänden versehen, die anderen beiden Arme sind offen. Eine Maus kann wählen, ob sie sich im »sicheren« oder dem interessanteren, aber »unsicheren« Bereich aufhalten will, wobei die Zahl der Übertritte zwischen den beiden Bereichen sowie die in den Bereichen verbrachte Zeit gemessen wird. Anxiolytische Pharmaka führen zur Erhöhung beider Parameter (Dawson u. Tricklebank 1995). Die light-dark box ist eine Versuchsanordnung, die aus einem überdachten, dunklen und einem aversiven, hellen Kompartiment besteht. Ähnlich wie beim elevated-plus-maze wird die Zahl der Eintritte in den hellen Bereich sowie die dort verbrachte Zeit gemessen. Diese Werte werden durch anxiolytische Pharmaka erhöht. Eine ähnliche Anordnung wird im Open-field-Test eingesetzt, bei dem das Tier zwischen dem Zentrum und dem Wandbereich einer erleuchteten Arena entscheiden kann. Bei der Präpulsinhibition der Schreckreaktion (startle reflex) von Mäusen führt die Präsentation eines schwachen Stimulus (90-dbTon) innerhalb von 100 ms vor einem starken Schreckreiz (120-dbTon) zur Abschwächung der Schreckreaktion. Die auch beim Menschen messbare Präpulsinhibition ist bei schizophrenen Patienten verringert. Im Tierexperiment können entsprechende PPI-Defizite durch pharmakologische Behandlung ausgelöst und durch klinisch verwendete Antipsychotika wieder aufgehoben werden (Geyer et al. 2001).
16.4
Gene-trap-Mutagenese
Im Gegensatz zur Knock-out-Technologie, bei der die Gensequenzen bekannt sein müssen und für jedes Gen ein individuell angefertigter Knock-out-Vektor konstruiert werden muss, beruht die Gene-trap-Mutagenese auf zufallsmäßiger Integration eines Gene-trap-Vektors in das Genom und in der Unterbrechung von kodierenden Sequenzen des getroffenen Gens –, d. h., mit einem einzigen Vektor können viele unterschiedliche Gene mutiert werden (Wurst et al. 1995; Hansen et al. 2003). Auch diese Strategie basiert auf der Verwendung von ES-Zellen. Als Mutagen wird ein sog. Gene-trap-Vektor (Genfallenvektor) benutzt. In der Regel besteht ein Gene-trap-Vektor aus einem Reporter- und einem Selektorgen, in den meisten Fällen aus einer Genfusion des β-Galaktosidase-Reportergens (lacZ) mit dem Neomycinrezistenzgen (neo) (β-geo) (. Abb. 16.5). Vor das Reportergen ist eine Splice-Akzeptorsequenz inseriert, und
16
160
Kapitel 16 · Genetisch veränderte Tiere
. Tab. 16.1 Knock-out-Mausmodelle neurodegenerativer Krankheiten
. Tab. 16.2 Knock-out-Mausstämme mit abweichendem Angstverhalten bzw. verminderter Präpulsinhibition
Indikation
Gen
Mutante
Knock-out-Gen
Spinozerebelläre Ataxie
ataxin 1
Knock-in
Friedreich-Ataxie
frataxin
Knock-out (konditional)
Spinale Muskelatrophie
smn1
Knock-out (konditional)
Fragiles-X-Syndrom
fmr1
Knock-out
Rett-Syndrom
meCP2
Knock-out (konditional)
Angelman-Syndrom
ube3a
Knock-out
Liss-Enzephalie
lis1
Knock-out
das Konstrukt endet mit einer Polyadenylierungsequenz (pA). Integriert ein solcher Vektor in ein Intron eines Gens, so wird das getroffene Gen unterbrochen und anstelle des endogenen Gens das Reportergen exprimiert (Fusionstranskript, . Abb. 16.5). Zum einen wird hierdurch eine Mutation des betroffenen Gens erzeugt, zum anderen reflektiert die Expression des Reportergens, die in der Regel einfach zu visualisieren ist, die des endogenen Gens. Durch diese Vorgehensweise können Tausende von unabhängigen Mutationen relativ schnell und kosteneffektiv erzeugt und sog. Bibliotheken von mutierten ES-Zellen etabliert werden, die anschließend mittels Chimären in lebende Mäuse übertragen werden können (Hansen et al. 2003). Prinzipiell hat diese Technologie viele Vorteile gegenüber homologer Rekombination durch die Knock-out-Technologie, aber auch gegenüber der ENU-Mutagenese (7 16.5), da das mutierte Gen relativ schnell und einfach durch molekularbiologische Techniken, wie z. B. die Polymerasekettenreaktion (PCR), identifiziert werden kann.
Poly-A-Trap-Vektoren
16
Der Hauptnachteil der gegenwärtig eingesetzten Gene-trapVektoren, die in der Regel auf einer Fusion des Reporter- und Selektorgens beruhen, ist, dass nur Gene mutiert und identifiziert werden können, die in ES-Zellen exprimiert sind. Dies kann nur durch den Einsatz von Vektoren umgangen werden, die darauf beruhen, dass für Vektorintegrationsereignisse oberhalb von genomischen Polyadenylierungstellen selektioniert werden kann. Das Prinzip dieser Vektoren besteht darin, dass ein Selektorgen durch einen starken Promotor in embryonalen Stammzellen transkribiert wird, dieses Gen aber nach dem Stoppkodon anstelle einer Polyadenylierungsequenz eine Splice-Donsorsequenz trägt. Resistenz gegen das Selektorgen kann nur dann erreicht werden, wenn der Gene-trap-Vektor in die Nähe einer Polyadenylierungstelle im Genom, d.h. in ein Gen, integriert. Gene-trap-Vektoren dieser Art nennt man auch PolyA-Trap-Vektoren. Mit diesem Prinzip können alle Gene, unabhängig von ihrer Expression in ES-Zellen, identifiziert werden. Die Kombination dieser verschiedenen Vektortypen erlaubt es im Prinzip, alle Gene unabhängig von ihrem Expressionsstatus zu identifizieren.
Phänotypische Veränderunga Plus-maze
OF
Präpulsinhibition
5-ht1ArR
+
+
0
gad65
+
+
0
fyn
+
+
0
comt
0
+
0
crhr1
0
–
0
camKII-α
0
–
0
pkcγ
−
–
0
dvl1
0
0
–
5-ht1BR
0
0
–
zic2
0
0
–
calcineurin (konditional)
0
0
–
Angstverhalten
Präpulsinhibition
a
Verstärktes (+), vermindertes (–) oder unverändertes (Wildtyp, wt) Angstverhalten; 0 nicht getestet; plus maze Elevated-plus-mazeTest, OF Open-field- bzw. Light-dark-box-Test, – verminderte Präpulsinhibition.
Signalpeptid-Trap-Vektoren Basierend auf diesen Gene-trap-Vektor-Prinzipien wurden ferner spezielle Vektoren entwickelt, die die Identifikation von Genen ermöglichen, die Signalpeptide tragen (Signalpeptid-TrapVektoren). Diese Vektoren beruhen auf einer Modifikation, bei der in das Reporter- oder Selektorgen eine Transmembrandomäne inseriert wird. Hierdurch wird das Selektorgen nur dann aktiv, wenn es ein Gen getroffen hat, das ein Signalpeptid trägt, indem es durch die Transmembrandomäne eingebaut und dadurch resistent wird (Gebauer et al. 2001). Auf diese Weise können im Genom gezielt solche Gene mutiert und identifiziert werden, die Liganden oder Transmembranproteine darstellen, die in vielen biologischen Prozessen von großer Bedeutung sind. Eine mögliche Limitation dieser Technologie besteht darin, dass – da die Integrationen i. d. R. in Introns stattfinden – der Vektor durch Splicing während der mRNA-Prozessierung aus dem Transkript entfernt und dadurch die Mutation eliminiert wird. Aufgrund zahlreicher Mutanten, die von verschiedenen Gruppen weltweit mit der Gene-trap-Technologie erzeugt wurden, konnte jedoch dieser potenzielle Nachteil ausgeschlossen werden, da sich zeigen ließ, dass bei ca. 90% der erzeugten Mutanten Nullmutationen vorliegen und in anderen Fällen sog. hypomorphe Mutationen erzeugt werden, mit deren Hilfe neue Genfunktionen beschrieben wurden. Darüber hinaus wurde festgestellt, dass ca. 30% der durch Gene-trap-Vektoren er-
161 16.5 · ENU-Mutagenese
. Abb. 16.5 Gene-trap-Mutagenese. lacZ β-Galaktosidase-Reportergen, neo Neomycinresistenzgen, pA Signalsequenz zur Polyadenylierung
zeugten Mutationen zu embryonaler Letalität führen. Um die Funktion dieser Gene sowohl in der späten Embryonalentwicklung als auch im adulten Tier zu untersuchen, können sog. konditionale Gene-trap-Vektoren verwendet werden. Basierend auf der cre/loxP- und FLP/FRT-Rekombinasetechnologie (7 16.3.2) wurden Gene-trap-Vektoren so modifiziert, dass die getroffenen Gene konditional inaktiviert werden können, d. h., die Inaktivierung eines Gens kann zu jedem Zeitpunkt der Embryonalentwicklung wie auch im adulten Tier angeschaltet werden. Hierdurch können letztendlich alle Gene mit Gene-trapVektoren mutiert und ihre Funktion sowohl während der Entwicklung als auch im erwachsenen Tier bestimmt werden. Weltweit wurden mehrere Konsortien gebildet, so z. B. das deutsche Genetrap-Konsortium (GGTC) (www.genetrap.de) und das BayGenomics-Konsortium (www.baygenomics.de), die gemeinsam das Ziel verfolgen, alle Gene des Genoms durch Gene-trap-Mutagenese zu inaktivieren. Diese kombinierten Ressourcen sind durch die Webseite des Internationalen GeneTrap-Konsortiums (www.genetrap.org) abrufbar. Die entsprechenden Mausmutanten werden jedem interessierten Wissenschaftler zur Verfügung gestellt, um Genfunktionen im Gesamtorganismus – von der frühen embryonalen Entwicklung bis hin zu höheren Hirnleistungen – zu bestimmen (Skarnes et al. 2004).
16.5
ENU-Mutagenese
Im Gegensatz zur Knock-out-Maus-Technik, bei der ein definiertes Gen gezielt verändert wird, sollen bei der durch Ethylnitrosoharnstoff (ENU) induzierten Zufallsmutagenese möglichst alle Gene des Genoms in männlichen Keimzellen durch statistisch verteilte Punktmutationen getroffen werden. Das chemische Mutagen ENU erzeugt solche zufälligen Punktmutationen durch Übertragung seiner Ethylgruppe auf Sauerstoffoder Stickstoffatome der DNA. Dies kann zu Basenfehlpaarungen und zum Austausch von Basenpaaren bei der nachfolgenden DNA-Replikation führen. Die höchste ENU-induzierte
Mutationsrate wird in prämeiotischen spermatogonialen Stammzellen erreicht, sodass im Mittel jedes im Genom vorliegende Gen in 400 Gameten mindestens eine Veränderung erfährt (Justice et al. 1999). Die ENU-Mutagenesestrategie wird meist bei den Modellorganismen Maus, Zebrafisch (Danio rerio) und Fruchtfliege (Drosophila melanogaster) eingesetzt, um eine möglichst große Zahl neuer Mutanten zu isolieren, die phänotypische Veränderungen bei einer bestimmten biologischen Eigenschaft (z. B. Tagesrhythmik) oder einem Organ von Interesse aufweisen. Falls eine hinreichend große Zahl mutagenisierter Tiere untersucht wird und falls in dieser Population identische Mutationen mehrfach auftreten, ist eine Sättigungsmutagenese erreicht, d. h. alle durch ENU veränderbaren Gene, die zur Beeinflussung eines bestimmten Phänotyps führen, wurden in Form mutagenisierter Stämme isoliert. Das Vorliegen mehrerer unabhängig entstandener Mutationen desselben Gens wird auch als allele Serie bezeichnet. Innerhalb einer solchen Serie können die entsprechenden Mutanten einen identischen Phänotyp aufweisen, aber auch – abhängig von der spezifischen Mutation des betroffenen Gens – untereinander differieren.
16.5.1
Auswirkungen von ENU
ENU modifiziert vorwiegend A/T-Basenpaare; dies führt durch Fehlpaarung während der DNA-Replikation zum Austausch gegen T/A- oder G/C-Basenpaare (Justice et al. 1999). Treten derartige Mutationen in Exonsequenzen auf – und somit in einem proteinkodierenden Bereich –, erfolgt durch die Leserasterveränderung in ca. zwei Dritteln der Fälle der Austausch einer einzelnen Aminosäure (missense mutation) in dem entsprechenden Protein. Bei ca. 10% der identifizierten Mutationen wird ein für eine Aminosäure kodierendes Triplett in ein Stoppkodon (TAA, TGA, TAG) umgewandelt (nonsense mutation), sodass ein vorzeitiger Translationsabbruch erfolgt und ein verkürztes Protein gebildet wird. In den übrigen Fällen wurden Punktmutationen in Sequenzen gefunden, die zur korrekten Zusammenfügung
16
162
Kapitel 16 · Genetisch veränderte Tiere
der mRNA-Exonbereiche (Splicing) essenziell sind. Defekte des RNA-Splicing können zum Überspringen eines Exons oder zum Verbleib eines Introns in der mRNA führen; dies resultiert in einer fehlerhaften Sequenz des entsprechenden Proteins. Die Auswirkungen einer Punktmutation (d. h. einer missense oder nonsense mutation) auf die Funktion eines Proteins hängen von dessen Aufbau sowie dem betroffenen Kodon ab. Meist tritt ein teilweiser oder vollständiger Funktionsverlust des entsprechenden Proteins auf. Es wurden aber auch Fälle beschrieben, bei denen ein mutiertes Protein eine neue Funktion ausübt (gain of function). So kann z. B. der Verlust einer inhibitorischen Domäne in einem verkürzten APC-Protein (APCMin) über die dauerhafte Aktivierung eines Signaltransduktionsweges zur Bildung von Intestinaltumoren führen (Moser et al. 1995).
16.5.2
16
Durchführung
Zu Beginn eines ENU-Mutageneseversuchs, der sich bei der Verwendung von Mäusen über mehrere Jahre erstrecken kann, steht die Induktion einer möglichst großen Zahl von Punktmutationen im Genom von Keimzellen. Hierzu wird einer Gruppe von männlichen Tieren eine ENU-Dosis intraperitoneal injiziert, die in spermatogonialen Stammzellen zahlreiche Mutationen induziert, die aber auch zum Absterben eines Großteils dieser Stammzellen führt (Soewarto et al. 2003). Nach 10– 20 Wochen ist der Hoden der Männchen dieser G0-Generation (. Abb. 16.6) mit Spermien repopuliert, die von den mutagenisierten Stammzellen abstammen. Diese G0-Männchen werden anschließend mit unbehandelten Weibchen des gleichen Stamms verpaart und vererben die ENU-induzierten Mutationen auf ihre Nachkommen (G1-Generation). Bei diesen Nachkommen liegen die vom Vater vererbten Punktmutationen (+*) im heterozygoten Zustand vor (+*/+), da jedes Tier auch einen von der unbehandelten Mutter stammenden Wildtypchromosomensatz (+) besitzt. Die Population der G1-Mäuse wird auf das Auftreten phänotypischer Mutanten hin untersucht und dient der Isolierung dominanter Mutationen, die sich bereits in heterozygoten Mäusen manifestieren (z. B. Gain-of-function-Mutationen wie APCMin, s. oben). Zum Auffinden der wesentlich häufigeren rezessiven Mutationen, die zur Entstehung eines Phänotyps homozygot vorliegen müssen, werden zunächst die Tiere der G1-Generation in definierten Paaren untereinander gekreuzt. Die weiblichen Nachkommen der resultierenden G2-Generation werden anschließend innerhalb einer Familie mit dem G1-Vatertier rückgekreuzt; hieraus entsteht eine Population von Mäusen der dritten, der G3-Generation (. Abb. 16.6). In diesen G3-Nachkommen können die über die männlichen Keimzellen vererbten ENU-induzierten Mutationen erstmals homozygot auftreten. Die Tiere der G3-Generation werden daher wiederum phänotypisch untersucht und dienen zur Identifikation rezessiv wirkender Mutationen.
16.5.3
Komplementationsanalyse und Identifizierung der Kandidatengene
Nach dem Auffinden einzelner mutagenisierter Tiere werden diese und ihre Eltern weiter verpaart, um einen stabilen Zuchtstamm der Mutante zu etablieren. Anschließend kann damit begonnen werden, das dem Phänotyp einer Mutante zugrunde liegende Gen durch Positionsklonierung zu identifizieren. Werden mehrere Mutanten mit einem verwandten Phänotyp gefunden, ist zunächst nicht bekannt, wie viele und welche Gene im Einzelnen betroffen sind. Es ist möglich, dass Stämmen mit gleichem Phänotyp Mutationen in verschiedenen Genen zugrunde liegen; es können aber auch umgekehrt Mutanten mit unterschiedlichem Phänotyp auf verschiedenen Einzelmutationen des gleichen Gens beruhen. Eine erste Übersicht über die Zahl der in einer Gruppe rezessiver Mutanten betroffenen Gene kann durch Komplementationsanalyse erhalten werden. Zu diesem Zweck werden je zwei verschiedene mutierte Stämme miteinander gekreuzt und deren für beide Mutationen heterozygoten Nachkommen phänotypisch untersucht. Falls diese Nachkommen einen normalen Phänotyp (Wildtyp) aufweisen, handelt es sich bei den beiden Stämmen um zwei Komplementationsgruppen und damit wahrscheinlich um Mutationen in unterschiedlichen Genen, deren Auswirkungen sich im heterozygoten Zustand ausgleichen (komplementieren). Tritt dagegen in den Nachkommen ein mutierter Phänotyp auf, liegen wahrscheinlich in beiden Stämmen Mutationen desselben Gens vor und die Stämme gehören zu nur einer Komplementationsgruppe. Zur nachfolgenden molekularen Identifizierung des in einer Mutante betroffenen Gens sowie zur Charakterisierung der Mutation muss zunächst die zugehörige chromosomale Region möglichst eng eingegrenzt werden. Hierzu werden die entsprechenden Mutanten mit einem anderem Mausstamm verpaart, der möglichst viele genetische Polymorphismen im Vergleich mit dem für die ENU-Mutagenese verwendeten Stamm besitzt. Die Nachkommen dieser Paarung werden mit einer großen Zahl von Mikrosatellitenmarkern (7 16.1.2), die über das Genom in bestimmten Abständen verteilt sind, typisiert. Diese Daten werden dann mit dem Auftreten des mutanten Phänotyps korreliert (Linkage-Analyse). Sobald die der Mutation zugehörige chromosomale Region hinreichend eingegrenzt ist, kann sie mit der Genomkarte der Maus verglichen werden, um festzustellen, wie viele und welche Kandidatengene als Verursacher der phänotypischen Mutation infrage kommen. Im Idealfall wird nur ein einzelnes Gen identifiziert, das im Folgenden aus dem Genom der Mutante isoliert und sequenziert wird, um das von einer Punktmutation betroffene Basenpaar zu identifizieren. Um einen weiteren, funktionellen Nachweis zu erbringen, dass dieser spezifische Basenaustausch den Phänotyp der rezessiven Mutante verursacht, ist es möglich, einen transgenen Mausstamm mit dem entsprechenden Wildtypgen zu erzeugen und dieses in den mutierten Stamm einzukreuzen. Handelt es sich tatsächlich um das betroffene Gen, muss der Phänotyp transgener Nachkommen aus dieser Paarung zum Wildtyp revertieren (transgenic rescue, 7 16.2.1).
163 16.6 · Virale Vektoren
. Abb. 16.6 Identifizierung dominanter und rezessiver Mutanten nach ENU-Mutagenese. ENU Ethylnitrosoharnstoff
Die ENU-induzierte Mutagenese wird bei der Maus seit 10 Jahren in systematischer Weise eingesetzt, um – von veränderten Phänotypen ausgehend – ohne vorheriges Wissen über die Funktion eines bestimmten Gens genetische Mechanismen aufzuklären, die bestimmten biologischen Eigenschaften zugrunde liegen (Hrabe de Angelis et al. 2000). Durch ENU-induzierte Mutanten konnten z. B. das apc-Gen als Tumorsuppressorgen erstmals identifiziert werden, das in der Folge auch als Verursacher einer erblichen Form von Darmtumorgenese beim Menschen bestätigt wurde. Durch eine weitere ENU-Mutante wurde mit clock das erste Gen entdeckt, das bei Säugern den biologischen Tagesrhythmus steuert. In den letzten Jahren sind einige hundert neue ENU-Mutantenstämme beschrieben worden, die auf mehrere umfangreiche, aktuelle ENU-Mutageneseprojekte zurückgehen, bei denen alle Tiere auf eine große Zahl biologischer Parameter hin untersucht werden (Hrabe de Angelis et al. 2000). Neben solchen breit gefächerten Phänotypisierungsvorhaben wird in mehreren Studien auch fokussiert nach Verhaltensmutanten gesucht, die als Modell psychiatrischer Krankheiten des Menschen dienen könnten (Ohl u. Keck 2003).
16.6
Virale Vektoren
Virale Vektoren basieren auf natürlich vorkommenden Viren, die ihr Genom durch Infektion in Zellen übertragen. Diese Eigenschaft wird genutzt, um ein zugefügtes Transgen zu exprimieren. Das Virusgenom wird dabei stark verkürzt, sodass die Vektorpartikel nicht vermehrungsfähig sind und keine infektiösen Eigenschaften besitzen. Entsprechende virale Vektoren können zum Gentransfer in somatische Zellen von Mäusen oder Ratten eingesetzt werden und sind für bestimmte Fragestellungen eine Alternative zur Verwendung transgener Stämme. Im Vergleich mit der Keimbahntransgenese (7 16.2) können durch viralen Gentransfer genetisch veränderte Tiere mit geringerem Aufwand und in wesentlich kürzerer Zeit erhalten werden (Con-
stantini et al. 2000). Virale Vektoren können zu einem gewünschten Zeitpunkt in das Gehirn juveniler oder adulter Tiere injiziert werden und ermöglichen somit die gezielte ektopische Expression des in ihnen enthaltenen Transgens. Da die meisten Vektoren und Promotoren innerhalb der Säugetiere keine Speziesspezifität besitzen, können sie unverändert in verschiedenen Versuchstieren wie Mäusen, Ratten oder Primaten eingesetzt werden. Virale Vektoren infizieren die um die Injektionsstelle gelegenen Zellen; ihre Wirkung ist daher lokal, d. h. auf einen Bereich von wenigen Millimetern begrenzt. So kann beispielsweise die Expression eines eingeführten Gens in einer begrenzten Neuronenpopulation untersucht werden. Im Gegensatz zu keimbahntransgenen Tieren ist es mittels injizierter viraler Vektoren nicht möglich, ein Fremdgen in größeren Gehirnarealen oder dem gesamten Gehirn zu exprimieren. Virale Vektoren werden wie auch transgene Tiere häufig eingesetzt, um die Entstehungsweise von Krankheiten durch die Überexpression bestimmter Proteine zu entschlüsseln (Kirik u. Bjorklund 2003) oder sogar die Auslösung oder den Verlauf von Krankheiten abzuschwächen oder zu verhindern (Gentherapie). Virale und auch nichtvirale Vektoren werden für die Gentherapie menschlicher Erkrankungen im Tiermodell (Janson et al. 2001) und in klinischen Studien am Menschen (Janson et al. 2002) eingesetzt.
16.6.1
AAV- und LV-Vektorsysteme
Für die Gentherapie einsetzbare virale Vektoren müssen fähig sein, postmitotische Zellen einschließlich Neuronen effizient zu infizieren und die Langzeitexpression eines transgenkodierten Proteins in diesen Zellen zu ermöglichen. Sie dürfen nicht replikationskompetent sein und sollen keine pathogenen oder immunogenen Eigenschaften besitzen. In den letzten Jahren wurden mit rekombinanten, auf dem adeno-assozierten Virus (AAV) basierenden Vektoren und mit lentiviralen Vektoren
16
164
Kapitel 16 · Genetisch veränderte Tiere
(LV) zwei Vektorsysteme entwickelt, die diese Anforderungen im Wesentlichen erfüllen (Lu 2004; Chang u. Gay 2001). AAV-Vektoren beruhen auf dem einzelsträngigen DNA-Genom des AAV und verfügen über eine Fremdgenaufnahmekapazität von maximal etwa 4500 Basenpaaren. AAV-Vektoren können in den infizierten Zellen episomal persistieren, aber auch in die chromosomale DNA integrieren. Die Mehrzahl der lentiviralen Vektoren basiert auf dem Genom des HIV-1-Retrovirus und kann Fremd-DNA bis zu einer Größe von ca. 8000 Basenpaaren aufnehmen. Zur In-vivo-Anwendung wird meist ein Vektorsystem eingesetzt, das auch das Glykoprotein des vesicular stomatitis virus (VSV-G) exprimiert, sodass dieses in die Membranhülle der entstehenden LV integriert wird. Hierdurch wird die Infektion verschiedenster Zelltypen ermöglicht, die unveränderte LV nicht infizieren könnten (Baekeland et al. 2002). Lentivirale Vektoren integrieren in Zufallspositionen chromosomaler DNA.
16.6.2
16
Produktion viraler Vektoren
Generell werden zur Produktion viraler Vektoren modifizierte, replikationsinkompetente Genomfragmente verwendet, die als Plasmidvektoren kloniert vorliegen. In diese Vektoren wird das zu exprimierende Fremdgen durch molekularbiologische Klonierungsmethoden eingefügt; dann werden die Vektorplasmide transient in eine Zelllinie transfiziert, die die Verpackungsfunktionen zur Produktion viraler Partikel bereitstellt. Die hierfür notwendigen viralen Gene liegen stabil im Genom der Verpackungszelllinien vor. Nach Transfektion des Vektorplasmids in die Verpackungszelllinie kommt es im Laufe mehrerer Tage zur Produktion rekombinanter, transgenenthaltender Viruspartikel, die sich im Zellkulturmedium anreichern. Nach Reinigung und Konzentrierung dieser Viruspartikel aus dem Zellkulturüberstand können 0,5–2 μl des Viruskonzentrats direkt in das Gehirn von Versuchstieren injiziert werden. Der in der Injektionssuspension vorliegende Virustiter ist ausschlaggebend für die Effizienz der Infektion von Zellen des Zielgewebes. Jedoch können auch bei einem hohen Virustiter nicht alle Zellen des Zielgewebes erreicht werden.
16.6.3
Bisherige Ergebnisse
AAV- und LV-Vektoren wurden bereits für den Gentransfer in das Gehirn von Versuchstieren verwendet, u. a. um die Entstehung neurodegenerativer Krankheiten wie Morbus Parkinson und Chorea Huntington zu untersuchen (Kirik u. Björklund 2003). Hierzu wurden die entsprechenden Vektoren, die mutierte Formen des α-Synuclein-Proteins oder des Huntingtin-Proteins trugen, in das Striatum bzw. die Substantia nigra von Ratten injiziert. Ähnlich wie bei transgenen Mäusen, die derartige mutierte Gene exprimieren (7 16.2), konnten auch in diesen Ratten neurodegenerative Symptome ausgelöst werden. AAV- und LV-Vektoren wurden ferner bereits im Tiermodell zur Gentherapie neurodegenerativer Krankheiten einge-
setzt, entweder indem im Zielgewebe eine mangelnde biologische Funktion durch das eingebrachte Transgen ausgeglichen wurde oder indem Gene eingebracht wurden, die die Überlebensfähigkeit der erkrankten Zellen allgemein verbesserten. So führte das Einbringen von Genen, die für die Enzyme der Dopaminsynthese – Tyrosinhydroxylase und GTP-Cyclohydrolase1 – kodieren, in das Striatum dopamindefizienter Mäuse mittels AAV-Vektoren zur Produktion von Dopamin; dies ermöglichte das langfristige Überleben der transgenen Tiere (Szczypka et al. 1999). In einem alternativen Ansatz wurde unter Verwendung von AAV oder adenoviralen Vektoren gezeigt, dass Neuronen des Striatum und der Substantia nigra durch die Expression der Wachstumsfaktoren GDNF (glia-derived growth factor) bzw. BDNF (brain-derived growth factor) vor Schädigungen durch Neurotoxin geschützt werden können.
16.7
Antisense-Inhibition und RNA-Interferenz
16.7.1
Antisense-Oligonukleotide
Neben Methoden, die darauf abzielen, ein chromosomales Gen zu verändern und somit einen mutanten Mausstamm zu erzeugen (7 16.3–16.5), wurden alternative Techniken entwickelt, die es ermöglichen, in vivo die Expression eines Gens auf der Ebene der mRNA zu inhibieren. Die Technik der Antisense-Inhibition durch Oligonukleotide wird seit über 10 Jahren eingesetzt, um die Genexpression – u. a. im Gehirn – zu unterdrücken (Estibeiro u. Godfrey 2001). Bei der Antisense-Inhibition werden einzelsträngige synthetische Oligodesoxyribonukleotide, die in ihrer Sequenz komplementär (antisense) zur mRNA des Zielgens sind, in Zellen oder Gewebe eingebracht. Diese Oligonukleotide – mit einer Länge von meist 18–21 Basen – werden von den Zellen aufgenommen und vermindern die Expression des entsprechenden Proteins durch die Blockade der mRNA-Translation oder durch Abbau der mRNA mittels RNAse H. Da die Antisense-Oligonukleotide als Phosphodiester-Oligonukleotide leicht durch Exonukleasen in den Zielzellen abgebaut werden können, wurden zahlreiche chemische Modifikationen erprobt, um die Halbwertszeit der Antisense-Oligonukleotide in vivo zu erhöhen (Estibeiro u. Godfrey 2001). Am häufigsten werden Phosphothioat-Oligonukleotide verwendet, bei denen ein Sauerstoffatom der die Basen verbindenden Phosphodiestergruppe durch Schwefel ersetzt ist. Derart modifizierte Oligonukleotide sind gut wasserlöslich und nukleaseresistent, besitzen aber geringere Schmelztemperaturen und müssen daher in höherer Konzentration eingesetzt werden als Phosphodiester-Oligonukleotide. Die Effektivität von Antisense-Oligonukleotiden hängt stark ab von der Position innerhalb der mRNA-Sequenz, an die sie binden sollen, da aufgrund extensiver mRNA-Sekundärstrukturen nur kurze Sequenzabschnitte frei zugänglich sind. Da die Sekundärstruktur von mRNAs bisher nicht verlässlich vorhergesagt werden kann, werden meist mehrere Oligonukleotide parallel verwendet. Ihre Effizienz wird empirisch bestimmt. Oligonukleotide passieren die Blut-Hirn-Schranke nur in geringem
165 16.7 · Antisense-Inhibition und RNA-Interferenz
Ausmaß und müssen daher bei Experimenten durch wiederholte Injektion oder Ventrikelinfusion in das Gehirn eingebracht werden (Broaddus et al. 2000).
16.7.2
Reichweite der Antisense-Technik
Aufgrund der einfacheren operativen Zugänglichkeit und der besser etablierten Verhaltensanalyse wird die Antisense-Technik vorwiegend bei Ratten und weniger bei Mäusen eingesetzt. Trotz direkter Gehirnapplikation ist das Ausmaß der Reduktion der Zielproteinexpression begrenzt und liegt meist nur um 50%. Dennoch wurden Antisense-Oligonukleotide in zahlreichen Experimenten erfolgreich verwendet, z. B. um die Dichte von Rezeptoren für Neurotransmitter, Hormone oder Wachstumsfaktoren zu reduzieren und die Auswirkungen dieser Reduktion auf bestimmte Verhaltensweisen von Versuchstieren zu untersuchen (Cohen et al. 1998). Die Mehrzahl dieser Studien ist pharmakologisch orientiert und setzt die Antisense-Technologie als Analogon pharmakologischer Inhibition ein. Die Vorteile des Antisense-Inhibitionsansatzes liegen in seinem relativ geringen Aufwand sowie in seiner Anwendbarkeit bei Ratten; seine Nachteile sind in der unvollständigen Inhibition der mRNA-Translation und deren begrenzter Dauer zu sehen.
16.7.3
RNA-Interferenz
Die neuere Technik der RNA-Interferenz (RNAi) beruht auf einem zelleigenen Mechanismus, der durch doppelsträngige RNA-Moleküle aktiviert wird und den Abbau einer spezifischen mRNA auslösen kann (Dykxhoorn et al. 2003). Zur Durchführung eines RNA-Interferenz-Experiments in Zellkulturen wird ein kurzes, synthetisches RNA-Doppelstrangmolekül in die Zellen eingeführt, dessen einer Strang der mRNA-Sequenz des Zielgens entspricht, während der Gegenstrang die komplementäre Antisense-Sequenz aufweist. In Säugerzellen dürfen derartige siRNAs (short inhibitory RNAs) nicht mehr als 30 Basenpaare besitzen, da längere RNA-Duplexe zur Aktivierung der zellulären Interferonantwort und zur unspezifischen Suppression der gesamten Proteinbiosynthese führen (Elbashir et al. 2001). Die eingesetzte siRNA wird von dem Proteinkomplex RISC (RNAinduced silencing complex) erkannt. Nach Auftrennung der siRNA-Stränge führt ein Komplex aus RISC und dem AntisenseStrang der siRNA zur Bindung und zum Abbau derjenigen mRNA, die eine zum siRNA-Antisense-Strang komplementäre Sequenz besitzt (Dykxhoorn et al. 2003). Der RNAi-Mechanismus ist evolutionär stark konserviert und dient unter natürlichen Umständen wahrscheinlich der Abwehr von Viren, bei deren Vermehrung doppelsträngige RNAMoleküle auftreten. Zur Nutzung dieses Mechanismus in kultivierten Säugerzellen werden meist synthetisch hergestellte siRNAs eingesetzt, und deren zelluläre Aufnahme wird durch Lipotransfektionsreagenzien optimiert. Der RNA-Interferenzmechanismus führt zu einem transienten Abbau der mRNA des Zielgens, der eine Effizienz von bis zu 95% erreichen kann. Das
Ausmaß des RNAi-Effekts hängt stark von der ausgewählten individuellen Zielsequenz innerhalb der zu degradierenden mRNA ab. Während bis vor kurzem siRNAs hauptsächlich empirisch auf ihre Wirksamkeit getestet werden mussten, gelang in neueren Arbeiten die Ableitung von Regeln, die die Wechselwirkung des RISC-Antisense-Komplexes berücksichtigen und damit eine zunehmend gute Vorhersage effizienter siRNAs ermöglichen (Khvorova et al. 2003). Als Alternative zur synthetischen Herstellung können siRNAs auch intrazellulär mittels DNA-Expressionsvektoren produziert werden. Zu Produktion eines RNA-Transkripts definierter Länge werden die Promotoren des H1- oder U6-Gens verwendet, von denen aus Transkripte durch die RNA-Polymerase III erzeugt werden; der RNA-Strang endet an einem einfachen Terminationssignal (Brummelkamp et al. 2002). Zur gleichzeitigen Produktion des Sense- und des Antisense-Strangs der siRNA werden die Konstrukte meist so aufgebaut, dass beide Stränge – nur getrennt durch eine asymmetrische Mittelregion – in dem gleichen Transkript enthalten sind. Durch die Hybridisierung der komplementären Stränge kann sich das Transkript dann zu einer Haarnadelstruktur (hairpin) mit einem offenen und einem geschlossenen Ende falten (short hairpin RNA, shRNA) und über den doppelsträngigen Sequenzabschnitt RNAInterferenz auslösen. Derartige shRNA-Vektoren können transient oder stabil in kultivierten Säugerzellen exprimiert werden und ermöglichen durch intrazelluläre siRNA-Produktion die kurz- bzw. langfristige Suppression der mRNA eines Zielgens (Brummelkamp et al. 2002). Durch induzierbare U6- oder H1Promotorvarianten ist es ferner möglich, die Produktion von shRNAs in Zellen zu induzieren oder zu reprimieren. Um zu überprüfen, ob RNA-Interferenz auch genutzt werden kann, um die Expression von Genen in vivo zu supprimieren, wurden in mehreren Studien transgene Mäuse (7 16.2) erzeugt, in deren Genom shRNA-Expressionsvektoren stabil integriert sind (Kunath et al. 2003). Diese Arbeiten haben gezeigt, dass RNA-Interferenz in allen Geweben embryonaler und adulter Mäuse effizient ausgelöst und die Expression eines Zielgens stark inhibiert werden kann. Auch die direkte intravenöse Injektion von siRNA oder shRNA-Expressionsvektoren kann in einigen Organen, insbesondere der Leber, zu RNA-Interferenz führen (Lewis et al. 2002). Die stereotaktische Injektion lentiviraler shRNA-Expressionsvektoren ins Gehirn kann lokal begrenzte RNA-Interferenz in Neuronen auslösen (van den Haute et al. 2003). Die RNAi-Technik entwickelt sich zunehmend zu einer Routinetechnik in vitro bei der Anwendung in Zellkulturen. Für die In-vivo-Anwendung von RNAi gibt es mehrere vielversprechende Ansätze; das Forschungsfeld befindet sich jedoch gegenwärtig aber noch in der Entwicklung.
16
166
Kapitel 16 · Genetisch veränderte Tiere
Literatur
16
Baekelandt V, Claeys A, Eggermont K et al (2002) Characterization of lentiviral vector-mediated gene transfer in adult mouse brain. Hum Gene Ther 13: 841–853 Belknap JK, Hitzemann R, Crabbe JC et al (2001) QTL analysis and genomewide mutagenesis in mice: complementary genetic approaches to the dissection of complex traits. Behav Genet 31: 5–15 Belzung C, Griebel G (2001) Measuring normal and pathological anxiety-like behaviour in mice: a review. Behav Brain Res 125: 141–149 Bornemann KD, Staufenbiel M (2000) Transgenic mouse models of Alzheimer’s disease. Ann NY Acad Sci 908: 260–266 Branda CS, Dymecki SM (2004) Talking about a revolution: the impact of sitespecific recombinases on genetic analyses in mice. Dev Cell 6: 7–28 Broaddus WC, Prabhu SS, Wu-Pong S et al (2000) Strategies for the design and delivery of antisense oligonucleotides in central nervous system. Methods Enzymol 314: 121–135 Brummelkamp TR, Bernards R, Agami R (2002) A system for stable expression of short interfering RNAs in mammalian cells. Science 296: 550–553 Capecchi MR (1989) The new mouse genetics: altering the genome by gene targeting. Trends Genet 5: 70–76 Cases O, Seif I, Grimsby J et al (1995) Aggressive behavior and altered amounts of brain serotonin and norepinephrine in mice lacking MAOA. Science 268: 1763–1766 Chang LJ, Gay EE (2001) The molecular genetics of lentiviral vectors – current and future perspectives. Curr Gene Ther 1: 237–251 Cohen H, Kaplan Z, Kotler M (1998) Inhibition of anxiety in rats by antisense to cholecystokinin precursor protein. Biol Psychiatry 44: 915–917 Constantini LC, Bakowska JC, Breakefield XO, Isacson O (2000) Lentiviral-mediated delivery of mutant huntingtin in the striatum of rats induces a selective neuropathology modulated by polyglutamine repeat size, huntingtin expression levels, and protein length. J Neurosci : 3473– 3483 Crabbe JC (2002) Alcohol and genetics: new models. Am J Med Genet 114: 969–974 Croll SD, Suri C, Compton DL et al (1999) Brain-derived neurothrophic factor transgenic mice exhibit passive avoidance deficits, increased seizure severity and in vitro hyperexcitability in the hippocampus and entorhinal cortex. Neuroscience 93: 1491–1506 Dawson GR, Tricklebank MD (1995) Use of the elevated plus maze in the search for novel anxiolytic agents. Trends Pharmacol Sci 16: 33–36 Dykxhoorn DM, Novina CD, Sharp PA (2003) Killing the messenger: short RNAs that silence gene expression. Nature Rev Mol Cell Biol 4: 457–467 Elbashir SM, Harborth J, Lendeckel W et al (2001) Duplexes of 21-nucleotide RNAs mediate RNA interference in cultured mammalian cells. Nature 411: 494–498 Estibeiro P, Godfray J (2001) Antisense as a neuroscience tool and therapeutic agent. Trends Neurosci 24: S56–S62 Fehr C, Shirley RL, Belknap JK et al (2002) Congenic mapping of alcohol and pentobarbital withdrawal liability loci to a < 1cM interval of murine chromosome 4: identification of Mpdz as a candidate gene. J Neurosci 22: 3730–3738 Feil R, Wagner J, Metzger D, Chambon P (1997) Regulation of Cre recombinase activity by mutated estrogen receptor ligand-binding domains. Biochem Biophys Res Commun 237: 752–757 Flint J (2003) Analysis of quantitative trait loci that influence animal behavior. J Neurobiol 54: 46–77 Gebauer M, von Melchner H, Beckers T (2001) Genomewide trapping of genes that encode secreted and transmembrane proteins repressed by oncogenic signaling.Genome Res 11: 1871–1877 Geyer MA, Krebs-Thomson K, Braff DL, Swerdlow NR (2001) Pharmacological studies of prepulse inhibition models of sensorimotor gating deficits in schizophrenia: a decade in review. Psychopharmacology (Berl) 156: 117–154 Hansen J, Floss T, Van Sloun P et al (2003) A large-scale, gene-driven mutagenesis approach for the functional analysis of the mouse genome. Proc Natl Acad Sci USA 100: 9918–9922
Heintz N (2001) BAC to the future: the use of bac transgenic mice for neuroscience research. Nature Rev Neurosci 2: 861–870 Herron BJ, Lu W, Rao C et al (2002) Efficient generation and mapping of recessive developmental mutations using ENU mutagenesis. Nature Genet 30: 185–189 Hrabe de Angelis MH, Flaswinkel H, Fuchs H et al (2000) Genome-wide, largescale production of mutant mice by ENU mutagenesis. Nature Genet 25: 444–447 Janson CG, McPhee SW, Leone P et al (2001) Viral-based gene transfer to the mammalian CNS for functional genomic studies. Trends Neurosci 24: 706–712 Janson C, McPhee S, Bilaniuk L et al (2002) Clinical protocol. Gene therapy of Canavan disease: AAV-2 vector for neurosurgical delivery of aspartoacylase gene (ASPA) to the human brain. Hum Gene Ther 13: 1391–1412 Justice MJ, Noveroske JK, Weber JS et al (1999) Mouse ENU mutagenesis. Hum Mol Genet 8: 1955–1963 Khvorova A, Reynolds A, Jayasena SD (2003) Functional siRNAs and miRNAs exhibit strand bias. Cell 115: 505 Kirik D, Bjorklund A (2003) Modeling CNS neurodegeneration by overexpression of disease-causing proteins using viral vectors. Trends Neurosci 26: 386–392 Kühn R, Schwenk F (2002) Conditional knockout mice. In: Hofker M (ed) Transgenic mouse methods and protocols. Humana Press, Totowa, NJ, pp 159–185 Kunath T, Gish G, Lickert H et al (2003) Transgenic RNA interference in ES cellderived embryos recapitulates a genetic null phenotype. Nature Biotechnol 21: 559–561 Kwan KM (2002) Conditional alleles in mice: Practical considerations for tissue-specific knockouts. Genesis 32: 49–62 Lewis DL, Hagstrom JE, Loomis AG et al (2002) Efficient delivery of siRNA for inhibition of gene expression in postnatal mice. Nature Genet 32: 107– 108 Lu Y (2004) Recombinant adeno-associated virus as delivery vector for gene therapy – a review. Stem Cells Dev 13: 133–145 Lyon MF, Searle AG (eds) (1989) Genetic variants and strains of the laboratory mouse. Oxford University Press, Oxford MacPhee M, Chepenik KP, Liddell RA et al (1995) The secretory phospholipase A2 gene is a candidate for the Mom1 locus, a major modifier of ApcMin-induced intestinal neoplasia. Cell 81: 957–966 Mansuy IM, Bujard H (2000) Tetracycline regulated gene expression in the brain. Curr Opin Neurobiol 10: 593–596 Mansuy IM, Winder DG, Moallem TM et al (1998) Inducible and reversible gene expression with the rtTA system for the study of memory. Neuron 21: 257–265 Moser AR, Luongo C, Gould KA et al (1995) ApcMin: a mouse model for intestinal and mammary tumorigenesis. Eur J Cancer 31A: 1061–1064 Müller MB, Uhr M, Holsboer F, Keck ME (2004). Hypothalamic-pituitary-adrenocortical system and mood disorders: highlights from mutant mice. Neuroendocrinology 79: 1–12 Nagy A, Gertsenstein M, Vintersten K, Behringer R (2003) Manipulating the mouse embryo. Cold Spring Harbour Laboratory Press, New York Ohl F, Keck ME (2003) Behavioural screening in mutagenised mice-in search for novel animal models of psychiatric disorders. Eur J Pharmacol 480: 219–228 Plomin R, McClearn GE, Gora-Maslak G, Neiderhiser JM (1991) Use of recombinant inbred strains to detect quantitative trait loci associated with behavior. Behav Genet 21: 99–116 Seong E, Seasholtz AF, Burmeister M (2002) Mouse models for psychiatric disorders. Trends Genet 18: 643–650 Silver LM (1995) Mouse genetics. Oxford University Press, Oxford Skarnes WC, von Melchner H, Wurst W et al (2004) A public gene trap resource for mouse functional genomics. Nature Genet 36: 543–544 Soewarto D, Blanquet V, Hrabe de Angelis M (2003) Random ENU mutagenesis. Methods Mol Biol 209: 249–266 Stenzel-Poore MP, Heinrichs SC, Rivest S et al (1994) Overproduction of corticotropin releasing factor in transgenic mice: a genetic model of anxiogenic behaviour. J Neurosci 14: 2579–2584
167 Literatur
Szczypka MS, Mandel RJ, Donahue BA et al (1999) Viral gene delivery selectively restores feeding and prevents lethality of dopamine-deficient mice. Neuron 22: 167–178 Van den Haute C, Eggermont K, Nuttin B et al (2003) Lentiviral vector-mediated delivery of short hairpin RNA results in persistent knockdown of gene expression in mouse brain. Hum Gene Ther 14: 1799–1807 Watase K, Zoghbi H (2003) Modelling brain diseases in mice: the challenges of design and analysis. Nature Rev Genet 4: 296–307 Wolfer DP, Lipp HP (2000) Dissecting the behaviour of transgenic mice: is it the mutation, the genetic background, or the environment? Exp Physiol 85: 627–634 Wood GK, Tomasiewicz H, Rutishauser U et al (1998) NCAM-180 knockout mice display increased lateral ventricle size and reduced prepulse inhibition of startle. Neuroreport 9: 461–466 Wurst W, Rossant J, Prideaux V et al (1995) A large-scale gene-trap screen for insertional mutations in developmentally regulated genes in mice. Genetics 139: 889–899 Yamamoto A, Lucas JJ, Hen R (2000) Reversal of neuropathology and motor dysfunction in a conditional model of Huntington’s disease. Cell 101: 57–66
16
169
Aminosäuren Wulf Hevers und Hartmut Lüddens
17.1
Stoffwechsel der Aminosäuren – 170
17.1.1 17.1.2 17.1.3
Glutamat – 170 γ-Aminobuttersäure (GABA) – 170 Glycin – 171
17.2
Aktive Transportmechanismen aus dem synaptischen Spalt – 172
17.2.1 17.2.2 17.2.3
Glutamataufnahme – 172 GABA-Aufnahme – 173 Glycinaufnahme – 174
17.3
Aminosäurerezeptoren – 174
17.3.1
Ionotrope Glutamatrezeptoren (iGluR) – 174 Metabotrope Glutamatrezeptoren (mGluR) – 177 Ionotrope GABA-Rezeptoren: iGABAR, GABAAR – 178 Metabotrope GABA-Rezeptoren: mGABAR, GABABR – 181 Glycinrezeptoren – 182
17.3.2 17.3.3 17.3.4 17.3.5
Literatur – 182
G. Gründer, O. Benkert (Hrsg.), Handbuch der Psychopharmakotherapie, DOI 10.1007/978-3-642-19844-1_17, © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2012
17
170
Kapitel 17 · Aminosäuren
Die Signalübertragung an der chemischen Synapse beginnt mit der Freisetzung eines chemischen Überträgerstoffs, dem Neurotransmitter, an der präsynaptischen Membran, der auf der gegenüberliegenden postsynaptischen Seite an spezifische Rezeptoren bindet. Es gibt für alle bisher bekannten Neurotransmitter unterschiedliche Rezeptoren, sodass derselbe Transmitter andersartige Wirkungen an verschiedenen Synapsen hervorrufen kann. Die wichtigsten Neurotransmitter im Zentralnervensystem (ZNS) der Vertebraten werden von den Aminosäuren Glutamat, γ-Aminobuttersäure (GABA) und Glycin gebildet. Dabei werden erregende Signale durch l-Glutamat und bedingt auch durch l- und d-Aspartat vermittelt. Der wichtigste inhibitorische Neurotransmitter im ZNS ist GABA, ausgenommen sind das Rückenmark und der Hirnstamm, in denen schwerpunktmäßig Glycin die Inhibition vermittelt.
17.1
Stoffwechsel der Aminosäuren
17.1.1
Glutamat
Neusynthese von Glutamat Neusynthese ist eine dritte Möglichkeit zur Bereitstellung von Glutamat. Da das Enzym Glutamatdehydrogenase (GLUD) neueren Arbeiten zufolge in den Nervenendigungen vorkommt, kann Glutamat direkt in der Synapse aus α-Ketoglutarat und einer NH4-Gruppe unter Beteiligung von NADPH gebildet werden. Dieser Weg macht Neuronen unabhängiger von einer glialen Glutaminversorgung (. Abb. 17.1c; Hassel u. Brathe 2000; McKenna et al. 2000), ist aber durch den Verbrauch von NADPH mit energetischen Kosten verbunden. Zusätzlich zur GLUD-1 besitzen höhere Primaten (Hominoiden) die weitere Isoform GLUD-2 (Burki u. Kaessmann 2004). Im Gegensatz zur auch zytosolischen GLUD-1 ist GLUD-2 im Wesentlichen mitochondrial lokalisiert (Rosso et al. 2008). Die differenzielle Rolle dieser beiden Enzyme bleibt bisher unklar (zur Diskussion: Zaganas et al. 2009).
17.1.2
γ-Aminobuttersäure (GABA)
Synthese l-Glutamat ist der wichtigste exzitatorische Neurotransmitter im ZNS. Diese körpereigene nichtessenzielle Aminosäure ist auch Grundgerüst für die Synthese von l-Aspartat und GABA und indirekt an der Bildung von d-Aspartat und Serin als Ausgangsstoff für die Glycinsynthese beteiligt.
Synthese durch Transaminierung
17
Das Grundgerüst von Glutamat stammt nicht ausschließlich, aber weitgehend aus dem Glukoseabbau, der Glykolyse, die über Pyruvat zu Acetyl-Coenzym A führt. Dieses wird im Citratzyklus zu α-Ketoglutarat umgewandelt, dem Grundbaustein von Glutamat. Eine Aminotransferase überträgt reversibel eine Aminogruppe auf α-Ketoglutarat, und es entsteht Glutamat. Dieser Vorgang wird als Transaminierung bezeichnet und benötigt Pyridoxal-5-phosphat (PLP) als Kofaktor (. Abb. 17.1a). Eine Übersicht über den Aminosäurestoffwechsel geben Lehrbücher der Biochemie (wie z. B. Stryer et al. 2002; Details bei Peng et al. 1993).
Desaminierung von Glutamin Ein zweiter Bildungsweg ist die ATP-abhängige Desaminierung von Glutamin durch Glutaminase. Jedoch muss dieses Glutamin zuvor durch die Glutaminsynthetase aus Glutamat synthetisiert werden, sodass insgesamt kein zusätzliches Glutamat entsteht (. Abb. 17.1b). Dem Konzept des Glutaminzyklus zufolge wird das synaptisch freigesetzte Glutamat von Gliazellen aufgenommen und in das biologisch inaktive Glutamin umgesetzt. Die Glutaminsynthetase wurde v. a. in Gliazellen, nicht jedoch in Neuronen immunhistochemisch nachgewiesen. Dagegen ist das abbauende Enzym Glutaminase in synaptischen Nervenendigungen konzentriert. Das aus den Gliazellen transportierte Glutamin steht den Nervenzellen daher kurzfristig für eine schnelle Glutamatsynthese zur Verfügung (Danbolt 2001). Die funktionelle Bedeutung dieses Glutaminzyklus in vivo ist jedoch umstritten (zur Diskussion: Kam u. Nicoll 2007).
Ausgangsstoff für die GABA-Synthese ist l-Glutamat (7 17.1.1). Durch Glutamatdecarboxylase (GAD) entsteht unter Abspaltung von CO2 GABA (. Abb. 17.2). Auch hierzu wird PLP als Kofaktor benötigt. Die hohe Anreicherung von GAD in Präparationen synaptischer Vesikel, sog. Synaptosomen, deutet darauf hin, dass die Synthese überwiegend in axonalen Endigungen und nicht im Zytoplasma erfolgt. Wahrscheinlich ist auch hier Glutamin der Ausgangsstoff (Peng et al. 1993).
Isoformen von GAD Bisher sind zwei Isoformen von GAD als Produkte verschiedener Gene bekannt. Sie werden nach ihrem Molekulargewicht GAD65 (65 kDa) und GAD67 (67 kDa) benannt. GAD65 ist in höheren Konzentrationen in Nervenendigungen zu finden, wo es in seiner nichtaktivierten Form z. T. an der Membran der synaptischen Vesikel verankert ist. GAD67 ist dagegen gleichmäßig in der Zelle verteilt und liegt überwiegend als aktiviertes Enzym, gesättigt mit PLP, vor (Übersicht zu den GAD-Formen: Martin u. Rimvall 1993). Wird GAD67 in einer transgenen Mauslinie funktionell ausgeschaltet (GAD67 -/-), treten hohe postnatale Morbidität und Gaumenspalten auf, ähnlich wie bei der Deletion der β3-Untereinheit (UE) der GABAA-Rezeptoren (Homanics et al. 1997). Wird dagegen GAD65 ausgeschaltet (GAD65 -/-), treten kaum morphologische oder verhaltensmäßige Auffälligkeiten auf. Allerdings wird die normale synaptische inhibitorische Aktivität bei anhaltender Stimulation deutlich reduziert, d. h., insbesondere die GABA-vermittelte tonische Inhibition basiert auf einer intakten GAD65 (Walls et al. 2010). Dies weist darauf hin, dass eine kurzfristige Aktivierbarkeit von GAD65 eine schnelle Auffüllung der synaptischen Vesikel gewährleistet.
Abbau von GABA Der Abbau von GABA erfolgt mittels GABA-Aminotransferase, die sowohl in Neuronen als auch in Gliazellen nachgewiesen wurde. Sie überträgt eine Aminogruppe auf α-Ketoglutarat, wo-
171 17.1 · Stoffwechsel der Aminosäuren
aa O
-
O
-
O
-
O O
O
-
Aminotransferase
NH3+
+
O
O
NH3+
+ PLP
O
+
O
R
R O
O
-
-
O
O
α-Ketoglutarat
bb -
O
Aminosäure
ATP NH4+
O
O
H 2O ADP + P i O + H+
NH3
H2 O ATP
ADP + Pi NH4+
NH3 GlutaminSynthetase
O
α-Ketosäure
Glutamat
-
Glutamat
-
O
Glutamin
-
O NADP+
Glutamat
-
H2 O
NH3+
NH3
O NH2
O
O
Glutaminase
O
O
cc
-
O
NH4+ NADPH + H+
O
O
O
GlutamatDehydrogenase
O
-
O
H2 O NAD+
Glutamat
O NH4+ NADH
-
O
α-Ketoglutarat
. Abb. 17.1 Synthesewege für Glutamat. a Aufbau von Glutamat ausgehend von α-Ketoglutarat, in Neuronen meist durch Transaminierung. b Das ausgeschüttete Glutamat wird im Glutaminzyklus der Gliazellen umgewandelt und steht den Neuronen als Glutamin zur Verfügung. c Neusynthese
von Glutamat in der Synapse durch Glutamatdehydrogenasen unter Verwendung von NH4+ und NADPH. Der Abbau von Glutamat erfordert NAD+ als Oxidationsmittel. PLP Pyridoxal-5-phosphat, NAD NikotinsäureamidAdenin-Dinukleotid, NADP NAD-Phosphat, + oxidiert, H reduziert
durch Glutamat und Succinylsemialdehyd entstehen. Letzterer wird zu Succinat oxidiert (. Abb. 17.2; Übersicht zum GABAStoffwechsel: Waagepetersen et al. 1999).
Biosynthesewege
17.1.3
Glycin
Neben GABA ist Glycin der wichtigste inhibitorische Neurotransmitter, v. a. im Hirnstamm und im Rückenmark. Glycin ist darüber hinaus in Bulbus olfactorius, Mittelhirn, Zerebellum und Kortex, aber auch in der Retina an der Verarbeitung sensomotorischer Informationen beteiligt. Eine weitere Rolle spielt es als hochaffiner Ligand eines Glutamatrezeptorsubtyps, dem NMDA-Rezeptor (7 17.3.1).
Für die Synthese von Glycin sind zwei Wege relevant: Der Hauptanteil wird aus Serin durch das Enzym Serin-Hydroxymethyltransferase synthetisiert. Dabei wird aus einem Intermediärprodukt der Glykolyse, 3-Phosphohydroxypyruvat, durch Transaminierung 3-Phosphoserin gebildet und zu Serin hydrolysiert. Dieses wird unter Bildung von Methylentetrahydrofolat aus Tetrahydrofolat zu Glycin verkürzt (. Abb. 17.3a). Die auf 3-Phosphohydroxypyruvat übertragene Aminogruppe stammt aus der Umwandlung von Glutamat zu α-Ketoglutarat. Ein zweiter Weg erfolgt über die Transaminierung von Glyoxylat durch eine Aminotransferase, wieder unter Beteiligung von PLP (. Abb. 17.3b).
Abbau und Wiederaufnahme Die Verstoffwechselung von Glycin im Nervengewebe ist bisher nicht eindeutig geklärt. Da Glycin ein Zwischenprodukt u. a. in
17
172
Kapitel 17 · Aminosäuren
O
+
O NH3+
GlutamatDecarboxylase + PLP
O
NH3
CO2
O Glutamat
α-KG
GABAAminotransferase + PLP
O O
O
Glutamat
GABA
O O SuccinatSemialdehyd
. Abb. 17.2 Syntheseweg für GABA. Der Aufbau von GABA erfolgt vom Glutamat ausgehend durch die Glutamatdecarboxylase, der Abbau durch GABAAminotransferase führt wieder zurück zum Glutamat. PLP Pyridoxal-5-phosphat, a-KG α-Ketoglutarat
der Purin-, Häm-, Glutathion-, Serin-, Aspartat- und Cholinsynthese ist, gibt es vielfältige Abbauwege. Neuere Arbeiten deuten darauf hin, dass ein entscheidender Anteil des synaptisch ausgeschütteten Glycins durch neuronale Transporter aufgenommen und direkt wieder in synaptische Vesikel eingeschleust wird (7 17.2.3).
17.2
17
Aktive Transportmechanismen aus dem synaptischen Spalt
Die Neurotransmitterkonzentrationen im synaptischen Spalt liegen während der Ausschüttung im Bereich von einigen 100 μM bis zu über 1 mM. Diese Konzentrationen müssen insbesondere für Transmitter mit langsam deaktivierender und desensitisierender Wirkung wieder effizient verringert werden, sonst würden sie zu einer anhaltenden tonischen Aktivierung von Rezeptoren führen und durch Diffusion weitere Rezeptoren in der näheren Umgebung der Synapse unerwünscht aktivieren. Eine zeitgetreue Signalübertragung wäre nicht möglich, im Falle von Glutamat wäre die Wirkung neurotoxisch. Im Gegensatz zu Acetylcholin ist für die hier vorgestellten Aminosäuren kein extrazelluläres, abbauendes Enzym entsprechend der Acetylcholinesterase vorhanden; die Beseitigung erfolgt über hochaffine Transporter. Allen Transportern ist funktionsgemäß gemeinsam, dass der Prozess nur indirekt ATP-abhängig ist, weil er sich des elektrochemischen Gradienten für Na+, der durch die Na+-K+-ATPase aufrecht erhalten wird, als treibender Kraft bedient.
17.2.1
Glutamataufnahme
Glutamattransporter sind weitgehend spezifisch für l-Glutamat; sie transportieren aber auch l- und d-Aspartat. Dabei wird unter Ausnutzung des Na+/K+-Gradienten ein Glutamatmolekül gemeinsam mit einem H+- und drei Na+-Ionen im Austausch gegen ein K+-Ion in die Zelle transportiert.
Subtypen des Glutamattransporters Für Glutamat sind bisher 5 Transportersubtypen bekannt, die als EAAT1–5 (excitatory amino acid transporter) bezeichnet wer-
den. Die auch anzutreffenden Bezeichnungen GLAST (Glutamat-Aspartat-Transporter, EAAT1), GLT (Glutamattransporter, EAAT2) und EAAC1 (excitatory amino acid carrier, EAAT3) sind wenig relevant, da sie keine funktionellen Unterschiede reflektieren. Die Aminosäureidentität der EAAT untereinander liegt bei 50–60% und bei 30–40% im Vergleich zu Transportern für neutrale Aminosäuren (z. B. Alanin, Serin oder Cystein). Die molekulare Struktur der EAAT1–5 ist bisher nicht vollständig geklärt, es ist aber bekannt, dass die N- und C-Termini intrazellulär liegen. Sie besitzen acht Transmembranregionen (TM1– 8) und zwei benachbarte »hair-pins«, d. h. drei membraninserierte, aber nicht transmembranäre Bereiche. Zwischen TM3 und TM4 liegt ein großer extrazellulärer Bereich, ebenso zwischen TM6 und TM7. Die Topologie jenseits der TM6-Region ist jedoch umstritten. Einige Struktur-Funktions-Beziehungen wurden durch Punktmutationen angedeutet (Danbolt 2001). Wahrscheinlich bilden Homotrimere einen funktionalen Transporter (Yernool et al. 2004).
Gewebeverteilung Die Transporterisoformen sind im ZNS unterschiedlich lokalisiert. EAAT1 und EAAT2 sind in den Gliazellen des ZNS weit verbreitet und repräsentieren die wichtigsten Transporter in Bereichen des Hippokampus und im Zerebellum. Sie sind besonders in feinen Fortsätzen der Gliazellen anzutreffen, in denen die Glutaminsynthetase lokalisiert wurde (Glutaminzyklus). EAAT3 findet sich in den Neuronen des ZNS. Neuere Arbeiten belegen die Relevanz der neuronalen Wiederaufnahme aus dem synaptischen Spalt über Glutamattransporter (Waagepetersen et al. 2005; Hasegawa et al. 2006). Weiterhin werden Funktionen von EAAT3, z. B. bei der Glutamataufnahme für die GABAoder neuronale Glutathionsynthese, diskutiert (Nieoullon et al. 2006; Stafford et al. 2010). EAAT4 ist weitgehend auf das Zerebellum beschränkt, EAAT5 auf die Retina. Eine Besonderheit dieser beiden Isoformen ist, dass sie eine geringe Glutamat- und Na+-abhängige Transportrate, dafür aber eine hohe Cl–-Leitfähigkeit besitzen. Die physiologische Rolle dieser letztendlich funktionellen Cl–-Kanäle bleibt bisher unklar (Slotboom et al. 2001), könnte aber eine Spezialisierung auf die Gegebenheiten in dendritischen »spines« sein (Torres-Salazar u. Fahlke 2007).
173 17.2 · Aktive Transportmechanismen aus dem synaptischen Spalt
aa
Tetrahydrofolat
O
Methylentetrahydrofolat H2 O
O NH +
O O
3
NH3+
Serin-Hydroxymethyltransferase + PLP
OH
Glycin
Serin
bb O
O
O
O
NH+ 3
+ O
Glyoxylat
R
Aminotransferase + PLP
Aminosäure
O
O
O
O NH3+
Glycin
+
O R
α-Ketosäure
. Abb. 17.3 Synthesewege für Glycin. a Glycinsynthese durch Verkürzung von Serin, b Glycinsynthese durch Transaminierung von Glyoxylat. PLP Pyridoxal-5-phosphat
17.2.2
GABA-Aufnahme
Subtypen des GABA-Transporters Auch die GABAerge Neurotransmission wird durch die Wiederaufnahme des Transmitters aus dem synaptischen Spalt beendet. Bisher sind vier verschiedene GABA-Transporter bekannt: 4 GAT1–3 und 4 BGT-1 (Betain/GABA-Transporter). Bei Mäusen wird BGT–1 oft GAT2 genannt, wodurch die Nomenklatur nicht immer eindeutig ist. GABA-Transporter bilden mit den Taurin- und Kreatintransportern eine Unterfamilie der Na+/Cl–-abhängigen Neurotransmittertransporter, zu denen auch die Glycin-, Monoamin- und Prolintransporter gehören. Die Aminosäureidentität (sog. Sequenzhomologie) von GAT1 zwischen Ratte, Maus und Mensch beträgt 97%, zwischen GAT1, GAT2 und GAT3 einer Spezies dagegen 50–70%. Alle Transporter dieser Familie sind durch 12 Transmembranregionen (TM1– 12) charakterisiert. Die N- und C-terminalen Enden befinden sich intrazellulär und enthalten potenzielle Phosphorylierungsstellen. Unter Ausnutzung des Na+/K+-Gradienten über der Zellmembran wird jedes GABA-Molekül gemeinsam mit zwei Na+-Ionen und einem Cl–-Ion in die Zelle transportiert. Untersuchungen der Struktur-Funktions-Beziehungen bei GAT1 legen nahe, dass Strukturen der TM1-Region an der Na+- und Cl–-Abhängigkeit der Transportfunktion beteiligt sind. Dabei ist die Cl–-Abhängigkeit für GAT1 groß, aber nur moderat für GAT2 und GAT3. Der genaue Zusammenhang zwischen der Ionensensitivität der Transporter und der GABA-Translokation über die Membran wird kontrovers diskutiert. Zwischen TM3 und TM4 tritt eine größere extrazelluläre Schleife auf, in der ein einzelnes Tyrosin an Position 140 in GAT1 essenziell für den GABA-Transport ist. Darüber hinaus beeinflussen die drei extrazellulären
Bereiche zwischen TM5 und TM6, TM7 und TM8 sowie TM9 und TM10 die Transportraten bzw. Bindungsaffinitäten für GABA (Nelson 1998; Palacin et al. 1998; Soudjn u. van Wjngaarden 2000).
Gewebeverteilung GAT1 und GAT3 werden spezifisch im ZNS exprimiert, GAT2 dagegen auch in peripheren Geweben. GAT1 stellt wahrscheinlich den wichtigsten neuronalen Transporter dar, der allerdings auch in Astroglia exprimiert wird. Seine Verteilung deckt sich mit der der GABA-Rezeptoren und des synthetisierenden Enzyms GAD. Schwerpunkte der Expression sind Zerebellum, Hippokampus und Striatum. In Übereinstimmung mit den Charakteristika neuronaler Transporter besitzt GAT1 eine hohe Spezifität für GABA, während β-Alanin und Taurin so gut wie nicht transportiert werden. Die GAT3-Verteilung ist übereinstimmend als komplementär zu der von GAT1 mit Schwerpunkten in Rückenmark, Hirnstamm, Thalamus und Hypothalamus beschrieben, mit einer erhöhten, wenn nicht ausschließlichen Expressionsrate in Gliazellen (Melone et al. 2005). GAT3 transportiert auch β-Alanin und Taurin, was den glialen Transportern mit einer hohen ß-Alanin-Sensitivität entspricht. Die pharmakologischen Eigenschaften von GAT2 stimmen gut mit den Eigenschaften glialer Transporter überein (Schousboe 2000). GAT2-Expression ist jedoch auf wenige Bereiche des adulten ZNS beschränkt und zudem stark entwicklungsabhängig. BGT1 ist außer im ZNS auch in peripheren Geweben weit verbreitet. Er besitzt eine bei den anderen GAT nicht anzutreffende Betaintransportfähigkeit. Seine physiologische Relevanz liegt wahrscheinlich in der Aufrechterhaltung des osmotischen Gleichgewichts.
17
174
Kapitel 17 · Aminosäuren
17.2.3
Glycinaufnahme
Glycintransporter gehören zur Familie der Prolin-, Monoaminund GABA-Transporter mit 12 Transmembranregionen und zytoplasmatischen N- und C-terminalen Enden. Bisher sind zwei Glycintransporter mit unterschiedlicher Verteilung bekannt: 4 GLYT-1 und 4 GLYT-2. Für GLYT-1 sind drei N-terminale und zwei C-terminale, für GLYT-2 drei N-terminale Splice-Varianten bekannt. Während GLYT-1 jeweils 2 Na+/Cl– mit Glycin kotransportiert, beträgt die Stöchiometrie bei GLYT-2 3 Na+/Cl–/Glycin. Dadurch kann GLYT-2 größere Konzentrationsgradienten erreichen, während umgekehrt in Gegenwart der GLYT-1 die Möglichkeit einer Ca2+-unabhängigen präsynaptischen Glycinfreisetzung in synaptischen Regionen diskutiert wird.
Verbreitung der Glycintransporter GLYT-1 sind weitläufig in den Gliazellen aller Hirnregionen verteilt. Sie finden sich in Regionen wie Kortex, Hippokampus oder Thalamus, in denen Glycin nicht alleiniger Neurotransmitter, aber Kotransmitter bei der Aktivierung des NMDA-Subtyps der Glutamatrezeptoren (7 17.3.1) ist. Immunhistochemische Daten belegen die Anwesenheit von GLYT-1 nicht nur in Gliazellen, sondern auch in Subpopulationen glutamaterger Neuronen (Cubelos et al. 2005). GLYT-2 finden sich dagegen in den präsynaptischen Axonterminalen direkt gegenüber von postsynaptischen Glycinrezeptoren. GLYT-2 weisen daher eine ähnliche Verteilung wie diese auf, mit einem Schwerpunkt in Hirnstamm, Zerebellum und Rückenmark. Daraus resultiert die Hypothese, dass GLYT-2 als primärer neuronaler Transporter an glycinergen Synapsen auftritt, während GLYT-1 als glialer und neuronaler Transporter die extrazelluläre Glycinkonzentration in weiteren Bereichen auch an NMDA-Rezeptoren reguliert. Anhand transgener Mausstämme wurde dies für GLYT-2 und GLYT-1 bestätigt (Eulenburg et al. 2005).
17
Mit GLYT verbundene Krankheitsbilder Die in Abwesenheit von GLYT-2 in Mäusen auftretenden spastischen Bewegungen und der Muskeltremor ähneln dem bekannten Krankheitsbild der Hyperekplexie. Sie wurden auf eine reduzierte synaptische Inhibition aufgrund verringerter Glycinfreisetzung aus synaptischen Vesikeln zurückgeführt und ähneln einer Intoxikation durch den Glycinrezeptorantagonisten Strychnin. Dies bedeutet, dass GLYT-2 ursächlich für die Wiederaufnahme des Transmitters und dessen Wiederverwendung in präsynaptischen Axonterminalen ist. In Abwesenheit von GLYT-1 zeigten Tiere dagegen einen allgemeinen Hypotonus und Atemstörungen, wie sie auch von der Glycinenzephalopathie her bekannt sind. Die Tiere sterben meistens am Tag der Geburt. Die Symptome wurden auf eine erhöhte extrazelluläre Glycinkonzentration und dadurch bedingte Inhibition zurückgeführt. Dies bedeutet, dass GLYT-1 auch in Bereichen, in denen GLYT-2 vorhanden ist, die extrazellulären Glycinkonzen-
trationen reguliert. Die Rolle der Glycintransporter für die Glycinhomöostase an glutamatergen Rezeptoren des NMDA-Typus konnte durch pharmakologische Inhibition des GLYT-1 mit Sarcosin-Derivaten und Untersuchungen an GLYT-1-defizienten Mäusen bestätigt werden. Die unter beiden Bedingungen reduzierte Glycinwiederaufnahme führt zu einer Potenzierung von NMDA-Antworten, bei NMDA-Rezeptoren ohne Beteiligung einer NR2-UE zu einer Steigerung der exzitatorischen Glycin-Antwort (Pina-Crespo et al. 2010). Daher wird GLYT-1 auch als ein pharmakologisches Ziel bei Störungen mit glutamaterger Komponente, wie sie z. B. bei der Schizophrenie vermutet wird (Unterfunktion von NMDA-Rezeptoren), untersucht.
17.3
Aminosäurerezeptoren
Aufgrund der Art der zellulären Informationsübertragung lassen sich Rezeptoren für Neurotransmitter in die Klassen der metabotropen und ionotropen Rezeptoren unterteilen: Bei metabotropen Rezeptoren aktiviert die Bindung des Liganden eine intrazelluläre Signalkaskade, indem der Rezeptor ein GTP-bindendes-Protein, kurz G-Protein genannt, aktiviert. Abhängig von dem gekoppelten G-Protein werden hierdurch die Konzentrationen verschiedener intrazellulärer Botenstoffe wie z. B. Ca2+ und zyklische Nukleotide (cAMP, cGMP) beeinflusst. Ihre Wirkungen liegen zeitlich im Bereich einiger Millisekunden (> 10 ms) bis Sekunden. Bei ionotropen Rezeptoren ist der Rezeptor Teil eines Ionenkanals, weshalb diese auch als ligandengesteuerte Ionenkanäle bezeichnet werden. Dabei induziert die präsynaptische Transmitterfreisetzung und Rezeptorbindung direkt ein postsynaptisches elektrisches Signal, weshalb die Signalübertragung zwischen den Nervenzellen im Zeitbereich weniger Millisekunden erfolgt. Die bekanntesten Rezeptoren für Glutamat, GABA und Glycin sind typische Vertreter ligandengesteuerter Ionenkanäle. Über diese vermitteln sie ihre schnellen erregenden bzw. hemmenden Wirkungen. Glutamat und GABA sind darüber hinaus über G-Protein-gekoppelte metabotrope Rezeptoren an modulatorischen Prozessen beteiligt. Anzumerken ist aber, dass GABA und Glycin nicht ausschließlich inhibitorisch wirken. Ihr Effekt wird durch den Chloridgehalt im Inneren der Zelle bestimmt, der z. B. während der frühen Embryonalentwicklung aufgrund der differenziellen Expression verschiedener Cl–Transporter hoch ist (Payne et al. 2003). In diesem Fall rufen GABA und Glycin einen depolarisierenden Cl–-Ausstrom hervor, sodass insbesondere während der Embryonalentwicklung bis hin zum Neugeborenen exzitatorische Wirkungen möglich sind (Ben-Ari 2002).
17.3.1
Ionotrope Glutamatrezeptoren (iGluR)
l-Glutamat vermittelt seine schnellen exzitatorischen Wirkungen im Vertebraten-ZNS über 3 Gruppen ionotroper Rezeptoren (iGluR), die anhand ihrer Sensitivität gegenüber spezifischen Agonisten unterschieden werden (Traynelis et al. 2010).
175 17.3 · Aminosäurerezeptoren
4 AMPA-Rezeptoren werden selektiv durch ein synthetisches Analogon von Quisqualat, α-Amino-3-hydroxy-5-methyl4-isoxazolpropionsäure (AMPA), stimuliert. Sie reagieren auch auf Kainat, einem natürlichen Inhaltsstoff der Rotalge Digenea simplex, mit einem langsamen nichtdesensitivierenden Rezeptorstrom. 4 Kainatrezeptoren reagieren im Gegensatz dazu auf den Agonisten mit einer sehr schnellen Rezeptorantwort und werden kaum oder gar nicht durch AMPA aktiviert. 4 NMDA-Rezeptoren bilden eine dritte und in mancher Hinsicht besondere Klasse: Mit einer Ausnahme werden sie in Anwesenheit von Glycin selektiv durch das synthetische Aminosäurederivat N-Methyl-d-Aspartat (NMDA) aktiviert. Im Jahr 2009 wurde von der International Union of Pharmacology eine vereinfachte Nomenklatur für iGluR vorgeschlagen (Collingridge et al. 2009); die alten Bezeichnungen sind im Folgenden in Klammern angegeben. Insgesamt sind 18 verschiedene UE der iGluR bekannt: 4 GluA1–4 (GluR1–4) bilden die AMPA-Rezeptoren, 4 GluK1–5 die Kainatrezeptoren (ehemals GluR5–7, KA1 und KA2), 4 GluN1, GluN2A–D und GluN3A und -B (NR1, NR2A–D, NR3A und -B) die NMDA-Rezeptoren. Bei allen iGluR bilden vier UE einen funktionellen Rezeptor. Die ursprünglich als δ bezeichneten UE GluD1 und -2 bilden keine funktionellen Ionenkanäle. Sie wirken als metabotrope Rezeptoren für neutrale Aminosäuren (d-Serin und Glycin) und sind überwiegend in zerebellären Purkinje-Zellen lokalisiert. Im Gegensatz zu den UE der ionotropen Glycin- und GABARezeptoren mit 4 Transmembranregionen (TM1–TM4), durchziehen nur TM1, TM3 und TM4 die Membran. Dagegen formt die hydrophobe M2-Region von der zytoplasmatischen Seite her eine membranständige Schleife, sodass der N-Terminus dieser Rezeptoren extrazellulär und der C-Terminus intrazellulär liegt. Die intramembranäre Schleife ist an der Bildung der eigentlichen Kanalpore beteiligt und bestimmt die Ionenselektivität der verschiedenen iGluR. Zwei räumlich getrennte, extrazelluläre Regionen sind gemeinsam für die Ligandenerkennung verantwortlich. Die sog. S1-Region liegt im N-Terminus und die S2-Region zwischen TM3 und TM4. Innerhalb dieser S1-S2-Regionen bestimmen 7 Aminosäuren weitgehend die Ligandenspezifität des jeweiligen Rezeptors. Vor Kurzem gelang die Darstellung der Kristallstruktur eines homotetrameren GluA2-Rezeptors (Sobolevsky et al. 2009; Kasai et al. 2010), durch die detaillierte Einblicke in molekulare Funktionen und Ligandeninteraktionen möglich wurden (Zusammenfassung: Kaczor u. Matosiuk 2010).
relativ unspezifischen Na+-Kanal, der auch K+-Ionen passieren lässt. Sie werden durch die UE GluA1–4 (GluR1–4) gebildet, jedoch ist nicht endgültig geklärt, ob sie als Homo- oder Heterooligomere im nativen Gewebe auftreten. Die meisten Neuronen exprimieren mindestens zwei verschiedene UE, die wahrscheinlich jeweils als Dimere zu einem heterotetrameren Rezeptor zusammentreten (Kim et al. 2010). Die aus GluA1–4-UE gebildeten Rezeptoren weisen in Zellexpressionssystemen eine hohe Ca2+-Permeabilität auf, die durch eine posttranslationale Modifikation (mRNA-Editierung) weitgehend reduziert wird. Dabei wird auf der mRNA-Ebene das CAG-Kodontriplett, das für ein Glutamin in der TM2-Region kodiert, über einen von einer Adenosindeaminase katalysierten Schritt zu CIG editiert, das wie ein CGG-Triplett gelesen wird und damit für ein Arginin steht (Q/R-Editierung). Dieses Editieren wurde unter den AMPA-Rezeptoruntereinheiten allerdings nur für die GluA2 nachgewiesen. Es sind Zellpopulationen mit Ca2+-permeablen AMPA-Rezeptoren bekannt, die weitgehende Ca2+-Impermeabilität nativer AMPA-Rezeptoren ist jedoch ein Hinweis auf eine weite Verbreitung von GluA2. Allerdings spielen die Ca2+-permeablen (und im Gegensatz zu NMDAR auch Zn2+-permeablen) AMPARezeptoren eine wichtige Rolle für die synaptische Plastizität. Alternativ zu NMDAR vermitteln sie den Ca2+-abhängigen Einbau und die Umverteilung synaptischer Glutamatrezeptoren, die für LTP- und LTD-Vorgänge (long-term potentiation bzw. long-term depression) wichtig sind. Auch werden Störungen der Q/R-Editierung, die zu vermehrten Ca2+-permeablen AMPARezeptoren führen, im Zusammenhang mit degenerativen Erkrankungen der Motoneuronen diskutiert (amyotrophe Lateralsklerose ALS, Muskelatrophien; Übersicht: Sprengel 2006). In diesem Kontext rücken die AMPA-assoziierten Proteine wie GRIP/ABP (Glutamatrezeptor-interagierendes Protein bzw. AMPA-Rezeptorbindeprotein), PICK1 (Protein interagierend mit C-Kinase) und die vier TARP (Transmembran-AMPA-regulierendes Protein) immer mehr in den Vordergrund. Letztere sind an der Translokation synaptischer Rezeptoren und der Sensitivierung von AMPA-Rezeptoren beteiligt (Cull-Candy et al. 2006; Sager et al. 2009; Hanley 2008). Eine weitere Besonderheit der AMPA-Rezeptoren ist das alternative mRNA-Splicing eines 38 Aminosäuren umfassenden Teilstücks vor der letzten Transmembranregion. In Anwesenheit des Teilstücks zeigt die sog. Flip-Variante eine langsame Desensitivierung des Ionenstroms und bei lang anhaltender Applikation des Agonisten eine tonische Komponente. Die Flop-Variante zeigt dagegen eine sehr schnelle Aktivierung und vollständige Desensitivierung. Die physiologische Rolle dieser beiden Formen ist bisher unbekannt. Die beiden Splice-Varianten werden während der Entwicklung unterschiedlich exprimiert, wobei die Flip-Variante schon pränatal auftritt, während die Flop-Variante erst postnatal erscheint.
Charakteristika der AMPA-Rezeptoren AMPA-Rezeptoren besitzen Aktivierungs-, Desensitivierungsund Deaktivierungskinetiken im Bereich von Millisekunden und vermitteln wahrscheinlich einen Großteil der schnellen exzitatorischen synaptischen Erregung. Sie repräsentieren einen
Charakteristika von Kainatrezeptoren Die Rezeptoren für Kainat reagieren auf ihren Agonisten mit einem schnellen, desensitivierenden Rezeptorstrom. AMPARezeptoren werden zwar auch durch Kainat stimuliert, jedoch
17
176
Kapitel 17 · Aminosäuren
desensitiviert dieser Strom nicht. Trotz struktureller Gemeinsamkeiten koassemblieren die UE der AMPA- und Kainatrezeptoren nicht miteinander, die assemblierten Rezeptoren können aber in derselben Zelle auftreten. Von Kainatrezeptoren vermittelte inhibitorische postsynaptische Auswärtsströme (inhibitory postsynaptic currents, IPSC) haben dabei eine kleine Amplitude und einen langsamen Zeitverlauf. Sie werden durch homomere GluK1–3 (GluR5–7) oder durch heteromere Kombinationen mit den GluK4/5-UE (ehemals KA1- und KA2-UE) gebildet. Während GluK1 (GluR5) eine ca. 40%ige Sequenzidentität mit GluA1–4 (GluR1–4) aufweist, haben GluK1–3 (GluR5–7) untereinander etwa eine 75%ige, GluK4 und 5 (KA1/KA2) eine ca. 68%ige Sequenzidentität. Zwischen beiden Gruppen liegt sie bei ca. 45%. Sie werden in weiten Teilen des ZNS exprimiert mit Schwerpunkten in Kortex, limbischem System, Hippokampus und Zerebellum. Funktional sind sie auch in weiten Bereichen der Amygdala, des Rückenmarks und der Retina beschrieben. Insbesondere im Hippokampus ist eine differenzielle Verteilung der verschiedenen UE bekannt. Alternatives Splicing und RNAEditierung tragen zur weiteren Vielfalt nativer Rezeptoren mit oft unbekannter Funktion bei (7 Box: Kainatrezeptorvarianten).
Kainatrezeptorvarianten
17
Eine als GluK1–1 (GluR5–1) bezeichnete Variante besitzt 15 zusätzliche Aminosäuren im N-Terminus. Für GluK1–3 (GluR5–7) sind verschiedene Splice-Varianten des C-Terminus bekannt, die mit zellulären Transportproteinen interagieren (Coussen et al. 2005). Für GluK1 und -2 (GluR5/6) ist eine Q/R-Editierung über den gleichen Mechanismus wie für GluA2 beschrieben. Durch den Aminosäureaustausch in der zweiten hydrophoben Schleife wird die Ca2+-Permeabilität des gebildeten Kanals reduziert. Allerdings werden nur ca. 50–60% der GluK1 (GluR5) und 70–95% der GluK2 (GluR6) editiert. Dies geschieht in der späten embryonalen Phase (GluK2) bzw. den ersten postnatalen Tagen (GluK1). Für GluK2 sind zwei weitere Editierungsvarianten unbekannter Funktion mit einem Isoleucin/Valinund Tyrosin/Cystein-Austausch in TM1 beschrieben, wobei GluK2 mit Arginin (A), Valin (V) und Cystein (C) am weitesten verbreitet sind. Unklar sind die Zusammenhänge zwischen den meist in vitro untersuchten homomeren Rezeptoren und den wahrscheinlich in vivo auftretenden heteromeren Rezeptoren, denn die genaue Rezeptorkomposition nativer Rezeptoren ist unbekannt. Die drei Rezeptoren GluK1–3 (ehemals GluR5–7) können funktionelle homomere Rezeptoren bilden, die jedoch nur eine geringe Affinität zu Kainat haben. Treten sie mit GluK4 und -5 (KA1/2), die selbst keine funktionalen homomeren Ionenkanäle bilden, zu heteromeren Rezeptoren zusammen, verändert sich deren Sensitivität gegenüber Kainat und AMPA.
Rolle von Kainatrezeptoren Aufgrund fehlender spezifischer Liganden für Kainatrezeptoren ist deren Rolle bisher nur ansatzweise bekannt. Wahrscheinlich erfüllen sie zwei Funktionen: 4 Postsynaptisch tragen sie zum exzitatorischen Potenzial bei. Trotz geringerer Amplituden als bei AMPA-Rezeptoren ist der vermittelte Gesamtstrom aufgrund des langsameren Abklingens kaum geringer als der von AMPA-Rezeptoren. Beides ist nicht auf eine extrasynaptische Lokalisierung zurückzuführen. Die unterschiedlichen Kinetiken könnten ei-
ne besondere Rolle bei höherfrequenter Stimulation und der differenziellen Aktivierung von NMDA-Rezeptoren, z. B. im Hippokampus, spielen (Steinhauser u. Gallo 1996). 4 Es gibt zahlreiche Hinweise auf eine Beteiligung von präsynaptischen Kainatrezeptoren an der Regulation der Glutamatund GABA-Ausschüttung durch negative Rückkopplung (Chittajallu et al. 1999), wahrscheinlich unter Beteiligung metabotroper Rezeptoren. Auch wurde gezeigt, dass die GProtein-vermittelte Modulation eines Kaliumstroms in hippokampalen CA3-Zellen transgener KA2–/–-Mäuse fehlt, obwohl normale kainatinduzierte EPSP auftreten (Ruiz et al. 2005), sodass eine indirekte Kopplung an diesem G-ProteinMechanismus vermutet werden kann.
Charakteristika von NMDA-Rezeptoren NMDA-Rezeptoren assemblieren aus den drei UE GluN1, GluN2 und GluN3 in Heterotetramere. Die ursprünglich als NMDA-ähnlich bezeichnete UE NMDA-L wird als GluN3A (NR3A) gemeinsam mit der GluN3B (NR3B) den NMDA-Rezeptoren zugerechnet (Henson et al. 2010). Dabei beinhaltet GluN2 oder die Verbindungsstelle zwischen GluN1 und GluN2 die Glutamatbindungsstelle. GluN1 besitzt dagegen die oben erwähnte Glycinbindungsstelle. Sie ist im Gegensatz zum Glycinrezeptor jedoch Strychnin-insensitiv (7 Box: NMDA-Rezeptorvarianten). Wichtig für die physiologische Rolle von NMDA-Rezeptoren ist die spannungsabhängige Mg2+-Blockade, die bei einem negativen Ruhemembranpotenzial den Kanal nahezu vollständig verschließt. Wird die postsynaptische Zelle ausreichend depolarisiert, wird die Mg2+-Blockade geschwächt und der Kanal schließlich geöffnet. Dieser Mechanismus geht mit einer erhöhten Ca2+-Permeabilität der NMDA-Rezeptoren einher, ist abhängig von der Zusammensetzung der UE und bedingt die besondere Bedeutung dieser Rezeptoren für die neuronale Plastizität. Während die AMPA/Kainat-Rezeptoren eine sehr schnelle Depolarisation der postsynaptischen Zelle bewirken, bedingen NMDA-Rezeptoren durch die erforderliche vorherige Depolarisation einen langsameren Rezeptorstrom. Die Aktivierung der NMDA-Rezeptoren erfolgt dabei im Bereich von 15–20 ms und, einmal aktiviert, verbleiben NMDA-Rezeptoren für einige hundert Millisekunden in diesem Zustand. Der dabei verursachte Ca2+-Einstrom gilt als Initiator länger anhaltender synaptischer Veränderungen wie LTD und LTP. Aufgrund der Rolle, die für GluN bei einer Reihe neurologischer Erkrankungen angenommen wird, rückt sowohl die Modulation dieser Rezeptoren z. B. durch G-Protein-gekoppelte Rezeptoren (Chen u. Roche 2007; Lau et al. 2009) als auch die spezifische Rolle extrasynaptischer und präsynaptischer Rezeptoren stärker in den Vordergrund (Hardingham u. Bading 2010; Pinheiro u. Mulle 2008)
Selektive Antagonisten Neben ihren typischen Agonisten sind die drei Rezeptorklassen durch ihre selektiven Antagonisten charakterisiert. Für die NMDA-Rezeptoren (mit Ausnahme der NR1/NR3) sind dies: 4 CPP: 3-(±-2-Carboxypiperazin-4-yl)propyl-1-phosphonsäure,
177 17.3 · Aminosäurerezeptoren
4 D-AP5 oder auch APV: 2-Amino-5-phosphonovaleronsäure, 4 D-AP7: 2-Amino-7-phosphonoheptansäure. Antagonisten für Nicht-NMDA-Rezeptoren sind die Chinoxalindione: 4 CNQX: 6-Cyano-7-nitrochinoxalin-2,3-dion, 4 DNQX: 6,7-Dinitrochinoxalin-2,3-dion, 4 NBQX: 6-Nitrosulfamoylbenzo(f)-chinoxalin-2,3-dion.
NMDA-Rezeptorvarianten Von GluN1 (NR1) werden acht Varianten durch alternatives Splicing einer N-terminalen und zweier C-terminaler Regionen gebildet. Da der C-Terminus die Interaktion mit weiteren Proteinen, z. B. des Zytoskeletts, bestimmt, können durch die Splice-Varianten verschiedene Lokalisierungen innerhalb einer Zelle bedingt sein. Von den GluN2 (NR2) sind die vier Varianten GluN2A–D (NR2A–D) bekannt, die gemeinsam mit GluN1 verschiedene Heteromere bilden. GluN2A wird ähnlich ubiquitär exprimiert wie GluN1, besonders stark im adulten Vorderhirn und im Hippokampus. Sie fällt durch eine glycin- und Ca2+-abhängige Desensitivierung und eine besonders schnelle Deaktivierung auf. Ihre Expression steigt mit zunehmendem Alter und vermittelt eine vergleichsweise geringe Glycinsensitivität. GluN2B findet sich besonders im adulten Vorderhirn, aber nicht im Zerebellum. Treten verschiedene GluN2 in demselben Neuron auf, dominiert funktionell eine anwesende GluN2B. GluN2C wird überwiegend im Zerebellum exprimiert. GluN2B und -C vermitteln im Gegensatz zu GluN2A eine hohe Glycinsensitivität. GluN2D ist besonders im pränatalen und frühen postnatalen Hirn zu finden. GluN2D-enthaltende Rezeptoren besitzen eine sehr langsame Deaktivierungskinetik und ebenso wie GluN1/GluN2C eine schwache Mg2+-Blockade. Rezeptoren mit einer GluN2A-UE zeichnen sich darüber hinaus durch eine hohe Zn2+-Sensitivität aus, Rezeptoren mit einer GluN2B-UE durch eine Polyaminbindungsstelle. GluN3A und -B (NR3A/B) weisen einige Besonderheiten auf: Während GluN3A in Kortex, Hippokampus und Thalamus während der Entwicklung exprimiert wird, ist GluN3B besonders in Motorneuronen des Rückenmarks und Hirnstamms anzutreffen. Sie bilden keine homomeren Rezeptoren. Wenn sie in Zellkultursystemen mit GluN1 und -2 koexprimiert werden, sind kleinere NMDA-induzierte Ströme zu beobachten. Gemeinsam mit GluN1 bilden sowohl GluN3A als auch GluN3B glycinsensitive Kationenkanäle, die insensitiv gegenüber Glutamat und NMDA sind. Sie sind Ca2+-impermeabel und werden durch D-Serin, nicht jedoch durch Mg2+, MK-801 oder kompetitive Antagonisten (z. B. AP-5) inhibiert. Kultivierte zerebrokortikale Neuronen zeigten glycininduzierbare Depolarisationen mit einer übereinstimmenden Pharmakologie. Die physiologische Rolle der beiden UE ist jedoch noch weitgehend unverstanden (einen gegenwärtigen Überblick geben Henson et al. 2010).
Während Letztere als generelle AMPA- und Kainatrezeptorantagonisten mit einer leichten Selektivität für AMPA-Rezeptoren bekannt sind, wurde eine 100-fach höhere Selektivität von NBQX für AMPA-Rezeptoren beschrieben (Mayer et al. 2006). Neuere Entwicklungen wie die 2,3-Benzodiazepine GYKI52466 und insbesondere GYKI53655 und LY300168 stellen AMPAselektive Antagonisten dar. Auch halogenierte Derivate von Willardiin zeigen subtypspezifischen Agonismus. So ist (S)-5Fluorwillardiin ein AMPA-spezifischer Agonist, während (S)-5Trifluormethylwillardiin den potentesten und (S)-5-Iodwillar-
diin den spezifischsten Kainatagonisten darstellen. Auch ATPA ((R,S)-2-Amino-3(3-hydroxy-5-tert-butylisoxazol-4-yl)propansäure) ist ein weitgehend selektiver Kainatrezeptoragonist. Weitere Substanzen wie SYM2081 sind zwar potente Liganden der Kainatrezeptoren, desensitivieren den Rezeptor aber schneller als sie ihn aktivieren. Sie wirken daher im Wesentlichen als funktionelle Antagonisten. Für den NMDA-Rezeptor sind des Weiteren Zn2+ (GluN2A) und Ifenprodil (GluN2B) als subtypspezifische Inhibitoren beschrieben. Das Steroid Pregnenolon dagegen potenziert GluN2A und -B, inhibiert aber GluN2C und -D enthaltende Rezeptoren. Kristallographische Arbeiten haben in den letzten Jahren Einblicke in Gemeinsamkeiten und Unterschiede verschiedener Bindungsdomänen insbesondere der GluK1/2 (GluR5/6) und GluA2 (GluR2) bzw. der GluN1 (NR1) gegeben. Diese könnten auch zur Entwicklung subtypspezifischer(er) Liganden beitragen (Kaczor u. Matosiuk 2010). Eine Übersicht der pharmakologischen Entwicklungen findet sich bei Alt et al. (2004), Mony et al. (2009; GluNs) und Jane et al. (2009; GluK).
17.3.2
Metabotrope Glutamatrezeptoren (mGluR)
Die metabotropen Glutamatrezeptoren gehören zu den sog. G-Protein-gekoppelten Rezeptoren (GPCR). Sie bilden gemeinsam mit den GABAB-Rezeptoren, einer Gruppe Ca2+-sensitiver Rezeptoren und einigen olfaktorischen Rezeptoren die Klasse 3 (C) der GPCR. Diese weist nur eine geringe Ähnlichkeit (12% Sequenzidentität) mit der rhodopsinähnlichen Familie 1 der GPCR auf. Sie besitzen einen großen extrazellulären N-Terminus und einen intrazellulären C-Terminus. Dazwischen liegt die für alle GPCR typische 7-Transmembranregion. Der N-Terminus, der kristallisiert werden konnte, enthält die Bindungsstelle für Glutamat. Deren Besetzung bewirkt eine helikale Konformationsänderung, die den Rezeptor in einem aktivierten Zustand stabilisiert.
Rezeptorsubtypen Bisher sind 8 Rezeptorsubtypen identifiziert, die als mGlu1–8 bezeichnet werden (Ferrugati u. Shigemoto 2006). Ein Austausch der N-Termini zwischen verschiedenen mGluR (1 vs. 2 und 4) verändert die Wirkung subtypspezifischer Agonisten, ohne die Verbindung zur intrazellulären Signalkaskade zu beeinflussen. Funktionell treten sie wahrscheinlich als Homodimere auf. Während die erste und die zweite intrazelluläre Schleife hochkonserviert sind, ist die dritte sehr variabel. Gemeinsam mit der vierten Schleife ist sie an der Interaktion mit spezifischen intrazellulären Signalkaskaden beteiligt, z. B. der Interaktion mit der Phospholipase C (PLC) oder mit dem spezifischen G-Protein. Vielfältige Interaktionen mit intrazellulären Proteinen, z. B. den Zytoskelettproteinen Tubulin oder Arrestin, sind beschrieben. Wichtig sind die »Homer-Proteine«, die durch eine Interaktion am C-Terminus den Rezeptor mit verschiedenen intrazellulären Zielproteinen, wie z. B. dem Rezeptor für Inositol-1,4,5-trisphosphat (IP3), verbinden. Homer, das darüber hinaus auch mit
17
178
Kapitel 17 · Aminosäuren
Ryanodinerezeptoren und trp-Kanälen (transientes Rezeptorpotenzial) interagiert, wird im Zusammenhang mit pathologischen Veränderungen bei Alkoholmissbrauch, Stimulanzienabhängigkeit, Depression, aber auch Angsterkrankungen, Epilepsie und Schizophrenie diskutiert (Übersicht: Szumlinski et al. 2006). Die gebildeten homodimeren Rezeptoren werden in drei Unterklassen eingeteilt (. Tab. 17.1): 4 die Subtypen mGlu1 und mGlu5 bilden Gruppe I, 4 mGlu2 und mGlu3 die Gruppe II, 4 mGlu4, 6–8 die Gruppe III. Die Rezeptoren der Gruppe I stimulieren über eine PLC die Freisetzung von IP3 und Diacylgycerin (DAG). IP3 führt zur Ca2+-Freisetzung aus intrazellulären Speichern, während die DAG-gekoppelten Signalkaskaden bisher nur unvollständig verstanden sind. Sie finden sich in der Peripherie der postsynaptischen Strukturen und modulieren die Erregbarkeit der Zelle. Gruppe-II- und -III-Rezeptoren inhibieren über Gi die Adenylatcyclase (AC), wodurch die intrazelluläre cAMP-Konzentration reduziert wird. Sie bilden wahrscheinlich präsynaptische negative Rückkopplungsmechanismen nicht nur für die Glutamat-, sondern auch für die GABA-, Dopamin-, Adenosin- oder Serotoninfreisetzung. Sie werden im Zusammenhang mit zahlreichen pathologischen Erscheinungen diskutiert. mGlu3 (Gruppe II) findet sich darüber hinaus auch auf Gliazellen und mGlu6 (Gruppe III) ausschließlich in der Retina (Weitere Details bei: Niswender u. Conn 2010; Ferrugati u. Shigemoto 2006; Cartmell u. Schoepp 2000).
17.3.3
17
Ionotrope GABA-Rezeptoren: iGABAR, GABAAR
Die ionotropen GABA-Rezeptoren oder auch GABAAR gehören mit den nikotinischen Acetylcholinrezeptoren (nAChR), den Glycinrezeptoren und dem 5-HT3-Subtyp der Serotoninrezeptoren zur Superfamilie der ligandengesteuerten Ionenkanäle (Ortells u. Lunt 1995). GABAAR bilden einen Kanal, der Cl–Ionen gemäß ihrem Konzentrationsgradienten meist in die Zelle fließen lässt. Der Kanal wird aus den 5 Proteinuntereinheiten gebildet. Bisher wurden 19 verschiedene UE als Produkte verschiedener Gene identifiziert. Sie werden aufgrund der Identität ihrer Aminosäuresequenzen in 8 Klassen mit meist mehreren Varianten unterteilt: α1–6, β1–3, γ1–3, δ, ρ1–3, π, ε und θ. Die Sequenzidentität innerhalb der Klassen beträgt 70–80% (bei den β-UE bis zu 98%), zwischen den Klassen 30–40%. In der Literatur werden auch eine β4- und γ4-UE genannt. Diese wurden bisher nur beim Hühnchen beschrieben und repräsentieren wahrscheinlich Homologe der bei dieser Spezies nicht auftretenden β1- und γ3-UE. Die Diversität der UE wird durch Splice-Varianten von α6, β2 und γ2 vergrößert, deren physiologische Rolle jedoch weitgehend unbekannt bzw. umstritten ist, insbesondere die der α6-UE, die nicht funktionell ist.
TM-Regionen Jede UE des GABAAR bildet 4 TM-Regionen (TM1–4). Im Nterminalen, extrazellulären Ende des Rezeptors wurden einige Aminosäuren identifiziert, die für die Wirkung von GABA und anderen Liganden relevant sind. Eine für die Superfamilie charakteristische Cysteinschleife, die bei nAChR an der Bindung von Acetylcholin beteiligt ist, konnte in ihrer Funktion für die GABAAR bisher nicht charakterisiert werden. In TM1 und TM2 sind einige Aminosäuren bekannt, die wahrscheinlich verschiedene Bindungsstellen an den Öffnungsmechanismus des intrinsischen Ionenkanals koppeln. In Analogie zu nAChR konnten zwischenzeitlich Strukturdetails der TM2-/TM3-Region und ihre Bedeutung für die Ligandenbindung und Kanalöffnung in dieser Familie von Rezeptoren aufgedeckt werden (Diskussion: Lester et al. 2004). Zwischen TM3 und TM4 liegt ein 80–180 Aminosäuren langer intrazellulärer Bereich, der bei den verschiedenen UE in Länge und Zusammensetzung sehr variabel ist und potenzielle Phosphorylierungsstellen enthält. In vivo sind Rezeptormodulationen durch Proteinkinase A (PKA), Proteinkinase C (PKC) und Tyrosinkinasen beschrieben, deren physiologische Relevanz jedoch nur ansatzweise bekannt ist (Brussaard et al. 2000; Brandon et al. 2002). Sicher ist nur, dass verschiedene Aminosäuren der Schleife an der Insertion in die Plasmamembran, der Aggregation der Kanalproteine in der Plasmamembran (»Clustering«) und dem Recycling aus der Plasmamembran beteiligt sind.
Verbreitung der Untereinheiten Die Sequenzen und die Verteilungen der UE ist bei den Vertebraten von den Knochenfischen bis zum Menschen bemerkenswert konstant (»GeneBank«); auch treten verschiedene UE zu unterschiedlichen, aber zwischen den Spezies vergleichbaren Entwicklungszeiten auf. All dies deutet auf eine physiologische Spezifität der exprimierten UE und Relevanz der durch sie ermöglichten Rezeptorsubtypen. Neben den ubiquitären UE α1, β2/3 und γ2 treten andere – mRNA-In-situ-Hybridisierung und Immunlokalisationen zufolge – spezifisch in begrenzten Arealen auf. So sind α2 und α5 vermehrt im Hippokampus zu finden. α2 als auch α3 sind meist dort zu finden, wo weniger α1 nachgewiesen werden kann. Während β2 – trotz einer starken Dominanz im Thalamus – und β3 relativ gleichförmig auftreten, dominiert β1 im Hippokampus. γ2 ist die am weitesten verbreitete γ-UE, während sich für die seltenen γ1 und γ3 keine ausgeprägten Schwerpunkte finden. Eine detaillierte Übersicht über die genaue Verteilung der UE in adulten Nagern unter Berücksichtigung von mRNA-Lokalisierungen und immunhistochemischen Methoden bieten Korpi et al. (2002).
Homomere und heteromere Rezeptoren Homomere Rezeptoren treten nach bisherigem Wissen nur in artifiziellen Expressionssystemen in vitro auf. Eine Ausnahme machen die drei UE ρ1–3. Sie bilden vielleicht nur in vitro funktionelle Homopentamere, die überwiegend, jedoch nicht ausschließlich, in der Retina auftreten. Aufgrund ihrer Insensitivität gegenüber Bicuccullin und einer Spezifität für verschiedene Stereoisomere von GABA, insbesondere CACA (cis-4-Amino-
17
179 17.3 · Aminosäurerezeptoren
. Tab. 17.1 Aminosäurerezeptoren im Überblick Neurotransmitter
Rezeptor Bezeichnung
Glutamat
Subtypspezifischer Antagonist
Depolarisierender Einstrom von Na+ (und K+)
AMPA Kainat Quisqualat
CNQX DNQX NBQX
Ionotrop AMPAR
GluA1–4
KainatR
GluK1–5
NMDAR
GluN1 GluN2A–D
Depolarisierender Einstrom von Na+ (und Ca2+)
NMDA plus
CPP D-AP5 D-AP7 (MK801)
GluN3A–B
Na+-Einstrom
Glycin
D-Serin
(S)-5-Fluorwillardiin
α-Methyl-4-carboxyphenylglycin
(S)-5-Trifluormethylwillardiin (S)-5-Iodwillardiin ATPA
GYKI52466 GYKI53655 LY294486
G-Protein mGlu1 mGlu5
Gq/11: PLC → Ca2+ (↑)
Quisqualat trans-ACPD
mGlu2–4 mGlu6–8
Gi/o: AC (↑)
L-AP4
GABAAR
α1–6 β1–3 γ1–3 δ, θ, ε,π
Hyperpolarisierender Cl–-Einstrom
GABACR
ρ1–3
mGluR
Ionotrop
Metabotrop GABABR
Glycin
Subtypspezifischer Agonist
Subtyp
Metabotrop
GABA
Wirkung
GABA Muscimol Isuguvacin
Bicucullin SR95531 (Picrotoxinin)
CACA, TACA
TPMPA, I4AA
G-Protein 1, 2
Gi/o ⇒ Ca2+ und K+-Strom
Baclofen Saclofen
Phaclofen
α1–4β
Hyperpolarisierender Cl–-Einstrom
Glycin β-Alanin Taurin
Strychnin (Picrotoxinin)
Ionotrop GlyR
ACPD (1S,3R)-1-Aminocyclopentandicarboxylat, L-AP4 2-Amino-4-phosphonobuttersäure, CACA cis-4-Aminocrotonsäure, TACA trans-4-Aminocrotonsäure, TPMPA (1,2,5,6-Tetrahydropyridin-4-yl)methylphosphinsäure, I4AA Imidazol-4-essigsäure. R Rezeptor, Gx verschiedene Subtypen GTP-bindender Proteine, AC Adenylylcyclase, PLC Phospholipase; weitere Abkürzungen s. Text.
crotonsäure), werden sie gerne als GABACR einer separaten Klasse zugeordnet. Wegen der Sequenzidentität ist diese Zuordnung physiologisch jedoch unbegründet. Die meisten therapeutisch relevanten pharmakologischen Eigenschaften nativer GABAAR können durch die gemeinsame Expression von α-, β- und γ-UE in heterologen Systemen nachempfunden werden. Wahrscheinlich treten jeweils zwei α-, zwei β- und eine γ-UE zu einem funktionellen Rezeptor zusammen. Schätzungsweise werden ca. 40% aller Rezeptoren aus den ubiquitären UE α1, β2/3 und γ2 gebildet, nahezu zwei Drittel der Rezeptoren enthalten die α1–3-, β2/3- und γ2-UE. Untereinheiten wie etwa die δ-UE werden wahrscheinlich anstelle einer γ-UE im Komplex eingebaut. Bisher ist wenig über die UE ε, π und θ bekannt. Auch sie treten wahrscheinlich anstelle der γ-UE
in einem nativen Rezeptor auf. Da die γ-UE für eine Konzentration der Rezeptoren an der Postsynapse mitverantwortlich sind, bedeutet dies, dass δ, aber wahrscheinlich auch ε, π und θ enthaltende Rezeptoren überwiegend extrasynaptisch lokalisiert sind (Korpi u. Sinkkonen 2006). Da nicht alle UE in allen Hirnbereichen bzw. nicht zum gleichen Zeitpunkt exprimiert werden, jedoch verschiedene α-und β-UE in ein und demselben Komplex auftreten können, diskutiert man etwa 100 Isoformen als in vivo existent (Tretter et al. 1997). Es ist sehr wahrscheinlich, dass mehrere verschiedene GABAAR in einer Zelle auftreten können, es dementsprechend zelluläre Mechanismen geben muss, die gezielt die Assemblierung und/oder Sortierung in subzelluläre Areale, z. B. post- vs. extrasynaptisch regulieren.
180
Kapitel 17 · Aminosäuren
GABA-Mimetika und GABA-Senstitiviät Kompetitiv zu GABA binden an diesen Rezeptor, nicht aber an die metabotropen GABABR, Muscimol und Isoguvacin als Agonisten sowie Bicucullin als Antagonist (Ausnahme: die erwähnten ρ-UE). GABAAR, wie auch andere Cl–-Kanäle, werden durch den Kanalblocker Picrotoxinin allosterisch inhibiert. Penicillin blockiert in hohen Konzentrationen die Kanalpore physikalisch. Damit sind GABAAR im engeren Sinn von metabotropen GABABR und ebenso von aus ρ-UE gebildeten Rezeptoren pharmakologisch zu differenzieren (. Tab. 17.1). Bis auf die oben erwähnten GABA-Stereoisomere mit einer Selektivität für die ρ-UE sind bisher keine weiteren subtypspezifischen GABAMimetika bekannt, obwohl verschiedene GABAAR sich z. T. deutlich in ihrer Sensitivität gegenüber GABA unterscheiden. Die vermehrt während der späten prä- und frühen postnatalen Entwicklung auftretenden Rezeptoren mit einer α3-UE sind in allen untersuchten Systemen die GABA-insensitivsten Rezeptorsubtypen. Dagegen fallen die auf die Körnerzellen des Kleinhirns beschränkten α6-enthaltenden Rezeptorsubtypen als sehr sensitiv gegenüber GABA auf. Daneben spielt neben den α-UE auch die δ-UE eine Rolle für die GABA-Sensitivität, die in allen getesteten δ-Rezeptorsubtypen im Vergleich zu γ2-enthaltenden Rezeptoren erhöht war. Allerdings sind Rezeptoren mit δ-UE auf Kleinhirn, Hippokampus und Thalamus beschränkt. Die hohe Sensitivität dieser Rezeptoren gegenüber GABA, verbunden mit einer geringen Desensitivierung bei konstanter Anwesenheit des Neurotransmitters, lassen diese Rezeptoren prädestiniert erscheinen für eine extrasynaptische tonische Aktivität. Das heißt, sie stellen Cl–-Kanäle dar, die selbst bei geringen GABA-Konzentrationen lang anhaltend bis dauerhaft geöffnet sind und somit eine allgemein dämpfende Funktion ausüben.
Pharmakonwirkungen auf GABAA-Rezeptoren Benzodiazepine
17
Eine Anzahl klinisch wichtiger Pharmaka wirken auf die GABAAR. Sie besitzen z. T. ausgeprägte Subtypspezifitäten. So wirkt die Klasse der Benzodiazepine, die als Beruhigungsmittel zu den meistverbreiteten Psychopharmaka gehören, ausschließlich über den GABAAR, dem einzigen Vermittler der Wirkungen dieser Substanzklasse. Seit den 1980er Jahren ist bekannt, dass der sog. BZ-Rezeptor ein GABAAR ist, der eine γ2-UE im heteropentameren Rezeptor erfordert und durch die α-UE beeinflusst wird. Die mehr als 20 verschiedenen in Deutschland zugelassenen Benzodiazepine unterscheiden sich klinisch hauptsächlich durch die unterschiedlichen Halbwertszeiten. Alle sind rein allosterische Modulatoren, d. h., sie verändern nur die Wirkungen von endogener GABA. Die meisten Benzodiazepine – typische Vertreter sind Diazepam oder Flunitrazepam – verstärken die Effekte niedriger GABA-Konzentrationen (»positive Modulatoren«). Da sie keine intrinsische Aktivität auf den GABAAR haben und in Gegenwart sättigender GABA-Konzentrationen wirkungslos bleiben, sind sie in der klinischen Anwendung sehr sicher.
Neben den positiven Modulatoren gibt es auch negative Modulatoren, die die Wirkung von GABA vermindern (z. T. auch Inverse Agonisten gennant). Hierzu gehören die Substanz Ro15-4513 und viele β-Carboline. Zu den Antagonisten der Benzodiazepinbindungsstelle, die definitionsgemäß andere Liganden verdrängen, ohne selbst eine Wirkung auszuüben, gehört z. B. das als Antidot zugelassene Flumazenil. In Bezug auf GABA-Wirkungen handelt es sich um einen »Nullmodulator«. Zwischen den beiden Extremen der positiven und negativen Modulatoren liegt ein Kontinuum von Substanzen, die – abhängig von dem jeweiligen Rezeptorsubtyp – unterschiedliche Bindungsaffinitäten und Potenz zur Modulierung der GABA-Wirkungen haben. Hier sind insbesondere Liganden zu nennen, die zwar kompetitiv die Benzodiazepinbindungsstelle erkennen, aber selbst keine Benzodiazepinstruktur haben, wie z. B. das experimentelle CL218872 und Zolpidem. Beide besitzen eine Präferenz für α1β_γ2-Rezeptoren im Vergleich zu α2-und α3-enthaltenden Rezeptoren, wobei Zolpidem α5-enthaltende Rezeptoren gar nicht erkennt. Auf Seite der Rezeptoren ragen die α6und α4-UE heraus, die beide Diazepam-insensitiv sind, aber Flumazenil binden. Erstere zeigen eine positive Modulation durch Liganden wie z. B. Ro15-4513 oder Flumazenil, die ansonsten als negative bzw. Nullmodulatoren anderer Rezeptorsubtypen bekannt sind (Johnston 2005).
Neurosteroide Neurosteroide sind endogene Modulatoren, die in jüngster Zeit wieder in das Zentrum des Forschungsinteresses gelangt sind (7 20.1.2). Hierzu gehören Metaboliten des Progesterons (z. B. THP: Tetrahydroprogesteron, 5α-Pregnan-3α-ol-20-on oder 5βPregnan-3α-ol-20-on) und der Desoxykortikosterone (z. B. THDOC: Tetrahydrodesoxykortikosteron, 5α-Pregnan-3α,21diol-20-on) oder auch das synthetische Androsteron 5α-Androsteron-3α-ol-17-on. Sie werden in den Gliazellen gebildet und finden sich im ZNS in höheren Konzentrationen als im Blutplasma. Der schnelle zeitliche Verlauf ihrer Wirkung und ihre Stereoselektivität widersprechen einem unspezifischen oder genomischen Mechanismus. Auch von ihnen sind, analog zu den Benzodiazepinen, positive und negative Modulatoren bekannt. Viele Steroide potenzieren in geringen Konzentrationen von etwa 30–300 nM zunächst GABA-induzierte Ströme. Bei Konzentrationen > 1 μM sind sie in der Lage, GABAAR in Abwesenheit von GABA zu öffnen (Majewska 1992).
Barbiturate und Anästhetika Auch Barbiturate wie z. B. Pentobarbital oder Sekobarbital vermitteln ihre beruhigende, sedative und hypnotische Wirkung über den GABAAR. Zusätzlich wirken eine Reihe genereller und volatiler Anästhetika über den GABAAR. Hierzu gehören Vertreter verschiedener Substanzklassen wie Propofol, Clomethiazol oder die volatilen Anästhetika, wie z. B. Isofluran und Halothan. Auffällig ist, dass sie in geringen Konzentrationen den GABA-induzierten Strom zunächst potenzieren, während sie bei höheren Konzentrationen den Kanal unabhängig von GABA direkt öffnen. Obwohl sie nicht ausschließlich über den GABAAR wirken, hängt ihre anästhetische Potenz direkt mit ihrer Wir-
181 17.3 · Aminosäurerezeptoren
kung auf den GABAAR zusammen; verwandte Substanzen ohne Affinität zum GABAAR bleiben anästhetisch unwirksam (Franks u. Lieb 1994). Neuere Arbeiten deuten an, dass die sedativen und anästhetischen Eigenschaften mancher Anästhetika durch verschiedene β-UE vermittelt werden (Quinlan et al. 1998; Reynolds et al. 2003). Den Arbeiten zufolge spielen β2- und β3-enthaltende Rezeptoren eine differenzielle Rolle bei Sedierung und Anästhesie, sodass beide Eigenschaften physiologisch voneinander getrennt werden können. Auch das ursprünglich für die Epilepsiebehandlung entwickelte Loreclezol – (Z)-1-[2-Chlor-2-(2,4dichlorphenyl)ethenyl]-1,2,4-triazol – potenziert die Wirkung von GABA nur in α-β2/3-enthaltenden Rezeptoren, unabhängig von der Anwesenheit einer γ- oder δ-UE. Allerdings gibt es Punktmutanten einzelner GABAAR, die die Wirkung dieser Substanzen verhindern. Für diese Phänomene ist aber der genaue Wirkmechanismus unbekannt, und die Ergebnisse verschiedener Labore sind widersprüchlich (Korpi 1994; Wallner et al. 2006). Die Interaktionen von Ethanol mit dem GABAAR sind zwar in vielen methodisch unterschiedlichen Präparationen beschrieben, aber ob die Wirkung direkt über die GABAAR erfolgt, ist sehr umstritten. Nur für anästhetische Wirkungen von Ethanol bei hohen Millimol-Konzentrationen wurde bisher eine spezifische Interaktionsstelle in der TM1-Region der α1UE durch Punkmutationen des GABAAR identifiziert. Einige neuere Arbeiten implizieren auch die α2-UE in Alkoholmissbrauch (Blednov et al. 2011) oder konzentrieren sich auf die extrasynaptischen δ enthaltenden Rezeptoren. Neben der hohen GABA-Sensitivität sind sie besonders sensitiv gegenüber Neurosteroiden. Die Entwicklung von Gaboxadol als Schlafmittel basiert auf einer besonderen Sensitivität bestimmter GABAARIsoformen, in denen Gaboxadol, obwohl kompetitiv zu GABA, dessen Wirkstärke übersteigt.
Weitere Pharmaka Eine chemisch inhomogene Gruppe von Substanzen, die aber teilweise kompetitiv miteinander agieren, inhibiert den GABAinduzierten Strom und wirkt daher – im Gegensatz zu den bisher besprochenen Substanzen bis auf die o. g. negativen Modulatoren – nicht sedativ, sondern krampfauslösend. Hierzu gehören Picrotoxinin, TBPS (t-Butylbicyclophosphorothionat), Pentylentetrazol und eine Reihe von Insektiziden wie Dieldrin oder Lindan. Das weit verbreitete Diuretikum Furosemid inhibiert nicht nur den nach außen gerichteten Cl–-Kationenkotransporter, sondern beeinflusst auch die Antworten von Neuronen auf GABA, wirkt aber nicht über die gleiche Bindungsstelle wie Picrotoxinin und TBPS. Auch wenn Furosemid nur Rezeptoren mit einer α6α2/3-oder α4β2/3-UE inhibiert, ist eine pharmakologische Nutzung aufgrund fehlender Hirngängigkeit dieser Substanz bisher ausgeschlossen. Die molekulare Kenntnis der relevanten Pharmakophoren wird in naher Zukunft wahrscheinlich eine gezieltere Pharmakaentwicklung ermöglichen. Eine kritische Übersicht über die gegenwärtigen Entwicklungen geben Johnston (2005) sowie Korpi und Sinkkonen (2006).
17.3.4
Metabotrope GABA-Rezeptoren: mGABAR, GABABR
Die zweite Klasse von GABA-Rezeptoren stellen die GABAB-Rezeptoren dar, die zunächst aufgrund ihrer besonderen Pharmakologie identifiziert wurden (Bowery et al. 2002; Calver et al. 2002). Es sind G-Protein-gekoppelte Rezeptoren (GPCR), die gemeinsam mit den mGluR zur Klasse 3 dieser Superfamilie gehören. Sie werden spezifisch durch die GABA-kompetitiven Substanzen (–)-Baclofen stimuliert bzw. durch Phaclofen inhibiert; sie sind aber im Gegensatz zu den GABAAR Bicucculininsensitiv. In den späten 1990er Jahren wurden zwei UE kloniert, GABAB1 und GABAB2, die gemeinsam einen funktionellen heterodimeren Rezeptor bilden. Beide Isoformen existieren in mehreren Splice-Varianten, deren In-vivo-Existenz und damit funktionelle Relevanz umstritten ist, obwohl teilweise eine räumliche und zeitliche differenzielle Expression für die GABAB1a- und GABAB1b-UE beschrieben ist. Die Ligandenbindung erfolgt, ähnlich wie es für die iGluR beschrieben wurde, nach dem Prinzip der Venusfliegenfalle, allerdings scheint nur die Bindungstasche der GABAB1 tatsächlich einen Liganden binden zu können. Ihre Aktivierung beeinflusst über Gi/o verschiedene intrazelluläre Signalkaskaden. Sie sind sowohl präsynaptisch als auch postsynaptisch lokalisiert. Präsynaptisch beeinflussen sie die Transmitterfreisetzung, postsynaptisch die Erregbarkeit der nachgeschalteten Zelle. Ob ihre Aktivierung dämpfend oder erregend wirkt, ist nur im räumlichen und zeitlichen Kontext der jeweiligen Synapsen zu beantworten.
Postsynaptische Rezeptoren Werden die überwiegend peri- oder extrasynaptisch lokalisierten postsynaptischen Rezeptoren durch den GABAB-selektiven Agonisten Baclofen stimuliert, aktivieren sie einen Kaliumausstrom. Dieser ist als langsames inhibitorisches postsynaptisches Potenzial der Zellen zu beobachten, das als IPSPb bezeichnet wird. Es besitzt eine Latenz von etwa 10–50 ms und wird durch eine räumlich begrenzte, wahrscheinlich membranständige Signalkaskade hervorgerufen. Die vermittelte Inhibition ist verglichen mit der von GABAAR langsam und gering. Wahrscheinlich dämpfen die Rezeptoren schwach erregende Signale und verbessern dadurch das Signal-Rausch-Verhalten, z. B. indem sie die Mg2+-Blockade der NMDA-Rezeptoren stabilisieren. Unter physiologischen Bedingungen werden sie vorwiegend während einer synchronen Aktivität GABAerger Interneuronen aktiviert. Allerdings können IPSPb auch Vorgänger erregender Aktivität sein. So wird z. B. im Thalamus durch die IPSPb-bedingte Hyperpolarisation die Inaktivierung von Ca2+-Kanälen (T-Typus) aufgehoben, was nach Repolarisation leicht zu einem Ca2+-Einstrom und dadurch zu Aktionspotenzialen führt. Ebenso inhibieren GABAB-Rezeptoren Ca2+-Kanäle vom N-, L-, P- und QTypus, dämpfen dadurch Ca2+-aktivierte Kaliumkanäle und erhöhen die nachfolgende Erregbarkeit der Zelle.
Präsynaptische Rezeptoren Präsynaptische GABAB-Rezeptoren kontrollieren die Freisetzung mehrerer Transmitter, z. B. von GABA (Autorezeptoren)
17
182
Kapitel 17 · Aminosäuren
oder von Glutamat, einigen Monoaminen und Neuropeptiden (Heterorezeptoren). Sie bewirken eine Inhibition des Neurons mit einer Verzögerung von 20–50 ms und einer Dauer von einigen Sekunden. Nach bisherigen Erkenntnissen unterscheiden sich Heterorezeptoren pharmakologisch kaum von Autorezeptoren, außer durch eine in frühen Arbeiten berichtete geringere Sensitivität gegenüber dem Agonisten Baclofen und Antagonisten wie Phaclofen. Die genauen molekularen Mechanismen ihrer präsynaptischen Wirkungen sind nicht eindeutig identifiziert. Eine verminderte GABA-Freisetzung führt über die Autorezeptoren zu einer Inhibition des präsynaptischen Ca2+-Einstroms. Allerdings ist umstritten, ob dies durch eine Aktivierung präsynaptischer Kaliumkanäle oder durch Inhibition spannungsabhängiger Ca2+-Kanäle geschieht. Für die Inhibition der Glutamatfreisetzung wurde ein direkter Eingriff in die Mechanismen der Vesikelfreisetzung postuliert (Wu u. Saggau 1997).
17.3.5
Glycinrezeptorvarianten Homomere α-UE bilden relativ ähnliche Rezeptoren mit einer halbmaximalen Aktivierung durch 10–100 μM Glycin. Durch alternatives Splicen, die UE-Zusammensetzung und posttranslationale Modifikationen (mRNA-Editing) ist jedoch eine Variabilität nativer Rezeptoren gegeben. So sind Splice-Varianten mit bisher unbekannter Funktion der intrazellulären Domäne zwischen TM3 und TM4, in der α1- und α3-UE und der N-terminalen Region der α2-UE bekannt. In der Mausmutante spastic gehen allerdings durch eine splicebedingte Veränderung 90% der β-UE verloren. Dies führt zum weitgehenden Verlust funktioneller GlyR und zum Auftreten spastischer Bewegungen. In ähnlicher Weise ist die bei Menschen auftretende Hyperekplexie auf eine Punktmutation des GlyR zurückzuführen. Sie verhindert die Insertion funktioneller Rezeptoren in die Zellmembran.
Glycinrezeptoren
Glycin ist der wichtigste inhibitorische Transmitter in Rückenmark und Hirnstamm. Es ist darüber hinaus (Ko-)Agonist des NMDA-Subtyps der Glutamatrezeptoren. Der verbreiteste Glycinrezeptor (GlyR) gehört mit dem nAChR, GABAAR und 5HT3-R zur Familie der ligandengesteuerten Ionenkanäle vom Typ der »Cys-loop-Rezeptoren« mit allen ihren eingangs beschriebenen Merkmalen. Wie GABAAR lässt er Cl– seinem Konzentrationsgefälle folgend meist in die Zelle fließen.
Untereinheitenstruktur und Funktion
17
und Hirnstamm finden sich α- und β-UE auch in weiteren Bereichen des ZNS, insbesondere dem Bulbus olfactorius, Hippokampus, Zerebellum und der Retina (Haverkamp et al. 2004; Breitinger u. Becker 2002).
Bisher wurden eine 48 kDa große α-UE mit den 4 Isoformen α1–4 und eine 58 kDa große β-UE identifiziert. Drei der bisher insgesamt acht an der Ligandenbindung beteiligten Aminosäuren sind unmittelbar vor TM1 lokalisiert. α-UE können funktionelle homomere Rezeptoren bilden, β-UE jedoch nicht. In nativem Gewebe dominieren homomere α2-enthaltende Rezeptoren nur während der embryonalen und frühen neonatalen Entwicklung. Danach kommt es zu einer schnellen Umstellung auf überwiegend α1-UE enthaltende Heteropentamere mit einer Stöchiometrie von zwei α- und drei β-UE in einem Komplex (Betz u. Laube 2006; Lynch 2009). Acht Aminosäuren des extrazellulären N-Terminus sind an der Assemblierung der fünf UE beteiligt. Die meisten nativen Rezeptoren besitzen wahrscheinlich eine α1-UE, die im Gegensatz zu α2-UE eine hohe Strychninsensitivität vermittelt. In rekombinanten Rezeptoren induziert die β-UE eine geringere Picrotoxinsensitivität. Ähnlich wie bei den GABAAR wird diese durch eine Aminosäure im N-terminalen Bereich der TM2 bedingt, sodass die Gegenwart der βUE diese stark verringert. Die β-UE bildet auch den Ankerpunkt des Rezeptors zum Zytoskelett: Das 93 kDa große Gephyrin interagiert mit einem 18 Aminosäuren langen Bereich innerhalb der TM3-TM4-Schleife der β-UE und verankert die GlyR an intrazellulären Mikrotubuli (Fritschy et al. 2008). Neuere Arbeiten belegen, dass diese Konzentrierung postsynaptischer GlyR durch die jeweilige synaptische Aktivität gesteuert wird (Hanus et al. 2006) (7 Box: Glycinrezeptorvarianten). Neben Rückenmark
Liganden und Modulatoren Taurin und β-Alanin binden an diesen Rezeptor mit geringer Affinität, jedoch werden sie als endogene Liganden während der Embryonalentwicklung diskutiert. Wichtig ist die Interaktion mit dem Anthelmintikum Avermectin, das den GlyR allosterisch öffnet. Darüber hinaus wurden Kreuzreaktionen mit Liganden des GABAAR beobachtet. So modulieren Ethanol, Anästhetika und Zn2+-Ionen den GlyR. Ebenso blockieren die als Ca2+-Kanalblocker bekannten Dihydropyridine und Verapamil den Rezeptor. Liganden des 5-HT3-Rezeptors wie z. B. Tropisetron und Atropin interagieren mit der Strychnin- bzw. Glycinbindungsstelle in vergleichbaren Konzentrationen wie Glycin selbst. Die Wirkung der Substanz ICS-205,930 ist auf homomere α1- stärker als auf α2-Rezeptoren und sensitiv gegenüber der Anwesenheit einer β-UE. Weitere Arbeiten zeigen konzentrationsabhängige Interaktionen der Cannabinoide Anandamid und 2-Arachidonaglycerol insbesondere mit α3-enthaltenden GlyR. Dies könnte z. B. für die durch Prostaglandin (PGE2) vermittelte Schmerzsensitivierung, die über Proteinkinase A nur α3-, nicht aber α1-enthaltende GlyR im Rückenmark betrifft, therapeutisch interessant sein (Hejazi et al. 2006; ausführliche Übersicht: Webb u. Lynch 2007).
Literatur Alt A, Weiss B, Ogden AM et al (2004) Pharmacological characterization of glutamatergic agonists and antagonists at recombinant human homomeric and heteromeric kainate receptors in vitro. Neuropharmacology 46: 793–806 Ben-Ari Y (2002) Excitatory actions of GABA during development: the nature of the nurture. Nature Rev Neurosci 3: 728–739 Betz H, Laube B (2006) Glycine receptors: recent insights into their structural organization and functional diversity. J Neurochem 97: 1600–1610 Blednov YA, Borghese CM, McCracken ML et al (2011) Loss of ethanol conditioned taste aversion and motor stimulation in knock-in mice with ethanol-insensitive alpha2-containing GABA(A) receptors. J Pharmacol Exp Ther 336: 145–154
183 Literatur
Bowery NG, Bettler B, Froestl W et al (2002) International Union of Pharmacology. XXXIII. Mammalian gamma-aminobutyric acid(B) receptors: structure and function. Pharmacol Rev 54: 247–264 Brandon NJ, Jovanovic JN, Moss SJ (2002) Multiple roles of protein kinases in the modulation of gamma-aminobutyric acid(A) receptor function and cell surface expression. Pharmacol Ther 94: 113–122 Breitinger HG, Becker CM (2002) The inhibitory glycine receptor-simple views of a complicated channel. Chem Bio Chem 3: 1042–1052 Brussaard AB, Wossink J, Lodder JC, Kits KS (2000) Progesterone-metabolite prevents protein kinase C-dependent modulation of gamma-aminobutyric acid type A receptors in oxytocin neurons. Proc Natl Acad Sci USA 97: 3625–2630 Burki F, Kaessmann H (2004) Birth and adaptive evolution of a hominoid gene that supports high neurotransmitter flux. Nat Genet 36: 1061– 1063 Calver AR, Davies CH, Pangalos M (2002) GABA(B) receptors: from monogamy to promiscuity. Neurosignals 11: 299–314 Cartmell J, Schoepp DD (2000) Regulation of neurotransmitter release by metabotropic glutamate receptors. J Neurochem 75: 889–907 Chen BS, Roche KW (2007) Regulation of NMDA receptors by phosphorylation. Neuropharmacology 53: 362–368 Chittajallu R, Braithwaite SP, Clarke VR, Henley JM (1999) Kainate receptors: subunits, synaptic localization and function. Trends Pharmacol Sci 20: 26–35 Collingridge GL, Olsen RW, Peters J, Spedding M (2009) A nomenclature for ligand-gated ion channels. Neuropharmacology 56: 2–5 Coussen F, Perrais D, Jaskolski F et al (2005) Co-assembly of two GluR6 kainate receptor splice variants within a functional protein complex. Neuron 47: 555–566 Cubelos B, Gimenez C, Zafra F (2005) Localization of the GLYT1 glycine transporter at glutamatergic synapses in the rat brain. Cereb Cortex 15: 448– 459 Cull-Candy S, Kelly L, Farrant M (2006) Regulation of Ca2+-permeable AMPA receptors: synaptic plasticity and beyond. Curr Opin Neurobiol 16: 288– 297 Danbolt NC (2001) Glutamate uptake. Prog Neurobiol 65: 1–105 Eulenburg V, Armsen W, Betz H, Gomeza J (2005) Glycine transporters: essential regulators of neurotransmission. Trends Biochem Sci 30: 325– 333 Ferrugati F, Shigemoto R (2006) Metabotropic glutamate receptors. Cell Tissue Res 326: 483–504 Franks NP, Lieb WR (1994) Molecular and cellular mechanisms of general anaesthesia. Nature 367: 607–614 Fritschy JM, Harvey RJ, Schwarz G (2008) Gephyrin: where do we stand, where do we go? Trends Neurosci 31: 257–264 Hanley JG (2008) PICK1: a multi-talented modulator of AMPA receptor trafficking. Pharmacol Ther 118: 152–160 Hanus C, Ehrensperger MV, Triller A (2006) Activity-dependent movements of postsynaptic scaffolds at inhibitory synapses. J Neurosci 26: 4586– 4595 Hardingham GE, Bading H (2010) Synaptic versus extrasynaptic NMDA receptor signalling: implications for neurodegenerative disorders. Nat Rev Neurosci 11: 682–696 Hasegawa J, Obara T, Tanaka K, Tachibana M (2006) High-density presynaptic transporters are required for glutamate removal from the first visual synapse. Neuron 50: 63–74 Hassel B, Brathe A (2000) Neuronal pyruvate carboxylation supports formation of transmitter glutamate. J Neurosci 20: 1342–1347 Haverkamp S, Muller U, Zeilhofer HU et al (2004) Diversity of glycine receptors in the mouse retina: localization of the alpha2 subunit. J Comp Neurol 477: 399–411 Hejazi N, Zhou C, Oz M et al (2006) Delta9-tetrahydrocannabinol and endogenous cannabinoid anandamide directly potentiate the function of glycine receptors. Mol Pharmacol 69: 991–997 Henson MA, Roberts AC, Perez-Otano I, Philpot BD (2010) Influence of the NR3A subunit on NMDA receptor functions. Prog Neurobiol 91: 23–37
Homanics GE, Delorey TM, Firestone LL et al (1997) Mice devoid of γ-aminobutyrate type A receptor b3 subunit have epilepsy, cleft palate, and hypersensitive behavior. Proc Natl Acad Sci USA 94: 4143–4148 Jane DE, Lodge D, Collingridge GL (2009) Kainate receptors: pharmacology, function and therapeutic potential. Neuropharmacology 56: 90–113 Johnston GA (2005) GABA(A) receptor channel pharmacology. Curr Pharm Des 11: 1867–1885 Kaczor AA, Matosiuk D (2010) Molecular structure of ionotropic glutamate receptors. Curr Med Chem 17: 2608–2635 Kam K, Nicoll R (2007) Excitatory synaptic transmission persists independently of the glutamate-glutamine cycle. J Neurosci 27: 9192–9200 Kasai N, Ramanujan CS, Fujimoto I et al (2010) AFM observation of single, functioning ionotropic glutamate receptors reconstituted in lipid bilayers. Biochim Biophys Acta 1800: 655–661 Kim KS, Yan D, Tomita S (2010) Assembly and stoichiometry of the AMPA receptor and transmembrane AMPA receptor regulatory protein complex. J Neurosci 30: 1064–1072 Korpi ER (1994) Role of GABA(A) receptors in the actions of alcohol and alcoholism: recent advances. Alcohol Alcoholism 29: 115–129 Korpi ER, Sinkkonen ST (2006) GABA(A) receptor subtypes as targets for neuropsychiatric drug development. Pharmacol Ther 109: 12–32 Korpi ER, Grunder G, Lüddens H (2002) Drug interactions at GABA(A) receptors. Prog Neurobiol 67: 113–159 Lau CG, Takeuchi K, Rodenas-Ruano A et al (2009) Regulation of NMDA receptor Ca2+ signalling and synaptic plasticity. Biochem Soc Trans 37: 1369–1374 Lester HA, Dibas MI, Dahan DS et al (2004) Cys-loop receptors: new twists and turns. Trends Neurosci 27: 329–336 Lynch JW (2009) Native glycine receptor subtypes and their physiological roles. Neuropharmacology 56: 303–309 Majewska MD (1992) Neurosteroids: endogenous bimodal modulators of the GABA(A) receptor. Mechanism of action and physiological significance. Progr Neurobiol 38: 379–395 Martin DL, Rimvall K (1993) Regulation of gamma-aminobutyric acid synthesis in the brain. J Neurochem 60: 395–407 Mayer ML, Ghosal A, Dolman N P, Jane DE (2006) Crystal structures of the kainate receptor GluR5 ligand binding core dimer with novel GluR5-selective antagonists. J Neurosci 26: 2852–2861 McKenna MC, Stevenson JH, Huang X, Hopkins IB (2000) Differential distribution of the enzymes glutamate dehydrogenase and aspartate aminotransferase in cortical synaptic mitochondria contributes to metabolic compartmentation in cortical synaptic terminals. Neurochem Int 37: 229–241 Melone M, Barbaresi P, Fattorini G, Conti F (2005) Neuronal localization of the GABA transporter GAT-3 in human cerebral cortex: a procedural artifact? J Chem Neuroanat 30: 45–54 Mony L, Kew JN, Gunthorpe MJ, Paoletti P (2009) Allosteric modulators of NR2B-containing NMDA receptors: molecular mechanisms and therapeutic potential. Br J Pharmacol 157: 1301–1317 Nelson N (1998) The family of Na+/Cl– neurotransmitter transporters. J Neurochem 71: 1785–1803 Nieoullon A, Canolle B, Masmejean F et al (2006) The neuronal excitatory amino acid transporter EAAC1/EAAT3: does it represent a major actor at the brain excitatory synapse? J Neurochem 98: 1007–1018 Niswender CM, Conn PJ (2010) Metabotropic glutamate receptors: physiology, pharmacology, and disease. Annu Rev Pharmacol Toxicol 50: 295– 322 Ortells MO, Lunt GG (1995) Evolutionary history of the ligand-gated ionchannel superfamily of receptors. Trends Neurosci 18: 121–127 Palacin M, Estevez R, Bertran J, Zorzano A (1998) Molecular biology of mammalian plasma membrane amino acid transporters. Physiol Rev 78: 969– 1054 Payne JA, Rivera C, Voipio J, Kaila K (2003) Cation-chloride co-transporters in neuronal communication, development and trauma. Trends Neurosci 26: 199–206
17
184
17
Kapitel 17 · Aminosäuren
Peng L, Hertz L, Huang R et al (1993) Utilization of glutamine and of TCA cycle constituents as precursors for transmitter glutamate and GABA. Dev Neurosci 15: 367–377 Pina-Crespo JC, Talantova M, Micu I et al (2010) Excitatory glycine responses of CNS myelin mediated by NR1/NR3 »NMDA« receptor subunits. J Neurosci 30: 11501–11505 Pinheiro PS, Mulle C (2008) Presynaptic glutamate receptors: physiological functions and mechanisms of action. Nat Rev Neurosci 9: 423–436 Quinlan JJ, Homanics GE, Firestone LL (1998) Anesthesia sensitivity in mice that lack the beta3 subunit of the gamma-aminobutyric acid type A receptor. Anesthesiology 88: 775–780 Reynolds DS, Rosahl TW, Cirone J et al (2003) Sedation and anesthesia mediated by distinct GABA(A) receptor isoforms. J Neurosci 23: 8608–8617 Rosso L, Marques AC, Reichert AS, Kaessmann H (2008) Mitochondrial targeting adaptation of the hominoid-specific glutamate dehydrogenase driven by positive Darwinian selection. PLoS Genet 4: e1000150 Ruiz A, Sachidhanandam S, Utvik JK et al (2005) Distinct subunits in heteromeric kainate receptors mediate ionotropic and metabotropic function at hippocampal mossy fiber synapses. J Neurosci 25:11710–11718 Sager C, Tapken D, Kott S, Hollmann M (2009) Functional modulation of AMPA receptors by transmembrane AMPA receptor regulatory proteins. Neuroscience 158: 45–54 Schousboe A (2000) Pharmacological and functional characterization of astrocytic GABA transport: a short review. Neurochem Res 25: 1241–1244 Slotboom DJ, Konings WN, Lolkema JS (2001) Glutamate transporters combine transporter- and channel-like features. Trends Biochem Sci 26: 534–539 Sobolevsky AI, Rosconi MP, Gouaux E (2009) X-ray structure, symmetry and mechanism of an AMPA-subtype glutamate receptor. Nature 462: 745– 756 Soudjn W, van Wjngaarden I (2000) The GABA transporter and its inhibitors. Curr Med Chem 7: 1063–1079 Sprengel R (2006) Role of AMPA receptors in synaptic plasticity. Cell Tissue Res 326: 447–455 Stafford MM, Brown MN, Mishra P et al (2010) Glutamate spillover augments GABA synthesis and release from axodendritic synapses in rat hippocampus. Hippocampus 20: 134–144 Steinhauser C, Gallo V (1996) News on glutamate receptors in glial cells. Trends Neurosci 19: 339–345 Stryer L, Berg J, Tymoczko J (2002) Biochemistry. Freeman, New York Szumlinski KK, Kalivas PW, Worley PF (2006) Homer proteins: implications for neuropsychiatric disorders. Curr Opin Neurobiol 16: 251–257 Torres-Salazar D, Fahlke C (2007) Neuronal glutamate transporters vary in substrate transport rate but not in unitary anion channel conductance. J Biol Chem 282: 34719–34726 Traynelis SF, Wollmuth LP, McBain CJ et al (2010) Glutamate receptor ion channels: structure, regulation, and function. Pharmacol Rev 62: 405– 496 Tretter V, Ehya N, Fuchs K, Sieghart W (1997) Stoichiometry and assembly of a recombinant GABA(A) receptor subtype. J Neurosci 17: 2728–2737 Waagepetersen HS, Sonnewald U, Schousboe A (1999) The GABA paradox: multiple roles as metabolite, neurotransmitter, and neurodifferentiative agent. J Neurochem 73: 1335–1342 Waagepetersen HS, Qu H, Sonnewald U et al (2005) Role of glutamine and neuronal glutamate uptake in glutamate homeostasis and synthesis during vesicular release in cultured glutamatergic neurons. Neurochem Int 47: 92–102 Wallner M, Hanchar HJ, Olsen RW (2006) Low-dose alcohol actions on α4β3δ GABAa receptors are reversed by the behavioral alcohol antagonist Ro15-4513. Proc Natl Acad Sci USA 103: 8540–8545 Walls AB, Nilsen LH, Eyjolfsson EM et al (2010) GAD65 is essential for synthesis of GABA destined for tonic inhibition regulating epileptiform activity. J Neurochem 115: 1398–1408 Webb TI, Lynch JW (2007) Molecular pharmacology of the glycine receptor chloride channel. Curr Pharm Des 13: 2350–2367 Wu LG, Saggau P (1997) Presynaptic inhibition of elicited neurotransmitter release. Trends Neurosci 20: 204–212
Yernool D, Boudker O, Jin Y, Gouaux E (2004) Structure of a glutamate transporter homologue from Pyrococcus horikoshii. Nature 431: 811–818 Zaganas I, Kanavouras K, Mastorodemos V et al (2009) The human GLUD2 glutamate dehydrogenase: localization and functional aspects. Neurochem Int 55: 52–63
185
Amine Patrick Schloss
18.1
Acetylcholin – 186
18.1.1 18.1.2 18.1.3 18.1.4 18.1.5
Biosynthese von Acetylcholin – 186 Cholintransporter – 186 Cholinesterasen – 186 Acetylcholinrezeptoren – 187 Cholinerge Neurotransmission – 187
18.2
Serotonin – 187
18.2.1 18.2.2 18.2.3 18.2.4
Biosynthese von Serotonin – 188 Serotonintransporter – 188 Serotoninrezeptoren – 189 Serotonerge Neurotransmission – 190
18.3
Noradrenalin und Adrenalin – 190
18.3.1 18.3.2 18.3.3 18.3.4
Biosynthese der Katecholamine – 190 Adrenozeptoren – 191 Noradrenalintransport – 191 Noradrenerge Neurotransmission – 192
18.4
Dopamin – 192
18.4.1 18.4.2 18.4.3
Dopamintransport und Katabolismus – 193 Dopaminrezeptoren – 193 Dopaminerge Neurotransmission – 194
18.5
Histamin – 194
18.5.1 18.5.2
Biosynthese und Abbau von Histamin – 195 Histaminrezeptoren – 195
Literatur – 196
G. Gründer, O. Benkert (Hrsg.), Handbuch der Psychopharmakotherapie, DOI 10.1007/978-3-642-19844-1_18, © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2012
18
186
Kapitel 18 · Amine
18.1
Acetylcholin
Die physiologische Rolle von Acetylcholin (ACh) als Neurotransmitter wurde erstmals von Otto Loewi 1921 am Froschherz nachgewiesen. Auch heute noch werden die gängigen Bioassays bezüglich der physiologischen Wirkung von Acetylcholin am M. rectus abdominis des Froschs oder dem Rückenmuskel des Egels durchgeführt. Mittlerweile wurden die cDNAs der meisten an der cholinergen Neurotransmission beteiligten Proteine identifiziert. Mittels heterologer Expressionssysteme wurden spezifische pharmakologische und elektrophysiologische Versuche in definierten Systemen durchgeführt (z. B. Charakterisierung von Acetylcholinrezeptoren nach Expression in Oozyten von Xenopus laevis). Im Folgenden wird zunächst auf den Metabolismus von Acetylcholin eingegangen, bevor die wichtigsten Proteine der cholinergen Synapse vorgestellt werden. Zuletzt werden die Wirkmechanismen cholinerger Agonisten und Antagonisten an der cholinergen Synapse näher betrachtet.
18.1.1
18
Biosynthese von Acetylcholin
Die Synthese von Acetylcholin (. Abb. 18.1) wird durch das Enzym Cholinacetyltransferase (ChAT) katalysiert. Zellulär ist die ChAT im ZNS vornehmlich im Nucleus interpeduncularis, dem Nucleus caudatus, der Retina und den zentralen Spinalganglien angereichert. Subzellulär findet sich das Enzym nach biochemischer Aufreinigung mittels differenzieller Zentrifugation in den synaptosomalen Fraktionen, und hier, nach Aufbrechen der Synaptosomen durch hypoosmotischen Schock, zum Großteil im Zytoplasma. Nur ein geringer Anteil ist an die Membranen synaptischer Vesikel assoziiert. Diese membrangebundene Transferase hat die gleichen kinetischen Parameter wie die lösliche Form, ist jedoch durch eine weitaus höhere spezifische Aktivität gekennzeichnet. Der Befund, dass die Aufnahme von Cholin in die Zelle und die anschließende Acetylierung kinetisch gekoppelt sind (s. unten), lässt vermuten, dass die membrangebundene ChAT die physiologisch relevante Form darstellt. Die ChAT hat ein Molekulargewicht von 67–75 kDa und eine apparente Michaelis-Konstante (KM) von 750 μM für Acetyl-CoA und 10 μM für Cholin. Bislang sind noch keine verwendbaren (d. h. selektive und hochaffine) Inhibitoren des Enzyms gefunden worden. Das zur ACh-Synthese benötigte Acetyl-CoA entsteht größtenteils aus dem Citratzyklus und wird in den Mitochondrien synthetisiert. Da die ACh-Synthese jedoch im synaptosomalen Zytoplasma stattfindet (hier ist auch die ChAT lokalisiert), stellt sich nun die Frage, wie das Acetyl-CoA aus den Mitochondrien in das Zytoplasma gelangt. Nach dem gegenwärtigen Stand der Forschung werden hierzu folgende Möglichkeiten in Betracht gezogen: 4 Citrat diffundiert als Carrier für Acetyl-CoA in das Zytoplasma und wird dort durch die Citratlyase wieder in Acetyl-CoA umgewandelt. 4 Acetylkarnitin wird als Carrier-System benutzt4 Ein Ca2+-induzierter Leckstrom aus den Mitochondrien liefert das nötige Acetyl-CoA.
18.1.2
Cholintransporter
Cholin kann theoretisch de novo durch sukzessive Methylierung von Ethanolamin hergestellt werden, es hat sich jedoch gezeigt, dass dieses bei Weitem nicht ausreicht, um den zur Ach-Synthese benötigten Bedarf an Cholin abzudecken. Dieses stammt vornehmlich aus der Wiederaufnahme von Cholin aus dem synaptischen Spalt. Nach der Hydrolyse von ACh durch die Acetylcholinesterase (s. unten) werden 35–50% des freigesetzten Cholins zurück in die präsynaptische Nervenendigung transportiert um dort wieder zur Synthese von ACh zur Verfügung zu stehen. Dieser Transport wird durch einen hochaffinen Cholintransporter (haChoT) mediiert. Die Substrattranslokation ist durch eine KM von 1–5 μM charakterisiert, sie ist natriumabhängig, durch Chloridionen stimuliert und wird hochaffin durch Hemicholinium-3 inhibiert (KI = 50 nM – 1 μM). Die cDNA des hochaffinen Cholintransporters wurde Anfang dieses Jahrtausends identifiziert, und es zeigte sich, dass das kodierte Protein fast ausschließlich in cholinergen Nervenendigungen exprimiert wird (Okuda et al. 2000). Der Cholintransport ist kinetisch an die ACh-Synthese gekoppelt, da 50–85% des Cholins, welches durch haChoT transloziert wird, ausschließlich wieder zur AChSynthese verwendet wird. HaChoT wurde zudem in Geweben nachgewiesen, welche nicht die ChAT exprimieren; hier wird das aufgenommene Cholin zur Synthese cholinhaltiger Phospholipide der Zellmembran verwendet. Zuzüglich gibt es noch einen niederaffinen Cholintransporter (naChoT); offensichtlich handelt es sich hierbei um einen passiven Diffusionsprozess, welcher linear von dem Cholinkonzentrationsgradienten innen/außen abhängt, der durch eine KM von 40–80 mM charakterisiert ist und durch Hemicholinium-3 nur geringfügig inhibiert wird (KI = 10 – 120 μM). Das hier aufgenommene Cholin dient fast ausschließlich der Phospholipidsynthese für den Aufbau der Zellmembran.
18.1.3
Cholinesterasen
Im Gegensatz zu anderen Neurotransmittern, bei denen die Neurotransmission durch die rasche und selektive Wiederaufnahme in die präsynaptische Nervenendigung oder umgebende Glia beendet wird, gibt es für ACh selbst kein hochaffines Transportsystem. Hier wird die Signaltransduktion durch enzymatische Hydrolyse durch die Acetylcholinesterase (AChE) terminiert. Interessanterweise ist die Anzahl von Cholinesterasen bis heute noch unbekannt. Alle bisher identifizierten Cholinesterasen hydrolysieren auch andere Ester, andere hydrolytische Enzyme wie Arylesterasen oder Trypsin, jedoch nicht Cholinester. Generell werden die Cholinesterasen in Acetylcholinesterasen (auch spezifische Cholinesterasen genannt) und Butyrylcholinesterasen (auch pseudo- oder unspezifische Cholinesterasen genannt) unterteilt, je nach Substratoptimum (Acetylcholinesterasen hydrolysieren ACh > Butyrylcholin > Propionylcholin; es gilt die umgekehrte Reihenfolge für Butyrylcholinesterasen).
187 18.2 · Serotonin
18.1.4
Acetylcholinrezeptoren
Die Rezeptoren für ACh werden in 2 Klassen aufgeteilt, in muskarinische und nikotinische Acetylcholinrezeptoren (mAChR und nAChR). Von den mAChR sind bislang 5 verschiedene cDNAs kloniert. Der Signaltransduktionsmechanismus dieser Rezeptoren wird über G-Proteine vermittelt, wobei m1-, m3- und m5-Rezeptoren an die Phosphatitylinositolhydrolsyse gekoppelt sind, m2- und m4-Protein dagegen an die Adenylatcyclase. Agonisten aller Subtypen sind ACh und Muskarin, gemeinsame Antagonisten sind Atropin und Scopolamin (Van Koppen u. Kaiser 2003). Nikotinische Rezeptoren sind ligandengesteuerte Ionenkanäle, deren Aktivierung eine Depolarisation postsynaptischer Neuronen bewirkt. Ein nAChR-Subtyp kommt in großer Menge im Skelettmuskel und insbesondere im elektrischen Organ einiger Fische vor und hat zudem eine besonders hohe Affinität für das Schlangengift α-Bungarotoxin. Dies erleichterte biochemische Experimente zur Struktur und Funktion des Proteins, und folglich war Ende der 1980er Jahre der nAChR an der neuromuskulären Endplatte der am besten charakterisierte Ionenkanal. Es handelt sich um ein pentameres Glykoprotein mit einem Molekulargewicht von 250 kDa, welches sich aus 4 Untereinheiten mit variabler Stöchiometrie (z. B. α2, β, γ und δ zusammensetzt (Corringer et al. 2000). Die biochemischen und molekularbiologischen Erkenntnisse am muskulären nAChR bildeten die Grundlage für das Studium neuronaler nAChR. Auch diese haben eine pentamere Stöchiometrie, bestehen jedoch nur aus 2 unterschiedlichen Polypeptidketten, nämlich ligandenbindenden α- und strukturellen β-Untereinheiten. Die α-Untereinheiten kommen in 10 unterschiedlichen Formen vor, die β-Untereinheiten werden von 4 unterschiedlichen cDNAs kodiert, welche in verschiedenen Zusammensetzungen funktionelle Ionenkanäle ausbilden.
18.1.5
Cholinerge Neurotransmission
In . Abb. 18.2 sind die Vorgänge an der cholinergen Synapse schematisch dargestellt. Bei der cholinergen Neurotransmission wird Cholin durch einen hochaffinen plasmamembranständigen Cholintransporter aus dem synaptischen Spalt in die präsynaptische Nervenendigung transportiert und dort durch die Cholinacetyltransferase (ChAT) zu ACh verestert. Das für die ACh-Synthese benötigte Acetyl-CoA kommt aus den präsynaptischen Mitochondrien. Anschließend wird ACh durch einen vesikulären Acetylcholintransporter (vAChT) in den synaptischen Vesikeln angereichert. Nach erfolgter Exozytose diffundiert ACh in den synaptischen Spalt und kann postsynaptisch entweder ionotrope nikotinische oder G-Protein-gekoppelte muskarinische Acetylcholinrezeptoren aktivieren. Aktivierung des präsynaptischen muskarinischen m2-Acetylcholinrezeptors bewirkt eine Reduktion der ACh-Freisetzung (Feedback-Mechanismus). ACh wird anschließend im synaptischen Spalt durch die Acetylcholinesterase (AChE) abgebaut.
H3C
O
CH3 N+
H3C
S
CoA
HO
CH3
Cholin Cholinacetyltransferase
Acetylcholin
CH3
H3C
O
N H3C
O
Acetyl-CoA
+
CH3
+ CoA
. Abb. 18.1 Biosynthese von Acetylcholin
Beeinflussung der cholinergen Neurotransmission Die cholinerge Neurotransmission wird vermindert durch: 4 Blockierung der ACh-Synthese durch Styrylpyridinderivate 4 Blockierung des vAChT durch Vesamicol 4 Inhibition der ACh-Freisetzung durch Botulinustoxin 4 Blockierung des membranständigen Cholintransporters durch Hemicholinium-3 4 Aktivierung präsynaptischer m2-Autorezeptoren 4 Antagonisten postsynaptischer nAChR (α-Bungarotoxin, κ-Bungarotoxin, Curare, Hexamethonium) und postsynaptischer mAChR (Atropin, Scopolamin, Pirenzepin) Die cholinerge Neurotransmission wird verstärkt durch: 4 Erhöhung der ACh-Freisetzung durch β-Bungarotoxin und Latrotoxin (Gift der Schwarzen Witwe) 4 Inaktivierung der AChE durch Physostigmin, Tacrin, Donepezil (reversibel) oder Soman (irreversibel – letal!) 4 Inaktivierung des m2-Autorezeptors durch AFDX-116 (m2-AChR-selektiver Agonist)
18.2
Serotonin
Mitte letzten Jahrhunderts wurden im Blut sowie in enterochromaffinen Zellen etwa zeitgleich zwei Substanzen identifiziert, welche eine starke Kontraktion der glatten Muskulatur bewirken. Beide Substanzen (»Serotonin« im Blut sowie »Enteroamin« in den chromaffinen Zellen) wurden aufgereinigt und kristallisiert, wobei sich herausstellte, dass es sich dabei um denselben Wirkstoff handelte, nämlich 5-Hydroxytryptamin (5-HT). Dieses wurde anschließend synthetisch hergestellt, und es zeigte sich, dass dieses Produkt die gleichen physiologischen Eigenschaften wie der natürliche Wirkstoff aufwies. Serotonin kommt sowohl in pflanzlichen als auch in tierischen Geweben vor.
18
188
Kapitel 18 · Amine
. Abb. 18.2 Schematische Darstellung einer cholinergen Synapse. ChAT Cholinacetyltransferase, ACh Acetylcholin, vAChT vesikulärer Acetylcholintransporter, nAchR nikotinischer Acetylcholinrezeptor, m2-AChR muskari-
18.2.1
18
Biosynthese von Serotonin
Serotonin entsteht in den Zellen durch Hydroxylierung der Aminosäure Tryptophan durch das Enzym Tryptophanhydroxylase und anschließende Decarboxylierung durch die aromatische Aminosäuredecarboxylase (. Abb. 18.3). Die Tryptophanhydroxylase ist ein etwa 55 kDa großes multimeres Protein, welches aus identischen Untereinheiten aufgebaut ist. In vitro benötigt das Enzym molekularen Sauerstoff, reduziertes Pteridin und sulfhydrylstabilisierende Substanzen wie z. B. β-Mercaptoethanol, in vivo wird es durch Phosphorylierung, Ca2+ und Phospholipide aktiviert. Die Hydroxylierung von Tryptophan wird spezifisch durch p-Chlorophenylalanin blockiert, welches direkt mit Tryptophan konkurriert und irreversibel an die Tryptophanhydroxylase bindet. In Ratten bewirkt die intraperitoneale Injektion von 300 mg/kg des Inhibitors innerhalb von 3 Tagen eine Reduktion des neuronalen Serotonins auf weniger als 20%, und der Ausgangswert wird erst nach etwa 2 Wochen wieder erreicht. In einem weiteren Schritt wird 5-HT zu Serotonin decarboxyliert. Das hierfür verantwortliche Enzym ist die aromatische Aminosäuredecarboxylase, welche identisch ist mit der DOPADecarboxylase und im Körper weit verbreitet. Sie findet sich im peripheren und zentralen Nervensystem sowie in Niere und Leber. Bei Säugetieren kommt Serotonin neuronal und extraneuronal vor. Neuronales Serotonin (etwa 1–2% des Gesamtvorkommens) wird in den Zellen der Raphe-Kerne synthetisiert und wirkt als Neurotransmitter in vielen Hirnarealen. Da Serotonin
nischer m2-Acetylcholinrezeptor, AChE Acetylcholinesterase; Erläuterungen zur cholinergen Neurotransmission s. Text
nicht die Blut-Hirn-Schranke durchqueren kann, ist der erste wichtige Schritt die Aufnahme von Tryptophan in Neuronen. Da Plasmatryptophan fast ausschließlich aus der Nahrungsaufnahme kommt, kann folglich eine tryptophanarme Nahrung zu deutlichen Defiziten an neuronalem Serotonin führen. Tryptophan wird seinerseits durch einen relativ unselektiven Carrier in die Neuronen eingeschleust, welcher sowohl andere aromatische Aminosäuren wie Tyrosin und Phenylalanin als auch verzweigte Aminosäuren wie Leucin, Isoleucin und Valin transportiert. Da diese Aminosäuren mit Tryptophan um den Translokationsprozess konkurrieren, hängt somit die Tryptophanaufnahme und folglich die neuronale Serotoninkonzentration nicht nur von der Plasmakonzentration des Tryptophans ab, sondern auch von der Konzentration der konkurrierenden Aminosäuren.
18.2.2
Serotonintransporter
Nach Exozytose und Rezeptoraktivierung wird die serotonerge Neurotransmission durch eine rasche, hochaffine Wiederaufnahme von Serotonin aus dem synaptischen Spalt in die vorgeschaltete Nervenendigung beendet. Diese Translokation wird durch ein substratspezifisches Protein, den Serotonintransporter SERT, vermittelt. Die Isolierung seiner cDNA ergab, dass der SERT zusammen mit den Transporterproteinen für die Neurotransmitter Glycin, GABA, Dopamin und Noradrenalin einer gemeinsamen »Neurotransmitter-Transporterfamilie« angehört (Schloss et al. 1994; Deken et al. 2002). Der Substrattransport ist Na+- und Cl–- abhängig, und alle Mitglieder weisen untereinan-
189 18.2 · Serotonin
der eine signifikante Aminosäureidentität und dabei eine gemeinsame Transmembrantopologie auf, die durch 12 Transmembranregionen gekennzeichnet ist. Während für die inhibitorischen Neurotransmitter GABA und Glycin mehrere Transporterisoformen identifiziert wurden, wurde für die Monoamintransmitter Noradrenalin, Dopamin und Serotonin bislang nur jeweils eine isoliert, was eine Transporterheterogenität für Monoamine unwahrscheinlich erscheinen lässt. Wiederaufgenommenes zytosolisches Serotonin kann durch einen vesikulären Monoamintransporter wieder in synaptische Vesikel transportiert werden. Dieser Transporter ist monoaminselektiv, d. h. er transportiert mit etwa gleicher Affinität die Katecholamine Dopamin und Noradrenalin und das Indolamin Serotonin. Der Katabolismus von Serotonin wird durch die Desaminierung durch die Monoaminoxidase eingeleitet. Das hieraus resultierende 5-Hydroxyindolacetaldehyd wird anschließend in 5Hydroxyindolessigsäure oxidiert und ausgeschieden. Neuropharmakologische Grundlagenforschung und klinische Studien haben gezeigt, dass Serotonin und Noradrenalin wahrscheinlich bei der Pathogenese affektiver Erkrankungen, zumindest aber bei deren Therapie eine wichtige Rolle spielen (7 Box: Rolle von Serotonin und Noradrenalin bei affektiven Erkrankungen).
O OH NH2
Tryptophan
NH
Tryptophanhydroxylase
O HO OH NH2 NH
5-Hydroxytryptophan Aromatische Aminosäuredecarboxylase
HO NH2 NH
5-Hydroxytryptamin (Serotonin) . Abb. 18.3 Biosynthese von Serotonin
Rolle von Serotonin und Noradrenalin bei affektiven Erkrankungen Der Wirkmechanismus fast aller antidepressiven Medikamente beruht darauf, dass sie die Konzentration von Serotonin und/oder Noradrenalin im synaptischen Spalt erhöhen (Nemeroff 1998; Schloss u. Williams 1998). Dies geschieht durch selektive Wiederaufnahmehemmung dieser Transmitter (selective serotonin reuptake inhibitors: SSRI, selective norepinephrine reuptake inhibitors: SNRI), kombinierte Wiederaufnahmehemmung (»klassische« trizyklische Antidepressiva, TZA) oder verminderten enzymatischen Abbau aminerger Neurotransmitter mittels Hemmung der Monoaminoxidasen (MAO-Hemmer: MAOH). Serotonin- und Noradrenalinwiederaufnahmehemmer binden mit hoher Affinität an die Transporterproteine und inhibieren den Substrattransport zurück in die Präsynapse, woraufhin es zu einer erhöhten extrazellulären Transmitterkonzentration kommt. Selektive Antagonisten des Serotonintransporters sind u. a. die SSRI Paroxetin, Fluoxetin, Citalopram und Sertralin sowie das TZA Clomipramin. Das TZA Imipramin inhibiert sowohl die Serotonin- als auch die Noradrenalinwiederaufnahme, und Kokain inhibiert den Serotonin-, Noradrenalin- und Dopamintransporter. An Monoamintransportern wirken auch Amphetamine wie Methylendioxymethamphetamin (MDMA, »Ecstasy«) oder p-Chloramphetamin (PCA). Im Gegensatz zu den o. g. Antidepressiva werden Amphetamine als Pseudosubstrate anstelle der Monoamine in das Zytosol transportiert. Hierbei stimulieren Amphetamine die Freisetzung akkumulierter Neurotransmitter durch eine Umkehrung der Translokationsrichtung und bewirken somit einen raschen intensiven Anstieg der Neurotransmitterkonzentration im synaptischen Spalt (Rudnick u. Wall 1992; Sitte et al. 2000).
18.2.3
Serotoninrezeptoren
Extraneuronal wird Serotonin in chromaffinen Zellen synthetisiert und über das Plasma in Thrombozyten transportiert. Aus diesen freigesetzt, bewirkt es über Aktivierung von Serotoninrezeptoren des Subtyps 5-HT2 eine Konstriktion der Arterien der Nieren, der Skelettmuskulatur und der Venen. Aktivierung von 5-HT1-Rezeptoren führt dagegen zur Dilatation der Gefäße der Skelettmuskulatur. Für keinen anderen Neurotransmitter gibt es so viele Rezeptoren wie für Serotonin. Auf der Basis von pharmakologischen Profilen, gemeinsamen Second-MessengerSystemen und der funktionellen Aktivität selektiver Liganden wurden zunächst 4 Hauptgruppen von Rezeptoren identifiziert: 5-HT1, 5-HT2, 5-HT3 und 5-HT4. Später wurden mit molekularbiologischen Methoden die cDNAs weiterer Subtypen kloniert. Heterologe Expression in Zelllinien und Xenopus-laevis-Oozyten erlaubte eine pharmakologische und funktionelle Charakterisierung von bislang 14 verschiedenen Serotoninrezeptoren. Bis auf den Subtyp des 5-HT3-Rezeptors, welcher zur Klasse der ligandenaktivierten Ionenkanäle gehört, gehören alle anderen Subtypen zur Familie der G-Protein-gekoppelten Rezeptoren mit der typischen 7-Transmembrandomänenstruktur und sind über Kopplung an G-Proteine entweder an der Regulation der Adenylatcyclase (5-HT1,4,5,6,7) oder der Phospholipase C (5-HT2) beteiligt. Ein Überblick ist in . Tab. 18.1 gegeben. Zur Zusammenstellung selektiver Agonisten und Antagonisten sei an dieser Stelle auf die gängigen Lehrbücher der Pharmakologie und auf einschlägige Übersichtsartikel verweisen (Uphouse 1997).
18
190
Kapitel 18 · Amine
. Tab. 18.1 Serotoninrezeptoren Rezeptorklasse
5-HT1
5-HT2
5-HT3
5-HT4
5-HT5
5-HT6
5-HT7
Effektorsystem
AC ⇓
PLC ⇑
Ionenkanal
AC ⇑
AC ⇓
AC ⇑ ?
A C⇑
Subtypen
5-HT1A/1B/1D/1E/1F
5-HT2A/2B/2C
5-HT3
5-HT4
5-HT5A/5B
5-HT6
5-HT7
AC Adenylatcyclase, PLC Phospholipase C.
18.2.4
Serotonerge Neurotransmission
Ein Überblick über die serotonerge Synapse ist in . Abb. 18.4 gegeben. Bei der serotonergen Neurotransmission wird Tryptophan durch einen aktiven Transportmechanismus in das Neuron aufgenommen und durch die Tryptophanhydroxylase in 5Hydroxytryptophan überführt. In einem weiteren Schritt entsteht durch Decarboxylierung durch die aromatische Aminosäuredecarboxylase (AADC) aus 5-Hydroxytryptophan 5-HT. Dieses wird über einen vesikulären Monoamintransporter in die synaptischen Vesikel aufgenommen. Nach erfolgter Exozytose diffundiert 5-HT in den synaptischen Spalt und kann postsynaptisch entweder G-Protein-gekoppelte Serotoninrezeptoren (5HT1,2,4,5,6,7-Rezeptoren) oder den 5-HT3-Rezeptor (einen ligandengesteuerten Ionenkanal) aktivieren. Aktivierung des präsynaptisch endständigen 5-HT1B oder des präsynaptisch somatodendritischen 5-HT1A-Rezeptors (in . Abb. 18.4 nicht gezeigt) bewirkt eine Reduktion der 5-HT-Freisetzung (Feedback-Mechanismus). 5-HT wird anschließend durch einen hochaffinen Serotonintransporter zurück in die präsynaptische Nervenendigung aufgenommen. Zytoplasmatisches 5-HT wird entweder wieder in synaptische Vesikel transportiert oder durch die Monoaminoxidase in 5-Hydroxyindolessigsäure (5-HIES) überführt und ausgeschieden Beeinflussung der serotonergen Transmission
18
Die serotonerge Neurotransmission wird vermindert durch: 4 Inhibition der Tyrptophanhydroxylase durch p-Chlorophenylalanin oder α-Propyldopacetamid 4 Depletion serotonerger Vesikel durch Reserpin und Tetrabenazin 4 Aktivierung präsynatischer 5-HT-Autorezeptoren durch 8-Hydroxy-2(di-n-propylamino)tetralin (8-OH-DPAT) 4 Antagonisten postsynaptischer 5-HT-Rezeptoren Die serotonerge Neurotransmission wird verstärkt durch: 4 Inhibition der MAO durch MAO-Hemmer wie z. B. Iproniazid 4 Blockade des SERT durch trizyklische Antidepressiva (z. B. Imipramin), selektive Serotoninwiederaufnahmehemmer (z. B. Fluoxetin) oder Kokain 4 Serotoninfreisetzung durch »reversed transport« durch einige Amphetamine (z. B. Methyldioxymethamphetamin (MDMA, »Ecstasy«) 4 Inhibition präsynaptischer Autorezeptoren (z. B. Pindolol)
18.3
Noradrenalin und Adrenalin
In der Mitte des letzten Jahrhunderts zeigten von Euler in Schweden und Holtz in Deutschland, dass im peripheren Nervensystem von Säugern Noradrenalin anstelle von Adrenalin als Transmitter fungiert (Adrenalin war bekannt als sympathischer Transmitter beim Frosch). Der Befund, dass Noradrenalin nicht gleichmäßig im zentralen Nervensystem verteilt ist, ließ vermuten, Noradrenalin komme möglicherweise auch als zentraler Neurotransmitter infrage. Noradrenalin und Adrenalin gehören zusammen mit ihrer Vorstufe Dopamin in die chemische Klasse der Katecholamine. Hierbei handelt es sich um Benzolsysteme mit zwei benachbarten Hydroxylgruppen und einer Aminogruppe (. Abb. 18.5).
18.3.1
Biosynthese der Katecholamine
Die Biosynthese von Katecholaminen beginnt mit der Hydroxylierung von Tyrosin zu 3,4-Dihydroxyphenylalanin (DOPA) durch die Tyrosinhydroxylase (TH). Die Aminosäure Tyrosin kommt im Blutkreislauf in höherer Konzentration vor, und somit ist im Gegensatz zur Serotoninsynthese aus Tryptophan seine Verfügbarkeit aus der Nahrung nicht limitierend für die Katecholaminsynthese. Die TH findet sich im Nebennierenmark, dem Gehirn und sympathisch innervierten Geweben. Vergleichbar der Tryptophanhydroxylase benötigt die TH molekularen Sauerstoff und Tetrahydropteridin als Kofaktoren. Im nächsten Schritt wird DOPA zu Dopamin decarboxyliert. Die hierfür zuständige DOPA-Decarboxylase (identisch mit der aromatischen Aminosäuredecarboxylase) wurde schon unter 7 18.2.1 vorgestellt. Dopamin wiederum wird durch Hydroxylierung des β-Kohlenstoffatoms in Noradrenalin überführt. Dieser Schritt findet ausschließlich in noradrenergen Neuronen oder chromaffinen Zellen der Nebenniere statt, denn nur hier wird die mRNA des hierfür notwendigen Enzyms Dopamin-βhydroxylase (DβH) exprimiert. Die DβH enthält 2 Mol Kupfer pro Mol Enzym, benötigt molekularen Sauerstoff und benutzt Ascorbinsäure als Kofaktor. Die DβH weist keine besondere Substratspezifität auf und oxidiert folglich auch andere Phenylethylamine zu Phenylethanolaminen wie z. B. Tyramin zu Octamin. Inhibiert wird das Enzym durch Kupfer-chelatierende Agenzien wie Glutathion, Mercaptoethanol und Coenzym A. So führte die Behandlung von Tieren mit dem Kupferchelator Bis(1-methyl-4-homopiperazinyl-thiocarbony)disulfid (FLA-63) zu einer signifikanten Reduktion von neuronalem Noradrenalin
191 18.3 · Noradrenalin und Adrenalin
. Abb. 18.4 Schematische Darstellung einer serotonergen Synapse. Trp Tryptophan, 5-OH-Trp 5-Hydroxytryptophan, AADC aromatische Aminosäuredecarboxylase, 5-HT 5-Hydroxytryptamin (Serotonin), vMAT vesikulärer
Monoamintransporter, SERT Serotonintransporter, MAO Monoaminoxidase, 5-HIES 5-Hydroxyindolessigsäure; Erläuterungen zur serotonergen Neurotransmission s. Text
bei gleichzeitigem Anstieg von Dopamin. N-Methylierung von Noradrenalin führt letztlich zur Synthese von Adrenalin. Das hierfür zuständige Enzym Phenylethanolamin-N-Methyltransferase wird fast ausschließlich in der Nebenniere exprimiert, mit nur geringen Spuren in Herz und Gehirn. Einen Überblick über die Katecholaminsyntheseschritte gibt . Abb. 18.5.
Die pharmakologischen Wirkungsprofile von Noradrenalin und Adrenalin unterscheiden sich insofern als Noradrenalin stärker mit α- und β1-Rezeptoren, Adrenalin dagegen mit allen adrenergen Rezeptoren in etwa gleich reagiert. Nichtselektive α-Adrenozeptorantagonisten sind Tolazolin und Phenoxybenzamin, nichtselektive β-Adrenozeptorantagonisten sind u. a. Pindolol und Propranolol. Einen Überblick über Adrenozeptoren, ihren Wirkmechanismus und selektive Agonisten und Antagonisten wird in . Tab. 18.2 gegeben.
18.3.2
Adrenozeptoren
Nach Freisetzung aus noradrenergen bzw. adrenergen Neuronen oder der Nebenniere binden die Transmitter an spezifische Rezeptoren auf den Effektorzellen. Diese Rezeptoren wurden zunächst in zwei Klassen eingeteilt, in α- und β-Adrenozeptoren (Civantos Calcada u. Aleixandro de Artinano 2001; Hieble et al. 1995). Die Entwicklung selektiver Liganden sowie die Klonierung von mehreren Adrenozeptoren zeigten, dass diese Mitglieder einer größeren Genfamilie G-Protein-gekoppelter Rezeptoren sind. Zusätzlich zu der klassischen Einteilung aufgrund des pharmakologischen Profils werden Adrenozeptoren mittlerweile basierend auf nachgeschalteten Effektorsystemen folgendermaßen unterteilt: 4 α1-Adrenerge Rezeptoren stimulieren verschiedene Phospholipasen und aktivieren spannungsgesteuerte Kalziumkanäle; mittlerweile sind mehrere cDNAs für α1-Adrenozeptoren isoliert worden. 4 Die Aktivierung α2-adrenerger Rezeptoren bewirkt eine Inhibition der Adenylatcyclase und spannungsgesteuerter Kalziumkanäle sowie eine Aktivierung kalziumabhängiger Kaliumkanäle. 4 β-Adrenerge Rezeptoren sind an das Second-MessengerSystem der Adenylatcyclase gekoppelt.
18.3.3
Noradrenalintransport
Die noradrenerge Neurotransmission wird durch eine rasche Wiederaufnahme von Noradrenalin aus dem synaptischen Spalt zurück in präsynaptische Nerventerminalen beendet. Dieser Prozess wird durch ein selektives Transporterprotein, den Noradrenalintransporter, mediiert, welcher zusammen mit dem Serotonintransporter einer gemeinsamen Genfamilie angehört (7 18.2.2). Antidepressiva, welche selektiv den Noradrenalintransporter blockieren, sind u. a Desipramin, Reboxetin, Nisoxetin und Nortriptylin. Synaptisches Noradrenalin kann auch nach Methylierung durch die Catecholamin-O-Methyltransferase in einem weiteren Schritt zu 3-Methoxy-4-hydroxy-Phenylglykolaldehyd desaminiert werden. Intrazelluläres Noradrenalin wird entweder durch einen monoaminselektiven vesikulären Monoamintransporter in synaptische Vesikel transloziert oder durch eine mitochondriale Monoaminoxidase zu 3,4-Dihydroxyphenylglykolaldehyd desaminiert.
18
192
Kapitel 18 · Amine
O OH NH2
HO
Tyrosin Tyrosinhydroxylase
O OH NH2
HO
DOPA OH Aromatische Aminosäuredecarboxylase
NH2
HO
Dopamin OH
OH
NH2 HO
Noradrenalin
OH
Phenylethanolamin-NMethyltransferase
OH CH3 NH2
18
HO OH
Adrenalin
. Abb. 18.5 Biosynthese von Katecholaminen
18.3.4
β-Hydroxylase in Noradrenalin (NA) überführt wird. Dieses wird durch den vesikulären Monoamintransporter in die synaptischen Vesikel transloziert. Nach erfolgter Exozytose diffundiert NA in den synaptischen Spalt und bindet postsynaptisch an G-Protein-gekoppelte α- und β-Adrenozeptoren. Aktivierung präsynaptischer α2-Autorezeptoren an der Nervenendigung hemmen die Synthese und Freisetzung von NA, während somatodendritische α2-Autorezeptoren (in . Abb. 18.6 nicht gezeigt) die Impulsrate modulieren. Die noradrenerge Neurotransmission wird zu 90% beendet durch Wiederaufnahme von NA durch einen hochaffinen Noradrenalintransporter zurück in die präsynaptische Nervenendigung. Auch kann NA extraneuronal durch die Catecholamin-O-Methyltransferase (COMT) zu Normetanephrin (NM) methyliert werden, welches anschließend durch oxidative Desaminierung durch die MAO zu 3-Methoxy-4-hydroxy-phenylglykolaldehyd (MHPG) metabolisiert werden kann. Intraneuronal wird NA entweder wieder in die synaptischen Vesikel transportiert oder durch eine mitochondriale MAO zu 3,4-Dihydroxyphenylglykolaldehyd (DHPG) desaminiert.
Beeinflussung der noradrenergen Transmission Die noradrenerge Neurotransmission wird vermindert durch: 4 Inhibition der Tyrosinhydroxylase durch α-Methyltyrosin 4 Inhibition der Dopamin-β-Hydroxylase durch das Dithiocarbamat-Derivat FLA-63 4 Depletion noradrenerger Vesikel durch Reserpin und Tetrabenazin 4 Aktivierung präsynatischer α2-Autorezeptoren durch Clonidin 4 Antagonisten postsynaptischer Noradrenalinrezeptoren Die noradrenerge Neurotransmission wird gesteigert durch: 4 Inhibition der MAO durch MAO-Hemmer wie z. B. Pargylin 4 Blockade des Noradrenalintransporters durch trizyklische Antidepressiva (z. B. Desipramin), selektive Noradrenalinwiederaufnahmehemmer (z. B. Nisoxetin) oder Kokain 4 Noradrenalinfreisetzung durch »reversed transport« durch selektive Amphetamine 4 Inhibition der COMT durch Tropolon 4 Inhibition präsynaptischer Autorezeptoren (z. B. durch Yohimbin)
Noradrenerge Neurotransmission
Einen Überblick über die noradrenerge Synapse gibt . Abb. 18.6. Bei der noradrenergen Neurotransmission wird Tyrosin durch einen aktiven Transportmechanismus in das Neuron aufgenommen und durch die Tyrsinhydroxylase in Dihydroxyphenylalanin (DOPA) überführt. In einem weiteren Schritt entsteht nach Decarboxylierung durch die aromatische Aminosäuredecarboxylase Dopamin, welches wiederum durch die Dopamin-
18.4
Dopamin
Lange Zeit galt Dopamin lediglich als Vorstufe der Katecholamine Noradrenalin und Adrenalin. Erst die ausgesprochen unterschiedliche Verteilung von Noradrenalin und Dopamin im zentralen Nervensystem ließ schwedische Forscher vermuten, Dopamin könnte zusätzlich zu seiner Funktion als Vorstufe des
193 18.4 · Dopamin
. Tab. 18.2 Adrenozeptoren Rezeptorklasse
α1
α2
β1
β2
β3
Effektorsystem
PLC ↑
AC ↓
AC ↑
AC ↑
AC ↑
Subtypen
α1A/α1B/α1D
α2A/α2B/α2C
–
–
–
Agonisten
Cirazolin Methoxamin
Clonidin Guanabenz
Xamoterol
Salmeterol Clenbuterol
BRDL37344 ZD7114
Antagonisten
Corynanthin
Yohimbin
Betaxolol
ICI 1 18551
SR59230A
AC Adenylatcyclase, PLC Phospholipase C.
. Abb. 18.6 Schematische Darstellung einer noradrenergen Synapse. Tyr Tyrosin, DOPA Dihydroxyphenylalanin, AADC aromatische Aminosäuredecarboxylase, DA Dopamin, DβH Dopamin-β-Hydroxylase, NA Noradrenalin, MAO Monoaminoxidase, vMAT vesikulärer Monoamintransporter,
NAT Noradrenalintransporter COMT Catecholamin-O-Methyltransferase, MHPG 3-Methoxy-4-hydroxy-phenylglykolaldehyd, DHPG 3,4-Dihydroxyphenylglykolaldehyd, AR Adrenozeptor, NM Normetanephrin; Erläuterungen zur noradrenergen Neurotransmission s. Text
Noradrenalins eine eigene biologische Rolle spielen. Die Entdeckung, dass bei Parkinson-Patienten eine markante Verminderung des Dopamingehalts im Striatum zu messen war und dass die Gabe der Dopaminvorstufe l-DOPA die klinischen Symptome der Patienten deutlich verbesserte, erhärtete die Vermutung, dass Dopamin ein eigenständiger Neurotransmitter ist.
familie Na+-abhängiger Neurotransmittertransporter angehört (7 18.2.1). Selektive Blocker des Dopamintransporters sind Nomifensin, Bupropion und Mazindol. Der Dopaminkatabolismus ist dem von Noradrenalin vergleichbar: Dopamin kann extraneuronal durch die COMT zu 3-Methoxytyramin methyliert und anschließend durch eine membranständige Monoaminoxidase zu Homovanillinsäure metabolisiert oder nach Aufnahme in die Präsynapse intrazellulär wieder in die synaptischen Vesikel transportiert werden. In der Zelle kann es auch durch eine mitochondriale Monoaminoxidase zu 3,4-Dihydroxyphenylessigsäure desaminiert werden.
18.4.1
Dopamintransport und Katabolismus
Die Dopaminbiosynthese und die Rolle der daran beteiligten Enzyme sind bei der Noradrenalin-/Adrenalinsynthese unter 7 18.3.1 beschrieben. Vergleichbar der serotonergen und noradrenergen Neurotransmission wird auch die dopaminerge Neurotransmission durch eine rasche und effiziente Wiederaufnahme aus dem synaptischen Spalt in die vorgeschaltete Nervenendigung beendet. Dieser Schritt wird durch einen spezifischen Dopamintransporter vermittelt, welcher auch der Gen-
18.4.2
Dopaminrezeptoren
Alle Dopaminrezeptoren gehören zur Klasse der G-Protein-gekoppelten Rezeptoren. Generell werden aufgrund funktioneller und pharmakologischer Kriterien 2 Klassen unterschieden, die
18
194
Kapitel 18 · Amine
. Tab. 18.3 Dopaminrezeptoren Rezeptorklasse
D1
D2
D3
D4
D5
Effektorsystem
AC ↑
AC ↓
AC ↓
AC ↓
AC ↑
Agonisten
SKF38393
Bromocriptin
7-OH-DPAT
CP-226
SKF38393
Antagonisten
SCH23390
Sulpirid
UH-232
Clozapin
SCH23390
AC Adenylatcyclase, PLC Phospholipase C.
D1- und D2-Rezeptoren (Emilien et al. 1999). Zur Klasse der D1Rezeptoren gehören die mittlerweile klonierten D1- und D5-Rezeptoren, zu der Klasse der D2-Rezeptoren gehören die D2-, D3und D4-Rezeptoren. D1-Rezeptoren aktivieren die Adenylatcyclase und finden sich ausschließlich postsynaptisch im Nucleus caudatus/Putamen, Nucleus accumbens, olfaktorischen Tuberkel und im frontalen Kortex, der D5-Subtyp kommt auch in Hippokampus und Hypothalamus vor. D2-Rezeptoren inhibieren die Adenylatcyclase und finden sich sowohl postsynaptisch als auch als Autorezeptoren an dopaminergen Nervenendigungen oder somatodendritisch lokalisiert. Anatomisch sind sie im Nucleus caudatus/Putamen, Nucleus accumbens, olfaktorischen Tuberkel sowie frontalen Kortex exprimiert. Ein Überblick über Dopaminrezeptoren und ihre Agonisten/Antagonisten ist in . Tab. 18.3 gegeben.
18.4.3
18
Beeinflussung der dopaminergen Transmission Die dopaminerge Neurotransmission wird vermindert durch: 4 Inhibition der Tyrosinhydroxylase durch α-Methyltyrosin 4 Depletion dopaminerger Vesikel durch Reserpin und Tetrabenazin 4 Aktivierung präsynaptischer Dopaminrezeptoren Die dopaminerge Neurotransmission wird verstärkt durch: 4 Inhibition der MAO durch MAO-Hemmer wie z. B. Pargylin 4 Blockade des DAT durch Nomifensin oder Kokain 4 Dopaminfreisetzung durch »reversed transport« durch Amphetamine 4 Inhibition der COMT durch Tropolon 4 Gabe von DOPA
Dopaminerge Neurotransmission
Ein Überblick über die dopaminerge Synapse ist in . Abb. 18.7 gegeben. Bei der dopaminergen Neurotransmission wird Tyrosin durch einen aktiven Transportmechanismus in das Neuron aufgenommen und durch die Tyrosinhydroxylase in DOPA überführt. In einem weiteren Schritt entsteht durch Decarboxylierung durch die aromatische Aminosäuredecarboxylase Dopamin (DA). Dieses wird durch den vesikulären Monoamintransporter in die synaptischen Vesikel transloziert. Nach erfolgter Exozytose diffundiert DA in den synaptischen Spalt und bindet postsynaptisch an G-Protein-gekoppelte DA-Rezeptoren. Aktivierung präsynaptischer DA-Rezeptoren erniedrigen die Synthese und Freisetzung von DA. Die dopaminerge Neurotransmission wird beendet durch Wiederaufnahme von DA durch einen hochaffinen Dopamintransporter (DAT) zurück in die präsynaptische Nervenendigung. DA kann auch extraneuronal durch die COMT zu 3-Methoxytyramin (3-MT) methyliert und anschließend durch oxidative Desaminierung durch die MAO zu Homovanillinsäure metabolisiert werden. Intraneuronal wird DA entweder wieder in die synaptischen Vesikel transportiert oder durch eine mitochondriale MAO zu 3,4-Dihydroxyphenylessigsäure (DHPE) desaminiert.
18.5
Histamin
Anfang des letzten Jahrhunderts, als gezeigt wurde, dass Histamin ein endogener Bestandteil neuronaler Zellen ist, wurde vermutet, dass dieses Amin auch als Transmitter oder Neuromodulator agieren könnte. Erst später konnte gezeigt werden, dass Histamin in der Tat einer der aminergen Transmitter ist, welcher eine wichtige Rolle in verschiedenen physiologischen Prozessen wie Schlaf-Wach-Rhythmus, hormonelle Sekretion, Thermoregulation, Gedächtnisbildung etc. spielt. In peripheren Geweben findet sich Histamin v. a. in den Mastzellen, wo es von großer Bedeutung für die unspezifische Abwehr, aber auch bei der Pathogenese von Allergien ist. Nach erfolgter Degranulation der Mastzellen führt die Freisetzung von Histamin zu den bekannten Symptomen allergischer Reaktionen der Haut und der Atemwege. Da Mastzellen nicht im Gehirn vorkommen und Histamin nicht die Blut-Hirn-Schranke durchqueren kann, wurde angenommen, dass Histamin in Neuronen synthetisiert wird und folglich als klassischer Neurotransmitter angesehen werden kann (Schwartz et al. 1991). Hinzu kam auch der Befund, dass Antihistaminika zentralnervös gesteuerte Veränderungen wie Benommenheit oder Hunger hervorrufen können.
195 18.5 · Histamin
. Abb. 18.7 Schematische Darstellung einer dopaminergen Synapse. DAT Dopamintransporter3-MT, 3-Methoxytyramin, HVS Homovanillinsäure, DHPE 3,4Dihydroxyphenylessigsäure, DAR Dopaminrezeptor; weitere Abkürzungen . Abb. 18.6; Erläuterungen zur dopaminergen Neurotransmission s. Text
O H N
N
Histidindecarboxylase
H N
OH NH2
NH2
Aromatische N Aminosäuredecarboxylase
Histidin
Histamin
. Abb. 18.8 Biosynthese von Histamin
18.5.1
Biosynthese und Abbau von Histamin
Histamin wird in definierten Zellen des Nucleus tuberomamillaris im posterioren Hypothalamus gebildet, welche von dort diffus in die zerebralen Areale projizieren. Es entsteht durch Decarboxylierung der Aminosäure Histidin. In vitro kann Histidin sowohl durch die aromatische Aminosäuredecarboxylase (DOPA-Decarboxylase, 7 18.3.1) als auch durch eine spezifische Histidindecarboxylase decarboxyliert werden (. Abb. 18.8). Das pH-Optimum, die Affinität für Histidin und die regionale Enzymverteilung lassen vermuten, dass im Gehirn die Histidindecarboxylase für die Biosynthese von Histidin zuständig ist. Bislang wurde mit α-Fluoromethylhistidin ein selektiver Inhibitor der Histidindecarboxylase identifiziert. Die Substanz bildet eine irreversible kovalente Bindung mit einem Serinrest in der aktiven Tasche des Enzyms aus. Der Wirkstoff inhibiert weder die aromatische Aminosäuredecarboxylase noch andere histaminmetabolisierende Enzyme und ist somit ein wichtiges Werkzeug bei der In-vivo-Manipulation der physiologischen Wirkung von Histamin.
Abgebaut wird Histamin einerseits durch zweifache Oxidation zu Imidazolacetaldehyd und anschließend zu Imidazolessigsäure oder durch Methylierung durch die Histaminmethyltransferase zu Methylhistamin. Da die Diaminoxidase neuronal nicht exprimiert wird, wird Histamin im Gehirn ausschließlich über Methylierung und anschließende Desaminierung durch die Monoaminoxidase katabolisiert.
18.5.2
Histaminrezeptoren
Die Signaltransduktion aller bisher identifizierten Histaminrezeptoren erfolgt über die Kopplung an G-Proteine, wobei H1Rezeptoren über Aktivierung der Phospholipase C die Bildung von Diacylglycerol (DAG) und Inositol-3-Phosphat (IP3) und H2-Rezeptoren über Aktivierung der Adenylatcyclase die Bildung von cAMP erhöhen. Der Signaltransduktionsmechanismus von H3-Rezeptoren ist noch nicht geklärt. In . Tab. 18.4 ist ein Überblick über das pharmakologische Profil und Wirkmechanismen von Histaminrezeptoren gegeben.
18
196
Kapitel 18 · Amine
. Tab. 18.4 Histaminrezeptoren Rezeptorklasse
H1
H2
H3
Effektorsystem
IP3/DAG ↑
cAMP ↑
?
Agonisten
2-(m-Bromophenyl)histamin
Amphetamin
R-α-Methylhistamin
Antagonisten
Mepyramin Triprolidin
Rantidin Tiotidin
Thioperamid Clobenprobit
IP3 Inositoltrisphosphat, DAG Diacylglycerin, cAMP zyklisches Adenosinmonophosphat.
Literatur
18
Civantos Calcada B, Aleixandro de Artinano A (2001) Alpha-adrenoceptor subtypes. Pharmacol Res 44: 195–208 Corringer P-J, Le Nove`re N, Changeux J-P (2000) Nicotinic receptors at the amino acid level. Annu Rev Pharmacol Toxicol 40: 431–458 Deken SL, Fremeau RT, Quick MW (2002) Family of sodium-coupled transporters for GABA, glycine, proline, betaine, taurine, and creatine: pharmacology, physiology and regulation. In: Reith MEA (ed) Neurotransmitter transporters. Structure, function and regulation, 2nd edn. Humana Press, Totowa, NJ, pp 193–233 Emilien G, Maloteaux JM, Geurts M et al (1999) Dopamine receptors – physiological understanding to therapeutic intervention potential. Pharmacol Ther 84: 133–156 Hieble JP, Bondinell WE, Ruffolo RP (1995) Alpha- and beta-adrenoceptors: from the gene to the clinic. 1. Molecular biology and adrenoceptor subclassification. J Med Chem 38: 3415–3444 Nemeroff CB (1998) Psychopharmacology of affective disorders in the 21st century. Biol Psychiatry 44: 517–525 Okuda T, Haga T, Kanai H et al (2000). Identification and characterization of a high-affinity choline transporter. Nat Neurosci 3: 120 Rudnick G, Wall SC (1992) The molecular mechanism of »ecstasy« [3,4-methylenedioxymethamphetamine (MDMA)]: Serotonin transporters are targets for MDMA-induced serotonin-release. Proc Natl Acad Sci USA 89: 1817–1821 Schloss P, Williams DC (1998) The serotonin transporter: a major target for antidepressant drugs. J Psychopharmacol 12: 115–121 Schloss P, Püschel A, Betz H (1994) Neurotransmitter transporters: new members of known families. Curr Opin Cell Biol 6: 595–599 Schwartz JC, Arrang JM, Garbarg M et al (1991) Histaminergic transmission in the mammalian brain. Physiol Rev 71: 1–51 Sitte HH, Scholze P, Schloss P et al (2000) Characterization of carrier-mediated release in human embryonic kidney 293 cells stabely expressing the rat serotonin transporter: a superfusion study. J Neurochem 74: 1317– 1324 Uphouse L (1997) Multiple serotonin receptors: too many, not enough, or just the right number? Neurosci Biobehav Rev 21: 679–698 Van Koppen CJ, Kaiser B (2003) Regulation of muscarinic acetylcholine receptor signaling. Pharmacol Ther 98: 197–220
197
Peptide Martin E. Keck und Rainer Landgraf
19.1
Neuropeptide – Grundlagen – 198
19.2
Neurotensin – 199
19.2.1 19.2.2 19.2.3
Tierexperimentelle Befunde – 201 Post-mortem-Befunde – 201 Liquoruntersuchungen – 201
19.3
Cholezystokinin – 201
19.3.1 19.3.2 19.3.3 19.3.4
Tierexperimentelle Befunde – 203 Post-mortem-Befunde – 203 Liquor- und Lymphozytenuntersuchungen – 203 Therapiestudien – 203
19.4
Substanz P – 204
19.4.1 19.4.2 19.4.3 19.4.4
Tierexperimentelle Befunde – 204 Post-mortem-Befunde – 204 Liquor- und Serumuntersuchungen – 204 Therapiestudien – 205
19.5
Kortikotropin-Releasing-Hormon und CRH-Familie – 205
19.5.1 19.5.2 19.5.3 19.5.4
Tierexperimentelle Befunde – 205 Post-mortem-Befunde – 205 Liquorbefunde und Funktionstests – 206 Therapiestudien – 206
19.6
Vasopressin und Oxytozin – 206
19.6.1 19.6.2 19.6.3
Tierexperimentelle und klinische Befunde – 207 Post-mortem-Befunde – 207 Liquor- und Serumbefunde – 207
19.7
Neuropeptid Y – 207
19.7.1 19.7.2 19.7.3
Tierexperimentelle Befunde – 208 Post-mortem-Befunde – 208 Liquor- und Serumbefunde – 208
19.8
Neuropeptid S – 208 Literatur – 208
G. Gründer, O. Benkert (Hrsg.), Handbuch der Psychopharmakotherapie, DOI 10.1007/978-3-642-19844-1_19, © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2012
19
198
Kapitel 19 · Peptide
Wesentliche Befunde aus den Grundlagenwissenschaften haben zu der Einsicht geführt, dass psychopharmakologische Strategien jenseits der Synapse und ihrer »klassischen« Neurotransmitter Serotonin, Noradrenalin und Dopamin dringend notwendig sind, um optimierte Therapievarianten zu erschließen. Insgesamt zählen neuropeptiderge Systeme und ihre mögliche pharmakologische Beeinflussung derzeit zu den aussichtsreichsten Kandidaten auf der Suche nach kausal ansetzenden und somit schneller und selektiver wirksamen Therapiestrategien für verschiedene neuropsychiatrische Störungen. Eine der Schwierigkeiten liegt jedoch darin, dass ein und dasselbe Neuropeptid – von demselben Neuron von verschiedenen Bereichen der Zellmembran freigesetzt – ganz unterschiedliche neuroendokrine Effekte und Verhaltenskonsequenzen haben kann. Demzufolge sind bei einer »globalen« – weil systemischen – pharmakologischen Beeinflussung, auch mit Hinblick auf einzelne Neuronenpopulationen, unterschiedliche und teilweise entgegengesetzt wirkende Effekte zu erwarten, die sich möglicherweise gegenseitig kompensieren können. Im Folgenden werden präklinische und klinische Befunde zu wichtigen neuropeptidergen Systemen (z. B. KortikotropinReleasing-Hormon CRH, Arginin-Vasopressin AVP) erläutert. Wesentliche andere, jedoch im Hinblick auf psychiatrische Effekte bislang weniger gut untersuchte Neuropeptide sind Calcitonin, Parathormon, Angiotensin II, Leptin, das neu entdeckte Opioid Nozizeptin (Orphanin Q), Galanin, die natriuretischen Peptide, Somatostatin (somatropin release inhibiting factor, SRIF), vasoaktives intestinales Peptid (VIP), Wachstumshormon (growth hormone, GH), Prolaktin und Thyreotropin-Releasing-Hormon (TRH). Aus der zunehmenden Involvierung auch dieser Neuropeptide in tierexperimentelle und klinische Studien ist ein zusätzlicher Impetus für innovative diagnostische und therapeutische Ansätze zu erwarten.
19.1
19
Neuropeptide – Grundlagen
Peptide bestehen aus einer Kette von Aminosäuren und unterscheiden sich von Proteinen lediglich durch ihre Größe und somit durch ihr Molekulargewicht. Das Konzept, wonach Peptide wie Vasopressin (Arginin-Vasopressin, AVP), Cholezystokinin (CCK), vasoaktives intestinales Peptid (VIP) und Somatostatin sowohl peripher (z. B. Niere, Gastrointestinaltrakt) als auch im zentralen Nervensystem (ZNS) synthetisiert und freigesetzt werden können und über neuronale Rezeptoren wirken (Neuropeptide), wurde erstmals Ende der 1960er Jahre von de Wied in Utrecht formuliert (de Wied 1999). In zahlreichen Fällen wirken periphere und zentralnervöse Effekte desselben Neuropeptids koordiniert und synergistisch (z. B. Oxytozin: peripher auf die Milchejektion, zentral auf mütterliches Verhalten). Neuropeptide entstehen aus größeren, biologisch meist inerten Vorläuferproteinen, sog. Propeptiden, welche wiederum aus Präpropeptiden gebildet werden (. Tab. 19.2). Ihr enzymatischer Um- und Abbau erfolgt durch Exo- und Endopeptidasen, wie z. B. Angiotensin-converting-Enzym (ACE). Als Primärprodukte der Biosynthese können Neuropeptide durch Mu-
tationen direkt in ihrer Struktur und damit auch Funktion verändert werden; das unterscheidet sie z. B. von Neurosteroiden und biogenen Aminen. Die daraus resultierende hohe Anzahl und Variabilität sind wesentliche Triebkräfte evolutiver Plastizität. In ihrer Funktion sind sämtliche Neuropeptide äußerst plastisch: Diese kann je nach Gewebe, Metabolismus und Anwesenheit anderer Hormone oder Neurotransmitter variieren.
Funktionen von Neuropeptiden 4 Wirkung als Neurohormone: Freisetzung in Gefäße, um über das Blut zu Zielorganen transportiert zu werden 4 Wirkung als Neurotransmitter: Freisetzung nach Ca2+Einstrom aus Nervenendigungen in den synaptischen Spalt mit nachfolgender Änderung des Membranpotenzials der postsynaptischen Zelle 4 Wirkung als Neuromodulatoren: Diese sind nach Bindung an spezifische zellmembranständige Rezeptoren selbst nicht in der Lage, ein exzitatorisches oder inhibitorisches postsynaptisches Potenzial auszulösen, können aber die Antwort der postsynaptischen Zelle auf einen zuvor oder zeitgleich freigesetzten Neurotransmitter deutlich verändern
Ein Neuropeptid kann im ZNS regionalspezifisch an einigen Synapsen als Neurotransmitter, an anderen als Neuromodulator wirken. Als Neuromodulatoren können Neuropeptide nicht nur in den synaptischen Spalt, sondern von der gesamten Nervenzellmembran (Soma, Dendriten, Axon) freigesetzt werden und durch Diffusion in der Extrazellulärflüssigkeit über relativ große Distanzen von mehreren 100 μm die Zielneuronen erreichen (Prinzip der Volumentransmission; Fuxe u. Agnati 1991; Landgraf u. Neumann 2004). Ihre Wirkung ist daher weder zeitlich noch räumlich scharf begrenzt. Über kurze Distanzen können Neuropeptide, die bereits in sehr geringen Konzentrationen (pico- bis nanomolar) biologisch wirksam sein können, autokrine (d. h. das eigene Neuron beeinflussende) oder parakrine (d. h. die Nachbarzelle betreffende) Wirkungen ausüben. Dementsprechend finden sich Neuropeptidrezeptoren auch auf den Perikaryen und Axonterminalen von Neuronen, die klassische Neurotransmitter enthalten. In die Blutbahn oder den Liquor sezerniert oder via Diffusion entlang den Nervenbahnen ist über längere Distanzen eine neurohormonale, neuroendokrine Wirkung möglich. Mit klassischen Neurotransmittern wie z. B. Acetylcholin, Monoaminen, Glutamat und γ-Aminobuttersäure (GABA) sind Neuropeptide oftmals in denselben Neuronen kolokalisiert (. Tab. 19.1). Die Freisetzung der Neuropeptide ist Ca2+-abhängig und kann zusammen mit den klassischen Neurotransmittern erfolgen, geschieht jedoch in der Regel in Reaktion auf stärkere und höherfrequente Stimuli (bursts). Hieraus wurde die Hypothese abgeleitet, dass neuropeptiderge Systeme v. a. unter potenziell pathologischen Bedingungen aktiv und damit einer therapeutischen Beeinflussung zugänglich sind (Hökfelt et al.
199 19.2 · Neurotensin
2000). Das Muster, die Dauer und die Frequenz der Stimulation bestimmen auch die simultane oder selektive Freisetzung von Neuropeptiden und/oder klassischen Neurotransmittern aus einem Neuron. Ein weiterer, wichtiger Unterschied zu klassischen Neurotransmittern besteht darin, dass Neuropeptide im Zellsoma (Perikaryon) synthetisiert und über gerichteten Transport (differential routing; Landry et al. 2003) zu den Dendriten bzw. Axonen transportiert werden. Nach Freisetzung findet keine Wiederaufnahme in das präsynaptische Neuron statt.
Nach neuropeptidinduzierter Aktivierung reagieren die Rezeptoren nicht direkt mit den verschiedenen Second-Messenger-Systemen, sondern nutzen das Effektorsystem der GTP-bindenden Proteine (G-Proteine). Die immense Vielfalt zentralnervaler Neuropeptideffekte wird dabei primär durch die Verteilung entsprechender Rezeptoren im Gehirn determiniert, die Intensität der Effekte primär durch die Sekretionsdynamik des Peptidliganden. Neuropeptide weisen eine Reihe zusätzlicher Besonderheiten auf, die mit Blick auf die Notwendigkeit humandiagnostischer und -therapeutischer Ansätze eine kritische Betrachtung verdienen. Hierzu zählt u. a. die variable Konzentration zahlreicher Neuropeptide im Liquor. Flussrichtung der extrazellulären Flüssigkeit sowie Konzentrationsgradienten lassen den Schluss zu, dass im Liquor vorhandene Neuropeptide für die interneuronale Kommunikation nicht mehr zur Verfügung stehen, mithin biologisch inert sind. Zudem reflektieren sie die häufig regionalspezifischen Peptideffekte im Gehirn bestenfalls »global«, d. h. zeitlich und räumlich integriert. Die genannten Einschränkungen gelten für Lumballiquor in einem höheren Maß als z. B. für Liquor der Cisterna magna. Noch schwieriger gestaltet sich in der Regel die Interpretation von Peptidkonzentrationen im postmortalen Gewebe, da z. B. der immunhistochemische Nachweis allein wenig über neurosekretorische Aktivität auszusagen vermag. Gleichwohl, auch aus Mangel an Alternativen, generiert die Erfassung möglichst zahlreicher Parameter testbare Hypothesen, die für Diagnose und Therapie gleichermaßen wertvoll sein können. Die beschriebene Komplexität der Signaltransduktion durch Neuropeptide, die erst seit kurzer Zeit zunehmend erkannt wird, sowie der fehlende oder inkonsistente Nachweis von Veränderungen in klassischen Neurotransmittersystemen haben zu der berechtigten Vermutung geführt, dass anstelle primär quantitativer Veränderungen dieser Transmittersysteme die neuropeptiderge Modulation/Transmission in zentralnervösen Schaltkreisen verändert sein und zur Pathophysiologie psychiatrischer Erkrankungen beitragen könnte. Derzeit liegen jedoch nur sehr wenige Therapiestudien vor. Diese haben zu berücksichtigen, dass die Blut-HirnSchranke für endogene Neuropeptide in physiologisch relevanten Konzentrationen nicht passierbar ist. Exogene Neuropeptide können sie nach Applikation relativ hoher Dosen geringfügig penetrieren. Die Synthese selektiv wirksamer, hochaffiner, parenteral verabreichbarer nichtpeptiderger Agonisten und Antagonisten mit akzeptabler Blut-Hirn-
. Tab. 19.1 Kolokalisation von klassischen Neurotransmittern und Neuropeptiden Transmitter
Neuropeptid
Gewebe
Dopamin
Neurotensin Cholezystokinin (CCK) Substanz P Neurotensin, Galanin, GnRH Calcitonin
Mesenzephalon
Enkephaline
Locus coeruleus Ganglion cervicale superior Locus coeruleus Medulla oblongata Rhombenzephalon, Pankreas sympathische Nerven sympathische Ganglien
Noradrenalin
Neuropeptid Y Pankreatische Polypeptide Somatostatin Adrenalin
Eminentia mediana
Neurotensin Neuropeptid Y Substanz P TRH Enkephalin
Medulla oblongata
VIP
Enkephalin Substanz P
Cortex cerebri Autonome Ganglien Glandula submandibularis Neuronen der Kochlea Pons
GABA
Somatostatin Motilin Substanz P
Thalamus Zerebellum Cortex cerebri
Serotonin
Somatostatin Calcitonin Substanz P
Schilddrüse
Acetylcholin
Medulla oblongata Pons, Nebennierenmark
Medulla oblongata, RapheKerne
CCK Cholezystokinin, GnRH Gonadotropin-Releasing-Hormon, TRH Thyreotropin-Releasing-Hormon, VIP vasoaktives intestinales Peptid.
Schranken-Gängigkeit erweist sich in diesem Kontext als erhebliche Herausforderung (Hruby 2002). Aus der Vielzahl derzeit bekannter Neuropeptide werden im Folgenden exemplarisch einige wesentliche Systeme näher betrachtet.
19.2
Neurotensin
Neurotensin (NT) besteht aus 13 Aminosäuren und entsteht aus einem 170 Aminosäuren großen Vorläuferprotein, welches zudem das Hexapeptid Neuromedin N enthält (. Tab. 19.2). Die NT-vermittelte Neuromodulation und -transmission wird hauptsächlich durch verschiedene Peptidasen beendet, unter ihnen die neutrale Endopeptidase 24.11, ACE und Metalloendo-
19
200
Kapitel 19 · Peptide
. Tab. 9.7 Synthese und Rezeptoren wichtiger Neuropeptide Neuropeptid
Synthese
NT
Rezeptoren
Präpro-NT/Neuromedin N (145 AS) Neurotensin (13 AS)
CCK
Neuromedin N (6 AS)
Präpro-CCK (115 AS) CCK-8 (8 AS) häufigere Form
Opioide
CCK-58 (58 AS) CCK-33 (33 AS) Proopiomelankortin (POMC)
β-Endorphin + ACTH + αMSH oder ACTH + β-Lipotropin α-,β-,γ-Endorphine
NT1: bindet NT mit hoher Affinität NT2: bindet NT mit niedriger Affinität NT3: bindet NT mit hoher Affinität NT1 und NT2 sind an G-Protein gebundene Rezeptoren, NT3 ist ein intrazellulärer Rezeptor, früher als gp95/Sortilin bekannt CCKA: hohe Affinität für CCK CCKB: hohe Affinität für CCK Beide sind G-Protein-gekoppelte Rezeptoren, CCKB ist im ZNS häufiger μ-Opioidrezeptor: relativ selektiv für b-Endorphine κ-Opioidrezeptor: relativ selektiv für Dynorphin A δ-Opioidrezeptor: relativ selektiv für met/leu-Enkephalin und β-Endorphine Alle G-Protein gekoppelt
Proenkephalin Methionin(met)-Enkephalin
Leucin(leu)-Enkephalin
Prodynorphin Dynorphin A and B Neurokinine (Tachykinine)
α- und β-Neoendorphine Präprotachykinin I
NK1: relativ selektiv für SP NK2: relativ selektiv für NKA NK3: relativ selektiv für NKB Alle G-Protein gekoppelt
α-, β- und γ- Präprotachykinin Substanz P (SP) + Neurokinin A (NKA) + Neuropeptid K (NPK) + Neuropeptid γ (NPγ) Präprotachykinin II Neurokinin B (NKB) Somatostatin (SRIF)
Präpro-SRIF
SST1–SST5 Alle G-Protein-gekoppelte Rezeptoren
SRIF (14 AS) SRIF (28 AS) Beide Formen kommen zusammen vor NPY
Präpro-NPY
NPY1–NPY6 σ1 (sigma1) Alle NPY-Rezeptoren sind G-Protein-gekoppelt NPY3 noch nicht kloniert
NPY (36 AS)
19
ArgininVasopressin (AVP)
Präpro-AVP
AVP (9 AS)
OXT
Glykopeptid (39 AS)
Neurophysin II
Präpro-OXT
OXT (9 AS)
V1a: Gehirn V1b (V3): Hypophysenvorderlappen, Gehirn V2: Niere Oxytozinrezeptor: Hypophysenvorderlappen (Ratte), Gehirn Alle G-Protein-gekoppelt Oxytozinrezeptor: Gehirn, Uterus, Milchdrüsen G-Protein-gekoppelt
Neurophysin I
NT Neurotensin, AS Aminosäuren, CCK Cholezystokinin, SRIF Somatotropin-Release-inhibierender Faktor, NK Neurokinin, NPY Neuropeptid Y, AVT Arginin-Vasopressin, OXT Oxytozin, POMC Proopiomelanokortin, ACTH adrenokortikotropes Hormon, MSH melanozytenstimulierendes Hormon.
201 19.3 · Cholezystokinin
peptidase 24.16 (Binder et al. 2003). Derzeit sind im ZNS drei Rezeptoren für NT bekannt: 1. NT1, der NT mit hoher Affinität bindet, 2. der niedrigaffine NT2-Rezeptor, 3. der intrazellulär lokalisierte NT3, zuvor als gp95/Sortilin bezeichnet. Im Mittelhirn ist NT hauptsächlich in dopaminergen Neuronen, oftmals zusammen mit dem Neuropeptid CCK, lokalisiert. Ebenso findet sich eine hohe Kolokalisation in der Amygdala, im Nucleus interstitialis striae terminalis (bed nucleus of the stria terminalis, BNST) sowie im lateralen Septum (Binder et al. 2003). Ähnlich wie CCK kann NT die Affinität von Dopaminrezeptoren verändern. Aufgrund der gut charakterisierten Interaktion mit der dopaminergen Neurotransmission ist NT v. a. im Hinblick auf seine mögliche Rolle in der Ätiopathogenese schizophrener Spektrumerkrankungen und bezüglich der Wirkmechanismen von Antipsychotika von Interesse.
19.2.1
Tierexperimentelle Befunde
Die akute Gabe von konventionellen und atypischen Antipsychotika erhöht im Tiermodell die elektrophysiologische Aktivität dopaminerger Neuronen in der Area tegmentalis ventralis (VTA) und die Freisetzung von Dopamin im Nucleus accumbens. Die chronische Gabe hingegen vermindert die elektrophysiologische Aktivität in der VTA über einen Depolarisationsblock und führt somit zur verminderten Freisetzung von Dopamin an den Terminalen im Nucleus accumbens (Grace et al. 1997). Je nach Wirkungsort (Perikarya oder Axonterminalen) beeinflusst auch NT die dopaminerge Transmission: An den Perikarya mesenzephaler dopaminerger Neuronen besteht ein rezeptorvermittelter exzitatorischer Effekt, an den striatalen Axonterminalen hingegen hemmt es die Dopaminausschüttung. In hohen Dosen erzeugt NT eine verminderte Aktivität dopaminerger Neuronen, die dem durch Antipsychotika induzierten Depolarisationsblock ähnelt (Lacy 1993). Dieser Effekt kann jedoch auch über die chronische periphere Gabe von NTRezeptorantagonisten erzielt werden (Gully et al. 1997). NT vermindert zudem die Affinität dopaminerger D2-Rezeptoren im Striatum und im Nucleus accumbens (Fuxe et al. 1995). Dieser Wirkmechanismus ist besonders unter dem Aspekt von Interesse, dass die klinische Wirksamkeit typischer Antipsychotika mit ihrer D2-Rezeptoraffinität korreliert. Zusammengefasst sind die elektrophysiologischen Eigenschaften von NT-Antagonisten – d. h. Selektivität für das mesolimbische dopaminerge System und depolarisationsblockähnliche Wirkung bei chronischer Gabe – identisch mit denen atypischer Antipsychotika (Binder et al. 2003). Darüber hinaus weist die Gabe von NT und NTRezeptorantagonisten in Tiermodellen für schizophrenieähnliche psychophysiologische Verhaltensmuster, dem sensorimotorischen Gating, auf eine Beteiligung dieses Neuropeptids in deren Regulation hin (Binder et al. 2003).
Wichtig für das Verständnis der teilweise widersprüchlich erscheinenden Ergebnisse ist die Tatsache, dass die Funktion eines Neuromodulators meist regionalspezifisch ist. So kann die Gabe von NT und dessen Rezeptorantagonisten je nach Applikationsart (systemisch oder in einzelne Hirnregionen) unterschiedliche oder sogar gleiche Effekte erzielen. Eine Zusammenfassung der präklinischen Ergebnisse zur Wirkung von Antipsychotika und Neuropeptiden auf die dopaminerge Neurotransmission zeigt . Tab. 19.3. Zunehmende Hinweise deuten auch auf eine mögliche anxiolytische und antidepressive Wirkkomponente von NT1-Rezeptorantagonisten. 19.2.2
Post-mortem-Befunde
In . Tab. 19.4 sind die wichtigsten Post-mortem-Befunde bezüglich neuropeptiderger Veränderungen (Peptidkonzentrationen, mRNA-Expression, Rezeptorbindung) bei schizophrenen Patienten zusammengefasst (Binder et al. 2003). Bei der Interpretation der Ergebnisse ist zu beachten, dass nur wenige Studien auf ausführliche Krankenunterlagen zur Ante-mortem-Situation Zugriff hatten. Die meisten Patienten wurden zudem über lange Zeit mit Antipsychotika behandelt, sodass die Unterscheidung zwischen pharmakologisch induzierten und krankheitsspezifischen Veränderungen kaum möglich ist. Auch bei depressiven Patienten wurde eine verminderte NT-Rezeptordichte in kortikalen Hirnregionen nachgewiesen.
19.2.3
Liquoruntersuchungen
In der überwiegenden Mehrzahl der Studien finden sich verminderte NT-Konzentrationen im Liquor schizophrener Patienten; sie scheinen zudem mit dem Schweregrad der Erkrankung zu korrelieren. Die klinisch wirksame Behandlung mit Antipsychotika führt zu einer Normalisierung, wobei der prozentuale Anstieg positiv mit der klinischen Verbesserung der Negativsymptomatik korreliert ist (Sharma et al. 1997; Binder et al. 2003). Für die Krankheitsspezifität dieser Befunde spricht, dass sich veränderte NT-Liquorkonzentrationen nicht bei Anorexia nervosa, Depression und der Alzheimer-Demenz nachweisen ließen (Binder et al. 2003).
19.3
Cholezystokinin
CCK war neben Substanz P eines der ersten Intestinalhormone, das im ZNS als Neuropeptid nachgewiesen werden konnte (Vanderhaegen et al. 1975). Es entsteht aus einem 115 Aminosäuren umfassenden Vorläuferprotein (. Tab. 19.2). Es existieren mehrere biologisch aktive CCK-Varianten, wobei das sulfatierte Oktapeptid CCK-8 die häufigste im ZNS vorkommende Form darstellt. CCK bindet mit hoher Affinität an CCK-A- und CCK-BRezeptoren. CCK wird in Kortex, Hippokampus und Substantia nigra synthetisiert. Hohe Konzentrationen finden sich in Nucleus caudatus und Putamen, Nucleus accumbens, Septum, Tha-
19
202
Kapitel 19 · Peptide
. Tab. 19.3 Gemeinsamkeiten von Antipsychotika und Neuropeptiden bei der Wirkung auf die dopaminerge Neurotransmission Neuropeptide
AP-Effekte, die mit der klinischen Wirksamkeit von AP assoziiert sind Akute AP-Verabreichung
Opioide
Tachykinine
Somatostatin
Chronische AP-Verabreichung
EA VTA
DA-Freisetzung im NA
EA VTA
DA-Freisetzung im NA
↑
↑
↓
↓
Ja
Ja
Nein
Ja
in VTA
in VTA
Ja
Ja
in VTA
in VTA
NU
Ja
im NA Nein
Nein
NU
Nein
NU
Nein
im NA Neuropeptid Y
NU
Ja im NA
NT
Ja
Ja
Ja
Ja
niedrige Dosen in VTA
niedrige Dosen in VTA
hohe Dosen in VTA
im NA und bei hohen Dosen in VTA
NT-Rezeptorantagonist (periphere Verabreichung)
Ja
Nein
Ja
Ja
chronisch
chronisch
CCK
Ja
Ja
Nein
Ja
in VTA
im NA
Nein
NU
CCKb-Rezeptorantagonist (periphere Verabreichung)
akut
im NA Ja
NU
akut/chronisch
AP Antipsychotika, EA elektrophysiologische Aktivität, DA Dopamin, NA Nucleus accumbens, VTA Area ventralis tegmentalis, NU nicht untersucht, NT Neurotensin, CCK Cholezystokinin.
. Tab. 19.4 Post mortem nachgewiesene Neuropeptidveränderungen bei schizophrenen Patienten
19
Neuropeptid
PFC
TC
ERC
Hippokampus
Amygdala
NA
NC/Putamen
Mittelhirn
1HXURWHQVLQ
↑⇓
↔
⇑
↔
↔
↔
↔⇓
⇑$
&&.
↓ඏ⇓
↓⇔
↓ඏ
↓
↓⇔
↔
↔⇔
ඍ
2SLRLGH(QNHSKDOLQH
18
18
18
18
↔
↔
↓
↑
7DFK\NLQLQH63
↔
↔
18
↑
↔
↔
↑
↔
65,)
↓
↓
18
↓
↔
↔
↔
18
13