Jeffrey Sackett
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Aus dem Amerikanischen von Stefan Trossbach Deutsche Erstausgabe 1989 © 1989 Droemersche Ver...
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Jeffrey Sackett
GEPFÄHLT
Aus dem Amerikanischen von Stefan Trossbach Deutsche Erstausgabe 1989 © 1989 Droemersche Verlagsanstalt Th. Knaur Nachf., München Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Titel der Originalausgabe »Blood of the Impaler« Copyright © 1989 by Jeffrey Sackett Umschlaggestaltung Adolf Bachmann Umschlagillustration Marion + Doris Arnemann, Hamburg Satz Compusatz GmbH, München Druck und Bindung Ebner Ulm Printed in Germany 5 4 3 2 1 ISBN 3-426-01819-5
Dieser Roman ist meinem Bruder Gary gewidmet, mit dem ich früher, als wir noch klein waren und zur Schule gingen, immer lange aufgeblieben bin, um mir Shock Theatre anzusehen.
Anmerkung des Verfassers Die historischen Ereignisse, welche in diesem Roman zur Sprache kommen, sind so exakt wie möglich wiedergegeben. Der Balkan war im fünfzehnten Jahrhundert eine Gegend, in der es ziemlich drunter und drüber ging, und die Geschichtsschreibung dieser Zeit ist immer noch ein heiß diskutiertes Thema. Ich habe mich für einen zeitlichen Ablauf entschieden, welcher den allgemeinen Bedürfnissen der von mir entworfenen Handlung entgegenkommt. (Und an dieser Stelle sei ein Wort des Dankes an John Prehn hinzugefügt, der mich bei meinen Nachforschungen unterstützte. ) Sämtliche historischen Gestalten haben wirklich gelebt, ausgenommen Torghuz Beg, der eine Kunstfigur ist. Sollte ein Leser zwischen zeitgeschichtlichen und frei erfundenen Elementen nicht unterscheiden können, so möge er sich auf schnellstem Wege fachmännische Hilfe besorgen. Der rumänische Spitzname »Tepes« wird »Zepesch« ausgesprochen. Genug der Worte. Ich muß jetzt los und etwas frischen Knoblauch in die Fenster hängen. J. S.
Prolog Das Festgelage ging mit einer Zügellosigkeit vonstatten, die durch das unausgesprochene Wissen, daß die Türken so dicht vor der Grenze standen, nur noch mehr aufgepeitscht wurde. Man lachte, man zechte, man focht und man vergnügte sich mit den Weibern. Im Grunde aber überlagerte dies wilde Treiben nur ein Gefühl, das alle hier empfanden - Angst. Sie war es, die den betrunkenen Pöbel, aus welchem sich der größte Teil seines Heeres zusammensetzte, zu noch größerer Hemmungslosigkeit antrieb. Sie war es, die die Feiernden zum Kämpfen, Huren und Saufen bewog, als wäre dies der letzte Festschmaus, den sie je genießen würden. Nur er hatte keine Angst. Er hatte niemals Angst. Er hatte niemals Angst gehabt, kein einziges Mal in seinem ganzen Leben, in dem ihn ständig tödliche Gefahr begleitete, von jenem Augenblick in seiner Kindheit an, als er von seinem Vater als Geisel beim Sultan zurückgelassen wurde. Ja, schon frühzeitig hatte er gelernt, daß große Gefahren einen Thron umgaben, der nach Süden von den raubgierigen Türken, nach Westen von den gierigen Magyaren und nach Norden von den polnischen Angreifern eingeschlossen war; selbst die moskowitischen Barbaren im fernen Osten machten ihm zu schaffen. Wo er auch hinsah - nach Konstantinopel, Budapest, Warschau, Wien oder Moskau -, überall erblickte er Feinde. Wo er auch hinsah, herrschten nichts als Auflehnung und Verrat. Und sein Argwohn war berechtigt, denn ein so kleines Fürstentum wie die Walachei stellte für die machthungrigen Staaten ringsherum eine ständige Verlockung dar. Wenn selbst sein eigener Bruder sein Geburtsrecht an den Sultan verschachert und versucht hatte, die Walachei unter türkische Herrschaft zu bringen, wer konnte dann bezweifeln, daß der Verrat im Lande um sich griff wie eine Seuche. Wenn er seit seiner Rückeroberung des Throns mit eiserner Hand regiert hatte, wenn sein Volk ihn fürchtete und haßte, wenn er versucht hatte, sein kleines Reich mit dem Zement des Blutes zu festigen - sei's drum! Die eiserne Hand und nicht der Seidenhandschuh schmiedete das
Schwert! Furcht machte die Menschen gefügig - Furcht, nicht Liebe; Haß trieb sie zur Gewalt, und gewalttätige Männer brauchte er nun dringender denn je. Was macht es, womit der Mörtel angerührt wird, solange nur die Festungswälle halten! Und außerdem war er verliebt in die Gewalt. Die Schreie der Verstümmelten und Sterbenden waren Musik in seinen Ohren. Er überschaute das Gelage und ließ sein Auge müßig von der einen Wand des großen Saales zur anderen schweifen. Hier kämpften zwei Hunde erbittert um einen weggeworfnen Lämmerknochen; dort droschen zwei aus seinem Lumpenheer mit Schwertern aufeinander ein; hier wurde ein junges Bauernmädchen brutal und gegen ihren Willen von ein paar Mongolensöldnern genommen, und ihre Angstund Elendsschreie riefen nichts hervor als Lachen und Applaus; dort übergaben sich ein paar bezechte Fußsoldaten schwallweise in einen leeren Weinkrug. Der Woiwode lächelte ergrimmt. Bin ich nun darauf zusammengeschrumpft? dachte er. Ich, der ich einst neben Corvinus, dem Magyarenkönig, saß und aus dessen eignem Goldpokale trank; ich, der ich einst auf seidnen Bettbezügen in den Privatgemächern des Sultans höchstpersönlich schlief; ich, dessen Wort Gesetz und dessen Wille Leben oder Tod für Hunderttausende von Untertanen war; ich soll nun Herr über Pöbel, Anführer von Söldnern, der Erde glorreichster Gebieter über den mörderischsten Abschaum sein? Wenn die Schlacht kommt, werden sie zu mir stehen ? fragte er sich. Fürchten sie mich wohl mehr, als sie die Türken fürchten ? Ich bete darum! Natürlich betete er nicht zu Gott. Er hatte weder Glauben an, noch Liebe für, noch Bedarf nach Gott und hoffte von Herzen, daß seine Empfindungen erwidert würden. Seine ganze lange und schmerzensreiche Laufbahn hindurch hatte er Religionen angenommen und wieder abgeworfen wie ein andrer vielleicht Mäntel. Er war vom orthodoxen Christentum seiner Vorfahren abgefallen, solange er am Hof des
Sultans lebte, und seine Konvertierung zum Islam war ein Grund, weswegen ihm die Türken vor zwanzig Jahren geholfen hatten, die Herrschaft über die Walachei zu erlangen. Als er sich aber stark genug fühlte, dem Sultan Trotz zu bieten, den jährlichen Tribut einzubehalten und sich selbst zum autonomen Fürsten zu erklären, hatte er seinen orthodoxen Glauben wieder angenommen, als wäre er nie von ihm abgefallen. Und als die gottverfluchten Ungarn ihn im Stich ließen und in den Kerker warfen, warf er seine Treue zur orthodoxen Kirche erneut ab und war zum Papst von Rom übergetreten. Und hier stand er nun also, der angeblich katholische Beherrscher eines orthodoxen Volkes, das unter muslimischem Angriff stand; ein Katholik auf Zeit. Falls er die Schlacht gewinnen sollte, die am Morgen bevorstand, so würde er dies jüngste religiöse Gewand abermals abwerfen, seine Treue zum orthodoxen Glauben bekräftigen und auf diese Weise das Bauernvolk mit Fesseln aus Ikonen und slawischen Gesängen an sich binden. Katholisch, orthodox, muslimisch - ihm war alles eins. Wenn es die Politik erheischte, würde er auch Hussite oder Jude werden. Gott war ihm gleichgültig, denn der Woiwode betete nur drei Dinge an: Seine Gelüste. Die Macht. Und Ordogh, den dunklen Geist, der ihm zum erstenmal vor all den vielen Jahren in sein kindliches Ohr geflüstert hatte, als er selbst unfreiwilliger Gast am Hof des Sultans gewesen war. Ordogh, betete er im stillen, verstärke das Rückgrat dieser meiner nichtswürdigen Armee mit Eisen. Im Kampfe gegen Torghuz Beg werde ich morgen jeden Mann benötigen. Er ließ seine Augen zur Saalmitte schweifen und lächelte erneut, nicht grimmig diesmal, sondern voll der Vorfreude. Ich werde diesem Abschaum etwas Unterhaltung liefern, dachte er, Unterhaltung, die ihn erheitern und ihm einhämmern wird, welch fürchterlicher Feind ich sein kann, wenn man mich erzürnt. Ihr müßt mich mehr fürchten, als ihr die Türken fürchtet, mein Pöbel, meine Kinder. In der Mitte des großen Saales ragten zwei schlanke Eichenpfähle fünfzehn Fuß hoch bis zur Decke empor. Vor vielen Jahren, schon lange, bevor er seine letzten
Gefangenen gemacht hatte, waren auf das Geheiß des Woiwoden kreisförmige Löcher in den steinernen Boden des großen Saales inmitten dieser Burg gehauen worden, damit die Pfähle, die er zum Einsatz brachte, fest verankert werden konnten. Am Fuße dieser Pfähle saßen, die Hände auf den Rücken gefesselt und die Fußknöchel zusammengebunden, zwei verschreckte Bauern, deren einfache Gesichter von den im Lauf der letzten Tage empfangenen Prügeln schmerzverzerrt waren. Mit aufgerissenen Augen und in unterwürfiger Furcht starrten sie zu den scharf zugespitzten Enden der beiden langen Pfähle empor. Der Woiwode blickte auf die beiden Bauern hinab. Einer von ihnen spürte diesen kalten Blick auf sich und sah zu der gestrengen Gestalt auf ihrem erhöhten Platz. Nur kurz, denn gleich mußte er seinen Blick wieder abwenden. Der Bauer wußte, daß sein letztes Stündlein gekommen war, daß er seinem Herrn, dem Pfähler, bald ein paar Minuten Kurzweil bieten würde. Doch diesem Teufel ins Auge zu schauen hätte bedeutet, die eigene unsterbliche Seele zu gefährden, und das wollte der Mann am Rande seines Todes nicht. Mit glühender Konzentration starrte er auf seine Knie und murmelte stille Gebete, die an Christus und die Muttergottes gerichtet waren. Der Woiwode lächelte. Fürchte mich, Bauerntier, dachte er. Deine Furcht mag ansteckend sein, und auf die Furcht des Abschaums bin ich angewiesen. Er drehte sich kurz um und nickte seinem Kammerherrn zu, der daraufhin sogleich vorwärtsschritt und lauthals verkündete: »Seid still! Seid still! Seid still und merket auf! Seid still und merket auf! Der Woiwode spricht!« Dann trat er an seinen vorherigen Platz neben dem Thron zurück, wo er wie erstarrt stehenblieb. Der Lärm im großen Saal verstummte fast augenblicklich. Langsam erhob der Fürst sich, stemmte die Arme in die Hüften und lächelte. Seine perlweißen Zähne unter dem dicken grauen Schnurrbart waren deutlich zu erkennen. »Ist alles nach eurem Geschmack, meine Kinder?« fragte er laut. Aus dem pöbelhaften Haufen, der den Saal füllte, erhoben sich lobende und bejahende Schreie - Schreie der Ergebenheit gegenüber ihrem Woiwoden.
Er hob seine Hände empor, und der Tumult verstummte abermals. »Wo sind Jagatuik, der Mongole, und Jaroslaw, der Serbe?« Zwei schwerbezechte Rüpel stolperten nach vorn und salutierten. »Ihr beide habt diese zwei armseligen Bauern beim Jagen auf meinem Grund und Boden erwischt. Sie sollen auf die übliche Weise ums Leben kommen - eine Weise, die Dieben und Aufsässigen vollkommen angemessen ist. Zum Dank für eure Treue und eure Dienste werde ich euch erlauben, daß ihr euch ihrer Bestrafung selbst annehmt. Wählt jeweils zwei von euren Kameraden und geht ungesäumt ans Werk. « Er nahm seinen Platz wieder ein und lächelte, während der große Saal plötzlich von Jubel und Gelächter widerhallte. Der Mongole und der Serbe zerrten ein paar andere betrunkene Zecher aus den weinberauschten Reihen und stolperten mit ihnen zu den beiden tief entsetzten Landmännern hinüber, deren Angstschreie und deren Wimmern um Gnade im Getöse des Saales untergingen, während die Hinrichtung anhob. Der Woiwode lächelte. Die beiden Bauern wurden ausgezogen und die langen Leitern hinaufgetragen, die an den Pfählen lehnten. In ihrem betrunkenen Nebeneinanderher ließen die Soldaten einen der Männer fallen, so daß er fünfzehn Fuß tief auf den Boden stürzte und sich bei seinem Aufprall unter grauenhaften Qualen mehrere Knochen brach. Doch die Soldaten schleppten ihn erneut hinauf und hielten ihm die Beine auseinander, um die Pfahlspitze unter seinem After in Stellung zu bringen. Den andern Bauern hatte man auf gleiche Weise hergerichtet, und nach einem kurzen Blickwechsel, der dazu diente, ihr Vorgehen aufeinander abzustimmen, zählten die Söldner: »Eins... zwei... drei... «, und stießen ihre Opfer auf die zugespitzten Enden. Der Holzspieß bohrte sich zum allgemeinen Jubel und Vergnügen der versammelten Krieger durch Darm und Eingeweide in die Mägen, so daß der eine auf der Stelle starb. Der andere hielt noch ein paar Minuten durch, wand sich mit vorquellenden Augen auf dem Todespfahl, und das Blut strömte ihm aus den schaudernden Lippen.
Der Woiwode lächelte zufrieden. Bauern dürfen mein Wild nicht erlegen, dachte er. Es muß Ordnung herrschen. Er winkte seinem Kämmerer, der vortrat und gehorsam auf die ihm zugeflüsterten Anweisungen nickte. Dann, während sein Gebieter sich erneut vom Thron erhob, hastete er aus dem Saal, und der Woiwode sagte: »Heute nacht, meine Kinder, beehrt uns unser teurer Freund Torghuz Beg mit seiner Ankunft. « Bei der Erwähnung dieses Namens riefen die Landsknechte Obszönitäten und Verwünschungen. Ihr Führer brachte sie mit einem Wink zum Schweigen. »Ich werde hier und jetzt mit den türkischen Unterhändlern sprechen. Lauschen wir alle höflich ihrer Botschaft. « Ein leises Lachen ging durch die Menge. Sie wußten nur zu gut, wie aufmerksam ihr Woiwode lauschen würde. Gleich darauf kehrte der Kämmerer zurück und blieb am Eingang stehen, um die Sendboten zu melden, die mit stolzer Eile an ihm vorüberschritten, während er verkündete: »Die Abgeordneten von Torghuz Beg, dem Feldherrn des Sultans. « Die Türken traten vor bis an den Fuß des Thrones. Zwei davon neigten kurz ihr Haupt, zogen vor dem Woiwoden aber nicht die Mütze; ein dritter, jüngerer Mann, der sich der Bedeutung von Versäumnissen und Unregelmäßigkeiten im diplomatischen Verkehr noch weniger bewußt war, nahm seinen federbuschgeschmückten Fez zwar ab, unterließ aber wiederum die Verbeugung. Beunruhigt äugte er zu dem betrunkenen Pöbel, der ihn umgab. Der Anführer der türkischen Gesandten zeigte keinerlei Unbehagen. Er bürstete sich ein paar Staubflecke von seinem wallenden Seidenhemd und sah den Woiwoden nicht einmal an, als er sagte: »Mein erhabener und glorreicher Gebieter, Torghuz Beg Pascha, der Geliebte Allahs und Freund des Sultans, verlangt Eure sofortige Unterwerfung. In seinem unermeßlichen Edelmut läßt mein Gebieter sich herab, Euch diese Gelegenheit zur Rettung Eures Lebens zu gewähren und Eurem Volke Blutvergießen zu ersparen. « Dann sah er dem Woiwoden ungerührt ins Gesicht. Seine Miene spiegelte reinste Langeweile und Verachtung. Der Woiwode lächelte heimtückisch. »Habt ihr türkischen Schweinefresser keine Manieren? Hat man euch nie
beigebracht, daß ihr vor Höhergestellten eure Kopfbedeckung abnehmen müßt?« Der Sprecher der Türken stieß ein übertriebenes Gähnen aus. »Es gibt keinen Woiwoden hier, nur einen Usurpator, der versucht hat, seinem Bruder den Thron zu rauben - dem wahren Woiwoden der Walachei. Der wahre Woiwode hat dem Sultan Treue geschworen. Der Usurpator, dessen Mutter meines Wissens eine albanische Hure war, erhält großzügig die Gelegenheit, sich seinem Tod als Futter für die Hunde meines Gebieters zu entziehen. Mein Gebieter meint, Ihr solltet sie Euch zunutze machen. « Der Woiwode lachte finster. »Meine Kinder, diese Schweinefresser scheinen ihre Köpfe um jeden Preis vor mir bedeckt halten zu wollen. Nun denn, seien wir gute Gastgeber. Packt sie und nagelt ihnen ihre Mützen auf den Kopf. « Die beiden Türken, die ihre Häupter nicht entblößt hatten, stammelten verblüfft einen Protest, als der lachende Pöbel sie ergriff und auf die Knie zwang. In ihren ungläubigen Gesichtern spiegelte sich die hochmütige Annahme, daß sie als Gesandte Torghuz Begs persönlich unantastbar wären. Daß für den Woiwoden freilich niemand unantastbar war, erkannten sie in der letzten Sekunde ihres Lebens, bevor die Säuferhorde, die sie hielt, ihnen die Nägel ins Gehirn trieb. Der Woiwode winkte den dritten Türken heran. Der junge Mann war grün vor Angst und Ekel und näherte sich mit unsicheren Schritten. »Du hast Manieren, kleiner Türke«, sagte der Woiwode. »Das spricht für deine Erziehung. « Seine Stimme klang freundlich und melodiös. »D... danke, hoher Herr«, stammelte der Jüngling. »Doch entdecke ich in deinen Augen, wenn du mich so anschaust, eine Spur von Dünkel«, fuhr er fort, während seine Stimme mit jedem Wort erkaltete. »Machst du dich innerlich über mich lustig, türkischer Schafsliebhaber?« »N... nein, hoher Herr! Ich... « Der Woiwode nickte nachdenklich. »O doch, mir scheint wahrhaftig, du tust es. Ich halte eine Lektion in Manieren für angebracht. « Er schnippte mit den Fingern, und augen-
blicklich wurde der Jüngling von vieren aus dem Haufen ergriffen, die ihn ihrem Gebieter wehrlos entgegenhielten. Der Woiwode zog einen Dolch aus der Scheide, die an seinem Ledergürtel hing, und prüfte die stählerne Spitze mit dem Zeigefinger. Ein Blutstropfen quoll aus dem stecknadelgroßen Stich, und der Woiwode leckte ihn ab. »Nun paß gut auf, du Liebhaber kleiner Knaben, und bestelle dem Hurenhändler, dessen Arsch du leckst, das Folgende: Wir werden unsere Ernten mit Türkenblut bewässern, und die Bäuche unserer Hunde werden von eurem Fleische anschwellen. Bestelle Torghuz Beg, daß ich auf seine Leiche pissen und den Kadaver dann den Krähen überlassen werde. Bestelle ihm all dies, wenn du noch fähig bist, ins türkische Lager zurückzufinden. « Mit diesen Worten packte er den jungen Mann beim Schopf, um ihm den Nacken von einem Ohr zum anderen aufzuschlitzen. Dann langte er nach hinten, ergriff den losgelösten Rand der Kopfhaut unmittelbar über dem Genick und zerrte sie mit einem Ruck nach vorn, über die Schädeldecke und das Gesicht hinunter. Der junge Mann brüllte vor Schmerzen, und die Soldaten jauchzten vor Entzücken. Während der Türke blutüberströmt aus dem Saal stolperte, rief der Woiwode seinem wüsten Heerhaufen zu: »Zecht, meine Kinder, und genießt das Fest. Ich gehe jetzt zu meinen Weibern. Morgen werden wir dieses türkische Geschmeiß unter unseren Absätzen zermalmen und es in den Staub treten. « Unter einer Kakophonie von Jubelrufen und lauten Treueschwüren verließ er den Saal. Er lauschte dem verklingenden Lärm des Festes, während er über die Wendeltreppe in seine Privatgemächer hinaufstieg. Dort öffnete er die schwere Eichenpforte und trat in das große, stille Zimmer, das von einem einzigen Öllämpchen trübe erhellt wurde. Seine drei Frauen lagen alle auf dem breiten Himmelbett im Schlummer. Lautlos ging er hinüber und dachte schon daran, sie aufzuwecken, da überlegte er es sich anders. Nein, sollten sie noch eine kleine Weile schlafen. Für die Wonnen des Fleisches wäre auch nachher noch reichlich Zeit, bevor der Schlaf ihn übermannte - falls überhaupt. Denn am Vorabend einer Schlacht
schlief er nur selten. Er lächelte nacheinander auf die drei hinab und genoß deren Schönheit, die in der sklavischen, ängstlichen Demut, welche sie ihm entgegenbrachten, gut geborgen war. Er betrachtete Magda, seine erste Frau, die einzige, die von der unbeugsamen orthodoxen Kirche anerkannt wurde - die Frau, die ihm seinen kleinen Erben, den Knaben Nicolai, geschenkt hatte, der jetzt in einem anderen Burggemach im Schlummer lag; er betrachtete Katarina, eine Hure von solcher Leidenschaft und solchem Können, daß er sie behalten und ungeachtet der Einwände des Priesters zum Weib genommen hatte. Der Pfaffe, welcher sich als erster geweigert hatte, die Vielehe des Woiwoden zu segnen, war auf einen Pfahl gespießt worden; der zweite ebenfalls. Der dritte hatte die Zeremonie bereitwillig durchgeführt. Der Woiwode sah zu Simone, der Blonden, dem kleinen Frankenmädchen, das er vor zehn Jahren ein paar Zigeunern als Sklavin abgekauft hatte. Sie war ihm oftmals ein Quell großen Vergnügens gewesen. Natürlich erhob keines seiner Weiber gegen die anderen beiden Widerspruch. Keines hätte es gewagt zu protestieren. Es gab ja viele Bäume in der Walachei, die sich zu Pfählen zuspitzen ließen, und diese Frauen waren nicht dumm. Einstweilen aber wollte er sie schlafen lassen. Er nahm die Öllampe, ging aus dem Gemach und stieg die Treppe hinunter. Statt sich jedoch wieder in den Festsaal zu begeben, setzte er seinen Weg fort, bis er in die unterirdischen Gemäuer kam, die sowohl als Gruft wie auch als Schloßkapelle dienten. Er stellte die Lampe in die kleine Nische bei der Pforte und betrat dann den dumpfig-dunklen Raum. Das Kind, welches er an Händen und Füßen gefesselt früher hier zurückgelassen hatte, lag immer noch da - auf dem Sarge eines der Woiwoden von einst. Es zitterte vor Furcht. Er lächelte den kleinen Knaben eisig an, zückte seinen vom Blut des Türken noch immer feuchten und geröteten Dolch, bedeckte den Mund des Kindes mit einer Hand und bohrte diesem dann die Klinge in den Magen. Der Kleine starb fast auf der Stelle, wofür der Woiwode dankbar war. Das Gewimmer und Geschluchze von Kindern
konnte er nicht leiden. Er wandte sich von der Leiche ab und flüsterte: »Ordogh! Ich bin da! Ich habe dir ein Geschenk gemacht! Komm zu mir!« Er wartete ein paar Sekunden. Dann sagte eine Stimme: »Dein Geschenk gefällt mir, Kleiner Drache. « »Das freut mich, Ordogh«, antwortete der Woiwode. »Weshalb wünschst du mich zu sprechen?« fragte die Stimme. »Zitterst du am Vorabend der Schlacht?« »Ich zittere vor nichts und niemandem«, versetzte der Woiwode mit ruhiger Stimme. »Das weißt du, Ordogh. « »Ja, das weiß ich«, sagte die Stimme. Sie kam von überall und nirgends, von einer unsichtbaren, körperlosen Zunge - körperlos, ja, und doch vorhanden, gegenwärtig. »Warum hast du mich dann gerufen? Begehrst du weitere Geheimnisse der Alchemisten zu erfahren?« »Nein, Ordogh«, sagte der Woiwode. »Morgen ziehe ich in die Schlacht gegen Torghuz Beg. « »Das weiß ich«, sprach die Stimme. »Ich habe fünftausend Soldaten, betrunkene Rüpel lauter Söldner und Bauern, Torghuz Beg hingegen hat zehntausend, und alles altbewährte Haudegen. Seine Generäle kämpften im letzten Jahr vor Vaslui. « »Auch das ist mir bekannt«, sagte die Stimme. Der Woiwode zögerte. »Mag sein, daß ich verliere. « »Du sollst verlieren. « »Mag sein, daß ich sterbe. « »Du sollst sterben. « Der Woiwode begann, versonnen murmelnd auf und ab zu schreiten. Er unterhielt sich mit dem dunklen Geist, welchen er Ordogh nannte, seit seiner Kindheit; jetzt, in seinem fünfundvierzigsten Lebensjahr, war ihm die Stimme ein vertrauter, alter Freund, und er fühlte sich wohl in ihrer Gegenwart. »Falls ich siegen würde, wäre ich der Größte meines Geschlechts; ganz Dakien würde ich unter meinem Zepter vereinen. « »Unter deiner Peitsche«, berichtigte die Stimme. »Verliere ich, so gehört mein Land den Türken und mein Leben Torghuz Beg. « Er schüttelte den Kopf. »Falls ich verliere«, sinnierte er. »Du aber sagst, wenn ich verliere. Kannst du mir verraten, was geschehn wird, Ordogh? Bist du allwissend?« »Nein«, entgegnete die Stimme, »aber ich kann
zählen, Kleiner Drache. Und selbst ich, der nie ein Schwert hat schwingen oder den Speer hat schleudern müssen, kenne den Unterschied zwischen einem erfahrenen Soldaten und dem Abschaum, den du angeworben hast, um deine stark gelichteten Reihen aufzufüllen. « »Also ziehst du nur Schlüsse«, sagte der Woiwode. »Du magst dich irren. « »Ich mag mich irren«, bejahte die Stimme. »Ich kann gewinnen«, sagte er. »Der Papst kann Sultan werden«, erwiderte die Stimme, »der ungarische König Maure und der König von Frankreich ein Hussit. « Der Woiwode lachte bitter. »Ich werde die Schlacht nicht gewinnen, und ich werde sterben. « »Ja, einen grauenvollen Tod von der Hand Torghuz Begs. « Er begann, die stille Totenkammer zu durchmessen. »So darf es nicht enden. Ich muß eine andere Möglichkeit haben. Ich muß mit der Gewißheit in die Schlacht ziehen, daß ich selbst in der Niederlage noch triumphieren werde. « Geraume Zeit erwiderte die Stimme nichts. Dann sagte sie: »Es gibt noch eine andere Möglichkeit, Kleiner Drache, doch sie wird eine ganz besondere Art der Verdammnis nach sich ziehen. « Der Woiwode lachte. »Glaubst du, ich fürchte mich vor der Verdammnis, Ordogh?! Ich bin schon jetzt verdammt!« »Ja«, pflichtete die Stimme bei, »solang du aber lebst, steht es dir frei, zu büßen und zu bereuen. « Er spie ein bitteres Lachen aus. »Eher geht der Rabe auf zwei Beinen oder der Wolf fliegt. « »Ich weiß«, antwortete die Stimme. »Du bereitest mir viel Freude, Kleiner Drache. Von jeher. « »Dann erzähle mir von dieser Möglichkeit, Ordogh. Sag mir, wie ich, selbst in der Niederlage, über Torghuz Beg frohlocken kann. « »Solltest du dich für diese Möglichkeit entscheiden, so wirst du mir noch dienen und mir wohlgefällig sein, wenn man den Namen Torghuz Beg schon längst vergessen hat
und seine Burg unter der Macht von Wind und Regen in Schutt und Asche fiel. Solltest du dich für diese Möglichkeit entscheiden, so wird dein Dienst für mich mit deinem Tod nicht enden. « »Sprich, Ordogh. Welche Möglichkeit stünde mir offen?« Es war, als raunte ihm die Stimme ins Ohr. Sie raunte von fremdartigen Kräften und Mächten, von großer Freude unter lauter Not, von großer Not inmitten höchster Lust. Sie sprach von Tod und Leben, Tod im Leben und Leben im Tode, von Schrecken, von Verzückung und von Schmerz. Als sie verstummte, stand der Woiwode reglos und schweigend da. »Von so etwas hätte ich mir nie träumen lassen«, murmelte er. »Dies ist das Angebot, das ich dir unterbreite, Kleiner Drache. Nimm es an oder verwirf es, aber wisse, verdammt bist du in jedem Fall. « Der Woiwode nickte. »Aber ich muß erst überlegen, Ordogh. Die Sache will reiflich erwogen sein. Muß ich gleich antworten?« »Rufe mich im Augenblick des Todes. Denn solange du lebst und atmest, steht es dir frei zu akzeptieren. Nur vergiß nicht, Kleiner Drache: verdammt bist du in jedem Fall; wisse, daß du im Kampf ums Leben kommst; wisse, daß dein Land, ob du in die von mir beschriebene Möglichkeit nun einschlägst oder nicht, dazu bestimmt ist, auf viele Jahre, von dem Absatz des Türken zerstampft zu werden. « Er ließ sich diese Worte durch den Kopf gehen. »Und willige ich ein, dann werde ich noch nach dem Abzug der Türken hier sein, um erneut zu herrschen? Ist es nicht so?« »Ja, du wirst hier sein, doch an Ländern, Schlössern, Ruhm und Macht wird dir dann nichts mehr liegen. Die Jahrhunderte werden dich sehr verändern, Woiwode. Ich werde dich stark verändern. « Er nickte abermals. »Ich rufe wieder nach dir, Ordogh, und gebe dir meine Antwort, sobald die morgige Schlacht entschieden ist. « »Ich warte, Kleiner Drache«, sagte die Stimme, und dann herrschte Stille.
Tief in Gedanken stieg der Woiwode wieder aus der Krypta ins Erdgeschoß der Burg und setzte seinen Weg hinauf in die Privatgemächer fort, ohne das Salutieren seiner Wächter zu beachten. Sind Sieg und Rache ein solches Schicksal wert? fragte er sich. Ja, dachte er mit einem Lächeln, das sind sie. Verlöre ich die Schlacht und müßte ich tatsächlich von der Hand Torghuz Begs den Tod erleiden, dann ist die Freude, ihn unter Schmerz und Schrecken sterben zu sehen, ein solches Schicksal wert. Er trat wieder in seine Gemächer und setzte sich neben die schlafende Gestalt Simones, des Frankenmädchens, auf den Rand des mächtigen Bettes. Verträumt strich er ihr übers Haar und bewunderte ihren nun einzig und allein von ihren goldenen Flechten verhüllten Körper. »Simone«, flüsterte er. Das Mädchen schlug benommen die Augen auf und starrte voll Verwirrung zu ihm empor. Als sie erkannte, wer sie geweckt hatte, wurde sie schlagartig wach und lächelte ihn an. Aus ihrem Lächeln sprachen sowohl Liebe als auch Wachsamkeit, denn dieser Mann war nicht leicht zu befriedigen, und wehe dem, der ihn verstimmte. »Mein Gebieter!« sprach sie leise. »Ich freue mich, daß Ihr da seid. « »So, tust du das?« lächelte er. »Sag, meine kleine Teutonin, fürchtest du den Tod?« Voll dunkler Vorahnungen riß sie die Augen auf. Derartige Fragen waren aus dem Munde des Woiwoden selten rhetorisch gemeint. »Ich... ich bin erst achtzehn, Herr. Ich bete, daß der Tod mich viele Jahre verschonen möge. « »Morgen stelle ich mich dem Türken in der Schlacht, Simone«, sagte er. »Bin ich der Sieger, dann ist alles gut. Doch unterliege ich und nimmt der Türke erst diese Festung, dann mag der Tod dir gar willkommen sein. « Erleichtert darüber, daß seine Frage nicht der Auftakt zu sofortigem, noch größerem Entsetzen war, schüttelte sie den Kopf. »Der Sieg ist Euer, Herr«, antwortete sie. »Dessen bin ich ganz gewiß. «
Er lächelte sie zärtlich an - zumindest war dies Lächeln als zärtlich zu verstehen. »Möchtest du, kleine Simone, ewig leben?« fragte er. »Herr?« antwortete sie, da sie seine Worte nicht verstand. »Würdest du gerne ewig leben, wenn du könntest?« Sie zuckte leicht die Achseln. »Ja, natürlich, Herr. « »Und wenn es Tod und Elend für andere bedeuten würde? Würdest du auch dann ein ewiges Leben wählen?« »Weshalb fragt Ihr, Herr?« Er überhörte ihre Gegenfrage. Geistesabwesend starrte er ins Leere und streichelte Simones strammen jungen Schenkel. »Ich würde dennoch ewig leben wollen«, murmelte er. »Was liegt mir schon am Tode anderer? Was ist ihr Elend gegen meine Begierden?« »Herr?« Er lächelte das Mädchen an. »Schlaf wieder ein, Simone. « »Wollt Ihr Euch nicht mit mir ergötzen, Herr?« »Nein«, seufzte er und streckte sich aufs Bett, um seinen Arm um sie zu legen. »Nein. Ich schone meine Kräfte für Torghuz Beg. Schlaf, kleine Germanin!« Sie legte ihren Kopf auf seine Brust, lauschte dem Schlagen seines Herzens und fragte sich, was dieses sonderbare Gespräch wohl zu bedeuten hätte. Kurz darauf war sie eingeschlummert. Über meine Feinde triumphieren, dachte er. Sie aus dem Grab vernichten - sie um Gnade betteln, flehen, winseln lassen. Wie hatte Dschingis Khan doch noch gesagt? Das Leben hat vier große Freuden: seine Feinde töten, ihre Söhne foltern, ihre Töchter schänden und ihre Witwen weinen machen. Du täuschtest dich, Mongole, lächelte er. Es gibt ein fünftes, ein so gräßliches Vergnügen, daß du dir's niemals hättest träumen lassen.
Für ein paar Stunden schlummerte er ein, und als die Sonne sich träg über die Gipfel erhob, wurde er durch Tumult und Stimmenlärm sowohl im Hofe unten als auch aus dem Festsaal geweckt. Es klopfte an die Tür, und gleich darauf ertönte eine ängstlich-aufgeregte Stimme, sagte: »Herr! Man hat die türkischen Armeen bei Klausenburg gesichtet!« »Trommelt mein Heer zusammen!« antwortete er, aus dem Bett springend. »Und sagt Jaroslaw Bescheid, daß er mir meine Rüstung bringt. In einer Viertelstunde sollen die Generäle sich im großen Saal einfinden. « »Ja, Gebieter«, erwiderte die Stimme des Kämmerers und schrie dann, während sie sich eilig von der Tür entfernte, die Befehle des Herrn hinaus. Der Woiwode trat ans Fenster, um die fernen Gipfel zu betrachten. Sonnenaufgang, dachte er. Bei Sonnenuntergang bin ich entweder Sieger oder liege in Ketten. Siege ich, so wird der morgige Sonnenaufgang mich schon auf dem Weg zur Herrschaft über ganz Dakien sehen. Aber liege ich in Ketten, dann werde ich nie wieder einen Sonnenaufgang miterleben. Selbst wenn ich Ordoghs Angebot ergreife, selbst wenn ich noch jahrhundertelang lebe - das Licht des Tages werde ich nie wiedersehen. Er starrte noch kurze Zeit aus dem Fenster. Dann ging er hinaus, um sich dem Türken zum Gefecht zu stellen.
Erster Teil
Blutsverwandtschaften ... bei denen, die mir Feind sind, verfolge ich die Schuld der Väter an den Söhnen, an der dritten und vierten Generation. Exodus 20, 5
Kapitel 1 »Malcolm?« Rachel Rowland pochte hartnäckig an die Schlafzimmertür. »Malcolm! Steh auf und zieh dich an. Es ist schon nach sechs. Pfarrer Henley wird jede Minute zum Abendessen hier sein.« Sie wartete einen Augenblick und klopfte dann erneut. »Malcolm! Wenn du nicht aufstehst, werde ich reinkommen und dich aus dem Bett schmeißen!« Von drinnen hörte sie ein gedämpftes, mürrisches »Schon gut, schon gut!« und runzelte nachdenklich die Stirn. Der hat vielleicht Nerven, den ganzen Tag lang zu schlafen! Sie beschloß, ihrem Zorn Luft zu machen. »Warum besorgst du dir nicht einen normalen und anständigen Job und schläfst dich nachts aus, wie es sich gehört? Das ist auch am gesündesten. Die ganze Nacht durchzuarbeiten, dich bis frühmorgens herumzutreiben und dann den lieben langen Tag im Bett zu verbringen ... das ist einfach nicht richtig, Malcolm!« Die Schlafzimmertür wurde aufgerissen, und mit wäßrigen Augen sah Malcolm Harker seiner großen Schwester ins Gesicht. »Sis, steck deine Nase nicht in meine Angelegenheiten, klar?« »Wag es ja nicht und sprich in diesem Ton mit mir ...!« Doch schon schlug er ihr die Tür vor der Nase zu, und sie begann, erneut dagegenzupochen. »Malcolm!« »Schon gut, ich komm gleich zu euch. Aber bitte zieh Leine!« Rachel schniefte, schnaubte verärgert und begab sich dann nach unten ins Speisezimmer. Daniel, ihr Ehemann, schaute ruhig und gelassen von der Hausbar herüber, als sie in den Raum marschiert kam. »Ist unser Märchenprinz aufgewacht?« fragte er. »Verzogener Bengel«, brummte sie. »Ja, ich glaub schon.« Daniel Rowland schüttelte den Kopf. »Wie alt ist er jetzt? Sechsundzwanzig?« »Siebenundzwanzig«, murmelte sie und schritt den Tisch ab, um zum zehntenmal das Gedeck zu begutachten. »Siebenundzwanzig.« Seine Stimme klang versonnen. »Als ich siebenundzwanzig war, hab ich mein erstes dickes Geschäft gemacht! Hatte ein paar Abteilungschefs, Gemeinschaftskapital und ein dickes Aktienpaket - alles, bevor ich
dreißig war.« Sie nickte. »Ich verstehe den Jungen einfach nicht. Er scheint nicht das kleinste Fünkchen Ehrgeiz zu besitzen. Wenn er sein Leben nicht in Ordnung bringt, dann weiß ich nicht, was einmal ...« Ein bedächtiges Schlurfen von der Tür her unterbrach sie in ihren Vorhaltungen. »Oh, hallo, Großvater. Schönes Nickerchen gehabt?« »Hab nicht schlafen können«, brummte der alte Quincy, während er sich, auf seinen Stock gestützt, ins Speisezimmer schleppte. Er schlurfte an den Tisch hinüber, und nahm umständlich an dessen oberem Ende Platz. »Malcolm hatte mal wieder Alpträume. Hat im Schlaf dauernd vor sich hin geredet. « »Das wundert mich nicht«, bemerkte Daniel, während er eine Flasche Wein entkorkte und sie in die Tischmitte stellte. »Bei den ganzen Nörglern, Nieten und Ausgeflippten, mit denen er durch seinen Beruf an der Bar rumhängt ...« »Nicht diese Flasche, Danny«, sagte Rachel. »Das ist der Wein zum Dessert. Mach den fürs Essen auf.« »Weißen? Fisch oder Geflügel?« »Hühnchen«, murmelte sie und rauschte schon in die Küche. »Oh, na ja«, seufzte er. Er machte sich nicht gerade viel aus Geflügel. Daniel Rowland war ein eingeschworener Anhänger von Fleisch mit Kartoffeln. »Aber er sollte ein bißchen respektablen Umgang pflegen«, fuhr er fort, während er die erste Flasche wieder verschloß und sich an das Entkorken einer anderen machte. »Als ich in seinem Alter war, hatte ich Freunde und Bekannte in sämtlichen Industriezweigen ...« Er wurde von einem Murmeln des alten Mannes unterbrochen. »Wie bitte? Was sagtest du gerade, Großvater?« »Ich sagte, ich wäre schon zufrieden, wenn der Junge bloß in die Kirche gehen würde«, antwortete der Alte. »Na ja, sicher«, nickte Daniel. »Das ist sehr wichtig, keine Frage. Aber wir dürfen auch den finanziellen Aspekt nicht übersehen. Wenn der Junge nicht anfängt, für seine Zukunft zu planen, wird er wahrscheinlich nie eine haben. Als ich in seinem Alter war ...«
»Hast du eine Schiffsflotte besessen und voller Freude fast ganz Mittelamerika ausgenommen«, ergänzte Malcolm, der gerade müde ins Speisezimmer geschlendert kam. »Das haben wir doch alles schon mal gehört, Danny.« Er ging zu seinem Großvater hinüber und gab ihm einen Kuß auf die Wange. »Hallo, Großpapa«, sagte er fröhlich. »Wie geht's? Wie steht's?« Der alte Quincy lächelte liebevoll zu ihm empor. »Hallo, Malcolm. Freut mich, daß du aufgestanden bist, um uns Gesellschaft zu leisten.« Lachend nahm Malcolm neben seinem Großvater Platz. »Rachel hat mir kaum eine andere Wahl gelassen.« »Allerdings!« meinte seine Schwester, während sie mit einer großen Schüssel Salat hereinmarschiert kam. »Es ist einfach eine Schande - zu dieser Tageszeit noch im Bett zu liegen!« »Sis, ich arbeite bis drei Uhr früh«, rief er ihr ins Gedächtnis. »Das solltest du eben nicht!« schnaubte sie. »Du solltest einen ordentlichen und anständigen Beruf haben.« »Ich bin Barkeeper! Das ist was Ordentliches!« »O Malcolm«, entgegnete sie fast verzweifelt, »das ist doch keine Beschäftigung für jemanden, der das College absolviert hat! Und selbst wenn es ordentlich wäre - anständig ist es jedenfalls nicht!« »Da hat sie nicht ganz unrecht, Malcolm«, pflichtete Daniel bei. »Schau, als ich in deinem Alter war___« »Hast du in Nigeria verunreinigte Säuglingsnahrung verkauft. Ja, ich weiß.« Daniels Gesicht rötete sich. »Nun mal langsam, junger Mann! Ich glaube nicht, daß dieser Ton hier irgendwie angebracht ist!« »Ey, hör zu«, erwiderte Malcolm wütend, »warum steckt ihr beiden euch diese Vater-und-Mutter-Kacke, mit der ihr mich dauernd vollquatscht, nicht einfach an den Hut! Ihr seid meine Schwester und mein Schwager, weiter nichts! Wenn ihr Erzieher spielen wollt, dann legt euch ein Kind zu, aber mich laßt in Ruhe!«
»Malcolm!« fauchte Rachel. »Ich dulde nicht, daß du in diesem Ton mit Daniel redest!« »Sis«, erwiderte Malcolm, »warum ziehst du nicht einfach Lei ...« Seine Entgegnung wurde von einem Klopfen an der Haustür unterbrochen. »Das wird Pfarrer Henley sein«, sagte Rachel, indem sie sich ihr Haar nach hinten strich und ihre Schürze zurechtschüttel-te. »Benimm dich jetzt bitte, Malcolm.« »Ja, ja«, maulte er. Der Gemeindepfarrer, der zum Abendessen rüberkommt, dachte er mürrisch. Das ist ja einfach großartig. Rachel öffnete die Haustür und lächelte freudig. »Guten Abend, Herr Pfarrer, guten Abend. Wie schön, daß Sie sich für uns freimachen konnten!« »Danke, Rachel, danke«, antwortete Pfarrer Henley, während er seinen Hut abnahm und ihn an sie reichte. »Ich weiß Ihre Einladung zu schätzen.« Er sah an ihr vorbei ins Speisezimmer. »Ist Malcolm da?« fragte er leise. »Ja«, flüsterte sie. »Er ist eben erst aufgestanden. Ist das nicht eine Schande?« »Na ja, der Junge arbeitet ja die Nacht über«, meinte der Priester beiläufig, während er sich ins Speisezimmer begab und mit ausgestreckter Hand schnurstracks zum alten Quincy hinüberging. »Guten Tag, Mr. Harker, guten Tag! Wie schön, daß es Ihnen anscheinend so gut geht!« Quincy gab ihm die Hand. »Der Herr Pfarrer«, nickte er. »Schön, Sie zu sehen.« »Sie wirken schon eine Spur besser als bei unserer letzten Begegnung ... vor drei Wochen, nicht wahr ... ?« »Ja, so ungefähr.« Der Geistliche bedachte auch Daniel mit einem beiläufigen Händedruck und setzte sich dann neben den Alten. »Anscheinend hat man sie im St. John's ja ganz gut behandelt. Es ist ein recht modernes Krankenhaus.« »Das ist es«, erwiderte Quincy, der dieses Thema schon satt hatte. »Verfluchte Prostata!«
»Na ja, Sie haben es ja blendend überstanden«, lächelte Pfarrer Henley. »Tut mir leid, daß ich Sie nicht früher besuchen konnte, aber ...« Quincy winkte ab. »Sie brauchen sich nicht zu entschuldigen. Pfarrer Langstone ist fast jeden zweiten Tag hier gewesen. Ein netter junger Bursche.« »Ja, das ist er«, stimmte Pfarrer Henley zu. Als Oberhirte der Episkopalkirche St. Thomas in Forest Hills Gardens hatte Henley die ermüdenden Hausbesuche schon längst seinem Kaplan überlassen. Dabei war Henley weder gefühlnoch verantwortungslos; er konnte einfach in der gleichen Zeit, die ihn ein Hausbesuch gekostet hätte, ein halbes Dutzend anderer Pfarrkinder in der Klinik besuchen, und er sparte jede überflüssige Minute. Außerdem, argumentierte er, war Terry Langstone noch jung und voller Begeisterung. Sollte doch er die umständliche Arbeit erledigen. Außer natürlich in einem Fall wie diesem, wo es um die Seele eines jungen Mannes ging, der nahe daran war, vom Glauben abzufallen. Der Geistliche warf einen raschen Blick zu Malcolm hinüber und fragte sich, wie er beginnen, wie er an das Thema herangehen solle; Malcolm blieb nämlich seit neuestem den Gottesdiensten fern. »Hat mir leid getan, von Mrs. Phipps zu hören«, riß Rachel ihn aus seinen Gedanken, während sie um den Tisch flatterte, um die Gedecke zu überprüfen und geradezulegen. »Wahrscheinlich hätten wir zu ihrer Beerdigung gehen müssen, aber wir konnten uns einfach nicht freimachen.« »Wie alt war die Ärmste denn?« fragte Daniel. »Einundachtzig«, antwortete Henley, »und ihr ganzes Leben nicht einen Tag krank, bis zu ihrem Herzschlag.« Daniel nickte. »Einundachtzig. Na, da hatte sie ja ein langes Leben, und ein glückliches.« Quincy räusperte sich vernehmlich. »Langes Leben«, murmelte er und zwinkerte seinem Enkel schelmisch zu. »Dabei stand sie noch in der Blüte ihrer Jugend«, lächelte Malcolm. »Es war ein wunderschönes Begräbnis«, fuhr Henley fort. »Kein Begräbnis ist schön, und jedes ist Geldver-
schwendung«, sagte Quincy. »Hören Sie, Herr Pfarrer. Ich habe das Rachel und Malcolm schon hundertmal gesagt, aber ich trau' ihnen einfach nicht. Keinem von den beiden. Bestimmt werden sie's vergessen. Darum erinnern Sie sie daran: Wenn ich sterbe, möchte ich nicht, daß irgendwelches Geld für ein großartiges Begräbnis rausgeworfen wird. Ich wünsche keine Aufbahrung, ich möchte keinen von diesen zementverkleideten Stahlsärgen und ich möchte nicht, daß die Leute reihenweise an mir vorbeimarschieren und sich gegenseitig versichern, wie gut ich aussehe. Wenn ich abtrete, dann bitte rasch und ohne Aufhebens. Legen Sie mich einfach in den billigsten Sarg, den Sie bekommen können, und bringen Sie mich schnellstmöglich unter den Rasen.« »Bitte, Großvater ...«, begann Rachel. »Ich meine es ernst, Mädchen!« Quincys Stimme klang streng. »Geld ist etwas, das man für die Lebenden ausgeben sollte, nicht für die Toten.« Und er drohte dem Geistlichen mit dem Finger. »Daß Sie mir ja daran denken, verstanden? Wenn ich sterbe, dann stecken Sie mich einfach in eine Kiste und verscharren mich unter der Erde. Keine Aufbahrung, kein Tamtam.« Er lachte grimmig. »Ich habe sowieso schon alle meine Freunde überlebt. Warum Geld für eine Bestattung ausgeben, zu der niemand kommen würde?« »Werde ich Sie am Sonntag in der Kirche sehen?« fragte Henley, um das Thema zu wechseln. Quincy schüttelte den Kopf. »Ich bin allmählich zu alt, um noch viel rauszugehen.« »Nun, das ist ja auch verständlich. Ich kann einmal die Woche vorbeischauen, um Ihnen die Beichte abzunehmen und Ihnen die Heilige Kommunion zu geben.« Er wandte sich an Malcolm und lächelte mit ermahnendem Stirnrunzeln. »Dich habe ich in letzter Zeit auch nicht mehr in der Kirche gesehen, Mal. Bist du krank gewesen?« Ich hab wirklich keine Lust auf dieses Thema, dachte Malcolm, aber er sagte: »Nein, Herr Pfarrer, nein. Es ist nur so, ich ...
na ja, ich arbeite immer bis spät in die Nacht ...«, hier überhörte er das skeptische Schnauben seiner Schwester, »... und es fällt mir furchtbar schwer, am Sonntagmorgen aus dem Bett zu kommen. Bestimmt wissen Sie, was ich meine.« »Natürlich weiß ich das, natürlich«, lächelte der Priester. »Darum halten wir ja auch einen Nachmittagsgottesdienst.« Und er lächelte Malcolm weiter an, daß dem jungen Mann sehr unwohl in seiner Haut wurde. »Ja, na ja«, murmelte er, »sicher, ich sollte wohl am Nachmittag gehen ...« »Und ob du das solltest!« bekräftigte Rachel. »Es ist schrecklich, daß du in unseren religiösen Verpflichtungen nachlässig wirst!« »Da bin ich ganz ihrer Meinung«, fügte Daniel hinzu, während er jedem der Anwesenden ein Glas Wein einschenkte. »Als ich in deinem Alter war, bin ich Sonntag für Sonntag in die Kirche gegangen, das ganze Jahr hindurch und an sämtlichen Feiertagen.« Quincy klopfte behutsam mit seiner Gabel ans Glas und rief zur Ordnung: »Der Junge hat gesagt, er würde am Nachmittag gehen. Laßt ihn in Frieden.« »Ich wollte damit ja auch lediglich sagen ...«, begann Rachel. »Laßt ihn in Frieden«, wiederholte Quincy. Rachel war zu gehorsam, um mit ihm zu streiten, und begann, den Salat zu verteilen. Es folgte eine höfliche und stockende Konversation, die Pfarrer Henley Gelegenheit gab, kurz über jeden der am Tisch Anwesenden nachzudenken. Obwohl der alte Quincy Harker schon fünfundachtzig von seinen zweiundneunzig Jahren in den Vereinigten Staaten lebte, hatte er immer noch eine Andeutung seines englischen Akzentes behalten. Für einen Menschen seines Alters war er gesund, sehr gesund sogar, aber Henley machte sich über Quincys Zukunftsaussichten keine Illusionen. Die Ärzte behaupteten zwar, daß der Eingriff reine Routine und erfolgreich gewesen sei, daß man nichts Bösartiges habe feststellen können, doch hatte diese Feuerprobe den Alten deutlich geschwächt. Er war zwar mit bemerkenswerter Geschwindig-
keit wieder auf die Beine gekommen, aber eine weitere Erkrankung wie diese würde sein Ende bedeuten; und Quincy war weit über das Alter hinaus, in welchem der Körper zu versagen beginnt. Pfarrer Henley konnte sich eines Lächelns nicht erwehren, als er mit ansah, wie der Alte geistesabwesend nach hinten griff, um sich die Haare glattzustreichen, die sein kahler Kopf schon vor Jahrzehnten abgeworfen hatte. Er wußte von Fotografien, daß Quincy Harker in jungen Jahren ein Prachtkerl gewesen war, und es gab kein besseres Zeugnis für das unermüdliche Wirken von Alter und Sterblichkeit als den gebückten, runzligen Greis, der nun neben ihm saß und sich mit zittriger Hand eine Gabel voll Salat in den zahnlosen Mund zu manövrieren versuchte. Aber Quincy hatte keine Angst vor dem Tod, dessen war Pfarrer Henley gewiß. Noch nie in seiner priesterlichen Laufbahn hatte er ein Pfarrkind gesehen, das sich so vollständig dem Herrn und seiner Kirche hingab - eines, das so treuen Herzens das Sakrament in Empfang nahm, so aufrecht war in seinem Verhalten, so fromm, so vergnügt, ja nahezu dankbar für seinen Glauben. Der alte Quincy hatte schon jetzt einen sicheren Platz im Jenseits, das stand für den Priester völlig außer Zweifel. Dieselbe Gewißheit empfand er in bezug auf Rachel und Daniel, obwohl die Aussicht, eine Ewigkeit mit ihnen zu verbringen, kein sonderlich erhebender Gedanke war. Rachel Harker Rowland gab ein Musterbeispiel für jenen Typ regelmäßigen Kirchgängers, der sich, von seiner eigenen Rechtgläubigkeit überzeugt, bemüßigt fühlt, jeden anderen nach demselben strengen Maßstab zu messen. Sie war schon früh von heiligmäßigen Anfängen in die Scheinheiligkeit verfallen, und ihr Äußeres spiegelte ihre Persönlichkeit wider: spröde und gestreng, dünn, aber kräftig, und die potentiellen Reize ihres hochwangigen, schmalen Gesichts mit seiner schlanken Aristokratennase wurden von einem durchbohrenden, ständig vorwurfsvollen Blick und einem überheblich frömmlerischen Gebaren verschandelt. Obwohl ihre kurzen braunen Haare hübsch frisiert waren und ihre Kleidung stets der neuesten
Mode entsprach, hatte sie auch nichts annähernd Weibliches. Dafür war sie zu kalt, zu hart, zu humorlos. Sie paßt zu ihrem Mann wie die Faust aufs Auge, sinnierte Henley. Daniel Rowland war ein breitschultriger, plumper, übergewichtiger Egozentriker. Sein geradezu ärgerlich sauber gestutzter Schnurrbart saß über einem Paar schmaler Lippen und unter einer Schweinsnase, auf der eine schwere Brille saß. Durch die dicken Brillengläser wirkten die dahinterliegenden Augen klein und nicht minder schweineähnlich. Nachdem er früh und größtenteils durch Zufall eine Stange Geld gemacht hatte, spielte Daniel seit Jahrzehnten jedem gegenüber, der ihm zuhören wollte, den großen Mann. Obwohl er mit seiner Frau in dem stattlichen Herrenhaus von deren Großvater in Forest Hills Gardens lebte, fühlte er sich fast aller Welt haushoch überlegen und war nicht abgeneigt, dies jedermann spüren zu lassen. Daß er und Rachel nie Kinder bekommen hatten, gab Pfarrer Henley oft Anlaß zu Betrachtungen über die Güte Gottes. »Hmmm? Entschuldigen Sie«, sagte Henley, als Rachels Stimme ihn aus seinen Gedanken riß. »Ich fragte, ob Sie etwas Käsesauce möchten, Herr Pfarrer.« »Oh, nein, danke. Essig und Öl reichen vollauf.« »Malcolm?« fragte sie. »Salatsauce?« Sie war die Liebenswürdigkeit in Person, ihre Augen aber wirkten streng und moralistisch. Malcolm murmelte ein »Ja« und nahm ihr den Gewürzständer ab. Henley mochte den Jungen schon, seit Malcolm auf die Welt gekommen war. Er hatte etwas Ehrliches und Rücksichtsvolles, das ihn den meisten, die ihn kannten, lieb und wert machte, weil es nichts Anerzogenem, sondern einem von Natur aus gutmütigen Wesen entsprang. Seine dunklen Augen machten seit jeher den Eindruck, vor Wissens- und Erlebnisdurst zu glühen, und die Flügel seiner dennoch feingeschnittenen Adlernase flatterten aufgeregt, sooft er über irgendeine neue, faszinierende Entdeckung sprach. Als Kind war Malcolm häufig ins Pfarrhaus geschneit, um dem Priester alle möglichen sonderbaren Fragen zu stellen, die Henley oftmals nicht beantworten konnte. Malcolm war ständig am Lesen, am Grübeln und
konfrontierte seine Freunde so oft mit neuen Ideen, daß ihn anscheinend viele für etwas wunderlich gehalten hatten. Durch seine natürliche Wißbegier über die ihn umgebende Welt und über geistliche Dinge war er Pfarrer Henley ans Herz gewachsen. Um so größer daher die Besorgnis des Priesters, als Malcolm aufhörte, in die Kirche zu kommen, aufhörte, die Kommunion zu empfangen, sein Doktorstudium abgebrochen und den guten Job an der Wall Street, der ihm von Daniel beschafft worden war, verloren hatte. Und als Henley den jungen Mann jetzt so ansah, steigerte sich seine Sorge beträchtlich. Malcolm hatte keine gute Farbe; er schien bleich, krank, ausgezehrt. Sein Blick wirkte müde und irgendwie schmerzlich, und als Malcolm nach oben griff, um sich die Kopfhaut unter seinem vollen, schwarzglänzenden Haar zu kratzen, bemerkte Henley, daß die Hand des jungen Mannes leicht zitterte. »Ist es dir in letzter Zeit nicht gut gegangen, Mal?« fragte Henley. »Du siehst ein bißchen mitgenommen aus.« »Bloß der Job und die Arbeitszeit«, brummelte Malcolm. »Wahrscheinlich kommst du jede Nacht erst spät nach Hause.« »Jeden Morgen, meinen Sie«, sagte Rachel mißbilligend. »Ja«, antwortete Malcolm, an den Priester gewandt und ohne seine Schwester zu beachten. »Um acht Uhr fange ich zu arbeiten an, und ich gehe meist ... na ja, wann das Lokal eben dichtmacht, für gewöhnlich so gegen drei.« »Und dann schläfst du bis sechs Uhr abends?!« fragte der Priester. »Oh, das brauchte er gar nicht, wenn er gleich nach Haus käme«, keifte Rachel bedeutungsvoll. »Aber nach der Arbeit zieht er ja noch mit seinem Freund Jerry los und hält nach lockeren Mädchen Ausschau!« Malcolm rieb sich seine immer noch trüben Augen. »Rachel, würdest du wohl die Klappe halten, zum Teufel?« Daniel betrachtete ihn stirnrunzelnd. »Sprich nicht in diesem Ton mit deiner Schwester!« Quincy räusperte sich laut - sein Standardmittel, um sich die Aufmerksamkeit der anderen zu sichern -, und alle Augen richteten sich auf ihn. »Rachel«, sagte er ruhig, »hol das Fleisch. Daniel, du gehst mit ihr in die Küche und schneidest es auf.«
»Großvater, bitte, jetzt ...«, begann seine Enkelin. »Rachel, hol das Fleisch!« wiederholte er barsch. »Daniel, du gehst mit in die Küche und schneidest es auf!« Nachdem sie einen kurzen, verdrießlichen Blick ausgetauscht hatten, erhoben sich Quincys Enkelin und deren Gatte vom Tisch und verließen das Zimmer. Als die Küchentür zuschwang, wandte sich der alte Mann an den Geistlichen und sagte: »Gott sei Dank bin ich nicht Malcolm. Ich glaube, ich hätte sie beide schon vor Jahren erschossen.« Malcolm, dem die liebevolle, wenngleich übertriebene Fürsprache seines Großvaters guttat, lächelte. »Danke, Opa.« Quincy nahm einen Schluck Wein. »Du gehst doch auch wirklich in die Kirche, oder?« »Sicher doch, Großvater. Noch diesen Sonntagnachmittag, ganz bestimmt.« Und er tätschelte Quincy den Arm. Der alte Mann lächelte und nickte. Dann wandte er sich an Pfarrer Henley: »Malcolm geht übrigens mit einem bezaubernden jungen Mädchen.« »Oh, wie schön!« sagte Henley, aufrichtig angetan. »Wir sind nicht ... ich meine, es ist nichts Ernstes«, beeilte sich Malcolm klarzustellen. »Eigentlich weiß ich nicht mal, ob wir uns wiedersehen werden.« »Als du sie letzte Woche mit heimbrachtest, um uns ihr vorzustellen, hat es aber reichlich ernst ausgesehen«, meinte Quincy. »Na ja, das war eben letzte Woche.« Gleich darauf kamen Rachel und Daniel mit dem Braten herein und der Rest des Mahles verlief relativ angenehm. Henley lächelte und nickte, während Rachel sich kritisch über die meisten ihrer Bekannten äußerte und Daniel jedermann ins Gedächtnis rief, wie erfolgreich er als Geschäftsmann war. Ab und zu versuchte der Priester, ein Lachen zu unterdrücken, wenn der alte Quincy wieder einmal eine bissige Bemerkung zu seiner Enkelin oder deren Gatten machte. Malcolm blieb die ganze Mahlzeit hindurch stumm. Teilnahmslos betrachtete er sein Essen, schob es mit der Gabel auf seinem Teller hin und her und ließ es
schließlich, als er sich von der Tafel erhob, unverzehrt liegen. »Ich muß mich für die Arbeit fertig machen.« »In Ordnung, Junge«, sagte Quincy, während er ein Glas Wein hinuntergoß. »Machen Sie's gut, Herr Pfarrer. War schön, Sie zu sehen.« »Wiedersehen, Malcolm. Bis in der Kirche«, lächelte der Priester. »Malcolm!« keifte Rachel. »Du hast ja dein Essen nicht mal angerührt!« »Keinen Hunger«, sagte er über seine Schulter und sprang die Treppe hinauf. Ulkig, dachte er, während er sich duschte. Als ich aufgewacht bin, hab ich mich beschissen gefühlt; ich hab keinen Bissen gegessen, und jetzt geht's mir hundert Prozent besser. Muß wohl an der verrückten Arbeitszeit liegen. So ungern ich es zugebe, aber vielleicht hat Rachel recht. Vielleicht schadet es dem Organismus, so lang aufzubleiben und dann so lange zu schlafen. Vielleicht sollte ich mich nach einem anderen Job umsehen. Er stieg aus der Dusche und begann, sich zu rasieren. Ein anderer Job. Kommt nicht in Frage. Sein kurzes Gastspiel unten in der Wall Street hatte ihm gezeigt, daß er für feste Bürostunden einfach nicht geschaffen war. So früh am Morgen schien er einfach nicht richtig zu funktionieren. Es gibt Tagmenschen, und es gibt Nachtmenschen, und man kann sich selbst nicht ändern. Um drei Uhr früh war Malcolm immer glockenwach und um drei Uhr nachmittags todmüde. Er bespritzte sich mit etwas Rasierwasser und schlüpfte in einen grauen Pullover. Vielleicht verstehen Jerry und ich uns ja deshalb so gut, überlegte er. Jerry hat ständig Lust, die Nacht durchzumachen. Der macht nie schlapp. Na, ich hoffe nur, heute nacht ist er zum Schwofen aufgelegt. Nach gestern abend brauch ich ein bißchen Fez, ein bißchen was Aufmunterndes. Nachdem er sich fertig angezogen hatte, verließ er sein Schlafzimmer, stieg leise die Treppe hinunter, um sich nicht noch einmal verabschieden zu müssen, und ging aus dem Haus. Gott sei Dank! dachte er erleichtert. Noch mehr
Konversation mit Henley, Rachel und Daniel, und er ... tja, er hätte tatsächlich versucht sein können, jemanden zu erschießen. Während er die kurze Strecke vom Granville Place in The Gardens, seinem Zuhause, bis zur Ascan Avenue hinter sich brachte, bekam er wegen seines Großvaters und des Geistlichen doch ein paar kleine Gewissensbisse. In die Kirche gehen! Er hatte absolut nicht die Absicht, in die Kirche zu gehen, weder diesen Sonntag noch sonstwann. Zumindest das Recht auf eine freie Entscheidung hatte er ja wohl inzwischen. Abergläubischer Unfug, durch und durch. Er wußte, daß es seinen Großvater unglücklich machte, und er empfand auch Sympathie für Pfarrer Henley, aber man mußte zu seinen Überzeugungen stehen. Als er um die Ecke bog und sich über die Ascan Avenue Richtung Queens Boulevard bewegte, ließ er jede Spur von Niedergeschlagenheit oder Unbehagen hinter sich. Wird 'ne gute Nacht werden, dachte er. Sechs, sieben Stunden mixen Jerry und ich im Strand Getränke und flirten mit den Weibern, danach amüsieren wir uns mit zweien von ihnen oder gehen anderswohin und reißen dort welche auf. Heute nacht wird's klappen, dachte er zuversichtlich. Beim letzten Mal, das war Zufall gewesen, purer Zufall. Passierte jedem Typen mal zwischendurch, genau wie Holly gesagt hatte. Holly ... schätze, die werd ich nicht mehr zu Gesicht bekommen. Wahrscheinlich denkt sie jetzt, ich wäre schwul oder was. Er marschierte zügig die Ascan Avenue hinunter und wandte sich an der mächtigen katholischen Kirche, die einen ganzen Block des Queens Boulevard einnahm, nach links. In ein paar Minuten stand er vor dem Strand, einem geräumigen Etablissement, das gleich mehreren Wünschen vergnügungssüchtiger Nachtschwärmer entgegenkam. Das Strand - ziemlich selbstbewußt nach der berühmten Straße in London benannt - war Restaurant, Bar und, nach zwanzig Uhr, auch eine etwas gemächliche, aber doch annehmbar funkige Disco, deren Publikum nicht aus Teenagern, sondern aus jungen Erwachsenen bestand, was sowohl die gehobene Atmosphäre als auch die maßlos übertriebenen Preise erklärte.
Malcolm und Jerry sollte das nur recht sein. Je teurer ein Drink, desto höher in der Regel auch das Trinkgeld. Bei seinem Eintreten fand er Jerry Herman bereits hinter der langen, hufeisenförmigen Bar vor. »Hey, Mal«, trällerte Jerry. »Wurde auch langsam Zeit, daß du aufkreuzt!« »Wieso, bin ich zu spät?« fragte er. »Nee, es is' gerade acht Uhr rum. Aber ich hab mich allmählich gelangweilt. Hier ist heute abend tote Hose.« »Ist doch auch erst Dienstag, Jerry«, erinnerte ihn Malcolm. »Da wird's nett und gemütlich hergehn.« »Wer will's denn nett und gemütlich?!« fragte Jerry. »Je mehr Trubel, desto besser, sag ich immer. Da geht die Zeit schneller vorbei, und es kommen viel mehr gutaussehende Frauen rein.« Er grinste seinen Freund an. »Apropos: Wie ist's denn gestern nacht mit Holly gelaufen?« Malcolm errötete leicht. »Phantastisch, Jerry, einfach spitze.« Gräßlich, dachte er. Und so verdammt peinlich. »Hast du ein Schwein, du Mistkerl«, murmelte Jerry mit gespielter Verzagtheit. »Ich weiß nicht, was sie an dir findet. Mit 'nem Hengst wie mir hätte sie's doch viel besser.« Malcolm mußte unwillkürlich lachen. »Was du nicht sagst!« »Klar doch«, nickte der andere. »Ich kann zwei Stunden hintereinander nonstop, mit nur fünfzehn Minuten Unterbrechung für Bad, Zigaretten und einen Schluck Bourbon.« »Ach, du bist mein Traummann, Jer«, sagte Malcolm, immer noch lachend. »Herman! Harker!« Die Stimme ihres Chefs dröhnte aus der Küche am Ende des Raumes. »Schwingt euren Arsch mal hier rüber und helft mir, die Fässer da abzuladen!« »Das mach ich schon, Mal«, sagte Jerry mit einem Kopfnicken Richtung Tür. »Du hast Besuch.« Malcolm drehte sich um und schluckte vor plötzlicher Nervosität, als Holly Larsen die Tür hinter sich schloß. Für Jerry ging die Zeit ohne Zweifel schnell vorbei. Mit seinem üblichen Tempo und der bekannten, von guter Laune begleiteten Tüchtigkeit wieselte er auf seiner Seite der Bar hin und her, als wolle er den Ruf bestätigen, den er für sich in Anspruch nahm - nämlich New Yorks einziger
Barkeeper zu sein, der gleichzeitig arbeiten, flirten, denken und richtig herausgeben konnte. Jerrys etwas breites, pickelnarbiges Gesicht, das auf einem etwas zu knochigen Körper saß, als daß er noch modisch schlank erschienen wäre, hatte ihn nie von seiner Jagd nach dem schöneren Geschlecht abgehalten oder seinen Erfolg als Herzensbrecher beeinträchtigt. Er war witzig, freundlich und zuvorkommend genug, um etwaige physische Unzulänglichkeiten wieder wettzumachen. Bei Malcolm war es von jeher etwas anderes. Frappierend hübsch auf eine asketische, fast aristokratische Weise, hatte er es nie nötig gehabt, die geschliffenen Manieren und die aufgesetzte Fröhlichkeit anzunehmen, durch die der Abend nicht nur für Holly, sondern auch für ihn vielleicht viel weniger zwanghaft geworden wäre. Sie hatte ohne Umschweife und ohne sich an Malcolms kaltem, abweisendem Gebaren zu stören, auf einem Hocker an seinem Ende der Theke Platz genommen, und da sie wußte, daß sein Verhalten nur der Verlegenheit entsprang, blieb sie im Laufe der folgenden Stunden sitzen, wo sie war, trank, während die Nacht in den Morgen überging, bedächtig einige Ginger Ale und wartete geduldig, bis er aufhören würde, sich wie ein Kind zu benehmen. Während des Hauptbetriebs an diesem Abend hatte Malcolm sich ja vor einer Aussprache drücken können; gegen zwei Uhr aber hielten sich nur noch so wenige Gäste in der Bar auf, daß er Holly zur Kenntnis nehmen mußte. Sich für eine unerfreuliche Auseinandersetzung wappnend, ging er zu ihr hinüber und sagte: »Hi. Immer noch da?« »Selber hi«, entgegnete sie. »Siehst du doch.« Er nickte und versuchte krampfhaft, etwas zu sagen. »Wartest du auf jemand?« Liebe Güte! dachte er. Was für eine dämliche Frage! »Richtig«, nickte sie. »Darauf, daß du erwachsen wirst.« Er sah auf seine Füße hinunter, ehe er von neuem sprach, und machte sich dadurch auf unbewußte, jungenhafte, arglose Weise unwiderstehlich. Sie mußte sich große Mühe geben, um ihre liebevolle Belustigung zu verbergen. »Schau, Holly, wegen letzter Nacht ...«
»Wirklich, Malcolm«, lachte sie, nicht unfreundlich, »du bist so dumm.« Er errötete ein wenig und lächelte dann. »Tatsächlich?« »Ja«, antwortete sie. »Du brauchst dir doch bei mir keine Sorgen um irgendein bescheuertes >SuperhengstFreundschaft< sich obszön anhörte, begann Holly zu erröten. »Junges Fräulein«, sagte Daniel kalt, »ich wäre Ihnen dankbar, wenn Sie sich meiner Frau gegenüber in Ihrem Ton ein wenig zurückhalten würden!« »Dann sagen Sie Ihrer Frau, sie soll sich um ihren eigenen Kram kümmern!« entgegnete Holly und wandte sich zum Gehen. »Sind Sie sich darüber im klaren«, rief Rachel ihr nach, »daß unser Vater - mein Vater und der von Malcolm - vor zwanzig Jahren wegen Mordes gehenkt wurde?« Rachels Worte brachten Holly augenblicklich zum Stehen. »Was faseln Sie da?« fragte sie. Rachel lachte freudlos. »Ah, dacht ich mir's doch, daß Sie das interessieren könnte. Ja, Abraham Harker, unser Vater, wurde in Kansas wegen Mordes festgenommen und hingerichtet.« »Ach ja?« fragte sie zornig. »Na und?« »Liegt das nicht auf der Hand?« erwiderte Rachel. »Wir wissen aus langjähriger Erfahrung, daß bestimmte Formen von Wahnsinn erblich sind und durch unrichtigen Umgang oder entsprechende Erlebnisse ausgelöst werden können. Wir sind eine alte Familie und müssen uns sehr davor in acht nehmen, uns mit Personen unlauteren Charakters einzulassen. In Malcolms Fall scheint mir sein jüngst zurückliegendes Verhalten das Ergebnis aus seiner Beziehung zu Ihnen und seiner Freundschaft mit diesem Barry zu sein.« »Jerry«, berichtigte Holly. »Und ich werde mich nicht länger mit Ihnen über einen solchen Unsinn streiten.« Sie wandte sich erneut zum Gehen. »Es ist etwas sehr Ernstes, Miss Larsen«, sagte Rachel bestimmt, so daß Holly abermals stehenblieb, ehe sie das Wohnzimmer verließ. »Eine tiefe Frömmigkeit ist für uns das einzige Mittel, die schlechte Anlage oder, genauer gesagt, das schlechte Blut, zu unterdrücken. Sie, schätze ich, sind doch kaum sonderlich religiös?«
»Meine religiösen Überzeugungen sind meine Sache!« entgegnete die andere erbost. »Dann habe ich also recht«, nickte sie, als hätte Hollys Reaktion ihren Verdacht bestätigt. »Ich fürchte, Miss Larsen, daß es für Malcolm schreckliche Folgen hätte, würden Sie beide sich weiterhin sehen. Und falls Sie, was Gott verhüten möge, beide heiraten sollten, dann schaudere ich bei dem Gedanken, wie es um Ihren Nachwuchs stünde.« Sie sagte dies alles in weitgehend ausdruckslosem, gleichförmigem Ton. »Okay, jetzt hören Sie mir mal zu, Gnädigste, und hören Sie mir gut zu!« entgegnete Holly aufgebracht. »Punkt eins: Die einzige vererbbare Geisteskrankheit ist eine Art der Schizophrenie, die auf ein chemisches Ungleichgewicht zurückgeht. Jede Vorstellung, daß in Ihrer Familie irgendein Wahnsinn kursieren soll, ist demnach abergläubischer Unfug. Punkt zwei: Es juckt mich nicht so viel, wie Mals Vater war oder was er getan hat. Ich gebe darauf nicht das geringste. Punkt drei: Ich unterscheide ganz deutlich zwischen der Frömmigkeit, wie sie von einer Menge lieber, netter und freundlicher Leute praktiziert wird, und der von besitzergreifenden, engstirnigen, aufgeblasenen und ignoranten Betschwestern wie Ihnen. Und«, rief sie über die Stimmen von Rachel und Daniel, die beide wütend losschnatterten, hinweg, »Punkt vier: Ich liebe Malcolm, und ich glaube, er liebt mich ebenfalls, und wenn Ihnen das nicht paßt, dann ... dann können Sie ... ach, ich weiß nicht, was«, schnaubte sie, »aber tun Sie's von mir aus!« »Rachel. Daniel. Laßt mich mit der Kleinen allein«, sagte der alte Quincy, der in diesem Moment in den Raum geschlurft kam, und sein plötzliches Erscheinen brachte sie alle für kurze Zeit zum Verstummen. »Einen Augenblick, Großvater«, begann Rachel, aber Quincy entgegnete streng: »Kein Wenn und Aber mit mir, Mädchen. Kümmert euch um euren eigenen Kram und laßt mich mit dem Kind allein.« Rachel und ihr Gatte sahen einander wütend an, um dann mit einem letzten erzürnten Blick auf Holly aus dem Zimmer zu stürmen. Quincy wandte sich lächelnd zu ihr um. »Lassen Sie sich von denen nicht aus der Ruhe bringen,
Liebes. Weder meine Enkelin noch ihr Gatte haben je so etwas wie ... äh ... wie soll ich sagen ? ... Umgangsformen entwickelt.« Sie lächelte über den Alten, und ihre Verlegenheit angesichts ihres eigenen Temperamentsausbruchs ließ sie erröten. »Tut mir leid, wenn wir Sie gestört haben, Mr. Harker«, sagte das Mädchen, »wirklich. Ich bin nur gekommen, um einmal nach Malcolm zu sehen, da haben die beiden angefangen zu ... ach, warum sollten wir das noch einmal aufrollen. Es tut mir leid, das ist alles.« »Keine Sorge, Liebes. Das macht nichts.« Er hielt inne, um sie von Kopf bis Fuß zu begutachten. »Freut mich, zu sehen, daß wenigstens einer meinen Geschmack in puncto Frauen geerbt hat.« Und mit einem Augenzwinkern fügte er hinzu: »Daniel besitzt jedenfalls keinen.« Auch Holly lachte, da die Wärme und Freundlichkeit des Alten ihr die innere Anspannung genommen hatten. »Darüber möchte ich nicht mit Ihnen streiten«, sagte sie. »Ich glaube, Rachel gerät nach Cynthia, ihrer Mutter.« Quincy schlurfte zu der großen Kristallkaraffe hinüber, die auf dem Tisch stand, um Holly unaufgefordert ein Glas Sherry einzuschenken. Eigentlich stand ihr nicht gerade der Sinn danach, aber da sie den alten Mann nur ungern durch Zurückweisung seiner Gastfreundschaft beleidigen wollte, nahm sie es aus seiner ausgestreckten Hand entgegen. Dann sagte er: »Cynthia, die Frau meines Sohnes Abraham, war steif wie ein gestärktes Hemd und etwa genauso aufregend. Ich habe nie verstanden, warum er sie zur Frau nahm.« Holly wartete einen Moment, bevor sie sprach, um ihre Worte bedachtsam wählen zu können. »Mr. Harker, ich möchte ja nicht neugierig sein, aber, was Rachel da eben gesagt hat ... ich meine ...« »Über Abe, meinen Sohn?« Er nickte traurig. »Ja, das war richtig. Er hat im Mittleren Westen einen Mann umgebracht und wurde dafür gehenkt.« Der Alte schüttelte seinen Kopf und seufzte. »Armer Junge. Für uns war er verloren, für Gott war er verloren. Einfach verloren. Punktum.« Holly verspürte gleichzeitig Bedauern und Unbehagen. »Das tut mir sehr leid, Mr. Harker.«
»Ach, na ja«, sagte er und zuckte dabei mit den Achseln, »es war ja nicht seine Schuld, nicht wirklich. Er hat sich einfach nicht beherrschen können.« »Seinen Zorn, meinen Sie?« Er überhörte ihre Frage. »Malcolm hat seinen Vater niemals kennengelernt. Abe ist gestorben, als Malcolm, glaube ich, erst etwa vier war, vier oder fünf, und sein Vater lebte schon eine ganze Weile nicht mehr zu Hause. Über ein Jahr, glaub ich.« »War er vielleicht Vertreter oder so?« »Nein«, sagte der alte Quincy kopfschüttelnd. »Nur eben ein Tunichtgut, ein Herumtreiber. Er und Cynthia haben sich eigentlich nie besonders verstanden. Sie war steif wie ein Ladestock und etwa ebenso unterhaltsam, während Abe... nun ja, zuzeiten war Abe ein lebhafter Bursche. Sie waren unterschiedlich wie Tag und Nacht, die beiden.« »Was ist aus Malcolms Mutter geworden?« fragte sie. »Sie starb«, antwortete er und nahm schwerfällig in seinem Sessel Platz. »An Krebs, ein paar Jahre später. Wissen Sie, Holly, Sie dürfen nicht vergessen, daß Rachel den Jungen quasi großgezogen hat. Ich weiß, das ist keine Entschuldigung für ihr Benehmen, aber doch eine gewisse Erklärung.« »Ich verstehe«, lächelte sie. »Ich werde versuchen, mit ihr auszukommen.« »Ja, schön, nun denn«, sagte er, plötzlich ganz geschäftsmäßig. »Ich finde, Sie sind eine bezaubernde junge Dame, und es freut mich, zu sehen, daß Sie und Malcolm miteinander befreundet sind, aber eines muß Ihnen klar sein: Wir sind eine religiöse, eine tief religiöse Familie. Ich weiß nicht, wie Ihre eigenen Überzeugungen aussehen, und würde mir bestimmt nicht anmaßen, Sie darüber auszuhorchen, aber ich möchte doch hoffen, daß das Leben, welches Sie und Malcolm miteinander führen werden — wie dieses Leben auch immer beschaffen sein mag -, eine umfassende Betätigung innerhalb der Gemeinde mit einschließt.« Er be-
merkte, daß ihr die Röte ins Gesicht stieg, und beeilte sich hinzuzufügen: »Bitte nehmen Sie mir meine Worte nicht übel, Holly. Ich weiß, daß manche Leute zu glauben scheinen, wenn ein Mann erst einmal neunzig Jahre alt ist, besäße er ein Recht darauf, alles zu sagen, was ihm in den Sinn kommt, aber ich habe diese Ansicht nie geteilt. Ich möchte Ihnen auf keinen Fall zu nahe treten.« »O nein, Mr. Harker, das tun Sie durchaus nicht«, erwiderte das Mädchen. »Nur haben Malcolm und ich uns ... na ja, erst ein paarmal gesehen. Ich glaube, es wäre etwas verfrüht, von ... nun, von unserem Zusammenleben zu sprechen.« »Natürlich, natürlich, ich verstehe«, antwortete er. »Aber das meinte ich eigentlich gar nicht. Ich sprach von religiöser Hingabe. Nun, ich weiß, daß Rachel sich mit ihrem Gewäsch über erblichen Wahnsinn und all sowas ein bißchen beschränkt anhört, aber ich kann mich des Gedankens nicht erwehren, daß meinem Sohn Abraham mit ein klein bißchen mehr Bibel und ein klein bißchen weniger Alkohol sein jämmerliches Ende womöglich erspart geblieben wäre.« Holly empfand eine solche Sympathie für den alten Mann, daß sie beschloß, ihm seine Sorgen auszureden. »Na ja, eine regelmäßige Kirchgängerin oder so bin ich eigentlich überhaupt nicht, aber an Gott und so weiter glaube ich schon. Ich meine, es würde mir keineswegs etwas ausmachen, mit Mal in die Kirche zu gehen, wenn wir ... nun ja, wenn wir ... na, Sie wissen schon.« »Heiraten würden?« beendete er den Satz für sie, und seine Augen funkelten neuerlich. »Sie können es ruhig aussprechen, Liebes. Es ist ja nichts Unanständiges.« Sie lachte. »Nein, das weiß ich.« »Malcolm und ich werden morgen nachmittag zum Gottesdienst gehen. Sie hätten doch bestimmt Lust mitzukommen. Sind Sie Mitglied der Episkopalkirche?« »Nein«, antwortete sie. »Ich bin Methodistin. Sozusagen, schätz ich.« »Na, das ist doch famos. Meine Mutter war auch Methodistin -das heißt, bis sie meinen Vater geheiratet hat.« Er lä-
chelte sie an. »Bitte glauben Sie nicht, daß ich Sie unter Druck setzen will, aber es würde auch mein altes Herz erfreuen.« Sie erwiderte sein Lächeln. »Oh, ich käme liebend gerne mit. Ich war noch nie in einem Episkopalgottesdienst ...« Genauer gesagt, hab ich schon seit Jahren keine Kirche mehr von innen gesehn, dachte sie. » ... Aber angeblich sollen sie ja sehr schön sein.« »Ich glaube, das kann man sagen«, nickte er, »nur bin ich natürlich damit großgeworden. Also, treffen wir uns dann morgen mittag um zwölf?« Er begann, sich mühselig aus seinem Sessel zu erheben. »Ich werde da sein«, antwortete sie, »und bitte bemühen Sie sich nicht, Mr. Harker. Ich finde schon allein hinaus.« Einem inneren Impuls folgend, beugte sie sich über ihn und gab ihm einen Kuß auf die Wange. »Junge, Junge!«lachte er. »So hab ich mich ja schon seit Jahren nicht mehr amüsiert!« Sie stimmte in sein Lachen mit ein. Er war, fand sie, so hinreißend charmant und gutgelaunt, wie es nur die Abgeklärtheit des Alters bewirken konnte. »Bis morgen dann. Auf Wiedersehen, Mr. Harker.« »Auf Wiedersehen, meine Liebe«, antwortete er und sah ihr noch nach, während sie das Haus durch die Eingangshalle verließ. Fast augenblicklich war Rachel Rowland im Zimmer. »Ich habe euch beide gehört, Großvater! Was, um alles in der Welt, ist nur in dich gefahren ? Dieses Mädchen kommt nicht in Frage, nie und nimmer!« »Ach, sei still, Rachel«, brummte er. »Ich weiß schon, was ich tue.« »Aber sie ist nicht die Richtige für ihn! Sie ist nicht das, was er braucht!« Quincy schüttelte den Kopf. »Da bin ich anderer Meinung. Ich glaube, bei Abraham habe ich einen Fehler gemacht, als ich ihn zur Heirat mit dieser Dörrpflaume zwang. Ich glaube, hinter seinem Fall hat mehr gesteckt als ... als diese andere Sache. Ich glaube, Malcolm braucht jemand
Lebhaften - jemanden, der das Leben liebt.« »Ach, Großvater, ich bitte dich!« »Rachel, laß mich!« entgegnete er schroff. »Ich hatte in meinem Leben schon genug zu tragen. Auf deine ewig gleiche Leier kann ich verzichten. Das macht es mir nur noch schwerer!« Sie richtete sich auf - ein Ebenbild gekränkter Würde. »Ganz, wie du willst, Großvater. Aber glaube mir, es gehört mehr dazu als ein hübsches Lächeln und >Liebe zum LebenDavignonschen Liegenschaf tenWoiwode,< die Walachei regierte, wurde er Vlad Tepes, das heißt >Vlad der Pfählen, genannt.« Er klopfte mit seinem Finger auf die Unterschrift. »VlWalWoi. Vlad von der Walachei, Woiwode.« Holly schüttelte den Kopf. »Ich finde das wirklich ziemlich weit hergeholt, Malcolm.« »Ach komm, Holly! Gib's doch zu! Es ist ein eindeutiger Beweis! Der Vater dieses Burschen hieß bei seinen Untertanen Der Drache, und sein Sohn wurde Dracula genannt, der kleine Drache. Sein richtiger Name aber lautete Woiwode Vlad von der Walachei.« Malcolm ließ sich auf einen Stuhl neben dem Tisch fallen. »Damit ist die Sache klar. Dracula hat Carfax Abbey über meinen Urgroßvater und Mr. Hawkins gekauft und durch Billington, Carter & Paterson Kisten mit Heimaterde nach England verschiffen
lassen. Es ist alles belegbar. Van Helsing, Stewart, Wellington, Carfax ... alles ist wahr!« Jerry sah Holly an. »Sag ihm, was du draußen zu mir gesagt hast.« »Sag mir was?« Malcolm schaute aufgeregt empor. Holly wiederholte ihre Theorie, und Malcolm hörte aufmerksam zu, anfangs skeptisch, aber mit zunehmendem Ernst, je fester sie ihren Standpunkt unterstrich. Sie beendigte ihre Ausführungen mit den Worten: »Du mußt zugeben, daß es weitaus plausibler ist als dieser übersinnliche Firlefanz, nicht wahr?« Er nickte. Zwar war er nicht überzeugt, aber er hatte den verzweifelten Wunsch, sich überzeugen zu lassen. »Es wäre möglich ... durchaus möglich ...« »Natürlich ist es möglich«, meinte Jerry beiläufig, so, als müßte es selbst dem umnachtetsten Gehirn einleuchten. »Ich meine, da die andere Möglichkeit nicht in Frage kommt, muß das die Wahrheit sein.« Malcolm nickte weiterhin und sagte dann entschlossen: »Das läßt sich ein für allemal feststellen. Ich habe euch ja gesagt, was ich tun würde, wenn sich alles andere als wahr erweist.« Jerry stöhnte nur, während Holly sagte: »Malcolm, du wirst nicht anfangen, anderer Leute Gräber aufzureißen, um nach Holzpfählen zu suchen!« »Holly, ich muß doch ...« »Nein! Bis hierhin und nicht weiter!« entgegnete sie verdrossen. »Jerry und ich haben bisher alles mitgemacht, aber hier ist Schluß! Aus!« »Sie hat recht, Mal«, fügte Jerry hinzu. »Wir haben doch die Todesanzeigen durchgesehen und alles. Es gibt sowieso keinen Hinweis auf Lucy Westenra.« »Darum fahren wir jetzt nach Hampstead und suchen nach ihrem Grab«, erwiderte Malcolm. »Nein, Malcolm!« sagte Holly. »Ich hab die Nase langsam voll von diesem Schwachsinn! Seit unserer Ankunft sind wir wie die Verrückten hier herumgekurvt. Wahrscheinlich hab ich mir beim Lesen von all diesen verblichenen alten Dokumenten die Augen verdorben. Ich hab
soviel Staub eingeatmet, daß ich mir vorkomme wie ein Arbeiter aus einem Kohlebergwerk ... Es reicht, Malcolm! Es reicht!« Mit zusammengekniffenen Augen starrte Malcolm Holly ins Gesicht, und sie verspürte ein leichtes Zittern. Er wirkte in diesem Moment irgendwie kalt, wie ein Fremder, und als er sprach, klang seine Stimme hart und verbittert. »Ihr habt's mir versprochen«, sagte er. »Ihr habt es mir beide versprochen. Ich muß die Wahrheit herausbekommen, und ich möchte es nicht alleine tun. Ihr gebt euch als meine Freunde aus, und doch ... doch ...« Er hielt inne und schaute von Holly zu Jerry. »Ihr habt es mir versprochen, alle beide.« Holly blickte hilfesuchend zu Jerry, sah aber, daß auch er von Malcolms befremdlichem Gebaren zu sehr verblüfft war, und wandte sich wieder an Malcolm. »Ich hatte nicht vor, dich anzuschreien, ehrlich. Ich weiß, wie sehr dich die Sache aus dem Gleis geworfen hat und ... na ja ...« Sie stockte und sah abermals zu Jerry. »Sieh mal, äh, Mal«, meinte Jerry begütigend. »Wie wär's denn damit: Morgen fahren wir nach Hampstead und suchen nach dem Grab. Wenn wir es nicht finden, kehren wir wieder nach London zurück und machen die letzte Woche dort höllisch einen drauf. Wärst du damit zufrieden?« Er nickte bedächtig. »Und wenn wir das Grab nun finden?« Da keiner seiner Freunde eine Antwort gab, wiederholte er: »Wenn wir das Grab nun finden? Denkt daran, was ich euch drüben in New York gesagt habe. Falls wir Lucy Westenras Grab finden sollten, werden wir es öffnen und ihre Überreste in Augenschein nehmen. Stimmt's?« Wiederum keine Antwort. »Stimmt's?« fragte er langsam und nachdrücklich noch einmal. Jerry nickte. »Ja, klar, Mal, klar.« Malcolm sah zu Holly, und nach einer Weile erwiderte sie: »Einverstanden, Malcolm.« Er nickte. »Gut.« Dann kehrte etwas von der gewohnten melancholischen Freundlichkeit in sein Gesicht zurück, und er lächelte, als würde er sich wegen seines gerade gezeigten
Verhaltens ein wenig schämen. »Ihr müßt das durchstehen, und zwar mit mir zusammen. Diese ganze Geschichte geht mir allmählich an die Substanz.« Holly war erleichtert, als schlagartig der vertraute Malcolm zurückkehrte, und drückte ihm lächelnd die Hand. »Weißt du, was ich denke?« »Was?« fragte er. »Ich denke, wir werden morgen frühzeitig aus den Federn hüpfen und nachmittags wieder in Südengland sein. Dann fahren wir nach Hampstead, besuchen dort den Kirchhof, sehen uns um und finden gar nichts.- Die Namen seiner Freunde nur mal um eines Lacherfolges willen in ein Buch einzubauen, das ist das eine. Aber ein Mordopfer nach einer wirklich lebenden Person zu benennen, das steht auf einem ganz anderen Blatt. Glaub mir, Malcolm, eine Lucy Westenra hat es nun mal nicht gegeben.« »Nicht geben können«, bestätigte Jerry. Malcolm ließ sich das, was sie gesagt hatten, durch den Kopf gehen. »Ihr scheint euch eurer Sache ja beide ganz schön sicher zu sein.« »Ich bin sicher«, erwiderte Holly zuversichtlich. »Du dir etwa nicht, Jerry?« »Habe nicht den geringsten Zweifel«, antwortete er. »Hoffentlich behaltet ihr recht«, sagte Malcolm mit schwachem Kopfnicken. Jerry lachte. »Natürlich tun wir das, Mal. Morgen um diese Zeit wirst du einsehen, wie absurd die ganze Geschichte gewesen ist, und wir beide werden dich derart damit aufziehen, daß es für alle Zeiten reicht.« Beim Anbruch des nächsten Tages verließen sie Whitby. Um vier Uhr nachmittags waren sie in Hampstead. Um Viertel nach vier hatten sie den alten Kirchhof gefunden. Um halb fünf standen sie wortlos vor der Westenraschen Familiengruft. Malcolm Harker starrte aus dem Fenster seines Zimmers im King Edward Hotel in Hampstead und beobachtete, wie über den fernen Hügeln von Yorkshire langsam die Sonne unterging. Da er das leichte Klopfen an der Tür überhört hatte, wandte er sich nicht um, als Holly Larsen eintrat. »Malcolm?« fragte sie. »Kann ich eine Minute hereinkom-
men?« Er gab keine Antwort. Stumm und gedankenverloren starrte er auf die rötliche Kugel. »Malcolm?« wiederholte seine Freundin. »Bist du okay?« Rasch, wie aufgeschreckt, wirbelte er herum und erschreckte durch seine plötzliche Bewegung wiederum Holly. Einen Moment lang starrte er sie wortlos an. Dann lächelte er. »Oh, Holly. Tut mir leid, ich hab dich nicht reinkommen hören.« Sie trat weiter ins Zimmer und verschloß die Tür hinter sich. »Ich glaube, wir haben miteinander zu reden, Mal.« Er nickte. »Ja, das stimmt. Ich habe mir die ganze Sache gerade noch einmal durch den Kopf gehen lassen und möchte, daß du dir ein paar Gedanken dazu anhörst.« »Das meine ich nicht, Malcolm«, unterbrach sie ihn. »Ich bin an deinen schwachsinnigen Hirngespinsten nicht interessiert und fange langsam an, mich zu fragen, ob ... na ja, ob vielleicht ...« Er seufzte. »Ob wir uns nach unserer Rückkehr in die Staaten vielleicht nicht mehr sehen sollten?« Sie bejahte schweigend, und ohne sie anzusehen, ging er an sein Bett hinüber, um sich zu setzen. »Ich kann nicht sagen, daß ich es dir verdenke. Es gibt keinen Grund der Welt, weshalb irgendwer mit jemandem zusammenbleiben sollte, der diese Art Probleme hat wie ich womöglich.« »Verdammt, Malcolm!« sagte sie erbost. »Du kapierst auch gar nichts, wirklich gar nichts! Dein einziges Problem ist, daß du an diese blöde Räuberpistole glaubst, nur darüber mache ich mir Sorgen!« Sie setzte sich neben ihn und nahm seine Hand in die ihre. »Hör zu, Mal, ich bin keineswegs davon überzeugt, daß wir Schluß machen sollten. Nur hab ich jetzt einfach den Kanal voll von diesem Unsinn. Du mußt dich wieder zusammenkriegen, Malcolm, wirklich.« Malcolm nickte. »Ich weiß, ich weiß.« Und indem er plötzlich das Thema wechselte: »Wo ist Jerry?« »Der ist ausgegangen, einen trinken«, antwortete sie. »Auch er hat die Nase voll, Mal.« Er schniefte. »Toller Freund.« »Er ist ein toller Freund«, entgegnete sie mit einem Nachdruck, den sie eigentlich nicht empfand. Offen
gestanden, hatte sie Jerry noch immer nicht verziehen, daß er Malcolm in jenes unselige Turnier mit Vanessa geführt hatte, aber da seine Skepsis und sein gesunder Menschenverstand sie im Kampf gegen Malcolms Wahnvorstellungen unterstützten, nahm sie Jerry in Schutz. »Du hast dich so in diese Schnapsidee verrannt, daß du nicht mehr weißt, wie es Jerry und mir vorkommt. Malcolm, das ist verrückt.« Er sah sie an, drückte dann ihre Hand und nickte. »Mag sein. Heute nacht werden wir's ja wissen, so oder so.« Holly knirschte mit den Zähnen und seufzte. »Malcolm, du wirst in niemandes Grab einbrechen!« »Ich muß aber.« »Du kannst nicht!« Er stand auf und begann, hin und her zu gehen. Dabei sagte er: »Hör zu, Holly, hör mir gut zu. Seit wir Lucys Grab gefunden haben, sind mir eine Menge sehr merkwürdiger Ideen gekommen - so verschrobene, unheimliche Ideen, daß sie mir fast selber angst machen, aber sie kommen nun mal, und je mehr ich darüber nachdenke, desto mehr leuchten sie mir ein.« Holly seufzte und legte sich aufs Bett zurück. »Ach Malcolm!« murmelte sie mit einer Stimme, in der gleichzeitig Mitleid und Abscheu schwangen. »Holly, hör mir einfach zu, ja?« Sie seufzte abermals. »Ja, einverstanden.« »Angenommen, nur mal angenommen - um alle Möglichkeiten durchzudenken -, er wäre irgendwie in der Lage gewesen, die Zusammensetzung seines Blutes zu ändern, es sowohl zu konservieren als auch erneuerungsfähig zu machen ...« »Malcolm«, sagte sie müde, »versuch nicht, deinem abergläubischen Unsinn einen wissenschaftlichen Anstrich zu geben, indem du ihn in hübsche Worte verpackst. Es ist und bleibt der blanke Unsinn, und tief im Innern weißt du das auch.« »Hör zu, hör zu!« entgegnete er. »Nehmen wir nur mal an, daß auf irgendeine chemische Weise, die wir nicht verstehen können, in seinem eigenen Blut der Schlüssel zu dem läge ... na, eben zu dem, was van Helsing als >Untod< bezeichnet hat.« »Aha«, sagte sie mit wachsender Gereiztheit. »Nehmen wir mal an, es gäbe irgendeine chemische Reaktion, für die Menschenblut, das Blut von echten, lebendigen Menschen, der notwendige Katalysator wäre. Würde das
nicht alles erklären? Würde das nicht erklären, warum er jahrhundertelang fortgelebt hat, warum er Blut von lebenden Menschen trinken mußte?« Sie setzte sich im Bett auf und ließ sich seufzend auf die Unterhaltung ein. »Okay, nehmen wir diese Idee mal eine Minute unter die Lupe. Wie erklärt es sich dann, daß Menschen, die von Dracula umgebracht und bis zum letzten Tropfen von ihm ausgesaugt wurden, sich nach ihrem Tod selber in Vampire verwandelten?« »Vielleicht hat er sie gezwungen, auch von seinem Blut zu trinken. Wenn das veränderte Blut es ihm ermöglichte, aus seinem Tod zurückzukehren, hat er seine Opfer vielleicht anschließend von seinem eigenen trinken lassen.« Sie schüttelte den Kopf. »Das steht aber nicht im Buch.« »Natürlich nicht«, erwiderte er. »Keiner hat Dracula je dabei gesehen, wenn er seine Opfer anfiel. Vielleicht hat er Lucy Westenra jedesmal, wenn er nachts von ihrem Blut trank, wieder etwas von seinem eigenen gegeben.« Er hielt inne. »Ja, wie kommen wir überhaupt zu der Vermutung, daß das, was er mit Mina Harker machte, ein Einzelfall war? Vielleicht ging er ja immer so vor!« »Na schön«, sagte sie. »Falls der Leichnam also durch dieses Blut in seinen Adern ... ich weiß nicht, erweckt wird oder was, weshalb wurde dann nicht auch deine Urgroßmutter zum Vampir? Weshalb ist dein Vater nicht aus seinem Grabe auferstanden, um sich frisches Blut zu beschaffen?« »Weil das im Amerika des zwanzigsten Jahrhunderts war und nicht im England des neunzehnten. Wenn ein Mensch stirbt, wird er einbalsamiert. Man zapft das Blut aus dem Körper und ersetzt es durch Einbalsamierungsflüssigkeit. Bei Lucy Westenra ist das nicht geschehen. Und bei den Frauen auf Schloß Dracula denjenigen, die van Helsing kurz vor der endgültigen Vernichtung des Grafen beseitigt hat - genausowenig.« Er hielt abermals inne, runzelte seine Stirn, und seine Augen leuchteten vor innerer Begeisterung. »Begreifst du denn nicht? Die Kraft, die eigentliche Kraft, liegt in dem Blut. Sie liegt in dem Blut!«
»Okay, na schön«, antwortete sie, da sie der Auseinandersetzung müde war. »Zweiter Gedanke«, fuhr er fort. »Wenn Dracula, abgesehen von seinen Opfern, der einzige je existierende Vampir war, und wenn er durch irgendeine Art unbewußten alchimistischen Prozeß zum Vampir wurde, liegt dann nicht auch auf der Hand, daß dieser Vorgang umkehrbar, rückgängig zu machen ist ? Ich meine, sind nicht die meisten chemischen Prozesse umkehrbar?« »Nein«, antwortete sie schlicht. Er überhörte ihren Einwand. »Wenn es so herum möglich war, dann auch wieder umgekehrt - ganz bestimmt. Es muß eine Möglichkeit geben, dem Einfluß seines Blutes entgegenzuwirken, noch eine andere als die Kommunion.« Er hielt inne und überlegte einen Moment. »Ich weiß, daß ich hier mehr oder weniger phantasiere, aber der Gedanke an sich ist vernünftig.« »Der Gedanke ist alles andere als vernünftig, Malcolm«, entgegnete sie. »Nur daß wir uns verstehen: So etwas wie Vampire gibt es nicht. Aber wenn es sie gäbe, so hätten wir keine wissenschaftliche Erklärung dafür.« »Na schön, dann gibt es eben keine wissenschaftliche Erklärung, gibt es eben überhaupt keine vernunftmäßige Erklärung. Und doch bleibt die gravierende Tatsache, daß die Macht in dem Blut liegt, und es muß sich irgendwie herausfinden lassen, weshalb das Blut so mächtig ist.« Er sah ihr mit ernster Miene ins Gesicht. »Was mich auf meine dritte Idee bringt.« »Schieß los«, seufzte sie. »Später, wenn alles im Ort schläft, werden wir losziehen und Lucy Westenras Sarg überprüfen. Mag sein, daß wir nur ihre Gebeine finden.« »Der erste vernünftige Gedanke, den du bisher ...« »Aber vielleicht entdecken wir auch mehr. Vielleicht entdecken wir einen Pfahl zwischen ihren Rippen. Vielleicht stellen wir fest, daß man ihr den Kopf abgeschnitten hat, so wie es im Buch steht.« »Ja, klar. Schon möglich.«
»Wenn das Blut in meinen Adern das von Dracula ist, dann war es in erster Linie dieses Blut, mein Blut, das sie in einen Vampir verwandelt hat. Es war das Vorhandensein dieses Blutes in ihrem Körper, das sie von den Toten auferstehen und zum Vampir hat werden lassen. Wenn es das einmal getan hat, kann es das auch ein zweites Mal.« Einen Moment lang schaute sie ihn verständnislos an und riß dann, als ihr klar wurde, was er damit meinte, die Augen auf. »Wie?!« »Natürlich!« antwortete er aufgeregt. »Was wissen du, ich oder sonst wer schon von Vampirismus - ausgenommen das Zeug, das wir in den Volkssagen lesen? Nichts, rein gar nichts! Wenn ich begreifen möchte, was mit mir los ist, und, wichtiger noch, dahinterkommen möchte, was sich dagegen unternehmen läßt, wer wäre da eine bessere Adresse als ein richtiger, waschechter Vampir?« Sie starrte ihn weiterhin an und brach dann in ein hysterisches Gelächter aus. »O Mal, das ist zuviel!« johlte sie. »Das ist einfach zuviel!« »Ich meine es ernst, Holly«, murmelte er düster. »Ich weiß, daß du es ernst meinst«, lachte sie. »Darum ist es ja so komisch!« Er sprang vom Bett auf, ging an den Schrank hinüber und entnahm ihm eine schwarze Ledertasche, eines der Handgepäckstücke, die er auf dem Flug nach England bei sich behalten hatte. »Während du mit Jerry beim Antiquitätenhändler warst, bin ich los und habe dieses Zeug hier gekauft.« Er entleerte den Inhalt der Tasche auf das Bett: Brechstangen, einen Hammer, eine Taschenlampe, einen Staubwedel und ein kleines Silberkruzifix. »Ich meine es todernst, Holly. Wenn wir nur auf ein altes Gerippe stoßen, werde ich der glücklichste Mensch der Welt sein. Aber ... und das sage ich nicht nur so ... sollten wir Beweise dafür finden, daß Lucy vor hundert Jahren ein Vampir gewesen ist, dann werde ich den Versuch machen, sie wiederzubeleben, um ihr ein paar Fragen zu stellen.« »M-hm, klar«, antwortete Holly und versuchte angestrengt, nicht neuerlich
loszulachen. »Würde ich dir wohl zu nahe treten, wenn ich sagte, daß ich in dieser Hinsicht ganz unbesorgt bin?« »Natürlich nicht. Ich hoffe, das Ganze ist nichts als eine Schnapsidee. Ich möchte mir ja dämlich vorkommen - ich wünsche es mir wie noch nichts in meinem Leben. Ich wünsche mir ja, klipp und klar als ein hysterischer Idiot dazustehen -wirklich!« »Na«, brummte sie, »dann wirst du ja bald erhört werden.« Er hatte ihre Antwort entweder bewußt oder unbewußt überhört. Jedenfalls starrte er durch das Fenster auf die untergehende Sonne und sagte, mehr zu sich selbst als an sie gewandt: »Wenn es funktioniert, wird es gefährlich für uns werden. Für dich zumindest. Ich bezweifle, daß Lucy mir etwas anhaben könnte, wo mein Blut doch schon verunreinigt ist.« Er drehte sich zu ihr um. »Vielleicht mußt du dein Kruzifix gut festhalten, Holly. Mit den Kreuzen und dem Knoblauch dürften wir sie eigentlich in Schach halten können, sie dazu zwingen können, daß sie uns gehorcht ...« Holly sprang vom Bett auf. »Ich geh jetzt Jerry suchen und gönn mir ein paar Drinks.« Ihre Stimme klang wütend und ungehalten. »Augenblick!« sagte er. »Ich komme mit.« »Nein!« schrie sie. »Bitte nicht! Bleib einfach da und, und ... ich weiß nicht, spitz deine Pfähle an oder was!« Und dann, schon etwas nachgiebiger: »In etwa einer Stunde bin ich wieder zurück, und anschließend gehen wir auf Mausoleumseinbruch. Wahrscheinlich werden wir zwar im Kittchen landen, aber wenn ich etwas verspreche, dann halte ich es auch.« Sie kniff die Augen zusammen und warf ihm einen zornigen Blick zu. »Aber ich warne dich, Malcolm. Danach ist Schluß, verstanden ? Danach ist endgültig Schluß!« Damit schritt sie aus dem Hotelzimmer, knallte die Tür hinter sich zu und dachte, während sie wütend den Korridor entlangmarschierte: Toll, einfach großartig, echt! Da find ich endlich mal 'nen Typen, der nicht so ein Wichser ist, und dann entpuppt er sich als Verrückter! Ich meine, Vampire, du liebes bißchen!
In seinem Hotelzimmer wandte sich Malcolm erneut dem Fenster zu und beobachtete, wie die Sonne hinter den Hügeln unterging. »Bald wird alles vorbei sein, Holly«, flüsterte er. »Heute nacht werden wir entweder wissen, daß alles eine Legende ist, oder einen Vampir zu befragen haben.« Der weitschweifige Bericht aus dem Tagebuch seiner Urgroßmutter fiel ihm wieder ein. Ich frage mich, ob Großvater als kleiner Junge vielleicht dasselbe versucht hat, als er in Lucys Gruft einbrechen wollte. Ich frage mich, ob er einen instinktiven Drang verspürte, sie wieder zum Leben zu erwecken. Stirnrunzelnd sinnierte er über seine eigenen Gedanken. Was für ein merkwürdiger Einfall! Wie, um alles in der Welt, sollte ein sechsjähriges Kind auf so eine Idee kommen? Malcolm Harker nahm sich nicht die Zeit, sich zu fragen, warum die gleiche Idee so überraschend ihm selbst gekommen war. Kapitel 8 Der Nebel wallte um ihre Füße, während sie im Schatten am Eingangsportal des alten Kirchhofes standen. Malcolm war ruhig, aber es war die Ruhe vor dem Sturm. »Malcolm«, flüsterte Holly, »ich möchte nach Hause!« Langsam und ohne sie anzusehen schüttelte er den Kopf. »Entweder es ist alles wahr, oder es ist alles erlogen; den Beweis haben wir in jedem Fall. Wenn das Ganze Unsinn ist, macht es nichts. Es kam keiner zu Schaden, und alles ist in Ordnung. Wenn es aber - Gott steh mir bei —, wenn es aber der Wahrheit entspricht, dann besteht für mich keine Gefahr, und ich werde euch in Schutz nehmen können. Sie würde richtiges Menschenblut wollen, nicht das meine.« »Ach, Malcolm!« seufzte Holly. Bei ihrem ersten Blick auf die alte Kirche und den dazugehörigen Friedhof war alles noch so einfach erschienen, fast beschaulich. Das schroffe, mittelalterliche Gotteshaus mit seinen unverputzten Mauern und uralten Buntglasfenstern, der entzückend verwilderte Kirchhof - das alles war so herrlich stimmungsvoll. Dann aber hatten sie die Gruft mit dem eingemeißelten Schriftzug >Westenra< über der Eingangspforte gefunden und beide gewußt, daß die gesuchte Person in der alten Grabkammer
ruhte. Einen Moment lang verharrte Malcolm nachdenklich vor dem verrosteten Eisengitter, das die rissige Holztür verdeckte. Dann fiel er auf die Knie und begann, in der schwarzen Tasche zu stöbern, während seine Begleiterin sich in der kalten, feuchten Nachtluft die Arme rieb und nervös umschaute. »Was ist, wenn uns jemand sieht?« flüsterte Holly. »Man wird uns verhaften!« »Schsch«, erwiderte er und entnahm der Tasche eine Stablampe, ein Brecheisen sowie einen Hammer. »Ich meine es ernst«, sagte sie. »Schließlich würde doch niemand uns abkaufen, daß du ...« »Schsch!« wiederholte er nachdrücklich und warf ihr einen stechenden Blick zu. Dann richtete er sich wieder auf, um seine Brechstange zwischen die Eisenbeschläge zu zwängen, die den Rahmen des Gitters mit dem eingesetzten Türschloß verbanden. Nachdem er sich mit dem linken Fuß gegen die Mauer der Gruft gestemmt hatte, packte er das Ende der Brechstange mit beiden Händen und gab ihr einen kräftigen Ruck. Das verrostete alte Schloß zerbröselte wie Zunder, und unter einem braunmetallenen Splitterregen, der von den lange nicht mehr benutzten Angeln fiel, schwang die Eisentür auf. Geraume Zeit starrten die beiden Eindringlinge regungslos die Holzpforte an, die rechts einen langen Riß aufwies. Schließlich sagte Holly: »Bitte, bitte, laß uns fort von hier! Ich hab Angst!« Ihre Worte schienen ihn aus einer Art privater Träumerei zu reißen, und er drehte seinen Kopf ruckartig in ihre Richtung. »Ich dachte, du würdest nichts von alledem glauben?« »Tu ich ja auch gar nicht«, entgegnete sie mit nur einem Anflug von Trotz. »Na, wovor hast du dann Angst?« »Ich habe Angst davor, verhaftet zu werden!« antwortete sie. »Ich habe Angst davor, auf irgendeinen Irren zu stoßen, der nachts hier herumschleicht! Können wir denn nicht gehen, bitte?« Er wandte sich ab, ohne auf ihre Bitte zu reagieren. Statt dessen drückte er behutsam an die Tür und fühlte, wie sie ein wenig nachgab. Dann hob er seinen Fuß, trat dagegen, und sie flog auf, wobei der Riß im Holz noch weiter auf-
sprang und ein morscher Splitter auf dem feuchten Steinfußboden der Gruft liegenblieb. »Warte hier«, murmelte Malcolm, während er über die Schwelle in das dahinterliegende Dunkel trat. »Du machst wohl Witze?!« flüsterte sie. »Ich bleib doch nicht mutterseelenallein hier draußen im ...« »Schon gut, schon gut«, entgegnete er gereizt. »Komm rein, wenn du willst. Aber sei still.« Seine letzten Worte hatten schroffer geklungen als beabsichtigt, und er lächelte Holly an. »Tut mir leid«, sagte er. »Ich bin eben ein bißchen nervös.« Sein Lächeln war gezwungen und ungehalten, aber sie beschloß, es lieber als Entschuldigung anzuerkennen. »Klar«, lächelte sie zurück. »Ist schon in Ordnung.« Sie wartete, bis er die Taschenlampe angeknipst hatte. Dann trat auch sie ein. Die Luft war moderig und dumpf. Aus dem äußeren Zustand der Gruft und den Staubschichten in ihrem Inneren ging eindeutig hervor, daß man sich viele, viele Jahre weder darum gekümmert noch sie besucht hatte. Das erstaunte ihn nicht, denn er wußte ja, daß in dem gesuchten Grab eine junge Frau lag, die kurz nach dem Hinscheiden ihrer verwitweten Mutter gestorben war. Es gab keine Angehörigen, keine Familie, die sich um die Ruhestätte hätte kümmern können. Bekannte hatte es natürlich gegeben, aber die waren längst selber tot und begraben. Leise traten Malcolm und Holly in die Gruft, und er schwenkte seine Lampe nach allen Seiten. Einen Moment lang ließ er sie auf dem Messingschild verweilen, das seitlich an einem der drei altertümlichen Bleisärge befestigt war. »Ihre Mutter«, murmelte er. Er richtete den Strahl seiner Lampe nach links und entdeckte ein ähnliches Schild auf einem ähnlichen Sarkophag. »Ihr Vater«, sagte er, »sie muß hier sein.« Und dann schwenkte er das Licht schnell auf den dritten Sarg. Holly Larsen rührte sich nicht von der Stelle, während er hinüberging, um das Schild darauf zu lesen. »Hier ist es«, flüsterte er. »Versuch, ob die Tür zugeht.« »Ob die Türe zugeht! Weshalb denn, um Himmels willen?« fragte sie.
»Wir wollen doch nicht gestört werden, oder?« Er begann, das obere Ende der Brechstange in die Ritze zwischen dem schweren Sargdeckel und der eigentlichen Bleitruhe zu zwängen. »Na, ich hätte nichts dagegen, gestört zu werden«, erwiderte sie. »Nicht mal hier sein möcht ich! Das ist das Verrückteste ... « »Hältst du jetzt wohl den Mund?!« sagte er wütend. »Du mußtest ja heute nacht nicht hierherkommen, nicht mal nach England hättest du kommen müssen! Wenn du sowieso nicht mithilfst, dann mach, daß du raus kommst, zum Teufel!« Er hielt inne und funkelte sie an. »Ich meine es ernst!« »Na schön, na schön«, antwortete sie, erzürnt über seine Undankbarkeit. »Ich werd versuchen, diese gottverdammte Tür zu schließen.« Damit wandte sie sich Richtung Eingang, streckte ihren Arm aus und zog das Eisengitter zu. Das, was von der Holzpforte noch übrig war, verschloß sie anschließend von innen. »Da, bitte. Glücklich jetzt?« fauchte sie. »Nein, gespannt«, murmelte er und fuhr fort in seinen Bemühungen. Es gelang ihm, das Brecheisen in den schmalen Zwischenraum zu zwängen, und nachdem er den Hammer ergriffen hatte, hieb er mit kräftigen Schlägen auf das stumpfe Ende der Stange, um sie tiefer in die Spalte zu treiben und den Deckel vom Sarg zu lösen. Darauf entnahm Malcolm der schwarzen Tasche drei weitere Brecheisen und wiederholte sein Vorgehen auf den anderen Seiten der Bleitruhe. »Der Deckel ist gar nicht so schwer, wie es aussieht«, sagte er laut zu sich selbst. »Natürlich nicht. Mina und van Helsing haben ihn ganz allein anheben können, während Stewart draußen wartete und dabei Großvater festhielt.« »Was?« fragte Holly. »Nichts, nichts. Geh mir bloß aus dem Weg!« Sie wich einen Schritt in die Ecke der Grabkammer zurück und beobachtete mit nervösem Schweigen, wie er sich seitwärts gegen den Sargdeckel stemmte und aus Leibeskräften schob. Mit schrillem Quietschen und Knirschen rutschte der Deckel über die Kanten der Bleitruhe, wo er donnernd zu Boden krachte. Malcolm wich einen Schritt zurück, streckte seine Hand nach der Stablampe, hob sie auf und leuchtete
damit in das Innere des Sarkophags. Regungslos und mit jagendem Herzen starrte Holly zu Boden und wartete darauf, daß ihr Freund etwas sagen würde. Selber nach vorn zu treten und nachzusehen wagte sie nicht. Einen nicht enden wollenden Moment lang herrschte Totenstille. Dann hörte sie ihn leise zischen: »Verdammt! Verdammt!« Seine Stimme verriet Angst und Wut. Unter Aufbietung all ihrer Willenskraft trat Holly nach vorn und zwang sich, die Augen offen zu halten, während sie sich über den Sarg beugte und hinunterschaute. Aber sie wußte schon vorher, was sie erwartete. Es war alles vorhanden, genau, wie er es ihr beschrieben, genau, wie er es sich vorgestellt, genau, wie das Buch ihm gesagt hatte. Die langen, brüchigen und gelblichen Haarsträhnen klebten immer noch an dem morschen Schädel dessen, was einst ein schönes, vor Leben sprühendes Mädchen gewesen war. Das Skelett befand sich in einem fortgeschrittenen Stadium des Verfalls, aber die Knochen beider Hände trugen noch immer die Ringe und Armreifen, die man ihnen vor der Beerdigung - ein Jahrhundert war es jetzt her - angesteckt hatte, während sie selbst zusammengefaltet auf dem fahl gewordenen, mürben und vergilbten Leinen, dem einstigen Totenhemd der Frau, ruhten. Schädel und Wirbelsäule waren voneinander getrennt, weil man den Kopf abgehauen hatte. Dies war natürlich nicht die Todesursache gewesen. Holly und Malcolm wußten beide, woran die junge Frau gestorben war, wußten beide, wer sie auf dem Gewissen hatte. Die Enthauptung war nach dem Tode vorgenommen worden - eine der Sicherheitsmaßnahmen von Seiten derer, die sie geliebt, die ihr einen ebenso seligen wie endgültigen Schlummer gewünscht, die nicht aus Böswilligkeit, sondern aus Liebe gehandelt hatten. Der frische Knoblauch, welcher der Toten in den Mund gestopft worden war, hatte sich längst in nichts aufgelöst, sein stechendes Aroma jedoch erfüllte noch immer das Sarginnere. Auch die geweihte Hostie, die ihre Freunde ihr auf den Bauch gelegt hatten, war dem Zahn der Zeit zum Opfer gefallen. Aber Malcolm wußte
ebenso wie Holly, daß beide Substanzen, der Knoblauch und die Hostie, einmal hier gewesen waren. Sie wußten es ebenso genau, wie sie begriffen, warum in dem zerfallenen Brustkorb an der Stelle, unter welcher einst das junge Herz geschlagen hatte, immer noch ein Holzpflock steckte. »Mein Gott!« stöhnte er zwischen zusammengebissenen Zähnen. »Mein Gott, mein Gott!« Holly packte ihn fest bei der Schulter. »Malcolm, machen wir, daß wir hier rauskommen, und zwar auf der Stelle, Malcolm, auf der Stelle!« »Es ist wahr«, sagte er düster. »Es ist alles wahr.« »Das beweist einen feuchten Kehricht, Malcolm!« »Ach, wirklich?« fragte er, sarkastisch vor innerer Verzweiflung. »Ja, wirklich!« entgegnete sie mit Nachdruck. »Es beweist lediglich, daß sie tatsächlich gelebt hat und tatsächlich gestorben ist, und ...« »Ja, und was?« fragte er erbost. »Und was? Daß nach ihrem Tod jemand ihren Sarg geöffnet, ihr aus lauter Jux und Tollerei den Kopf abgeschnitten und ihr einen Holzpfahl durchs Herz getrieben hat? Glaubst du, das waren die üblichen Beisetzungsrituale im viktorianischen England?« »Natürlich nicht«, antwortete seine Freundin. »Aber es beweist auch nichts über sie! Es beweist lediglich, daß die Leute damals abergläubisch waren ...« »Jetzt aber Schluß damit, Holly!« befahl er. »Wir sprechen hier über einen Vorort von London, nicht über irgendwelche weltabgeschiedenen Barbarendörfer! Das haben zivilisierte, gebildete Menschen getan, und zwar nur aus einem verdammt guten Grund.« Er hielt inne. »Und du kennst diesen Grund genauso gut wie ich.« »Hör auf!« versetzte sie schroff und rüttelte ihn an der Schulter. »Du nimmst dir das zu sehr zu Herzen, läßt deine Phantasie mit deinem gesunden Menschenverstand davonlaufen. Das hier beweist gar nichts! Denk doch mal nach, um Himmels willen! Es beweist im Grunde gar nichts!« »Es beweist, daß die Geschichte wahr ist.« »Das tut es nicht!« beharrte sie. »Schön, es beweist, daß jemand ein bißchen
nachgeforscht hat, et cetera. Aber es beweist nichts über sie, und schon gar nicht über dich!« Er schien sich etwas zu beruhigen, und sie gestattete sich die kurze Hoffnung, daß ihre Worte ihm einleuchteten. Diese Hoffnung zerschlug sich, als er sich zu ihr umdrehte und sagte: »Du weißt, was ich jetzt tun werde. Ich glaube, du gehst besser. Ich kann wirklich nicht für deine Sicherheit garantieren.« Ihre Nervosität, Furcht und Widerspenstigkeit vereinten sich zu einem Gefühl der Wut. »Mach dich nicht lächerlich«, entgegnete sie. »Ich werde nirgendwo hingehen. Erstens werde ich nicht bei Nacht und Nebel mutterseelenallein auf einem Friedhof herumstehen, und dich hier drinnen, wo deine morbiden Phantasien mit dir durchgehen, alleinlassen werde ich erst recht nicht.« Damit stand sie auf, verschränkte gebieterisch ihre Arme über der Brust, und gab in Tonfall wie Gebärden ein Bild ärgerlicher Herablassung. »Na los, mach schon. Bringen wir diesen Blödsinn hinter uns. Tu, was du nicht lassen kannst, und wenn dann nichts passiert und du dir vorkommst wie ein Hornochse, können wir hier raus und wieder ins Hotel zurück. « Sie wartete einen Augenblick, um dann zu wiederholen: »Was ist? Mach schon!« Einen Moment lang starrte er zu ihr empor. Dann rappelte er sich langsam auf, seufzte und sagte leise: »Du hast ja keine Ahnung, wie gern ich mir bei dieser Geschichte wie ein Hornochse vorkommen würde. Keine Ahnung hast du.« Die bekümmerte Ehrlichkeit seines Tonfalls ließ in Holly den plötzlichen Drang aufkommen, ihn in die Arme zu schließen und zu trösten, doch sie beherrschte sich. Wäre ihm nicht am meisten geholfen, wenn sie ihre mürrische Skepsis beibehielt? Darum sagte sie: »Hör auf, hier die Zeit zu vertrödeln. Mach!« Er wandte sich von ihr ab und starrte wieder auf das moderige Knochengerüst hinunter. Ohne es aus den Augen zu lassen, griff er in seine Tasche und zog einen Staubwedel sowie eine Flasche Essig daraus hervor. Diesen verteilte er großzügig über Zähne und Kiefer des Schädels, um dadurch auch den letzten Rest Knoblauch abzuwaschen. Dann ließ er flink seinen Staubwedel über das verblichene Linnen huschen, das noch
immer auf den Beckenknochen hing. Auf diese Weise war sichergestellt, daß sich keine Partikelchen der geweihten Hostie mehr auf der Oberfläche des Totenhemdes befanden. Ein paar Augenblicke sah er voller Erwartung zu, wie der Essig von den Zähnen tropfte und sich auf dem steinernen Boden des Sarges ausbreitete. Dann nahm er langsam, fast ehrerbietig den Schädel in seine Hände, schob ihn ein paar Zentimeter nach unten auf den Körper zu und fügte Schädelbasis und oberes Ende der Wirbelsäule aneinander. Keuchend hielt er inne. Dann packte er den Holzpfahl und zog ihn zwischen den Rippen hervor. »Na?« fragte Holly sarkastisch und gähnte. »Ist sie jetzt ausgehfertig, oder was?« Ihr Gähnen war gekünstelt, kam nur des Effektes halber. »Ruhe«!« brummte er. Er griff abermals in die schwarze Tasche und tastete ein paar Sekunden darin herum. Dann entnahm er ihr ein Taschenmesser und ein kleines Metallkruzifix, das er Holly mit den Worten »Stell dich an die Tür und versperr sie« zuwarf. »Oh, ich bitte dich!« »Keine Widerrede!« antwortete er mit seltsam ruhiger, gefaßter Stimme. »Gehorch einfach!« Während sie seinem Wunsch entsprach, klappte er das Taschenmesser auf und ritzte sich in den Unterarm. Das Blut quoll aus der Wunde hervor, und als es ausreichend zu fließen begann, lehnte er seinen Arm in den Sarg und ließ es auf die Zähne des Totenschädels fallen. In Sekundenschnelle waren die Gebeine von tropfenden roten Rinnsalen bedeckt. Er trat zurück und wickelte sich ein Taschentuch um die kleine, aber brennende Wunde. Dann wartete er ab. Und auch Holly wartete. Während die Minuten verstrichen, war ihr, als könnte sie ihren eigenen Herzschlag von den Mauern des Totengewölbes widerhallen hören. Dann trat sie vor und blickte in den Sarg hinunter. »Siehst du?« sagte sie mit schroffem Lachen. »Ich hab's ja gleich gewußt. Es ist alles Unsinn, und dein Großvater ist übergeschnappt. Gehn wir jetzt wieder ins Hotel zurück.« Stirnrunzelnd starrte er auf den regungslosen Schädel hinab. »Ich verstehe das nicht«,
murmelte er. »Ich verstehe das einfach nicht. Wenn das, was ich dir erklärt habe, stimmt, müßte jetzt etwas passiert sein.« »Ist es aber nicht!« triumphierte sie und begann, ihn am Arm wieder aus der Grabkammer zu führen. »Ich meine, ist doch selbstverständlich! Du hast dich einfach kindisch benommen, weiter nichts.« Sie gab ihm einen verspielten Knuff in die Rippen. »Und das weißt du ganz genau, stimmt's ? Ich wette, du kommst dir deswegen schon jetzt wie ein Vollidiot vor.« Er zwang sich, sie anzulächeln. »Ja, kann sein, so in etwa. Wahrscheinlich schon.« Er unternahm bereits den Versuch, die zersprungene Holztür aufzuzerren, als er mit einemmal erstarrte. »Was war das?« »Was war was?« fragte sie gelassen. »Hör doch, hör doch nur!« Keiner von ihnen tat einen Mucks. Selbst ihr Atem stockte. Ein zuerst fast nicht wahrnehmbares, aber zusehends lauter werdendes Zischen drang aus dem Sarg. Langsam, mit unsicheren Schritten und mit so heftig zitternden Händen, daß er kaum seine Taschenlampe halten konnte, trat Malcolm auf die Ursache des Geräusches zu. Holly blieb, das Kruzifix fest an ihre Brust gedrückt, neben der Tür stehen und versuchte krampfhaft, ihre Beine in Bewegung zu setzen. Doch es wollte ihr nicht gelingen. »W ... warte ...«, stammelte sie. »Schau ... schau nicht nach ...« Er beachtete sie gar nicht. Statt dessen beugte er sich über die Kante des Sarges, starrte hinein und murmelte ein unverständliches Gebet, als er den feinen roten Nebel erblickte, der aus jedem Knochenfragment aufstieg, sich über das Skelett ausbreitete und sämtliche Staubpartikel und Gebeinssplitter, ob groß, ob klein, zusammenzuführen schien. Mit grausiger Faszination beobachtete er, wie die Knochen des Skelettes miteinander verwuchsen, wie der Dunst sich zu einer gelblichen Flüssigkeit verfestigte, die ihrerseits Fleisch zu bilden begann, wie ein volles, rotes Lippenpaar die grinsenden Zähne überwucherte, wie Lider über die leeren Augenhöhlen wuchsen und sich dann langsam unter den aufkeimenden Augäpfeln emporwölbten, wie die Augen sich öffneten und ein rotes, aberwitzig anmutendes Feuer
daraus hervorleuchtete, wie die Lippen sich teilten und eine rosa Zunge obszön über die langen Eckzähne hinglitt, wie ihm ein leises, unmenschliches Lachen an die Ohren drang und im selben Moment eine Hand nach oben zuckte und ihn bei der Kehle packte. Holly fiel in Ohnmacht, als die Kreatur aus dem Sarg herausgekrochen kam, wobei sie Malcolm keine Sekunde lang aus ihrem toten Griff entließ. Die mürbe gelbe Leinenhülle, die sich um ihre üppigen Formen spannte, akzentuierte auf groteske Weise das fahle Fleisch. Es war nicht weiß wie etwa das einer zierlichen, wohlbehüteten Frau, sondern besaß vielmehr die kalte, stumpfe Farbe eines Leichnams. Ihre Zähne knirschten grausig, während sie fauchte, lachte und Malcolm dichter an sich heranzog. Sie war von Totengestank umgeben, und als ihr Mund sich ihm näherte, konnte er ihren Atem auf seinem Gesicht spüren einen Atem, der widerlich nach Siechtum und Fäulnis roch und so ähnlich war wie die abgestandene Luft aus einem Schlachthaus. Malcolm war merkwürdig gefaßt. Zuerst wähnte er sich unter Schock oder gelähmt vor Angst, dann aber wurde ihm schlagartig bewußt, daß er lediglich Resignation, Verzweiflung und einen Anflug von mürrischer Gewißheit verspürte. Jetzt weiß ich also Bescheid, dachte er traurig. Jetzt kenne ich die Wahrheit. Das Ding, das eben aus dem Sarg gekrochen war, brachte seine lächelnden Lippen näher an Malcolms Kehle, doch etwas, etwas in seinen Augen verwirrte es, machte es stutzig und ließ es trotz seines überwältigenden Hungers auf der Stelle erstarren. »Wer ... ?« röchelte es. »Wer ... ?« »Das weißt du«, antwortete er gelassen. Sie schüttelte den Kopf und starrte ihn weiter an. »Nein«, sagte sie heiser. »Doch«, flüsterte er. »Schau mir in die Augen! Schmeck das Blut, das ich dir gegeben habe! Sag mir, wer ich bin!« Sie wich vor ihm zurück, und eine ängstliche Verwirrung trat auf ihr Gesicht. »Du bist doch ... du bist doch nicht ... du bist jemand anderer.« Sie hielt inne, um ihn erneut anzustarren. »Und doch ... und doch ...« Sie hörte ein Stöhnen
hinter Malcolms Rücken, sah hin und erblickte Holly, die erst wieder halb zu Bewußtsein gekommen war und sich um ein Erwachen aus ihrer Ohnmacht bemühte. Im Nu verwandelte sich der verwirrte, furchtsame Gesichtsausdruck der Auferstandenen in eine Miene, in der animalische Freßgier zu lesen war, und sie duckte sich wie zum Sprung auf ihr wehrloses Opfer. Holly schlug die Augen auf, sah benommen zu Malcolm hinüber, und sprang, als ihr klar wurde, was sie da erblickte, schreiend und das Kruzifix mit zitternden Händen an ihre Brust gepreßt, auf die Beine. Malcolm stellte sich der Kreatur in den Weg und sagte: »Nein!« Erfüllt von rasender Wut, blickte das Wesen zu ihm auf. »Ich muß Nahrung zu mir nehmen!« zischte sie. »Nicht von dieser Frau.« Sie zog sich vor ihm weiter in die Schatten der Gruft zurück, wo sie vor dem Lichtstrahl geschützt war, der die Wand unmittelbar neben Malcolm erhellte. Er hatte die Taschenlampe fallen lassen, als das Vampirweib ihn angriffen hatte, und dort war sie liegengeblieben. »Wer bist du?« fragte die Kreatur mit einer Stimme, die zwischen Wut und Furcht schwankte, und ihre roten Augen glühten durch die Dunkelheit. »Was führt dich zu mir?« »Ich bin nicht einfach so zu dir hergekommen«, erwiderte Malcolm traurig. »Ich habe auch den Pfahl entfernt, den man dir durchs Herz getrieben hatte.« »Einen Pfahl!« kreischte sie. »Wer hat es gewagt, etwas Derartiges zu tun!?« »Der, der dich am meisten liebte«, antwortete Malcolm. War es Einbildung, oder trat bei diesen Worten ein flüchtiger und beinah menschlicher Schimmer in ihre Augen? Wenn ja, dann war er fast im selben Moment wieder verschwunden. »Ich habe dir den Pfahl aus der Brust gezogen und den Knoblauch aus deinem Mund gespült. Ich habe mein eigenes Blut gegeben, um dich wiederzuerwecken. Du hast über ein Jahrhundert in Tod und Verwesung verbracht.«
»Die Zeit ist für uns ohne Bedeutung«, fauchte sie, »und wenn du wirklich getan hast, was du sagst, dann erwarte keinen Dank von mir!« »Ich erwarte keinen Dank von dir«, erwiderte er einfach. Sie schob sich aus den Schatten und kam näher auf den Lichtstrahl zu, wenn sie sich auch immer noch außerhalb von dessen Reichweite hielt. »Warum hast du das getan?« fragte sie wütend. »Ich brauche deine Unterstützung«, entgegnete er. »Ich habe Fragen. Ich brauche Antworten, Auskünfte. Ich brauche deine Hilfe.« Sie trat in die Finsternis zurück und lachte bitter. »Du brauchst meine Hilfe! Meine Hilfe brauchst du?! Welche Hilfe kann ich dir oder sonst jemandem schon bieten?« »Hör zu. Ich will es dir erklären.« »Ich muß essen!« kreischte sie. »Du wirst mich bis zum Ende anhören«, fuhr er fort, »und danach erlaube ich dir vielleicht, ein wenig Lebenssaft von mir zu trinken.« Abermals ein bitteres Lachen. »Dein Blut ist mit dem seinen verwandt. Du kannst mir keine Nahrung bieten, genauso wie ich dir nichts zuleide tun kann.« »Du fängst an zu verstehen«, seufzte er. »Also, hör zu ...« Erfüllt von Entsetzen, wenn auch gleichzeitig fasziniert, starrte Holly auf die Szene vor sich, während Malcolm der Kreatur die Ereignisse der letzten paar Wochen berichtete. Er sprach ruhig und mit klug gewählten Worten, erwähnte jede Einzelheit, ließ nichts Wichtiges aus und schien so gefaßt, so ungerührt, als fühle er sich bei diesem Gespräch wohl, als sei er nun, da er mit der vollen Realität seiner Situation konfrontiert war, nicht mehr ängstlich oder niedergeschlagen. Er stand hier in einer Gruft, unterhielt sich mit einem Vampir und tat, als wäre das die natürlichste Sache in der Welt. Staunend über seine Gefaßtheit und sein Verhalten schüttelte Holly ihren Kopf. Wie kann er so ruhig sein? Warum hat er keine Angst? Weshalb läuft er nicht schreiend aus dieser Gruft davon? Warum tut er so, als
würde er sich vollkommen wohl fühlen, fast so, als wäre er schon Jahre mit diesem Wesen befreundet? Und dann erinnerte sie sich an eine Stelle, die sie auf Malcolms Befehl gelesen hatte - etwas aus Mina Harkers späteren Tagebucheintragungen . Als der kleine Quincey von zu Hause fortgelaufen und schließlich an der Pforte zu eben dieser Gruft gefaßt worden war, hatten weder Mina noch Jonathan Harker, weder Abraham van Helsing noch John Stewart zu ermessen vermocht, warum er hier Einlaß suchte. Und als van Helsing mit Mina eingetreten war und den Sarg geöffnet hatte, um sich zu vergewissern, daß Lucy Westenra noch immer selig entschlafen war, hatte das Kind sich gewaltsam aus John Stewarts Griff befreit, war in die Gruft gelaufen, auf den geöffneten Sarg gesprungen und hatte lauthals geschrien: »Mutter! Mutter!« Holly Larsen erschauerte. Das Blut gefror in ihren Adern. Nun erkannte sie, was das wahnsinnige Kind mit seinem Schrei gemeint hatte. Nicht um mütterlichen Schutz, nicht um Mina Harkers Beistand hatte es gefleht. Es hatte gar nicht mit Mina Harker gesprochen.
Zweiter Teil
Vlad der Pfähler »Seines Blicks entrückte Räume bergen, scheint's, Dämonenträume ...« Aus Der Rabe
Kapitel 9 Bis Malcolm Harker ans Ende seiner Ausführungen gelangte, verharrte die Kreatur in aufmerksamem, aber ungeduldigem Schweigen. Die weißen Spitzen ihrer hervorstehenden Hundezähne schimmerten im trüben Widerschein der Lampe. Schließlich verstummte Malcolm und wartete regungslos auf Antwort. »Eine hübsche Geschichte«, zischte der Vampir, »und eine, die auch mich sehr stark berührt. Sorge jetzt dafür, daß deine kleine Freundin mit dem Kruzifix die Türe freigibt, damit ich vorbei kann. Ich muß Nahrung zu mir nehmen.« »Ich habe dir schon gesagt«, erwiderte Malcolm, »daß du von mir trinken kannst, wenn du Blut brauchst. Ich kann dich nicht aus diesen Mauern lassen.« »Und ich kann nicht bleiben«, entgegnete sie. »Dein Blut brauche ich nicht. Es gibt mir nichts, was ich nicht schon hätte.« »Es hat dir das Leben geschenkt«, gab er ihr zu bedenken. Ein gräßliches Lachen brach aus ihrem toten Mund und hallte in dem Grabgewölbe wider. »Leben! Leben! Das ist kein Leben, du kleiner Dummkopf! Wenn du wirklich so viel weißt, wie du behauptest, dann müßtest du auch wissen, was du mir angetan hast! Ich war tot - tot und selig entschlafen! Frei von der Qual der Bedürfnisse, frei von diesem Leben im Tode, doch du, du selbstsüchtiger Schwachkopf, hast mich aus meinem Frieden gerissen!« Malcolm ließ sich davon nicht beirren. »Trotzdem, du darfst diesen Ort nicht verlassen. Du darfst von mir trinken, aber ...« »Bist du vielleicht auch noch taub?« kreischte die Kreatur und trat ihm bedrohlich näher. »Mit dir kann ich nichts anfangen. Dein Blut ist nicht das, was ich brauche.« Malcolm streckte die Hand aus, packte das Wesen beim Arm und sagte: »Halt! Ich werde nicht dulden, daß du irgend jemanden anfällst.« Doch fast augenblicklich entließ er, leicht zitternd, ihren Arm aus seinem Griff. Ihr Fleisch war hart und kalt wie die Haut eines Sumpfreptils. »Ich habe Fragen ...«, begann er.
»Ich habe Hunger!« entgegnete sie schreiend. »Sag ihr, sie soll beiseite treten!« »Nein!« Seine Stimme klang entschlossen. »Wenn du dir deinen Frieden zurückwünschst, dann kann ihn deine Antwort dir verschaffen. Bei Sonnenaufgang kann ich dir wieder den Tod geben ...« »Du Narr!« spie sie hervor. »Begreifst du gar nichts? Keiner, auf dem derselbe Fluch lastet wie auf mir, unterwirft sich aus freien Stücken dem Pfahl! Du hast mich in diese Welt zurückversetzt, du hast mir die Hölle wiedergegeben, und ich werde sie behalten! Ich werde getrieben von der Not, vom Hunger und vom Bösen!« »Ich brauche deine Hilfe ...« »Zur Hölle mit dir und dem, was du brauchst! Ich habe meine eigenen Bedürfnisse, und die sind zwingend!« Er legte eine kurze Denkpause ein. Dann sagte er: »Sehr gut. Wodurch kann ich deine Hilfe gewinnen? Womit kann ich dir dienen, damit du mir Rede und Antwort stehst?« Sie setzte schon zu einer wütenden Erwiderung an, da wurde ihr Antlitz mit einemmal ausdruckslos. Wie erstarrt stand sie da, ihre roten Augen umwölkten sich, und sie richtete den Blick in weite Fernen, als vernähme sie etwas, das weder Malcolm noch Holly zu hören vermochten. Es vergingen ein paar stumme Sekunden, bevor sich ihr starrer Blick neuerlich schärfte und sie Malcolm auf eigentümliche, fast höhnische Weise anlächelte. »Mina und Jonathan haben geheiratet, nicht wahr? Wie allerliebst. Deine Urgroßeltern! Und ihr Sohn ist noch am Leben und wurde nach meinem alten Freund Quincey Morris benannt. Bemerkenswert!« »Sag mir, was du verlangst«, wiederholte er. Sie stieß ein krächzendes Gelächter aus. »Wie du willst, kleiner Harker. Ich verlange, daß deine Freundin beiseite tritt und mich vorüberläßt. Ich möchte essen. Dann werde ich vor Morgengrauen gern hierhin zurückkehren, um mit dir zu sprechen.« Er schüttelte noch einmal seinen Kopf. »Ich kann nicht zulassen, daß du noch jemanden ansteckst. Ich brauche diese Auskünfte von dir, weil ich der Sache ein Ende berei-
ten möchte, und nicht, um sie noch weiter zu verbreiten.« »Du hast die Wahl«, lachte sie. »Wenn du willst, kannst du mich bis zum Morgengrauen hier festhalten. Du hast die Macht dazu, mit deinem Kruzifix und deiner, äh, recht löblichen Entschlußkraft. Solltest du dich so entscheiden, dann werde ich dir mit Sonnenaufgang auf Gnade oder Ungnade ausgeliefert sein, und du kannst mich in den wahren Tod zurückbefördern.« Sie zögerte, und ihre roten Augen verschmälerten sich boshaft. »Aber vergiß nicht, mein Lieber, daß nur ich allein dich heilen, ich allein dich von der Seuche, die du in deinem Körper trägst, befreien kann. Und ich werde keinen Finger für dich rühren, sofern du mich nicht vorbeiläßt.« Teils ungläubig, teils mit dem verzweifelten Bedürfnis, ihren Worten zu vertrauen, starrte Malcolm sie an. »Du weißt, wie ich zu heilen bin?« flüsterte er. »Jawohl«, zischte sie. »Ein faires Geschäft. Deine Freiheit gegen die meine. Und ich bin nicht auf den Kopf gefallen, Malcolm Harker. Mache dir besser keine Illusionen. Du kannst mich nicht bei Sonnenaufgang hier festhalten und nach Belieben liquidieren. Ich werde Vorkehrungen für eine anderweitige Ruhestätte treffen.« Er betrachtete sie lang und fest, ehe er fragte: »Woher weiß ich, daß ich dir vertrauen kann?« Sie zuckte mit den Achseln. »Weshalb solltest du es nicht tun ?« »Das ist keine Antwort«, entgegnete er kopfschüttelnd. »Nein«, sagte sie leise, »wahrscheinlich nicht. Vielleicht verspüre ich das Bedürfnis, dir zu helfen, weil du Draculas unehelicher Nachkomme bist, so wie ich sein morganatisches Weib. Vielleicht aber genügt es auch, zu sagen, daß ich an die Beschränkungen meiner ureigensten Natur gebunden bin. Zum Beispiel kann ich ein Gebäude erst auf Einladung betreten. Sollte deine Großmut mir das Verlassen dieses Ortes ermöglichen, dann bin ich an die Abmachungen gebunden, denen ich mich aus freien Stücken unterwerfe.« Er schüttelte abermals den Kopf. »Ich habe recht viel über
euch Kreaturen gelesen, aber so etwas ist mir noch nie zu Ohren gekommen.« »Man lernt eben nie aus, kleiner Harker«, erwiderte sie mit leisem Spott in der Stimme. Malcolm starrte sie weiterhin an. Dann neigte er, ohne das Vampirweib aus den Augen zu lassen, seinen Kopf in Hollys Richtung und sagte: »Geh ihr aus dem Weg.« Holly traute ihren Ohren nicht. »W ... was?« »Laß sie raus, Holly«, wiederholte Malcolm bestimmt. »Gib die Tür frei und laß sie raus.« Holly Larsen war sprachlos vor Wut und Staunen. »Malcolm! Das kannst du nicht! Das kannst du nicht zulassen! Sie wird dort raus gehn und jemanden anfallen, jemanden ermorden! Das kannst du nicht zulassen! Es ist ... es ist unmenschlich!« »Unmenschlich!« kicherte Lucy. »Du bist das einzige menschliche Wesen in diesem Raum, oder ist dir das noch nicht aufgefallen?« »Das ist nicht wahr!« entgegnete Holly, deren Wut für den Augenblick größer war als ihre Verblüffung und ihr Entsetzen. »Malcolm ist krank, er ist ...« »Er ist Draculas Bastard«, sagte Lucy gelassen. »Nach allem, was er erzählt hat, ist das Blut des Grafen in ihm stark, stärker als in seinem Großvater, ja, vielleicht sogar stärker als in seinem Vater früher. Wenn er meine Worte in den Wind schlägt und nicht tut, was ich ihm sage, wird er bei seinem Tode so werden wie ich.« Sie lächelte bitter. »Und danach dürfte er dich natürlich holen kommen.« Holly erbleichte. »Das ist unmöglich!« flüsterte sie und begann, heftig zu zittern. Ihre Blicke jagten wie irrsinnig in der finsteren Grabkammer umher. »Ich muß den Verstand verloren haben! Das darf doch nicht wahr sein! Das ist unmöglich!« »Tritt beiseite!« zischte Lucy. »Bitte, Holly«, sagte Malcolm beschwichtigend. »Laß sie durch. Es ist meine einzige Hoffnung.« Holly starrte ihn an wie betäubt, während Lucy sich duckte und sich mit bedächtigen, zielstrebigen Schritten auf sie zuschob. Hollys leere, weit aufgerissene Augen glitten zu der Kreatur hinüber, die ihr lautlos näherkam, und plötzlich spürte sie eine
blitzartige Entschlußkraft. Sie streckte gebieterisch das Kruzifix von sich und sagte: »Nein!« Lucy Westenras rote Augen funkelten sie an. Dann ging das Vampirweib so schnell, daß weder Malcolm noch Holly sich darauf hatten gefaßt machen können, zu Boden und hatte sich, bevor noch seine Hände dort auftrafen, in einen knurrenden, geifernden Wolf verwandelt. Die Bestie fletschte die Zähne und unternahm einen Scheinangriff gegen die zutiefst erschrockene Holly. Mit einem gellenden Schrei sprang Holly beiseite, so daß weder sie noch ihr Kruzifix den Eingang des Grabes versperrten, während der Wolf langsam und vorsichtig auf die Tür zuschlich. Dort stellte er sich auf die Hinterbeine und wurde dabei abermals zu Lucy. Lächelnd, mit spott- und hohntriefender Stimme wandte sie sich an die beiden Menschen. »Danke, meine Lieben. Du, Malcolm, wartest hier auf mich. Ich werde vor Morgengrauen zurück sein.« Damit schlüpfte sie aus der Tür, trieb wie Nebel durch das noch immer verschlossene Eisengatter und war verschwunden. Eine scheinbar lange Zeit starrten Holly und Malcolm stumm und regungslos auf das Portal. Dann wandte Holly sich zu ihm um und sagte: »Ist dir klar, was du da getan hast?« »Ja«, seufzte er. »Ich bin im Interesse der Selbsterhaltung ein Risiko eingegangen.« »Sie wird losziehen und jemand anderen anstecken, Malcolm! Einen unschuldigen Menschen!« »Und was habe ich mir zuschulden kommen lassen?!« schrie er sie an. »Welche Todsünde habe ich begangen, daß ich in dieser Klemme sitze?!« »Darauf kommt es nicht an ... « »Doch, darauf kommt es an, darauf kommt es an! Ich weiß, was sie jetzt tun wird, aber wenn meine Theorie stimmt, wird sie nur von jemandem trinken und nicht ihn von sich trinken lassen. Ich meine, warum sollte sie? Warum sollte sie noch mehr Vampire erzeugen wollen?« Holly knöpfte ihren Mantel zu. »Ich geh hier raus«, sagte sie mit einer Stimme, die trotz ihres Zitterns fest und entschlossen klang. »Ich werd nicht weiter hier rumstehn und
darauf warten, daß sie zurückkommt. Ich gehe ins Hotel zurück, und ich werde die Polizei anrufen.« Malcolm begann zu lachen, doch es klang feindselig und freudlos. »Was, verdammt, ist daran so komisch?!« verlangte Holly zu wissen. »Du gehst raus«, lachte er. »Du wirst dich mitten in der Nacht auf einen Friedhof begeben, obwohl du weißt, daß irgendwo dort draußen ein Vampir ist!« »Ich habe keine Angst vor ihr!« behauptete Holly unsicher. »Natürlich hast du«, entgegnete er mit plötzlichem Zorn. »Es war idiotisch, wenn du keine hättest. Verdammt, sie jagt ja sogar mir, dem sie nichts anhaben kann und dem sie vor allem nichts zufügen kann, womit er nicht schon geboren wurde, noch Angst ein.« Malcolm ergriff Hollys Hand, und das Mädchen schreckte vor seiner Berührung leicht zurück. »Überleg doch, Holly. Denk doch mal nach! Diese Kreatur war früher ein schönes, liebenswertes und liebevolles Mädchen, genau wie du. Und was sie jetzt ist, als das könntest auch du enden, wenn du diese Gruft verläßt.« Er ließ ihre Hand fallen und trat wieder an Lucys leeren Sarg hinüber. »Du wirst nirgendwo hingehen.« Sie schwieg einen Moment. »Also gut, ich werde bis zum Morgengrauen hierbleiben, aber dann gehe ich zur Polizei.« Er nickte zustimmend. »Abgemacht. Sieh aber zu, daß ich vor meiner Abreise aus England die Anschrift der Irrenanstalt bekomme. Denn da werden sie dich natürlich einliefern.« Holly brach in Tränen aus. »Malcolm, es ist einfach grauenhaft ! Was sollen wir denn nur tun ? Wir können doch nicht so einfach zulassen, daß sie es noch weiter verbreitet! Sie wird neue Vampire erschaffen, und diese wiederum andere, und so weiter und so fort, bis sie schließlich in die Tausende gehen, in die Millionen ...« »Nein.« Er schüttelte den Kopf. »Das glaube ich nicht.« »Das glaubst du nicht!« rief sie aus. »Das glaubst du nicht! Wie kannst du denn ein solches Risiko auf dich nehmen?!« »Denk doch mal nach, Holly«, sagte Malcolm. »Dracula hat jahrhundertelang in den Karpaten gelebt und muß Hunderttausende auf dem Gewissen haben. Und doch
gab es, als van Helsing die Vampire auf dem Schloß beseitigte, nur drei davon, ganze drei.« »W ... was willst du ... ? Ich verstehe nicht ...« »Als Dracula nach England kam, waren es wiederum nur drei, die von ihm infiziert wurden - Lucy, meine Urgroßmutter und dieser Irre, Renfield. Vielleicht sind es jedesmal nur drei. Ja, vielleicht ist nach allem, was wir bisher wissen, auch nur Dracula dazu in der Lage! Vielleicht kann Lucy gar keine neuen Vampire erschaffen! Vielleicht muß das Blut unmittelbar von Dracula kommen!« »Dann wäre also alles paletti?« fragte sie bitter. »Dann wird sie sich also nachts draußen rumtreiben und unschuldige Menschen umbringen, aber das macht ja nichts, solange die nur tot bleiben?« Er rieb sich die Augen. »Ich weiß es nicht, ich weiß es nicht. Falls sie mir helfen kann, werde ich mir über alles andere später den Kopf zerbrechen. Über die moralische Tragweite mach ich mir momentan keine Gedanken.« »Na, vielleicht solltest du das aber!« entgegnete Holly. »Wie kannst du ... ?« »Holly, sei still«, sagte er matt. »Ich möchte jetzt nicht mehr reden. Was geschehn ist, ist geschehn. Warten wir jetzt einfach, daß sie zurückkommt.« Damit setzte er sich auf den kalten Steinfußboden, wo Holly sich nach kurzem Zögern zu ihm gesellte. Er legte ihr seinen Arm um die Schultern, und schweigend verbrachten sie die dahinschleichenden Stunden. Es war kurz vor Morgengrauen, als Lucy zurückkehrte. Der erste verräterische Schimmer der aufgehenden Sonne säumte gerade den Horizont, da vernahmen Malcolm und Holly von draußen die kalte Stimme. »Malcolm Harker! Komm her.« Er stand auf und ging zur Tür hinüber. »Warum kommst du nicht herein. Es ist doch fast Morgengrauen, nicht wahr?« »Ja«, lachte sie, »aber mir bleibt genügend Zeit, ehe ich schlafen muß, und ich werde nicht zulassen, daß man mich dort drin festhält. Du kommst hier heraus, und deine Freundin kommt mit dir.«
Malcolm streckte Holly die Hand entgegen, und sie zog sich daran empor. Das Kruzifix fest in ihren Händen, trat sie zusammen mit ihrem Freund in den taugeschwängerten Morgen. Lucy Westenra sah verändert aus. Ihr Gesicht war gesund und rosig, ihre Augen weit und klar und ihre Stimme geschmeidig und angenehm, obgleich die tiefe, unmenschliche Kälte nicht daraus verschwunden war. Als Malcolm den Strahl seiner Taschenlampe über die Kreatur wandern ließ, fiel ihm auf, daß das Fleisch, das vor kurzem noch bleich und leichenhaft gewesen, nun fest und rosig war. Auch Holly bemerkte den Unterschied. »Was ist mit ihr geschehen?« flüsterte sie. »Sie hat gegessen«, antwortete er, während er voller Gelassenheit vortrat. »Halt, kleiner Harker«, befahl Lucy mit fester Stimme und lächelte dann. »Sag, tragen die Frauen in diesem Zeitalter tatsächlich solche Kleidung?« Sie deutete auf die derbe, ausgewaschene Baumwollhose, die schmutzigen Tennisschuhe und den bauschigen, übergroßen Pulli hinunter. »Wird derlei als attraktiv betrachtet?« Er überhörte ihre Frage. »Wo hast du diese Sachen her?« »Sie kamen mit der Mahlzeit«, lachte sie. »Mein Gott«, sagte Holly. »Sie hat jemanden umgebracht. Du hast jemanden umgebracht, nicht wahr!« Lucy zuckte die Achseln. »Ich hatte schon Gott weiß wie lange nicht mehr gegessen! Wahrscheinlich habe ich mich wie ein kleiner Vielfraß aufgeführt«, kicherte sie. »Jesus, Malcolm, Jesus!« stöhnte Holly, indem sie sich von der Kreatur abwandte, sich die Augen zuhielt und ihren Tränen freien Lauf ließ. »Wirst du mir antworten?« fragte Malcolm, der es vorzog, das zu ignorieren, was, wie er nur zu gut wußte, unlängst geschehen war. »Ich werde es tun«, sagte Lucy, »aus ... äh ... Herzensgüte, und weil ... nun ja, weil Mina meine Freundin war.« »In deinem Zustand besitzt du immer noch menschliche Regungen?« fragte er. »Kannst du immer noch Freundschaft empfinden?«
»Ich empfinde sie nicht, aber ich entsinne mich daran«, erwiderte sie und warf einen raschen Blick zum Horizont. »Stell deine Fragen, und beeile dich.« »Okay.« Er holte tief Luft. »Zuerst folgende: Wie kann ich wissen, daß das, was du sagst, verläßlich ist? Woher beziehst du deine Kenntnisse?« »Woher ich meine Kenntnisse beziehe!« rief sie aus. »Na, aus derselben Quelle wie du, obschon du sie nicht zu nutzen vermagst.« Er schüttelte den Kopf. »Ich verstehe nicht.« »Aus dem Blut, mein Lieber, aus dem Blut! Das Blut spricht zu mir genauso wie zu dir, doch nur tote Ohren können es vernehmen. Das Blut verrät mir alles, was mir zu wissen nottut. Es ist eine Kombination aus Instinkt und Angelerntem.« Er brauchte einen Augenblick, um sich an diesen Gedanken zu gewöhnen. Dann nickte er. »Sehr gut. Erste Frage: Ist an der Vorstellung, daß Dracula irgendwie seine Körperchemie verändert hat, um diesen Zustand zu erzeugen, etwas Wahres?« Sie zog ihre Stirn kraus und schüttelte den Kopf. »Diese Frage verstehe ich nicht.« »Laß es mich so ausdrücken: Was hat es mit dem Blut für eine Bewandtnis, daß es die Toten auf erweckt? Woher bezieht das Blut seine Macht?« »Welch simple Fragen, Malcolm!« lächelte sie. »Das liegt doch wohl auf der Hand, nicht wahr? Das Blut besitzt Macht, weil es das Blut dessen ist, dem es gehört!« »Das ist keine Antwort«, beharrte er. »Du kannst mir nicht weismachen, daß Draculas Blut Macht besitzt, weil es Draculas Blut ist. Das führt die Frage nur wieder an den Ausgangspunkt. « »Es ist nicht Draculas Blut«, erwiderte Lucy. »Es ist das Blut des Satans - es ist Teufelsblut.« Einen Moment lang starrte Malcolm sie an. Dann sagte er: »Ich brauche logische Erklärungen, keinen übernatürlichen Unsinn. Wenn du mich ...«
Das Wesen stieß ein schallendes Gelächter aus und übertönte Malcolms letzte Worte. »Nach allem, was du geschaut, was du getan hast ... nachdem du selbst herausgefunden hast, was du bist, bezeichnest du die übernatürliche Realität als Unsinn?! O Mina, o Jonathan, ihr seid arm zu nennen, habt ihr doch eine Sippe von Schwachköpfen gezeugt!« Ihr Lachen schien nicht aufhören zu wollen, doch plötzlich riß es ab. Eine jähe Wut verfinsterte die fröhliche Miene. »Nun hör mir gut zu, Malcolm. Ich werde dir Antwort geben und dich an meinem Wissen teilhaben lassen, doch ich werde nicht mit dir streiten. Ich weiß, was ich bin, und ich weiß, warum ich es bin. Falls du es hören willst, werde ich sprechen. Wenn nicht, werde ich dich verlassen.« Sie äugte wiederum zum Horizont. »Na schön, na schön«, sagte er hastig. »Erzähl mir, wie Dracula zum Vampir wurde.« »Es war ein Pakt, wie in der alten Faust-Legende. Unsterblichkeit, Jahrhundert um Jahrhundert, ein immerwährendes Leben nach dem Tode, das Schrecken, Elend, Leid und Tod verbreitet, da es sich vom Blute der Lebenden nährt. All dies dem Teufel zu Gefallen. Der Graf hat das Blut des Teufels empfangen, der Teufel hat sein totes Herz damit erfüllt, und das Blut schenkte ihm seinen Untod.« Malcolm ließ sich das durch den Kopf gehen. »Ich glaube, ich verstehe. Wenn darum der Pfahl durch das Herz getrieben wird, kann das Blut austreten, und der Vampir ist von seinem Fluch befreit. Richtig?« »Mitnichten, lieber Malcolm«, antwortete sie ungeduldig. »Du mußt in poetischen Begriffen denken, mein Junge, in symbolischen. Weshalb wurde der Meister Vlad Tepes genannt, Vlad der Pfähler?« Er verstand augenblicklich. »Natürlich. Weil er die Leute auf Holzstangen gespießt hat.« »Sehr richtig. Und vielleicht hast du gelesen, daß wir kein Spiegelbild werfen. Hast du dich nie gefragt, wieso?« Sie wartete auf seine Antwort und fuhr, als keine erfolgte, fort: »Wer ist das Spiegelbild, gleichsam der Gegenpol, zum Herrn der Finsternis?«
Die Antwort war nicht schwer, sobald sie ihm den Schlüssel gegeben hatte. »Ja, ja«, nickte er. »Der Herr des Lichts. Jesus Christus.« »Der an einem Stück Holz gestorben ist«, beendete Lucy den Satz für ihn. »Aus diesen Gründen befreit der Holzpfahl den Vampir von seinem Pakt mit dem Teufel.« Sie hielt inne. »Für den Grafen war es ein Pakt. Für alle anderen ist es ein Fluch.« »Und doch wünschst du dir nicht, davon befreit zu werden«, sagte er. Sie zuckte die Achseln. »Man gewöhnt sich an alles. Der Hund leckt die Hand, die ihn schlägt.« »Und wie steht's mit dem übrigen Teil der Legende?« Sie hob die Brauen, und er verbesserte rasch: »Dann eben des Sachverhalts. Was hat es mit dem Knoblauch auf sich?« »Er brennt. Der Geruch brennt sich in unser Hirn und macht uns wahnsinnig vor Schmerz. Wir leiden Todesqualen.« »Und das Kruzifix? Die geweihte Hostie, der Meßwein?« »Wasser löscht Feuer, kleiner Harker. Die Sonne vertreibt den Mond, das Licht siegt über die Finsternis, das Leben besiegt den Tod.« »Gegensätze«, stellte Malcolm fest. »Ewige Feinde«, berichtigte sie ihn. »Vor der Einheit des Unendlichen vergeht das Endliche. Und selbst der Teufel ist vergänglich.« Wieder blinzelte sie ungeduldig zum Horizont. »Beeil dich mit deinen Fragen. Schon in einer halben Stunde bricht die Sonne die Finsternis.« »Einverstanden«, sagte er. »Nächste Frage: Gibt es noch andere Vampire außer dir?« Sie lächelte diebisch. »Noch nicht!« »Aber du kannst mehr davon erzeugen?« »Ich werde mehr von ihnen erzeugen.« »Drei?« Die Präzision und Treffsicherheit seiner Frage schien sie zu erschrecken. »Ja, drei. Woher weißt du das?!« Er gestattete sich ein selbstgefälliges Grinsen. »Drei Frauen auf dem Schloß in Transsilvanien. Drei Menschen, die vor einem Jahrhundert in England infiziert wurden — du, meine Urgroßmutter und der wahnsinnige Renfield.« Sie lachte. »Schlau, aber unzutreffend. Der Graf konnte so
viele Untote erschaffen, wie es ihm beliebte. Nur uns, seinen Geschöpfen, sind Grenzen gesetzt. Wir können genug Teufelsblut spenden, um drei von unseresgleichen zu erzeugen. Doch Draculas Herz war ein Faß ohne Boden, ein nie versiegender Brunnen, der aus den Adern Satans schöpfte. Er konnte endlos geben, ohne daß seine Kraft geringer wurde.« »Aber jetzt ist er nicht mehr«, sagte Malcolm. »Darum bleibst du als einziger Vampir, und du / kannst nur drei andere erschaffen. « »Ja, nur ich allein bin noch übrig. Ich und du und deine Familie, mein lieber Malcolm.« Er schüttelte den Kopf. »Ich bin verseucht, aber ich bin nicht wie du. Ich bin immer noch am Leben.« »Momentan«, lächelte sie. Er überhörte die Bemerkung. »Was ist mit den dreien, die du erschaffst, falls du welche erschaffst? Können auch sie dann wieder andere erschaffen?« »Nein«, antwortete sie. »Je weiter die Kraft von der Quelle entfernt ist, desto schwächer das Blut. Der Graf hat an Satans Busen getrunken. Er hätte ein Heer von Vampiren erschaffen können, hätte er gewollt. Ich aber kann nur drei erschaffen, und die von mir Erschaffenen gar keine.« »Ich verstehe nicht«, sagte Malcolm stirnrunzelnd. »Du behauptest, die Macht des Blutes würde schwächer, je weiter es von der Quelle entfernt ist. Weshalb macht es mir dann überhaupt etwas aus? Mina Harker und mich trennen vier Generationen.« »Du hörst mir nicht zu, du kleiner Dummkopf«, zischte sie. »Das Blut spricht zu dir, wenn du tot bist. Zu Lebzeiten hat es nur geringen Einfluß auf dich. Mina brachte einen Sohn zur Welt und gab das Blut an ihn weiter. Dort ist es geblieben und zehrte jeden Moment, den es durch seine Adern rann, an seinem Körper. Und das tut es noch immer. Er hat das Blut an seinen Sohn weitergegeben, sein Sohn an dich. Erst mit deinem Tode wird die Macht des Blutes sich durchsetzen.« Er nahm sich einen Augenblick Zeit, um diese Sache zu überdenken. »Gefährlich wird es also für
mich erst mit meinem Tode. Jetzt, solange ich noch lebe, läßt es sich immer noch beherrschen.« »Jawohl.« »Durch regelmäßigen Empfang des Sakraments.« »So ist es.« »Aber es hat mich verbrannt. Ich meine, als ich das letzte Mal die Kommunion empfing, hat das Sakrament mir Mund und Magen verbrannt.« »Weil du zugelassen hast, daß das Blut sich durchsetzt. Du hast mir erzählt, daß du der Kirche geraume Zeit ferngeblieben wärest. Alles nutzt sich ab, sogar der Schutz der Sakramente.« »Und wenn ich von nun an regelmäßig zur Kommunion gehe ... ?« »Wird der Schmerz abklingen, verschwinden und die Macht des Blutes wird beschnitten sein.« »Aber nicht ausgeschaltet«, sagte er. »Nein«, bestätigte Lucy. »Nicht ausgeschaltet. Nach dem Tode wird für dich immer noch Gefahr bestehen.« Nicht, wenn meine Adern mit Einbalsamierungsflüssigkeit gefüllt sind, dachte er etwas neunmalklug, ohne ihr seine Gedanken jedoch mitzuteilen. »Und falls ich je Kinder hätte?« »Dann wird es auf sie übergehen, durch alle Generationen.« Sie äugte etwas nervös auf den rosigen Horizont. »Schnell. Ich gebe dir nur aus Gefälligkeit soviel Zeit, aber du mußt dich beeilen.« »Okay«, sagte er. »Noch eine Frage. Ich möchte diese Sache nicht nur unter meine Kontrolle bekommen, ich möchte sie auch beenden, möchte mich und meine Familie von dieser Last befreien. Wie läßt sich das bewerkstelligen? Gibt es irgendeine Möglichkeit, die Macht des Blutes ein für allemal zu vernichten?« »Das kann ich nicht mit Sicherheit beantworten. Doch habe ich so ein Gefühl, eine Ahnung, wenn du willst. Sie spricht nur undeutlich zu mir.« »Sag mir, was du weißt«, forderte er sie auf. Der Vampir zögerte einen Moment. »Der Teufel ist an das Blut gebunden, und das Blut an den Grafen, und alle drei sind sie an ihre Heimaterde gebunden.« Sie schwieg, als sei mit dieser rätselhaften Bemerkung alles gesagt.
Er wartete, daß sie fortfahren würde. Als sie aber stumm blieb, sagte er: »Ich verstehe nicht, was du damit meinst. Inwiefern soll mir das etwas nützen ... ?« »Denk einmal nach, du kleiner Narr, denk nach!« fauchte sie ihn an. »Haben die Leute dieses Jahrhunderts denn nur Stroh im Kopf? Solange seine Gebeine in der Erde seines Heimatlandes ruhen, behält das Blut, das er gegeben hat, auch seine Macht. Entferne ihn aus seiner Heimaterde, und das Blut wird so wie jedes andere.« »Aber er liegt doch nirgendwo begraben«, protestierte Malcolm. »Ich habe die Schilderung im Buch gelesen. Es heißt, daß er am Rande einer Landstraße unweit der Burg getötet wurde und daß sein Körper nach Durchbohrung seines Herzens zu Staub zerfiel.« »Und heißt es auch, daß er allein war?« fragte sie. Er überlegte einen Augenblick. »Nein, er hatte Zigeuner bei sich, Diener.« »Ah«, lächelte sie. »Und was haben sie getan, nachdem der Graf getötet worden war?« »Sie sind davongelaufen«, antwortete er achselzuckend. »Und dann?« Er starrte sie an. »Davon wird nichts erwähnt. Ich denke mir, sie sind eben immer weiter gerannt.« Lucy Westenra schüttelte ihren Kopf und lachte traurig. »Dummer Junge, blinder, dummer Junge. Sie müssen zurückgekehrt sein, um den Staub aufzusammeln. Sie müssen ihn in die Burg gebracht und in seinen Sarg gelegt haben. Es muß so sein! Der Staub des Grafen muß immer noch vorhanden sein, sonst wäre sein Blut nicht imstande, mich aus meiner Ruhe zu reißen!« Im Bemühen, aus dem Ganzen einen schlüssigen Plan für sein weiteres Vorgehen zu entwickeln, begann Malcolm, auf und ab zu gehen. »Wenn ich also zu dieser Burg fahre und seinen Staub aus dem Sarg nehme ...« »Aus seinem Heimatland bringe«, berichtigte sie. »Wenn du den Staub in Transsilvanien verstreust, wird es so sein,
als hättest du gar nichts getan. Bring ihn nach England und verstreue ihn hier.« »Oder nach Amerika«, überlegte er. Sie lächelte. »Ganz, wie du wünschst.« »Und wenn ich das tue, wird die Macht des Blutes in mir und meiner Familie jetzt und für alle Zeit gebrochen sein?« »So ist es.« Er sah sie an. »Und du? Was wird mit dir geschehen, wenn ich das tue?« »Nichts«, erwiderte sie. »Ich bin bereits auferstanden, ich bin bereits verflucht. Du wirst lediglich dir selbst einen Dienst erweisen. Mein Blut, das Teufelsblut in meinem Innern, bleibt davon unberührt.« Sie betrachtete den rapide heller werdenden Schimmer der Sonne hinter den fernen Hügeln. »Ich habe mich lange genug aufgehalten.« Und damit flüchtete sie in die dichten Baumbestände, die sich vom Kirchhof nach draußen erstreckten. »Warte!« rief Malcolm. »Sag mir, warum du mir das alles verraten hast! Sag mir ehrlich: Warum hast du mit mir zusammengearbeitet?« Der Widerhall ihres kalten Gelächters war die einzige Antwort, zu der sie sich herabließ. Malcolm wandte sich wieder Holly zu, die im gesamten Verlauf der Unterredung mit dem Kruzifix fest in ihren Händen dicht neben der Pforte der Gruft verharrt hatte. In dem trüben Morgenlicht konnte er erkennen, daß sie krank, bleich und verängstigt aussah, nahm sich jedoch nicht die Zeit, näher auf sie einzugehen. Statt dessen ergriff er ihre Hand und zog sie hinter sich her, während er sich auf den Rückweg zum Hotel machte. »Komm, wir müssen ein Telefon finden und unsre Koffer packen.« Holly betrachtete seinen Hinterkopf, während er sie vorwärtszog, und fragte etwas belämmert: »W ... was? Fahren wir denn nach Hause?« Nur um gleich hellwach und während sie ihn rasch einzuholen versuchte, hinzuzufügen: »O Mal, ich möchte ja so gern nach Hause! Ich möchte so gern nach Hause!«
»Wir fahren nicht nach Hause«, antwortete er. »Wir fahren nach Rumänien.« Sie fühlte sich zu matt und erschlagen, um mit ihm zu streiten. Ihre Übermüdung zusammen mit dem Schock und dem Schrecken hatten sie jeglicher Widerstandskraft beraubt. Darum ging sie neben ihm her, versuchte, mit seinem stürmischen, von Neugier getriebenen Tempo Schritt zu halten, und hatte gerade erst den oberen Treppenabsatz erreicht, da klopfte Malcolm bereits bei Jerry Herman. »Jerry!« sagte er. »Wach auf! Wir müssen zusammenpacken! Heute nacht ist allerhand passiert. Jerry!!! Nun mach endlich, ja?« Holly trat gerade neben Malcolm, als Jerrys verschlafene Stimme von der anderen Seite der Tür antwortete: »Schon gut, ist ja schon gut!« Jerry riß die Tür auf, kratzte sich seinen zerzausten Schopf und gähnte dabei laut. »Verdammt noch mal, Malcolm, weißt du eigentlich, wie spät es ist?« fragte er gereizt. »Natürlich weiß ich das«, versetzte Malcolm. »Hör zu, Jerry, wir ...« »Hat man dir denn nicht mal beigebracht, daß man niemanden aufweckt, solange er seinen Kater nicht hat ausschlafen können?« Er preßte seine Finger gegen die Schläfen. »Gott, geht's mir beschissen!« »Jerry, ich bin nicht daran interessiert, wieviel du getrunken hast!« entgegnete Malcolm hitzig. »Ich habe dir etwas Wichtiges zu erzählen!« »Na, dann aber bitte etwas leiser, ja?« stöhnte Jerry, während er sich wieder auf sein Bett fallen ließ. »Mein Gott, geht's mir beschissen! So dreckig hab ich mich schon Jahre nicht mehr gefühlt! Woraus, zum Teufel, machen die eigentlich ihren Gin hier?!« Er rollte sich auf die Seite und fuhr fort zu ächzen. Malcolm warf Holly einen kurzen Blick zu. »Das hat mir gerade noch gefehlt. Ein Verbündeter mit Katzenjammer.« Und zu Jerry sagte er: »Es wird Stunden dauern, bis du wieder einen klaren Kopf hast, Mann, ich benötige aber deine Hilfe sofort, verdammt! Dein Körper braucht doch
Stunden, um jedes Quentchen Alkohol, das du trinkst, wieder abzubauen.« »Halt mir keine Vorlesungen, Malcolm, okay?« winselte Jerry. »Ich fühl mich schrecklich.« »Sei einfach still und hör mir zu«, befahl Malcolm. »Holly und ich ...« Er hielt mitten im Satz inne, sein Mund blieb halb offen stehen, und wie gelähmt, mit aufgerissenen Augen starrte er Jerry an. Holly trat neben ihn. »Was ist denn, Mal?« fragte sie. Dann sah auch sie es. Sie stieß einen gellenden Schrei aus. »Was hat sie denn?« fragte Jerry, während er geistesabwesend die zwei kleinen Wunden an seiner Kehle kratzte. Kapitel 10 Rachel war mit dem Altardienst an der Reihe, und gerade, als sie ihren Mantel anzog, um aus dem Haus zu gehen, klingelte das Telefon. Sie schnaubte verdrossen, wenngleich es ziemlich egal war, ob der Anruf sie nun ein oder zwei Minuten länger aufhielt. Schließlich konnte sie das Altartuch und die Kerzen noch den ganzen Tag auswechseln. Aber sie war eine Frau, die einen festen Zeitplan einzuhalten versuchte, und wenn die Reihe an sie kam, hatte der Altardienst immer am Morgen des Samstags erledigt zu werden. Mit halblautem Murren legte sie ihren Mantel über einen Stuhl und ging in den Salon, um den Anruf entgegenzunehmen. »Ja bitte?« fragte sie in den Hörer. »Rachel? Bist du's?« erwiderte undeutlich die Stimme ihres Bruders. »Malcolm!« Sie erkannte ihn auch ohne eine nähere Begrüßung. »Ich kann dich nicht sehr gut verstehen. Wir haben eine schlechte Verbindung. Wo steckst du?« »Ich bin in London«, antwortete er. »Wie bitte? Sprich doch lauter!« »Ich bin in London«, wiederholte er, diesmal kräftiger. »Ich bin immer noch in London. Wie spät ist es denn bei
euch?« »Neun Uhr vormittags«, erwiderte sie. »Weshalb rufst du an? Ist irgendwas nicht in Ordnung?« Er zögerte, bevor er antwortete. »Ja, so könnte man es wohl ausdrücken.« »Bist du krank?« Ihre Sorge um ihren Bruder überstieg ihren Unmut, und stirnrunzelnd drückte sie den Hörer fester an ihr Gesicht. »Nein, nein, mir geht's prima, uns allen geht's prima. Das heißt, Jerry ... hat da so ein Problem. Aber deswegen rufe ich nicht an.« »Fehlt ihm ganz bestimmt nichts?« fragte sie voller Erleichterung, daß ihr Bruder nicht krank war, obwohl sie sich wider Willen Sorgen machte. »Er ... na ja, es geht ihm schon wieder besser. Aber hör zu, Rachel, ich rufe an, weil ich mehr Geld brauche. Du mußt es mir telegrafisch an das Büro von American Express an der Victoria Station überweisen.« »Malcolm«, erwiderte sie gereizt und mit knappen, dezidierten Worten, »ich war ganz und gar für eure kleine Expedition, weil ich dachte, du würdest dadurch vielleicht die Wahrheit einsehen, aber ich bin nicht gewillt, dir und deinen Freunden auch nur einen Urlaubstag mehr zu finanzieren. Wenn dir das Geld bereits jetzt ausgegangen ist, dann bedeutet das, daß uns dieser Spaß bereits annähernd dreitausend Dollar gekostet hat, und ich werde wirklich nicht ...« »Ich habe Lucy Westenra auferweckt.« Rachel brauchte ein paar Sekunden, um die Worte ihres Bruders zu verdauen. Schließlich stammelte sie: »D ... du ... du hast was?« Sie hörte, wie er am anderen Ende der Leitung vernehmlich seufzte. »Ich habe Lucy Westenra wiedererweckt. Holly und ich sind zu ihrem Grab, haben den Pfahl herausgezogen, ihre Überreste mit Essig gesäubert, und als ich etwas von meinem Blut auf ihren Schädel tropfen ließ, ist sie von den Toten auferstanden.« Rachel sprach längere Zeit kein Wort. Sie nahm den Hörer vom Gesicht, hielt ihn vor sich ausgestreckt und starrte
ihn mit offenem Munde an. Dann kreischte sie: »Du hast was?! Was hast du getan?« »Beruhige dich, Rachel, beruhige dich«, sagte Malcolm schnell. »Sie hat mir einige Informationen gegeben, die überaus wertvoll sind ...« »Wie konntest du nur?!« zeterte sie. »Was, um Himmels willen, denkst du dir eigentlich?! Wie konntest du so etwas nur tun?« »Rachel, würdest du mir wohl zuhören?« schrie er sie durch die Leitung an. »Es gibt eine Möglichkeit, den Fluch loszuwerden. Hörst du, was ich sage? Es gibt eine Möglichkeit, den Fluch loszuwerden!« . »W ... wovon redest du eigentlich?« fragte sie im Bemühen, ihren Zorn zu besänftigen. Während sie sprach, kam Daniel, ihr Ehemann, rasch ins Zimmer geschritten, kurz darauf gefolgt vom alten Quincy, der so eilig hereinschlurfte, wie seine Jahre es zuließen. Beide hatten sie Rachel schreien hören. »Paß auf«, fuhr ihr Bruder fort, während Ehemann und Großvater auf Rachel zukamen. »Ich habe Lucy ganz bewußt von den Toten auferweckt, um ihr ein paar Fragen stellen zu können. Ich sagte mir, daß sie mehr über diese Sache wissen müßte als jeder andere von uns, stimmt's?« »O Malcolm!« Seine Schwester begann zu weinen. »Ach komm, Rachel. Hör mir zu, verdammt noch mal! Ich muß nach Rumänien. Deswegen brauche ich mehr Geld.« »Rachel, was ist los?« fragte Daniel. »Was hat der Junge angestellt?« wollte auch ihr Großvater wissen. Mit einem kurzen, scharfen Wink brachte sie die beiden zum Schweigen. »Weshalb, Malcolm? Warum mußt du dorthin fahren ?« Sie hörte aufmerksam zu, während Malcolm ihr die Unterredung, die er letzte Nacht mit dem Vampir geführt hatte, in Kurzfassung widergab. Er schloß mit den Worten: »Falls es mir also gelingt, seine Überbleibsel zu finden, diese aus Rumänien, aus ihrer Heimaterde, hinauszuschaf-
fen und sie danach in alle Winde zu zerstreuen, ist für uns alles in Ordnung. Dir, mir, Großvater und sämtlichen Kindern, die du oder ich bekommen werden - keinem kann der Fluch mehr etwas anhaben.« Er zögerte. »Ich meine, ich weiß über Daniel Bescheid und alles, aber ich dachte mir ... ach, gar nichts hab ich mir gedacht ... du weißt schon, was ich damit sagen will, Rachel. Es ist ein Ausweg für uns, eine Lösung. Ich muß nach Rumänien fahren. Ich muß!« Sie nickte — nicht, weil sie seine Handlungsweise nachträglich gebilligt hätte, sondern aus Verständnis dafür und weil sie einsah, daß er in der Tat einen möglichen Ausweg aus ihrer aller düsterem Erbe gefunden hatte. »Unterhalte dich jetzt ein paar Minuten mit deinem Großvater, Malcolm«, sagte sie. »Ich werde an den anderen Apparat gehen und Mr. Bruno von der Bank anrufen. Wieviel, glaubst du, wirst du benötigen?« »Ich bin mir nicht ganz sicher. So um die tausend, schätz ich. Besser, ich habe zuviel und bringe es wieder mit nach Hause als ich habe zu wenig und gehe pleite.« »Das stimmt«, gab sie zu. »Sprich mit deinem Großvater. Ich werde so bald wie möglich wieder am Apparat sein.« »Rachel, was ... ?« begann Quincy, doch die reichte ihm bereits den Hörer und ging dann nach draußen. An der Ecke des Salons hielt sie inne und sagte zu ihrem Gatten: »Daniel, sorge dafür, daß Großvater sich hinsetzt und auch sitzen bleibt.« Ich möchte nicht, daß er in Ohnmacht fällt oder zusammenbricht, wenn Malcolm ihm erzählt, was passiert ist, dachte sie auf dem Weg in die Küche, wo der zweite Apparat stand. Völlig verwirrt und verdrossen half Daniel dem alten Mann in einen Sessel und zog sich dann schweigend einen Schritt zurück. Was ging hier nur vor? fragte er sich. Auch die von Tränen begleitete schockierte Reaktion Quincys auf die wie auch immer geartete Nachricht, die ihm da am Telefon übermittelt wurde, trug nicht gerade dazu bei, Daniels Neugier zu mindern. Zehn Minuten später kam Rachel wieder zurück und nahm ihrem Großvater den Hörer aus der Hand. Der alte
Mann sackte wie ein Häufchen Elend in den Kissen zusammen, schlug sich die Hände vors Gesicht und schüttelte traurig seinen Kopf. »Es ist alles in die Wege geleitet, Malcolm«, richtete Rachel ihrem Bruder aus. »Bruno kümmert sich schon darum. Er meint, das Geld müßte binnen einer Stunde verfügbar sein.« »Großartig, Sis, das ist ja großartig.« »Aber, Malcolm, hör mir jetzt gut zu«, sagte sie mit ernster, nur ganz leicht zitternder Stimme. »Ich möchte, daß du sehr, sehr vorsichtig bist. Versprich mir, daß du auf dich aufpassen wirst.« »Natürlich werd ich das, Rachel«, antwortete er, »aber es dürfte kaum Grund zur Sorge bestehen. Lucy hat mir gesagt, was zu tun ist, und ich ...« »Das meine ich nicht«, unterbrach sie ihn. »Ich meine, eine Reise nach Rumänien ist etwas anderes als eine Reise nach England. Rumänien ist ein kommunistisches Land und von den Sowjets abhängig. Sieh zu, daß du nie mit dem Gesetz in Konflikt kommst oder auch nur ungebührliche Aufmerksamkeit erregst.« »Sicher, Rachel, schon gut.« Da der Tonfall seiner Stimme ihr verriet, daß er nur einwilligte, um eine sinnlose Diskussion abzublocken, fügte sie hinzu: »Versprich es mir, Malcolm.« »Ich verspreche es, Rachel. Ehrenwort.« »Und Malcolm ... Malcolm ... ?« »Ich bin noch da, Sis.« »Trag ein Kruzifix, wenn ... na ja, trag eben eines.« Diesmal hörte sich seine Stimme ernst an. »Das werd ich, Rachel. Mach's gut.« »Tschau.« Erst nachdem sie die Verbindung mit einem Klicken hatte abbrechen hören, legte Rachel auf. »Würde mir freundlicherweise jemand erklären, was hier eigentlich los ist?« fragte Daniel eingeschnappt. »Was hat der Junge denn jetzt wieder ausgefressen?« Rachel schüttelte ihren Kopf. »Das ist eine lange Geschichte, Daniel, und obendrein eine, die ich dir wahrscheinlich schon vor Jahren hätte erzählen sollen, aber momentan fehlt mir einfach die Kraft, mich näher darauf einzulassen.« »Nun«, setzte Daniel
an und wußte plötzlich nicht weiter. Er hatte mit einer etwas aufschlußreicheren Antwort gerechnet. »Nun«, wiederholte er. »Hast du nicht gesagt, du wolltest heute nachmittag zu Harry Stevenson?« fragte sie, während sie abermals ihren Mantel nahm und langsam hineinschlüpfte. »Ja. Na und?« Sie seufzte. »Du wirst doch zum Abendessen wieder zu Hause sein?« »Ich denke, schon.« Daniel runzelte die Stirn. »Hör zu, Rachel ...« »Später, Daniel, später werde ich dir alles erklären.« Damit ging sie an die Haustür und zog sie auf. »Du hast vermutlich ein Recht darauf, es zu wissen.« »Ein Recht darauf, was zu wissen?« fragte er, doch schon hatte Rachel die Tür hinter sich geschlossen. Daniel wandte sich an den alten Quincy und wiederholte: »Ein Recht darauf, was zu wissen? Wovon redet sie da, Großvater?« Quincy Harker hörte ihn nicht oder machte doch wenigstens den Eindruck, ihn nicht gehört zu haben. Jedenfalls hatte seine Erwiderung nichts mit Daniels Frage zu schaffen. »Ich fühle mich nicht besonders, Daniel. Hilf mir doch bitte in mein Zimmer hinauf, ja?« »Gewiß, gewiß«, antwortete Daniel. Er half dem alten Mann auf die Beine und reichte ihm seinen Arm, damit Quincy sich darauf stützen könnte, während sie langsam Richtung Treppe gingen. »Vergeßt mir ja eines nicht«, sagte Quincy mit leichtem Keuchen. »Wenn ich sterbe, möchte ich ein schlichtes Begräbnis. Keine Aufbahrung, keinen teuren Sarg, nichts von diesem nutzlosen und teuren Firlefanz.« »Ja, Großvater.« »Daß du mir ja darauf achtest, Daniel, falls Rachel oder Malcolm es vergessen.« »Ja, Großvater ...« Während Quincy Harker mühsam die Treppe zu seinem Schlafzimmer hinaufstieg, bog seine Enkelin um die Ecke auf den Weg, der zur Episkopalkirche des Heiligen Thomas führte. Rachel blieb selbst auf einem Tiefpunkt wie diesem
sehr wohlüberlegt und methodisch. Nachdem sie vorläufig alles in ihrer Macht Stehende getan hatte, sah sie keine Veranlassung, in ihrer samstäglichen Routine nicht genau so fortzufahren, als wäre sie nie von ihrem Bruder angerufen worden, als wüßte sie nicht, daß Malcolm einen Vampir auf die nichtsahnende Welt losgelassen hatte, und als sorge sie sich nicht bis ins Innerste, daß ihr Bruder sich anschickte, nach Rumänien zu fahren und nach den Überresten eines Geschöpfes zu suchen, das ihrer Familie bereits dermaßen viel Not und Kummer zugefügt hatte. Sie schritt die paar Stufen hinauf, die zu dem mächtigen Eichenportal des neogotischen Gotteshauses hinaufführten, ergriff den ehernen Ring und lehnte sich zurück, um die Tür aufzuziehen. Die Kirche war nie verschlossen, obwohl man mehrmals schon eingebrochen hatte - ein Problem, über das der Pfarrgemeinderat endlos debattierte. Darum waren sonnabends entweder Pfarrer Henley oder sein Kaplan, Pfarrer Langstone, aus Sicherheitsgründen den ganzen Tag im Gebäude anwesend. Wußten sie doch, daß die Damen, die sich um den Altar kümmerten, kommen würden, um für die sonntäglichen Messen alles Nötige vorzubereiten. Pfarrer Henley hörte das schwere Portal zufallen und erhob sich vom Schreibtisch in seinem Amtszimmer, um nachzuschauen. Als er Rachel zwischen den Kirchbänken herankommen sah, lächelte er sie an und sagte: »Guten Morgen!« »Herr Pfarrer«, nickte sie zurück und hoffte, daß er sich nicht in Plauderstimmung befand. Vergebens. »Hat Malcolm sich gemeldet?« »Ja«, erwiderte sie, wobei sie sich bemühte, sich ihre Verstörtheit nicht anmerken zu lassen. »Ich habe am Telefon mit ihm gesprochen.« »Wie gefällt es ihm denn in England? Ist er schon in der Kathedrale von Canterbury gewesen?« »Ich glaube nicht, Herr Pfarrer, aber wahrscheinlich wird er das vor seiner Abreise noch tun.« Er ist doch nicht wegen der Sehenswürdigkeiten dort, dachte sie bei sich. »Na, das sollte er auch, wenn er schon einmal in England ist«, meinte Henley, während er mit Rachel nach hinten in den Raum ging, in dem die Kerzen und Altartücher aufbe-
wahrt wurden. »Reisen kann den Horizont durchaus erweitern, wenn man sich gezielt das Richtige zu Gemüte führt.« Er hörte Rachel kurz und freudlos auflachen und merkte bei näherem Hinsehen zum erstenmal, daß allem Anschein nach etwas nicht in Ordnung war. »Rachel?« fragteer. »Beschäftigt Sie etwas?« Sie schüttelte nachdrücklich den Kopf. »Nichts und niemand, Herr Pfarrer. Es ist alles in schönster Ordnung.« »Sind Sie sicher?« fragte er zaghaft. »Absolut.« Und damit begann sie, dem Karton, der auf dem Boden des Lagerraumes stand, ein paar Wachslichte zu entnehmen. Es war offensichtlich, daß Henley erneut zum Sprechen ansetzen wollte, doch an ihrem Tonfall und Gebaren war etwas so Endgültiges, Kaltes, daß er darauf verzichtete, ihren Kümmernissen ein offenes Ohr zu leihen, und sich wieder ins Amtszimmer begab. So blieb Rachel ihren Aufgaben überlassen. Sie verrichtete die notwendigen Vorbereitungen mit der gewohnten Tüchtigkeit, und binnen kurzem waren die alten Kerzen gegen neue ausgetauscht, Kelch und Tabernakel auf Hochglanz gebracht und Altar, Lesepult und Kanzel den Farben des Sonntags entsprechend neu bezogen. Nach Beendigung ihrer Arbeit setzte sie sich auf die vorderste Bank, bekreuzigte sich und fing an zu beten. »Herr, beschütze Malcolm«, bat sie, während ihr wider Willen die Tränen über die Wangen rollten. »Gib, daß meinem kleinen Bruder nichts Böses widerfährt, Herr; gib, daß meinem kleinen Bruder nichts Böses widerfährt ...« Still und regungslos beobachtete Pfarrer Henley von der Tür seines Amtszimmers aus die weinende Frau, lauschte dem sanften, unverständlichen Gemurmel ihrer Fürbitten. Sein Hilfsgeistlicher, Pfarrer Terrence Langstone, trat neben ihn und flüsterte: »Matt, stimmt irgend etwas nicht? Mrs. Rowland scheint ja ganz aufgelöst zu sein.« »Ja, so scheint es, Terry«, sagte Henley leise. »Aber wir dürfen uns nicht einmischen, solange sie nicht von sich aus mit ihrem Problem zu uns kommt. Sie spricht mit Gott. Der kann ihr eher helfen als wir.« Damit verschwanden die beiden Priester hinter der Tür des Amtszimmers und überließen Rachel Rowland ihren heimlichen Ängsten und Gebeten. »Sei mit
ihm, Herr, sei mit Malcolm. Nimm meinen kleinen Bruder in deinen Schutz, Herr, gib, daß meinem kleinen Bruder nichts Böses widerfährt ...« Kapitel 11 ... Als ich wieder etwas zu sehen vermochte, stieg der Kutscher gerade auf die Kalesche. Die Wölfe hatten sich in Luft aufgelöst. Dies alles war so sonderbar, so unheimlich, daß mich eine entsetzliche Furcht überkam und ich Angst hatte, zu sprechen oder mich zu bewegen. Schier eine Ewigkeit schienen wir auf unserem Wege dahinzujagen - nunmehr in fast völliger Finsternis, denn das mächtige, über den Himmel treibende Gewölk verdeckte den Mond. Es ging stetig bergauf, und unser Weg wurde nur hie und da von einer kurzen, steilen Talfahrt unterbrochen. Plötzlich bemerkte ich, daß der Kutscher das Gespann in den Hof einer großen, weitläufigen Schloßruine lenkte. Kein Lichtstrahl drang aus ihren hohen schwarzen Bogenfenstern, und ihre zerbröckelten Zinnen standen als gezackte Linie vor dem mondhellen Himmel ... »Ich möchte nichts mehr davon hören, Mann!« schrie Jerry, wobei er Malcolm die Taschenbuchausgabe von Dracula aus der Hand riß und sie auf den Boden schleuderte. »Ich möchte einfach nichts mehr davon hören!« »Jerry«, sagte Holly, der es ähnlich ging, »versuch, dich zu beruhigen. Natürlich bist du wegen all dem aus dem Häuschen, aber ...« »Aus dem Häuschen!« schrie er. »Warum, zum Teufel, sollte ich aus dem Häuschen sein?! Es werden doch dauernd Leute von Vampiren gebissen!« Er drohte Malcolm mit der Faust und zischte: »Ich schwöre dir bei Gott, Mann, wenn wir da lebend wieder herauskommen, dann bring ich dich um!« Malcolm erwiderte Jerrys zornigen Blick mit einer Miene gleichgültigen, gelassenen, fast unempfindlichen Ärgers. »Wenn wir sichergehen wollen, daß wir an der
richtigen Adresse sind, Jerry, dann müssen wir sämtliche Hinweise im Buch noch einmal überprüfen. Ich habe es euch nur vorgelesen, um euch zu einer Meinungsäußerung herauszufordern, weiter nichts.« Er schniefte. »Tut mir leid, wenn ich dich damit genervt haben sollte.« »Eine Meinung willst du hören?« brüllte Jerry. »Okay, da hast du meine Meinung: Wie, zum Teufel, hast du uns beide in diese gottverdammte Sache nur mit reinziehen können?! Du bescheuerter Mistkerl, ist dir denn nicht klar, was mit mir los ist?« Malcolm streckte seine Hand nach unten und hob das Buch wieder auf. »Ich habe mich bereits entschuldigt, Jerry«, sagte er besänftigend. »Ich weiß nicht, was ich noch sagen soll.« »Entschuldigt! Was hab ich von deinen Entschuldigungen?« »Na schön«, erwiderte der andere gereizt. »Wenn du so verdammt sauer auf mich bist, warum bist du dann noch mit uns gekommen? Warum bist du hier, bei uns, in diesem Hotel in Rumänien? Warum bist du nicht längst wieder in die Staaten zurückgefahren ?« »Weil das hier kein Spaß mehr ist! Ich mußte mit dir kommen, um mich zu vergewissern, daß du nicht alles versaust! Ich meine, jetzt geht es um mein Leben!« »Und vorher ging es um mein Leben«, erklärte Malcolm. »Den Teufel hat es! Um irgendeine fixe Idee von dir ist es gegangen, eine saudumme, bescheuerte Geschichte, die dir dein verrückter alter Großvater in den Kopf gesetzt hat! Um etwas Handfestes ging es nicht eine Minute!« »Doch«, seufzte Holly. »Wir haben es bloß nicht gewußt.« Sie ging ans Fenster hinüber und zog den Vorhang beiseite, den Malcolm geschlossen hatte, um seine Augen vor der gleißenden Sonne des Karpatensommers zu schützen. Allerdings öffnete sie ihn lediglich einen Spaltbreit. Sie wollte auf den Marktplatz des rumänischen Städtchens Oradea - beziehungsweise Großwardein hinausschauen. Die drei hatten eine volle Woche gebraucht, um von London nach Bukarest zu gelangen. Die eigentliche Reisezeit betrug natürlich nur fünf Flugstunden, doch hatten die
Vorbereitungen sich über sechs Tage hingezogen. Bei zweistündigem Schlangestehen vor dem rumänischen Fremdenverkehrsbüro in Londons Halsworth Road hatten sie zum erstenmal Bekanntschaft mit der fast byzantinischen Umständlichkeit des rumänischen Behördenlabyrinths gemacht - etwas, das um so frustrierender war, als sich vor ihnen nur zwei Menschen mit einem apathischen und lethargischen Beamten herumschlugen. Fünf weitere Tage hatten die drei benötigt, um die erforderlichen Einreisevisa, Transitvisa, Ausreisevisa, eine Kraftfahrzeugversicherungskarte sowie einen Auslandsführerschein zu erhalten, wozu noch die unerläßlichen Sicherheitsüberprüfungen, Fragebögen und Reisedirektiven kamen. Malcolm hatte darauf geachtet, daß bei der vorgeschriebenen Route ein wenig Spielraum bestand, da er sich bislang über den Ausgangspunkt ihres Unterfangens noch nicht ganz im klaren war. Er wußte, daß sowohl Schloß Bran bei Kronstadt, dem rumänischen Brasov, als auch das Mönchskloster Snagov zu den Orten gehörten, an denen man nachschauen müßte, wußte jedoch ebensogut, daß die Suche nach den Überbleibseln des Grafen durchaus auch das Aufsuchen anderer Plätze erforderlich machen konnte. Er ließ die Woche, in der die rumänischen Bürokraten seine eigenen und die Anträge seiner Freunde bearbeiteten, nicht ungenutzt vorübergehen. Während die beiden anderen nervös die Tage und Stunden zählten, verbrachte Malcolm den halben Tag in der British Library, wo er sich durch ganze Stapel von Büchern über Geographie und Geschichte arbeitete, und die andere Hälfte des Tages widmete er sich dem Erlernen der rumänischen Sprache - eine Aufgabe, bei der es für ihn einige Erleichterungen gab. Erstens war das Rumänische im Gegensatz zu den Sprachen der meisten Nachbarstaaten lateinischen und nicht slawischen Ursprungs. Zweitens konnte Malcolm fließend Deutsch und Französisch sprechen und Latein und Altgriechisch vom Blatt lesen, was man ja wohl als Nachweis für seine Sprachbegabung nehmen konnte. Drittens hatte er in London nicht weit von St. John's Wood ein koscheres Restaurant aufgespürt, mit dessen jüdischem und aus Rumänien
stammendem Inhaber er das Sprechen und das Verstehen üben konnte. Bis Ende der Woche beherrschte er die Sprache, wenn auch keineswegs perfekt oder auch nur so, daß er sich mühelos hätte verständigen können, aber immerhin gut genug, um unschwer in Rumänien damit durchzukommen, solange Wörterbuch und Grammatik stets in Reichweite blieben. Zumindest hatte er da keine Bedenken. Die andere Hälfte seiner täglichen Studien war jedoch, wie er wußte, die wichtigere, denn um an Draculas Überreste zu gelangen, würde es erforderlich sein, dessen Grab aufzuspüren, und das deutete auf keine leichte Aufgabe. Malcolm machte sich bei seiner Lektüre eine Fülle von Notizen und erkannte nach nur wenigen Tagen in Rumänien, daß er gut daran getan hatte, die historischen Tatsachen sorgfältig abzuklären. Morgens waren die drei jungen Amerikaner am Londoner Heathrow Airport abgeflogen, gegen Nachmittag landeten sie in Bukarest. Der Rest des Tages verging mit der amtlichen Überprüfung und Neuüberprüfung ihrer Visa und anderer Dokumente, und erst am nächsten Tag konnten sie ihre Suche ohne weitere Einschränkungen aufnehmen. Schon am Ende des zweiten Tages schwante Malcolm, daß die bei den staatlich organisierten »Dracula-Touren« angesteuerten Plätze ihm nicht weiterhelfen würden. Am Ende des vierten Tages wußte er es mit Sicherheit. Auf einer Insel inmitten des Snagovsees, der sich in der Nähe von Bukarest erstreckte, stand ein Mönchskloster, das von Vlad dem Pfähler gestiftet worden war und bei dem es sich laut Überlieferung auch um dessen letzte Ruhestätte handelte. Aber schon nachdem sie sich ein paar Stunden darin umgesehen und die dort zugänglichen Schriften gelesen hatten, erkannten Malcolm und seine Freunde, daß diese Sage jeglicher Grundlage entbehrte. Die lange Autofahrt des darauffolgenden Tages führte sie von Bukarest in der Walachei nach Kronstadt in Siebenbürgen/Transsilvanien, vor dessen Toren das 1377 vom Woiwoden Ion dem Schrecklichen erbaute und 1462 kurze Zeit von Vlad IV. bewohnte Schloß Bran lag - kaum das »Schloß Dracula«, das Malcolms Urgroßvater 1889 aufgesucht, in dem van
Helsing die drei weiblichen Vampire vernichtet und in dessen Schatten Jonathan Harker später im selben Jahr und zusammen mit Quincey Morris das Ungeheuer durchbohrt hatte. Nichts von alldem setzte Malcolm in Erstaunen, denn seine eigenen Recherchen hatten ihn zu einigen Schlußfolgerungen geführt, die auf dem sorgfältigen Vergleich der Tatsachen und auf ebenso scharfsinnigen Überlegungen beruhten. Es gab viele Überlieferungen, die auf den Tod von Vlad IV. Bezug nahmen. Darunter eine, derzufolge er 1476 bei Großwar-dein im Kampf gegen die Türken gefallen war. Malcolm wußte, daß Vlad zwar Woiwode der Walachei gewesen war, daß man seinen eigenen Urgroßvater vor einem Jahrhundert jedoch auf ein transsy Ivanisches Schloß beordert hatte. Groß wardein lag in Siebenbürgen, und aus dem Originalmanuskript von Sto-kers »Roman« ging hervor, daß Jonathan Harkers erster Tagebucheintrag genau diesen Ort nannte - und nicht das willkürliche Bistritz der gedruckten Version. Wenn Vlad IV. tatsächlich in der Schlacht von Großwardein gefallen war, so konnte dies erklären, warum er sich später in Siebenbürgen aus dem Grab erhoben hatte statt in seiner eigenen Provinz, der Walachei, was ja viel naheliegender gewesen wäre. War Großwardein die bei dem Schloß gelegene Stadt, so mußte sich die Ruine der mittelalterlichen Festung des Vampirs in deren Nähe finden lassen. Es wäre durchaus nichts Ungewöhnliches gewesen, hätte Vlad eine Residenz in der Provinz eines fürstlichen Vettern besessen, war doch der gesamte Adel des mittelalterlichen Rumänien miteinander verschwistert oder verschwägert. Nur hatte man Rumänien natürlich wie alle europäischen Staaten schon vor Jahren bis auf die archäologisch-historischen Knochen abgenagt, so daß eine Ruine bei Großwardein, die mit Vlad Dracula in Verbindung stand, sicher schon vom rumänischen Fremdenverkehrsamt ausgeschlachtet worden wäre. Doch dann fand Malcolm in einem archäologischen Führer den Vermerk, daß sich an der Landesgrenze, aber immer noch in Siebenbürgen und bei Großwardein, ein von der rumänischen Staatsregierung zwar ausgewiesenes, für Touristen
jedoch gesperrtes Bauwerk befand. Der genaue Wortlaut besagte mit jener unfreiwilligen Komik, die für die kommunistische Bürokratie so typisch ist, daß es sich um eine »unbefugte Ruine« handle. Und so waren Malcolm, Holly und Jerry nach einer Stippvisite im Kloster Snagov und auf Schloß Bran - nur um sicherzugehen, nur um ja jedes Steinchen umzudrehen in diese Kleinstadt nahe der ungarischen Grenze gefahren. Sie alle waren der festen Überzeugung, daß diese »unbefugte Ruine«, diese morsche, halb zerfallene, nicht von Touristen heimgesuchte und selbst westlichen Dracula-Fanatikern unbekannte Burg nichts anderes war als die letzte Ruhestätte von Vlad dem Pfähler -das Schloß, dessen baufällige Türme und verstümmelte Zinnen, die Jonathan Harker so plastisch, so beschwörend geschildert hatte, bis zu diesem Moment über dem rumänischen Dörfchen aufragten. Das Schloß, das Holly Larsen nun vom Fenster des Hotelzimmers aus mit gänzlich unverhohlener und klar zu Tage tretender Furcht anstarrte. »Du mußt doch lediglich seine Überreste zusammenscharren, stimmt's?« fragte sie. »Du brauchst mich doch nicht zu deiner Hilfe, oder?« »Hmmm?« erwiderte Malcolm. »Ich kann einfach nicht mit dir dorthin«, murmelte sie. »Ich könnte es nicht aushalten, wenn noch etwas Schreckliches geschähe.« Malcolm, der mitten in Jerrys Standpauke seine Lektüre fortgesetzt hatte, blickte zu ihr auf. »Was hast du gesagt, Holly?« Sie wandte sich wieder zu ihm um. »Ich kann einfach nicht mit dir dort rauf, in diese Burg. Tut mir leid, Mal, aber ich kann das nicht. Ich werde, glaub ich, nie vergessen, was ich in Hamp-stead gesehen habe, und ich könnte es wirklich nicht ertragen, wenn wieder so etwas geschähe.« Malcolm nickte. »Bitte. Ich finde sowieso, es sollte keiner von euch beiden mit raufgehen. Falls die Überreste des Grafen wirklich mit der Macht meines ... des Blutes in Verbindung stehen, kann ich, auch was mich betrifft, für nichts garantieren.«
Holly erbleichte. »Was soll das heißen?!« Er lächelte sie an, erhob sich von seinem Platz und ging hinüber, um sie in die Arme zu nehmen. »Das soll gar nichts heißen, gar nichts, wirklich. Aber vielleicht ist es nicht ganz ungefährlich, weiter nichts, und dem möchte ich euch nicht aussetzen. Es reicht, daß ihr mit mir in dieses Dorf gekommen seid. Ich habe euch ja gesagt, ihr solltet in Bukarest auf mich warten.« »Ich weiß«, nickte sie. »Aber ich konnte dich nicht allein losziehen lassen.« »Hey, vielen Dank!« brummte Jerry. »Bin ich vielleicht nur ein Koffer?« »Du weißt, wie ich das meine, Jerry«, erwiderte sie freundlich. »Ich mache mir um euch beide Sorgen.« Sie sah wieder Malcolm an. »Aber ich kann nicht zu diesem Schloß gehen. Dazu hab ich viel zuviel Angst.« »Ich verstehe vollkommen«, antwortete Malcolm. »Mir ist ja selbst ziemlich unwohl dabei! Aber ich muß dorthin, ihr beide nicht ...« »Augenblick, Mann!« sagte Jerry. »Ich komme mit. Bei dieser Sache steht für mich selber zuviel auf dem Spiel, um alles dir zu überlassen.« Malcolm schüttelte den Kopf. »Jerry, ich möchte nicht, daß Holly hier mutterseelenallein zurückbleibt.« »Wir sind in einem Hotel, Menschenskinder, nicht in einer Bar in der South Bronx! Hier wird ihr schon nichts passieren!« »Jerry, wir sind hier in der tiefsten Provinz. Ich werde mich auf das, was ich tue, viel leichter konzentrieren können, wenn ich mir nicht wegen Holly Gedanken machen muß.« »Worum denn Gedanken, zum Teufel?!« brüllte Jerry. »Du und ich, wir sind es doch, die in der Tinte sitzen. Aber nicht sie!« »Pscht!« entgegnete Holly. »Hört auf zu schreien! Am Ende werden noch die Leute sauer, die diesen Laden führen.« »Laß sie doch sauer werden!« schrie Jerry noch lauter. »Was wollen sie denn tun ? Mich verhaften ?!« »Wir sind in einem kommunistischen Land«, sagte Malcolm. »Sie
können tun, was sie wollen.« Er ging an die billige alte Kommode hinüber und schenkte sich ein Glas von dem dicken, sirupähnlichen Weißwein ein, den der Geschäftsführer des Intourist-Hotels ihnen als kleine Aufmerksamkeit heraufgeschickt hatte. Er reichte es Jerry. »Schau, Jer, ich möchte nicht so tun, als wäre dir nichts passiert. Ich weiß, daß das hier schrecklich ist, aber bitte sieh die Dinge in den richtigen Relationen.« »Den richtigen Relationen! Da beißt mich so ein bescheuerter hundert Jahre alter Vampir und du willst, daß ich die Dinge in den richtigen Relationen sehe?!« »Ja«, erwiderte Malcolm bestimmt. »Du hast das Buch gelesen. Du bist gebissen worden ...« »Als ein gottverdammter Zapfhahn mißbraucht!« » ... aber sie hat dich nicht gezwungen, ihr Blut zu trinken. Solange dir weiter nichts passiert, ist alles in Ordnung. Du bist weder infiziert noch sonstwie in Gefahr. Es ist so, als wärst du von einem Tier gebissen worden, weiter nichts. Wir haben dir doch in London ein paar Antibiotika besorgt. Es wird dir wirklich nichts fehlen.« »Du hast leicht reden«, murrte er. »Malcolm hat recht, Jerry«, sagte Holly. »Und ich könnte auch mühelos darauf verzichten, hier mutterseelenallein zu warten, bis ihr beiden zurückkommt.« Jerry sah abwechselnd von Holly zu Malcolm. Dann brummte er: »Also gut, von mir aus!« und nahm mürrisch in dem Lesesessel am Fenster Platz, wo er finster auf die zugezogenen Vorhänge starrte. Malcolm wandte sich wieder dem Buch zu und begann neuerlich, daraus vorzulesen: Es erwies sich als nützlich, daß ich den Schmiedehammer von Veresti im Wagen mitgenommen hatte, und ob-schon die Tore offenstanden, zertrümmerte ich deren rostige Angeln, um nicht durch bösen Zufall oder böse Absicht eingeschlossen zu werden ... »Ich kann diesen Mist einfach nicht mehr hören«, sagte Jerry erneut und sprang auf die Beine. »Ich gehe jetzt runter an die Bar. Ich will einen trinken. Oder zwei oder zehn oder
zwanzig. « Vollkommen aufgebracht stürzte er aus dem Zimmer. »Warum gehst du nicht mit, Holly?« schlug Malcolm vor. »Ich glaube, ich habe jetzt bei Stoker genug Informationen gefunden. Nun geh ich dort oben rauf.« »Weißt du denn, wo du nachschauen mußt?« fragte sie. »Ich denke schon.« Er öffnete seinen Koffer und entnahm ihm die Schmuckschatulle aus Falschgold, die er sich in London zugelegt hatte. »Sowohl van Helsing als auch mein Großvater sagen, daß sich die Gräber, daß sich die Särge in der Kapelle befinden. Die meisten Burgkapellen wurden an der Süd- oder der Ostmauer gebaut. Das war von Land zu Land verschieden. Hier in Rumänien müßte sie Richtung Süden liegen.« »Warum Richtung Süden?« fragte Holly, während sie ihre Handtasche und ihre Reiseschecks zusammensuchte, um Jerry nach unten an die Bar zu folgen. »Mittelalterliche Kapellen wurden in dem Teil des Schlosses angelegt, der Jerusalem am nächsten war«, erläuterte er. »In Spanien oder Italien wäre das die Ostseite, hier in Rumänien die nach Süden.« Er vergewisserte sich zum hundertsten Male, daß das Innere der Schmuckschatulle keinerlei Ritzen oder Löcher aufwies, und überprüfte dann, ebenfalls zum hundertsten Male, das daran befestigte Schloß. Er hatte sich das Kästchen zugelegt, um den Staub des jahrhundertealten Unholds so lange zu verwahren und zu transportieren, bis er ihn in den Hudson kippen, ihn verscharren oder ihn sonstwie, jedenfalls aber weit weg von Rumänien, beseitigen konnte. »Genau deshalb bin ich mir auch ziemlich sicher, daß es keines der inneren Gemächer sein wird. Ich brauche lediglich die Südmauer zu finden und ihr zu folgen, bis ich auf die Kapelle stoße.« »Würden denn die Kreuze in einer Kapelle ... ich meine, wahrscheinlich würden sie ihre Särge doch anderswo verstekken, nicht wahr?« Grinsend öffnete Malcolm die Tür. »Du denkst in unseren Begriffen. Hier geht es nicht um ein amerikanisches Begräbnis.«
»Was soll das heißen?« Sie traten auf den Flur hinaus und begannen, die Treppe, die ins Foyer und zur Bar führte, hinunterzusteigen. »Mittelalterliche Adlige wurden in Steinsarkophagen beigesetzt, nicht in Holzkisten. Man dürfte ihn in der Kapelle beerdigt haben, und dort dürfte er auch geblieben sein.« »Aber die Kreuze ...« Er zuckte die Achseln. »Zweifellos vor Jahrhunderten entfernt. « »Aber von wem?« fragte sie. »Das konnte er doch wohl schlecht selber tun!« »Na ja«, antwortete Malcolm nachdenklich, »dem Buch zufolge haben Vampire oft Diener oder Sklaven - Menschen, die für sie arbeiten, solange es draußen hell ist. Menschen, die infiziert und dadurch unter Kontrolle gebracht wurden, die selbst aber immer noch am Leben sind - das sind dann keine wandelnden Leichname, keine Vampire.« Sie nickte. »So wie Renfield.« »Ja. Oder meine Urgroßmutter. Denk daran, was im Buch über sie steht. Bis zur Ermordung des Grafen stellte sie für ihren Gatten und die anderen gelegentlich eine Gefahr dar.« Sie gelangten ins Foyer, wandten sich dann nach rechts und betraten die Hotelbar, einen selbst um die Mittagszeit ziemlich düsteren Raum, auf dessen dunklen, polierten Edelholzflächen sich der Schein malerischer Lampen spiegelte. Jerry Herman saß über einem Glas Wodka an der Theke und starrte finster vor sich hin. »Ich gehe jetzt, Jer«, verkündete Malcolm. Mit noch immer verängstigter, wütender Miene sah Jerry zu ihm hinüber. »Gut. Bau keinen Mist.« Gleich darauf wandte er sich wieder ab. Malcolm wartete ein paar Sekunden - wartete, daß Jerry noch etwas sagen würde, aber auch ihm selbst fehlten die richtigen Worte. Dann wandte er sich zum Gehen. »Malcolm«, sagte Jerry, ohne ihn anzusehen. Der andere blieb auf der Schwelle stehen. »Was ist?« »Sei vorsichtig.« Malcolm lächelte. Die mürrische Besorgnis seines Freundes freute ihn. »Danke. Das werd ich. Wahrscheinlich
besteht ohnehin keine Gefahr - glaub ich jedenfalls.« Dann setzte er seinen Weg nach draußen fort. Holly nahm neben Jerry Platz, grinste und versuchte, möglichst fröhlich und beiläufig zu klingen: »Hiya, Seemann. Gibst du mir einen aus?« Jerry lachte freudlos. »Niedlich, Holly. Echt niedlich.« Obwohl die Schloßruine vom Ort aus deutlich zu sehen war, brauchte Malcolm mit dem Auto fast eine Stunde, um dorthin zu gelangen. Die kommunistische Regierung Rumäniens hatte zwar viele Reformen durchgeführt, seit man dem korrupten und unfähigen König Michael in den Jahren nach dem Zweiten Weltkrieg die Macht abgerungen hatte, jedoch auch ebensovie-le Verbrechen begangen. Bei der Aufgabe des Straßenbaus beschränkte man sich hauptsächlich auf eine Verknüpfung der Ballungszentren, ließ aber Gebiete wie das, durch welches Malcolm gerade unterwegs war und die ein paar anständige Straßen bitter nötig hatten, außer acht. So mußte er seinen osteuropäischen Leihwagen auf der Fahrt zu jener »unbefugten Ruine« unversehens über denselben holperigen Feldweg manövrieren, auf dem vor hundert Jahren schon sein Urgroßvater durchgerüttelt worden war. Die Kupplung des sowjetischen Autos kreischte und knirschte bei dieser Berg-und-TalFahrt. Malcolm hatte damit gerechnet, den Eingang der Ruine versperrt, ja vielleicht sogar verbarrikadiert zu finden. Womit er nicht gerechnet hatte, war ein gelangweilter, mürrischer Wächter, der keine fünfhundert Meter vom Haupttor entfernt auf einem Stuhl saß, Zeitung las und dabei so laut gähnte, daß Malcolm es selbst durch den Motorenlärm hören konnte. Was, zum Teufel, gab es denn hier schon zu bewachen? fragte er sich. Das ist doch kein Museum mit kostbaren Ausstellungsstücken. Die Ruine enthält nichts, was irgend jemand stehlen wollte, und wenn doch, dann war ganz bestimmt schon vor Jahren alles zusammengeklaut worden! Wozu also ein Wächter? Er hatte sich die Frage noch kaum gestellt, da beantwortete er sie sich auch schon. Ein Land von der ökonomischen Lage Rumäniens hätte bei freier Marktwirtschaft ein schwerwiegendes Arbeitslosenproblem gehabt. So etwas
läßt eine kommunistische Regierung allerdings nicht zu. Da wird für jeden eine Aufgabe gefunden, mag sie auch noch so überflüssig sein. Während Malcolm auf den gelangweilten, nicht mehr ganz jungen Mann zufuhr, wurde ihm klar, daß er hier ein kleines Beispiel für jene Art von Untüchtigkeit vor Augen hatte, die in diesem Teil der Welt dazuzugehören schien. Er ließ den Motor laufen, stieg aus und trat lächelnd und winkend auf den Wachmann zu. »Buna ziua«, rief er. Guten Tag. »Buna seara«, erwiderte der andere mit einer winzigen Spur von Mißtrauen. Er hatte »Guten Abend« gesagt, obwohl es erst Nachmittag war. »Vorbitsi engleza?« fragte Malcolm. Sprechen Sie Englisch? Er hegte die stille Hoffnung, sein Rumänisch vielleicht doch nicht hervorkramen zu müssen, um Eintritt in die abgeschlossene Ruine zu erhalten. Der Wächter schüttelte den Kopf und antwortete ohne ein Lächeln: »Nu.« Nein. Verdammt, dachte Malcolm, und sagte dann: »Scuzatima, nu vorbesc romaneshte bune.« Tut mir leid, ich spreche nicht gut Rumänisch. Er deutete auf die Ruine und fragte: »Cum se numeshte acest loc?« Wie heißt dieser Ort? Der Wächter sah das Schloß weniger an, als daß er Malcolms Armbewegung folgte — auch das nur kurz -, und antwortete dann: »Castelul pokol.« Malcolm lief ein Schauer über den Rücken. Der Wächter hatte ihm gesagt, daß diese Ruine »Teufelsburg« genannt wurde. »Castelul pokol«, wiederholte Malcolm, als hätte der Name seine Neugier geweckt. Er nickte nachdenklich und sagte dann: »Va rog, ash vrea intrare. Cit costa?« Ich würde gerne hineingehen, bitte. Was kostet der Eintritt? Der Wächter schüttelte den Kopf und sprach so schnell, daß Malcolm ihm unmöglich folgen konnte. »Vorbitrar, vorbitrar, va rog!« sagte Malcolm hastig. Er bat den Wächter, langsamer zu sprechen. Der andere stieß einen schweren Seufzer aus und erwiderte bedächtig, wenn auch mit sichtlicher Verdrossen-
heit: »Intrarea oprita, inteleg? Inchis, inchis!« Eintritt verboten, Sie verstehen ? Geschlossen, geschlossen! Malcolm stellte sich dumm und beschloß, es zu riskieren — er bot dem Wächter Geld an. Natürlich, es handelte sich um einen Bestechungsversuch, aber er konnte ja so tun, als wolle er Eintritt bezahlen. Auf diese Weise blieb auch die Würde des anderen gewahrt. Schließlich bestand doch immerhin die Möglichkeit, daß der unwissende Ausländer den Wächter bestach, ohne sich darüber selbst im klaren zu sein. Malcolm hatte oft gelesen, daß sich in Osteuropa nirgends etwas ohne Trinkgeld machen ließ, und er hoffte, richtig gehört zu haben. Darum zog er ein Bündel amerikanischer Zwanzig-Dollar-Noten aus der Tasche und fragte unschuldig: »Pot plati cu acest?« Wieviel zahlt man für den Eintritt? Beim Anblick der grünen Scheine weiteten sich die Augen des Wächters merklich, und er schenkte Malcolm ein jäh aufblitzendes, durchtriebenes Lächeln. »Da, da, buna, buna!« Er streckte die Hand aus, und Malcolm legte zuerst einen, dann einen zweiten und, da er sah, daß der Wächter seine Hand noch immer nicht zurückgezogen hatte, einen dritten Zwanzig-Dollar-Schein darauf. Der andere stopfte sich das Geld in die Tasche und sagte, immer noch lächelnd: »Intratsi, va rog.« Bitte, gehen Sie hinein. Vor sich hin grinsend, wandte er seine Aufmerksamkeit darauf wieder der Zeitung zu. Er schwelgte zweifellos in seinem unverhofften Glück und überschlug im Geiste, wie viele rumänische Lei er bei dem derzeitigen Schwarzmarktkurs für sechzig amerikanische Dollar bekommen würde. Während er selbst wieder in den Wagen stieg, sagte Malcolm »Multumesc«, vielen Dank, und begann, zum Burgtor hinaufzufahren. Hinter einer Kurve, die der schmale Feldweg machte, entschwand er den Blicken des Wächters - ein Umstand, den er mit Erleichterung aufnahm, denn er hegte nicht den Wunsch, beim Betreten oder Verlassen der Ruine mit dem Schmuckkästchen gesehen zu werden. Dann stellte er den Wagen unweit des erstaunlich kleinen Tores ab und trat, die Schatulle unter dem Arm, auf den Eingang zu.
Die Schloßruine schien einen rechteckigen Grundriß zu haben, wobei die Stirnseite und die Wand, die Malcolm sehen konnte, wohl annähernd eine Viertelmeile lang waren. Wie bei mittelalterlichen Festungen im allgemeinen üblich, war jede Ecke des ringsum laufenden Schildwalls von einem Turm gekrönt, wobei die beiden vorderen offensichtlich schon seit Jahrhunderten dem Verfall preisgegeben waren. Malcolm trat näher an das alte, graue Gemäuer heran und nickte mit einem grimmigen Lächeln, als er das Eisengitter teilweise verschüttet vor dem Tor liegen sah. Natürlich, dachte er. Es hängt nicht mehr in den Angeln. Van Helsing hat sie anno 1889 ja zertrümmert, um nach Sonnenuntergang bloß nicht im Schloß eingesperrt zu werden, und Wind und Wetter des dazwischenliegenden Jahrhunderts hatten das Gatter leicht in die Erde einsinken lassen. Malcolm durchschritt das Tor und trat in die Mitte des kalten, grauen Burghofs. Zwischen den schweren Steinen, die das Pflaster bildeten, hatten sich Grasbüschel ans Licht gedrängt, und aus dem dicken Weinlaub, welches an den zerbröckelten, vom Zahn der Zeit benagten Mauern herabhing, flogen Vögel hin und her. Aber dennoch atmete der gesamte Bau etwas Düsteres und Erhabenes. Langsam schritt Malcolm auf das weitläufige Hauptgebäude am anderen Ende des Hofes zu. Dabei lauschte er dem schwachen Echo seiner Schritte auf den Steinen. Er fühlte sich nervös, ängstlich, aber doch auch grimmig entschlossen und ein klein wenig einsam. Das hier war ein totes Bauwerk, kein für die Lebenden bestimmter Ort. Er wußte, daß die Burg seit dem Zeitpunkt von Vlads Tod im fünfzehnten Jahrhundert bis vor fast genau hundert Jahren durchgehend bewohnt gewesen war, aber nicht von Lebenden. Nicht von Lebenden. »Kein Grund zur Nervosität«, murmelte er laut. Ich bin kein van Helsing, der allein in dieses Schloß gegangen ist, obwohl er wußte, was darin schlief, wußte, daß drei untote Frauen in ihren Särgen lagen und auf den Sonnenuntergang warteten, wußte, daß Graf Dracula auf seinem Rückweg von England irgendwo in der Nähe war. Staub, einfach Staub. Nur darum bin ich hier,
nur wegen der Überreste des Scheusals. Keine Gefahr. Keine Gefahr. Er betrat das Gebäude und fand sich unversehens in der Halle. Der gewaltige Saal war vollkommen leer, frei von jeglichem Zierat, jeglichem Mobiliar. Wahrscheinlich hatte die hiesige Bevölkerung das Schloß schon vor weiß Gott wie vielen Jahren ausgeplündert. Malcolm sah sich um, entdeckte eine Pforte auf der Südseite des Raumes und ging zielstrebig darauf zu, da die Kapelle, wenn auch nicht unmittelbar, so doch irgendwo in dieser Richtung liegen mußte. Auf dem Weg durch die dunklen, verstaubten Gänge warf er einen Blick auf seine Armbanduhr. Zwei. »Mich nachts hier aufzuhalten, wäre für mich ein Horror«, murmelte er. Im Grunde genommen habe ich keine Veranlassung zur Furcht, aber schon jetzt, wo die Sonne durch die zerbrochenen Fenster und die Risse in den Mauern hereinfällt, wird mir ganz mulmig. Nachts wäre es hier drinnen schauderhaft! Erst nachdem er eine geschlagene halbe Stunde durch die hohen Korridore und Gemächer gewandert war, stieß er auf eine lange, ungleichmäßige Steintreppe. Es war wie vermutet: Die Kapelle befand sich an der Südseite des Schlosses, aber in einem unterirdischen Gewölbe. Er stieg die Treppe hinunter und befand sich plötzlich mitten in der Kapelle. Genau, wie van Helsing es beschrieben hatte. Die weitläufige unterirdische Räumlichkeit hatte offensichtlich eine doppelte Funktion erfüllt - als Gotteshaus und als Totengruft. Im Gegensatz zu westeuropäischen Schloßkapellen, die nur eine begrenzte Anzahl von Särgen enthielten, gab es sie hier unten dutzendweise - Dutzende von steinernen Sarkophagen, manche klein und schmucklos, manche prachtvoll und reich verziert. Er bemerkte, daß bei einigen von ihnen der Deckel ganz leicht geöffnet war, und ging relativ gedankenlos zu einem jener Särge hinüber, um ihn aufzustoßen. Im Inneren des Sarkophags lag ein Skelett, aus dessen Brustkorb ein Pfahl ragte. Das immer noch vorhandene lange schwarze Haar und die morschen gelben Tuchfetzen verrieten Malcolm, daß es sich um eine
Frau gehandelt hatte. »Eines seiner Weiber«, murmelte er. Eine der drei, die meinen Urgroßvater angefallen haben. Eine von denen, die von van Helsing unschädlich gemacht wurden. Er streckte eine Hand aus, streichelte liebevoll das Ende des Pfahles und lächelte. »Sie waren ein tapferer Mann, Herr Professor«, sagte er laut. Er schritt die Kapelle ringsum ab und las laut die lateinischen Titel, die tief in die Sockel der Sarkophage eingemeißelt waren: »Basarab der Grimmige«, »Mircea der Alte«, »Nicolai der Unerbittliche«. Generation um Generation von Herrschern, von Fürsten und Woiwoden, von deren Weibern und Kindern. Ihre Namen und sogar ihre Beinamen waren in kaltem, hartem Stein verewigt. Der Grimmige, der Alte, der Unerbittliche. Aber wo war der Pfähler? Malcolm drehte sich um und sah zu einer Nische in der Rückwand der Krypta. Während er sich in Richtung der Nische bewegte, ging ihm van Helsings Bericht durch den Kopf. »Ein Grabmal jedoch wirkte herrschaftlicher als die anderen«, hatte er geschrieben. »Es war sehr groß, prachtvoll angelegt und trug nur ein Wort - DRACULA.« Das Grab war immer noch da, war immer noch groß, immer noch fürstlich. Und noch immer stand dieser eine Name tief in den Stein gemeißelt. Ohne sich seiner Furcht und seines Leides in diesem Augenblick grausigen Erstaunens noch recht bewußt zu sein, trat Malcolm auf den Sarg zu und streckte seine Hand nach den Lettern aus. »Graf Dracula«, murmelte er. Hier also haben sie ihn beigesetzt, vor fünfhundert Jahren. Vlad Tepes, Vlad den Pfähler. Das ist sein Grab. Das ist die Gruft, in der seine Gebeine zur letzten Ruhe gebettet wurden, nachdem die Türken ihn ermordet hatten. Das ist die scheußliche Heimstatt, aus der er auferstand, um in den Dörfern und Wäldern der Karpaten Not und Elend zu verbreiten. Er stellte das Schmuckkästchen auf den Steinboden und legte seine Hände auf den Sargdeckel. Mit weniger Mühe, als Malcolm angenommen hatte, ließ sich der Sarkophag öffnen. Er war zwar aus Stein, dieser aber war dünn, wes-
wegen das Öffnen leicht vonstatten ging, als Malcolm sich dagegen-stemmte. Der Deckel quietschte und knarrte in seinen rostigen Angeln, als er zur Seite bewegt wurde, aber egal, wieviel Rost auch an den Scharnieren war, der Deckel ließ sich leicht nach oben öffnen. Malcolm blickte in den Sarg und lächelte. Lucy Westenra hat recht gehabt, dachte er. Die Zigeuner müssen nach dem Verschwinden meiner Vorfahren und deren Freunde seine Überbleibsel zusammengescharrt, die Staubteilchen und Knochensplitter sorgfältig aufgelesen und sie zur Beisetzung wieder hierher zurückgebracht haben. Höchstwahrscheinlich entfernten sie die geweihte Hostie, die van Helsing dagelassen hatte, um den Grafen in Schach zu halten, und taten die Überbleibsel dann in diesen Sarg. Ein flacher Staub- und Knochenkegel lag in dessen Mitte, und aus seiner Gestalt ging eindeutig hervor, daß er nicht mit dem Luftstrom hereingesickert, sondern vielmehr dort aufgehäuft worden war. Weiße und gelbe Splitter - Knochen und Zähne - standen daraus hervor. Indem er sich mit einer Hand die Nase zuhielt, um seinen Atem nicht auf den Staub zu lenken und ihn dadurch zu zerstreuen, nahm Malcolm das Häufchen sorgfältiger in Augenschein. Auf der einen, der langen Seite des Kegels lag ein übergroßer Hundezahn. Er griff danach, zog ihn vorsichtig aus dem Staub und hielt ihn dann zur näheren Begutachtung in der Hand. Vor einhundert Jahren, ging es ihm durch den Kopf, hat sich dieser Zahn hier in die Kehle meiner Urgroßmutter geschlagen. Er öffnete das Schmuckkästchen und stellte es in den Sarg, neben das Aschehäufchen. Dann griff er ganz behutsam mit beiden Händen in das Innere der Truhe, schaufelte etwas Staub und Knochen heraus und füllte sie in die Schatulle. Er wollte seine Bewegung gerade wiederholen, da fühlten seine Hände sich mit einemmal merkwürdig an, ein wenig taub. Er machte sie auf und zu, rieb sie aneinander, aber die Taubheit blieb, ja, wurde sogar stärker. Durch beide Arme breitete sie sich aus und lief auf seine Brust zu. Malcolm begann Stimmen zu hören - ganz leise und gedämpft zuerst, doch immer vernehmlicher, je weiter die
Taubheit sich in seinem Körper ausbreitete. Er fiel von dem Sarg nach hinten und stürzte auf den Boden der Krypta, als seine nunmehr gummiweichen Beine unter ihm zusammenklappten. Erfaßt von wilder Bestürzung, versuchte er, sich zum Ruhigbleiben zu zwingen, vernünftig zu bleiben, zu analysieren, was da mit ihm vorging. Und im Nu hatte er verstanden: Das Blut in seinen Adern und der Staub im Sarg nahmen Verbindung auf, riefen einander zu. Während die Taubheit sich in seinem Körper weiter ausbreitete, schleppte er sich auf allen vieren weg von dem Sarkophag, möglichst weit fort von Draculas Überresten. Doch schließlich konnte sein Körper sich nicht mehr bewegen, und Malcolm spürte, wie er in einen Zustand der Halbbewußtheit hinüberglitt. Er kämpfte dagegen an, bemühte sich, wach zu bleiben, bemühte sich, alle fünf Sinne beisammenzuhalten. Aus den Tiefen seines Wesens begannen Worte und Stimmen, Bilder und Visionen an die Oberfläche zu treiben, und er spürte, wie er allmählich mit den Augen eines anderen sah, mit den Ohren eines anderen hörte, mit der Zunge eines anderen sprach. Es war das Blut, das sich, von der Nähe des Staubes stimuliert, daran erinnerte, was es war, wem es gehörte ... das traumartige Erinnerungen aus den verflossenen Jahrhunderten wiederauferstehen ließ. Malcolm erschauerte. Ihm war, als fiele er Hals über Kopf in einen bodenlosen Schacht, als stürze er unaufhaltsam in die Vergangenheit. Kapitel 11 Zuerst waren da nur Nebel und ein Gefühl der Leere, so, als ginge er von einer Daseinsform in eine andere über. Dann lichtete sich der Nebel und gestattete ihm zu sehen. Malcolm war zumute, als stünde er neben sich selbst. Er beobachtete sich, hörte sich zu, und wußte, daß er in Wahrheit nicht mehr Malcolm Harker war, sondern ein Unbekannter. Aber dennoch blieb der andere kleine Teil seiner Wahrnehmung, sein wahres Ich, isoliert - ein faszinierter, furchtsamer Beobachter. Er begann, mit dem Körper eines
anderen zu fühlen und mit dem Geist eines anderen zu denken. Die Realitäten der fremden, sonderbaren Welt und die Situation, in die das Erwachen seines Blutes ihn gestürzt hatte, erkannte er durch den Geist der darin begrabenen Erinnerungen. Er sah auf seine Hände hinunter, stellte fest, daß sie erstaunlich klein waren, und merkte plötzlich, daß er ein Kind, ein kleiner Junge war. Er betrachtete die üppigen Draperien und die glänzenden Marmorböden ringsum, die Rundbogenfenster und das hohe Deckengewölbe. Der zarte, köstliche Duft der Blumen im Garten draußen wehte durch die orientalischen Fenster ins Zimmer. Er sah nach links und erblickte einen anderen, jüngeren Knaben, der sich eine Träne aus dem Auge wischte und mit unverhohlener Furcht die beiden Männer anstarrte, die vor ihm standen. Während die Erinnerungen nach und nach feste Gestalt annahmen, begriff er vollends. Er wußte, daß man das Jahr 1440 schrieb. Er wußte, daß der Knabe, dessen Hand er hielt, sein kleiner, fünfjähriger Bruder Radu war, wußte, daß der dicke Mann mit den Seidengewändern, dem falschen Lächeln und der glänzenden, ölverschmierten Haut der von Allah Geliebte war, Murad der Zweite, Gebieter der osmanischen Türken, der Sultan, er wußte, daß die christlichen Fürsten des Balkans bei der Erwähnung von dessen Namen erzitterten, wußte, daß der andere Mann, der schlanke, hochgewachsene mit dem unbekümmerten Lächeln und den blitzenden Augen, sein Vater war, Vlad der Zweite, Woiwode der Walachei, von seinen bewundernden Untertanen oftmals auch Dracul genannt - der Drache. Und er wußte, daß er selbst neun Jahre alt, daß er der Zweitgeborene seines Vaters war und daß er sich in der Stadt Smyrna unweit der ägäischen Küste befand. Eigentliche war sein älterer Bruder Mircea der Erbe Vlads des Zweiten, doch ihm, seinem Zweitgeborenen, hatte der Woiwode seinen Titel vermacht. Die Bewohner der Walachei und die Mitglieder des Sultanshofes nannten den Jungen bereits Vlad Dracula - Vlad, der Kleine Drache.
Der Alte ging vor seinen beiden Söhnen auf die Knie und sagte sanft: »Vlad und Radu, ich möchte, daß ich stolz auf euch sein kann. Mircea und ich kehren nach Bukarest zurück, doch hat unser Erlauchter Freund uns großzügig gestattet, daß ihr hierbleiben und uns vertreten dürft.« Der Woiwode lächelte. »Es ist eine große Ehre und eine große Verantwortung, meine Söhne. Solange ihr nämlich in Smyrna seid, werdet ihr meine Stelle einnehmen und die Repräsentanten unseres Fürstentums sein. Ihr müßt euch anständig betragen und gute Gäste sein.« Radu nickte gehorsam. »Ja, Vater.« Auch Vlad nickte und sagte dabei: »Wir werden artig sein, Vater. Und ich verlasse mich darauf, daß Ihr Eure Pflichten treulich erfüllen werdet.« Er sprach wissend, ohne den leisesten Anflug von Hochmut oder Mangel an Ehrerbietung. Insgeheim schwoll dem Woiwoden das Herz vor Stolz auf den Scharfsinn seines zweitgeborenen Sohnes. Im Gegensatz zu Radu wußte Vlad, daß sie beide nicht Gäste, sondern Geiseln waren. Im Jahre 1440 änderte sich die Situation der Balkanstaaten unentwegt. Die primitive Walachei war erst seit knapp fünfzig Jahren kein Vasallenstaat des Königreichs Ungarn mehr, sondern eine tributpflichtige osmanische Kronkolonie. Das Fürstentum Moldau im Norden hatte sich einer kurzfristigen Unabhängigkeit von Ungarn erfreut, war dann unter litauische Herrschaft gefallen und nun, genau wie die Walachei, eng mit dem Türkenreich liiert. Nur Siebenbürgen befand sich von allen rumänischen Fürstentümern noch fest in ungarischer Hand - eine Tatsache, die besonders dazu beitrug, daß es unter der Oberfläche gärte, weil Vlad Dracula 1431 in dem transsilva-nischen Städtchen Schäßburg zur Welt gekommen war, demselben Ort, in dem auch sein Vater, Vlad Dracul, vor drei Jahrzehnten das Licht der Welt erblickt hatte. Doch weder der Woiwode Vlad II. noch seine drei Söhne konnten sich lange mit Geheul und Gejammer über die Fremdherrschaft in ihrem Geburtsort aufhalten. Die Karpatenfürsten folgten aufgehenden Ster-
nen, nicht untergehenden. Es war offensichtlich, daß die osmanischen Türken zumindest über den Balkan, wenn nicht über ganz Europa gebieten würden, und so war Vlad II. Budapest abtrünnig geworden und hatte sich auf die Seite der Osmanen geschlagen. Zu Anfang hatten sich die Türken damit begnügt, ihrem neuen Vasallen viel Freiraum zu lassen. Bis 1437. In diesem Jahre nämlich war Sultan Murad II. bei der versuchten Eroberung Ungarns vom magyarischen Patrioten Johann Hunyadi geschlagen worden. Bis 1440, als die Throne Ungarns und Polens in der Person König Wladislaws I. von Ungarn und König Wladislaws VI. von Polen vereinigt wurden. Nun erschien das Schicksal des osmanischen Herrscherhauses mehr als ungewiß. Murad hielt es unter diesen Umständen für ratsam, die Kinder seines Vasallen in seiner Nähe zu behalten - als Bürgschaft für die fortbestehende Treue ihres Vaters. Der kleine Radu begriff diese Zusammenhänge noch nicht, wohl aber der kleine Vlad Dracula. Und Woiwode Vlad II. war über die Intelligenz seines Sohnes stolz und angetan. »Mircea oder ich kommen nächsten Frühling nach Smyrna zurück, um euch zu besuchen«, sagte der Woiwode. »Bis dahin seid artige Jungen und gehorcht unserem erhabenen Freunde.« »Ja, Vater«, antwortete Vlad ruhig. »Oh, bitte komm du, Vater«, wimmerte Radu, »nicht Mircea! Ich hasse ihn! Er beschimpft mich und ...« Vlad gab Radu so unauffällig wie möglich einen Knuff in die Seite. »Wir werden auf Eure Rückkehr warten, Vater«, sagte er mit ruhiger, beherrschter Stimme. »Bitte bestellt unserem Heben Bruder, daß wir euch beider in unseren Gebeten gedenken werden.« »Gut, mein Junge, gut«, erwiderte der Woiwode, indem er sich von den Knien erhob, und dann schien die Umgebung mit dem wogenden Nebel zu zerfließen. Malcolm erkannte, daß nur bestimmte Erinnerungen an die Oberfläche gespült wurden, so als träten zunächst und am stärksten jene Vorkommnisse und Begebenheiten zutage, die im Geiste des längstverstorbenen rumänischen Edelmanns die tiefsten Spuren hinterlassen hatten.
Einen flüchtigen Moment lang spürte Malcolm, wie seine aufgeschlagene Wange sich auf den kalten Steinfußboden der Schloßruine preßte, doch schon trug der Nebel ihn abermals mit sich fort, und er befand sich inmitten eines reichmöblierten Privatgemachs. In seiner zitternden Kinderhand hatte er ein weißes Kätzchen und hielt den Blick gesenkt, um dem fetten, öligen Sultan, der mit heimtückischem Lächeln vor ihm stand, nicht in die Augen sehen zu müssen. »Gefällt dir das Kätzchen, Kleiner Drache?« fragte Murad scheinheilig. »Ja, Erhabener«, murmelte Vlad. »Habt vielen Dank.« Der Sultan tat das Dankeschön des Jungen mit einem Achselzucken ab. »Für mich ist so etwas eine Kleinigkeit, mein Lieber. Ich habe viele Geschenke für dich, viele, viele schöne Geschenke.« Der Sultan streckte seine knubbeligen Finger aus und strich damit liebevoll über Vlads glattes, kurzgeschorenes schwarzes Haar. »Wir sind immer freundlich und großzügig gegen die, die freundlich und großzügig uns gegenüber sind, Kleiner Drache.« Vlad hielt seinen Blick gesenkt. »Ja, Erhabener«, wiederholte er. Hinter seinen zusammengekniffenen Lippen knirschte der kleine Junge mit den Zähnen und versuchte angestrengt, eine stoische Ruhe zu bewahren, während die fetten, mit Duftöl eingeriebenen Arme des türkischen Herrschers ihn umfingen und an die behaarte Ochsenbrust zogen. Und dann fiel der Nebelschleier abermals, so als wäre die eben aufgeweckte Erinnerung dem sprunghaften, doch noch immer lebendigen Geist des langverstorbenen Edelmanns so schmerzlich, daß er davor flüchtete. Als die Wolken sich wieder lichteten, befand er sich, erfüllt von Schmerz und Unbehagen, in den Gemächern, die man ihm und seinem kleinen Bruder zugewiesen hatte. Er saß auf einem dicken Kissen, und vor ihm stand Radu. Sein Gesicht war eine Studie von Furcht und Entsetzen. Vlad schmeckte etwas Salziges, und dann merkte er, daß ihm ein paar Tränen aus den geröteten Augen rollten und auf seine Lippen tropften.
»Lieber möchte ich sterben!« sagte Radu gerade. Seine Stimme war ein heiseres Flüstern. »Lieber würde ich mir mit eigener Hand das Leben nehmen, als zuzulassen, daß ... « »Das würdest du nicht«, zischte Vlad verächtlich und verlagerte sein Gewicht, um das Brennen, auf dem er saß, nach Möglichkeit zu lindern. »Du würdest tun, was du tun mußt, bis Vater uns von diesen Schweinefressern befreien kann.« »Nein.« Der kleine Radu schüttelte trotzig den Kopf. »Ich würde nie zulassen, daß der Sultan Hand an mich legt! Nie!« Vlad lachte grimmig. »Glaubst du etwa, er bäte dich um deine Erlaubnis, du kleiner Schwachkopf?« Und Radu setzte bereits zu einem neuerlichen Protest an, da brachte Vlad ihn mit einem schroffen »Ach, Radu, mach, daß du hier wegkommst« zum Schweigen. »Laß mich allein«, sagte er. »Laß mich in Frieden.« Radu schob wütend die Unterlippe vor, machte dann jählings auf dem Absatz kehrt und ließ seinen Bruder auf dem Kissen zurück. Vlad tat keinen Mucks, keinen Laut, aber in seinem Inneren kochte es vor Wut. In einem Boden, der durch Unsicherheit und Verlassenheit, durch den fast instinktiven Hochmut der edlen Geburt und die natürliche Furcht eines verschreckten Kindes - in einem Boden, der durch all dies schon fruchtbar gemacht worden war, hatte man Haß und Gewalttätigkeit ausgesät. Schweinefresser, dachte Vlad bitter. Du fetter, ekelhafter Schweinefresser. Eines Tages werde ich mich an dir rächen, du schmutziger Türke. Irgendwie. Schenke dir Gott bloß ein so langes Leben, daß ich alt genug werden kann, um ... um ...« »Um was, Kleiner Drache?« fragte eine sanfte, einschmeichelnde Stimme. »Sag, was würdest du Murad gerne antun?« Erschrocken über die unerwartete Einmischung sah Vlad sich im Zimmer um, ohne sich jedoch von dem weichen Kissen zu rühren. »Radu?« schimpfte er. »Bist du's?« Ein leises Lachen schien an seinen Ohren vorüberzuwehen. »Ich bin nicht Radu, Kleiner Drache.« »Wer bist du dann?« fragte Vlad verängstigt und wollte sich seine Furcht nicht anmerken lassen, doch sein erblei-
chendes Antlitz und seine zitternden Hände verrieten ihn. »Zeig dich mir, und zwar augenblicklich!« »Aber ich kann mich nicht zeigen, Kleiner Drache«, antwortete die Stimme. »Es tut mir leid, aber ich habe keinen Körper vorzuweisen.« Vlad lehnte sich auf seinem Kissen zurück und fuhr zusammen, als die kühle Seide sich an seinen wunden Hautstellen rieb. »Was ist das für ein Hokuspokus?« Er ließ seinen Blick aufmerksam durch das Innere des Privatgemachs wandern. »Soll das vielleicht ein Scherz sein? Tut euch Türken ein bißchen Kurzweil so bitter not, daß ihr auf solche törichten Spiele verfallt?« Die Stimme lachte abermals. »Ich bin kein Türke, Kleiner Drache. Ich bin kein Mensch, ich bin kein Mann.« Vlad unterdrückte ein Schmunzeln. Überzeugt, daß dies alles nur irgendein Streich der Schweinefresser war, entspannte er sich nun etwas. »Kein Mann! Eine Frauenstimme hast du aber auch nicht.« »Ich bin auch keine Frau«, antwortete die sanfte Stimme. »Ich bin lediglich dein Freund, Kleiner Drache.« »O gütiges Geschick«, lachte er. »Ich habe unsichtbare Freunde«, und fügte dann im Bemühen, seiner Stimme etwas Hochmütiges und Gebieterisches zu verleihen, mit plötzlichem Ernst hinzu: »Jetzt zeig dich mir! Augenblicklich! Ich bin nicht irgendein kleiner bulgarischer Schafhirte, der sich von euren Streichen beeindrucken läßt! Tritt vor - oder pack dich!« Die Stimme schien etwas von ihrer Freundlichkeit zu verlieren. »Ich werde dir Kamerad und Verbündeter sein, Kleiner Drache, aber nicht dein Knecht. Wenn du meine Freundschaft haben willst, steht es dir frei, sie zu nehmen. Doch verlange ich dafür deinen Dienst und deinen Gehorsam.« Müde und des Spiels allmählich überdrüssig, legte sich Vlad auf das Kissen zurück. »Was für ein eindrucksvoller Zauber, Türke! Wo steckst du? Hinter den Wandbehängen? Gibt es eine Geheimkammer hinter diesen Mauern?« Ein langes Schweigen trat ein, und dann sagte die Stimme: »Du
hast doch heute ein Geschenk von Murad erhalten, nicht wahr?« »Ja«, entgegnete Vlad bitter. »Ein Geschenk aus der Güte seines Herzens.« »Wo ist die Katze?« fragte die Stimme. Verärgert sah Vlad sich um und entdeckte das weiße Kätzchen auf Radus Matte neben dem großen Ostfenster. Es schlummerte friedlich. »Da«, antwortete er unwirsch. »Dort drüben.« »Sieh es dir jetzt gut an, Kleiner Drache«, sagte die Stimme. »Behalt es gut im Auge.« Trotz seiner Gereiztheit beobachtete Vlad das kleine Tier und merkte, daß es mit einemmal wach und von sichtlichem Mißbehagen erfüllt war. Es rieb sich mit seinen Vordertatzen das Gesicht, schlotterte, miaute kläglich, sprang voll Schmerz und Verwirrung auf und kam dann mit angstverzerrtem Gesichtchen zu Vlad herübergelaufen. Gerade in diesem Augenblick bemerkte Vlad, daß das Gesicht ja eigentlich gar nicht verzerrt war, sondern sich verwandelte, seine Form veränderte, zu einem ganz und gar nicht katzenhaften Antlitz zerfloß. In Sekundenschnelle starrte von dem zitternden Leib des Kätzchens ein winziger Sultanskopf zu ihm empor. »Nimm dies als Zeichen meiner Freundschaft, Kleiner Drache«, sagte die Stimme. »Ich habe zwar andere Pläne mit unserem Freund Murad, aber ich will dir eine kleine Rache gewähren. Räche dich nach Herzenlust an seinem Ebenbild.« Vlad schluckte und versuchte zu sprechen, brachte aber kein Wort hervor. Statt dessen starrte er weiterhin auf die widerliche Mißgeburt, die da vor ihm auf dem Marmorboden saß, den kleinen weißen Katzenkörper mit dem verkleinerten Türkenkopf. Das Muradgesicht bewegte seine Lippen, um einen Schrei fassungslosen Entsetzens auszustoßen, brachte aber nur ein Zischen zustande. Erst nach längerer Zeit konnte Vlad sich zwingen zu fragen: »Bist du Gott?« Die Stimme lachte. »Nein, Kleiner Drache, weit gefehlt. Und doch ziehen wir seit alters her am gleichen Strang.« »Bist du ein Engel oder ein Heiliger?«
»Vielleicht habe ich mich falsch ausgedrückt, Kleiner Drache. Gott und ich sind Gegner, Widersacher, wir sind eingeschworene Feinde.« Endlich begriff der Junge. »Ordogh!« flüsterte er und nannte das unsichtbare Wesen bei jenem Namen, der in seiner Heimat üblich war. »Ordogh!« Der Teufel. »Zu deinen Diensten«, sagte die Stimme. »Nimm mein Geschenk an, Kleiner Drache. Laß uns Freunde sein. Laß uns einander helfen. Nimm dir mein Geschenk.« Vlad starrte neuerlich auf die mißgestaltete Kreatur hinab, und es schien, als verzöge das Muradgesicht seine Lippen zu einem selbstzufriedenen Lächeln, würde dreist zu ihm heraufschmunzeln. Eine Woge unbeherrschbaren Zorns durchbrandete den Jungen. Er packte das Kätzchen beim Genick, riß es vom Boden empor, und seine zitternden Hände schlössen sich um den Hals des Geschöpfes. Dann drückte er zu, begann, es wie von Sinnen zu würgen. Die Augen des Muradgesichts quollen hervor, und der Mund öffnete sich zu einem stummen Schrei unaussprechlicher Qual, doch lockerte Vlad seinen Griff nur leicht, weil er seinen Blick auf die Speere lenkte, die als Schmuck zu beiden Seiten des Eingangs standen. Unter Schmerzen, doch ohne das Kätzchen loszulassen, erhob er sich von seinem Kissen, stolperte zur Wand hinüber, nahm einen der Speere und klemmte ihn sich fest unter den linken Arm. Dann setzte er das Katzengeschöpf zu Boden, ohne dessen dicke Nackenwülste jedoch auch nur für einen Augenblick loszulassen, und plazierte die Speerspitze auf dem Unterleib der Kreatur. Vlad lächelte, bevor er dem Wesen seinen Speer in den Leib rammte. Die scharfe Klinge bohrte sich durch Fell, Fett und Muskeln, und als Vlad sie wieder zu der hohen Decke des Gemaches emporhob, wand sich das Tier in stummer Todesqual. Der Junge lächelte, während das Muradgesicht lautlos weinte und schrie, während aus dem Muradmund das Blut zu strömen begann und der eisige Ausdruck des Todes sich über die Muradaugen legte. Der zuckende Körper schüttelte sich noch einmal. Dann blieb er still. Der Junge schleuderte den Speer von sich und sah zu,
wie das tote Tier auf seinem eigenen Blut über den Boden rutschte. Vor Vlads starrem Blick verwandelte sich das Muradgesicht langsam wieder in das einer Katze. Dann lachte er leise. »Danke, Ordogh. Ich danke dir. Es war mir ein großes Vergnügen. « »Ich bereite dir gerne eine Freude, Kleiner Drache«, sagte die Stimme. »Und womit soll ich dir dein Geschenk vergelten?« Die Stimme lachte erneut. »Nur mit dem, was du mir aus eigenem und freiem Willen gewährst, Kleiner Drache. Ich habe dich auserwählt, weil ich dich kenne. Du gleichst einer Tänzerin, die einen Schleier nach dem anderen abstreift, nur um darunter noch mehr Seide zu enthüllen. Keiner kann das Fleisch sehen, welches die Gewänder verbergen keiner außer mir. Alle anderen sehen dich, ohne dich zu erkennen, doch ich sehe dich und kenne dich gut. Du sollst mir dienen, Kleiner Drache. Du sollst deinen Namen mit Blut schreiben, und ich werde dir Feder und Pergament dazu geben.« Der kleine Vlad zögerte einen Augenblick. Dann antwortete er zaghaft: »Es heißt, Gott liebt uns und vergibt uns unsere Sünden. Man lehrt uns, daß sein Sieg über Ordogh gewiß und vorherbestimmt ist. Warum also sollte ich dir dienen?« »Weil es dein Wunsch ist, mir zu dienen, Kleiner Drache. Du sollst mir dienen, weil es dir Freude bereiten wird. Du sollst mir dienen, weil ich dir für einen gewissen Zeitraum Macht, Reichtum und Wohlergehen schenken werde. Du sollst mir dienen, weil dein Herz schwarz und deine Seele ebenso zur Verdammnis bestimmt ist wie ich selbst.« Die Stimme hielt inne. Dann sagte sie: »Hör mir gut zu, Kleiner Drache. Du wirst deinen Vater und deinen Bruder Mircea niemals wiedersehen. Du sollst Woiwode über die Walachei sein, sollst viel Leid und Schmerz bringen und selbst viel Leid und Schmerz erfahren. Dein Leben soll hart, bitter und kurz sein, und doch sollst du mir von ganzem Herzen dienen. Was immer dein Herz begehrt, soll dir gewährt und dann wieder entrissen werden, und doch sollst du mir dienen - sollst Wonnen erleben, wie sie nur wenigen je zuteil werden, Elend, wie es
nur wenige je erleiden, und doch sollst du mir dienen.« Vlad schüttelte den Kopf. »Deine Worte gefallen mir nicht, Ordogh. Wenn du mir einen Kelch bittersüßen Weins anbietest, warum sollte ich ihn trinken? Wenn du mir ein kurzes Leben, eine unsichere Herrschaft, Schmerz und Leid anbietest ...« »Ich biete sie dir nicht an«, erwiderte die Stimme. »Ich sage dir lediglich, was vorherbestimmt ist. Ohne Wenn und Aber. Ich gebiete nicht über diese Welt, Kleiner Drache, ich kann sie nur beeinflussen. Doch vermag ich einiges. Ich kann dafür sorgen, daß du der Woiwode wirst und nicht Radu. Ich kann dafür sorgen, daß du deine Macht, sei ihre Dauer auch noch so kurz, zum eigenen Ergötzen auszunutzen vermagst. Ith kann dafür sorgen, daß all deine Wut, all deine Bitterkeit, all dein Kummer, all dein Leid und all dein Elend stets durch ebensoviel Wonne, Macht, Reichtum und Ruhm ausgeglichen werden. Wut, Bitterkeit, Kummer, Not und Elend, sie sind dein Schicksal, Kleiner Drache. Mir aber steht es frei, Wonne, Macht, Reichtum und Ruhm zu spenden.« Vlad blickte zu dem verstümmelten Katzenkadaver hinüber und überlegte einen Moment. »Ich möchte, daß du mir Murad gibst.« Die Stimme antwortete nicht. »Ich möchte ihn selber töten, mit eigenen Händen. Ihn möchte ich haben, und kein Tier mit seinem Gesicht. Ihn selbst möchte ich haben!« Schließlich sprach die Stimme. »Das Leben aller Menschen folgt vorherbestimmten Bahnen, Kleiner Drache. Doch selbst der Lauf des Flusses läßt sich für kurze Zeit umlenken. Der Tag von Murads Tod steht unverrückbar fest. Die Art seines Todes aber ... die Art seines Todes ...« Die Stimme hörte auf zu sprechen, und Vlad nahm an, daß Ordogh überlegte. Er wartete geduldig, bis die Stimme dann, nach einer langen Weile, zu ihm sagte: »Es soll sein, wie du wünschst, Kleiner Drache ...« Nebel senkte sich auf die Welt, und die Jahre zogen vorüber. Ein Bild, eine Begebenheit, ein Vorkommnis schien ins andere zu fließen, während der Knabe am osmanischen Hofe zum Jüngling heranwuchs. Malcolm Harker, der, von einer kalten Gelähmtheit gepackt, auf dem feuchten Boden
der Schloßruine lag, sah vor seinem geistigen Auge die Ereignisse eines anderen Lebens vorüberziehen - des anderen Lebens, das tief in dem verseuchten Blut, welches durch seine Adern rollte, begraben lag. Er sah das Jahr 1447 kommen und gehen, sah mit an, wie er selbst, ein schmaler, aber vitaler Sechzehnjähriger, durch Mu-rads Wesir Khalil davon unterrichtet wurde, daß man seinen Vater und seinen älteren Bruder gefangengenommen und enthauptet hatte. Er sah sich Anfang des nächsten Jahres an der Spitze einer kleinen, aber gut ausgebildeten türkischen Fußschar von Smyrna aufbrechen, begleitet von den guten Wünschen und Unterstützungsversprechen des Sultans Murad. Er sah sich nach müheloser Unterwerfung der kleinen Streitmacht, welche die Ungarn als Hüter über die Hauptstadt dieser Provinz zurückgelassen hatten, mit gezücktem Schwert in Bukarest einziehen, sah sich von dem betagten höchsten Würdenträger der orthodoxen Kirche zum Woiwoden ausgerufen, hörte sich öffentlich dem Sultan Treue schwören und fühlte den zwanghaften Drang, sich die Zunge abzubeißen, als seine Lippen dem Manne, den er aus so tiefer Seele haßte, den Vasalleneid leisteten. Da die walachischen Edelleute seine Ansprüche auf den Thron des Vaters leugneten, behielt man ihn im Auge, als das Jahr 1448 sich dem Ende neigte. Er sah sich als Unterlegenen in einer Schlacht mit den stolzen Bojaren seines Heimatlandes -sah sich in die Karpatenhügel fliehen, um seine Haut zu retten. Man schrieb das Jahr 1458, als der Nebel sich wieder lichtete. Vlad saß auf einem niedrigen Baumstumpf und überschaute den kleinen Herrschaftsbezirk, den er sein eigen nennen konnte. Die letzten fünf Jahre hatte er mehr oder minder wie ein Wegelagerer verbracht, der den Balkan mit seiner Handvoll Plünderer unsicher machte und ohne Unterschied die Siedlungen von Türken und Griechen, Serben und Bulgaren, Mazedoniern und Moldauern, Walachen und Transsilvaniern plünderte. Sein Heer ... Wie konnte er es wagen, diesen Haufen von Dieben und Mördern als Heer zu bezeichnen ?! ... sein Heer bestand aus ein paar hundert Zigeunern und Renegaten -Türken, welche die Frucht des Weinstocks mehr liebten als
ihren Gott Allah, Slawen auf der Flucht vor raubgierigen Landherren, heimatlosen Magyaren, entwurzelten Juden, rachedurstigen Griechen. Und in der Mitte ihres verlotterten Lagers lag, nackt, heulend, zitternd vor Furcht und mit starken Stricken gefesselt, Murad II., der einstige Herr über das Osmanische Reich, heute selber nicht mehr als ein Flüchtling, der durch ein unglückliches Geschick seinem alten Freund Vlad in die Hände gefallen war. Unglückliches Geschick? dachte Vlad. Nein, das hier hat nichts mit Schicksal zu tun. Es ist Ordogh, der Wort hält. Er erhob sich von dem Baumstumpf, auf dem er gesessen hatte, und schritt gemächlich zu dem dicken alten Mann hinüber, der elend auf dem kalten Waldboden lag. »Erhabener«, sagte Vlad unbeschwert. »Ich glaube, es ist Zeit, daß wir miteinander verhandeln.« Murad blickte auf, als der hochgewachsene junge Mann nähertrat. Er versuchte, die Grobiane ringsum nicht zu beachten. Diese kratzten sich mit einem Kichern der Vorfreude die Narben und die von Flöhen befallenen Barte, während sie darauf warteten, daß das Vergnügen seinen Anfang nahm. »Kleiner Drache ...«, röchelte Murad, » ... wir sind doch Freunde gewesen ... Verbündete ...« »Ja, ja.« Vlad nickte bedächtig. »Ein Jammer, daß das Schicksal Euch so übel mitgespielt hat, Erhabener.« »Wenn ich meinen Thron wiedergewinne, werde ich dir ganz Dakien schenken«, sagte Murad verzweifelt. »Das ganze, nicht bloß die Walachei. Und Moldau noch dazu, und auch deine Heimat Siebenbürgen.« Vlad nickte abermals und tat so, als beeindrucke ihn das Angebot. »Und was ist mit der Bukowina, Erhabener? Werdet Ihr mir auch die schenken?« »Ja, ja, die Bukowina noch dazu!« antwortete Murad rasch. Vlad nickte abermals, schüttelte dann jedoch traurig seinen Kopf. »Aber Ihr habt doch gar keinen Thron, Erhabener. Es gibt einen neuen Sultan. Mohammed nennt er sich, Mohammed II.« »Ein Thronräuber!« kreischte Murad. »Allah wird ihn für diese Untreue verdammen!«
»Mag sein«, stimmte Vlad zu, während er sich neben dem einstigen Herrscher des Ostens auf den Boden setzte und ihm mitleidig eine Hand auf den Arm legte. Dann sagte er: »Die Schwierigkeit, Erhabener, liegt jedoch darin, daß dieser Usurpator eben jetzt das Osmanische Reich regiert und Ihr nur der Gefangene einer Horde heimatloser Banditen seid.« Er runzelte die Stirn wie in Gedanken. »Und doch mag ein Sultan Provinzen verschenken.« »Ja, ja!« pflichtete Murad bei, in dessen Gesicht sich sein Entsetzen zeigte. »Wenn ich meinen Thron wieder in Besitz genommen habe, werde ich ...« »Oh, mein lieber alter Freund, von Euch spreche ich nicht!« sagte Vlad. »Mohammed regiert seit Eurem Sturz nun schon zwei Jahre. Ihr seid ein ohnmächtiger Flüchtling gewesen, und jetzt ist Euch sogar das Gold ausgegangen, um Euch Schutz und Verbündete zu kaufen.« Er beugte sich dicht zu Murads Gesicht hinab. »Habt Ihr es nicht gehört, Erhabener? In diesem Augenblick trommeln Mohammeds Geschütze gegen die Mauern von Konstantinopel. Er ist der stärkste Machthaber seit Karl dem Großen, der glorreichste Eroberer seit Dschingis Khan. Wenn mir jemand zu meinem rechtmäßigen Sitz in der Walachei zurückverhelfen kann, dann ist er es, nicht Ihr! Wenn jemand mir Moldau und Siebenbürgen wiedergeben kann, dann er!« »Kleiner Drache ...«, wimmerte der Alte. »Nein, tut mir leid, Erhabener«, entgegnete Vlad, indem er sich vom Boden erhob. »Ich muß mir die Gunst Mohammeds erkaufen. Ich glaube, ich muß zwei Dinge tun, um sein Freund und Bundesgenosse zu werden. Das erste wird sein, daß ich zum muslimischen Glauben übertrete.« Er zuckte die Achseln und tat den Gedanken als eine Lappalie ab. »Und zweitens muß ich ihm als Zeichen meiner Ergebenheit Euren Kopf bringen.« »Nein! Das würdest du nicht wagen!« sprudelte es aus Murad hervor. »Gestatte wenigstens, daß ich freigekauft werde! }a, ja, Kleiner Drache, setze ein Lösegeld aus! Ich habe Freunde, ich habe Freunde ...!«
Vlad überhörte das Flehen des gestürzten Sultans und erhob sich. »Janos, Anatoly, Kurza«, befahl er schroff. »Bereitet ihn vor.« Drei Mitglieder seines ausgesucht wilden Heeres stürmten vorwärts und ergriffen den Sultan. Einer von ihnen nahm das linke, ein anderer das rechte Bein des Alten, und der dritte packte ihn beim Kopf und zog ihm die Augenlider nach oben, damit Murad mitansehen mußte, was nun geschah. Vlad ging an den Rand der kleinen Lichtung hinüber, wobei Murads Augen ihm wie hypnotisiert folgten. Der junge Mann ließ seine Finger liebevoll über den glatten Stamm eines schlanken, gerade gewachsenen Baumes gleiten. Dabei lächelte er vor sich hin und murmelte ein paar leise, unverständliche Worte. Murad blinzelte, um den Baum besser sehen zu können, bis er zu seinem Entsetzen erkannte, daß es gar kein Baum war. Es war ein langer Pfahl, den man tief in den Waldboden eingelassen hatte, ein langer Pfahl mit einem bedrohlich zugespitzten Ende. Murad schrie, bettelte und weinte, während Vlad den Pfahl mit einem mächtigen Ruck aus dessen Verankerung zog, ihn zu dem Alten hinübertrug und dort schwer auf den Boden fallen ließ. Der junge Mann stand über Murad und lächelte, als einer der Zigeuner ihm eine Holzfälleraxt reichte. Dann nickte er einem anderen aus seiner Bande zu, der sogleich vorwärtsrannte und die scharfe Spitze des Pfahles an Murads After plazierte. »Erhabener«, sagte Vlad mit freundlicher Stimme, »erinnert Ihr Euch noch, als ich, vor vielen Jahren, zu Gast in Eurem Hause war? Erinnert Ihr Euch noch daran, wie Ihr mir ein Geschenk gemacht habt, ein kleines Kätzchen?« Er wartete auf Antwort, doch es kam keine. »Erinnert Ihr Euch noch, warum Ihr mir dieses Kätzchen schenktet?« Wieder keine Antwort, nur ein stoßweises Wimmern und Seufzen aus dem Munde des dicken alten Mannes, der mit weit auseinandergerissenen Beinen und gnadenlos offengehaltenen Augen auf dem Rücken lag. »Ich erinnere mich noch, Erhabener«, sagte Vlad. »Ich erinnere mich noch gut. Ich habe es nie vergessen.« Er hielt inne. »Wißt Ihr, wie es sich angefühlt hat, Erhabener? Wißt Ihr, wie ein Kind solchen
Schmerz empfindet?« Er starrte in Mtfrads wilde, flehende Augen. »Gestattet, daß ich Euch einen Begriff von dieser Empfindung gebe, Euch, der Ihr der von Allah Geliebte seid.« Während sein Zigeuner das Ende des Pfahles etwas anhob, holte Vlad mit der Axt seitwärts nach hinten aus. Einen Moment noch hielt er inne. Dann schlug er zu und ließ die Axt mit aller Macht auf das stumpfe Ende des Pfahles schmettern. Das spitze Ende rammte sich Murad in die Eingeweide, und der grauenhafte Schmerzensschrei des Alten wurde von dem Blut erstickt, das wie ein Gewässer zwischen seinen geöffneten, zitternden Lippen hervorzuströmen begann. Ein zweiter Axthieb trieb den Pfahl noch tiefer hinein. Immer wieder schlug Vlad zu, und sein Gesicht verzerrte sich zu einer Fratze aus unbändigem Zorn und Haß. Als die Pfahlspitze sich direkt unterhalb des Genicks aus Murads Körper bohrte, hatte der Alte sein Leben schon längst ausgehaucht. Geraume Zeit stand Vlad über dem blutigen Leichnam und starrte auf ihn hinab. Dann lachte er laut und lange. »Du hältst dein Wort, Ordogh, und ich das meine!« Sein Lachen dröhnte durch die dunklen Wälder, während die Männer daneben standen und, voll Freude für ihren Führer, voll Furcht vor ihm und verwirrt von seinen sonderbaren Worten, zusahen. Nach ein paar Augenblicken wandte sich Vlad zu ihnen um und sagte: »Enthauptet ihn. Steckt seinen Kopf in ein Fäßchen Essig und überlaßt seine Leiche dann den Krähen. Macht euch bereit zum Aufbruch, Freunde«, rief er, so laut, daß alle es hören konnten. »Morgen ziehen wir gen Konstantinopel! Morgen ziehen wir hinaus, um eine Audienz zu erwirken bei Mohammed, dem Sultan!« Damit wandte er dem grausigen Schauplatz seinen Rücken und überließ es seinen Mannen, sich um die Enthauptung zu kümmern. Er selbst schritt tief in die Wälder, bis er ein beträchtliches Stück vom Lager entfernt war. Dann sagte er: »Ordogh! Bist du da?« Nach ein paar Augenblicken kam die Stimme zu ihm. »Ich bin da, Kleiner Drache. Ich bin immer da«, raunte sie ihm ins Ohr. »Meine Rache war über Jahre vorbereitet,
Ordogh, und die lange Vorfreude hat sie nur um so süßer gemacht.« »Wie immer, Kleiner Drache«, antwortete die Stimme. »Ich kenne die Freuden der Rache seit langem.« Vlad setzte sich auf den kalten Waldboden. »Und nun? Was wird nun geschehen?« »Ich bin nicht hier, um dir deine Zukunft im einzelnen zu enthüllen, Kleiner Drache«, erwiderte die Stimme. »Doch die nächsten paar Jahre werden für dich märchenhaft werden.« Der Nebel wälzte sich über ihn hinweg und trug ihn durch die Jahre vorwärts - vor die Mauerruinen der geplünderten Hauptstadt dessen, was noch ein paar Wochen zuvor das Byzantinische Weltreich gewesen war und wo nun Mohammed II. sein reich geschmücktes Lager aufgeschlagen hatte. Die nächsten beiden Jahre trug ihn der Nebel durch die Feldzüge Mohammeds des Eroberers, der ihn seines Vertrauens als Freund und Statthalter würdigte trug ihn tief in die Karpatenwälder zu einer geheimen Unterredung mit dem König von Ungarn. Er sah, wie er dem Sultan das Versprechen abgewann, ihm beim Sturz des Thronräubers zu helfen, der auf dem rechtmäßig ihm gebührenden Herrschaftssitz saß - des Usurpators, welcher die Dreistigkeit hatte, sich Vlad III. zu nennen. Er sah sich dem ungarischen König die Zusicherung abgewinnen, daß er, der König, tatenlos die Vernichtung seines Vasallen mitansehen würde, den er nach der Ermordung von Vlads Vater und Bruder auf den Thron der Walachei gesetzt hatte. Und er sah sich dergestalt zum Bundesgenossen zweier Feinde werden, zu einem offiziellen Anhänger der Türken, die er haßte, weil er in seinen jungen Jahren solche Unbill durch sie hatte erleiden müssen, und einem heimlichen Verbündeten der Ungarn, die er haßte, weil sie seine Familie hingerichtet hatten. Er sah sich Pläne und Ränke schmieden, sah sich morden, plündern, lügen und betrügen, während er des Tages harrte, da die Türken ihn auf dem Thron der Walachei einsetzen würden, des Tages harrte, da er stark genug sein würde, das osmanische Joch abzuwerfen und Budapest seine Treue zu bekennen. In gleicher Weise hoffte er, es würde einen Tag geben, da er das ungarische Joch ebenfalls
abwerfen und den Balkan unter seinem Zepter vereinigen könnte. Der Nebel trug ihn nach Bukarest, in das Jahr 1456, zu jenem Tag, an dem er endlich der unumschränkte Herrscher seines kleinen Karpatenreiches wurde. Der Nebel klarte etwas auf, und Vlad sah sich im Festssaal eines großen Schlosses auf einem Throne sitzen. Vlad IV., Woiwode der Walachei. Vlad Tepes. Vlad der Pfähler. Dann war der Nebel mit einemmal verschwunden. Als die Empfindung wieder in seinen kalten, steifen Körper zurückflutete und sein eigenes Bewußtsein erneut zum Tragen kam, merkte Malcolm, daß seine Wange sich gegen den feuchten Steinfußboden der verfallenen Kapelle drückte. Die Macht der tief im Verborgenen liegenden Erinnerungen war jählings und ebenso überraschend, wie sie sich bemerkbar gemacht hatte, wieder abgeebbt. Malcolm erhob sich unter Schmerzen auf seine Knie und dann, zitternd und keuchend, auf seine Füße. Im nächsten Moment versagten ihm die Beine, und er brach zusammen. Mein Gott! dachte er. Mein Gott! Erinnerungen im Blut! Seine Erinnerungen, die Erinnerungen dieses Ungeheuers in meinem Blut! Immer mit der Ruhe! befahl er sich selbst. Nur nicht den Kopf verlieren! Du mußt den Staub aufsammeln, und dann nichts wie raus hier, nach Hause! Ganz ruhig! Ganz ruhig! Er holte tief Luft und erhob sich dann abermals, diesmal langsam, vorsichtig und immer auf der Hut vor dem geringsten Anzeichen von einsetzender Schwäche oder Ohnmacht. Er zwang sich, zurückzustolpern zu dem offenen Sarggehäuse. Die Schmuckschatulle lag nach wie vor neben dem Kegel aus Staub und Knochen, und in seinem immer noch umnebelten Gehirn suchte Malcolm nach einer Möglichkeit, die sterblichen Überreste zu entfernen, ohne sie anrühren zu müssen. Als er sich auf dem Boden der Krypta umsah, erspähte er ein kurzes, dünnes Stück Holz, das mitten in einem Schutthaufen lag und das er mit zitternden Händen aufhob. Er benutzte den Holzspan als Schaufel, indem er möglichst viel Staub zusammenkratze, auflöffelte und dann
in das Schmuckkästchen fallen ließ. Am Ende wischte er sich mit seinem zitternden Arm die fiebrig-heiße Stirn und verschloß nach einem letzten kritischen Blick in das Sarginnere - nur damit auch ja keine Staub- oder Knochenteilchen übrigblieben - den Deckel der Schatulle. Damit eilte er dann aus der Kapelle, und erst, als er wieder in dem großen Saal war, nahm er sich die Zeit, über das außergewöhnliche Erlebnis, das er eben gehabt hatte, einen Moment nachzudenken. Nun, jedenfalls hoffte er, so etwas niemals wieder zu erleben. Die Macht des Blutes, hatte Lucy ihm gesagt. Von der Macht des Staubes hatte sie ihm nichts erzählt. Aber vielleicht hatte sie es ja auch nicht gewußt. Als er wieder in den Hof trat, ging die Sonne bereits unter, und aus einem nicht rational bestimmbaren Grund hatte er das Gefühl, die Ruine besser weit hinter sich zu bringen, ehe das Dunkel über sie hereinbrach. Sicher, das war albern. Er wußte, daß keine Vampire mehr übrig waren, die aus den dunklen Fenstern auftauchen oder an den kalten grauen Mauern hätten herabkriechen können. Aber er sah zu, daß er in seinen Wagen kam, und brauste davon, ohne mit dem pflichtvergessenen Wächter auch nur ein einziges Wort zu sprechen. Ungefähr nach einer Viertelstunde fuhr er an den Straßenrand, lehnte sich auf das Steuer und legte sich eine Hand auf die Brust, um sein rasendes Herz vielleicht auf diese Weise zu beruhigen. Das Blut und der Staub, das Blut und der Staub. Es war, als hätte das Blut ein Eigenleben, ein eigenes Bewußtsein, und zum erstenmal, seit er begonnen hatte, an die Geschichte seines Großvaters zu glauben, bemerkte er eine fremde Macht in seinem Körper. Sie gab ihm ein Gefühl des Verseuchtseins der Unreinheit, und er betete im stillen, daß er davon befreit sein würde, wenn er auf dem weit entfernten Erdteil, auf dem er wohnte, die verwünschten Überbleibsel erst in den Wind gestreut hätte. Erst lange nach Einbruch der Dunkelheit kam er vor seinem Hotel in Oradea an. Er fühlte sich müde, ausgelaugt von seiner Vision, wund und abgeschlagen. Er stellte das
Auto ab und ging benommen in das Innere des Hotels, vorbei an der Rezeption und in die Bar. Holly saß alleine an einem Tisch, und außer ihr befanden sich nur zwei weitere Gäste in dem Raum, offenbar Ortsansässige. Bei seinem Eintreten blickte sie zu ihm auf, und eine Flut von Erleichterung ging über ihr Gesicht. »O Malcolm, Gott sei Dank! Ich bin schon halb wahnsinnig vor Angst!« Sie stand auf, lief ihm entgegen, umarmte ihn freudig und drückte ihn an sich. Er war so müde, daß er seinerseits nur mit Mühe eine halbherzige Umarmung zustande brachte. »Was ist passiert? Was hat dich so lang aufgehalten? Hast du's gefunden? Bist du okay?« Erfüllt von schlimmen Vorahnungen, starrte Holly auf die Schmuckschatulle. »Alles der Reihe nach«, lachte Malcolm. »Ja, ich habe es gefunden, und ja, es geht mir gut.« »Du bist fast acht Stunden weggewesen!« »Ich weiß.« Er ließ sich auf einen Stuhl an ihrem Tisch fallen. »Bestell mir doch was zu trinken, ja? Ich hab dir eine Geschichte zu erzählen ...!« Sie lief an die Bar hinüber und schaffte es, dem Barkeeper zu erklären, daß sie ein großes Glas Wodka wollte. Bei ihrer Rückkehr reichte sie Malcolm den Wodka, setzte sich und sagte: »Okay, was war also los?« Malcolm sah sich um. »Wo ist Jerry? Ich glaube nicht, daß ich diese Geschichte zweimal durchstehe.« »Ach, das alte Ekel«, brummte sie. »Vor zirka zwei Stunden ist er nach oben gegangen. Sagte, er wollte sich seine Zigaretten holen oder so, und als er nicht wiedergekommen ist, bin ich selber rauf, um nachzusehen, damit ihm auch nichts fehlt. Er hat sich irgendwie ein Mädchen angelacht!« Malcolm lächelte trotz seiner Abgespanntheit und seiner Beunruhigung über die Geschehnisse des zurückliegenden Tages. »Ringsherum ist der Teufel los, und Jerry hat sich ein Mädchen angelacht?!« »Ja. Man sollte es nicht für möglich halten.« Sie mußte unwillkürlich in sein Lachen einstimmen. »Ist sie wenigstens hübsch?« fragte er. »Anzunehmen. Obwohl ich bezweifle, daß es ihm irgend etwas ausmacht, wenn man bedenkt, in welcher Stimmung er gewesen ist. Ich hab sie
nicht gesehen. Ich bin einfach zu seinem Zimmer und hab ihre Stimmen gehört. Da wollte ich nicht stören.« Malcolm kippte seinen Wodka hinunter und sagte: »Na, ich bin weniger höflich. Gehen wir rauf und holen ihn. Wie gesagt, ich glaube nicht, daß ich diese Geschichte zweimal erzählen kann.« Sie stiegen die Treppe hinauf und gingen zu Jerrys Tür. Malcolm hörte leises Frauengelächter von drinnen und lächelte Holly belustigt an. Das Schmuckkästchen unter seinen Arm geklemmt, klopfte er. »Jerry, ich bin's. Tut mir leid, wenn ich dich bei etwas störe, aber ich habe mit dir zu sprechen.« Das Lachen schwoll an, und eine Frauenstimme trällerte: »Herei-ein!« Malcolm erbleichte und begann zu zittern. Er erkannte die Stimme wieder. Er warf sich gegen die Tür und stürzte ins Zimmer. Dann aber erstarrte er. Vor seinen Augen kniete Lucy Westenra neben Jerry Herman, der aufgebäumt wie eine Kobra auf dem Bett hockte. Ihre wahnsinnigen Augen tanzten vor Lachen. Sie trug einen Rock und eine einfache Bauernbluse, die über ihre Brüste heruntergezogen war, und preßte Jerry Herman an seinen Haaren dagegen. Ihr Busen war blutüberströmt. Jerry gurgelte vernehmlich, während ihm die rote Fontäne in den Mund und in die Kehle spritzte. »Willkommen in der Kinderstube, lieber Malcolm«, lachte Lucy und stieß Jerry Herman dann voll Verachtung von sich. »Ich kann dir gar nicht genug danken für alles, was du für mich getan hast.« »Das darf nicht wahr sein! Wie kommst du hierher?« flüsterte Malcolm mit brechender Stimme. Gleichzeitig wurden seine Knie weich. »Wie kommst du nur hierher?« »Aber ich bin euch doch auf Schritt und Tritt gefolgt, kleiner Harker«, schnurrte sie. Sie blickte kurz auf Jerry Herman hinab, der vor Entsetzen gelähmt war und dessen Mund von ihrem Blut triefte. »Du hast doch hoffentlich nichts dagegen, daß ich einfach so hereingeschneit bin.« Sie setze ein hilfloses Gesicht auf. »Aber niemand in diesem verdammten Nest spricht Englisch!«
In einem plötzlichen Wutanfall fand Malcolm seine Kraft wieder, und er stürzte sich auf sie. Sie jedoch erhob eine Hand, packte ihn bei der Kehle und brachte ihn so abrupt zum Stehen. »Sei kein Narr, Malcolm«, zischte sie, »zumindest kein größerer, als du ohnehin schon bist.« Sie schnappte sich das Schmuckkästchen und stieß ihn dann so leicht von sich, als wäre er ein kleines Kind. »Glaubtest du vielleicht allen Ernstes, ich hätte irgendein Interesse daran, dir die Macht des Blutes vernichten zu helfen? Kleiner Schwachkopf! Zu meinem eigenen Schutz benötigte ich die Asche des Meisters, nicht zu deinem!« »Dann ... dann ...«, murmelte er, »dann ist der Fluch ... das Blut ...« »Dir weiterhin auferlegt, mein Lieber«, lächelte sie. »Mach das Beste daraus.« Damit zog sie sich die Bluse wieder hoch, die aufgrund des nassen Blutes wie eine zweite Haut an ihrem Busen klebte. »Das Blut des Meisters gibt mir meine Macht. Würde sein Staub zerstreut, dann wärest du in der Tat von deinen, äh, interessanten Blutsbanden befreit, aber ich würde bei Sonnenuntergang nicht mehr aufwachen.« Sie lachte. »Oh, ihr seid so leicht zu übertölpeln, ihr Männer von heute! Van Helsing hätte mir nie geglaubt. Er hätte nicht einmal mit mir gesprochen!« Malcolm wollte kaum glauben, daß das, was er da hörte, die Wahrheit war. »Dann ... dann steht der Staub also in Verbindung mit ...« »Natürlich tut er das, Schwachkopf!« lachte sie. »Das Blut, der Leib, die Erde. Der Teufel, unser Fleisch und die Welt!« Sie drohte ihm vorwurfsvoll mit dem Finger. »Du liest deine Bibel nicht, Malcolm!« Malcolm mußte seine Wut krampfhaft unterdrücken. Holly stand unter der Tür und starrte mit unverhüllter Furcht auf Lucy. »Aber weshalb?« verlangte er zu wissen. »Weshalb das hier? Ich verstehe das nicht!« »Ich konnte das Schloß nicht selber suchen, kleiner Narr«, antwortete sie. »Ich konnte nicht kostbare Zeit damit vergeuden, den Instinkten meines Blutes nachzugehen. Es fiel mir schon schwer genug, euch von England nach Rumä-
nien zu folgen. Nein, ich mußte dich den Staub selber finden und ihn mir von dir bringen lassen. Ich muß die Überreste des Meisters sicher verwahren, denn wenn sein Staub zerstreut wird, wird mein Blut mich verlassen, und ich werde ein drittes Mal sterben.« »Du bist bereits tot!« kreischte Malcolm. »Ja«, nickte sie. »Verwirrend, nicht?« Sie sah Holly an und lächelte. »Scheint so, als wären Sie wieder einmal der einzige Mensch im Zimmer.« Sie ging hinüber an das Fenster und stieß es weit auf. Dann wandte sie sich erneut an Malcolm. »Wir hassen das Leben, begreifst du denn nicht?« Ihre Stimme klang plötzlich sehr ernst und gefaßt. »Wir hassen jeden, der lebt, liebt und lacht vor Glück. Nein, vielleicht verstehst du wirklich nicht. Aber sei versichert, Malcolm, eines Tages wirst du es tun. Ganz bestimmt. Eines Tages.« Damit wandte sie sich von den anderen ab und machte bereits Anstalten, aus dem Fenster zu springen, als Malcolm ihr verzweifelt hinterherrief. Er durfte sie einfach nicht fortlassen, durfte es nicht zulassen, daß sie sich mit den Überresten ihres einstigen Gebieters davonmachte. »Lucy, warte!« schrie er. »Es gibt etwas, das du noch nicht weißt. Ich muß dir etwas sagen!« Lucy Westenra wandte sich ärgerlich zu ihm um. »Das wage ich zu bezweifeln, kleiner Harker, aber wenn du etwas zu sagen hast, dann schnell!« Wie wahnsinnig sah sich Malcolm im Zimmer nach etwas um, nach irgend etwas, das sich als Waffe gegen Lucy verwenden ließe. Ihm war alles recht. »Es ... es handelt sich um etwas, das mir passiert ist, als ich die Überreste holen ging ...«, stammelte er. Sein Blick fiel auf einen Tisch neben dem Bett. Auf dem Tisch lag eine Apfelsine, die Jerry allem Anschein nach heute schon halb aufgegessen hatte. Auf dem Teller lag neben einem Häufchen Orangenschalen ein Messer. »Es war, als ... als ich den Staub berührte ...« Er bewegte sich so unauffällig wie möglich auf das Messer zu. »Laß mich einmal raten, lieber Malcolm«, lächelte Lucy. »Du hast festgestellt, daß das Blut Erinnerungen birgt, nicht wahr?« Erschrocken hielt er einen Moment inne, schob sich
jedoch fast augenblicklich wieder weiter in Richtung Messer und sagte: »Weshalb hast du mir nichts davon erzählt, wenn du darüber Bescheid wußtest?« Sie lachte. »Warum, um alles in der Welt, hätte ich das tun sollen? Ich schulde dir doch nichts, du kleiner Narr!« Er erreichte den Tisch und wandte Lucy seinen Rücken zu, so daß sie nicht sehen konnte, wie er das Messer ergriff. »Aber woher hast du es gewußt?« fragte er, während er die Klinge in seiner leicht gewölbten Handfläche versteckte und sich dann geradewegs zu Lucy umwandte. »Glaubst du etwa, das Blut spräche zu dir allein?« fragte sie. »Wirklich, Malcolm! Was bist du für ein Dummkopf. Aber genug mit diesem Unsinn. War das alles, was du mir zu sagen hast?« Er ging auf sie zu und ließ das Messer hinter seinem Rücken aus der Handfläche in seine Faust gleiten. »Nein«, erwiderte er. »Da wäre auch noch das hier.« Mit einer Geschwindigkeit, die ihn selbst verblüffte, holte er aus, ließ das Messer herabsausen und rammte es Lucy in die Brust. Die Klinge bohrte sich tief durch das untote Fleisch. Lucy, die aufrecht auf dem Fensterbrett stand, kippte nach hinten und schien für einen Moment den Halt unter ihren Füßen zu verlieren, ließ aber das Schmuckkästchen nicht eine Sekunde los. Im Handumdrehen hatte sie sich wieder gefaßt, erhob ihre Hand und packte den Messergriff. Ihre Augen glühten vor Zorn.»Du kleiner Wurm!« zischte sie. Sie zog an dem Messer, das mit einem schwachen Schmatzgeräusch aus ihr herausglitt. »Was unterstehst du dich!« Damit sprang sie wieder ins Zimmer, trat bedrohlich auf Malcolm zu, streckte die eine, freie Hand nach ihm aus und packte ihn bei der Kehle. Mit der anderen hielt sie immer noch die Schmuckschatulle umklammert. Holly hatte bisher in starrem Schrecken danebengestanden. Beim Anblick von Lucys Hand auf Malcolms Kehle schien sie jedoch schlagartig aus ihrer Gelähmtheit zu erwachen. Sie riß das kleine Silberkruzifix, das sie um ihren Hals trug, herunter und stürmte nach vorn, um es zwischen die Gesichter von Lucy und Malcolm zu stoßen. Sofort
prallte Lucy schreiend, speiend, ja, offenbar fast knurrend wie ein Hund, davor zurück. Mit einem Satz sprang sie wieder auf das Sims und kreischte: »Bald, ihr kleinen Schwachköpfe, sehr bald werdet ihr für eure Dreistigkeit bezahlen!« Damit warf sie sich vom Fensterbrett und schien fast fliegend in die Finsternis zu entschwinden, die Schmuckschatulle mit den Überresten des Stammvaters ihrer unmenschlichen Rasse immer noch fest in der Hand. Malcolm, der zu Boden gefallen war, als Lucy ihn losgelassen hatte, kroch nun auf allen vieren zum Bett hinüber, zog sich daran hoch und legte eine Hand auf den Arm seines Freundes. »Jerry?« sagte er. Jerry Hermans Nervensystem war anscheinend überlastet worden. Während der Auseinandersetzung zwischen Malcolm und Lucy hatte er reglos auf dem Bett gelegen - reglos bis auf das unausgesetzte Zittern seines starren, unter Schock stehenden Körpers. Sein Mund schien in offenem Zustand erstarrt zu sein, und seine Zunge schnellte wie bei einer Schlange mit irrsinnigem Flattern daraus hervor. »Jerry?« wiederholte Malcolm. Ganz langsam drehte Jerry seinen Kopf in Malcolms Richtung, starrte ihm einen Moment lang ins Gesicht und fing dann an zu schreien. Er schrie unaufhörlich, ohne Unterbrechung- schrie, als der Geschäftsführer des Hotels wütend ins Zimmer marschiert kam, schrie noch immer, als der Arzt eintraf und ihm die Nadel tief in den Arm stieß, schrie bis zu dem Augenblick, als das Beruhigungsmittel ihm seliges Vergessen schenkte. Doch wer vom Lethe trinkt, dem Fluß des Vergessens im Hades, der kann seinen bösen Erinnerungen nicht auf Dauer entrinnen, weshalb Jerry am nächsten Morgen schreiend erwachte. Kapitel 13 Auf Malcolms, Hollys und Jerrys kummervollem Weg durch Rumänien schienen Glück und Unglück einander ständig abzuwechseln. Unter anderen Umständen hätte Jerrys Verhalten im Hotel und tags darauf im Krankenhaus
womöglich eine empfindliche Strafe zur Folge gehabt, und das will in einem kommunistischen Staat etwas heißen. Doch die Dinge entwickelten sich zu ihren Gunsten. Zuerst einmal versuchte sich Rumänien ja trotz seiner versteinerten politischen Struktur schon seit Jahrzehnten in einer von der Sowjetunion unabhängigen Außenpolitik und zögerte darum, sich unnötig den Unmut Amerikas zuzuziehen. Und zweitens hatte der alte Quincy Harker seinem Enkel, sowie er vom unglücklichen Ausgang ihrer Expedition erfahren hatte, telegrafisch ein Sümmchen überwiesen, das es ihnen allen erlaubte, Bukarest mit der nächsten Maschine zu verlassen. So fanden sich Malcolm, Holly und Jerry am Abend des Tages, nachdem Lucy Westenra das doch so wichtige Kästchen gestohlen hatte, in hoffnungslosem Schweigen auf dem Rand eines großen Springbrunnens vor dem Hotel Bernini in Rom wieder. Der einzige Flug aus Bukarest, den sie hatten erwischen können, war mit der Alitalia nach Rom gewesen, und erst in zwei Tagen würde die Maschine nach New York, in der sie noch Plätze ergattert hatten, vom Da Vinci Airport abfliegen. Natürlich war es ein Glück, daß Quincy ihnen das Geld telegrafisch überwiesen hatte, denn diese Überweisung ermöglichte es ihnen, sich Zimmer in einem Luxushotel zu sichern. Doch weder Malcolm noch Holly waren besonders glücklich, und Jerry fühlte sich sogar ausgesprochen vom Pech verfolgtauch wenn der Begriff »Pech«, genau genommen, etwas untertrieben war. Jerry Herman sah zu Malcolm hinüber und fragte: »Mal? Was wollen wir jetzt tun? Es muß doch etwas geben, das wir tun können, oder?« Seine Stimme war schwach und zitterte, und pausenlos spielte er mit seinen Fingern. Seufzend schüttelte Malcom den Kopf. »Ich weiß es nicht, Jerry. Ich weiß es einfach nicht. Weiß Gott, ich habe keine Ahnung, was wir als nächstes tun sollen.« »Wir müssen nach Hause«, meinte Holly, deren ansonsten feste und gleichmäßige Stimme jetzt einem Wimmern glich. »Wir müssen uns diese ganze schreckliche Geschichte aus dem Kopf schlagen, sie hinter uns lassen, sie einfach vergessen!« »Du hast leicht reden«, brummte Jerry. »Wie
soll ich das denn vergessen ? Wie können wir beide, Mal und ich, es je vergessen ? Stimmt's, Mal? Wir können es doch nicht vergessen, oder? Wir müssen etwas tun!« Infolge seines Schocks war Jerry außerstande gewesen, mit jenem Mißmut und jener Wut auf Lucy zu reagieren, mit der er ihrem ersten Anschlag begegnet war. Jetzt klammerte Jerry sich in hilfloser Verzweiflung an Malcolm, in dem er seine letzte Rettung sah. Malcolm nickte. »Wir müssen Lucy finden, wir müssen ihr den Staub abnehmen, und wir müssen ihn verstreuen.« »Und töten müssen wir sie auch, stimmt's? Wir müssen sie doch töten, oder, Mal?« fragte Jerry begierig, wenn auch mit zitternder Stimme. »Wir müssen sie töten, wir müssen sie töten, wir müssen ihr einen Scheiß-Pfahl in ihr gottverdammtes Scheiß-Herz rammen ...!« Holly ergriff Jerrys Hand und drückte sie. »Jerry, bitte versuch, ruhig zu bleiben. Dreh nicht durch. Bemüh dich ganz fest darum, Jerry.« »Ja, ja«, nickte Jerry, wischte sich den Schweiß von der Stirn und lächelte gequält, während sein Kopf wie im Krampf auf und ab zuckte. »Es geht schon, es geht schon, es geht schon.« »Ich finde«, sagte Malcolm bedächtig, »du solltest ohne uns in die Vereinigten Staaten zurückfliegen, Holly. Vielleicht schwebst du immer noch in Gefahr - du bist ja noch nicht angesteckt. Ich glaube, Jer und ich, wir sollten nochmal nach England fahren und sehen, ob wir sie dort finden können.« »Von mir aus. Ja, einverstanden«, erwiderte Holly rasch. Sie war zwar der Überzeugung, daß man zu seinem Geliebten halten mußte, aber es gab ja auch Grenzen. »Warum England?« fragte Jerry. »Warum nicht nach Timbuk-tu, nach Peking oder in irgendein anderes beknacktes Land? Sie könnte doch hingehen, wo sie will. Ich meine, sie ist uns doch auch bis nach Rumänien gefolgt, nicht wahr? Warum sollte sie zurück nach England?« »Weil dort ihr Grab ist«, erwiderte Malcolm nachdenklich. »Vergiß nicht, sie mußte nach Rumänien kommen. Vor allem hieß es für sie, die Überreste desjenigen,
der sie zum Vampir gemacht hat, an sich zu bringen, und das einfach deswegen, um ihr eigenes Überleben zu sichern. Das bedeutet aber nicht etwa, daß sie den Wunsch oder die Absicht gehabt hätte, England für immer zu verlassen.« Er hielt inne und spann seine Überlegungen fort. »Wenn ich mir doch nur vorstellen könnte, wie sie es so mühelos vom einen Ort zum andern geschafft hat. Ich meine, als Graf Dracula vor hundert Jahren von Transsilvanien nach England zog, hat er die Überfahrt monatelang vorbereitet. Wo hat sie geschlafen? Wie hat sie sich fortbewegt?« »Vielleicht hat sie sich in eine Fledermaus verwandelt und ist geflogen«, meinte Jerry. Vor zwei Wochen wäre das noch ein Witz gewesen. Heute war es eine ernstgemeinte Hypothese. »Nein, denk daran, was im Buch steht - was van Helsing über ihre Kräfte und Grenzen sagte. Sie können sich nicht selbständig übers Wasser bewegen. Sie müssen, wie Dracula, auf einem Schiff befördert werden.« »Oder in einem Flugzeug«, warf Holly ein. Er dachte darüber nach. »Ein Nachtflug von London nach Bukarest? Ein Koffer voll Heimaterde? Einen hermetisch verschlossenen Ort finden, um tagsüber darin zu ruhen? Möglich wär's.« »Aber woher hätte sie das Geld dazu?« fragte Holly. Er seufzte. »Von dort, wo sie auch ihre Kleider herbekam, denke ich. Von einem Opfer.« Holly erschauerte. Jerry stand auf und begann, vor ihnen hin und her zu gehen. »Na schön, na schön, also setzen wir Holly in ein Flugzeug und fahren dann wieder nach England. Wenn wir Lucy finden, töten wir sie, richtig?« »Falls wir den Staub zurückerobern und zerstreuen können, wird das nicht nötig sein«, antwortete Malcolm. »Aber trotzdem, wenn wir sie finden, sollten wir sie vernichten. Schon sicherheitshalber.« »Ja, ja.« Jerry nickte wie besessen. »Schon sicherheitshalber, schon sicherheitshalber.« »Wenn wir morgen abend zum Flughafen fahren, werden wir unsere beiden Tickets stornieren und uns zwei Plätze
nach London reservieren lassen. Und du, Holly, fliegst weiter nach New York.« Jerry holte tief Luft. »Also, ich kann hier nicht rumsitzen, den Uhrzeiger verfolgen und auf den Abflug warten. Ich muß mir ein Weilchen die Beine vertreten. Bis später dann, alles klar?« Und schon entfernte er sich von ihnen. »Jerry«, schrie Malcolm ihm nach, »bist du auch okay?« »Ja, ja. Ich möchte ein bißchen Energie ablassen, weiter nichts«, rief er über seine Schulter. »Wir sehn uns dann zum Abendessen oder so.« »Jerry«, schrie Holly, »die Abendessenszeit ist längst vorbei! Wir haben schon fast acht!« »Okay, dann also auf 'nen Mitternachtsimbiß, einverstanden?« »Wo willst du denn hin?« rief sie der entschwindenden Gestalt mit lauterer Stimme nach. »Weiß nicht«, schrie Jerry zurück. »Mir den Moses von Michelangelo anschauen oder so.« »Die Kirche dürfte zu sein«, murmelte Malcolm. »Aber er geht ohnehin nicht in diese Kirche, um sich die Statue dort anzusehn. Der wird einfach herumschweifen, sich dies und das anschaun und über das Ganze möglichst nicht nachdenken.« Am Himmel über Rom sank die Sommersonne, und Holly blinzelte zu ihr empor, während sie fragte: »Wird ihm auch nichts passieren? Ich meine, was wäre, wenn Lucy ...« »Uns nach Italien gefolgt ist?« beendete er ihren Satz. »Das wage ich zu bezweifeln. Sie hat ja, was sie wollte. Warum sich durch eine Italienreise selbst gefährden, wenn sie in England sicher ist, in einer Umgebung, die sie kennt?« Holly nickte und wünschte, sie könnte ihm recht geben, zwang sich, es zu tun. »Ich habe Hunger«, sagte sie nach kurzem Schweigen. »Du auch? Wenn Jerry doch bloß nicht vom Essen gesprochen hätte!« »Ja, ein bißchen schon, schätz ich«, antwortete Malcolm. »Das Hotelrestaurant hat bis zehn Uhr geöffnet. Möchtest du etwas essen?«
»Ja. Und du brauchst auch etwas im Magen, Mal. Du wirst uns noch vom Fleisch fallen, wenn du weiter so an deinen Mahlzeiten herumstocherst.« Die Bemerkung war kaum aus ihrem Munde, da merkte Holly bereits, daß sie diese besser für sich behalten hätte. Sie kannten beide den Grund für seine Appetitlosigkeit. Vier Stunden später lagen sie einander im kühlen Dunkel ihres Hotelzimmers schweigend in den Armen, jeder in seine eigenen Träumereien verloren. Holly war in einer einigermaßen glücklichen Gemütsverfassung- das heißt, soweit die Umstände das zuließen. Beim Abendessen hatte Malcolm zwar, wie es in letzter Zeit seine Gewohnheit war, nur wenig zu sich genommen, doch schien das Quantum Wein, das sie dabei und anschließend getrunken hatten, seine Laune etwas zu heben. Er glich einem Schwerkranken, der einer tiefen Depression verfallen war, solange er über die Art dieses Leidens und seiner Behandlung im Ungewissen schwebte, der sich aber, nachdem Befund und Prognose erst verkündet waren, mit aller Kraft bemühte, fröhlich zu bleiben und den Gedanken an die bevorstehende Operation zu verdrängen. Er lächelte wahrscheinlich häufiger als beabsichtigt und versuchte es während des Essens sogar mit ein paar flauen Witzeleien. Holly griff danach wie ein Ertrinkender nach einem Strohhalm, und ihre Reaktion beflügelte ihn dazu, sein unterhalterisches Niveau zu steigern. Jetzt, wo sie still in ihrem Zimmer lagen und der gedämpfte Lärm der Menschen, Busse und Autos unten auf der Straße sie daran erinnerte, wie reich das Leben war, wieviel Glück es einem bieten konnte, fühlten sie sich beide zufriedener als seit vielen, vielen Jahren. Holly drehte sich zaghaft zu ihm hinüber und küßte ihn, und als zu ihrer Überraschung seine Zunge zwischen ihren Lippen hindurchschlüpfte, reagierte sie mit Enthusiasmus. Malcolm spürte, wie sich das vertraute Prickeln in seinen Lenden regte, und seine Hände forschten unter der weichen Seidenbluse zielstrebig nach Hollys Brüsten. Das altarabische Epigramm, welches besagt, daß Gott die Seide erfunden hätte, damit die Frauen auch in Kleidern nackt
sein könnten, kam ihm in den Sinn, und er drückte den kühlen, zarten Busen mit wohlüberlegter Intensität. Die Araber ... in ihrer Kultur und Religion mit den Türken verwandt ... mit Sultan Murad verwandt ... Schluß damit ... Schluß damit ... Keine solchen Gedanken jetzt ... »O Malcolm«, seufzte sie. »Holly«, murmelte er und küßte sie dabei auf Augen, Wangen, Lippen, spürte, wie ihre Hand sich zu der dicker werdenden Beule zwischen seinen Beinen schob und sie langsam massierte, so daß sein immer noch halb schlaffes Organ stärker von Blut erfüllt wurde, von süßem, rotem Blut, heißen, pulsierenden Blutströmen ... Nein ... Nein ... Keine solchen Gedanken ... Schluß damit ... Er vertrieb die unerwünschten Bilder aus seinem Kopf und konzentrierte sich auf die schöne Frau, die neben ihm lag. Sie knöpfte sich die Bluse auf und schleuderte das Kleidungsstück fort, während er hinter sie griff und ihren Büstenhalter aufhakte. Dann begrub er sein Gesicht zwischen ihren Brüsten, küßte sie, leckte, saugte daran ... genau wie ... genau wie ... Jerry bei Lucy ... Jerry bei Lucy ... Nein ... Nein ... Schluß damit ... Sie ließ ihren Rock auf den Boden fallen und zog dann an Malcolms Gürtel, um ihn zu öffnen. Im Handumdrehen waren sie beide nackt, lagen in sich rapide steigernder Leidenschaft aneinandergepreßt, und ihre Hände strichen am Körper des anderen auf und ab, ihre Zungen und Lippen erforschten einander behutsam. Malcolm schob sich auf Holly und begann, sie zu küssen, während sie unter ihm ihre Beine spreizte und in einem kurzen, vorfreudigen Schauder die Augen schloß -küßte ihre Lippen, während sie sein steifes Organ in ihre Hände nahm und es behutsam in sich einführte. Seine Küsse glitten von ihrem Mund zu ihrem Kinn, von ihrem Kinn zu ihrem Hals, und seine Erektion schrumpfte zu einem Nichts zusammen, als er Hollys Hals küßte, als er den süßen Schweiß auf ihrer Kehle schmeckte, als er den Blutstrom in den Venen und Arterien ihres Halses pochen hörte, und ihr Hals war weiß, lang und
mit Blut gefüllt, sein Blut rief ihm zu, von ihrem Blut zu kosten, ihr blumiges, süßes, rotes Blut zu trinken, sagte ihm, wo er zuzubeißen hätte, schrie nach Blut, immer mehr Blut. Sein Blut verlangte nach Blut, und sie war Schlachtvieh, Nahrung, duftete nach Blut, war angefüllt mit Blut, war für ihn nichts als eine Kuh mit Blut in ihrem Euter, eine Kuh, der das Blut gemolken werden mußte, ihr lebenspendendes Blut, und er packte sie bei den Haaren und riß ihr den Kopf nach hinten, es war, als könne er das Blut durch die Kanäle unter der Haut ihrer Kehle fließen sehen, da, da, direkt vor ihm, an dieser Stelle, der weiße Fleck, genau da, da mußte er zubeißen, da würden sich seine Zähne in ihr warmes, lebendiges Fleisch graben und das warme, lebendige Blut saugen, und er wollte ihr Blut, er brauchte ihr Blut, und sein eigenes Blut schrie ihm zu, sie zu töten, zu töten, zu töten ... Malcolm stieß Holly von sich, sprang rückwärts aus dem Bett und starrte sie, erfüllt von abgrundtiefem Schrecken und Ekel vor sich selber, an. Voller Verwirrung begegnete sie seinem Blick. »Was ist denn, Schatz? Was hast du?« Er schnappte sich Hemd und Hose, zog sich Kleider und Schuhe an und stürzte Richtung Tür. »Malcolm!« schrie Holly. »Was ist denn? Malcolm? Malcolm?« Er schlug die Tür hinter sich zu. In den dunklen Stunden nach Mitternacht irrte Malcolm ohne anzuhalten durch die Straßen Roms. Die Laute, die Gerüche ringsum erschreckten ihn, machten ihm angst. So sehr er auch gegen dieses Gefühl ankämpfte, so roch doch jeder Mensch, an dem er vorüberkam, nach Essen, und das Blut, welches durch seine eigenen Adern rollte, rief ihm mit einer Stimme zu, die er nicht zum Verstummen bringen konnte. Es ist der Staub des Grafen, redete er sich wie irrsinnig ein, während er durch die römischen Straßen stürzte. Mein Blut ist mit den Überresten in Kontakt gekommen, und ich habe es aufgeweckt, ich habe das Blut aufgeweckt! Ich bin nach Europa, um diesem Fluch, diesem unehelichen Erbe ein Ende zu bereiten, aber statt dessen habe ich es nur verschlimmert, habe es aufgeweckt, habe meine einzige Hoffnung auf Erlösung in die Hände einer Kreatur gelegt,
die noch fluchbeladener ist als ich. Verdammt soll sie sein, verdammt! Sein Bedürfnis wurde überwältigend, und der Blutgeruch um jeden Passanten erschien ihm plötzlich so betörend, daß er sich kaum davon zurückhalten konnte, seine Hände auszustrecken und die Leute bei der Kehle zu packen. Ihr warmes, üppiges Fleisch schrie ihm entgegen. Das Blut, das durch die Adern in ihren Hälsen toste, schrie ihm entgegen. Er lief und lief - scheinbar stundenlang -, bis er schließlich, erschöpft und kaum mehr fähig zu atmen, zusammenbrach. Er kroch in eine nahegelegene Gasse und setzte sich an die harte steinerne Mauer eines der Gebäude, die sie säumten. Dabei hätte ich lediglich zur Kirche gehen und das heilige Sakrament empfangen müssen, dachte er niedergeschlagen. Und jetzt habe ich etwas Böses in mir geweckt, habe meinen besten Freund da mit hineingezogen, habe das Mädchen, das ich liebe, in Gefahr gebracht, habe es heute abend um ein Haar getötet, habe ein mordgieriges Ungeheuer freigesetzt ... Malcolm steckte dermaßen tief in Selbstvorwürfen, daß er das Klackern der herankommenden Stöckelschuhe gar nicht bemerkte. Als er die sanfte, einladende Stimme vernahm, die ihn in melodischem Italienisch anredete, blickte er auf. Ein Mädchen von höchstens zwanzig Jahren lächelte zu ihm herab und sprach Worte, die er nicht verstehen konnte. Es war dunkelhaarig, langbeinig und wirkte im trüben Schein der Straßenlaternen trotz seines aufdringlichen Make-ups bleich und unterernährt. Es trug ein knallenges Trägerhemd, unter dem sich deutlich die Brustwarzen abzeichneten, und der Tonfall des jungen Mädchens sowie sein aufgesetztes wollüstiges Lächeln verrieten ihm, daß er es mit einer Dirne zu tun hatte, die hoffte, einen vermeintlich Betrunkenen ausnehmen zu können. Als er aufstand, schwankte er leicht auf seinen müden, gummiweichen Beinen, und er sog den süßen Blutgeruch in sich ein, den sie verströmte. Während ihre Finger auf der Suche nach seiner Brieftasche zärtlich über seinen Körper glitten, redete sie weiter mit ihrer sanften, verführerischen Stimme auf ihn ein. Er ignorierte ihre Hände, ignorierte
ihre Stimme. Das einzige, was er wahrnahm, war der Geruch der jungen Frau, der Geruch nach Nahrung. Ein paar Sekunden starrte er sie an, und der Beutetrieb stieg mit unwiderstehlicher Gewalt in ihm empor. Er versuchte, ihn zu bezwingen, kämpfte dagegen an. Doch schließlich gab er ihm nach. Wieder fühlte er sich von den Nebeln der Zeit umhüllt und davongetragen, und während er in den schwarzen Mahlstrom teuflischer Erinnerungen geschleudert wurde, kehrte das Gefühl der Leere zurück. Dankbar dafür, daß er noch Empfindungskraft und Geistesgegenwart besaß, schüttelte Malcolm den Kopf und rieb sich über das Gesicht. Da aber merkte er, daß sein Haar viel voller und viel länger war, als es hätte sein sollen; daß ein dicker Schnurrbart seine Oberlippe bedeckte; daß er über einem Kaftan aus reiner Seide einen Kettenpanzer trug; daß er allein in einem dunklen, stillen Zimmer stand und seine Linke auf dem Heft eines Schwertes ruhte, welches von einem Ledergurt an seiner Taille hing. Und im selben Moment wußte er, daß er im Jahre 1459 war und er, Vlad Tepes, Woiwode der Walachei, sich anschickte, ein gefährliches Spiel zu unternehmen - eines, das entweder zu seinem Tode oder zu mehr Macht führen konnte, als er sich jemals hatte träumen lassen. Würde sein Streich mißlingen, so ließe der Sultan ihm die Haut vom Leibe ziehen und sie an einer Fahnenstange über der Zitadelle von Stambul hissen. Würde er Erfolg haben, dann stünden ihm die Armeen der Habsburger und ihrer Verbündeten in einem Vernichtungskrieg gegen die Türken zur Seite; und sollte auch dieses Unternehmen gelingen, so könnte er, Vlad IV. von der Walachei, durchaus zum Kaiser eines erneuerten byzantinischen Weltreichs werden. »Ordogh«, flüsterte er. »Komm zu mir.« Ein paar lange Sekunden verstrichen. Dann antwortete die Stimme: »Ich bin da, Kleiner Drache.« »Ich brauche deinen Rat, Ordogh«, sagte der Woiwode. »Weißt du von meinen Plänen?« »Sie sind offensichtlich, Kleiner Drache. Ich sehe im Hof deiner Zwingburg ein großes Festmahl beginnen. Ich sehe fünfzig zugespitzte Pfähle, die in weitem Bogen rings um
die Tafeln aufgepflanzt sind. Ich sehe die Banner von Corvinus, dem König der Ungarn, von den Fahnenstangen über deinen Zinnen wallen, doch ich sehe keine Banner mit dem türkischen Halbmond. « Der Woiwode lachte, aber es lag keine Freude in seinem Lachen. »Du brauchst mir nicht zu sagen, was sich jeder Bauerntölpel an zehn Fingern abzählen kann, Ordogh. Sage mir lieber, ob der Pfad, den zu beschreiten ich mich anschicke, zu kaiserlichem Purpur oder zum Tode als Verräter führen wird. Dein Auge kann die Schleier der Zukunft durchdringen, Ordogh, das weiß ich. Sag mir, was kommen wird.« Die Stimme schien zu seufzen, als sie erwiderte: »Da bist du nun so lange schon mein Diener und verstehst immer noch nicht, Kleiner Drache. Ich bin kein Zigeunerwahrsager. Beschreite jeden Pfad, der dir beliebt. Ganz einerlei. Am Ende führen aller Menschen Pfade doch nur ins Grab und in den Staub des Todes.« »Ja«, antwortete der Woiwode gereizt, »man kann aber heute oder in fünfzig Jahren sterben. Für dich hat die Zeit keine Bedeutung, Ordogh, aber für mich.« »Sollte sie denn auch für dich bedeutungslos sein, Kleiner Drache ?« fragte die Stimme. »Würdest du dir um den Gang der Zeit gern ebensowenig Gedanken machen wie ich?« Der Woiwode runzelte die Stirn. »Wovon redest du da, Ordogh?« Die Stimme gab nicht sofort Antwort. Erst nach langem Schweigen sagte sie: »Nein, Kleiner Drache, noch ist die Zeit nicht reif. Später, in vielen Jahren einmal, wollen wir uns erneut darüber unterhalten.« »In vielen Jahren ?« fragte der Woiwode lächelnd. »Dann werde ich also triumphieren, Ordogh? Ja?« »Das habe ich nicht gesagt, Kleiner Drache«, erwiderte die Stimme. »Aber ich kann dir verraten, daß dieses Wagnis, ob Sieg oder Niederlage, nicht zu deinem Tode führen wird.« Der Woiwode dachte eine Zeitlang darüber nach. Dann sagte er: »Wenn ihn kein Tod erwartet, darf ein Mann alles riskieren. Nur der Tod kann einen unentschlossen machen, nur die Furcht vor dem Tod kann uns zum Zaudern
bringen.« Er lachte. »Ich danke dir für deine Worte, Ordogh. Jetzt tret ich Freund und Feind furchtlos entgegen.« »Du gefällst mir, Kleiner Drache«, sagte die Stimme und verklang, noch während sie ihm ins Ohr flüsterte. »Ich warte auf die Schreie des Todes und das Geheul der Schmerzen.« Dann war sie verschwunden. Der Woiwode verließ das dunkle, stille Zimmer und begab sich in versonnem Schweigen durch die Gänge seiner Burg an das mächtige Eichenportal, das auf den großen Innenhof führte. Wenn mich dafür nicht der Tod erwartet, dachte er, dann ist es das Wagnis wert. Während er in dem leeren Zimmer gestanden und sich mit dem Geist der Finsternis unterhalten hatte, waren die letzten Vorbereitungen für das Festmahl abgeschlossen worden, und seine Frauen Magda und Katarina, welche den Aufbau überwacht hatten, sanken vor ihm auf die Knie, als er in den Hof hinaustrat. Er grüßte jede mit einer kurzen Verbeugung, und obwohl ihm dabei durch den Kopf ging, daß er solch ergebnen Frauen mehr Beachtung schenken sollte, war er andererseits derzeit zu nervös, um sich mit Artigkeiten aufzuhalten. Seine beiden Frauen zogen sich zurück, sobald er den Hof betreten hatte, denn das Festmahl war ausschließlich Männern vorbehalten. Während er seinen Platz in dem Prunksessel auf der Tribüne einnahm und dem Kammerherren zunickte, begaben die beiden sich nach oben in ihre Gemächer. Der Diener des Woiwoden entfernte sich mit raschen Schritten, um die Gäste herbeizurufen, und sein Herr überschaute genüßlich die vor ihm ausgebreitete Szene. Seine Söldner standen, alle zum Kampf gerüstet, in dichtgedrängten Reihen vor den Mauern, welche den Hof umgaben. Die langen, rechteckigen Tafeln, etwa dreißig an der Zahl, waren mit goldenen Tellern, goldenen Weinpokalen, Obstschüsseln und großzügig mit Brot und Käse beladen. Der Braten würde von den Dienern hereingebracht werden, sobald die Gäste Platz genommen hatten. In der Mitte des Burghofs brannte auf einem Eisenpodest ein zu diesem Zwecke angelegtes Feuer, und in ihren Halterungen entlang der Mauern loderten Fackeln in die Nacht.
Über den Zinnen des Schlosses aber flatterten die Banner mit dem blutroten Drachen, dem Wappentier seines Hauses, und dem doppelköpf igen Adler des Ungarnkönigs, Matthias Corvinus. Stern und Halbmond von Sultan Mohammed II., dem vermeintlichen Gebieter des Woiwoden, waren nirgends zu erblicken. Vlads Gäste, ihr Gefolge und ihre kümmerliche Handvoll Leibwächter betraten argwöhnisch den Hof. An der Spitze des einziehenden Trosses ging, wie es seiner Stellung zukam, Kemal Pascha, der Vetter des Sultans, ein drahtiger Mann mit olivenfarbener Haut und Augen von orientalischem Schnitt, dessen Narbengesicht und dessen leichtes Hinken ihn weithin sichtbar als fürchterlichen Kampfesgegner auswiesen und nicht als einen der vielen schwachen und kriecherischen Laffen, die es in Istanbul gab. Neben ihm schritt Mustafa, sein jüngster Sohn, und dahinter folgten seine Wachen, jede in osmanischer Schlachtmontur, und jede hielt mit ihrer Hand nervös das Heft ihres Krummschwerts umklammert. »Woiwode!« rief Kemal Pascha, indem er mit gebieterischem Habitus vortrat. »Ich verlange eine Aufklärung! Ich werde nicht mit dir zechen und fröhlich sein, ehe du nicht diese schmählichen Fahnen entfernst!« Der Woiwode stand auf und machte eine unterwürfige Verbeugung. »Ich bitte Euch, den von Allah Geliebten, habt Geduld! Ich wußte nicht, daß der Magyarenkönig zur selben Zeit, da Eure Herrlichkeit geruhten, mich mit Eurem Beisein zu beehren, seine geschätzten Statthalter zu mir entsenden würde!« »Du lügst, Woiwode!« versetzte der Pascha bitter. Die Soldaten tauschten einen erheiterten Blick aus, da sie wußten, wie gefährlich es war, in diesem Ton mit dem Woiwoden zu reden, wenn er sich in seiner eigenen Festung befand. »Mein Ältester, Orkhan, war vor zwei Wochen hier und hat dir mein heutiges Erscheinen angekündigt!« »Er ist nicht gekommen, o Erhabener«, erwiderte der Woiwode mit einer Stimme, die vor Besorgnis triefte. »Und auch kein Bote von Corvinus! Es war eine Überraschung
für mich ... eine große Ehre, aber eine Überraschung ... als Ihr am Morgen hier eintraft und Herzog Stephan am Nachmittag. Meine Frauen haben den ganzen Tag versucht, sich für ... ah«, er unterbrach sich, »da ist ja auch Herzog Stephan.« Der Woiwode verneigte sich vor dem ungarischen Edelmann, dem engsten Ratgeber von König Matthias Corvinus dem Gerechten. Herzog Stephan war nur wenig älter als der Woiwode, denn Vlad hatte die Dreißig noch nicht erreicht und Stephan sie erst kürzlich überschritten. Es wäre nicht ganz zutreffend gewesen, Stephan als Gecken zu bezeichnen, weil eine solche Kreatur unter dem mitteleuropäischen Ritteradel des fünfzehnten Jahrhunderts nicht lange überlebt hätte; doch schien er auf sein Äußeres zu halten. Er trug einen etwas zu säuberlich gestutzten Schnurrbart, etwas zu sorgfältig gebundene Schnürstiefel, hatte etwas zu lange Fingernägel. Kemal Pascha verachtete ihn um seines Erscheinungsbildes, seiner Staatszugehörigkeit und auch um seines Glaubens willen. Und er war zutiefst verstimmt über die Gegenwart eines Spießgesellen von Corvinus in der Festung eines türkischen Vasallen. »Seid mir gegrüßt, Vlad, mein Gebieter«, sagte Stephan fröhlich und trat vor, um dem Woiwoden brüderlich die Hand zu schütteln. Kemal nahm er überhaupt nicht zur Kenntnis. »Euer Gnaden«, erwiderte der Woiwode ebenso gut gelaunt. »Erlaubt mir, Euch Kemal Pascha vorzustellen, die rechte Hand Seiner Islamischen Majestät« Herzog Stephan und Kemal Pascha tauschten eine knappe Verbeugung. Dann wandte sich der Türke wieder an den Woiwoden. »Genug damit. Ich verlange Rede und Antwort.« Der Walachenfürst erhob seine Hand. »Bitte, Eure Herrlichkeit ! Die Konventionen! Wir müssen zechen und guter Dinge sein. Danach wird sich alles klären.« Kemal Pascha hätte wohl noch weiter protestiert, doch man begann, an dem langen Tisch Platz zu nehmen, und während des dadurch entstehenden Stimmenlärms besann er sich eines Besseren. Unwirsch ließ er sich zur Rechten des Woiwoden nieder und registrierte mit Verärgerung, daß der Ungar auf der anderen Seite von des Sultans wankelmütigem Vasallen sitzen durfte.
Vlad stellte beiläufig ein paar Leute vor, die mit ihm auf der Tribüne saßen, und sagte dann zum Pascha: »Ich glaube, Euren Gefolgsmann habe ich noch gar nicht kennengelernt, Erhabener. « Er lächelte den jungen Türken, welcher den Pascha und seinen Sohn begleitet und bislang still zugehört hatte, freundlich an. Kemal schnaubte. »Das ist mein Neffe Torghuz.« »Torghuz Beg«, rief ihm der Jüngling ins Gedächtnis. Dann wandte er sich mit einer leichten Verneigung an den Woiwoden. »Ich fühle mich durch Eure Gastfreundschaft geehrt, Ihr vom Sultan Geliebter.« »Und ich mich durch Eure Anwesenheit, Torghuz Beg. Ist dies Euer erster Ausmarsch in den Balkan?« Torghuz lachte. »Nein, Woiwode. Ich habe vor sechs Jahren bei der Belagerung Konstantinopels und ein paar Jahre später bei der von Belgrad gekämpft.« »Interessant«, warf Herzog Stephan ein, indem er sich nach vorn über den Tisch beugte und zu dem Türken sah. »Ich war auch vor Belgrad. Soweit ich mich erinnere, hat mein seliger Gebieter, Hunyadi, euch damals einen ordentlichen Schlag versetzt.« Er lächelte bei seinen Worten, doch diese Anspielung auf eine der größten türkischen Niederlagen war eindeutig als Herausforderung gemeint. Torghuz Beg ließ sich davon nicht aus der Ruhe bringen. Mit einem Lachen entgegnete er: »Ja, die Krähen haben sich an unser beider Armeen gemästet. Kaiserreiche erstehen und fallen, und die einzig wahren Sieger sind die Vögel.« Der Woiwode lachte. »Und doch stehen einige Weltreiche länger als die anderen, liebster Beg. Ihr Osmanen hattet ein interessantes Jahrhundert, aber vielleicht hat sich das Blatt schon gegen euch gewendet.« »Wenn es Allahs Wille ist«, erwiderte Torghuz achselzuckend, »so sei's drum. Aber ich glaube, nicht. Wir verfügen über Konstantinopel, wir sind bis zur Morawa vorgedrungen und haben die Griechen zu Zehntausenden geschlachtet. Und nicht lange, dann rücken wir noch weiter vor. O ja, gar nicht lange.« »So ist es beschlossen«, sagte Kemal Pascha erbost. »Wir werden die verkommenen
christlichen Königreiche hinwegfegen und in allen Ländern der Erde Allahs Herrschaft errichten. « Torghuz Beg zwinkerte bei den Worten des Paschas kurz zu dem Woiwoden hinüber, und das fröhliche Funkeln in den Augen des jungen Mannes verriet dem Walachenfürsten, daß er seinen Onkel für einen ahnungslosen Schwärmer hielt. Vlad unterdrückte sein Bedürfnis zu lächeln, als er den belustigten Blick des Beg erwiderte. Offensichtlich war der Türke ebenso bedenkenlos, pragmatisch und göttlichen Ratschlüssen oder religiösen Geboten gegenüber ebenso gleichgültig wie er selbst. Ich muß unbedingt darauf achten, daß diesem Burschen nichts geschieht, dachte Vlad bei sich. Gut möglich, daß mit ihm in ein paar Jahren interessant zu verhandeln ist. Das Festmahl zog sich bis in die Nacht hinein, und das merkwürdige Beisammensein von Türken und Magyaren unter dem wachsamen Auge walachischer Soldaten endete nicht mit jener Art von Gewalt, wie man sie bei einer so explosiven Mischung wohl hätte erwarten dürfen. Dem ungarischen und rumänischen Gefolge wurde ein riesiges Mutterschwein aufgetragen, und den Muslimen kredenzte der Woiwode einen würzigen Eintopf von Ungewisser Zusammensetzung, bei dem es sich, wie er seinen Gästen versicherte, jedoch nicht um Schweinefleisch handelte. Zu guter Letzt war Kemal Pascha mit seiner Geduld am Ende. Nachdem die Fackeln in der kalten Nachtluft fast schon heruntergebrannt waren, wandte der türkische Gesandte sich an den Woiwoden und sagte gebieterisch: »Wir haben unseren Schmaus gehabt, Vlad, und die Regeln der Höflichkeit sind beachtet worden. Nun beantworte mir endlich die Frage, deret-wegen ich hierher entboten wurde.« »Und die wäre?« fragte Herzog Stephan beiläufig, während er aus einem goldenen Weinpokal trank. »Sei still, Magyarenhund!« spie der Pascha hervor. Stephan lächelte ihn gelassen an. »Die Schwierigkeit, lieber Stephan«, sagte der Woiwode, »besteht darin, daß der jährliche Tribut, welchen ich dem Sultan schickte, kein einziges Mal eingetroffen ist.« »Er
wurde gar nicht abgeschickt, Woiwode!« schrie der Pascha. »Mein Gebieter ist geduldig und langmütig, aber länger wird er auf die Zahlung des Tributs nicht mehr warten!« »Ja, ja«, sagte Vlad mit besorgtem Kopfnicken, während er gleichzeitig seine Stirn in Falten legte. »Aber da liegt eben die Schwierigkeit, liebster Pascha. Ich habe nicht die Absicht, ihn zu zahlen.« Kemal stieg die Zornesröte ins Gesicht. »Du junger Narr ... du treuloser, undankbarer ...«, stotterte er. »Was soll das heißen?!« Vlad hörte Torghuz Beg leise lachen und sagte zu ihm: »Ich glaube, der Beg weiß es. Warum erklärt nicht Ihr es Eurem Onkel?« Der junge Türke seufzte und lächelte. »Es war doch vom ersten Moment unseres Eintreffens offensichtlich, Onkel. Der Woiwode hat sich vom Sultan abgewandt und ist zum König von Ungarn übergelaufen. Er macht mit den Christenfürsten gemeinsame Sache gegen uns, und wir alle hier in diesem Schloß sind praktisch tot.« Kemal Pascha starrte seinen Neffen fassungslos an. »Wir sind die Sonderbeauftragten des Sultans! Unsere Person ist unantastbar!« Torghuz Beg nickte zustimmend. »O ja, gewiß. Darum wird man uns ja auch töten. So wird der Standpunkt des Woiwoden noch deutlicher.« »Trefflich gesprochen, Beg«, erwiderte der Woiwode, dem der Türke ungeheuer gefiel. »Aber für einen, der dem Tode gegenübersteht, seid Ihr recht ruhig und unbekümmert!« Der Beg zuckte die Achseln. »Wenn ich sterben muß, dann muß ich sterben. Wozu mich aufregen? Es hätte mir nur den Genuß des Festmahles verdorben.« »Bei Gott, Ihr seid ein Mann, Torghuz Beg!« lachte der Woiwode. »Doch offensichtlich habt Ihr das Festmahl nicht genossen. Ich habe Euch beobachtet. Ihr aßt sehr wenig.« Torghuz Beg langte hinüber und ergiff einen Kelch Wein. Ohne die wütenden Proteste seines Onkels angesichts dieses Verstoßes gegen die islamischen Gesetze zu beachten, trank er in tiefen Zügen von dem süßen rumänischen Jahrgang. »Es war das Fleisch, Woiwode. Es hat mir nicht
geschmeckt.« »Genug damit!« schrie Kemal Pascha, auf die Beine springend, und die Wachen, die ihn eskortierten, taten es ihm eilig nach. Sie erhoben sich von der Tafel und zückten ihre Schwerter. »Woiwode, im Namen des von Allah Geliebten, von Mohammed II., setze ich Euch ab!« Der Woiwode schnippte mit den Fingern, und die Hundertschaften, welche den ganzen Abend hindurch schweigend an den Mauern gestanden hatten, sprangen in Aktion. Schwerter wurden aus ihren Scheiden gerissen, Pfeile in Bogensehnen gespannt, Schilde in Abwehrstellung gehoben und die Handvoll türkischer Wächter entwaffnet, gebunden und in Minutenschnelle kampfunfähig gemacht. Der Woiwode lächelte den Pascha an. »Ich glaube, nicht, Erhabener.« Er nickte einem seiner Offiziere zu, und ein Trupp Soldaten sprang auf die Tribüne, um Kemal von seinem Platz zu zerren. Auch Torghuz Beg wurde ergriffen, doch der Woiwode sagte in scharfem Ton: »Er nicht. Laßt ihn, wo er ist.« In den Augen des Beg flimmerte es schwach, als spräche aus ihnen Erleichterung, doch er überspielte sie mit prahlerischem Frohsinn. »Bestimmt wird diese Galgenfrist doch eines Tages zur Begnadigung, Woiwode?« »In der Tat«, erwiderte der Woiwode lächelnd. »Ich brauche einen Boten, der dem Sultan eine Nachricht überbringt. Dafür habe ich Euch erkoren.« Diesmal war die Erleichterung des jungen Mannes offensichtlich. »Allah möge Euch segnen, Woiwode.« »Allah kann seinen Segen behalten«, versetzte der andere. »Ich habe mit dem muslemischen Joch auch den islamischen Glauben abgeworfen.« Er trat von der Tribüne auf den Pascha zu, der von zwei kräftigen Serben gehalten wurde. »Ich bedaure, lieber Pascha«, lächelte er mit schamloser Verlogenheit. »Aber schließlich und endlich haben wir jetzt Krieg.« »Du wirst es nicht wagen, mir etwas anzutun!« zeterte der Pascha. »Der Sultan wird mich rächen! Meine Söhne werden mich rächen!«
»Eure Söhne!« entgegnete der Woiwode. »Euer Jüngster ist doch hier und wird mit Euch sterben.« »Mein Ältester, Orkhan ...!« »Ach ja, Orkhan. Wenn ich es recht bedenke, ist er vor einem Weilchen tatsächlich hier gewesen.« Der Pascha erbleichte. »Was ... ? Wo ... ? Was habt ihr mit ihm getan? Wo ist er?« Der Woiwode beugte sich nach vorn, starrte dem Pascha geradewegs in die Augen und lächelte freundlich. »Ich habe ihn in den Eintopf gesteckt. Alles, was ich Euch sonst an Fleisch hätte auftragen können, war dieses köstliche Schwein, und ich wollte Euch doch nicht in Eurem religiösen Empfinden verletzen. « Damit wandte er sich ab, nickte einem seiner Offiziere kurz zu, und die Hinrichtung begann. Der Festschmaus dauerte noch viele Stunden, untermalt vom Todesgeschrei mehrerer Dutzend Türken, deren verstümmelte Leiber auf Dutzenden von langen Holzspießen steckten und deren Blut in glitschigen, glänzenden Pfützen auf den kalten grauen Steinboden des Burghofs triefte. Kemal Pascha starb auf der Stelle, als man ihm den grob zugespitzten Pfahl in den betagten Körper rammte, doch bei vielen seiner Wächter dauerte der Tod etliche grauenvolle Stunden lang. Auf der Tribüne saß lächelnd Woiwode Vlad IV. von der Walachei. Er hatte bemerkt, wie Herzog Stephans Gesicht zu Beginn der Hinrichtungen vor Übelkeit erbleicht war und nahm die mangelnde Standfestigkeit des Ungarn mit Mißfallen zur Kenntnis. Torghuz Beg hingegen schien beinah erheitert, obwohl sich seine gute Laune durchaus der Tatsache verdanken mochte, daß er saß und nicht auf einem Pfahl steckte. »Ihr werdet dem Sultan die Geschehnisse der heutigen Nacht berichten«, befahl der Woiwode. »Ganz, wie Ihr wünscht«, antwortete der Beg. »Und Ihr, lieber Herzog«, sagte der Woiwode und wandte sich an den Ungarn, »sorgt bitte dafür, daß König Matthias davon erfährt, wie ich unser Bündnis mit Türkenblut besiegelt habe.« »Das werde ich, Woiwode«, versprach Herzog Stephan. »Und ich will ihm berichten, wie schrecklich Ihr an Euren Feinden Rache nehmt.«
Der Woiwode zuckte die Achseln. »Die armen Teufel dort sind nicht meine Feinde, Euer Gnaden. Sie sind ein Unterpfand, nichts weiter. Und dies ist keine Rache.« Er nahm wieder auf seinem Stuhl Platz und lächelte durchtrieben. »Es ist ein Vergnügen ...« Der Nebel fegte die Szene davon, und die Jahre verflossen in Schweigen. Bilder von Kampf, Sieg und Niederlage trieben an Malcolms Bewußtsein vorüber. Er sah mit an, wie er, Vlad, vor einem bärtigen Patriarchen der Orthodoxen Kirche kniete und für seinen Glaubensabfall Buße tat. Er vernahm den brausenden Jubel des versammelten Adels aus dem Karpatengebiet, der ihn als seinen Erretter pries, als denjenigen, den Gott zur Wiederherstellung des Byzantinischen Weltreichs ausersehen hatte. Er beobachtete, wie das Jahr 1462 anbrach und er ein Heer über die Donau führte, um die osmanisch regierten Länder zu erobern. Er sah zu, als die Banner mit dem blutroten Drachen in den Kampf gegen Stern und Halbmond ritten, und er sah zu, wie seine Heerscharen von den türkischen Truppen unter dem Oberbefehl von Torghuz Beg Pascha niedergemetzelt wurden. Und wieder sah er sich auf der Flucht, auf der Flucht aus der Walachei, genau wie er es vor so vielen Jahren nach dem Verluste seines Throns schon einmal gewesen war, auf der Flucht in die vermeintlich sichere Obhut des Königs von Ungarn. Und er sah sich von den Magyaren verraten, von König Matthias Corvinus ins Verlies geworfen, eingekerkert für seine Mordgier und die Abscheulichkeiten, die er begangen hatte, wo immer seine Heerscharen im Laufe der letzten beiden Jahre umhergezogen waren, eingekerkert als Ketzer, als Glaubensabtrünniger, als Alchimist und Hexer — eingekerkert vor allem als Bürge, als Geisel, als Verhandlungsgegenstand zwischen dem König von Ungarn und dem Sultan des Osmani-schen Reiches, der die größte Lust verspürte, ihn zu Tode zu foltern. Er war verbittert, er war wütend, er war von Haß und von Enttäuschung erfüllt. Und in seiner Wut und seiner Bitterkeit wurde er noch kälter als zuvor, wurde noch grausamer vor Haß und vor Enttäuschung. Die Jahre vergingen, und
immer noch befand er sich in ungarischer Gefangenschaft. Doch dann ertönte ein Schrei. Und es gab ein Gefühl, als schlüge eine Faust auf einen Wangenknochen, und Malcolm Harker fand sich auf dem Pflaster der römischen Gasse wieder. Er hatte die Orientierung verloren und war verwirrt, aber ein zweiter Schlag in sein Gesicht brachte ihn wieder zur Besinnung, weckte sein Bewußtsein für die Unmittelbarkeit der Situation, in der er sich befand. Er hatte die Prostituierte bei der Kehle gepackt, würgte sie, und sie bearbeitete sein Gesicht schreiend mit den Fäusten. Sofort lockerte er seinen Griff, doch das entsetzte Mädchen drosch, heulend, zitternd und voller Wut weiter auf ihn ein. Malcolm stieß sich durch die Menschenmenge, die, vom Lärm herbeigelockt, zusammenzuströmen begann, und flüchtete aus der Gasse, ohne die Gebärden und Wutschreie zu beachten, die ihn auf seinem Weg begleiteten. Er lief blindlings durch die verschlungenen Straßen, lief, so schnell ihn seine Beine trugen, drehte kein einziges Mal den Kopf, um zu sehen, ob er verfolgt würde, und beschleunigte sein Tempo, als versuchte er, sich selber zu entkommen. Hilf mir, lieber Gott! dachte er, während er rannte. Lieber Gott, hilf mir! Ich habe es nicht unter Kontrolle! Die Erinnerungen, die Macht des Blutes, keins von beidem habe ich unter Kontrolle! Der Staub ist Hunderte von Meilen entfernt, aber das macht nichts, denn das Blut ist wach! Das Blut ist wach! Malcolm fühlte sich unrein, besudelt und verseucht. Er lief, bis er an eine kleine Kirche gelangte, durch deren Buntglasfenster ein schwacher Lichtschein fiel - eine von tausenden Kirchen, mit denen Roms Straßenzüge übersät sind und die, von Touristen kaum beachtet, im Schatten der großen Basiliken stehen. Vor der Kirche hielt er abrupt und nach Atem ringend inne. Er vernahm eine leise Stimme, die drinnen psalmodierte, und ein schwacher Weihrauchduft stieg ihm in die Nase. Gottesdienst! dachte er. Es ist gerade ein Gottesdienst! Lucy Westenra hatte recht gehabt. Sein Körper war mit gottlosem Blut verunreinigt, und nur durch den regelmäßigen-Empfang des genauen Gegenteils ließ sich die Macht des Blutes unterdrücken. Der grauenhafte Schmerz, den er
erst vor kurzem erlebt hatte, als er drüben, zu Hause in Forest Hills, zur Heiligen Kommunion gegangen war, fiel ihm wieder ein, und er machte sich innerlich gefaßt auf das, was er tun mußte. Ich muß diese Verunreinigung ausbrennen, dachte er. Die Schmerzen sind mir gleich. Die Qualen sind mir gleich. Nur das Blut Christi kann mir helfen. Nur das Blut Christi und nichts anderes ... Malcolm wußte, daß er nicht klar denken konnte, aber er wußte auch, daß das, was er vorhatte, unerläßlich war. Als er die schwach erleuchtete Kirche betrat, merkte er, daß niemand der Meßfeier beiwohnte außer dem alten Priester und einem recht ermüdet wirkenden Altarjungen. Die römisch-katholische Lehre besagt, daß der Gottesdienst mehr ist als eine Anbetungsfeier. Er ist ein unaufhörliches Opfer und muß gehalten werden, auch wenn nur der Priester anwesend ist. Und aus diesem Grunde verrichtete der alte Geistliche seine liturgischen Pflichten trotz der leeren Bänke voller Andacht und Hingabe. Wild entschlossen schritt Malcolm durch das Mittelschiff der kleinen Kirche. Der Priester sah ihn kommen und lächelte, da er annahm, Malcolm wäre erschienen, um das Sakrament zu empfangen. Sein Lächeln verblaßte jedoch zu einem Ausdruck erst der Wut, dann der Verwirrung und schließlich der Furcht, als Malcolm die Stufen hinauf, am Altargitter vorbei und mir nichts, dir nichts mitten in den Chorraum stürmte. Er stieß den Priester am Altar beiseite und jagte den Meßknaben mit einem harten Fußtritt in die Lenden aus der Kirche. Dann riß er den Kelch mit Meßwein vom Altar und schüttete sich die geweihte Flüssigkeit auf einen Zug in die Kehle. Es brannte wie Feuer, fraß sich in seine Eingeweide, aber er machte sich nichts daraus, sondern hieß den Schmerz, hieß die Höllenqual willkommen, wie ein Verwundeter vielleicht den Schmerz des heißen Eisens willkommen heißt. Er ließ den Kelch zu Boden fallen, schnappte sich dann die Hostie von dem kleinen Silberteller, auf dem sie lag, stopfte sie sich in den Mund und murmelte: »Heile mich, errette mich, vergib mir ...« Dann schrie er vor Qual. Er ergriff das kleine Silbergefäß,
das den zusätzlichen Wein für die Eucharistiefeier enthielt, und führte es an seine Lippen. »Jesus, hilf mir, hilf mir!« schrie er und goß sich daraufhin den Wein in den Mund. Die Schmerzen waren so stark, daß er sich krümmte, blindlings nach irgend etwas griff, woran er sich festhalten konnte. Seine Finger bekamen das Kruzifix zu fassen, das auf dem Altar stand, und das letzte, was er wahrnahm, bevor er in Bewußtlosigkeit fiel, waren ein Zischen und der Geruch verschmorten Fleisches - seine Hand brannte durch bis auf den Knochen. Die Morgendämmerung fand ihn auf der Piazza vor seinem Hotel, wo er am Springbrunnen vorüberstolperte. Der alte Priester, ein mitleidsvoller, fürsorglicher Mann, hatte nicht die Polizei gerufen, sondern sich vielmehr des offensichtlich geistesgestörten jungen Mannes nach besten Kräften angenommen. Er hatte Malcolm beruhigend an sich gedrückt, während dieser weinte, und dabei Trostesworte gesprochen, die der andere nicht verstehen konnte« Dann war Malcolm, immer noch von Schmerzen zerrüttet, aus der Kirche gestolpert und ziellos durch Rom geirrt, bis er schließlich vor den Eingang seines Hotels gelangte. Die Sonne beschritt gerade ihre Bahn in den Morgenhimmel. Ohne die Portiers und Gepäckträger zu beachten, ging er auf das Zimmer, das er und Holly für ihren zweitägigen Romaufenthalt genommen hatten, und steckte mit verschrammten, zitternden Händen seinen Schlüssel in das Türschloß. Drinnen erwartete ihn Holly mit einem Gesicht, das tiefsten Kummer und Besorgnis ausdrückte. »Alles in Ordnung?« fragte sie leise. Er schüttelte langsam seinen Kopf. »Heute nacht ... heute nacht ...« »Mach dir keine Gedanken wegen heute nacht«, sagte sie, da sie nicht wußte, welche Ungeheuerlichkeit ihm zugestoßen war. »Das ist egal. Verrat mir einfach, ob es dir gutgeht.« »Ich habe mich verbrannt«, röchelte er durch seine wunde, verbrühte Kehle. »Bei einer ... Kommunion ... in der Kirche ...«
Sie nickte. Sie verstand, was er ihr klarzumachen versuchte. »Willst du in ein Krankenhaus?« Er schüttelte den Kopf. »Zwecklos ... zwecklos ... Holly, ich ...« »Schluß jetzt, Mal«, sagte sie mit sehr fester, ruhiger Stimme. »Solange du dich nicht ernstlich verletzt hast, habe ich dir etwas zu sagen.« Sie schien einmal tief Luft zu holen. »Ich fliege heute nach Hause, falls es sich machen läßt, und wenn ich erst einmal zu Hause bin, sollten wir uns vielleicht besser nicht mehr sehen. Es ist einfach zuviel, Mal, es ist einfach zuviel. Ich habe zwar Schuldgefühle so, als ließe ich dich im Stich oder was -, aber tut mir leid, das ist mir egal.« Sie schien ihre Tränen krampfhaft zu unterdrücken. »Holly ...«, wimmerte er. »Nein, Malcolm, bitte sei still. Ich halt das einfach nicht mehr aus, es geht einfach nicht.« »Holly ...«, wiederholte er und wurde dann von einem Klopfen an der Tür unterbrochen. Er machte auf, und mit einer leichten Verbeugung reichte ein Page ihm ein zusammengefaltetes Stück Papier. Malcolm schloß die Tür, ohne an das Trinkgeld zu denken, das der Page ganz offensichtlich erwartete, faltete den Zettel auseinander und las ihn schweigend. Dann begann er den Kopf zu schütteln. »Dieser hirnverbrannte Vollidiot! Mein Gott, das kann doch nicht sein Ernst sein!« sagte er. Holly ging zu ihm hinüber. »Was ist, Malcolm?« Er reichte ihr das Stück Papier und nahm dann, weinend und mit an die Stirn gepreßten Fäusten, auf dem Bett Platz. Holly betrachtete den Zettel und ließ ihren Blick zuerst auf die krakelige Unterschrift fallen, ehe sie den Gesamtwortlaut der Botschaft las. Es war eine Nachricht von Jerry Herman, die grußlos begann und offenbar in Eile geschrieben worden war: Sie hat mich letzte Nacht beim Kolosseum gefunden. Sie ist uns gefolgt, sie ist die ganze Zeit in unserer Nähe gewesen. Ich muß ihr helfen, ich habe keine Wahl. Tut mir leid, aber ich kann nicht anders.
Sie will englische und rumänische Erde nach New York schaffen, sie will nach Amerika, und ich muß ihr helfen, dorthin zu kommen. Ich habe keine Wahl. Sie sagt, wenn ich ihr helfe, wird sie mich frei und in Ruhe lassen, ihr Blut irgendwie aus mir heraus nehmen. Es ist meine einzige Hoffnung, verstehst du? Tut mir leid, aber ich habe keine Wahl. Holly seufzte. »Armer Jerry.« Sie blickte zu Malcolm hinüber. »Die macht ihm doch wohl was vor, oder?« »Natürlich«, antwortete er. »Sie hat ihn zu ihrem Sklaven gemacht. Sie wird ihn bis zu seinem Tode unter Kontrolle behalten, und danach wird er werden wie sie - wie wir!« Sie runzelte die Stirn. »Was soll das heißen, wie wir?« »Ist dir denn nicht klar, was sie vorhat? Es geht um unsere Familie, um mich, meine Schwester und meinen Großvater. Sie sind in New York, hinter ihnen ist er her.« »Hinter ihnen ist er her?« wiederholte sie verwirrt. »Wer ist hinter ihnen her? Jerry?« »Dracula!« schrie er. »Er ist immer noch am Leben, in Lucy Westenra, in mir, in meinem Großvater und in meiner Schwester! Er streckt aus seinem Grabe die Hand nach uns aus, um sich an meiner Familie zu rächen, an meinen Urgroßeltern.« Er verstummte abrupt, und während er auf die Brandwunden in seinen Händen starrte, wurde sein Gesicht plötzlich hart und entschlossen. Holly beobachtete ihn voll unangenehmer Vorahnungen. Zuletzt fragte sie: »Malcolm? Was geht dir durch den Kopf?« »Also gut«, flüsterte er wie zu sich selbst und ohne auf ihre Frage zu achten. »Ich weiß, wohin sie will, und ich weiß, warum. Ich weiß, wo sein Blut sie hinführt, und ich weiß, weshalb es sie dorthin führt.« Er begann, auf die Tür zuzugehen. »Meine Urgroßeltern und ihre Freunde haben ihn schon vernichtet. Er ist nicht unbesiegbar! Er ist nicht unbesiegbar!« »Wohin gehst du?« fragte sie. »In die Kirche«, antwortete er. »In jede, die ich finden kann. Ich werde heute den ganzen Tag das Sakrament zu mir nehmen - und auch die ganze Nacht, wenn es sein muß. In einer Stadt wie Rom gibt es täglich bestimmt Tausende
von Gottesdiensten. Ich werde die Kommunion zu mir nehmen, bis der Schmerz aufhört, bis ich geläutert bin, bis ich diese verfluchte Sache unter Kontrolle gebracht habe. Lucy geht nach Amerika, und ich muß für sie gewappnet sein. Ich muß für ihn gewappnet sein.« Er schloß die Tür hinter sich und ließ die bekümmerte und verängstigte junge Frau allein im Zimmer. Er bat sie nicht mitzukommen. Er wollte nicht, daß sie mitkäme. Der Anblick des Mädchens, das er angegriffen hatte, hatte sich ihm ins Gedächtnis gebrannt, und er wollte Holly keiner Gefahr aussetzen. Natürlich konnte sie das nicht verstehen. Während sie so dasaß und verdrossen die geschlossene Tür anstarrte, dachte sie: Armer Malcolm. Ich wünschte, ich könnte ihm helfen. Ich wünschte, ich könnte ihn lieben. Aber mehr davon verkrafte ich einfach nicht, dachte sie seufzend. Das Ganze ist einfach zu bizarr. Kapitel 14 Die Taxifahrt vom Kennedy Airport in South Queens nach Forest Hills verlief in ebensolcher Anspannung und ebenso wortkarg wie der lange Transatlantikflug von Europa. Holly hatte ihre Entscheidung getroffen, und so sehr es ihn wurmte, so hatte Malcolm doch volles Verständnis. Sie waren nicht verheiratet. Sie hatten sich gegenseitig nichts geschworen. Sie war nicht durch eheliche Pflichten »in guten wie in schlechten Zeiten« an ihn gebunden. Und selbst wenn, so hätte Malcolm doch verstanden, daß Holly nicht länger .bereit wäre, diese Pflichten zu tragen. Hier ging es nicht um eine Krankheit im herkömmlichen Sinne oder um die normalen Wechselfälle des Lebens. Nur aufgrund von Malcolms falschen Bemühungen wurden sie wahrscheinlich in diesem Augenblick von einem Ungeheuer verfolgt. Und natürlich wußte Holly, daß alle Kinder, die Malcolm eines Tages vielleicht zeugen würde, sich demselben furchtbaren Vermächtnis gegenübersähen, unter dem er zu leiden hatte. So versuchte er erst gar nicht, sie zurückzuerobern oder sie mit schönen Worten und süßen Versprechungen zu
ködern. Er verschwieg ihr, was er in jener Nacht in Rom getan hatte, bemühte sich aber auch nicht, die Schwere seines Problems herunterzuspielen. Den ganzen Weg vom Da Vinci Airport zum Kennedy Airport in New York sprachen sie kaum ein Wort miteinander, und in dem Taxi, das sie nach Forest Hills brachte, überhaupt keines. Als die Continental Avenue näherkam, räusperte sich Malcolm und sagte: »Ich denke, mein Großvater würde sich vielleicht freuen, dich zu sehen, dir guten Tag zu sagen und so weiter -falls du nichts dagegen hast. Ich bringe dich dann anschließend in deine Wohnung.« »Aber sicher, Mal«, antwortete sie ruhig. »Dein Großvater ist ein liebenswürdiger alter Mann. Ich würde ihm selbst gern guten Tag sagen.« Malcolm beugte sich nach vorn, um dem Taxifahrer ein paar kurze Anweisungen zu geben, und am Queens Boulevard bogen sie ab in die Ascan Avenue, Richtung Granville Place. Es war noch früh am Abend, doch gleich nach Sonnenuntergang hatte man die Straßenbeleuchtung eingeschaltet. Malcolm glaubte, eine Art kühlen Luftzug zu verspüren, was für den Hochsommer ungewöhnlich war. Bei genauerer Betrachtung wurde ihm jedoch klar, daß er nur innerlich fröstelte. Die Erkenntnis ging ihm an die Nerven. Er war sicher, daß die Qualen, die er an jenem letzten Tag in Rom erlitten hatte, als er Stunde um Stunde in einer Kirche nach der anderen die geweihte Hostie zu sich nahm, bis der Schmerz nachgelassen und schließlich ganz aufgehört hatte, daß diese Qualen ihm die Herrschaft über die unmenschliche Verseuchung in seinem Blut zurückgegeben hatten. Aber er fühlte sich immer noch schwach, wenn die Sonne, und stark, wenn der Mond schien, verspürte immer noch kein Hungergefühl, wenn er es hätte haben müssen, mußte sich immer noch zum Essen zwingen, um nicht einfach »einzugehen«. Und das Frösteln, das ihm in den Knochen steckte, war unnatürlich und bedrohlich. Vor Malcolms Wohnsitz machte das Taxi am Randstein halt, und er und Holly stiegen still zur Vordertür hinauf. Hinter ihnen ging der Chauffeur mit den beiden Koffern. Er nahm an, daß jeder, der in Forest Hills Gardens lebte, in bezug auf Trink-
geld wahrscheinlich großzügig war, und er hatte sich nicht getäuscht. Malcolm gab ihm geistesabwesend eine Zwanzig-Dollar-Note, wandte sich ab, um die Tür aufzuschließen, und nahm die Bewegung des Taxifahrers gar nicht wahr, der instinktiv nach dem Wechselgeld griff. Als Malcolm die Tür aufstieß, entfernte der Fahrer sich schleunigst. Malcolm und Holly betraten die merkwürdig stille Eingangshalle des Hauses. So früh am Abend hätte der alte Quincy eigentlich gerade die Nachrichten anschauen müssen, aber es war nicht das mindeste Geräusch zu hören. Sie begaben sich ins Wohnzimmer und fanden Malcolms Schwester, die, in einen großen Sessel gestreckt, geistesabwesend vor sich hin starrte. Als sie die Schritte hörte, wandte sie sich um, stand auf und ging die beiden Heimkehrer begrüßen. Malcolm trat ihr entgegen und betrachtete eingehend ihr Gesicht, die rotgeweinten Augen, den von Falten gesäumten, kummervoll heruntergezogenen Mund. Da er im Laufe der letzten paar Wochen kaum einen Gedanken an Rachel verschwendet hatte, kam es ihm so vor, als sähe er sie nun zum erstenmal. Die ganzen Jahre über, während er in seliger Unwissenheit herangewachsen war, hatte sie die Last des schrecklichen Geheimnisses mit sich herumgetragen. Pausenlos hatte sie ihn behütet, an ihm herumgenörgelt, sich Sorgen um ihn gemacht und ihn geliebt, während er nach Herzenslust und ohne Rücksicht auf ihre Gefühle seinen jugendlichen Dickschädel aufgesetzt hatte. Als er ihr nun in die Augen sah, verspürte er ein Gemisch aus Schuld, Liebe und Einsicht, und er wußte, daß er sie genauso brauchte wie sie ihn. Sie waren beide durch denselben Fluch verbunden, Erben derselben Seuche, ein Zwillingsbastard von satanischer Abkunft. Als er zu sprechen versuchte, schien etwas in Malcolms Kehle zu brechen, und er war außerstande, seine Tränen zurückzuhalten. Rachel schloß ihn in die Arme, drückte ihn an sich, preßte ihren Kopf an seine Schulter, strich ihm übers Haar und flüsterte ihm ins Ohr, während ihr selbst die Tränen kamen. Holly, die fühlte, daß auch sie das Weinen unterdrücken mußte, stand in respektvollem Schweigen
daneben. Nach einiger Zeit sah Rachel zu ihr hinüber und lächelte traurig. »Hallo, Miss Larsen«, sagte sie. »Tut mir leid, daß Sie da mit hineingezogen wurden.« »Ich weiß«, erwiderte Holly sanft. »Mir tut es selber sehr, sehr leid, Rachel. Ich bedaure, was ich zu Ihnen gesagt habe.« »Wo ist Opa?« schniefte Malcolm. »Und wo ist Daniel?« Rachel seufzte. »Großvater ist auf seinem Zimmer. Er ruht sich gerade aus. Er ist sehr krank, Malcolm. Ich glaube, die Anspannung und die Sorge, denen er seit deiner Abreise pausenlos ausgesetzt war, haben seine Genesung, nun ja, behindert.« Malcolm sank in einen Sessel und schüttelte den Kopf. Wieder ein Tod, an dem ich schuld bin, dachte er. Und als hätte sie seine Gedanken zumindest teilweise erraten, fügte Rachel hinzu: »Er ist ein sehr alter Mann, Malcolm. Du darfst dir keine Vorwürfe machen. Diesmal wäre es ohnehin so gekommen.« Da Malcolm nicht zum Streiten aufgelegt war, nickte er nur. »Und Daniel?« Rachel nahm ebenfalls Platz und antwortete: »Der ist weg. Hat mich sitzenlassen. Ist einfach auf und davon.« Ihr Gesicht wirkte starr und unempfindlich. »Aber weshalb?« fragte Holly. »Sie und er schienen sich doch immer so ... na ja, so gut zu verstehen eben.« Rachel lachte bitter. »Da Sie unsere Familie zum Großteil ohnehin schon kennen, Miss Larsen, können Sie auch gleich alles erfahren. Schon früh in meinem Leben habe ich beschlossen, niemals Kinder in die Welt zu setzen, diese, diese Krankheit an niemand weiterzuvererben. Ich habe Daniel hauptsächlich deshalb geheiratet, weil er zeugungsunfähig ist. Ich habe ihn geheiratet, weil ich Gesellschaft wollte. Und er nahm mich, weil ich relativ vermögend bin und aus einer angesehenen Familie stamme.« Wieder lachte sie leise. »Angesehene Familie!« Sie schüttelte den Kopf über die Ironie dieses Ausdrucks und fuhr dann fort. »Geliebt haben wir uns nie, nicht so wie ... nun ja, nicht im herkömmlichen Sinne. Nachdem du, Malcolm, uns angerufen und uns über die Vorkommnisse in England in-
formiert hast, über die Sache mit Lucy Westenra, meinte ich, daß man Daniel am besten in die ganze Geschichte einweihen sollte. Daß er schockiert und verstört sein würde, damit hatte ich ja gerechnet. Aber er war außer sich, er schäumte vor Wut. Und dann hat er seine Koffer gepackt und ist gegangen.« Malcolm schloß die Augen und seufzte. »Tut mir leid, Rachel, ehrlich. Auch das ist meine Schuld, meine Schuld ganz allein.« Wütend schlug er mit der Faust auf die Sessellehne. Rachel streckte eine Hand aus und legte sie ihm auf den Arm. »Malcolm«, sagte sie beschwichtigend, »hör auf mit diesem Unsinn. Nichts davon ist deine Schuld. Es ist einzig und allein die Schuld dieses Ungeheuers, dieser dreimal verfluchten Bestie!« Ihre Stimme geriet plötzlich ins Zittern, als stünde Rachel am Rande der Hysterie. »Ich bete zu Gott, daß er dieses Scheusal in alle Ewigkeit leiden läßt!« »Rachel, bitte«, sagte Malcolm rasch. »Wir können es uns nicht leisten, den Kopf zu verlieren, nicht jetzt. Wir müssen ruhig bleiben und besonnen.« Er bemühte sich, stark zu sein, obwohl sein eigener Zorn und Kummer überwältigend waren. »Wir haben ein neues Problem.« Rachel sah ihn überrascht an. »Ein neues Problem?! Du meinst, ein anderes als unseren Zustand?« Er nickte. »Vor unserer Abreise aus England hat Lucy meinen Freund Jerry gebissen. Sie ist uns nach Rumänien gefolgt und hat ihm von ihrem Blut zu trinken gegeben.« Rachel prallte zurück, als hätten seine Worte sie körperlich getroffen, und sank wieder in ihren Sessel. »Gott steh uns bei!« »Sie ist uns bis Rom gefolgt. Ich habe Großvater schon am Telefon erzählt, daß sie mir Draculas Überreste weggenommen hat. Das weißt du doch, oder?« Seine Schwester nickte apathisch. »Nun ja, als wir in Rom waren, zwang sie Jerry, ihr zu helfen, damit sie hierher in die Vereinigten Staaten kommen konnte. Dafür hat sie versprochen, ihn freizugeben.« »Und er hat ihr geglaubt?« »Ja.« Rachel schüttelte den Kopf. »Dieser Einfaltspinsel. Dieser bedauernswerte Einfaltspinsel.«
»Rachel«, sagte er langsam, »ich glaube, du folgst mir nicht ganz. Draculas Überreste sind hier, in unserer Heimat.« Sie starrte ihm ausdruckslos ins Gesicht. »Verstehst du denn nicht? Hinter uns ist sie her, er ist hinter uns her, hinter dir, mir und Großvater. Weißt du noch, was er zu unserer Urgroßmutter Mina gesagt hat? Er sagte, seine Rache erstrecke sich über die Jahrhunderte. Genau das ist nämlich der Fall. Er ist seit über hundert Jahren tot und immer noch hinter uns her.« Mit einem Hüsteln mischte sich Holly in das, was zu einer Privatunterhaltung geworden war. »Verzeihung. Ich glaube, ich gehe einmal nach oben und statte Mr. Harker einen Besuch ab, wenn Sie nichts dagegen haben. Sie beide sollten das wohl besser unter vier Augen besprechen.« »Aber ja doch«, erwiderte Rachel. »Sein Zimmer ist das erste gleich oben neben der Treppe.« Als Holly sich umdrehte und auf den Weg ins Obergeschoß machte, wandte sich Rachel an ihren Bruder. »Du kannst dieses Mädchen nicht heiraten, Malcolm«, sagte sie. Er nickte. »Ich weiß. Wir sind schon auseinander. Ich habe sie nur mit nach Hause gebracht, weil ich mir dachte, Großvater würde ihr vielleicht gern guten Tag sagen.« »Recht so«, murmelte sie. »Das muß aufhören. Mit unserer Generation muß Schluß sein. Es darf keine neuen Kinder geben. Mach es so wie ich, Malcolm, zumindest nach der gleichen Grundidee. Such dir ein Mädchen, das keine Kinder will, oder eines, das keine haben kann. Laß dich sterilisieren ...« »Rachel«, fiel er ihr ins Wort, »hör mir zu. Ich bin noch nicht zu Ende.« Er beschrieb ihr grob die Auswirkungen, die die unmittelbare Nähe der Überreste auf ihn gehabt, berichtete ihr von den traumähnlichen Visionen, die er erlebt hatte. Das Mädchen in Rom brachte er nicht zur Sprache. »Es ist, als wäre das Blut selbst etwas Lebendiges«, beendigte er seine Erzählungen, »etwas mit einem Eigenleben, einer eigenen, von mir gesonderten Existenz. Verstehst du, was ich sagen will?« Sie runzelte die Stirn. »Ich bin mir nicht sicher.« »Deshalb ist Lucy in die Vereinigten Staaten gekommen Deshalb hat sie mir die Überreste gestohlen.
Das ist der eigentliche Grund. Sie möchte das Blut zu vollem ... wie soll ich es nennen ... zu vollem Erwachen bringen, vollem Bewußtsein oder so. Wenn es ihr gelingt, werden du, ich und Großvater quasi Roboterarme dieser toten Kreatur sein. Dra-cula wird in uns und durch uns fortbestehen.« Rachel schien gleichzeitig wütend und ängstlich zu werden. »Das ist ja unfaßbar! Das ist ja grauenhaft!« »Ja, das ist es«, stimmte er ihr zu, »und wir müssen uns darauf einstellen, uns dagegen wappnen. Zuerst müssen wir Jerry aufspüren, das ist der erste Schritt. Sobald ich Holly heimgebracht habe, werde ich mich auf die Suche nach ihm machen. Wir müssen ihn dazu bringen, daß er uns verrät, wo Lucy tagsüber schläft, wo sie den Staub des Grafen versteckt hat. Wir müssen sie finden, sie vernichten und dann die Überreste verstreuen, sie in den Hudson kippen oder so was. Sobald dies geschehen ist, wird die einzige noch bestehende Gefahr das Blut in unseren Adern sein. Und wenn wir sterben, dann stirbt es mit uns. Aber wir müssen umsichtig und gefaßt sein.« Rachel nahm Malcolms Worte schweigend in sich auf, ließ sie sich durch den Kopf gehen und nickte dann. »Was also soll ich tun?« »Du mußt das Haus gegen Vampire absichern. Kreuze und Knoblauch an sämtlichen Türen und Fenstern. Wenn du kannst, dann besorg dir Weihwasser von Pfarrer Henley. Und wenn möglich, dann stiehl auch gleich ein paar geweihte Hostien und geweihten Meß wein.« »Malcolm!« »Rachel, über religiösen Anstand können wir uns jetzt nicht den Kopf zerbrechen, nicht jetzt. Gott wird uns jedes Sakrileg vergeben, da bin ich sicher. Denk daran, wir kämpfen gegen Satan.« Sie schien nicht ganz überzeugt, ließ es aber gut sein. »Und du? Was wirst du tun?« »Ich werde, wie gesagt, nach Jerry suchen. Ich glaube, er hat Rom einen Tag vor Holly und mir verlassen. Das heißt, daß er und Lucy schon genügend Zeit hatten, einen Platz für sie zu finden, wo sie tagsüber schlafen kann. Für irgend etwas anderes reichte ihre Zeit nicht aus. Du mußt dich sofort um die Absicherung des Hauses kümmern - noch bevor
sie hereinzu-gelangen versucht. Und denk daran, dazu ist sie nicht imstande, solange niemand sie einlädt - eine der Hürden, die sie nicht überwinden und die wir uns zunutze machen können.« »Wo willst du nach ihm suchen?« fragte sie. »Anfangen werde ich im Strand, in der Bar, in der Jerry und ich arbeiten.« Er zögerte. »Gearbeitet haben, schätz ich. Wir haben unseren Urlaub so überzogen, daß wir wahrscheinlich beide entlassen sind, falls das noch etwas ausmacht.« »Nicht sehr viel«, murmelte sie. »Nein, unter diesen Umständen nicht«, stimmte er zu. »Wenn er nicht dort ist und seinen Kummer ertränkt, sehe ich in seiner Wohnung, in der seiner Mutter und an den anderen Orten nach, wo er sich so rumtreibt. Mir fallen da gleich Dutzende ein.« »Gut.« Mit ihrer gewohnten Geschäftsmäßigkeit erhob sich Rachel aus dem Sessel. »Dann machen wir uns besser an die Arbeit. Geh rauf und leiste deinem Großvater eine Zeitlang Gesellschaft, Malcolm. Ich gehe zum Gemüsehändler und kaufe Knoblauch.« Als Rachel das Haus verließ, stieg Malcolm die Treppe zum Schlafzimmer seines Großvaters hinauf. Hätte ich bloß die Finger von allem gelassen, dachte er, während er die Schlafzimmertür aufstieß. Wäre ich bloß nicht so verdammt selbstsicher gewesen, so verdammt vorlaut. Jerry würde jetzt nicht in der Tinte sitzen, Lucy wäre nicht hier, geschweige denn wieder »untot«, Großvater wäre wahrscheinlich nicht krank, Daniel hätte Rachel nicht sitzenlassen und Holly nicht mich. Tolle Leistung, Malcolm, großartige Leistung. Echt gut gemacht. Bei seinem Eintreten sah er Holly auf der Bettkante des alten Mannes sitzen. Sie flüsterte ihm beruhigend zu. Malcolm hörte Quincys zitterige Stimme etwas so leise sagen, daß man es nicht verstehen konnte, und Holly reagierte mit sanftem, perlendem Lachen. Malcolm kam sich fast vor, als dränge er sich in eine intime Unterhaltung, aber er wußte, daß es, so viel sein Großvater für Holly übrighatte und so gern sie ihrerseits den alten Mann mochte, keine Zukunft für sie beide - Holly
und ihn selber - gab, keine Zukunft für ihn oder sonst wen. Er trat vor und setzte sich auf die andere Seite des Bettes. »Hallihallo, Großpapa«, sagte er mit gespielter Fröhlichkeit. Quincy ergriff Malcolms Hand und drückte sie schwach. »Hallo, Junge. Schön, daß du noch heil bist.« »Gerade noch mal davongekommen«, lachte er. »Wie geht es dir?« Quincy antwortete mit einem sehr leichten Achselzucken. »Ich habe ein langes Leben gehabt. Ich kann nicht klagen.« »Ach, reden Sie doch nicht so, Mr. Harker«, sagte Holly. »Sie werden schon wieder gesund.« »Natürlich wirst du«, bestätigte Malcolm rasch. »Meine dumme kleine Eskapade hat dich einfach mitgenommen, das ist alles. Tut mir leid für dich.« Quincy lächelte und nickte. Er nickte jedoch nicht zustimmend, sondern um anzudeuten, daß sie sich ihre Redensarten sparen könnten. »Ich muß mich ein Weilchen ausruhen, Junge. Bring das Mädchen nach Hause und komm mich später wieder besuchen. Abgemacht?« »Sicher, Großvater, sicher. Schlaf du nur ein bißchen. Wir sprechen uns später.« Damit führte er Holly aus dem Zimmer und schloß die Tür hinter ihnen. Während sie die Treppe hinabstiegen, fragte er: »Was hältst du von seinem Gesundheitszustand?« Sie schüttelte den Kopf. »Vor ihm wollte ich's ja nicht zugeben, Mal, aber er hat recht. Ich glaube, seine Uhr ist abgelaufen. Meine Großmutter starb an Altersschwäche, als ich ein kleines Kind war, und sie hat genauso geklungen und so ausgesehen wie er.« Malcolm schüttelte den Kopf. »Meine Schuld, genau wie alles andere.« »Nicht alles«, erwiderte sie. »Eigentlich ist es die Schuld von Dracula, wie Rachel bereits gesagt hat.« Sie traten schweigend aus dem Haus. Malcolm verschloß die Tür hinter ihnen. Auf dem Weg von Granville Place Richtung Austin Street gab es keine Berührungen zwischen ihnen. Sie hielten weder Händchen noch legte er seinen Arm um ihre
Taille. Sie waren jetzt kein Paar mehr, und jeder von ihnen befolgte selbstbewußt die Anstandsregeln ihrer neuen Situation. Als sie sich der Bums Street näherten, sagte Holly: »Ich könnte jetzt einen Drink vertragen. Und du, Mal?« »Klar«, antwortete er, indem er ihren Koffer von der rechten in die linke Hand nahm. »Ich hatte ohnehin vor, ins Strand zu gehen, nachdem ich dich nach Hause gebracht hätte.« »Um nach Jerry zu suchen?« »Ja. Irgendwo muß man ja anfangen.« »Na ja«, sagte sie, »ich hätte Lust auf einen Drink, ob er nun da ist oder nicht.« Während sie an der Burns Street vorbei über die Ascan Avenue gingen, verfielen sie abermals in Schweigen. So, dachte Malcolm, da laufe ich jetzt mit einer Frau, die ich seit Monaten kenne und liebe, die Straße entlang, und trotzdem werde ich in ihrer Gesellschaft verlegen, und es fällt mir nichts zu reden ein. Bei ihrem Eintritt ins Strand sahen sie Jerry Herman am Ende der noch menschenleeren Theke sitzen, wo er trübsinnig in sein halbleeres Glas Bier starrte. Malcolm und Holly gingen zu ihm hinüber und nahmen rechts und links neben ihm Platz. Er drehte seinen Kopf langsam von Malcolm zu Holly und wieder zurück. Dann brach er in Tränen aus. »Tut mir leid.« Malcolm nickte und legte Jerry eine Hand auf die Schulter. »Ich weiß, Jer. Ich versteh dich ja.« »Sie hat gesagt, sie würde ihr Blut aus mir herausnehmen. Sie hat es versprochen.« »Natürlich hat sie das, Jerry«, erwiderte Holly. »Und du weißt, daß sie gelogen hat, nicht wahr?« Er nickte und ließ seinen Kopf auf den Tresen hinabsinken. Offenbar hatte ihn der Kummer schon fast gebrochen. »Sie hat mich ausgelacht. Als ich sie hierhergeschafft und sie gebeten habe, ihren Teil des Abkommens einzuhalten, hat sie mir glatt ins Gesicht gelacht.« Malcolm seufzte. »Jerry, was dir zugestoßen ist, war meine Schuld, nicht deine. Mach dir keine Vorwürfe. Man kann diesen Kreaturen einfach nicht trauen. Diese bittere Erfahrung haben wir alle machen müssen.«
Jerry Herman ergriff Malcolms Arm, hielt sich daran fest und drückte ihn mit fieberhafter Angst. »Was soll ich denn jetzt tun, Mal? Was soll ich denn nur tun?« »Als erstes werden wir jetzt einmal alle einen Drink nehmen«, erwiderte Malcolm und winkte dem Barkeeper - aller Wahrscheinlichkeit nach mein Nachfolger, dachte er düster-, der bei der Kasse stand. »Einen Bourbon für mich und meine Freundin und ein Bier für ihn. Und bringen Sie mir auch ein Bier.« Er warf Holly einen Blick zu. »Wein?« fragte er. »Scotch on the rocks«, sagte sie dem Barkeeper. »Einen doppelten bitte.« Jerry wischte eine Träne fort. »Holly, tut mir leid, daß ich euch zwei so habe sitzen lassen. Ich meine ...« »Jerry, vergiß es«, erwiderte Holly. »Du bist mir keine Abbitte schuldig. Ich ... na ja, ich hab ohnehin mit all dem nichts mehr zu tun.« Jerry sah kurz von Holly zu Malcolm, setzte schon zu einer Bemerkung an, besann sich dann eines Besseren und wandte seine Aufmerksamkeit wieder dem Glas Bier zu, das er fest in seiner Hand hielt. Nach ein paar Sekunden fragte Malcolm: »Wie ist sie hierhergekommen? Ich meine, wie hast du's gemacht?« »Na ja«, begann Jerry im Bemühen, so gefaßt wie möglich zu bleiben, »es war nicht allzu schwer. Nur eben was, das sie nicht selbst tun konnte, weil sie einsah, daß sie von dem ganzen Drumherum nichts verstand. Sie wußte, sie würde einen Paß brauchen ...« »Na klar wußte sie das«, erwiderte Malcolm. »Auch im neunzehnten Jahrhundert hat man Pässe benutzt.« » ... und darum hat sie sich von einem ihrer Opfer einen besorgt. Sie hat sich in Rom die ganze Zeit in Nachtclubs rumgetrieben und so weiter, um irgendwo jemanden aufzutreiben, der einen amerikanischen Akzent hatte. Zu guter Letzt hat sie sich eine Frau herausgepickt, die ihr ein wenig ähnlich sah, sie abgemurkst und ihren Paß an sich genommen.« »Mein Gott, prüfen die denn so was nicht nach?« fragte Holly. »Ich meine, wenn jemand ermordet wird und einer mit dem gleichen Namen und einem Paßbild, das ihm nicht ähnlich
sieht, am Flughafen aufkreuzt, muß da die Polizei nicht ...« »Holly«, sagte Malcolm geduldig, »ist dir klar, wie viele Leute tagtäglich in Rom ankommen und abfliegen? Das muß in die Zehntausende gehen. Und Paßfotos et cetera werden bei der Einreise viel gründlicher überprüft als bei der Ausreise.« »Na ja«, beharrte sie, »dann also am Kennedy ...« »Sie ist nicht durch die Zollabfertigung«, sagte Jerry. »Natürlich nicht.« Malcolm nickte. »Was hat sie gemacht? Sich in Nebel aufgelöst?« »Ich weiß nicht. Ich weiß nur, daß sie beim Aussteigen aus der Maschine verschwunden ist und auf mich gewartet hat, als ich das Gepäck holen ging.« »Und die Schmuckschatulle mit den Überresten darin?« »War im Gepäck«, seufzte er. »Weiß Gott, wo die Kisten mit der Erde stecken.« Malcolm runzelte die Stirn. »Für etwas, das ihr offenbar so wichtig war, hat sie dann wohl gar keine Vorsorge getroffen? Das ist sonderbar.« »Nein, ist es nicht«, antwortete Jerry. »Du kennst sie nicht, Mal. Sie ist, ich weiß nicht, irgendwo wie ein kleines Kind. Sie denkt nicht allzu klar nach, nicht so, wie es ... ein normaler Mensch täte. Ich glaube, solange du noch in Rom warst, ist ihr nicht mal der Gedanke gekommen, daß sie den Staub vor jedermann bewachen müßte.« »Und wo ist er nun?« fragte Malcolm. »Und wo ist sie?« Jerry seufzte und schüttelte den Kopf. »Ich weiß es nicht, ich weiß es nicht. Sobald wir aus dem Flughafen kamen, hat sie mir das Schmuckkästchen abgenommen und über mich zu lachen angefangen. Einen Dummkopf hat sie mich genannt und mir gesagt, daß ich nie von ihr befreit werden sollte.« Jerry begann neuerlich zu weinen. »Sie hat mich einfach stehenlassen. Ich wußte nicht, was ich tun sollte, wußte nicht, wohin. In meine Wohnung wollte ich nicht zurück. Ich bin einfach stundenlang umhergeirrt und dann hierhergekommen. Seitdem bin ich nicht mehr weg.« Malcolm ließ sich alles, was Jerry gesagt hatte, durch den Kopf gehen. »Dann können wir also ein paar Vermu-
tungen anstellen. Ihr zwei seid heute nacht hier eingetroffen. Um wieviel Uhr ungefähr?« »Oh, so gegen zwei vielleicht. Irgendwas in der Richtung.« »Na schön, dann mußte sie also unverzüglich einen sicheren Ruheplatz finden. Zu irgend etwas anderem hatte sie keine Zeit.« »Irgend etwas anderem?« fragte Jerry. »Zu was denn? Was meinst du damit?« »Das werde ich euch später erklären«, erwiderte Malcolm. »Der springende Punkt ist folgender: Wenn Rachel sich um die Absicherung des Hauses gekümmert hat, sind wir sicher vor ihr und sicher vor den Überresten.« »Einen Augenblick«, sagte Holly. »Wie kann sie sich denn einen Schlafplatz suchen ? Muß sie denn nicht in ihrem eigenen Grab ruhen oder so?« »In ihrer Heimaterde«, antwortete Jerry. »Sie hat sich einen Sack Erde mitgenommen - den ganzen Weg von England nach Rumänien, bis sie dann englische und rumänische Erde nach New York verschifft hat.« Holly zog die Stirn kraus und schüttelte ihren Kopf. »Das ergibt doch keinen Sinn. Wenn sie ganz allein von England nach Rumänien gelangen konnte, warum brauchte sie für den Weg nach Amerika dann deine Hilfe? Und warum rumänische Erde?« »So sicher können wir uns unserer Informationen nicht sein«, erwiderte Malcolm. »Wir haben keine Gewißheit, daß sie völlig allein von England nach Rumänien gelangt ist. Vielleicht hatte sie jemand anderen ... vielleicht hat sie mit jemand anderem das getan, was sie mit Jerry gemacht hat. Vielleicht brauchte sie ihn wegen des Gepäcks, wegen des Staubs des Grafen. Und was die rumänische Erde betrifft ...« Er hielt einen Moment inne. »Ich weiß nicht. Vielleicht müssen auch die Überreste in Heimaterde ruhen, damit das Blut in Lucys Körper seine Kraft behält. Ich weiß es einfach nicht.« »Mal, was sollen wir tun?« wimmerte Jerry.
Malcolm nahm seinen Freund an beiden Händen und drückte sie kraftvoll. »Wir werden erst Lucy finden und sie umbringen, dann die Überreste des Grafen suchen und sie zerstreuen. Und danach sind wir außer Gefahr, und zwar allesamt.« »Aber wie wollen wir sie denn finden?« fragte Jerry. »Wir haben doch keine Ahnung, wo sie steckt!« Malcolm nickte zustimmend. »Ich weiß, aber wir wissen auch, daß sie uns - dir, mir, Großvater und Rachel – nachstellen wird. Wir werden extrem wachsam sein und warten müssen, bis sie den ersten Zug macht und uns irgendwelchen Aufschluß über ihren Unterschlupf gibt. Wenn wir den finden, können wir sie tagsüber aufsuchen und sie vernichten.« »Und die Überreste?« »Die werden nicht weit von ihr sein. Wenn wir das eine finden, finden wir auch das andere.« Malcolm wandte seine Aufmerksamkeit dem Bourbon und dem Bier zu, und seine beiden Gefährten taten es ihm nach. Viel mehr gab es, vorerst wenigstens, anscheinend nicht zu sagen. Eine Stunde später standen Malcolm Harker und Holly Larsen in stummem Unbehagen vor der Tür ihres Co-opApparte-ments. Keiner von ihnen wußte etwas zu sagen, aber beide wußten, daß dies aller Wahrscheinlichkeit nach das letzte Mal sein würde, daß sie einander sahen. Jeder von ihnen liebte den andern, jeder von ihnen wünschte, daß die Dinge anders lägen, und jeder wußte, daß es nötig, ja, unvermeidlich war, sich für die Zukunft zu trennen. Malcolm räusperte sich. »Besser, ich geh wieder nach draußen. Jerry wird schon ungeduldig werden.« »Ja.« Sie nickte. Es entstand ein langes Schweigen. Dann sagte Malcolm: »Tut mir leid, Holly. Alles.« »Mir auch, Mal.« Sie schloß die Tür auf und trat ein, um das Gespräch zu einem raschen Ende zu bringen. »Mach's gut.« »Tschau.« Er beobachtete, wie die Tür zufiel, hörte das Schloß leise einrasten und wandte sich in Richtung
Fahrstuhl. Im Inneren ihrer Wohnung lauschte Holly, bis die Fahrstuhltür zufiel, und ging dann sofort zum Fenster hinüber, um auf die drei Stockwerke unter ihr gelegene Straße zu schauen. Jerry Herman stand neben einem Laternenpfahl und rauchte nervös eine Zigarette. Holly beobachtete, wie er auf und ab ging, sah Malcolm auf ihn zu kommen, sah die beiden ein paar Worte wechseln, die sie nicht verstehen konnte, und sah sie schließlich davongehen. Das wär's, dachte sie traurig. Lebwohl, Malcolm. Bekümmert wandte sich Holly vom Fenster ab, ging in ihr Schlafzimmer, nahm dort vor ihrem Schminktisch Platz und starrte ihr Gesicht im Spiegel an. Tränen stiegen ihr in die Augen, Ab morgen heißt's wieder Arbeit, dachte sie. Ab morgen abend heißt's wieder Single-Bars. Wieder solo sein, wieder die anständigen Typen möglichst von den Wichsern unterscheiden. Wieder die oberflächlichen Gespräche führen und die jämmerlichen Imponierspielchen durchziehen. Wieder sich dauernd fragen, ob man je einen guten, anständigen Kerl finden wird, einen Mann, dem man vertrauen, jemanden, zu dem man aufschauen und den man lieben kann. Jemand andren als den lieben, guten, armen Malcolm. Seufzend nahm Holly ihre Ohrringe und ihr Halsband ab und ging dann daran, sich abzuschminken. Sie entfernte gerade ihr Mascara, da hörte sie es leise, zaghaft an der Tür klopfen. »O Mal«, murmelte sie. »Mach's nicht noch schwerer, als es sein muß.« Sie ging in ihr Wohnzimmer und lehnte sich an die Tür. »Malcolm?« »Ja«, antwortete eine gedämpfte Stimme. »Mal, das ist zwecklos, völlig zwecklos. Wir dürfen uns nun mal nicht mehr sehen, ich kann das alles einfach nicht mehr verkraften.« »Bitte ...«, sagte die Stimme undeutlich von der anderen Seite der schweren Metalltür. »Geh schon, Malcolm, geh doch nach Hause.« »Bitte ...« Mit einem neuerlichen Seufzer öffnete Holly den Sperriegel und zog die Tür auf. Ich darf ihm keinerlei Zuneigung zeigen, dachte sie. Ich darf ihm keinerlei Hoffnungen machen. Ich hätte nicht einmal höflich sein sollen. Zu sei-
nem Besten. Zu meinem Besten. »Okay, komm rein, wenn du willst«, sagte sie und wandte sich von der Tür ab, noch ehe diese ganz auf war. Fest entschlossen, auf saloppe, unbeteiligte Weise zum Abschminken zurückzuzukehren, fest entschlossen, kalt und abweisend zu sein, ging sie wieder in ihr Schlafzimmer. Er muß es einsehen, sagte sie sich. Es ist aus zwischen uns, aus und vorbei. Sie setzte sich an ihren Schminktisch und hörte, wie die Schritte ihres Besuchers ihr ins Schlafzimmer folgten. »Wir müssen uns nun mal beide damit abfinden, Malcolm«, sagte sie, während sie eine Tube Feuchtigkeitskreme aufmachte. »Es fällt auch mir nicht leicht, aber es muß nun einmal sein.« Einen Augenblick später hörte sie ein leises Lachen dicht an ihrem Ohr und blickte auf, blickte in den Spiegel. Es war kein Spiegelbild zu sehen außer ihrem eigenen. Noch ehe sie dazu kam, sich umzudrehen und hinter sich zu schauen in dem Sekundenbruchteil, bevor sie ihren Kopf wenden konnte -wurde sie überfallen. Kapitel 15 Als Malcolm auf die Haustür zutrat, stach ihm der beißende Geruch frisch gehackten Knoblauchs in die Nase, und mit mildem Lächeln begutachtete er die Knoblauchzehen, die am Türknauf hingen. Jeder andere, er selbst zum Beispiel, hätte die Pflanzen wohl ohne Rücksicht auf Aussehen oder Regelmäßigkeit an irgendeinen sich bietenden Vorsprung gehängt - aber nicht Rachel. Sie hatte jede Zehe säuberlich halbiert, geschält und mit rotem Zwirn befestigt. Drei halbe Zehen baumelten am Türknauf. Drei weitere hingen an den beiden Fenstern rechts und links vom Eingang, und Malcolm konnte sehen, daß das übelriechende Gewächs sowohl vor dem Haus als auch in dessen Innerem angebracht worden war. Mit erheitertem Kopfschütteln über Rachels Ordnungssinn selbst unter solchen Umständen schloß er die Haustür auf und trat ein. Er fand seine Schwester in der Küche, wo sie gerade ein langes Messer abspülte, das sie zur Vorbereitung der Knoblauchzehen verwendet hatte. Als sie ihn hereinkommen hörte, drehte sie
den Kopf und sagte ohne jede weitere Begrüßungsfloskel: »Ich hab den Knoblauch an allen Fenstern verteilt, innen und außen, und an allen Türen - die im Inneren des Hauses, zu unsern Schlafzimmern, inbegriffen. Außerdem habe ich in Mutters Koffern im Keller noch ein paar zusätzliche Kruzifixe aufgestöbert, die jetzt an strategischen Punkten im ganzen Haus verteilt sind.« »Gut«, sagte Malcolm mit einem Kopfnicken. »Momentan sind wir sowieso sicher. Vor mindestens zwanzig Minuten ist die Sonne aufgegangen.« »Also warten wir's ab.« Sie strich sich ihre Schürze glatt. »Ich bin die ganze Nacht auf gewesen und habe auf dich gewartet, mich um Großvater gekümmert und das Haus für die Verteidigung vorbereitet. Jetzt schau ich noch einmal bei ihm vorbei, und dann werd ich mich, glaube ich, ein paar Stunden hinlegen. Ich bin geschafft.« »Ich auch«, gähnte Malcolm. »Die Zeitverschiebung hat mich anscheinend doch ziemlich mitgenommen. Jerry kommt heute am späten Nachmittag vorbei. Wir sollten also besser den Wecker stellen. So müde, wie ich mich jetzt fühle, würde ich die Türglocke und fast alles sonst überhören.« »Na, ich nicht«, entgegnete Rachel. »Keine Sorge, Malcolm, Ich werde dich aufwecken, wenn er kommt.« Sie runzelte leicht die Stirn. »Ich dachte, du hättest keine Ahnung, wo er steckt?« »Wir haben ihn im Strand gefunden, Holly und ich«, sagte Malcolm, während er schon auf die Treppe zuging. »Er hat keine Ahnung, wo Lucy sich aufhält oder wo die Überreste des Grafen stecken.« »Ja aber, was ... ?« »Weißt du noch, wie van Helsing in dem Buch, dem Buch vorn Stoker, die geistige Verbindung zwischen dem Grafen und unserer Urgroßmutter dazu benutzt hat, ihn aufzuspüren? Na„ wir versuchend eben genauso.« Er begann, nach oben zu steigen, und Rachel folgte ihm dicht auf den Fersen. »Es ist keim sicheres Mittel, aber das einzige, was mir einfällt.« Sie nickte zustimmend. »Eine gute Idee. Es könnte klappen.«: »Das sollte es auch besser«, meinte er. »Wenn nicht, bin ich mitt meinem Latein am Ende. Wir
werden dieses Ding nicht eherr loswerden, als bis wir Lucy getötet und die Überreste des> Grafen verstreut haben.« »Vertraue auf Gott, Malcolm«, sagte seine Schwester, als sie; die Tür zum Zimmer seines Großvaters erreichten. »Für ihn istt diese Schlacht nichts Neues. Wir haben einen starken Verbündeten. « Und damit schloß sie die Tür zum Zimmer des altem Quincy hinter sich. Malcolm starrte noch einen Moment darauf, ehe er seinen Weg; in sein Schlafzimmer fortsetzte. Dabei versuchte er, nicht über Holly nachzudenken. Er ließ sich aufs Bett fallen und verschränkte seine Hände hinter dem Kopf. So schön, sinnierte er, während seine Lider schwer wurden und sich seiner Brust ein gewaltiges Gähnen entrang. Sie ist so schön, so warmherzig, so freundlich, so schön. »Sie ist natürlich noch ein Kind«, meinte der Zigeuner, »aber schon jetzt läßt sich sagen, Herr, daß sie bei Erreichung ihrer Volljährigkeit hinreißend sein wird.« Der andere nickte, strich sich über den Schnurrbart und betrachtete dabei verschlagen das kleine Mädchen, das zitternd vor ihm stand. Dann lächelte er und ließ sich auf ein Knie fallen. »Wie heißt du, Kleine?« »S ... Simone«, murmelte das Kind. »Simone«, wiederholte der Woiwode sanft. »Das ist ein bezaubernder Name. Hast du auch einen Familiennamen, mein Kind?« Das kleine Mädchen schüttelte den Kopf. »Nun sag, Simone«, fuhr er fort, »würdest du nicht gern in einem großen Hause wohnen, viel zu essen haben, Hunde, mit denen du spielen kannst, und Leute, die dich bedienen?« Das verwirrte und verängstigte Kind gab keine Antwort. Der Woiwode stand auf und zog seinen Kragen enger zusammen, um sich gegen den feucht-kühlen ungarischen Herbstwind zu schützen. »Woher kommt sie, Zigeuner?« ... Was geht hier vor? fragte sich Malcolm. Ich Hege in meinem Bett, aber es ist kalt, es ist kalt... »Aus Frankreich, Herr«, antwortete der andere. »Aus der Stadt Aachen.«
»Die liegt doch wohl in Deutschland!« sagte der Woiwode. Der Zigeuner zuckte die Achseln. »Ganz, wie Ihr meint, hoher Herr. Grenzen bedeuten uns nur wenig.« »Ein Frankenmädchen«, sinnierte der Woiwode und starrte auf das blonde Kind hinab. »Eine kleine Teutonin. Wieviel verlangst du für sie?« Der Zigeuner tat, als überschlüge er den Preis im Kopf, ehe er den längst festgesetzten Betrag nannte. »Ich dächte, fünf Silberlinge wären ein gerechter Preis.« Der Woiwode lachte. »Ja, in der Tat, wenn du zehn reife Weiber feilbieten würdest! Für dieses Kind gebe ich dir eine Silbermünze, und damit kannst du mehr als zufrieden sein.« Er nickte dem Diener, der in untertänigem Schweigen hinter ihm stand, kurz zu, machte dann kehrt und ging wieder in das Landhaus. Er würde nicht mit dem Zigeuner feilschen, und der Zigeuner würde die eine Silbermünze nicht ausschlagen. Dies war für beide Seiten eine ausgemachte Sache. Der Diener gab dem Zigeuner das Geldstück, nahm das kleine Mädchen dann bei der Hand und führte es in die Gesindeunterkünfte. Der Woiwode ging durch das geöffnete Portal zu seinem Landhaus, ohne den Dienern, die es hinter ihm wieder verschlossen, die geringste Beachtung zu schenken. Er kehrte in den Speisesaal zurück und nahm am Ende der Tafel, gegenüber seinem Gaste, Platz. »Entschuldigt die Verspätung, Majestät. Hiesige Geschäfte, Privatangelegenheiten. Was sagtet Ihr doch gerade?« »Ich habe dich durchs Fenster beobachtet, Kleiner Drache«, erwiderte Matthias Corvinus, König von Ungarn, lachend. »Deine Zuversicht setzt mich in Erstaunen! Dieses Kind wird frühestens in zehn Jahren erwachsen sein! Woher nimmst du die Sicherheit, daß dein Kopf in zehn Jahren noch auf deinen Schultern sitzt?« Der Woiwode zuckte die Achseln. »Alles ist ungewiß, Euer Majestät. Das Leben und sogar der Tod.« Corvinus trank aus dem Weinpokal, den er in seiner Hand hielt. »Der Tod ist das einzig Gewisse, Woiwode.« »Mag sein«, stimmte der andre zu. »Doch nicht der Tag seines Eintreffens. Vielleicht sterbe ich morgen. Vielleicht lebe ich in zwanzig Jahren noch. Wer kann das sagen?« »Ich kann es sagen«,
erinnerte ihn Corvinus. »Sieh dich vor, Kleiner Drache. Der Sultan will noch immer deinen Kopf, und sollte es mir je zustatten kommen, so wird er ihn erhalten.« »Natürlich, mein Gebieter«, erwiderte der Woiwode mit süßem Lächeln. Er haßte den Mann, der da vor ihm saß, mit jeder Faser seines haßerfüllten Wesens. »Doch Ihr wißt ebensogut wie ich, daß Euren Zwecken besser gedient ist, wenn ich Euch den Kopf des Sultans bringen kann.« Corvinus lachte. »Fürwahr, fürwahr, Kleiner Drache! Nur war dein jüngster dahingehender Versuch ... wie soll ich sagen? ... wenig dazu angetan, mein Vertrauen in deine Fähigkeiten zu bestärken.« Sohn einer Wanze! dachte der Woiwode, während er erneut mit einem Lächeln Antwort gab. »Ich habe einen Fehler gemacht, Euer Majestät. Vor der Invasion des türkischen Territoriums hätte ich mich um meine eigene Abwehr kümmern sollen. Und außerdem ist das ein Weilchen her, wenn ich so kühn sein darf, Euch daran zu erinnern. Ich bin seit nunmehr über vier Jahren Euer Gast.« König Matthias Corvinus lachte und nickte über den kleinen humorvollen Schlagabtausch. Als der Woiwode nach seiner katastrophalen Niederwerfung durch Torghuz Beg 1462 in ungarisches Hoheitsgebiet geflüchtet war, hatte er damit gerechnet, protegiert, wiederbewaffnet und von neuem in den Kampf zurückgesandt zu werden. Statt dessen aber war er vom Magyarenkönig über ein Jahr lang in Gefangenschaft gehalten worden. Gewiß, die drei nachfolgenden waren nicht unerquicklich gewesen. Man hatte ihn mit einem weitläufigen Wohnhaus am Rande von Budapest versehen, er hatte Diener, empfing eine Besoldung, hatte seine zwei Frauen ... und nun noch dieses kleine Mädchen, das ihm in ein paar Jahren zu Willen sein könnte ... doch noch immer war er ein Gefangener, stand immer noch unter Bewachung. Und war noch immer fern der Walachei, seiner rechtmäßigen Domäne, immer noch fern von Siebenbürgen, seiner Heimat, fern von Konstantinopel und der byzantinischen Krone, für die er sich ausersehen wähnte.
»Und mein Gast sollst du auf unbestimmte Zeit auch bleiben, Woiwode. Bis es mir beliebt, dich auf den Sultan loszulassen oder mit deinem Tod des Sultans Freundschaft zu erkaufen.« Der Woiwode nickte schwach. »Ich bin in allem der untertänige Diener Eurer Majestät.« »In der Tat«, lachte Corvinus, der sehr wohl wußte, wie sehr der Woiwode ihn haßte. »Doch Diener wie du können den guten Ruf eines Herrschers ruinieren. Nicht ein Monat geht vorbei, ohne daß mir jemand von irgendeiner Tat berichtet, die du als Fürst der Walachei begangen hast ...« »Ich bin noch immer Fürst der Walachei«, betonte der Woiwode im Bemühen, seine Wut zu unterdrücken. »Radu, dein kleiner Bruder, wäre da vielleicht andrer Ansicht. Er erfüllt nun in Bukarest das Geheiß des Sultans.« »Radu ist ein Schwächling, ein Speichellecker«, murmelte der andre. »Oh, zweifellos«, nickte Corvinus. »Und doch ist er nun dort, und du bist hier. Wie dem auch sei: Es kommen mir in einem fort Dinge zu Ohren, die du im Laufe deiner Herrschaft begangen hast. Manches davon, ich muß gestehen, kann ich kaum glauben.« Er trank erneut von seinem Wein. »Sag mir, Kleiner Drache, ist es wahr, daß du versucht hast, dein Fürstentum von Bettlern und Krüppeln zu säubern, indem du sie alle umbringen lassen wolltest?« »Ja, und von Waisen, unnützen Greisen und Weibern ebenso«, bestätigte der Woiwode. »Doch wie Ihr es ausdrückt, klingt es unmenschlich, wenn ich so kühn sein darf.« »Ha!« Corvinus kicherte. »Dann verrate mir bitte, wie es sich menschenfreundlicher ausdrücken ließe!« »Gewiß habt Ihr doch von den Spartanern gelesen, Majestät? Den großen Kriegern des alten Griechenland?« »Natürlich tat ich das, und von ihrer systematischen Ausrottung alles Gebrechlichen. Doch das war vor zweitausend Jahren, Kleiner Drache!« »Zweitausend Jahre oder letzten Monat, wo liegt da der Unterschied ! Ein Fürst muß sein Volk stark machen, das heißt, jeden einzelnen darin. Ihr und ich, wir beide haben Männer in Kampf und Tod entsandt, nicht wahr, mein Gebieter? Es ist genau dasselbe. Manche Leben müssen ge-
opfert werden, auf daß das Volk erstarke und weniger gefährdet sei. Es war notwendig.« »Und dann hast du ihre Leichen den Bären und Wölfen, die du hieltest, zum Fräße vorgeworfen, nicht wahr?« Der Woiwode seufzte. »Mein Land ist arm, Euer Majestät. Hätte ich so viel Fleisch vergeuden sollen?« »Nein, nein, gewiß, gewiß«, lachte Corvinus. »Nur, Kleiner Drache, du bist der Schrecken deines eigenen Volkes! Ein Fürst muß nicht gehaßt werden, sondern geliebt.« »Ein Fürst muß gefürchtet und geachtet werden!« versetzte der Woiwode hitzig. »Vergeßt nicht, daß es unter meiner Herrschaft kaum Verbrechen m der Walachei gab. Mein Volk fürchtete meine Gerechtigkeit! Ich habe sogar einen goldenen Pokal auf den Marktbrunnen zu Bukarest gestellt, damit die Vorbeikommenden sich erfrischen könnten. Von purem Gold war dieser Kelch, weder angekettet noch bewacht, und doch blieb er vier Jahre lang dort stehen! Die Furcht vor meiner Gerechtigkeit hielt jeden davon ab, ihn zu entwenden.« »Du meinst wohl, die Furcht vor deinen Holzpfählen«, grinste Corvinus. »Strafen müssen streng sein, um dem Gesetz Gehorsam zu verschaffen.« »Streng?! Streng?!« Mit plötzlichem Ernst schüttelte Corvinus seinen Kopf. »Ich rühme mich eines ordentlich geführten Reiches, Kleiner Drache, aber noch nie hielt ich es für notwendig, den Leuten Pfähle ins Gedärm zu treiben. Noch nie habe ich eine Schwangere mit ihren Geburtskanälen auf einen Pfahl gesteckt oder Zechgelage inmitten Hunderter von aufgespießten Gefangenen abgehalten! Ich habe Folterkammern für den Gebrauch meiner Justiz - wie alle Könige -, doch keine für meinen eigenen Gebrauch und meine eigene Belustigung.« »Herr«, sagte der Woiwode, der unter der Oberfläche vor Wut schäumte, »bitte erlaubt mir, Euch ein paar Dinge in Erinnerung zu rufen. Als wir gegen den Sultan marschiert sind, hat Torghuz Beg mich zu Verhandlungen nach Giurgiu an der Donau eingeladen. Ein schwächerer Mann hätte ihn vielleicht beim Wort genommen, ein weniger scharfsinniger wäre ihm vielleicht ins Netz gegangen. Ich aber bin weder schwach noch töricht. Ich habe meine Reiterei durch die Wälder geschickt, damit
sie die Türken überrumpelte, noch ehe diese Giurgiu auch nur erreichten.« »Ja, ich erinnre mich«, sagte Corvinus. »Du hast viele gefangengenommen. « »Zwanzigtausend Mann!« schrie der Woiwode. »Zwanzigtausend Kriegsgefangene.« »Die du sodann auf zwanzigtausend Pfähle stecktest.« »Ihr Los war wohlverdient«, murmelte er und lehnte sich in seinem Stuhl zurück. »Torghuz Beg entkam freilich wie immer. « »Wie immer«, pflichtete Corvinus bei, den das Ungestüm des Woiwoden erheiterte. »Und erinnert Euch, Herr, daß der Sultan bei seiner Ankunft in Giurgiu, wo er die zwanzigtausend Leichen vorfand, beziehungsweise das, was die Krähen davon übriggelassen hatten, seinen Feldzug gegen die Walachei abbrach und nach Konstantinopel zurückkehrte. Und wie die Menschen dann, als ich Bulgarien überfiel und das Volk vom türkischen Joch befreite, mir Lobeshymnen sangen und die Kirchenglocken für mich läuteten!« »Ja, gewiß, doch die Bulgaren kannten dich nicht, sie kannten nicht Vlad den Pfähler. Sie kannten nur den Sultan. Für sie bestand kein Grund zu der Vermutung, daß sie den Teufel mit dem Beelzebub ausgetrieben hätten.« Der Woiwode schenkte sich aus einem Zinnkrug Wein nach. »Was Bauerntölpel wissen oder nicht, ist einerlei! Tatsache ist: Der Türke zückt sein Schwert gegen ganz Europa. Gestern hat er Konstantinopel eingenommen. Morgen ist es vielleicht Budapest.« Er nippte an seinem Pokal. »Mein Arm kommt Euch jetzt mehr zustatten, als wenn Ihr meinen Kopf dem Sultan schenktet.« »Mag sein, mag sein«, nickte Corvinus. »Falls aber ... und ich sage falls, mein lieber Vlad, nicht wenn ... falls ich beschließen sollte, dich auf den Sultan loszulassen, so brauchte ich die Gewißheit, daß deine Greueltaten, sagen wir, heilkräftiger Natur sind, nicht nur allgemeiner.«
Der Woiwode lachte verächtlich. »Macht das Blut von Bauern und Gefangenen meinem Herrn zu schaffen?« »Nein«, antwortete Corvinus. »Das Blut und ich sind alte Bekannte. Aber ein toter Bauer kann keinen Weizen ernten und ein toter Gefangener kein Lösegeld einbringen.« Er beugte sich vorwärts. »Das ist der Unterscheid zwischen uns beiden, Vlad. Ich töte, wenn ich muß und sooft ich muß, aber nicht öfter. Ich töte ohne Reue, aber auch ohne Leidenschaft. Doch du, Woiwode, liebst die Grausamkeit. Du liebst den Schmerz. Du liebst das Blut.« Der Pfähler grinste. Malcolm fuhr in seinem Bett empor. Er schlotterte, er hatte Angst. Ich bin in die Erinnerungen einfach hineingerutscht, dachte er, ganz nahtlos, ohne es zu merken, ohne mir im geringsten bewußt zu sein, daß etwas nicht stimmte. Es wird stärker! Das Blut wird stärker! Er sprang aus dem Bett und begann, in seinem Schlafzimmer auf und ab zu gehen. Es muß eine Erklärung dafür geben, dachte er verzweifelt. Ich habe das Sakrament empfangen, ich bin geläutert, ich habe das Blut zurückgedrängt, und doch kommen die Erinnerungen immer noch an die Oberfläche. Wie ist das möglich? Er setzte sich wieder auf das Bett und spürte, wie sich seine Brust aufgrund seines mühsamen und panikartigen Atmens zusammenschnürte. »Gottvater, steh mir bei!« flüsterte er, während er seine Hände faltete und sie gegen seine Stirn preßte. »Steh mir bei, Herr, steh mir bei, steh mir bei, steh mir bei!« »Sagst du dich los von deiner Gefolgschaft gegenüber dem Exkommunizierten in Konstantinopel?« fragte der Erzbischof. »Ja, ja«, erwiderte Malcolm. »Steh mir bei, Herr, steh mir bei.« »Unterwirfst du dich der Gehorsamspflicht gegenüber dem Stellvertreter Christi in Rom?« fragte der Erzbischof. »Bindest du dich an die eine Heilige Katholische Kirche und an den Nachfolger des heiligen Petrus, der sein rechtmäßiger Herrscher über diese Welt ist?« »Ja«, erwiderte der Woiwode.
»Willst du ein Leben führen als der treue Sohn der heiligen Mutter Kirche, sie gegen ihre Feinde verteidigen und ihr dein Schwert zur Verfügung stellen?« »Ja«, sagte der Woiwode. Der Erzbischof drehte sich zu Matthias Corvinus hin und nickte, während er sagte: »Erhebe dich also, Vlad von der Walachei, Woiwode und Prinz, Gefolgsmann seiner Majestät des Königs von Ungarn.« Vlad der Pfähler erhob sich langsam von seinen Knien und beugte sich daraufhin nach vorne, um den ihm dargebotenen Ring des Erzbischofs von Budapest zu küssen. Als der Kirchenmann sagte »Der Herr sei mit dir, Prinz«, machte Vlad eine leichte Verbeugung und wandte sich anschließend zum Gehen. König Matthias lächelte dem Woiwoden zu und sagte: »Damit bist zu jetzt Katholik geworden, Kleiner Drache, und auf diese Weise zu einem ernstzunehmenden Werkzeug in meinem Krieg gegen den Sultan.« »In der Tat bin ich Katholik geworden«, sagte der Woiwode lachend. »Ein treuer und ergebener Sohn der Kirche.« Der König stimmte in sein Lachen ein. Beide wußten sie über die Tiefe der Ergebenheit des Woiwoden Bescheid. »Jetzt aber zurück zu meinem Heer«, sagte der Woiwode, »und zurück in mein Herrschaftsgebiet.« Corvinus bewegte sich langsam auf den Ausgang der Kapelle zu, wobei ihm der Woiwode bedächtig folgte. »Deine Armee wird wohl leider nur aus Söldnern bestehen, wie du sie gerade anwerben kannst«, sagte Corvinus. »Einerlei«, entgegnete der Woiwode. »Mein Bruder Radu besitzt das militärische Geschick eines kleinen Mädchens, und sein Heer wird von unerfahrenen Schwachköpfen befehligt. In einem Tag werde ich seine Truppen aufreiben, und wenn ich sein Heer erst neu geordnet habe ... mein Heer, sollte ich wohl besser sagen ... dann stelle ich mich den Türken.« Corvinus zögerte einen Moment. »Man meldet uns, daß der Sultan deine Entsendung gegen Radu vorhergesehen hat und Torghuz Beg ausschickte, damit dieser die Walachei besetzt. Ich fürchte, Kleiner Drache, du
wirst dich vor und nicht nach deinem Geschäft mit Radu mit Torghuz Beg einlassen müssen.« Der Woiwode war über diese Nachricht nicht erfreut. Er überlegte ein paar Sekunden und nickte dann grimmig. »Es wird schwierig sein, aber ich werde mir den Ort des Aufeinandertreffens selbst aussuchen. Torghuz Beg will meinen Kopf, und er wird mich verfolgen, um ihn zu bekommen.« Der König blieb an der Kapellentür noch einmal stehen. »Was hast du vor?« fragte er. Der Woiwode stemmte seine Hände in die Hüften und drückte sein Kreuz durch, das von dem langen Kniefall, den er soeben hatte unternehmen müssen, etwas steif war. »Ihr wißt, mein Vetter Bassarab ist der Woiwode von Siebenbürgen.« »Ja, und mein getreuer Vasalle«, nickte Corvinus, »im Gegensatz zu deinen andern Vettern, dem Woiwoden von Moldau und dem der Bukowina.« Vlad zuckte die Achseln. »Mircea und Nicholae leben eingekeilt von den Türken, den Polen und den Moskowitern. Sie können sich ihre politische Orientierung kaum aussuchen. Wie gesagt, gewähren Bassarab und ich einander lange schon die Gunst eines privaten Domizils in unsern jeweiligen Fürstentümern. Seit Jahren verfüge ich über eine Festung bei Kronstadt, die Bassarab selbst während meines Aufenthalts als Euer bescheidener Gast ...«, Vlad lächelte den König verächtlich an, als er das sagte, » ... nicht beschlagnahmt hat.« »Dann willst du also Torghuz Beg nach Siebenbürgen locken?« »Ja, durch meine Rückkehr auf die Burg bei Kronstadt. Die strategischen Erfordernisse werden ihn zum Angriff drängen, denn je länger er wartet, desto stärker würden meine Truppen. Seine Armee ist auf dem Zenit ihrer Stärke, sie kann nicht größer werden - zu viele von den Truppen des Sultans sind an die polnische Grenze gefesselt.« Corvinus nickte. »Geschickt. Du bist dir doch im klaren darüber, daß du die Türken auf diese Weise zu einer Invasion ungarischen Hoheitsgebiets verleiten möchtest?« Der Woiwode lächelte. »Selbstverständlich.« »Und mußt dir überdies im klaren sein, daß ich unter diesen Umständen
nicht die Absicht hege, einer solchen Invasion persönlich zu begegnen?« Das Lächeln des Woiwoden verblaßte zwar nicht, aber in seinen Augen flammte die Wut. »Das habe ich auch nicht erwartet.« »Gut«, antwortete Corvinus. »Vergiß nicht, Kleiner Drache, daß ich dich für meine eigenen Zwecke benutze. Für deine werde ich mich nicht hergeben. Falls Torghuz Beg dich niederwirft, werde ich geltend machen, daß du ohne mein Wissen oder meine Unterstützung gehandelt hast, und er wird Siebenbürgen räumen, um einen Krieg mit mir zu vermeiden.« »Er wird wissen, daß Ihr lügt.« »Natürlich wird er das, doch das ist Nebensache. Die Winkelzüge der Diplomatie haben selten mit Ehrlichkeit und Wahrheit zu tun.« Der Woiwode nickte. »Ihr habt recht, Euer Majestät. Und ich bin mir über meine Lage vollauf im klaren.« »Natürlich begleiten dich meine Gebete auf deinem Wege in die Schlacht, solltest du aber unterliegen ...« »In diesem Fall werde ich wenigstens in der Familiengruft meines Schlosses bei Kronstadt beigesetzt, an der Seite meines Vaters, meines älteren Bruders und meiner Vorfahren. Hunya-di, Euer vielgerühmter Ahnherr, gewährte meinem Vater und meinem Bruder diese Ruhestätte, nachdem er sie ermordet hatte.« Corvinus überhörte diese Spitze und antwortete nur: »Vlad II. und Mircea wurden hingerichtet, weil sie jeden, ob Türken oder Ungarn, belogen und betrogen haben. Tritt nicht in ihre Fußstapfen, Kleiner Drache.« »Ich werde mich bemühen, derartiges zu vermeiden«, murrte Vlad. »Gut so.« Der König trat aus der Kapelle in die warme Luft des ungarischen Sommers. »Ich habe eine Verabredung mit dem Botschafter von Venezien. Wenn du willst, kannst du uns Gesellschaft leisten.« »Einstweilen nicht«, erwiderte der Woiwode. »Ich möchte noch hierbleiben und eine Weile beten.« »Beten!« lachte der König. »Bei Gott, ich glaube fast, Ihr meint es
ernst!« Noch immer lachend, ließ Matthias Corvinus die Eichenpforte der Kapelle hinter sich ins Schloß fallen. Der Woiwode verharrte einen Moment regungslos. Dann flüsterte er: »Ordogh! Ordogh! Die Zeit ist reif, nicht wahr?« Nach kurzer absoluter Stille antwortete die Höllenstimme sanft: »Die Zeit ist reif, Kleiner Drache. Meine Zeit und deine Zeit.« »Ich werde triumphieren, nicht wahr? Ich werde doch von neuem auf dem Thron der Walachei sitzen?« »Bist du nicht der Woiwode?« fragte die Stimme doppeldeutig. »Und ich werde auch über die Türken frohlocken?« Die Stimme gab keine Antwort. »Ich werde triumphieren, nicht wahr?« wiederholte der Woiwode. »Muß ich dir noch einmal sagen, daß ich kein Zigeunerwahrsager bin, Kleiner Drache?« fragte Ordogh. »Du sollst auf eine Art und Weise triumphieren, von der du nichts ahnst, und du sollst über Menschen triumphieren, die noch nicht geboren wurden. Aus Gründen, die du jetzt noch nicht verstehen kannst, soll weit und breit dein Name widerhallen. Was jedoch den Türken anbelangt, so ist es dir einstweilen nicht bestimmt, den Ausgang der Schlacht zu erfahren.« Der Woiwode verharrte in nachdenklichem Schweigen, runzelte die Stirn und ließ dabei auch seinen bereits angegrauten Schnurrbart hängen. Ein jäher Schrei zerriß die Stille, doch der Woiwode überhörte ihn. Die Frau schrie abermals, und Malcolm fuhr aus seinem Bett. »Rachel!« rief er. »Rachel! Was ist?« Er lief nach draußen, riß die Tür zum Zimmer seiner Schwester auf und schüttelte den Kopf, um die Worte des dunklen Geistes zu verscheuchen, die ihm noch in den Ohren klangen. Bleich, zitternd und mit wie im Irrsinn hin- und herrollenden Augen saß Rachel auf der Kante ihres Bettes. »Malcolm!« schrie sie, als sie ihn erblickte. Sie stieß sich auf die Beine und schien ihm regelrecht in die Arme zu fliegen. »Was ist geschehen?« fragte er. »Warum schreist du so? Was, zum Teufel, ist passiert?«
»Ich habe geträumt ... ich wäre ... jemand anderes ... ich bin er gewesen! Ich bin er gewesen! Ich habe geträumt, aber meine Träume waren seine Erinnerungen!« »W ... ? Rachel, das kann nicht sein«, sagte er. Er führte sie zum Bett zurück, drückte sie behutsam darauf nieder und setzte sich neben sie. »Ich habe diese ... ich weiß nicht, diese Visionen, weil ich in unmittelbarer Nähe der Überreste war. Aber du ...« Sein Gesicht wurde weiß. Ihm kam ein schrecklicher Gedanke. »Ich habe mit einem ... irgendeinem Wesen gesprochen, einem Dämon«, weinte sie. »Malcolm, er hatte einen Plan, er führte etwas im Schilde. Ich weiß nicht, was, aber da ist etwas, irgend etwas!« »Rachel«, drängte er, »an dem Abend, als ich aus Europa zurückkam, hast du da jemanden ins Haus gelassen, jemanden, den du nicht kanntest, jedenfalls nicht wiedererkanntest?« »Das Ding hat mich ausgelacht, es hat uns alle ausgelacht«, brabbelte sie weiter, ohne ihn zu hören. »In einem fort hat es gesagt, daß der Schein trügt, daß wir alle Narren wären, daß er triumphieren würde.« »Rachel, verdammt, hör mir zu!« rief Malcolm. »Hast du irgend jemanden ...« Seine Frage wurde vom Klang eines wahnsinnigen Gelächters weiter unten im Flur unterbrochen. Er horchte auf, und Rachel, die es ebenfalls vernommen hatte, zog zischend die Luft ein. Es war ihr Großvater. Dicht gefolgt von seiner Schwester, stürmte Malcolm aus dem Zimmer, und sie platzten in Quincys Schlafzimmer hinein. Der alte Mann stand auf unsicheren Beinen neben seinem Krankenbett. Sein greiser Körper zitterte und schwankte, seine Lippen bebten, seine Augen waren aufgerissen wie im Wahnsinn und seine Zähne zu einer furchterregenden Grimasse gefletscht, während das bizarre Gelächter weiterhin in kurzen, schwachen Stößen aus seiner pfeifenden Lunge drang. Malcolm stürmte vorwärts und packte den Alten bei den Schultern. »Opa!« sagte er. »Was tust du da? Geht es dir nicht gut?« »Narren, törichte Narren!«lachte der alte Quincy. »Ihr glaubt, ihr könntet mir ein Schnippchen schlagen - da steht
ihr nun mit euren blassen Schafsgesichtern, steht da wie Lämmer vor der Schlachtbank.« »Großvater!« flüsterte Rachel. »Was redest du?« »Ihr sollt es noch bereuen«, sagte der alte Mann, ohne in seinem Lachen aufzuhören. »Meine Rache hat erst angefangen! Sie reicht über die Jahrhunderte!« Malcolm schüttelte seinen Großvater behutsam. »Opa, wach auf, wach auf! Du träumst. Wach auf!« Der wahnsinnige Blick des alten Mannes wich plötzlich einem verwirrten, wieder normalen Ausdruck. »M ... Malcolm ...«, sagte er matt und fiel dann nach vorne in die Arme seines Enkels. Quincy keuchte und preßte seine Hände krampfhaft gegen seine Brust, während er gleichzeitig unverständliche Geräusche der Angst und des Schmerzes von sich gab. Malcolm hielt seinen Großvater weiterhin fest, während Rachel zum Telefon lief, um einen Rettungswagen herbeizurufen. Einige Stunden später drückte Jerry Herman zum fünftenmal auf den Klingelknopf am Haus der Harkers. Verärgert trommelte er mit dem Fuß auf den Boden, doch gerade, als er sich umdrehen und weggehen wollte, fuhr ein Taxi vor, dem Malcolm und Rachel entstiegen. Malcolm legte einen Arm um seine Schwester, bevor sie gemeinsam mit langsamen Schritten auf die Eingangstür zugingen. Bei ihrem Herankommen legte sich Jerry mächtig ins Zeug, um ein Lächeln zustande zu bringen, während er sagte: »Wo wart ihr zwei denn? Gerade wollte ich wieder ...« Er hörte auf zu sprechen, als er an ihren Mienen erkannte, daß etwas nicht stimmte. »Hey, was ist denn los?« »Es geht um Großvater«, sagte Malcolm seufzend. »Er liegt im Krankenhaus.« »Ach Scheiße, Mal, das ist doch wirklich zu blöd. Kommt er denn wieder in Ordnung?« »Er liegt im Sterben«, murmelte Rachel, während sie an ihm vorbeiging und das Haus betrat. Jerry warf Malcolm einen fragenden Blick zu, worauf Malcolm seinen Kopf schüttelte. »Er wurde von einer Erinnerung heimgesucht. Von so einer, wie ich sie gleichzei-
tig auch hatte. Eine Erinnerung, die aus dem Blut kommt. Rachel hatte auch eine, aber Großvater ist nun einmal zu alt und zu schwach, um damit noch zurechtzukommen.« Er ließ ein amüsiertes Lachen hören. »Mein Gott, ich weiß ja nicht einmal, ob ich überhaupt damit zurechtkommen kann.« »Aber wie ... ich meine, ich dachte ... wie konnten die beiden die gleichen Träume haben, wie du sie schon gehabt hast?« Malcolm betrat das Haus. Jerry folgte ihm. Während Malcolm sich an der Bar im Wohnzimmer ein Glas Bourbon einschenkte, sagte er: »Gestern muß Lucy am frühen Abend, schon bevor Holly und ich nach Hause kamen, eine Nonne getötet und deren Kleider gestohlen haben. Vielleicht hat sie das auch schon in England gemacht, ich weiß es nicht. Sie ist ins Haus gekommen und hat sich als die neue Gemeindeschwester ausgegeben, die zu Großvater hierhergeschickt worden sei.« Jerry seufzte, weil er wußte, was Malcolm gleich sagen würde. »Und deshalb hat Rachel sie hereingebeten.« »Ja«, antwortete Malcolm nickend. »Rachel dachte, es wäre eine Nonne und hat sie hereingebeten. Sie trug eine große Umhängetasche. Darin muß der Schmuckkasten gewesen sein. Sie muß ihn irgendwo im Haus versteckt haben.« Jerry schüttelte stirnrunzelnd seinen Kopf. »Ich verstehe das nicht, Mal. Ich verstehe das einfach nicht. Was soll das alles? Warum tut sie uns das an - dir, mir und deiner Familie? Es ergibt einfach keinen Sinn.« Malcolm schenkte Jerry ein Glas Bourbon ein und reichte es ihm. »Es ergibt durchaus einen Sinn. Zumindest könnte ich mir eine Strategie vorstellen, die alles erklärt.« »Na, dann laß mal hören«, sagte Jerry, während er in Quincys Plüschsessel Platz nahm. »Ich hab nämlich ein persönliches Interesse an dem Ganzen.« Malcolm setzte sich auf das Sofa, nahm einen tiefen Schluck Bourbon und schüttelte sich etwas, als das feurige Getränk ihm durch die Kehle rann und ihn aufwärmte. Dann sagte er: »Dracula hat seinen Feinden Rache geschworen, und wann immer er Rache schwor, hat er sie ir-
gendwie auch in die Tat umsetzen können. Die Türken dürften das gemerkt haben.« »Die Türken? Was ...« »Stell dir einmal folgendes vor«, fuhr Malcolm fort. »Stell dir einmal vor, der Graf hätte gewußt, daß van Helsing, meine Großeltern und die anderen eine Gefahr für ihn bildeten. Stell dir vor, er hatte meine Großmutter gezwungen, sein Blut zu trinken, so daß im Falle, wohlgemerkt - nur im Falle seiner Vernichtung irgend etwas von ihm in Mina Harker und deren Nachkommen weiterleben würde. Seine Persönlichkeit, sein Blut, wären dann ewig wirksam und vorhanden, wenn auch größtenteils schlummernd. Stell dir vor, er hätte sich ausgerechnet, daß eines Tages, in einhundert oder vielleicht auch erst in fünfhundert Jahren, das Blut erwachen und denjenigen, in dessen Adern es fließt, irgendwie zu seiner, zu Draculas Asche führen würde. Dann würde die unmittelbare Nähe dieser Asche das Blut erwecken, und Dracula würde ein neues Leben in Gestalt eines Harker führen können.« »Ergibt keinen Sinn«, versetzte Jerry rasch. »Wenn du nicht beschlossen hättest, nach England zu fahren, um dem Ganzen auf den Grund zu gehen, wärst du nie nach Rumänien. Das sind einfach zu viele >Wennswir< solltest du wohl nicht sagen, Woiwode. Ich fürchte, bei Morgengrauen wirst du eines qualvollen Todes sterben.« Damit reichte er ihm abermals die Flasche. Der Woiwode zuckte die Achseln - eine Geste gleichgültiger Schicksalsergebenheit - und tat einen neuerlichen Zug. »Was wird aus meinem Weib und meinen Kindern?« »Eurem Weib?!« lachte der Beg. »Du hast doch nicht die Absicht, vor mir den Gottesfürchtigen zu spielen, Kleiner Drache? Du meinst doch wohl deine Weiber, oder?« Er lächelte. »Dann also meine Herzensdamen.« »Tot, fürchte ich.« Er sagte es betrübt, aber mit einem Augenzwinkern. »Doch gräm dich nicht, Woiwode. Ich habe mich an jeder von ihnen ergötzt, bevor ich sie ermordete. Sie starben glücklich.« Er lächelte mit zusammengebissenen Zähnen. »Und meine Kinder?« »Oh, die waren leider nirgendwo zu finden. Dem Vernehmen nach ist meine Meute heute abend seltsam appetitlos, aber warum, kann ich nicht sagen.« Der Woiwode erwiderte nichts, doch seine schwarzen Augen brannten vor Haß. Der Beg lachte. »Nun, nun, Woiwode. Ärgere dich nicht! Bedenk doch: Hättest du die Schlacht gewonnen, was wäre das Schicksal meiner Frauen und Söhne gewesen? Was hättest du mit ihnen und mit mir gemacht, Vlad der
Pfähler? Wie viele Pfähle hättest du in sie gestoßen, sie vom After bis zu den Ohren aufgespießt und über ihre Qualen gelacht?« Er lächelte den Türken ruhig an. »Fürwahr, wir zwei sind aus demselben Holz.« »Und ob wir das sind«, stimmte Torghuz Beg ihm zu und klopfte ihm gutmütig auf die Schulter. »Du hättest als Türke zur Welt kommen sollen, Kleiner Drache. Wir wären ein schreckliches Gespann gewesen, du und ich!« »Wir waren ein Gespann«, rief er ihm ins Gedächtnis. »Ja, aber das war immer deine Sorge, Woiwode!« entgegnete der Türke. »Das Bündnis mit dir glich der Ehe mit einer Hure. Man wußte nie, in wessen Bett du kriechen würdest, wenn man dir erst den Rücken kehrte.« »Ich tat nur das, was ich zum Wohle meines Volkes für das beste hielt«, erwiderte er schlicht. Torghuz Beg lachte schallend. »Deine Legenden spar dir für die Nachwelt, Kleiner Drache. Du hast getan, was dich selbst zufriedenstellte. Dein Volk war eine Schafherde für dich, sie waren Spielsteine, weiter nichts. Wen, glaubst du, hassen deine Leute mehr — dich oder mich?« Er grinste. »Es wäre ein harter Wettstreit, Pfähler!« Mit einem neuerlichen Zug leerte der Woiwode die Flasche. Der schwere Rotwein erwärmte seinen kalten und leeren Magen. »Ich bitte dich um einen Gefallen, Torghuz Beg.« »Ach, bittest du jetzt um dein Leben? Du enttäuschst mich, Kleiner Drache.« »Nein«, erwiderte er. »Das ist es nicht. Wenn du mich umgebracht hast, dann nimm meine Leiche und die Leichen meiner Weiber und gib sie meinen Leuten, damit sie mich nach ihrem Brauch bestatten.« Er hielt inne. »Ich hätte nicht weniger für dich getan, wäre ich heute der Sieger.« Der Türke klopfte ihm abermals auf die Schulter. »Betrachte es als geschehen! Im Siege kann ich großmütig sein, Woiwode.« Der andre lachte leise. »Ist denn dein Sieg gewiß, Lecker des allererlauchtigsten Loches? Beglückwünsche dich nicht zu früh. Es mag noch viel geschehen, und das bald.« »Vielleicht, Kleiner Drache, vielleicht. Doch fürchte ich, du wirst es nicht mehr miterleben.«
Er lächelte erneut, und dann senkte sich der Nebel über das ringsum liegende Verlies. Als die Schwaden sich hinlänglich gelichtet hatten, fand er sich noch immer in der Kerkerzelle, doch war er nun allein, und die Dunkelheit vor der kleinen Luke oben begann, dem Tageslicht zu weichen, dem Morgengrauen seines Todes. »Ordogh«, wisperte er. »Komm zu mir! Komm zu mir!« Ihm schien, als müßte er geraume Weile warten, ehe die Höllenstimme zu ihm sprach. »Ich bin da, Kleiner Drache. Ich bin da.« »Erklär es mir noch einmal, Ordogh«, bat der Woiwode. »Erkläre mir das Ganze noch einmal, wie du es vor dieser letzten Schlacht getan hast.« »Willigst du ein, Kleiner Drache?« »Ich möchte es noch einmal hören, Ordogh, von A bis Z. Was du von mir verlangst, ist nichts Geringes.« »Und nichts Geringes biete ich dir dafür.« Der Woiwode stierte in das reglose, tiefe Dunkel des Verlieses. »Leben im Tod und Tod im Leben«, flüsterte er in Erinnerung an die Worte des finsteren Geistes. »Wenn ich einwillige, Ordogh ... wenn ich einwillige, dann werde ich zu einem ... werde ich zu einem ...« Er hielt inne, als versetzte ihn das Wort alleine schon in Angst und Schrecken. »Nosferatu«, beendete der Dämon den Satz für ihn. »Du wirst zu einem Nosferatu werden.« Er schüttelte den Kopf und murmelte: »Ich dachte stets, solche Geschichten wären nur dazu da, um kleine Kinder zu erschrecken.« Die Stimme schien dem Lachen nah, als sie erwiderte: »Die Furcht von Kindern birgt viel Weisheit, Kleiner Drache, so wie die Weisheit des Erwachsenen viel Torheit birgt.« Der Woiwode biß die Zähne zusammen und schluckte schwer, während er die Tragweite des Paktes, den man ihm da anbot, überdachte. »Und in dieser Gestalt, in diesem Daseinszustand werde ich über meine Feinde triumphieren?« »Ich sagte bereits, Kleiner Drache, daß du über noch ungeborene Geschlechter triumphieren sollst.
Jahrhundertelang sollst du die Freiheit haben, zu martern und zu töten, wie es dir gefällt.« »Jahrhundertelang ...«, wisperte der Woiwode. »Jahrhunderte ...« »Du sollst das Blut der Lebenden trinken und ein Bote von Tod und Schrecken sein, gefeit wider die Waffen der Sterblichen, die du vernichtest. Schwert, Musketenkugel, Gift und Feuer, nichts wird dir Schaden tun. Und da du ein Gegenbild meines Widersachers sein sollst, Kleiner Drache, wird der Spiegel dich nicht wiedergeben. In allem sollst du Ihm ein finstrer Zwilling sein.« Der Woiwode wartete. Dann sagte er: »Mehr, Ordogh. Ich wünsche, mehr zu hören. Ich, ein finstrer Zwilling Christi?« »Ja, Kleiner Drache. Wie dieser beim Morgenrot aus seinem Grabe auferstand, sollst du es in der Abendröte tun. Wie er einst übers Wasser wandelte, sollst du es ohne Hilfe nicht überschreiten können. Wie er am Kreuzesholz gestorben ist und du dich an der Pfählung deiner Mitmenschen ergötztest, so sei deine Vernichtung nur durch den Holzpfahl möglich. Wie er in jener letzten Nacht vor seinem Tod den andren, seinen Jüngern, einst sein Blut gab, indem er Brot und Wein mit ihnen teilte, sollst du dein Blut mit andern teilen und den Fluch deines eigenen Untods über sie bringen. Wie er sich in der Nacht seiner Begegnung mit Moses und Eliah verwandelt hat, sollst du dich nach Belieben in Fledermaus, Wolf, Ratte, Nebel oder Wind verwandeln können. Wie er sein Blut für andere vergoß, sollst du das Blut der anderen für dich vergießen.« Die Stimme hielt inne. »Ich werde dich unter meine Fittiche nehmen, Kleiner Drache, und du sollst mein Sohn sein.« Der Woiwode sog die Worte in sich ein, die ihm die vertraute, schmeichlerische Stimme ins Ohr raunte - die Stimme, die einst zu Eva unter dem Verbotenen Baum gesprochen, die Stimme, die einst um Hiobs Seele geschachert, die Stimme, die einst den Nazarener Jüngling angetrieben hatte, Steine in Brot zu verwandeln. Der Woiwode lauschte und dachte nach. »Nos-feratu«, murmelte er.
»Nosferatu«, erklang das Echo der Stimme. »Und ich werde als Nosferatu die Jahrhunderte überdauern«, sagte Vlad versonnen. »Die Jahrhunderte und die Jahrtausende, bis daß die Sonne selbst erkaltet.« Der Woiwode nickte. »Ja, Ordogh. Ja, ich schlage ein.« »Aus freien Stücken?« »Ja, aus freien Stücken.« »Weißt du, welches Schicksal dich am Tage des Jüngsten Gerichts erwartet?« Er lachte bitter. »Dieses Schicksal erwartet mich so oder so. Mein Haß auf meine Feinde treibt mich zu diesem Pakt, nicht irgendwelche Hoffnung auf mildernde Umstände.« »Nein, Kleiner Drache, es ist nicht der Haß auf deine Feinde«, flüsterte die Stimme. »Dein Feind ist nicht der Türke, nicht der Magyare. Du haßt das Leben, Kleiner Drache. Das Leben ist dein Feind. Die Menschheit ist dein Feind. Du bist erfüllt von Haß, Verbitterung und Blutgier.« Der Woiwode überdachte diese Worte ein paar Sekunden. Dann nickte er. »Ja, Ordogh, du hast recht.« »Das weiß ich, Kleiner Drache.« »Und du hast es von jeher gewußt, nicht wahr?« »Ich habe es von jeher gewußt, Kleiner Drache, und dich um deines Hasses, deiner Verbitterung und deiner Gier willen mehr geliebt als jeden Sterblichen, den ich kenne. Und ich bin alt, Kleiner Drache, ich bin alt.« Der Woiwode nickte abermals. »So werde ich denn zum Gegenbild deines Widersachers, Ordogh, des Herrn des Lichts.« »Du wirst zum Herrn der Finsternis«, bestätigte die Stimme. »Nosferatu!« »Nosferatu«, lachte der Woiwode. »Nosferatu! Nosferatu!« Er lachte noch lauter, und sein Gelächter hallte von den Mauern. »Ja, ich werde Nosferatu sein! Ich werde der Wandelnde Tod sein! Die Hölle selbst werde ich sein, die fleischgewordne Hölle!« Sein Gelächter war wahnsinnig und schrill. »Ich schlage ein, Ordogh, ich schlage ein, ich schlage ein!« »Du wirst mit mir zur Hölle fahren, Kleiner Drache«, warnte die Stimme.
»Ich kann es kaum erwarten!« rief der Woiwode. Ein langes, tiefes Schweigen senkte sich über das Verlies. Dann wisperte die Stimme: »Es ist geschehen, Kleiner Drache. Es ist geschehen ...« Die Zellentür flog auf, und fünf türkische Wächter betraten den Kerker. Der Woiwode sah zur Luke unter der Decke empor. »Der Tag bricht an«, murmelte er. »Morgengrauen. Die Sonne verdüsterte sich, als jener starb - mir scheint sie. Bei Sonnenuntergang jedoch ... bei Sonnenuntergang ...« Einer der Wächter faltete ein Stück Pergament auseinander und begann, es zu verlesen. » Vlad Vladescu«, begann er- Sohn des Vlad -, wobei er den Titel des Woiwoden unterschlug, »Ihr seid wegen der Verbrechen des Hochverrats, der Thronräuberei und der Auflehnung zum Tode verurteilt. Der Befehl zu Eurer Hinrichtung trägt das Siegel des Torghuz Beg Pascha und des Woiwoden Radu I. von der Walachei.« Der Wächter blickte auf. »Habt Ihr irgend etwas dazu zu sagen?« Der Woiwode lächelte. »Ich habe viel zu sagen«, knurrte er. »Aber ich werde später sprechen, nach Sonnenuntergang.« Noch immer lächelnd, wurde er von seinen Häschern aus der Zelle geführt, während der Nebel neuerlich herabsank ... ... und noch dunkler wurde. Nur vereinzelt durchdrangen Bilder die tiefe Schwärze ... ... das grinsende Gesicht des Torghuz Beg, als man den Woiwoden an die Steinplatte führte ... ... der unerträgliche Schmerz, als die Hinrichtung begann ... ... der Tod der Tausend Messer ... ... der rechte Zeigefinger, Glied um Glied ... der rechte Mittelfinger, Glied um Glied ... der rechte Daumen, Glied um Glied ... Ordogh! Sie zerstückeln meinen Körper! Das hat nichts zu bedeuten, Kleiner Drache. Wenn ich Nosferatu bin, wird dann mein Körper ganz sein? Das wird er, Kleiner Drache.
... der linke Zeigefinger, Glied um Glied ... der linke Mittelfinger, Glied um Glied ... Ordogh! Ordogh! Ich bin da, Kleiner Drache. Warte, mein Sohn, warte. Es wird alles gut. Es wird alles wieder gut. ... die Handgelenke ... die Knöchel ... die Ellbogen ... die Knie ... Diese Schmerzen! Ordogh, diese Schmerzen! Ja, Kleiner Drache, ja! Laß deine Schmerzen deinen Haß befeuern! ... die Oberschenkel ... die Arme ... Töte mich, Ordogh, töte mich, bitte, bitte, laß mich sterben! Wie kann ich immer noch am Leben sein? Wie kann ich solche Schmerzen überleben? Der Schmerz ist deine Mutter, Kleiner Drache. Der Schmerz ist deine Geliebte. Der Schmerz ist deine Braut. ... die Zunge ... die Augen ... die Hoden ... das Geschlechtsteil ... Bald, mein Sohn, bald, bald.
... der Kopf ... Und dann war alles dunkel. Und in der Dunkelheit lag der verstümmelte Leichnam im steinernen Sarg der Familiengruft zu Kronstadt, Siebenbürgen. Und in der Dunkelheit weideten sich Würmer und Geschmeiß an den Leichen Magdas, Katarinas und Simones. Und in der Dunkelheit wuchsen die blutigen Fleischbrocken und zerhackten Gebeine des Woiwoden aneinander. Und in der Dunkelheit raunte eine sanfte, höllische Stimme: Ja, Kleiner Drache, ja! Nosferatu! Nosferatu! Und das Dunkel war tief und währte eine Ewigkeit. Das Dunkel war ein Nichts, eine grausige, öde Leere, eine starre, stille Wüstenei ohne Leben, ohne Gedanken, ohne Sein. Dunkelheit und Leere waren alles. Und die Zeit war stehengeblieben. Und das Leben war stehengeblieben. Er war tot. Er war tot. Der Tod war endgültig und allbeherrschend, der Tod war ein ewiges NichtVorhandensein, der Tod war eine schwarze, schweigende Leere.
Und dann wurde sein Leichnam in dieser Stille, dieser Dunkelheit, dieser Leere, diesem grausigen, öden Nichts des Todes mit so jäher, grauenhafter Wucht getroffen, daß die toten Gliedmaßen nach oben sausten und den Steindeckel des Sarggehäuses beiseite stießen. Er trat aus dem Tod heraus, aber nicht ins Leben. Es gab kein wirkliches Zurück vom Tode, wenigstens nicht durch die Macht des Herren über alle Verdammten. Die Toten wiederzu-erwecken vermochte nur der Schöpfer, aus dessen Mund die lebensspendenden Worte einst gekommen waren und aus dessen Nasenlöchern das erste Leben in den Staub der Menschheit gedrungen war. Doch Ordogh, der Teufel, der Gebieter über die Hölle, konnte den Untod schenken. Und so stieg denn der Kleine Drache untot aus seinem Sarge und stand inmitten von Finsternis und Schweigen im Keller seines einstmals stolzen Schlosses. Seine Nüstern witterten den Rauch des türkischen Lagerfeuers, und er lächelte. Torghuz Beg, dachte er, das Spiel geht weiter. Der letzte Zug gehört mir. Er hob seine Hände an die Augen empor und betrachtete sie mit staunender Anerkennung. Es waren marmorweiße, blutleere, kalte, tote Hände. Er steckte sich einen Finger in den Mund und spürte die scharfen Spitzen der langen Eckzähne, die ihm nun aus dem Oberkiefer ragten. Dann schloß er die Augen und lauschte der Stimme seines Blutes. Das Blut war Satans ruchloses Geschenk für ihn, und das Blut lehrte ihn alles, was er wissen mußte. Im Nu war die Lektion gelernt. Langsam begab er sich zu den drei Sarkophagen, in denen seine toten Weiber lagen, öffnete einen davon und starrte auf die Leiche hinunter. »Magda«, flüsterte er. Dann schlug er sich einen seiner langen, rasiermesserscharfen Fingernägel ins Handgelenk. Das dicke, purpurrote Blut floß wie ein Strom, ein unendlicher Strom, und er tränkte Gesicht und Mund seiner toten Gemahlin mit dem fluchbeladenen Blut. Ihre Augen öffneten sich, und das Blut sprach auch zu ihr. Sie griff nach oben, packte das Handgelenk ihres Mannes und saugte gierig daran, wie ein Kind an der Mutterbrust. Dann stieg sie aus ihrem Sarge. Er selbst ging an den zweiten Sarg hinüber und warf den schweren Deckel mühelos zurück. Worte erübrigten sich,
denn das Blut sprach zu ihnen allen. Jeder von ihnen wußte genau, welche Kräfte sie nun besaßen. Jeder wußte genau, was nun zu tun war. Heimlich, wie hungrige Schlangen, die ungesehen und ungehört durchs hohe Gras kriechen, verließen sie die Grabkapelle und schützten ihre Augen vor den Kreuzen und Kruzifixen, während sie die Treppe hinaufstiegen. Vier Augenpaare glühten in der Finsternis rot wie das Höllenfeuer, und vier Zungen leckten gierig über vier Paar Reißzähne. Der Nebel senkte sich über ihn, verflog wieder, und er stand über der schlafenden Gestalt des Türkenfeldherrn. Mit heimtückischem Lächeln streckte der Woiwode die Hand nach dessen Schulter und schüttelte ihn sanft. »Aufwachen, alter Kamerad«, wisperte er. »Jetzt bin ich in unsrem Spiel am Zuge.« Die Augen des Türken öffneten sich langsam und starrten schlaftrunken zu dem über ihm dräuenden Schemen empor. »Was?« brummelte er. »Was ist los? Warum habt ihr ... ?« Dann schärfte sich sein Blick, und er erkannte die Züge seines Feindes. Mit gedankenlosem Lächeln versuchte er, sich einen beleidigenden Seitenhieb auszudenken. Sein Lächeln verblaßte, als ihm einfiel, daß er den anderen ja an diesem Tage hatte hinrichten lassen. Der Woiwode packte den Türken bei der Kehle und hob ihn mit erstaunlicher Leichtigkeit empor. So groß war seine Kraft, daß der vierschrötige Türke ihm nicht schwerer als ein Zweig vorkam, und mit herzhaftem Lachen schleuderte er den Mann zu Boden. Torghuz Beg versuchte, sich aufzurappeln und zu laufen, doch der Woiwode fiel mit einem Satz über ihn her und drückte ihn auf die kalten Steine. Seine roten Pupillen brannten sich in die schreckensgeweiteten Augen des Beg, und boshaft flüsternd sagte er: »Der letzte Zug des Spieles, alter Freund, und ich bin Sieger.« Damit grub er ihm seine Zähne in den Hals und begann, dem Türken das Blut auszusaugen. Der Türke schwankte zwischen Leben und Tod, als der Woiwode sich erhob, um voll Verachtung auf ihn hinabzustarren. Er wandte sich den drei verhüllten Frauen zu, die am Eingang warteten, und erteilte einen stummen Befehl. Sie reagierten augenblicklich. Rasend vor Gier,
Wut und Rachsucht, fielen sie über Torghuz Beg her und rissen ihn, von ihren neugewonnenen Trieben aufgepeitscht, in Stücke. Stunden vergingen, während die Schmerzensund Entsetzensschreie in den Nachthimmel emporstiegen und Tod und Schrecken sich über das besetzte Schloß und das türkische Heerlager senkten. Unempfindlich gegen die Messer, Pfeile und Schwerter töteten, töteten und töteten sie, schwelgten in Mord und Grauen. Das ist ja besser als Kämpfen! dachte der Woiwode. Das ist ja besser, als Bauern zu foltern, Feinde aufzuspießen, türkische Hüte auf türkischen Köpfen festzunageln! Das hier ist herrlich! Es ist prachtvoll, traumhaft! Die Schreie, die Angst, das Elend, der Mord, die Macht und das Blut, das Blut! Der Nebel trieb über ihn hinweg und trug ihn von einem Jahrhundert unmenschlichen Grauens in das andere. Er sah die entsetzten Gesichter von Frauen, während er sich auf sie stürzte, sah die flehenden Augen von Männern, während er ihnen mit seinen langen Eckzähnen die Kehle aufriß, hörte das köstliche Wimmern kleiner Kinder, während er von ihrem süßen frischen Blut kostete. Zusammen mit seinen Weibern jagte er in Wolfsgestalt durch die Karpatenwälder, flog auf ledrigen Schwingen durch die Fenster von Schänken, Hütten und Palästen, schwamm zwischen lauter nichtsahnenden, fröhlichen Nachtschwärmern unsichtbar im Nebel. Sie tranken und mordeten, und sie verhöhnten ihr dummes, ach so törichtes Schlachtvieh. Und jedesmal bei Morgengrauen schlössen sie die Deckel ihrer Särge und schliefen einen totengleichen Schlummer. Und jedesmal im Abenddämmer fühlten sie sich von derselben unmenschlichen Macht durchströmt, die sie mit Grausamkeit und der Gier nach Blut erfüllte. Und sie schwebten wie Todesengel über den verängstigten Bauern der Karpaten. Der Nebel löste sich auf, der Vorbeiflug der Jahrhunderte kam zum Stillstand, und er wußte, daß die Bauern gelernt hatten, sich zu schützen. Sie hängten Knoblauchgirlanden vor ihre Fenster und trugen Kreuze oder Kruzifixe, die sie auch an ihre Türen hefteten. Priester, die mit ge-
weihten Hostien, Weihwasser und Holzpfählen bewaffnet waren, stellten ihnen nach, ohne sie je zu finden, spornten jedoch die Bauern dadurch an, bei den Symbolen und Sakramenten der orthodoxen Kirche Zuflucht vor den Dämonen zu suchen. Und während die Jahrzehnte in Jahrhunderte übergingen, wurde er hungrig und rastlos. Er zog das Hauptportal des Schlosses auf und lächelte von der Schwelle seines Saales starr den helläugigen Jüngling an, der höflich draußen wartete. Er machte keine Geste, keinen Schritt auf den Besucher zu, tat nichts, um ihn zu drängen, denn keiner darf gezwungen werden, die Höllenpforte zu durchschreiten. »Willkommen in meinem Hause!«lächelte er. »Treten Sie ein, frei und aus eignem Willen!« Als der junge Mann über die Schwelle trat, packte er ihn bei der Hand und schüttelte sie kraftvoll. Kleiner Narr, kleiner Narr! Welch leichte Beute werden du und deinesgleichen sein, ihr gesitteten Engländer mit eurer Dummheit, eurer Skepsis, eurem blinden Pragmatismus und eurer jämmerlichen Wissenschaftsgläubigkeit! dachte er dabei und wiederholte: »Willkommen in meinem Hause. Kommen Sie frei. Gehen Sie wohlbehalten. Und lassen Sie etwas von dem Glück hier, das Sie mitbringen.« Der junge Mann erwiderte Lächeln und Händedruck, war sich jedoch offenbar nicht sicher, wen er vor sich hatte. »Graf Dracula?« fragte er. Der andere verneigte sich und sagte: »Ich bin Dracula. Und ich heiße Sie, Mr. Harker, willkommen in meinem Hause ...« Die Nebel fegten ihn davon und trugen ihn weiter. Die Zeit schien zu blitzartigen Momentaufnahmen komprimiert, zu ineinanderfließenden Szenen, einem unkenntlichen Gemisch von Orten und Personen. Und dann fühlte er, wie er an Land ging und die pelzige, geflügelte Gestalt, welche er angenommen hatte, abwarf. Er verharrte regungslos, unempfindlich gegen die beißenden Winde an dem verwaisten englischen Küstenstrich. Er sah zu, wie das Totenschiff nähertrieb und sich dann auf den Felszacken, die Whitbys Hafen säumten, pfählte - den Klippen, die ein Seemann so leicht umfahren konnte, hätte das Schiff nur
einen lebenden Lotsen gehabt. Er wußte, daß dies ein Todesgefährt, daß der Kapitän mit beiden Händen ans Steuerrad gefesselt und die ganze Besatzung tot war. England, dachte er bei sich. Ein neues Land, voll neuen Schlachtviehs, durchströmt von neuem Blut. Und wieder fühlte er sich von den Nebeln der Erinnerung hinweggefegt, sah sich wie von ferne auf vier weichen Pfoten laufen und auf zwei klauenbewehrten Schwingen fliegen. Und dann fand er sich auf dem Balkon eines verdunkelten Schlafzimmers wieder. Er strich seinen stahlgrauen Schnurrbart glatt und öffnete die Fenstertür lautlos nach innen. Das stolze viktorianische Herrenhaus lag totenstill. Alle Bewohner schliefen. Er schlich sich in das Zimmer. Verloren in süße Träume über Arthur Wellsley, ihren Bräutigam, der die Titel der Wellingtons und das damit verbundene Vermögen erben würde, lag Lucy Westenra auf ihrem Bett. Sie war eine bezaubernde junge Frau, rotwangig und in der Blüte ihrer Jugend, voll köstlichen frischen Blutes. Er lächelte beim Anblick des langen blonden Haares, das so entzückend über ihr Kopfkissen floß. Wie gleichst du doch meiner Simone, süße Lucy! dachte er. Lautlos begab er sich auf ihre Seite des Bettes, beugte sich über sie, nahm mit bebenden Nasenflügeln das einladende Aroma ihres Körpers in sich auf und ließ dabei seine Zunge vor Gier über die scharfen Eckzähne schnalzen. Dann beugte er sich tiefer zu ihr hinab, um ihr behutsam die nadelscharfen Spitzen an den Hals zu drücken. Sie erschrak und stöhnte, als er ihre zarte Haut durchbohrte, wachte jedoch nicht auf. Jahrhundertelange Erfahrung hatte ihn gelehrt, von seinen Opfern unbemerkt zu trinken. Gierig und ohne daß er einen Flecken auf dem Linnen hinterließ, sog er das Blut aus ihrer weißen Kehle. Dann flüsterte er: »Lucy!« Langsam und matt schlug sie die Augen auf. In der Sekunde zwischen Schlafen und Wachen nahm er ihren Blick mit seinem eigenen gefangen, so daß sie tief in dessen rote Glut hinabgezogen wurde. Sie war gelähmt, wußte nicht, was sie tat, war wach und dennoch schlafend. »Lucy!« wiederholte er mit demselben schlangenhaften Flüstern. »Du bist durstig, nicht wahr?«
»Ja«, wisperte sie. »Ich bin sehr durstig.« Er schlug sich einen seiner scharfen Zähne ins Handgelenk und drückte ihr dieses an die Lippen. »Da, liebste Lucy. Trink von meinem Elixier. Es ist warm und süß, nicht wahr?« Und Lucy Westenra trank gierig von dem verseuchten Blut. Der Nebel umfing ihn abermals, fegte ihn aus dem dunklen Schlafzimmer davon, und er fand sich vor der Familiengruft der Westenras am Kirchhof von Hampstead wieder, wo er auf ihr Erscheinen wartete. Es war lange nach Sonnenuntergang, doch sie war ihrem Grab noch nicht entstiegen. Er stieß die Pforte des Mausoleums auf und trat ins Innere. Nicht eine Spur von Lucy! Statt dessen aber nahm er unbestimmten Geruch und eine sonderbare, unangenehme Hitze wahr. Er ging zu ihrem Sarg hinüber, hob den Deckel an und prallte, erfaßt von Schmerz und Übelkeit, vor dem erdrückenden Knoblauchgestank zurück. Er zwang sich, in den Sarg zu sehen, und fletschte beim Anblick des Pfahles, der aus ihrem Busen ragte, des abgetrennten Kopfes und des offenen, mit dem widerlichen Gewächs vollgestopften Mundes, seine Zähne zu einem wilden Knurren. Die mörderische Hitze ging von der Hostie aus, die auf Lucys Bauch lag, und schäumend vor Wut flüchtete er ins Freie. »Van Helsing«, zischte er, und dann trug ihn der Nebel in eine andere Nacht, ein anderes Schlafzimmer, zu einem neuen Akt der Lust, der Gier und des Abscheus, die er gegenüber seinem elenden Schlachtvieh empfand, das sich ihm zu widersetzen wagte. Er lachte, während er Mina Harkers schreckensbleiches Antlitz an seine blutüberströmte Brust drückte, lachte über ihren blöden Gatten, der ahnungslos im Bett beim Fenster lag. »Fleisch von meinem Fleisch«, murmelte er der verängstigten Frau zu, »Blut von meinem Blut, meinesgleichen ...« Und dann herrschte plötzlich Dunkelheit. Es ruckte und holperte, und er spürte, wie ihm die Innenwände einer Holzkiste an den Händen scheuerten, während er vom Schlafen ins Wachen überging. Da wußte er blitzschnell Bescheid. Er wußte, daß er sich wieder in seinem Heimatland befand, daß die Zigeuner ihn Hals über Kopf zurück in die Ruinen seiner Burg brachten, wußte, daß Jonathan
Harker, Quincey Morris und der Herzog von Wellington ihm auf den Fersen waren. Und daß er seine Wahl zu treffen, ein Spiel zu riskieren hatte. Er spürte, wie die Kiste von fliegenden, von Panik geleiteten Händen gestoßen wurde, hörte Gewehrfeuer und laute Stimmen, fühlte, wie man die Holztruhe rabiat zu Boden warf, und blinzelte in die ersterbenden Strahlen der Sonne, als der Deckel weggerissen wurde und die Gesichter von Jonathan Harker und Quincey Morris auf ihn herabstießen. Seine Entscheidung fiel im Augenblick. »Ordogh!« murmelte er, während sich ihm die Messer der beiden Männer in Brust und Kehle gruben. Malcolm schrie. In dem Sekundenbruchteil zwischen Draculas letzter Erinnerung und dem Wiedererwachen seines eigenen Bewußtseins hatte er gespürt, wie die kalten Klingen ihn durchbohrten, wie das Fleisch mit unsäglicher Qual zu Staub zu zerfallen begann. Und dann befand er sich wieder in Hollys Appartement, auf dem Boden der leeren Wohnung. Holly war verschwunden. Er zuckte zusammen, als das Schrillen von Hollys Telefon die Stille zerriß. Dann kroch er zu dem Beistelltischchen hinüber, auf dem der Apparat stand, und nahm den Hörer ab. »J ... ja bitte?« fragte er mit zitternder, keuchender Stimme. »Mal?« hörte er Jerry Herman sagen. »Malcolm? Bist du's?« »Jerry«, rief er verzweifelt. »Sie ist tot. Holly ist tot, schlimmer als tot. Lucy hat sie erwischt, sie hat sie umgebracht, sie in einen ... sie in einen ...« Er brachte das Wort nicht über die Lippen. Jerry brauchte einen Moment, um zu reagieren. »Großer Gott!« flüsterte er. »Das darf doch nicht wahr sein!« »Doch.« Ihm brach die Stimme. »Sie hat mich telefonisch gebeten, zu ihr rüberzukommen, damit ich ihr helfen würde, das Blut zu erwecken.« »Mal«, fiel Jerry ihm ins Wort, »das kannst du mir alles später erzählen, wenn du hier bist ... ich meine, ich möchte, daß du mir davon erzählst, alles, aber du mußt augenblicklich rüber-kommen.«
»Rüber? Wohin? Wo bist du?« »Ich bin mit Rachel im Krankenhaus. Mit deinem Großvater geht's rapide bergab. Der Arzt meint, er würde die Nacht nicht überleben.« Malcolm ließ den Hörer fallen und lief an die Tür. Was ihn antrieb, war eine wahnwitzige Hoffnung, dem alten Mann in seinen letzten Stunden beistehen zu können. Aber es gab noch einen anderen Beweggrund, einen, der noch mehr drängte, zwingender war. Rachel hatte sekundenlang einen Blick auf die Wahrheit erhascht, und auch Malcolm war sich trübe bewußt gewesen, daß ein Plan, ein Komplott, ein schrecklich gravierender Umstand existierte, den man bislang übersehen hatte. Im Moment der Zersetzung - als Draculas unsterblicher Leichnam unter Morris' und Harkers Messern der Sterblichkeit anheimfiel - hatte Malcolms Blut ein eitles Wohlgefallen im Geiste des Grafen registriert. Er wußte nicht, weshalb, wußte nicht, welcher Plan vor einhundert Jahren in der Kälte auf dieser holprigen Karpatenstraße in Gang gesetzt worden war. Aber er wußte, daß es etwas mit dem Blut zu tun haben mußte. Alles hatte mit dem Blut zu tun. Falls der alte Quincy vor Sonnenaufgang sterben würde, mußte er dabeisein, damit das Blut nicht die Macht über das Fleisch des Verstorbenen gewinnen konnte. Malcolm stürzte aus der Tür des Appartementgebäudes und begann, über den Queens Boulevard zum St. John's Hospital zu laufen. Das lautlose Lachen Draculas hallte ihm in den Ohren, das rachsüchtige, triumphierende Gelächter, welches im Augenblick der Vernichtung, vor einhundert Jahren, der letzte Gedanke des teuflischen Gehirns gewesen war.
Dritter Teil
Dracula Ihr glaubt, ihr könntet mir ein Schnippchen schlagen - da steht ihr nun mit euren blassen Schafsgesichtern, wie Lämmer vor der Schlachtbank! Ihr sollt es noch bereuen -jeder einzelne von euch! Ihr glaubt, ihr hättet mir alle Ruhestätten genommen, doch ich besitze ihrer noch mehr. Meine Rache hat erst angefangen! Sie reicht über die Jahrhunderte, und die Zeit steht auf meiner Seite. Eure Mädchen, die ihr alle 90 sehr liebt, sind bereits mein. Und durch sie sollen ihr und die anderen noch mein werden, meine Geschöpfe, meine Sklaven, meine Schakale, wenn ich zu essen wünsche ... Aus Dr. Sewards Tagebuch in Dracula von Bram Stoker
Kapitel 17 Keuchend, zitternd und fast ohnmächtig vor Erschöpfung stieß Malcolm die Tür zur Vorhalle des St. John's Hospital auf und lief zum Empfangsschalter hinüber. »Harker, Quincy Harker«, sagte er mit lauter, gebieterischer Stimme. »Welches Zimmer?« Die diensthabende Schwester beäugte ihn über den Rand ihrer Brille und fragte in gereiztem Ton: »Wie bitte?« »Mein Großvater, Quincy Harker«, wiederholte er. »Man hat mich angerufen, es ginge ihm schlechter, er würde vielleicht sterben. In welchem Zimmer liegt er?« »O ja, Verzeihung«, antwortete sie, auf einmal ganz dienstlich. Sie fuhr mit dem Zeigefinger über die Patientenliste auf dem Klemmbrett vor ihr und sagte dann: »Zimmer 418. Folgen Sie der blauen Linie aus diesem Stockwerk in das ...«, doch Malcolm war schon davongestürzt und lief auf die Treppe zu. Im vierten Stock des Krankenhauses angekommen, hielt er gehetzt nach irgendeinem Hinweisschild Ausschau. Er entdeckte einen gelben Pfeil auf blauem Grund, der zu den Zimmern 400 bis 432 deutete, und ging mit langsameren, doch noch immer raschen Schritten in die angewiesene Richtung. Als er Zimmer 418 gefunden hatte, atmete er tief durch und trat ein. Der alte Mann lag in halb bewußtlosem Zustand auf dem Bett. In seinen Armen und Nasenlöchern steckten Schläuche. Das ganze Zimmer roch nach dem allgegenwärtigen Desinfektionsmittel, das ironischerweise Assoziationen mit Siechtum und Tod gerade erst hervorzurufen scheint, und die Stille dieser Szene wurde nur vom unregelmäßigen Piepsen des Herzmonitors unterbrochen. Rachel saß auf der Bettkante neben ihrem Großvater. Jerry stand etwas abseits, die Hände auf merkwürdig und untypisch respektvolle Weise vor sich gefaltet. Auf dem gegenüberliegenden Rand des Bettes saß Pfarrer Henley, der mit leiser, besänftigender Stimme auf den alten Quincy Harker einredete. Malcolm bemerkte, daß die Tasche mit den liturgischen Gegenständen, die zur Verabreichung des heiligen Abendmahls gebraucht wurden, offen war und auf dem Stuhl neben dem Bett stand. Mit einem Seufzer stellte er fest, daß der Pries-
ter dem Alten die Krankensalbung gegeben hatte. Halt durch, Opa, dachte Malcolm im stillen und warf einen kurzen Blick auf die Uhr an der Wand. Es dauert noch Stunden bis Tagesanbruch. Wenn du danach stirbst, können wir dir das Blut entziehen und deine Adern mit Einbalsamierungsflüssigkeit füllen lassen, ehe es dich aufweckt. »Stirb nicht, Opa«, flüsterte er. »Halt durch. Bitte stirb noch nicht.« Pfarrer Henley hörte das leise Flehen und sah von seinem alten, im Sterben liegenden Gemeindemitglied auf. Malcolms Worte völlig mißverstehend, erhob er sich von der Bettkante und ging hinüber, um die Hand des jungen Mannes zu ergreifen. »Eines Tages gelangen wir alle an unser vorbestimmtes Ende, Malcolm«, sagte er sanft. »Dein Großvater hat ein langes, erfülltes Leben gehabt, und sein Tod ist friedlich und gesegnet.« Er sah nach hinten auf das Sterbebett. »Geh, sprich mit ihm, Malcolm. Ich weiß nicht, ob er dich verstehen kann, aber vielleicht doch. Vielleicht tröstet es ihn.« Malcolm nickte, während er hinüberging und sich auf die Bettkante setzte. Seine Schwester und er wechselten einen stummen, vielsagenden Blick, der die unausgesprochene Hoffnung zum Ausdruck brachte, daß ihr Großvater nicht vor Morgengrauen sterben würde. Malcolm ergriff die Hand des alten Mannes und fragte: »Großvater? Kannst du mich hören? Ich bin's, Opa - Malcolm.« Er beugte sich vor und brachte seine Lippen dicht an Quincys Ohren. »Halt durch, Großpapa, bitte halt durch. Kannst du mich hören? Es ist Nacht, es ist immer noch Nacht. Halt durch bis Tagesanbruch.« Einen Moment lang glaubte er zu fühlen, wie die Hand seines Großvaters leicht die seine drückte - glaubte zu sehen, wie die greisen Augenlider flatterten. »Du hast ihn all die Jahre hindurch geschlagen, Großvater. Laß ihn jetzt nicht gewinnen. Kämpfe, Großvater, kämpfe. Stirb jetzt nicht, noch nicht. Halt durch bis zum Morgengrauen.« Rachel stand auf und ging nach hinten zu Jerry. »Kommen Sie mit raus auf den Flur«, murmelte sie. Er folgte ihr aus dem Zimmer, und nachdem sie die Tür hinter ihnen geschlossen hatte, erklärte Rachel: »Malcolm hat recht mit dem, was er zu Großvater sagt. Die Überreste sind irgend-
wo in unserem Haus, und ihre Gegenwart hat das Blut in unserem Großvater wachgerüttelt. Wenn er jetzt, vor Sonnenaufgang, sterben sollte, ersteht er vielleicht untot wieder auf.« Jerry nickte. »Ich weiß. Ich verstehe.« »Ich muß hierbleiben. Ich muß, ich will bei ihm sein.« Er nickte abermals. »Was soll ich tun?« Sie seufzte. »Gehen Sie hinaus zum Müllcontainer hinter dem Krankenhaus. Suchen Sie ein Stück Holz, ein Brett, einen Stock, irgend etwas, das wir als Pfahl verwenden können, falls ...« Sie schüttelte den Kopf und verstummte. »Sie wissen, was ich meine. Wir dürfen nicht noch so ein Wesen wie Lucy Westenra frei in der Stadt herumlaufen lassen. Eines ist schlimm genug.« »Zwei«, berichtigte Jerry schüchtern. »Vorhin, als der Priester mit uns im Zimmer war, könnt ich es Ihnen nicht sagen, aber Malcolm hat mir am Telefon erzählt, daß Holly von Lucy getötet worden ist. Sie ist jetzt eine von ihnen.« Rachel preßte sich eine Hand vor die Augen. »Das arme Kind. Das arme, arme Kind.« »Ja«, murmelte Jerry. »Aber ich geh jetzt was besorgen.« Er wandte sich von ihr ab, und sie sah ihm hinterher, ehe auch sie kehrtmachte und sich wieder ins Zimmer begab. Du bist auch einer von ihnen, du armer Kerl, dachte sie. Unser Fluch ist auch dein Fluch. Wir sind wie die Überträger einer Pest, die ihre Verderbtheit, ihre Unreinheit auf Schritt und Tritt verbreiten -die jeden, den sie berühren, anstecken und vernichten. Sie setzte sich wieder aufs Bett, nahm die Hand ihres Großvaters in die ihre und hörte zu, wie Malcolm seine leisen Beschwörungen fortsetzte. Die Tür ging auf, und ein Arzt betrat das Zimmer. Es war ein junger Mann, allem Anschein nach ein Pakistani oder Inder, wie so viele, die im New Yorker Gesundheitswesen tätig sind, und er sprach mit einem präzisen, abgehackten Akzent. »Guten Abend«, sagte er. »Hat der Patient irgendein Lebenszeichen von sich gegeben?« »Nein«, antwortete Pfarrer Henley. »Er ist völlig regungslos geblieben.« Mit einem Kopfschütteln trat der Arzt hinüber ans Bett. Rachel rückte beiseite, damit der Arzt den Alten in Augen-
schein nehmen könnte, während Malcolm weiterhin in sanften, leisen Tönen auf ihn einredete und der Doktor eine flüchtige und, wie Rachel vermutete, rein routinemäßige Untersuchung vornahm. Danach verließ er das Zimmer mit ein paar tröstenden, aufmunternden Standardfloskeln. Malcolm sah auf die Uhr. Genau eins. Noch gute fünf Stunden bis Sonnenaufgang. »Halt durch, Opa«, flüsterte er inständig. »Halt durch!« Die Stunden schlichen dahin. Zwei Uhr, zwei Uhr dreißig, drei. Jerry Herman kam zurück und zwinkerte Rachel zu. Er ließ den linken Arm steif an sich herabhängen und drehte leicht die Hand, damit sie die Unterkante eines Holzstücks sehen könnte, das er in seinem Hemdsärmel versteckt hatte. Sie nickte und wandte sich dann wieder ihrem Großvater zu. Regungslos verharrten sie auf ihren Plätzen, während die Stunden sich dahinschleppten. Rachel saß an der einen Seite des Bettes, Malcolm auf der anderen, Jerry in Türnähe, und Pfarrer Henley stand etwas abseits, wo er inbrünstig betete. Nur das Piepsen des Herzmonitors und Malcolms leise Beschwörungen störten die lautlose Krankenwache. Um vier Uhr früh hörte das Piepsen auf. Der alte Mann starb, und es war immer noch vor Morgengrauen. »Verdammt!« murmelte Malcolm. Als er sich vom Bett erhob und seine Schwester ansah, begann er zu zittern. »Rachel, wir müssen ...« »Ich weiß, was wir tun müssen«, erwiderte sie sanft. Sie wandte sich an Jerry. »Machen Sie's, Mr. Herman. Ich kann nicht.« Jerry nickte und zog den Pfahl aus seinem Ärmel. »Lang genug?« fragte er. »Mehr hab ich nicht auftreiben können. Ich glaube, das Stück stammt von einer Obstkiste aus der Krankenhausküche. « »Das reicht, um ihm das Herz zu durchbohren«, antwortete Rachel. »Mehr brauchen wir nicht zu tun.« Mit verwundertem Stirnrunzeln trat Pfarrer Henley einen Schritt vor. »Rachel, was reden Sie da?« Ihm klappte die Kinnlade herunter, als Jerry hinüberging und der Leiche des alten
Mannes die Holzspitze auf die Brust setzte. Die zersplitterten Kanten des hastig angefertigten Pfahls drückten sich in den sauberen weißen Krankenhauskittel. Henley stürzte vorwärts und hielt Jerry die Hand fest. »Was, um Himmels willen, fällt Ihnen ein?!« »Halten Sie sich da raus, Hochwürden«, sagte Malcolm, indem er die Hand des Geistlichen mit festem, wenngleich irgendwie sanftem Griff von der Jerrys entfernte. »Er tut, was getan werden muß. Es geht nicht anders.« »Malcolm, ich verstehe nicht«, antwortete Pfarrer Henley. »Was hat das alles zu bedeuten? Was geht hier vor?« Malcolm wischte sich eine Träne fort. »Das ist eine lange, lange Geschichte, Herr Pfarrer, und ich bezweifle, daß Sie sie glauben würden.« »Jerry«, sagte Rachel drängend, aber gefaßt, »beeilen Sie sich. Es gibt keine Zeit zu verlieren.« »Was soll ich denn als Hammer nehmen?« fragte Jerry. »Ich bin nicht dazu gekommen, einen zu besorgen.« »Einen Hammer brauchen Sie nicht«, erwiderte sie. »Stemmen Sie sich mit aller Kraft darauf und treiben Sie den Pfahl rein.« »Einen Augenblick!« unterbrach Henley mit lauter Stimme. »Was soll dieser Unfug! Sie, machen Sie, daß Sie da wegkommen! Weg von ihm, hab ich gesagt!« Damit befreite sich der Priester aus Malcolms Griff und riß Jerry das Stück Holz aus der Hand. »Pfarrer Henley, halten Sie sich da raus!« schimpfte Rachel. »Es ist so schon schwer genug für uns. Bitte gehen Sie einfach.« »Nichts dergleichen werde ich tun!« schrie Henley. »Sind Sie denn von allen guten Geistern verlassen?!« Malcolm bekam das Stück Holz zu fassen und entriß es dem Priester unsanft. »Ich werde später versuchen, es Ihnen zu erklären, Hochwürden. Jetzt gehen Sie einfach einen Schritt zurück.« »Malcolm, in Gottes Namen!« Malcolm reichte den Pfahl seinem Freund und sagte: »Rachel hat recht, Jer. Ich glaube auch nicht, daß ich es tun kann. Du wirst es machen müssen.«
Pfarrer Henley schnappte sich das Stück Holz erneut, doch diesmal hielt Jerry fest und ließ es sich nicht wieder wegnehmen. »Machen Sie augenblicklich Schluß mit diesem Unsinn!« verlangte der Priester. Dem Blick des anderen entschlossen begegnend, standen Pfarrer Henley auf der einen, Jerry auf der anderen Seite des Bettes, und beide versuchten regungslos, das Stück Holz an sich zu bringen. Eine dritte Hand griff von unten in den Zweikampf ein. Abrupt öffneten sich Quincy Harkers tote Augen, und ein leises, knurrendes Kichern drang aus seiner Kehle, während er den vier Händen den Pfahl entriß, um ihn ans andere Ende des Zimmers zu schleudern. Dann richtete er sich im Bett auf und ließ seinen Blick benommen über die Gesichter wandern, die ihn anstarrten. Keiner sprach ein Wort Henley aus Schock, Jerry aus Furcht, Malcolm und Rachel aus Kummer und Bedauern. Pfarrer Henley legte Quincy eine Hand auf die Schulter und sagte behutsam: »Mr. Harker! Bitte legen Sie sich hin und ruhen Sie sich aus!« Er lächelte. »Einen Moment lang dachten wir bereits, wir hätten Sie verloren.« Quincy lachte, und seine Augen blitzten rot im gedämpften Licht des Krankenzimmers. »Ich danke Ihnen für Ihr Mitgefühl, Herr Pfarrer.« Dann packte er Henley bei dessen Priesterkragen und zog ihn nach vorn. Der weiße Ring sprang ab, und in dieser Sekunde - als der alte Mann den Geistlichen aus dem Griff verlor - warf Malcolm sich dazwischen und riß Pfarrer Henley vom Bett zurück, so daß dieser unsanft in einer Ecke des Zimmers landete. Mit verblüffender Schnelligkeit und Behendigkeit sprang der schlurfende, schwache Greis, den sie alle einst gekannt hatten, von seinem Totenbett. Der kurze Augenblick der Erstarrung, in dem alle anderen gefangen waren, genügte Quincy, nach Pfarrer Henley zu greifen, ihn bei den Schultern zu packen, ihn nach vorn zu zerren und ihm seine Zähne in den Hals zu schlagen. Malcolm und Rachel bemühten sich vergebens, die Kreatur, die einst ihr Großvater gewesen war, von dem Geistli-
chen wegzuziehen, denn Quincy schien schwer wie Granit und stark wie Eisen. Henley baumelte aus Quincys Griff herab wie eine Strohpuppe, und seine Beine ruckten und zuckten krampfartig, während der Alte ihm das Leben aussaugte. Als ihm der letzte Blutstropfen entzogen war, ließ Quincy den Priester auf den Boden fallen, wo er, bleich und reglos, liegenblieb. Der Alte ergriff die Hände seiner Enkelkinder, stieß die beiden mühelos von sich und trat dann vor sie hin. »Geht nach Hause und schlaft«, sagte er mit düsterem Lächeln. »Schlaft, ruht euch aus und träumt.« Malcolm schüttelte seufzend seinen Kopf. »O Großvater«, murmelte er. »Warum konntest du nicht bis zum Morgengrauen durchhalten.« »Großvater ...«, begann Rachel, hielt dann jedoch inne. Sie wußte nichts zu sagen, und dieses Geschöpf dort war nicht wirklich ihr Großvater. Als Quincy anfing, sich Richtung Tür zu bewegen, verbaute Rachel ihm den Weg. »Nein«, sagte sie. »Du darfst nicht hinaus.« »Ich darf nicht!« lachte er. »Ich muß wohl warten, bis die Sonne aufgeht, und mich dann von euch vernichten lassen?« »Tut mir leid, Großvater«, entgegnete Malcolm, indem er sich neben seine Schwester stellte. »Du mußt verstehen. Es muß doch noch einen Teil von dir geben, der versteht, einen Teil des wahren Quincy Härker. Wir können dich hier nicht hinauslassen.« »Und wie wollt ihr beiden das verhindern?« fragte er mit hohntriefender Stimme. »Ihr beiden und dieser feige Schwachkopf dort drüben in der Ecke?« Er durchbohrte Jerry mit einem kurzen, verächtlichen Blick. »Du meinst, ich müßte verstehen, Malcolm? Nein. Du bist es, der verstehen muß. Jeder Widerstand ist zwecklos. Es wäre töricht zu kämpfen. Du kannst nicht gewinnen.« Rachel schüttelte den Kopf. »Wir stehen auf der Seite Gottes. Wir können nicht verlieren.« Ihr Gesicht glich einer gefühllosen Maske, und nur die Träne, die ihr über die Wange rann, ließ Rachels inneren Aufruhr ahnen. »Auf der Seite Gottes!« lachte Quincy. »Auf der Seite Gottes! Dann bist du also eine frömmere, bessere Christin
und wirst mehr von Gott geliebt als ich früher, meine Gute?« Er begann, sich auf seine Enkelkinder zuzubewegen. »Wie tröstlich das für dich sein muß!« Malcolm versuchte, Quincy mit einer Hand zurückzuhalten, aber der Alte schleuderte ihn verächtlich gegen die Wand des Krankenzimmers. Dann trat er die Tür auf, lief hinaus in den Korridor und eilte zur Treppe, wobei er mit wahnsinnigem Gelächter einen verblüfften Krankenwärter beiseite stieß. Malcolm und Rachel setzten ihm hinterher, gefolgt von einem schlotternden, zaghaften Jerry. Quincy schien die Stufen förmlich hinunterzu/Ziegen und war schon zum Haupteingang des Krankenhauses hinaus, bevor seine drei Verfolger auch nur den Fuß der Treppe erreicht hatten. Aufgeregt und zur Fortsetzung der Jagd bereit, stürzte Malcolm nach draußen auf die Straße, doch als er seinen Blick auf und ab, von Ost nach West über den Queens Boulevard gleiten ließ, war sein Großvater nirgends mehr zu entdecken. Malcolm wußte nicht, ob Quincy seine übermenschliche Schnelligkeit dazu benutzt hatte, sich außer Sichtweite zu bringen, oder seine vampirischen Kräfte, die es ihm erlaubten, sich in Nebel aufzulösen oder eine andere, tierische Gestalt anzunehmen. Jedenfalls war er verschwunden. Malcolm, Rachel und Jerry standen nun am frühen Morgen stumm und unbeweglich auf dem dunklen Trottoir. Ein paar Sekunden später hörten sie eine Polizeisirene. Detective Mario De La Vega saß nachdenklich hinter seinem Schreibtisch in der 110. Bezirkswache, klopfte mit seinem Kugelschreiber leise auf die Tischplatte und starrte dabei die drei Personen an, die auf den harten Holzstühlen vor ihm saßen. Zuletzt meinte er seufzend: »Also, ich weiß wirklich nicht, was ich zu all dem sagen soll, Leute.« »Es ist genauso, wie wir's Ihnen geschildert haben, Officer«, erwiderte Malcolm. »Wir werden auch nicht schlauer daraus als Sie.« »So wahr mir Gott helfe«, bestätigte Jerry. »Genauso ist's gewesen.« Rachel blieb stumm.
De La Vega nickte - nicht aus Einverständnis oder Zustimmung, sondern bloß zum Zeichen, daß er im Bilde war. »Ich habe Leute am Rand des Todes ja schon alle möglichen Verrücktheiten machen sehn«, sagte er. »Und ich könnte es auch begreifen, wenn Ihr Großvater weiter nichts getan hätte, als aufzustehen und aus dem Hospital zu rennen. Es ist zwar schrecklich schwer, sich vorzustellen, daß ein über Neunzigjähriger, der im Sterben liegt, so etwas macht, davon, daß er sie abgehängt hat, ganz zu schweigen ...«, sagte er und sah Malcolm dabei ins Gesicht, » ... aber es ist schon Merkwürdigeres vorgekommen.« Er schleuderte seinen Kugelschreiber beiseite und strich sich mit dem Rücken des linken Zeigefingers kopfschüttelnd seinen Schnurrbart von der Lippe. »Für das, was mit dem Priester passiert ist, muß es aber eine andere Erklärung geben. Es fällt schon schwer genug zu glauben, daß Ihr Großvater ihn hätte töten können, wenn der Gerichtsmediziner mir nun aber auch noch sagt, die Todesursache wäre Verbluten ...« Er schüttelte erneut den Kopf. »Wir können die Tatsachen nicht ändern, Detective«, erklärte Rachel und fügte in Gedanken hinzu: Und wir brauchen sie Ihnen auch nicht alle zu erzählen. »Und außer Ihnen dreien, Ihrem Großvater und Pfarrer Henley hat niemand den Raum betreten oder verlassen?« fragte De La Vega zum zehntenmal. »Niemand«, erklärte Malcolm, »außer dem Arzt, aber das war rund eine Stunde vorher.« »Und Sie haben keine Ahnung, was dieses Stück Holz dort drin zu suchen hatte oder weshalb der Leichenbeschauer Splitter in der Hand des Priesters fand?« Alle drei schüttelten den Kopf, und De La Vega seufzte erneut. »Jetzt hören Sie mir mal gut zu. Wir sind hier nicht vor Gericht, und es geht nicht um Meineid oder so, aber Irreführung der Polizei ist ein schweres Vergehen. Falls Sie ...« »Wir lügen Ihnen nichts vor, Detective«, unterbrach Rachel im Bemühen, sich über diese Unterstellung empört zu zeigen, aber auch mit einem schlechten Gewissen darüber, daß sie ihn durch das Verschweigen bestimmter Fakten ja
tatsächlich in die Irre führten. »Alles, was wir Ihnen gesagt haben, stimmt. Unser Großvater ist aus dem Bett aufgestanden und hat uns angegriffen. Er hat Pfarrer Henley gebissen, ist aus dem Zimmer entwischt, und als wir die Treppe hinunterkamen, war er bereits verschwunden.« De La Vega nickte abermals, doch seine vorgeschobenen Lippen und seine sich verschmälernden Augen verrieten ihnen, daß er allmählich wütend wurde. »Ich möchte, daß Sie versuchen, auf Ihre innere Stimme zu hören, zu begreifen, welchen Eindruck das alles auf mich und auf jeden, der es so von Ihnen erzählt bekommt, machen muß. Sie wollen mir einreden, Ihr Großvater, ein neunzigjähriger Greis, trinkt das Blut eines Geistlichen und läßt ihn tot auf dem Boden liegen. Er läuft aus dem Hospital ... läuft hinaus, bitteschön, ein Mann, der eingeliefert worden war, weil er aller Wahrscheinlichkeit nach sterben würde ... und löst sich in Luft auf. Im selben Raum wie die Leiche finden wir etwas, das für uns nach einem Holzpfahl aussieht, sowie Hinweise darauf, daß der Priester diesen vor seiner Ermordung in der Hand hielt.« Er legte eine Pause ein und ließ seine Augen über die Gesichter der vor ihm Sitzenden wandern. »Verstehen Sie, was das heißt? Ich meine, glauben Sie, daß ich oder sonst jemand bei der Polizei dämlich genug ist, Ihnen diese Geschichte abzukaufen ? Glauben Sie, ich hätte die Absicht, ein Protokoll anzulegen, das diese Räuberpistole als Wahrheit darstellt?« Er lehnte sich vor, und seine Stimme wurde streng und befehlsmäßig. »Zum letzten Mal: Was, zum Teufel, ist heute nacht geschehen?« »Stehen wir unter Arrest, Detective?« fragte Rachel. »Nein.« Der Polizist schüttelte den Kopf. »Zumindest noch nicht. Aber ich möchte einige Antworten auf ...« »Dann steht es uns ja wohl frei zu gehen?« unterbrach sie ihn. »Andernfalls verständigen wir vielleicht besser unseren Anwalt, Peter Gierer. Vielleicht haben Sie schon von ihm gehört.« De La Vega runzelte die Stirn. Natürlich hatte er schon von dem Nobelanwalt gehört, dessen Dienste so viele der begüterten Familien in New York City in Anspruch
nahmen. Gierer war ein zäher Brocken, und De La Vega hegte kein Verlangen, sich mit ihm und seinem Bataillon von Juristen herumzuschlagen, falls und ehe es nicht unbedingt erforderlich war. »Natürlich steht es Ihnen frei zu gehen«, antwortete De La Vega bedächtig, »obwohl ich Sie alle gerne bitten würde, sich bis zur Erledigung dieser Angelegenheit für weitere Fragen verfügbar zu halten.« »Wie im Film«, murmelte Jerry. »Bitte?« »Na ja, dieses >Verlassen Sie die Stadt nichter wurde gefunden