Betty Edwards
Garantiert zeichnen lernen Das Geheimnis der rechten Hirn-Hemisphäre und die Befreiung unserer schöpferi...
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Betty Edwards
Garantiert zeichnen lernen Das Geheimnis der rechten Hirn-Hemisphäre und die Befreiung unserer schöpferischen Gestaltungskräfte Deutsch von Modeste zur Nedden Pferdekamp
Rowohlt Taschenbuch Verlag
Dank Für Anne und Brian Ich möchte all denen danken, die mir geduldig i gemacht haben, dieses Buch zu schreiben. Mein gilt Dr. J. William Bergquist, der mir mit wertv< und seiner selbstlosen Hilfsbereitschaft zur Sei Auch die folgenden Personen haben mich bei me stützt: Anne Bomeisler, Brian Bomeisler, John Farrell, Winifred Wasden, Kathryn Bomeisler, Lynn Tyner, Jeremy Tarcher, Janice Gallagher, John Brogna, meine Kollegen von der Venice High School, \ Trade-Technical College, von der California St Long Beach und von der University of California Auch meinen Schülern möchte ich an dieser St reichen Beiträge zu diesem Buch danken.
«Drawing on the Right Side of th Brain, A Course in Enhancing Creativity and Artistic Confidence» im VerlagJ. P. Tarcher, Inc., Los Angeles
Sonderausgabe Juni 2000 Veröffentlicht im Rowohlt Taschenbuch Verlag GmbH, Reinbek bei Hamburg, Juni 1998 Copyright © 1982 by Rowohlt Verlag GmbH, Reinbek bei Hamburg «Drawing on the Right Side of the Brain» Copyright © 1979 by Betty Edwards Alle deutschen Rchte vorbehalten Umschlaggestaltung Beate Becker Gesamtherstellung Clausen & Bosse, Leck Printed in Germany ISBN 3 499 60694 '
Inhalt Vorwort 9 1 Zeichnen und die Kunst des Radfahrens
13
2. Sich selbst zum Ausdruck bringen: Die nonverbale Sprache der Kunst 33 3. Die zwei Hälften unseres Gehirns 39 4. Von links nach rechts, von rechts nach links: Die Erfahrung des Hinübergleitens 61 5. Zeichnen aus dem Gedächtnis: Ihr künstlerischer Werdegang 77 6. Die Umgehung des Symbolsystems: Wir zeichnen Ränder und Konturen
99
7. Raumformen wahrnehmen: Das Raum-Negativ wird zum Positiv
117
8. Ausdehnung in alle Richtungen: Perspektivisch zeichnen auf eine neue Art
137
9. Jeder Strich ist Teil des Ganzen: Richtige Proportionen 155 10. Von Angesicht zu Angesicht: Wir zeichnen Porträts 177 11. Vorstoß in die dritte Dimension: Wir sehen Licht und zeichnen Schatten 12. Das Zen des Zeichnens: Der Künstler in uns erwacht Anhang 223 Postskriptum 224 Glossar 230 Bibliographie 233
217
205
Vorwort Dieses Buch ist das Ergebnis einer zehnjährigen Suche nach einer neuen Methode des Kunstunterrichts für Menschen der verschiedensten Altersstufen und Berufe. Ich wollte, als ich mich auf die Suche begab, ein Rätsel lösen, das mir keine Ruhe ließ: Warum fiel es eigentlich der Mehrzahl meiner Schüler so schwer, zeichnen zu lernen, während es mir selbst stets leicht von der Hand gegangen war und großen Spaß gemacht hatte? Schon als Kind, mit acht, neun Jahren, konnte ich ganz anständig zeichnen. Ich war wohl eines von den wenigen Kindern, die das Glück hatten, auf jene besondere Art und Weise zu sehen, die zum Zeichnen befähigt. Ich kann mich noch genau entsinnen, wie ich als Kind, bevor ich etwas zeichnete, im stillen zu mir sagte, erst muß ich «so» machen. Dieses «So» habe ich nie genauer zu bestimmen versucht, doch ich wußte, daß ich den Gegenstand, den ich abzeichnen wollte, nur eine Zeitlang «anzuschauen» brauchte, bis dieses «So» eintrat. Dann ging es «wie von selbst». Natürlich wurde ich von allen, die meine Zeichenkünste sahen, bewundert und gelobt. «Großartig», sagten die Leute, «wie begabt Betty ist. Sie ist ein Naturtalent.» Wie alle Kinder fand ich es schön, für etwas Besonderes gehalten zu werden, und war ernsthaft in Gefahr, auch daran zu glauben. Doch im stillen empfand ich solches Lob als unangebracht. Zeichnen war doch so leicht — man brauchte ja nichts weiter zu tun, als die pinge auf jene besondere Weise anzuschauen. Jahre später, als ich zu unterrichten begann, versuchte ich, die Schüler mit meinen Ansichten über das Zeichnen vertraut zu machen. Doch wollte das nicht so recht funktionieren, und in einer Klasse mit etwa dreißig Schülern lernten zu meiner Verzweiflung immer nur einige wenigej richtig zu zeichnen. Angesichts dieser unbefriedigenden Ergebnisse begann ich, mich selbst beim Zeichnen zu beobachten; ich versuchte herausfinden, was ich eigentlich tat, sobald sich diese andere Sehweise in mir einstellte. Zugleich fing ich an, meine Schüler zu befragen. Auffallend war, daß die wenigen, die es zu etwas brachten, es nicht allmählich lernten; vielmehr kam der Durchbruch plötzlich. Ich nahm diese Schüler ins Verhör: «Was macht ihr jetzt beim Zeichnen anders als in der letzten Woche, als es noch nicht so gut ging?» Sie gaben mir fast alle dieselbe Antwort: Sie würden jetzt
Zschauen.Doch so viele Fragen ich ihnen n nicht in der Lage zu sein, mit Worten zu erändert hatte. ine neue Spur. Ich zeichnete beim Unterl meinen Schülern zu erklären, was ich taf imerk richtete und warum ich bestimmte mte Weise wiedergab und nicht anders, äufig, daß ich mitten im Satz steckenblieb Faden. Ihn wiederanzuknüpfen fiel mir eigentlich wollte ich es in solchen Augentlich. Doch riß ich mich schließlich zusamSatz fort — und mußte dann feststellen, daß ng zur Zeichnung verloren hatte; sie ermd machte mir Schwierigkeiten. Auf diese Ich konnte entweder sprechen oder zeichsugleich. über den Vorgang des Zeichnens ergaben h Zufall. Als sich meine Schüler einmal mit besonders abmühten, verteilte ich Reprohnung eines alten Meisters und schlug vor, ;u stellen und es umgekehrt abzuzeichnen, berraschung (der ihren wie der meinen) ere Zeichnungen zustande. Wie war das :gal, ob richtig oder falsch herum — blieben iber auch Fragen, ergaben sich aus dem den mit dem leeren Raum. Es stellte sich lülern wirklichkeitsgetreuere Zeichnungen nicht auf die Form konzentrierten, die sie ;rn auf den sie umgebenden leeren Raum, inem Rätsel. Warum sollte das Zeichnen der Zwischenräume zwischen den Gegenen Darstellung ihrer Umrisse führen? Ich eigenes Vorgehen beim Zeichnen nach, Hedenstellende Antwort auf diese Fragen, lemühte — es gelang mir nicht, das Prinzip : diese Beobachtungen in eine Ordnung n begann ich, eine ganze Reihe von Unter:reich der Gehirnforschung, insbesondere Hlirnspaltungs-Forschung zu lesen, die m ziger Jahren von dem Neurophysiologen dizin-Nobelpreisträger 1981) und seinen
-
Vorwort
Mitarbeitern betrieben worden waren. Dieses Forscherteam hatte festgestellt, daß beide Gehirnhälften (Hemisphären) an der Steuerung der höheren kognitiven Funktionen des Menschen beteiligt sind und daß sie Informationen auf unterschiedliche Weise verarbeiten. Bei der Beschäftigung mit den Untersuchungen Sperrys kam mir unversehens die Idee, daß das zeichnerische Können eines Menschen in erster Linie von einer anderen Fähigkeit abhängen muß - der Fähigkeit nämlich, von der «normalen» Informationsverarbeitung zu einer ganz anderen Form des Umgehens mit optischen Wahrnehmungen überzuwechseln - von einer sprachlichen, analytischen Verarbeitung (in meinem Buch «LinksModus», «L-Modus» genannt) zu einer räumlichen, ganzheitlichen Verarbeitung (die ich als «Rechts-Modus», «R-Modus» bezeichne). Diese Erkenntnisse - ich werde sie im dritten Kapitel genauer darstellen - halfen mir, eine Antwort auf die Frage zu finden, warum manche meiner Schüler leichter zeichnen lernten als andere. Von nun an, vor allem während der Arbeit an meiner Dissertation, war ich damit beschäftigt, die theoretischen Voraussetzungen meiner Grundthese zu formulieren und die Reihenfolge der Zeichenübungen festzusetzen, die den Aufbau dieses Buches bestimmt. Meine These lautet, daß sich der Mensch eine neue Art zu sehen anzueignen vermag, indem er bestimmte Funktionen seiner rechten Gehirnhälfte «anzapft», und daß er dadurch auf eine einfache Weise zeichnen lernen kann. Auf dieses Ziel hin ist die Reihenfolge der Übungen angelegt. Ich bin davon überzeugt, daß meine in diesem Buch modellhaft beschriebene Lehrmethode des Hinundherwechselns zwischen dem verbalen, logischen Denken und dem ganzheitlichen intuitiven Erfassen der Umwelt auch von anderen Lehrern und Forschern - sei es auf dem Gebiet der Kunst oder auch in anderen Fächern - übernommen und weiterentwickelt wird. Wie auch immer Wissenschaftler in zukünftigen leiten die strikte Trennungibestimmter Hirnfunktionen und ihre Zuordnung zu jeweils einer der beiden Hirn-Hemisphären beurteilen mögen - in der praktischen Arbeit mit Schülern unterschiedlichsten Niveaus hat sich meine Methode, die auf dieser Zuordnung basiert, als brauchbar und zuverlässig erwiesen. Mit Hilfe dieser Lehrmethode ist es mir gelungen, das Problem zu lösen, das der Ausgangspunkt meiner Überlegungen war: wie man allen Teilnehmern eines Zeichenkurses das Zeichnen beibringen kann, und nicht nur einigen wenigen.
1 Zeichnen und die Kunst des Radfahrens
Zeichnen und die Kunst des Radfahrens
Das Zeichnen ist ein unbegreiflicher Vorgang. Es ist mit dem Sehen so eng verknüpft, daß beides kaum voneinander zu trennen ist. Die Fähigkeit zu zeichnen hängt von der Fähigkeit ab, mit den Augen des Künstlers zu sehen - eine Sehweise, die das Leben in . erstaunlicher Weise zu bereichern vermag. Einen Menschen in die Kunst des Zeichnens einzuführen ähnelt in vieler Hinsicht dem Versuch, Unterricht im Radfahren zu geben: Beides läßt sich mit Worten kaum beschreiben. Wenn Sie jemandem das Radfahren beibringen wollen, werden Sie vielleicht sagen: «Also, jetzt steig einfach auf, tritt immer feste auf die Pedale, halt die Balance, und ab geht's.» Natürlich haben Sie damit überhaupt nicht erklärt, wie man radfährt, und so werden Sie schließlich sagen: «Laß mich mal aufsteigen, ich werd's dir zeigen. Guck zu, wie ich es mache.» So ist es auch mit dem Zeichnen. Die meisten Zeichenlehrer und Verfasser von Zeichenlehrbüchern beschwören den Anfänger, seine «Sehweise zu verändern» und überhaupt erst einmal «sehen zu lernen». Die Schwierigkeit besteht jedoch darin, daß sich diese Sehweise ebenso schwer beschreiben läßt wie das Balancehalten beim Radfahren, und oft enden die Erklärungsversuche des Lehrers damit, daß er sagt: «Sehen Sie sich dies als Vorbild an und probieren Sie einfach drauflos. Wenn Sie fleißig üben, werden Sie schon eines Tages dahinterkommen.» Während fast jeder radfahren lernt, gibt es viele, die mit dem Problem des Zeichnens nicht fertig werden. Genauer gesagt: Die meisten Menschen lernen es nie, bewußt genug zu sehen, um zeichnen zu können.
Zeichnen - eine magische Fähigkeit? Da anscheinend nur wenige Menschen von Natur aus die Fähigkeit besitzen, richtig zu sehen und zu zeichnen, werden Künstler oft für gottbegnadete Wesen gehalten. Vielen Menschen erscheint das Zeichnen als eine geheimnisvolle, jenseits des menschlichen Begriffsvermögens liegende Tätigkeit. Die Künstler selbst tun von sich aus im allgemeinen nur wenig, um diese Aura des Geheimnisvollen aufzulösen. Richten wir an einen Künstler, der naturalistisch zu zeichnen versteht, die Frage: «Wie machen Sie das nur, daß das, was Sie da zeichnen, so aussieht wie in Wirklichkeit?» (zum Beispiel ein Porträt oder eine Landschaft), so wird er womöglich antworten: «Tja, ich hab eben eine künstlerische Ader», oder «Weiß ich selber nicht. Ich fange einfach an, probier irgendwas aus und mach immer so weiter»,
Zeichnen und die Kunst des Radfahrens
oder er sagt: «Ich schau mir den Menschen an (oder die Landschaft), und was ich sehe, zeichne ich.» Die letzte Antwort wirkt logisch und freimütig. Doch näher betrachtet trägt sie keineswegs zur Klärung unserer Frage bei, sondern vielmehr zur Bestätigung des Eindrucks, daß Zeichnenkönnen eine unbegreifliche, magische Fähigkeit ist (Abb. 1). Die Auffassung, künstlerische Fähigkeiten seien ein Wunder, veranlaßt die Menschen zwar dazu, Künstler und ihre Werke zu bestaunen, doch sie trägt keineswegs dazu bei, die Menschen selbst zum Zeichnen zu ermutigen, und sie erschwert den Lehrern ihre Aufgabe, den Schülern den Zeichenvorgang zu erklären. So kommt es, daß sehr viele Menschen glauben, sie sollten sich lieber nicht zu einem Zeichenkursus anmelden, weil sie nicht zeichnen können. Ist Ihnen schon mal jemand begegnet, der nicht an einem Französischkurs teilnehmen wollte, weil er kein Wort Französisch versteht, oder jemand, der es nicht wagt, sich um eine Lehrstelle als Maurer zu bewerben, weil er keine Ahnung hat, wie man ein Haus baut?
Zeichnen kann man lehren und lernen Bald werden Sie die Entdeckung machen, daß jeder normale Mensch, der einigermaßen gute Augen hat und bei dem Augen und Hände aufeinander abgestimmt sind — der zum Beispiel imstande ist, eine Nadel einzufädeln oder einen Ball aufzufangen —, zeichnen lernen kann. Im Gegensatz zur landläufigen Meinung ist die manuelle Geschicklichkeit keineswegs das Wichtigste beim Zeichnen. Verfügen Sie über eine leserliche Handschrift oder Druckschrift, dann reicht Ihre Fingerfertigkeit vollkommen aus, um zeichnen zu lernen. Auf die Hand, mit der Sie zeichnen, brauchen wir hier zunächst nicht weiter einzugehen, doch über das Auge können wir uns nicht gründlich genug unterhalten. Zeichnen zu lernen bedeutet mehr als die Aneignung einer gewissen handwerklichen Geschicklichkeit. Durch die Beschäftigung mit diesem Buch werden Sie sehen lernen. Das heißt, Sie werden lernen, mit optischen Eindrücken auf die dem Künstler eigene besondere Weise umzugehen. Diese unterscheidet sich von der Ihnen gewohnten Verarbeitung visueller Informationen: sie scheint von Ihnen zu verlangen, daß Sie Ihr Gehirn auf eine andere Weise betätigen als sonst. Es ist deshalb wichtig, daß Sie sich damit vertraut machen, wie Ihr Gehirn mit visuellen Informationen umgeht. Forschungen auf
Zeichnen und die Kunst des Radfahrens
dem Gebiet der Neurophysiologie haben in den letzten Jahren viele völlig neue Erkenntnisse über das menschliche Gehirn, dieses Wunder an Kapazität und Komplexität, zutage gefördert. Und eines der Dinge, die wir zu verstehen beginnen, ist, wie die besonderen Eigenschaften unseres Gehirns uns dazu befähigen, unsere Wahrnehmungen bildlich festzuhalten. Das Zeichnen und das Sehen
Das Geheimnis der zeichnerischen Gabe scheint zumindest teilweise in der Fähigkeit begründet zu sein, zu einer anderen Art des Sehens und Wahrnehmens überwechseln zu können. Gelingt es uns, auf jene besondere, Künstlern eigene Weise zu sehen, dann können wir auch
zeichnen. Das heißt jedoch nicht, daß die Zeichnungen großer Künstler wie Leonardo da Vinci oder Rembrandt auch nur den geringsten Teil der einzigartigen Kraft, die von ihnen ausgeht, einbüßten, nur weil wir die Vorgänge im Gehirn, die zu ihrer Erschaffung führten, etwas genauer kennen. Im Gegenteil, im Lichte wissenschaftlicher Forschung erscheinen solche Meisterwerke sogar noch bewundernswerter, weil sie auch den Betrachter dazu anregen können, sich die Wahrnehmungsweise des Künstlers — und sei es nur für Augenblicke — anzueignen. Wer wirklichkeitsgetreu zeichnen kann, ist noch lange kein Künstler! Doch die Grundlagen des Zeichnens kann jeder erlernen, dem es gelingt, seine Umwelt «mit den Augen des Künstlers» wahrzunehmen.
Die Sehweise des Künstlers Zeichnen ist wahrhaftig nicht schwer. Das Problem ist das Sehen oder, genauer ausgedrückt, das Überwechseln zu einer besonderen Sehweise. Im Augenblick werden Sie mir diese Behauptung vielleicht nicht glauben können. Sie meinen, Sie sähen die Dinge recht genau, und die Schwierigkeit bestehe darin, sie zu zeichnen. Doch das Gegenteil trifft zu - und deshalb habe ich die Übungen in diesem Buch mit dem Ziel entwickelt und zusammengestellt, Ihnen zu helfen, dieses geistige Umschalten zu vollziehen. Sie werden sich mit Hilfe der Übungen zwei Fähigkeiten aneignen, die beide von großem Nutzen für das Zeichnenlernen sind: Erstens werden Sie sich den Zugang zu Ihrer rechten Hirn-Hemisphäre bewußt und wissentlich eröffnen und dadurch in einen leicht veränderten Bewußtseinszustand gelangen können, und zweitens werden Sie auf Grund dessen lernen, Ihre Umwelt auf eine andere Art zu sehen.
Zeichnen und die Kunst des Radfahrens
Viele Künstler machen die Beobachtung, daß sie die Gegenstände beim Zeichnen anders sehen und dabei eine leichte Veränderung ihres Bewußtseinszustandes empfinden. In diesem subjektiven Zustand fühlen sie sich geistig abwesend; sie sind «mit ihrer Arbeit eins». Sie erfassen und entdecken Beziehungen und Zusammenhänge, die ihnen im alltäglichen Leben entgangen waren. Sie verlieren jedes Zeitgefühl, ihre Gedanken lassen sich kaum noch in Worte kleiden. Sie sind vollkommen wach und konzentriert und dennoch entspannt und gelöst — ein Zustand, den sie als lustvolle, fast mystische Aktivierung des Geistes empfinden.
Auf den Bewußtseinszustand achten Der leicht veränderte, mit dem Gefühl des Abwesendseins verbundene Bewußtseinszustand, den fast alle beim Zeichnen, Malen oder Modellieren oder bei irgendeiner anderen kreativen, künstlerischen Tätigkeit empfinden, ist auch Ihnen vermutlich nicht ganz unbekannt. Auch Sie haben vielleicht schon einmal eine solche geringfügige Veränderung während einer ganz alltäglichen Handlung beobachtet. Dafür gibt es Beispiele genug: etwa das gelegentliche Hinübergleiten vom gewohnten Wachbewußtsein zum Tagtraum oder die «Selbstvergessenheit» bei der Lektüre eines Buches. Weitere Tätigkeiten, die unverkennbar ein Überwechseln in einen anderen Bewußtseinszustand hervorrufen, sind zum Beispiel Meditieren, Laufen, Handarbeit, Tippen, Musikhören und natürlich auch Zeichnen. Auch das Fahren auf der Autobahn kann zu einer geringfügig veränderten geistigen Verfassung führen, die mit dem Bewußtseinszustand während des Zeichnens einige Ähnlichkeit hat. Immerhin haben wir es auf der Autobahn mit optischen Wahrnehmungen zu tun, müssen wir doch die ständig sich verändernden Verhältnisse erfassen und verarbeiten und viele komplizierte Situationen innerhalb der gesamten Verkehrslage überblicken. Viele Leute stellen fest, daß sie während des Fahrens kreative Denkarbeit leisten, oft jedes Zeitgefühl verlieren und eine angenehme Gelöstheit verspüren. Vielleicht aktivieren diese geistigen a tigkeiten die gleichen Gehirnfunktionen, die wir auch beim Zeichnen benutzen. Wenn allerdings dichter Verkehr herrscht, venn wir es eilig haben oder wenn der Beifahrer ständig auf uns -inredet, stellt sich der andere Bewußtseinszustand nicht ein. Die r ünde dafür werde ich im dritten Kapitel erörtern.
Zeichnen und die Kunst des Radfahrens
Der Schlüssel zum Zeichnenlernen ist also die Fähigkeit, sich selbst die Bedingungen zu schaffen, die den Übergang zu jenem anderen Modus der Informationsverarbeitung fordern —zu jenem leicht veränderten Bewußtseinszustand, der Sie in die Lage versetzt, klar, genau zu sehen. Wenn Sie diesen Zustand herbeiführen können, wird es Ihnen leichtfallen, mit dem Zeichenstift festzuhalten, was Sie sehen - auch dann, wenn Sie niemals Zeichenunterricht gehabt haben. Ist Ihnen diese besondere Art der Wahrnehmung und Verarbeitung optischer Eindrücke erst einmal vertraut, werden Sie ohne Schwierigkeiten in den anderen Bewußtseinszustand überwechseln können, wann immer Sie es wollen.
Schöpfen Sie aus Ihrem kreativen Selbst In meinen Augen verfügen Sie über das kreative Potential, Ihrem Selbst zeichnerisch Ausdruck zu verleihen. Mein Ziel ist, Sie mit den Mitteln zur Freisetzung dieses Potentials zu versehen, damit Sie sich bewußt Zugang zu Ihrer Intuition, Ihrer Erfindungsgabe und Vorstellungskraft verschaffen können -jenen Potentialen, die infolge unserer einseitig auf sprachliche Kommunikation, Wissenschaft und Technologie ausgerichteten Kultur und Erziehung weitgehend ungenutzt bleiben. Sie werden zwar durch die Beschäftigung mit diesem Buch zeichnen lernen, doch das ist für mich nur ein Mittel zum Zweck. Beim Zeichnenlernen werden Sie nämlich die Kräfte und Fähigkeiten der rechten Hirnhälfte anzuzapfen beginnen, Sie werden anders zu sehen lernen und — wie der große Bildhauer Rodin es poetisch ausdrückte — zum Vertrauten der Natur; Ihr Auge wird aufgeschlossen für die schöne Sprache der Form, so daß es Ihnen leichtfällt, sich in dieser Sprache auszudrücken. Während des Zeichnens werden Sie tief in einen Bereich Ihres Geistes eintauchen, der durch das endlose Einerlei unseres Alltags so häufig verdeckt wird. Diese Erfahrung wird Ihnen helfen, die Dinge in ihrer Totalität neu wahrzunehmen und die ihnen zugrunde liegenden Strukturen und zahllose Möglichkeiten zu neuen Kombinationen zu erkennen. Mag das Zeichnen auch noch so viel Freude machen und als lohnende Beschäftigung empfunden werden, es ist doch nur ein Schlüssel, der die Tür zu anderen Zielen öffnet. Ich hoffe, daß sich Ihre kreativen Kräfte durch das sich erweiternde Bewußtsein Ihrer geistigen Fähigkeiten entfalten werden. Die Übungen in diesem Buch sollen Ihnen helfen, mehr Vertrauen zu gewinnen zu
Zeichnen und die Kunst des Radfahrens
Ihren persönlichen Entscheidungen und zu Ihrer Fähigkeit, Probleme zu lösen. Das Kräftepotential der schöpferischen, imaginativen Hemisphäre ist nahezu unbegrenzt. Das Zeichnen ist nur ein \Veg, diese Kräfte kennenzulernen. Es zwingt Sie, sich selbst zu offenbaren. Indem wir uns dieses wahre Ziel vor Augen halten, wollen wir nun darangehen, den Schlüssel zu schmieden.
Ein Weg zur Kreativität Die Übungen und Anleitungen in diesem Buch sind für Menschen gedacht, die überhaupt nicht zeichnen können und glauben, sie hätten wenig oder gar kein Talent dazu, die es aber doch gern lernen möchten. Die Methode, die ich vermitteln will, unterscheidet sich insofern von den Verfahren anderer Zeichenlehrbücher, als die Übungen auf die Förderung von Fähigkeiten abzielen, über die Sie bereits verfügen und die Sie nur zu entdecken und zu erschließen brauchen. Jeder, der seine kreativen Kräfte - auf welchem Gebiet und zu welchem Zweck auch immer - besser nutzen und deshalb die Blockierung dieses Potentials lösen möchte, kann von den Übungen in diesem Buch profitieren. Auch Lehrern und Eltern können Theorie und Praxis meiner Methode hilfreiche Anregungen geben, die kindliche Kreativität zu fördern. Am Ende des Buches finden Sie ein kurzes Postskriptum, in dem ich einige allgemeine Vorschläge für die Übertragung meiner Methode auf den Unterricht mit Kindern mache. Mit einem weiteren Postskriptum wende ich mich an Kunststudenten. Dieses Buch basiert auf einem Kursus von neun Lektionen, den ich seit ungefähr fünf Jahren für Personen der verschiedensten Alters- und Berufsgruppen halte. Die meisten meiner Schüler bringen nur sehr geringe Vorkenntnisse mit und sind voller Zweifel, ob sie begabt genug sind, das Ziel des Kurses zu erreichen. Doch schon bald werden sie zuversichtlicher, und am Ende haben sie fast ausnahmslos eine Fähigkeit zu zeichnen entwickelt, die sie selbst überrascht und Ihnen das nötige Selbstvertrauen gibt, ihre schöpferischen Ausdruckskräfte in anderen Kursen oder durch selbständiges Arbeiten weiter zu schulen. verblüffend ist, jedenfalls bei der Mehrzahl der Schüler, das schnelle Tempo ihrer Fortschritte bei der Entfaltung ihres zeichnerischen Könnens. Wenn Menschen, die im Zeichnen ungeübt sind, lernen, zur künstlerischen Sehweise überzuwechseln — also
unu uic rvunst aes Kaaianrens
zum «R-Modus» (vgl. S. 56) —, dann sind sie meinen Erfahrungen zufolge auch imstande, sich ohne weitere Anleitung zeichnerisch weiterzubilden. Anders ausgedrückt: Sie können bereits zeichnen doch alte Sehgewohnheiten blockieren diese Fähigkeit in Ihnen Mit Hilfe der Übungen in diesem Buch können Sie diese Blockierung beseitigen. Durch die Übungen werden Sie bewußter wahrzunehmen lernen, auf welche Weise Ihr Denken funktioniert, genauer: wie Ihre beiden Gehirnhälften arbeiten - einzeln, gemeinsam oder einander entgegengesetzt. Wie den meisten meiner Schüler wird Ihnen Ihr Leben reicher erscheinen, weil Sie mehr und intensiver sehen. Wirklichkeitsgetreu
zeichnen
-
ein
Mittel
zum
Zweck
Die meisten Übungen, die Sie in diesem Buch finden, sind darauf ausgerichtet, Ihre Fähigkeit zum wirklichkeitsgetreuen (akademischen) Zeichnen zu fördern. Sie werden lernen, einen Gegenstand oder eine Person möglichst so mit dem Zeichenstift abzubilden, wie Sie sie vor sich sehen, wie sie Ihnen erscheinen. Damit will ich indes keineswegs andeuten, daß eine solche naturalistische Darstellung höher zu werten sei als andere Arten des künstlerischen Ausdrucks. In gewissem Sinne halte ich das Streben nach wirklichkeitsgetreuer Darstellung für eine Durchgangsphase, die ein Mensch zumeist bereits als Kind im Alter von etwa zehn bis zwölf Jahren hinter sich läßt, wenn seine schöpferischen Ausdrucksfähigkeiten - ein seltener Idealfall - von Eltern und Erziehern gefördert werden. Naturalistisch zeichnen zu können, ist in dreierlei Hinsicht eine wertvolle Gabe. Erstens wird man geschult, genau und gründlich hinzusehen. Zweitens gewinnt man Vertrauen in seine schöpferischen Fähigkeiten, die sich in den Augen vieler Laien allein in der Beherrschung der naturalistischen Zeichenkunst kundtun. Selbst Menschen, die in künstlerischen Berufen arbeiten-Kunstlehrer, Designer, Graphiker, aber auch Maler und Bildhauer -, nahmen an meinen Kursen teil und vertrauten mir an, daß sie es als Mangel empfanden, nicht naturgetreu zeichnen zu können. Um diesen Mangel zu verbergen, mußten sie sich bisweilen komplizierter, komischer und zugleich trauriger Strategien und Winkelzüge bedienen. Eine wirksame Hilfe, um diesem Dilemma zu entgehen, besteht darin, die blockierte Fähigkeit zum realistischen Zeichnen freizusetzen. Die in diesem Buch dargelegten Methoden können dazu beitragen, diese Blockierungen zu durchbrechen und Ihnen Mut zu machen, Ihr neu gewonnenes kreatives Potential auch in anderen Bereichen künstlerischen Schaffens, mit anderen Darstellungsformen und -mittein, zu
Zeichnen und die Kunst des Radfahrens
erproben. Drittens werden Sie lernen, zu einer neuen Art zu denken überzuwechseln, dem R-Modus, der Ihnen helfen wird, Probleme - welcher Art auch immer - auf eine kreative und klarsichtige Weise zu lösen. Warum Gesichter?
Eine Reihe von Übungen und Lernsequenzen in diesem Buch sollten Sie in die Lage versetzen, Porträts zu zeichnen, die Ihrem Modell gleichen. Lassen Sie mich erklären, weshalb ich der Meinung bin, daß Porträtzeichnen auch gerade für den Anfänger von Nutzen ist. Generell gilt: Jede Art zu zeichnen ist gleich schwer. Alle
Aufgaben haben den gleichen Schwierigkeitsgrad. Ob es sich um das Zeichnen von Stilleben, von Landschaften, Figuren, Gegenständen aller Art — auch imaginäre — oder um Porträts handelt, stets ist dasselbe Können und dieselbe Sehweise notwendig. Es ist immer der gleiche Vorgang: man sieht etwas «da draußen» (imaginäre Gegenstände werden mit dem geistigen Auge «gesehen»), und dann zeichnet man, was man sieht. Warum nun habe ich für bestimmte Übungszwecke das Porträtzeichnen ausgesucht? Aus dreierlei Gründen. Erstens: Viele Anfänger glauben, das Schwerste von allem sei, das Gesicht eines Menschen zu zeichnen. Wenn sie feststellen, daß sie durchaus imstande sind, ein Porträt zu zeichnen, fühlen sie sich ermutigt und machen schnellere Fortschritte. Ein zweiter Grund, wichtiger noch, ist der, daß die rechte Hemisphäre des Gehirns auf das Wiedererkennen von Gesichtern «spezialisiert» ist. Da wir ja gerade zur rechten Gehirnhälfte Zugang finden möchten, liegt es nahe, sich für einen Gegenstand zu entscheiden, mit dem umzugehen sie gewohnt ist. Und drittens sind Gesichter faszinierend. Erst wenn Sie einen Menschen zeichnen, werden Sie sein Gesicht wirklich wahrnehmen. Einer meiner Schüler sagte einmal: «Ehe ich zu zeichnen anfing, habe ich niemals ein Gesicht wirklich gesehen. Nun aber finde ich seltsamerweise jedes Gesicht schön.» Zeichenmaterial
Für die Übungen in diesem Buch brauchen Sie nur ganz einfaches Material: normales, saugfähiges Schreibmaschinenpapier (eine Sorte, die nicht zum Radieren geeignet ist, da Bleistiftstriche darauf leicht verschmieren) oder einen einfachen Zeichenblock. Ferner brauchen Sie einen Bleistift und einen Radiergummi. Am besten geeignet ist ein Bleistift Nummer 4B, dessen Mine weich ist und eine klare dunkle Linie zeichnet, doch ein gewöhnlicher Schreibstift Nummer 2 ist fast ebenso gut. Später werden Sie noch
Zeichnen und die Kunst des Radfahrens
anderes Material dazunehmen wollen — vielleicht Kohle oder einen Filzstift oder grau und braun getönte Zeichenstifte und so fort. Doch für die meisten Übungen reichen Papier, Bleistift und Radiergummi vollkommen aus. Immer nur ein Schritt auf einmal
Im Verlauf meiner Lehrtätigkeit habe ich mit den verschiedensten Schritt für Schritt aufeinander aufbauenden Übungen, Lernsequenzen und Übungskombinationen experimentiert. Die in diesem Buch aufgeführten Sequenzen haben sich in meinen Kursen als die erfolgreichsten erwiesen. In den ersten drei Kapiteln gebe ich einen Teil der Theorie wieder, die meiner Unterrichtsmethode zugrunde liegt, darunter eine kurze Darstellung neuester Erkenntnisse der Hirnforschung, die ich mir bei der Lösung des Problems, wie man Menschen auf eine einfache und effektive Weise das Zeichnen beibringen kann, zunutze gemacht habe. Wenn Sie im vierten Kapitel mit den Übungen beginnen, werden Sie bereits über ein Vorwissen verfügen, auf Grund dessen Sie erkennen können, wie ich diese Übungen entwickelt habe und warum sie zu den jeweils notwendigen Lernschritten führen. Die Übungsfolge ist so angelegt, daß man auf jeder Stufe Lernerfolge erzielt und Zugang zu jenem bereits beschriebenen neuen Modus der Informationsverarbeitung erhält. Es ist wichtig, daß bei diesem Lernprozeß die gewohnte Art zu denken so wenig wie möglich verunsichert wird. Deshalb bitte ich Sie, die Übungen in der hier festgelegten Reihenfolge durchzuführen. Ich habe die Zahl der Übungen, die ich Ihnen empfehle, auf ein Minimum beschränkt, doch wenn es Ihre Zeit erlaubt, zeichnen Sie mehr, als verlangt wird: Wählen Sie sich selbst Gegenstände aus und erfinden Sie eigene Übungen hinzu. Je mehr Sie aus eigenem Antrieb zeichnen, desto schneller werden Sie vorankommen. Zu diesem Zweck schlage ich in der Randspalte häufig Übungen vor, die die im Text gestellten Aufgaben ergänzen. Es ist bei den meisten Übungen wichtig, daß Sie die Anleitung ganz durchlesen, ehe Sie zu zeichnen beginnen, und sich auch die abgebildeten Zeichnungen anderer Schüler genau ansehen, wenn ich Ihnen dies empfehle. Noch ein Tip: Bewahren Sie alle Ihre Zeichnungen auf, damit Sie am Ende des Buches überblicken können, welche Fortschritte Sie gemacht haben. Definition der Fachausdrücke
Am Ende meines Buches finden Sie ein Glossar. Manche Begriffe werden schon im Text ausreichend erklärt. Im Glossar habe ich
Zeichnen und die Kunst des Radfahrens
deshalb vor allem Ausdrücke zusammengestellt, die ich vorher nicht so präzis definiert habe, zum Beispiel die Begriffe «Valeurs» oder «Komposition», die längst Eingang in unsere Umgangssprache gefunden haben, jedoch in der Terminologie der bildenden Künste bisweilen eine ganz andere Bedeutung haben. Daher empfehle ich, zunächst einen Blick auf das Glossar zu werfen, ehe Sie sich in den Text vertiefen.
Zeichnungen vor Kursusbeginn: Der Beweis Ihrer künstlerischen Fähigkeiten Ehe Sie weiterlesen, möchte ich Sie nun bitten, vier Zeichnungen anzufertigen, die den Stand Ihres zeichnerischen Könnens demonstrieren, bevor Sie von der im folgenden dargelegten Theorie «infiziert» werden. Anfängern ist diese Bitte meist recht unangenehm: Sie werden noch befangener, als sie es sowieso schon sind. Doch wenn Sie ihr jetzt folgen, werden Sie bei der ersten Aufgabe im vierten Kapitel zuversichtlicher sein, daß Sie wirklich zeichnen lernen können, und Sie werden eine größere Bereitschaft spüren, sich auf die Übungen einzulassen. Viele meiner Schüler waren im nachhinein froh, daß sie diese ersten Zeichnungen angefertigt hatten. Sie waren für sie eine große Hilfe, die Entwicklung ihres zeichnerischen Könnens abzuschätzen. Sobald sie nämlich Fortschritte machen, werden sie anscheinend von Gedächtnisschwund befallen. Sie vergessen, wie ihre Zeichnungen aussahen, ehe sie mit dem Kursus begannen. Und mit dem Fortschritt wächst auch ihre Kritik gegenüber den eigenen Werken. Sie sind nie ganz zufrieden. Die «Vorher»Zeichnungen liefern einen recht zuverlässigen Maßstab für Ihre Fortschritte. Bewahren Sie alle Ihre Zeichnungen auf. Später werden wir sie wieder betrachten und sehen, wie Sie Ihre Fähigkeit zu zeichnen weiterentwickelt haben.
Die ersten vier Zeichnungen Nehmen Sie Bleistift und Papier, i jede Zeichnung dürfen Sie zehn, f zehn, zwanzig Minuten oder läng verwenden, je nach Wunsch. Verj sen Sie nicht, Ihre Zeichnungen n einem Datum zu versehen. Erste Aufgabe: Zeichnen Sie einen Menschen. Wichtig ist, daß Sie be dieser Übung keine Vorlage, kein dell zum Abzeichnen verwenden. Zweite Aufgabe: Zeichnen Sie den Kopf eines Menschen ab — zum Bi spiel während er schläft oder vor c Fernsehgerät sitzt. Sie können siel auch vor einen Spiegel setzen und Ihr eigenes Gesicht zeichnen. Ben zen Sie keine Fotografie als Vorlai Dritte Aufgabe: Zeichnen Sie Ihre < gene Hand! Die Haltung ist beliet Sind Sie Rechtshänder, zeichnen ! Ihre linke, sind Sie Linkshänder, zeichnen Sie Ihre rechte Hand ab Vierte Aufgabe: Stellen Sie einen St vor sich hin, und zeichnen Sie ihn Benutzen Sie keine Fotografie als Vorlage!
Zeichnungen meiner Schüler vor und nach dem Kursus
Wenn Sie fertig sind: Schreiben Sie
Nun möchte ich Ihnen gern einige Zeichnungen meiner Schüler vorlegen, die typische Veränderungen ihres zeichnerischen Könnens während des etwa zwei Monate laufenden Kurses erkennen lassen. Die meisten Schüler, deren Zeichnungen auf den folgenden drei Seiten abgebildet sind, nahmen an einem Neun-Wochen-
die Rückseite jedes Blattes eine ku Bewertung — was Ihnen an Ihrer Zeichnung gefällt und was.nicht. Diese Bemerkungen werden in ein gen Wochen, wenn Sie alle Übung hinter sich gebracht haben, von gr ßem Interesse für Sie sein.
Zeichnen und die Kunst des Radfahrens
Zeichnen und die Kunst des Radfahrens
/.eicnnen und die Kunst des Radfahrens
Zeichnen und die Kunst des Radfahrens
Kursus teil. Sie zeichneten einmal wöchentlich drei Unterrichtsstunden lang unter meiner Anleitung und bekamen in etwa die gleichen Aufgaben gestellt, die Sie in diesem Buch finden. Die «Vorher»- und «Nachher»-Zeichnungen sollen deutlich machen, daß sich sowohl die Sehweise der Kursusteilnehmer als auch ihre zeichnerischen Fähigkeiten drastisch veränderten. Der Unterschied ist so auffällig, daß man meinen könnte, die Zeichnungen stammten jeweils von zwei verschiedenen Personen. Bewußt wahrzunehmen — das ist die Grundfähigkeit, die sich die Teilnehmer im Verlauf des Kurses aneignen. Die deutliche Verbesserung ihres zeichnerischen Könnens spiegelt eigentlich nur die rasche Entfaltung ihrer Beobachtungsgabe, ihre Fähigkeit, genau hinzusehen, wider. Betrachten Sie die Zeichnungen unter diesem Aspekt - als einen sichtbaren Beweis für die Verfeinerung der Wahrnehmungsfähigkeit.
Machen Sie sich mit dem Zeichenpapier vertraut Nichts wirkt einschüchternder auf einen Anfänger, aber auch auf viele erfahrene Künstler, als weißes, unberührtes Zeichenpapier. Eine Möglichkeit, diese Hemmung zu überwinden, besteht darin, einfach munter draufloszuzeichnen. Damit Sie sich an das Zeichenmaterial gewöhnen und Ihre Scheu vor dem leeren Papier verlieren, empfehle ich Ihnen die folgenden Übungen. Sie dienen zugleich auch zur Erholung von Ihren ersten Zeichenversuchen und zur Lockerung der Hand. Legen Sie einen weißen Bogen vor sich hin, und nehmen Sie einen Bleistift zur Hand. Ziehen Sie, beginnend an einem Rand des Blattes, freihändig eine deutliche Linie, ziehen Sie sie immer weiter, um alle vier Ecken herum, wo Sie sie ein wenig abrunden. Nehmen Sie den Bleistift nicht vom Papier! Überziehen Sie nun allmählich das Blatt zunächst mit senkrechten, dann mit waagerechten Linien (Abb. 2). Achten Sie dabei immer auf den Abstand der Linie zum Blattrand und zu den daneben verlaufenden Linien. Führen Sie den Stift noch einmal über einige Linien zurück, so daß diese dunkler erscheinen, betont werden. Spielen Sie mit den auf diese Weise entstehenden Mustern. Denken Sie sich, während Sie weiterzeichnen, Bewegungen für Ihre Hand aus, die den Stift führt, und machen Sie sich bewußt, daß Sie die Linie erschaffen und daß die Linien, das Papier und die Formen, die Sie da zeichnen, Sie auf eine ganz natürliche Weise zu Ihrer nächsten Bewegung hinführen.
Abb. 2
Zeichnen und die Kunst des Radfahrens
Nehmen Sie ein neues Blatt Papier, und spielen Sie auf dieselbe Weise mit diagonalen, aber zugleich auch — wie bei der ersten Übung- mit senkrechten und waagerechten Linien, die die Ränder des Bogens betonen (Abb. 3). Dann machen Sie auf jeweils neuen Blättern die gleichen Versuche mit Kreisen und mit Karos oder Rhomben. Und zum Schluß zeichnen Sie irgendwelche Linien, wie sie Ihnen gerade in den Sinn kommen. Die Zeichnung des großen französischen Malers Eugene Delacroix (Abb. 4) soll Ihnen die Ausdruckskraft spielerischer Linien demonstrieren.
Abb. 4: (<Buch der Wandlungen)
Die zwei Hälften unseres Gehirns
Zwei Arten der Informationsverarbeitung Unterhalb unserer Schädeldecke befindet sich also ein Hirnpaar mit zwei verschiedenartigen Erkenntnisweisen. Dieser «Doppelexistenz» und den unterscheidbaren Eigenschaften der beiden Hälften liegt eindeutig eine physiologische Basis zugrunde. Da das Corpus callosum, der verbindende Nervenstrang, in einem unversehrten Gehirn seine Funktionen unbeeintrachtigt erfüllt, werden die Konflikte zwischen den Hemisphären, wie sie sich bei den erwähnten Tests an Menschen mit durchtrenntem Balken zeigen, von einem Gesunden nur selten bewußt erfahren. Wenn auch jede der Hemisphären die gleichen Sinneswahrnehmungen speichert, so können sie sie doch auf unterschiedliche Weise verarbeiten. Entweder teilen sich die beiden Hemisphären diese Aufgabe - wobei jede den Teil der in den Wahrnehmungen vermittelten Informationen verarbeitet, der ihrem spezifischen Modus entspricht —, oder eine der Hemisphären, oft die dominante linke, reißt die Führung an sich und hindert die andere Hälfte daran, aktiv zu werden. Die linke Hemisphäre analysiert, abstrahiert, zählt, mißt Zeit, plant schrittweise Operationen, formt in Sprache um und macht rationale, logisch begründete Feststellungen. Zum Beispiel: «Angenommen, wir haben die drei Größen a, b und c, und a ist größer als b und b größer als c, dann ist a notwendigerweise auch größer als c.» Eine solche Implikation veranschaulicht den Modus der linken Hemisphäre: Sie geht analytisch, verbal, rechnerisch, folgerichtig, linear und objektiv vor. Wir verfügen jedoch noch über eine andere Erkenntnisweise den Modus der rechten Hemisphäre. Durch ihn «sehen» wir Dinge, die imaginär sind, also nur vor unserem «geistigen Auge» existieren, und Dinge, die tatsächlich vorhanden sind oder waren und die wir uns mit Hilfe des R-Modus in unsere Erinnerung zurückrufen. (Können Sie mir zum Beispiel auf Anhieb sagen, wie Ihre Eingangstür aussieht?) Wir sehen, wie die Dinge im Raum existieren und wie sich ihre Teile zu einem Ganzen zusammenfügen. Wenn wir uns der rechten Hemisphäre bedienen, können wir Bilder verstehen, träumen, neue Ideenverbindungen herstellen. Wenn etwas zu komplex ist, um es zu beschreiben, werden wir es mit Hilfe von Gesten mitteilen: Versuchen Sie mal, eine Wendeltreppe zu beschreiben, ohne eine Spirale in die Luft zu zeichnen. Machen wir von dieser rechten Hemisphäre Gebrauch, sind wir auch fähig, Bilder von unseren Wahrnehmungen zu zeichnen.
Die zwei Hälften unseres Gehirns
Der «Ich hab's»-Effekt
Wenn wir unsere Sinneseindrücke mit Hilfe der rechten Hemisphäre verarbeiten, bedienen wir uns also der Intuition; unsere Einsichten erfolgen plötzlich. Es gibt Augenblicke, in denen es uns «wie Schuppen von den Augen fällt», in denen sich «alles von selbst zusammenfügt», obwohl es uns nicht gelungen war, die einzelnen Teile in eine logische Ordnung zu bringen und in dieser Ordnung zu begreifen. «Ich hab's!» — «Jetzt ist's mir klar!» rufen wir in solchen Momenten aus. Das klassische Beispiel für diesen Vorgang ist Archimedes' freudiger Ausruf «heureka!» («Ich hab's gefunden»). Der Überlieferung zufolge war ihm beim Baden blitzartig eine Erkenntnis gekommen, die ihm die Formulierung des berühmten Archimedischen Prinzips ermöglichte. Dies ist ein typisches Beispiel für die Verfahrensweise der rechten Hemisphäre. Der R-Modus (und zugleich «linkshändige Modus») ist ein intuitives, subjektives, relationales, ganzheitliches, zeitloses Erfassen. Er wird in unserer westlichen Kultur weitgehend mißachtet und ig»oriert. So ist zum Beispiel unser ganzes Bildungswesen allein auf die Förderung der sprachlichen, rationalen, zeitgemäßen linken Hemisphäre ausgerichtet. Das halbe Hirn eines jeden Schulkindes bleibt buchstäblich ungenutzt.
Die Zweigeteiltheit unseres Hirns scheint von schöpferischen Mensche bisweilen intuitiv erfaßt zu werden. Rudyard Kipling zum Beispiel schrieb schon vor mehr als fünfzig Jahren die folgenden Gedichtzeilen: «Ich danke dem Boden, der mich gebar, Und dem Leben, das mich genährt, Doch am meisten Allah, der meinen Kopf Zwei verschiedene Seiten beschert. Lieber verlöre ich Hemd und Schuh Und Freunde und Tabak und Topf Als nur für einen Augenblick Eine Seite von meinem Kopf.» Rudyard Kipling
«Mich den Vierzig nähernd, hatte ii einen seltsamen Traum, in dem ich d Bedeutung dessen, was in vergeudet Zeit zerstörerisch wirkt, beinahe erfaßte und seine Wesensart verstand. Cyril Connolly (Pseudonym Palinuris)
Ein ganzes Gehirn ist besser als ein halbes Im herkömmlichen Schulunterricht mit seinen vor allem auf den sicheren Umgang mit Wörtern und Zahlen ausgerichteten Lernsequenzen - so, wie Sie und ich ihn hinter uns gebracht haben fehlen alle Voraussetzungen, um den Gebrauch der rechten^Hemisphäre zu fördern. Sie ist nun einmal in sprachlicher Hinsicht nicht gerade leicht zu überprüfen und unter Kontrolle zu bringen. Mit ihr läßt sich nicht argumentieren. Sie ist nicht dazu zu bewegen, logische Behauptungen aufzustellen. Sie ist, bildlich gesprochen, ein «Linkshänder» mit sämtlichen Nebenbedeutungen dieser Bezeichnung. Ferner hat sie nicht viel Sinn für Systematik. Sie fängt einfach irgendwo an oder mit allem zugleich. Zudem hat die rechte Hemisphäre kein Zeitgefühl und scheint nicht zu begreifen, was «Zeitverschwendung» ist (die gute, vernünftige linke Hemisphäre weiß das hingegen sehr genau). Sie ist auch nicht gut im Kategorisieren und Benennen. Sie scheint die Dinge einfach so zu nehmen, wie und was sie gerade sind, in ihrer ganzen faszinierenden Komplexität. Auch im Analysieren und
Ihr künstlerischer Werdegang
Einen ähnlichen Übergang schildert Lewis Carroll in seinem Buch zu einer Unterrichtsmethode ausgearbeitet, die von zahllosen Kunsterziehern in den USA aufgegriffen wurde. Auf Grund der Ergebnisse der modernen Gehirnforschung können wir uns heute erklären, warum diese Methode so außerordentlich erfolgreich ist. Nicolaides glaubte damals offensichtlich, die Effektivität seines Verfahrens beruhe darauf, daß die Schüler veranlaßt würden, beim Zeichnen von zwei Sinnen Gebrauch zu machen: vom Sehen und vom Tastsinn. Er empfahl ihnen, sich bei der Arbeit vorzustellen,
Wir zeichnen Ränder und Konturen
Haß sie die Formen während des Zeichnens abtasten. Da wir inzwischen wissen, wie das Gehirn seine Arbeitslast auf seine zwei Hälften verteilt, scheint mir die Wirksamkeit dieser Methode eher in einer anderen Ursache begründet zu liegen: Die linke Hemisphäre sperrt sich gegen das langsame, überaus sorgfältige, vielschichtige Erfassen räumlicher Strukturen und läßt deshalb die Verarbeitung dieser Wahrnehmungen nach dem R-Modus gern zu. Kurzum, das genaue Nachzeichnen von Konturen entspricht nicht der Arbeitsweise der linken, wohl aber der der rechten Gehirnhälfte, was uns sehr gelegen kommt. Bevor ich nun diese Methode beschreibe, möchte ich die Bedeutung einiger Begriffe klären. Unter Kontur verstehe ich die Begrenzung einer Form, so wie wir sie wahrnehmen. Die Methode des Konturenzeichnens, die ich Ihnen vorstellen will, erfordert insofern eine besonders genaue, intensive Beobachtung, als Sie die Ränder «blind» zeichnen sollen, das heißt ohne beim Zeichnen aufs Blatt zu schauen. Ein Rand entsteht dort, wo zwei Dinge aneinandergrenzen. Betrachten Sie Ihre Hand: Überall dort, wo sie von Luft umgeben ist (die in einer Zeichnung als Hintergrund oder Zwischenraum erscheint), aber auch an den Stellen, wo Fingernagel und Haut aneinandergrenzen oder zwei Hautfalten eine Runzel bilden usw., ergibt sich ein Rand, eine Begrenzung. Diese gemeinsame Grenze von zwei nebeneinanderliegenden Formen kann mit einer einzigen Linie dargestellt werden: der sogenannten Kontur- oder Umrißlinie. (Mit den Rändern werden wir im nächsten Kapitel aufs neue zu tun bekommen.) Diese Vorstellung von der gemeinsamen Begrenzung ist ein fundamentales Element, ja vielleicht das wichtigste Prinzip der bildenden Kunst, da sie mit der inneren Geschlossenheit eines Bildes, mit seiner Einheit zusammenhängt. Diese Einheit kommt zustande, wenn alle Teile einer Komposition ineinandergefügt ein zusammenhängendes Ganzes ergeben, wobei ein jedes sein eigenes Gewicht in die Ganzheit des Bildes einbringt. Übung zum Erfassen von Rändern Damit Sie sich die Vorstellung von den durch gemeinsame Ränder miteinander verbundenen Formen und Zwischenräumen fest einprägen, empfehle ich Ihnen die folgenden Übungen. Mit ihrer Hilfe können Sie Ihre Fähigkeit trainieren, Ränder, Begrenzungen von Formen zu sehen und sich vorzustellen.
«Sehen allein reicht. . . nicht aus. Man muß in einen anregenden, lebhaften, physischen Kontakt mit dem Gegenstand treten, den man zeichnet, mit Hilfe so vieler Sinne wie möglich — vor allem mit dem Tastsinn.» Kimon Nicolaides < The Jiatural Way lo Draw>
Wir zeichnen Ränder und Konturen
1. Stellen Sie sich die verstreut herumliegenden Einzelteile — etwa sechs bis acht — eines Puzzles für Kinder vor. Die Stücke lassen sich zu einem Bild zusammenfügen, das ein Segelboot auf einem See zeigt. Stellen Sie sich weiter vor, daß jedes Puzzle-Teil immer nur einen Gegenstand abbildet, und zwar genau mit den Umrissen, in denen er im Gesamtbild erscheint. Ein weißes Stück stellt das Segel dar, ein rotes Stück das Boot usw. Denken Sie sich die übrigen Teile nach Belieben aus — das Ufer, einen Bootssteg, eine Wolke oder etwas Ähnliches. 2. Nun passen Sie die Stücke in Ihrer Vorstellung ineinander. Sehen Sie, wie immer zwei Ränder aneinandergrenzen und eine einzige Linie bilden (natürlich muß das Puzzle Präzisionsarbeit sein). Diese jeweils zwei Formen gemeinsamen Grenzen bilden Umrisse oder Konturen. Alle Stücke zusammen — Raum (Himmel und Wasser) und Formen (Boot, Segel, Ufer etc.) — ergeben das Puzzle-Bild. 3. Als nächstes betrachten Sie bitte Ihre Hand und schließen dabei ein Auge, um eine plastische, räumliche Wahrnehmung zu verhindern. Was Sie sehen, wirkt jetzt flächig. Stellen Sie sich Ihre Hand mit dem sie umgebenden Raum als Puzzle vor. Achten Sie darauf, wie die Zwischenräume zwischen den Fingern und die Finger selbst, wie der Fingernagel und die ihn umgebende Haut, wie zwei Hautpartien an den Falten jeweils gemeinsame Ränder bilden. Das aus Formen und Zwischenräumen bestehende Ganze des Bildes ist wie ein Puzzle zusammengefügt. 4. Nun richten Sie Ihren Blick auf irgendeine der zahlreichen Randlinien, aus denen sich Ihr Bild von Ihrer Hand zusammensetzt. Stellen Sie sich vor, daß Sie diesen Rand in Gestalt einer einzigen präzisen Linie langsam auf einem Stück Papier nachzeichnen. Während Ihr Blick langsam an der gewählten Randlinie entlanggleitet, stellen Sie sich vor, daß sie im selben Moment — wie von einem Zauberseismographen — gezeichnet wird.
«Blindes» Konturenzeichnen als Weg zur Umgehung des Symbolsystems In meinen Kursen führe ich das «blinde» Konturenzeichnen an einem Beispiel vor und beschreibe dabei, wie man es machen soll - wenn es mir gelingt, weiterzureden (eine Funktion des L-Modus) und gleichzeitig beim Zeichnen meine rechte Gehirnhälfte einzusetzen. Meistens geht das zunächst gut, doch nach etwa fünf Minuten gerate ich mitten im Satz ins Stocken. Doch glücklicher-
Wir zeichnen Ränder und Konturen
weise haben meine Schüler bis dahin zumeist schon erfaßt, was ich ihnen zeigen wollte. Im Anschluß an diese Erläuterungen zeige ich den Kursteilnehmern Beispiele für Konturenzeichnungen, die von früheren Schülern stammen. Bevor Sie beginnen: Damit Sie sich Startbedingungen schaffen, die mit der Ausgangssituation in meinen Kursen weitgehend identisch sind, versäumen Sie nicht, den folgenden Anleitungstext genau zu lesen und die Schülerzeichnungen (S. 108 f) eingehend zu betrachten. 1. Suchen Sie sich einen Platz, wo Sie mindestens zwanzig Minuten lang ungestört sein werden. 2. Stellen Sie sich, wenn Sie wollen, einen Wecker, so daß Sie nicht auf die Zeit zu achten brauchen. Wenn Sie jedoch viel Zeit haben und es Ihnen gleich ist, wie lange Sie mit der Durchführung der Übung beschäftigt sind, verzichten Sie auf einen Zeitmesser. 3. Legen Sie einen Bogen Papier auf den Tisch, und befestigen Sie ihn mit Klebstreifen. Das Festkleben ist notwendig, damit der Bogen beim Zeichnen nicht hin und her rutscht. 4. Sie sollen nun Ihre eigene Hand zeichnen - wenn Sie Rechtshänder sind, Ihre linke, sind Sie Linkshänder, Ihre rechte. Setzen Sie sich so hin, daß sich Ihre Zeichenhand ungehindert auf dem Papier bewegen kann. 5. Jetzt wenden Sie Ihr Gesicht vom Papier und dem Zeichenstift ab und blicken auf die Hand, die Sie abzeichnen wollen. Halten Sie diese Hand bequem und stützen Sie sie irgendwie auf, denn Sie werden in dieser Stellung eine ganze Weile verharren müssen. Sie sollen Ihre Hand zeichnen, ohne daß es Ihnen möglich ist, zu sehen, was Sie zeichnen (vgl. Abb. 46). Dieses Wegsehen ist aus mehreren Gründen wichtig: Erstens konzentrieren Sie dadurch Ihre ganze Aufmerksamkeit auf die visuellen Informationen, die das Anschauen Ihrer Hand erbringt. Zweitens lenken Sie Ihre Aufmerksamkeit von der Zeichnung selbst ab und verhindern dadurch, daß sich Ihre alten, in der Kindheit entwickelten und gespeicherten Symbolmuster — «so zeichnet man eine Hand» — plötzlich selbständig machen. Sie wollen nur das zeichnen, was Sie (mit Hilfe des R-Modus) sehen, und nicht, was Sie (auf Grund des L-Modus) wissen. Sich ganz abzuwenden ist notwendig, da der Impuls, beim Zeichnen auf das Papier zu sehen, zuerst überwältigend stark ist. Wenn Sie in der - sicher bequemeren - normalen Haltung zeichnen, werden Sie - gegen alle guten Vorsätze verstoßend — wahrscheinlich doch irgendwann einen kurzen Blick aus den Augenwinkeln riskieren, und das würde den L-Modus reaktivieren und damit den Zweck der Übung zunichte machen.
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Wir zeichnen Ränder und Konturen
A. 46: Abgewandte Haltung beim «blinden» Konturenzeichnen.
6. Fixieren Sie in dieser abgewandten Haltung den Blick auf eine bestimmte Stelle Ihrer Hand, und nehmen Sie eine Randlinie aufs Korn. Gleichzeitig setzen Sie die Spitze Ihres Stiftes aufs Papier (irgendwohin mit einem ausreichenden Abstand vom Bogenrand). 7. Ganz langsam, Millimeter um Millimeter, lassen Sie Ihren Blick an der gewählten Randlinie entlanggleiten; beachten Sie dabei auch die winzigsten Abweichungen und Biegungen der Linie. Im gleichen
langsamen Tempo bewegen Sie Ihren Bleistift über das Papier und verzeichnen dabei alle Abweichungen oder Biegungen der Randlinie, die Sie zur selben Zeit mit den Augen wahrnehmen. Vertrauen Sie darauf, daß die Informationen über den beobachteten Gegenstand (in diesem Fall Ihre Hand) bis in alle Einzelheiten von Ihnen optisch wahrgenommen und gleichzeitig vom Stift aufgezeichnet werden. Er registriertjedes Detail, das Sie im Augenblick beobachten.
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8. Schauen Sie auf keinen Fall auf das Papier. Bleiben Sie in der Position sitzen, die Sie zu Beginn der Übung eingenommen haben. Während Sie Ihre Hand ansehen, ziehen Sie jeweils Abschnitt für Abschnitt die Ränder nach, die Ihnen in den Blick geraten. Ihre Augen werden wie Ihr Stift Stück um Stück jede Veränderung der Konturen vermerken. Zugleich versuchen Sie sich bewußt zu machen, in welchem Verhältnis die Kontur, die Sie gerade zeichnen, zu dem sich aus dem komplizierten Linienspiel ergebenden Ganzen steht. Sie mögen Außen- oder Innenkonturen zeichnen oder zwischen ihnen hin und her wechseln. Machen Sie sich keine Sorgen über die Frage, ob Ihre Zeichnung nachher auch wirklich wie eine Hand aussieht. Wahrscheinlich nicht, da Sie ja die Proportionen nicht überprüfen können. Dadurch, daß Sie Ihre Wahrnehmung auf jeweils nur ganz kleine Teilchen beschränken, lernen Sie, die Dinge genau so zu sehen, wie
Krishnamurh: «Wo also beginnt die Welt? Beginnt sie, wo das Denken aufhört? Haben Sie jemals versucht, mit Denken aufzuhören?» Fragesteller: «Wie macht man das?» Knshnamurti: «Ich weiß es nicht, aber haben Sie es jemals versucht? Zunächst einmal: Wer ist das Wesen, das dem Denken Einhalt zu gebieten sucht?»
sie sind.
g. Passen Sie die Bewegungen Ihres Stiftes genau den Bewegungen Ihrer Augen an. Die Augen oder der Zeichenstift könnten versuchen, Ihnen «davonzulaufen». Solche «Fluchtversuche» dürfen Sie nicht zulassen. Zeichnen Sie alles, was Sie irgendwo an den Konturen wahrnehmen, im gleichen Augenblick auf, ohne auf das Papier zu sehen. Halten Sie beim Zeichnen nicht inne, sondern fahren Sie in langsamem, gleichmäßigem Tempo fort. Zunächst fühlen Sie sich vielleicht ein wenig unbehaglich — manche Schüler klagen über plötzlich auftauchende Kopfschmerzen oder Angstgefühle. Meiner Meinung nach treten derartige Beschwerden immer dann auf, wenn die linke Hemisphäre ihre dominante Rolle ernsthaft gefährdet sieht. In solchen Momenten fühlt sie sich vielleicht schmählich behandelt. Wenn Sie das komplizierte Gewirr der Linien Ihrer Hand in einem derart langsamen Tempo verfolgen, gehen die Leitungs- und Kontrollfunktionen für eine lange Zeit an die rechte Gehirnhälfte über. Deshalb reagiert die linke Hemisphäre ausgesprochen ungnädig: «Höre sofort mit diesem dummen Zeug auf! So genau brauchen wir uns die Dinge nicht anzusehen. Ich habe sie doch bereits alle für dich benannt, selbst diese mickrigen kleinen Falten. Nun sei vernünftig, und laß uns etwas anderes machen, das nicht so langweilig ist. Aber wenn du nicht auf mich hören willst, werde ich dir anständige Kopfschmerzen bereiten.» Ignorieren Sie diese Beschwerde. Halten Sie einfach durch. Während Sie weiterzeichnen, werden die Proteste der linken Gehirnhälfte allmählich verstummen, und in Ihnen wird es ganz still. Sie werden entdecken, daß Sie diese wunderliche Komplexität des
Fragesteller: «Der Denker.»
Knshnamurti: «Es ist ein anderes Denken, nicht wahr? Das Denken versucht sich selbst Einhalt zu gebieten, und so kommt es zum Kampf zwischen Denker und Denken . . . Das Denken sagt: von Lucas Cranach (14721553)-
die vordere. Drittens erscheint auch das Auge auf der vom Betrachter weiter entfernten Seite schmaler und anders geformt als das vordere Auge. Viertens ist auch der Mund von der Mitte bis zum hinteren Mundwinkel kürzer und anders geformt als der vordere Teil des Mundes. Diese Wahrnehmung ungleicher Züge widerspricht den im Gedächtnis gespeicherten Symbolen für gleichmäßige Züge, und so werden sie in Schülerarbeiten fast immer symmetrisch auf jeder Gesichtshälfte angeordnet. Die Lösung lautet auch hier wieder: Zeichnen Sie nur das, was Sie sehen, ohne zu fragen, warum es so ist, und ohne die wahrgenommene Form den im Gedächtnis gespeicherten Symbolen für Gesichtszüge anzupassen. Die Dinge als solche in ihrer einmaligen und wunderbaren Vielfalt zu sehen — das ist der Schlüssel, mit dem wir die uns Einhalt gebietende Pforte öffnen können. Bevor Sie beginnen: Noch einmal möchte ich Ihnen zeigen, wie Sie Schritt für Schritt vorgehen, und Ihnen Methoden vermitteln, mit deren Hilfe Sie die Klarheit und Bewußtheit Ihrer Wahrnehmungen aufrechterhalten können. Auch für die folgende Übung gilt: Wenn ich Ihnen das Zeichnen des Halbprofils in der Praxis selbst demonstrieren könnte, würde ich kein Teil benennen, lediglich
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auf diese oder jene Stelle weisen. Nennen Sie also während des Zeichnens die Gesichtsteile, die Sie wiedergeben, nicht im stillen beim Namen. Versuchen Sie, beim Zeichnen überhaupt nicht mit sich selbst zu sprechen. 1. Bei diesem ersten Versuch lassen Sie Ihr Modell am besten eine Stellung einnehmen, bei der seine Nasenspitze beinahe die Umrißlinie der abgewandten Gesichtshälfte berührt (vgl. Abb. '45)- Dadurch entsteht, wie Sie sehen, eine eingeschlossene Form. 2. Wie beim Profilzeichnen rahmen Sie den Kopf mit einem Ausschnittsucher oder mit Hand und Bleistift ein. Fixieren Sie Ihren Blick so lange auf den leeren Raum, der den Kopf umgibt, bis Sie ihn als Form hervortreten sehen. Dann lassen Sie Ihren Blick auch auf dem Gesamtumriß des Kopfes ruhen, und warten Sie, bis Sie auch ihn als reine Form sehen. 3. Heften Sie nun Ihren Blick auf Ihren leeren Bogen, und stellen Sie sich die ganze Kopfform auf dem Papier vor. Wenn Ihnen das nicht gleich gelingt, machen Sie eine «Geisterzeichnung», das heißt, skizzieren Sie die Umrißlinie mit ganz leichten Strichen auf die Zeichenfläche. 4. Sehen Sie sich Ihr Modell genau an. Verfolgen Sie zuerst mit den Augen die Mittelachse — die imaginäre Linie, die genau senkrecht durch die Mitte des Gesichts verläuft. Bei einem Gesicht in Dreiviertelansicht passiert sie zwei Punkte: die Mitte der Nasenwurzel und die Mitte der Oberlippe. Stellen Sie sich diesen Teil der Achse als dünnen Draht vor, der genau durch die Nase hindurchgeht (vgl. Abb. 145). Indem Sie, den Arm ausgestreckt, Ihren Bleistift senkrecht in Richtung des Kopfes Ihres Modells halten, vergleichen Sie den Winkel oder die Neigung der Mittelachse mit der Senkrechten Ihres Bleistifts. Bei jedem Modell ist der Kopf in einem anderen charakteristischen Winkel geneigt. Taxieren Sie diesen Winkel im Verhältnis zur Vertikalen (Ihrem Bleistift). Stellen Sie sich wieder den ganzen Kopf auf Ihrem Bogen vor, und ziehen Sie dann die Mittelachse des Kopfes im richtigen Winkel auf dem Papier nach (vgl. Abb. 145). Dieser Winkel ist ein sehr wichtiges Hilfsmittel, um die Ähnlichkeit der Zeichnung mit dem Modell herzustellen. Dann zeichnen Sie ganz leicht die Augenhöhe im rechten Winkel zur Mittelachse ein. So entgehen Sie der im
neunten Kapitel erwähnten Gefahr, die Züge abkippen zu lassen. Messen Sie die Linien am Modell (mit ausgestrecktem Arm) und auf dem Papier nach, und vergewissern Sie sich, daß die Augenlinie genau auf der Hälfte der gesamten Kopflänge liegt. 5. Verfahren Sie nun nach der Methode des modifizierten Konturenzeichnens: Zeichnen Sie ganz langsam, den Blick auf
Abb. 145: Beachten Sie die Neigung der Mittelachse im Verhältnis zur Vertikalen Ihres Bleistiftes. Die Augenhöhe bildet im Verhältnis zur Mittelachse einen rechten Winkel.
Wir zeichnen Porträts
Abb. 146: Die Ränder Ihres Bogens stellen die Vertikale und Horizontale dar. Der Winkel der Mittelachse soll im Verhältnis zur Vertikalen (Ihres Blattrandes) gezeichnet werden.
Randlinien gerichtet. Beobachten Sie die Größenverhältnisse, Winkel usw. genau. Auch hier können Sie anfangen, wo Sie wollen (ich beginne meist bei der Form zwischen dem Nasenrücken und der Außenkontur der rückwärtigen Gesichtshälfte (vgl. Abb. 147), weil diese Form leicht auszumachen ist. Ich beschreibe Ihnen hier eine bestimmte Reihenfolge, nach der Sie vorgehen können, doch vielleicht werden Sie eine andere Reihenfolge vorziehen. 6. Heften Sie Ihren Blick auf diese Form, und warten Sie, bis Sie sie als solche hervortreten sehen. Zeichnen Sie ihre äußeren Konturlinien. Wie Sie sehen, geben Sie damit zugleich bereits die Kontur der Nase wieder. Innerhalb dieser soeben gezeichneten Form liegt das hintere Auge in der seltsamen Verkürzung der Schrägansicht. Wollen Sie das Auge zeichnen, zeichnen Sie es besser nicht. Zeichnen Sie statt dessen die an das Auge angrenzenden Formen. Vielleicht wollen Sie nach der auf Abbildung 148 angegebenen Reihenfolge vorgehen, doch ist jede andere Reihenfolge ebenso gut. Zuerst zeichnen Sie die Form über dem Auge (1 ), dann die Form neben dem Auge (2), dann die Form des weißen Augapfelteils (3), dann die Form unter dem Auge (4). Denken Sie nicht darüber nach, was Sie zeichnen. Zeichnen Sie nur den Umriß jeder Form, und gehen Sie dabei stets von der einen zur angrenzenden über. 7. Als nächstes bestimmen Sie die richtige Lage des Auges auf der Ihnen näher liegenden Gesichtshälfte. Beachten Sie, daß der
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Abb. 147: Betrachten Sie bitte als erstes diese Fläche als Form.
innere Augenwinkel bei Ihrem Modell auf der Augenhöhe liegt. Achten Sie besonders darauf, wieweit dieses vordere Auge von der Konturlinie der Nase entfernt ist. Dieser Abstand beträgt fast ausnahmslos eine Augenbreite; auch bei unserem Beispiel gleicht er der Breite des vorderen Auges (vgl. Abb. 148). Anfänger machen beim Zeichnen des Halbprofils sehr häufig den Fehler, daß sie das Auge zu dicht an die Nase setzen. Dieser Fehler macht alle übrigen Bemühungen zunichte; er kann die ganze Zeichnung verderben. Warten Sie, bis Sie (durch Visieren) die Breite dieses Abstandes sehen, und dann zeichnen Sie ihn, wie Sie ihn sehen. 8. Nun gehen Sie zur Nase über. Prüfen Sie am Modell, wo der Rand des Nasenflügels im Verhältnis zum inneren Augenwinkel liegt: Ziehen Sie eine senkrechte Linie nach unten, die parallel zur Mittelachse verläuft (vgl. Abb. 149). Nehmen Sie diese Wahrnehmung nicht zurück. Denken Sie daran, daß Nasen größer sind, als Sie glauben. Dann zeichnen Sie den Nasenflügel. Gehen Sie dabei von den Umrissen der rings um die Nase gelegenen Räume aus. 9. Als nächstes ist der Mund an der Reihe. Taxieren Sie im Vergleich mit einem anderen, bereits gezeichneten Teil, beispielsweise mit der Länge der Nase, wie weit unten die Mittellinie des Mundes liegt (die Linie zwischen den Lippen). Markieren Sie diese Stelle. Schätzen Sie, wo der Mundwinkel im Verhältnis zum Auge liegt (vgl. Abb. 149). Dann betrachten Sie die Mittellinie des Mundes, und zeichnen Sie ihre Kurve genau so ab, wie Sie sie wahrnehmen. Diese Kurve ist sehr wichtig für die Wiedergabe des
Abb. 148
Wir zeichnen Porträts
Gesichtsausdrucks. Sprechen Sie nicht mit sich selbst. Konzentrieren Sie sich nur auf die optischen Wahrnehmungen. Wenn Sie genau hinsehen und exakt zeichnen, was Sie sehen, dann haben Sie ja schon den Ausdruck erfaßt, auf den Sie reagieren - natürlich nach Art des R-Modus, nicht mit Worten. Fahren Sie fort, indem Sie zuerst die Mittellinie des Mundes auf der Ihnen näher gelegenen Gesichtshälfte zeichnen, dann den oberen und unteren Rand der Lippen. Vergessen Sie nicht, daß diese Linien zart sein müssen. Wenn Sie die andere Hälfte des Mundes zeichnen, gehen Sie nach der gleichen Negativ-Technik vor, die Sie beim Zeichnen des Auges auf dieser Seite angewendet haben. Zeichnen Sie die rundum den Mund liegenden Räume ab. Achten Sie genau auf die Biegung der Mittellinie in dieser hinteren Hälfte. 10. Das Ohr: Bestimmen Sie die Lage des Ohrs durch sorgfältiges Visieren oder regelrechtes Messen am Modell. Überzeugen Sie sich davon, daß das Ohr genügend weit hinten liegt. Der Abstand zwi-
schen Augenhöhe und Kinn gleicht ungefähr dem Abstand zwischen dem inneren Augenwinkel und dem hinteren Rand des Ohrs. Dieses Verhältnis werden Sie feststellen, wenn Sie es am Modell nachmessen. Achten Sie dann darauf, wo der obere Ohrrand liegt und wo das Ohr unten endet; dann zeichnen Sie das Ohr, indem Sie von den um das Ohr liegenden Teilen des negativen
Raums ausgehen. 11. Das Haar: Zeichnen Sie den Umriß des Haares nach der gleichen Methode, die Sie beim Profilzeichnen anwandten: Nehmen Sie die Stirn als negativen Raum, dessen obere Grenze der Haaransatz ist. Dann sehen Sie sich zumindest einen Teil des Haares genau an, verfolgen Sie den Verlauf der Strähnen, ihre Struktur und die dunklen Stellen, an denen das Haar sich teilt, und so weiter. 12. Hals und Kragen: Sehen Sie sich bei Ihrem Modell genau an, wo der Umriß des Halses aus dem Umriß des Kinns hervorgeht, das Sie bereits gezeichnet haben. Wie groß ist der Winkel des Halses unterm Kinn im Verhältnis zur Vertikalen? Nun zeichnen Sie dementsprechend die Konturen. Wenn Sie den Kragen oder den Rand des Kleides am Hals zeichnen, gehen Sie von den angrenzenden Formen aus: vom Hals, von den Flächen rings um den Kragen und unterhalb davon. Wie bei jeder stark mit Symbolen vorbelasteten Form müssen Sie auch diese Umrisse umgehen, um sie bewußt zu sehen. 13. Bei dieser Zeichnung würden Sie vielleicht gern ein wenig mit Schattierungen arbeiten. Sehen Sie sich die Form der Schatten
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Wir zeichnen Porträts
an. Vielleicht entdecken Sie zum Beispiel unter der Unterlippe, unter dem Kinn oder unter der Nase, eventuell auch neben der Nase und unter dem unteren Augenlid eine Schattenform. Diese Schatten können Sie mit dem Bleistift leicht tönen, und, wenn Sie wollen, den Ton mit dem Finger vorsichtig verwischen. Achten Sie darauf, daß Sie die Schattenformen genau so tönen und anbringen, wie Sie sie sehen. Ihre Formen verdanken sie dem Knochenbau und dem Lichteinfall. Im nächsten Kapitel will ich Ihnen die Anwendung von Licht und Schatten genauer erklären, damit Sie die dreidimensionale Wirkung in Ihren Zeichnungen noch steigern können. Nachdem Sie all diese Weisungen gelesen haben, sind Sie genügend darauf vorbereitet, mit dem Zeichnen des Halbporträts zu beginnen. Lassen Sie Ihr Modell die von Ihnen gewünschte Stellung einnehmen, und legen Sie Ihren Zeichenblock bereit. Umgrenzen Sie den Ausschnitt. Stellen Sie sich die Formen, die Sie zeichnen wollen, auf Ihrem Bogen vor. Konzentrieren Sie Ihren Blick auf den Negativraum — und schon wechseln Sie zum R-Modus über.
Ergänzende Übungen:
Abb. 150: Schülerarbeit nach der Zeichnung eines alten Meisters. Sara Clippinger.
ioc. Kopieren Sie eine altmeisterliche Zeichnung von einem Kopf im Halbprofil (vgl. Abb. 150). iod. Handelt es sich dabei um den Kopf einer Frau, zeichnen Sie einen weiteren Halbprofilkopf nach einem männlichen Modell ab. 10e. Stellen Sie zwei Spiegel und ein< Lampe so vor sich hin, daß Sie Ihr eigenes Gesicht im Halbprofil sehen, wobei die Lampe starke Hell-Dunkel-Kontraste auf Ihrem Gesicht hervorruft. Zeichnen Sie Ihren Kopf im Halbprofil, und schattieren Sie ei nige der Schattenformen. Schauen Sie sich die Beispiele auf den Seiten 202 und 203 an.
Wir zeichnen Porträts
Nachdem Sie fertig sind: Beobachten Sie sich selbst: Sie lehnen sich zurück und betrachten die Zeichnung auf andere Weise, als Sie es während der Arbeit taten. Jetzt sehen Sie Ihre Zeichnung kritischer, Sie analysieren sie, und vielleicht fallen Ihnen Fehler auf, diese oder jene Unterschiede zwischen Ihrer Zeichnung und dem Modell. So gehen auch Künstler vor. Sie schalten nach Fertigstellung der Zeichnung auf den L-Modus zurück, prüfen sie kritisch nach den Maßstäben der linken Hemisphäre, überlegen, welche Korrekturen notwendig sind und welche Stellen noch einmal überarbeitet werden müssen. Wenn sie dann aufs neue den Pinsel oder den Bleistift ergreifen und sich an die Arbeit machen, wechseln sie wieder auf den R-Modus über. Dieses Hinundherschalten geht während der Arbeit weiter - so lange, bis sie den Eindruck haben, daß sie nichts mehr daran zu verbessern brauchen. Vielleicht haben Sie den Wunsch, Ihre Zeichnung noch einmal zu überarbeiten. Jedoch sollten Sie immer nach dem Modell zeichnen. Wenn Sie erst einmal anfangen, eine Zeichnung zu «verbessern», ohne auf das Modell zu schauen, schlägt die Pforte der Wahrnehmung zu, und Sie könnten die Zeichnung verderben. Vor allem bei Ihren ersten Zeichnungen müssen Sie den Gegenstand, den Sie wiedergeben wollen, vor Augen haben. Ehe Sie mit der nächsten Übung beginnen, rekapitulieren Sie bitte noch einmal die Anweisungen zum Zeichnen eines Porträts im Halbprofil, und führen Sie die Übungen 10 c, d und e durch.
Wir zeichnen ein Gesicht von vorn Bevor Sie anfangen: Bitte lesen Sie wieder sämtliche Anleitungen durch.
Sehen Sie sich noch einmal die Proportionen der Gesichtsteile an, wie Sie sie bei einer Übung im neunten Kapitel in das leere Oval eingezeichnet haben. Betrachten Sie darüber hinaus die Schülerzeichnungen auf den Seiten 202 und 203. 1. Befestigen Sie Ihren Bogen auf einer harten, glatten Unterlage, lassen Sie Ihr Modell die von Ihnen gewünschte Stellung einnehmen, stellen Sie sich einen Wecker und so fort. Mittlerweile werden Ihnen diese Vorbereitungen wohl reibungslos von der Hand gehen. 2. Umgrenzen Sie den Ausschnitt, den Sie zeichnen wollen, und warten Sie, bis Sie den Negativraum und den Gesamtumriß des Kopfes als Formen hervortreten sehen. Stellen Sie sich diese Formen auf Ihrem leeren Blatt vor, um das kognitive Überwechseln zum R-Modus zu beschleunigen. Machen Sie wieder eine «Gei-
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sterzeichnung», das heißt, skizzieren Sie ganz leicht vor, wohin die einzelnen Partien kommen und wie groß sie sein sollen. 3. Prüfen Sie die Neigung der Mittelachse, indem Sie Ihren Bleistift mit ausgestrecktem Arm senkrecht halten. Deuten Sie (ganz leicht) die Augenhöhe an. Jetzt fangen Sie an zu zeichnen. Inzwischen haben Sie auf den R-Modus umgeschaltet. 4. Wo Sie beginnen, ist beliebig. Wieder will ich, um die Sache zu vereinfachen, die Anweisungen in einer bestimmten Reihenfolge geben, die Sie jedoch später nach Wunsch abändern können. 5. Zeichnen Sie die Augen ein (beachten Sie, daß der Abstand zwischen den Augen meist genau eine Augenbreite beträgt). Betrachten und zeichnen Sie die Konturen jedes Auges genau. Oft unterscheiden sie sich voneinander. Damit Sie diese Konturen schärfer sehen können, richten Sie Ihren Blick auf die Form oberhalb des Auges (zwischen Lid und Augenbraue), und verwenden Sie sie als Negativraum. Beobachten Sie genau die Form der Lider und der Wimpern. Ändern Sie nichts, verbessern Sie nichts — zeichnen Sie einfach das, was Sie sehen. 6. Die Nase: Betrachten Sie Ihr Modell genau, und stellen Sie sich vor, die beiden äußeren Augenwinkel seien mit der Nasenspitze durch ein Dreieck verbunden. Dieses Dreieck hat bei jedem Modell eine
andere Form. Nun stellen Sie sich das Dreieck, das Sie im Gesicht Ihres Modells gesehen haben, auf Ihrer Zeichnung vor, und markieren Sie den Punkt, wo die Nasenspitze liegen soll. Dies ist eine sehr gute R-Modus-Methode, die Länge der Nase richtig zu treffen - was für den Anfänger oft ein Problem ist. Als nächstes sehen Sie sich am Modell genau an, wie breit die Nase an den Nasenflügeln im Vergleich zu den inneren Augenwinkeln ist. Beobachten Sie Licht und Schatten, wie sie entlang der Nase verlaufen. Meistens werden Sie auf der einen Seite der Nase Licht und auf der anderen Schatten sehen. Blicken Sie genauer hin, werden Sie feststellen, daß diese Licht- und Schattenfelder eine bestimmte Form haben, die vom besonderen Knochenbau der jeweiligen Nase abhängig ist. Wenn Sie nun die Umrisse des Licht- oder des Schattenfeldes abzeichnen (entweder das eine oder das andere), haben Sie bereits die Knochenstruktur der Nase wiedergegeben. Tun Sie das — aber nur auf einer Seite der Nase, nicht auf beiden Seiten. Die meisten Menschen haben sich sehr beharrliche Symbole für die Wiedergabe der Nasenflügel und -löcher bewahrt. Zeichnen Sie deshalb die Formen unter den Nasenlöchern ab. 7. Der Mund: Taxieren Sie die Länge der Oberlippe, zum Beispiel im Verhältnis zur Nasenlänge. Zeichnen Sie zuerst die
Wir zeichnen Porträts
Mittellinie des Mundes, und achten Sie darauf, daß diese Linie im rechten Winkel zur Mittelachse des Kopfes steht. Es kann leicht geschehen, daß man den Mund schief zeichnet, was den Gesichtsausdruck stark verändern würde. Achten Sie besonders sorgfältig auf Lage und Form der Mundwinkel, da diese in besonderer, subtiler Weise den Gesichtsausdruck mit bestimmen. Dann zeichnen Sie die äußeren Ränder der Lippenbögen ein. Die Unterlippe wird sich vielleicht nur durch den Schatten unter der Lippe abheben. Betrachten Sie Ihr Modell sehr genau. Harte Linien um die Mundwinkel sind meist auf ungenaue Beobachtung oder auf das Eindringen eines Symbols zurückzuführen. Wie bereits erwähnt, haben die Lippenränder in Wirklichkeit keine scharfe Kontur; sie entsteht lediglich durch den Farbunterschied der Haut. 8. Der Oberschädel: Messen Sie am Modell den Abstand zwischen Augenhöhe und dem oberen Rand des Haares im Vergleich zum Abstand zwischen Augenhöhe und Kinn. Markieren Sie sich auf dem Papier, wo der am weitesten außen liegende Konturlinienabschnitt des Kopfes verlaufen soll. Dadurch wird es Ihnen leichter fallen, die Umrisse des Gesichts richtig darzustellen. 9. Das Gesicht: Achten Sie auf den Abstand zwischen einzelnen Gesichtszügen und dem Umriß des Gesichts, wie es sich Ihnen zeigt. In welchem Verhältnis steht jeder dieser Abstände zu anderen, von Ihnen bereits gezeichneten Breiten, zum Beispiel der Breite des Auges, der Nase oder des Mundes? Wie lang ist das Kinn im Verhältnis zur Nase? Geben Sie auch den Umriß des Gesichts nach dem Verfahren des modifizierten Konturenzeichnens wieder. 10. Das Haar: Wieder sehen Sie sich den äußeren Umriß des Haars sowie dessen innere Randlinie, die es gemeinsam mit dem Gesicht bildet, genau an. Achten Sie auf den Fall des Haares, auf die Stellen, wo sich Strähnen teilen und dunklere Töne zum Vorschein kommen. Beachten und zeichnen Sie die Details - ob es gewellt ist oder glatt, auf welche Weise es um Stirn und Schläfen liegt. Versorgen Sie Ihren «Betrachter» mit genügend Informationen über das Haar, so daß er wirklich weiß, wie es aussieht. Umgehen Sie Ihre Haar-Symbole, indem Sie sich beim Zeichnen in diesen oder jenen komplizierten Teil des Haares vertiefen. Bemühen Sie sich darum, das Haar im gleichen Stil, mit dem gleichen Strich darzustellen, dessen Sie sich bei der Wiedergabe der Gesichtszüge bedienten. Die Eigenart der Linie, die Tönung und die Detailtreue sollten der Darstellung der Züge entsprechen. Wenn Sie das Gesicht zum Beispiel mit harten, kräftigen Strichen gezeichnet haben, sollten Sie auch die Konturen der Haarpartie
Wir zeichnen Porträts
auf diese Weise wiedergeben. So wird aus Gesicht und Haar eine Einheit. Wenn Sie das Gesicht mit kräftigen Linien, das Haar hingegen nur skizzenhaft mit leichtem Strich wiedergeben, wird Ihre Zeichnung optisch auseinanderfallen. 11. Hals, Kragen und Schultern: Prüfen Sie die Breite des Halses im Verhältnis zur Breite des Gesichts. Messen Sie beides nach, damit der Hals nicht zu dünn wird. Benutzen Sie beim Zeichnen des Kragens die ihn umgebenden Teile des negativen Raums (zeichnen Sie also die Räume unter und um den Kragen). Vergewissern Sie sich, daß die Schultern breit genug sind. Zu schmale Schultern sind ein typischer Anfängerfehler. Überprüfen Sie den leeren Raum oberhalb der Schulter, und fragen Sie sich dabei stets: «Wo liegt die Schulterkuppe im Vergleich zum unteren Rand des Gesichts?» 12. Vervollständigen Sie diese Zeichnung mit all ihren schönen, vielfältigen Konturen nach Belieben, indem Sie die Schattenpartien, die Sie als Formen sehen, schattieren. Nachdem Sie nun mit so viel Sorgfalt die Gesichter anderer Menschen beobachtet haben, werden Sie gewiß verstehen, was gemeint ist, wenn Künstler behaupten, daß ein jedes menschliche Gesicht seine eigene Schönheit habe.
Schülerzeichnungen: Gesichter von vorn Wenn Sie jetzt die Schülerzeichnungen auf den folgenden Seiten betrachten, versuchen Sie nachzuvollziehen, auf welche Weise jeder der Zeichner vorgegangen ist. Messen Sie alle Längen, Breiten usw. nach. Das ist ein gutes Training für Ihre zeichnerischen Fähigkeiten und für Ihre Augen.
Zeichnen Sie weitere Porträts Führen Sie die Übungen 10 f, g und h durch, bevor Sie zum nächsten Kapitel übergehen. Mit ihrer Hilfe werden Sie Ihre Wahrnehmungsfähigkeit noch mehr entfalten.
Ergänzende Übungen: Sehen Sie sich die folgenden Porträ und Kopien von Schülern als Beispiele an. 10f. Suchen Sie sich ein En-facePorträt eines alten Meisters aus. Kopieren Sie diese Zeichnung; es wird Ihr Gefühl für Proportionen und fi den negativen Raum verfeinern. Denken Sie beim Kopieren daran, daß schon eine minimale Abweicht von den Längen oder von der Ricr tung einer Linie oder einer Form d Gesichtsausdruck verändern kann. Überprüfen Sie die gesamten Prop tionen, indem Sie Ihre Zeichnung dem Bleistift Stück für Stück nachm sen. Wenn es Ihnen notwendig erscheint, drehen Sie die Zeichnung den Kopf, dann sehen Sie die Verhältnisse deutlicher, log. Stellte die En-face-Zeichnung die Sie kopiert haben, eine Frau d; suchen Sie sich nun ein männliche Modell. Zeichnen Sie es von vorn, diesmal mit einem Hut auf dem Kopf. Wenn Sie das Bildnis eines Mannes kopiert haben, suchen Sie sich eine Frau, die Ihnen Modell s: ioh. Zeichnen Sie ein Selbstbildni vor dem Spiegel, wobei Sie Ihr Ge sieht von der Seite mit einer Lamp anleuchten. Betrachten Sie die Um risse der Schatten auf Ihrem Gesicht
Wir zeichnen Portrats
Georgette Zuleski Beispiel für Übung 10 f
Kimberly Leyman Beispiel für Übung 10 e
Wir zeichnen Porträts
Dolores Stewart
M. Shours Beispiel für Übung 10 g
Urba Dean Bury
Bob Jean Beispiel für Übung 10 h
11 Vorstoß in die dritte Dimension: Wir sehen Licht und zeichnen Schatten
Wir sehen Licht und zeichnen Schatten
Eines der ersehntesten Ziele von Zeichenschülern ist die Fähigkeit, Dingen durch das sogenannte «Schattieren» ein dreidimensionales Aussehen zu verleihen. Beim Schattieren geht man von der Wahrnehmung der unterschiedlichen Tonwerte zwischen Hell und Dunkel aus. Diese Tonabstufungen werden Valeurs genannt. Die Skala der Tonwerte erstreckt sich vom reinen Weiß bis zum reinen Schwarz über buchstäblich Tausende von feinsten Abstufungen. Die Abbildung 151 zeigt eine sehr grobe Skala mit einer kleinen Auswahl der möglichen Tonwerte. Bei einer Bleistiftzeichnung wird der hellste Ton das Weiß des Papiers sein. Der dunkelste Ton dagegen wird sich an der Stelle ergeben, wo viele Lagen von Strichen übereinander die größte Annäherung ans Schwarz erzeugen, die man mit einem Bleistift erreichen kann. Die Zwischentöne entstehen durch Anwendung verschiedener Methoden: durch mehr oder weniger kräftiges Schraffieren, durch Kreuzschraffur usw. In diesem Kapitel werde ich Ihnen zunächst zeigen, wie man Schatten sieht, und dann kurz einige Methoden des Schattierens beschreiben.
Die Rolle der rechten Gehirnhälfte bei der Wahrnehmung von Schatten
Abb. 151: Skala der Tonwerte.
Wenn Licht auf einen Gegenstand fällt, enthüllt sich uns dessen Form: Mittels der verschiedenen Abstufungen zwischen Licht und Schatten nehmen wir die Form dreidimensional, plastisch wahr. Doch obwohl wir die Hell-Dunkel-Valeurs benutzen, um Gegenstände zu deuten und zu erkennen, widmen wir den Umrissen und Formen der Licht- und Schattenflächen seltsamerweise nur geringe Aufmerksamkeit. Sie scheinen von der linken Hemisphäre auf die gleiche Weise ignoriert oder abgelehnt zu werden, wie die auf den Kopf gestellten Bilder und der leere Raum. Die linke Gehirnhälfte kann mit Schatten nichts anfangen — es sei denn, sie vermitteln ihr Informationen über jene dreidimensionalen Gegenstände, die sie zu benennen vermag. Doch Licht- und Schattenfelder können ebenso als Formen gesehen werden wie der leere Raum, wenn wir genauso vorgehen, wie wir es beim negativen Raum getan haben. Ich möchte Sie deshalb bitten, sich zunächst einmal einen Schatten sehr intensiv anzuschauen (zum Beispiel den Schatten auf dem Gesicht des Malers Johann Heinrich Füßli, Abb. 152). Warten wir einen Augenblick, bis die linke Gehirnhälfte das Bild abgesucht hat — sie wird nicht erkennen, was es darstellen soll, und die Aufgabe
Wir sehen Licht und zeichnen Schatten
Abb. 152: (Selbstbildnis} von Johann Heinrich Füßli (1741-1825). Mit freundlicher Genehmigung des Victoria and Albert Museum, London.
deshalb an die rechte Gehirnhälfte weitergeben —, dann wird der Schatten als Form vor Ihren Augen erscheinen. Diese Form können Sie zeichnen oder malen, und sie wird auf den Betrachter genauso wirken wie der Schatten in der realen Welt: Sie wird über den Umriß einer dreidimensionalen Form Aufschluß geben, hier zum Beispiel über den Umriß von Füßlis Nase und die Form seiner linken Wange. (Wenn Sie das Buch auf den Kopf stellen und den Schatten auf Füßlis Gesicht betrachten, ist es ganz leicht, ihn als Form zu sehen.)
Wir sehen Licht und zeichnen Schatten
Abb. 153
«Jener Bruchteil einer Sekunde, in dem sich Vertrautes schlagartig in etwas ganz und gar Neues, von einer verwirrend fremden Aura umgeben, verwandelt, ist einer der beglückendsten Augenblicke des Lebens . . . Solche Durchbrüche ereignen sich zu selten, sind eher die Ausnahme als die Regel, denn die meiste Zeit stecken wir tief im Weltlichen und Trivialen. Schockierend ist, daß gerade dieses Weltliche und Triviale der Stoff ist, aus dem die Träume sind. Der Unterschied besteht allein in der Perspektive, in unserer Bereitschaft, die Teile auf vollkommen neue Weise zusammenzufügen und dort, wo einen Augenblick zuvor nichts als Schatten zu sein schienen, nun bedeutungsvolle Muster zu sehen.» Edward B. Lindaman
Lassen Sie mich diesen Punkt noch etwas genauer darstellen, indem ich ihn auf eine andere Weise erkläre: Der Schatten auf Füßlis Gesicht verdankt seinen Umriß der Form von Nase und Wange. Wenn Sie also den Schatten richtig abzeichnen, geben Sie damit zugleich auch die genaue Form der Nase und der mit der Hand hochgeschobenen Wange wieder. Wollen Sie Ihre Zeichnung tönen (schattieren), müssen Sie den Schatten richtig sehen und zeichnen und innerhalb der Schattenformen noch die relativen Tonwerte ermitteln: welche Schattenteile am dunkelsten und welche am hellsten sind, und welche mittlere Töne aufweisen. Dieses besondere Sehvermögen werden Sie leicht erwerben, wenn Sie erst einmal in der Lage sind, zur Sehweise des Künstlers überzuwechseln. Neuere Forschungen lassen erkennen, daß die rechte Hemisphäre nicht nur auf die Wahrnehmung der Formen einzelner Schatten «spezialisiert» ist, sondern auch auf die Erfassung von zusammenhängenden Schattenpartien. Patienten mit Gehirnschäden an der rechten Hemisphäre hatten oft große Schwierigkeiten, einen Zusammenhang zwischen den komplexen, bruchstückhaften Schattenpartien (vgl. Abb. 153) zu erkennen. Wie gelangt die rechte Hemisphäre zu der schlagartigen Einsicht, die zum Erkennen der Bedeutung dieses Musters aus Lichtund Schattenflächen notwendig ist? Offenbar erfaßt sie die Beziehungen der sich zu einem Ganzen fügenden Formen. Sie läßt sich durch fehlende Einzelheiten nicht abschrecken, sich trotz aller Unvollständigkeit «ein Bild zu machen».
Licht und Schatten - ein Gesicht
< Thinking in Future Tense>
Wir wollen nun einen Versuch unternehmen. Wenn jemand bereit ist, Ihnen Modell zu sitzen, so lassen Sie ihn eine ungezwungene Haltung einnehmen und stellen Sie eine Lampe neben ihn, so daß sein Gesicht hell von der Seite angeleuchtet wird und auf der unbeleuchteten Gesichtshälfte scharf abgegrenzte, dunkle
Wir sehen Licht und zeichnen Schatten
Schatten entstehen. Wenn Sie kein Modell zur Verfügung haben, können Sie sich auch selbst im Spiegel abzeichnen oder auch eine Fotografie, auf der ein stark von der Seite angestrahltes Gesicht zu sehen ist. Für die folgende Übung brauchen Sie einen Aquarellpinsel und ein Fläschchen schwarze Ausziehtusche. Beides können Sie im Bastelladen, im Papiergeschäft oder im Warenhaus kaufen. Bevor Sie anfangen: Lesen Sie alle Anleitungen genau durch. Sorgen Sie dafür, daß Sie reichlich Zeit zur Verfügung haben, in der Sie niemand stört. Auch hier werde ich die Formen wieder benennen. Wenn Sie jedoch die Schattenformen malen - in der folgenden Übung und bei allen späteren Versuchen -, achten Sie darauf, daß Sie nicht über die einzelnen Teile des Gesichts (Nase, Lippen usw.) nachdenken und sie dabei mit den geläufigen Bezeichnungen versehen. 1. Die angeleuchteten hellen Teile des Kopfes brauchen Sie nicht zu zeichnen. Sie werden durch das Weiß Ihres Zeichenpapiers dargestellt. Die Schattenformen werden Sie mit Ihrer schwarzen Tusche oder Tinte malen. Es stehen Ihnen nur die beiden Tonwerte Weiß und Schwarz zur Verfügung. Sie sollen auf alle Zwischentöne verzichten. Die Übung soll Sie dazu befähigen, Schattenformen zu erkennen. 2. Richten Sie Ihren Blick auf einen Schatten, vielleicht auf den Seitenschatten der Nase. Warten Sie, bis Sie ihn als Form sehen können. Wenn Sie sich über die Form des Schattens klargeworden sind, malen Sie sie mit Tusche und Pinsel. (Vgl. Abb. 154 - so zum Beispiel könnte eine solche Form aussehen.) 3. Richten Sie Ihren Blick auf den nächsten Schatten, etwa auf den Schatten unter der Oberlippe. Malen Sie diesen Schatten. 4. Richten Sie Ihren Blick auf den nächsten Schatten, zum Beispiel auf den unter der Unterlippe liegenden. Achten Sie auf seine Beziehungen zu den Formen, die Sie bereits gemalt haben. Malen Sie auch diesen Schatten ab (vgl. Abb. 155).
Abb. 155
Wir sehen Licht und zeichnen Schatten
5. Da die eine Hälfte des Gesichts vollkommen im Schatten liegt, malen Sie diese große Form genauso ab, wie Sie sie sehen (vgl. Abb. 156). 6. Richten Sie Ihren Blick auf die kleinen Schatten auf der beleuchteten Seite des Gesichts, und warten Sie, bis Sie diese als Formen sehen. Dann malen Sie diese ab, und achten Sie dabei auf die Größenverhältnisse zu den zuvor dargestellten Formen. 7. Betrachten Sie die Schattenformen auf der beleuchteten Seite des Hutes. Malen Sie diese Schatten, wie Sie sie sehen - in ihren vielfältigen Umrissen. Vermeiden Sie symbolische Formen — sehen Sie sich die Schattenformen genau an (vgl. Abb. 157). 8. Führen Sie Ihre Tuschzeichnung zu Ende. Den leeren Raum hinter dem Kopf können Sie mit schwarzer Farbe ausmalen - Sie können ihn aber auch so weiß lassen, wie er ist (vgl. Abb. 158).
Abb. i58
Abb. 759: (Selbstbildnis) (1634) von Rembrandt van Rijn. Mit freundlicher Genehmigung des Kaiser-Friedrich-Museums, Berlin.
Wir sehen Licht und zeichnen Schatten
Nachdem Sie fertig sind: Vielleicht waren Sie überrascht, als sich Ihre Tuschzeichnung plötzlich für Sie zu einem Gesicht verdichtete. Vielleicht ist Ihnen in diesem Moment die dreidimensionale Wirkung Ihrer Zeichnung mit einem Schlag bewußt geworden. Dieser Vorgang scheint sich folgendermaßen abzuspielen: Sie malen eine Reihe von Formen, die anscheinend keinen Zusammenhang haben — dann plötzlich «springt» Ihnen das Bild entgegen, und der Gedanke «Das klappt!» durchfährt Sie. Wenn Sie dies bei der ersten Tuschzeichnung nicht erlebt haben, dann versuchen Sie es noch einmal. Sie können auch das Bild eines alten Meisters, zum Beispiel Rembrandts (Selbstbildnis) (Abb. 159), kopieren —das hat sich als eine gute Möglichkeit erwiesen, sich in das Schattenmalen hineinzufinden. Leistet Ihre linke Hemisphäre immer noch Widerstand, stellen Sie die Abbildung des Rembrandt-Gemäldes auf den Kopf, und kopieren Sie sie aus dieser Sicht, ebenfalls mit Pinsel und Tusche. Das Arbeiten mit Tusche ist besonders geeignet, um Schatten sehen zu lernen. Da Sie hier nicht radieren können, müssen Sie sich die Schattenform besonders gut einprägen, ehe Sie den Pinsel aufs Papier setzen. Wir zeichnen zarte Schatten: Das Schraffieren Wenn Sie das Gefühl haben, daß Sie die Schattenformen durch das Malen mit Tusche zu sehen gelernt haben, dann können Sie neben Weiß und Schwarz noch andere Tonwerte, nämlich auch graue Zwischentöne, benutzen. Dazu steht Ihnen eine Reihe von Techniken und Mittel zur Verfügung, vor allem die Kreuzschraffur, die sich als eine der besten Möglichkeiten zur Darstellung zarterer Schatten erwiesen hat. In diese Grundtechnik werde ich Sie hier kurz einführen. Da man auf verschiedenste Weise schraffieren kann, werden Sie bald Ihren eigenen Stil entwickeln, so wie Sie auch einen eigenen Stil im Umgang mit Linien gefunden haben. 1. Die sogenannte Kreuzschraffur kommt durch kurze, schnelle, parallele Striche zustande, über die - in der Richtung um einige Grade verändert - eine weitere Schicht von Strichen gezeichnet wird. Man kann mehrere solcher Schichten übereinander legen, je nachdem, wie dunkel die Tönung sein soll. Fangen Sie zunächst mit einer einfachen Schraffur an (vgl. Abb. 160). 2. Zeichnen Sie mit schnellen Handbewegungen über diese einfache Schraffur eine zweite Schicht von parallelen Strichen (vgl. Abb. 161). Ihre Richtung soll nur geringfügig von der der ersten Striche abweichen.
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Wir sehen Licht und zeichnen Schatten
Abb. 160
Abb. 161
Ergänzende Übungen 11a. Kopieren Sie mit Zeichenkohle oder Bleistift das Selbstporträt von Käthe Kollwitz (Abb. 165). Achten Sie auf die komplexen Schattenformen, die das Auge umgeben. Vergessen Sie nicht, sich das Dreieck vorzustellen, damit Sie das Ohr an die richtige Stelle setzen. 11b. Kopieren Sie mit Tusche und Pinsel das Selbstbildnis von Rembrandt (Abb. 159). 11c. Schauen Sie sich genau an, auf welche Weise Morandi in seinem Stillleben (Abb. 163) Kreuzschraffuren verwendet hat. Bauen Sie sich selbst ein Stilleben auf. Beleuchten Sie es mit einer Lampe von der Seite, zeichnen Sie und entwickeln Sie beim Schraffieren Ihren eigenen linearen Stil. 11d. Zeichnen Sie mit dem Bleistift eine Papiertüte ab (vgl. als Beispiel Abb. 164).
Abb. 162
Wir sehen Licht und zeichnen Schatten
Abb. 163: (Großes Stilleben mit Kaffeekanne) (1934) von Giorgio Morandi. Mit
freundlicher Genehmigung des Fogg Art Museum, Harvard University.
3. Nehmen Sie mit Ihrer Hand eine andere Haltung ein, und setzen Sie noch eine dritte Lage, wiederum in einer anderen Richtung, darüber. 4. Zeichnen Sie immer weitere Lagen solcher paralleler Linien übereinander, achten Sie darauf, wie der Farbton an bestimmten Stellen immer dunkler wird. Schaffen Sie, wenn nötig, durch zusätzliche Striche sanfte Übergänge zwischen helleren und dunkleren Partien. (Vgl. Abb. 162 - ein Beispiel für die Anwendung der Kreuzschraffur beim «Schattieren» einer Kugel.) Wie Sie sehen, kann man mit der Kreuzschraffur eine lebendige Oberflächenwirkung und den Eindruck von Licht und Luft um die Kugel herum erzielen.
Wir sehen Licht und zeichnen Schatten 11e. Zeichnen Sie mit Kohle ein Porträt (vgl. als Beispiele Abb. 165 und 166). 11f. Schwärzen Sie einen Bogen Zeichenpapier in gleichmäßigem Ton mit Kohle. Zeichnen Sie ein Selbstporträt mit dem Radiergummi, mit dem Sie die beleuchteten Partien Ihres Gesichts freilegen. 11g. Verdünnen Sie schwarze Tusche mit etwas Wasser, und malen Sie ein Porträt, das ein Licht-undSchatten-Muster zeigt (vgl. Abb. 168).
Abb. 165: <Selbstbildnis im Profil)
von Käthe Kollwitz (1867-1945). Mit freundlicher Genehmigung des Fogg Art Museum.
Ausblick Dies war nur eine kurze Einführung in die Freuden des Zeichnens von Licht und Schatten. Die zusätzlichen Übungen 11 a bis 11 g sind dazu gedacht, Ihre Geschicklichkeit und Ihren Blick für die Möglichkeiten der räumlichen Darstellung mit Hilfe des Lichtes zu fördern. Ein Ziel Ihrer künftigen Entwicklung zeichnet sich am Horizont ab: Diese Tuschübungen waren der erste Schritt zur Malerei und in die phantastische Welt der Farbe. Ihre Reise hat also gerade erst begonnen.
Abb. 166 Tom Nelson
Wir sehen Licht und zeichnen Schatten
Abb. 167 Ly Chen Sreng
Abb. 168 G. Smith
12 Das Zen des Zeichnens: Der Künstler in uns erwacht
Das Zen des Zeichnens
Am Anfang dieses Buches habe ich geschrieben, daß das Zeichnen einem magischen Kunststück gleiche: Ist Ihr Gehirn des ständigen Geschwätzes und Geplappers überdrüssig, können Sie sich mit Hilfe des Zeichnens in einen Zustand der Ruhe, des Schweigens versetzen und dabei einen flüchtigen Blick in die jenseits der Begriffswelt liegende Realität werfen. Ihre optischen Wahrnehmungen strömen blitzschnell und ohne Umwege von der Netzhaut in die Hirn-Hemisphären und von dort über die Nervenbahnen in die Hand- und Fingermuskulatur, wo sie, umgeformt in feinste Bewegungen, wie durch Zauber ein gewöhnliches Blatt Papier in ein Bild verwandeln. Dieses Bild ist Ihr Bild. Es spiegelt die nur Ihnen allein eigene, besondere, persönliche Art der Wahrnehmung und des Umsetzens der Wahrnehmungen wider. Durch Ihre aufs Zeichenpapier gebannte Vision hindurch erkennt der Betrachter - Sie. Darüber hinaus können auch Sie selbst sich in Ihren Zeichnungen erkennen. Facetten Ihrer Persönlichkeit entdecken, die Ihnen vielleicht bislang durch Ihr sprachliches Selbst verborgen geblieben waren. Ihre Zeichnungen können auch Ihnen offenbaren, wie Sie die Dinge sehen und empfinden. Zuerst zeichnen Sie nach dem R-Modus. Sie widmen sich dieser Tätigkeit, ohne zu sprechen, ohne in Worten zu denken. Schalten Sie dann wieder auf Ihren sprachlichen Modus zurück, können Sie Ihre Gefühle und Wahrnehmungen mit Hilfe der mächtigen Fähigkeiten Ihres linken Hirns interpretieren - Sie denken über das Geschaffene nach, gehen dabei nach den Gesetzen der Logik vor und drücken Ihre Gedanken in Worten aus. Ist die Bildstruktur unvollständig und Worten und rationalem Denken nicht zugänglich, schalten Sie auf den R-Modus zurück — das intuitive, analogische Erfassen des Bildganzen kann zur Lösung des Problems führen. Die Hemisphären haben unbegrenzte Möglichkeiten der kooperativen Zusammenarbeit. Die in diesem Buch beschriebenen Übungen sind natürlich nur die allerersten Schritte auf dem Weg zu einem fernen Ziel — beide Arten des Denkens kennenzulernen und ihre Kräfte zu nutzen. Nachdem Sie nun sich selbst in Ihren Zeichnungen entdeckt haben, können Sie Ihre Reise zu dem genannten Ziel allein fortsetzen. Haben Sie einmal den Anfang gemacht, treibt Sie stets das Gefühl voran, daß Ihre nächste Zeichnung besser sein wird — daß Sie wahrhaftiger sehen, das Wesen der Wirklichkeit tiefer erfassen, dem Unaussprechlichen mehr Ausdruck verleihen und das Geheimnis jenseits des Geheimnisses entdecken werden. Das Zeich-
Das Zen des Zeichnens
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nenlernen, schreibt der große japanische Künstler Hokusai, ist ein Voranschreiten ohne Ende. Nachdem Sie zu der neuen Sehweise übergewechselt sind, entdecken Sie nun vielleicht, daß Sie das Wesen der Dinge erblicken und damit über eine Form des Erkennens verfügen, die im ZenBuddhismus «Satori» genannt wird. (Das Zitat aus einem Aufsatz Suzukis soll diesen Begriff ein wenig erläutern.) Während sich Ihr Wahrnehmungsvermögen entfaltet, entdecken Sie neue Wege zur Lösung von Problemen, korrigieren altgewohnte Fehlwahrnehmungen und befreien sich Schicht für Schicht von den Stereotypen, die Ihnen die Wirklichkeit verschleiern und Sie am bewußten Sehen hindern. Da Ihnen nun die Kräfte beider Gehirnhälften und die zahllosen Schaltmöglichkeiten zwischen ihren Funktionsbereichen zur Verfügung stehen, sind alle Wege für Sie frei, eine immer umfassender werdende Wahrnehmungsbewußtheit zu erlangen, durch die Sie jene verbalen Prozesse unter Kontrolle zu bringen vermögen, die zu Störungen des Denkens, ja sogar zu körperlichen Erkrankungen führen können. Das logische, systematische Denken ist sicherlich eine entscheidende Voraussetzung für das Überleben jedes einzelnen in unserer Kultur. Doch damit unsere Kultur überlebt, ist es unbedingt notwendig zu wissen, wie unser Gehirn auf unser Verhalten einwirkt. Dieser Frage können Sie nachgehen, indem Sie in sich selbst hineinschauen. So werden Sie zum «Beobachter» und wenigstens bis zu einem gewissen Grade verstehen, wie Ihr Gehirn funktioniert. Wenn Sie Ihrem eigenen Gehirn bei der Arbeit zuschauen können, werden sich Ihre Wahrnehmungsfähigkeiten erheblich erweitern. Sie werden die Kräfte beider Gehirnhälften zu nutzen verstehen. Es stehen Ihnen nun zwei verschiedene Wege zur Verfügung, mit einem Problem fertig zu werden: zum einen das abstrakte, sprachliche, analytische Denken, zum andern das ganzheitliche, intuitive Erfassen, das ohne das Hilfsmittel der Sprache auskommt. Nutzen Sie diese zweifache Fähigkeit. Zeichnen Sie alles, was Ihnen in den Blick gerät. Kein Sujet ist zu schwer oder zu leicht; jedes ist so schön, daß es sich lohnt, es zu zeichnen. Alles kann Ihnen als Gegenstand dienen: ein paar Quadratmeter Unkraut, ein zerbrochenes Glas, die Weite einer Landschaft, ein Mensch. Versuchen Sie, immer etwas dazuzulernen. Die Werke großer Meister der Vergangenheit und der Gegenwart sind Ihnen jederzeit und zu erschwinglichen Preisen in Drucken und Kunstbüchern zugänglich. Studieren Sie diese Bilder. Kopieren Sie nicht
«Vom sechsten Lebensjahr an war ich darauf versessen, die Formen der Dinge zu zeichnen. Mit fünfzig hatte ich unzählige Zeichnungen veröffentlicht; dennoch war das, was ich vor meinem siebzigsten Jahr hervorgebracht habe, nicht der Rede wert. Mit dreiundsiebzig hatte ich ein wenig vom wahren Gefüge der Natur, der Tiere, Pflanzen, Vögel, Fische und Insekten begriffen. So werde ich mit achtzig ein Stück vorangekommen sein. Mit neunzig werde ich in das Geheimnis der Dinge eindringen. Mit hundert werde ich eine wunderbare Stufe erreicht haben; und bin ich erst hundertundzehn geworden, wird alles, was ich mache, Punkt oder Strich, voll Leben sein.» - «Dies schrieb ich mit fünfundsiebzig Jahren - ich, Hokusai, heute Owakio Rojin, ein alter Mann, vom Zeichnen besessen.» «Charakteristisch für bedeutende Zeichner ist die uneingeschränkte Akzeptierung des eigenen Stils. Es ist, als sage die Zeichnung dem Künstler: » Nathan Goldstein
Das Zen des Zeichnens
den Stil ihrer Schöpfer, sondern lesen Sie in ihren Gedanken. Lernen Sie von ihnen, die Schönheit des Gegenständlichen neu zu sehen. Lassen Sie sich von ihnen zeigen, wie man neue Formen erfindet und sich neue Sehweisen erschließt. Beobachten Sie, wie sich Ihr Stil entwickelt. Bewahren und pflegen Sie ihn. Schaffen Sie sich Zeit zum Üben, damit sich Ihr Stil, seiner selbst sicher, herausbilden kann. Wenn Ihnen eine Zeichnung mal nicht gelingt, brauchen Sie sich nicht zu beunruhigen. Hören Sie eine Zeitlang mit Ihren endlosen Selbstgesprächen auf. Denken Sie daran: Alles, was Sie zu sehen brauchen, liegt vor Ihren Augen. Lassen Sie keinen Tag vergehen, ohne etwas zu zeichnen. Warten Sie nicht auf Inspirationen. Gehen Sie so vor, wie Sie es in diesem Buch gelernt haben: Treffen Sie Ihre Vorbereitungen, und stellen Sie sich auf das Zeichnen ein. So wird Ihnen der Übergang in den anderen Zustand zu einer gewohnten, leichten Übung. Durch stetiges Training wird Ihnen dieses Umschalten zunehmend leichterfallen. Wenn Sie es jedoch vernachlässigen, werden Sie die freigelegten Wege erneut blockieren. Bringen Sie auch anderen das Zeichnen bei. Ein Rückblick auf die einzelnen Lernschritte wird für Sie von unschätzbarem Wert sein. Indem Sie sie weitervermitteln, werden Sie nicht nur Ihr eigenes Verständnis von der Zeichenkunst vertiefen, sondern zugleich auch anderen Menschen neue Möglichkeiten erschließen. Entwickeln Sie Ihre Vorstellungskraft, Ihre Imagination — Ihre Fähigkeit, mit dem geistigen Auge zu sehen. Was auch immer Sie zeichnen, es wird sich tief in Ihr Gedächtnis eingraben. Lassen Sie diese Bilder noch einmal erscheinen — stellen Sie sich die von Ihnen kopierten Zeichnungen alter Meister vor, die Gesichter von Freunden, die Sie porträtiert haben. Stellen Sie sich auch Szenen und Dinge vor, die Sie in Wirklichkeit nie gesehen haben, und zeichnen Sie, was Sie mit Ihrem geistigen Auge sehen. Das Zeichnen wird dem Vorstellungsbild Eigenleben und Realität verleihen. Benutzen Sie Ihre Vorstellungskraft zur Lösung von Problemen. Betrachten Sie sie von mehreren Seiten, aus verschiedenen Perspektiven. Sehen Sie sich jeden einzelnen Problemfaktor im Hinblick auf seinen Anteil am Gesamtproblem an. Beauftragen Sie Ihr Gehirn, sich mit dem Problem zu befassen, während Sie schlafen oder Spazierengehen - oder zeichnen. Prüfen Sie das Problem mit dem Blick eines Forschers, damit Sie es in allen seinen Facetten sehen. Stellen Sie sich Dutzende von Lösungen vor, ohne zu werten oder zu verwerfen. Spielen Sie mit den Problemen
Das Zen des Zeichnens
unverkrampft und doch ernsthaft. Hören Sie dabei auf Ihre Intuition. Höchstwahrscheinlich wird die Lösung plötzlich von selbst auftauchen — in einem Augenblick, wo Sie es am wenigsten erwarten. Während Sie sich der Kräfte Ihrer rechten Gehirnhälfte bedienen, entfalten Sie Ihre Fähigkeit, immer tiefer in das Wesen der Dinge vorzudringen. Wenn Sie Menschen und Gegenstände in Ihrer Umgebung betrachten, stellen Sie sich vor, daß Sie sie zeichnen. Dann werden Sie plötzlich anders sehen — mit wachen Augen, mit dem Blick des Künstlers in Ihnen.
«Ein Mönch fragte seinen Meistei <Was ist das, mein Selbst?) Der Me antwortete: (Tief in deinem Selbst etwas verborgen, mit dessen verbc genem Tun du dich vertraut macl mußt.> Darauf bat der Mönch, er möge ihm sagen, was das für ein v borgenes Tun sei. Der Meister öffnete nur die Augen und schloß sie wieder.» Frederick Franck < The Zen of Seeing>
Postskriptum Für Eltern und Lehrer
Da ich nicht nur Lehrerin, sondern auch Mutter bin, war ich selbst stark daran interessiert, neue Unterrichtsmethoden zu finden. Wie den meisten Eltern und Pädagogen wurde auch mir (bisweilen schmerzlich) bewußt, daß dem Unterricht an unseren Schulen recht verschwommene Konzepte zugrunde liegen, ja daß er mehr oder weniger auf gut Glück geplant und durchgeführt wird. Die Schüler lernen nicht, was wir sie zu lehren glauben, und das, was sie wirklich lernen, entspricht nur allzuoft ganz und gar nicht den von uns für gut befundenen und angestrebten Unterrichtszielen. Ein Beispiel dafür, wie schwer es ist, einem Schüler klarzumachen, was er eigentlich lernen soll, ist mir deutlich in Erinnerung geblieben. Vielleicht haben Sie selbst ähnliche Erfahrungen mit Schülern oder mit eigenen Kindern gemacht. Vor Jahren war ich einmal bei einer Freundin zu Besuch, als ihr Junge aus der Schule nach Hause kam — voller Freude darüber, daß er etwas Neues gelernt hatte. Er war im ersten Schuljahr, und die Lehrerin hatte gerade mit dem Unterricht im Lesen angefangen. Der Junge verkündete, er habe ein neues Wort gelernt. «Großartig», sagte seine Mutter. «Wie heißt denn das Wort?» Das Kind dachte einen Augenblick nach und meinte dann: «Ich werde es dir aufschreiben.» Auf eine kleine Tafel schrieb er sorgfältig in Druckbuchstaben das Wort HAUS. «Sehr schön, mein Junge», sagte die Mutter. «Und was heißt das?» Er sah auf das Wort, dann blickte er seine Mutter an und gab zur Antwort: «Das weiß ich nicht.» Offenbar hatte das Kind gelernt, wie das Wort aussah ~ die mit den Augen wahrnehmbare, schriftliche Form des Wortes hatte sich ihm eingeprägt. Der Lehrerin war es jedoch um einen anderen Aspekt des Lesens gegangen — um das, was Wörter bedeuten, wofür sie stehen, was
sie symbolisieren. Wie so oft wichen Lernziel und Lernergebnis — das, was ein Lehrer vermitteln will, und das, was beim Schüler «ankommt» - weit voneinander ab. Im Laufe der Zeit stellte sich heraus, daß der Sohn meiner Freundin in allen Bereichen besser und schneller über visuelle Vermittlungswege lernen konnte. Das trifft auf viele Kinder zu. Leider ist das Bildungssystem überwiegend auf den Umgang mit Sprache und Symbolen ausgerichtet, und so müssen sich viele Lernende anpassen. Sie sind gezwungen, sich die ihnen gemäße Weise des Lernens abzugewöhnen und sich den Lehrstoff so anzueignen, wie es die Schulbehörden verfügen. Der Junge meiner Freundin war zum Glück imstande, diese Anpassung zu vollziehen. Doch wie viele Schulkinder bleiben dabei auf der Strecke? Die erzwungene Umstellung des Lernstils muß mit der erzwungenen Umstellung von der Links- auf Rechtshändigkeit in irgendeine Beziehung gebracht werden, die sie einander vergleichbar macht. Früher war es üblich, Personen, die von Natur aus Linkshänder waren, zur Rechtshändigkeit zu zwingen. Vielleicht werden wir in Zukunft den Zwang zur Änderung des Lernstils gleichermaßen mißbilligen wie heute die erzwungene Rechtshändigkeit. Bald werden wir in der Lage sein, auf Grund von Tests festzustellen, welcher Lernstil einem Kind am meisten liegt, und über Unterrichtsmethoden verfügen, die es ermöglichen, daß Kinder visuell und verbal lernen können. Daß Kinder über unterschiedliche Auffassungsgaben verfügen, haben die Pädagogen schon immer gewußt, und mittlerweile hoffen alle, die sich für die Förderung junger Menschen verantwortlich fühlen, daß die Gehirnforschung ihnen helfen wird, das Problem zu lösen, wie man alle Schüler gleichermaßen fördern kann. Bis vor etwa fünfzehn Jahren schienen die neuen
Entdeckungen der Gehirnforschung im wesentlichen von rein wissenschaftlichem Nutzen zu sein. Doch werden diese Erkenntnisse mittlerweile auf vielen verschiedenen Gebieten angewendet und scheinen auch einer fundamentalen Veränderung der Unterrichtsmethoden eine sichere Basis liefern zu können. Neben anderen Forschern hat vor allem David Galin darauf hingewiesen, daß den Pädagogen drei Hauptaufgaben gestellt sind: Erstens müssen sie Wege finden, beide Gehirnhälften zu trainieren — nicht nur die mit Sprache, Symbolen und logischem Denken reagierende linke Hemisphäre, die man bisher in den traditionellen Unterrichtskonzepten allein zu fördern bedacht war, sondern auch die Relationen und räumliche Strukturen wahrnehmende, ganzheitlich erfassende und verarbeitende rechte Gehirnhälfte, die in unserem heutigen Bildungssystem noch weitgehend vernachlässigt wird. Die zweite wichtige Aufgabe besteht darin, den Schülern beizubringen, wie sie das der jeweiligen Aufgabe angemessene kognitive Vorgehen erkennen und ihm entsprechend handeln können. Und drittens werden sie ihnen die Fähigkeit vermitteln müssen, beide kognitive Verarbeitungsweisen - die der linken und die der rechten Hemisphäre - bei der Problemlösung zu integrieren. Werden Lehrer erst einmal imstande sein, die sich ergänzenden Modi zu einem Gespann zusammenzuführen oder der jeweiligen Aufgabe den entsprechenden Modus zuzuordnen, wird der Unterricht zu einem weitaus deutlicher urarissenen, durchschaubaren Vorgang. Vorrangiges Ziel wird es sein, beide Gehirnhälften und die von ihnen gesteuerten Fähigkeiten auszubilden. Beide Modi sind für eine vollkommene Entfaltung des Menschen unentbehrlich, und ebenso für alle kreativen Tätigkeiten, sei es Malen oder Schreiben oder die Entwicklung neuer physikalischer Theorien oder die Lösung von Umweltproblemen.
In der Zeit, da das Bildungssystem ohnehin von den verschiedensten Seiten unter Beschuß genommen wird, hat man leicht reden, Pädagogen und Lehrer auf dieses Ziel zu verweisen. Doch ist unsere Gesellschaft einem immer schneller voranschreitenden Veränderungsprozeß unterworfen, so daß immer schwerer vorauszusehen ist, über welche Fähigkeiten die Menschen künftiger Generationen verfügen müssen, um ihre Probleme lösen zu können. Obwohl wir uns bislang bei der Planung der Zukunft unserer Kinder und bei der Lösung von Problemen, die sich ihnen auf ihrem Weg in jene Zukunft stellten könnten, weitgehend auf die rationale linke Gehirnhälfte verlassen haben, ist doch unser Vertrauen in das technologische Denken und damit auch in die alten Unterrichtsmethoden angesichts der Heftigkeit des sozialen Wandels stark erschüttert. Ohne auf die traditionellen sprachlichen und rechnerischen Fähigkeiten verzichten zu wollen, halten besorgte Pädagogen doch Ausschau nach Unterrichtstechniken, die der Förderung der intuitiven und kreativen Kräfte des Kindes dienen und es somit darauf vorbereiten, neuen Herausforderungen mit Flexibilität, Erfindungsgabe und Phantasie begegnen zu können. Dieser zukünftige Mensch soll fähig sein, komplexe Zusammenhänge wechselseitig verbundener Ideen und Fakten blitzschnell zu erfassen, die einem Geschehen zugrunde liegenden Strukturen zu erkennen und die alten Probleme in neuem Licht zu sehen. Was können Sie als Eltern und Lehrer schon jetzt in pädagogischer Hinsicht für die Entwicklung beider Hemisphären der Kinder und Jugendlichen tun? Wichtig ist, daß Sie sich erst einmal über die spezialisierten Funktionen und Verarbeitungsmodi der Hemisphären informieren. Bücher wie dieses können Ihnen eine gewisse theoretische Grundlage und auch einiges von der Erfahrung des kognitiven Hinundherwechselns von einem Modus zum anderen
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vermitteln. Doch bin ich der Meinung, daß die eigene Erfahrung in dieser Hinsicht von außerordentlicher, vielleicht von entscheidender Bedeutung ist. Erst wenn Lehrer das «Umschalten» aus eigenem Erleben kennen, können sie versuchen, dieses Wissen an andere weiterzugeben. Zweitens sollten Sie sich besonders intensiv mit den Wirkungen befassen, die spezielle Aufgaben auf die Aktivierung der einen oder der anderen Hemisphäre haben. Versuchen Sie zunächst festzustellen, welche Gehirnhälfte Ihre Schüler unter bestimmten, von Ihnen geschaffenen Bedingungen benutzen und welche Aufgaben die Schüler zum kognitiven Hinundherwechseln zwischen den beiden Modi ermuntern beziehungsweise zwingen. Lassen Sie zum Beispiel einen beliebigen Textabschnitt auf seinen Inhalt, auf die in ihm aufgezählten Fakten hin analysieren und bitten die Schüler, ihr Ergebnis vorzutragen oder niederzuschreiben. Dann lassen Sie denselben Text auf seine Bedeutung, seinen tieferen, nur dem imaginativen, metaphorischen Denken zugänglichen Sinngehalt prüfen. Das gleiche könnten Sie auch mit einem Gedicht, einem Gemälde, einem Rätsel, einem Wortspiel, einer Fabel oder einem Lied versuchen. Ein anderes Beispiel: Zur Lösung bestimmter arithmetischer und mathematischer Aufgaben bedarf es des linearen logischen Denkens. Andere können nur durch imaginäres Hinundherschieben der Formen oder durch geschickten Umgang mit Zahlen gelöst werden, was am leichtesten mit Hilfe bildlicher Projektionen möglich ist. Versuchen Sie, durch Beobachtung Ihrer eigenen Denkvorgänge und der Ihrer Schüler festzustellen, bei welchen Aufgaben die Verfahrensweise der rechten Hemisphäre und bei welchen der Modus der linken beansprucht wird. Beobachten Sie auch, bei welchen Problemen verschiedenartige Verarbeitungsstile komplementär oder simultan eingesetzt werden.
Drittens: Versuchen Sie, andere Bedingungen im Unterrichtsraum herzustellen, wenigstens soweit Sie darauf Einfluß nehmen können. So werden die Schüler zum Beispiel durch Unterrichtsgespräche oder durch einen längeren Vortrag des Lehrers dazu gezwungen, starr am Modus der linken Hemisphäre festzuhalten. Wenn es Ihnen gelingt, Ihre Schüler zu einer entschiedenen Hinwendung zum Rechts-Modus zu bewegen, werden Sie einen heutzutage in Unterrichtsräumen seltenen Zustand hervorrufen: vollkommene Stille. Ihre Schüler werden ruhig sein und sich zugleich intensiv und eifrig mit der jeweils gestellten Aufgabe beschäftigen. Das Lernen wird zum Vergnügen. Allein dieses Aspektes wegen lohnt es sich, ein Vorgehen nach dem R-Modus anzustreben. Achten Sie darauf, daß Sie selbst dieses Schweigen fördern und aufrechterhalten. Darüber hinaus können Sie mit der Beleuchtung oder der Sitzordnung experimentieren. Auch Körperübungen, vor allem gleichmäßige, rhythmische Bewegungen wie zum Beispiel beim Tanzen, können das kognitive Umschalten fördern — und in noch viel stärkerem Maße die Musik. In diesem Buch habe ich zu zeigen versucht, daß auch Zeichnen und Malen eine starke Verlagerung zum R-Modus notwendig machen beziehungsweise voraussetzen. Sie könnten es auch mit selbsterfundenen Sprachen versuchen, vielleicht mit einer Bildersprache, in der die Schüler während des Unterrichts kommunizieren. Ich empfehle Ihnen, soviel wie möglich Tafel und Kreide zu benutzen, nicht nur zum Aufschreiben von Wörtern, sondern auch zum Zeichnen von Bildern, Skizzen, Schemata usw. Der Idealfall wäre, alle Informationen zumindest in zweierlei Form anzubieten: in sprachlicher und in bildlicher Form. Auch könnten Sie den verbalen Anteil Ihres Unterrichts reduzieren und ihn durch nonverbale Kommunikationsformen ersetzen, wenn es Ihnen angebracht erscheint.
Und schließlich baue ich darauf, daß Sie Ihre eigenen intuitiven Gaben zur Entwicklung von Unterrichtsmethoden benutzen und auf Fortbildungsseminaren und durch Veröffentlichungen in Fachzeitschriften auch andere Lehrer davon in Kenntnis setzen werden. Vermutlich haben Sie ohnehin schon längst — intuitiv oder ganz bewußt — eine Reihe von Techniken entwickelt, die das kognitive Umschalten fördern. Da wir Lehrenden in einer ausgewogenen, integrativen Entwicklung des gesamten Gehirns ein gemeinsames Ziel für die Zukunft unserer Kinder sehen, müssen wir auch unsere Entdeckungen, die uns diesem Ziel näher bringen können, einander mitteilen. Auch Eltern können eine Menge zur Verwirklichung dieses Ziels beitragen, indem sie ihren Kindern helfen, alternative Erkenntnisweisen zu entwickeln — eine sprachlich-analytische und eine visuell-räumliche. In den ersten, entscheidenden Lebensjahren der Kinder können Eltern ihnen Lernbedingungen schaffen, die verhindern, daß die Worte einen dichten Schleier bilden, der die Wahrnehmung der sprachlich nicht erfaßbaren Wirklichkeit unmöglich macht. Die in meinen Augen wichtigste Anregung, die ich Eltern weitergeben möchte, betrifft den Umgang mit Worten, besser gesagt: die Einschränkung der einseitigen Ausrichtung auf Spracherwerb. Ich bin nämlich der Meinung, daß die meisten von uns im Umgang mit Kleinkindern zu schnell mit der Benennung von Dingen bei der Hand sind. Wenn wir nämlich auf die Frage «Was ist das?» lediglich den Gegenstand, auf den das Kind dabei zeigt, beim Namen nennen und es dabei belassen, geben wir ihm zu verstehen, daß die Bezeichnung, das Etikett das wichtigste sei und daß es genüge, das Ding zu benennen. Wenn wir auf eine solche Frage die Dinge der gegenständlichen Welt nur etikettieren und kategorisieren, berauben wir unsere Kinder jeder Fähigkeit kindlichen Staunens und der Ent-
deckerfreude. Ein Beispiel: Anstatt einen Baum einfach «Baum» zu nennen, geben Sie Ihrem Kind die Möglichkeit, den Baum mit allen Sinnen zu erforschen — ihn zu betasten, an ihm zu riechen, ihn aus den verschiedensten Perspektiven anzuschauen, ihn mit anderen Bäumen zu vergleichen, sich das Innere des Baumes und die Wurzeln unter der Erde vorzustellen, dem Rauschen der Blätter zuzuhören. Lassen Sie das Kind den Baum mehrmals am Tag und zu verschiedenen Jahreszeiten betrachten, seine Früchte einsammeln und aussäen, lassen Sie es beobachten, welche anderen Geschöpfe - Vögel, Motten, Käfer - den Baum bewohnen und so fort. Nachdem es entdeckt hat, wie faszinierend und vielgestaltig jedes Ding ist, wird dem Kind aufgehen, daß das Etikett nur ein kleiner Teil des Ganzen ist. Wenn es diese Erfahrung gemacht hat, wird es seine Fähigkeit zu staunen bewahren — sie wird nicht unter den Wortlawinen unserer modernen Zeit verschüttet. Zur Förderung auch der künstlerischen Fähigkeiten Ihres Kindes empfiehlt es sich, ihm schon in frühestem Alter eine Fülle von Material zu geben und es reichlich mit Wahrnehmungserfahrungen nach Art der soeben beschriebenen zu konfrontieren. Die Kunst Ihres Kindes wird etwa die vorhersehbaren, von mir beschriebenen Entwicklungsstufen durchlaufen. Wenn Ihr Kind Sie beim Zeichnen um Hilfe bittet, fordern Sie es auf, sich gemeinsam mit Ihnen den Gegenstand, den es zeichnen will, genau anzuschauen. Es wird die neuen Wahrnehmungen in sein Symbolsystem eingliedern. Lehrer und Eltern können auch den Heranwachsenden bei ihren von mir an früherer Stelle erörterten künstlerischen Problemen Hilfestellung leisten. Wie erwähnt, machen alle Kinder im Alter von etwa zehn Jahren eine «realistische» Phase durch. Sie wollen sehen lernen, und sie haben Anspruch auf die Hilfe, die sie fordern. Die in diesem Buch angeführten Übungen — einschließlich der Informationen über die Funk-
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tionen der beiden Hemisphären, wenn Sie sie ein Wenig vereinfachen — können schon von Zehnjährigen bewältigt werden. Es sollten vor allem Bilder von Gegenständen, für die sich das Kind in dieser Phase besonders interessiert, auf den Kopf gestellt abgezeichnet werden. Auch das Konturenzeichnen und das Zeichnen des leeren Raums machen Kindern in diesem Alter Spaß. Bereitwillig machen sie von diesen Techniken beim Zeichnen Gebrauch (vgl. die Abbildung unten). Besonders beliebt bei dieser Altersgruppe ist das Porträtzeichnen, und so sind Jugendliche im Porträtieren von Freunden und Familienangehörigen meist recht geschickt. Haben sie einmal ihre Angst vor dem Mißlingen überwunden, scheuen sie keine Anstrengung, ihr Können zu vervollkommnen, und ihr Erfolg wiird ihr Selbstvertrauen stärken. Doch wichtiger noch für die Zukunft ist, daß das Zeichnen, wie Sie es durch die in diesem Buch beschriebenen Übungen gelernt haben, ein effektiver Weg ist, Zugang zu den Funktionen der rechten Hemisphäre zu finden und sie unter Kontrolle zu bringen. Kinder, die durch Zeichnen sehen lernen, haben die Chance, als Erwachsene beide Gehirnhälften bewußt nutzen zu können.
Für
Kunststudenten
Viele Maler unserer Zeit sind der Meinung daß die Fähigkeit, naturgetreu zu zeichnen, unwichtig sei. Allgemein gesehen trifft es sicher zu, daß in der zeitgenössischen bildenden Kunst da zeichnerische Können keine unbedingt notwendige Voraussetzung für das bildnerische Schaffen darstellt, und so manches moderne Kunstwerk trägt die Signatur eines bedeutenden Künstlers, der überhaupt nicht zeichnen kann Ich vermute, daß sie diese Fähigkeit besitzen weil sie ihre ästhetische Sensibilität mit anderen Mitteln als denen der traditionellen Kunstschulen — vor allem durch das Zeichnen nach einem Modell sowie von Stilleben und Landschaften ausgebildet haben. Da so viele zeitgenössische Künstler das Zeichnen als überflüssig abtun, gerät der Anfänger leicht in eine Zwickmühle. Nur wenige ernsthaft bemühte Studenten sind von ihren kreativen Fähigkeiten und ihren Erfolgsaussichten in der Welt der Kunst so fest überzeugt, daß sie auf jegliche künstlerische Ausbildung verzichten zu können glauben. Wenn sie in Galerien und Museen den Werken der modernen Kunst begegnen —jener Kunst, deren Schöpfer
Zeichnungen eines Schülers der vierten Klasse: Entwicklung innerhalb von drei Unterrichtsstunden.
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auf alle traditionellen Fertigkeiten zu verzichten scheinen - beschleicht sie das Gefühl, daß das Lernen nach traditionellen Schulen für sie keinen Sinn hat. Um aus dieser Zwickmühle auszubrechen, unterlassen sie es oft, wirklichkeitsgetreu zeichnen zu lernen, und legen sich so bald wie möglich auf einen engen Kunststil, auf eine bestimmte «Richtung» fest. Sie eifern modernen Künstlern nach, die häufig einen einzigen, leicht nachahmbaren, sofort als «Signatur» zu erkennenden Stil pflegen. Der zeitgenössische englische Maler David Hockney betrachtet solche Einengung der künstlerischen Möglichkeiten als Falle (vgl. das Zitat im ersten Kapitel). Für Kunststudenten ist die frühzeitige Festlegung mit Sicherheit gefährlich; zu oft verpflichten sie sich dadurch auf die Variation einer beschränkten Zahl von Motiven. Sie versuchen, mit den Mitteln ihrer Kunst Aussagen zu machen, bevor sie überhaupt wissen, was sie sagen wollen. Auf Grund meiner pädagogischen Erfahrungen mit angehenden Künstlern von unterschiedlichstem darstellerischem Niveau möchte ich allen Studierenden auf dem Gebiet der Kunst, insbesondere allen Anfängern, einige Empfehlungen geben. Erstens: Haben Sie keine Angst davor, naturgetreu zeichnen zu lernen. Noch nie sind die schöpferischen Kräfte durch dieses zeichnerische Können, der Grundlage aller Kunst, blockiert worden. Nicht nur Picasso, der virtuos zeichnen konnte, sondern unzählige weitere große Künstler können hier als Beispiel und Beweis für diese Behauptung angeführt werden. Bei weitem nicht alle Künstler, die zeichnen können, bringen langweilige und «unkünstlerische» naturalistische Bilder hervor. Und diejenigen, auf die diese Kritik zutrifft, würden auch dann öde, eintönige und pedantische Bilder «produzieren», wenn sie sich der abstrakten
oder nichtgegenständlichen Kunst widmeten. Ihr zeichnerisches Können wird Sie in Ihrer Arbeit niemals behindern, im Gegenteil, es wird ihr förderlich sein. Zweitens: Versuchen Sie sich klarzumachen, warum das Zeichnenkönnen so wichtig ist. Das Zeichnen versetzt Sie in die Lage, mit den Augen des Künstlers zu sehen. Ihr Ziel ist die unverstellte Begegnung mit der Realität Ihrer Erfahrungen. Immer bewußter, immer tiefer werden Sie Ihre Umwelt erfassen. Gewiß kann man seine ästhetische Sensibilität auch auf andere Weise entfalten, zum Beispiel durch Meditieren, Lesen oder Reisen. Doch meiner Meinung nach sind diese anderen Weg für einen Künstler riskanter und weniger effektiv. Als bildender Künstler werden Sie sich (höchstwahrscheinlich) visueller Ausdrucksmittel bedienen, und Zeichnen schärft das visuelle Gespür. Und schließlich: Zeichnen Sie jeden Tag. Es spielt keine Rolle, welches Sujet Sie wählen — es kann ein Aschenbecher sein, ein angebissener Apfel, ein Mensch, ein Zweig. Ich erinnere damit noch einmal an meine Empfehlung im vorigen Kapitel, weil sie für Kunststudenten besonders wichtig ist. Mit der Kunst ist es in gewisser Weise ähnlich wie mit Gymnastik oder Sport: Wenn Sie nicht täglich üben, wird Ihr visuelles Gespür bald nachlassen. Zweck des Zeichnens ist nicht, irgendwelche Linien auf dem Papier erscheinen zu lassen — ebensowenig, wie es der Zweck des Joggens ist, an ein bestimmtes Ziel zu gelangen. Üben Sie Ihren Blick, ohne sich allzu viele Gedanken darüber zu machen, was für ein Ergebnis dabei herauskommt. Hin und wieder können Sie Ihre besten Zeichnungen aussortieren und die übrigen wegwerfen — oder sogar alle, wenn Sie wollen. Zeichnen Sie jeden Tag. Ihr Ziel ist, die Wirklichkeit immer bewußter wahrzunehmen.