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Hans-Georg Gadamer (1900-2002) gehört zu den bedeutendsten Vertretern der Philosophie des 20. Jahrhunderts. Worin...
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Hans-Georg Gadamer (1900-2002) gehört zu den bedeutendsten Vertretern der Philosophie des 20. Jahrhunderts. Worin besteht eigentlich seine philosophische Hermeneutik? Wie entwickelt und verändert sie sich im Laufder Jahre? Aufeinfache und bündige Weise schildert Donatella Di Cesare Gadamers Leben und geht allen Etappen seines Denkens nach.
ISBN 978-3-16-149946-3
Donatella Di Cesare
GadamerEin philosophisches Porträt
Mohr Siebeck
DoNATELLA Dr CESARE, geboren 1956; Studium in Rom, Tübingen und Heidelberg; ordentl. Professorin für Philosophie an der Universität "La Sapienza" in Rom.
ISBN 978-3-16-149946-3 Broschur ISBN 978-3-16-149539-7 Leinen Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliographie; detaillierte bibliographische Daten sind im Internet über http://dnb. d-nb. de abrufbar.
© 2009 Mohr Siebeck Tübingen. Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Die italienische Originalausgabe erschien 2007 unter dem Titel Gadamer bei Socictit editrice il Mulino in Bologna. Das Buch wurde von Computersatz Staiger in Rottenburg/N. aus der Stempel-Garamond gesetzt und von Gulde-Druck in Tübingen auf alterungsbeständiges Werkdruckpapier gedruckt. Umschlagentwurf von Uli Gleis in Tübingen unter Verwendung eines Fotos auH dem Besitz der Autorin: Gadamer in Boston, MA, USA, vermutlich im Jahr 1983.
Vorwort Nach Gadamers Ableben im März 2002 hat jeder seiner letzten Schüler auf eigene Weise die Trauer verarbeitet, die Erinnerung aufbewahrt, das innere Geapräch mit dem Lehrer fortgesetzt und den eigenen Weg zur Autonomie eingelchlagen. Der Abschied ist für mich dieses Buch: ein philosophisches Porträt, das von jenem Abstand zehren soll, der kritische Klarheit und Nüchternheit erlaubt. Bei der Suche nach akkuraten und genauen Zügen habe ich selbst das Buch auf Deutsch geschrieben - in der Sprache, die mich an Gadamer gebunden hat. Von Anfang an hat Günter Figal diese Ausgabe befürwortet. Unaufhörlich war die Unterstützung von Georg Siebeck in der Zeit der Vorbereitung. Die letzte Fassung des Textes wurde mit wachem Verständnis von Volker Rühle und Sibylle Gausing revidiert. Dank gebührt der Alexander von HumboldtStiftung, die der Verfasserio Zeit zur Forschung und zum Nachdenken ge-
wlhrte. Die Leserinnen und Leser behalten das letzte Wort, das wohl die ersten neuen Fragen hervorrufen wird.
Iom, im Dezember 2008
Donatella Di Cesare
Inhaltsverzeichnis Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
V
Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
1
I. Kapitel: Ein Leben durch ein Jahrhundert .................... ; . . . .
5
1. 2. 3. 4. 5. 6. 7. 8. 9. 10. 11. 12.
Der Himmel über Breslau . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Marburg und die Philosophie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ein strenger Lehrer: in der Schule Martin Heideggers . . . . . . . . . . . . . . Platon in der Zukunft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . "Ein schreckliches Erwachen" . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . In Deutschland während des Nationalsozialismus . . . . . . . . . . . . . . . . . "Daß wir leben, ist unsere Schuld" . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Leipzig, der Krieg und das Rektorat . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Ruhe von Heidelberg . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
5 6 8 12 15 17 25 31 34 Wahrheit und Methode . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 37 Die Hermeneutik in der Welt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 38 Die letzten Jahre. Zwischen Erfolg und Einsamkeit . . . . . . . . . . . . . . . . 41
/1. Kapitel: Das Ereignis der Wahrheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 44 1. Wider die Methode? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Wenn Verstehen wie Atmen ist . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Die Wiederentdeckung Vicos. i Humanistische Kultur und hermeneutischer Sinn . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Der "Einschnitt" Kants. Von der Ästhetik des Geschmacks zur Ästhetik des Genies . . . . . . . . . . 5. Übermacht der Wissenschaft und Irrealität der Kunst. Das ästhetische Bewußtsein . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
44 46 48 52 56
V111
lnh.dtwc'l 'lc'1cln11'
II/. 1\',tpit cl: In der Kunst verweilen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. 2. 3. 4. 5. (,,
7. H. 9. I 0. ll. 12.
Zu einer Plü nomenologie des Spiels . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Üher die Verwandlung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Zwischen Mimesis und Anamnesis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Zeit der Kunst . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Das Beispiel der Tragödie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Der Seinsvorgang der Darstellung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Okkasionalität der Kunst . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Spiel, Kunst, Fest . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ,,So ist es!" Die Kunst und ihre Wahrheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Transzendenz des Schönen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . l>i"· Literatur und das Lesen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ästhetik und Hermeneutik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
59 59 62 64
66 68 69
73 75 77 79 82 83
I V. Kapitd: Unterwegs zu einer philosophischen Hermeneutik . . . . . . . .
84
I. Rückhlick auf eine Disziplin . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. I >il· Kongenialit~it des Vcrstchcns. Welcher Schleiermacher? . . . . . . . . . 3. l>ic.· K ritnk heit des historischen Bewußtseins und die Aporil·n Dihheys . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. llussc.·rl und die hermencutisehe Wende der Phänomenologie . . . . . . . . ~. lll·rnu•nl'Utik dl•r Faktizität. Über Heidegger hinaus . . . . . . . . . . . . . . .
84
87 91 96 99
V. Kttpitco/.· Die Konstellation des Verstehens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 104 I. I >as Vl·rstehen zwischen Zirkeln und Spiralen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.. A lies Verstehen ist am Ende ein Sichverstehen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. l>er "Voq;riff der Vollkommenheit" . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Wir sind Zerrspiegel. Über Vorurteile........................... 5. Die Stimmen der Tradition . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6. Die blinde Arbeit der Geschichte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. . . . 7. Verstehen heißt Anwenden ..................................·. . H. Die exemplarische Praxis der juristischen Hermeneutik . . . . . . . . . . . 9. Die Kreativität der Anwendung und die Einheit der hermeneutischen Disziplinen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10. Der Zauberkreis der Hegeischen Reflexion und der Rest der Endlichkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11. "Überrumpelungsversuche" gegen die Philosophie: die Vorwürfe von Relativismus und Selbstwiderspruch . . . . . . . . . . . . 12. Die Grenze erfahren. Die ()ffenheit des hermeneutischen Bewugtseins . . . . . . . . . . . . . . . . .
104 107 110
111 114 117 122 123 125 126 128 131
Jnh•ltst~trzeichnis
IX
VI. Kapitel: Eine lebensnahe Ethik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 136 1. 2. 3. 4. 5.
Ist eine philosophische Ethik möglich? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Phr6nesis. Vernünftig handeln . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Einheit von Theorie und Praxis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die technische Rationalisierung des Lebens. Über die Heilkunst . . . . "Denken in Utopien". Der Philosoph und die Polis.. . . . . . . . . . . . . . . .
136 140 145 147 150
VI I. Kapitel: Die Verborgenheit des Sokrates. Philosophische Hermeneutik und griechische Philosophie.............
155
1. Wir die Griechen- sie die Modernen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Über die Sprache der Metaphysik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
155 157 159 162 165 173 177
3. 4. 5. 6. 7.
Parmenides und Heraklit. Der Logos der Sterblichen . . . . . . . . . . . . . . . Sokrates, die Philosophie und die Unsterblichkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . Platons aporetische Dialektik: Zwischen dem Einen und der Zweiheit Hegel, die Dialektik und die Hermeneutik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Apodiktik und der Ausschluß des Anderen. Über Aristoteles . . . .
VIII. Kapitel: Der Horizont des Gesprächs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 180 1. Die Sprachvergessenheit in der abendländischen Tradition. Platon, Augustin, Humboldt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Die Stimme des Anderen und die Schrift. Auf Derrida hören . . . . . . . 3. Am Anfang ist die Frage. Gegen die Analytik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Die spekulative Dialektik des Wortes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5. Sein, Verstehen, Sprache . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6. Die Grenzen der Sprache . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7. Das Gespräch, das wir sind . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8. Verstehen, Interpretieren, Übersetzen. Wo die Hermeneutik mißverstanden wird . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9. Spiel und Gespräch. Die Begegnung mit Wittgenstein . . . . . . . . . . . . . 10. Die Verschiedenheit der Sprachen und die Zukunft Europas . . . . . . . . 11. Paul Celan. Zwischen Gedicht und Gespräch. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12. Das Ritual und die Reziprozität der Sprache . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
180 188 193 196 198 199 202 205
209 213 216 220
I X. Kapitel: Hermeneutik als Philosophie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 223 1. 2. 3. 4.
Die Kinder und die Zukunft der Philosophie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ~2~ Abschied von der Metaphysik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 226 Hermeneutik der Endlichkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 227 Zwischen Platon und Hegel. Das Unendliche zurückgewinnen . . . . . . 229
X 5. Hermepeutisch-Sein. Über die Wachsamkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 233 6. Die Grenze, die der Andere ist . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 234 7. Der unendliche Dialog . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 236
X. Kapitel: Den Dialog fortsetzen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 239 1. Wenn eine Philosophie zur Koine wird . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
2. 3. 4. 5. 6.
239 Hermeneutik und Ideologiekritik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 249 Hermeneutik und Neopragmatismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 255 Hermeneutik und Dekonstruktion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 258 Hermeneutik oder Nihilismus? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 265 Hermeneutik des Anderen. Neue Perspektiven . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 271
Zeittafel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
277
Literaturverzeichnis
283
Personenregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
311
Sachregister ..................................................... 319
Einleitung Der Name Hans-Georg Gadamers ist eng mit der philosophischen Hermeneutik verbunden. Wie nur wenige andere zeitgenössische Strömungen hat die Hermeneutik einen Einfluß ausgeübt, der weit über die Grenzen der Philosophie hinausgeht und in seiner Tragweite und Tiefe nicht zu ermessen ist. Kaum einer der Bereiche der sogenannten humanities, von der Ästhetik bis zur Literaturwissenschaft, von der Theologie bis zur Jurisprudenz, von der Soziologie bis zur Psychiatrie entbehrt heute eines hermeneutischen Substrats. Nicht einmal das epistemologische Denken ist ihr gegenüber neutral geblieben. Noch schwieriger ist es, die breitgefächerte internationale Wirkung der Hermeneutik innerhalb der Philosophie einzuschätzen. Gadamer ist nicht nur ein Zeuge, sondern auch ein Gesprächspartner der wichtigsten philosophischen Richtungen des letzten Jahrhunderts gewesen. Über die Ergebnisse der jeweiligen Auseinandersetzungen hinaus hat seine Offenheit die Verbreitung der Hermeneutik sowohl in den europäischen Ländern als auch in Amerika befördert. Durch diesen Erfolg ist die philosophische Hermeneutik allgemein zum Synonym der "kontinentalen Philosophie" geworden. Gadamer ist eine große Anzahl von Büchern, Aufsätzen, Dissertationen, Kongressen, Debatten und sogar Filmen gewidmet worden. Sein Hauptwerk Wahrheit und Methode wurde in dreizehn Sprachen übersetzt, wobei neben englisch, französisch, spanisch und italienisch vor allem auch russisch, chinesisch und japanisch zu nennen sind. Wenige andere Philosophen waren so sehr auf der öffentlichen Bühne präsent, haben sich so häufig zu den unterschiedlichsten und aktuellsten Themen zu Wort gemeldet. In einer immerunphilosophischer werdenden Epoche hat Gadamer die Notwendigkeit der Philosophie als kritische Wachsamkeit und als bedingungslose Freiheit des Fragens bezeugt. Aber die Schwierigkeit, eine Monographie zu seiner Philosophie zu schreiben, liegt nicht nur darin, von dieser Reichweite ihrer Wirkungen Rechenschaft zu geben. Im Lauf seines langen Lebens hat Gadamer sehr viel geschrieben, wie die zehn Bände seiner Gesammelten Werke belegen. Selbst Wahrheit und Methode, das mühevoll erreichte Ziel, stellt nur eine, wenn auch wichtige Etappe auf seinem Weg von der Phänomenologie zur Dialektik dar. Die Fülle dessen, was er später in mehr als vierzig Jahren hervorgebracht hat, sollte darüber keineswegs vernachlässigt oder gar ignoriert werden, will man die reiche Entfaltung und Differenzierung seiner philosophischen Besinnung nicht allzusehr verengen.
2 Die Relevanz, die man gewöhnlich Wahrheit und Methode zuerkennt, hat nicht nur die nachfolgenden, sondern auch die vorangehenden Schriften in den Schatten gestellt. Damit ist vor allem die entscheidende Rolle in den Hintergrund gerückt, welche die griechische Philosophie für die Hermeneutik gespielt hat. Denn von ihr finden sich nur wenige Spuren in Wahrheit und Methode, einem Werk, in dem eher die Sorge überwiegt, eine hermeneutische Philosophie zu entwerfen, die ihre eigenständigen Konturen sowohl gegenüber der klassischen Hermeneutik als auch der Heideggerschen Hermeneutik der Faktizität gewinnt. Gleichwohl hat Gadamer selbst seine Arbeit Platos dialektische Ethik sowie die Studien über das griechische Denken als "den besten und originellsten Teil" seiner philosophischen Tätigkeit betrachtet.• Überblickt man die Gesamtentwicklung seiner Philosophie, so kann man sagen, daß Gadamers Hauptwerk vielleicht jenes Buch über Platon ist, das er nie geschrieben hat. Gewiß hätte er auch gern einen vollendeterenBand veröffentlicht als jenen, der unter dem Titel Hegels Dialektik erschienen ist, und ebenso gern hätte er den vielen Aufsätzen eine ausgearbeitetere Form gegeben, die er Heidegger gewidmet hat- es sind mehr als zwanzig-, und die nur zum Teil in den Band Heideggers Wege eingegangen sind. Hier zeichnet sich eine weitere Schwierigkeit ab, die eine Monographie zu Gadamer keineswegs verschweigen darf, nämlich seine gequälte und selbstquälerische Beziehung zum Schreiben. Um seine sokratische Unduldsamkeit gegen die Schrift zu umgehen, hat er bis in seine IetztenJahre hinein die Form der Vorlesung, des Vortrags oder der Debatte gewählt. Es ist sicher nicht übertrieben zu sagen, daß alles, was er geschrieben hat, bis auf wenige Ausnahmen der Niederschlag des mündlichen Gesprächs ist. Dieser Hang zum Gespräch spiegelt sich auch in seinem Stil wider. Seine Texte, vor allem die der letzten Periode, sind in einem luziden und effektvollen Stil verfaßt, der sie für ein breites Publikum verständlich macht. Zweifellos leiden seine Texte auch unter dem Übergang von der mündlichen zur geschriebenen Form. Doch seine Schreibweise ist ständig darum bemüht, die Alltagssprache zu befragen und sich jeder starren Terminologie zu entziehen. Ohne begrifflich unpräzise zu sein, hätte doch alles, was Gadamer sagt, auch anders gesagt werden können. Deshalb ist jeder seiner Texte offensichtlich unvollendet. Aber diese Unvollendetheit, die durchaus Irritationen hervorrufen kann, ist für Gadamer kein Mangel. Er vertritt sie im Gegenteil auch theoretisch. Deshalb ist diese Schwierigkeit, genauer betrachtet, gar keine Schwierigkeit, und seine Unduldsamkeit gegenüber der Schrift wird ihm nicht nur von persönlichen, sondern auch von philosophischen Gründen diktiert. Es ist unmöglich anzugeben, wo jene in diese übergehen, da Gadamers Philosophie das Zeichen HANS-GEORG GADAMER, Prefazione all'cdizione italiana, in: DERS., Studi platonici, hrsg. von Giovanni Morctto, Torino: Marietri l'J83, XI-XX, hier X I. 1
Einleitung
3
seiner Individualität trägt. Die Wahl des mündlichen Gesprächs ist daher keineswegs willkürlich. Man kann von "philosophischen Texten'c nicht in derselben Weise reden, wie man es von "literarischen Texten" tut. Denn der philosophische Text, dessen begriffliche Fixiertheit letztlich in die Nähe der metaphysischen Starrheit tendieren würde, fängt durch das Wort, das ihn befragend auslegt, wieder neu an zu sprechen. Daher ist das mündliche Gespräch für Gadamer die Form der Philosophie. In ihm tritt die sokratische Inspiration derphilosophischen Hermeneutik hervor. Dieser Inspiration ist Gadamer treu geblieben, nicht nur, um konsequent zu sein, sondern weil es ihm gar nicht anders möglich gewesen wäre. Wenn Heidegger es zum Philosophieren nötig hatte, sich in den Schwarzwald zurückzuziehen, so hatte Gadamer es nötig, durch die Agora zu gehen und sich von der Begegnung mit den Anderen überraschen zu lassen. Er konnte ohne einen Gesprächspartner, ohne die Dialektik von Frage und Antwort nicht denken. Die Anstrengung des Begriffs war für ihn ohne das Wort des Anderen unfaßbar. Eben darum kann seine Philosophie nicht umhin, sich von dem Gespräch, dem sie entsprungen ist, prägen zu lassen, sie kann nicht umhin, je nach dem Gesprächspartner, der Situation und dem Thema immer anders zu sein. Denn die "hermeneutische Philosophie", so schrieb er, "versteht sich [...] nicht als eine ,absolute' Position, sondern als ein Weg der Erfahrung. Sie besteht darauf, daß es kein höheres Prinzip gibt als dies, sich dem Gespräch offenzuhalten." 2 Dies ist wohl nur einer Philosophie der Endlichkeit möglich, die sich ihrer Endlichkeit bewußt ist und doch nicht auf das Unendliche verzichtet, ja aus dem unendlichen Gespräch geradezu die Form des eigenen Philosophierens macht. Ohne dabei die Bedeutung von Wahrheit und Methode vermindern und noch weniger den Wert der veröffentlichten Schriften herabsetzen zu wollen, gilt es jedoch hervorzuheben, daß sich Gadamers Philosophie nicht in ihren schriftlichen Formen erschöpft. Dies bedeutet allerdings nicht, daß es esoterische Lehrstücke gäbe. Was aber Gadamer von Platon sagt, läßt sich auch von Gadamer selbst sagen: Alles in seiner Philosophie ist "protreptisch", alles weist über sich hinaus. Da nichts definitiv sein kann, soll die philosophische Forschung stets offen bleiben, sich nicht festlegen und keine systematische Form annehmen, am wenigsten in den Grenzen eines geschriebenen Textes. Daher verweist sie nicht nur auf das mündliche Gespräch, sondern auf das gelebte Leben überhaupt sowie auf die Entscheidungen des Philosophen. Wer Gadamer gekannt hat, weiß, wie wahr dies ist, und auch, wie schwer und zugleich notwendig es ist, dies alles in einer Monographie wiederzugeben. GADAMER, Selbstdarstellung- Hans-Georg Gadamer ::-11.2.1900 (abgeschlossen 1975), in: Hermeneutik II. Wahrheit und Methode. Ergänzungen. Register, Gesammelte Werke (im folgenden: GW), Band 2, 478-508, hier 505. 2
Philosophie war für ihn niemals ein Beruf. Der intensiven Verbindung von Theorie und Praxis entsprechend, durch die sich die Hermeneutik leiten läßt, ist alles, was er sagte, was er tat, wie er sich verhielt, eines. Diese Monographie wird daher den Anspruch der sokratischen Harmonie von Logos und Ergon, von Wort und Tat, aufnehmen, um die Einheit seiner Philosophie hervortreten zu lassen- dies jedoch in dem Bewußtsein, daß trotz des inzwischen erworbenen Abstands jedes Porträt eine Idealisierung ist.
I. Kapitel
Ein Leben durch ein Jahrhundert Wer philosophiert, ist mit den Vorstellungsarten seiner Vor- und Mitwelt uneins, und so sind die Gespräche des Plato oft nicht allein auf etwas, sondern auch gegen etwas gerichtet. 1
1. Der Himmel über Breslau Hans-Georg Gadamer wurde am 11. Februar 1900 in Marburg geboren. Sein Vater war ein namhafter Professor für pharmazeutische Chemie; zutiefst überzeugt vom wissenschaftlichen Fortschritt, war er, nach Aussagen des Sohnes, autoritär "schlechtester Art und bester Absicht;" 2 1902 wurde er als Ordinarius nach Breslau im heutigen Polen berufen, wo Gadamer seine gesamte Kindheit und Jugendzeit verbrachte. Seine Mutter, Emma Caroline Johanna Gewiese (1869-1904), starb mit nur 35 Jahren im Frühling 1904. Von ihr sollte der Sohn, der sie kaum noch kannte, die Neigung zur Musik, die Leidenschaft für die Kunst und die Liebe zur Literatur in Erinnerung behalten. Die Jahre in Breslau verliefen finster und bedrückt in der grauen Atmosphäre des väterlichen Hauses; sie waren von den Errungenschaften der Technik geprägt, durch die sich das neue Jahrhundert ankündigte. Auf den Straßen der Stadt fuhren die ersten Autos neben den Pferdekutschen herum. Langsam löste das elektrische Licht die Gasbeleuchtung ab; die ersten Kinos wurden eröffnet, das Telefon installiert. Der Zeppelin durchquerte den Himmel über Breslau. Doch der Untergang der Titanic verursachte 1912 den großen Zivilisationsschock, der das optimistische Vertrauen in die Technik zu unterminieren begann. 3 Gadamer besuchte das örtliche renommierte Gymnasium Zum Heiligen
HANS-GEORG GADAMER, Plato und die Dichter (1934), in: Griechische Philosophie I, GW 5, 187-211, hier 187. 2 GADAMER, Philosophische Lehrjahre. Eine Rückschau, Frankfurt am Main: Klostermann 1977, 9. 3 Vgl. GADAMER, Die Vielfalt Europas. Erbe und Zukunft, in: Das Erbe Europas, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1989, 7-34, hier 8, sowie das Zeugnis Ernst Jüngers, in ANTONIO 1
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Klitssiker,
die Literatur und die Lyrik. Obwohl Brcslau eine ruhige Provinzstadt war, weit abgelegen von der Front, wurden die Auswirkungen des Ersten Weltkriegs bald spürbar. Aus seinen Wirren ging Deutschland wirtschaftlich gebrochen, politisch unstabil, desillusioniert und gequält von einer großen Orientierungsnot hervor. Im Frühling 1918 schrieb sich Gadamer an der Universität ein. Im ersten Semester schien er noch zwischen den verschiedensten geisteswissenschaftlichen Fächern zu schwanken: Germanistik, Kunstgeschichte, Psychologie, Geschichte und Orientalistik. Aber im zweiten Semester fing er an, die Vorlesungen der Neukantianer Eugen Kühnemann (1868-1946), Julius Guttmann (1880-1950) und Richard Hönigswald (1875-1947) zu hören. Es war dieser letztere, der ihn zur Philosophie hin drängte. Zugelassen zu einem Hauptseminar über Sprachphilosophie, das Hönigswald für die Studenten des letzten Jahres abhielt, stellte Gadamer dort eine Frage über den Unterschied zwischen Zeichen und Wort, die ihm eine unerwartete Lobrede einbrachte, ihn in seiner Selbsteinschätzung bestärkte und ihm gewissermaßen den Weg zur Philosophie bahnte. 4 In jenen Jahren erfolgte die Begegnung mit neuen Ideen auch für ihn, wie für viele andere seiner Generation, durch die Lektüre der Betrachtungen eines Unpolitischen von Thomas Mann (1875-1955) und durch die Kulturkritik des George-Kreises, der sich um Stefan George (1868-1933) gebildet hatte.
2. Marburg und die Philosophie Im Oktober 1919 siedelte Gadamer mit der Familie nach Marburg über, wo der Vater- Johannes Gadamer (1867-1928)- einen neuen Lehrstuhl erhalten hatte und 1922 Rektor wurde. Durch eine glückliche Fügung war in dieser Universitätsstadt das Beste der deutschen Kultur vereint. Es genügt, nur einige Namen in Erinnerung zu rufen: Ernst Robert Curtius (1886-1956) für Romanistik, Rudolf Bultmann {1884-1976) für Theologie, Richard Hamann (1879-1961) für Kunstgeschichte, Paul Natorp (1854-1924) und Nicolai Hartmann (1882-1950) für Philosophie. Aus dieser Fügung wußte Gadamer Vorteil zu ziehen, dank jener Fähigkeit zuzuhören, die ihn schon damals auszeichnete. Die zwanzig Jahre von 1919 bis 1938, die er in dieser Universitätsstadt verbrachte, waren wichtig für seine intellektuelle Bildung und entscheidend für sein philosophisches Denken. GNou/FRANCO VoLPI, Die kommenden Titanen. Gespräche mit Ernst Jünger, Wien: Karolinger 2002, 17-20. 4 Vgl. GADAMER, Zu einem Brief von Hönigswald an Gadamer vom 22.12.1919, in: WoLFDIETRICH ScHMIED-KowARZIK (Hrsg.), Erkennen- Monas- Sprache. Internationales Richard-Hönigswald-Symposium (Kassel 1995). Studien und Materialien zum Neukantianismus Band 9, Würzhurg: Königshausen & Neumann 1997, 455-461, hier 455.
1.
M~tr/Jurg
und die: Philosophie
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Auf die Marburger Zeit geht auch die Begegnung mit dem George-Kreis zurück. Eingeführt wurde er von dem Romanisten Curtius, der damals auch seine Lektüren stark beeinflußte. Eine verächtliche Abkehr von der dekadenten Zivilisationswelt war der Hauptzug des Kreises, der durch die charismatische "Führung" Georges dominiert und von eisernen esoterischen Gesetzen geregelt war. 5 In Marburg drehte sich seine Tätigkeit um den Wirtschaftshistoriker Friedrich Wolters (1876-1930), der dort von 1920 bis 1923 lehrte. Zusammen mit seinem Freund, dem Dichter Oskar Schürer (1892-1949), besuchte Gadamer für eine gewisse Zeit Wolters' Seminare, wo er unter anderem die Bekanntschaft von Hans Anton machte. Dabei wurde er später auch Zeuge der tragisch endenden Beziehung, die Anton mit dem Schriftsteller und Literaturkritiker Max Kommerell (1902-1944) verband. Da Gadamer eigentlich nur vom Vorrang der dichterischen Wahrheitserfahrung angezogen wurde, hielt man ihn aus dem Kreis fern, in dem nicht nur die Wissenschaft, sondern auch die Philosophie immer stärker verfemt wurde. Ein noch härteres Schicksal wurde Kommerel zuteil, der durch seine Distanzierung zu beweisen versuchte, daß man George und seine Dichtung auch außerhalb des Kreises bewundern konnte. Als Gadamer mit seinem Philosophiestudium begann, war Marburg vor allem dank des Neukantianismus berühmt. Dessen Begründer Hermann Cohen (1842-1918) war 1912 nach Berlin gezogen, nachdem er für Jahrzehnte im Zeichen einer "Rückkehr zu Kant" gewirkt hatte; er ließ das umstrittene Schicksal der "Marburger Schule" in den Händenzweier anderer Vertreter zurück: Natorp und Hartmann. Sie sollten Gadamers erste Schritte leiten. Gerade Hartmann, der als letzter Vertreter des Neukantianismus galt, läutete gleichsam dessen Ende ein, als er sich im Namen eines "kritischen Realismus" davon distanzierte. Noch relativ jung, war er aber für Gadamer ein Lehrer, ein Freund und in gewissem Sinne auch ein Vater, der ihn mit seiner Zuneigung und seiner Wertschätzung unterstützte. Dem Anschein nach kalt und abweisend, stand Hartmann seinen Schülern doch sehr nahe. Er verstand sehr gut, sein intensives und konzentriertes Arbeiten durch gemeinsame Abendstunden aufzulockern, in denen seine freundliche und tatkräftige Persönlichkeit zum Ausdruck kam. Sein Einfluß auf Gadamer darf nicht unterbewertet werden. 6 Er war es schließlich auch, der ihn dazu brachte, bei Natorp zu proBis jetzt fehlt noch eine Studie, die ausführlich die Wirkung des George-Kreises in der Philosophie nachzeichnet. Ein wichtiges Zeugnis ist: GADAMER, Die Wirkung Stefan Georges auf die Wissenschaft (1983), in: Ästhetik und Poetik II. Hermeneutik im Vollzug, GW 9, 258-270; vgl. auch STEFAN BREUER, Ästhetischer Fundamentalismus. Stefan George und der deutsche Antimodernismus, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1995; CAROLA GROPPE, Die Macht der Bildung. Das deutsche Bürgertum und der George-Kreis 1890-1933, Köln u.a.: Böhlau 1997, vor allem 395-399. 6 Vgl. GADAMER, Selbstdarstel1ung, GW 2, 483. Über Gadamers Beziehung zur Marburger Schule vgl. MIRKO WISCHKE, Die Schwäche der Schrift. Zur philosophischen Hermeneutik Hans Georg Gadamcrs, Köln u.a.: Böhlau 2001, hier 61-71. Zu Gadamer und Natorp 5
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rnovit.•rc.•n. ( ;adanu.·rs I >isst·n.uion /)tu W(•.wn d(•r l.ust in den platonischen f)ialogen blich unvcrüfft·ntlidu; doch in jenen 11(, schlecht geschriebenen und nur mit fünf FuHnotcn versehenen Seiten deutete sich schon jene Idee des "Guten" an, die als Brücke zwischen Platon und Aristoteles seinen künftigen Denkweg orientieren sollte/ Obwohl Hartmann und Natorp zwei diametral entgegengesetzte Gutachten über die Arbeit schrieben, einigten sie sich doch, die Höchstnote zu vergeben.
3. Ein strenger Lehrer: in der Schule Martin Heideggers Unmittelbar nach seiner Promotion im August 1922 wurde Gadamer von einer schweren Form der Kinderlähmung (Poliomyelitis) befallen. Die Krankheit bedeutete eine Zäsur in seinem Leben. Er mußte isoliert in Quarantäne leben, während sich die Rekonvaleszenz durch den ganzen Winter hinzog. In jenen endlosen Monaten las er unter anderem das Werk Jean Pauls und die Logischen Untersuchungen Edmund Husserls (1859-1938). Doch gerade in der Zeit der Lähmung ereignete sich etwas Neues: Natorp lieh ihm ein Manuskript über Aristoteles, geschrieben von einem jungen Assistenten Husserls in Freiburg: Martin Heidegger (1889-1976). 8 Von Heidegger sprach man seit langem und sein Name war auch Gadamer schon zu Ohren gekommen. Mit der Aura des Ruhmes umgeben, wurde er als der "geheime König" der deutschen Philosophie angesehen; so zumindest sollte ihn Hannah Arendt später in ihren Erinnerungen schildern.9 Aber dieser Ruhm stützte sich allein auf die suggestive Kraft seiner Vorlesungen. Denn Heidegger hatte noch kaum etwas veröffentlicht. Deshalb hatte Natorp, der die Absicht vgl. jüRGEN STOLZENBERG, Hermeneutik und Letztbegründung. Hans-Georg Gadamer und der späte Paul Natorp, in: lsTVAN M. FEH ER (Hrsg.), Kunst, Hermeneutik, Philosophie. Das Denken Hans-Georg Gadamers im Zusammenhang des 20. Jahrhunderts, Heidelberg: Winter 2003, 63-74. 7 GADAMER, Das Wesen der Lust nach den platonischen Dialogen (Dissertation, angenommen am 15. Mai 1922 von der Philosophischen Fakultät der Universität Marburg). Vgl. in diesem Band Kap. VI, 2; Kap. VII, 5. 8 Das lange für verschollen gehaltene Manuskript ist 1989 glücklicherweise in dem Nachlaß von Josef König, einem Schuler Georg Mischs, wiedergefunden worden. Vgl. MARTIN HEIDEGGER, Phänomenologische Interpretationen zu Aristoteles (Anzeige der hermeneutischen Situation). Ausarbeitung für die Marburger und die Göttinger Philosophische Fakultät (1922), in: Phänomenologische Interpretationen ausgewählter Abhandlungen des Aristoteles zur Ontologie und Logik, Gesamtausgabe (im folgenden: GA) Band 62, hrsg. von Günther Neumann, Frankfurt am Main: Klostermann 2005,341-415. Vgl. auch GADAMER, I teideggcrs theologischcjugcndschrift, in: Dilthey-Jahrbuch für Philosophie und Geschichte der Geisteswissenschaften 6 (1989), 228-235. '1 ROmGER SAt:RANSKt, Ein Meister aus Deutschland. Heidcggcr und seine Zeit, Münrhcn: I Lmsl'r llJ94, IMl.
J. F.in strenger l.ehrer: in dt.•r Schult.• Martin lleideggt.•rs
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hegte, ihn auf ein Extraordinariat an der Universität Marburg zu berufen, einen Bericht seiner Aristoteles-Arbeiten erbeten. Gadamer war wohl von Natorp in seinem positiven Urteil beeinflußt worden, und sobald es ihm seine Kräfte erlaubten, entschloß er sich, nach Freiburg zu gehen. Er schrieb Heidegger am 27. September 1922 einen Brief, auf den dieser ihm umgehend mit einer Karte antwortete. 10 Dies war der Beginn einer Beziehung, die ein ganzes Leben lang anhielt. Die Begegnung mit Heidegger hinterließ bei Gadamer tiefe Spuren. Sie stellte nicht nur seine bisherigen Errungenschaften in Frage, sondern evozierte auch die ersten Zweifel über eine allzu früh erworbene Selbstsicherheit. 11 Im April1923, immer noch auf dem Wege der Genesung und frisch verheiratet mit der in Breslau geborenen Frida Kratz {1898-1979), siedelte Gadamer nach Freiburg über. Die Universitätsszene der kleinen Stadt war von Husserl dominiert. Nicht zuletzt aus diesem Grund fühlte sich Gadamer verpflichtet, dessen Vorlesungen und Seminare zu besuchen. Für Husserl war es klar, daß der junge Student, der ihm von Natorp empfohlen worden war, eine Arbeit über Aristoteles schreiben sollte. Der Name dieses Philosophen schien, neben dem Etikett "Phänomenologiec', das einzige Band, das Husserl und Heidegger noch vereinte. Doch der Begeisterung für den Assistenten entsprach bald die Enttäuschung über den ordentlichen Professor, der sich in seinen Vorlesungen in langen Lehrmonologen erging- Gadamer wird später einmal von der "Gefahr des Katheders" sprechen.l 2 Fjodor Stepun (1884-1965), einer seiner Studienkollegen, hatte Husserl als einen "wahnsinnig gewordenen Uhrmacherc' bezeichnet, denn bei seinem Vortrag drehte er die rechte Hand in der linken in einer Konzentrationsbewegung, die etwas von dem handwerklichen Präzisionsideal seiner Beschreibungskunst handgreiflich machte. 13 Daher blieb die Phänomenologie für Gadamer vor allem die von Max Scheler (1874-1928), dem er schon 1920 in Marburg begegnet war und den er nie zu bewundern aufhörte. Für das Sommersemester 1923 hatte Heidegger einen Kurs über die Logik vorbereitet; da er jedoch erfuhr, daß ein Kollege den gleichen Kurs abhalten würde, entschied er sich, sein Thema zu ändern, und kündigte einen neuen Titel an: Ontologie. Nur wenig später wurde dieser Titel präzisiert: Hermeneutik der Faktizität. 14 Gadamers erste Begegnung mit Heidegger erfolgte also im Zeichen GADAMER, Sechs Briefe an Martin Heidegger aus der Marburger Zeit. Hans Georg Gadamer zum 100. Geburtstag, 11. Februar 2000.Jahresgabe der Martin-Heidegger-Gesellschaft, Meßkirch: Martin-Heidegger-Gesellschaft 1999, 13. 11 Vgl. GADAMER, Philosophische Lehrjahre, 23. 12 GADAMER, Die Unfähigkeit zum Gespräch (1972), GW 2, 207-215, hier 212. Vgl. auch GADAMER, Erinnerungen an Edmund Husserl, in: HANS RAINER SEPP (Hrsg.), Edmund Husserl und die phänomenologische Bewegung, Freiburg/München: Alber 1988, 13-16, hier 14. 13 GADAMER, Philosophische Lehrjahre, 31. 14 Vgl. das Nachwort der Hcrausgcberin in MARTIN HEIDEGGER, Ontologie (Herme10
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der Hermeneutik. Uoch in diesem Sommersemester wurde Gadamer fast noch mehr von einem anderen Thema angezogcn. 15 Heidegger hielt eine Vorlesung und vier Seminare, von denen eines das sechste Buch der Nikomachischen Ethik behandelte. Der von Aristoteles auf diesen Seiten diskutierte Begriff der phr6nesis sollte Gadamer bis in seine IetztenJahre begleiten. 16 Das Seminar zu Aristoteles bezeichnete den Beginn einer noch engeren Beziehung, die weit über die akademischen Grenzen hinausging: Heidegger lud Gadamer ein, gemeinsam die Metaphysik zu lesen, und dieser Vorschlag erstreckte sich unerwarteterweise auch auf die Zeit der Semesterferien. Vom 29. Juli bis zum 23. August 1923 verbrachte Gadamer, zusammen mit seiner Frau, vier Wochen auf Heideggers Hütte in Todtnauberg. Er folgte dem Lehrer und lernte, Aristoteles "phänomenologische( zu lesen; doch zugleich lernte er auch, mit Aristoteles philosophische Fragen an die eigene Zeit zu stellen. 17 Dies war neben den Seminaren in Freiburg seine "erste praktische Einführung in die Universalität der Hermeneutik." 18 Auch Heidegger hatte, allerdings auf seine Weise, das Bedürfnis, eingeführt zu werden. Der Philosoph aus dem Schwarzwald, der sich nie von Freiburg oder von Baden entfernt hatte, war gerade erst von Natorp nach Marburg berufen worden und nutzte daher die Anwesenheit Gadamers, um mehr über jene Philosophenhochburg zu erfahren. Er war von allem anderen als von friedlichen Absichten inspiriert und nahm, noch vor seinem offiziellen Antritt in Marburg, eine fast schon aggressive Haltung 'gegenüber seinen neukantianischen Kollegen ein. Im Visier hatte er vor allem Hartmann. Am 14. Juli 1923 schrieb er an Karl Jaspers (1883-1969), mit dem inzwischen eine Art von philosophischem Freundschaftsbund entstanden war, von seinen kämpferischen Plänen: Hartmann werde er "die Hölle heiß machen", unterstützt von einem "Stoßtrupp" von 16 Schülern, die er aus Freiburg mitbringe. Einige darunter seien bloße Mitläufer, die anderen aber ernst und tüchtig. 19 Zu den letzteren zählte auch Gadamer, der Freiburg nur ungern verließ. Das Sommersemester hatte ihn definitiv von den "abstrakten Denkübungen unter der Leitung Nicolai Hartmanns" entfernt und auf die von Heidegger eingeschlagenen Wege geführt. 20 Bereits seine allerersten Schriften zeugen davon. In einem Beitrag für die 1924 veröffentlichte Festschrift zu Ehren Naneutik der Faktizität), GA 63, hrsg. von Käte Bröcker-Oitmanns, zweite durchgesehene Auflage, Frankfurt am Main: Klostermann 1995, 113. 15 Vgl. GADAMER, Sechs Briefe an Heidegger aus der Marburger Zeit, 27-32. 16 Vgl. in diesem Band Kap. VI, 2. 17 Vgl. GADAMER, Heidegger und die Griechen (1990), in: Hermeneutik im Rückblick, GW 10, 31-45. 18 GADAMER, Selbstdarstellung, GW 2, 486. 19 Vgl. MARTIN HEIDEGGER/KARL }ASPERS, Briefwechsel. 1920-1963, hrsg. von Walter Biemel und Hans Saner, Frankfurt am Main: Klostermann/München: Piper, 41. 20 GADAMER, Philosophische Lehrjahre, 34.
J. Un strenger l.thrcr: in der SchHle Martin Heidt·ggcrs
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torps formulierte Gadamer seine Zweifel über die Idee eines philosophischen "Systems", das innerhalb des Neukantianismus nahezu ein Dogma war. 21 In seiner Besprechung von Hartmanns Metaphysik der Erkenntnis, die 1924 in der renommierten Zeitschrift Logos erschien, wird der Herkunftsort seines Textes deutlich gedruckt: Freiburg im Breisgau. 22 Obwohl er Hartmanns Annäherung an die Phänomenologie positiv bewertete, hielt er seinen aristotelischen Realismus für nicht radikal genug. Vielmehr verwies er in seiner Besprechung auf die unumgängliche Aufgabe einer "kritischen Destruktion der philosophischen Tradition", womit er Heidegger als die Quelle seiner Überlegungen preisgab. 23 In der langen Auseinandersetzung mit Hartmann wird die rein deskriptive, standpunktfreie Einstellung bestritten: es gibt, so Gadamer, "keine Weise, an die Sache heranzukommen, die nicht durch die Besonderheit des eigenen Standortes entscheidend bestimmt wäre." 24 Das Wort "Hermeneutik" fällt dabei nicht, dennoch sind deren erste Keime sowohl in den Zweifeln an der Systemidee als auch in der Kritik an der Erkenntnistheorie unschwer erkennbar. Die Schwierigkeiten, die jeder neue Anfang bereitet, sind nicht unbeträchtlich. So hatte Gadamer in jenem Wintersemester 1923/24, als er nach Marburg zurückkam -diesmal zusammen mit seinem neuen Lehrer, dessen Assistent er inzwischen geworden war- vor allem das Problem, seinen eigenen Platz innerhalb der komplizierten akademischen Szene zu finden. Er versuchte, in der Beziehung zwischen Hartmann und Heidegger, die sich unvermeidlich immer weiter verschlechterte, zu vermitteln. Während die Studenten in der Mehrzahl zu den Vorlesungen des letzteren gingen, blieben die Vorlesungen des ersteren verwaist. 25 Wenn Heidegger das Katheder betrat, beeindruckte er alle durch seine Konzentrationsfähigkeit, seine Energie und seine Radikalität. "Man kann sich Heideggers Auftreten in Marburg", so erinnert sich Gadamer, "gar nicht dramatisch genug vorstellen." 26 Eine ganze Generation war von ihm fasziniert: Außer Gadamer waren es Philosophen von Rang wie Hannah Arendt (1906Vgl. GADAMER, Zur Systemidee in der Philosophie, in: Festschrift für Paul Natorp zum 70. Geburtstag, Berlin: de Gruyter 1924,55-75. 22 GADAMER, Metaphysik der Erkenntnis. Zu dem gleichnamigen Buch von Nicolai Hartmann, in: Logos 12 (1923/1924), 340-359. Gadamer hat diese beiden Schriften in der Ausgabe seiner Gesammelten Werke nicht veröffentlichen wollen, da er sie für "recht vorlautes Zeug" hielt. Vgl. GADAMER, Selbstdarstellung, GW 2, 483. Meiner Meinung nach trifft dieses Urteil nicht zu, und zwar vor allem im Hinblick auf den Aufsatz Zur Systemidee in der Philosophie; deshalb hatte ich ihm vorgeschlagen, ihn in seiner Sammlung Hermeneutische Wege wieder abdrucken zu lassen. 23 GADAMER, Metaphysik der Erkenntnis, 350. 24 GADAMER, Metaphysik der Erkenntnis, 341. 25 Vgl. KARL LöwiTH, Mein Leben in Deutschland vor und nach 1933. Ein Bericht, Stuttgart: Metzler 1986, 65. 26 GADAMER, Philosophische Lehrjahre, 214; Heidegger und die Sprache (1990), GW 10, 14-30, hier 16 f. 21
12 1975), Karl L6with (1H97-1973), Gerhard Krü~~r (1902-1972), Jacoh Klein (1899-1978) und 1--fansjonas (1903-1993).
Doch Heidegger war ein strenger Lehrer, vor allem nachdem er sich von der übermächtigen Figur Husserls befreit hatte; denn dadurch war es ihm gelungen, ein neues Bewußtsein seiner selbst zu erlangen, und zwar nicht nur seines Wertes sondern auch seiner Fähigkeit, in der Zukunft die deutsche Philosophie orientieren zu können. Dies verdankte er nicht zuletzt dem Werk, das in seinen Vorlesungen langsam Gestalt anzunehmen begann: Sein und Zeit. Gadamer, der hingegen noch wenig hervorgebracht hatte, mußte die Auswirkungen ertragen. Denntrotz allem blieb er in den Augen Heideggers weiterhin ein Anhänger Hartmanns. Für den Philosophen aus dem Schwarzwald, der damit seine eigenen kleinbürgerlichen Rachegelüste zu erkennen gab, war Gadamer der Sohn jener akademischen Aristokratie, mit der er nur schwer zusammenleben konnte. Daher drückte er in einem Brief an Löwith vom 27. März 1925 unverblümt und offen seine Zweifel über Gadamers philosophische Begabung aus, dem allerdings bereits 1924 ein Brief an Gadamer selbst vorangegangen war, in dem er schrieb: "Wenn Sie nicht genügend Härte gegen sich selbst aufbringen, wird nichts aus Ihnen." 27 Gadamer hatte beschlossen, sich bei Heidegger zu habilitieren, und nahm mit kaum verhohlener Bitterkeit das mangelnde Vertrauen des genialen Lehrers hin. Er war zutiefst enttäuscht. Seine innere Selbstsicherheit, die bereits durch die Figur des Vaters auf eine harte Probe gestellt worden war, wurde wiederum stark unterminiert.
4. Platon in der Zukunft Nunmehr begannen die Jahre, die Gadamer in seiner Autobiographie als "Niemandsjahre" bezeichnet hat. 28 In seiner Erinnerung beschreibt er sie so: Es waren Jahre eines tiefen Zweifels an meiner wissenschaftlichen Begabung, zugleich Jahre, in denen ich endlich einmal anfing, ernsthaft zu arbeiten: Ich wurde klassischer Philologe unter der freundschaftlichen Anleitung von Paul Friedländer. 29
Der Weg der klassischen Philologie war für Gadamer der Weg seiner Emanzipation von Heidegger. Nach Ostern 1925 nahm er sein neues Studium auf und besuchte die Veranstaltungen von Paul Friedländer (1882-1968) sowie von Ernst Lommatzsch (1871-1949) und PaulJacobstahl (1880-1957). Was er nach der Begegnung mit Heidegger suchte, war ein fester "Boden":
Beide Briefe werden im Deutschen Literaturarchiv in Marbach am N eckar aufbewahrt. 28 GADAMER, Philosophische Lehrjahre, 30. 29 GADAMER, Philosophische Lehrjahre, 34. 27
4. Platcm in dtr lukunji
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Ich bin eigentlich deshalb klassischer Philologe geworden, weil ich das Gefühl hatte, von der Überlegenheit dieses Denkcns einfach erdrückt zu werden, wenn ich nicht einen eigenen Boden gewann, auf dem ich vielleicht fester stünde als dieser gewaltige Denker selber. 30
Ein fester Boden bedeutete zunächst einmal materielle Sicherheit. Es waren die Jahre der großen Inflation, der Ruin der Mittelschicht in Deutschland. DieLebenssituation Gadamers unterschied sich nicht von der seiner Freunde und Kollegen in Marburg; alle fristeten ihr Leben nur mit Mühe, dank eines Stipendiums der "Notgemeinschaft der Deutschen Wissenschaft". 31 Auch deswegen bot die Philologie zweifellos mehr Sicherheit. Sie hätte ihm zwar keine akademische Karriere eröffnen können, aber zumindest die Möglichkeit gegeben, Lehrer für Altgriechisch am Gymnasium zu werden. Ein fester Boden meinte jedoch auch die Grundlage einer sorgfältigen Kenntnis der Texte. Gadamer wechselte vom schlüpfrigen Gelände der zeitgenössischen Philosophie zum stabilen und sicheren Grund der "Klassiker". "Ich lese grundsätzlich nur Bücher, die mindestens zweitausend Jahre alt sind" - diese Antwort gab er damals allen, die ihn nach seinem Studium fragten. 32 Bei einer solchen Entscheidung fühlte er sich von Bultmann bestärkt, dem protestantischen Theologen, der in Heideggers Philosophie den Rahmen für eine kritische Exegese gefunden hatte, durch welche er das Neue Testament zu einem Text machen wollte, der wie jeder andere Klassiker zu lesen sei. Gadamer wurde in die berühmte Graeca Bultmanns aufgenommen - "Graeca" bedeutete in der akademischen Sprache einen Kreis von Dozenten und Studenten, die gemeinsam Texte der klassischen Literatur lasen und interpretierten- und nahm 15 Jahre lang an ihr teil. Dies war eine der Erfahrungen, die seine Bildung am nachhaltigsten prägte. Doch Gadamers anfängliche Leidenschaft für die Literatur wurde dadurch nicht schwächer. Mit seinen engsten Freunden, zu denen Löwith und Krüger gehörten, traf er sich jede Woche, um gemeinsam die großen Romane von Balzac, Tolstoj, Dostojewskj, Gogol und Gontscharow zu lesen, ohne dabei auch moderne Autoren wie Joseph Conrad, Knut Hamsun und Andre Gide zu vernachlässigen. 33 GADAMER, Von Lehrenden und Lernenden (1986), in: Das Erbe Europas, 158-165, hier 159 f.; vgl. auch GADAMER, Paul Friedländer (1993), GW 10, 403-405, hier 403. Vgl. dazu: A Conversation with Hans-Georg Gadamer (mit ALFONS GRIEDER), in: The Journal of the British Society for Phenomenology 26 (1995), 116-126, hier 119. 31 Gadamer erwähnt dies in seinen Briefen vom 15.3.1928, 2.10.1928, 18.10.1928, 17.4.1929. Vgl. GADAMER, Sechs Briefe an Heidegger aus der Marburger Zeit, 17, 21, 25 und 29. Die "Notgemeinschaft der Deutschen Wissenschaft" (NG) war eine staatliche wissenschaftliche Förderungsinstitution, die Vorläuferio der Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG). 32 GADAMER, Philosophische Lehrjahre, 47. 33 Vgl. GADAMER, Philosophische Lehrjahre, 39 sowie LöwiTH, Mein Leben in Deutschland, 64. 30
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Wilr in dic.·scn.Jahn.·n jedoch Paull,.ricdtinder, dc.•r ~c.·radc.· rn it dl'lll t•rstl'll der d rc.•i Bii ndc.• sei nt•s Meisterwerkes über Platon beschiift i~t war. H Nc.·hen den Vorlesu n~en und Seminaren, die er bei diesem härte, llProtrcptikos< und die entwicklungsgeschichtliche 1\t•tr;\dllun~ dc.•n t.•rsten l.chrauftra~ erhielt er in Marburg im Wintersemester 1933/34. In drn c.Ltri\Uffol~t.·ndt.•n Semc.•stern, dem Sommersemester 1934 und dem Wintersenwstt.•r 1934/3;, wurde er an die Universität Kiel berufen, wo der Lehrstuhl von Ridurc.l Kront.'l', c.lt.•r als Judl' nicht mehr Ichren durfte, vakant geblieben war. Da t.•r ahc.~r in K icl Wl'iter kc.·ine Aussichten hatte, kehrte er im Winter 1935 nach Marhur~ zuriic.:k, wo dil' La~e sich inzwischen tiefgreifend verändert hatte. Der Druck der Nationalsozialisten hatte sich verstärkt. Einige Monate zuvor hatte das Philosophische Seminar für ihn das Extraordinariat beantragt, was eine übliche Praxis nach sechs Jahren der Privatdozentur war. Aber der Dozentenbund, die Vereinigung der nationalsozialistischen Hochschullehrer, wehrte sich dagegen; Gadamer war nämlich als politisch unzuverlässig eingestuft. Sogar der Verlust des Privatdozententitels wurde angedeutet. Gadamer befand sich damit an einem äußerst schwierigen Scheideweg. Er hätte auf die akademische Karriere verzichten müssen, einen anderen Beruf wählen (aber welchen?), und vielleicht die Emigration in Erwägung ziehen können- oder er hätte endlich den Parteiausweis beantragen müssen. Er wählte jedoch weder den einen noch den anderen Weg, sondern suchte nach einer Lösung aus diesem Dilemma. Im Herbst 1935 meldete er sich "freiwillig" für eine Art Rehabilitierungslager, das seit kurzem eingerichtet worden war, um Do74 KARL jASPERS,
Sch ncidcr 1946, 64 f.
Die Schuldfrage. Ein Beitrag zur deutschen Frage, Heidelbcrg:
7. ,.Daß wir leben, ist unsere Schuld"
27
zenten auf den nationalsozialistischen Kurs einzuschwören. Er fuhr in das Lager von Weichselmünde an der Ostsee in der Nähe von Danzig, wo er einige Wochen verbrachte. Die "Rehabilitierung" war eigentlich eher Formsache: neben einigen "paramilitärischen Dummheiten", Gesängen und Gymnastikübungen, denen sich die Teilnehmer unterziehen mußten, war kein Glaubensbekenntnis verlangt. Wie alle anderen, so mußte auch Gadamer öffentlich darlegen, womit er sich beschäftigte. Das bekannte Interesse der Deutschen für die Philosophie machte ihm das Leben dabei um einiges leichter/5 Im Lauf dieser Rehabilitierung wurden einmal alle Teilnehmer des Lagers zu einer Veranstaltung nach Tannenberg gebracht. Bei dieser Gelegenheit sah er von weitem Hitler. Was ihm dabei ins Auge fiel, war die niedrige Statur, die nervöse Art, die Hände zu bewegen, sowie die Mäßigkeit seiner Person, die einen geradezu "linkischen" Eindruck machte. 76 Zurück in Marburg übernahm Gadamer im Wintersemester 1935/36 sowie im folgenden Sommersemester 1936 die Vertretung des Lehrstuhls von Frank, der aufgrund der Rassendiskriminierung "suspendiert" worden war. Gerade Frank, der mit Gadamer in enger Freundschaft verbunden war, hatte sich für seine Nominierung eingesetzt. 77 Doch derart paradoxe Situationen waren inzwischen zur Normalität geworden. Wäre die Vertretung nicht an Gadamer gegangen, so hätte sie Krüger erhalten (der_ aber schon eine Verpflichtung hatte) oder ein anderer. Viele Lehrstühle waren unbesetzt; von diesen wurden einige gestrichen. Dies geschah dann auch mit dem Lehrstuhl Franks, der 1936 gänzlich wegfiel. Gadamer, der auf den Ausgang seines schon im Dezember 1935 gestellten Antrags wartete, erlangte den Titel eines außerordentlichen Professors am 20. April1937; ein Jahr später wurde er zur Vertretung nach Leipzig berufen, wo er Anfang 1939 endlich einen Lehrstuhl erhielt. Die "Indoktrinierung", der er sich- nicht ohne Ironie- unterzogen hatte, um "rehabilitiert" zu werden, war in den Augen der Nazis wohl entscheidend gewesen. Hätte er diesen Schritt nicht unternommen, so hätte er wahrscheinlich auf die Lehre verzichten müssen. Allerdings hat es wenig Sinn, auf der Basis bloßer Hypothesen zu argumentieren. Nichtsdestoweniger ist es wirklich zweifelhaft, zu behaupten, Gadamer habe seine Karriere auf opportune, ja geradezu opportunistische Weise vorangebracht, indem er von den politischen Bedingungen Nazi-Deutschlands profitierte. 78 Die Lehrstühle, die aufgrund der Rassengesetze unbesetzt geblieben waren, mögen ihm die Sache sicherlich erleichtert haVgl. GADAMER, Philosophische Lehrjahre, 56. GADAMER, Philosophische Lehrjahre, 57. 77 Trotz der Bedenken Gadamers ist es nur zu gut vorstellbar, daß es für Frank weniger bitter war, seinen Lehrstuhl in den Händen eines Freundes zu wissen, weshalb er ihn auch weiterhin unterstützte. 78 VgJ. GRONDIN, Gadamer. Eine Biographie, 206f., sowie WoLIN, Unwahrheit und Methode, JOf. 75
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ben, woht·i hi ngq.~t.·n seine Weigerung, der NSI>A P beizutreten, ein grogcs Hindernis war. Wie kann man hier Vor- und Nachteile abwägen? Und wäre es nicht um vieles einfacher gewesen, den hauptsächlichen Nachteil zu beseitigen und sich als Nationalsozialist zu erklären? Gadamers Entscheidung in diesen Jahren bestand darin, zu bleiben und weiterhin Philosophie zu unterrichten. Er verzichtete jedoch auf Veröffentlichungen/9 In der Zeit von 1933 bis 1945 hat er neben seinen zahlreichen, vor allem in den dreißiger Jahren verfaßten Rezensionen (über 20 lassen sich aufzählen) und seinen Vorträgen oder kurzen Stellungnahmen (ungefähr 25), die fast alle in den vierziger Jahren entstanden sind, nur sechs philosophisch relevante Arbeiten veröffentlicht: 1934 Plato und die Dichter und Antike Atomtheorie, 1939 Zu Kants Begründung der Ästhetik und dem Sinn der Kunst sowie Hegel und der geschichtliche Geist, 1940 Hege! und die antike Dialektik, 1941 Volk und Geschichte im Denken Herders, 1942 Platos Staat der Erziehung. 80 Gadamer ließ nicht nur die Arbeit an der Physik und Ethik des Aristoteles ruhen, sondern ging auch auf keinerlei Themen ein, die eindeutig politische Anklänge enthielten. Das sprechendste Beispiel hierfür ist wohl eine Arbeit über Hölderlin und die Nachwirkungen der Französischen Revolution auf die deutsche Kultur: Zum einen wollte Gadamer sich mit dieser Arbeit keinen Angriffen aussetzen, liebten es die Nazis doch, von einem "Sonderweg" Deutschlands zu sprechen; zum anderen befürchtete er eine Instrumentalisierung Hölderlins. 81 Seine Forschungstätigkeit beschränkte sich zumeist auf die griechische Philosophie. Erst am Ende der dreißiger Jahre begann der Name Hegels und im Rahmen seiner Geschichtsphilosophie derjenige Herders in Erscheinung zu treten. Doch selbst das scheinbare "Rückzugsgebiet" der griechischen Philosophie sollte sich als alles andere als sicher erweisen wodurch wiederum bestätigt wird, daß die Philosophie, sofern sie ihren Ort in der Polis hat, schon immer politisch ist. 82 Der zweite Vorwurf gegen Gadamer betrifft die Veröffentlichungen aus jenen Jahren. Die angefochten Texte sind insbesondere: Plato und die Dichterund die Arbeit über Herder. Wie gestaltet sich die Anschuldigung gegen den Platon Gadamers? Zweifellos ist Platons Philosophie der rote Faden in seiner philosophischen Besinnung dieser Jahre- und nicht nur dieser Jahre. Was ihn interes-
Vor allem wollte er sich nicht mit der nationalsozialistischen Zensur herumschlagen. A llcrdings war Gadamer in diesen Jahren auch krank und litt sehr unter den ihm vom "Dozcntcnbund" verursachten Diatriben. 110 Abgesehen von der Schrift über Kants Ästhetik, die in Wahrheit und Methode weiter~cführt wird, wurden alle diese Arbeiten in unveränderter Form wieder veröffentlicht, mit Ausnahme des Aufsatzes über Herder. 111 Die Arbeit wurde erst in den achziger Jahren wieder aufgenommen: GADAMER, Die (il·hcnwärtihkcit Hi1lderlins (1983), GW 9, 39-41. Hl V~l. (;;tdanll'r im Cl·spr:ü:h mit l>üRTE voN WJ·:STERNifAC;FN, 549. 79
7. ,.Daß wir leben, ist unsere Schuld"
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sierte, war die "sophistische und platonische Staatslehre"; doch er mußte "vorsichtshalber", wie er sich später erinnert, seine Forschungen unterbrechen. 83 Veröffentlicht wurden daher nur die beiden Aufsätze Plato und die Dichter sowie Platos Staat der Erziehung. 84 Die Anschuldigung interpretiert beide, und vor allem den ersten, vor dem Hintergrund der in Deutschland zunehmenden Nazifizierung der Altertumswissenschaft, eines tiefgehenden und unaufhaltsamen Prozesses der "ideologischen Transformation", der von Jaegers "Neuhumanismus", dessen Mitverantwortung besonders hervorgehoben wird, über die Philologie von Ulrich von Wilamowitz-Moellendorf (1848-1931) schließlich bis auf den Klassizismus Winckelmanns zurückgehen solle. 85 Die Idee Deutschlands als neues Hellas habe in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts in der politischen Relevanz Ausdruck gefunden, die dem griechischen Altertum beigemessen wurde und die das Interesse auf den Platon der Politeia gelenkt habe. Die Schuld Gadamers, der in diesen Kontext einzugliedern sei, bestünde in seiner Verteidigung einer der umstrittensten Stellen Platons, nämlich der Vertreibung der Dichter aus der Stadt. Einmal abgesehen von der vereinfachenden Art, in der hier die Geschichte der Altertumswissenschaften in Deutschland nachgezeichnet wird, waren es gewiß nicht wenige Philologen und Philosophen, die in den dreißiger Jahren eine Verbindung zwischen dem platonischen und dem nationalsozialistischen Staat zogen. Dies ist jedoch bei Gadamer keineswegs der Fall, der sich vielmehr auf Platons Utopie mit dem genau entgegengesetzten Ziel berief, die jedes Wahrheitsanspruchs beraubte Dichtung zu kritisieren und anband des "inneren Staats" ein Erziehungsmodell anzuregen, das eine Wiedergeburt der Polis hätte andeuten können. 86 Just 1934, ein Jahr nach der Machtergreifung der Nationalsozialisten, und dann wiederum 1942, drückte Gadamer in tyrannos seinen politischen Dissens durch eine ironische und utopische Anspielungskunst aus, mit der allein der totalitäre Staat hätte von innen her kritisiert werden können. 87 Dies, und nichts anderes, will das von Goethe entliehene Motto besagen, GADAMER, Selbstdarstellung, GW 2, 489. GADAMER, Plato und die Dichter, GW 5, 187-211; Platos Staat der Erziehung (1942), GW 5, 249-262. 85 Vgl. WouN, Unwahrheit und Methode, 18; TERESA ÜRozco, Die Platon-Rezeption in Deutschland um 1933, in: ILSE KaROTIN (Hrsg.), Die besten Geister der Nation: Philosophie und Nationalsozialismus, Wien: Picus 1994, 141-185. Jaeger war gezwungen gewesen, 1936 zu emigrieren und hatte zunächst in Chicago, dann in Harvard unterricht. Angesichts seines Ideals der paideia, das Heidegger nicht zufällig verachtete, muß man sich hüten, vorschnelle Urteile zu fällen, die den Neuhumanismus letztendlich an den Nationalsozialismus angleichen würden. 86 Die Verurteilung der Dichtung sowie jeder Art von Kunst, die nur der Selbstvergessenheit dient, nimmt die Kritik am "ästhetischen Bewußtsein" vorweg. Vgl. in diesem Band Kap. II, 5. 87 Orozco entgeht diese Bedeutung der Anspielung, vgl. TERESA ÜROZCO, Die Kunst der Anspielung. Hans-Georg Gadamers philosophische Intervention im Nationalsozialis83 84
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das am Anfang des Vortrags über Plato und die J)ichtcr steht: "Wer philosophiert, ist mit den Vorstellungsarten seiner Vor- und Mitwelt uneins." Nicht zufällig wird Gadamer in der Entfaltung seines politischenDenkensauf diese Themen zurückkommen, um den Wert der Utopie aufzuzeigen. 88 Weitere Vorwürfe werden auch gegen den 1941 entstandenen Aufsatz Volk und Geschichte bei Herder vorgebracht, der im Kontext der damaligen Germanistik interpretiert wird. In Herder, insofern er als Kritiker der Aufklärung und Vertreter der Eigentümlichkeit jeder Kultur galt, sah die Germanistik, die nicht wenigerangepaßt war als die Philologie, den Propheten des Pangermanismus. 89 Dessen Begriff des "Volkes" schien sich dafür geradezu anzubieten. Der Text über Herder lag einem Vortrag zugrunde, den Gadamer 1941 am Deutschen Institut in Paris hielt.90 In der Kriegszeit unternahm er zwei weitere Reisen: 1940 nach Florenz und 1944 nach Portugal und Spanien. Obwohl er keine "politischen Meriten" hatte, wurden die Reisen dennoch aufgrund des wissenschaftlichen Ansehens genehmigt, das er schon damals genoß. Aber gewiß waren diese Reisen auch ein zweischneidiges Schwert. Dazu schrieb er später: kh wrkitllntc nicht, daß man damit zur Auslandspropaganda mißbraucht wurde, für dil· m.tnrhnul l'in politisch Unbescholtener gerade recht sein konnte. 91
Zum t•int·n IMrgcn jl·ne lh·isen die konkrete Gefahr, sich zum Instrument der n.uiou.tlso/.i,\listisdten Madllmaschine machen zu lassen; zum anderen aber hull'll Nil· dil· c;d,·~enhl·it, einen lbmals gar nicht selbstverständlichen Kontakt mi1 d,... iuh·ll~·ktuell,·n Weh ,\llf~erlulh Deutschlands zu knüpfen. Nicht zuletzt w.u· d.,lwi m(;~lil'h, l.dll'nsmittd mit nach Hause zu bringen, die dort unauf-
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Wl·if~ nidu, in wddwr Spr.tche G.\dlrlH.'itel, ol·h inwiefern licf~cn sich in ihm ideologische Nachklänge heraushören? Der
Vortriskussinm·n um G.ubmcrs Werk. 120 121
11. Die Hermeneutik in der Welt
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meneutik weiter zu entfalten, zu verändern und zuweilen auf bedeutsame Weise umzudenken. Nach dem Wintersemester 1967/68 ging er in den Ruhestand; doch obwohl er "emeritiert" war, hielt er bis 1970 weiterhin Seminare in Heidelberg. Er hatte damals schon mehrere Einladungen nach Amerika erhalten, die er aber stets ablehnte. Dabei war jedoch keinerlei Abschließung bzw. Zurückhaltung im Spiel, wie Heidegger sie hegte. Der Grund war ein anderer: Er sprach nur sehr schlecht englisch und fürchtete, daß dies ein großes Hindernis wäre. Tugendhat ermutigte ihn jedoch und konnte ihn schließlich überzeugen, nach Amerika zu fahren. Die Gelegenheit dazu bot sich anläßlich einer Konferenz zu Schleiermacher, die Charles Scott an der Vanderbilt University in Nashville, Tennesse, veranstaltete.124 Im Februar 1968 stach Gadamer mit der Queen Elizabeth vom Hamburger Hafen aus in See. Er schrieb an Heidegger: Um den Hiat der Emeritierung zu überbrücken, habe ich eine Einladung nach USA angenommen und werde von Mitte Februar bis Ostern unterwegs sein. Drüben ist es zwar nicht die Philosophie, die sich für mich interessiert- für die bin ich ein nicht einmal sehenswerter Oldtimer-. Aber gerade dieser Zustand der dortigen Philosophie hat meinem Buch bei den Theologen und den Geisteswissenschaftlern (und criticists vor allem) eine unerwartete Aktualität verschafft. Sie sehen darin eine Legitimierung ihrer eigenen Bedürfnisse, die die philosophy of science unbefriedigt läßt. 125
Dieser ersten Reise sollte viele weitere folgen. Gadamer wurde an zahlreiche amerikanische Universitäten eingeladen, um dort zu lehren: an die Catholic University of America in Washington, D.C. (1969), die Syracuse University (1971), die McMaster University in Hamilton in Kanada (1972-1974) und vor allem an das Boston College (1974-1986). Mit der Lehre in Nordamerika wurde ein neues Kapitel in seinem Leben aufgeschlagen, von dem er als von einer "zweiten Jugend" sprach. 126 In Amerika war sein Name in der Tat noch völlig unbekannt- es war, als begänne er bei Null. In dem "neuen Kontinent" dominierte die analytische Philosophie, während alle anderen philosophischen Strömungen, die entweder auf die Departments von Literaturwissenschaft oder von Theologie verbannt waren, als "Phänomenologie" galten. Daß dort überall die analytische Philosophie einen großen Raum einnahm und die sogenannte Kontinentalphilosophie ganz im Schatten war, bedeutete für mich keine Überraschung, auch nicht, daß die deutsche Philosophie unserer Zeit überhaupt nur durch die Phänomenologie Husserls bekannt war, Heidegger und die Hermeneutik dagegen nicht. Als ich aber langsam besser englisch sprechen lernte, zeigte es sich, 124
Vgl. GADAMER, Das Problem der Sprache bei Schleiermacher (1968), in: Neuere Phi-
losophie II. Probleme- Gestalten, GW 4, 361-373. m Brief an Hcideggcr vom 3.2.1968, im Deutschen Literaturarchiv in Marbach. 12" GA OA M t-:R, Philosophische Lehrjahre, 19N.
I. Kapitel: Ein Lt!ben durch ein Jahrhundert
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daß auch von der analytischen Philosophie her Brücken zur Hermeneutik gangbar waren. 127
Richard Palmer (*1933) half ihm eingangs, die ersten Brücken zu schlagen. Palmer hatte einige Jahre in Heidelberg studiert und 1969 das erste englische Buch zur Einführung in die Hermeneutik veröffentlicht. 128 Gewiß waren am Anfang nicht nur die Themen, sondern auch die Art, in der Gadamer die Philosophie auffaßte und praktizierte, im amerikanischen Kontext fremd. Dennoch gab er nicht auf. Er unterrichtete weiter, fast zwei Jahrzehnte lang, und nachdem er zunächst nur in den Abteilungen für humanities aufgenommen wurde, erhielt er nach und nach auch Zugang zu denen der Philosophie. Diesiebziger Jahre waren eine entscheidende Zeit, nicht zuletzt deshalb, weil Gadamers Anwesenheit in den Vereinigten Staaten mit einer Art kritischer Selbstreflexion innerhalb der analytischen Philosophie zusammenfiel. Die Hermeneutik wurde zugleich zum Bezugspunkt und zum Beweggrund der Auseinandersetzung. Nach wie vor scheint es schwierig zu sein, die tiefe und nachhaltige Wirkung voll einzuschätzen, die Gadamers Lehrtätigkeit sowohl in der Verbreitung der "kontinentalen Philosophie" als auch in der Hermeneutisierung der Analytischen Philosophie hinterließ. Darüber hinaus gilt es auch festzuhalten, daß die Erfahrung in Amerika Gadamers Horizont, der bis dahin auf die deutsche Welt eingeschränkt geblieben war, beträchtlich erweiterte, und zweifellos einen starken Einfluß auf die Inhalte und auf die Art seines Denkens ausübte. Gadamer reiste auch nach Südamerika, nach Japan und nach Afrika, vernachlässigte jedoch Europa keineswegs. Seit den achtziger Jahren veranlaßten die Altersgründe ihn dazu, auf Flugreisen zu verzichten und die Bahn vorzuziehen. Er konzentrierte seine Tätigkeit auf Italien, das Land, dem er sich seit langem, nämlich seit den begeisterten Erzählungen Löwiths, verbunden fühlte, der während des Ersten Weltkriegs in Genua inhaftiert war. Seinerseits war Gadamer schon seit den dreißiger Jahren mehrmals in Italien gewesen und auch nach dem Krieg, in den fünfziger Jahren, war er wiederholt als einfacher Tourist dorthin zurückgekehrt. 1961 wurde er nach Mailand und im Anschluß daran nach Rom eingeladen, wo er an der von Castelli organisierten Konferenz zum "Problem der Entmythologisierung" teilnahm. 129 Seine damaligen Kontakte führten ihn vor allem nach Nord- und Mittelitalien. Nach Neapel kam er anläßlich einer Tagung am Goethe-Institut; bei dieser Gelegenheit hielt er am 22. April 1978 seinen ersten Vortrag Hegel und die Hermeneutik am lstituto Italiano per gli Studi filosofici, wohin ihn Gerardo Marotta eingeladen hatte. 130 GADAMER, Mit der Sprache denken (1990), GW 10,346-353, hier 346-347. 128 RICHARD E. PALMER, Hermeneutics: Interpretation Theory in Schleiermacher, Dilthey, Heidegger, and Gadamer, Evanston (Illinois): Northwestern University Press 1969. 129 Vgl. in diesem Band Kap. X, 5. 130 Der Vortrag ist von Gadamer leicht überarbeitet worden, als er am 13. Juni 1979 den Hegel-Preis der Stadt Stuttgart erhielt; vgl. GADAMER, Das Erbe Hegels, in: HANS-GEORG 127
12. Die letzten fahre. Zwischen Erfolg und Einsamkeit
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So begann eine lange und intensive Zusammenarbeit, die Gadamer von 1980 bis zu seinem letzten Seminar Vom Wort zum Begriff, vom Begriff zum Wort, das er dort vom 6. bis 10. Januar 1997 hielt, in Anspruch nahm. 131 Dabei muß hervorgehoben werden, daß sich seine Tätigkeit keineswegs auf vereinzelte Vorträge beschränkte. So pflegte er in Neapel- wo er am 27. November 1990 die Ehrenbürgerschaft empfing- jährlich einen regelrechten Vorlesungszyklus abzuhalten. Es ist insofern wohl nicht übertrieben zu sagen, daß der Lehrberuf am Palazzo Serra di Cassano nach Heidelberg und Boston die letzte Cathedra Gadamers war. Ohne Zeit und Kraft zu schonen, bereiste er obendrein das gesamte Süditalien, wo seine Lehrtätigkeit tiefe Spuren hinterließ. 132 Zahlreiche Verbindungen unterhielt Gadamer neben Neapel auch mit dem Land, das für ihn weiterhin die Magna Grecia, Großgriechenland war. Diese besonders von Marotta unters.trichene "geistige Verwandtschaft", war von Gegenseitigkeit geprägt.133 Der Rang, den Neapel der deutschen Philosophie immer zuerkannt hat, fand ein Pendant in der Bedeutung, die für Gadamer nicht nur die Namen von Pythagoras und Parmenides, sondern auch die von Bruno, Campanella und Vico hatten, nicht zu vergessen Bertrando Spaventa und Benedetto Croce. Die Jahre der Lehrtätigkeit in Neapel waren Jahre der hermeneutischen Praxis, in der er die Sprache des Anderen sprach und dabei verstand, auf dessen Ansprüche zu hören und dessen Eigentümlichkeit schätzen zu lernen.
12. Die letzten Jahre. Zwischen Erfolg und Einsamkeit Der so spät erworbene Ruhm erreichte schließlich weltweite Dimensionen. Ab den siebziger Jahren erhielt er in Deutschland und im Ausland Ehrungen und Preise, die sich im letzten Jahrzehnt seines Lebens noch vermehrten. 134 Hinzu kamen die Ehrendoktorwürden der Universitäten Bamberg, Tübingen, Washington, Hamilton, Ottawa, Boston, Breslau, Leipzig, Prag und schließlich, im Jahr GADAMER/]ÜRGEN HABERMAS, Das Erbe Hegels, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1979, 33-84, wieder abgedruckt: Das Erbe Hegels (1980), GW 4, 463-483. Vgl. in diesem Band Kap. VII, 6. 131 Eine Gesamtübersicht über Gadamers Seminare findet sich bei ANTONIO GARGANO, Hans-Georg Gadamer e l'Istituto ltaliano per gli Studi filosofici, in: Sophia (4) 2002, 151-155. 132 Einer Initiative des lstituto Italiano degli Studi filosofici in Neapel sowie der RAI Educational in diesen Jahren war es zu verdanken, daß Gadamer für die Reihe Enciclopedia multimediale delle scienze filosofiche eine Serie von 27 Videokassetten aufnahm, welche die Geschichte des philosophischen Denkens behandelte. Die Serie trug den Titel Il cammino della filosofia (Der Weg der Philosophie); sie ging auf eine Idee von Gerardo Marotta zurück (vgl. www.emsf.rai.it). 133 Vgl. GERARDO MAROTTA, Mit Gadamer für ein Europa der Kultur, in: GüNTER FtGAL (Hrsg.), Begegnungen mit Hans-Georg Gadamer 2000,21-32, hier 25. 134 Vgl. die Zeittafel in diesem Band.
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.ZOOO, St. Pl'tl·rshur~. I >ndl dt·r Ehrendoktor, den ihm die Universität Marburg hne in etwas andl"rrm hc~ründet zu sein, sind sie ihn·rsl·its ~runc.llc~cnd, sind sie die ()rte, in denen sich der "gemeinschaftliche Sinn .. artikuliert. Mit einer Bedeutung, die schon Kommunikation und Sprache mit anklingen läßt, verweist communis "gemeinschaftlich" auf das Mitteilsame und Miteinandergeteilte. Dasselbe läßt sich auch für jene konkrete, vorläufige und historisch gültige Allgemeinheit sagen, die den Gemeinsinn untermauert. Man versteht daher, warum Gadamers Vicodeutung gerade den Gemeinsinn im Auge hat, der nicht als eine allen gemeinsame Fähigkeit interpretiert werden kann, sondern als der "Sinn, der Gemeinschaft stiftet." 27 Vicos Appell an den Gemeinsinn, in dem Gadamer eine Wiederaufnahme nicht nur des lateinischen sensus communis, sondern auch der aristotelischen phr6nesis sieht, ist somit ein Appell an jenen Sinn, der in allen lebt und der sich nur im Zusammenleben erlangen läßt, das heißt an den Sinn für das gemeinschaftliche Gute. Gebildet ist der, der Sinn für die Gemeinschaft hat. Was entspricht nun dem Gemeinsinn in der deutschen Sprache und in der deutschen Tradition? In der lateinischen, italienischen und französischen, aber auch in der englischen Tradition, zeigt der Gemeinsinn die allgemeine Eigenschaft des Bürgers an. Ein Beispiel hierfür ist der common sense, mit dem Shaftesbury (1671-1713) die soziale Tugend der sympathy verstanden hatte; daraus wird dann die Lehre vommoralsense entstehen. 28 In der deutschen Tradition hingegen, die sich erst mit der Reflexion über die Geisteswissenschaften ausformen wird, ist der Gemeinsinn, der nun intellektualisiert und seines politischen und sozialen Inhaltes beraubt wird, auf ein bloßes Korrektiv, auf die Fähigkeit der Urteilskraft reduziert. 29 Der Gemeinsinn kann auch Urteilskraft genannt werden, denn was sich durch diesen Sinn bildet, ist die Fähigkeit zu beurteilen, was angemessen und richtig ist. Die Urteilskraft ist keine formelle Fähigkeit, sondern ein Erfordernis, das der sozialen und moralischen Solidarität entspringt. Sie manifestiert sich von Fall zu Fall, und es ist nicht möglich, sich bei ihr auf ein Prinzip oder eine Methode zu berufen. Von daher rührt die Verlegenheit dessen, der urteilt. Das Urteilen, das mit dem sinnlichen Unterscheidungsvermögen zusammenhängt, ist fast wie das Schmecken, wie das unmittelbare Zurückweisen oder Annehmen der Dinge. Der "Geschmack", der eher einen moralischen als einen ästhetischen Wert hat, ist eine andere Weise, um Urteilskraft, Gemeinsinn und Kultur zu sagen. 30 Auf alle diese Weisen kann jener Sinn bezeichnet werden, den man nicht lehren oder lernen kann, der nicht das Ergebnis von Regeln oder Inhalten, sondern
27 211
2'J Jo
GADAMER, Wahrheit und GADAMER, Wahrheit und GADAM ER, Wahrheit und GA DAM ER, W.lhrhcit und
Methode, GW 1, 26. Methode, GW 1, 31. Methode, GW 1, 36. Methode, GW I, 40.
II. 1\ ,.,,u"/: I),,. /·.'r'"'R'". ""' \r.',t/,, ,".,, eine praktische Lehc.·nswc.-ishcit i!'tt, die mo\n nur kultivieren und verfeinern kann und ohne die das menschliche Zusammenleben undenkbar wäre. Dieser hermeneutische Sinn, der in der Wiederentdeckung des Humanismus Konturen gewonnen hat, ist ein Wissen ganz anderer Art im Vergleich zu dem der exakten und methodischen Wissenschaften. Würde man ihn an diesem messen, dann müßte er aus dem Reich der Erkenntnis ausgeschlossen oder auf eine ästhetische Funktion herabgesetzt werden. Damit würde aber nicht nur das gesamte Vermächtnis der humanistischen Wissenschaften verloren gehen, das sich auf diesen Sinn stützt, sondern auch eine humane Auffassung des Wissens.
4. Der "Einschnitt" Kants. Von der Ästhetik des Geschmacks zur Ästhetik des Genies Die langsame, aber unaufhaltsame Verfinsterung der humanistischen Tradition ist für Gadamer mit dem Namen Kants verbunden, der seinerseits jedoch den Wert dieser Tradition anerkannt hat. Wie kann man aber Kant eine solche Verantwortung zuschreiben? Die Geisteswissenschaften, die als solche erst seit Kant existieren, werden von nun an vor eine radikale Alternative gestellt: Methode oder Ästhetik. Sie müssen sich nämlich entweder an der Methode der exakten Wissenschaften messen, wobei sie aber riskieren zu verschwinden; oder sie müssen sich einer Ästhetisierung unterwerfen. In beiden Fällen liegt der Ausgangspunkt in der Kritik der reinen Vernunft von 1781. Kant nimmt das Erfordernis wahr, die Metaphysik neu zu definieren, mit der Absicht, sie zu retten. Das Ergebnis dieses Unternehmens ist jedoch genau das Gegenteil: Indem sie an einer strengen Wissenschaft gemessen wird - an der reinen Wissenschaft der Natur- wird die Metaphysik für immer in Verruf gebracht. Der Schatten ihrer Verurteilung fällt auch aufalljene Formen des Wissens, die den Kriterien und Methoden der Wissenschaft gar nicht folgen; daher wird die letztere ihrerseits auch nur noch als exakte Wissenschaft verstanden. Damit ist das Schicksal jener Wissenschaften besiegelt, die als "humanistisch" bezeichnet werden, in denen das Echo der humanistischen Tradition noch nicht abgeklungen ist, und die in Deutschland den Namen von "Geisteswissenschaften" erhalten. Diese Wissenschaften werden negativ bestimmt. Von Anfang an sind sie von einem Mangel affiziert. So diskreditiert der "Einschnitt" Kants jede Form von nicht-methodischem Wissen, das sich in der humanistischen Tradition entwickelt hatte. 31 Wie könnten nun Kultur, Gemeinsinn, Urteilskraft und Geschmack noch begründet und legitimiert werden? OffensichtGADAMER, Wahrheit und Methode, GW 1, 46. Vgl. ISTVAN M. fEHER, Gadamcrs Destruktion der Ästhetik im Zusammenhan~ seiner philosophischen Ncubcgründun~ der 31
53 lieh hat der G,:sdun.tl'k nidltN mit der Wissenschaft zu tun. Ooch wenn er keine Wissenschaft ist, was ist er c.lötnn? Er ist Ästhetik. Dies ist die Antwort, die Kant in die Wege leitet und die auf seinen Spuren radikalisiert wird. Tatsächlich fällt heute die Kultur des Geschmacks bzw. des guten Geschmacks ganz in den Bereich der Ästhetik. In dem Maße, wie dieser Bereich sich deutlicher profiliert, treten zwei eng miteinander verbundene Phänomene hervor. Einerseits werden die Geisteswissenschaften von der humanistischen Tradition abgetrennt, und damit sowohl gezwungen, sich mit dem Wahrheitsmonopol der exakten Wissenschaften zu messen, als auch verpflichtet, sich von einer ganz anderen Identität her zu verstehen. 32 Bei diesem Verlust der Herkunft und der Identität finden sie andererseits in ihrer Ästhetisierung eine Möglichkeit zu überleben, dies jedoch um den Preis, jeglichen Erkenntniswert zu verlieren. Denn einer so wenig vertrauenswürdigen Quelle wie der Urteilskraft kann man nichts oder fast nichts anvertrauen. In diesem Sinn kann Gadamer sagen, daß die kantische Begründung der Ästhetik epochemachend ist. 33 Nach der ersten Kritik und nach der Kritik der praktischen Vernunft von 1788legt Kant die Fundamente der neuen Ästhetik in einer autonomen Domäne, jenseits der Erkenntnis und jenseits der Moral, in der Kritik der Urteilskraft von 1790. Seine Frage betrifft die Möglichkeit, in dem, was den Geschmack angeht, ein Apriori zu entdecken, das dessen Anspruch auf Allgemeingültigkeit legitimiert. Um die drastische Reduktion besser zu verstehen, die diese Fragestellung mit sich bringt, gilt es daran zu erinnern, daß alles, was ästhetisch war, vor allem das ästhetische Urteil, zum Bereich des Geschmacks gehörte, und daß der Geschmack, der fast ein Synonym des Gemeinsinnes war, auch eine moralische und politische Konnotation hatte. Nachdem er von dieser Konnotation abstrahiert, nachdem er also ästhetisiert wird, läßt sich der Geschmack der Kritik unterwerfen, um einem Gültigkeitskriterium zu entsprechen, das letztlich das der Wissenschaft ist. Und weil es unmittelbar einleuchtet, daß er diesem Kriterium nicht entsprechen kann, wird er jeder "Erkenntnisbedeutung" beraubt und auf ein subjektives Prinzip reduziert. 34 Von den als schön beurteilten Gegenständen erkennt man in der Tat nichts. Mit großer Mühe gelangt Kant dazu, dem Geschmack eine "subjektive Allgemeinheit" zuzuschreiben - eine paradoxe Formulierung zur Bezeichnung jenes freien Spieles der Vermögen, das die Quelle der ästhetischen Lust ist und das, Geisteswissenschaften, in: DIETMAR KocH (Hrsg.), Denkwege. Philosophische Aufsätze, Tübingen: Attempto Verlag 1998,25-54. 32 Vgl. GADAMER, Wahrheit und Methode, GW 1, 46 f. 33 GADAMER, Wahrheit und Methode, GW 1, 47. Vgl. DENNIS J. ScHMIDT, Aesthetics and Subjectivity. Subjektivierung der Ästhetik durch Kantische Kritik (GW 1, 48-87), in: GüNTER FIGAL (Hrsg.), Hans-Georg Gadamer- Wahrheit und Methode, Berlin: Akademie Verlag 2007, 29-43. 14 GADAMER, Wahrheit und Methode, GW 1, 49.
zw.u 1.wc.·ckm~f~i~ suhjtoktiv, th•tulcu:h in jNirm Suhit·kt idt•ttti"d' und "ll~l·mc:in rnittc.•ilhar ist.J" In der komplexen lnterprc:t;\tion, die (i;u.f.uner von dc.·r k.uuisc.:lu.·n Ästhetik gibt, hebt er eine Untcrschcidun~ besonders hervor, die.· in der dritten Kritik eher sekundär bleibt und dennoch unumgänglich ist, will man die Autonomie der Ästhetik in dem von Kant gemeinten Sinn nachvollziehen. Es ist die Unterscheidung zwischen "freier Schönheit" und "anhängender Schönheit". 36 Dieses Thema, auf das Gadamer mehrmals zurückkommt- etwa in seiner Arbeit Anschauung und Anschaulichkeit von 198037 - stellt einen der Angelpunkte dar, um den sich seine kritische Deutung Kants dreht. Doch worin besteht diese Unterscheidung? Die freie Schönheit, für Kant auch die wahre Schönheit, ist diejenige, die zum Gegenstand eines "reinen Geschmackurteils" werden kann, zu dem keine intellektuellen oder moralischen Gesichtspunkte hinzukommen. Die von Kant angeführten Beispiele sind die reine Musik, also die Musik ohne Inhalt, die Arabesken und die Blumenornamente. Diese Gegenstände sind schön, weil sie keinem anderen Zweck als dem der reinen Schönheit gehorchen. Weniger rein ist dagegen die Schönheit der adhärierenden Gegenstände, die so genannt werden, weil sie einem Begriff anhängen. Ihre Zweckmäßigkeit ist nicht mehr rein ästhetisch. Beispiele sind die Schönheit einer menschlichen Figur, eines Tieres oder eines Gebäudes. Hier wird ein anderer und weitergehender Zweck vorausgesetzt, denn ein Gebäude hat auch noch nützlich zu sein. In diesen Fällen wird ein reines Geschmacksurteil unmöglich, da es von der Vorstellung eines Zwecks beeinträchtigt wird. Gadamer bezeichnet diese Lehre als "höchst fatal", weil sie den Augenblick markiert, von dem an das ästhetische Urteil jeder Erkenntnisbedeutung beraubt wird; die Ästhetik kann von jetzt ab nur noch überleben, indem sie sich negativ von der Erkenntnis und der Moral abgrenzt. 38 Doch Gadamer weiß auch, daß die Ästhetik mit Kant noch nicht den Höhepunkt dieser Entwicklung erreicht hat, für den das Schöne trotz allem noch ein "Symbol des Sittlichguten" ist. 39 Das Schöne ist in diesem Zusammenhang insbesondere das "Naturschöne". Es ist, als ob die Natur selbst zu unserem ästhetischen Vergnügen beitragen würde. Die "wunderbare Zweckmäßigkeit der Natur für uns" deutet demnach darauf hin, daß wir der Endzweck der Schöpfung sind und sie offenbart unsere moralische Bestimmung.4 Freilich enthält dieser Gedanke bereits eine reduzierte moralische Bedeutung der Ästhetik. Aus ihr
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Vgl. IMMANUEL KANT, Kritik der Urteilskraft, in: Werkausgabe, hrsg. von Wilhelm Weischedel, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1978, Band X,§ 6, B 18-19/A 18-19, 124-125. 36 KANT, Kritik der Urteilskraft,§ 16, B 49 f./A 49 f., 146 f. 37 Vgl. GADAMER, Anschauung und Anschaulichkeit (1980), GW 8, 189-205. 38 GADAMER, Wahrheit und Methode, GW 1, 50. 39 KANT, Kritik der Urteilskraft,§ 59, B 257/A 254,297. 40 GADAMER, Wahrheit und Methode, GW 1, 56. 35
t•rk 1:\ rt sir h d l'l' Vur1u ~. dt•n 1\ .uu dt·m N .u ursdltttH•n ll t,,... d ,ts Kunst Sl' hi;n,· l'.u~,·std1r.~1
Spn·dwn uns di,• ,.1\unstpruduktl'" durrh tAMER, Wahrheit und Methode, GW 1, 91. (;AI>AMER, Wahrheit und Methode, GW 1, 91.
wt.•ldu·, nkht :t.ult.•tl'.t c.lun:h tlir hi~toriHcht• Anurc.lnunv. dl'r Exptmi\tl', den ei~enen U rspru n~ vcrhi r~t. '\tl llicr l'.clchricrt llit:o~ iist ht.•t isc he Ucw u f~tsci n sei nc eigene lrrcalit;it. Es verwundert in diesem Zusammenhang nicht, daf~ eine solche Entwirklichung auch Auswirkungen auf den Künstler hat, der "seinen Platz in der Welt verliert", da er sich vorgaukelt, in völliger Unabhängigkeit produzieren zu können. Er wird zu einem Außenseiter, dem man zugesteht, wie ein Boheme zu leben. Damit macht die entsakralisicrte und säkularisierte Welt der Wissenschaft auf ihrer unablässigen Suche nach neuen Mythen aus dem Künstler eine Art von "irdischem Erlöser", von dem die Rettung der Welt abhängen soll. Seine Tragik besteht darin, daß er immer nur eine besondere Erlösung vollbringen kann- die eigentlich die Negation der Erlösung ist- und durch das um ihn sich versammelnde Publikum die Schmach dieser Besonderheit erfährt. 57 Doch selbst in der Vergangenheit- so mahnt Gadamer- war die Auftragskunst die Regel. Und von Mozarts Requiem bis zur Sixtinischen Kapelle dürfte es schwierig sein, Ausnahmen zu finden. Was das ästhetische Bewußtsein Inspiration, Genialität und Schöpfung nennt, ist für den Künstler auf sehr prosaische Weise Beruf und Arbeit, auch und vor allem Auftragsarbeit. Doch auf ihrem Weg kommt die Abstraktion des ästhetischen Bewußtseins letztendlich dazu, von der Kunst selbst zu abstrahieren, deren Beziehung zur Realität eben deshalb zurückgewonnen werden muß. Diese Beziehung ist keine Beziehung der Diskontinuität. Die Kunst unterbricht zwar die hermeneutische Kontinuität unserer Existenz, schneidet sie aber nicht ab. Weit davon entfernt, eine Art Traumereignis zu sein, das nur in Ernüchterung endet, kann die Begegnung mit dem Kunstwerk das Leben so tief prägen, daß sie den Anfang einer Erneuerung, einer ganz neuen Weise, in der Welt zu leben markiert. 58 Nicht nur ist die Kunst keine entwirklichte Wirklichkeit; sie ist im Gegenteil eine potenzierte Wirklichkeit in dem Sinn, daß ihr Sein zuwächst. Gadamer wird deshalb von einem "Zuwachs an Sein" sprechen. 59 Kunst ist demnach eine Erfahrung der Wahrheit. Wo sich aber die Auffassung der Kunst ändert, da wird sich offenbar auch die Auffassung der Wahrheit ändern.
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GADAMER, Wahrheit und Methode, GW 1, 92. GADAMER, Wahrheit und Methode, GW 1, 94. Vgl. GADAMER, Wahrheit und Methode, GW 1, 106. GADAMER, Wahrheit und Methode, GW 1, 145.
III. Kapitel
In der Kunst verweilen Auch die ästhetische Erfahrung ist eine Weise des Selbstverstehens. 1 Das Wesen der Zeitedahrung der Kunst ist, daß wir zu verweilen lernen. Das ist vielleicht die uns zugemessene endliche Entsprechung zu dem, was man Ewigkeit nennt. 2
1. Zu einer Phänomenologie des Spiels Es mag vielleicht überraschend erscheinen- und Gadamer selbst weist im Rückblick darauf hin-, daß ein Werk wie Wahrheit und Methode, das schon im Titel eine Auseinandersetzung mit der Wahrheit ankündigt, gleich zu Beginn ein langes Kapitel der Kunst widmet. 3 Doch gerade die Kunst spielt in der philosophischen Hermeneutik eine Schlüsselrolle. Nur von der Kunst her läßt sich nämlich aufs neue erfahren, was Wahrheit ist. Hieraus entsteht das Erfordernis, die Ästhetik vom Widerstreit mit der modernen Wissenschaft zu entbinden. Deren Anspruch auf Objektivität hat die ästhetische Erfahrung in eine Subjektivität zurückgedrängt, die sich scheinbar nur in frivoler und spielerischer Selbstbezüglichkeit ergeht. Die Abstraktion des ästhetischen Bewußtseins hat diesen Triumph der Wissenschaft schließlich besiegelt. Wie kann man. dieser Sackgasse entkommen? Der von Gadamer aufgezeigte Weg führt zu einer Auffassung der Kunst als Erfahrung des Seins, oder besser als "Zuwachs an Sein", in der die Subjektivität nur eine sekundäre Rolle spielt.4 Deshalb stellt er der starren Dichotomie von Subjekt und Objekt das dynamische Modell einer Begegnung entgegen, die einen Geschehenscharakter hat: "Alle Begegnung mit der Sprache der Kunst [ist] Begegnung mit einem unabge-
HANS-GEORG GADAMER, Wahrheit und Methode, GW 1, 102. 2 GADAMER, Die Aktualität des Schönen. Kunst als Spiel, Symbol und Fest {1974), GW 8, 94-142, hier 136. 3 GADAMER, Wort und Bild- )so wahr, so seiend< (1992), GW 8, 373-399, hier 373. 4 GADAMER, Wahrheit und Methode, GW t, 145. 1
60
I I I. Kapitel: In der Kunst verweilen
schlossenen Geschehen und selbst ein Teil dieses Geschehens." 5 Eine "Ontologie des Kunstwerks" wird dieses neue Modell verdeutlichen. Gadamers Ontologie des Kunstwerks entfaltet sich am Leitfaden des Spiels. Aber genauer betrachtet durchzieht dieser Leitfaden sein gesamtes Werk. So ist es gerade das Spiel, das Kunst und Sprache miteinander verbindet. 6 Das Spiel gehört nämlich zu den Begriffen, welche die Metaphysik der Subjektivität unterminieren, von Grund auf bedrohen und eben aufs Spiel setzen. Doch vom Spiel hatten auch schon Kant und Schiller gesprochen, und zwar ebenfalls im ästhetischen Sinn. Während Kant sich auf das freie Spiel unserer Erkenntnisvermögen bezieht, sieht Schiller in der Kunst das Spiel, das von jedem Zwang der Erkenntnis und der Moral befreit. Gegenüber dem Ernst der letzteren sollte das Spiel der Kunst den ästhetischen Raum des entertainment und des divertissement erschließen. Gadamer hingegen fragt sich weniger, ob die Kunst, als vielmehr, ob das Spiel etwas Ernstes sei. Anders gesagt: Er stützt sich auf die Kategorien des ästhetischen Bewußtseins, um dieses jedoch umzukehren. Das Spiel der Subjektivität schlägt dabei in das Spiel der Kunst um, das die Subjektivität selbst einschränkt und aufs Spiel setzt, während sich die Irrealität bzw. der schöne Schein des ästhetischen Bewußtseins in die Realität der Kunst umkehrt, die wirklicher ist als die Wirklichkeit. Weit davon entfernt, nur ein müßiger Zeitvertreib zu sein, verlangt das Spiel, ernst genommen zu werden. Ein Spiel findet statt, wenn der Spieler von ihm eingenommen und gefangen ist, wenn er also völlig in das Spiel versenkt ist. "Wer das Spiel nicht ernst nimmt, ist ein Spielverderber." 7 Das Spielläßt nicht zu, daß der Spieler außerhalb bleibt bzw. daß er sich zu dem Spiel wie zu einem Objekt verhält. Gadamer hört hier auf die Sprache, die vom Spiel des Lichts, dem Spiel der Wellen, der Kräfte, der Farben und sogar von Wortspielen spricht. Spielen bedeutet aber nicht nur, an einem Spiel teilzunehmen, sondern auch, ein Musik- oder ein Theaterstück aufzuführen. Gibt es ein Subjekt des Spiels, so ist dieses, wie aus diesen Beispielen ersichtlich wird, nicht der Spieler, sondern das Spiel selbst. Gadamer verweist daher auf ein "Primat des Spiels vor den es ausführenden Spielern." 8 Spielen bedeutet, sich in das Spiel hineinziehen zu lassen; denn es ist das Spiel, das seine Regeln, seine Bewegung und seine Vorherrschaft durchsetzt und somit den Spieler ergreift, ihn gefangen und im Spiel hält- nicht umgekehrt. Und dem Spieler bleibt nichts anderes übrig, als sich dem Spiel zu unterwerfen, sich einer "ihn übertreffenden Wirklichkeit" zu beugen, die ihn gerade deshalb über die eigenen Grenzen erhebt.9 Man darf sich also nicht anGADAMER, Wahrheit und Methode, GW 1, 105. 6 Vgl. GADAMER, Zwischen Phänomenologie und Dialektik- Versuch einer Selbstkritik, GW 2, 5 f. 7 GADAMER, Wahrheit und Methode, GW I, 108. 11 GADAMER, Wahrheit und Methode, GW I, 111. '' GAJ>AMER, W;thrlu·it und Ml·thodc, GW 1, 115. 5
1. Zu einer Phänomenologie des Spiels
61
maßen, das Spiel zu dominieren, regeln oder führen zu können. Man darf sich nicht anmaßen, aktiv zu sein. Gadamer spricht von dem "medialen Sinn" des Spielens, wobei er sich auf den Aspekt des griechischen Verbs bezieht, in dem eine Aktivität angezeigt wird, die das Subjekt dermaßen einnimmt, daß sie in eine Passivität übergeht. 10 Daher läßt sich sagen: "Alles Spielen ist ein Gespieltwerden."11 Das Spielen ist nicht irgendeine Tätigkeit, die das Subjekt für sich selbst ausführt, sondern es erfordert Gegenseitigkeit: selbst in den Patiencespielen ist es notwendig, daß etwas der Bewegung des Spielers durch eine symmetrische Bewegung entspricht. So geschieht es im Spiel des Kindes mit dem Ball, und im Spiel der Katze, die sich ein Wollknäuel aussucht, das mit ihr spielt. So geschieht es aber auch, wenn man mit den Möglichkeiten des Lebens spielt. Diese Phänomenologie des Spiels, die durch Begriffe wie Kunst, Fest, Ritual bis hin zur Sprache hindurchgeht und sie miteinander in Verbindung bringt, erhält in Gadamers Hermeneutik eine Bedeutung, die nicht unterschätzt werden darf. Aber welchen Stellenwert kommt dem Spiel in einer Ontologie des Kunstwerks zu? Das Spiel bringt zwei widersprüchliche und dennoch korrelierte Aspekte der ästhetischen Erfahrung ans Licht. Man kann einerseits sagen, daß die Subjektivität, so wie sie sich im Spiel der autonomen Wirklichkeit des Spieles beugt, die sie überragt, sich auch vor der Transzendenz der Kunst verneigt. Man muß andererseits hinzufügen, daß diese Transzendenz keine gleichgültige, keine abgetrennte ist, da sie nämlich die Subjektivität aufs Spiel setzt, sie hineinzieht und gefangen hält. Dieses Gefangensein ist eine andere Art, um Verstehen zu sagen. Das Gedicht spricht mich an, das Gemälde schaut mich an. Die Subjektivität, die das Spiel der Kunst spielt, wird zu einer höheren Wirklichkeit erhoben, hört dabei jedoch nicht auf, angesprochen zu sein. Weil sie dem Anspruch der Kunst antwortet, bleibt sie sekundär. Dieser Anspruch scheint fast wie ein Diktat, eine Art Aufforderung zu sein, die auf den sakralen Charakter der Kunst, auf ihre Absolutheit, auf ihre Hoheit verweist. 12 Dies ist das Thema, auf dem Gadamer vor allem in seinen letzten Arbeiten insistiert. Die Absolutheit läßt an eine "Auszeichnung" denken. Und in der Tat verwendet Gadamer mehrmals dieses Wort. Doch dabei würde man wohl Gefahr laufen, in die "ästhetische Unterscheidung" zurückzufallen, die das Kunstwerk von der wirklichen Welt abtrennt und es in die Sphäre des schönen Scheins versetzt. Hier gilt es, Gadamer bis in die Feinheiten seiner Abgrenzung zu folgen. Das Kunstwerk zeichnet sich gegenüber der Wirklichkeit aus, doch es trennt sich nie von ihr. Darum spricht er von einer "ästhetischen Nicht-Unterscheidung", da diese eine Unterscheidung voraussetzt, die nicht als Auszeichnung, Wahrheit und Methode, GW 1, 111. Wahrheit und Methode, GW 1, 112. 12 JoAo MANUI~I. l>liQlll·:, Die Kunst als Ort immancmcr Transzendenz. Zu einer fund.uncnt;llthAMER,
am M.tin: Kncdn tlJ97.
62
III. Kapitel: In der Kunst verweilen
sondern als distinktiver Charakter aufzufassen ist. 13 Denn die Kunst ist wirklicher als die Wirklichkeit, sie ist ein Überschuß an Wirklichkeit, ein Zuwachs an Sein. Deshalb kann sie eine "Richtigkeit" für sich in Anspruch nehmen, gegen die keine wissenschaftliche Richtigkeit wird aufkommen können: die Richtigkeit einer astronomischen Entdeckung wird viel früher vergehen als die der Mona Lisa. Die Kunst kann eine Wahrheit beanspruchen, die sie zur Aussage macht. Kunst als Aussage lautet denn auch der Titel des 8. Bandes der Gesammelten Werke, der sich durchgängig mit der Ästhetik befaßt. Dieser Begriff der "Aussage" ist in einem polemischen Sinn der Logik entnommen, die jede Wahrheit auf eine propositionale Wahrheit verkürzt. Gadamer will damit sagen, daß die Kunst dank ihrer Wahrheit mehr Aussage als jede andere Aussage ist. Ihre Aussage ist eine Anrede; sie hört nicht auf, uns anzusprechen und uns zu einer Antwort aufzufordern. Diese Antwort ist ein Mitspielen, und zwar ein Mitspielen des Spiels der Kunst. Es ist in diesem Mitspielen, daß das Kunstwerk sich wirklich vollzieht.
2. Über die Verwandlung Es bleibt aber noch zu klären, inwiefern das Kunstwerk, als Spiel verstanden, nicht etwa nur ein flüchtiges Ereignis ist, sondern Beständigkeit und Autonomie als Werk erlangt. Gadamer spricht vom ontologischen Vorgang der Kunst als Emanation oder Darstellung. Wenn die Seinsweise des Spiels die der Selbstdarstellung ist, weil es nicht auf einen zweckmäßigen Zusammenhang verweist, so ist die Seinsweise der Kunst die der Darstellung. Denn hier öffnet der geschlossene Raum der Spielwelt eine seiner Wände und weist über sich hinaus auf diejenigen, die zuschauend daran teilhaben. 14 Kunst ist dann Darstellung von etwas und Darstellungfür jemanden. Hierin gewinnt das Sein des Kunstwerks Gestalt. In diesem Zusammenhang spricht Gadamer in Wahrheit und Methode von der "Verwandlung ins Gebilde". Was bedeutet dies? Verwandlung [...] meint, daß etwas auf einmal und als Ganzes ein anderes ist, so daß dies andere, das es als Verwandeltes ist, sein wahres Sein ist, dem gegenüber sein früheres Sein nichtig ist. 15
Gadamer will zunächst sagen, daß sich das Spiel der Kunst zu einem Gebilde verdichtet, in dem es die eigene "Idealität" erreicht. 16 Doch das Wort "Verwandlung" hat zahlreiche Nachklänge, die zur Klärung eines so komplexen Begriffs weiter bestimmt werden müssen. Wahrheit und Methode, GW 1, 122. Wahrheit und Methode, GW I, 114. GAnAMI~R, Wahrheit und Mt>tlmdc, GW I, lll1. GAUAMI·:K, Wahrheit und M"·thmh.·,CiW 1,JJ(,-117.
13 GAl>AMER,
14 1~
11'
Vgl.
GADA M ER,
2. Über die Verwandlung
63
Was dargestellt wird, verwandelt sich in ein Gebilde, das des Kunstwerks, dank dessen es einen Zuwachs an Sein erlangt oder besser - um den Irrtum zu vermeiden, der die Vorstellung einer Quantität nahe legen könnte- dank dessen es sein wahres Sein erlangt. Verwandlung ist in diesem Sinn "Verwandlung ins Wahre." 17 Dabei ist es keineswegs so, daß das Dargestellte etwa seine Identität verändern würde. Man denke an das Beispiel eines Porträts. Im Fall eines gelungenen Porträts kann man sagen: "das ist er" oder "das ist sie ganz genau"; im Fall eines mißlungenen Porträts sagt man dagegen: "das ist er nicht", "das ist sie gar nicht". In beiden Fällen geht es um dieselbe Person, nur läßt das gelungene Porträt ihr Sein erkennbar bzw. wieder erkennbar werden. Hierin liegt die "Seinsvalenz" des Bildes. 18 Diese Valenz tritt dort um so mehr zutage, wo die Kunst das darstellt, was nicht in Wirklichkeit existiert. Paradigmatisch ist das religiöse Bild - man denke an die Ikone der Ostkirchen - das "mit dem Abgebildeten seinsmäßig kommuniziert." 19 Verwandlung hat hier auch einen religiösen Anklang, und indem sie an die Epiphanie erinnert, deutet sie auf eine Erhöhung in einen Seinsrang, der neues Licht auch auf das wirft, was das Dargestellte einmal war. Aber die Verwandlung ist ein Vorgang, der nicht nur das Dargestellte betrifft. Die Kunst verwandelt auch denjenigen, der von ihr erreicht wird. Wer am Spiel der Kunst teilnimmt, kann sich der Verwandlung seines eigenen Seins nicht entziehen. Während sie das verwandelte Sein des Dargestellten offenbart, enthüllt die Kunst uns zugleich unser Sein, die Gesamtheit unseres In-der-WeltSeins, des Seins unserer Welt, das auf einmal verwandelt ist. Eine andere Art, um Verwandlung zu sagen, ist "Vermittlung", die wiederum den zweifachen Sinn der Ausführung und der Interpretation hat. Sie bezieht sich zum einen auf die Inszenierung und auf die Aufführung eines Werkes (man denke hier an ein Musikstück), zum anderen auf die Weise, in welcher der Zuschauer es interpretiert. Man muß hier von "totaler Vermittlung" reden; es bedeutet, daß nicht nur die Kunst mit ihrer Deutung verschmilzt, sondern auch, daß "das Vermittelnde als Vermittelndes sich selbst aufhebt." 20 Die Deutung ist nämlich gelungen, wenn sie sich nicht selbst zu erkef?.nen gibt, sondern das Kunstwerk zum Sprechen bringt. 21
GADAMER, Wahrheit und Methode, GW 1, 118. GAOAMER, Wahrheit und Methode, GW 1, 139. Vgl. dazu GuY DENIAU, Bild und Sprache. Ü bcr die Seinsvalenz des Bildes. Ästhetische und Hermeneutische Folgerungen (GW l, 139-176), in GüNTER FIGAL (Hrsg.), Hans-Georg Gadamer- Wahrheit und Methode 2007, 59-74. 1'1 GAJ>AMER, Wahrheit und Methode, GW I, 147. 10 (iAOAMEK, W.1hrhc:it und Methode:, GW 1, 125. 17
111
11
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in di"·"~·m 1\and K.lp. V111, 11.
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3. Zwischen Min1csisund Ani\111tH.•sis Wenn in Wahrheit und Methode zu lesen ist, dag die Kunst sich als Scinsgeschehen, als Welteröffnung, als Wahrheitsereignis auffassen läßt, so würde man erwarten, dem Namen Heideggers zu begegnen, der jedoch in dieser Ontologie des Kunstwerkes kein einziges Mal vorkommt. Dies ist schon sehr erstaunlich, zumal wenn man einige unverwechselbare Nachklänge von Heidegger vernimmt: Die Verwandlung ins Werk erinnert etwa an das "Ins-WerkSetzen der Wahrheit", von dem Heidegger in seinem berühmten Aufsatz Der Ursprung des Kunstwerks von 1935-1936 spricht. Noch erstaunlicher wird dieses Schweigen, wenn man bedenkt, daß Gadamer 1959 auf Heideggers Anraten ein wichtiges Nachwort zu dessen Aufsatz unter dem Titel Die Wahrheit des Kunstwerks für die Reclamausgabe geschrieben hat. 22 Denn zweifellos verdankt Gadamer seinem Lehrer viel gerade im Blick auf seine Auffassung der Kunst als seinsoffenbarende Erfahrung. Beiall diesen Affinitäten gibt es doch auch nicht wenige Unterschiede zwischen beiden Philosophen, die im Lauf der Zeit immer deutlicher hervortreten. Wichtig ist dabei vor allem, daß der philosophische Zusammenhang, in den Sein, Wahrheit und Werk eingefügt sind, völlig unterschiedlich ist- so wie ihre Einstellung zur "Seinsfrage", zur Metaphysik und zu deren Überwindung unterschiedlich ist. 23 Gadamer teilt weder Heideggers Idee der Seinsvergessenheit, welche die Geschichte der abendländischen Metaphysik gezeichnet habe, noch das Bedürfnis einer Überwindung der Metaphysik. In einem schlichtweg unmetaphysischen Sinn insistiert er hingegen auf der Reminiszenz des Seins, die er als das auffaßt, was die Subjektivität immer schon übersteigt. 24 So wird die vom Spiel gefangene Subjektivität in der Kunst über sich selbst hinaus geführt, bis sie die eigene Grenze erfährt bzw. sich an das Sein erinnert. Die Kunst ist für Gadamer eben diese Reminiszenz des Seins und die Begegnung mit dem Kunstwerk ein anamnetisches Wiedererkennen. Kunst ist Mimesis insofern sie immer Anamnesis ist. Damit markiert er den Abstand zu Heidegger durch die Wiederaufnahme zweierplatonischer Begriffe. Nach dem Triumph der Genieästhetik und der Durchsetzung der Wissenschaft, die der Kunst jeden Erkenntniswert absprechen, war der Begriff der Mimesis ganz aufgegeben worden. Gadamer versucht nun, ihn Zurückzugewinnen und zu rehabilitieren. Schon für A ristoteles ist die Mimesis keine bloße Wiederholung oder Kopie, die letztendlich auf eine Verdoppelung des Wirklichen hinauslaufen würde. "Wer nachahmt, muß weglasJetzt in GADAMER, Die Wahrheit des Kunstwerks {1960), in: Neuere Philosophie IHegel, Husserl, Heidegger, GW 3, 249-261. 23 Vgl. in diesem Band Kap. IV, 5; Kap. IX, 2. 24 Vgl. GADAMER, Wahrheit und Methode, GW J, 108. 22
65 Sl'n und lwrvorhdwn." ·'" PI.Huns l.chrc der Mimesis bietet ihrerseits zwar wichti~c Ans~itzc, lwn:itc:t jl·doc.:h i'.u~ll·irh Schwierigkeiten. In der Politeia stützt sich Platon hl·kanntlich ituf den ontologischen Unterschied, nicht nur um das Bild vom Urbild, und zwar den sinnlichen Gegenstand, der Bild ist, von dessen Idee, die Urbild ist, abzugrenzen, sondern auch um das Bild als solches, das heif~t als Abbild eines Bildes auf eine dritte Stufe herabzusetzen. Gadamer geht von dieser Herabsetzung aus und spielt gewissermaßen Platon gegen Platon aus. 26 Dabei kehrt er zunächst die Beziehung zwischen Bild und Urbild um, denn das Urbild ist immer nur im Bild da. Darüber hinaus behauptet er, daß dies umso mehr für das künstlerische Bild gilt, das, weit davon entfernt, auf einen Seinsverlust hinauszulaufen, ein Zuwachs an Sein ist. Gerade hier und nur hier, im künstlerischen Bild, läßt sich das Urbild erkennen bzw. wiedererkennen. Dieses Wiederkennen, das die Mimesis auslöst, ist immer ein "mehr" erkennen, als man vorher kannte. 27 Dies wird verständlicher im Licht dessen, was Platon im Phaidon über die Anamnesis sagt. 28 Wiedererkennen ist für ihn kein einfaches Erkennen, sondern eine Erinnerung an die eingeborenen Ideen. Aufgrund des höheren Seinsrangs, den diese haben, verweist die Anamnesis schon hier auf einen Zuwachs an Sein. In seinem Aufsatz Kunst und Nachahmung geht Gadamer jedoch noch weiter, indem er die platonische Mimesislehre durch die pythagoreische korrigiert. 29 Der damit eröffnete neue Aspekt der Mimesis darf schon deshalb nicht unbeachtet bleiben, weil die Erinnerung an das Urbild den Eindruck erwecken könnte, es handle sich um eine realistische Nachahmung, die auf das Wesen zielt. Die pythagoreische Mimesis führt die Idee einer kosmischen Ordnung ein - k6smos ist die Ordnung des Sternenhimmels, der für die Griechen das Glänzen des Schönen selbst ist. Nach dem antiken Wortgebrauch ist mimesis "von dem Sternentanz her gewählt." 30 Und die Sterne stellen die reinen mathematischen Gesetzlichkeiten und Proportionen dar. Nicht weniger als die himmlischen Harmonien sind die Sterne konstant und verläßlich im Vergleich zur Unbeständigkeit des menschlichen Lebens. In der Kunst findet daher ein Ordnungsbedürfnis Ausdruck, das sie vor dem Chaos auszeichnet, in dem für geGADAMER, Wahrheit und Methode, GW 1, 120. Vgl. in diesem Band Kap. VI, 5. 27 GADAMER, Wahrheit und Methode, GW 1, 119. 28 PLATON, Phaidon 72e-73b. Platons Dialoge werden zitiert nach: Platonis Opera, hrsg. von John Burnet, Oxford 1900-1907 (Die deutsche Übersetzungen von Platon sind von Friedrich D.E. Schleiermacher). Vgl. dazu DIETER TEICHERT, Erfahrung, Erinnerung, Erkenntnis: Untersuchungen zum Wahrheitsbegriff der Hermeneutik Hans-Georg Gadamcrs, Stuttgart: Metzler 1991; jAMES RISSER, The Rememhrance of the Truth. The Truth of Rcmcbrancc, in: BRICE R. WACHTERHAUSER (Hrsg.), Hermeneuries and truth, Chicago: Nnrthwcstcrn Univcrsity Press 1994, 123-136. 1'1 GA DA M FR, Kunst und Nachahmung (1967) GW 8, 25-36. 10 (;ADAMI'R, l>il·Aktuso wahr, so seiendso wahr, so seiend1\MJ-:R, Wahrheit und Methode, GW l, 122. 41
42
70
II/. 1\(tpitrl: in dr.•r 1\umt vrru•t•ilt•rl
gisch von seiner Darstellung nicht trennen. Während Gadamcr in den Arbeiten der letzten Jahre dem Verstchensvorgang, und zwar dem Hören und dem Antworten auf den Anspruch der Kunst, immer mehr Raum gibt, konzentriert er sich in Wahrheit und Methode vor allem auf den "Seinsvorgang der Darstellung."47 Dies tritt deutlich in den sogenannten "transitorischen", d.h. den reproduktiven oder darstellenden Künsten zutage. Es genügt, dabei an ein Musikstück zu denken, das es nicht gibt, solange es nicht aufgeführt wird. Das Beispiel der Musik ist das beredtste Beispiel. Doch dasselbe läßt sich auch für di~ Rezitation eines Gedichts oder die Inszenierung eines Theaterstücks sagen. Jede Darstellung bringt das Werk zum Sein, sie läßt es auf eine gewisse Weise sein. Die Darstellung ist daher immer auch eine Interpretation. Das Werk erlangt sein Sein nur insofern, als es interpretiert wird. Man darf hier jedoch nicht an eine Interpretation denken, die in die Subjektivität des Interpreten eingeschlossen bleibt. Denn das Werk muß zwangsläufig vor anderen aufgeführt werden. Dabei geht es nicht um eine bloß subjektive Vielheit von Interpretationen, sondern eher um mögliche Seinsweisen des Werkes. 48 Dessen ontologische Untrennbarkeit von seiner Aufführung verbietet jedoch nicht, es von dieser zu unterscheiden. So kann uns eine Inszenierung von Anton Tschechows Kirschgarten enttäuschen, weil uns etwa die Aktualisierung des Stücks zu weit geht. Die Inszenierung scheint uns dem Werk nicht gerecht zu werden, sie kommt uns daher nicht "richtig" vor. Und wir können dies behaupten, weil uns eine andere Aufführung vorschwebt, die uns richtiger vorkommt. Doch "richtiger" bedeutet hier nicht "richtig" in einem absoluten Sinn: die Vorstellung einer allein richtigen Darstellung widerspricht unserer Endlichkeit. So gibt es zwar keine richtige, ein für alle Mal festgelegte Darstellung, aber ebensowenig gibt es eine Willkür der Reproduktion. 49 Wir würden einem Geigenspieler niemals gestatten, aus einem Stück von Mozart alle möglichen beliebigen Effekte zu produzieren. Das heißt, daß alle möglichen, wie immer auch unterschiedlichen Darstellungen eines Werkes auch dort dem Kriterium einer "richtigen" Darstellung unterstellt bleiben, wo dieses Kriterium beweglich ist. Obwohl das Kunstwerk dergestalt von seiner Aufführung unterscheidbar ist, läßt es sich doch von ihr nicht trennen und bleibt auf sie angewiesen. Trittall dies bei den transitorischen Künsten, welche die Identität und Kontinuität des Werkes zur Zukunft hin offenhalten, deutlich hervor, so ist es hingegen bei allen anderen Künsten weniger klar. Läßt sich so etwas auch für die Malerei oder die Baukunst sagen? Oder für die Literatur? Gadamer glaubt, seine These auf alle Kunstformen ausdehnen zu können. Man muß jedoch her47 48
49
GADAMER, Wahrheit und Methode, GW 1, 122. Vgl. GADAMER, Wahrheit und Methode, GW 1, 123. Vgl. GADAMER, Wahrheit und Methode, GW 1, 124-125.
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vorhehcn, d,tH dit.~ in W,thrht'it und Methode der Kunst gewidmeten Abschnitte, keine umfassende und intcgrative Ästhetik anbieten wollen. Gadamer strebt vielmehr danach, von der Kunst her eine Wahrheit zurückzugewinnen, die den methodischen Wahrheitsbegriff aufs Spiel setzt und über die Kunst hinaus auf eine Hermeneutik hinweist, die sich am Leitfaden der Sprache als universal entlarvt. Die von der Kunst aufgezeigte Wahrheit ist die des verwandelten und dargestellten Seins, das als eine "gesteigerte Wahrheit" erkennbar wird. 50 Diese Wahrheit ist zugleich aber auch die Wahrheit einer Selbstbegegnung, die in der Kunst zustande kommt. Auch wenn die transitorischen Künste in dieser Hinsicht besonders anschaulich sind, so schließt dies nicht aus, daß der Seinsvorgang der Darstellung sich auch in den bildenden und in den plastischen Künsten ergibt. Gadamer nennt als Beispiel das Gemälde. Von seinem Rahmen umschlossen, erweist sich das Gemälde als vollkommen autonom und von jedwedem Ort unabhängig, so daß es ohne weiteres von einer Galerie zur anderen gebracht werden kann. Das Gemälde präsentiert sich hier als Hauptzeuge des ästhetischen Bewußtseins. Denn nichts an ihm scheint auf eine Vermittlung bzw. auf eine Darstellung zu verweisen. Die Schwierigkeit, zu zeigen, inwiefern sich dennoch auch das Gemälde als Bild nur in seiner Darstellung erfüllt, zwingt Gadamer, seine Konzeption der Darstellung noch genauer zu bestimmen. Zunächst gilt, was auch zuvor schon für jedes Kunstwerk gesagt wurde: Das Bild stellt etwas oder jemanden dar und es stellt dies für jemanden dar. Obwohl es sich als Bild nicht auf ein bloßes Abbild reduzieren läßt, hat das Gemälde dennoch keine autonome Realität und verweist auf ein Urbild. Die Beziehungen, die Gadamer zwischen diesen Begriffen umreißt, sind schon bei der Umkehrung der platonischen Mimesis hervorgetreten. Das Bild bestätigt also weiterhin seine Theorie über die" Seinsvalenz des Bilds." 51 Und es läßt sich leicht erahnen, daß man hier eine Antwort auf die Frage nach der Darstellung finden wird. Ein erster Schritt besteht darin, das Bild als Gemälde von einem einfachen Abbild zu unterscheiden. Das Abbild hat keinen anderen Zweck, als dem Urbild gleichzukommen. Das Kriterium, nach dem es sich bemißt, ist das der Adäquatheit. Insofern wäre das ideale Abbild das Spiegelbild, da man im Spiegel das Seiende selbst sieht. Doch hierbei handelt es sich genaugenommen nicht um ein Abbild, weil es nämlich nicht für sich besteht. Das Abbild will angeschaut werden. Aber das Abbild ist nur instrumentell; es ist ein Mittel, das auf das Urbild zurückweist und das, sobald es seinen Zweck erreicht hat, keinen Grund mehr zu existieren hat und sich aufhebt. Als Gemälde hingegen hebt sich das Bild keineswegs auf, weil es sich zu dem Urbild nicht wie ein Mittel zu
~° CAtMMFK, \I (;1\lli\MFH.,
W.thrhc.·it und Mcthodt'. GW 1, 142. W.thrhcit und Ml·tho(tc:·, GW I, 13'J-14lJ.
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einem Zweck verh:ilt. llier ist dils Bild .,verweisend, indem es verweilen läfh."~ 2 Der Zweck ist nicht das, was dar~estcllt wird, sondern wit: es dargestellt wird. Das Wie der Darstellung hängt mit dem Dargeste11ten aufs engste zusammen. Diese ontologische Untrennbarkeit, die auch seinen sakralen Charakter rechtfertigt, deutet bereits auf den Seinsrang des Bildes hin, der in seiner eigentümlichen Beziehung zum Urbild allerdings noch weiter ans Licht tritt. Das Bild ist in der Tat mehr als ein einfaches Abbild, denn es "sagt über das Urbild etwas aus." 53 Die Beziehung ist hier keine einseitige mehr. Das Urbild braucht das Bild, das es darstellt, um sich selbst darin darzustellen. Dies bedeutet nicht, daß es dieses bestimmte Bild braucht; es könnte durchaus auch in einem anderen zur Darstellung kommen. Die Darstellungsart ist aber für sein Sein nicht akzidentell. Vielmehr verändert jede Darstellung den Seinszustand des Dargestellten, das hier einen "Zuwachs an Sein" erlangt. 54 Die Beziehung kehrt sich um:
'
Strenggenommen ist es so, daß erst durch das Bild das Urbild eigentlich zum Ur-Bilde wird, d.h. erst vom Bilde her wird das Dargestellte eigentliche bildhaft. 55
Dies gilt auch für die banalsten Gegenstände des alltäglichen Lebens, die am ehesten vergessen und am wenigsten wahrgenommen und beachtet werden, die aber plötzlich, dank ihrer Darstellung in einem Bild, eine neue Seinswürde erlangen. Es ist dies etwa der Fall bei einem Stilleben. Man könnte aber auch zahlreiche Beispiele aus der zeitgenössischen Kunst heranziehen: von den Schuhen van Goghs bis zum Stuhl von Matisse. Gadamers These hat jedoch ein anderes Thema im Visier, das sie in einer sonderbaren Art radikalisiert, jedoch gerade dadurch ihre Aktualität belegt: Wer in einem Bild erscheint, neigt schon deshalb zur Darstellung, weil er eine repräsentative Funktion erfüllt. Dies ist der Fall des Herrschers, des Staatsmanns oder des Helden. Ein solches Repräsentationsbild scheint seinen Rang zu verlieren, weil es die Notwendigkeit des Dargestellten darstellt, sich darzustellen. Doch genauer betrachtet soll das Dargestellte der Erwartung entsprechen, die man von seinem Bild hegt. Das Paradox liegt darin: Ist das Bild nur das Sichoffenbaren des Urbildes, so wird dieses zum Urbild erst in dem Bild. Wer sich zeigen muß, der gehört nicht mehr sich selbst und muß "sich schließlich so zeigen, wie sein Bild es vorschreibt." 56
GADAMER, Wahrheit und Methode, GW 1, 158. GADAMER, Wahrheit und Methode, GW 1, 145. 54 GADAMER, Wahrheit und Methode, GW 1, 145. Vgl. dazu GoTTFRIED BoEHM, Zuwachs an Sein. Hermeneutische Reflexion und bildende Kunst, in: HANS-GEORG GADAMER (Hrsg.), Die Moderne und die Grenze der Vergegenständlichung, München: Klüser 1996, 95-125; vgl. auch BoEHM, Das Bild und die hermeneutische Reflexion, in: GüNTER FIGALI HANS-HELMUTH GANDER (Hrsg.), Dimensionen des Hermeneutischen. Heidegger und Gadamer, Frankfurt am Main: Klostermann 2005, 23-35, insb. 29 f. 55 GADAMER, Wahrheit und Methode, GW 1, 146 f. 5l• GADAMF.R, Wahrheit und Methode, GW I, 147. 52
53
73
7. I >ic ( >kkasionalität der Kunst Die Darstellung, die sich für die plastischen ebenso wie für die transitorischen Künste als konstitutiv erweist, scheint das Kunstwerk eng mit der in ihm dargestellten Welt zu verbinden. Das Porträt, aber auch das Widmungsgedicht und die Komödie können hierzu vielsagende Beispiele liefern. 57 So schließt das Porträt, das alle Aufmerksamkeit auf sich zieht, in seinen Bildgehalt den Verweis auf das Urbild ein. Dieser Verweis scheint jedoch zu jedem Kunstwerk zu gehören, das sich darum stets in einen Lebenshorizont einfügt. Dies bedeutet, daß das Kunstwerk als solches mit einer Situation bzw. mit einer Okkasion zusammenhängt. Von "Okkasionalität" kann man in Bezug auf jedes Werk reden, selbst wenn es auf den ersten Blick nicht okkasionell zu sein scheint. Okkasionalität besagt, daß die Bedeutung sich aus der Gelegenheit, in der sie gemeint wird, inhaltlich fortbestimmt, so daß sie mehr enthält als ohne diese Gelegenheit. 58
Diese der Kunst innewohnende Okkasionalität, die bei Gadamer in der Sprache ein Pendant finden wird, bildet ein zusätzliches Argument gegen die Abstraktion des ästhetischen Bewußtseins. Es könnte zwar auch als eine historistische oder historisierende Betrachtung gedeutet werden, so als ob man von dem historischen Kontext ausgehen müßte, um ein Werk zu interpretieren. Gadamer aber will sowohl das ästhetische Bewußtsein vermeiden, das die Kunst aus der Kontinuität des Lebens abstrahiert, als auch den Historismus, der gern vergißt, daß das Werk ein Kunstwerk ist. Um deshalb nicht in einem historisierenden Sinn mißverstanden zu werden, spricht er von einer "allgemeinen Okkasionalität."59 Dabei stellt er klar, daß es zur Deutung eines Werks keineswegs nötig ist, das Problem des Bezugs zu lösen, das heißt die Entstehungszusammenhänge zu rekonstruieren. Es hilft nichts, alle Bezüge zu kennen, um etwa eine Satire von Horaz zu verstehen. Auf der anderen Seite aber hält Picassos Guernica seine Bezüge aufrecht und wird sie aufrechterhalten, auch wenn diese nicht mehr bekannt sein sollten. Die Okkasionalität ist daher nichts anderes als der Sinnverweis des Werkes auf das Urbild. Seine Okkasionalität ist auch die unsrige, diejenige unserer Welt. Der okkasionelle Sinn des Werkes ist immer auch der Sinn, den es im Lauf seiner Wirkungsgeschichte für uns erlangt. Deshalb bestimmt sich dieser Sinn ständig neu. Beispiele dafür bieten die Skulptur und die Architektur an. So wachsen etwa der Plastik und dem Denkmal in unserer Welt neue Funktionen und neue Aufgaben zu. Aber noch bezeichnender ist in vielerlei Hinsicht der ~ 7 Über das Porträt als "ikonischen Logos" vgl. GoTTFRIED BoEHM, Bildnis und Indi-
viduum. Über den Ursprung der Porträtmalerei in der italienischen Renassaince, München: Prcstcl 1985. '\H GAl>AMt:R, Wahrheit und Methode, GW I, 149. "'' (;ADAM FR, Wahrhl·it und Methode, GW 1, 153.
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I li. Kapitel: In der Kunst verweilen
Fall der Architektur. Für das ästhetische Bewußtsein handelt es sich dabei um eine Kunstform, die wegen der praktischen Dimension, die sie charakterisiert, nur einen marginalen Stellenwert hat und schon fast nicht mehr zur Ästhetik gehört. Doch die Architektur ist ein Problem auch für das historische Bewußtsein, weil ein Bauwerk sich in einer neuen Gegenwart nur insofern durchsetzen kann, als es den veränderten Forderungen seiner Umwelt entspricht. Auch hier liegt das Werk in der Darstellung, und seine Seinsvalenz ist keine statische. Das Werk bleibt nämlich nicht in seiner ursprünglichen Welt fixiert und sein Weiterleben ist keineswegs eine Art Entfremdung. 60 Vielmehr verlangt es eine Vermittlung zwischen Vergangenheit und Gegenwart. Beredte Beispiele hierfür sind etwa das Musee d'Orsay in Paris oder die Tate Gallery in London: ein ehemaliger Bahnhof und eine ehemalige Fabrik, die zum Museum umgebaut worden sind. Die Okkasionalität zeichnet so die Aufgabe vor, ein Werk jeweils in seinen veränderten Kontexten zu verstehen und zu situieren. Von Wahrheit und Methode bis hin zu seinen letzten Aufsätzen hat deshalb gerade die Architektur für Gadamer einen paradigmatischen Wert, der sich nicht nur aus diesem ihrem Vollzugscharakter ergibt, sondern auch aus dem eigentümlichen Verstehen, das sie uns abverlangt. Und Verstehen heißt hier "Besuchen", "Begehen" und "Bewohnen."61 In seiner Ontologie der Kunst geht Gadamer schließlich auch ~uf die Kunst des Dekorativen ein, die gewöhnlich als Gegensatz zur eigentlichen schöpferischen Kunst gesehen und daher aus der Ästhetik vertrieben wird. Sie bietet ihm erneut die Gelegenheit, seinen Begriff der Okkasionalität und vor allem den der Darstellung auf die Probe zu stellen. Denn die Dekoration ist durchaus nichts Äußerliches, sondern gehört vielmehr zur Erscheinungsweise dessen, der es trägt. 62 Es ist also das Ornament, welches das Sein des Trägers zum Vorschein bringt und es erst sein läßt. Das Sein ist überhaupt erst im Seinsvorgang der Darstellung da. Auch dieser Fall entspricht also Gadamers Anliegen, zu zeigen, daß Darstellung allen Künsten wesentlich ist. Die Darstellung verweist auf ein Sein, das nur in diesem Vorgang liegt und nur hier zu seiner Wahrheit kommt. An der Darstellung nimmt aber immer auch der Zuschauer teil, der von seiner Gegenwart her in das Spiel der Kunst einbezogen wird.
60 61 62
GADAMER, Wahrheit und Methode, GW 1, 162. GADAMER, Über das Lesen von Bauten und Bildern (1979), GW 8, 331-338, hier 334. GADAMER, Wahrheit und Methode, GW 1, 164.
8. Spiel, Kunst, Fest
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8. Spiel, Kunst, Fest In Gadamers Skizzierung des Darstellungsvorgangs scheint sich eine Frage anzudeuten, die sich auch in Bezug auf die Zeit der Kunst, auf jene Gegenwart der Vergangenheit stellt. Es ist die Frage nach der Identität eines Gebildes, das durch die Geschichte und deren Differenzierungen hindurchgeht. Um was für eine "Identität" handelt es sich hier, wenn das Kunstwerk doch durch die Darstellung jeweils aufs neue ins Leben gerufen wird? Ist es überhaupt berechtigt, einen Anspruch auf Identität zu erheben? Diese Frage ist deshalb so komplex, weil sie sich über den Zusammenhang hinaus, in dem sie sich stellt, als eine sehr viel umfangreichere philosophische Frage erweist. In Zweifel steht der metaphysische Begriff der Identität, der schon durch den Begriff des "Spiels" erschüttert worden ist. Nach der Phänomenologie des Spiels hat die Phänomenologie der Kunst weiterhin dazu beigetragen, ihn zu unterminieren. Aus der Erfahrung der Kunst entsteht also das Bedürfnis sowohl nach einerneuen Auffassung der Wahrheit als auch nach einer neuen Betrachtung der Identität. In den Jahren nach Wahrheit und Methode spricht Gadamer deshalb von einer "hermeneutischen Identität". 63 Denn es ist "die hermeneutische Identität, die die Werkeinheit stiftet."64 Es handelt sich um eine Identität, die nur in ihrer Differenz, nur in ihrer Differenzierung ist, das heißt in der radikalen Temporalität ihres Werdens, Wiederkehrens, Rekurrierens. 65 Diese Identität hat das Paradox einer Wiederholung des U nwiederholbaren an sich. Wiederholung meint hier freilich nicht, daß etwas im eigentlichen Sinne wiederholt, d.h. auf ein Ursprüngliches zurückgeführt würde. Vielmehr ist jede Wiederholung gleich ursprünglich zu dem Werk selbst. 66
Die neue Identität, die hier ans Licht tritt, ist eine Identität, die sich nur in der Differenz bildet. Daher zeigt sich die Differenz als unerläßlich für die Identität. Obwohl Gadamer von der Identität her zur Differenz kommt und nicht umgekehrt, sollte man seine Nähe zu Derrida hier keineswegs außer Acht lassen. 67 Um diese neue hermeneutische Identität zu erhellen, die uns schon beim Spiel und bei der Kunst begegnet ist, beruft sich Gadamer auf das "Fest". Die Feierlichkeit der Kunst und das Thema des Festes durchziehen sein ganzes Denken, von Wahrheit und Methode bis zum Beitrag über Kunst als Spiel, Symbol, Fest GADAMER, Die Aktualität des Schönen, GW 8, 116. GADAMER, Die Aktualität des Schönen, GW 8, 116. 6s Neue Überlegungen zu diesem Thema in: BELA BAcs6, Die "Wiederholung" als ästhetische und existenzielle Kategorie, in: Die Unvermeidbarkeit des Irrtums. Essays zur Hermeneutik, Cuxhavcn/Dartford: Junghans 1997, 57-66. 6t, GAI>AM~R. Wahrheit und Methode, GW 1, 127 f. " 7 V~l. in diesem Band Kap. X, 4. 63
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7(, von l'J74 und dt.·m Auf'siltz Zur PhJnomc•nolof,Ü.' von Ritual ur1d Sprache von 1992. Was aber ist ein l:cst? Man künntt.• zunächst ;tntwortcn: "Das Fest ist nur, indem es gefeiert wird."l,K Ein Fest zu begehen, es zu feiern, dies bedeutet nicht
einfach, daß man nicht arbeitet. Mehr als die Arbeit, stiftet das Fest ein Gemeinsam-Sein. Ein Fest ist da, wenn eine Gemeinschaft sich versammelt, und die Gemeinschaft ist eine solche dank des Festes. Doch dies ist etwas, was wir kaum mehr kennen. "Es ist eine Kunst, zu feiern." 69 Diese Kunst, die den Antiken wohlbekannt war und die zugleich die Kunst des Zusammenseins ist, wird immer seltener. Um die vielschichtige Zeiterfahrung des Festes zu verstehen, ist das Wort "Begehung" wichtig, das auf das "Gehen" verweist/ 0 Doch es ist nicht ein Gehen, um ein Ziel zu erreichen. Vielmehr ist das Ziel schon beim Gehen erreicht. Das Fest ist da, es hat sein Dasein in der Weile, in der es begangen wird. Doch die Gegenwart des Festes ist keine einfache, sondern eine Gegenwart, in welcher die Vergangenheit wieder-kehrt und re-kurriert. Daher spricht man von der Wiederkehr des Festes. Die Wiederkehr gehört zum Fest nicht weniger als die Gemeinschaft, die es begeht. Wiederkehren bedeutet, daß sich ein vergangenes Ereignis seiner Unwiederholbarkeit zum Trotz in der Gegenwart wiederholt. Daher ist jedes Fest stets identisch und stets anders. Es ist identisch, weil es dieses eine Fest ist, das wiederkehrt, wie zum Beispiel Ostern. Und es ist anders, weil es stets auf unterschiedliche Weise gefeiert wird. Es verweist auf kein ursprüngliches historisches Ereignis, das in der Erinnerung gegenwärtig wird. Selbst wenn der größte Teil der Feste auf ein solches Ereignis zurückgehen mag, so gibt es Feste doch nur im rituellen Vollzug ihrer Begehung. Dies zeigt der Umstand, daß oftmals niemand mehr an jenes ursprüngliche ~reignis denkt. So wird zwar in jedem Sommer das Schloß in Heidelberg beleuchtet und alle nehmen an diesem Fest teil, doch nur wenige erinnern sich beim Feiern des Festes daran, daß es an die große Einäscherung Alt-Heidelbergs während des Abzugs der Franzosen im 17. Jahrhundert gemahnt. 71 Die Wiederkehr des Festes hat daher seine "Eigenzeit." 72 "Das ist das Feiern. Der berechnende, disponierende Charakter, in dem man sonst über seine Zeit verfügt, wird im Feiern sozusagen zum Stillstand gebracht." 73 Die Zeit des Festes ist für Gadamer sehr wichtig. Erstens deshalb, weil die wiederkehrenden Feste nicht in eine Zeitordnung eingetragen werden können, sondern weil umgekehrt die Zeitordnung erst dadurch entsteht, daß sie nach GADAMER, Wahrheit und Methode, GW 1, 129. GADAMER, Die Aktualität des Schönen, GW 8, 130 f. 70 GADAMER, Die Aktualität des Schönen, GW 8, 131. 71 Vgl. GADAMER, Zur Phänomenologie von Ritual und Sprache (1992), GW 8, 400-440, hier 415. 72 GADAMER, Die Aktualität des Schönen, GW 8, 133. 73 GADAMER, Die Aktualität des Schönen, GW 8, 133. 68
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77 dt·r Wit•th·rkdu dt•r h·stt· ~k.-ndic.·rt wird- angdangl'n mit dl'mjahr selbst. Und zweitens, weilth.·r Prim.u der Wiederkehr des Festes der Primat dessen ist, was zu seiner Zeit kommt und seine eigene Zeit hat, die sich weder berechnen noch ausfüllen läfh. Die pragmatische Erfahrung der Zeit ist die Erfahrung der scheinbar zur Verfügung stehenden Zeit, die Zeit, die man für etwas hat oder zu haben meint; dies ist jedoch eine "leere Zeit", die durch die Geschäftigkeit aufgefüllt werden oder in der Langeweile leer bleiben kann. Die Zeit des Festes ist dagegen eine "erfüllte Zeit", welche die Zeit der Berechnung zum Stillstand bringt und verweilen läßt, eine Zeit dieser Begehung, welche die Begehung der Zeit selbst ist.74 Die Erfahrung des Festes scheint also der Erfahrung der Kunst ähnlich zu sein, weil sie dazu einlädt, zu verweilen, teilzunehmen, dabeizusein. Wie es sich aber beim Spiel verhält, so auch in der Kunst und beim Fest: Wer an der Ausführung teilnimmt, wer mitspielt und mitfeiert, der wird verändert, verwandelt, aus seiner Subjektivität zu einer höheren Wirklichkeit erhoben, welche die einer nahezu "sakralen", alle ergreifenden Gemeinsamkeit ist/5
9. "So ist es!" Die Kunst und ihre Wahrheit Das Verweilen beim Kunstwerk hat für Gadamer einen sehr hohen Stellenwert, der sogar über die Kunsterfahrung selbst hinausgeht. Doch was heißt es, zu verweilen? Die bloße Unterhaltung, im Sinn von entertainment und divertissement, ist etwas ganz anderes als das Verweilen, das vielmehr dem Schauen nahe steht. Doch Schauen wiederum ist kein bloßes Zuschauen. Das griechische Wort theoria wird schon in Wahrheit und Methode mit der sakralen Kommunion des Festes und der Kunst in Zusammenhang gebracht/6 Theoria meint hier, an einem festlichen Akt teilzunehmen und ganz hingegeben zu sein. 77 Theoria ist wirkliche Teilnahme, kein Tun, sondern ein Erleiden (pathos), nämlich das hingerissene Eingenommensein vom Anblick. 78
Der theoros, der dabei ist und am Ritus des Festes teilnimmt, ist außer sich. Dieses Außersichsein ist aber nichts anderes als jene ekstatische Selbstvergessenheit, die sich ergibt, wenn man hingerissen und ganz eingenommen ist. "In Wahrheit ist Außersichsein die positive Möglichkeit, ganz bei etwas dabei zu Zu dieser Unterscheidung vgl. GADAMER, Über leere und erfüllte Zeit (1969), GW 4, 137-153. 75 Vgl. GADAMER, Wahrheit und Methode, GW 1, 129; Überdie Festlichkeit des Theaters (1954), GW 8, 296-304, hier 298. 76 Vgl. GAI>AMER, Wahrheit und Methode, GW 1, 129. 77 Zur Frage n;H.:h dem thc~oros vgl. Guv lh:NJAU, Cognitio imaginativa. La phenomenologit.• ht.•rmC:m·utiquc dc (iadamcr, Brüsscl: Uusia 2002, hit.·r 159-320. lH (;1\J)AMI . K, w.lhrlu·it und Mt•thodc, c;w I, 130. 74
7H
111.
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scin." 7'1 D.ts l>&tbcisl·in isl dc:mn•tch t'inc ,,ufnu·rks.unc Zuwendung, die deshalb einer Kontinuität mit sich selber entspricht. HO Bereits mit der Kultur hat mangelernt, die eigenen unmittelbaren Interessen zu vergcsscn.Hl Und so zeichnet das Außersichsein, das sich als Dabeisein aufdeckt, über die Kunsterfahrung hinaus die hermeneutische Haltung sich selbst und den anderen gegenüber aus. 81 Doch das wartende und gewahrende Verweilen hat noch eine weitere Bedeutung, die in dem grundlegenden Aufsatz von 1992 hervortritt, der die letzte Etappe von Gadamers ästhetischem Denken ausmacht: Wort und Bild- ,so wahr, so seiend'. 83 Wer hingerissen ist, wer etwa an einem Kult teilnimmt, läßt das Göttliche "herauskommen". 84 Das Verweilen ist hier mit dem Göttlichen im Falle des Kults, und mit dem "Herauskommen" der Wahrheit im Fall der Kunst verbunden. Um diese Verbindung zu klären, hebt Gadamer vor allem auf Platons Philebos ab, in dem das Werden als ein Werden zum Sein gedeutet wird, das dem Sein etwas von seinem Gewordensein beläßt. "Das Sein kommt aus dem Werden heraus." 85 Von diesem Werden zum Sein ist Aristoteles in seiner Physik zwanglos zum Sein des Werdens übergegangen und hat in diesem Zusammenhang den Begriff der energeia eingeführt. Diese deutet die "Gleichzeitigkeit" an, welche die Zeitstruktur jener Tätigkeiten charakterisiert, die kein Ziel über sich hinaus haben, wie das Sehen und Gesehenhaben, das Betrachten und Betrachtethaben. Das Zugleich charakterisiert auch das Verweilen, das ein Dabeisein bei dem meint, in das man versunken ist und in dem man aufgeht. Aristoteles führt als Beispiel das Leben an, und Gadamer nimmt dieses Beispiel wieder auf. Verweilen ist hier eine andere Art, um zu sagen, "daß man ,am Leben ist'." 86 Doch was geschieht, wenn man die Einladung der Kunst annimmt und im Bild oder im Wort verweilt? Verweilen bedeutet nicht, etwas durchzuführen, dieses oder jenes zu tun, sondern derart ganz dabei zu sein, daß man das Kunstwerk herauskommen läßt- und dieses Lassen ist wie ein Machen. 87 DasHerauskommen zeichnet die Erfahrung der Kunst aus. "Wir sind dabei- und am Ende vertieft sich der Eindruck immer mehr: ,So ist es.'." 88 Wir sagen "So ist es", "es
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GADAMER, Wahrheit und Methode, GWl, 131. Vgl. GADAMER, Wahrheit und Methode, GW 1, 130 f. Vgl. in diesem Band Kap. II, 2. Vgl. in diesem Band Kap. IX, 5. GADAMER, Wort und Bild- >So wahr, so seiend•, GW 8, 373-399. GADAMER, Wort und Bild- >so wahr, so seiend•, GW 8, 389. GADAMER, Wort und Bild- >So wahr, so seiend•, GW 8, 386. Vgl. PLATON, Philebos,
27b 8. GADAMER, Wort und Bild- >SO wahr, so seiend·, GW 8, 387. Über Kunst als energeia vgl. DIETER TEICHERT, Kunst als Geschehen. Gadamers antisubjektivistische Ästhetik und Kunsttheorie, in: lsTVAN M. FnffR (Hrsg.). Kunst, Hermeneutik, Philosophie 2003, 193-217, insb. 211 ff. Kl GADAMER, Wort und Bild- >so wahr, so seiend•, GW 8, 389 f. KK GA I>A M ER, Wort und Bild- •so wahr, so sGeschichtliche Vorbereitung< von Wahrheit und Methode wieder aufgenommen und damit vor allem das historiographische Muster bestätigt hätte, in dessen Licht die Genealogie der Hermeneutik gewöhnlich gelesen wird. 7 Dieses Muster, das in fast allen darauf folgenden Rekonstruktionen der stets streng im Singular aufgefaßten Hermeneutik wiederholt wird, läßt sich leicht in seinen Einzelschritten zusammenfassen. Die antike hermeneia, die in der griechischen Welt die Kunst des Sprechens, Verkündens, Erklärens, Übersetzens ist, bringt nur verstreute und unzusammenhängende Regeln hervor. Für eine erste Wende steht Luther (1483-1546), der mit dem Prinzip sola scriptura eine von allen Autoritäten befreite Exegese verteidigt. Doch die sakrale Hermeneutik verknüpft sich bald mit der weltlichen Hermeneutik, und zwar vor allem mit der humanistischen Philologie, die wieder einen kritischen Zugang zu den Klassikern eröffnet. 8 Für die zweite Wende, die den Übergang
Vgl.jEAN GRONDIN, Einführung in die philosophische Hermeneutik, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1991, insb. 1-20. Auf den Bruch in der Traditon der Hermeneutik und auf deren fragwürdige .,Identität" lenkt die Aufmerksamkeit joHN WRAE STANl.EY, Die gebrochene Tradition. Zur Genese der philosophischen Hermeneutik HansGeorg Gadamers, Würzburg: Königshausen & Neumann 2005, insb. 11-112; vgl. auch GüNTER FIGAL, Die Komplexität philosophischer Hermeneutik, in: Der Sinn des Verstehens, Stuttgart: Reclam 1996, 11-31. fl WILHELM DILTHEY, Die Entstehung der Hermeneutik (1900), in: Gesammelte Schriften (im folgenden GS), Band V, hrsg. von Georg Misch, vierte Auflage, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 1964,317-338. Zu einem Überblick vgl.JosEF BLEICHER, Contemporary Hcrmcneutics. Hcrmcneutics as Method, Philosophy and Critique, London: Routledge & Kcg;w 1980; vgl. auch ERWIN HUFNAGEL, Einführung in die Hermeneutik (1976), zweite Auflage, St. Augustin: Al:;\dl·rnia 2000; HANS INEICHEN, Philosophische Hermeneutik, Frciburg/Münda·n: All,t.•r l'J'JI. 7 V~l. ( ;J\ DJ\ MI K, w.. t...twit UIH.I Mc.·thut.ic:, GW 1, 177-221. " ~->• i-.r inll'lt.'""·'"' JliiH'IIIc·du·u, d.1f~ sidt t.lil·llcrmt.•m·utik in der Vcr~angcnhcit oftmals 5
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von der "Vorgeschichte.. :t.ur d~cntlichen "Gesd1idatt·.. m~rkicrt, ~tcht Friedrich D.E. Schleiermacher (1768-1834}, dem das Vc.·rdienst zukommt, die Hermeneutik zu einer allgemeinen Verstehenskunst vereinheitlicht zu haben. Weitet Dilthey diese Kunst zu einer Methodologie der Geisteswissenschaften aus, so befreit Heidegger sie aus der Methode und siedelt sie auf dem Boden der menschlichen Faktizität an. Schließlich gelangt Gadamer zur Begründung einer philosophischen Hermeneutik, die den Anspruch auf Universalität erhebt. Dieses Muster setzt nicht nur eine Vorgeschichte und eine Geschichte voraus, sondern unterscheidet auch zwischen einer "klassischen" und einer im Sinn Heideggers und Gadamers "philosophischen" Hermeneutik. Darin liegt gewiß ein Widerspruch: Auf der einen Seite findet die Geschichte der Hermeneutik ihr Telos in der philosophischen Hermeneutik, und auf der anderen Seite gewinnt diese an Profil, indem sie den Bruch mit der klassischen Hermeneutik hervorhebt. Vor diesem Hintergrund wird es leicht nachvollziehbar, warum Gadamers Rekonstruktionen in Wahrheit und Methode- zum Beispiel die Schleiermachers und Diltheys -oftmals Dekonstruktionen sind. Nach den kritischen Einwänden, die ihm entgegengehalten wurden, hat Gadamer zwar den Kontrast zwischen klassischer und philosophischer Hermeneutik abgeschwächt.9 Doch hat er auch in späteren Arbeiten dieses Muster weiterhin vorgeführt, wie etwa in der Anthologie Seminar: Philosophische Hermeneutik, die er gemeinsam mit Gottfried Boehm herausgegeben hat, und im Artikel Hermeneutik, der 1974 für das Historische Wörterbuch der Philosophie geschrieben wurde. 10
als antidogmatisch und antitraditional erwies und sie dort eine Rolle spielte, wo religiöse, kulturelle oder politische Konflikte aufgetreten waren. 9 Vgl. insbesondere EMILIO BETTI, Allgemeine Auslegungslehre als Methodik der Geisteswissenschaften, Tübingen: Mohr Siebeck 1967 (ital. Teoria generale deWinterpretazione, 1955); ERIC D. HIRSCH (1967), Prinzipien der Interpretation, München: Fink 1972 (engl. Validity in Interpretation, New Haven: Yale University Press 1967); THOMAS M. SEEBOHM, Zur Kritik der hermeneutischen Vernunft, Bonn: Bouvier 1972. 10 HANS-GEORG GADAMER, Hermeneutik, in: Historisches Wörterbuch der Philosophie, hrsg. von Joachim Ritter und Kar] Gründer, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Band 3, 1974, Sp. 1061-1073; vgl. auch Klassische und philosophische Hermeneutik (1968), GW 2, 92-117.
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2. I >iL• Kun~cni.tlit~it des Vcrstchcns. Wt·ldll'l. Sc:h lcicrmachcr? Die Auscinandersl·tzun~ mit der klassischen Hermeneutik fängt mit der Rekonstruktion von Schleiermachcrs Entwurf an. 11 In diesem Zusammenhang ist es sogleich geboten, zwei große Grenzen dieser Rekonstruktion hervorzuheben: zum einen greift sie auf das Bild des romantischen Philosophen zurück, das Dilthey schon skizziert hatte; zum anderen tut sie Schleiermacher unrecht, da sie ihm nämlich vorwirft, seine Hermeneutik sei noch von einer "ästhetischen Metaphysik der Individualität" beherrscht, die ihn dazu gebracht habe, das hermeneutische Problem aus dem Blick zu verlieren. 12 Der Begründerder modernen Hermeneutik hätte sozusagen die Hermeneutik verfehlt. Eine solche kritische Rekonstruktion entspricht offensichtlich Gadamers strategischer Zielsetzung, der eigenen Wende ein schärferes Profil zu verleihen. Dazu stehen ihm zwei Wege offen: Er kann aus Schleiermacher entweder eine Art von Anti-Hegel machen, das heißt einen Philosophen der Empathie, der Sympathie und des psycho-genialischen Verstehens, von dem man Abstand zu nehmen hätte; oder er kann die Bedeutung anerkennen, die Schlei~rmacher der grammatischen Seite der Interpretation zuschreibt, um damit das weise Gleichgewicht zur Geltung zu bringen, mit dem dieser den gegenseitigen Zusammenhang von Sprache und Individuum umreißt. Im letzten Fall hätte Gadamer hier ein Modell für den dritten, der Sprache gewidmeten Teil von Wahrheit und Methode finden können. Eine indirekte Anerkennung dieser zweiten Möglichkeit stellt der Satz Schleiermachers dar, den Gadamer als Motto für sein Sprachkapitel wählt: "Alles Vorauszusetzende in der Hermeneutik ist nur Sprache." 13 Aber Gadamer schlägt den ersten Weg ein. Dies hat ihm zahlreiche Kritiken eingebracht. 14 Zu seiner Verteidigung läßt sich jedoch anführen, daß er aufgrund einer mehrmals betonten Solidarität mit Vgl. GADAM ER, Wahrheit und Methode, GW 1, 188-200. GADAMER, Wahrheit und Methode, GW 1, 193. 1.\ GADAMER, Wahrheit und Methode, GW 1, 387. Vgl. FRIEDRICH DANIEL ERNST S.lS i nd ividud lt• A ll~t·mei m·. Tex tstruktu ricru ng und -i nterpretation nach Schleierm.u·lwr, Fr.tnk fun 0'\IH Main: Suhrkamp 1977; RoN BoNTEKOE, A Fusion of Horizont: (;,uLmwr ;tnd Sl'hlt·il·rm.t~.:lwr, in: lntern.ttional Philosophical Quarterly 27 (1987), 3-16; C111USTJAN lht(NFIIHA AKNI>T, S~.:hll·icrm:H:hers Hermencu-
HH der romantischen Hermeneutik auch die Aporien uffcnlegt, die sowohl bei Schleiermacher als auch bei Dilthcy aus einer noch viel zu methodologischen Darlegungsweisc der hermeneutischen Frage entstehen. Man darf ferner nicht vergessen, daß ohne Gadamers Rekonstruktion heute kaum jemand über Schleiermachers oder Diltheys Hermeneutik sprechen würde. Schleiermacher wäre vielleicht nur noch ein bedeutender protestantischer Theologe, der in Deutschland für seine Platonübertragungen berühmt ist und Dilthey wäre wohl nur noch für seine Studien zur Geschichte der Philosophie und zur Methodologie der Geisteswissenschaften anerkannt. Wie sehr sie auch ungerechtfertigte Kritik enthalten mag, so hat sich seine Rekonstruktion doch in beiden Fällen als eine Wied~rentdeckung erwiesen. In seiner Deutung Schleiermachers hat Gadamer die Hermeneutik mit der Ästhetik, nicht mit der Dialektik und der Ethik in Verbindung gebracht. Darum zieht er die "psychologische" der "grammatischen" Interpretation vor, auch wenn bei Schleiermacher beide Seiten vorhanden sind. Wie zeichnet sich dann der hermeneutische Akt bei Schleiermacher ab? Die Kluft zwischen Autor und Interpret scheint bei ihm psychologisch "durch das Gefühl, also ein unmittelbares sympathetisches und kongeniales Verstehen" überschritten zu werden. 15 Das Verstehen sei für Schleiermacher deshalb die Nachbildung einer ursprünglichen Produktion. Deshalb sei es ihm darum gegangen, zu jenem "Keimentschluß" zurückzugehen, das heißt zu jenem lebendigen und absolut individuellen Moment, aus dem die Produktion des Genies entsteht. 16 Genial und schöpferisch wie die Produktion muß dann auch die Nachbildung sein. Für Gadamers Schleiermacher ist das Verstehen eine Kunst, nicht weniger als das Sprechen. In diesem Sinn ist die "Hermeneutik[...] eine Art Umkehrung zur Rhetorik und Poetik." 17 Ein Text oder eine Rede wird nicht aufgrundseines bzw. ihres "sachlichen Inhaltes" verstanden, sondern als "ästhetisches Gebilde", als "Kunstwerk" und als "Ausdruck" einer einzelnen Individualität. 18 Hieraus entspringt der divinatorische Charakter der Hermeneutik. Der divinatorische Akt des Verstehens stützt sich für Gadamer auf die Unmittelbarkeit des Gefühls- wobei die
tik im Horizont Gadamers, in: MIRKO WISCHKE/MICHAEL HoFER (Hrsg.), Gadamer verstehen- Understanding Gadamer 2003, 157-168. Sehr von Gadamer beeinflußt, ·und zuletzt auch von der existentialen Hermeneutik Heideggers, ist dagegen das Buch von GIANNI VATTIMO, Schleiermacher filosofo dell'interpretazione, Mailand: Mursia 1986, das erste Buch über die Philosophie Schleiermachers, das jedoch die Verbindung zwischen der Hermeneutik auf der einen Seite und der Dialektik und Ethik auf der anderen im Dunkeln läßt. 15 GADAMER, Wahrheit und Methode, GW 1, 194. 16 GADAMER, Wahrheit und Methode, GW 1, 191. 17 GADAMER, Wahrheit und Methode, GW 1, 192. 18 GADAMER, Wahrheit und Methode, GW 1, 191 f.
Auslegung für Srhl,·ic·t'nhh'lll•r, nnl~h vor dem divinatorischen, dils verKicichendc Verfahn.·n c.·rftH'(h·n.l'' Diese Psydwlogisit•ru nt-; von Schleiermachers Hermeneutik fällt mit ihrer Ästhctisierun~ zusammen, da das Verstandene eigentlich Ausdruck einer stets von allen Regeln freien Individualität ist. 20 Indem er den Schatten der kantischen Genieästhetik auf diese Hermeneutik wirft, fällt es Gadamer leicht, sie des Subjektivismus zu bezichtigen. Schleiermacher würde demnach die Aufmerksamkeit nur dem Ausdruck des individuellen Subjekts, also des Autors schenken. Viel fruchtbarer wäre es aber wohl gewesen, den Akzent auf eine andere Besonderheit von Schleiermachers Hermeneutik zu legen, in der sein Abstand zur philosophischen Hermeneutik stärker zutage tritt. Gadamer selbst deutet zu Beginn seiner Rekonstruktion auf diese Besonderheit hin, läßt dann aber das Thema fallen und verweist es auf den Zusammenhang, in dem er seine eigene Hermeneutik entwickelt. 21 Schleiermacher markiert eine Wende in der Geschichte der Hermeneutik, weil er das Problem des Verstehens in seiner ganzen Radikalität stellt. Auf dem bereits von Friedrich Schlegel (1772-1829) eröffneten Weg, den auch Humboldt einschlägt, wird das Verstehen nicht mehr als selbstverständlich angesehen, da es von Anfang an durch das Nichtverstehen und das Mißverstehen beeinträchtigt wird. Man versteht nicht immer und überall, und das Mißverständnis tritt nicht nur in den Grenzfällen, nicht nur in den dunklen Stellen hervor, auf welche eben die Hermeneutik angewendet wurde. Im Gegenteil sagt Schleiermacher, daß "sich das Mißverstehen von selbst ergibt und das Verstehen auf jedem Punkt muß gewollt und gesucht werden.'' 22 Das Mißverstehen, das bei der Auslegung heiliger Texte, die in fremden, alten und eben schwer zu interpretierenden Sprachen geschrieben sind, fast unvermeidbar scheint, stellt daher nur ein Symptom des sehr viel umfangreicheren Mißverstehens dar, das in dem Gespräch des alltäglichen Lebens immer wieder vorkommt. Durch diese Umkehrung der Perspektive beginnt Schleiermacher, der: damit die Spezialhermeneutiken in dem ihnen gemeinsamen Verfahren des Verstehens vereinigt, Licht auf die Universalität der Hermeneutik zu werfen. Seit Schleiermacher werden Mißverstehen und Nichtverstehen, selbst wenn sie in verschiedener Form aufgefaßt werden, in die Kon-
Vgl. FRIEDRICH DANIEL ERNST ScHLEIERMACHER, Hermeneutik und Kritik, hrsg. von Manfred Frank, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1977,325-327. 20 In einem Exkurs, der in den Zusätzen zu Wahrheit und Methode veröffentlicht wurde und den Titel Zum Begriff des Ausdrucks trägt, hat Gadamer seine Kritik an der psychologischen Auffassung des Ausdrucks entwickelt; dabei hat er den Ausdruck auf das Erlebnis des Subjekts zurückgeführt, ohne jedoch seine rhetorisch-sprachliche Entstehung in Betracht zu ;-.iehcn. Vgl. GAUAMER, Exkurse I-VI (1960), GW 2, 375-386, insb. 384-386. 21 Vgl. GA 1>1\ MER, Wahrheit und Methode, GW 1, 188 f. 21 ScJJU:JERMACIIJo:R,lfcrmcncutik und Kritik, 92. 19
stcllation der Hermeneutik ein~cschrichcn hleihcn. l>•ts Verstehen wird fortan nie wieder als selbstverständlich gelten. Schleiermacher geht also vom Mißverstehen und vom Nichtverstehen aus und er sieht die Aufgabe der Hermeneutik im Übergang zum Verstehen. Doch niemals wird es einen Punkt geben, in dem dieser Übergang vollendet und das Verständnis vollkommen wäre. Die hermeneutische Aufgabe ist unendlich. Es gibt weder Einfühlung noch Empathie bei Schleiermacher. 23 Und wenn es sie auch gäbe, wären sie nicht das Ziel der Interpretation, die in der Ausübung ihrer kritischen Wachsamkeit über jede Form der Identifizierung hinausgeht. Daher muß man "die Rede zuerst eben so gut und dann besser [...] verstehen als ihr Urheber." 24 Mit diesen Worten formuliert Schleiermacher einen alten hermeneutischen Grundsatz um - für Gadamer "[zeichnet] sich die gesamte Geschichte der neueren Hermeneutik" in dieser Formel ab25 -,der genau betrachtet auf Kant zurückgeht. In der Kritik der reinen Vernunft wird in Bezug auf Platons "Idee" gesagt, daß es "gar nichts Ungewöhnliches" sei, einen Autor "sogar besser zu verstehen, als er sich selbst verstand, indem er seinen Begriff nicht genugsam bestimmte."26 Auch Schleiermacher denkt, daß das Verstehen eine produktive Nachbildung ist, die das besser sagen kann, was der Autor gesagt hat- allein schon deshalb, weil es noch einmal gesagt wird. Besser-Verstehen spielt hier bereits auf ein Anders-Verstehen an. 27 Im Nachwort zur dritten Auflage von Wahrheit und Methode gibt Gadamer "eine gewisse Einseitigkeit" in seiner Rekonstruktion der Hermeneutik zu; doch er beharrt weiterhin darauf, daß der eigentümlichste Beitrag Schleiermachers gerade in der psychologischen Auslegung liege. 28 Und später noch, in seinem Versuch einer Selbstkritik von 1985, über den es zu einer Debatte mit Manfred Frank (*1945} kommt, betont er wiederum die Relevanz der psychologischen Auslegung, auch wenn er zugleich einsieht, Ästhetik und Dialektik vernachlässigt zu haben. 29 Dabei bezieht er sich auf den wichtigen Text von 1968 Das Problem der Sprache bei Schleiermacher, in dem er bereits den Vorgang der niemals dialektisch abgeschlossenen Vermittlung zwischen Sprache und Sprecher schärfer umrissen und dadurch seine Position korrigiert hatte. 30 Zurecht fragt sich Jung, ob es jemals "solche naiven Einfühlungshermeneutiken" gegeben hat. MATTHIASjUNG, Hermeneutik zur Einführung. Auslegung, Interpretation, Verstehen, Deutung, Hamburg: Junius 2001, 63. 24 ScHLEIERMACHER, Hermeneutik und Kritik, 94. 25 GADAMER, Wahrheit und Methode, GW 1, 195. 26 IMMANUEL KANT, Kritik der reinen Vernunft. Nach der ersten und zweiten Originalausgabe hrsg. von Jens Timmermann, Hamburg: Meiner 1998, B 370/A 314. 27 Vgl. in diesem Band Kap. V, 2. 28 GADAMER, Nachwort zur 3. Auflage, GW 2, 462. 29 Vgl. GADAMER, Zwischen Phänomenologie und Dialektik. Versuch einer Selbstkritik, GW2, 14f. 30 Vgl. GADAMER, Das Problem der Sprache bei Schleiermacher (196R}, GW 4, 361-373. 23
3. I >iiltht.·y dils Milnuskript von Wahrheit und Methode eröffnet.37 Ebenso wahr ist aber auch, da{~ die Gestalt Dilthcys in den darauf folgenden Jahrzehnten in Gadamers Werk immer mehr zu verblassen scheint. Gadamer hat ihm obendrein nicht viele Aufsätze gewidmet: abgesehen von dem ersten, den er 1933 für den hundertsten Geburtstag Diltheys geschrieben hatte, gehen alle übrigen auf die achtziger Jahre zurück und sind meistens Überarbeitungen des in Wahrheit und Methode enthaltenen Kapitels. 38 Eine Ausnahme bildet der Aufsatz Die Hermeneutik und die Dilthey-Schule von 1991, in dem Gadamer auf die von Frithjof Radi vorgebrachte Kritik antwortet und dabei seine Interpretation teilweise modifiziert. 39 Das Wort "Hermeneutik" kommt bei Dilthey nur sehr selten vor. Von Anfang an ist es sein Ziel, sich aus den Engpässen zu befreien, in denen die historische Schule auf halbem Wege "zwischen Philosophie und Erfahrung" stecken geblieben war. 40 Das Zeitalter Diltheys ist vom Zusammenstoß zwischen der romantischen Kultur und dem beginnenden Positivismus geprägt. Die Ablehnung der Hegeischen Philosophie begünstigt eine Rückkehr zu Kant. So wie Kant in der Kritik der reinen Vernunft die Naturwissenschaften begründet hatte, so nimmt sich Dilthey vor, die Geschichtswissenschaften durch eine "Kritik der historischen Vernunft" zu begründen - eine wirkungsträchtige Formulierung und ein möglicher Titel für ein Buch, das er, Gadamer zufolge, auch wegen der Aporien seines Denkens niemals veröffentlicht hat. 41 Die Frage, die Dilthey beschäftigt, ist die des geschichtlichen Bewußtseins in der Form, die es nach Nietzsche angenommen hat. Wenn jedes Volk, jede Epoche und jede Manifestation des Geistes historisch aufzufassen sind, wie ist es dann möglich, eine allgemein gültige Erkenntnis der Geschichte zu garanscience historique, Leuven/Paris: Publications Universitaires de Louvain/Beatrice-Nauwelaerts 1963 [neu hrsg. von Pierre Fruchon, Paris: Seuil1996]). 37 Dieser Text entspricht dem der ersten Leuvener Vorlesung- vgl. GADAMER, Das Problem des historischen Bewußtseins, 23-33- so daß Gadamer ihn herangezogen hat, um die Vorlesungen zu redigieren. Eine verkürzte Version der Ursprungsfassung von 1955-1956 wird im Archiv der Universitätsbibliothek in Heidelberg aufbewahrt (Heid. Hs. 3913); der Anfangsteil ist vor kurzem unter der Herausgabe von Jean Grondin in: Dilthey-Jahrbuch 1992-1993, 131-142, veröffentlicht worden. 38 Vgl. GADAMER, Wilhelm Dilthey zu seinem 100. Geburtstag (1933), GW 4, 425-428. Vgl. GADAMER, Wahrheit und Methode, GW 1, 222-246. Als spätere Aufsätze vgl. GADAMER, Das Problem Diltheys. Zwischen Romantik und Positivismus (1984), GW 4, 406-424; Der Unvollendete und das Unvollendbare. Zum 150. Geburtstag von Wilhelm Dilthey (1983), GW 4, 429-435; Wilhclm Dilthey und Ortega. Philosophie des Lebens (1985), GW 4, 436-447. 39 Vgl. GADAMER, Die Hermeneutik und die Dilthey-Schule (1991), GW 10, 185-205. 40 GADAMER, Wahrheit und Methode, GW 1, 223. 41 Vgl. GADAMER, Der Unvollendete und das Unvollcndbarc, GW 4, 431. Die Wendung Dihhcys erscheint schon in c.·inc.·m T,t~chuchcintrag von 1860. Vgl. Der junge Dilthey. Ein l.cbc:nshi ld in 1\ridc.·n u ntl Ti4);c.·hü(:hcrn 1H51-l H70, :r.us&unmcngcsct:r.t von Clara Misch geh. l>ihhc.·y, l.c.·ip:t.i);: 'lt.·ulmt·r I'J.H, 1 l'HtO,
94
IV. Kapitel: Unterwegs zu einer philosophischen flt:rmeneutik
tieren? Der Geschichtserkenntnis allgemeine Gültigkeit zuzuschreiben, bedeutet jedoch, sie an der wissenschaftlichen Erkenntnis zu messen. Diltheys Absicht - schon in der Einleitung in die Geisteswissenschaften von 1883 - liegt gerade darin, sich die Hermeneutik zunutze zumachen, um die Geisteswissenschaften in den Rang der Naturwissenschaften zu erheben. Auch wenn er dabei stets zwischen einem einheitlichen und einem komplementären Modell schwankt, neigt Dilthey schließlich dem letzteren zu, welches den hermeneutischen Ansatz nur für die Geisteswissenschaften reserviert. Gadamers kritische Deutung nimmt hier ihren Ausgang. Er führt Diltheys Schwanken auf den inneren Widerspruch von dessen Denken zurück: den Widerspruch zwischen Positivismus und Romantik, zwischen dem methodologischen Anspruch auf objektive Erkenntnis und der romantischen Einsicht in die Geschichtlichkeit des Erkennens. Wenn wir geschichtliche Wesen sind, wie können wir dann jemals eine universale Erkenntnis erlangen, die über unsere Geschichtlichkeit hinausgeht? Ist nicht die feste Gewißheit, das fundamenturn inconcussum, das Dilthey für die Geisteswissenschaften reklamiert, von vornherein durch deren grundsätzliche Geschichtlichkeit beeinträchtigt? Und läuft man dabei nicht Gefahr, das Modell der Naturwissenschaften auf die Geisteswissenschaften zu projizieren? Im Gegensatz zu den Neukantianern unterscheidet Dilthey jedoch sehr wohl zwischen geschichtlicher und naturwissenschaftlicher Erkenntnis. Dazu nimmt er den Grundsatz verum-factum wieder auf, den Vico auf die "bürgerliche Welt" angewendet hatte: Der Mensch erkennt als wahr nur das, was er gemacht hat, und zwar nur in der Geschichte, nicht in der Natur. Auf diese Weise rechtfertigt er die Möglichkeit der Geschichtserkenntnis. 42 Wie auch in der romantischen Hermeneutik liegt dabei die Lösung in der Kongenialität von Subjekt und Objekt. Für Gadamer ist jedoch gerade dies das Problem. Auf welche Weise läßt sich nämlich der Übergang von der einzelnen geschichtlichen Erfahrung zur allgemeinen Erfahrung der Geschichte erklären? Überträgt Vicos Grundsatz schließlich nicht seinerseits eine mit der Kunstwelt verbundene Erfahrung auf die Welt der Geschichte? Ist es überhaupt sinnvoll, im Blick auf die Bedingungen, denen der Mensch im Geschichtsverlauf unterliegen soll, von einem "Machen" zu reden? In diesen Fragen liegt einer der wichtigsten Einwände Gadamers gegen Dilthey. Das geschichtliche Bewußtsein ist für Dilthey auf der einen Seite das durch die Geschichte bedingte Bewußtsein, und auf der anderen Seite das Bewußtsein von der Geschichte, die Bewußtwerdung des geschichtlichen Charakters all dessen, was menschlich ist. Dieses Bewußtsein unterscheidet unsere Epoche von allen vorhergehenden. Das geschichtliche Bewußtsein würde sich demnach als Heilmittel gegen die von ihm selbst verursachten Übel erweisen . .f!
V~l. GAt>AMFR,
Wahrheit und Mcthmll'. GW I, 226.
Da wir unscn:r (;c..·~~·hidttlirhkc.·it hcwuf~t sind, wären wir in der Lage, jenen Abstand ~:i nzu ndunc..·n, dc..·r c..•s uns erlauben würde, sie auf objektive Weise zu erkennen. Das Bewugtscin gc..·ht in Erkenntnis, das Selbstbewußtsein in Wissen über. Doch bei diesem Ü bcrgang wird als selbstverständlich angenommen, daß das Bewußtsein "eine Weise der Selbsterkenntnis" im cartesianischen Sinne ist. 43 Kurzum: Diltheys geschichtliches Bewußtsein täuscht sich- nicht anders als das ästhetische Bewußtsein - über die eigenen Möglichkeiten. Diesem geschichtlichen Bewußtsein, das sich sicher ist, zu einer transparenten Erkenntnis seiner selbst zu gelangen, wird Gadamer "das wirkungsgeschichtliche Bewußtsein" entgegenstellen.44 Dilthey hat dennoch zahlreiche Versuche unternommen, das Bewußtsein in seinem geschichtlichen Sein zu verankern. Dazu hat er den Begriff des "Lebens" eingeführt, der zum Schlußstein seiner Hermeneutik avanciert ist. Noch bevor es sie erkennt, versteht das Individuum die Lebenswelt bereits insofern, als es sie in Sinnverbindungen oder -Strukturen artikuliert, die folglich jeweils wieder verstanden werden können. Der Vorgang, aus dem der Sinn entsteht, ist das Leben, das sich dadurch artikuliert: ,,Leben erfaßt hier Leben". 45 Oder mit den Worten Gadamers: "Das Leben selbst legt sich aus. Es hat selbst hermeneutische Struktur." 46 Das Verstehen stellt deshalb den umgekehrten Vorgang gegenüber demjenigen dar, in dem sich das Erlebnis in verständlichen Sinnfiguren ausdrückt. Wenn das Leben, das sich artikuliert, reflektierend auf sich zurückkommen kann, so wird es zum hermeneutischen Prinzip, das den Übergang von der individuellen zur allgemeinen Erfahrung und das heißt letztlich: von der Psychologie zur Hermeneutik aufklären müßte. Denn es müßte näher bestimmen, auf welche Weise sich das Individuum mit dem objektiven Geist verbindet. 47 Zum einen hat das Leben jedes Einzelnen den Charakter der Geschichtlichkeit, zum anderen ist die Geschichte nichts anderes als das Leben vom Standpunkt der gesamten Menschheit her betrachtet. So erweist sich das Leben als das Apriori, das die Möglich~eit garantiert, alle individuellen und geschichtlichen Manifestationen zu verstehen, während sich die Geschichte wie ein Text strukturiert. Durch die hermeneutische Zirkularität, die vom Ganzen zu den Teilen und von den Teilen zum Ganzen geht, lassen sich anband einer sich niemals im GADAMER, Wahrheit und Methode, GW 1, 239. Vgl. in diesem Band Kap. V, 6. •s WILHELM DILTHEY, Der Aufbau der geschichtlichen Welt in den Geisteswissenschaften, GS VII, hrsg. von Bernhard Groethuyscn, zweite Auflage, Göttingcn: Vandcnhoeck & Ruprecht 1958, 136. ·U· GAt>AMER, Wahrheit und Methode, GW 1, 230. '17 Vgl. GAt>AMER, Wahrheit und Methode, GW 1, 228 f. Vgl. ToM NENON, Hermeneutical Truth and thc Structure of Human Experience: Gadamer's Critique of Dilthey, in LAWRJ~NCE K. Sit• phdnomenologische !lt·7.m·g,un}!., in dem t•r l'im· Bilanz c.h:r I>d.,;ttll' um die Ph~inomenologie zieht und zugleich seine t•igene Position präzisiert. Doch was verbindet Gadamer mit Husserl? Und was trennt ihn von ihm? I-lusserls Parole Zurück zu den Sachen selbst! hat eine befreiende Funktion, weil sie nämlich der Philosophie den Weg zeigt, um den Engpässen der Formeln und Theorien zu entkommen und eben zu den "Sachen selbst" zurückzukehren. 52 Die Philosophie kann sich weder weiterhin nur mit wissenschaftlichen Theorien beschäftigen, um sich als "Meta-Theorie" oder eine Wissenschaft zweiten Ranges zu etablieren, noch darf sie sich auf die Geschichte der Philosophie beschränken. Geboten ist also, zu den "Sachen selbst" zurückzukehren und von ihnen aus zu philosophieren. Die Gelehrsamkeit hat wenig mit der Ausübung der Philosophie zu tun. Unverzichtar ist geradezu eine philosophische Bekehrung, eine Suspendierung oder Epoche der natürlichen Einstellung und daher eine phänomenologische "Reduktion", die als eine Umerziehung zur Philosophie aufzufassen ist. 53 Die erste Wirkung dieses Vorhabens, das eine unmittelbare Faszination sowohl auf Heidegger als auch auf Gadamer ausübte, ist eine Befreiung vom technischen Vokabular des Neukantianismus und vor allem vom Paradigma des wissenschaftlichen Objektivismus. Der hermeneutische Sinn von Husserls Appell darf keineswegs unbeachtet bleiben. Die Philosophie muß alle Theorien hinter sich lassen, die nicht auf einer sichtbaren und von allen geteilten Phänomenalität gründen, und sie muß von den Sachen ausgehen, so wie diese sich in der "Anschauung.:' geben. Darin klingt auch die Einladung an, die Philosophie möge sich nur an das halten, was in der Anschauung gegeben ist und sich vor jeder metaphysischen Konstruktion hüten - eine Einladung, die bereits auf die Möglichkeit einer Überwindung der Metaphysik verweist. Die Sachen, zu denen Husserl zurückkehren will, sind nicht die Dinge an sich, unabhängig vom Bewußtsein, denn diese sind vielmehr nur dank der Intentionalität des Bewußtseins gegeben. "Intentionalität" bedeutet hier, daß jeder Gegenstand die Seinsweise des Bewußtseins hat. Es ist also die Intentionalität, die das Wirkliche vor den Augen des Bewußtseins auftauchen läßt und die demzufolge als eine hermeneutische Kategorie verstanden werden kann: denn es gibt keine Gegenständlichkeit ohne die konstitutive Intentionalität des Bewußtseins. Doch Husserl hat auch eingesehen, daß diese "Konstitution" nicht auf die Leistung eines GaJamcr vgl. Guv DENIAU, L'heritage husserlienne de l'hermeneutique gadamerienne, in: Epokhe 14 (1994), 211-226 sowie DAVID VESSEY, Who Was Gadamer's Husserl?, in: The Ncw Ycarbook for Phcnomenology and Phenomenological Philosophy VII (2007), 1-23. ~ 2 EuMUNI> HussERl., Logische Untersuchungen. Erster Band. Vorwort, Husserliana XVIII, hrsg. von Elmar llolcnstcin, Den Haag: Nijhoff 1975,9. H Ft>MIINI> llussi-:RJ., I>ic IJcc der Phänomenologie, Husscrliana 11, hrsg. von Walter 1\it'md, l kn ll.l.\~: Nijhoff 1<J;O, 44.
I V. 1\,,pltt•l: llmrt·tt'r'R• tu rim•r philmuphisdJe•n 1/t•rmc·m·utik
transzendentalen Subjekts zurückzuführen ist. Genaucr betrachtet trägt das Subjekt zur Konstitution des Sinns bei, der zusammen mit ihm entsteht- ohne diesen jemals beherrschen zu können. Die Konstitution ist die "Wiederaufbaubewegung" der Intentionalität, die sich in einem stets jenseits der Grenzen des Subjektes liegenden Sinnhorizont entfaltet. 54 In Wahrheit und Methode nimmt Gadamer diesen Begriff des "Horizontes" wieder auf. Indem sie sich in einen Horizont einschreibt, muß sich jede Intentionalität genauso bewegen, wie sich auch der Horizont bewegt. 55 Andererseits wird hier auch auf den impliziten Horizont des Verstehens verwiesen, der aus der unterirdischen Zeitlichkeit des Bewußtseinslebens hervortritt, für das Husserl auch von "absoluter Historizität" spricht- ein Ausdruck übrigens, den Gadamer zweimal erwähnt. 56 Doch weit wichtiger ist für ihn die "Lebenswelt". Gadamer kommt immer wieder auf diesen Begriff zurück, um seine Produktivität und seine "erstaunliche Resonanz" in der Philosophie des 20. Jahrhunderts hervorzuheben. 57 Die "Lebenswelt" ist ein Ausdruck, den Husserl wohl als Gegensatz zur "Welt der Wissenschaft" geprägt hat. 58 Die Intentionalität selbst erfordert die Lebenswelt, weil das Ego nicht mehr die Quelle der Sinnkonstitution ist und es daher notwendig wird, zu einer weiteren Quelle zurückzugehen, und zwar zu der anonymen, aber dafür immer stärker intersubjektiv verstandenen Quelle der Lebenswelt. Dennoch ist Husserl für Gadamer nicht radikal genug gewesen. In der so umrissenen Lebenswelt scheint es, als könne man bereits die Endlichkeit des Ego erkennen. Dagegen verzichtet Husserl nicht darauf, die Lebenswelt zu begründen, indem er sie auf die transzendentale Subjektivität eines "Ur-Ichs" zurückführt. 59 Dies bedeutet, daß er trotz allem in einer cartesianischen Auffassung der Philosophie befangen bleibt, die als apodiktische Wissenschaft auf eine Letztbegründung zielt. Dies ist der Punkt, an dem sich die Hermeneutik am weitesten von der Phänomenologie entfernt, und an dem sich die hermeneutische Wende der Phänomenologie vollzieht. In der Phänomenologie hat nämlich die Sprache, wie auch in großen Teilen der philosophischen Tradition, weiterhin nur eine sekundäre Rolle gespielt; und doch hätte gerade sie den Hebel einer Kritik am Neukantianismus bilden können. Obwohl sie die Wende vom "Faktum" der WissenGADAMER, Die phänomenologische Bewegung (1963), GW 3, 105-146, hier 135. Vgl. in diesem Band Kap. V, 6. 56 GADAMER, Wahrheit und Methode, GW 1, 248 und 259. 57 GADAMER, Die Phänomenologische Bewegung, GW 3, 123. 58 Es ist interessant zu bemerken, daß Gadamer den Begriff der Lebenswelt als das Resultat von Husserls spätem Denken versteht, gleichsam als eine Antwort auf Heidegger, während die Veröffentlichungen aus dem Nachlaß gezeigt haben, daß der Begriff sehr früh auftaucht und daß es vielmehr Heidcgger war. der ihn zunutze gemacht hatte. 5" GAilAMF.R, Wahrheit und Mt.·thodc. c;w t. 252. 54
55
schaft :t.ur Lcbcnswdt mark icrt hiU, iMt die Phänomcnolo~ic hier nicht weitergegangen, da sie die Rolle c.ler Sprache in der Lebenswelt nicht erkannte. Denn sie hat auf die Idee der Letztbcgründung nicht verzichtet. Ein Motiv verweist aber auf das andere: Die Idee einer Letztbegründung führt dazu, die Sprache zu ignorieren, während die Sprache jede Begründung aufs Spiel setzt. 60 Im Gegensatz dazu hat die Hermeneutik sich darum bemüht, der rätselhaften Nähe zwischen Sprache und Vernunft einen Ort in der Philosophie zu geben. Die hermeneutische Wende der Phänomenologie ist eine Wende zur Sprache gewesen.
5. Hermeneutik der Faktizität.
Über Heidegger hinaus Doch erst die von Heidegger vollzogene Wende der Phänomenologie wird die ontologischen Voraussetzungen der Letztbegründung aufdecken. Dabei stellt sich heraus, daß das fundamenturn inconcussum genauer betrachtet concussum, das heißt zeitlich und endlich ist. Kurzum: Es ist "der Begründungsgedanke selbst", der hier eine" völlige Umkehrung" erfahren hat. 61 Gadamers Hermeneutik beginnt in Wahrheit und Methode erst nach einem langen Abschnitt, in dem Heideggers Entwurf in Betracht gezogen wird. 62 Dies ist durchaus keine Überraschung, denn trotz aller Anregungen, welche die philosophische Hermeneutik von Schleiermacher, von Dilthey und schließlich auch von Husserl bekommen hat, ist es letztlich doch Heidegger, der ihr den entscheidenden Anstoß gibt. Doch welcher Heideg.ger? Diese Frage ist von keinem geringen Gewicht. Von ihr aus läßt sich nämlich nicht nur der ihm in Wahrheit und Methode gewidmete Abschnitt erläutern, sondern darüber hinaus auch die gesamte, von Gadamer entfaltete Lektüre Heideggers erhellen. Dabei muß man deutlich hervorheben, daß der Heidegger, auf den sich Gadamer bezieht, nicht der von Sein und Zeit, sondern vielmehr der von Hermeneutik der Faktizität ist, also der "erste" Heidegger, dessen Vorlesungen er in den zwanziger Jahren gehört hat- auch wenn es nach Gadamer irreführend ist, von einem ,,ersten" und einem "zweiten" Heidegger zu sprechen, weil man so Gefahr laufe, die Kontinuität seines Denkens zu verfehlen. Und diese Kontinuität läßt sich gerade zwischen der Hermeneutik der Faktizität und der "Kehre" des späten Heideggers erblicken; sie wird lediglich durch das Zwischenspiel von Sein und Zeit unterbrochen 63 • 60
Vgl.
GADAMER,
Zur Phänomenologie von Ritual und Sprache,
435. Wahrheit und Methode, GW 1, 261. '• 2 Vgl. GAI>AMER, Wahrheit und Methode, GW I, 258-269. "' V~l. (;1\I>AMFR Wahrhrit un(l Methode, GW 1, 261. 61 GADAMER,
GW
8, 401, 418 und
Später, in einem Aufsatz von I'JHC., der hc.·zeichncnJcrwcisc den Titel Der eine Weg Martin Hcidcggt.'rs tr~i~t, wirJ Gadamer von einer "Kehre vor der Kehre" sprechen, um das zu unterstreichen, was schlief~( ich eine zusammenhängende Entwicklung war. 64 Man kann daher sagen, daß er sehr früh eine Einheit im Denkweg Heideggers gesehen hat, und daß er sich darüber hinaus dessen bewußt war, diese sowohl in seiner Interpretation als auch in seiner eigenen Philosophie zur Geltung zu bringen. Indem er weiterhin von Hermeneutik gesprochen hat, als die anderen Interpreten schon längst nicht mehr davon redeten, hat er das Ende des Heideggerschen Denkwegs auf seinen hermeneutischen Anfang zurückbeziehen können. Allerdings ist eine solche Behauptung erst heute, aufgrundvon Heideggers Vorlesungs- und Seminarmanuskripten möglich, die seit den achtziger Jahren veröffentlicht worden sind. 1960, in der Zeit von Wahrheit und Methode, wurde der Heidegger von Sein und Zeit noch als der erste Heidegger angesehen, von dem der spätere, der des dichtenden Denkens, Abstand genommen habe. Diese Lesart wurde vom größten Teil der Interpreten geteilt. Die "Hermeneutik der Faktizität" war damals nahezu unbekannt- Spuren von ihr hatten sich noch im Gedächtnis Gadamers erhalten, in seinen Mitschriften, sowie selbstverständlich in den Manuskripten Heideggers. Nachdem diese einmal veröffentlicht wurden, standen Gadamer nicht nur die Texte, sondern auch die zuvor vermißte Distanz zur Verfügung, um schreiben zu können. Daraus ist die 1983 erschienene Sammlung Heideggers Wege hervorgegangen. Zu diesen Aufsätzen, die für die Veröffentlichung überarbeitet wurden, sind dann später mehr als zehn weitere hinzugekommen, von denen die letzten sieben im 1995 erschienenen 10. Band der Werke enthalten sind. Es liegt geradezu auf der Hand, daß wenn Heideggers Vorlesungen früher veröffentlicht worden wären, der Abschnitt in Wahrheit und Methode einen anderen Inhalt und vielleicht auch einen anderen Charakter erhalten hätte. Doch als Gadamer ihn schrieb, konnte er sich nur auf Sein und Zeit stützen, um die Bedeutung von Heideggers Denken für die Hermeneutik zu unterstreichen. Um seine Argumentation überzeugender zu machen, die den radikalen Wechsel in der Auffassung des Verstehens darlegen soll, zieht er überraschenderweise den Grafen von Yorck (1835-1897) hinzu, der sowohl wegen seiner kritischen Briefe an Dilthey als auch deshalb bekannt wurde, weil Heidegger einen Teil dieser Korrespondenz im§ 77 von Sein und Zeit wiedergegeben hat. Yorck wird für ihn zu einer Schlüsselfigur in der Überwindung des von Dilthey vertretenen epistemologischen Paradigmas. Nicht nur weist er auf dessen Ästhetizismus hin, der sich in einer objektivistischen Weltsicht gefällt; er zeigt auch, daß Dilthey die Zugehörigkeit des Interpreten zum Interpretierten nicht einmal ahnt und daß er die Geschichtlichkeit des Lebens, die er noch zu cartesianisch 64 GADAMER,
Der eine Weg Martin Heidcggcrs, GW 3, 417-430, hier 423.
\. 1/r•Wir'llr'tflll# t/r•r /•r4J,tllll•fl· IJ/Ir·t 1/r•lc/t•J!.J!.r'l ",",",,
10 I
dl·nkt, nirht t•iu~,·~t·ht·n h.tt.''" I )unkd hleiht al>l·r das Altl·rnillivmodcll, das Yorck enl w idt, so w it· .uad1 rd.niv dt:~nkcl die Ausführun~en von Gadatner sind, der sich i.ihri~ens spiill·r nicht mehr auf Yorck berufen wird. Erst mit Heide~~er wird der für die Hermeneutik entscheidende Begriff der ,.Zugehörigkeit" in Wahrheit und Methode geklärt. 66 Dies ist jedoch nur dank einer vollkommen neuen Weise möglich, das Verstehen aufzufassen. Obwohl er nicht über die veröffentlichten Materialien verfügt, bezieht sich Gadamer ausdrücklich auf die "Hermeneutik der Faktizität."67 Was heißt aber Hermeneutik der Faktizität? Zunächst bedeutet "Faktizität" keineswegs eine letzte Gegebenheit, eine neue Positivität. Unter Faktizität- so erklärt Heidegger in der Vorlesung von 1923 - muß man den Seinscharakter unseres "Daseins" verstehen, das es nicht wie jedwedes andere Seiende gibt; denn Da-sein heißt diese Faktizität zu vollziehen. 68 Anders gesagt: In dieser Faktizität, die ich bin, geht es immer um mich, um das, was ich aus mir mache. Aber warum soll man von "Hermeneutik" reden? Weil Hermeneutik- so Heidegger weiter- als ein Zugangsweg zur Faktizität verstanden wird. 69 Mehr noch: Das Dasein ist, es existiert, nur insofern es versteht. Die Hermeneutik haftet dem Körper der Faktizität an und artikuliert sie, sagt sie aus, versteht sie. Ohne sie gäbe es die Faktizität des Daseins nicht und dieses könnte gar nicht existieren. Die Faktizität kann nur hermeneutisch sein. Zum ersten Mal betrifft die Hermeneutik nicht allein die Texte, sondern die Existenz. 70 Der damit vollzogene Bruch ist radikal. Denn er bedeutet, daß man nicht wählen kann zu verstehen oder nicht zu verstehen. Existieren ist verstehen- verstehen ist existieren. Um dies mit Gadamers wirkungsvollen Worten zu sagen: "Verstehen ist [...] die ursprüngliche Vollzugsform des Daseins." 71 Es sind zahlreiche philosophische Implikationen, die dieser fundamentale Übergang mit sich bringen kann und mit sich bringt. Bei seiner Vollzugsweise, das heißt beim Verstehen, das immer auch ein Sichverstehen ist, offenbart das Das~in seine unentrinnbare Zeitlichkeit, seine unumgängliche Endlichkeit. Die Idee einer Letztbegründung erscheint mehr denn je zweifelhaft und problematisch, während sich der unerschütterliche Grund als erschütterlich erweist und zeigt, daß er ein Traum der Metaphysik war, die zur Beseitigung der Endlichkeit einen sicheren, festen und unveränderlichen Halt gesucht hatte: ein absoluVgl. GADAMER, Wahrheit und Methode, GW 1, 255-258. Vgl. GADAMER, Wahrheit und Methode, GW 1, 266. 7 " GADAMER, Wahrheit und Methode, GW 1, 259. Aber schon in dem Aufsatz Das Problem des historischen Bewußtseins von 1957 spricht er in Bezug auf Heidegger von "Hermeneutik der Faktizität". Vgl. GADAMER, Das Problem des historischen Bewußtseins, 33. M II F.l DECi GER, Ontologie (Hermeneutik der Faktizität), 7. '''1 I hii>ECaii~R, Ontologie (Hermeneutik der Faktizität), 14. 70 Zu diesem Thema vgl. BEN VEDDER, Was ist Hermeneutik? Ein Weg von der Textdeutung :t.ur lntt.·rprel;llion der Wirklichkeit, Stuttgart: Kohlhammer 2000. /I (;AI lA M ... )(, w•• hrht.·it und Mt.·thodc. GW I, 264. fl!l
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tcs rundament, auf dem ,,lt~s andere he~rünc.fct werden konnte, ein subjectum oder hypokeimenon, zu dem sich der Mensch im Denken der Moderne selbst erhoben hat. Aber ist dieses Dasein wirklich das Fundamentall dessen, was ist, oder ist es nicht seinerseits ins Sein "geworfen", und auch dies nur für eine winzige Zeitspanne? Von dieser "Geworfenheit" des Daseins kann die Hermeneutik der Faktizität nicht mehr absehen. Und gerade weil die Geworfenheit die Unverfügbarkeit des "Da", in dem das Dasein ist, noch deutlicher enthüllt, müßte man besser von einer Hermeneutik der Geworfenheit oder sogar von einer Hermeneutik der Endlichkeit reden. 72 Blickt man aber nicht nur auf Wahrheit und Methode, sondern auch auf die Sammlung Heideggers Wege, sowie auf die zahlreichen späteren Aufsätze, also auf das Buch über Heidegger, das Gadamer niemals fertiggeschrieben hat, so ist es nicht übertrieben zu sagen, daß sich seine Schuld gegenüber seinem Lehrer darin erschöpft: in der neuen Weise, das Verstehen in seinem Zusammenhang mit der Endlichkeit des Daseins aufzufassen. Es ist daher viel einfacher zu zeigen, was die beiden Philosophen verbindet, als was sie trennt. Das Bild eines Gadamer, der sich auf die "Urbanisierung der Heideggerschen Provinz" beschränkt, muß ohne weiteres revidiert werden. 73 Gewiß hat Gadamer teilweise selbst zu diesem Bild beigetragen, indem er viele unaufmerksame Leser dazu gebracht hat, in seinem Denken eher eine Fortsetzung als einen Bruch mit Heidegger zu sehen. Vielleicht wollte er diesen Bruch selbst nicht ganz anerkennen und noch weniger betonen. Dennoch ist die Filiation weit weniger direkt als man gewöhnlich glaubt. 74 Vgl. in diesem Band Kap. IX, § 3. Vgl.jüRGEN HABERMAS, Urbanisierung der Heideggerschen Provinz: Laudatio auf Hans-Georg Gadamer aus Anlaß der Verleihung des Hegel-Preises der Stadt Stuttgart 1979, in: HANS-GEORG GADAMER/jüRGEN HABERMAS, Das Erbe Hegels, 9-31, wieder abgedruckt in: HABERMAS, Philosophisch-politische Profile. Dritte erweiterte Auflage, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1981, 392-401. 74 Über Kontinuität und Diskontinuität zwischen Heidegger und Gadamer hatte schon Bernasconi geschrieben: vgl. RoBERT BERNASCONI, Bridging the Abyss: Heidegger and Gadamer, in: Research in Phenomenology XVI {1986), 1-24. Aber die meisten Arbeiten zu diesem Thema sind vor allem in den letzten Jahren erschienen. Das Verhältnis beider Philosophen zu Platon, Aristoteles, Hölderlin und Hegel ist von Coltman untersucht worden: vgl. Roo CoLTMAN, The Language of Hermeneutics: Gadamer and Heidegger in Dialogue, Albany: SUNY 1998; vgl. auch WALTER LAMMI, Hans-Georg Gadamer's Platonic ,Destruktion' of the Later Heidegger, in: Philosophy Today 41 (1997), 394-404; SAYED TAWFIK, The Phenomenological Motives of Heideggers and Gadamers Hermeneuries of Literary Text, in: Analeeta Husserliana 53 (1998), 181-207; INGRID ScHEIBLER, Gadamer. Between Heidegger and Habermas, Lanham u.a.: Rowman & Littlefield Publishers 2000; jEAN GRONDIN, Von Heidegger zu Gadamer. Unterwegs zu Hermeneutik, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 2001; jAMES RISSER, From Phenomenology to Hermeneuries and Beyond: The Transformation of Hermeneuries after Phenomenology, in: lsTVAN M. FEHf:R (Hrsg.), Kunst, Hermeneutik, Philosophie 2003, 75-88; vgl. jetzt auch DAMIR BARBARIAMER, Wahrheit und Methode, GW 1, 261 und 268. V~l. in diesem li;tnJ Kap. VII, 2; Kap. IX, 2. Vgl. RoBERT DosTAL, Gadamcr's Rcli.uion to lll·idc~gl'l' and Phcnollll'lllllo~y. in: RoBERT DosTAL (Hrsg.), The Cambridge 1"
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C:omp.aniunto ( ;,,d.uncr lOO.l, 147-lM,, hier ltlO L
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V.
Kapitel
Die Konstellation des Verstehens
Es genügt zu sagen, daß man anders versteht, wenn man überhaupt versteht. 1 In Wahrheit gehört die Geschichte nicht uns, sondern wir gehören ihr. 2
1. Das Verstehen zwischen Zirkeln und Spiralen In seiner Rekonstruktion der Hermeneutik legt Gadamer den Akzent mehr auf den Bruch als auf die Kontinuität. Und der Bruch hängt mit "Heideggers Aufdeckung der Vorstruktur des Verstehens" zusammen. 3 Im Verstehen erblickt Heidegger die Bewegung des Daseins selbst und in deren Zirkularität spürt er dessen Grundcharakter auf. Gadamer geht von Heidegger aus, re-interpretiert jedoch sowohl den Zirkel als auch das Verstehen und erweitert auf unerhört universale Weise den hermeneutischen Zirkel, der zum roten Faden des gesamten Mittelteils von Wahrheit und Methode wird. Was bedeutet aber die"Vorstruktur des Verstehens", also das Vorverständnis? Und warum kündigt es eine neue Art an, das Verstehen aufzufassen? Die romantische Hermeneutik geht vom prius des Nichtverstehens und des Mißverstehens aus. Das Verstehen bestimmt sich für Schleiermacher negativ; es beruht "auf dem Factum des Nichtverstehens". 4 Denn es stellt sich als eine Überwindung des Nichtverstehens und des Mißverstehens heraus- eine Überwindung, die aber jeweils zum Scheitern verurteilt ist, es sei denn, es werden chimärische Auswege wie der einer empathischen Einfühlung gefunden. Diesseits solcher illusorischen Glücksmomente scheint die romantische Hermeneutik beim Nichtverstehen zu stagnteren. HANS GEORG GADAMER., Wahrheit und Methode, GW 1, 302. GADAMER, Wahrheit und Methode, GW 1, 281. 3 GADAMER, Wahrheit und Methode, GW 1, 270. 4 FRIEDRICH DANIEL ERNST ScHLEIERMACHER, Allgemeine Hermeneutik von 1809/ 10, hrsg. von Wolfgang Virmond in: KuRT-VIKTOR SBLGE (Hrsg.), Internationaler Schleiermacher-Kongreß, Berlin 1984, Teilband 2, Berlin/New York: de Gruyter 1985, 1270-1310, hier 1271. 1
2
105
Was die philosophisrhc lll·rrncncutik hingegen auszeil'hnct, ist die Umkehrung der Pr~\ missen. ln .\'t.>in und Zeit ist das Verstehen das prius, von dem Hcideggcr ausgeht. Weit davon entfernt, ein privativcr Zustand zu sein, erweist es sich als das Urphänomen, aus dem sich Nichtverstehen und Mißverstehen als abgeleitete Phänomene ergeben. 5 Das Verstehen ist schon immer da, wohingegen Nichtverstehen und Mißverstehen nur im Rahmen des Verstehens zustande kommen. Nur sofern ich verstehe, kann ich, Heidegger zufolge, auch nicht verstehen oder mißverstehen. Von hier aus gestaltet sich die Hermeneutik um und verpflichtet sich, das Verstehen auf neue und radikalere Weise zu denken. Seit der antiken Rhetorik - daran erinnert Gadamer- ist das Verstehen durch die Figur des Zirkels dargestellt worden. 6 Diese Figur ist dann von der Rhetorik auf die Hermeneutik übergegangen. Der Zirkel umschreibt die Bewegung von den Teilen zum Ganzen und vom Ganzen zu den Teilen. Notwendigerweise setzen Teile und Ganzes einander voraus und bedingen sich gegenseitig. Es ist kein Zufall, daß ihr zirkuläres Verhältnis immer wieder durch den Zusammenhang erläutert wird, der die Sätze zur Totalität eines Textes verbindet: das Verständnis eines einzelnen Satzes setzt das des Textes voraus, doch seinerseits kann das Verständnis des Textes nur aus dem der Sätze entspringen. In dieser Zirkularität verdichtet sich der Grundsatz jedweden Verstehens, der zum ersten Mal im Zeitalter der Romantik von G.A. Friedrich Ast (1778-1841) formuliert wird/ Zirkularität schließt Linearität aus. Die zirkuläre Verflechtung kann nämlich nicht aufgelöst und eingeebnet werden. Diese Einsicht bringt Schleiermacher dazu, die Legitimität des Verstehens in Frage zu stellen, da nämlich das Verstehen, wie die Figur des Zirkels deutlich zeigt, durch das Fehlen eines Grundes beeinträchtigt wird. 8 Auch wenn es durch die Teile hindurchgeht und durch sie motiviert und gerechtfertigt wird, ist das Verstehen des Ganzen von Anfang an grundlos. D~r Zirkel erscheint so betrachtet als ein methodisches Hindernis. Deshalb wollte Schleiermacher ihn durch die Figur der Spirale ersetzen- eine Figur, die nicht zufällig in neuererZeitvon einigen Interpreten wieder aufgenommen wurde.9 Denn mit ihr könnte sich die Zirkularität in Li5
Vgl. MARTIN HEIDEGGER, Sein und Zeit, GA 2, hrsg. von Friedrich-Wilhelm von Herrmann, Frankfurt am Main: Klostermann 1977, § 32, 199. & Vgl. GADAMER, Wahrheit und Methode, GW 1, 296 und Vom Zirkel des Verstehens (1959), GW 2, 57-65, hier 57. Vgl. DAVID C. HoY, The Critical Circle: Literatur, History and Philosophical Hcrmeneutics, Berkcley: University of California Press 1978. 7 GH>Raht.•i mllf~tc 111•\11 ;lhl·r vomussetzen, Jaf! das Verständnis des Ganzen durch Jas Jcr Teile in cinl'lll ;tsymptntischcn Annäherungsprozcf~ korrigiert und ergänzt wird. Dieses Vcrstchensmndcll berücksichtigt jedoch nicht, daß die Grundlosigkeit bei jeder Wendung der Spirale bestehen bleibt, weil sie strukturell und also unüberwindbar ist. Zu Schleiermachers negativer Sicht des Zirkels trägt sicherlich seine Art bei, das Verhältnis zwischen Nicht-Verstehen und Verstehen als eine dichotomische Entgegensetzung zu fassen. Nur wenn diese Entgegensetzung aufgegeben wird, kann der Zirkel, und mithin auch seine Grundlosigkeit, eine andere Bedeutung erlangen. Genau dies geschieht bei Heidegger. Die Zirkularität zeichnet sich nun in der Weise ab, in der die Existenz- die Heidegger "Dasein" nennt- sich versteht und sich verstehend existiert. In die Welt geworfen, entwirft sich das menschliche Dasein jeweils nach seinen Verstehensantizipationen. So sorgt es sich um die eigene Zukunft und öffnet sich den eigenen Möglichkeiten. 10 "Die Ausbildung des Verstehens nennen wir Auslegung"- schreibt Heidegger. 11 Auslegen heißt nicht nur, das Verstandene anzunehmen, sondern es auch zu entfalten und zu artikulieren. Der hermeneutische Zirkel spielt sich hier zwischen Verstehen und Auslegen ab: Es gibt keine Auslegung, wo es kein ihr zuvor kommendes Vorverstehen gibt. Dies ist jedoch ein traditionelles Beispiel, das mißverstanden werden könnte. Darum sagt Heidegger, daß er den Zirkel über die "philologische Interpretation" hinausführen möchte. Es geht ihm darum, dem Zirkel eine ganz neue Reichweite zu geben, die über die Interpretation eines Textes hinausgeht und ihm einen "existenzialen" Wert zuerkennt. Das Verstehen ist die Vollzugsweise des Daseins. Diese seine Ausweitung erlaubt auch eine ganz neue Lektüre des Zirkels. Denn was ist eigentlich ein Zirkel? Bekanntlich ist er in der Logik immer nur ein circulus vitiosus, dessen Fehler darin liegt, das vorauszusetzen, was zu beweisen wäre. Die Zirkularität des Verstehens scheint diesen Fehler sogar direkt vorzuzeigen. Doch Heidegger kommt dem Einwand zuvor, den die Logiker hier anbringen könnten: er kehrt ihr Argument dadurch um, daß er die Zirkularität und Ursprünglichkeit des Verstehens betont, die hier nunmehr ihre Verbindung enthüllen. Nur aus der cartesianischen Perspektive der Linearität kann der Zirkel als eine "unvermeidliche Unvollkommenheit" erscheinen. 12 Das epiAktualität, Kritik, Paderborn: Schöningh 1979, 113-148; vgl. auchjüRGEN BaLTEN, Die hermeneutische Spirale, in: Poetica 17 (1985), 355-371; jEAN GREISCH, Le cercle et l'ellipse. Lc Statut de l'hermeneutique de Platon aSchleiermacher, in: Revue des scienccs philosophiques et theologiques 73 (1989), 161-164. 10 HEIDEGGER, Sein und Zeit,§ 31, 193. 11 HEIDEGGER, Sein und Zeit,§ 32, 197. 12 HEIDEGGER, Sein und Zeit,§ 32,203. Vgl. dazu joHN TATE, The Hermcncutic Circle vs. The Enlightment, in: Telos 110 (1998), 283-296; jAAKO HrNTIKKA, Gadamer. Squaring the hermeneutical circle, in: Revue internationale de philosophic 54 (2000). 487-498.
1. Al/,.,
v,., .,,,""n ut 14m Fnd•• rm .\'tc lwn.,,,.",."
107
stemolo~isdte
lc.ll'i nge, die "zuhanden" sind, wie etwa heim Greifen einer Türklinke, um eine Tür zu öffnen- wo klar ist, dag das Verstehen immer ein "sich auf etwas verstehen", weniger ein Wissen als ein Können ist- versteht sich das Dasein selbst dadurch, daß es zugleich die Dinge versteht, mit denen es in der Lebenswelt umgeht. Diese sind im übrigen niemals nackte Dinge, denen unser Verstehen eine gewisse Färbung hinzufügte, sondern sie sind schon immer durch Vor-Griffe gegeben und insofern vor-verstanden. Versteht sich das Dasein immer dadurch, daß es das Andere versteht, so kann es sich nicht verstehen, wo es das Andere oder den Anderen nicht versteht. Gadamer folgt zwar dem von Heidegger eröffneten Weg, versucht dabei allerdings, die Dualität zwischen Sich und Anderem zu überwinden. Der Ort, an dem das Verstehen immer schon erfolgt, ist der des Sichverstehens. Um ein mögliches Mißverständnis zu vermeiden, gilt es hier hervorzuheben, daß "Sichverstehen" keineswegs "Selbstverstehen" meint. 24 Das Selbstverstehen wäre letztendlich das Selbst bewußtsein, das unerschütterlich selbstgewiß ist- für die Hermeneutik ist dies jedoch nur eine leere Chimäre. Für sie gibt es im Verstehen kein Sich, das als solches das Andere oder den Anderen ausschließen würde. Das Verstehen ist Verstehen von Sich und Anderem in ein und demselben Atemzug, denn das Sichverstehen kann sich nur durch das Verstehen des Anderen artikulieren. Die auf dem Spiel stehende Unterscheidung ist deshalb nicht die zwischen Sich und Anderem, sondern zwischen dem schon Verstandenen und dem noch nicht Verstandenen. So geht die Hermeneutik, Heideggers Lehre folgend, vom Verstehen aus und ·weitet dieses auf den für unüberschreitbar gehaltenen Übergang vom Nicht-Verstehen zum Verstehen aus. Doch auf den Spuren Schleiermachers beherbergt sie von Anfang an das Fremde in sich.
HEIDEGGER, Sein und Zeit,§ 12, 78. Gadamer hat sowohl von "Sichverstehen" als auch von "Selbstverständnis" gesprochen, was "irreführend" ist- wie er selbst aber eingeräumt hat. Vgl. GADAMER, Dekonstruktion und Hermeneutik (1988), GW 10, 138-147, hier 142: "Hier liegt, wie mir scheint, eine falsche Auffassung von Selbstverständnis zugrunde. >Selbstverständnis< ist vielleicht ein irreführender Ausdruck, den ich gebraucht habe und den ich im Anschluß an die moderne protestantische Theologie - wohl aber auch an die Sprachtradition Heideggers - natürlich fand." Auf den religiösen bzw. pietistischen Unterton des so aufgefaßten Selbstverständnisses hat er schon hingewiesen. Vgl. GADAMER, Zur Problematik des Selbstverständnisses. Ein hermeneutischer Beitrag zur frage der >Entmythologisierung< (1961), GW 2, 121-132, hier 125 und 130. Der Begriff des Selbstverständnisses, der ein "Erbstück des transzendentalen Idealismus" ist, meint keineswegs ein "souveränes Mit-sich-selbst-Vermitteltsein des Selbstbewufhseins"~ vidmehr ist l'r auf die Tatsache bezogen, "daß wir uns nicht verstehen, es sei dl·nn vor Cott". Vgl. dazu aw.:h f>Jo:TRA PLn:c;Jo:R, Sprache im Gespräch. Studien zum herme1\l'Uiisdwn Spr.lrhVl'f'St:indnis ht•i llans-(~l'Of~ c;;\danll'r, Wien: wuv 2000,207 f. 23
24
110
3. l)cr
.,Vor~rift' der
Vollkornrncnhcit"
Was den Zirkel und die Vollzugsweise des Vcrstchcns betrifft, so bleiben aber noch viele Fragen offen. Um sie zu stellen, schlägt Gadamer den Weg der phänomenologischen Beschreibung ein. Weit davon entfernt, normative Vorschriften zu formulieren, versucht die Hermeneutik vielmehr das ans Licht zu bringen, was in der Praxis des Verstehens geschieht. Dieses Fehlen von Vorschriften und Normen ist aber keineswegs mit einem Fehlen von Kriterien gleichzusetzen. Die Hermeneutik gibt durchaus keinen Freibrief für interpretatorische Willkür, sondern besteht im Gegenteil auf einer kritischen Auffassung der Interpretation. Sich ihrer Voraussetzungen vollauf bewußt, vermeidet eine solche Interpretation, diese einfach blind zu übernehmen, und überläßt sich- wie Heidegger schon nahelegte-ganz den "Sachen selbst". 25 Dieser letzte Ausdruck, auf den auch Gadamer zurückgreift, ist ein Vermächtnis der Phänomenologie und muß als solches eigens erhellt werden. 26 Daß sich der Interpret den "Sachen selbst" überlassen muß, impliziert keineswegs das Ideal einer objektiven Erkenntnis. Man darf nicht "Sache" mit "Objekt~' verwechseln. Im Kontext der Hermeneutik ist die "Sache" weder das "Ding an sich" von Kant, noch die "Sache selbst" von Husserl. Folgt man der Etymologie, so bedeutet Sache hier so etwas wie Streitsache- nicht anders als cosa auf Italienisch oder chose auf Französisch, die aus dem lateinischen causa entstammen. Die "Sache" ist das Argument, das zur Debatte steht, worüber diskutiert wird und von der man angesprochen wird. 27 Man ist in die zu verstehende Sache immer schon impliziert und geradezu von ihr ergriffen. Wichtig in diesem dialogischen Modell ist, daß der Interpret seine Vorgriffe in Übereinstimmung mit der Sache legitimiert, die ihn in Anspruch nimmt. Doch er soll sich nicht nur durch seine Vorgriffe leiten lassen, denn darin steckt gerade die Willkür. Führen wir ein Beispiel an. Ich habe mich entschlossen, ein Buch über Platon zu rezensieren; ich habe meine Meinung über Platon und werde daher von dieser ausgehen. Werde ich aber in der Rezension nur von meinen Gedanken schreiben, ohne die im Buch dargelegten zu beachten, so wird sich eine schlechte Rezension ergeben. Vom Interpreten wird weder unmögliche Neutralität noch Selbstvergessenheit verlangt. Was verlangt wird, ist vielmehr eine "Offenheit" gegenüber der Andersheit des Textes, das heißt die Fä-
HEIDEGGER, Sein und Zeit,§ 32, 203. GADAMER, Wahrheit und Methode, GW 1, 272. 27 Auch Gadamer hat später die Bedeutung von "Sache" auf diese Weise präzisiert. Vgl. GADAMER, Dialogischer Rückblick auf das Gesammelte Werk, in: GADAMER, Lesebuch, hrsg. von Jean Grondin, Tübingen: Mohr Siebeck (UTB) 1997, 280-295, hier 285. Vgl. dazu PAVEL KoUBA, Die Sache des Verstehens, in: Internationale Zeitschrift für Philosophie 2/1996, 185-196, insb. 189 f. 25
26
111 hi~kt·it,
den 'l'l·xt spn.·du•n tu l.uucrn. 1" l>ttrin "·rkl·nnt m.m "rin hrt·mcncutisdt ~t·sc.:hultt.•s Bl•wugtst.•in." 1'1 I >c.·r lnh.·q,rct, der sich Jt.•r c.·i~enrn Vor~riffc und der eigenen Vorein~enomnu.·nht·it brwufh ist, läfh uen Text seine eigene Wahrheit geltend machen. Dies ist das einzige Kriterium, das die Hermeneutik ausdrücklich angibt. Gadamer nennt es den ,,Vorgriff der Vollkommenheit." 3° Kurzum: Einem zu interpretierenden Text wird Vollkommenheit verliehen. Man setzt nämlich voraus, daß der Text eine Wahrheit hat und eine Kohärenz, mit der er sie zur Geltung bringen kann. Um den Zirkel wiederaufzunehmen, so ist die kohärente Einheit des Ganzen die Vorwegnahme, die das Verständnis der Teile leitet, und die Einstimmung aller Teile zum Ganzem, welche diese Kohärenz beglaubigen kann, wird zum Kriterium der Richtigkeit. Nur dann wenn die Resultate der Interpretation dem Vorgriff der Vollkommenheit nicht entsprechen, wenn es nicht gelingt, eine kohärente Wahrheit erscheinen zu lassen, verschiebt sich die Interpretation vom Text auf den Autor und wird psychologisch. Dies ist für Gadamer aber nur eine weitere Bestätigung dafür, daß Verstehen bedeutet, sich auf die "Sache" zu verstehen, und nur nachträglich auf das Verstehen eines Autors abzielt. 31
4. Wir sind Zerrspiegel. Über Vorurteile Das Vorverständnis, von dem der Verstehende ausgeht, ist der Komplex seiner "Vorurteile". 32 Auf diese Weise fängt Gadamer an, den hermeneutischen Zirkel näher zu bestimmen. Zeigt Heidegger, daß das Verstehen sich auf das schon Verstandene gründet, so legt Gadamer klar, daß das schon Verstandene bzw. das Vor-Verstandene ein Vor-Urteil ist. Um die hermeneutische Fragestellung zu radikalisieren, und sie zu ihren letzten Konsequenzen zu führen, gilt es deshalb, "die wesenhafte Vorurteilshaftigkeit alles Verstehens" anzuerkennen. 33 Durch diese These ist Gadamer vor allem darum bemüht, die Vorurteile zu rehabilitieren. Dies geschieht durch eine Kritik der Aufklärung. Schaut man auf das lateinische Wort preiudicium und auf seinen juristischen Gebrauch, so gibt "Vorurteil" an sich weder einen negativen noch einen positiven Sinn vor. Erst seit der Aufklärung erlangt es die negative Konnotation, die es heute immer noch hat und bedeutet schließlich ,,unbegründetes Urteil." 34 Diese semantische 28 l':l
30 31 32
33 H
GADAMER, Wahrheit und Methode, GW 1, 273 f. GADAMER, Wahrheit und Methode, GW 1, 273. GADAMER, Wahrheit und Methode, GW 1, 299. Vgl. in diesem Band Kap. IV, 2. GADAMER, Wahrheit und Methode, GW 1, 272 und 274. GADAMER, Wahrheit und Methode, GW 1, 274. GAUAMER, Wahrheit und Methode, GW 1, 275.
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Verschiebung ist wichti~: 1);ts Vorurteil wird für Ltlsrh ~duhcn, weil es nicht durch eine sichere und objektive Begründung lq;itimiert wird. 1>och die Voraussetzung, unter der die Aufklärung das Vorurteil diskreditiert, ist seinerseits auch ein Vorurteil, und zwar ein "Vorurteil gegen die Vorurteile überhaupt." 35 Es ist durchaus ein Paradox, das Denken von seinen Vorurteilen durch ein anderes Vorurteil befreien zu wollen! Ist es daher nicht notwendig, dieses neue Vorurteil aufzuklären und zu revidieren? Es ist völlig im Geist der Aufklärung, wenn Gadamer deren Vorurteil einer strengen Kritik unterzieht und es als Erbe des cartesianischen Zweifels aufdeckt. Denn in seinem Glauben an das Ideal der wissenschaftlichen Erkenntnis und in seiner Treue zu ihm, die auf dem methodischen Zweifel gründet, entstellt dieses Vorurteilletztlich die Wirklichkeit des geschichtlichen Verstehens. Hier kündigt sich die Frage der Letztbegründung an, die im Licht der Endlichkeit der menschlichen Existenz anfängt, sich als unmöglich zu erweisen. Gleichviel ob die Vorurteile der Rücksicht auf die Autorität von anderen oder der eigenen "Überstürzung" entstammen, in jedem Fall erfordert die Aufklärung, daß die Tradition vorurteilslos vor dem Gericht der Vernunft beurteilt wird. Indem sie diese abstrakte Alternative zwischen Tradition und Vernunft wieder aufnimmt, bekräftigt die Romantik das Gesetz der Überwindung des Mythos durch den Logos; nur tut sie es in umgekehrter und daher traditionalistischer und konservativer Form. 36 Aus der romantischen Reaktion, letztlich jedoch aus der Aufklärung bahnt sich die Geschichtswissenschaft an, welche die Welt der Vergangenheit objektiv erkennen will. Dabei wird der "Bruch mit der Sinnkontinuität der Überlieferung" als selbstverständlich betrachtet. 37Anders gesagt: Man glaubt an die Möglichkeit eines Subjekts, das von der Zugehörigkeit absieht, die es als Interpret mit dem Interpretierten verbindet und sich somit über die Geschichte, die geschichtliche Überlieferung, die eigenen Vorurteile erhebt und zum Spiegel seiner selbst macht, um mit objektiver Rationalität erkennen und urteilen zu können. Man will einfach nicht einräumen, daß die menschliche Vernunft- wie Kant gelehrt hat- nicht absolut, sondern endlich und geschichtlich ist. Der Fokus der Subjektivität ist nur ein Zerrspiegel. Die Selbstbesinnung des Individuums ist nur ein Flackern im geschlossenen Stromkreis des geschichtlichen Lebens. Darum sind die Vorurteile des einzelnen weit mehr als seine Urteile die geschichtliche Wirklichkeit seines Seins. 38 GADAMER, Wahrheit und Methode, GW 1, 275. Vgl. DAVID DETMER, Gadamer's Critique of the Enlightenment, in: LEWIS E. HAHN (Hrsg.); The Philosophy of Hans-Georg Gadamer 1997, 275-286; vgl. auch DoNALD lPPERCIEL, Descartes and Gadamer on Prejudice, in: Dialogue 41 (2002), 635-652. 36 Vgl. in diesem Band Kap. III, 10. 37 GADAMER, Wahrheit und Methode, GW 1, 280. 311 GADAMER, Wahrheit und Methode, GW l, 281. 35
113
Rduhiliticrung lwdt.·latt.·t hh (i;tJnrner durchaus kl·ine Lobrede auf die Vorurteile. Man kannund m.\11 muf~ die eigenen Vorurteile zum Bewußtsein bringen. Aber so sehr das Bcwugtscin auch kritisch ausgebildet ist, so kann es doch niemals vollendet sein.l fielt man eine solche Vollendung für möglich, so würde man wieder in den Irrtum der Aufklärung zurückfallen. Kann man dann aber wenigstens zwischen wahren und falschen Vorurteilen unterscheiden? Diese Frage, die Wahrheit und Methode aufwirft, bleibt deshalb unbeantwortet, weil sie schlecht gestellt ist und noch immer unter dem epistemologischen Paradigma der Erkenntnis leidet. Denn fände man ein Kriterium zur Unterscheidung der Vorurteile, so hieße dies, über sie verfügen zu können. Aber letztlich hinterläßt die negative Konnotation des Vorurteils auch bei Gadamer ihren Eindruck und hindert ihn daran, es als positive Grenze aufzuzeigen. Obwohl es ein Schlüsselbegriff von Wahrheit und Methode ist (der dann allerdings später kaum mehr aufgenommen wird), bahnt das Vorurteil jedoch nicht den Weg zu einer radikal neuen Sicht der Grenze. Eines der Kriterien, das Gadamer vorbringt, um zwischen wahren und falschen Vorurteilen zu unterscheiden, ist der "Zeitenabstand". 39 Auf Dauer setzt sich für ihn eine Interpretation aufgrund ihrer Fruchtbarkeit durch. Wie soll man sonst die eigentliche von derjenigen Kunst abgrenzen, die nur dem Geschmack des Augenblicks entspricht? Doch auch wenn der Zeitenabstand eine Rolle beim Verstehen spielt, kann er nicht als einziges Unterscheidungskriterium angenommen werden- und Gadamer selbst wird seine These ändern und den Text dementsprechend korrigieren. 40 Überschätzt wird dabei nämlich der vom Abstand gebildete Filter. Gadamer hat recht, wenn er den Zeitenabstand nicht als einen zu überspringenden Abgrund auffaßt, sondern als jene Kontinuität, die das Verstehen möglich macht. Der Abstand löst jedoch nicht die Frage nach der Legitimität von Urteilen und Vorurteilen über zeitgenössische Werke. Er kann sogar die entgegensetzte Wirkung als die gewünschte haben und ·die weniger gültigen Interpretationen konsolidieren, die gültigeren dagegen verdunkeln. So sind in vergangenen Zeiten ganze Stellen aus klassischen Werken gestrichen worden, weil sie in vielerlei Hinsicht als ungeeignet angesehen wurden, ganz zu schweigen von der nur mündlich existierenden Geschichte jener Völker oder Generationen, von denen nicht einmal eine Erinnerung bleibt. Die Tradition kann auch eine verdeckende Wirkung haben .
GADAM.ER, Wahrheit und Methodl·, GW 1, 301. Wiihrend es in dl·r ersten A.ufbgc von Wahrheit und Methode heißt: "Nichts anderes als ... ", steht in dL·r fünftL·n Aull.&~l' von I'JH(,: "Oh ... " . V~l. GAOAMER, Wahrheit und Mcthmll·, AMER,
~ 4 GAI>A M ER, .,., (iAt>AMFR,
Wahrheit und Methode, GW 1, 300. Wahrheit und Mt•thodc, GW I, 294 . W,lhrlwitund Mcthudt•, CW I, 295.
II H
V. 1\ 14/'ltrl: /)i,- 1\umlr//,,t",,., clc•, Vrnttht•n'
llilfsdisziplin, die sich mit dt.•r Rezeption eines Werkes und vor allem mit den daraus entstandenen l>eutun~en beschäftigte.~(, Die verschiedenen Arten, in denen- im Laufe der Jahrhunderte- Texte gelesen und Ereignisse gedeutet worden sind, bezeugen die Produktivität der Geschichte: jeder Text, jedes Ereignis nimmt eine neue Bedeutung an und zeigt eine neue Seite auf, je nach den Erwartungen, die der geschichtliche Kontext hervorruft, aber auch je nach den vorhergehenden Auslegungen. Führen wir einige Beispiele an. Wir wissen zwar nicht, wie genau Hegel Platon einschätzte, aber sicherlich betrachten wir Platon aufgrundvon Hegels Lektüre anders. Und wir blicken mit anderen Augen, eher den Augen der Besiegten als denen der Sieger, auf ein Ereignis wie die Eroberung Amerikas. Kurzum: Um ein Werk oder ein Ereignis zu erforschen, ist es notwendig, seine Wirkungen in der Geschichte zu berücksichtigen. Deshalb hat der Historismus so großes Interesse an der Geschichte der Wirkung und der Wirksamkeit; aber er wird durch die naive Absicht geleitet, das Originalwerk von seiner Rezeption zu trennen, um es in voller Objektivität zu ergründen. Das geschichtliche Bewußtsein scheint hier aufgeklärter als die Aufklärung selbst zu sein, weil es auf das Credo des Fortschritts verzichtet und darauf zielt, den Lauf der Geschichte nicht rational zu verstehen, da dieser Lauf sozusagen vernunftfremd ist, sondern von den Höhen des geschichtlichen Bewußtseins aus. An dieser Stelle spielt Gadamer gegen die Anmaßung dieses Bewußtseins das Prinzip der Wirkungsgeschichte aus. Um diesen Wendepunkt in der philosophischen Hermeneutik zu verstehen, muß man etwas bei der komplexen Bedeutung des Wortes verweilen. Wichtig ist, daß "Wirkungsgeschichte" nicht nur und nicht so sehr die "Geschichte der Wirkungen" meint, also die Rezeptionsgeschichte, die sich als solche erkennen und erforschen läßt. Gadamer versucht hier vielmehr, etwas Grundsätzlicheres zu sagen. Um es zu erfassen, muß man beachten, daß sich "Wirkung" nicht nur auf das Resultat einer Tätigkeit, sondern auch auf die Tätigkeit selbst bezieht. "Wirkung" ist ein Synonym für "Wirken" - auch als Operieren und Arbeiten gemeint. "Wirkungsgeschichte" hat also einen zweifachen Sinn. Auf der einen Seite verweist sie auf ein Produkt: zum Beispiel auf die verschiedenen Interpretationen der Bibel, die als Wirkungen der Geschichte angesehen werden können bzw. als Produkte ihrer im Laufe der Jahrhunderte vollbrachten Arbeit. 57 Auf der anderen Seite verweist sie auch auf eine Tätigkeit, und zwar auf das blinde und stille Wirken der Geschichte, das kein Telos besitzt und das oft unbeachtet und verborgen, nahezu unbewußt bleibt und insofern "mehr Sein als Bewußt-
Vgl. KARL RoBERT MAN DELKOW, Probleme der Wirkungsgeschichtc, in: Jahrbuch für internationale Germanistik II (1970), 69-78, hier 71. 57 Vgl.jEAN GRONDIN, La conscience du travail dc l'histoire et le prohcme de la verite cn hermeneutique, in: L'horizon hermencutique de Ia pcnsec contemporainc, Paris: Vrin 1993, 213-233. 56
I 1'J sl·in" ist."'H I >ic.· Arlll·it dc.·r ( ;r~tn·hirhtc vcrs;tmmclt so c.lie lle~elsc.:he Ncgativität in sirh, die ein l.eidc.·u und l•'.rlc.·ic.lcn ist, eine Mühsal wie Jie der Geburt, mit der c.lie Gest.:hic.:hte unvorher~esd1ene und unvorhersehbare rrüchte erbringt, in denen sie ihre Spuren hinterläHt.ln ihrer Arbeit ist die Geschichte ein beständiges Wirken, das Spuren schreibt und ein-schreibt, welche die Vergangenheit lesbar machen und dennoch unwiderruflich abwesend sein lassen. Es ist dieser Weg, auf dem die Geschichte uns erreicht, die wir nicht unversehrt bleiben; denn durch ihr Wirken durchdringt sie uns sehr viel tiefer, als unser Bewußtsein annehmen mag. Gerade dies bedeutet hier "Wirkung": daß die Geschichte weiter und über das Bewußtsein hinauswirkt, das wir von ihr haben können. Anders gesagt: die Geschichte unterwirft uns ihren Wirkungen und kontaminiert uns derart in unseren vermutlichen Intimitäten, daß sie uns das Eigene als fremd und das Fremde als eigen erscheinen läßt. 59 Weit davon entfernt, sich auf die Geschichte der Wirkungen oder auf die Wirkungen der Geschichte zu reduzieren, ist die Wirkungsgeschichte diese stets wirkende "Verflechtung" beider, in die das Bewußtsein einbezogen und in der es vernetzt ist. Dieses Netz, das die Geschichte webt, wirkt auch dort, wo man eigentlich nichts spürt und nicht einmal etwas ahnt. Niemals wird das Bewußtsein ein solch undurchdringliches Gewirr, von dem es selbst durchdrungen und das seine Substanz ist, auflösen können. Daher ist es auch niemals transparent und rein, sondern opak und befleckt. Das wirkungsgeschichtliche Bewußtsein ist als solches von der Geschichte "erwirkt", ausgearbeitet und gepeinigt. 60 Es kann sich den vielfältigen geschichtlichen Wirkungen schon deshalb nicht entziehen, weil es niemals einJenseits der Geschichte erreichen kann, von dem aus es sie beobachten könnte. Mehr als 4andelnd, scheint es erleidend, hingerissen und einbezogen in jenes "Ineinanderspiel" zu sein, wodurch Gadamer den hermeneutischen Zirkel geschildert hat. 61 Um den Begriff des wirkungsgeschichtlichen Bewußtseins näher zu erläutern, ist es notwendig, wenigstens zwei Bedeutungen zu unterscheiden. Eine erste Bedeutung wird durch den objektiven Genitiv bestimmt. Dieses Bewußtsein weiß um seine Geschichtlichkeit, es weiß, daß es immer situiert ist. Es ist "ein Bewußtsein der hermeneutischen Situation." 62 Unüberhörbar ist hierbei die existentielle Nuance: der Begriff der "Situation", den Gadamer aus Jaspers Philosophie übernommen hat, trägt dazu bei, sie hervorzuheben. Dieses Bewußtsein weiß nicht nur, daß es zum Horizont einer Epoche gehört, sondern auch, das es sich an einem bestimmten Punkt des Raumes und der Zeit befindet:
~H GA DA M ER, Rhetorik, Hermeneutik und Ideologiekritik, "~"~ Vgl. GADAMER, Wahrheit und Methode, GW 1, 306. t.o V~l. GA DA M Jo:R, Wahrheit und Methode, GW 1, 307. 1' 1 (;ADAMEK, 1' 1
(;ADAMFK,
Wahrhl·it und Methode, GW 1,298. Wahrlwitund Methode, GW 1, 307.
GW 2, 232-250, hier 247.
120
V. 1\rtf'"'l:
/)llf l\mutrlllftiU11
1lr• Vrntrhrm
dem l>rt dl·r ci~cncn Situ;uion, dl•n c.·s nur verlitssen k&utn, indem es in eine andere Situation übergeht. Seine Situiertheil läf~t sich daher niemals überwinden. Hier geht also nicht um objektive Erkenntnis, sondern vielmehr um "Erhellung"- um ein anderes Wort von Jaspers hier zu verwenden. Von der eigenen Situation ausgehend weiß dieses Bewu{~tsein, daß "Geschichtlichkeit heißt, nie im Sichwissen Auf[zu]gehen."63 Dies wird durch die Geschichte verhindert, die sich in keinem absoluten Subjekt integrieren läßt. Das wirkungsgeschichtliche Bewußtsein weiß nämlich, daß die Geschichte bei jedem Verstehen, auch beim Sichverstehen, am Werk ist. Demzufolge ist es nicht nur von der Geschichte bestimmt, begrenzt und definiert, sondern auch der Unendlichkeit des Verstehens ausgeliefert. Was aber das Bewußtsein begrenzt, ist zugleich auch seine wahre Chance. Die von der Geschichte gewirkte Arbeit schließt es nämlich durchaus nicht in die Einseitigkeit eines unaufhebbaren Gesichtspunkts ein; denn während sie es in ihr Netz einspinnt, an dem sie unablässig weiterwebt, eröffnet sie dem Bewußtsein zugleich auch die Möglichkeit eines unendlichen Gesprächs mit der Überlieferung. Die zweite Bedeutung des "wirkungsgeschichtlichen Bewußtseins" legt der subjektive Genitiv nahe. In diesem Fall kann man metaphorisch sagen, daß die Geschichte ein Bewußtsein von sich selbst hat, insofern Bewußtsein das Ergebnis ihres Wirkens ist. Hier klingt zwar deutlich Hegels Geschichtskonzeption an, was Gadamer in der Tat den Verdacht einer Ontologisierung der Geschichte eingetragen hat: als ob bei ihm die Geschichte eine Art autonomer Macht, ein gigantisches Bewußtsein wäre, das sich, gleichsam als Neuauflage der Seinsgeschichte Heideggers, jedes andere Bewußtsein einverleiben würde. So gelesen wäre die Wirkungsgeschichte ein langer Monolog, der im absoluten Geist gipfelt. Ganz im Gegenteil möchte Gadamer aber den Weg der Phänomenologie zurückgehen. 64 Der metaphorische Sinn des Genitivs verweist daher auf ein gemeinschaftliches Bewußtsein, das die Arbeit der Geschichte hervorbringt und das darum das subjektive Bewußtsein übersteigt. Diesem letzteren ist eine dialogische Interaktion keineswegs verwehrt, doch sein Über ist zugleich auch seine Grenze. Dies ist wohl der wichtigste Effekt, den das Wirken der Geschichte hervorbringt: dem modernen Bewußtsein seine Grenze aufzuzeigen, und zwar seine Unmöglichkeit, Selbstbewußtsein zu sein. Man sollte daher diesem Bewußtsein, das weniger von sich, als von der eigenen Grenze weiß, vielleicht einen anderen Namen geben. Dies hätte unter anderem den Vorteil, die idealistischen Konnotationen zu vermeiden, die im Begriff des Bewußtseins nachklingen. Der Name, den Gadamer vorschlägt, und dessen Entfaltung er vor allem in seinen letzten Schriften immer mehr Raum gibt, ist
63 64
GADAMER, Wahrheit und Methode, GW 1, 307. Vgl. GADAMER, Wahrheit und Methode, GW 1, 307.
121
••W.tchs.unkt:it". St.lll Ikw uf~l· Sein s.a~t die philosophisdtt' llcrmcncutik Wachsam-St•in."" Noch in der erstt·n Aufl.\~c von Wahrheit und Methode sprach Gadamer von "Aufgabe", als er sich auf den "Verstehensvollzug" bezog, der in der Geschichte als "Horizontverschmelzung" von Vergangenheit und Zukunft zustande kommt. 66 Doch das Wort "Aufgabe" hat zu zahlreichen Fehldeutungen Anlaß gegeben. Viele Interpreten haben deshalb von einer "Aufgabe des Verstehens" geredet, als ob das Verstehen für die Hermeneutik eine methodologische Übung oder eine moralische Pflicht wäre. Aber schon die letzte, 1986 erschienene und revidierte Auflage, führt eine wichtige Änderung ein: das Wort "Aufgabe" wird durch das Wort "Wachheit" ersetzt. 67 Das Bewußtsein, das um die Arbeit der Geschichte weiß und das ebenso weiß, daß diese auch in seinem Inneren wirkt, wacht über die Horizontverschmelzung. Von der Wachheit her ist es möglich zu klären, was Gadamer mit "Horizontverschmelzung" meint. Situiertheit bedeutet, an einen Punkt in Raum und Zeit gebunden zu sein, der die Sicht einschränkt. Wie zunächst Husserl, dann aber auch Heidegger und Jaspers gezeigt haben, deutet das aus dem Griechischen stammende Wort "Horizont" auf den beweglichen Kreis hin, der alles begrenzt, was von einem Punkt aus sichtbar ist, und der unsere Grenze bezeichnet, die sich mit uns mitbewegt. So spricht man von mehr oder weniger begrenzten Horizonten, von Horizontweite und von der Öffnung neuer Horizonte. 68 Das Verstehen kann als eine Begegnungzweier Horizonte betrachtet werden, die sich in eine bestimmte geschichtliche Konstellation einschreibt. Der Historismus begreift diese Begegnung als ein Sich-Hineinversetzen des Bewußtseins, das sich anmaßt, aus dem Horizont der Gegenwart herauszutreten, um in den der Vergangenheit einzudringen und ihn sich anzueignen. Wer versteht, scheint also insofern eine Position von objektiver Neutralität erreicht zu haben. Die von Gadamer geltend gemachten Zweifel betreffen nicht nur diese Position, sondern erfassen auch die Möglichkeit, die Horizonte überhaupt voneinander zu trennen, als ob es sich um geschlossene Horizonte handelte. Diese Vorstellung ist für ihn nichts weiter als eine Abstraktion. Denn zum einen bewegen sich die Horizonte, und wir mit ihnen, so daß auch der Horizont der Vergangenheit nicht fest liegt, sondern sich in der Artikulation einerneuen Gegenwart bewegt. Zum anderen sind die Grenzen zwischen beiden durchaus nicht deutlich: Ein Horizont geht in einen anderen über und bildet somit einen beweglichen Horizont, der die Tiefe der Geschichte umfaßt, aus der das menschliche Leben lebt und die es als "Herkunft und Überlieferung" definiert. 69 Die Horizonte sind &s V~l. M
"7 t.K 1''1
in diesem Band Kap. IX, 5. GADAMEK, Wahrheit und Methode, GW 1, 311 f. GAL>J\MEK, Wahrheit und Methode, GW 1, 312. V~l. (;1\DJ\MI·:K, Wahrlll'it und Methode:, GW 1, 307 f. AMER, W;thrhcit und Mcthmh-. GW I, 314. Vgl. joEL C. WEINSHEIMER, Gadamcr's llcrrnc.·m·tllil·, IH4-l'J'J. IH (;AI>AMIIK, w.,hrlwilun,J Mcrhndc.·, c;w 1, .'llfl. 7"
124
V. Kapitel: Dit! Konstellation des Verstehens
Gadamer zieht diese Trennung in Zweifel. Worin liegt der Unterschied zwischen dem Rechtshistoriker und dem Juristen? Diesen Unterschied hatte besonders Betti betont, den Gadamer in diesem Kontext hinzuzieht.79 Gegenüber dem Rechtshistoriker, dem nur die Aufgabe zukomme, den ursprünglichen Sinn eines Gesetzes zu erfassen, solle der Richter, Betti zufolge, das Gesetz auf den Einzelfall anwenden. Der hier schlummernde Gedanke ist, daß der ursprüngliche Sinn etwas Selbstverständliches sei und daß es ebenso selbstverständlich sei, ihn auf die jeweiligen Umstände anzuwenden. Für Gadamer hingegen ist dieser Unterschied keineswegs eindeutig. Der Ausgangs- und der Zielpunkt sind zwar jeweils verschieden, der hermeneutische Weg ist jedoch dergleiche. Der Richter geht vom Einzelfall aus und handelt im Hinblick auf diesen Fall mit praktisch-normativen Finalitäten; der Historiker geht von keinem Einzelfall aus und zielt auf den Sinn des Gesetzes mit theoretisch-deskriptiven Finalitäten. Gleichwohl muß sich der Jurist auch als Historiker, und der Historiker sich als Jurist verhalten. Was sie gemeinsam haben, ist das Verstehen des Gesetzes, das aufgrundder Geschichtlichkeit des Verstehens immer eine Vermittlung von Vergangenheit und Gegenwart, das heißt immer eine Anwendung ist. Auch der Historiker kann nicht umhin, beim Studium eines Gesetzes (gleichviel ob es in kraftist oder nicht), zwischen Vergangenheit und Gegenwart zu vermitteln, und zwar einfach deshalb, weil er als Interpret von seiner eigenen Situiertheit nicht absehen kann. Und beim Verstehen des Gesetzes kann sich der Historiker darüber hinaus auch der Anwendung nicht entziehen. Der sogenannte "Sinn des Gesetzes" ist kein abstraktes, mit sich selbst identisches Allgemeines, sondern der Sinn, den das Gesetz in den verschiedenen konkreten Fällen, in denen es angewendet worden ist, angenommen hat. Eben darum muß der Historiker alle Anwendungen des Gesetzes in Betracht ziehen- bis hin zur gegenwärtigen. Wo er aber das Gesetz auf die Gegenwart anwendet, tut er nichts anderes als das, was auch der Richter tut. Dieser wird seinerseits, sofern er das Gesetz auf den Einzelfall anwendet, dessen derzeitigen Sinn verstehen und damit zwischen Vergangenheit und Gegenwart vermitteln. Der Jurist verhält sich, mit anderen Worten, immer auch als Historiker. Verstehen ist "Konkretisierung des Gesetzes", und damit eben Anwendung. 80 Anhand der juristischen Hermeneutik wird klar, daß die Anwendung nicht mit einer "Art logischer Technik der Subsumption" des Besonderen unter ein Allgemeines verwechselt werden darf. 81 Vielmehr handelt es sich um eine KonkreVgl. GADAMER, Wahrheit und Methode, GW 1, 330-332. GADAMER, Wahrheit und Methode, GW 1, 335. 81 HANS-GEORG GADAMER, Hermeneutik als praktische Philosophie, in: GADAMER, Vernunft im Zeitalter der Wissenschaft, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1976, 78-109, hier 88. Vgl. ANTHONY KERBY, Gadamer's Concrctc Universal, in: Man and World 24 (1991), 49-61. 79
80
9. Die Kreativität der Anwendung und die Einheit der hermeneutischen Disziplinen
125
tisierung, die eine "produktive Rechtsergänzung" ist. 82 Eben weil sie kein logisch-mathematisches Verfahren, sondern ein geschichtliches Geschehen ist, erweist sich die Anwendung als produktiv bzw. kreativ, da sie immer auch eine reproduktive Überwindung ist: des Allgemeinen im Besonderen, des Identischen im Verschiedenen, des Abstrakten im Konkreten. Hier ist ihre Nähe zu jener schon bei der Kunst - etwa bei der Musik - aufgetauchten reproduktiven Auslegung zu erblicken, von der das Werk untrennbar ist. 83 Nicht zufällig führt Gadamer auch in diesem Zusammenhang eine "hermeneutische Identität" ein, die zur Zukunft hin offen ist und allein in der Zeitlichkeit ihres ständigen Sichdifferenzierens liegt. Anwendung ist dann lediglich eine andere, umfassendere Bezeichnung für das, was in der Kunst Aufführung genannt wird.
9. Die Kreativität der Anwendung und die Einheit der hermeneutischen Disziplinen Auf diesem Weg weitet Gadamer die Grenzen des Verstehens aus. Seine Absicht dabei ist, die Einheit der hermeneutischen Disziplinen wiederzugewinnen. Wo läßt sich aber diese Einheit aufspüren? Weder in der Universalität des Verstehensvorgangs, noch in der des geschichtlichen Bewußtseins, und ebensowenig in der objektiven Betrachtung der Philologie. Als "Vermittlung von Damals und Heute, von Du und Ich" ist eben die Anwendung der Faden, der die hermeneutischen Disziplinen miteinander verbindet. 84 Auch in der theologischen Hermeneutik muß das Kerygma, die Heilsverkündigung, wie bei der Konkretisierung des Gesetzes, wiederholt werden, um wirksam zu sein, das heißt auch sie "läßt sich nicht von ihrem Vollzug lösen"dies jedoch mit der gebotenen Unterscheidung, daß im Verhältnis von menschli'chem und göttlichem Gesetz letzteres den "schlechthinnigen Vorrang" über der Auslegung behält. 85 Die Anwendung ist bei jedem Verstehen am Werk, auch bei der philologischen und der historischen Hermeneutik. Von dieser Auffassung her kann Gadamer nicht nur die Objektivität kritisieren, die im historisch-philologischen Bereich vorherrscht, sondern auch den Universalitätsanspruch der Historik in Abrede stellen. Im Lauf des 19. Jahrhunderts hat diese sich auf das Modell der Philologie berufen, die das Einzelne vom Ganzen ausgehend und als Ergebnis des Ganzen
GADAMER, Wahrheit und Methode, GW 1, 335. Rl Vgl. in diesem Band Kap. 111,6 und 8. 84 GADAMER, Wahrheit und Methode, GW 1, 339. Man soll in diesem Zusammenhang den Eintluf~ Hcgcls nicht unterschätzen. Vgl. jEPF MnsCHERLING, Hegelian Elements in Gadamcr's Nution of Application and Play, in: Man and World 25 (1992), 61-67. 11 ~ GAUAMIOt, Wahrheit und Methode, u• ( 11/t"IJI•It dt•s ht•mu·neutürhcn ilt"UJujJtseins
133
sondern als ,.1w~.ll ivn Pn ll.l'f~". 110 Erfahrung ist für ihn Negation. Zunächst ist sie Nq~c.ttion u nscn·r Erw.trt un~l·n. Dies schließt keineswegs aus, daß es Erfahrungen gehen kann, Jil· sich in diese Erwartungen eingliedern, indem sie etwa
falsche Vcrallgcmcincrungcn korrigieren. Dies ist übrigens der Grundsatz des trial and error, den Karl Popper (1902-1994) formuliert hat. In dieser Hinsicht scheint er Gadamer durchaus sehr nah zu sein; aber der nicht zu übersehende Abstand beider liegt in dem voluntaristischen Charakter von Poppers Begriff der Erfahrung, der diese ihrer "leidenschaftlichen" und widerfahrenden Seite beraubt. 111 Ganz anders ist die negative Erfahrung, die für Gadamer die "eigentliche" ist. 112 Statt zu herrschen, wird man von ihr beherrscht und am Ende ist man nicht so sehr dementiert, als vielmehr desorientiert. So sagen wir etwa: "Ich habe auch diese Erfahrung machen müssen." Dies bedeutet: "Ich habe es nicht erwartet und habe lernen müssen." Und zwar habe ich gelernt, daß sich die Sachen nicht so verhielten, wie ich glaubte. In einem Augenblick hat sich alles verändert- und ich selbst habe mich verändert. Ich bin anders in einer anders gewordenen Welt- ich bin anderswo. Die Etymologie des Wortes "Erfahrung", das "Fahrt" anklingen läßt, deutet auf diesen Sinn hin. Erfahrungen machen ist wie Fahren. Schon Heidegger hält diesen Zusammenhang fest, wenn er schreibt: "Eine Erfahrung machen heißt, daß es uns widerfährt, daß es uns trifft, über uns kommt, uns umwirft und verwandelt." 113 Die Negativität, die mithin die Erfahrung konstituiert, unterscheidet sie radikal von der theoretischen Erkenntnis. Um dies deutlich zu machen, ist für Gadamer die Auseinandersetzung mit Hegel unerläßlich. In der Phänomenologie des Geistes wird die Erfahrung bekanntlich als eine "Umkehrung des Bewußtseyns selbst" beschrieben. 114 Dabei geht es auch hier gerade um jene Verwandlung, die von einer unerwarteten Erfahrung hervorgebracht wird. Doch Hegel betrachtet die Umkehrung als eine dialektische Bewegung, in der das Bewußtsein, nachdem es sich im Fremden erkannt hat, zur Gewißheit seiner selbst zurückkehrt. Die Erfahrung wird dabei im absoluten Selbstbewußtsein überschritten. Auch wenn er mit Hegel das Bewußtsein dialektisch denkt, kann Gadamer diesen Ausgang, der die Erfahrung abschließen würde, nicht mitvollzieVgl. GADAMER, Wahrheit und Methode, GW 1, 358 f. 111 Vgl. hierzu die von Gadamer selbst eingefügte Bemerkung (GADAMER, Wahrheit und Methode, GW 1, 359 sowie GADAMER, Philosophie oder Wissenschaftstheorie?, in: Vernunft im Zeitalter der Wissenschaft, 125-149, hier 142-143). 112 GADAMER, Wahrheit und Methode, GW 1, 359. 113 HEIDEGGER, Unterwegs zur Sprache, 149. 114 GEORG WILHELM FRIEDRICH HEGEL, Phänomenologie des Geistes. Gesammelte Werke, Band 9, hrsg. von Wolfgang Bonsiepen und Reinhard Heede, Hamburg: Felix Meiner 1980, 61. Zum Begriff der "Erfahrung" zwischen Hegel und Gadamer vgl. auch: Lms FIHIA lU> CA M A, Erfahrung, Erinnerung und Text. Über das Gespräch zwischen Gadamer und llq~d und dil· ( ;n·nn'tl zwisdll'n l>i.tll·ktik und llcrnH.'Ill'Utik, Wiirzhurg: KönigshauSl'll & Nl"lllll.lllll lQQ(,, in,h. ofl ll~. 110
ll4 hen. Er bleibt kunseqUl'llt in Sl·incr Vl·rtcidi~un~ der schlechten Unendlichkeit und hält am Moment der Ne~ativität fest, das sich bei ihm in die ständige "Offenheit" der Erfahrung übersetzt. Gerade weil sie eine konstitutive Negation aufweist, ist die Erfahrung offen und kann sich nie, soll sie nicht zum Erliegen kommen, im Wissen der Wissenschaft abschließen. 115 Auf der einen Seite ist die Offenheit der Ort, an dem sich die Erfahrung vollzieht, auf der anderen ist es die Erfahrung, welche die Offenheit wiederherstellt: durch ihren negativen Charakter bringt sie notwendig neue Erfahrungen hervor. "Daher ist derjenige, den man erfahren nennt, nicht nur durch Erfahrungen zu einem solchen geworden, sondern auch für Erfahrungen offen." 116 Erfahrung ist gewiß nichts, dem man sich im Leben entziehen kann. Dennoch kann man verschiedene Haltungen einnehmen: Der eine scheut vor seinen Erfahrungen zurück, indem er sich selbst und den eigenen Horizont verschließt; der andere nimmt sie dagegen hin, setzt sich ihr aus und bejaht seine Situation in der Offenheit, zu der seine Endlichkeit ihn bestimmt hat. Wenn die Erfahrung aber negativ ist, was lehrt sie dann? Die Antwort liegt im Diktum von Aischylos: von der Erfahrung lernt man, die eigenen Grenzen, die Grenzen der eigenen Endlichkeit zu sehen. "Erfahrung ist also Erfahrung der menschlichen Endlichkeit." 117 Wer sich der eigenen Grenzen bewußt ist, weiß, daß er nicht Herr über seine Zeit und seine Zukunft ist. Er weiß, daß es nicht stimmt, daß jeder Moment der richtige sei und daß es ebensowenig stimmt, daß alles sich lösen und retten, alles sich rückgängig machen lasse. Und er weiß, daß nicht alles voraussehbar und planbar ist, weil jede Planung endlicher Wesen begrenzt und endlich ist. 118 Wer die eigenen Grenzen einsieht, hat Urteilskraft; doch bewußt wird man sich der eigenen Grenzen nur im Vollzug der eigentlichen Erfahrung. Je mehr man sich der Erfahrung öffnet, desto differenzierter wird das Bewußtsein der eigenen Endlichkeit und desto mehr bildet man seine Urteilskraft aus. Das hermeneutische Bewußtsein ist nichts anderes als das Bewußtsein der eigenen Grenzen. Der Mensch, der sich der Erfahrung verschließt, der Ungebildete, der seinen Standpunkt verabsolutiert, begnügt sich mit seinem begrenzten Horizont, sieht die eigene Grenze nicht und vermag sich deshalb auch nicht auf das Über der Grenze einzulassen. Er kann den Anderen nicht anerkennen und braucht ihn auch nicht. Das hermeneutische Bewußtsein nimmt hingegen die Vgl. GADAMER, Wahrheit und Methode, GW 1, 361. Insofern kann man vom Tragischen der hermeneutischen Erfahrung sprechen, nur aber so lang sie wortlos bleibt. Vgl. GERALD L. BRuNs, On the Tragedy of Hermeneutical Experience, in: WALTER JosT/ MICHAEL J. HYDE (Hrsg.), Rhetorics and Hermeneutics in Our Time: A Reader, New Haven & London: Yale University Press 1997, 73-89. 116 GADAMER, Wahrheit und Methode, GW 1, 361. 117 GADAMER, Wahrheit und Methode, GW 1, 363. 118 GADAMER, Wahrheit und Methode, GW 1, 363. 115
11. Dir Cirr111.r tr/tchrtn. Die Offenheit des hermeneutischen Bewußtseins
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eigene Grenze wahr und wird dazu gedrängt, sie zu überwinden, was nur im Anderen und mit dem Anderen möglich ist. Diese Gegenseitigkeit ist für die hermeneutische Erfahrung unerläßlich. Der enge Zusammenhang zwischen Offenheit und Endlichkeit liegt gerade in einer positiven Auffassung der Grenze, die immer als das Über des Anderen gelesen wird. 119 Die Erfahrung des Du, die Gadamer schildert, ist somit weder die tragische Erfahrung des Scheiterns der menschlichen Endlichkeit noch die moralische Erfahrung der Aufnahme des Anderen unter ein gemeinsames Gesetz. Vielmehr ist die Offenheit gegenüber der Andersheit des Du eine Notwendigkeit für das hermeneutische Bewußtsein, denn für dieses ist der Andere das Über der eigenen Grenze, der Ausweg aus der eigenen Endlichkeit. Mit dem Begriff der Anwendung und dann dem der Erfahrung gelangt das Verstehen zu seiner größten Ausweitung. Es ist daher kein Wunder, daß die Erfahrung auch mit der Überlieferung zu tun hat. In diesem Zusammenhang spricht Gadamer von "hermeneutischer Erfahrung". 120 Die Vergangenheit zu verstehen bedeutet, sie im Überlieferungsgeschehen zu erfahren, als eine Gegenwart, die der Zukunft etwas zu sagen hat. Das wirkungsgeschichtliche Bewußtsein artikuliert sich dann im Vollzug der hermeneutischen Erfahrung und ihrer Offenheit, die in diesem Fall die Offenheit gegenüber der Tradition ist. So wie es gilt, dem Du das Wort zu lassen, so gilt es, der Stimme der Tradition Gehör zu schenken.
119
Diese enge Verbindung ist zum Beispiel von Bormann übersehen worden. Vgl. CLAUS VON BoR MANN, Die Zweideutigkeit der hermeneutischen Erfahrung, in: KARL ÜTTO APEL u.a. (Hrsg.), Hermeneutik und Ideologiekritik, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1971, 83-119. 120 GAOAMP.K,
Wilhrhcil und Methude, GW I, 363.
VI. Kapitel
Eine lebensnahe Ethik Trotzdem kann die Meinung wohl nicht die sein, daß man in derselben Weise, wie man singen, sprechen oder schreiben lernt und es am Ende kann, auch leben lernt und es am Ende kann. 1 Der aristotelische Begriff der Praxis bekommt nun noch einen spezifischen Akzent, sofern er auf den Status des freien Bürgers in der Polis angewandt wird. Dort ist menschliche Praxis im eminenten Sinne des Wortes. 2 ...wenn anders das Wesen einer Utopie sich so definieren läßt, daß sie die Form der Anzüglichkeit aus der Ferne sei. 3
1. Ist eine philosophische Ethik möglich? Verstehen bedeutet also Anwenden; denn es muß stets in die Praxis übersetzt werden und ist daher eine Form des Handeins auf sich selbst, in der Welt, mit den Anderen. So verwundert es nicht, daß die Hermeneutik, indem sie neben ihrem theoretischen auch ihren praktischen Wert zurückgewinnt, den sie seit der Antike hatte, eine Nähe zur praktischen Philosophie zeigt. Dies stellt Gadamer in seinem Aufsatz Hermeneutik als praktische Philosophie von 1972 deutlich heraus. 4 Dadurch tritt die ethische Dimension der Hermeneutik stärker ans Licht, die nicht im Verstehen als solchem, und noch weniger in einer vermeintlichen Aufgabe oder Pflicht des Verstehens, sondern in der Offenheit des hermeneutischen Bewußtseins liegt, das dazu bewegt wird, die eigene
HANS-GEORG GADAMER, Die Idee des Guten zwischen Plato und Aristoteles {1978}, in: Griechische Philosophie 111. Plato im Dialog, GW 7, 128-227, hier 196. 2 GADAMER, Hermeneutik als praktische Philosophie {1972), in: Vernunft im Zeitalter der Wissenschaft, 78-109, hier 81. 3 GADAMER, Platos Denken in Utopien. Ein Vortrag vor Philologen (1983), GW 7., 270-289, hier 277. • GADAMER, Hermeneutik als praktische Philosophie, 78-109. 1
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137
Grenze in das vo11 dt·m Andt·rc.·n vcrhciHene Über zu überwinden und sich zur ethischen Wach hl·it zu l'rhdwn. Gcnau betrachtet wird Protreptikos< von 1927, der wichtige Essay Praktisches Wissen, der, lange unveröffentlicht, auf das Jahr 1930 zurückgeht, das 1931 erschienene Buch Platons dialektische Ethik, das Kapitel zu Aristoteles, das den Vorträgen über Das Problem des historischen Bewußtseins beigefügt und dann im Exkurs von Wahrheit und Methode wiederaufgenommen wurde, bis hin zu den mehr als 20 Aufsätzen der späteren Jahre zu diesem Thema. 6 1998 erschien darüber hinaus seine Ausgabe des sechsten Buchs der Nikomachischen Ethik bei Klostermann.l Daß die Aktualität der von den griechischen Philosophen umrissenen Ethik und Politik in den letzten Jahrzehnten wiederentdeckt wurde, ist zum großen Teil der philosophischen Hermeneutik zu verdanken. Insbesondere Gadamers Lektüre von Aristoteles hat die Fragen der Ethik wieder ins Zentrum der philosophischen Debatte gerückt und damit vor allem in Deutschland zur sogenannten "Rehabilitierung der praktischen Philosophie" geführt. 8 Allerdings ist nicht nur seine Wiederaufnahme von Aristoteles, sondern auch seine gesamte Einstellung gegenüber der Ethik häufig mißverstanden worden. Dies hat sowohl Vorwürfe evoziert wie den des ethischen Relativismus, der jedoch eher den
Zur Auseinandersetzung mit der Wertethik vgl. auch die Aufsätze: GADAMER, Das ontoiQgische Problem des Wertes (1971), GW 4, 189-202; Wertethik und praktische Philosophie (1982), GW 4, 203-215. 6 Vgl. GADAMER, Der aristotelische >Protreptikos< und die entwicklungsgeschichtliche Betrachtung der aristotelischen Ethik (1927), GW 5, 164-186; Praktisches Wissen (1930), GW 5, 230-248; Wahrheit und Methode, GW 1, 317-329. 7 Vgl. ARISTOTELES, Nikomachische Ethik VI, hrsg. und übers. von Hans-Georg Gadamer, Frankfurt am Main: Klostermann 1998. 8 Vgl. MANFRED RIEDEL (Hrsg.), Die Rehabilitierung der praktischen Philosophie, 2 Bände, Freiburg: Rombach 1972-1974; dieses Werk hat gleichsam den Anfang der praktischen Philosophie in Deutschland markiert. Für einen Überblick, in dem auch kritische Fragen gestellt werden, vgl. FRANeo VoLPI, Praktische Klugheit im Nihilismus der Technik. Hermeneutik, praktische Philosophie, Neoaristotelismus, in: Internationale Zeitschrift für Philosophie 1/1992, 5-23; vgl. VoLPI, Hermeneutique et philosophie pratique, in: Guy DENIAuljEAN-CLAUDE GENS, L'heritage de Hans-Georg Gadamer, Paris: Le Cercle Hermcneutiquc (Collcction Pheno) 2004, 13-36. Vgl. auch MATTHEW FosTER, Gadamer and Practical Philosophy. Thc Hcrmcneutics of Moral Confidence, Atlant: Scholar Press 1991; EMMANlll'l. CATTIN, L'hcrmcncutiquc comme philosophic pratique. Aristotc dans Gadanu·r, in: Philosophil· 7.\ (2002), 7.'\-R(,. 5
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"Ncoaristotclismus" trifft, als aul·h eine gewisse Herabsetzung seines Vorhabens bewirkt, weil man annahm, daf~ das, was über Aristoteles und die praktische Philosophie zu sagen war, Jahre zuvor schon von Heidegger gesagt worden sei. Gadamer spielt Aristoteles gegen Kant aus in einem wichtigen Aufsatz von 1963 Über die Möglichkeit einer philosophischen Ethik, der vielleicht den größten Widerhall gefunden hat.9 Es wäre jedoch ein triviales Mißverständnis zu glauben, daß hier ein aristotelischer Wertrelativismus gegen den kantischen Universalismus geltend gemacht wird. Die entscheidende Frage zielt vielmehr auf die Möglichkeit einer philosophischen Ethik, das heißt auf eine "Begründung" der Ethik im Husserlschen Sinn- wie Gadamer viel später in einem Aufsatz von 1989 Aristoteles und die imperativische Ethik präzisiert, in dem er dieses Thema wieder aufnimmt. 10 In dieser Frage verbirgt sich eine "schwer auflösbare Verwicklung", welche die Ethik in dem Augenblick betrifft, in dem sie sich, um philosophisch zu sein, als Reflexion über das Allgemeine erhebt. 11 Eine solche philosophische Ethik, die unbedingt und absolut sein will, ist jedoch eine Ethik, die dem Leben fern steht und - wie Kierkegaard gezeigt hat - von der konkreten Situation getrennt ist, in der sich jeweils eine Wahl aufzwingt. Kant kommt ein zweifacher Verdienst zu: Zum einen hat er die Überheblichkeit der Aufklärungsethik entlarvt, indem er gezeigt hat, daß die "Stimme der Vernunft" sich in jedem hören läßt; und zum anderen hat er die universale Absolutheit des reinen, von allen Neigungen und Interessen freien Sittengesetzes gesichert, in welchem sich der gute Wille ausdrückt. Wo liegt dann die Schattenseite der imperativischen Ethik? Gewiß nicht in ihrer Allgemeinheit, sondern in ihrem Intellektualismus, der die Richtigkeit des moralischen Handeins von einer abstrakten Norm abhängig macht, als ob der Handelnde stets imstande wäre, die Norm objektiv und mit dem gebotenen Abstand zu erkennen. Auf diese Weise wird aber das moralische Handeln auf das Paradigma der Methode verkürzt. Und wenn in der heutigen Ethik der Begriff der "Norm" dominiert, der vom Vorbild des wissenschaftlichen Gesetzes geprägt ist, so geschieht dies sicherlich auch, weil Kant den kategorischen Imperativ als ein Naturgesetz formuliert hat. Krüger hat die Frage so verdeutlicht: Kants Ethik setzt voraus, daß das Sittengesetz bereits anerkannt worden ist. 12 Das Beispiel, das hierzu angeführt wird, ist das des Selbstmords. Nach dem kategorischen Imperativ, dem zufolge die eigene Maxime als ein allgemeines Gesetz gelten sollte, wird der Selbstmörder, solange er im Besitz seiner Vernunft ist, nicht umhinkönnen, die
GADAMER, Über die Möglichkeit einer philosophischen Ethik (1963), GW 4, 175-188. Vgl. GADAMER, Aristoteles und die imperativische Ethik (1989), GW 7, 381-395. 11 GADAMER, Über die Möglichkeit einer philosophischen Ethik, GW 4, 176. 12 Gadamer hatte die Arbeit von GERHARD KRÜGER, Philosophie und Moral in der Kantischen Ethik, Tübingen: Mohr 1931, vor Augen. 9
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139 Unhalth;trkl·it Sl'itwr l•:nt"d'"ic.lunK ."u sehen. Diese ßl·trachtungswcise ist jedoch vid zu intdll·ktualiNliNl~h: Wer von Selbstmordgedanken verfolgt wird, hat nicht ~cnu~ Vernunft, um über die Unrechtmäßigkeit seiner eigenen Tat nachdenken zu können. Das Nachdenken wird hier an einem Ideal objektiver Erkenntnis gemessen, an das Kant die Ethik bindet, indem er in der Grenze, der unser Urteil unterliegt, das Indiz sowohl einer Eintrübung der Reinheit als auch einer Form der Heteronomie sieht. Verliert man aber auf diese Weise nicht die Eigentümlichkeit des moralischen Handeins aus dem Blick, das nicht bloß ein Erkennen, und noch weniger ein objektives Erkennen ist? Gibt es wirklich absolute Normen, denen sich das moralische Handeln anpassen muß, oder hat man es hier nicht mit einer Gesetzlichkeit zu tun, die, ganz anders als das Gesetz der Wissenschaften, vielmehr die jüdische Torah oder die n6moi der Griechen in Erinnerung ruft? Gadamers Kritik an Kant warnt zunächst vor einer Ethik, die von der Situation entfernt ist, in der sich derjenige befindet, der handeln muß, und die sogar das konkrete Erfordernis verdeckt, das heißt von der "Ausnahmesituation" abstrahiert - die am Ende gar keine Ausnahme ist, bedenkt man, daß "die Ausnahme, verführt zu werden, eine allgemeine menschliche Situation ist." 13 Indem er den Akzent auf die Situation legt, von der niemand, am wenigsten der Philosoph, vorgeben kann, ihr entkommen zu sein, zeigt Gadamer die Unmöglichkeit einer philosophischen Ethik auf, die nicht um die eigene Fragwürdigkeit weiß, ja diese nicht als ihren wesentlichen Inhalt annimmt - denn nur so kann sie der Unbedingtheit des Sittlichen genügen: "Dann aber ist die philosophische Ethik in der gleichen Lage, in der sich ein jeder befindet.n 14 Der Philosoph, der sich mit Ethik beschäftigt, ist insof~rn kein Experte, der mehr als die anderen weiß und darum Hinweise geben oder sogar neue Gesetze aufstellen und neue Tafeln schreiben könnte - ganz im Gegenteil ist er vielmehr in höherem Maße der Gefahr ausgesetzt, der Situation zu entfliehen. 15 Der Experte in Ethik, Bioethik, Wirtschaftsethik, bildet, wie jeder anderer "Experte" auch, schon deshalb ein Problem, weil er letztendlich den anderen die Entscheidung abnimmt und sie ihrer Verantwortung enthebt.
GADAMER, Über die Möglichkeit einer philosophischen Ethik, GW 4, 180 f. GADAMER, Über die Möglichkeit einer philosophischen Ethik, GW 4, 184. Vgl. RoNALD BEINER, Do We Need a Philosophical Ethics? Theory, Prudence, and the Primacy of Ethos, in: RoBERT BARLETT/SusAN CoLLINS (Hrsg.), Action and Contemplation, Albany: SUNY 1999, 37-52. IS Eine ähnliche Stellung nimmt Gadamer auch in Bezug auf die Figur des Philosophen. V~l. in dil·scm Hand Kap. IX, 1. 13
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2. Phron(.•sis. Vernünftig handeln Wir geben uns im allgemeinen mit der Definition des Guten nicht zufrieden. Denn wir möchten wissen, was das Gute ist, um es in die Praxis umsetzen zu können. Die philosophische Ethik läßt sich also von der praktischen Ethik nicht trennen: es ist ausgerechnet die Ethik, die den unerläßlichen Übergang von der Theorie zur Praxis deutlich macht. Hierin liegt die Aktualität des Aristoteles: Seine ganze Ethik ist von jener "anderen Art von Wissen" bestimmt, die im Leben auf dem Spiel steht. 16 In seiner Kritik am "theoretischen Subjekt" der Metaphysik, das gegenüber dem Dasein, das in der Sorge um die Welt sich selbst versteht, auf künstliche Weise amputiert sei, hat Heidegger eine entscheidende Etappe in der Wiederentdeckung des praktischen Wissens eingeläutet. Spuren davon finden sich in den Vorlesungen über Aristoteles von 1921-1922, im Natorpbericht und im Seminar über das Buch VI der Nikomachischen Ethik, das zuerst 1923 in Freiburg gehalten und später in der Marburger Vorlesung von 1924-1925 wiederaufgenommen wurde. 17 Es ist also durchaus wahr, daß die phänomenologischen Forschungen des frühen Heideggers die Rehabilitierung der praktischen Philosophie in die Wege geleitet haben; es ist aber ebenso wahr, daß die heute viel diskutierte ethische Dimension seines Denkens, insofern sie die Sorge um das Selbst ins Zentrum stellt, die Sorge um den Anderen im Dunkeln läßt. 18 Es ist kein Zufall, daß nach 1945 sowohl seine direkten Schüler von Krüger, der auf die kantische Moral zurückgreift, über Hannah Arendt, die bekanntlich die vita activa auf ihren Höhepunkt zurückführt, bis hin zu Leo Strauss, der das griechische Naturrecht zur Geltung bringt als auch diejenigen, die sich eher indirekt auf Heidegger berufen, vor allem Emmanuel Levinas, der die Ethik zur Ersten Philosophie erhebt, von der Priorität des Anderen ausgehen und weniger nach dem Handeln des einzelnen fragen, als nach dem gemeinsamen und kommunikativen Handeln.19 Zu diesen letzteren zählt auch Gadamer.
GADAMER, Aristoteles und die imperativische Ethik, GW 7, 388. Vgl. ARISTOTELES, Ethica Nicomachea, 1141b 33, 1142a 30; Ethica Eudemeia, 1242b 36. 17 Der Natorpbericht ist veröffentlicht in: MARTIN HEIDEGGER, Phänomenologische Interpretationen, 341-415. Das Seminar zu Buch VI der Nikomachischen Ethik wurde als· Einleitung zur Vorlesung über den Sophistes veröffentlicht (MARTIN HEIDEGGER, Platon: Sophistes, GA 19, hrsg. von Iogeborg Schüßler, Frankfurt am Main: Klostermann 1992, 21-188). 18 Auch Gadamer hat sich über die Frage der Ethik bei Heidegger geäußert. Vgl. zum Beispiel seine Rezension zum Buch von Werner Marx: Gibt es auf Erden ein Maß?, GW 3, 333-349. Hier lenkt er die Aufmerksamkeit auf die Begründung der Ethik und auf die Verbindung von Ethik und Metaphysik. 19 Die Ethik der intersubjektiven Kommunikation wurde von Apel und Habcrmas entwickelt. 16
141 s~inl·lh·hahilitinuu~ dt•a- pr.-kti~u:hcn Philosophi~,
•1uch wenn sie zweifellos von ll~idq~gc:rs Ansatz h,·,·influf't ist, folgt jedoch einem anderen Weg, wie es schon in dem Essay l'r,d•ti~L'ht•s Wissen von 1930 zutage kommt, der später in dem Kapitel über .,Die hermeneutische Aktualität des Aristoteles" von Wahrheit und Methode wiederaufgenommen wird. 20 Dieses Kapitel, das die Wiedergeburt der praktischen Philosophie im 20. Jahrhundert markiert, umreißt auf wenigen Seiten zumindest vier Schlüsselideen: die Autonomie und die Eigentümlichkeit des praktischen Handelns, den Wert der phr6nesis, das heißt- so wie Gadamer es übersetzt- der "Vernünftigkeit", die das menschliche Verhalten leitet, die Notwendigkeit, das ethos, nämlich den Zusammenhang der ethischpolitischen Beziehungen in Betracht zu ziehen, innerhalb dessen sich das Handeln orientiert, und schließlich den Hinweis auf einen zwangsläufig dialektischen Weg der Ethik, auf dem die theoretische Suche nach dem Guten, die sich im Dialog mit dem Anderen artikuliert, an sich schon die Realisierung des praktischen Guten ist. Worin entfernt sich Gadamer dann eigentlich von Heidegger? Unterschiedlich, und gewissermaßen sogar entgegengesetzt, sind zunächst ihre Perspektiven. Heidegger läßt Platon hinter sich, um sich Aristoteles zuzuwenden, wobei er nicht so sehr die phr6nesis als vielmehr die sophia im Auge hat, welche die Grundlage bildet, auf der er seine theoretische Philosophie entwickeln möchte.21 Umgekehrt liest Gadamer die aristotelische Ethik im Licht von Platons Dialektik, und Aristoteles interessiert ihn nur, sofern er sokratischer als Sokrates selbst sein kann- wie aus seiner gesamten Auseinandersetzung mit der griechischen Philosophie deutlich hervorgehen wird. 22 Aus dieser platonischen Perspektive, welche übrige~s die Einheit von Theorie und Praxis betont, kann es
GADAMER, Praktisches Wissen, GW 5, 230-248; Wahrheit und Methode, GW 1, 3"17-329. 21 Im Nachwort zu seiner Edition der Nikomachischen Ethik VI von 1998 betont Gadamer: "Offenkundig ist es nicht dess~n Interesse an der Ethik, das Heidegger [...] verfolgt". (ARISTOTELES, Nikomachische Ethik VI, hrsg. und übers. von Hans-Georg Gadamer, 67). Heidegger geht es vielmehr um den Unterschied von theoretischer und praktischer Philosophie. Zu diesem Unterschied vgl. GüNTER FrGAL, Vollzugssinn und Faktizität, in: FIGAL, Der Sinn des Verstehens, 32-44. Im Anschluß an Figal hat Stolzenberg die Relevanz des .. praktischen" Ansatzes bei Gadamer hervorgehoben: jüRGEN STOLZEN BERG, Hermeneutik der praktischen Vernunft. Hans-Georg Gadamer interpretiert Martin Heideggers Aristoteles Interpretation, in: GüNTER FIGAL/HANS-HELMUTH GANDER (Hrsg.), ,,Dimensionen des Hermeneutischen". Heidegger und Gadamer, Frankfurt am Main: Klostermann 2005, 133-152, insb. 134-135. Zu einer kritischen Auseinandersetzung mit Gadamer vgl. ENRICO B1-:RT1, Thc Reccption of Aristotle's lntellectual Virtues in Gadamer and the Hermeneutic Philosophy, in: RICCARDO Pozzo {Hrsg.), The Impact of Aristotelianism on Modern Philusnphy, (Studics in philosophy and thc history of philosophy, Vol. 39), Washington D.C.: c.uholic Univl·rsity of Amcrica Press 2004,285-300. n V~l. in dil•scm Band Kitp. VII, 7. 20
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VI. 1\tf/litrl: /:'inP lrbrnmf4ht• 1-:thik
nicht überraschen, daf~ die praktische Weisheit weniger in ihrer individuellen als in ihrer gemeinschaftlichen Dimension gesehen wird. 23 Gadamers Aufmerksamkeit richtet sich nicht so sehr auf die Beziehung zwischen sophia und phr6nesis als vor allem auf die zwischen phr6nesis und techne. In dieser Beziehung, die seine gesamte Reflexion über die griechische Philosophie durchzieht, läßt sich die Unterscheidung zwischen "Wahrheit" und "Methode" bereits in nuce erblicken. 24 Obwohl im Kapitel über Aristoteles philosophische Probleme von beträchtlichem Gewicht berührt werden, wie etwa das Problem der "Anwendung", und demzufolge auch das eines neuen Begriffs des "Allgemeinen", das dem konkreten Besonderen nicht auferlegt werden kann, liegt die "hermeneutische Aktualität" der aristotelischen Ethik für ihn doch in dem neuen Paradigma der phr6nesis. Der Kern von Gadamers Argumentation ist gerade die Abgrenzung des praktischen Wissens der phr6nesis. Diese Abgrenzung bietet keinerlei Schwierigkeiten gegenüber dem theoretischen Wissen der episteme, das heißt der Wissenschaft, die, wie die Mathematik zeigt, das Wissen des Unveränderlichen und des objektiv Beweisbaren ist. Dies gilt um so mehr für die sophia, die das unveränderliche Sein der Dinge von ihren Prinzipien ausgehend denkt. Oft sind also diejenigen, die viel wissen, gar nicht weise; sie kennen zwar "wunderbare Dinge", übersehen aber die menschlichen Güter. 25 Weitaus komplexer ist die Frage nach der Beziehung zwischen phr6nesis und techne: Ein praktisches Wissen ist nämlich sowohl die Weisheit, die das Handeln leitet (praxis), als auch die Fähigkeit, die das Herstellen des Handwerkers führt (poiesis). Worin besteht dann der Unterschied zwischen beiden? Was ist zum Beispiel der Unterschied zwischen dem Wissen, das mein Verhalten leitet, und dem Wissen, das die Art regiert, in welcher ich eine Tonvase gestalte? Um eine Vase zu gestalten, muß ich zunächst eine techne gelernt haben- sonst weiß ich nicht, wie ich vorgehen soll. Eine techne kann man lernen, aber auch verlernen. 26 Anders verhält es sich beim ethischen Wissen. Ich kann zwar wählen, ob ich eine Kunst lernen oder einen Beruf ergreifen will, und ich kann wählen, die Arbeit aufzugeben, oder zu unterbrechen, um mich auszuruhen. Aber ich kann mich jener konstitutiv menschlichen Situation nicht entziehen, die mich zwingt zu handeln, das heißt Entscheidungen zu treffen. "Der Mensch steht schon im-
Vgl. zu diesem Thema CHRISTOPHER P. SMITH, Phr6nesis. The Individual and the Community. Divergent Appropriation of Aristotle's Ethical Discernment in Heidegger's and Gadamer's Hermeneutics, in: MIRKO WISCHKEIMICHAEL HoFER (Hrsg.), Gadamer verstehen- Understanding Gadamer 2003, 169-185. 24 GADAMER, Natur und Welt. Die hermeneutische Dimension in Naturerkenntnis und Naturwissenschaft (1986), GW 7, 418-442, hier 430. 25 ARISTOTELES, Ethica Nicomachea, 1141b 5-7. 26 Vgl. GADAMER, Wahrheit und Methode, GW 1, 322. Vgl. josEPH DuNNio:, Aristode after Gadamer: An Analysis of the Distinction between the Concepts of Phronesis and Thechne, in: Irish Philosophical Journal2 (1985), 105-123. 23
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mcr im Umkn·is dt·Nst·u, wofür t"H auf phrrinesis &tnkommt.''.u Hierbei geht es nicht darum, zu lcrnt.AMER, Wahrheit und Methode, GW 1, 326. Vgl. ARISTOTELES, Ethica Nicomachea, 1094a 23. V~l. GA I>A M ER, Wahrheit und Methode, GW 1, 327.
11 ARISTOTEI.I~S,
Ethicic tc.·d1 n iNchc Rationalisicru ng des l.cbcns.
Ühcr die Heilkunst Der Freiheitsraum droht dort fast zu verschwinden, wo die Praxis auf eine anonyme Anwendung herabgesetzt ist, wo sie zur Technik wird. Nicht nur setzt sich dann ein Primat des Herstellens über das Handeln durch, sondern das Herstellen orientiert sich nicht mehr an einem naturhaft gegebenen Maß, und zielt vielmehr darauf ab, die Natur selbst durch eine "künstliche Gegenwirklichkeit" zu ersetzen. 46 Die technische Zivilisation führt in ihrer Totalisierung nicht nur zur künstlichen Verwandlung der Natur und zur Eroberung des Weltraums, sondern bringt auch eine wachsende rationale Kontrolle von immer größeren Bereichen des menschlichen Lebens mit sich. Diese Veränderung des Lebens hat bislang noch unbekannte und schwer einzuschätzende Auswirkungen. Sicher ist nur, daß sie "Anpassungsqualitäten" prämiert und die "kreative Potenz'' sowie die Urteilskraft benachteiligt.47 In dem geschlossenen Laboratorium der Erde schrumpft der Platz für das, was gemeinsam ist und Gemeinsamkeit erwirkt; die zermürbende Suche nach Profit belohnt offensichtlich nur die privaten Güter. Daß in der "großen Weltfabrik" die ökonomische über die soziale Vernunft dominiert, ist durchaus nicht überraschend.48 Gleichwohl hat eine einfache Kritik der Technik, wie jede Kulturkritik nur "wenig innere Glaubwürdigkeit", da sie die Vorzüge dessen genießt, was sie kritisiert.49 Der affekthafte Widerstand gegen das Neue und der Aberglaube, der häufig die Form einer Flucht vor der Freiheit annimmt, sind extreme Reaktionen, die nur zeigen, wie wenig die Menschheit auf den Fortschritt der Technik vorbereitet ist. 50 Die Konsequenzen dieses Fortschritts dürfen allerdings nicht der Wissenschaft angelastet werden. Auch wenn die Wissenschaft versuchen kann, sich selbst zu entmythologisieren, so kommt das Handeln doch der Politik zu. Das bedeutet für Gadamer, "neue verbindende und gemeinsame Solidaritäten wieder bewußt" zu machen, die Notwendigkeit der Kohäsion gerade dort hervortreten zu lassen, wo die Teilung waltet, und darauf hinzuweisen, daß gerade die "unaufhebbaren Unterschiede" am Ende vereinigen. 51 Es ist die Politik, die der Wissenschaft ihre Grenze aufzeigen muß, "denn was immer die Wissenschaft
HANS-GEORG GADAMER, Theorie, Technik, Praxis (1972), in: GADAMER, Über die Verborgenheit der Gesundheit, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1993, 11-49, hier 18. 47 GADAMER, Was ist Praxis? Die Bedingungen gesellschaftlicher Vernunft, 60. 48 GADAMER, Über die Planung der Zukunft, GW 2, 156. 49 GADAMER, Über die Planung der Zukunft, GW 2, 159. ~0 Vgl. GA DAM ER, Theorie, Technik, Praxis, 41. " 1 (~AI> AM ER, Was ist Praxis? Die Bedingungen gesellschaftlicher Vernunft, 76; Über die 1'1anung dL·r Zukunft, olitcitl Wl'rdl·n lll'kitnclllich Homer und die gro{~en dramatischen Dichter zum Ausschlug aus dem Staat verurtcilt.(,s Hierbei geht es weder nur um eine Kritik am Mythos, noch um die alte Feindschaft zwischen Dichtung und Philosophie. Es wäre eine Reduktion zu meinen, Platon sei von den ontologischen Voraussetzungen seines Systems dazu gebracht worden, die Dichtung für eine Darstellung der Wirklichkeit, das heißt für eine Kopie der Kopie der Ideenwelt zu halten. Gadamer schlägt deshalb vor, den Zusammenhang zu beachten, in dem die Verurteilung erfolgt. 66 Und dieser Vorschlag soll offenkundig auch für Gadamer selbst gelten, der in den Jahren des Nationalsozialismus schreibt. Die Dichtung war die Grundlage der griechischen paideia, das heißt jenes Bodens, auf dem die Sophistik herangewachsen war. Auf der einen Seite hatten die Sophisten die Texte der Dichter verwendet, sie aber zugleich ihres Inhalts entleert; und auf der anderen Seite hatten sie ein neues ethos umrissen, demzufolge Gerechtigkeit das Recht des Stärkeren sei. 67 Die Verurteilung der Dichtung in Platons Schrift über den Staat ist insofern ein Angriff gegen die Sophistik und sie hat ein doppeltes Ziel. Erstens geht es darum, die Gefahren einer Kunst aufzuzeigen, die ganz der Bezauberung und der Selbstvergessenheit geweiht und jedes Wahrheitswertes beraubt ist. Die Kritik an der Dichtung ist daher durchaus keine ontologische Kritik: soweit sie sich auf deren Wirkung konzentriert, ist sie vielmehr "eine Kritik des ,ästhetischen Bewußtseins'."68 Das zweite Zielliegt darin, mit der Utopie eines "inneren Staates" ein neues Erziehungsmodell aufzustellen, welches das Präludium zu einer Wiedergeburt der p6lis sein kann. Das aber wird erst durch eine Philosophie möglich, welche die Veranlagung des Menschen, "für andere zu sein", zu befördern weiß. 69 An dem neuen "Staat der Erziehung" preist Sokrates jene Gerechtigkeit, die dort beginnt, wo jeder über sich selbst wacht, statt Rechte über die anderen zu reklamieren. Dieser Staat gründet auf einer Neubildung der Seele. Denn nur der Mensch, der mit sich selbst in rechtem Einklang steht, kann mit den Anderen übereinstimmen/0 Auch Hannah Arendt betont die pl.atonische Analogie zwischen den Teilen der
mc:r vgl. DENNisj. ScHMIDT, Wozu Hermeneutik? On Poetry and the Political, in: ScHMIDT, Lyrical and Ethical Subjects. Essays on the Periphery of the Word, Freedom and History, Albany: SUNY 2005, 19-31, insb. 20 f. M PLATON, Res publica, 595a-608c. M Vgl. GADAMER, Plato und die Dichter, GW 5, 193. " 7 Vgl. GA DAME R, Plato und die Dichter, GW 5, 195. 1111 GA nA M ER, Die Idee des Guten zwischen Plato und Aristoteles, GW 5, 206. Auf die A•thctisicrung der Kunst kommt Gadamer in Wahrheit und Methode zurück (vgl. in diesem Ba ntl Kilp. 111, 1). ,,., GAI>AMER, Plato und diPhaidonPhaidon< (1973), GW 6, 187-200. 48 Vgl. in diesem Band Kap. IX, 4. 43
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'· Pl.uons ''pnrctischc l)ialcktik: Zwisdwn dcrn Einen und der Zweiheit Die philosophisrhc llcrmcncutik ist eine bewußte Wiederaufnahme der platonischen Philosophie im 20. Jahrhundert. 49 Es ist Platon, der den Weg über die Metaphysik hinaus zum Offenen der philosophischen Erfahrung deutet: von der Dialektik zum Dialog. Wer ist aber dann der Platon Gadamers? Er ist nicht der "metaphysische" Philosoph, der für die Seinsvergessenheit verantwortlich ist, wie ihn die Lektüre Heideggers und davor diejenige Nietzsches präsentiert. 50 "Daß Plato mehr war als der Vorbereiter der aristotelischen ,Ontotheologie', den Heidegger in ihm sah, blieb mir beständig gewiß", schreibt Gadamer 1983. 51 Doch er ist auch nicht der Begründer einer Prinzipientheorie, wie ihn die Tübinger Schule interpretiert. 52 Es ist wohl wahr, daß es ohne Platon niemals eine Metaphysik gegeben hätte. Es ist aber ebenso wahr, daß "Platon kein Platoniker" war. 53 Diese polemische These, in der das emanzipatorische Potential seiner Deutung hervortritt, bringt Gadamer auch auf den Spuren Schleiermachers dazu, in Platon den Meister des Dialogs wiederzuentdecken, dessen Dialektik in ihrer sokratischen Anlage eine Reflexion über die Endlichkeit ist. 54 Von In diesem Sinn hat Reale zurecht Gadamer als den "Platoniker" des letzten Jahrhunderts bezeichnet. Vgl. GIOVANNI REALE, Gadamer, ein großer Platoniker des 20.Jahrhunderts, in: GüNTER FIGAL (Hrsg.), Begegnungen mit Hans-Georg Gadamer, 2000, 92-104, hier 92. so Die Grenzen von Heideggers Platoninterpretation zeigt zum Beispiel ALAIN BouToT, Heidegger et Platon. Le problerne du nihilisme, Paris: PUP 1987; man muß auch an Heideggers negative Auffassung der Dialektik als "Schein" denken. Vgl. MARTIN HEIDEGGER, Die Grundbegriffe der Metaphysik. Welt- Endlichkeit- Einsamkeit, GA 29/30, hrsg. von Friedrich-Wilhelm von Herrmann, Frankfurt am Main: Klostermann 1992,306. st GADAMER, Die Aufgabe der Philosophie (1983), in: Das Erbe Europas, 166-173, hier 49
170: Die Tübinger Schule, deren bedeutendste Vertreter Konrad Gaiser, Hans Joachim Krämer, Heinz Happ und in jüngerer Zeit Thomas Alexander Szlezak sind, und mit der auch die Deutung von Giovanni Reale und Maurizio Migliori übereinstimmt, sieht Platons eigentliche Lehre in den "ungeschriebenen" Lehrstücken, die in der Akademie weitergegeben wurden und die auf der Basis einiger Zeugnisse rekonstruiert werden können, zu denen auch die von Aristoteles zählen. Es ergibt sich daraus eine systematische und stark mathematisierte Philosophie. Gadamer richtet dagegen sein Augenmerk auf den sokratischen Platon, obwohl auch er sich für die indirekte Überlieferung interessiert, nicht zuletzt wegen ihrer Implikationen für die Beziehung von Mündlichkeit und Schriftlichkeit (vgl. in diesem Band Kap. VIII, 2). Von hier aus hat er in den Dialogen den "Königsweg" für die Platoninterpretation 1esehen; vgl. GADAMER, Platos ungeschriebene Dialektik (1968), GW 6, 129-153, hier 133. Für die lct:t.te Stellungnahme Gadamers zur Tübinger Schule vgl. seine Einleitung zu dem lillnd: GllJSIWI'E GIRGENTI {Hrsg.), La nuova interpretazione di Platone, Milano: Rusconi 52
I'J'JH, t'J-23. ~\ (;AUAMI'K,
Sdhstd.trstdlung, GW 2, 508.
~· (; 1\ IIA MI· I(. s~.·hll·il'l"llliH:hcr als Pliltoni kcr ( l'J6'J),
GW 4, 374-383, hier 374-376. Vgl.
166
VII. 1\ ,.,,",,,. I)I, VrrburN.tHhc-it Jr~ .\'ultrdlrs
dieser Dialektik ausgchcnJ h1tt die llcrmcncutik sich in einem ununterbrochenen Prozeß entfaltet. Die einheitliche Auffassung der platonischen Philosophie hindert Gadamer nicht daran, bestimmte Texte zu privilegieren: den Phaidon, das Symposion, den Phaidros, den Philebos, den Parmenides, den Theaitetos, den Sophistes, den Timaios, die Politeia und den Siebenten Brief Wie schon im Fall der Vorsokratiker zielt er darauf, die Lektüre des Aristoteles zu destruieren und zu zeigen, daß dessen Kritik an Platon ungerechtfertigt ist. Denn zum einen gibt es bei ihm keinen chorism6s, keine ontologische Trennung zwischen Ideen und sinnlicher Welt, und zum anderen geht auf der Basis des Parmenides deutlich hervor, was Platon eigentlich interessiert: das "Gewebe der Ideen", die dialektische Verflechtung. 55 Das Werk Gadamers, das in nuce bereits die wichtigsten Züge nicht nur seiner Platondeutung, sondern seiner gesamten Philosophie enthält, ist das 1931 erschienene Buch, Platons dialektische Ethik, in dessen Zentrum der Philebos steht. 56 Bevor jedoch die Verbindung zwischen Ethik und Dialektik erläutert wird, gilt es zu sagen, was unter "Dialektik", dem Schlüsselwort der philosophischen Hermeneutik, zu verstehen ist. Die platonische Philosophie ist Dialektik nicht nur, weil sie im Begreifen sich unterwegs zum Begriff hält, sondern weil sie als so begreifende den Menschen selbst als ein solches Unterwegs und Zwischen weiß. 57
Man muß die griechische Vorsilbe dia- im Auge halten, die "durch" bedeutet. 58 Dann läßt sich der sokratische Sinn der platonischen Philosophie fassen, die hierzu CHRISTOPHER P. SMITH, H.-G. Gadamer's Interpretation of Plato, in: Journal of the British Society for Phenomenology, 12 (1981), 211-230; CHARLES L. GRISWOLD, Gadamer and the Interpretation of Plato, in: Ancient Philosophy 1 (1981), 171-178; aus einer kritischen Sicht hat sich White ausgedrückt: vgl. NICHOLAS P. WHITE, Observations and Questions about Hans-Georg Gadamer's Interpretation of Plato, in: CHARLES L. GRISWOLD (Hrsg.), Platonic Writings - Platonic Readings, New York & London: Routledge 1988, 247-257; FRANlt Vrrlmr~rt1hrlt dr~ Sokratt'J
auch für das menschliche Lehen entscheidend, das jeden Tag zum "Versinken ins Maßlose" verurteilt ist. H'J Obwohl es sich jeweils im Zentrum, in der mes6tes, ausbalancieren muß, bleibt es stets dem Unbegrenzten der Zweiheit ausgesetzt, die jede Vollendung untersagt und verhindert, daß das Ende mit dem Ziel zusammenfällt. Man erfaßt hierin die ethische Dimension der aporetischen Dialektik. Denn diese läßt die aporia, die Schwierigkeit der Unterscheidung offen, die stets auch eine Entscheidung ist. Das Geflecht des Logos deutet nicht nur auf eine neue Art, das Sein in der Mischung zu denken, sondern verweist auch auf ein Leben, das sich durch das Maß begrenzt. Verflechtung, Mischung, Begrenztes, Maß werden zu Schlüsselbegriffen für die Hermeneutik und für ihre Art, das Leben als ein Getränk zu verstehen, das, nach der Metapher des Philebos, richtig gemischt werden muß. 90 Dabei wird auch die Lust nicht fehlen, die auch als "unbegrenzt" bezeichnet wird, weil ein Leben, das sich dem Genuß hingibt, keine Grenze kennt; ebenso wird der Schmerz nicht fehlen, die "Störung" der Hingabe an die Lust, die das Dasein zum eigenen Gravitationszentrum zurückführen kann.91 Doch das menschliche Wesen verwirklicht und versteht sich dadurch, daß es stets sein Zentrum wiederherstellt - was nur mit dem Anderen möglich ist.92 Es gibt daher keine Definition des Guten, und es kann auch keine geben, da es absurd wäre, das Gute in seiner Transzendenz als eine höchste Idee anzusehen.93 Die Idee des Guten hat die Jenseitigkeit eines Über, die sie einer regulativen Idee nähert.94 Sie ergibt sich in dem richtigen Maß und in der richtigen Proportion, die notwendigerweise als schön erscheinen muß - hier ist es, wo das Gute sich ins Schöne "flüchtet" 95 - und sie vollzieht sich in der Vereinigung des Vielen, das heißt im Einen, das stets offen und endlich ist. "Das menschliche Leben ist daher in sich selbst dialektisch." 96 kundig die Annahme der von Hegel so genannten "schlechten Unendlichkeit" zugeschrieben werden. Vgl. in diesem Band Kap. IX, 4. 89 GADAMER, Platos ungeschriebene Dialektik, GW 6, 153. 90 Vgl. GADAMER, Die Idee des Guten zwischen Platon und Aristoteles, GW 7, 192. 91 GADAMER, Platos dialektische Ethik, GW 5, 130. Es ist interessant zu bemerken, daß Gadamers erste Veröffentlichung die Lust behandelt, die letzte dagegen den Schmerz: es ist das kleine, posthum erschienene Buch Schmerz (vgl. HANs-GEORG GADAMER, Schmerz. Einschätzungen aus medizinischer, philosophischer und therapeutischer Sicht, Heidelberg: Winter 2004). 92 Vgl. in diesem Band Kap. VIII, 7. 93 Vgl. GADAMER, Die Idee des Guten zwischen Platon und Aristoteles, GW 7, 198. Gegen diese Auffassung vgl. aber CHRISTOPHER GILL, Critical Response to the Hermeneutic Approach from an Analytic Perspective, in: GIOVANNI REALEISAMUEL ScOLNICOV (Hrsg.), New Images of Plato: Dialogues on the Idea of the Good, Sankt Augustin: Academia Verlag 2002,211-222, insb. 213-219. 94 Vgl. GADAMER, Plato als Porträtist, GW 7, 248. 95 GADAMER, Die Idee des Guten zwischen Platon und Aristoteles, GW 7, 192 f. 96 GADAMER, Die Idee des Guten zwischen Platon und Aristotelcs, GW 7, 197.
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173
6. l1c~cl, die.' 1>iitlcktik und die 1·lcrn1cncutik Wo er die Verwindung der Metaphysik aufzuklären versucht, mit der es sich wie bei einem Schmerz verhält, den man erträgt und gerade deshalb daran bleibt, führt Gadamer aus, daß dies "nun im besonderen für Hegel [gilt], daß man an ihm in einer eigentümlichen Weise daran bleibt." 97 Was ist es also, das Gadamer an Hcgel und an seinem "Erbe" daran bleiben läßt? Die Begegnung mit Hegel erfolgt im Zeichen Platons - wie Gadamer in dem Vortrag Das ErbeHegels unterstreicht.98 Kein anderer moderner Philosoph hat es verstanden, die griechische Dialektik derart weiterzuentwickeln: Hegel, der letzte der Griechen. Auf ähnliche Weise hatte sich schon Heidegger ausgedrückt: "Bei dem Namen ,die Griechen' denken wir an den Anfang der Philosophie, bei dem Namen ,Hegel' an deren Vollendung." 99 Auch Gadamer sieht diese Nähe, doch seine Distanzierung von der Interpretation, die Heidegger sowohl von Platon als auch von der gesamten abendländischen Philosophie gibt, vertieft sich im Fall Hegels noch weiter. Gadamer kann nämlich das Urteil nicht teilen, dem zufolge Hegel die "Vollendung der Metaphysik der Subjektivität" darstellen würde. Sobald man nämlich in Betracht zieht, was Hegel bei den Griechen und überall, wo es Philosophie gibt, als "das Spekulative" anerkennt, tritt eher das Gegenteil zutage. 100 In seinem Band Hegels Dialektik stellt Gadamer die komplexe Beziehung zwischen Hegel und den Griechen heraus, eine Beziehung gleichsam von gegenseitigem Austausch, bei dem es die Gegenseitigkeit eben nicht erlaubt, von einer "Vollendung" zu reden. Wenn Hegelinden Griechen das erblickt, was die Griechen selber nicht gesehen hatten, so ist es andererseits nur durch die Griechen möglich, Hegels Philosophie auf neue Weise zu betrachten. Der Zusammenhang zwischen Gadamer, Hegel und den Griechen ist die Dialektik. Die Kunst der Dialektik geht auf jene ersten Philosophen zurück, die das Festland der sinnlichen Erfahrung hinter sich ließen und sich zum ersten Mal auf das hohe Meer des reinen Denkens begaben. 101 Hegels Blick richtet sich auf die eleatische und auf die platonische Dialektik, insbesondere- wie GadaGADAMER, Hegel und Heidegger, GW 3, 87. Vgl. auch GADAMER, Hegels Philosophie und ihre Nachwirkungen bis heute (1972), in: Vernunft im Zeitalter der Wissenschaft, 32-53. 98 Der Vortrag wurde 1978 in Neapel unter dem Titel Hege! und die Hermeneutik gehalten (vgl. in diesem Band Kap. I, 11). Vgl. GADAMER, Das Erbe Hegels, GW 4, 467. 99 MARTIN HEIDEGGER, Hegel und die Griechen, in: Wegmarken, 427-444. 100 GADAMER, Hegel und die antike Dialektik (1961), GW 3, 3-28, hier 25. Für eine vergleichende Studie vgl. MEROLD WESTPHAL, Hegeland Gadamer, in: BRICE R. WACHTERHAUSER (Hrsg.), Hermeneuries and Modern Philosophy, Albany: SUNY 1986, 65-86; vgl. auch Tu..:onoRE K 1ESEL, Hcgcl and Hermeneutics, in: FREDERICK G. WEISS (Hrsg.); Beyund Epistcmology, Thc llaguc: Nijhoff 1974, 197-220. 101 V~l. <jA DA M F K, l>il· Idee der IIegcisehen Logik (1971), GW 3, 65-86, hier 69. 97
174 mer in seinem Aufsatz liege/ und die antike Dialektik ausführt- auf die "spekulativen" Dialoge: den Sophistes, den Parmenides, den Philebos. 102 Vor allem dem Parmenides fällt aber eine entscheidende Rolle zu. Denn hier zeigt sich, daß die Wahrheit niemals an einer isolierten Idee haftet, sondern stets in der Verbindung von Ideen, in der Bewegung liegt, die den Widerspruch entdeckt und in sich die Antithese von Sein und Nichtsein, von Identität und Differenz aufnimmt: in einer Bewegung also, die sich zwischen dem Einen und dem Vielen entfaltet. 103 Obwohl Hegel glaubt, diese Bewegung auch im Sophistes ausmachen zu können, so ist es doch vor allem der sokratische Stil des Dialogs Parmenides, der in seiner "immanenten Plastik" die Selbstentwicklung des Denkens zeigt. 104 Wo liegt aber die Schwäche dieser Dialektik? Zunächst in ihrer "permanenten Unruhec', in der das Eine, wenn es auch schon impliziert ist, doch noch nicht, mit Hegels Worten, als die höchste Einheit, als die Totalität des Ganzen, gedacht wird. 105 Die platonische Dialektik sei daher nur negativ und bringe in ihrer Aporie nichts Positives hervor. In der Tat- so kommentiert Gadamer- ist die platonische Dialektik keine Methode; es gibt keinen Anfang und noch weniger ein Wissen, das stufenweise zu einer absoluten Vollendung im Begriff gelangen würde. 106 Stimmt er im ersten Teil dieser Kritik mit Hegel überein, so distanziert er sich im zweiten Teil von ihm, indem er Hegel gegen Hegel ausspielt. Die antiken Philosophen strebten danach, sich aus der Unmittelbarkeit des Sinnlichen zu erheben, um die Universalität des Denkens zu erreichen. Umgekehrt ist die Moderne, in der das Individuum bereits von abstrakten Formen umgeben ist, durch die Bemühung charakterisiert, das Feste wieder flüssig zu machen. Auf diese Weise beschreibt auch Hegel die quereile zwischen Antike und Moderne. Der antiken Philosophie fehlt demnach noch die Selbstgewißheit als Subjektivität, es fehlt ihr das Selbstbewußtsein; aber gerade deshalb ist sie näher an der Flüssigkeit, in der ,"alles Vorkommendec im natürlichen, sprachlichen Bewußtsein gedacht wird." 107 Hierin zeigt sich, in welchem Maße die Modernen nach wie vor auf die Antiken angewiesen sind. Die moderne Dialektik muß die antike wiederaufnehmen, in der die spekulative Bewegung des Denkens sichtbar wird. 108 Was zu klären bleibt, ist aber nicht nur die Bedeutung des "Spekulativen", sondern auch dessen Zusammenhang mit dem "Logischen". Dieses Thema :wird Hegel und die antike Dialektik, GW 3, 4. Die Idee der Hegeischen Logik, GW 3, 69 und 75. GADAMER, Hegel und die antike Dialektik, GW 3, 5. Vgl. GADAMER, Die Idee der Hegeischen Logik, GW 3, 75. Vgl. GADAMER, Die Idee der Hegeischen Logik, GW 3, 70. GADAMER, Hegel und die antike Dialektik, GW 3, 6. Vgl. GADAMER, Hegel und die antike Dialektik, GW 3, 27 f.
102 GADAMER, 103 104 105 106 107 108
Vgl.
GADAMER,
175
in dem wichti~stcn Aufsiltl. vnn Gadamers Sammlung behandelt: Die Idee der Hegeischen Logik. 10'' Nitchdcm er erläutert hat, inwiefern die Phänomenologie des Geistes und die Wissensc:haji der Logik die beiden großen Bücher Hegels sind, stellt Gadamcr die Aktualität der Hegeischen Logik zur Debatte. 110 Gleichzeitig aber bereitet er sich auf eine strenge Kritik Hegels vor, die in der These kulminiert: "Dialektik muß sich in Hermeneutik zurücknehmen." 111 Hegels große Entdeckung ist, daß sich die Philosophie in einer spekulativen Bewegung vollzieht. Als ihr völlig unangemessen erweist sich deshalb die traditionelle Form des Satzes, das heißt des "Verstandesurteils" bzw. der Aussage, die ein Subjekt mit einem Prädikat verbindet und die Aristoteles als l6gos apophantik6s bezeichnet. Der philosophische Satz, der sich nicht damit zufrieden gibt, nur zu urteilen, sondern der in dem zu Denkenden verweilt und sich in ihm vergißt, ist ein spekulativer Satz. Dieser Satz hat eine Besonderheit: Er geht nicht vom Subjekt zum Prädikat über, sondern sagt die Wahrheit des Subjekts in der Form des Prädikats. Führen wir ein Beispiel an: "Gott ist Einer." Nun ist Einer kein Prädikat Gottes, sondern sein eigentliches Wesen. Das Subjekt wird durch das Prädikat nicht bestimmt. Die Gedankenbestimmung erleidet vielmehr einen "Gegenstoß" und wird aufgehalten. 112 Sie beginnt zwar im Subjekt, als ob dieses ihre Grundlage wäre, dennoch entdeckt sie, daß das Prädikat die Substanz ist, während das Subjekt, das in das Prädikat übergegangen ist, in ihm aufgehoben wird. Der spekulative Satz prädiziert daher nicht wie eine einfache Aussage, sondern schwingt hin und her - sein spekulativer Charakter ist eben dieses Schwingen, in dem "die Identität des Subjects und Prädiears den Unterschied derselben, den die Form des Satzes ausdrückt, nicht vernichten [soll]." 113 Kurzum: Der spekulative Satz beschränkt sich nicht darauf, die Identität zu prädizieren, sondern stellt eine harmonische Einheit her, in der die Identität jeweils die Differenz bestehen läßt. 114 Seine Relevanz liegt gerade darin, daß er noch vor jeder Aussage die spekulative bzw. die dialektische Bewegung der Sprache deutlich erkennen läßt. Gadamer faßt dies so: Zwischen Tautologie und Selbstaufhebung in der unendlichen Bestimmung seines Sinns hält der ,spekulative Satz' die Mitte, und hierin liegt die höchste Aktualität Hegels. Der spekulative Satz ist nicht so sehr Aussage als Sprache. 115
Hegel spricht in diesem Zusammenhang auch von dem "logischen Instinkt" der Sprache. Damit meint er vor allem, daß sich die logischen Strukturen in den
109
IIO 111
112
113 114 m
Vgl. GADAMER, Die Idee der Hegeischen Logik, GW 3, 65-86. GADAMER, Die Idee der Hegeischen Logik, GW 3, 65 f. GADAMER, Die Idee der Hegeischen Logik, GW 3, 86. HEGEL, Phänomenologie des Geistes, 43. HEGHL, Phänomenologie des Geistes, 43 f. Vgl. GADAMI!R, Hcgcl und die antike Dialektik, GW 3, 14-16. GAnA M EK, Dit.• Idee der Hc~clschcn Logik, GW 3, 83.
VII. 1\ "''"''·' IJI1 VrrburJlr.Hhl'it Jr• .\'ult r,ur.•
grammatischen Strukturen widct'HJlic~cln und Ja(~ sich die Verflechtungen und Korrelationen der Logik dank jener .,Vokale des Seins" realisieren, von denen Platon im Sophistes spricht. 1Jt, ,,Die Denkformen sind zunächst in der Sprache des Menschen herausgesetzt und niedergelegt", schreibt Hcgel in der Wissenschaft der Logik, so daß für den Menschen ,,in alles, [...] was er zu dem seinigen macht, [...] sich die Sprache eingedrängt [hat]." 117 Allerdings bedeutet der logische Instinkt der Sprache für ihn noch etwas mehr, nämlich das Neigen der Sprache zum "Logischen", ihr Bestreben, in der Idee der Logik die eigene Vollendung zu finden. Die instinktive oder natürliche Logik der Sprache würde so in der Erhebung zur philosophischen Logik ihr Ziel und Ende finden, wie das Wort in der Erhebung zum Begriff. Gadamer kann offenkundig Hegel bei diesem Salto mortale des Denkens über die Sprache hinaus nicht folgen. Die Sprache ist nämlich keine "Durchgangsform", die das Denken hinter sich lassen kann, wenn es die Transparenz des Gedachten im Begriff erreicht. 118 Hege! sieht nicht, daß die Bewegung der Sprache, eben weil sie spekulativ ist, eine "doppelte Richtung" hat: Während sie den Begriff im Wort vergegenwärtigt, untersagt sie ihn zugleich, revoziert und wider-ruft ihn, ruft ihn zurück. Denn im Wort, das niemals isoliert ist, sondern stets auf ein Ganzes und auf seine Beziehungen zu dem Ganzen verweist, reflektiert das Gesagte stets das Ungesagte. 119 Hege! hat recht, wenn er im "Logischen" und im "Spekulativen" - die hier synonym geworden sind - diejenige "dialektische Artikulation" erkennt, in der die Sprache selber liegt; er hat sich jedoch mit seiner Annahme geirrt, daß es eine Bewegung geben könne, die nur in einer Richtung verläuft und ihr Ziel außerhalb und jenseits der Sprache findet. Der Triumphmarsch des Selbstbewußtseins scheitert hier an seinem Anspruch, sich eine stabile Bleibe in derjenigen Form der "Aneignung" des Anderen zu verschaffen, welche die abendländische Tradition unterminiert hat. Die Reflexion, die in der Bewegung der instinktiven Logik der Sprache liegt, ist stets "unheimisch" und kann als solche nicht an einem bestimmten Ort angehalten werden. 120 Aber auch das Epos des absoluten Geistes, der sich in Hegels großem Monolog entfaltet hatte, endet ebenso in einem Scheitern. 121 So wie es keine Vollendung in der Hegeischen Dialektik gibt, so stellt Hegel auch keine Vollendung der antiken Dialektik dar. "Wenn sich die Hegeische PLATON, Sophistes, 253a-b. GEORG WILHELM FRIEDRICH HEGEL, Wissenschaft der Logik. Erster Band. Gesammelte Werke, Bd. 21, hrsg. von Friedrich Hogemann und Walter Jaeschke, Hamburg: Felix Meiner 1984, 10. 118 GADAMER, Die Idee der Hegeischen Logik, GW 3, 82. 119 Zur spekulativen Dialektik des Wortes bei Gadamer vgl. in diesem Band Kap. VIII, 4. 120 GADAMER, Die Idee der Hegeischen Logik, GW 3, 85. 121 Vgl. GADAMER, Hege! und die antike Dialektik, GW 3, 5; Wahrheit und Methode, GW t, 375. 116 117
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177
ldt.•t.· d,:r l.o~ik dt.•tt Ht.·zu~ .nlf dil•n,uiirlidlc l.o~ik I... J vollt.·in~cstehcn würde", so wi.irdt.• sie sit.:h unvt.•rsdwns wil·dcr in der Nähe der platonischen Dialektik tindcn. 111 War es zunächst not wt.·ndig gewesen, die griechische Dialektik durch Hegcl zu lesen, um die in ihr noch fehlende Einheit zu entdecken, so gilt es jetzt, die Hegeische Dialektik durch die griechische zu lesen, um einzusehen, daß jene Totalität keine geschlossene sein kann- wenn sie weder totalisierend noch totalitär sein soll. Offen hält sie gerade die Negativität, die Aporie, die sowohl in der unbestimmten Zweiheit Platons als auch in der "schlechten Unendlichkeit" Hegels zurückbleibt. 123 In der Weise, in der sich der objektive Geist in der Sprache artikuliert, begrenzt er zum einen den subjektiven Geist und bestreitet zum anderen von Innen her den absoluten Geist, das heißt es macht ihn unmöglich. Mehr noch: Es ist die Sprache, die das neue Modell eines Ganzen anbietet, das stets unendlich offen ist. Daß sich die Dialektik in Hermeneutik "zurücknehmen" muß, bedeutet, daß sie sich widerrufen muß, so wie der Begriff sich jeweils im Wort widerruft und revoziert. Es bedeutet, daß jene zweifache Richtung anerkannt werden muß: vom Wort zum Begriff und vom Begriff zum Wort. 124 Dies heißt aber auch, daß die metaphysische Dialektik Hegels sich auf die zeitgenössische Form der dialogischen Dialektik Platons, nämlich auf die philosophische Hermeneutik verlassen muß. Hegel selbst war sich übrigens der spekulativen Bedeutung der platonischen Dialektik durchaus bewußt, wie er sich auch all dessen bewußt war, was bei der Trennung der Dialektik von der Analytik durch die Verschließung verloren ging, welche die aristotelische Apodiktik dekretiert hatte. 125
7. Die Apodiktik und der Ausschluß des Anderen.
Über Aristoteles Obwohl Gadamer aufgrund seiner Rehabilitierung der phr6nesis für einen Aristoteliker wenn nicht gar für einen Neoaristoteliker gehalten wird, ist er genauer betrachtet das Gegenteil. Um das Etikett zu korrigieren, könnte man ihn geradezu als Anti-Aristoteliker bezeichnen. Die Nähe Gadamers zu Aristoteles beschränkt sich letztendlich auf das Kapitel, in welchem die philosophische Hermeneutik dem praktischen Wissen des Aristoteles insofern begegnet, als Aristoteles selber platonische und sogar sokratische Motive wieder aufnimmt. GADAMER, Die Idee der Hegeischen Logik, GW 3, 86. Vgl. in diesem Band Kap. IX, 4. Vgl. jAMES RISSER, In the Shadow of Hegel: Infinite I>ialoguc in Gadamer's Hermeneutics, in: Research in Phenomenology 32 (2002), 86-102. 124 Gadamcr ist auf dieses Thema bis in seine letzten Jahre immer wieder zurückgekommen und hat 1997 auch das letzte Seminar in Neapel darüber gehalten. Vgl. auch GADAMER, Vom Wort zum Bc~riff, in: Lesebuch, 100-111. ll'l CAt>AMFK, lll·~d und dil· antike Diall'ktik, (;W J, 22. 122 123
17H
Gadamer betont dies in dl'l' I'J'JO cnchicncn Studie /)it.· soA•ratisc:he Frage und Aristoteles. 126 Ansonst muH m&\ll jedod1 eher von Ferne reden. Zunächst liest Gadamer die Geschichte der griechischen Philosophie, indem er ihre aristotelische Rekonstruktion demoliert. Aber diese Distanz zu Aristoteles hat auch noch eine beachtliche philosophische Bedeutung. Gadamer ist nämlich weit entfernt vom apodiktischen Philosophieren des Stagiriten und er teilt seine Kritik an Platon keineswegs. In seinen Augen stellt Aristoteles die apodiktische Verschließung der platonischen Dialektik dar. Läßt sich die Dialektik wirklich als Zwischenglied auf dem Weg zur episteme, zur apodiktischen Wissenschaft auffassen, die Aristoteles erreicht haben soll? Für Gadamer gilt es, dieses Urteil zu revidieren. Es klagt Platons Philosophie wegen einer fehlenden Fixierung der Begriffe an, die sie aufgrund ihrer dialektischen Vokation doch gerade vermeiden wollte. Nach Aristoteles ist Platons dihairetische Methode wegen dieser Unbestimmtheit ungenügend; dies wird für ihn durch die Schwierigkeit bewiesen, jeweils den richtigen Punkt der dichotomischen Einteilung auszuwählen. Die Dihairesis könne daher nicht den Anspruch erheben, eine wissenschaftliche Methode zu sein. 127 Die aristotelische Apodiktik - und der Übergang von der literarischen Form des Dialogs zu der des Traktats bezeugt dies wohl - tendiert dazu, die platonische Dialektik zu überwinden, indem sie ihr eine wissenschaftliche Fundierung im Begriff sicherstellen will, derdie universale und notwendige Definition für das Wesen des Gegenstands ist. Doch die "Begriffsbildung", selbst wenn sie auf den ersten Blick einen Gewinn an Klarheit zu bedeuten scheint, erweist sich eigentlich als ein zweifacher Verlust. Bei der Begriffsbildung geht nämlich die "unerschöpfliche Vieldeutigkeit" der alltäglichen Sprache verloren, während die philosophische Sprache auf eine starre Terminologie herabgesetzt wird. 128 Obendrein extrapoliert und isoliert die apodiktische Rede die in ihr enthaltenen Begriffe: techne, episteme, sophia, phr6nesis, nous mögen vielleicht klarere Konturen erhalten, dabei wird aber die Verbindung nicht mehr ersichtlich, die sie untereinander und mit dem Kontext verknüpft, aus dem sie stammen. Der größte Verlust, den die aristotelische Apodiktik mit sich bringt, deren Aufgabe darin besteht, das Vereinte zu trennen, ist jedoch die Hypostasierung der sinnlichen und der intelligiblen Welt. Die Zweiweltenlehre ist eine Konsequenz der aristotelischen Kritik an Platon. Es ist daGADAMER, Die sokratische Frage und Aristoteles, GW 7, 373-380. Vgl. jEAN GRaNDlN, Gadamers sokratische Destruktion der griechischen Philosophie, in: GRONDIN, Der Sinn für Hermeneutik, 54-70, hier 69. Vgl. jetzt auch jAMEY FINDLING, Gadamer and thc Platonic Contribution to Practical Philosophy, in: Internationales Jahrbuch für Hermeneutik 4 (2005), 125-139. 12 7 Vgl. ARISTOTELES, Analytica priora, 46a 31-b 19. 128 Vgl. GADAMER, Die sokratische Frage und Aristoteles, GW 7, 377; Aristotcles und die imperativische Ethik, GW 7, 388. 126
hc.·r t'lir lN Sich:ulikulicren Jer Sprache in den menschlichen Sprachformcn, ist ein Phiinomc.•n, dits llumboldt intensiver als jeder andere erforscht hat. Dabei haterd ie I ndivic.lwtlität der Sprache crfaßt, ohne deshalb ihre Universalität aus den Augen zu verlieren: jene beiden Pole, zwischen denen sich der Zirkel der Sprache entfaltet. Humboldts Verdienst besteht jedoch nach Gadamer vor allem darin, daß er in jeder Sprache eine "eigene Weltansicht" gesehen hat. 39 Auf der hier gelegten Spur wird es dann möglich sein, die grundlegende und ursprüngliche Sprachlichkeit der menschlichen Welterfahrung aufzudecken. Es fehlt in Gadamers Rezeption aber auch nicht an Einwänden gegen Humboldt, die an Heideggers Kritik anknüpfen und sich auf drei grundlegende Einwände zurückführen lassen. Der erste bringt ein altes Vorurteil gegenüber der Sprachphilosophie und der Sprachwissenschaft zur Geltung. Die Grenze Humboldts, der als Schöpfer der modernen Sprachphilosophie und Sprachwissenschaft anerkannt wird, liege demnach darin, daß er sich zur Sprache als Philologe und nicht als Sprecher verhält und sie daher als ein Forschungsobjekt behandelt.40 Dieser Vorwurf könnte freilich auch gegen Gadamer und selbst gegen Heidegger erhoben werden- außerdem war sich Humboldt über die Gefahr der Vergegenständlichung der Sprache durchaus im klaren. Dem zweiten Einwand zu folge würde sein Begriff der ,,Geisteskraft" den Zusammenhang von Denken und Sprache auf "den Formalismus eines Könnens" einschränken, das heißt auf das Können, die Welt in derenergeiader Sprache zu bilden. 41 Mit diesem zweiten Einwand ist der dritte verbunden: Humboldt gehe von der von Leibniz zuerst entwickelten "Metaphysik der Individualität" aus, und denke demnach ein Subjekt, das durch die Gabe der Sprache die ihm gegenüberstehende Welt strukturiert, die eben dadurch zum "Gegenstand der Sprache" werde. 42 Aber genau betrachtet existiert gar keine Welt ohne Sprache, auf die sich dann die Tätigkeit eines Subjekts richten könnte. Das Verhältnis muß vielmehr umgekehrt werden, denn die Sprache ist das ursprüngliche Fundament. Bei dieaer Umkehrung beschränkt sich Gadamer allerdings darauf, Humboldts Worte zu paraphrasier.en, daß nämlich die Welt nur Welt durch die Sprache ist, so wie es andererseits Sprache nur gibt, insofern sich die Welt in ihr artikuliert. Man versteht hier wohl, was die "ursprüngliche Sprachlichkeit des menschlichen Inder-Welt-Seins" bedeutet.43 Um diese weiter zu klären, unterscheidet Gadamer 311
GADAMER, Wahrheit und Methode, GW 1, 444. 40 Vgl. GADAMER, Wahrheit und Methode, GW 1, 443. 41 GADAMER, Wahrheit und Methode, GW 1, 444. 42 GA OA MER, Wahrheit und Methode, GW 1, 444, 454. Ähnlich schreibt Heidegger, daß Humbo1dts Ideen "in der Sprache der Metaphysik seines Zeitalters sprechen, bei welcher Spritehr die Philosophie von Lcibniz ein maßgebendes Wort mitspricht". HEIDEGGER, Der W~K :wr Spr;tche, in: Unterwegs zur Sprache. 227-257, hier 238. H CrAili\MFit, W;thrht·it und Methode, GW 1, 447.
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zwischen Umwelt und Wclt. 44 Erst in der "Umweltfreiheit" bildet sich sprachlich die Welt. 45 Die Frage nach der Welt an sich verliert so an Bedeutung.46 Denn es gibt keinen Standpunkt außerhalb der menschlichen Sprachwelt, von dem aus die Welt an sicherfaßbar wäre. Und die "Welt" ist ihrerseits nichts anderes als die Gesamtheit der menschlichen Spracherfahrung, die sich in den verschiedenen Sprachen strukturiert. Die Welt liegt in diesen Sprachansichten, oder besser, sie ist ihre offene Gesamtheit. Die vermeintliche Relativität einer solchen Auffassung wird durch die Spracherfahrung der Welt überwunden, die jedes Ansichsein umschließt und sich somit als "absolut" erweist. 47 Der Grundbezug von Sprache und Welt bedeutet daher nicht, daß die Welt zum Gegenstand der Sprache wird, sondern daß alles, was ist und was wir sind, schon immer vom Horizont der Sprache umfaßt ist.
2. Die Stimme des Anderen und die Schrift. Auf Derrida hören Die Wendung zur Sprache vollzieht sich in Wahrheit und Methode nicht durch das Modell der Mündlichkeit, sondern durch das der Schriftlichkeit. Obwohl Gadamer das Gegenteil behauptet, geht er von der Textinterpretation aus, um von hier auf das Gespräch zurückzukommen und zur Universalität der Sprache zu gelangen. 48 Dieser Weg ist allerdings unvermeidbar. Denn Geschichte wird im "Medium" der Sprache überliefert bzw. Sprache ist das Geschehen der Geschichte. Hier tritt der sprachliche Charakter des Verstehens hervor, der "die Konkretion des wirkungsgeschichtlichen Bewußtseins" ist.49 Zwar ist es richtig, daß es "Reste der Vergangenheit" gibt; doch etwas ganz anderes ist das, was uns die Überlieferung als Gesagtes oder besser: als Geschriebenes zukommen läßt. 50 Sofern das Geschriebene über jede endliche Bestimmtheit hinausgehoben ist, erlaubt es jedem, an der Überlieferung der Vergangenheit teilzunehmen- vorausgesetzt, daß er lesen kann. Das wirkungsgeschichtliche Bewußtsein ist ein lesendes Bewußtsein. 51 Doch welche Beziehung besteht zwischen Mündlichkeit und Schriftlichkeit? Welchen Stellenwert nimmt die Stimme ein? Und welche Rolle spielt der Text? Gadamers komplexe Position in diesen Fragen hat sich im Lauf der Jahre veränGADAMER, Wahrheit und Methode, GW 1, 447. GADAMER, Wahrheit und Methode, GW 1, 448. 46 GADAMER, Wahrheit und Methode, GW 1, 451. 47 GADAMER, Wahrheit und Methode, GW 1, 454. 48 Vgl. GADAMER, Wahrheit und Methode, GW 1, 387-389. 49 GADAMER, Wahrheit und Methode, GW 1, 393. so Vgl. GADAMER, Stimme und Sprache (1981), GW 8, 258-270, hier 260. 51 Vgl. GADAMER, Wahrheit und Methode, GW 1, 393-399. 44 45
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dl·rt; dit:~ ist vor ,dll'lll .tls l··.q.~t·hnis Ncinl·r Aust:in.tndl'l'st'li'.un~ mit I h·rrida zu bt:tri\dltl'll, dil· ;HH.:h t•im· 1>istitni'.icrun~ von Platon n.u.:h sid1 ~c:t.o~cn hat. Seine Position Jiigt sid1 in dl·r These vom untrennbaren Zusammenhang zwischen Mündlit:hkeit und Sduihlichkeit resümieren: In Wahrheit gibt es hier keinen wirklichen Gegensatz. Was geschrieben ist, muß gelesen werden, und daher ist alles Geschriebene ,der Stimme unterworfen'. 52
Gadamer teilt nicht das "einseitige" Urteil, das Platon in der berühmten Stelle des Phaidros gegen das Geschriebene fällt und das auch der Exkurs des Siebenten Briefes wiederholt. 53 Er hält Platons Argument über die eigentümliche "Schwäche", unter der alle geschriebenen Reden leiden, für eine "ironische Übertreibung", und glaubt deshalb nicht an die Idiosynkrasie der Schrift für das Gespräch, die auch im Protagaras vertreten wird. 54 Denn der Text spricht und antwortet dem ihn befragenden Interpreten. Gadamer verzichtet also keineswegs darauf, den Text als Gesprächspartner aufzufassen. Die Hermeneutik selbst ist ja gerade dieses "ln-das-Gesprächkommen mit dem Text." 55 Ohne die Asymmetrie zu vernachlässigen, die das schriftliche gegenüber dem mündlichen Gespräch charakterisiert, in dem ein leibhaftiges Du anwesend ist, hebt Gadamer die Kontinuität zwischen Mündlichkeit und Schriftlichkeit hervor. Die Grenzen sind hierbei fließend: Das Geschriebene ist stimmlich und kann jederzeit wieder mündlich werden, und das Mündliche ist seinerseits, sofern es Sprache ist, an sich schon immer "schriftfähig", schon immer zur Schrift bestimmt- wie Gadamer in seinem Aufsatz Unterwegs zur Schrift? von 1983 betont. 56 Anders gesagt: In der Schriftlichkeit ist schon immer potentiell die Mündlichkeit, und in der Mündlichkeit ist schon immer potentiell die Schriftlichkeit gegeben. Der Übergang von der Mündlichkeit zur Schriftlichkeit erfolgt durch das Lesen. Hier tritt der Abstand von Derrida deutlich zutage. Die lecture wird zu einem Paradigma, das der ecriture stillschweigend entgegengesetzt ist. Und es ist kein Zufall, daß sich das Paradigma des Lesens, das als Sprechenlassen bzw. als Stimmegeben aufgefaßt wird, so erweitert, daß es letztendlich mit der Hermeneutik selbstzusammen fällt. 57 ",Was ist Schrift, wenn sie nicht gelesen wird?" - dies ist die Frage, die Gadamer an Derrida stellt. 58 "Nur dadurch ist Schrift
HANS-GEORG GADAMER, Reply to James Risser, in: LEWIS E. HAHN (Hrsg.), The Philusophy of Hans-Georg Gadamer 1997, 403-404, hier 403. !ll GADAMER, Unterwegs zur Schrift? (1983), GW 7, 258-269, hier 263; vgl. PLATON, Phaic.lros, 274b-278c; Siebenter Brief, 341c, 344c. ~ 4 GAl>AMER, Wahrheit und Methode, GW 1, 396; vgl. PLATON, Protagoras, 329a. ~!I G.Al>AMJo:R, Wahrheit und Methode, GW 1, 374. !lt• G.A nA M J·:R, Unterwegs zur Schrift?, GW 7, 258-269. "' V~l. in diesem ß;tnd Kap. 111, II; Kap. IV, 2. "" (;AUAM!o'lt, lkknnstruktionund Hermeneutik, GW 10,141. !U
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überhaupt ein Sprachphänomen, daß Schrift gelesen wird." 59 Das Geschriebene zeigt sich ebenso stimmlich, wie die gesprochene Sprache immer schon schriftfähig ist. Wie kann man beim Lesen vermeiden, eine Schrift zu vokalisieren bzw. sie mit der Stimme zu artikulieren? Aus dem Jahr 1981 stammt die Arbeit, die den programmatischen und bedeutsamen Titel Stimme und Sprache trägt. 60 Gadamer antwortet hier auf Derridas Einwände und entwickelt dabei seine Auffassung der Stimme, die eine Schlüsselrolle in der Debatte zwischen Hermeneutik und Dekonstruktion spielen wird. 61 Die Stimme ist gewissermaßen der Versuch, eine Brücke zur ecriture zu schlagen. Wenn die Schrift keine "Abbildung der Stimme" ist, so ist auch die Stimme keine Abbildung der Schrift. 62 Doch was haben artikulierte Stimme und Schrift gemeinsam? Schon Platon stellt sich diese Frage in einer Passage des Philebos, die deshalb für die Dialektik entscheidend ist, weil es um die Beziehung zwischen dem Einen und dem Vielen geht. 63 Als Beispiel werden sowohl die von der Stimme artikulierten Laute als auch die alphabetischen Buchstaben angeführt -und man wird am Ende entdecken, daß beide, weit mehr als bloße Beispiele, gerade das sind, was für uns die Einheit des Vielen und die Vielheit des Einen im Iogos ermöglicht. Die Stimme enthüllt unsere Unvollkommenheit und Endlichkeit, weil wir sie nicht beherrschen können. Daher werden wir auf den meson, auf den "Mittelpunkt" der Sprache, auf ihre Mitte verwiesen, das heißt auf jene "Elemente", Sprachlaute und Schriftzeichen, welche die Grenzen in einem sonst unbegrenzten Kontinuum markieren und uns darum sowohl das Sprechen als auch das Schreiben erlauben. Beide sind Konstanten, die einen "Spielraum" eröffnen. Trotz seiner Weite ist dieser aber an die Grenzen, an die articuli gebunden, die in die Unbegrenztheit der phonischen wie der graphischen Materie eingeschnitten sind. 64 Die Artikulation ist also der gegenseitige Zusammenhang von Stimme und Schrift, der Licht auf den durch das Lesen vollzogenen Übergang wirft. Anders als jede natürliche Ausdrucksform sind Sprechen und Schreiben nämlich ein Über-ein-kommen in das~ was gemeinsam ist, angefangen bei den gemeinsamen Spiel-Räumen der Buchstaben und der in jeder Sprache artikulierten Laute.
GADAMER, Stimme und Sprache, GW 8, 264. GADAMER, Stimme und Sprache, GW 8, 258-270. 61 Vgl. meinen Aufsatz: DoNATELLA D1 CESARE, Die Verborgenheit der Stimme. Gadamer zwischen Platon und Derrida, in: Internationales Jahrbuch für Hermeneutik 5 (2006), 325-345. 62 GADAMER, Hermeneutik auf der Spur {1994), GW 10, 148-174, hier 159. 63 PLATON, Philebos, 14c-18d. 64 Vgl. GADAMER, Stimme und Sprache, GW 8, 259. 59 60
I knnol'h hdt:ilt di,· St immt• IHr (i.ul.un~r- und hierin lie~t sein Abstand zu l>errida- .,sowohl das t'I'Nit' wir JttH letzte Wort."(•' I>ics sollte aber nicht mit ihrer Übt•rk·~t·nhl·it vt·rw"'':hsrh wA MFR, Ästhetik und Hermeneutik (1964), GW 8, 1-8, hier 7. ' 11 (;AUAMER, W.thrhcit und Methode, GW 1, 399. ' 1 ' (;ADAMI'K, Wahrheit und Ml·thodc, GW I, 392. 11 4 V~ I. (;"DA MFR, Wahrheit und Mcthodl', GW I, 406.
200 von 1985, der einen Wcnd~punkt in Gadarn~rs Ndbstkritischcm Nctchdenkcn darstellt. 115 Die "Grenzen" dürfen nicht als Unvollkommenheiten der Sprache angesehen werden- die etwa an der Perfektion der Vernunft meßbar wären. Worum handelt es sich dann? Die Grenzen der Sprache sind phänomenologisch in dem erfahrbar, was "vorsprachlich", "nebensprachlich", und "übersprachlich" ist. Dabei ist es schon klar, daß sich diese angrenzenden Gebiete durch ihr Streben definieren, Sprache zu werden. Es ist das Streben nach der Sprachlichkeit, nach der Virtualität des Noch-nicht-Gesagten, die auf ihren Vollzug im Sprachereignis wartet und dennoch dazu bestimmt ist, gegen dessen Grenzen zu stoßen. 116 Wird hier einerseits der Vorrang der verbalen Sprache behauptet, in die sich alle anderen "Sprachen" übertragen lassen, so werden andererseits auch deren konstitutive Grenzen hervorgehoben. Gadamer faßt die hermeneutische Erfahrung der Sprachgrenzen in der Suche nach dem rechten Wort zusammen. Das "rechte Wort" ist per definitionem niemals recht- denn sonst wäre es das passende und angemessene Wort für einen schon gegebenen Gegenstand. Bei der Erfahrung ihrer Grenzen scheint die Sprache hingegen alles andere als ein Werkzeug der Beherrschung und Berechnung zu sein. In jedem Sprechen, so selbstvergessen es auch sein mag, erfährt man die Grenze des gesprochenen und - spiegelbildlich - des verstandenen Wortes. So beschreibt Gadamer die Erfahrung der Grenze: Endlich sei auf das tiefste der Probleme hingewiesen, die der Grenze der Sprache wesenhaft eingeboren sind. Ich fühle es nur dunkel, was in anderen Bereichen der Forschung - ich denke vor allem an die Psychoanalyse - bereits eine große Rolle spielt. Es ist das Bewußtsein, daß jeder Sprechende in jedem Augenblick, in dem er das richtige Wort sucht- und das ist das Wort, das den anderen erreicht-, zugleich das Bewußtsein hat, daß er es nicht ganz trifft. Immer geht ein Meinen, ein Intendieren über das hinaus, an dem vorbei, was wirklich in Sprache, in Worte gefaßt den anderen erreicht. Ein ungestilltes Verlangen nach dem treffenden Wort- das ist es wohl, was das eigentliche Leben und Wesen der Sprache ausmacht. Hier zeigt sich ein enger Zusammenhang zwischen Unerfüllbarkeit dieses Verlangens, des desir (Lacan}, und der Tatsache, daß unsere eigene menschliche Existenz in der Zeit und vor dem Tode vergeht. 117
Die Erfahrung der Grenze der Sprache ist also die Erfahrung der Grenze unseres Daseins und unserer Endlichkeit. Die Suche nach dem rechten Wort erweist sich als eine unendliche Aufgabe. Dabei ist es allerdings das Wort, das uns immer über uns hinaus bringt. Um dies zu erläutern, beruft sich Gadamer auf Rilkes Engel, auf die von Grenzen umgebene und als Engel evozierte Möglich-
GADAMER, Grenzen der Sprache (1985), GW 8, 350-361. Vgl. DEBORAH CooK, Reflections on Gadamer's Notion of Sprachlichkeit, in: Philosophy and Literature 10 (1986), 84-92. 117 GADAMER, Grenzen der Sprache, GW 8, 361. 115
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kt·it: ,.lJiwr UJI\ hinuht'l k.wu tlt•r l··.u~d.'. 11 " I >.ts Wort, d.ls wir lu·rvorhrill~l'll, hat un."i sdmn imnu·r ulwe hnh, iM ~dton immt•r iiht·r uns hin,\Us. I >it•s ist .Hidt d.ts Tht•ma dt•s wirht i~cn Aufs;\l:t.cs Von dt•r Wahrheil des Worlt'S, dt·r. ah I'J71 nwhrm.ds ~t·sdtrid.,t•n, erst I'J'JJ im N. Band der Gesammelten WcrA•c Vl'r(iffc:ntl irht w u nlt·. 11 '1 l>il· hermeneutische Wahrheit ist an die Sprache ~ehunden,
denn nur in der Sprache ist die Welt für uns da und wir für die Welt. Wenn Gadamer von der ,,Wahrheit des Wortes" spricht, meint er das Wort- als Sin~ular von ,.Worte" und nicht von "Wörter"- in der Vielfaltall seiner Erscheinun~sformen: es sei ein einfaches "Ja" oder das Wort, von dem man bei einer Zusage sagt: "Das ist ein Wort!", oder auch das "Wort" im Prolog des Johannescvangeliums.120 Noch bevor sie im Sinne eines objektiven Genitivs verstanden wird, deutet die Formulierung "Wahrheit des Wortes" auf einen subjektiven Genitiv hin. Denn es ist das Wort, das die Wahrheit erschließt, das sie "herauskommen" läßt, ehe man sie reflektierend als Wahrheit, als wahres bzw. "rechtes" Wort bestätigen kann. So wie er von einer "Seinsvalenz" des Bildes gesprochen hatte, so spricht Gadamer jetzt von einer "Seinsvalenz" des Wortes. 121 Denn die Welt erlangt Sein für uns nur in dem "universale[n] ,Da'" des Wortes, welches das Wunder der Sprache ausmacht. 122 Während das Sein im Wort zum Dasein kommt, werden wir durch das Wort zu diesem "Da" gerufen, sind wir zum Sein wach, erwacht. Im "Da" des Wortes werden wir anamnetisch der Sprachvergessenheit entzogen und zum Sein aufgeweckt. Hierin liegt das Wunder. Doch was sich in dem "Da" aufhält, verweist zugleich auf das, was sich dessen Zugriff entzieht. Die Präsenz des universalen "Da" des Seins im Wort ist daher auch eine Absenz. Das Wort geht schon immer über das "Da" hinaus, transzendiert schon immer sich selbst. Die Hermeneutik kann dieses Spiel von Präsenz und Absenz im Dasein des Wortes nicht übersehen; indem sie an die Grenzen des "Da" stößt, stellt sie sich als Hermeneutik der Sprache und ihrer Grenzen heraus, die in sich stets den Verweis auf das trägt, was im "Da" noch nicht ist- was immer jenseits sein wird. Die Transzendenz der Sprache schreibt der Hermeneutik, die ständig über sich hinausgehen muß, ihre Bewegung vor. Zurecht hebt Habermas desGADAMER, Imendimento e rischio [Verstehen und Spielen], in: Archivio di Filosofia l/2 (1961) (11 problema della demitizzazione, hrsg. von Enrico Castelli Padova: Cedam), 75-82, hier 82; leicht verändert wurde der Aufsatz wieder abgedruckt mit dem Titel: Zur Problematik des Selbstverständnisses. Ein hermeneutischer Beitrag zur Frage der EntmytholuKisicrung, GW 2, 121-132. Zu Rilke sind die beiden Aufsätze Gadamers zu beachten: Mythopoctische Umkehrung in Rilkes >Duineser ElegienA M ER, Von der Wahrheit des Wortes (1971), GW 8, 37-57. llO Vgl. GA I>A M 1m, Von der Wahrheit des Wortes, GW 8, 37. 111 Vgl. in dil'Sl'lll Band Kap. 111, 2. w V~l. (;ADAMI:K, Von dl'r Wahrheit des Wortes, GW 8, 54. llH
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halb hervor, daf~ di~ llc.·rmr.nrutlk .. •ich (... )der in der Sprachpraxis angelegten Tendenz der Sclbstranszcndic.-runK (hr.c.lir.nt)." 11·' Dies stellt aber keineswegs die Nichttranszendierbarkcit des .,Gc~eprächs, das wir sind" in Frage, innerhalb dessen alles auch anders gesagt werden kann.
7. Das Gespräch, das wir sind "Sprache ist Gespräch." 124 Das ist die These, die Gadamer schon in Platos dialektische Ethik formuliert und über Wahrheit und Methode hinaus bis in seine letzten Schriften immer wieder aufnimmt. 125 Die Hermeneutik der Sprache entfaltet sich zu einer Hermeneutik des Gesprächs. Wenn die Sprache sich in der Offenheit einer historischen Sprache ergibt, und sich hier als individuelles Sprechen realisiert, das seinerseits immer ein Sprechen für den Anderen bzw. ein Sprechen mit dem Anderen ist, dann liegt das Dasein der Sprache im Gespräch. Dies ist der geheime Kern von Gadamers Philosophie, die sowohl in ihrem theoretischen Anspruch als auch in ihrer praktischen Absicht eine Philosophie des Gesprächs ist. Dieser These liegt allerdings eine philosophische Motivation zugrunde, die man nicht übersehen darf. Gadamer bietet hier eine radikale Deutung von Hölderlins Vers an: "Seit ein Gespräch wir sind ... " 126 Dies bedeutet nicht nur, daß wir einfach an einem Gespräch teilnehmen. Wir sind schon immer im Gespräch und sprechen in seinem Fluß bzw. von seinem unendlichen Fluß her. Mehr noch: wir sind Gespräch. Jeder von uns ist nicht nur in einem Gespräch, sondern seiner intimsten Natur nach ist er selber Gespräch. Denn das Gespräch ist unser ubi consistam, ist das hermeneutische Universum, in dem wir atmen, in dem wir leben. Doch was soll das heißen, daß das Gespräch ein unendlicher Fluß ist? Jedes Wort eröffnet unendlich viele weitere Worte, mögliche Ant-Worten, die es anregt und befördert. 127 Da es spekulativ das Nichtgesagte reflektiert, kann jedes gesagte Wort nie das letzte sein. Aufgrund dieser Virtualität verweist ein jedes Wort auf die Offenheit, in der man weiter spricht. Deshalb geht das "Sprechen im Element des 'Gesprächs' vor sich." 128 Die durch die Virtualität des Wortes 123
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jüRGEN HABERMAS, Zur Logik der Sozialwissenschaften, Frankfurt am Main: Suhr51986,273.
GADAMER, Hejmat und Sprache, GW 8, 369. 125 Vgl. GADAMER, Platos dialektische Ethik, GW 5, 27-48; Wahrheit und Methode, GW 1, 449; Die Unfähigkeit zum Gespräch (1972), GW 2, 207-215, hier 207; Grenzen der Sprache, GW 8,360. 126 FRIEDRICH HÖLDERLIN, Friedensfeier, in: HöLDERLIN, Sämtliche Werke und Briefe, Gedichte, Band 1, hrsg. von Jochen Schmidt, Frankfurt am Main: Deutscher Klassiker Verlag 1992, 338-343, hier 341. 127 GADAMER, Von der Wahrheit des Wortes, GW 8, 38. 128 GADAMER Sprache und Verstehen, GW 2, 198. 124
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c.•ri•Huc.·tt· Unt.•udlic:hlu·il ist dit• lhwndlirhkc.•il dt•s Mitt·in.uulc.·rspn.•c:hcns. l>ar.nas f'ol~t, d,tf~ d;ts ( ;c.·sprERR 1l>A- HANS-GEORG GADAMER, Der ununterbrochene Dialu~. hrsg. und mit l'incm Nachwort von Martin Gessmann, Frankfurt am Main: Suhrkamp 2004, 7-·50. 1" C;A ''" M I·:K, l>iL· Unf:ihigkl·it zum Gespräch, GW 2, 211. l.ll
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an lnformiltion. W;ls d.lhl•i Hih, iMI dir i'c~~Knun~ mit dem l>u. Das Gespräch ist dann ~clun~en, wenn sich dttN Ich durch das Du und das Du sich durch das kh verändert hat. ,,Das Gcspr~kh vcrwttnddt bcidc." 134 Nach dem Gespräch ist man nicht mehr der, der man vorher war. Paradoxerweise gelingt ein Gespräch um so mehr, je weniger es sich abschlicfh- je tnehr die Uneinigkeit wieder an den Tag kommt, je mehr das Mißverstehen und das Nichtverstehen erneut auftreten. Das Gespräch ist also nicht abgeschlossen, wenn das Wort, welches das Ich an das Du und das Du an das Ich richtet, zu einer neuen Offenheit führt, von der aus, durch neue Fragen und neue Antworten, das Gespräch weitergehen kann. 135 Andererseits kommt das Gespräch für Gadamer derjenigen Grundstimmungdes Lebens entgegen, die für es grundlegend und daher abgründig ist: der Angst. Aus der eigenen Enge getrieben in die ihm stets fremde Weite entfernt sich- wie schon SeheHing gesagt hat- das Ich von sich selbst. In dieser zentrifugalen Bewegung stößt das Ich gegen die Grenze des Anderen, des Du, und verliert seinen Mittelpunkt. Doch ist es gerade das Du, das dem Ich ermöglicht, ihn wiederzufinden. Nur wenn es an den Anderen weggegeben ist, wenn es sich dem Du zuwendet, kann das Ich seinen Schwerpunkt zurückgewinnen und sein Gleichgewicht wiederherstellen. Diesesparadoxale Ereignis findet im Gespräch statt, wo der Mittelpunkt des Ich jeweils durch den Stoß gegen das Du wiederhergestellt wird. Und offensichtlich ist der Mittelpunkt niemals derselbe, sondern stets ein anderer: er differiert durch die Zeit, durch die Sprache, im Gespräch. In der Begegnung mit dem Du versteht sich das I eh immer anders. Wiederherstellen meint hier auch Heilen. Denn sich um sich selbst kümmern heißt nicht, sich in sich selbst zurückziehen, sondern sich um den Anderen kümmern. Und umgekehrt kann man heilen- wie Gadamer mehrmals betont - eben durch das Wort des Dialogs. 136 Das Wort heilt besser als jedwedes Heilmittel- vor allem das Wort eines Freundes. Daraus entsteht die unmittelbare Nähe von Dialog und Freundschaft, der rote Faden, dem Gadamer vom Anfang bis zum Ende seines Denkweges folgt. Denn in der philia, in der die eigenen Grenzen erkannt werden, erkennt man im Anderen, im Freund, "einen Zuwachs an Sein, Selbstgefühl und Lebensreichtum." 137 GADAMER, Sprache und Verstehen, GW 2, 188. Vgl. CLAUDE THERIEN, Gadamer et la phenomenologie du dialogue, in: Laval theologique et philosophique 53 {1997), 167-180. 135 Vgl. GADAMER, Hermeneutik auf der Spur, GW 10, 162. 136 Vgl. in diesem Band Kap. VI, 4; Kap. IX, 5. 137 GADAMER, Freundschaft und Selbsterkenntnis. Zur Rolle der Freundschaft in der griechischen Ethik (1985), GW 7, 396-406, hier 403. Die erste Fassung dieses Aufsatzes wurde 1928 geschrieben, jedoch erst 1985 veröffentlicht. Von 1999 stammt der Aufsatz: GADAMER, Freundschaft und Solidarität, in: Hermeneutische Entwürfe, 56-65. Vgl. auch den Beitrag von 1970: GADAMER, Vereinsamung als Symptom von Selbstentfremdung, in: Lob der Theorie, 123-138. Vgl. dazu MICHAEL HoFER, Nächstenliebe, Freundschaft, Geselli~ kcit. Verstehen und Anerkennen bei Abcl, Gadamcr und Schleiermacher, München: Fink 134
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I >ics alll·s wird dl'IHtorh iu rirwr Zl"il untl.'rsdliitl.l, dit· dun:h dit ,.UnfähigkL"it zum ( lt•.o•ptiich" rh.u·.,ktrl'iNicrt zu sein scheint. I.\" Gdiihrdl·t sind alle Formen des (il·spriidts, dil· im illhii~lichen Leben erscheinen. Gadamcr zeichnet deren Phänomcnolo~ic nilch: vom Lehrgespräch zum Verhandlungsgespräch bis zum 1--leilgespräch.u'J Doch die Unfähigkeit zum Gespräch, die in der psychoanalytischen Therapie sich selbst eingesteht und deshalb die zu heilende "Störung" ist, nimmt im alltäglichen Gespräch, in dem sie nicht eingestanden wird, die "normale" Form einer Beschuldigung des Anderen an. So sagt man etwa: "Mit dir ist nicht zu reden". Diese Unfähigkeit wird sowohl auf die Unfähigkeit zu hören als auch auf die Unfähigkeit zu sprechen zurückgeführt. Man verlernt zu sprechen, wenn die gemeinsame Sprache sich erschöpft und zur Terminologie herabsinkt, so wie es in der monologischen Situation der heutigen Gesellschaft häufig geschieht. 140 Aber in jedem Gespräch, auch in dem am wenigsten gelungenen, wird das Ich durch die Begegnung mit dem Wort des Du über seine Begrenztheit erhoben. Das Du ist der Hebel, dessen das Ich sogar im Selbstgespräch bedarf} 41 Nicht nur, weil das Ich in der Fremdheit des Du, die ihm gleichwohl stets vertraut ist, die eigenen Grenzen erfährt, sondern auch, weil das Ich in der transzendierenden Bewegung der Sprache dank des Du und mit dem Du immer schon jenseits seiner selbst ist: im gemeinsamen Wort. Das "rechte" Wort erweist sich hier als das Wort, welches das Du erreicht, das gehört und seinerseits vom Du hervorgebracht wird, als wäre es seines. In diesem gemeinsam gewordenen Wort, das ihm vom Anderen wieder ertönt, findet das Ich ein Zuhause- ein Zuhause, das jedoch aufgrund der in der Sprache unwiderruflichen Heimatlosigkeit stets flüchtig bleibt. Einen Hegeischen Ausdruck wiederaufnehmend sagt Gadamer, daß das Miteinandersprechen ein Sich-Einhausen ist.
8. Verstehen, Interpretieren, Übersetzen. Wo die Hermeneutik mißverstanden wird Schaut man auf die vier Jahrzehnte ihrer Wirkungsgeschichte, so ist es überralchcnd festzustellen, daß die Hermeneutik gerade in ihrem Versuch, die Frage des Verstehens innerhalb der Philosophie zur Sprache zu bringen, so häufig
1998, insb. 119-198; DAVlD Vt:sSEY, Gadamer's Theory of Friendship as an Alternative to lntcrsubjcctivity, in: Philosophy Today 49 (2005), 61-67. DK V~l. den gleichnamigen Text: GADAMER, Die Unfähigkeit zum Gespräch, GW 2, 201-215. lW V~l. GADAMER, Die Unfähigkeit zum Gespräch, GW 2, 213. '" 0 V~l. GA I>A MJ·:R, Die Unfähigkeit zum Gespräch, GW 2, 214 f. 141 ( iA J>A MEK, Sducihcn und Reden (1983), GW 10, 354-355, hier 354.
206 mif~vcrstandcn
worden ist. I>.ahci ~c:ht es vor allem um zwei Migvcrständnisse, die aufgedeckt werden müssen . Das erste Mif~vcrständnis steckt in dem Vorwurf, das Verstehen sei in der Hermeneutik eine Aneignung des Anderen. Er richtet sich zugleich gegen den Furor, die Wut des Verstehens, die sie animieren, sowie gegen die Versöhnungsabsicht, die sie angeblich leiten würde. 142 Die philosophische Hermeneutik maße sich an, sie könne und müsse besser und vollkommener verstehen, sie könne und müsse versöhnen und abstimmen. Und das Verstehen wäre folglich in der Hermeneutik selbstverständlich. Wenn dem aber so wäre, dann hätte die Hermeneutik keinen Grund zu existieren. Denn sie existiert deswegen, weil sie die philosophische Frage nach dem Verstehen stellt. Als Erbe des Heideggerschen Ansatzes, demzufolge das Verstehen der ursprüngliche Vollzug des Daseins ist, vertritt Gadamer die These, daß "Einverständnis[. .. ] ursprünglicher als Mißverständnis" ist. 143 Es handelt sich hierbei weder um einen billigen Optimismus noch um die Übernahme einer ethischen Aufgabe. Vielmehr wird hier die Praxis von Sprechen und Verstehen phänomenologisch beschrieben. Denn das ursprüngliche Verstehen ist nichts anderes als der Einklang der gemeinsamen Sprache, welche Gemeinsamkeit aufbaut und trägt. Wer in einer historischen Einzelsprache spricht- und dabei für den Anderen und mit dem Anderen spricht -, der stimmt noch vor jeder Abstimmung allein schon dadurch zu, daß er seine Stimme zur Stimme der Anderen anstimmt und sein Selbst in den bedeutenden Lauten der gemeinsamen Sprache artikuliert. Kurzum: Wer spricht, hat damit schon dem Mitgeteilten und deshalb auch Miteinandergeteilten zugestimmt, das ihn mit den vergangenen, gegenwärtigen und künftigen Sprechern verbindet. Noch vor jeder Übereinstimmung mit sich selbst, stimmt er schon mit dem Anderen überein: Sein Sprechen ist daher ein "Übereinkommen". In diesem Sinn interpretiert Gadamer die syntheke des Aristoteles 144: Der Begriff der ,syntheke•, des Übereinkommens, enthält zunächst, daß Sprache sich im Miteinander bildet. 145
Diese Übereinstimmung ist das Präludium der Sprache, das jedes weitere Spiel von Einigkeit und Uneinigkeit in Gang setzt. Dem Präludium kann man sich nicht entziehen: Jeder Sprecher muß das Spiel der Sprache mitspielen, die vorhergehende Gemeinsamkeit annehmen, die ihm die Sprache gewährt. Sprechen Vgl.joCHEN HöRISCH, Die Wut des Verstehens. Zur Kritik der Hermeneutik, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1988. 143 Diese These, die sich bereits in Wahrheit und Methode findet, wird auch in der Folge aufgenommen (GADAMER, Wahrheit und Methode, GW 1, 390 f.; Sprache und Verstehen, GW 2, 187 f.; Grenzen der Sprache, GW 8, 359). 144 ARISTOTELES, Peri Hcrmeneias, 16a 19. 145 GADAMER, Grenzen der Sprache, GW 8, 354; vgl. auch Die Kultur und das Wort (1980), in: Lob der Theorie, 9-25, hier 15. 142
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d;\nn, die (;c.'nll·ins.llnkc.·it dc.·r in dc.·r Spr;trlw anikulic.·rtc.•n Wclt weiter zu artikulieren, Jenn JilS ( ;c.·sproc.:ht•ne wirJ im Sprc.·rhen weiter ~emcinsam, das Mitgeteilte weiter mitteilbar. Dies ist die Wirklichkeit der menschlichen Kommunikation, das hcif~t des Dialngs. 14c, Doch der Gesprächsflug kann unterbrochen werden und die Einigkeit kann sich in Uneinigkeit verkehren. In diesem Zusammenhang spricht Gadamer von einem "AnstoH". 147 Nahezu unbeachtet geblieben, ist der "AnstoH" ein Schlüsselbegriff der Hermeneutik, weil er die Bewegung des Verstehens klarstellt. 148 Ohne ihn wäre man gezwungen anzunehmen, daß das Verstehen sich von selbst in Gang setzt. Um den Begriff des Anstoßes näher zu bestimmen, geht Gadamer auf die griechische Philosophie zurück. Die Griechen hatten ein sehr schönes Wort für das, wobei unser Verstehen zum Stocken kommt, sie nannten das das atopon. Das heißt eigentlich: Das Ortlose, das, was nicht unterzubringen ist in den Schematismen unserer Verslehenserwartung und das uns deswegen stutzen läßt. 149
Das atopon ist das, was Unruhe und Irritation hervorruft, was uns sonderbar und deshalb unheimlich und fremd vorkommt. Atopos in den platonischen Dialogen ist Sokrates, der Philosoph, der von seinem Außer-Ort die Ordnung der p6lis in Frage stellt und auf das Außen eines ou-t6pos, eines Zu-kommenden Ortes verweist.150 Für die Hermeneutik ist das atopon das Unverständliche, welches in das schon einmal Verstandene, selbstverständlich Geltende, aber nahezu in Vergessenheit Geratene einbricht, welches in die scheinbare Vertrautheit mit der Sprache eingreift und die Gemeinsamkeit der Worte plötzlich in Zweifel zieht. 151 Das Ortlose als Unverständliches läßt also das Nichtverstehen und das Mißverstehen hervortreten. Das verbietet aber durchaus nicht, auf wiederholte Auslegungen zu rekurrieren, um Einigkeit wiederherzustellen-ohne damit jedoch die Uneinigkeit auszuschließen. Das zweite Mißverständnis betrifft die Verbindung von Verstehen und Auslegen. Weit verbreitet ist die Idee, daß Verstehen und Auslegen in der Hermeneutik dasselbe sind. Diese Gleichsetzung hat übrigens zahlreiche Kritiken hervorgerufen. Kann man aber wirklich sagen, daß "Verstehen" und "Auslegen"
In ähnlicher Weise führt Wittgenstein aus: "In der Sprache stimmen die Menschen Ubercin. Dies ist keine Übereinstimmung der Meinungen, sondern der Lebensform." Vgl. l..UDWIG WnTGENSTEIN, Philosophische Untersuchungen. Werkausgabe, Band 1, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1997, § 241, 356. 147 GAI>AMER, Wahrheit und Methode, GW 1, 272. HK Vgl. GAUAMER, Sprache und Verstehen, GW 2, 184; Rhetorik, Hermeneutik und ld~ologickritik, GW 2, 237. 14'1 GA DA M ER, Sprache und Verstehen, GW 2, 185. I\O Vgl. in diesem ßand Kilp. VI, 5. 1!\l V~l. l>oNA'J'Jo:I.I.A 1>1 CESA RE, Atopos. Die Hermeneutik und der Außer-Ort des Vcrlttrlwm, in: ANUitZI<J PRzn ...:nsKI (llrsg.),lhs Frbl· G.u.Luncrs 2006,85-94. H6
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VIII. Kapitel: Der Horizont des Gesprächs
für die Hermeneutik Synonyme sind? Gewiß nicht, und als Beweis dafür wird es genügen, die Texte auch im Licht von Gadamers komplexer Auffassung des Verstehens zu lesen. Zu diesem Zweck muß ein dritter Terminus hinzugezogen werden: das Übersetzen. Gadamer folgt Schleiermacher, der zu zeigen versucht, daß Nichtverstehen und Mißverstehen nicht auf die Interpretation von Texten beschränkt sind, sondern das Verstehen einer jeden Rede gefährden. 152 Gerade an diesem Punkt wird die Hermeneutik zu einer universalen Fragestellung. Gadamers Absicht ist es daher, die verborgene Verbindung von Auslegen und Verstehen wieder ausfindig zu machen. Doch Verbinden heißt nicht Identifizieren. Durch die notwendige Verschiebung des Akzents auf das Verstehen, von dem er die grundlegende Sprachlichkeit unterstreicht, will Gadamer aber keineswegs behaupten, daß jedes Verstehen ein Auslegen ist, als ob wir- und dies wäre in der Tat eine sonderbare und unvertretbare These- in jedem Augenblick des alltäglichen Verstehens interpretieren würden. Ganz im Gegenteil: Während er an der Kontinuität von Verstehen, Auslegen und Übersetzen festhält-eine Kontinuität, die von dem sie durchziehenden Leitfaden des Nichtverstehens und des Mißverstehens gebildet wird- vernachlässigt er die Unterschiede nicht, die sich als Intensitätsunterschiede quantitativer und nicht qualitativer Art erweisen.153 Wo man etwas versteht, da wird nicht interpretiert und nicht übersetzt, "sondern gesprochen." 154 Und man versteht eine Sprache, wenn man in ihr lebt. Eine Sprache zu verstehen "schließt keinen Interpretationsvorgang ein, sondern ist ein Lebensvollzug." 155 Es kann also ein Verstehen ohne Auslegen geben- ja dies geschieht normalerweise bei jedem Gespräch. Da aber in jedem Gespräch auch Nichtverstehen und Mißverstehen lauern, kann das Verstehen sich unterbrechen und nach dem Zwischen, dem inter- einer Interpretation, einer Auslegung verlangen. Diese Auslegung ist jedoch nicht etwas vom Verstehen Abgetrenntes, sondern vielmehr die Entwicklung des Verstehens, seine "Vollzugsweise"wie bereits Heidegger nahegelegt hatte. 156 Die Auslegung entfaltet sich ihrerseits im Medium der Sprache und ist als eine weitergehende sprachliche Artikulation des Verstehens aufzufassen, die jederzeit möglich ist. Das gilt der Sache nach auch dort, wo sich das Verständnis unmittelbar einstellt und gar keine ausdrückliche Auslegung vorgenommen wird. Denn auch in solchen Fällen von Verstehen gilt, daß die Auslegung möglich sein muß. Das bedeutet aber, die Auslegung ist potentiell im Verstehen enthalten. Sie bringt das Verstehen nur zur ausdrücklichen
152
Vgl. in diesem Band Kap. IV, 2.
153
GADAMER, Wahrheit und Methode, GW 1, 391. GADAMER, Wahrheit und Methode, GW 1, 388. GADAMER, Wahrheit und Methode, GW 1, 388. GADAMER, Wahrheit und Methode, GW 1, 392; HEIDEGGER, Sein und Zeit, § 32,
154 155 156
197.
9. Spiel und Gespräch. Die Begegnung mit Wittgenstein
209
Ausweitung. Die Auslegung ist also nicht ein Mittel, durch das das Verstehen herbeigeführt wird, sondern ist in den Gehalt dessen, was da verstanden wird, eingegangen. 157
Die Auslegung, die wie jede Ausführung eine Sinnkonkretion ist, läßt sich als gelungen bezeichnen, wenn sie zurücktritt und ihre Wahrheit "in der Unmittelbarkeit des Verstehens" zeigt. 158 Der Extremfall der "Übersetzung" unterscheidet sich durch eine größere Fremdheit, die zwar auch im Verstehen und im Auslegen gegeben ist, in der Übersetzung jedoch unabwendbar wird. Gadamer führt als Beispiel ein Gespräch in zwei einander fremden Sprachen an. Hier ist der Rückgriff auf die Übersetzung eine "Selbstentmündigung" der Sprecher, die zugeben, entmündigt zu sein und auf die Künstlichkeit einer Über-setzung zurückgreifen zu müssen. 159 Zur Auslegung gedrängt, deren "Vollzug" sie ist, wird die Übersetzung als eine "Überhellung" aufgefaßt. 160 Wenn die Auslegung aber eine explizite Entwicklung des Verstehens ist, so ist die Übersetzung eine explizite, aber "künstliche" Entwicklung. Das "Elend des Übersetzens", das "Buchstabe ohne Geist" ist, würde demnach darin liegen, daß der Übersetzer die "Einheit der Meinung, die ein Satz hat", übertragen muß, ohne sie jemals treffen zu können. 161 In dieser sehr traditionellen und wenig hermeneutischen Konnotation ist das Übersetzen, das streng interlinguistisch konzipiert wird, nicht so sehr ein Extremfall, als vielmehr ein Sonderfall und eine Abweichung von der Norm des intralinguistischen Gesprächs. Auch in seinen späteren Arbeiten wird Gadamer diese negative Sichtweise der Übersetzung nicht ändern und sie weiterhin als eine künstliche Vermittlung des Sinns betrachten, der nur im Gespräch wieder zum Leben erweckt werden kann. Denn Übersetzen oder gar Dolmetschen "ist eben noch ein Rest von lebendigem Gespräch, wenn auch ~rmittelt, gespalten, gebrochen." 162
9. Spiel und Gespräch. Die Begegnung mit Wittgenstein
Auf der vorletzten Seite von Wahrheit und Methode wird das Paradigma des Spiels wieder aufgenommen, das nun jedoch nicht auf die Kunst, sondern auf 'die Sprache bezogen wird. "Sprachliche Spiele sind es auch, in denen wir uns als
GADAMER, Wahrheit und Methode, GW 1, 402. GADAMER, Wahrheit und Methode, GW 1, 404; vgl. auch in diesem Kapitel§ 11. IS'I GADAMER, Wahrheit und Methode, GW 1, 388. 160 GADAMER, Wahrheit und Methode, GW 1, 389. Zu Gadamers Konzeption der Überllltzung aber auch zu den hierbei mit einbezogenen Schwierigkeiten vgl. joHN SALLIS, HerMeneutik der Übersetzung, in: GüNTER FIGALijEAN GRONDINIDENNIS J. ScHMIDT ·(Hr1~.), Hermencutische Wege 2000, 149-159, insb. 157 f. ltll GAl>AMI\R, Spric: Vidfalt dc.:r Sprachen und das Verstehen der Welt, GW 8, 348. " 7
158
210
Lernende [... J zum Vcrstiinc.lni!l der Wdt t•rhcbcn."ltd Fast scheint es so, als wären dies die Worte Wittgcnstt.•i ns. I >ie überraschende Konvergenz, die sich hier einstellt, wird auch von Gadamcr im Vorwort zur zweiten Auflage von 1965 ausdrücklich vermerkt.l 64 Man muß daher annehmen, daß seine Lektüre von Wittgensteins Hauptschriften, sowohl des Tractatus als auch der Philosophischen Untersuchungen, auf die Jahre zwischen 1960 und 1965, vielleicht schon auf die letzten Monate von 1959 zurückgeht. Aus dem Jahr 1963 stammt jedenfalls sein Aufsatz Die phänomenologische Bewegung, der wohl die bedeutendsten Äußerungen Gadamers über Wittgenstein enthält. Vor allem im Schlußteil wird das "Sprachspiel" als gemeinsamer Nennerall jener neueren Philosophien namhaft gemacht, die auf eine "letzte Begründung" verzichten, wie sie Husserl noch im Sinne hatte. 165 Diese erste Begegnung mit Wittgenstein wird sich zu einer wichtigen Auseinandersetzung entfalten, die sich bis zu den letzten Schriften hinzieht. Die Konvergenz ist deshalb überraschend, weil Wittgenstein in Deutschland am Anfang der sechziger Jahre noch fast unbekannt war. Gadamer ist- wie es scheint- einer der ersten, der ihn produktiv liest. Dreißig Jahre später, 1990, erklärt er: "Der Name Wittgenstein ist heute einer der großen Namen der Philosophie unseres Jahrhunderts." 166 Doch was verbindet und was trennt beide Philosophen? Wieviel Gadamer diese Begegnung bedeutet, liegt auf der Hand. Schon seit einiger Zeit arbeitet er an einer Phänomenologie des Spiels, die ihm die über-metaphysischen Implikationen dieses Begriffs immer deutlicher macht. Die Begegnung mit Wittgenstein bekräftigt ihn in seiner Überzeugung, daß es das "Spiel" ist, das die Metaphysik aufs Spiel setzt, und sie bringt ihn dazu, dieses Paradigma, das er schon auf die Kunst angewendet hatte, noch weiter auszudehnen, indem er nun das Miteinander des Spiels in der Universalität der Sprache, oder besser gesagt: im Gespräch sieht. 167 Es ist also letztlich Wittgenstein, der Gadamer auf einen von Heidegger abweichenden Weg zur Verwindung der Metaphysik hinweist. Die Sprache der Metaphysik ist, wie gezeigt wurde, immer noch Sprache. 168 Auch die erstarrGADAMER, Wahrheit und Methode, GW 1, 493. GADAMER, Vorwort zur 2. Auflage, GW 2, 446. Vgl. auch GADAMER, Selbstdarstellung, GW 2, 507; Phänomenologie, Dialektik, Metaphysik (1983), GW 10, 100-109, hier 107; Mit der Sprache denken (1990), GW 10, 346-353, hier 347; Hermeneutik auf der Spur (1994), GW 10,149. 165 GADAMER, Die phänomenologische Bewegung, GW 3, 142-146. 166 GADAMER, Die Vielfalt der Sprache und das Verstehen der Welt, GW 8, 343. 167 Vgl. GADAMER, Zwischen Phänomenologie und Dialektik- Versuch einer Selbstkritik, GW 2, 5 f. 168 Die lebendige Sprache wird dann immer in ihrer grundsätzlichen Metaphorik zurückgewonnen. Vgl. GADAMER, Wahrheit und Methode, GW 1, 436 f. Vgl. dazu joEL WEINSREIMER, Gadamer's Metaphorical Hermeneutics, in: HuGH HuGH J. Sn.VERMAN {Hrsg.), Gadamer and Hermeneutics 1991, 181-201; jAMES RISSER, Die Metaphorik des Sprcchcns, 163
164
.Zll tt.•n 1\q~rilh·
/.c.·iduwn, suh.dd sie.· wic.·dc.·r in dc.·n ldwndi~t·n Spr.\rh~t·hrauch, in das Nc.·t1. dc.·r Spr;Khspidc.· t•i n~d ü~t werden und dort wc.·itc.·r .,arhciten"', die Linien ihrer eigenen Ühl'rwindung vor. 1'''1 l>it• K.onvergt·nz, die Gadamer zurecht nicht im Tracttllus, der ;tuf die Zurückführung aller Sätze auf die ",Logik des Satzes"' zielt, sondern in den Philosophischen Untersuchungen ausmacht, findet eine weitere Bestätigung in Wittgensteins "Sprachpragmatik", das heiHt in seiner neuen Sicht der Sprache als öffentlicher Praxis und gemeinsamen Handeins und in seinem Argument gegen die Privatsprache. 170 Die Sprache ist immer ,,öffentlich"; eben darum ist sie immer gemeinsam und zwangsläufig dialogisch. Das Argument gegen die Privatsprache ist eine andere Art, den Vorrang des Dialogs zu betonen. 171 Für Gadamer wie für Wittgenstein ist das Sprechen ein Überein-kommen in jenem Mittelpunkt des Wortes, der das Gemeinsame "gründet" und der mit dem allgemein Gültigen nicht verwechselt werden darf: "auch die Spiele der Kinder sind ja so, daß man nicht mit irgendeinem Besserwissen hinter ihre Festsetzungen zurückgehen darf." 172 Dies übt eine brisante Wirkung selbst auf den Begriff des "Begriffs" aus, der in den Familien der Sprachspiele verstreut zu sein scheint. Dabei verliert er zwar seine scharfen Ränder, gewinnt dafür aber die Produktivität der Unbestimmtheit. 173 Doch ungeachtet ihrer Nähe ist natürlich der Abstand zwischen Wittgenstcin und Gadamer nicht zu übersehen, der vor allem in ihrer unterschiedlichen Auffassung des Verhältnisses zwischen Sprache und Philosophie liegt. Für Wittgenstein ist die Philosophie eine Sprachkritik, eine Therapie, die zur Auflösung der philosophischen Probleme führen soll. 174 Für Gadamer hingegen ist die Hermeneutik ein Hören auf die Sprache, das keineswegs zu einer kathartischen Befreiung von der Philosophie führt. Die Unterschiede erstrecken sich in: GüNTER FIGALijEAN GRONDIN/DENNIS J. ScHMIDT, Hermeneutische Wege 2000, 177-190. 16'J Vgl. GADAMER, Rhetorik, Hermeneutik und Ideologiekritik, GW 2, 248; Selbstdarstellung, GW 2, 507; Hermeneutik auf der Spur, GW 10,156; Mit der Sprache denken, GW 10, 349 sowie in diesem Band Kap. VII, 2. Vgl. ULRICH ARNSWALD, On the Certainty of Uncertainty: Language Games and Forms of Life in Gadamer and Wittgenstein, in: jEFF MALPAs/ULRICH ARNSWALDijENS KERTSCHER (Hrsg.), Gadamer's Century. Essays in llonor of Hans-Georg Gadamer, Cambridge, Mass./London: MIT Press 2002,25-44. Neue Ansätze dazu bietet jetzt: CHRIS LAwN, Wirtgenstein and Gadamer: Towards a Post-Analytic Philosophy of Language, London u.a.: Continuum 2004. 170 GADA M ER, Die phänomenologische Bewegung, GW 3, 144; GADAMER, Die Vielfalt tlt'r Sprache und das Verstehen der Welt, GW 8, 343. 171 (;A I>A M ER Heimat und Sprache, GW 8, 369 und Zur Phänomenologie von Ritual und Sprache, GW 8, 432. 171 GA DA M ER, Die phänomenologische Bewegung, GW 3, 144. 171 Vgl. ehd. sowie GA DA M ER, Hermeneutik auf der Spur, GW 10, 156. 17.. Vgl. GAUA M ER, Hermeneutik (1969}, GW 2, 425-436, hier 429; Die phänomenoloKhu:lw 1\t-wq.~ung, GW ], 146.
212 jedoch auch auf die Spmchrcflcxinn. Gadamcr äuf~ert seine Bedenken sowohl gegen den Terminus "Gebrauch''. der auf eine viel zu instrumentelle Sprachauffassung verweist, als auch gegen den Terminus "Regel", der im Hinblick auf die Komplexität des Sprechens allzu reduktiv erscheint. 175 Der späte Gadamer sieht im Spiel immer deutlicher das Bindeglied zwischen nicht-verbaler und verbaler Kommunikation: von der Tiersprache über die Sprache, die der Mensch mit den Tieren spricht, bis hin zum Sprechenlernen, das ein "Sich-Einspielen-miteinander" des Kindes und des Erwachsenen ist. 176 Spiel ist bereits der vorsprachliche Dialog, aus dem der sprachliche Dialog hervorgehen wird. Indem die strukturelle Verwandtschaft zwischen Spiel und Dialog ans Licht kommt, tritt der "mediale" Charakter des Spielens hervor, das, sofern es stets ein Mit-Spielen ist, jene Tätigkeit bezeichnet, die in Passivität übergeht. Daher verschwindet hier die starre Dichotomie von Objekt und Subjekt. Der Sprecher geht über seine Subjektivität hinaus, indem er sich dem Ineinanderspiel der Sprache beugt, das schon immer auf das Über eines Anderen verweist, und er überläßt sich dem Sagen-Wollen des Anderen, indem er sich mit dessen Wort dekliniert und konjugiert, das dabei zu einem gemeinsamen wird. 177 Hier trennt Gadamer nicht nur ein Abstand von Wittgenstein, sondern auch von Heidegger. Bei Wittgenstein herrscht die Perspektive der Sprecher vor, die sich aufgrund ihrer Kompetenz, d.h. durch ihr Operieren mit Regeln, in der Grammatik der Spiele bewegen können. Das Spiel wird von den Sprechern gespielt und das Sprechen ist "ein Teil [...] einer Tätigkeit", in der ein Rest von Subjektivität überdauert. 178 Bei Gadamer wird diese Perspektive der Sprecher in der gemeinsamen Perspektive des Sprachspiels überwunden. Dies bringt jedoch keine Hypostasierung der Sprache mit sich. Insofern profiliert sich seine Position auch gegenüber Heidegger, denn es ist für ihn nicht die Sprache, die spricht, sondern es sind vielmehr die Sprecher. Während bei Wittgenstein die Herrschaft beim Subjekt verbleibt, geht sie bei Heidegger auf die Sprache über. Gadamers Zwischenstellung reflektiert den "medialen" Charakter des Spiels, der Licht auf den aktiven und dennoch erlittenen Vorgang des Dialogs wirft.
Vgl. GADAMER, Hermeneutik auf der Spur, GW 10, 156; Europa und die Oikoumenc, GW 10,275. 176 GADAMER, Grenzen der Sprache, GW 8, 356. 177 Vgl. in diesem Band Kap. IX, 7. 178 WITTGENSTEIN, Philosophische Untersuchungen,§ 23, 250. 175
10. l>il· Verschiedenheit der Spr~u.·hcn und die Zukunft Europas Bei Gadamcr nimmt der Dialog jedoch noch schärfere Konturen an. Er ist für ihn nicht nur der Dialog zwischen Ich und Du, sondern auch der Dialog zwischen den Sprachen. Das Thema der Verschiedenheit, das in Wahrheit und Methode schon in der Auseinandersetzung mit Humboldt berührt wird, gewinnt in der philosophischen und in der politischen Reflexion des späteren Gadamers an zusätzlicher Bedeutung, der seine Aufmerksamkeit immer mehr auf die Zukunft der europäischen Ökumene richtet. Der hierfür wichtigste Text ist Die Vielfalt der Sprachen und das Verstehen der Welt von 1990. 179 Die Geschichte des Turmbaus zu Babel (Gen. 11, 4-9) beunruhigt uns bis heute, weil uns nach wie vor die Idee verführt, eine Einheitssprache zu bilden, in der die menschliche Hybris Gestalt annehmen könnte. Der Turmbau zu Babel wiederholt in einer ins Umgekehrte verstellten Form das Problem der Einheit und Vielheit. Da ist die Einheit die Gefahr, und die Vielheit ihre Überwindung.180
Doch wie sieht dieser Turm in der heutigen Welt aus? Die Antwort, die durch die Geschichte des Abendlands gegeben worden ist, läßt für Gadamer keinen Zweifel bestehen: der Turm ist die Wissenschaft. Als Ergebnis der Abstraktionskraft der Logik ragt der Turm auf und, verstärkt auch durch die Sprache der Mathematik, weist er jede Grundlage in der gemeinsamen Sprache ab. Doch diese hört nicht auf, sich in eine Vielfalt historischer Einzelsprachen zu deklinieren. Weder eine Rationalisierung noch eine Bürokratisierung- in dem von Max Weber erläuterten Sinn- werden dieses Problem durch den Bau einer leeren mechanischen Einheit beseitigen. Deshalb soll die Chimäre einer Kunstsprache Platz für den Dialog der Sprachen schaffen, in dem es allein möglich ist, den Wert einer jeden Einzelsprache zu entdecken- denn "man kann in jeder Sprache alles sagen." 181 Diese Einsicht hilft, der Versuchung zu widerstehen, den Anderen die in der eigenen Sprache sedimentierte Welt aufzuzwingen, als ob diese die Welt schlechthin wäre. Der Dialog ist der Weg, um die Verschiedenheit in einer kulturell reicheren Einheit zu bewahren. Die Sprachen Europas sprechen gegen die monologische Einheit und bezeugen das Modell einer Einheit, die sich in Differenzen artikuliert. Wegen der ihr von Anfang an innewohnenden Exzentrizität, die sie auf den Dialog verweist, hat die europäische Ökumene diese differierende, diffe-
Die Vielfalt der Sprache und das Verstehen der Welt, GW 8, 339-349. GA DAMJ.:R, Die Vielfalt der Sprache und das Verstehen der Welt, GW 8, 340. GA DA MJ·:R, Europa und die Oikoumcnc, GW 10,270.
17'1 GADAMER, IRO tKt
214
renz1erte und dczcntricrtc Einheit durch ihre Geschichte hindurch erleben mussen. Gerade hier liegt für Gadamcr die Aktualität Europas, das eine "wahre Schule" des Miteinanderlebens - auf engerem Raum - verschiedener Völker, Kulturen, Religionen und Konfessionen ist. 182 Infolge der Erschütterungen und Traumata, durch die es Jahrhunderte lang gezeichnet worden ist, wurde Europa das Privileg und die Aufgabe zuteil, den Anderen in seinem Anderssein achten zu lernen. 183 In seinem Aufsatz Die Vielfalt Europas. Erbe und Zukunft spricht Gadamer nicht nur über den Anderen, sondern auch über das Andere: Es ist das Du, das verlangen kann, respektiert zu werden, aber es ist auch das Andere, das "zunächst als das Andere begegnet", das heißt in jenem Anderssein, das etwa die Natur für uns ist. 184 Der Vorzug, den Anderen bzw. das Andere zu respektieren, ist das, was Europa heute bedeutsam, vielsagend und vielversprechend macht. Diese häufig mißachtete Aufgabe stellt sich in ihrer Universalität dringlicher denn je. Gadamer gewinnt daraus die Überzeugung, daß die europäische Frage mit der "Zukunft der Menschheit im ganzen" zu tun hat. 185 Denn "mit dem Anderen leben, als der Andere des Anderen leben": darin besteht seit langem Europas Aufgabe. 186 Es handelt sich um eine zugleich "ethische" und "politische" Aufgabe, die sich sowohl dem Einzelnen als auch den Völkern und Staaten stellt. In diesem Sinn nimmt Europa die Zukunft der globalisierten Welt vorweg. Und das "neue Babel" beansprucht in seiner Produktivität, daß die Freiräume des menschlichen Miteinanders nicht nur geachtet, sondern auch erlebt werden- dies um so mehr dort, wo die Fremdheit deutlicher hervortritt. 187 Gadamers Betonung des Anderen, des Fremden und Verschiedenen schwächt jedoch keineswegs seine Forderung ab, das Gemeinsame aufzubauen. Wenn es auch wahr ist, daß wir im Anderen uns selbst begegnen und zwar vor allem in dem, was uns von dem Anderen unterscheidet, so müssen wir doch an dem Anderen und mit dem Anderen auch das Gemeinsame anerkennen. 188 Die Forderung insistiert insofern vor allem darauf, die Teilhabe am Gemeinsamen zu festigen und für eine gemeinsame Zukunft zu sorgen. 189 Die Frage nach Europa GADAMER, Die Vielfalt Europas. Erbe und Zukunft (1985), in: Das Erbe Europas, 7-34, hier 31. Vgl. DA MIR BARBARIC, Zur Sprachauffassung Hans-Georg Gadamers, in: Internationale Zeitschrift für Philosophie 2/1996, 227-235, hier 231 f. 183 GADAMER, Die Vielfalt Europas. Erbe und Zukunft Erbe Europas, 30. 1114 GADAMER, Die Vielfalt Europas. Erbe und Zukunft Erbe Europas, 28 f. 185 GADAMER, Die Vielfalt Europas. Erbe und Zukunft Erbe Europas, 31; vgl. auch Europa und die Oikoumene, GW 10,271. 186 GADAMER, Die Vielfalt Europas. Erbe und Zukunft Erbe Europas, 30. 187 Vgl. GADAMER, Die Vielfalt der Sprachen und das Verstehen der Welt, GW 8, 348. 188 Vgl. GADAMER, "Bürger zweier Welten" (1985), in: Das Erbe Europas, 106-125, hier 124 f. 189 GADAMER, Die anthropologischen Grundlagen der Freiheit des Menschen (1987), in: Das Erbe Europas, 126-135, hier 135. 182
10.
J),,. Vt·n, J,,,.",."",." elrr ,\'/'''"''''" "",/ ,,,,. lulom/t '""'/'•''
215
und sl·inl'l" Zukunh ist d.um mi1 dt•r Fr.a~c n.u:h dl·r rin~lidlkt:it l'inl·r lll'lll'll ( ;l'llll'insrh;tft cn~ vt.·rknüpft. l>it.·sc letztere ist deshalb einl' so komplizil'l'll' 1:ra~c, Wl·il die europäische Identität heute mehr denn je eine mit sich seihst nicht identische Identität ist. Doch gerade die kreative Erfahrung der Fremdheit, die gewissermaHen das Eigene der exzentrischen Identität Europas ausmacht, bietet eine letzte Zukunftschance, und zwar schon von den europäischen Peripherien und Rändern ausgehend, die zugleich Orte des Scheiteros aber auch Grenzen sind, an denen sich ebenso viele Horizonte erschließen. Die neue Gemeinschaft, die sich vor dem Hintergrund Europas abzeichnet, wird sich deshalb nicht auf ein leeres und abstraktes Allgemeines berufen können- schon für Hegel haben die Europäer als Prinzip und Charakter das "konkrete Allgemeine". Sie wird vielmehr die Differenz postulieren müssen, die Teil des europäischen Erbes ist, jene Differenz, die Europa eine Selbstidentität untersagt und es gezwungen hat, sich immer wieder in der Differenz von sich zu gestalten. Das Erbe Europas verspricht von hier aus eine Zukunft, in welcher die Kultur des Selbst in der Pluralität der Differenzen auch zu einer Kultur des Anderen wird. Doch was stellt das Erbe Europas für Gadamer dar? Das Erbe Europas ist für ihn wie ein Kunstwerk, ein "gelungener Versuch der Einigung von Auseinanderfallendem", ein zwischen der Gefahr des "Vergangenheitscharakters" und der Öffnung zur Utopie schwebendes Kunstwerk, es ist die unmögliche Möglichkeit, jeweils eine Welt im Einklang eines Miteinanders wiederaufzubauen, sie in der Poesie und in der Kunst neu zu schaffen, selbst unter den Trümmern des Prosaischen. 190 Unter diesen Trümmern- den Trümmern Europas, vor allem aber Deutschlands - ist der Wiederaufbau besonders der Philosophie anvertraut: Die Zukunft Europas, so Gadamer, fügt sich in die Zukunft der Philosophie ein. Dabei sind die Lehrer, die Gadamer für das Europa der Zukunft empfiehlt, keineswegs zeitgenössische Philosophen, sondern es sind Platon und Hcgcl: der Dichter-Philosoph und der schwäbische Professor, der das Wort der Philosophie aus der europäischen Vergangenheit aufgenommen und ihm so universellen Widerhall verschafft hat. 191
1'10 GADAM ER,
Ende der Kunst? Von Hegels Lehre vom Vergangenheitscharakter der Kunsthis zur Antikunst von heute, in: Das Erbe Europas, 65 und 74; auch in GW 8, 208 und 21 J. l'll V~ I. CA nA M I~R. Von Lehrenden und Lernenden, in: Das Erbe Europas, 158-165, hier
tt,.\ -1{1~.
216
11. Paul Cclan. Zwischen Gedicht und Gespräch Doch für die philosophische Hermeneutik gibt es bereits einen Ort, an dem man mit dem Anderen als dem Anderen des Anderen leben kann. Dieser Ort ist die Dichtung. Wie soll aber das Gespräch mit der Einmaligkeit der Dichtung in Einklang kommen? Auf die Idee eines Gesprächs des Gedichts kommt Gadamer nach der Begegnung mit Paul Celan, der vielleicht der bedeutendste Dichter auf seinem Denkweg gewesen ist. Wer bin Ich und wer bist Du? ist der Titel des kleinen Buches, das er 1967 Celans Gedichtszyklus "Atemkristall" gewidmet hat. Zu diesem Buch- das Heidegger noch höher schätzte als Wahrheit und Methode- sind später einige Aufsätze hinzugekommen, die jetzt in der 1990 veröffentlichten Sammlung Gedicht und Gespräch enthalten sind. 192 Aber Wer bin ich und wer bist Du? ist zugleich auch das am meisten kritisierte Buch Gadamers. Und diese Kritiken sind zum größten Teil auch durchaus gerechtfertigt. Denn Gadamer gliedert Celan nicht in die jüdische Tradition ein und nimmt ihn letzten Endes nicht für das, was er ist und sein will: der Dichter der Shoah. Man muß allerdings auch betonen, daß sein Buch, das eines der ersten über Celan ist, in einer Zeit veröffentlicht wurde, in der diesertrotzder Verleihung des Büchnerpreises 1960 in Deutschland alles andere als anerkannt war. Es stimmt übrigens auch, daß er Celan als Kronzeugen des hermeneutischen Dialogs wählt und damit die von dessen Dichtung eröffnete Frage "wer bin ich und wer bist du?" universell macht. Mehrmals erwähnt Gadamer den Namen Celans- auch in einem autobiographischen Zusammenhang. Insbesondere ruft er ihn aber deshalb in Erinnerung, weil ihm die dichterische Sprache Celans und die philosophische Sprache Hegels in ihrer Polarität gestatten, die Beziehung zwischen Philosophie und Poesie einzusehen. 193 Dieses Thema behandelt er in dem Aufsatz Philosophie und Poesie von 1977. Im Abstand zur Alltagssprache ist, Gadamer zufolge, die Nähe von Poesie und Philosophie zu betrachten, die sich ihrerseits jedoch in zwei Extreme spalten: die Extreme eines Wortes, das sich selbst vor dem Begriff aufhebt und eines Wortes, das in sich selbst steht. 194 In der alltäglichen, selbstvergessenen Sprache geht das Wort in das Gesagte über bzw. vergeht es am Unsagbaren. In der dichterischen Sprache dagegen steht das Wort "in sich da" und
Vgl. HANS-GEORG GADAMER, Im Schatten des Nihilismus. Was muß der Leser wissen? (1990), in: GADAMER, Gedicht und Gespräch. Essays, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1990, 91-114, auch in GW 9, 367-382; vgl. GADAMER, Phänomenologischer und semantischer Zugang zu Celan? (1991), GW 9, 461-469; Verstummen die Dichter? {1970), GW 9, 362-364; Sinn und Sinnverhüllung bei Paul Celan (1975), GW 9, 452-460. 193 Vgl. GADAMER, Selbstdarstellung, GW 2, 493. 194 Vgl. GADAMER, Philosophie und Poesie (1977), GW 8, 232-239, hier 232-234; Dil' Idee der Hegeischen Logik, GW 3, 83. 192
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liehe Antworten erfragt; LI.\S Gedicht ist im aussagenden Wort unendlich, dessen Sinn eine unerschöpfliche Vcrtikalität hat. 215 Noch vor jedem dialogischen Geschehen stiftet das dichterische Wort in seiner Universalität Gemeinschaft. Das Gedicht ist der "Refrain der Seele", ja es ist der Refrain, in welchem Ich und Du entdecken, "dieselbe Seele" zu sein, worin sie also einstimmen, das heißt mit dem ganzen Gesang mitgehen, zu dem das Gedicht einlädt. 216 Das Gedicht erweist sich derart als konstitutiv dialogisch. Auf die Frage "Wer bin ich und wer bist du?" antwortet es dadurch, daß es die Frage selbst offenhält, denn diese läßt keine endgültige Antwort zu. Vielmehr macht die Frage als Frage bereits ihre eigene Antwort aus. 217 Zu fragen "wer bin ich und wer bist du?" ist demnach eine Art, der Andere des Anderen zu sein.
12. Das Ritual und die Reziprozität der Sprache In der Kunst zu verweilen bedeutet schauen bzw. teilnehmen. Dies verweist auf eine Nähe von Kunst, Fest und Sprache, die das Paradigma des Spiels in der letzten Phase von Gadamers Philosophie immer deutlicher hervortreten läßt. Das Spiel trägt dazu bei, nicht nur Kunst, Fest und Sprache zu klären, sondern wirft Licht auch auf das Ritual, jenes ebenso unvordenkliche wie ungreifbare Phänomen der menschlichen Existenz, dessen Formenvielfalt und Relevanz für Gadamer weit über das hinausgeht, was man bisher von ihm wahrgenommen hatte. Dem Ritual ist der wichtige Aufsatz von 1992 Zur Phänomenologie von Ritual und Sprache gewidmet. 218 Gadamer korrigiert sich hier selbst, indem er einräumt, sein Augenmerk bisher zu sehr auf die Sprache und zu wenig auf die "Lebenswelt" gerichtet zu haben, in der man der Handlung nicht weniger als dem Wort begegnet. Diese Kursänderung bringt ihn an die Grenze zum "Vorsprachlichen", wo der bereits des öfteren angekündigte Vergleich zwischen Tiersprache und Menschensprache stattfindet. Nicht ohne Schwierigkeit läßt sich in Bezug auf das Verhalten der Tiere und die Weisen ihres Verstehens von "Ritual" sprechen, weil die Handlung hier von der Natur vorgeschrieben wird. Daher sind diese Verhaltensweisen natürlich und spezifisch, das heißt sie variieren je nach der Art. Bei den Menschen GADAMER, Von der Wahrheit des Wortes, GW 8, 37 f.; Wie weit schreibt Sprache das Denken vor?, GW 2, 206. 216 GADAMER, Hölderlin und George (1971), GW 9, 229-244, hier 241; vgl. auch Gedicht und Gespräch, 337-338, 344. 217 Vgl. GADAMER, Wer bin Ich und wer bist Du?, 39. 218 GADAMER, Zur Phänomenologie von Ritual und Sprache, GW 8, 400-440. Vgl. RICHARD E. PALMER, Gadamcr's Recent Work on Language and Philosophy: on "Zur Phänomenologie von Ritual und Sprache", in: Continental Philosophy Review 33 (2000), 381393; vgl. PA t.M ER, Ritual, Rightness, and Truth in Two Latc Works of Hans-Gcorg Gadarncr, in: l...:w 1s E. II A lfN (Hrsg.), Thc Philosophy of Hans-Georg Gadamer 1997, 529-547. 215
221
variiert hingegen dl·r sozi;ll vcriinderte Ritus innerllillh dl·rsclben Art; Riten nehmen verschiedenarti~e J:orml'll in verschiedenen Kulturen an. Wo liegt also der spezifische Unterschied? Wo ist die Grenze zwischen Tierischem und Menschlichem? Man könnte sich die Antwort leicht machen, indem man die Kantische Trennung zwischen natürlicher Bedingtheit und Freiheit wieder aufnimmt oder die alten Dualismen von Natur und Geist wiederbelebt. Im Gegensatz zur gewöhnlichen Auffassung ist dafür durchaus nicht Aristoteles verantwortlich; eher muß man umgekehrt zur Klärung dieser Frage von Aristoteles und seiner Definition der Seele als entelechia des Körpers neu ausgehen. Deshalb führt Gadamer die Unterscheidung zwischen Mitsamt und Miteinander ein, die nur eine logische Unterscheidung ist; ontologisch gesehen ist das eine mit dem anderen aber intensiv verflochten. 219 Trotz der Verbindung des "Mit" liegt der Unterschied zwischen "-samt" und ,,-einander", zwischen einem bloßen Zusammen-sein und einem Zusammen-sein, in der Reziprozität, in der Gegenseitigkeit. Dennoch ist diese Grenze flüssig und das Mitsamt trägt das Miteinander auf dem Untergrund seiner naturhaften Bestimmtheit. Das menschliche Verhalten kommt daher nie zu einer völligen Loslösung von den Triebkräften der Natur, und es ist wohl das Ineinander von Mitsamt und Miteinander, in dem man das Spezifische des Menschen zu sehen hat. Die Ritualität vollzieht sich in den Lebensformen, die das Mitsamt eröffnet, und nur insofern nimmt sie am Miteinander der Sprache teil. Anders gesagt: Der Ritus gehört zum Sprechen, ist aber noch nicht wirklich Sprechen, sondern vielmehr Handeln, während das Sprechen dort, wo es in die Ritualität übergeht, zum Handeln wird. Von hier aus läßt sich das besondere Kennzeichen der menschlichen Sprache besser erfassen, das in dem gemeinsamen Zug von Zeigen und Nennen ans Licht kommt, das heißt in dem Abstand, den jeder Sprecher gegenüber dem, was hier und jetzt ist, ebenso wie gegenüber sich selbst einnimmt, und der auf eine Sinnrichtung hinweist, die zwar nicht bewiesen werden kann, aber schon die Öffnung eines neuen Raumes für sich und den Anderen ist. Es ist dies der Ort, an dem sich die Weltgemeinschaft artikuliert. Das ändert jedoch nichts daran, daß das Sprechen den Charakter eines Rituals hat und daher an Riten teilhat. Dies zeigt sich etwa in den Höflichkeitsformeln der verschiedenen Sprachen, aber auch in der Teilnahme an einer Kultuszeremonie oder der Feier eines Festes, wo die Ritualität dominiert und die Sprache sich ihr gewissermaßen beugt. Denn der Spielraum ist hier begrenzt und jeder spielt die Rolle, die ihm aufgegeben ist. Es handelt sich also um ein Spiel, das aber anders als das Spiel des Gesprächs ist. Das rituelle Spiel, das zwar immer noch sprachlich ist, wird in dem Mitsamt der Kollektivität gespielt, das sprachliche Spiel, das 7.war immer noch rituell ist, hingegen im Miteinander der Gemeinschaft. Der Unterschied besteht auch hierin: Das Mitsamt ist der Beitritt zu einer li'J V~l. (;All/\ M I•:K,
Zur Plüinomcnologic von Ritual und Sprache, GW 8, 407-419.
222 Kollektivität, das Miteinander ist die Aufforderung, in der reziproken Gemeinschaft des Gesprächs das Wort zu ergreifen. In Bezug auf diese Reziprozität knüpft Gadamer an den platonischen Begriff der methexis an, um auf das hinzuweisen, was nicht nur ein Geteiltsein, sondern eine Gemeinsamkeit von Teilnahme und Anteilnahme ist. Das Miteinander der Sprache, in dem es weder ein erstes noch ein letztes Wort gibt, entfaltet sich aus dem einzigen "Voraussetzungslosen", das hier bleibt- Gadamer nennt es mit Platon erneut hikan6n- das heißt aus dem gemeinsamen Wort, zu dem und in dem die Sprecher übereinkommen, um das Gespräch jeweils wieder anzufangen.220 Und die Teilnahme wird nicht nur im unendlichen Spiel von Frage und Antwort gespielt, sondern auch in der verbindenden Gemeinschaft der Sprache und weiterhin in der allgemeinen sprachlichen Verfaßtheit des menschlichen Lebens.
GADAMER, Zur Phänomenologie von Ritual und Sprache, GW 8, 405. Vgl. PLATON, Phaidon, tOte 1. 220
IX. Kapitel
Hermeneutik als Philosophie Die Philosophie ist niemals in der wirklichen Notwendigkeit, ihre Existenzberechtigung zu beweisen, da auch der, der sie bestreitet, in der Reflexionsbewegung begriffen ist, die man Philosophie nennt. 1 Ich wagte nur nicht, das anspruchsvolle Wort "Philosophie" für mich zu gebrauchen, und versuchte es nur attributiv zu verwenden. 2
1. Die Kinder und die Zukunft der Philosophie Welche Rolle spielt die Philosophie heute? Was wird ihre Zukunft sein? Wer ist der Philosoph im Zeitalter der Technik? Diese Fragen sind Gadamer immer häufiger, vor allem in seinen letzten Jahren, gestellt worden. Denn viele haben in ihm den letzten Philosophen gesehen, mit dem ein großes Jahrhundert zu Ende ging. Gadamer war sich der Notwendigkeit bewußt, die Philosophie rechtfertigen zu müssen und hat in zahlreichen Aufsätzen und Interviews geantwortet. Dabei hat er auch deutlich gemacht, wie die Hermeneutik als Philosophie verstanden werden soll. Im Gegensatz zu anderen hat Gadamer nie an das "Ende" der Philosophie geglaubt. Allerdings ist unleugbar, daß das Zeitalter der Wissenschaft und der Technik zutiefst anti-philosophisch ist. Mittlerweile ist es normal geworden zu fragen, wozu die Philosophie überhaupt nützlich sei. Überallläßt sich feststellen, daß die Philosophie in Verruf geraten ist. Wir leben in einem Zeitalter, das die Philosophie zu den theologischen Relikten einer überwundenen Vergangenheit rechnen möchte oder gar nichts so sehr der geheimen und unbewußten Interessenabhängigkeit verdächtigt wie das Ideal der reinen Theorie und der Erkenntnis um der Erkenntnis willen. 3 1
HANS-GEORG GADAMER, Die Idee des Guten zwischen Plato und Aristoteles, GW 7,
223.
z GADAMER, Die Hermeneutik und die Dilthey-Schule, GW 10, 199. GADAMER, Über die Naturanlage des Menschen zur Philosophie (1971}, in: Vernunft im Zeitalter der Wissenschaft, 110-124, hier 110. 3
224
I.'tigt, ist sic.· sdwn Philosophic.·:1 Sobald also die Wissenschaft, um sich zu legitimieren, von ihrer formalisierten Terminologie zur alltäglichen Sprache und zu deren Netz von Sprachspielen zurückgeht, zeigt sie nicht nur, daß sie eine Begründung braucht, sondern legitimiert auch die Philosophie und die Flucht in die Logoi, deren Unabdingbarkeit von Platon bis Hegelaufgewiesen wurde. Sicherlich wird niemand glauben, daß die Philosophie die Rolle, die sie in der Vergangenheit innehatte, wiedererlangen und das gesamte Wissen zu einem einheitlichen Bild zusammenfügen könnte. Dennoch ist Gadamer davon überzeugt, daß die Philosophie sich weiterhin in die Arbeit der Wissenschaften einmischen und beim technisch rationalisierten Leben ansetzen müsse. Dabei darf sie aber der Kunst nicht zu nahe rücken, auch wenn die großen Schriftsteller des 19. Jahrhunderts- es genügt, den Namen Dostojewskijs zu erwähnen- sich eine philosophische Aufgabe gestellt haben. 10 Denn Philosophie ist nicht nur "Lebensausdruck", sie darf sich der Anstrengung des Begriffs nicht entziehen. Auch im Zeitalter der Wissenschaft kann man ohne Philosophie nicht auskommen, weil sie offenkundig nicht nur eine Phase auf dem Weg des Menschen ist. In Anlehnung an Kant vertritt Gadamer die These, daß Philosophie eine "Naturanlage des Menschen" sei. 11 Sie kommt und geht nicht- sie geht nicht zu Ende. Sie ist ein Charakterzug, der den Menschen ebenso auszeichnet wie sein Wissen um den Tod. Philosophie ist nichts anderes als dieses Denken eines Jenseits.12 Das "Jenseits" ist schon im Namen der Meta-Physik enthalten. Es war Sokrates, der zuerst auf diese Richtung hingewiesen und der Philosophie den Wert verliehen hat, den sie noch heute hat. Denn er hat sie unter die Menschen gebracht und sie von der Erforschung der Natur zu einem ruhelosen, unermüdlichen Gespräch über das Wissen von sich selbst umgewandelt, das stets auch ein Nicht-Wissen ist. Genau dies ist auch der Wert, auf den die Hermeneutik als Philosophie zielt. Da sie eine Naturanlage ist, kann die Philosophie kein Beruf sein. Hierin liegt ihre Schwäche, die aber zugleich auch ihre Stärke ist. Was wäre denn ein Berufsphilosoph? Es ist eine Illusion zu glauben, daß es einen Experten geben könne, der Fragen stellen und die dafür angemessenen Antworten finden kann. Der Philosophieprofessor ist durchaus nicht unbedingt weiser als die anderen, Philosophie oder Wissenschaftstheorie?, 138-139. Wissenschaft und Philosophie, 24; vgl. Über die Naturanlage des Menlchcn 7.ur Philosophie, 118 f. 11 IM MAN u E 1. K A NT, Prolegomena zu einer jeden künftigen Metaphysik, die als WissenIehilft wird auftreten können, in Wcrkausgabe, Band V, hrsg. von Wilhelm Weischedel, flri\nkfurt ;\111 M11in: Suhrkamp 197N, A 48, 141. 11 Cil\lli\MFIAMER, Die Aktualität des Schönen, GW 36 GA OA M ER, Die Erfahrung des Todes, GW 4, 293. 17
V~l.
in dil·scm Band Kap. 111, 9; Kap. VI, 3.
8, 137.
234
Hermeneutisch-Sein bedeutet Außer-Sic:h-Sein. Schon die Kultur hat sich als jener Abstand von sich selbst erwiesen, der dazu bringt, sich mit dem Blick des Anderen zu sehen. 38 Durch alle Erfahrungen, die hiermit verbunden sind, zeichnet sich eine hingebungsvolle Aufmerksamkeit bzw. eine aufmerksame Hingabe ab, mit der die Hermeneutik schließlich zusammenfällt. Es ist dies die Wachsamkeit, die für sie an die Stelle des Bewußtseins der philosophischen Tradition einrückt. 39 Nur wenn man aufmerksam und wachsam ist, kann man für den Schritt über sich hinaus und aus sich heraus bereit sein. Dieser Schritt erfordert deshalb eine Abwendung von sich selbst, die auch ein Vergessen seiner selbst ist. Paradoxerweise bedeutet das Vergessen seiner selbst hier geradezu wach und wachsam zu sein. Denn nur wenn man sich von sich entfernt, um sich zum Anderen hinzuneigen, und sich dem Anderen ganz zuzuwenden, ist man völlig von ihm hingerissen, und eingenommen- und erst dann ist man wirklich bei sich. Bei sich bleiben, sich in sich selbst zurückziehen, bedeutet dagegen, nicht mehr bei sich zu sein. Denn auch die Sorge um sich selbst ist nichts anderes als die Sorge um den Anderen.40 Das Leben, das sich in sich selbst verschließt und an der Grenze stehen bleibt, ist dasjenige Leben, das über sich selbst nicht mehr hinausgehen kann. Außer-Sich-Sein, Beim-Anderen-Verweilen, ist daher eine Art zu sagen, daß man am Leben ist. Das Modell der vollen Selbstpräsenz und der vollkommenen Selbsttransparenz, das dem griechischen Begriff nous oder dem modernen Begriff der idealen Subjektivität entspricht, enthüllt in der Hermeneutik seine ganze Exzentrizität. Denn ln-Sich-Sein bedeutet Außer-Sich-Sein, das heißt Im-Anderen-Sein. Um bei sich zu sein, muß man beim Anderen sein und braucht man den Anderen. Das Über ist hier als Anderes zu lesen. Weit davon entfernt, eine Askese der Grenze zu sein, ist die Hermeneutik eine Theorie der ekstatischen Versunkenheit im Anderen. Die Instanz des Über übersetzt sich in den Übergang über die Grenze hinaus zum Anderen.
6. Die Grenze, die der Andere ist Das Neue, das die Hermeneutik, vor allem Heidegger gegenüber, einführt, ist die Auffassung der Grenze als Anderer. Obwohl ständig wiederholt wird, daß das Sein bei Heidegger immer ein Mitsein ist, bleibt das Dasein in seiner Geworfenheit doch absolut allein. Hier fehlt der Andere und die Grenze erweist sich als eine unübersteigbare Wand. Wenn das Dasein über sich hinausgeht, geht Vgl. in diesem Band Kap. II, 2. Vgl. in diesem Band Kap. V, 5. 40 GADAMER, Leben und Seele, in: Die Verborgenheit der Gesundheit, 176-188, insb. 183-184. 38 39
2.1~
cr unendliche Dialog Was ist aber dieses Unendliche? Und wie kann überhaupt die Frage nach dem Unendlichen mit der unüberwindbaren Endlichkeit dessen, der die Frage stellt, in Verbindung gebracht werden? Gibt es einen Weg, der der Philosophie diese Verbindung von Endlichem und Unendlichem zeigen und sie dabei auch befestigen könnte? Für die Hermeneutik ist dieser Weg- wie Gadamer nicht müde wird zu wiederholen- der Weg der Sprache. 45 Es ist wohl wahr, daß die Sprache die Spur unserer Endlichkeit ist. Wenn es das Wort nicht gäbe, das die Endlichkeit ursprünglich eröffnet, dann gäbe es auch keine Endlichkeit. Dies bedeutet aber, daß die Sprache gerade insofern endlich ist, als sie offen ist. Die vom Wort eröffnete Endlichkeit ist die einer "Mitte", wie die Öffnung eines Mundes, der zu sprechen beginnt. All unser Verstehen, unser Sprechen und unser Existieren liegt in dieser Offenheit, inmitten des Werdens der Geschichte und der Sprache. Es ist in der Alltäglichkeit der Stunde, daß sowohl die Endlichkeit jedes gesprochenen und jedes verstandenen Wortes als auch die Endlichkeit des Sprechers, der sich auf das Wort verlassen muß, erfahren wird. So entsteht das ungestillte und unstillbare Bedürfnis nach einem anderen Wort, das dem Ungesagten und dem Unverstandenen jeweils eine Stimme verleiht. Dies ist aber nur deshalb möglich, weil das Wort in seiner endlichen Anwesenheit die abwesende Unendlichkeit des Sich-Sagens und SichSagenlassens evoziert. 46 Die Grenze eines jeden Wortes ist daher stets der Anfang eines unendlich Neucn. Denn jedes Wort fragt nach einem anderen Wort -in einem unendlichen Dialog. Wenn der Andere die Möglichkeit zur Überschreitung der Endlichkeit ist, so geschieht dies aufgrund seines Wortes, das aufgenommen, angenommen und - unter dem Geheimnis einer differierenden Identität- wiederholt zum gemeinsamen Wort wird. Die Endlichkeit ist hierbei überschritten, es ist schon im Wort des Anderen über sich hinaus, da dieses Wort auch in seiner Endlichkeit den Zugang zum Unendlichen des Dialogs aufschließt. In diesem Sinn ist der Andere nicht nur Grenze. Denn der Übergang zum Unendlichen ist nur mit dem Anderen möglich, in der Begegnung und in der Teilnahme an der Begegnung. Das endliche Wort, das schon immer gemeinsam ist, da es der Mitte, dem gemeinsamen Mittelpunkt entspringt, ist die eröffnende Grenze, die den Spielraum des Anderen, mit dem Anderen, das Unendliche des Dialogs initiiert. Wie der griechische Terminusmeson suggeriert, ist das, was im Mittelpunkt, in der Offenheit der Begegnung liegt, auch das GeVgl. GADAMER, Wahrheit und Methode, GW 1, 460-463; Die Natur der Sache und die Sprache der Dinge (1960), GW 2, 66-76, hier 71; Das Erbe Hegels, GW 4, 480. 46 Vgl. in diesem Band Kap. VIII, 4; vgl. Gadamer, Wie weit schreibt Sprache das Denken vor?, GW 2, 206. 45
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2.l7
mt·ins.tml'. d.ts m itc.·i n.uuh·r ~t·tt·ih wird. Wie.· srhon ~c.·:tc.·i~l, m·mll ( iAMI'R,
238 liehen Seelen, welche die Sophia gewählt und geliebt haben. Denn die Götter, die auf dem Himmelsgewölbe zurückgeblieben sind, und dort weiterhin das Wahre anschauen, philosophieren nicht. Mit diesem Mythos beschreibt Platon den Weg der Philosophie, der ein nur menschlicher Weg zwischen Himmel und Erde ist. Die Hermeneutik folgt ihm und situiert sich deshalb in der Mitte zwischen dem Einen und der Zweiheit, dem Endlichen und dem Unendlichen. Obwohl sie um ihre Endlichkeit weiß, verzichtet sie nicht auf das Unendliche. Und sie liefert sich der Offenheit einer aporetischen Dialektik aus, in der sie, sofern sie das erste Wort nicht gesagt hat, auch nicht beansprucht, das letzte zu sagen.
X. Kapitel
Den Dialog fortsetzen Man muß den Andern zu verstehen suchen - und das heißt, daß man darauf gefaßt sein muß, daß man selber im Unrecht ist. 1 Ein schlechter Hermeneutiker, der sich einbildet, er könnte oder müßte das letzte Wort behalten. 2
1. Wenn eine Philosophie zur Koine wird Nach der Veröffentlichung von Wahrheit und Methode rückt die Hermeneutik schnell ins Rampenlicht der philosophischen Szene. Gadamers Werk, das schon bald als einer der wichtigsten Beiträge zur Philosophie des 20. Jahrhunderts anerkannt wird, findet große Resonanz, wie zahlreiche Rezensionen aus den sechziger Jahren belegen. 3 Der verbreitete Enthusiasmus, mit dem es nicht nur in 1
HANS-GEORG GADAMER, Frühromantik, Hermeneutik, Dekonstruktivismus (1987),
GW 10, 125-137, hier 130. GADAMER, Nachwort zur 3. Auflage, GW 2, 478. Vgl. HELMUT KuHN, Wahrheit und geschichtliches Verstehen. Bemerkungen zu HansGeorg Gadamers philosophischer Hermeneutik, in: Historische Zeitschrift 193/2 {1961), 376-389; JosEPH MöLLER, Wahrheit und Methode, in: Theologische Quartalsschrift 5 (1961), 467-471; HELMUT ÜGIERMANN, Wahrheit und Methode, in: Scholastik 27 (1961), fOJ-406; ÜSKAR BECKER, Zur Fragwürdigkeit der Transzendierung der ästhetischen Dimension der Kunst, in: Philosophische Rundschau 10 (1962), 225-238; ALPHONSE DE WAEHLENS, Sur une hermeneutique de 1'hermeneutique, in: Revue philosophique de Louvain 60 {1962), 573-591; HEINZ KIMMERLE, Hermeneutische Theorie oder ontologische Hermeneutik, in: Zeitschrift für Theologie und Kirche 59 (1962), 114-130; KARL-ÜTTO APEL, Wahrheit und Methode, in: Hegel-Studien 2 (1963), 314-322; WALTER HELLEBRAND, Der Zeitbogen, in: Archiv für Rechts- und Sozialphilosophie 49 (1963), 57-76; ÜTTO PöGOILER, Wahrheit und Methode, in: Philosophischer Literaturanzeiger 1 (1963), 6-16; FRANZ WIEACKER, Notizen zur Rechtshistorischen Hermeneutik, in: Nachrichten der Akademie der Wissenschaften zu Göttingen 1963, 1-22; joHANNES LOHMANN, Wahrheit und Methode, in: Gnomon 37 (1965), 709-718; KLAUS DocKHORN, Hans-Georg Gadamer: Wahrheit und Methode, in: Göttingsche Gelehrte Anzeigen, 218 (1966), 169-206; HELMUT OcnERMANN, Wahrheit und Methode (Zweite Auflage), in: Theologie und Philosophie 14 (1966), 450-451. Besondere Resonanz hat die kritische Rezension von Pannenberg gehabt, 2
3
240 Europ;t, sondc.·rn i\uch in Anu.·rika •tuf~cnommen wird, tif~t sein Potential erahnen, d;ts wc.·it über den Horizont der Philosophie hinausgeht. Doch die Vc:ri>ffentlichung von Wahrheit und Methode, das für Gadamer selbst noch ein work in progress war, markiert auch den Anfang der komplexen Wirkungsgeschichte der Hermeneutik. Auf die Probe gestellt wird sie demonstrieren, dag sie sich durch die Fokussierung der eigenen Position jeweils anders verstehen kann. Der Erfolg der Hermeneutik ist zum größten Teil ihrer Flexibilität sowie ihrer Bereitschaft zuzuschreiben, sich auch mit den schärfsten Kritiken und den härtesten Angriffen auseinanderzusetzen. Deshalb sind alle Versuche, ihre Gültigkeit in Abrede zu stellen, selbst dort, wo sie tatsächlich problematische Kernpunkte treffen, zu keinem Ergebnis gelangt und schnell in Vergessenheit geraten. Exemplarisch ist der Fall des italienischen Juristen Emilio Betti (1890-1968). Seine Allgemeine Theorie der Interpretation, die eigentlich die Entwicklung der Disziplin bis zu Dilthey aufgreift, will die Hermeneutik als eine normative Kunstlehre bestätigen, die Regeln und Prinzipien liefern könne, um die Objektivität der Methode zu garantieren. 4 Von der Philologie bis zur Historik, von der Theologie bis zur juristischen Praxis, überall wäre demnach eine allgemeingültige Interpretation unabdingbar. Daraus ist Bettis Polemik gegen Bultmann und Heidegger entstanden: Beide würden nämlich die Objektivität der Hermeneutik insofern beeinträchtigen, als sie das Verstehen als Existenzbestimmung auffassen. Seine vehemente Attacke gegen Gadamer ist nur eine Konsequenz dieser Kritik. Ihm wirft Betti vor, er habe aus den Vorurteilen die "Bedingung" des Verstehens gemacht und durch seine Anwendungstheorie die objektive "Bedeutung" der Texte mit ihrer "Bedeutsamkeit" für den Interpreten verwechselt; dadurch werde das eigentliche Ziel, und zwar die Festlegung des Textsinnes, wie die mens auctoris ihn gemeint hat, verfehlt. Doch für Gadamer bietet diese allgemeine Theorie der Interpretation a~ Ende keine Hermeneutik an, die eine positive Objektivität garantieren könnte. Im Vorwort zur zweiten Auflage von Wahrheit und Methode, die 1965 erscheint, verteidigt er daher seine eigene Hermeneutik, die weder eine Methode noch eine Methodenreflexion leisten wollte. Der technischen Frage: "Wie sollten wir verstehen?" gehe nämlich schon immer die philosophische Frage voran: "Wie ist Verstehen möglich?" 5 dem zufolge Gadamer in eine hegelianische Perspektive zurückfallen würde: vgl. WoLFHART PANNENBERG, Hermeneutik und Universalgeschichte, Zeitschrift für Theologie und Kirche 60 (1963), 90-121, wieder abgedruckt in: HANS-GEORG GADAMER/GoTTFRIED BoEHM Die Hermeneutik und die Wissenschaften, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1978, 283-319. 4 Vgl. EMILIO BETTI, Allgemeine Auslegungslehre als Methodik der Geisteswissenschaften, Tübingen: Mohr 1967. 1962 veröffentlicht Betti, in offener Polemik gegen Gadamer, auf deutsch eine Zusammenfassung seiner Theorie: EMILIO BETTI, Die Hermeneutik als allgemeine Methodik der Geisteswissenschaften, Tübingen: Mohr 1962. 5 Vgl. GADAMER, Vorwort zur 2. Auflage, GW 2, 438 f.
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241
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ERIC D. HIRSCH, Prinzipien der Interpretation, München: Fink 1972. HIRSCH, Prinzipien der Interpretation, 311. Vgl. CHRISTOPHER E. ARTHUR, Gadamer and Hirsch: The Canonical Work and the lnterpreter's Intention, in: Cultural Hermeneuries 4 (1977), 183-197. H GA l>A M ER, Vorwort zur 2. Auflage, GW 2, 441. 6
7
242 nicht zuletzt auch dl·r lf.liiWhmrtu.lrn philosophischen Vokation unJ philosophischen Dichte der hutrltlnitit·~ vcnl~nkt. Eines der interessantesten Er~ehnisse der Hermeneutik in diesem Bereich stellt die "Konstanzer Schule" dar, die von Hans Robert Jauß {1921-1997) mit seiner "Rezeptionsästhetik" initiiert wurdc.9 Schon in seinem berühmten Aufsatz von 1967, Literaturgeschichte als Provokation der Literaturwissenschaft, beruft sich Jauß auf Gadamers "Wirkungsgeschichte", um die These zu formulieren, daß die Literaturgeschichtsschreibung aus der Interaktion von Werk und Leser entspringe und nach dem dialogischen Modell verfaßt werden solle. 10 Das literarische Werk ist demnach kein geschichtliches Faktum, sondern ein Ereignis, das der "Rezeption" bedarf, um zu seiner wahren Existenz zu gelangen. Dieses neue hermeneutische Paradigma hindert Jauß jedoch nicht daran, kritische Einwände gegen Gadamer zu erheben - der wichtigste betrifft den Begriff des "Klassischen" 11- und sich dementsprechend von dessen Hermeneutik abzugrenzen. So führt er etwa aus, daß der Text unseren "Erwartungshorizont" bestimme, und danach auch den weiteren Lektüreprozeß kontrolliere. Für Gadamer hingegen beschränkt sich der Text darauf, einen Anstoß zu geben; ansonsten müßte man ihn als eine transhistorische Struktur betrachten. Es ist nicht der Text, der die Veränderung des Horizonts kontrolliert, sondern umgekehrt ist das Ereignis des Verstehens die unkontrollierbare Art, in der sich der Horizont verändert. Zur "Konstanzer Schule" gehört auch Wolfgang Iser {1926-2007), der in Anlehnung an die phänomenologische Ästhetik Roman Ingardens {1893- 1970) eine Phänomenologie des Lesens entworfen hat. 12 Nicht zu unterschätzen ist Gadamers Einfluß auf die Musikwissenschaft, besonders auf Carl Dahlhaus (1928-1989), der als der bedeutendste Musikwissenschaftler der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts betrachtet werden kann. In seinen zahlreichen Schriften hat Dahlhaus sich immer wieder auf Gadamer bezogen und viele hermeneutische Thesen in seiner Musikkonzeption weiterentwickelt; nur der Zeitabstand wird von ihm anders aufgefaßt, da die Tönung der Vergangenheit zum konstitutiven Moment der Aufführung werden soll. Während die ersten kritische Einwände gegen Wahrheit und Methode von der inneren Front kamen, und zwar vor allem aus denjenigen, die für eine Rückkehr zur traditionellen Hermeneutik plädierten, ließen aber auch von außen
Vgl. HANS RoBERT jAuss, Ästhetische Erfahrung und literarische Hermeneutik, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1982. 10 Vgl. HANS RoBERT jAuss, Literaturgeschichte als Provokation der Literaturwissenschaft, in: RAINER WARNING (Hrsg.), Rezeptionsästhetik, München: Fink 4 1994, 126-162. 11 Vgl. in diesem Band Kap. V, 5. 12 Vgl. WoLFGANG lsER, Der Akt des Lesens. Theorie ästhetischer Wirkung, München: Fink 1976. Vgl. NICHOLAS DAVEY, Art's Enigma: Adorno, Gadamer and Iser on Interpretation, in: MIRKO WISCHKEIMICHEL HoFER (Hrsg.), Gadamer verstehen/Understanding Gadamcr 2003, 232-247. 9
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260
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auf verschiedenen Pfaden, un;thtücsi~ auf die griechische Philosophie zurück. Dies spiegelt sich auch in den Themen wider, die sie miteinander teilen. Es genügt, an die Bedeutung der Kunst, vor aJlem der Literatur und der Dichtung, zu denken. 111 Nichtsdestoweniger stellen Hermeneutik und Dekonstruktion unterschiedliche philosophische Optionen dar und verlangen dementsprechend, daß auch dieser Unterschied erhellt wird. Darum hat die im nordamerikanischen Kontext der achziger Jahre aufgeworfene Frage nichts von ihrer Aktualität eingebüßt: Wie hermeneutisch ist die Dekonstruktion und wie dekonstruktivistisch ist die Hermeneutik? Was ihre beiden Protagonisten betrifft, so scheint es, als hätte die Debatte zunächst tiefere Spuren im Denken Gadamers hinterlassen, der Derridas Herausforderung annimmt und dabei seine Position in mehreren Essays verändert und präzisiert: Destruktion und Dekonstruktion von 1985, Frühromantik, Hermeneutik, Dekonstruktion von 1987, Dekonstruktion und Hermeneutik von 1988, Hermeneutik auf der Spur von 1994. 82 Damit drückt er deutlich aus, wie ernst er diese Debatte nimmt und bekundet vor allem seine Hochschätzung für den französischen Philosophen. In Derrida wird er einen der bedeutendsten Namen anerkennen, dem er nach der Veröffentlichung von Wahrheit und Methode begegnet ist: Als ich im Jahre 1960 meinen eigenen Entwurf einer hermeneutischen Philosophie vorgelegt hatte und mich wieder in der Welt umzusehen begann, stieß ich neben den Arbeiten des späteren Wittgenstein auf zwei für mich wichtige Dinge. Einerseits lernte ich Paul ~elan kennen, in dessen Spätwerk ich mich zu vertiefen begann. Andererseits fiel mir in der Festschrift für Beaufret Derridas Aufsatz ,Ousia et Gramme' in die Hände und dessen darauffolgende Bücher vo~ 1967, die ich alsbald studierte. 83
Derrida setzt sich seinerseits nur gelegentlich mit der Hermeneutik auseinander, und wenn, dann vor allem um die Differenz seiner Dekonstruktion zu ihr hervorzuheben. 84 Aber ein Jahr nach dem Tod Gadamers, am 15. Februar 2003, hält er in Heid~lberg die Gedenkrede: Der ununterbrochene Dialog: zwischen zwei Unendlichkeiten, das Gedicht. 85 Von jener "merkwürdigen Unterbrechung" damals in Paris her nimmt er den "ununterbrochenen Dialog", jenes "Anrennen" und "Anstürmen" zwischen zwei Widdern, wieder auf, und deutet Ausführlicher über dieses Thema in meinem Aufsatz: DoNATELLA D1 CESARE, Stars and Constellations. The Difference between Gadamer and Derrida, in: Research in Phenomenology 34 (2004) 73-102. 82 GADAMER, Destruktion und Dekonstruktion, GW 2, 361-372; Frühromantik, Hermeneutik und Dekonstruktivismus, GW 10, 125-137; Dekonstruktion und Hermeneutik GW 10, 138-147; Hermeneutik auf der Spur, GW 10, 148-174. 83 GADAMER, Dekonstruktion und Hermeneutik, GW 10, 149. 84 Zur "Differenz" bei Derrida vgl. RoooLPHE GASCHE, Inventions of Difference. On Jacques Derrida, Cambridge (Mass.): Harvard University Press 1994. 85 jACQUES DERRIDA, Der ununterbrochene Dialog: zwischen zwei Unendlichkeiten, das Gedicht, 7-50. 81
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daht.·i ;tllf den hulen des ( ;t·did1ts hin, Jas sie Vl'rhundl·n h.u. Er beherbeq~t das Wort .. l>ia)o~" in seinem Wortschatz, um eint· unvorher~eschene Interpretation anzukündi~en: Jene "unwahrscheinliche Debatte" sei im Gegensatz dazu, was die meisten geglaubt haben, "gelungen"- und zwar gerade dank der Unterbrechung, die kein "Urmißverständnis" gewesen sei, sondern "eine Epoche, die den Atem anhält, das Urteil zurückhält und sich die Schlußfolgerung zurückbehält". Deshalb habe sie ihre lebendige und provozierende Spur hinterlassen, der noch eine größere Zukunft beschieden sei. 86 Indem er den ununterbrochenen Dialog wiederaufnimmt, wirft Derrida das Thema der "Unterbrechung" erneut auf, das bereits in der Pariser Begegnung aufgetaucht, danach aber in den Schatten geraten war. Er zeigt, wenn auch nur andeutungsweise, weniger in der sprichwörtlichen Entgegensetzung von Mündlichkeit und Schriftlichkeit als vielmehr in der Frage des Verstehens jenes Motiv an, das die Debatte geleitet habe und das nach wie vor Distanz und Nähe beider Philosophien beleuchten könne. Denn im Verstehen sind die Einheit, mit der die Hermeneutik ansetzt, und die Differenz, von der die Dekonstruktion ausgeht, deutlich umrissen. Als Gadamer in Paris den Eröffnungsvortrag hielt, der anschließend unter dem Titel Text und Interpretation veröffentlicht wurde, schien er sich durch seine Auffassung des "Textes" bewußt von der französischen Philosophie im allgemeinen und von der Dekonstruktion im besonderen abzuheben. 87 Er vertrat die Notwendigkeit, dem Text wieder Stimme zu geben, um dessen "Sinneinheit" herauszustellen und ihn wieder auf das Gespräch, dem er entsprungen ist, zurückzuführen. 88 Seine unbestreitbaren Rückfälle in die "Sprache der Metaphysik"- so redet Gadamer beispielsweise noch von der "Aufgabe des Verstehens" -trugen dazu bei, daß seine Ausführungen für Derridas Ohren wie eine ärgerliche Provokation klingen mußten. Den Gipfel erreicht Gadamer, als er vom "guten Willen, einander zu verstehen" spricht und mit diesen Worten die Diskussion auslöst. 89 Es überrascht nicht, daß Derrida am nächsten Tag mit drei kurzen Fragen erwidert, welche die gesamte Hermeneutik ins Visier nehmen und auf ein einziges Ziel hinauslaufen. Hinter der Bemühung der Hermeneutik, den Anderen zu
DERRIDA, Der ununterbrochene Dialog, 8-9. GADAMER, Text und Interpretation, GW 2, 330-360. Vgl. in diesem Band Kap. VIII, 2. 88 GADAMER, Text und Interpretation, GW 2, 353. 119 GADAMER, Text und Interpretation GW 2, 343; ursprünglich abgedruckt in: PHILIPPE FoRGET (Hrsg.), Text und Interpretation, 24-55, hier 38. Es gilt hier hervorzuheben, daß dieser Ausdruck im gesamten Korpus von Gadamers Schriften nur dieses einzige Mal vorkommt. Was in der Diskussion aber vernachlässigt bleibt, ist unter anderem der Begriff des "Textes", der von Gadamer und Derrida unterschiedlich interpretiert wird, da Gadamer von der Einheit des Textes ausgeht. Was Derrida im Visier hat, ist eben diese vorausgesetzte Einheit. Dazu vgl. RoooLPHE GASCHE, The Tain of the Mirror, Cambridge (Mass.): Harvard Univcrsity Press 1989, hier 278-280. 86
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verstehen, hinter ihrem ,.Appell t\ll den guten Willen", vcrbcq~c sich Nictzschcs "Wille zur Macht".'J0 Schon mit seiner ersten frage bezichtigt er die Hermeneutik des Rückfalls in die Metaphysik. Der WilJc zum Verstehen, der jeder konkreten Interaktion zwischen den Sprechern vorausgeht, weist für Derrida die Züge eines ethischen Axioms auf, das ihn Gadamers guten Willen zum Verstehen mit dem "guten Willen" Kants gleichsetzen läßt. Wird aber der gute Wille zum Verstehen, der so axiomatisch und bedingungslos wie der "absolute Wert" des kantischen Willens sei, nicht zu einer Neuauflage der metaphysischen "Subjektivität", die nach dem von Heidegger genährten Verdacht die Beherrschung des Seins fortsetzt? Mit seiner zweiten Frage zieht Derrida die Psychoanalyse hinzu, die zwar ein Grenz-Fall sei, aber dennoch paradigmatisch das Aufgeben des "guten Willens" und so auch ·das Scheitern des "lebendigen Gesprächs" bezeuge. Schon Habermas hatte in der Psychoanalyse eine problematische Grenze erkannt und Zweifel daran geäußert, daß sie in eine allgemeine Hermeneutik integriert werden könne. Derrida betont nun seinerseits, daß der psychoanalytische Diskurs selbst den weiten interpretativen Kontext, den Gadamer vorschlägt, explodieren lasse und insofern eine derart produktive Interpretation erfordere, die zuerst eines Bruchs bedürfe. Um diesen Begriff des Bruchs oder besser der Unterbrechung dreht sich die dritte, philosophisch entscheidende Frage. Zur Diskussion steht hier das, was Gadamer "Verstehen" nennt. Man muß sich nämlich fragen- so Derrida- ob die Bedingung des Verstehens nicht weniger die grenzenlose Bereitschaft zum Gespräch, der kontinuierliche Bezug zum Anderen, als vielmehr der "Bruch des Bezugs ist, der Bruch als Bezug gewissermaßen, eine Aufhebung aller Vermittlung".91 Über das hermeneutische Gespräch bricht damit der Verdacht der Dekonstruktion herein, die sich demgegenüber als Alternative anzubieten scheint, weil sie die Unterbrechung bevorzugt, die Uneinigkeit hütet, die Differenz und die unaneigenbare Andersheit des Anderen bewahrt, die Unmöglichkeit desVerstehensauf sich nimmt. Gadamer antwortet mit dem ebenso kurzen Beitrag Und dennoch Macht des guten Willens. 9~ Mit dem klassischen Argument gegen die Skeptiker läßt er zunächst die Widersprüchlichkeit der Position Derridas zutage treten.
Derridas letzter Beitrag in der Pariser Begegnung kreist um Nietzsche. Vgl. ]ACQUES DERRIDA, Guter Wille zur Macht (II). Die Unterschriften interpretieren (Nietzsche/Heidegger), in: PHILIPPE FoRGET {Hrsg.), Text und Interpretation, 62-77. Das Ziel seiner Polemik ist Heideggers Deutung, der zufolge Nietzsche der letzte Metaphysiker gewesen sei; für Derrida ist es umgekehrt Heidegger, der einer logozentrischen Metaphysik verhaftet bleibt, weil er sich weiterhin nach dem Sein und nach dem Sinn des Seins fragt und dabei verlangt, es in einem Logos festhalten zu können. 91 DERRIDA, Guter Wille zur Macht, in: PHILIPPE FoRGET (Hrsg.), Text und Interpretation, 56-58, hier 58. 92 GADAMER, Und dennoch: Macht des Guten Willens, in: PHILIPPE FoRGET (Hrsg.), Text und Interpretation, 59-61. 90
lrh h"hc.• Müht". die.· .111 mid1 t-\''"h•llh•n 1'1·14t4r11 ;r.u vc.·rstdu·11. Ahrr irh J.:c•/Jt' mit" MUI)(·, wie.· jc.·dc.•r lllt, der ,·iuc.·11 .wdl'll'll vt'l'llll'lum will udc.·r vuu dc.•m .wdc.•n·n vc.•rsl•mdcn wer-
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Diese .,Mühe" habe jl·doch nkhts mit der Metaphysik oder mit dem "guten Willen" Karns zu tun. Gadamer möchte sich vielmehr auf den platonischen Sokratcs berufen, der im Gorgias ausführt, es sei besser, widerlegt zu werden als zu widcrlcgen.94 Dieses Prinzip, in dem die Hermeneutik sich wiedererkennt, ist jedoch keine ethische Instanz. "Auch unmoralische Wesen bemühen sich, einander zu verstehen".95 Deshalb geht es hierbei um eine phänomenologische Feststellung, welche auf die alltägliche Praxis des Sprechens und Verstchens schaut. Wer den Mund öffnet um zu sprechen, möchte verstanden werden- es sei denn, er will etwas verbergen. Derrida und Nietzsche machen hiervon keine Ausnahme: Beide "reden und schreiben, um verstanden zu werden". 96 Dies soll aber keineswegs heißen, daß Nichtverstehen und Mißverstehen beseitigt werden könnten. Gadamer stimmt mit Derrida darin übe rein, daß es kein bruchloses Verstehen gibt. Und das psychoanalytische Gespräch, das nicht darauf zielt, das zu verstehen, was der Sprecher sagen will, sondern was er nicht sagen will, ist ein extremes Zeugnis für einen solchen Bruch. Wo ließe sich aber dann der Abstand zwischen Gadamer und Derrida auffinden, wenn er nicht in der von beiden eingeräumten Notwendigkeit der Unterbrechung liegt? Die Unterbrechung ist für die Hermeneutik nicht etwas Grundlegendes und Ursprüngliches, weil ihr das Präludium der Sprache immer vorangeht. Daher schreibt sich die Unterbrechung in die Konstellation der Sprache ein; sie ist die Differenz, die deren Einheit einritzt. Hier zeigt die Hermeneutik ihre Nähe zur Ideologiekritik.97 Ein noch größerer Abstand zur Dekonstruktion zeigt sich in der Auffassung des Bruchs. Selbst dort, wo der Bruch ausgeprägter und der Stoß heftiger ist, wie im Kunstwerk und vor allem im poetischen Text, nimmt die Hermeneutik diesen Stoß zwar auf, verstärkt ihn aber nicht, so wie sie auch den Bruch nicht vertieft. Eher verhält es sich umgekehrt: Für die Hermeneutik eröffnet die Unterbrechung das Gespräch, schließt es jeGADAMER, Und dennoch: Macht des Guten Willens, 59. PLATON, Gorgias, 458a. '~ 5 GADAMER, Und dennoch: Macht des Guten Willens, 59 [Hervorhebung von mir: DDC] w. GADAMER, Und dennoch: Macht des guten Willens, 61. Aber fragwürdig ist Gadamers Versuch, Derridas Ansatz auf Nietzsche zurückzuführen. Davor warnt Gasehe zurecht in: RoooLPH E GASCHE, Specters of Nietzsche, in: DANIEL 0. DAHLSTROM (Hrsg.), The Procecdings of thc Twentieth World Congress of Philosophy. Band 8. Contemporary PhiloHophy, Bowling Green: Philosophy Documentation Center 2000, 183-193. '17 Gadamer bezieht sich auf die "vorzügliche Derrida-Kritik" bei Habermas. Vgl. GADAM HR, Zwischen Phänomenologie und Dialektik. Versuch einer Selbstkritik, GW 2, 23. Vgl. JORICF.Nso, jAMES, Hermeneuries and the Disclousure of Truth. A Study in the Work of Heidegger, Gadamer and Ricoeur, Charlotteville: U niversity Press of Virginia 1990. l>UQUE, JoÄo MANUEL, Die Kunst als Ort immanenter Transzendenz. Zu einer fundamentaltheologischen Rezeption der Kunstphilosophie Hans-Georg Gadamers, Frankfurt am Main: Knecht 1997. EBERHARD, PHILIPPE, The Middle Voice in Gadamer's Hermeneutics, Tübingen: Mohr Siebeck 2004. FIGAL, GüNTER, Der Sinn des Verstehens. Beiträge zur hermeneutischen Philosophie, Stuttgart: Reclam 1996. FoRSYTH, AusoN, Gadamer, History and the Classics. Fugard, Marowitz, Berkoff and Harrison Rewrite the Theatre, New York u.a.: Peter Lang 2002. FosTER, MATTHEW, Gadamer and Practical Philosophy. The Hermeneutics of Moral Confidence, Atlanta: Scholar Press 1991. FRUCHON, PIERRE, L'hermeneutique de Gadamer. Platonisme et modernite, Paris: Les Editions du Cerf 1994. GALLAGHER, SHAUN, Hermeneutics and Education, Albany: SUNY 1994. GAMA, Luis EouARDO, Erfahrung, Erinnerung und Text. Über das Gespräch zwischen Gadamer und Hegel und die Grenzen zwischen Dialektik und Hermeneutik, Würzburg: Königshausen & Neumann 2006. . GERIGK, HoRsT-jÜRGEN, Unterwegs zur Interpretation. Hinweise zu einer Theorie der Literatur in Auseinandersetzung mit Gadamers Wahrheit und Methode, Hürtgenwald: Pressier 1989. GRONDIN, jEAN, Hermeneutische Wahrheit? Zum Wahrheitsbegriff Hans-Georg Gadamers (1982), zweite Auflage, Weinheim: Beiz-Athenäum 1994. GRONDIN, jEAN, Der Sinn für Hermeneutik, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1994. GRONDIN,jEAN, Hans-Georg Gadamer. Eine Biographie, Tübingen: Mohr Siebeck 1999. GRONDIN,jEAN, Einführung zu Gadamer, Tübingen: Mohr Siebeck (UTB) 2000.
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