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BEITRAGE ZUR GESCHICHTE UND QUELLENKUNDE DES MITTELALTERS
Herausgegeben von •
HORST FUHRMANN
BAND 16
JAN THORBECKE VERLAG SIGMA RINGEN 1994
FELICITAS SCHMIEDER
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DIE MONGOLEN IM URTEIL DES ABENDLANDES VOM 13. BIS IN DAS 15. JAHRHUNDERT
JAN THORBECKE VE RLAG SIGMA RINGEN 1994
Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme
Schmieder, Felicitas: Europa und die Fremden: die Mongolen im Urteil des Abendlandes vom 13. bis in das 15.Jahrhundert / Felicitas Schmieder. - Sigmaringen: Thorbecke, 1994 (Beiträge zur Geschichte und Quellenkunde des Mittel alters; Bd. 16) ISBN 3-7995-5716-4 NE: GT
GEDRUCKT MIT UNTERSTÜTZUNG DES FÖRDERUNGS- UND BEIHILFEFONDS WISSENSCHAFT DER VG WORT
© 1994 by Jan Thorbecke Verlag GmbH
& Co., Sigmaringen
Alle Rechte vorbehalten. Ohne schriftliche Genehmigung des Verlages ist es nicht gestattet, das Werk unter Verwendung mechanischer, elektronischer und anderer Systeme in irgendeiner Weise zu verarbeiten und zu verbreiten. Insbesondere vorbehalten sind die Rechte der Vervielfältigung - auch von Teilen des Werkes - auf photomechanischem oder ähnlichem Wege, der tontechnischen Wieder gabe, des Vortrags, der Funk- und Fernsehsendung, der Speicherung in Datenverarbeitungsanlagen, der Übersetzung und der literarischen oder anderweitigen Bearbeitung. Dieses Buch ist aus säurefreiem Papier hergestellt und entspricht den Frankfurter Forderungen zur Verwendung alterungsbeständiger Papiere für die Buchherstellung. Gesamtherstellung: M. Liehners Hofbuchdruckerei GmbH & Co. Verlagsanstalt, Sigmaringen Printed in Germany . ISBN 3-7995-5716-4
Inhalt
Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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I.Fragen und Ziele . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Abriß der Geschichte der mongolischen Reiche und ihrer Kontakte mit dem Abendland . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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9 22 •
11. Zu den Quellen und ihrer Rezeption durch die Zeitgenossen . . . . . .
43
1. Die Reiseberichte und ihre Verbreitung . . . . . . . . . . . . . . . . 2 . Verlorene und mündliche Berichte . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Die Rezeption der Informationen im Abendland . . . . . . . . . . .
44
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48 55
4. Individuelle Einflüsse auf Qualität, Umfang und Art der Darstellung der Mongolen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Abendländische Mongolenpolitik vom 13. bis ins 15. Jahrhundert
.. .
66 73
1.Feindselige Heiden aus dem Osten - die politische Einschätzung der Tartaren in den ersten Jahren nach dem »Sturm«
. . . . . . .. .
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2. Getaufte Alliierte oder Heidenbündnis ? - Die Atmosphäre der diplomatischen Kontakte zwischen Abendland und Mongolen in der
73
'/.
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2. Hälfte des 13. Jahrhunderts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Die Tartaren in den Kreuzzugsgutachten . ... . ... . . . .... .
109
4. Die Tartaren als Exemplum in der militärisch-politischen Propaganda . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
122
. . . . . . . . . ,
128
6. Der Umgang der abendländischen Kaufleute mit den Tartaren . . . ,
152
7. Die Tartaren als politischer Faktor im 14. Jahrhundert . . . . . . . . ,
172
8. Die Tartaren im politischen Kalkül westlicher Mächte im 15. Jahrhundert . . . . . . . .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
180
5. Praxis und Theorie der Mission unter den Tartaren
IV.Die Einordnung der Mongolen in das abendländische Wissen von der Welt . . . . . .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 1. Das Volk der Tartaren in den Augen des Abendlandes . . . . . . . . ,
89
t
198 201· 247
2. Die weltgeschichtliche Stellung und Aufgabe der Mongolen . .. . , a . Die mongolische Geschichte in der abendländischen Historio graphie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . , b. Die Bedeutung der Tartaren für die Endzeit . . . . . . . . . . . .
258,
3. Das geographische Weltbild unter dem Einfluß der Öffnung Asiens .
285
248
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V.Epilog: Abendländische Mongolenurteile im späten Mittelalter . . .. .
323
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ANHANGE I. Gesandtenaustausch zwischen den Ilkhanen von Persien und dem Abendland 1262-1308 (1322) .. .. .. . . . . . ... .... .. . ..
328
II.Brief des Papstes Johannes XXII. an die Kommune von Genua, t. 80, fol. 31lvl312r . .. . . . . . . .. . . . . . . . ... ASV.Reg.Va.
336
Abkürzungen . . . . . . .. .. . .. .. .. . .... . . ... . . . .
339
Handschriftenverzeichnis . ... .. . . .. . . .. . . . .... .. . . 346 Quellen- und Literaturverzeichnis a.Quellen
. . . .. . .... .
b. Literatur . .... .. .. ..
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349 372
Register der Namen von Personen, Völkern, geographischen Begriffen und Quellen( autoren) . . ... .... .. . ......... . . . . . . ... .. 381
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I
VOlwOrt
Die vorliegende Arbeit wurde 1991 in Frankfurt am Main als Dissertation angenommen. Zu besonderem Dank für die Anregung sowie vielfältige Gesprä che bin ich vor allem meinem Lehrer, Herrn Prof. Dr. Johannes Fried, verpflich tet; ebenso danke ich den Gutachtern, Herrn Prof. Dr. Heribert Müller, der mir viele wertvolle Hinweise gab, und Herrn Prof. Dr. Lothar Gall. Tiefe Dank barkeit und stilles Gedenken widme ich Frau Dr. Elsbet Orth, Frankfurt (t 16. 11. 1991), deren Ermutigung, Ansporn und Förderung mir von Beginn an auf dem Weg zum Abschluß dieser Arbeit eine entscheidende Hilfe waren. Ein Arbeit, die sich wie diese auf sehr zahlreiche Quellen aus den verschieden sten Gebieten stützt, ist auf vielfältige Hinweise und Kritik angewiesen. Unter den vielen Freunden und Kollegen, die meine Arbeit begleiteten und durch Hinweise und zahllose Diskussionen unterstützten und förderten, möchte ich schon vorab namentlich danken: Dr. Martin Bertram, Rom, Dr. Lorenz Bönin ger, München, Prof. Dr. Michael Borgolte, Berlin, Prof. Dr. Gunar Freibergs, Los Angeles, Dr. Patrick Gautier Dalche, Paris, Gundula Grebner, Frankfurt, Dr. Andrea von Hülsen, Göttingen, Dr. Reinhold Jandesek, Bamberg, Dr. Hans Heinrich Jansen, Frankfurt, Christian Kleinert MA, Frankfurt, Prof. Dr. Gert Melville, Münster, Priv. Doz. Dr. Folker Reichert, Heidelberg, Christiane Rode waldt MA, Berlin, Priv. Doz. Dr. Gerhard Rösch, Kiel, Michael Rothmann MA, Frankfurt, Prof. Dr. Brigide Schwarz, Hannover, Prof. Dr. Bernhard Töpfer, Berlin, Klaus Vogel MA, Göttingen, Dr. Gerrit Walther, Frankfurt, Dr. Char lotte Warnke, Wiesbaden. Ich habe versucht, alle Hilfen, die konkret in diese Arbeit eingeflossen sind, an Ort und Stelle zu vermerken. Besonderer Dank gilt darüber hinaus Herrn Prof. Dr. Arnold Esch und dem Deutschen Historischen Institut in Rom, die mir ein dreimonatiges Stipendium ebendort ermöglicht haben; ebenso fühle ich mich Herrn Prof. Dr. Horst Fuhrmann, München, verpflichtet, der die Arbeit kritisch geprüft und in die Reihe »Beiträge zur Geschichte und Quellenkunde des Mittelalters« aufgenommen hat. Der Fachbe reich Geschichtswissenschaften der Johann Wolfgang Goethe-Universität zeich nete die Dissertation im Sommer 1992 mit dem Sperlpreis zur Förderung der Geisteswissenschaften aus; die Philosophische Promotionskommission belohnte die Mühe mit einem Druckkostenzuschuß: dafür habe ich zu danken. Ohne einzelne Namen nennen zu können, möchte ich auch die vielen Mitar beiter der Archive und Bibliotheken, die ich besucht habe, nicht vergessen: des Historischen Archivs der Stadt Köln, des Archivio Segreto Vaticano, der Biblio teca Apostolica Vaticana, der Biblioteca Marciana, Venedig, der Biblioteca Augu-
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VORWORT
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sta, Perugia, der Bibliotheque Nationale in Paris, der Staatsbibliotheken in Bamberg und München. Die freundliche Genehmigung, Abbildungen aus Manu skripten ihrer Bestände zu Drucken, erteilten die Biblioteca Estense, Modena, die Biblioteca Nazionale, Florenz, die Biblioteca Marciana, Venedig, die Biblioteca Apostolica Vaticana, Rom, die Bibliotheque Nationale, Paris, die British Library, London, das Corpus Christi College, Cambridge, die Österreichische National bibliothek, Wien und das Rheinisches Bildarchiv, Köln.Schließlich hätte das Buch kaum in dieser Form erscheinen können ohne die Bemühungen des Verla ges, insbesondere des Lektors Thomas Theise, und ohne die großzügige Druck kostenbeihilfe der V G WORT, München: auch dafür möchte ich meinen Dank aussprechen.
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I. Fragen und Ziele
Verum est quod quando pr imo sunt de montibus egressi omnes bestias comedebant, sed modo nonnisi bonas et sanas,
quia in multis cor rexerunt mores suos, quos in montibus habuer ant turpes, e t s u n t m o d o h o m i ne s c o m m u ne s. »Es ist wahr, daß sie, als sie zuerst aus den Bergen hervorkamen, alle Tiere aßen, doch bald nur noch gute und reine, weil sie in vielem ihre schändlichen Sitten, nach denen sie in den Bergen lebten, verbessert haben, und sie sind [nun] ganz normale Menschen« 1: So beurteilt ein Abendländer, der italienische Chronist Jacopo d'Ac qui, vor 1330 die Mongolen. Der Entwicklungs- und Lernprozeß, den Jacopo hier bei ihnen zu beobachten glaubt, hat zu einem erheblichen Teil bei den Abendlän dern selbst stattgefunden. Sie haben die Mongolen - oder Tartaren, wie sie sie meist
nennen2 -, seit diese »aus den Bergen hervorkamen« \ das heißt ins Blickfeld des
Abendlandes getreten sind, kennengelernt. Das Wissen über das fremdartige Volk hat sich verändert, deshalb hat sich das Urteil gewandelt, und die Mongolen können in der zitierten Weise ins abendländische Welt- und Menschenbild eingeordnet werden: Sie erscheinen nun, anders als zu Beginn, als »nolmale Menschen«.
.
Diese Entwicklung im Wissen und Urteil über die Mongolen ist Teil größerer Veränderungen im abendländischen Wissen von der Welt, die - mit der Kreuz zugszeit beginnend -letztlich das traditionell mittelalterliche Weltbild zu dem der »Moderne« wandeln 4. Aufgrund bestimmter Eigenschaften nehmen konkrete, persönliche und geistige Auseinandersetzungen des Westens mit den Mongolen nicht nur in einigen wichtigen Bereichen maßgeblichen Einfluß auf die genannten Veränderungen, sondern eignen sich auch besonders zur exemplarischen Beob achtung, Darstellung und Erklärung mancher Aspekte dieses Wandlungs- und Lernprozesses durch den Historiker. 1 ]acopo d'Acqui, Imago mundi, bis 1330, Sp.1558 (Hervorh. F. S.). 2 Zur mittelalterlichen abendländischen Benennung, die den asiatischen Volksnamen »Tatar« durch Assoziation umformte, S. 22/3. Ich bleibe beim zeitgenössischen Begriff, auch wenn die moderne wissenschaftliche Literatur meist von» Tataren« spricht. Die mittelalterlichen MongolenlTartaren sind mit dem modernen Volk der Tataren nicht identisch; vgl. auch S.212, N.77. 3 Die Vorstellung hat geographische und heilsgeschichtliche Implikationen, vgl. unten S. 285ff. u.258ff. 4 P. KLETLER, Die Gestaltung des geographischen Weltbildes unter dem Einfluß der Kreuzzüge, in: MIÖG 70 (1962) 294-322. Empirisches Forschen wird anhand der Mongolen eingeübt: dazu FRIED, Suche; auch HAMANN, Wissenschaftsgeschichtliche Bedeutung; TELLENBACH, Frühgeschichte. - Zur weltgeschichtlichen Bedeutung historischer und gegenwärtiger Beschäftigung mit dem Orientbild Peter G.BrETENHoLZ, Pietro della Valle (1586-1652), BaselJStuttgart 1962, 1 H.
10
I. FRAGEN UND ZIELE
Warum und unter welchen Bedingungen kommt es nun zu diesen Wandlungen im abendländischen Weltbild, wie können sie aussehen, und welchen Platz nimmt das Kennenlernen und Beurteilen der Mongolen darin ein? »Mongolen« bezieht sich dabei auf das Volk wie auf die von diesem beherrschten Gebiete als Objekte der Beurteilung durch das Abendland. »Abendland« meint den Bereich des mittelalterlichen Europa, der durch die gemeinsame Wissenschaftssprache Latein eine kulturelle Einheit bildete 5, den lateinischen Westen also im Gegensatz zu Byzanz und zum Orient. Nicht eingeschlossen sind dementsprechend auch die religiös und kulturell von Byzanz geprägten Gebiete Osteuropas. Diese Ausgrenzung ist im Falle der Betrachtung des Mongolenbildes noch zusätzlich dadurch gerechtfertigt, daß zum Beispiel der Raum des Großfürstenturns Moskau und der von ihm dominierten Teilfürstentü mer fast im gesamten späten Mittelalter unter direkter Herrschaft der Mongolen stand und damit notgedrungen eine qualitativ völlig andere Beziehung zu ihnen entwickelte als der Westen Europas6• In einer Übergangs situation befanden sich die Länder am Ostrand des Abendlandes (Polen, Ungarn, Großlitauen etc.), die während der fraglichen Zeit zwar »frei« blieben, aber immer wieder unter mongolischen Einfällen zu leiden hatten. Der Einfluß dieser Lage auf das abendländische Tartarenbild wird zu berücksichtigen sein 7. Seit dem 12. Jahrhundert überschreiten - zunächst im Rahmen der Kreuzzüge die Abendländer in größerer Zahl und höherer Intensität als in den Jahrhunderten davor die Grenzen ihres Kulturkreises. Sie kommen dabei notgedrungen mit fremder, hier der muslimischen, Kultur in Berührung, mit der sie sich zunächst kriegerisch auseinandersetzen. Dadurch aber, daß sie sich im Heiligen Land dann auch ansiedeln, entwickeln sie eine dauerhafte »Kulturbeziehung« 8 zur ansässigen orientalischen (nicht nur muslimischen) Bevölkerung und beginnen, sich mit fremden Völkern auseinanderzusetzen 9. Anders als frühere derartige Kulturbe5 Grundsätzliche Überlegungen zur Frage der Einheit einer westeuropäischen Kultur z. B. bei Denis HAY, Europe: The Emergence of an Idea, Edinburgh 1957; W.K.FERGUSON, The Church in a Changing World: A Contribution to the Interpretation of the Renaissance, in: AHR 59 (1954) 1-18: Danach kann man vom 14.-16.Jh. als einer Periode in der gesamteuropäischen Kultur sprechen. 6 Allein schon, daß die russische Geschichte eine »mongolische Periode« kennt, zeigt den grundsätz lichen Unterschied zu Westeuropa. - Zum Selbstverständnis der Abendländer gegenüber Rußland, zur besonderen Stellung Rußlands außerhalb von Europa bis mindestens Mi. 15.Jh. E. KLUG, Das »Asiatische Rußland«. Über die Entstehung eines europäischen Voruneils, in: HZ 245 (1987) 265-89. 7 Zusätzlich werden einige Quellen aus dem Bereich vorderorientalischer Christen, speziell aus dem Königreich Kleinallllenien, wegen ihres großen Einflusses auf das abendländische Mongolenbild herangezogen, deren lokale Bedingtheit ebenfalls zu berücksichtigen ist (bes. unten S. 114ff. Haython; '!- S. R. BOASE [Ed.], The Cilician Kingdom of Allnenia, NYork 1978; anders Großannenien: Edouard DULAURIER, Les Mongois d'apres les historiens armeniens, in: JA 5. sero 16 [1860]273-322). 8 Zu dieser Kategorie kultureller Kontakte BnTERLI, unten N. 12. 9 Zur Entwicklung des abendländischen Bildes vom fremden Menschen Henri BAUDET, Paradise on Eanh. Some Thoughts on European Images of Non-European Man, trans!. E. Wentholt, N.Haven! London 1965; FeEpe FERNANDEZ-ARMESTO, Before Columbus. Exploration and Colonisation from
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GESCHICH TE DER M O N G O L I S C H E N R E I C H E
ziehungen bleibt diese nicht auf Randbereiche des Abendlandes beschränkt, sondern schließt personell und in ihren geistig-kulturellen Auswirkungen das ganze Abendland ein 10. Die Europäer wollen nicht von den Muslimen lernen oder ihre Kultur akzeptieren, doch ungewollt und unbemerkt kommt es beim Zusam 1 menleben zum Austausch, zu »kulturellem Lernen« \ zur Veränderung des überkommenen Wissens. Zur gleichen Zeit, als die Abendländer sich im Umgang mit fremder Kultur üben, entsteht fern im östlichen Zentralasien vom Westen unbemerkt der Kern einer Macht, die zu Beginn des 13. Jahrhunderts innerhalb weniger Jahrzehnte halb Asien zu einem einzigen Machtgebilde vereinigt und schließlich den Ein zugsbereich des Abendlandes erreicht. Zwar verlaufen auch in diesem Fall die ersten Kontakte der Abendländer mit dem fremden Volk gewalttätig, doch bald entwickeln sich neben vereinzelten »Kulturberührungen« auch im Kontakt mit 12. den Mongolen auf Dauerhaftigkeit angelegte »Kulturbeziehungen« Die Tarta ren verhalten sich zwar christlichen Völkern gegenüber feindselig, selten aber gegenüber einzelnen Besuchern 13, und öffnen damit Kaufleuten und Missionaren den freien Zugang zu den riesigen Räumen Asiens. So entsteht bald auf abendlän discher Seite ein differenziertes Mongolenbild, das erlaubt, das fremde Volk und sein Land als erstrebenswertes Reiseziel zu betrachten oder sich dort sogar anzusiedeln. the Mediterranean to the Atlantic 1229-1492, Basingstoke/London 1987, u. unten S. 200, N.I0 ; F. GA GNON, La theme medievale de l'homme sauvage dans les premieres representations des Indiens d'Amerique,in: Aspects 82-103. 10 Nur wenige Beispiele evidenter Einflüsse seien genannt: neue orientalische Motive tauchen in der Dichtung auf, Karl der Große wird zum Kreuzfahrer nach Jerusalem, orientalische Sagenmotive, Prophetien (dazu S. 258 ff.) usw. dringen in die europäische Literatur ein. - Grenzbereiche zu anderen Kulturen wären die Iberische Halbinsel oder Sizilien. 11 Nicht in den Kreuzzügen selbst, sondern in den »Kulturkontaktsystemen«, zu denen sie unab sichtlich führen, beginnen die Abendländer zu lernen: Volker RI TTNER, Kulturkontakt und soziales Lernen im Mittelalter. Kreuzzüge im Licht einer mittelalterlichen Biographie,KölnIWien 1973,203, eine DarsteUung des Lernens anhand der Histoire de Saint Louis des Jean de Joinville, mit hervorra genden methodischen Vorbemerkungen. Besonderheiten der Kontakte im Heiligen Land: BI ETEN HOLZ, wie N.4,8. 12
Die Begriffe folgen den Definitionen von Urs BITTERLI, der sie an den wesentlich intensiveren und
vielfältigeren Kontakten der Abendländer mit fremden Völkern seit dem 16.Jh. gewinnt. Dennoch lassen sich einige davon durchaus auf das 12.-14.Jh. übertragen. Neben erster oder in weiten zeitlichen Abständen stattfindender »Kulturbecührung« kann es zwischen Abendländern und Fremden z�
dauerhaften »Kulturbeziehungen« kommen (Alte Welt - neue Welt. Formen des europäisch-übers�el sehen Kulturkontakts vom 15. bis zum 18.Jahrhundert, München 1986; die dort aufgeführte dntte FOIlIl des »Kulturzusammenstoßes« bezieht sich auf Eroberungen im Land der Fremden und kommt für die Kontakte mit den Mongolen kaum in Frage). Solche Beziehungen zu den Mongolen baue� z. B. Missionare und Kaufleute auf, die sich für immer oder doch für lange Zeit im Tartarenland me �r lassen. - BIHE RLI unterscheidet schon 1976 in: Die .. Wilden« und die »Zivilisierten«. Grundzuge
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einer Geistes- und Kulturgeschichte der europäisch-überseeischen Begegnung, München 19� 6, 161 ff. noch feiner. Der Begriff der »Kulturbeziehung. (1986) ist in »Kulturkontakt., .Akkulturat1on� und »Kulturverflechtung. untergliedert; die letzteren beiden Begriffe beschreiben Kontakte von großerer Intensität,als sie mit den Mongolen je zustande kamen. 13 Abendländische Erfahrungen unten S. 73 H.
12
1.
F R A G E N U ND Z I E L E
Einige der Gruppen, die schon der Aufbruch des 12. Jahrhunderts nach dem Orient in Bewegung gesetzt hat, werden zu Hauptträgern auch der Begegnungen mit den Mongolen 14. Westliche Kaufleute haben gerade begonnen, sich in der Levante zu etablieren, und erschließen nun ihrem Handel und ihrem Streben nach Gewinn den Schwarzmeerraum und zumindest für einige Zeit weite Gebiete Asiens, denn sie werden von den Mongolen besonders bereitwillig aufgenom men 15. Im frühen 13. Jahrhundert sind neue Mönchsorden entstanden, für die der Aufbruch und die Wanderschaft geradezu konstitutiv sind. Sie elwachsen aus der Bewegung ihrer Zeit und steigern ihrerseits wieder die Beweglichkeit, indem sie den Völkerkontakt - in seiner Qualität wie bei den Händlern durch ihre spezielle Aufgabe beeinflußt - als Missionare in die fernsten Weltgegenden tragen 16. Über die direkten Berührungen mit den Fremden hinaus wird für den zu untersuchen den Lernprozeß die Rückwirkung der Völkerbegegnungen auf die viel weiteren Kreise der nur mittelbar involvierten Abendländer besonders wichtig. Weil es auch ihnen gelingt zu lernen, weil sie sich Informationen verschaffen und sie in das abendländische Wissen von der Welt einordnen, verändert sich das Weltbild des Abendlandes nachhaltig 17. Gerade bei den ersten Mongolenreisenden zeigt sich, daß die Abendländer des 13.Jahrhunderts nur einen geringen Anstoß brauchen, um in die ferne Fremde zu reisen: Die Franziskaner, die 1245 in päpstlichem Auftrag nach Osten reisen, lassen sich von einem tartarischen Truppenführer zum anderen bis zum Groß khan nach Karakorum weiterschicken; die Brüder Polo weichen um 1260 auf Vorschlag eines Mongolen nach Osten aus, weil der Weg nach Westen versperrt ist l8• Zu solchem Handeln treibt die mutigen Reisenden unter anderem Gewinn streben, christlich-missionarisches Sendungsbewußtsein und auch politische Not14
Weniger wichtig für die Kontakte zu den Mongolen sind erobernde und siedelnde Kreuzfahrer
und Jerusalempilger; Angehörige beider Gruppen lernen aber im Heiligen Land und durch dessen Beziehungen zum persischen Mongolenreich Mongolen kennen. - Ausdruck der Beweglichkeit der Zeit ist z. B. die zunehmende Beliebtheit von Epen um fahrende Ritter, die oft in die Orient ziehen. 15 Kaufleute, so bemerkt Jean Froissart gegen Ende 14.Jh., sind überall willkommen, weil sie Gold und Silber und auch Handelswaren bringen: Xl S. 229; dazu unten S. 152 ff. 16 Vgl. S. 128ff. 17 Das Nachdenken der Daheimgebliebenen als Teil der Völkerbegegnung: J. OSTER HAMMEL, Distanzerfahrung. Darstellungsweisen des Fremden im 18. Jahrhundert, in: Der europäische Beobach ter, S. 9-42. Zur Verbreitung der Kenntnisse ausführlich unten S. 43 ff. 18 Milione c.IIl/IV(3/4) S. 4/5 (5-7); unten S. 167. - Dagegen verachtet im 14.Jh. der Marokkaner l b.n Battuta die Christen, rechnet ihre Herrscher nicht unter die sieben größten Herren der Welt (Ubers. GIBB S. 483; dazu H. MÖHRING, Konstantinopel und Rom im mittelalterlichen Weltbild der Muslime, in: Das geographische Weltbild um 1300, bes. 59-68): Vielleicht liegt darin, daß die Abendländer zwar auch die anderen geringschätzen, sie aber dennoch zunehmend kennenlernen wollen, eine Begründung dafür, warum sie und nicht z. B. die kulturell noch weit überlegenen Araber d,e ganze Welt vor allem kulturell erobert haben. Einige Uberlegungen bei Stephan SKALWEIT, Der Beginn der Neuzeit. Epochengrenze und Epochenbegriff, Darmstadt 1982, 50.
GESCHICHTE D E R MO NGO L I S C H E N R E I C H E
13
wendigkeit oder Machtstreben in verschiedenster Ausfonl1ung 1 9, die zweifellos wichtige Voraussetzungen für die Reisen und den daraus folgenden Lernprozeß sind. Noch mehr aber und in erster Linie zum Aufbruch in die zugänglich gewordene Welt und vor allem zu ihrer Erforschung werden die Abendländer von ihrer Neugier - oder weniger pejorativ: ihrem Wissensdurst - gedrängt 20. Welche Beweggründe auch immer im einzelnen für die Reisen und auch für die litera risch-wissenschaftliche Verarbeitung der Informationen im Westen zusammen kommen : Der Forscher bedarf vor allem einer nur auf die Freude an der Erkenntnis, am Wissen gerichteten Neugier. Damals wie heute fühlt er sich genötigt, diese Neugier vor der Umwelt zu rechtfertigen: Im Mittelalter ist das besonders problematisch, weil curiositas im menschlichen Denken und Handeln und in der Wissenschaft nicht als Wert anerkannt ist21• »Auch die Örtlichkeiten (Ioca), das heißt die Teile der Welt, gliedert man in drei Hauptteile, nämlich in Asien, Afrika und Europa, deren Grenzen zu beschreiben, wo sie beginnen und aufhören, ich eher für neugierig als für nützlich halte (maioris credo curiositatis quam utilitatis)« 22: mit dieser Formulierung qualifiziert 1288 der Kölner Domherr Alexander von Roes jeglichen Wunsch ab, Näheres über geographische Verhältnisse in Erfahrung zu bringen. Der Oxforder Franziskaner Roger Bacon - wegen seiner Überlegungen zum WeItende mit Mißtrauen betrachtet - führt dagegen um 1266/67 gewichtige Gründe an, um nicht bei seinem Plädoyer für eine möglichst exakte Erforschung der Welt, ihrer Gebiete und Völker in den Verdacht zu geraten, aus Neugier zu handeln. »Diese Kenntnis der Örtlichkeiten der Welt (cognitio locorum mundi) ist äußerst not wendig (valde necessaria) für die Gemeinschaft der Gläubigen, für die Bekehrung der Ungläubigen, um den Ungläubigen und dem Antichrist entgegenzutreten und 19 Politische Notwendigkeit besteht vor allem am Anfang, als der Westen noch nicht sicher ist, ob und wie man sich wird verteidigen müssen, vgl. S. 77/8 u. Zitat Plano Carpini unten 31/2. - Zu den Auswirkungen des militärischen, vorrangig aber geistlichen Machtstrebens im Sinne der päpstlichen Weltherrschaft unten 73ff. u. ö. 20 Manche Entdeckung ist deshalb vielleicht nicht »Ergebnis gelehrter Exploration, sondern einfa cher Neugier und des Zufalls« (HERDE, Geographisches Weltbild, 78), doch was wäre auch der moderne Forscher ohne seine gesunde, notwendige und weitgehend zweckfreie Neugier. Zudem sei bemerkt, daß auch die systematische gelehrte Erkundung bereits im 13. ]h. vorgekommen ist: unten S.199 u. 206 zum Fragenkatalog Papst Innocenz' IV.: FRIED, Suche, 287/89. Zum Problem Hans BLUME NBERG, Der Prozeß der theoretischen Neugier, Frankfurt a. M. 4. Aufl. 1988. Die Kirche warnt im gesamten Mittelalter die Christen, vor allem die Frauen, vor dem 21
Reisen, schickt aber auch viele Menschen auf den Weg: Das Positive überwiegt wohl, so ÜHLER, Reisen, 82; zur frühen Diskreditierung N. BROX, Zur Legitimität der Wißbegier (curiositas), in: Das antike Rom in Europa hg. v. Hans BUNGERT, Regensburg 1985, 33-52. Verbote weisen aber eher darauf, daß die Neugier auch dem mittelalterlichen Menschen sehr vertraut war. Jedenfalls sollte man nicht die Motive auch von Pilgern charakterisieren als »eine tiefe, noch mittelalterliche Religiosität, einen schon ganz und gar nicht mehr mittelalterlichen W issensdurst und eine nahezu neuzeitlich anmutende Neugier«: HIP PLER , Reise, 85. 22 Alexander v. Roes, Noticia seculi c. 4, S. 150. - Dagegen versteht sich sogar mancher Bericht von einer frommen Pilgerschaft im späten Mittelalter als Weltbeschreibung: RICHARD, Relations de pelerinages, 147.
•
14
I. FRAGEN UND ZIELE
für anderes.« Besonders Missionare bedürften genauer Kenntnisse der Welt, damit sie immer wüßten, unter was für einem Volk sie sich gerade befänden. »Wer schließlich die Örtlichkeiten der Welt nicht kennt, weiß nicht nur nicht, wohin er geht, sondern auch nicht, wohin er sich wenden soll, und deshalb muß er, ob er nun zur Bekehrung von Ungläubigen oder zur Erfüllung eines anderen Dienstes für die Kirche aufgebrochen ist, Riten und Lebensbedingungen (ritus et conditio nes) aller Völker kennen, damit er für ein bestimmtes Vorhaben den richtigen Ort aufsucht ... Zahlreiche der höchsten Aufgaben der Christen werden nämlich vereitelt, weil diese die Unterscheidungen der Regionen nicht kennen«23. Trotz der Notwendigkeit, edle Motive für die Forschungen anzugeben, heben aber manche Zeitgenossen doch ausdrücklich die Bedeutung hervor, die sie der Neugier dabei zuerkennen. Thomas von 5plit wendet sich, um Näheres über Natur und Habitus der Tartaren zu erfahren, an Leute, die diesen Verhältnissen »sehr neugierig (curiosius) nachgespürt haben«; Johannes von Marignolli beruft sich auf seine - wenngleich sündige - Neugier, um die Glaubwürdigkeit seiner Beobachtungen zu bekräftigen 24. Die welthistorische Konstellation ist im 13. Jahrhundert also ungemein günstig für den Aufbruch des Abendlandes nach Asien, der letztlich zur Eroberung der Welt führen wird. Die Mongolen öffnen die Weiten Asiens zu einem Zeitpunkt, da sich der Horizont relativ breiter Kreise im Westen bereits geweitet hat25• Die Abendländer bringen wirtschaftlich, religiös und mental die besten Voraussetzun gen mit, um die sich bietende Chance zu ergreifen und noch weiter dazuzulernen, sich weiter zu entwickeln. Ein beispielhafter Ausblick soll das erläutern. Im 13. Jahrhundert sind die Abendländer überzeugt, grundsätzlich die gesamte Welt aus der antiken, biblischen und literarischen26 Überlieferung zu kennen. 50 bedarf es geraumer Zeit und vieler Forschung, bis sich die Erkenntnis durchsetzt, daß man in Ostasien auch Neuland betritt, bis man lernt, zum Beispiel die neuen geographischen Informationen wissenschaftlich zu verarbeiten, die Weltbeschreibungen und -karten umzuschreiben beziehungsweise umzuzeich-
23 Roger Bacon, Op.Maius
I S. 301/2; zur Bedeutung der Weltkenntnis ab S. 287. Zu ihm und seinen
Zukunftsideen sowie zu Alexander unten S. 258ff. Zu frühen Begründungen des Nutzens der Tartaren-Forschung FRIED, Suche, 298 mit N. 53; umfassend zum Problem Christian K. ZACHER, Curiosity and Pilgrimage: The Literature of Discovery in 14th-Century England, Baltimore 1976; über die »guten Gründe«, die für Reise und Aufzeichnung angegeben werden, auch M. ZINK, Pourquoi raconter son voyage? Debuts et prologues d'une chronique de la croisade et de deux itineraires de Terre Sainte, in: Voyages, 237-54, bes.251. 24 Thomas S. 590, Z. 36/ 7 ; Joh. zit. unten S. 57 / 8; dort mehr zur Frage des Wissenwollens und auch -könnens. 25 JOHANEK, Weltbild, 99ff. Wie konkret das Wissen und vor allem das Verständnis für das Fremde gewesen ist, sei dahingestellt: Sicher jedoch ist das Bild des Orients z. B. in der Dichtung und damit auch bei ihrem Publikum reicher geworden. . 26 Besonders fiktive Dichtung: JOHANEK, Weltbild, 98/99.
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GE SCHICHTE D E R MO NG O L I SCHEN REI C H E
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nen27• Nur ein Ergebnis28 dieses Lernprozesses wird sein, daß im Jahre 1492 der Genuese Columbus mit der Ostasienbeschreibung des venezianischen Kaufmanns Marco Polo im Sinn nach Westen aufbricht, um in den Osten der Erde zu gelangen29• Er wird auch reisen in der erklärten Absicht, den Großkhan von Cathay (den Herrscher der Tartaren) als Herrn der indischen Inselwelt zu erreichen und ihm weise Männer zu bringen - solche hatte schon Kubilai Khan von den Polos erbeten 30. Columbus beschreitet, um A l t b ek a n n t e s zu errei chen, mit Vorbedacht einen n e u e n Weg, den der Florentiner Toscanelli nicht zuletzt aufgrund von Erkenntnissen der Ostasienreisenden im Voraus errechnet hat3!; daß er sich dabei verrechnete, spielt für das gewonnene Selbstbewußtsein, die Grenzen der Tradition überschreiten zu können, keine Rolle. Des Columbus Zeitgenossen sind darüber hinaus inzwischen darauf v o r b e r e i t e t, daß man auf einem neuen Weg auch g a n z N e u e s finden könne: und so helfen die asiatischen Erfahrungen bei der Einordnung der Neuen Welt. Dieses berühmte Beispiel wurde gewählt, weil an ihm besonders knapp und klar die weitreichenden Konsequenzen der Erforschung Asiens durch die Abendlän der verdeutlicht werden können, nicht hingegen, um - wie so oft - die Entdek kungszeit vor 1492 als bloße Vorgeschichte darzustellen. Denn zu verstehen ist sie nicht von ihren Folgen her, sondern nur aus sich selbst heraus : man arbeitete zwischen 1200 und 1500 nicht auf die Entdeckung Amerikas hin, sondern hatte andere schwerwiegende Beweggründe, die für sich betrachtet für die Geschichte menschlichen Lernens und Forschens von Bedeutung sind. Zwischen dem 13. und dem 15. Jahrhundert haben die Abendländer gelernt, neue Informationen - nicht nur geographischer Art - als solche zu erkennen, zu sammeln, auszuwerten und 27 Vgl. S. 285ff. 28 Ein anderes: Die Wege an die Ränder der christlichen Welt und vor allem hinter die Türken sind den Abendländern schon bekannt, bevor die Türken und mögliche Verbündete gegen sie von existenziellem Interesse werden (vgl. S. 196/7). 29 Für den Gesamtrahmen BnTERLI, Alte Welt, wie N. 12, 25: europäische Welterfahrung durch Kontakt mit Mongolen und anderen Fremden fruchtbar zu machen für die Entdeckung neuer Welten in Übersee. - Ohne Schmälerung des Verdienstes der portugiesischen Entdeckungsfahrten des 15. Jh. ist auch bei ihnen der Mut, auf neuen Wegen alte Gegenden zu erreichen, nicht ohne den Lernprozeß seit dem 12.Jh. denkbar, ohne daß in diesem Fall die Mongolen direkten Einfluß genommen hätten. Allerdings verdanken die Abendländer viele Erkenntnisse über die geographischen Verhältnisse im Indischen Ozean, am Horn von Afrika gerade der Tatsache, daß die Mongolen einmal für Missionare und Kaufleute auch diese Gegenden zugänglich und attraktiv gemacht haben: unten S. 285 H. Zu den mentalen Voraussetzungen, der Erfahrung und dem Wissen kommen im 15.Jh. noch nautische Erkenntnisse, Fortschritte in der Schiffsbautechnik usw. 30 EI emperador dei Cataio ha dias que mand6 sabios que le enseiien en La Je de Cristo . : ed. Cesare DE L OLLls , Scritti di Cristoforo Colombo, Rom 1 894, parte I vol. II, 202. Zum Ziel: Korrespondenz mit Toscanelli, wie N. 3 1 . Bitte Kubilais: Milione VIII (7) S. 6 (9). - »Großkhan der Tartaren« unten S. 234/6. 3 1 Zu Toscanelli Gustavo UZIELLI, Paolo dal Pozzo Toscanelli iniziatore della scoperta d'America, Florenz 1892. Korrespondenz mit Columbus ed. N. SUMIEN, La correspondance du savant florentin Paolo dal Pozzo Toscanelli avec Christophe Colomb, Paris 1927. -
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I. FRAGEN UND ZIELE
die Instrumentarien zu entwickeln, um sie in ihr Weltbild im engeren geogra phischen wie darüber hinaus in einem weiteren geistigen Sinne einzuordnen. Für diesen Lernprozeß wie für die aus ihm notwendigerweise folgenden Veränderun gen des Weltbildes selbst hat die Auseinandersetzung des Westens mit dem Phänomen des fremden Volkes der Mongolen auf einigen Gebieten große und direkte Bedeutung gewonnen 32. In anderen Bereichen des Wandlungsprozesses - der in seiner Gesamtheit anhand des Mongolenbeispiels allein nicht zu erfassen sein wird - sind die Mongolen z war nur ein Volk unter anderen, das die Abendländer kennenlernen und einordnen müssen. Aber aufgrund besonderer Umstände eignet sich auch dann gerade ihr Beispiel gut zur Beobachtung durch den modernen Historiker. Denn die Mongolen sind im geschilderten ungemein günstigen Augenblick sehr plötzlich und unerwartet und als o b je k tiv b i s d a h i n v ö l l i g u n b e k a n n tes (und deshalb extrem fremdes) Volk ins Bewußtsein der Abendländer getreten. Was immer diese in der Folgezeit mit dem Namen tartari verbinden, haben sie entweder neu gelernt oder willkürlich aus ihrem traditionellen Wissen auf ihn übertragen. Anders als zum Beispiel im Falle der Sarazenen, mit denen sich lange vor der Entwicklung einer eigentlichen Kulturbeziehung schon festgelegte und schwierig revidierbare Vorstellungen verbinden33, können wir im Falle der Mon golen den Prozeß des Kennenlernens und der Einordnung v o n A n b e gi n n an beobachten. Die Mongolen verlieren sehr schnell an Macht, so daß sie für die Abendländer nicht wirklich bedrohlich sind, und leisten zudem - wie geschildert - bei aller Fremdartigkeit der Entwicklung freundlicher Beziehungen Vorschub. Deshalb kann sich ein differenziertes Bild entwickeln, ohne daß zuerst ein verhärtetes Feindbild überwunden werden mußte. Sie sind auf der anderen Seite mächtig genug, um - anders als andere damals neuentdeckte Völker - für den Westen längere Zeit interessant zu bleiben, von Reisenden besucht und ebenso intensiv von den Daheimgebliebenen in verschiedenstem Zusammenhang beach tet zu werden, sogar in literarische Werke einzugehen. Damit wird die Beobach tung von Entwicklungen im Mongolenbild über einen genügend langen Zeitraum möglich 34. Darum sollen in dieser Arbeit die folgenden Fragen zur Entwicklung von 32 Auch Zeitgenossen begründen ihre Beschäftigung mit den Mongolen ausdrücklich mit der Erkenntnis, daß diese sehr wichtig geworden seien, vgl. S. 247. 33 Dazu Richard W. SOUTHERN, Western Views of Islam in the Middle Ages, Cambridge/Mass. 1962; Eckhardt ROTTER, Abendland und Sarazenen, Berlin/NYork 1986 (Bhh. zum Islam. N.F. 11); Benjamin Z . KEDAR, Crusade and Mission. European Approaches towards the Muslims, Princeton 1984. NOIlilan DANIEL, The Arabs and Medieval Europe, London/Beirut '198 1 ; DERS., Islam and the West: The Making of an Image, Edinburgh 1960. 34 BEzzoLA - dem diese Arbeit ein solides Fundament für den weiten Ausgriff ins 14.Jh. verdankt konzentrien sich auf einen sehr kurzen Zeitraum, denn er kann damit den Zusammenprall und seine direkte Konsequenz, die Entstehung eines Mongolenbildes, besonders gut verdeutlichen (8/9). Der Gewöhnungs- und Einordnungsprozeß beginnt damit aber erst. Die Beobachtungschancen in der frühen Zeit der unmittelbaren politischen Aktualität: FRIED, Suche, 298/99.
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Kulturbeziehungen und zum Lernen im Umgang mit dem Fremden am Beispiel der Mongolen verfolgt werden. Wie begegnen die Abendländer den Mongolen, mit welchen vorgefaßten Meinungen treten sie dem fremden Volk gegenüber, welche Fragen stellen sie, welche Antworten finden sie - kurz, wie wirkt sich ihre kulturelle Prägung auf ihre Wahrnehmung der Mongolen aus ? 35 Denn menschliche Erkenntnis findet niemals im leeren Raum statt, sondern nimmt Bezug auf Bekanntes, setzt bestimmte Erwartungen, Fragen, einen theoretischen Hintergrund voraus 36 . Dadurch wird sie ermöglicht und zugleich begrenzt; völlig unbefangene Beobach tung ist unmöglich. Kulturell bedingte Vorstellungen beeinflussen demzufolge auch die lateinisch-christliche Wahrnehmungsweise der Mongolen 37. Der Stand vor allem des geo- und ethnographischen Wissens im mittelalterli chen Weltbild, also die Basis allen Sehens und Beurteilens, ist zum Zeitpunkt des Auftretens der Mongolen objektiv recht niedrig, wird aber von den Zeitgenossen für wesentlich höher gehalten. So ist aufgrund der schon zitierten Überzeugung der Abendländer, die ganze Welt und alle ihre Völker in der Tradition auffinden zu können, die Beobachtung der Tartaren von vornherein durch vermeintliches Vorwissen und Vorurteile belastet38• In diesem Zusammenhang ist folgender methodischer Grundsatz zu betonen: Diese Arbeit fragt nicht nach objektiven Verhältnissen, sondern nach der subjek tiven Realität der Zeitgenossen. Unter diesem Aspekt wäre es wenig sinnvoll, in den mittelalterlichen Reiseberichten und ihrer weiteren Verarbeitung zwischen »real« und »fiktiv« oder »imaginär« in unserem Sinne zu unterscheiden. Denn dazu fehlen den Zeitgenossen angesichts der Vielzahl ungewöhnlicher Figuren und Erzählungen in der Tradition und den neuen Erfahrungen weitgehend die Kriterien 39. Dementsprechend treten im 13. und 14. Jahrhundert neue Erkennt35 W. REI NHARD, Vorwort zu »Der europäische Beobachter« (neuzeitliche Themen). 36 So kann der mittelalterliche (und noch frühneuzeitliche) Abendländer mangels Kriterien selten zwischen Fabel- und tatsächlich existierenden Wesen unterscheiden: vgl. S. 59/60. Vgl. zum Problem der Wahrnehmung fremder Kulturen, verzerrt durch mitgebrachte Theorie, vgl. J. F RIED, Gens und regnum. Wahrnehmungs- und Deutungskategorien politischen Wandels im frühen Mittelalter. Bemer kungen zur doppelten Theoriebildung des Historikers, in: Jürgen MIETHKE/Klaus SCHREI NER (Hg.), Die Wahrnehmung sozialen Wandels im Mittelalter, Sigmaringen 1993/94. 37 Wichtig REICHERT, Begegnungen Kap. 11.4 (»Die Grenzen der Wahrnehmung«), bes. 128. Zum Problem der Fremdheit und Befangenheit RnTNER, Kulturkontakt, wie N. 1 1 , 204/6: »vier hauptsäch liche Hemm-Komplexe«; OSTERHAMMEL, Distanzerfahrung, wie N. 17, S. 19ff.; EULER, Begegnung; auch EscH, Anschauung. 38 Claude KApPLER, Monstres, demons et merveilles a la fin du Moyen Age, Paris 1980, 47 u. 54 fragt, wie die Reisenden vor dem intellektuellen und fabulösen Hintergrund ihrer Zeit reisten: »Ce qu'on cherche, c'est du 'connu' qu'on n'a jamais VU«. In ähnliche Richtung geht MOLLAT, Explora teurs, 115: Die Entdecker brachten je nach Herkunft, Vorbildung etc. eine Menge mit »de prejuges, de connaissances, de croyances, de certitudes, de sentiments, plus rarement de doutes«. 39 JOHA NE K, Weltbild, 104: »Der Historiker oder Literaturwissenschaftler unserer Tage vermag in vielen Fällen verhältnismäßig genau nachzuzeichnen, wie eine alte, aus der Antike stammende Tradition des Phantastischen in einem komplizierten, vielschichtigen Prozeß die fiktive Geographie in den Erzeugnissen der Epik beeinflußt und geformt hat. Für die Rezipienten der Epik im Mittelalter,
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I. FRA G EN U N D Z I EL E
nisse meist neben überkommene Vorstellungen, statt diese zu ersetzen, und auch die Möglichkeit von Fehlern in der Tradition wird nur äußerst selten angespro chen40• Als »real« hat deshalb im folgenden all das zu gelten, was die mittelalterli chen Menschen für wirklich hielten, eine »Verbesserung« ist nur das, was die Zeit selbst bewußt verbessert; man kann unterscheidend mit aller Vorsicht von »neu« und »traditionell« sprechen 41 . In diesem Sinne wird auch im folgenden oft von »Tartaren« die Rede sein, weil das der Name ist, mit dem die Mongolen von den Zeitgenossen meistens belegt werden42 . Neben ein festgelegtes Weltbild treten vor allem ein ebensolches Menschen bild, allgemeine gesellschaftliche Bedingungen und abendländisches Selbstbe wußtsein. So verbindet zum Beispiel der zitierte Jacopo d'Acqui bestimmte Vorstellungen mit »ganz normalen Menschen«. Die mittelalterliche abendländi sche Gesellschaft ging von der gottgewollten Richtigkeit ihrer Form, ihrer Ideologie etc. aus, was sich auswirkte auf die Einschätzung und Behandlung andersgearteter Sozietäten innerhalb einer Völkergemeinschaft43• Manches von dem, was die Abendländer unreflektiert für selbstverständlich halten, manche unbewußte Selbstspiegelung wird in unseren Quellen hin und wieder sehr deut lich. - So interessant es sicherlich ist, besonders die Reiseberichte über die Verhaltensmuster und die Mentalität abendländischer Reisender zu befragen 4\ will sich doch diese Arbeit in erster Linie mit dem Bewußtwerden, Verändern und Lernen (oder dem Fehlen dieser Entwicklungen) beschäftigen. Die Abendländer ordnen nicht nur durch Anpassung des Gesehenen an die eigenen Vorstellungen ein, sondern sie lernen auch d a z u. Sie übernehmen Informationen aus der fremden Kultur, bauen daraus ein eigenes Bild, das durchaus das vorhandene
auch in der Zeit um 1300, lasen sich die Dinge anders.« Beispiele für fließende Übergänge bei FRJED, Suche, 290, 324/25; H YDE, Real . . . Journeys. 40 Dazu bes. S. 58; JOHANEK, Weltbild, 98. - Zum »phantastischen« Mittelalter des Rückblicks Leo ÜLSCHKI, Asiatic Exotism in Italian Painting of the Early Renaissance, in: The Art Bull. 26 (1944) 95-106; Jurgis BALTRUSAITIS, Das phantastische Mittelalter. Antike und exotische Elemente der Kunst der Gotik, Frankfurt a. M./Berlin/Wien 1985 (frz. 1955); Rudolf WI TTKO WER, div. Aufsätze in: DERs., Allegorie und der Wandel der Symbole in Antike und Renaissance, Köln 1984 (engI. 1977); Götz POCHA T, Der Exotismus während des Mittelalters und der Renaissance. Voraussetzungen, Entwick lungen und Wandel eines bildnerischen Vokabulars, Stockholm 1970. 41 Diese BegriHe decken sich nicht mit »real« bzw. »fiktiw; bei »neu« wäre darauf hinzuweisen, daß nicht alles, was objektiv neu war, von den Zeitgenossen so empfunden wurde. 42 Vgl. S. 22/3. 43 Der moderne Begriff ist bewußt gewählt; das späte Mittelalter erlebt die Ausbildung des Bewußtseins, in einer solchen Gemeinschaft zu leben. 44 HARBSMEIER, Reisebeschreibungen als mentalitätsgeschichtliche Quellen (7: »Die Darstellung anderer und freI!.lder Verhältnisse und Verhaltensweisen funktioniert wie ein Spiegel«); auch die grundsätzlichen Uberlegungen bei J. RABA, Das Weltbild des mittelalterlichen und frühneuzeitlichen russischen Reisenden, in: Forsch. zur osteurop. Gesch. 3 8 (1986) 20-41 . Diese mentale Bedingtheit der Darstellungen ist bei Nutzung der Reiseberichte als Quelle für die mongolische Wirklichkeit der Zeit zu berücksichtigen.
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Weltbild e r w e i t e rt; manchmal wird das Neue auch eingegliedert, eingefügt durch Verschmelzung mit Bekanntem45. Große Bedeutung für die Wahrnehmungsweise gewinnt die abendländische Wissenschaftskonzeption, die bereits hochentwickelte Scholastik, die eine sehr ausbaufähige, aber ebenso einschränkende Methode zur Verfügung stellt, um das Fremde zu befragen und systematisch unter den jeweils interessierenden Gesichtspunkten anzusehen und zu beschreiben. Grundsätzlich wollen die Abendländer erkennen, wollen Vorgaben anhand von Erfahrungen überprüfen, den Dingen auf den Grund gehen; sie sind »auf der Suche nach der Wirklich keit« 46 . In jedem Einzelfall muß aber gefragt werden, ob eine wahrhaftige Darstellung oder eine Überprüfung von Vorurteilen tatsächlich intendiert sind. Inwieweit die angewendeten kritischen Methoden den Lernprozeß befördern können, wird darzustellen sein. Dabei erheben sich die Fragen, wie überprüft wird, ob und welche Diskrepanzen die Beobachter feststellen, wie sie sie erklären, wie sie also lernen. Revidieren, ersetzen sie wenigstens manche alten Legenden und Klischees oder schieben sie sie alle nur beiseite, ordnen das Neue neben dem Alten ein, bilden vielleicht gar neue Topoi ? Dabei ist nicht entscheidend, wieviele Legenden bleiben - denn die haben wir bis heute -, sondern wieviel echtes Wissen hinzukommt: Die Betrachtung zeigt, daß die Wahrheit selten die Legende verdrängt, daß sie sich vielmehr neben sie schiebt und eine häufig dauerhafte Koexistenz aufgebaut wird. Schreiten darüber hinaus die Abendländer eventuell voran zu einer Relativierung der eigenen Maßstäbe, und inwieweit geschehen alle diese Maßnahmen b e wu ß t?47 Alle genannten Effekte der kulturellen Prägung werden verstärkt durch die Sprache, durch die die Beobachtungen notgedrungen vermittelt werden müssen und die ihrerseits Abbild abendländischen Denkens ist. So verbindet ein Abendländer zum Beispiel mit Begriffen wie imperator, rex, duces etc. für mongolische Würdenträger sicher falsche Vorstellungen. Schließlich können die Einflüsse von Persönlichkeit, Bildung und Vorwissen, Herkunft, Gruppenzuge hörigkeit, Biographie, Absicht der einzelnen Reisenden und Rezipienten auf ihr Wollen und Können beim Urteilen das Bild trüben. Da es in dieser Arbeit nicht nur um das Mongolenbild der Reisenden, sondern um die Beurteilung des fremden Volkes durch »das Abendland« geht, ist noch eine weitere Brechung in der Erkenntnis in Betracht zu ziehen. Nicht nur die Reisenden sehen das Fremde mit ihren eigenen, befangenen Augen, kommunizie ren darüber untereinander und geben es in der belasteten Begrifflichkeit einer 45 So bewegen sich westliche Legenden und das Neugefundene aufeinander zu, vereinigen sich und je nach Lernfähigkeit des einzelnen Autors verschiebt sich der Schwerpunkt weiter zum Neuen oder zur Tradition. 46 FRIED , Suche, mit ausführlicher Darstellung des Einflusses der Anwendung der damals modernen wissenschaftlichen Methoden auf die Mongolenforschung, bes. 298 H. 47 Methodisches zur Quellenbehandlung S. 43ff., zum Einfluß der Ausbildung bes. 67.
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I. FRAGEN UND ZIELE
europäischen - nicht mehr immer der lateinischen - Sprache wieder, sondern zu Hause werden die Informationen noch einmal von Abendländern aufgenommen, diesmal aus zweiter Hand und ohne die Korrektur durch das eigene Erleben. Es kommt zu Mißverständnissen und Fehlinterpretationen schon der Reisenden und erneut der Rezipienten, die das Bild beeinflussen und die Erkenntnismöglichkei ten nun des Historikers stören, andererseits aber auch äußerst aufschlußreich sind 48 . Trotz, zum Teil gerade wegen all dieser Schwierigkeiten läßt sich anhand der genannten Fragen an die Quellen ein Lern- und Einordnungsprozeß verfolgen, kann man beobachten, wie die Abendländer die Mongolen als Beispiel für ein ganz fremdes Volk dauerhaft in ihr Weltbild einfügen. Es wird sich dabei zeigen, daß die Auseinandersetzung mit den Mongolen manche Entwicklung in Gang bringt, manche ältere fortführt, daß aber auch Bereiche bleiben, in denen prak tisch keine Veränderung, kein Fortschritt festzustellen ist. Gewiß wird am Ende nicht »das« Mongolen-Urteil »der Abendländer« stehen - gibt es überhaupt ein einhelliges wie zum Beispiel das zitierte des Jacopo d'Acqui? -, aber auch nicht das nur ganz kleiner Gruppen. Durch Rückgriff auf eine typologisch breite Quellenbasis, auf Äußerungen von Zeitgenossen aus dem gesamten Bereich des Abendlandes, aus vielen sozialen Gruppen und Bildungsni veaus sowie auf Bildquellen sollen möglichst viele Facetten des Bildes untersucht werden. Die Mongolen tauchten in Osteuropa und im Vorderen Orient auf; die Reisenden besuchten danach große Teile der damals bekannten Welt. So fließen im Abendland im Laufe der Zeit Informationen aus verschiedenen Zeiten und Räumen zusammen. Deshalb muß einleitend zunächst noch als Orientierungs grundlage ein chronologischer Überblick über die Geschichte der mongolischen Reiche vom 13. bis ins 15. Jahrhundert sowie besonders der direkten Kontakte abendländischer Reisender mit dem fremden Volk gegeben werden. Zeitlich beschränkt sich die Arbeit in der Hauptsache auf das 13. und 14. Jahrhundert, wird aber, weil viele Entwicklungen nicht abbrechen, manches Mal ins 15. Jahrhundert ausblicken. Ein erster Hauptteil gibt eine Quellenkunde zur Vielzahl und Vielfalt der für die Frage nach dem abendländischen Mongolenurteil durch den Historiker nutzbar zu machenden Quellen : Welche Informationsmöglichkeiten hatten die Zeitgenossen, wie nutzten, verbreiteten, bearbeiteten, bewerteten, kritisierten sie sie ? Auf dieser Basis werden dann bei den inhaltlichen Auswertungen der Quellen die einzelnen Stränge des Lern- und Einordnungsprozesses gesondert und in sich chronologisch verfolgt; auf zeitlich parallele Entwicklungen kann nur durch Querverweise aufmerksam gemacht werden. Denn das breite Spektrum von 48 Gar nicht zu reden sei von der prinzipiellen Beeinträchtigung durch unsere eigene kulturelle Prägung, die wir noch dazu in der gleichen Wahrnehmungstradition wie die Objekte unserer Beobachtung stehen - wenngleich das keine Vorab-Entschuldigung der Autorin sein soll.
GESCHICHT E DER M O N G O LISCHEN RE ICHE
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Wissensgebieten, auf denen man sich mit den Mongolen beschäftigt und das Urteil eingeordnet wird, sowie der Detailreichtum in diesen Einzelbereichen verbieten den an sich sinnvollen, rein chronologischen Aufbau der Arbeit. Zunächst sind die verschiedenen Möglichkeiten, Mongolen»politik« zu betreiben (durch Diplomaten, Missionare, Kaufleute) oder sie theoretisch zu reflektieren, dargestellt. Dann folgt die literarisch-theoretische Beschäftigung mit dem Phäno men, die Einordnung ins ethnographische, historische und geographische Welt bild. Manche Quelle wird dabei nicht nur einem Bereich zuzuordnen sein, sondern muß aus verschiedenen Blickwinkeln betrachtet werden. Trotz aller Bemühungen sind sicherlich Quellen übersehen worden; eine vollständige Erfassung sämtlicher »MongolensteIlen«, so erstrebens wert sie mög licherweise wäre, kann auch nicht das Ziel einer solchen Arbeit sein: sie möchte einen repräsentativen Querschnitt der Meinungen und Urteile der Zeitgenossen, soweit sie heute noch faßbar sind, geben49• Deshalb wurde auf einigen Gebieten, so bei den Bildern und den mittelalterlichen Weltkarten, bewußt ausgewählt und nicht jede mögliche Quelle zitiert 50 . Die Quellenzitate sind grundsätzlich über setzt, um den Text durchgängig lesbar zu machen; Ergänzungen sind durch eckige Klammern, wörtliche Übernahmen aus dem Originaltext kursiv, Hervor hebungen der Autorin in den Anmerkungen gekennzeichnet (Hervorh. F. S.). Da es schon aus Platzgründen unmöglich ist, die Flut der Literatur zu den vielen einzelnen Themen, die im Rahmen dieser Arbeit berührt werden müssen, vollständig aufzuführen, ist jeweils auf grundlegende, möglichst neuere Werke verwiesen; die neueste relevante Literatur ist einzeln in den Fußnoten nachge wiesen 51 .
49 Allgemeines zur Zitierweise: Die Quellen sind nur dann mit Editor angegeben, wenn nach Quellenverzeichnis verschiedene Möglichkeiten bestehen. Fr. Riccardus, Julian von Ungarn und Peter von Rußland sind nach DÖRRIE zitiert, Joh. von Plano Carpini gemeinhin nach SINICA, Simon v. St-Quentin nach Buch, Kapitel und Seitenzahl der Ed. RICHARDS (die BuchzähJung weicht vom Druck Vinzenz, Douai 1624, ab), Marco Polo wie folgt: c. XXX (XXX) S. XXX(XXX), wobei sich die jeweils erste Ziffer auf die Edition BENEDETTOS, die zweite auf die RONCHIS bezieht. Sempad wie S. 80, N. 33. Literatur wird z. T. kurz zit. und im Literaturverzeichnis nachgewiesen; speziellere Werke sind in der Anm. vollständig zit.; nur bei Monographien wurde dann der Vorname des Verfassers ausgeschrieben. - Zu den modernen Transskriptionen orientalischer Namen: Ich habe mich weitge hend nach WEIERS, Mongolen, Register 563 ff., gerichtet und auf die Lautzeichen meist verzichtet. Dies und Uneinheitlichkeiten bitte ich, der Nicht-Orientalistin zu vergeben. 50 Nicht alle Bilder und Karten können reproduziert werden; für manche mußte auf möglichst leicht zugängliche Abbildungen verwiesen werden. Von den Karten wurden unter den zahlreichen, die die Tartaren überhaupt berücksichtigen, jene zur Untersuchung ausgewählt, die das Besondere dieser Rezeptionsweise gut erkennen lassen. 5 1 Ins Literaturverzeichnis sind nur die zum Thema grundlegenden und wichtige allgemeine Titel aufgenommen; die Spezialliteratur zu den einzenen Punkten findet sich an Ort und Stelle; für ältere Titel sei prinzipiell auf neuere Spezialwerke verwiesen. Info!mationen zu mehrfach zitierten Werken und Autoren sind grundsätzlich beim Haupteintrag zu finden; auf Querverweise wurde hier verzich tet, dafür diene das Autorenregister.
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I . FRAGEN UND ZIELE 1.
Abriß der Geschichte der mongolischen Reiche und ihrer Kontakte mit dem Abendland
Die reiternomadischen, viehzüchtenden Völker der Steppen Zentralasiens lebten in agnatisch konstituierten, militäraristokratisch organisierten Clans, in denen sich eine charismatische Persönlichkeit durch militärische Leistungen zum Anführer aufschwingen konnte. Je größer die Erfolge eines solchen Anführers, desto größer war auch seine Chance, andere Clans zur freiwilligen oder erzwun genen Anerkennung seiner Führerschaft zu bewegen 52. Im frühen 12. Jahrhundert bereits war unter dem Namen »Mongolen« im Gebiet zwischen den Flüssen Kerulen und Onon eine solche Konföderation von Clans entstanden, die Temü jin, der Enkel des Begründers, gegen Ende des Jahrhunderts durch Angliederung zum Beispiel der ähnlich strukturierten, zum Teil christlichen Naiman, Kereit, Tatar und Merkid ausweitete. Auf einer Versammlung der Stammesführer (quril tai) 1206 wählte man ihn zum Großkhan (Qayan) unter dem Namen Dschingis Khan 53. Mit Hilfe einer straffen Heeresorganisation und einer strikten Gesetzgebung schuf Dschingis Khan die Grundlage für die mongolischen Eroberungszüge der nächsten Jahrzehnte. Er fühlte sich vom Himmel zur Weltherrschaft berufen 54 und richtete - nach alter Steppentradition - die Expansion zunächst nach Süden gegen China, aber auch die Völker im westlich an das mongolische Siedelgebiet angrenzenden Bereich wurden unterworfen. Die Europäer bezeichneten die Gesamtheit der asiatischen Völker, die ihnen in einem einheitlichen Reichsverband entgegentrat, fast durchgängig als tartari, französisch tartres, deutsch tattem55• Offenbar hatte man schon früh den Namen des Volkes der Tatar gehört : »Damals«, so erklärt Wilhelm von Rubruk, »schickte dieser Chingis überall die Tartaren voraus, und so hob sich ihr Name hervor, weil man überall schrie: >Sieh, die Tartaren kommen«< 56. Eigentlich schriebe man korrekt - wie Johannes von Plano Carpini aufgrund besseren
52 V. VEIT, Die Mongolen : Von der Clanföderation zur Volksrepublik, in: WEIERS, Mongolen, 161-165. 53 H.-R.KÄMPFE, Cinggis-Khan, in: WEIERS, Mongolen, 183-186; MORGAN, Mongois 1986. - Das Stammgebiet vgl. Karte. 54 Zum universalen Anspruch und der Ideologie der Mongolen, den andere Nomadenvölker teilen: PELLIOT (Ed.), Les mongoles; G. MESSINA, L'Impero universale e i mongoli, in: CC 94,1 (1943) 23-32, 105-115; O. TURAN, The Ideal of Worid Domination among the Medieval Turks, in: Studia Islamica 4, Paris 1955, 77-90; GÖCKENJAN, Welt, wie S.225, N. 139. 55 ind die heischent in Latyne Tartari, ind in duytsche heischent sy Tattern: »Niederrh. Orientber.« S. 55. 56 XVII,6 S. 208. Zu den frühesten Nennungen des Namens in Europa unten; auch BEZZOLA 98 mit N.71.
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tattari 57. Aber der Name tartari ist sicher nicht zuletzt Wissens vermerkt deshalb übernommen worden, weil er und das Verhalten seiner Träger so sehr an den tartarus, die Hölle, erinnert, und so setzte sich die Korrektur des Johannes ebensowenig durch wie eine andere, auf der die Mongolen selbst bestanden zu haben scheinen 58. Sie hießen, so erfuhr man immer wieder in Europa, mongali, moal oder ähnlich und wollten nicht nach einem unterworfenen Volk bezeichnet werden 59. Doch trotz manchem Versuch in den westlichen Quellen, das bessere Wissen zu übernehmen 60, war die Gewohnheit stärker, und Erklärungen findet man auch für den üblichen Namen : »So ließen die Tartaren mit ihrem Land [Mangal] auch den ursprünglichen Namen Mangal zurück . . . und nennen sich alle bis zum heutigen Tage tartari« 6 1 . Wenn in der folgenden Darstellung von M o n g o l e n oder T a r t a r e n (dem zeitgenössischen Sprachgebrauch folgend) die Rede sein wird, so sind damit ohne genauere ethnische Unterscheidung alle asiatischen Völker oder Volksangehöri gen gemeint, die für die mittelalterlichen Europäer als in irgendeiner Weise zu den Mongolen gehörig erkennbar waren. Das heißt, der Begriff schließt nicht nur die oben erläuterte große Stammeskonföderation ein, sondern auch alle weiteren Völker, die von den Mongolen unterworfen waren 62. Ebensowenig nimmt der -
57 Salimbene berichtet davon und akzeptiert im folgenden die Korrektur (S. 206/8). Quam tartaros vocant, sed in hac [epistola] tattari vel tatari nuncupantur: Matthäus Parisiensis bemerkt den kleinen Unterschied bei Ivo v. Narbonne, CM IV S. 270 (Ivos Gewährsmann unten S. 207, N. 43). Möglicher weise geht die übliche deutsche Bezeichnung tattern auf den korrekteren Begriff zurück. 58 Tartaros vg!. S. 29 u. 258. - Rieher v. Sens meint, sie seien vielleicht nach (dem biblischen) Tharsis in Kilikien benannt (IV c. 20 S. 3 10). Identifikationen von Tarsis (die Stadt in Kilikien oder aber das asiatische Herkunftsland der heiligen drei Könige) und Tartaren: Ann. Capit. Posnan. S. 440; Gesta Trev. S. 403. Tharse in den Grandes Chr. de France VII S. 121, 131 übersetzt tartari des Guillaume de Nangis; inhaltlich deutlich : Geffroi de Paris (v. 3275 ff.), ebenso Philippe Mousket (v. 3023 1). BEz ZOLA 35 f. 59 Plano Carpini: terram . . . Mongalorum, quos nos Tartaros appellamus, IX,28 S. 1 16; Rubruk wie N. 56 und XVI,5 S. 205. Philippe de Mezieres wohl nach seinem Gewährsmann (unten S. 54) Songe I S. 23 1 : les mengoules ce soit les Tartres. Der Libro deI conosc. (c. 12 S. 571/2) nennt die Leute in der Tartaria: mogoles; Pegolotti benutzt zweimal den Begriff moccoli: S. 21, 29; Josse van Ghistele erwähnt die Tarters die men zeid Mongales, S. 33. 60 Fürsten : Edward v. England 1274, Jaime v. Aragon 1300 und 1307, Vermittlung durch Schreiben wie das aus Persien 1274: Anhang I u. S. 182, N. 572; auch Chronisten: Thomas v. Split S. 590 Z. 38 (ev. von Plano Carpini, unten S. 289, N. 469); Joh. v. Oxenedes S. 250 (moaI); William Rishanger S. 89; Ann. de Waverley S. 387; Ann. de Wigomia S. 473; Flores hist. III S. 43, 49, 69 (offenbar Tradition in der eng!. Chronistik); spät in Ungarn: Chr. Budense S. 467/8; Joh.de Thurocz ("" um 1435) 101, S. 137: mangali. 6 1 Jean LeLong, Chr. Sp. 684. Zum Land unten S. 297ff., eine Flußethymologie 297, N. 518. 62 Z. B. Uighuren, Kirgisen, Tanguten, Karakitai, Chinesen usw., dazu die Turkvölker des Kipt schak, vor allem Kumanen, und manchmal auch Iraner und andere vorderorientalische Völker. - Die Namen der unterworfenen Völker sind zwar bei den frühen Reisenden und ihren Rezipienten überliefert, werden aber darüber hinaus nicht unterscheidend verwendet: S. 293/4. - Die Trennung zwischen echten Tartaren und Verbündeten gelingt nur guten Kennern und ist selten so deutlich formuliert wie von Joseph de Cancy (übers. SANDERS S. 8). - Anders behandele ich getreu dem Prinzip die Abendländer im Dienste der Mongolen, denn sie wurden nicht verwechselt: dazu allerdings »mongo!. Gesandtschaft« unten S. 52/3.
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I . FRAGEN U N D Z I ELE
Begriff Rücksicht darauf, daß sich die Mongolen immer mehr mit den eroberten Völkern vermischten, vor allem zunehmend turkisiert wurden 63. Bis zu Dschingis Khans Tod im Jahre 1227 hatten er und seine Unterführer nicht nur die Eroberung Nordchinas eingeleitet, sondern auch das Chwarezm-Reich in Transoxanien zerschlagen und waren durch Aserbaidschan von Süden über den Kaukasus in die Kiptschak-Steppe eingedrungen. 1223 schlug ein mongolisches Expeditionscorps an der Kalka (nördlich des Asowschen Meeres) ein kumanisch russisches Heer. Es zog sich damals sogleich wieder zurück, da die Kräfte noch für die Eroberung Chinas gebraucht wurden, doch waren die Mongolen nun im Süden wie im Norden schon weit genug vorgedrungen, um in Europa wahrge nommen zu werden. Unter den Kreuzfahrern, die 1220 vor Damiette lagen, verbreiteten sich hoffnungsvolle Gerüchte vom Vordringen eines mächtigen christlichen König David aus dem Osten im Rücken der Sarazenen; diese Gerüchte verbanden sich mit der im 12. Jahrhundert im Abendland bekannt gewordenen Legende von einem sagenhaften Priesterkönig Johannes, der weit im Osten der Erde ein christliches Reich beherrsche 64. Über den vermeintlichen König David freuten sich die europäischen Juden - wohl weil sie für das Jahr 1240 (5000 jüdischer Zeitrechnung) den Messias erwarteten 65. Der Annalist von Marbach, der diese Freude verständnislos registriert, notiert außerdem voller Zweifel die Erklärung, daß jenes unbekannte Volk aufgebrochen sei, die Gebeine seiner Heiligen Drei Könige heimzuholen 66. Auch der Ungarnkönig bezeichnete 1223 offenbar einen König David, genannt Priester Johannes, als Anführer des - als christlich geltenden - Volkes, von dessen Eindringen in Rußland Caesarius von Heisterbach im gleichen Jahr 1223 ganz vage erfuhr 67• Richard von San Germano, der die substantiell hervorra genden osteuropäischen Nachrichten an der Kurie niederschrieb 68, zog aber noch keine Verbindung zum Vorderen Orient und kannte auch den Namen tartari nicht, der in Lettland und in Georgien schon früh kursierte 69. 63 So wird der Türke Timur als Mongole auftauchen, weil man ihn im Abendland so sah, Näheres unten. Im Gebiet der Goldenen Horde sei, so SPULER, seit Beginn des 14.Jh. bei zahlreichen Resten die mongolische Sprache weitgehend von der türkischen verdrängt gewesen (Horde, 287). 64 Zu den Entwicklungen diverser Legenden vor Damiette sowie der Frühgeschichte des abendländi schen Mongolenbildes B EZZOLA 1 3 ff.; zum Priesterkönig Joh. auch unten S. 248/9. 65 Dazu H . B RESSLAU, Juden und Mongolen, in : Zs. f. Gesch. d. Juden in Deutschland 1 (1 887) 99-102; D ERS., Ein Nachtrag, in: ebd. 2 ( 1888) 382/3. 66 S. 1 74/5, sicher vor 1241 aufgeschrieben. Zur Entstehung des Gerüchtes BEZZOLA 34-6. Philippe Mousket, um 1243, S. 69: die Mongolen zögen droit a Cologne: v. 30224. - Spätere Verbindungen der Könige mit den Mongolen unten S. 281/2. 67 X, 447: die Endzeit scheint ihm nahe. 68 S. 1 10. 69 Lettland : Heinrich, Chr. Livoniae (bis 1227), zu 1222 gut infollnierter Bericht über die Kalka Schlacht: tartari kämpfen gegen Schismatiker (B EzzoLA 37); ihre Gefährlichkeit wird unterschätzt. Georgien: von dort gelangte der Name vielleicht erstmals, in Briefen der Königin Russutana und ihres
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Das ganze Ausmaß des Vordringens der tartari unter König David ahnte erst Alberich von Trois-Fontaines, wie Caesarius Zisterzienser 70 . Alberich sammelte Nachrichten und verarbeitete sie frühestens 1232 zu seiner Chronik 7l; er versi chert, daß die Kumanen von d e m s e i b e n - nach wie vor christlichen - König David geschlagen worden seien, von dem man auch vor Damiette habe erzählen hören und der dann, weil Damiette verloren ging, wieder spurlos nach Osten verschwunden sei 72 . Nach jenem Vordringen nach Westen bis ins Jahr 1223 hatten sich die Mongolen zunächst nach Ostasien zurückgezogen, wo Dschingis Khan 1227 starb. Sein Reich teilte er unter seine vier Söhne Dschötschi, Tschaghatai, Ögödei und Tolui auf, wobei gemäß der Tradition der j üngste, Tolui, das »Herdfeuer«, also das Kernland um den Vorort Karakorum, erhielt. An den ältesten, Dschötschi - und damit, da auch er 1227 starb, an seinen Sohn Batu -, fielen die am weitesten entfernten Gebiete im Westen nahe Rußland, Tschaghatai und Ögödei teilten sich Zentralasien, und Ögödei folgte in der Würde des Großkhans. Genaue Grenzen wurden nicht bestimmt: Grundlage der zukünftigen ständigen Konkurrenz zwi schen den einzelnen Clans 73. Während im Osten Ögödei die Eroberung Nordchinas vollendete (1234), drangen seine Brüder und Neffen auch im Westen erneut weiter vor. Im Vorderen Orient wurden die eroberten Gebiete zunächst unter die Verwaltung einiger Unterführer gestellt, und Nachrichten vom verstärkten Druck erreichten wieder das Heilige Land und - in Briefen von dort her - auch Europa: der Name der Tartaren ist nun bekannt, das Volk selbst noch gänzlich unbekannt 74• Die Überlieferung solcher Briefe in abendländischen Chroniken belegt das Marschalls, die vor dem 12. 5. 1224 in Rom eintrafen, ins Abendland: ed. MGH Epp. s. XIII, 1 n.251 12 S. 178-180, BEZZOLA 30/1 mit N.77. 70 Die Zisterzienser sind offenbar frühe Träger unabhängiger Nachrichten, die sie über gute Verbindungen nach Osten (für Alberich BEZZOLA 60 N. 228) und ihre hervorragende ordensinterne Infrastruktur schnell bekommen : Caesarius, auch die Prophetie der Cedrus alta Libani (LERNER, Powers, auch unten S. 258, N. 323). Sie scheiden dann jedoch schnell aus, verzichten auch auf die Mission: F. WINTER nannte den Beschluß der Zisterzienser, für die Bettelmönche zu beten (ed. MID TA IV Sp. 1385 n. 12), die Abdankungsurkunde der Zisterzienser für die Mission: zit. nach ALTANER, Dominikanermission, wie S. 135, N. 295, 2. 71 Sein Werk ging durch mehrere Redaktionen und enthält möglicherweise spätere Einfügungen, BEZZOLA 57/8. Doch eine grundsätzliche Wandlung in seinem Tartarenbild (unten S. 26) spricht für verhältnismäßig frühe Niederschrift des zitierten Teils. Nicht zu klären ist hingegen z . B. der Zeitpunkt, zu dem der falsch eingeordnete (BEZZOLA 59) Armenier-Brief (S. 889) in die Hände Alberichs oder sonst eines Westeuropäers gelangte. - Zu den zwanziger Jahren in der späteren Geschichtsschreibung unten S. 254 mit N. 305. 72 S. 912. Identifikation mit Priester Joh. zu Damiette S. 911. 73 M. WEIERS, Von Ögödei bis Möngke - Das mongolischen Großreich, in: DERs., Mongolen, 194. 74 1237 Brief des Patriarchen v. Jerusalem (RICHARD [Ed.], Lettre); Ann. de BUTton S. 258. Der Dominikanerbruder Philipp, der im gleichen Jahr Erfolge der Mission, nicht Angriffe der Mongolen melden will, behandelt ihre Existenz wie selbstverständlich und fast nebenhin: Brief bei MP CM III S. 397 und bei Alberich S. 941/2.
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Echo, das sie zumindest bei den jeweiligen Chronisten fanden - wenn auch unsicher ist, ob die Einträge wirklich aus der Zeit vor der Wende von 1241 datieren 75 -, doch nur wenige zeigten in den dreißiger Jahren so großes Interesse, daß sie - wie Alberich von Trois-Fontaines und Matthäus Parisiensis in St. Albans systematisch begannen, Nachrichten über die Tartaren zu sammeln76• Wie schon in seinem Bericht zu 1223 weiß Alberich auch Ende der dreißiger Jahre nicht nur von den Ereignissen im Vorderen Orient, sondern gleichzeitig auch von der neuen Angriffs welle in Osteuropa. Dort drängte Batu Khan auf die EIweiterung seines Gebietes, der Goldenen Horde 77, und stieß seit 1236 mit seinen AImeen nach Westen vor; am 6. Dezember 1240 sollten die Mongolen schließlich die große Stadt Kiew erobern und einäschern. Alberich erkannte seinen Irrtum bei der Beurteilung der Ereignisse um das Jahr 1223 : Diese Völkerschaften waren keine hilfreichen Christen, sie hatten ihren guten Priester könig Johannes ermordet und kamen in böser Absicht - doch trotz dieser Einsicht unterschätzte er die Gefahr 78 . _
Verharmlosungen, die zur Unterschätzung führten, verbreiteten sich im Westen etwa mit der Erzählung des Bruder Riccardus über die Reise einiger ungarischer Dominikaner, unter ihnen Bruder Julian, die in den Liber censuum der römischen Kirche aufgenommen wurde 79• Julian war etwa um 1235 ins Wolgagebiet aufge brochen, um stammveIwandte Ungarn aufzufinden; er spürte schon die Unruhe, die das mongolische Vordringen verursachte, hatte sogar Tartaren getroffen 80 , doch sah er noch keine existentielle Gefahr für Europa heraufziehen. Als er aber
75 Die Inhalte der Nachrichten werden ausführlich auch an einigen anderen Stellen rezipiert, z. B. Chr. reg. Colon. ad a. 1237, doch ist es gerade bei Annalenwerken bekanntlich sehr schwer, den genauen Zeitpunkt der Eintragung festzustellen (N. 76). 76 Zu Alberich N. 71. Zu Matthäus ]. ].SAUNDERS, Matthew Paris and the Mongois, in : Essays in Medieval History pres. to B. Wilkinson, ed. T. A. SANDQUIsT/M. R. POWICKE , Toronto 1969, 116-132; Hans-Eberhard HIL PERT, Kaiser- und Papstbriefe in den Chronica majora des Matthaeus Paris, Stuttgart 1981, hier 153-171 : Tartarennachrichten seien meist erst nachträglich in die Chronik aufgenommen; dazu habe M. seiner Phantasie gelegentlich freien Lauf gelassen (164). 77 Weitere kleinere Horden (M. WEIERS , Die Goldene Horde oder Das Khanat Qyptschaq, in : DERS. , Mongolen, 347) haben die Westeuropäer kaum wahrgenommen. 78 Alberich gleicht seine so unterschiedlichen Infolmationen aus (S. 942); BEZZOLA 61. 79 Bericht des Riccardus S. 151-16 1, besonders 4,8 S. 157/8. Zur Rezeptionssituation BEZZOLA 38; zur Person GÖC KENJAN/SWEENEY (Übers.) 69. M. DIEN ES , Eastern Missionaries of the Hungarian Dominicans in the First Half of the 13th Century, in: Isis 27 ( 1937) 225-41. 80 Riccardus 4,10 S. 158. Gesucht hat er aber sicher noch nicht nach den Tartaren, wie Alberich, der S. 942 von ]ulians Reise spricht, behauptet, sehr wahrscheinlich ex eventu, zu einer Zeit, als die Tartaren schon alles andere an Bedeutung verdrängt hatten. Julian forschte nach jenen Ungarn, die, wie man in alten Chroniken gefunden habe, bei der Westwanderung in der alten Heimat geblieben waren. Tatsächlich fand er Menschen, mit denen er sich verständigen konnte (4,3 S. 157; schon der allererste Mönch: Riccardus 1,9 S. 152; noch Rubruk XXI,I-2 S. 219); T. v. BOGYAY, Das Schicksal der östlichen Ungarn des Julianus im Lichte moderner Forschung, in: Uralaltaische Jb. 50 (1 978) 25-30.
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1237/38 ein zweites Mal loszog, fand er alles verwüstet und mußte seine Reise abbrechen 81 Julian begriff nun die ungeheure Bedrohung für Osteuropa und hatte zusätz lich von den Geschehnissen im Vorderen Orient gehört. Der Schrecken ließ ihn den Priester Johannes oder König David vergessen; die Erwähnung von Ismaeli ten und Anspielungen auf die von Alexander dem Großen eingeschlossenen Judenvölker bereiteten statt dessen den Boden für verschiedene Versuche apoka lyptischer Interpretation 82 . Gerade der Schrecken veranlaßte Julian aber auch, möglichst genaue Informa tionen über die Tartaren zusammenzustellen 83; dazu überbrachte er dem ungari schen König eine Untetwerfungs-Aufforderung Batus und gab damit dem Abendland erstmals eine Ahnung vom mongolischen Weltherrschafts anspruch 84. Denn gemäß ihrem himmlischen Auftrag betrachteten die Mongolen alle Völker als potentielle Untertanen; wer sich nicht freiwillig untetwarf, galt als Aufständi scher und wurde gnadenlos bestraft 8s• Ob Batu zum Beispiel auch nach Polen solche Schreiben sandte, ist nicht bekannt ; im Falle Ungarns kam als erschwe rende »strafbare« Handlung des Königs hinzu, daß er die vor den Mongolen fliehenden Kumanen, also ungehorsame Untertanen Batus, aufgenommen hatte 86 • Erste Warnungen und Hilferufe nahm man im Abendland kaum recht ernst, wenn auch - offenbar bis nach England - die Ängste der an Osteuropa grenzen den Gebiete zu spüren und die Berichte aus dem Osten sehr wohl bekannt waren 87. »Lassen wir doch jene Hunde sich gegenseitig verschlingen, auf daß sie aufgerieben zu Grunde gehen«, riet der B ischof von Winchester 1238, als sich die verzweifelten Assassinen bis nach England um H ilfe gewandt haben sollen 88 . Doch Batu teilte schließlich seine Horden in zwei Heersäulen und ließ sie •
81 BriefJulians an den päpstlichen Legaten in Ungarn, S. 165-82. - Die beiden Quellen scheinen von drei Reisen zu berichten, darunter zwei des Julian, der nur beim ersten Mal das intakte, aber schon bedrohte Großungarn erreichen konnte. D. SINOR geht von nur zwei Reisen, davon eine des Julian, aus (Un voyageur du Be siede: le dominicain Julien de Hongrie, in: Bull. of the School of Orient. and Mrican St. 14 [1952] 589-602, hier 595-599), während DÖRRIE in der Edition sogar vier Reisen unterscheidet (S. 127/8; die 2. und 4. von Julian). Für unsere Fragestellung ist dieses Problem unerheblich. 82 1,1-2 S. 167; Juden BEZZOLA 44; Tradition der Ismaeliteninterpretation für eindringende Völker in Osteuropa und andere mögliche Ursprünge BEZZOLA 41 /3. Schon Caesarius hatte auf die Endzeit angespielt; zur weiteren Entwicklung der apokalyptischen Ideen unten S. 258 ff. 83 Kausalzusammenhang Prolog 1-2 S. 166. 84 Anklänge daran schon auf der ersten Reise: Riccardus 2,21 S. 154; 4,14 S. 159. 85 Der Führer der Tartaren nenne sich nuntius Dei und ziehe gegen gentes sibi rebelles: so registriert von Matthäus Parisiensis zu 1238 (CM III S. 488). 86 Julian 5,13/4 S. 1 79. 87 Matthäus Parisiensis glaubt, die Fischer aus Friesland und Gotland hätten 1238 aus Furcht vor den Mongolen nicht gewagt, zum Heringsfang auszufahren (CM III S. 488, dazu HILPERT, wie N. 76, S. 157). Ein Bericht aus Ungarn wurde in England gleich doppelt abgeschrieben: CM VI S. 75/6, und in den Ann. de Waverley S. 324/5. 88 MP CM III S. 489. - Ähnliche Einstellung auch, wenn schismatische Christen betroffen waren: BEZZOLA 37. - Die Assassinen waren als besonders mörderische muslimische Sekte bekannt.
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gegen Mittel- und Südosteuropa marschieren. Am 9. April 1241 wurde ein polnisches Heer unter Herzog Heinrich von Schlesien bei Liegnitz vernichtend geschlagen, der Herzog selbst fiel. Auf eine Lanze gespießt, trugen die schreckli chen Reiter seinen Kopf vor die Tore der Stadt 89• Über den Jablunka-Paß in den Kleinen Karpaten zogen die Mongolen nach Süden ab, um ihre Gefährten zu treffen. Diese hatten inzwischen am 11. April 1241 bei Mohi am Saj6 auch die Truppen des Ungarnkönigs Bela vernichtet; der Bruder des Königs, Prinz Kolo man, erlag bald seinen Verletzungen 90 . BeIa selbst konnte fliehen, von den Feinden bis zur Adriaküste gehetzt. Ganz Ungarn östlich der Donau wurde verheert, mit Hinterlist und Grausamkeit wurden unendlich viele Menschen hingeschlachtet, so daß sich das Land von dem Aderlaß lange nicht erholte 9 1 . Westlich der Donau waren die Verwüstungen nicht ganz so verheerend, aber Spähtrupps gelangten bis weit über Wien hinaus 92 . Nun brach Panik aus. Natürlich waren die Europäer gewarnt worden, aber wer hatte die Drohungen ernst genommen ? Auch in Ungarn waren Abwehrmaßnah men getroffen worden, wie immer gegen einfallende Völker: man kannte das, man war es gewöhnt und hatte noch immer gesiegt ! 93 Doch jetzt waren die christlichen Ritter geschlagen, wer sollte das Abendland beschützen ? Die nie gekannte Brutalität mongolischer Kriegsführung, die systematische Vernichtung ganzer Bevölkerungen, die Untreue trotz gegebenen Wortes erregten Angst und Schrek ken. Befürchtungen wurden laut, die Mongolen wollten nach Ungarn nun Böhmen, Deutschland und alle Länder der Christenheit überfallen, die Furcht griff nach Frankreich und Spanien über94• Schockierende Augenzeugenberichte, Nachrichten über Kannibalismus und Metzeleien, die nicht vor Kindern, Frauen und Greisen halt machten, durchdran gen Europa. War früher die Gefahr abgetan worden, weil die Tartaren gegen 89 Heftige Sprache in polnischen Annalen (neuestens A. RUTKOWSKA-PLACHCINSKA, L'image du danger tartar dans les sources polonaises de XlIIe-XIVe sieCles, in: HistOire et societe. Me!. G. Duby, Aix-en-Provence 1992, 87-95), aber im Westen kaum Resonanz auf die konkreten Ereignisse in Polen : F. SCHMIEDER, Der Einfall der Mongolen nach Polen und Schlesien - Schreckensmeldungen, Hilferufe und die Reaktionen des Westens, in: Wahlstatt 124 1 , hg. v. Ulrich SCHMILEWSKI, Würzburg 1991, 77-86 (ev. gab es doch einen Polen, der nach Westen berichtete: freundlicher Hinweis von G. Frei bergs auf seine demnächst erscheinende Edition der Descriptiones terrarum: unten S. 247 mit N. 273). Kämpfe Bild 1, vgl. S. 2 14 , N. 86. 90 MP CM VI S. 79. - Zu den genannten Orten die Karte. Alle mongolischen Bewegungen in Polen, Mähren und Ungarn Gustav STRAKoscH-GRAsSMANN, Der Einfall der Mongolen in Mitteleuropa in den Jahren 1241 und 1242, Innsbruck 1893, Karte III und Detailkarte IV. 91 Krasse zeitgenössische Schilderungen der Folgen z . B. Ann. Gotwic. Cont. Sancruc. 1/ S. 641 92 Schilderung der verheerenden Züge bei GÖCKENJAN/SWEENEY (Hg.), Mongolensturm, 48-55. Quellen z. B.Thomas v. Split S. 586ff., Ann. Admunt. S. 597. 93 Z . B. Thomas v. Split S. 585 Z. 42ff. Nachträglich zu 1239: Viele nahmen die Einfälle der Tartaren in Rußland quasi pro ludo (S. 585 Z. 8/9; 29). 94 Riccardus IV, 11 +13/4 S. 158/9, Julian 4,2 S. 178; Gregor IX. am 16. 7. 1241 (aus dem Konzeptbuch des Albert Beham Nr.2 S. 58); Ann. S. Pantal. S. 535. Richer v. Sens, um 1254/5, S. 3 10. - Zur Angst in Frankreich: Dialog zwischen Ludwig IX. und seiner Mutter bei MP CM IV S. 1 11 12.
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Sarazenen und Schismatiker kämpften, so herrschte nun überall die Angst; der Name schon sagte doch alles: Die fremden Horden kamen direkt aus dem Tartaros - war dies das Ende der Welt ? Waren Gog und Magog aus den vier Winkeln der Welt aufgebrochen, um den Jüngsten Tag einzuläuten ? Hatte man doch unmittelbar vorher eine Sonnenfinsternis beobachten können ! 95 Die gering fügigste Erklärung war noch, daß Gott die Verheerungen als Strafe und Mahnung für die sündige Christenheit geschickt hatte 96. »Im selben Jahr [1240] tauchte ein unbekanntes barbarisches Volk auf, das man Tartaren oder Ismaeliten nennt, die eine riesige Metzelei unter den Menschen anrichteten, vor allem unter den Christen, die zu verfolgen und deren Namen auszulöschen sie losgezogen waren. . . , Unter sie haben sich falsche Christen gemischt und eine Vielzahl von Häretikern, von denen angestiftet sie viele Klöster zerstört haben . . « 97 Daneben kursierten noch andere vermutete Motive, etwa das der Strafe; vielleicht hatten auch Boten des Kaisers - dem mancher solche Feindseligkeiten gegen die Christenheit zutraute -, die man im Heer der Tartaren gesehen haben wollte, diese aufgehetzt. Immer noch wurde erzählt, sie wollten die Heiligen Drei Könige aus Köln holen. Und dann war da auch jene verdächtige Freiide der Juden, die sogar Waffentransporte zur Unterstützung der Mongolen ausgerüstet haben sollen - hier klingt wiederum die Angst vor Gog und Magog an, denn seit Petrus Comestor im 12. Jahrhundert identifizierte man die eingeschlossenen Juden stämme Alexanders des Großen mit den Endzeitvölkern 98. Nicht weniger erschreckend aber war das wahre Motiv, das sehr bald bekannt wurde: Die Tartaren wollten die ganze Welt erobern! 99 Und kein Wunder, daß .
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95 Ann. Gotwic. Cont. Zwet. S. 655; Ann. Admunt. S. 592. 96 propter peccata der Ungarn: Ann. Gotwic. Cont. Sancruc. Il S. 641 (ähnlich 1259 in Polen: Ann. Capit. Posnan. S. 460). - Hier sind die Tartaren bereits als zwar schlimme, aber erklärliche Gefahr eingeordnet : unten S. 265/6: dort auch andere teleologische, für die Denkweise der Zeit typische Interpretationen, die auch bei Kenntnis ganz weltlicher Ursachen und Absichten der Mongolen nicht verstummten. 97 Ann. Scheftlar. Maior. S. 341 (Oberbayern, aber Nähe zum Geschehen war für die Reaktion offenbar ohne Bedeutung: BEZZOLA 91). Häretische, verstoßene Christen als Anstifter kennen auch MP CM VI S. 82, Gesta Trev. S. 404, Ann. Gotwic. Cont. Sancruc. Il S. 640. 98 Strafe : gegen Russen, gegen Ungarn (tatsächlich begründeten die Mongolen ihren Krieg gegen die Ungarn mit deren Aufnahme der Kumanen). Eine ganze Palette von Motiven, die alle von den Mongolen selbst stammen sollten, bot Ivo V. Narbonne an (in MP CM IV S. 270-277; unten S. 202, N. 14); zu all dem BEZZOLA 100-104. - Zu den Verdächtigungen des Kaisers unten S. 123. Der Kaiser soll den Kreuzzug, für den alle begeistert waren, verhindert haben : Ann. Gotwic. Cant. Sancruc. Il S. 640/1. - Zu den Juden N. 65, MP CM IV S. 131-133, Gesta Trev. Cont. IV S. 404. Zu Gog und Magog unten S. 259 ff. 99 Das weiß Z. B. Friedrich II. (MP CM IV S. 118) und teilt es seinen Standes genossen mit. Dieser völlig richtigen Erkenntnis nahe kommen die Ann. Gatwic. Cant. Sancruc. II S. 640. Der rex der T. sei überzeugt, der einzige Herr auf Erden zu sein: hier werden die Titulaturen der Unterwerfungsauffor derungen rezipiert. MP CM IV S. 276, 607/8, VI S. 114. - Vielleicht scheint in der Falkner-Anekdote Alberichs v. Trois-Fontaines auch ein wirklicher Brief mit Aufforderung zur Unterwerfung an Friedrich II. durch : S. 943.
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I . FRAGEN U N D Z I E L E 100.
ihre Angriffe Erfolg hatten, war doch die Christenheit in sich entzweit Die Mongolen hatten sich, so wußten die Chronisten zu berichten, erst dann ent schließen können, Ungarn anzugreifen, als sie erfuhren, wie zerstritten dieses Volk im Innersten sei: dahinter stand die letztlich unerschütterte Überzeugung die auch die Mongolen nach Ansicht der Christen teilten -, daß die christlichen Ritter die besten der Welt seien; ein Glaube, der bald wieder die Oberhand . 101 gewlllnen konnte . Die unmittelbar betroffenen Fürsten reagierten sofort; König Bela rief um Hilfe und bot dem Kaiser Lehnstreue, wenn er ihn rette; am 22. April 1241 tagte in Merseburg ein Reichstag, am 15. Mai ein Fürstentag in Eßlingen; schon im April 102 predigte der Mainzer Erzbischof das Kreuz und ließ Prozessionen veranstalten . Doch trotz aller gewonnenen Erkenntnisse, aller derartigen Bemühungen und mancher apokalyptischen Schreckensbotschaften, die einander jagten, organisier ten die europäischen Mächte keinen nennenswerten Widerstand. Die Zeit war ungünstig, der Konflikt zwischen Kaiser und Papst trieb seinem Höhepunkt entgegen. Der Kaiser rief in der Erkenntnis, die Lage unterschätzt zu haben, zur Einheit der Christenheit auf; an ihrer Spitze werde er gegen die Feinde ziehen wenn der Papst es nur zuließe. Gregor IX. war betroffen, doch außer Trost und Propaganda war auch von ihm nicht viel zu hören, und schon im August 124 1 starb er. Beide Herren stellten die eigene Auseinandersetzung über die Mongolen abwehr. 1242 aber verschwanden die Horden Batus wieder nach Osten - es schien wie ein Wunder Gottes, der die Christenheit nicht völlig vernichten wollte. In Ostasien war der Großkhan Ögödei gestorben, und Batu wollte auf seinen Einfluß bei der Nachfolgeregelung nicht verzichten. Er zog seine Truppen aus den westlichsten Positionen wieder ab, um sich in der Kiptschak-(Kumanen) Steppe festzusetzen; die Mongolen blieben in der Zukunft zwar weiterhin durch ständige Überfälle eine Gefahr für Osteuropa, aber die Expansion hatte ihre Grenzen erreicht. Im Abendland jedoch ahnte man weder, weshalb Batu umgekehrt war, noch ob und wann er zurückkommen würde. Wußte man doch kaum, mit wem man es 103 überhaupt zu tun gehabt hatte und warum dies alles geschehen war . In den 100 Z. B. Friedrich H., MP CM IV 5. 117. Auch Kenner wie Plano Carpini mahnen zur Eintracht. 101 Vgl. 5. 124. 102 Predigt 25. 4. 41, HB V, 1209-1213 vgl. 1213/4; Prozessionen: Ann. Wormat. 5.46. Der BE. v. Konstanz am 25. 5. (Exhortatio Heinrici); Chr. Erphora. 5. 657. Ann. S. Pantal. 5. 535 ( Chr. reg. Colon. 5. 281). Zur Kreuzzugssituation P. ]ACKSON, The Crusade Against the Mongois (1241), in: ]EH 42 (1991) 1-18; zu Belas Angebot unten 5. 123, N. 238. 103 Erst Plano Carpini konnte das Rätsel des Rückzuges lösen (VIII,5 5. 95). Man begriff auch nicht recht, warum man unterlegen war: ].RICHARD, Les causes des victoires mongoles d'apres les historiens occidentaux du Xnle siecle, in: DERs., Croises, Nr.XI ; dazu unten 5. 122/3 u. 229ff. Noch Thomas v. Cantimpre (t 1263/72, Bonum 1I,1, unfol.) erzählt, daß die Tartaren Brabant nicht hätten verwüsten dürfen, weil es dort zu viele Heilige gebe. =
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Traditionen suchte man vergebens eine sichere Antwort; die Bibel und die theologischen Schriften boten nur die zitierten apokalyptischen Interpretationen an; nach der traditionellen Geographie konnten die Tartaren vielleicht Skythen sein 104. Wie schon angedeutet, saß der Schrecken allerdings keineswegs so tief wie das christliche Selbstvertrauen, denn, so klagt mancher Annalist, kaum waren die Tartaren abgezogen, teilten die Herren und Bischöfe auch schon das unter Opfern reichlich gesammelte Kreuzzugsgeld unter sich auflos• Landgraf Heinrich Raspe von Thüringen sah sich genötigt, mit drastischen Bildern seine Standesgenossen aufzurütteln, und das nicht zu Unrecht: Friedrich der Streitbare, Herzog von Österreich, nutzte die schwierige Lage König Belas aus, um an ihm Rache zu nehmen . . . 1 06 Nicht alle Herren aber sahen so kurz. Erst 1243 107 gab es wieder einen Papst; mit dem Genuesen Sinibaldo dei Fieschi bestieg als Innocenz IV. eine der größten Persönlichkeiten des 13. Jahrhunderts den Heiligen Stuhl. Der neue Papst ergriff sofort die Initiative gegen den Kaiser, behielt aber daneben die anderen Belange der Christenheit im Auge, so auch die Tartarengefahr. Bruder Julian hatte vor allem von Herkunft und Kriegswesen der Mongolen, nur wenig von Religion und Sitte zu berichten gewußt, Friedrich 11. 1241 die verfügbaren Nachrichten zu einem ungewöhnlich nüchternen Bild geordnet 1 08 . Doch wollte man auf weitere Angriffe vorbereitet sein, so bedurfte es genauerer Informationen. Innocenz entfaltete deshalb nicht nur vielfältige diplomatische Aktivitäten bei den christli chen Fürsten Osteuropas, forderte zum Burgenbau an den Ostgrenzen des christlichen Europa auf und sammelte alle Informationen, die er aus möglichst erster Hand erreichen konnte 1 09. Der Papst ging noch einen Schritt weiter; er schickte seine Gesandten zu den Mongolen nach Osteuropa - die Franziskaner Johannes von Plano Carpini und Benedikt von Polen - und in den Vorderen Orient - die Dominikaner Ascelin, Simon von St-Quentin und Andreas von Longjumeau : . . . um . . . die Wahrheit über deren [der Tartaren] Vorhaben und Absicht festzustellen und den Christen zu offenbaren, damit nicht jene [Tartaren] bei einem möglichen plötzlichen Einfall diese [Christen] unvorbereitet finden »
104 Zur skythischen wie anderen Vorschlägen zur Herkunft unten S. 287 ff. 105 Gesta Trev. Cant. IV S. 404; Ann. Warmat. S. 47. 106 Heinrich: in MP CM VI S0. 76-78. BeJas Schicksal : Rogerius v. Apulien, c. 32/3 S. 574-76 (unten S. 202, N. 14); dann Überfall auf Ungarn 1243 Ann. Gatwic. Cant. Sancruc. II S. 64 1 ; angebliche Erpressung des Kaisers : unten S. 123, N. 238. - Im Norden Rußlands fallen die Schweden und der Orden ein. 107 Der kurze Pontifikat Coelestins IV. blieb für die Mongolenfrage unwirksam. 108 Zu Julian BEZZOLA 4 1 ; Interpretation seiner mongolischen Geschichte 45-47. - Friedrich 11.: MP CM IV S. 112/19. 109 Vgl. S. 78 (mit N. 19; Sammlung: z. B. Peter v. Rußland auf dem Konzil von Lyon, zu ihm BEZZOLA 1 13).
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werden, wie das . . . bereits einmal geschehen ist« J lo . Die Gesandten fragten und beobachteten umfassend, ihre Nachrichten fanden ein großes Echo - und Europa wußte nun sicher, daß der EroberungswiUe der Mongolen ungebrochen war und JI. 1 man mit ihnen nicht verhandeln konnte, wollte man sich nicht unterwerfen Die Kontakte rissen nicht mehr ab, weitere Informationen flossen nach Europa; im Zusammenhang mit einem mongolischen Bündnisangebot erreichte 1248 ein Brief des kleinarmenischen Prinzen Sempad mit einem Bericht über den ersten Teil seiner Reise zum Großkhan ( 1247-1250) Zypern und dann Europa, im gleichen Jahr reiste Andreas von Longjumeau als Gesandter Ludwigs des Heiligen nach Karakorum, schließlich zog Wilhelm von Rubruk als Missionar in die 1 12 asiatische Steppe . Doch die Qualität der Beziehungen konnte sich erst verän dern, als sich die Verhältnisse unter den Mongolen selbst grundsätzlich gewandelt hatten. Johannes von Plano Carpini hatte In Karakorum die Thronerhebung von Ögödeis Sohn Güyük erlebt; Rubruk traf dort schon den Großkhan Möngke an, einen Sohn Toluis. In schweren Auseinandersetzungen um die Würde des Groß khans hatte sich der Clan Tolui gegen den Clan Ögödei durchgesetzt 1 1 3 . Die Folge war eine zunehmende Entfremdung der Tschaghatai-Khane und auch der Dschötschiden Batu (gest. 1256) und seines Bruders Berke in der Goldenen Horde, die die alte Großkhan-Linie unterstützt hatten, vom Zentrum in der Mongolei. Möngke sandte zudem 1255 seinen Bruder Hülägü in den Vorderen Orient, wo dieser wenig später das Ilkhanat von Iran begründete 1 14. Die ständigen Zwistigkeiten der folgenden Jahrzehnte zwischen dem Ilkhanat auf der einen, der Goldenen Horde und dem Tschaghatai auf der anderen Seite sind vor allem verursacht von der Konkurrenzsituation zwischen den vier Dschingiskhaniden Clans 115. Die wichtigste Folge dieser Gegensätze war eine faktische Auflösung des Groß reiches in immer noch riesige Teilreiche, die oftmals miteinander im Krieg lagen. 110 So Plano Carpini in seinem Prolog, c. 2 S. 28. - Zu einer weiteren Gesandtschaft M. RONCAGLIA, Frere Laurent de Portugal OFM et sa legation en Orient (1245-1248 env.), in: Boll. della Badia greca di Grottaferrata 7 ( 1953) 33-34. 1 1 1 Zu den Entwicklungen dieser Jahre S. 80, zum Echo ebd., auch 20 l . 1 12 Näheres zu all jenen S. 80 fE. 113 Unklarer Widerschein der Unruhen bei Rubruk XXIII,4 bzw. XXVII,6/8 S. 225, 24112. In der Übergangszeit kam Andreas v. Longjumeau nach Karakorum : XXXV,3 S.30 l . 1 14 Planungen seit Möngkes Thronbesteigung 1251. - Zur Gründung und zur Geschichte des Ilkhanats GROUSSET, Steppenvölker, 751 H. Zur Benennung »von Iran� WEIERS, Mongolen in Iran, wie N. 121, 300. 115 M. WEIERS, Das Khanat Tschaghatai, in: DERs., Mongolen, 294 (das Gebiet ist benannt nach dem Begründer des Clans). Diese Ursache war sicher wichtiger als die konkurrierenden Sympathien für Christentum oder Islam, wie ein armenischer Chronist es darstellt (GROUSSET, Steppenvölker, 491). Im Jahre 1305/16 feiern alle Dschingiskhaniden Frieden : ein Ereignis, von dem der I 1khan sogar Philipp v. Frankreich Mitteilung macht. .
G E SCHI CHTE D E R M O N G O LI S C H E N RE ICHE
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Anders als in Osteuropa, wo schon nach 1242 die Konsolidierung des Mongolen reiches der Goldenen Horde einsetzte, dem keine weitere Expansion mehr gelang, war der Vorstoß im Vorderen Orient noch keineswegs beendet. Hülägü kam dorthin mit dem Auftrag, weiter nach Westen vorzudringen. Zunächst sehr erfolgreich, eroberte er 1258 Bagdad und vernichtete das Khalifat, drang weiter nach Syrien vor, eroberte Aleppo (24. Januar 1260) und Damaskus (1. März) und verursachte damit panikartige Reaktionen der fränkischen Christen im Heiligen Land. Der kleinarmenische König Hethum war schon 1253/56 zu den Mongolen gereist und hatte sich freiwillig unterworfen; sein Schwiegersohn Boemund VI. von Antiochia folgte wohl 1259 seinem Beispiel : eine Aktion, die ihm die Exkommunikation durch den Bischof von Bethlehem als päpstlichem Legaten im Heiligen Land eintrug l 1 6 • Das Tartarenbündnis bot, solange die Mongolen im Vorderen Orient ein Machtfaktor blieben, den Armeniern immer wieder Hilfe gegen Übergriffe der ägyptischen Mamluken, aber nicht in dem Maße, wie König Hethum möglicher weise gehofft hatte. 1259 war Möngke im fernen Karakorum gestorben, und Hülägü ließ seine Truppen unter dem christlichen General Kitbuqa zurück, um 1 17 seinen Bruder Kubilai in den Nachfolgeauseinandersetzungen zu unterstützen . Da zerbrach am 3. September 1260 bei 'Ain Galut, an der Goliathsquelle, wo einst David den Goliath besiegt hatte, der Mythos von der Unüberwindlichkeit der Tartaren: ihre Truppen wurden von einem mamlukischen Heer unter dem späteren Sultan Baibars vernichtet. Eine weitere Niederlage folgte am 10. Dezem ber bei Hirns am Orontes - die Grenzen mongolischer Expansion waren auch in Syrien erreicht. Das Ilkhanat etablierte sich mit Zentrum um die Stadt Tabris in Aserbaidschan ; weitere großangelegte mongolische Vorstöße nach Südwesten 128 1 und 1299 konnten ihren Herrschaftsbereich nur kurzfristig erweitern. Die Gegenwehr der Mamluken wurde dabei gefördert durch ihr Bündnis mit der Goldenen Horde. Deren Khane lebten mit den Ilkhanen auf Grund der geschilderten Zerwürfnisse im mongolischen Großreich in zunehmender Feind schaft und eröffneten im Kaukasus, den sie als ihr unrechtmäßig enteignetes Erbteil betrachteten 118, eine zweite Front. Wenn sie das Gebirgsland auch erst nach dem Zusammenbruch des Ilkhanats im 14. Jahrhundert erobern konnten, so zwangen sie den Iran doch zur Aufteilung seiner Kräfte, oft noch unterstützt durch Angriffe der Tschaghatai-Khane an der Grenze zu Transoxanien. Neben dem Ende der Expansion aber brachte die Erfahrung der Niederlagen zusammen mit dem Zerfall der Reichseinheit ein Umdenken beim Ilkhan, der nun Vgl. S. 86/7; dort auch Näheres zu den Reaktionen 1258-1260. Ausführliche Darstellung der Situation, aber auch der Stimmung unter Christen und Muslimen bei JACKSON, Crisis, wie S. 86, N. 67, Die Mongolen im Vorderen Orient: P. M. HOLT, The Age of the Crusades. The Near East from the Eleventh Century to 1517, London/NYork 1986, bes. 86ft 117 V gl. S. 36/7. 1 1 8 Ursprünge der Streitigkeiten im Kaukasus : WEIERS, Horde, wie N. 77, 346. 116
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I . FRAGEN U N D Z I E L E
bereit war, auf fremde Kräfte zurückzugreifen. Die italienischen Seestädte waren aus Gründen der Konkurrenz untereinander früh bereit, auf der einen oder anderen Seite auch militärisch, vor allem mit Schiffen, über die die Mongolen nicht verfügten, einzugreifen : unterhielt Genua gute Beziehungen zu den Ilkha nen, so näherte sich Venedig der Goldenen Horde 1 19. Hülägü und seine Nachfol ger bemühten sich darüber hinaus immer wieder um Kontakte zu anderen europäischen Mächten, in denen sie wegen deren Erzfeindschaft mit Ägypten die geeigneten Verbündeten erblickten. Durch den nun beginnenden Gesandten austausch erreichten neue und genauere Nachrichten über die vorderasiatischen Mongolen das Abendland, getragen meist von syrischen Christen oder Europä ern, die sich lange Jahre bei den Tartaren aufgehalten hatten und sie dementspre chend gut kannten. Nachdem sich in Europa endlich die Erkenntnis durchgesetzt hatte, daß an beiden Fronten »die gleichen« Tartaren aufgetaucht waren, mußte man nun lernen, zwischen den Horden wieder zu trennen. Das so transportierte Wissen um die Feindschaft zwischen Ilkhanen und Goldener Horde, vom Bünd nis der letzteren mit Ägypten - die Goldene Horde kannte man in Europa ja auch als bleibende Bedrohung für das christliche Osteuropa - sowie von der christen freundlichen Haltung fast aller Ilkhane schuf allmählich auch im Abendland ein wachsendes Vertrauen zu diesen. Wenn es auch nie zum erhofften gemeinsamen Kampf kam, so hatten diese Kontakte und das Gedankenspiel mit dem Bündnis doch wichtige Folgen für das europäische Urteil nicht allein über die Mon 120 golen . Konnte von einem einheitlichen Reich der Mongolen auch bald keine Rede mehr sein, so hielten doch gerade die Ilkhane lange an dieser Fiktion fest und ließen ihre Herrschaft immer wieder vom Großkhan, der ja demselben Clan entstammte, bestätigen. Diese Illusion beeinflußte sicher auch die Zähigkeit, mit der abendländische Autoren bei aller Differenzierung, die manch einer in der direkten Auseinandersetzung mit den Fremden gelernt hatte, an der Darstellung des einheitlichen Mongolenreiches unter einem Großkhan festhielten. Erst Gha zan (seit 1295) ließ eigene Münzen prägen und verzichtet endgültig auf die 121. Bestätigung aus Ostasien Trotz der erwähnten freundlichen Haltung gegenüber dem Christentum, dem viele Mütter und Frauen der Ilkhane, zum Beispiel zwei griechische Prinzessinnen Maria als Gemahlinnen Abaqas und Öldscheitüs, angehörten, setzte sich im mongolischen Iran letztlich der Islam durch. Ob überhaupt je ein Ilkhan selbst 119 Vgl. S. 156/7; SPULER, Horde, 58 u. 70/1. Angebliche Einbindung der Mongolen ins europäische Mächtesystem unten S. 102, die diplomatischen Bemühungen 89ff. 120 Vgl. S. 108. 121 Die Verwandtschaft zu den Dschingiskhaniden in China war sehr weitläufig geworden; die Treue zum Clan wurde von den Realitäten überwunden. Neben den Hinweisen auf programmatisches Unabhängigkeitsstreben steht allerdings die Beibehaltung des Namens »Ilkhan«, der Unterordnung bedeutet (M. WEIERS, Die Mongolen in Iran, in: DERS., Mongolen, 302; zu Ghazan 326/7).
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22 1 Christ war, ist mehr als fraglich . Hülägü (bis 1265), sein Sohn Abaqa (1265-82) und seine Enkel Arghun (1284-91) und Ghaikatu (1292-95) waren wohl Buddhi sten; als Hülägüs Sohn Tegüder (1282-84) unter dem Namen Ahmad versuchte, den Islam, dem die Mehrheit der Untertanen angehörte, durchzusetzen, wurde er nicht zuletzt deshalb 1284 von einer konservativ-mongolischen Adelsopposition 2 gestürzt J 3• Knapp zehn Jahre später aber siegte Ghazan (1295-1304) im Kampf um den Thron gerade wegen seines Übertritts zum Islam; alle späteren Ilkhane waren dann Muslime. Jene Wandlung spiegelt die zunehmende Assimilierung der nomadischen Mongolen an die ansässige Kultur ebenso wie die Bautätigkeit der Ikhane in den Hauptstädten Tabris und SuItaniyah, wo sich Ghazan und sein Bruder Öldscheitü (1304-16) erstmals auch Mausoleen errichten ließen 124. Die religiöse Karriere des letzteren ist geradezu bezeichnend für die Windungen der Ilkhane, denn er gehörte im Laufe seines Lebens praktisch allen Religionen oder 2 1 Lehren des Vorderen Orients außer dem Judentum an 5 . Keinen Ilkhan aber - außer dem genannten Ahmad - hinderte sein Glauben an einer guten Behandlung oder gar Förderung anderer Religionen. Neben den europäischen Händlern, die in jedem Mongolenreich gerne gesehen waren und beschützt wurden, konnten sich auch katholische Missionare ohne Behinderung in Tabris und SuItaniyah niederlassen. Die gesamte religiöse Situation war unklar genug, um dem Abendland auch Anlaß für manches Mißverständnis - wie die ver herrlichende Legendenbildung um Ghazans Westfeldzug der Jahre 1299/1300 2 zu bieten 1 6. Dieser Feldzug weckte im Abendland Hoffnungen wie noch nie, wirkte anregend auf die Blüte einer ganzen Kultur von Kreuzzugsgutachten, bildete real aber den letzten Höhepunkt in den Expansionsbemühungen der Ilkhane nach Westen. Als der armenische Prinz Haython 1307 in seinem Gutachten die Vorteile eines Tartarenbündnisses in glühenden Farben ausmalte, war zwar Ilkhan Öldscheitü (gest. 13 16), im Abendland unter seinem persischen Namen 12 Carbenda wohlbekannt und ebenso ängstlich wie .hoffnungsvoll beobachtet 7, noch an konkreten Verhandlungen mit den europäischen Mächten interessiert. 122 Mancher war als Kind getauft worden, aber vor seiner Thronbesteigung konvertiert; Baidu (1295) wird von christlichen Quellen als Christ gezeichnet, kann aber ebenso Buddhist gewesen sein: sicher ist, daß er sich den Muslimen gegenüber wohl aus Gründen der Parteiung feindlich verhielt. 123 WEIERS, Mongolen in Iran, wie N. 121, 3 14. 124 WEIERS, Mongolen in Iran, wie N. 121, 336/7. Die Städte auf der Karte. 125 WEIERS, Mongolen in Iran, wie N. 121, 332/3, 336/7. 126 Zu Ereignissen und Legenden um den »King of Tars« vgl. S. 106 bzw. 219120, zu den Kaufleuten im Iran 152 ff., zu den Missionaren 128ff. Ein vorteilhaftes Bild zeichnet in seinem Kreuzzugsgutach ten noch 1 3 1 7 der Dominikaner Wilhe1m Adam (unten S. 1 1 7 ff.). 127 Vor allem die Überlegungen Ramon Lulls, unten S. 130/1. - Öldscheitü, genannt Harbandah Carbenda; sein persischer Beiname Eselstreiber: WEIERS (Hg.), Mongolen, 320; Khudabandah bei Ibn Battuta, übers. GIBB II S. 335; daher auch die Münzbenennung carpentanus, die sich BALARD (Romanie, 666) nicht erklären kann. Der Name ist im Abendland schon zu seinen Lebzeiten bekannt : Haython und Ramon Lull, sicher auch die Kaufleute und Missionare, kennen ihn. =
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I . FRAGEN UND Z I E LE 128
Seinem Sohn Abu Sa'id aber gelang 1323 der Friedensschluß mit Ägypten. Sein Tod 1335 bedeutete im Zusammenhang mit schon früher ausgebrochenen Wirren praktisch das Ende des Ilkhanats 1 29. Dennoch gelang es der Goldenen Horde erst 1356/57 und damit auf dem Zenit der eigenen Macht - für kurze Zeit, nicht nur den Kaukasus, sondern das ganze Kernland der Ilkhane zu erobern. -
Vor der Darstellung der Geschichte der Goldenen Horde, zu der das Abendland ununterbrochen bis ins 15. Jahrhundert Kontakt hatte, ist noch ein kurzer Blick auf das ost asiatische Gebiet zu werfen. Großkhan war seit 1260 ein weiterer Sohn Toluis, Kubilai, der Statthalter in China gewesen war und 1260 seine Hauptstadt von Karakorum nach Peking (mongol. Stadt Khan Baliq) verlegte. Sein Konkur rent um die Position des Großkhans war sein eigener Bruder Arigh Böke gewesen, der das nomadische Leben der Steppe der chinesischen Kultur vorzog. Dieser Gegensatz, in diesem Fall innerhalb des gleichen Clans aufgebrochen, trat dauerhaft zu dem alten innermongolischen Problem, dem Streit um die Deszend entenlinie, aus der der Herrscher stammen sollte, hinzu DO. Die Linie Ögödeis, aus der ursprünglich der Großkhan stammte, stand für die Steppentradition, die auch immer wieder vom Clan Tschaghatai unterstützt wurde; die Ilkhane im Iran und der Großkhan in Peking bevorzugten das Kulturland 13 1 . Die polemische Formu lierung des Gegensatzes bedeutete zwar nicht die sofortige Entnomadisierung der Mongolen in den Kulturländern, doch das langsame Aufgehen in der einheimi schen Bevölkerung. Demonstrativ lebte um 1400 Timur als Exponent der Steppe, mit deren Hilfe er zur Macht gekommen war, in Zelten vor den Toren seiner Stadt Samarkand - die er gleichwohl prachtvoll ausstattete 1 32 . Als Kubilai (1260-1294) zum Groß khan erhoben wurde, waren die Mongolen zwar Herren von Nordchina, dem Cathay der Europäer, aber die Eroberung Südchinas (Manzi) war erst 1279 abgeschlossen 1 33, und mit diesem Jahr beginnt in der konfuzianischen Geschichtsschreibung die Mongolen-Dynastie Yüan 134. Die Pracht und die einigermaßen geordneten Verhältnisse während der langen Regie128 Sein Name auf Münzen auch Busayid: WEIERS, Mongolen in Iran, wie N. 121, 338; ähnlichen Ursprung hat die päpstliche Bezeichnung Boyssethan (1322, Reg.Joh. XXII II Nr. 1456 Sp. 129). 129 Diese Situation schildert der afrikanische Reisende Ibn Battuta, übers. GIBB II S. 335-341. 130 R. TRAUZEIIEL, Die Yüan-Dynastie, in: WEIERS, Mongolen, 230/1. Marco Polo registriert den Akkulturationsprozeß in China: Die Tartaren, deren Sitten er gerade geschildert habe, seien noch die echten, nicht die in Cathay, die die dortigen Lebensgewohnheiten übernommen hätten: c. LXX (69) S. 56 (83/4). 131 In Khaidu, einem Enkel Ögödeis, erwuchs Kubilai und seinen Nachfolgern ein bis zu seinem Tode 1301 gefährlicher Gegner aus der Steppe. Er eroberte 1277 Karakorum, hielt es bis 1278 und war so bedeutsam, daß er auch vom Westen wahrgenommen und kontaktiert wurde (1289 Brief Papst Nikolaus' IV. an ihn: ed. LUPPRIAN Nr.55 S. 258-260). 132 Clavijo S. 265/6. - Im späten 14.Jh. berichtet ein abendländischer Reisender - vielleicht allerdings nach älteren Berichten - von der »beweglichen Stadt� des (in die Steppe zurückgekehrten, unten S. 37) Groß khans (unten S. 127/8, 224/5). 133 Ausgreifen der Mongolen in Ostasien: TRAuzEIIEL, Yüan-Dynastie, wie N. 1 30, 227/8. 134 »Uranfang� nennt Kubilai sein Reich ab 1271 : TRAuzETTEL, Yüan-Dynastie, wie N. 130, 220.
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rungszeit des Kubilai schildert Marco Polo, der 1271 mit Vater und Onkel an seinen Hof gereist war. Im späten 13. und frühen 14. Jahrhundert erreichten mehrere europäische Kaufleute China; 'die Reise war relativ ungefährlich, solange ein Schutz des Großkhans auch in Zentralasien noch etwas galt. Die Kaufleute der italienischen Seestädte ließen sich von dessen Weltherrschaftsplänen nicht abschrecken, sondern verstanden vielmehr die für Händler stets nützliche Tatsa che, daß ein riesiges Wirtschaftsgebiet nur einen Herrn kennt, auszunutzen 1 35 . Doch nicht nur der Weg wurde mit der Zeit gefährlicher, auch in China selbst traten nach dem Tode Kubilais die Spannungen zwischen mongolischen und chinesischen Elementen und Streitigkeiten um die Thronfolge bei teils sehr kurzen Regierungszeiten immer mehr hervor 136 ; in den Berichten der europä ischen Missionare, die im Gefolge des Franziskaners Johannes von Monte Cor vino eine katholische Mission in China aufbauten, ist davon allerdings noch wenig zu spüren \37. Die Dynastie und die schmale mongolische Oberschicht hielten sich in China mit militärischer Überlegenheit immerhin noch bis 1368, als die natio nale Reaktion der Ming den letzten Großkhan Toyan Temür (1333-1368/70) zurück in die Steppe trieb. Dort im alten Stammland hielten Khane aus dem Clan Tolui in ständiger Rivalität untereinander den Anspruch auf die Position des Großkhans aufrecht 1 38 , waren aber völlig aus dem Blickfeld der Europäer ver schwunden. Das einzige mongolische Teilreich, das die Europäer kontinuierlich im Blick behielten, war das der Goldenen Horde im Gebiet des Kiptschak. Nach dem Rückzug aus Ungarn 1242 hatte sich dieses Reich um die Hauptstadt Sarai an der unteren Wolga konsolidiert 1 39. Trotz des Verzichts auf weitere Expansion blieben die Mongolen noch lange ein militärischer Machtfaktor für Osteuropa; immer wieder wurden Polen, die entstehende Großmacht Litauen und gelegentlich 135 Zu den Kaufleuten in der Zeit der in der Forschung oft sog. 'pax mongolica« unten S. 167. 136 TRAUZEITEL, Yüan Dynastie, wie N. 130, 235/41. 137 Unten S. 134; hesonders wichtig die Berichte der Franziskaner Q.4orich v. Pordenone (13 14/ 18-30, zur See über Indien und Südostasien) und Joh. v. Marignolli ( 1339-1352, durch Zentralasien hin, zurück auf dem südlichen Seeweg), der Dominikaner Joh. de Cori und Jordan v. Severac (der wohl nicht bis China selbst gelangte). Eine Ljste der Reisenden nach Ost- und Zentralasien 1242-1448 gibt REICHERT, Begegnungen, im Anhang. Zu den Kö-;;-takten der Missionare Asiens untereinander vgl. S. 148 mit N. 372. Unsicher ist das Erreichen Chinas im 15.Jh. bei Pietro Rombulo und Nicolo dei Conti (sein Bericht bei Poggio, Hist. IV S. 134). Zur Verbreitung Francis M. ROGERS, The Quest for Eastern Christians : TraveIs and Rumors in the Age of Discovery, Minneapolis 1962. Er könnte in China gewesen sein, Rombulo hingegen war es wohl nicht: Gerade Nicolos Bericht über den Großkhan und seine Stadt Cambaleschia fand jedoch weite Verbreitung als Augenzeugenbericht. 138 Imperiale Zentralisation gelang noch einmal dem Toluiden Batu Möngke Dayan Qayan (1470-1543), der zum Anspruch die Gefolgschaft der mongolischen Völker fügen konnte: v. VEIT, Die mongolischen Völkerschaften vom 15.Jh. bis 1691, in: WEIERS, Mongolen, 381 H. 139 Zur Geschichte GROUSSET, Steppenvölker, 536-537, AIt-Sarai (Sarai-Batu), später Neu-Sarai (Sarai-Berke; von Ö zbeg zur Hauptstadt gemacht); beides ergraben: BALoDIs, Alt-Sani, wie S. 296, N. 509. - Die Kiptschak waren an sich ein türkisches Volk, nach dem die ganze Steppe östlich des Dnjepr bis östlich der Wolga benannt wurde. •
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I . FRAGEN
UND
Z I ELE 140.
Ungarn während des 13. und 14. Jahrhunderts Opfer der Beutezüge der Horde Byzanz versuchte sich durch Verträge oder auch durch das Verheiraten seiner Prinzessinnen in die Horde abzusichern. Rußland gar konnte sich erst im Laufe des 15. Jahrhunderts allmählich vom »Tartarenj och« lösen und erst später ganz befreien. Bis dahin blutete das Land durch die jährlichen Tributzahlungen, mongolische Strafexpeditionen und häufig von den rivalisierenden russischen Fürsten selbst herbeigerufene Mord- und Plünderungszüge aus. Schon diese Ausführungen machen den Grund für das im Vergleich zum Westen so andere 14 1 . Tartarenbild Osteuropas ersichtlich Trotz aller Ängste, die in Osteuropa herrschten, ließen sich die italienischen Kaufleute nicht abhalten, einen sehr lukrativen Schwarzrneerhandel aufzubauen. Schon in der zweiten Hälfte des 13. Jahrhunderts setzten sie sich auf der Krim und an der Donmündung fest, und in der ersten Hälfte des 14. Jahrhunderts, als die übrigen Mongolenreiche durch den Türkeneinfall vom Westen abgeschnitten wurden, begann der Handel der Italiener von der Krim aus, wo sie inzwischen mit Zustimmung der Khane sogar Kolonien hatten gründen können, erst richtig zu 142. blühen Die Europäer zogen selbst bis zur mongolischen Hauptstadt Sarai an der unteren Wolga, doch vor allem waren ihre Niederlassungen Umschlagplatz für Waren, die der Zwischenhandel aus den Weiten der Steppe brachte, denn der Verfall des Großreiches brachte auch Gefahren für den fremden Handels reisenden. Schon 1259 unter Berke (1257-1267), einem Bruder Batus (gestorben 1255), wurde die Goldene Horde in Widerstand gegen Großkhan Kubilai praktisch zum unabhängigen Reich 1 43. Wenn sie sich auch nicht offen lossagten, bat doch kein Khan - wie die Ilkhane - um Bestätigung seiner Wahl aus Karakorum. Kubilai und seine Nachfolger hatten gar nicht mehr die Möglichkeiten, militärisch etwas dagegen zu unternehmen. Zwar schwächten nach dem Tode Berkes kurze Regie rungszeiten kraftloser Khane, wie sie im Ilkhanat sukzessive zum Untergang beigetragen hatten, und ständig wiederkehrende Morde innerhalb des Dschötschi den-Clans (»tale sistema era abituale nell'Orda d'Oro« 1 44 ) die Goldenen Horde. Doch der mächtige Emir Noqai ergriff zwischen 1270 und seinem Tod 1299 die Zügel und konnte die Horde nach innen und außen festigen 1 45. Noch fehlte der machtvolle äußere Gegner, der die unklare Situation hätte ausnutzen können. 140 Z. B. SPULER, Horde; Paul W. KNOLL, The Rise of the Polish Monarchy: Piast Poland in East Central Europe, 1320-1370, Chicago/London 1972. 141 Zum Mongolenbild von Byzanz, nicht Thema dieser Arbeit, A. GRAF, Die Tartaren im Spiegel byzantinischer Literatur, in: Jubilee Vol. in Hon. of B. Heller, Budapest 1941, 77-85. - Zur Sicht der russischen Quellen, die mir auch aus sprachlichen Gründen nicht zugänglich sind, vgl. S. 10. 142 Genaueres dazu unten S. 153 ff. 143 WEIERS, Horde, wie N . 77, 346/7. 144 SKRZINSKAJA, Storia, wie unten S. 157, N. 4 15, 14, zu einem Familien-Massenmord. 145 Noqais Bedeutung läßt sich auch daran ablesen, daß er wie sonst nur Khane namensbildens für eine Volksgruppe wurde: WEIERS, Horde, wie N. 77, 355.
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GESCHI CHTE D E R MONGO L I S C HEN R E I C H E
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Die Blüte der Horde hielt bis zur Mitte des 14. Jahrhunderts an 1 46 . Immer wieder kam es dabei zu Auseinandersetzungen mit den immer selbstbewußter auftretenden und mit den Ilkhanen eng verbundenen Genuesen in Caffa auf der Krim 147. Trotz aller Machtentfaltung gelang es erst 1356/57, den so lange umkämpften Kaukasus zu erobern - nur zwei Jahre, bevor die Goldenen Horde in das Chaos fast zwanzigj ähriger innerer Kämpfe versank. In den Jahrzehnten der Blüte besuchten nicht nur europäische Kaufleute die Horde, sondern in ihrem Gefolge auch westliche Missionare; aus Briefen erfahren wir von der Anlage von Klöstern und Missionsstationen. Sie blieben einigerma ßen unbehelligt, obwohl zumindest die Khane schon seit der Zeit Berkes Muslime geworden waren 1 48 . Während die Ilkhane wegen ihrer schwankenden Haltung immer wieder die Vermutung seitens der Europäer, sie seien Christen, nähren konnten, kam ein solches Gerücht für die Goldene Horde nur einmal ganz zu Anfang auf 1 49• Das frühe Bündnis mit Ägypten förderte einen gewissen kulturel len Einfluß und damit eine frühe Islamisierung der Goldenen Horde, die im Gegensatz zu den anderen Mongolenreichen nicht in einer ansässigen Kultur aufgehen konnte 150 . Als in der zweiten Hälfte des 14. Jahrhunderts die Goldene Horde immer mehr in verschiedene Machtgrüppchen zerfiel, erstarkten gleichzeitig Polen und vor allem Litauen, das 1362 an den Blauen Wassern den ersten großen Sieg gegen . Tartaren der Horde erringen konnte. Bei ihrer Expansion gegenüber Rußland und in den Auseinandersetzungen untereinander und mit dem Deutschen Orden . konnte den Polen und Litauern die militärische Schlagkraft tartarischer Trupps, die gegen Beute bereit waren, für sie zu kämpfen, äußerst nützlich sein 1 51 . Mehr und mehr wurde das Reich der einstigen Vonnacht der Region zum Rekrutie rungsgebiet für Hilfskräfte der aufstrebenden osteuropäischen Mächte. Typisch für diese Entwicklung ist die Situation am Ende des 14.Jahrhunderts. Mit Hilfe Timurs, des neuen mächtigen Mannes in Transoxanien 152 , also einer auswärtigen Macht, war der Khan Tohtamysch seit 1377 in der Horde allein an die Macht gelangt. Er versuchte bald, sich von Timurs Einfluß zu emanzipieren, griff auf den Kaukasus aus und brachte so 1391 Timurs Rache über die Horde. Daraufhin bemühte er sich um Verbündete, mußte einen Beistandsvertrag mit Großfürst Witold von Litauen mit Gebietsabtretungen erkaufen und suchte 146 Unter den Khanen Tohtu (1291-1312), Ö zbeg (13 13-134 1 ; nach ihm benennen sich die Usbeken), Dschani Beg ( 1342-1357) und Berdi Beg (1357-1359). 147 Vgl. S. 34, 156/7, 158, auch 168. 148 Vgl. S. 1 19; J. RrCHARD, La conversion de Berke et les debuts de l'islamisation de la Horde d'Or, in: DERS., Orient, Nr. XXIX. 149 Unten S. 84 zur Mission Rubruks. 150 WEIERS, Horde, wie N. 77, 348. - Zum Bündnis mit Ägypten oben S. 33. 151 Sieg über die Tartaren: SPULER, Horde, 116/7. - Tartarische Hilfstruppen nicht unterworfener Fürsten z. B. gegen Litauen schon 1324 und 1336: SPU LER , Horde, 97. 152 VgI. S. 4 1 . •
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I . FRAGEN U N D Z I E L E
1393/94 auch wieder Kontakt zu Ägypten, zu dem die Beziehungen nach 1323 mit dem Frieden zwischen Mamluken und Ilkhanen eingeschlafen waren. Doch Timur vertrieb den Khan 1395 in einem Feldzug, bei dem er Sarai vernichtete; auch Tana, die italienische Niederlassung in der Donmündung, ging damals in Flammen aufls3. Tohtamysch floh - zu Witold, der gerne die Gelegenheit ergriff, sein Gebiet weiter nach Süden ausdehnen zu können. Obgleich die vereinigten Truppen 1399 geschlagen wurden und damit die Karriere des Khans beendet war, unterstützten mongolische Truppen das polnisch-litauische Heer in der Schlacht bei Tannen berg 1410, und Witolds Einfluß war auch in der Horde selbst vor allem nach Timurs Tod - 1405 ungebrochen: 1411/12 konnte Witold des Tohtamysch Sohn Dschalal ad-Din kurze Zeit als Herrscher der Goldenen Horde gegen Edigü, den letzten großen Emir dort, durchsetzen. Die Khane waren in Zukunft entweder russen- oder litauerfreundlich, die Horde hatte ihre Souveränität weitgehend eingebüßt, nach dem Tod Edigüs 1419 zerfiel sie endgültig l 54• -
Die Mongolen blieben im 15. Jahrhundert immer noch ein Faktor im politischen Spiel Osteuropas ; die italienischen Kaufleute handelten am Nordufer des Schwar zen Meeres, bis die türkischen Eroberungen gegen Ende des Jahrhunderts es unmöglich machten. Das bedeutet für das ganze 14. und auch noch 15. Jahrhun dert kontinuierliche Kontakte und einen entsprechenden fluß von Informationen nach Westen. Dennoch ging in jenen Jahrzehnten die Bedeutung der Mongolen ebenso wie . die der Mamluken für die abendländische Politik in dem Maße zurück, in dem die Türken nach Europa vordrangen; diese hatten 1354 erstmals auf dem europä ischen Kontinent Fuß fassen können und rückten auf dem Balkan seither bestän dig weiter vor. Gleichzeitig und wie einst Dschingis Khan von den Europäern zunächst unbemerkt errichtete aber Timur - oder Tamerlan, wie die Europäer ihn ISS gerne nannten - im Rücken der Türken noch einmal ein machtvolles Mongo lenreich, das wiederum in Europas Schicksal eingriff. Im südlichen Zentralasien machte er sich auf, das Reich Dschingis Khans zu erneuern. Das Khanat Tschaghatai, dem Transoxanien einst angehört hatte, war nie ein Reichsgebilde wie das Ilkhanat, Yüan-China oder auch die Goldene Horde geworden; die Mittellage und unklare Grenzen bei der Aufteilung durch Dschin gis Khan hatten stets das Hineinregieren benachbarter Khane ermöglicht. Ein deutliches Gefälle von Süden nach Norden, wiederum von Stadt- zu Steppenkul tur, hatte 1346/47 zur Abtrennung des südlichen Transoxanien geführt; das Reich •
153 Vgl. vor allem S. 1 80. 154 SPULER, Horde, 145ff.; zu Witolds Einfluß WEIERS, Horde, wie N. 77, 370/ 1 ; zu seiner Politik PFiTZNER, Großfürst, wie unten S. 188, N. 605, 145ff.; zu Tannenberg unten S. 188ff. 155 Nach dem Spottnamen seiner orientalischen Feinde, Timur lenk, Timur der Lahme.
G E S C H I C HTE D E R M O N G O L I S C H E N R E I C H E
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5 1 im Norden ging gegen Ende des 14. Jahrhunderts unter 6. Den schwierigen Verhältnissen entsprechend reisten die meisten Europäer höchstens durch das Tschaghatai hindurch; direkte Nachrichten verdanken wir nur einem Brief (1338) des franziskanischen Missionars Paschal von Vittoria 1 5 7 Obwohl Paschal von saraceni spricht, wurden die Khane erst spät und zunächst in Transoxanien Muslime; in der Bevölkerung, genannt Tschaghatai, europäisch Zagatai, vermischten sich die mongolischen Elemente immer mehr mit türkischen 158. Die Khane aus dem Stamme Dschingis Khans herrschten nur noch dem Namen nach, während die mächtigen Emire meist Türken waren. Auch der Emir Timur selbst war Türke und überzeugter Muslim, wurde nie Khan, doch er betrachtete sich als Nachkomme des großen Eroberers und wurde zumindest von den Europäern auch allgemein als Tartare angesehen. Timur drang schnell, nachdem er seine Macht im Stammland gefestigt hatte, bis nach Persien, Nordindien und - wie geschildert - Kiptschak vor und zog schließlich über Damaskus (erobert 1401) nach Kleinasien. 1402 vernichtete er bei Ankara das Heer des osmanischen Sultans Bayezid, der in Gefangenschaft 1403 starb. Auch das christliche Smyrna fiel ; das christliche Konstantinopel aber überlebte für weitere fünfzig Jahre, denn die Osmanen waren deutlich geschwächt, und Timur kehrte zunächst um. Bevor er hätte zurückkehren und in Europa eindringen können, starb er auf einem China-Feldzug Anfang des Jahres 1405 . Keiner seiner Nachkommen erreichte ihn, und so blieben seine Eroberungen, die in Indien die Herrschaft der Groß-Moguln begründeten, für Europa Episode - eine Episode aber, die sich mindestens ebenso tief einprägte wie der erste Mongolensturm. Das Abendland hatte aufgehorcht, wenn sich auch nur die unmittelbar Betroffenen wirklich bedroht gefühlt hatten 1 59. Und so entstand in den folgenden Jahren und Jahrzehnten, gemischt aus Informationen und Mär chen, die Reisende auch über Timur mitbrachten, der letzte Mongolen-Mythos 160. der europäischen Literatur Im Vorderen Orient aber erstarkten die Osmanen immer mehr; auch der turkmenische Herrscher im Iran und in Mesopotamien, U zun Hasan (1466-1478), den die venezianischen Gesandten Giosafat Barbaro und Ambrogio . '
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156 WEIERS, Khanat, wie N. 1 15, 296. J. PAUL, Scheiche und Herrscher im Khanat Cagatay, in: Der Islam 67 (1990) 278-321 . 157 S. 501-506: von seinem Martyrium im tschaghataischen Almalyq erfuhr päpstliche Gesandte J9�� v. Marignolli 1339 auf der Durchreise : S. 527/8. Martyriumsbericht auch SINICA S. 5 1 0/ 1 . . 158 Die Sprache in der Goldenen Horde : N. 63. Islam : WEIERS, Khanat, wie N. 1I5, 296. 159 Vgl. S. 180ff. 160 Darstellung der Taten Timurs und eine Weltbeschreibung des Missionsebf. Joh. v. Sultaniyah (1402); Schilderungen des Beltramo Mignanelli aus Siena ( 1416); Berichte von der Reise des kastili sehen Gesandten Ruy Gonzales de Clavijo und von der Gefangenschaft des Joh. Schiltberger (nach 1427). Zum Mythos vgl. S. 186/7.
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I . FRAGEN U N D Z I E L E 161 .
Contarini veranlassen konnten, die Türken im Rücken anzugreifen, scheiterte So verschwanden mit den Resten der Goldenen Horde die Mongolen im Laufe des 15. Jahrhunderts aus dem politischen Gesichtskreis der Abendländer - doch sie hatten Spuren hinterlassen, die für die Entwicklung und Ausbreitung der europäischen Kultur wichtig wurden und mit denen sich die folgende Arbeit beschäftigen wird.
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161 G. E. v. GRUNEBAUM, Der Islam Frankfun a. M. 1971, 55-57.
11.
Die islamischen Reiche nach dem Fall von Konstantinopel,
11.
Zu den Quellen und ihrer Rezeption durch die Zeitgenossen
»Es kam auch schriftliche Kunde mit soviel Text, wie etwa ein Psalterium enthält, an den Grafen von Leicester, Simon de Montfort, über Leben und Sitten der Tartaren und auch über ihre Stärke, ihre Kriegszüge und Eroberungen, die man falls jemand sie einsehen möchte - in St. Albans im Buch der Additamenta finden kann« 1 . Das Vordringen der Mongolen und die dadurch geschaffenen Rahmenbedin gungen für einen Aufbruch in neue Räume bieten den Abendländern Chancen, sich über das neue Volk und die neue Welt zu informieren. Entscheidend für die weitere Zukunft der abendländischen Kultur und ihrer welthistorischen Bedeu tung wird, daß die Menschen diese Chancen zu ergreifen wissen. Schon die Reiseberichte selbst zeugen vom Interesse für das Fremde, doch nicht nur die verhältnismäßig kleine Gruppe von Reisenden ist interessiert, sondern die Verfas ser der Berichte können auch mit einem Markt für ihr Wissen rechnen. »Weil viele Leute aus den verschiedenen Völkern und Ländern sich, wie ich es tat, daran erfreuen und Vergnügen daran finden, die Welt und die Dinge, die darin sind, zu sehen, und auch weil viele davon wissen wollen, ohne selbst hinzugehen, und wieder andere selber sehen, gehen und reisen wollen, habe ich dieses Büchlein, so gut ich konnte, geschrieben . . . « 2 Ähnliche Motive - zwar zum Topos geworden, aber wohl doch ursprünglich real - stehen am Anfang zahlrei cher Reise - und vor allem Pilgerberichte. Auch der anfangs zitierte Johannes von Oxenedes geht - offenbar zu Recht, wie noch ausführlicher zu zeigen sein wird vom Wunsch seiner Leser aus, sich noch mehr Kenntnisse, als er in seine Chronik übernehmen kann, anzueignen. Nicht nur das - zweifellos vorhandene - Vergnügen am Exotischen treibt hier an, sondern hinter dem eifrigen Forschen steht, wie bereits ausgeführt, ein echter Durst nach wahrem Wissen : Ich getorst sy nit schriben, wann ich gantze warhait darumb nit erfinden kund3, so entschuldigt der Konstanzer Bürger Ulrich von Richenthal nach 1 4 1 8 seine vorsichtigen Mitteilungen über die Tartaren. 1 Joh. v. Oxenedes (zu 1258) S. 217/18; zu 1250 S. 184; Additamenta nennt sich das 6. Buch der CM des Matthäus Parisiensis aus St. Albans, aber eine Identifikation des Textes ist mir nicht gelungen. Ähnliche Stellen MP CM V S. 655, 66 1 ; Alberich v. Trois-Fontaines empfiehlt in einem nachträglichen Einschub in seine Chronik (S. 946) die Yst. Tartarorum des Plano Carpini, die er selbst nicht mehr benutzte. 2 Gilles le Bouvier, Livre de la description des pays S. 29. 3 S. 52.
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1 1 . zu
D E N Q U E L L E N UND I H R E R R E Z EP T I O N D U R C H D I E Z E I T G E N O S S E N
Die Bedingungen für das Wissen und seine Erweiterung sowie den Willen dazu schafft die bereits einleitend bedachte lateinisch-christliche Wahrnehmungs weise als Grundlage für jegliche Fähigkeit der Abendländer zu beobachten, zu beschreiben, zu urteilen, Urteile zu überprüfen und wenn nötig zu verändern, weil Forschung, also gezielte Bemühung um Informationen, im abendländischen Wissenschaftskonzept 4 als Wert betrachtet wird 5. In welcher Weise wird nun konkret Forschung betrieben, welchen Prinzipien folgen die Abendländer dabei ? Wenn sich ein beliebiger Zeitgenosse (Reisender oder Rezipient) über die Mongolen informieren will - welche Möglichkeiten hat er, sich Kenntnisse zu verschaffen, in welcher Form sind die Informationen verfügbar ? Hat er die Auswahl zwischen verschiedenen Quellen ? Legt er Wert auf diese Auswahl ? Erkennt er Gefahren und Chancen bestimmter Quellentypen ? Mit Hilfe welcher Kriterien kann er ihre Qualität werten ? Werden diese Kriterien eventuell verändert oder neu gewonnen ? Wie also steht es um eine methodische Quellenkritik ? Die Fragen gelten übrigens - dies im Vorgriff auf individuelle Einschränkungen - grundsätzlich in der gleichen Weise für den Willen zur wahrhaftigen Darstellung wie für ein b e w u ß t verfälschendes Bild - auch dazu gehört ein Mindestmaß an Infonniertheit und Urteilsfähigkeit 6 • Diese Fragen sind im Vorfeld der Untersuchung zu beantworten, denn sie nehmen unmittelbaren Einfluß auf die Findung und die Wandlungen des gesuchten Urteils.
1 . Die Reiseberichte und ihre Verbreitung Grundsätzlich hatten es die Reisenden am leichtesten, sich Informationen zu verschaffen. Sie zogen - wie gesagt -, beeinträchtigt von Vorwissen oder gar Vorurteilen, in die Fremde und mußten oft selbst Urteils kriterien entwickeln 7. Ihre Auswahl an Informationen, die sie mündlich oder schriftlich in Form von Reiseberichten zu Hause mitteilten, bestimmte bereits die ersten Einschränkun gen der Auswahl durch die Rezipienten. Als Reisebericht soll in diesem Zusammenhang jede schriftlich hinterlassene oder mündlich vermittelte Äußerung über die Mongolen gelten, die den zeitge nössischen Lesern im Abendland Informationen aus erster Hand zu Verfügung stellte. Diese Definition umfaßt nicht nur im engeren Sinne die erzählenden Berichte von Reisenden, sondern zum Beispiel auch Briefe von im Orient weilenden Abendländern nach Hause. Die Grenze ist ohnedies fließend, wenn 4 Vgl. S. 1 9 ff. 5 Vgl. S. 13/4. 6 Die Feststellung, daß ein Bild objektiv falsch, nur subjektiv richtig sei, tut im Rahmen dieser Arbeit nichts zur Sache, denn sie entzieht sich der Kritik der Zeitgenossen. Zum Gesamtproblem vgl. die einschlägigen Kapitel bei REICHERT, Begegnungen. 7 Vgl. S. 55ff.
DIE REISEBERICHTE
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man bedenkt, daß zum Beispiel der besonders lange Bericht des Wilhelm von Rubruk der Form nach ein Brief an König Ludwig den Heiligen von Frankreich ist. Ebenso erfaßt sind Kre,uzzugsgutachten, soweit sie von Kennern des Orients stammen 8. Zum Kreis dieser Berichte' zählen aber auch Erzählungen von fiktiven Reisen wie die des Sir John Mandeville, die von den Zeitgenossen - auf deren Beurteilungsmöglichkeiten allein es hier ankommt - für echt gehalten wurden 9, ebenso das Hörensagen der Reisenden, also Wissen, das wiederum nur scheinbar aus erster Hand stammt 1 0 . Die Definition schließt bewußt auch die mündlichen Berichte ein, die nur sehr selten konkret faßbar sind, deren Anteil an der Nach richtenvermittlung aber kaum zu überschätzen ist. Im Prinzip darf man davon ausgehen, daß ein Reisebericht des späten Mittelalters, der in vielen, manchmal Hunderten von Handschriften überliefert ist und viel leicht dann noch im 15. Jahrhundert - eventuell mehrfach - gedruckt wurde, weit verbreitet, viel gelesen und wohl auch gerne in anderen Werken veIwertet wurde. Manchmal haben wir sogar direkte Zeugnisse dafür, wie schnell und begeistert ein solcher Bericht rezipiert wurde 1 1 . Ein Bericht jedoch, der diese Bedingungen nicht erfüllt, muß deshalb inhalt lich nicht unbedingt wesentlich weniger verbreitet gewesen sein. Ein Beispiel, das weiter unten noch ein wenig ausführlicher zu behandeln sein wird, ist der Flos historiarum terre orientis des kleinarmenischen Prinzen Haython von Gorhigos. Im Vergleich zu den 250 Handschriften der Travels des Sir John Mandeville oder auch den etwa 130 des Milione Marco Polos und den etwa 100 der Relatio des Odorich von Pordenone ist die Schrift sehr schlecht überliefert 12. Doch die Informationen über die Mongolen, die sie enthält, wurden so oft übernommen unter anderem eben von Mandeville -, daß sie sicherlich zu den weitverbreitetsten des späten Mittelalters gerechnet werden darf. Daneben gehört gerade Haythons Schrift auch zu jenen, die öfters ü b e r s e t z t wurden und Eingang in S a m m e l h a n d s c h r i f t e n fanden - beides Hinweise auf große Beliebtheit und Verbreitung eines Textes 1 3 •
8 Zu diesem Quellenbereich und auch zum Problem der Kennerschaft bes. S. 109H. 9 Zu dem diesbezüglichen quellenkritischen Problem des modernen Historikers (können w i r alle fiktiven von den echten Berichten unterscheiden ?), ebenso zum Grenzgebiet der zusätzlichen Rezep tion fremder Reiseberichte im eigenen, wird dennoch einiges zu sagen sein, vgl. S. 61 H. 10 Dieser Fall konnte schon im Mittelalter problematisiert werden, vgl. S. 57ff. 1 1 Handschriften von Marco Polos Mi/ione, verfaßt kurz vor 1300, wurden kurz nach 1300 nach Frankreich transportiert: nach ed. PAUTHJERS, 1865, S. LXXXIV erhielt Charles de Valois die ersten Exemplare der Reisebeschreibung. Wenig später entstand auch schon die erste Übersetzung ins Lateinische. 12 Zu den Zahlen DELuz, Livre 1988, wie S. 314, N. 628; REICHERT, Begegnungen, 172/3. 1 3 Sammelms. z. B. Ms. BN Paris franc. 2810: N. 20. - Übersetzt wurde auch Vinzenz Spec. hist. 1332 von Jean de Vignay (frz.), schon früher von Jacob Maerlant (niederld., in Versfortn); anderes unten S. 47. C. KNowLEs, Jean de Vignay. Un traducteur du XIVe siede, in: Romania 75 (1954) 353-386. •
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11.
ZU D E N QUE LLEN U N D I H R E R R E Z E P T I O N D U R C H D I E ZEITGEN O S S E N
Von den Briefen, von denen bekannt ist, daß sie aus dem Orient nach Europa gelangten, sind einige nicht erhalten, viele schlecht oder zufällig überliefert. Höchstens die Aufnahme in Chroniken oder in die schon genannten Sammel handschriften, in diesem Falle auch in Briefformelbücher, verschafften ihnen manchmal eine breitere handschriftliche Überlieferung 14. Dennoch wissen wir, daß diese Briefe oft durch zahlreiche Hände gingen und mit großem Interesse gelesen wurden. Der franziskanische Bischof Johannes von Monte Corvino adressierte einen Brief aus China an die Oberen des Minoriten- und des Prediger ordens sowie an alle Brüder beider Orden in Persien, und nicht nur die Franziska ner haben den Inhalt eifrig rezipiert 15. Ein anderer Brief eines Bischofs aus China gelangte in die Hände der Mönche eines südfranzösischen Franziskanerkonvents, an die er kaum ausschließlich gerichtet war 1 6 • Die Wirkung solcher Briefe auf die Urteils bildung des Westens, auf die Politik der Diplomaten, Missionare und Kaufleute konnte unmittelbar und auch längerfristig stärker sein als die einer noch so häufig überlieferten erzählenden Schrift, denn sie gaben für künftiges Handeln wichtige Hinweise in konkreten Situationen. Das heißt andererseits aber nicht, daß die erzählenden Berichte, die einem breiteren Publikum zugänglich wurden und wohl auch seinem Geschmack ent sprachen, nicht auch für politische Entscheidungen zu Rate gezogen werden konnten. Ein wichtiger Grund für das Abschreiben von Berichten und das Zusammenstellen von Sammelhandschriften, ja oft genug für die Abfassung der Werke sind Anfragen und Aufträge von Fürsten und Päpsten. Erinnert sei nur ganz kurz - der Bereich wird an gegebener Stelle näher untersucht werden müssen - an den Bericht des Johannes von Plano Carpini für Innocenz IV., des Wilhelm
14 Wiener Briefsammlung, Baumgartenberger Fonllularbuch. - Ein schönes Beispiel einer Sam melhs. gibt Reiner MORITZ, Untersuchungen zu den deutschsprachigen Reisebeschreibungen des 14.-16. Jahrhunderts, Diss. München 1970, 42 (Vat. Ms.lat. 73 17 (1458): statt 5717, lt. Verbesserungs hinweis von F. Reichert). Hier sind W.-v. Tripolis, Marco Polo, Ricold (Contra legern, Briefe), Ludolf, Poggio Bracciolini (Hist.) und einige andere enthalten. Mehr solche Handschriften dann aus dem 16. Jh. - Verlorene Briefe unten S. 49. Späte und dubiose Überlieferung dagegen kann Zweifel an der Echtheit wecken, wie im Falle des Briefes Peregrins v. Castello (ed. SINICA). 15 Adresse S. 35 1 . - Rezeption : beide »chinesischen« Briefe (des Joh.) sind aufgenommen bei Elemosina OFM (S. 131/2), Joh. v. Winterthur OFM (Paraphrase des Briefes 1305, einem deutschen Minoriten zugeschrieben, S. 233/4), aber auch vom Karmeliter Joh. v. Hildesheim (S. 299/300). Der erste Brief (nach 1291, S. 345 N.l) war zumindest dem italienischen Arzt Pett4s v. Abano (t 1315/8, Conciliator fol. 98r) bekannt. - 1335 schreibt Marino Sanudo dem Paulinus Minorita von Briefen aus der Tartarei, die 1335 über Ungarn, Ö sterreich, Venedig an die Kurie liefen und immer wieder vorgezeigt wurden : ed. DOREz/de la RONCIERE S. 38/9; vgl. John v. Winterthur S. 147. 16 Vat. Ms. Ross.753, fol. 55r. Vielleicht Konvent Aurillac ( BIGNAMI-ODIER, E tudes, wie S. 277, N. 419, 77); die Person des Schreibers scheint dem Berichterstatter unbekannt: aber unten N. 28; zudem ist der Brief möglicherweise mit großer Zeitverzögerung im Kloster eingetroffen: zur Datie rung N. 29. - Den Brief des kleinarmenischen Konnetablen Sempad mit Informationen über das Vordringen der Tartaren in Syrien gab der Empfänger Heinrich I. v. Zypern 1248 an Ludwig den Heiligen, der gerade ins Heilige Land ziehen wollte, und auch an den Papst (Innocenz IV.) weiter (unten S. 8 1 , N . 37).
D I E R EIS EB ER ICHTE
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von Rubruk für Ludwig IX., des Haython für Clemens V., des Johannes de Cori im Auftrage Johannes' XXII 1 7. Fürsten sammelten - in besonderen politischen Situationen 1 8 oder einfach aus Interesse - ganz gezielt Berichte: »Weil wir unbedingt eine Abschrift des Buches des Bruders Theodoricus über das, was er in Tartaria gesehen hat, haben wollen, deshalb bitten wir Euch dringend, uns eine Abschrift dieses Buches - sorgfältig am Original überprüft von unserem zuverlässigen Sekretär Petrus von Tarrega so schnell wie möglich zu übersenden.« 1 9 Ähnlich wie hier der Infant von Aragon (1374) vermutlich die Schilderung des Odorich (für Theodoricus) von Pordenone, ließ der burgundische Herzog die französischen Texte im heute sogenannten Livre des Merveilles zusammenstellen und illustrieren und schenkte sie dem als Bücherliebhaber bekannten Duc de Berry 20. Innozenz IV. nahm 1243 auf seiner Flucht nach Lyon 91 Briefe, die er für sein künftiges Handeln würde brauchen können, aus seinem Archiv mit und ließ sie sorgfältig abschreiben; darunter auch die Briefe des ungarischen Königs über den Mongoleneinfall. Ein anderer Papst, vermutlich Urban VI., ließ nach der Rückkehr von Avignon nach Rom Archiva lien über die orientalischen Völker, vor allem die Mongolen, gesondert zusam 21. menstellen Auch zukünftige Missionare informierten sich nicht nur durch Briefe ihrer Ordensbrüder aus dem Orient: Der Dominikaner Ricold von Montecroce schrieb zur Vorbereitung auf die eigene Missionstätigkeit bei den Muslimen De statu 17 Auch N. 11. - Vielleicht auch Jordan Catala v. Severac für Joh. XXII.: seine Mirabilia entstanden wohl 1329/30 bei seinem Aufenthalt in Avignon : C. V. LANGLOIS, Jordan Catala, missionaire, in: HLF 35 (1921) 260-77, hier 276, vgI.268/9; dazu M.-M. DUF EIL, Les »Mirabilia Descripta� de Jourdain deo Severac. Exemple du contexte missionaire de Bernard Gui, in: Bernard Gui et son monde, Toulouse 1981, 155-180, aber die Herkunft des einzigen Manuskriptes ist unklar (LANGLOIS 271) und mögli cherweise fehlt der Anfang des Textes, zumindest ist keine Widmung erhalten. - Der katalanische Infant Joan läßt 1379 einen Reisebericht anfertigen: ed. RUB I O y LLUCH Doc. I S. 279/80 Nr.303. 18 Z. B. ließ Philipp der Gute v. Burgund in Vorbereitung des Türkenkrieges mehrere Texte sammeln und z. T. übersetzen, unten S. 195/6; Heinrich IV. v. England: N . 2 1 . 19 Ed. RUBI O y L LUCH Doc. I S. 257 Nr. 274; REPARAZ, Sciences, 447 und DERS., Essai, bei des wie S. 312, N. 594. - Nachrichten wie diese sind verstreut; oftmals mag unser heutiger Informationsstand von der Editionslage abhängen - mehr als auf anderen Gebieten und schwieriger auszugleichen, weil man auf Zufallsfunde angewiesen ist. So sind bis heute nur positive Schlüsse aus dem vorliegenden Material zu ziehen, aus dem Fehlen von Hinweisen keine Begründungen, Motive abzuleiten. 20 Ms. BN Paris franc. 2810; Sammelhss. mit Übersetzungen des Jean Le Long von Marco Polo, Odorich, Haython, Boldensele, Briefe 1338, Joh. de Cori, Mandeville, Ricold (Itinerarium): D OUTRE PONT , Litterature, wie S. 196, N. 648, 260/1. Ein fürstliches Geschenk (1403 oder 13), sicher nicht nur wegen der Ausstattung. - Geschenk des katalanischen Königs an Kar! V. v. Frankreich : der Atlas Catalan (unten S. 3 1 1 /3). 2 1 Zu Innocenz IV.: B ATTELLI, Transunti, wie S. 74, N. 6. - Urban VI. : ASV. Reg. Vat.62 besteht ausschließlich aus solchen Abschriften, ist in einern Zuge geschrieben und mit einern Inhaltsverzeich nis versehen, MULDooN, Popes, 72-91. - Auch König Heinrich IV. v. England besaß eine ganze Sammlung von Briefen in den Orient (Ed. S. 421/28). - Vor allem aber die Päpste wurden zur Sammelstelle von Infoltllationen: intensiv Innocenz IV. (Genuese), daneben Clemens V. (für Kreuz zugsgutachten, unten S. 110); auch Eugen IV. (Venezianer) empfängt die Reisenden, die ihm berichten können, oder läßt sie holen : Nicolo dei Conti, Pero Tafur (Ed. S. 220, kein spezielles Interesse an der Tartarei), Pietro Rombulo. •
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11 . zu
D E N QU ELLEN UND I H R E R R E Z E P T I O N D U R C H D I E Z E I T G E N O S S E N
sarracenorum seines Ordensbruders Wilhelm von Tripolis ab; Ricolds eigene Nachrichten über die Mongolen kopierte der franziskanische Pilger Paul Walther von Guglingen vor oder nach seiner Reise ins Heilige Land22. Die auf diese Weise vervielfältigten und an ihr Publikum gebrachten Informationen in den Berichten wurden auch in zweiter Hand gerne weiter verwendet, und oft genug sind die Wege sehr gut zu verfolgen - dazu unten mehr. Es gehört aber daneben zu den großen Problemen einer Rezeptionsge schichte, die in irgendeiner Weise auf Vollständigkeit bedacht ist, daß wir nicht nur von zahlreichen Reisenden wissen, die ihre Erlebnisse niemals auf schrieben oder deren Berichte für uns nicht mehr greifbar sind, sondern dar über hinaus mit weiteren, namenlosen Reisenden zu rechnen haben, die zu Hause erzählten.
2. Verlorene und mündliche Berichte Über die Dominikanergesandtschaft von 1245-1248 in den Vorderen Orient verfaßte Simon von St-Quentin einen Bericht, der uns nur noch in den allerdings umfangreichen - Exzerpten Vinzenz' von Beauvais erhalten blieb 23. David von Ashby, ein englischer Dominikaner, der 1274 als Gesandter des persischen Ilkhans auf das zweite Lyoneser Konzil reiste, scheint Fais des Tatars abgefaßt und dem Konzil als Informationsschrift vorgelegt zu haben; nur noch Fragmente der bislang einzigen bekannten, leider 1904 verbrannten Turiner Handschrift konnte Brunel publizieren 24. Neben derartigen Hinweisen auf fast gänzlich verlorene Texte finden sich auch solche auf andere, zum Teil verlorene 22 Ricolds Abschrift Vat. Ms. Reg. lat. 3 14. Zu Wilhe1m und vor allem seinem Werk: M. VOERZIO, Fra Guglielmo da Tripoli, orientalista domenicano nel secolo XIII, in: Mem. Domenicane 7 1 (1954) 73-113, 141-170, 209-250; 72 (1955) 127-148. - Paul Walther hat in der einzigen Handschrift (Staatsarchiv Neuburg) die Texte hinter dem Pilgerbericht eingetragen : unklar ist, ob er sie zur Vorbereitung gelesen hatte oder nur zur Vervollständigung der eigenen Orientdarstellung. 23 Vielleicht ist es Simons Bericht, den eine Predigt des Federigo Visconti (EB v. Pisa ca. 1253-1277) erwähnt: predicatores hätten einen Bericht von ihrer Reise zu den Tartaren an Innocenz IV. nach Lyon geliefert (Robert DAVIDSOHN, Forschungen zur Geschichte von Florenz, 4. Teil : 13. und 14. Jahrhundert, Berlin 1908, 89, dazu 84). - Da Vinzenz seine Quellen sorgfältig angibt, konnte Jean RICHARD die von Simon stammenden Teile im Spec. hist. herausziehen und gesondert edieren, dazu G. G. GUZMAN, The Encyclopedist Vincent of Beauvais and his Mongoi extracts from John of Plano Carpini and of Simon of St. Quentin, in: Spec. 49 (1974) 287-307; DERS., Simon of St. Quentin and ihe Dominican Mission to the Mongois, 1245-1248, phi!. Diss. 1968, Ann Arbor 1984; DERS., Simon of St. Quentin and the Dominican Mission to the Mongoi Baiju: a reappraisal, in : Spec. 46 (1971) 232-249; DERS., Simon of Saint-Quentin as Historian of the Mongois and Seljuk Turks, in : MH ns. 3 (1972) 155-178. 24 Der unmittelbare Zusammenhang zwischen Abfassung und Konzil ist nur zu vermuten (die Umstände der Gesandtschaft ROBERG, Tartaren, 289ff.; die vergleichbare Situation der Abfassung der sog. Memoire Joh. v. Sultaniyah unten S. 182). Der Verlust ist um so bedauerlicher, als der Bericht in eine Zeit fällt, in der das Abendland noch über vergleichsweise wenige Informationen verfügte, und weil der Autor vermutlich längere Zeit bei dem Mongolen gelebt hatte. =
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Versionen : »Doch weil jene, bei denen wir auf der (Rück)reise vorbeikamen, die oben erzählte Geschichte gern hatten, deshalb schrieben sie sie ab, bevor sie fertig war . . « Es ist nur möglich, daß uns eine dieser gewiß verkürzten, vielleicht auch sonst veränderten Versionen der Ystoria Mongalorum des Johannes von Plano Carpini erhalten blieb25 • Für Marco Polos Milione, von dem ohnedies eine Vielzahl von Varianten ganzer Kapitel oder gar des ganzen Textes bekannt ist, konnte sein Herausgeber Benedetto in sorgfältiger Untersuchung der Rezeption auf andere, verlorene Kapitel schließen 26 . Viele der Briefe, die wir aus dem Tartarengebiet besitzen, sind nur zufällig erhalten. Manch einer, der aus Osteuropa nach Westen gesandt wurde, um über die Tartaren zu berichten, ist aus rein stilistischen Gründen und völlig unabhängig von inhaltlichen Überlegungen in Briefsammlungen aufgenommen worden; Mis sionarsbriefe aus Ostasien gingen im vollen Wortlaut - neben manchen Aus zügen - zum Beispiel in eine Chronik ein, von der nur wenige Codices auf uns kamen 27 . Auf der anderen Seite erinnert sich der Franziskaner Johannes von Rupescissa, wie in seiner Jugend, etwa im Jahre 1335, in seinem Kloster ein Brief aus China von dem Bischof Geraldus Alboyini, der sich Bischof von Zayton nannte, eintraf 28• Da ein Mönch dieses Namens tatsächlich 1307 nach China gesandt wurde und Johannes zugunsten der Glaubwürdigkeit dessen, was er eigentlich versichern wollte, den Brief besser gar nicht erwähnt hätte, besteht kein Grund, die Nachricht von seiner Existenz anzuzweifeln 29 - erhalten blieb er nach derzeitigem Wissensstand nicht. Gerade Missionare, die ihr restliches Leben dem fernen Missionsgebiet wid men sollten, waren auf das schriftliche Medium angewiesen, wenn sie ihren Brüdern zu Hause ihre Erfahrungen vermitteln oder von ihrer Einsamkeit und ihrem Heimweh sprechen wollten 30. Der Zufall der Überlieferung sowie die Hinweise auf Verluste lassen eine gewisse Dunkelziffer von einst vorhandenen .
25 IX,52 S. 130. - Von der Ystoria sind mindestens zwei Versionen erhalten (c. LUNGAROTTI in Ed. DAFFINA u. a., 79ff.). Doch könnte die von Joh. selbst zusätzlich erwähnte Verkürzung auch in der Hyst. Tartarorum des C. de Bridia (nur eine Handschrift, dubios überliefert; rezipiert Joh. und Benedikt) erhalten sein, FRIED, Suche, 315 N. 134; C. H. KNEEPKENS, Randbemerkungen zum Text der »Hystoria Tartarorum« C. de Bridia monachi, in: Mittellat. Jb. 14 (1979) 273-277. 26 Jacopo d'Acqui (BENEDETTO, Ed. des Milione, CXCIV) zit. Marco mit sonst unbekannten Stellen : Sp. 1606/7; auch Rückgriff auf mündliche Erzählung wäre von den Lebenszeiten der beiden Autoren her denkbar. 27 Elemosina, Verbreitung der Briefe des Joh. v. Monte Corvino vgl. N. 15. - Sammlungen wie N. 14. 28 Ostensor, Vat. Ms. Ross. 753, fol. 55r (Text unten S. 279, N. 428). Daß der Brief nach Südfrank reich gelangt, mag auch damit zusammenhängen, daß Gerardus aus Rodez stammt (ruthenensis: diese Infollnation gibt J. zusätzlich zu WYNGAERTS Wissensstand: SINICA 375 N. 2). 29 Gerardus nach China: BFr V Nr. 86 S. 38. Joh. will beweisen, daß er das, was er 1332 in einer Vision erfuhr, nicht vorher gewußt haben kann, weil der Brief erst drei Jahre später eintraf. Die Existenz des Briefes ist glaubhaft, die Datierung nicht unbedingt: Denn für Joh.' Argumentation ist ein spätes Eintreffen notwendig, der Briefschreiber aber ist 1326 schon tot (SINICA 375); oben N. 16. 30 Vgl. S. 148/9. -
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SO
lI.
zu
D E N Q U ELLEN UND I H R E R R E ZE P T I O N DURCH D I E Z E IT G E N O S S E N
Berichten vermuten; dazu tritt die umfangreiche mündliche Informationsweiter gabe, die dem Historiker inhaltlich weitestgehend verschlossen bleibt. Auch das späte Mittelalter hat Teil an jenem Übergang von der oralen zur literalen Kultur. Bei der Frage nach den zu Verfügung stehend �Quellen ist deshalb mit der großen Wirksamkeit mündlicher Tradition zu rechnen, deren genaues Ausmaß nur sehr schwer einschätzbar ist, deren sicheres Vorhandensein aber immer zu berücksichtigen sein und das Urteil in manchem Punkt relativieren wird. Jeder Reisende konnte mehr erzählen, als er niedergeschrieben hatte, schon weil er bei Manchem Unglauben befürchten mußte. Odorich von Pordenone hat vieles weggelassen, was Leuten, die es nicht mit eigenen Augen gesehen haben, unglaubwürdig erscheinen könnte. Und Giosafat Barbaro weiß : Würde er einiges, das er sah, aufschreiben, so würden ihn die Leser, die selbst nie aus Venedig hinausgekommen sind, der Lüge zeihen 3 1 . »Ebenso schrieb Bruder Johannes [de Plano Carpi(ni)] ein großes Buch über die Taten der tattaren und andere Wunder der Welt, gemäß dem, was er mit eigenen Augen gesehen hat; und er gab [uns] das Buch zu lesen, so daß ich vieles hörte und sah, so oft er es unternahm, über die Taten der tattaren zu erzählen; und wo sich die Leser wunderten oder nicht verstanden, erklärte er und sprach über die Einzelheiten. « 32 Nicht nur Johannes hat auf seiner Rückreise immer wieder erzählen müssen : In Köln berichtete sein Weggefährte Benedikt von Polen viva voce, auch Odorich von Pordenone scheint im kleinen Kreise weiterberichtet zu haben, und die vielen anderen Reisenden werden kaum geschwiegen haben 33. Wenn bekannt wurde, daß jemand aus dem fernen Orient angekommen war, strömten die Neugierigen zusammen: »Ich war begierig, diesen [Nicolaus Vene tus] zu hören - viel Bemerkenswertes, das er erzählt hatte, hatte ich nämlich schon vorher vernommen - und habe mich im Kreise gelehrter Männer wie in meinem Hause sorgfältig nach vielem erkundigt, das der Mühe wert schien, es für die Erinnerung und die Niederschrift aufzubewahren« 3\ schreibt Poggio Brac ciolini. Der Dominikaner Pietro Ranzano suchte um 1450 in Neapel den Pietro Rombulo auf, der lange Jahre in Äthiopien zugebracht hatte, befragte ihn und 3 1 Odorich : XXXVIII, 6 S. 494; Barbaro: S. 86. Die Bemerkung ist ein Topos seit der Antike, nicht nur in venezianischen Reiseberichten, aber sie dürfte dennoch auch Wahrheit enthalten (Pero Tafur S. 80). Zur Erfahrung und Bekräftigung Marco Polos vgl. S. 57. 32 Salimbene v. Parma S. 207; zum Autor M. BIHL, Salimbene, in: EF 16 ( 1906) 520-532. 33 Benedikt: Ann. S. Pantal. S. 542; Odorich gedrängt von seinen Brüdern. Solche »Stammtischge spräche« zeichnete ein Zuhörer auf (vgl. La Franceschina 11, 27ft). - Eine venezianische Handschrift (Marciana X. 46, fol. 132v, teiled. als Anon. de Parma: S. 375) gibt Informationen wieder, die der Autor von einem Bruder, der sich viele Jahre in Persien, Bagdad, Indien und Caldea aufhielt, gehört hat. 34 Die Berichte des Venezianers Nicolo dei Conti nach dessen Rückkehr aus Südostasien um 1440 bilden das 4. Buch der Hist. des Poggio. Auch Pero Tafur befragte Conti, den er in Ägypten getroffen hatte: S. 95 ff.; C. DESIMONI, Pero Tafur, i suoi viaggi e il suo incontro col Veneziano Niccolo de'Conti, in: AttiLigure 15 (1881) 331-352.
VERLORENE UND MÜNDLICHE BERICHTE
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schrieb die Erzählungen nieder; Wilhelm von Rubruk traf 1255 im lateinischen Konstantinopel Balduin von Hennegau, der schon früher in der Tartarei gewesen sein will; Johannes Colonna hatte für seine Chronik (geschrieben nach 1340) noch einen betagten Teilnehmer der Gesandtschaft des Andreas von Longjumeau
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1248 für Ludwig den Heiligen nach Karakorum - befragen können35. 1394 hört
König Joan von Aragon von einem Mann, der nach vierzig Jahren aus der Tartarei und dem Land des Großkhans zurückgekehrt sei. Der König befiehlt, den Mann zu ihm zu bringen, damit er erzähle, was er dort gesehen habe36• Johannes von Sultaniyah übergab als Bote Timurs in England Briefe und ergänzte oraculo vivae vocis; Buscarello dei Ghisolfi, 1289 Bote des persischen Ilkhans Arghun, legte
zusätzlich zum mitgebrachten Brief des Khans weitere Informationen nieder, die solche Gesandten sonst mündlich weitergegeben haben könnten37• All dies sind Fälle, von denen wir nur deshalb wissen, weil sie wiederum einen schriftlichen Nachhall fanden ... Erschwerend kommt hinzu, daß die große Gruppe der Kaufleute, die schon aus Berufsinteresse gute, vergleichsweise realistische Kenntnisse und durch ihr Pendeln zwischen Europa und Orient noch dazu vielfältigste Möglichkeiten der Informationsweitergabe besaßen, ihr Wissen als Kapital betrachteten und keinen Wert auf allzu weite schriftliche Verbreitung legten 38. Statistisch auswertbare Zahlen sind in dieser Zeit zwar kaum zu finden, doch wenn wir uns die Beschreibungen und die Notariatsakten von Caffa, Tana, Soldaia und anderen italienischen Schwarzmeer-Kolonien betrachten, so lebten dort im Laufe der Zeit Hunderte von Abendländern im direkten Kontakt und täglichen Austausch mit Mongolen, kehrten wieder heim oder berichteten nach Hause. Wir haben vor allem in den italienischen Seestädten und auch bei den mit ihnen in Kontakt stehenden Menschen mit einer großen, selbstverständlichen Kenntnis der Tarta ren zu rechnen, mit einem gesicherten, wenn auch vielleicht nicht allzusehr reflektierten Tartarenbild, das wir höchstens ahnen können. Diese Menschen trugen, auch wenn sie vielleicht nur im kleinen Kreise erzählten, ein unwägbares Informationspotential in sich.
35 Ranzano teiled. in:
TRASSELLl,
Italiano (zum Umfeld jetzt MÜLLER, Burgund, wie S.196, N.645).
- Rubruk: XV,3 S.201 mit n. 2; XXIX,44 S. 268. Um 1240? Vgl. N.53; vgl. J. RICHARD, A propos de la mission de Bauduin d'Hainault: L'empire latin de Constantinople et les mongois, in: JS 1992, 115-121. - Colonna: ed. RHF S.118, wohl nur als Bestätigung, denn der Text beruht völlig auf Vinzenz (oder einer Zwischenstufe). Joh. war darüber hinaus offenbar selbst im Vorderen Orient:
Petrarca-Brief VI,3 an ihn (Francesco Petrarca, Epistolae de rebus familiaribus et variae, ed.J. FRACAs SEITI, Bd. 1, Florenz 1859, S. 332); G. GOLUBOVICH, Fr. Giovanni Colonna di San Vito, Viaggiatore in Oriente (ca.1260-1343/44?), in: AFH 11 (1918) 32-46. 36
Ed. RUBIO
y
LLUCH, Doc.I S. 382 Nr.428. Ähnliches Interesse des Königs: S.365 Nr.411. - Pero
Tafur wird 1439 vom Hz. v. Burgund und vom Papst befragt (oben N.21 u. Ed. S.249). 37 Joh.: Brief Heinrichs IV. S.56. - Buscarello: ed.CHABOT, Notes, 610-13. 38 Vgl. 5.152. Aus diesem Grunde ist auch die geringe handschriftliche Verbreitung einer Schrift wie der Pratica Pegolottis (für das Handelshaus der Bardi geschrieben) ohne Aussagekraft für die tatsächliche Verbreitung des Kaufmannswissens. Realismus vgl. S.159.
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JI.
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D E N Q U E L LEN UND IHRER REZEPTION DURCH DIE ZEITGENOSSEN
Nicht zu vergessen als Träger von Informationen, in ihrer eigenen Person wie sicher auch durch Erzählungen, sind die vielen mongolischen Sklaven in Süd europa seit der Mitte des 14. Jahrhunderts 39. Sie hatten ihren Einfluß auf das Bild, das sich die Abendländer von den Tartaren machten, sie wurden nicht einfach nach den landläufigen Klischees beurteilt, sondern der tägliche Umgang mit ihnen ließ die Herren auch eigene Erfahrungen formulieren. Die Tartaren galten von Beginn an als f a l s c h und h i n t e rl i s t i g gegenüber Europäern und anderen Fremden ; daneben kannte man auch ihren unbedingten Gehorsam gegen ihre Herren. Als Sklaven sind sie dreimal so teuer wie andere, weil sie besonders t r e u sind, weil eben keiner je seinen Herrn verrät40• So konnten die Zeitgenossen etwa seit 1350 zumindest in Italien oder anderen Mittelmeerländern - ganz abgesehen von Ostmitteleuropa - ohne Schwierigkeiten einen Tartaren zu Gesicht bekom men 4 1 . Der Florentiner Antonio Averlino Filarete (t 1469) stellt sicher nach eigenen Erfahrungen fest, die Tartaren sähen auf den ersten Blick alle gleich aus, und erst beim näheren Hinsehen erkenne man Unterschiede 42. Für die frühere Zeit ist eigenes Sehen wesentlich weniger wahrscheinlich. Immerhin gelangte 1287 Rabban Sauma als Gesandter Arghuns bis nach Rom, Paris und Bordeaux; er war ein nestorianischer Geistlicher und gebürtiger Uig hure, also Ostasiate. Wahrscheinlich haben ihn viele Menschen betrachtet, denn wenn etwas Fremdländisches zu sehen war, so liefen die Leute auf die Straße und die Chronisten registrierten es 43. Vorsicht hingegen ist bei den zahlreichen anderen Gesandtschaften der Il39 Marco Polo brachte sich bereits um 1300 einen Sklaven mit: Auszug aus seinem Testament bei M. BERTRAM, Mittelalter liche Testamente. Zur Entdeckung einer Que llengattung in Italien, in: QFIAB 68 (1988) 523, N.70. Es können au ß er S kl aven auch z. B. Kaufl eute gewesen sein, die ostasiatische Technologie in den Westen brachten (gegen L. WHITE, Medieval Borrowings from Further Asia, in: Medieval and Renaissance St. 5, ed. O. B. HARDISON jr., Univ. of N. Caro lina Pr. 1971, 3-26, hier 20). 40 Pero Tafur S. 162. - Treue und Dankb arkeit: Giosafat Barb aros Er fahrungen im persönlichen Umgang S. 78/80, 89/90; Treue al s Verbündete joseph de Cancy 1281, übers. SANDERS S. 8. - »Typisch Tartaren« unten S. 201 ff . 41 Näheres zu den Sklaven auch S . 2 12/3. - Bis nach Po len hinein waren Mongol en angesiedelt worden. Nachrichten aus dem 14. jh. für möglicherweise mongolische Knab en, die in Europa zu Mönchen erzogen werden sollten, unten S. 139. 42 E benso die Ä thiopier, die er zumindest in F l orenz während des Konzi ls gesehen haben dürfte, ed. FINOU/GRASSI S. 27. Ein Zwischenfall mit einem Tartaren, wohl keinem S klaven, au f dem Rial to wird noch aus dem jahre 1480 berichtet: Voyage de Saincte Cyte S. 15/16. Selbstverständ lickeit in Osteuropa: peitschenknallende Tartaren al s Unterhalter (H. BOOCKMANN, Spielleute und Gaukl er in den Rechnungen Jes Deutschordens-Hochmeisters, in: Feste und Feiern im Mittelalter, hg. v. Detlef ALTENBURG/Jörg jARNuT/Hans-Hugo STEINHOFF, Sigmaringen 1991, 217). 43 1291 sandte offenbar der Khan dem König v. Fran kreich ein Tier: Robert v. Sen lis bringt einen asinus silvestris (Onager?) mit, wie aus dem Passierbrief Karls II. v. Anjou hervorgeht (vgl . BRATIANU, Recherches, 186/7, N. 4); dieses Tier kam auch durch Parma: Chr. Parm. S. 62. Die englischen Gesandten von 1292 bringen einen Leoparden mit zurüc k, DESIMONI (Ed.), Conti, 611. Zu Orientalis men in der Kunst unten S.215. - Zu Rabb an Sauma CHABOT (Ed.), Histoire; E. LANGLOJS, Rabban Saurna, am bassadeur d'Ilkhan Argoun, et de la cathedrale de Veroli (1288) in: MEFR 70 (1958) 331-365. '-
VERLORENE U N D M U N D L I C H E BERI CHTE
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khane zu den abendländischen Herrschern geboten, denn die erzählenden Quel len sind wenig verläßlich, die Chronisten haben wohl selten die Boten selbst erblickt; sie sprechen normalerweise ohne jede Differenzierung von nuncii Tarta rarum. 1302 seien nach Rom Boten des Königs der Tartaren gekommen, so berichtet Eberhard von Regensburg, »in Sitten und Kleidung deutlich anders als wir« - es handelte sich um den Genuesen Buscarello dei Ghisolfi in Begleitung von Käkedei und Tümen, das heißt möglicherweise zweier Mongolen oder anderer Orientalen 44. Gemischte Gesandtschaften dürfte es häufiger gegeben haben, so zum Beispiel in Lyon 1274 (mindestens zwei Abendländer und vier Ungetaufte) oder 1285 beim Papst (zwei Abendländer mit Bogagoc und Mengilic), vielleicht auch 1262 in Frankreich (vierundzwanzig edle Tartaren in Begleitung zweier Dominikaner als Dolmetscher) 45. Von den Ilkhanen wurden gerne abendländische Boten gewählt, schon weil sie mehrsprachig waren - sie lebten oft schon lange im Orient und waren halbe Orientalen, was bei den Beobachtern Verwirrung hervorrufen konnte 46. Manchmal setzten die Ilkhane auch orientali sche Christen ein, die ebenfalls oft mehrsprachig waren 47. Ein Beispiel gibt Guillaume de Nangis, der die Gesandten 1276 in Paris selbst gesehen haben kann und bewußt differenziert : Die Boten seien »nach Herkunft und Sitten« keine Tartaren, sondern Georgier gewesen. Wenn er recht hat, ist um so interessanter, daß offenbar die gleichen Leute 1277 in England als sechs der Edelsten aus dem Volk der Mongolen mit ihrem Dolmetscher registriert werden 48. Nach all dem : Zogen 1307 tatsächlich sechs Tartaren durch Frankreich zu Clemens V. ? 49 Eine weitere Gruppe von Reisenden und damit potentiellen Erzählern wurde bisher noch kaum erwähnt : die der Abenteurer, der Verschleppten, der fahrenden Söldner - ja sogar der Vergnügungsreisenden S0. Ihre Zahl ist unabschätzbar, 44 S. 599. Wenn die Gesandtschaft 1299/1300 gemeint sein sollte: Auch da waren Abendländer dabei,
Anhang 1.
45 1274: ed. LUPPRIAN Nr.44 S. 228/30, ROBERG, Tartaren: David v. Ashby und der Notar Ricardus;
dazu wurden laut Protokoll vier Personen getauft: das können tatsächlich Mongolen oder auch orientalische Christen, also Schismatiker, gewesen sein: unten S. 95/7. - 1285: ed. LUPPRIAN Nr. 4 8 S. 246. - 1262: ehr. Erphord. S. 666. Der Bericht wirkt übertrieben (die Zahl ist nicht eindeutig überliefert und nicht ernst zu nehmen), aber durch seine Wiedergabe einer häufigen Konstellation nicht unglaubwürdig. J. RICHARD, Une Ambassade mongole a Paris en 1262, in: DERS., Croises, Nr. XIII, 299. 46 Abendländer, die im Orient geboren wurden oder zumindest große Teile ihrer Jugend dort zubrachten, sind häufiger festzustellen: S. ISS; dazu der Florentiner Bastari, der bei den Mongolen aufgewachsen war und Giovanni Villani von ihnen erzählte (VIII,35 t. II,37). Zum Be- oder Verkleiden als Tartaren unten S. 244/5. 47 Auch zu Ludwig dem Heiligen reisten 1248 nach Zypern Nestorianer, vgl. S. 80/2. 48 Guillaume: Gesta Phil. S. 510 (ehr. ed. RHF S. 565): keine Tartaren natione et moribus. Joh. v. Oxenedes S. 250: Zusammensetzung wiederum denkbar, s.N. 45. Die gleiche Gesandtschaft: Anhang -
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I S. 330. 49 S. Martialis ehr. S. 811. 50 Der kastilische Hidalgo Pero Tafur berührte bei seiner offenbar weitgehend zweckfreien Reise
rund ums Mittelmeer auch die Tartarei und hinterließ einen wertvollen Bericht.
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Ir. Z U D E N QUELLEN UND IHRER REZEPTIO N DURCH D I E ZEITGENOS S EN
schriftliche Berichte von ihrer Seite sind ebenso selten wie bei den Kaufleuten. Sie kamen aus allen Schichten der Bevölkerung, und wir können sicher sein, daß sie, nach Hause zurückgekehrt oder bei einem zufälligen Zusammentreffen mit anderen Abendländern im Orient, ungeheuer viel zu erzählen hatten. Die Mongolen nahmen von überall her Leute mit - vor allem Handwerker -, die sie gebrauchen konnten, zum Beispiel den kunstfertigen Goldschmied Willel mus Buchier aus Paris, den Wilhelm von Rubruk in Karakorum traPI. Entwur zelte aus Europa konnten bei den Tartaren Unterschlupf finden, wie entflohene Ketzer52 oder der Engländer, der 1241 dem christlichen Heer bei Wiener Neu stadt unter anderen Angehörigen der mongolischen Truppen in die Hände fieP3. Der junge bayerische Adelige Johannes Schiltberger geriet 1396 in der Schlacht von Nikopolis in türkische Hände, nach der Schlacht von Ankara 1402 in die Timurs, von wo er nach dreiunddreißigjährigem Aufenthalt im Orient entfliehen konnte - sein glücklicherweise schriftlich hinterlassener und dann im Druck verbreiteter Bericht ist ein Beispiel für die Informationen, die solch ein Mann weitergeben konnte. Wohl freiwillig verdingte sich der Franzose Jacques du Fay einige Zeit im Heer Timurs; ein vaillant homme d'armes war Jehan Bargadin aus Metz, der acht Jahre in CanbaleichlCambalech dem Großkhan gedient haben will und nach seiner Rückkehr zumindest Philippe de Mezieres mit Neuigkeiten versorgte 54. Fahrende Ritter kamen leicht mit der Tartarei in Berührung, wie Oswald von Wolkenstein oder Peter Suchenwirths Figur des Ritters Friedrich dem Chreutzpeck 55. 51 XXIX,3 S. 253, XXX,2 S. 276, XXXII,5 S. 287 (in Belgrad gefangen); Leo OLSCHKI, Guillaume Boucher. A French Artist at the Court of the Khans, Baltimore 1946. - Handwerker: Plano Carpini, VII,11/2 S. 9112; Simon XXXI,84 S. 48. 52 Über die Flucht von Ketzern in den Orient haben wir verschiedentlich Nachrichten: häretische Franziskaner in Tabris und in der Tartaria Aquilonaris GOLUBOVICH III, 443 (442ft); V 9112; WADDING VIII S. 371/2; die Gruppe um Angelo Clareno und Fra Liberato in Kleinarmenien (zuletzt R. MANSELLI, Spirituali missionari: l'azione in Atmenia e in Grecia. Angelo Clareno, in: Espansione, 271-291); Vermutungen zu Odorich v. Pordenone REICHERT, Version, wie N. 98, 536/7; RACHE WILTZ, Envoys, 184 Ooh. v. Monte Corvino Spiritualer?). 53 Die Rekonstruktion Gabriel RONAYS (The Tartar Khan's Englishman, London 1978) ist zu
optimistisch, doch denkbar ist ein solches oder ähnliches Schicksal. Ein möglicher Parallelfall BEZZOLA 39. - Rubruk hat von verschleppten Deutschen gehört, kann sie aber in der Steppe nicht aufsuchen (XXIII,2/3 S. 224/5, XXXI II,1 S. 289), er trifft aus Ungarn verschleppte Europäer und viele deutsche Sklaven (XXIX,2 S. 252/3; XXX,? S. 278, XXXV,ll S. 304, XXXVI,1 S. 305). 54 Jacques: Bericht Froissarts XV S.319/20: offenbar freiwillig. Dort auch Bericht von einem anderen Franzosen, der in türkischen Diensten gestanden hatte. - Bargadin: Philippe de Mezieres, Epistre S.500; Songe I S. 228, 485. Möglicherweise hat der Ritter diesen Dienst aber auch erfunden, falls nicht die Erlebnisse zur Zeit ihrer Aufzeichnung (1396, 1389) schon länger zurücklagen oder der Name Khan Baliq und der Zusammenhang mit Cathay eine ausmalende Ergänzung (Phi/ippes?) ist: Denn 1368 wurden die Mongolen und damit auch der Großkhan endgültig aus Peking und China in die Steppe zurückgetrieben. Die transportablen Städte allein könnte B. auch noch dort gesehen haben. - Ein solcher Ritter im Dienst des Khans will auch Mandeville gewesen sein (I S. 144): Vielleicht inspirierte er den Gewährsmann Philippes oder diesen selbst. 55 Oswald Nr.64, 107 S. 160, 244; Peter ed. PRIMlSSER 14 S. 46. Weit gereist auch sein Hans v. Chapell ed. FRIESS S. 12/3. Man denke auch an die Preußenreisen, bei denen es allerdings wohl selten -
D I E REZEPTION DER INFORMATIONEN I M ABENDLAND
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Auch die weitere Verbreitung der nun im Westen verfügbaren Nachrichten geschah nicht nur auf verschiedenen schriftlichen Wegen, die zum Teil schon beschrieben wurden, sondern wiederum auch mündlich. Manche Anekdote wurde zum Beispiel in Predigtexempla-Sammlungen aufgenommen, also der mündlichen Verbreitung zur Verfügung gestellt. Viele der gerade im 13. und 14. Jahrhundert vor allem im Predigerorden entstehenden Sammlungen nahmen erbauliche Tartaren-Exempla gerne auf, die neben Bekehrungswundern auch andere Züge des Tartarenbildes verbreiten halfen 56 . Wir haben überhaupt mit einer ausgeprägten Erzählkultur zu rechnen, dabei auch mit der Verbreitung von Dichtung mit ihren besonderen Bildern von den Mongolen, die die allgemeinen Vorstellungen in nicht geringem Maße geprägt haben dürfte 57.
3 . Die Rezeption der Informationen im Abendland Grundsätzlich bildeten alle Informationen, die in schriftlicher oder mündlicher Form aus dem Orient ins Abendland gelangten und dort verbreitet wurden, das Wissensreservoir für diejenigen, die zu Hause geblieben waren und sich dennoch kundig machen wollten. Welches waren nun die Kriterien, nach denen ein mittelalterlicher Autor seine Quellen beurteilte, ihnen Glauben schenkte oder nicht, ihre Informationen also übernahm oder verwarf ? 58 »Wir bitten alle, die den vorstehenden Bericht lesen, nichts wegzunehmen und nichts hinzuzufügen, denn wir haben a l l e s s o , w i e w i r e s g e s e h e n oder von anderen, die wir für glaubwürdig hielten, gehört haben, aufgeschrieben, ohne wissentlich etwas hinzuzufügen . . «, so beteuerte Johannes von Plano Carpini um .
zu engeren Kontakten mit den Tartaren kam: Werner PARAVICINI, Die Preußenreisen des europä ischen Adels, Teil 1, Sigmaringen 1989 (Beih. der Francia. 17/1) 202-206. Die Tartarei wird gerne in Zusammenhang mit Preußen genannt, z. B. Guillaurne de Machaut, Dite dou Lyon, vv.1449/50, 11 S. 210; Chaucer, Book of the Duchess v. 1025 S. 342; John Gower, Mirour v. 23895, I S. 264, Confessio v. 1631 11 S. 345; Hermann v. Sachsenheim, Sleigertüechlin S. 214. Osteuropa ohne die Tartaren: Spiegel S. 161. - Der Weltenbummler, der kein edler Ritter des Epos, sondern oft ein armer Kerl ist, wird zum literarischen Thema: Chaucer's Knight (Canterbury Tales, General Prologue, S. 24; T.]. HATTON, Chaucer's Crusading Knight, a Slanted Ideal, in: CR 3 [1968/69] 77-87) und Shipman (S. 29/30) kommen weit herum, wenn auch nicht ausdrücklich in die Tartarei. . 56 Z. B. Thomas v. Cantimpre, Bonum 11,43 unfol. 57 Mögliche Erzählungen kennen wir aus Boccaccios Decamerone, Sercambis Novelle oder Chaucers Tales, die alle in ihren Sammlungen auch orientalische, tartarische Exempla verwenden. Zur Dichtung allgemein unten S. 201 H. 58 Wenngleich für die vorliegende Untersuchung, wie S. 1 7 ausgeführt, allein diese Kriterien der mittelalterlichen Menschen ausschlaggebend sein sollen, muß im folgenden doch hin und wieder der modeme Maßstab angelegt werden, denn auch wir können Phänomene nur erkennen, wenn wir uns ihnen mit bestimmten Vorstellungen nähern. - Nicht systematisch wurde bei den Texten die Handschriftenlage und -glossierung berücksichtigt; methodisch Grundsätzliches dazu bei �EICHERT, Begegnungen Kap.111.3.
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II.
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1247 am Schluß seines Berichtes 59, und Johannes von Marignolli gab um die Mitte des 14. Jahrhunderts zu: »Und unglaublich, wenn i c h s i e n i c h t seI b s t g e s e h e n h ä tt e, wären die Fülle an allem . . . , die riesigen Städte . . . « 60 . Leser und Zuhörer wünschten offenbar wahre InfoImationen, und die Reisenden selbst waren sich der Unwahrscheinlichkeit mancher ihrer Erzählungen bewußt. Doch den eigenen Augen trauten sie und konnten als A u g e n z e u g e n offenbar auch bei ihrem Publikum auf Ve r t r a u e n in die Wahrheit ihrer Berichte rechnen - wenn 1 man ihnen ihre Augenzeugenschaft glaubte 6 . »Damit nicht bei irgendwem irgendwelcher Zweifel, daß wir [tatsächlich] bei den Tartaren waren, aufkommt, schreiben wir die Namen derer auf, die uns dort trafen« 62: Der schon zitierte Johannes von Plano Carpini sicherte sich ab, weil er von seinen Lesern kritischen Unglauben erwartete. Am Bericht des Venezianers Marco Polo wird gezweifelt, und er bekräftigt seine Augenzeugenschaft, als er auf dem Totenbett - seine Übertreibungen widerrufen soll: »Ich habe nicht die Hälfte dessen aufgeschrieben, was ich sah« 63. Auch der Florentiner Bildhauer und Architekt Filarete will nicht recht glauben, daß es in Kattai mehr als zwanzigtau send Brücken und auch sonst viele wunderbare Dinge geben soll, wie man es in Büchern von Leuten, die a n g e b l i c h dort gewesen seien, lesen könne64. Solche Fälle von Mißtrauen gegenüber Berichten wie dem des Marco Polo oder aber Vertrauen in objektiv unechte Reiseberichte wie den des John Mandeville haben aber nichts mit unkritischer Haltung des Publikums zu tun, sondern weisen nur auf von unseren abweichende Kriterien 65. Auch die Persönlichkeit des Augenzeugen scheint bei manchem Zuhörer eine Rolle gespielt zu haben : »Der genannte Bruder erzählte von vielen anderen Dingen, die alle Glaubhaftigkeit übersteigen würden, machte sie nicht seine Verläßlichkeit (auctoritas) glaubwürdig« 66. 59 IX, 52 S.129/30 (Hervorh. F.S.) (ähnlich unten N.68). - Im Text selbst versichert Joh. bei Wundergeschichten, daß seine Zeugen sie firmiter bestätigt hätten: v,n S. 60, 16 S. 62/3, 33 S. 74/5. 60 Mi. 14.Jh. Joh. v. Marignolli S. 536 (c.2) (Hervorh. F. S.). Ähnlich Joh. v. Sultaniyah, Ms. UB Graz 1221 fol. 86r. - Zum Problem der Glaubhaftmachung Marco Polo, Barbaro etc. oben S.50. 61 So gilt Marco Polo dem Giov. Villani als glaubwürdig, weil er lange in jenem Land lebte, von dem er berichtet (V,29 t. r,211). Eine zeitgenössische Glosse meint, Marco Polo habe sich auch getäuscht, wenn er nicht ex experimentis berichtete (c. WAGNER DUTSCHKE, Contemporary Views of Marco Polo: Fact or Fiction, in: Marco Polo and His Book, NT. 9, 21/2, ohne Herkunftsangabe). 62 IX, 49 S. 128. 63 Ed. BENEDETTO in seiner Einleitung zum Milione, CXCIY. Topos: oben N. 31. Zu möglicher weise mündlichen Erweiterungen für Jacopo d'Acqui oben N. 26. 64 Ed. u. übers. v. OETTINGEN S. 277. Enea Silvio distanziert sich: das Reich des Groß khans sei nostratibus '" pene incognitum (Cosmogr. S. 317). 65 Auch Zweifel an der Wahrheit eines Berichtes wegen zu weniger Mirabilien (WITTKOWER, unten N.82) würde kritische Prüfung am Wissen bedeuten, unabhängig davon, wie »naiv« das manchem modernen Historiker erscheinen mag. - Zur Entwicklung .moderner« Kriterien seit der frühen Neuzeit W. NEUBER, Die frühen deutschen Reiseberichte aus der Neuen Welt. Fiktionalitätsverdacht und Begla�igungsstrategien, in: Der europäische Beobachter, 43-64. 66 Matthäus Parisiensis über den Bericht des Andreas v. Longjumeau 1247 (CM VI S. 115).
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Konsequent r e c h n e t en auch schon die Reisenden selbst wie der zitierte Johannes von Plano Carpini mit d e r U n g l a u b w ü r d i g k e i t von Zeugen und legen Wert auf Ü b e r p r üf u n g, denn, wie Friedrich 11. in seinem Falkenbuch grundsätzlich zur Methode festhält : »Gewißheit (jides . . . certa) nämlich erhält man nicht aus dem Hörensagen (ex auditu)« 67. Johannes betont, wie zitiert, auch die Glaubwürdigkeit der Zeugen ; Marco Polo kündigt zu Beginn des Milione an, er wolle in seinem Buch genau unterscheiden zwischen dem, was er selbst sah, und dem, was er von Zeugen - immerhin citables et de verite hörte, denn er wolle ein wahres, kein Fabel-Buch schreiben 68• Selten teilen die Forscher ihre K r i t e r i e n f ü r j e ne Ü b e rp r ü f u n g der Glaubwürdigkeit mit; Odorich von Pordenone verläßt sich auf das, was »alle sagen«: » Ich, Bruder Odorich . . . versichere . . . daß ich all das, was oben beschrieben wurde, entwe der mit eigenen Augen gesehen oder von glaubwürdigen Menschen gehört habe. Die Volksmeinung jener Gegenden aber bezeugt als wahr, was ich nicht gesehen habe.« 69 Erst allmählich setzte sich bei allem Vertrauen in die Augenzeugenschaft das zitierte, von Friedrich 11. vertretene Prinzip durch, Traditionen und Autoritäten grundsätzlich zu überprüfen. Normalerweise verzichteten die echten Reisenden auf die Beschreibung von Mirabilia im landläufigen Sinne 70 - sie hatten sie nicht . gesehen und genügend neue, bemerkenswerte Dinge zu erzählen. Meistens schwiegen sie ganz davon; nur selten setzte sich einer so wie der Franziskaner Johannes von Marignolli mit dem Problem auseinander, daß er - der immerhin in Gegenden reiste, in denen man die Monstren zu erwarten gehabt hätte - nichts dergleichen bemerkt hatte. Er äußert sich » über die monstra, die die Geschichten und Erzählungen ersinnen und ausmalen, und von denen sie sagen, daß es sie in Indien gebe, an die auch der Heilige Augustinus, De civitate Dei Buch 16, erinnert . . . «: »Ich aber habe mit höchster Neugier alle Provinzen der Inder durchwandert, war eher neugierigen als tugendhaften Geistes, wollte wenn möglich alles wissen, wandte, wie ich glaube, mehr Mühe auf als irgendwer, von dem man liest oder weiß, um die mirabilia mundi zu untersuchen, und durch_
67 Friderici Romanorum imperatoris /1 de arte venandi cum avibus, Prologus, ed.C. A.WILLEMSEN, Leipzig 1942, Bd. 1 S. 1. 68 I (1) S. 3 (3). Auch Odorich kann veraciter berichten, weil er viel gesehen und gehört hat (1,1 S. 413). Vieles selbst gesehen, sonst glaubwürdige Zeugen: Rogerius v. Apulien, Carmen S. 551; Jordan v. Severac, Mirabilia bes. S. 120. - Joh. v. Sultaniyah verläßt sich auf Berichte der contemporanei des falschen Propheten des Islam: Libellus S. 97. 69 comunis locutio illarum contratarum: XXXVIII,6 S. 494. Vom Sprachlichen her kann man auch übersetzten »die Volksmeinung ü b e r jene Gegenden« (Hervorh. F. S.), doch verläßt sich Odorich mehrfach tatsächlich auf das, was die Einwohner der besuchten Gebiete uno ore erzählen (XIX,2 S. 458; XXIII,2 S. 464), diskreditiert hingegen mindestens einmal das, was offenbar in Europa pro certo dicitur (XXXII,1 S.483). - Plano Carpini hat Informationen von bei den Mongolen gefangenen Christen, die er für glaubwürdig hält (Prolog 3 S. 28; 4, 28). 70 Vgl. S. 201ff. - Jordanus v. Severac beschreibt zwar Mirabilia, gibt aber eine ganz realistische Darstellung der Verhältnisse in Asien. •
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querte die wichtigsten Weltgegenden . . . : Nirgends konnte ich als wahr finden, daß es solche Völker in der Welt gibt .. . « 7\ Solche Wege der Überprüfung standen für die asiatischen Verhältnisse aller dings nur Reisenden offen; die D a h e im g e b I i e ben e n waren auf andere, v a g e r e B e u r t e i l u n g s k r i t e r i e n für die Nachrichten angewiesen. Die Auswahl der Informationen erfolgte wohl nach bestem Wissen und Gewissen, aber die Quellenkritik war an vielen Punkten noch sehr wenig entwickelt. Gewiß schätzte man Zeugnisse von Reisenden hoch und versuchte, sie nach Möglichkeit zu benutzen. Ausdrücklich betont diesen Grundsatz zum Beispiel der Oculus fidei, ein allerdings seltenes und spätes Zeugnis : Er benutze Autoren, die ihre Gegen stände ex visu non ex auditu kennen würden 72 • Von wenigstens ebenso hoher Glaubwürdigkeit wie die Augenzeugenberichte sind aber nach wie vor die Schriften der traditionellen A u t o r i t ä t e n. Wenn es zu Widersprüchen zwischen Augenschein und Überlieferung kommt, so verläßt sich der Reisende, wie zitiert, auf seine Erfahrung. Schon um 1257 hat Wilhelm von Rubruk bei der Beschreibung des Kaspischen Meeres Isidor sogar diskreditiert: »Und es ist nicht wahr, was Isidor sagt, daß es eine Ausbuchtung des Ozeans sei« 73. Der Rezipient in der Studierstube steht vor größeren Schwierigkeiten. Zwar benutzen immer mehr Autoren - vor allem im 15. Jahrhundert - auch die Schriften der modemi74 oder verweisen sogar in Autorenkatalogen auf Marco Polo, Johannes von Plano Carpini, Mandeville oder Haython und andere zur weiteren Infonnation75• Und Domenico Silvestri bezeugt gegen Ende des 14. Jahrhunderts ein noch sehr junges Selbstbewußtsein, 71 Joh. v. Marignolli S. 545 (c. 6), 546 (c. 9). Es folgt eine natürliche Erklärung für die Leute mit einem großen Fuß. Pero Tafur fragte den Nicolo dei Conti, ob er in Indien cosas mostruosas en La forma humana gesehen habe (5. 106; Conti verneint). - Rubruk fragt nach den Monstern Isidors und Solinus', die aber keiner der Befragten kennt, was Wilhe1m auch sehr überrascht hätte (XXIX,46 S. 269; XIX,1 S. 21112; an neue Wundergeschichten glaubt er auch nicht: XXIX,47/9 S. 269/70); Odorich v. Pordenone gelangte ins Reich des Priesters Joh., von dem nicht der toOste Teil dessen, was man sich erzähle, wahr sei (XXXIl,1 S. 483). curiositas im Mittelalter: oben S. 13/4. 72 Wie N. 75. Vgl. S. 56 zur Aufsuchung von Augenzeugen. 73 XVIII,5 S. 211. 74 Zu diesem Komplex Näheres 5. 285ff. 75 Jean Adorno zitien Marco Polo wie selbstverständlich zwischen antiken Autoren (Itinerarium des Anse1m Adorno S. 28); Verweise: z. B. Giov. Villani V,29 t. I,120 und nach ihm Giov. Fiorentino S. 164/5. - Besonders ausführlich der sog. Oculus fidei, verfaßt ev. vom Karthäuser Henricus de �i!.o in Köln, Hs. um 1 470, Hist. Arch. Köln, GB fol. 132 (für den Hinweis auf diese Hs. habe ;�h' elflmal mehr F. Reichen zu danken). Fol. 63vb/64ra: sub imperio tartarorum et nubianorum prout hii sciunt qui solidas histonas desuper ex visu non ex auditu scriptas perlegerunt. haytonus, blondus [Flavio Biondo wohl als Augenzeuge für Nubier/Äthiopier, ed. NOGARA c. XXXII S. 19 ff.], nicoLaus de comitibus [dei Conti], marcus de venetiis, johannes de carpinis, benedictus polonus, odericus de aquiJeya [von Pordenone im Friaul], johannes mandavil . . . docebunt te desuper si dubitas .. . Bei der hochinteressanten, weil die Quellen intensiv verknüpfenden Zusammenstellung seiner ausführlichen Tartaren-Nachrichten (fol. 79v-84v) verwendet der Autor sicher Plano Carpini, Haython, Polo (z. B. fol. 80ralb oder unten S. 202, N. 14) und Odorich (eine charakteristische Geschichte fol. 82valb). Die Kölner Herkunft des Oculus macht eine direkte Benutzung Plano Carpinis und ..!\_e.!!.c;dilgs wahr scheinlich (B.'s Erzählung in Köln aufgezeichnet; möglich aber auch Benutzung von Vinzenz' -
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das allmählich persönliche Beobachtungen eigener Zeitgenossen in den Rang von Autoritäten erhebt: » . . . Isidor berichtet in De ymagine mundi . . . und wenn wir ihm glauben, warum sollten wir Marcus Venetus [Polo] nicht glauben ?« 76 Doch Silvestri fühlt sich offenbar genötigt, seine Vorgehensweise zu verteidi gen; Pierre d'Ailly übernimmt um 1420 zwar Passagen aus traditionellen und modernen Quellen, doch er weist nur die Alten namentlich nach. Die meisten dieser Autoren verzichten weder auf die Autorität noch auf neuere Erkenntnisse', widersprüchliche Aussagen stellen sie weitgehend unkommentiert nebeneinander und lassen die E n t s c h e i d u n g offen77• Nach welchen Kriterien hätten sie aber auch entscheiden sollen, wenn sich zwei gleich vertrauenswürdige Zeugen gegenüberstanden ? Bei der Bewertung der neu gewonnenen Informationen in den Reiseberichten konnte ihre Bestätigung durch einen weiteren Zeugen ins Gewicht fallen : »Einiges aber, was Marcus Polus erzählt, hätte ich in dieses Werk niemals eingefügt, wenn nicht der äußerst kluge Dionisius, genannt Johannes Nigrus, zusammen mit mir gehört hätte, wie der venezianische mi/es Fantinus, ein wackerer Mann, versicherte, daß [auch] er in Indien vieles davon gesehen habe.« 78 Nicht gefragt ist nach der Unabhängigkeit des anderen Zeugen, und das konnte zu Fehlurteilen führen, weil als besonders bekräftigt galt, was oft (ab)geschrieben wurde 79. Für die Entscheidungsfähigkeit der Zeitgenossen dürfen wir keine modernen Maßstäbe von Glaubwürdigkeit anlegen. Die Tatsache, daß ein Rezipient ver schiedene Dinge, die nach unserem Ermessen zum Teil wahr, zum Teil erfunden waren, vermischte, gestattet noch nicht anzunehmen, daß er das absichtlich, willkürlich getan habe, ihm also bewußte Verfälschung zu unterstellen 8 0. Wie sollte zum Beispiel ein mittelalterlicher Autor, der weder Einhörner noch Giraf fen je in natura gesehen hatte, erkennen, ob diese Wesen überhaupt oder welches Speculum, das Oculus fol.82vb nachträglich zitiert und das selbst S. 1286 den Namen des Benedikt
enthält). 76 De insulis . . . S.38. Silvestri ist selbst nicht ganz sicher und setzt sich im Prolog sehr vorsichtig mit dem Problem der Autoritäten auseinander, S. 30/1, er zitiert aber Haython (Anonius) und Odorich. 77 Vgl. S. 304; z.B. Pierre d'Ailly. - Einander widersprechende Quellenzeugnisse, auch aus der gleichen Epoche, aneinanderzureihen, manchmal mit unterschiedlicher Gewichtung, aber meist ohne diese zu begründen, war eine übliche Methode mittelalterlicher Kompilation: Jean LeLong fand vom Tod des Khalifen v. Bagdad 1258 drei Versionen und führt sie nacheinander auf, die erste in bevorzugender Ausführlichkeit, um dann zu schließen: »Doch wie immer es sei, der Khalif nahm ein schlimmes Ende« (Sp.736). Zum gleichen Ereignis, aber mit anderer Priorität Francesco Pipino OP ehr. l. XXVIII,41 Sp.710: Er verweist hier sogar seinen Hauptgewährsmann Marco Polo unter die alii. Die bevorzugte Version ist sensationeller und stammt auch von einem Reisenden und noch dazu Ordensbruder des Pipino, Ricold v. Montecroce. Ihre Quellen nannten die Autoren in beiden Fällen nicht. 78 Domenico Silvestri S. 3l. 79 Zum Problem der Rezeption auch in Reiseberichten und der Verkennung ihrer verfälschenden Einflüsse unten S. 61. 80 MOLLAT, Explorateurs, 124: Mandeville "a v o l o n t a i r e m e n t mele le vrai et l'imaginaire« (Hervorh. F. S.). Grundsätzlich zur mittelalterlichen Wahrnehmung von »wirklich« und "imaginär« oben S. 17.
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von ihnen wahrscheinlicher existierte. Die verschiedenen Leser oder Hörer waren ja nicht nur aus der Dichtung, sondern - wie beispielsweise Marignolli bekennt 81 auch aus den Kirchenvätern exotische Wesen gewöhnt; möglicherweise erwar tete das publikum die bekannten monstra der Tradition, und gerade ihr Fehlen nahm einer Reiseerzählung etwas von ihrer Glaubhaftigkeit 82• Neben Abwägun gen wie bei Marignolli standen im 14. Jahrhundert eben auch an Exotismen 'reiche »Reiseberichte« wie der Mandevilles, dessen Echtheit einschließlich der Wunder geschichten die Zeitgenossen nicht anzweifelten. Solange wir keinen vom moder nen Wahrheitskriterium unabhängigen Anlaß zum Zweifel haben, müssen wir deshalb bei rezipierenden mittelalterlichen Darstellungen des Orients, auch zum Beispiel bei Mandeville selbst, grundsätzlich den guten Glauben an die Qualität ihrer Quellen und den Willen zur wahrhaftigen Darstellung voraussetzen. _
Besonderheiten der zeitgenössischen Q u e l l e n b e n u t z u n g nahmen den vorhan denen Kriterien zusätzlich einiges von ihrer Wirksamkeit. Wie bei den Alten blieb auch bei den moderni ihre Zeitabhängigkeit weitgehend unberücksichtigt. Das führte bei der Benutzung von Reiseschilderungen des 13. und frühen 14. Jahrhun derts im 15. Jahrhundert zu A n a c h r o n i s m e n, weil Beobachtungen, die einer bestimmten historischen Situation angehörten, ganz ahistorisch behandelt wur den. So richtete sich Columbus bei seiner Reise zum Großkhan von Cathay nach den Werken Marco Polos und anderer spätmittelalterlicher Autoren, deren Informationen über diesen Herrscher längst von der Geschichte überholt waren. Domenico Bandinis Großkhan ist kurz vor 1400 nur einmal ausdrücklich »der Großkhan, der im Jahre 1289 regierte, zu der Zeit, als Marco Polo schrieb . « 83 .
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81 Zit. oben S. 57/8. 82 So vellJlutet Rudolf WIlTKOWER (Marco Polo und die Bildtradition des »Wunder des Ostens« (1957), wieder in: DERS., Allegorie, wie S. 18, N. 40, 151-179, hier 152/3), man habe Marco Polo nicht geglaubt, weil sein Bericht z u wenige Mirabilia enthalten habe; der Illustrator des Milione im berühmten Livre des Merveilles hätte dann das Fehlen der Fabelwesen mit seinen Bildern korrigiert. Zu den Wundern bei Polo P.-Y. BADEL, Lire la merveille selon Marco Polo, in: Rev. des sciences humaines 183 (1981) 7-16. - Bei allem Streben nach Augenzeugenscl;laftwurde nicht jeder Reisebe riclluezipiert, wobe.i jeweils unsicher bleibt, ob m!t A�.sicht_oder durch ungüllJtige_ Umst�E-de. So ist fast kein�reziQ�E�E.�e Benutzung des Itinerarium Wilhe/ms v:-Rubruk (1257) erkel1iib�r, obwohl es _ V()n lloher Q.'l:aJit�t. ist, in einer Zeit verfäßt wurde, inder man an den Tartaren sehr interessiert war -:-Wid imll!e!.� fünf H�iidschr;ft�� aus dem 13. bis 15.Jh. (z-weimal zusammen mit Plano Carpini: _ .. _SINICA S.15SY:h.ji- he!!!e_e.rll�en blieben: Eine direkte Benutzung ist aber nur durch seinen fast gleichzeitig schreibenden und ebenso wenig rezipierten Ordensbruder Roger Bacon zu beobachten. Der Text, ein Brief an Ludwig den Heiligen, stand neben Hofkreisen auch dem Franziskanerorden (Bacon; mittelbares Zeugnis unten S. 147) zur Verfügung. Vielleicht war Vinzenz reich genug an Infoiluationen und/oder wurde schnell zu sehr Autorität, als daß ein Bericht, der von den reinen �akten her wenig mehr zu bieten hatte, ihn hätte verdrängen oder ergänzen können: dazu die Uberlegungen unten S. 200, N.9. Es ist wohl kaum nur Zufall, daß von Rubruk einige Handschriften erhalten blieben, während der Reisebericht des Simon v. St-Quentin in direkter Überlieferung verloren ist, aber dennoch durch Rezeption weit verbreitet wurde. - Zu Rubruks Werk neuerdings M. F. AUZEPY, Guillaume de Rubrouck chez les Mongois, in: L'Histoire 100 (Mai 1987) 114-124. 83 Fons memorabilium universi, Vat. Ms. Urb. lat. 300, fol. 69va: Magnus Caham qui regnabat anno
domini 1289 quo tempore scripsit Marcus Polus venetus . . .
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Die Gestalt an sich beschreibt der Autor stets im Präsens. Selbst Geschichts schreiber historisieren die Geschehnisse und Bedingungen in weit entfernten Ländern nur manchmal, wie Jacopo Foresti da Bergamo, der gern Fäden von den historischen Ereignissen zu den Verhältnissen seiner eigenen Zeit zieht 84 Daneben gilt die Übernahme von ursprünglich originalen Nachrichten aus zweiter Hand nicht als problematisch. Auch Reisende selbst rezipieren und übernehmen fremde, frühere Darstellungen in ihre Schilderung. Dabei werden dann Gegenden beschrieben, die der Reisende selbst nicht besucht hat, oder aber Zusätze zum eigenen Erleben gegeben, so daß Mischungen aus Augenzeugen schaft und Rezeption entstehen 85. Die Absicht dabei ist normalerweise nicht die Verfälschung, der Betrug oder das Plagiat, sondern der Wunsch, vollständiger zu informieren, oder die Überzeugung, in fremden Worten treffender sprechen zu können: Übernahmen allein sind darum auch noch kein Beweis für grundsätzlich fehlende Augenzeugenschaft. •
Das Problem der Rezeption in Reiseberichten sei kurz am prägnanten Beispiel der Jerusalem-Pilgerberichte dargestellt. In unserem Betrachtungszeitraum nimmt der Strom der Pilger ins Heilige Land trotz des Verlustes der christlichen Herrschaft beständig zu ; es wird Mode, einen Bericht zu hinterlassen 86 . Dabei steht die persönliche Erzählung neben dem stereotypen Bericht : Viele Autoren kennen wohl schon vor der eigenen Reise die Texte anderer, übernehmen teils typische Züge, teils auch deren Wortlaut in die eigene Erzählung, denn sie wollen alles »richtig« beschreiben, auch wenn sie die Orte aus eigenem Ansehen schildern könnten. Die Pilger besuchen das Heilige Land, häufig auch noch das Katharinenkloster auf dem Sinai oder sogar Kairo und Alexandria. Kontakte mit den Mongolen sind dabei nur in Einzelfällen zustande gekommen, doch viele Berichte enthalten dennoch Bemerkungen über die Tartaren oder die Gegenden, die von ihnen bewohnt sind 87. Dadurch spiegelt das Genus des Pilgerberichts fast die ganze
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84 Supplementum I. XIII fol. 272v: Aufzählung der Länder, die die Tartaren nach 1203 eroberten: et hi nunc Usonem cassanum habent principem (was 1485 auch schon wieder, aber noch nicht lange, überholt war: unten S. 196/7). Zum Problem der I:!i.w.ill.iernllg. unten S. 255. 85 Nicht teilen kann ich die Einschätzungen von Mo RITZ, Untersuchungen, wie N. 14, 141/3: im späten Mittelalter habe eine Wendung zur subjektiven Berichterstattung stattgefunden, die erstens eine klare Abtrennung von Reisebericht und -roman und Fachprosa erlaube und zweitens (neu) erlebte Wirklichkeit beschreibe. 86 Auch die aufgeführten Motive für die Berichterstattung wiederholen sich, werden topisch: RICHARD, Recits; DERS., Relations de pelerinage; ZRENNER, Berichte. - Ich habe nicht alle, auch nicht alle gedruckten Pilgerberichte untersucht oder auch nur zur Kenntnis genommen: ihre Zahl wird, vor allem in späteren Jahren, fast unellneßlich. 87 Zu allen Zeiten konnten die Pilger in Ägypten Tartaren sehen, Sklaven, Soldaten und Kaufleute: Fr. Frederico (1409/11), nach NEUMANN, in: RÖHRICHT/ AMIRAN, Bibliotheca, 677; Felix Faber (1480, 1483/4) III S. 100 u. 40 (Sklaven); Frescobaldi (1384/5) S. 57, 79 (Soldaten). Kaufleute mit eigenem fondaco : Faber 111 S. 152, 164ff. (als Sklavenmarkt); Anse1m Adorno (1470/1) S. 166; Josse van Ghistele (143115) S. 176/7 (frz. S. I13); Ghillebert de Lannoy (ab 1414) S.118. Bis etwa 1320 und um
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Bandbreite der Möglichkeiten, in Reiseberichten über die Tartaren zu berichten : Die Pilger können Augenzeugen im reinen Sinne des Wortes sein, oder sie sind Ohrenzeugen; sie möchten Informationen über andere, nicht selbst besuchte orientalische Gebiete anfügen oder aber einfach Passagen aus älteren Berichten übernehmen, weil diese oft - wie die Struktur der Berichte selbst - bereits zum Topos geworden sind. So trifft der deutsche Dominikaner Burchard von Monte Sion 1283 quidam Tartari am Hof des kleinarmenischen Königs und hört, daß ein biblisches Schlachtfeld jüngst Schauplatz einer Schlacht zwischen Tartaren und Mamluken gewesen sei; Nicola de Martoni spürt 1394/95 in Kairo immerhin noch die Unsicherheit während der Abwehr gegen Tamburlanum regem et dominum Tartarorum 88• Ludolf von Suchern aber will über solche selbsterlebten Ereignisse hinaus auch das Tartarenland beschreiben, und sogleich zeigt sich eine Haupt gefahr bei der Übernahme von Informationen : » N i c h t w e i t (!) von Thauris [Tabris] liegt eine andere Stadt mit Namen Cambeleth [Khan Baliq], die ebenfalls dem Kaiser der Tartaren gehört, und man sagt, diese Stadt sei reicher und besser als das ganze Reich des Sultans« 89. Ludolf wählte beste Quellen aus und blickte weit über das Heilige Land hinaus nach Bagdad und Tabris bis zum fernen Peking, doch die rechte Vorstellung für die Entfernungen in Asien fehlt; man gelndes Erleben erzeugt Mißverstehen 90. Mißverständnisse, Interpretationen und Rezeption können aber auch dann in einen Augenzeugenbericht, der aus eigenem Erleben über bestimmte Gegenden 1400 sind die Tartaren in Persien auch für das Heilige Land ein politischer Faktor, man konnte ihnen begegnen oder von ihnen hören: Wilhe1m v. Boldensele S. 219; Odorich VII,2 S. 422 (Zerstörungen). 88 Burchard S. 90/1 u.51. Aus eigenem Wissen oder wohl eher nach Erzählung am Ort erinnert B. auch an die Schlacht von 'Ain Galut, die etwas über 20 Jahre zurücklag. Sein Bericht gehört zu den meist gelesenen und benutzten Pilgerberichten überhaupt; diese Tartaren-Erinnerung z. B. übernahm 1421 John Poloner S.27; vgl. A. G RAB OIS, Christian Pilgrims in the 13th Century and the Latin Kingdom of Jerusalem: Burchard of Mount Sion, in: Outremer, 285-296. - Nicola: S. 602. 89 Non remote . . . S.58 (Hervorh. F.S.). Unten S. 311. Quellen: z. B. Haython III,16/7 S. 296/9 für S. 56/8, Wilhelm v. Boldensele S.202 für S. 8, im Zusammenhang einer Beschreibung von Wegen ins Heilige Land, S. 3 H., die weite Räume im Blick hat. 90 Zum Problem REICHERT, Begegnungen, 165, 191/2. Zu den Vorstellungen von der Weite unten S.310/1. Auch Erweiterungen des üblichen, im 15.Jh. bereits topisch gewordenen Christenkatalogs (der leicht variierend die schismatischen orientalischen Christen, meist im Zusammenhang der Beschreibung Jerusalems, aufzählt) zeigen nur verschwommene Vorstellungen von der Ausdehnung Asiens: die Nestorianer »bewohnen Tartariam und maiorem Indiam .. Ihr Land umfaßt so viel wie Almania et Ytalia.« (Notes latines ... , frg., nach 1429, S. 242). Der Siedlungsbereich ähnlich beim anonymen Franziskaner von Rennes (1486) S.366 (jude le Majour dürfte verschrieben oder verlesen für lnde le Majour sein). »Niederrh. Orientber.« S. 14. Zu den Katalogen Anna Dorothee V. D. BRINK KEN, Die »Nationes Christianorum Orientalium« im Verständnis der lateinischen Historiographie von der Mitte des 12. bis in die 2.Hälfte des 14. Jahrhunderts, Köln/Wien 1973. Oft werden Cathay und Khan Baliq noch im späten 14. und im 15.Jh., als sie längst nicht mehr zugänglich waren oder wenigstens verändert gewesen sein müssen, vermutlich nach älteren Kenntnissen beschrieben (z. B. Bargadin v. Metz, wie N. 54, oder Nicolö dei Conti, wie N. 34). Nocb heute, so klagt der Florentiner Filarete um 1465, schreiben manche Autoren von Kattai wunderbare Dinge nach Hörensagen oder aus Büchern von Leuten, die angeblich dort gewesen sind: cd. .OEIIINGEN S. 277. .
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erzählt, eingeflossen sein, wenn der Reisende seinen Bericht einem anderen diktierte. Zum einen besteht die grundsätzliche Gefahr, daß der » Ghostwriter« unbewußt sein eigenes Verstehen in die Formulierungen einbringt, sie sogar stark prägt, wie möglicherweise der Dichter Rustichello von Pisa, der Marco Polos Milione schrieb 91. Es gibt aber auch bewußte, eigene Erklärungen und Meinungen des Schreibers, die nur selten so gut gekennzeichnet werden wie im Falle der Aufzeichnungen der Relatio Benedikts von Polen. Der wohl belesene hysto riarum non ignaro Kölner Kleriker schildert die Erlebnisse des Reisenden stets in der dritten Person und schaltet bei all den klassischen Deutungen vor allem im Bereich der Geographie ein ut credimus ein 92. Einen Sonderfall der Rezeption in Reiseerzählungen bilden schließlich die schon erwähnten fiktiven Berichte, die sich als echt gaben und auch dafür gehalten wurden. Während die Zeitgenossen zum Beispiel problemlos eine allegorische Weltreise, geleitet von der »Königin Wahrheit« oder von Solinus, als fiktiv erkennen konnten, hielten sie Berichte wie die Travels des Sir John Mandeville, die heute als fiktiv erkannt sind, durchaus für die Wiedergaben tatsächlicher Reisen. Bei manchen dieser Berichte handelt es sich denn auch um glänzende Fälschungen : Der »Mandeville« galt bis ins 19. Jahrhundert als echt, bei manchen Berichten streitet die Forschung noch heute 93. Wenn tatsächlich einmal der Verdacht aufkommt, der Autor eines Reiseberichtes habe von einem anderen abgeschrieben, so konnte die unausgebildete quellenkritische Methode zu Fehl schlüssen führen : dann galt zum Beispiel Mandeville, der tatsächlich für seine Darstellung Ostasiens weitestgehend die Relatio des Odorich von Pordenone verwertete, nicht nur als wirklicher Reisender, sondern auch mindestens einmal sogar seinerseits als Vorlage Odorichs 94. Selbst die bewußte Entscheidung für die B enutzung von Augenzeugenberich ten kann so den mittelalterlichen Bearbeiter objektiv in die Irre führen. Relativ gefahrlos ist nur die wortgetreue Kopie längerer Passagen ; schon kurze Texte in veränderten Zusammenhängen oder kleine Umformulierungen können Verzer rungen des ursprünglichen Sinn gehaltes hervorbringen. Die Zeitgenossen aber, an Kompilationen und Florilegiensammlungen gewöhnt, betrachten Kopie und eigentliche Augenzeugenschaft als gleichwertig, übernehmen beliebig Informatio nen und Texte aus Schriften, deren Autoren sie ihrerseits bereits abgeschrieben -
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91 Relativ geringe Wirkung erschließt C.T. GOSSEN, Marco Polo und Rustichello da Pisa, in: Philologica Romaniaca. E. Lommatzsch gewid., hg. v. M.BAMBECK/H. H. CHRISTMANN, München 1975, 133-143. Kritisch zu allen Argumenten REICHERT, Begegnungen, S.143 ff. 92 Ann. S. Pantal. S.542, unten S. 287/8. Ausdrücklich auch der ungarische Bf. (unten S.207). Odorich v. Pordenone schrieb nicht selbst; zu Nicolo dei Conti und Pietro Rombulo S. 50. 93 Z. B. beim Libro dei Conosc. (Mi. 14. jh.); auch die Mirabilia jordans v. Severac habe ich schon als fiktiv bezeichnet gefunden (FERNANDEz-ARMEsTo, Before Columbus, wie S.IO, N.9, 241). 94 Bemerkung in Odorich-Handschriften, nach A.BOVENSCHEN, Untersuchungen über johann von Mandeville und die Quellen seiner Reisebeschreibung, in: Zs. Ges. Erdk. Berlin 23 (1888) 177-306, hier 207. Solche Abhängigkeiten voneinander zog man nur höchst selten in Erwägung; der oben N.75 zitierte Oculus nennt beide nebeneinander als Reisende. •
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haben, in dritte Werke und bilden so ganze Rezeptionsketten. Erst allmählich beginnt man, die Gefahren solchen Handelns für die korrekte Wiedergabe von Tatsachen zu erkennen. Deshalb hätte man Mandeville nicht unbedingt weniger geglaubt, wenn man gewußt hätte, daß er seinen Bericht »nur« kompiliert hatte; das scheint die Beliebtheit zum Beispiel der Tartarenkapitel im Speculum histo riale des Vinzenz von Beauvais (1248/53) bei späteren Autoren zu zeigen. Denn Vinzenz zitiert bei vielen seiner Informationen ausdrücklich den Reisebericht etwa Simons von St-Quentin oder Johannes' von Plano Carpini 95 -, aus dem er sie übernommen hat, gibt sich also deutlich als Rezipient zu erkennen. Derartige Angabe von Quellen wird immer üblicher % und erleichtert auch der modernen Quellenkritik die Unterscheidung zwischen Übernahme und Augen zeugenschaft, die ganz ohne Zitat oft nur möglich ist, w�il die Vorlage bekannt, die Augenzeugenschaft aus dem Bericht evident oder nach den Umständen unglaubhaft ist. Denn wenn sogar längere Textstücke ohne Hinweis einfach übernommen werden, so ist die tatsächlich benutzte Quelle - wegen der geschil derten Rezeptionsketten, von denen auch Glieder verlorengegangen sein können, wegen der gleichzeitigen Benutzung mehrerer, möglicherweise ihrerseits vonein ander abhängiger Quellen, schließlich wegen der möglichen Zusammenarbeit mancher Autoren 97 nicht immer sicher feststellbar. Oftmals erweist sich eine allzu konkrete Suche nach den Quellen einer bestimmten Passage in der »verwer tenden« Literatur als wenig sinnvoll: manche Informationen, sogar wörtlich übereinstimmende, sind so allgemein, daß eine bestimmte Quelle kaum zuweis bar ist; das gleiche Problem gilt für übersetzte Stellen. Sogar ein gewisser Stand an »Allgemeinbildung«, die keiner eigenen Quelle mehr bedurfte, ist anzunehmen ; wir haben - wie gezeigt - mit verlorenen und mündlichen Quellen und endlich auch mit Interpretationen und Mißverständnissen zu rechnen 98. Alle genannten -
95 Joh.'s Ystoria wird direkt benutzt, aber häufiger über die ausführlichen Exzerpte des Vinzenz. 96 Vinzenz zitiert Plano Carpini und Simon sehr ausführlich; exakt sind die Chronisten Detmar, Helmann Korner, Heinrich v. Herford, Domenico Bandini u. a., besonders vorbildlich Dietrich Engelhus und Antonius v. Florenz, die sogar die jeweiligen Bücher des Speculum angeben. Gerade Autorenkataloge können auch absichtlich übertreiben, doch meist lassen sich die aufgezählten Autoren textlich fassen. - Autorennennungen bergen aber auch Probleme: So nennt Antonius v. Florenz zwar den Plano Carpini als Autor, wenn er die Stelle, an der Vinzenz ihn nennt, abschreibt (ehr. fol. 42rb), hat die Ystoria selbst aber wohl nicht benutzt. Zitierte Antonius nicht auch Vinzenz ausdrücklich, entstünde der Anschein direkter Benutzung. Die häufige Schreibweise Anthonius statt (h)aythonius (z. B. im Autograph der Documenti d'amore des Francesco Barberino, Vat. Ms.Barb. 4076) könnte ein schlichter Abschreiberfehler sein, oder die Frucht von Zweitbenutzung. 97 Bei Marino Sanudo und Paulinus Minorita sicher zu Recht angenommen, deren Gemeinsamkeiten nicht durch einseitige Benutzung des einen durch den anderen, sondern nur durch Wechselseitigkeit zu erklären sind: v. D. BRINCKEN, Nationes, wie N.90, 454-459. 98 Ein Beispiel für Informationen, deren Urheber wir kennen, von denen wir aber nicht wissen, wie sie in die Überlieferung gelangten, hat kürzlich F. REICHERT anhand der Reiseerzählungen des Odorich v. Pordenone ausgeführt: Eine unbekannte Version der Asienreise Odorichs von Pordcnone, in: DA 43 (1987) 531-573. - Zur Entwicklung von Klischees im Tartarenbild unten S. 245/6. Allgemeinbildung: man wandte z. B. viel Mühe auf, um di!' Quellen für die tartarischen Namen in
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Einschränkungen beeinträchtigen jegliche Aussage über die Intensität der Rezep tion, die einem bestimmten Autor zuteil wurde. All diese Schwierigkeiten kann der moderne Historiker berücksichtigen, aber dem Zeitgenossen des späten Mittelalters sind sie weitgehend unbekannt. Die mittelalterliche Quellenkritik bleibt vielfach in den Ansätzen stecken und beein trächtigt damit Bild und Urteil von den Mongolen. Auch eine spürbare Ahnung der Problematik blieb letztlich rudimentär: »Ich weiß nicht recht, wie ich es nennen soll : daß jener Venezianer . . . eine zusammenhängende Geschichte der Reiche und Könige der Welt zu schreiben versuchte, oder eher, daß er ein Annalen-Labyrinth und über die Verwirrung des Fakten hinaus oft Falsches statt Wahrem schrieb und zudem einiges möglicherweise Wahres ich weiß nicht welchen Autoren entnahm. Wenn es mir gelingt, aus seinem Werk etwas, was anderswo nicht zu finden ist, zu ziehen, so werde ich den Venezianer hinzuneh men, und ich will das kenntlich machen, sooft ich es tue«, so lautet das Urteil Boccaccios über den Quellenwert der Chronologia des Paulinus Minorita. Er fällt es im sog. Zibaldone Magliabechiano, den er als Materialsammlung historiogra phischer Fakten zur Verwendung in späteren Werken zusammenstellte - eine der seltenen Gelegenheiten, bei denen wir so genau die Arbeitsweise eines Autors beobachten können 99. Der Vollständigkeit der Informationen halber exzerpiert offenbar Boccaccio trotz aller Vorbehalte den Paulinus ausführlich - und ver säumt bei einer tatsächlichen späteren Verwendung des Materials aus dem Zibal done die angekündigte gen aue Quellenangabe, die dem Leser doch wohl ein 100. eigenes Urteil hätte erlauben sollen Doch selbst w�nn Boccaccio zitiert hätte, wäre das kein Beleg für ein allgemein übliches Vorgehen gewesen. Hier mußten wie oft Einzelbeispiele dazu Chaucers Squire's Tale aufzufinden : unten S. 245 mit N. 266. - Interpretation ist möglicherweise Dantes Aussage über die unsterbliche Seele bei den Mongolen (Convivio 11,8 S. 94; unten S. 217); Mißverständnisse: Chaucer macht wohl aus dem Stadtnamen Cambalech den Personennamen Cam balo (Squire's Tale v. 31 S. 169); vielleicht fand er in einer seiner Quellen einen Satz wie Rex Cambalech hoc est Magnus cannis: so Genues. Weltkarte von 1457, S. 37, die selbst als Quelle zu spät ist; der Kartograph wußte es noch richtig (S. 53), verzichtete aber auf eine Genetiv-Form beim fremden Namen; auch unten S. 295, N. 500. Verwandt (und ebenfalls sehr aussagekräftig für den Kenntnisstand) sind Verwechslungen, die den Rezipienten unterlaufen: So verlegt ein franziskanischer Chronist das Martyrium von Tana in Indien in das bekanntere Tana am Don; so schildert Enea Silvio den bekehrten Litauerfürsten Wladislaus als Tartaren; unten S. 191, N. 62l. 99 Mi. 14.Jh., Ms. BN Florenz Banco Rari 50, ZM (urspr. Cod. Magliabecchiano 11, 11, 327). Inhalt: A. M. COSTANTINI, Studi sullo Zibaldone Magliabecchiano, in: Studi sul Boccaccio 7 (1973) 21-58, dort 53 das Zitat (fol. 171v); dazu Manlio PASTORE STOCCHI, Tradizione medievale e gusto umanistico nel »De montibus«, Padua 1963, 55. Sebastiano CIAMPI, Monumenti di un manoscritto autografo e lettere inedite di messer Giovanni Boccaccio, Mailand 2. Auf!. 1830; G. VANDELLI, Lo zibaldone magliabecchiano e veramente autografo del Boccaccio, in : Studi di filologia italiana 1 (1927) 69-86; A. T. HANKEY, Riccobaldo of Ferrara, Boccaccio and Domenico di Bandino, in: J.of the Warb.and Court. lnst. 21 (1958) 208-26. 100 De casibus virorum illustrium (zw. 1355 und 1360, neue Redaktion vor 1374) S. 833, 843 jeweils N.; Untersuchungen der möglichen Benutzung F. MACR1-LEONE, II Zibaldone boccaccesco della Magliabecchiana, in : Gior. stor.della letteratura ital. 10 (1887) 1-41, hier 34.
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dienen, Grundsätzliches andeutungsweise zu erkennen, immer in dem Bewußt sein, daß es sich um individuelle Aussagen mit ihrer ganzen Problematik handelt. Deshalb soll nun noch ein kurzer Blick auf die Einflüsse geworfen werden, die Persönlichkeit, Herkunft und ähnliches des Autors sowie seine Absicht bei der Niederschrift auf die Inhalte haben konnten.
4. Individuelle Einflüsse auf Qualität, Umfang und Art der Darstellung der Mongolen
Die Zeitabhängigkeit jedes Autors ist - für uns heute - selbstverständlich : Ein Reisender konnte um 1300 wesentlich leichter nach Ostasien gelangen als um 1400, ein Chronist um 1400 grundsätzlich mehr Quellen benutzen als um 1300. Ebenso nahm die Persönlichkeit des jeweiligen Autors in hohem Maße Einfluß auf seine Darstellung. Viele Fragen wurden nur gestellt und beantwortet, weil ein Reisender besonders neugierig und wissensdurstig war; mancher Brief, manche Information über die Mongolen kam nur durch das besondere Interesse eines Chronisten in weiteren Umlauf; ohne eifrige und aufmerksame Sammler wie Matthäus Parisiensis hätten schon die meisten Zeitgenossen wesentlich weniger über die Tartaren erfahren - ganz zu schweigen von der Nachwelt. Die geographische Herkunft eines Reisenden blieb im Verhältnis zur sozialen 1 1 (und mentalen) Gruppe, der er angehörte, unbedeutend 0 , konnte aber für die Rezeption von hohem Gewicht sein. Zwar ermittelte Bezzola für die Zeit des Mongolensturmes, daß die Entfernung vom Geschehen offenbar die Qualität und Intensität des Berichtes n i c h t beeinflußte 1 02, aber es war doch von Wichtigkeit, daß Matthäus Parisiensis bei allem Einfluß seiner spezifischen Persönlichkeit im auch räumlich gesehen königsnahen Kloster St. Albans lebte, die Erfurter Chroni sten an einem Wegekreuz und Guillaurne de Nangis im Königsland der Ile-de France. Entsprechendes gilt für bestimmte räumliche Vorteile zum Beispiel Venedigs und Genuas, aber auch anderer italienischer Städte, ebenso Roms und später Avignons. So lassen sich gewisse Rezeptionsräume beobachten, Gegenden, in denen aus irgendwelchen Gründen kontinuierlich Interesse an den Mongolen bestand. Einen Spezialfall mit großen Auswirkungen bildet eine Herkunft aus Ost europa. Schon einleitend wurde begründet, weshalb zum Beispiel das russische Mongolenbild in dieser Untersuchung unberücksichtigt bleibt. Das Bild, das in Ungarn, Preußen, Litauen, Polen und auch in den weiter westlich gelegenen Gebieten wie Böhmen oder Österreich geprägt wurde, kann nicht ausgelassen 101 Abgesehen von Randerscheinungen wie Haython oder Wilhe1m v. Tripolis, die im Vorderen Orient zu Hause waren. Vgl. aber grundsätzlich ESCH, Anschauung. 102 BEZZOLA 91.
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werden, denn es entstand im Bereich des christlichen Abendlandes und nahm durch den geistigen Austausch in diesem Bereich Einfluß auf das Bild auch Westeuropas. Wichtige Zeugnisse dafür werden in dieser Arbeit immer wieder begegnen. Dennoch ist hier festzuhalten, daß sich das Mongolenbild des abendländischen Osteuropa grundsätzlich von dem des restlichen Europa unter schied, ohne daß eine scharfe Grenze zwischen den Gegenden zu ziehen wäre. Die Länder Osteuropas waren während des gesamten Zeitraumes der Betrachtung beständigen Raubzügen und Mordüberfällen der Mongolen ausgesetzt; sie konn ten nur ein vorrangig feindliches Bild entwickeln. Andererseits aber blieben sie durch ihre Lage auch ununterbrochen an den Mongolen interessiert, als diese im Abendland insgesamt schon weitgehend in den Hintergrund getreten waren; und da man nicht zweihundert Jahre in ständiger Angst leben kann, mußten sie auch einen bestimmten modus vivendi entwickeln, der sich dann wieder auf die 103. Überlegungen Westeuropas auswirken konnte Sieht man einmal von Osteuropa - und auch von den Franken des Heiligen Landes, die ebenfalls einen Sonderfall darstellen 104 - ab, war wirksamer als die geographische Herkunft die soziale Gruppenzugehörigkeit JOs. Sie nahm Einfluß auch auf die Reisenden, denn man machte als Missionar, Kaufmann oder preußenreisender Ritter ja ganz unterschiedliche Erfahrungen mit den Mongolen. Zudem regelte die soziale Herkunft neben ihrem prinzipiellen Einfluß auf die Biographie nach wie vor weitgehend die M ö g l i c h k e i t e n des einzelnen, eine bestimmte Bildung zu erlangen. Mönche lernten üblicherweise andere Dinge als Kaufleute oder gar Ritter - auf den Einfluß zum Beispiel der s_cholastischen Meth