Alfons Hollederer Erwerbslosigkeit, Gesundheit und Präventionspotenziale
Psychologie sozialer Ungleichheit Herausgege...
209 downloads
838 Views
2MB Size
Report
This content was uploaded by our users and we assume good faith they have the permission to share this book. If you own the copyright to this book and it is wrongfully on our website, we offer a simple DMCA procedure to remove your content from our site. Start by pressing the button below!
Report copyright / DMCA form
Alfons Hollederer Erwerbslosigkeit, Gesundheit und Präventionspotenziale
Psychologie sozialer Ungleichheit Herausgegeben von Prof. Dr. Thomas Kieselbach Mitglied des Vorstands der International Commission on Occupational Health (ICOH) Institut für Psychologie der Arbeit, Arbeitslosigkeit und Gesundheit (IPG) Universität Bremen / Förderwerk Bremen
Ziel und Inhalt der Reihe „Psychologie sozialer Ungleichheit“ Die Entwicklung der Arbeitsmärkte in den hochindustrialisierten Ländern hat für viele Menschen in den vergangenen Jahrzehnten die Erfahrung von Arbeitsplatzverlust und Arbeitslosigkeit mit sich gebracht. Auch wenn die Bewältigung beruflicher Brüche nicht zwangsläufig zu persönlichen Krisen mit psychosozialen Schädigungen führen muss, ist dennoch zu betonen, dass besonders bei verletzlichen Gruppen eine solche Erfahrung den Weg in Langzeitarbeitslosigkeit und damit oft verknüpft soziale Exklusion begünstigt. In der Reihe werden Themen behandelt, die sich mit den individuellen, organisationsbezogenen und sozialpsychologischen Folgen beruflicher Umbrüche sowie daraus folgenden Risiken sozialer Ausschließung befassen. Der Schwerpunkt liegt im Bereich der psychologischen Arbeitslosenforschung, welche die individuellen und gesellschaftlichen Kosten einer inzwischen weitgehend akzeptierten Massenarbeitslosigkeit aufzeigen will. Darüber hinaus wird der Blick auch auf jene indirekten Folgen der Arbeitsmarktkrise gelenkt, welche sich in Arbeitsplatzunsicherheit oder prekären Arbeitsverhältnissen zeigen und sich als eine verstärkte Einbeziehung von Merkmalen der Arbeitslosigkeit in Beschäftigungsverhältnisse charakterisieren lassen. Ein wichtiger Ausgangspunkt der Reihe lag in dem von der Weltgesundheitsorganisation (WHO) in den 80er Jahren konzipierten Programm „Soziale Gerechtigkeit und Gesundheit“. Dort wurden erstmalig umfassend Zusammenhänge zwischen Arbeitslosigkeit und gesundheitlichen Folgewirkungen aufgezeigt, Möglichkeiten der Begrenzung des schädigenden Einflusses durch Interventionsansätze diskutiert sowie Rückwirkungen von Massenarbeitslosigkeit auf Beschäftigte thematisiert. Die Reihe versucht in einer unübersichtlicher gewordenen Berufswelt Perspektiven aufzuzeigen, welche die individuelle Bewältigung von erzwungenen Berufswechseln erleichtern und damit krisenhafte Verläufe begrenzen helfen. Dies erfolgt durch die Betonung sowohl der gesellschaftlichen wie auch der persönlichen Verantwortung für berufliche Neuorientierungen bei industriellen Restrukturierungen. Die Reihe „Psychologie sozialer Ungleichheit“ wendet sich an PsychologInnen, SoziologInnen, EpidemiologInnen, ÖkonomInnen, ArbeitswissenschaftlerInnen, PädagogInnen und PraktikerInnen im sozialen Bereich, die in ihrer täglichen Arbeit häufig mit den psychischen Folgen von beruflichen Umbrüchen und sozialer Ungleichheit konfrontiert sind. Einbezogen werden eigenständige empirische Arbeiten sowie Literaturüberblicke und Tagungsberichte. Neben theoretischen Erörterungen werden auch Praxisevaluationen veröffentlicht, welche die Möglichkeiten und Grenzen von Interventionsansätzen im Bereich von Arbeitslosigkeit und prekären Arbeitsbedingungen untersuchen.
Alfons Hollederer
Erwerbslosigkeit, Gesundheit und Präventionspotenziale Ergebnisse des Mikrozensus 2005
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abrufbar.
. 1. Auflage 2011 Alle Rechte vorbehalten © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011 Lektorat: Dorothee Koch / Sabine Schöller VS Verlag für Sozialwissenschaften ist eine Marke von Springer Fachmedien. Springer Fachmedien ist Teil der Fachverlagsgruppe Springer Science+Business Media. www.vs-verlag.de Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Die Wiedergabe von Gebrauchsnamen, Handelsnamen, Warenbezeichnungen usw. in diesem Werk berechtigt auch ohne besondere Kennzeichnung nicht zu der Annahme, dass solche Namen im Sinne der Warenzeichen- und Markenschutz-Gesetzgebung als frei zu betrachten wären und daher von jedermann benutzt werden dürften. Umschlaggestaltung: KünkelLopka Medienentwicklung, Heidelberg Druck und buchbinderische Verarbeitung: STRAUSS GMBH, Mörlenbach Gedruckt auf säurefreiem und chlorfrei gebleichtem Papier Printed in Germany ISBN 978-3-531-17765-6
Inhaltsverzeichnis
Vorwort_______________________________________________________ 10 Zusammenfassung ______________________________________________ 13 1
Stand der Forschung zu Arbeitslosigkeit und Gesundheit _________ 19 1.1
Einleitung: Arbeitslosigkeit und Public Health-Forschung _____ 19
1.2
Theorien über die Auswirkungen von Arbeitslosigkeit auf die Gesundheit ____________________________________________ 26 1.2.1 Theoretische Modelle zu Arbeitslosigkeit und Gesundheit ____ 26 1.2.2 Selektion versus Kausalität ____________________________ 36
1.3
Internationale Überblicksarbeiten und Meta-Analysen ________ 39
1.4 Moderierende Variablen der Bewältigung von Arbeitslosigkeit _ 43 1.4.1 Soziodemografische Moderatorvariablen _________________ 48 1.4.1.1 Arbeitslosigkeit in verschiedenen Altersphasen ________ 48 1.4.1.2 Arbeitslosigkeit bei Männern und Frauen ____________ 50 1.4.1.3 Arbeitslosigkeit nach Staatsangehörigkeit und ethnischer Zugehörigkeit __________________________________ 53 Sozioökonomischer Status ________________________ 56 1.4.1.4 1.4.1.5 Qualifikationsniveau ____________________________ 58 1.4.2 Erwerbsbiografische Merkmale _________________________ 59 1.4.3 Ressourcen und Belastungen bei der Bewältigung von Arbeitslosigkeit _____________________________________ 60 Finanzen und soziale Sicherung ____________________ 60 1.4.3.1 1.4.3.2 Soziale Unterstützung und soziale Belastungen ________ 62 1.4.3.3 Zeitstrukturierung in Arbeitslosigkeit _______________ 64 1.4.3.4 Personelle Faktoren _____________________________ 65 1.4.4 Kognitionen ________________________________________ 66 1.4.5 Problemlösestrategien ________________________________ 67 1.4.6 Makroökonomische Kontextfaktoren_____________________ 68 1.5
Zusammenfassung von Kapitel 1 __________________________ 69
5
2
Empirische Befunde in der Gesundheitsberichterstattung und gesundheitsbezogene Interventionsansätze _____________________ 71 Gesundheit und Krankheit von Arbeitslosen ________________ 71 2.1 2.1.1 Gesundheitsunterschiede von Arbeitslosen und Beschäftigten in Repräsentativerhebungen____________________________ 73 Morbidität und Mortalität von Arbeitslosen und Beschäftigten 2.1.2 in der Sozialversicherungsstatistik_______________________ 77 Arbeitsunfähigkeit ______________________________ 78 2.1.2.1 2.1.2.2 Krankenhausbehandlungen, Arzneimittelverordnungen und Mortalität __________________________________ 82 Arbeitslosenstatistik der Bundesagentur für Arbeit und 2.1.2.3 Arbeitsmarktberichterstattung _____________________ 84 Gesundheits- und Suchtverhalten von Arbeitslosen__________ 85 2.1.3 2.1.3.1 Arbeitslosigkeit und Sucht ________________________ 86 2.1.3.2 Rauchverhalten von Arbeitslosen___________________ 87 2.1.3.3 Inanspruchnahme von Maßnahmen der Primärprävention nach § 20 SGB V _______________________________ 89 Zusammenfassung von Kapitel 2.1 _________________ 90 2.1.3.4 2.2
Gesundheitsbezogene Interventionsansätze bei Arbeitslosen in Deutschland ___________________________________________ 91 2.2.1 Begriffe Prävention und Gesundheitsförderung_____________ 91 2.2.2 Maßnahmen der Beschäftigungsförderung und psychosoziale Trainingsmaßnahmen_________________________________ 94 Fallmanagement für Arbeitslose mit gesundheitlichen 2.2.3 Einschränkungen ____________________________________ 97 Stand der Projekte zur arbeitsmarktintegrativen 2.2.4 Gesundheitsförderung ________________________________ 99 Zusammenfassung von Kapitel 2.2 _____________________ 101 2.2.5
3
Zentrale Fragestellungen und Begriffsbestimmungen ___________ 102 3.1
Zentrale Fragestellungen________________________________ 102
3.2
Begriffsbestimmungen von Arbeitslosigkeit und Erwerbslosigkeit sowie Arbeitsunfähigkeit ____________________________ 106 3.2.1 Arbeitslosigkeit und Erwerbslosigkeit ___________________ 107 3.2.2 Arbeitsunfähigkeit im Fall von Arbeitslosigkeit ___________ 112
4
Mikrozensus 2005 und Erhebungsverfahren ___________________ 114 4.1
6
Hintergrund Mikrozensus 2005 __________________________ 114
4.1.1 4.1.2
5
Stichproben, Befragungsformen, Hochrechnungsverfahren und Gewichtungen __________________________________ 115 Erhebungsinstrumente und Variablen im Mikrozensus 2005 _ 117
4.2
Messkonzept von Krankheit und Unfallverletzung im __________ Mikrozensus 2005 _____________________________________ 119
4.3
Verwendete Statistik und Auswertungsmethoden ___________ 122
4.4
Rücklaufquoten und Non-Response-Analysen ______________ 124
Ergebnisse im Mikrozensus 2005 zur Gesundheit und Erwerbsbeteiligung_______________________________________________ 127 5.1
Strukturmerkmale von Erwerbslosen, Erwerbstätigen und Nichterwerbspersonen__________________________________ 127 5.1.1 Soziodemografische Merkmale nach Erwerbsstatus ________ 127 5.1.2 Schul- und Berufsausbildung nach Erwerbsstatus __________ 131 5.1.3 Sozioökonomische Variablen nach Erwerbsstatus__________ 132 5.1.4 Stellensuche und Gesundheit __________________________ 133 5.1.5 Zusammenfassung von Kapitel 5.1 _____________________ 134
5.2 Gesundheitsunterschiede zwischen den Erwerbsstatusgruppen 136 5.2.1 Behinderung, Krankheit, Unfallverletzung und Behandlung nach Erwerbsstatus__________________________________ 136 Amtlich anerkannte Behinderung und Schweregrad ___ 136 5.2.1.1 5.2.1.2 Krankheiten und Unfallverletzungen nach Erwerbsstatus138 5.2.1.3 Behandlung von Krankheiten und Unfallverletzungen _ 140 5.2.1.4 Zusammenfassung von Kapitel 5.2.1 _______________ 142 5.2.2 Krankheiten/Unfallverletzungen nach soziodemografischen, sozioökonomischen, erwerbsbiografischen und sonstigen Merkmalen ________________________________________ 143 Krankheiten und Unfallverletzungen nach Alter, 5.2.2.1 Geschlecht und Staatsangehörigkeit________________ 143 Krankenstand nach Behinderung __________________ 147 5.2.2.2 5.2.2.3 Krankenstand nach Berufsausbildung, Berufsklasse und Stellung im Beruf ______________________________ 148 Krankenstand nach Erwerbsstatus im Vorjahr und 5.2.2.4 Dauer der Arbeitsuche __________________________ 151 Krankenstand nach Haushaltsstrukturen ____________ 154 5.2.2.5 5.2.2.6 Krankenstand nach Leistungsbezug und Einkommen __ 155 5.2.2.7 Krankenstand der Kinder nach Erwerbsstatus des Haupteinkommensbeziehers______________________ 158
7
5.2.2.8 5.2.2.9 5.2.2.10
Krankenstand nach Regionalbezug ________________ 158 Saisonale Schwankungen von Arbeitsmarkt- und Krankheitsrisiken ______________________________ 161 Zusammenfassung von Kapitel 5.2.2 _______________ 164
5.3
Unterschiede im Gesundheitsverhalten zwischen den Erwerbsstatusgruppen _________________________________ 166 5.3.1 Rauchverhalten nach Erwerbsstatus_____________________ 167 5.3.1.1 Prävalenz des Tabakkonsums nach Erwerbsstatus _____ 167 5.3.1.2 Rauchbeginn und Erwerbslosigkeit ________________ 169 5.3.1.3 Tabakkonsum nach soziodemografischen und sozioökonomischen Variablen ____________________ 170 Rauchverhalten in der Lebenslaufperspektive ________ 172 5.3.1.4 5.3.1.5 Tabakkonsum und Krankenstand __________________ 174 5.3.2 Körpergewicht und –größe nach Erwerbsstatus____________ 174 5.3.3 Body-Mass-Index und Rauchverhalten der Kinder nach Erwerbsstatus des Haupteinkommensbeziehers____________ 177 Zusammenfassung von Kapitel 5.3 _____________________ 178 5.3.4
5.4
Logistische Regressionsanalysen zum Krankenstand von Männern und Frauen __________________________________ 180 5.4.1 Kovariaten und abhängige Variable Krankenstand _________ 181 5.4.2 Krankenstand nach Erwerbsstatus unter Einbezug von Drittvariablen ______________________________________ 183 Krankenstand von arbeitsuchenden Männern _____________ 185 5.4.3 5.4.4 Krankenstand von arbeitsuchenden Frauen _______________ 186 5.4.5 Zusammenfassung von Kapitel 5.4 _____________________ 188
5.5 Regressionsanalysen zur Integration am Arbeitsmarkt _______ 189 5.5.1 Gegenwärtige Erwerbstätigkeit bei vor einem Jahr Arbeitslosen _______________________________________ 189 Kovariaten zur Integration am Arbeitsmarkt ______________ 190 5.5.2 5.5.3 Erwerbslosigkeit bzw. Arbeitsuche bei vor einem Jahr Erwerbstätigen und Selbstständigen ____________________ 195 Zusammenfassung von Kapitel 5.5 _____________________ 199 5.5.4 6
Diskussion _______________________________________________ 201 6.1
Empirische Methoden der Fragebogenerhebung des Mikrozensus 2005 _____________________________________ 201 6.1.1 Stichprobenfehler, Hochrechnungsverfahren und Gewichtungen _____________________________________ 201 Ausfallquoten und Proxy-Interviews ____________________ 204 6.1.2
8
6.1.3 6.1.4 6.1.5
Erhebungsinstrumente und Fragebogengestaltung__________ 206 Restriktionen der eingesetzten statistischen Methoden ______ 210 Vergleichbarkeit mit vorherigen Mikrozensus-Erhebungen und anderen Datenquellen ____________________________ 213
Behinderung, Krankheit und Unfallverletzung als Integrationshemmnisse am Arbeitsmarkt __________________ 216 6.2.1 Teilhabe an Arbeit für (schwer-)behinderte Menschen ______ 217 6.2.2 Risiko von Krankheit bzw. Unfallverletzung von Arbeitsuchenden ___________________________________ 220 Chancen auf Wiedereingliederung am Arbeitsmarkt in der 6.2.3 Gesundheitsperspektive ______________________________ 222 Gesundheit arbeitsuchender Nichterwerbspersonen ________ 225 6.2.4 6.2.5 Arbeitsunfähigkeit und Krankenstand von Erwerbslosen ____ 226 6.2.6 Saisonale Effekte beim Krankheitsgeschehen mit Implikationen für die Erwerbslosenforschung _____________ 228
6.2
Gesundheits- und Suchtverhalten in Erwerbslosigkeit________ 229 6.3 6.3.1 Rauchverhalten und ungenutzte Potenziale in der Tabakprävention ___________________________________ 230 Body-Mass-Index und Ernährungsverhalten bei Erwerbslosen 233 6.3.2 6.4
Arbeitsmarktintegrative Gesundheitsförderung als gesundheitspolitische Herausforderung____________________ 235 6.4.1 Prävention und Gesundheitsförderung___________________ 235 6.4.2 Beschäftigungsorientiertes Fallmanagement mit Gesundheitsbezug __________________________________ 238 Sozialer Geleitschutz mit beruflicher Transitionsberatung ___ 240 6.4.3
6.5
Integration der Ergebnisse in das Modell sozialer Ungleichheit 242
7
Resümee ________________________________________________ 246
8
Anhangstabellen und Abbildungen __________________________ 251
9
Merkmale des faktisch anonymisierten Mikrozensus Scientific Use File 2005 _____________________________________________ 267
10
Abkürzungsverzeichnis __________________________________ 270
11
Tabellenverzeichnis _____________________________________ 272
12
Abbildungsverzeichnis __________________________________ 274
13
Literaturverzeichnis ____________________________________ 276
9
Vorwort
Arbeitslosigkeit führt seit vielen Jahren die Sorgenliste in Deutschland an. Auf die Frage, welches die größten Herausforderungen in Deutschland sind, nannten zwei Drittel der Befragten die Arbeitslosigkeit in einer repräsentativen Erhebung im Jahr 2007 (GFK, 2007a). In einer weiteren Befragung antworteten 39 % der Interviewten auf die Frage nach Ihrer größten täglichen Angst: Krankheit, Tod oder Verletzung (GFK, 2007b). Diese beiden Topthemen werden in der vorliegenden Arbeit zu „Erwerbslosigkeit, Gesundheit und Präventionspotenzialen“ in den Überschneidungsbereichen aufgegriffen. Bisher existieren nur relativ wenige strukturierte Forschungsansätze über die Wechselbeziehungen von Erwerbslosigkeit und Gesundheit in Deutschland. Der Mikrozensus 2005 kann zur Schließung von bestehenden Informationslücken beitragen. Die vorliegende Studie 1 ist inhaltlich in folgende Abschnitte gegliedert: 1.
2.
3.
Im ersten theoretischen Kapitel wird der aktuelle Forschungsstand zu Arbeitslosigkeit und Gesundheit dargestellt. Ein einleitendes Unterkapitel nimmt Rückbezug auf die historische Entwicklung der Arbeitslosigkeitsund Gesundheitsforschung. Im Zentrum der weiteren Abschnitte stehen zum einen die Theorienentwicklung über die Auswirkungen von Arbeitslosigkeit auf die Gesundheit und zum anderen die Hauptergebnisse internationaler Überblicksarbeiten und Meta-Analysen. Ein Schwerpunkt wird auf moderierende Einflussfaktoren bei der Bewältigung von Arbeitslosigkeit gelegt. Das zweite theoretische Kapitel gibt einen Überblick über empirische Befunde zur Gesundheit von Arbeitslosen, insbesondere im Vergleich zu Beschäftigten. Es informiert danach über den aktuellen Entwicklungsstand der arbeitsmarktintegrativen Gesundheitsförderung und gesundheitsbezogener Interventionsformen. Das nächste Kapitel präsentiert die zentralen Fragestellungen, die für die Sekundäranalyse des Mikrozensus 2005 leitend sind, und klärt anschließend relevante Begriffe aus dem Sozialrecht und verschiedenen Statistikkonzeptionen.
1 Aus Gründen der Lesbarkeit wurde in der Regel nur die männliche Form verwendet, sie schließt Frauen jedoch explizit ein.
10
4.
5.
6.
7.
Im Methodenkapitel wird ausführlich das Erhebungsverfahren des Mikrozensus 2005 mit Stichprobenziehung, Befragungsform, Hochrechnungsverfahren, Gewichtungsfaktoren, Erhebungsinstrumenten und Rücklauf beschrieben. Der Ergebnisteil beinhaltet die Auswertungen und Sekundäranalysen der Daten des Mikrozensus 2005. Es wird zuerst über bedeutsame Strukturunterschiede zwischen den Erwerbsstatusgruppen und bei der Stellensuche informiert. Daraufhin werden die Gesundheitsunterschiede zwischen den Erwerbsstatusgruppen in den einzelnen Subgruppen herausgearbeitet. Nach der Deskription und den Korrelationsanalysen folgen mehrere logistische Regressionsanalysen zum Krankenstand von Männern und Frauen sowie zur Arbeitsmarktintegration in multivariater Betrachtung. Im Diskussionsteil wird zunächst die Methode reflektiert und dann die Bedeutung der Ergebnisse für die Gesundheit von Erwerbslosen und ihre Arbeitsmarktintegration erörtert. Die gewonnenen Erkenntnisse werden in die Theorien der Erwerbslosen- und Gesundheitsforschung integriert. Das Schlusskapitel ordnet die Diskussion hinsichtlich notwendiger Zielgruppenspezifizierungen bei gesundheitsbezogenen Interventionsansätzen und der Weiterentwicklung der arbeitsmarktintegrativen Gesundheitsförderung ein. Ein Resümee rundet die Ausarbeitung ab und benennt am Ende aktuelle Public-Health-Herausforderungen.
Die Bearbeitung einer solchen wissenschaftlichen Fragestellung über Erwerbslosigkeit und Gesundheit erfolgt nicht losgelöst vom Kontext aktueller Arbeitsmarktentwicklungen. Der Start der Arbeit lag in einer Phase der besten Beschäftigungsentwicklung in Deutschland seit der Wiedervereinigung und das Ende fällt in eine der schlimmsten weltweiten Rezessionen in der Nachkriegsgeschichte. Im Gegensatz zur ersten Weltwirtschaftskrise im letzten Jahrhundert gibt es aber von Seiten der Public Health-Wissenschaften nicht nur umfassende Erkenntnisse über die Gesundheitsfolgen von Massenarbeitslosigkeit, sondern mittlerweile auch entwickelte Fachkonzepte zur Krankheitsprävention und arbeitsmarktintegrativer Gesundheitsförderung. Die Vehemenz der aktuellen Wirtschaftsdynamiken führt zu einem tief greifenden Durchschlagen der Krise von den internationalen Immobilien- und Finanzmärkten über die Realwirtschaft auf die Arbeitsmärkte. Die atemberaubende Geschwindigkeit hat zur Folge, dass Forschungstätigkeiten der Gesundheitswissenschaften, die erst jetzt aufgrund der augenblicklichen politischen Aufmerksamkeit einsetzen würden, ihre Ergebnisse nur mit großer Zeitverzögerung und damit für die Masse der von Arbeitslosigkeit Betroffenen voraussichtlich zu spät publizieren können. Solche Wirtschaftszyklen stellen ein Grundproblem für die
11
Erwerbslosenforschung dar, denn in beschäftigungspolitisch besseren Zeiten wird wiederum den Forschungsvorhaben über die Gesundheitsfolgen von Arbeitslosigkeit meist keine hohe Priorität beigemessen. Dieser Umstand erschwert den notwendigen Aufbau systematischer und langfristiger Forschungsansätze. Danksagung Die vorliegende Untersuchung basiert auf den Ergebnissen meiner Habilitationsschrift, die im Jahr 2010 am Fachbereich 11 „Human- und Gesundheitswissenschaften“ der Universität Bremen entstanden ist. Mein herzlichster Dank gilt an dieser Stelle allen Menschen, die mich bei der Anfertigung unterstützt, motiviert und im Durchhaltevermögen bestärkt haben. Ich danke vor allem Prof. Dr. Thomas Kieselbach, Prof. Dr. Rolf Rosenbrock sowie Helmut Rudolph für den fachlichen Austausch und die anregenden Diskussionen. Besonderer Dank gebührt meiner Frau Andrea und den Kindern Felix und Julian, die mir in der intensiven und langwierigen Arbeitsphase zur Seite standen und mich auch familiär entlasteten. Bedanken will ich mich ebenfalls ausdrücklich bei meiner Mutter Edith. Die Verwirklichung einer solchen umfangreichen Forschungsarbeit hätte ohne die hervorragende Rundumversorgung bei diversen Studienaufenthalten wesentlich länger gedauert. Bielefeld, im August 2010 Alfons Hollederer
12
Zusammenfassung
Einleitung Die gesundheitsbelastenden Folgen des Arbeitsplatzverlustes sind Gegenstand wissenschaftlicher Untersuchungen seitdem Arbeitslosigkeit als Massenphänomen im Zuge der Industrialisierung im letzten Jahrhundert auftrat. Die Zusammenhänge von Arbeitslosigkeit und Gesundheit sind dabei wechselseitig. Der Arbeitsmarkt in Deutschland ist durch eine starke Segmentierung und strukturell bedingte hohe „Sockelarbeitslosigkeit“ gekennzeichnet. Es gibt einen besonders großen Anteil schwer vermittelbarer Arbeitsloser in höherem Alter, mit langen Verweildauern, formal geringen Qualifikationen und auch gesundheitlichen Einschränkungen. Das Krankheitsrisiko von Arbeitslosen ist im Vergleich zu Beschäftigten in einem breiten Krankheitsspektrum deutlich erhöht. Das belegen repräsentative Erhebungen und Verwaltungsdaten der Sozialversicherungen. Arbeitslose weisen eine höhere Inanspruchnahme von Leistungen in der Krankenversorgung und ein ungünstigeres Gesundheits- und Suchtverhalten auf. Ihr Erreichungsgrad durch Präventions- und Gesundheitsförderungsmaßnahmen ist dagegen gering. Gesundheitsprobleme von Arbeitslosen zählen zu wichtigen Hemmfaktoren für die Reintegration am Arbeitsmarkt. Eine Reihe von Einflussfaktoren moderiert die Effekte von Arbeitslosigkeit auf die Gesundheit. Die Gesundheitsberichterstattung in Deutschland ist jedoch fragmentiert. Ziel der Studie ist es daher, durch vertiefte Analysen des Mikrozensus 2005 Erkenntnisse über Krankheitsrisiken von Arbeitsuchenden, ihre Effekte auf die Arbeitsmarktintegration sowie Ansatzpunkte für die Prävention und Gesundheitsförderung zu gewinnen. Sie gibt außerdem einen Überblick über theoretische Erklärungsansätze und den Stand der empirischen Forschung. Methode Der Mikrozensus 2005 ist eine amtliche Stichprobenerhebung über die Bevölkerung und den Arbeitsmarkt, bei der alle Haushalte in Deutschland die gleiche Auswahlwahrscheinlichkeit nach dem Zufallsprinzip haben. Der Auswahlsatz liegt für alle Merkmale einheitlich bei 1 % der Bevölkerung. Insgesamt nahmen 13
im Jahr 2005 rund 380.000 Haushalte mit 820.000 Personen an der Erhebung teil. Der Mikrozensus stellt damit die größte jährliche Haushaltsbefragung in Europa dar und wurde im Jahr 2005 erstmals unterjährig erhoben. Der Beobachtungszeitraum ist die jeweils letzte Kalenderwoche vor der Befragung nach dem Konzept der gleitenden Berichtswoche. Der verwendete Mikrozensus Scientific Use File 2005 enthält eine 70 %-Unterstichprobe des Originaldatensatzes. Die Stichprobenerhebung im Mikrozensus 2005 beinhaltet auch die Arbeitskräftestichprobe der Europäischen Union 2005. Die Fragen zur Gesundheit bezogen sich auf Krankheit und Unfallverletzung, Rauchgewohnheiten sowie Körpergröße und Gewicht. Die Untersuchungsbedingungen sind sehr günstig, weil die Stichprobe für das Zusatzprogramm zur Gesundheit erstmals so groß wie für das feste Grundprogramm und die Fallzahlen in Erwerbslosigkeit hoch waren. Die Auskunftserteilung unterliegt weitgehend der gesetzlichen Auskunftspflicht, Angaben zur Gesundheit im Zusatzprogramm sind fakultativ. Die Unit-Nonresponse von 4,4 % der befragten Haushalte ist gering und die freiwillige Beantwortung der Gesundheitsfragen von 85 % der Interviewten hoch. In den multivariaten Modellberechnungen wurden als potenzielle Determinantengruppen 1. soziodemografische Merkmale, 2. Familientyp und Haushaltsstruktur, 3. Schul- und Berufsausbildung, 4. sozioökonomische Variablen, 5. Gesundheitsvariablen und 6. sonstige Einflussfaktoren berücksichtigt. Ergebnisse Über ein Zehntel der Erwerbsbevölkerung berichtet, in den letzten vier Wochen krank oder unfallverletzt gewesen zu sein. Die Erwerbslosen und arbeitsuchenden Nichterwerbspersonen litten häufiger an Krankheiten/Unfallverletzungen im Vergleich zu den Erwerbstätigen und ihre Krankheiten dauerten im Mittel länger an. Außerdem ist der Anteil von behinderten Menschen am Erwerbslosenbestand signifikant höher als der unter den Erwerbstätigen. Ca. drei Viertel der Erkrankten/Unfallverletzten wurden in den letzten vier Wochen von einem Arzt oder im Krankenhaus ambulant behandelt und ca. ein Zehntel stationär im Krankenhaus versorgt. Von den Krankheiten und Unfallverletzungen der letzten vier Wochen hält ein Großteil noch am Erhebungstag an. Der Krankenstand zum Befragungszeitpunkt liegt bei den Erwerbslosen mit 6,5 % im Jahresdurchschnitt 2005 signifikant höher als bei den Erwerbstätigen mit 4,4 %. Bei den arbeitsuchenden Nichterwerbspersonen, die dem Arbeitsmarkt in den nächsten 14 Tagen aus verschiedenen Gründen nicht zur Verfügung stehen, ist er mit 26,6 % am höchsten. Wer-
14
den Erwerbslose und arbeitsuchende Nichterwerbspersonen zur Gruppe der Arbeitsuchenden zusammengefasst, beträgt ihr jahresdurchschnittlicher Krankenstand 8,8 % und übersteigt damit den der Erwerbstätigen um das Doppelte. Erwerbslose bzw. arbeitsuchende nichterwerbstätige Frauen und Männer haben daher unter Adjustierung des Lebensalters eine 2,2-fach gesteigerte Odds Ratio für eine Krankheit/Unfallverletzung zum Befragungszeitpunkt verglichen mit erwerbstätigen Frauen und Männern. Die Odds Ratios reduzieren sich bei den erwerbslosen/arbeitsuchenden nichterwerbstätigen Frauen und Männer aber auf 1,8 bzw. 1,6, wenn neben dem Alter noch weitere soziodemografische Merkmale, Familientyp und Haushaltsstruktur, Schul- und Berufsausbildung, sozioökonomische Variablen, Behinderung, Raucherstatus und sonstige Einflussfaktoren adjustiert werden. Innerhalb der Gruppe der Erwerbslosen und arbeitsuchenden Nichterwerbstätigen stellt sich das Vorhandensein einer amtlich anerkannten Behinderung bei den Männern wie bei den Frauen als wichtigste Prädiktorvariable für das Risiko einer Krankheit/Unfallverletzung in den Modellberechnungen heraus. Das Krankheitsrisiko wächst in höheren Altersgruppen signifikant an. Gemessen an den jahresdurchschnittlichen Krankenständen ergibt sich bei den Erwerbslosen eine „Leistungsempfänger-Hierarchie“: Erwerbslose ohne Zahlungsempfang oder nur mit Arbeitslosengeld I-Bezug sind seltener zum Befragungszeitpunkt krank/unfallverletzt als Alg II-Bezieher. Die Krankenstände der Empfänger von Sozialhilfe/-geld liegen wiederum deutlich darüber. Langzeiterwerbslose sind zum Befragungszeitpunkt im Durchschnitt signifikant häufiger erkrankt/unfallverletzt. Bei denjenigen, die wegen einer Entlassung Arbeit suchen, ist ein krankheitsbezogener „Erleichterungseffekt“ in den ersten Monaten der Erwerbslosigkeit feststellbar. Die Nichtinanspruchnahme ärztlicher Behandlung ist in der Gruppe der Erwerbslosen/arbeitsuchenden Nichterwerbspersonen im Krankheitsfall etwas erhöht. Unter den Erwerbslosen ist das Rauchen wesentlich verbreiteter und der Tabakkonsum intensiver als bei den Erwerbstätigen. Ca. die Hälfte der Erwerbslosen und arbeitsuchenden Nichterwerbspersonen zählt am Erhebungstag zu den aktuellen Rauchern während bei den Erwerbstätigen lediglich ein Drittel raucht. Die Erwerbslosen beginnen im Verhältnis zu den Erwerbstätigen das Zigarettenrauchen durchschnittlich in jüngerem Alter, konsumieren zu einem höheren Anteil regelmäßig und rauchen im Mittel mehr Zigaretten pro Tag. Unter den Erwerbslosen gibt es weniger Exraucher und Nieraucher in Relation zu den Erwerbstätigen. Die Raucherquoten von Erwerbslosen sind durchgängig höher als
15
die von Erwerbstätigen in allen Altersjahrgängen, bei Männern und Frauen sowie in den untersuchten Untergruppen nach Bildung und Beruf. Arbeitsuchende begannen mit dem Rauchen nur in Einzelfällen während der aktuellen Erwerbslosigkeitsperiode. Die Auswertungen deuten darauf hin, dass rauchende Arbeitsuchende den Tabakkonsum in Erwerbslosigkeit intensivieren, weil auch der Anteil starker Raucher mit der Dauer der Arbeitsuche beachtlich zunimmt. Die erwerbslosen Männer und Frauen weisen den höchsten durchschnittlichen Body-Mass-Index im Vergleich zu den anderen Erwerbsstatusgruppen auf. Unter den erwerbstätigen Männern und Frauen befinden sich dagegen nicht nur die geringsten Prozentwerte an stark Übergewichtigen, sondern auch die wenigsten Untergewichtigen. Die Kinder von erwerbslosen oder arbeitsuchenden nichterwerbstätigen Haupteinkommensbeziehern sind im Durchschnitt etwas häufiger krank/ unfallverletzt zum Befragungszeitpunkt. Ihre Durchschnittswerte beim BodyMass-Index übertreffen die Vergleichswerte der Kinder von erwerbstätigen Haupteinkommensbeziehern. Die Quote von regelmäßig rauchenden Kindern im Alter von 10 bis 14 Jahren ist bei erwerbslosen Haupteinkommensbeziehern tendenziell erhöht. Die multivariaten Regressionsanalysen belegen durchgängig einen sehr starken Einfluss des Gesundheitszustandes auf die Arbeitsmarktintegration: a) Bei denjenigen, die vor zwölf Monaten arbeitslos waren, vermindert eine mehr als ein Jahr andauernde Krankheit/Unfallverletzung am stärksten die Chancen auf eine gegenwärtige Erwerbstätigkeit in den multivariaten Modellberechnungen. Die Chancen auf Erwerbstätigkeit sind bei Vorliegen einer Schwerbehinderung ebenfalls erheblich reduziert. b) Auch in der umgekehrten Richtung übt bei vor zwölf Monaten Erwerbstätigen eine mehr als einjährige Krankheit/Unfallverletzung einen ungünstigen Einfluss auf das Risiko, erwerbslos oder arbeitsuchend nichterwerbstätig zu werden, aus. c) Die Selbstständigen haben in Erwerbstätigkeit den niedrigsten und in Erwerbslosigkeit den höchsten Krankenstand zum Befragungszeitpunkt verglichen mit den Arbeitern, Angestellten und Sonstigen. Eine über ein Jahr andauernde Krankheit/Unfallverletzung steigerte beträchtlich bei vor einem Jahr Selbstständigen in den multivariaten Regressionsanalysen die Wahrscheinlichkeit, erwerbslos oder arbeitsuchend nichterwerbstätig zu werden.
16
Außerdem nennen von den sonstigen Nichterwerbspersonen im erwerbsfähigen Alter als Hauptgründe, die einer Arbeitsuche entgegenstehen, 2,9 % eine Krankheit oder Arbeitsunfähigkeit und 5,3 % eine Frühinvalidität oder sonstige Behinderung. Sowohl die Erwerbslosigkeit als auch das Krankheitsgeschehen unterliegen ganz beachtlichen saisonalen und regionalen Schwankungen mit Rückwirkung auf die Gesundheitsunterschiede zwischen den Erwerbsstatusgruppen. Diskussion und Fazit Die Mikrozensus-Auswertungen bestätigen die vielschichtigen Wechselbeziehungen zwischen Gesundheit und Erwerbsstatus sowie den starken Einfluss von Krankheiten/Unfallverletzungen auf die Arbeitsmarktintegration. Für chronisch Kranke zeichnet sich ein „Circulus vitiosus“ ab: Ihr Erwerbslosigkeitsrisiko ist in Erwerbstätigkeit erhöht und die Chancen auf Reintegration sind in Erwerbslosigkeit vermindert. Die Krankheiten/Unfallverletzungen hemmen bereits im Vorfeld der Wiedereingliederung die Arbeitsuche. Der Mikrozensus wurde im Jahr 2005 erstmals unterjährig durchgeführt und bildet den Krankenstand im Jahresdurchschnitt ab. Er ergibt eine deutlich größere Krankheitslast von Erwerbslosen bzw. Arbeitsuchenden im Vergleich zu den Erwerbstätigen. Der ermittelte Krankenstand von Erwerbslosen relativiert damit auch die Gesundheitsberichterstattung über das stark sozialrechtlich beeinflusste Arbeitsunfähigkeitsgeschehen bei Arbeitslosen. Die Vergleichsanalysen des Mikrozensus 2005 decken erhöhte Krankenstände arbeitsuchender Nichterwerbspersonen auf, die bisher in der Erwerbslosenforschung nicht beachtet wurden und durch die Statistikkonzeptionen in amtlichen Statistiken systematisch ausgeblendet werden. Die Ergebnisse zur Gesundheit von den Kindern der arbeitsuchenden Haupteinkommensbezieher unterstützen die Annahme, dass sich gesundheitliche Ungleichheit innerhalb der Bedarfsgemeinschaften über die Generationen hinweg reproduzieren könnte. Die Regressionsanalysen geben Hinweise auf risikoförderliche und –reduzierende Faktoren und prognostizieren Gruppenzugehörigkeiten. Sie weisen u.a. darauf, dass Menschen mit Behinderungen im Sinne des Nachteilsausgleichs verstärkter Aufmerksamkeit bedürfen. Die multivariaten Modellberechnungen unterstreichen die Notwendigkeit, arbeitsmarktintegrative Gesundheitsförderungsmaßnahmen sowohl im SGB IIRechtskreis als auch frühzeitig im Bereich des SGB III anzubieten. Sie zeigen Entwicklungsbedarfe hinsichtlich Zielgruppenspezifizierungen und übergreifen-
17
der Förderkonzepte auf. Die Ergebnisse zum Tabakkonsumverhalten und BodyMass-Index bieten Handlungsansätze für die Sekundärprävention bei Erwerbslosen. Die Arbeitslosenforschung ist noch wenig eingebunden in die Wissenschaftsdiskussion über soziale und gesundheitliche Ungleichheit. Erwerbslosigkeit ist eine der sozialen Determinanten, die auf die Gesundheit in einem komplexen Zusammenspiel von gesellschaftlichen Rahmenbedingungen und Lebensweisen einwirken kann. Die Ergebnisse tragen zur Erklärung sozial bedingter ungleicher Gesundheitschancen bei. Daneben stellen die Weiterentwicklung der arbeitsmarktintegrativen Gesundheitsförderung und der Aufbau einer systematischen Berichterstattung zur Gesundheit von Erwerbslosen - u.a. auf Datenbasis des Mikrozensus - aktuelle Public Health-Herausforderungen dar!
18
1 Stand der Forschung zu Arbeitslosigkeit und Gesundheit 1.1 Einleitung: Arbeitslosigkeit und Public Health-Forschung
Die interdisziplinär angelegten Gesundheitswissenschaften stehen historisch gesehen bei der Untersuchung der Wechselbeziehungen von Gesundheit und Arbeitslosigkeit in einer langen sozialmedizinischen Tradition. Führende deutsche Sozialmediziner wie Johann Peter Frank, Christoph Wilhelm Hufeland oder Rudolf Virchow stellten bereits im 18. und 19. Jahrhundert Krankheiten in einen Zusammenhang mit sozialen Verhältnissen. Johann Peter Frank wies in seiner viel beachteten Rede „vom Volkselend als der Mutter von Krankheiten“ 1790 in Pavia auf die Ursachen von Armutskrankheiten und die engen Grenzen der ärztlichen Tätigkeit hin. Für Christoph Wilhelm Hufeland stellte die Armenfürsorge und „Armen-Pharmakopöe“ (1810) ein besonderes Anliegen dar. Öffentliche Aufmerksamkeit erregten Berichte von Rudolf Virchow, in denen er die Hungersnot, den Gesundheitszustand und die Mortalität der Bevölkerung im Spessart beschrieb. Er führte die Lebensbedingungen und Leiden der Bevölkerung in den Gebieten mit hoher Arbeitslosigkeit auf „Mangel an Geld“ respektive „Mangel an zweckmässig geleiteter Thätigkeit, an productiver Beschäftigung, an Fleiss und Industrie“ zurück (1852, S. 19). Weitere medizinische Inspektionsreisen führten Virchow nach Oberschlesien. Die Hungertyphusepidemien bezeichnete er als „großes soziales Problem“ (1849, S. 223-224), das aufgrund des Ausmaßes nicht mit Arznei- und Palliativmitteln, sondern nur durch „Bildung mit ihren Töchtern Freiheit und Wohlstand“ und in Konsequenz durch Entwicklung zu lösen ist. In der gesellschaftlichen Wahrnehmung gab es vor der Industrialisierung keine Unterscheidung zwischen Armen und Arbeitslosen. Pauperismus und die zunehmende Arbeiterfrage waren im 19. Jahrhundert ein spezifisches industriewirtschaftliches Phänomen. Erst im Zuge der weiteren Industrialisierungsprozesse löste sich die Problematik der Arbeitslosigkeit zunehmend aus dem Kontext der Armenfürsorge heraus. Seit der frühen Industrialisierung traten wiederholt Phasen von Arbeitslosigkeit periodisch auf. So führten in der zweiten Hälfte des
19 A. Hollederer, Erwerbslosigkeit, Gesundheit und Präventionspotenziale, DOI: 10.1007/978-3-531-92636-0_1, © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH
19. Jahrhunderts die Gründerkrise von 1873 und die Agrarkrise zur „großen Depression“ (vgl. Promberger, 2005). Im deutschen Kaiserreich wurde unter Reichskanzler Otto von Bismarck das System der deutschen Sozialversicherung mit Krankenversicherung, Unfallversicherung, Invaliditäts- und Altersversicherung etabliert. Die Arbeitslosigkeit war in dieser Phase bis zum Beginn des 1. Weltkrieges relativ gering. Nach dem Ende des 1. Weltkrieges reagierte das Reichsamt für Demobilmachung auf die drohende Arbeitslosigkeit entlassener Kriegsteilnehmer mit der „Verordnung für Erwerbslosenfürsorge“ am 13.11.1918. Als eine der großen sozialen Errungenschaften der Weimarer Republik trat neun Jahre später zum 1.10.1927 das Gesetz über Arbeitsvermittlung und Arbeitslosenversicherung (AVAVG) in Kraft. Es löste die Erwerbslosenfürsorge durch eine versicherungsartige Existenzabsicherung der Arbeitslosen ab und führte die kommunale Fürsorge in die staatliche Trägerschaft über. Die Verabschiedung im Reichstag fiel nach langer Kontroverse in einer Phase, die von einer günstigen Arbeitsmarkt- und Wirtschaftskonjunkturlage geprägt war. Kurz darauf erlebte das neue soziale Sicherungssystem seine schlimmste Belastungsprobe. Mit der Weltwirtschaftskrise von 1929 und der damit verbundenen Zeit der Rezession stieg die Massenarbeitslosigkeit sprunghaft an (siehe Abbildung 1). Im Winter 1931 erreichte sie mit über sechs Millionen Arbeitsuchenden ein bisher unbekanntes Ausmaß. Im Gegensatz zu früheren Perioden von Arbeitslosigkeit, die durch die industrielle Expansion kurzzeitig blieben, entwickelte sich das Phänomen einer lang andauernden Massenarbeitslosigkeit. Unter dem Titel „Arbeitslosigkeit: Ein Problem der Volksgesundheit“ brachte Julius Moses bereits 1931 eine „Denkschrift für die Regierung und Parlamente“ mit gesammelten Beiträgen von deutschen Ärzten heraus und schlussfolgerte, dass „Arbeitslosigkeit als sozialer Krankheitsfaktor gleichzeitig auch ein medizinischer Krankheitsfaktor“ ist (Moses, 1931, S. 11). Massenarbeitslosigkeit ist mit dieser Weltwirtschaftskrise zu einem zentralen Problem vieler Länder geworden. Im Kontext der wirtschaftlichen Entwicklungen beschrieben die Gesundheits- und Sozialwissenschaften die gesundheitlichen Auswirkungen und psychosozialen Belastungen von Arbeitslosigkeit in den westlichen Industrieländern, so z.B. Chapin (1924) in den USA, Marsh, Fleming und Blackler (1938) in Kanada oder Jahoda, Lazarsfeld und Zeisel (1933) mit „Die Arbeitslosen von Marienthal“ in Österreich. Diese Publikationen erschienen in einer Epoche, in der deutsche Sozialhygieniker wie Grotjahn (1912) oder Mosse und Tugendreich (1912) die Pathogenität der sozialen Umwelt und ihren Einfluss auf Krankheiten in der Bevölkerung oder in einzelnen Gruppen diskutierten. Diese sozialhygienischen Ansätze überschnitten sich allerdings in der Weimarer Republik mit der aufkommenden Eugenik. Im Zuge des nationalsozialistischen Umbaus der Gesundheitspolitik ging die Sozialhygiene schließlich in
20
Abbildung 1: Entwicklung der Arbeitsuchenden von 1928 bis 1930 (in Millionen)
Quelle: 3. Bericht der Reichsanstalt für Arbeitsvermittlung und Arbeitslosenversicherung - für die Zeit vom 1. Januar 1930 bis zum 31. Dezember 1930, S. 1.
einer pervertierten „Rassenhygiene“ auf (Baur, Fischer & Lenz, 1936; Ploetz, 1935; u.a.). Mit Ende des 2. Weltkrieges brach dieser Ansatz in Deutschland dann vollständig ab. In der Nachkriegszeit war die Arbeitslosigkeit in Deutschland kriegsbedingt zunächst hoch und wurde durch den Zustrom von Flüchtlingen verschärft (siehe Abbildung 2). Die erste Phase des Wiederaufbaus dauerte bis zum so genannten „deutschen Wirtschaftswunder“ in den 50er Jahren an. Als zweiter Zeitabschnitt folgte „Vollbeschäftigung“ von Anfang der 60er Jahre bis zum Ölpreisschock 1973. Die dritte, noch anhaltende Phase ist geprägt durch hohe Arbeitslosigkeit und mehrere Rezessionen. Die Abbildung 2 veranschaulicht anhand der Entwicklung der Arbeitslosenquoten, dass die Risiken der Arbeitslosigkeit bzw. die Chancen auf Wiedereingliederung in den Arbeitsmarkt in dieser Phase stark von den konjunkturellen Verläufen abhingen. Obwohl die Zahl der Arbeitslosen zwischen den Rezessionen wieder zurückging, sank sie in Westdeutschland aber nie wieder auf die niedrigen Werte der 60er Jahre. Deutschland hat strukturbedingt ein besonders hohes Niveau einer „Sockelarbeitslosigkeit“ (vgl. Abbildung
21
2). Die Diskrepanz zwischen Arbeitskräfteangebot und Nachfrage in Deutschland kann gut anhand des gesamtwirtschaftlichen Stellenangebots demonstriert werden. Z.B. boten die Betriebe und Verwaltungen im Herbst 2007 bei günstiger Konjunkturlage rund 1,25 Mio. Stellen an, von denen ca. 800 Tsd. sofort zu besetzen waren (IAB-Pressemitteilung vom 14.11.2007). Nach der Arbeitslosenstatistik waren aber gleichzeitig im September 2007 über 3,5 Mio. Arbeitslose bzw. über 5,9 Mio. Arbeitsuchende gemeldet (BA, 2007a). In der Rückschau erreichte die Arbeitslosigkeit ihren (vorläufigen) Höhepunkt in der Bundesrepublik Deutschland im Jahr 2005, in dem auch die in der vorliegenden Arbeit genutzten Daten des Mikrozensus erhoben wurden. Im Aufschwung des folgenden Konjunkturzyklus’ gelang es das Ausgangsniveau kurz zu unterschreiten. Danach trieb die weltweite Wirtschaftskrise, die die Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD, 2009) als „tiefste Rezession, die es zu unseren Lebzeiten gegeben hat“ bezeichnete, die Arbeitslosenzahlen wieder in die Höhe. Die Arbeitslosenquoten variieren zudem im Kontext von regionalen Arbeitsmärkten und differieren beträchtlich zwischen den einzelnen Kreisen und zwischen den Bundesländern. Die Bandbreite auf kommunaler Ebene reichen von derzeit nahezu Vollbeschäftigung wie im Kreis Eichstätt bis zu rund 20 % Arbeitslosenquote wie im Kreis Demmin. Es besteht eine höhere vereinigungsbedingte Arbeitslosigkeit in Ostdeutschland. Nach der so genannten „Wende“ stieg die Zahl der Arbeitslosen in Ostdeutschland mit der Umstrukturierung der planwirtschaftlichen Ordnung in eine soziale Marktwirtschaft rasant an. Die Verfassung der DDR garantierte noch ein „Recht auf einen Arbeitsplatz“ (Art. 24, Abs. 1), sah allerdings auch eine „Pflicht zur Arbeit“ für jeden arbeitsfähigen Bürger vor (Art. 24, Abs. 2). Diese Beschäftigungsgarantie führte in der Praxis zur staatlichen Berufslenkung und „versteckten Arbeitslosigkeit“ in den Betrieben, schloss aber individuelle Arbeitslosenrisiken für die Erwerbstätigen aus. Im Zuge der Wiedervereinigung gingen viele ostdeutsche Arbeitsplätze vor allem in der Industrie verloren und führten zu „Strukturbrüchen am Arbeitsmarkt und im Sozialgefüge“ sowie der subjektiven „Erfahrung der Überzähligkeit“ (Vogel, 1999). Die strukturelle Arbeitslosigkeit in Ostdeutschland ist auch einer der Hauptgründe für die Nettoabwanderung von Ost nach West insbesondere jüngerer Erwachsener nach der Wiedervereinigung (Grobecker, Krack-Roberg & Sommer, 2007). Die Arbeitslosenquote ist in Ostdeutschland derzeit noch deutlich höher als in Westdeutschland. Sie lag im Jahresdurchschnitt 2009 bezogen auf alle zivilen Erwerbspersonen bei 13,0 % in Ostdeutschland und bei 6,9 % in Westdeutschland (BA, 2010).
22
Abbildung 2: Arbeitslosenquoten1 von 1948 bis 2009 im Bundesgebiet bezogen auf abhängige zivile Erwerbspersonen (Jahresdurchschnitte) 14
12
10
Prozent
8
6
4
Westdeutschland
Gesamtdeutschland
2
19 4 19 8 5 19 0 52 19 5 19 4 5 19 6 58 19 6 19 0 6 19 2 6 19 4 6 19 6 6 19 8 7 19 0 7 19 2 7 19 4 7 19 6 7 19 8 8 19 0 8 19 2 8 19 4 8 19 6 8 19 8 90 19 9 19 2 9 19 4 96 19 9 20 8 0 20 0 02 20 0 20 4 0 20 6 08
0
1. Anmerkung zu Arbeitslosenquoten: - Bis 1965: Arbeitslose in % der unselbstständigen Erwerbspersonen (beschäftigte Arbeiter, Angestellte und Beamte sowie Arbeitslose) nach den Karteien der Arbeitsämter. - Ab 1966: Arbeitslose in % der abhängigen Erwerbspersonen (ohne Soldaten) nach Mikrozensus. - Arbeitslose in % der abhängigen zivilen Erwerbspersonen bis März 1989 nach dem Mikrozensus (Januar 1985 bis Februar 1987 nach der EG-Arbeitskräftestichprobe). - Ab April 1989 nach der Volkszählung Mai 1987, - ab Januar 1990 sozialversicherungspflichtig und geringfügig Beschäftigte, Beamte, Arbeitslose. 2. Anmerkung zur Zeitreihe: - 1948 und 1949 ohne Saarland und Berlin - 1950 bis 1958 ohne Saarland - Bis 1990 nur Bundesgebiet West Quelle: BA, Detaillierte Übersichten, Zugriff über http://www.pub.arbeitsamt.de 3. Anmerkung zu Definition „abhängige zivile Erwerbspersonen“: Arbeitslosenquote bezogen auf die abhängigen zivilen Erwerbspersonen (in Abgrenzung zu allen zivilen Erwerbspersonen): Der Nenner enthält nur die abhängigen zivilen Erwerbstätigen, d.h. die Summe aus sozialversicherungspflichtig Beschäftigten (einschl. Auszubildenden), geringfügig Beschäftigten, Personen in Arbeitsgelegenheiten (Mehraufwandvariante) AGH und Beamten (ohne Soldaten). Diese Art der Quotenberechnung hat in Deutschland die längere Tradition. Aus datentechnischen Gründen beziehen sich bisher die Arbeitslosenquoten einzelner Personengruppen regelmäßig nur auf die abhängigen zivilen Erwerbspersonen.
23
Zeitversetzt mit den zyklisch steigenden Arbeitslosenquoten wuchsen in der Nachkriegszeit die internationalen Public Health-Forschungstätigkeiten zu Arbeitslosigkeit und Gesundheit an. Hammarström und Janlert (2005) demonstrierten den zeitlichen Zusammenhang anhand der Veröffentlichungszahlen von Zeitschriftenartikeln zur Arbeitslosigkeit, die in der medizinischen Datenbank Medline erfasst waren. Sie führten die jeweiligen Publikationssteigerungen auf erhöhte politische Relevanz sowie Verfügbarkeit von Forschungsmitteln zurück. Die zyklische Förderpolitik erschwerte allerdings systematisch aufgebaute Forschungstätigkeiten von Wissenschaftlern und Forschungseinrichtungen und damit die Kontinuität in der Problembearbeitung. Methodisch entwickelte sich die Public Health-Forschung zum Thema Arbeitslosigkeit im Laufe der Jahre von einfacher Deskription zu elaborierten Meta-Analysen. Mohr unterscheidet fünf Perioden sozialwissenschaftlicher Erwerbslosigkeitsforschung (1997, 2009): 1. 2. 3. 4. 5.
30er bis 40er Jahre: klassische Arbeiten zu den Typologien und Phasenmodellen. 70er Jahre: vermehrte Arbeitslosigkeitsforschung, insbesondere durch Querschnittstudien mit verschiedenen Stichproben. Arbeitslosigkeit wurde als kritisches „life-event“ betrachtet. 80er Jahre: Längsschnittstudien und die Wahrnehmung des Prozesscharakters von Arbeitslosigkeit sowie Folgen für mittelbar Betroffene. 90er Jahre: Ausweitung der Forschung auch auf Zeitpunkt vor der Arbeitslosigkeit und damit auf die „Noch-Beschäftigten“ mit Arbeitsplatzunsicherheit. Gegenwärtig: Erweiterung des Arbeitsbegriffs über bezahlte Erwerbsarbeit hinaus. Vergleich der Erwerbsarbeit mit Erwerbslosigkeit, unsicheren Arbeitsverhältnissen und Unterbeschäftigung.
Der aktuelle Diskurs in den Gesundheitswissenschaften verortet Arbeitslosigkeit als soziale Determinante von Gesundheit. „Arbeitslosigkeit gefährdet die Gesundheit“ lautet dementsprechend die Schlussfolgerung von Experten, die im Auftrag der Weltgesundheitsorganisation (WHO) im Jahr 2004 Fakten und wissenschaftliche Erkenntnisse über soziale Determinanten und Gesundheit zusammentrug (WHO, 2004, S. 24). Arbeitslosigkeit ist dabei einer der sozialen Faktoren in einem komplexen Zusammenspiel von Lebens- und Arbeitsbedingungen und Lebensweisen, die die Gesundheit der Bevölkerung bestimmen. Auch Bartley, Ferrie und Montgomery (1998, 2006) sowie Dahlgren und Whitehead (2006) zählen Arbeitslosigkeit zu den sozialen Determinanten mit einem generellen Impact auf die Gesundheit der Bevölkerung. Dahlgren und Whitehead weisen darüber hinaus auf die Verschärfung gesundheitlicher Ungleichheit durch die
24
Arbeitslosigkeit hin. Die von der WHO eingesetzte Kommission „Soziale Determinanten von Gesundheit“ kam vor kurzem in ihrem Abschlussbericht zu dem Ergebnis, dass Arbeitslosigkeit als soziale Determinante von psychischer Gesundheit sowohl einen differentiellen Expositionsfaktor als auch einen zu beachtenden sozioökonomischen Kontextfaktor darstellt (CSDH, 2008, S. 98). Wie die Gesundheitsberichterstattung darlegt, ist der individuelle Gesundheitszustand in erheblichem Maße von der sozialen Lage abhängig (z.B. Gesundheitsbericht „Gesundheit in Deutschland“ von RKI, 2006). Die Risiken für den Eintritt der Arbeitslosigkeit bzw. die Chancen auf Wiedereingliederung in den Arbeitsmarkt sind ebenfalls sozial ungleich verteilt (z.B. Kronauer, 2000). Dieses Spannungsfeld zwischen Arbeitslosigkeit und Gesundheit steht im Fokus der vorliegenden Arbeit. Einem Großteil der in dieser Einleitung beschriebenen Entwicklungen liegen aufeinander aufbauende Theorienbildungen und Wissenschaftsdiskussionen zugrunde, die in den folgenden Kapiteln vertieft behandelt werden. So beinhaltet das nächste Kapitel bisherige theoretische Erklärungsmodelle über die Gesundheitsfolgen von Arbeitslosigkeit. Das anschließende Kapitel über die Überblicksarbeiten und Meta-Analysen führt empirische Forschungsansätze zusammen. Das Kapitel über die moderierenden Variablen integriert dann viele Erkenntnisse vor allem der langjährigen psychologischen Arbeitslosenforschung ein.
25
1.2 Theorien über die Auswirkungen von Arbeitslosigkeit auf die Gesundheit 1.2.1 Theoretische Modelle zu Arbeitslosigkeit und Gesundheit Mehrere Theorien versuchten in der Vergangenheit die Wirkung der Arbeitslosigkeit auf den Gesundheitszustand zu erklären. Die wichtigsten Erklärungsansätze werden nachfolgend für einen Überblick vorgestellt. Frühe „Phasenmodelle“ In der bedeutsamen Gemeindestudie „Die Arbeitslosen von Marienthal“ beschreiben Jahoda, Lazarsfeld und Zeisel (1933) in den 1930er Jahren die Auswirkungen und psychosozialen Belastungen auf ein ganzes Gemeinwesen während der großen Weltwirtschaftsdepression. Die Erfahrungen von langandauernder Arbeitslosigkeit waren damals eng mit den direkten Folgen großer Armut verbunden. Jahoda, Lazarsfeld und Zeisel (1933, S. 64ff) typisierten dabei die untersuchten Familien der Arbeitslosen in vier Haltungsgruppen mit den Attributen: 1. 2. 3. 4.
ungebrochen, resigniert, verzweifelt und apathisch.
Die Autoren (1933, S. 102) stellten diese vier Typen am Ende ihrer umfangreichen Studien in einen zeitlichen Ablauf durch die Annahme, dass mit den Haltungsgruppen „Stadien eines psychischen Abgleitens vorliegen“ und dass „am Ende dieser Reihe Verzweiflung und Verfall stehen“. Mit Bezug auf die Marienthal-Studie und weitere Forschungsarbeiten dieser Zeit beschrieben Eisenberg und Lazarsfeld (1938) später ein grundlegendes Phasenmodell für das Erleben von Arbeitslosigkeit: In der ersten Phase folgt nach der aktiven Jobsuche, bei der die Arbeitsuchenden noch optimistisch und nicht resigniert sind, ein Schockerlebnis. Wenn danach alle Anstrengungen vergeblich sind, werden die Arbeitslosen in der zweiten Phase pessimistisch, ängstlich und leiden an Stress. In der letzten Phase werden die Menschen bei langandauernder Arbeitslosigkeit fatalistisch und passen sich dem neuen Status an.
26
Die Theorie der „psychischen Deprivation“ Neben dem Ansatz, typische Verlaufsmuster der psychosozialen Belastungen durch Arbeitslosigkeit in Phasenmodellen und ihre jeweiligen Einflussfaktoren zu beschreiben, finden sich in der Forschung mehrere Versuche, individuelle Verarbeitungsformen der Arbeitslosigkeit zu charakterisieren. Die meisten in der Arbeitslosenforschung herangezogenen Theorien sind aber Übertragungen aus anderen Forschungsbereichen und keine arbeitslosenspezifischen Konzepte. Eine Ausnahme bildet die viel beachtete Theorie der „psychischen Deprivation“ von Jahoda (1979, 1981, 1983), die sich aus ihren vorherigen Forschungstätigkeiten und aus der Marienthal-Studie ableitete. Ein Arbeitsplatz hat in der Theorie von Jahoda manifeste Funktionen und eine Reihe von latenten Funktionen. Eine Erwerbstätigkeit sichert nicht nur das Einkommen als zentrale Funktion, sondern strukturiert als „unbeabsichtigtes Nebenprodukt ihrer Organisationsform“ (Jahoda, 1983, S. 136) den Tag und ermöglicht weitere soziale Beziehungen und Kontakte. Sie wirkt latent sinnstiftend, setzt übergeordnete Ziele und fördert die Identitätsbildung. Der Arbeitsplatzverlust zieht durch den Wegfall dieser Funktionen psychosoziale Folgen nach sich und führt zu einer plötzlichen Veränderung in der Sozialstruktur. Arbeitslose erleben das Fehlen von einzelnen Erfahrungskategorien wie der Zeitstruktur als belastend und je nach Lebenssituation in unterschiedlicher Intensität. Der soziale Status wird häufig über den ausgeübten Beruf bestimmt. Jahoda betont, dass folglich die psychischen Belastungen nicht nur auf die „ökonomische Deprivation“ und den verschlechterten Lebensstandard zurückgehen. Zentral sind daher für das Verständnis der Wirkung des Arbeitsplatzverlustes die psychischen Funktionen des Arbeitsplatzes. Das „Vitamin-Modell“ Warr (1987, 2007) entwickelte diesen theoretischen Ansatz von Jahoda mit dem sogenannten „Vitamin-Modell“ weiter. Dieses Modell besteht aus einem komplexen Beziehungssystem von neun Umweltfaktoren und der psychischen Gesundheit und fokussiert stark die Qualität der Umgebungsbedingungen. So ähnlich wie bei der Wirkungsweise von Vitaminen auf die körperliche Gesundheit beeinflussen demnach diese neun Faktoren die psychische Gesundheit. Warr (1987) zählt im Einzelnen zu den Einflussfaktoren die Möglichkeiten der Kontrolle, der Nutzung seiner Fähigkeiten, zur Zielsetzung, zu interpersonellen Kontakten und Abwechslung, die Transparenz der Umwelt, die Verfügbarkeit von Geld, die körperliche Sicherheit und das mögliche Erreichen einer wichtigen sozialen Position. Jeder einzelne Faktor ist wichtig für die psychische Gesund-
27
heit in diesem nichtlinearen Modell. Im nächsten Schritt beschreibt Warr die Prozesse im Kontext der Umgebungsbedingungen und unterschiedlichen Interaktionen zwischen Personen und Situation im Fall von Beschäftigung oder Arbeitslosigkeit. Die Handlungs-Restriktionstheorie Nach der Handlungs-Restriktionstheorie von Fryer (1986) sind Menschen „proaktiv“ und intrinsisch motiviert, um ein zufriedenstellendes Leben zu planen und zu organisieren. In Abgrenzung zum psychischen Deprivationsmodell und seinen starken Bezügen zu sozialen Faktoren oder Umweltfaktoren rückt Fryer die internen Regulierungsprozesse von Arbeitslosen stärker in den Vordergrund. Durch Arbeitsplatzverlust reduzieren sich Handlungsspielräume und finanzielle Möglichkeiten, die zu Frustrationen bei Arbeitslosen führen. Die Restriktionen bei den Finanzressourcen stellen neue Anforderungen an die Lebensgestaltung. Die negativen Konsequenzen entstehen demnach vor allem durch die Erfahrungen von Armut und den Wegfall der „manifesten Funktionen“ von Arbeit, die zu Beginn besondere Bedürfnisse und im zeitlichen Verlauf auch Grundbedürfnisse tangieren. Fryer und Payne (1984) explorierten anhand einer qualitativen Studie mit (nur) elf Arbeitslosen, dass besonders proaktive Arbeitslose zwar materielle, aber nicht psychische Deprivationen erfuhren. Theorie der erlernten Hilflosigkeit sowie soziale Stigmatisierungskonzepte Für die Arbeitslosenforschung erlangte außerdem die Theorie der erlernten Hilflosigkeit von Seligman (1979) Bedeutung. Nach diesem Erklärungsansatz werden Menschen passiv und verlieren an Selbstwertgefühl, wenn sie keine Verbindung mehr zwischen ihrem Verhalten und den Konsequenzen der Umwelt sehen. Eine weitere wichtige Theorie stellt das Stigma-Konzept von Goffman (1967) dar, nach dem eine Person aufgrund besonderer Attribute stigmatisiert ist und dieses Stigma Teil der Identität wird. Im Fokus des Stigmatisierungsansatzes stehen die Erfahrungen von „Zweitklassigkeit“ und sozialen Abwertungen, die die Arbeitslosigkeit bewirkt (Schultz-Gambard & Balz, 1998). Arbeitslosigkeit kann ganz offensichtlich „stigmatisieren“, da es Arbeitslose gibt, die den Status verschleiern und sich nach außen z.B. als „Student“ ausgeben (Price, Friedland & Vinokur, 1998). Für Phasen mit hoher Arbeitslosigkeitsquote wird angenommen, dass das Stigma durch die vielen Betroffenen in der Tendenz geringer als in Phasen mit weniger Arbeitslosen ausfällt.
28
Identitätstheorien Die bisherigen theoretischen Erklärungsansätze der Arbeitslosenforschung wurden dann in den 1980er Jahren kontrovers diskutiert. Kritisiert wurden vor allem die Phasenmodelle, da sich herausstellte, dass Arbeitslose unterschiedlich auf Arbeitsplatzverlust reagieren und die Erfahrungen nicht uniform verlaufen. Ezzy (1993) kritisierte beispielsweise, dass das Phasenmodell weniger eine Theorie und mehr einen beschreibenden Rahmen darstellt, der die Arbeitslosendauer operationalisiert. Außerdem konstatierte er die Begrenztheit des Modells von Jahoda durch den Benefit von Arbeit. Ezzy (1993) schlug dagegen die Entwicklung einer breiter angelegten Theorie auf Basis von Identitätstheorien für Statuspassagen vor. Er ging davon aus, dass bei Individuen, die keine zufriedenstellende alternative Identität nach dem Arbeitsplatzverlust finden können, Depressionen und geringere psychische Gesundheit zu erwarten sind. Nordenmark und Strandh (1999) griffen den Identitätsansatz auf und bestätigten in einer Untersuchung, dass sich die psychische Gesundheit der Arbeitslosen verbesserte, die eine alternative Identität zur Rolle der Beschäftigten entwickeln und mehr ökonomische Ressourcen erschließen konnten. Von entscheidender Bedeutung für die psychische Gesundheit und kompensatorische Bewältigung von Arbeitslosigkeit sind nach dem Ansatz der Identitätstheorie die wahrgenommenen Erwartungen und Bewertungen des sozialen Umfelds (Rogge & Kieselbach, 2009). Stresstheoretische Erklärungsansätze Arbeitsplatzverlust wurde zunehmend nicht nur als plötzlich eingetretenes Ereignis, sondern als Beginn einer kritischen und andauernden Lebensphase diskutiert. Die Betrachtung der Arbeitslosigkeit im Zeitverlauf bildet die Basis für stresstheoretische Erklärungsansätze wie der transaktionalen Stresstheorie von Lazarus (1966; Lazarus & Folkman 1984). Sie schreibt den kognitiven Prozessen und der Stressbewältigung die primäre Bedeutung in der Wechselwirkung von Person und Situation zu (Schwarzer, 1996). Ein erfolgreiches Coping von Arbeitslosigkeit hängt von den sozioökonomischen und psycho-sozialen Ressourcen sowie von den individuellen Fähigkeiten und Kompetenzen ab (Büssing, 1993). Weitere Stresstheorien wie das Anforderungs- und Kontrollmodell wurden vor allem aus der Arbeitswelt auf die Situation von Arbeitslosen übertragen (Creed & Bartrum, 2006). Im Vordergrund stehen dabei die Fähigkeiten von Arbeitslosen, die Anforderungen im Alltag zu bewältigen, und die Wechselwirkungen von situativen Gegebenheiten mit persönlichen Lebensumständen, biografischen Erfahrungen und Ressourcen (Kieselbach & Beelmann, 2006).
29
Die Hauptanforderungen, die sich bei Eintritt in die Arbeitslosigkeit den Betroffenen stellen, fasst Mohr (2009, S. 28) wie folgt zusammen:
„Antizipation des Arbeitsplatzverlusts und damit verbundenes Entscheiden und Handeln unter Unsicherheitsbedingungen, Umgang mit geringen finanziellen Mitteln, Veränderung der sozialen Beziehungen, neue häusliche Rollenaufteilung, Neugestaltung des Tages, Verarbeitung von gehäuften Misserfolgserfahrungen, das richtige Maß an Konzessionsbereitschaft finden, den Wiedereinstieg bewältigen.“
Price, Friedland und Vinokur (1998) halten Arbeitsplatzverlust für einen „primären Stressor“, der eine Kaskade von sekundären Stressoren (meist ökonomische Not, wachsende Schulden und Familienkonflikte) nach sich ziehen kann. Kieselbach (1998) unterteilt die Wirkung von andauernder Arbeitslosigkeit als eigenständiger psychosozialer Stressor in „primäre, sekundäre und tertiäre Viktimisierung“: 1. 2. 3.
Die mit der Arbeitstätigkeit verbundenen Momente ökonomischer Sicherheit, sozialer Einbindung, von Selbstwertgefühl, Zeitstrukturierung sowie externen Anforderungen schwächen sich ab oder gehen verloren. Erfahrungen von Alltagsproblemen wie finanziellen Sorgen, Zukunftsunsicherheit und sozialer Stigmatisierung führen zu einer Verstärkung von Belastungen. Sozial als unangemessen angesehene Formen der Bewältigung werden den Betroffenen selbst angelastet.
Differentielle Arbeitslosenforschung Ein Ziel der „differentiellen Arbeitslosenforschung“ (Wacker, 2001b) ist es, die einzelnen Faktoren der vielfältigen Bewältigungsformen zu identifizieren, die die Bewältigung von Arbeitslosigkeit beeinflussen und damit zu unterschiedlichen Wirkungen beitragen. Sie untersucht die jeweiligen Lebensumstände, Biographie, Persönlichkeit sowie finanzielle und soziale Faktoren. Sie integriert nicht nur die Stressoren, sondern auch die Ressourcen in die verschiedenen Modelle zu Anforderungen und Stressbewältigung. Der aktuelle Forschungsstand zur Wirkung solcher moderierenden Variablen wird in Kapitel 1.4 ausführlich erörtert und deshalb hier nur erwähnt. Zu-
30
nehmend rückten in der Forschung neben den Arbeitslosen auch die mittelbar betroffenen Familienangehörigen wie Kinder und Lebenspartner in den Fokus. Die unter den Druck der Arbeitslosigkeit geratene Familie ist „Opfer durch Nähe“ und gleichzeitig „Quelle sozialer Unterstützung“ (Kieselbach, 1988). Diese indirekten Auswirkungen von Arbeitslosigkeit auf die Familie sind in Deutschland allerdings noch wenig untersucht worden (Hess, Hartenstein & Smid, 1991; Kieselbach & Beelmann, 2006). „Finances-Shame-Model“ Als neues theoretisches Rahmenkonzept zur Gesundheit von Arbeitslosen verbindet das „Finances-Shame-Model“ die Stress- bzw. Deprivationsforschung durch finanzielle Belastungen mit der Sozialforschung zur Identität, sozialen Beziehungen, sozialen Netzwerken und sozialer Unterstützung (Starrin & Jönsson, 2006; Creed & Bartrum, 2006). Das Modell postuliert, dass die Gesundheitseffekte der Arbeitslosigkeit einer Funktion von finanzieller Härte und beschämender Erfahrungen, z.B. in Form von mangelnder Beachtung oder übler Nachrede aufgrund des Arbeitslosenstatus, unterliegen. Je höher das Niveau der Finanzbelastung und je häufiger Beschämung durch Freunde und Nachbarn erfolgt, umso größer ist demnach das Risiko für einen schlechten Gesundheitszustand. „Soziale Exklusion“ Die Teilhabe an Arbeit hat eine Schlüsselfunktion für die gesellschaftliche Inklusion. In den Theorien zur sozialen Exklusion wird soziale Benachteiligung aber nicht nur unter einem einzigen Aspekt, sondern mehrdimensional betrachtet (Kronauer, 2002). Die soziale Exklusion steigt mit der individuellen Vulnerabilität. Die Ausgrenzungsprozesse akkumulieren in diesem Modell und setzen eine Abwärtsspirale in Gang. Die sozial ausgeschlossenen Personengruppen variieren von Land zu Land, Arbeitslose gelten aber als besonders betroffene Gruppe und Arbeitslosigkeit als Indikatorvariable (Shaw, Dorling & Smith, 2006). Kieselbach (2006) übertrug in Fallstudien dieses Konzept auf Arbeitslose und integrierte protekive und vulnerable Faktoren, die als Schlüsselmechanismen zur sozialen Exklusion führen und Gesundheitseffekte nach sich ziehen. Bei Jugendlichen in sechs europäischen Ländern konnte demonstriert werden, dass Arbeitslosigkeit ein zentraler Risikofaktor für die gesamte soziale Exklusion ist (Kieselbach & Beelmann, 2003).
31
Die Diskussion über soziale Exklusion erweitert die in der psychologischen Arbeitslosenforschung individuumszentrierte Betrachtungsweise um gesellschaftliche Prozesse. Sie impliziert eine nach unten gerichtete Spirale, bei der die Marginalisierung am Arbeitsmarkt zu Armut und sozialer Isolation führt, die wiederum das Risiko für Langzeitarbeitslosigkeit erhöhen kann (Gallie, Paugam & Jacobs, 2003). Die individuelle Bewältigung von Arbeitslosigkeit ist daher im Kontext gesellschaftlicher Rahmenbedingungen und struktureller Barrieren zu sehen. Arbeitslosigkeit ist „sozial konstruiert“. Durch die vorherrschenden gesellschaftlichen Erklärungs- und Bewältigungsmechanismen werden nach Kieselbach (1994b) aber die Ansprüche von Arbeitslosen an die Gesellschaft delegitimiert. Zu solchen gesellschaftlichen Mechanismen zählt Kieselbach (1995, 1997)
eine „Bagatellisierung“ von Arbeitslosigkeit wie durch das Verbergen des wahren Ausmaßes der Arbeitslosigkeit u.a. durch die Statistikkonzepte. eine „Individualisierung“ der Massenarbeitslosigkeit, die mit Schuldzuweisungen bezüglich Arbeitsunwilligkeit, Qualifikation, Missbrauch usw. einhergeht. Sie verschärft die Abgrenzung von Beschäftigten und Arbeitslosen. Die Individualisierung birgt darüber hinaus die Gefahr der Spaltung der Arbeitslosen in Teilgruppen, die Massenarbeitslosigkeit nicht mehr als einheitliches gesellschaftliches Problem, sondern nur als Defizite von Problemgruppen erscheinen lassen und im Sinne von „blaming-the-victim“ Opfer zu Tätern ihres eigenen Schicksals machen. eine „naturalisierende Betrachtungsweise“, die eine bestimmte Höhe der Arbeitslosigkeit als unumgänglichen sozialen Tatbestand ansieht. Sie grenzt damit politisches Handeln aus und verringert den Handlungsdruck auf politische Entscheidungsträger. eine „Historisierung“ in Bezug auf Ostdeutschland, bei der die Schuld gegenwärtiger Arbeitslosigkeit vom früheren gesellschaftlichen DDR-System abgeleitet wird.
Salutogenese Das Verständnis von Gesundheit ist im Zuge eines Paradigmenwechsels im Wandel begriffen und unterliegt historischen und kulturellen Einflüssen. Gesundheit lässt sich aus verschiedenen Perspektiven definieren und ist „zu einem Grundwert und einem Leitbegriff in unserer entwickelten Industriegesellschaft geworden“ (Schwartz, Siegrist, Troschke & Schlaud, 2003). Einer eingeengten biomedizinischen Sichtweise von Gesundheit als Abwesenheit von Krankheit setzte die WHO 1946 eine positivierende Betrachtungsweise entgegen. Sie defi-
32
nierte Gesundheit als „Zustand des völligen körperlichen, seelischen und sozialen Wohlbefindens“. Gesundheit wird dabei nicht nur als unveränderlicher Zustand verstanden, sondern als lebensgeschichtlich und im Alltag immer wieder neu herzustellende Balance. Die Definition lenkt den Blick auf den ganzen Menschen in seinen körperlichen, geistig-seelischen und sozialen Bezügen und stellt sein subjektives Befinden in den Mittelpunkt der Aufmerksamkeit. Kontrovers und ausgiebig diskutiert, bildete sie die konzeptionelle Grundlage von späteren theoretischen Ansätzen und Gesundheitsmodellen wie der Salutogenese. Ein viel beachtetes salutogenetisches Konzept stammt von Antonovsky (1979, 1997), der von einem multidimensionalen Gesundheits-KrankheitsKontinuum ausgeht. Er sieht eine komplementäre Beziehung zwischen Pathogenese und Salutogenese und zwischen Gesundheitsfaktoren und Risikofaktoren. Zentraler Bestandteil dieser Theorie ist das Konstrukt „Kohärenzgefühl“ (sense of coherence). Dieses ist ein Charakteristikum einer Person, das kausal mit ihrer Position auf dem Gesundheits-Krankheits-Kontinuum verbunden ist. Kohärenzgefühl definiert Antonovsky (1997, S. 36) „als eine globale Orientierung, die ausdrückt, in welchem Ausmaß man ein durchdringendes, andauerndes und dennoch dynamisches Gefühl des Vertrauens hat.“ Der Diskurs um Gesundheitsbegriffe und theoretische Grundlagen befruchtete auch stark die Entwicklung der Gesundheitsförderung. Mit der OttawaCharta initiierte die WHO (1986) dann eine weltweite Strategie zur Gesundheitsförderung, auf die in Kap. 2.2 noch eingegangen wird. Diese Gesundheitsförderungsansätze und Begriffsbestimmungen von Gesundheit lassen sich auf den Bereich Arbeitslosigkeit übertragen und werden derzeit z.B. unter „arbeitsmarktintegrative Gesundheitsförderung“ (Kastner, Hagemann & Kliesch, 2005) für die Zielgruppe der Arbeitslosen in ersten Entwicklungsschritten übertragen und spezifiziert. Schlussfolgerungen zu bisherigen theoretischen Erklärungsversuchen In einem aktuellen Überblick konstatiert Mohr (2009) zum Stand der sozialwissenschaftlichen Erwerbslosigkeitsforschung, dass „sich ein großer Teil der inzwischen umfangreichen Forschung nicht explizit auf theoretische Modellvorstellungen bezieht“. Bei vielen Erklärungsansätzen handelt es sich auch um Übertragungen aus anderen Wissenschaftsbereichen und nicht um originär aus der Arbeitslosigkeitsforschung heraus entwickelte Theorien wie das beispielsweise bei der „psychischen Deprivation“ von Jahoda (1979) der Fall war. Eine Reihe von Theorien findet auch nur in relativ wenigen Arbeiten ihren Niederschlag. Ezzy (1991) bemängelte, dass das deskriptive Bild komplex und gut dokumentiert ist, aber die Erklärungen für diese Effekte typischerweise wenig
33
elaboriert sind. Dafür machte er einen Mangel an generellen Theorien verantwortlich, in die die vorhandenen Erkenntnisse über die Effekte von Arbeitslosigkeit und Beschäftigung integriert werden könnten. Nach Schultz-Gambard und Balz (1998) enthalten die bisherigen Erklärungsansätze allerdings weder gegensätzliche Annahmen noch widersprüchliche Aussagen, sondern thematisieren vielmehr jeweils verschiedene Einzelaspekte. Eine Integration in einen umfassenden Theorierahmen steht noch aus. Die früheren Wissenschaftsdiskussionen um Stresstheorien, Deprivationsforschung und differentielle Arbeitslosenforschung haben sich mittlerweile erschöpft während zeitgleich die empirischen Wissenschaften kontinuierlich Einzelergebnisse zur Gesundheit von Arbeitslosen auf hohem Niveau produzieren. Auf der anderen Seite gibt es aber auch theoretische Ansätze, die die Arbeitslosenforschung noch nicht voll adaptiert hat. Gesundheitliche und soziale Ungleichheit So ist der Diskurs in der Arbeitslosenforschung bisher kaum verbunden mit den parallel verlaufenden Diskussionen über soziale und gesundheitliche Ungleichheit (vgl. Richter & Hurrelmann, 2006; Siegrist & Marmot, 2008). Soziale Ungleichheit ist ein abstrakter Begriff, wobei Arbeitslosigkeit nach Blien (2009) eigentlich eine zentrale Dimension darstellt. Die Abbildung 3 zeigt ein in Deutschland vielfach verwendetes Modell zur Erklärung der gesundheitlichen Ungleichheit von Mielck (2000), das auch wichtige Aspekte für die Arbeitslosenforschung beinhaltet. Das Modell legt dar, wie der sozioökonomische Status den Gesundheitszustand determiniert. Soziale Ungleichheit, die z.B. an Bildung, Berufsstatus und Einkommen gemessen werden kann, produziert unterschiedliche Lebensverhältnisse, die direkt oder auch indirekt über das Gesundheitsverhalten den Gesundheitszustand beeinflussen. Das Gesundheitsverhalten (z.B. Ernährungsgewohnheiten und Rauchverhalten) wird demnach durch die Lebensverhältnisse und durch das Zusammenwirken von Belastungen und Ressourcen maßgeblich geprägt. Das Modell berücksichtigt auch Unterschiede in der Gesundheitsversorgung (z.B. durch Zuzahlungssysteme). Soziale Ungleichheit führt auf diese Weise zu gesundheitlicher Ungleichheit. Eine schwere Morbidität kann aber wiederum eine soziale Abstiegsmobilität zwischen den Sozialschichten bewirken. Das Konzept der sozialen Ungleichheit ist nicht mit dem sozialrechtlichen Tatbestand der Arbeitslosigkeit gleichzusetzen (s. Kap. 1.4.1.4). Das Modell in Abbildung 3 kann aber trotzdem gut auf die Arbeitslosenforschung übertragen werden, da soziale Ungleichheit eng mit verschiedenen Arbeitslosigkeitsrisiken verknüpft ist. Die Langzeitarbeitslosigkeit führt – wie in den nachfolgenden Kapiteln weiter ausgeführt wird – zu hohen gesundheitlichen Belastungen und
34
geringen Ressourcen. Unterschiede in der gesundheitlichen Versorgung sind in Deutschland z.B. in der geringeren Inanspruchnahme von Leistungen der Gesundheitsförderung durch Arbeitslose belegt (s. Kap. 2.2). Arbeitslose weisen im Durchschnitt auch ein riskanteres Gesundheits- und Suchtververhalten auf (s. Kap. 2.1.3). Die Arbeitslosenforschung könnte daher nicht nur solche theoretischen Erklärungsmodelle nutzen, sondern sogar zur Erklärungskraft dieser Modelle zur sozialen Ungleichheit beitragen, da bisherige Modelle oft nicht die konkreten Vermittlungsprozesse auf den Gesundheitszustand erklären. Der Mikrozensus 2005 erfasst viele Items, die den zentralen Konstrukten im Modell sozialer Ungleichheit von Mielck zugeordnet werden können. Abbildung 3: Modell sozialer Ungleichheit
Soziale Ungleichheit (Unterschiede in Bildung, Berufsstatus, Einkommen) Unterschiede in den gesundheitlichen Belastungen
Unterschiede in den BewältigungsRessourcen
Unterschiede in der gesundheitlichen Versorgung
(z.B. Belastungen am Arbeitsplatz)
(z.B. soziale Unterstützung)
(z.B. Arzt-PatientKommunikation)
Unterschiede beim Gesundheits- und Krankheitsverhalten (z.B. Ernährung, Rauchen, Compliance)
Gesundheitliche Ungleichheit (Unterschiede in Morbidität und Mortalität)
Quelle: Mielck, 2000 (auf Basis Elkeles & Mielck, 1997)
35
1.2.2 Selektion versus Kausalität Die Wirkungsrichtung zwischen Arbeitslosigkeit und Gesundheitszustand ist eine der zentralen Wissenschaftsfragen in der Arbeitslosenforschung. Die Antworten sind nicht nur wichtig für das Verständnis von den Wirkprozessen auf die Gesundheit, sondern auch wesentlich für die Entwicklung von Ansätzen der Prävention und Gesundheitsförderung. Gemäß der „sozialen Kausalitätshypothese“ wirkt sich Arbeitslosigkeit selbst als eigenständiger Faktor ursächlich auf individuelle Gesundheitszustände aus (Winefield, 1995; Creed & Bartrum, 2006; u.a.). Nach der Selektionshypothese (bzw. „Drift-Hypothese“) verursacht dagegen Krankheit die Arbeitslosigkeit. So könnten die Gesundheitsunterschiede zwischen Arbeitslosen und Beschäftigten auf Auswahlprozesse am Arbeitsmarkt zurückzuführen sein, wenn die betreffenden Personen eher entlassen werden oder mit geringerer Wahrscheinlichkeit Stellenangebote erhalten (siehe Abbildung 4). Eine Auslese zu Lasten von gesundheitlich eingeschränkten Menschen könnte beispielsweise im Verfahren der Personaleinstellung (z.B. für die Beamtenlaufbahn) oder durch Auswahlkriterien bei Entlassungen und bei Stellenabbaustrategien auftreten, wenn ihnen – unter Umständen auch vorurteilsbelastet – weniger Leistungsfähigkeit unterstellt wird. Vor kurzem war z.B. in einer Umfrage von Eurobarometer über die Hälfte der Befragten der Meinung, dass sich in einer Bewerberauswahl das Alter des Bewerbers und eine Behinderung nachteilig auswirken (Scheuer, 2009). Gesundheitsstörungen und Behinderungen könnten sich unter Umständen auch schon früher bei der schulischen oder beruflichen Ausbildung negativ ausgewirkt und z.B. zu einem Ausbildungsabbruch beigetragen haben, was ebenfalls das Arbeitslosigkeitsrisiko erhöht. Bei bestehenden Arbeitsverhältnissen kann eine wiederkehrende oder lang anhaltende Krankheit auch zur Kündigung führen, wenn keine Aussicht auf Besserung besteht und die Erkrankung die betrieblichen Interessen beeinträchtigten.
36
Abbildung 4: „Circulus vitiosus“ von Erwerbslosigkeit und Gesundheit Selektionseffekt: Krankheit erhöht Risiko, erwerbslos zu werden!
Kausalität: Erwerbslosigkeit macht krank!
Selektionseffekt: Gesundheitliche Einschränkungen hemmen Arbeitssuche und Vermittlung!
37
Außerdem wäre es möglich, dass Arbeitnehmer schon bei der Ausübung ihrer beruflichen Tätigkeiten aufgrund belastender Arbeitsbedingungen und damit vor einer etwaigen Arbeitslosigkeit erkranken. Auch das Erlebnis von Arbeitsplatzunsicherheit und Arbeitsplatzverlust unmittelbar vor Eintritt in die Arbeitslosigkeit könnte zur Krankheit führen (Rosenbrock, 1998). Die gesundheitsbelastende Wirkung von Arbeitslosigkeit entfaltet sich nicht erst mit Eintritt in Arbeitslosigkeit, sondern beginnt bereits, wenn Menschen im Beschäftigungsverhältnis antizipieren, dass sie arbeitslos werden (Bartley, Ferrie & Montgomery, 1999). Ein weiterer diskutierter Selektionsbias ist durch eine indirekte Einflussnahme auf beide Variablen Arbeitslosigkeit und Gesundheit gekennzeichnet, wenn z.B. soziale Benachteiligung und instabile Berufskarrieren die Risiken sowohl für Arbeitslosigkeit als auch für Krankheit erhöhen (Kasl & Jones, 2002). Die Selektionshypothese und die soziale Kausalitätshypothese müssen sich im Prinzip nicht gegenseitig ausschließen, sondern können gemäß Abbildung 4 parallel oder sequenziell wirken und zu einem „Circulus vitiosus“ führen (Hollederer, 2009b). Das zugrunde liegende Ursachen-Wirkungs-Gefüge und die Effektgrößen von Kausalfaktoren und Selektionseffekte sind bisher noch nicht komplett aufgeklärt. Es herrscht aber große Übereinstimmung bei den Arbeitslosenforschern von allen bisherigen Perioden in der Einschätzung vor, dass sich Arbeitslosigkeit kausal gesundheitsbelastend auswirkt. Ein Indiz für eine kausale Gesundheitswirkung von Arbeitslosigkeit ist z.B. die häufig beobachtete Verbesserung psychischer Gesundheit nach Wiederbeschäftigung (Murphy & Athanasou, 1999; McKee-Ryan, Song, Wanberg & Kinicki, 2005; Paul, Hassel & Moser, 2006). Die Selektionsmechanismen werden in der Forschung in den Effektgrößen häufig kleiner als die kausale Wirkung durch die Arbeitslosigkeit eingeschätzt. Ein sogenannter „Hysterese-Effekt“ entsteht, wenn die Arbeitslosigkeit selbst mit zunehmender Dauer zur Demotivierung, geringerer Stellensuche oder beruflicher Dequalifizierung führt und Unternehmen in dieser Erwartung prinzipiell einer Einstellung von Arbeitslosen negativ gegenüberstehen. Zur Klärung der Wirkungsrichtung können methodisch vor allem Langzeitstudien mit mehreren Messzeitpunkten sowie Meta-Analysen und internationale Überblicksarbeiten beitragen, auf die im nächsten Kapitel im Detail eingegangen wird.
38
1.3 Internationale Überblicksarbeiten und Meta-Analysen Die zahlreichen Forschungstätigkeiten zu Arbeitslosigkeit und Gesundheit konzentrieren sich auf die westlichen Industriestaaten. Eine Reihe von Reviews markiert den Forschungsverlauf bis zur Gegenwart. Das Niveau und die Methoden verbesserten sich sukzessive von rein deskriptiven Überblicksarbeiten bis hin zu heutigen elaborierten Meta-Analysen. Einen guten Einblick zum Wissenstand zwischen den beiden Weltkriegen gewährten Eisenberg und Lazarsfeld (1938). Die damaligen Publikationen waren geprägt von den Folgen der aufkommenden Massenarbeitslosigkeit und Weltwirtschaftskrise. Die Literatur in der Nachkriegszeit führten Frese und Mohr (1978) in einem detaillierten Überblick über den Zusammenhang von Arbeitslosigkeit und psychischen Störungen auf. Im Jahr 1980 berichteten Dooley und Catalano (1980) den internationalen Forschungsstand über den Zusammenhang von Wirtschaftswandel und Verhaltensstörungen. In einer Literaturübersicht fassten Land und Viefhues (1984) 348 Arbeiten, die bis zum Jahr 1984 publiziert wurden, zusammen. Auf diesen Ergebnissen baute eine zweite Literaturstudie von Kurella (1992) auf, der die von 1985 bis 1991 veröffentlichte Literatur untersuchte. Eine lange Reihe von weiteren Veröffentlichungen geben Überblicke über die zeitweise sehr rege und weiter ausdifferenzierende Wissenschaftsdiskussion (DeFrank & Ivancevich, 1986; Fryer & Payne, 1986; Warr, Jackson & Banks, 1988; Dooley & Catalano, 1988; Catalano, 1991; Ezzy, 1993; Dooley, Fielding & Levi, 1996; Kieselbach 1994a; Winefield, 1995; Schultz-Gambard & Balz, 1998; Hanisch, 1999; Kasl & Jones, 2002; Kieselbach & Beelmann, 2006; Mohr, 2009; u.v.m.). Die Autoren beschreiben dabei Arbeitslosigkeit durchgängig als stressvolles und kritisches Lebensereignis oder -phase, durch die vielfältige negative Reaktionen wie psychische Belastungen oder schlechterer physischer Gesundheitszustand hervorgerufen werden. Bei Reintegration in Beschäftigung wird beobachtet, dass sich diese Symptome wieder reduzieren. Die Validität von Kausalaussagen steigt mit der Zahl empirischer Längsschnittanalysen, die die Statuswechsel zwischen Arbeitslosigkeit und Beschäftigung erfassen. Allerdings gibt es bis heute nur wenige Studien mit langfristigen Effekten. Erst seit kurzem werden die empirischen Vergleichsuntersuchungen zu Arbeitslosigkeit und Gesundheit auch im Verfahren der Meta-Analyse mit quantitativen Methoden ausgewertet. Mit dieser Methode werden eine Bewertung des gesamten Forschungsstandes und eine Vereinheitlichung bisheriger statistischer Untersuchungsergebnisse vorgenommen. Sie erlaubt, Effektgrößen und kausale Beziehungen zu generalisieren. Außerdem führt sie die quantitativen Ergebnisse des gesamten Forschungsgebiets zusammen. Einen ausgezeichneten Überblick über die meta-analytische Entwicklung in diesem Forschungsgebiet, die ver-
39
wandte Methodik und die gefundenen Effektgrößen geben Paul und Moser (2006b). Einen Qualitätssprung kennzeichnet in der Retrospektive die Überblicksarbeit von Murphy und Athanasou (1999) über die Folgen von Arbeitslosigkeit. Sie analysierten 16 longitudinale Vergleichsstudien mit psychologischen Testverfahren aus den Jahren 1961 bis 1995. Die Auswertung belegt negative Effekte von Arbeitslosigkeit auf die menschliche Psyche. Der größte Teil der Studien stellt eine Verbesserung der seelischen Gesundheit nach beruflicher Wiedereingliederung fest. Sie sehen die Kausalitätshypothese als stark unterstützt an, testeten aber nicht etwaige Selektionseffekte. Paul und Moser (2001) bezogen in einer erweiterten Meta-Analyse schon 51 Längsschnittstudien aus Europa, Nordamerika, Australien und Neuseeland ein. Auch sie beschränkten sich auf die Wirkungszusammenhänge von Arbeitslosigkeit und psychischem Befinden. Als Indikatoren der psychischen Gesundheit wählten sie allgemeine psychische Symptome, Depressions-, Angst und psychosomatische Symptome, Externalität, Lebenszufriedenheit, emotionales Wohlbefinden und Selbstwertgefühl. Die Untersuchungen mit einem Wechsel zwischen Erwerbsstatus und Arbeitslosigkeit zeigen, dass Menschen nach Arbeitsplatzverlust eine Verschlechterung ihrer psychischen Gesundheit erleiden, was darauf hinweist, dass zumindest ein Teil der psychischen Probleme Arbeitsloser durch die Arbeitslosigkeit selbst hervorgerufen werden. Umgekehrt verbessert sich meist das seelische Befinden deutlich, wenn Arbeitslose zurück in die Beschäftigung finden. Die Verursachungshypothese wird in dieser Meta-Analyse auch durch die Untersuchungen von Schülern gestützt, bei denen sich beim Übertritt von der Schule in die Beschäftigung eine Verbesserung des seelischen Befindens und im Falle des Übertritts in Arbeitslosigkeit eine Verschlechterung zeigt. Eine Kausalwirkung von Arbeitslosigkeit auf die seelische Gesundheit schließt aber nicht gleichzeitig vorhandene Selektionseinflüsse aus. Paul und Moser (2001) fanden sowohl für den Verlust eines Arbeitsplatzes bei Beschäftigten als auch für die spätere Arbeitsaufnahme bei Arbeitslosen und Schülern Selektionseffekte bzw. schon vorher bestehende stärkere psychische Symptombelastungen. McKee-Ryan, Song, Wanberg und Kinicki (2005) untersuchten in einer weiteren Meta-Analyse den Impact von Arbeitslosigkeit auf das Wohlbefinden der Betroffenen. Bei ihren Literaturrecherchen fanden sie über 5.000 englischsprachige Artikel zu diesem Themenbereich, unter denen sie 104 empirische Studien identifizierten, die statistisch für ihre Meta-Analyse verwertbar waren. In der Analyse bestimmten sie die Zusammenhänge mit psychischem Wohlbefinden (darunter psychische Gesundheit, Lebenszufriedenheit, Zufriedenheit mit Familie bzw. Ehe) und physischem Wohlbefinden. Die einbezogenen Studien zielten am häufigsten auf die psychische Gesundheit („mental health“) mit drei
40
Vierteln aller Korrelationsanalysen. Zur subjektiven und objektiven physischen Gesundheit stand dagegen nur eine sehr kleine Zahl von internationalen Studien zur Verfügung. Die Meta-Analyse zeigt, dass Arbeitslose im Vergleich zu Beschäftigten vor allem eine signifikant schlechtere psychische Gesundheit und Lebenszufriedenheit, aber auch einen ungünstigeren physischen Gesundheitszustand aufwiesen. Die Befunde der Meta-Analyse unterstützen stark die Kausalitätshypothese, da im Bereich der psychischen Gesundheit das Hauptergebnis konsistent blieb über sehr viele Arten von Studien und Datenquellen. Die Längsschnittstudien zeigten zudem, dass das psychische Wohlbefinden der Betroffenen mit dem Arbeitsplatzverlust signifikant fällt und beim Übergang in Wiederbeschäftigung stark ansteigt. Allerdings ist bei der Interpretation einzuschränken, dass nur wenige Längsschnittanalysen existieren. Darüber hinaus bezogen die Autoren 22 Prädiktor-Variablen ein, von denen ein Großteil mit dem Wohlbefinden während der Arbeitslosigkeit signifikant korreliert. Die Reaktionen auf die Arbeitslosigkeit sind nicht homogen, da die Effekte von weiteren Einflussvariablen moderiert werden. Auf einer erweiterten Basis an Primärstudien untersuchten Paul, Hassel und Moser im Jahr 2006 die psychischen Gesundheitseffekte von Arbeitslosigkeit erneut. Ihre Meta-Analyse geht mit 237 Querschnitt- und 87 Längsschnittstudien zahlenmäßig weit über die von McKee-Ryan, Song, Wanberg und Kinicki (2005) hinaus. Paul, Hassel und Moser (2006) bestätigen im Wesentlichen die früheren Ergebnisse von Paul und Moser (2001) und belegen, dass 1. 2. 3. 4.
Arbeitslosigkeit mit einer Beeinträchtigung der psychischen Gesundheit einhergeht, der Effekt von mittlerer Stärke und praktisch hochbedeutsam ist, sich die Beeinträchtigung des Befindens für mehrere Indikatoren der psychischen Gesundheit nachweisen lässt und psychische Beanspruchungssymptome nicht nur mit Arbeitslosigkeit korrelieren, sondern – trotz der nachweisbaren Existenz von Selektionseffekten – auch durch diese (mit)verursacht werden.
In den Querschnittstudien weisen Arbeitslose signifikant mehr Symptome psychischer Beeinträchtigung auf als Erwerbstätige. Die beobachteten Effektstärken sind bei den unspezifischen Belastungssymptomen sowie bei Depressions- und Angstsymptomen, emotionalem Wohlbefinden und Selbstwertgefühl statistisch bedeutsam und von mittlerer Größe. Dagegen fällt die Effektstärke von psychosomatischen Beschwerden (inklusive physische Aspekte) zwar noch signifikant, aber wesentlich kleiner aus. Die Autoren schlussfolgern, dass Arbeitslosigkeit stärker seelisch als körperlich beeinträchtigt. Offensichtlich gibt es dabei kein
41
spezifisches „Arbeitslosigkeitssyndrom“, die Beeinträchtigung des Befindens lässt sich für mehrere Indikatoren der psychischen Gesundheit nachweisen. Die psychischen Symptome korrelieren aber nicht nur mit Arbeitslosigkeit, sondern werden nach den Längsschnittuntersuchungen mit verursacht. Umgekehrt bessert sich das seelische Befinden, wenn Arbeitslose wieder in Beschäftigung finden. Die Abbildung 5 verdeutlicht diese Ergebnisse der Meta-Analyse und zeigt Richtung und Stärken der Effekte auf die psychische Gesundheit beim Erwerbsstatuswechsel auf. Abbildung 5: Meta-Analytische Längsschnittvergleiche zur Veränderung der psychischen Gesundheit
erwerbstätig - erwerbstätig
arbeitslos - arbeitslos
erwerbstätig - arbeitslos
arbeitslos - erwerbstätig
-0,5
-0,4
-0,3
-0,2
-0,1
0
Effektstärke
Quelle: Paul, Hassel & Moser (2006).
42
0,1
0,2
0,3
0,4
0,5
1.4 Moderierende Variablen der Bewältigung von Arbeitslosigkeit Der Arbeitsmarkt ist einerseits durch eine hohe Fluktuation, aber gleichzeitig auch durch eine starke Segmentierung charakterisiert. Schon allein nach Anlässen können vier Typen der Arbeitslosigkeit (Hradil, 2001, S. 184ff) unterschieden werden: 1. 2.
3. 4.
Friktionelle (Such-)Arbeitslosigkeit aufgrund des benötigten Zeitaufwands von Umstiegs- und Einstiegsprozessen auf dem Arbeitsmarkt. Saisonale Arbeitslosigkeit: Saisonarbeitslose verlieren aus Witterungs- oder institutionellen Gründen in der Saisonpause ihren Arbeitsplatz in bestimmten Branchen wie Land- und Bauwirtschaft oder Hotel- und Gaststättengewerbe, da die Geschäftstätigkeit zeitweise zurückgeht. Ansonsten spielen auch Ferien-, Einstellungs- oder Kündigungstermine eine wichtige Rolle (Brinkmann, Karr & Spitznagel, 1985). Konjunkturelle Arbeitslosigkeit entsteht, wenn Betriebe auf konjunkturbedingte Rückgänge der Nachfrage nach Gütern und Dienstleistungen mit Entlassungen oder Einstellungsstopps reagieren. Der strukturellen Arbeitslosigkeit liegt häufig ein langwieriger Wandel von Wirtschaftsstrukturen zugrunde. Die Hintergründe können vielfältig sein wie Verschiebungen zwischen Branchen oder vom Industrie- zum Dienstleistungssektor, technischer Fortschritt, Rationalisierung von Produktionsund Fertigungsweisen, ungleiche Entwicklung von Wirtschaftsstandorten, demografische Entwicklung usw.
Die Risiken der Arbeitslosigkeit bzw. die Chancen auf Wiedereingliederung in den Arbeitsmarkt sind regional und sozial unterschiedlich verteilt. Verminderte Beschäftigungschancen bestehen insbesondere für Arbeitslose im fortgeschrittenen Lebensalter, mit gesundheitlichen Beeinträchtigungen, fehlenden beruflichen Qualifikationen oder bei Langzeitarbeitslosigkeit. Eine aktuelle Studie zeigt, dass sich innerhalb der Personen, die zwischen 1950 bis 1954 in Westdeutschland geboren wurden, die Hälfte des gesamten Arbeitslosigkeitsvolumens auf ca. fünf Prozent der betrachteten Geburtsjahrgänge konzentriert (Möller & Schmillen, 2008). Die Arbeitslosigkeitsrisiken häufen sich bei bestimmten „Problemgruppen“ am Arbeitsmarkt. Ein Großteil der heutigen Erwerbstätigen wurde nie arbeitslos (Dundler & Müller, 2006). Wie kann nun unfreiwillige Arbeitslosigkeit am gesündesten bewältigt werden? Viele potenzielle Einflussfaktoren wurden in Moderationsanalysen untersucht, um die verschiedenen Copingstrategien von Arbeitslosigkeit und die Gesundheitsfolgen für einzelne Personengruppen zu erklären. Durch diese Analysen
43
können auch vulnerable Gruppen erkannt werden. Moderatoren werden erhoben, um im Nachhinein zu prüfen, ob das Merkmal den Einfluss einer unabhängigen auf die abhängige Variable verändert bzw. „moderiert“ (Bortz, 1999, S. 8, 750; Bortz & Döring, 1995, S. 6). Moderatorvariablen üben auf die Kausalbeziehungen einen Einfluss aus, sind aber nicht Bestandteil des eigentlichen Wirkprozesses. Allerdings muss im Vorfeld darauf hingewiesen werden, dass in der Arbeitslosenforschung die Abgrenzungen zwischen Moderator-, Mediator- und Prädiktorvariablen bisher nicht eindeutig waren. Eine Mediatorvariable erklärt einen Kausaleffekt zwischen unabhängiger und abhängiger Variable (Baron & Kenny, 1986). Eine vollständige Mediation liegt vor, wenn unter Kontrolle der Mediatorvariablen kein Einfluss mehr nachgewiesen werden kann und eine partielle Mediation, wenn der Einfluss unter Kontrolle der Mediatorvariablen teilweise reduziert wird. Eine Prädiktorvariable wird zur Vorhersage über eine andere Variable (Kriteriumsvariable) unter Verwendung der Regressionsgleichung eingesetzt (Bortz, 1999, S. 752). Winefield (1995, S. 187) weist ausdrücklich darauf hin, dass er in seiner Überblicksarbeit keine Unterschiede zwischen Moderator- und Mediatorvariablen macht „on the ground that it is far from clear which factors should be assigned to which category“. Häufig mangelte es in der Vergangenheit an empirischen Grundlagen für die Moderationsanalysen oder in den Meta-Analysen an einer genügenden Anzahl von entsprechenden Studien. Paul & Moser (2006b) machen darauf aufmerksam, dass die Moderatoreneffekte in der Vergangenheit oft unterschiedlich konzeptualisiert wurden, indem die psychische Gesundheit von zwei Arbeitslosengruppen verglichen wurde (z.B. erwachsene Arbeitslose gegen jugendliche Arbeitslose) oder die Differenzen von zwei Personengruppen (z.B. Differenz zwischen arbeitslosen Erwachsenen und erwerbstätigen Erwachsenen versus Differenz zwischen arbeitslosen Jugendlichen und erwerbstätigen Jugendlichen). Die Kategorisierung einzelner Variablen hängt zudem von dem zugrunde liegenden theoretischen Konstrukt und von den anvisierten OutcomeVariablen ab. Beispielsweise führen McKee-Ryan, Song, Wanberg und Kinicki (2005) nur für vier Variablen Moderationsanalysen durch, ordnen aber fast alle weiteren Variablen der Tabelle 1 auf Basis ihres Coping-Modells als Prädiktoren (P) zu. In ihrem Literaturüberblick zählen sie insgesamt über 100 Variablen, die mit einzelnen Indikatoren des psychischen oder physischen Wohlbefindens nach Arbeitsplatzverlust korrelieren.
44
McKee-Ryan, Song, Wanberg und Kinicki (2005, S. 56) unterscheiden die Prädiktoren, die auf das physische und psychische Wohlbefinden zielen, nach fünf Kategorien: a. b. c. d. e.
Work-Role Centrality Coping Resources Cognitive appraisal Coping strategies Human capital and demographics.
Der Einfluss einzelner Variablen wird zum Teil theoretisch unterschiedlich begründet. Für Paul, Hassel und Moser (2006, S. 49) ist die Struktur der Moderatoreffekte „in den meisten Fällen noch nicht genau aufgeklärt“. Durch die wachsende Anzahl internationaler qualitativ hochwertiger Studien wird aber zunehmend eine empirische Überprüfung der Evidenz und auch der zahlreichen Interaktionseffekte zwischen diesen Variablen möglich. Hoefert (1997) kritisierte, dass in der Arbeitslosenforschung noch die defizitorientierten Fragestellungen überwiegen. Es bestehen nur spärliche Erkenntnisgewinne über salutogenetische Faktoren und erfolgreiche Coping-Strategien zur Bewältigung der Folgen eines Arbeitsplatzverlustes. Generell fehlt noch ein systematischer Erklärungsansatz, der die häufig isoliert betrachteten Einflussvariablen mit ihren Wechselbeziehungen und verschiedenen Dimensionen in ihrer ganzen Komplexität erfasst. Die Tabelle 1 listet viele moderierende Variablen auf, die in zahlreichen Studien in der Vergangenheit diskutiert wurden. Sie greift auf Reviews von Warr, Jackson und Banks (1988), Kieselbach (1994a), Winefield (1995) sowie drei internationale Meta-Analysen zurück. Die Aufstellung zeigt die große Bandbreite und unterschiedliche Evidenz von 1. 2. 3. 4. 5. 6.
soziodemografische Variablen, erwerbsbiografische Merkmale, Ressourcen/Belastungen, Kognitionen, Problemlösestrategien und makroökonomische Variablen auf.
Wie die Tabelle 1 demonstriert, herrscht in der Forschung schon lange Konsens vor, dass eine Reihe von Moderatoren die direkte Wirkung von Arbeitslosigkeit auf den individuellen Gesundheitszustand abmildert oder verstärkt. Allerdings werden wider Erwarten viele in der Literatur diskutierte Einflussfaktoren metaanalytisch nicht verifiziert.
45
Tabelle 1:
Moderierende Variablen der Bewältigung von Arbeitslosigkeit in ausgewählten Reviews Paul McKee- (2005); Ryan, Paul et al., MurSong, Warr, phy Wan(2006); Jack& berg & Paul & son & Kiesel- Wine- AthaKiniMoser, Banks bach field nasou (2006a; cki (1988) (1994a) (1995) (1999) (2005) 2009b) Reviews Meta-Analysen
A. Soziodemografische Merkmale Alter X Geschlecht X Nationalität / Ethnische Zugehörigkeit X Sozioökonomischer Status / Soziale Klasse / ArbeiterAngestellte X Qualifikationsniveau B. Erwerbsbiografische Variablen Frühere Erfahrungen mit Arbeitslosigkeit und Stress Dauer der Arbeitslosigkeit Studien-Sample-Typ (Schulabgänger oder Erwachsener) Stress im vorherigen Job C. Ressourcen/Belastungen Soziale Unterstützung / Belastungen Finanzen Personelle Faktoren (Selbstwertgefühl, Neurotizismus, Vulnerabilität u.a.) Zeitstruktur
46
X
X
X X
X X
X X
(P) (P)
Xn.s. Xs.
X
X
(P)
Xn.s.
(P)
Xs. Xn.s.
Xs.
Xs.
X X
X X
X
Xs. X
X X
X X
(P*) (P*)
X X
(P**) (P*)
Paul McKee- (2005); Ryan, Paul et al., MurSong, (2006); Warr, phy WanJack& berg & Paul & Moser, son & Kiesel- Wine- AthaKini(2006a; Banks bach field nasou cki (1988) (1994a) (1995) (1999) (2005) 2009b) Reviews Meta-Analysen D. Kognitionen Arbeits- und Berufsorientierung, „Employment commitment“ u.ä. Ursachenattribution / Kontrollerwartung Wahrnehmung von Stress durch Jobverlust E. Problemlösestrategien Persönliches Aktivitätsniveau Hilfesuchen und Verfügbarkeit von Hilfsangeboten
X
X
X
(P*)
X
X
(P)
Xs
(P*)
X
(P)
X
(P)
F. Makroökonomische Faktoren Höhe der Arbeitslosenquote Xn.s. X X Xn.s. Soziales Sicherungssystem für Arbeitslosigkeit Xn.s. Xs. Individualismus / Kollektivismus Xn.s. Niveau der wirtschaftliche Entwicklung Xs. Einkommensungleichheit Xs. X = Moderierende Variable; (P) = Prädiktor-Variable (innerhalb der Arbeitslosengruppen, Festlegung durch die Autoren aufgrund ihres theoretischen Konzeptes) * mittlere Effektstärke (in Zusammenhang mit psychischer Gesundheit), fett markiert ** hohe Effektstärke (in Zusammenhang mit psychischer Gesundheit), fett markiert s. statistisch signifikanter Effekt, fett markiert n.s. nicht signifikant Quelle: erweitert auf Basis von Hollederer (2009b).
47
1.4.1 Soziodemografische Moderatorvariablen Soziodemografische Variablen werden in fast allen Reviews der Tabelle 1 als Moderatoren des Einflusses von Arbeitslosigkeit auf das psychische Wohlbefinden und die Gesundheit angegeben. Zu ihnen gehören vor allem die personenbezogenen Merkmale Alter, Geschlecht und nationale bzw. ethnische Zugehörigkeit. Meist werden auch das Qualifikationsniveau und die Berufszugehörigkeit zum Angestellten- oder Arbeiterbereich einbezogen. 1.4.1.1 Arbeitslosigkeit in verschiedenen Altersphasen Mit höherem Lebensalter steigt generell die Wahrscheinlichkeit des Krankheitseintritts. Auch bei Arbeitslosen nehmen die gesundheitlichen Einschränkungen mit höherem Alter in der Arbeitslosenstatistik kontinuierlich zu (BA, 2010). In einer deutschen Repräsentativerhebung zur Struktur der Arbeitslosigkeit im Frühjahr 2000 berichtete jeder zehnte Arbeitslose in der Altersgruppe bis 25 Jahre von gesundheitlichen Einschränkungen, die sich auf die berufliche Tätigkeit auswirken könnten (Hollederer, 2003a). In der Gruppe der 26- bis 35Jährigen war dieser Anteil etwas größer und lag dann für die 36- bis 45-jährigen Arbeitslosen bei knapp jedem Fünften. Bei den 46- bis 55-jährigen Arbeitslosen waren jedoch mehr als jeder Vierte und bei den 56-Jährigen und Älteren jeder Dritte von gesundheitlichen Einschränkungen betroffen. Der Anteil der Arbeitslosen mit gesundheitlichen Einschränkungen wuchs mit höherer kumulierter Arbeitslosigkeitsdauer deutlich an. Diese Tendenz ließ sich mit kleinen Zwischenanstiegen in allen Altersgruppen bis 55 Jahre beobachten. Eine Ausnahme stellte die Gruppe der 56- bis 65-jährigen Arbeitslosen dar. Hier war der Anteil der Arbeitslosen mit berufsrelevanten gesundheitlichen Einschränkungen, deren kumulierte Arbeitslosigkeit nur bis zu einem Jahr andauerte, höher als bei den Langzeitarbeitslosen. Vermutlich wurden Beschäftigte dieser Altersgruppe mit gesundheitlichen Einschränkungen stärker in die Arbeitslosigkeit als Übergangsphase zur Rente geleitet. Ein Großteil von ihnen gab an, die Zeit bis zum Renteneintritt zu überbrücken. In der differentiellen Arbeitslosigkeitsforschung wird die Bedeutsamkeit des Lebensalters bei der Bewältigung von Arbeitslosigkeit ausführlich diskutiert. Um die Zusammenhänge von Gesundheit und Alter zu kontrollieren, werden in vielen Studien die Unterschiede zwischen Arbeitslosen und Erwerbstätigen bei der psychischen Gesundheit zwischen den verschiedenen Altersstufen verglichen. In der Literatur wird häufig angenommen, dass Arbeitslose im jüngeren und mittleren Alter die Arbeitslosigkeit im Vergleich zu Älteren belastender
48
erleben, weil höhere finanzielle Verpflichtungen, mitunter für abhängige Familienmitglieder, bestehen (Winefield, 1995). Widersprüchliche Annahmen gibt es aber in der Literatur über die Wirkung von Arbeitslosigkeit bei Älteren. Unter Umständen wirkt für einen Teil der älteren Arbeitslosen die Option einer vorzeitigen Rente entlastend, während ein anderer Teil, der sehr gerne wieder arbeiten würde, sich diskriminiert oder entwertet fühlt (McKee-Ryan, Song, Wanberg & Kinicki, 2005). Mit zunehmendem Alter sinken in Deutschland die Wiedereingliederungschancen von Arbeitslosen erheblich, so dass der psychische Druck für die tatsächlich arbeitsuchenden Älteren bei einer hohen Arbeitslosigkeit relativ groß sein kann. In diesem Kontext sind auch die verschiedenen sozialrechtlichen Optionen durch unterschiedliche Rentenzugangsgrenzen für Arbeitslose zu berücksichtigen. Der Rentenzugang könnte unter Umständen resignierend oder im Gegensatz von vornherein im Lebensentwurf eingeplant – evtl. sogar mit den Betrieben gemeinsam abgesprochen - in Anspruch genommen werden. So konnten Personen, die wenigstens 60 Jahre alt sind, bis dato nach mindestens einjähriger Arbeitslosigkeit oder zweijähriger Altersteilzeit und Erfüllung der sonstigen Voraussetzungen vorgezogenes Altersruhegeld beziehen (vgl. § 237 SGB VI). Die Altersgrenzen werden derzeit schrittweise der Anhebung des Regelalters für die gesetzliche Rente angepasst. Eine große Rolle spielt dabei die Inanspruchnahme der vorruhestandsähnlichen Regelung nach § 428 SGB III, die Leistungsbezug ohne eine Verpflichtung zur Verfügbarkeit gewährt. Diese Regelung wurde im Jahr 2007 von durchschnittlich rund 254.000 Personen in Anspruch genommen. Außerdem zählen Ältere in der Freistellungsphase nach dem Altersteilzeitgesetz weiter als Beschäftigte. Im Jahr 2007 wurden rund 104.000 Personen nach dem Altersteilzeitgesetz (AtG) durch die Bundesagentur für Arbeit finanziell gefördert (BA, 2008a). Die Altersrente für schwerbehinderte Menschen wird ebenfalls früher gewährt. Jüngere Arbeitslose und Schulabgänger haben i.d.R. gleich zwei berufliche „Schwellen“ zu meistern: zuerst von der Schule in die Ausbildung und anschließend von der Ausbildung in Beschäftigung. Bei jüngeren Arbeitslosen und Schulabgängern führt die Jugendarbeitslosigkeit dazu, dass ihnen Entwicklungschancen und positive Effekte von der Erwerbstätigkeit, u.a. auch auf die psychische Gesundheit, vorenthalten werden (Kieselbach & Beelmann, 2006). Ausbildung und Beschäftigung hat „vor allem auch eine sozialisatorische Funktion in Hinblick auf die Identitätsbildung junger Menschen und ihre Emanzipation zu eigenständigen Persönlichkeiten“ (Elfter Kinder- und Jugendbericht der Bundesregierung, 2002, S. 166). Jüngere verfügen in der Regel auch über weniger eigene finanzielle Mittel und sind damit in ihren Möglichkeiten stärker abhängig von anderen Personen oder von Transfereinkommen. In einer Untersuchung von
49
Brinkmann und Potthoff (1983) ließen insbesondere jüngere männliche Arbeitslose ein schlechteres psychisches Befinden als Erwerbstätige erkennen. Im Unterschied zu Erwachsenen empfinden jugendliche Arbeitslose die durch Arbeitslosigkeit bedingte finanzielle Situation häufiger und stärker belastend (Schober, 1978). Sie ist eng mit einer verlängerten familiären Abhängigkeit und deren sozialer Kontrolle verbunden. Die Arbeitslosigkeit führt auch öfter zu Belastungen der Familienbeziehungen durch häuslichen Ärger und Vorwürfe seitens der Eltern. Nach einer neueren Wiederholungsbefragung von Jugendlichen mit Arbeitslosigkeitserfahrungen (Schels, 2007) ist die finanzielle Lage der wichtigste Einflussfaktor für das psychische Wohlbefinden. Bei jungen Männern erhöhte sich das Wohlbefinden allein mit der Arbeitsaufnahme. Bei jungen Frauen steigerte es sich, wenn noch zusätzlich eine Verbesserung der finanziellen Lage wahrgenommen wurde. In den Meta-Analysen von Moser und Paul (2001) und McKee-Ryan, Song, Wanberg und Kinicki (2005) sind bei Jugendlichen die psychischen Belastungen im Unterschied zwischen Arbeitslosen und Erwerbstätigen ausgeprägter als bei den älteren Erwachsenen. Bei der zweiten Meta-Analyse von Paul und Moser (2006a) mit der bisher umfangreichsten Studienbasis wurden aber keine signifikanten Unterschiede mehr festgestellt bzw. später nur ein marginaler Effekt (Paul & Moser, 2009b). 1.4.1.2 Arbeitslosigkeit bei Männern und Frauen Männer sind in Deutschland in etwas stärkerem Maße von Arbeitslosigkeit betroffen als Frauen. Im Jahresdurchschnitt 2005 betrug die Arbeitslosenquote bei den Männern in Westdeutschland 11,3 % bzw. in Ostdeutschland 21,3 % und bei den Frauen in Westdeutschland 10,7 % bzw. in Ostdeutschland 19,7 % (bezogen auf die abhängigen zivilen Erwerbspersonen) (BA, 2006b). Auffällig ist in diesem Zusammenhang die höhere Verweildauer in der Arbeitslosigkeit bei Frauen trotz der im Vergleich niedrigeren Arbeitslosenquote. Frauen sind mit 41,9 Wochen im Durchschnitt deutlich länger arbeitslos als Männer mit einer durchschnittlichen Arbeitslosigkeitsdauer von 37,9 Wochen im Jahr 2005 (BA, 2006b). Nach den registrierten Abgangsgründen kehren Frauen seltener als Männer in die Beschäftigung zurück. Gut ein Drittel der aus Arbeitslosigkeit abgegangenen Frauen mündete im Jahr 2005 in die Nichterwerbstätigkeit, bei den Männern war es gut ein Viertel der Abgänge (BA, 2006c). Bei der Vermittlung in Arbeit sind die Aus- und Herkunftsberufe von Arbeitslosen relevant. Während Männer stärker in industriell geprägten Branchen tätig sind, arbeiten Frauen bevorzugt in Dienstleistungsberufen, insbesondere in den Wirtschafts-
50
branchen Gesundheits- und Sozialwesen, Erziehung und Unterricht, öffentliche Verwaltung und Gastgewerbe (BA, 2006b). In Deutschland lag die Frauenerwerbsquote (die erwerbstätige und erwerbslose Frauen berücksichtigt) im Jahr 2004 bei 66 Prozent und damit über dem Durchschnitt der EU-Staaten (BA, 2006b). Die Erwerbsquote von Frauen ist in den letzten Jahren in Deutschland kontinuierlich gestiegen. Bei Männern stagnierte sie dagegen in den letzten fünfzehn Jahren bundesweit nahezu unverändert bei rund 80 Prozent. Als Indikatoren für die Teilhabe an Arbeit sind neben den Erwerbsquoten aber die Arbeitszeit und das Arbeitsvolumen einzubeziehen, da fast ein Drittel der Frauen und knapp 5 % der Männern in Teilzeit arbeiten (BA, 2006b). Nach der Arbeitszeitrechnung des IAB waren 49 % der Beschäftigten im Jahr 2004 Frauen, die zu 41 Prozent des gesamtwirtschaftlichen Arbeitsvolumens beitrugen (Wanger, 2006). Die heutige bundesweite Frauenbeschäftigungsquote liegt noch unter der der ehemaligen DDR, aber natürlich weit über der vor dem 2. Weltkrieg. Das spiegelt sich auch in der Betrachtung der Arbeitslosenstatistik wider. Während im Jahr 2007 arbeitslose Frauen rund die Hälfte (45 %) des durchschnittlichen Arbeitslosenbestands in Deutschland ausmachten (BA, 2010), lag der Anteil der arbeitsuchenden Frauen in der Weimarer Republik (gemäß Abbildung 1) in den Jahren 1928 bis 1930 in etwa bei einem Fünftel. Die unterschiedliche Zusammensetzung des Arbeitslosenbestandes im Zeitverlauf ist auch bei der Interpretation der Ergebnisse in der Arbeitslosenforschung zu berücksichtigen. Die Forschung konzentrierte sich vormals fast ausschließlich auf arbeitslose Männer (vgl. Leana & Feldman, 1991; Mohr, 1997), da eine höhere Belastung der Männer durch die gesellschaftlich zentrale Bedeutung der Erwerbsarbeit und die internalisierte Verpflichtung als Hauptverdiener die Familie ernähren zu müssen, unterstellt wurde. Außerdem stellten Männer eben den Hauptanteil der Arbeitslosen. Die in der Historie unterschiedlichen Frauenbeschäftigungsquoten und die hohen Teilzeitanteile von Frauen sind in engem Zusammenhang mit der traditionellen Aufteilung von Erwerbs- und Familienarbeit und den Vorstellungen eines Normalarbeitsverhältnisses mit dem (Ehe-)Mann als Haupternährer zu sehen. Die geschlechtsspezifischen Rollenanforderungen bilden - mehr oder weniger den Kontext für die Erwerbsbeteiligung von Frauen mit ihren unterschiedlichen Beschäftigungsformen und auch für ihre Bewältigung von Arbeitslosigkeit und ihre soziale Absicherung. In der Arbeitslosigkeitsforschung implizierte dieses traditionelle Rollenmodell für Frauen eine gesellschaftlich akzeptierte Alternativrolle zur Arbeitslosigkeit, die die Frauen weniger gesundheitlich beeinträchtigen könnte. Mohr (1997) hielt diese Einschätzung nach Sichtung der internationalen Forschungsliteratur für empirisch gering abgesichert und differenzierte die Konzeption der „Alternativrolle“ Hausfrau und Mutter in verschiedenen Erklä-
51
rungsmustern weiter aus. Sie kam zu dem Resümee, dass der Hausfrauenstatus temporär eine positive Funktion unter bestimmten günstigen Bedingungen erfüllen könnte, dessen langfristiger Effekt aber entschieden wird, wenn die Notwendigkeit des Wiedereinstiegs in den Arbeitsmarkt ansteht. Winefield bewertete bereits 1995 den damaligen Forschungsstand über die Geschlechtsunterschiede bei den psychischen Reaktionen auf Arbeitslosigkeit als insgesamt widersprüchlich und schlussfolgerte, dass die Variable Geschlecht mit anderen Moderatoren zu interagieren scheint. Auch Warr, Jackson und Banks (1988) warnten vor einfachen Vergleichen zwischen arbeitslosen Männern und Frauen. Sie gingen davon aus, dass der Einfluss der Arbeitslosigkeit auf Disstress, Selbstwertgefühl und Lebenszufriedenheit bei beiden Geschlechtern ähnlich ist, sich aber die Rollen durch beruflichen Hintergrund oder familiären Status unterscheiden könnten und daher nur Subgruppen verglichen werden sollten. Paul, Hassel und Moser (2006) und Paul und Moser (2009b) fanden in ihren Meta-Analysen einen hochsignifikanten und starken Moderatoreffekt für die Variable Geschlecht. Ein hoher Frauenanteil in den Stichproben geht mit weniger psychischen Auswirkungen von Arbeitslosigkeit einher. Ein Interaktionseffekt mit dem Familienstand („verheiratet“) konnte dabei nicht festgestellt werden. Die Autoren interpretierten den Moderatoreffekt dahingehend, dass in der Arbeitslosigkeit nur geringe Unterschiede zwischen den Geschlechtern bezüglich der psychischen Gesundheit bestehen, die Männer aber stärker von der Erwerbsarbeit profitieren. Grobe und Schwartz (2003) stellten anhand von Krankenkassendaten zu den Gesundheitsunterschieden zwischen Arbeitslosen und Erwerbstätigen in Deutschland fest, dass es bei Männern insbesondere eine Rolle spielt, ob sie Hauptverdiener für eine Haushaltsgemeinschaft sind. McKee-Ryan, Song, Wanberg und Kinicki (2005) errechneten dagegen nur eine geringe Korrelation zwischen Geschlecht und psychischer Gesundheit, die aber in die gegenläufige Richtung verlief. Alles in allem bestehen widersprüchliche Anhaltspunkte für signifikante geschlechtsspezifische Unterschiede von Arbeitslosen hinsichtlich psychologischer Outcome-Variablen wie Coping-Strategien und psychischer Gesundheit (mit Komponenten wie Angstsymptomen, Depressivität, subjektivem Wohlbefinden, Lebenszufriedenheit, Externalität und Selbstwertgefühl). Bei vielen anderen Indikatoren wird aber in vergleichenden Studien in Deutschland die Gesundheit von arbeitslosen Männern häufig wesentlich negativer als von arbeitslosen Frauen angegeben. Solche Gesundheitsunterschiede existieren vor allem bei Gesundheits-, Vorsorge und Suchtverhalten sowie bei Variablen, die besonders die physische Gesundheit betreffen, wie die vermittlungsrelevanten gesundheitlichen Einschränkungen, Behinderungen, Unfällen, Inanspruchnahme von ambulanten
52
oder stationären Leistungen. Im Kapitel 2.1 wird darauf noch im Detail eingegangen. International werden ähnliche Divergenzen beobachtet. Hammerström und Janlert (2006) stellten in einer schwedischen Studie bei Schulabgängern fest, dass Arbeitslosigkeit die Unterschiede in der psychischen Gesundheit zwischen den Geschlechtern zunehmend nivelliert, aber die Abstände beim Gesundheitsverhalten größer geworden sind. Sie resümieren, dass generell großer Forschungsbedarf besteht, um zukünftig zu einer kritischeren Analyse der Inkonsistenzen und Komplexität in den Mustern geschlechtsspezifischer Gesundheitsunterschiede zu kommen. 1.4.1.3 Arbeitslosigkeit nach Staatsangehörigkeit und ethnischer Zugehörigkeit In der deutschen Forschung zur Bewältigung von Arbeitslosigkeit fand bislang der Kontext von Migration und Nationalität wenig Beachtung. Dabei war die deutsche Nachkriegsgeschichte geprägt durch verschiedene und sehr große Einwanderungswellen, bei denen es sich mit Ausnahme der Kriegsvertriebenen zum Großteil um Arbeitsmigration handelte. Diese Zusammenhänge werden hier ausführlicher erörtert, da der Mikrozensus 2005 viele neue Fragen ins Programm aufgenommen hat, um den Migrationshintergrund der interviewten Personen adäquat und besser als bislang zu erfassen. So ist es mit dem Mikrozensus 2005 möglich, Menschen mit Migrationshintergrund über den Geburtsort und nicht nur die Nationalität in Deutschland zu identifizieren. Zwischen 1960 und 1999 sind in Westdeutschland rund 30 Millionen Menschen zugewandert, aber auch 21 Millionen wieder fortgezogen (Bundesamt für Migration und Flüchtlinge, 2005). Die erste Zuwanderung setzte am Ende des 2. Weltkrieges durch Vertreibung und Deportation ein. Fast acht Millionen Flüchtlinge wurden in der westlichen Besatzungszone und dreieinhalb Millionen in Ostdeutschland bis 1949 integriert. Mit dem „deutschen Wirtschaftswunder“ stieg später der Arbeitskräftebedarf in Westdeutschland und es erfolgte die Anwerbung von meist formal gering qualifizierten Gastarbeitern bis 1973. Die Gastarbeiter stammten vor allem aus den Herkunftsländern Türkei, Jugoslawien, Italien, Griechenland, Spanien und Portugal. Von 1961 bis 1973 erhöhte sich die Zahl der ausländischen Erwerbstätigen von 550 Tausend auf 2,6 Millionen (Bundesamt für Migration und Flüchtlinge, 2005). Als dritte große Zuwanderungsbewegung immigrierten (Spät-)Aussiedler, insbesondere Anfang der 90er Jahre. Sie galten als Personen mit deutscher Volkszugehörigkeit und konnten durch bilaterale Verträge und in Anwendung des Art. 116 Grundgesetz aus Ländern des ehemaligen Ostblocks in die Bundesrepublik Deutschland übersiedeln.
53
Die Herkunftsländer waren anfangs vor allem Rumänien, Polen oder Ungarn. Mehr als vier Millionen (Spät-)Aussiedler sind seit 1950 auf diese Weise in die Bundesrepublik gekommen (Bundesamt für Migration und Flüchtlinge, 2005). Mittlerweile kommen (Spät-)Aussiedler durchweg aus den früheren Sowjetrepubliken. Die Hochphase der Aussiedlerzuzüge fand nach dem Fall der Mauer ab 1989 statt und war geprägt von einer parallelen Zunahme von Asylbewerbern und einer hohen Migration von Ostdeutschen nach Westdeutschland. Diese umfassenden Zuwanderungen erfolgten in einer Zeitphase, in der sich die Wirtschaftslage und der Arbeitsmarkt in Deutschland allmählich verschlechterten. In Deutschland sind Ausländer überproportional und anhaltend von Arbeitslosigkeit betroffen. Die Arbeitslosenquote von Ausländern stieg im Jahr 2005 auf einen historischen Höchststand von 25,2 % (BA, 2006d) und lag damit fast doppelt so hoch wie die durchschnittliche Arbeitslosenquote (bezogen auf abhängige Erwerbspersonen). Von den arbeitslosen Ausländern lebten nur 13,4 % in Ostdeutschland, allerdings betrug die Arbeitslosenquote von Ausländern dort sogar 45,2 % (BA, 2006d). Weitergehende aktuelle Analysen der Arbeitsmarktintegration von Migranten finden sich im 6. Ausländerbericht der Bundesregierung von 2005, in der OECD-Studie „Die Arbeitsmarktintegration von Zuwanderern in Deutschland“ (2005) und in einem Analytikbericht der BA-Statistik (BA, 2006e). Trotz dieser negativen Befunde beurteilen Rürup und Sesselmeier (2001) den deutschen Arbeitsmarkt aber als „nicht ethnisch segmentiert“, sondern sehen in der ungünstigeren Humankapitalausstattung von Zuwanderern die Ursache für die „überproportional häufige Positionierung am unteren Ende des Arbeitsmarkts“. In der Tat hatten drei von vier der 2005 registrierten arbeitslosen Ausländer keine abgeschlossene Berufsausbildung (BA, 2006c). Bei den deutschen Arbeitslosen war es lediglich rund jeder Dritte. Außerdem sind Ausländer laut Rürup und Sesselmeier (2001) vom Strukturwandel stärker betroffen, da viele ihrer ursprünglichen Arbeitsplätze in der industriellen Massenfertigung und in der Schwerindustrie verloren gegangen sind. Nach der OECD-Studie (2005) scheinen sich zudem die Integrationsprobleme auf die Kinder der Zuwanderer bzw. die in Deutschland geborene zweite Generation zu tradieren und im internationalen Vergleich zu ungünstigeren Bildungs- und Beschäftigungschancen zu führen. Sie benennt als „Kernprobleme“
54
die Qualifikationsstruktur der in Deutschland geborenen und zugewanderten Bevölkerung das Bildungsniveau der Eltern und dessen Auswirkungen auf die Bildungsergebnisse der Kinder in Verbindung mit dem Spracherwerb von Zuwandererkindern
die Teilnahme der Migranten an der dualen Berufsausbildung und den Zugang von Migranten zur Selbstständigkeit.
Zur vollständigen Beschreibung der Integration von Migranten besteht in Deutschland ein Datendefizit, weil die meisten offiziellen Statistiken als Personenmerkmal nur die Nationalität und nicht zusätzlich den Geburtsort erfassen. Die Arbeitsmarktintegration ist über das Merkmal der Nationalität und anhand der in Deutschland lebenden Ausländer (als Bezeichnung nichtdeutscher Staatsangehöriger) lediglich partiell zu beschreiben. Als „Personen mit Migrationshintergrund“ sind sowohl Ausländer als auch direkt zugewanderte deutsche Staatsangehörige (Spätaussiedler, eingebürgerte Ausländer) sowie die nicht direkt Zugewanderten bzw. die in Deutschland geborenen Kinder dieser Gruppen zu berücksichtigen. Die Migration erfordert komplexe Anpassungsprozesse an neue gesellschaftliche, soziale und kulturelle Lebensbedingungen und ist daher vielfach mit psychischen Belastungen verbunden. Der individuelle Verarbeitungsprozess dieses psychosozialen Stressors ist aber in erheblichem Ausmaß durch die gesetzlichen Rahmenbedingungen, den psychosozialen Kontext und auch durch die Sicherheit des Aufenthalts mitbestimmt. Über die Zusammenhänge von Migrationsstatus und psychosozialer Bewältigung von Arbeitslosigkeit gibt es wenige gesicherte Befunde. Festgestellte Unterschiede werden in der Literatur vorsichtig interpretiert, da sie evtl. durch Variablen wie sozioökonomischer Status bzw. soziale Klasse oder durch vorhandene finanzielle Ressourcen überlagert werden (Winefield, 1995; Warr, Jackson & Banks, 1988). Die Meta-Analysen von McKee-Ryan, Song, Wanberg und Kinicki (2005) und Paul, Hassel und Moser (2006) bzw. Paul und Moser (2009b) konnten aber keine signifikanten Unterschiede feststellen. In der deutschen Arbeitslosenstatistik ist überraschenderweise der Anteil der Arbeitslosen mit vermittlungsrelevanten gesundheitlichen Einschränkungen bei den Ausländern mit 16,5 % deutlich geringer als bei den Deutschen (ohne Spätaussiedler) mit 23,4 % im Arbeitslosenbestand vom September 2005 (BA, 2006d, S. 192). Mit großem Abstand ist er am niedrigsten bei den Spätaussiedlern, von denen nur 5,7 % gesundheitliche Einschränkungen in der Arbeitslosenstatistik aufweisen. Möglicherweise schlägt sich gerade bei den vor kurzem zugewanderten Spätaussiedlern ein sogenannter „healthy migrant effect“ nieder. Das Konzept des „healthy migrant effects“ wird in der Wissenschaft kontrovers diskutiert und ist nicht unumstritten (vgl. Ingleby et al., 2005; Razum, 2006). Danach wären Immigranten im Durchschnitt gesünder als die autochthone Bevölkerung, weil mit der Migration eine Selektion verbunden ist. Menschen, die nicht ganz gesund
55
sind, neigen in geringerem Maße zur Migration oder es kommt zu einer Vorauswahl durch das Personaleinstellungsverfahren. Auswanderer gehören tendenziell zu den jüngeren und körperlich fitten Menschen des Herkunftslandes. Es gibt aber auch Beobachtungen, die gegen einen „healthy migrant effect“ sprechen. So gibt es Studien, die deutlich schlechtere Gesundheitszustände von Migranten im Vergleich zur autochthonen Bevölkerung belegen (Weilandt et al., 2000; Krones, 2001; Landtag NRW, 2004; Rommel, Weilandt & Eckert, 2006; u.a.). Eine konfundierende Variable stellen in diesem Zusammenhang die Sprachkenntnisse dar. Eingeschränkte Deutschkenntnisse werden häufig als Barriere für den Zugang sowohl zum Arbeitsmarkt als auch zum Gesundheitswesen berichtet. Sie wirken sich aber auch schon bei der Stellensuche bei Arbeitsuchenden aus (Nivorozhkin, Romeu Gordo, Schöll & Wolff, 2006) und beeinflussen die Suchintensität und Suchwege. Je besser die deutschen Sprachkenntnisse sind, desto eher werden von Arbeitsuchenden schriftliche Stellenanzeigen in Zeitungen oder im Internet wahrgenommen und sich darauf beworben. Eine Rolle spielt die Mehrsprachigkeit, denn erwerbslose Migranten, die zu Hause überwiegend eine Fremdsprache sprechen, sind bei der Stellensuche passiver als andere Arbeitslose. 1.4.1.4 Sozioökonomischer Status Die soziologischen Konstrukte kontinuierlicher Statushierarchien bzw. kategorialer Schemata wie soziale Schichten, soziale Klassen, sozioökonomischer Status oder Berufsprestige versuchen, gesellschaftliche Ungleichheit zu konzeptualisieren und die Lage von Personengruppen innerhalb einer gesellschaftlichen Sozialstruktur zu erfassen. Diese Konstruktionen gehen von theoretischen Grundannahmen und soziologischen Grundbegriffen aus. In der Praxis wird die soziale Lage in empirischen Arbeiten deshalb sehr unterschiedlich operationalisiert und ist nicht einfach vergleichbar. Die Erhebung von solchen Sozialdaten änderte sich zudem stark im Zeitverlauf und ist auch im internationalen Vergleich bedingt durch nationale Datenquellen sehr unterschiedlich. Die Arbeitslosenforschung konzentrierte sich in den früheren Studien auf arbeitslose (Industrie-)Arbeiter und bezog erst später Angestellte ein. Damit konnten zwei Statusgruppen verglichen werden. In vergleichenden Untersuchungen zu Auswirkungen auf die psychische Gesundheit fanden sich aber meist keine signifikanten Unterschiede zwischen Arbeitern und Angestellten (Warr, Jackson & Banks, 1988). Paul, Hassel und Moser (2006) konstatierten einen schwach moderierenden Trend in ihrer Meta-Analyse, der sich später unter studienkontrollierten Bedingungen als signifikant herausstellte (Paul & Moser, 2009b).
56
In empirischen Forschungsarbeiten zeigt sich generell ein Zusammenhang zwischen sozioökonomischem Status und subjektivem Wohlbefinden (Pinquart & Sörensen, 2000). Sowohl das Arbeitslosigkeitsrisiko als auch Krankheitsrisiken sind mit sozialer Ungleichheit assoziiert. Menschen aus schwächeren sozialen Schichten haben zum einen bei vielen Gesundheitsindikatoren schlechtere Werte als der Durchschnitt der Bevölkerung (vgl. RKI, 2006). Zum anderen ist das Arbeitslosigkeitsrisiko höher bei Menschen mit niedriger Qualifikation (Reinberg & Hummel, 2005, 2007). Die soziale Lage sollte daher bei vergleichenden Untersuchungen zum Gesundheitszustand zwischen Arbeitslosen und Erwerbstätigen als Moderatorvariable möglichst berücksichtigt werden. Massenarbeitslosigkeit hat Auswirkungen auf die Sozialstruktur in der Bevölkerung und vergrößert sozioökonomische Unterschiede (Brenner, 2006). Regionen mit hoher Arbeitslosigkeit sind mehrfach benachteiligt. Studien zeigen anhand der so genannten „Lohnkurve“, dass mit dem Niveau der regionalen Arbeitslosigkeit die Durchschnittslöhne sinken (Blien, 2003). Für das Gemeinwesen resultieren daraus Steuerausfälle und für die Sozialversicherungen sinkende Sozialversicherungsbeiträge. Bei Beschäftigten wächst die Arbeitsplatzunsicherheit, die selbst gesundheitlich belasten kann (Ferrie, 2006). Personalabbau und Umstrukturierungen in Unternehmen verschlechtern die gesundheitliche Befindlichkeit der am Arbeitsplatz Verbliebenen (Kieselbach, Beelmann & Jeske, 2006). Bei anhaltender Massenarbeitslosigkeit emigriert vor allem die jüngere Erwerbsbevölkerung wie in vielen Regionen Ostdeutschlands (Grobecker, Krack-Roberg & Sommer, 2007). Die gesetzliche Krankenversicherung ist mehrfach von den Auswirkungen hoher Arbeitslosigkeit betroffen sein. Niedrigere Löhne bedeuten geringere Sozialversicherungsbeiträge von den Beschäftigten und Arbeitgebern auf der Einnahmenseite. Für die Krankenversicherung der Arbeitslosen zahlt die Arbeitslosenversicherung nur einen politisch festgelegten Pauschalsatz, der die Durchschnittskosten nicht abdeckt. Wenn die Kausalitätshypothese zutrifft, steigen durch eine mögliche Verschlechterung des Gesundheitszustandes von Arbeitslosen tendenziell die Kosten durch steigende Inanspruchnahme von Versorgungsleistungen oder höheren Arzneimittelverbrauch. Bei der Konstruktion von sozialer Schicht ist im Falle der Arbeitslosigkeit folgendes Methodikproblem und eine mögliche Verzerrung zu beachten: Wenn soziale Schicht über die gängigen Sozialschichtindikatoren Einkommen und Stellung im Beruf (Erwerbsstatus) neben Bildung operationalisiert wird, determiniert die Arbeitslosigkeit i.d.R. den Sozialstatus mit (vgl. Empfehlungen DAE, GMDS, DGSMP, 2004). Klassifikationen des sozioökonomischen Status wie die Klassen der Europäischen Sozioökonomischen Klassifikation (ESeC) bilden für Erwerbslose sogar eine eigene Klasse und schließen sie damit konzeptionell für
57
die weiteren Analysen der Stellung im Erwerbsleben und der Art der Beschäftigung aus (Müller, Wirth, Bauer & Weiss, 2007). Bammann und Helmert (2000, S. 161) machen darauf aufmerksam, dass unter methodischen Gesichtspunkten bei der Erforschung des Zusammenhangs zwischen sozialer Ungleichheit und Gesundheit der Faktor Arbeitslosigkeit und zwischen Arbeitslosigkeit und Gesundheit der Faktor sozioökonomischer Status eingeht. Das Zusammenwirken von Arbeitslosigkeit und sozioökonomischem Status ist bislang wenig erforscht, in den meisten multivariaten Studien bleibt einer der beiden Faktoren unkontrolliert. Bei den wenigen Studien, die den sozioökonomischen Status von Arbeitslosen berücksichtigen, sind die Unterschiede zwischen den Statusgruppen allerdings in der Tendenz eher klein und nicht konsistent (Winefield, 1995; Paul, Hassel & Moser, 2006). Auch in einer Sekundäranalyse von repräsentativen Daten der deutschen Herz-Kreislauf-Präventionsstudie (DHP) wird ein Teil der Korrelation zwischen Arbeitslosigkeit und einem schlechten subjektiven Gesundheitszustand durch eine niedrigere Sozialschicht erklärt, es bleibt jedoch ein unabhängiger negativer Effekt der Arbeitslosigkeit bestehen (Bammann & Helmert, 2000). Diese Tendenz zeigt sich ebenfalls in einer Auswertung des Bundesgesundheitssurveys 98 von Rose und Jacobi (2006). 1.4.1.5 Qualifikationsniveau Je höher die formale Qualifikation ist, desto niedriger ist allgemein das Arbeitslosigkeitsrisiko. Akademiker haben das kleinste Arbeitslosigkeitsrisiko (Reinberg & Hummel, 2005). Mit einer Arbeitslosenquote von 4,0 Prozent (bezogen auf alle zivilen Erwerbspersonen) im Jahr 2004 erreichen sie fast Vollbeschäftigung. Sie verdienen zudem mehr als andere und besitzen häufig die besseren Arbeitsplätze. Auch die Arbeitslosenquote der mittleren Qualifikationsebene mit abgeschlossener beruflicher Ausbildung liegt mit 9,9 % noch unterhalb des Durchschnitts, aber schon deutlich über der von Akademikern. Die Personen ohne Berufsabschluss tragen mit deutlichem Abstand das größte Arbeitslosigkeitsrisiko mit einer qualifikationsspezifischen Arbeitslosenquote von 24,6 %. Während der Arbeitslosigkeit sind aber die psychosozialen und auch die finanziellen Belastungen vor allem bei Arbeitslosen ohne Ausbildung groß (Brinkmann, 2004). Hinzu kommt, dass die Langzeitarbeitslosigkeit selbst einen Verfall an beruflichen Qualifikationen mit sich bringen kann. McKee-Ryan, Song, Wanberg und Kinicki (2005) fanden eine entsprechende Assoziation innerhalb der Arbeitslosengruppe bei der Bewältigung von Arbeitslosigkeit. Paul, Hassel & Moser (2006) konnten aber im Vergleich zu Be-
58
schäftigten keinen entsprechenden Effekt des Qualifikationsniveaus auf die psychische Gesundheit ermitteln. Die Gesamtschau aller diskutierten soziodemografischen Moderatorvariablen legt offen, dass ihre potenziellen Einflussnahmen bei der Wirkung von Arbeitslosigkeit auf die Gesundheit zwar breiten Raum in der Literatur einnimmt und stark problematisiert wird, diese sich aber wie beim Alter, ethnischer Zugehörigkeit und Qualifikationsniveau gar nicht oder nur wenig meta-analytisch absichern lassen. Ihre Bedeutung steht offensichtlich gegenüber den nachfolgenden Determinantengruppen zurück. 1.4.2 Erwerbsbiografische Merkmale Die individuelle Dauer der Arbeitslosigkeit wird meistens als moderierender Faktor in die Untersuchung einbezogen (Tabelle 1). Das Hauptaugenmerk liegt dabei oft auf der Gruppe der Langzeitarbeitlosen (s. Kap. 3.2). Die Risiken für einen weniger guten Gesundheitszustand und psychosoziale Belastungen vergrößern sich in Abhängigkeit von der Dauer der Arbeitslosigkeit. Das belegen etliche deutsche Studien (Brinkmann, 1984; Bammann & Helmert, 2000; Grobe & Schwartz, 2003; Hollederer, 2003a u.a.) und die amtliche Arbeitslosenstatistik (BA, 2010). Wie bei gesetzlich Krankenversicherten nachgewiesen, erhöht sich das Risiko der Sterblichkeit in Abhängigkeit von der Dauer der Arbeitslosigkeit (Schach et al., 1994; GEK, 1999; Grobe, 2006). Deutschland weist im internationalen Vergleich einen besonders hohen Anteil von Langzeitarbeitslosen am Arbeitslosenbestand auf. Er betrug in Westdeutschland 33,8 % und in Ostdeutschland 41,4 % im Jahresdurchschnitt 2005 (BA, 2006c, S. 27). Alles in allem ist meta-analytisch nach heutigem Wissensstand zweifelsfrei abgesichert, dass längere Arbeitslosigkeit (von mindestens sechs Monaten) mit signifikant geringerer psychischer Gesundheit einhergeht (Moser & Paul, 2001; McKeeRyan, Song, Wanberg & Kinicki, 2005; Paul, Hassel & Moser; 2006). Dieser Befund steht auch in Einklang mit theoretischen Modellen, die z.B. eine Reduktion der finanziellen und sozialen Ressourcen sowie Dequalifizierungsprozesse mit der Verweildauer in Arbeitslosigkeit unterstellen. Paul, Hassel und Moser (2006) überprüften auch das Vorhandensein eines etwaigen kurvilinearen Effekts, da eine sehr lang anhaltende Arbeitslosigkeit auch einen Adaptationsprozess und Gewöhnungseffekte implizieren könnte. Das Resultat war aber negativ. Obwohl Arbeitsplatzverlust generell ein sehr negatives Ereignis ist, wurde schon in einigen Fällen beobachtet, dass die eingetretene Arbeitslosigkeit zunächst auch positiv erlebt werden kann (vgl. Winefield, 1995; Frese, 2008). Bei
59
einer Minderheit der Arbeitslosen kann unter der Bedingung, dass der vorherige Job sehr stressig war, die Arbeitslosigkeit zur Verbesserung der psychischen oder physischen Gesundheit führen. Brinkmann und Potthoff (1983) stellten ebenfalls bei einer Wiederholungsbefragung in Deutschland fest, dass sich der physische Gesundheitszustand zu Beginn einer Arbeitslosenperiode etwas verbessern kann, wenn der letzte Arbeitsplatz gesundheitlich belastend war. Die Arbeitslosigkeit wirkte vorläufig erleichternd. Bei länger andauernder Arbeitslosigkeit verschlechterte sich der physische und psychische Gesundheitszustand im Durchschnitt deutlich. Die Dauer der Arbeitslosigkeit verändert aber die Qualität des Zustandes Arbeitslosigkeit selbst, da die Chancen auf Reintegration sinken (Schultz-Gambard & Balz, 1998). Kieselbach (1994a) zieht überdies in Erwägung, dass erwerbsbiografisch eine frühere gelungene Bewältigung von Arbeitslosigkeit den Effekt einer erneuten Arbeitslosigkeit relativieren und eine vorher nicht erfolgreiche Bewältigung den Antizipationsstress erhöhen könnte. 1.4.3 Ressourcen und Belastungen bei der Bewältigung von Arbeitslosigkeit Die Ressourcen und Belastungen können die negativen Effekte der Arbeitslosigkeit auf das psychische Befinden moderieren. Für die individuelle Bewältigung der Arbeitslosigkeit sind daher die finanziellen als auch sozialen und personalen Faktoren allgemein von Relevanz. 1.4.3.1 Finanzen und soziale Sicherung In der Handlungs-Restriktionstheorie von Fryer (1986) wird den finanziellen Restriktionen hohe Bedeutung zugemessen. Im Vitaminmodell von Warr (1987) bildet die Finanzlage einen von neun Einflussfaktoren. Auch nach den Theorien zur „sozialen Exklusion“ führt Arbeitslosigkeit zu einem Mangel an finanziellen Ressourcen und zu einem niedrigeren Lebensstandard, was dann die Wiedereingliederungschancen erschwert (Gallie, Paugam & Jacobs, 2003). Die Forschungsfrage, ob sich die gesundheitsbelastenden Auswirkungen von Arbeitslosigkeit stärker durch die finanziell-materiellen oder durch die psychosozialen Aspekte erklären lassen, ist aber noch ungeklärt (Wacker, 2001b; Ullah, 1990). Außerdem ist offen, ob sich die Finanzlage direkt oder indirekt auf die psychische Gesundheit auswirkt und ob dabei die objektive oder die subjektiv wahrgenommene finanzielle Belastung entscheidend ist (Ullah, 1990). Eine große Anzahl von Untersuchungen bestätigt aber übereinstimmend eine Korrelation zwi-
60
schen psychischem Disstress und mangelnden finanziellen Ressourcen, Lohnersatzleistungen oder Belastungen durch Schulden (Überblicke Ullah, 1990; Jones, 1991; Winefield, 1995; McKee-Ryan, Song, Wanberg & Kinicki, 2005). Arbeitslosigkeit ist trotz der entwickelten sozialen Sicherungssysteme nach wie vor einer der Hauptrisikofaktoren für Armut. Durch den Arbeitsplatzverlust müssen i.d.R. Arbeitslose erhebliche finanzielle Einbußen im Einkommen und damit einen Verlust an Ressourcen hinnehmen. Das Armutsrisiko 2 von Arbeitslosen steigt in Deutschland derzeit stark an. Es erhöhte sich laut zweitem und drittem Armuts- und Reichtumsbericht der deutschen Bundesregierung (2005, 2008) von 33 Prozent im Jahr 1998 auf 41 Prozent im Jahr 2003 und kletterte danach auf 43 Prozent im Jahr 2005. Die Armutsrisikoquote von Arbeitslosen war damit in 2005 mehr als dreimal so groß wie die der Gesamtbevölkerung (mit 13 %). Ein erhöhtes Armutsrisiko und starke finanzielle Einbußen bedeuten aber nicht, dass sich Arbeitslosigkeit mit dem sozialen Tatbestand der Armut komplett deckt. Für den Bezug des Arbeitslosengeldes I nach dem SGB III ist das vor Eintritt der Arbeitslosigkeit erzielte Bruttoarbeitsentgelt maßgeblich, um den Lebensstandard zu sichern, während sich die Höhe des Arbeitslosengeldes II pauschal nach dem Gesamtbedarf abzüglich der jeweils anrechenbaren Einkommen und Vermögen richtet. Außerdem wird von jedem Mitglied der Bedarfsgemeinschaft des Arbeitslosengeld II-Empfängers erwartet, dass es sein Einkommen und Vermögen zur Deckung des Gesamtbedarfs aller Angehörigen der Bedarfsgemeinschaft einsetzt. Der Anteil der Leistungsempfänger nach dem SGB II oder SGB III am Bestand der Arbeitslosen liegt aufgrund der verschiedenen Regelungen daher bei 83,5 % in 2005 (BA, 2006a, S. 88). Die nicht erwerbsfähigen Mitglieder in der Bedarfsgemeinschaft bekommen Sozialgeld. Die Anspruchsvoraussetzungen für Arbeitslosengeld II sind also viel enger gefasst und der Durchschnittsbetrag liegt deutlich unter dem des Arbeitslosengeldes I. In 2005 betrug in Deutschland der monatliche Durchschnittsbetrag des Arbeitslosengeldes I 770 Euro und der des Arbeitslosengeldes II für eine Bedarfsgemeinschaft 621 Euro jeweils ohne Sozialversicherungsbeiträge bzw. -zuschüsse und einmalige Leistungen (BA, 2006a, S. 76-78). Die Bandbreite der Auszahlungsbeiträge ist aber bei beiden Leistungsarten groß. An diesem Beispiel und auch anhand internationaler Analysen zeigt sich die Armutsgefährdung durch Arbeits-
2 Die Armutsrisikoquote „ist definiert als Anteil der Personen, deren bedarfsgewichtetes Nettoäquivalenzeinkommen weniger als 60% des Mittelwerts (Median) aller Personen beträgt. Dieser Grenzwert wird auch als Armutsrisikogrenze oder –schwelle bezeichnet. Damit ist die mittlere Einkommenssituation die Referenzgröße. Dem Risiko der Einkommensarmut unterliegt also, wer einen bestimmten Mindestabstand zum Mittelwert der Gesellschaft aufweist“ (Glossar im drittem Armuts- und Reichtumsbericht der deutschen Bundesregierung, 2008, S.266).
61
losigkeit, die aber in enger Verbindung mit den sozialstaatlichen Sicherungssystemen gesehen werden muss (Stelzer-Orthofer, 2001). Überschuldung ist bei Arbeitslosen aber nicht nur eine Ressourcenfrage, sondern kann auch ein eigenständiges schwerwiegendes Vermittlungshemmnis darstellen. Überschuldung des Arbeitnehmers kann unter Umständen schon im Vorfeld der Arbeitslosigkeit zum Verlust eines Arbeitsplatzes beitragen, weil auch Arbeitgebern Belastungen z.B. durch offen gelegte Gehaltsabtretungen, zu beachtende Pfändungsbeschlüsse und besondere Haftungsrisiken entstehen. In gravierenden Fällen kann die Überschuldung auch mit Wohnungslosigkeit und damit einem weiteren, äußerst schwerwiegenden Vermittlungshemmnis am Arbeitsmarkt verbunden sein. Die finanziellen Belastungen sind für viele Arbeitslose in Deutschland hoch. Arbeitslosigkeit wird am häufigsten für die Überschuldung privater Haushalte verantwortlich gemacht (Angele, 2007). Schon vor den Gesetzesreformwerken „Hartz I bis IV“, die für viele Arbeitslose nochmals erhebliche finanzielle Einschnitte mit sich brachten, gab über ein Drittel der Arbeitslosen in einer IAB-Repräsentativerhebung an, Geldschulden zu haben (Hollederer, 2003a, S. 5). McKee-Ryan, Song, Wanberg und Kinicki (2005) fanden in ihrer internationalen Meta-Analyse eine statistisch gesicherte Assoziation zwischen der Finanzlage und psychischer Gesundheit sowie Lebenszufriedenheit innerhalb der Arbeitslosengruppen. Eine wahrgenommene finanzielle Belastung korreliert mit schlechterer psychischer Gesundheit und niedrigerer Lebenszufriedenheit in mittlerer Effektgröße. Finanzielle Ressourcen waren dagegen mit höherer Lebenszufriedenheit in mittlerer Stärke assoziiert, bei der psychischen Gesundheit war der Zusammenhang dagegen gering. In der Untersuchung von Brinkmann (1984) hatte das Ausmaß finanzieller Probleme während der Arbeitslosigkeit den weitaus stärksten Einfluss auf psychosoziale Belastungen. Grobe und Schwartz (2003) fanden bei arbeitslosen Männern, dass die Gesundheit in Abhängigkeit von der Haushaltssituation differiert. Arbeitslose „Hauptverdiener“ zeigten im Mittel stärkere gesundheitliche Einschränkungen als Arbeitslose, die angeben, nicht Hauptverdiener zu sein. 1.4.3.2 Soziale Unterstützung und soziale Belastungen Viele Untersuchungen haben Faktoren wie soziale Unterstützung von (Ehe-) Partnern, Familienangehörigen, Freunden und andere Personen einbezogen und dabei einen moderierenden Einfluss hinsichtlich der negativen Effekte der Arbeitslosigkeit auf das psychische Befinden festgestellt (vgl. Kieselbach, 1988; Winefield, 1995; Kasl & Jones, 2002; McKee-Ryan, Song, Wanberg & Kinicki,
62
2005; Mohr, 2009). Soziale Unterstützung bedeutet „die Hilfestellung, die Individuen und Gruppen aus Gemeinschaften heraus zur Verfügung steht und die sowohl einen Puffer gegen widrige Lebensereignisse und Lebensbedingungen als auch eine positive Ressource zur Verbesserung der Lebensqualität darstellen kann. Soziale Unterstützung kann emotionale Unterstützung, Informationsaustausch und das Anbieten materieller Ressourcen oder Dienste beinhalten“ (WHO, 1998). Als Folge der Langzeitarbeitslosigkeit wird allerdings beobachtet, dass die positiven sozialen Beziehungen zu Kollegen, Bekannten, Freunden, Nachbarn zurückgehen, sich Arbeitslose tendenziell selbst isolieren und in die eigene Familie zurückziehen (Kieselbach, 1988; Mohr, 2009). Im BundesGesundheitssurvey 1998 sagen 12 % der arbeitslosen Männer und 9 % der arbeitslosen Frauen aus, nur maximal eine Person zu kennen, auf die sie sich im Notfall verlassen könnten (Grobe & Schwartz, 2003). Diese Quoten liegen wesentlich höher als die entsprechenden Werte der berufstätigen Männern und Frauen mit 6 % bzw. 5 %. Jedoch konnten Gallie, Paugam & Jacobs (2003) in einer europäischen Panelanalyse eine Verursachung von sozialer Isolation durch Arbeitslosigkeit nicht verifizieren. Dem „System“ Familie kommt in der Bewältigung von Arbeitslosigkeit eine hohe Bedeutung zu. Das Verhältnis ist aber ambivalent. Familie stiftet Sinn und leistet soziale Unterstützung, schafft aber – wie unter den Abschnitten Lebensalter (1.4.1.1) und finanzielle Ressourcen (1.4.3.1) schon angesprochen – auch im Bewusstsein des Arbeitslosen Verantwortlichkeit und Abhängigkeiten. Die Familie selbst gerät als Ganzes durch Arbeitslosigkeit unter Druck. Eine Reihe von Studien berichten, dass sich der Disstress beim Arbeitslosen negativ auf das Wohlbefinden von anderen Familienangehörigen auswirkt (Price, Friedland & Vinokur, 1998). Kieselbach bezeichnet die Angehörigen von Arbeitslosen, insbesondere ihre Kinder, als „Opfer durch Nähe“ (1988). Studien belegen, dass bei Kindern von Arbeitslosen mehr Gesundheitsprobleme als im Durchschnitt auftreten (Reinhardt Pedersen, Madsen & Köhler, 2005). Ström (2003) wertete die internationale Forschung in einem Literaturüberblick aus. Sie fand Indizien dafür, dass das Wohlbefinden der Familienangehörigen bei Arbeitslosigkeit mit beeinträchtigt wird und die Arbeitslosigkeit von Eltern Wirkung auf die physische Gesundheit ihrer Kinder hat. Von Wichtigkeit sind für die Familien das Ausmaß der finanziellen Belastungen und die sinnhafte Gestaltung des Alltagslebens (Rogge, 2009c). Frese und Mohr (1978) listen eine Reihe von Störungen im sozialen Bereich auf, die in Verbindung mit Arbeitslosigkeit beobachtet worden sind: Eheprobleme bis hin zu Ehescheidungen, Streitigkeiten und Ärger in der Familie, verschlechterte Beziehungen und soziale Isolation. Die Ambivalenz könnte vielleicht auch einer der Gründe sein, dass für die Variable Ehestand in den Meta-
63
Analysen kein eindeutig moderierender Einfluss auf die psychische Gesundheit von Arbeitslosen gefunden wurde (Paul, Hassel & Moser, 2006; McKee-Ryan, Song, Wanberg & Kinicki, 2005). Soziale Belastungen sind in der Meta-Analyse von McKee-Ryan, Song, Wanberg und Kinicki (2005) negativ assoziiert mit psychischer Gesundheit. Mit der Dauer der Arbeitslosigkeit steigt die Gefahr, bisherige soziale Unterstützung und soziale Netzwerke zu verlieren (Sabroe & Iversen, 1989). Das ist aber in mehrfacher Hinsicht problematisch, da sich mangelnde soziale Unterstützung nicht nur bei der psychosozialen Bewältigung von Arbeitslosigkeit, sondern darüber hinaus auch bei der Verarbeitung von evtl. eingetretenen gesundheitlichen Beeinträchtigungen oder Krankheitsfällen negativ auswirken kann (vgl. Schwarzer, 1996). Von der Forschung wird zudem wenig berücksichtigt, dass sich ein Defizit an sozialen Netzwerken auch problembezogen auf die Arbeitsuche von Arbeitslosen und auf Hinweise über Stellenangebote auswirken könnte. Ein großer Teil der offenen Stellen wird von den Betrieben nicht nur offiziell ausgeschrieben, sondern parallel oder stattdessen über interne Suchwege besetzt. Nach einer repräsentativen Betriebsbefragung des IAB suchen 40 % der Betriebe bei der Stellenbesetzung über „eigene Mitarbeiter“ oder „persönliche Kontakte“ (Kettner & Spitznagel, 2006). Ein Drittel aller Einstellungen kam auf diesem Wege zustande. Der Anteil der den Arbeitsagenturen gemeldeten Angebote am gesamtwirtschaftlichen Stellenbestand betrug rund 38 % aller Stellen (Kettner & Spitznagel, 2006). Das unterstreicht die Relevanz beruflicher und sozialer Netzwerke. Nach einer Studie von Sabroe und Iversen (1989) scheint die Quantität der sozialen Unterstützungsnetzwerke für die Wiedereingliederung wichtiger als die Qualität der sozialen Unterstützung zu sein. 1.4.3.3 Zeitstrukturierung in Arbeitslosigkeit Zum Thema „Zeit“ schreibt die Marienthal-Studie: „Wer weiß, mit welcher Zähigkeit die Arbeiterschaft seit den Anfängen ihrer Organisation um die Verlängerung der Freizeit kämpft, der könnte meinen, dass in allem Elend der Arbeitslosigkeit die unbegrenzte freie Zeit für den Menschen doch ein Gewinn sei. Aber bei näherem Zusehen erweist sich diese Freiheit als tragisches Geschenk. Losgelöst von ihrer Arbeit und ohne Kontakt mit der Außenwelt, haben die Arbeiter die materiellen und moralischen Möglichkeiten eingebüßt, die Zeit zu verwenden. Sie, die sich nicht mehr beeilen müssen, beginnen auch nichts mehr und gleiten allmählich ab aus einer geregelten Existenz ins Ungebundene und Leere“ (Jahoda, Lazarsfeld & Zeisel, 1933, S. 83). Die Zeitstruktur wurde später auch in Jahodas Deprivationstheorie (1983) als die wichtigste der fünf latenten Funktio-
64
nen eines Arbeitsplatzes beschrieben und auch im „Vitaminmodell“ von Warr (1987) integriert. Mehrere empirische Arbeiten berichteten, dass Arbeitslose eine weniger strukturierte und zweckvolle Zeiteinteilung als Beschäftigte haben (Überblick Creed & Bartrum, 2006). McKee-Ryan, Song, Wanberg und Kinicki (2005) bestätigten meta-analytisch eine Assoziation mit psychischer Gesundheit in mittlerer Effektstärke. Wanberg, Griffiths und Gavin (1997) fanden in einer Längsschnittstudie Anhaltspunkte dafür, dass bei Arbeitslosen, die Probleme mit der Zeitstrukturierung haben, die psychische Gesundheit später abnimmt. Kieselbach und Wacker (1991) machten aber darauf aufmerksam, dass diese Beobachtungen nicht die gesamte Situation und alle Erfahrungen von Arbeitslosen abdeckten und es auch produktive Bewältigungsformen gab. In manchen Studien wurden einer sinnvollen Zeitverwendung und bedeutsam erlebten Freizeitaktivitäten positive Coping-Wirkungen zugeschrieben (vgl. Winefield, 1995; Kieselbach & Beelmann, 2006). Brinkmann (1984) fand hinsichtlich der Zeitverwendung sowohl Be- als auch Entlastungsprofile: Ein Teil der Arbeitslosen hatte Probleme mit der zur Verfügung stehenden freien Zeit, was sich in Langeweile, Nichtstun, Unausgelastet sein etc. äußerte. Ein anderer Teil der Arbeitslosen nutzte die freie Zeit für zusätzliche Aktivitäten und Familienleben. Möglicherweise tragen auch Maßnahmen der aktiven Arbeitsmarktpolitik (vgl. Kap. 2.2.2), sowie ehrenamtliche Tätigkeiten oder Kindererziehung durch die Tagesstrukturierung zur psychischen Stabilisierung bei. Noch ungeklärt ist nach Mohr (2009), ob als sinnvoll wahrgenommene Aktivitäten zur Tagesstrukturierung beitragen oder ob sie umgekehrt die Fähigkeit zur zeitlichen Strukturierung voraussetzen. Rogge (2009) kommt in einer aktuellen Überblicksarbeit zu dem Schluss, dass die Hypothese von der Wichtigkeit der Zeitstruktur für die psychische Gesundheit in Arbeitslosigkeit empirisch nicht gestützt wird. 1.4.3.4 Personelle Faktoren In Anlehnung an die Konzeption von McKee-Ryan, Song, Wanberg und Kinicki (2005) können als personale Coping-Ressource verschiedene Konstrukte wie Selbstwertgefühl, Optimismus, Neurotizismus, internale oder externale Kontrollüberzeugungen und Selbstbild zusammengefasst werden. In der Meta-Analyse von McKee-Ryan, Song, Wanberg und Kinicki (2005) fanden sich für diese Faktoren bei Arbeitslosen einen der stärksten Zusammenhänge mit psychischer Gesundheit sowie Lebenszufriedenheit. Sie bestätigten damit frühere Analysen (vgl. Winefield, 1995). Die Konstrukte gehen auf verschiedene Theorien zurück und werden in empirischen Studien häufig unterschiedlich operationalisiert. Ein
65
aktueller Überblick findet sich z.B. bei Mohr (2009). Das Selbstwertgefühl stellt in den meisten gebräuchlichen Definitionen wie von Rosenberg (1979) einen Teil des Selbstkonzeptes dar und drückt das Ergebnis der positiven und negativen Beurteilungen der eigenen Person in Hinblick auf Fähigkeiten und Eigenschaften aus. Ein niedriges Selbstwertgefühl wird oftmalig in Verbindung mit Arbeitslosigkeit gebracht. Die Studienergebnisse sind aber uneinheitlich (vgl. Mohr, 2009). Das könnte darauf zurückzuführen sein, dass eine Verschlechterung des Selbstwertgefühls in Arbeitslosigkeit erst mit Zeitverzögerung eintritt. Eine internale Kontrollüberzeugung zur eigenen Einflussnahme auf die Situation ist bei andauernder Arbeitslosigkeit als eher depressionsfördernd einzuschätzen (Wacker & Kolobkova, 2000; Mohr, 2009). 1.4.4 Kognitionen Menschen mit ausgeprägter Arbeits- oder Berufsorientierung und einer Zentrierung auf die Arbeitsrolle werden in höherem Maße durch Arbeitslosigkeit psychisch belastet. Die negativen Auswirkungen der Arbeitslosigkeit auf die psychische Gesundheit sind signifikant ausgeprägter (McKee-Ryan, Song, Wanberg & Kinicki, 2005). Mohr (2009) leitet aus diesen Befunden ab, „dass Arbeitsorientierung eine relevante Variable für den Wiedereinstieg ist, dass eine hohe Arbeitsorientierung während der Erwerbslosigkeit jedoch nicht zwingend positiv sein muss“. Nordenmark und Strandh (2002) sehen für Arbeitslose eine Stressdimension in dem psycho-sozialen Bedürfnis nach einer sozialen Identität oder Rolle in einer Gesellschaft, in der Arbeit die Norm ist und die ökonomische Haupteinnahmequelle darstellt. Paul und Moser (2006a) zeigen auf, dass sowohl Beschäftigte als auch Arbeitslose eine starke innere Bindung an die Erwerbsarbeit in fast demselben Ausmaß hegen. Die meisten Beschäftigten leben aber im Gegensatz zu den Arbeitslosen in Kongruenz zwischen innerer Einstellung und Lebenssituation. Eine „Inkongruenz“ korrespondiert mit Disstress-Symptomen. Arbeitslose mit hoher Arbeits- oder Berufsorientierung dürften in der Arbeitsförderung zunächst wenig auffallen. Bei dieser Gruppe könnten sich möglicherweise individuumsorientierte Aktivierungs- und Sanktionierungsbemühungen ohne ausreichend vorhandenes Arbeitsplatzpotenzial später kontraproduktiv auswirken, wenn die Arbeitsmarktintegration auf Dauer nicht gelingt. Gesellschaftliche Stigmatisierung und wiederholte öffentliche „Faulheits- und Drückebergerdebatten“, die nach Beobachtung von Oschmiansky, Kull und Schmid „nicht nur mit dem möglichen oder vermeintlichen Fehlverhalten von Arbeitslo-
66
sen zu tun haben, sondern zu einem guten Teil auch politischen Kalkülen folgen“ (Oschmiansky, Kull & Schmidt, 2001, S. 8), erhöhen zusätzlich den Druck. Die individuellen Erklärungen zur Ursache der eigenen Arbeitslosigkeit können sich ebenfalls auf den Grad der psychischen Belastungen auswirken (Kieselbach, 1994a). Es werden internale Erklärungen (z.B. Arbeitslosigkeit selbstverschuldet) und externale Erklärungen (z.B. Arbeitslosigkeit gesellschaftlich bedingt) unterschieden, die auch parallel auftreten können. Erwartungen hinsichtlich der Kontrolle der eigenen Lage am Arbeitsmarkt mit der Möglichkeit, einen Arbeitsplatz durch eigene Aktivität zu finden, wird ebenfalls eine moderierende Wirkung zugeschrieben. 1.4.5 Problemlösestrategien Die Coping-Strategien von Arbeitsplatzverlust sind verbunden mit den in Kap. 1.2.1 vorgestellten Stresstheorien (Lazarus, 1966; Lazarus & Folkman, 1984) und zielen darauf, die internalen und externalen Anforderungen dieser spezifischen stressvollen Situation durch kognitive oder verhaltensorientierte Anstrengungen zu bewältigen. Dabei reagieren die Individuen auf Arbeitslosigkeit aber nicht in einer homogenen Art und Weise (McKee-Ryan & Kinicki, 2002). Die Coping-Strategien können in zwei Kategorien eingeteilt werden: das problembezogene und das emotionsbezogene Bewältigungsverhalten. Problembezogenes Bewältigungsverhalten von Arbeitslosen hat sich günstiger für die Reintegration in den Arbeitsmarkt und das psychische Befinden als emotionsbezogenes Coping erwiesen (vgl. Mohr, 2009). Zu Coping-Strategien können auch das Erschließen von Hilfsangeboten und eigene Aktivitäten zur Problemlösung gezählt werden. Nach Kieselbach (1994a) wird die Belastungssituation in Arbeitslosigkeit durch das persönliche Aktivitätsniveau sowie die Art des Hilfesuchens und die Verfügbarkeit von Hilfsangeboten beeinflusst. Er weist darauf hin, dass professionelle Hilfsangebote für Arbeitslose häufig nicht erreichbar, annehmbar oder wirksam sind. Gerade der Einbezug von Krankheit und Behinderung, psychosozialen Belastungen oder Suchtverhalten erfordert eine besondere Vertrauensbasis in die Hilfe- und Beratungssysteme. Dieses Vertrauen der Arbeitslosen muss in vielen Fällen aber erst noch im Bereich der Arbeitsvermittlung und Berufsberatung gewonnen werden. Nach einer Repräsentativbefragung (Hess et al., 2004) hat nur noch ca. ein Fünftel der Bevölkerung - einschließlich der Arbeitslosen - Vertrauen in die Leistungserbringung der Agenturen für Arbeit.
67
1.4.6 Makroökonomische Kontextfaktoren Die Höhe der Arbeitslosenquote wird sehr häufig als Einflussfaktor in zweifacher Hinsicht diskutiert: Eine hohe lokale Arbeitslosenrate könnte Arbeitslosigkeit „normalisieren“ und dadurch zu einer Reduktion des persönlichen Stresses beitragen (Kieselbach, 1994a). Sie könnte allerdings auch zu einem Klima der Hoffnungslosigkeit und Resignation führen und die Belastungen für die psychische Gesundheit von Arbeitslosen steigen lassen. In Deutschland werden diese Argumentationen z.B. beim Vergleich von West- und Ostdeutschland diskutiert. Allerdings ermittelten die Meta-Analysen von Paul, Hassel und Moser (2006) und von McKee-Ryan, Song, Wanberg und Kinicki (2005) wider Erwarten keinen signifikanten Moderationseinfluss für die lokale Arbeitslosenquote - zumindest soweit sie in den zugrunde liegenden Studien angegeben wurde. Bei starker Absenkung des Signifikanzniveaus auf p < 0.1 stellte sich in einer späteren Moderationsanalyse von Paul und Moser (2009b) ein schwacher Moderationseffekt ein. Die Moderationsanalysen zum sozialen Sicherungssystem für Arbeitslosigkeit waren in den beiden Meta-Analysen nicht eindeutig. Paul (2005) bzw. Paul und Moser (2009b) wiesen einen signifikanten Einfluss und McKee-Ryan, Song, Wanberg und Kinicki (2005) nur einen Trend nach. Vermutlich hatten McKeeRyan, Song, Wanberg und Kinicki (2005) wegen der deutlich kleineren Anzahl verwendeter Primärstudien eine zu geringe statistische Power, um den Einfluss statistisch signifikant zu bestimmen. In einer Studie konnten Rodriguez, Frongillo und Chandra (2001) zeigen, dass der Empfang von staatlichen Hilfen bei arbeitslosen Frauen mit der Reduktion von depressiven Symptomen korrespondierte. Darüber hinaus identifizierten Paul, Hassel und Moser (2006) bzw. Paul und Moser (2009b) als Moderatorvariablen die wirtschaftliche Entwicklung und Einkommensgleichheit im internationalen Vergleich. Die Effekte der Arbeitslosigkeit sind in ärmeren Ländern größer als in reicheren Ländern. In Ländern mit hohen Gini-Werten (als Maß für Einkommensungleichheit) sind sie ebenfalls stärker als in Ländern mit kleineren Bevölkerungsanteilen von Menschen, die unterhalb der Armutsgrenze leben. Ob die Länder kulturell kollektivistisch oder individualistisch ausgerichtet sind, hat nach Paul und Moser (2009b) keinen Einfluss. Die Analysen von Paul, Hassel und Moser (2006) bzw. Paul und Moser (2009b) weiten den Blick auf makroökonomische Einflussvariablen, die bisher in der psychologischen Arbeitslosenforschung kaum als Kontext individueller Bewältigung von Arbeitslosigkeit diskutiert werden. Möglicherweise sind auch noch weitere Faktoren wie das gesellschaftliche Klima zu berücksichtigen.
68
1.5 Zusammenfassung von Kapitel 1 Mit der Weltwirtschaftskrise von 1929 ist Massenarbeitslosigkeit zu einer zentralen Herausforderung von Industrieländern geworden. Seitdem beobachtet die Forschung systematisch die negativen Auswirkungen von unfreiwilligem Arbeitsplatzverlust auf die Gesundheit. Jahoda, Lazarsfeld und Zeisel (1933) beschrieben im Klassiker „Die Arbeitslosen von Marienthal“ vier Haltungstypen. Sie stellten den Ausgangspunkt für erste theoretische Phasenmodelle des individuellen Erlebens von Arbeitslosigkeit dar. Zu den wichtigen theoretischen Ansätzen, die die Auswirkungen von Arbeitslosigkeit auf die Gesundheit zu erklären versuchten, gehören u.a.
die „psychische Deprivation“ wegen Fortfalls der manifesten und latenten Funktionen der Arbeit „finanzielle Deprivation“ und Handlungsrestriktionen in Arbeitslosigkeit Stresstheorien sowie Anforderungs- und Kontrollmodelle die „differentielle Arbeitslosenforschung“, die die Vielfalt der individuellen Bewältigungsformen von Arbeitslosigkeit in den Vordergrund rückt mit Arbeitslosigkeit verbundene soziale Stigmatisierung und erlernte Hilflosigkeit Identitätstheorien Konzept der sozialen Exklusion.
Nach heutigem Wissensstand wirken die durch Arbeitslosigkeit hervorgerufenen Gesundheitsbelastungen parallel zu Selektionen bei den Übergängen von und in Beschäftigung. Als Hauptergebnis lässt sich aus den bisherigen Überblicksarbeiten und Meta-Analysen festhalten, dass die Arbeitslosenforscher die Kausalitätshypothese aus methodischen Gründen bisher nicht eindeutig verifizieren können, aber als stark unterstützt ansehen. Die Effektgrößen von Selektionsprozessen werden im Vergleich als kleiner eingeschätzt. Lang andauernde Arbeitslosigkeit korreliert demnach nicht nur mit einem ungünstigeren Gesundheitszustand, sondern kann vor allem psychische, aber auch physische Krankheiten verursachen oder bestehende Krankheitszustände verschlimmern. Dafür spricht der Befund, dass Arbeitslose nach Arbeitsplatzverlust in der Tendenz eine Verschlechterung ihrer psychischen Gesundheit erleiden und umgekehrt sich das seelische Befinden deutlich verbessert, wenn Arbeitslose wieder zurück in die Beschäftigung finden. Die gesundheitlichen Auswirkungen von Arbeitslosigkeit werden in der Symptomatik als vielfältig und in Teilen von schwerwiegender Art beschrieben.
69
Der Bewältigungsprozess der Arbeitslosigkeit steht in Abhängigkeit von individuell verfügbaren sozioökonomischen und psychosozialen Ressourcen sowie von Fähigkeiten und Kompetenzen. Viele potenzielle Einflussfaktoren wurden in Moderationsanalysen der differentiellen Arbeitslosigkeitsforschung einbezogen, um zu erkennen, welche Personen in Arbeitslosigkeit besonders leiden. Die Moderatoreneffekte wurden aber oft unterschiedlich konzeptualisiert. Seit kurzer Zeit werden die zahlreichen empirischen Studien auch mit quantitativen Methoden meta-analysiert. Gegenüber den Forschungsberichten früherer Perioden fällt in der Gesamtschau der neuen Meta-Analysen auf, dass die soziodemografischen Merkmale Alter, ethnische Zugehörigkeit und Qualifikationsniveau nur wenig oder gar nicht nachweisbar die Wechselbeziehungen von Arbeitslosigkeit und psychische Gesundheit beeinflussen. Paul, Hassel und Moser (2006) identifizierten außerdem einen schwach moderierenden Trend in ihrer Meta-Analyse für soziale Schicht und erkannten als weitere bedeutsame Moderatorvariablen die Großzügigkeit des sozialen Sicherungssystems, die wirtschaftliche Entwicklung und Einkommensungleichheit im internationalen Vergleich. Die Effekte der Arbeitslosigkeit sind in ärmeren Ländern durchschlagender als in reicheren Ländern und in Ländern mit hohen GiniWerten größer als in Ländern mit weniger großen Bevölkerungsanteilen von Menschen, die unterhalb der Armutsgrenze leben. Bei der Meta-Analyse von McKee-Ryan, Song, Wanberg und Kinicki (2005) standen innerhalb der Gruppe der Arbeitslosen Ressourcen und Belastungen in einer statistisch gesicherten Assoziation zur psychischen Gesundheit. Eine wahrgenommene finanzielle Belastung korrelierte mit schlechterer psychischer Gesundheit und niedrigerer Lebenszufriedenheit. Als weiterer Faktor wurde soziale Unterstützung einbezogen und dabei ein moderierender Einfluss hinsichtlich der negativen Effekte der Arbeitslosigkeit auf das psychische Befinden festgestellt. McKee-Ryan, Song, Wanberg und Kinicki (2005) bestätigten metaanalytisch außerdem einen Zusammenhang zwischen strukturierter Zeiteinteilung und psychischer Gesundheit. Personale Coping-Ressourcen korrespondierten ebenfalls mit psychischer Gesundheit sowie Lebenszufriedenheit. Die lokale Arbeitslosenquote stellte sowohl bei Paul und Moser (2006) als auch bei McKee-Ryan, Song, Wanberg und Kinicki (2005) keine signifikante moderierende Variable dar. Nach beiden Meta-Analysen litten Personen mit hoher Arbeits- und Berufsorientierung sowie mit längerer Verweildauer in Arbeitslosigkeit nachgewiesenermaßen stärker unter Arbeitslosigkeit. Insgesamt fehlt noch ein grundlegender Theorierahmen mit hoher Erklärungskraft, der die vielen Einzelaspekte und empirischen Ergebnisse zur gesundheitsbezogenen Wirkung und Bewältigung von Arbeitslosigkeit integriert.
70
2 Empirische Befunde in der Gesundheitsberichterstattung und gesundheitsbezogene Interventionsansätze 2.1 Gesundheit und Krankheit von Arbeitslosen
Eine epidemiologisch begründete Gesundheitsberichterstattung bildet die Grundlage für evidenzbasierte gesundheitspolitische Entscheidungen. Die Abbildung 6 verdeutlicht den Aktionskreislauf von Analysen im Rahmen der Gesundheitsberichterstattung, der Entwicklung von zielorientierter Gesundheitspolitik, der anschließenden Durchführung von Maßnahmen und ihrer Evaluation sowie der Rückkopplung in die Berichtssysteme (nach Bergmann & Bergmann, 2000). Abbildung 6: Produktionsprozess von Gesundheit Gesundheitsberichterstattung weniger Erkrankungen? mehr Gesundheit? weniger Kosten?...
vermeidbare Gesundheitsprobleme
Zielentwicklung
Evaluation Lösung von Problemen
Strategien
Maßnahmen Quelle: Bergmann & Bergmann (2000, S. 14)
71 A. Hollederer, Erwerbslosigkeit, Gesundheit und Präventionspotenziale, DOI: 10.1007/978-3-531-92636-0_2, © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH
Diese idealtypische Darstellung eines gesundheitswissenschaftlichen Regelkreises unterstreicht die Funktionen der Gesundheitsberichterstattung bei der Umsetzung von Gesundheitszielen wie es zum Beispiel das Land Sachsen zur „Gesundheitsförderung von Arbeitslosen“ explizit aufgestellt hat (Kramer & Mühlpfordt, 2009). Die Gesundheitsberichterstattung kann dazu beitragen, vermeidbare Gesundheitsprobleme zu identifizieren, Strategien zu kommunizieren und über Problemlösungen zu berichten. Evaluation und Monitoring sind entscheidende Elemente, um Prozesse und Ergebnisse nachprüfbar und messbar zu machen. Das System der Gesundheitsberichterstattung hat daher die Funktionen der
Risikoberichterstattung über gesundheitliche Belastungen und Ressourcen, Krankheitsberichterstattung über Umfang, Art und Verteilung von Erkrankungen, Versorgungsberichterstattung über Ausstattung und Leistungen der Gesundheitseinrichtungen und Politikberichterstattung über Gründe, Verlauf und Ergebnis von Verbesserungsinitiativen in der Prävention und Krankenversorgung (Rosenbrock & Gerlinger, 2006).
Als Voraussetzung benötigt die Gesundheitsberichterstattung aber eine entsprechende Daten- und Informationsgrundlage. Im Zusammenhang von Erwerbslosigkeit und Gesundheit stellt der Mikrozensus einen sehr wichtiger Datenlieferanten neben anderen Datenquellen dar, die aber alle für sich allein genommen jeweils nur einen kleinen Ausschnitt des Gesamtspektrums abbilden. Die Gesundheitsberichterstattung gibt deshalb bislang nur partiellen Aufschluss über die Gesundheitszustände von Arbeitslosen in Deutschland. Viele Ergebnisse wurden nur sekundäranalytisch gewonnen. Bei den Daten ist zudem zu berücksichtigen, dass empirische Erhebungskonzepte zur Gesundheit zugrunde liegenden Theorien und Definitionen folgen und Datenerhebungen oft bestimmten Zwecken dienen, z.B. zur Abrechnung mit Sozialversicherungen. Im Gegensatz zu weit gefassten, positivierenden Gesundheitsbegriffen entsprechen die Sichtweisen in den Sozialgesetzen und im Arbeitsrecht meist einer klaren Funktionsaussage über die individuelle Leistungs- und Arbeitsfähigkeit. Bei Arbeitslosen kann das Ergebnis medizinischer Begutachtungen leistungsrechtliche Relevanz erhalten. Eine der Voraussetzungen für den Leistungsbezug im SGB II-Rechtskreis ist die Erwerbsfähigkeit, die im Zweifelsfall durch die Ärztlichen Dienste attestiert werden muss. Einer Funktionsdiagnose entspricht auch die „Arbeitsunfähigkeit“. Die Heterogenität der vielen vorliegenden Einzelergebnisse zur Gesundheit von Arbeitslosen macht eine Gesamtschau der wesentlichen Statistiken, Verwal-
72
tungsdaten, Repräsentativbefragungen und Forschungszusammenhänge in den folgenden Abschnitten notwendig, damit erhöhte Morbiditäts- und Mortalitätsrisiken von Erwerbslosen im Vergleich zu Erwerbstätigen identifiziert werden können. In den nachfolgenden Abschnitten wird ein aktueller Überblick über die empirischen Befunde zur Gesundheit und Krankheit von Arbeitslosen in der Gesundheits- und Arbeitsmarktberichterstattung gegeben. Die Befundlage stützt sich im Wesentlichen auf Bevölkerungsbefragungen und Verwaltungsdaten der gesetzlichen Sozialversicherungen. Die Zusammenschau beginnt mit Ergebnissen von deutschen Repräsentativerhebungen, die Indikatoren über den subjektiven Gesundheitszustand und verschiedene Krankheitsgruppen enthalten. Es schließen sich im nächsten Abschnitt Vergleichsanalysen zum Gesundheits- und Suchtverhalten von Arbeitslosen und Beschäftigten an. Morbiditätsunterschiede zwischen Arbeitslosen und Beschäftigten können gut anhand der Verwaltungsdaten der Sozialversicherungen über die ambulante und stationäre Krankenversorgung erkannt werden. Sie werden in den zwei folgenden Abschnitten vorgestellt. Ergebnisse aus der Arbeitslosenstatistik und von empirischen Untersuchungen zur Arbeitsmarktintegration von Arbeitslosen mit Gesundheitseinschränkungen ergänzen schließlich die Übersicht. 2.1.1 Gesundheitsunterschiede von Arbeitslosen und Beschäftigten in Repräsentativerhebungen Die etablierte Routineberichterstattung von Sozialversicherungsdaten wird durch Vergleichsanalysen mit neuen Erhebungsinstrumenten wie dem SOEP-Panel, Gesundheitssurveys und anderen Repräsentativstatistiken ergänzt. Nachfolgend werden Gesundheitsunterschiede von Arbeitslosen und Beschäftigten in wichtigen repräsentativen Erhebungen in Deutschland berichtet. Allerdings ist im Ergebnis kritisch zu sehen, dass Arbeitslose vor allem in den nationalen Gesundheitssurveys unterrepräsentativ erfasst werden und die Anzahl der erfolgreich interviewten Arbeitslosen häufig relativ klein ist, die dann noch nach Geschlecht, Altersgruppen, Gesundheitszustand oder –verhaltensweisen etc. weiter stratifiziert wird.
73
Sozioökonomisches Panel (SOEP) Im Vergleich zu repräsentativen Querschnittsbefragungen kommt den Panelanalysen mit Daten des Sozioökonomischen Panels (SOEP) methodisch besonders großes Gewicht zu. Mehrere Studien weisen mit Daten aus verschiedenen Wellen des SOEP-Panels in großer Übereinstimmung signifikante Korrelationen zwischen Erwerbsstatus und Gesundheit nach. Romeu Gordo (2006) wertete in multivariaten Modellberechnungen die SOEP-Paneldaten von 1984 bis 2001 aus. Dabei waren die Erwerbstätigen subjektiv mehr zufrieden mit ihrem Gesundheitszustand als Arbeitslose. Langzeitarbeitslosigkeit wirkte sich sowohl bei Männern als auch Frauen negativ auf den Gesundheitszustand in den Modellberechnungen aus. Eine kurze Arbeitslosigkeitsdauer hatte dagegen nur bei Männern und nicht bei Frauen eine statistisch bedeutsame Gesundheitsbelastung zur Folge. In einer anderen SOEP-Auswertung der Befragungswellen 1992 und 1997 fühlten sich Langzeitarbeitslose signifikant häufiger durch ihren Gesundheitszustand im Alltag stark behindert (Steinle, 2001). Je höher der Anteil bereits erlebter Arbeitslosigkeit an der Dauer der potenziellen Erwerbstätigkeit war, desto geringer war die Zufriedenheit mit dem Gesundheitsstatus. Auch vergleichende Untersuchungen vorheriger SOEP-Befragungswellen kamen zu diesem Ergebnis (Elkeles & Seifert, 1993, 1996). Gesundheitssurveys in Deutschland Die Deutsche Herz-Kreislauf-Präventionsstudie (DHP) erstreckte sich auf einen Untersuchungszeitraum von 1982 bis 1991 und auf sechs Untersuchungsregionen (Hoffmeister, 1993). Ziel war die Verminderung von kardiovaskulären Risikofaktoren und die Verbesserung der Angebote zur praktischen Krankheitsvorbeugung. Im Rahmen dieser Studie wurden darüber hinaus mehrere nationale und regionale Gesundheitssurveys durchgeführt. Nach den Auswertungen des Gesamtdatensatzes von Elkeles (1999) befand sich unter den Arbeitslosen verglichen mit Erwerbstätigen ein höherer Prozentsatz von Personen mit schlechteren Gesundheitszuständen, mit Behinderungen, mit Bettlägerigkeit, mit Einschränkungen in den täglichen Aktivitäten und mit Krankenhausaufenthalten in den letzten zwölf Monaten. Die durchschnittliche Zufriedenheit ist sowohl beim Gesundheitszustand als auch bei der finanziellen Lage, den sozialen Beziehungen und der allgemeinen Lebenssituation signifikant niedriger. Diese Befunde wurden von Bammann und Helmert (2000) mit Daten der 2. und 3. regionalen und nationalen Gesundheitssurveys bestätigt und in Zusammenhang mit sozialer Ungleichheit gestellt (siehe Kap. 1.4.1.4). Sie stehen auch in Einklang mit Er-
74
gebnissen aus dem 1. Nationalen Gesundheitssurveys von 1984 bis 1986 (Bormann, 1992). Es zeigte sich bei den Arbeitslosen eine erhöhte Tabakprävalenz, vermehrter Alkoholkonsum, ein schlechterer subjektiver Gesundheitszustand und eine höhere Beschwerde- und Krankheitshäufigkeit. Männer waren davon stärker betroffen als Frauen. Beim Bundesgesundheitssurvey 1998 (Grobe & Schwartz, 2003) wurde der allgemeine Gesundheitszustand von Arbeitslosen wesentlich schlechter als der von Berufstätigen eingeschätzt. Mit der Dauer der Arbeitslosigkeit nahm die Beeinträchtigung des allgemeinen Gesundheitszustandes zu. Der Anteil der Arbeitslosen, die sich sportlich betätigten, war vergleichsweise niedrig. Aus den Ernährungsgewohnheiten ließen sich jedoch keine unterschiedlichen Gesundheitsrisiken zwischen Arbeitslosen und Berufstätigen ableiten. Bormann (2005, 2006) analysierte ebenfalls den Bundesgesundheitssurvey 1998 und identifizierte insbesondere arbeitslose Männer in Westdeutschland als Personengruppe mit einem besonders negativen subjektiven Gesundheitszustand. Auch Rose und Jacobi (2006) verwandten den Bundesgesundheitssurvey von 1998. Der Schwerpunkt der Auswertungen lag aber auf dem Zusatzsurvey zu psychischen Störungen und den ärztlichen Interviews. Über logistische Regressionen wurden die Assoziationen zwischen Arbeitslosigkeit und Gesundheitsstörungen nach Geschlecht stratifiziert und unter Adjustierung des Alters und der sozialen Schicht untersucht. Bei arbeitslosen Männern ließ sich im Vergleich zu erwerbstätigen Männern eine ca. 2,5-fach höhere Quote an Gesundheitsstörungen bei psychischen Störungen und auch Asthma bronchiale sowie Diabetes mellitus nachweisen. In den analogen Modellberechnungen bei den Frauen waren die Gruppenunterschiede dagegen statistisch unauffällig. Bei Männern korrespondierten mit der Arbeitslosigkeit folgende psychische Krankheiten: Dysthymie, depressive Störungen, Panik, Phobien und somatoforme Störungen/Syndrome. Bei den Frauen ging statistisch signifikant lediglich eine Dysthymie mit Arbeitslosigkeit einher. Die Risikofaktoren Rauchen, erhöhte Cholesterinwerte und BMI > 30 ergaben weder bei Männern noch bei Frauen statistisch bedeutsame Assoziationen. Die meisten Zusammenhänge zwischen Arbeitslosigkeit und Gesundheitsstörungen waren in Westdeutschland stärker ausgeprägt als in Ostdeutschland. Nach Lange und Lampert (2005) lag beim telefonischen Gesundheitssurvey 2003 der Prozentsatz der Arbeitslosen mit einem sehr guten oder guten Gesundheitszustand unter dem Durchschnitt und nahm zudem mit der Dauer der Arbeitslosigkeit ab. Rund ein Fünftel der Langzeitarbeitslosen schrieb der Arbeitslosigkeit selbst eine Verschlechterung ihrer Gesundheit zu. Die arbeitslosen Männer und Frauen beurteilten bei vielen Items zur gesundheitsbezogenen Lebensqualität und zu Beschwerdebildern ihren Zustand negativer als die übrigen Personen. Allerdings muss zu diesem telefonischen Gesundheitssurvey ange-
75
merkt werden, dass er zwar als repräsentative Befragung angelegt war, die erfolgten Interviews aber in entscheidenden Merkmalen nicht die aus der Arbeitslosenstatistik bekannte Struktur der Arbeitslosigkeit widerspiegelten. Der Gesundheitssurvey weist u.a. zu geringe Arbeitslosenquoten und sehr kleine Fallzahlen aus. So gaben z.B. die kurzeitarbeitslosen Frauen im Vergleich zu den langzeitarbeitslosen Frauen ungewöhnlicherweise mehr Leiden an chronischen Krankheiten und einen höheren Verbreitungsgrad von fast allen abgefragten Krankheiten und Behinderungen an. Amtliche Repräsentativstatistiken Mikrozensus und „EU-SILC“ Das Statistische Bundesamt erhob mit dem jährlichen Mikrozensus wiederholt ein Zusatzfragenprogramm über Krankheit, Unfallbetroffenheit, Körpermaße und Rauchgewohnheiten in den Jahren 1989, 1995, 1999, 2003 und 2005. Die Befragungsergebnisse werden regelmäßig vom Statistischen Bundesamt z.B. in Form von Tabellenbänden in der Reihe „Fragen zur Gesundheit“ veröffentlicht und bestätigen durchgängig die negativen Gesundheitsunterschiede zwischen Erwerbslosen und Erwerbstätigen. Darauf wird an vielen Stellen dieser Arbeit später noch eingegangen. Die Statistik der Europäischen Union über Einkommen und Lebensbedingungen „EU-SILC“ sammelt jährlich Informationen über Einkommen, Armut, soziale Ausgrenzung und Lebensbedingungen. Sie beinhaltet auch Fragen zum subjektiven Gesundheitszustand und chronischer Erkrankung. Seit 2005 beteiligen sich alle 25 damaligen EU-Mitgliedsstaaten. Die Erhebungen in den Jahren 2005 und 2006 bestätigten in Deutschland den ungünstigen Gesundheitszustand von Arbeitslosen im Vergleich zu Erwerbstätigen (StaBu, 2008a). Ihren eigenen Gesundheitszustand bezeichneten 13,9 % der Arbeitslosen in Deutschland als schlecht oder sehr schlecht im Jahr 2006. Diese Quote liegt weit über der der Erwerbstätigen mit 3,5 %. Außerdem bekannten Arbeitslose, dass sie wesentlich häufiger an einer chronischen Erkrankung leiden. Die Werte der Arbeitslosen in Deutschland befanden sich weit über den Durchschnittswerten der Arbeitslosen aus den anderen EU-Mitgliedsstaaten. Repräsentative Studien in Sachsen Mit der Sächsischen Längsschnittstudie wird seit 1987 eine ehemalige Schülerkohorte verfolgt. Ab der Welle in 2002 wurden auch Fragen zur Gesundheit und Arbeitslosigkeit gestellt (Brähler, Laubach & Stöbel-Richer, 2002; Förster, Berth & Brähler, 2004; Berth, Förster & Brähler, 2003; Berth et al., 2006, Berth et al., 2006). Dabei weisen die Personen mit Arbeitslosigkeitserfahrungen im Durch-
76
schnitt ungünstigere Vergleichswerte bei Items zu Depressivität, Körperbeschwerden, Lebenszufriedenheit, Disstress und Selbstwirksamkeitserwartung auf. Eine der wenigen deutschen Längsschnittstudien mit ärztlichen Untersuchungen wurde ebenfalls in Sachsen bei über 1.000 Probanden von Harych und Harych (1997) durchgeführt. Im Verlauf der Studie von 1993 bis 1994 verschlechterte sich der ärztlich festgestellte Gesundheitszustand bei den Arbeitslosen signifikant stärker im Vergleich zu den Erwerbstätigen. Insgesamt sind die Unterschiede zwischen Arbeitslosen und Erwerbstätigen aber weniger ausgeprägt als bei den psychischen Erkrankungen in den oben genannten Vergleichsstudien. Die berichteten Befunde aus Deutschland und auch die internationale Literatur zeigen, dass die negativen Folgen der Arbeitslosigkeit auf die Psyche umfassender als die Auswirkungen auf die physische Gesundheit erforscht sind. Die Feststellung eines objektiven physischen Gesundheitszustandes erfordert aufwändige medizinische Diagnostik. Die Ergebnisse sind sehr unterschiedlich und schwieriger zu interpretieren (Kasl & Jones, 2002). Alles in allem zeigen die referierten empirischen Erhebungen durchgängig signifikante Gesundheitsunterschiede zwischen Arbeitslosen und Beschäftigten vor allem beim subjektiven Gesundheitszustand und bei vielen selbst berichteten Krankheits- und Behinderungsphänomenen auf. 2.1.2 Morbidität und Mortalität von Arbeitslosen und Beschäftigten in der Sozialversicherungsstatistik Da Arbeitslose in bevölkerungsbezogenen Befragungen häufig unterrepräsentativ erfasst und die Stichprobengrößen meistens klein sind, kommen Analysen von Sozialversicherungsdaten besondere Wichtigkeit zu, um erhöhte Morbiditätsrisiken zu erkennen. In der Gesundheitsversorgung sind handlungsbezogen klare Grenzen zwischen Gesundheit und Krankheit zu ziehen. Zur diagnosebezogenen Erfassung und Darstellung der Morbidität wird in der gesetzlichen Krankenversicherung die „internationale statistische Klassifikation der Krankheiten (ICD)“ der Weltgesundheitsorganisation (WHO) verwendet, die auch der Ärztliche Dienst der Bundesagentur für Arbeit bei der Begutachtung von Arbeitslosen benutzt. In der Version ICD-10-GM für Krankheiten und verwandte Gesundheitsprobleme enthält der Diagnosethesaurus über 50.000 fertig verschlüsselte Diagnosen (DIMDI, 2003). Auf solche Daten greift die Gesundheitsberichterstattung häufig zurück, um über die gesundheitliche Lage und Behandlung in der Gesamtbevölkerung und in ausgewählten Personengruppen zu informieren.
77
Das Arbeitsunfähigkeitsgeschehen und die stationäre Krankenversorgung werden nachfolgend ausführlicher vorgestellt, weil sie zu den wichtigsten Gesundheitsindikatoren in der Gesundheitsberichterstattung zählen und die Gesundheitsfragen des Mikrozensus 2005 über die Prävalenz von Krankheiten und ihre ambulante bzw. stationäre Behandlung später in diese Bereiche zielen. Über Meldegesetze werden regelmäßig Abrechnungsdaten von allen pflichtversicherten Arbeitslosen auf Bundesebene zusammengeführt. Neben der GKV-Statistik des Bundes stellen vor allem jährliche Gesundheitsberichte der Krankenkassen eine wichtige Informationsquelle über die Krankenversorgung dar. Nachfolgend werden für a. b.
den ambulanten Sektor relevante Meldedaten zum Arbeitsunfähigkeitsgeschehen und Krankengeldbezug von Arbeitslosen und Beschäftigten sowie für den stationären Sektor die Krankenhausfälle und Behandlungstage berichtet. Der Abschnitt schließt mit den Themenbereichen Arzneimittelverordnungen und Mortalität.
2.1.2.1 Arbeitsunfähigkeit Bei Feststellung der Arbeitsunfähigkeit verpflichtet das Entgeltfortzahlungsgesetz die behandelnden Ärzte, der Krankenkasse unverzüglich eine Bescheinigung mit Befund und voraussichtlicher Dauer zu übermitteln (Begriffsbestimmung Arbeitsunfähigkeit in Kap. 3.2.2). Für die Bundesstatistik werden die Verwaltungsdaten der gesetzlichen Krankenversicherung kassenartenübergreifend erfasst. Versicherungspflichtige Arbeitslose werden in den Monats- und Jahresdurchschnittszahlen der krankenversicherten Mitglieder nach Versicherungsverhältnis (KM1) und in einer Auflistung der Leistungsfälle und -zeiten von Arbeitsunfähigkeit und Krankengeld (Teil der KG2) ausgewiesen. Basis für die Meldungen der Arbeitsunfähigkeit bilden alle den Krankenkassen vorliegenden ärztlichen Bescheinigungen oder auf anderem Wege bekannt gewordenen AUFälle. Die Meldungen zur Arbeitsunfähigkeit und Krankengeldleistung erfolgen stichtagsbezogen zum jeweils 1. des Monats. Bei den Angaben in Kalendertagen werden sowohl Arbeits- als auch Sonn- und Feiertage mitgerechnet. Die Diagnosen, die die Arbeitsunfähigkeit begründen, sind nicht Bestandteil der GKVStatistik. Die Abbildung 7 zeigt die Abwärtsentwicklung der AU-Fälle je 100 Mitglieder nach Versichertenstatus seit dem Jahr 2000. Sie erreichten einen Tiefststand sowohl bei pflichtversicherten Beschäftigten mit 109 AU-Fällen je 100 Mitglieder im Jahr 2006 als auch bei pflichtversicherten Arbeitslosen mit 56 AU-
78
Fällen je 100 Mitglieder im Jahr 2004. In 2004 ereigneten sich bei Arbeitslosen im Durchschnitt dann nur halb so viele AU-Fälle je 100 Mitglieder als bei pflichtversicherten Beschäftigten. Abbildung 7: Arbeitsunfähigkeitsfälle je 100 Mitglieder im Jahresdurchschnitt 140 127
129
127
120
124 112
112
109
100 80
82
83
78 71
68 60
56
Nur Alg IEmpfänger
40 20
Hartz IV (X)
0 2000
2001
2002
Arbeitslose
2003
2004
2005
2006
GKV-pflichtversicherte Beschäftigte
(X) Nachweis für Arbeitslose im Jahr 2005 nicht sinnvoll, da nicht alle Krankenkassen die Monatsmeldungen im Jahr 2005 informationstechnisch der neuen Gesetzeslage anpassen und die AU- und KG-Daten von Alg I- und Alg II-Empfängern separieren konnten. Daten: GKV-Statistik; Gesundheitsberichterstattung des Bundes; eigene Berechnung: Wert für Arbeitslosengeld I-Empfänger in 2006 (Quelle: Hollederer, 2008a).
Die AU-Fälle bei Arbeitslosen sind aber mit einer mittleren Falldauer von 21,9 Tagen sehr viel länger als bei pflichtversicherten Beschäftigten mit 13,0 Tagen im Jahr 2000. Die Unterschiede erklären sich nach Auswertungen verschiedener Krankenkassen zum Teil dadurch, dass Arbeitslose bei Kurzzeit- und Bagatellerkrankungen in geringerem Maße eine ärztliche Versorgung mit Krankschreibung beanspruchten (TK, 2005; BKK, 2008). Die mittlere Dauer der AU-Fälle nahm im weiteren Zeitverlauf bei Arbeitslosen zu und bei pflichtversicherten Beschäftigten leicht ab. Sie erhöhte sich bei Arbeitslosen allein vom Jahr 2003 zum Jahr 2004 von 21,7 auf 23,8 Tage während sie bei pflichtversicherten Beschäftigten in den beiden Jahren nahezu unverändert blieb.
79
Durch die stark rückläufigen AU-Fälle von Arbeitslosen sanken die AUTage je 100 Arbeitslose im Jahr 2003 unter den Äquivalenzwert von je 100 pflichtversicherten Beschäftigten. Obwohl sich die Zahl der Arbeitslosen in der gesetzlichen Krankenversicherung von jahresdurchschnittlich 3,4 Millionen im Jahr 2000 auf 4,2 Millionen im Jahr 2004 steigerte, reduzierte sich die Zahl der AU-Fälle bei Arbeitslosen insgesamt von rund 2.764.000 auf 2.368.000. 3 Die Zeitreihen lassen sich bei Arbeitslosen aus mehreren Gründen nicht einfach durchgängig darstellen. Das vierte Gesetz für moderne Dienstleistungen am Arbeitsmarkt („Hartz IV“) veränderte in 2005 grundlegend die staatlichen Fürsorgesysteme Arbeitslosenhilfe und Sozialhilfe und vereinigte sie auf Grundlage des SGB II und SGB III mit Zu- und Abflüssen an Personengruppen. Gleichzeitig sind mit Wegfall des Anspruchs auf Krankengeld (KG) für Alg II-Empfänger durch das so genannte „Verwaltungsvereinfachungsgesetz“ nur noch die AUund KG-Daten der Arbeitslosengeld I-Empfänger aus dem SGB III-Rechtskreis für die GKV-Statistik zu melden. Im Jahr 2006 waren in der Gesetzlichen Krankenversicherung jahresdurchschnittlich 1,5 Mio. Arbeitslosengeld I-Empfänger im SGB III-Rechtskreis pflichtversichert, von denen rund 1.035.000 AU-Fälle registriert wurden. Für sie wurden mehr AU-Fälle und AU-Tage je 100 Mitglieder sowie eine längere mittlere Falldauer wie bei den Arbeitslosen im Jahr 2004 errechnet. Die den Krankenkassen vorliegenden Krankheitsdiagnosen von Arbeitsunfähigkeit und bei Krankengeldbezug sind nicht Bestandteil der GKV-Statistik des Bundes. Damit bestehen auf Bundesebene große Lücken in der Berichterstattung über den Gesundheitszustand von Arbeitslosen. Verfügbar sind ergänzend einzelne Gesundheitsreports der Betriebskrankenkassen (BKK), Gmünder Ersatzkasse (GEK) und Techniker Krankenkasse (TK), die in den letzten Jahren eine Routineberichterstattung aufgebaut haben, die auch Daten zu Arbeitsunfähigkeit, Krankengeldbezug und Arzneimittelverordnungen von Arbeitslosen enthält. Die Auswertungen der Arbeitsunfähigkeitsfälle von BKK und TK zeigen übereinstimmend für das Jahr 2004, dass die bei ihnen pflichtversicherten Arbeitslosen im Vergleich zu pflichtversicherten Beschäftigten überproportional von psychischen und Verhaltensstörungen betroffen waren. Sie wiesen mehr als doppelt bzw. dreifach so viele Arbeitsunfähigkeitstage je 100 Mitglieder mit einer solchen Diagnose auf (BKK, 2005; TK, 2005). Die psychischen und Verhaltensstörungen verursachten bei den BKK-versicherten Arbeitslosen 227 AUTage je 100 Mitglieder im Jahr 2004, bei den pflichtversicherten Arbeitern dage3 Bei pflichtversicherten Beschäftigten verringerten sich die AU-Fälle von rund 31.458.000 im Jahr 2000 auf 26.214.000 im Jahr 2004 bzw. 24.931.000 im Jahr 2006.
80
gen lediglich 107 und bei den Angestellten 106 AU-Tage je 100 Mitglieder (BKK, 2005). Darunter dominierten die affektiven Störungen und Neurosen, die bei den arbeitslosen Frauen insgesamt 85 % und bei den arbeitslosen Männern 64 % der durch psychische und Verhaltensstörungen verursachten AU-Tage ausmachten. Ein besonders großes Gefälle zwischen Arbeitslosen und pflichtversicherten Beschäftigten gibt es bei der (fallzahlenmäßig kleineren) Krankheitsgruppe der psychischen Verhaltensstörungen durch psychotrope Substanzen, insbesondere bei Männern. So beanspruchten männliche Arbeitslose wegen dieser Krankheiten achtmal mehr AU-Tage je 100 Mitglieder als männliche Angestellte und dreieinhalb Mal mehr als männliche Arbeiter. Auffällig sind auch ein siebenfach höherer Wert von männlichen Arbeitslosen bei den durch Schizophrenie verursachten Krankheitstagen im Vergleich zu männlichen Angestellten und ein ca. dreifach höherer Wert im Vergleich zu männlichen Arbeitern. Bei fast allen mit den Krankengeldleistungen erfassten Diagnosegruppen belegt der BKK-Gesundheitsbericht für das Jahr 2004, dass BKK-versicherte Arbeitslose im Vergleich zu beschäftigten BKK-Pflichtmitgliedern deutlich mehr Tage je 100 Mitglieder und mehr Tage je Fall aufweisen (BKK, 2005, S. A2021). Die Unterschiede sind – wie beim Arbeitsunfähigkeitsgeschehen – vor allem bei den psychischen und Verhaltensstörungen und auch in der Untergruppe der Suchterkrankungen außerordentlich hoch. Beim Vergleich der Arbeitsunfähigkeitsdaten von Arbeitslosen mit Beschäftigten ist allgemein zu beachten, dass eine Zunahme von Arbeitslosigkeit zu einem Absinken des Krankenstandes bei Beschäftigten führen kann. Mit der Arbeitslosigkeit steigt die Arbeitsplatzunsicherheit in den Betrieben und hat zur Folge, dass Beschäftigte tendenziell eher Krankmeldungen vermeiden. In einer repräsentativen Befragung von Beschäftigten in Deutschland fürchtete mehr als jeder Dritte der Beschäftigten mit unsicherem Arbeitsplatz, dass Krankmeldungen berufliche Nachteile mit sich bringen (Zok, 2005). Von den Beschäftigten mit sicheren Arbeitsplätzen war es ca. jeder Zehnte.
81
2.1.2.2 Krankenhausbehandlungen, Arzneimittelverordnungen und Mortalität In der Berichterstattung des Bundes wird bei den Krankenhausbehandlungen und auch bei anderen wichtigen Zahlenwerken wie der Krankheitsartenstatistik (KG 8) nicht nach der Versichertengruppe der Arbeitslosen differenziert, so dass nur auf Auswertungen von einzelnen Krankenkassen zurückgegriffen werden kann. Die meisten bisherigen Gesundheitsberichte von Krankenkassen richten sich aber primär auf die Gruppe der Arbeitnehmer, um Informationen für Präventionspotenziale in einzelnen Branchen oder Betrieben zu gewinnen. Besonders aussagekräftig sind die Gesundheitsberichte der GEK und vor allem des BKK Bundesverbandes, der die Leistungsfälle in der Krankenhausbehandlung für Arbeitslose mit Diagnosen routinemäßig ausweist. Die GEK, bei der ca. 1,4 Millionen Menschen krankenversichert sind, wertete in einer wissenschaftlichen Untersuchung die Krankenhausbehandlungen von GEK-pflichtversicherten Arbeitslosen im Vergleich zu den GEKpflichtversicherten Berufstätigen aus (GEK 1999, 2001). Die Häufigkeit von Aufenthaltstagen in Akutkrankenhäusern lag 1998 im Durchschnitt bei arbeitslosen Männern um 63 % und bei arbeitslosen Frauen um 37 % über der von berufstätigen Männern und Frauen. Bei den arbeitslosen Männern zeigte sich ein deutlich schlechterer Gesundheitszustand in allen relevanten Diagnosegruppen. Eine weitere Sekundäranalyse von Daten der GEK-Pflichtversicherten aus dem Jahr 2000 durch Grobe und Schwartz (2003) bestätigte in allen Diagnosekapiteln des ICD-10 für Arbeitslose eine höhere Inanspruchnahme von Krankenhausleistungen im Vergleich zu Beschäftigten (gemessen in Krankenhaustagen). Die Zahl der Krankenhaustage lag bei arbeitslosen Männern 2,3 Mal und bei arbeitslosen Frauen 1,7 Mal höher als bei berufstätigen Männern bzw. Frauen (bezogen auf 1.000 Versicherungsjahre und altersstandardisiert). In der Diagnosegruppe „psychische Störungen“ war die Differenz der stationären Krankenhaustage zwischen Arbeitslosen und Berufstätigen mit Abstand am größten. Diese Befunde über Krankenhausaufenthalte von GEK-Versicherten stehen in Einklang zu aktuellen Gesundheitsberichten der BKK. Mit In-Kraft-Treten der Hartz IV-Reform zum 1.1.2005 nahmen die Krankenhausaufenthalte bei BKKpflichtversicherten Arbeitslosen im Vergleich zu den Vorjahren stark zu. Sie erhöhten sich kontinuierlich weiter in den Jahren 2006 bis 2008 (BKK, 2007, 2008, 2009). Im Jahresdurchschnitt 2008 wurden BKK-versicherte Arbeitslose ca. doppelt so oft wie BKK-pflichtversicherte Beschäftigte stationär behandelt und nahmen 2,8-Mal so viele Krankenhaus-Leistungstage in Anspruch (BKK, 2009). Die BKK-versicherten arbeitslosen Männer wurden mit 248 Krankenhausfällen je 1.000 Versicherte häufiger stationär behandelt als die BKK-
82
versicherten arbeitslosen Frauen mit 227 Krankenhausfällen je 1.000 Versicherte. BKK-versicherte Arbeitslose hatten in allen großen Krankheitshauptdiagnosegruppen mehr Krankenhausfälle je 1.000 Versicherte als die anderen Versichertengruppen der BKK. Häufigste Ursache für einen Krankenhausaufenthalt von Arbeitslosen waren die psychischen und Verhaltensstörungen. In dieser Krankheitsgruppe bestanden die größten Unterschiede im stationären Leistungsgeschehen zwischen Arbeitslosen und pflichtversicherten Beschäftigten, insbesondere bei Männern. BKK-versicherte arbeitslose Männer wurden im Durchschnitt sieben Mal häufiger als BKK-pflichtversicherte beschäftigte Männer wegen psychischen und Verhaltensstörungen stationär im Jahr 2008 behandelt. Die erhöhte Morbidität an psychischen Erkrankungen bei Arbeitslosen wird auch durch die (nicht pflanzlichen) Antidepressiva-Verordnungen verifiziert (TK, 2005, 2008; BKK, 2005, 2009). Im Vergleich zu den beschäftigten BKKPflichtmitgliedern wurde den BKK-versicherten Arbeitslosen im Jahresdurchschnitt 2008 die ca. dreifache Menge von Psychopharmaka verordnet (BKK, 2009). 19 % der BKK-versicherten arbeitslosen Frauen und 13 % der BKKversicherten arbeitslosen Männer erhielten im Jahr 2008 mindestens eine Verordnung eines Psychopharmakons. Dabei stehen die Verordnungen von Antidepressiva im Vordergrund (bei 15 % der BKK-versicherten arbeitslosen Frauen und 12 % der BKK-versicherten arbeitslosen Männer). Seit 2004 hat sich die Verordnungsmenge von Antidepressiva je 1.000 BKK-versicherte Arbeitslose mehr als verdoppelt. Die TK-versicherten arbeitslosen Männer und Frauen wiesen ebenfalls im Jahresdurchschnitt 2007 und 2008 eine deutliche höhere Zahl an Arztkontakten und mehr verschriebene Tagesdosen Arzneimittel als die TK-versicherten beschäftigten Männer und Frauen aus (TK, 2008, 2009). Der vergleichsweise ungünstigere Gesundheitszustand von Arbeitslosen kann zu einem erhöhten Mortalitätsrisiko führen. In Deutschland verdichteten sich in den letzten Jahren die Hinweise auf erhöhte Sterberisiken von Arbeitslosen nach Sekundäranalysen sowohl von Daten der Gesetzlichen Krankenversicherung (Schach et al., 1994; Grobe & Schwartz, 2003; Grobe, 2006;) als auch der Gesetzlichen Rentenversicherung (Scholz & Schulz, 2007) sowie des SOEPPanels (Doblhammer, Muth & Kruse, 2008). Ein höheres Risiko für vorzeitige Mortalität von Arbeitslosen wird in der internationalen Forschung schon seit längerem beobachtet (Morris et al., 1994; Martikainen & Valkonen, 1996; Kasl & Jones, 2002; Voss et al., 2004; Lenthe et al., 2005; Blomgren & Valkonen, 2007; Jagger et al., 2008; Rogge & Kieselbach, 2010; u.a.).
83
Außerdem werden Wirtschaftsrezession und Arbeitslosigkeit mit einer höheren Suizidrate, mehr Suizidversuche und -gedanken in Zusammenhang gebracht (Durkheim, 1951; Brenner, 1973, 2006; Dooley & Catalano, 1988; Fergusson, Horwood & Woodward, 2001; Claussen, 2006). Eine aktuelle empirische Studie zeigt für die 26 Länder der Europäischen Union, dass ein schnelles Anwachsen von Arbeitslosigkeit in Wirtschaftskrisen mit einer signifikanten Steigerung der Suizidraten assoziiert ist (Stuckler, Basu, Suhrcke, Coutts & McKee, 2009). Dabei sind die Effekte von Arbeitslosigkeit auf die Suizidraten in den Ländern, die nur wenig Geld in Programme der aktiven Arbeitsmarktpolitik investieren, größer. 2.1.2.3 Arbeitslosenstatistik der Bundesagentur für Arbeit und Arbeitsmarktberichterstattung Nach der amtlichen Arbeitslosenstatistik wiesen 540.438 von 3.139.846 Arbeitslosen (17,2 %) gesundheitliche Einschränkungen im Jahresdurchschnitt 2009 auf. Der Anteil der Arbeitslosen mit gesundheitlichen Einschränkungen überstieg im Rechtskreis des (steuerfinanzierten) SGB II 4 mit 17,6 % etwas den analogen Anteil von 16,6 % im Bereich des SGB III bei den Beziehern von Leistungen aus der Arbeitslosenversicherung (BA, 2010, S. 158). Eine unterschiedliche Verteilung war auch schon früher zwischen Arbeitslosengeld- und Arbeitslosenhilfebeziehern (mit bedarfsgeprüften Einkommensersatzleistungen) zu beobachten (Hollederer, 2002a). Die Gesundheitsinformationen sind nur zum Teil durch objektive medizinische Atteste validiert, sie geben aber dafür eine Einschätzung der professionellen Arbeitsvermittler und Berater auf ihre Vermittlungsrelevanz und mögliche Arbeitsmarktintegrationshemmnisse wieder. Im Arbeitslosenbestand befanden sich außerdem 5,0 % schwerbehinderte oder Schwerbehinderten gleichgestellte Arbeitslose im Jahresdurchschnitt 2009 (BA, 2010). Die Arbeitslosenstatistik dokumentiert überdies bei Arbeitslosen mit vermittlungsrelevanten gesundheitlichen Einschränkungen ein überdurchschnittliches Risiko für Langzeitarbeitslosigkeit und eine geringere Abgangsquote durch Arbeitsaufnahme (BA, 2010). Multivariate Analysen bestätigen, dass sich ge4 Das SGB II bildet die gesetzliche Grundlage zur „Grundsicherung für Arbeitsuchende“ bzw. „Arbeitslosengeld II“ seit dem 1.1.2005. Durch das vierte Gesetz für moderne Dienstleistungen am Arbeitsmarkt („Hartz IV“) wurden die staatlichen Fürsorgesysteme Arbeitslosenhilfe und Sozialhilfe zu einer einheitlichen Leistung zusammengebracht. Die vorgeschriebenen Aufgaben werden nun in geteilter Trägerschaft durch die Agenturen für Arbeit sowie die kreisfreien Städte und Landkreise erbracht.
84
sundheitliche Einschränkungen bei einem großen Teil von Arbeitslosen als eigenständiger hemmender Faktor bei der Vermittlung auswirken können (Schettkat & Semmlinger, 1982; Brinkmann, 1982; Rudolph, 1998; Gilberg, Hess & Schröder, 2001; Cramer et al., 2002; Brixy, Gilberg, Hess & Schröder, 2002a, 2002b; Hollederer, 2003a; Dietz, Müller & Trappmann, 2009). Gesundheitliche Beeinträchtigungen wirken sich auch stark negativ aus bei Berechnungen der Übergangswahrscheinlichkeiten in den Arbeitsmarkt von ESF-geförderten beruflichen Weiterbildungsteilnehmern (Deeke, Cramer, Gilberg & Hess, 2009) und Teilnehmern von Qualifizierungsmaßnahmen während Kurzarbeit (Deeke & Ohlert, 2009). Gesundheitliche Einschränkungen gehen mit deutlich geringeren Suchaktivitäten einher, die nach einer internationalen Meta-Analyse von Kanfer, Wanberg & Kantrowitz (2001) in Verbindung mit der Arbeitsplatzfindung stehen. Kronauer und Vogel (1993) folgerten nach qualitativen Interviews, dass Langzeitarbeitslose „ihre Arbeitssuche in der Regel einstellen, um die wachsende und unerträgliche Diskrepanz zwischen ihren Hoffnungen auf eine Wiederbeschäftigung und den Signalen, die sie bei Bewerbungen erhalten und die alle gegen diese Hoffnungen sprechen, zu bewältigen“. In der Meta-Analyse von McKeeRyan, Song, Wanberg & Kinicki (2005) korrelierten innerhalb der Gruppe der Arbeitslosen Anstrengungen zur Arbeitsuche mit etwas niedrigerer psychischer Gesundheit. Auf der anderen Seite zeigen ausländische Erfahrungen, dass präventive Gruppenprogramme zur Arbeitsuche sowohl die Chancen auf Wiedereingliederung als auch die psychische Gesundheit verbessern können (Vuori & Silvonen, 2005). 2.1.3 Gesundheits- und Suchtverhalten von Arbeitslosen Der nächste Abschnitt zielt nun auf Unterschiede im Suchtverhalten zwischen den Erwerbsstatusgruppen ab, die möglicherweise zu den beobachteten Gesundheitsunterschieden beitragen. Das Gesundheits- und Suchtverhalten stellt in der Ätiologie von vielen Krankheitsgruppen bekanntermaßen einen gewichtigen Einflussfaktor dar. Nach dem Modell von Mielck könnte soziale Ungleichheit aber auch über die bestehenden Lebensverhältnisse das Gesundheitsverhalten prägen und sich dadurch indirekt auf den Gesundheitszustand auswirken (vgl. Abbildung 3).
85
2.1.3.1 Arbeitslosigkeit und Sucht Die starke Verbreitung von Drogen stellt eine der größten gesamtgesellschaftlichen Herausforderungen in Deutschland dar. Speziell zu den wechselseitigen Bezügen von Drogenkonsum und Arbeitslosigkeit gibt es eine Reihe von Forschungsansätzen (Hanisch, 1999; Henkel & Zemlin, 2008). So könnte der Missbrauch von Alkohol oder „harten“ Drogen bei Erwerbstätigen zum Arbeitsplatzverlust führen und eine weitere Aufrechterhaltung des Drogenkonsums während der Arbeitslosigkeit die Wiedereingliederungschancen reduzieren. Eine Alternativhypothese geht davon aus, dass mit der Arbeitslosigkeit die Wahrscheinlichkeit des Alkoholkonsums steigt. Ein Substanzmissbrauch bei Arbeitslosen könnte als Reaktion auf Depression und Ängste interpretiert werden (Brenner, 2006). Im Sinne des „Problemverhaltens“ (Jessor & Jessor, 1977) ist ein erhöhter Konsum von Drogen auch als Teil einer Coping-Strategie bzw. als Versuch zu verstehen, Probleme und Belastungssituationen zu bewältigen. Disstress durch Arbeitslosigkeit steht im Verdacht, Menschen zu einem epidemiologisch auffälligen Suchtverhalten wie Alkoholmissbrauch zu verleiten (Catalano, 1991). Gleichzeitig kann ein verstärkter Suchtmittelkonsum aber neue gesundheitliche Beeinträchtigungen verursachen und zu suchtbedingten Erkrankungen führen. Arbeitslosigkeit gilt umkehrt als eines der größten Probleme bei der gesellschaftlichen (Re-)Integration vormals Alkohol- und Drogenabhängiger. Deshalb kann die frühzeitige berufliche Integration von Suchtkranken in hohem Maße zur Sicherung des Therapieerfolges beitragen. Sie ist ein Ziel bereits in der medizinischen Rehabilitation (Weissinger, 2008). Bisher liegen in Deutschland nur wenige Daten über Suchterkrankungen von Arbeitslosen vor, da Arbeitslose in relevanten nationalen Statistiken wie der Krankheitsartenstatistik nicht extra ausgewiesen und Suchterkrankungen in der amtlichen Arbeitslosenstatistik unter gesundheitlichen Einschränkungen subsummiert werden (siehe auch Kap. 2.1.2). Eine Vielzahl von nationalen wie internationalen Studien bestätigen aber bei Arbeitslosen höhere Prävalenzraten riskanter Alkohol- und Drogenkonsummuster im Vergleich zu Beschäftigten (Überblick Henkel, 2008). In den Gutachten des Ärztlichen Dienstes der Bundesagentur für Arbeit sind ebenfalls besonders häufig psychische und Verhaltensstörungen durch psychotrope Substanzen wie Alkohol vor allem bei Männern attestiert worden (Hollederer, 2008b). Im repräsentativen Bundesgesundheitssurvey 1998 (Grobe & Schwartz, 2003) und im telefonischen Gesundheitssurvey 2003 (Lampert & Ziese, 2005) war der Alkoholkonsum von Arbeitslosen jedoch nicht höher als der von Erwerbstätigen.
86
Eine Studie bei Versicherten der Kaufmännischen Krankenkasse (2006) legt dagegen offen, dass arbeitslose Männer zwanzigfach häufiger als berufstätige Männer sowie arbeitslose Frauen neunfach häufiger als berufstätige Frauen von Alkoholproblemen betroffen sind. Die überproportional hohen Raten an Suchterkrankungen von Arbeitslosen werden auch durch die Statistiken der ambulanten und stationären Suchtkrankenhilfe bestätigt (Henkel, 2008). 42 % der Alkoholklienten und 60 % der Opiatklienten, die in ambulanten Einrichtungen im Jahr 2007 betreut wurden, waren nach der deutschen Suchthilfestatistik vorher arbeitslos (Pfeiffer-Gerschel et al., 2008). In wissenschaftlichen Untersuchungen mit mehreren Messzeitpunkten konnte meistens kein Zusammenhang zwischen Arbeitslosigkeit und einer zunehmenden Rate von Alkoholkonsumenten festgestellt werden. Bei schon vorhandenen Konsummustern wurde bei Arbeitslosen in einzelnen Studien eine Intensivierung der Alkoholaufnahme beobachtet (Henkel, 1992; Dauer, 1999; Virtanen et al., 2008). Ansonsten zeigen bisherige Längsschnittstudien, dass die meisten Arbeitslosen ihre Alkoholkonsummuster in Arbeitslosigkeit kaum verändern (vgl. Henkel, 2008). 2.1.3.2 Rauchverhalten von Arbeitslosen Das Rauchen ist im Vergleich zur Alkohol- oder Opiatabhängigkeit ein bisher wenig beachtetes Gesundheitsproblem bei Arbeitslosen. Die WHO hat aufgrund des Abhängigkeitspotentials das Tabakrauchen nach dem ICD-10 als Suchtkrankheit eingestuft. Viele theoretische Erklärungsansätze zum Rauchbeginn berücksichtigen, dass das Tabakrauchen einem schrittweisen Entwicklungsprozess unterliegt, dessen Verlaufsform insbesondere von Motiven und Erwartungen abhängig ist (Russel, 1974; Flay, 1993; Fuchs & Schwarzer, 1996; Mayhew, Flay & Mott, 2000; u.a.). Für die langfristige Aufrechterhaltung des Tabakkonsums wird vor allem die Nikotinabhängigkeit neben psychologischen, habituellen und genetischen Einflussfaktoren verantwortlich gemacht (Tonnesen, 2009). Es gibt aber nur wenige belastbare Erklärungsmodelle für die auffällig hohen Tabakprävalenzraten von Arbeitslosen. Eine Reihe von epidemiologischen Studien zeigt enge Zusammenhänge zwischen Arbeitslosigkeit und einer erhöhter Prävalenz des Tabakrauchens (vgl. Kurella, 1992; Henkel, 2008). Die wichtigste Datenquelle zum Tabakkonsum von Erwerbslosen ist in Deutschland der Mikrozensus. Die Fragen zu den Rauchgewohnheiten wurden wiederholt mit dem Zusatzfragenteil zur Gesundheit
87
gestellt. Erwerbslose rauchten demnach über alle Altersgruppen hinweg wesentlich häufiger und intensiver als Erwerbstätige und Nichterwerbspersonen. In den jüngeren Altersgruppen ist der Unterschied besonders bedeutend. Das ergeben die Auswertungen der Mikrozensus-Befragungen der Jahre 1989 (Brückner, 1991), 1995 (Helmert, 1999, 2003), 1999 (Dittrich, 2001) und 2003 (StaBu, 2004). Auch der Mikrozensus 2005 belegt nach ersten Auswertungen des Statistischen Bundesamtes die besonders hohen Tabakprävalenzen bei Erwerbslosen (StaBu, 2006b). Diese Hauptergebnisse sind kongruent mit vergleichenden Untersuchungen im 1. Nationalen Gesundheitssurvey (Bormann, 1992) und dem telefonischen Gesundheitssurvey 2003 (Lampert & Burger, 2005). Mit Daten des Gesundheitssurveys 1990-1992 konnte demonstriert werden, dass die Raucherprävalenz bei Kumulation von Armut und Arbeitslosigkeit höher ist als in den Personengruppen mit nur einem dieser beiden Merkmale (Helmert & Maschewsky-Schneider, 1998). Beim Bundesgesundheitssurvey 1998 ermittelte Bormann (2006) ebenfalls deutlich erhöhte Raucherprävalenzen für arbeitslose Männer und Frauen im Vergleich zu Erwerbstätigen. Dagegen fanden Rose und Jacobi (2006) in ihrer Zusatzauswertung des Bundesgesundheitssurveys 1998 nach Adjustierung von Alter und Schicht keine signifikanten Assoziationen mehr. Eine höhere Raucherprävalenz unter Arbeitslosen im Vergleich zu Beschäftigten bedeutet nicht per se, dass vermehrter Tabakkonsum kausal auf die Arbeitslosigkeit zurückzuführen ist. Rauchen wird häufig in der Kindes- und Jugendzeit begonnen und dann in den späteren Lebensphasen aufrechterhalten (BZgA, 2006). Mehrere Untersuchungen erkannten einen Zusammenhang von Rauchbeginn im Kindes- und Jugendalter und niedrigem sozioökonomischen Status (Semmer et al., 1991; Conrad, Flay & Hill, 1992). Die Kinder- und Jugendgesundheitsstudie KIGGS zeigt für Deutschland, dass in der Hauptschule Jungen fast fünfmal und Mädchen dreimal häufiger rauchen als die gleichaltrigen Jungen und Mädchen am Gymnasium (Lampert & Thamm, 2007). Eine niedrigere allgemeine Schulbildung erhöht das Risiko für Arbeitslosigkeit, so dass sich dadurch ein höherer Anteil rauchender Arbeitsloser erklären lässt. Auf Selektionseffekte weisen auch englische Studien hin. Die „Britische regionale Herzstudie“ ergibt bei einer Kohortenstudie, dass Arbeitslose im Vergleich zu Beschäftigten mehr rauchen, weil sie vor dem Arbeitsplatzverlust schon stärker rauchten (Morris, Cook & Shaper, 1992). In einer finnischen Kohortenstudie mit 10.000 Befragten konnte keine Assoziation zwischen Rauchverhalten und Wechsel im Erwerbsstatus in einem Fünfjahreszeitraum gefunden werden (Virtanen et al., 2008). Helmert (1999, 2003) macht darauf aufmerksam, dass die höhere Rückfallquote von Arbeitslosen bei Aufgabe des Tabakkonsums zu den beobachten Un-
88
terschieden beiträgt. Im Mikrozensus 1995 lag der Anteil der Ex-Raucher an allen bisher Rauchenden bei Beziehern von Arbeitslosenunterstützung deutlich unter dem Durchschnitt (Helmert, 1999, 2003). In einer englischen Längsschnittstudie, die den Werdegang einer Geburtskohorte von 1958 begleitete, beendeten Männer, die wenig Arbeitslosigkeit erfuhren, das Rauchen in höherem Maße (Montgomery, Cook, Bartley & Wadsworth, 1998). Die unterschiedlichen Tabakprävalenzen zwischen Arbeitslosen und Beschäftigten verstärken jedenfalls in der Konsequenz die gesundheitliche Ungleichheit. Tabakrauchen gilt als der wichtigste Einzelfaktor für verhütbare Morbidität und vorzeitige Mortalität. Es ist ein Hauptrisikofaktor für die drei häufigsten Todesursachen von Menschen, nämlich für kardiovaskuläre Erkrankungen, Krebserkrankungen und Atemwegserkrankungen (vgl. Überblicksarbeiten Meltzer, 1994; Clancy, 2009 u.a.). Die Abhängigkeit vom Zigarettenrauchen ist nicht nur die häufigste allgemeine Form von Drogenabhängigkeit, sie ist auch die, die mehr Tod und Krankheit verursacht als alle anderen zusammen (USDHHS, 1994). Das erhöhte Mortalitätsrisiko von Rauchern nimmt mit der Dauer des Tabakkonsums weiter zu. Frühere Studien zeigen, dass die Todesraten für Raucher im Alter von 35-69 Jahren dreimal höher als bei Nichtrauchern sind (WHO, 1997). Die Tabakabhängigkeit birgt aber nicht nur ein größeres Risiko von Krankheiten, sondern entzieht – wie auch andere Suchtabhängigkeiten - den Konsumenten durch die Beschaffungskosten erhebliche finanzielle Ressourcen. Es führt damit gerade für die unteren Einkommensschichten und die arbeitslosen Bezieher von Transferleistungen zu zusätzlichen massiven Belastungen. Die Aufrechterhaltung des Tabakkonsums in Arbeitslosigkeit verstärkt die Verarmungsprozesse. 2.1.3.3 Inanspruchnahme von Maßnahmen der Primärprävention nach § 20 SGB V Das Krankenkassenaufgabengesetz schreibt für die Primärprävention nach § 20 Abs. 1 SGB V vor, dass die Krankenkassen „Leistungen erbringen sollen, die den allgemeinen Gesundheitszustand verbessern und zugleich einen Beitrag leisten zur Verringerung sozial bedingter Ungleichheit von Gesundheitschancen“. Wie in den vorherigen Kapiteln ausgeführt, haben Arbeitslose im Vergleich zu Beschäftigten ein stark erhöhtes Morbiditätsrisiko und nehmen mehr Leistungen in der Krankenversorgung in Anspruch. Gleichzeitig nutzen sie aber in geringerem Ausmaß präventive Angebote der gesetzlichen Krankenversicherung.
89
Über den Erreichungsgrad der Arbeitslosen durch Maßnahmen der Primärprävention nach § 20 SGB V gibt es nur spärliche Informationen. In der routinemäßigen Leistungsdokumentation der Krankenkassen fehlen bedauerlicherweise die sozioökonomischen Daten der Kursteilnehmer und Zielgruppen wie nach Erwerbsstatus, Einkommen oder Bezug von öffentlichen Leistungen (MDS, 2007). Eine publizierte Gegenüberstellung von Kursteilnahmequoten von BKKVersicherten zeigt auf, dass die Kurse nach § 20 SGB V generell von Männern wenig in Anspruch genommen werden und dass Arbeitslose sowohl bei Männern als auch bei Frauen ganz erheblich unterrepräsentiert sind (vgl. RKI, 2006, S. 132). Es besteht also eine große Diskrepanz zwischen dem Bedarf an Präventions- und Gesundheitsförderungsleistungen und der tatsächlichen Inanspruchnahme. Befragungen von Arbeitslosen belegen indessen prinzipielles Interesse an gesundheitsfördernden Angeboten wie zur Bewegung oder Stressbewältigung sowie vorhandene Motivation zur Teilnahme (Wobbe & Burkard, 2006). Ein Hindernisgrund zur Teilnahme ist häufig im Geldmangel für die Zuzahlung und Vorauslage begründet. Im Sinne der Bedarfsgerechtigkeit sind daher neue Ansprachestrategien und großzügige Abrechnungsmodalitäten für die Angebote der Prävention und Gesundheitsförderung bei Arbeitslosen zu entwickeln. Kirschner (2009) macht auf die Notwendigkeit der Bedarfs- und Angebotsorientierung solcher Maßnahmen für diese Zielgruppe aufmerksam. 2.1.3.4 Zusammenfassung von Kapitel 2.1 Die Gesamtschau aller relevanten deutschen Statistiken, Auswertungen der Sozialversicherungsdaten sowie Ergebnisse von entsprechenden Repräsentativerhebungen ergeben trotz unterschiedlicher empirischer Zugänge eine übereinstimmende Befundlage: Arbeitslose weisen einen deutlich schlechteren Gesundheitszustand im Vergleich zu Beschäftigten auf. Das Morbiditätsrisiko von Arbeitslosen ist im Vergleich zu Beschäftigten vor allem im Bereich der psychischen Erkrankungen deutlich erhöht. Es steigt mit zunehmender Dauer der Arbeitslosigkeit stark an. Beeinträchtigungen des psychischen Befindens von Arbeitslosen wurden in der Forschung anhand verschiedener Indikatoren verifiziert, darunter Depressionssymptome, Angstsymptome, subjektives Wohlbefinden, Selbstwertgefühl und unspezifische psychische Beanspruchungssymptome. Nach der GKV-Statistik dauern die Arbeitsunfähigkeitsfälle von Arbeitslosen durchschnittlich mehr Tage je Fall an als bei den Beschäftigten. Wie die Gesundheitsberichte einzelner Krankenkassen dokumentieren, werden von Arbeitslosen mehr Leistungen der stationären Kranken-
90
versorgung im Verhältnis zu Beschäftigten in Anspruch genommen und Arbeitslose erhalten in höherem Maße Antidepressiva verordnet. Für Arbeitslose besteht ein gesteigertes Risiko für vorzeitige Mortalität. Verglichen mit Beschäftigten ist bei Arbeitslosen aber nicht nur ein schlechterer Gesundheitszustand, sondern auch ein ungünstigeres Gesundheits- und Suchtverhalten zu konstatieren. Gleichzeitig ist die Inanspruchnahme von Leistungen der Früherkennung, Prävention und Gesundheitsförderung geringer. Arbeitslose mit gesundheitlichen Einschränkungen haben im Durchschnitt deutlich schlechtere Wiedereingliederungschancen auf dem Arbeitsmarkt. Multivariate Studien identifizieren gesundheitliche Einschränkungen von Arbeitslosen als ein eigenständiges Hindernis bei der Arbeitsvermittlung und Arbeitsuche. 2.2 Gesundheitsbezogene Interventionsansätze bei Arbeitslosen in Deutschland Die empirischen Ergebnisse über die Gesundheitszustände von Arbeitslosen erhärten die theoretischen Überlegungen in Kap. 1 über die Gesundheitsbelastungen durch Arbeitslosigkeit, auch wenn die Komplexität des Problems durch die medizinischen Erhebungszwecke und Messmethoden meist stark reduziert wird. Die Befundlage und die Theorien über die Wechselwirkungen von Gesundheit und Arbeitslosigkeit zeigen insgesamt einen hohen Bedarf an spezifischen Ansätzen der Prävention und Gesundheitsförderung auf. Hammarström und Janlert (2005) bezeichneten den Ausbau der internationalen Interventionsforschung bei Arbeitslosen als „Herausforderung für Public Health“. Sie ist auch in Deutschland noch unterentwickelt (vgl. Hollederer & Brand, 2006; u.a.). In den nachfolgenden Abschnitten wird der aktuelle Stand gesundheitsbezogener Interventionsansätze bei Arbeitslosen in Deutschland beschrieben. Nach wichtigen Begriffsbestimmungen werden folgende drei Interventionsbereiche vorgestellt:
Maßnahmen der Beschäftigungsförderung und psychosoziale Trainings Beschäftigungsorientierte Fallmanagementkonzepte mit Gesundheitsbezug Projekte der arbeitsmarktintegrativen Gesundheitsförderung.
2.2.1 Begriffe Prävention und Gesundheitsförderung Das Wort Prävention hat seinen Ursprung im lateinischen Verb „prä-venire“ und bedeutet übersetzt „zuvor-kommen“. Der Präventionsbegriff findet sowohl Ver-
91
wendung in der Beschäftigungsförderung und den SGB II/III im Sinne von Vermeidung von Arbeitslosigkeit) als auch im Bereich Krankheitsverhütung. Die Vorbeugung von Krankheiten wird üblicherweise in primäre, sekundäre und tertiäre Prävention eingeteilt. Diese Kategorisierung und die damit verbundenen Strategien beschreibt Hurrelmann (2000) folgendermaßen: 1.
2.
3.
Primäre Prävention richtet sich darauf, im Vorfeld einer Krankheitsentwicklung die Widerstandskräfte zu stärken, das Auftreten einer Krankheit möglichst ganz zu vermeiden oder doch zumindest die Verbreitung einer Krankheit so niedrig wie möglich zu halten. Sekundäre Prävention richtet sich darauf, die Wahrscheinlichkeit und das Ausmaß der Ausbreitung und die der Dauer einer Krankheit zu reduzieren. Sie spricht in erster Linie Menschen an, die bereits eindeutige Anzeichen einer Krankheit zeigen, zum Beispiel Herzrhythmusstörungen oder Atemprobleme. Tertiäre Prävention richtet sich darauf, die Schwere einer Krankheit und ihre Verschlimmerung (Funktionseinschränkungen, Begleiterkrankungen) zu reduzieren. Sie ist auf Menschen gerichtet, die bereits an einer Krankheit in einem vorgerückten Stadium leiden.
Übertragen auf den Suchtbereich entsprechen der primären Prävention z.B. die Verhütung des Rauchens bei noch nicht Rauchenden und der sekundären Prävention z.B. die Tabakentwöhnung und Aufrechterhaltung der Abstinenz bei Rauchern (Schwarzer, 1996). Die Gesundheitsförderung zielt dagegen laut der Ottawa-Charta der WHO (1986) auf einen Prozess, allen Menschen ein höheres Maß an Selbstbestimmung über ihre Gesundheit zu ermöglichen und sie damit zur Stärkung ihrer Gesundheit zu befähigen. Gesundheit wird als prozesshaftes Geschehen beschrieben, das „geschaffen und gelebt“ wird, wo die Menschen „spielen, lernen, arbeiten und lieben“. Gesundheit entsteht nach der Ottawa-Charta dadurch, dass man sich um sich selbst und für andere sorgt, dass man in die Lage versetzt ist, selber Entscheidungen zu fällen und eine Kontrolle über die eigenen Lebensumstände auszuüben sowie dadurch, dass die Gesellschaft, in der man lebt, Bedingungen herstellt, die all ihren Bürgern Gesundheit ermöglichen. Die Gesundheitsförderung unterstützt die Entwicklung von Persönlichkeit und sozialen Fähigkeiten durch Information, gesundheitsbezogene Bildung sowie die Verbesserung sozialer Kompetenzen und lebenspraktischer Fertigkeiten. Die Ottawa-Charta unterstreicht die integrierte Bedeutung sozialer und individueller Ressourcen für Gesundheit. Als Handlungsstrategie für Gesundheitsförderung formuliert die Ottawa-Charta die Anwaltschaft für Gesundheit („Interessen vertreten“), Kompetenz-
92
förderung („befähigen“) und vernetzen. Prioritäre Handlungsfelder sind die Entwicklung persönlicher Kompetenzen, die Unterstützung gesundheitsbezogener Gemeinschaftsaktionen, die Neuorientierung der Gesundheitsdienste, die Schaffung gesundheitsfördernder Lebenswelten und die Entwicklung einer gesundheitsfördernden Gesamtpolitik. Die Gesundheitsförderung fokussiert in der Praxis sehr häufig sozial benachteiligte und vulnerable Gruppen (Naidoo & Wills, 2000). In den wissenschaftlichen Diskussionen werden die Begrifflichkeiten nicht einheitlich benutzt. In der Praxis werden die Bezeichnungen Gesundheitsförderung und Prävention häufig sogar synonym verwendet. Solche Unschärfen sind auch bei der Verwendung des Begriffs „arbeitsmarktintegrative Gesundheitsförderung“ anzutreffen. Bisherige Präventionsstrategien für Arbeitslose gehen in den Zieldefinitionen i.d.R. über die übliche Krankheitsverhütung oder Erhöhung allgemeiner Gesundheitsressourcen hinaus, da sie den Erhalt bzw. die Wiederherstellung der Beschäftigungsfähigkeit fokussieren und häufig sogar die Arbeitsmarktintegration direkt anstreben. Diese Besonderheit der Arbeitsmarktorientierung manifestiert sich in dem Sammelbegriff „arbeitsmarktintegrative Gesundheitsförderung“. Der Ansatz kombiniert vor allem Maßnahmen der Gesundheitsförderung mit der Arbeitsförderung. In der Praxis kommen bisher vorwiegend verhaltens- und selten verhältnisorientierte Maßnahmen zur Anwendung. In den Umsetzungsstrategien der Gesundheitsförderung ist zu beachten, dass die Maßnahmen nicht an der Arbeitslosigkeit selbst, sondern nur an den mittelbaren Ursachen und Moderatorvariablen ansetzen können. Sie wirken damit sozialkompensatorisch. Für den langfristigen Erfolg der Präventionsmaßnahme ist es notwendig, die Veränderungen im Lebensalltag von Arbeitslosen abzusichern, da bei Menschen mit formaler Geringqualifikation mit größerer Wahrscheinlichkeit Probleme in der Adaption des Gelernten auftreten (Rosenbrock & Grimmeisen, 2009; Rosenbrock, 2004). Bei den präventiven Strategien für Arbeitslose bestehen aus Sicht des Sachverständigenrats im Gesundheitswesen (SVR) im Gutachten 2007 daher u.a. folgende besondere Herausforderungen: 1. 2. 3.
die Verzahnung von Prävention und Gesundheitsförderung mit Maßnahmen der Arbeitsförderung, die Verknüpfung von Maßnahmen der Primärprävention mit der Sekundärund Tertiärprävention, eine bedarfsgerechte Ausdifferenzierung der Präventionsangebote auf die unterschiedlichen Arbeitslosengruppen,
93
4. 5.
Konzeptentwicklung bei lückenhafter Datenlage zur Wirksamkeit der Programme im Bereich der Gesundheitsförderung und Prävention bei Arbeitslosen, schlechte Erreichbarkeit der Zielgruppen sowie die schlechte Annahme bzw. Akzeptanz. (SVR, 2007, S. 668-669)
Allerdings muss laut Sachverständigenrat jede Präventionsstrategie „berücksichtigen, dass die gesundheitlichen Probleme von Arbeitslosen in erster Linie durch die Verringerung von Arbeitslosigkeit bzw. durch die Verringerung der Dauer von Arbeitslosigkeit gelöst werden können“ (SVR 2007, S. 667). Ist eine erfolgreiche Integration in den Arbeitsmarkt z.B. aus Mangel an offenen Stellen (noch) nicht möglich, stellt sich zunächst die Frage nach geeigneten Förderinstrumenten der aktiven Arbeitsmarktpolitik und – aus Public Health-Perspektive – ihrer Wirkung auf die Gesundheit der Zielgruppe. In den nächsten beiden Abschnitten werden daher die regulären Maßnahmen der Beschäftigungsförderung und das beschäftigungsorientierte Fallmanagement erörtert, bevor im letzten Abschnitt der Stand der arbeitsmarktintegrativen Gesundheitsförderungsprojekte präsentiert wird. 2.2.2 Maßnahmen der Beschäftigungsförderung und psychosoziale Trainingsmaßnahmen Über die Auswirkungen regulärer Eingliederungsmaßnahmen auf die psychische Gesundheit von Arbeitsuchenden liegen nur wenige wissenschaftliche Studien vor. International werden die Wirkungen von Arbeitsmarktprogrammen auf das psychische Wohlbefinden von Arbeitslosen in der Literatur als sehr begrenzt beschrieben (Winefield & Carson, 2006). In Deutschland wurde bei verschiedenen Regelförderungsinstrumenten der aktiven Arbeitsmarktpolitik ein positiver Einfluss auf die psychische Gesundheit untersucht und dann auch festgestellt. Der Effekt hielt aber generell meist nur kurz an oder erzielte lediglich kleine Wirkgrößen, wie die folgenden Studien zeigen:
94
Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen (ABM): In einer kleineren Erhebung bei ABM-Beschäftigten berichtete die Hälfte der Befragten einen positiven Einfluss auf ihre Gesundheit durch diese Maßnahme (Swart & Mächler, 2000). Programm Jump: Die Evaluation des deutschlandweiten Sofortprogramms zum Abbau der Jugendarbeitslosigkeit (Jump) ergab zumindest für die
westdeutschen Teilnehmer ein Jahr nach der Maßnahme eine Stabilisierung oder den Erhalt der seelischen Gesundheit (Behle, 2006). TAURIS-Projekt: Kurzzeitige Effekte auf Wohlbefinden und Kohärenzgefühl sowie eine Abnahme von Depression wurden auch bei gemeinnützigen Aufgaben im TAURIS-Projekt auf einem beachtlichen Niveau beobachtet (Richter & Nitsche, 2002), die aber ebenfalls nicht langfristig aufrecht erhalten werden konnten. Das TAURIS-Projekt demonstrierte außerdem, dass gemeinnützige Aufgabenwahrnehmung den Wiedereintritt in den Arbeitsmarkt erleichtern kann. „Pilotprojekt Werkstatt 90“: Bei der Begleitevaluation einer Reintegrationsmaßnahme mit u.a. sozialpädagogischer Betreuung wurde ebenfalls eine psychische Stabilisierung während der Maßnahme wahrgenommen (Kieselbach, Klink, Scharf & Schulz, 1998).
Diese Ergebnisse lassen durchaus einen Impact der allgemeinen aktiven Arbeitsmarktpolitik auf die Gesundheit von Arbeitslosen in Deutschland annehmen und können auch theoretisch erklärt werden, wenn die Maßnahmen z.B. latent psychischen Deprivationsprozessen entgegen wirken. Hier besteht weiterer Forschungsbedarf! Gesundheitsindikatoren werden bisher zu selten als OutcomeVariablen in der etablierten Evaluationsforschung von Arbeitsmarktprogrammen aufgenommen. Otto und Mohr (2009) kommen in einer vergleichenden Überblicksarbeit zu dem Ergebnis, dass die Teilnahme an eigens konzipierten Interventionsprogrammen zur Förderung der psychosozialen Gesundheit von Langzeiterwerbslosen sowohl die Wiedervermittlungsquote als auch die psychische Gesundheit der Teilnehmer verbessert. Paul und Moser (2009a, 2009b) belegen ebenfalls metaanalytisch in einer Moderationsanalyse, dass sich Interventionsmaßnahmen für Arbeitslose auf die psychische Gesundheit positiv auswirken. Bei Längsschnittstudien mit Interventionen erwiesen sich die erfassten Parameter für psychische Gesundheit im Sample als hochsignifikant besser wie in Studien ohne Interventionen. Die Effektivität solcher psychologischen Interventionsansätze ist damit als evident zu bezeichnen. In beiden Studien erweisen sich die positiven Effekte der Interventionen aber als zeitlich nicht stabil, so dass vor allem bei den Effektgrößen und der Nachhaltigkeit Entwicklungsbedarf besteht. International werden vor allem drei Typen von Interventionen bei Arbeitslosen ausgemacht, nämlich Stress Management, „Job Club“-Interventionen und berufsbezogene Interventionen wie Bewerbungstrainings (Hanisch, 1999). Mohr (2009) unterscheidet die Angebote weiter in „selbstregulative Maßnahmen“, bei denen sich Arbeitslose wie in den Job Clubs gegenseitig unterstützen, und Maß-
95
nahmen mit externen Trainern. Die Maßnahmendauern und Zielgruppen sind in der bisherigen Praxis sehr heterogen. Jones (1991) schlägt einen Mix an sequenziellen Interventionen und Dienstleistungen für Arbeitslose vor, die parallel zu den Zeiten, in denen entsprechende Symptome im Verlauf der Arbeitslosigkeit entwickelt werden, angeboten werden sollten: 1. 2. 3. 4. 5. 6.
Informations- und Wissensvermittlung sowie Aspekte der Jobsuche Gruppenarbeit bei sechs Monaten Arbeitslosigkeit mehr individualisierte Dienstleistungen wie Beratung, insbesondere um Stellensuche aufrechtzuerhalten Unterschiede von „konstruktiver“ und „resignativer“ Anpassung in Bezug auf Zeitstruktur, Aktivitäten, Selbstwertgefühl etc. Selbsthilfestrategien in Gruppen weitere spezifische Arbeitshilfen für vulnerable Gruppen usw.
Bisherige größere Programme wie „The Michigan JOBS Program“ (Price & Vinokur, 1995) sind meist multimodal angelegt und integrieren neben Bewerbungstrainings verschiedene Elemente des sozialen Lernens z.B. auf Basis der Theorie der Selbstwirksamkeit von Bandura (1992, 1995). Im Sinn von Bandura wird unter Selbstwirksamkeit (oder Kompetenzerwartung) die subjektive Gewissheit verstanden, Probleme und Aufgaben aufgrund eigener Handlungskompetenzen lösen zu können. Mohr (2009) betont, dass es bei Erwerbslosen „erste Aufgabe sein muss, deren psychische Stabilität zu sichern“, da depressive Personen sich in Bewerbungssituationen nicht positiv darstellen können. Gleichzeitig haben sie nicht die Ressourcen, um Misserfolgserlebnisse ohne Selbstwertschädigungen zu bewältigen. Mohr plädiert daher für Qualität statt Quantität in den Bewerbungsverfahren und ein Stressinokulationstraining zum Umgang mit Misserfolgen. Andere Ansätze wie der Selbsthilfe haben sich aus verschiedenen Gründen nur in relativ bescheidenem Umfang in Form von Arbeitsloseninitiativen oder –zentren etablieren können und weisen kaum explizite Gesundheitsbezüge auf. Sie sind eine Seltenheit in Deutschland geblieben (Rosenbrock, 1998). Bei ehrenamtlichen Arbeitsloseninitiativen braucht es einen hohen Selbstorganisationsgrad in einem gesellschaftlich schwierigen Umfeld, der gerade bei gefährdeten Arbeitslosen nicht vorausgesetzt werden kann. Bei Initiativen mit professioneller Betreuung ist vor allem die ungesicherte Finanzierung ein organisatorisches Hindernis für kontinuierliche und mengenmäßig relevante Beratungsangebote. Dabei böte die psychosoziale Beratung von Arbeitslosen generell gute
96
Ansatzpunkte, sowohl in der Einzelberatung (Rogge, 2009a) als auch in stabilisierenden Gruppenangeboten (Kuhnert & Kastner, 2009). Große Bedeutung haben daher für Erwerbslose die Maßnahmenangebote der aktiven Arbeitsmarktpolitik. Allerdings gibt es bei der routinemäßigen Zugangssteuerung in Maßnahmen in Deutschland offenbar eine Selektivität, die genau in die entgegengesetzte Richtung für Arbeitslose mit gesundheitlichen Einschränkungen geht. Berhard, Wolff und Jozwiak (2006) wiesen für Arbeitslose mit gesundheitlichen Einschränkungen im SGB II-Rechtskreis nach, dass diese im Februar 2005 eben nicht gezielt durch betriebliche und nichtbetriebliche Trainingsmaßnahmen sowie durch Beauftragungen Dritter mit Teilaufgaben oder der gesamten Vermittlung gefördert wurden. Die Arbeitslosen mit gesundheitlichen Einschränkungen hatten für diese vier Maßnahmenarten eine geringere Teilnahmewahrscheinlichkeit als vergleichbare Personen. Durch solche „Creaming“-Effekte in der Maßnahmenzuweisung, auf die im SGB IIRechtskreis kein Rechtsanspruch besteht, werden schwerer vermittelbare Arbeitslose mit gesundheitlichen Einschränkungen systematisch benachteiligt. Völlig unerforscht sind außerdem noch etwaige Gesundheitsauswirkungen von allgemeinen Geschäftspolitiken und Fachverfahren der BA bzw. der ARGEn und kommunalen Träger, die unter den neuen Prinzipien von „Fordern und Fördern“ und Sanktionierungsmöglichkeiten im SGB II-Rechtskreis Prozesse der finanziellen und psychischen Deprivation gegebenenfalls beschleunigen oder abmildern können. 2.2.3 Fallmanagement für Arbeitslose mit gesundheitlichen Einschränkungen Das beschäftigungsorientierte Fallmanagement könnte zukünftig zu Verbesserungen in der Zugangs- und Leistungssteuerung sowie der engeren Verzahnung von Maßnahmen der Beschäftigungs- und Gesundheitsförderung beitragen (Hollederer, 2006, 2007a, 2008b; Elkeles & Michel-Schwartze, 2009). Das Fallmanagement wird derzeit im System der Beschäftigungsförderung in Deutschland etabliert. Parallel wird es in vielen Bereichen des Sozial- und Gesundheitswesens schon länger praktiziert (vgl. Ewers & Schaeffer, 2000; u.a.). In Deutschland orientieren sich die bisherigen Fallmanagementkonzepte für den Arbeitsmarkt vor allem an der Begriffsbestimmung der Case Management Society of America (Deutscher Verein, 2004; MWA, 2002; MWA, 2004; Reis et al., 2003; u.a.). „Case management“ wird danach definiert als „a collaborative process of assessment, planning, facilitation and advocacy for options and services to meet an individual’s health needs through communication and available resources to promote quality cost-effective outcomes“ (unter www.cmsa.org, 2009). Der
97
Deutsche Verein (2004) verortete auf dieser Grundlage das Fallmanagement in das Leistungsspektrum der Arbeitsförderung als Intervention zu Bearbeitung und Abbau von besonderen Vermittlungshemmnissen wie Alter, Behinderung, Krankheit, Schulden, Suchtproblemen und familiären Problemen. Das Fallmanagement stellt dabei in Anlehnung an den Case-Management-Regelkreis ein Kontinuum dar, bei dem folgende ineinander greifende Schritte eines Leistungsprozesses ablaufen: 1. 2. 3. 4. 5. 6.
Grundberatung Diagnose Zielvereinbarung Hilfeplanung Leistungssteuerung Monitoring und Evaluation.
In der deutschen Beschäftigungsförderung bedeutet die Einführung eines flächendeckenden Fallmanagements eine immense Herausforderung (Bartelheimer, 2005). Bisher gibt es nur geringe Erfahrungen zum Fallmanagement mit gesundheitsbezogenen Aspekten oder Suchtproblemen (Überblicke bei Elkeles & Kirschner, 2004; M.A.R.E., 2004; Hollederer & Brand, 2006; Toumi, 2006; Hollederer, 2009a). Die wenigen deutschen Dokumentationen stammen bisher vor allem von Modellprojekten aus größeren arbeitsmarktpolitischen Programmzusammenhängen wie MoZArT (BMWA, 2004; Knab, 2003a, 2003b) mit dem weiterentwickelten Kölner Projekt JobPromote (Seligmann & Schmitz, 2009), dem Netzwerk „Beschäftigungsförderung in Kommunen (BIK)“ (Hackenberg, 2003), dem FAIR-Vorhaben (Schiel et al., 2006) oder dem beruflich-sozialen Case Management in Baden-Württemberg (LAA Baden-Württemberg, 2002). Sie enthalten allerdings für den Bereich Gesundheit oder Suchtabhängigkeit kaum separat ausgewiesene Evaluationsergebnisse zur Implementierung oder Wirkung des Fallmanagements. Vor allem die Rehabilitation von suchtkranken Arbeitsuchenden erfordert eine sektorübergreifende Zusammenarbeit von Sozialversicherungsträgern und Kostenträgern (Toumi, 2005; Ackermann, 2005; Weissinger, 2005). Neue Schnittstellen entstanden in der Rehabilitation durch die Strukturveränderungen im SGB II-Rechtskreis. Wie Experteninterviews bei Fallmanagern und Vermittlern darlegen, führten sie verstärkt zu Komplikationen in den Rehabilitationsabläufen und mangelhaftem rehabilitationsspezifischen Fachwissen (Rauch, Dornette, Schubert & Behrens, 2008). Kurzfristige Effizienz in den Vermittlungsprozessen im SGB II steht häufig einer bedarfsgerechten dauerhaften Integration entgegen.
98
Alles in allem sind die Konzepte in Deutschland zum Großteil noch in der Entwicklung oder gerade im Stadium der ersten Praxiserprobung. So wird im Essener Modellprojekt Support 25 seit 2007 auf Veranlassung von Fallmanagern eine Diagnosestellung für arbeitslose Jugendliche mit psychischen Auffälligkeiten vorgenommen und ggf. in psychiatrische oder psychotherapeutische Behandlung vermittelt (Rosien, Reissner, Ehren & Hebebrand, 2009). Ziel ist die frühzeitige und bessere Zusammenarbeit des psychiatrischen Hilfesystems und der Beschäftigungsförderung. Ein besonders umfassender Projektansatz zum beschäftigungsorientierten Fallmanagement mit gesundheitsbezogener Ausrichtung wurde im Modellprojekt AmigA in Brandenburg in den Jahren 2005 bis 2008 erprobt (Braunmühl & Toumi, 2006; Toumi & Braunmühl, 2009; Kulbartz-Klatt, 2009). Die summative Evaluation ergab Verbesserungen der gesundheitlichen Situation bei über der Hälfte der Teilnehmer und eine passable Wiedereingliederungsquote (Kirschner, 2009). 2.2.4 Stand der Projekte zur arbeitsmarktintegrativen Gesundheitsförderung Bei der Umsetzung von Präventionsmaßnahmen nach § 20 Abs. 1 SGB V besteht die Schwierigkeit, dass spezifische Ansätze für die Zielgruppe der Arbeitslosen in Deutschland bislang nur in wenigen Projekten konzipiert worden sind. Die Entwicklung von Modellen arbeitsmarktintegrativer Gesundheitsförderung befindet sich in einem relativ frühen Stadium und die Zahl wissenschaftlich evaluierter Praxisprojekte für Arbeitslose mit gesundheitlichen Einschränkungen ist noch gering. Die Gründe liegen vor allem in der geringen personellen und finanziellen Ressourcenausstattung der Präventionsträger und der Unterfinanzierung der Interventionsforschung in diesem Handlungsfeld. Erste Überblicksarbeiten über Ansätze und Modellprojekte zur arbeitsmarktintegrativen Gesundheitsförderung von Arbeitslosen in Deutschland finden sich bei Kuhnert und Kastner (2002) sowie Elkeles und Kirschner (2004). Letztere fassen die Evaluationsergebnisse von insgesamt fünfzig vornehmlich in Deutschland durchgeführten Projekten zusammen. Kirschner und Elkeles (2006) bemängeln eine unzureichende Konzeptentwicklung und ein Defizit an evaluierten Modellprojekten. Ihre Expertisen zeigen auf, dass die bisherigen Interventionen nicht nur quantitativ, sondern auch in der Qualität mehrheitlich noch nicht ausreichend entwickelt waren. Das betraf alle Interventionsphasen: die theoretische Fundierung durch ein Wirkungsmodell, die Zielgruppendefinition und -auswahl, die Implementation und Programmdurchführung und vor allem die Evaluation. Kirschner (2009) beurteilt die Evidenz von Wirksamkeit und Wirt-
99
schaftlichkeit der Gesundheitsförderungskurse für Arbeitslose insgesamt als „quantitativ und qualitativ sehr dürftig“. Als besondere Schwierigkeit hat sich in der Vergangenheit der Zugang zu den Arbeitslosen herausgestellt. Bei den „Setting-Ansätzen“ der Krankenkassen kommen Arbeitslose oft von vornherein nicht als Zielgruppe in Betracht, weil sie vor allem Betriebe, Kindergärten, Schulen und Einrichtungen der Altenhilfe favorisieren (vgl. Leitfaden Prävention von AOK et al., 2008). Damit schränken sich nicht nur die Zugangswege zu Arbeitslosen, sondern auch die Möglichkeiten der Verhältnisprävention stark ein. Die Angebotsstrukturen für Arbeitslose laufen i.d.R. daher auf sporadische verhaltensorientierte Einzelmaßnahmen hinaus, die aber kaum auf ihre Lebenswelt hin ausgerichtet sind. Eine für Arbeitslose noch wenig genützte Möglichkeit stellt die Gesundheitsförderung im Setting Kommune oder Stadtteil dar. Bei dem individuellen Ansatz und konventionellen Kursen zur Primärprävention gemäß § 20 SGB V wirkten die Gebühren und finanzielle Vorauslage für die gesamten Kursgebühren bei Personen mit geringem Einkommen eher abschreckend. Laut dem Leitfaden Prävention „können“ die Krankenkassen bei sozial benachteiligten Personen seit kurzem zwar „nach vorheriger Prüfung und Genehmigung der Maßnahme die Kosten – für die Versicherten vorleistungsfrei – ganz oder teilweise direkt übernehmen“ (AOK et al., 2008, S. 11). Dieses Zugeständnis wird aber in der bisherigen Praxis nur in wenigen Ausnahmefällen für Arbeitslose gewährt. Ein ganz neuer Zugang wird in den Modellprojekten „Job Fit Regional“ bzw. „JobFit NRW“ über die Settings der beruflichen Weiterbildung entwickelt, deren Träger die Gesundheitsförderungsmaßnahmen in ihr Bildungsangebot integrieren und Arbeitslose darüber niederschwellig ansprechen (Faryn-Wewel, Roesler, Schupp & Bellwinkel, 2009; Faryn-Wewel, Kempken, Kirschner & Roesler, 2009; Kuhnert & Kastner, 2006). Das Projekt führt das Kurssystem nach § 20 SGB V mit Maßnahmen der aktiven Arbeitsmarktpolitik zusammen und schaltet gesundheitsmotivierende Einzelberatungen von Arbeitslosen vor. Neue gemeinwesenbezogene Ansätze erschließen weitere Zugangswege und integrieren Arbeitslose stärker in die Gesellschaft. Beispielgebende Projekte werden derzeit sowohl auf Länderebene wie beim Gesundheitszieleprozess des Landes Sachsen mit dem Projekt AktivA (Kramer & Mühlpfordt, 2009; Rothländer, 2009; Rothländer & Richter, 2009) als auch auf kommunaler Ebene wie beim Kommunalen Netzwerk für Arbeitsmarktintegration und Gesundheitsförderung in Frankfurt (Gawlik-Chmiel & Beck, 2009) entwickelt. Das Sonderprogramm Perspektive 50 Plus des Bundes ermöglicht im Rahmen regionaler Beschäftigungspakte den Aufbau kommunaler Netzwerke und die Entwicklung von Kooperationsprojekten auch zur Gesundheitsförderung von Arbeitslosen. Als ein
100
elaboriertes Beispiel sind die Gesundheitsprojekte im Beschäftigungspakt Fifty Fit PLUS des Ennepe-Ruhr-Kreises zu nennen (Schulze, 2009). Konzeptionell adaptieren viele der Projektträger etablierte Gesundheitsförderungsansätze und passen sie auf die Zielgruppe der Arbeitslosen etwas an. Die Fachkonzepte leiten sich aber nur teilweise von den in Kap. 1 vorgestellten Theorien der Arbeitslosenforschung stringent ab. 2.2.5 Zusammenfassung von Kapitel 2.2 Die wechselseitigen Beziehungen zwischen Arbeitslosigkeit und Gesundheit zeigen einen zielgruppenspezifischen Bedarf an Prävention und Gesundheitsförderung auf. Der Sammelbegriff „arbeitsmarktintegrative Gesundheitsförderung“ impliziert, dass die Präventionsstrategien über konventionelle Ansätze hinausgehen, indem sie auf die Verbesserung der Beschäftigungsfähigkeit oder Arbeitsmarktintegration abzielen. Die Effekte von regulären Maßnahmen der aktiven Arbeitsmarktpolitik auf das psychische Wohlbefinden von Arbeitslosen werden in der Literatur als eher klein und nicht nachhaltig beschrieben. Spezielle Interventionsprogramme zur Förderung der psychosozialen Gesundheit verbessern die Wiedervermittlungsquote als auch die psychische Gesundheit der Teilnehmer. Das beschäftigungsorientierte Fallmanagement mit Gesundheitsbezug stellt einen weiteren Handlungsansatz in der Arbeitsvermittlung dar, der zu einer besseren Steuerung und engeren Verzahnung von Maßnahmen der Gesundheitsförderung mit der Arbeitsförderung führen könnte. Die Ansätze zur „arbeitsmarktintegrativen Gesundheitsförderung“ sind aber aufgrund geringer Ressourcenausstattungen noch unterentwickelt, die Zahl wissenschaftlich evaluierter Praxisprojekte klein und die Evidenzbasierung gering. Mehrere innovative Projekte erproben derzeit neue Ansprachestrategien und Interventionsansätze.
101
3 Zentrale Fragestellungen und Begriffsbestimmungen 3.1 Zentrale Fragestellungen
Wie in den vorherigen Kapiteln beschrieben, ist die empirische Datenlage über die Gesundheit von Arbeitslosen und arbeitsuchenden Nichterwerbspersonen trotz der langjährigen Arbeitslosenforschung noch unbefriedigend in Deutschland. Mit Daten der repräsentativen Haushaltserhebung Mikrozensus 2005 eröffnet sich nun die Chance, Gesundheitsunterschiede zwischen den Erwerbsstatusgruppen tiefergehend zu analysieren sowie Wechselbeziehungen von Gesundheit und Erwerbslosigkeit zu den folgenden Hauptfragestellungen zu klären. Das Fragenprogramm im Mikrozensus 2005 ist überwiegend querschnittsbezogen, erfasst aber auch einige Dynamiken z.B. durch die Erhebung des Erwerbsstatus im Vorjahr oder die Krankheitsdauer. 1. Struktur der Erwerbslosigkeit und Merkmalsunterschiede zwischen Erwerbslosen, Erwerbstätigen und Nichterwerbspersonen mit Gesundheitsrelevanz In vielen Vergleichsuntersuchungen zwischen Erwerbslosen und Erwerbstätigen wird vernachlässigt, dass mit den „Nichterwerbspersonen“ noch eine weitere große Gruppe im erwerbsfähigen Alter besteht (siehe Tabelle 3). Je nach Statistik- und Erhebungskonzept fällt diese „Restgruppe“ unterschiedlich in ihrer Größe und Zusammensetzung aus. Das führt zu Implikationen auf die Gesundheitsunterschiede zwischen den Erwerbsstatusgruppen. Es kommt verschärfend hinzu, dass die Gruppe der Nichterwerbspersonen eigentlich weiter in zwei Untergruppen, die arbeitsuchenden Nichterwerbspersonen und die sonstigen Nichterwerbspersonen, aufzuteilen ist. Über die arbeitsmarktnahe Gruppe der arbeitsuchenden Nichterwerbspersonen gibt es bisher nur sehr wenige Informationen (analog zur Gruppe der „nichtarbeitslos Arbeitsuchenden“ nach der BA-Statistikkonzeption), da sie von der Arbeitsmarkt- und Gesundheitsberichterstattung weitgehend negiert wird. In vielen Forschungsarbeiten ist ihre Fallzahl aufgrund der Stichprobenumfänge zu marginal für systematische Auswertungen. Aus der Gesundheitsperspektive sind die arbeitsuchenden Nichterwerbspersonen aber von besonders großem Interesse, da länger andauernde Arbeitsunfä-
102 A. Hollederer, Erwerbslosigkeit, Gesundheit und Präventionspotenziale, DOI: 10.1007/978-3-531-92636-0_3, © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH
higkeit bzw. Krankheit statistisch zur Ausbuchung aus dem Erwerbslosenbestand und zur Zuordnung zu den arbeitsuchenden Nichterwerbspersonen führen kann. Im Gegensatz zu allen anderen repräsentativen Erhebungen in Deutschland bietet der Mikrozensus eine ausreichende Stichprobengröße, um die Strukturen dieser zahlenmäßig kleinen, aber relevanten Gruppe zu beschreiben. Die Erwerbslosigkeitsrisiken sind wie die Gesundheitsrisiken sozial ungleich verteilt. Gesundheitsunterschiede zwischen Erwerbslosen und Erwerbstätigen könnten deshalb auch auf verschiedene Zusammensetzungen der Erwerbsstatusgruppen zurückzuführen sein. Nötig ist daher eine Gegenüberstellung der Erwerbsstatusgruppen nach soziodemografischen Merkmalen, Schul- und Berufsausbildung und sozioökonomischen Variablen, die die Gesundheitsvergleiche möglicherweise konfundieren. 2. Gesundheitsunterschiede zwischen den Erwerbsstatusgruppen Von zentraler Bedeutung sind die Zusammenhänge von Erwerbsstatus (Erwerbstätige, Erwerbslose, arbeitsuchende und sonstige Nichterwerbspersonen) und folgenden Gesundheitsvariablen:
Amtlich anerkannte (Schwer-)Behinderung und Behinderungsgrad Krankheit und Unfallverletzung Dauer der Krankheit bzw. Unfallverletzung Inanspruchnahme ambulanter oder stationärer Behandlung.
Nachdem sowohl die Krankheitsinzidenz als auch die Erwerbslosigkeit starken saisonalen Schwankungen im Jahresverlauf unterliegen, ergibt die im Jahr 2005 eingeführte unterjährige Erhebungsform des Mikrozensus eine besonders valide Auskunft über die Assoziationen von Erwerbslosigkeit und Gesundheit im Jahresdurchschnitt. Die unterjährige kontinuierliche Erhebung ist ein Alleinstellungsmerkmal des Mikrozensus unter den repräsentativen Befragungen und Gesundheitssurveys in Deutschland und kann daher zu neuen Erkenntnissen führen. Für die Gesundheitsvergleiche der Erwerbslosen bzw. arbeitsuchenden Nichterwerbspersonen mit den Erwerbstätigen bietet die Tabelle 1, die eine Übersicht über die Einflussfaktoren auf die Gesundheit bei der Bewältigung von Arbeitslosigkeit beinhaltet, einen theoriegeleiteten Orientierungsrahmen zur Auswahl einzubeziehender Drittvariablen. Der Mikrozensus hält zur Testung von gesundheitsbezogenen Unterschiedshypothesen ein breites Set an entsprechenden Variablen in hochgradiger fachlicher Ausdifferenzierung vor. Konkret stellt sich die Frage, ob sich der Gesundheitszustand der Erwerbslosen bzw. arbeitsu-
103
chenden Nichterwerbspersonen im Verhältnis zu den Erwerbstätigen nach folgenden Merkmals- und Gruppenzugehörigkeiten unterscheidet:
Alter, Geschlecht, Staatsangehörigkeit und Migrationshintergrund Allgemeine Schulbildung, Berufsausbildung, Stellung im Beruf und Berufsklassen Haushaltsstrukturen, Familientyp, Kinder und Erwerbsstatus der weiteren Haushaltsangehörigen Leistungsbezüge und Nettoeinkommen im letzten Monat Regionalbezüge nach Ost-/Westdeutschland, Bundesländern und Gemeindegrößenklassen.
Durch die Zuordnung des Erhebungstages zu den Jahresquartalen lassen sich auch mögliche saisonale Effekte bei den Gesundheitsunterschieden zwischen den Erwerbsstatusgruppen überprüfen. 3. Arbeitsunfähigkeit und Krankenstand im Jahresdurchschnitt Da in Deutschland keine ausreichenden Informationen über den Krankenstand von Erwerbslosen vorliegen, wird in der Gesundheitsberichterstattung stattdessen als populationsbezogener Gesundheitsindikator häufig die Arbeitsunfähigkeit für Vergleichsanalysen herangezogen (Kap. 2.1.2.1). Die Arbeitsunfähigkeitsstatistik ist aber nur eingeschränkt für die objektive Messung des Gesundheitszustandes von Arbeitslosen und für Vergleiche mit Beschäftigten verwendbar. Bei Arbeitslosen wird das Arbeitsunfähigkeitsgeschehen sowohl durch Sozialrecht als auch durch die Meldepraxis stark beeinflusst (Kap. 3.2.2). Der Mikrozensus kann durch die Abfrage des Krankenstandes zum Befragungszeitpunkt diese Datenlücke in der Gesundheitsberichtstattung ausgleichen und Aufschluss über den jahresdurchschnittlichen Krankenstand 2005 in verschiedenen Erwerbslosengruppen und ihre Inanspruchnahme ärztlicher Versorgung geben. 4. Unterschiede im Gesundheitsverhalten zwischen Erwerbsstatusgruppen Bei Arbeitslosen ist in vielen Studien ein ungünstigeres Gesundheits- und Suchtverhalten im Vergleich zu Beschäftigten erkannt worden. Der Mikrozensus stellt in Deutschland die wichtigste Informationsquelle zum Tabakkonsumverhalten in der Bevölkerung dar. Eine bedeutsame Fragestellung ist, ob sich die Tabakprävalenzraten und die Konsummuster zwischen den Erwerbsstatusgruppen unterscheiden und ob etwaige Differenzen unter Einbezug von soziodemografischen
104
und sozioökonomischen Drittvariablen Bestand haben. Dabei sind nicht nur die Zusammenhänge zwischen Erwerbsstatus und aktuellem Rauchen, sondern auch zwischen Erwerbsstatus und früherem Tabakkonsum von Interesse. Unterschiedliche Raucherquoten zwischen den Erwerbsstatusgruppen können sich durch eine höhere Tabakkonsumaufnahme oder durch eine geringere Tabakentwöhnungsrate erklären lassen. Eine Forschungsfrage ist, ob der Rauchbeginn vor der Erwerbslosigkeit lag oder ob wegen der Erwerbslosigkeit Arbeitsuchende mit dem Rauchen anfangen. Ungeklärt ist auch noch, inwieweit Erwerbslosigkeit zur Intensivierung des Tabakkonsums bei Rauchern führt. Durch die Angaben zu Körpergröße und -gewicht können mit den Mikrozensus-Daten auch der Body-Mass-Index berechnet und Über- bzw. Untergewicht bestimmt werden. Auch hier leiten sich Unterschiedshypothesen zu durchschnittlichem Body-Mass-Index und Anteilen an Über- bzw. Untergewichtigen zwischen den Erwerbsstatusgruppen ab. 5. Unterschiede bei Krankenstand und Gesundheitsverhalten von Kindern nach Erwerbsstatus des Haupteinkommensbeziehers Bisher existieren kaum gesicherte Erkenntnisse über den Gesundheitszustand der Kinder von Erwerbslosen in Deutschland. In der Literatur wird ein negativer Gesundheitseinfluss auf die Kinder häufig angenommen. Nachdem im Mikrozensus 2005 alle Mitglieder eines gemeinsamen Haushalts interviewt werden, können auch die Kinder repräsentativ in die Untersuchung einbezogen werden. Der Mikrozensus ermöglicht die Testung von etwaigen Korrelationen zwischen dem Gesundheitszustand, Rauchverhalten und Body-Mass-Index von Kindern und dem Erwerbsstatus der Haupteinkommensbezieher in ihren Haushalten. 6. Krankheitsgefährdete Personengruppen innerhalb der erwerbslosen Männer und Frauen Für viele Fragestellungen in der Erwerbslosenforschung ist von Bedeutung, welche Personengruppen innerhalb der erwerbslosen und arbeitsuchenden nichterwerbstätigen Männer und Frauen ein besonders hohes Risiko von Krankheit und Unfallverletzung tragen. Interessierende Merkmale sind hier u.a. eine Behinderung, die Dauer der Arbeitsuche oder Leistungsbezüge der Grundsicherung. Die Identifikation besonders krankheitsgefährdete Gruppen kann wichtige Hinweise geben beispielsweise für das Profiling, für Zielgruppenspezifizierungen in der arbeitsmarktintegrativen Gesundheitsförderung oder in der Zugangs- und Leistungssteuerung zum beschäftigungsorientierten Fallmanagement in den verschiedenen Rechtskreisen. Monokausale Erklärungsmuster zur Bestimmung des
105
Gesundheitszustandes von Erwerbslosen greifen durch die komplexen Wechselbeziehungen unter Umständen zu kurz. Eine wesentliche Frage ist deshalb, inwieweit der Krankenstand von Arbeitsuchenden zum Befragungszeitpunkt auch bei multivariater Betrachtungsweise von soziodemografischen Merkmalen, Behinderung, Familientyp und Haushaltsstrukturen, Schul- und Berufsausbildung sowie sozioökonomischen Variablen beeinflusst wird. 7. Einfluss des Gesundheitszustandes auf die Wiedereingliederung am Arbeitsmarkt in multivariaten Analysen In der Forschung wird die Wirkungsrichtung in den Wechselbeziehungen von Arbeitslosigkeit und Gesundheit intensiv diskutiert. Der Gesundheitszustand und auch Behinderungen können einen Selektionseffekt bei den beruflichen Transitionen bewirken und die Wiedereingliederungschancen am Arbeitsmarkt oder den Eintritt in Erwerbslosigkeit negativ beeinflussen. Der Mikrozensus 2005 eruiert auch den Erwerbsstatus vor zwölf Monaten. Es stellt sich die Frage nach möglichen Einflussnahmen von Gesundheitsvariablen auf einen Wechsel des Erwerbsstatus in diesem Zeitraum und ihre Effektgrößen in multivariater Betrachtung sowohl bei vorherigen Arbeitslosen, die zum Befragungszeitpunkt erwerbstätig sind, als auch bei vorherigen Erwerbstätigen, die am Erhebungstag erwerbslos/arbeitsuchend nichterwerbstätig sind. Eine besondere Untergruppe stellen dabei die Selbstständigen dar. Durch die Flexibilisierungen am Arbeitsmarkt nimmt unter den Erwerbstätigen der Anteil an Selbstständigen z.B. durch die Ausgründungen aus Arbeitslosigkeit in Form der „Ich-AGs“ zu. Bisher liegen über die Wechselwirkungen zwischen Selbstständigkeit, Erwerbsbeteiligung und Gesundheit wenige Informationen vor. Der Mikrozensus kann Aufschluss über diese aktuellen Entwicklungen am Arbeitsmarkt geben. 3.2 Begriffsbestimmungen von Arbeitslosigkeit und Erwerbslosigkeit sowie Arbeitsunfähigkeit Vor den Methoden- und Ergebnisteilen ist es notwendig, mit Arbeitslosigkeit verbundene zentrale Begriffe der amtlichen Statistiken und dem Sozialrecht sowie ihre dahinter stehenden Erhebungskonzeptionen kurz zu erläutern.
106
3.2.1 Arbeitslosigkeit und Erwerbslosigkeit Die Definitionen von „Arbeitslosigkeit“ und „Erwerbslosigkeit“ gehen in der amtlichen Arbeitsmarktstatistik in Deutschland auf zwei verschiedene Erhebungskonzepte und Erfassungsmethoden zurück. Die Bundesagentur für Arbeit stellt auf Basis ihrer Verwaltungsdaten die Zahl der „registrierten Arbeitslosen“ gemäß der Sozialgesetzbücher II und III fest. Sie zählt als Arbeitslose im Sinne des SGB III Arbeitsuchende bis zur Vollendung des 65. Lebensjahres, die nicht oder mit weniger als 15 Stunden wöchentlich in einem Beschäftigungsverhältnis stehen, nicht Schüler, Studenten oder Teilnehmer an Maßnahmen der beruflichen Weiterbildung sind, nicht arbeitsunfähig erkrankt sind, nicht Empfänger von Altersrente sind und für eine Arbeitsaufnahme sofort zur Verfügung stehen sowie sich persönlich arbeitslos gemeldet haben (vgl. Tabelle 2). Alternativ wird die „Erwerbslosigkeit“ nach dem Labour Force Konzept der International Labour Organization (ILO) durch Befragungen gemessen, die monatlich durch das Statistische Bundesamt erfolgen. Die ILO (1998) hat ein standardisiertes Konzept zur Messung des Erwerbsstatus entwickelt, das mittlerweile von vielen Staaten im Rahmen allgemeiner Bevölkerungsumfragen, den so genannten Labour Force Surveys, verwendet wird. Die Vorzüge liegen in der politischen Neutralität, der internationalen Vergleichbarkeit und hohen weltweiten Akzeptanz. In Deutschland ist die gemeinschaftliche Arbeitskräfteerhebung der Länder der Europäischen Gemeinschaft (EU-AKE) als Unterstichprobe in den nationalen Mikrozensus integriert (Janke, Riede & Sacher, 2005). Konzeptionell folgt die ILO einem extensiven Erwerbskonzept. Erwerbslosigkeit wird als extreme Situation des totalen Fehlens von Arbeit unabhängig von einer Arbeitslosmeldung bei der Arbeitsagentur angesehen. Als erwerbslos gelten entsprechend den Festlegungen der ILO Personen ab 15 Jahren, wenn sie
in der Berichtswoche nicht in einem entlohnten Beschäftigungsverhältnis standen bzw. nicht selbstständig waren, kurzfristig für eine Beschäftigung verfügbar waren und in den letzten vier Wochen aktiv eine Beschäftigung oder eine Tätigkeit als Selbstständiger gesucht hatten (siehe Tabelle 3).
107
Tabelle 2:
Definition von Arbeitslosen und Arbeitsuchenden gemäß SGB III
Arbeitslose sind Arbeitsuchende, die wie beim Anspruch auf Arbeitslosengeld I (vgl. §§ 117 - 122 SGB III) í vorübergehend nicht in einem Beschäftigungsverhältnis stehen, í eine versicherungspflichtige Beschäftigung suchen, í den Vermittlungsbemühungen der Agentur für Arbeit zur Verfügung stehen, í sich bei einer Agentur für Arbeit persönlich arbeitslos gemeldet haben (vgl. §§ 2, 16, 323, 327 SGB III). Arbeitsuchend ist, wer í eine Beschäftigung als Arbeitnehmer mit einer Dauer von mehr als sieben Kalendertagen im In- oder Ausland sucht, í sich wegen der Vermittlung in ein entsprechendes Beschäftigungsverhältnis bei einer Agentur für Arbeit gemeldet hat und í die angestrebte Arbeitnehmertätigkeit ausüben kann und darf (vgl. §§ 15, 38 SGB III). Nicht als Arbeitslose zählen demnach insbesondere Personen, die í mehr als zeitlich geringfügig erwerbstätig sind, í nicht arbeiten dürfen oder können, í ihre Verfügbarkeit ohne zwingenden Grund einschränken, í das 65. Lebensjahr vollendet haben, í sich als Nichtleistungsempfänger nicht – oder regelmäßig länger als drei Monate nicht mehr – bei der zuständigen Agentur für Arbeit gemeldet haben, í sich in arbeitsmarktpolitischen Maßnahmen befinden (einschließlich Leistungsempfänger gem. § 428 SGB III), í arbeitsunfähig erkrankt sind, í ihre Wehrpflicht bzw. ihren Zivildienst ableisten oder in Haft sind, í Schüler, Studenten oder Schulabgänger sind, die nur eine Ausbildungsstelle suchen sowie í arbeitserlaubnispflichtige Ausländer und deren Familienangehörige sind sowie Asylbewerber ohne Leistungsbezug, wenn ihnen der Arbeitsmarkt verschlossen ist. (BA, 2006a, S. 65a)
108
Tabelle 3: Das Labour-Force-Konzept der International Labour Organization Erwerbspersonen (labour force, currently active population) Erwerbstätige (employed)
Erwerbslose (unemployed)
Personen ab einem bestimmten Alter und in einem Arbeitsverhältnis mit mindestens einer Stunde je Woche normalerweise geleisteter Arbeitszeit oder Selbstständige oder Freiberufler oder Soldaten/Zivildienstleistende oder unbezahlt mithelfende Familienangehörige oder Auszubildende
Erwerbstätige (employed)
Personen ab einem bestimmten Alter und ohne Beschäftigungsverhältnis bzw. nicht selbstständig und nicht freiberuflich tätig und gegenwärtig für eine Beschäftigung verfügbar und Arbeit suchend
Nichterwerbspersonen (out of labour force, population not currently active)
weder erwerbstätig noch erwerbslos (z.B. Personen ab einem bestimmten Alter ohne Beschäftigungsverhältnis bzw. nicht selbstständig, aber nicht verfügbar und/oder keine Arbeitsuche; Personen unterhalb der spezifizierten Altersgrenze)
(„ungewollt“ Nicht(„gewollt“ oder „entmutigerwerbstätige, aber te“ Nichterwerbstätige oder Erwerbsfähige) Erwerbsunfähige) Nichterwerbstätige (non-employed)
Quelle: Rengers, 2004, S. 1374.
Bei beiden Konzepten gilt eine Person als arbeitslos bzw. erwerbslos, wenn sie während einer bestimmten Periode ohne Arbeitsplatz ist, dem Arbeitsmarkt zur Verfügung steht und Arbeit sucht. Durch die unterschiedlichen Definitionen und Erhebungsmethoden ergeben sich aber zum Teil erhebliche Abweichungen zwischen den zwei nationalen Statistiken. So sind nach dem SGB eine Arbeitslosmeldung bei einer Agentur für Arbeit oder bei kommunalen Trägern/ARGEn sowie die Suche nach einer Beschäftigung von mindestens 15 Wochenstunden erforderlich, um als arbeitslos erfasst zu werden. Diese Voraussetzungen sind nach dem Labour-Force-Konzept für Erwerbslosigkeit nicht notwendig. Es reicht schon die Suche nach einer Tätigkeit von wenigstens einer Stunde, um als erwerbslos klassifiziert zu werden. 109
Nach dem SGB III kann trotz registrierter Arbeitslosigkeit eine Erwerbstätigkeit mit einem Umfang unter 15 Stunden als Hinzuverdienstmöglichkeit ausgeübt werden, während das ILO-Konzept jede Person, die einen Beitrag zur volkswirtschaftlichen Gesamtleistung ab einer Stunde Arbeit leistet, als erwerbstätig zählt. Dies ist auch einer der Hauptgründe dafür, dass die Zahl der „Erwerbslosen“ kleiner als die der „Arbeitslosen“ ist. Allerdings sind auch in der ILO-Arbeitsmarktstatistik Erwerbslose enthalten, die die Bundesagentur für Arbeit nicht als arbeitslos wertet. Ein Vergleich der Erwerbslosen- und Arbeitslosenzahlen für den Zeitraum Juli 2003 bis Juni 2004 ergab, dass die Arbeitslosigkeit nach dem SGB III mit durchschnittlich 4,4 Mio. Arbeitslosen um rund 0,5 Mio. größer als die Erwerbslosigkeit nach der ILO-Erhebung mit 3,8 Mio. Personen war (Hartmann & Riede, 2005). Es gab aber nur 2,5 Mio. Personen, die sowohl erwerbslos als auch – nach eigener Auskunft – arbeitslos waren. 1,3 Mio. Personen waren erwerbslos, aber nicht arbeitslos, und 1,9 Mio. Personen arbeitslos, aber nicht erwerbslos. Je nach Definition und Statistikkonzept sind damit etwas verschiedene Personengruppen angesprochen. Die Arbeitslosendefinition sieht als wichtiges Kriterium die sofortige bzw. „heutige Verfügbarkeit“ vor (vgl. Hollederer, 2002a, S. 424), während die Erwerbslosendefinition die Verfügbarkeit auf einen Zeitraum von zwei Wochen ausdehnt. Als mögliche Gründe, die einer Arbeitsaufnahme innerhalb von zwei Wochen entgegenstehen, werden im Mikrozensus Krankheit oder Arbeitsunfähigkeit, Schule, Studium, Aus- und Fortbildung sowie persönliche oder familiäre Verpflichtungen abgefragt. Ein weiterer wichtiger Punkt ist, dass im ILOErwerbskonzept das aktuelle Suchverhalten berücksichtigt wird. Im SGB III und SGB II-Bereich wird unterstellt, dass Arbeitslose die Kriterien der Beschäftigungssuche und Verfügbarkeit erfüllen. Das bedeutet, dass bei der Agentur für Arbeit registrierte Arbeitslose, die in den letzten vier Wochen vor der Befragung keine aktiven Suchschritte für eine neue Stelle unternommen haben, nach dem Labour-Force-Konzept nicht als erwerbslos zählen. Die unterschiedlichen Erhebungskonzepte zwischen SGB III und Labour Force führen dazu, dass durch die verschiedenen Erwerbslosen/Erwerbstätigenbzw. Arbeitslosen/Beschäftigten-Definitionen verschiedene Quoten zur relativen Unterauslastung des Kräfteangebots angezeigt werden. Die Erwerbslosenquote ist in Konsequenz i.d.R. niedriger als die Arbeitslosenquote in Deutschland. Die registrierte Arbeitslosigkeit unterscheidet sich nicht nur im Niveau von der Erwerbslosigkeit, sondern teilweise auch in der Struktur in Abhängigkeit von Arbeitsunfähigkeit und Gesundheitsproblemen. Es können daher Selektionseffekte bei vergleichenden Untersuchungen zur Gesundheit von Erwerbslosen/Erwerbstätigen bzw. Arbeitslosen/Beschäftigten auftreten, wenn bestimmte Personengruppen mit überproportional häufig auftre-
110
tenden gesundheitlichen Einschränkungen in den Statistiken systematisch nicht mehr ausgewiesen werden. Dazu kommt es, wenn solche Personengruppen per Definition weder als erwerbstätig noch als erwerbslos gelten, sondern der dritten Gruppe, den Nichterwerbspersonen, zugeordnet werden (Tabelle 3). Solche Selektionseffekte können beispielsweise in der Arbeitslosenstatistik durch Teilnahme an Rehabilitationsmaßnahmen, vorzeitige Verrentung oder Arbeitsunfähigkeit entstehen (Kap. 3.2.2). Auch die Bezieher von Renten wegen Erwerbsminderung werden nicht mehr im Arbeitslosenbestand gezählt. Mit der Novellierung der Rentengesetze vom 1.1.2001 wurden die bisherigen Berufs- und Erwerbsunfähigkeitsrenten durch eine zweistufige Erwerbsminderungsrente ersetzt. Wenn es auf dem Arbeitsmarkt keine Stellen für teilweise Erwerbsgeminderte gibt, können diese nach der neuen Regelung die Rente in voller (statt in halber) Höhe beziehen. Im Jahr 2005 gab es rund 28.300 derartige Rentenzugänge durch Frührentner, die die sogenannte arbeitsmarktbedingte Erwerbsunfähigkeitsrente nach § 43 SGB VI i.V.m. § 224 SGB VI bekommen haben (BA, 2006a, S. 68). Langzeitarbeitslose sind nach § 18 SGB III „Arbeitslose, die ein Jahr und länger arbeitslos sind.“ Allerdings wird in der Arbeitsmarktstatistik der Bundesagentur für Arbeit mit der Erhebung aller Personen, die am jeweiligen Stichtag ein Jahr und länger bei den Arbeitsagenturen arbeitslos gemeldet waren, das Phänomen Langzeitarbeitslosigkeit nur unzureichend beschrieben (Karr, 1997a, 1997b, 2002; Kruppe, Müller, Wichert & Wilke, 2007). Von den Arbeitslosen, die zu einem Zähltag kürzer als ein Jahr arbeitslos sind, befinden sich nämlich viele, die ihre Arbeitslosigkeit erst nach über einem Jahr beendet haben werden. Betrachtet man deshalb abgeschlossene Arbeitslosigkeitsperioden von über einem Jahr, errechnet sich rückwirkend ein Volumen an Langzeitarbeitslosigkeit, das wesentlich höher als das bis dahin ausgewiesene Volumen ist. Frühere Analysen für West-Deutschland (Karr, 1997b) ergaben eine grobe Annäherung im Verhältnis 1:2. Das bedeutet, dass die Langzeitarbeitslosigkeit etwa zweimal so hoch wie zum Zähltag in den amtlichen Statistiken registriert war. Außerdem können nach der Arbeitslosendefinition im SGB III verschiedene Anlässe, die die Arbeitslosigkeit kurzzeitig unterbrechen, zur verzerrten Darstellung von Langzeitarbeitslosigkeit führen, da durch den zwischenzeitlichen Abgang aus der Arbeitslosigkeit diese Personen zum Stichtag nicht im Arbeitslosenbestand gezählt werden Zu diesen Gründen gehört auch eine Arbeitsunfähigkeit. Die Bezeichnung „Arbeitsloser“ erweckt im alltäglichen Sprachgebrauch den Eindruck, dass die Person, die ihre „Arbeit los“ ist, überhaupt nichts arbeiten würde oder keine Arbeitsmöglichkeit vorhanden wäre. Tatsächlich meint der etablierte Begriff Arbeitslosigkeit eigentlich einen Mangel an „bezahlter Arbeit“ – also an Erwerbsarbeit. Nachdem in Deutschland mehr unbezahlte Arbeitsstun-
111
den z.B. in Form von Erziehungs- oder Pflegetätigkeiten als Lohnarbeitsstunden geleistet werden, wird in den sozialwissenschaftlichen Diskussionen mitunter der Begriff „Erwerbslosigkeit“ statt „Arbeitslosigkeit“ kategorisch und ohne Bezug zu den Statistikkonzeptionen verwendet (z.B. bei Mohr, 2009; Otto & Mohr, 2009). Da der Begriff Arbeitslosigkeit in Deutschland sprachlich so fest verankert ist, wurde er in den bisherigen theoretischen Kapiteln der vorliegenden Arbeit i.d.R. verwendet. Bei explizitem Bezug zu den Erhebungskonzepten nach dem Labour Force Konzept werden hier aber die Begrifflichkeiten Erwerbslosigkeit, Erwerbstätigkeit und Nichterwerbstätigkeit benutzt. 3.2.2 Arbeitsunfähigkeit im Fall von Arbeitslosigkeit Die ärztliche Feststellung von Arbeitsunfähigkeit und der voraussichtlichen Dauer schafft in der Regel die Voraussetzung für den Anspruch des Versicherten auf Lohnfortzahlung im Krankheitsfall oder Krankengeld. Ein Attest mit der ärztlichen Feststellung der Arbeitsunfähigkeit hat die Bedeutung eines medizinischen Gutachtens, das die Grundlage für die über den Krankengeldbezug zu erteilende Entscheidung der Krankenkasse oder im Streitfall von den Gerichten bildet (BSG-Urteil 17.08.1982 3 RK 28/81). Wird ein Arbeitnehmer durch Arbeitsunfähigkeit infolge Krankheit an seiner Arbeitsleistung verhindert, ohne dass ihn ein Verschulden trifft, so hat er nach § 3 des Entgeltfortzahlungsgesetzes Anspruch auf Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall durch den Arbeitgeber für die Zeit der Arbeitsunfähigkeit bis zur Dauer von sechs Wochen. Bei längeren Erkrankungen schließt sich bei krankenversicherten Arbeitnehmern das Krankengeld an. Bei der Feststellung der Arbeitsunfähigkeit sind deswegen komplexe Zusammenhänge von rechtlichen, berufs- bzw. tätigkeitsspezifischen und medizinischen Fragestellungen zu berücksichtigen. Sie entspricht einer Funktionsdiagnose und ist gleichzeitig die sozialrechtliche Voraussetzung für den Rechtsanspruch des Versicherten auf Lohnfortzahlung oder Krankengeld. Die Kriterien zur Beurteilung von Arbeitsunfähigkeit werden verbindlich für alle Kassenärzte seit dem Oktober 1991 vom Gemeinsamen Bundesausschuss der Ärzte und Krankenkassen über Arbeitsunfähigkeits-Richtlinien zur Beurteilung der Arbeitsunfähigkeit und von Maßnahmen zur stufenweisen Wiedereingliederung gemäß § 92 Abs. 1 Satz 2 Nr. 7 SGB V vorgegeben. Die Regelungen für Arbeitnehmer gelten zum Großteil analog auch für Arbeitslose. Für den Eintritt der Arbeitsunfähigkeit bzw. des Krankheitsfalls schreibt der Gesetzgeber Arbeitslosen ausdrücklich in den §56 SGB II und § 311 SGB III vor, dass sie verpflichtet sind, eine eingetretene Arbeitsunfähigkeit und deren voraussichtliche Dauer unverzüglich anzuzeigen. Spätestens vor Ablauf des dritten Kalendertages
112
nach Eintritt der Arbeitsunfähigkeit ist eine ärztliche Bescheinigung über die Arbeitsunfähigkeit und deren voraussichtliche Dauer vorzulegen. Hält die Arbeitsunfähigkeit länger als sechs Wochen an, bekommt der Arbeitslose bei Pflichtversicherung nach Ablauf dieser Zeit in der Regel Krankengeld. Im Gegensatz zu Arbeitnehmern ist bei Arbeitslosen aber die Definition der Arbeitsunfähigkeit weiter gefasst. „Arbeitslose sind arbeitsunfähig, wenn sie krankheitsbedingt nicht mehr in der Lage sind, leichte Arbeiten in einem zeitlichen Umfang zu verrichten, für den sie sich bei der Agentur für Arbeit zur Verfügung gestellt haben. Dabei ist es unerheblich, welcher Tätigkeit der Versicherte vor der Arbeitslosigkeit nachging“ (§ 2 Abs. 3 Arbeitsunfähigkeitsrichtlinie). Das bedeutet, dass die Arbeitsunfähigkeit nicht an einer konkreten Erwerbstätigkeit gemessen wird, sondern nach der Vermittlungsfähigkeit in aktuell zumutbare Beschäftigung. Die Arbeitsunfähigkeitsrichtlinie wurde seit 2003 mehrfach in Kriterien zur Beurteilung von Arbeitsunfähigkeit im Fall von Arbeitslosigkeit novelliert. Eine ausführliche Darstellung befindet sich bei Hollederer (2008a). Ein wesentliches Kriterium von Arbeitslosigkeit ist nach den Sozialgesetzbüchern II und III die „sofortige Verfügbarkeit“ für den Arbeitsmarkt (vgl. Kap. 3.2.1). Die Vorlage der ärztlichen AU-Bescheinigung löst daher einen statistischen Statuswechsel des Arbeitslosen bzw. eine Abgangsbuchung im Arbeitslosenbestand aus. Der Arbeitslose wird als ein „nichtarbeitslos Arbeitsuchender“ ab dem ersten Tag der Krankmeldung bzw. des Bekanntwerdens der Arbeitsunfähigkeit geführt. Die Statistik blendet ihn damit aus dem Arbeitslosenbestand aus (Hollederer, 2002a, 2005). Im Gegensatz zu dieser Arbeitslosendefinition sieht das Labour Force Konzept und damit auch der Mikrozensus eine Verfügbarkeit von zwei Wochen vor, so dass kurzzeitig arbeitsunfähig Erkrankte hier noch als Erwerbslose zählen.
113
4 Mikrozensus 2005 und Erhebungsverfahren 4.1 Hintergrund Mikrozensus 2005
Der Mikrozensus, die sogenannte „kleine Volkszählung“, bildet die Grundlage für die amtliche Repräsentativstatistik des Statistischen Bundesamtes über die Bevölkerung und den Arbeitsmarkt in Deutschland. Den Mikrozensus gibt es im früheren Bundesgebiet bereits seit 1957, in den neuen Bundesländern und BerlinOst seit 1991. Die jährliche Haushaltsbefragung erbringt regelmäßig statistische Informationen über die Bevölkerungsstruktur, die wirtschaftliche und soziale Lage der Bevölkerung, Erwerbstätigkeit und Arbeitsuche, Aus- und Weiterbildung, Wohnverhältnisse und Migration. Zusätzlich werden im Mikrozensus 2005 Gesundheitsinformationen über Behinderungen, Krankheiten, Unfallverletzungen, Rauchgewohnheiten und Körpermaße gewonnen. Das Zusatzfragenprogramm wird i.d.R. in vierjähriger Periodizität erhoben. Der Mikrozensus 2005 integriert auch die Arbeitskräftestichprobe der Europäischen Union (aus Kostengründen). Sie hat ebenfalls den Charakter einer amtlichen Haushaltsbefragung, die parallel in allen EU-Mitgliedstaaten durchgeführt wird. Mit dem Mikrozensusgesetz 2005 wurden sowohl inhaltliche als auch methodische Neuerungen in das bisherige Erhebungskonzept eingeführt. Das Hauptfragenprogramm enthielt neue relevante Items, z.B. zur Arbeitsuche oder Migration. Eine Auskunftspflicht ergibt sich aus § 7 des neuen Mikrozensusgesetzes 2005 5. Soweit die Stichprobenerhebung über die auskunftspflichtigen Merkmale nach dem Mikrozensusgesetz 2005 hinausgeht, ist die Beantwortung fakultativ. Die nicht auskunftspflichtigen Fragen sind durch die Beifügung „freiwillig“ im Fragebogen gekennzeichnet. Der Ergänzungsteil „Fragen zur Gesundheit“ ist komplett frei gestellt. Auf den Rücklauf wird noch in Kap. 4.4 eingegangen. Der Mikrozensus 2005 hat besonders gute Voraussetzungen für eine fundierte Sekundäranalyse der Zusammenhänge zwischen Erwerbslosigkeit und Gesundheit. Durch die Integration der Arbeitskräftestichprobe der Europäischen Union 2005 erfasst der Mikrozensus repräsentativ die Strukturen der Erwerbsbe5
„Gesetz zur Durchführung einer Repräsentativstatistik über die Bevölkerung und den Arbeitsmarkt sowie die Wohnsituation der Haushalte“ vom 24.06.2004
114 A. Hollederer, Erwerbslosigkeit, Gesundheit und Präventionspotenziale, DOI: 10.1007/978-3-531-92636-0_4, © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH
teiligung und der Erwerbslosigkeit in Deutschland. Alleinstellungsmerkmale des Mikrozensus 2005 sind der große Stichprobenumfang, die besonders hohe Rücklaufquote aufgrund der gesetzlichen Auskunftspflicht und die unterjährige Befragungsmethode. Seit dem Jahr 2005 wird der Mikrozensus mit gleitender Berichtswoche durchgeführt (Kap. 4.1.1). Durch diese neue Erhebungsmethode können z.B. erstmals Krankenstände im Jahresdurchschnitt mit dem Mikrozensus berechnet werden. Für die Untersuchung der Gesundheit von Erwerbslosen bietet der Mikrozensus eine breite Basis an erfassten Variablen, auf die noch in den Abschnitten zu den Erhebungsinstrumenten (Kap. 4.1.2) und dem Messkonzept zur Gesundheit (Kap. 4.2) eingegangen wird. Der Zusatzfragenteil zur Gesundheit wendet sich im Jahr 2005 erstmals an alle befragten Haushaltsmitglieder des Hauptprogramms und die Zahl der Erwerbslosen war bedingt durch den Konjunkturverlauf besonders hoch. Diese Gründe lassen detaillierte Vergleichsanalysen zum Gesundheitszustand zwischen den Erwerbsstatusgruppen zu. Die Methoden, Qualität und Ergebnisse des Mikrozensus 2005 sind in den Publikationsreihen des Statistischen Bundesamtes (2006a-d) und von GESISZUMA (Lechert & Schimpl-Neimanns, 2007) sehr gut dokumentiert. Eine ausführliche Beschreibung des Hochrechnungsverfahrens beim unterjährigen Mikrozensus ab 2005 befindet sich bei Afentakis und Bihler (2005). Die nachfolgenden Abschnitte können sich daher auf die für die vorliegende Sekundäranalyse relevanten Informationen über Stichproben, Befragungsformen, Gewichtungen, Erhebungsinstrumente und Variablen im Mikrozensus 2005 auf Basis der genannten Veröffentlichungen konzentrieren. 4.1.1 Stichproben, Befragungsformen, Hochrechnungsverfahren und Gewichtungen Das Fragenprogramm des Mikrozensus wird in Bezug auf Erhebungsmerkmale und Periodizitäten in § 4 des Mikrozensusgesetzes 2005 bestimmt. Im Gegensatz zu dem bis 2004 gültigen Gesetz sind keine Unterstichproben mehr, sondern ein einheitlicher Auswahlsatz von 1 % der Bevölkerung für alle Merkmale vorgesehen. Dementsprechend werden im Mikrozensus 2005 rund 390.000 Haushalte in Deutschland mit rund 830.000 Personen einbezogen. Der Mikrozensus ist die größte jährliche Haushaltsbefragung in Europa. Die Stichprobe wird nach einem mathematischen Zufallsverfahren gezogen, so dass alle Haushalte dieselbe Auswahlwahrscheinlichkeit haben. Es werden aus dem Bundesgebiet Auswahlbezirke (künstlich abgegrenzte Flächen) in Form einer einstufigen Klumpenstichprobe gewählt, in denen danach alle Haushalte
115
und Personen befragt werden. Die Erhebung richtet sich auf die gesamte Wohnbevölkerung in Deutschland. Dazu gehören alle Personen in Privathaushalten und Gemeinschaftsunterkünften am Haupt- und Nebenwohnsitz. Ein Viertel der in der Stichprobe enthaltenen Haushalte bzw. Auswahlbezirke wird jährlich ausgetauscht. Das bedeutet, dass jeder Haushalt nach dem Verfahren der partiellen Rotation vier Jahre in der Stichprobe verbleibt. Das neue Mikrozensusgesetz 2005 legt fest, dass die Befragung ab dem 1. Januar 2005 als kontinuierliche Erhebung mit gleitender Berichtswoche durchgeführt wird. Bei dieser Erhebungsform verteilt sich das gesamte Befragungsvolumen der Ein-Prozent-Stichprobe gleichmäßig auf alle Kalenderwochen eines Jahres. Die Berichtswoche ist die jeweils letzte Woche vor der Befragung. Somit geben die Ergebnisse des Mikrozensus 2005 erstmalig Aufschluss über die Entwicklungen im Jahresdurchschnitt. Im Mikrozensus kommen verschiedene Erhebungsinstrumente zum Einsatz. Im Vordergrund steht die persönliche Befragung aller Personen im Haushalt durch Interviewer der Statistischen Landesämter mit Laptop-Einsatz („CAPI Computer Assisted Personal Interviewing“). Für die Erhebung werden ehrenamtliche Erhebungsbeauftragte eingesetzt, die den Auskunftspflichtigen bei der Beantwortung der Fragen behilflich sein sollen. Den Haushaltsmitgliedern steht aber offen, einen schriftlichen Fragebogen selbst auszufüllen und auf dem Postweg an das jeweilige Statistische Landesamt zurückzusenden. Im Mikrozensus sind so genannte Proxy-Interviews zulässig, daher darf ein Haushaltsmitglied stellvertretend für andere Haushaltsangehörige antworten. Das Hochrechnungsverfahren beim Mikrozensus erfolgt durch das Statistische Bundesamt im ersten Schritt durch die Berechnung von Kompensationsfaktoren anhand von Informationen über die nicht antwortenden Haushalte, um die erkannten zufallsbedingten und systematischen Fehler der Stichprobe auszugleichen. Die mit den Kompensationsfaktoren gewichteten Stichprobenverteilungen ausgewählter Hilfsvariablen werden in einem zweiten Schritt an Eckwerte aus der laufenden Bevölkerungsfortschreibung und dem Ausländerzentralregister angepasst. Der Hochrechnungsrahmen beinhaltet drei Altersklassen und vier Staatsangehörigkeitsgruppen (deutsch, türkisch, EU-25 und nicht EU-25), jeweils differenziert nach dem Geschlecht. Die Anpassung erfolgt quartalsweise auf den unterschiedlichen regionalen Ebenen Bundesland, Regierungsbezirk und regionale Anpassungsschicht. Zusätzlich wurden die vorläufigen Eckwerte der Schwerbehindertenstatistik 2005 nach sechs Altersgruppen und dem Geschlecht geschichtet verwendet (Pfaff et al. 2007). Die erhobenen Mikrozensus-Daten werden nach § 16 Bundesstatistikgesetz (BStatG) grundsätzlich geheim gehalten. Den Hochschulen oder unabhängigen Forschungseinrichtungen werden für die Durchführung wissenschaftlicher Vor-
116
haben Einzelangaben nach § 16 Abs. 6 BStatG zur Verfügung gestellt. Die Ausgabe des faktisch anonymisierten Datensatzes als Rohdatendatei in ASCIIFormat erfolgt nach einem Prüfverfahren durch die Forschungsdatenzentren der Statistischen Ämter. Beim Mikrozensus Scientific Use File 2005 handelt es sich nur um eine 70 %-Unterstichprobe des Originaldatensatzes Mikrozensus 2005. Die Unterstichprobe wird nicht auf der Ebene der Personen, sondern auf der der Haushalte gezogen. Der Mikrozensus Scientific Use File 2005 enthält außerdem nicht alle Variablen. Einige Merkmale wie Regionalangaben werden aus Anonymisierungsgründen durch Klassenbildungen vergröbert. Alle ausgewiesenen Merkmalsausprägungen sollen in der univariaten Verteilung der Grundgesamtheit hochgerechnet mindestens 5.000 Personen umfassen. Der Mikrozensus Scientific Use File 2005 wurde im Sommer 2007 – also mit großer Zeitverzögerung - für die Wissenschaft in den Forschungsdatenzentren zur persönlichen Abholung bereitgestellt. Für den Datenimport der ASCII-Datei in Statistikprogramme und zur Formatierung der Variablen wurden Syntaxdateien zur Hilfestellung auf einer CD bei der Datenübergabe ausgehändigt. Um von der 70 %-Unterstichprobe zu einer annähernden Repräsentativität zu kommen, gibt es Hochrechnungsfaktoren des Mikrozensus Scientific Use File 2005. Sie stammen aus dem kompletten Originaldatensatz Mikrozensus 2005 und rechnen auf 1.000 Personen bzw. Haushalte hoch. Um mit dem Mikrozensus Scientific Use File 2005 Populationswerte ohne Auf- und Abrundung durch die Normierung auf 1.000 Personen zu erhalten, ist zusätzlich mit dem Kehrwert der Ziehungswahrscheinlichkeit des Mikrozensus (1 %) zu multiplizieren. Dies entspricht der Multiplikation des jeweiligen Gewichtungsfaktors mit 1.000/0,7. Die sich durch den Unterstichprobeneffekt ergebenden Abweichungen zwischen anonymisiertem Grund- und Originalfile des Mikrozensus sind im Allgemeinen gering. Vergleiche der Häufigkeitsauszählungen einzelner Variablen mit bereits veröffentlichten amtlichen Zahlen des Original-Mikrodatensatzes 2005 durch GESIS-ZUMA zeigen, dass die Verteilungen meist „nur in geringem Maße (meist unter 1 %, max. 5 %)“ von den veröffentlichten Zahlen abweichen (Lechert & Schimpl-Neimanns, 2007). 4.1.2 Erhebungsinstrumente und Variablen im Mikrozensus 2005 Das Fragenprogramm des Mikrozensus besteht aus einem festen Grundprogramm mit jährlich wiederkehrenden Tatbeständen und variablen Ergänzungen, die überwiegend mit Auskunftspflicht belegt sind. Darüber hinaus gibt es periodische Zusatzprogramme, die teilweise von der Auskunftspflicht befreit sind.
117
Beim Mikrozensus 2005 bestand das Zusatzprogramm aus dem Fragenteil zur Gesundheit. Der Erhebungsbogen des Mikrozensus 2005 umfasst ca. 190 Fragen. Eine erwerbstätige Person benötigt zum Ausfüllen des Fragebogens für sich selbst ca. eine halbe Stunde. Die in der vorliegenden Sekundäranalyse einbezogenen Merkmale sind nach thematischer Zusammengehörigkeit im Anhang aufgelistet (Kap. 9). Das jährliche Grundprogramm des Mikrozensus enthält u.a. Personenmerkmale (wie Alter, Geschlecht, Staatsangehörigkeit usw.), Familien- und Haushaltszusammenhänge, Daten zur Erwerbstätigkeit, Arbeitsuche, Erwerbslosigkeit und Nicht-Erwerbstätigkeit, allgemeiner und beruflicher Ausbildungsabschluss, Quellen des Lebensunterhalts sowie Angaben zur Höhe des Individual- und Haushaltseinkommens. Inhaltliche Neuerungen im Erhebungsprogramm des Mikrozensus 2005 bestehen vornehmlich in aufgenommenen Fragen zur Migration und Integration. Zu den Menschen mit Migrationshintergrund zählen neben den zugewanderten Ausländern und den in Deutschland geborenen Ausländern auch Eingebürgerte oder Spätaussiedler mit deutscher Staatsangehörigkeit. Im Bereich Bildung werden u.a. erstmals die Art und Fachrichtung des höchsten beruflichen Abschlusses neben einem Hochschulabschluss erfragt. Die Erfassung nach Altersgruppen erfolgt nach der sogenannten Altersjahrmethode. Die Altersangaben beziehen sich auf die jeweilige Berichtswoche. Den Auswertungen wird die „Bevölkerung am Ort der alleinigen bzw. Hauptwohnung“ zugrunde gelegt. Nach dieser Begriffsbestimmung gehören zur „Bevölkerung“ alle Personen mit nur einer Wohnung sowie Personen mit mehreren Wohnungen am Ort ihrer Hauptwohnung. Die Hauptwohnung ist die vorwiegend genutzte Wohnung. Einer der Schwerpunkte der vorliegenden Arbeit liegt in vergleichenden Untersuchungen nach Erwerbsstatus. Der Erwerbsstatus wird nach dem erörterten Labour Force Konzept der International Labour Organization (Kap. 3.2.1) vom Statistischen Bundesamt gebildet und ist als Zusatzvariable im Mikrozensus Scientific Use File 2005 mit folgenden vier Ausprägungen enthalten: 1. 2. 3. 4.
Erwerbstätige Erwerbslose arbeitsuchende Nichterwerbspersonen sonstige Nichterwerbspersonen.
Aufgrund der elementaren Bedeutung dieser Gruppenbildung nach Erwerbsstatus sind in der Tabelle 33 im Anhang ergänzende Auskünfte zur Fragebogenkon-
118
struktion und die Erklärungen für die Auskunftspflichtigen zusammengestellt worden. Das Zusatzprogramm „Fragen zur Gesundheit“ umfasst anerkannte Behinderungen, Krankheiten und Unfallverletzungen, Rauchverhalten sowie Körpermaße für die Berechnung des Body-Mass-Index (Tabelle 34 im Anhang). Der Mikrozensus erkundigt sich auch nach der Dauer der Krankheit und Unfallverletzung, nach ihrer Behandlung und Unfallart. Außerdem werden Tabakkonsummuster aktueller und früherer Raucher ermittelt. Das Konzept zur Erfassung von Krankheiten und Unfallverletzungen wird im nächsten Abschnitt noch erläutert. Die Informationen werden im Datensatz für die vier Quartale des Jahres 2005 (und nicht nach Kalenderwochen oder Monaten) bereitgestellt. Die im Mikrozensus erfassten Berufe der Erwerbstätigen und die früher ausgeübten Berufe der Erwerbslosen und Nichterwerbspersonen werden in der vorliegenden Arbeit in die Berufsklassifikation von Blossfeld umgesetzt. Diese Berufsklassifikation wurde mit dem Ziel konstruiert, „die Berufsgruppen hinsichtlich ihrer durchschnittlichen schulischen und beruflichen Vorbildung sowie bezüglich ihrer beruflichen Aufgabengebiete möglichst homogen zu bilden“ (Blossfeld, Hamerle & Mayer, 1985, S. 69). Blossfeld entwickelte hierzu ein Schema von zwölf Tätigkeitsfeldern, das eine hierarchische Gliederung der Berufe und eine inhaltliche Abgrenzung nach den ausgeübten Tätigkeiten ermöglicht (vgl. Tabelle 6). 4.2 Messkonzept von Krankheit und Unfallverletzung im Mikrozensus 2005 Im Mikrozensus werden Krankheiten und Unfallverletzungen erfragt, unter denen die Interviewten am Erhebungstag bzw. in den vorherigen vier Wochen gelitten haben (vgl. Tabelle 34 im Anhang). Die Beantwortung unterliegt nicht der gesetzlichen Auskunftspflicht. Nach den Erläuterungen zum Fragebogen im Mikrozensus 2005 liegt „eine Krankheit oder Unfallverletzung vor, wenn sich eine Person während des Berichtszeitraums in ihrem Gesundheitszustand so beeinträchtigt gefühlt hat, dass sie ihre übliche Beschäftigung nicht voll ausüben konnte. Bei langfristigen Leiden (z.B. Zuckerkrankheit, Bluthochdruck) ist es nicht ausschlaggebend, ob der Befragte in der Ausübung seiner gewöhnlichen Beschäftigung beeinträchtigt war oder nicht. Auch ein angeborenes Leiden oder eine Körperbehinderung sind als Krankheit einzuordnen, sofern sie regelmäßig ärztlich behandelt werden. Schwangerschaft, Entbindung und Wochenbett zählen nicht als Krankheit, Komplikationen u.U. schon“ (vgl. Tabelle 34 im Anhang).
119
Dabei kommt es nicht darauf an, ob wegen der Beschwerden ein Arzt aufgesucht wurde. Die Antworten auf die Ausgangsfrage „Waren Sie in den letzten 4 Wochen krank bzw. unfallverletzt?“ bilden für das Statistische Bundesamt den wichtigsten Parameter in den Berichten über gesundheitliche Beeinträchtigungen in der Bevölkerung (StaBu, 2006a, 2006g). Der Mikrozensus folgt methodisch dem Konzept der Prävalenz als einem Maß von Krankheitshäufigkeiten. Die Prävalenz beschreibt den Bestand an Erkrankten und kann verschiedentlich gemessen werden. Die Punktprävalenz von Krankheiten in der Population (je 1.000) ist definiert nach dem Oxford Textbook of Public Health (Abramson, 2002) als: Anzahl der Individuen mit der Krankheit zu einem spezifischen Zeitpunkt x 1.000 Bevölkerung zu dieser Zeit
Die Punktprävalenz kann auch in bestimmten Subgruppen der Bevölkerung (z.B. nach Geschlecht oder Alter) ausgedrückt werden, wenn der Zähler und der Nenner sich auf dieselbe Bevölkerungskategorie beziehen (Abramson, 2002). Beispiel: Anzahl der Männer im Alter von 45-54 mit der Krankheit zum spezifischen Zeitpunkt x 1.000 Gesamtzahl der Männer im Alter von 45-54 in der Bevölkerung zu dieser Zeit
Für viele medizinische Fragestellungen reicht oft eine Punktprävalenz nicht aus, so dass die Krankheitshäufigkeit längsschnittlich in einer Periode wie einem Jahr gemessen werden muss. Hier ist die Formel nach dem Oxford Textbook of Public Health (Abramson, 2002): Anzahl der Individuen mit Krankheit, die sich im gesetzten Zeitraum manifestiert x 1.000 Bevölkerung „at risk“
Dementsprechend stellt die Zählung von Krankheiten und Unfallverletzungen in den letzten vier Wochen im Mikrozensus 2005 also eine solche Periodenprävalenz dar. Zu diesem Messkonzept im Mikrozensus ist aber kritisch anzumerken, dass es für den vierwöchigen Beobachtungszeitraum keine gesundheitswissenschaftlich-theoretische Veranlassung (wie bei spezifischen Erkrankungen) gibt, sondern nur allgemein der Generierung höherer Fallzahlen dient. Die Periodenprävalenz ist durch den kurzen rückwärtigen Zeitbezug als Gesundheitsindikator hier wenig geeignet, weil lang andauernde Erkrankungen, die vorher schon begonnen haben, mit Neueintritten und auch schon abgeschlossenen Krankheitsperioden quasi vermischt werden. Bei kurzzeitigen Erkrankungen nähert sich
120
diese Periodenprävalenz dem Konzept der Inzidenz an. Die Inzidenz misst den Neuzugang an Krankheitsfällen in einem definierten Zeitraum. Die Inzidenz und die Dauer der Krankheit bestimmen die Prävalenz, d.h. die Anzahl der Kranken zu einem bestimmten Zeitpunkt. Nachdem der Mikrozensus auch nicht bestimmte Krankheitsdiagnosegruppen abfragt, gewinnt durch diese Vorgehensweise nun bei den Krankheitshäufigkeiten die kurzzeitigen Akuterkrankungen wie Grippeoder Erkältungserkrankungen stark an Gewicht. Außerdem werden nur die erkrankten Personen und nicht die Zahl aller aufgetretenen Krankheiten bzw. Krankheitsperioden in den letzten vier Wochen gezählt, weil der Fragebogen für jede Person nur eine einzige Angabe für Krankheit oder Unfallverletzung vorsieht und bei gleichzeitigem Vorliegen die schwerwiegendere Beeinträchtigung anzugeben ist. Die Mikrozensus-Zusatzfrage „Dauert diese Krankheit bzw. Unfallverletzung heute noch an?“ identifiziert dagegen die Krankheitsprävalenz zum Erhebungstag. Durch die neue unterjährige Erhebungsmethode des Mikrozensus wird damit der Krankenstand im Jahresdurchschnitt oder Quartalsdurchschnitt ermittelt. Die jahresdurchschnittlichen Prävalenzraten sind ein ausgezeichnetes Maß für vergleichende Gesundheitsuntersuchungen zwischen den Erwerbsstatusgruppen. Der Mikrozensus ist die einzige empirische Repräsentativbefragung in Deutschland, die überhaupt solche Jahresdurchschnittswerte der Krankheitsprävalenz erbringt. Bedauerlicherweise werden in den Tabellenbänden und langen Reihen des Statistischen Bundesamtes diese wichtigen Krankenstände zum Erhebungszeitpunkt bisher nicht routinemäßig publiziert (StaBu, 2006a, 2006g u.a.), so dass die vorliegende Arbeit auch eine Berichtslücke in der Gesundheitsberichterstattung abdeckt. In der vorliegenden Arbeit wird der Punktprävalenz gegenüber der Periodenprävalenz der Vorzug eingeräumt, soweit es von den Fallzahlen möglich ist. Nachdem ein Teil der für die letzten vier Wochen berichteten Krankheiten und Unfallverletzungen schon vor dem Erhebungstag beendet wurde, besteht aber ein Nachteil beim Krankenstand zum Befragungszeitpunkt in den geringeren Fallzahlen. Bei Krankenstandsanalysen in kleinen Gruppen wie bei den arbeitsuchenden Nichterwerbspersonen können die Fälle in Subgruppen daher die erforderliche Mindestzahl von 5.000 unterschreiten und werden dann nach der Mikrozensus-Konvention nicht veröffentlicht. Eine Interviewperson gilt nach dem Mikrozensus als erkrankt, wenn „sie ihre übliche Beschäftigung nicht voll ausüben konnte“. Dieses Messkonzept entspricht vom Wesensgehalt her der Definition von Arbeitsunfähigkeit, die nach § 2 Abs. 1 der Arbeitsunfähigkeits-Richtlinie besteht, „wenn der Versicherte auf Grund von Krankheit seine zuletzt vor der Arbeitsunfähigkeit ausgeübte Tätig-
121
keit nicht mehr oder nur unter der Gefahr der Verschlimmerung der Erkrankung ausführen kann“ (Kap. 3.2.2). Allerdings wurde die Arbeitsunfähigkeit im Fall von Arbeitslosigkeit durch die Arbeitsunfähigkeits-Richtlinie noch weitergehend definiert und ist durch verschiedene Novellierungen der Kriterien starken sozialrechtlichen Implikationen und Meldeanforderungen unterworfen. Der Mikrozensus erfasst dagegen frei von solchen Restriktionen die Krankheiten/Unfallverletzungen nach den Selbsteinschätzungen schon ab dem ersten Tag des Krankheitseintritts und auch bei kurzer Krankheitsdauer. Bei den Auskünften der Interviewten zum Krankenstand handelt es sich nicht um „objektive Gesundheitszustände“, sondern um Selbsteinschätzungen, die aber durch die hohe berichtete Behandlungsquote von insgesamt 88,1 % in der ambulanten oder stationären Krankenversorgung in den letzten vier Wochen als sehr aussagekräftig betrachtet werden können (Tabelle 25 im Anhang). Der Mikrozensus stellt auch Nachfragen zur Dauer der Krankheit bzw. Unfallverletzung und bietet sechs optionale Zeiträume von „1 bis 3 Tage“ bis „über 1 Jahr“ für die Beantwortung an (vgl. Tabelle 34 im Anhang). Die Krankheitslänge erstreckt sich auch auf die Zeit vor dem Berichtszeitraum und gilt bei andauernden Krankheiten/Unfallverletzungen bis zum Erhebungstag. Präziser wäre allerdings eine offene Frage nach bisherigen Krankheitstagen (oder dem Datum des Krankheitsbeginns) gewesen, um eine exakte Krankentagerechnung zu ermöglichen. 4.3 Verwendete Statistik und Auswertungsmethoden Aufgrund der zentralen Fragestellungen über die Zusammenhänge von Erwerbslosigkeit und Gesundheit stehen vor allem entsprechende Vergleichsanalysen zwischen den Erwerbsstatusgruppen in der Hauptaufmerksamkeit. Für die Testung von Unterschiedshypothesen kommen je nach Messniveau verschiedene statistische Verfahren zum Einsatz: a.
122
Zum Vergleich von nominalen Daten werden Chi-Quadrat-Tests nach Pearson durchgeführt. Das Chi-Quadrat-Verfahren vergleicht die beobachteten Häufigkeitsverteilungen mit den gemäß der Nullhypothese erwarteten Häufigkeiten. Als Zusammenhangsmaße für nominalskalierte Variablen werden bei alternativen Variablen die Phi-Koeffizienten verwendet. Der t-Test wird bei intervallskalierten Variablen genutzt, um die Unterschiede zwischen zwei Gruppen auf Signifikanz zu testen. Der t-Test überprüft die Wahrscheinlichkeit der Nullhypothese, dass die Mittelwerte zweier Fallgruppen die Daten einer Stichprobe von einer Population sind.
b.
c.
Bei mehr als zwei zu vergleichenden Gruppen findet eine Varianzanalyse in Form der einfachen ANOVA-Prozedur Anwendung. Die Signifikanzüberprüfungen mittels Phi-, Chi-Square- oder t-Test und der ANOVA-Prozedur erfolgen auf einem Signifikanzniveau von p < 0,001, p < 0,01 und p < 0,05. Die logistische Regressionsanalyse wird dazu eingesetzt, die unabhängigen Variablen, die die Unterschiede bei der abhängigen Variable hervorrufen, zu identifizieren und die Stärke und Richtung des Einflusses zu bestimmen. Die binäre logistische Regression berechnet u.a. die Wahrscheinlichkeit des Eintreffens eines Ereignisses in Abhängigkeit von den Werten der Kovariaten und ermittelt Konfidenzintervalle. In der binären logistischen Regressionsanalyse wird die Zugehörigkeit zu der mit „1“ codierten Gruppe geschätzt, wobei die Ausprägungen der abhängigen Variable „0“ und „1“ betragen. Die B-Regressionskoeffizienten geben an, ob der Zusammenhang zwischen der unabhängigen und abhängigen Variable positiv oder negativ ist. Für die Beurteilung der Einflussgröße wird der Effekt-Koeffizient EXP(B) verwendet. Dieser gibt den Faktor der Vervielfachung der Odds Ratio (des „Chancenverhältnisses“) an, wenn sich der Regressor um eine Einheit verändert. Werte über „1“ vergrößern die Odds Ratio und Werte unter „1“ verringern sie. Die Odds Ratio ist ein Maß dafür, um wieviel größer zum Beispiel die Chance eines Ereignisses (z.B. Eintritt in Erwerbslosigkeit) in der Gruppe mit bestimmten Merkmalen im Vergleich zur Gruppe ohne diese Merkmale ist. Zu den Odds Ratios werden 95 %-Konfidenzintervalle angegeben. Zur Vorhersage werden in verschiedenen Modellen unabhängige Variablen in die Analyse eingeschlossen. Eine Voraussetzung für ihren Einbezug ist, dass die unabhängigen Variablen metrisch oder kategorial sind. Kategoriale Variablen mit mehr als zwei Ausprägungen sind für die Analyse in Indikatorvariablen umzuwandeln, indem für jede Ausprägung eine neue dichotome Variable gebildet wird. Die Güte der Modellanpassung wird mit der Likelihood-Funktion beurteilt. Das Bestimmungsmaß R2 nach Nagelkerke kann als Anteil der Varianz der abhängigen Variablen, der durch alle unabhängigen Variablen gemeinsam erklärt wird, interpretiert werden. Eine multiple lineare Regression untersucht die Abhängigkeit einer metrischen Variablen von einer Kombination mehrerer anderer Variablen. Sie schätzt den direkten linearen Einfluss der unabhängigen Variablen auf die abhängige Variable ab und berechnet für jedes Modell u.a. nichtstandardisierte Regressionskoeffizienten, standardisierte Beta-Koeffizienten, T-Werte und 95 %-Konfidenzintervalle sowie R² für die Modellgüte. Die Einschlussgrenze der Kovariaten in den logistischen und multiplen linearen
123
Regressionsanalysen liegt auf einem Signifikanzniveau innerhalb von p < 0,05 und die ermittelten Unterschiede zur Referenzkategorie werden bei fünfprozentiger Irrtumswahrscheinlichkeit als statistisch signifikant ausgewiesen. Die statistischen Auswertungen erfolgten im Statistikprogramm SPSS für Windows Version 16.0.1 (2007). Für den Statistikteil wurden die Lehrbücher und Studienskripte von Laatz (1993), Bortz und Döring (1995), Brosius (1998), Bortz (1999), Bühl und Zöfel (2000), Abramson (2002) und Fromm (2003, 2005) herangezogen. 4.4 Rücklaufquoten und Non-Response-Analysen Wegen der gesetzlichen Auskunftspflicht ist der Anteil der Ausfälle bei den befragten Haushalten mit 4,4 % Unit-Nonresponse sehr gering. Hierbei handelte es sich größtenteils um nicht erreichbare Haushalte. Die Non-Response-Rate ist im Vergleich zu den früheren Mikrozensus-Befragungen außerdem durch den flächendeckenden Laptop-Einsatz zurückgegangen. Im Rahmen der Hochrechnung werden diese Antwortausfälle durch Unit-Nonresponse kompensiert. Beim Zusatzprogramm mit den freiwilligen Gesundheitsfragen sind die Ausfallquoten allerdings wesentlich höher und nach Themenbereichen abgestuft. Die Fragen zu Behinderung und Krankheit bzw. Unfallverletzung wurden von gut 14 % der Interviewten nicht beantwortet. Bei den Items zu den Rauchgewohnheiten liegen die Ausfallquoten mit ca. 17 % etwas darüber. Am höchsten sind sie bei den Körpermaßen. Rund 20 % der Befragten machten keine Angaben zur Körpergröße und rund 24 % keine zum Körpergewicht. Ein systematischer Einflussfaktor besteht offensichtlich in der Erhebungsart der Haushaltsbefragung. Der Fragebogen ist für alle Haushaltsmitglieder auszufüllen und die angetroffenen Auskunftspflichtigen haben auch für abwesende Mitbewohner die Angaben mitzuteilen – soweit sie bekannt sind. Insgesamt fanden 67 % der Interviews unter direkter Beteiligung der Auskunftspflichtigen statt, bei 28 % handelt es sich um Fremdauskünfte und 6 % enthalten keine Angaben über die Erhebungsart. Es wurden vorzugsweise Kinder, Jugendliche und junge Erwachsene von anderen Personen bei der Haushaltsbefragung vertreten. Proxy-Interviews erfolgten bei 72 % der 15- bis 19-Jährigen und bei 45 % der 20- bis 24-Jährigen. Bei den sensiblen fakultativen Gesundheitsfragen zu Behinderung, Krankheit, Unfallverletzung und Rauchgewohnheiten fallen die Antwortverweige-
124
rungsquoten der Personen, die bei der Beantwortung der Fragen direkt beteiligt waren, um 1-2 Prozentpunkte höher aus als bei den Proxy-Interviews. Im Gegensatz dazu gibt es für das Item Körpergröße (in Zentimetern) etwas mehr Ausfälle bei den Personen, die nicht selbst an der Erhebung beteiligt waren. Beim Körpergewicht (in Kilogramm) ist die Ausfallquote sogar um fast 3 Prozentpunkte höher. Es ist daher zu vermuten, dass in vielen Fällen dem Interviewten die exakten Körpermaße der anderen abwesenden Haushaltsmitglieder nicht bekannt waren und deswegen keine Eintragungen vorgenommen wurden. Hinzu kommt, dass auffällig viele Frauen die Angaben zum Körpergewicht ausließen. Während die Ausfallquoten der Frauen bei den Items zu Behinderung, Krankheit, Unfallverletzung und Rauchgewohnheiten etwas niedriger als die der Männer geraten, liegen sie bei der Körpergröße mit knapp 20 % nahezu gleich auf. Beim Körpergewicht ist die Non-Response-Rate der Frauen mit 25 % aber höher als die der Männer mit fast 23 %. Die Proxy-Interviews sind zwischen den vier Erwerbsstatusgruppen nicht gleichverteilt. So gab es bei den sonstigen Nichterwerbspersonen signifikant häufiger Fremdauskünfte, nämlich in 37 % der Fälle. Bei den Erwerbstätigen kamen 25 % der Interviews unter Beteiligung einer anderen Person zustande. Bei den Erwerbslosen betrug der entsprechende Anteil 21 % und bei den arbeitsuchenden Nichterwerbspersonen 24 %. Im Zusatzprogramm zur Gesundheit haben die arbeitsuchenden Nichterwerbspersonen die höchste Non-Response-Rate. Von ihnen beantworteten ca. 18 % die Fragen zu Behinderung, Krankheit und Unfallverletzung nicht, während bei den übrigen Erwerbsstatusgruppen lediglich ca. 13-14 % keine Auskünfte erteilten. Ähnlich verhält es sich bei den Items zum Tabakkonsum. Bei diesen Fragen ist die Ausfallquote der arbeitsuchenden Nichterwerbspersonen mit rund 20 % deutlich höher als die der anderen Erwerbsstatusgruppen mit ca. 16-17 %. Die arbeitsuchenden Nichterwerbspersonen ließen auch am häufigsten die Fragen zur Körpergröße mit 23 % und zum Körpergewicht mit 27 % unbeantwortet. Im Hauptprogramm des Mikrozensus unterliegt die Frage „Aus welchem Grund könnten Sie eine neue Tätigkeit nicht innerhalb von 2 Wochen aufnehmen?“ der gesetzlichen Auskunftspflicht. Von den arbeitsuchenden Nichterwerbspersonen, die hier „Krankheit oder Arbeitsunfähigkeit“ antworteten, kreuzen 14,6 % im freiwilligen Zusatzprogramm später auf die Frage nach den Krankheiten oder Unfallverletzungen in den letzten vier Wochen die Option „keine Angabe“ an. Die Antwortverweigerungsquote unterscheidet sich damit kaum vom Durchschnitt. Trotzdem ist die Gefahr einer systematischen Verzerrung nicht ganz auszuschließen. Es ist davon auszugehen, dass die Missings in der Tendenz zu einer
125
allgemeinen Unterschätzung der Prävalenzen von Krankheit, Unfallverletzung, Behinderung, Tabakkonsum und Übergewicht führen. Problematisch sind unter methodischen Gesichtspunkten die Angaben zum Körpergewicht und Körpergröße für die Body-Mass-Indexbildung, da durch Non-Response bei diesen Proxy-Interviews (mit fehlenden Daten der jüngeren Altersgruppen) und hohe Antwortverweigerungen (insbesondere bei Frauen) die Ergebnisse systematisch verzerrt sein könnten. Alles in allem sind einem Bias aber prinzipiell enge Grenzen gesetzt, weil die Ausfallraten des Mikrozensus 2005 im Vergleich zu allen anderen repräsentativen Erhebungen in Deutschland auch bei den freiwilligen Angaben äußerst niedrig sind. In den multivariaten Analysen der vorliegenden Arbeit blieb zudem der Body-Mass-Index (BMI) aus den genannten Gründen unberücksichtigt.
126
5 Ergebnisse im Mikrozensus 2005 zur Gesundheit und Erwerbsbeteiligung
Der Ergebnisteil gliedert sich in fünf Unterkapitel auf. Zunächst werden die Strukturmerkmale von Erwerbstätigen, Erwerbslosen, arbeitsuchenden Nichterwerbspersonen und sonstigen Nichterwerbspersonen untersucht. Danach richtet sich das Hauptaugenmerk auf die Gesundheitsunterschiede zwischen den Erwerbsstatusgruppen in einer Reihe von Untergruppen. Durch den Untersuchungsansatz wird als Besonderheit die komplette Population im erwerbsfähigen Alter von 15 bis 64 Jahren und danach alle Kinder bis 14 Jahre in der repräsentativen Stichprobe betrachtet. Mehrere multiple Regressionsanalysen zum Krankenstand und zur Arbeitsmarktintegration schließen unter Einbezug potenzieller Determinantengruppen den Ergebnisteil ab. 5.1 Strukturmerkmale von Erwerbslosen, Erwerbstätigen und Nichterwerbspersonen Wie die vorangegangenen theoretischen Kapitel nahe legen, existiert eine Vielzahl von Einflussfaktoren auf die wechselseitigen Beziehungen zwischen Erwerbslosigkeit und Gesundheit. Zu ihnen zählen vor allem soziodemografische Merkmale, die Schul- und Berufsausbildung sowie sozioökonomische Variablen, anhand derer in den folgenden Abschnitten die Struktur- und Merkmalsunterschiede zwischen den Erwerbsstatusgruppen beschrieben werden. 5.1.1 Soziodemografische Merkmale nach Erwerbsstatus Das Labour-Force-Konzept der ILO bestimmt die Kriterien für die Einteilung von Erwerbspersonen nach Erwerbstätigen und Erwerbslosen und fasst die übrigen Personen als Nichterwerbspersonen zusammen (Kapitel 3.2). Nachdem die Definition der Erwerbslosigkeit eng mit dem Kriterium der Verfügbarkeit verknüpft ist und Krankheit bzw. Arbeitsunfähigkeit zum Ausschluss führen kann,
127 A. Hollederer, Erwerbslosigkeit, Gesundheit und Präventionspotenziale, DOI: 10.1007/978-3-531-92636-0_5, © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH
werden nachfolgend die Nichterwerbspersonen zusätzlich nach „arbeitsuchend“ und „keine Arbeitsuche“ (bzw. „sonstige“ Nichterwerbspersonen) ausgewiesen. Die Ergebnisdarstellung nach diesen vier Erwerbsstatusgruppen schließt auch eine Lücke in der Berichterstattung des Bundes. Die amtliche Statistik differenziert nämlich bei den Gesundheitsergebnissen nicht weiter, sondern rechnet die arbeitsuchenden Nichterwerbspersonen aus Gründen der Vergleichbarkeit mit früheren Erhebungen und entgegen der ILO-Konzeption den Erwerbslosen zu (StaBu, 2006 a-c). Das wesentliche Unterscheidungsmerkmal zwischen den Erwerbslosen und den arbeitsuchenden Nichterwerbspersonen besteht nach dem Labour-Force-Erhebungskonzept de facto in der Beantwortung der MikrozensusFrage „Könnten Sie eine neue Tätigkeit innerhalb von 2 Wochen aufnehmen?“ mit ja oder nein. In die folgenden Betrachtungen gehen alle Personen im erwerbsfähigen Alter ein. Die Altersuntergrenze wird gemäß der Labour-Force-Konzeption bei 15 Jahren und die Altersobergrenze bei dem im Jahr 2005 geltenden gesetzlichen Renteneintrittsalter in Deutschland von 65 Jahren gezogen. Die Zahl der 15- bis 64-Jährigen rechnet sich nach dem Mikrozensus Scientific Use File 2005 auf 55.137 Tsd. hoch. Davon sind 65,4 % (bzw. 36.046 Tsd.) erwerbstätig und 8,3 % (bzw. 4.598 Tsd.) erwerbslos. 1,2 % (bzw. 648 Tsd.) zählen zu arbeitsuchenden Nichterwerbspersonen und 25,1 % (bzw. 13.845 Tsd.) zu sonstigen Nichterwerbspersonen. Das Durchschnittsalter der Erwerbsbevölkerung (im Alter von 15 bis unter 65 Jahren) differiert in statistisch bedeutsamer Weise zwischen den vier Erwerbsstatusgruppen (ANOVA, df=3; F=31,8; p