Geister-
Krimi � Nr. 38 � 38
Gordon Walby �
Er trank das Blut � seiner Opfer �
2 �
Die untergehende Sonne tauchte...
63 downloads
616 Views
702KB Size
Report
This content was uploaded by our users and we assume good faith they have the permission to share this book. If you own the copyright to this book and it is wrongfully on our website, we offer a simple DMCA procedure to remove your content from our site. Start by pressing the button below!
Report copyright / DMCA form
Geister-
Krimi � Nr. 38 � 38
Gordon Walby �
Er trank das Blut � seiner Opfer �
2 �
Die untergehende Sonne tauchte die Zinnen der Burg in blutiges Rot. So rot hatten sie vor zweihundert Jahren geleuchtet, seitdem aber nie wieder. Damals war es ein Vorzeichen kommenden Unheils gewesen. Am anderen Morgen fand man die Burgbewohner mit durchschnittenen Kehlen, bis auf eine Ausnahme: Ruby Watford, den vierundzwanzigjährigen Sohn des Burgherrn. Ihn beschuldigte man der Bluttat. Aber alle Fahndungen verliefen im Sande, gefunden hatte man ihn nie. Seitdem ging es in der Burg um. Menschen verschwanden spurlos, in letzter Zeit mehr denn früher. Nachts kreischte es im Moor, weiße Nebelgestalten gingen zu mitternächtlicher Stunde in der Burg aus und ein. Zwei junge Burschen aus dem Dorf, die dem Spuk auf den Grund gehen wollten, fand man am nächsten Tag mit schneeweißen Haaren, alten verrunzelten Gesichtern und Wahnsinn in den Augen. Seitdem wagte sich niemand mehr an die Burgmauern heran, geschweige denn hinter sie. * Der Himmel war bedeckt. Er wirkte wie ein feiner Nebelschleier, der das Mondlicht absorbierte. Der freie Platz vor der Burg war in diffuses Licht getaucht. Man schrieb den 31. 5. – Walpurgisnacht. Mr. Withers schlief in dem geschnitzten Himmelbett, das fast so alt sein sollte wie jene grauenhaften Ereignisse. Die Federung ächzte und stöhnte bei jeder Bewegung und Mr. Withers bewegte sich viel in dieser Nacht. Böse Träume suchten ihn heim, trieben ihm den Schweiß aus allen Poren, drohten förmlich, ihn zu ersticken. Mit einem Schrei, der den Ring um seine Brust sprengte, fuhr er hoch. Aufrecht saß er im Bett und versuchte, seine Gedanken zu ord3 �
nen. Gestern war er angekommen, mit seiner Frau und den drei Kindern, die fast erwachsen waren, und zwei Bediensteten, einer Zofe und einem echten englischen Butler. Von Kanada herüber kam er, wo er in Öl Millionen gescheffelt hatte. Nun wollte er sich zur Ruhe setzen, stilecht, in einer europäischen Burg. Die Burg wurde von der Gemeinde verwaltet, weil es keine Besitzer mehr gab. Der Bürgermeister hatte sich geweigert, die neuen Kaufinteressenten hinauszufahren, lediglich die Schlüssel hatte er ihnen in die Hand gedrückt und den Rat gegeben, Eßkonserven mitzunehmen, weil auf der Burg kein Personal vorhanden war, und sich auch keines finden ließ, da sich alle weigerten, dort zu arbeiten. Dumpf hallten die Glockenschläge der alten Uhr in der Burgkapelle durch die hohen Gänge, Säle und Räume. Zwölfmal Mitternacht! Mr. Withers starrte die gegenüberliegende Wand an, wischte sich erschrocken über die Augen, glaubte er doch, noch zu träumen. Eine Halluzination? Aus der Wand trat eine Gestalt, erschien übergroß im fahlen Licht des Mondes. Umgeben wurde diese Gestalt von einem Lichtkranz, der bläulich schimmerte, sich in die Augen fraß, bis sie zu schmerzen begannen. Langsam setzte sich die Gestalt in Bewegung, und bei jedem Schritt klirrte und rasselte es, als schlügen Eisenteile gegeneinander, vermischten sich zu einem singenden Ton, der durchdringend wirkte, richtiggehend nervtötend. »Fahr zur Hölle!« fluchte der bullige Mr. Withers und spannte seinen Stiernacken. Dann riß er die Bettdecke weg und sprang aus dem geschnitzten Himmelbett. Noch einmal schnaufte er, holte tief Atem und ging entschlossen auf die Gestalt zu. Seine Hände hielt er zu Fäusten geballt. Die schemenhafte Gestalt verhielt nicht den Schritt, kam zeitlupenhaft näher und näher, und dabei klirrte und rasselte es, als 4 �
trüge sie ein Kettengewand. Je näher sie der Lichtbahn kam, die der fahle Mond ins Zimmer warf, um so mehr verblasste das bläuliche Licht, das sie umgab. Nun wurden Teile der Kleidung sichtbar. Diese Geistergestalt trug Panzer, wie sie früher von Rittern benutzt wurden. Es war ein Mann, dessen schönes Gesicht von langen blondlockigen Haaren umrahmt wurde, die bis auf die Schultern niederfielen. Der blonde Vollbart war kurz gestutzt und sehr gepflegt. Ungepflegt hingegen war der Geruch, der von dieser Geistergestalt ausging, an Fäulnis und Moder erinnernd. Hart preßte Mr. Withers die Zähne zusammen, so hart, daß sie herauszuspringen drohten. In Kanadas Wildnis, beim Ölbohren, hatte er haarige Abenteuer überstehen müssen, doch keines stand im Vergleich zu dem, was er diese Nacht serviert bekam. Ohne Vorwarnung schlug er zu, hart und brutal wie ein Mann, dessen Leben nur aus Kampf bestanden hatte. Voll traf er die Kinnspitze und da begannen sich seine Haare zu sträuben, und seinem Mund entrang sich ein gequältes Stöhnen. Die Faust fuhr hinein in das Gesicht des Mannes, der aus der Wand gekommen war. Plötzlich steckte der Kopf auf Mr. Withers Unterarm und seine Faust fühlte sich feucht an. Aber die Gestalt lief weiter, rasselnd und klirrend, umschloß Mr. Withers wie mit Nebel, daß er überall Feuchtigkeit fühlte, bis die Gestalt hinter ihm angelangt war. Sie war glatt durch ihn hindurchgelaufen. Da wandte sich der vollbärtige Rittersmann um und grinste. Seine Lippen platzten auseinander, entblößten zwei Reihen blitzender Zähne, die fast furchterweckend wirkten. Er lachte, und seinem Mund entströmte modriger Atem. Dann ging er weiter, langsam und klirrend, hinein in die Wand, die ihm am nächsten war. Zurück blieb der Grabgeruch und das Nachhallen seines schaurigen Gelächters. Aufseufzend sank Mr. Withers auf sein Bett zurück, strich sich 5 �
müde über die Augen, dann über die Stirn, auf der dicke Schweißperlen standen. Was er soeben erlebt hatte, überstieg das Begriffsvermögen eines normalen Menschen. Es warf die Frage auf, ob das soeben ein echter Geist gewesen war, der hier für einige Stunden noch mal existent wurde, wenn überhaupt bei dieser Nebelfigur von existent gesprochen werden darf. Einen Holzfällerfluch ausstoßend, erhob er sich von der ächzenden Bettstelle und ging hinüber zu der Truhe aus geschnitztem Eichenholz, auf der sein Koffer stand. Diesem entnahm er eine Pistole, Kaliber 45, und erst dann kleidete er sich an, steckte den 45er in den Hosenbund, griffbereit und entsichert. * Langsam tastete er sich den breiten dunklen Gang entlang, in der linken Hand eine Kerze haltend. Strom gab es im gesamten Komplex der Burg nicht. Die Flamme flackerte, verbreitete Ruß und einen unangenehmen Geruch. An den Wänden hingen große Bilder, Vorfahren aus längst vergangenen Jahrhunderten. Bösartig, der Reihe nach durch, blickten sie nieder, und es schien, als verzögen sich ihre Gesichter verächtlich im flackernden Kerzenschein. Nicht ein einziges freundliches Gesicht befand sich unter ihnen. Mr. Withers zog die Schultern hoch, ihn fröstelte es. Sicherheitshalber nahm er die 45er in die Faust. Der kühle Stahl flößte ihm Beruhigung ein. Das Vibrieren seiner Nerven ließ nach. Was nicht nachließ, waren die Schweißausbrüche, die ihn wieder zu quälen begannen. Zweimal schon hatte er sich plötzlich umgedreht, und jedes Mal starrte ihm nur die Finsternis des Ganges entgegen. Und doch wußte er genau, daß er sich nicht verhört hatte. Zweimal war das Wimmern und Weinen einer Frau an seine Ohren gedrungen. 6 �
Als es nun wieder ertönte, riß er die Waffe hoch und jagte zwei Schüsse mitten hinein in die gähnende Finsternis. Dann war für Sekunden Stille. Doch plötzlich verkrampften sich seine Muskeln: jemand lachte! Das gräßliche Gelächter drang wie Trompetenstöße an seine Ohren, gellte darin, drohte, die Trommelfelle zu zerplatzen. Aber niemand war zu sehen. Lediglich ein Windhauch strich durch den Gang, Grabesgeruch verbreitend, der das Talglicht verlöschte. Eine Tür wurde aufgestoßen und eine jugendliche Stimme fragte angstvoll zitternd: »Daddy, hast du geschossen?« Mr. Withers fluchte unterdrückt, bevor er antwortete: »Ja, David. Bleib in deinem Zimmer, bis ich Licht gemacht habe. Ich glaube, hier treiben sich Geister herum, verdammt und zugenäht.« Endlich fand er sein Feuerzeug, schnippte es an und setzte damit die Kerze wieder in Brand. Dann sah er das leichenblasse Gesicht seines jüngsten Sohnes, der am ganzen Körper zitternd in der Türfüllung stand. Bevor er den sechzehnjährigen Jungen ins Zimmer hineindrückte, warf er noch einen Blick auf den Gang. Niemand sonst schien seinen Schuß gehört zu haben. Es war kein Wunder, innerhalb der meterdicken Steinmauern und handgeschnitzten Türen, die einige Zoll Durchmesser hatten und aus dicken Eichenbohlen gearbeitet waren. »Wo ist Marc?« fragte er seinen Jüngsten, dem er beruhigend die Wangen tätschelte. Achselzucken antwortete ihm, dann nach einer kleinen Weile: »Ich weiß es nicht, Dad. Er ging vor zwei Stunden weg.« Grimmig nickte Mr. Withers, sagte zwischen zusammengepressten Zähnen hindurch: 7 �
»Kann ich mir schon denken, wo er steckt. Bei Alice, unserer mannstollen Zofe.« »Unsere Zofe, Dad?« fragte Wither Junior interessiert. Aber da war sein Vater schon an der Tür und knurrte: »Verstehst du nicht. Schließ die Tür hinter dir gut ab und öffne nur, wenn du genau weißt, wer rein will. Verstanden?« Wieder ging Mr. Withers vorsichtig durch den Gang mit dem Ziel, das Zimmer seiner Frau aufzusuchen, in dem auch Daisy, seine neunzehnjährige Tochter, schlief. Der Gang machte einen Knick. Ein Windhauch traf ihn. Aber diesmal war er darauf vorbereitet und hielt die Hand über die zuckende Kerzenflamme, hinderte sie so am Verlöschen. Kein Gelächter, Gewimmer noch Weinen erschreckten ihn, das taten leise tapsende Schritte. Jedes Mal, wenn er plötzlich verhielt, verstummten auch sie, klangen erst wieder auf, wenn er weiterlief. Als er vor der Schlafzimmertür seiner Frau anlangte, war er in Schweiß gebadet, und er ärgerte sich, nicht den Stabscheinwerfer aus dem Koffer mitgenommen zu haben. Mit dem Lauf der Pistole klopfte er hart gegen die dicke Tür. Mehrmals mußte er das Klopfen wiederholen, bis von innen geöffnet wurde. Verschlafen streckte seine Tochter ihren Kopf heraus. Von ihrem Gesicht war nicht viel zu erkennen, langes, leicht gewelltes Haar verdeckte es. Im schwachen Kerzenschein schimmerte es rotblond, und es glänzte wie Lack. Das wenige, das vom Gesicht zu erkennen war, wirkte rassig. »Dad, was soll das? Es ist mitten in der Nacht«, sagte sie mit verschlafener Stimme, ein Gähnen nur mit Mühe unterdrückend. »Ist mir wurscht«, wetterte Mr. Withers los und drängte sie zur Seite, um ins Zimmer zu gelangen. Drei Schritte tat er, dann blieb er stehen und fragte: »Wo habt ihr eure Taschenlampen?« Daisy schlürfte auf hochhackigen Pantoffeln, die mit Pelz 8 �
besetzt waren, müde heran. »Hier«, murrte sie und knipste die Lampe an, bevor sie diese ihrem Vater übergab. Das grelle Licht traf Mrs. Withers, ihren von Lockenwickeln umrahmten Kopf, der sich nicht bewegte. Die Schlaftablette, die sie allabendlich einzunehmen pflegte, zeigte volle Wirkung, Weiter wanderte der Lichtstrahl durch den saalartigen Raum, huschte über die Decke, an der Köpfe hingen, Engelsköpfe, von Künstlerhänden geformt. Zuletzt huschte der Strahl über die dezent gemusterte, aber leicht verstaubte Seidentapete, verhielt auf einem dunklen Fleck unterhalb des Fensters. Vertrocknetes Blut, fast schwarz geworden im Laufe der vielen Jahrzehnte. Wurden hier die ehemaligen Burgbewohner ermordet? fragte sich Mr. Withers und konnte sich eines leichten Grauens nicht erwehren, das eine Gänsehaut über seinen Körper ziehen ließ. »Warum läufst du mitten in der Nacht mit einer Pistole in der Hand herum?« fragte seine Tochter und kletterte dabei in das breite altertümliche Bett, weil ihr kalt geworden war. Tief kuschelte sie sich unter die Daunen, daß nur noch eine Strähne ihres Haares zu sehen war. Bevor er antworten konnte, klopfte es an die Tür und es war, als stünde jemand draußen und riefe mit hoher Stimme. »David«, knurrte Mr. Withers und riß die Tür mit einem Ruck auf. Schwärzeste Finsternis gähnte ihm entgegen, durch die der Lichtstrahl, der Taschenlampe einen schmalen Pfad zog. Niemand war zu sehen, auch nicht David, der Jüngste aus der Familie des kanadischen Ölmillionärs. Am Ende des Ganges, wohin der, Lichtstrahl nicht reichte, raunte und wisperte es, als unterhielten sich gedämpft mehrere Kinder. Einige Male klang fröhliches Gelächter auf. Das war zuviel in einer Nacht! Mr. Withers Wangenmuskeln begannen zu mahlen, und er zerquetschte einen Fluch zwischen 9 �
den Zähnen. Dann stürmte er los und jagte Schuß um Schuß hinein in das undurchdringliche Dunkel. Den letzten Schuß aus der Pistole hielt er zurück – für alle Fälle. Als er die Stelle ableuchtete, woher das Raunen und Wispern gekommen war, erkannte er ein altes Ölgemälde, das die Kugeln aus seiner 45er durchlöchert hatten. Eine Gruppe Kinder spielte fröhlich inmitten von Frühlingsblumen. Eine Kugel hatte den Kopf eines kleinen Jungen getroffen aus dem Loch tropfte eine dunkle Flüssigkeit. Zögernd hob Mr. Withers den Finger, tupfte dagegen, betrachtete sich dann genau das flüssige klebrige Zeug von hellroter Farbe. Es war Blut. Da hetzte er wie von Furien gejagt zurück in das Schlafzimmer seiner Frau, wo er erschöpft in einen Sessel sank. Nervös fummelte er das Päckchen Zigaretten aus der Hosentasche, schüttelte mit zitternden Fingern eine heraus und brannte sie an. Gierig saugte er den Rauch des ersten Zuges ein, stieß ihn durch die Nasenlöcher aus und sagte: »Die Burg ist verhext und verflucht!« * Henry, der Butler, servierte das Frühstück. Trotz Appetit und Hunger aß jeder nur sehr wenig. Die nächtlichen Erlebnisse lasteten auf allen, auch wenn sie nur vom Oberhaupt der Familie wahrgenommen worden waren. Lediglich Marc, der älteste Sohn, hatte den Appetit eines Scheunendreschers. Sein nächtliches Abenteuer mit der Zofe mußte anstrengend gewesen sein. Er war aber auch Realist, hatte sich die so genannten Tatorte angesehen und außer den Löchern, die die Pistolenkugeln gerissen hatten, nichts entdecken können. »Du bist mit vollem Magen ins Bett gegangen«, meinte er nun lustig grinsend zu seinem Vater, um dann in ein frisches Honig10 �
brötchen zu beißen. Mr. Withers wußte von den Dingen, schwieg sich aber darüber aus, um seine Familie nicht noch mehr zu beunruhigen. Er schwenkte auf ein anderes Thema um und sagte: »Ich fahre ins Dorf, und will versuchen, einige Leute anzuwerben.« »Es wird niemand kommen«, meinte Daisy, deren rotbraunes Haar leuchtete und glänzte. Sie war schön wie die Sünde. »Ich biete Geld, viel Geld«, murrte Mr. Withers und reckte seine bullige Gestalt. Sein Straßenkreuzer stand im Dorf, er war gezwungen gewesen, einen Jeep zu mieten. Der Grund war einfach. Im Laufe der Jahrzehnte hatte sich die Natur zurückerobert, was ihr von Menschenhand geraubt worden war. Die Straße zur Burg war fast unbefahrbar. Sie war mit Gras, Unkraut und anderen Pflanzen überwuchert. Ein kleiner Dschungel, der nur mit einem Jeep bezwungen werden konnte. Langsam ließ er den Jeep auf dem grünen Pflanzenteppich entlangrollen, starrte dabei angestrengt durch die Windschutzscheibe, vor der Nebelgebilde wogten. Er war in den berüchtigten schottischen Hochmoornebel geraten. Verdrossen legte er einen kleineren Gang ein, nahm den Fuß fast herunter vom Gaspedal. Je dichter der Nebel wurde, um so keuchender atmete er, befanden sich doch links und rechts der zugewachsenen Fahrbahn tückische Moorfelder, die ihn, samt dem Jeep, binnen Minuten verschlingen konnten. Dann wurde die Nebelwand so dicht, daß er auf die Bremse trat und den Jeep zum Stehen brachte. Nervös brannte er sich eine Zigarette an und begann, hastig zu rauchen. Die nasse Kälte kroch durch seine Kleidung und ließ ihn erschauern. Fast überkamen ihn Depressionen. Eine Nebelkrähe krächzte, etwas später quarrten Sumpfenten. 11 �
Sonst herrschte Stille, tödliche Stille, und dicht wie Watte legte sich der Nebel um alles, erstickte jeden Laut. Am Rücken begann das Ziehen, kroch höher, ließ den Hals steif werden, bis sich rasender Kopfschmerz einstellte, etwas, das Mr. Withers völlig fremd war. Müdigkeit überfiel ihn, und er hatte Mühe, die Augen offen zu halten. Da gellte ein Schrei. Es war ein Schrei, wie jemand ihn ausstößt, der furchtbare Schmerzen erdulden muß, der gefoltert wurde. Jemand, der seinen Tod vor Augen sah. Plötzlich war Withers wieder hellwach. Er lauschte hinein in das erdrückende Schweigen des Nebels, der dämmriges Licht erzeugte, und seine Hand krampfte sich um den Schaft der 45er, die er im Gürtelhalfter trug. Der Schrei wiederholte sich nicht, und es herrschte wieder diese absolute Stille, lastend und gespenstisch wie in einem Grab. »Höllenwesen«, sagte er laut vor sich hin, und seine Stimme hörte sich ganz anders an als sonst. Dann konnte er nur noch starren, mit offenem Mund und hervorquellenden Augen. Die dichte Nebelwand zu seiner Linken kam in Bewegung, es schien anfangs, als brodelte ein Waschkessel über, Dampf erzeugend, der alles verschlingen wollte. Und mitten aus einer dieser Wolken trat der Ritter hervor. Von seiner Rüstung tropfte Nässe, sein langes blondes Haar hing strähnig herab. Sein Gesicht hatte sich, im Vergleich zur letzten Nacht, erschreckend verändert. Die Haut spannte sich über der Nase, der Mund war zu einem häßlichen Strich verzogen, die Augen traten aus den Höhlen, und auf den Wangen zeigten sich dunkle unansehnliche Flecken, soweit sie nicht vom Bart verdeckt wurden, Auf den Armen trug er eine Frau. Ihren Leib umhüllten weiße Schleier, während langes tiefschwarzes Haar nach unten fiel, fast 12 �
die Erde berührte und hinter ihr herwehte. Kein Laut war zu hören und doch stampfte der Ritter mit seiner Last schwer auf, ohne daß diesmal seine Rüstung klirrte. Genau zwei Schritte vor dem Jeep verhielt er. Aufmerksam musterte er aus tiefliegenden Augen Mr. Withers, wobei sich sein Gesichtsausdruck verwandelte. Sein Mund wurde breiter, die Lippen rissen auseinander und entblößten lange spitze Zähne. Am gefährlichsten wirkten die Eckzähne, denn sie waren rot vor Blut. Dann bückte er sich und legte seine Last nieder, ohne Mr. Withers aus den Augen zu lassen. Als er sich wieder aufrichtete, sagte er grausam lächelnd und seine Stimme klang dabei dumpf, als spräche er aus einer Gruft: »Morgen früh brauche ich wieder frisches Blut, Erdenwurm!« Dann wandte er sich um und lief hinein in das wallende Nebelgebrodel. Mr. Withers halb geöffnete Lippen zitterten über den zusammengepressten Zähnen, und sein Atem ging schwer. Steifbeinig stieg er aus dem Jeep, kniete neben der Frau nieder, die der unheimliche Ritter ins nebelnasse Gras gelegt hatte. Zaghaft faßte er sie an, drehte sie um und fühlte dabei die zarte Seide des Schleiers, mit dem sie umhüllt war. Er starrte ungläubig in ein ebenmäßiges Gesicht, weiß wie Elfenbein, und in tiefschwarze Augen, die leer und glanzlos nach oben gerichtet waren. Die schöne Unbekannte war tot. Tiefer beugte er sich über sie, entdeckte am Hals zwei winzige, kleine rote Punkte und dachte dabei sofort an die Eckzähne des Ritters. »No«, knurrte er vor sich hin, »die Wunden müßten größer sein.« Behutsam begann er mit den Fingerspitzen die zwei kleinen roten Punkte abzutasten und da überfiel ihn das Grauen. Die samtweiche Haut der Toten wurde spröde und hart, bekam Runzeln, spannte sich wie Pergament über den Wangenknochen. 13 �
Seinen Lippen entrang sich ein ächzender Laut. Aus der wunderschönen Frau war eine vergilbte Mumie geworden. Das sprengte sein Vorstellungsvermögen, und er spürte, wie die Angst in ihm immer stärker wurde. Mit hochgezogenen Beinen hockte er auf dem Fahrersitz des Jeep. Sein Kinn ruhte auf den Knien, und er starrte mit leeren Augen auf die Mumie, bis seine Augenlider schwerer und schwerer wurden. Leichter Wind kam auf, steigerte sich zur Heftigkeit, bis ein hohles Singen in der Luft lag. Der Schleier der Mumie blähte sich auf, flatterte, bis er eins wurde mit den abziehenden Nebelfeldern. Dann krachte es, ein blauer Blitz zuckte nieder. Erschrocken riß Mr. Withers die Augen auf. Sein erster Blick galt der unheimlichen Leiche. Sie war verschwunden, und nicht ein einziger umgeknickter Grashalm war zurückgeblieben. Als habe sie der Wind hinweggeweht, dachte er, um sofort zu erschrecken. Wo war der Wind? Kein Lufthauch wehte, die Sonne stand am blanken Himmel. Er startete den Motor und fuhr an. Knapp eine Meile vor dem Dorf begegnete ihm der erste Mensch, und er winkte ihm schon von weitem zu. Sein Arm blieb in der Luft hängen, wie erstarrt. Automatisch, fast geistesabwesend, fuhr er vor, um dann sofort Vollgas zu geben. Ein Krüppel war ihm über den Weg gelaufen, versehen mit einem riesenhaften Höcker und einem abgrundhässlichen Gesicht, daß ihn an Hexen erinnerte. Mr. Withers stieg die ausgetretenen Steinstufen empor, öffnete die Tür und betrat die Dorfkneipe. Der Wirt, gleichzeitig auch Bürgermeister, stand hinter dem Tresen und zapfte ein Bier ab. Mr. Withers, noch bleich im Gesicht, sagte: »'nen Whisky, aber doppelt.« In dörflicher Gemächlichkeit schenkte der Wirt ein, schob das 14 �
Glas über den Tresen und fragte mit lauerndem Unterton in der Stimme: »Na, gut geschlafen diese Nacht?« »Walpurgisnacht«, krächzte eine Stimme aus dem Hintergrund, Sie gehörte dem Dorftrottel, der schon am frühen Morgen ein Bier zu sich nahm. Mr. Withers antwortete nicht, fragte vielmehr zurück: »Gibt es einen Krüppel im Dorf, mit Höcker und einem Gesicht, das…« Der Dorftrottel lachte schallend, klatschte sich mit seinen großen Händen auf die Schenkel und rief: »Sicher doch, Mister. Sie meinen wahrscheinlich Rocco. Aber der ist um diese Zeit im Moor, auf der Suche nach Vogeleiern.« Erleichtert atmete Mr. Withers auf. Wenigstens einer, der kein Geist zu sein scheint, dachte er. Von seinen Erlebnissen sagte er kein Wort, knallte dafür seine dickgefüllte Brieftasche auf den Tresen und registrierte sorgfältig das Funkeln in den Augen des Wirtes. Rauh lachte er und sagte: »Ich brauche Leute, Personal, Arbeiter und so. Ich zahle gut und bar auf die Hand.« Die Habgier in den Augen des Wirtes schwand, wich spöttischem Lächeln, das immer stärker wurde. »Leute? Zu Ihnen auf die Burg?« Er schüttelte sich vor Lachen. Mr. Withers lächelte zurück, hart, fast angriffslustig. »Für jeden, der mit hinausfährt, zahle ich Ihnen zehn Dollar Prämie oder Provision, egal, wie Sie es nennen mögen.« Von nun an hatte nur noch die Habgier Platz im Denken des Wirtes. »In einer Stunde«, sagte Mr Withers und ging. In der nahen Poststelle, die von einer mit reichem Kindersegen geplagten Hausfrau nebenbei verwaltet wurde, gab er ein Telegramm auf. Ein neben ihm stehender Bauer, der ihm neugierig 15 �
über die Schulter schielte, konnte nur einen Teil der Anschrift lesen: Nick Harper, Privatdetektiv, New York. Aufgeregt stieß das Bäuerchen einen scharfen Pfiff aus. Der geldgierige Wirt kam ihm schon entgegengelaufen, zog ihn etwas zur Seite und sagte flüsternd: »Wenn Sie mir fünfzig Dollar geben, Mister, besorge ich Ihnen vier Leute.« Er gab ihm das Geld, wortlos, doch seine Augen blickten drohend, schienen sagen zu wollen: einen Sam Withers betrügt man nicht und wenn, dann nur einmal. Zu einer zweiten Gelegenheit wirst du nie wieder kommen. Sie warteten in der Wirtsstube, saßen an einem Tisch, über dem Knoblauch aufgereiht hing, und tranken Tee. Knoblauch hing im Dorf über jeder Tür und vor jedem Fenster, er sollte den bösen Zauber vertrieben, der von der Burg kam. Sie wurden Mr. Withers vorgestellt. Zuerst der Dorftrottel, den jeder im Dorf nur Joe nannte. Und dann die drei jungen Mädchen. Alle hatten etwas gemeinsames: sie waren bettelarm und brauchten dringend Geld für Eltern und Geschwister. Die Not trieb sie dazu, in der Spukburg zu arbeiten. Alle außer Joe trugen Kruzifixe und Amuletts bei sich, die der Dorfpfarrer geweiht hatte. Dann fuhren sie los, durch das dichte Spalier der Dorfbewohner, die ihnen schweigend nachschauten und sich bekreuzigten. Bei einigen alten Weibern bewegten sich die Lippen. Sie murmelten Gebete. Auf halber Fahrt begegnete ihnen Rocco, der Krüppel. Der geflochtene Korb in seiner langen schmalen Hand war gefüllt mit Vogeleiern. Als sie an ihm vorbeifuhren, riß er seinen zahnlosen Mund auf und schrie Flüche hinter ihnen her. Marie Seile, die älteste der drei Mädchen mit ihren einund16 �
zwanzig Jahren, schlug ein Kreuz und begann, wie die alten Weiber im Dorf, monoton vor sich hin zu beten. Joe, der Dorftrottel, grinste stupid vor sich hin. * Der Tag neigte sich seinem Ende zu. Vom Moor her machte sich ein frischer Wind auf, rüttelte an den alten morschen Fensterläden. Eine Scheibe zerbarst klirrend. Mehrere Räume der Burg waren gesäubert und wohnlich hergerichtet worden. Die neuen Bewohner begannen Ordnung zu schaffen. Die Familie des Mr. Withers saß vollzählig im Speisesaal, der eine kleine Sehenswürdigkeit darstellte, mit seinen alten, aber noch gut erhaltenen Möbeln, den Kronleuchtern an den Wänden, in denen Talglichter rußten, die die Bilder an den Wänden beschienen, zwischen denen antike Stichwaffen hingen. Überall diese verdammten Bilder, dachte Mr. Withers, und starrte sie böse an. Die Männer darauf ähnelten alle seiner Spukgestalt, dem unheimlichen Ritter. Eines ganz besonders, und der Kerl darauf begann satanisch zu grinsen. Mr. Withers hielt die Luft an, seine Hände umkrampften das Essbesteck. Das darf nicht wahr sein, zuckte es durch sein Gehirn. Und da knallte es. Um Haaresbreite sauste ein Dolch mit breitem Griff an Mrs. Withers Kopf vorbei, bohrte sich in die mit Mosaiken ausgelegte Tischplatte. Einen gellenden Schrei ausstoßend, sprang die Frau auf. Ihr hochlehniger Stuhl kippte mit einem lauten Krach um. Die Erstarrung wich von Mr. Withers. Er warf einen letzten Blick auf das Bild, das nun normal wie jedes andere wirkte. Nur daneben, wo der Dolch gehangen hatte, gähnte eine kahle Stelle. »Mann, o Mann«, stieß Marc, der Älteste, hervor und packte den Dolch am verzierten Griff. Erstaunt weiteten sich seine 17 �
Augen: Griff samt Klinge zerbröckelten wie Staub zwischen seinen zupackenden Fingern. Zurück blieb ein Häufchen Rost und Holzstaub. Dem Entsetzen in den Augen der anderen Familienmitglieder schenkte er keine Beachtung. Kraftvoll schob er seinen Stuhl an die Zimmerwand, schaute an dieser hoch, richtete noch etwas den Stuhl und bestieg ihn dann. Bevor er das Gegenstück des zerbröckelten Dolches von dem Haken abnahm, an dem er hing, holte er tief Luft. Nachdenklich legte er ihn auf den Tisch. Der Griff, schwarzes geschnitztes Ebenholz, war staubig. Als er ihn mit einer Serviette reinigte, glänzte er matt. Die Klinge, bester Stahl, zeigte keinen Rostfleck. Der Dolch war hart und schwer und unzerbrechlich. Marc sah aus, als wollte er es nicht glauben. Ein unheilschwangeres Schweigen folgte, das nur von den klappernden Fensterläden durchbrochen wurde, das ab und zu den heulenden Wind übertönte, der um die Ecken pfiff. Gesprochen wurde kein Wort. Um den großen rechteckigen Tisch in der Küche saß das Personal. Fast schweigend nahm man dort das Abendbrot ein. Das Benehmen der Mädchen aus dem Dorf, ihr geheimnisvolles Getue, ließ eine Unterhaltung nicht aufkommen. Alice, die Zofe, dachte an Marc. Noch zwei Stunden, dann würde er neben ihr im Bett liegen. Sie schauderte in freudiger Erwartung, denn Marc war stark, einen besseren Liebhaber hätte sie nicht finden können. Das Gesinde aus dem Dorf beachtete sie kaum, höchstens Joe, den Dorftrottel. An ihm bewunderte sie die starken Muskeln. Bis sie aus ihren Gedanken gerissen wurde von Henry, dem Butler, dessen näselnde Stimme fragte: »Wo ist Elsi, das kleine zarte Mädchen aus dem Dorf?« »Fort«, sagte Joe und grinste breit, sich dabei ungeniert die Brust kratzend. Die zwei Mädchen aus dem Dorf machten ängstliche Gesichter 18 �
und bekreuzigten sich zum wiederholten Male. * Elsi war mit ihren siebzehn Jahren ein schon sehr aufgewecktes Mädchen. Heimlich hatte sie sich davongestohlen, um bestimmte Örtlichkeiten der Burg aufzusuchen. Nicht nur das verlockende finanzielle Angebot des Mr. Withers hatte sie mitfahren lassen. Es lag noch ein anderer Grund vor und der hieß Anne. Anne war ihre älteste Schwester gewesen, von herber Schönheit, die sehr langes tiefschwarzes Haar hatte. Noch kein halbes Jahr war es her, daß man sie vermißte. An einem Sonntag hatten Dorfbewohner sie zum letzten Mal gesehen, in der Nähe des Moores, beim Blumenpflücken. Elsi glaubte an Geister, genauso fest wie ihre Eltern und Großeltern. Und keiner hatte widersprochen, als Großvater damals sagte, der Geist des Ruby Watford habe Anne zu sich geholt. Nun befand sich Elsi im Dämmerlicht des hereinbrechenden Abends auf dem Weg zur Burgkapelle. Der Wind zerrte an ihrer Kleidung, preßte sie eng an ihren schmächtigen Körper, modellierte so ihre jugendlichen Formen plastisch hervor. Ihr Haar, fast so schwarz wie das ihrer verschollenen Schwester, bewegte der Wind auf und nieder. Mit beiden Händen drückte sie ein Foto gegen ihre Brust. Das Bild Annes. Der Dorfpfarrer hatte geraten, es auf den Altar der Burgkapelle zu stellen, direkt neben dem Kruzifix. Dann sollte sie eine bestimmte Stelle aus dem Alten Testament laut vorsagen und danach ein stilles Gebet sprechen. Aber sie müsse es allein tun, hatte er gesagt. Schwarze Wolken jagten am Himmel entlang, ließen die Finsternis früher hereinbrechen als gewohnt. Urplötzlich hielt mit 19 �
einem schrillen Ton der Wind den Atem an. Es war die Ruhe vor dem Sturm, alles wartete auf den großen Knall. Nur noch wenige Schritte trennten sie von der Kapelle, die als dunkler Klumpen vor ihr auftauchte, gespenstisch anzusehen für ein siebzehnjähriges Mädchen, das die guten Geister bitten wollte, ihrer verschollenen Schwester das Seelenheil zu geben. Die nun einsetzende Windstille ließ den zierlichen Körper vollends erstarren. Noch fester als zuvor drückte sie das Bild Annes an ihren Körper und blickte hoch zum tiefverhangenem Himmel, der in dieser Nacht zürnte. Nur so war es erklärlich, daß sie den huschenden Schatten nicht entdeckte, der direkt aus der Erde zu kommen schien, emporwuchs und die Gestalt eines Menschen annahm. Aus weitgewandigen Ärmeln reckten sich Hände vor, sehr lang die blanken Knochen. Aber sie bewegten sich, als gehörten sie zu etwas Lebendigem. Gekrümmt wie Adlerklauen hingen sie in der Luft, als warteten sie darauf, den weißen schlanken Hals der Bittstellerin umklammern zu können. Elsi senkte den Kopf, als sie ihr Gebet beendete. Laut sagte sie: »… und nun beschütze auch mich. Amen.« Mit einem fürchterlichen Heulen setzte der Wind wieder ein, riß ihr fast die Kleider vom Leib. Höllenatem wehte über den kleinen Hof, schien alles hinwegfegen zu wollen. Im einsetzenden Sturm ging der ächzende Laut unter, mit dem das aus der Erde gekommene Höllenwesen seine skelettartigen Krallenhände einzog, sie in den weiten Ärmeln des Gewandes verschwinden ließ. Zurück in die Erde aber fuhr es nicht. Es ging nur langsam rückwärts, bis es gegen das Mauerwerk der Kapelle prallte, wo es sich niederduckte, eins wurde mit den Schatten der Nacht. Ein schwaches bläuliches Licht strahlte auf, kam direkt aus den runden Augenhöhlen eines Totenschädels, gab ihnen das Aussehen 20 �
von lebenden Augen, die nur einen Punkt anvisierten: Elsi, die Bittstellerin. Die große eiserne Klinke ließ sich niederdrücken, die Tür war nicht verriegelt. Schwerfällig öffnete sich die große Tür der Kapelle. Ihren Angeln mangelte es an Fett, sie kreischten laut und schrill. Elsi erschrak, schauerte und wurde noch kleiner. Ihr Herz klopfte wie rasend vor Angst. Am liebsten wäre sie umgekehrt. Aber sie hielt durch, aus Liebe zu ihrer Schwester. Laut betend überschritt sie die Türschwelle. Schwärzeste Finsternis herrschte in der Kapelle, deren Fenster verstaubt und dick mit Spinnweben behangen waren. Seit Jahrzehnten schon hatte kein menschlicher Fuß mehr diesen Raum betreten. Der Wind trat zusammen mit Elsi ein, fuhr hinein in die stehende verbrauchte Luft. Etwas polterte, fiel herunter, rollte klirrend auf dem Fußboden entlang. Das Mädchen trat zur Seite, wich dem Wind aus und holte ein Talglicht hervor, das sie ihrer Schürzentasche entnahm. Mit zitternden Fingern brannte sie es an. In Sekundenschnelle wurde die Flamme größer und spendete genügend Licht, um die nähere Umgebung erkennen zu können. Aber da kreischte und quiekste es los, als fingen tausend Teufel an zu heulen. Und gleichzeitig rauschte und knatterte es und viele hundert schwarze Wesen flatterten oben im Kirchenschiff aufgeregt durcheinander. Kleine spitze Köpfe besaßen sie, mit aufrecht stehenden Ohren, und ihre kleinen Knopfaugen glühten. Nur mit Mühe konnte Elsi das Licht in ihrer zitternden Hand halten, das zu verlöschen drohte. Ihre schmalen Schultern pressten sich gegen das kalte Gestein. Dann schrie sie auf. Der Schrei wirkte wie ein Signal. Ordnung kam in die schwarzen Wesen, 21 �
die alsbald auf die offene Tür zuflatterten, durch diese in wilder Flucht die Kapelle verließen, die ihnen viele Jahre hindurch Unterkunft gewährt hatte. Einfache harmlose Fledermäuse waren es, aber woher sollte das Elsi wissen, die in ihrem jungen Leben noch nie solche Tiere gesehen hatte? Mit der letzten Fledermaus, die zur Tür hinausflog, kam das Höllenwesen herein. Sofort erkannte es den Standort des Mädchens, scheute aber in den Lichtschein der Kerze zu treten. Verschlagen und heimtückisch schlich es an der Wand entlang, verbarg sich zwischen handgeschnitzten Bänken, in denen früher das Gesinde der Burgherren saß, wenn Gottesdienst abgehalten wurde. Elsi ging zurück zur Tür und schloß sie mit verzweifelter Anstrengung, denn der Wind zerrte an ihr, wollte sie ihr immer wieder aus der Hand schlagen. Als sie das Werk vollendet hatte, lehnte sie sich erschöpft gegen das Innere der Tür. Das Talglicht stand auf einer Bank, wo sie es abgestellt hatte, und verbreitete einen gelblichwarmen Schein. Wohl nur dadurch konnte sie das bläuliche Leuchten zwischen den Bänken nicht erkennen, das fortgesetzt auf sie gerichtet war, aus leeren Totenkopfhöhlen kam. Einmal flackerte es, als die Tür geschlossen wurde. Fühlte sich das Höllenwesen eingesperrt oder ahnte es womöglich, daß es sich in einer Kirche befand? Wenn überhaupt… Von außen gesehen wirkte die Kapelle klein. Im Inneren aber mußte Elsi über zehn Meter zurücklegen, um an den Altar zu gelangen. Fast alles darauf war aus purem Gold. Trotz ihrer Angst wunderte sie sich, daß diese Gegenstände nicht schon längst von diebischen Händen entwendet worden waren. Sie stieß einen Wehlaut aus, denn schlagartig fiel ihr wieder ein, wo sie sich befand: in der Burg der bösen Geister, wo sich Familien22 �
mitglieder gegenseitig umgebracht haben sollten, deren Geister ruhelos umherwanderten und die Schätze bewachten. Sie hob das Talglicht an und stellte es auf den Altar. Dann knöpfte sie ihre Schürze auf, zog sie aus, und benutzte sie als Staubtuch. Sorgfältig begann sie den Altar zu säubern. Als sie das Kruzifix in die Hand nahm, begann das bläuliche Licht hinter ihr, zwischen den Bänken, stark zu flattern. Das skelettartige Höllenwesen begann sich zu krümmen, fuhr sich mit beiden Knochenhänden an den Hals, als drohte es zu ersticken. Krächzende dumpfe Laute gab es von sich, die aber im Wimmern und Heulen des Windes untergingen. Dann huschte das bläuliche Licht in den Augenhöhlen hin und her, drehte sich sogar um, ohne daß der Knochenkörper bewegt wurde. Resigniert kehrte es zurück, wurde immer schwächer, bis nur noch zwei kleine Pünktchen verblieben. Vielleicht war dem Höllenwesen eingefallen, daß der unterirdische Gang zur Kapelle von vor Jahrzehnten eingestürzt war, und daß man damals den Zugang vernagelt hatte. Das Ein und Ausstiegsloch im Hof war erhalten geblieben, von dem aus viele Gänge unter die Burg führten. Der Altar war gesäubert. Das Gold glänzte im bewegten Schein der Kerze. Andächtig stellte Elsi das Bild ihrer Schwester auf, direkt neben dem Kruzifix, wie ihr der Dorfpfarrer geraten hatte. Dann begann sie laut und mit wild klopfendem Herzen die bestimmte Stelle aus dem Alten Testament vorzusagen. Plötzlich heulte und jammerte es hinter ihr, und die klagenden Laute schallten schaurig durch das Kirchenschiff. Tränen der Angst netzten ihre Wangen, drohten ihre Stimme zu ersticken. Aber sie hielt tapfer durch, wandte nicht den Blick vom Bild ihrer Schwester, die plötzlich wie erlöst zu lächeln schien. Da fiel sie nieder auf die Knie und begann zu beten. Und hinter ihr trommelte und rumorte es. Das Höllenwesen 23 �
war aufgesprungen, hin zur Wand gerannt, wo sich früher eine Falltür in der Ecke befunden hatte. Dicke Balken, verrammt und vernagelt, versperrten den Zugang. Heulend vor Wut kratzten Knochenfinger über die im Laufe der Jahrhunderte steinhart gewordenen Eichenbohlen. Es gab kein Entkommen. Die Tür als Fluchtweg zu benutzen war von dem Augenblick an unmöglich geworden, als Elsi sie verschloss, hingen doch an ihrer Innenseite Weihkessel, Kreuz und Knoblauch. Alles zusammen bildete zu starke Waffen, gegen die ein Geist oder Gespenst nicht ankam. Wimmernd brach die knöcherne Gestalt über der zugenagelten Falltür zusammen. Das weite Gewand breitete sich über sie aus, schützte sie vor dem Kerzenschein. Als Elsi ihr Gebet beendet hatte, fühlte sie sich auf einmal sehr erleichtert. Ihre Seele war wieder frei, und mit dem Freiwerden der Seele kam die Neugier. Im Dorf erzählte man sich an langen Winterabenden, wo Kaminfeuer wohlige Wärme verbreitete, daß ein früherer Burgherr die junge schöne Frau des Pfarrers geraubt haben solle. Über hundert Jahre war das Geschehen her, aber noch heute erzählte man sich davon. In seiner rücksichtslosen Liebesglut nahm der Burgherr die Frau in sein Schlafgemach aber sie konnte fliehen und fand Zuflucht in der Burgkapelle, bevor sich der Unhold auf sie stürzen konnte. Nicht lange währte ihre Freiheit, denn der Unhold kam durch den unterirdischen Gang, überraschte die Frau beim Gebet und tat ihr unter dem Altar Gewalt an. Danach mußte ihn, mit der einsetzenden Ernüchterung, die Angst gepackt haben. Man erzählt sich, die Tat habe ihn zum Wahnsinn getrieben. Mit seinem Schwert soll er die geschändete Frau zerstückelt und neben dem Altar verscharrt haben. Brüllend soll er dann von der Burg geritten sein, mitten hinein in das Moor. Er wurde nie wieder gesehen. Nur noch ein Bild erinnerte an ihn. Das hing im Ahnensaal, fast 24 �
lebensgroß. Wäre jemand in dieser Nacht auf die Idee gekommen, das Bild anzuschauen, würde er den Schock seines Lebens bekommen haben. Von dem Bild hing nur noch der Rahmen an der Wand, in ihm die bemalte Leinwand, die blauen Himmel, grüne Büsche und Gras darstellte. Aber wie herausgeschnitten fehlte der Burgherr. Langsam, die Kerze weit vor sich haltend, ging Elsi hinüber zu der linken Seite des Altars. Hier kniete sie nieder und leuchtete die Stelle ab, an der die erbarmungswürdige Pfarrersfrau verscharrt sein sollte. Hatte sie bisher Zweifel an den Erzählungen der alten Leute im Dorf gehabt, so wurden sie ihr jetzt genommen. Die ganze Kapelle war mit dicken Bohlen ausgelegt und diese befanden sich noch in einem sehr gut erhaltenen Zustand, bis auf die Stelle neben dem Altar. Hier waren sie morsch, verfault und stanken modrig. Und im Schein der flackernden Kerze sah die Stelle aus wie ein nachgebildetes Herz. Elsi schlug ein Kreuz. Da bewegte sich wieder das Gewand über der verbauten Falltür. Die Knochen des Skeletts begannen sich klappernd zu bewegen und dort, wo sich früher Lippen bewegt hatten, kamen heulende Jammertöne hervor. Da riß es Elsi herum und aus schreckgeweiteten Augen erblickte sie das knöcherne Höllenwesen, das sich wie in Krämpfen wand. »Der Burgherr«, kam es flüsternd über ihre Lippen, »er bewacht das Grab, damit niemand seine Untat entdeckt.« Dann schrie sie auf und begann zu rennen. Sie handelte instinktiv und lief auf die Tür zu. Mit fliegenden Fingern öffnete sie diese, nahm sich aber nicht Zeit, sie hinter sich zu schließen, und rannte über den Hof, zurück in die Gemeinschaft der Mädchen aus dem Dorf, wo sie ohnmächtig zusammenbrach. 25 �
*
Bis zwei Uhr in der Nacht saßen alle zusammen. Joe, der Dorftrottel, machte seine Späße, aber keiner lachte über sie. Mehr oder weniger, je nach Mentalität, hatte alle das Grauen gepackt. Mr. Withers mußte Marie Seile, einem der drei Mädchen recht geben, als es sagte, daß es Dinge zwischen Himmel und Erde gäbe, die vom menschlichen Verstand nicht erfasst werden könnten. Daisy trug ein kurzes seidenes Nachthemd, zog darüber einen gesteppten Morgenmantel von hellblauer Farbe, die gut zu ihrem rotblonden Haar kontrastierte. Ihr rassiges Gesicht wirkte seltsam angespannt in dieser Nacht, und eine noch seltsamere Unruhe war in ihr, für die sie keine Erklärung fand. Es war ihr, als riefe jemand dauernd ihren Namen und gebot ihr zu kommen. Resolut schritt sie den Gang entlang, in der Hand einen Stabscheinwerfer haltend, dessen grelles Licht in die Dunkelheit stach. Daisy war begeistert gewesen, als ihr Vater mit dem Plan herausgerückt kam, in Schottland eine Burg zu kaufen. Ihre Begeisterung hatte einen Dämpfer bekommen, aber sie war wie ihr Vater, aufgeben kam nicht in Frage. Sie stand vor der Tür, drückte sie auf und hörte das Knarren, mit dem sie zurückschwang. Zögernd betrat sie die Bibliothek, die auch gleichzeitig das Arbeitszimmer der Burgherren gewesen sein sollte. Der Strahl ihrer Lampe wanderte herum, beschien zimmerhohe Regale, die dicht mit Büchern bestückt waren. Es roch nach Staub, und die Luft war schlecht. Irgendwo knackte es im Gebälk. Das alte Gemäuer schien zu leben. Nach einigem Suchen fand sie drei schmale Bände, die in Leder gebunden waren. Die Bände mußten oft benutzt worden sein, 26 �
waren doch bestimmte Stellen an ihnen dunkel und zeugten vom häufigen Gebrauch. Die Seiten waren handgeschrieben, auf altem Pergament, und die Schriftzüge der einzelnen Kapitel wiesen verschiedene Handschriften auf. Sie hockte auf dem Fußboden, der von einem dicken Teppich bedeckt wurde, mit orientalischen Mustern, den ein Burgherr von einem Kreuzzug mitgebracht haben mußte. Daß eine Staubschicht den Teppich bedeckte, schien sie nicht zu stören, die Lektüre der alten Handschriften fesselte so sehr, daß sie Zeit und Raum vergaß. Nur einmal schaute sie verwundert hoch, als sie ein kalter Luftzug traf, der die einzelnen Blätter aufwirbelte. Sekundenlang, im völligen Nichtbegreifen, blickte sie auf eines der Bücherregale. Lautlos bewegte sich dieses zur Seite und gab einen Durchgang frei, der ihr wie ein schwarzes Loch entgegengähnte, und kalte Zugluft in die Bibliothek strömen ließ. Es war eine reine Reflexbewegung, daß sie den Lichtstrahl des Stabscheinwerfers auf das dunkle Loch richtete. Ein Ausdruck von Angst glomm in ihren Augen auf, erkannte sie doch in dem starken Lichtstrahl einen Gang, der weit in das Innere der alten Mauern führte, denn so weit sie sehen konnte, nahm er kein Ende. Da spürte sie, wie sich ihr Mund zusammenpresste und der Atem flacher wurde. Ihre Hand, die sich fest um die Taschenlampe preßte, begann feucht zu werden. Langsam und zögernd erhob sie sich, ohne den Blick von dem geheimen Zugang abzuwenden, Sie wußte plötzlich, daß sich ihr eines der vielen Geheimnisse dieser Burg offenbarte. Die Neugier in ihr wurde immer stärker und siegte letztlich. Sie fragte nicht mehr, von welcher Hand das Regal geöffnet sein könnte, sie ging einfach auf die Öffnung zu. Kurz nur dauerte das Zögern, dann schritt sie hinein in den Schlund, der sie zu verschlingen begann, denn kaum war sie 27 �
zwei Schritte gelaufen, schnappte der Geheimverschluß hinter ihr zu. Einen spitzen Schrei ausstoßend sprang sie zurück. Doch es gab kein Zurück mehr. So sehr sie auch mit den Fäusten zuschlug, die Wand wich keinen Millimeter. Und ihre Schreie verschluckten die dicken Wände des Ganges, ließen sie nicht nach draußen dringen. Sie war ein Mädchen der Zeit, modern und realistisch eingestellt. Und sie konnte sich zusammennehmen. Der Tränenstrom versiegte, machte reinem Trotz Platz. Dann marschierte sie los, hinein in die gähnende Leere. Der Boden bestand aus losem Sand, der ihre Schritte verschluckte, wie der dicke Teppich in der Bibliothek. Die Wände bestanden aus dicken Quadern, die vor Jahrhunderten Leibeigene aufgeschichtet hatten zu einem unzerstörbaren Bauwerk. Danach köpfte man sie, damit keiner die Geheimgänge verraten konnte. In unregelmäßigen Abständen waren eiserne Halteringe angebracht, in denen Pechfackeln steckten. Daisy kramte in den Taschen ihres Morgenmantels herum, und da sie Raucherin war, fand sie eine angebrochene Schachtel Streichhölzer. Beherzt riß sie ein Zündholz an und hielt es an eine Pechfackel. Wie lange sich die Fackeln schon in dem Geheimgang befanden, konnte sie nicht wissen, aber sie brannte sofort an, wenn auch mit starker Rauchentwicklung. Daisy zog sie aus dem Ring, knipste ihre Taschenlampe aus und schritt mit der neuen Lichtquelle tiefer in den Gang hinein. Aus allen Ritzen und Spalten schien das Bösartige, Unheilvolle zu kriechen, mischte sich mit der abgestandenen Luft und schaffte eine eigenartige, beklemmende und dämonische Atmosphäre. In Daisys Augen stand unverhüllte Furcht, und sie mußte fest die Zähne zusammenbeißen, um die Tränen zurück28 �
zuhalten. Dann kam der Knick, und die Pechfackel beschien eine alte, in Stein gehauene Zeichnung. Zwei gekreuzte Knochen, darüber eine Krone, wie sie von Königen getragen wurden. Ein Symbol. Daisy kannte es, hatte es schon einmal gesehen oder davon gelesen, an mehr konnte sie sich nicht erinnern, nur daran, daß es nichts Gutes bedeutet, wenn es einer zu sehen bekommt. Langsamer als bisher, in tiefe Gedanken versunken, ging sie weiter. Nach wenigen Schritten wurde ihr der Unterschied bewußt. Sie hörte plötzlich ihre eigenen Schritte. Kein weicher Sand dämpfte sie mehr, ihre hochhackigen Hausschuhe traten auf blanken Stein. Der Widerhall scholl als dumpfes Echo im Gang entlang. Und noch etwas fiel ihr auf, als sie ein weiteres Stück gegangen war: die Wände zu beiden Seiten fühlten sich nunmehr feucht an, hin und wieder tropfte es mit einem singenden Ton von ihnen herab. Als sie die Stellen genauer untersuchte, sah sie reines, klares Wasser herabrinnen, und ihr war, als vernehme sie gedämpftes fernes Rauschen, das sie an den Fluss erinnerte, der draußen an der Burg vorbeidonnerte wie ein Wildwasserbach. Aber diese Eindrücke und Wahrnehmungen verlöschten bei all dem Grausigen, das sie am Ende des Ganges zu sehen bekam. Plötzlich erweiterte er sich und endete in einem Raum. Auch hier hingen Pechfackeln an den Wänden, aber Daisy war nicht fähig, eine davon anzuzünden, denn es hingen noch andere Dinge an den Wänden Menschen in Ketten, die im Laufe eines Jahrhunderts verfaulten und vermoderten, bis nur noch ihre Skelette übrig geblieben waren. Die Schädel hatten keinen Halt mehr gefunden und lagen nun zu Füßen der Skelette. »Nein…« Der Schrei hallte durch das steinerne Verließ, brach sich an den Wänden, bis er hinausrollte, den langen Gang entlang, wo er allmählich verebbte. Daisy brach in die Knie, schlug 29 �
die Hände vors Gesicht und begann zu schluchzen. Die brennende Fackel fiel auf den feuchten Steinboden, wo sie zischend verlöschte. Drückende Dunkelheit umgab sie. Allmählich beruhigte sie sich, und ihr Lebenswille brach durch. Sie hob den Kopf und griff mit einer Hand in die Tasche des Morgenmantels, der sie das Päckchen Streichhölzer entnahm, damit eine der hängenden Pechfackeln wider strebend anzündete und sich so Licht schaffte. Sie war vernünftig genug, die Batterie der Taschenlampe für den äußersten Notfall zu schonen. Sie war allein mit den Knochenteilen, die einmal Menschen gewesen waren, aus Fleisch und Blut, und elendig umkommen mußten, weil es ein früherer Burgherr so gewollt hatte. Böse Visionen stiegen vor ihrem geistigen Auge auf, und sie begann zu frieren, fraß sich doch die nasse Kälte des steinernen Verließ durch ihre dünne Nachtkleidung. Auch ließ sie der innere Gedanke schaudern, niemals herauszufinden und so umzukommen wie die bleichen Skelette. Es mag merkwürdig erscheinen in dieser Situation, aber Daisy bekam starken Appetit auf eine Zigarette, nur lagen diese auf dem türkischen Schränkchen neben ihrem Bett. Noch war sie mit diesem Gedanken beschäftigt, blickte dabei zufällig auf die gegenüberliegende Wand und entdeckte dort zwei bläulich schimmernde Punkte. Unwillkürlich tat sie einen Schritt darauf zu, verharrte dann plötzlich und ihr Körper erstarrte in Bewegungslosigkeit, während Schauer der Angst sie schüttelten. Die bläulichen Punkte wurden größer und größer, bis ein Teil der Wand flimmerte und leuchtete. Die unheimliche Lichtquelle wurde zusehends stärker, bis sie vor Schmerz die Augen schließen mußte. Sekunden mochten vergangen sein, vielleicht auch mehr. Jegliches Zeitgefühl war ihr verloren gegangen, denn nur die Angst beherrschte sie noch. Dann, wie aus dem Nichts, hörte sie eine 30 �
Stimme, dumpf und unwirklich, sagen: »Du brauchst dich nicht zu fürchten, Rosalinde.« Mit geschlossenen Augen ging sie rückwärts, bis sie mit dem Rücken gegen die Steinmauer stieß, dabei ins Stolpern kam, das sie mit einer Handbewegung abfangen wollte. Und mit dieser Handbewegung erfasste sie einen Menschenknochen. Ihn fallen lassen und einen entsetzten Schrei ausstoßen, war eins. Ein aufgeschlossenes Mädchen, im Zeitalter der Raumfahrt aufgewachsen, stand zitternd da, mit verwirrtem Geist. »Rosalinde, ich kenne dich nicht wieder. Woher kommt deine Angst?« Diese unheimliche Stimme… Langsam nahm sie die Hände vom Gesicht und öffnete die Augen. Am liebsten hätte sie sie wieder geschlossen, denn das bläuliche Licht blendete noch immer stark. Doch sie war eine Frau, die Neugier ihr also angeboren. Inmitten des Lichtes stand ein junger Ritter, strahlend schön, umwallt von Blondhaar, das auf eine silberne Rüstung fiel, die seine Gestalt umschloß. »Wer sind Sie?« hörte sie sich fragen und war ein wenig verwundert, wie die Worte über ihre Lippen kamen. Das ernste Gesicht des Ritters begann sich zu erhellen, ein Lächeln stahl sich um seine Lippen. »Du willst wissen, wer ich bin? Oh, Rosalinde, du bist schön wie immer, und dein Haar leuchtet, aber du bist sonderbar. Kennst du mich nicht mehr?« Sie stand noch auf derselben Stelle, wagte es nicht, sich zu rühren, doch etwas Eigenartiges ging in ihr vor: sie verlor die Angst vor dem Geist, der in der Steinmauer zu stehen schien. Ihre Lippen zuckten, aber dann begann auch sie zu lächeln, wenn auch etwas verkrampft. »Sag mir, wer du bist, schöner Ritter.« Die Rüstung klirrte, als er zu lachen begann. Seine Hand aber, die auf dem Griff des Schwertes lag, verkrampfte sich. Abrupt brach sein Lachen ab, der düstere Ausdruck kehrte in sein 31 �
Gesicht zurück, als er dumpf mit tiefer Stimme antwortete: »Mein Vater wollte dich schänden, tötete zuvor deine Eltern und ließ euer Schloß einäschern. Für dich, Rosalinde, habe ich ihn getötet, bin zum Vatermörder geworden, ein Verfluchter für alle Zeit. Und du, die ich zur Frau haben wollte, willst mich nicht mehr kennen?« Die Nervenanspannung war sehr groß. Nicht etwa, daß sie von panischer Angst ergriffen wurde, nein, eher war es das Unbegreifliche der Situation, das völlig Irreale, eben, daß der Ritter dastand und sprach, es ihn aber gar nicht geben konnte. Das Drama, von dem er sprach, hatte vor gut zweihundert Jahren stattgefunden. Sie war schon nahe dran, an Einbildung infolge überreizter Nerven zu glauben, aber da hörte sie wieder die Stimme, sanft, kosend und bittend: »Rosalinde, liebst du mich noch?« Dabei sah sie seine Hände, die sich ihr entgegenstreckten, und die befanden sich außerhalb der Steinmauer, nicht einmal umgeben von dem bläulichen Schein. Nun erschrak sie doch und erinnerte sich, daß sie in einem Felsverließ gefangen war, die Geheimtür hinter ihr zuschnappte, als sie umkehren wollte. Es war, als könne er Gedanken lesen, denn sie hörte ihn sagen: »Ich ließ dich kommen, weil ich Sehnsucht nach dir hatte, Rosalinde. Die Nächte mit dir im Garten kann ich nie und nimmer vergessen.« Es lag ihr auf der Zunge zu sagen, daß sie nicht seine Rosalinde sei, aber eine innere Stimme gebot ihr zu schweigen. Wie schicksalsergeben beugte sie den Kopf, und eine erste Träne rollte über ihre Wange ihr Geist arbeitete weiter, fieberhaft, und plötzlich erinnerte sie sich daran, daß im Ahnensaal das Bild einer jungen Frau hing, vor dem Marc, ihr älterer Bruder, gemeint hatte, die Frau müßte ihre Zwillingsschwester sein. Da hob sie den Kopf, 32 �
blickte den Ritter in der silbernen Rüstung an, und forderte: »Nenne mir deinen Namen, vorher bekommst du von mir keine Antwort.« Die Hände zogen sich zurück, der bläuliche Schimmer blasser, seine Gestalt verschwommener. Doch seine Stimme klang laut und stark, als er herrisch antwortete: »Ich bin Ruby Watford, der Herr dieser Burg.« Sie zog wie fröstelnd die Schultern hoch und erinnerte sich an die ersten zwei Seiten der alten Handschriften, die sie in der Bibliothek gelesen hatte. Dieser verschollen geltende Ruby hatte tatsächlich seinen Vater umgebracht, aus Liebe zu einem Mädchen. Und nun bildete sich sein herumspukender Geist ein, die damalige Geliebte wieder gefunden zu haben. Und noch anderes ging ihr durch den Kopf: irgendwie war der Geist realistisch, man mußte mit ihm rechnen und ihn ernst nehmen. Er hatte sie in dieses steinerne Verließ gelockt, das zur Grabstätte Unglücklicher geworden war. Wollte sie nicht das gleiche Schicksal mit ihnen teilen, mußte sie sich freundlich mit dem Geist stellen. Die Worte wollten nicht so recht über ihre Lippen kommen, und es wurde ein klägliches Gestammel, als sie sagte: »Ruby Watford, willst du mich hier umkommen lassen?« Das bläuliche Licht glimmte nur noch ganz schwach, war mehr noch ein Schimmer, der mit dem Blaugrau des Felsens verschmolz. Das Bild des Ritters aber sah aus wie schwindender Nebel. Sie erhielt keine Antwort, doch ihr schien es, als deute eine Hand auf den Gang, der zurück führte. Widerstrebend löste sie eine Fackel aus der Wandverankerung, streifte dabei ein Skelett, das klappernd in sich zusammenfiel. Als die Pechfackel endlich brannte, rannte sie den Gang zurück, spürte wieder den weichen Sand unter den Pantoffeln und stand alsbald vor der Wand, die ihr den Rückweg versperrt hatte. Schaudernd wandte sie sich um, klang doch dumpf aus dem 33 �
Verließ eine Stimme: »Wahre unser Geheimnis, Rosalinde, oder du wirst auch verflucht sein wie ich.« Dann knackte es, und die Geheimtür sprang auf. Als sie wieder in der Bibliothek stand, bückte sie sich hastig, hob die losen Handschriften auf und rannte zurück in das Schlafzimmer, in dem ihre Mutter lag und laut schnarchte. Fast die ganze Nacht hindurch studierte sie die vergilbten Pergamente, und Angst und Grauen befielen sie. * Der Bürgermeister beendete seinen Bericht über den Werdegang der Burg und ihrer Bewohner, soweit es ihm bekannt war. Da schon seine Vorfahren angesehene Leute im Ort gewesen waren, hatte er viel zu berichten gewußt, was er auch hin und wieder mit alten Dokumenten belegte, die Eigentum der Gemeinde waren. Nunmehr blickte er hoch und betrachtete seinen Besucher, der ihn nicht ein einziges Mal unterbrochen hatte. Der Mann war etwa einsachtzig groß, Anfang dreißig und von schlankem, athletischem Wuchs. Sein Gesicht war gebräunt, und seine Hände lagen ruhig auf den Armlehnen des Sessels. Auf den Bürgermeister machte er den Eindruck eines Mannes, der auch in kritischen Situationen die Kontrolle über sich selbst nicht verliert. »Well, das war es, Mr. Harper. Mehr kann ich Ihnen nicht sagen. Wenn Sie mir nun eine Frage gestatten: weiß Mr. Withers von Ihrem Kommen?« »Ja und nein.« Er lächelte gewinnend, zündete sich eine Zigarette an, bevor er fortfuhr: »Mein Freund, Mr. Withers, schickte mir ein Blitztelegramm, daß es in der Burg, die er zu kaufen beabsichtige, nicht geheuer 34 �
sei. Also setzte ich mich in das erste beste Flugzeug. Und nun bin ich hier. Davon allerdings hat er noch keine Ahnung.« Das schlaue Bauerngesicht des Bürgermeisters legte sich in Falten. »Polizei?« »Fast.« Nick Harper, einer der bekanntesten Privatdetektive der Staaten, grinste hintergründig. Von dir Tölpel lasse ich mir nicht die Würmer aus der Nase ziehen, dachte er, ohne daß sich dabei sein Gesicht verändert hätte, vielmehr blieb es gleich bleibend freundlich, als er wie beiläufig sagte: »Aber alles haben Sie mir nicht erzählt.« Schelmisch, wie im Spaß, drohte er mit dem Zeigefinger. Seine Augen aber lachten nicht mit, vielmehr blickten sie hart und zwingend. Mit dem Finger in den Hemdkragen fahrend, erwiderte der Bürgermeister mit saurer Miene: »Ich wüsste nicht, was ich vergessen haben sollte, Mister.« »Aah, noch nichts von dem verborgenen Schatz gehört? Das sollte mich wundern.« Des Bürgermeisters faltiges Gesicht zerriss in tausend Runzeln, als er antwortete: »Unwichtig, davon zu reden, Mister. Der wurde schon vor hundert Jahren vergeblich gesucht, und das bis zum heutigen Tage. Ich selbst habe ich möchte sagen, daß es sich um eine alte Mär handelt. Mehr steckt bestimmt nicht dahinter.« Nick Harper lächelte noch immer, als er fragte: »Und die Geister und Gespenster, ganz zu schweigen von den Menschen, die in den letzten Jahren verschwunden sind?« Der Bürgermeister bekreuzigte sich und erwiderte todernst: »Die existieren wirklich, und wer denen in die Quere kommt, ist verloren. Auf der Burg hat der Satan seine Hand im Spiel. Alte Leute aus dem Dorf behaupten sogar, daß sich unter der Burg die Hölle befindet. Auch wenn ich es nicht glaube, aber manchmal riecht es dort tatsächlich nach Pech und Schwefel.« 35 �
Der Privatdetektiv ging gar nicht auf das Gerede ein, sondern fragte direkt: »Eine Aufzeichnung, einen Grundriss oder so was Ähnliches von der ehemaligen Schatzkammer der Burg besitzen Sie nicht?« Der Bürgermeister trank gerade einen Schnaps. Der Brandy sprudelte aus seinem Mund, getrieben von einem Hustenanfall, den der Schreck verursacht hatte. Mit beiden Handrücken wischte er sich den Mund trocken und krächzte heiser: »Die Burg wurde mehrmals im Laufe der Zeit umgebaut und vergrößert. Frühere Watfords sollen sehr reich gewesen sein, aber ihr Vermögen, egal in welcher Form, wurde niemals gefunden. Ich bin sicher, daß es existiert. Doch wo, das wissen nur die Geister, und die bewachen es gut.« »Aber die alten Stollen und Gänge wurden niemals zugeschüttet, nicht wahr?« Nick Harper sagte das mit einer Bestimmtheit, die nicht ignoriert werden konnte. »Well, Mister, das stimmt schon«, räumte der Bürgermeister ein. »Aber bedenken Sie die lange Zeit. Wieviel davon mag eingestürzt sein und was weiß ich noch…« »Natürlich, deshalb frage ich ja nach alten Aufzeichnungen.« Der Bürgermeister stand auf. Für ihn war die Unterredung beendet. Grußlos verließ er das Amtszimmer, öffnete eine Verbindungstür, die direkt in die Dorfschänke führte, deren Wirt er war. Nick Harper schlenderte nachdenklich durch das Dorf. Er hatte so seine Ideen, die alle mit dem verschwundenen Vermögen der Watfords zusammenhingen. Wie sehr er sich täuschte, sollte er alsbald am eigenen Leib zu spüren bekommen, und auch daß ein bestens geschultes Kriminalistengehirn machtlos sein kann, wenn Dinge geschehen, die der menschliche Geist nicht fassen kann. Er besaß weder einen Wagen noch ein Pferd, und es war 36 �
schwer, ohne diese Hilfsmittel auf die Burg zu kommen. Der Sohn des Dorfschmieds erklärte sich nach langem Sträuben bereit, für viel Geld den Fremden hinaus auf die Burg zu fahren. Die Begrüßung verlief sehr herzlich. Alles atmete auf, endlich einen Mann unter dem Dach zu haben, der New Yorks Unterwelt in Angst und Schrecken versetzt hatte. Er richtete sich in dem ihm zugewiesenen Gästezimmer ein und packte seine Sachen aus. Kurz überprüfte er seinen automatischen Revolver und unternahm wenig später, zusammen mit Mr. Withers, eine kurze Besichtigung aller wesentlichen Punkte. Der scharfe Knick im Hauptgang hatte es ihm besonders angetan. Aber alle Kniffe und Tricks, die der erfahrene Detektiv anwendete, halfen nicht, den geheimen Zugang zu finden. Die groben basaltenen Gesteinsmauern gaben ihr Geheimnis nicht preis. Die Untersuchung des halb zerfallenen Geheimganges, der sein Ende in der Burgkapelle fand, brachte auch nichts zutage, führte doch das andere Ende in eine Sackgasse, wurde versperrt von natürlich gewachsenen Felsen, die nur mit Sprengungen beseitigt werden konnten. Nick Harper war kein Mann, der aufgab. Die ersten Stunden hatten Misserfolg gebracht, aber er war weit davon entfernt, die Erlebnisse der Familie Withers als Hirngespinste abzutun. Es war aber auch sein erster Fall, bei dem er keine Honorarforderungen stellte. Ihn interessierte der Fall als solcher, sonst nichts. * Alice, die Zofe, lag wach in ihrem Bett und starrte aus dem kleinen viereckigen Fenster, durch das heller Mondschein fiel. Vollmondnächte bringen oft Schlaflosigkeit, doch Alice konnte vor Zorn nicht schlafen. Marc war nicht gekommen, wegen eines angeblichen Abenteuers mit Geistern, und das konnte sie ihm 37 �
nicht verzeihen. Mehrere Zigaretten hatte sie geraucht, und nun plagte sie der Durst. Ohne sich etwas über das durchsichtige Nachthemd zu ziehen, schlüpfte sie in die Pantoffeln, knipste die von Mr. Withers geschenkte Taschenlampe an und machte sich auf den Weg zur Küche, wo sie Milch im Vorratsschrank wußte. Alice erreichte die Küche, brannte dort die Petroleumlampe an und begab sich zum Speiseschrank, dem sie einen Topf Milch entnahm. Erst trank sie sich satt, danach füllte sie ein Glas, um es mit aufs Zimmer zu nehmen. Schon bevor sie die Lampe ausblies, überkam sie ein seltsames Gefühl, war ihr doch, als befände sich noch jemand in der großräumigen Küche. Alice wurde kreidebleich. Das Mädchen bestand nur noch aus Angst. »Ist da jemand?« fragte sie, wobei ihr jedes Wort in der Kehle stecken zu bleiben drohte. Der Mond warf sein bleiches Licht durch die kleinen Fenster, malte bunte Gitter auf den Fußboden, die Schatten der Rahmen. Als alles still blieb, jagte das Mädchen aus der Küche. Ein Ausdruck seltsamer Angst blitzte in ihren Augen auf, während sie die Tür hinter sich ins Schloß warf. Am Fuße der steinernen Wendeltreppe zögerte sie, dann änderte sie die Richtung und schlug den Weg zu den Herrschaftsräumen ein. Sie wollte zu Marc, der ihr sicher beistehen würde. Das Gefühl, daß sich jemand ganz in ihrer Nähe befände, verstärkte sich mehr und mehr. Sie wollte schreien, aber die Angst verschlug ihr die Sprache, Angst, die sie in triefenden Schweiß badete. Der fahle Lichtschein des Fensters bildete eine Barriere, die zu durchschreiten ihr unmöglich war, tauchten doch plötzlich drei Gestalten auf, mit erhobenen Armen, und verwehrten ihr das Weitergehen. Milchglas und Taschenlampe entfielen ihren Händen, die sie auf ihr wild klopfendes Herz drückte. Mit einem lauten Knall zersplitterte das Glas. Vielleicht auch war das Glas der 38 �
Taschenlampe zerbrochen, deren Lichtschein aber unvermindert weiter leuchtete und Beine beschien, die bis hinab zu den Knöcheln eingehüllt waren in weiße Frauengewänder. Langsam senkten die drei weißbekleideten Gestalten die erhobenen Arme, und als ihre Hände in das unwirkliche Mondlicht gerieten, erkannte Alice Knochenhände, überzogen von alter vertrockneter Haut. Sie begann zu zittern, wich an die Wand zurück und lehnte sich dagegen, um Halt zu finden. Sie war einer Ohnmacht nahe. Aus weit aufgerissenen Augen begann sie die Gestalten zu mustern. Langes strähniges Haar fiel allen auf die Schultern, zeichnete sie als Frauen aus, die sich aber zu sehr ähnelten, ihrer langen gleichen Gewänder wegen, die mit Kordeln in den Hüften zusammengehalten wurden. Totengewänder des Mittelalters. »Geh!« glaubte sie zu hören. Ihre Augen waren in panischem Entsetzen aufgerissen. Sie nickte ruckartig und löste sich von der Wand, rannte den Gang zurück, den sie soeben gekommen war und stürzte der Länge nach hin, mit einem Angstschrei auf den Lippen. Die Mumien rückten näher, bückten sich und schlugen mit ihren knöchernen Händen auf die schreiende Zofe ein, bis diese vor Schmerz sich zu winden begann – da griff eine zu und legte ihr die Hand auf den Mund, während die anderen darangingen, ihr den Fummel von Nachthemd vom Leib zu reißen. Nichts entsetzte sie so sehr, wie die trockene, kalte und knöcherne Hand, die ihr den Mund zudrückte und die Schreie erstickte, von denen sie sich Hilfe erhoffte. Mit Todesverachtung umklammerte sie das Handgelenk und begann daran zu zerren. Die unwirklichen Wesen schienen keinen Schmerz zu kennen. Fester drückte die Mumienhand zu und drohte Alice zu ersticken, die der Ekel würgte. Bevor es dazu kam, griffen die zwei anderen Mumien ein und zwangen mit schmerzhaften Schlägen 39 �
ihr Opfer aufzustehen. Taumelnd stand Alice da. Ihr schöner, vordem makelloser Körper, wies blutunterlaufene Stellen auf, die Knochenhände an ihm hinterlassen hatten. Wirr hing ihr das Haar ins Gesicht. Sie war dem Wahnsinn nah. Rau kam es über die vertrockneten Lippen der einen Mumie: »Komm schon, der Herr wartet nicht gern!« Schwankend setzte sie sich in Bewegung, getrieben von den Mumien, die, wie es schien, unter Zeitdruck standen, Angst vor ihrem Herrn hatten, dem sie die schöne Zofe bringen sollten. Alice lief und lief, sah und hörte nichts, benahm sich eher wie eine Schlafwandlerin, die sicher einem bestimmten Ziel zustrebt. Daß sie den breiten, bilderbehangenen Gang durch eine kleine Seitentür verließ, bemerkte sie nicht, auch nicht, daß plötzlich ein Gewölbe sie aufnahm, und daß sie sich bücken mußte, um nicht mit dem Kopf anzustoßen. Sie kam erst zu sich, als sie eine der Mumien mit unwirklicher Stimme sagen hörte: »Sie ist schön, der Herr wird zufrieden sein mit uns.« Eine andere kicherte verschämt und gestand dann leise: »Mein Körper war auch so weich und weiß, seine Hände und seine traurigen Augen… Alice erschauerte bis ins Mark ihrer Knochen. Mit erschreckender Gewissheit wurde ihr klar, daß sie eine Verlorene war. Ein tierisches Brüllen quoll aus ihrem weit geöffneten Mund, und ihre Beine begannen zu laufen. Weg, nur weg, signalisierte ihr Gehirn. Da fühlte sie sich gepackt. Wütende und verzweifelte Hände umklammerten ihren Leib und rissen sie zurück, zwangen sie, bis an das Ende des Gewölbes zu gehen. Es gab kein Entrinnen. Dann war der Weg zu Ende. Eine Felsmauer wuchtete empor, stellte ein unüberwindliches Hindernis dar. Ein kleiner Hoffnungsschimmer regte sich in Alice, der aber schnell verlöschte, 40 �
als sich eine Mumie bückte und die verborgene Falltür öffnete. Ein dunkler Schlund gähnte Alice entgegen, in dem sie eine hölzerne, grob zusammengezimmerte Leiter erblickte, die in die Tiefe führte, aus der kalte feuchte Luft wehte. Sie bekam einen Stoß, der sie auf das Loch zutaumeln ließ. Sechs Hände drückten sie nieder, zwangen sie, die Leiter zu betreten. Das Holz fühlte sich modrig an, war voll gesaugt mit Nässe, die es hatte morsch werden lassen. Die Sprossen brachen und Alice stürzte in die Tiefe. Verwundert betastete sie ihre Glieder, von denen kein einziges verletzt, geschweige denn gebrochen war. Erst dann entdeckte sie die dicke Schicht Pilzschwamm, die im Laufe vieler Jahrzehnte gewachsen war und ihren Sturz gemildert hatte. Tief eingedrückt lag sie in dem schwammigen, Ekel erregenden Zeug, das ihren nackten Körper schmatzend umschloß. Erschrocken blickte sie hoch zum Einstiegsloch und sah, wie die drei Mumien herabgeklettert kamen – und keine der vermoderten Leitersprossen zerbrach. Es hatte den Anschein, als schwebten die Mumien über die Sprossen. Und sie sanken auch nicht in dem schwammigen Moderpilz ein wie Alice, die aufgestanden war und ihren Peinigerinnen angstvoll entgegenstarrte. Hundert Meter weiter mündete der Gang in eine Grabkammer, in welcher ein zinnener Sarg stand, blankgeputzt, inmitten einer verwahrlosten Umgebung von herabgebrochenen Stützbalken, Staub, Dreck und Mauerwerk. Die drei Mumien bildeten eine dichte Mauer und zwangen ihr Opfer, in die Grabkammer einzutreten. Als Alice diese betrat, stoben einige Ratten quiekend davon, verschwanden in den Löchern, die sie sich gewühlt hatten. »Was wollt ihr von mir?« wimmerte sie und brach in die Knie, stützte sich mit den Händen auf und begann haltlos zu weinen. Dumpfes Gemurmel ließ sie erschreckt hochblicken und durch 41 �
den Tränenschleier hindurch sah sie, wie die Mumien den Sargdeckel anhoben, und wie dabei unheilvolle Beschwörungsformeln über ihre vertrockneten Lippen quollen. Es knirschte, als sie den schweren Sargdeckel auf den staubigen Boden legten. Zusammen beugten sie sich über den nun offenen Sarg, und jede griff mit einer Hand hinein. Kate, das ehemalige Küchenmädchen, sagte andächtig: »Ich danke dir, Herr, daß du mich gerufen hast.« Nachdem jede den im Sarg liegenden Toten berührt hatte, traten sie zurück und blickten in gespannter Neugier auf ihr Opfer, das noch immer weinend auf dem Boden der Grabkammer kniete. Alices Blick wanderte wie gezwungen in das Innere des offenen Sarges, in dem sie einen schönen blondlockigen Jüngling liegen sah, mit über der Brust gefalteten Händen. Entsetzlich war nur das große Loch über der linken Schläfe des Toten, weil zersplitterte Knochen weiß hervorschimmerten. Und als ahnten die Mumien die Gedanken ihres Opfers, begann eine von ihnen erklärend zu sagen: »Ein Pferd hat den Herrn erschlagen, als er es besteigen wollte.« »Ja, ein Pferd«, echote Moira, die ehemalige Gesellschafterin. »Als seine Eltern tot waren und er seine Freiheit erlangte, wollte er reiten, konnte aber nicht mit Pferden umgehen.« »Warum war er nicht frei?« fragte Alice und erschrak über das Echo ihrer Worte, das schaurig in den Gängen widerhallte. Moira antwortete mit flüsternder Stimme, vom Nicken ihrer Leidensgenossinnen unterstützt: »Er war wahnsinnig, aber süß.« Alice hörte schon nicht mehr richtig zu, starrte vielmehr in den Sarg, in dem sich etwas zu bewegen begann. Der starre Körper des Toten wurde plötzlich von einem geheimnisvollen und 42 �
gespenstischen Leben erfüllt. Die Kräfte der Hölle begannen sich zu regen. Aufrecht saß der Tote im Sarg, mit wächserner Blässe im Gesicht, und aus dem Loch über seiner Schläfe begannen einige Tropfen Blut zu sickern. Er hob die schlaffe Hand, wischte es weg und führte die Hand an den Mund, aus dem seine Zunge geschossen kam und gierig die wenigen Blutstropfen aufzulecken begann. Dann öffneten sich seine Augen, blaßblau in ihren Farben, und starrten wie fasziniert auf die Zofe nieder. »Ich bin Kane Watford, der Herr dieser Burg. Mir gehört sie und nicht meinem Zwillingsbruder Ruby, der sein Leben lang verwöhnt wurde«, sagte plötzlich der im Sarg Sitzende. Dann kletterte er heraus, ging zu den drei verharrenden Mumien und begann diese einzeln zu streicheln. Satte Zufriedenheit drückte seine Stimme aus, als er ihnen wohlwollend Dank sagte: »Ich bin zufrieden mit euch, ihr Schönen. Ihr könnt nun von mir gehen. Wenn wieder Vollmond ist, werde ich euch rufen.« Fast gleichzeitig antworteten sie: »Ja, Herr, rufe uns. Nun ist es nicht mehr so schwer, denn viele Lebende befinden sich auf der Burg, angefüllt mit frischem Blut.« Gebieterisch hob er die Hand. Die Mumien duckten sich, als habe sie eine Peitschenschnur getroffen. Mit klagenden Lauten verließ eine nach der anderen die Grabkammer, und ihr Wimmern war noch lange zu hören, hallte durch die Burg und riß die Schläfer aus dem Schlaf Alice war nun allein mit einem Toten, der aus seinem Sarg gekommen war und fühlte die Blicke, mit denen er ihren nackten Körper abtastete. Als er die Hand nach ihr ausstreckte, begann sie zu schreien. Aber er kam näher, umfasste ihre bebenden Schultern und drückte sie nieder in den Staub, beugte sein 43 �
Gesicht über sie und erklärte ihr mit brutaler Gelassenheit, wie sie Rittern angeboren war: »Dein Körper und dein Blut werden es mir ermöglichen, diese vermoderte Grabkammer für kurze Zeit zu verlassen, in die mein Bruder meinen Leichnam schleppen ließ, denn ich durfte nicht einmal als Toter existieren. Vater sagte immer: ein irrer Watford ist ein Schandfleck auf dem Familienwappen.« Alice drohten die Sinne zu schwinden. Kalte schlaffe Hände fühlte sie, die eigenartigerweise Kraft besaßen und sie am Boden zwangen, bis ihr Körper zu erstarren begann, unter dem zwingenden Blick der blaßblauen Augen. Ein leichtes, fast beschwingtes Gefühl überkam sie, als diese Hände begannen, ihren ganzen Körper zu streicheln. Sie waren mit sich und ihren Körpern beschäftigt, als daß sie den nebelhaften bläulichen Schimmer in der Wand erblickt hätten, der immer stärker wurde, und aus dem der Ritter in der silbernen Rüstung trat, mit dem blankgezogenen Schwert in der Faust. Alice wand und rekelte sich unter den Kosungen, die ihr ein vom Pferd Erschlagener angedeihen ließ. Sie sah nicht das klaffende Loch über seiner Schläfe, aus dem vor zwei Jahrhunderten sein Blut geflossen war, das er nun ihrem Körper entnehmen wollte, um für kurze Zeit auf der Erde wandeln zu können. Vielmehr fühlte sie sich von Marc Withers starken Armen umschlungen, der jede Nacht in ihre Kammer geschlüpft kam. Oder hatte sie womöglich der tote Sohn des Burgherrn Watford hypnotisiert, der jetzt den zerschlagenen Kopf senkte und seine Lippen ihrem Hals näherte, diese öffnete und lange spitze Zähne zum Vorschein brachte, die aufblitzten wie in einem Wolfsrachen? Sie erwachte aus dem Taumel der Gefühle, als eine schneidende Stimme rief: 44 �
»Kane, mein Schwert schwebt über dir. Ich spalte dir den Schädel vollends, wenn du das Mädchen beißt, um ihr das Blut auszusaugen.« Alice fühlte plötzlich wieder Schmerzen am ganzen Körper, und eine wahnsinnige Angst hielt ihr Herz umkrampft, als sie in das bleiche Gesicht blickte, das über ihr schwebte, von fletschenden Zähnen zur Fratze verzerrt wurde. Voller Angst und Entsetzen blickte sie auf die zwei Gestalten, die Zwillingsbrüder waren, sich aber über den Tod hinaus hassten wie die Pest. »Warum darf ich nicht umherwandeln wie du?« kreischte Kane Watford. Im steinernen Gesicht des Ritters in der silbernen Rüstung zuckte kein Muskel, als er mit dumpfer Stimme antwortete: »Weil ich auserkoren wurde, über dich und unsere unseligen Verwandten zu wachen. Eure Taten brachten Fluch über unser Geschlecht. Ihr habt mit dem Satan einen Pakt geschlossen, der mich für ewig ruhelos macht, bis einer kommt und den Fluch von uns allen nimmt.« »Aber ich will raus hier, Ruby, ich will raus!« Kane Watford brach ab und murmelte unverständliche Worte, die untergingen im Gebrüll seines Bruders Ruby. »Ruf nicht wieder den Teufel zu Hilfe, sonst…« Aber da kamen sie schon kichernd und fröhlich zurück, die drei Mumien, und begannen den Gegner ihres Herrn und Geliebten zu umtanzen, daß er sein Schwert nicht einsetzen konnte. Alice aber kroch weiter, getrieben von panischem Entsetzen. * Aufwachen und munter sein, war bei Nick Harper eins. Irgend � etwas hatte ihn aus dem Schlaf gerissen und sein Instinkt, � geschäftlich jahrelanger Praxis, ließ ihn sofort handeln. Eben � 45 �
stieg er in die Hose, da hörte er es wieder: ein Wimmern und Heulen hallte durch den ganzen Gebäudekomplex, das einem weniger beherzten Mann die Haare hätte zu Berge stehen lassen. Schnell stopfte er sich den Revolver in die Hosentasche und griff nach der Stablampe. Er riß die Tür auf und leuchtete den Gang ab. Weiter vorn sah er etwas liegen und hastete darauf zu. Aufmerksam betrachtete er sich die seidenen Fetzen, die einmal ein Nachthemd gewesen waren, den danebenliegenden Pantoffel, sowie die Glasscherben, die in einer Lache Milch lagen. Er rührte nichts an, alarmierte Mr. Withers, der wiederum seinen ältesten Sohn Marc aus dem Schlaf rüttelte, nachdem er sich überzeugt hatte, daß seine Frau und Tochter in ihren Betten lagen und schliefen. Marc erkannte die Gegenstände sofort als Alices Eigentum, vor denen er wie erstarrt stand und hörbar mit seinen Zähnen knirschte. »Der Totenkopf mit den blutigen Zähnen«, flüsterte er dann und schaute sich scheu um. »Bisher haben die verfluchten Geister keinem von uns etwas getan«, meinte Mr. Withers und blickte Nick Harper an, von dem er nun Wunder erhoffte. »Wenn es Geister waren«, antwortete dieser, aber mehr, um die Familie nicht in weitere Angstzustände zu treiben. Er glaubte sehr daran. Schon in seiner Jugend hatte ihn das Okkulte, das Mystische immer angezogen und nun bekam er einmal die Gelegenheit, einen Strauß mit echten Geistern auszufechten. »Okay«, brummte er mehr zu sich selbst und sagte dann zu den zwei Männern: »Der Morgen graut. In einer halben Stunde haben wir bessere Sichtverhältnisse. Ich schlage vor, wir nutzen die verbleibende Zeit und ziehen uns richtig an. Außerdem werde ich meine Ausrüstung vervollständigen. Ich habe da so ein paar Kleinigkeiten 46 �
in meinem Kopf…« »Ja, schon gut«, unterbrach ihn Marc, der voll innerer Unruhe steckte und am liebsten sofort mit der Suche begonnen hätte. Er machte sich die größten Vorwürfe, Alice allein gelassen zu haben. Mehrmals gingen sie an der kleinen Seitentür vorbei, die für das Auge fast unsichtbar im Mauerwerk eingelassen war. Mr. Withers entdeckte sie per Zufall, weil der Rauch seiner Zigarette gegen die Wand zog. Bevor sie den schmalen dunklen Gang betraten, brachte Nick Harper ein Knäuel rotes Garn zum Vorschein, dessen Ende er an der Tür befestigte. »Damit wir auch zurückfinden«, erklärte er in stoischer Ruhe. Den zweiten Pantoffel fanden sie schon nach wenigen Schritten. Marc steckte ihn in seine Jackentasche. Sein Gesicht war erkantet und strahlte verbissene Wut aus. Er hörte kaum hin, als Nick Harper sagte: »Komisch ist das. Der Boden ist über und über mit feinem Staub bedeckt, in dem ich aber nur die nackten Fußabdrücke von Alice sehen kann. Sie muß allein gewesen sein, wenn nicht…« Der grollende Bass des Ölmillionars antwortete: »Nick, wenn Sie mir jetzt noch sagen, das Mädchen spiele uns Theater vor, um Marc zu erpressen, dann platze ich.« »No, Sam, das meine ich nicht. Es ist unmöglich, daß sie von allein die verborgene Tür fand, und es ist genau so unmöglich, daß sie barfuss und nackt in diesem Gang herumläuft. Ich meine nur… Verdammt, es ist sehr eigenartig.« »Gruselig ist es«, meinte Marc und drängte auf weiteres Vordringen. Sein Schuldgefühl gegenüber Alice ließ ihm keine Ruhe mehr. Sie kamen bis an die Felsmauer, die allem Suchen ein Ende setzte. Die davor verborgene Falltür entdeckten sie nicht, so sehr sich auch Nick Harper bemühte, weitere geheime Schlupflöcher 47 �
zu finden. � *
Schon während des Frühstücks, das um acht Uhr dreißig eingenommen wurde, herrschte eine Schwüle, die den Schweiß aus allen Poren trieb. Die Sonne verbarg sich hinter gelblich schimmerndem Dunst, was auf ein Unwetter schließen ließ. Dazu juckte Nick Harpers Nackennarbe, daß er der Meinung war, es müsse mehr kommen als nur ein Unwetter. Man trank gerade den letzten Kaffee und allen, die gerade trinken wollten, erstarrte die Hand mit der Tasse in der Luft Jeder hörte das Poltern, das aus der Erde zu kommen schien. Dazwischen klirrte es, als würde Stahl gegen Stein geschlagen. Die folgende Stille wirkte wie eine Explosion. Mrs. Withers behauptete, es sei der Teufel persönlich, der da rumore, und kategorisch verlangte sie die sofortige Abreise von der Burg des Grauens, in der die Vorfahren der Watfords herumgeisterten. Man einigte sich auf die Abreise für den Nachmittag. Nur Nick Harper und Marc weigerten sich abzureisen. Sie wollten bleiben, bis das rätselhafte Verschwinden Alices geklärt war. Daisy ließ ihre Sachen von einem Mädchen aus dem Dorf packen und benutzte die ihr verbliebene Zeit, dem Burggarten einen Abschiedsbesuch abzustatten, der verwildert inmitten von Wehrmauern lag, aber einen romantischen Ausblick auf den vor der Burg dahinrauschenden Fluss bot. Wie schon öfter, setzte sie sich auf einen umgestürzten Baumstamm und genoß den Anblick. Ihre Gedanken wanderten hundert Jahre und noch mehr zurück, und sie versuchte sich vorzustellen, wie es damals hier ausgesehen haben mochte. Mit den Fingern spielte sie dabei an ihrer Halskette, an der ein goldenes Kreuz hing. Hinter einem Holunderbusch schimmerte es giftgrün. Ein Ast 48 �
wurde zur Seite geschoben, und in der entstandenen Lücke erschienen zwei leere Augenhöhlen, in denen ein seltsamer Glanz leuchtete, der unstet hin und her flackerte, immer dann, wenn Daisy das Kreuz berührte. Ein singender Ton, ähnlich dem Heulen des Windes, drang aus dem Gebüsch. Dann knickten Äste, und ein blanker Totenschädel, dessen Mundhöhle zwei lange blutrote Zähne zierten, starrte auf das Mädchen. In der hintersten Ecke des urwaldähnlichen Gartens, verborgen von Schlehdorn- und Haselnussbüschen, begann sich etwas zu bewegen. Eine Steinplatte, alt und verwittert, glitt zur Seite wie von unsichtbaren Händen geschoben und gab ein rechteckiges Loch frei, Nebel begann daraus hervorzusteigen, der sich zusehends verdichtete, den bekannten bläulichen Schimmer annahm, aus dem sich der Ritter mit der silbernen Rüstung löste. Sein Gesicht war gezeichnet von Kampfspuren. Mit wild blickenden Augen durchbohrte er den Strauch, hinter dem sich der Totenkopf verbarg und auf eine Gelegenheit wartete, Daisy von hinten anzufallen, sobald sie das Kreuz nicht mehr berührte. Unhörbar glitt der Ritter näher, verbarg sich hinter Steinen und beobachtete aufmerksam die Geschehnisse. Aber immer mehr richtete sich sein Blick auf Daisys langes rotbraunes Haar, das im leicht aufkommenden Wind wie Wellen auf- und niederwogte. Sein Blick glitt tiefer, blieb an ihren Schultern hängen, die eine zarte durchsichtige Bluse umhüllte. »Rosalinde«, flüsterte er, und die Starre wich aus seinem ernsten Gesicht, machte einem kleinen Lächeln Platz. Daisy bückte sich, pflückte eine Blume und erfreute sich an ihrem Duft. Aufmerksam wandte sie den Kopf zur Seite, da sie das Quietschen der eisernen, fast verrosteten Gartenpforte vernahm, der einzigen, die in den Garten führte. Der Ritter in der silbernen Rüstung erhob sich in seiner ganzen Größe, riß das Schwert aus der Scheide und drohte mit der blan49 �
ken Waffe dem Totenkopf, der sich ebenfalls erhoben hatte. Es heulte und wimmerte. Hochauf reckte der Totenkopf seine Knochenarme und schüttelte wild die geballten Fäuste. Der Glanz in seinen Augen begann zu erlöschen. Als er ganz verblasste, sank der giftgrüne Umhang in sich zusammen und es war, als würde ihn die Erde verschlingen. Daisys Interesse wurde abgelenkt durch ein Flüstern, das direkt hinter ihr zu raunen begann. Sie verstand kein Wort, drehte sich aber vollends um. Schreck und Erstaunen zeichnete sich in ihrem rassigen Gesicht wider, da sie hinter einem Busch den Ritter hervortreten sah, der ihr in jener Nacht erschienen war, als sie im steinernen Verließ, umgeben von bleichen Skeletten, der Verzweiflung nahe gewesen war. »Ruby Watford«, stammelte sie mit bebenden Lippen, während ihre Hände unbewußt die Blume umklammerten. Der Ritter nickte stumm, hob eine Hand, mit der er zum Himmel deutete, an dem sich dunkle Wolken zusammenballten, und mit der ihm eigenen dumpfen, unwirklichen Stimme sagte er: »Du kannst die Burg nicht verlassen, Rosalinde. Das Wetter ist schneller, wird das Moor steigen lassen, das euch alle verschlingen wird. Keiner weiß um das Geheimnis des Moores bei Regen. Nur ich. Hör' auf mich, Rosalinde!« Noch versiegelte der Schreck ihre Lippen, und sie konnte nur nicken. Deutlich fühlte sie die unheilschwangere Schwüle in der Luft, sah es gefährlich dunkel am Himmel aufziehen, doch sie konnte nicht an die Warnung glauben. Er las ihr die Gedanken vom Gesicht ab, das er studierte wie ein aufgeschlagenes Buch. »Glaube mir, jedes Jahr kommen welche im Moor um, wenn es stark regnet, und jeder meint, die Watfords haben sie geholt.« »Du hattest auch eine Frau auf den Armen, im Moor, als mein Vater dich sah«, sagte sie und staunte über ihre eigene Stimme, 50 �
die seltsam fest klang, gar keinen zitternden Unterton mehr besaß. Wie Schmerz überzog es sein Gesicht. »Das war nicht ich.« Sand und Kies knirschte unter festen Männertritten, die sich schnell näherten. Daisy war eines Teils froh darüber, zum anderen hätte sie gern mit dem Geist gesprochen, der sie stark faszinierte und nicht nur, weil dieser Ruby Watford ein schöner Mann war. »Hallo, Daisy, wo steckst du?« hörte sie Nick Harper rufen. In diesem Augenblick streckte der Ritter seine Hand vor und nahm ihr die Blume weg, die sie so fest gehalten hatte. Mit einem Lächeln steckte er sie sich an die Rüstung. Dann nickte er. »Es war schön, mit dir wieder allein im Garten zu sein, Rosalinde.« »Ja, Ruby«, hörte sie sich sagen und erschrak, weil ihre Hand plötzlich feucht geworden war. Dann sah sie den Ritter im bläulichen Nebel verschwinden. Nick Harper sah den Nebel, mehr aber nicht, und er wunderte sich sehr, als ihm Daisy weinend und lachend von ihrem Abenteuer erzählte. Ihm offenbarte sie auch die Geheimnisse, die sie den alten Handschriften entnehmen konnte, in denen stand, daß über dem Geschlecht der Watfords ein Fluch lag, der jeden mit einbezog, sobald er das Gelände der Burg betrat. Nick Harper brannte sich eine Zigarette an, die er nachdenklich zu rauchen begann. Als er sie fast aufgeraucht hatte, meinte er versonnen: »Unabhängig vom heraufziehenden Wetter klingt das gar nicht mal so unvernünftig, was dein Ritter über das Moor sagte. Es ist durchaus möglich, daß es bei starken Regengüssen übertritt, also auch Menschen in Gefahr bringen kann, die sich in der Nähe aufhalten. Well, Daisy, ich glaube schon, daß du diese Spukgestalt gesehen hast. Komm, lass uns einmal die Ecke da hinten in Augenschein nehmen.« 51 �
Er führte die sich widerstrebende Daisy an der Hand hinter sich her. Neugier war in beiden, Angst und unsicheres Gefühl aber nur in Daisy. Der Detektiv trat brutal einige im Weg stehende Büsche nieder, die dicht verzweigt den Durchblick verwehrten. In die entstandene Lücke hinein reckte er seinen Kopf und starrte auf eine alte verwitterte Grabplatte, an deren Kopfende sich ein steinernes Wappen befand: zwei gekreuzte Knochen, darüber eine Königskrone. Seine Züge spannten sich, als er heiser sagte: »Das gleiche Wappen wie in dem unterirdischen Gang, von dem du mir erzähltest.« Daisy nickte und drückte sich näher an den Detektiv heran. »Ob das ein Grab ist?« fragte sie, und ein Schauer der Furcht zog ihr den Rücken herunter. »Ich weiß es nicht, Mädchen. Gestern, als ich ankam, suchte ich die Grabstätten der ehemaligen Burgbewohner und fand es eigenartig, daß kein Friedhof, keine Gruft oder was auch immer vorhanden ist. Irgendwo muß man doch die Toten begraben haben.« Bei seinen letzten Worten bückte er sich und versuchte die eingemeißelten, vom Sturm und Wind verwitterten Schriftzeichen zu entziffern. Dann begann er an der festsitzenden Grabplatte zu rütteln. Als er sich erhob, war er weiß wie eine gekalkte Wand und hatte Mühe, Daisy einzuholen, die in panischer Angst davongerannt war. Aufschluchzend sank sie in seine Arme, als es ihm gelang, ihre sinnlose Flucht zu stoppen. Die Schriftzüge hatten beide erschreckt. Dort stand geschrieben, daß jeder des Todes sei, der diese letzte Ruhestätte eines Watford entheilige. »Nick, o Nick, alles ist so furchtbar. Hast du es auch aus dem Grab sprechen gehört?« Nick Harper nickte und wiederholte die gehörten Worte mit 52 �
gepresster Stimme: »Laßt mir meine letzte Ruhe, Fremde, wenn ihr nicht wollt, daß der Fluch über euch kommt. Geht fort und kommt nimmer mehr zurück.« Daisy zitterte am ganzen Körper, nachdem sie die Worte zum zweiten Mal anhören mußte und ließ sich willig von Nick Harper aus dem Dschungel des Parks führen. Nick Harper wollte nicht so recht mit der Sprache heraus, trotzdem er die Antwort wußte. Vor seinem Abflug in New York hatte er sich Fachbücher über Geister- und Aberglauben besorgt, die er während des Fluges studiert hatte. * Das Gepäck der Withers stand bereit, doch keiner wagte mehr, die Burg zu verlassen. Die orakelhafte Prophezeiung des Ritters in der silbernen Rüstung war nicht der einzige Grund, denn hinzu kam, daß Regenböen in finsterer Wut gegen die Fensterscheiben klatschten, Blitze niederzuckten und gewaltiges Donnergrollen die Erde erzittern ließ. Der Tag war zur Nacht geworden. Die drei Mädchen aus dem Dorf glaubten, der jüngste Tag sei angebrochen. Verschüchtert saßen sie um den Küchentisch, beteten und bekreuzigten sich. * Alice, die Zofe, sah, wie die drei Mumien den Ritter in der silbernen Rüstung angingen und hörte das höhnische Gelächter seines Zwillingsbruders. Kane, der einen Pakt mit dem Teufel geschlossen hatte. Sie fühlte sich so elend und meinte zeitweise, nur zu träumen. Aber es war alles harte Realität, hörte sie doch das 53 �
Gekreisch und Gelächter aus der Grabkammer, die sie, auf allen vieren kriechend wie ein Tier, verlassen hatte. Stöhnend begann sie sich aufzurichten und lehnte sich erschöpft gegen die Felswand des unterirdischen Ganges. Als Kampflärm aufklang, hastete sie weiter, hinein in die Dunkelheit von Geheimgängen, die früher als Fluchtwege Verwendung gefunden hatten, aber auch zur Aufbewahrung von Schätzen und als Kerker für unbequeme Gegner. Die Felswand, an der sie sich entlangtastete, fühlte sich feucht und glitschig an. Und überall roch es nach Moder und Fäulnis. Dann fühlte sie unter ihren nackten Füßen den dicken, schwammigen Pilz, der ihren Sturz gemildert hatte. Mit dem Instinkt eines Tieres der Wildnis ging sie vor, tastete beide Seiten des Ganges mit Händen und Füßen ab, bis sie die Leiter fand, die nach oben führte. Ihre Nervenkraft ließ nach, und sie begann zu weinen. Nicht lange konnte sie sich der erlösenden Tränen hingeben, denn sie hörte aus der Grabkammer immer lauter werdenden Lärm, der ihrer Angst neue Nahrung gab. Vorsichtig setzte sie einen Fuß auf die unterste Sprosse der Leiter. Zu ihrer Verwunderung hielt die Sprosse. Mit neuem Mut erfüllt, nahm sie die zweite Sprosse. Erst die dritte gab unter ihrem Gewicht nach und zerbrach mit einem hohl klingenden Knirschen. Stöhnend sank Alice erneut in das weiche glitschige Bett des Schimmelpilz. Von der Grabkammer her drang ein schwacher Schimmer, bildete ein diffuses Licht, in das kreischend eine der Mumien trat, sich noch einmal kurz umdrehte und dann den Gang entlang gerannt kam. Vor dem Einstiegloch blieb sie stehen und erblickte die zerbrochene Leiter. Höhnisches Gelächter ausstoßend, schwebte sie in die Höhe und entschwand alsbald den Blicken. Ihre Artgenossinnen folgten ihr. Auch sie stutzten für kurze Augenblicke, um dann ebenfalls in die Höhe zu schweben. 54 �
Verzweifelt sprang Alice auf und erwischte das weiße Totengewand der letzten Mumie, an das sie sich anklammerte. Es schien zu klappen, denn sie fühlte sich angehoben. Doch dann zerriss der Stoff, zurück behielt sie einen weißen Fetzen des Totenhemdes. Die mumienhaften Geister aber waren verschwunden, setzten heulend ihre Flucht in den oberen Gängen fort, um ihre Grabstätten aufzusuchen, aus denen sie Kane Watford, ihr früherer Herr und Geliebter gerufen hatte, der schon zu Lebzeiten jungfräuliches Blut aus wild zuckenden Adern gesaugt hatte und deshalb von seinem Vater gefangen gehalten wurde wie ein Tier. Wenige Sekunden später trat klirrend der Ritter in der silbernen Rüstung aus der Grabkammer, in seiner Hand noch immer das Schwert haltend. Erste Nebelschwaden begannen ihn zu umwogen, und der bläuliche Glanz, der ihn umgab, wurde schwächer. Alice lag im Gang, vor Schmerz und Erschöpfung zusammengebrochen. Als sie des Ritters ansichtig wurde, streckte sie ihm beide Hände entgegen und flehte: »Helft mir, um meiner armen Mutter wegen helft mir.« Schon im Verschwinden, antwortete der Geist des Ruby Watford: »Gehe weiter, liebestolles Mädchen. Vielleicht findest du den Ausgang.« Gehe weiter, hatte er gesagt, und sie ging weiter, wie eine Blinde. Mit den Händen tastete sie sich wieder an der Wand entlang und spürte, wie das raue Gestein ihr die Haut aufriss. Dann fühlte sie, wie der Schimmer und Moder verschwand, und wie ihre Füße trockenen kalten Stein betraten, der sie schneller ausschreiten ließ. Zeit und Raum existierten nicht mehr für sie, und sie nahm das gelassen hin. Plötzlich griff ihre suchende Hand ins Leere. Eine ganze Weile suchte und tastete sie herum und fühlte 55 �
dann mit den Füßen die steinernen Stufen, die nach oben führten. Auf allen vieren begann sie diese zu erklimmen. Erst ruhig, dann immer nervöser, begann Alice nach dem geheimen Ausgang zu suchen, bis sie verzweifelt aufgab und sich ihres Schicksals bewußt wurde, verhungern zu müssen. Er kam aus dem Nichts, lautlos, wie es sich für Geister gehört. Alice blickte auf die schaurige Gestalt, die plötzlich vor ihr stand, die mit gekrümmten Knochenfingern nach ihr greifen wollte. Abwehrend streckte sie beide Arme vor, und es mag reiner Zufall gewesen sein, aber ihre Arme bildeten plötzlich ein Kreuz, und über ihre Lippen kamen fromme Worte. »Herr im Himmel, ich flehe dich an…« Die Verdammten auf Burg Watford konnten alles vertragen, nur nicht Gottesglauben. Heulend fuhr die schaurige Gestalt zurück. * Der Regen strömte jetzt dichter. Es war kalt, und der Wind wehte von Minute zu Minute stärker. In den bewohnbaren Räumen der Burg brannten lodernde Kaminfeuer und verbreiteten behagliche Wärme. Es hätte gemütlich sein können, trotz des Sturmes draußen, hätte nicht der Teufel seihe Hand im Spiel gehabt, dem sich die Watfords verschrieben hatten, um unsterblich zu werden. Mrs. Withers hielt ihren jüngsten Sohn, der eingeschlafen war, in den Armen und starrte noch immer das eine Bild an der Wand an, aus dem der ehemalige Burgherr verschwunden war, als hätte ihn einer herausgeschnitten. Der Geist dieses Unseligen existierte nicht nur in der Phantasie der Dorfbewohner, er war Realität. Der Gedanke hatte sich so in Mrs. Withers eingefressen, 56 �
daß sie an nichts anderes mehr denken konnte. Protz, Pomp und Prestigedenken fielen von ihr ab wie Schuppen. In dieser Stunde der Angst schwor sie sich, wieder eine gute Frau und Mutter zu werden. Daisy beschäftigte sich im Schlafzimmer mit den alten Handschriften. Da sie die Männer in der alten Kapelle wußte, zog sie an der Klingelschnur und bat die Mädchen aus dem Dorf, ihr Gesellschaft zu leisten, Sie konnte und wollte nicht mehr allein sein. Nach einer halben Stunde entschuldigte sie sich für einige Minuten, wie sie sagte, und die Mädchen kicherten verstehend. Was sie ihnen nicht gesagt hatte, war, daß eine innere Stimme sie fortwährend rief und rief, bis sie dem Ruf Folge leistete. Nun stand sie in der Bibliothek und begann an dem Bücherregal nach dem verborgenen Verschluss zu suchen, der ihr die Tür zu dem Geheimgang öffnen sollte. Es war die geheimnisvolle, innere Stimme, die sie drängte, den Gang noch einmal zu betreten. Von Nick Harper, den sie liebte, hatte sie abgeguckt, was man bei solchen Expeditionen mitzunehmen pflegt. Als wichtigstes Utensil erschien ihr, neben genügend Lichtquellen und warmer Kleidung, eine Rolle Garn, mit dessen Faden sie den Rückweg wieder finden konnte. Über zehn Minuten benötigte sie, in denen sie die Bücher aus dem Regal räumte, um erst dann den kleinen Hebel an der Rückwand zu entdecken, den zu bedienen für sie eine Leichtigkeit war. Lautlos glitt das Regal zur Seite, an dessen Stelle ihr das schwarz gähnende Loch entgegenstarrte, aus dem feuchtkalte Zugluft wehte. Schauer der Angst und Erwartung rieselten ihr den Rücken hinunter, ließ sie sich doch auf ein Abenteuer ein, dessen Ausgang ungewiss war. Sie wußte schließlich nichts über die Unberechenbarkeit von Seelen, die sich dem Teufel verschrieben hat57 �
ten, noch wußte sie etwas Von der Rivalität der Geister untereinander. Nichts, gar nichts wußte sie, außer, daß es den Himmel und die Hölle gibt. Und so ein Mädchen, unschuldig im wahrsten Sinne des Wortes, begab sich aus freien Stücken in das Reich der Unterirdischen. Das rassige Gesicht war mit leichter Blässe überzogen, die es noch anziehender wirken ließ. Die Haut straffte sich über den leicht vorstehenden Wangenknochen, als Zeichen innerer Unruhe. Ein wenig zitterten die Hände, als sie das Ende der Garnrolle befestigten, deren Fadenende den Weg zurückweisen sollte. Noch einmal prüfte sie den Sitz der Umhängetasche, die mit einigen notwendigen Dingen gefüllt war. Und noch einmal holte sie tief Luft, daß unter dem weichen Wollpullover ihre fraulichen Formen sichtbar wurden, bevor sie die Taschenlampe anknipste und den ersten Schritt ins Ungewisse tat. Wie schon beim ersten Mal, verschluckte der weiche Sand am Anfang des Ganges das Geräusch ihrer Schuhe. Als aber ihre festen Sportschuhe auf Stein traten, waren sie nicht viel lauter, dank der dicken Gummisohlen. Fast unhörbar glitt sie tiefer und tiefer in den Gang hinein und hielt erst an, als das Wappen in ihr Blickfeld geriet, das zu erreichen ihr Ziel gewesen war. Das steinerne Verließ, mit den vielen Skeletten wollte sie nie wieder betreten. Sie mußte lange an den steinernen gekreuzten Knochen herummanipulieren, bis ein schnappendes Geräusch sie aufhorchen ließ, dem ein anderes Geräusch folgte, das sich anhörte, als würde Luft angesaugt. Ein wenig erschrocken tat sie einen Satz rückwärts, bewegte sich doch der ganze Gesteinsquader, in den das Wappen gemeißelt war, langsam auf sie zu und drohte sie zu erdrücken. Und genau so plötzlich kam er zur Ruhe, nur, daß er hinter sich einen bisher verborgenen Zugang freigab. Daisy schrieb einen Zettel, den sie an eine der Zacken der 58 �
Königskrone aufspießte, auf dem der geheime Mechanismus erklärt stand. Zusätzlich zog sie den starken Faden weiter hinter sich her, in der ruhigen Gewissheit, alles getan zu haben, damit Nachfolgende sie finden konnten. Alle Gänge waren gemauert, so auch der, den sie nun betrat, der sehr trocken wirkte und auch nicht so furchterregend, eher einem alten Kellergewölbe ähnelte. Und er war auch nicht so lang und endete in einem Raum, besser gesagt in einem Zimmer, das direkt anheimelnd wirkte. Von nacktem Fels konnte keine Rede mehr sein. Jede Wand zierte ein kostbarer Gobelin, und darauf waren Jagdszenen eingestickt, die trotz hohen Alters bemerkenswert gut erhalten waren. Ausgelegt war der Raum mit Bastmatten, die zusätzlich noch von einem Teppich bedeckt wurden, der allerdings einen stark benutzten Eindruck machte, zeichnete sich doch auf ihm eine Spur ab, die nur von vielem Laufen herrühren konnte. Die Zimmereinrichtung selbst war spärlich, aber ihrer antiken Möbel wegen kostbar. Daisy überkam eine seltsame Erregung, die sie schon beim Lesen der alten Handschriften empfunden hatte, die mit der Beschreibung dieses Raumes endeten, den die letzte Burgherrin als Zufluchtsort gewählt hatte, da sie das Leben und Treiben auf der Burg nicht mehr ertragen konnte. Ihr Mann, ein Gewaltmensch, trug den Fluch der Watfords im Blut: nackten blanken Wahnsinn. Systematisch begann Daisy die einzelnen Schübe der alten Schreibkommode zu durchsuchen, die interessante Dinge eines längst vergangenen Jahrhunderts in sich bargen. Enttäuscht stellte sie das Suchen ein, hatte sie doch nichts von dem finden können, wonach sie eigentlich gesucht hatte, Gegenstände, die benötigt wurden, den unseligen Geistern ein Ende zu bereiten. Nervös schaute sie sich um und fuhr sich mit der Zunge über die Lippen. Das seltsame Gefühl kam wieder, und 59 �
sie konnte es nicht abschütteln. Eine alte Uhr an der Wand begann urplötzlich zu ticken. Daisy stand mit dem Rücken zu dieser Wand, die Unterlippe zwischen den Zähnen vergraben, was ihr einen grüblerischen Ausdruck verlieh. Einen letzten Blick warf sie in die Runde und stand im Begriff zu gehen. Eine eisige Hand legte sich plötzlich auf ihren Rücken, ließ sie erstarren. »Gib nicht auf, Rosalinde. Unsere Seelen sind müde geworden, von der ewigen Wanderung und möchten Ruhe finden.« Die Stimme sprach leise. Eine sanfte, gelassene Stimme, schwächer als Flüstern. Daisys Haar flimmerte, als sie den Kopf schüttelte. Der plötzliche erschreckte Ausdruck eines Tieres, das überrascht wird, stand in ihrem Gesicht. Sie wollte fliehen, aber die eisige Hand bannte sie auf der Stelle. »Warum gebt ihr keine Ruhe?« Sie hatte ein seltsam rostiges Gefühl in der Kehle und brachte die Worte kaum heraus. Einen Augenblick schüttelte sie heftiges Zittern, und ihr Gesicht verzog sich wie im Schmerz. »Warum nicht?« flüsterte sie noch einmal und fühlte sich im gleichen Augenblick von der eisigen Hand befreit. Da fuhr sie herum, zu allem entschlossen, konnte aber nur noch die schwache Bewegung am Wandteppich entdecken. Wütend riß sie ihn zur Seite und starrte auf nacktes kaltes Felsgestein. Mit widerstrebenden Gefühlen verließ sie den Raum, schritt den kurzen Gang zurück, bis zu dem geheimen Zugang, den sie sorgfältig verschloss. Er sollte ihr Geheimnis bleiben. Den auf die Kronenzacke aufgespießten Zettel knüllte sie zusammen und steckte ihn in die Tasche. Sie hielt sich nicht mit langen Überlegungen auf, sondern ging den feuchten Gang entlang, der direkt zum steinernen Verließ führte, das sie niemals mehr bei treten wollte. Die Umstände zwangen sie, es noch einmal zu tun. 60 �
Drei Fackeln brannte sie an, die in eisernen Ringen steckten und zischend beizenden Qualm verbreiteten, aber genügend Licht spendeten, das zu ihrer Arbeit notwendig war, denn nun begann sie die Stelle an der Wand abzutasten, aus der der Geist des Ruby Watford gekommen war. Doch sie erreichte nichts. Da begann sie laut zu rufen: »Ruby Watford. Ich will dich sprechen!« Der Ruf hallte schaurig in dem unterirdischen Gemäuer wider. Sie lauschte ihm angestrengt nach, während ihre Augen begannen, die kahlen Wände abzutasten. Eine Fackel verlöschte, und es hörte sich an, als habe starker Atem sie ausgeblasen. Als nun die Flamme der zweiten Fackel zu flattern begann und allmählich kleiner wurde, knipste sie ihre starke Taschenlampe an. Das grelle Licht fiel auf einen Totenschädel, der zu grinsen schien. Ihre Nerven waren zum Zerreißen gespannt, und es war ihr kaum noch möglich, die Knochenreste und den grinsenden Totenschädel anzuschauen, die Zeugen einer grauenhaften Vergangenheit waren, denn zu bildlich stellte sie sich vor, wie diese Menschen unter grausamen Qualen gestorben waren, wie ihre Schreie erstickt wurden von den dicken Mauern. Tränen zogen glänzende Bahnen über ihre Wangen, und als sie sich etwas zurücklehnte, blieb ihr Mund halb offen, und ein Schluchzen entschlüpfte ihr, verlöschte doch nun auch die dritte und letzte Fackel, deren Schein das Verließ mit einer gewissen Wärme gefüllt hatte. Plötzlich stand er inmitten des steinernen Verließes, als wäre er aus der Tiefe gekommen. Eine Hand hielt er in die Hüfte gestemmt, die andere lag fest auf dem Knauf des Schwertes an seiner rechten Seite. Das Gesicht, seltsam blaß und ernst, war ihr zugewandt. Kein Muskel zuckte darin. Sein Blick kroch an ihrem Arm hoch, bis er ihre Augen traf, und erst da begann das bläuliche Leuchten ihn zu umgeben. Seine Lippen waren ein schmaler 61 �
Riß zwischen den Backenknochen, der auseinander zu platzen schien, als er mit seiner dumpfen unwirklichen Stimme sagte: »Es ist lange her, daß du nach mir riefst, Rosalinde, sehr lange…« Sein Ausdruck änderte sich langsam. Es lag weniger an seinem Gesicht, als vielmehr an den Augen, die sich ein wenig zusammenkniffen, und an der Anspannung der Schultern, über denen die Rüstung zu klirren begann. Sie erschrak über sein düsteres, fast drohendes Aussehen, das ihr Furcht einzuflößen begann. In bestimmter Absicht hatte sie seinen Geist gerufen, aber die Fragen, die ihr auf den Lippen lagen, blieben unausgesprochen. Einer inneren Eingebung zufolge sagte sie mit unsicherer Stimme: »Deine Mutter möchte Ruhe finden, Ruby Watford.« Er wich zurück, als habe ihn jemand mit der Faust geschlagen. »Lass meine Mutter aus!« Es war jetzt eine leichte Schärfe in der Stimme, die sie aufhorchen ließ. »Aber sie hat mich sogar gebeten…« Er unterbrach sie, indem er sich hoch aufrichtete und seinen Arm gegen sie ausstreckte. »Du sprachst mit meiner Großmutter. Kennst du sie nicht mehr?« »Das ist mir egal«, antwortete sie patzig, während sie den Kopf herumwarf, daß ihr langes rotbraunes Haar folgte wie schlingernde Wellen »Ruby Watfort, ich will von dir wissen, welcher Fluch auf euch allen lastet. Erzähle mir davon, denn ich will euch helfen.« Ganz still stand er da. Er sagte nichts. Es war ein Spiel mit ungleichen Karten. Einen Geist kann man nicht zur Antwort zwingen. Ein Hauch von Mitleid huschte über ihr Gesicht, und das Licht der Taschenlampe glänzte auf Tränenspuren. Resigniert nickte sie. Sein Gesicht verriet ihn. Seine Augen hatten plötzlich einen 62 �
seltsamen Ausdruck, und etwas war mit seinem Mund geschehen. Er lächelte. Dann kam er auf sie zu, bemerkte nicht ihr Zusammenzucken, noch den erschrockenen Ausdruck, der sich in ihren Augen widerspiegelte, die sich vor Angst unnatürlich weit zu öffnen begannen. Ganz nah trat er an sie heran, umarmte ihre Schultern und seine Lippen pressten sich auf ihren zum Schrei geöffneten Mund, verschlossen ihn mit einem Kuss, während eine seiner Hände ihr glänzendes Haar zu streicheln begann. Ihr Körper erstarrte. Doch nur sehr langsam löste sich der Bann. Ihre Augen begannen wieder die Umgebung zu erfassen. Ihr Mund fühlte sich feucht an, und als sie sich über das Haar strich, starrte sie entsetzt auf die Nässe in der zurückzuckenden Hand. Aber die Nebelschleier waren verschwunden, von denen sie plötzlich umhüllt gewesen war. Nur ganz hinten, wo das letzte Skelett an die Wand gekettet hing, verblasste der letzte Schimmer eines bläulichen Lichtes. Und von dort kam auch die hohlklingende Stimme. »Suche weiter, Rosalinde.« Mit ihren Nerven völlig am Ende, brach sie zusammen, und ersticktes Schluchzen erschütterte ihren Körper. Eine halbe Stunde später fand sie Nick Harper, der sie auf seinen starken Armen zurück in den bewohnten Teil der Burg trug. * Das Wasser im Hof stand drei Zoll hoch und bildete eine Bugwelle vor den Rädern des Jeeps. Mr. Withers schaute noch einmal zurück und sah angstvolle Gesichter durch die Scheiben starren. Er winkte, sein raues, hartes Männerlachen riß ihm der Wind von den Lippen. Kraftvoll umschlossen seine nervigen Hände das Steuerrad, das hin und her schlingerte, der tiefen, ausgewaschenen Löcher wegen, in die die Räder sanken, aber 63 �
immer wieder vom kraftvoll brummenden Motor herausgerissen wurden. Mr. Withers wollte versuchen, das Dorf zu erreichen. Der unterspülte Weg zur Burg senkte sich stark und verlangte hohes Fahrkönnen ab. Als der Weg ebener wurde, sanken die Räder in Schlamm und Wasser, griffen aber durch, bis die allein stehenden Klippen hinter ihnen lagen. Die Landschaft hatte sich in einen See verwandelt, der so weit reichte, wie das Auge blicken konnte. Mr. Withers wußte, daß es rings um die Burg, die vom Moor eingeschlossen wurde, nicht anders aussah. Sie waren abgeschnitten von der Außenwelt, Gefangene des Moorwassers. Und noch immer regnete es… Schon wollte er den Jeep wenden, als ihn das Gekreisch von Krähen aufhorchen ließ, die über einer bestimmten Stelle flatternd kreisten, ab und zu niederstießen, um erneut enge Kreise zu ziehen. Die Wellen der Wassermassen bewegten sich auf den Jeep zu und brachten den undeutlichen Klumpen näher, den Mr. Withers als treibenden Baumstamm angesehen hätte, wären nicht die aufgeregten Krähen gewesen. So wartete er ab, bis er durch Regenschleier nähere Einzelheiten erkennen konnte. Seine Hand fuhr an die Stelle, wo das Herz heftig zu schlagen begann. Ein brutaler Fluch brach über seine Lippen. Eine weibliche Leiche kam angeschwommen, behangen mit Algen und grünen Gewächsen, wie sie das Moor hervorbringt. Langes dunkles Haar wurde von den sanft schaukelnden Wellen auf- und niedergewogt. Die Tote lag mit dem Gesicht nach unten im Wasser. Ihre Arme hielt sie weit ausgebreitet. Mr. Withers stakste ins Wasser, so weit seine Gummistiefel reichten. Er wartete, bis er ein Bein der Toten ergreifen konnte, die er dann bis vor die Räder des Jeeps schleifte und erst dann umdrehte. Schreck lähmte ihn für Sekunden und verkantete sein Gesicht. Die Tote hatte er schon einmal gesehen auf den Armen 64 �
des Ritters im Moor und in der Burgkapelle, wo ihr Bild auf dem Altar stand. Der Regen fiel aus dem tintenschwarzen Himmel, wirkte jetzt, da kein Blitz mehr zuckte und kein Donner rollte, wie lähmendes Schweigen. Noch einmal schaute er auf die Tote nieder, wuchtete sie dann hinten auf den Jeep und band sie mit Stricken fest. Bevor er sich hinter das Steuer klemmte, sah er hinaus in das Moor, das nun ein riesiger See war. Grauenvolles höhnisches Lachen klang herüber, und er glaubte die Silhouette eines Kahnes verschwinden zu sehen. Plötzlich fror ihn, und er wendete schnell den Jeep. Zwischen den bizarr emporgereckten Klippen und dem ansteigenden Weg zur Burg hatte der Dauerregen einen Felsen unterspült, der in die Tiefe gerollt war, aufgesaugt vom schmatzenden, alles verschlingenden Moor. Zurückgeblieben war eine Öffnung, die wie ein böses Auge wirkte, dem nichts entgehen konnte. Beim Vorbeifahren warf er einen kurzen Blick hinüber. Seine Gedanken drehten sich noch um die Tote aus dem Moor, so daß er nicht sofort schaltete. Endlich begriff er und trat hart das Bremspedal durch. Er ließ den Jeep stehen und ging die wenigen Schritte zu Fuß. Das entstandene Loch maß einen halben Meter im Durchmesser und führte in einer leichten Schräge nach unten. Mr. Withers kramte eine Zigarette hervor und rauchte sie in der hohlen Hand, um sie nicht dem Regen auszusetzen. Ununterbrochen grübelte er über die Entdeckung nach und kam zu dem Schluß, daß er ein Schlupfloch früherer Burgherren entdeckt hatte, die für den Notfall mehrere geheime Ausgänge angelegt hatten, ähnlich einem Fuchsbau. Er befand sich in keiner angenehmen Lage. Die Burg war von Moor und Wasser umschlossen, ein Entkommen unmöglich. Verfluchte Seelen, Geister, oder wie man das nennen soll, setzten 65 �
ihm und seiner Familie pausenlos zu, als wollten sie ihr Reich des Teufels zurückerobern. Alice, die Zofe, war verschollen, auf geheimnisvolle Art. Auf dem Jeep hatte er eine Tote liegen, und nun entdeckte er einen neuen Geheimgang, aus dem ihm, wie er zu bemerken glaubte, Gefahr entgegenströmte. Aber in ihm steckte auch eine gehörige Portion Abenteuerlust und Wagemut. Je mehr Hindernisse sich ihm in den Weg stellten, um so halsstarriger wurde er. Mit ein paar langen Schritten erreichte er den Jeep und entnahm dem Handschuhfach die Stablampe, dann noch ein prüfender Griff an das Gürtelhalfter, in dem die 45er steckte, und als er alles für richtig befand, wendete er. Sein stampfender Schritt drückte Energie und Entschlossenheit aus. Es bereitete einige Mühe, bis er seinen stämmigen Körper in das verschlammte, vor Wasser quietschende Loch zwängen konnte, mit den Beinen zuerst selbstverständlich. Bevor er auch den Kopf in die Tiefe tauchte, unternahm er noch einen Rundblick. Auf der am Jeep angeschnallten Leiche hockten zwei Krähen. Ein schlechtes Omen. Und über das Moor zog eine neue Regenwand auf, grollend und Blitze ausspuckend. »Des Teufels Großmutter geht um«, knurrte er und tauchte in dem Loch unter. Sofort verlor er den Halt unter den Füßen und rutschte, auf dem Bauch liegend, eine steile Schräge hinab, die auf losem Geröll endete. Ein Knurren wurde vernehmbar, dann kam ein rotbrauner Strich angefegt, der sich in Mr. Withers linken Stiefel verbiss. Angst, Schreck und Ärger mischten sich zu einem Teufelsbräu, das in Schweißausbrüchen endete. Kurzerhand riß er die 45er hoch und jagte einen Schuß in den rotbraunen Balg. Es war ein Fuchs, dessen Kiefer er brechen mußte, um seinen Stiefel zu befreien. »Zu Fledermäusen noch Füchse«, grollte er und schleuderte den Kadaver nach oben, wo er ins Freie fiel. 66 �
Eine ganze Weile mußte er kriechen, bis sich der Spalt zum gemauerten Gang erweiterte, der aber genau nach vier Schritten an dicken Basaltquadern endete. Unten links, in Kniehöhe, war wieder das ehemalige Wappen der Watfords eingemeißelt, und er drückte gegen den einen Knochen. Ein Steinblock schwang heraus wie eine Tür, blieb aber auf halbem Weg stehen. Mühselig mußte er angesammelten Sand und Dreck wegräumen, der das vollständige öffnen verhindert hatte. »Wer weiß, ob in den letzten hundert Jahren das Ding überhaupt bewegt worden war. Ein Wunder, daß der Mechanismus überhaupt noch funktioniert«, murmelte er im Selbstgespräch, als er sich schwitzend aufrichtete und mit der linken Schulter den Quader vollends herausdrückte. Ein feines Singen, ähnlich einem Pfeifton, drang an seine Ohren und machte ihn etwas nervös, da er die Ursache nicht entdeckten konnte, die zu ergründen er sich für später vormerkte. Dann verhedderte sich sein Fuß in einem wirren Haufen verrosteter Eisenteile, der ihn zu Fall brachte. Sein Interesse aber wurde so stark geweckt, daß er alles darüber vergaß. Bei den verrosteten Eisenteilen handelte es sich um Stichwaffen, deren hölzerne Schäfte verfault waren. Sie standen am Eingang, um jederzeit wehrbereit zu sein. Ähnliche Funktionen hatte auch die Fallgrube, in die er um ein Haar gestürzt wäre. Das hohe Singen erscholl wieder, riß ihn in die Wirklichkeit zurück, die er für Sekunden vergessen hatte. Viel stärker klang es nun, ebbte kurz ab, um wieder betont anzuschwellen. Mr. Withers tippte auf einen Irren, der sich in frohbeschwingter Laune befand. Fester umklammerte er Taschenlampe und Pistole, als er tiefer in den Gang eindrang. Es mußte sich um eine der ältesten Burganlagen handeln, bröckelte doch überall das Mauerwerk ab, wirkte brüchig, richtiggehend baufällig. Eine weitere steinerne Tür versperrte den Weg. Nicht ganz, 67 �
denn sie stand noch halb offen, hatte sich nicht schließen können, weil ein Mensch dazwischengequetscht lag. Einsetzende Verwesung, Füchse und Ratten waren nahe dran gewesen, ein blankgenagtes Skelett zu hinterlassen, neben dem Fetzen ehemaliger Kleidungsstücke lagen, die auf eine Frau schließen ließen. Ratten huschten davon. Es stank. Eigenartigerweise waren Kopf und Hals der Toten ziemlich erhalten geblieben. Zwei Dinge fielen besonders auf: sie war jung und besonders schön gewesen, mußte zu Lebzeiten die Männer mit ihrem Anblick verwirrt haben und an ihrem Hals waren zwei rote Punkte zu erkennen, Biss-Stellen besonders spitzer Zähne. Schaudernd wandte er sich ab und ging weiter. Sein Atem rasselte und keuchte, während sich Schweißperlen auf seiner Stirn sammelten. Ein hohler Ton, der wie eine Windböe auf ihn zuwehte, ließ ihn zurückweichen, nötigte ihn, sich mit den breiten Schultern gegen die Felswand zu lehnen und die 45er zu entsichern. Das metallene Geräusch des Entsicherns wurde übertönt von satanischem Gelächter. Es kam von weit hinten, näherte sich aber schnell und steigerte sich zu einem schrillen Ton, der plötzlich abrupt abbrach. Am Ende des Lichtstrahls der Taschenlampe tauchte für einen kurzen Moment ein giftgrüner Farbfleck auf, der aber sofort verschwand, als das Licht voll auf ihn fiel. Zwei bläuliche Punkte, in Manneshöhe, blieben und glotzten wie die toten Augen eines Erhängten. Mr. Withers hielt den Atem an. »Stehen bleiben oder ich schieße!« Mr. Withers Stimme klang wutvoll, und er richtete den Lichtkegel voll auf die mysteriöse Gestalt. Ihm blieb die Spucke weg, und seinem Hals entrangen sich röchelnde Laute. In dem giftgrünen Umhang steckte tatsächlich einer, aber einer, der ein totenkopfartiges, ausgemergeltes 68 �
Gesicht besaß. »Verschwinde, oder ich breche dir jeden Knochen einzeln!« Und wieder gellte das schaurige Lachen des Knochenmannes durch den Gang, der in der Mundhöhle zwei lange blutige Zähne stehen hatte. Nur langsam kam er voran, hatten doch Jahrhunderte ihre vernichtenden Zeichen hinterlassen. Überall lag Staub und Dreck haufenweise, dazwischen abgebröckeltes Mauerwerk; ein wahres Wunder, daß der Gang nicht schon längst zusammengefallen war. Einmal hörte er den feinen Ton und wußte seinen Gegner vor sich. So richtig stur und verbissen beschleunigte er seine Schritte, schoß sogar ab und zu in die sich vor ihm ausbreitende Dunkelheit hinein, so sein Kommen anzeigend. Er war gewillt, endgültig und rigoros allem Spuk ein Ende zu setzen. Stimmengemurmel kam auf, das er sich nicht erklären konnte, befand er sich doch in einem uralten, längst vergessenen und halb zugefallenen Stollen, den ihn nur der Zufall entdecken ließ. Nach einigen Schritten riß der Lichtstrahl eine Abzweigung aus der schwarzen Finsternis, in der nur Ratten und Geister existieren konnten. Er geriet in eine Sackgasse, die früher vermutlich als Vorratslager gedient hatte, jetzt aber die Knochen von zwei Menschen beherbergte. »Der Teufel soll mich holen«, fluchte er laut. »Immer suchten Nick Harper und ich nach einem Friedhof. Nun weiß ich, warum es keinen gibt, weil niemand da war, der beerdigt werden mußte. Die blutsaugenden Watfords lockten ihre Opfer an verschwiegene Plätze, wo sie ihnen die Schlagadern durchbissen, um sich an frischem Blut satt zu trinken.« Er hielt in seinem Selbstgespräch inne und stieß mit der Stiefelspitze einen Knochen zurück zum Haufen, der abseits gelegen hatte. »Arme Hunde.« Es war das tiefste Mitgefühl, das ein Sam Withers aus69 �
drücken konnte. Überrascht wischte er sich über die Augen, wallten doch auf einmal Nebel auf und nahmen ihm die Sicht auf den Rest, der von zwei Menschen übrig geblieben war. Und wie in der ersten Nacht auf dieser verwünschten Burg, nahm der Nebel bläuliche Färbung an, bis der Ritter in der silbernen Rüstung vor ihm stand, nur daß er diesmal sein Gesicht nicht hohnvoll verzogen hatte, noch daß er plötzlich mit den Zähnen bleckte. Ernste Schönheit, fast wie Trauer, kennzeichnete es diesmal, und Mr. Withers war sogar gegen seine innere Überzeugung bereit, keine aggressive Haltung einzunehmen. Wenn auch mit etwas zynischem Unterton, aber mit gewisser Achtung gepaart, fragte er: »Welches Höllenwesen hat die zwei hier umgebracht?« Die geheimnisvolle Gestalt schüttelte den Kopf. »Vermutlich mein Urgroßvater, oder Vampire, seine Geliebte«, erklärte sie nach kurzem Besinnen. »Ist das der Kerl in dem komischen grünen Umhang?« fragte Mr. Withers kratzig, um sofort eine weitere Frage abzuschießen: »Sie sind Ruby Watford, nicht wahr? Besser gesagt sein Geist.« Wieder nickte die Geistergestalt und erwiderte monoton: »Vampire sterben nicht.« Mr. Withers tat einen Schritt zurück. »Dann sind Sie auch…?« »Ja, aber ich erhalte mich von Tierblut und werde deshalb von den anderen verachtet und werde den grünen Umhang niemals bekommen.« Die Geisterstimme verstummte. Mr. Withers lauschte ihr nach, in tiefe Gedanken versunken, aus denen heraus er die nächste Frage stellte: »Welche Bewandtnis hat es mit dem grünen Umhang?« Der Geist des Ruby Watford trat einen Schritt hinaus in den dunklen Gang, und es hatte ganz den Anschein, als lausche er gespannt auf etwas ganz Bestimmtes. Als er endlich antwortete, 70 �
klang seine Stimme wie tonloses Flüstern. »Er darf es nicht hören, denn unter uns Bluttrinkern gibt es Gesetze, die zu verletzen… Den grünen Umhang darf nur der König tragen«, kam es fast unhörbar über die blassen bewegungslosen Lippen. Etwas viel auf einmal für einen Mann wie Mr. Withers. Unbeherrscht grollte er auch schon los: »Was für ein König? Verfluchte Höllenhunde seid ihr, sonst nichts. Ich werde euch das Fürchten beibringen. Mit dir, Bürschchen, fange ich gleich an!« Ein seltsames Lächeln erhellte für kurze Augenblicke das edle Antlitz des Ritters, bevor er tiefernst wurde. Mitleid drückte es aus, so wie jetzt seine Stimme: »Wer einen Vampir töten will, um ihm die ewige Ruhe zu geben, muß zwei Dinge wissen und besitzen, ohne die er sonst selbst ein Verlorener wird.« Als wollte er seine Worte untermauern, zog der Ritter sein Schwert. Leise sang der wertvolle Stahl, als es aus der Scheide glitt, und die breite Schneide begann wie Diamanten zu funkeln, als sie in das Licht der Taschenlampe geriet. Mr. Withers wußte einen Geist vor sich, der aus Nebel auftauchte und darin wieder verschwand. Also ein Nichts. Aber alles an ihm erstarrte, als die Spitze des Schwertes auf ihn zukam, unter sein Kinn fuhr und auf die Halsschlagader zu drücken begann und dabei die Haut schmerzhaft durchstach. Eine Sekunde lang war es mucksmäuschenstill, dann sagte Mr. Withers pfeifend: »Nimm das Schwert von meinem Hals, Ruby Watford!« Doch der Geist des Ritters dachte nicht daran. Er lachte und lachte, wobei sein Gesicht immer ernster wurde, was die Situation nur noch schärfer werden ließ. Das Lachen hallte lange in dem Gang wider, noch, als Nebel den Ritter aufsaugten und mit ihm verschwanden. 71 �
Es gab nur das Vorwärts und Mr. Withers kämpfte sich durch die Ruine des Ganges, bis wieder das Wappen der Watfords auftauchte. Den steinernen Knochen zu bedienen erübrigte sich, stand doch der Durchschlupf weit offen, der Zugang zu einem unterirdischen Gemach gewährte. Aber dann hörte er ein gräuliches Knurren und gellende Schreie, die ihn an Alice, der Zofe seiner Frau, denken ließen, die seit vielen Stunden schon vermisst wurde. Da trat er einen Schritt tiefer in das Gemach hinein. Die zierliche Alice, zwanzig Jahre alt, schwarzes langes Haar und große dunkle Augen, lag auf den mit Mosaiken ausgelegten Fußboden. Sie lag inmitten einer Blutlache, die größer und größer wurde und immer mehr Blut strömte aus vielen Wunden hervor. Über ihr, breitbeinig und wütend, stand der Totenkopf mit dem giftgrünen Umhang. Der Urgeist dieser Burg bewachte sein neues Opfer. Alice war tot, zerbissen von den zwei blutigen Zähnen des Königs der Vampire. Mr. Withers »Verdammt!« klang wie eine Explosion. Er überlegte blitzschnell, wie er sich verhalten sollte. Doch da wandte sich schon der Totenkopf um, von dessen leeren Mundhöhle Blut tropfte. Mr. Withers spürte beruhigend die Vertrautheit des Gewichts der 45er in seiner Faust und er zog den Stecher durch. Aber diesmal erreichte die Kugel ihr Ziel, rasierte über die blanke Schädeldecke des Totenkopfes und hinterließ darin eine tiefe Rille. Der Wutschrei des Vampirs rollte gegen ihn an und ließ ihm das Blut in den Adern erstarren. Hochauf reckte sich die unwirkliche Gestalt, und aus den Falten des grünen Umhanges hervor schossen Skelettarme. »Verruchter Erdenwurm!« kam es zwischen den zwei langen Reißzähnen hervor, die noch rot waren von Alices Blut. »Von nun an sollst auch du ruhelos wandern und vor Durst Qualen leiden, wenn kein frisches Blut…« Der 72 �
Vampir brach ab, kam näher, und seine Augen glänzten wie Wolfslichter. Nun mußte Mr. Withers zurückweichen, ob er wollte oder nicht. Er bekam die Wand in den Rücken und wußte, daß er verspielt hatte. Angst verschlug ihm die Sprache, die ihn zusätzlich noch in triefenden Schweiß badete. Aufseufzend steckte er die 45er zurück ins Halfter. Sie war nutzlos geworden. Der Knochenmann würde weiter existieren, auch wenn er seinen bleichen Totenschädel in Fetzen schoß. Da war er auch schon heran, baute sich vor seinem Opfer auf, mit ausgebreiteten Armen, die nur aus Knochen bestanden, an denen die weiten Ärmel des giftgrünen Umhanges schlaff herunterhingen. Die Finger waren gekrümmt wie Adlerkrallen. Lähmendes Entsetzen verbreitete der Totenschädel, der im Strahl der Taschenlampe gelblichweiß schimmerte. Die in die Schädeldecke hineingeschossene Rille wirkte wie ein geradegezogener Scheitel. Aber noch viel mehr lähmte der Anblick der toten Augenhöhlen, in denen ein Schimmern glühte, der ihnen aber kein Leben verleihen konnte. Augen, Nasenlöcher und Mundhöhle waren tot, bewegungslos, und das machte den Anblick so grauenhaft. Dann näherten sich in unersättlicher Gier die zwei langen blutigroten Zähne, schossen vor wie spitze Dolche. Die Faust des bulligen Ölmillionärs knallte gegen die Brust des Vampirs, trieb diesen einen halben Schritt zurück. Ein dumpfes hohles Klappern ertönte. Das Blut der Zofe hatte dem Vampir frische Kräfte vermittelt, er steckte nicht auf, wie vor einer halben Stunde im hinteren Gang, vielmehr heulte er vor Wut und Angriffslust laut auf und kam wieder näher. Seine, knöchernen Füße schleiften über den steinernen Mosaikfußboden, und geschickt wich er den Faustschlägen aus und schlang seine Arme um Mr. Withers. Fauliger, modriger Atem strich über des73 �
sen Gesicht. Er kämpfte den Kampf seines Lebens und fühlte, wie seine Kräfte schwanden. Vergebens rannte er gegen das von einem Umhang eingehüllte Skelett an, das allmählich die Oberhand gewann. Keuchend vor Anstrengung sank er in die Knie, nicht mehr Herr über seinen Körper, gegen den überall Knochen schlugen und drückten. Die Taschenlampe entfiel seiner Hand, rollte ein Stück zur Seite, und ihr Strahl richtete sich auf den blutüberströmten Leichnam von Alice. Der grauenhafte Anblick gab ihm noch einmal die Kraft zu einem letzten Aufbäumen. Beide Fäuste rammte er in den Leib seines Gegners, der es auf sein Blut abgesehen hatte. Aber es war, als grabe er seine Fäuste in einen Vorhang, hinter dem sich nichts befindet. Dem darauf folgenden Angriff des Vampirs begegnete er, indem er sich mit den Händen an der Mauer abstützte. Doch da waren ihm schon die zwei langen blutigen Zähne sehr nahe. In seinem Kopf machte sich die große Leere breit, er konnte nicht mehr denken, kaum noch etwas fühlen. Seine Finger verkrallten sich in die Unebenheiten des Felsgesteins in seinem Rücken. Das leise Klicken drang nicht an seine Ohren, in denen es rauschte und dröhnte, er fühlte nur, wie er hintenüber kippte, in ein Nichts fiel, bis sein Hinterkopf auf hartes Gestein aufschlug. Der ihn durchzuckende Schmerz zerriss den Schleier, der sich über sein Denken ausgebreitet hatte und ließ ihn wieder handlungsfähig werden. Ein Geheimverschluß hatte sich gelöst, und er war durch das entstandene Loch gefallen. Ein Wunder. Mit Hilfe seiner Hände stützte er sich auf, und da packte ihn der Ekel und das kalte Grauen, fühlte er doch einen mit verschrumpfter Haut überzogenen Schädel einer Leiche. Und aus dem Nebenraum drang das wimmernde Geheul des Vampirs, der veitstanzartige Sprünge vollführte. »Er hat meine 74 �
Mutter entdeckt«, schrie er, und dann war nur noch das schlürfende Geräusch knöcherner Füße zu vernehmen, die sich nach und nach entfernten. Mr. Withers holte sich seine Taschenlampe und betrachtete dann die Leiche genau. Dem Gesicht konnte er nicht ansehen, daß sie einmal eine schöne Frau gewesen war, nur der Kleidung und dem Schmuck nach zu urteilen, mußte sie sehr auf Etikette gehalten haben. Eine schreckliche Frage drängte sich auf: war auch sie ein Vampir? Er wollte nichts mehr sehen und hören, benutzte die kleine Wendeltreppe, die aus dem Raum nach oben führte, in einen Gang mündete, der nicht so verfallen war. Am Ende befand sich eine Falltür, die zu öffnen ihm nicht schwer fiel. Das Wundern hatte er sich in den wenigen Tagen, die er auf der Burg verbrachte, längst abgewöhnt, und er war kaum erstaunt, sich im Hof der Kapelle wieder zu finden. * Nick Harper kam mit dem Jeep zurück, den er geholt hatte, mit einer Stange Dynamit in der Tasche, die er dazu benutzt hatte, den vom Regen freigeschwemmten Eingang zu dem unterirdischen Labyrinth zuzusprengen. Keiner konnte ihn mehr benutzen. Die hinein wollten, mußten draußen bleiben und die, die drinnen waren, konnten nicht mehr heraus. Zusammen mit den zwei Skeletten aus der Kapelle, begrub er die Tote aus dem Moor im parkähnlichen Garten. Der noch immer niederpeitschende Regen konnte ihn davon nicht abhalten. Würde er auch weitergegraben haben, wenn er gesehen hätte, wie sich am Ende des Parkes die steinerne Grabplatte anhob und zwei bleiche Hände zum Vorschein kamen, auf deren Rücken 75 �
blaue Adern verliefen, denen ein noch bleicheres Gesicht folgte, starr und ausdruckslos, in dem nur die Augen funkelten und aufmerksam sein Tun beobachteten? Er wußte nichts davon und tat den letzten Spatenstich. Sein kurzes Gebet ging unter im Donner, dem lange zuckende Blitze folgten und das nötige Licht für diese einmalige Beerdigung spendeten. Während Nick Harper die schwere nasse Erde zurückschaufelte, schloß sich wieder lautlos die Grabplatte. Eine Hand ragte noch heraus, geballt, und drohte dem einsamen Mann, der eine schwere Christenpflicht erfüllte. * Alle Menschen, die sich auf der Burg befanden, beorderte Nick Harper in den Ahnensaal, wo sie sich zwanglos um den Tisch gruppierten, an dem schon waffenklirrende Ritter gesessen hatten. Kriegsrat wurde abgehalten, und jeder gab sein Wissen um die Vorfälle preis. Nick Harper ergriff die Initiative und sagte mit tiefer, rauer Stimme: »Fassen wir zusammen, in Stichworten selbstverständlich. Den Fluch, der auf dieser Burg lastet, hat einer der Vorfahren verursacht, der sich in einen weiblichen Vampir verliebte und von diesem wiedergeliebt wurde. Sein Vater ließ ihn auspeitschen und außer Landes verweisen. Doch es war schon zu spät, die Rache der Blutsauger geißelte Burg und Umgebung. Bis heute! Die Burgherren, ihre Frauen und Kinder, kamen dadurch ums Leben, ausgesaugt von Vampiren. Gefunden hat sie bis heute keiner und wenn, dann flüchtete man vor Furcht. Well, Ihnen, Sam, sagte der Geist des Ruby Watford, daß man zwei Dinge wissen und besitzen müsse, um den Bann zu brechen. Ich frage, was das wohl sein könnte?« 76 �
Mr. Withers zischte einen Fluch durch die Zähne, rammte sich eine Zigarre in den Mund und begann aufgeregt zu paffen. Sein breites Gesicht hatte eine blaurote Farbe angenommen. »Vielleicht kann uns Daisy etwas sagen«, meinte er rau und richtete den Blick auf seine Tochter. Daisys rassiges Gesicht wirkte blaß, aber gefaßt. Sie nickte, wobei ihr langes rotbraunes Haar in Bewegung geriet, bevor sie nachdenklich sagte: »In den alten Aufzeichnungen las ich, daß die Großmutter der Zwillingsbrüder, Ruby und Kane, die Dinge besessen hat.« »Na und?« fragte Mrs. Withers. »Warum brachte diese Großmutter die Dinge nicht in Anwendung, wie?« »Weil sie es nicht übers Herz brachte, ihren Kindern und Enkeln weh zu tun«, erklärte Daisy. »Na, was sind das denn für Dinge?« wollte bauernschlau Joe der Dorftrottel wissen, der dümmlich grinsend in die Runde blickte. »Das ist ja der Haken an der Sache«, bemerkte Daisy nervös. »Man schreibt von den Dingen, ohne sie beim Namen zu nennen, als wäre die bloße Erwähnung schon ein Verbrechen.« Nick Harper stellte eine sachliche Frage: »Daisy, du warst in dem unterirdischen Gemach dieser Großmutter und sagtest uns, daß dort sogar die Möbel erhalten geblieben sind…« »Und daß mich eine eiskalte Hand packte.« »Okay, Baby, aber was fandest du in den Schubfächern?« Daisys Antwort befriedigte ihn nicht. »Nach dem Abendbrot gehe ich runter und sehe selbst nach«, erklärte er und ließ sich auf keine Diskussion mehr ein. Vier Kerzen brannten, warfen flackernden Schein auf das Bücherregal in der Bibliothek, das vor dem geheimen Zugang stand und als Tür diente. Draußen heulte der Wind um die 77 �
Gebäude, und ein neues Gewitter tobte, dessen grelle Blitze sich im Fensterglas widerspiegelten. Das Fenster ließ sich nicht mehr öffnen, sein Holzrahmen war verquollen. Und doch klirrte und krachte es in dieser Nacht, genau wie die dunkelgebeizten Balken ächzten, die sich in der Decke der Bibliothek befanden. Umsonst mühte sich Nick Harper, den Geheimverschluß zu öffnen. Er fühlte wohl die Unebenheit an der Rückwand des Regals, das sich aber nicht drehen wollte. Daisy trat hinzu, faßte einmal hin – und schon bewegte sich knarrend das Regal, gab den dunklen Schlund frei, aus dem Zugluft wehte und die Anwesenden schauern ließ. Daisy und ihr Vater traten zurück und nahmen in den geschnitzten Sesseln Platz, um die Rückkehr Nick Harpers abzuwarten, der unbedingt allein gehen wollte. Er ging genau zwei Schritte, da schloß sich die Geheimtür von selbst, fiel mit einem lauten Knacken zurück ins Schloß, das sich nur durch Daisys Hände öffnen ließ. Verwundert blickte er sich um, wurde aber sofort von einer zynischen Stimme herumgerissen, die hohnvoll sagte: »Noch ein Erdenwurm, der Geheimnisse, die nur uns Watfords etwas angehen, ergründen will. Der König sprach nur von einem Erdenwurm, mir scheint, er hat sich täuschen lassen.« Kein anderer als Kane Watford, der Zwillingsbruder von Ruby, versperrte Nick Harper den Weg, Dem Detektiv war dieser Kerl nicht fremd, zumindest wußte er von ihm. aus den alten Handschriften, daß er nicht ganz richtig im Kopf gewesen war. Alice, die Zofe, kannte ihn besser. Aber Alice war tot. Über der Schläfe des Kane Watford klaffte das Loch, und sein Gesicht beherrschte ein hungriger Ausdruck, der fast gierig anmutete, als sich die schmalen Lippen auseinander rissen und lange spitze Zähne zum Vorschein kamen. In der Hand hielt er einen langen Jagdspieß, den er ohne Vorwarnung vorschnellen ließ. 78 �
Mit einem schnellen Sprung warf sich Nick Harper zur Seite, und noch im Fallen riß er seinen Revolver hervor, zielte genau und jagte drei Schüsse auf die Stelle, wo jedem das Herz klopft. Drei Löcher, eng nebeneinander, rissen die Kugeln in den dunkelgrünen Samtwamst und hätten unter normalen Umständen jedes Herz zerrissen. Kane Watford besaß kein Herz, und er lachte nur noch zynischer und kam näher, bis sein Lachen abbrach, das Leuchten seiner Augen stärker wurde, und er die Zähne zum Biss entblößte. Da sprang die Geheimtür auf, geöffnet von Daisy, die das Grollen der Schüsse vernommen hatte. Sie glaubte Ruby Watford vor sich und sagte deshalb empört: »Wie kann ein Edler wie du…« Da wandte sich Kane um, und ein breites Grinsen zog über sein bleiches, ausgemergeltes Gesicht, auf dessen Stirn das tiefe Loch klaffte. »Dich nochmals zu sehen, hätte ich nie erwartet, Rosalinde. Ha, ha, du wolltest uns Watfords retten und fingst ausgerechnet mit mir an. In dem ausgetrockneten Burggraben beschäftigte ich mich mit deinem Körper, so sehr du dich auch wehrtest, und dann öffnete ich deine Schlagader mit einem einzigen Biss. Dein Blut schmeckte süß, Rosalinde. Zwei Tage später war von dir nichts mehr vorhanden. Ich hörte in jenen Nächten die Wölfe heulen. Weiß Ruby, daß du zurückgekommen bist?« Nick Harper nutzte die Chance und sprang auf die Beine. Er liebte Daisy wie nur ein Mann eine Frau lieben kann. Er drehte den Revolver herum und hieb mit dem Kolben auf den Schädel des sonderbaren Geistes ein, der ein langes, unverständliches Gespräch mit Daisy führte. Knochensplitter flogen ihm um die Ohren, in die jämmerliches Geheul drang. Kane Watford, der Irrsinnige, rannte schreiend davon, wurde von der Dunkelheit des Ganges aufgesaugt. 79 �
Daisy lag schluchzend in Nick Harpers Armen, der sie beruhigend streichelte und mit besänftigenden Worten tröstete. Wenige Schritte von den beiden Liebenden entfernt, erschien das bläuliche Leuchten in der Wand, aus der kurz darauf der Ritter in der silbernen Rüstung trat. Seine Schritte knallten auf dem steinernen Boden und seine Rüstung klirrte bei jedem Schritt. Die Geräusche ließen die Liebenden auseinander fahren. »Du, in den Armen eines anderen?« Des Ritters Stimme klang nicht mehr ganz so hohl und unwirklich. »Oh, Ruby, gut daß du gekommen bist, dein Bruder wollte…« »Schweig!« Daisys Hand fuhr unwillkürlich hoch zum Mund. Sie schwieg in banger Erwartung, denn so hart sprach der Ritter noch nie zu ihr. Eine unmögliche Situation, aber Ruby Watford schien eifersüchtig zu sein. Und da fielen ihr auch die alten Sagen ein: sein Vater sollte hinter Rosalinde hergewesen sein, weshalb er ihn umbrachte. Kane, sein Bruder, der vor wenigen Minuten den Mord an Rosalinde gestanden hatte, erschlug ein Pferd… Sie hielt den Atem an, wobei ihre Hand, in einer unbewußten Reaktion, den Arm von Nick Harper umkrampfte. Das gegenseitige Belauern hielt an. Es war ein Spiel der Nerven, und es zeigte sich, daß auch Geister und Vampire mehr oder weniger Nerven besaßen, brach doch der Ritter zuerst das Schweigen. »Warum betrügst du mich, Rosalinde?« fragte er drohend. Sie faßte sich ein Herz, trat nah an die Spukgestalt heran, bis sie den feuchten Hauch des Nebels verspürte, der diese umgab. Trotzig hob sie den Kopf und blickte mitten hinein in das bläuliche Flimmern der Augen und sagte mit leiser, sanfter Stimme: »Ruby, ich bin nicht deine Rosalinde.« Als habe ihn ein Schlag getroffen, wich der Ritter zurück und griff zum Schwert, mit zusammengepressten Lippen und zorn80 �
funkelnden Augen. Besänftigend hob Daisy die Hände hoch, hielt ihm die Innenhandflächen entgegen, wobei sie mit trauriger Stimme zu erklären begann: »Kane sagte uns eben, er habe deine Rosalinde getötet und sie im ausgetrockneten Burggraben liegengelassen, wo sie von Wölfen geholt wurde.« Ein furchtbarer Schrei brach über die Lippen des Ritters, der zu schwanken begann und mit gräßlich entstelltem Gesicht, das keine Menschenähnlichkeit mehr besaß, Landsknechtsflüche von sich gab. Doch bevor er gänzlich vom Zorn überwältigt wurde, fragte er barsch: »Wer bist du, die Rosalinde so ähnlich sieht?« Daisy gab Auskunft, so lächerlich es auch scheinen mag, einem Geist Rede und Antwort zu stehen. Und sie schloß mit den Worten: »… ich möchte helfen, den Fluch zu bannen, der auf dem Geschlecht der Watford: lastet. Gestatte mir, das Gemach deiner Großmutter aufzusuchen, die das Geheimnis kannte, es aber mit ins Grab nahm, weil sie euch nicht weh tun konnte.« Sie sprach und sprach, bis Nick Harper sie von hinten umfasste. »Genug, Liebling, dein Geist hat sich verflüchtet.« Da wachte sie aus dem tranceähnlichen Zustand auf, in den sie die Angst getrieben hatte. Wirklich, der Geist des Ruby Watford hatte sich wortlos entfernt. »Diesen linken Freier bist du los«, scherzte Nick Harper und drängte auf Beeilung, wollte er doch die Aktion beendet wissen, wenn die Kapellenuhr Mitternacht schlug. Daisy folgte ihm. In ihrem Herzen verspürte sie kleine Stiche. Ruby Watford, der unglückliche Ritter, tat ihr von Herzen leid, hatte er doch alles verloren, was er einmal geliebt hatte. Und nicht einmal seine Seele hatte Ruhe gefunden. 81 �
Das Wappen kam in Sicht, war aber diesmal von dem bläulichen Schimmer umgeben, der immer dann erschien, wenn ein Geist oder Vampir sich näherte. Abwartend verhielten sie und lauschten in die Finsternis, die sich vor ihnen auftat. Vorsorglich schob er Daisy zurück und baute sich schützend vor ihr auf. Dann griff er nach dem steinernen Knochen, der als Klinke für die Geheimtür fungierte. Zu sehen war nichts, aber er fühlte die eiskalte Totenhand, die sein Gelenk um klammerte. Das Knacken der Tür mischte sich mit dem saugenden Geräusch, mit der sie sich öffnete. Nick Harper wurde mitgezogen, konnte sich aus dem eisernen Griff der kalten Hand nicht befreien. Sein Atemholen war ein scharfes Zischen. »Daisy, mich hält jemand fest.« Ihre Hand suchte unbewußt seine Schulter. Er fühlte, wie sich ihre Finger verkrampften. Sie war nervös, wegen der im Raum hängenden Feindseligkeit. Als sie ihre Fassung wieder gefunden hatte, sagte sie mit spröder Stimme: Nick, ich möchte dir gern helfen.« Verkrampft lächelte er ihr zu, als ihre weichen Fingerspitzen über seinen Handrücken streichelten und sich mehr und mehr dem Gelenk näherten. Auf einmal fühlte er sich frei und konnte seine Hand von dem steinernen Knochen lösen. »Oh, Liebling«, stöhnte er. »Ich glaube, du bist eine Heilige.« Sie gab ihm einen flüchtigen Kuss, mit leichter Röte im Gesicht. Er aber riß sie in die Arme und küsste sie lang und anhaltend, allen Geistern zum Trotz. Atemringend keuchte sie: »Nick, so ein Kuss, hier im Reich der Geister und Vampire.« Er verkniff sich ein Lachen. »Du kennst mich doch. Mit Kleinigkeiten gebe ich mich nicht ab.« »Es war die Großmutter, die dich festgehalten hatte, Nick. Sie will nicht, daß wir ihren Leuten etwas antun.« Er knurrte nur. »Sollen wir uns von denen umbringen lassen, 82 �
einer nach dem anderen?« Im Gemach angekommen, öffnete Nick Harper alle Schübe und Fächer, holte jeden einzelnen Gegenstand hervor. Sorgfältig betrachtete und untersuchte er die Funde. Nach einer reichlichen Stunde war er fertig. Fast wütend blickte er sich um und wollte nicht wahrhaben, vergeblich dieses geheime Gemach aufgesucht zu haben. Fahrig zündete er zwei Zigaretten an und steckte eine davon zwischen Daisys volle Lippen. Schweigend wurde geraucht. Dabei stellte er fest, welche ausgezeichneten Baumeister am Werk gewesen waren, die ein vorzügliches Belüftungssystem eingeplant hatten, ohne technische oder elektrische Hilfsmittel. Daisy sah ihn von unten herauf an, müde und resigniert. »Aus, nicht wahr?« Er trat die Kippe aus und straffte seine Schultern. »Aufgeben gibt es nicht«, sagte er stur und es sollte leicht und lässig klingen, was ihm aber völlig mißlang. Ihr trauriges Kopfschütteln gab ihm den Rest. Schon im Begriff zu gehen, wandte er sich nochmals um und ging auf den Schreibschrein zu, dessen oberste Schublade er herauszog und den Inhalt nochmals ausschüttete. Mehrere lange goldene Nägel kollerten herunter, kamen mit leise singendem Ton auf dem steinernen Fußboden zur Ruhe. Er bückte sich, hob sie auf und legte sie zu den anderen, die er noch gefunden hatte. Dreißig Nägel lagen vor ihm, jeder zwölf Zoll lang und mit dicken platten Köpfen versehen, in denen das heilige Kreuz eingraviert war. »Nick, lass uns gehen«, bat Daisy, von einem eigenartigen Gefühl befallen, das zu beschreiben ihr unmöglich war. Angst beherrschte sie nicht, höchstens ein bißchen Grauen und Ehrfurcht, wofür sie keine Erklärung fand. »No«, stieß er unwillig hervor und untersuchte die Nägel auf 83 �
das genaueste. Völlig perplex steigerte sich seine Stimme. »Gold, pures Gold, Liebling. Schau dir das an!« Sie bewegte sich nicht und betrachtete mit verschleiertem Blick die dreißig Nägel aus purem Gold. Tief in ihrem Inneren begann ein kleines Feuer zu brennen, das hoch aufloderte, als sie die ihr gekommene Idee in Worte fassen konnte. »Sind sie wirklich aus purem Gold, Nick?« »Wenn ich es dir sage, Kind.« »Nick.« Ihre Stimme klang fast feierlich. »In der Zeit der Ritter wurde Gold fast ausschließlich für Schmuck und für rituale Zwecke benutzt.« »Oh, ich weiß«, lachte er. »Zum Beispiel für heilige Figuren, wie oben in der Kapelle.« Aber plötzlich wurde auch sein Gesichtsausdruck ernst. Der Gedanke, der ihm gekommen war, und der sich fest in sein Gehirn einfraß, erschreckte ihn sehr. Ohne noch ein Wort zu sprechen, bündelte er die Nägel und wickelte sie in sein Taschentuch, das er fest verknotete. Sie wollten das Gemach verlassen, hatten schon die steinerne Geheimtür erreicht, als die leise Stimme aus dem Nichts ihre Schritte bannte. »Jungfer Rosalinde, oder wer du auch sein magst, nie und nimmer wirst du es über dein Herz bringen, sie zu töten. Ich konnte es auch nicht. Gott möge es mir verzeihen.« Nick Harper schaute sich mit schnellen Blicken um und lauschte dem Klang der Stimme nach, die von überall zu kommen schien, was es ihm unmöglich machte, die Richtung zu bestimmen. Der angespannte und ebenso starke verbissene Ausdruck in seinem gebräunten Gesicht verriet seine innere Verfassung. In New York, von Gangstern gehasst wie gefürchtet, wußte er immer Mittel und Wege, die ihm aus der Klemme halfen. Doch hier und jetzt schien ihn sein Instinkt völlig zu verlassen. Tief beeindruckt von der sorgenvollen Stimme folgte er Daisy, der die blanken Tränen über die Wangen liefen. 84 �
Von der Kapelle her drangen zwölf Schläge. Mitternacht. Und alle saßen im Ahnensaal und redeten sich über das Rätsel um die dreißig goldenen Nägel die Köpfe heiß. Immer wieder schüttelte Nick Harper den Kopf, was ihm manchen ärgerlichen Blick einbrachte. Als er aber sah, wie Mr. Withers tief Luft holte, um ihm eine geharnischte Rede zu halten, setzte er seine Gedanken in Worte um. »Alles Stuss, Herrschaften. Tut mir leid. Aber ich meine, diese Nägel«, dabei ließ er einen davon durch seine Finger gleiten, »sind für einen ganz bestimmten Zweck geschmiedet worden, was schon das Kreuz auf den Köpfen andeutet.« »Klugscheißer«, wetterte Mr. Withers los, mit dessen Nerven es nicht mehr zum besten stand. »Über eine Stunde quasselt jeder von nichts anderem.« Er konnte den fragenden Ausdruck in ihren Gesichtern erkennen, und sein Lächeln fror ein, das bisher seine Lippen umspielt hatte. Plötzlich war allen, als drücke eine kalte Faust sie nieder. »Ich habe eine…« Schweiß tropfte von seiner Stirn, als er die Worte schwerfällig ausstieß. »Wir müssen die Toten finden und mit den geweihten Nägeln festnageln.« Das Gesprochene stand im Raum, schicksalsschwer, drohend, Grauen erweckend. Mrs. Withers schüttelte sich. Elsi, das jüngste Mädchen aus dem Dorf, rannte aus dem Raum und mußte sich draußen übergeben. Marie Seile, ihre Freundin, würgte keuchend und mit Entsetzen im Blick. »Tote nageln… Herr, vergib mir.« Zornig fuhr da Nick Harper dazwischen. »Mit Knoblauch und frommen Gebeten kann man keine Vampire töten, höchstens erschrecken. Ich bin felsenfest davon überzeugt, daß die Nägel nur zu diesem Zweck angefertigt wurden.« »Und geweiht«, sprach wie ein Gebet Elena March, die Köchin, 85 �
und bekreuzigte sich. Daisy hatte fiebrig glänzende Augen und hektische rote Flecken auf den Wangen. Die Idee ihres Geliebten jagte ihr heiße und kalte Schauer über den Rücken, und sie wußte mit plötzlicher Gewissheit, daß er recht hatte. »Dann fehlt noch eins«, sagte sie mit erstickender Stimme. Gedanken rasten durch die Köpfe, wurde verworfen und von neuem überdacht. Da erklärte Nick Harper mit ruhiger Sachlichkeit: »Ich kann mir nur vorstellen, daß man das goldene Kruzifix aus der Kapelle als Schutz dabeihaben muß. Zum Nageln werde ich das hölzerne Kreuz benutzen, das da über der Tür hängt. Es ist aus, Eichenholz und im Laufe der Zeit steinhart geworden.« Nach einer Pause, die er benutzte, um sich eine Zigarette anzuzünden, meinte er. »Ich gehe jetzt in die Kapelle und hole das Kruzifix.« Daisy klammerte sich an ihm fest, wollte ihn nicht in die stürmische Nacht hinausgehen lassen, bis er sie sanft abschüttelte. »Liebling, wenn ein Mann sich etwas vorgenommen hat, darf er sich durch nichts aufhalten lassen. Ich gehe jetzt!« Das öffnen der Kapellentür verlangte ihm seine ganze Kraft ab. Krachend fiel sie hinter ihm ins Schloß, vom Sturm gepeitscht. Der Weihwasserkessel fiel vom Haken, streifte beim Niederfallen seine Schulter. Er war hart und abgebrüht, aber diese kleinen Vorkommnisse begannen ihm allmählich an die Nerven zu gehen. Das Kruzifix, blankgeputzt von Elsi, spiegelte sich im Licht, das er mit der Taschenlampe auf den Altar warf. Fast konnte er es greifen da wuchs zwischen ihm und dem goldenen Kruzifix eine unheimliche Gestalt aus dem Boden. Er kannte sie aus Mr. Withers Erzählungen und fand dessen Beschreibung noch harmlos. Kein anderer, als der König der Vampire versperrte ihm den 86 �
Weg! Sein giftgrüner Umhang blähte sich in die Breite, an der es kein Vorbeikommen zu geben schien. Boshaft funkelte das Strahlen aus den toten Augenhöhlen. Und die zwei langen Zähne waren rot von Blut. Etwas wollte ihn lähmen, bewegungslos machen, und er fühlte die Starre, die von ihm Besitz ergriff. Wie eine Maus, die von einer Schlange hypnotisiert wird, dachte er und erinnerte sich daran, daß er gar keine Maus war. Da brach der Bann, und die Starre wich aus seinen Gliedern. Der Totenkopf röchelte, wobei der komische grüne Umhang in Wallungen geriet und Falten über Falten warf. »Schere dich weg, wenn du nicht sterben willst!« erklang es wie ein Befehl und war gleichzeitig Drohung. Nick Harper gab ein irres Lachen von sich und zog den Revolver. »Wenn du klappriges Gesell nicht Platz machst, schieße ich dir sämtliche Knochen in Fetzen, und wenn du mein Blut saugen willst, dann merke dir eines: es wird dir sauer aufstoßen.« Und voller Todesverachtung marschierte er los, genau auf den Vampir zu. Das Starre im Totenkopf blieb, tot und seelenlos, und es war mehr als grauenhaft, wie zwischen den blutigen Zähnen Worte hervorgequollen kamen, die in kicherndes Gelächter übergingen. Dann war Nick Harper heran und prallte gegen den giftgrünen Umhang, der hohl klappernd nachgab. Nicht aber die Knochenarme. Weiß leuchtend, wie von Rattenzähnen fein säuberlich abgenagt, kamen sie aus dem grünen Stoff hervor. Darauf hatte Nick gewartet und hob mit einer schnellen Bewegung den Revolver. Von der Hüfte aus schoß er und sah durch den Pulverdampf, wie zwei Finger abknickten. Die Schallwellen der Detonation, mußten die Glocken in Bewegung gesetzt haben. Sie fingen an, mit hellem Ton zu läuten, wurden immer lauter, bis es nur noch in den Ohren dröhnte. 87 �
Aber der Schrei des Vampirs übertönte den hellen Klang der Glocken. Wütend schlenkerte er seine knöcherne Hand, an der zwei Finger fehlten. Er bückte sich und hob die zwei abgeschossenen Finger auf und setzte sie an die Stümpfe, wo sie auch hängen blieben. Nick Harper traute seinen Augen nicht und starrte fassungslos auf die Hand, an der sich nun wieder fünf Finger bewegten, leicht gebogen und auf seinen Hals zuschießend. Da knirschte und knackte es im Gebälk des Glockenstuhls. Ein Laut ertönte, als wenn ein überspanntes Drahtseil reißt. Zuletzt krachte es nur noch und eine Glocke brach ab, stürzte nieder in die Tiefe. Einen scharfen Laut ausstoßend, hechtete Nick Harper zur Seite, konnte sich so von der niederstürzenden Last retten, lediglich ein gebrochener Querbalken streifte seine Schulter. Die Glocke aber, geweiht im Jahre 1388, begrub den Vampir unter sich. Als sie aufschlug, gab sie einen hallenden Ton von sich. Noch einmal davongekommen! Nick Harper klopfte sich den Staub vom Mantel, der sich mit Regenwasser vermischt hatte und eine schmierige Masse bildete, die er nicht entfernen konnte. Als sich der Staub in der Kapelle so weit gelegt hatte, daß er die nähere Umgebung erkennen konnte, trat er an den Altar und nahm das Kruzifix herunter. Der wütende heulende Ton ließ ihn erschauern. Vorsichtig schaute er seitlich über die Schulter. Was er zu sehen bekam, ließ sich sein Gesicht verhärten. Der Vampir kam unter der Glocke hervor, die ihn voll getroffen hatte. Nichts war ihm anzusehen, sogar das giftige Grün seines Umhanges leuchtete seltsam in dem dick mit Staub überpuderten Andachtsraum. Mit leeren Augenhöhlen starrte er auf die Glocke, wobei die blutigen Zähne vor rasender Wut länger zu werden schienen. Mit der linken Hand preßte sich Nick Harper das Kruzifix 88 �
gegen die Brust, lenkte mit der freien Hand den Strahl der Taschenlampe auf die Trümmer zu seinen Füßen und suchte sich einen Weg aus dem Gewirr. An der Tür angekommen, wandte er sich dem Vampir zu, der mit drohend emporgereckten Armen wild in der Luft herumfuchtelte. Ein hartes Grinsen spannte die Lippen des Detektivs, das etwa folgendes ausdrücken sollte: warte nur, deine Stunde hat bald geschlagen! * Die Luft war feucht und kalt, aber es regnete nicht, trotz der tief hängenden Wolken, die knapp über die Wehrtürme der Burg hinwegjagten, getrieben von einer frischen Brise. Die Finsternis der Nacht schwand dahin, verdrängt von der fahlen Blässe des neu heraufziehenden Tages, die alles in bizarre Formen verwandelte. Aufziehender Morgennebel tat ein übriges, die Landschaft in ein Geisterreich zu verwandeln. Es war die Stunde zwischen Nacht und Tag. Wellen plätscherten raunend, wenn vorsichtig die Ruder durch das Wasser glitten, durch das der spitze Bug eines Bootes geräuschlos glitt, nur als huschender Schatten im Nebel erkennbar. Enten quarrten unwillig und fühlten sich in ihrer Ruhe gestört. Sobald aber der Schatten des Bootes an ihnen vorbeigeglitten war, steckten sie die Köpfe wieder unter die Flügel. Anders zwei Möwen. Im gewagten Gleitflug stürzten sie sich immer wieder nieder, und ihr Gekreisch hallte weit über das Moor. Es hätte Warnung sein müssen, aber niemand achtete darauf, war es doch die Zeit des tiefsten Schlafes. Das Boot wurde von einer Gestalt gerudert, die sich kaum abhob von dem dunklen Holz der Bank, auf der sie saß und die Ruder bediente. Es mußte ihr große Anstrengung bereiten, das schwere Ruderboot geräuschlos über das Wasser zu bewegen, 89 �
wie keuchender Atem, ausgestoßen aus einem zahnlosen Mund verriet, der in der Kälte des Morgens zu Reif erstarrte. Ein Höcker hob sich ab und wippte auf und nieder, sobald die Ruder bedient wurden. Sand knirschte unter dem Bug, das Boot war aufgelaufen. Die bucklige Gestalt erhob sich und kletterte ans Land, verankerte das Boot mit einem Strick, den sie um einen Ast schlang. Mehrmals wurden die langen Arme ausgebreitet und wieder zusammengeschlagen, um die Kälte aus den erstarrten Fingern zu vertreiben. Ein leises Kichern erlaubte sich die in eine Kapuze gehüllte Gestalt, bevor sie zielstrebig auf eine Außenmauer der Wehranlage zuschritt. Es hatte den Anschein, als liefe sie tief gebückt wie ein Fährtenhund, mit dem Kopf nach unten. Aber das täuschte. Es war nur der große Höcker, der stark nach oben ragte. Vor der Mauer angekommen, brabbelte der zahnlose Mund etwas vor sich hin, während lange schmale Hände daran gingen, in einem bestimmten Rhythmus gegen einen Stein zu klopfen. Das klatschende Geräusch drang weit durch die Stille des erwachenden Morgens. Schlürfende Geräusche entstanden, der Stein begann sich zu bewegen, legte ein schwarzes Loch frei, aus dem zwei glühende Punkte reglos herausstarrten. Eine Stimme, wie aus tiefster Grabesgruft, ertönte: »Hast du mir welche mitgebracht, Rocco?« Rocco, der Krüppel aus dem Dorf, einziger Kenner des tückischen Moors, dienerte devot, wobei sein Höcker noch mehr zum Vorschein kam. »Ja, König, drei Stück bringe ich dir, frisch herausgerissen.« Umständlich kramte er dabei unter seiner Kapuze herum und zog einen runden metallenen Behälter hervor, dessen Drehverschluß er öffnete. Das Gewinde quietschte schrill, und er zuckte zusammen, sah sich lauernd um. Als sich nichts in der 90 �
näheren Umgebung regte, öffnete er die Dose vollends. Im grauen Schimmer des Morgens sah das Blut seltsam rot und glänzend aus, inmitten der drei Herzen, und erweckte durch die unruhige Hand den Anschein, als zuckten die Herzen noch. Aus dem finsteren Loch griffen gierige Knochenhände heraus, erreichten aber die Dose mit dem begehrten Inhalt nicht. Da kam er selbst zum Vorschein, der König der Vampire, umwallt von dem giftgrünen Umhang, der ihm die Würde eines Königs verlieh. Mit drei Fingerspitzen griff er sich eines der Herzen und schob es zwischen die zwei blutroten Zähne. Seine tote Mundhöhle bewegte sich nicht, aber er schmatzte und schlürfte voller Behagen. Nachdem er das dritte Herz verschlungen hatte, entriss er Rocco die Dose und trank das Blut in einem Zug leer. Als er die Dose zurückgab, sagte er wohlgefällig: »Das tat gut, mein treuer Diener. Kinderherzen esse ich am liebsten, sie sind zart und schmecken süß.« Rocco verbeugte sich, um das Grinsen zu verbergen, das über sein hässliches Gesicht huschte. Kichernd dachte er: Dummkopf, wenn du wüsstest, daß ich dir immer nur Herzen von Wildkaninchen bringe. Aber mit unterwürfiger Stimme bat er: »König, du versprachst, mich heute in das Innere der Burg mitzunehmen, wo ich mir ein Mädchen aussuchen darf. Es wird bald hell, wir müssen uns beeilen, sonst wachen sie auf, die Süßen.« Der Totenkopf ruckte herum. »Gut, ich halte mein Versprechen, aber nur einmal, Rocco, danach gehört das Mädchen mir, so war es abgemacht.« »Ja.« Rocco stöhnte vor Ungeduld und folgte dem Vampir mit schlurfenden Schritten. Tiefschwarze Finsternis herrschte in den Gängen, und Rocco diente nur das Leuchten der toten Augenhöhlen und der Modergeruch des giftgrünen Umhanges zur Orientierung. 91 �
Marie Seiler kuschelte sich im Bett zusammen, genoß die mollige Wärme und schloß die Augen. Das unbestimmte Geräusch schreckte sie wieder hoch. Jetzt war Angst in ihr, die sich aber schnell verflüchtete, als sie daran dachte, daß ja die stabile Tür verschlossen war, extra mit einem Riegel, den Joe angebracht hatte. Sicherheitshalber warf sie einen Blick darauf und fuhr kerzengerade hoch, saß aufrecht im Bett und fühlte, wie die Kälte ihre Glieder steif werden ließ. Im Zimmer stand Rocco, der Krüppel, seine Frettchenaugen lüstern auf das Nachthemd gerichtet, das sich über stramme Brüste spannte. Seinem zahnlosen Mund entrang sich ein schnalzender Laut. Langsam kam er auf das Bett zugetappt, sich dabei die Kapuze abstreifend. Endlich überwand das Mädchen seinen Schreck und öffnete den Mund zum Schrei, brachte aber nur ein Gurgeln heraus, da ihr die langen, schmalen Hände des Krüppels die Lippen zusammenpressten. Mit brutaler Gewalt drückte er die sich heftig Sträubende in die Kissen nieder und riß ihr vorn das Nachthemd kaputt. Es war erstaunlich, welch eine Kraft in dem kleinen, verkrüppelten Körper steckte. Marie Seiler hatte keine Chance. Noch vom Entsetzen geschüttelt, was ihr widerfahren war, mußte Marie Seiler mit ansehen, wie der Vampir im giftgrünen Umhang durch die festgeschlossene Tür trat, als wäre keine vorhanden. Und genauso schnell kam er ans Bett und umkrampfte ihre Schultern mit seinen Knochenhänden, gegen die es für ein Mädchen kein Wehren gab. Fast schon tot vor Angst, sah sie den Totenkopf nah vor ihrem Gesicht auftauchen und schrie erstickt auf, als sie die blutigen Zähne zu sehen bekam, die sich wenig später schmerzhaft in ihren Hals bohrten. Noch einmal bäumte sie sich auf, um dann apathisch alles über sich ergehen zu lassen, bis ihr die Sinne zu schwinden begannen. Rocco, der Krüppel, hüpfte vor perverser Freude von einem 92 �
Bein auf das andere. Er tanzte noch, als er längst allein war mit der Toten, die er dann zu streicheln begann. »Moormädchen, schönes Moormädchen«, sang er dazu, wobei sich sein abstoßend hässliches Gesicht in Verzückung verzog. Erst sah es wie Rauchwölkchen aus, wurde immer größer, bis die eine Zimmerecke in Nebel gehüllt war, der bläuliches Leuchten annahm. Rocco, der dem König der Vampire treu diente, schien die Erscheinung nicht zu kennen. Voller Neugier schaute er zu, wie sich aus dem leuchtenden Nebel der Ritter in der silbernen Rüstung schälte. Da klatschte er wie ein Kind in die Hände. Er setzte zum Sprechen an, doch die Worte blieben ihm im Hals stecken. Der Ritter zog sein Schwert blank, kam mit grimmigen Gesicht auf ihn zu und sagte mit unheimlich klingender Stimme: »Endlich habe ich dich erwischt, Verruchter. Niemals mehr wirst du unschuldige Mädchen anfallen, wenn sie in der Nähe des Moors Blumen pflücken, das schwöre ich dir bei meiner Ehre.« Voller Angst versuchte Rocco auszuweichen – aber das Schwert pfiff erbarmungslos durch die Luft, trennte sein Haupt mit einem einzigen Streich vom Rumpf. Nick Harper, alarmiert von der Köchin, versuchte mit Anstemmen seiner Schulter, die Kammertür zu öffnen. Vergeblich. Er ließ Joe, den Dorftrottel, mit einer Axt kommen und diesen die Tür einschlagen. Mit einem einzigen Blick erfasste er die Situation: Marie lag im Bett, weiß wie das Laken. Die zwei Punkte an ihrem Hals sagten alles. Für sie kam jede Hilfe zu spät. Nur der kopflose Körper des Krüppels gab Rätsel auf, die zu lösen keiner imstande war, auch nicht, als Mr. Withers sich bückte und den abgetrennten, blumigen Schädel unter dem Bett hervorzog, wohin er gekollert war. Roccos Tod wird ewig ein Geheimnis 93 �
bleiben, wie vieles andere in dieser Burg des Grauens. * Joe, der Dorftrottel, spielte mit der Axt herum und schlug mit der scharfen Schneide gegen die hölzerne Wandverkleidung des Ganges. Plötzlich sprang eine schmale Tür auf, die niemand an dieser Stelle vermutet hätte. Es war reiner Zufall, daß der Geheimgang entdeckt wurde, den die drei weiblichen Mumien, mit Alice der Zofe, benutzt hatten, um in das unterirdische Labyrinth der Burg zu gelangen. Nick Harper entdeckte die Fußabdrücke im Staub und wurde von einer starken Erregung gepackt. Unter Profis sagt man Jagdfieber dazu; die Spur war heiß geworden. Er rannte in sein Zimmer und holte sich die nötigen Utensilien, zu denen auch ein Teil der goldenen Nägel, das ebenfalls aus Gold bestehende Kruzifix und das aus Eichenholz geschnitzte Kreuz gehörten. Sein Instinkt sagte ihm, was er zu erwarten hatte. Die zwei Mädchen aus dem Dorf knieten nieder und begannen laut zu beten, als der Detektiv den Geheimgang betrat. »Mich mitnehmen, Sir«, bat da Joe und schulterte die Axt. »Ich habe keine Angst vor bösen Geistern«, lachte er und kniff dabei der Köchin in das Hinterteil. Es war sehr einfach, den Spuren im tiefen Staub zu folgen. Nur konnte sich Nick Harper keinen rechten Reim auf zwei Dinge machen. Einmal waren nur Alices Fußabdrücke zu sehen und zum anderen wunderte er sich, warum die Zofe sich auf der Erde gewälzt hatte, was deutlich zu erkennen war. »Geister, Sir«, sagte Joe und grinste wieder dümmlich. »Ganz so blöd scheinst du mir doch nicht zu sein«, erwiderte der Detektiv und klopfte Joe auf die Schulter. Dieser packte die Axt, umklammerte deren Stiel mit seinen 94 �
starken Händen und meinte mit rollenden Augen: »Ich bin gut, Sir. Sollen die Geister nur kommen.« Ihr schnelles Vordringen fand ein jähes Ende, als sie das Einstiegsloch erreichten, dessen vermoderte Leiter in die Brüche gegangen war. Mit Hilfe seiner Taschenlampe leuchtete Nick Harper die Tiefe aus, sah den dicken Schimmelpilz und die darin deutlich sichtbaren Spuren. Kurz entschlossen sprang er in das Ungewisse. Heil angekommen, leuchtete er Joe, der etwas zögernd folgte. An den vorhandenen Spuren sah Nick Harper, wohin sich Alice zuerst gewandt hatte. Mit der nötigen Vorsicht folgte er ihnen. Irgendwo platschte in regelmäßigen Abständen ein Wassertropfen auf Felsgestein. Ratten huschten quieksend davon, wenn der Lichtstrahl sie traf, wie eben wieder. Aber da blitzte es silbrig auf, und eine Ratte quiekste zum letzten Mal, bevor die scharfe Schneide der Axt sie teilte, die Joe geworfen hatte. Wenige Schritte weiter verhielten sie und starrten stumm in die verrottete Grabkammer in deren Mitte der metallene Sarg stand und vor dem Alices Fußspuren endeten. Joe faßte sich zuerst und betrat das Gewölbe, mit vorgehaltener Axt. Seine Taschenlampe, auf die er mächtig stolz war, richtete er so, daß die Verzierungen des Sarges erkennbar wurden. Vom Eingang her drang ein Schnauben, ausgestoßen von Nick Harper, der nun neugierig näher kam und sich niederkniete, um die Verzierungen besser er kennen zu können. Ein mittelalterlicher Künstler hatte Figuren in den Zink gegraben, die bildhaft das Leben und den Tod des Kane Watford darstellten. Nachdenklich stimmten die vielen Mädchen, deren Existenz sich der Detektiv nicht erklären konnte, bis er am Kopfende des Sarges die Schriftzüge halbwegs entzifferte, die da von Kane Watfords unseligen Blutdurst berichteten. Nick Harper wich einen halben Schritt zurück. Ein eisiger 95 �
Schauer jagte seinen Rücken hinunter. In der Totengruft begann es sich zu regen. Gespenstische Kräfte erwachten zum Leben. Zuerst glaubte er, einer Sinnestäuschung verfallen zu sein, aber dann sah er, wie sich langsam und stetig der Sargdeckel anhob. Joe stand da, mit weit geöffnetem Mund und hervorquellenden Augen und stotterte: »Da, Sir, schauen Sie, aus dem Sarg will einer raus.« Endlich schien das Rädchen bei ihm eingerastet zu sein, denn er schrie aufgebracht: »Niemand kann aus einen Sarg kommen. Das hat mir der Pfarrer gesagt. Höchstens der Teufel kann es.« Und in blinder Wut packte er die Axt und wuchtete sie kraftvoll auf den sich bewegenden Sargdeckel. Es klang eigenartig, als der Stahl der Axt auf Zinn aufschlug. Höllenatem gleich drang aus dem Sarg ein tiefer Seufzer, und der Deckel wurde mit einem Ruck abgehoben und zur Seite geschleudert. Kane Watford richtete sich sitzend auf, und sein gellendes Gelächter brandete gegen die Mauern des Gewölbes. »Ha, nun kommt man schon freiwillig zu mir, ohne daß sich meine Dienerinnen bemühen müssen.« Es knirschte gräßlich, als Joe, vor panischem Entsetzen, seine Axt warf, die den Mumienschädel des irren Kane Watford spaltete. Keiner kann sagen, wie dieser Geist reagiert hätte, wenn ihm Nick Harper die Zeit dazu gelassen hätte. So aber stürzte sich der Detektiv in wilder Verzweiflung, die an reine Notwehr grenzte, auf die Mumie und drückte sie mit dem eichenen Kreuz zurück in den Sarg. Vergeblich, die eingetrockneten Hände, fast schwarz anzusehen, umklammerten das hölzerne Kreuz, und Kane Watford versuchte mit aller Anstrengung, sich aufzurichten. »Joe, das Kruzifix«, schrie Nick Harper, den die Kräfte zu ver96 �
lassen drohten. »Großmutter konnte es nicht, weil ich sie darum bat, es nicht zu tun. Aber ihr wollt es tun und mich für immer töten, oh, ihr heidnischen Krieger«, wimmerte die Mumie, ohne in ihren Anstrengungen nachzulassen. Es war Glück und Fügung zugleich, daß Joe sofort richtig reagierte. Mit einem wahren Panthersatz stürzte er sich auf die Umhängetasche neben dem Sarg, die Nick Harper stehen gelassen hatte, als er sich die Bilder auf dem Sarg betrachtete. Mit fast ruhiger Gelassenheit holte Joe das Kruzifix und einen der goldenen Nägel hervor und näherte sich damit dem Sarg, aus dem immer stärker qualvolles Wimmern und Stöhnen drang. Kane Watford erblickte das Kruzifix und den geweihten goldenen Nagel und wußte, was die Stunde geschlagen hatte. Aus dem Spalt, der sich mitten durch sein Gesicht zog, geschlagen von Joes Axt, sickerten einige Blutstropfen, und er bäumte sich mit letzter Kraft auf, versuchte seinem endgültigen Schicksal durch eine neue Bluttat zu entrinnen. »Knall ihm das Kruzifix vor den Schädel, Joe, oder er macht mich fertig«, keuchte Nick Harper, dem der blanke Schweiß von der Stirn rann, weil ihm alle Kräfte abverlangt wurden, die in ihm steckten. Joe knirschte mit den Zähnen. Gewisse Dinge wollten nicht in den dicken Bauernschädel rein. Er konnte nicht begreifen, wieso Tote aus ihrem Sarg heraus wollten. Und doch sah er, wie dieser Tote die Überhand gewann und den Detektiv arg in Bedrängnis brachte. Einer inneren Eingebung nachkommend, handelte er im allerletzten Augenblick und schlug mit dem Kruzifix zu. Es geschah fast alles gleichzeitig. Der von der Axt getroffene Schädel spaltete sich endgültig, und je eine Hälfte klappte links und rechts herunter, ein Anblick, zum Wahnsinnigwerden. Die Nick Harper umklammernden Hände wurden kraftlos und zer97 �
fielen in lauter Einzelteile, Knochen für Knochen, so, wie der ganze Körper in sich zusammensank. Das schöne grüne Gewand aus kostbarem Samt zerfiel zu Staub. »Den Nagel!« befahl Nick Harper und als er ihn erhielt, rammte er ihn mit der bloßen Faust in die morsche Brust des Kane Watford. Kräftig hieb er dann noch nachträglich mit dem eichenen Kreuz zu und trieb den Nagel Zentimeter für Zentimeter hinein, bis nur noch der breite Kopf mit dem eingravierten Kreuz zu sehen war. Als er sich müde aufrichtete, drang ein erlösender Seufzer an seine Ohren. Kane Watford war gestorben für immer. Gemeinsam mit Joe, paßte er den Deckel auf den Sarg und schlug über diesem ein Kreuz. Beim Verlassen der Grabkammer meinte er, noch erregt von den Erlebnissen: »Am liebsten würde ich die Grabkammer zusprengen, wäre nicht zu befürchten, daß uns der ganze Dreck auf unsere Schädel fällt.« Joe zog hörbar etwas die Nase hoch, um dann erlöst zu sagen: »Sie sind verdammt mutig, Sir.« Zwei Männern konnte es nicht schwer fallen, ohne Leiter das Einstiegsloch zu bezwingen. Der halbe Weg lag hinter ihnen, und sie hofften auf ein gefahrloses Ende. Weit gefehlt. Schluchzen und Heulen ließ sie erschrocken anhalten. Um sich besser nach dem Gehör orientieren zu können, wurden die Taschenlampen ausgeschaltet. Pechschwarz lastete die Dunkelheit in dem muffigen Gang, der vor Jahrhunderten oft benutzt wurde, für Liebe und Mord. Sich vollkommen sicher, knipste Nick Harper seine Lampe wieder an und ging einige Schritte zurück, wo er nochmals lauschend stehen blieb, um dann auf eine bestimmte Stelle in der Wand zu deuten. »Von da kommt es«, erklärte er mit absoluter Sicherheit und ließ sich von Joe die Axt geben. Gekonnt schlug 98 �
er den Mörtel aus den Fugen, die einen großen Stein umrahmten. Bei jedem Schlag, der schaurig in dem engen Gang widerhallte, verstummte für einen Moment das Schluchzen, um dann verstärkt einzusetzen. Die Schneide der Axt bekam Scharten, aber das kümmerte ihn nicht. Verbissen schlug er weiter drauflos. Nach einer halben Stunde ließ er sich von Joe ablösen. »Werden wir wieder eine verrückte Leiche finden, Sir?« fragte er, bevor er ausholte und losschlug, daß die Funken stoben. »Vermutlich«, gab Nick Harper geistesabwesend zurück, denn er beschäftigte sich mit dem Lageplan der Burg, den er beim Bürgermeister eingesehen hatte. Genau konnte er sich erinnern, daß in bestimmten Gängen Nischen vorhanden waren, in deren kühlen Steinschoß früher Lebensmittel frischgehalten wurden. Die Fugen waren sauber ausgeklopft und Joe benutzte nunmehr die Axt als Brecheisen und versuchte den Stein herauszubrechen, was nach einigen Mühen schließlich gelang. Polternd und krachend löste sich der Felsbrocken, riesige Staubfontänen aufwirbelnd. Das Wimmern und Weinen war nun deutlich zu hören, und es kam aus dem Loch, das der Stein verschlossen hatte. Eine Mumie mit angezogenen Beinen lag darin, bekleidet mit einem mittelalterlichen Nachthemd, wie es damals das weibliche Gesinde zu tragen pflegte. Die dünnen Knochenarme reckten sich in die Höhe und die Finger falteten sich wie zum Gebet. Nick Harper schluckte und schluckte, spuckte schließlich aus, um das Kratzen aus dem Hals zu bekommen. Dicke Schweißperlen bedeckten Stirn und Gesicht. Verkrampft umschloß seine Hand einen langen goldenen Nagel. »Sie weiß, daß sie nun sterben muß, endgültig«, murmelte er zwischen die zusammengepressten Zähne hindurch und hob das Kruzifix an. »Für die ewige Ruhe, Mädchen«, sagte er, wie um Entschuldigung bit99 �
tend, bevor er das Kruzifix in den Schoß der Mumie warf. Wider Erwarten fiel sie nicht in sich zusammen, behielt vielmehr ihre Haltung bei und faltete die Hände noch fester zusammen. Aber sie verstummte, stellte das wimmernde Geheul ein. Es gehörte mehr als bloße Selbstüberwindung dazu, den goldenen Nagel zwischen die Brüste der Mumie anzusetzen und ihn dann mit dem hölzernen Kreuz hineinzuschlagen. Leicht drang er ein, fast mühelos, und nur einmal unterbrach der Detektiv seine schaurige Arbeit, als die zum Gebet zusammengefalteten Hände der Mumie herunterfielen, Ekel, Mitleid und viele andere Gefühle stritten sich, als er den letzten Schlag ausführte und so die Tote festnagelte. Kein Seufzer war mehr zu hören, noch ein letztes Aufbäumen zu verspüren; sie schied dahin, froh darüber, nicht mehr umhergeistern zu müssen, um frisches Blut für Kane Watford zu besorgen. Die ausgestandenen Strapazen waren ihm deutlich anzusehen, als er im Hof der Kapelle aus der Erde gestiegen kam, gefolgt von Joe, der nur dümmlich vor sich hin grinste und mehr Schmerz für die deformierte Axt empfand, als über das Sterben der Mumien. Mitgenommen schlürfte Nick Harper den ihm kredenzten Brandy und spürte dabei mit feinen Sinnen, daß den ihm bekannten Familienmitgliedern etwas schwer unter die Haut gefahren sein mußte. Nachdem er sich eine Zigarette angebrannt hatte, fragte er direkt und unverblümt: »Was ist denn los? Zwei Geister habe ich bereits genagelt. Sagt bloß, es sind neue aufgetaucht?« Daisy schlüpfte auf seinen Schoß und kuschelte sich an seine Brust. Mit fliegender Stimme erklärte sie: »Aus dem kleinen Wäldchen vor der Zugbrücke dringen laufend Schreie, und, und…« »Was noch?« fragte der Detektiv mit gerunzelter Stirn, schon 100 �
ahnend, was kommen würde. »Im Burgherrenzimmer, da, da wimmert und röchelt es auch ganz schrecklich. Dad ist drüben und schießt mit seiner Pistole wild um sich.« Die Schüsse aus der schweren 45er vernahm Nick Harper erst, als er knapp vor der Tür stand, die er vorsichtig öffnete. »Sam, sind Sie verrückt geworden?« fauchte er, als der Angesprochene sogar auf ihn anlegte. Mr. Withers kantiges Gesicht entspannte sich, und er senkte die Pistole. »Hören Sie sich das an, Nick«, donnerte er mit seiner kräftigen Stimme los und deutete auf eine, von seinen Schüssen durchlöcherte Wandverkleidung, hinter der es immer noch wimmerte und stöhnte. Nick Harper kratzte sich hinter den Ohren und zog ein saures Gesicht. »Wieviel Frauen mag dieser Kane Watford umgebracht haben?« Mr. Withers Ton änderte sich sofort. »Wie soll ich das verstehen?« Unverwandt blickte er dabei auf die Stelle, aus der die klagenden Laute kamen. »Ganz einfach, Sam. Kane Watford existiert…« Bei der Nennung des Namens schrillten laute Schreie auf, die in ersticktes Schluchzen übergingen. »Watford, Watford…« Nick Harper nahm sich nun nicht die Zeit für lange Erklärungen, vielmehr schrie er nach Joe, daß dieser ihm eine neue Axt bringen sollte. Mit dem Kruzifix und einem goldenen Nagel in der Hand wartete er, bis ihm das gewünschte gebracht wurde. Sehr zum Erstaunen von Mr. Withers ging er daran, die hölzerne Wandverkleidung abzureißen, was in ihrer ganzen Länge geschah. Irgendwann mußte sie jemand provisorisch befestigt haben. Entgegen kollerte eine völlig verschrumpelte Mumie von so kleinen Ausmaßen, wie er noch nie eine zu sehen bekommen hatte. Es herrschte Dämmerlicht im Zimmer, der dicken Brokat101 �
gardinen wegen, die seit einem Menschenalter nicht mehr berührt worden waren. Und in dem diffusen Licht begann die Mumie zu strahlen, hellblau wie der Himmel bei Sonnenschein. Sie war unbekleidet. Lediglich ein Goldreif zierte ihren Oberarm. »Ich komme mir wie ein Henker vor«, ächzte Nick Harper kehlig, während er sich neben der Mumie hinkauerte. Mr. Withers nahm ihm das Kruzifix und den goldenen Nagel aus der Hand. Seine Stimme klang müde und gereizt. »Ich werde es tun, Nick.« Drei Löcher hatten die Pistolenkugeln in die Mumie gerissen und waren durchgedrungen. Neben solch einem Loch setzte Mr. Withers den goldenen Nagel an und hob das hölzerne Kreuz zum ersten Schlag. Schon als er die Spitze des Nagels auf den Leib setzte, war ihm, als ginge eine Bewegung durch den ausgetrockneten Körper, dessen Haut tiefbraun war und sich spröde wie Pergament anfasste. Doch nun, als er zum Schlag ausholte, hob sich der kleine, noch mit Haaren versehene Kopf und aus der bewegungslosen Mundhöhle kämen flüsternde Worte. »Ich habe gesündigt, aus Liebe und Angst. Lasset Gnade walten und nagelt mich nicht, übergebt mich bitte der heiligen Erde.« Keinen Laut brachte Mr. Withers über seine Lippen, lediglich ein Krächzen, als er sich steifbeinig erhob. Resigniert zuckte er mit den Schultern und sagte fast beschämt: »Ich kann nicht. Ich werde ihr den Wunsch erfüllen, ihren letzten, verstehen Sie, Nick.« Und ohne sich noch einmal umzublicken, verließ er das Zimmer. Als sich Nick Harper umwandte, war das Strahlen verschwunden, nur noch ein verschrumpelter, unansehnlicher Körper lag auf dem Fußboden. Aus einem Nebenzimmer holte er eine Decke und warf sie über die Mumie. Sorgfältig schloß er hinter sich ab. Sehr nachdenklich zündete er sich dann eine Zigarette an. 102 �
*
Alle, ohne Ausnahme, standen sie in dem kleinen Wäldchen vor der Zugbrücke, aus dem Wimmern und Schluchzen gehört worden war, das aber seit einer halben Stunde nicht mehr vernommen würde. Wind pfiff durch die Baumkronen, fing sich an der Wehrmauer, von der er heulend zurückgebraust kam. Die Wolken hingen noch sehr tief, und die Luft roch nach Regen. Es war ein Wetter, bei dem man keinen Hund vor die Tür jagt. Es war interessant zu sehen, wie alle dastanden. Die zwei Mädchen aus dem Dorf wirkten wie versteinert und sie vergaßen, sich zu bekreuzigen. David klammerte sich an seine Mutter, sein Gesicht in ihrem Mantel verborgen. Mrs. Withers selbst starrte nur aus leeren Augen, wogegen Daisy die Nähe von Nick Harper suchte, der seinen Arm um sie gelegt hielt. Eigenartig verkrampft, etwas nach vorn geneigt, stand Mr. Withers da und blickte auf den kräftigen Nacken von Joe, dessen Gesicht nicht zu erkennen war, wurde es doch von einem tief hängenden Ast verdeckt. Der Butler stand kerzengerade mit steinernem Gesicht da. * Zufällig sah Nick Harper in die Richtung, in der Mr. Withers stand und da erschrak er heftig. Langsam hob sich die Oberlippe des Ölmillionärs und legte eine Reihe weißer kräftiger Zähne frei. Von seinen Beobachtungen wurde er abgelenkt, ertönte doch in diesem Augenblick ein schriller Schrei, ausgestoßen von Mrs. Withers, aus der die Starre gewichen war. Ein Grab lag vor der erschreckten Versammlung, frisch ausgehoben und drinnen hockte der Totenkopf mit dem giftgrünen 103 �
Umhang, starrte hoch, mit blutigen Zähnen. Man war gekommen, um dem rätselhaften Wimmern nachzugehen und hatte gemeint, eine Leiche ausgraben zu müssen. Ein frisch geöffnetes Grab anzutreffen, damit hatte keiner gerechnet und schon gar nicht mit der Anwesenheit des Königs der Vampire. Der stieß seine knöchernen Arme vor und grollte mit einer Stimme, die an das Hecheln eines Hundes erinnerte. »Ihr habt welche von uns getötet und ihr wollt weiter töten, aber das lasse ich nicht zu. Diese Tote brachte ich schon in Sicherheit. Von nun ab werden wir euch töten. Die Burg gehört uns und niemand anders wird sie besitzen.« Nick Harper schob Daisy zur Seite und trat einen Schritt nach vorn. Unter seinem Mantel hervor brachte er das goldene Kruzifix. Da schrie Elsi, das fromme Mädchen aus dem Dorf: »Der Finger Gottes!« Und wirklich brach zwischen den tiefhängenden schwarzen Wolken ein Sonnenstrahl durch, traf das goldene Kruzifix in der Hand des Detektivs, und ließ es flimmernd aufleuchten. Nick Harper war gerade dabei, das Kruzifix nach dem Vampir zu werfen, um diesen auf der Stelle zu bannen, um ihn dann nageln zu können, denn eines stand für ihn fest: war einmal diese unheilige vorgeschichtliche Gestalt tot, verrottet und vermodert, würde es niemals mehr auf der Watfordburg spuken, und niemand brauchte dann mehr um sein Leben zu bangen. Ein fauchendes »Haaa« stieß der Totenkopf aus und hüllte sich fester in seinen grünen Umhang. Dann sank er in die Erde, als würde ihn das Moor verschlingen. Und die Erde schloß sich über ihn wie Wasser. Als das Kruzifix ins Grab flog, mit einem dumpfen Laut aufschlug, kreischte es hinter den entsetzt dastehenden Menschen auf. Alle riß es herum, und jeder sah den Totenkopf auf der Wehrmauer stehen, mit drohend emporger104 �
eckten Armen und wehendem Umhang. »Kanaille«, knirschte im ohnmächtigen Zorn Mr. Withers, riß die 45er aus dem Gürtelhalfter und schoß die Trommel leer, jede Kugel in den Leib des kreischenden Vampirs jagend. Aber dieser drohte noch einmal herüber und war plötzlich verschwunden. * Das verspätete Mittagessen wollte keinem schmecken. Mr. Withers holte den Brandy herbei und trank zwei Gläser leer, jedes in einem Zug. Mit müde schlurfenden Schritten verließ er das Speisezimmer, ohne ein Wort zu sagen. »Nick, kümmere dich bitte um Dad«, bat Daisy nach kurzer Zeit. Mit brennender Zigarette begann der Detektiv zu suchen. Er wollte erst drinnen zu Ende rauchen, aber eine innere Unruhe trieb ihn vorwärts. Im halbdunklen Flur konnte er Mr. Withers nicht entdecken, also begann er Tür für Tür abzuklappern und schaute in jedes Zimmer hinein. Allmählich begann sich seine Unruhe zu verstärken, fand er doch nur leere Räume vor und keine Spur von dem gesuchten. Hinter zwei Türen hatte er noch nicht geschaut. Die eine führte in den Ahnensaal, und er öffnete sie, wie alle anderen, ohne sich dabei etwas zu denken – und wäre fast in die zweiseitig geschliffene Klinge eines Schwertes gerannt, dessen Spitze auf seine Brust zielte. Er hatte plötzlich das sonderbare Gefühl, dem eigenen Tod ins Auge zu schauen. Es war nicht Ruby Watford, der vor ihm stand, sondern ein anderer Ritter, in gewöhnlicher, eisenklirrender Rüstung, aber mit heruntergeklapptem Visier, durch dessen Sehschlitz schwarze Augen funkelten. »Ich werd' verrückt«, entfuhr es ihm ungewollt, dachte er doch daran, daß nun alle Geister rebellisch geworden waren. Aber 105 �
nun hieß es, die Nerven zu behalten. Es war das einzige, was er anwenden konnte: Zeit gewinnen. Das Schwert zitterte nicht in der eisenbewehrten Hand und wich keinen Millimeter zur Seite. Aber es stach auch nicht zu. Noch nicht. Alles spielte sich im tiefsten Schweigen ab, und es herrschte eine Stille, wie in einem Grab, genauso kompakt wie tödlich. Langsam kam Nick Harpers Hand hoch, sehr langsam, so seine friedliche Absicht dokumentierend. Er hatte Neuland betreten, als er sich bereit erklärte, Mr. Withers Fall zu übernehmen. Bei diesen Gegnern handelte es sich nicht um ausgefuchste Gangster, sondern um Geister, deren Seelen ruhelos umherwanderten. Seine bisherigen, in vielen Fällen erfolgreichen Methoden, waren hier fehl am Platz. Er mußte sich etwas anderes einfallen lassen. Die Zeit tropfte dahin, schien stillzustehen, als gebe es sie nicht. Tote haben Zeit. Der Wind rüttelte an den Fenstern, aber niemand hörte ihn. Nick Harpers Nerven waren zum Zerreißen gespannt, konzentrierten sich nur auf eines: dem Überleben. Seine Hand befand sich jetzt in Schulterhöhe, da streckte er Zeige- und Mittelfinger aus. Die Fingerspitzen berührten das auf ihn gerichtete Schwert, fühlten den kalten Stahl und wollten instinktiv zurückzucken, doch ein stählerner Wille bannte sie, zwang sie das Schwert wegzudrücken. Es ging erstaunlich leicht und als die Schwertspitze nicht mehr auf ihn zielte, fühlte er, wie die angestaute Luft aus seinen Lungen entwich. Nur der schale Geschmack im Mund blieb. »Ritter, du bist auf dem Weg ins Schattenreich. Geh weiter. Ich hindere dich nicht daran.« Noch immer glühten die schwarzen Augen zwischen dem Sehschlitz des heruntergezogenen Visiers hervor, bewegungslos. Dann verlöschten sie und der Arm mit dem Schwert klappte herunter. Der Ritter setzte sich in Bewegung, lief klirrend auf die Tür zu und streifte dabei den Detektiv mit der eisernen Rüstung, 106 �
dem zumute war, als träfe ihn der eisige Hauch des Todes. Offenen Mundes starrte er dem Ritter nach, wie er den Gang entlang lief, geschickt den geschnitzten Truhen auswich, die vereinzelt dastanden, bis er ihn aus den Augen verlor. Aber lange noch vernahm er das Klirren der Rüstung. Er grinste schief, nahm die Hand vom Revolver und sagte zu sich selbst: »Nick, alter Junge, das hätte ins Auge gehen können.« Zweimal fuhr er sich mit der Zunge über die Lippen und feuchtete sie an, dann steckte er eine Zigarette zwischen sie und begann hastig zu rauchen. Unentwegt fuhr er sich mit der Hand über die rechte Wange, bis ihn das kratzende Geräusch der sprießenden Bartstoppeln zu stören begann. Das klirrende Geräusch des davon schreitenden Ritters brach unvermittelt ab. Er zuckte ein wenig zusammen. Die einsetzende Stille tat direkt weh. Schon wollte er die Tür hinter sich schließen, schaute aber aus alter Gewohnheit noch einmal zurück. Sein Gesicht nahm einen merkwürdigen Ausdruck an, halb grinsend und halb ernst. Zuletzt stand nur noch Verwunderung darin, hatte doch dieser komisch anmutende Ritter mit seinem Schwert, ein kostbares Gemälde der Ahnengalerie zerstört. Das Bild stellte eine Seltenheit dar, waren doch auf ihm Burgherr mit Burgfrau vereint. Noch immer starrte der vollbärtige Burgherr mit strengem Blick von der Wand nieder, an der er schon ewig hing, nur jetzt ohne Ehefrau. Diese war von dem scharfgeschliffenen Schwert zerschnitten worden, in lauter schmale Streifen, die lose herabbaumelten. Nick Harper hängte das Bild ab, legte es auf den Fußboden und glättete die Streifen, versuchte so, das Bild der Frau zusammenzusetzen. Es gelang, wenn auch recht provisorisch. Das wiedergewonnene Antlitz strahlte orientalische Schönheit aus, mandelförmig geschnittene Augen, sanft wie bei einem Reh. Der Mund klein, aber mit vollen Lippen, die sich zu einem Lächeln 107 �
kräuselten. Die Grübchen in den Wangen berichteten von einem ausgeglichenen, lustigen Charakter. Diese Frau mußte Sonnenschein in das Düstere der Burg gebracht haben. Dem geschulten Auge Nick Harpers entging nicht das feine orientalische Gazekleid, hoch am schlanken Hals geschlossen, aber ärmellos. An linken Oberarm, in allen Einzelheiten vom Künstler gemalt, prangte ein goldener Armreif. Nick Harper richtete sich auf und begann mit dem Daumennagel über den linken Eckzahn zu kratzen, was er immer dann tat, wenn ihn etwas stark beschäftigte. Es stak wie ein Splitter in seinem Gehirn, aber er konnte es nicht fassen. Versonnen brannte er sich wieder eine Zigarette an und begann auf und ab zu marschieren, bis er abrupt stehen blieb. Die Erkenntnis traf ihn wie ein Blitzschlag, der Armreif auf dem Bild war der gleiche, wie ihn die Mumie im Burgherrenzimmer trug, die er mit einer Decke eingehüllt hatte. Er fand sie verborgen hinter einer Wandverkleidung, wo sie ihr Mörder vor Jahrhunderten verborgen haben mußte. War der eben verschwundene Ritter ihr Mörder? Warum zerstörte er nun nach so langer Zeit ihr Bild? Oder war es ihr Geliebter, mit dem sie fliehen wollte von dieser grauenhaften Burg und ihren düsteren Menschen? Nick Harper beschäftigten all diese Fragen sehr, er war aber auch realistisch genug, zu wissen, daß es unmöglich war, all diese Rätsel zu lösen, die frühere Dramen entstehen ließen. »Tote soll man ruhen, lassen«, sagte er vor sich hin, um sofort salzig aufzulachen. »Wenn sie nur ruhen würden, verdammt und zugenäht«, wetterte er los und stampfte wütend auf die Tür zu. Nick Harpers Augen aber ruhten auf dem Bild und er fühlte, wie sich seine Kopfhaut zusammenzog. Der Burgherr, neben seiner zerschnittenen Frau, hatte sich in schrecklicher Weise verändert. Plötzlich trug er giftgrüne Kleidung, deren Farbe den 108 �
Augen weh tat. Sein vordem so kantiger Schädel, mit dem ausdrucksvollen Gesicht war verschwunden. An seiner Stelle prangte ein hohler Totenkopf, mit verschlagenen Augen, wenn man das bläuliche Leuchten in den leeren Augenhöhlen als solche bezeichnen kann. Auch von Mund konnte keine Rede mehr sein; es war ein Maul, das weit aufklaffte, in dem zwei lange blutige Reißzähne dem Betrachter entgegenbleckten. Für Sekunden herrschte Stille, in der Nick Harper den eigenen Atem hörte. Dann brach es los, das gräßliche irre Lachen, das einen Menschen an den Rand des Wahnsinns treiben konnte. Es war ein Lachen, das wie die verrosteten Angeln eines eisernen Tores klangen. Nick Harper bekam mit einemmal nervöse Lippen. Aber das war alles, was man diesem hartgesottenen Detektiv aus New York anmerken konnte, höchstens noch, daß er sich wieder eine Zigarette anbrannte, bevor er den unheimlichen Raum verließ, der mit tobendem Gelächter angefüllt war. * Mr. Withers erklomm Stufe um Stufe. Er keuchte bei jedem Schritt, denn jedes Mal wirbelten um seine Füße neue Staubmassen auf, die sich lähmend auf seine Atmungsorgane legten und ihm Hustenreiz aufzwangen. Die Stufen waren ausgetreten und wanden sich in Serpentinen nach oben. Und je höher er kam, um so kälter wurde es. In jeder Etage befanden sich offene Schießscharten, durch die der draußen herrschende Sturm blies. Aber es waren auch die einzigen Lichtquellen, auf die er nicht verzichten konnte, trug er doch mit beiden Händen, ein in eine Decke gehülltes Bündel, das wohl nicht schwer, aber sehr zerbrechlich sein mußte, balancierte er doch in dem schmalen Treppenschacht wie ein Drahtseilkünstler hin und her, um nicht an den Wänden anzustoßen. Sein Ziel war das oberste kleine Zimmer, 109 �
in dem alles überragenden Wehrturm, am nördlichen Ende der Burg, dort, wo sich das Moor in einen riesigen See verwandelt hatte. Während einer Verschnaufpause knurrte er grimmig vor sich hin: »Wenn mich jetzt dieser Nick sehen würde, ich glaube, der holt Stricke und bindet mich mit ihnen zusammen. Der kann von Glück reden, daß ihm nicht das widerfahren ist wie mir.« Sich etwas in den Schultern reckend, befahl er sich selbst: »Los, Sam, bring es hinter dich!« Über eine viertel Stunde noch mußte er Stufe um Stufe nehmen. Zuletzt war er völlig durchgeschwitzt, und sein Atem pfiff wie ein Kessel unter Überdruck. Abschätzend blickte er auf die naturfarbene Tür, deren kunstgeschmiedeten Scharniere stark angerostet waren. Die Klinke brach unter seinem kräftigen Zugriff ab. Wütend schleuderte er sie aus einer Schießscharte, durch die eisiger Wind pfiff. »Tut mir leid, Königin«, sagte er zu dem Bündel auf seinen Armen, das er vorsichtig niedergleiten ließ. Als er sich erhob, holte er tief Luft und zertrümmerte die Tür mit drei Fußtritten. Neugierig streckte er den Kopf vor und blickte in das Zimmer. Es war nicht die schlechte, verbrauchte Luft, die ihm entgegenschlug, was ihn zurückprallen ließ, vielmehr der Anblick, der sich seinen Augen darbot. Tisch, Stühle und kleine Wandschränke streifte er nur mit einem flüchtigen Blick, an der völlig verwitterten Ottomane aber blieben seine Augen hängen, lag doch auf ihr ein Mann, umhüllt von einer eisernen Rüstung, um die Stricke geschlungen waren, uralte Hanfseile, die ihrer völligen Auflösung entgegensahen. Er holte das Bündel vom Vorplatz und legte es neben dem gefesselten Ritter nieder. Vorsichtig schlug er die Decke zurück. Da lag die kleine Mumie aus dem Burgherrenzimmer, umhüllt von bläulichem Schimmer. Eilig kramte er den goldenen Armreif 110 �
aus seiner Tasche und blickte lange auf ihn nieder, bis er ihn mit einer schnellen Bewegung auf die Brust des ehernen Ritters legte. Leises Singen, begleitet von Harfentönen, klang auf und wurde nur unterbrochen von einer zarten Stimme, die flüsternd sagte: »Nicht alle Geister sind böse. Du hast mich und meinen Geliebten erlöst, dafür danken wir dir. Nimm den Armreif als Huldigung einer Königin.« Die Stimme wirkte suggestiv auf ihn, und er griff nach dem goldenen Reif. Es war, als verbrenne er sich die Finger, aber nur für einen kurzen Augenblick. Dann war alles vorbei. Die Mumie zerfiel, löste sich auf, während aus der Rüstung ein eigenartiges Geräusch kam. Dann war nichts mehr zu hören als das Heulen des Windes. Der Spuk war vorbei, der seit vielen Stunden wie eine Last auf Mr. Withers gelegen hatte, war doch immer die geisterhafte Erscheinung der Königin um ihn gewesen und hatte ihn um einen letzten Gefallen gebeten. Wie sie erzählte, war ihr Mann nach Hause gekommen, mit Vampire, seiner Geliebten. Von da an kannte sie nur Not und Angst, bis ein fremder Ritter kam, in den sie sich verliebte und mit dem zusammen fliehen wollte. Aber ihr Mann brachte den Ritter um, und danach saugte er ihr das Blut aus den Adern. »Verdammt«, mehr brachte Mr. Withers nicht hervor. So schnell er konnte, eilte er die Steinstufen hinab. Am vorletzten Absatz schaute er durch die schmale Schießscharte hinaus. Es hatte sich nichts geändert; dicht geballte Wolkenbänke jagten nach wie vor am Himmel entlang, getrieben vom Sturm, der auch das Moor brodeln ließ, dessen Wellen gegen die Burgbefestigung klatschten, und das alte Gemäuer zu unterhöhlen drohten. Aufseufzend schloß Mr. Withers die Tür hinter sich, die in den 111 �
Turm führte. Niemand mehr sollte den Turm betreten. Fast heiter drehte er um. Sein Appetit auf einen Brandy war groß, und er hatte ihn sich auch verdient, wie er meinte. Mitten in der Bewegung begann er zu erstarren. Lediglich das Zittern seiner Lippen fühlte er, in die sich schmerzhaft seine Zähne gruben. Vom Schmerz verspürte er nichts, der wurde verdrängt von der Angst, die wie schleichendes Gift seinen Körper zersetzte. Ihm genau gegenüber hingen zwei gekreuzte Jagdspieße an der Wand, dekoriert mit Fellen, die von Motten zerfressen waren. Inmitten der zwei Spieße stand eine Gestalt, für den ersten Moment, des dämmrigen Lichtes wegen, nicht erkennbar. Das intensive Leuchten der Augen aber verriet sie. Kein anderer stand da, als der Totenkopf mit dem giftgrünen Umhang. Mr. Withers Augen gewöhnten sich schnell an die veränderten Lichtverhältnisse und er sah, daß der Vampir mit ausgebreiteten Armen dastand, die knöchernen Hände um die Schäfte der Jagdspieße gekrampft. Er war anzusehen wie der leibhaftige Tod. Und er wollte töten! Seine Hände rissen die Spieße von der Wand, deren eiserne Spitzen er auf sein Opfer richtete. Kraftvoll holte er aus und wollte einen der Spieße werfen, der aber zwischen seinen Knochenfingern zerbrach, morsch geworden im Laufe der vergangenen Epochen, womit er nicht gerechnet hatte, hatte er doch eigenhändig mit diesen Jagdspießen Hirsche erlegt. Fast betrübt blickte er auf die Überreste jener Zeit, in der er Herr dieser Burg gewesen war. Aber dann geiferte er los und schrillte in den höchsten Tönen: »Elender Erdenwurm, ich werde dich töten, wann ich es will. Deine Seele soll dem Satan gehören, raubtest du mir doch mein Weib und brachtest es zu ihrem Geliebten, den ich fesselte und qualvoll sterben ließ. Keiner der beiden kann mir mehr dienen, und daran hast du die Schuld.« Beide Arme streckte er Vor und kam näher, mit dem unheimlichen Glühen in den leeren Augen112 �
höhlen. Mr. Withers glaubte, sein Ende sei gekommen. Er gab sich keinen Illusionen hin. Eben hatte er eigenhändig die Tür verschlossen, die in das Innere des Wehrturmes führte. Er stand mit dem Rücken zur Wand. Ein Ausweichen gab es nicht. Aber sein Lebenswille war ungebrochen, er würde kämpfen bis zum letzten Atemzug und sich nicht so leicht das Blut aus den Adern saugen lassen. Wie ein hoch aufgerichteter Bär wirkte er in diesen Minuten, die über Tod oder Leben entscheiden mußten. Das Grollen, tief aus seiner Brust, klang wie wütendes Brummen. Und mit angewinkelten Armen und geballten Fäusten ging er zum Angriff über. Zweimal schlug er zu und hinter jedem Schlag steckte all seine bullige Kraft. Beide Male fuhren seine Fäuste in den giftgrünen Umhang und er hatte das Gefühl, in Luft zu schlagen. Das höhnische Gekicher des Totenkopfes trieb ihn zur Raserei. Er wechselte seine Taktik und schlug nicht mehr zu, krallte vielmehr seine kräftigen Finger in den Stoff und begann daran zu reißen. Das Ratschen klang eigenartig, aber er hatte nicht die Zeit, darüber verwundert zu sein und war zufrieden, einen Riß in dem Umhang klaffen zu sehen. Wütendes Geheul drang an seine Ohren. Es war Musik für ihn. Noch einmal versuchte er es und griff erneut in die wehenden Falten. Aber seine Hände blieben mitten in der Bewegung in der Luft hängen. Unter dem Umhang befand sich nichts, rein gar nichts. »Das ist nicht möglich«, brüllte er auf und sah, wie die Knochenhände auf ihn zugeschossen kamen. Da bückte er sich und unterlief den Unheimlichen. Schwärze trat vor seine Augen, und er konnte nichts mehr sehen. Er fühlte nur, wie ihn der nach Moder riechende Stoff einhüllte und seine Bewegungsfreiheit lähmte. Erst als sein Hals umklammert wurde, und er kaum noch Luft bekam, begann er, um sich zu schlagen und zu! treten. 113 �
Plötzliche Helligkeit blendete ihn. Im gleichen Augenblick ließ der Druck auf seinen Hals nach. Dann sah er den Totenkopf über sich, mit blutroten Zähnen, die in einer grinsenden Mundhöhle standen. »Nun wirst du sterben, Verruchter, hundertfach, und ich werde mich an deinen Schreien ergötzen. Mich hat noch keiner hintergangen, ohne bestraft zu werden. Auch du nicht. Nach deinem Tod wird die Burg wieder uns gehören, den Watfords!« »Das glaube ich nicht.« Die Worte wurden leise, aber mit fester Stimme gesprochen, und es war eigenartig anzusehen, wie danach zwei Köpfe herumfuhren, der von Mr. Withers und der Totenkopf. Mr. Withers erkannte Nick Harper, der lässig dastand, eine Hand in der Hosentasche, die andere auf dem Rücken verborgen. Er wollte dem Detektiv etwas zurufen, sein Hals aber war wie zugeschnürt. Lediglich ein heiseres Krächzen brachte er hervor. Das Kichern klang hohl und dünn, ging aber durch und durch, verwandelte die Haut in eine bepickelte Gänsehaut. Dann sprach der unheimliche Totenkopf: »Noch einer, hi, hi. So viele auf einmal kann ich gar nicht leertrinken. Ich werde es mir einteilen müssen.« Nick Harper kam näher und sagte mit gepresster Stimme: »Keinen Tropfen Blut mehr wirst du Ausgeburt der Hölle trinken! Mit dir ist es jetzt zu Ende.« Die hinter dem Rücken verborgene Hand kam zum Vorschein und sie hielt das goldene Kruzifix umklammert. Kerzengerade hoch schoß der Totenkopf und zog seinen giftgrünen Umhang rauschend hinter sich her, aus dem die zwei knöchernen Hände kamen, die sich abwehrend dem Kruzifix entgegenstreckten. Dabei stieß er spitze Schreie aus, die durch Mark und Bein gingen. Taumelnd richtete sich Mr. Withers auf und holte den golde114 �
nen Armreif aus der Jackentasche, mit dem er sich dem Vampir näherte. »Du hast deine Frau umgebracht, Unseliger, und viele, viele andere. Jetzt wirst du dafür büßen!« Der Totenkopf stieg höher und höher, er knurrte und verbreitete Moder und Verwesungsgeruch. Dann verschwand er durch die Decke, als habe es ihn nie gegeben. »Nick, sagen Sie mir, daß ich träume«, keuchte Mr. Withers unter ständigen Massieren seines Halses, an dem blau unterlaufene Druckstellen zu erkennen waren. »No, Sam, Sie träumen nicht.« * Es war eine halbe Stunde später. Daisy saß in der Bibliothek und kämpfte sich verbissen durch die Aufzeichnungen und allem, was sie finden konnte, das Aufschluss über die Burg und ihre früheren Bewohner geben konnte. Sie wollte auf ihre Art dazu beitragen, dem tödlichen Spuk ein Ende zu bereiten. Sie kam zu dem Schluß, daß den Geistern und Vampiren nur mit Gewalt beizukommen war, so wie es Nick Harper immer gesagt hatte. Aufhorchend hob sie den Kopf. Ein nicht zu erklärendes Geräusch beunruhigte sie, das hinter der Bücherwand hervordrang, die den geheimen Zugang verdeckte, der in das Unterirdische führte. Das aufkommende unerklärliche Geräusch beunruhigte sie so stark, daß sie davonrannte und die Männer alarmierte. Es war sonderbar, aber die Geheimtür öffnete sich nur, wenn Daisy den verborgenen Verschluss bediente. Mit Nick Harper und ihrem Vater drang sie in den Gang ein. Immer stärker wurde das Geräusch, schwoll zu einem brüllenden Gurgeln an. Nick Harper wollte sie zurückschicken, doch sie setzte ihren Kopf durch und ging weiter. 115 �
Das steinerne Wappen der Watfords kam in Sicht und mit ihm der Knick im Gang. Vier Schritte konnten sie noch gehen, dann gab es kein Weiterkommen mehr. Das Wasser des Moorsees hatte einen Weg gefunden und war in die Burg gedrungen. Eigentlich hätte es den Gang aufwärts steigen müssen, bis es die Bibliothek erreichte, aber es nahm einen anderen Weg, wie vom Himmel gelenkt. Zu sehen war nur der Sog, der in die Tiefe gurgelte, als hätte sich im Gang eine Falltür befunden. In rasender Eile schossen die Wassermassen dahin und auf den Rücken der Wellen hüpften Knochen und Totenköpfe, bis sie in die Tiefe gerissen wurden. Schaudernd wandte sich Daisy ab und schlug die Hände vor das Gesicht. »Dad, es ist alles so schrecklich, ich halte es bald nicht mehr aus auf dieser Burg.« Und gerade in diesem Augenblick ertönte das teuflische Gelächter und brach sich als vielfaches Echo an den Wänden wider. Dann kam der Vampir im giftgrünen Umhang auf einer Welle geritten, mit weißem Totenkopf, in dem das bläuliche Licht glühte, und er hielt in jeder Hand einen Menschenknochen. Entsetzt starrte man ihm entgegen, keines Wortes mächtig. Nick Harpers Finger bissen in Daisys Schulter, so stark hatte ihn die Erregung gepackt und der ohnmächtige Zorn, mit ansehen zu müssen, wie ein Vampir alles terrorisierte. Das teuflische Gelächter steigerte sich in schrille Schreie, die der König der Vampire ausstieß, als er an den drei Menschen vorbeigeschwommen kam. Angst und Schrecken verbreitend, leuchteten seine blutigroten Zähne in dem Weiß des Totenkopfes, und er warf mit einer wütenden Bewegung die zwei Menschenknochen nach Mr. Withers, der entsetzt zurücktaumelte. Dann tauchte er in dem Strudel unter. Aber aus der Tiefe drang 116 �
noch immer sein Lachen. In die Bibliothek zurückgekommen, vergönnten sie sich eine kleine Verschnaufpause. Ein dickes, in Leder gebundenes Buch fiel aus dem Regal, genau auf Mr. Withers zu. Nick Harper sah nur einen Schatten geflogen kommen, und er handelte instinktiv, wie man es von einem Profi erwarten kann. Mit seinem vollen Körpergewicht warf er sich gegen den Bedrohten und riß ihn von den Beinen. Das dicke Buch knallte neben Mr. Withers auf den Fußboden. Unmittelbar danach war die Bibliothek erfüllt mit höhnischem Gelächter. Daisy begann zu weinen. »Dieses teuflische Wesen will Dad umbringen.« Die Tür zur Bibliothek stand offen, und deshalb traf der Schrei besonders stark die Ohren und ließ die Nerven vibrieren und Angstschweiß ausbrechen. Keiner konnte sich des bangen Gefühls erwehren, daß etwas Entsetzliches geschehen sein mußte. Zu hoch war der Schrei gewesen, in tiefster Not ausgestoßen, um überhört werden zu können. Daisys Schluchzen ging in Weinkrämpfe über, und sie begann am ganzen Körper zu zittern, wobei ihre Zähne aufeinander schlugen. Nick Harper hob sie hoch und rannte mit ihr los, gefolgt von Mr. Withers, dem die Verwirrung im Gesicht geschrieben stand. Der sechzehnjährige David kam ihnen entgegen und berichtete aufgebracht: »So ein Kerl, im grünen Umhang, stand plötzlich in der Küche und starrte mich an aus Augen, die gar keine waren. Er hatte einen Kopf, wie ich ihn mal während eines Maskenballs getragen hatte. Dann schlug er mich mit etwas hartem.« Er brach ab und zeigte auf seine Wange, an der sich eine blutunterlaufene Stelle befand. »Hast du geschrien?« fragte Nick Harper erregt. 117 �
David schüttelte den Kopf. »No, das war Elsi, die geschrien hat, als der komische Kerl sie schnappte, hochhob und mit ihr weglief.« Mr. Withers wurde kreidebleich. Eine seiner Angestellten war schon getötet worden. Er fühlte sich für sie verantwortlich und konnte doch so wenig tun. Der erneute Schock setzte ihm arg zu. »War Joe nicht da, der helfen konnte?« fragte er und hieb fortwährend mit der rechten Faust in die linke geöffnete Hand. »Nur Elena war da und die fiel sofort auf die Knie, begann laut zu beten und bekreuzigte sich. Aber ich trat dem Kerl in den Hintern, Dad. Du hättest mal hören sollen, wie der quietschte.« Für David war das ein großes Abenteuer. Schon vor der Ankunft auf der Watfordburg faselte er von Rittern und Kriegen. Er wußte nicht, wie nah er an der Schwelle des Todes gestanden hatte. Nick Harper ließ sich von David den Weg beschreiben, den der Vampir gegangen war. Der Junge war aufgeweckt und hatte genau gesehen, wohin sich der »Kerl« mit Elsi gewandt hatte, nämlich über die Brücke, hinüber in das zerfallene Haus. Ratlos stand Nick Harper am Ufer des vormals so trockenen Burggrabens, in dem jetzt lehmiges Wasser gurgelte. Das andere Ufer war nur über die Brücke zu erreichen, von der aber nur noch einige Stempel standen. Die Bodenbretter hatten Wind, Sturm und Regen hinweggefegt. »Man müßte von Balken zu Balken springen«, sinnierte er laut, wurde aber von Mr. Withers unterbrochen, der alles gehört hatte und nun sagte: »Kommt gar nicht in Frage, Nick. Die Balken sind uralt, dazu morsch und glitschig… Aus den Fluten da unten kommt keiner mehr raus.« »Elsi, Elsi«, heulte eine hysterische Stimme hinter ihnen los, und als sie sich danach umdrehten, sahen sie Joe gerannt kommen, in der einen Hand das Kruzifix und in der anderen meh118 �
rere von den goldenen Nägeln haltend. Sein rundes tiefgebräuntes Bauerngesicht war schneeweiß, und er weinte. Knapp vor den Resten der Brücke verhielt er, drohte mit den Armen und schrie: »Komm raus, Teufel, ich will dich nageln!« Und da geschah es, daß das Gurgeln des Wassers aufhörte, das Heulen des Windes sich legte und die Bäume ihr Rauschen aufgaben. Die Natur hielt den Atem an, als drüben zwischen den Trümmern des zerfallenen Hauses der König der Vampire auftauchte. Auf seinen Knochenarmen trug er Elsi, deren Kopf herabhing, von ihrem langen schwarzen Haar umwoben. Weiß leuchtete ihr schlanker Hals, auf dem zwei rote Biss-Stellen zu erkennen waren. Auch sie war dem unersättlichen Totenkopfvampir zum Opfer gefallen. Der Wind setzte wieder ein und blähte den giftgrünen Umhang auf. Plötzlich wurde es fast dunkel. Donnerschläge krachten, und lange blaurote Blitze zuckten zur Erde nieder. Und wie die Blitze leuchteten am jenseitigen Ufer die leeren Augenhöhlen des Ungeheuers blau auf, mit magischer Kraft, die alles Leben zu bannen schien. Nick Harper kam zu spät. Mit einem wilden Schrei auf den Lippen war Joe gesprungen, landete auf dem ersten Querbalken der Brücke, die sich zu bewegen begann, und rutschte aus. Das goldene Kruzifix entfiel seiner Hand, mit der er sich am Geländer festklammerte. Im Aufzucken eines Blitzes leuchtete das Gold des Kruzifix rot auf, bevor es in die Wellen tauchte und versank. Und der Totenkopf, mit den blutigen Zähnen, lachte und lachte… »Du Höllenhund!« gurgelte Joe, der Dorftrottel, und wagte den zweiten Sprung. In der für Sekunden einsetzenden Windstille war deutlich das Ächzen und Knacken des Balkens zu hören, 119 �
der sich unter Joes Gewicht zu biegen begann. Sofort schnellte er sich ab und erreichte den dritten und letzten Balken. Dieser war noch am besten erhalten, aber glitschig, über und über mit grünem Moos bewachsen. Joe rutschte aus. Seinen Lippen entrang sich ein Schrei. Mit dem Bauch kam er auf dem Balken zu liegen, schwankend, kaum fähig, die Balance zu halten. Er verlor die goldenen Nägel bis auf einen. Den steckte er sich wie ein Messer quer in den Mund und hielt ihn mit seinen kräftigen Zähnen fest. Mr. Withers brachte Bretter und Seile angeschleppt. Nick Harper schob die Bretter auf die Querbalken. Als das erste Brett fest lag, schlang sich der Detektiv ein Seil um den Leib, dessen Ende Marc an einem Baumstamm befestigte. Vorsichtig betrat Nick Harper das schwankende Brett und als er dessen Ende erreicht hatte, zog er ein zweites vor, das knapp neben Joe zum Liegen kam. Auf allen vieren schob er sich näher und erreichte den Bedrängten. Bald wären beide zusammen abgestürzt, aber es gelang Nick Harper, Joe auf das Brett zu hieven. Sie keuchten und schnauften und starrten hinüber zu dem Totenkopf, der noch immer Elsi auf den Armen hielt. Sie hörten das Knattern des grünen Umhanges, der heftig vom Wind bewegt wurde, und sie sahen das glühende Glitzern der toten Augen. Genau zwei Meter trennten sie von dem Ungeheuer. Joe sah ihn zuerst und machte den Detektiv auf ihn aufmerksam. Angestrengt spähte Nick Harper in die angewiesene Richtung. Er konnte sich keinen Reim darauf machen und schüttelte nur mit dem Kopf. Ruby Watford, der Ritter in der silbernen Rüstung, stand breitbeinig auf dem dahingurgelnden Wasserfluten, ohne von ihnen mitgerissen zu werden. Er hatte sein Schwert gezogen, es senkrecht zwischen die Beine gestellt und sich mit den Händen aufgestützt. Kein feuchter Nebel umgab 120 �
ihn diesmal, nur der bläuliche Schimmer, der dem Silber seiner Rüstung einen besonderen Glanz verlieh. Wie in tiefes Nachdenken versunken stand er da und schaute gebannt den Vorgängen zu, die sich auf der alten Brücke abspielten. Es kostete Kraft und Nerven, von Geistern beobachtet und belauert zu werden, die zu ignorieren nicht einfach war, und das letzte Brett heranzuziehen, dieses auf das gegenüberliegende Ufer zu schieben. Gerade als sich Nick Harper den Schweiß aus den Augen wischte, der darin brannte wie Feuer, sprang Joe auf und stolperte im blinden Hass über das Brett ans Ufer. Mit Höllengelächter wurde er empfangen, das spöttisch und zynisch zugleich klang. »Narr, was bist du vermessen, dich mit einem König einzulassen, der unter dem besonderen Schutz des Höllenfürsten steht.« Und es hatte den Anschein, als verzöge sich der Mund des Totenkopfes, aus dem irres Lachen drang, breiter und breiter. Joe beeindruckte das nicht. Er sah nur die tote Elsi, die er sehr gemocht hatte, auf den knöchernen Armen des Vampirs. Grollend wie ein Wolf stürzte er vor und krachte der Länge nach hin, gestolpert über den leblosen Körper Elsis, die plötzlich vor seine Füße flog, weggeschleudert von dem Totenkopf, der mit hohen, schrillen Schreien zum Angriff überging. Er dachte nicht einmal daran, daß es nun aus war, vorbei für immer. Nein. Nur ein Gedanke hatte Platz in ihm: töten! Die einsetzende Lähmung seines Körpers, das leicht beflügelte Gefühl, das ihn überkam; alles überwand er mit seinem Hass. Stöhnend hob er die Hand, in der der lange goldene Nagel schimmerte und glänzte. Und mit einer letzten Kraftanstrengung trieb er den Nagel in den Totenschädel, der über seinem Hals gebeugt hing und ihm das Blut aus den Adern saugte. Mit einem Lächeln auf seinen etwas wulstigen Lippen starb er. 121 �
Der Totenkopf aber wollte nicht sterben. Zuckend und schreiend wälzte er sich umher. Mehrmals kam seine Hand hoch und wollte nach dem geweihten Nagel greifen, fuhr aber immer wieder zurück. Das eingravierte Kreuz auf dem Nagelkopf, begann seinen Zauber auszustrahlen. Dann war Nick Harper heran. Seine blutleeren Lippen bildeten einen dünnen Strich, und seine Wangenmuskeln traten als dicke Knoten hervor. Du mußt den Nagel tiefer in den Schädel schlagen, befahl er sich und lauerte auf einen günstigen Augenblick. Der kam, als sich der Vampir, von Krämpfen geschüttelt, herumwälzte. Nick Harper kniff die Augen zusammen, hob den rechten Fuß und trat mit dem Absatz auf den Nagel, der sich knirschend in den Totenschädel fraß, bis dieser auseinanderplatzte. Der giftgrüne Umhang flatterte noch einmal auf, sank dann erschlafft nieder und verlor immer mehr seine kräftige Farbe. Was von dem zerfallenen und aufgelösten Stoff übrig blieb, wehte der Wind davon. Der König der Vampire war tot, für immer, und seine schwarze Seele schmorte von nun ab in der Hölle. * Von unten, aus dem Burggraben herauf, drang der Ruf. »Grüßt mir Rosalinde. Sie möge mir verzeihen. Von nun an wird Ruhe herrschen auf der Burg der Watfords, denn der Dämon ist tot.« Erschrocken starrten sie auf die kochenden Wassermassen, die gurgelten und Gischt versprühten. Noch stand der Ritter in der silbernen Rüstung auf dem Wasser, aber er hielt sein Schwert nicht mehr in den Händen. Als nehme er Abschied, blickte er sich noch einmal um. Dann hob er die Hand. Eine dicke Nebelwand schob sich auf ihn zu und hüllte ihn ein, bis er völlig ver122 �
schwunden war. Für einige Augenblicke leuchtete es noch aus der grauen wallenden Masse bläulich hervor, bis auch der letzte Schimmer verschwand, verlosch wie ein Licht im Wind. * Daisy und Nick Harper standen eng umschlungen vor der steinernen Grabplatte im Park. Sie fühlten nicht den kalten Wind und scheuten nicht das Wetter. Im Haus war alles still geworden, und Daisy hatte in Ruhe die alten Handschriften zu Ende lesen können. Aus ihnen wußte sie, wer unter der steinernen Platte lag, die nicht nur ein Grab zudeckte, sondern gleichzeitig Notausgang in früheren Zeiten gewesen war. Sie fühlte sich hingezogen zu diesem einsamen Grab, dem einzigen auf der Burg, und dem sie Lebewohl sagen wollte. »Du mußt es tun«, flüsterte Nick Harper und führte sie nah an die Grabplatte heran. Daisy bückte sich und streichelte mit den Fingerspitzen über das verwitterte Familienwappen der Watfords. Aus einer gewissen Scheu heraus zögerte sie einige Herzschläge lang, griff aber dann nach dem steinernen Knochen im Wappen. Der Mechanismus funktionierte noch genauso gut wie vor dreihundert Jahren, als die Anlage gebaut worden war. Knirschend schwang in langsamer Trägheit die Grabplatte zur Seite. Der immer noch tief verhangene Himmel spendete genügend Licht, um alle Einzelheiten erkennen zu lassen. Lang gestreckt, mit über der Brust gefalteten Händen, lag der Ritter in der silbernen Rüstung auf Bärenfellen, die kaum noch als solche zu erkennen waren. Das Visier war heruntergeklappt, glänzte aber so silbern wie die ganze Rüstung. Und zwischen seinen gefalteten Händen, die von wehrhaften Handschuhen verborgen wurden, hielt er die wilde Blume, die 123 �
er Daisy im Garten weggenommen hatte. Sanft richtete Nick Harper Daisy auf und bediente den geheimen Mechanismus. Die Grabplatte schwang zurück und verdeckte wieder eines der rätselhaften Geheimnisse um Burg Watford. »Lebewohl, Ruby Watford«, flüsterte Daisy mit erstickter Stimme und konnte die Tränen nicht zurückhalten. Nick Harper führte sie aus dem Park. An der eisernen Pforte angekommen, drehte sich Daisy noch einmal um und winkte verstohlen mit der Hand. Da war ihr, als beginne die steinerne Grabplatte im bläulichen Schein zu strahlen. ENDE
124 �