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hat mit ihren provokativen Abenteuerromanen Aufsehen erregt. Sie sagt selbst: »Ich weiß, daß ich eine Frau bin, und ich fühle mich dabei sehr wohl. Ich bin gern bereit zu akzeptieren, daß Männer und Frauen sich ergänzen sollen, aber verschieden sind.« Sie kennt ihren Namen nicht und weiß nicht, woher sie kommt. Sie weiß nur eins: Ihr Herr und Meister ist Khys, geistiger Führer von Milliarden von Menschen, Inbegriff unbegrenzter Macht. Nur ein Mann, der sie wirklich liebt, kann sie dem Vergessen entreißen, damit sie erkennt, wo ihr wahres Ich verborgen liegt. Denn sie ist Estri Hadrath, die schönste Kurtisane von Silistra, Tochter eines Gottes, und sie hat nur ein Ziel: den allmächtigen Tyrannen zu stürzen, der sie und ihre ganze Welt gefangen hält.
Deutsche Erstveröffentlichung
Science Fiction Special
Weitere Romane der Reihe »Die Kämpferinnen von Silistra« von JANET MORRIS: Die goldene Kurtisane
Das Schwert der Ein Sturm aus Hoffnung dem Abgrund
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Edelsteinthron
Vorlage dieses E-Books: BASTEI-LÜBBE-TASCHENBUCH Science Fiction Special Band 24 095 © Copyright 1978 by Janet E. Morris All rights reserved Deutsche Lizenzausgabe 1987 Bastei-Verlag Gustav H. Lübbe GmbH & Co., Bergisch Gladbach Originaltitel: Wind from the Abyss Ins Deutsche übertragen von Eva Eppers Lektorat: Martina Strube/Dr. Helmut Pesch Titelillustration: Chris Achilleos Umschlaggestaltung: Quadro-Grafik, Bensberg Druck und Verarbeitung: Ebner Ulm Printed in Western Germany ISBN 3-404-24095-2 Der Preis dieses Bandes versteht sich einschließlich der gesetzlichen Mehrwertsteuer.
Scan & Satz::: Anonymus 2003
Inhalt
Anmerkung der Verfasserin
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1 In Trauer um das nicht mehr Erinnerliche 8 2 Der Lohn des Vergessens 68 3 Suche nach einem Halt in der Zeit 127 4 Die Kluft unterschiedlicher Auffassungen 187 5 Der Sog der Crux 244 6 Das Ordnen der Dinge 291 7 In den Abgrund 327 8 Das Ende von Khys 329 9 Das innere Gesetz 356 10 In Anerkennung Owkahens 379 Anhang
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Wörterverzeichnis
423
SILISTRA
Anmerkung der Verfasserin
Da ich zu Beginn dieser Geschichte über keinerlei Erinnerung an meine eigentliche Persönlichkeit verfügte und auch nicht den leisesten Schimmer eines Begriffsvermögens hatte, das mir das Verständnis verschiedener Vorfälle am See der Hörner ermöglicht hätte, schreibe ich dieses, ursprünglich nicht geplante Vorwort. Auf diese Weise bleibt Ihnen die Bedeutung der von ›Khys Estri‹ (wie ich mir angewöhnt habe, das Schatten-Ich zu nennen, zu dem Khys mich machte, indem er mich meiner Erinnerungen und Fähigkeiten beraubte) beschriebenen Ereignisse nicht vorenthalten. Ich wußte nichts von mir: Ich war Estri, weil das Mädchen, das angeblich von Carth gefunden wurde, als es ohne Gedächtnis im Wald herumirrte, diesen Namen wählte. Darin liegt vielleicht die größte Ironie von allen, daß ich mich wieder nach Estri Hadrath diet Estrazi benannte, die ich in Wirklichkeit sowieso gewesen war. Und vielleicht war es gar keine Ironie, sondern ein Ausdruck von Khys Humor, eines seiner Experimente. Dharen Khys, der zwei Jahre lang bestimmte, was ich zu tun und zu denken hatte, bis seine Kühnheit ihn trieb, wieder zusammenzubringen Sereth crill Tyris, Chayin rendi Inekte und mich selbst. Um sein Kand zu prüfen, führte Khys uns in der Stadt der Zeithüter zusammen — und von diesem Augenblick an folgten die Wetter des Lebens einer unveränderlichen Bahn, vereinigten sich zu einer einzigen Zukunft, in der er gefangen wurde wie ein sterbender Gott in seiner versiegelten Gruft. Jeder seiner Schritte brachte ihn lediglich dem absoluten Ende näher, dem Tod. So fügte sich das Schicksal, das der Dharen Khys selbst auf sich herabbeschwor . . . 7
1 In Trauer um das nicht mehr Erinnerliche
Der Hulion verharrte mit schlagenden Flügeln vor dem Fenster, den schwarzen, dreieckigen Kopf gegen die Scheibe gedrückt. Die gelben Augen mit den geschlitzten Pupillen funkelten grausam. Jeder der glitzernden, weißen Reißzähne war so lang wie mein Unterarm. Ich schrie auf. Seine flach an den Kopf gelegten Pinselohren zuckten. Und wieder und wieder, den Rachen weit aufgerissen, warf er sich brüllend gegen das Fenster. Immer noch schreiend, flüchtete ich stolpernd zur entgegengesetzten Wand meines Gefängnisses. Vergeblich trommelte ich mit den Fäusten gegen die verriegelte Tür und drehte mich schließlich vor Angst schluchzend zu dem Ungeheuer herum. Bei dem Geräusch stellte das Tier die Ohren auf. Die Kiefer, die mich ohne weiteres mittendurch hätten beißen können, schlossen sich. Es neigte den Kopf zur Seite. Von seinem Blick wie gelähmt, begann ich zu zittern. Weiter zurückweichen konnte ich nicht mehr. Wimmernd sank ich am Türrahmen hinab in die Knie. Das Tier schnaubte noch einmal. Die Schwingen, mit einer Spannweite von mehr als der dreifachen Länge eines hochgewachsenen Mannes, peitschten kraftvoll durch die Luft, und dann war es fort. Sobald es nur mehr als ein dunkler Punkt vor dem grünen Himmel zu erkennen war, erhob ich mich unbeholfen und zitternd, um die Papiere aufzusammeln, die ich in meiner Angst über den Boden verstreut hatte. 8
Es waren die Unterlagen des Arrar Carth, die er in seiner Hast, dem Ruf seines zurückgekehrten Herrn zu folgen, vergessen hatte. Ich kauerte auf Händen und Knien auf dem silberfarbenen Teppich, um sie aufzuheben und in die lederbezogene Mappe zurückzulegen, bevor er wiederkam. Albern, dachte ich, mich so vor dem Hulion zu fürchten. Er hätte gar nicht hereinkommen können und ich konnte nicht hinaus. Einmal hatte ich einen Stuhl gegen diese undurchdringliche Durchsichtigkeit geworfen. Der Stuhl war zerbrochen. Mit einem der Beine aus Thalaholz, dick wie mein Arm, hatte ich gegen das Fenster geschlagen. Alles, was ich erreichte, war die Umwandlung von Stuhl in Feuerholz. Dem Hulion, tadelte ich mich selbst, wäre es nicht besser ergangen. Hulions, so weiß man, verzehren gelegentlich Menschenfleisch. Hulions, die bepelzten und geflügelten Raubtiere, bewaffnet mit Reißzähnen und Krallen, sind die Diener des Dharen. Ich hatte keinen Grund gehabt, mich zu fürchten. Dennoch, überlegte ich, während ich des Arrar Carth verstreute Papiere zusammensuchte, sind sie furchterregend. Vielleicht wäre ich imstande gewesen, seine Gedanken wahrzunehmen, wie andere es können, hätte ich anders empfunden. Meine Finger, gefühllos und ungeschickt, tasteten nach den dünnen Blättern. Eines davon erregte meine Aufmerksamkeit. Es war mit Carths gut leserlicher Handschrift bedeckt und trug die Überschrift: ›Vorbeurteilungsüberwachung des Arrar Sereth. Viertzweiter Enar 25 697‹. Ich war dem Arrar Sereth einmal begegnet. An meinem Geburtstag, dem viertsiebten Macara, im Jahr ‘696; war ich mit ihm zusammengetroffen, in jener Nacht, in der mein Kind gezeugt wurde. Und ich hatte von seinen Taten gelesen. Er jagte mir Angst ein, Mörder
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von Mördern, Schwert des Dharen, er, der den Arrar trug — den Chald des Boten. Sereth, narbig und hager und wachsam wie ein Raubtier, der die Hüterin Estri, meine Namensvetterin, geliebt hatte und mit ihr gemeinsam große Veränderungen auf Silistra bewirkte, in der Einheit Amarsa 25 695 — ja, ich war ihm begegnet. Ich setzte mich mit untergeschlagenen Beinen auf den Galeshir-Teppich, vergessen die rundherum verstreuten Blätter, und begann zu lesen:
Zeit: ungefähr drei Endhs nach Sonnenaufgang; Wetter: bewölkt und kühl; Position: südlich des Zusammenflusses von Karir und Thoss. Ich empfehle dringend, diesen Bericht sofort zu lesen. Der Arrar Sereth auf dem Hulion Leir legte die Hand an sein Golmesser. Es war die erste unnötige Bewegung seit mehr als einer Endh. Meine Gegenwart, neben ihm auf einem schwarzen Hulion, störte ihn. Sein Reittier, das sich mit einem Satz in die Luft geschnellt hatte und in Gleitflug übergegangen war, schnaubte. Er berührte es an der Schulter, das Tier legte gehorsam die Flügel an und sank der Erde entgegen. Sobald seine Pranken den Boden berührten, ließ er es in einen raumgreifenden Trab fallen. Ich folgte seinem Beispiel und trieb meinen Schwarzen an, bis ich mit ihm auf gleicher Höhe war. Sereth betrachtete mich verschlossen. Ich, wie er selbst, diente dem Dharen, dachte er, und gab seinem Hulion durch eine Berührung zu verstehen, daß er anhalten sollte. Wir waren die ganze Nacht von Galesh aus geritten, wohin ich ihm mit den beiden Tieren entgegengekommen war. Zuletzt hatte er in Dritira die Befehle des Dharen ausgeführt. Davor in der Höhle Diet, und davor auf der Sternenwelt M'ksakka, hatte er entsprechend Khys' Wünschen Tod und Bestrafungen ausgeteilt. Und 10
das erfolgreich, obwohl diese Aufgaben mit einem größeren Risiko verbunden waren, als ein Mann hoffen kann zu überleben. Seine Gedanken beschäftigten sich freudlos mit Erinnerungen. »Wie hat dir M'ksakka gefallen?« fragte ich, um ihn anzuregen, etwas anderes hinter dem undurchdringlichen Schild, den er errichtet hatte, hervorzulocken. »Ich werde Khys einen ausführlichen Bericht zukommen lassen«, antwortete er und glitt vom Rücken des Hulion. »Lassen wir sie ausruhen.« Ich gesellte mich zu ihm, wo er im Gras lag und zum Himmel hinauf starrte. »Ich habe dieses Land vermißt«, erklärte er. »Der Himmel dort ist dunkel und bedrückend, immer bewölkt. M'ksakka-Luft brennt in Augen und Lungen. Alles ist mit feinem schwarzen Staub bedeckt. Ich möchte den Planeten nicht wieder verlassen müssen.« »Vielleicht war das der letzte Auftrag«, meinte ich. Er sah M'ksakka vor sich, und dieses Bild war geprägt von seinem Abscheu, sowohl vor der Welt als auch vor der Arbeit, die er dort verrichtet hatte. Die Methoden, die er dabei anwenden mußte, widersprachen seinem Sinn für Angemessenheit. Warum die M'ksakka sterben mußten, war ihm nicht klar. Ich konnte den Moment sehen: des Justierers überraschte Augen, weit aufgerissen und starr, als Sereths Finger sich um seine Kehle schlossen, ihm die Luft abdrückten; die zu Klauen verkrampften Hände des M'ksakka an seinem Gelenk, als er dem Mann den Kehlkopf herausriß, von dem die Stimmbänder herabbaumelten; dann die Blutfontänen und des Justierers würgenden Tod. Und ich sah andere, die er getötet hatte, solche, die begierig waren, sich mit einem wirklichen, lebenden Silistraner zu messen. Er hatte gezögert, sich darauf einzulassen, aber noch mehr zuwider war es ihm gewesen, einer endlosen Reihe von ihnen entgegentre11
ten zu müssen, also hatte er die ersten drei getötet. Die Hulions lagen still, mit peitschenden Schweifen. Schwere Wolken zogen über die Sonne. Ein sachter Nieselregen fiel. »Der Dharen ist zufrieden mit dir«, bemerkte ich. Er setzte, sich auf, sein Bewußtsein vollkommen unzugänglich. »Was willst du, Carth?« Er starrte auf mich herab. Ich lag bewegungslos. Er machte keinen Versuch, die Antwort aus meinen Gedanken zu lesen. Er wartete nur. »Einen ersten Eindruck. Du stehst zur Beurteilung an«, antwortete ich und richtete mich auf. »Wir wollen wissen, was in dir vorgeht. Deine geistige Gesundheit ist jetzt unsere Sorge.« Er warf den Kopf in den Nacken und beschäftigte sich damit, Grasbüschel auszureißen. »Diese Brunnenfrau in Dritira ist schwanger von dir«, versuchte ich eine weiche Stelle zu finden. Er sah die Brunnenfrau vor sich. In vielem hatte sie ihn an die Hüterin erinnert. Es war Einheiten her, seit er zum letztenmal eine Frau gehabt hatte. Auf M'ksakka gab es zwar weibliche Wesen, aber nicht das, was er unter einer Frau verstand. Nur mit wenigen von ihnen hatte er Beilager gehalten. Und in der Höhle Diet gab es ausschließlich Hellseherinnen. In Dritira, bei der Frau, die ihn an die Hüterin erinnerte, hatte er seinen lang aufgestauten Samen vergossen. Viermal hatte er sie genommen, bevor sie in seinen Augen mehr war als nur ein Gefäß. Und er hatte sie erniedrigt, unbarmherziger, als es sonst seine Gewohnheit war. »Besorge mir die Papiere. Ich werde die Zeugungsvergütung beantragen«, antwortete er. Er wollte die Frau nicht. »Du solltest sie zu dir nehmen. Wir haben sie überprüft. Sie könnte noch eine passable Hellseherin abgeben.« »Dann ist es schade, daß sie empfangen hat. Aus minderwertigem Samen kann nur minderwertige Frucht 12
entstehen.« »Khys hat mich gebeten«, sagte ich, »dir mitzuteilen, daß du dich gerne jeder der Hellseherinnen, die am See wohnen, bedienen kannst. Sprößlinge einer solchen Vereinigung würden zweifellos über beträchtliche Fähigkeiten verfügen. Die Bitterkeit, der du dich hingibst, steht in keinem Verhältnis zur Realität. Wir alle müssen hin und wieder erfahren, daß es Dinge gibt, die wir uns wünschen, aber nicht haben können.« Er gab keine Antwort, sondern stand auf und ging zu seinem Hulion. Er dachte an sie, wie man an die Toten denkt: mit Ergebenheit; und dann an sein Leben und welche Kompromisse er eingegangen war, um es zu behalten. Was er mich wissen ließ, wird Euch zweifellos erfreuen. Was er mir vorenthielt — das ist, was mich beunruhigt. Mehr Einblicke gewährte er mir nicht während unserer Reise. Sein Schild, wie Ihr merken werdet, ist tiefer und fester in seinem Unterbewußtsein verankert, als irgendein anderes, mit dem ich je zu tun gehabt hatte. Der größte Teil seiner Überlegungen findet dahinter statt. Ihn tiefzulesen ist völlig unmöglich. Er läßt nur gerade soviel an die Oberfläche dringen, um seine Wünsche zu formulieren. Daß er erstklassig funktioniert, dafür sind seine Taten der Beweis. Daß er es für vorteilhaft hält, uns jetzt zu dienen, ist sicher. Ich sorge mich, was geschieht, sollte er sich irgendwann entscheiden, uns nicht mehr zu dienen. Meine formelle Empfehlung ist, eine komplette und detaillierte Beurteilung vorzunehmen. Außerdem habe ich das Gefühl, es sollte etwas unternommen werden, um ihn zu beschwichtigen, im Hinblick auf das, zu dem er sich rasch entwickelt. Vielleicht sollte man sogar in Erwägung ziehen, ihn zu eliminieren, damit er nicht, wie Se'keroth, eine Waffe wird, die sich gegen ihren Träger wendet. 13
Gezeichnet war der Bericht Carth. »Carth!« flüsterte ich, als eine dunkle Hand mir das Blatt aus den Fingern riß. Immer noch auf den Knien, wandte ich den Kopf, um ihn ansehen zu können. Seine dunklen Augen glühten. Er fuhr sich mit der Hand durch seine schwarzen Locken. »Fandest du es lehrreich, Estri?« erkundigte er sich, über mir aufragend, das Papier in der Faust zerknüllt. Carth war zornig. Ich wagte nicht zu antworten. Ich starrte auf meine Füße. »Heb das auf!« befahl er und deutete auf die übrigen Blätter. Ich beeilte mich, ihm zu gehorchen, und sammelte kriechend ein, was noch auf dem Teppich lag, während mein Magen sich vor Angst zusammenzog. Schon einmal hatte ich Carth so erregt gesehen, als ich für ihn eine bestimmte Schrift abfaßte. Er hatte sie als vermessen bezeichnet und vernichtet. Ich stand auf und reichte ihm die Tasmappe. Mein Kopf war in Höhe seiner Schulter. Streng blickte er auf mich herab. »Du warst schlecht beraten, das zu tun, was du getan hast«, sagte er. »Er ist nicht zufrieden mit dir. Das hier« — und er warf das zerknüllte Papier durch das Zimmer — »wird die Sache nur verschlimmern. Du solltest dich anstrengen, ihn versöhnlich zu stimmen.« »Was meinst du damit?« wollte ich wissen. »Hat er plötzlich sein Interesse an mir entdeckt?« Ich hatte den Dharen genau dreimal gesehen, seit ich am See der Hörner wohnte: in der Nacht, in der er mich geschwängert hatte, am Tag danach, und einmal, als ich fast sterbend darniederlag, als das Kind geboren wurde. Er war nicht am See der Hörner gewesen, als sein kleines Ungeheuer das Licht der Welt erblickte. Ich hatte nach ihm geschrien, während der vorzeitigen und langdau-
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ernden Wehen. Er war nicht zu finden gewesen. Jetzt, fast acht Einheiten später, war er zurückgekehrt. »Sei nicht unverschämt!« schrie Carth mich an, und seine Ohrfeige schleuderte mir den Kopf zur Seite. Ich hatte Tränen in den Augen und legte eine Hand an meine Wange. Was ich dachte, nicht, was ich gesagt hatte, war der Grund für diese Bestrafung. Ich bewegte vorsichtig den Kopf und wich von ihm zurück. Obwohl ich wußte, daß Carth ein Telepath war, ein Oberflächenleser, das seltenste aller silistrischen Talente, hatte er seine Fähigkeiten nie an mir geübt. Ich selbst konnte die Botschaften des Bewußtseins weder selber vermitteln noch hören. »Estri, komm her.« Ich ging zu ihm, meine Hand glitt von der schmerzenden Wange zu meinem Hals. Als ich vor ihm stand, legte er mir die Hand unter das Kinn und hob mein Gesicht empor, bis ich ihm in die Augen blickte. »Er ist sehr ungehalten, Kind. Du darfst nicht vergessen: Was du denkst, ist für ihn genauso hörbar wie das, was du sagst. Ich weiß, daß du nicht mit Absicht diesen Bericht gelesen hast. Vergiß ihn, wenn du kannst. Konzentriere dich auf das, was vor dir liegt.« Er tätschelte mir die Schulter, sein Zorn war verflogen. »Ich will ihn nicht sehen«, sagte ich und spielte mit den Spitzen meiner kupferfarbenen Haarmähne, die inzwischen bis zu meinen Oberschenkeln reichte. Carth schürzte die Lippen. »Du hast keine Wahl. In einer Drittelendh wird er nach dir rufen. Mach dich fertig.« Und er drehte sich um und schritt durch die zweiflüglige Tür, die mein Gefängnis mit Khys' Gemächern verband. Khys, mein Lagergefährte, hatte die Regierungsgeschäfte wieder übernommen. Der Dharen von ganz Silistra, zurückgekehrt von wer weiß woher, herrschte erneut am See der Hörner. Mach dich fertig, also wirklich, dachte ich beim
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Haarekämmen. Ich besaß nur das weiße, ärmellose S'kim, das ich trug; schenkellang, aus schlichtem Webstoff. Mein Schmuck war der Reif der Stille an meinem Hals. Ich band die Schleifen des S'kim an meinen Hüften neu und warf mein Haar zurück. Dann betrachtete ich mich in der Spiegelwand meines Gefängnisses. Mein Körper, kupferfarben, geschmeidig, nur wenige Schattierungen heller als meine dichte Mähne, stand mir in aufrechter Haltung gegenüber. Eine Zeitlang hatte ich befürchtet, das Ungeheuer in mir hätte ihn zerstört, aber diese Angst erwies sich als unbegründet. Geeignete Übungen hatten ihm Anmut und Festigkeit wiedergegeben. Meine Beine waren sehr lang, die Taille zierlich, die Hüften schmal. Die Schwangerschaft hatte mich kaum verändert. Meine Brüste waren immer noch hoch und fest, mein Bauch flach und straff. Auf jeden Fall gut genug für ihn. Ich streckte meinem Spiegelbild die Zunge heraus. Es antwortete mit der gleichen Geste. Ich lächelte und fragte mich, wie ich auf diese Grimassenschneiderei verfallen war. Dann kehrte ich der Wand den Rücken, die mich immer wieder auf die Grenzen meiner Welt hinwies. Ich wartete am Fenster, den Blick auf das östliche Horn des Sees gerichtet. Die Herbstflammen des Brinar, der Ernteeinheit, loderten über dem Wald. Das Gras würde den Kampf verlieren, es färbte sich braun. Hulions und Hellseherinnen und Zeithüter schlenderten zwischen den elfenbeinfarbenen Gebäuden einher, die den See der Hörner umrahmen wie die Kette einer Brunnenfrau. Der grüne See war still und ruhig unter seiner Maske aus ziehenden Wolken. Unzufrieden mit mir, war er das? Und — was bedeutete das schon. Er bedeutete mir nicht mehr als dieser Knaben-Bastard, den er mir aufgezwungen hatte. Ich wollte nicht, daß er mir etwas bedeutete.
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Einst hatte ich anders empfunden. Er war gut zu mir gewesen in jener ersten Nacht. Ich besaß keine Erinnerung an andere Männer vor ihm, obwohl es bestimmt einige gegeben hatte. In meiner verlorenen Vergangenheit war alles begraben, was geschehen war, ehe ich im Cetet ‚695 zum See der Hörner kam, vor nunmehr zwei Jahren und zwei Einheiten. Und er hatte mir etwas bedeutet, er, der mich als erster berührte: Khys. Er hatte mir gesagt, er würde viele Dinge tun. Einige hatte er getan. Er hatte mit mir einen Sohn gezeugt. Er hatte veranlaßt, daß ich unterrichtet wurde. Es wurde für mich gesorgt, aber nicht von ihm selbst. Dann hatte er noch gesagt, eines Tages würde mir der Reif der Stille abgenommen werden, damit ich meine Fähigkeiten erforschen könne. Das war nicht geschehen. Nach der Schwangerschaft, hatte er versprochen, als es durch mein eigenes Betreiben fast zu einer Fehlgeburt gekommen war. Aber die Befreiung war ausgeblieben, auch nachdem ich ihm sein kostbares Kind geboren hatte. Ich berührte das warme, vibrierende Band an meinem Hals. Daß es so eng war, störte mich nicht. Oft dachte ich gar nicht daran. Aber seine wahre Bedeutung konnte ich nicht vergessen. Khys hatte erklärt, daß ich diesen Reif zu meinem eigenen Schutz trug, damit mein Verstand nicht wieder in das Nichts zurückfiele, aus dem er gerade emporgehoben worden war. Aber ein bestimmtes Ereignis hatte mich etwas anderes gelehrt. Zu Beginn meiner Schwangerschaft, als man noch bemüht war, mich bei Laune zu halten, bat ich Carth um die Erlaubnis, bei den Hellseherinnen in der Gemeinschaftsunterkunft wohnen zu dürfen, wo es weibliche Gesellschaft für mich gab. Zögernd hatte Carth eingewilligt. Am dritten Tag hatte ich weinend nach ihm geschickt,
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um mich zurückzuholen. Zwischen den Hellseherinnen war ich eine Ausgestoßene. Die, die am See der Hörner geboren sind, halten sich für besser als alle anderen. Meine Hautfarbe ähnelte der ihren. Die, die von draußen kommen, aus ›Barbarien‹, wie die Seegeborenen es nennen, bilden eine noch geschlossenere Gruppe. Ich paßte zu keiner von beiden. Und ich gehörte ausschließlich dem Dharen. Sie waren eifersüchtig, diejenigen, die allen gehörten. So glaubte ich zumindest, bis ich einen zornigen Zeithüter in die Frauengemächer treten und einer wimmernden, um Gnade bittenden Hellseherin den Reif umlegen sah. So bestrafen sie Ungehorsam am See der Hörner. Solange sie den Reif der Stille trug, konnte die Hellseherin ihre Fähigkeiten nicht anwenden. Sie war isoliert. Sie war blind, taub und stumm, was Bewußtseinskommunikation betraf. Sie konnte weder sordhen, noch kandern. Sie war hilflos. Mit Schande bedeckt. Sie war gezeichnet, entwürdigt. Wie ich. Als Carth mich abholte, verlangte ich unter wildem Schluchzen zu wissen, was ich getan hatte. Er wußte keine Antwort, außer, daß das Band meinem eigenen Schutz diente. Aber danach begann ich zu zweifeln. Ich zweifelte, bis das Kind sich in mir zu regen begann, bis ich an nichts anderes mehr denken konnte. Gierig versuchte es, mich zu vernichten. Nach einiger Zeit versuchte ich, mich selbst zu vernichten, hauptsächlich, um nicht ein solches Ungeheuer in die Welt zu setzen. Aber es ließ mich nicht sterben. Es genoß zu sehr die Qualen, denen es mich von innen heraus unterwerfen konnte. Als es schließlich geboren wurde, nach dreizehn Stunden Wehen, weigerte ich mich, auch nur einen Blick darauf zu werfen. Ich wollte es auch nicht nähren. Zweimal brachte man mich mit Gewalt dazu, es an die Brust zu nehmen, aber das Ungeheuer war dermaßen
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außer sich, das Gesicht knallrot angelaufen vor Gebrüll, und außerdem verletzte es mich mit seinen Zähnen, daß man mich schließlich von ihm erlöste. Ich hatte niemals von einem Kind gehört, das mit Zähnen geboren worden war, aber ich wußte, dieser Bastard würde welche haben. Ich spürte ihren Biß eine volle Einheit, bevor das . . . Ding aus mir herausdrängte. Ich war froh, es los zu sein, eine ganze Einheit vor dem eigentlichen Termin. Er konnte mich unmöglich tadeln, wenn er es gesehen hatte. Wenn er es mit seinem Bewußtsein berührt hatte, konnte er nicht zornig sein. Ich lehnte mich gegen das Fenster und wartete. Mehr als zweimal die Drittelendh, von der Carth gesprochen hatte, war vergangen, bevor sich diese Türen öffneten und er mich heranwinkte. In seinen Augen stand eine deutliche Warnung, als ich an ihm vorbei in Khys' persönliche Gemächer schritt. Der Dharen stand neben dem Goltisch und entledigte sich seiner Reisekleidung, die so blauschwarz war wie die Thalawände. Sein kupferfarbenes Haar schimmerte golden im Licht der winzigen, von Zeithütern geschaffenen Sonnen, die unter der gehämmerten Bronzedecke schwebten. Carth überquerte geräuschlos den dicken, rostroten Teppich, um mit seinem Herrn zu sprechen. Erst dann richtete Khys den Blick auf mich. Ich drückte mich zitternd gegen die Türflügel. Sein Gesicht war in diesem Moment furchtbar anzuschauen vor Zorn. Carth machte seine Ehrbezeigung und verschwand durch die äußere Tür. Ohne meiner zu achten, legte der Dharen Lederzeug und Waffen ab. Ich beobachtete ihn, den einzigen Mann, der mich je berührt hatte. Ich hatte ihn vergessen, seine langbeinige Anmut, den muskelstarken und doch so geschmeidigen Leib, die rötlich schimmernde Haut. Nur mit der Hose bekleidet, ging er hin, goß sich etwas
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zu trinken ein und nahm das Glas mit zu seiner mit rostfarbener Seide bezogenen Couch. Dort saß er mit untergeschlagenen Beinen, trank gemächlich und musterte mich über den goldenen Glasrand hinweg. Die Falte zwischen seinen geschwungenen Brauen vertiefte sich. Er warf das leere Glas auf den Teppich, wo es lautlos über den dicken Flor rollte. Meine Kehle schmerzte, während ich ihn ansah. Dann rief ich mir ins Gedächtnis, was er mir angetan hatte und was er versäumt hatte zu tun. Ich warf mein Haar zurück und löste mich von der Tür. »Mir wurde gesagt, du wolltest mich sehen«, meinte ich ruhig, die Hände an den Seiten zu Fäusten geballt. Er betrachtete mich eine Zeitlang schweigend mit seinen beunruhigenden Augen. Meine Handflächen wurden feucht unter dieser unverschämten, besitzergreifenden Musterung. »Zieh das aus«, befahl er. »Ich möchte sehen, wie dir die Schwangerschaft bekommen ist.« Mir stieg das Blut ins Gesicht, aber ich löste die Knoten des S'kim und ließ es zu Boden fallen. »Dreh dich«, sagte er. Bebend vor Wut gehorchte ich, wobei ich das abgelegte Kleidungsstück mit dem Fuß aus dem Weg stieß. Als ich ihm wieder von Angesicht zu Angesicht gegenüberstand, stemmte ich die Hände in die Hüften. »Nun?« fragte ich und schüttelte das Haar über eine meiner Brüste. »Was fällt dir ein, dich so hinzustellen!« schrie er. Meine Hände fielen herab. »Komm her.« »Khys!« protestierte ich. Mein Kopf zersprang fast vor plötzlichem Schmerz. Ich sank auf die Knie, die Hände auf die Ohren gepreßt. Aber das half mir nicht gegen dieses Dröhnen. Dann noch ein Schmerz, und mein Kopf wurde an den Haaren zurückgerissen. Und an den Haaren zog er mich zu sich empor.
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»Wie kannst du es wagen, meinem Sohn die Nahrung vorzuenthalten?« verlangte er zu wissen. Ich glaubte, mein Genick würde gebrochen. Mit der anderen Hand hielt er mir die Arme auf dem Rücken zusammen. »Wie kannst du es wagen, so voller Hochmut vor mich zu treten?« Wild schüttelte er meinen Kopf, mit jedem gezischten Wort sprühten feine Speicheltröpfchen über meine Wange. »Du hast dich meinen ausdrücklichen Wünschen widersetzt. Das wirst du niemals wieder tun. Wenn ich mit dir fertig bin, wirst du nicht mehr so vermessen sein.« Er zerrte mich hoch und schleuderte mich gegen die Wand über der Couch. Der Aufprall war so hart, daß mir der Atem stockte. Er stand mit gespreizten Beinen über mir. Ich rührte mich nicht. Ich lag ganz still, wie ich hingefallen war, um ihn nicht weiter zu erzürnen. Angst hinterließ einen üblen Geschmack in meinem Mund. Mein Bewußtsein schrie und wimmerte. Flehend hob ich das Gesicht zu ihm auf. Seine dichtbewimperten Augen, halb geschlossen, waren unergründlich. »Khys, bitte«, bettelte ich heiser. »Ich konnte nicht anders. Es ist ein Ungeheuer, eine Bestie. Bitte, ich habe es versucht. Es treibt mich zum Wahnsinn. Es hat versucht, mich zu töten. Bestrafe es, nicht mich.« Seine Nasenflügel bebten. Er schüttelte den Kopf, die Lippen vor Abscheu verzogen. »Hock dich auf die Fersen«, ordnete er an. Ich gehorchte, schweißbedeckt am ganzen Körper, zitternd, die Arme um mich geschlungen. Ich kannte ihn kaum wieder, den Dharen. Nie zuvor hatte er die Hand gegen mich erhoben. »Es gab nie zuvor einen Grund«, sagte er. Er atmete immer noch schwer, sein Körper war angespannt vor Zorn. Ich strich mit den Händen durch mein Haar, wischte mir die Strähnen aus den Augen, versuchte krampfhaft,
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meine Gedanken zum Schweigen zu bringen. Aber es ging nicht. Ich war wie hypnotisiert von ihm, wie er da über mir aufragte. Ich fühlte mich, wie bei dem Erlebnis mit dem Hulion — gefangen, wehrlos, verwundbar. »Ich habe Angst«, flüsterte ich. »Ein Beweis, daß du nicht völlig wahnsinnig bist«, meinte er. Bei dem belustigten Klang in seiner Stimme hob ich den Kopf. Ich versuchte, mich an sein Gesicht zu erinnern, wie es war, als ich mit seinem Kind in meinem Bauch darniederlag, an seine Besorgnis, sein Mitgefühl. Von derlei Regungen vermochte ich jetzt keine Spur mehr zu entdecken. Er streifte die Hose ab. Ich sah bewegungslos und beobachtete das Spiel der Muskeln an seinem Rücken. »Einst«, sagte er leise und richtete sich auf, »hast du mich gebeten, dich deine Weiblichkeit zu lehren. Damals hielt ich dich für zu schwach. Ich tat, was getan werden mußte, und nicht mehr. Zweifellos ist deine Unfähigkeit, als Frau zu fühlen und zu handeln, zum Teil meine Schuld. Also werde ich versuchen, meinen Fehler wiedergutzumachen, bevor du daran stirbst.« Aber als er auf mich zukam, brachte ich es nicht fertig. Ich konnte nicht dasitzen und ihn seine Wut an mir austoben lassen. Ich flüchtete so weit, wie er es zuließ. Als er beschloß, es wäre genug, war ich plötzlich eine hilflose Gefangene in meinem eigenen Körper, und dieser kehrte ohne mein Zutun zu ihm zurück. Er stand ruhig neben dem Lager und nahm mir die Gewalt über mein eigenes Fleisch. Ich konnte nicht sprechen. Unfähig, es zu verhindern, kniete ich zu seinen Füßen, mit der Stirn den Teppich berührend. Eine ganze Weile ließ er mich diese Fesseln spüren, führte mich Schritt um Schritt an den Rand des Wahnsinns. Als er meine Glieder aus der Gewalt seines Willens entließ, rührte ich mich nicht. Er rollte mich achtlos auf den Rücken und ging neben
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mir in die Hocke, eine greifbare Drohung. Sein Kopf senkte sich zu mir herab. »Lieg still, und tu, was dir gesagt wird. Nur das, nichts sonst.« Ich gehorchte, bis das Verlangen mich seinen Befehl vergessen ließ. Der Geschmack von Blut in meinem Mund, seine flache Hand an meinen suchenden Lippen erinnerten mich wieder daran. Ich bettete meinen Kopf wieder auf seinen Schenkel, während mein Körper sich ihm flehend entgegenwölbte. Ich hörte meine Stimme Worte aussprechen, die er mir zu wiederholen befahl, ohne ihren Sinn zu begreifen. Und ich tat für ihn, was ich nicht geahnt hatte, daß ein Mann von seiner Frau verlangen würde, und ich stöhnte dabei. Er, mit gestreckten Armen über mir aufgestützt, lachte. Als er in mich stieß, schluchzte ich seinen Namen, meine Liebe zu ihm, mein Verlangen. Dann senkte sich sein Gewicht auf mich herab, und ich konnte mich nur an ihn klammern, während seine Stöße meinen Körper schüttelten. Dann schauerte er plötzlich zusammen und lag still. Er blieb bei mir, verlagerte das Gewicht auf einen Arm und strich mir das Haar aus der Stirn. »Ich brauchte dich so sehr, als ich das Kind in mir trug«, flüsterte ich. »Ich weiß«, sagte er. »Ich habe eine Welt zu regieren.« Seine Augen wurden schmal. Ich hatte das Gefühl, ihn in meinem Kopf zu spüren. »Weißt du, wie einsam es für mich ist, immer eingesperrt?« »Ich kann nichts sonst mit dir anfangen.« Er legte sich auf die Seite. »Aber ich werde hierbleiben. Meine Pläne entwickeln sich zufriedenstellend. Ich muß nicht mehr überall nach dem Rechten sehen. Ich möchte, daß du etwas begreifst«, fuhr er fort und nahm mich in den Arm. »Was ich von dir wollte, habe ich bekommen.« Seine Stimme war sanft. Während er
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sprach, glitten seine Hände über meine Hüften. »Ich mußte eine radikale Änderung in deinem Verhalten wahrnehmen, um die Umstände, die du machst, zu rechtfertigen. Carth hat mir berichtet, daß du eine zweite Schwangerschaft wahrscheinlich nicht überleben würdest.« »Ich verstehe nicht, was du meinst«, sagte ich verwirrt. »Es gibt mehr als zweitausend Hellseherinnen am See der Hörner, viele außerordentlich attraktiv, alle begabt und willig. Aus Gründen, über die ich nicht sprechen will, kann ich dich nicht in der Gemeinschaftsunterkunft einquartieren.« Ich rückte von ihm ab. »Bist du mit dem Kind zufrieden?« fragte ich. »Ja.« »Aber mit mir nicht.« Meine Stimme zitterte. Ich war für ihn Zuchtvieh gewesen, und als solches jetzt nicht mehr zu gebrauchen. »Nein«, sagte er. »Mit dir nicht.« »Ich habe mein Bestes getan«, fuhr ich auf. »Ich weiß nicht Bescheid über die Künste des Beilagers.« Er lachte, berührte mit dem Finger meine Lippen. »Es war ein Anfang«, gab er zu. »Wenn du am Leben bleibst, wirst du vielleicht noch einmal lernen, was sich gehört. Du mißverstehst mich, oder ich setze bei dir mehr Verständnis des Lebens hier voraus, als du besitzt.« Er setzte sich auf und zog meinen Kopf an den Haaren in seinen Schoß. »Ich hatte vorgehabt, dich noch einmal zu schwängern. Sollte ich mich entschließen, es tatsächlich zu tun, überlebst du es vielleicht nicht. Ich habe keinen Bedarf an einer aufmüpfigen, widerspenstigen Frau. Entweder änderst du dich, oder ich muß dir ein Kind machen, um deine Existenz zu rechtfertigen.« »Muß?« fragte ich. Furcht vor einer Schwangerschaft
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und die Angst vor dem Tod erfüllten mich. »Du stehst zur Beurteilung an. Ich muß meine eigenen Gesetze befolgen, wenn andere ihnen gehorchen sollen.« Ich zitterte und barg meinen Kopf in seinem Schoß. Ich dachte an das, was ich gelesen hatte und konnte mich nicht beherrschen. Der Schmerz seines Mißfallens, den ich erwartete, blieb aus. Seine Hand legte sich um meinen Hals, hob meinen Kopf. Er bückte sich und preßte seine Lippen auf meinen Mund. Ich spürte, wie er sich an meinem Schenkel rieb. Meine Hand tastete nach ihm, und er ließ es geschehen. Er beugte sich zu meinen Brüsten, die sich ihm entgegendrängten. Irgend etwas in meinem Innern erwachte zum Leben, während dieses Beischlafs. Ich veränderte meine Stellung, bog meinen Hals ein wenig, und die Unbequemlichkeiten waren verschwunden. Mühelos und sicher arbeitete ich an ihm, meine Lippen an den Wurzeln seiner Kraft, meine Nase in seinem goldenen Haar. Und ein Schauer überlief ihn, und seine Hände legten sich auf meinen Nacken, und der Dharen stöhnte und wand sich, die Hände verkrampft in meinem Haar. Als er leise fluchte, begleitet von einem Lachen, richtete ich mich auf, um ihn anzusehen. Immer noch erfüllt von diesem fremdartigen Gefühl, bemerkte ich, wie seine feingezeichneten Lippen vor Lust geschwollen waren. Nach Kriterien, von denen ich vorher nichts gewußt hatte, beurteilte ich die Reaktionen seines Körpers, die Wange gegen seinen flachen, harten Bauch gedrückt, um die Größe seiner Erregung an der Dauer ihres Abklingens zu messen. »Sag mir noch einmal, Dharen, was du mir alles antun könntest, wenn ich dich nicht zufriedenstelle.« Und ich hörte meine Stimme, tiefer als sonst, rauchiger, und es schien mir, daß es die Stimme einer Fremden war, mit
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einem Akzent, den ich nicht einzuordnen vermochte. Er seufzte, richtete sich langsam auf. Mit einem leichten Schubs forderte er mich auf, meinen Kopf von seinem Schoß zu nehmen, und kreuzte die Beine. Ich betrachtete ihn eindringlich und stellte fest, daß er nichts mehr vermißte. »Anmaßende Saiisa«, knurrte er und grinste. Und ich wußte, was das Wort bedeutete, obwohl es in den Sprachgebrauch der Männer gehörte und Carth sich niemals so primitiv ausdrückte. Der Ausdruck bezeichnete eine Münzdirne von der billigsten Sorte und zweifelhaften Fähigkeiten. »Sogar das wäre mir lieber, als mein Leben in jener Kammer zu verbringen«, sagte ich. Die Stimmung war verflogen und mit ihr das eigenartige Selbstvertrauen und die Zuversicht. »Für die nächste Zeit kannst du dich in beiden Räumen bewegen, deinem und meinem.« Sein Blick bohrte sich in meine Augen. »Ist das eine von jenen Dingen, die eine Frau instinktiv weiß?« fragte er, und ich wußte, was er meinte, aber ich konnte ihm keine Antwort geben. Ich glättete die zerknitterten Seidentücher des Lagers. »Vielleicht habe ich davon gelesen«, sagte ich. Ich hatte keinen anderen Wunsch, als mich in seinen Schoß zu schmieden, zusammenzurollen und zu schlafen. Mehr als ich mich danach gesehnt hatte, von dem Kind erlöst zu sein, sehnte ich mich nach seiner Anerkennung. Ich mußte an die einsamen Nächte denken, in denen ich mich in den Schlaf geweint hatte, weil er nicht bei mir war. Er starrte mich an, den Kopf leicht zur Seite geneigt. Ich dachte an meine Demütigung, daß er sich nicht einmal dazu herabgelassen hatte, mich zu benutzen, daß er nicht einmal soweit an mir interessiert war, um sich von dem Wachstum des Kindes in meinem Bauch zu überzeugen.
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Ich legte meine Hand auf seinen Unterarm, über die kupferfarbenen, seidigen Haare dort. Seine Haut, ein rötliches Gold, war einige Schattierungen heller als meine, und ihr Schimmer intensiver. »Khys«, flüsterte ich, »laß mich bei dir bleiben, bitte. Ich werde so sein, wie du mich haben willst. Gib mir nur etwas Zeit.« Ich sah ihn nicht an. Tränen, die ich längst versiegt geglaubt hatte, kamen und erstickten meine Stimme. »Ich liebe dich«, schluchzte ich in meinem Elend und meiner hilflosen Verwirrung. Und er zog mich zu sich heran, und umschlungen von seinen Armen, breitete ich meine Schmerzen vor ihm aus, mein Nicht-Begreifen, meine Zweifel. Ich bat ihn, zu erklären, warum ich den Reif um den Hals trug. Ich flehte ihn an, mir meine Vergangenheit wiederzugeben oder einen anderen Weg zu finden, die Wunden in meinem Bewußtsein zu heilen. Ich fragte ihn nach dem Kind, und warum es wie ein Fluch in meinem Leib gewesen war. Er sagte nichts, bis ich verstummte, leergeweint, aller Worte bar. »Ich werde versuchen, dir einiges zu erklären«, meinte er schließlich. »Aber Geduld gehört nicht zu meinen Tugenden. Ich werde nur ein einziges Mal über diese Dinge sprechen, und du wirst mich niemals wieder fragen.« Ich nickte, den Kopf gegen seine Brust gedrückt, wo sich dicht das kupferfarbene Haar kräuselte. »Zuerst der Reif. Sobald bei dir Anzeichen emotioneller Stabilisierung erkennbar sind, werden wir in Erwägung ziehen, ihn zu entfernen. Als du in jenen ersten Einheiten so gute Fortschritte machtest, war ich überzeugt, du würdest ihn nicht lange tragen müssen.« »Es war das Kind und die Schmerzen, die es mir bereitete«, flüsterte ich. »Es war deine Einstellung, die die Schwangerschaft zu der Folter machte, als die du sie empfandest. Eine
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andere Frau hätte diesen Zustand vielleicht genossen, das Kind geliebt und geweint, weil es ihr genommen wurde. Wieder eine andere hätte sich möglicherweise die Zeit mit Studien oder kreativen Beschäftigungen vertrieben. Seit Tausenden von Jahren tragen Frauen Kinder aus und setzen sie in die Welt.« Ich rückte von ihm ab. Aus zusammengekniffenen Augen schaute er mich an. »Das habe ich nicht gesagt, um dich zu beleidigen. Ich will dir lediglich etwas klarmachen. Du wurdest sozusagen vor zwei Jahren neu geboren. Du bist immer noch damit beschäftigt, die Erfahrungswerte zu sammeln, die man gewöhnlich als Kind erwirbt. Du weißt nicht, was es bedeutet, hilflos dazuliegen, hungrig, weil dir die Muttermilch versagt wird. Du weißt nicht, was es heißt, gehen zu lernen. Bis jetzt hast du noch nicht die grundlegenden Gesetze menschlicher Erfahrungen akzeptiert, die die Basis gereiften Verhaltens bilden. Warte!« schrie er, als ich versuchte, ihn zu unterbrechen. Ich hockte mich auf die Fersen. »Du trägst den Reif. Es ist mein Wille, daß du ihn weiterhin trägst. Wenn es dir Spaß macht, dich dadurch ungerechterweise gebrandmarkt zu fühlen, dann nur zu. Die Hellseherinnen in der Gemeinschaftsunterkunft haben dich nicht wegen dieses Halsringes ausgeschlossen. Wo es Frauen gibt, gibt es auch Informationen. Ich bin sicher, sie wußten alles über dich. Du bist kein Allgemeinbesitz. Du stammst nicht vom See, hast aber die Hautfarbe einer Prinzessin. Und diese Frauen aus den Außenländern hassen, vielleicht zu Recht, die ihnen überlegenen Seegeborenen. Als ich meine Zustimmung gab, wußte ich, du würdest nicht bleiben. Ich wollte dir den Wert deiner Isolation vor Augen führen. Vergeblich. Niemand hat dir verwehrt, Studien ganz nach deinen Wünschen zu betreiben. Lehrer aller Bereiche könnten dich unterrichten. Man sollte sich bemühen, das Beste
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aus dem zu machen, was das Leben einem bietet.« »Aber ich darf nicht am Seeufer spazierengehen. Nicht einmal im Turm des Dharen darf ich mich frei bewegen.« »Du hast versucht, Selbstmord zu begehen. Wir hatten deine Sicherheit im Auge.« »Und davor?« Ich schüttelte mein Haar nach vorne. Es fiel schimmernd über meine Knie, ringelte sich kupfern auf den rostfarbenen Seidenlaken. »Es war zu früh. Du warst noch nicht bereit. Du bist immer noch nicht bereit. Wenn deine Erinnerung zurückkehrt, ohne daß du darauf vorbereitet bist, wirst du umkommen. Es gibt nichts, was ich tun könnte, um diese Rückkehr zu beschleunigen. Ich würde es auch nicht für geboten halten, in dieser Richtung etwas zu unternehmen.« In seiner Stimme klang unterdrückte Ungeduld. Für einen Moment schloß er die Augen. »Und mein Kind?« fragte ich ihn. »Dein Kind ist kein Ungeheuer, nur das erste seiner Art.« »Wie kann das sein?« Ich änderte meine Stellung, weil mir die Knie weh taten. Er stand auf, füllte zwei Schalen aus dem goldenen Krug und brachte mir eine davon. Ich kostete und stellte fest, daß sie Kifra enthielt, herb und prickelnd. Nach einem kleinen Schluck drückte ich das kühle Metall gegen meine Schenkel. »Schau mich an«, befahl er. Ein Muskel zuckte an seinem Unterkiefer. Ich gehorchte und hob den Blick wieder zu ihm auf. »Einst verstreuten die Väter ihren Samen in weitem Umkreis über das Land. Wir haben lange Zeit damit verbracht, ihre Nachkommen zu sammeln. Dich haben wir übersehen. Bestimmt hast du Bescheid gewußt, als dir deine Ähnlichkeit mit den Seegeborenen bewußt wurde.«
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Ich hatte darüber nachgedacht, es aber für ein anmaßendes Hirngespinst gehalten. »Aber es gibt andere Kinder.« »Andere Versuche. Dies ist das erste, das mit meinen Visionen übereinstimmt.« »Ich verstehe immer noch nicht.« »Das habe ich auch gar nicht erwartet. Aber ich habe es dir erzählt, damit du wenigstens ein paar Wahrheiten hast, mit denen du versuchen kannst, deine ureigene Wirklichkeit aufzubauen. Und erbaue sie gut, denn du mußt darin leben.« Seine Stimme war nicht ohne Schärfe, er leerte die Schale und stellte sie ab. Mein Magen zog sich zusammen, als er herankam. »Was bedeutet ›Beurteilung‹?« fragte ich. »Du wirst es erfahren, früh genug«, sagte er, und nahm mir die Schale vom Schoß. Seine langen Finger liebkosten meine Brust. Ich drehte mich, um der Berührung zu entgehen. »Weich mir nicht aus«, sagte er mit sanfter Stimme. »Ich möchte dir noch ein paar mehr Wahrheiten für deine Wirklichkeit geben. Du bist mein. Ich werde mit dir tun, was mir gefällt. Leg dich hin.« Ich legte mich zurück und streckte meine schmerzenden Beine aus. »Ich möchte nicht beschlafen werden, nicht jetzt«, wehrte ich mich, hielt aber still. »Ob du möchtest oder nicht, das hat wenig Einfluß auf das, was jetzt oder irgendwann geschehen wird. Außerdem wirst du deine Meinung gleich ändern. Das verspreche ich dir.« Ich war sein. Und er tat mit mir, was ihm gefiel, und nach einer Endh war Beilager mit ihm zu halten mein einziger Wunsch. Dann war ich allein in seinen Gemächern. Die Türen waren nicht verschlossen. Er hatte zu mir zurückgeblickt mit einem halben Lächeln und einen der Flügel einen
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Spaltbreit offengelassen. Und ich war aufgestanden und hingegangen, um doch stehenzubleiben, die Arme um mich geschlungen, zitternd. Hinter diesen Türen lag die Freiheit. Er würde sehen, daß ich ihm zuwiderhandelte. Oder aber auch, daß ich es nicht konnte. Denn ich konnte nicht. Ich starrte auf die offene Tür und sank in die Knie. Wenn ich flüchtete, würde er mich aufspüren und zurückbringen. Ich erinnerte mich an seinen Zorn. Ich dachte an seine Kraft. Und merkte, daß ich nicht nur nicht zu fliehen wagte, sondern nicht einmal ihn zu verärgern. Ich fragte, wie ich so ruhig vor der lockenden Tür sitzen konnte, ohne wenigstens einen Versuch zu machen. Ich saß mit gekreuzten Beinen, eine Bequemlichkeit, die er mir nicht gestattet haben würde. Über meinem Kopf waren die winzigen Sonnen verblaßt, wie sie es immer tun, wenn kein Zeithüter in der Nähe ist. Für diese Miniatursterne, jeder in seinem eigenen Gefängnis, existierte ich nicht. Ich fragte mich, ob sie traurig waren und rastlos, wie ich in meinem — zwar offenen — Käfig. Und ob es unter ihnen welche gab, sie waren zwölf an der Zahl, die Liebe fühlten. Ich legte mich bäuchlings auf den rostbraunen Galeshirteppich und summte leise eine Melodie. Mein anerkannter Lagergefährte, der Dharen, den ich so vollkommen zufriedengestellt hatte, besaß mich mit Haut und Haaren. Zu einem empfänglichen Weibchen hatte er mich gemacht. Ich lächelte vor mich hin. Ich war eine andere als noch vor wenigen Endhs. Und zweifellos würde er mich lehren, mich noch weiter zu verändern. Ein Schauer überlief mich. Ob ich je die Angst vor ihm verlieren würde? Seufzend stand ich auf und schlenderte durch die Gemächer des Dharen um herauszufinden, mit welchen Dingen ein solcher Mann sich zu umgeben beliebte.
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Ohne ein Wort hatte er mich verlassen. Vor dem Goltisch blieb ich stehen, einem schmucklosen, durchsichtigen Quader, auf dem er seine Reiseausrüstung abgelegt hatte. Ein Dolch war dabei, halb so lang wie mein Arm, in einer Hülle aus grünem Strametall. Der Griff war mit Titriumdraht umwunden, den Knauf bildete ein einzelnes Feuerjuwel. Ich zog ihn aus der Hülle, die Hand um den Griff gelegt. Ein eigenartiges Gefühl durchströmte mich dabei, als berührte ich dergleichen nicht zum erstenmal. Auf der Straklinge war in einer mir unbekannten Schrift ein Spruch eingraviert. Und ein Symbol, das sich auf Hülle und Griff wiederholte, eine flammende Spirale. Und dann merkte ich, was für eine Melodie es war, die ich summte: Se'keroth. Fröstelnd schob ich die Waffe wieder in die Hülle und trat von dem Tisch zurück. Ich berührte weder das Golmesser, das noch dort lag, noch die seltsamen rasiermesserscharfen Stahlscheiben daneben. »Se'keroth, Schwert der Wandlung« dröhnte es in meinem Kopf. Wortlos hatte er mich alleingelassen, in einem unverschlossenen Raum voller Waffen. Ich strich mit den Handflächen über die Innenseiten meiner Oberschenkel, die sich verschwitzt anfühlten, ohne feucht zu sein. Dann schritt ich an den Wänden des Zimmers entlang, wobei ich eine Hand über das glatte Teakholz gleiten ließ, mit dem sie verkleidet waren. Der dicke Teppich verschluckte das Geräusch meiner Schritte. Ich hatte die Möglichkeit, Selbstmord zu begehen, wenn es das war, was ich wollte. Ich konnte mich auch der Waffen bemächtigen und fliehen. Ich tat keins von beidem. Meine Hand ertastete ein Brett, das etwas vorstand. Ich schob es beiseite. Gebundene Bücher und Schriftrollen lagen dort, säuberlich geordnet, hinter einer
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zweiten Wand aus Glas. Darunter entdeckte ich auch seine eigenen Werke, zahlreiche Bände, eingeschlossen das Ors Yris-tera, »Buch der Wetter des Lebens«. Und was nichts anderes als das Spiel selbst sein konnte, Yris-tera, das in drei Ebenen aufgeteilte Brett und der lederne Becher. In diesem Becher, das wußte ich, befanden sich sechzig Spielsteine aus Knochen. Ein weiteres Werk Khys', das Ors Chaldra, lag nahebei. Wahrsagung und Ethik waren während der Höhlenzeit Khys' Sachgebiet gewesen, als er und einige wenige andere sich bemühten, Silistra nach dem Fall eine neue Ordnung zu geben. Bekümmert schob ich das Brett wieder an seinen Platz. Wie konnte ich jemals an ihn heranreichen? Auf dem Goltisch zwischen den anderen Sachen hatte auch Khys' Chald gelegen. Er trug nicht, wie die meisten Silistraner, den Chald fest verlötet um die Hüften. Der große Chald von Silistra, in den jede Kette, die es auf dem Planeten gab, eingewoben war, lag gleich einer ruhenden Slitsa bei seinem Lederzeug. Hätte ich einen Chald gehabt, als sichtbares Zeichen meiner Fähigkeiten und Kenntnisse, als stolzen Beweis meines Chantera, den Willen des Lebens, hätte ich ihn nicht einfach so auf irgendeinem Tisch herumliegen lassen. Aber ich war keinem Chaldra verpflichtet. Und falls ich doch einmal eines angenommen hatte, so war es verloren, zusammen mit meiner Vergangenheit. Es ist eine Schande, chaldlos zu sein. Man hatte mir gesagt, daß ich eines Tages vielleicht den Chald eines Arrar tragen würde, den höchsten, den es überhaupt gibt. Aber das war vor meiner geistigen Umnachtung gewesen, vor dem Kind. Ich stellte fest, daß ich wieder bei den verlockenden Türen angelangt war. So blieb ich stehen und überblickte noch einmal Khys' Wohnung; die rostfarbene Seidencouch, den Goltisch, die mit Kissen ausgelegte Fensternische. Über meinem Kopf flacker-
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ten die kleinen Sonnen, verblaßten wieder. Ich sammelte die drei Trinkschalen neben dem Lager auf und trug sie zu dem Tischchen, wo ihre Schwestern mit dem goldenen Kifrakrug standen. Dann strich ich die Seidenlaken auf dem dick gepolsterten Lager des Dharen glatt. Wieder zogen die Türen mich an. Bestimmt würde er meiner müde werden. Ich, ungebildet, unbegabt, war nicht die richtige Gefährtin für einen solchen Mann. Er war gegangen ohne mich einzuschließen oder zu binden. Es bestand die Möglichkeit, daß ich ihn wieder zwei Jahre lang nicht zu Gesicht bekam. Ich erinnerte mich sehr gut an seine Bemerkung über die mehr als zweitausend Frauen am See der Hörner. Und daran, was er nur angedeutet hatte, daß jede von ihnen sich geehrt fühlen würde, meinen Platz einzunehmen. Und was er von mir haben wollte, hatte er bereits bekommen. Ich legte die Hand auf den bronzenen Türgriff und schob sie auf. Auf der Schwelle stehend, betrachtete ich den mit Teppichen behangenen Korridor, die gewölbte Decke mit einer Unzahl kleiner Sterne als Lichtspender. Der Boden war mit Steinplatten ausgelegt, Quadraten aus blauem Ornithalum und grüngeädertem Achat. Ich setzte einen nackten Fuß auf diese glatte Kühle. Und dann hörte ich ihn, seine Stimme scharf vor Ärger. Von links, um eine scharfe Biegung bei einem Gobelin mit kämpfenden Hulions, schritt er in mein Blickfeld — in Begleitung eines zweiten Mannes. Ich stand wie gelähmt, unfähig, den Fuß zurückzuziehen. Ich machte nicht einmal Anstalten, mein Haar nach vorne zu schütteln, um vor dem Fremden meine Blöße zu bedecken. Khys' Begleiter sah ihm so ähnlich, daß man sie für Brüder hätte halten können, bis auf sein Haar, das einige Schattierungen dunkler war als meines. Er trug ein weites, lose fallendes, blauschwarzes Gewand mit einer glitzernden Spirale an der linken Schulter. Um seine Hüften lag ein Chald fast so
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großartig wie der des Dharen, breit und dick, beeindrukkend in seiner Pracht. ». . . wie ich es wünsche!« sagte Khys zu seinem Begleiter. Sie hatten mich noch nicht bemerkt. Ich verharrte betäubt, regungslos. »Mir scheint«, bemerkte der andere, uneingeschüchtert, »daß in dieser Sache Euer Urteil von Gefühlen getrübt ist.« Ich hielt mich an der Tür fest. »Du wirst bald anders darüber denken«, sagte Khys. Sein Mund war nur ein dünner Strich. »Ich kann . . . Estri! Komm her.« Beide blieben sie vor dem Huliongobelin stehen. Zitternd beeilte ich mich, ihm zu gehorchen. Die Augen seines Gefährten musterten mich kalt und abschätzend. Ich kniete vor ihm nieder, wie er es mich gelehrt hatte, mein Haar über seinen Füßen, meine Knie auf dem kalten Steinboden. Es war nicht leicht vor einem Fremden. Ich fühlte, wie meine Haut sich rötete. »Natürlich könnt Ihr sie zum Gehorsam zwingen. Darum geht es auch nicht«, sagte der andere. »Im Gegenteil, genau darum geht es. Aber Gehorsam läßt sich definieren. Ich glaube«, sagte Khys, »daß das, was ich getan habe, für dich interessant sein wird, trotz des vorschnellen Urteils, das du gefällt hast. Jetzt allerdings ist nicht der Zeitpunkt, darüber zu sprechen.« Er beugte sich herab und berührte mich. Ich erhob mich, meine Brüste von den im weichen Licht schimmernden Haaren bedeckt. Khys' Augen wirkten besorgt. In dem Blick des anderen stand offene Feindschaft. »Komm mit uns«, sagte er und machte Platz, damit ich zwischen sie treten konnte. »Dies ist Vedrast, Estri.« »Presti m'it, Hüterin«, grüßte Vedrast, ein geheucheltes Lächeln um die vollen Lippen. »Ihr verwechselt mich, Arrar.« Er griff nach meinem Arm, wie um mich in Khys' Wohnung zurückzugeleiten.
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Ich spürte einen leichten Schlag bei seiner Berührung, dann die Gegenwart von etwas Fremdem in meinem Bewußtsein. Angstvoll umklammerte ich Khys' Handgelenk. Er schüttelte kaum merklich den Kopf. Ich ließ die Arme sinken. »Vergebt mir, Hüterin«, meinte Vedrast geheimnisvoll. Seine Augen waren eindeutig bernsteinfarben. Khys schloß die Doppeltüren, und das Licht unter der Decke wurde heller. Der Arrar Vedrast schritt durch das Zimmer und füllte sich eine Schale mit Kifra, die er mit in die Fensternische nahm, wo er es sich auf den Kissen bequem machte. Die Spirale auf seinem Gewand glitzerte. Ich wandte mich von ihm ab zu Khys, der hinter mir stand. Mein Lagergefährte hatte die Hände in die Hüften gestützt, sein Gesichtsausdruck wirkte geistesabwesend. Er schien weit weg zu sein. Ich zögerte, obwohl ich nur den Wunsch hatte, in seinen Armen Schutz vor diesem anderen zu suchen, der mich mit seinen Blicken einschüchterte. Er winkte mich heran und legte den Arm um mich. Seine Brauen waren gerunzelt, aber nicht meinetwegen. »Du würdest besser etwas behutsamer vorgehen, Vedrast«, warnte er seinen Gast. »Es ist das gesamte Überwachungssystem, das hier auf dem Spiel steht.« »Ich begreife nicht, was Ihr meint«, sagte Vedrast langsam, das Kinn grimmig vorgereckt. Funkenwirbel schienen in der Luft zwischen ihnen zu tanzen. Khys versteifte sich. »Was du hier tust, ist im besten Falle eine Formalität. Ich werde wie stets tun, was ich will. Bei ordnungsgemäßem Vorgehen wird die Überwachung mich bestätigen. Wenn nicht, dann wurde nicht ordnungsgemäß vorgegangen.« Der Arrar erbleichte sichtlich, stellte seine Schale beiseite und stand auf. Khys schob mich sanft von sich
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weg. Sie betrachteten einander. »Mißachtet Ihr die Regeln, die Ihr selbst aufgestellt habt?« »Ich legte Richtlinien fest, die, richtig angewendet, als Sicherheitsfaktoren bei komplizierten, weitreichenden Kands dienen sollten. Wenn das Sordhen des Überwachers nicht frei von Vorurteilen ist, wird das Ergebnis verfälscht.« »Auf diese Punkte möchte ich noch einmal zurückkommen, wenn wir alle versammelt sind«, knurrte Vedrast und streifte mich mit seinem durchdringenden Blick. Es schockierte mich, daß er so zu dem Dharen sprach. »Tu deine Arbeit hier, jetzt!« befahl Khys. »Und ich warne dich, laß dich nicht zu etwas Unüberlegtem hinreißen.« Der Arrar Vedrast schloß für einen Moment die Augen, um seine Fassung zurückzugewinnen. Dann wandte er sich mir zu. Ich wich zurück. »Bleib stehen, Estri«, wies Khys mich an. »Komm, setz dich zu mir«, sagte der andere, und streckte mir die Hand entgegen. Furchtsam ergriff ich sie. Diesmal fühlte ich keinen Schlag, aber wieder die Berührung von etwas Kaltem, Fremdem in meinem Bewußtsein. Ich schaute den Dharen an. »Bitte, Khys«, flehte ich, während Vedrast mich unerbittlich zu der Nische führte. Er wandte den Blick ab, sein Gesicht war kalt. »Setz dich. Khys, wenn Ihr so gut sein würdet . . .« Und er deutete auf den Platz zu seiner Linken. »Ich danke Euch«, sagte Vedrast, als Khys sich niedergelassen hatte, mit dem Rücken gegen die verhangenen Fenster gelehnt. »Jetzt, Estri, werde ich dich betäuben. Es tut nicht weh, und die Wirkung hält nur kurze Zeit an.« Er beugte sich vor und legte beide Hände so um meinen Hals, daß
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die Fingerspitzen im Nacken zusammentrafen, wo die Wirbelsäule in den Schädel übergeht. Ich empfand Müdigkeit, das Verlangen zu schlafen, sowie eine Dämpfung aller äußeren Eindrücke. Ich konzentrierte mich darauf, aufrecht sitzenzubleiben. Mein Körper war schwer, unbeweglich. Verschwommen merkte ich, daß statt Vedrasts jetzt Khys' Hände um meinem Hals lagen. Und ich sah, undeutlich, wie sie meinen Reif der Stille fortnahmen. Aber ich brauchte alle Kraft, um nicht haltlos in mich zusammenzusinken. Wieder näherten sich die Hände des Arrar, und er schaute eine Zeitlang auf meine Kehle. Ich spürte ein verzweifeltes Verlangen, mich hinzulegen und zu schlafen. Dann fragten sie mich nach Hulions. Und ich hörte mich selbst antworten, erzählen, was an diesem Morgen geschehen war. Man verlangte Einzelheiten, und ich berichtete. Dann fragte Vedrast mich, was für Gedanken mir beim Durchlesen von Carths Papieren gekommen waren. Und nach dem Arrar Sereth fragte er mich. Und ich antwortete ihm nach bestem Wissen und Gewissen, daß ich ihm nur einmal begegnet war, aber gelegentlich von ihm träumte, da das Leben meiner Namensvetterin mich in hohem Maße beeinflußte. »Warum, glaubst du«, forschte Vedrast, »hast du diese Träume? Haben sie dich beunruhigt?« Ich schüttelte den Kopf, weil es mir schwerfiel, einen klaren Gedanken zu fassen. Etwas in meinem Innern schrie, daß meine Antworten wichtig seien, sogar entscheidend, aber ich wollte nur meinen Kopf in den Schoß des Dharen betten. »Nein, sie beunruhigen mich nicht.« Mühsam rang ich mir die Worte ab. »Ich habe keine eigene Vergangenheit. Die ihre hat mich außerordentlich gefesselt. Ich
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habe mir ja auch ihren Namen ausgesucht. Ich möchte sein wie sie, aber ich weiß, was ich in dem Buch las, gehört zu ihr, nicht zu mir.« »Ich verstehe«, sagte Vedrast. Ich blinzelte, um Khys' Gesicht erkennen zu können, aber es gelang mir nicht, daraus zu lesen. »Erzähl mir jetzt von dem Kind, das du getragen hast.« Ich gehorchte, und vor meinem inneren Auge tauchte wieder jenes verhaßte Ungeheuer auf, die Erinnerung an meinen geschwollenen Leib. »Und von Khys«, drängte er mich. Ich versuchte aufzustehen. Vergeblich. Ich konnte ihn fühlen, wie er durch meine Erinnerungen schlenderte, aus dem Weg stieß, was ihn nicht interessierte. Mein Kopf war erfüllt von wirren Gedanken, Eindrücken, einem Muster, das sich bis in die noch ungeborene Zukunft hinein erstreckte. »Erzähle«, wiederholte Vedrast. Seine bernsteinfarbenen Augen schienen die Antworten aus mir heraussaugen zu wollen. »Ich diene ihm«, flüsterte ich. »Ich bin zufrieden mit der Zeit, die er mir widmet, und wünsche mir nichts anderes.« Dann fühlte ich Vedrast, wie er unserem Beilager nachspürte. Erzürnt trat ich ihm dort entgegen, mit einer Kraft, von der ich nicht geahnt hatte, daß ich sie besaß. Und es gelang mir, ihn zu vertreiben. Verblüfft zog der Arrar sich zurück. Khys legte mir sanft den Reif wieder um den Hals. Mit einer zweiten Berührung ließ er den Reif sich zusammenziehen. Dann streifte er mit den Fingerspitzen meine Stirn, und die Trägheit, die ich empfunden hatte, verflog. Vedrast, der wie von inneren Zweifeln bewegt immer wieder den Kopf schüttelte, stand auf, zog die Vorhänge zurück und schaute in den sich neigenden Tag hinaus.
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»Vielleicht könnt Ihr sie halten«, meint er widerwillig. »Zweifellos kann ich das«, erwiderte Khys und streichelte mein Haar. Ich war ohne das Band gewesen und hatte den Unterschied wohl bemerkt. Ich sah ihn an. »Ich würde alles tun, um diese Freiheit zu erlangen, zu sehen, zu hören und zu fühlen wie du«, flüsterte ich und mußte gegen die aufsteigenden Tränen ankämpfen. »Und für mich wäre es eine Freude, dich frei zu sehen«, sagte Khys. »Wenn die Zeit gekommen ist, sei versichert, wird dein Wunsch in Erfüllung gehen.« »Habe ich bestanden?« erkundigte ich mich angstvoll. »Wird man mich eliminieren?« Khys lachte. Vedrast wandte sich mit ernstem Gesicht zu uns herum. »Antworte ihr doch, o Meister der mürrischen Miene«, befahl der Dharen. »Gewöhnlich pflegt man dem Betroffenen nicht die Ergebnisse mitzuteilen«, wehrte Vedrast ab. »Mach eine Ausnahme.« Die Stimme des Dharen hatte den umgänglichen Ton verloren. »Es liegt nicht in unserer Hand. Ihr habt es gehört. Wäre es anders, könnte ich mich versucht fühlen, eine Krise herbeizuführen, um zu beobachten, wie Ihr damit fertig werdet.« Vedrast hob die Schultern. »Das hier ist doch alles sinnlos. Ich werde Euch einen Bericht schicken.« »Du wirst einen Bericht schreiben, bevor du den See verläßt. Und mir vorlegen, damit ich ihn unterschreibe. Oder auch nicht unterschreibe. Auf jeden Fall möchte ich jetzt hören, was darinstehen wird.« Seine Hand auf meinem Rücken verharrte mitten in der Bewegung. »Das ist eine Komödie!« schnaubte der Arrar. »Allerdings, wie die gesamte Zivilisation. Aber ganz brauchbar. Als ein komödiantischer Primate mit dem Wahn, intelligent zu sein, möchte ich dich warnen, in meiner Gegenwart etwas vorsichtiger zu sein. Wie leicht
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könnte ich dich mitten durchbrechen und die Reste an die Hulions verfüttern. Also, in nicht mehr als zehn Worten, was ist deine Meinung?« »Sie ist neutralisiert. Einigermaßen angepaßt. Potentiell gefährlich. Kann ich gehen?« Speicheltröpfchen von seinen vollen Lippen begleiteten die hervorgestoßenen Worte. »Warum nicht gleich. Geh jetzt, und schreibe deinen Bericht. Zum Abendessen erwarte ich dich wieder bei mir zu sehen.« »Ich habe woanders zu tun«, sagte Vedrast und trat mit einem großen Schritt über meine ausgestreckten Beine hinweg. »Das kann warten. Hier gibt es wichtigere Dinge zu erledigen.« Der Arrar vollführte eine übertriebene Ehrenbezeugung, schritt aus dem Gemach und schloß mit einem lauten Knall die Türen hinter sich. Khys verriegelte von innen das Schloß und wandte sich dann mit einem breiten Grinsen zu mir um. Er kam und stand vor mir, die Hände in die Hüften gestützt. »Du träumst also von Sereth, immer noch. Vielleicht schenke ich ihn dir für eine Nacht. Würde dir das gefallen?« Ich zuckte zusammen und schob mich zwischen den Kissen zurück bis ans Fenster. Dabei überlegte ich, was mit mir geschehen würde. War die Beurteilung zu meinen Gunsten ausgefallen? Oder würde die Empfehlung in meinen Papieren dieselbe sein wie in Sereths? Ich konnte auf nichts anderes hoffen als auf Khys' Schutz. Bei dem Gedanken an Vedrast überlief mich ein kalter Schauer. »Rede schon«, forderte er mich auf und hockte sich nieder. »Nein, Dharen«, flüsterte ich, zusammengekauert
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inmitten der rostbraunen Kissen. »Was?« »Nein. Es würde mir nicht gefallen. Ja, ich werde dir dienen, wie immer du es wünschst.« Ich bemühte mich, nicht in Tränen auszubrechen. Ich grub die Nägel in meine Handflächen und holte tief Luft. Dann mußte ich daran denken, wie es ohne den Reif gewesen war, und schließlich versuchte ich, überhaupt nicht zu denken. »Dein Leben«, sagte er und streckte sich auf den Kissen aus, »liegt allein in meinen Händen. Solche Entscheidungen haben immer allein bei mir gelegen. Die anderen mögen Vorschläge machen. Aber auch sie werden beurteilt. Die Ratsversammlung hat nur soviel Macht, wie ich ihr zugestehe. Über dich habe ich ihr keine Macht gegeben.« Und ich sah ihn an und wußte, daß er ein Mann war, der immer nur soviel gab, wie es ihm beliebte. Er herrschte schon so lange über Silistra, und so gut, so seidenweich war die Hand aus Stahl, daß kaum jemand ihn für ein lebendes Wesen hielt. Man zitierte ihn, achtete Chaldra, ließ sich bei Entscheidungen von den Ergebnissen des Yris-tera leiten. Man hielt ihn mehr für eine Macht als für einen Mann, einen längst verstorbenen Priester der Gerechtigkeit und Wahrheit. Und dieser Priester der Gerechtigkeit und Wahrheit drängte mich gegen das Fenster, damit ich seine Männlichkeit bezeugte und durch seine Berührung gesegnet würde. Als es vorbei war, schlief er, während ich neben ihm lag und meine Hüftknochen massierte. Ich dachte lange nach, über Angst und Liebe, und wie ich wohl für ihn empfunden haben würde, wäre alles anders gekommen. Aber die Dinge waren nun einmal wie sie waren, und diese Überlegungen vermittelten mir keinen Trost. Ich drehte mich und bettete meinen Kopf an seine Schulter. Er knurrte im Schlaf, und einen Augenblick
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lang stockte mir das Herz. Halbwach legte er einen Arm über meine Brust und zog mich an sich. Teils beglückt, teil ängstlich, wagte ich kaum zu atmen. In meiner Einsamkeit hatte ich von nichts anderem geträumt. Aber er hatte meine Erfahrungen so gelenkt, daß sie ihm zupaß kamen. Was ich jetzt empfand, war zweifellos mehr eine Folge seiner Planung als ein echtes Gefühl. Endlich schlief ich ein, getröstet von der nicht ganz zufriedenstellenden Schlußfolgerung, daß Liebe, was auch immer ihre Wurzeln sein mögen, für den davon Befallenen Wirklichkeit zu sein scheint. Möglichkeiten, meine Gefühle zu überprüfen, hatte ich nicht, denn ich liebte mein Leben mehr als alles andere. Wenn Khys mich nicht alles über Liebe gelehrt hatte, hatte er mich doch gelehrt, was er von mir erwartete, und das würde mich am Leben erhalten. Wenn er mich nur leben ließ, konnte er meinen Körper haben, mein Bewußtsein, meine Liebe. Mit meiner Angst würde ich irgendwie zurechtkommen. Vielleicht, dachte ich, in den Schlaf hinüberdämmernd, wachte ich sogar auf und war davon befreit. Und ich träumte, ich säße bei der Hüterin, und sie wäre genauso, wie ich sie mir vorgestellt hatte — schön, stolz, ihre Haut, ihre Augen durchglüht von des Vaters Feuer. Auf einem kargen Felsen saß sie mit mir. Khys, sagte sie, verdiente Besseres. Ich, tadelte sie, betrog uns beide mit meiner Einstellung. Ich warf ein, es sei nicht meine Einstellung, sondern sie wäre mir von meiner Umgebung aufgezwungen worden. Und sie stand auf und wanderte auf diesem Felsen umher, lebenssprühend, ungestüm. Sie verlangte zu wissen, wer es war, der meinen Körper bewohnte. Ich war eine Frau, im Fleisch geboren, tobte sie. Mit dem Geburtsrecht der Weiblichkeit gesegnet, aber taub für das innere Gesetz. Ich bin kein Tier, wütete ich. Dann gehörst du nicht zu den Lebenden, sagte sie und kniete
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nieder, die feinen Brauen über den weit auseinanderstehenden, eindringlichen Augen besorgt zusammengezogen. Ich besann mich auf meine Stellung und darauf, vor wem ich saß. So kam die Hüterin zu mir und beschwor mich, mich nicht selbst zu verleugnen. Lebe dein Erbe, verlangte sie streng. Fälle keine Urteile, sondern hör zu und lebe. Mach dich nicht geringer als du bist, und sie wandte meinen Blick nach innen, um die Fülle dort zu sehen. Und als Khys mich weckte, indem er von hinten in mich eindrang, wußte ich einen anderen Weg, mich gegen ihn zu bewegen. Wie die Hüterin drängte ich mich in seine stützenden Hände, hielt ihn fest, ergab meinen Körper ungehemmt seinen Zärtlichkeiten. Ich war keine Enttäuschung — weder für ihn noch für mein kühnes Selbst. »Vielleicht sollte man an einer solchen Gabe keine Zweifel äußern«, sagte er und wischte sich den Schweiß von der Oberlippe, »aber eine anerkennende Bemerkung dürfte erlaubt sein.« Seine Augen verengten sich zu schmalen Schlitzen. »Habe ich dich nicht zufriedengestellt?« Er lachte. »So nennst du das?« »Ich liebe dich«, erinnerte ich ihn und strich mit beiden Händen über meinen straffen Bauch. »Dessen hast du mich schon versichert, bevor wir einschliefen.« Ich knabberte an dem Finger, den er mir auf den Mund legte. »Ich hatte einen Traum.« Ich mußte an die Hüterin denken. Er neigte den Kopf zur Seite. »Möge dergleichen häufiger vorkommen«, sagte er nach einer Weile. Aber die Art, wie er mich betrachtete, verriet Unruhe. Er streckte die Hand aus, liebkosend, und mein Körper wölbte sich ihm freudig entgegen. Er zog die Hand zurück und kniete sich hin.
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»Setz dich«, befahl er. Ich zog die Beine an und stützte mich auf einen ausgestreckten Arm. Es war nicht meine gewöhnliche Haltung, und Khys hatte sie mir auch nicht beigebracht. Meine Brüste, der Bauch und die Linie von Hüften und Taille kamen voll zur Geltung. Ich schüttelte das Haar über die rechte Brust, und es fiel zwischen meine leicht gespreizten Schenkel. Er musterte mich genauestens. Ich fand es erregend, daß er mich so ansah. »Ich habe Verabredungen«, meinte er schließlich. »Sie werden den Rest des Tages und den größten Teil des Abends in Anspruch nehmen.« Seine Stimme war gleichmütig und kühl. »Laß mich bei dir sein, bitte«, bettelte ich, und beugte mich mit weit geöffneten Augen vor. »Ich werde nichts tun, was dein Mißfallen erregen könnte.« Er stand auf, ohne zu antworten. Ich wartete mit angehaltenem Atem, folgte ihm mit den Blicken. In der Nähe der verborgenen Bücherregale schob er einen Teil der Wandverkleidung beiseite. Aus der Nische dahinter nahm er ein nachtblaues Gewand, dunkle Hosen und Sandalen. Ich fragte mich, mit wie vielen der für den allgemeinen Gebrauch bestimmten Hellseherinnen er Beilager gehalten hatte. Mit nicht wenigen, zweifellos. Ich beobachtete seine Bewegungen mit dem Wohlgefallen einer Frau, die einen gutgebauten Mann vor sich hat. Seinen Chald umlegend, drehte er sich zu mir herum, die geschwungenen Brauen leicht in die Höhe gezogen. »Wenn ich es mir recht überlege, sollte ich dir erlauben, mich zu begleiten. Was sich in dir bemerkbar macht, hat mein Interesse erregt. Zieh dich an.« Ich neigte lächelnd den Kopf und machte mich auf die Suche nach meinem einzigen Kleidungsstück. Als ich es an Hals und Hüften zusammengebunden hatte, winkte er mich zu sich heran.
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Belustigung stand in seinen Augen. Er musterte mich von oben bis unten, und dann mußte ich mich einmal um mich selber drehen. Er löste das Band im Nacken und knotete das Oberteil etwas lockerer, während er es um die Hüften fester zog. »Es muß gehen«, meinte er. »Ich werde dir etwas zum Anziehen besorgen müssen, wenn du mit zur Ratsversammlung gehst.« Seine Bemerkung brachte mich dazu, tief in meinem spärlichen Vorrat an stothrischen Lehren zu graben, wo ich nach dem Eis des Inneren Abstands suchte, um meinen verletzten Stolz zu kühlen. Er ließ sich nicht täuschen. »Sei schweigsam«, warnte er. »Und gehorsam. Wenn du dich nicht gebührend verhältst, verspreche ich dir, daß du es bereuen wirst.« Seine Hand umfaßte meinen Nacken, und er zog mich grob in seine Arme, die mühelos das Leben aus mir herauspressen konnten. »Ja, Dharen«, hauchte ich, als er mich losließ. Ich erschauerte. Aufmerksam und stolz ging ich neben ihm her. Merkwürdig genug, lachte ich plötzlich über meine Ängste. Natürlich konnte er mich töten. Zu Recht fürchtete ich ihn. Alle Frauen fürchten solche Männer, die sie durchschauen. Männer, die sich selbst nicht fürchten, werden gefürchtet. Aber darin liegt zugleich die Anziehungskraft jener Furchteinflößenden, die von uns nehmen, was nur eines solchen Mannes zu nehmen ist und nicht der Frau zu geben. Eine Frau kann ihren Körper geben, aber ein Mann muß das übrige verlangen, das, was nur ihm gehört. »Nimm dich in acht, Estri«, warnte er mich geheimnisvoll, während er vor einer Tür stehenblieb und an mir vorbeireichte, um sie zu öffnen. Sein Arm streifte meine Brüste, und sie richteten sich auf. Ich hatte über mich selbst nachgedacht — während ich den vornehmsten Palast am See der Hörner durchschritt an der Seite des
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Dharen von ganz Silistra. Für einen solchen Mann würde mein Bestes niemals gut genug sein. Selbst Estri, die Hüterin, meine Namensvetterin, die den meisten Männern, die ihre Dienste suchten, turmhoch überlegen gewesen war, hatte vor diesem Mann nicht bestehen können. Sie wäre, dessen war ich sicher, mit meiner neuen Betrachtungsweise einverstanden gewesen. Mein erst so kürzlich erweckter Körper sonnte sich in einem neuen Hochgefühl, äußerst erregt. Der Raum hinter den Thalatüren war siebeneckig. Ein großes Fenster mit dunklen Vorhängen gab den Blick frei auf den See der Hörner. Die Decke, hoch über unseren Köpfen, bestand aus gehämmertem Gold, dessen rötlicher Schimmer von Wolken gefangener Sterne geweckt wurde. Mich überlief ein Kälteschauer, als wäre das Gol unter meinen Füßen gefärbtes Eis. Auf dem fremdartigen Symbol dort, einer glitzernden Spirale, drehte ich mich langsam einmal um mich selbst. Khys, der am Fenster stand, beobachtete mich scharf. Wieder ließ ich den Blick schweifen, durch diese leere Halle aus Gold und Thala. Zu beiden Seiten der doppelflügligen Türen standen regungslos wie Statuen Arrars mit breitem Chald, Seegeborene, nach ihrer wie im Feuerschein glänzenden Haut zu urteilen, in der blauschwarzen Gewandung derer, die in Khys' Diensten standen. Der Dharen rief mich zu sich. Meine Glieder, als ich mich gehorsam in Bewegung setzte, erschienen mir wie gefühllos. »Hier bin ich schon einmal gewesen«, flüsterte ich ihm zu, und der Raum nahm meine Stimme auf und warf sie an mein Ohr zurück, lauter, vom Widerhall geschärft. »In deinen Träumen wahrscheinlich«, sagte der Dharen und bedeutete mir, vor dem Fenster niederzuknien.
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Wie er es mich gelehrt hatte, saß ich dort auf den Fersen, den Kopf gesenkt, meine Gedanken in Aufruhr. Nach einer Weile wurde mir bewußt, daß sein Blick nicht mehr auf mir ruhte, daß er durch die Halle ging und mit seinen Gefolgsleuten sprach. Dann begannen die Audienzen. Als jeder der Männer hereingeführt und vor ihn gebracht wurde, kniete der Bittsteller vor dem Dharener nieder und küßte die Fußsohlen seines Herren, wie man es auch mich gelehrt hatte. Der erste war ein Zeithüter namens Ristran, Dharener der Höhle Diet. Gekleidet wie ein Darsti, das rote Haar zu parallel verlaufenden Streifen geschoren, wie es der Zeitperiode entsprach, auf die er sich spezialisiert hatte, machte er seine Ehrbezeugung vor dem Dharen, der sich nicht bemüßigt fühlte, ihn aufstehen zu lassen, so daß er die ganze Zeit seine kniende Haltung beibehalten mußte. Von Astria sprach der Hohe Zeithüter zu dem Fürsten seines Standes und von seinen Schwierigkeiten mit einigen von denen, die sich dort einen Helsar genommen hatten. Khys war nicht erfreut. Er warnte den Dharener, ihm in Zukunft nicht mehr mit Ausflüchten zu kommen, ganz gleich wie phantasievoll, warum er nicht selbst mit den Helsaren und der Situation, die sich daraus ergab, fertig werden könne. Und über seine Missetaten war Khys unterrichtet. Als Ristran sich zu rechtfertigen versuchte, wurde ihm von Khys die Gewalt über seinen Körper genommen. Da ich wußte, wie es war, nicht mehr Herr über das eigene Fleisch zu sein, empfand ich Mitleid mit dem Dharener von Astria. Die Helsare, belehrte ihn Khys, waren nicht dazu vorgesehen, beliebig zugeteilt zu werden. Jene, die immer noch auf der Ebene von Astria lagen, warteten auf bestimmte Personen, für die sie geschaffen waren. Und der Dharener Ristran, den Kopf gesenkt, konnte
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nur stillschweigend lauschen, als Khys ihm befahl, seine Schule all jenen zu öffnen, die der Lehren der Helsare bereits teilhaftig geworden waren oder bald werden würden. Der Dharener mochte sich nicht darein fügen. Er wollte keine Diener, Münzdirnen, Waffenmeister oder Threxreiter in seine Obhut nehmen. »Was sollte ich mit ihnen anfangen?« fragte er mit einer vor Angst und Wut zitternden Stimme, doch immer noch auf den Knien liegend. »Bilde sie aus, formiere sie zu einer Gruppe, benutze sie. Wenigstens das«, befahl Khys und schloß mit der Bemerkung, daß auch diejenigen Helsarträger, die jetzt noch kaum lesen oder schreiben konnten, bald über sehr viel größere Fähigkeiten verfügen würden. Außerdem verlangte er einen Bericht über alle, die Helsar-Studien betrieben. Und das, mahnte er Ristran, innerhalb einer Einheit. Dann informierte er den Dharener mit scharfer Stimme, daß er Bescheid wisse über die Bestrebungen jener der Höhle Diet, bestimmte Helsare für sich zu behalten, ungeachtet ihrer rechtmäßigen Besitzer. Sollte er, sagte Khys, jemals wieder von solchen Vergehen hören, würde er persönlich Ristran einen Reif der Stille umlegen. Der Dharener schaute ungläubig zu ihm auf. Dann richtete er den Blick auf mich, mit einem Ausdruck, den ich nicht erklären konnte. Ich sah seine Glieder plötzlich zittern, als Khys ihm die Herrschaft über seinen Körper wiedergab. Steif erhob er sich und entfernte sich rückwärtsgehend in Richtung der Thalatüren, die Augen ehrerbietig niedergeschlagen. Der zweite Bittsteller an diesem Tag, dem erstvierten Brinar, wurde eingelassen, während Ristran noch dem Ausgang zustrebte. Ihm, einem Mann namens Brenath, Ratgeber des Brunnens Astria und Port Astrins, der Vasallenstadt des Brunnens, sagte Khys die erbetene Hilfe beim Wiederaufbau zu. Ich erfuhr, während ich da
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auf meinen schmerzenden Knien hin- und herrutschte, sehr viel über den Zustand des Brunnens Astria. Ich erfuhr, daß bei dem Holocaust Amarsa ‚695 die Küstenlinie von Astria beträchtlich verändert worden war. Der Legatenhafen, wo die Schiffe von anderen Planeten landeten, war erst jetzt so weit fertig, an neuer Stelle wiedereröffnet zu werden. Auch hörte ich von der neuen Brunnenhüterin sprechen, einer höhlengeborenen Hellseherin. Und mein plötzliches Unbehagen war derart, daß Khys sich von dem Bittsteller abwandte und mich warnend anblickte. Ich verschränkte die Finger und versuchte mich zu beruhigen. Jene Frau, Yrisia Ateje diet Vedrast, ging mich wahrhaftig nichts an. Und doch, ihre Erwähnung und ihre Einsetzung als Hohe Gefährtin hatten mich aus der Fassung gebracht. Erneut wandte Khys sich mir zu. Ich sah ihn verschwommen durch die Tränen, die mir ungebeten in die Augen stiegen. Um nicht von ihm gezüchtigt zu werden, neigte ich mein Gesicht zum Fußboden. Als meine Erregung sieh wieder gelegt hatte, bemerkte ich, daß ich mir mit den Fingernägeln die Handflächen blutig gekratzt hatte. Bei dem nächsten Ratsuchenden handelte es sich um einen Mann, der in der Rangordnung der Töter eine hohe Stellung einnahm, Rin diet Tron, vom Sieben der Töter in Astria. Er war ein narbiger, grauhaariger Veteran, der seine beste Zeit fast hinter sich hatte und seine Abneigung gegen das Niederknien und die Fußküsserei, die Khys von ihm verlangte, kaum verhehlen konnte. Wiederholt fühlte ich seine Blicke auf mir ruhen, und seine Augen waren blau und verstört. Von Khys aufgefordert, sprach auch er von Helsaren, aber geistesabwesend, als hätte er vergessen, warum er hierhergekommen war und wünschte sich, er hätte es nicht getan. Er beschrieb, in der Art eines Mannes, der nicht an Probleme gewöhnt ist, die seine eigenen
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Möglichkeiten übersteigen, die Verwirrung seiner Leute. »Helsar-Fähigkeiten«, sagte Rin diet Tron mit rauher, ernster Stimme, »scheinen für die Töter, die sie sich angeeignet haben, mehr eine Behinderung als eine Hilfe zu sein. Und wenn man sie bei Kämpfen mit Abtrünnigen braucht, die gleichfalls darüber verfügen, übersteigt das dabei entstehende Gemetzel alle Grenzen des Angemessenen. Ich habe gesehen, wie Männer ganze Felsbrocken gegeneinander schleuderten. Ich habe Auseinandersetzungen zwischen zwei Männern erlebt, bei denen dreißig den Tod fanden. Die Sordh um Astria ist so verworren durch all jene, die sich mit Owkahen beschäftigen, daß niemand mehr einen Nutzen daraus ziehen kann. Meine Männer schärfen ihre Klingen und sehnen sich nach den Tagen, da sie sie gebrauchen konnten. Nur wenige finden ihre neuen Waffen von Vorteil und studieren ihren Gebrauch. Die meisten, wie auch ich, empfinden diese ganze Situation als unpassend. Ich wäre diese Gaben mit Freuden los, aber würde ich irgendwie davon befreit, wäre ich denen ausgeliefert, die sie gewissenlos anwenden.« Er verstummte, breitete die Hände aus und ließ sie fallen. Offenbar war er der Meinung, daß selbst Khys ihm nicht helfen konnte. Khys trug ihm auf, in Gruppen zu je zwanzig Mann die ratlosen Töter zum See der Hörner zu schicken, um sie hier unterweisen zu lassen. Von Khys durch einen Wink verabschiedet, erhob sich der Töter steif und verließ wortlos den Raum. Der vierte, der vorgelassen wurde, war ein Außenweltler. Ich musterte ihn interessiert, da ich noch nie einen M'ksakka gesehen hatte. Er hatte keine Hörner oder Fühler und keine spitzen Ohren. Seine Haut war, bis auf die olive Tönung, genau wie die Haut eines Silistraners. Auch war er nicht klein, wie ich mir die Bewohner von M'ksakka immer vorgestellt hatte, und sein Haar
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schimmerte schwarz. Untersetzt war er, und zu muskulös für meinen Geschmack, mit Augen wie schmutziges Eis. Er trug enganliegende, fremdartig geschnittene Hosen, schwarz mit Gold eingefaßt, und ein weißes Hemd unter seinem silistrischen Umhang. Als er auf Khys zuging, fiel mir auf, daß er hinkte und seine linke Seite schonte. Nachdem er vor Khys seine Ehrenbezeugung gemacht hatte, starrte er mich unter buschigen Brauen hervor unverhohlen an. Ich straffte den Rücken und erwiderte seinen Blick. Meine Beine schmerzten so sehr, daß ich an kaum etwas anderes zu denken in der Lage war. Sein Name lautete Khaf-Re Dellin, und er war Legat Eins auf Silistra. Ich hatte von ihm gehört. Er stand vor Khys mit einem offiziellen Antrag um Nachforschung betreffs der Mitschuld eines gewissen Töters, der sich zum Zeitpunkt des Todes des M'ksakka-Regulators auf seinem Heimatplaneten M'ksakka befunden hatte. Seine Angst vor Khys, stellte ich fest, konnte nur noch von meiner eigenen übertroffen werden. Der Dharen schlenderte um ihn herum, wo er auf der glitzernden Spirale in dem Golboden kniete. Er schlug vor, Dellin möge unter seinesgleichen einen Sündenbock suchen. Er war, sagte er, über die Art des Todes des M'ksakka unterrichtet worden und fand sie unsilistrisch. Dellin, unterwürfig bis zum Gehtnichtmehr, bat um eine Stellungnahme für seine Vorgesetzten. Diese Stellungnahme bekam er von Khys, eine Betrachtung über das harmonische Wirken der Wetter des Lebens, bei der er sich förmlich krümmte. Dreimal spürte ich, wie er mich ansah, und es schien, daß ihm meine Anwesenheit zuwider war. Auch Khys entging das nicht, und er bat ihn, ihm seine Faszination zu erklären, woraufhin der Legat bat, sich entfernen zu dürfen. Khys erlaubte es.
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»Haltet die anderen zurück«, befahl er den Türstehern und schritt durch den Raum zu der Stelle, wo ich hockte und gegen das Fremde ankämpfte, das meinen Verstand zu überwältigen drohte. Ich bemerkte ihn erst, als er mir die Hand auf den Kopf legte. Ich duckte mich unter seiner Berührung, aus Angst vor Körperfessel, Strafe . . . ich wußte nicht was. Trotz aller Bemühungen war mein Bewußtsein bis zum Überfließen voll mit Empörung und Haß. Statt dessen bedeutete er mir aufzustehen. Und ich wurde ruhiger, die Feindseligkeit verging in dem Maße, wie das Blut in meine abgestorbenen Beine zurückströmte. Ich rieb mir die Knie. »Was denkst du über unseren Legaten?« forschte Khys. Ich fühlte ihn in meinen Kopf eindringen und machte mir nicht die Mühe, ihm laut zu antworten. Er holte sich seine Antwort, das wußte ich, aus meinen Gedanken. Das aristokratische Gesicht ausdruckslos, spielte Khys mit seinem Chald. »Du hast darum gebeten, hier sein zu dürfen«, stellte er fest. »Soll ich dich zurückschicken?« »In mein Gefängnis?« fauchte ich. »Nein. Da ist mir das hier noch lieber.« Also gab er mir einen Wink, wieder meinen Platz vor dem Fenster einzunehmen, durch das man jetzt den Sonnenuntergang beobachten konnte. Wieder unter seinem Blick am Boden kauernd, stieg mir die heiße Schamröte ins Gesicht. Ein Zierstück für seinen Audienzsaal war ich geworden. Und ich hatte den Eindruck, tief gefallen zu sein, aber von welcher Höhe wußte ich nicht. Er schritt, umweht von seinen dunklen Gewändern, zu den Arrars neben der Tür. Der eine verließ mit einem Kopfnicken den Empfangsraum. Der andere verschränkte die Arme vor der Brust.
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Sechs weitere Männer küßten des Dharen Füße an diesem Abend, bemühten sich um seine Gunst, suchten seinen Rat. Die Sterne glitzerten am mondlosen Himmel, bevor er sie alle abgefertigt hatte. Mein Magen knurrte und zog sich zusammen. Mir kam der Gedanke, daß der Dharen vielleicht keinen Hunger verspürte, daß ein solcher Mann keiner Nahrung bedurfte. Aber ich wußte es besser, von einer Nacht, in der ich mit ihm gespeist hatte. Und dann war ich mir nicht einmal mehr sicher, daß es diese Nacht jemals gegeben hatte. Den Blick auf seinen Rücken geheftet, glaubte ich die flammende Spirale dort glitzern zu sehen. Und er war ein anderer, so groß, daß Khys nur als erbärmlicher Abklatsch erschien. Um mich herum sah ich nicht mehr Thalaholz, sondern üppiges Grün, und über mir strahlte nicht Gold, sondern die Pracht des Universums, nicht so matt, wie die Zeit es uns vor Augen führt, sondern hell und vielschichtig, Anfang und Ende und alles, was dazwischen liegt. Und ich merkte, wie ich die gespreizten Finger gegen meinen Kopf drückte und langsam vor- und zurückschaukelte, während Khys' Gesicht sich zu mir herabneigte. Der letzte Bittsteller hatte den Raum verlassen, und die beiden Arrars standen dicht hinter ihrem Herrn, einen abwesenden Ausdruck in den Augen. Ich konnte ihn nicht ansehen, obwohl er es verlangte. Als ich es doch tat, zerflossen und verformten sich seine Züge wie hinter einem Nebelschleier. Ich hörte meine eigene Stimme um Hilfe flehen. Ich bin gar nicht hier, dachte ich verzweifelt. Die flache Hand des Dharen schleuderte meinen Kopf erst zu einer Seite, dann zur anderen. Ich spürte es kaum, so eindringlich waren die wechselnden Bilder vor meinen Augen. Dann erkannte ich die goldene Decke und die gefangenen Sterne darin, und ich wußte, daß er mich
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auf den Armen trug, denn sie waren, wo der Fußboden hätte sein sollen. Dann war ich nicht mehr dort, sondern anderswo, und ich schenkte wieder diesem Ungeheuer das Leben, sah, wie das Band zwischen uns durchtrennt wurde, hörte es schreien. Es schrie und schrie. Ich spürte etwas auf meinem Mund, und das Schreien verstummte endlich. Ich hörte meinen Namen und zwang mich, die Lider zu heben. Und schloß sie wieder vor dem, was ich sah. Aber er ließ mich nicht in Frieden. Ich konnte fühlen wie er in meinem Bewußtsein arbeitete. Ich wehrte mich. Besser, nur dahinzutreiben, für immer. Er wollte es nicht zulassen. Er war stärker als ich. Er holte mich zurück. Ich fühlte die Seidendecken des Lagers unter mir und wußte, meine Chance war vertan. »Estri«, sagte Khys, »sieh mich an.« Ich tat es. Sein Gesicht war wie immer. Kein Nebelschleier verdeckte es, noch seine vertrauten Gemächer, noch Carth, dessen besorgtes Gesicht über seine Schulter lugte. »Nein.« Ich verdrängte alles — den Wahnsinn, den Haß, den anderen, den ich gesehen hatte. »Hilf mir. Bitte hilf mir«, flehte ich, im Angesicht dessen, was ich am meisten fürchtete. »Estri«, wiederholte Khys. Ich begegnete seinem Blick, widerstandslos, daß er diesen verfluchten Wahnsinn heilen möge. Und es war, als stünde man über einem klaren, unergründlichen Brunnen gebeugt, worin der Sinn des Lebens schwimmt und darauf wartet, geschöpft und getrunken zu werden. Ich fühlte mein Herz langsamer schlagen, die Bestandteile meines Blutes sich ausgleichen. Seine Fingerspitzen berührten sich am unteren Teil meiner Wirbelsäule; ich zehrte von seiner Kraft. Sein Gesicht wirkte verändert, mitleidig. Er setzte sich zurück, wieder ganz der Dharen von Silistra.
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»Steh auf«, befahl er. Ich gehorchte, obwohl ich gegen ein Schwindelgefühl ankämpfen mußte. Aber das Zimmer löste sich nicht auf, und Khys' Griff an meinem Arm war sehr wirklich. »Vielen Dank, Carth«, sagte Khys, ohne sich umzudrehen. »Laß Vedrast meine Entschuldigung übermitteln. Es wird nicht mehr lange dauern.« Mit immer noch gerunzelter Stirn wandte sich Carth zum Gehen. »Nun«, bemerkte er ernst, »wollen wir besprechen, was eben vorgefallen ist.« »Ich konnte nicht dagegen an«, wimmerte ich. »Ich gebe mir Mühe, das mußt du doch wissen. Ich kann nicht dagegen an.« »Es gibt keinen Ausweg. Keinen Ausweg, außer dem meinen. Und es gab ihn auch nie.« Er sprach zu dem in mir, das sich immer noch gegen ihn wehrte. »Ich werde keinen weiteren solchen Anfall dulden. Solltest du dich noch einmal so aufführen, werde ich ein zweites Mal auslöschen, was geschrieben wurde, und von neuem beginnen.« Und obwohl ich damals nicht begriff, was er meinte, überlief es mich kalt. Ich biß die Zähne zusammen, um meine Angst nicht so deutlich merken zu lassen. Er lächelte grimmig. »Dein Ahnungsvermögen ist in der Tat vorzüglich. Das Schlimmste kommt erst noch.« Er tätschelte mir sanft den Kopf. An der Tür schaute er noch einmal zurück. »Einen schönen Abend«, sagte er. »Tasa.« Ich hörte die Verriegelung einschnappen, als er die Tür hinter sich schloß. Die Sterne verblaßten. Betäubt blieb ich eine Zeitlang sitzen. Dann stand ich auf und versuchte die Türen, sowohl die zur Halle wie auch die zu meiner Kammer, zu öffnen. Sie waren beide verschlossen. Reisekleidung und Waffen, die auf dem Tisch aus milchigem Gol gelegen hatten, waren verschwunden. Die Platte, die ich ihn nach innen drücken
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gesehen hatte, bewegte sich nicht unter meiner Hand. Ich nahm mir eine Schale mit Kifra, um meine zitternden Glieder zu beruhigen und die Kälte aus meinem Innern zu vertreiben. Wie sehr hatte ich ihn verärgert? Ich fragte mich, was die Nacht noch bringen würde. »Es ist ungerecht«, sagte ich laut und warf die leere Schale auf den rostfarbenen Teppich. Es war nicht recht von ihm, mich zu bestrafen. Der Wahnsinn war bereits Strafe genug. Ich trat in die Fensternische und starrte in die Nacht hinaus. Die Stadt spiegelte sich im See. Zu einer anderen Zeit hätte mich der prächtige Anblick in seinen Bann geschlagen. Wind furchte kleine Wellen in die Wasseroberfläche und die schimmernden Lichter darauf. Wie lange ich so saß, ein Bein auf dem Sims ausgestreckt, weiß ich nicht. Einmal streifte ich mein S'kim ab und schleuderte es trotzig zwischen die Kissen. Ein andermal glaubte ich Schritte zu hören und hob es rasch wieder auf. Das unbehagliche Gefühl in meinem Magen schrieb ich dem Hunger zu. Ich war eingedöst, die Schultern an die kühle Vertäfelung gelehnt, als die Türen sich öffneten. Ich drehte mich nicht um. Die Sterne an der Decke kündigten ihn an. Ich starrte weiter in die Nacht. Er trat von hinten an mich heran in die mit Kissen ausgepolsterte Nische. Mit einem tiefen Atemzug, die schweißnassen Hände geballt, wandte ich mich zu ihm, um seinem Zorn zu begegnen. Und wich zum Fenster zurück; Khys hatte sein Wort gehalten. Vor mir stand der Arrar Sereth. Er trug ein nachtdunkles, lose gegürtetes Gewand. Schatten lagen auf seinen hohlen Wangen, tanzten längs der Narbe, die sich von der Schläfe bis zum Unterkiefer zog. So groß wie Khys, aber hager, war die tödlichste Waffe des Dharen. Ich kniete vor ihm nieder, die Lippen an seinem
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Spann, wie Khys es verlangte. Abrupt zog er seinen Fuß zurück. Verwirrt, die Haare unter meinen Knien eingeklemmt, blickte ich zu ihm auf. Er kauerte sich neben mir nieder. »Hab keine Angst«, sagte er und warf den Kopf zurück. Seine Hand legte sich auf meine Schulter. Mir schien, daß seine Finger zitterten. »Er bat mich herzukommen, dich zu beschlafen.« Seine Stimme, zwischen steifen Lippen hervor, klang sehr weich. »Ich werde es nicht tun, wenn du nicht willst.« So sanft sprach dieser Mann, der mit bloßen Händen anderen die Kehle herausriß, der Brunnenfrauen schwängerte und es ablehnte, sie zu sich zu nehmen. Eine tiefe Falte entstand über seiner kühnen Nase. Ich musterte ihn, die zusammengepreßten Kiefer, das angespannte Gesicht, gefurcht, knochig, zernarbt. Und ich schaute in diese Augen, die meinen Blick suchten. Er war ein Arrar, rief ich mir ins Gedächtnis. Kein Zweifel, daß meine Gedanken ein offenes Buch für ihn waren. »Du bist meine Strafe«, bekannte ich furchtsam. »Es wird mir noch schlimmer gehen, wenn ich dich abweise.« Meine Stimme war kaum lauter als die seine. Dieser Mann, nach dessen Berührung ich mich in Träumen gesehnt hatte, jagte mir solche Angst ein, daß ich kaum noch denken konnte. Er zog die Hand zurück und betrachtete sie, als ließe sich darin die Antwort finden, die er suchte. »Estri«, sagte er heiser. »Erinnerst du dich denn überhaupt nicht mehr an mich?« Er legte die Fingerspitzen an mein Kinn, ließ sie über die angeschwollene Wange gleiten. Seine Augen wurden schmal, als ich zusammenzuckte. »Ich erinnere mich an dich«, flüsterte ich. »Du hast mich einmal zu meiner Kammer gebracht. Du wolltest nicht bei mir bleiben. Du hast mich gebeten, dich in Ruhe zu lassen.«
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Er stand auf und ging zu dem Krug mit Kifra, wobei er unterwegs mit einer geschmeidigen Bewegung meinen zur Seite geworfenen Becher aufhob. Er bewegte sich wie ein wildes Tier, anders als Khys, der ständig von seiner Würde gehemmt schien. Mit zwei gefüllten Schalen kam er zurück und hielt mir eine davon entgegen, zögernd, als fürchtete er, ich könnte ablehnen. Ich griff danach und versuchte ein Lächeln. Diese Augen schätzten mich ab, als wäre ich das lange verfolgte Mittagessen eines Fleischfressers. Hungrig war der Blick, von einem Hunger, wie ich ihn noch nie bei einem Mann gesehen hatte. Er saß neben mir, mit untergeschlagenen Beinen und nippte an der Schale, die er in beiden Händen hielt. Seine Augen ließen mich nicht los. »Wie ist es mit ihm?« fragte er schließlich. »Wie er es wünscht«, erwiderte ich, den Blick auf den Inhalt meiner Schale gerichtet, die ich geistesabwesend herumschwenkte. »Schlägt er dich oft?« »Er tut mir selten überhaupt etwas. Dies ist das erste Mal seit vor der Geburt seines Sohnes, daß ich ihn wieder zu Gesicht bekomme.« Danach schwieg er. Als seine Schale leer war, schenkte er nach. Während ich ihn beobachtete, überlegte ich, was er tun würde, falls ich ihn abwies. »Ich frage mich« — er seufzte, als er sich wieder hinsetzte — »ob er herausfordern möchte, daß ich mich gegen ihn stelle. Du weißt davon wohl nichts, oder?« Seine Augen blickten eindringlich. Er leerte die Schale und warf sie so fest gegen die Wand, daß sie in die Mitte des Zimmers zurückgeschleudert wurde. »Arrar«, murmelte ich, »es wäre sehr gütig, wenn du tun würdest, was du gekommen bist zu tun. Ich möchte nicht seinen Zorn auf mich herabbeschwören.« »Ich bezweifle, daß ich dazu in der Lage bin«, sagte er
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trocken und lachte, ein seufzendes Lachen, gleich dem Winterwind an meinem Turmfenster. »Es tut mir leid«, meinte ich. »Ich fürchte, es ist meine Schuld.« Und ich kniete mich hin und streifte mein einziges Kleidungsstück ab. Seine Augen blieben hart. Mir kam der Gedanke, daß dieser Mann, der mich schon einmal abgewiesen hatte, wahrscheinlich Besseres gewöhnt war. »Sereth«, flüsterte ich, »ich werde mir große Mühe geben, dir Freude zu bereiten.« Er strich sich mit der Hand über die Stirn. Dann löste er den Gürtel seines Gewandes und ließ es von den Schultern gleiten. Vor seiner Nacktheit schrak ich zurück. »Komm her, Kleines«, sagte er und nahm mich in die Arme. »So lange«, stöhnte er, den Kopf an meinen Brüsten. Wiederholt rief er meinen Namen. Nachdem er sich in mir verströmt hatte, hob er den Kopf, und seine Augen waren rot und geschwollen. Ich hatte nie einen Mann dabei weinen sehen. Khys tat es gewiß nicht. Und er hatte seltsame Laute von sich gegeben, während er mich liebte. Lange Zeit blieb er halb auf mir liegen, ohne ein Wort zu sprechen, das Gesicht in meinem Haar vergraben. Meine Finger glitten über den Chald an seinen Hüften, ertasteten das Auf und Ab der Muskelstränge dort. Bei ihrer Wanderung trafen sie auf eine breite Narbe an seiner rechten Seite. Er umfaßte meine Hand und zog sie weg. »Diese Wunde hast du auf der Ebene von Astria erhalten, nicht wahr?« fragte ich leise. »Estri?« forschte er und beugte sich unvermittelt zu mir herab, mit gespreizten Beinen über mir kniend. »Du bist sehr berühmt, weißt du. Und ganz anders als Khys.« Er seufzte und küßte mich leicht auf die Stirn. »Es ist
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gut, bei dir zu sein«, meinte er und stand auf. »Ich wünschte nur, ich verstünde seine Absicht.« Und er ging zum Fenster, wo er sich auf dem Sims niederließ. Ich gesellte mich zu ihm, meine Finger beschäftigten sich mit den verkrampften Muskeln an seinen Schultern. Während er sich gegen meine knetenden Hände lehnte, lachte er verhalten. »Das Leben treibt ein seltsames Spiel mit uns«, bemerkte er. »Arrar, liest du keine Gedanken?« »Nur, wenn es unbedingt sein muß. Und niemals die einer Frau.« »Ich habe Carths Bericht an Khys dich betreffend gelesen.« »Tatsächlich?« Er wich meinen Händen aus. »Was stand drin?« »Daß Khys dich entweder eliminieren oder versuchen sollte, dich auf irgendeine Weise zu beschwichtigen.« »Das hier könnte der Auftakt zu beidem sein«, meinte er nach einiger Zeit, mit einer Stimme wie Stahl auf Eis. »Du bist meinetwegen das Wagnis eingegangen, seinen Zorn auf dich herabzubeschwören. Warum?« Ich betrachtete meine Fußknöchel zwischen den Kissen. Meine Finger verschränkten sich zu einer schützenden Gebärde. Ganz sicher hatte ich das getan. »Ich weiß es nicht«, murmelte ich. Ich saß neben ihm auf dem Sims, so daß unsere Schenkel sich berührten. »Sie sagen, ich sei verrückt. Manchmal bin ich es. Oft tue oder denke ich Dinge, die keinen Sinn haben.« Obwohl ich meine Unruhe zu verbergen trachtete, war meine Stimme rauh und unsicher. Ich bettete den Kopf an seine Schulter. »Du bist nicht verrückt«, flüsterte er beinahe zornig. »Nur was dir zugestoßen ist, und die Art, wie er dich behandelt, bringt dich auf solche Gedanken.« »Auf seine Art hat er mich gern«, entschuldigte ich ihn. Er spie ein Wort aus, dessen Bedeutung ich nicht
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kannte. »Was heißt das?« fragte ich ihn. »Es heißt, daß Khys nichts wichtig ist außer seinen Kands. Gar nichts.« »Glaubst du«, wagte ich zu äußern, plötzlich den Tränen nahe, »daß er dich wieder zu mir lassen wird?« Das Zimmer verschwamm. Ich kämpfte dagegen an und gegen die schmerzende Traurigkeit, die mich überfiel. In meinem Bewußtsein hatte ich ein anderes Bild von ihm — zu einer anderen Zeit, an einem anderen Ort. »Ich weiß nicht«, erwiderte er abwesend. »Ich werde kommen, wenn es möglich ist.« Aber die Antwort interessierte mich gar nicht mehr. Ich rutschte vom Sims und rollte mich schluchzend auf den Kissen zusammen. Ich hörte meine Stimme, die ihn um Hilfe anflehte. Und er nahm mich in die Arme und wiegte mich wie ein Kind, wobei er in einer Sprache zu mir redete, die ich nicht verstand. Als meine Tränen versiegt waren, beschlief er mich ein zweites Mal, ungestüm und wild. »Zieh dich an«, sagte er und klatschte mir auf das Hinterteil. »Ich habe für dich getan, was ich konnte.« Er angelte nach seiner Hose, dem Obergewand, den Sandalen. »Wohin gehst du?« fragte ich, indem ich das S'kim verknotete. »Ich werde dich, gemäß meinen Befehlen, zum Dharen bringen«, antwortete er, die braunen Äugen eindringlich auf mein Gesicht gerichtet. Und obwohl ich mich bemühte, meine Angst nicht zu zeigen, wußte ich, daß er sie bemerkte. Ich löste meine steifen Finger von dem Band um meinen Nacken und strich das S'kim über den Hüften glatt. Die Stirn gerunzelt, stieß er mich behutsam in Richtung Tür. »Ich sollte«, meinte er, die Tür hinter uns wieder
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schließend, »zu dir nicht von diesen Dingen sprechen, aber ich werde es. Laß dich von ihm nicht so einschüchtern. Für alle Herren kommt die Zeit. Und du verfügst als Frau über gewisse Waffen, die du gegen ihn einsetzen kannst. Wäre ich du, würde ich so handeln.« Verständnislos schaute ich zu ihm auf. »Ich habe dich geliebt«, fügte er mit gesenkter Stimme hinzu, »seit ich dich das erste Mal sah. Wir sind beide noch am Leben. Für jetzt muß das genügen. Wann immer ich die Möglichkeit haben werde, dir beizustehen, wisse, daß du auf mich zählen kannst.« Und ich ging auf unbeholfenen Beinen neben ihm her, jeder Schritt eine Überraschung, wenn mein Körpergewicht auf den Boden traf. Ich fragte mich, was ich tun sollte. Khys, der mein Kind gezeugt hatte, hatte mich diesem Mann gegeben, der ihn vernichten wollte. »Khys ist mein Lagergefährte«, erinnerte ich ihn, diesem Fremden, dem ich weinend und um Hilfe flehend Einblick in meinen Wahnsinn gewährt hatte. Seine Hand massierte meinen Nacken, während wir durch die Halle schritten, vorbei an dem Huliongobelin. Die Berührung erinnerte mich an seine Art mit meinem Körper umzugehen, so ganz anders, soviel hingebungsvoller als die des Dharen. Ich dachte wieder an Khys, und als Sereth die Tür zum Studierzimmer des Dharen öffnete, zitterte ich. In diesem Raum, mit Wänden aus Thala und Silber und bemalter Decke, saß er mit Vedrast an einem Tisch. Ich kannte das Zimmer. Hier war mein Kind gezeugt worden, nicht auf einem der sechs schmalen Ruhelager, sondern auf dem silbrig schimmernden Teppich unter den dunkel verhangenen Fenstern. Kerzen brannten auf dem runden Tisch, wie auch in jener Nacht, obwohl eine Vielzahl gefangener Sterne hoch in den vier Ecken des Zimmers schwebten. Khys und Vedrast erhoben sich und nahmen mit ihren
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Bechern auf den thalafarbenen Ruhelagern Platz. Sereth schob mich sanft vorwärts. Ich ging zu dem Dharen, streifte seine Sandale mit den Lippen und kauerte mich ihm gegenüber auf die Fersen. »Setz dich, Sereth«, befahl Khys mit einer Handbewegung zu einem Platz an seiner rechten Seite. Sereth rutschte herunter bis in eine fast liegende Stellung, die Arme vor der Brust verschränkt, den Kopf gesenkt. Khys tauschte einen Blick mit Vedrast, der mit ausgestreckten Beinen auf dem Lager zur Linken des Dharen saß. Ich bewegte mich, was er mit einem ungnädigen Blick zur Kenntnis nahm, bevor er sich an Sereth wandte. »Wie fandest du sie, Arrar?« erkundigte sich Khys neugierig. »Sehr gemindert«, erwiderte Sereth kaum hörbar und hielt dem Blick des Dharen furchtlos stand. »Aber nicht so sehr, daß du nicht wieder mit ihr Beilager halten würdest«, meinte Khys über seine zusammengelegten Fingerspitzen hinweg. »Nein, nicht so sehr«, stimmte Sereth bei. Sein Gesicht war bleich vor Konzentration. »Du hast mir gut gedient, in Dritira. Und in der Höhle Diet haben deine Erfolge meine kühnsten Hoffnungen übertroffen. Was du auf M'ksakka tatest, ist nicht ohne Auswirkungen geblieben, aber das liegt nicht an dir. Wir hofften, dies« — er nickte in meine Richtung — »würde dich erfreuen. Wir sind nicht undankbar.« Die Augen fast geschlossen, versuchte Khys Sereth mit seinen Blicken zu durchbohren. Dessen Narbe wurde feuerrot, und sein Körper versteifte sich. Aber er wandte die Augen nicht ab. Die Luft zwischen ihnen begann zu flimmern, sprühte Funken. Vedrast stand plötzlich auf, die Schultern hochgezogen, einen Ausdruck der Verwirrung auf dem Gesicht.
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Und dann, völlig überraschend, lachte Khys laut auf und streckte Sereth die Hand entgegen. Der Arrar strich sich über das schweißnasse Gesicht, bevor er sie ergriff. »Wann möchtest du diese Sache erledigt haben?« fragte er. »Jetzt!« Und eben als Sereth aufsprang, schien Vedrast seine Starre abzuschütteln und wirbelte herum. Für einen Augenblick rangen sie miteinander, Sereths Arm von hinten um den Hals des Mannes. In der anderen Hand hielt er, wie ich sehen konnte, als er Vedrast die Beine wegstieß und ihn auf die Knie zwang, einen offenen Metallreif. Khys beugte sich aufseufzend vor, als Sereth von Vedrast zurücktrat, dem er einen Reif der Stille umgelegt hatte. Jener, auf den Knien, faßte nach seiner Kehle und stöhnte in fassungslosem Unglauben. Er besaß mein volles Mitgefühl. »Und was du jetzt gerade für mich getan hast«, bemerkte der Dharen gelassen, »versuchte ich bereits seit Jahren zu erreichen.« Sereth grinste ihm zu, die Fäuste in die Hüften gestützt. Aber seine Augen, die auf dem erbärmlich wimmernden Arrar ruhten, waren ausdruckslos. »Schaff ihn weg und entledige dich seiner«, befahl Khys. Sereth, der jetzt nicht mehr lächelte, beugte sich zu dem Arrar herab und sprach leise auf ihn ein. Dann warf er den Kopf zurück und zog den Mann mit Gewalt vom Boden hoch. Mit leeren Augen in einem erschlafften Gesicht stolperte Vedrast an Sereths Arm winselnd aus der Tür. Ich löste die Finger von meinem eigenen Hals, meinem eigenen Reif. Khys schloß die Türen, die Sereth offengelassen hatte. Auf dem Rückweg hob er eine
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Schale auf, die bei dem kurzen Kampf zu Boden gefallen war. Seine Bewegungen waren anders als die von Sereth. Die ganze Zeit über hatte ich mich nicht bewegt. Ich bin gut dressiert, dachte ich mit einem Anflug von Galgenhumor, während Khys sich wieder setzte. Ich fühlte mich sehr klein und hilflos vor ihm. »Und was denkst du über all das, was geschehen ist, meine kleine Saiisa?« »Der Mann verlor den Verstand, als ihm der Reif umgelegt wurde.« Ich zitterte. »Das war nur der Schock. Dürfte er am Leben bleiben, würde er sich an die Stille gewöhnen. Er besaß ein großes Talent, dessen er sich mehr als tausend Jahre lang erfreuen konnte.« »Und du brauchtest Sereth, um es zu tun?« Khys lachte. »Ich versuche immer noch, die Grenzen dieses Mannes herauszufinden. Nur jemand wie Sereth, mit seinen seltsam entwickelten Fähigkeiten, konnte Vedrast die Fessel anlegen. Er hatte den auf seine Berührung eingestellten Reif bereit, seit er von M'ksakka zurückkam. Aber er wußte nicht, für wen er bestimmt war.« Er lachte und streckte sich. »Ich hatte schon lange den Wunsch, ihn bei der Arbeit zu sehen.« »Du schätzt ihn hoch«, bemerkte ich. »Ich habe ihn gut eingeschätzt. Man muß die Gegebenheiten sehen, ganz gleich, wie stark sie von den eigenen Erwartungen abweichen mögen.« Und dann wandte er seine Aufmerksamkeit mir zu, durchforschte dreist mein Bewußtsein. Grausam wühlte er sich in meine Erinnerungen, mein Beilager mit dem Arrar. Sein Eindringen konnte ich nicht so aufhalten wie das von Vedrast. Als ich versuchte zu fliehen, fand ich mich in meinem Körper gefesselt. Danach stand ich im Hintergrund meines Bewußtseins und beobachtete ergeben, wie er von meinen Erlebnissen nahm, was er
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haben wollte. Und über alles, was Sereth zu mir gesprochen hatte, informierte sich Khys. Und wie ich unter den Händen des Arrar gefühlt hatte, schaute er sich an. Als er mich freigab, ließ ich mich nach vorn fallen und lag still, bis das Zittern als Folge des Gefesseltseins abgeklungen war. Zu einer Informantin über den Arrar Sereth hatte er mich gemacht, und sogar über mich selbst. Wie, fragte ich mich verzweifelt, kann man unter solchen Umständen weiterleben. Und der Gedanke tönte in der hohlen, klingenden Leere in mir und kam zurück, unverändert, unbeantwortet. Er rief mich. Ich rollte mich auf die Seite und schaute elend zu ihm auf. Zu mehr hatte ich nicht die Kraft. Oder auch nur die Absicht. Ergeben wartete ich darauf, daß er seinen Willen kundtat. In mir gab es keine Wut mehr, kein Entsetzen oder Haß oder Furcht. Ich war nur müde. Es kämpft sich mühsam, wenn man weiß, daß man nicht gewinnen kann. »Gut«, meinte Khys wie zu sich selbst. »Bald wirst du bereit sein.«
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2 Der Lohn des Vergessens
Ich kniete auf der glitzernden Spirale in jenem siebenekkigen Raum vor Khys' Ratsversammlung. Oder auf sieben Spiralen, in sieben Räumen von der Länge und Breite ganz Silistras. Eine Ecke war leer. In einer anderen stand Khys. In den übrigen fünf flimmerten die von Flammen umzüngelten Gestalten, eine jede vor einem Fenster, das auf den ihr anvertrauten Teil Silistras hinausschaute. Sie befanden sich sowohl in ihrer Residenz wie auch hier: die sieben Alkoven, identisch; die sieben Spiralen, eine die andere überlagernd; Khys' fünf Ratgeber, zwiegestaltig. Und ich — war auch ich versiebenfacht, wo ich auf dem Symbol kauerte, das diese weit auseinanderliegenden Residenzen zu einer zusammenfaßte? Der Aufenthalt in dieser aufgeladenen Atmosphäre bewirkte ein Gefühl, das Gefühl, umhüllt zu sein, umfangen, durchdrungen von knisternder Spannung. Ich trug meinen Reif der Stille nicht mehr. Man hatte mir ein Beruhigungsmittel gegeben, aber es bestand keine Notwendigkeit mehr dafür. Mir selbst schien es, als wäre ich bis zum Hals in den übereinanderliegenden Spiralen versunken und umschlungen wie von Windungen einer gewaltigen Slitsa. Meine Brüste, meine Knie, die wirkliche Spirale auf dem Boden, sah ich nur durch ihre schattenhaften Ebenbilder aus einer anderen Wirklichkeit. Ich wandte die Augen ab. Der Anblick verursachte mir Übelkeit und einen bitteren Geschmack im Mund. Der Raum drehte sich knirschend, und einer wandte sich mir zu. Meine Knie waren unsichtbar, gefangen, verschlungen von dem Fußboden aus Gol. Kälte
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durchdrang jede einzelne Zelle meines Körpers. Der Goldene lächelte mich an. Erschaffe Hitze oder stirb. Einfach. Ich tat es und nutzte den Schmerz, den ich fühlte, um das Feuer zu entzünden. Der Scheitel meines Hauptes war seine Nahrung, und mein Befrager schritt prüfend um die Flammen. Schaden fand er und fügte neuen hinzu. Ich mußte es erdulden, denn ich wußte kein Mittel, mich dagegen zu wehren. »Sprich zu mir von der Siebenfaltigkeit!« verlangte mein Peiniger. Ich konnte nicht. Wo er in meinem Innern suchte, war nichts als ein gähnender Abgrund. Aber er erschuf an diesem Ort einen bläulich glühenden Funken, dessen Licht ihm bestimmte Dinge enthüllte. Ohne zu begreifen, schaute ich zu, wie er einige von diesen Wahrheiten an sich nahm, denn sie waren in einer Sprache, die ich nicht verstand. Eingeprägt in die Wände der Seele, lagen die gespeicherten Schemata der elektrochemischen Mechanismen der Macht offen vor ihm. Lange schon hatten sie in meinem Innern gelegen. Gewaltige Kräfte zerrten an jenen Wänden — blendende Hitze; und was übrigblieb war geschmolzen, verkohlt. Rauch stieg aus den zerfließenden Trümmern, und ich wurde weitergereicht in die nächste Hand. Die Berührung des Zweiten war so glatt wie poliertes Gol, und er bat mich, ihn nicht zu fürchten, sondern für ihn etwas mit meinem Bewußtsein zu tun, was er Schöpfung nannte. Auf sein Gebot hin, blickte ich auf einen verwüsteten Ort, unter dessen Oberfläche diese Fähigkeiten eingeschlossen lagen, aber ich konnte nichts anderes tun als nur schauen. Einst hätte ich erschaffen können. Meine Ohren vernahmen ein Wehklagen, und ich erkannte es als das meine. Gütig, sanft, übergab er mich an den Dritten. Seine Hand verstärkte noch die Fesseln, die mich hielten, und was an mir stofflich war, bäumte sich in
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lautloser Pein, als ich in ein wieder anderes Reich geschleudert wurde, in dem jener Dritte Hof hielt. Es beliebte ihm, gewisse Strömungen in mir bloßzulegen, die sich gleich zerbrechlichen Fäden aus gesponnenem Gold in die noch ungeborene Zeit erstreckten. Doch währenddem kam ein Sturm auf, der ihn umtoste und an seinen Platz bannte. Der Vierte eilte herbei, ihm zu helfen, geschützt von den anderen, deren Hände sich über dem Abgrund trafen, in dem der Sturm einen der ihren gefangen hielt. Unter Auferbietung aller Kräfte befreiten sie ihn, Molekül um Molekül, aus dem Chaos. Dann holte Khys meinen Körper zurück in sein Reich. Ich hörte noch den unverständlichen Redefluß des Fünften, der sich gegen eine weitere Untersuchung meiner Person ausgesprochen hatte. Obwohl die Worte mir fremd waren, begriff ich mit einer Bestimmtheit, die mich mehr entsetzte als die Reise durch das absolute Nichts zwischen ihren Wohnstätten, daß sie über mein Recht zu leben debattierten. Und Khys stand zwischen mir und ihnen, während ich verstört und erschöpft in den schimmernden Windungen der Spirale kniete. Einen nach dem anderen wies er zurück. Eine nach der anderen verschwanden die Spiralen, jeweils gleichzeitig mit einer der Fensternischen und der darin stehenden Gestalt, bis da nur noch ein Fenster in dem siebeneckigen Raum war; nur ein Mann, der mich betrachtete, eine Spirale, auf der ich kniete. Mit tiefen Atemzügen kämpfte ich gegen das Schwindelgefühl, während der Raum sich langsam von rechts nach links drehte. Die Bewegung hörte erst auf, als Khys vor mir stand. Ich legte den Kopf auf die Knie und wimmerte leise, denn ich wußte, er würde mir den Reif der Stille wieder umlegen. Ich machte keinen Versuch, mich zu wehren, als er mir das Haar beiseite strich und den Reif um meinen Hals schloß. Beinahe sehnte ich mich nach dem Zustand der Stille, der Isolation, des Friedens, der
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mit dem Ring einherging. Ich preßte die Stirn auf die Knie, während mein Pulsschlag mir in den Ohren dröhnte. Sie hatten mir gezeigt, was ich gewesen war. Und was von jenen Kräften, deren ich mich einst bedient hatte, noch geblieben war, hatten sie überprüft. Ich hatte es zugelassen, aus Angst vor seinem Unwillen, aus Schwäche. Das war aus mir geworden. Ich träumte nicht mehr davon, was ich sein könnte, sollte Khys mir den Reif der Stille abnehmen. Wer immer ich gewesen war, sie hatte große Fähigkeiten besessen. Aber daß ich keine Gefahr mehr darstellte, dafür hatte man Sorge getragen. Khys, der auf ein leeres Blatt geschrieben hatte, was ihm richtig schien, der ein verletztes, verstümmeltes Tier aufgelesen hatte und ihm die Krallen zog, bevor er es gesund pflegte, hatte sein Geschöpf vor der Vernichtung bewahrt. So gründlich hatte er mich auf sich fixiert, so vollkommen war ich sein, daß ich nicht fähig gewesen war, mich gegen seinen Willen aufzulehnen. Nicht einmal im Angesicht des Todes. Ich wunderte mich, daß ich nicht blutete. Sollte mir nicht das Blut aus Nase und Ohren fließen, meinen Mund füllen und von dem Wrack, das ich noch war, auf die Spirale strömen? Warum hing nicht der Brandgeruch der verkohlten Trümmer meiner Fähigkeiten in der Luft? »Estri, hör auf damit«, sagte er und zog mich, die ich mich nicht wehrte, auf die Füße. Ich legte meinen Kopf an seine Schulter. Seine Berührung, sein stützender Arm gaben mir neue Kraft. Immerhin hatte er mich vor dem Tod bewahrt. Was hätte man mir wohl noch angetan, wäre er nicht dagewesen? »Es war die einzige Möglichkeit«, meinte er sanft, und irgendwie wußte ich, daß es ihm leid tat. »Was zerstört wurde, war zum Teil unser Werk. Man hat dir einiges geraubt, aber nur zu deinem Besten.« Ich sagte nichts, lehnte mich nur gegen ihn. Eine
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Weile stand er so, hielt mich fest und schwieg. »Du begreifst so wenig«, murmelte er. »Wenn du gar keine Möglichkeit der Verteidigung hattest, woher kam dann jener Wind? Ich sage dir, niemand kann einem anderen etwas nehmen, was ihm von seinem Vater gegeben wurde. Man kann Änderungen vornehmen. Sicherheitsvorkehrungen treffen. Mehr nicht.« In seiner Stimme schwangen Empfindungen, die ich nicht zu benennen wußte. Er führte mich an diesem selben Tag, dem zweitvierten Brinar, zu dem Hohen Chaldmacher vom See der Hörner. Es war spät am Tag, kurz vor Sonnenuntergang, als wir uns auf den Weg machten. Lange hatte er mit mir auf seinem Lager gelegen und mich nur gehalten, wie ich es mir von ihm wünschte. Auch sagte er seine Versammlungen und Audienzen ab, bis auf zwei, die neben dem Lager stehend ihre Sache vorbrachten, und im Gespräch mit ihnen zeigte er sich milde und geistesabwesend. Das Abendessen brachte uns eine ehrerbietige, spärlich bekleidete Hellseherin mit der bronzenen Haut der Seegeborenen. Eine Fingerspanne unter ihrem Schlüsselbein glitzerte das Zeichen der Spirale — Myriaden winziger Lichtpunkte auf ihrer Haut. Khys forderte sie auf, zu mir zu treten, damit ich es berühren konnte. Unter meinen Fingern spürte ich nur seidige, geölte Haut, wo sich dem Auge ein strahlender Mikrokosmos bot. »Sie ist eine, die ich geschwängert habe, eine, der ich meine Gunst schenkte«, erklärte er, nachdem sie gegangen war. »Es ist meine Gewohnheit, meine Frauen so zu schmücken. Und es ist mein Wunsch, daß auch du mein Zeichen trägst.« »Es wird mir eine Ehre sein«, erwiderte ich mit niedergeschlagenen Augen. Ich verspürte Wut, weil er andere Frauen hatte; Eifersucht, weil sie das Zeichen
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seiner Gunst trug; Angst, es selbst zu tragen; Furcht, eines Tages auch zur Dienstmagd erniedrigt zu werden. Ich schob meinen Teller weg und stand auf. Seine Blicke folgten mir. Ich fragte mich, ob dieses Zeichen wieder entfernt werden konnte und wie viele am See der Hörner es trugen. »Nein«, beantwortete er meine Gedanken. »Zumindest nicht mit den Fähigkeiten einer Hellseherin.« Ein belustigtes Zucken glitt um seine Mundwinkel, und er erhob sich gleichfalls. »Ist es so wichtig für dich, wie viele andere es da noch gibt? Ich habe viele Nachkommen auf Silistra gezeugt und beabsichtige durchaus, damit fortzufahren.« Ich gab ihm keine Antwort, sondern legte mich auf das Ruhebett, bis er mich aufforderte, mich anzukleiden, damit wir gehen konnten. Dreimal während der sieben Tage nach meinem Beilager mit dem Arrar Sereth waren auf Khys' Befehl hin die Gewandmacher zu mir gekommen. Zu den Kleidungsstücken, die mir jetzt zur Auswahl standen, gehörten weiche Tassandalen, ein dunkelgrauer Umhang mit Pelzbesatz sowie verschiedene Seiden- und Webtuchstoffe, die mit Spangen und Bändern beliebig drapiert werden konnten. Er wählte für mich ein Stück braunen, schillernden Webstoff, den ich an Nacken und Hüfte mit zwei bronzenen Spangen befestigte. »Außerdem«, bemerkte er mit einem anerkennenden Blick, als ich mir den Umhang über die Schultern zog, »wirst du den Chald der Mutterschaft tragen und den des Lagerbundes.« Dankbar schmiegte ich mich an ihn, die Wange an seinem blauschwarzen Hemd. Er lachte, hielt mich auf Armeslänge von sich ab und betrachtete mich eine Weile sinnend. Endlich, endlich, würde ich wieder einen Chald tragen.
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Nur mit einer Frau darf ein Mann den Lagerbund schließen, auch wenn er der Dharen von ganz Silistra ist. Ich nahm kaum etwas wahr von den imposanten Hallen, den kostbaren Skulpturen und Wandbehängen in Khys' Turm, an denen wir vorbeikamen, bis wir durch die riesigen, mit Tiergestalten aus Gold verzierten Bronzetore traten und hinaus auf die breiten Stufen aus Archit, der so grün schimmerte wie eine Sommerwiese. »Warte«, bat ich ihn, als er sich anschickte, die Treppe hinabzueilen, die Hand fest um meinen Arm geschlossen. Er ließ mich gewähren, und ich drehte mich um und betrachtete den Turm des Dharen, wie er weiß und schmucklos eine Viertelnera in den verlöschenden Tag hineinragte. Der kühle Herbstwind streichelte mich, die feuchte Luft vom See her spielte in meinem Haar und flüsterte mir Geheimnisse zu. Kleine Wellen furchten die Wasseroberfläche, die so grau-grün war wie der wolkenlose Himmel über dem bewaldeten Horizont. Von hier aus gesehen, entpuppten sich die winzigen Spielzeugklötze an Seeufer als beeindruckende Konstruktionen, die große, dunkle Schatten auf das Wasser warfen. Und die Zwischenräume, die vom Turm aus so schmal erschienen, bedeuteten jeweils einen Spaziergang von einer halben Endh entlang architgepflasterter Wege in herbstbraunem Gras. Wir begegneten drei flanierenden Gruppen auf unserem Weg zu dem Hohen Chaldmacher, und eine jede blieb stehen und verneigte sich vor dem Dharen. Entlang der Promenade am Seeufer erwarteten zahlreiche Spaziergänger das Erlebnis des Sonnenuntergangs über dem See der Hörner. Der Hohe Chaldmacher, der sein Handwerk im Erdgeschoß der Halle des Chaldra ausübte, erwartete uns. Er empfing uns in einem kleinen luxuriösen, reich mit Blau und Gold ausgekleideten Gemach. Hinter seinem Thalaschreibtisch waren alle möglichen Erzeug-
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nisse des Chaldhandwerks ausgestellt: einzelne Stränge und Gürtel, breit und schmal. Es hingen dort Chalds aller Flechtarten und jeder Stilrichtung, die es auf Silistra gab — Chalds, wie ich sie bisher nur in Büchern gesehen hatte. »Khys, sei willkommen in deinem Haus«, grüßte der Hohe Chaldmacher und kam hinter seinem Tisch hervor, um das Knie vor dem Dharen zu beugen. Khys hob ihn sofort wieder auf. Der Chaldmacher, ein untersetzter, fleischiger Mann, wischte mit den Händen über seine Lederschürze. Seine Augen leuchteten, während er in seinen Taschen suchte, und sein Mund zuckte wie bei einem Mann, der einen Scherz machen will und auf die Gelegenheit wartet zu sprechen. »Er ist, wie du sehen wirst, ganz einzigartig«, murmelte er, und tastete jetzt mit beiden Händen unter seiner Schürze. »Laß ihn mich nur eben finden.« Und das zurückgehaltene Lächeln breitete sich auf seinem Gesicht aus, als er die Hände schließlich hervorzug. »Dies« — er streckte Khys die geschlossene Faust hin, während dieser ihm die geöffnete Hand entgegenhielt — »ist der Chald der Mutterschaft. Ein Meisterwerk.« Er öffnete die Faust. Ein sinnlich anmutender Strang aus Gold, glatt und fest wie ein Schlangenleib und ebenso geschmeidig, ringelte sich in Khys' Handfläche. Der Dharen unterzog ihn einer strengen Musterung und rollte ihn zwischen den Fingern. Der Strang hatte die Breite von hundert Haaren. Er reichte ihn mir zur Prüfung. Ich nahm ihn und gab vor, ihn genau zu untersuchen, doch fehlte mir das Wissen, um die Qualität beurteilen zu können. Sie erschien mir zufriedenstellend. Ich nickte und gab den Strang an den Chaldmacher zurück, der mich ungeniert von Kopf bis Fuß musterte. »Er ist sehr schön«, meinte ich.
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»Dies ist Estri«, erklärte Khys. »Oh«, sagte der Hohe Chaldmacher, der gleich begriffen hatte und mich nun mit mehr als neugierigen Blicken betrachtete. Dann wandte er sich von mir zu Khys und streckte ihm erneut die geschlossene Faust entgegen. »Zu schade, daß sie es nicht beurteilen kann«, bemerkte er und ließ einen zweiten Strang in Khys' Hand gleiten. Aber der Anblick raubte mir den Atem. Es war, im Grunde genommen, ein Lagerbund-Chald, da er um ein Rahmenwerk aus rosafarbenem Titrium herumgearbeitet war. Viermal so breit wie der Strang der Mutterschaft, bestand er aus einem komplexen, geometrischen Kettengeflecht, in Abständen mit blutroten Goltropfen besetzt, deren jeder so groß war wie die Pupille eines menschlichen Auges. Khys drehte ihn in seinen Kupferfarbenen Fingern. Als er dem Hohen Chaldmacher das Gesicht zuwandte, war seine Zufriedenheit nicht zu übersehen. »Abgesehen von meinem eigenen, Miccah, ist dies der schönste, den ich jemals von deiner Hand gesehen habe.« Der Hohe Chaldmacher sonnte sich in dem Lob, drückte die Brust heraus und preßte sein Mehrfachkinn gegen den dicken Hals. »Dann«, sagte er schließlich, »bleibt nur noch, ihr den Chald umzulegen.« Sogleich machte er sich an die Arbeit, brachte kleine Zangen zum Vorschein, sowie ein Ding wie ein Messer, bei dem es sich aber um ein Werkzeug handelte, um die Glieder des Chald lückenlos aneinanderzufügen. Der Chaldmacher bat mich, die Kleider abzulegen. Ich gehorchte und stand gelassen vor seiner Gleichgültigkeit. Er legte ihn tief um meine Hüften, nachdem er zuerst den goldenen Strang durch kleine Ösen in dem
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breiteren Titriumgürtel gezogen hatte. Sein Haar lag sehr weiß über der geröteten Kopfhaut, während er vor mir kniend mit seinen Werkzeugen hantierte. Khys beobachtete ihn geistesabwesend, seine Finger spielten gedankenverloren mit seinem eigenen breiten Chald. »Und zeichne sie noch mit dem Mal an der linken Brust«, befahl er dem Chaldmacher, der sich umständlich erhob. Miccah hob eine Braue und trat hinter seinen Tisch. Als er zurückkam, hielt er einen zylinderförmigen Gegenstand in der Hand. Er drehte an einem daran befindlichen Rad. »Khys . . .«, setzte ich an und stockte. Seine Augen warnten mich, halbgeschlossen, herrisch. Für den Rest meines Lebens würde ich das Zeichen dieses Mannes auf meinem Fleisch tragen. Ich sah ihn an, schön, königlich, der dunkelgewandete Herr von Silistra. »Es ist nicht schmerzhaft«, meinte der Chaldmacher und drückte die eine Seite des Zylinders auf seinen Unterarm. Er hielt ihn eine Weile und prüfte dann erneut. Diesmal nickte er. Mir fiel auf, daß ich mehrere Schritte zurückgewichen war. »Steh vollkommen still«, bat der Chaldmacher leise, »oder das Zeichen wird verschwommen und unschön.» Und unter Khys' kaltem Blick tat ich, was er sagte. Der Hohe Chaldmacher legte mir eine Hand sanft auf die linke Schulter und drückte mit der anderen den Zylinder gegen meine linke Brust. Ich spürte heiß und scharf den Stich der Myriaden winziger Nadeln, die das Rad am Oberteil des Zylinders freigegeben hatte, und nahm einen beißenden Geruch wahr. Ich biß mir auf die Lippen, um nicht zu wimmern. Er nahm den Zylinder weg und gab meine Schulter frei. »Nicht berühren«, warnte der Chaldmacher, indem er
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sich näherbeugte, um das geschwollene und gerötete Fleisch unterhalb des Schlüsselbeins zu begutachten, »nicht vor morgen früh. Schlaf auf dem Rücken. Gut«, verkündete er und trat von mir zurück. Schon der Hauch seines Atems auf dem Mal hatte brennenden Schmerz verursacht. Ich blinzelte die Tränen zurück, weil ich sehen wollte, ob Khys mit meinem Betragen zufrieden war. Er schaute mich an, seinen Besitz, für aller Augen mit seinem Zeichen gebrandmarkt. An seinem Gesicht war nichts abzulesen, als er mich zu sich rief, um das Mal zu begutachten. »Meinen Dank, Miccah«, sagte er nach einem prüfenden Blick auf meine Brust. Seine Zufriedenheit, die ich doch ersehnt hatte, ließ mich frösteln. In seinem Lächeln lag unverhohlener Triumph, als er mich bat, mich wieder anzukleiden. Eingedenk der Warnung des Chaldmachers befestigte ich das Gewand über der rechten Schulter und hielt dabei die Lider halb gesenkt, um das geschwollene, brennende Mal auf meiner Brust nicht sehen zu müssen. Auch beim Anlegen des Umhangs gab ich acht, die Stelle nicht zu berühren. »Wenn es abgeheilt ist, wird es deine Schönheit noch unterstreichen«, bemerkte Khys, den Arm um meine Taille gelegt, als wir uns von dem Hohen Chaldmacher verabschiedeten und aus der Halle des Chaldra in die Abenddämmerung hineintraten. Wir gingen schweigend nebeneinander her. Ich konnte ihn in mir spüren, wie er meine verworrenen Gefühle durchforschte. Ich hatte es vorher als eine Ehre betrachtet, das Zeichen des Dharen zu tragen. Jetzt, während seine Gedanken rücksichtslos mein Bewußtsein abtasteten, versuchte ich diese Empfindungen wieder aufleben zu lassen oder wenigstens vorzutäuschen. Aber etwas in mir weinte und kümmerte sich nicht um den Zorn des
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Dharen. Er kam auf peitschenden Schwingen aus dem Nachthimmel, knurrend, zischend, ein schwarzer Schatten, der sich zwischen uns und Khys' Turm schob. Die gewaltigen Flügel weit ausgebreitet, fauchte er und betrachtete uns aus starren, glühenden Augen. Ich schrie. Khys hieß mich schweigen und schob mich grob hinter seinen Rücken. Das Tier krümmte grollend den Hals, seine Flanken zuckten, der Schweif mit der buschigen Spitze schlug erregt von einer Seite zur anderen. Der Dharen stand gelassen vor dieser so unvermittelt auftauchenden Bedrohung, die Hände in die Seiten gestützt, regungslos. Das Tier bewegte sich mit gesenktem Kopf nach links. Der Dharen tat es ihm gleich. Der Hulion bewegte sich mit einem ärgerlichen Fauchen nach rechts, aber Khys folgte ihm auch diesmal. »Estri«, sagte Khys leise, »komm, stell dich neben mich.«Ich tat es. Der Hulion saß auf den Hinterläufen, seine Ohren zuckten. »Wir werden jetzt an ihm vorbeigehen. Benimm dich so gelassen, wie du kannst. Und du solltest dir Mühe geben, auch deine Gedanken ganz ruhig zu halten.« Er zog mich an sich, als der Hulion schnaubte und sich aufrichtete, und meine Beine drohten, mir den Dienst zu versagen. Wir gingen langsam. Das Tier reckte den gewaltigen Kopf und schnüffelte, als ich näherkam. So nah kam mir die feuchte Schnauze, daß die Schnurrhaare meinen Arm streiften. Es folgte uns zu der Treppe, die in den Turm des Dharen führte, seine goldenen Augen funkelten, und sein fauchender Atem tönte mir laut in den Ohren. »Geh weiter«, schnappte Khys. »Schau nicht zurück.« Aber ich tat es doch, als Khys den Klopfer betätigte und der Hulion ein klagendes Brüllen ausstieß. Er
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wanderte vor der untersten Stufe hin und her, den Blick auf uns gerichtet, und versuchte sich in seiner fremdartigen Sprache mitzuteilen. Als die schweren Bronzetüren von innen geöffnet wurden, stand das Tier mit den Vorderpfoten auf der Stufe und hatte die Flügel halb zusammengefaltet. Die Gesichter der Wachen verloren alle Farbe, als sie sein Knurren vernahmen. Khys schob mich unsanft nach drinnen. »Warte!« befahl er und, zu den Wachen gewandt: »Paßt auf sie auf!« Dann drehte er sich um und sprang, drei Stufen auf einmal nehmend, die Treppe wieder hinab. »Nein!« wehrte ich mich, als die Wachen die Tür hinter ihm schlossen. Einer von ihnen postierte sich zwischen mir und dem leeren Korridor hinter uns. »Ihr braucht keine Angst um ihn zu haben«, meinte belustigt der an der Tür zurückgebliebene Wächter. »Schon eher um den Hulion.« Die Daumen hinter den Waffengürtel gehakt, lachte er über seinen eigenen Witz, daß die weißen Zähne in seinem dunklen Gesicht blitzten. Zum untätigen Warten verdammt, stand ich zwischen ihnen und atmete schnell. Was, wenn er sich irrte? Die Fingernägel stachen in meine Handflächen. Was würde aus mir ohne ihn werden? Ausgeliefert jenen fünf anderen. Und ohne seinen Schutz . . . Ich ballte meine Hand zur Faust, bevor sie das Mal auf meiner Brust berühren konnten und zwang diese Faust an meine Seite. Der dunkelhäutige Wächter stand regungslos, den Kopf zur Seite geneigt, als lauschte er. Sein Lächeln war verschwunden. Ich leckte mir über die Lippen, die vor Sorge trocken und spröde waren. Gleichzeitig ertönte der gebieterische Ruf des Klopfers von draußen, und die Wachen öffneten die Tür, um ihren Herrn einzulassen.
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Er war unverletzt, gefaßt, das Beben seiner fein modellierten Nasenflügel das einzige Zeichen von Erregung. Ich wollte zu ihm laufen, aber ich tat es nicht; ich stand einfach da, und die Erleichterung floß über meine Haut wie ein warmer Regenschauer. Er warf mir einen scharfen Blick zu, während er leise mit seinen Männern sprach. Den dunkelhäutigen Mann berührte er kurz an der Schulter, woraufhin dieser nickte und durch die spaltbreit geöffnete Tür in die Nacht hinausschlüpfte. Zu mir sprach er kein Wort. Er berührte mich auch nicht, als er den Korridor entlangschritt und ich fast laufen mußte, um ihm zu folgen. An seinem Hals zeichneten sich die Sehnen ab wie angespannte Taue, und er hatte die Lider so weit gesenkt, daß die dichten Wimpern sich zu berühren schienen. Erst als wir die Bäder im Untergeschoß des Turmes betraten, hob sich die Stimmung des Dharen. Er lag geraume Zeit bäuchlings auf einer der Architbänke und starrte sinnend auf den Steinhügel in einer Vertiefung in der Mitte des Raumes und die Dampfschwaden, die zischend davon aufstiegen. Die Bäder waren verlassen um diese Endh, während der die meisten beim Mondmahl saßen. Wir waren allein bis auf jene, die sich um den Dampf und das Wohlergehen der Badenden kümmerten, und die hatten sich, da sie die Geistesabwesenheit des Dharen spürten, so gut wie unsichtbar gemacht. Der Dampf, sagte er, hatte heilende Eigenschaften und wäre gut für mich. Jedenfalls verursachte er ein Pochen in dem Mal an meiner Brust und durchnäßte mein Haar, und die langen, lockigen Strähnen klebten wirr an meinem schweißfeuchten Körper. Auf dem Rand der Bank hockend, bearbeitete ich ihn, wie er es mir vorher gezeigt hatte, und massierte mit dem Ballen der einen Hand und den Fingern der anderen Öle in seine Haut. Schweißbäche schlängelten sich von meinen
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Rippen über den Bauch und stauten sich an dem Chald um meine Taille. »Genug«, verkündete Khys, als ich glaubte, meine bleischweren Arme nicht ein einziges Mal mehr bewegen zu können. Ich rieb mir die Augen, in denen der Schweiß brannte und juckte. »Ich bin außerordentlich zufrieden mit dir«, murmelte er, setzte sich auf und schwang die Beine von der Bank. Er streckte die Hand nach dem Zeichen auf meiner Brust aus, und ich wich zurück. »Vertrau mir«, sagte er und hielt die Handfläche über das Zeichen, ohne es zu berühren. Dann begann die Hand zu kreisen. Die Stelle prickelte, als würde ein kühler Luftzug darüberstreichen. Als er die Hand zurückzog, war die Haut nicht mehr rot und geschwollen, und das Mal, das vorher stumpf ausgesehen hatte, glitzerte sanft. »Trotzdem solltest du es noch nicht berühren«, warnte der Dharen und glitt von der Bank. »Du hast dich sehr gut gehalten vor dem Hulion«, bemerkte er mit einem Seitenblick auf mich. Lächelnd streckte er die Hand aus. Als ich sie ergriff, kehrten die Gedanken, die ich erst so mühsam zum Schweigen gebracht hatte, wieder zurück, an das Schicksal des Hulions und das meine. Der Dampf und die Hitze hatten mich beruhigt. Aber ich trug Khys' Zeichen auf meiner Haut und auch in meinem Innern, wie ich gemerkt hatte, als er hinausging, um dem Hulion gegenüberzutreten. »Hast du ihn getötet?« fragte ich, während wir durch eine Holztür in den hellerleuchteten Ruheraum traten, wo unsere Kleider säuberlich gefaltet bereitlagen. »Nein.« Er lachte in sich hinein. »Ich habe nicht einmal streng zu ihm gesprochen.« In meinem Kopf drehte sich ein Gedanke ziellos im Kreise. Ich sprach ihn nicht aus, aber Khys' Blick verhärtete sich. Er warf mir einen nassen Schwamm zu, damit ich mich abwaschen
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konnte. Nachdem er sich abgetrocknet hatte, nahm er meinen Arm und führte mich wortlos zu seinen Gemächern. Und noch weiter in das mit Spiegeln ausgekleidete Gefängnis, das so lange meine Wohnung gewesen war. In seinem Zimmer machte er nur Halt, um aus seinen Sachen einen Riemen aus dickem Parrleder herauszusuchen. Ich schaute auf den Lederriemen in seinen Händen, in sein strenges Gesicht, auf unsere Abbilder an der Spiegelwand. In dem Raum stand wie immer nur eine niedrige, schlichte Lagerstatt, ein Stuhl und ein Schreibpult unter dem Fenster. Wände und Boden waren silbergrau. Zuviel Zeit hatte ich hier zugebracht. »Zieh dich aus«, rief er. Ich ließ meine neuen Gewänder zu Boden gleiten. »Khys«, flehte ich ihn an, »bestrafe mich nicht meiner Gedanken wegen.« »Kreuze die Hände vor dem Bauch!« Ich gehorchte, und er fesselte erst die Gelenke aneinander, um anschließend den geschmeidigen Riemen um meine Taille zu schlingen und am Rücken zu verknoten. »Auf diese Art«, knurrte er, »wirst du nicht im Schlaf an dem Mal kratzen. Und du kannst über den Zwiespalt in deinem Innern nachdenken und den Versuch machen, ihn zu kontrollieren. Oder nutze die Zeit, um dir über deine Stellung klarzuwerden. Ich würde es begrüßen, wenn du lernen könntest, dich nicht darüber hinaus zu erheben.« »Mußt du mich hierlassen?« »Ich werde diese Nacht nicht im Turm verbringen.« Er drehte mich grob zur Seite, so daß mein ganzer Körper von dem Spiegel reflektiert wurde. Von hinten legte er die Arme um mich und umfaßte meine Brüste. Ich schloß die Augen.
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»Sieh dich an«, sagte er. Ich wollte nicht. Seine Berührung wurde ein Befehl. Ich lehnte mich gegen ihn und beobachtete, wie meine Begierde zu lodernder Flamme anwuchs. Meine Hände kämpften gegen ihre Fesseln. Das Zeichen meines Herrn schimmerte sanft über seinen Fingern an meiner linken Brust. Der Chald um meine Taille klirrte leise, als meine Hüften begannen, sich an ihm zu reiben. Als ich stöhnte und versuchte, mich zu ihm umzudrehen, stieß er mich auf die Knie und befahl mir, stillzuhalten. Beim Verlassen des Zimmers dämpfte er die Beleuchtung zu einem ungewissen Halbdunkel. »Khys«, wisperte ich, nachdem er gegangen war, »was erwartest du von mir?« Lange Zeit blieb ich knien, gepeinigt von meinem Verlangen, um nicht Gefahr zu laufen, daß er zurückkehrte und sah, daß ich ihm ungehorsam gewesen war. Der Chald und sein Zeichen und mein vom Schweiß ungestillter Lust bedeckter Körper schauten mich an. In dem Halbdunkel, ein nur schwach umrissener Schatten, hätte ich jede Frau sein können. Und dann begriff ich, warum er mich hier allein und hungrig zurückgelassen hatte. Gefesselt, kniend, betrachtete ich sie, die ich geworden war und fühlte meine Begierde noch weiter zunehmen. Das Zeichen, stellte ich plötzlich fest, während die Lust in mir sich mehr und mehr steigerte, erregte mich. Und ich schüttelte den Kopf, als könnte ich damit die Gedanken loswerden. Ich fragte mich, wohin er gegangen war, ob zu den allen verfügbaren Hellseherinnen. Dann faßte ich den Entschluß, daß es keine Nacht mehr geben würde, die ich so kniend verbrachte, während er sich mit einer anderen vergnügte, nur weil er mit mir nicht zufrieden gewesen war. Allein mit meiner Lust, machte ich mir selber Vorwürfe. Wäre es möglich gewesen, hätte ich meinem Körper Erleichterung verschafft. Sein
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Name dröhnte in meinem Kopf. Die Gedanken an ihn gaben mir endlich nach einer langen, quälenden Zeit, was meine Hände nicht konnten. Schwer atmend, nur wenig ruhiger, legte ich mich auf den Teppich und fiel in einen Schlaf, der keine Erholung brachte. Das, was nicht gegeben werden kann, hatte er genommen. Ich sah ihn in meinem Traum, und er war tatsächlich bei den Hellseherinnen. Kannst du auch nur die Hälfte von dem sein, was sie sind? fragte er. Von dem, was du einst warst? Und ich sprach von Liebe. Auf dies Wort hin erschien eine andere, die mir sehr ähnlich sah, und mit ihr ein riesiger Hulion. Sie befahl dem Hulion, ihn zu verschlingen, doch ich fand mich zwischen Khys und diesem gähnenden Rachen stehend. Ich konnte sogar den Speichel und den gelben Schleim auf der Zunge des Tieres schäumen sehen. Sie wollte mich beiseiteschieben und ihn vernichten. An schlanken, bronzefarbenen Fingern zählte sie die Missetaten ab, die sie ihm anlastete. Khys' Lachen hallte in meinen Ohren. Und ich, nach jeder Anklage, die sie vorbrachte, wiederholte dieselbe Antwort. Ich konnte es nicht zulassen. Das Gesetz der Zeit, sagte ich ihr, mußte beachtet werden, der Wille des Vaters getan. Er ist zu weit gegangen, schleuderte sie mir entgegen. Und dann wurde er des Spiels müde. Auf einen Wink seiner Hand stand sie gefesselt, gezeichnet und einen Reif um den Hals neben mir. Und ich erwachte aus meinem Traum, in dem ihr Protest von einem Knebel erstickt wurde, zu der Wirklichkeit von Khys' Händen, die meine Fesseln lösten und frühen Sonnenstrahlen auf meinem Gesicht. Mein Körper war kalt und feucht, meine Brust hob und senkte sich, als wäre ich eine lange Strecke gelaufen. Er kauerte nackt an meiner Seite. Ich rieb mir die Druckstellen an den Handgelenken. Bestimmt war alles nur ein Traum gewesen. Meine Finger tasteten über die
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Stelle an meiner Brust. Die Haut fühlte sich unverletzt an. Von neuem Mut erfüllt schaute ich hin. Es glitzerte auf meinem kupferfarbenen Fleisch, Khys' Zeichen, die flammende Spirale. Er nickte. Ich machte Anstalten, mich aufzurichten. Seine Hand hielt mich zurück. »Ich habe in meinen Träumen für dich gesprochen«, murmelte ich, halb bittend, halb anklagend. »Es hat sich gut entwickelt«, beurteilte er mein Brandzeichen, nachdem er mein Haar zurückgestrichen hatte. Er kniete sich hin, beugte sich nieder und küßte das Zeichen an meiner Brust. »Und die Zeit zur Besinnung hat dir gutgetan.« Ich sah sein Glied steif werden und wußte, daß das Zeichen ihm gefiel, daß er mich nehmen würde. Und ich war dankbar, es zu tragen. »Erzähl mir, was du gelernt hast«, schlug er vor, während seine Hand erst prüfend über meinen Körper glitt, um dann beredtere Andeutungen zu machen. Ich gehorchte, ohne etwas von meinen neuen Gefühlen zu verschweigen. »Betrachte es als dein Erbe.« Er lachte, als ich verstummte. »Schon seit langem war dir dieses Ende bestimmt.« Und ich hätte es gar nicht anders haben wollen. Als er schließlich in mich eindrang, war es von hinten, ich vor ihm auf den Knien. Ich sah zu, wie sie sich ihm hingab, mit wilden Augen, schwitzend, hemmungslos. Sie seufzte und bettelte und schrie nach ihm, jeder Stoß von einem atemlosen Winseln begleitet. Dann drückte er meinen Kopf auf die Matte, und ich konnte nichts mehr sehen, sondern nur noch seine kraftvollen Stöße spüren. Zum erstenmal hörte ich Khys seiner Lust Ausdruck verleihen. Es erregte mich und ließ mich erneut erschauern, daß er aufgeschrien hatte. Er ließ mich nicht ruhen, sondern blieb in mir und schürte meine Lust ein zweites Mal. Als er sich zurückzog, zu früh, durchliefen neue Schauer meinen Körper. Ich sah ihn an und hatte keinen Zweifel, daß er
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hätte zu Ende führen können, was ihm beliebt hatte anzufangen. Ich rollte mich herum und preßte den Bauch gegen den Teppich. Mit Blicken flehte ich ihn an. Er stand auf und reckte sich und schaute zu mir herab. »Hör auf damit!« schnappte er. Ich hielt meine Hüften ruhig, mit Mühe. »Ja«, hauchte ich gequält. »Alles. Khys — « »Nein. Setz dich hin. Berühre nicht deinen Körper. Ich möchte, daß du eine Weile so bleibst.« Ich saß, wie er es gerne hatte, mit zurückgebogenen Schultern. Die Luft wehte kühl über meine erhitzte Haut. Ich strich mir die Haare aus dem Gesicht. »Warum?« Bei der Tür drehte er sich um und kam zu mir zurück. »Genügt es nicht, daß ich es so will?« fragte er ruhig. »Es genügt«, murmelte ich. Würde er mich wieder einsperren? Hatte ich ihn nicht gut bedient? »Du kannst dich in beiden Wohnungen bewegen, aber verlasse sie nicht. Ich habe viel zu tun. Heute abend werde ich dich zu einer nicht sonderlich wichtigen Versammlung mitnehmen.« Seine zusammengekniffenen Augen funkelten. Ich fühlte sein Eindringen, sein unverhohlenes, gleichmütiges Abtasten meiner Gedanken. Ich saß ganz still. Dann war er fort, nachdem er sich nur gerade lange genug in seiner Wohnung aufgehalten hatte, um seine Staatsgewänder mitzunehmen. Als ich allein war, stand ich auf, ging hin und legte mich auf sein rostbraunes Seidenlager, nicht ohne die Tür meines Gefängnisses heftig hinter mir zugeschlagen zu haben. Berühre nicht deinen Körper, hatte er gesagt. Die Morgensonne zerteilte den Raum in einzelne Abschnitte und floß über die geschwungene Linie meiner Hüften. Ich drehte mich auf den Bauch und schmiegte mich an das Lager. Wenn ich ihm nicht gehorchte, würde er es wissen. Also blieb ich gehorsam, machte ihm aber innerlich zornige Vorwürfe für das, was er getan hatte.
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Ich lag immer noch so, als Carth mit einem Tasbündel das Zimmer betrat. Zwar hüllte ich mich beim Aufsetzen in die rostroten Seidentücher, aber die Lüsternheit in meinen Gedanken konnte ich nicht verhüllen. Er warf das Bündel auf das Lager und setzte sich neben mich. Sanft zog er mir die Decken aus den Händen, um mein Zeichen betrachten zu können. Sein Mund verzog sich, und seine Brauen zogen sich zusammen. Seine Hände glitten über meinen Körper, als wären wir seit langem vertraut. So hatte er mich noch nie berührt. »Nein.« Er lächelte ohne Fröhlichkeit. »Ich werde dich nicht gebrauchen, weder jetzt noch sonst irgendwann.« Ich wünschte mir, er würde gehen und wandte das Gesicht von seiner dunkel gewandeten Gestalt ab. »Schon sehr bald, Kind, wird dein Wunsch in Erfüllung gehen«, bemerkte er trocken, während er die Schnüre des Bündels löste. »Das habe ich nicht gemeint, Carth«, jammerte ich und warf die Arme um seinen Hals. Wie man für einen Vater empfindet, so fühlte ich für den Arrar Carth. »Und ich erwähnte es nicht als Drohung oder Bestrafung. Es ist lediglich eine Tatsache. Lange Zeit hat er mich zu deiner Pflege abgestellt und viel wichtigere Arbeit anderen statt meiner übertragen. Augenscheinlich hat er das Gefühl« — und er lächelte säuerlich —, »daß du einer so strengen Aufsicht nicht mehr bedarfst. Und ich muß sagen, wenn ich dich so ansehe, daß er wohl recht damit hat.« Seine Finger schoben geistesabwesend die Tasdecke beiseite und verschwanden in dem Bündel. »Kann ich mich anziehen?« fragte ich niedergeschlagen. Carth, Helfer in allen Schwierigkeiten, Tröster in der Angst, Carth, der Mann, dessen Billigung mir Kraft gegeben hatte, sollte mir genommen werden. Ich würde
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allein sein mit dem Dharen. Oftmals in dieser letzten Spanne, war mir sein Rat für meinen Umgang mit Khys unbezahlbar gewesen. Wie, fragte ich mich angstvoll, während ich in Khys' Ankleidezimmer nach einem Gewand suchte, sollte ich ohne ihn zurechtkommen? Ich blieb eine Weile in der Kammer knien, wo er mich nicht sehen konnte, die Handflächen gegen die Augen gedrückt. Mit Mühe verlangsamte ich meinen Pulsschlag. Schritt für Schritt, wie er es mich gelehrt hatte, machte ich mir den Teppich unter mir bewußt, dick und weich. Ich spürte die Luft auf meiner Haut, zählte die kleinen Wellen, mit denen sie mich überspülte. Das waren Carths Lehren bei geistiger Anspannung. An diesem Tag wollte ich ihm zeigen, daß ich sie beherrschte. Als ich aus Khys' Ankleidezimmer heraustrat, gekleidet in ein Gewand aus weißer, durchsichtiger Galeshirseide, hatte er den Inhalt des Bündels auf den rostroten Seidendecken ausgebreitet. Da waren drei Bände, Ors, in gemusterte Slitsahaut gebunden. Da war ein Spinnwebhauch, Sonnenlicht auf Morgennebel, besetzt mit Taujuwelen. Ich berührte es mit den Fingerspitzen. Es war, als streichelte man den Flügel eines Wiraagaet. »Oh, Charth, es ist wunderschön.« Ich hob es auf, und es fiel an meinem Körper herunter bis zu den Füßen. Solch ein Gewand, obwohl es nichts verbergen konnte, mußte die Schönheit der Trägerin um vieles vergrößern. »Dank dem Dharen, wenn du ihn siehst.« Der Arrar war mehr als schroff. »Wo ist er? Was ist das für eine Versammlung?« fragte ich, den Arm zwischen zwei Bahnen des Webstoffes schiebend. Er schmiegte sich an meine Haut und überglänzte sie mit schattenzartem Funkeln. »Er trifft sich mit seinen Dharenern und mit allen anderen, die auf Silistra mächtig sind. Dies« — er griff nach einem der Ors — »ist, was er ihnen geben will, der
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Grund, weshalb er sie zusammengerufen hat.« Unvermittelt warf er mir das Buch zu. Ich bekam es gerade noch zu fassen und schlug das Titelblatt auf. Nachdem ich den Inhalt kurz überflogen hatte, klappte ich es zu und hielt es vor dem Bauch. »Warum hast du mir das gegeben?« fragte ich. Carth lehnte sich auf Khys' Lager zurück. Sein dunkles Gesicht war unergründlich. Er strich mit der Hand über seine schwarzen Locken. »Nicht ich. Er. Es ist ein Teil seines Kand, dich betreffend. Er vertraut mir nicht mehr alles an, wenn es um dich geht. Ich weiß nicht, weshalb er wollte, daß du es bekommst. Bei einem geringeren Mann könnte man annehmen, daß es sein neuestes Werk ist, ein Werk, an dem er über ein Jahr gearbeitet hat, und daß er einfach möchte, daß du es liest.« »Aber du hältst es nicht für so einfach!« Ich saß neben ihm und betrachtete meine Zehen, die unter der Galeshirseide hervorlugten. »Der Dharen ist alles andere als einfach. Laß es auf sich beruhen. Alle, die mit der Verleihung von Chaldra zu tun haben, erhielten von ihm heute dieses Buch über das Chaldra der Helsare und nach welchen Regeln es zuerkannt werden soll. Vielleicht möchte er einfach, daß du imstande bist, höfliche Konversation zu machen. Niemand wird das Buch länger in Händen gehabt haben als du. Die Dharener werden verwirrter sein, als du jemals sein könntest; seit zwanzigtausend Jahren hat es keinen neuen Chald mehr gegeben.« Ich legte das Ors hin und griff nach dem nächsten Band. »Glaubst du«, fragte ich, Carths Arm berührend, »daß er mir erlauben wird, mich darum zu bewerben?« Mit einem tiefen Atemzug wandte Carth seine Aufmerksamkeit der Mittagssonne auf dem See der Hörner zu. Der Ausblick fesselte ihn dermaßen, daß er mich
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stehen ließ, die nur halb geöffneten Vorhänge vollends aufzog und geraume Zeit mit der Betrachtung des Seeufers verbrachte. Das zweite Buch trug den Titel Kandern, das grundlegende Vorrecht und war doppelt so dick wie das erste. Ich legte es beiseite. Bei dem dritten handelte es sich um das Ors der Brunnenhüterin, verfaßt von der Gründerin des Brunnens Astria. Es in meinen Händen zu halten, jagte mir einen prickelnden Schauer durch den ganzen Körper. »Dies hier«, flüsterte ich, mehr zu mir selbst, »werde ich sofort lesen. Mehr brauche ich nicht.« »Du würdest dich besser zuerst mit den anderen beschäftigen und das für deine Mußestunden aufheben«, bemerkte Carth, dessen Gestalt einen Schatten über das aufgeschlagene Buch in meinem Schoß warf. »Warum bist du so düster, Carth?« verwunderte ich mich, mit großen Augen zu ihm aufblickend. Er, ein von der Helligkeit des Fensters scharf umrissener Schatten, lachte abgehackt. Dann hockte er sich vor mich hin. »Mein kleiner Schützling ist erwachsen geworden. Wahrscheinlich bedaure ich das.« Er strich mit dem Finger über meine Nase, zog die Hand wieder zurück. »Dieser typische Frauenblick beweist es. Heute abend solltest du besser so bereit für deine Rolle sein, wie er glaubt, daß du es bist.« Ich rieb die Stelle über meiner linken Brust und mußte schlucken. Carths Blick von dem Mal zu meinem Gesicht und dann zu dem Reif an meinem Hals war mir nicht entgangen. Vor sämtlichen hohen Anhängern Khys' sollte ich zur Schau gestellt werden, gebrandmarkt, meiner Fähigkeiten beraubt. Meine Haut wurde so heiß wie die einer Sonnenbadenden in der Mittagshitze. »Und mit seiner Lagerbundkette um den Leib«,
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erinnerte Carth mich streng. Ich berührte die Kette, dankbar, meinen rastlosen Händen eine neue Beschäftigung geben zu können. »Du wirst weder die einzige mit einem Reif der Stille sein noch die einzige Frau mit seinem Zeichen. Dieser dein nie versiegender Stolz wird noch einmal dein Verderben sein.« Er stand auf, eine Hand in die Hüfte gestützt. Etwas in seiner Haltung mir gegenüber hatte sich verändert. Zum erstenmal war ich mir seiner als Mann bewußt. Ich bewegte mich unruhig, da ich meine Feuchtigkeit spürte, mein Verlangen, die Reaktion meines Körpers auf seine Gegenwart. »Du bist es, die sich geändert hat, die mit wacheren Sinnen um sich schaut. Steh auf. Dieses eine Mal wird dein neues Bewußtsein dir wenig nützen.« »Wohin bringst du mich?« fragte ich. Das Ors der Brunnenfrau sorgsam auf das Ruhebett legend, erhob ich mich gehorsam, um ihm zu folgen. »Nach unten in den Gemeinschaftsbezirk, damit sie dich zurechtmachen können. Anschließend zu einer Mahlzeit, wenn du möchtest.« »Carth?« fragte ich und faßte nach seinem Arm, als wir in die Halle hinaustraten. »Sprich«, forderte er mich mit einem Seitenblick auf. »Wirst du an der Versammlung teilnehmen?« »Allerdings, zusammen mit noch einigen Arrars.« Ich ließ ihn los und versank in Schweigen. In meinen Gedanken sah ich einen anderen Arrar, und dessen so beunruhigende Augen schienen mir durch die Gänge voranzuschweben. Wir gingen durch den hellen, klaren Tag und bogen auf den Weg zum Seeufer ein. Carth, wie um seine schlechte Laune vergessen zu machen, erlaubte, daß ich einige runde Kiesel aufhob und sie über die Wasseroberfläche hüpfen ließ. Einer davon war durch die ständige Einwirkung des Wassers so zurechtge-
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schliffen worden, daß seine Umrisse an eine Frau erinnerten. Ich trocknete ihn an meinem Kleid ab und reichte ihn Carth, damit er etwas hatte, was ihn an mich erinnerte. Seine Umarmung preßte mir die Luft aus den Lungen. Nach einer Zeit gab er mir einen Kuß auf den Scheitel und schob mich weg. Obwohl ich ihn fragte, erzählte er nichts von dem, was ihn beschäftigte, noch wohin er erwartete, daß die Reisen im Auftrag des Dharen ihn führen würden. Der Gemeinschaftsbezirk befindet sich im Turm der Hellseherinnen, plüschig, elegant, ganz in zarten, neutralen Farben gehalten, als wäre der Herbst eingetreten und hätte sich in der großen Halle eingerichtet. Wir schritten über den durchsichtigen Boden, in den ein Muster aus gefärbter Erde eingearbeitet war, das das Bewußtsein anregte und dem Geist Heiterkeit verlieh. Ich beachtete den Boden nicht, ebensowenig wie den großen, kreisrunden Tisch aus gestreiften Ragony oder die darum angeordneten Sitzkissen aus Fell, Leder und Gobelinstoff. An vier Stellen konnte man den Kreis durchschreiten und sich zwischen zu Gruppen zusammengestellten Ruhelagern wiederfinden. Aber ich wollte nichts als weg. Ich haßte das Gefühl des Gol unter meinen Füßen, den schweren, betäubenden Geruch, der einen süßlichen Geschmack auf der Zunge hinterließ. Hier hatten die Hellseherinnen, deren Wohnung dies war, mich ihre Verachtung spüren lassen. Hier war ich Zeuge gewesen, wie einer von ihnen der Reif der Stille umgelegt wurde. Ich blinzelte, um die Bilder, die vor meinen Augen auftauchten, zu vertreiben. Ich glaubte, den Raum voller Menschen zu sehen, vermeinte sogar, die Musikanten leise in ihrer Nische spielen zu hören, den Duft des gebratenen Denter zu riechen. Carths Hand auf meiner Schulter, sein warnender Blick aus den Augenwinkeln riefen mich zur Ordnung.
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Ich verbannte die Vergangenheit aus meinen Gedanken. Wir traten aus der Halle in einen himmelblauen Gang aus goldgeflecktem Ornithalum, durch den wir rechterhand zu zwei nach unten führenden Treppen gelangten. Am Fuß der Treppe führte eine offene Tür zu einem großen Raum, wo sechs Frauen sich um ein Schwimmbecken lagerten, das in drei Abschnitte unterteilt war. Dort übergab mich Carth mit einer Höflichkeit, die schon an Unterwürfigkeit grenzte, in die Hut einer Hellseherin, deren Name mir nicht im Gedächtnis geblieben ist. Ich bat ihn zu warten, aber er wollte nicht. Die Frau lachte und machte eine Bemerkung über das Unbehagen der Männer bezüglich weiblicher Verschönerungskünste. Wenn sie diese Künste bei sich selber gebraucht hatte, dachte ich, mußte sie vorher grausig anzusehen gewesen sein. Ihre Augen, die abweisend auf mir ruhten, verrieten, welches Urteil sie über mich gefällt hatte. Mit einem honigsüßen Lächeln willigte ich ein, ihre Dienste und Fähigkeiten in Anspruch zu nehmen. Bei dem Wort ›Können‹ hob ich leicht die Augenbraue, um deutlich zu machen, daß ich meine Zweifel hegte. Sie errötete und starrte bedeutungsvoll auf meinen Reif. Also legte ich mein Gewand ab, damit sie meinen Chald sehen konnte und begriff, wie ich zu dem Dharen stand. Nackt wie sie stand ich vor ihr, hochgewachsener, zierlicher, und mit seinem Chald des Lagerbundes, an dem ein Vermögen in Goltropfen hing, um die Hüften. Ihr kleiner und allzu breiter Körper versteifte sich. Sie war gezwungen, den Kopf in den Nacken zu legen, um mir in die Augen zu sehen, in denen nichts stand als Verachtung. Kein weiteres Wort fiel zwischen uns während der zwei Endhs die sie mit ihren zwei Helferinnen brauchte, um mich herzurichten. Endlich, den Körper mit Ölen
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eingerieben, das Haar mit zehn dünnen Zöpfen gebändigt, die mit Feuerjuwelen durchflochten waren, durfte ich vor den Spiegel treten. Ich sah mich an. Auf Schamhaar und Brustwarzen glitzerte ein schillerndes Pulver, die Augen hatten sie golden geschminkt, Finger- und Zehennägel zurechtgefeilt und golden lackiert. Ihre feindseligen Blicke in meinem Rücken, die ich im Spiegel sehen konnte, erwärmten mein Herz. Jede von ihnen hätte mit Freuden meinen Reif getragen, mein Zeichen, jede Demütigung erduldet, um ein solches Spiegelbild zu haben. Ich lächelte mir zu und beobachtete meine Zunge, wie sie hervorschnellte, um meine Lippen zu befeuchten. Langsam drehte ich mich einmal um die Achse. Khys' Zeichen auf meiner linken Brust fing das Licht ein und zersplitterte es zu einem funkelnden Prisma. Dann erblickte ich Carth, und sein Gesichtsausdruck war ein beredter Tribut. Die untersetzte Hellseherin brachte mein cremefarbenes Gewand und hielt es bereit. Während ich es anlegte, trat ich zu ihm. »Was denkst du?« fragte ich neckend. »Ich denke, daß ich dir jetzt etwas zu essen verschaffen sollte«, murmelte er. Ich empfand seine Verwirrung als eine delikate Speise, trotzdem nickte ich und trat dicht an ihm vorbei in den Gang hinaus, damit er von hinten meine juwelen-durchflochtene Mähne bewundern konnte. »Ich habe nachgedacht«, teilte ich ihm mit, als er mich eingeholt hatte und einen Arm um meine Taille legte. »Darüber, was du essen möchtest, hoffe ich«, meinte er und bog in einen Seitengang aus braunem Taernit ein. »Über den Hulion, der uns gestern angegriffen hat, und darüber, was der Rat des Dharen mir angetan hat, und über die Bücher, die ich von dir erhielt.« »Du mußt ausgehungert sein«, bemerkte der Arrar.
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»Bei meiner Beurteilung versuchte einer aus dem Rat ein Gewebe aufzulösen, das von mir ausging. Worum handelte es sich dabei?« »Frag den Dharen.« »Bald werde ich auf deine wertvollen Ratschläge verzichten müssen. Bitte, Carth, versage mir nicht deine Hilfe. War es ein Kand? Mir schien es einem Diagramm ähnlich zu sein, das ich in Khys' Buch gesehen habe.« Ich richtete meinen flehenden Blick auf sein Gesicht. Er betrachtete angelegentlich den Boden zu seinen Füßen. »Ich kann dir nur sagen, es könnte ein Kand gewesen sein. Wenn ja, was tut es; es ist nicht mehr. Was deine anderen Fragen betrifft, so bin ich nicht befugt, sie zu beantworten.« »Willst du nicht dies eine Mal seine Anordnungen ein wenig freier auslegen?« »Auch nicht dies eine Mal.« Und das Gesicht des Arrars war finsterer, als ich es je gesehen hatte. »Dann bring mich zu seinen Gemächern zurück«, meinte ich tonlos. »Ich möchte die Bücher studieren, bevor ich zu ihm gerufen werde.« »Wie du willst«, sagte Carth, und wir machten kehrt. Den Weg zu den Gemächern des Dharen legten wir schweigend zurück. Als er gegangen war, stand ich am Fenster, bis ich ihn draußen den Weg einschlagen sah, der zum Turm der Arrars führte. Einmal blieb er am Seeufer stehen und unterhielt sich eine Zeitlang mit einem anderen Mann. Vor ihnen auf der Seeoberfläche entstanden kleine Wellen, als würden unsichtbare Steine dort über das Wasser tanzen. Noch weiter draußen, fast schon am jenseitigen Ufer, brodelte und schäumte der See. Beide Männer beobachteten die Vorgänge, so schien es, aber keiner hatte einen Stein aufgehoben oder Anstalten gemacht, etwas zu werfen. Nach geraumer Zeit trennten sie sich und gingen in entgegengesetzter Richtung davon. Und der See lag
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wieder ruhig und still. Ich wandte mich ab, holte Khys' Bücher vom Lager und machte es mir damit zwischen den Kissen bequem. Lange kämpfte ich mit seinen Ausführungen über das Kandern, obwohl ich nicht in der Lage war, seine Instruktionen auszuprobieren. Khys definierte Kandern als die Einbringung in die auf Erfahrung basierende Zeit von Wahrscheinlichkeiten, die in der Sordh nicht enthalten sind. Aber ich verstand nicht viel vom Sordhen, der Gabe der Hellseherinnen. Stochastische Neustrukturierung oder Kandern verlangte das Begreifen dessen, was der Zeit eigen war. Ich konnte nicht sordhen. Man muß die Sordh sehen, das Spektrum der Wahrscheinlichkeiten, um sie ändern zu können. Ich berührte den Reif an meinem Hals, schob die Hand unter das cremefarbene Galeshirgewand und strich über das Mal an meiner Brust. Was die Helsare anbetraf, so war ich da noch weiter im Hintertreffen. Ich hatte nie einen gesehen. Zwar wußte ich, daß es sich um kleine Kristalle handelte, eine Art Lernhilfe für die Gaben des Bewußtseins. Ich wußte auch, wie sie auf diese Ebene gelangt waren, da ich die Schriften der Hüterin gelesen hatte. Aber ich studierte verbissen das Material — die vielen Hinweise und Warnungen und Rückzugsmöglichkeiten, die Khys aufführte — sollte jemand sich auf die Suche machen. Denn das schien es zu sein — eine Reise, die Erforschung einer anderen Wirklichkeit. Als ich seufzte, mich reckte und mir die Augen rieb, bemerkte ich, daß sie schmerzten, weil es draußen dunkelte und die gefangenen Sterne unter der Decke für mich nicht leuchten mochten. Ich legte das Buch über die Helsare beiseite und starrte zu ihnen hinauf, wo sie matt glänzend über mir schwebten, arrogante Mahner an eine Unzulänglichkeit. »Leuchtet, verflucht«, murmelte ich. Es tat mir leid, so
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in Carth gedrungen zu haben, daß ich jetzt auf seine Gesellschaft verzichten mußte. Ich legte mich in die Kissen zurück und betrachtete die Bronzeplatten an der Decke. Ich hatte kein Interesse, sagte ich zu mir selbst, an einem so gefährlichen Unterfangen, wie, nach Khys' Richtlinien zu urteilen, Helsar-Lehren sein mußten. Ich dachte an Khys und wünschte, er würde kommen und mich gebrauchen, mich aus meiner Stimmung erlösen. Auch mit dem Arrar Sereth beschäftigten sich meine Gedanken, er, der Hulions ritt. Vielleicht befand er sich unter den Arrars, die an Khys' Versammlung teilnehmen würden. Der Gedanke heiterte mich auf. Wieder streckte ich mich, breitete mein Haar auf den Kissen aus und schloß die Augen. Immerhin mochte es, dachte ich, ein langer Abend werden. Der Schlaf stellte sich bald ein, aber es war ein unruhiger, erschöpfender Schlaf, in dem es mir schien, daß ich vor eine Wesenheit gerufen wurde, die sich meinen Vater nannte. Ich erwiderte, daß ich ihn nicht kannte. Du könntest es sein, gab ich zu und betrachtete gelassen die nur in Umrissen erkennbare menschliche Gestalt, die in flammende, züngelnde Sternenmaterie eingehüllt war. Ich verspürte keine Furcht, eher Sehnsucht und ein überwältigendes Gefühl der Zusammengehörigkeit. Laß mich bleiben, flehte ich die Schwärze an, in der plötzlich riesige, glühende Augen erschienen, deren jedes ein kreißendes Universum beinhaltete. Habe ich nicht genug getan, genug erreicht, genug gelitten, um dich zufriedenzustellen? Nein. Bringe mir meine Früchte; er sprach ohne Worte, der Klang seiner Gedanken wie das Läuten gewaltiger Glocken in meinem Gehirn. Nimm sie dir, und den Vater dazu, fauchte ich. Ich wollte frei sein. Und er lachte, und der Sturm seines Lachens hob mich auf wie ein Stück Papier und wirbelte mich zurück in das Gefängnis des
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Fleisches. Ich erhaschte noch einen letzten Blick auf diesen Ort, über dem eine große geflügelte Slitsa mit feurigen Krallen schwebte, den Schweif in die aufsteigenden Kraftfelder verwoben, die die ihr anvertraute Welt zerteilten. Ich hörte ihr tiefes Summen, spürte die Harmonien, die sie hervorbrachte, während sie das pulsierende Lied der Schwerkraft verströmte, das den Unterbau des Raums mit den Wettern des Lebens zusammenfügt. Und dann war das Lied verstummt, der Pulsschlag vergangen, und ich richtete mich in dem halbdunklen Zimmer auf, um durch das Fenster die Sterne zu sehen und den jungen Mond und wenige Schritte von mir entfernt den Dharen, schweigend über den Goltisch gebeugt. Ich erhob mich. Er bemerkte es und ließ die gefangenen Sterne aufleuchten, während er sich die Augen rieb. Er hatte sich dort im Dunkeln abgemüht, statt mich zu wecken. »Khys, du hättest mich nicht schlafen lassen sollen«, sagte ich und trat an den Tisch, auf dem er ein Papier ausgebreitet hatte, das mir eine Liste von Namen zu sein schien, mit Reihen von Zahlen und geheimnisvollen Symbolen neben jedem einzelnen. Er zuckte die Schultern und richtete sich auf. »Sie haben dich kunstvoll hergerichtet«, meinte er. »Dreh dich.« Ich gehorchte. »Carth sagte mir, du hättest einige Fragen gestellt, die er nicht beantworten konnte.« »Ich möchte dich nicht damit belästigen«, entschuldigte ich mich und wich einen Schritt vor seinem durchbohrenden Blick zurück. »Es war nur . . .« »Ich weiß.« Er lächelte warm, was bei ihm selten vorkam, und zeigte weiße, makellose Zähne. »Wenn du am Ende dieser Spanne immer noch eine Antwort darauf haben möchtest, werde ich mit dir sprechen. Für jetzt richte deine Gedanken auf die Gegenwart. Tu dein
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Bestes für mich heute nacht.« »Mein Bestes wobei?« fragte ich ihn, da ich seine gute Stimmung bemerkte, die auch noch anhielt, als er die Papiere zusammensuchte und aufeinanderstapelte. Khys ließ sich nicht zu einer Antwort herab, sondern beschäftigte sich damit, die Papiere in seinem Wandschrank unterzubringen. »Der Cahndor von Nemar«, bemerkte er, indem er sein schlichtestes und elegantestes Festgewand anlegte, »hat seine Lagergefährtin hierhergebracht und seinen Erben.« Sein Gesicht lag im Schatten, als er den Chald um seine Hüften legte. »Beide, die Frau und das Kind, werden eine Zeitlang am See wohnen. Verständlicherweise wird sie nervös sein und sich unbehaglich fühlen. Wenn du etwas tun könntest, damit sie sich schneller einlebt, würde ich das zu würdigen wissen.« Die ganze Zeit, während er sprach, konnte ich seine kalten Gedankenfühler spüren. ›Bewußtseinsdurchsuchung‹ nennen es die stothrischen Lehren; als unbefugtes Eindringen erscheint es jemandem, der nicht über vergleichbare Fähigkeiten verfügt und sich deshalb nicht wehren kann. »Ich werde tun, was ich kann«, sagte ich ruhig und flüchtete zu dem Ruhelager, unter dem Vorwand, das hauchfeine Wickeltuch. holen zu wollen, das ich heute abend tragen sollte und das auch er ausgesucht hatte und nicht ich selbst. »Aber das ist nicht, was du eigentlich willst.« »Nein«, gab er zu und sein Humor verging wie Wasser in der Mittagssonne. »Du hast recht. Der Schein muß uns beiden für den Augenblick genügen. Weißt du, wie man Zeit bindet?« Ich nickte. Carth hatte dafür gesorgt, daß ich nicht ganz unwissend war in bezug auf die Stoth-Traditionen, die Khys so hoch schätzte. Ich zog das Kleid über den Kopf. Über der rechten Schulter war es geschlossen,
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dafür fiel es an der derselben Seite offen bis zu meinen Füßen. Der Ausschnitt führte unter der linken Achsel hindurch, so daß das Zeichen auf meiner Brust voll zur Geltung kam. Ich strich das Gewebe, das sich auf der Haut so leicht anfühlte wie ein Abendhauch, über meinen Hüften glatt. Khys legte seine große Hand flach auf meinen Bauch und ließ sie an dem Stoff hinabgleiten. Ich trat von ihm zurück. Er rührte sich nicht, sondern stand schweigend. Ein Muskel zuckte an seinem Unterkiefer. Beunruhigt kniete ich vor ihm nieder, die Handflächen auf den Oberschenkeln. »Dharen«, flüsterte ich, »du machst mich ängstlich. Wenn du dich genauer ausdrücken würdest, könnte ich dir besser dienen.« Ich wollte ihn berühren, schmecken, die Kluft zwischen uns mit meinem Körper überbrücken. Ich neigte meinen Kopf auf seine Füße, und meine mit Juwelen durchflochtenen Zöpfe rollten schwer über meine Schultern auf den Teppich. »Ich werde dich für diese Nacht dem Cahndor von Nemar überlassen«, sagte Khys ruhig. Ich richtete mich auf. Anklagend schaute ich ihn an, biß mir auf die zitternden Lippen. »Es ist keine Strafe. Ich bin nicht unzufrieden mit dir.« Er legte seine Handfläche an meine Wange. Ich nahm seine Hand, hielt sie zwischen meinen Fingern und küßte sie. Kleine Schweißtropfen standen in den Linien des Handtellers. Ich ließ meine Zunge darin entlanggleiten, schmeckte das Salz. »Was ist es dann?« fragte ich mutig mit meiner sanftesten Stimme und schaute zu ihm auf, während ich seine Hand wieder an meine Wange drückte. »Eine alte Verpflichtung, Teil eines größeren Kand.« Seine Brauen wölbten sich zu Halbkreisen, aber er stieß mich nicht zurück. »Es ist notwendig, daß du ihn gut bedienst. Wenn nur so gut wie den Arrar Sereth, will ich
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schon zufrieden sein.« Diese letzte Bemerkung kam trocken und bedeutungsvoll. Ich ließ seine Hand fallen, setzte mich auf die Fersen zurück und hielt meinen Kopf hoch erhoben. »Ich werde es versuchen«, sagte ich kaum hörbar. Jetzt wußte ich, aus welchem Grund man mich geschmückt hatte. Eiseskälte verbrannte mein Herz. Angestrengt blinzelte ich die aufsteigenden Tränen zurück, damit die Goldschminke nicht verwischte, die soviel Mühe gekostet hatte. Ich dachte daran, daß ich als Brunnenfrau jede Nacht einen anderen bedienen würde, ohne solche Bedenken. Aber ich war keine Brunnenfrau. Ich beobachtete ihn, wie er sich durch das Zimmer bewegte, steif und angespannt in seinem dunklen Gewand, in einer Haltung, die seine äußere Ruhe Lügen strafte. Vielleicht war es eine Verpflichtung, aber sicherlich keine, die er mit Freuden erfüllte. Ich fragte mich, was einen solchen Mann zwingen konnte, gegen seinen eigenen Willen zu handeln. Er wirbelte herum und lehnte sich mit funkelnden Augen gegen den Goltisch. Ich konnte sehen, wie seine Hände weiß wurden, als er den Rand der Tischplatte umklammerte. »Sei still, oder ich werde dafür sorgen, daß er dich schwängert und damit für alle Zeiten von deinem dummen Gedankengeschwätz befreit sein.« Betrübt senkte ich den Kopf, um meine Gedanken irgendwie zum Schweigen zu bringen. »Steh auf.« Ich gehorchte und hielt dabei die offene Seite meines Kleides so gut wie möglich zusammen. »Zieh es durch deinen Chald.« Und als ich zögerte, kam er mit zornigen Schritten auf mich zu. Er packte den Stoff, schob ihn unter den Chald, den ich trug, und zog das Gewebe glatt. Das weiche, schimmernde Kleid wurde jetzt von dem Chald gehalten wie von einem Gürtel, wodurch die geschlitzte rechte Seite sich von
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plumper Offenheit zu einer diskreten Einladung verwandelte. Unsicher lächelte ich zu ihm auf. So einfache Dinge wußte ich nicht, zum Beispiel, wie man einen Chald am vorteilhaftesten trägt. Khys' starrer Blick wurde sanft, während mein Bewußtsein meine Unzulänglichkeiten beklagte. »Ich möchte nicht mit einem anderen Beilager halten«, bemerkte ich unnötigerweise. »Es ist nur deine Berührung, nach der mein Körper verlangt.« »Aber du wirst tun, was ich dir gesagt habe«, mahnte er. Ich konnte nur nicken. Er sprach dann, als wir die rückwärtige Treppe hinabstiegen und den Weg zum Gemeinschaftsbezirk einschlugen, von dem, was in seinen Versammlungen erreicht worden war. Dergleichen hatte er nie zuvor getan. Das meiste überstieg mein Begriffsvermögen. Ich erfuhr, daß man bereits einige Helsar-Chaldketten vergeben hatte und daß eine solche Kette aus Luricrium bestand, einem seltenen und kostbaren Metall von der Farbe aufziehender Sturmwolken. Ich erfuhr, daß die Chancen, eine Helsar-Ausbildung unbeschadet zu überstehen, eins zu zwanzig standen, daß die Voraussetzung für eine solche Ausbildung die erfolgreiche Überwindung des Raumes war. Ich erfuhr nicht, was geschah, wenn jemand versagte. Noch führte er aus, was man gewinnen konnte, das es wert war, ein solches Risiko einzugehen. Ich bemühte mich, so wenig wie möglich zu denken, und schon gar nicht an den Tausch, den Khys mir angekündigt hatte. Aber ich konnte das Klagen meines Herzens nicht zum Verstummen bringen. Großzügig wie selten, sagte der Dharen nichts, sondern legte mir gegen die Abendkühle den Arm um die Schultern. Der böige Wind schien mich zu verhöhnen, daß ich diesen Mann so verehrte, der mich doch zweifellos nur benutzte, wie der Arrar Sereth gesagt hatte, um seine
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Kands zu fördern. Welche immer es sein mochten. Zwischen prachtvoll ausstaffierten Wachen traten wir durch die mit Messing eingelegten Türen, die verkündeten, daß dieser Turm die Wohnstatt von Frauen war. In der Eingangshalle kamen wir an kleinen Gruppen unterschiedlich gekleideter Seegeborener vorbei, und die Gerüche von Fleisch und Blumen vermischten sich mit dem beißenden Aroma von Danne und verursachten mir ein Schwindelgefühl. Haltsuchend an Khys' Arm geklammert, trat ich neben ihm in den Gemeinschaftsbezirk und sah, wie viele an dieser Versammlung teilnahmen. Menschenmengen, mit ihrem Gesumm und Getose, ihrem Gemisch von Düften, ihrer bedrohlichen Vielfalt, gehörten zu den Dingen, an die ich nicht gewöhnt war. Mein Blick glitt über die Fremden, auf der Suche nach einem vertrauten Gesicht. Ich entdeckte weder Carth noch irgendeinen anderen Bekannten, nicht an der Getränketheke und auch nicht vor dem kleinen Orchester, das ein dydian-chromatisches Stück im Sieben-Viertel-Takt zum besten gab. Nahe der östlichen Reihe seidenverhangener Fenster hing dicker gelber Rauch in der Luft und wogte in phantastischen Windungen zu der grünlich angelaufenen Decke aus Messing empor. Der runde, innen hohle Tisch war mit allen Sorten von kostbarem Geschirr und Besteck gedeckt. Ganze Parrs lagen, von schimmernder Glasur umhüllt, auf riesigen Tabletts, garniert mit gebackenen Tuns, deren knusprige Außenhaut mit Salz bestäubt war. Auf dem freien Raum inmitten des Tischkreises drängten sich die Feiernden so dicht, daß man den Boden nicht mehr sehen konnte. Eine Unzahl von Hellseherinnen bewegte sich zwischen den Gästen, barbusig, mit schimmernder, zarter Haut, unterschiedliche Wickeltücher um die Hüften. Hier war sicherlich jede Blutlinie vertreten, die es auf Silistra gab. Die Hautfarbe reichte vom blassesten Weiß bis zu sternenlosem
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Abendhimmel, und alle waren sie anders gekleidet, von völliger Nacktheit bis zu einer dunkelhäutigen, zierlichen Frau, von der nur die Augen und ein kleiner Teil der Stirn zu sehen waren. Alles andere war in mehrere Schichten grüner Durchsichtigkeit gehüllt, die an den Rändern mit winzigen goldenen Glocken besetzt waren, welche klingelten, wenn sie sich bewegte. Zu dieser Frau führte mich Khys, wo sie neben einem beeindruckend aussehenden Mann stand, der einen prachtvollen Umhang aus schwarzen Federn trug, ähnlich den Schwingen eines Ebvrasea, die aus seinen breiten Schultern sprossen. Er war in angeregte Unterhaltung mit einem anderen begriffen, einem Mann von ungefähr gleichem Körperbau, der uns seinen schwarzgekleideten Rücken zuwandte und um dessen Hüften der Chald eines Arrar lag. Die Frau sah uns zuerst. Ihre samtenen Augen weiteten sich. Sie berührte den Arm ihres Gefährten, und dieser ranahäutige Mann richtete seine schwarzen Augen auf uns. Er grinste und sah dabei aus wie ein Tier. Ich malte mir aus, daß seine Sprache wohl einem Raubtiergebrüll gleichen müsse, als er sich geschmeidig auf uns zu bewegte und die Menge sich vor ihm teilte, als wäre dieser Auftritt sorgfältig geprobt worden. Er glitt auf uns zu, dieses blitzende Raubtierlächeln im Gesicht, und als er uns erreichte, umschlang er mich mit seinen gewaltigen Armen. Eine Hand um jede meiner Hinterbacken, meinen Körper gegen sein Lederzeug mit den Metallösen gedrückt, hob er mich hoch und wirbelte mich herum. Ich zitterte vor Angst und biß mir auf die Lippen. »Estri«, sagte er mir ins Ohr, dann wanderten seine Lippen an meinem Hals hinab. »Bitte laßt mich herunter«, flehte ich furchtsam. Mit dem brüllenden Lachen, das ich bei diesem Hulion von einem Mann erwartet hatte, gehorchte er, wobei seine
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Finger sich aber nur ungern von meinen Hüften lösten. Ich trat zurück und stieß gegen Khys, der mir seine Hand auf den Nacken legte. Die Augen des dunklen Mannes verschleierten sich, als hätte man einen Vorhang darübergezogen. Seine Lippen wurden schmal, eine Hand tastete nach seiner Schulterspitze und rieb die Muskeln dort. »Ich dachte«, sagte er zu Khys, nachdem er mich lange Zeit gemustert hatte, »Sereth spräche sinnbildlich, Halbwahrheiten, aus seiner Verzweiflung geboren. Wie ich jetzt sehe, war ich im Irrtum.« Er knetete die Stelle an seiner Schulter, schaute zu Boden. Dann hob er den Blick. »Ich bin entsetzt«, sagte er zu dem Dharen. Sein Vorwurf kam wie ein Peitschenhieb und machte uns zum Mittelpunkt eines Kreises aus Schweigen und Aufmerksamkeit. Ich erschauerte, meine Haut prickelte unter den Blicken der Menge. Meine Aufmerksamkeit richtete sich auf die kleine, zierlich Frau, die sich in angespannter Haltung an den Arm des Arrar klammerte, der uns den Rücken zuwandte. Sie bewegte den verschleierten Kopf hilflos hin und her. Ich schüttelte mein geflochtenes Haar nach vorn über die Schulter, um mein Zeichen vor des dunklen Mannes Augen zu verbergen. Der Druck von Khys' Fingern an meinem Nacken verstärkte sich, erinnerte mich an den Reif, der um meinem Hals pulsierte. Ich bebte unter dem merkwürdig verschleierten Blick des dunklen Mannes. »Entsetzt bist du?« fragte Khys leise. »Oder vielleicht ist es ein anderes Gefühl, das du empfindest, geboren aus deiner eigenen Unzulänglichkeit? Hättest du, Cahndor, so etwas vollbringen können? Ist es nicht deine Furcht, die dich erschreckt, deine eigene Verwundbarkeit, die dir solches Unbehagen verursacht?« Der Cahndor von Nemar verlagerte sein Gewicht von
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einem Fuß auf den anderen und schob die Fäuste zwischen die Stränge seines breiten Chald. »Zweifellos«, grollte er, »ist das der Fall. Wenigstens teilweise.« Khys strich das Haar von meiner Schulter. Sein Zeichen funkelte dem Cahndor entgegen, der den Blick nicht davon wenden konnte. »Ich möchte Liuma nicht so gedemütigt sehen«, bemerkte er mit gedämpfter Stimme und fuhr sich mit den Fingern durch die Locken. Auf seinem Arm wand sich in Braun- und Ockertönen eine Slitsa um ein gekrümmtes Schwert. Mit jeder Muskelbewegung erwachte das Bild zu scheinbarem Leben. »Sie gehört dir. Wir werden mit ihr nur tun, was du willst. Wenn du nicht möchtest, daß sie Fortschritte macht, nimm sie wieder mit. Es ist für mich ohne Bedeutung. Das Kind ist es, das uns beide kümmern sollte.« Damit ließ er meinen Nacken los und stieß mich sanft von sich. »Auch bei ihr war es das Kind, das ihr einen Wert gab.« Erstarrt stand ich zwischen ihnen und wünschte mir, ich könnte in diesem Moment aufhören, im Fleische zu leben. Der Cahndor von Nemar streckte die Hand aus. Zögernd überließ ich ihm die meine und sah zu, wie sie in seinem Griff verschwand. Mit diesem Griff, unerbittlich wie die Schwerkraft, zog er mich näher heran. Ich sah flüchtig die Frau, die immer noch von dem Arrar gestützt wurde. In ihren großen Augen schimmerte Furcht. Meine eigenen, da war ich sicher, verrieten auch nicht eben Gelassenheit. Der Prinz der Dunkelheit umschlang meinen zitternden Körper, und ich begriff den Schleier vor seinen Augen: Nickhäute, die sich schlossen und wieder auseinanderglitten, Wolkenglanz über einem nächtlichen Abgrund. »Sprich meinen Namen« grollte der Wilde, dem Khys verpflichtet war. »Das werde ich, Cahndor, wenn Ihr ihn mir nennen
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würdet«, hauchte ich, so fügsam, wie das Einlösen einer Verpflichtung es verlangt, gleichzeitig Geduld erheischend. Sein Griff wurde fester. Er sprach mehrere Sätze in einer mir unbekannten Sprache. Dann wandte er den Kopf und bellte einen Befehl in derselben gutturalen Sprache. In sanfterem Ton sprach er mir seinen vollen Namen vor. Ich wiederholte ihn, fasziniert von diesem Blick, der mich ebenso festhielt wie Khys' Fleischfessel. »Sie weiß nichts?« fragte er Khys, seinen Griff lockernd. »Sie weiß eine ganze Menge. Sie erinnert sich nicht an ihr Leben vor ihrer Ankunft am See der Hörner. Wir hielten es für geraten, sie nicht an etwas zu erinnern, was sie sich selber nicht ins Gedächtnis rufen will.« »Wie du vorausgesagt hast«, bemerkte Chayin rendi Inekte schneidend. »Wie ich es plante«, berichtigte Khys mit seidenweicher Stimme, im Gegensatz zu des Wüstenkönigs herrischem Grollen. Meine Knie wurden weich. Sie beide also kannten meine Geschichte. Nie zuvor hatte Khys es zugegeben. Und das andere, was er gesagt hatte ... Ich sah ihn an und wollte nicht glauben, was die verschleierte Drohung an den Cahndor andeutete. Sein funkelnder Blick hielt mich zurück, meine Fragen, meinen Schmerz. Die Tränen trockneten ungeweint in meinen Augen vor dem kalten Hauch seiner Überheblichkeit. Ich wandte mich wieder dem Cahndor zu. Die zierliche dunkle Frau am Arm des Arrar Sereth hatte sich neben ihren Lagergefährten gestellt. Sie betrachtete mich mit unverhohlenem Entsetzen. Ihre Lippen waren trocken und spröde, ihre Glieder zitterten wie ein Schößling in einem Sturm aus dem Norden. Sie stützte sich schwer auf Sereths Arm, umklammerte ihn mit Fingern wie Vogelklauen. Ich bezweifelte nicht, daß sie seinen Halt brauchte. Und jener musterte mich
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ungerührt unter seiner dichten braunen Mähne hervor, als hätten wir nie Beilager gehalten. »Sereth«, flüsterte ich. Er gab keine Antwort, sondern schaute mich nur an, besonders meine linke Brust. Tief getroffen, daß er mich nicht einmal begrüßen wollte, wandte ich den Kopf ab und starrte auf den Boden, denn ich wußte nicht, wohin ich sonst blicken sollte. Meine Finger tasteten zu Khys' Lagerbundkette an meiner Hüfte und spielten damit. Der Schweiß meiner Handflächen netzte den Webstoff auf meinem Bauch. Khys stellte mir die Lagergefährtin des Cahndor nur mit ihrem ersten Namen vor, eine Beleidigung, die sie wohl bemerkte. Nemarchan, Hellseherin und Ranghöchste der Tiasks jenes Wüstenlandes, Nemar. Bestimmt hatte er ihr Aufbegehren ihrem Bewußtsein entnommen, denn er wies sie höflich darauf hin, daß sie während ihres Aufenthaltes am See der Hörner auf Titel verzichten müsse, da eine solche Rangordnung hier nicht galt; selbst ihr Höhlenname und der ihrer Mutter und ihres Vaters waren an diesem Ort bedeutungslos, es zählte nur, was sie war und vielleicht werden würde. Ich beobachtete, wie Khys binnen Augenblicken seinen Zauber um diese kleine Frau wob. »Laß mich sie sehen«, verlangte Khys von Chayin. Sie erhob keinen Einspruch, als ihr Lagergefährte ihr die Schleier abnahm und sie dann um ihre eigene Achse drehte, um ihre Schönheit zu entblößen, damit Khys sie abschätzen konnte. In dem Teich ihrer grün schillernden, goldbesetzten Gewänder stand sie da, in unverändert stolzer Haltung. Die Menge um uns war zurückgewichen, viele wandten ostentativ das Gesicht ab. Wir standen allein zwischen den gut zweihundert Gästen, die in Khys' Gemeinschaftsbezirk feierten. Er musterte sie erbarmungslos, und ich merkte an seinem Gesicht, daß seine eindringliche Gründlichkeit ihr Bewußtsein so mühelos entblößte, wie der Cahndor
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ihren Körper. Ich schloß die Augen vor ihrer Verzweiflung, die ich als meine eigene empfand. Als ich wieder aufschaute, sah ich des Arrar Sereths Gesicht, in diesem Augenblick ohne Maske, und das Mitleid darin galt mir, nicht der Nemarchan. Ohne nachzudenken, trat ich die wenigen Schritte zu ihm heran. Er betrachtete mich schweigend, die dunklen Augen nach innen gerichtet. »Wie geht es dir?« fragte er kaum hörbar. »Ich habe Angst«, erwiderte ich flüsternd. Er streckte die Hand aus, ließ sie zwischen uns in der Schwebe. »Du kannst es berühren, wenn du möchtest«, forderte ich ihn auf. Er strich mit seiner rauhen Handfläche über die matt schimmernde Spirale an meiner linken Brust. Unwillig warf er den Kopf zurück. Ich konnte seine Zähne knirschen hören. Er warf einen kurzen Blick auf Chayin und Khys, die angeregt miteinander sprachen, und auf Liuma, die sich Khys' Aufforderung entsprechend wieder ankleidete. »Estri«, meinte Sereth, sich vorbeugend, »du hast keinen Grund, Chayin zu fürchten. Er würde dir nie etwas Böses tun. Vielleicht ist noch etwas zu retten mit seiner Hilfe.« Und er nahm die Hand von meiner Brust. »Hat es weh getan?« erkundigte er sich. »Nicht sehr«, antwortete ich erhobenen Hauptes. Hilflos wie ich war er vor Khys' Willen. Ich verübelte ihm, was er über den Cahndor gesagt hatte. »Es ist leicht für dich, mir zu sagen, ich soll mich nicht fürchten«, sagte ich. »Wenn du den Cahndor so liebenswert findest, halte du doch mit ihm Beilager.« Meine Zurechtweisung brachte ihn zum Lächeln. Ich fragte mich, wie ich seine Gegenwart hatte tröstlich finden können. »Ich nehme an«, zischte ich bissig, »daß von dir nichts anderes zu erwarten war. Immerhin bist du nichts weiter als sein Diener.« Und ich wandte ihm mit geballten Fäusten den Rücken zu. Seine Hand fiel schwer auf
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meine Schulter und wirbelte mich herum, bis ich ihm wieder von Angesicht zu Angesicht gegenüberstand. So hielt er mich einen Augenblick fest. Dann ließ er mich los, drehte sich um und schritt durch die Menge davon, wobei er einige unschuldige Gäste grob aus dem Weg stieß. Khys unterbrach sein Gespräch, um erst ihm nachzuschauen und dann auf mich zu sehen. Einen Moment lang schloß er die. Augen. Begreifen erhellte sein Gesicht. Er lachte verhalten und zog mich an sich. Irgendwie hatte ich ihm eine Freude bereitet. Ich machte mir nicht einmal die Mühe, über den Grund nachzudenken, sondern beglückwünschte mich selbst und sonnte mich in seiner seltenen Anerkennung. In dem Schutz seines Armes spürte ich den Blick der fremdartigen Augen des Parsetfürsten von Nemar auf mir ruhen. Sie besprachen dann die Veranlagungen von Liumas Kind, während sie besorgt lauschte. Ich begriff ihre Erregung nicht. Der Erbe Nemars würde am See der Hörner aufgezogen und ausgebildet werden, eingeweiht in die Größeren Wahrheiten, die man nirgends sonst auf Silistra lehrt. Keine Frau am See behielt ihr Kind nach dem zweiten Lebensjahr bei sich. Das Kind, geboren am zweitvierten Brinar 25 695, war bei Anbruch dieses Tages, des zweitfünften, zwei Jahre und einen Tag alt. Vielleicht, überlegte ich, wurden Kinder in der Parsetwüste nicht in Gemeinschaftsobhut gegeben. Ich zuckte die Schultern, was Khys veranlaßte, mich fester an sich zu ziehen. Was ging sie mich an, ihre Verzweiflung. Und wenn sie heute nacht mit dem Dharen Beilager hielt, konnte es mir nur recht sein, wenn sie nicht ganz bei der Sache war. Tief in meinem Innern spürte ich den scharfen Schmerz der Eifersucht. Ich fragte mich, wie er in sie eindringen sollte, klein wie sie war. Dann musterte ich Chayin, ihren Lagergefährten, und wußte, daß es in dieser Beziehung kein Problem geben konnte, wenn sie
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mit dem Cahndor Beilager gehalten und ihm einen Sohn geboren hatte. Ich fühlte Khys' lautloses Lachen und wußte, er hatte meine Gedanken belauscht. »Unbesorgt«, flüsterte er in mein Ohr, »keine ihrer Sorte wird dich je ersetzen.« Ich drückte zur Antwort meine Hinterbacken gegen ihn und wurde mit einer eindeutigen Regung unter seinem Gewand belohnt. »Paß du einen Augenblick auf die beiden auf, Chayin, während ich gehe, um das gesträubte Gefieder des Ebvrasea zu glätten.« Und Khys bahnte sich durch die Menge einen Weg zu Sereth, dessen dunklen Kopf ich gerade noch ausmachen konnte, umgeben von DanneRauch. Als Khys seinen Arrar erreicht hatte, machte Chayin den Mund auf. »Was«, verlangte der Cahndor zu wissen, »hast du zu Sereth gesagt?« Da ich nicht wußte, ob er des Gedankenlesens kundig war oder nicht, antwortete ich ihm wahrheitsgemäß. Chayin blies zischend den Atem durch die Zähne. »Von allen Männern sollte er von deiner Kritik verschont sein!« rief er. Ich konnte ihn nur anstarren. Liuma, seine Lagergefährtin, kicherte nervös. Er wirbelte zu ihr herum wie ein erzürnter Hulion. »Glaubst du, ich würde nicht den Boden mit deinem Kadaver aufwischen, sollte mir danach zumute sein?« Doch obwohl sie schwieg, tanzte immer noch Belustigung in ihren Augen. Ganz eindeutig hegte Liuma keine Liebe für den Arrar Sereth. »Von allen Männern«, bemerkte ich leise zu Chayin, als er seine dunklen, zornigen Augen wieder mir zuwandte, »darf nur Khys sich so etwas mir gegenüber herausnehmen. Er ist es, mit dem ich den Lagerbund geschlossen habe.« Und wortlos hielt ich seiner Wut stand, während er in seiner barbarischen Sprache Flüche ausstieß. Als ihm die Worte ausgingen, spuckte
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er mir vor die Füße. Meine Augen wanderten von dem kleinen feuchten Klecks an seiner angespannten Gestalt empor, und ich wußte, ich hatte zuviel gesagt. Ich trat den Rückzug an, aber mit zwei Schritten hatte er mich eingeholt. »Bei den Schwingen des Uritheria, Estri, das kann nicht so weitergehen! Begreifst du denn gar nichts von deiner Lage oder von den Schatten, die sie über uns alle wirft?« Ich nahm Liumas feindseligen Blick wahr, wie sie uns beobachtete und dabei die Ohren spitzte. »Nein, ich begreife nicht. Vielleicht könnt Ihr es mir erklären«, bat ich ihn, als er mich zu ihr zurückführte. »Es ist meine verzweifelte Hoffnung«, entgegnete er dürr, »daß ich dazu in der Lage sein werde.« Nicht besonders sanft schob er mich auf den Platz rechts neben seiner Lagergefährtin Liuma. Dann schaute er sich um und winkte einem Arrar mit Khys' Spirale links oben auf seinem Gewand. Der Angerufene, blond, mit goldenen Augen, folgte dem Wink sofort. »Gib acht, daß sie sich nicht unterhalten«, wies er den Arrar an. »Laß sie nicht aus den Augen. Ich werde gleich wieder zurücksein.« Der Arrar nickte und stellte sich vor uns auf, die Beine gespreizt, die Arme über der Brust verschränkt, während Chayin sich auf der Suche nach dem Dharen durch die Menge schob. Liuma fing meinen Blick auf und blinzelte in Richtung des Arrar. Ich nickte. Weder ihr noch mir war direkt befohlen worden, bei ihm stehenzubleiben. Also bewegte ich mich nach links auf die Fensterreihe zu. Liuma brachte eilig mehrere ahnungslose Gäste zwischen sich und den überraschten Arrar und machte sich nach rechts davon. Unser Bewacher zögerte, unschlüssig, welcher von uns er folgen sollte. Ich beschleunigte meinen Schritt, über die Schultern zurückblickend, während ich zwischen einer gebrandmarkten Brunnen-
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frau und einem, der nicht ihr Lagergefährte war, hindurchschlüpfte. Der Arrar folgte mir mit gerunzelter Stirn. Ich stolperte blindlings in ihn hinein. Hände, feuriges Gold, umfaßten meine Oberarme, als ich taumelte. Mit einer gemurmelten Entschuldigung hob ich die Augen zu ihm, den ich angerempelt hatte. Und starrte betäubt in das Gesicht des Ersten von Khys' Ratgebern, der mich während meiner Beurteilung so gepeinigt hatte. Er trug schlichtes Schwarz. Seine Haare und Augen waren gleichfalls schwarz, und doch leuchtete um ihn das Feuer der Väter. Ich machte Anstalten niederzuknien. Er hielt kopfschüttelnd meine Arme fest und bemerkte, daß die Zeit für solche Ehrenbezeigungen noch nicht gekommen sei. Und: »Wohin gehst du in solch unziemlicher Eile?« Starke Finger bohrten sich in mein Fleisch. Aber seine Augen schauten woandershin. Ich wand mich in seinem Griff. Der blonde Arrar war stehengeblieben. Der Mann, der mich festhielt, hatte die Aufmerksamkeit des Blonden auf sich gezogen. Er deutete mit dem Finger in die Richtung, die Liuma eingeschlagen hatte. Der Blonde nickte und entfernte sich. »Ich werde dich selbst an Khys übergeben«, sagte er mit einem kalten Lächeln. »Wie geht es mit dem Verfall des Dharen voran?« erkundigte er sich dann, während seine durchdringenden Augen die meinen erforschten. »Bitte laßt mich gehen«, bat ich. Er tat nichts dergleichen, sondern strich mit seinen langen Fingernägeln über das Zeichen des Dharen auf meiner Brust. Er lachte verhalten. »Es liegt eine Ironie darin«, bemerkte er, als wir uns einen Weg durch die Menge bahnten, »daß er dich so gezeichnet hat. Ich würde gerne sein Gesicht sehen, an dem Tag, an dem er das begreift.« »Ich verstehe nicht, was Ihr meint, Arrar«, sagte ich.
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»Ich bin Gherein«, erwiderte er. »Und du wirst verstehen, bald. Erwähne mich gegenüber deinem Vater, wenn du ihn das nächste Mal siehst, und übermittle ihm meine Bewunderung dafür, daß er eine solche Kraft in die Zeit einbringen konnte.« Ich fragte mich, ob er verrückt war. Wieder lachte er, ein Lachen, das tief begann, aber mit einem hohen Glucksen endete. Während er mich den Pfad entlangschob, der sich unfehlbar vor uns öffnete, erinnerte ich mich an ihn und seine ungerechtfertigte Härte, die Zerstörung, die er in meinem hilflosen Bewußtsein angerichtet hatte an jenem Tag. Bei Khys angelangt, schlug er dem Dharen unsanft auf die Schulter. Jener wandte sich um, und Ärger verdunkelte sein Gesicht. »Ich habe etwas, das dir gehört«, sagte Gherein. »In der Tat«, antwortete Khys. »Und wie ist es in deinen Besitz gelangt?« »Was man nicht festhält, geht oft verloren.« Der Arrar Gherein, Erster von Khys' Ratgebern, zuckte die Schultern. »Sie floh, könnte man sagen. Ich bringe sie dir wieder.« Er trat einen Schritt zurück. »Ich schulde dir Dank«, meinte Khys trocken. »Wie immer« — Gherein verbeugte sich lächelnd — »bin ich nur das Werkzeug deines Willens.« Khys wandte mir seinen verärgerten Blick zu und schnipste mit den Fingern. Ich kniete bei ihm nieder. Hinter ihm verschmolz sein Ratgeber mit der Menge wie ein böser Geist. »Geflohen also?« sagte Khys in strengem Ton und schaute auf mich herab. Ich lehnte meine Wange an seinen Oberschenkel, ohne etwas zu sagen. Die, mit denen er sich unterhalten hatte, Carth und ein Dharener, den ich nicht kannte, ließen eine Pfeife zwischen sich wandern. Links von mir lehnte Sereth an der Fensterbank, Chayin hatte ihm kameradschaftlich den Arm um
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die Schultern gelegt. Auch sie rauchten Danne, das gelbe, bewußtseinsverändernde Kraut. Khys rief Sereth zu sich. Der Arrar gehorchte träge. Chayin nahm Liuma von dem blonden Arrar in Empfang und setzte sie auf die Fensterbank. »Ich glaube«, sagte Khys zu Sereth, der angestrengt vermied, mich anzusehen, »daß ich einen neuen Auftrag für dich habe.« Der Arrar Sereth grinste. »Ihr werdet mich noch einmal verlieren mit diesen Aufträgen.« Er warf den Kopf zurück. »Er ist nicht Vedrast.« »Zweifelst du an dir?« erkundigte sich Khys in demselben weichen Ton. Sereth hob den Kopf und blickte Khys lange in die Augen. Nach einer Weile fuhr er sich mit den gespreizten Fingern durch das Haar. »Es könnte funktionieren«, gab er zu. »Auf jeden Fall« — und seine Stimme war sehr leise — »werdet Ihr einen von uns beiden vom Hals haben.« Carth, der lange geschwiegen hatte, streckte die Hand aus und berührte Khys' Arm. Der Dharen trat zu ihm, drehte sich aber noch einmal um und bedeutete mir, aufzustehen, fast so, als hätte er mich schon vergessen. Sereths Finger schlossen sich um mein Handgelenk. Seine Augen hielten meinen Blick fest. Ich neigte den Kopf, um ihnen zu entgehen. Meine Finger, gefangen in seinem Griff, konnten nicht fliehen. »Komm mit mir«, flüsterte er. Ich schüttelte den Kopf, aber er zog mich hinter sich her zum Fenster. Meine Augen, die Khys um Hilfe baten, flehten vergebens. Er nahm Chayin die Pfeife weg, an der der Cahndor geraucht hatte, und reichte sie mir. Ich zögerte. Ich hatte noch nie geraucht. »Versuch es«, beharrte er mit einer Art düsteren Humors, der die Fältchen in seinen Augenwinkeln zusammenzog und die Narbe an seiner Wange dunkel
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färbte. Liuma, wie ich sehen konnte, hatte sich schon bedient. Sie lehnte mit hängenden Schultern am Fenster, weit entfernt von der Haltung einer Frau in Anwesenheit von Männern. Der Cahndor berührte Sereths Arm und begann, ihm mit kreisförmigen Bewegungen den Rücken zu reiben. Sereth bedachte ihn mit einem hinterhältigen Lächeln. Er nahm die Pfeife und zog daran, bis eine dicke Rauchwolke aufstieg. Dann hielt er sie wieder mir hin. Diesmal nahm ich sie entgegen. Die Lippen um den dünnen Stiel, inhalierte ich tief und wurde mit einem Hustenanfall belohnt. Mit tränenden Augen gab ich sie kopfschüttelnd zurück. »Nicht so viel«, belehrte er mich und machte es vor. Aber ich wollte nicht mehr. Danne lockerte das Band zwischen Körper und Geist. Gegen das Gefühl hatte ich schon oft angekämpft und brauchte keine Droge dazu. Und das sagte ich auch, mit einem trotzigen Zurückwerfen meiner Haare, ohne an das Zeichen des Dharen zu denken, das sie verdecken sollten. »Gibt er dir nichts zu essen?« bemäkelte Chayin mein Aussehen und tippte gegen meinen linken Hüftknochen, wo er unterhalb meiner Taille hervorragte. Dann wanderten seine Finger über meine Rippen. Ich zuckte die Schultern. »Antworte mir, wenn ich mit dir spreche!« grollte der Cahndor von Nemar. Liuma kicherte auf ihrer Fensterbank. Sereth schwang sich neben sie, ohne nur einmal den Blick von mir zu nehmen, und unter seiner hungrigen Musterung stellten sich mir die Härchen im Nacken auf. »Er gibt mir zu essen, aber ich bin oft nicht hungrig. Mir ist der Gedanke gekommen, daß ich überhaupt nicht essen würde, wenn ich die Wahl hätte.« »Du könntest mehr Fleisch auf den Rippen gebrauchen. Heute abend werde ich dafür sorgen, daß du
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etwas zu dir nimmst.« »Wie Ihr wünscht, Cahndor. Aber eine Mahlzeit wird meine Figur kaum verändern. Ich weiß sicher, daß Khys über eine ganze Anzahl üppiger und hoch talentierter Hellseherinnen verfügt. Bestimmt wird er Euch jede, die Euch gefällt, überlassen, statt meiner.« Und ich entschuldigte mich, um Khys von Chayins Verärgerung Mitteilung zu machen, und so vielleicht meinen Kopf aus der Schlinge zu ziehen. Er fauchte meinen Namen. Ich drehte mich wieder zu ihm herum, erschreckt von seinem mehr als berechtigten Ärger. Befangen strich ich mir mit beiden Händen über das Gesicht. Von der goldenen Schminke waren einige Teilchen in meine Augen geraten und verursachten ein juckendes Brennen. Ich rieb sie behutsam. In diesem Moment riefen die Glocken zu Tisch. Khys selbst kam, uns zu holen, und mit ihm Carth, der ein bronzehäutiges Mädchen führte, das nicht das Aussehen einer Seegeborenen hatte. Sereth glitt von der Fensterbank herab, die Daumen hinter den Gürtel gehakt und unverhohlene Mißbilligung zur Schau tragend. Chayin blickte von der Frau zu Sereth, stellte sich dann neben den Arrar. Es folgte eine, wie mir schien, hitzige Diskussion in der Sprache des Cahndor, sehr leise geführt. Die Frau stützte sich auf Carths Arm, die Augen auf den Arrar Sereth gerichtet. Carth sprach zu ihr, tätschelte sie beruhigend. Khys führte mich zu Tisch. Liuma und Chayin folgten uns, der Cahndor mit einem unheilverkündenden Gesichtsausdruck. Liuma saß links neben Khys, während Chayin sich an meiner rechten Seite niederließ. Carth, als er endlich zu Tisch kam, hatte die langbeinige Frau bei sich, deren Haut nicht den feurigen Schimmer des Blutes der Väter aufwies. Sereth, nach dem ich mich suchend umwandte, war nirgends zu sehen. Nachdem
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er die Frau zu ihrem Platz geführt hatte, kam Carth zu Khys und flüsterte ihm etwas ins Ohr. Khys lauschte, nickte und winkte dann ungeduldig mit der Hand. »Du hast«, sagte er, »genug getan. Mehr als man erwarten konnte. Laß die Sache auf sich beruhen. Nimm du sie, wenn du möchtest.« Carth grinste ihn an, richtete sich auf und begab sich an seinen Platz zwischen Liuma und der unbekannten Frau. »Wer ist sie?« fragte ich Khys mit gedämpfter Stimme, während die Dhrouma-Trommeln einen vielschichtigen Rhythmus aufnahmen, und die Tänzerinnen durch die vier Öffnungen in dem Tischkreis schritten, um ihre Plätze in dem inneren Rund einzunehmen. »Eine Brunnenfrau, neu am See der Hörner. Carth dachte, sie könnte für Sereth von Interesse sein.« Er zog eine Grimasse. Die Tänzerinnen warteten. Khys hob die Hände und schlug sie tönend zusammen. Das gesamte Orchester fiel in den Rhythmus ein. Die Frauen, in Slitsahaut und Federn, begannen mit ihren wellenförmigen Bewegungen. Ich achtete nicht darauf. »Wirklich?« hauchte ich und beugte mich vor, um an Khys, Liuma und Carth vorbei zu der Brunnenfrau schauen zu können. Meines Wissens nach hatte ich noch nie eine zu Gesicht bekommen. Neben ihr war ein freier Platz. Sie schien bedrückt wie sie da saß, die Lider gesenkt, das Kinn auf der Brust. Ich hatte geglaubt, eine solche Frau müßte anders sitzen, sich anders halten, etwas an sich haben, das sie von minderen Geschöpfen unterschied. Aber in meinen Augen sah sie genauso aus wie irgendeine Hellseherin. Enttäuscht setzte ich mich zurück und bemerkte, daß mein Teller bis zum Rand gefüllt worden war. Khys betrachtete den Segen amüsiert. Ich wandte mich an Chayin, der offenbar glaubte, ich könne soviel essen wie drei ausgewachsene Männer. Er deutete mit
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dem Messer unerbittlich auf meinen Teller und klopfte mit der Klinge bedeutungsvoll auf den silbernen Rand. Ich aß soviel, wie ich herunterbrachte — ein paar von den kleinen Fleischpasteten mit ihrer Füllung aus gehacktem Denter, Kräutern und Käse, die Kruste von einem Berg Tunpüree, die glasierte Haut einer Harthbrust. Es gelang mir, die Kelteier unter einem Tasschnitzel zu verstecken, von dem ich einen Bissen abgeschnitten hatte. Khys servierte an diesem Abend einen blutroten Kifra des besten Jahrgangs, sprühend vor Leben, und ich leerte meinen silbernen Becher. Die aufmerksame Hellseherin, die uns bediente, eilte herbei, um nachzufüllen. Ich legte die Hand über die Öffnung. Die Seegeborene trat wieder zurück in die Reihe ihrer Schwestern, von denen Khys je eine für vier Gäste eingeteilt hatte. In dem freien Platz inmitten des Tischkreises sprangen und wirbelten die Tänzerinnen, einmal zusammen, dann getrennt, die Haut schweißbedeckt. Die sich windenden Slitsa-Frauen gaben vor, die in weiten Sätzen flüchtenden Gefiederten zu jagen, packten sie, kämpften und schienen sogar, durch den Zauber ihrer Kunst, die Federtragenden an einem Stück zu verschlingen. Litirspieler ahmten ihre schrillen Rufe nach, die Trommler erzeugten tosenden Wüstenwind. Drei Becher Kifra vertilgte der Cahndor und zwei volle Teller, bevor er seufzend den Stuhl zurückschob und seine Aufmerksamkeit den Tänzerinnen widmete. Als die Mädchen keuchend zu Boden sanken und die Musiker die Pause nützten, um ihre Instrumente zu stimmen, stand Chayin auf, reckte sich und befahl mir schroff, ihm zu folgen. Khys, der mit vollendeter Höflichkeit Liuma zugehört hatte, schob unter dem Tisch seine Hand zwischen meine Oberschenkel. »Ich möchte einen guten Bericht von dir hören«, sagte er leise, zog die Hand zurück und wandte sich erneut der Nemarchan zu.
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Ich erhob mich seufzend und trat zu dem Cahndor, der mich mit festem Griff zu dem hinteren Ausgang des Gemeinschaftsraumes führte. Nebeneinander schritten wir den mit Taernit ausgekleideten Gang entlang. Der Cahndor mußte schon einmal in diesen Räumlichkeiten gewesen sein, wo die Hellseherinnen mit denen Beilager hielten, von denen sie ausgewählt worden waren. Mein Mund wurde trocken, mein Herz raste, während ich ihm folgte. Das Halbdunkel in diesen Räumen ließ ihn größer erscheinen. Das Weiße in seinen Augen schimmerte grausam. Er sprach kein Wort. Mein Atem wurde so laut in der Stille, daß ich es nicht mehr aushalten konnte. Ich schluckte. Ich fuhr mir mit der Hand über die schweißbedeckte Stirn. »Wer war diese Frau?« erkundigte ich mich, um das unbehagliche Schweigen zwischen uns zu brechen. Er lachte und zeigte seine großen, starken Zähne. »Eine Beschwichtigung für Sereth, der — was vielleicht unklug ist — dergleichen nicht haben will.« Er leckte sich die vollen Lippen, bog in einen Seitengang ein und blieb vor der Tür dort stehen. »Es gab eine Zeit«, bemerkte er anklagend, einen durchdringenden Blick in den schwarzen Augen, »da er mehr Verstand gehabt hätte, als sie zurückzuweisen. Sie trägt sein Kind.« Er stieß die schmucklose Ragonytür auf und schob mich sanft ins Zimmer. Bis er selbst eintrat, blieb der Raum dunkel. Offenbar erkannten die gefangenen Sterne den Cahndor von Nemar als einen ihres Lichtes Würdigen. Sie strahlten auf, wurden schwächer, als er sie nach seinem Geschmack einstellte. »Ihr scheint mit unserer Lebensweise vertraut, Cahndor. Seid Ihr zuvor schon einmal am See der Hörner gewesen?« Ich fragte, um meine Nervosität zu überspielen. Gleichzeitig trat ich zu dem cremefarbenen Ruhelager und setzte mich auf den Rand.
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Chayin rendi Inekte stieß sein Lachen aus, ein Grollen tief in seiner Kehle. In der Mitte des braunverhangenen Beilager-Zimmers stehend, ließ er den Umhang aus schwarzen Federn zu Boden gleiten. Hose und Lederzeug folgten und seine schenkelhohen Stiefel. Mir stockte der Atem bei seinem Anblick. Man sagt, daß etwas Dunkles kleiner erscheint als etwas Helles. Chayin wirkte auf mich in diesem Halbdunkel, das ihm Substanz verlieh, ungeheuer mächtig, riesenhaft in seiner Masse. An ihm war nur wenig von Zivilisation, und gar nichts von der Kultiviertheit, die Khys auszeichnete. »Du und ich«, grollte der Cahndor, während er durch das Zimmer wanderte, die Vorhänge zurückzog und die dahinter verborgenen Fenster prüfte, »werden uns ein bißchen unterhalten.« Ich zog die Beine hoch und legte die Arme um meine Knie. »Zieh dich aus«, befahl er unvermittelt, ließ sich auf das Lager fallen und rollte auf die Seite. Ich sprang auf die Füße, um ihm zu gehorchen. Ungeschickt zog ich den Webstoff unter meinem Chald hervor und über den Kopf. Wie einen Schutzschild hielt ich das Gewebe vor mich und faltete es mit peinlicher Sorgfalt immer kleiner zusammen. »Komm, Estri«, befahl er ungeduldig. Ich ließ den Stoff fallen, wo ich stand, und ging zu ihm, wobei ich Mühe hatte, mich nicht mit den Händen notdürftig zu bedekken. Es wäre mir lieb gewesen, er hätte das Licht noch weiter gedämpft. »Setz dich«, sagte er und klopfte auf die cremefarbene Seide. Also setzte ich mich, steif aufgerichtet und zog mein Haar auseinander, um mich damit zu verhüllen. »Nein«, fauchte er, bequem auf der Seite liegend. Der breite Chald funkelte hell auf seiner dunklen Haut. »Erzähl mir von dir.« Es gab wenig zu erzählen. Ich versuchte, so genau
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wie möglich zu sein. Er lachte verhalten, bitter, als ich ihm von meiner Namensgebung erzählte und warum ich gerade so gewählt hatte. »Der Dharen«, warf er ein, »ist ein so allwissender Mann, wie ich nur je einen gesehen habe.« Nach dem Arrar Sereth fragte er mich, und da ich ihn in meinem Bewußtsein gespürt hatte, antwortete ich wahrheitsgemäß. Als ich geendet hatte, seufzte er, setzte sich mit gekreuzten Beinen auf das Ruhelager und massierte die Stelle, wo der Hals in die Schulter übergeht. »Ich kann dir nicht ohne Umschweife deine Vergangenheit enthüllen. Khys hat es mir verboten. Aber es besteht die Möglichkeit, daß ich dir die Erinnerung daran zurückgeben kann, wenn du es möchtest. Als dieses einst besprochen wurde, wurde als gegeben vorausgesetzt, daß meine Hand auf dir das bewirken könnte.« Er starrte mich an, die Membranen vor seinen Augen öffneten und schlossen sich erregt. Ich entdeckte auf seinem anderen Arm Uritheria, die mythische Wüstenkreatur mit Schwingen und Krallen, deren feuriger Atem sich auf der Ebene von Astria im Amarsa ‚695 manifestiert hatte. »Was meinst du dazu?« verlangte er zu wissen. »Khys sagt, wenn es über mich kommt, ohne daß ich bereit bin, wird es mich zerstören«, flüsterte ich zitternd. Er zuckte die Schultern. »Khys sagt, was ihm am besten dient. Halbwahrheiten und Verdrehungen der Wahrheit sind Mittel, deren er sich ohne zu zögern bedient. Ich bezweifle, daß deine Vergangenheit dich zerstören wird, obwohl du, hast du dich erst selbst erkannt, einige Schwierigkeiten haben dürftest zu begreifen, was aus dir geworden ist, seit du die Erinnerung verloren hast. Aber ein Risiko ist es.« Er stand auf. »Was mich betrifft, bin ich willens es einzugehen. Es ist nicht einfach, dich so zu sehen.« Er suchte zwischen seinem aufgestapelten Gepäck und
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kam mit einem kleinen Beutel in der Hand zu mir zurück. »Hier.« Er hielt mir den Beutel entgegen, nachdem er ihn entkorkt hatte. »Nimm nur einen kleinen Schluck. Halte die Zunge vor die Öffnung und dann heb den Beutel hoch.« Unter seinem forschenden Blick gehorchte ich. Der Trank war bitter, mit einem würgenden, brennenden Salzgeschmack, der ein taubes Gefühl auf der Zunge und im Hals hinterließ. »Sereth besaß einst zwei solche«, meinte er, die Goltropfen an meinem Chald befingernd. »Er bewahrte sie lange Zeit für die Hüterin auf, und als sie nach einer langen Trennung wieder zusammenkamen, gab er ihr eine Klinge, das genaue Gegenstück seiner eigenen, mit einem solchen Goltropfen am Griff.« Er drehte den Chald einmal um meine Hüften und zählte die Tropfen. »Einer ist ein Vermögen für einen gewöhnlichen Mann. Khys schätzt dich hoch ein.« »Nicht hoch genug, um mich für sich selbst zu behalten«, murmelte ich, am ganzen Körper zitternd. Die Droge war stark. »Er versprach mir mehr als nur ein flüchtiges Zusammensein mit dir, früher einmal. Ihm liegt an dir, sonst hätte er sein Versprechen nicht abgeändert.« Er suchte in meinen Augen nach einer Bestätigung, die er dort nicht fand. Seine große Hand wanderte an meinem Rücken auf und ab, wobei seine Fingernägel leicht über meine Haut kratzten. Ich kämpfte gegen den Drang, mich umzudrehen und ihn zu beißen. Die Luft im Zimmer winselte um meine Ohren, feste Umrisse verschwammen wie hinter einem feuchten Staubschleier. Ich rieb mir die Augen. Plötzlich zog Chayin mich neben sich auf das Lager und drückte mir die Arme über dem Kopf auf die Seidendecken. Seine andere Hand, tastend, fordernd, war unerträglich arrogant. Ich wehrte mich. Ich biß und trat, zappelte und bäumte mich auf. Vergessen, was ich
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Khys versprochen hatte. Ich schlug meine Zähne in die Schlangenkreatur auf seinem Oberarm. Er lachte und schlug meinen Kopf zur Seite. Vor mir sah ich plötzlich einen anderen Ort, eine andere Zeit, da ich so mit dem Cahndor von Nemar gerungen hatte. Über mir war nicht mehr die Messingdecke des Zimmers im Turm der Hellseherinnen, sondern ein Wüstenapprei, dessen Planen im Wind flatterten. »Nein«, schrie ich auf, und er, gerade in mich eingedrungen, grunzte und bemühte sich noch nachhaltiger, mich auseinanderzureißen. »Chayin«, keuchte ich, sobald ich genügend Luft holen konnte, »laß mich los, bitte.« Meine Handgelenke mußten jeden Moment zermalmt werden in diesem Griff. Kaum daß ich es gedacht hatte, packte er noch fester zu. »Estri«, sagte er rauh, mit gespreizten Beinen auf meinem Haar kniend. »Erinnere dich an mich, oder was Khys zurückbekommt, wird sehr verschieden sein von dem, was er verliehen hat.« Er ließ mir keine Zeit zu antworten, brachte mich mit seiner Begierde zum Schweigen. Schon einmal, in vergangener Zeit, hatte ich hilflos unter ihm gelegen. Aber immer noch kämpfte ich gegen die Erinnerung. Ich sah das Leben der Hüterin an mir vorbeiziehen, ihr Beilager mit Cahndor, wie sie es beschrieben hatte. Er hielt mich fest, als ich den Kopf in die gelockten schwarzen Haare auf seiner Brust schmiegte und weinte. Ich glaubte, nie wieder den Kopf heben, mit einer solchen Schande nicht weiterleben zu können. Und noch etwas anderes dachte ich, wieder und wieder: Khys, was hast du uns angetan? Sereth, mein Geliebter, mein Lagergefährte — wie konnte er mir je vergeben? Sandh, mein Freund, den ich vom Welpen an erzogen hatte, wie sollte ich ihm erklären, weshalb ich ihm so fremd gegenübergetreten war? Chayin, der mich immer noch liebte, den ich wieder eines anderen wegen
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zurückweisen würde, der mir den größten Dienst erwiesen hatte — wie sollte ich das je wiedergutmachen? Aber aussprechen konnte ich nur eines, und wieder und wieder brach es mit den Tränen aus mir heraus: »Khys, was hast du uns angetan?«
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3 Suche nach einem Halt in der Zeit
Chayin schlug mich mit der flachen Hand ins Gesicht. Dreimal, bis meine Hysterie verebbte. Seine mächtigen Arme bebten vor Zorn. »Estri! Hör auf damit! Sprich zu mir! Später wirst du Zeit haben für Tränen.« Und ich legte die Arme um seinen Hals und zog ihn zu mir herab. »Chayin«, klagte ich. »Was soll ich nur tun? Hilf mir. Es tut mir so leid. Ich konnte nicht anders handeln.« »Ich weiß, Kleines. Dir scheint bestimmt, immer irgendeines Mannes Crell zu sein.« Erheblich sanfter gestimmt, küßte er meine geschlossenen Lider, unter denen erneut Tränen hervorquollen. Ich schluchzte an seiner Brust. »Ich habe wahrhaftig keine Ahnung, was du tun sollst. Wie immer, kannst du auf meine Unterstützung rechnen, mit allem, was ich habe, was immer in meiner Macht liegt. Und mehr, solltest du dessen bedürfen.« Seine Hände brachten Ruhe über mich. »Was ich zu Sereth gesagt habe — wie konnte so etwas je geschehen? Wenn es auch nur eine Spur Vernunft gibt in diesem Universum, das mein Vater für uns erschaffen hat, so kann ich sie nicht erkennen.« Ich drückte ihn ein wenig von mir weg, um sein Gesicht sehen zu können. Chayins Augen waren rot, die Oberlippe mit Schweißperlen bedeckt, die Brauen gerunzelt. Ich wußte, was ich von ihm erbitten wollte, würde ihn verletzen. »Denke nicht«, begann ich, nach einigen tiefen Atemzügen, um meine Gedanken zu ordnen, »ich wäre
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mir nicht im klaren darüber, daß kein anderer mich zu mir selbst hätte bringen können.« Ich strich mit den Fingerspitzen über seine Lippen. »Ich werde immer in deiner Schuld stehen.« Ich hob den Kopf, gab ihm einen langen Kuß. »Sollte es mir gelingen, aus dieser Situation herauszukommen, werde ich eine Art der Wiedergutmachung finden, die dich mit Freude an den heutigen Tag zurückdenken lassen wird. Aber wirst du mir jetzt gleich noch eine Bitte erfüllen?« »Wenn ich kann, kleine Crell.« Er grinste mich an, biß mich spielerisch in den Hals. »Finde Sereth. Bring ihn her zu mir. Ich muß ihm erklären, den Schmerz lindern, den ich ihm zugefügt habe.« Sein Körper versteifte sich. Mit den Lippen strich er mir ein paar verirrte Haare aus der Stirn. »Das kann ich nicht tun. Als er die Feier verließ, verließ er auch den See. Er war sehr empört, daß Khys dir sein Zeichen aufgebrannt hatte.« Ich spürte seine Gedankenfühler und wandte den Kopf ab. »Es ist das Zeichen meines Vaters«, flüsterte ich. »Nicht auf Silistra«, entgegnete er und rollte von mir herab. »Wie steht die Zeit, Cahndor?« fragte ich, halb betäubt von all dem, was auf mich einstürzte. Einst war ich es gewesen, bei der Chayin solchen Rat holte. Jetzt waren die Plätze vertauscht. »Welchen Grund hatte Khys, geschehen zu lassen, was geschehen ist?« »Ich weiß nicht, kleine Crell, was in seinem Gehirn vorgeht. Die Zeit, so aufgewühlt von all denen, die jetzt ihre Kands einbringen wollen, läßt mich kaum etwas erkennen.« Er setzte sich mit untergeschlagenen Beinen auf die mit Seide bezogenen Polster. »Ich glaubte, er würde dich mir überlassen, jetzt, da er das Kind hat. Aber nein. Einst sagte er mir zu, daß ich mit dir ein Kind zeugen dürfte. Er will es nicht gestatten. Aber er
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gestattete mir dieses Beilager, obwohl er zweifellos wußte, was ich vorhatte.« Ich betrachtete seinen nach Art des Nordens gewobenen Chald und entdeckte den neuen Strang darin, den der Helsarkundigen. Mit meinem alten Bewußtsein kannte ich ihn und mit meinem jetzigen. Er, der mich so in Angst versetzt hatte, als ich ihm ohne meine Erinnerung gegenübergestanden hatte, war mir nun ein Trost. Und dennoch war er mit seinem geänderten Chald auch Khys' Crell. Er schüttelte den Kopf. »Wenig kann ich für dich tun, Estri, oder für Sereth, oder sogar für mich, wenn es gegen ihn geht. Ich bat um dich. Er lehnte ab. Ich ersuchte ihn um Sereth, um bei der Beseitigung des Chaos, das neuerdings in den Parset-Ländern herrscht, einen Arrar zur Seite zu haben.« Er lachte schroff. »Er teilte mir einen Arrar zu — Carth. Dieser Art ist der Humor des Dharen. Er will euch beide hier haben, um seinen Kands zu dienen, welche immer es sein mögen.« Er verfiel in brütendes Schweigen. Ich war unfähig zu erspüren, welche Gefühle in ihm tobten. Noch konnte ich ihn aus meinem Bewußtsein aussperren. »Worüber denkst du nach?« erkundigte ich mich hilflos. »Über dich und Sereth. Er war zornig darüber, daß ich diesen Versuch machen wollte, selbst wenn es dazu diente, dich zu befreien. Er glaubt Khys' Behauptung, daß eigentlich Uris dich zerstörte und daß es dir in Khys' Hand ohne Gedächtnis besser erginge. Was von dir noch übrig war, bedeutete ihm so viel, daß er es nicht gefährden wollte.« Ich sagte nichts. Unsere Hände fanden sich, und wir verschränkten die Finger wie früher. »Du hast«, versicherte ich ihm, »das Richtige getan. Es wird mir besser gehen, sobald ich all meine Informationen richtig zusammengefügt habe. Es ist nur
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der Schock. Bald fühle ich mich wieder ausgezeichnet.« Ich glaubte nicht daran. »Wenn du dich aus meinen Gedanken zurückziehen könntest, bis ich sie geordnet habe, wäre es für uns beide leichter.« »Es schmerzt mich«, grollte er, »dich so hilflos zu sehen. Vorher, als du noch ahnungslos warst, lastete es weniger schwer auf dir.« Er stand auf und wanderte durch das Zimmer. »Ich weiß jetzt, was Sereth an den Rand des Wahnsinns getrieben hat.« Er versetzte seinem aufgestapelten Gepäck einen Tritt, daß die einzelnen Teile über den Boden kollerten. »Könntest du ihn nicht mit deinen Gedanken suchen, ihm mitteilen, was geschehen ist, daß ich wiederhergestellt bin, daß du mir keinen Schaden zugefügt, sondern einen unschätzbaren Dienst erwiesen hast?« »Das kann ich nicht. Er schätzt diese Art Unterhaltung nicht und hat viel Zeit darauf verwendet, sich einen Schutzschild aufzubauen, von dem ich bezweifle, daß sogar Khys ihn durchdringen kann«, erklärte er stolz. »Dann laß es sein. Ich werde ihn bald sehen.« Ich setzte mich hin und riß mir die Bänder und Feuerjuwelen aus dem Haar. Eine Gänsehaut lief über meinen Körper, als mein Gehirn zu arbeiten begann. »Chayin«, fragte ich leise und drehte den Kopf, um ihn bei seinen Wanderungen durch das Zimmer im Auge zu behalten, »was wird Khys sagen? Was wird er dir tun, dafür, daß du mir geholfen hast? Während meiner Beurteilung zerstörten sie mein letztes Kand, das ich eingebracht hatte, bevor man mir den Reif umlegte.« »Kleine Crell«, murmelte Chayin und blieb mit in die Hüften gestützten Fäusten vor mir stehen, »das kümmert mich gar nicht. Er kann mich nicht vernichten. Er braucht mich, um den Süden zu halten, denn er plant weitreichende Veränderungen in den Parsetländern. Ohne das Vertrauen, das mein Volk zu mir hat, könnte keiner seiner Samen Früchte tragen. Jaheil hat Khys die
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Verbindung zwischen meinem Wohlergehen und seinen Zielen mehr als deutlich gemacht.« Er zeigte das Lächeln, das ich an ihm so liebte. Er setzte sich neben mich, nahm mich in den Arm und zog mich auf seinen Schoß. »Aber unterschätze ihn nicht. Er hat beeindruckende Fähigkeiten. Bestimmt wußte er um diese Wahrscheinlichkeit. Vielleicht ist dies alles in irgendeiner rätselhaften Weise sogar seine Absicht. Ich verband mein Kand mit einem weit größeren Plan, der deins mit einbezog. Hätte ich es von deinem abhängig gemacht, hätte ich verloren. Diesen Trick lernte ich von einer gewissen Hüterin, als ich ihre Werke mit einem helsar-geschärften Auge studierte.« Er umfaßte meine Brüste. Ich lehnte den Kopf an ihn. »Du hast dich in ein Kand von Khys eingehakt?« wiederholte ich. Es ergab keinen Sinn. »Ich habe keine Ahnung, wessen es war; es war von solcher Größe, daß ich nur versuchen konnte, einen winzigen Teil davon für mich zu nutzen, wobei ich darauf achtete, daß mein eigenes Kand mit dem übereinstimmte, was ich von dem größeren wahrnehmen konnte.« Wiederholtes Klopfen an der Tür enthob mich einer Antwort. Ich zog die Seidendecken über meinen nackten Körper. Chayin grinste, als er aufstand, um zu öffnen. Ich fand es nicht lustig. In mir waren sowohl die Emotionen von Khys' Estri als auch meine eigenen. Entschlossen ließ ich die Decken wieder sinken, als Chayin die Tür öffnete. Herein kam der blonde Arrar, der Liuma und mich im Gemeinschaftsbezirk so unbeholfen bewacht hatte. Er bat den Cahndor, mitzukommen und dem Dharen seine Aufwartung zu machen. Die Frau, meinte er mit einem kalten Blick auf mich, sollte hierbleiben. Jemand anders würde kommen und sie holen. Chayin konnte nichts dagegen einwenden, selbst als der Arrar mir die Hände auf dem
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Rücken fesselte. Hilflos mußte er zusehen, wie der blonde Arrar mich vom Lager hob und daneben auf den Teppich legte. Ich war stumm vor Angst. Er holte eine Kette aus seinem Gewand. Dann packte er mein Haar und hakte ein Ende um den Reif der Stille, den ich trug. Das andere Ende befestigte er an einem Ring unten an der Seite der Lagerstatt. Die Leine war zu kürz, als daß ich hätte aufstehen können. Der Arrar schritt auf den Gang hinaus, wo er sich ungeduldig umblickte, weil Chayin ihm nicht gleich folgte. Der Cahndor kniete sich hin, küßte mich und hielt mich dann so fest, daß mir der Atem aus den Lungen gedrückt wurde. »Tasa, kleine Crell«, sagte er mir ins Ohr. »Wenn ich kann, werde ich noch einmal zu dir kommen, bevor ich nach Nemar aufbreche.« Er stand auf. Ich beobachtete ihn stumm, die Hände in Ketten auf dem Rücken, am Boden kniend, wie man es Khys' Estri so gründlich beigebracht hatte. Mit einen gedämpften Knall schloß sich die Tür hinter ihm. Ich streckte die Beine seitlich aus und lehnte mich wartend an das Rahmengestell des Lagers. Estri Hadrath diet Estrazi, wie tief bist du gesunken, dachte ich bitter. Khys — es war ungeheuerlich, wie er mich behandelt hatte. Und doch, ohne um seine Schuld zu wissen, hatte ich ihn geliebt. Ich suchte in meinem Innern nach einigen Überresten meiner einstigen Fähigkeiten, fand aber, wie ich es nicht anders erwartet hatte, nur Narben und Erinnerungen an das, was einst gewesen war. Also wartete ich, angstvoll und trotzig, daß der Dharen kam, um mich zu holen. Meine Gedanken taumelten und wirbelten und wanderten in dem Schweigen, zu dem sein Reif der Stille mich verurteilte. Verzweifelt suchte ich in meinen Erinnerungen an ihn nach einem Hinweis oder Zeichen, nach einem Anhaltspunkt, den ich in meiner Unwissenheit übersehen hatte, jetzt aber nutzen konnte. Ich fand
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nichts dergleichen. Überall trat mir nur meine Schwäche entgegen. Wären sie bei meiner Beurteilung nicht so rücksichtslos mit mir umgegangen, dachte ich, wäre meine Lage jetzt vielleicht weniger hoffnungslos. Rief ich ihn mir ins Gedächtnis, so erhielt ich kein einheitliches Bild und erkannte schaudernd meinen inneren Zwiespalt. Ein solcher Zwiespalt war Raets Untergang gewesen, hatte Khys mir einmal anvertraut. Ich zerrte an meinen Handschellen, ohne Erfolg. Was würde er mit mir tun? Ich warf mich gegen die Halsfessel. Die in den Boden eingelassene Ruhestatt bewegte sich nicht. Die Kette spannte sich summend, hielt stand. Der Reif der Stille an meinem Hals gab auch nicht ein bißchen nach. Halb erwürgt, mit schmerzendem Nacken, lehnte ich mich wieder zurück. Ich versuchte zu sordhen, sah nichts. Schweiß glitzerte auf meiner Haut, trocknete langsam und hinterließ eine dünne Schicht, als hätte man meinen Körper mit Salz bestäubt. Als die Tür sich öffnete, lag ich sogleich auf den Knien. Er blieb im Türrahmen stehen und betrachtete mich kritisch. Auf den Fersen hockend erwartete ich ihn, die Hände hinter dem Rücken aneinandergekettet, den Kopf gesenkt, so daß mein Kinn die Leine berührte, die mich an das Lager fesselte. Den Blick hielt ich starr auf meine kupferfarbenen Oberschenkel gerichtet. Ich hörte die Tür zuklappen, das Geräusch seiner Bewegungen. Seine mit Sandalen bekleideten Füße tauchten vor mir auf, und ich wußte, worauf er wartete. Steif neigte ich den Kopf so weit, wie die Leine es erlaubte. Mein Haar, aus dem ich die Bänder und Juwelen herausgezogen hatte, fiel ihm über die Füße. An die tausend Herzschläge ließ er mich so verharren, lange genug, daß Scham sich heiß in meinem Körper ausbreitete, lange genug, daß mein Bewußtsein ihm in Angst und Schrecken alles preisgab, was er für wissenswert erachtete.
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Er kauerte sich nieder und berührte mich an der Schulter. Ich zuckte zusammen, richtete mich aber wieder auf. »Hüterin«, grüßte er mich mit ausdrucksloser Stimme, während in dem gedämpften Licht der Schatten eines Lächelns in seinen Mundwinkeln zuckte. Ich unternahm eine gewaltige Anstrengung, um die beiden Bilder, die ich von ihm hatte, miteinander in Einklang zu bringen. Diese Augen wie geschmolzenes Gold suchten meinen Blick. Ich wich ihnen aus, bis seine Hand unter meinem Kinn meinen Kopf nach oben zwang. »Dharen«, brachte ich heraus. Ich konnte meine eigene Stimme kaum hören. Er hob eine seiner gewölbten Brauen, strich mit seiner vertrauten, fremden Hand an meinem Körper herab. Ich erschauerte, kämpfte gegen den alten Haß, die neue Liebe in meinem Herzen an. »Keine Zurückweisung?« erkundigte er sich leise mit seiner seidenweichen Stimme. »Keine Drohungen, keine Beschimpfungen, keine Verurteilung meines Verhaltens dir gegenüber?« »Nein«, wimmerte ich. Sie, die ihn nicht kannte, hatte nicht um die Gefahr gewußt, in der sie schwebte. Ich aber vermochte sie einzuschätzen, erkannte meine Niederlage in jedem Molekül dieses von den Vätern gezeugten Körpers. Er, den mein Vater für mich bestimmt hatte, war mir mehr als ebenbürtig. »Es ist nicht nötig, den Lernprozeß zu wiederholen.« Ich bemühte mich, meiner Stimme Festigkeit zu geben. »Ich hege keinen Zweifel an deiner Macht, deinen Fähigkeiten.« Ich starrte in diese Augen, die denen Estrazis so sehr glichen, ertrank darin. Aber sie gaben mir keinen Hinweis darauf, was er beabsichtigte. »Weißt du jetzt, was ich getan habe?« fragte er sanft. »Nein«, flüsterte ich, während meine Hände aus eigenem Antrieb gegen die Fesseln ankämpften, die sie hielten. Verzweifelt suchte ich in seinem Gesicht nach
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irgendeinem Anhaltspunkt, aus dem ich schließen konnte, was er vorhatte. Es gab keinen. In meiner Qual wünschte ich mir, er würde mich in seine Arme nehmen. Ein unangenehmes Kribbeln überlief meine Haut bei dem Gedanken. Ich stöhnte, schloß die Augen, warf den Kopf zurück, als könnte ich den Schmerz so abschütteln. Khys lachte verhalten. »Sprich zu mir, Hüterin!« befahl er. »Was wirst du mit mir tun?« fragte ich, während ich mit einem Schaudern sein Eindringen in mein Bewußtsein spürte. Er las in mir alles, was ich mit dem Cahndor gefühlt hatte. Ich versuchte nicht, mich zu wehren. Aufrecht, mit hoch erhobenem Kopf, saß ich vor ihm. »Was immer ich für richtig halte«, antwortete er und löste meine Halsfessel von dem Gestell des Lagers. Bitter dachte ich daran, als wie große Ehre es draußen galt, den See der Hörner besuchen zu dürfen. Er schlang das Ende der Kette um seine Faust, einmal, zweimal, und zog mich so immer dichter an sich heran. »Khys« — der flehende Aufschrei entschlüpfte mir ungewollt — »bitte, sag mir, wie ich dir dienen kann.« Schlinge um Schlinge wickelte er die Kette wieder ab. Ich konnte mich wieder aufrichten. »Erzähl mir«, schlug er vor, »von Sereth.« »Was willst du hören? Ich trage deinen Reif, dein Zeichen, deine Lagerbundkette. Er ist, wie ich, abhängig von deiner Gnade.« Meine Augen flehten ihn an, baten um Barmherzigkeit für uns. »Ich bitte dich, bestrafe uns nicht für unsere Gefühle, für das, was einmal war. Laß ihn nicht büßen, was dir an mir mißfällt.« Ich blinzelte, weil sein Gesicht vor meinen Augen verschwamm. »Estrazi hatte mich für dich bestimmt«, flüsterte ich mit steifen Lippen. »Dein Wille und der seine brachten mich hierher. Da ich noch ohne Vergangenheit war, liebte ich dich. Wenn du mir zu leben erlaubst, kann ich dir diese
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Großzügigkeit bestimmt auf die eine oder andere Art vergelten. Vielleicht lerne ich im Laufe der Zeit, meinen inneren Zwiespalt in den Griff zu bekommen. Ich bin mehr als die, die du an meiner Statt gekannt hast.« Ich hielt inne. Er musterte mich kühl. »Ich habe dir das Kind geboren, das du dir wünschtest, Khys. Innerhalb der Grenzen, die du mir gesteckt hast, könnte ich immer noch mehr für dich sein als jede andere, die du vielleicht noch zu dir nimmst.« Meine Fingernägel bohrten sich in meine schweißfeuchten Handflächen. Das Atmen fiel mir schwer. Er neigte lediglich den Kopf kaum merkbar zur Seite. »Jetzt«, bemerkte er schließlich, »fängst du endlich an zu sehen.« Sein ruhig überheblicher Ton wollte mir ein Stöhnen aus der Kehle pressen. Ich schluckte es herunter, doch ein bitterer Nachgeschmack blieb. »Mußt du dich unbedingt damit brüsten, wie gut du mich abgerichtet hast?« fuhr ich auf. »Es macht mir Vergnügen zu sehen, daß du dir endlich einiger Dinge bewußt wirst. Was glaubst du wohl, würde dein Arrar sagen, könnte er miterleben, wie du dich hier so von ganzem Herzen um meine Gunst bemühst?« Ich sagte nichts, versuchte nur unauffällig, meine schmerzenden Knie zu entlasten. Er schlug mich auf den Mund. Ich schmeckte mein eigenes Blut. »Ich weiß nicht«, murmelte ich. »Khys . . .« Ich zögerte, verstummte. Ich erinnerte mich an den Schild, den zu errichten Esyia mich auf Mi'ysten gelehrt hatte, aber was mir damals gelang, überstieg jetzt meine Kräfte. Mit all meinen anderen Fähigkeiten war mir auch diese abhanden gekommen. Er seufzte, streckte die Hand aus und hakte das Ende der Leine in den Ring am Unterbau des Ruhelagers. Dann drehte er mich grob herum, so daß ich ihm den
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Rücken zuwandte. Ich schrie nicht auf, als er in mich eindrang, ohne auch nur sein Gewand abgelegt zu haben. Tränen rannen über mein Gesicht und brannten auf meinen aufgeplatzten Lippen. Als er mich losließ, sank ich nach vorn und blieb leise schluchzend liegen. Meine gefesselten Handgelenke zuckten krampfhaft. Ich hörte ihn an der Tür. Mühsam rollte ich mich auf die Knie. »Khys, laß mich nicht hier zurück!« »Nachdem du Gelegenheit hattest, dich in deinen alten Künsten zu üben«, bemerkte er, »komme ich dich vielleicht holen, sollte ich den Wunsch verspüren.« »Bitte, Dharen, bestrafe mich nicht. Nimm mich mit.« Er blieb unter der Tür stehen. Ich spürte seine forschenden Gedanken. Er verharrte länger, als es seine Gewohnheit war. Dann kam er zurück und löste die Kette von dem Reif um meinen Hals. Beinahe krank vor Erleichterung lehnte ich mich gegen ihn, während er mir die Handfesseln abnahm. Er ließ die Ketten nicht zu Boden fallen, sondern verstaute sie sorgsam in seinem Gewand. Mit unbeholfenen Fingern kleidete ich mich an und sammelte auf seinen Befehl hin die Feuerjuwelen auf, die ich vorher mutwillig auf dem Teppich verstreut hatte. Meine Finger spielten mit dem Chald, den er mir umgelegt hatte. Jetzt konnte ich begreifen, was er aussagte. Durch menschenleere Gänge führte er mich zum Ausgang des Gebäudes. Die Nacht lag weich über dem See der Hörner. Wir schritten durch die Nacht. Er lauschte schweigend meinen Gedanken. Ich, gebeutelt von dem Sturm aus dem Abgrund, der langsames Begreifen mit sich brachte, bemerkte seine Anwesenheit kaum. So gingen wir nebeneinander am See entlang, umweht von dem
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scharfen Brinarwind. »Khys, darf ich sprechen?« bat ich und wußte, daß er es erlauben würde. »Natürlich«, bestätigte er, der so lange auf diesen Moment gewartet hatte. »Es ist Estrazi, von dem ich zu dir sprechen möchte«, warnte ich. »Ich weiß.« Er kanderte einen Stein in die Luft auf den See hinaus. Die Gischt, die er bei seinen Sprüngen über die Wasseroberfläche aufwirbelte, glitzerte im Mondlicht. »Wärst du schon in Arlet zu mir gekommen, vor Sereth, vor Raet, und hättest mit mir ein Kind gezeugt, hättest du von mir alles bekommen, was du dir wünschtest. Es wäre nicht nötig gewesen, mir einen Reif der Stille umzulegen. Du hättest damals mehr gehabt, als ich dir jetzt anbieten kann.« Meine Fingerspitzen glitten über den Reif, der warm an meinem Hals pulsierte. Hätte er nicht mehr von mir gewollt, als meine Unwissenheit ihm geben konnte, hätte er mich ohne Erinnerung gelassen. Meine Augen suchten sein Gesicht, aber das Licht des Mondes lag wie eine Maske auf seinen Zügen. Wie ich mich nach meinen Fähigkeiten sehnte, ohne die ich so klein war neben diesem Mann. »Und du hättest meinen Sohn auf Mi'ysten geboren. Dieser Weg, mit all seinen Abweichungen, versprach weniger Erfolg. Lediglich in bezug auf das, was zwischen uns hätte sein können, war er besser. Wie du selbst bemerkt hast, muß man solche selbstsüchtigen Wünsche oft zugunsten des Allgemeinwohls zurückstellen.« Und ich hörte die Einsamkeit, die Bitternis in seiner Stimme, die ich so oft gefühlt hatte, wenn ich zwischen verschiedenen Zukunftsmöglichkeiten wählen mußte. Khys, beträchtlich älter als ich, die Last einer ganzen Welt auf den Schultern, mußte oft derartige Entscheidungen gefällt haben. Ich konnte mich sehr gut in ihn
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hineinversetzen und empfand Mitleid mit ihm wegen einer Bürde, von der ich annahm, daß nur wir beide sie je getragen hatten. Er legte eine Hand auf meinen Nacken und führte mich in Richtung des Gebäudes, in dem ich so lange als Gefangene gelebt hatte. »Viele werden diesen Weg einschlagen, hell erleuchtet, wie er jetzt im Schein der vielen Helsare daliegt. Auch das hätte nie geschehen können, hätten wir eine andere Richtung gewählt.« »Es gibt einiges über meinen Vater, das du nicht weißt, Khys.« »Und dieses Wissen willst du mir zugänglich machen?« fragte er leise, denn er und seine Räte hatten versucht, es sich anzueignen und versagt. Ich öffnete ihm einen bestimmten Teil meines Gedächtnisses und trat selbst beiseite. Ohne ein Wort zu sprechen, nahm er auf, was er dort fand, was ihm zuvor trotz seiner großen Macht verweigert worden war. Was man in der Ratsversammlung versucht hatte, mir zu nehmen, gab ich ihm. Nicht meine Fähigkeiten hatten ihm dieses Wissen vorenthalten, sondern Estrazis. Die Schöpfungspläne der Väter machte ich ihm zugänglich, ihm, dem Vater meines eigenen Kindes, damit der Junge nicht um sein Erbe betrogen würde, sollte ich am Tag seiner Großjährigkeit nicht mehr am Leben sein, und damit Khys wußte, daß ich ihm nicht heimlich Widerstand leistete. Wenn der Mann gegen die Väter aufstehen wollte, würde er dieses Wissen brauchen, und mehr. Und ich hatte nichts anderes zu geben. Ich konnte ihn sonst mit kaum etwas unterstützen — einst wäre ich vielleicht eine starke Verbündete gewesen, aber jetzt nicht mehr. Ich verfügte nicht über die Macht, meine Fähigkeiten zu nutzen. »Möchtest du das Kind sehen?« fragte er mich nach einer langen Weile des Schweigens.
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»Nein«, erwiderte ich. Er hockte sich hin, zeichnete mit dem Finger Linien in den weichen Sand. »Ich werde dir den Reif nicht abnehmen.« »Das habe ich auch nicht erwartet«, sagte ich. Er sah zu mir auf, und ich wußte, sein Bewußtsein erwog die Veränderungen in meiner Haltung, meiner Stimme, meinem Herzen. Ich bemerkte sein zögerndes Lächeln, nicht für meine Augen bestimmt, daß sein Kand sich erfüllt hatte. Die ganze Zeit, obwohl er über meinen Körper verfügte, hatte er nicht besessen, was ihn getrieben hatte, nach mir zu suchen. Ich kniete bei ihm nieder, warf mein Haar zurück. Sein Zeichen glitzerte auf meiner Brust. »Auf diese Art«, sagte ich leise, »wie du es bestimmt geplant hattest, wird niemand außer dir so in Versuchung geführt.« Ich hatte die Gabe des Erschaffens nicht als Segen empfunden. Mir war schon damals die Bedeutung dieses Momentes bewußt, als Khys von mir erhielt, was Estrazi für ihn, und nur für ihn, bestimmt hatte. »Estri«, meinte Khys sehr leise, »du solltest dein Kind besuchen.« »Nein, Khys.« Ich schüttelte den Kopf und stand auf. Seiner Hand ausweichend, starrte ich über den See. »Nicht eher, als bis wir ihn vor seinen Großvater bringen.« Auch er stand auf. Hätte ich den Gedanken für mich behalten, hätte er das als Intrige gegen ihn gewertet. »Kannst du es nicht sehen, Dharen?« Der Wind packte meine Worte und trug sie nach hinten zu ihm. Seine Arme legten sich um meine Taille. »Estrazi wird sich seine Früchte nicht vorenthalten lassen.« »Ich habe beträchtliche Anstrengungen unternommen, um eine solche Konfrontation zu vermeiden«, sagte er an meinem Ohr. »Es ist lange her, daß du gesordhet hast. Viel hat sich geändert, seit du dein
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letztes Kand eingebracht hast. Überlaß mir Owkahen. Ich bin lange Zeit sehr gut allein damit zurechtgekommen.« Seine Worte waren scharf, der Tonfall aber verriet Befriedigung und Stolz. Meine Finger wanderten zu meinem Chald, streichelten die Goltropfen an der Lagerbundkette. Ich erschauerte, und er schob mich fürsorglich in Richtung des Turmes. Beinahe hätte ich laut aufgelacht. Tief in meinem Innern regte sich grollend mein Zorn, auf der Suche nach einer weicheren Stelle, um sich zum Schlaf zu betten. Ich konnte hören, wie er sich knurrend wieder niederlegte. Obwohl ich versuchte, nicht an ihn zu denken, wanderten meine Gedanken doch zu Sereth. Als wir die Treppe zu seinem Turm hinaufgingen, fragte Khys, was er meiner Meinung nach tun sollte. »Gib uns die Möglichkeit, es unter uns auszumachen. Nur eine Frau kann einen Mann in solchen Dingen beruhigen. Oder erlaube ihm, von Zeit zu Zeit mit mir zusammenzukommen. Vielleicht wirst du meiner überdrüssig. Es wäre nicht unpassend, mich ihm zu überlassen, sollte der Fall eintreten.« »Er ist nicht in der Sordh«, erwiderte er kurz, als die Türwächter uns einließen. Drinnen blieb er stehen, um mit ihnen zu sprechen, wie es seine Gewohnheit war. »Wenn ihm etwas zustößt«, meinte ich, als er wieder neben mir ging, »werde ich mir die Schuld dafür geben. Du würdest ihn nicht so rücksichtslos antreiben, wären nicht seine Gefühle für mich.« »Es wäre schlimmer für ihn, würde ich ihm nichts geben, das seine Gedanken beschäftigt.« Ich hörte die Warnung in seiner Stimme, wußte, daß ich mich dicht an Rande seiner Geduld bewegte. »Er ist kein Gegner für Gherein«, seufzte ich beunruhigt. Khys lächelte ausdruckslos, sagte aber nichts. Wir
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gingen die hintere Treppe aus braunem Taernit hinauf und in seine Wohnung, wo die zerknitterten Seidendekken auf der Lagerstatt mir eine Frage beantworteten, die zu stellen ich als unpassend empfunden hätte. Ich ließ ihn stehen und trat an das Lager, um die Decken abzuziehen. Er starrte mich an. Als die Decken auf dem rostbraunen Teppich lagen, fragte ich ihn nach frischer Bettwäsche. Es ist nicht meine Art, auf dem Schweiß einer anderen Frau zu schlafen. »Wie fandest du sie?« erkundigte ich mich, indem ich das Oberbett zurückschlug und glattstrich. »Zufriedenstellend«, antwortete er von dem Kifraständer her. Er drehte sich um und reichte mir eine Schale. »Ich fürchte, ich war in Gedanken zu sehr mit dir und Chayin beschäftigt. Sie ist eine begabte Hellseherin, wenn auch von Natur aus ein wenig melodramatisch.« »Warum ist sie hier?« fragte ich ihn über den Rand meiner Schale hinweg. »Die Dinge in den Parsetländern verändern sich zu rasch für manche der Einwohner. Außerdem ist das Kind Raets Sohn und verdient etwas Besseres als die Schulen in Nemar.« »Er ist ein bißchen jung für die Schule, oder nicht?« bemerkte ich unschuldig. Khys leerte seinen Becher, stellte ihn hin. »Dich kann man wohl nicht hinhalten? Wenn ich mit dir zufrieden bin, werde ich dir vielleicht mehr erzählen. Ich habe dir gesagt, daß ich Fragen verabscheue. Ich habe viel Zeit daran gewendet, dich deinen Platz zu lehren. Ich gebe dir den guten Rat: Vergiß nicht, was du gelernt hast.« Ich nahm meine Schale und stellte sie halb geleert auf den Tisch. Dann streifte ich den durchsichtigen Webstoff ab, den er mir gegeben hatte, ging an ihm vorbei und legte das Gewand an seinen Platz, eine bescheidene freie Stelle, die er mir in seiner Kleiderkammer einge-
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räumt hatte. Es hatte länger gedauert, als ich erwartete, das Ende seiner Geduld zu erreichen. Außer meiner Erinnerung hatte Khys mir auch noch einen beträchtlichen Freiraum geschenkt. Ich war nicht unzufrieden. Als ich herauskam, lehnte er, entkleidet bis auf die Hosen, in dem Alkoven und schaute auf den untergehenden Mond, wie er von seinem Zwilling auf der gekräuselten Wasseroberfläche Abschied nahm. »Morgen abend«, sagte er ohne sich umzudrehen, »werden wir allein mit dem Cahndor und seiner Gefährtin zu Abend essen. Bei Sonnenaufgang habe ich eine Verabredung mit dem Hohen Chaldmacher. Dann noch eine ziemlich langweilige Verpflichtung, bei der ich dich nicht brauche. Zum Mittagessen werde ich dich abholen, und wir können die Lage im Süden besprechen. Deine Meinung könnte wertvoll sein, da du mehr Erfahrungen mit Tiasks hast als die meisten.« »Dein Wille ist mein Leben«, stimmte ich zu und wartete ab, denn ich las die Anspannung seiner Muskeln so klar, als hätten meine Fähigkeiten mir seine Gedanken übermittelt. »Es ist, was ich über Estrazi gesagt habe, was dich bedrückt, nicht wahr?« fragte ich. Er gab keine Antwort. »Ich hatte einen Traum, in dem er sich mir zu erkennen gab und seine Pläne mitteilte, obwohl ich zu der Zeit nichts damit anzufangen wußte.« »Du weißt, daß du deinen Träumen keinen Glauben schenken solltest, oder etwa nicht?« sagte er. »Geh zu Bett!« Und dennoch, für eine Möglichkeit, der er ausweichen wollte, beschäftigte er sich selbst zuviel damit. Mit einem Schulterzucken schlüpfte ich zwischen die frischen Laken. Er verdunkelte den Raum bis auf zwei Sterne in dem Alkoven. Aus seiner Bibliothek holte er die Karten, die er kürzlich studiert hatte, und machte es sich mit
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ihnen zwischen den Kissen bequem. »Ich brauche keine Dunkelheit, um zu schlafen«, bot ich ihm an. »Es wird schon bald hell werden. Außerdem kenne ich sie auswendig. Sie dienen lediglich der Konzentration. Mach dir keine Gedanken.« Also legte ich mich auf die Seite, den Rücken ihm zugekehrt, und suchte die kräftigenden Wasser des Ozeans des Geistes. Aber obschon ich mit Entschlossenheit an diesem Ufer entlangwanderte, wie ich jede Welle zu erreichen versuchte, wich sie mir aus. Ich konnte nicht einschlafen. Aus den Erinnerungen an das Fest im Gemeinschaftsbezirk beschwor ich eine Melodie herauf, um mir das geringe Maß an Abgeschiedenheit zu gewährleisten, das für ein solch einfaches Unterfangen nötig war. Im Schutz der Melodie horchte ich auf seine regelmäßigen Atemzüge, ihren tiefen, langsamen Rhythmus, und wußte, Khys arbeitete an seinen Vorhaben von einem Aussichtspunkt aus, der mit seinem Turmfenster nichts gemein hat. Ich ließ mich tiefer sinken, verlangsamte meine Atmung, meine Körperfunktionen. Aber ich konnte mich nicht von meinem Fleisch lösen. Khys murmelte vor sich hin. Er war alles, für das ich ihn einst in meinem Haß gehalten hatte, und mehr. Aber er war auch, was Khys' Estri gesehen hatte — ein Mann, der dem Griff der Vergänglichkeit entschlüpft war und auf das Zwanzigfache einer gewöhnlichen Lebensspanne zurückblicken konnte, ein Mann von eigenwilliger, aber unbestreitbarer Moral, ein Mann, dem gelungen war, was ich vergeblich gesucht hatte, eine Übereinstimmung zu erreichen zwischen dem Leben im Fleisch und dem unbegrenzten Leben. Khys war ein außerordentlich erfolgreicher Organismus. Seine Früchte lagen reich und üppig auf Silistra, und fast eine Million nährte sich davon. Als ich mich gegen ihn stellte, hatte er mir eine
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Lektion in Perspektive erteilt, deren Größe meinen schlaftrunkenen Sinnen gerade erst anfing bewußt zu werden. Ich wünschte mir verzweifelt, meinen Vater um Hilfe bitten zu können, aber mir fehlten die Mittel, Khys' Reif der Stille abzustreifen. Die Dunkelheit hinter meinen geschlossenen Lidern war schlicht Dunkelheit; die Stille, abgesehen von meinen wispernden Gedanken und der Melodie, die ich als notdürftigen Schild aufgebaut hatte — die Stille war ohrenbetäubend. Er hatte sein Kind von mir bekommen. Ich hatte ihn eingeladen in meiner Unwissenheit. Er hatte mein Leben gegen meinen früheren Lagergefährten Sereth ausgespielt und ihn dadurch fester in der Gewalt, als mit jedem Reif der Stille. Und auch Chayin tat Khys' Willen. Uns alle drei hatte er so leicht für seine Zwecke zurechtgebogen wie ein Chaldmacher Stücke aus weichem Gold. Welche Zwecke? Selbst der Cahndor wußte es nicht, und Chayin hatte, schon bevor wir in die Schlacht auf der Ebene von Astria ritten, über außergewöhnliche hellseherische Fähigkeiten verfügt. Ich fühlte den Chald, die Goltropfen, die sich in meinen Rücken bohrten, als die Erregung mein Bewußtsein enger an den Körper band. Miccah, der Hohe Chaldmacher, hatte gesagt, es sei schade, daß ich die Bedeutung des Chalds nicht ermessen könne. Damit konnte er nur eins gemeint haben. Beim Eintritt in die Pubertät erhält der Knabe eine Lagerbundkette, die er nach Belieben weitergeben kann. Eine solche Kette ist Niedriges Chaldra; weder Beschwörungen noch die Hand eines Zeithüters sind nötig, um die Lagerbundkette dem Chald einer Frau hinzuzufügen. Aber Khys hatte keine solche Kette besessen, Miccah mußte sie anfertigen. Mir kam der Gedanke, daß er vielleicht eine gehabt, sie aber irgendwie verloren hatte, aber ich hielt es nicht für wahrscheinlich. Ich bewegte mich und drehte den Chald
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so, daß die Goltropfen mich nicht mehr drückten. Ich rief mir ins Gedächtnis, wie er eine der von ihm geschwängerten Frauen behandelt hatte — sie, die uns das Essen brachte. Sie hatte bestimmt niemals eine solche Kette um die Taille getragen. Der Dharen war von den Gebräuchen abgewichen, um mir diesen Chald umzulegen. Ich fragte mich, ob ich schon wieder ausreichend mein altes Selbst war, um in der Lage zu sein, sein Interesse zu meinem Vorteil auszunutzen. Wieder hörte ich ihn, das Rascheln seiner Bewegungen durch das Zimmer. Ich rollte mich auf die ihm zugewandte Seite. »Khys«, flüsterte ich kaum hörbar. »Sag mir noch eins, damit ich endlich einschlafen kann.« »Dann frag«, meinte er, die Bücherwand zurückschiebend, um seine Karten zu verstauen. Er stand mit dem Rücken zu mir. Er war gekleidet wie für körperliche Übungen, in weit geschnittene Hosen und leichten Waffengurt. Schließlich drehte er sich um. Ich hatte abgewartet, um sein Gesicht sehen zu können. »Was ist die Bedeutung dieses Chalds, die der Hohe Chaldmacher angesprochen hat? Ich begreife es immer noch nicht.« »Wenn du es nicht begreifen würdest, hättest du nicht gefragt«, erwiderte er. »Aber ich werde dir die Bestätigung geben, auf die du es abgesehen hast. Ich möchte nicht, daß du schlaflose Nächte deswegen hast.« Er stieß sich von der Wand ab und trat neben das Lager. »Silistra hat nie zuvor eine Dharenerin gehabt.« Ich streckte mich unter den Seidendecken. »Du solltest der Sache nicht mehr Bedeutung beimessen als sie hat«, riet er streng. »Es ist dein Blutrecht, das du der Gnade deines Vaters verdankst, deiner genetischen Stärke und dem Potential in dem Sohn, den du mir geboren hast. Er ist es, den ich ehre, nicht dich.« Die Sonne schien ins Zimmer, entfachte das Feuer der
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Väter auf seiner Haut. Ich lachte verhalten. Sein Sohn, ehren, wie? Ich sah nichts Ehrenvolles in dem Reif der Stille, den ich um den Hals trug, aber ich entdeckte einen Ausdruck in seinem Gesicht, den ich früher schon bei anderen Männern wahrgenommen hatte. Nur flüchtig zwar, dann hatte er ihn abgeschüttelt. Er betrachtete mich noch eine Zeitlang im zunehmenden Tageslicht, dann machte er kehrt und verließ die Wohnung. Als er nach meiner Schätzung die Treppe hinunter sein mußte, warf ich die Decken ab und ging in mein altes Gefängnis. In dem Spiegel dort betrachtete ich mich. Ich brauchte eine Weile, um mich mit meinem Abbild anzufreunden, mit dem, was er mir getan hatte. Ich bemerkte die peinvolle Magerkeit meines Körpers. Meine Muskeln hatten etwas, das mir nicht gefiel. Ich würde, gelobte ich mir, Khys' Erlaubnis einholen, meinen Körper wieder in Form zu bringen. Die Innenseiten meiner Oberschenkel erregten mein Mißfallen. Meine Haut hatte nicht die gesunde Farbe wie sonst. Aber diese Dinge ließen sich in Ordnung bringen. Sein Zeichen auf meiner Haut hingegen konnte ich nicht entfernen. Ich versuchte ein letztes Mal, Khys' Reif der Stille abzunehmen. Eine Endh lang suchte ich nach einer Möglichkeit, den Energiefluß zu unterbrechen, der ihn zusammenhielt. Vergebens. Ich fragte mich, wie ich diese Situation zu meinen Gunsten ausnutzen konnte. Um auch nur die Zeit zu binden, muß man wissen, wo man steht und was man will. Also war ich, dem Namen nach, Dharenerin. Dieser Titel minderte meine Erbitterung in keiner Weise. Estrazi, wie konntest du das zulassen? Mein Vater antwortete nicht. War Khys wahrhaftig groß genug, es mit den Vätern aufzunehmen? »Hast du dich mit denen verbündet, die gegen mich sind?« hatte mein Vater mich
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einst gefragt. Und ich hatte gedroht, daß ich es tun würde. Dann hatte er mir der Wahrheit gemäß berichtet, was geschehen würde — bis zu meiner Unterwerfung, dem Verlust meines Gedächtnisses durch Khys. Und er war im Traum zu mir gekommen, noch bevor ich mich erinnerte, wer ich war. Ich wandte mich von dem Spiegel ab und eilte aus dem Gefängnis, in dem ich so lange gelebt hatte. Mir stand endlich die ganze Wohnung des Dharen zur Verfügung. Ich nahm sein Buch über Helsare und das über Kandern und zog mich damit in den Alkoven zurück. Aber ich kam nicht zum Lesen. Sereth, und die Grausamkeit, die Khys ihm gegenüber an den Tag legte, bedrückte mich. Ich konnte keinen Grund für Khys' Verhalten erkennen. Wenn, wie Carth behauptet hatte, Sereth sich mit meinem Verlust abgefunden hatte; warum ihn dann zu mir schicken und seinen Schmerz vergrößern? Immerhin bist du nichts weiter als sein Diener, hatte ich zu Sereth gesagt, und Khys hatte gelacht und mich an sich gezogen. Ich seufzte, rollte auf die Kissen. Fühlten sich so die M'ksakka unter Silistranern? Um so viele Sinne betrogen, fand ich es schwierig, meinen Verstand effektiv zu benutzen. Es wird schon werden, sagte ich zu mir, mit der Zeit. Man kann sich an alles gewöhnen. Aber meine Seele schmerzte bei dem Gedanken an die Dinge, die ich in meiner Unwissenheit gesagt und getan hatte, und mein Verstand wußte keine Salbe für die Qual in meinem Herzen. Irgendwo in diesem Meer von Tränen ging ich unter und schlief. Ich würde, das stand beim Aufwachen fest, versuchen, noch einmal mit Chayin zu sprechen. Er, dessen war ich sicher, wußte mehr, als er sagte. Weil er glaubte, ich sei zu schwach, hatte er mir manches verschwiegen. Ich stand auf und rieb mir die Augen. Ich schob mit einer Hand den Vorhang aus dickem Samt beiseite und
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blinzelte aus dem Fenster. Meiner Schätzung nach mußte es eine Endh vor Mittag sein. In dem grünen Himmel sah ich kleine, schwarze Punkte aufsteigen und fallen, einander jagen. Hulions tummelten sich über dem See der Hörner. Was mochten sie für sich selbst in Khys' Kand sehen? Warum waren sie bereit, den Dharen zu unterstützen? Man kann einen Hulion nicht gegen seinen Willen halten. Sie sind die freiesten aller Geschöpfe, die ursprünglichen Verkünder des Gesetzes im Innern. Wenn sie Khys ihre Kraft und ihre Weisheit zur Verfügung stellten, mußten seine Werke in ihren Augen wahrhaft bedeutend sein. Ich sehnte mich danach, die Sordh, den Fächer der Möglichkeiten, vor mir zu sehen. Ich zitterte, während ich dort stand, in Gedanken an die Fähigkeiten, die ich einst besessen hatte. Ich, Estri Hadrath diet Estrazi, die eine Welt erschaffen hatte, die das Erbe des Siebenfältigen Geistes beansprucht hatte, hatte selbst diesen Augenblick herbeigeführt, mich vernichtet. Ich hatte meinen Willen gegen den des Vaters gestellt, und er hatte mich zu einem gesandt, der desgleichen ist. Aber das hatte ich nicht gewußt. Die Schwäche, hatte Estrazi mich einst gewarnt, war nicht in der Macht, sondern in der Idee. Meine unglaubliche Einfalt hatte ihren Tribut gefordert. Ich hatte meine Macht unklug eingesetzt. Du wirst dich nicht in Sereths Schicksal einmischen, hatte Estrazi bestimmt. Nein, gewiß nicht. Ich konnte mich jetzt nicht einmal mehr in das Schicksal eines Wirragaet einmischen. Ich rollte mich auf den Kissen zusammen. Khys' Bücher bohrten sich in meine Hüften. Ich konnte dem Dharen nicht anlasten, was er mir getan hatte, wenn ich nicht gleichzeitig meinen Vater anklagen wollte. Aber mein Zorn war taub für alle Vernunft, blind für das Muster, das ich gerade erst zu erkennen begann, wie früher schon einmal, als er mich überfiel und alles
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heraufbeschwor, was Khys tat, um ihn auszulöschen. Ich drehte mich auf den Rücken, die Fäuste um den Chald gekrampft, den ich trug. Hätte ich ihm nicht meinen Haß entgegengeplärrt, als wir uns zum erstenmal gegenüberstanden, wie anders mochte es gekommen sein? Aber der Haß war ungebeten gekommen, aus Owkahen heraus, aus dem, was er mir antun würde, und deshalb konnte er nicht anders handeln. Mein Kopf schmerzte. Mit den Fingern rieb ich mir die Schläfen, unfähig, mich auch nur von einfachem körperlichen Schmerz zu befreien. Mir gefiel nicht, was ich gesehen hatte, diese letzten Endhs, und daß ich es sehen konnte, machte es um nichts besser. Ihm die Schuld geben? So fragte etwas in mir. Natürlich kannst du ihm die Schuld geben. Er hatte für sich in Anspruch genommen, der eigentlich Verantwortliche zu sein, als Sereth, Chayin und ich vor ihn geführt wurden, blutend und gefesselt. Ich bin die Sordh und das Kand, hatte er gesagt. Alles, was ihr getan habt, war mein Wille, hatte er sich gebrüstet. Und meines Vaters Kand — er bezeichnete es als sein Werkzeug und nannte es schwach. Das Kand eines Schöpfers, eines Weltenerschaffers, hatte er herabgewürdigt. Ich stand auf, drückte die Stirn an das kühle Fenster und beobachtete, wie es unter meinem Atem beschlug. Es war sinnlos, die Bedeutung von Khys' Taten erforschen zu wollen, ebenso wie bei meinem Vater. Diese Lektion hatte ich auf Mi'ysten gelernt. Die einzige Bedeutung ist die des ausgeführten Willens auf der Ebene, wo Khys und Estrazi sich bekämpften. Aber die Frage blieb — in wessen Kand hatte Chayin sein eigenes verankert? War es das eines Vaters oder Khys' eigene Machenschaften in der Zeit? Und wessen Wille würde Realität werden? Oft laufen Kands eine Zeitlang nebeneinander her, beziehen Kraft aus dieser Situation und verursachen eine gewaltige Crux, wenn
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sie sich trennen. Mit einem Seufzer trat ich vom Fenster zurück. Mein Fuß geriet auf eines der Bücher des Dharen und rutschte ab. Ich stolperte zwischen den Kissen und kniete mich hin, um meinen verdrehten Knöchel zu reiben. Dabei erinnerte ich mich an Carths Zorn beim Lesen einer Schrift, für die ich lange recherchiert hatte und in der ich einige Schlußfolgerungen, gezogen aus den genealogischen Listen am See der Hörner, darlegte. Sein Zorn, daß ich es gewagt hatte, Khys' alteingeführtes Zuchtprogramm als fehlerhaft zu bezeichnen, war gewaltig, so groß, daß er sich geweigert hatte, die Schrift an den Dharen weiterzugeben, so groß, daß er die Blätter vor meinen Augen in kleine Stücke zerriß. Anschließend ließ er mich einen anderen Aufsatz schreiben, über ein Thema, das mich nicht interessierte. Während ich dasaß und meinen Knöchel massierte, wunderte ich mich, warum mir die Begebenheit eingefallen war. Vielleicht bist du immer noch verrückt, ermahnte ich mich selbst, und mein Verstand bockte und keilte wie ein ungezähmtes Threx beim ersten Ritt. Die Lage, in der ich mich befand, konnte auch ein ausgeglicheneres Gemüt als das meine in den Wahnsinn treiben. Einen Augenblick lang dachte ich an das Kind, dann schüttelte ich den Gedanken ab. Es kümmerte mich nicht, was sie mit ihm taten oder in welche Hände seine Pflege gelegt wurde. Ich hatte mir sehr gewünscht, Sereth ein Kind zu schenken. Die Umstände oder Owkahen hatten ihn veranlaßt, nein zu sagen. Bestimmt wäre es ein Kind geworden, auf das wir beide hätten stolz sein können. Aber er hatte abgelehnt, und ich war nicht stark genug gewesen, seinen Wünschen entgegenzuhandeln. Ich sah ihn vor mir, eine Kaskade gemeinsamer Erinnerungen, auf dem Weg nach Sandha, bei Tyiths Tod, unter den Fällen, mit Estrazis Umhang über den Schultern, den er auch während der Schlacht auf der Ebene von
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Astria getragen hatte. Er hatte verloren und wieder verloren, und dennoch lebte er. Das war es. Er lebte. Damit tröstete ich mich. Ich würde, schwor ich mir, nichts tun, was sein Leben gefährdete. Wenn ich Khys ergeben genug diente, erlangte ich vielleicht sogar einigen Einfluß auf den Dharen. Wenn ja, versetzte mich das in die Lage, einen Teil der Schuld abzutragen, die ich empfand. Aber um das zu erreichen, mußte ich meine Liebe zu Sereth zum Schweigen bringen. Bei Khys war keine List möglich, keine Täuschung der bis zur Vollkommenheit entwickelten Sinne des Dharen. So kam ich zu der Entscheidung, die ich nach meiner Selbstfindung treffen mußte, mit so geringem Wissen über meine wirkliche Lage. Aber, sagte ich mir, jede Entscheidung ist besser als überhaupt keine. Diese Regel, die erste der Lehren des Bewußtseins, stimmt immer. Ich würde Khys dienen, der in jeder meiner Berechnungen die Unbekannte war. Ein gemeinsamer Wille hatte mich hierhergebracht, um genau das zu tun. Ich würde die Vergangenheit auf sich beruhen lassen. Wenn möglich, würde ich Sereth helfen, seine Liebe zu mir auszulöschen. Unbelastet konnte er sich dann eine andere suchen, eine, die die Wetter ihm erlaubten. Ich würde mein Bestes tun, den Dharen nicht noch weiter zu erzürnen. Ich würde mich irgendwie mit meiner Verkrüppelung abfinden, ohne irgend jemandem die Schuld zuzuschieben, denn genau besehen ist da immer nur der Wille und die Verantwortung für die eigenen Taten. Nach meiner Schätzung mußte es fast Mittag sein, nur Idhs von der Zeit, zu der der Dharen mich abholen wollte. Unglücklich schaute ich auf seine Bücher hinab, bedauernd, daß ich nicht einmal angefangen hatte, sie zu lesen. Khys hatte, dessen war ich sicher, gute Gründe gehabt, mir seine Werke vorzulegen. Ich sammelte sie auf, öffnete die Tür des Ankleidezimmers und legte sie zu meinen übrigen Sachen. Dabei gelobte
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ich mir, ihnen bei der ersten sich bietenden Gelegenheit meine volle Aufmerksamkeit zu schenken. Zu den Kleidungsstücken, die Khys mir gegeben hatte, gehörte auch eine Bahn weißer Außenwelt-Seide mit eingewebten Silberfäden. Das suchte ich mir heraus. Ich wollte meine alten Farben tragen, die des Brunnens Astria. Während ich den Stoff um meinen Körper legte und am Hals mit einer spiralförmigen Spange befestigte, dachte ich über das Geschenk nach, das mein Vater in mir für den Dharen bereitgehalten hatte. Zurückdenkend vergewisserte ich mich, daß er selbst bei meiner Beurteilung keinen Versuch gemacht hatte, mir mein Wissen zu rauben. Er hatte nur beobachtet, während die Mitglieder seines Rats ihre Fähigkeiten an mir erprobten. Jetzt war mir klar, daß auch sie damals von ihrem Meister geprüft wurden. Ich kicherte ein bißchen hysterisch. Er hatte entweder gewußt, daß ich ihm diese Pläne ausliefern würde oder mich dazu gebracht. Er hatte sich Zeit gelassen. Ich wünschte ihm mehr Glück mit diesen Gaben als mir beschieden war. Sie waren nicht bestimmt, um in dem Reich von Zeit und Raum angewandt zu werden. Ich hatte sie auf Mi'ysten gelernt und teuer dafür bezahlt. Selbst dem Dharen wünschte ich nicht, was mir widerfahren war, als ich sie gegen Raet benutzte. Ich seufzte und griff nach dem Kamm aus geschnitztem Knochen, den er mir zugestand. Ich brauchte ihn. Es gab eine Zeit, da ich mein Haar einfach glatt und schimmernd gekandert hätte. Ich trat aus dem Ankleidezimmer, um die Mittagssonne im Alkoven auszunutzen. Er stand vor mir, Wassertropfen im Haar. Offenbar war er gerade aus dem Bad gekommen. »Bist du schon lange hier?« fragte ich verdutzt. »Ich muß nicht in deiner Nähe sein, um dich hören zu können, wenn ich will«, antwortete er ruhig und trat an mir vorbei in die Kleiderkammer. Er legte ein geflochte-
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nes Hemd aus dunklem, weichem Tasleder an, und einen Umhang, auf dem hell das Zeichen der Schöpfer funkelte. Es hätte der sein können, den Estrazi mir gab, oder sein Gegenstück. Ich fragte nicht, und auch er blieb stumm. Ich zog die weißsilberne Seide unter meinem Chald durch, faßte den Stoff an der Hüfte straffer und verjagte gewissenhaft jede Frage, kaum daß sie in meinem Bewußtsein auftauchte. Er schob die Holzpaneele vor, die das Ankleidezimmer verschlossen, und lehnte sich gegen das nachtschwarze Holz. Ich duldete still und aufrecht seine Musterung, in der Erwartung, daß er an den Farben meiner Kleidung Anstoß nahm oder der Art, wie der Stoff am Hals den Reif der Stille verbarg. »Du siehst bezaubernd aus. Ich wundere mich über die Leichtigkeit, mit der du dich auf deine neuen Perspektiven eingestellt hast.« »Ich sehe einigermaßen gut aus. Ich könnte einen Partner für den Kreis brauchen, da ich so bald wie möglich mit der täglichen Arbeit an meinem Körper beginnen möchte. Außerdem, mit deiner Erlaubnis, möchte ich eine Endh, sagen wir bei Sonnenuntergang, für mich in Anspruch nehmen, um Dhara-san zu betreiben. Was Perspektiven betrifft, so verfüge ich nicht über ausreichende Informationen, um etwas dergleichen zu haben.« Ich hörte meine eigene Stimme, sanft und sicher, bestimmt. Ich lächelte in mich hinein. Ich hatte mich — viel mehr, als Khys' Estri jemals besaß. »Ich werde jemanden finden.« Er nickte. »Einen Mann, höchstwahrscheinlich. Wir haben keine weiblichen Ausbilder für die Kette des Töters hier am See.« »Es mißfällt dir?« Ich befeuchtete mir die Lippen und schaute ihn groß an. »Im Gegenteil, ich halte es für klug von dir, einen Weg zu suchen, um deine Frustrationen abzureagieren. Aber vermeide es nach Möglichkeit, einen meiner Arrars
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umzubringen«, meinte er mit beißendem Spott. »Ich verspreche es.« Ich lächelte. »Ich werde sie am Leben lassen. Es würde mir sehr helfen, wenn du mir ein weniger müßiges Leben zugestehen könntest.« »So vertrauenswürdig du dich erweist, so viel mehr Freiheit werde ich dir zugestehen. Bist du hungrig?« »Ungeheuerlich.« Er senkte den Kopf, strich mit den Fingern durch sein immer noch feuchtes Haar. »Das ist das erste Mal, seit ich dich kenne, daß du irgendein Interesse an Nahrung geäußert hast.« Er streckte mir die Hand entgegen. »Du kennst mich nicht, Khys«, murmelte ich, sie ergreifend, »nur gezeichnet von der Schlacht, und dann das Schattenwesen, zu dem du mich gemacht hast.« Sein Umhang mit dem Siegel der Schöpfer darauf, streifte meinen Arm. Meine Hüfte, als er neben mir herging, rieb sich an seinem Schenkel. Er machte sich nicht die Mühe, seine Gemächer zu verschließen, sondern ließ die Türen offenstehen. Ich musterte den Gang, die Gobelins und Kunstwerke an den Wänden. Er erlaubte mir, vor dem Huliongobelin stehenzubleiben. Lange schaute ich ihn an. Nur in Nemar hatte ich etwas Gleichwertiges gesehen. Tenager, Erster Weber der Nemarsi, hatte beinahe das Niveau des Künstlers erreicht, der diese Hulions schuf. So wirklich waren sie, daß ihre Augen jeder Bewegung des Betrachters zu folgen schienen, so wirklich, daß man nie sicher sein konnte, ob diese Schwanzquasten, eine schwarz, eine rot, nicht gerade gezuckt hatten, während man den Blick von ihren blutigen Köpfen zu den stumm keckernden Krits hob, die in den Zweigen über ihren spitzen Ohren herumsprangen. Mit sanfter Gewalt führte er mich zur Treppe. »Ich möchte Sandh sehen«, flüsterte ich bedrückt und schmiegte mich an seinen Arm. Sein Blick, von der Seite her, war durchdringend. Die
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Sehnen an seinem Hals strafften sich. Gerade wollte ich meine Bitte zurücknehmen, als er sagte: »Nach dem Essen werden wir sehen.« Beinahe wäre ich auf der Treppe ins Stolpern geraten. Die Wirkung des Uris war noch immer nicht verflogen, dachte ich, mich eben noch fangend. Und das rief noch einen Gedanken auf den Plan. »Es war nicht Uris, oder?« fragte ich. Nicht Uris hatte mich meiner Fähigkeiten und meiner Erinnerung beraubt. »Uris hatte dich so geschwächt, daß ich Macht über dich gewinnen konnte. Uris hat die Narben verursacht, die du selbst gesehen hast. Aber nicht Uris allein war schuld, noch irgend etwas anderes, außer man will die Wetter dafür verantwortlich machen — oder die Schöpfer. Es war mein Wille, aber hätte es einen weniger grausamen Weg gegeben, hätte ich ihn gewählt.« Wieder schaute er mich an, den Unterkiefer leicht vorgeschoben, die Augenlider halb gesenkt. Ich sagte nichts. Khys war viele Dinge, aber Freundlichkeit gehörte nicht dazu. Und doch, ich wußte nichts von den Grenzen, die ihm von seinen Kands gezogen wurden. Und wenn er erschaffen wollte, würden diese Grenzen noch enger zusammenrücken. Oder glaubte er, auf jener Ebene, wie er es auf Silistra getan hatte, seine eigenen Regeln aufstellen zu können? Schweigend folgte ich ihm die Treppe hinunter. »Estri«, meinte er, als wir das Erdgeschoß erreicht hatten, »machst du dir wahrhaftig Sorgen?« Seine Stimme klang ungläubig. »Es liegt in meiner Natur«, murmelte ich. Er schnaubte leise. »Ich habe mich einst gegen die Schöpfer gewandt. Ich stellte meinen Willen gegen den Estrazis. Ich unterlag.« Ich straffte die Schultern bei dem Gedanken, daß mein erstes Manuskript nie auf Silistra angekommen war. »Ich glaubte in meiner Tollkühnheit,
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uns von den Manipulationen von Raets Sippschaft befreien zu können.« Ich lachte, nur um mir dann zu wünschen, ich könnte das häßliche Geräusch ungeschehen machen. Er hielt mir die Tür zu seinem Arbeitszimmer auf. Der runde Tisch war gedeckt. Die gefangenen Sterne an der gemalten Decke leuchteten auf beim Eintritt ihres Herrn. Ich schluckte und ein zweites Mal, als mir vor Appetit das Wasser im Mund zusammenlief. »Was dein Vater für mich zurückließ, wird eine große Hilfe beim Erreichen dieses Ziels sein«, sagte er und wies mit einer einladenden Handbewegung auf den Tisch. »Ich hoffe es. Aber ganz sicher bin ich nicht. Du bist ihm nie begegnet. Er hinterließ dir ein Geschenk. Zu einem bestimmten Zweck. Diese Information war mir nicht zugänglich. Ich wußte nichts davon, bis du davon sprachst.« Ich setzte mich auf einen dickgepolsterten Stuhl. Khys legte mir gegrillten Denter vor, aus dem noch blutiger Saft tropfte, und eine Portion Zessersalat. Das Getränk in der silbernen Kanne war ein leichtes Brin. Es schäumte wispernd in den silbernen Pokalen. »Deine Bedenken sind hiermit zur Kenntnis genommen«, meinte er sinnend. Wenigstens wischte er meine Eindrücke nicht achtlos beiseite. Ich fühlte mich aufgemuntert. Eine halbe Endh später lehnte er sich in seinem Stuhl zurück und betrachtete mich über die aneinandergelegten Fingerspitzen hinweg. »Kleine Saiisa«, sprach er mich an. Ich hob den Blick von dem Fettrand meines Fleischstücks, wo ich nach einem weiteren eßbaren Bissen gesucht hatte. »Du kannst noch mehr haben.« »Nein«, wehrte ich ab, schob meinen Teller weg und strich mir das Haar aus dem Gesicht. »Ich muß meinem Magen Zeit geben, sich umzugewöhnen.« Er selbst
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hatte seinen Teller nur halb geleert. Khys' Estri deutete seinen Blick aus zusammengekniffenen Augen, erschrak davor. Ich versuchte, tief und regelmäßig zu atmen, und straffte die Schultern. Khys beugte sich vor, die Ellenbogen auf den Tisch gestützt. Der Stoff glitt von seinen mit goldenen Haaren bedeckten Unterarmen. Er verschränkte die Finger. »Erzähl mir von Mi'ysten«, befahl er. Während ich sprach, dachte ich an die Gelegenheit, da er zu mir von Vätern geredet hatte, von Schöpfern. Alles, was er sagte, hatte ihr Tun in Raum und Zeit betroffen. Als ich Estrazi erwähnte, lehnte er sich kaum merklich weiter nach vorn. Zweimal nickte er. Einmal bat er mich, etwas zu wiederholen — was Estrazi mir in bezug auf ihn gesagt hatte. Nachdem ich alles berichtet hatte, verstummte ich. Zahllose Fragen drohten den Damm zu überfluten, den ich in meinem Bewußtsein errichtet hatte, mich mit hinwegzuspülen. Schweißtropfen sammelten sich unter meinen Brüsten, versickerten in dem Seidenstoff. Er stand unvermittelt auf, und im Umdrehen fegte er mit dem Mantel den Becher vom Tisch, dessen Inhalt auf den Teppich spritzte. Er kümmerte sich nicht darum. Ich stellte den Becher auf den Tisch zurück, griff nach einem Mundtuch und machte mich daran, das Brin von dem silbrigen Teppich zu tupfen, froh über diese Ablenkung. »Nein«, bemerkte er leise. Ich unterbrach mein Tun. »Dharen?« fragte ich. Wollte er, daß das Brin in seinen unschätzbaren Teppich sickerte? »Nein, sagte ich«, wiederholte er und fuhr mit wehendem Umhang zu mir herum. »So einfach kann es nicht sein. Du bist die Überbringerin seiner Propaganda.« Und ich erinnerte mich, daß Mi'ysten-Kands selbst für Estrazi unsichtbar sind, sobald sie in die Zeit eingebracht sind. Wieviel mehr also für Khys?
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»Estri«, sagte er gereizt, »sei still.« Ich hatte nichts gesagt. Zusammengekauert hockte ich auf dem Teppich. Er suchte und betrachtete sein Reich durch die wolkenverhangenen Fenster. Und die Überbringerin seines Geschenks war ich außerdem: Ich war zu dem Dharen gekommen mit einem Lagergeschenk, das nur für den Gefährten erreichbar war, dem man mich bestimmt hatte. Ich verfluchte sie beide. Die Gabe konnte sich als todbringend erweisen. Der Gedanke munterte mich auf, während die Zwiespältigkeit tief in meinem Herzen zischend das Haupt erhob. Ich drückte die Handflächen gegen die Schläfen, um mein Inneres irgendwie zum Schweigen zu bringen. Angstvoll hielt ich den Atem an, aber Khys hörte entweder nichts oder kümmerte sich nicht darum. »Wir wollen gehen und deinen Hulion suchen«, meinte er, vom Fenster zurücktretend. Höchst ungraziös krabbelte ich auf die Füße. Ein flüchtiges Grinsen erhellte seine Züge, dann schritt er an mir vorbei aus dem Zimmer. Ich trottete hinter ihm her. »Wenn du den Auftrag hättest, die Parsetländer dem übrigen Silistra anzugleichen«, fragte er, als ich neben ihm ging, »was würdest du mit rebellischen Tiasks anfangen?« »Gegen was rebellieren sie?« Es fiel mir schwer, mit ihm Schritt zu halten. Wir bogen nach links in den Hauptsaal ein. Winzig klein erschienen am jenseitigen Ende dieser riesigen Halle aus Archit, die großen Türen und jene, die sie bewachten. »Wir haben die Anbetung Tar-Kesas verboten und die Tempel niedergerissen. Jetzt gibt es im Süden Dharener und Chaldra wie überall sonst, und Töter. Es ist kein Raum für eine Streitmacht solcher Frauen. Viele von ihnen haben den Brunnendienst verschmäht, die Chalds
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abgelegt und durchziehen in Banden das Land.« »Das kann ich mir vorstellen.« Ich dachte an Nineth als Brunnenfrau und mußte laut auflachen. »Gibt es immer noch Crells in den Parsetländern?« erkundigte ich mich. »Ja. Was sie mit ihren Chaldlosen machen, ist ihre eigene Sache.« »Nehmt sie gefangen. Macht sie zu Crells. Besser noch, laßt für jede gefangene Tiask einen weiblichen Crell frei und gebt ihr einen Platz in euren neuen Brunnen. Beides kommt der Geburtenrate zugute. Als Crells wie als Brunnenfrauen werden die Tiasks bei Männern liegen, und es gibt einige würdige Frauen, die als Crells in Nemar liegen.« Ich dachte an Khemi und die beiden dunkelhaarigen Mädchen, die Chayin in Nemar Nord bei sich gehabt hatte. »Es ist schwerer, sich eine Tiask als Brunnenfrau denn als Crell vorzustellen«, fügte ich hinzu. »Im allgemeinen haben sie für Männer nicht viel übrig.« Khys lachte, als wir uns den Türen näherten. »Ich werde dem Cahndor deinen Vorschlag unterbreiten. Er ist weit weniger kompliziert als sein Plan oder der meine und ein gut Teil realistischer.« Mit einer kurzen Berührung verließ er mich, um mit dem schwarzen Posten zu sprechen. Als er zurückkam, standen zwei tiefe Kerben über seiner Nasenwurzel. »Komm«, sagte er sehr sanft, »laß uns den Hulion suchen.« Schützend legte er mir den Arm um die Schulter und drückte mich ermutigend an sich. So führte er mich durch die Türen in den hellen Mittag hinaus. »Was ist?« fragte ich beunruhigt. »Nichts, das ich mit dir besprechen könnte«, erwiderte er, immer noch in diesem mitleidigen Ton. Ich erschauerte, obwohl der Tag mild und schön war. Hinab zum See führte er mich, die Promenade entlang bis zu einer der weißen Golbänke.
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Er setzte sich hin und starrte gedankenverloren über die graugrüne, zerfurchte Wasserfläche. Derselbe Wind veranlaßte mich, mir das Haar im Nacken zusammenzuhalten, um nicht davon geblendet zu werden. Khys' kupferfarbenes Haar flatterte ihm ins Gesicht. Der Wind, aus dem Nichts kommend, erstarb unvermittelt. »Ich kann ihn nicht rufen«, erinnerte ich Khys verdrießlich. »Ich dachte, du würdest es vielleicht gern versuchen.« Seine Augen schlossen sich für einen Moment bei dem bitteren Lachen, das meinen Lippen entschlüpfte. Sandh folgte Khys' Ruf sofort. Er kam aus dem Südosten, was ihn in unseren Rücken brachte, und das Geräusch seiner schlagenden Flügel warnte uns erst, als er schon gelandet war. Khys hatte natürlich genau gewußt, aus welcher Richtung der Hulion zu erwarten war, aber er hatte nur über den jetzt spiegelglatten See geschaut. Er befand sich an einem Ort, wohin ich ihm nicht folgen konnte. »Sandh«, rief ich, überglücklich, ihn endlich wiederzusehen. Ich lief auf ihn zu, kaum daß seine krallenbewehrten Vordertatzen den Boden berührten. Die Schwingen faltend, stieß er ein Willkommensgebrüll aus, so laut wie die Wasserfälle, nach denen ich ihn benannt hatte. Mit weit geöffnetem Rachen, die Zunge zwischen den nadelspitzen Zahndolchen, brüllte er noch einmal auf. Und ich blieb stehen. Der Hulion legte die spitzen Ohren zurück, der Schweif mit der langen Quaste peitschte seine Flanken. Die Augen zu schmalen Schlitzen verengt, drehte er witternd den Kopf von einer Seite zur anderen. Sein Knurren klang unverkennbar drohend. Ganz langsam streckte ich die Hand aus. Der Hulion sank ins Gras. »Sandh«, flüsterte ich. Ein Ohr zuckte. Die Oberlippe hob sich und entblößte die Reißzähne, weiß und glitzernd. »Ich weiß, Sandh, ich weiß. Aber ich bin es.« Der
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Hulion war verwirrt: Ich konnte ihn nicht hören; seine Gedankenfühler erreichten mich nicht. Er fauchte, erhob sich geschmeidig auf alle Viere, ließ sich mit dem Bauch zuerst wieder ins Gras sinken. Seine furchteinflößenden Krallen schnellten klickend vor und zurück. »Sandh.« Ich kniete nieder, damit unsere Augen auf gleicher Höhe waren, und streckte ihm immer noch die Hand entgegen. Er reckte den Hals. Seine feuchte, heiß atmende Nase stieß gegen meine Finger. Ich kraulte ihn und beobachtete, wie seine leuchtenden Pupillen sich erweiterten. Er reckte den Hals noch weiter. Ein grollendes Schnurren begann in seiner Kehle. Die großen Augen schlossen sich. Der unruhig peitschende Schweif ringelte sich an seiner Flanke und lag still. Den Kloß im Hals herunterwürgend, schob ich die Hand tief in sein Ohr und ließ ihn das Wachs ablecken, das ich herauskratzte. Er öffnete ein Auge. Die rechte Tatze wurde ausgestreckt und legte sich über meine Schenkel. Ich hörte Khys sich bewegen. Sandhs Ohren zuckten nach vorn, wiesen links an mir vorbei. Das zufriedene Grollen verstummte, statt dessen brummelte er etwas vor sich hin. Der Hulion zog die Tatze von meinem Schoß zurück und setzte sich aufrecht, die Vorderpfoten zwischen den Hinterläufen. Sandh war beträchtlich gewachsen, seit ich ihn das letzte Mal mit Bewußtsein gesehen hatte. Plötzlich merkte ich, daß meine Finger den Reif der Stille umkrampften, und es bedurfte einer Willensanstrengung, sie davon zu lösen. Sandh betrachtete mich und sprach dabei traurig in Hulion. Wieder peitschte sein Schweif das Gras. Er stand auf, tat einen Schritt nach vorn, und sein gewaltiger Kopf stieß gegen meine Brust. Ich warf ihm die Arme um den seidigen Hals, vergrub den Kopf in seinem Fell und atmete den beißenden Geruch ein, der von ihm ausging. Oh, Sandh, ich liebe dich, dachte ich, ungewiß, ob er mich hören konnte.
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Plötzlich zog er den Kopf zurück. Angst zog mir den Magen zusammen. Er zischte. Nie zuvor hatte ich einen solchen Laut von ihm gehört. Grollend wich er zurück, während der gesenkte Kopf über dem Gras hin- und herpendelte. Dann warf er sich herum und schwang sich mit einem Satz in die Luft. Das Schlagen seiner Flügel übertönte jedes andere Geräusch, der Sturm, den sie entfesselten, warf mich zurück. Ich sah ihm nach, bis er nur mehr ein Punkt am tiefgrünen Himmel war, bis auch dieser Punkt verschwand. Ich wandte mich an Khys. Ich hatte den Hulion gesehen. Er hatte es erlaubt. Eine seiner Hände spielte mit dem großen Chald von Silistra, die andere verbarg sich in den Falten seines Umhangs. Er betrachtete mich durchdringend. Ich wollte nicht weinen. Ich hatte meine mühsam aufgebaute Gelassenheit gefährdet. Ich hatte Sandh beunruhigt. Mit kalten, feuchten Fingern rieb ich mir die nackten Arme. »Ich werde dich zurückbringen«, erbot er sich. Ich nickte, trat neben ihn. Er legte mir Arm und Mantel über die Schultern, um mich zu wärmen. Dankbar für die kleine Freundlichkeit, lächelte ich zu ihm auf. Du bist nicht mehr, was du einmal warst, ermahnte ich mich streng. Wirst es nie wieder sein. Sei wenigstens stark. Trag es mit Haltung. »Wie es sich für die Tochter eines Schöpfers gehört«, bemerkte Khys, spottend oder mitfühlend, ich wußte es nicht. »Hast du eine Botschaft für mich von Sandh?« fragte ich auf dem Weg zu seinem Turm. Es klang bitterer, als ich beabsichtigt hatte. Khys wandte mir das Gesicht zu, die Falten um seinen Mund wirkten plötzlich tiefer und schärfer. »Er hält dich für ernsthaft krank«, meinte er. »Für was soll ich bezahlen, wenn du mich so
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behandelst? Welche Schuld habe ich auf mich geladen?« Ich wollte nicht nach dem Reif tasten. Also verschränkte ich die Arme auf dem Rücken, den Blick auf den weißen Gehweg vor uns gerichtet. »Jeder andere hätte dich ohne Umschweife getötet«, erwiderte er müde. »Vielleicht tue ich es noch, um meinen Verstand zu retten. Ich werde ständig dazu gedrängt, von all jenen, die wissen, welch gewaltigen Kräfte du auf der Ebene von Astria entfesselt hast. Man könnte sagen, dort hast du eine Schuld auf dich geladen, die dein Recht zu leben aufwiegt. Einige, darunter Gherein, bestehen auf dieser Zahlung. Jetzt, da du weißt, wer du bist, wird man solche Forderungen noch nachdrücklicher stellen. Du bist nicht frei. So einfach ist das. Soll ich dich in irgendein unterirdisches Gelaß sperren, dich mit trockenen Brotkrusten füttern, damit du das endlich begreifst?« Seine Finger schlossen sich hart um meinen Oberarm. »Aber wie du einmal selbst gesagt hast: Wir haben nur deinem Willen entsprechend gehandelt! Sereth hast du nicht eingesperrt, noch dem Cahndor von Nemar trockenes Brot vorgesetzt!« »Wenn Owkahen es nur erlaubte«, murmelte er und schaute aus schmalen Augen auf den Turm. Sein Griff um meinen Arm lockerte sich. Ich konnte fühlen, wie das Blut zu der Stelle strömte. »Ich muß den leeren Sitz in meiner Ratsversammlung füllen. Dann werde ich mich um einen Übungspartner für dich kümmern«, fügte er beinahe kameradschaftlich hinzu, als bedauerte er seine Schroffheit. »Vielen Dank«, brachte ich heraus. Sein Blick streifte mich, obwohl er den Kopf nicht wandte. Ich schob mir die vom Wind bewegten Haarsträhnen aus dem Gesicht. Khys führte mich die breite Treppe hinauf. »Ich habe zu tun«, meinte er, als die Wächter auf sein
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Klopfen hin die Tür öffneten. »Die Wohnung ist unverschlossen. Bleib dort, bis ich nach dir schicke. Baern!« Er wandte sich an den dunkelhäutigen Wächter. »Bring sie sicher zu meinem Lager.« Der Wächter streckte den Arm aus. Khys schob mich ihm entgegen. Dann war er die Treppe hinunter. »Herrin«, sagte der Mann auffordernd, die Augen gesenkt. Ich benutzte die vorderen Gänge, aus Ornithalum und Archit, weil ich an dem Hulion-Gobelin vorbeikommen wollte. Ich blieb eine geraume Weile davor stehen, bis der Mann anfing, kleine mahnende Laute von sich zu geben und ungeduldig von einem Fuß auf den anderen zu treten. Er war dunkel behaart, fast wie ein Brist, der gelernt hatte, aufrecht zu gehen, wenn auch nur unbeholfen. Als ich das Gefühl hatte, er würde gleich etwas sagen, schlenderte ich zu den Gemächern des Dharen. Die Türen standen noch offen. Ohne einen Blick zurück, schlüpfte ich hindurch. Kaum daß ich mich umgedreht hatte, waren sie bereits geschlossen und verriegelt. Mit einem stillen Lächeln ging ich hin und zog die Vorhänge des Alkovens zur Seite. Dann saß ich eine Zeitlang auf dem Sims, betrachtete den See und versuchte meine Gedanken wandern zu lassen. Das Geräusch erinnerte an den klagenden Wind mancher Herbstabende. Als stünde man am Abend der Wintersonnenwende auf dem Singenden Felsen von Fai-Teraer Moyhe über dem tosenden EmbrodmingMeer. So erbarmungswürdig, so einsam klangen die Laute, die aus meinem Gefängniszimmer drangen. Ich bin dort gewesen, wo das Herz der Welt das Klagelied der Seele auf den Gebeinen Silistras erdröhnen läßt, und ich kann es beurteilen. Behutsam schlich ich zur Tür meines Gefängnisses. Sie war nicht verschlossen. Unendlich vorsichtig öffnete ich sie einen Spalt, zog
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sie ganz auf. Auf meinem Lager, in jenem grauen Zimmer, lag zu einem Ball zusammengerollt Liuma, ihre samtig-dunkle Schönheit in mein weißes Kleid gehüllt. Unentschlossen blieb ich an der Tür stehen. Sie hatte mich noch nicht bemerkt. »Presti m'it, Nemarchan«, sagte ich ruhig. Sie erstarrte, schniefte und nahm die Arme vom Kopf, um sich aufzustützen. Ich sah das Entsetzen in ihren geröteten Augen, das Zittern ihrer geschwollenen Lippen. Sie stützte das Kinn auf die angezogenen Knie und kreuzte die Handgelenke über den Fußknöcheln. »Chayin sagt, du hast dich wiedergefunden«, bemerkte sie mit schwankender Stimme. »Allerdings«, gab ich zu, am Türrahmen lehnend. »Was immer es ist, das dich bekümmert, es hilft dir vielleicht, hier draußen darüber zu sprechen.« Ich deutete nach hinten in Khys' Wohnung. »Wir könnten einen Schluck Kifra trinken und reden.« Sie betrachtete mich mißtrauisch, Khys' Zeichen, meinen Hals, wo sich unter dem weiß-silbernen Seidenstoff der Reif der Stille abzeichnete. Mich an ihrer Stelle hätte erschreckt, was ich sah — was aus der Hüterin Estri geworden war. »Das kann nichts Unrechtes sein«, beschloß sie endlich betäubt. Als sie aufstand, waren ihre Bewegungen langsam, unkoordiniert. Ich ging vor ihr her, um einzuschenken. »Setz dich in den Alkoven«, schlug ich vor. Mit den gefüllten Bechern trat ich zu ihr ans Fenster. Ihre Finger mit den hellen Nägeln bebten, als sie nach dem Gefäß griff. »Möchtest du darüber sprechen?« erkundigte ich mich und nahm mit gekreuzten Beinen auf den Kissen Platz und stützte die Ellbogen auf die Knie. Ich dachte an Khys, und wie sehr es ihm mißfallen würde, mich so dasitzen zu sehen. »Wie kannst du es nur aushalten?« fragte sie. Die
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schwarzen Augen wirkten riesenhaft über dem Rand der Schale. Sie nippte nicht, sondern stürzte ihren Kifra hinunter. Mit geschlossenen Lidern, auf denen unter der goldenen Schminke deutlich sichtbar das Blut pulsierte, vergoß sie frische Tränen. »Was?« erkundigte ich mich irritiert. »Ihn«, sagte sie, stellte die leere Schale beiseite und wischte sich mit dem Handrücken die Tränen über die Wangen. »Khys?« Ich fragte mich, was er ihr angetan haben mochte. Wahrscheinlich nicht besonders viel; ich hatte schon öfters Tränen bei ihr gesehen. »Was ist denn vorgefallen?« »Er . . . Ich . . . Er ist . . .« Sie schaute mich um Verständnis heischend an, als müßte ich auch ohne Erklärungen Bescheid wissen. »Er ist der Dharen von Silistra«, half ich ihr weiter. Sie nickte. Ich wartete. »Hast du mit Chayin empfangen?« erkundigte sie sich. »Und du mit Khys?« fragte ich zurück. Sie schrak zusammen, erhob sich auf die Knie und legte die Hände auf ihren Bauch. »Uritheria schütze mich!« ächzte sie. »Ich hoffe nicht. Bitte, hast du empfangen?« »Nein«, gab ich zur Antwort. Ich verstand zu einem Teil ihre Tränen. Wenn ich Chayin ein Kind gebar, hatte er die Wahl. Sie wollte die Stellung ihres Sohnes nicht gefährdet sehen. Ihre Sorge, ich könnte Chayin einen würdigeren Erben schenken als sie, war nicht unbegründet. »Ich habe deinen Sohn gesehen«, bemerkte sie, sichtlich erleichtert. »Wahrhaftig«, sagte ich. »Und wie fandest du ihn?« Sie schüttelte den Kopf, breitete die Hände aus. Sie zitterten immer noch. »Ehrfurchtgebietend«, erwiderte sie.
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»Hast du einen Helsar angenommen?« erkundigte ich mich, um meine Verwirrung zu überspielen. Mein Kind war acht Einheiten alt, sicherlich zu jung für eine derartige Beschreibung. »Nein«, murmelte sie. »Und ich habe auch nicht den Wunsch.« Aus diesen schrägen Augen flammte mir schwarzes Feuer entgegen. »Chayin ist unter ihrem Einfluß und dem des Dharen ein Fremder für mich geworden. Er ist schlimmer denn je. Unkontrollierbar.« Ich lächelte nur. Das mußte die Nemarchan natürlich stören. Als er noch krank war, hatte sie ihn in ihrem Sinne beeinflussen können. »Sein Interesse an den Angelegenheiten dieser Welt war nicht einmal groß genug, um bei der Geburt seines Sohnes dabeizusein«, zischte sie giftig. »Ich habe den meinen auch allein zur Welt gebracht«, bemerkte ich in einem, wie ich hoffte, mitleidigen Ton. »Wo ist der Cahndor?« »Bei Sereth.« Und dieses Zischen war noch giftiger als das vorige. »Sie halten Beilager.« »Und das nicht zum erstenmal«, erklärte ich ihr, überrascht. »Ich würde nicht versuchen, mich zwischen sie zu drängen. Du könntest noch tiefer fallen.« Sie straffte die Schultern. Mir fiel etwas ein, das sie vor langer Zeit gesagt hatte, in Frullo Jer. »Du bist immer noch am Leben. Also hat sich deine Prophezeiung nicht erfüllt, und du bist nicht des Todes gestorben, den Chayin für dich im Sinn hatte.« »Noch nicht, bis jetzt«, antwortete sie. Dann: »Ich wäre gestorben, wäre ich dumm genug gewesen, an der Küste von Menetph zu bleiben. Ich hielt mich im Landesinnern auf, in Menetph Nord, als das Meer sich empörte und die Stadt vernichtete.« Ich hatte nicht gewußt, daß Menetph von einer Flutkatastrophe heimgesucht worden war. Aber wenn die Küstenlinie von Astria durch den Holocaust verän-
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dert worden war, warum dann nicht auch anderswo? Wir schwiegen eine Zeitlang. Ich stand auf, um ihre Schale wieder zu füllen. Sie griff danach und erhob sich. Ich schaute auf den weißen Scheitel in ihrem schwarzen Haar. »Geht es Sereth gut?« fragte ich, als sie mir zu dem Getränketisch folgte. »Ich kann mich nicht erinnern, ihn je in einem Zustand gesehen zu haben, den man so beschreiben könnte. Er hat sich von seinem Wutanfall gestern abend erholt, wenn du das meinst.« Ich fragte mich, was Chayin ihm über mich erzählt hatte. »Du würdest mir einen großen Gefallen erweisen, wenn du Chayin ausrichten könntest, daß ich ihn sprechen muß«, sagte ich und schenkte ihr von dem goldenen Kifra ein. »Über was?« erkundigte sie sich leise. Beinahe wäre mir die Hand ausgerutscht, doch erinnerte ich mich daran, daß ich ihre Hilfe brauchte. »Über den Arrar«, erwiderte ich noch leiser. Sie neigte den Kopf. Begreifen zog über ihr Gesicht wie der Schatten eines Hulion. »Fürchtest du nicht Khys' Zorn?« murmelte sie, was mich daran gemahnte, daß Liuma eine begabte Hellseherin war. »Nur ein Narr würde ihn nicht fürchten«, entgegnete ich kalt und bemerkte das Wiedererwachen ihrer eigenen Furcht bei dem Gedanken an was auch immer zwischen ihr und dem Dharen vorgefallen war. Ihr Blick richtete sich auf meinen Chald. »Vielleicht gelingt es mir, ihn eine Zeitlang von dir fernzuhalten«, bot ich an. »Wirklich?« Dankbarkeit vor der Tat hat mich immer schon erstaunt. Ihre Finger drückten meinen Arm. Ich widerstand dem Impuls, ihre Hand abzuschütteln, sondern führte statt dessen meine Trinkschale an die Lippen. Im Zimmer wurde es dunkler, als hätte sich eine
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Wolke vor die Sonne geschoben. »Vielleicht«, wiederholte ich in einem Ton, als wäre ich mir meiner Sache sicher. »Aber ich muß wissen, warum du hier bist.« Sie trat einen Schritt zurück, die weit aufgerissenen Augen wie schwarze Steine in frisch gefallenem Schnee. Ihr Mund öffnete sich, ohne daß sie einen Laut herausgebracht hätte. Ich wirbelte herum und sah, was sie gesehen hatte, und die Schale entglitt meinen gefühllosen Fingern und ergoß den restlichen Inhalt auf den rostfarbenen Teppich. Es war keine Wolke vor der Sonne gewesen. Es gab einen grellen Blitz, ein Knistern wie von brennendem Pergament. Eine ätzende Sturmböe, mit der die Splitter des zerschmetterten Fensters hereinwirbelten, rüttelte an den verriegelten Türen des Zimmers. Die soviel kleinere Liuma umklammerte meine Hüften, vergrub den Kopf in den Falten meines Kleides. Ich stand regungslos, streichelte ihr Haar, während ihr angstvolles Wimmern jeden Nerv in mir vibrieren ließ. Durch die Fensteröffnung, vor der ein cremefarbenes, eiförmiges Objekt schwebte, schob sich eine Rampe, die sich mit gebogenen Klammern am Sims festhakte. Das Metall bohrte sich knirschend in den Stein. Über diese Brücke hasteten zwei Männer in Khys' Wohnung, bis auf Kopf und Hände in enganliegende schwarze Anzüge gekleidet. Um die Hüften trugen sie breite, mit blinkenden Lichtern besetzte Gürtel. Ich sah die roten Augen von M'ksakka-Todeswürfeln. Ihre gestiefelten Füße, erst das eine Paar, unmittelbar gefolgt von dem zweiten, landeten knirschend auf Khys' von Splittern übersätem Teppich. »Welche?« fragte der erste Eindringling, der mit in die Hüften gestützten Fäusten stehengeblieben war. »Die da!« erwiderte der zweite, an dessen Gürtel mehr Lichter blinkten, als an dem seines Kameraden.
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Ich bewegte mich langsam in Richtung der Gefängniskammer, wobei ich mir wünschte, die Trinkschale festgehalten zu haben. Liuma kauerte leise wimmernd auf dem Boden. »Halt!« befahl der erste und kam näher. Ich blieb stehen. Der zweite M'ksakka, dessen Aufmerksamkeit auf Liuma gerichtet war, wandte uns den Rücken zu. Zögernd trat ich auf den Blonden zu, beide Hände an der Kehle. In ausreichender Entfernung von der Wand blieb ich wieder stehen. Er näherte sich langsam, den Kopf vorgereckt, die Augen wachsam. »Bitte«, flehte ich mit zitternder Stimme, »tut mir nichts.« »Komm nur mit und mach keine Schwierigkeiten«, antwortete er, sichtlich erleichtert, in seiner eigenen Sprache. »Niemand wird dir etwas tun.« Ich ging ihm langsam entgegen. Schläfe, Luftröhre, Kehle? »Was ist mit der anderen?« rief er seinem Gefährten zu und wandte dabei den Kopf. Ich sprang vor, den Ellenbogen in Schulterhöhe angewinkelt. Die drei mittleren Finger meiner Hand bohrten sich steif in seine Halsgrube, kaum daß meine Füße wieder den Boden berührten. Mit einem erstickten Gurgeln stürzte er besinnungslos zu Boden. Mein Arm tat weh, ein brennender Schmerz bis in die Schulter hinauf. Ich trat zurück. Der andere M'ksakka starrte nur. Ich bezweifelte, daß sein Freund tot war, aber so, wie meine Hand sich anfühlte, hätte er es sein müssen. Ich verfluchte meinen verweichlichten Körper. »M'kinlin!« brüllte der überlebende M'ksakka. Ich hörte ein Poltern auf der Brücke. »Komm her und hol mich«, forderte ich den zweiten in seiner Sprache auf. Der Mann, den ich angegriffen hatte, war allem Anschein nach doch tot. Er hatte noch nicht wieder geatmet. Zuversichtlich wandte ich seinem
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Gefährten meine volle Aufmerksamkeit zu und dem Mann, der jetzt von der Brücke ins Zimmer sprang. »Komm schon, M'as . . . Was?« Mit weit aufgerissenen Augen blieb er stehen. Ich hörte Lärm, vielleicht auf der Treppe. »Die da ... laß die andere in Ruhe! Hilf mir!« Er kam auf mich zu, ohne der Leiche einen Blick zu schenken. Ich wich zur Tür meines ehemaligen Gefängnisses zurück. Sein Körperbau war entschieden Nicht-M'ksakka, anmutig, trotz seiner Massigkeit. Der Gürtel um seine Taille war die reinste Galaxie. Er bewegte sich seitwärts auf mich zu. Ich wich zurück. Er grinste, die grauen Augen zu schmalen Schlitzen zusammengekniffen. »M'kin war nicht befugt, so etwas gegen dich zu gebrauchen«, meinte er näherkommend. Geschickt trieb er mich in eine Ecke. »Ich dagegen schon. Und es würde mir nicht das geringste ausmachen«, fügte er hinzu, mit einem Blick auf seinen toten Kameraden. Das rote Doppelauge der Waffe in seiner Hand betrachtete mich mit einem drohenden Versprechen. »Wenn du dich bei ›Drei‹ nicht auf dem Schiff befindest, bist du tot.« Er sprach M'ksakka, ohne sich darum zu kümmern, ob ich ihn verstehen konnte oder nicht. »Eins«, sagte er. Ich nickte und ging auf ihn zu. »Zwei«, fuhr er fort, wobei er sich auf dem Absatz mitdrehte und den todbringenden Würfel weiterhin auf mich gerichtet hielt. Ich bezweifelte nicht, daß er seine Drohung wahrmachen würde. Also lief ich zum Anfang der Brücke und kauerte mich dort nieder. Die Brücke schwankte im Wind. Unten, winzig klein, waren die von Wegen durchzogenen Grasflächen, hinter mir der schwarzhaarige Mann. »Zweieinhalb«, bemerkte er grinsend und tippte mir mit dem Würfel gegen die Schulter. Ich schaute zu der Öffnung in den Gleiter. Mein Blick wurde von zwei weiteren Männern erwidert, die dort hockten. Er gab mir einen leichten Schubs. Ich blickte auf die
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Öffnung und kroch auf die Rampe hinaus. Sie gab nach. Meine Finger krallten sich um die Ränder. Einer der Männer beugte sich aus dem Schiffsinneren und streckte die Hand aus. Der Wind packte mein Haar und wehte es mir in die Augen. Eine Hand klatschte ermunternd auf mein Hinterteil. Ich kroch weiter, halb blind, und mein eigener Atem klang mir so laut in den Ohren wie der Wind, der den Turm umtoste. Und noch weiter, die Hände um die Seiten der Rampe verkrampft, während sich Haarsträhnen um meine Arme schlangen und unter meine Knie gerieten. Eine Hand berührte die meine, packte mein Gelenk. Eine zweite, auf meiner Schulter, zog mich in Sicherheit, heraus aus dem betäubenden Wind. Ich stolperte, die Hände hielten mich aufrecht. Meine Füße berührten eine federnde, fleischig anmutende Oberfläche. Ich schüttelte mir das Haar aus den Augen. Der M'ksakka ließ mich los. Der grauäugige Mann, den Toten über der Schulter, sprang in den Gleiter. Dann sah ich durch die Öffnung, was der letzte der Fremden, der Blonde, mit Liuma vorhatte. Er hob sie auf den Fenstersims. Für mich sah es aus, als ob sie schliefe. Ihre Arme baumelten kraftlos, ihr Körper war schlaff, als er sie aus dem Fenster stieß. In geduckter Haltung lief er über die Rampe, die sich hinter ihm summend von dem Sims löste und ineinanderschob. Die Eingangsöffnung schloß sich. Ich schluckte hart und fragte mich, ob ihr Körper schon auf der Grasfläche aufgeschlagen war. Hilflos wandte ich den kalten Türen aus Sternenstahl den Rücken zu. Die Männer umstanden eine der sechs Bänke des Gleiters, bis auf den Grauäugigen, der mit einem Bein auf der Konsole neben der Tür dasaß, die Arme verschränkt, und mich beobachtete. »Also du bist der Grund für all die Aufregung«, sagte er gedehnt. »Und wer bist du?« fragte ich ihn. Das Gemurmel von
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der Bank her bekam einen ärgerlichen Unterton. Mit zwei von ihnen konnte ich fertigwerden. »Du scheinst nicht M'ksakka.« Der Satz klang schlecht formuliert, in silistrischer Syntax. »M‘ksakka bin ich auch nicht«, ahmte er mich nach. »Was meinen Heimatplaneten betrifft, so hast du nie von ihm gehört.« »Das bezweifle ich«, brachte ich noch heraus, obwohl ich sicher war, mich gleich übergeben zu müssen. Ich drückte die Hände gegen den Bauch. Die Vibrationen unter meinen Füßen wurden stärker. Die Decke, erleuchtete Quadrate, flackerte, beruhigte sich. Der Grauäugige drehte sich, schlug auf einige Knöpfe und erhielt ein Monitorbild. »Keine Eingabe! Maref, laß dein Zeug mal sehen! Handbetrieb, bis sie von ihrer Seite reinkommen.« Ein rotes Licht blinkte zornig. Der Gleiter bockte, erzitterte. Ich sank auf den elastischen Bodenbelag, während mein Magen auf und nieder hüpfte. Wenn ich den Kopf wandte, konnte ich noch mehr rote Lichter aufflammen sehen. An einer Konsole unter einem Monitor hob Liumas Mörder eine Platte hoch, schnalzte und hielt eine verbogene Spule hoch, von der ein zerknittertes Stück Band herabbaumelte. »Zerrissen, verdammt«, murmelte er. »Ich wußte, daß das passieren würde. Man kann die Systeme nicht mischen.« Ein zweiter, blond, eilte mit zwei Kästen herbei, um ihm zu helfen. Der mit den braunen Haaren kam zu uns, drehte eine Bank zu der Konsole, auf der der Grauäugige saß und machte sich an die Arbeit. »In einer Minute habe ich die Verbindung für dich«, sagte der Mann an unserer Konsole, während seine Finger über die Tasten flogen und Kippschalter betätigten. Neben der Schulter des Grauäugigen begann sich eine Spule ruckend zu drehen. Der braunhaarige, schlanke Mann lehnte sich in den Sessel zurück, der
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sich unter ihm bewegte. »Geschafft«, seufzte er, was von einem gleichzeitig aufflammenden grünen Licht bestätigt wurde. Längs der gesamten Konsole trat Grün an die Stelle von Rot. Der Mann verschränkte die Hände hinter dem Kopf. »Solltest du sie nicht fesseln oder so was, M'tras?« Der Grauäugige löste den Blick von dem Schirmgitter gegenüber. »Warum? Sie wird keinen Ärger machen. Oder?« »Nein«, erwiderte ich, zog die Beine an und stützte mich auf einen Arm. Wenn nur mein Magen sich beruhigen wollte. »Steh auf«, befahl M'tras. Ich gehorchte mit zitternden Gliedern. Er musterte mich grinsend, um dann laut zu schnalzen. Ich konnte mir denken, was das bedeuten sollte. Der Braunhaarige kicherte lüstern und machte eine Bemerkung in einem mir unverständlichen Dialekt. »Nein, Maref, das kannst du nicht tun«, ermahnte er ihn. »Wenigstens nicht jetzt gleich. Erst ich.« Er ließ sich von der Konsole heruntergleiten. »Möchtest du dich setzen?« Ich dachte an die verschiedenen Arten, auf die ich ihn hätte töten können, wäre nicht Khys' Reif der Stille gewesen. »Nein, vielen Dank«, lehnte ich ab, den kühlen Stahl der Tür im Rücken. Ich hätte gern etwas mehr Stoff am Körper gehabt als nur das kurze, weiß-silberne Wickeltuch. Die grünen Lichter warfen kränkliche Schatten auf meine Haut, färbten das helle Innere des Gleiters und verwandelten das Weiß der Seide, die ich trug, in Himmelgrün. Dann hörte das Flackern auf. »Was machen wir mit M'kinlin?« fragte Liumas Mörder und hob den Kopf von den Eingeweiden der Konsole. »Laß ihn entscheiden, M'as! Du wirst es schon noch aushalten können, bis wir anlegen«, sagte der braunhaarige Mann im Ton eines Vorgesetzten. Der Schwarzhaarige, den man scheinbar mit meiner Bewa-
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chung betraut hatte, nannte ihn Maref, kein Apostroph, wonach er entweder sehr hoch oder sehr tief in der M'ksakka Hierarchie stehen mußte. »Wohin bringst du mich?« sprach ich ihn an. Er hob die Hände, wie um mich abzuwehren. »Frag M'tras«, schlug er vor. »Ich kann nicht einmal mit dir sprechen. Ich habe dich nie gesehen. Genau genommen bin ich gar nicht hier. Ich mache Urlaub auf den Monden von Dyryiil. Schön wär's!« Grinsend lehnte er sich zurück. Ich wandte mich einmal mehr an M'tras, dessen Gürtel zu vieläugigem Leben erwacht war. Mit einer Berührung brachte er ihn zum Schweigen. Dann griff er über die Konsole, um einen Kopfhörer von der Halterung zu nehmen. Er hielt die dünnen Drähte ans Ohr und sprach in das verlängerte Mundstück, während er mir mit der erhobenen Hand bedeutete, still zu sein. Ich ließ den Blick durch den Gleiter wandern. Die Finger meiner rechten Hand schmerzten. So wie sich mein Arm anfühlte, hätte ich mir die Handwurzel angebrochen haben können. Die zwei Blonden, unverwechselbar M'ksakka in ihrer blassen Feingliedrigkeit und den hautengen schwarzen Uniformen, hatten ihre Sessel zu den Sichtschirmen herumgedreht. Sie unterhielten sich leise. Auf dem Sitz rechts von uns lag der Tote. Der nächste Platz in dem Kreis war leer, links davon saß der braunhaarige Maref, der nächste Sessel, der den Kreis vervollständigte, war gleichfalls unbesetzt. An keiner der Uniformen konnte ich ein Abzeichen entdecken, und die Bedeutung der Gürtel war mir unbekannt. Aller Wahrscheinlichkeit nach handelte es sich also nicht um eine F. B.-Einheit. Sie hatten Liuma getötet. »Du gehst vom Eingang weg«, sagte M'tras und deutete auf den leeren Platz vor mir. Ich setzte mich auf den äußersten Rand. Der Sessel versuchte, sich an meine Hinterbacken zu schmiegen. Ich bemühte mich
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um eine bessere Position und rückte hin und her. Der Sessel wogte. Mit einem Seufzer saß ich still. Der Sessel beruhigte sich. M'tras lachte, als er sich neben mir niederließ. »Hättest du dich hingelegt, wäre es besser gegangen«, meinte er, die Ellbogen auf die Knie gestützt. Er betrachtete mich von der Seite. Er erinnerte mich trotz seines leichten Körperbaus an Dellin. Sein Haar, wirr, hartschwarz, war kurz geschnitten, die Haut dunkel mit einem grau-grünen Schimmer. »Dies ist eine große Maschine«, bemerkte ich. »Dies«, berichtigte er, »ist eine besondere Maschine. Zeig's ihr.« Maref grunzte, hob aber die Hand zum Gürtel. Das Gitter auf dem Schirm vor ihm verschwand und wurde ersetzt von dem kältesten Schwarz, das ich je gesehen hatte, worin einige wenige Sterne spärlichen Glanz verbreiteten. »Ich muß mich übergeben«, warnte ich sie und krümmte mich zusammen. Von irgendwoher schob sich ein weißer Behälter in mein verschwommenes Blickfeld. Eine Hand hielt ihn gegen meinen Mund, während ich würgte. Mein Magen gab kaum etwas her, aber es dauerte lange, bis die Krämpfe nachließen. Ich befand mich nicht mehr auf meinem Planeten. Ich befand mich in einem winzigen Gefährt, das durch den Weltraum trieb. Bilder aller nur denkbaren Katastrophen zogen an mir vorbei. Angstschweiß überzog meine Haut. Das Gefäß verschwand, statt dessen erschien eine Handfläche mit zwei kleinen Kugeln. »Nimm das.« Es gelang mir, sie herunterzuwürgen. Jemand reichte mir einen Wassersack, und ich trank ein paar Schlucke. »Das reicht, oder du spuckst es wieder aus«, meinte M'tras. Ich gab den Sack zurück, nachdem ich etwas von dem Wasser in meine Hand getröpfelt hatte, um mir die brennenden Wangen zu kühlen.
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»Du hättest vorher sagen können, daß du sternenkrank wirst«, tadelte er. »Ich wußte es nicht«, antwortete ich erschöpft und rückte auf der wellenschlagenden Couch herum. Ich mußte kreidebleich geworden sein. »Sieh mich an!« befahl er. Ich gehorchte. Ein Netz kleiner Falten zog sich um seine Augen. »Gut. Stell mir Fragen oder sonstwas. Du mußt dich ablenken, bis die Pillen zu wirken anfangen.« »Wer bist du?« »Ich bin«, und seine Lippen kräuselten sich, »Trasyi Quennisarleslor Stryl Yri Yrlvahl. Innerhalb der F. B.Welten nennt man mich M'tras. Man könnte sagen, ich bin ein adoptierter M'ksakka.« »Und in welcher Funktion dienst du den F. B.Welten?« fragte ich weiter. Er hatte recht gehabt: Ich kannte keine Welt, wo Knaben auf diese Weise benannt wurden. Noch kannte ich eine Sprache, die so musikalisch über die Lippen floß. Einmal gehört, konnte man sie nicht wieder vergessen. Die Spulen an dem Datenschreiber neben dem Eingang stockten, drehten sich weiter, blieben stehen. Das Pult ratterte. Heißer, trockener Maschinenatem erfüllte die Luft. Der Geruch von schmorendem Isoliermaterial kitzelte meine Nase. Ich hoffte, daß dieses kränkelnde Tier, in dem wir saßen, es bis zu seinem wie auch immer gearteten Ziel schaffen würde. »Was bist du?« fragte ich nochmals und wagte eine Drehung auf dem jetzt glücklicherweise bewegungslosen Sitz, um ihm ins Gesicht sehen zu können. »Ein Mechaniker.« Er zuckte die Achseln. »Wenn die Maschine, die die F. B. leitet, eine Fehlfunktion hat, repariere ich sie. Auf meine Art.« Unsere Blicke trafen sich. Ich streckte den Rücken, rieb mir den Arm. »Und wie hat das uns beide hierhergeführt? Was hast du mit mir vor?«
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»Nun, das ist sehr kompliziert«, erwiderte er und setzte sich auf. Er hob einen Arm mit angewinkeltem Ellenbogen über dem Kopf. Den anderen bog er hinter den Rücken und verschränkte die Hände zwischen den Schulterblättern. Dann dehnte er die Muskeln mit Zug und Gegenzug und wiederholte das Ganze mit umgekehrter Haltung der Arme. Solche Entspannungsübungen sind bei all denen gebräuchlich, die auf ihren Körper Wert legen. Er holte tief Atem und prüfte die Wirkung. »Verstehst du etwas von Politik? Bei den meisten Silistranern, hat man mir gesagt, ist es nicht der Fall.« »Was für eine Art Politik?« erkundigte ich mich mißtrauisch. »Interplanetar. Silistra und M'ksakka zum Beispiel?« »Nein«, gab ich zu. »Dann kann ich es dir nicht erklären. Ich werde dich nicht töten. Wahrscheinlich nicht. Es wird auf einen Handel zwischen mir und deinen Leuten hinauslaufen, der dich wieder nach Hause bringt.« Er runzelte die Stirn und strich sich mit dem Daumen über die Unterlippe. »Aber man kann bei Silistriern nie wissen. Sie sind nicht gerade die logischste Rasse.« Ich bemerkte die Veränderung in seiner Sprechweise, das melodische Schwingen des letzten Satzes. »Wie ist es dir gelungen, dein Kand verborgen zu halten?« fragte ich ihn, wobei ich das silistrische Wort gebrauchte, da es in M'ksakka keinen entsprechenden Ausdruck dafür gibt. »Was?« Sein linkes Auge verengte sich. »Wie konntest du deinen Plan ausführen, ohne daß Khys, der einen großen Teil von Owkahen, der-Zeit-diesein-wird, überblickt und kontrolliert, es merkte und sich dir in den Weg stellte?« »Ich weiß nicht.« Er grinste. Der Kommandant, Maref, rollte sich auf die Seite. »Komm schon, erzähl's ihr. Ich würde es auch gern
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hören. Das Verrückteste, was ich je in meinem Leben getan habe — noch dazu am hellichten Tag!« M'tras warf dem anderen einen warnenden Blick zu. Seine grauen Augen waren kalt, als er sich wieder an mich wandte. »Ich bekam ein wenig Hilfe. Und das« — er sprach über die Schulter zu Maref — »ist alles, was ich willens bin zu sagen. Fragt nicht weiter!« Wieder Musik. »Khys wird dich dafür in deine Atome zerlegen«, bemerkte ich. »Dein Spielgefährte?« »Lagergefährte«, berichtigte ich ihn. »Das ist der Grund, weshalb ich mich für dich entschieden habe, nicht für ihn. Alle unsere Kalkulationen bestätigen, daß er zu einem Handel bereit sein wird, wenn es um dich geht. Die Wahrscheinlichkeit, dort hineinzugelangen, ihn zu töten und unbeschadet wieder zu entkommen, war gleich Null.« »Wahrscheinlichkeit.« Ich lachte kalt. »Was weißt du von solchen Dingen?« Er lachte gleichfalls. Mir kam es merkwürdig vor, als er näher an mich heranrückte. »Ich bin ein Stochastischer* Improvisator. Mein Planet ist unter Vorbehalt der Föderation beigetreten, unter dem Vorbehalt, daß wir an der F. B. etwas entdecken, das mehr ist, als schlicht langweilig. Ich bin ein Mitglied der Testgruppe.« Er beugte sich zu mir vor. »Was ich tue, läßt sich in etwa mit der Erfüllung von Chaldra vergleichen, wenn ich das Konzept richtig verstehe.« »Soll das heißen, du kanderst?« fragte ich, eine Hand an dem unter der Seide verborgenen Reif an meinem Hals. »Ich rate«, erwiderte er. »Musikalisch, mathematisch; ich habe das Talent, einem hochspezialisierten Computer die richtigen Fragen zu stellen. Ich interpretiere das Output, dann höre ich und rate. Ich bin ein Auraler
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Symbolist. Aber kandern? Wenn das, was Dellin und M'lennin berichtet haben, stimmt, tun wir nichts dergleichen.« »Hat Dellin hierbei seine Hände im Spiel gehabt?« wollte ich wissen. »Nein. Er wußte nichts davon. Ihm steht eine ausgedehnte Ruhepause bevor. Die letzten Berichte, die wir von ihm bekamen, enthielten eine beträchtliche Anzahl Falschinformationen. Außenweltler halten sich nicht lange auf Silistra.« Seine wandernden Finger fanden meinen Oberschenkel und stiegen daran empor. Ich fragte mich, warum er sich nicht einfach bediente und dann Schluß. »Was für Falschinformationen?« erkundigte ich mich stumpf. »Du wärst ein Fall von Amnesie, hilflos, kaum lebendiger als eine Pflanze, ein problemloses Opfer. Daß du alleine sein würdest.« Die Lichter flackerten. Ich zuckte zusammen und schaute mich angsterfüllt um, aber die M'ksakka schienen gänzlich unbekümmert. »Es ist nichts, lediglich das von fern gesteuerte Andockmanöver«, beruhigte er mich. »Beim letzten Mal war es auch nicht nichts«, meinte ich, immer noch angespannt, während er den Arm um mich legte. Maref, im Sessel nebenan, gab einige verächtliche Töne von sich. »Ich habe die Spule von Zuhause mitgebracht. Die zulässigen Abweichungen, zum Beispiel bei der Bandantriebsachsen-Zugkraft, wurden überschritten. Es passierte beim Probelauf. Wir klebten das Band und fertigten eine Kopie an, aber eine Kopie ist immer zweite Wahl, also nahmen wir das geklebte Original. Es hat ganz gut gehalten. Du hast den Unterschied gesehen, gespürt, wie es auf dem neuentwickelten Mischpult gelaufen ist. Und jetzt dürfte dir auffallen, daß die Oniar* stochastisch: zufallsabhängig 181
M uns auf dem Leitstrahl hat.« Und tatsächlich konnte ich ein Nachlassen der Vibrationen fühlen. Die Kontrolleuchten brannten ruhiger. »Was ist die Oniar-M?« fragte ich. »Unsere Transportgelegenheit nach M'ksakka. Es wäre eine weite Reise für dieses unbesegelte Boot.« Seine Finger mit den dicken Nägeln berührten Khys' Zeichen. »Ist das bleibend?« fragte er. »Es ist das Mal des Dharen«, erwiderte ich und straffte die Schultern. »Sollten wir uns nicht hinlegen und anschnallen?« »Du hast meine Frage nicht beantwortet«, tadelte M'tras mit steifen Lippen und nahm seinen Arm von meiner Schulter. »Das Zeichen«, erklärte ich, »ist bleibend.« Ich erwiderte seinen Blick, dem ich lange ausgewichen war. »Wenn das mir jemand antäte, würde ich ihn töten«, sagte er. »Ich glaube kaum, daß der Dharen dich in Betracht ziehen würde«, meinte ich kühl. Er stützte die Ellenbogen auf die Knie und betrachtete den Boden zwischen seinen Füßen. »Man sollte denken, jemand in deiner Lage wäre glücklich, daraus erlöst zu werden. Ich jedenfalls nahm das an. Es war logisch. Statt dessen tötest du einen meiner Männer. Ich spiele eine Subdominante, und du antwortest mit einer Dissonanz.« Er kaute auf der Innenseite seiner Backe. »Wenn du auf meine Dankbarkeit aus bist, entferne den Reif um meinen Hals mit deiner so wunderbaren Technologie«, schlug ich vor. »Und was würde dein Spielgefährte dazu sagen?« erkundigte er sich unschuldig. Also wußte er genau, was er tat. Entweder hatte er vor, mich dem Dharen zurückzugeben, oder er verfolgte eigene Pläne, in die ich fügsam und wehrlos besser hineinpaßte. Ich seufzte und ließ die Hände über
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meinen Chald gleiten. Sein entspannter Körper gewährte mir keinen Aufschluß über seine Stimmung. Ich konnte ihn nicht erspüren, talentloser Krüppel, der er war. All sein entwaffnendes Geplauder war eben nur das gewesen — und ohne jede Bedeutung. Und doch hatte er mich aus Khys' Obhut entführt, Chayins und Sereths Anwesenheit zum Trotz. Sie hatten nichts gemerkt. Liuma hatte unter all ihren Tränen etwas geahnt, aber für uns beide zu spät. Bei dem Lichterruf der Konsole setzte Maref sich grunzend auf. Er hielt sich den Kopfhörer erst ans Ohr, dann vor den Mund. Schließlich nahm er ihn ab und ging damit zu M'tras, während sich hinter ihm die Schnur über den Boden ringelte. »Für dich.« Er zog eine Grimasse. M'tras nahm das Gerät entgegen. Die zwei Blonden griffen hastig nach ihren eigenen Empfängern. »Soll er«, sagte M'tras in das Mundstück, das Kinn an die Brust gedrückt, sein ganzer Körper eine S-Kurve der Abweisung. Seine Finger trommelten auf dem Gürtel, ein scharfes Pochen in der Stille. Ich stand auf. M'tras winkte Maref zu mir. Er kam, einen Finger auf den Lippen. »Was interessiert mich das. Wir können es uns nicht leisten, noch weiter dahinein verwickelt zu werden.« Pause. »Nein. Laß mich mit ihm sprechen.« Er schnalzte dreimal hintereinander eine komplizierte Tonfolge. Während ich ihn beobachtete, kam ich zu dem Schluß, daß ich gerne dabeisein wollte, wenn Khys ihn vernichtete. »Hör zu, Mann, jetzt ist nicht die Zeit für Nervenflattern.« Er fauchte in den Kopfhörer und hielt dabei die Augen geschlossen. »Es kümmert mich nicht, was er gesagt hat. Mach dir keine Sorgen. Das könnte er gar nicht.« Er unterbrach sich und tippte in einem bestimmten Rhythmus auf seinen Gürtel. Die Konsole neben dem
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Eingang erwachte zum Leben. Eine geometrische Kurve in Grün erschien, darüber bauten sich zwei Wurzelsysteme auf, eins rot, eins weiß. Wo sie sich trafen, flammten Zahlen auf, die sich mit jedem Lidschlag änderten. »Irgendeine Art von Illusion. Leute erscheinen nicht einfach aus dem Nichts. Also gut, flimmerndem Nichts. Nein, nichts dergleichen. Warte . . .« Er schob den Hörer vom Ohr. Die zwei blonden M'ksakka, die am Fuß der zweiten Konsole hockten, schüttelten sich vor unterdrücktem Lachen. »Hör zu«, fuhr M'tras fort, »wenn du dich nicht beruhigst, werde ich die Verbindung unterbrechen.« Eine kurze Pause. »Ich werde die Papiere durchgeben, wenn es das ist, was du willst. Aber wenn du recht hast, bist du dort sicherer.« Seine Stimme klang nicht mehr so sicher. Sein unverwandt auf die sich ständig ändernden Zahlen gerichteter Blick wurde düster. Er richtete sich straff auf. Die Lustigkeit der M'ksakka versiegte. »Die Lage hat sich merklich verändert«, sagte er. »Ich werde jemanden nach dir schicken. Nein, nichts Dringendes. Nur, da du jetzt Bescheid weißt, bist du für uns nicht mehr von Nutzen. Also können wir ebensogut retten, was zu retten ist. In zwei Stunden am Hafen.« Lächeln. »Wie lang das in wirklicher Zeit ist? Knapp. Versuch's.« Er nahm den Kopfhörer ab und reichte ihn niemand bestimmtem, während seine Aufmerksamkeit unverändert dem Diagramm galt, dessen weiße Linien eine blaue Tönung angenommen hatten. Maref nahm ihm das Gestell ab und bewegte die Hand vor dem geistesabwesenden Gesicht des größeren Mannes hin und her. »Wir können keine Gedanken lesen, M'tras.« Schnalzend senkte M'tras den Kopf, um durch einen Druck auf seinen Gürtel die Konsole abzuschalten. »Ruf die Oniar-M. Sie sollen Dellin von Port Astrin abholen.« »Ich könnte umkehren und . . .«, bot Maref an, zuckte
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die Schultern und eilte zum Pult. M'tras, der ihm den Rücken zugewandt hatte, schaute mich durchdringend an und stand mit drei großen Schritten vor mir. Er umfaßte meinen Arm und schob mich auf den Sessel, von dem ich mich nur zu gern erhoben hatte. Ich leistete keinen Widerstand. »Was ist passiert?« fragte ich, während mein Körper sich mit dem weichen, ständig in Bewegung befindlichen Plüsch des Sessels zu arrangieren suchte. Sein linkes Bein drückte gegen meinen Oberschenkel. Wieder stützte er die Ellenbogen auf die Knie. »Ich habe nicht die Absicht, es dir zu erzählen«, wies er mich verärgert zurück, den Kopf zwischen den Händen. »Laß mich es dir erzählen«, erwiderte ich, vor Freude unvorsichtig geworden. »Tu's nicht! Mach mich nicht neugierig auf die Informationen, die ich von dir bekommen könnte. Unsere Verhörmethoden würden dir nicht gefallen.« Sein Ton war scharf. »In drei Minuten docken wir an«, verkündete Maref. M'tras schien ihn nicht zu hören. »Erzähl's mir!« sagte er und richtete sich auf. Seine Brauen zogen sich zusammen. »Sprich dich aus. Was ist passiert?« »Du hast mit Dellin gesprochen. Khys oder ein Mitglied seiner Ratsversammlung ist aufgetaucht, um ihn für das Geschehene zur Verantwortung zu ziehen. Es stellt sich heraus, daß Dellin nichts weiß, und der Betreffende übermittelt ihm die Forderung, mich zurückzubringen, sowie eine Androhung von Vergeltungsmaßnahmen. Dellin war noch nie besonders mutig. Er will raus. Ich weiß nicht, wie Dellin von dir erfahren hat, aber ich würde es als eine von Maschinen unterstützte Ermittlung nennen.« »Ich dachte, du wärest deiner Talente beraubt, solange du diesen Halsreif trägst«, bemerkte er leise.
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»Ich habe geraten«, antwortete ich. »Ich kenne Khys.« Er biß sich auf die Innenseite der Wange. »Ich würde ihn auch gerne kennen. Flimmerndes Nichts. Kann er das wirklich?« Er ließ den Blick durch den Gleiter schweifen, als glaubte er, Khys irgendwo zu entdecken. »Zwei Minuten«, sagte Maref trocken. »Und soviel mehr, daß ich bezweifle, daß du dir seine Grenzen auch nur vorstellen kannst.« Er ließ seinen Gürtel aufleuchten. Ich glaubte, irgend etwas sich zwischen den Lichtern drehen zu sehen. »Könnte er«, sagte M'tras sehr deutlich, »etwas zerstören — dieses Schiff zum Beispiel — von seiner augenblicklichen Position auf Silistra aus und ohne mechanische Hilfe?« »Und deshalb nicht abzuwehren für eine Kultur der Maschinen . . . Ja, natürlich, obwohl meine Anwesenheit an Bord ihn davon abhalten könnte.« »Er könnte es?« Die Lichter an seinem Gürtel erloschen, als teilte dieses Instrument die plötzliche Sorge, die ihn erstarren ließ. »Er hat von mir bekommen, was er haben wollte — einen Knaben. Er würde mich zweifellos opfern, wenn es ihm einträglich genug erscheint.« Ich glaubte kein einziges Wort, aber M'tras sollte die Lüge glauben, die so reichlich mit Wahrheit durchmischt war. »Eine Minute«, sagte Maref.
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4 Die Kluft unterschiedlicher Auffassungen
Ijiyr war der Name des Instruments, auf dem M'tras spielte. Die Töne, hervorgelockt von kundigen Fingern, hallten klangvoll durch die Kabine. Kristallklar, durchdringend, geschmeidig wie fließendes Wasser, füllte diese Viertelton-Komposition eine Zeitspanne, die nicht lang war, aber so voll Bedeutung, daß sie sich bis in die Ewigkeit erstreckte. Als er das Instrument auf den Tisch legte, erfüllte mich ein trauriges Verlangen, wieder dort zu sein, wohin diese Töne uns entführt hatten. Mit dem Geist der Musik war ich aus der Kabine entflohen, aus der Gefangenschaft, zu einem Ort, wo ich keinen Reif der Stille trug. Von der Schönheit der Melodie den Tränen nahegebracht, konnte ich eine Zeitlang nur schweigend dasitzen. Auch M'tras lehnte still, entspannt, in einem grauen Sessel. Ich saß auf dem anderen, der grün war und glücklicherweise nicht so bewegungsfreudig wie mein Sitz in dem Gleiter. Zwischen uns stand ein polierter Tisch aus einem metallisch anmutenden Material. Die Kabine war unterteilt, diffus erleuchtet, fensterlos. Zwischen den beiden Schlafstellen gab es einen in sich unterteilten Sockel, der die Bewohner mit Essen, Informationen und Unterhaltung versorgte. Eine Wand zeigte eine Gesamtansicht des Westwaldes. Auf meine Frage hatte M'tras erklärt, daß es sich bei dem Westwald um das größte Naturwunder von M'ksakka handelte. Für mich war es ein Wald wie jeder andere, außer daß die Farben unter einem graubraunen Himmel stumpf wirkten. Die Form der Bäume, 187
wenn man genau hinsah, war nach silistrischen Maßstäben nicht ganz richtig. An der gegenüberliegenden Wand entdeckte ich eine außerordentlich tröstliche Torth-Wandskulptur, vier Teile, die den hellgrünen freien Raum zwischen ihnen in das Konzept des Künstlers einbezogen. In der wolkenfarbenen Wand befand sich die Tür mit dem rot leuchtenden Öffnungsmechanismus. Gegenüber der Eingang zum Waschraum, eingerahmt von Schränken mit Tür- und Schubladenfronten aus dem warmen, metallischbraunem Material. Dasselbe Metall fand sich an Boden und Decke der Kabine wieder und bildete die Podeste für Betten und Tisch. Die Vorhänge um die Schlafstellen waren aus schwerem braunen Samt. Ich hatte mich auf eines der Betten gesetzt und mich gefragt, ob ich es je lernen würde, so hoch über dem Boden zu schlafen, auf so einer weichen, federnden Unterlage. Die Tabletten, die meinen Magen beruhigt hatten, verloren ihre Wirkung, und das machte sich auch an meiner Stimmung bemerkbar. Wann würde Khys mich endlich zurückholen? Frierend und angsterfüllt schlang ich die Arme um meinen Leib. M'tras hatte sich nicht um mich gekümmert, sondern die Ijiyr aus dem Kasten auf seinem Bett geholt. Probeweise einige Tonleitern spielend, hatte er unzufrieden mit der Zunge geschnalzt, das Instrument auf den Tisch gelegt und in den Schubladen neben der Waschraumtür gestöbert. Als er mit einem kleinen Würfel und einem Satz Werkzeuge zurückkam, hatte mich die Neugier zu dem Instrument getrieben, das auf der Metallplatte lag. Es war eine Kombination aus Tasten- und Saiteninstrument mit einem kleinen Quadrat freiliegender Drähte, unterhalb derer sich Skalenscheiben und Schalter befanden. Er arbeitete konzentriert. Dreimal schlug er eine Saite an, regulierte zweimal einen Schalter.
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»Was ist das?« fragte ich, nachdem er in den grauen Sessel gesunken war und das Instrument auf den Schoß genommen hatte. »Eine Ijiyr. Damit denke ich«, erklärte er, während seine rechte Hand den ersten Akkord anschlug. Ich kann mich nicht erinnern, mich hingesetzt zu haben. Nur auf die Töne, die zum Leben erwachten und die Luft bevölkerten, besinne ich mich noch. Die Tonleiter, die er benutzte, drehte und verwandelte sich und kehrte zu ihrem Ursprung zurück. Er verknüpfte die Tonarten auf eine Weise, wie ich sie nie erlebt hatte. Diese Stufe musikalischer Genialität bleibt oft unerreicht. Auf Silistra wäre ein Musiker solcher Größe Träger des Hohen Chaldra gewesen, ein Dharener unter seinesgleichen. Aber er stammte nicht von Silistra. Er war eine Art mechanisierter Töter in Diensten der F. B. Ich verspürte einen kurzen Anflug von Ekel über die Vergeudung eines solchen Talents, als ich zusah, wie sein Geist nur langsam von diesem weiten Flug zurückkehrte, während auf seinem gebeugten Nacken noch die Schweißperlen glitzerten. »Du solltest nichts anderes tun als nur das«, sagte ich aufrichtig. Er schnalzte und betrachtete mich, ohne den Kopf zu wenden. »Ich bin kein Planer«, erwiderte er rätselhaft. »Ich habe nicht die Kraft, soviel zu spielen.« Dann drehte er sich um, stützte die Ellenbogen auf den Tisch und den Kopf in die Hände. »Ich habe das Gefühl, daß wir beide die ganze Zeit aneinander vorbeireden — wir glauben, daß eine Kommunikation da ist, dabei mißverstehen wir uns, und es wird immer schlimmer.« »Die Kluft unterschiedlicher Auffassungen«, sagte ich. »Wir haben uns nicht auf gemeinsame Formeln für das, was wir ausdrücken wollen, geeinigt — M'ksakka eignet sich auch nicht dafür.« Ich erinnerte mich an zwei Gelegenheiten seit dem Wechsel von dem Gleiter in das
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Innere des großen Schiffes, da es zu solchen Mißverständnissen gekommen war. Einmal hatte er mich gefragt, was genau der Reif der Stille bedeutete. Sobald meine Ohren sich mit einem Knacken auf den veränderten Druck eingestellt hatten, versuchte ich eine Erklärung. Als die Metalltüren zur Seite glitten und einen hell erleuchteten Gang freigaben, hob er abwehrend die Hände und gab zu, daß unsere Begriffe von Zeit und Raum zu wenig übereinstimmten, als daß wir ein vernünftiges Gespräch über damit zusammenhängende Phänomene führen könnten. Dann, als in der Achse des Schiffes, von der aus man jede Ebene des Sternenfahrzeugs erreichen konnte, die Besatzung des kleinen Gleiters uns verließ, hatte er mich gefragt, ob ich beim Segelsetzen zuschauen wollte. Ich hatte abgelehnt und außerdem noch meinem Abscheu und meinem Unbehagen Ausdruck verliehen, im Innern einer Maschine gefangen zu sein, mein Leben abhängig von dem einwandfreien Funktionieren einer Anzahl winziger, fühlloser Geräte. »Und wie würdest du den Abgrund zwischen den Sternen überwinden?« hatte er zu wissen verlangt, anscheinend verletzt durch meine Worte. »Mit der Kraft meines Willens«, hatte ich erwidert. Und er hatte verächtlich gelacht und gesagt, daß er das gerne einmal sehen würde. Ich versicherte ihm, daß dieser Wunsch höchstwahrscheinlich in Erfüllung gehen werde, worauf wir in beiderseitiges Schweigen verfielen, das erst von seiner Musik gebrochen wurde. »Was schlägt deine andersartige Auffassung vor, wie ich dich nennen soll?« fragte er und zupfte an seiner Ijiyr. Sie wisperte eine Terz. »Brunnenhüterin?« Das Wort kam ihm genießerisch über die Lippen. »Dharenerin, wenn du willst. Oder Hüterin, obwohl das lange vorbei ist. Oder Crell oder Saiisa, mir ist es gleich. Meistens hat sich mein Taufname als ausreichend
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erwiesen.« Ich dachte an die Zeit als Crell, als Chayin mich sogar meines Namens beraubt hatte. Beinahe fünf Jahre war es nun her, daß ich mich auf dem Lager in Astria zurückgelegt hatte, um zu bedienen, wen immer der Augenblick mir bestimmte. »Du kannst«, sagte ich mit weicherer Stimme, »mich Estri nennen, wenn du möchtest.« »Das würde mir gefallen«, meinte er, seine Stimme wie ein Fluß über Kieseln, die Augen auf seine Hand auf dem Instrument gerichtet. »Ich möchte es dir in deiner gegenwärtigen Lage so angenehm wie möglich machen«, begann er zögernd. »Ich habe dich bis jetzt weder gefesselt noch dir irgendein Leid zugefügt, obwohl beides durchaus angemessen wäre, nachdem du M'kinlin getötet hast.« Den Kopf immer noch gesenkt, betrachtete er mich von unten herauf. »Ich weiß nicht, ob ich all dieses übernatürliche Zeug glauben soll, aber seit ich dich gesehen habe, glaube ich ein Gutteil mehr von dem, was mir über Silistra erzählt wurde.« Dies, wußte ich, war der richtige Moment. »Ich wäre tief in deiner Schuld, wenn du mich vor Dellin beschützen würdest«, hauchte ich so sanft wie möglich, verschränkte die Finger im Schoß, biß mir auf die Lippen. »Er hat vielleicht Gründe, mich zu mißhandeln.« Ich zitterte. »Mach dir keine Sorgen«, beruhigte er mich schroff, »dies ist mein Projekt. Ich muß immerhin in der Lage sein, dich deinem Lagergefährten zurückzugeben.« Er grinste, weil er den korrekten Ausdruck benutzt hatte. Wenn man weniger gefährlich erscheinen möchte, sollte man um Hilfe gegen irgendeine kleine Bedrohung suchen. »Du mußt dich sehr sicher fühlen, daß du auf ihn wartest«, bemerkte ich. »Wenn ich ihn zurückließe mit allem, was er von uns weiß, wäre ich ein Narr.« Er seufzte und setzte sich
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bequemer hin. »Dein Freund Khys hat uns ein Ultimatum gesetzt. Ich vermute, daß er gerade jetzt ziemlich beschäftigt ist. Wenn er tatsächlich über all die ihm zugeschriebene Macht verfügt, wird er dich holen, wann es ihm beliebt. Wenn nicht, brauche ich mir keine Sorgen zu machen.« »Was geschieht, wenn das Ultimatum abläuft?« »Wenn wir dich nicht zurückschicken?« Leise, begleitet von knappen, hohen Tönen. »Er wird uns von unserem äußersten Mond befreien, Niania.« Seine Augen suchten in meinem Gesicht, während das seine ausdruckslos blieb. »Dieser Mond ist bewohnt«, fügte er hinzu. »Die Zerstörung, die solch ein beispielloser Vorfall anrichten würde, ist unvorstellbar. Da sind die beiden anderen Monde. Und auf M'ksakka, Beben, Flutwellen, Vulkanausbrüche, Verschiebung der Planetenachse, Turbulenzen — man kann es sich wirklich nicht vorstellen.« Ich saß nur da und schaute ihn an. Ich war ganz und gar nicht schockiert, im Gegensatz zu ihm. »Ganz ehrlich, wäre er in der Lage, das zu tun?« »Vor der Schlacht im Amarsa ‚695 wäre sogar ich dazu in der Lage gewesen.« Ich hob die Arme über den Kopf und streckte mich. »Natürlich kann er das tun. Es ist leicht, etwas zu vernichten, besonders etwas Großes. Schwieriger ist es, etwas zu verändern, ohne die gesamte Umgebung in Mitleidenschaft zu ziehen. Sollte er sich entschließen, solch drastische Maßnahmen zu ergreifen, wird er, da bin ich ganz sicher, alle Nebenwirkungen in Betracht ziehen. Khys hat großen Respekt vor dem Leben. Er würde nicht so viele töten, wie du befürchtest.« M'tras legte eine Hand vor die Augen. »Du glaubst also, daß er es tun wird«, sagte er darunter hervor. »Du glaubst, daß er es tun kann.« »Ich habe niemals erlebt, daß er ein gegebenes Wort gebrochen hätte«, erwiderte ich ernst. »Schick mich zu
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ihm zurück, und du ersparst dir die ansonsten unvermeidlichen Folgen.« »Ich kann nicht. Es steht zuviel auf dem Spiel. Ich brauche Zeit.« »Khys hat dir Zeit gegeben«, flüsterte ich und wünschte dabei, er hätte es nicht getan. »Ich glaube das alles einfach ist nicht«, stieß er hervor. »Ich kann es nicht glauben. Hier sitze ich und überlege tatsächlich, ein Projekt aufzugeben, weil irgendein hinterweltlerischer Monarch einen nicht viel besseren Offizier, der schon längst urlaubsreif ist, in Angst und Schrecken versetzt hat.« Er stand auf und lief erregt hin und her, um dann vor mir stehenzubleiben. »Was hat dein Computer dazu gesagt?« fragte ich. »Auch nichts Vernünftiges. Die Basisinformation, mit der wir ihn gefüttert haben, erwies sich als fehlerhaft. Ich werde das ganze Programm löschen und von vorne anfangen müssen. Alles, was ich von dem Bastard hören will, ist eine Verneinung! Es ist doch wohl nicht zuviel verlangt, daß er sich wie ein zivilisiertes Wesen benimmt, oder?« Er funkelte angriffslustig zu mir herunter. »Oder?« fauchte er. »Niederlagen«, sagte ich und legte den Kopf in den Nacken, um seine Augen sehen zu können, »sind bei Khys nicht eingeplant.« Er betrachtete mich mit unverhohlener Abneigung. »Ich weiß nicht, was ihr glaubt zu sein«, bemerkte er mit gekräuselten Lippen, als von dem Sockel zwischen den Schlafstellen her ein Läuten ertönte. Er folgte dem Ruf eilig, setzte die Konsole in Betrieb und ließ sich auf das Bett fallen. »Was gibt's?« knurrte er die Konsole an. »Ah . . . wir haben Dellin eingesammelt. In siebenundfünfzig Minuten wird er an Bord sein.« Die Konsole sprach mit Marefs Stimme. »Die Systeme laufen einwandfrei! Dein bevorzugtes Spielzeug denkt, daß es
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neue Informationen braucht, nachdem es bei der Wahrscheinlichkeitsebene, die du eingegeben hattest, abgebrochen hat. Die Chefin will mit dir sprechen. Wir sind bereit zum Sprung, warten aber noch ab.« Ich merkte plötzlich, daß ich mich auf halbem Weg zu der Bettstatt befand, blieb kurz stehen und ging weiter. »67-a4-32. Es ist ein System A-Band, das ich mitgebracht habe«, sagte M'tras, an dessen Gürtel ebenso viele Lichter blinkten wie an dem Sockel, wo ein verkleinertes Abbild von Marefs Gesicht an der Unterlippe kaute. »Warte. Ich hab's«, bemerkte Maref, erfreut über irgend etwas außerhalb des Sichtschirms. Eine verschwommene Gestalt glitt hinter seinem Kopf vorüber und verschwand. M'tras klopfte neben sich auf die Matratze. Ich setzte mich hin. »Und wohin« — Maref grinste — »wird uns das bringen, wenn ich fragen darf?« »Meiner Heimat. Große Ellipse. Nur Orbit«, antwortete M'tras mit einer Stimme, die keinen Widerspruch duldete und räkelte sich noch bequemer auf dem Bett. Maref hob eine Augenbraue. »Auf deine Verantwortung?« »Auf meine Verantwortung. Aber ich kann auch gerne die Dame anrufen und es bestätigen lassen.« »Mir recht«, sagte er. »Hast du Erfolg?« »Ein bißchen«, erwiderte M'tras. »Ich erzähl's dir später.« »Du solltest ein wenig von deinem Charme versprühen. Sie fühlt sich gereizt, überrumpelt. Dieser Abstecher dürfte ihre Stimmung kaum verbessern.« »Er könnte ihr unangenehm langes Leben retten«, sagte er. »Ich rufe dich zurück.« Und das Gesicht war verschwunden, der Sichtschirm verdeckt von dem, was ich vorher dort gesehen hatte: eine hübsche Zusammenstellung geometrischer Lichtmuster. M'tras reckte sich ausgiebig, wobei unter der schwar-
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zen, enganliegenden Uniform die Muskeln spielten. Ich wünschte mir, am Tisch sitzengeblieben zu sein. Was mochte dort unter dem Stoff lauern? Sein abschätzender Blick war unmißverständlich. Ich hoffte, daß er nicht mit Widerhaken ausgestattet war wie die Männer von Katrir; oder über einen hohen Säureanteil verfügte wie die Oguasti. Er kam von einer Welt, die ich nicht kannte. Was für Mikroorganismen trug er mit sich herum? »Verfügt deine Rasse über eine Verträglichkeitsindexnummer?« fragte ich, als er fortfuhr, mich vielsagend anzustarren. ».8888, wenn dich das beruhigt.« Er kicherte. »Komm her.« Es beruhigte mich in der Tat. Physiologisch war er keine Gefahr. »Solltest du nicht erst deine Arbeit erledigen?« Ich versuchte Zeit zu gewinnen und erhob mich von der Bettkante. Blitzschnell griff seine Hand zu und umfaßte mein Bein knapp über dem Knie. Erbarmungslos drückte er auf die Nerven dort. Stöhnend sank ich auf das Bett zurück, unfähig, seinen Griff zu lösen. Er zog die Hand zurück und tippte schweigend auf seinen Gürtel. Ich rückte auf dem Plüschbezug herum und fühlte das Schaben von Seide auf dem Material. Als er sich erhob, schlug er beiläufig gegen den Sockel unter dem geometrischen Muster. Noch während er vorwärtsglitt, wurde das Gesicht einer Frau auf dem Schirm sichtbar. Hinter ihrem braunen Kopf sah ich tiefe Dunkelheit und die Sterne. Ich erschauerte. »Lange genug hat es gedauert«, sagte sie ohne Einleitung. Blasse Augen vermieden absichtlich, mich anzusehen. Ihren Mund umschlossen verschattete Klammern aus Fleisch. Sie zuckten. »Ich wünschte, du würdest mir in Zukunft erst Bescheid sagen, bevor du meine Befehle widerrufst!« »Wenn ich das täte, hättest du wahrscheinlich keinen zu geben. Ich arbeite nach einem Plan. Das heißt, exakt
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die richtige Bewegung zu genau der richtigen Zeit. Schon eine Abweichung von nur drei Sekunden wäre zuviel. So schnell kannst du nicht einmal reden, geschweige denn denken. Tu, was ich sage, und belästige mich nicht, und wir sind bald voneinander befreit. Mir gefällt das alles hier genausowenig wie dir.« »Ich sollte alles widerrufen, und du kannst von M'ksakka zu Fuß nach Hause wandern!« tobte sie. »Wenn das Projekt auffliegt, gibt es vielleicht kein M'ksakka mehr«, erwiderte M'tras mit zusammengekniffenen Augen. Sie schnaufte, und ihr Mundwinkel zuckte wieder. Auf dem Schirm erschien eine beringte Hand, die einen mit Juwelen besetzten Stylus hielt. Sie begann nachdenklich darauf herumzukauen. Ich merkte, daß sie sich in ihre Würde einzuhüllen versuchte wie in einen greifbaren Umhang. Der Stylus und die ringgeschmückte Hand mit den stumpfen Fingern wurden zurückgezogen, um gleich darauf wieder aufzutauchen. »Du da!« bellte sie und deutete mit dem zerkauten Stab auf mich. Ich zuckte zusammen. M'tras bedeckte mit der Hand sein Kinn. »Ja?« erwiderte ich und schüttelte mein Haar nach vorn über, die Brüste. »Du hast einen meiner Leute getötet. Wenn sie mit dir fertig sind, gehörst du mir. Und ich kann dir versichern, du wirst bald wünschen, tot zu sein!« Und der Schirm mit dem plötzlich roten Gesicht erlosch. Ich strich mir das Haar aus den Augen. Dann massierte ich meine schweißfeuchten Schläfen. Hinter der Frau hatten die Sterne, gefunkelt. Ich hatte dieses größere Schiff als beruhigend empfunden. Es schien solide wie ein Haus auf festem Boden. Aber es war lediglich ein etwas größeres Fahrzeug, das haltlos im ewigen Dunkel schwebte.
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»Wird dir jetzt wieder schlecht?« grollte er, als ich mich vorbeugte und die Arme um meinen Leib schlang. »Sie kann dir nichts tun. Es hat nichts zu sagen, hör auf zu weinen.« M'tras rieb mir den Rücken. »Warum steckst du mich nicht einfach in eine Zelle? Tust, was immer du tun mußt, und läßt es dann gut sein?« Von Krämpfen geschüttelt, rang ich nach Luft. Seine Hand auf mir hielt still. »Natürlich, dich allein lassen. Das könnte dir so passen. Ich bin für dich verantwortlich. Ich habe dich entführt. Ich muß dich lange genug bei mir behalten, um einen Nutzen davon zu haben.« »Wie lange soll das noch so weitergehen?« Ich weinte laut, plötzlich von Verzweiflung gepackt, so weit weg von Zuhause, hilflos in einem Reif der Stille. Ich zog die Beine auf das Bett und schlang die Arme um die Knie. Er schien mein Unbehagen erheiternd zu finden und schüttelte lachend den dunklen Kopf. Er erhob sich, nahm vorsichtig den blinkenden Gürtel ab und schob ihn sorgfältig zwischen Matratze und Wand. »Es wird«, bemerkte er, während seine Kleider sich zu einem schwarzen Teich um seine Füße sammelten, »noch ungefähr drei Tage dauern, bis wir meine Heimatwelt erreichen. ›Das‹ wird also mindestens solange noch so weitergehen. Khys' Ultimatum gewährt uns die doppelte Zeitspanne.« Er drehte sich zu mir herum: .8888 normal; gewölbte Rippen, kurzer Oberkörper, fester Bauch. Arme und Beine waren lang, Hals und Brustkasten umhüllt von Muskeln über schweren, dicken Knochen. Sein Geschlecht wirkte wenig bemerkenswert. Ich war nicht im mindesten interessiert. Es ist, dachte ich, zu lange her. Meine Ansprüche waren zu sehr gewachsen. Es war nichts verkehrt an diesem Mann, der jetzt vor mir stand. Er hielt mein Leben in seiner Hand, jeden Moment würde er sich meiner bedienen.
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Und ich war wie erstarrt. Mein Körper war taub und kalt, obwohl es doch nicht der Sturm aus dem Abgrund sein konnte, der mich bis hierher verfolgt hatte. Ich kämpfte darum, die Gegenwart zu spüren, mein Fleisch, den Augenblick zu fassen, Halt in der Zeit zu finden, wie es der Tochter eines Schöpfers gebührte. Mit dem Brennen in meiner Kehle erkaufte ich einen Aufschub. »Kann ich Wasser haben?« bat ich ihn. Er holte es von dem Spender im Sockel. »Ich habe dir eine Kostprobe von meinen Talenten gegeben«, meinte er, als ich den Becher wegstellte. »Jetzt möchte ich deine ausprobieren.« Ich konnte es in seiner Stimme hören, die Faszination für das, was ich war, nicht, wer. Ich seufzte und stand auf, streifte ihn im Vorbeigehen, ließ meine herabhängende Hand den ersten Kontakt herstellen. Es war nur ein Gruß an seinen Körper, zart wie der Flügel eines Wirragaet, während ich eine ausreichende Entfernung zwischen uns legte. Das Enthüllen des Körpers vor einem Mann führte ich dann vor und dehnte es besonders lange aus, um derweil das Feuer in mir anzufachen. M'tras hielt sich mit instinktiver Etikette zurück, er hatte die Fäuste in die aggressiv vorgeschobenen Hüften gestemmt. Weit unterhalb meines Nabels brannte die Hitze und wuchs. Langsam drehte ich mich einmal um mich selbst. Mitten in der Drehung hob er mich vom Boden hoch, und etwas in seinem Gesicht warnte mich. Aber zu spät. Die Bräuche sind unterschiedlich. Moral ist nur ein dünner Überzug. Ich sah die Umrisse seiner Faust auf meinem Bauch. Ich biß mir ins Handgelenk und schmeckte mein eigenes Blut. M'tras war kein M'ksakka. »Du bist schmal in den Hüften«, bemerkte er kalt, in der Art solcher Männer nach dem Beilager. Auf seiner Oberlippe standen Schweißtropfen, und er atmete schwer. »Immer noch, meinst du?« antwortete ich auf Silistra.
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Ich lag auf dem Bett und prüfte nach, ob er mich verletzt hatte. Er schnalzte, während er lachte. »Warst du lange ohne das?« erkundigte ich mich, immer noch in meiner Sprache. »Lange genug«, murmelte er und rollte auf die Seite. Er stützte sich auf einen angewinkelten Arm. Sein Puls schlug heftig in den Adern, die sich wie ein Webnetz dicht unter seiner Haut abzeichneten. Sein Silistra war stockend, seltsam unbetont. »Etwas Neues, vielleicht?« meinte er, bezüglich dessen, was er getan hatte. »Mein Körper kannte es nicht«, gab ich zu, ohne zu erwähnen, daß ich früher einmal Sereth so etwas mit einem anderen Mann hatte tun sehen. Mit der freien Hand strich er unter dem Chald des Dharen über meine Hüften. Seine Finger zählten die Goltropfen. Wenn er es darauf angelegt hatte, mich vorsichtig zu machen und mir Respekt einzuflößen, so war ihm das gelungen. »Wie hat es dir gefallen?« Er lächelte über die silistrische Formulierung. »Ich würde es mir nicht zur Gewohnheit machen. Aber ich muß zugeben, daß ich es nie vergessen werde.« Damit er nicht erneut versuchte, sich in meinen Augen als einzigartig zu qualifizieren, pries ich seine Begabung. Dabei bewegte ich mich unauffällig, mußte stöhnen und lag wieder still. »Bitte liefere mich nicht jenen anderen aus, M'tras.« Ich ließ meine Hand über seine Brust gleiten. Wenn ich an die Frau dachte, durchlief mich ein Zittern. Meine Nieren schmerzten. Behutsam zog ich die Knie an. Er betrachtete mich nachdenklich, und unter seinen Blikken begann ich zu frieren. Dann streckte er sich nach seinem Gürtel, der immer noch zwischen Wand und zerdrücktem Plüsch eingeklemmt lag. Mit geballten Fäusten studierte ich ihn, suchte nach einem Schlüssel für seine mir fremde Art. Er breitete den Gürtel auf der Samtdecke aus. Leise
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pfeifend schob er einen Metalldeckel beiseite, worunter ein schmaler Sichtschirm zum Vorschein kam. Mit einer Drehung lag ich so nahe bei dem Gerät, daß meine Nase den Geruch der Maschine auffing. Zahlen flimmerten als Antwort auf die von seinen geschickten Fingern gestellten Fragen. Mit einem zufriedenen Brummen desaktivierte er den Schirm und schob den Deckel wieder vor. »M'tras«, flüsterte ich und wagte es, sanft seinen Unterarm zu berühren, »bitte. Es ist so lange her, daß ich in einem Brunnen gearbeitet habe. Forderungen wie die deinen übersteigen meine Kräfte.« Seine dunkel geränderten Augen betrachteten mich überlegend. Ein kleines Zucken machte sich an seinem linken Auge bemerkbar. »Wenn dir daran liegt«, meinte er ausdruckslos, »ich könnte es arrangieren. Aber Gefälligkeit gegen Gefälligkeit. Einverstanden?« Er war wieder ins M'ksakka zurückgefallen. »Dein Wille . . .« Ich nickte und ließ den angehaltenen Atem entweichen. Schon die Berührung war riskant gewesen bei einem Mann, der Aggressivität bei Frauen nicht schätzte. Ich wartete auf seinen nächsten Zug. Stochastischer Improvisator hatte er sich genannt, und Auraler Symbolist. Was diese Worte bedeuten sollten, konnte ich nur vermuten. Er drehte sich auf den Bauch. Eine seiner Hände blieb auf dem Gürtel liegen und sein Blick ließ mich nicht los. Ich war unfähig zu erraten, was hinter seinen Augen lauerte. Was war er? Auf jeden Fall mehr, als er zu sein schien, da es ihm gelungen war, mich zu entführen. Er hatte Hilfe gehabt. Über den Gürtel hinweg sahen wir uns an. »Warum hast du Liuma getötet?« fragte ich leise. »Die andere Frau? Sie war eine Zeugin. Sie hätte gar nicht bei dir sein dürfen.« »Es war sinnlos. Viele andere haben gesehen, was
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passiert ist, vom Seeufer aus.« »Eigentlich sollte ich derjenige sein, der die Fragen stellt.« Er stützte sich auf den Ellenbogen. »Wie, glaubst du, hat er es so schnell herausgefunden?« »Khys? Höchstwahrscheinlich seid ihr gesehen worden. Vielleicht hat er die Informationen aus meinem Bewußtsein. Er hat schon oft darin gelesen. Oder er hat einfach den Augenblick geschaut, da ihm genügend bekannte Größen zur Verfügung standen, wie das zerbrochene Fenster und Liumas Tod. Oder er hat sein Wissen aus der Sordh bezogen. Ich bezweifle, daß mehr als ein Pfad hierherführte. Oder . . .« »Hör auf! Das ist alles Unsinn«, rief er mit gerunzelter Stirn. Er stach mit dem Finger förmlich auf seinen Gürtel ein. »Laß uns annehmen, niemand hat uns gesehen. Es wurde mir zugesichert. Zweitens gibt es keinen Grund, weshalb der Verdacht ausgerechnet auf uns fallen sollte. Jeder, der über soviel Macht verfügt, hat Feinde.« Er verfiel in Schweigen. Vorsichtig zog ich die Beine weiter an. Meine Oberschenkel waren derart verkrampft, daß sie zitterten. Wer, fragte ich mich, hatte ihm Zusicherungen gegeben? Wer konnte ihm solche Zusicherungen geben? »Damit bleiben die Möglichkeiten«, meinte er stur, »daß er die Angelegenheit auf dem Weg durch dein Bewußtsein belauscht hat. Ich bin nicht willens, das zu glauben. Dann gibst du an, er könnte das Vorgefallene rekonstruiert haben. Das könnte ich schon eher glauben, allerdings nicht so, wie du es darstellst. Das letzte — er weiß, daß wir es waren, weil wir es waren — dafür finde ich keine Form, mit der ich arbeiten kann.« Er kniff die Augen zusammen, obwohl das Licht nicht heller geworden war. Er streckte die Hand aus, um den Reif der Stille zu berühren. »Wenn die erste Annahme stimmt, welche Sicherheit habe ich dann, daß er uns nicht jetzt auch belauscht?«
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»Keine«, erwiderte ich. »Es könnte durchaus sein.« Er grinste. Ich begegnete seiner Belustigung mit einem ernsten Blick. Ein sichtbarer Schauer lief über seine Haut. »Also fangen wir noch einmal von vorne an. Kennst du dich in der Politik Silistras aus?« »Die Frage habe ich bereits beantwortet«, erinnerte ich ihn. Seine zu einem heftigen Schlag erhobene Hand hielt so dicht vor meinem Gesicht inne, daß ich den Luftzug spürte. »Nein.« Ich duckte mich überrascht zusammen. »Jedenfalls nicht besonders gut.« »Das ist besser«, meinte er. »Jetzt erzähl mir, wie eine Bande von Wilden, die eigentlich längst ausgestorben sein sollten, es fertigbrachte, zwei brandneue, unvorstellbar teure Zerstörer der M-Klasse zu vernichten. Ich weiß, daß du dabei warst.« Der Zorn in seinem Gesicht, mir so bedrohlich nahe, war erschreckend. »Während der Schlacht im Amarsa, meinst du? Es war nur ein Nebeneffekt. Die Kräfte, die ich benutzte, um Raet in der Gestalt des Uritheria zu bekämpfen, rissen ein ganzes Stück von Silistra aus dem Gleichlauf der Zeit . . .« Und er versetzte mir eine schallende Ohrfeige. Meine Hand fuhr an die brennende Wange. »Versuch es noch einmal«, zischte er mich an. Das Pulsieren der Adern an seinen Schläfen verriet seine Erregung. »Wodurch sind diese Schiffe zerstört worden?« »Bitte, ich habe die Wahrheit gesagt«, wimmerte ich. »Soll ich denn lügen?« Die Befragung dauerte unendlich lange, immer und immer wieder dieselben Worte. Und ich antwortete ihm so gut ich konnte, wobei ich versuchte, meine erste Aussage möglichst unverändert beizubehalten. Aber er wollte etwas anderes hören als die Wahrheit, die ich ihm zu bieten hatte. Unfähig, mir Glauben zu schenken, wartete er auf die Antworten, die er sich selber zurechtgelegt hatte. Mein Hals war trocken und wund, in
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meinem Kopf drehte sich alles, als er sich endlich triumphierend zurücklehnte, weil er aus mir herausgepreßt hatte, daß die alten Waffen des vorgeschichtlichen Silistra noch existierten. »Irgendwo«, — in meinem Eifer, ihn zufriedenzustellen, war ich ins Stottern geraten —, »liegen sie noch, in den Höhlen. Aber sie sind alt, sehr alt, und seit langer Zeit nicht mehr gewartet worden. Es ist nicht unser Brauch, solche Dinge in Ehren zu halten. Seit Tausenden von Jahren liegen sie dort. Ich glaube nicht, daß sie noch funktionieren.« Ich schwieg still. Weiter konnte ich nicht mehr zurückweichen, da mein Rücken schon die Wand hinter dem Bett berührte. Ich dachte an Chayins Drohung, diese Waffen hervorzuholen, sollten die M'ksakka versuchen, sich die Parsetländer anzueignen. »Das«, sagte er, drohend über mich gebeugt, »ergibt schon mehr Sinn.« Seine ganze Haltung verriet den Triumph, den er empfand, weil er endlich die Wahrheit gehört hatte, die mit seiner vorgefaßten Meinung übereinstimmte. »Das ist der Schlüssel zu dem Ganzen! Alte Waffen aus einer höherentwickelten Epoche.« Er grinste breit. »Ich möchte wetten, daß ein paar immer noch funktionieren«, ahmte er mich gehässig nach. »Gut genug, um ein Loch in das F. B. Bugdet zu sprengen, das ist mal sicher.« Ich senkte den Blick auf den braunen Samtbezug der Matratze. Meine Finger hinterließen hellere Streifen auf dem dunklen Flor. Sollte er doch in seinem Irrtum verharren. Wenn Khys den M'ksakka-Mond aus Zeit und Raum heraussprengte, würde M'tras lernen. »Solltest du«, wagte ich mich behutsam vor, »dann nicht tunlichst vermeiden, dich Waffen auszusetzen, gegen die ihr euch nicht verteidigen könnt? Gib mich dem Dharen zurück. Ich habe ein wenig Einfluß.« Letzteres war gelogen, aber das wußte er nicht. »Ich werde dafür sorgen, daß es keine Vergeltungsmaßnah-
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men gibt.« »Auf keinen Fall«, knurrte er. »Ich werde mich so genau wie möglich an meinen ursprünglichen Plan halten. Du bleibst hier. Er wird verhandeln. Wäre er in der Lage, dich einfach so hier herauszuholen, hätte er das längst getan. Wäre er sich ganz sicher, hätte er Dellin gefangengenommen«, fügte er hinzu und kreuzte die Beine unter sich. Er betrachtete mich aufmerksam, abwartend. Ich starrte nur vor mich hin. »Was denkst du?« wollte er wissen. »Daß du solche Fragen lieber deinem Freund, dem Gürtel, stellen solltest. Seine Antworten gefallen dir besser als meine. Aber du bist ein Narr, den Dharen betrügen zu wollen. Er wird, wenn es ihm gefällt, mit uns allen ganz nach seinem Willen verfahren.« Ich fragte mich, weshalb ich mir überhaupt Gedanken deswegen machte, während ich meine schmerzende Wange rieb. Das, und andere wunde Stellen an meinem Körper, erinnerten mich daran, mit welcher Grobheit er mich gefügig gemacht hatte. »Ich war«, ich hob den Blick zu ihm und reckte stolz das Kinn vor, »einst sehr mächtig. Laß deinen Unglauben für einen Moment außer acht. Ich war es, nicht Khys, deren Macht deine Schiffe zerstörte, ganz nebenbei, während ich mit etwas viel Größerem beschäftigt war. Mit Göttern kämpfte ich. Mein Vater ist der größte von den Schöpfern, jenen, die diese Scheinwirklichkeit erschaffen haben, in der wir leben. Und ich unterlag Khys. So vollständig entblößte er mich meiner Fähigkeiten, daß sogar solche wie du mich ohne Schwierigkeiten in ihre Gewalt bringen können. Diese Tatsache allein sollte dich warnen.« Ich verstummte, weil er nicht mehr zuhörte. Der Gürtel in seinem Schoß sprach mit seinen rätselhaften Lichtern zu ihm. Nach einer Weile richtete er sich auf und strich mit den Fingern durch sein schwarzes Haar. Unzufriedenheit umgab ihn wie ein häßliches Grinsen.
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»Zieh dich an«, befahl er und stand auf, um seinem eigenen Befehl nachzukommen. Gehorsam wickelte ich mich in mein Seidentuch. Es wirkte kläglich, eine ungenügende Bekleidung für diesen Ort. Ich war schnell fertig und schaute zu, wie er Stück um Stück seine Ausrüstung anlegte. Als jedes Stück Haut von der Uniform bedeckt war, bis auf Kopf und Hände, stellte ich die Frage, die mich bewegte. »Ist es das Finanzielle, um das du dir Gedanken machst? Sind es Ersatzansprüche für das, was ihr durch uns verloren habt, die dich zu diesem unsinnigen Unternehmen veranlaßt haben?« »Teilweise«, knurrte er und schnallte den Gürtel um. »Dann könnten du und ich untereinander alle Schwierigkeiten beilegen, friedlich«, platzte ich heraus, begeistert von der Einfachheit dieses Gedankens. »Wie?« fragte er ungläubig, die Fäuste in die Hüften gestemmt. Ein Finger setzte den Gürtel in Betrieb. Er summte leise, zufrieden, seinem Herrn dienen zu können. »Ich werde dir meinen Chald geben. Mit seinem Gegenwert könnte man eine ganze Yra solcher Schiffe kaufen.« Ich strahlte ihn an und rechnete mit seiner Zustimmung. Er kam zu mir und strich mit den Händen über den Chald, wo er sich an die weißsilberne Seide auf meiner Haut schmiegte. »Ich hatte ihn nicht für echt gehalten«, murmelte er. Dann schnalzte er und sah mir in die Augen. »Man könnte mit soviel Gol sogar einen System-A-Computer kaufen.« Seine Finger betasteten die einzelnen Stränge, entspannten sich. Aber sein Körper war steif, und er atmete flach. Ich wußte, er überdachte meinen Vorschlag. »Ich kann es nicht tun«, sagte er schließlich und schob mich von sich, »Leben wurde vernichtet. Selbst soviel Reichtum kann das nicht wiedergutmachen.«
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»Ist es besser, noch mehr Leben zu vernichten? Einen ganzen Mond voll Leben vielleicht? Ich an deiner Stelle würde die Bewohner von Niania warnen, damit sie vor dem Zorn des Dharen fliehen können.« Ich wandte ihm den Rücken zu und wartete angespannt auf einen Schlag, der aber nicht erfolgte. »Das habe ich getan«, sagte er gedämpft, während ich auf Beinen, die trotz aller Anstrengung zitterten, zu dem Ruhelager ging. Dort kroch ich in die Ecke, aus der heraus ich ihn mit einem Gefühl der Sicherheit betrachtete. Er schaute zurück mit einem sinnenden Gesichtsausdruck. Ich wußte, er würde mit der Zunge schnalzen, eine Sekunde, bevor ich das scharfe Geräusch hörte. »Wie lauten dann deine Forderungen an Khys?« erkundigte ich mich, von der Entfernung zwischen uns ermutigt. »Ich will«, antwortete er mit kalter Stimme, »den Mann, der Mossenen getötet hat. Ich will eine Entschädigung in Serum für jeden Mann, den wir mit den Schiffen verloren haben. Ich will ihr Gewicht in Drogen. Die einzig akzeptable Entschädigung für ihr Leben ist das Geschenk des Lebens.« Das letzte hörte ich kaum. Sereths Leben wollte er fordern. Khys würde niemals einwilligen. Und wenn es zu einem Handel kam, wollte ich lieber mein eigenes Leben geben, als Sereth zum Tode verurteilen. »Khys wird niemals einwilligen«, zischte ich, und die Leidenschaft in meiner Stimme veranlaßte ihn, die Brauen zusammenzuziehen. Mit abgemessenen Schritten kam er heran. »Er wird. Oder du spürst das ganze Gewicht unseres Zorns. Mossenen war der beliebteste Justierer, der je über M'ksakka herrschte. Wir können nicht zulassen, daß eure Meuchelmörder uns einfach so ausknipsen. Wenn wir ihm das durchgehen lassen, können wir ihm gleich die ganze Föderation übergeben.«
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»Wenn du — «Der Rufton unterbrach mich. Ich biß mir auf die Lippe und schluckte herunter, was ich hatte sagen wollen. Mir fiel ein, während er den Ruf entgegennahm, daß er vielleicht nicht wußte, wen er suchte, wer den M'ksakka-Beamten getötet hatte. Und ich hätte es ihm beinahe gesagt. Maref wurde auf dem Schirm sichtbar. »Dellin ist auf dem Weg nach unten. Wir konnten ihn nicht aufhalten.« Er breitete entschuldigend die Arme aus. »Das ist nett«, bemerkte M'tras trocken. »Was tut ihr denn da oben, Spielchen spielen? Schick drei Mann nach unten. Sie sollen vor der Tür warten!« Er schaltete den Schirm ab und stieß dabei ein tiefes Grollen aus. Als er mit seinem merkwürdigen Instrument auf dem Schoß in den grünen Sessel sank, erinnerte ich mich an etwas, das Khys gesagt hatte, als wir zum ersten Mal vor ihm standen, Chayin, Sereth und ich, und er uns seine Überlegenheit spüren ließ. Er hat seiner Verwunderung über Sereth Ausdruck verliehen, daß einer, der nicht des Blutes war, wie es in Chayins und meinen Adern floß, bis vor seinen Thron gekommen war. Später hatte Khys gesagt, daß, wenn es einem Mann durch außergewöhnliche Taten gelingt, bis in deinen Kreis vorzustoßen, man es ihm nicht verwehren darf, wie sehr seine Gegenwart auch die eigenen bevorzugten Thesen verändern mag. So, überlegte ich, mußte es auch mit diesem Außenweltler sein, M'tras. Seine Musik grollte und donnerte, der darin enthaltene Zorn ließ das Adrenalin schneller durch meinen Körper kreisen. Im Baßschlüssel spielte M'tras auf seinem Instrument, Tonfolgen der Art, die Welten in Einklang bringen. Sein Kopf war gesenkt. Manchmal bewegten sich seine Lippen, wenn sie lautlos die Töne formten, die seine Finger hervorbrachten. Sein konzentriertes Gesicht glitzerte, wie Khys' Zeichen auf meiner Brust. Mit der flachen Hand ließ er die Saiten schrill
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verstummen, als das Türsignal blinkte. Dieses optische wurde von einem akustischen Signal des Sockels bestätigt. Ich drückte mich noch weiter in die Ecke, weil ich daran denken mußte, was wir drei bei unserer Suche nach Celendra mit Dellin getan hatten. Schützend zog ich die Samtdecke bis über meine Schultern. M'tras schaute zu mir. Das akustische Signal wiederholte sich. Er wandte sich ab und berührte seinen Gürtel. Die Tür glitt auf. Dellin, der in Lederzeug und Umhang des Nordens an der Wand lehnte, richtete sich langsam auf. Seine Augen waren ausdruckslos. Als er, ohne M'tras zu beachten, die Kabine durchquerte, merkte ich, daß er immer noch hinkte wie damals in Khys' Audienzsaal. Er hatte, dachte ich in meine Ecke gedrückt, das Übergewicht verloren, das er ‚695 mit sich herumtrug. M‘tras schwang seinen Stuhl herum, so daß er uns beobachten konnte. Er strich sich mit dem Daumen über die Unterlippe. Dann konnte ich ihn nicht mehr sehen, Dellins massige Gestalt verdeckte ihn. »Estri!« Seine Knie waren auf dem Bett. Er streckte die Hände nach mir aus. »Bist du verletzt? Bei den Göttern meiner Mutter, ich versichere dir, ich hatte nichts damit zu tun.« Er nahm mich in die Arme und hielt mich fest. Verblüfft lag ich schlaff an seiner süßlich riechenden Kettenrüstung. Kurzerhand hob er mich hoch und stellte mich auf den Boden. Auf Armeslänge hielt er mich von sich ab. Silistra hatte er gesprochen. Ich antwortete ihm ebenso. »Presti m'it tennit, Legat«, erwiderte ich. »Es geht mir recht gut.« Seine Finger gruben sich in meine Schultern. »Zwischen diesen Artefakten deiner Kultur, Khaf-Re Dellin, findest du, daß wir beide fehl am Platze sind?« Seine Finger lösten sich, fielen herab zu seinem Chald. Mir war aufgefallen, daß etwas hinzugekommen war. Neben der Kette der Töter trug er die des Threxzüchters und die goldene Kette der Zeugung. Ich fing seinen
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besorgten Blick auf und gab ihm mit einem Zeichen zu verstehen, daß ich wußte, daß er wußte. M'tras beobachtete uns verwirrt, als Dellin mich wieder an sich zog. »Estri, es hat keinen Zweck«, flüsterte er als Antwort auf das Töter-Zeichen, das ich gemacht hatte. »Verlange nicht von mir, mich gegen mein eigenes Volk zu wenden. Ich habe den Dharen gesehen. Du bedarfst keiner Hilfe von anderer Seite. Laß mich retten, was zu retten ist«, fuhr er in breitem arletischen Dialekt fort. »Ich glaubte dich deines Selbst beraubt. Wir sind uns einmal begegnet, und du hast mich nicht erkannt. Der Wind hatte mir eine Ahnung solcher Vorgänge zugetragen, aber die Wetter nannten es Khys' Hand.« Er lächelte grimmig. Sollte M'tras mit seinem von einem Band gelernten Silistra daraus klug werden. »Vor nicht langer Zeit«, bestätigte ich ernst, »war es so, wie du sagst. Doch erinnere ich mich an diese Begegnung und daß ich dich nicht erkannte. Wir treiben wieder im Sturm der Crux, du und ich.« »Und du mit dem Mal des Dharen auf der Brust«, sagte Dellin. »Das ist genug«, rief M'tras erbost. »Dellin, setz dich hin. Sofort! Du«, er zeigte auf mich, »dahin, auf den Boden, wo ich dich im Auge habe.« Des M'ksakkaMechanikers Blicke wanderten über Dellins Gestalt, als der größere Mann gehorchte. »Nur einer von fünfzig eignet sich die Art der Eingeborenen an«, bemerkte er sardonisch. Ich kniete mich vor ihn und bemerkte erst dann, daß ich in genau die Haltung verfallen war, die Khys mich gelehrt hatte. Dellin bewegte sich unbehaglich in seiner Reisekleidung. »Ich mußte nach Port Astrin«, erklärte er auf M'ksakka. »Und der Weg zum Hafen führt durch die Straßen.« »Du hättest bleiben können«, sagte M'tras mit einer
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Stimme, die scharf war wie geschliffenes Stra. Dellin fluchte auf M'ksakka. M'tras lehnte sich in dem meergrünen Sessel zurück. »Ich bin es, den er strafen würde, nicht dich«, sagte M'tras mit zusammengekniffenen Augen. »Sie schien zu glauben«, fuhr er fort, »du würdest mir ein bißchen silistrische Weiberdressur zeigen, wenn ich dich hereinließe. Ich bin enttäuscht.« Nebeneinander gesehen hatten sie nicht viel Ähnlichkeit. Nur ihre Hautfarbe war ähnlich. »Wenn ihr irgend etwas zustößt, ist keiner von uns mehr sicher!« sagte Dellin laut. Sein kurzes Schwert schlug klirrend gegen den Tisch. »Dieser Khys hat dir wahrhaftig Angst eingejagt, nicht wahr?« spottete M'tras und streckte die Beine von sich. Eine Hand spielte unterhalb von Dellins Sichtbereich mit dem leuchtenden Gürtel. »Sieh mich an, M'tras«, sagte Dellin. M'tras tat es auf eine Art, als würde er Dellin eine unverdiente Gnade erweisen. »Ich sage dir, es ist alles wahr! Sie können die Wahrscheinlichkeit beeinflussen. Entsprechend ihren Fähigkeiten kontrollieren sie die Zukunft. Ich bin nicht verrückt. Du bist es. Schick sie zu ihm zurück. Er ist unvorstellbar gefährlich. Schau sie an, wenn du mir nicht glaubst!« M'tras sah mich an, hob eine Braue. Dann zuckte er die Schultern und wandte sich wieder an Dellin. »Ich sehe sie. Ich habe sie. Er nicht. Also, wenn du da unten geblieben wärst, hättest du vielleicht nützlich sein können. Du wolltest weg. Nun, dein Wunsch ist erfüllt. Wenn das hier erledigt ist, wirst du deinem Onkel gegenübertreten müssen. Bis dahin hältst du dich auf Deck Drei auf.« »Du kannst nicht . . .« Dellin runzelte zornig die Brauen. »Ich könnte deinen Onkel auf diesem Schiff festset-
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zen. Ich habe den Oberbefehl. Ich wollte nur ein bißchen silistrische Dressur erleben. Es war mir nicht vergönnt, und ich habe kein Interesse an irgend etwas, das du zu sagen hast. Du kannst einen Bericht erstellen, wenn du Wert darauf legst. In deiner Kabine ist ein System-A Terminal. Laß ihn mir zugehen. Vielleicht lese ich ihn. Und jetzt, raus!« Dellin, das Gesicht so bleich wie die Hand, die den Schwertgriff umkrampfte, erhob sich wortlos und hinkte zur Tür. Sein Schlag auf den Türöffner klang laut in der Stille. M'tras saß mit gesenktem Kopf, bis die Tür sich wieder geschlossen hatte. Dann berührte er seinen Gürtel, und die Farbe der Öffnungsplatte veränderte sich von Rot in Braun. Man würde uns nicht stören. Ich machte Anstalten, mich von dem Metallboden zu erheben. Mit einem knappen Zeichen bedeutete M'tras mir, sitzenzubleiben. Ich sank auf die Fersen zurück und hob das Gesicht zu ihm, während er seinen Gürtel abnahm und über die Knie legte. Da ich annahm, er hätte mich vergessen, machte ich erneut den Versuch, aufzustehen. »Nein!« schrie er. Mit einem Schulterzucken ging ich wieder in die Hocke. Das Metall fühlte sich warm an. Es schien zu vibrieren. Etwas in seinem Gesicht warnte mich, als er mit der Maschine spielte. Ich überlegte, wie seine Welt wohl aussehen mochte, welcher Planet einen solchen Mann hervorbringen konnte. »Auf meiner Welt«, sagte er, als hätte er meine Gedanken gelesen, »messen wir den Frauen nicht soviel Bedeutung bei. Ich weiß immer noch nicht, was so Besonderes an dir ist, bis auf dieses seltsame Zeichen.« »Das ist mir nicht verborgen geblieben«, erwiderte ich und machte zwischen den Fersen Platz für meinen verlängerten Rücken. Seide schabte über Hornhaut. »Dir wird noch so einiges andere nicht verborgen bleiben«, versicherte er. »Aber mir ist noch so einiges
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unklar. Dellin glaubt jedes Wort, das er sagt.« Er tippte auf seinen Gürtel, als fände er dort Bestätigung. »Ich will versuchen, der Sache unvoreingenommen gegenüberzutreten. Tu irgend etwas Ungewöhnliches. Zeig mir, daß du mehr bist als eine Lieblingssklavin.« »Ich kann nicht. Das weißt du. Ich trage Khys' Reif der Stille.« »Woher soll ich wissen, daß das nicht einfach nur ein albernes Halsband ist?« »Versuch ihn abzunehmen«, schlug ich vor. Er zuckte die Schultern. »Es ist schlechtes Benehmen, einer Frau den Halsreif abzunehmen, wenn man sie nicht behalten will.« Sein Blick, unverhohlen feindselig, zog mich aus. Ich merkte, daß ich die Arme um meine Taille geschlungen hatte. »Er hat dich gut ausgebildet«, bemerkte er geringschätzig und warnend. Ich richtete mich straff auf, die Handflächen auf den Oberschenkeln. »Was hat Dellin zu dir gesagt?« So unvermittelt stieß er die Frage hervor, daß ich zusammenzuckte und meine Kehle trocken wurde. Ich erzählte es ihm, bis auf die Bedeutung des Zeichens, um Dellin nicht in meine Schwierigkeiten mit hineinzuziehen. Wie es seine Art war, stellte er mehrmals dieselben Fragen und verglich die Antworten miteinander. Ich bedachte, was er über Frauen gesagt hatte, und die Tatsache, daß er mich immer noch vor sich knien ließ. »Bitte«, ersuchte ich ihn, »laß mich aufstehen.« Meine Knie schmerzten, glühende Nadeln stachen in meinen Schenkeln. Er schnaubte leise durch die Nase. »Du bleibst, wo du bist. Ich bin nicht so grün, daß ich nicht eine freie Frau von — wie immer es auf eurem Planeten heißt — unterscheiden könnte.« Von seinem Gürtel ertönte ein deutlicher Piepston. Er kontrollierte, und seine Laune
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besserte sich erheblich. »Und bestätigt«, knurrte er grinsend. »Wir haben«, er lächelte unangenehm, »eine vorläufige Zielpeilung auf jedes unterirdische Höhlensystem auf Silistra vorgenommen. Sieh mich an!« Verständnislos hob ich den Kopf. Mein Rücken schmerzte unerträglich. »Warum erzählst du mir das?« M'tras beugte sich vor und legte dabei den Gürtel wieder um. »Weil«, sagte er mit rhythmischer Betonung, »wenn dein Herr uns durch dich belauscht, ich will, daß er es weiß. Wenn wir nicht bald eine Reaktion von ihm bekommen, werden wir ein paar Löcher in die kostbare Haut eures Planeten sprengen. Und einige dieser unterirdischen Anlagen schienen sich ziemlich nahe bei dichtbesiedelten Gebieten zu befinden.« Seine Drohung wog schwer. Ich dachte an den Brunnen Arlet, unter dem sich die Höhle Bast erstreckte. Und an den Brunnen Astria, der weniger als siebzig Neras von Höhle Diet entfernt war. M'tras' fahle Augen musterten mich durchdringend. »Du scheinst ein wenig beunruhigt. Kann es sein, daß du selbst nicht recht an deine Behauptungen glaubst? Zweifelst du daran, daß der Dharen meine Botschaft erhält?« »Ich kann nicht sicher sein.« In meiner Bestürzung verfiel ich unwillkürlich ins Silistrische. Seine Hand zuckte vor, um meinen Hals zu umfassen. So zog er mich zu sich heran, bis ich zwischen seinen gespreizten Beinen kniete, meine Schultern zwischen seinen Schenkeln eingeklemmt. »Aber du glaubst es«, beschuldigte er mich. Er griff unter den Tisch. Als seine Hand wieder zum Vorschein kam, hielt sie den rotleuchtenden Todeswürfel. Die ganze Zeit, während Dellin hiergewesen war, hatte sich M'tras nicht von dem Tisch weggerührt. Ich hatte ihn für tapfer und hochmütig gehalten. Tatsächlich war er nur vorsichtig gewesen. »Ich habe deine Daten. Etwas stört das elektrolytische Gleichgewicht deiner Körperflüssig-
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keiten. Möglicherweise der Reif, den selbst System-A nicht analysieren kann.« Seine Knie drückten meine Schultern zusammen. Er wog den Todeswürfel in der Hand. »Ich verstehe nicht, was du meinst«, sagte ich. »Alles«, er seufzte, »was dieses elektrolytische Gleichgewicht beeinträchtigt, beeinträchtigt die Reaktionszeiten der Sinnesrezeptoren. In dir befindet sich eine komplexe Anlage zur elektrochemischen Rektifikation sowie negative Widerstände, deren Leiter Ionen sind — Sodium und Potassium. Der Reif scheint die Durchlässigkeit gewisser Membranen zu beeinflussen, Mebranen, die die Berührungspunkte zwischen diesen Einrichtungen bilden, solche, die flüssigkeitshaltige Gewebe voneinander trennen. Deine Sinnesrezeptoren sind, da sie nicht richtig funktionieren, unfähig, diese Membranen ausreichend zu beeinflussen — ihre Durchlässigkeit zu verändern. Dadurch wird der positive Ionenstrom von einer Flüssigkeit zur anderen, der für die Ladung derselben verantwortlich ist, drastisch beschnitten.« »Ich begreife immer noch nicht, was das zu bedeuten hat.« »Ich bin mir noch nicht sicher. Sinneszellen in Nervenfasern und die dazugehörenden Membranen — differenzierende Membranen, durch die der Ionenfluß in einer Richtung schneller strömt als in der anderen — sind bemerkenswert gleich für alle Sinne, und sollten, bei normaler Funktion, auch die gleichen charakteristischen Reizintervalle produzieren. Die Intensität der Reize wird bestimmt durch den Rhythmus der Impulse, die von den Nervenfasern ins Gehirn geleitet werden. Der Eingangsimpuls in das System ist das Ergebnis einer Veränderung der Sensorien. Im Falle des, sagen wir, Gehörs, ist es eine Veränderung in der Einwirkung auf die Härchen entlang der Basalmembrane der Cochlea. Würde diese selektive Dämpfung von Ein-
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gangsimpulsen dein Gehör betreffen, wärest du schwerhörig und ohne musikalisches Wahrnehmungsvermögen. Aber der Reif, zweifelsfrei selektiv in der Wirkung, beeinträchtigt dein Gehör nicht. Worauf er einwirkt, weiß ich nicht, außer es ist die Umwandlung von Energie . . . Warte einen Augenblick.« Er stieß ein Lachen aus und widmete sich seinem Gürtel. Als er aufsah, leuchteten seine Augen. »Weißt du über den Ablauf einer Photoreaktion Bescheid?« »Nein.« »Gut. Man könnte sagen, daß in deinem Körper photosynthetische Reaktionen ablaufen, oder vielmehr liefen, bis man dir den Reif umlegte. Genauer gesagt, das melaninähnliche Pigment, das das Schimmern deiner Haut verursacht, ist photo-reaktiv unter dem Einfluß eines Chromoproteins, das längere Wellen absorbiert, als die des visuellen Spektrums. Es ist nicht phototaxisch, sondern löst eine besondere Stoffwechselfunktion aus. Deine Haut kann Lichtenergie in ein elektrochemisches Gefälle, Gradient, umwandeln — oder könnte, wäre nicht dieser Reif um deinen Hals. Wir wissen seit langem, daß ein Organismus in Ermangelung von Chlorophyll, Lichtenergie aufnehmen und umwandeln und dazu benutzen kann, den Stoffwechsel anzutreiben; die Coryf-denne zum Beispiel tun dies mit Hilfe eines Chromoproteins, das den Augenpigmenten von Tieren nahe verwandt ist.« Ich nickte; ich hatte einen Coryf-denne gekannt. Sie essen nicht, schlafen nicht, und ihre rauhe Haut leuchtet so hell, daß man sie nicht anschauen kann, ohne dabei Unbehagen zu empfinden. »Auch wissen wir bereits seit langem, daß Licht die Aufnahme von Energie durch die Hülle von Sodium- und Potassiumionen verstärken kann, und von Aminosäuren, die nicht durch Adenosintriphosphat gebunden
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sind, das manche für den Hauptenergielieferanten lebender Zellen hielten.« Ich schüttelte den Kopf, aber es half nichts. Das Schwindelgefühl, das mich oft befällt, wenn ich gezwungen bin, solche Vorträge zu entschlüsseln, tanzte hinter meinen Augen. »Also«, verkündete er triumphierend, »bist du physiologisch abgekapselt. Aber von was?« »Mein Gehör ist in Ordnung«, bemerkte ich. »Das ist der Punkt. Wohin gehört diese Energie, die dich nicht erreicht? Die von dem Reif verhinderten Reaktionen in deinem Körper müßten sich von Rechts wegen auf alle deine Sinne auswirken, das ist aber nicht der Fall. Sie funktionieren ausgezeichnet trotz des Feldeffekts, oder was immer es ist, dieses Halsreifs.« Er verstummte mit einem Schnalzen, entmutigt, weil er auf meinem Gesicht nicht sah, was er zu sehen erwartet hatte. »Ich glaube, ich verstehe«, sagte ich. Und es stimmte. »Es ist, wie ich dir gesagt habe. Jene Fähigkeiten, die du mir nicht zugestehen willst, sind es, die beeinträchtigt werden. Die Sinne beschränken sich nicht nur auf einzelne Organe, sondern sie bilden ein umfassendes Netz in und um uns, die ursprünglichen Rezeptoren.« Ich sprach leise, damit er mich nicht schlug für die Worte, die er nicht hören wollte. Er bewegte sich unruhig. Sein linkes Knie lockerte den Druck. Eine Braue senkte sich, im Einklang mit der Kälte seines Blicks. Ich wäre gern fortgekrochen, weg von ihm, aber ich wagte es nicht. »Was genau«, fragte er langsam, »könntest du ohne diesen Reif tun?« »Meinen Körper von diesem Ort an einen beliebigen anderen versetzen. In meinem Bewußtsein hören und sehen. Mir Kräfte aus der freien Energie um mich herum zunutze machen. Oft bestraft man mit solchen Reifen
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unbotmäßige Hellseherinnen und Dharener; sie beschränken den Träger auf seine fünf Sinne und machen ein Entkommen durch Zeit oder Raum unmöglich. Das Schlimmste ist die Stille.« Ich hörte das Kratzen in meiner Stimme. Angstvoll blickte ich von meinem Platz zwischen seinen Schenkeln zu ihm auf. Er hatte gefragt, aber er hatte mich zuvor schon geschlagen, wenn meine Antworten ihm nicht behagten. »Aber du könntest dieses Schiff auf dieselbe Art verlassen, wie Khys in Dellins Behausung eingedrungen ist, würdest du nicht diesen Reif tragen?« »Und ich hätte es längst getan«, bestätigte ich. Mit einem Kopfnicken beschäftigte M'tras sich wieder mit seinem Gürtel. Jetzt konnte ich den wirbelnden Tanz der Zahlen aus der Nähe betrachten. Er beugte sich tiefer über die Maschine und überlegte. Er schüttelte den Kopf und stieß ein leises Lachen aus. Als er sich zurücklehnte, waren seine Muskeln angespannt wie zum Kampf. Mein von seinen Schenkeln umklammerter Körper wurde gleichfalls steif. Denn noch während ich sprach, war mir etwas bewußt geworden — daß Khys mich nicht einfach zu sich holen konnte auf dem Weg durch die Zwischenwelten, und das nur, weil ich diesen unerbittlichen, warmen Reif um den Hals trug. Meine Finger zuckten, arbeiteten sich aus M'tras' Umklammerung heraus, um das vibrierende Metall zu betasten. Allein war ich im Weltraum, taumelte durch das Nichts unter Segeln aus Gold. Wohin? »Estri«, sagte er gedehnt, eine Hand unter meinem Kinn. Seine Augen, von der Farbe eines stürmischen Morgens, waren kalt wie die opirischen Nächte. Ich versuchte, den Kopf abzuwenden. »Du könntest vielleicht recht haben.« Seine Hand spielte mit dem todbringenden Würfel. Ich erschauerte. »Wie lange«, fragte ich matt, »ist es
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her, daß wir Silistra verlassen haben?« »Sechs Stunden, fünfzehn Minuten«, antwortete er nach seiner Rechnung. Eine Stunde besteht aus ungefähr einundzwanzig Zwanzigsekunden einer Endh, weshalb der silistrische Achtundzwanzig-Endhs-Tag nur vierzig Minuten kürzer ist als der B. F. S.-Tag von dreißig Stunden. Es war die Zeit des Mondmahls auf Silistra. Der Mond stand über dem See der Hörner. Ich fragte mich, was an diesem Tag alles geschehen sein mochte, dem zweitsechsten Brinar. An Chayin dachte ich und an seinen Schmerz; an Sereth, mit dem er gelegen hatte, während diese fremden Geschöpfe mich entführten. Und Khys? Waren sie hingegangen und hatten ihm berichtet, während er in seiner Ratsversammlung mit der Neubesetzung der südöstlichen Nische beschäftigt war? Wen hatte er ausgewählt, Dritira, Stra und Galesh zu beaufsichtigen? »Warum?« fragte er mich und schüttelte meine Schulter. Ich schaute ihn nur an. Konnte er nicht sehen, welchen Verlust ich beklagte, was für ein Verlust meine Welt für mich war? Seine Finger berührten das Zeichen des Dharen, zogen die Kreislinien nach. »Warum hast du dich nach der Zeit erkundigt?« wiederholte er mit einer Stimme, die bis auf die Knochen drang. Wie, überlegte ich, würde er mich wohl behandelt haben, hätte er nicht vor, mich an Khys zurückzugeben? Seine Hand schloß sich verlangend um meine Kehle. Ich merkte, wie mühsam er sich beherrschte. Grob schüttelte er meinen Kopf. »Ich bin nur hungrig«, würgte ich hervor. »Ich habe nicht die Absicht, dich zu füttern, bis wir unser kleines Gespräch beendet haben. Wie und warum wurde dir der Reif umgelegt?« Er war beunruhigt. Der sichtbare Beweis hatte ihn überzeugt, seine Maschine hatte die Wahrheit meiner Worte bestätigt. M'tras
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schnalzte, bewegte sich unruhig. Sein Unbehagen bereitete mir Vergnügen. »Hat er, der dir geholfen hat, nicht davon gesprochen?« forderte ich ihn heraus. »Reize mich nicht.« Seine Fingerspitzen trommelten eine Synkope auf meinem Hals. »Deine Frage ist ziemlich kompliziert«, seufzte ich. »Was das Wie betrifft — als ich zu Khys gebracht wurde, war ich schwer verwundet. Er bannte mich mit der Körperfessel und legte mir den Reif um den Hals. Er zwang mich sogar dazu, mein Haar hochzuhalten, damit es ihn nicht behinderte.« »Was ist Körperfessel?« wollte er wissen. »Du wirst nur wieder zornig werden, wenn ich versuche, es zu erklären. Der Reif wird dem Opfer von der Person umgelegt, für die er programmiert ist. Entfernt werden muß er von derselben Hand. Nicht einmal der Hohe Chaldmacher, der die Reifen bewahrt, bis sie programmiert werden, kann sie abnehmen.« Meine Augen flehten ihn an, nicht weiterzufragen. »Woher kommen sie?« »Gewöhnlich werden sie vom Rat des Dharen erschaffen. Einen Reif der Stille legt man nur einer Person mit großen Fähigkeiten um, jemandem, der anders nicht gebunden werden kann. Sie werden nur selten benutzt. Ich hatte nie von ihnen gehört, bis ich zum See der Hörner gebracht wurde.« »Du hast mir nicht erzählt, weshalb du ihn trägst?« bohrte er unerbittlich. So unauffällig wie möglich versuchte ich in der Umklammerung seiner Schenkel meine eiskalten Beine zu entlasten. Ich wollte nicht von meiner Erniedrigung, meiner Schande sprechen. Ich wollte nicht daran denken, was ich gewesen war — so hochbegabt, so hochmütig, so dumm. Seine Hand griff in mein Haar. Er zog mich näher zu sich heran. »Ich war überheblich genug, mein Chaldra abzulegen.
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Ich wurde die Lagergefährtin eines chaldlosen Ausgestoßenen. Wir verursachten ein großes Blutvergießen, indem wir dem Inneren Gesetz folgten. Khys bestrafte uns nicht unangemessen hart. Er ließ uns das Leben. Er wollte ein Kind von mir. Ich weigerte mich. Er beraubte mich meiner Erinnerungen, damit ich mich nicht weiter gegen ihn auflehnen konnte. Als es geschah, weigerte ich mich nicht mehr, sondern bat um seinen Samen.« Die Tränen wegblinzelnd, betrachtete ich ihn. Sein Gesicht war ausdruckslos, der Griff in mein Haar lockerte sich. Ich sank auf die Fersen zurück. »Wie ist es ihm gelungen, dir den Reif umzulegen, wenn du, wie du behauptest, so hochbegabt warst?« Ich glaubte zu merken, daß seine Unruhe sich noch gesteigert hatte. Er runzelte angestrengt die Brauen. Meine Erzählung hatte mir wieder bewußt gemacht, was mir angetan worden war. Konnte ich je wieder, klagte ich in Gedanken, sein, was ich vor dem Amarsa ‚695 gewesen war, was ich mit Sereth gewesen war, auf Mount Opir? Würde ich auch nur die geringen Fähigkeiten wiedererlangen, deren ich mich in der Parsetwüste bedient hatte? Ich bezweifelte es. Mein Blick fiel auf M'tras' Gürtel. Auch ich würde eine solche Maschine brauchen, um für mich zu denken, um mir zu zeigen, was Owkahen bereithielt und wie dem zu begegnen war. Er stieß meinen Kopf zur Seite gegen sein Bein. Ich machte keine Anstalten, mich wieder aufzurichten. »Wie es ihm gelungen ist? Er kanderte es. Er brachte seinen Willen in die Zeit. Er wartete, und sobald der Augenblick mit seinem Empfinden übereinstimmte, sandte er Männer aus, uns zu holen. Ich hatte die Besinnung verloren. Ich erwachte in den Händen seiner Häscher.« Ohne meine Kräfte und mit nur einem geringen Teil meiner inneren Sicht, erinnerte ich mich. »Wir wurden vor seinen Thron gebracht. Er verurteilte
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uns, wie es ihm angemessen schien. Er, wie ich dir eben erzählt habe, legte mir den Reif um. Den Rest habe ich dir auch bereits erzählt.« Aus meinem Blickwinkel wirkte sein Gesicht grau, fremd, abweisend. Ich hob den Kopf. Seine Hand gab mein Haar frei, rieb über seine Augen. »Setz dich hin wie du möchtest«, sagte er und entließ mich aus seiner Umklammerung. Ich versuchte nicht, aufzustehen. Es wäre unmöglich gewesen. Statt dessen stützte ich mich rücklings auf die Arme und streckte meine Beine aus. Ich konnte sie nicht fühlen, aber nach ein paar Minuten, das wußte ich, würde ich mich nach diesem Zustand zurücksehnen. »Woran denkst du?« wollte er wissen, indem er sich erhob. Er reckte sich, die Hände in den Rücken gestemmt. Die Absätze seiner Stiefel pochten auf den Metallboden, als er zu der Wand mit dem so wirklich scheinenden Westwald ging und davor stehen blieb. »Wenn du etwas zu essen haben willst, solltest du besser antworten«, ermahnte er mich und drehte sich zu mir herum, die Arme über dem Zahlenspiel des Gürtels gekreuzt. »Da nicht M'ksakka unser Ziel ist, überlegte ich, wohin sonst wir unterwegs sein könnten. Dann, wie lange das wohl dauern mag. Dann dachte ich an dich und deinen Maschinen-Symbioten. Spricht er zu dem Schiffscomputer?« Ich rieb mir die Beine. Der Schmerz fing an. »Dies Schiff verfügt über eine System-A-Einheit, ja. Das Gehirn, das dieses Schiff steuert, ist M'ksakka. Der System-A, den wir mitführen, ist im Vergleich dazu so weit fortgeschritten, wie ich im Vergleich zu meinen höhlenbewohnenden Vorfahren.« Ich betrachtete ihn und fragte mich, ob er wußte, wie nahe er diesen seinen Vorfahren noch war. Das brennende Prickeln hatte meine Fußknöchel erreicht. Ein Hitzegefühl in meinen Unterschenkeln kündigte sein Fortschreiten an. Meine Knie waren noch immer taub. Ich rief mir ins Gedächtnis
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zurück, was Khys' Estri, ohne es zu verstehen, in den neuen Schriften des Dharen gelesen hatte, unter anderem in einem Band mit vergleichenden Anmerkungen und Querverweisen auf Computer, begleitet von mathematischen Berechnungen, Tabellen und Diagrammen. Darin hatte er ausgeführt, daß Kandern ein Überlebensmerkmal aller Rassen sei, daß bis zu einem bestimmten Grad, oft unter der Leitung des Unterbewußtseins, alle Menschen kandern. Wie dieses Kandern erfahren wird, hängt — nach Khys — weitgehend von Umständen und Vorstellungen ab. Außerdem behauptet er, und ich glaube ihm, daß in einer mechanistischen Kultur, wo das Überleben nicht mehr in den Händen des einzelnen liegt, die Gabe des Kanderns sich gegen die erfahrene Wirklichkeit des Bewußtseins wenden und daran nagen kann — zu einem Werkzeug der starken, gespaltenen Persönlichkeiten wird, der feindseligen, zersplitterten, eingekerkerten Überreste des Inneren Gesetzes, das von zum Beispiel den M'ksakka so entschlossen unterdrückt wird. Er nannte dies Buch: Kandern: Das grundlegende Vorrecht, und darin ermahnte er den Leser, über Willen und Verantwortung nachzudenken und nicht unüberlegt zu handeln. Khys machte das Geschenk des Owkahen, in einer Sprache, die jemanden wie M'tras verständlich sein mußte. Ich senkte den Blick auf meine zitternden Beine. Vielleicht würde Khys mich opfern, wenn ihm der Gewinn hoch genug erschien. M'tras brachte mir ein Tablett: gelb, ein Produkt des Automatensockels. Die Speisen darauf waren mir nicht fremd. Ich hatte ein Jahr lang mit dem Legat Eins im Lagerbund zusammengelebt, als er noch M'lennin hieß. Oft genug hatte ich mir in der Wohnung des Legaten selbst durch Tastendruck solche Mahlzeiten bestellt. Diese hier bestand aus Jeri, einem fruchtigen, alkoholischen Getränk; einem dampfend heißen, synthetischen
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Fleischkloß; einem runden, grünen Gemüse, dessen Name mir entfallen ist; und einem süßen Dessert, Siwes-ar, das ich verabscheute. Er stellte das Tablett neben mir auf den Boden und trug sein eigenes zum Tisch. Ich schaute auf die Metallplatten des Bodens, deren Färbung mich an Khys' Haar erinnerte. Das ganze Ausmaß meiner Schwierigkeiten stürmte auf mich ein. Tränen stiegen mir in die Augen. Ich drehte mich um. Der Preis an Schmerzen war hoch, aber ich wollte nicht, daß M'tras meine Verzweiflung sah. Mit schwimmenden Augen zog ich das Tablett heran und begann zu essen, aber jeder Bissen schmeckte nach dem Salz der Tränen, die nicht versiegen wollten. Ich dachte an Protonenpumpen und Sodiumionen und biß mir auf die Lippen, um ihm nicht seine Überschätzung dieser Kleinigkeiten vorzuwerfen, und seine Unfähigkeit, das Ganze zu erkennen. Und das Gewicht dieser Gedanken zog mich tiefer in den Tränenfluß wie eine heimtückische Strömung. Trotz der Mühe, die ich mir gab, verrieten mich meine zuckenden Schultern. Ich hörte nicht, wie er näherkam, spürte nur seine Hand auf meinem Rücken. Leise bat er mich aufzuhören. Es dauerte einige Zeit, bis ich mich wieder in der Gewalt hatte. Um mein Gesicht nicht zeigen zu müssen, zog ich mir das Haar wie einen Schleier vors Gesicht. Er reichte mir ein Tuch, damit ich mir die Wangen trocknen konnte. »Weshalb die Tränen?« fragte er, neben mir am Boden kauernd. »Deinetwegen«, sagte ich verzweifelt. »Du und deine Maschine. Wozu brauchst du sie? Denkt sie für dich? Bestimmt kann eine Maschine nicht mehr sein als das Gehirn, das sie erdachte. Sind solche Geschöpfe aus Metall und Plastik die herrschende Klasse auf deinem Planeten wie auf M'ksakka? Man sagt, daß die herrschende Klasse auf einem Planeten sich eine Umgebung
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schafft, die ihren Bedürfnissen angemessen ist. Auf M'ksakka ist der Westwald ein Relikt, die letzte Spur einer Rasse, die dort einst herrschte, die Luft atmete und mit und von der Natur lebte. Jetzt, habe ich gehört, können die M'ksakka ihre eigene Luft nicht mehr atmen ohne die Hilfe der herrschenden Klasse auf ihrem Planeten: den Maschinen. Ist es so auch auf deiner Welt? Seid auch ihr Gefangene eurer Maschinen, Crells eurer Schöpfungen? Wenn ja, bitte ich dich, bring mich nicht dorthin. Von allen Dingen fürchte ich eine solche Abhängigkeit am meisten. Ich werde ganz sicher sterben ohne Sonne und Gras und Wind und die Gesellschaft solcher Geschöpfe, die sich von der Natur nähren.« Kaum daß ich geendet hatte, fuhr meine Hand zum Mund, als wollte sie, nun, da es zu spät war, diesen Ausbruch verhindern. Der Sturm in M'tras beschränkte sich nicht länger nur auf seine Augen. Sein ganzes Gesicht wirkte düster, unheilverkündend. Sein Zorn donnerte wie ein von unterirdischen Gewalten geschüttelter Kontinent, jeder unverständliche Fluch erschütterte mich wie Sturmböen die jungen Bäume auf einem von Donnerschlägen umtosten Hügel. Aber dieser Donner, immer noch getragen von seiner mir fremden Sprache, zog keinen Blitz nach sich, sondern wandelte sich zu Offenheit und Ehrlichkeit. M'tras, sich seiner Wahrheiten sicher, hatte das Bedürfnis, sie in Standard auszudrücken, der exaktesten und sachlichsten Sprache überhaupt. Und ich, wissend, daß es nicht nur eine Wahrheit gibt, bemerkte damals nicht (noch kann ich mich heute besinnen), ab welchem Moment seine Gedanken mir als Worte bewußt wurden; denn trotz des Reifs der Stille und trotz des Abgrunds zwischen unser beider Auffassungen, war mir klargeworden, daß er und ich in jene ewigwährende Schlacht eingetreten waren zwischen Form und Inhalt, zwischen dem stofflichen Mann und
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der intuitiven Frau, zwischen Fortschritt und Beharren. Wie folgend, erinnere ich mich ihrer, jener in einem Augenblick gesprochenen Worte, der durch einen uns beide ansprechenden Zauber, ein Verhör in den Gedankenaustausch zwischen Vertretern des physischen und metaphysischen umformte, wie er stattfand, stattfindet und stattfinden wird: »Meine kleine Primitivistin, wie kommt es, daß du dich zur Richterin aufwirfst über eine Kultur, von der du nichts weißt, außer, daß sie von deiner verschieden ist? Man sagt von deinem Volk, daß es nach dem Inneren Gesetz sucht. Wo steht es geschrieben in diesen Büchern, daß ein Gedanke gut ist und ein anderer böse, daß der Keim einer Idee verdammenswert ist, während das auf eine andere nicht zutrifft?« »Die Ideen unserer maschinenbauenden Vorfahren verdammten die wenigen Überlebenden einer Welt zu einem Leben in Höhlen, wo sie Generation um Generation abwarten mußten, bis die Folgen ihrer methodischen Vergiftung von Wasser und Luft beseitigt waren«, hielt ich dagegen. »Und so sagt ihr zu einem Mann: Das ist zu gefährlich, das darfst du nicht tun. Aber ihr erlaubt das Schwert und medizinische Forschung und habt nichts dagegen, obwohl beides ebenso gefährlich ist wie ein Handkommunikator oder ein Todeswürfel. Ist ein Mann weniger tot, wenn er von einer Klinge aus Stra erschlagen wurde?« Sein aggressiv vorgeschobenes Gesicht preßte mir das Zugeständnis ab, daß der Tod durch Hand oder Schwert oder Verbrennung immer gleich endgültig war, doch fühlte ich mich bemüßigt, hinzuzufügen, daß ein Mann mit nur einem Schwert keine ganze Stadt oder einen Wald zerstören konnte. M'tras überlegte einen Moment, bevor er antwortete: »Dann müßt ihr auch das Feuer verbieten, denn eine einzige klug plazierte Fackel kann Stadt und Wald
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vertilgen und selbst einen Berg allen Lebens berauben. Es ist für euch eine unwandelbare Wahrheit, daß Technik zerstört, und doch sind es Ideologie, Moral und all die anderen Erkenntnisse, die euch so lieb und teuer sind, die das Werk des Erfinders zu einer Waffe gegen die Natur umgestalten, deren Unantastbarkeit ihr so lauthals verteidigt. Es ist nicht die Wahrheit, von der man sagt: Sie trägt Vernichtung in sich, sondern der Gebrauch, den der Mensch davon macht. Die Welt, die mich gebar, mußte gleich allen anderen die Feuerprobe bestehen: Zu ihrer Geschichte gehören Unterwerfung, mittels Technik, überwältigende Gier und Lust, blind für das Morgen. Man sagt bei uns, das sei die wahre Probe, daß nur wenn der Mensch Gottähnlichkeit erreicht, wenn er in seines Bruders Hände die Mittel zur Vervollkommnung oder Vernichtung seiner eigenen Zivilisation legt, er den Wert jener Anhäufung von Überlebensentscheidungen, genannt Moral, kennenlernen wird, die seine Welt aufgebaut hat.« Seine dunklen Hände, die in einigen Tagen vielleicht mein geliebtes Astria aus der Ferne zerstören würden, verschränkten sich, wurden weiß, sanken herab. Den Blick starr auf diese Finger gerichtet, wurde mir klar, daß er in gewissem Sinne recht hatte, daß die Bedrohung nicht in dem Produkt ihrer Arbeit liegt, sondern in der Absicht des Gehirns, das sie steuert. »Khys«, warf ich ein, glücklich über die Erleuchtung, »muß all das bedacht haben, warum sonst hätte er den Handel mit den Sternenwelten erlaubt und uns wieder mit den Versuchungen solcher Macht konfrontiert?« M'tras lächelte. »Versuchungen, ja? Ich würde eher sagen, eine Straße der Reife, auf der der Mensch entweder zur Weisheit findet oder durch seine eigene Dummheit untergeht. Anders als M'ksakka beschlossen wir, nicht die Nester unserer Nachkommen zu beschmutzen mit Reichtum, der aus den Truhen der
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Vorfahren quillt. Noch haben wir, wie auf Silistra, jene ausgerottet, die anders dachten als wir, und selbst den Preis einer zerstörten Tier- und Pflanzenwelt nicht als zu hoch erachtet dafür, daß eine uns unangenehme Idee nicht länger proklamiert wurde von Männern, die mehr durch ihre Gleichheit als durch ihre Verschiedenheit unserem Richterauge frevlerisch erschienen. Auf meiner Welt sagt man, daß wir dreihundert Billionen Religionen haben und eine gleiche Anzahl von Philosophen: die Summe aller Menschen dort. Und für jene von uns mit der größten Einsicht ist es ein ewiger Quell des Staunens, daß zwei mitsammen reden, jeder aus seiner eigenen einzigartigen Realität heraus, und daß aus dieser mehr oder minder großen Unterschiedlichkeit Verstehen erwächst und Einigkeit. Entgegen aller Logik und allem Verstand spricht der Mensch zu seinem Bruder, und dieser Bruder hört.« Diese Hände, die aus einer Laune heraus jede Höhle auf Silistra in giftige Asche verwandeln konnten, strichen über sein Kinn, während er auf meine Antwort wartete. Aber mit einem Gefühl der Kälte hatte sich Vorsicht in mir ausgebreitet, als mir bewußt wurde, auf welch trügerischem Boden ich mich bewegte. Wie unbefangen konnte ein Gefangener schon mit seinem Kerkermeister diskutieren? Mit gesenktem Blick schüttelte ich den Kopf. Ich wollte nicht das Risiko eingehen, zu ihm von Erheblichkeit zu sprechen, auch nicht von dem geringen Wert, den ich der Logik beimaß, noch davon, welchen Lieblingsideen der eine Mensch das Schildchen ›Vernunft‹ umhängt und der andere ›Unvernunft‹. Also fuhr er fort: »Meine Heimat ist herrlich. Du wirst sie nicht sehen. Du bist dort ebenso fehl am Platze wie einer eurer mutierten Fleischfresser im Weltraum. Aber du sollst wissen: Unter den M'ksakka-Welten habe ich keine gesehen, die so grün wäre, kein Klima so belebend für Körper und Geist, keine Welt irgendwo
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unter den zivilisierten Planeten, die sich der Fruchtbarkeit Yhrillias rühmen könnte. Man sagt von ihr, daß Er das Universum als Lehrling schuf und erst mit ihr zum Meister wurde. Aber keiner von euch wird je die Wahrheit dieser Worte erkennen, denn wir öffnen unsere Türen nicht diesem interstellaren Pöbel, von dem ihr ein Teil seid. Mit dir und diesen M'ksakka als Begleitern würde man selbst mir die Landung verwehren.« Und dieses letzte wurde schließlich in M'ksakka gesprochen: Das Gespräch war zu Ende, die zeitlich begrenzte Immunität, die er mir zugestanden hatte, deutlich aufgehoben. Und indem er sich in wieder eine andere fremde Sprache hüllte, schien er seine Aufrichtigkeit von sich zu werfen, oder zumindest in jener Tasche zu verbergen, die wir alle uns schaffen, um darin unser Selbst vor den greifenden Fingern einer Vielzahl unwillkommener Fremden zu bewahren. Aber ich hatte gesehen, trotz des Reifs hatte ich ihn erkannt. »Warum dann«, unterbrach ich das drängende Schweigen, »Yhrillia überhaupt anfliegen?« »Ich möchte den A mit einer anderen Einheit Verbindung aufnehmen lassen«, informierte er mich knapp. »Außerdem möchte ich sicherstellen, daß ich dieses Unternehmen überlebe. Das Schiff kann von jedem beliebigen Punkt aus den Sprung nach M'ksakka machen. Gesteuert von einer System-A Sklaveneinheit können wir schneller wieder im Orbit um Silistra kreisen, als du dir vorzustellen vermagst.« »Ich wußte nicht, daß Maschinen ihre eigenen Sklaven haben«, bemerkte ich und bewegte mein linkes Bein, in dem der Schmerz ziemlich abgeklungen war. Probeweise streckte ich es ganz aus und bewegte die Zehen. »Könntest du diese andere Maschine nicht einfach rufen?« »Ich kann das M'ksakka-Kommunikationssystem nicht
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für eine Verbindung zwischen A und A benutzen. Es ist zu kompliziert, um es zu erklären. Und es wäre zu gefährlich, ihr System vorzeitig auf den neuesten Stand zu bringen, so daß ich es gebrauchen könnte.« Ich nickte. Einst hatten wir eine Botschaft nach M'ksakka gesandt, Sereth, Chayin und ich, oder hatten vielmehr veranlaßt, daß eine solche Botschaft gesandt wurde. Die Übermittlungszeit von Planet zu Planet betrug drei silistrische Tage, was zu wissen damals für uns wichtig war. Wir brauchten die Zeit. Silistra ist weit entfernt von der nächsten Kongruenz, so daß das Lasersignal anderthalb B. S. Lichttage unterwegs war, bevor es in die Kongruenz eintrat. Augenblicklich von dem M'ksakka Gegenstück übernommen, hatte er dann noch eineinviertel Lichttage gebraucht bis M'ksakka. »Also fliegen wir eben«, schloß M'tras. »Gegen Morgen werden wir im Orbit sein.« »Wie kann es an einem Ort wie diesem einen Morgen geben?« Langsam streckte ich mein anderes Bein aus. »Wir rechnen nach M'ksakka-Zeit.« Er zuckte die Schultern. »Ich habe mich daran gewöhnt.« Sein Lächeln war so grimmig wie die Morgendämmerung über dem nördlichen Meer. »Du machst es mir schwer, freundlich zu dir zu sein«, meinte er und wippte in der Hocke auf und nieder, um seine Schenkel zu lockern. Sein jetzt schweigender Gürtel schien nur mehr ein Streifen ornamentiertes Leder zu sein. »Das war nicht meine Absicht«, antwortete ich. Es war ein bißchen übertrieben, dachte ich, die Behandlung, die er mir angedeihen ließ, als freundlich zu bezeichnen. Ich schaute auf meine kaum angerührte Mahlzeit und griff nach dem Becher mit Jeri, um meine Hände zu beschäftigen. Mir fiel ein, daß ich eigentlich beschlossen hatte, etwas Gewicht zuzunehmen, aber ich zuckte nur die Schultern. M'tras, die Geste mißverstehend, grinste, ein bloßes Zähnezeigen. Genau besehen, war es mir
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gleich, ob ich zu dünn war oder nicht, und ich nippte von dem Jeri, der glücklicherweise nicht synthetisch war, sondern klar und herb. Ich wußte, er würde mir helfen, mich zu entspannen, und den Schmerz in meinen vom langen Knien steifen Beinen lindern. »Was hältst du von Dellin?« fragte er. Ich seufzte. »Was möchtest du wissen?« »Ich bin neugierig.« Er streckte die Arme zur Seite, wodurch sein schlafender Symbiont sichtbar wurde, der sich um seine Taille ringelte wie eine ruhende Slitsa. »Warum glaubtest du, er würde dir etwas antun?« »Manchmal«, antwortete ich ruhig, »vergißt man bei Dellin, daß er kein Silistrier ist. Ich habe, nehme ich an, nichts getan, wofür er sich an mir rächen würde.« An meinem Becher lief ein Tropfen hinunter, den ich mit der Zunge auffing. Über dem Rand konnte ich nur Kopf und Schultern von M'tras sehen. Er wartete. Ob er tatsächlich nicht wußte, was der Ebvrasea, der Cahndor von Nemar und ich mit Dellin in seinem eigenen Haus getan hatten, ehe wir uns auf den Weg machten, um Celendra aus Astria herauszuholen? »Es liegt Jahre zurück, daß er und ich miteinander zu tun hatten«, fügte ich hinzu. »Als ich ihn das letzte Mal sah, trug er weder die Kette der Zeugung noch die des Threxzüchters.« »Kette der Zeugung?« hakte M'tras nach. »Er hat, möchte ich annehmen, eine silistrische Frau geschwängert. Die goldene Kette ist nicht so ohne weiteres zu erwerben. Dellin hat sich einen guten Anfang für eine Chald aufgebaut.« M'tras erhob sich geschmeidig von seinem Platz, wo er mit gekreuzten Beinen gesessen hatte. Während er sich dem Sockel näherte, setzte er seinen Gürtel in Betrieb. Kaum, daß er vor dem Schirm stand, erschien bereits Dellins Gesicht. »Ich dachte, du hättest mir nichts zu sagen«, meinte er trotzig.
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»Hast du eine der eingeborenen Frauen geschwängert?« fragte M'tras, der es sich auf der samtigen Bettstatt bequem gemacht hatte. »Nein.« Dellins Verblüffung war offensichtlich. Ich konnte ihn mir vorstellen, wie er irgendwo auf Deck Drei nach seinem Chald tastete. Ich blieb neben meinem Tablett sitzen. »Es war ein politischer Schachzug von mir.« Er gab sich herablassend. »Ich übernahm den Chald eines anderen, nur ein bestimmtes Kind betreffend. Es ist eine komplizierte chaldrische Angelegenheit, nichts, was du begreifen könntest. Der Antrag wurde vier Einheiten lang von silistrischen Autoritäten diskutiert, bevor eine Entscheidung getroffen werden konnte. Es ist eine sehr delikate Angelegenheit — oder war es.« Mir klangen seine Worte seltsam stolz für jemanden, der vor seinen Chaldra-Verpflichtungen floh. Und bedauernd. M'tras schien einen ähnlichen Eindruck zu haben. »Wessen Kind ist in deiner Obhut?« fragte er gehässig. »Oder war.« »Das von Tyith bast Sereth mit einer Münzdirne«, erwiderte Dellin mit Würde. Eine solche Frau wird niemals mit Namen genannt, wenn es um die Abstammung des Kindes geht. Es wäre geschmacklos. Sereth, dachte ich, wäre über diese Nachricht keineswegs erfreut gewesen. Nein, es hätte ihm nicht gefallen, zu wissen, daß sein Enkel in Celendras Hand gewesen und von ihr an Dellin weitergereicht worden war, vermutlich als eine Besieglung ihres Lagerbundes. Diese Entscheidung mußte damals gerade in der Schwebe gewesen sein, als Dellin sich in unserer Gewalt befand. In der Schwebe und vielleicht eben genehmigt, als Celendras Unglück begann. Möglicherweise lebte sie noch als Crell in den Parsetländern. Es hing davon ab, ob Jaheil Gefallen an ihr gefunden hatte. Aber ich konnte es nicht wissen. Ich wußte auch nicht, ob sie die Wunden
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überlebt hatte, die ihr zugefügt worden waren, als Jaheil sie während der Schlacht von Astria als Schild benutzt hatte. »Es ist ein Sohn«, fügte Dellin hinzu, »gesund und seinem Großvater überraschend ähnlich.« »Kannst du nicht in deiner eigenen Sprache reden?« knurrte M'tras den Miniaturdellin an, den ich nicht sehen konnte. »Natürlich«, kam die Antwort. »Ich habe gehört, daß du deinerseits Khys drohen willst. Du bist ein Narr. In den Höhlen gibt es nichts als alte Bücher und noch ältere Philosophen. Ein Viertel der Bevölkerung dieses Planeten lebt innerhalb hundert B. S. Meilen von der einen oder anderen Höhle. Wovon du redest, ist ein Direktangriff auf ein Viertel des menschlichen Lebens auf dem Planeten. Sie verfügen nicht über irgendwelche vergrabenen Waffen.« »Und was macht er? Seine Bedrohung des Mondes Niania schließt auch eine ganze Menge Menschenleben mit ein.« »Das alles ist wie ein Alptraum«, sagte Dellin, und da das Licht des Schirms nicht mehr über M'tras' Gesicht huschte, wußte ich, daß Dellin die Verbindung unterbrochen hatte. M'tras legte sich mit einem Grunzen auf die Samtdekke zurück und rieb sich die Augen. »Komm her«, befahl er, die Finger am Gürtel. Ich gehorchte ungern. »Leg dich hin.« Er deutete auf das Bett an der Wand. Wieder gehorchte ich. »Nimm das, ich möchte schlafen.« Eine kleine runde, weiße Tablette lag auf seiner Handfläche. Ich warf ihm einen erschreckten Blick zu. »Sie wird dir nicht schaden. Nimm sie.« Seine Hand kam näher. Weil ich fürchtete, er würde mich zwingen, steckte ich sie in den Mund. Sie zerfiel süß und weich auf meiner Zunge und löschte die Welt der Sinne aus. Ein letzter Gedanke beunruhigte mich noch, und ich rang um Zeit, mich damit zu befassen, aber die Droge
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war unerbittlich. Der schwere Schlummer hatte nichts an Einsichten zu geben. Erwachen war ein allmähliches Emporsteigen durch weniger dunkle Wolken. Da war der Druck völliger Geräuschlosigkeit auf den Ohren, abgelöst von einem pochenden Rhythmus, der sich zu Herz- und Pulsschlag entwickelte. Zuletzt spürte ich das Vibrieren unter mir. Die Erinnerung an den Ort, an dem ich mich befand, ließ meinen Richtungssinn Kobolz schlagen. Ich war nicht am See der Hörner. Ich öffnete die Augen und sah, daß der Mechaniker M'tras erwacht war. Er lehnte mit einem geistesabwesenden Gesichtsausdruck sinnend an der Wand, völlig angekleidet, umgeben von den Resten seines Frühstücks — zerdrückte durchsichtige Behälter, gelbes Tablett, gelbe Eier des Maschinenvogels. Ich rieb mir die Augen und reckte mich. Zumindest hatte er mir eine Decke übergeworfen, bemerkte ich. »Hat deine Maschine mit ihrem Bruder gesprochen?« fragte ich und drehte mich auf den Bauch, so daß ich ihn ansehen konnte. Der Samt glitt weich und glatt über meine Haut. Und er hatte mich entkleidet. Sehr fürsorglich war M'tras. »Ja«, antwortete er, ohne den Kopf zu heben. »Sie hat. Wir sind auf dem Weg zurück nach Silistra. Wenn er reden will, kann er zu dem nächsten Legaten gehen, der uns dann rufen wird.« »Hast du keine Angst, unseren alten Waffen so nahe zu sein?« fragte ich und gähnte. Seine Augen bekamen einen verschlagenen Blick. »Das ist ein geringes Risiko, aber eine gute Entschuldigung. Wenn er ein so weit entferntes Ziel wie Niania treffen kann, wo könnten wir uns verstecken? Wir sind klein. Wir bewegen uns, schnell und willkürlich. Ich habe dir bereits gesagt, eigentlich glaube ich nicht die Hälfte von dem, was Dellin und du mir erzählt habt.« Seine
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Handlungen, dachte ich, straften seine Selbstsicherheit Lügen. Ich zuckte die Schultern. »Merkst du nicht, wie das Schiff sich bewegt?« meinte ich, als das Bett unter mir wegsackte wie ein Hulion im Sturzflug. Ich stellte mir diese großen, durchscheinenden Segel vor, wie sie sich golden in die sternengetupfte Schwärze reckten. In meiner von der Droge hervorgerufenen Gelassenheit fand ich nichts Erschreckendes an dieser Vorstellung, auch nicht in dem Rauschen des Sonnenwindes in meinen Ohren. Wieder machte die Liegestatt einen Satz nach unten, nur um sich gleich darauf emporzuheben. M'tras, auf Händen und Knien, ließ sich neben mich fallen. Er rollte auf die Seite und ließ mit geschlossenen Augen seine Finger über den Gürtel wandern. Ein schrilles Heulen zersprengte meine Ohren, war verstummt, als meine schützenden Hände sie erreichten. Lichter flackerten, erloschen. Nur M'tras' Gürtel glühte rot. Ich hörte ein ununterbrochenes Summen, das von weit her zu kommen schien. Ich schlang die Arme um den Leib. M'tras nahm den Gürtel ab, hielt ihn in Augenhöhe. Der rote Schein beleuchtete sein Gesicht und meine Hand, die sich in seine Schulter krallte. Er fluchte in seiner unverständlichen Sprache, aber ganz leise und verhalten, was mir Angst machte. »Was ist?« jammerte ich, den Kopf an seinen Arm gedrückt. Ich biß die Zähne zusammen, damit sie nicht so erbärmlich klapperten und atmete so tief, als könnte ich die Luft auf Vorrat in meinen Lungen sammeln. »Ein Zusammenprall«, sagte er leise und ungläubig. »Man stößt nicht mit irgend etwas zusammen . . . Ich meine, es kommt einfach nicht vor, wenn man . . . Aber das haben wir nicht. Wir sind im Bereich der Schwerkraft. Was von den Segeln noch übrig ist, wurde eingeholt. Bis auf eins, das sich nicht bewegen läßt. Und das streift den Rand von dem Hindernis, das eigentlich gar nicht vorhanden ist. Wir können unsere ursprüngli-
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che Richtung nicht beibehalten.« Seine Stimme kam zischend aus der rötlichen Dunkelheit. »Es geschah binnen Sekunden nach unserem Austritt und dem Entfalten der Segel.« »Wie weit sind wir von Silistra entfernt?« fragte ich. »Nicht weit«, antwortete er, als die Lichter aufflammten und wir bleich in die plötzliche Helligkeit blinzelten. Mein Herz beruhigte sich, es würde seinen Platz in meiner Brust beibehalten. Ich rollte mich auf den Rücken. »Wir benutzen nicht die üblichen Kongruenzen. Wir machen sozusagen einen kleinen Durchstich. Er schließt sich von selbst.« »Dann könntest du also einen Helsar nehmen«, bemerkte ich, halb betäubt vor Erleichterung. »Was?« »Zu einer Ebene durchbrechen, wo es keinen natürlichen Zugang gibt. Es ist eine Ebene, entlang der eure Schiffe durch den Raum reisen, oder nicht?« »Ich glaube schon«, sagte er. »Im weitesten Sinne.« »Was wirst du tun?« fragte ich. »Wir werden uns an den Rändern dieses Dinges weitertasten, sofern es welche hat. Bis jetzt kann ich nur vermuten, daß es sich um einen Kreis handelt mit dem doppelten Durchmesser des silistrischen Sonnensystems und eben diesem als Mittelpunkt.« »Oh«, sagte ich. Er erhob sich auf die Knie und versuchte erneut, den Sichtschirm in Betrieb zu setzen. Nichts als wirbelnde Farben. Der Bettkasten unter mir zitterte. M'tras, der aufgestanden war, schob eine Platte unter dem Schirm zur Seite und befragte seinen Gürtel. Immer noch zeigte sich kein Gesicht auf dem Schirm. Erst dann fiel mir auf, daß niemand ihn um Rat angegangen war oder nach seinen Befehlen gefragt hatte, ihn, der als einziger diese Metallwelt beherrschte, in der wir reisten. Bei den Tötern wäre es nicht so gewesen, auch nicht bei den Jiasks
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oder den Dharenern am See der Hörner. Mit einem ununterbrochenen Strom unzusammenhängender Bitten beschwor er den Schirm, seine Arbeit wiederaufzunehmen. Aber nichts geschah. Er knurrte plötzlich in einer Mischung aus Schmerz und Überraschung, riß seine Hand aus den Eingeweiden der Maschine und schüttelte sie, als hätte er sich verbrannt. Wütend schloß er die Platte, ließ den Schirm in Ruhe und wandte sich seiner Ijiyr zu. Mir kam es merkwürdig vor, daß er sich jetzt damit beschäftigte. Er nahm sie mit zum Tisch, wo er sich hinsetzte. Aber er spielte nicht, hielt das Instrument nur auf dem Schoß. Ich sah, daß die Öffnungsplatte an der Tür, die er auf Braun eingestellt hatte, wieder in dem normalen Rot leuchtete. Er hielt die Ijiyr eine Zeitlang und streichelte über die Saiten. Dann, sorgsam, nicht ohne vorher die Saiten abgewischt zu haben, verschloß er sie wieder in ihrem Kasten. Es konnte, überlegte ich, nicht anders sein, als daß das Schiff von Maschinen gesteuert wurde. Menschen hätten sich zweifellos gemeldet, um den Unfall mit ihm zu besprechen. Menschen sind nicht wie Maschinen gegen Krisensituationen gefeit. M'tras beriet sich mit seinem Gürtel. Hinter ihm erlosch das Leuchten der Öffnungsplatte. Auf der Suche nach meiner Kleidung, die er versteckt hatte, stand ich auf und trat vor die Wand mit dem Abbild des Westwaldes von M'ksakka. Seine Blicke folgten mir, aber er erhob keine Einwände. »Was wirst du ohne die Segel tun?« erkundigte ich mich leise. Ich hätte mich lieber auf dem Wasser befunden, denn ich mußte an unser Gespräch denken, in dem ich die stothrische Auffassung vertreten hatte, daß ein Talent, das sich der Maschinen bedient, viel zu sehr von diesen abhängt; daß das Fleisch lernen muß
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zu fliegen, um nicht wie ein Stein herabzustürzen von der mechanischen Perversität, an die es sich klammert. »Ich bin mir noch nicht sicher. Mach dir keine Sorgen. Es wird alles nur ein bißchen länger dauern. Was immer es war, womit wir zusammengestoßen sind, jetzt ist es verschwunden. Wir können . . .«Er verstummte mit offenem Mund. Ich erinnerte mich an den Todeswürfel unter dem Tisch. Ich hätte nicht daran zu denken brauchen. M'tras, Auraler Symbolist, Stochastischer Improvisator, war nicht einmal in der Lage, seinen Mund zu schließen. Seine entsetzten Blicke folgten mir, als ich über den Metallboden zu ihm schritt, der dort stand, niederkniete, und meine Lippen an den Spann seines Fußes legte. Khys machte keine Anstalten mich aufzuheben, sondern beugte sich herab und strich mir das Haar vom Nacken. Ich spürte seine Finger an dem Reif, den ich so lange getragen hatte. Als er die Hand zurückzog, nahm sie den Reif mit. Ich rührte mich nicht, sondern blieb, umgeben von dem Vorhang meiner Haare, vor meinem Lagergefährten knien, die Lippen an seinem Fuß. Freude brannte in meinem Blut wie Uris. Mein Hals prickelte. Tränen fielen auf die Sandalen des Dharen. »Du weinst, kleine Saiisa?« sprach er zu mir mit dieser tönenden Stimme. »Laß dich ansehen.« Ich stand auf und strich mir das Haar über die Schultern zurück. Mein Bewußtsein duckte sich erschreckt. So lange war es gefangen gewesen, daß ich die Lieder des Lebens wahrhaftig vergessen hatte. Ich hob dem Dharen mein tränenüberströmtes Gesicht entgegen. Trotz meiner wiedergewonnenen Freiheit fürchtete ich ihn. Undurchschaubar, unüberwindlich war Khys. Was bewegte er in seinem Herzen, in seinen Gedanken? Müde suchte ich die Sordh. Er musterte mich, seine Flammenaugen wärmten mein Fleisch, erforschten mein Befinden, das Ausmaß
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dessen, was M'tras mir angetan hatte. Sein Mund verzog sich zu der Andeutung eines Lächelns. Nackt stand ich vor ihm, er in seinem schwarzblauen Lederzeug und Umhang, Waffen am Gürtel. Ich warf einen Blick über die Schulter, auf den immer noch unbeweglichen M'ksakka. Khys' Augen mit den kupferfarbenen Wimpern schlossen sich einen Moment. Ich fühlte seine Gegenwart, die meine Gefühle, meine Reaktionen studierte. Er nickte. Ich zitterte vor Angst, obwohl nichts in mir war, was den Dharen hätte verärgern können, nur Dankbarkeit, Erleichterung. Und das Wissen, daß die Überbleibsel meiner Fähigkeiten ein Nichts waren, verglichen mit ihm. Er hatte mir nur wenig gelassen. Er berührte meine Wange, fing eine Träne auf, kostete sie. Ich stand ruhig, den Blick auf seinem Gesicht, und wartete darauf, daß er sprach. In dieser fremden Umgebung, inmitten der Artefakte unserer Feinde, hatte er mir den Reif der Stille abgenommen. Bestimmt hatte er den Eindruck, daß ich ihm so besser dienen konnte. Ich hoffte, daß ich leben würde, um seine Erwartungen zu erfüllen. »Daran zweifle ich nicht«, sagte er und strich eine Haarsträhne von seinem Mal auf meiner Brust. »Ich habe lange auf diesen Augenblick gewartet. Ich bedaure nur, daß er an einem so unangenehmen Ort geboren wurde.« »Gab es einen anderen Weg?« fragte ich, denn es würde noch lange dauern, bis ich einen festen Stand in der Zeit hatte. »Offenbar nicht«, antwortete er langsam. Ich fühlte die Selbstvorwürfe in ihm. Sie machten seine Stimme rauh, gaben seiner Haltung etwas Steifes. »Niemand«, fügte er hinzu, »ist allwissend.« »Estrazi selbst hat mir das versichert«, bemerkte ich sanft. Ich wünschte mir, er würde mich in die Arme nehmen. Und er tat es, zog mich unvermittelt an sich,
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und seine Berührung vertrieb die Starre der Verwirrung aus meinem Körper. Ich hielt es nicht für grausam, daß er mich für sein Kand benutzt hatte, und leise sagte ich es ihm. Seine Umarmung wurde fester. »Ich bin unverletzt«, flüsterte ich und lehnte mich ein wenig zurück, damit ich in sein Gesicht schauen konnte. »Ich habe einen von ihnen getötet«, sagte ich. »Ich weiß. Ich bin stolz auf dich.« Er drückte das Kinn an die Brust und betrachtete mich aus halbgeschlossenen Augen. Seine Lippen streiften meine Stirn, meine Lider und preßten sich dann so heftig auf meinen Mund, daß ich Blut schmeckte. »Liuma?« fragte ich zögernd, als ich dazu in der Lage war. »Tot.« Er spie das Wort aus, als er mich losließ. »Das hatte ich nicht vorausgesehen. Und es ergaben sich daraus noch andere Unvorhersehbarkeiten. Ich bin spät gekommen. Ich wollte dich nicht so lange hilflos bei ihnen lassen. Meine Pläne sahen anders aus.« Er zuckte mit den Schultern, als wäre es nichts, aber sein Zorn umtoste meine Sinne wie das Embrodming-Meer die Felsklippen im Osten, und ich wußte, sein Kand war von einer fremden Hand verändert worden. »Ich möchte dich nicht wieder in der Gewalt solcher, wie er einer ist, erleben.« Er sagte es mit ausdrucksloser Stimme, tödlich leise, mit einem Nicken in Richtung des regungslos dasitzenden M'tras. In Khys' Bewußtsein spürte ich seine Zurückhaltung, seine Weigerung zu glauben, was er angesichts seines eigenen, ihn bedrükkenden Fehlers in mir sah. Zögernd unternahm ich einen Versuch, seine Selbstvorwürfe zu lindern. Für einen Moment schloß er die Augen. Sein undurchdringlicher Schild schloß ihn gegen mich ab. Ich trat zurück. »Kann es irgendeinen Zweifel über meine Gefühle geben?« fragte ich laut, überrascht, verletzt. »Du hast, wie oft, die Wahrheit in meinem Bewußtsein gelesen.
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Lies sie jetzt, Khys.« Ich sah, wie er sich angestrengt um Beherrschung bemühte. »Ich habe dich aus der Stille entlassen, oder etwa nicht? Das habe ich nicht getan, um in deinem Bewußtsein zu lesen, das mir ohnehin offensteht, noch um dich als Gleichberechtigte an meiner Seite zu haben, was nie geschehen wird, sondern damit dein Wohlergehen nicht als zusätzliche Last auf meinen Schultern liegt. Ich kann deine Kräfte gebrauchen für das, was vor mir liegt. Ich brauche sie nicht unbedingt, aber sie könnten von Nutzen sein.« »Sie sind dein. Wie immer, hast du alles bekommen, was du von mir wolltest.« Seine Nasenflügel bebten. Er neigte den Kopf, eingehüllt in seine Majestät wie in eine undurchdringliche Rüstung. »Bedenke stets«, mahnte er, »daß diese Freiheit, die ich dir gegeben habe, an strenge Bedingungen geknüpft ist. Sollte sich erweisen, daß du noch nicht bereit bist, werde ich dich in deinen früheren Zustand zurückversetzen.« Er ging an mir vorbei zu M'tras, der, unfähig sich zu bewegen, am Tisch saß. Auf dem Rücken des Umhangs, den der Dharen trug, glitzerte das Siegel der Schöpfer. Seine kupferfarbenen Hände griffen nach der Ijiyr. M'tras, nicht in der Lage, mehr zu tun, schloß die Augen. Khys drehte das Behältnis herum, öffnete es. Sein Gesicht war ernst, als er das Instrument herausnahm. Und er spielte, entlockte den Saiten Töne solchen Zorns und solcher Herrlichkeit, daß das Blut in meinen Adern zu Eis erstarrte. Ich hörte das Winseln in M'tras' Bewußtsein, das dem Wahnsinn nahe sein mußte, während Khys die Ijiyr in den Kasten zurücklegte. Ich hatte nicht gewußt, daß das Instrument ihm so viel bedeutete. Langsam, im Kampf mit meinen eigenen Emotionen, trat ich neben Khys. Wußte er, fragte ich mich, von der Bedrohung der Höhlen? Und gab mir selbst die Antwort, daß er es wissen mußte.
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Noch war es falsch von mir zu schweigen, damit ich mich nicht selbst beschämte durch die Unzulänglichkeit meiner inneren Sicht. Khys gab einen melodischen Laut von sich, den ich für einen Gruß in M'tras' Sprache hielt. Die Farbe seiner Haut stimmte beinahe mit dem bräunlichen Metall überein. Entspannt und gelassen stand Khys in seinem dunklen Lederzeug vor M'tras, als taumelten wir nicht in eines verwundeten Ungeheuers Bauch durch den Weltraum. Und während ich daran dachte, stützte Khys sich auf den Tisch und legte die Finger um die Kanten. Ich verstand seine Haltung falsch, berührte seinen Arm und versuchte, ihn mit meinen geschwächten Kräften zu unterstützen. Doch Khys war keiner plötzlich auftretenden Schwäche zum Opfer gefallen. In seinen Gedanken sah ich eine Küste, kalt und abweisend, und einen merkwürdig geformten Felsen, durch den klagend der Wind wehte. Und dann eine Sonne mit rotgoldenen Flammenzungen, die mich blendeten. Verbrannt und blinzelnd zog ich mich zurück und nahm die Hand von Khys' Arm. Er schaute mich an. Seine Augen hatten das Sonnenfeuer in sich aufgenommen. Es brannte in ihm, ungezügelt. Dann richtete er sich auf. »Ich werde deine Zunge freigeben, Trasyi Quennisarleslor Stryl Yri Yrlvahl. Du wirst nur auf mein Gebot sprechen.« Ich bemerkte das kaum wahrnehmbare Zucken seiner Lider, mit dem er seine Körperfessel zu einem kleinen Teil lockerte. M'tras schwieg. Seine Haut war grau, er saß still, die Hände im Schoß und hatte nur eben soviel Gewalt über seinen Körper, daß er endlich den Mund schließen konnte. »Ich habe Grund, mit dir zu verfahren, wie es mir angemessen dünkt. Deine Pläne und die deiner Vorgesetzten beunruhigen mich. Natürlich werde ich nicht zulassen, daß auch nur einer davon Wirklichkeit wird. Ich gab dir die Möglichkeit nachzudenken. Du hast sie
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nicht genutzt. Hast du wirklich geglaubt, mir deine Absichten verheimlichen zu können, indem du dem Mädchen eine Schlafdroge gibst?« Er lächelte grimmig. »Da ist die Sordh und das Kand. Und da ist die Erforschung der Gedanken im Jetzt. Alles das sind Teile des Vorspürens, wie zum Beispiel das räumliche Sehen Bestandteil des Gesichtssinns ist. Du hast, denkst du gerade, keine Ahnung von sordhen und kandern. Ich möchte beginnen, es dich zu lehren. Ruhe!« befahl Khys, als M'tras' Lippen sich bewegten. Er konnte, dessen war ich sicher, nicht einmal seinen Kopf drehen. Ich zog das Bein auf den Tisch. Das Metall fühlte sich kühl an. So gut ich konnte, verhärtete ich mein Herz gegen M'tras' Unglück. Ich hatte diesen Augenblick herbeigesehnt, aber jetzt fand ich ihn nicht so befriedigend wie erwartet. »Laß mich dir die Sordh vorhersagen«, bot der Dharen an. Seine Augen funkelten, und ich zuckte innerlich zusammen, obwohl ein anderer der Gegenstand seines Mißvergnügens war. »Du bist aus der Sogzeit herausgetreten, während der du hättest vermeiden können, was jetzt seinen Anfang nimmt. Crux bedeutet ein Ende, aus dem ein neuer Anfang entsteht. Das, was geschehen wird, ist durch meinen Willen festgelegt. In einer Situation, in der du von allen äußeren Einflüssen abgeschlossen bist, wirst du eines lernen: In einer Lage, die aus Gründen vorgefaßter Meinungen und Überzeugungen unhaltbar erscheint, bleibt nur übrig, die eigene Perspektive zu ändern, um so durch Anpassung zu überleben. Diese Wahl hast du, überleben. Entscheide dich klug.« Er forderte M'tras auf zu sprechen. »Die Zeit«, M'tras stolperte über seine Worte, »ist noch nicht abgelaufen. Du hattest einen anderen Tag genannt. Ich hätte sie zurückgegeben.« Khys schüttelte den Kopf. »Du glaubst mir nicht, oder? Ich habe freien Zugang zu deinen Gedanken, was
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immer sie wert sein mögen. Ich weiß von deinem Plan, die Übergabe Estris als einen Schirm zu benutzen, um dahinter deine wahren Absichten zu verbergen — die Zerstörung der Höhlen. Ich wartete, stellte das Ultimatum, um ihn aus seinem Versteck zu locken, der sich das alles ausgedacht hatte, ihn, dessen Fähigkeiten groß genug waren, daß er unerkannt blieb. Aber nun ist alles vollbracht. Ich habe meinen Nutzen aus dieser Farce gezogen. Hast du wirklich geglaubt, ich hätte so wenig Achtung vor dem Leben, daß ich einen bewohnten Stern vernichten würde? Oder war es vielleicht eine Maschine, die einen Menschen einer solchen Wahnsinnstat für fähig hielt?« Die Stimme des Dharen, so ruhig, so traurig, ließ M'tras schrumpfen, wie es kein Wutausbruch gekonnt hätte. »Sprich, du, der du es hättest besser wissen müssen.« M'tras' Gesicht und Hände glänzten vor Schweiß. Es schien ihm schwerzufallen, Worte zu finden. »Ich habe einen geringen Wert«, meinte er mit bebender Stimme, »sowohl für M'ksakka wie für meine Heimatwelt. Schick mich dorthin zurück.« »Es ist nicht in der Sordh«, sagte Khys.
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5 Der Sog der Crux
Ich stand neben dem Klagenden Felsen von Fai-Teraer Moyhe. Der Wind, kalt und wehklagend, wehte vom Embrodming-Meer landeinwärts. Er peitschte mich mit salziger Gischt. Ich hatte mein Haar zu einem dicken Zopf geflochten, den ich hinter den Kragen des Umhangs steckte, den Khys mir gegeben hatte. Darunter trug ich nichts als das schmale Wickeltuch aus Seide. Meine Füße gruben sich nackt in den feuchten Sand. Zu meiner Rechten erhob sich der Klagende Felsen, zehnmal so hoch wie ein Mensch; ein durchstoßender Monolith. Sieben Löcher hat diese Steinnadel, und die Nordwinde bestimmten ihn vor langer Zeit zu ihrem Instrument. Und dieses Instrument beherrschten sie meisterlich, dachte ich, während ich in dem trüben Mittagslicht stand und das Meer den heulenden Wind mit einem pulsierenden Baß begleitete. Laut war es und unheimlich, hohe Oktaven, die eine sympathisierende Resonanz meines Körpers forderten und erhielten. Hinter mir, landeinwärts, zwischen den zerklüfteten Küstenfelsen, begann die östliche Wildnis, von der niemandem erlaubt ist zu sprechen. Und doch stand ich hier. Khys hatte mich gebeten, ihn bei dem Klagenden Felsen zu erwarten, während er über jene Gericht hielt, die seinen Zorn erregt hatten. Es war natürlich Khys' Barriere gewesen, mit der die Oniar-M zusammengeprallt war. Ich blinzelte in den grau-grünen brodelnden Himmel, als könnte ich sie dort sehen, wo sie sich um das Sonnensystem Silistras wölbte; eine schützende Hülle, die kein mechanisches
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Gefährt zu durchstoßen hoffen konnte, außer mit Khys' ausdrücklicher Zustimmung. Er hatte, als es ihm beliebte, dem Klasse-M Zerstörer Zugang zu dem Teil des Raums gewährt, den er von der Gesamtheit des Universums abgeteilt hatte. Ich drehte mich um und schaute es an, wo es schräg aus dem Sand herausragte, in dem es zu einem Drittel versunken war. Es erinnerte an den Flügel eines Friysou. Einen gebrochenen Flügel allerdings, das goldene Gefieder zerrupft bis auf die Schwungfedern, und diese stachen in unmöglichen Winkeln aus grauer, pickliger Haut. Ich hatte ein solches Schiff in seiner Pracht gesehen, eingehüllt in die riesigen Schwingen gleich einer Parset-Hellseherin, golden flimmernd in der Wüstensonne. In Frullo Jer war das gewesen, als ich als Tiaskchan in Nemar lebte. Vor langer Zeit. Ich seufzte. Es würde keine anderen Schiffe mehr geben. Khys hatte es mir gesagt. Denen, die sich noch auf Silistra befanden, wollte er eine Spanne Frist geben, damit sie ihre lebende Fracht an Bord nehmen konnten. Er wollte keine Außenweltler mehr auf Silistra dulden. Die Oniar-M, vor mir auf dem Strand, würde nicht mehr abheben. Alle die Maschinen in ihrem Innern waren tot. Der Dharen hatte uns, vielleicht in eben dem Augenblick, als er sich vor M'tras auf den Tisch stützte und meine Sinne sein Bewußtsein berührten, hierher versetzt. Es war eine furchteinflößende Demonstration seiner Macht, daß ich nicht einmal gemerkt hatte, wie es geschah. Ich hätte es wissen müssen, als er mir den Reif abnahm, aber ich war ahnungslos gewesen. Er hatte das Schiff samt Inhalt zu der östlichen Wildnis gekandert, von der niemandem zu sprechen erlaubt ist. Ich war froh, wieder festen Boden unter den Füßen zu haben. Überwältigt von Emotionen sank ich auf den Strand. Eine Zeitlang genügte es mir, einfach dort zu sitzen. Sein Gebot, ihn zu erwarten, schien weit weg.
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Mir war der Gedanke gekommen, daß ich weglaufen konnte. Den Strand entlang zwischen die Felsen. Und ich lachte laut auf in der Stille. Kein anderes Lebewesen war am Strand zu sehen. Ich hatte kein Mitglied der Besatzung der Oniar-M zu Gesicht bekommen. Der Dharen hatte mir, während er M'tras vor sich knien ließ, mitgeteilt, daß er sie alle mit der Körperfessel belegt hatte und was er mit ihnen zu tun beabsichtigte. Und er hatte mir gesagt, daß das M'ksakka Kriegsschiff nichts anderes mehr war, als eine hirnlose Schale an der Ostküste des Embrodming-Meeres. Er hatte vor, wie er sagte, sie alle tief im Landesinnern freizulassen. Vielleicht, hatte er zugegeben, überlebten sie sowohl die wilden Tiere als auch den Cahndor von Nemar, der zweifellos kommen würde, um Jagd auf sie zu machen. Alle, bis auf Dellin und M'tras, verurteilte Khys zu diesem Schicksal. Sie, dachte ich, lagen vielleicht noch in dem Schiff. Oder sie waren bereits am See der Hörner eingekerkert. Es würde keine anderen Schiffe mehr geben: Die Lehren, die ihre Fracht uns nahebrachte, war von den Bewohnern Silistras entweder gelernt oder mißinterpretiert worden; die neuen Lehren, Helsare, waren aufgetaucht. Das alte war jetzt überholt. So hatte Khys mir gesagt. Mechanische Hilfsmittel haben einen Platz und Zweck bei der Perfektion dieser menschlichen Maschine, die uns, nach Wahl, entweder Segen oder Fluch sein kann. Und dieser Zweck, der mit den Helsaren seinen Höhepunkt erreichte, besteht darin, uns die Herrschaft über diese dreifaltige Maschine zu erleichtern, in der wir wohnen, solange wir im Fleische wandeln; dieser Maschine, die befähigt ist, jede Aufgabe auszuführen, die ihr Lenker sich vorstellen kann, der aufsteigende Geist. So hatte der Dharen gesprochen, obwohl ich ihn nicht aufgefordert hatte, sich vor mir zu rechtfertigen. Ich zitterte und rieb mir mit den sandigen
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Händen über die Arme. Wieder dachte ich darüber nach: Ich konnte fliehen. Aber ich wußte nicht wohin und ob der Dharen mich verfolgen würde. Noch wußte ich, ob ich in der Lage sein würde, ihm zu entkommen, oder ob es nicht sogar das war, was er beabsichtigte. Es bedurfte eines festeren Halts in der Zeit, als ich im Moment besaß, um Khys zu überlisten. Ich saß auf dem moosigen Stein und starrte auf das Meer. Ich griff nach Khys' Bewußtsein, über eine, wie es mir schien, große Entfernung hinweg. Ich glaubte eine tiefe, nebelverhangene Schlucht zu sehen. Unersteigbare Felswände ragten auf allen Seiten empor außer in meinem Blickfeld. In diesem Einschnitt erkannte ich schwarz gekleidete Gestalten, vielleicht eine Yra. Viele der Köpfe waren blond. Keiner von denen, die ich sehen konnte, trug einen blinkenden Gürtel. Also hatte er seine Ankündigung wahr gemacht. Ich wartete auf seine Rückkehr, aber als sie nicht gleich erfolgte, wandte ich meinen Geist in eine andere Richtung. Ich suchte Sereth, jenseits des Meeres. Entweder fehlte mir die Kraft, oder sein Schild war alles, was man sich darüber erzählte, und mehr. Ich kanderte eine Wasserhose. Es kostete mich viel Mühe. Der erste Schritt, den Wirbel hervorrufen, war der schwerste. Ich riß an den inneren Narben, die meine Fähigkeiten überkrusteten. Ich gestattete mir nicht, Schmerz zu empfinden, denn ich hatte das überwältigende Bedürfnis, mir selbst zu beweisen, daß ich noch tun konnte, was mir einst selbstverständlich gewesen war. Das Schlimmste, was Khys mir angetan hatte, war, das Bild zu ändern, das ich von mir selber hatte. Aus Gewohnheit dachte ich nur an Schwäche und Versagen, Verwirrung und Hilflosigkeit. Er hatte es mich so gelehrt. Um wieder zu funktionieren, mußte ich erst diese Fesseln sprengen! Kleine Aufgaben stellte ich mir. Aber
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ich löste sie. Und ich fühlte mich stärker, jeder Erfolg ein Pfeiler der Brücke über den Abgrund. Khys, begriff ich, hatte mir diese Zeitspanne zu eben dem Zweck zugestanden, zu dem ich sie nutzte. Das sagte die Sordh und der Ausschnitt von Owkahen, den ich sehen konnte. Es war, ermahnte ich mich selbst, zu spät, Ereignisse zu korrigieren, die sich seit so langer Zeit vorbereiteten. Ich hatte begriffen, was ich tun mußte, aber es war zu früh, obwohl das ursprüngliche Kand eingebracht worden war, bevor Khys und ich uns das erste Mal gegenüberstanden. Ich rieb mir den Hals, wo der Reif gewesen war. Meine Finger zeichneten ein Threx in den Sand. Zwei Linien auswischend, gab ich ihm einen Reiter dazu. Meinem berittenen Threxmann gab ich die besten Waffen, sogar eine Huija nach Art der Parsets. Die Zeichnung wurde so vielfältig, daß ich bald meine Fingernägel brauchte, um die feineren Linien zu ziehen. Vier Tage und mehr hatte ich im Drogenschlaf gelegen. Es war beunruhigend, daß ich mich nicht einmal erinnern konnte, während dieser Zeit den Waschraum aufgesucht zu haben. Ich glaubte, eine gewisse Trägheit an mir zu bemerken, Drogenrückstände in meinem Kreislauf. Ich zuckte die Schultern, wodurch mein dicker Zopf unter dem Umhang hervor auf den Leib des Threxreiters rutschte. Fluchend wischte ich den feuchten Sand von den Flechten. Dann löschte ich mit der Handfläche das Bild aus und drehte mich im Sitzen, um die Felsen nach ihm abzusuchen. Unbeholfen stand ich auf und strich mir den Sand von den Knien. Er war gekommen. »Khys«, grüßte ich ihn, den Blick auf meine Füße gerichtet. Er war gewillt, mir diese kleine Aufsässigkeit zu gestatten. »Glaubst du«, fragte er mich, »daß du die Reise zum See der Hörner allein bewerkstelligen
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kannst?« Ich erinnerte mich an die beißende Kälte, den brennenden Schmerz, die mich bei früheren derartigen Reisen gepeinigt hatten. Und damals war ich stärker gewesen. »Nein«, gab ich zu. »Ich würde es nicht einmal versuchen.« »In dem Fall kann ich dir möglicherweise helfen, denn du verfügst über genügend Kraft dafür. Es ist eher ein Fehler in deiner Methode.« Seine zusammengekniffenen Augen richteten sich auf die Oniar-M. Ich glaubte, das leichte Flimmern der Luft wahrnehmen zu können, als er eine schützende Hülle um das Schiff legte, bevor er es in seine einzelnen Moleküle zerlegte und die jetzt nicht mehr hier beheimateten Teilchen in ein Universum versetzte, wo die physikalischen Gesetze, nach denen er sie neu geformt hatte, galten. Ich schützte meine Augen mit dem Arm vor dieser schattenvertilgenden Helligkeit. »Du willst mich unterrichten?« fragte ich ungläubig, immer noch heftig blinzelnd. »Ich habe dich die ganze Zeit schon unterrichtet. Es ist meine Gewohnheit, zu lehren. Wenn du auch nur den bescheidensten von den Gipfeln, nach denen du strebst, ersteigen willst, solltest du dich meinen Lektionen nicht verschließen.« Und mit sicheren Strichen zeichnete sein langer Zeigefinger die Topographie der Ebenen in den Sand und daneben das Schema für die Übergänge. Man stößt nicht hindurch, sondern bewirkt einfach Übereinstimmung und fordert synchronen Austausch. Entmutigt und mit schmerzenden Fußspitzen richtete ich mich wieder auf. »Ich bin nicht mathematisch begabt.« Ich verzweifelte an den strengen Richtlinien, die Khys für die Überwindung des Raumes aufstellte. Wahrscheinlich würde ich sie nie beherrschen. Und trotzdem, tröstete ich mich selbst, hatte ich mich
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in der Vergangenheit ganz beachtlich geschlagen. Ungeachtet meiner schlampigen und unordentlichen Methodik war ich Raet entgegengetreten, als Khys es nicht wagte. Und ich war auch die erste gewesen, die den Fuß auf Mi'ysten gesetzt hatte. Khys, mit all seiner Macht, hatte diese Reise nicht unternommen. Obwohl er sich mit den Gaben des Schöpfers besser auskannte, hatte er meines Wissens nie eine Welt erschaffen. »Aber ich habe einen Helsar genommen«, sagte er ruhig, »als deine Urgroßmutter noch nicht einmal gezeugt war. Und was ich getan habe und geworden bin, habe ich allein durch meinen Willen in die Zeit gebracht. Keine Hilfe gab es für mich in jenen frühen Tagen, als die Zukunft Silistras allein in meinen Händen lag. Und ich erkannte die Wahrheit über die Väter, während wir in den Höhlen kauerten. Zuvor hatten wir nur reagiert als Raets Spielzeug. Wir waren unwissend. Wir hatten keine Chance, überhaupt keine.« Für mich war es, als glitten die Jahrhunderte zur Seite, und ich sah durch seine Augen leblose Bilder der Qual und Verzweiflung. Sie hatten gesordhet, diese wenigen, aber es gab keinen Namen für diese Fähigkeit. Sie hatten in die Zukunft geschaut, aber niemand wollte ihre Warnungen hören. Und als die Zeit herannahte, kamen die Brüder und Schwestern zusammen, Gleichheit des Denkens das Band zwischen ihnen. Jene die sahen, und jene allein, überlebten Haroun-Vhass, den Fall der Menschheit. Er zeigte mir sogar die Höhle Aniet, an dem Tag, als der Stamm der Gristasha in die unterirdischen Gänge geführt wurde, auf daß ihr Blut weiterlebe. »Mit dir«, versicherte er, »und mit deinem Volk würde ich es diesmal leichter haben.« Er streckte mir die Hand entgegen. Ich ergriff sie und stand auf, und so durchquerten wir den Raum. Auf dem Siegel in dem siebeneckigen Zimmer ließ er mich los. Ich hatte keinen Schmerz verspürt, nicht das
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Gefühl, von einer ungeheuren Gewalt durch den Abgrund gezerrt zu werden. Noch war es mein Werk gewesen. Ich war ihm lediglich auf dem Weg gefolgt, den er bereitete. Khys wußte es. Er schüttelte den Kopf, tadelnd, daß ich es nicht wenigstens versucht hatte. Ich öffnete den Mund, um ihn zu fragen, warum er meine Kräfte vermehrt sehen wollte. »Keine Fragen«, erinnerte er mich streng. Er drehte sich um und trat ans Fenster. Ich schloß den Mund und stieß schweigend den Atem aus. Ich wußte nicht einmal, welcher Tag es war, obwohl es meiner Schätzung nach der drittvierte Grinar sein mußte: M'tras hatte Khys beschuldigt, dem Ablauf des Ultimatums um einen Tag vorgegriffen zu haben. Meine Hände suchten den Zopf unter dem Umhang und lösten die Flechten. Würde er, fragte ich mich, mir jetzt wieder den Reif umlegen, da es nicht mehr nötig war, meinen Körper durch den Raum zu teleportieren? »Nein«, sagte er leise von seinem Platz am Fenster her. »Nicht jetzt. Unsere Reise ist noch nicht zu Ende.« Seine Stimme klang dumpf vor Traurigkeit. »Laß mich allein«, flüsterte er. »Carth hält sich in den Bädern auf. Frag ihn. Bei Sonnenuntergang komm wieder hierher zurück.« Angst überfiel mich, als ich zum ersten Mal allein die Räume im Turm des Dharen durchwanderte. Man spricht wahr, wenn man sagt, daß der des Triumphs Entwöhnte seine Süße nicht schmecken kann. Es bedeutete mir nichts, daß der Reif fort und ich freier war als zuvor. Aber ich suchte Halt in der Zeit. Chayin mußte ich aufsuchen, und Sereth mußte ich gegenübertreten und wiedergutmachen, was Khys' Estri gesagt und getan hatte. Und Sandh. Ich sprang die Treppe zwei Stufen auf einmal hinab. Hinab und herum und wieder hinab trugen mich meine nackten Füße sicher über den
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mit Taernit verkleideten Stein. An Khys mochte ich nicht gern denken, die Zukunft war bereits festgelegt, seine Traurigkeit und Zurückgezogenheit verrieten es. Ich schob die Gedanken an ihn beiseite und befreite mein Bewußtsein von den Erinnerungen an Dellin, M'tras und Politik. Andere Nachrichten waren mir wichtiger. Was hatte der Dharen gesehen, von dem ich nur eine unklare Ahnung empfing? Carth hielt sich tatsächlich in den Bädern auf, inmitten des Dampfes und der zischenden Steine, wie auch noch ein gutes Dutzend anderer. Ich schloß daraus, daß es später Nachmittag sein mußte. Später bewölkter Nachmittag, berichtigte ich mich, nach einem Blick auf das Seeufer. Leise suchte ich mir einen Weg bis zu seiner Bank, die den heißen Steinen am nächsten war. »Carth!« Ich schüttelte seine feuchte, schwitzende Schulter. Mit einem Grunzen rollte er auf die Seite. Sein Gesicht war zerschlagen. An seinem rechten Arm entdeckte ich eine Wunde, die nur wenige Tage alt sein konnte. »Denkst du nicht, du hättest das draußen lassen sollen?« Er grinste und suchte nach meiner Hand. Ich wurde rot. Tatsächlich trug ich noch immer das seidene Wickeltuch und Khys' Umhang. »Presti m'it tennit«, sagte er ruhig und setzte sich auf. Ich ließ mich neben ihm nieder. »Was ist dir zugestoßen?« fragte ich ihn. »Was ist dir zugestoßen«, parierte er und betrachtete mich verwundert. Ein Stück Faden hing in seinen schwarzen Locken. Ich zog ihn heraus. »Khys sagte, du würdest meine Fragen beantworten.« Ich löste die Spange des Umhangs an meinem Hals. »Zuerst laß mich dir gratulieren.« Der Sinn seiner Worte war klar — der Reif. »Es ist nur eine Annehmlichkeit, fürchte ich. Sag mir, welches Datum heute ist, Carth. Und was geschah, als
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Chayin Liuma fand? Und erzähl mir, wo Sereth war. Und was hat Khys so lange am See festgehalten?« Von einem Mann wie Carth bekommt man keine Antwort, ohne die dazugehörigen Fragen gestellt zu haben. »Und wie bist du zu diesen Wunden gekommen? Die Geschichte möchte ich auch hören.« Carths Lächeln war reuevoll. Es erinnerte mich an unsere erste Begegnung, in den Crellgruben von Nemar. Er schien denselben Gedanken zu haben, denn er rieb sich das linke Handgelenk, an dem sich dunkel die alten Narben der Ketten abzeichneten. Der Mann auf der nächsten Bank ächzte und reckte sich. »Du scheinst wieder ganz du selbst zu sein.« »Und du etwas mitgenommen. Bitte, Carth.« »Nicht mitgenommen — aufgenommen! In Khys' Ratsversammlung.« Seine Stimme klang ungläubig. »Ich glaube«, sagte ich mit Nachruck, »daß du dich bei mir entschuldigen solltest.« Wie zornig war er auf Khys' Estri gewesen, als sie andeutete, daß etwas dergleichen geschehen würde. Ich betrachtete ihn aus halbgeschlossenen Augen, in Erwartung seiner Antwort. »Darauf«, meinte er ernüchtert, »und auf alles andere, was mit dir zu tun hat, bilde ich mir nichts ein. Aber ich schäme mich auch nicht.« Er rieb sich das Kinn, entdeckte einen Bluterguß. »Ich werde dir sagen, was du wissen mußt«, fügte er hinzu. »Aber nicht hier.« »Wo dann?« Den geliehenen Umhang über dem Arm, rutschte ich von der Bank. »Auf dem Weg dorthin, wohin du gehen wollen wirst, sobald ich mit meiner Geschichte zu Ende bin«, entgegnete Carth trocken und ließ sich behutsam zu Boden gleiten. Was immer ihm zugestoßen war, es sah mehr nach einem Fall aus großer Höhe aus als nach menschlicher Gewalt. Sein Körper war übersät mit blutunterlaufenen Stellen, und seine Bewegungen wirk-
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ten steif. Schweigend gingen wir an den Bänken vorbei. Auch während Carth sich wusch und die schmucklose Robe der Ratsmitglieder anlegte, wechselten wir kein Wort. Gleichfalls schweigend führte er mich durch ein Labyrinth mir unbekannter Korridore. Nicht einmal als wir zwischen zwei steifen, schweigenden Arrars am Eingang eines vergitterten Ganges hindurchgingen, sprach er ein Wort. Er geleitete mich zu ein paar abgetretenen Stufen hinter einer massiven Stratüre. Er gab ein Klopfzeichen, und die Tür wurde von innen geöffnet. Ich hörte die Kette der Sperrklinke rasseln, und es kam mir seltsam vor. Die Stufen wurden von Fackeln beleuchtet, die Wächter waren mürrisch und abweisend. Sie prüften Carth jeder mit einem Knurrlaut, er jedoch führte mich ohne weiteren Aufenthalt die glitschige Treppe hinunter. Für diesen Ort hatte man keine gefangenen Sterne verschwendet. Ein Schauer lief über meine Haut. »Warum hast du mich hierhergebracht?« flüsterte ich, als wir einen besser erleuchteten Treppenabsatz erreichten, von dem drei Gänge abzweigten. »Ich wollte, daß du den Ort siehst. Setz dich«, forderte er mich auf. An einer Wand standen Holzbänke. Ich ließ mich vorsichtig nieder und legte mir wegen möglicher Splitter den Umhang unter. »Erzähl«, drängte ich ihn. Er blieb stehen und stützte sich mit dem Arm gegen die Wand. Als massiger Schatten über mir aufragend, begann er zu sprechen: »Ich wurde von Khys angewiesen, ihn so ausführlich wie möglich über Sereth und den Cahndor unterrichtet zu halten«, gestand er zögernd. »Um diesen Auftrag auszuführen, befand ich mich im zweiten Stockwerk, als du entführt wurdest. Daher war ich unmittelbar hinter Sereth und Chayin, als sie eilig die Lagerstatt verließen, um mit nichts als den blanken Schwertern nachzufor-
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schen, was vorgefallen sei. Auf der Treppe konnte ich sie nicht einholen. Ich erreichte sie nur, weil Gherein ihnen auf der obersten Stufe entgegentrat.« Und ich erinnerte mich an die Schritte, die ich zu hören glaubte, während ich in Khys' Wohnung den M'ksakka gegenüberstand. Wären sie nicht aufgehalten worden, hätten sie mich gerettet. Jetzt wußte ich also, wer von Silistra den M'ksakka geholfen hatte. »Es tut mir leid, Carth. Ich habe den Faden verloren«, entschuldigte ich meine Unaufmerksamkeit. »Ich weiß schon warum«, bemerkte er, nahm seine Erzählung aber an dem Punkt wieder auf, an dem er sie unterbrochen hatte. »Gherein befahl ihnen, nach draußen zu gehen, wo sie den Leichnam Liumas finden würden, Estri, versicherte er uns, sei hier nicht anzutreffen. Und als sie an ihm vorbei wollten, ließ er es nicht zu, sondern tadelte sie für ihren Unglauben. Er war, erinnerte er sie, der Erste unter Khys' Räten. Dann verlangte er, sie sollten sich zu Boden werfen und ihm ihre Verehrung erweisen. Das war für Gherein nicht ungewöhnlich, und ich dachte mir nichts dabei. Doch überredete ich ihn, beiseite zu treten und Sereth das Zimmer durchsuchen zu lassen. Es war eine Sache von Idhs!« Er breitete die Hände aus, seine Augen waren zu schmalen Schlitzen zusammengekniffen. »Sereth«, fuhr Carth fort, »beherrschte sich bewundernswert. Oder so schien es, abgeschirmt von seinem Schild wie er war. Nicht ein Wort sagte er, sondern drängte sich an Gherein vorbei, während ich ihn ablenkte. Der Cahndor machte daraufhin kehrt und hastete die Treppe hinunter. Ich glaube, da wußte er Bescheid, wenn nicht schon vorher. Kaum daß die beiden verschwunden waren, sagte Gherein mir Tasa und ging. Es vergingen nur Idhs, bevor Sereth wieder auftauchte. Sie müssen sich in der Halle
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begegnet sein. Er war geistesabwesend, bleich. Er suchte den Pfad vor sich. Erst dann dachte ich daran, dich zu suchen. Und ich fand nichts.« Seine Stimme klang bitter. »Ich war geistesgegenwärtig genug, ihm die Treppe hinab zu folgen.« Er verstummte. »Carth . . .« Ich berührte seinen Arm. »Carth, bitte.« Er stellte einen Fuß auf die Bank und stützte den Ellenbogen auf den Oberschenkel. »Sereth beeilte sich nicht«, sprach er weiter, und ich konnte sie vor mir sehen — Sereths Rücken, während sie die Stufen hinuntergingen, seinen Griff nach dem Arm des anderen Mannes. Und Sereths furchtbaren Gesichtsausdruck sah ich in Carths Erinnerung. Schweigend folgte Carth ihm in die Kuppelhalle mit dem Fußboden aus Archit und durch die gewaltigen Türflügel. Er machte sich nicht die Mühe, die aufgeregten Fragen der Posten zu beantworten, sondern lief die Stufen hinab. Carths Gedanken suchten nach dem Dharen, erkannten, daß er bereits auf dem Weg war. Also folgte er Sereths halbnackter Gestalt in den späten Nachmittag hinaus, um den Turm des Dharen herum, wo Chayin neben der Leiche kniete. Bis auf die Tatsache, daß ihr Hinterkopf zerschmettert war, hätte man glauben können, sie schliefe. Der Cahndor saß mit untergeschlagenen Beinen neben ihr, die Augen geschlossen. Eine kleine, zurückhaltende Menschenmenge hatte sich auf dem weißen Gehweg angesammelt. Alles war still. Sereth blieb einen Augenblick stehen. Er schob sein Golmesser in die Hülle. Dann ging er hin und setzte sich rechts neben dem Cahndor auf den Boden. Sein Knie berührte das Bein des Cahndor, als er die gleiche Haltung einnahm wie Chayin. Auch er schloß die Augen. Auf Chayins Zeichen hin würden sie mit der Totenklage beginnen, aber die Parsets gewähren ihren Toten eine Zeit der Stille, damit der Kummer zu seiner ganzen
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Größe anwachsen kann, bevor er in den Wind hinausgesungen wird. Man liebt, im Augenblick des Verlustes, wie man zuvor niemals lieben kann. Die Parsets nennen es ihr größtes Geschenk an die Toten. Es kommt mit Schweigen und geht mit Gesang, das Aufsichnehmen des Chaldras der Erde. Auch Carth setzte sich, rechts neben Sereth, denn er hatte die Nemarchan kaum gekannt. So saßen sie immer noch, als Khys herankam und vor ihnen stand. Carth erhob sich, mit der Absicht, den Dharen zu beruhigen, ihn daran zu hindern, das Schweigen zu brechen. Khys' Gesichtsausdruck hielt ihn zurück. »Sereth«, schrie Khys, »ich brauche dich. Du hast dich schon zu lange aufgehalten. Führe meinen Willen aus. Bring mir Gherein!« Mit weißen Knöcheln umklammerte er seinen Chald. Seine Stimme tönte über den See der Hörner. Ein unehrerbietiger Ebvrasea schrie hoch über den Wolken. Sereth öffnete die Augen und musterte Khys unbeteiligt. »Ich bin im Moment«, sagte er kalt, »anderweitig beschäftigt. Frag mich an einem anderen Tag.« »Jetzt!« fauchte Khys. Seine Augen unter den gewölbten Brauen veranlaßten Carth, einen Schritt zurückzutreten. »Wenn du wiedererlangt hast, was verlorenging«, sagte Sereth, senkte den Kopf und nahm seine vorherige trauernde Haltung wieder ein. »Bei Tagesanbruch, oder ich werde mit dir verfahren wie mit Gherein«, warnte Khys. Und er drehte sich herum und ging den Weg zurück, den er gekommen war. »Aber Sereth schien nicht gehört zu haben, auch Chayin nicht«, erinnerte sich Carth. »Sie blieben sitzen. Die ganze Nacht hindurch, hörten wir ihre Totenklage.« Während ich ihm lauschte, breitete sich erneut Angst in
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mir aus. Ich spürte, wie sich die Haare an meinem Arm aufstellten. Um nicht sehen zu müssen, was er noch zu berichten hatte, verschloß ich mich gegen sein Bewußtsein. Aber ich wußte jetzt, daß er keinen Fall getan hatte. Und warum er mich hierher gebracht hatte. Carth, der meine Erregung bemerkte, ging neben mir in die Hocke. »Bei Sonnenaufgang befahl mir Khys, zehn Männer meiner Wahl zu nehmen. Außerdem bat er mich zu versuchen, den Cahndor aus dem Konflikt herauszuhalten. Das war unmöglich.« Er schüttelte den Kopf, sein Mienenspiel ein bloßer Schatten in dem trüben Licht. »Wir verloren sechs Mann, allesamt ausgezeichnete Kämpfer, bevor wir sie überwältigen konnten. Ich nahm an, du würdest zuerst Sereth sehen wollen. Der Cahndor sitzt in dem Turm des Dharen gefangen.« Ich hörte ihn kaum. Ich suchte nach Sereths Bewußtsein. Es hätte einfach zu erreichen sein müssen, so nah. Ich fand nichts. »Was . . .?« Es war unhörbar. »Was hat man ihm angetan?« Carth zuckte die Schultern, lehnte sich mit dem Rücken gegen die Mauer. »Wir verloren sechs Mann. Wir mußten sie bewußtlos schlagen. Eines Mannes Wunden heilen schlecht, wenn er in Ketten liegt.« Ich starrte ihn an. Ich wußte ganz gut, welche Wunder der Heilung am See der Hörner möglich waren. Was mit Gherein oder Khys war, interessierte mich nicht mehr. »Werden sie leben?« fragte ich und erhob mich. Ich hatte nicht die Absicht, neben Carth sitzenzubleiben. »Keiner wird an den Wunden sterben, die wir ihnen zugefügt haben. Khys hat nur das Datum für Sereths Tod bestimmt.« »Natürlich. Es ist eine Sache, einen Arrar zu töten, und etwas anderes, den Cahndor von Nemar und Mitcahndor der Eroberten Länder hinzurichten.« Meine
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Stimme bebte. »Sei nicht zu sicher«, sagte Carth leise. »Khys hat über beide das Urteil gefällt, und es war für beide gleich. Estri . . .« Ich wich vor seiner Berührung zurück und drückte das Gesicht an die kalte Mauer. Ich wollte nicht weinen. Ich wollte ihn sehen. Und ich wollte ihm helfen, irgendwie. »Bring mich zu ihm«, befahl ich und richtete mich auf. Während wir den mittleren Gang hinuntergingen, sprach ich kein Wort mit Carth. Er war klug genug, seinerseits das Schweigen nicht zu brechen. Oder mich zu berühren. Hätte er mich in diesem Moment angefaßt, hätte ich mich auf ihn gestürzt und ihm die Augen ausgekratzt. Zorn ließ meine Nerven erzittern. Meine Glieder bebten, aber nicht aus Furcht. Vor einer Wisperholztür, die sich in nichts von den anderen unterschied, blieb er stehen. Ich strich mir das Haar zurück und reichte ihm Khys' Umhang. Dann erst bemerkte ich den Unterschied zwischen dieser Tür und denen daneben. Sie trug eine Nummer: vierunddreißig. Als Carth einen Schlüssel aus seinem Gewand zog und aufschloß, senkte sich ein Nebel über mich. Ich sah Threxreiter, bewaffnet, und sie waren unzählbar. Ja, dachte ich, zumindest Chayin würde gerächt werden. Dann trat ich in das noch tiefere Halbdunkel der Zelle. Ich hörte ein Rascheln, und etwas Pelziges huschte über meinen Fuß. Also gab es Yits unter dem Turm des Dharen. Irgendwie fand ich es angemessen. Nur sehr spärliche Helligkeit fiel durch einen handbreiten Schlitz hoch unter der Decke. Meine Füße traten auf das trockene Schilf, das den Boden bedeckte. An der Wand war es zu einem Bündel zusammengescharrt, und dort hatte man ihn mit Ketten gefesselt, die ihm nicht genug Spielraum ließen, sich hinzulegen. Die Handschellen an seinen Gelenken hätten einem Hulion widerstanden. Er
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war nicht bei Besinnung. Ich kniete mich neben ihn. Sein Haar war blutverklebt. An seinem gesamten Körper waren die Spuren von Carth und seinen Auserwählten zu erkennen. Während ich ihm Kraft zuströmen ließ, bedachte ich die Richtigkeit meines Handelns. Vielleicht wäre es gütiger gewesen, ihn in seiner Ohnmacht zu belassen, bis Khys ihm das Bewußtsein zurückgab, um seine Hinrichtung zu erleben. Aber ich konnte es nicht. Und er war in großer Not. Meine Hände taten für ihn, was möglich war, und ich verbrauchte viel von meiner Stärke, bevor sein Geist willens war, wieder in seinen Körper zurückzukehren. Ich erkannte es an seinem Puls und seinen Atemzügen. Die Augen bewegten sich unter den geschlossenen Lidern. Ich beugte mich über ihn, bis unsere Gesichter nur noch eine Handbreit voneinander entfernt waren. Seine dunklen Augen betrachteten mich eine Weile ohne Erkennen. Dann schloß er sie wieder. »Sereth . . .« Die Worte blieben mir im Halse stecken, ich bohrte mir die Fingernägel in die Handflächen. »Bitte, sieh mich an. Verzeih mir, was geschehen ist. Und was ich tat.« Und er öffnete die Augen. Seine Hand, die Ketten vergessend, suchte die meine. Die Eisenglieder klirrten. Er verzog die Lippen. »Es ist gut dich zu sehen, Kleines«, sagte er langsam. »Du hast mir Sorgen gemacht.« »Was kann ich tun?« flüsterte ich. »Nichts. Es ist alles getan«, antwortete er. »Wir scheinen die Plätze getauscht zu haben.« Und tatsächlich trug er einen Reif. »Sereth, unterwirf dich Khys. Bitte ihn um Gnade.« Sein Lächeln war nur ein Schatten. »Es ist nicht in der Sordh«, murmelte er und versuchte sich besser aufzurichten. Ich legte den Kopf an seine Schulter. Er zuckte zusammen. »Es ist nicht«, sagte er tröstend, »so
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schlimm, wie du es machst. Ich bin früher schon dem Tod nahe gewesen.« Ich mußte mich in Verstellung flüchten, um ihm nicht den Glauben zu nehmen. »Warum?« fragte ich ihn. »Warum ist das geschehen?« Meine tränenerstickte Stimme verriet mich. »Mein Sinn für das was angemessen ist, hat die Überhand gewonnen«, erwiderte er. »Estri, laß es gut sein. Versuche in der Sordh Trost zu finden. Oder bei Chayin. Ich kann dir keinen geben.« Und ich sah in ihm, daß er an die Dinge dachte, die ich zu ihm gesagt hatte, als ich ihn nicht kannte. »Sereth«, bettelte ich, »ich liebe dich.« Ich sagte es zu ihm, wie er es zu mir gesagt hatte, während die Erinnerung an ihn ausgelöscht war. Wir beide hatten uns seltsame Momente ausgesucht für diese Worte, die so gewöhnlich sind und so leicht über die Lippen kommen, außer man spricht sie zu dem, den man wahrhaftig liebt. Er stieß ein rauhes Lachen aus. Sein Blick heftete sich für einen Moment auf Khys' Zeichen, das einzige Glitzern in diesem Dämmerlicht. »Das ist sehr beruhigend«, meinte er. »Du solltest diese Erkenntnis vor dem Dharen geheimhalten«, fügte er hinzu und hustete. Mir zog sich das Herz zusammen bei dem Gedanken an meinen Plan, ihn um seiner selbst willen von meiner Liebe zu befreien. In meinem Hochmut hatte ich geglaubt, das tun zu können. Ich würde mit Khys eine Lüge gelebt haben, um ihn zu retten. Nie war mir der Gedanke gekommen, die Zeit könnte Sereth von seinen Gefühlen für mich heilen. Sein Schild war undurchdringlich. Als ich aufstand, fragte ich mich, welche Fähigkeiten er besaß, daß er trotz des Reifs der Stille um seinen Hals einen Schild aufrechterhalten konnte. »Wir werden«, versprach ich ihm, »eines Tages doch noch unversehrt auf der Ebene von Astria stehen.«
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Das Klirren der Kette hörte ich und sein leises, trockenes Lachen. »Mag sein. Owkahen hat mich in letzter Zeit nicht sehr begünstigt«, sagte er, als ich mich zum Gehen wandte. »Ich würde nicht darauf zählen.« Blind vor Tränen, die ich ihm nicht zeigen wollte, stolperte ich aus der Tür in ein etwas lichteres Halbdunkel. Carth stieß sich von der Wand ab, um das Schloß zu verriegeln. Als er mir tröstend die Hand entgegenstreckte, spuckte ich darauf. Man hat mir gesagt, meine Augen seien manchmal wie Dolche, und in diesem Moment wünschte ich mir mit aller Kraft, daß es so wäre, und ich eines herausreißen könnte, um es nach Carth zu schleudern. Er, eher verletzt als zornig, wischte die Hand an seinem Gewand ab. »Möchtest du den Cahndor sehen?« fragte er und hielt mir den Umhang hin. »Ja«, zischte ich, »ich will den Cahndor sehen.« Ich hakte die Schließe des Umhangs zu. Ich kann mich nicht mehr daran erinnern, in das vierte Stockwerk hinaufgestiegen zu sein, noch an unseren Gang durch den Korridor, der so lange Zeit das einzige gewesen war, das vom See der Hörner zu sehen man mir erlaubt hatte. Khys hatte es nicht für angebracht gehalten, den Cahndor von Nemar in seinem yitverseuchten Gefängnis unterzubringen. Er hatte mir einmal von diesen düsteren Kerkern erzählt, aber ich hatte es für eine Gleichung gehalten, das Produkt eines obskuren Humors. Carth, der Telepath, nahm Teil an meinen Gedanken, doch ohne etwas zu sagen. »Welchen Tag hat Khys für Sereths Tod bestimmt?« fragte ich, als Carth vor der Tür vor der Gefängniszelle stehenblieb. Ein Schauer überlief mich, denn der Raum, den sie für Chayin ausgewählt hatten, war derselbe, in dem ich anfangs untergebracht gewesen war. Hier hatte ich geschmachtet, während man mich meiner Erinnerung
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und meines Selbst beraubte. Und hier erwartete der Cahndor von Nemar den Tod. Während er das Kombinationsschloß an der Tür entriegelte, teilte Carth mir mit, daß es bis zu Sereths Hinrichtung noch eine Spanne weniger einen Tag dauerte. Sechs Tage. Wenn ich ihn bis dahin nicht befreit hatte, dann nur, weil ich nicht mehr im Fleische wandelte. Carth hielt mir die Tür auf. Hinter mir schloß sie sich mit einem dumpfen Laut. Der Cahndor lag auf der niedrigen, kahlen Bank, das Gesicht zur Wand gedreht. Seine Hände waren mit Handschellen auf den Rücken gefesselt. Er war nackt, seine ranafarbene, schweißfeuchte Haut schimmerte im Licht des Nachmittagshimmels. Ich trat an das Fenster, vor dem ein goldener Lichtschleier hing, dessen Widerschein über die zartgrünen Wände tanzte. Aus diesem Zimmer, das wußte ich, gab es kein Entkommen. Ich versuchte das Fenster zu öffnen, aber selbst jetzt, ohne den Reif der Stille um den Hals, konnte ich meine Hand nicht durch den pulsierenden Schleier zwingen, um die Scheibe zu berühren. Ich seufzte und wandte diesem allzu vertrauten Anblick den Rücken. »Chayin«, flüsterte ich, neben seinem Kopf kniend, »Chayin«, und verstummte. Der Cahndor brauchte nicht geweckt werden. Ich setzte mich zurück und wartete, während sich meine Augen nicht von dem Schimmer des Reifs der Stille um seinen mächtigen Nacken lösen konnten. Nach einer gehörigen Zeit des Abwartens rollte er sich auf die Seite. Die Membranen hatten sich über seine Augen geschlossen. Sie öffneten sich nicht einmal für den Bruchteil einer Sekunde, so groß war der Aufruhr, der in dem gefangenen Cahndor tobte. »Ist das ein Besuch«, grollte er, »oder bist du in Ungnade gefallen?«
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»Ein Besuch.« Meine Hände, die nach meinem Hals tasteten, begegneten dort seinem Blick. Er kämpfte sich in eine sitzende Haltung, wobei er mir erlaubte, ihm zu helfen. Ihm hatte man nicht so hart zugesetzt wie Sereth, aber gnädig war es auch nicht abgegangen. »Ich war bei Sereth.« Ich fragte mich, was Chayin so lustig finden mochte, da er plötzlich grinste wie in alten Zeiten. »Berichte mir«, verlangte er, »ganz genau, was Sereth gesagt hat.« Ich tat es. »Trag Weiß an dem Tag. Selbst zu Sereths Hinrichtung darfst du keine andere Farbe anlegen.« Den Ton kannte ich. »Ja, Chayin«, antwortete ich leise und suchte in seinen Gedanken nach Antworten. »Nein«, befahl er. Ich gehorchte, obwohl er mich nicht hätte aufhalten können. »Vor langer Zeit habe ich dir bereits einmal gesagt, daß du das nie wieder tun sollst.« Behutsam legte ich einen Finger an seine geschwollenen Lippen, zum Zeichen, daß ich begriffen hatte. Er küßte ihn. »Der Dharen hat heute mittag mir gegenüber eine Andeutung gemacht«, erzählte ich und zog meine Hand zurück, »daß du eines Tages an den Küsten, von denen zu sprechen niemandem erlaubt ist, auf Jagd gehen wirst. Um diese Prophezeiung zu erfüllen, mußt du wenigstens bis dahin am Leben bleiben.« »Ich hege keinen Zweifel«, sagte der Cahndor, »daß ich bis dahin am Leben bleibe.« So tröstete er mich, obwohl er es war, dessen Hände gefesselt waren, er, der mit einem Reif der Stille um den Hals in des Dharen sicherstem Gefängnis schmachtete. Ich legte meinen Mund an sein Ohr und küßte eine Stelle an seinem Hals, die uns viel bedeutet hatte. »Gibt es irgend etwas, das ich tun kann?« flüsterte ich. »Niemand kann uns hören, außer vielleicht Khys
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selbst.« Während ich sprach, formte ich einen Schild für Carth, der zweifellos hinter den golden schimmernden Wänden lauschte. »Nein«, sagte der Cahndor langsam, die Nase in meinem Haar vergraben. »Es ist unser Werk, und unseres allein.« »Auch ich habe meine Kümmernisse.« »Sei tapfer«, ermahnte er mich streng. »Richte den Blick auf Owkahen und halte dich bereit. Obwohl ich jetzt nicht mehr sehen kann, habe ich gesehen.« Seine Augen funkelten, die Membranen öffneten und schlossen sich ruckartig. Wie früher, als niemand über ihm stand, sprach der erwählte Sohn Tar-Kesas. Und ich wußte, daß er immer noch jagte. »Ich könnte von einigem Nutzen sein«, drängte ich ihn. »Ein Besuch zur rechten Zeit dürfte kaum unwillkommen sein.« Ich hatte bereits einen brauchbaren Plan. Meine Hände faßten nach der Schließe an meinem geborgten Umhang, um anzudeuten, was ich vorhatte. »Das«, warnte Chayin, »darfst du auf keinen Fall tun.« Ich hatte daran gedacht, meinen Umhang abzulegen. Unter dem Vorwand, ihn holen zu wollen, hätte ich den Rest der Zahlenkombination für das Schloß aus Carths Gedanken gelesen. Die erste Hälfte kannte ich bereits. »Du mußt bei Khys bleiben, Estri. Begleite ihn, wenn er den See der Hörner verläßt. Vertrau uns. Tu, was ich sage.« Seine Lippen bewegten sich kaum. Er sprach Parsetdialekt. Und obwohl ich geprahlt, hatte, daß mein Schild uns schützen konnte, hegte ich jetzt meine Zweifel. »Wie du es wünschst, Cahndor«, willigte ich ein und stand auf. Khys hatte mir gesagt, unsere Reise sei noch nicht zu Ende. Und jetzt forderte Chayin mich auf, den Dharen an einen anderen Ort zu begleiten. Die Sordh, ihnen so klar erkennbar, fügte sich leicht in das Kand,
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das mir bei dem Klagenden Felsen sichtbar gemacht worden war. Ich schaute hinab auf Chayin, den gefesselten Dorkat, und ich war sehr betrübt. Solch ein freies Geschöpf sollte niemals Halsband und Käfig kennenlernen. Und doch, so wie er es sah, war er nicht gebunden. Ich schüttelte den Kopf, als er grinste, und versuchte, meine ernste Miene beizubehalten. Aber sein Lächeln rief dessen Bruder auf mein Gesicht. Wir waren nicht auf das Leben von Gedanken angewiesen, Chayin und ich. Wir hatten uns gut gekannt, zu einer Zeit, da keiner von uns diese Fähigkeiten ausüben wollte. Damals waren wir unwissend gewesen. Aber wir hatten eine Art der Kommunikation entwickelt, die keiner Worte bedurfte. Ich hatte den Cahndor zuvor schon auf der Jagd gesehen. »Ich muß gehen, Chayin, bevor ich einen Entschluß fasse, der euch gefährlich werden könnte«, sagte ich und wandte mich ab. Ich spürte seinen Blick, als ich an die gepolsterte Tür trat und dagegen klopfte. »Tasa, Estri«, grollte Chayin. »Paß auf dich auf. Wir haben Mangel an Crells in Nemar.« Ich errötete. Wie von allein tastete meine Hand nach Khys' Zeichen auf meiner Brust. Die Tür öffnete sich. Bevor ich hinausging, schaute ich noch einmal zurück. »Ich werde versuchen, dir Uris zu beschaffen, bevor du dich zu Tode schwitzt«, versprach ich und ging. Als Carth die Augen von dem Zahlenschloß hob, begegnete er meinem anklagenden Blick. »Du kannst ihm sein Uris nicht vorenthalten. Es wäre genauso schlimm, als würdest du ihn zurichten wie Sereth und in die rattenverseuchte Zelle fünfunddreißig stecken.« Carth schaute zur Seite. »Sprich zu mir«, höhnte ich. »Arrar, Ratsmitglied, Gefäß der Wahrheit und Gerechtigkeit, erkläre mir, was
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du mir heute gezeigt hast. Du und zehn andere, sagst du, allesamt ausgezeichnete Kämpfer, habt dies getan?« Ich spie ihm die Worte entgegen. »Du mußt taub für deine eigenen Lehren sein, um so etwas tun zu können.« Die Fäuste um den Chald geklammert, wartete ich ab. Es dauerte eine Weile, bis Carth antworten konnte. »Du hast mich außerdem noch gefragt, wodurch Khys so lange am See der Hörner aufgehalten wurde«, erinnerte er mich schließlich. »Ich werde es dir erzählen, wenn du mit mir gehst.« Sein Tonfall war ernst. »Aber stell mir keine Fragen über Recht und Unrecht. Ich habe bis jetzt noch keine Entscheidung getroffen. Ich habe meine Zweifel, aber ich bin unentschlossen. Sobald ich mir über meinen Standpunkt in dieser Sache klar geworden bin, wirst du es erfahren.« Ohne Zaudern erwiderte er meinen Blick. Ich überließ ihm meinen Arm, und wir gingen zu der Treppe, die zu Khys' Gemächern führte. »Khys«, begann Carth in dem Tonfall eines Menschen, der hofft, sich selbst etwas verständlich zu machen, indem er es jemand anderem erklärt, »hat schon seit geraumer Zeit Schwierigkeiten mit Gherein. Und noch länger war er sich bewußt, daß es eines Tages zu einem Vorfall wie diesem kommen würde. Aber er war nicht willens zu tun, was getan werden mußte. Er und andere haben viel Demütigungen erduldet wegen Gherein. Vedrast, den Gherein auf seine Seite brachte, war nicht der einzige. Solche Uneinigkeit in einer Gruppe, deren einzelne Mitglieder sich zu einem Ganzen verbinden, bleibt auf die Dauer nicht ungestraft.« Er ließ seine Blicke durch den Korridor wandern, sein Mund war ein harter Strich in dem dunklen Gesicht. »Kurz vor deiner Entführung, war Khys zu einem Entschluß gekommen. Ich glaube jetzt, daß er sogar
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davon gewußt hat. Aber er wartete ab, um unwiderlegbare Beweise zu haben, wie es in einer solchen Angelegenheit geraten ist.« »Bei Vedrast scheint er das nicht für nötig gehalten zu haben«, warf ich ein. »Du verstehst nicht. Gherein ist der leidenschaftlichste Widersacher des Dharen. Er ist der Anführer einer kleinen Gruppe Gleichgesinnter. Er ist wankelmütig, labil, aufsässig, amoralisch und außergewöhnlich begabt. Er ist unfruchtbar. Er ist Khys' Sohn.« Wir kamen an eine Nische mit einer Bank. Ich setzte mich hin. »Und was ich schrieb, was Khys' Estri geschrieben hat . . .« Er lächelte grimmig. »Wir kümmern uns darum. Wir sind aufmerksam geworden. Aber ehe Khys in seiner Ratsversammlung einen Seegeborenen durch ein Mischblut ersetzte, wagte niemand darüber zu sprechen. Zwischen Vater und Sohn war das die ausschlaggebende Beleidigung. Gherein war mehr als bereit mit seinen M'ksakka-Handlangern. Sein Standpunkt in der Zeit ist niemals fehlerhaft, nur der Gebrauch, den er davon macht. Als Khys ein Kind mit dir zeugte und das Kind seinen Erwartungen entsprach, mußte Gherein handeln. Er glaubte seine Erbfolge gefährdet. Und zu Recht!« Mit diesen Worten bestätigte er, was ich gesehen hatte. Meinetwegen und wegen des Kindes, das ich geboren hatte, war es zum Bruch zwischen Vater und Sohn gekommen. »Khys liebt ihn?« fragte ich. »Zweifellos. Er hat eine ganze Reihe von Angriffen Ghereins, privat und öffentlich, hingenommen. Gerüchte besagen, daß er seinem Sohn dreimal gestattete, ihm im Zweikampf gegenüberzutreten. Und dreimal hat er ihm das Leben geschenkt.« »Aber diesmal nicht«, murmelte ich. Ich erinnerte mich an Ghereins Versuch, mich zu vernichten, während
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meiner ersten Prüfung. Und diese Dinge, die er zu mir gesagt hatte, während ich noch Khys' Estri war, die nichts davon begriff. Bei dem Fest hatte er mit mir gesprochen. Und mir fiel auch wieder ein, was Khys an jenem Abend zu Sereth gesagt hatte. Ich war dabeigewesen, als Khys den Entschluß faßte, Sereth auf Gherein anzusetzen. Jetzt sah ich Ghereins Worte und sein Benehmen seinem Vater gegenüber aus einem neuen Blickwinkel. »Sereth sagte einmal zu mir, als ich die Art, wie er seinen Sohn Tyith behandelte, kritisierte, daß, auch wenn einmal der Tag käme, da der Junge ihn mit zwei Schwerthieben entwaffnen könne, es bis dahin für sie beide nötig sei, zu wissen, daß es jetzt noch nicht soweit sei.« »Bei den Seegeborenen liegen die Dinge nicht so einfach. Zeit ist die Waffe; der Wille ihre Schärfe.« »Und doch ist die Waffe nicht mehr wert, als der, der sie trägt«, zitierte ich wieder den Ebvrasea. »Und Owkahen der Kreis, den wir jeden Tag aufs neue betreten«, fügte ich hinzu. Carth zupfte einen Fussel von seinem Gewand. »Khys hat Gherein bis jetzt noch nicht festnehmen lassen, obwohl manche glauben, die Suche nach dem vornehmsten Mitglied seines Rats hätte ihn die letzten Tage vom See der Hörner weggeführt. Als er Sereth und Chayin in ihren Zellen besuchte und zu ihnen sprach, war er zorniger, als ich ihn je erlebt habe. Er bestätigte, daß er sie genauso behandeln würde wie Gherein. Es war dieselbe Strafe, die er ihnen angedroht hatte, als sie neben der Leiche Liuma Totenwache hielten. Zeugen hatten es gehört. Er konnte seine Worte nicht zurücknehmen. Und er wird es auch nicht tun«, warnte er mich. »Mußt du mich ständig ermahnen?« »Allerdings. Noch diene ich ihm.« »Und ich diene ihm ebenfalls. Aus eben diesem Grund werde ich jetzt gehen.« Ich erhob mich zu einem
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schnellen Abschied. »Solltest du je dein Joch abschütteln«, rief ich zurück, »und dein Leben in die eigenen Hände nehmen, gib mir Bescheid. Bis dahin laß eine Endh zwischen uns sein.« Ich lief den Gang hinunter. Laß eine Endh zwischen uns sein. Es ist ein alter, sehr alter Ausspruch, der von einem noch älteren Sprichwort herstammt, in dem darauf hingewiesen wird, wie wichtig es ist, eine Endh Vorsprung vor dem Jetzt beizubehalten. Wenn man nur eine Endh in die Zukunft sehen kann, wird man alles Wissenswerte schon vor der Zeit erfahren, so daß man sein Handeln in Übereinstimmung mit der Sordh planen kann. Der würdige Mann auf der Flucht vor seinen Verfolgern verlangt nicht mehr. Ich lächelte auf der Treppe. Es war die richtige Beleidigung im genau richtigen Moment gewesen. Man würde sehen, welche Wirkung meine Worte auf Carths erschütterten Sinn für Angemessenheit hatten, wie man seine Sicherheit noch weiter untergraben konnte. Ist ein Mann von der Richtigkeit seines Tuns überzeugt, kann niemand ihn erschüttern. Wenn aber nicht, wandert er von einem Herrn zum anderen und sucht außerhalb seiner selbst, was er in seinem Innern nicht findet. Das Bedürfnis nach Rechtschaffenheit, dachte ich, läßt sich in einem Mann wie Carth auf die Dauer nicht verleugnen. Mehr hatte ich nicht tun können, als ihn so überzeugend zu schelten. Aber es war notwendig gewesen, damit er nicht das Schuldgefühl in mir bemerkte. Ich hatte seinen Blick nach innen gelenkt, was immer nützlich ist. Man kann seine Aufmerksamkeit nicht auf zwei Punkte gleichzeitig richten. Am Ende der Treppe blieb ich stehen und strich meine Haare zurück. Dann tat ich mit geschlossenen Augen ein paar tiefe, regelmäßige Atemzüge. Vor Khys mußte ich alles aufbringen, was mir von meinen Fähigkeiten
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geblieben war. Sobald ich mich gesammelt und einen Blick in Owkahen getan hatte, setzte ich meinen Weg, den Gang aus Ornithalum und Archit hinunter, fort. An dem Huliongobelin vorbei, zu den doppelten Türen aus Thalaholz, ging ich mit abgemessenen Schritten und wartete auf den Augenblick. Die Türflügel standen halb offen. Gesprächsfetzen drangen heraus. Ich lächelte freudlos. Erst mußte jemand den Korridor entlangkommen. Wieder schloß ich die Augen und erwartete ihn. Die Stimmen in dem Raum waren verstummt, als der blonde Arrar, der mich in den Gemächern der Hellseherinnen an das Lager gefesselt hatte, auftauchte. Es war genauso, wie ich es vor mir gesehen hatte. Ich winkte ihn heran. Drei Schritte war er noch von mir entfernt, als ich durch den Türspalt in die Wohnung des Dharen schlüpfte. Es war dunkel in dem Zimmer. Bis auf sie. Die gefangenen Sterne waren erloschen oder als Waffen mißbraucht worden. Ein Leuchten ging von ihnen aus, wo sie sich gegenüberstanden. Feuer tanzte in der Luft. Ghereins Züge waren qualvoll verzerrt, als er seinem Vater jenseits der wirbelnden Flammen gegenüberstand. Khys wandte uns den Rücken zu. Jeder einzelne Muskel spannte sich hart und deutlich unter der Haut, und große Feuerbäche hüllten ihn ein. Hinter mir hörte ich den blonden Arrar die Türe schließen. Dann stand er neben mir. Ich nickte zufrieden. Wir beide genügten als Zeugen. Ein berstendes Dröhnen begann, erst wie das Donnern der Meeresbrandung, dann lauter. Vorläufig versuchten sie, den Gegner einzuschätzen. Scharf umrissen hoben sich ihre regungslosen Gestalten vor dem grellen Flackern der Attacken und Paraden ab. Dann traten sie noch klarer und leuchtender hervor, als das Zimmer um sie zu verblassen begann. Ich spürte ihr
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Verlangen, das meine Kraft begehrte, um ihren Kampf zu nähren. Ich errichtete einen Schild und erhielt ihn aufrecht. Das Verlangen glitt vorüber auf der Suche nach leichterer Beute. Wahrscheinlich würde es noch einmal zurückgekrochen kommen, wenn sie beide so lange überlebten. Der Arrar murmelte etwas. Ich fühlte seine Hand auf meiner Schulter. Und seine Angst war keineswegs unbegründet. Ohne den Blick von Ghereins schwarzbehaarten Kopf zu wenden, weitete ich meinen Schild auf den Mann neben mir aus. Warum, wußte ich nicht, denn er war ein Anhänger Ghereins. Das Dunkel um uns vertiefte sich. Unvermittelt standen meine Füße auf einem anderen, federnden Untergrund, dem eine reiche Vegetation entsproß, als der Kampf sich auf eine andere Ebene verlagerte. Ich schaute nicht nach unten, um nicht für immer dort gefangen zu sein. Meine Ohren schmerzten. Die von dem Wirbel um und um getriebene Luft beutelte mich mit heißen, trockenen Zungen. Ghereins Brauen bildeten eine Linie der Qual über seinen schwarzen Augen, deren Feuer merklich nachließ. Sie sprachen miteinander, irgendwie, in dem Getöse, das mich betäubte. Ihre Lippen bewegten sich. Nur das. Sie waren beide vollkommen still. Und dann fühlte ich es. Vorbote war ein schlaues und rachsüchtiges Lächeln Ghereins. Zweifellos kostete es ihn viel Kraft. Dann, als es verblaßte, begann der Schmerz. Verzehrt von dem Schmerz, gefangen, unfähig, Khys' Griff zu brechen, setzte Gherein sich zur Wehr. Er nahm seine Pein und verbreitete sie mittels seines außergewöhnlichen Talents über den See der Hörner. Ich selbst wand mich auf dem Teppich, mein eigenes Stöhnen in den Ohren. Es dauerte eine Weile, bis deutlich wurde, daß seine eigene Auflösung ihren Anfang genommen hatte. Während dieser Zeit schaute ich auf mein ganzes Leben zurück. Dann wurde ich mir
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wieder des Ortes bewußt, an dem ich mich befand. Dann, daß da noch einer war, der sich neben mir auf dem Teppich krümmte. Und wer es war, der Arrar, fiel mir ein, schließlich auch mein Name, als ich mich mühsam auf die Knie erhob und an dem plötzlichen unbeschreiblichen Gestank würgte. Ich sah Gherein wanken, stolpern und fallen. Sein Gesicht und Körper schienen verbrannt zu sein von dem Feuer, das von ihm ausging. Auf seinem Rücken waren Haut und Fleisch verkohlt und aufgeplatzt. Als er auf das Gesicht fiel, sah ich weiße Knochen durch die Risse schimmern. Dann verging der Schmerz. Die Ordnung der Welt kehrte zurück, nur die flammende Spirale leuchtete so grell, daß ich den Arm vor die Augen legte. Als ich ihn wieder senkte, sah ich nur Khys. Von Gherein war nichts geblieben, keine Asche, kein versengter Fleck auf dem rostroten Teppich. Ich schaute zu der mit Bronzeplatten verkleideten Decke. Statt der zwölf gefangenen Sterne waren es jetzt dreizehn. Khys stand vollkommen bewegungslos. Ich machte keine Anstalten, mich ihm zu nähern, bis das Feuer an seinem Leib erloschen war. Aber ich blinzelte durch das feurige Glühen zu ihm hin und glaubte zu erkennen, daß er unversehrt geblieben war. Der blonde Arrar fing meinen Blick auf. Er war bleich vor Schock und Entsetzen. Ich lächelte und wandte mich ab. Der Körper des Dharen hatte wieder sein alltägliches Aussehen bis auf die starre Regungslosigkeit, aber innerhalb weniger Momente war auch das vorüber. Einen merkwürdigen Ort hatte Gherein sich für diesen Kampf ausgewählt, weder hier noch dort, halb in einer Welt und halb in einer anderen. Khys strich sich mit der Hand über die Stirn. Durch das Fenster hinter ihm war zu erkennen, daß die Abenddämmerung hereinbrach. »Gherein hat mir den Kampf angetragen. Zeugen haben es gesehen. Geh jetzt.« Er
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deutete auf den Arrar, Ghereins Zeugen. »Tu, was getan werden muß. Sag ihnen, daß ich unter keinen Umständen gestört werden möchte.« Der Arrar bewegte sich rückwärts zum Ausgang, die Augen auf den Teppich geheftet. Er tastete hinter sich nach dem bronzenen Türgriff. Sobald er sich entfernt hatte, schob ich die Riegel vor. Khys saß auf der Fensterbank und schaute über den See der Hörner. Während sie kämpften, war die Sonne untergegangen. Ich war froh, pünktlich gewesen zu sein. Ich füllte zwei Schalen mit Kifra und trug sie zu der Fensternische. Gedankenverloren nahm Khys die Schale, die ich ihm reichte. Ich stieg vorsichtig über die Kissenstapel und ließ mich am anderen Ende der Bank nieder. Er schien wieder ein Mensch zu sein. Und tatsächlich war er kein Gott. Ich hatte Götter kämpfen gesehen, und das war nicht ihre Art. Aber natürlich war es Gherein gewesen, der Ort und Waffen bestimmt hatte. Khys würde ihm die Wahl gelassen haben, wie Raet es bei mir getan hatte. Ich trank einen Schluck Kifra und zügelte meine Gedanken. Seine Augen wanderten am jenseitigen Seeufer entlang. Wenn er meine aufdringlichen Gedanken gehört hatte, ließ er es nicht merken. Ich empfand Mitleid für ihn, daß er seinen eigenen Sohn getötet hatte. »Es war seit langem abzusehen. Dreimal habe ich versucht, ihn zur Vernunft zu bringen. Beim nächsten Mal konnte ich meiner Verpflichtung nicht länger aus dem Weg gehen. Ich tat, was die Zeit verlangte. Wenn nicht wegen dir und deines Sohnes, wäre es über die Zahl der Wolken am Himmel zum Zweikampf gekommen.« Seine Stimme klang ruhiger, als mir angenehm war. Ich wußte nicht, was ich sagen sollte. Er hatte auf meiner Anwesenheit bei der von seinem Sohn selbst in die Wege geleiteten Hinrichtung bestanden. Ich hob die
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Schale ohne zu trinken. Über den Rand hinweg sah ich ihn an. Es war keine Trauer in ihm, sondern eine Art Müdigkeit. Daß ich etwas davon merkte, verriet, wie groß sie war. Während die Flüssigkeit meine geschlossenen Lippen berührte, suchte ich nach einer Erwiderung. »Carth«, sagte Khys, als das Klopfen ertönte, ohne den Kopf zu wenden. Er machte eher den Eindruck eines Mannes, der sich auf einen Kampf vorbereitet als eines Siegers, der nach der Schlacht seinen Gedanken nachhängt. Ich ging, um Carth einzulassen. »Dharen«, sagte er auf halbem Weg zu seinem Herrn. »Bestimmt weißt du es.« Seine ganze Haltung wirkte verstört. Khys schloß die Augen. Im Licht der dreizehn Sterne schimmerten seine langen Wimpern kupferfarben. »Sag es mir, Carth. Damit alles so ist, wie ich es gesehen habe.« Ich sah die weißen Knöchel an seinen im Schoß geballten Fäusten. »Der Tod Ghereins verbreitete sich über den See der Hörner. Es ließ sich nicht gleich erkennen, daß er es war. Es gibt Verwundete. Viele andere sind zutiefst beunruhigt, voll Angst. Der Rat tritt zusammen.« »Zeugen haben es gehört«, bemerkte Khys mit einem matten Lächeln. »Du bist jetzt der Erste im Rat. Wähle selbst, wer deinen Platz einnehmen soll. Ich werde morgen zu Mittag mit dir sprechen. In der Zwischenzeit kannst du dir von dem Außenweltler, M'tras, Ghereins Mitwirkung in dieser Sache bestätigen lassen.« »Dazu gibt es keine Veranlassung, Dharen«, wehrte Carth ab. Khys zuckte die Schultern, den Blick immer noch auf den See gerichtet. »Laß uns etwas zu essen bringen. Heute nacht werde ich mich mit meinen Gästen von den Außenwelten befassen. Ich möchte nicht gestört werden. Ich möchte niemanden sehen, dich eingeschlossen,
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bis morgen mittag.« Dann wandte er sich ins Zimmer, und Majestät hüllte ihn ein wie das Feuer die Sonne. »Wenn du dir klar geworden bist über das, was dich beschäftigt, dann komm zu mir. Du wirst bald etwas zu sagen haben, was meiner Aufmerksamkeit würdig ist. Bis dahin will ich nichts von dir hören. Ich befehle dir jetzt zu gehen und auf die Nachricht zu warten, die du bei unserem nächsten Treffen übermitteln wirst. Geh«, schloß er und fügte hinzu: »Carth! Ich rate dir, Umschau zu halten nach dem, was du nicht gesehen hast!« Khys drehte sich wieder zum Fenster. Die Audienz war beendet. Auch ich wandte mich von Carth ab, damit wenigstens eine Idh zwischen uns war. Aber ich konnte mich nicht von dem Bild abwenden, das wie der Abglanz eines Feuers vor meinen Augen stand. Gherein hatte mir Grüße an meinen Vater aufgetragen. Was ich von Owkahen gesehen hatte, ließ mich vermuten, daß ich sie bald würde übermitteln können. Sage deinem Vater, hatte Gherein mich gebeten, welche Bewunderung ich dafür empfinde, daß er eine solche Kraft in die Zeit einbringen konnte. Klarsichtig war Gherein, erkannte ich, als mein Halt in der Zeit deutlicher wurde. »Das war er in der Tat«, sagte Khys ruhig. »Obwohl nicht mehr im Fleische, beeinflußt er Owkahen. Wir beide, du und ich, werden seinen Willen noch eine Zeitlang spüren können.« Ich dachte an Chayin in meinem früheren Gefängnis und an Sereth in seiner erbärmlichen Zelle, und ich machte mir nicht die Mühe, meine Gefühle zu verbergen. »Und du, die du die Crux bringst, wohin immer du gehst, wie kannst du es wagen, über meine Handlungen zu urteilen? Ich dachte manches von dem zu vermeiden, was geschehen ist. Und alles, was Owkahen als nächstes bringt. Doch es wird kommen. Ein Mensch
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kann nur so viel von der Zeit beherrschen. Wenn man eine gewisse Anzahl sich kreuzender Pläne einbringt, kann in einer starken Crux ein neuer Wille aufkommen, wo ein alter erloschen ist. Im Augenblick des Triumphs liegt größte Verletzlichkeit. Und wie sehr verletzlich man sein kann, lerne ich immer wieder: Vermeide, wenn du kannst, solche stolze Nachlässigkeit. Die Zeit strebt nach der Form, die ich ihr lange verweigert habe. Der Widerhall meiner eigenen Trägheit folgt dem Willen eines anderen.« Der Schatten eines Lächelns huschte über sein Gesicht. »Ich sollte meine eigenen Schriften aufmerksamer studieren.« Er betrachtete mich einen Moment geistesabwesend. »Ich frage mich immer wieder, ob du auch nur die Hälfte von dem verstehst, was ich sage. Die Zeit nimmt mit großer Geschwindigkeit eine neue Gestalt an. Du selbst hast solche Augenblicke erlebt.« »Das habe ich«, gab ich zu, aber ich empfand kein Mitgefühl für seine Lage. Ich wußte, daß er es gar nicht anders haben wollte. Dieses Gefühl gibt Halt am Rand des Abgrunds. Ich nickte, denn auch ich hatte dort gestanden. »Sehr oft in solchen Zeiten wird einem die Wahl freigestellt. Nach meiner Erfahrung hat man wiederholt die Möglichkeit, aus dem Kreis herauszutreten, obwohl nur wenige sie ergreifen. Ergreife du sie, Khys.« Er verschränkte die Arme. »Heute werden wir hier zu Abend essen. Dann begleitest du mich zu den Außenweltlern.« »Du darfst den Cahndor nicht so grausam quälen.« Ich meinte Uris. »Aber ich tue es«, meinte er. »So sind sie einander gleich im Leiden.« »Du kannst so nicht weitermachen«, verurteilte ich ihn. »Die Umstände . . .« »Die Umstände erfordern diese Strafe«, unterbrach er
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mich. »Du denkst, sie konnten nicht anders handeln, in Anbetracht ihrer Natur und ihrer Gebräuche. Und ich sage dir, daß ich nicht anders handeln kann, in Anbetracht von Owkahen und dem Recht des Lebens. Bitte nicht für sie. Ich werde dich nicht stören. Vor Zeugen habe ich ihr Urteil gesprochen, und dieses Urteil steht.« Er sprach diese Worte mit erhobener Stimme. Dann stand er von dem Fenstersims auf und trat an sein Lager. Nach einer Weile ging ich zu ihm. Er lag auf dem Bauch, den Kopf auf den gekreuzten Armen, und die Wirklichkeit lastete schwer auf seinem Geist. So hätte es mir ergehen können, dachte ich, und legte endlich das zerknitterte Wickeltuch ab, das ich seit meiner Entführung durch M'tras getragen hatte. Viel war geschehen in diesen fünf Tagen. Morgen, erinnerte ich mich, als ich neben Khys auf den Seidendecken lag, war der Tag, den er den M'ksakka als Ultimatum gesetzt hatte. Aber er hatte nicht gewartet, sondern mich vor der Zeit zurückgeholt. Seine Augen waren geschlossen, sein Atem ging regelmäßig. Er hatte sich nicht zugedeckt, sondern lag auf den Tüchern. Es sah aus, als schliefe er. Ich forderte gedämpftes Licht von den gefangenen Sternen, und sie gehorchten mir, alle dreizehn. Es hätte mich interessiert, wie es dem neuen erging, ob er sich noch seines Ursprungs bewußt war. Aber diese Gedanken ließen mich erschauern, und ich verfolgte sie nicht weiter. Statt dessen freute ich mich über ihren Gehorsam. Als ich einschlief, hoffte ich, im Traum etwas von Khys erfahren zu können, aber ich fand nur Vergessen und verpaßte den Aufgang des Mondes über dem See der Hörner. Carth weckte mich. Ich hatte nicht gewußt, daß er einen Schlüssel besaß. Auf dem Goltisch stand das Tablett mit der Mahlzeit, die Khys befohlen hatte. Carth, die Hand auf meinem Arm, bat mich, ihn anzuhören. Ein
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Blick auf die Brust des Dharen ließ mich bezweifeln, daß er noch schlief, doch ich stand auf und folgte Carth durch die Doppeltür auf den Gang hinaus. Dort stand ich fröstelnd mit bloßen Füßen auf den kalten Steinplatten und schlang mir die Arme um den Leib. »Was ist?« fragte ich flüsternd. Der Abend warf lange Schatten in den Gang. Die wenigen Sterne an der Decke schienen nicht dagegen ankämpfen zu wollen. »Ich habe mich um Chayins Wohlergehen gekümmert«, sagte er leise. »Ich wollte, daß du es weißt.« »Was, wenn Khys aus meinem Bewußtsein von deiner Großzügigkeit erfährt?« bemerkte ich und unterdrückte ein Lächeln. »Er hatte es nicht verboten«, antwortete Carth mit gerunzelter Stirn. »Das stimmt«, gab ich zu. »Nun, wenn du ihre Wunden heilen könntest und ihnen den Reif abnehmen, wäre das ein annehmbarer Beginn der Wiedergutmachung, die du ihnen schuldest. Und die Freiheit — vielleicht könntest du auch darüber nachdenken.« »Estri . . .« »Carth, es fällt mir schwer, dich anzusehen.« Und ich trat in das Zimmer zurück und schloß die Türen vor seiner schattenhaften Gestalt. Gegen das Holz gelehnt, suchte ich meine Gelassenheit zurückzugewinnen. Ich mochte nicht darüber nachdenken, wie mein Wirken die Zeit beeinflußte. »Ich habe zu Carth von Chayins Bedürfnissen gesprochen«, sagte ich leise zum Bett hin. »Sein Herz veranlaßte ihn, sich darum zu kümmern.« Dann stieß ich mich von der Tür ab und suchte in seinem Schrank nach Kleidung. Als ich ihn erreicht hatte, war er aufgestanden. Ich stand ratlos vor meinen Habseligkeiten. Die weiße Galeshirseide, die ich so geliebt hatte, war verloren. Liuma hatte sie getragen, als sie starb. Ich war immer
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noch entschlossen, als er sich zu mir gesellte. »Das ist für dich«, sagte er, auf ein Tasbündel neben meinem Ors deutend. Ich öffnete es und fand eine Tashose, Brustband und Oberkleid. »Vielen Dank«, hauchte ich. »Außerdem, wie versprochen, habe ich einen Ringpartner für dich gefunden. Allerdings glaube ich nicht, daß du die Zeit haben wirst, mit ihm zu üben«, meinte er und legte sein dunkles Gewand an. »Was meinst du damit?« erkundigte ich mich. Meine Freude wurde von seinem unheilverkündenden Benehmen ausgelöscht. »Ich hoffe, daß du schon bald in der Lage sein wirst, deine eigenen Fragen zu beantworten.« »Kann ich mir bei den Fertigern ein neues weißes Kleid bestellen? Das, welches ich hatte, ist nicht mehr da.« »Du kannst dir bei ihnen bestellen, was du möchtest«, antwortete er mit einem neugierigen Seitenblick. Um mich zu beschäftigen, probierte ich die Hose und das Brustband an. Während ich die Verschnürungen für mich passend einstellte, fing Khys an zu essen. Von seinem Platz am Tisch aus erlaubte er mir, da ich kein Gewand besaß, eines von seinen anzulegen. Ich fühlte mich sonderbar in dem üppigen schwarzen Webstoff, den ich zweimal um mich hätte wickeln können. Die Ärmel mußte ich dreifach umschlagen, bevor meine Handgelenke zum Vorschein kamen. Hose und Band hatte ich unter der Robe anbehalten. Morgen würde ich ein weißes Gewand in Auftrag geben. Als ich aus der Ankleidekammer wieder in den eigentlichen Wohnraum trat, saß Khys mit einem gefüllten Teller auf dem Lager. Neben ihm stand ein zweiter, mit der Portion, die er mir aufgetischt hatte. Als er mich sah, grinste er. Khys lächelte gelegentlich. Meistens war sein Gesicht ernst, beherrscht. Ein
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Lächeln kam äußerst selten vor. »Du siehst viel zu jung aus, um Beilager zu halten«, bemerkte er. Ich zog das Gewand enger und ließ mich am Fußende des Lagers nieder. Ohne Anstalten zu machen, nach meinem eigenen Teller zu greifen, wartete ich darauf, den seinen nachzufüllen. Als er aufgegessen hatte, ging ich zum Tisch und gab ihm eine zweite Portion von dem Harth und dem Gulgelee. Außerdem reichte ich ihm einen Becher mit Brin, nachdem ich zuerst davon gekostet hatte. So waren die Gebräuche am See der Hörner. Mir schienen sie aufdringlich verlogen, obwohl ich danach handelte. Khys gab mir ein Zeichen, daß ich jetzt meinen Hunger stillen dürfte. Es war gut, wieder die silistrische Küche zu schmecken nach den Sternenspeisen, die M'tras mir angeboten hatte. Während ich aß, erwachte mein Hunger. Nach der langen Fastenzeit hatte ich erst gar keinen Appetit gehabt. Mein Magen, obwohl überrascht, war mehr als bereit, seine Arbeit wieder aufzunehmen. Khys leerte seinen Becher und gab ihn mir. »Was wirst du mit ihnen tun?« fragte ich, indem ich aufstand, um erneut einzuschenken. »Mit wem?« fragte er, den Silberbecher entgegennehmend, der durch den kühlen Inhalt außen beschlagen war. »Dellin und M'tras.« Ich nützte den Augenblick, um noch einmal zu überlegen. »Was hoffst du bei ihnen zu finden?« »Was sie finden wollen, ist von Bedeutung.« »Und das wäre?« »Einen Weg nach Hause.« »Deine Erklärung erklärt überhaupt nichts«, bemerkte ich sanft. Er schloß die Augen. Ich fand mich auf den Fersen hockend wieder, als er endlich willens war, mich wieder anzusehen. »Kleine Wilde«, sagte er zu mir, »sie
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werden auf Silistra bleiben müssen, bis sie eine andere Reisemöglichkeit entdecken als den Bauch einer Maschine. Bis dahin werden sie sich zu anderen Menschen entwickelt haben, als sie jetzt sind. Und das, womit ich beschäftigt bin, die Erweiterung ihres Vorstellungsvermögens, ist ein Unterfangen, das dich nicht in Verwirrung stürzen sollte. Wenn auch die Einzelheiten auf das Individuum zugeschnitten sein mögen, die Ziele unterschiedlich, bleibt die Methode doch dieselbe.« Ich schüttelte verständnislos den Kopf, beschämt von meiner Unfähigkeit, den Sinn seiner Rede zu begreifen. Doch ich hätte mich nicht schämen brauchen. Nur jemand wie Khys kann derart weitreichende Einflüsse in die Zeit einbringen. Obwohl ich selbst ein solcher Katalysator war, konnte ich die Ähnlichkeit in ihrer Erschaffung nicht erkennen. Ich interessierte mich nicht für das Schicksal von Dellin und M'tras, aber die rasche Aufeinanderfolge der Ereignisse und die Tatsache, daß Khys wenigstens zeitweilig die Kontrolle über Owkahen aufgegeben hatte, beunruhigten mich sehr. So sehr, daß sich an meinem ganzen Körper die Haare aufstellten. Ich wickelte mich fester in die Robe, aber der dicke Stoff konnte meine prickelnde Haut nicht wärmen. Er bat mich, ihn zu den Außenweltlern zu begleiten. Unterwegs prägte ich mir ein, daß ich für ihr Schicksal nicht verantwortlich war. Doch ich glaube jetzt, daß ich Bescheid gewußt haben muß, denn nichts von dem, was folgte, löste Überraschung bei mir aus. Man hatte sie in Nummer Zwölf untergebracht. Obwohl es im gleichen Stockwerk lag, unterschied sich Nummer Zwölf wesentlich von Sereths Gefängnis. Ich fragte mich, ob alle Zellen unterschiedlich waren. Und ich fragte mich, wieviel wohl besetzt sein mochten. Die Zelle aus grob behauenem, braunem Taernit hatte kein Fenster, noch war der Boden mit Schilf bestreut.
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Sie waren nicht angekettet und hatten Felle als Unterlage. Hoch über ihren Köpfen brannten Fackeln in Halterungen, die von der umlaufenden Galerie erreichbar waren. Sie war höher als ein Mann, der auf den Schultern eines anderen stand, springen konnte. Von dieser Galerie aus konnte man sie beobachten, verhören oder töten. Wir machten nur flüchtigen Gebrauch davon. Die Wachen, die bei meinem ersten Besuch hier so mürrisch gewesen waren, gaben sich überaus diensteifrig. Einer geleitete uns zum Eingang der Galerie und öffnete die schwerfällige Balkentür. Den Finger an die Lippen gelegt, winkte Khys mich in den dahinter befindlichen Gang. An seinem Ende gab es einen ungewissen Lichtschimmer. Dort angelangt konnte ich feststellen, daß die Galerie eine Manneslänge breit war. In regelmäßigen Abständen steckten Fackeln in der hüfthohen Schutzmauer. Den Rücken an die braune Steinwand gepreßt, schaute ich nach unten. Sie lagen einander gegenüber auf den Fellen. Beide hatten ein Buch in der Hand. Ich glaubte in der Haltung ihrer Körper bestätigt zu sehen, was mir ihr Schweigen verriet — Feindseligkeit. »Ich hielt es für richtig«, sagte Khys mit leiser Stimme, »sie in einer Umgebung unterzubringen, die mit ihren Vorurteilen übereinstimmt.« Das Humorige dieser Handlungsweise blieb mir nicht verborgen. Ich trat von dem Rand zurück und versuchte, meine Belustigung zu verbergen. Vielleicht war es eine Art Hysterie, aber mir erschien es so überaus passend, daß M'tras seine ersten Eindrücke von Silistra in diesem ältesten Teil von des Dharen Turm sammeln sollte. »Ich habe in Erwägung gezogen, jedem der beiden heute nacht eine ihren Vorstellungen entsprechende Hellseherin zu schicken«, flüsterte er und duckte sich an mir vorbei in den Gang. Das würde ihre Phantasie
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anregen, mußte ich zugeben, während ich ihm folgte. Und es bewies erneut Khys' Sinn für Humor. Aber es gefiel mir nicht. »M'tras hat mich nach Kräften gedemütigt«, bemerkte ich ruhig. Der Wachtposten schloß die Tür vor dem Gang zur Galerie. »Ich halte es für unangemessen von dir, ihn zu belohnen.« Khys hob eine Braue. »Ich möchte ihnen Frauen nicht vorenthalten. In jedem Fall haben sie einander.« Das hatte ich nicht bedacht. Doch ärgerte ich mich immer noch wegen der Leichtigkeit der Hand über ihnen, die so schwer auf Sereth und Chayin lastete. Stumm ging ich neben ihm her, da ich nicht wagte, ihn zu drängen. Durch die schmerzhafte Erkenntnis, nur wenige Türen von Sereth entfernt zu sein und ihm doch nicht helfen zu können, hatte ich die Sache beinahe vergessen, als Khys mich deswegen ansprach. »M'tras trauert um seine Ijiyr. Ich werde sie dir geben. Du kannst damit tun, was du willst. Das, versichere ich dir, ist nach seinen Maßstäben eine ausreichende Strafe für alles, was er dir auch nur in Gedanken angetan hat. Außerdem werde ich nicht verfehlen, ihm meine Entscheidung mitzuteilen.« Es war eine offizielle Transaktion, dort, in den unterirdischen Gefängnissen am See der Hörner. Ich senkte den Kopf unter seinem Blick, damit er mein Lächeln nicht sehen konnte. »Das ist das erste Mal«, sagte Khys, »daß ich ganz deutlich den Schöpfer in dir erkannt habe.« Sein grimmiger Tadel hallte von den Steinwänden wider. »Und es ist ganz sicher«, gab ich zurück, »das erste Mal, daß ich solche Barmherzigkeit bei dir bemerken konnte.« Kühn ließ ich meine Gedanken nach Sereth suchen. Ich fand nur seinen Schild. Mehr hatte ich auch nicht erwartet. Ich tat es lediglich für Khys, damit er sich endgültig vergewissern konnte, daß ich tatsächlich war,
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was er mich genannt hatte. Khys richtete seine Aufmerksamkeit auf das Schloß. »Du empfindest so stark?« hörte ich ihn sagen, während er den Schlüssel probierte. »Es ist eine Blutschuld. Er hat ein Recht auf mein Leben. Und ich habe das Recht, mein Leben zu geben, wem ich will, oder nicht? Du hast bereits, was du von mir wolltest. Die Zeit ruft mich woandershin. Du mußt es wissen. Ich hörte auch deinen Namen in dem Sturm aus dem Abgrund. Auch habe ich dir mein Wort gegeben, daß ich dir helfen werde. Bis zu einem gewissen Punkt bin ich dazu bereit. Wo du hingehst, könnte ich von einigem Nutzen sein, und das weißt du. Sei versichert, daß ich es ebenfalls weiß. Gib mir sein Leben, und die größere Sache nimmt vielleicht einen anderen Verlauf. Wenn ich seinetwegen hier sein muß, kann ich nicht auch noch dort sein.« So sprach ich zu ihm von Sereth und Schicksal und von unserer eigenen Rolle in dem, was geschehen würde. Aber er wollte mich nicht hören. Ich hätte auch nicht auf jemanden gehört, wäre ich mit dem Einbringen und Halten solcher Kands beschäftigt gewesen, wie sie an diesem Abend des drittvierten Brinar 25 697 das gesamte Gefüge Owkahens veränderten. »Nein«, sagte Khys zu meiner ganzen langen Rede. Nicht mehr. Ohne einen Blick auf mich, stieß er die große Tür auf und betrat Zelle Nummer Zwölf. Ich folgte ihm und schloß die Tür hinter mir. Dann blieb ich an das ungeschliffene Ragonyholz gelehnt stehen und sah mich um. M'tras setzte sich auf. Er trug immer noch seine enganliegende schwarze Uniform, die in dieser altertümlichen Umgebung völlig unpassend wirkte. Der in Lichtzeichen sprechende Gürtel um seine Taille fehlte. Er legte das Ors beiseite und zog die Knie an die Brust. Sein Blick traf mich. Er schnalzte. Mir schien es, daß er
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alle Gedanken von sich geschoben hatte und in der Haltung einer Hellseherin vor dem Sprung in Owkahen abwartete. Ich spürte seine physiochemische Furcht, die Verkrampfung seines Körpers durch Schock und Überwindung des Raums und Körperfessel. Am schlimmsten — schlimm genug, daß ich von ihm zurückzuckte und mich Dellin zuwandte — war seine Verwirrung. Was er zu wissen geglaubt hatte, war nicht nur einfach bedroht, es war zerschmettert. Ganze Brücken seiner Weltsicht waren auf den fehlerhaften Fundamenten falscher Annahmen zu Staub zerfallen. M'tras' Wirklichkeit hatte durch die ihm von Khys aufgedrängten Erfahrungen eine grundlegende Änderung über sich ergehen lassen müssen. Er trieb hilflos umher, tastete verzweifelt nach festem Grund. Vielleicht zum ersten Mal ohne seine Maschinen, suchte M'tras Halt in der Zeit. Meiner Meinung nach würde er ihn noch lange nicht finden. Khys stand und wartete. M'tras und ich wußten worauf. Es war eine tollkühne Auflehnung. Meine Augen begegneten Dellins Blick, während Khys mit der Erweiterung von M'tras' Vorstellungsvermögen begann. »Ich habe wenig Zeit«, sagte der Dharen zu dem Mechaniker der M'ksakka, der noch nicht wieder in der Lage war, zu antworten. »Laß dies genügen als Demonstration der Machtverhältnisse zwischen uns.« Er trat zurück und löste seinen mentalen Griff. M'tras wartete regungslos darauf, daß das Zittern seiner Glieder nachließ. Dellin erwies dem Dharen aus eigenem Antrieb die Ehrenbezeigungen. Khys hob ihn kommentarlos auf. Ich erkannte in Dellin eine Stärke, die mir vorher entgangen war. Er hatte Angst, wie es einem verständigen Menschen in seiner Lage zustand. Aber vor dem anderen fühlte er sich bevorzugt. Und er schien stolz auf den Sieg des Dharen zu sein.
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Khys rief mich zu sich. Ich ging hin und stand neben ihm vor Dellin und M'tras. Das Gesicht des letzteren war grauer als ich es in Erinnerung hatte, das Netz der Linien um seine Augen tiefer. Aber er saß aufrecht und schaute dem Dharen in die Augen. »Eine weitere Hinterlist der M'ksakka wurde mir berichtet«, sagte Khys streng. »Vor Sonnenaufgang wird die Nacht zwei neue Sterne beherbergen, wenn auch nur kurz.« »Das wagst du nicht!« »Es ist längst geschehen. Nur hat uns das Licht noch nicht erreicht.« »Ein Leben scheint dir nicht viel zu gelten, auch wenn du etwas anderes behauptest«, bemerkte M'tras. »Hättet ihr nicht zwei unplanmäßige, unangemeldete Schiffe nach Silistra geschickt, brauchtet ihr jetzt keine Verluste zu beklagen. Die Barriere ist ein passiver Schutz. Sie zerstört nur das, was sie zu durchbrechen versucht.« »Du hast Silistra von der übrigen Zivilisation isoliert«, machte M'tras aufmerksam. »Das war meine Absicht«, bestätigte Khys geduldig. »Sie werden nicht ruhen, bevor sie uns wiederhaben.« M'tras' Silistrisch hatte sich in der kurzen Zeit sehr gut entwickelt. Khys und Dellin fanden das amüsant. Khys wandte sich an den Legaten. »Du also. Wirst du eine Nachricht an dein Volk senden, um ihm mitzuteilen, was wir bereits wissen?« »Erlaube mir, dir zu dienen«, erwiderte Dellin und straffte die Schultern. »Und auch deinen Verwandten wirst du eine Botschaft zukommen lassen?« setzte Khys nach. »Sage mir nur, was du möchtest, das sie erfahren.« Dellin wurde immer mehr zu einem Silistrier. »Die Wahrheit, mehr nicht«, sprach der Dharen, die
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Augen zusammengekniffen. »Daß du hierbleiben möchtest, um Chaldra anzunehmen und eine Ausbildung zu erhalten. Daß du bleiben wirst, bis du dir die Lehren des Helsar zu eigen gemacht hast, der auf der Ebene von Astria in deine Hände gegeben wurde. Was sagst du dazu?« »Daß ich mich geehrt fühle«, entgegnete Dellin vorsichtig. »Bei Sonnenaufgang werde ich dich zu deiner Station begleiten. Gemeinsam werden wir eine solche Nachricht aufsetzen. Du wirst sie abschicken. Dann werde ich dich hierher zurückbringen.« Dellins graue Augen verschatteten sich. Er wog seine Verpflichtungen gegeneinander ab. Er warf einen Blick auf M'tras. Dann schaute er wieder zu Khys. »Ich werde deinen Willen tun«, sagte er. »Ich würde es nicht versuchen«, bemerkte Khys in scharfem Ton zu M'tras, die Hände plötzlich in die Hüften gestützt. »Es wird dir nicht gelingen.« Da ich in Dellin die Ursache seiner neugefundenen Würde suchte, hatte ich von M'tras nichts aufgefangen. Aber ich erinnerte mich an ihn und seine Art, während er sich stöhnend den Kopf hielt und auf den Knien hin und her schwankte. Die Erinnerung verlieh mir Standhaftigkeit. Ich musterte ihn schweigend, den Schweiß und die Tränen auf seinem Gesicht. Sereth hatte einmal die Rachsucht kritisiert, die er in mir und dem Cahndor zu erkennen glaubte, und uns beide wegen unseres angeblichen Mangels an Mitgefühl getadelt. Ungerührt starrte ich auf ihn hinab. Auraler Symboliker, Stochastischer Improvisator, der er war, auf dem Taernitboden von Khys' Gefängnis bettelte und flehte er um Gnade wie jeder gewöhnliche Mann. Als M'tras wieder der Sprache mächtig war, stellte der Dharen ihm einige Fragen. Aus seinem Mund hörte ich von Gherein und welche Verdrehungen und Umkehrun-
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gen von Gerechtigkeit und Wahrheit er in sein Bewußtsein aufgenommen hatte. Um über Silistra zu herrschen, hätte Gherein alles gegeben. Er hatte es gegeben, obwohl er nicht dazu berechtigt war. Was Khys zu Carth gesagt hatte, wurde von M'tras bestätigt. Jeder, der Wert darauf legte, die ganze Wahrheit herauszufinden, konnte sie sich von M'tras berichten lassen. Ich wandte mich von ihm ab. Obwohl es mir gefiel, ihn von Khys belehrt zu sehen, ist es nie angenehm zu erleben, wie Stärke zerbrochen wird. Ich beobachtete den Tanz des Fackellichts auf den Wänden. »Estri«, sagte Khys zu M'tras, »hat deine Ijiyr. Ich habe sie ihr gegeben. Und auch dein Leben werde ich in ihre Hand legen.« Ich wirbelte herum und starrte Khys wortlos an. M'tras' Fäuste lagen geballt auf seinen Schenkeln. Der Anblick erinnerte mich an das, was er mit mir getan hatte, was nur zwischen Männern angemessen war. Ich grinste ihn an. Er nahm mich kaum zur Kenntnis. Er äußerte einen Satz in seiner melodischen, bedeutungslosen Sprache. Khys lachte. »Er verwahrt sich überaus entschieden dagegen, Crell zu sein. Wir haben ihn erbarmungswürdig demoralisiert. Vielleicht möchtest du ihn von diesem besonderen Vorurteil befreien.« Ich sah Khys an. Ich wußte, was er von mir wollte. Fröstelnd richtete ich meinen Willen zum ersten Mal auf die Erniedrigung eines Menschen aus. Aber ich konnte es nicht zu Ende bringen. Hilflos breitete ich die Hände aus. Khys nickte, als wäre er über etwas erfreut. Ich rieb mir das Gesicht. Meine Hände waren feucht. M'tras, angespannt und wartend, ließ die Blicke zwischen uns hin und her wandern. »Du mußt, wie es scheint, mit meinem Wort betreffs der Meisterschaft unserer Dharenerin vorliebnehmen.
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Oder vielleicht kannst du dich an Dellin um Auskunft wenden, den ich dir als Berater hierlasse. Höre ihm gut zu, Yhrillyer, damit du über dem Improvisieren nicht den Grundakkord vergißt.«
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6 Das Ordnen der Dinge
Später an diesem Abend zeigte er mir die Sterne am Himmel. Mit dem bloßen Auge betrachtet, schienen sie unbedeutend. Und tatsächlich waren sie nur für die Welt von Bedeutung, die sie ausgesandt hatte. Silistra war nie in Gefahr. Er zeigte mir auch noch andere Dinge in dieser Nacht. »Was bedeutet dieses plötzliche Ordnen deiner Angelegenheiten?« fragte ich ihn flüsternd, nachdem er seine ausgedehnten Vorbereitungen beendet hatte. »Genau das. Am frühen Vormittag werde ich mit Dellin in der Station sein. Carth wird dich aufsuchen, bevor ich zurückkomme. Bewahre deine Gelassenheit, wie immer seine Botschaft lauten mag. Du kannst mir keinen größeren Dienst erweisen.« Ich küßte ihn auf die Schulter. Wenn man, allen vernunftsmäßigen Instinkten zum Trotz, innere Ruhe bewahren muß, ist eine Atmosphäre äußerer Ruhe sehr hilfreich. Es war ein Maßstab seiner Schwierigkeiten, daß er mich angesichts dessen, was auf ihn zukam, um Hilfe bat. Ich versprach ihm diese Hilfe und ahnte nicht, wie schwierig es sein würde, dieses Versprechen zu halten. Als ich erwachte, war er fort. Ich rieb mir den Schlaf aus den Augen und trat ans Fenster, um durch einen Blick nach draußen Zeit und Wetter festzustellen. Und dann sah ich es, nahm es mit meinen schlaftrunkenen Sinnen aber nicht zur Kenntnis. Ich wandte mich nur ab und zog Hose und Brustband an. Anschließend machte ich mich auf die Suche nach Rana und einem Frühmahl.
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Beides fand ich im Erdgeschoß. Es war die Küche der Arrars, in die ich hineingeriet. Niemand erhob irgendwelche Einwände. Die Dharenerin, dachte ich, konnte essen, wo immer sie wollte. Dann entdeckte ich den blonden Arrar, der Ghereins Zeuge gewesen war. Ich wandte mich ab, um die Begegnung zu vermeiden, aber gleich wieder zurück, als ich die Sinnlosigkeit meines Bemühens erkannte. Ich war die einzige Frau in der mit einer großen Anzahl von Tischen und Bänken eingerichteten Archithalle. Die Männer vor und hinter mir bewahrten ein eisiges Schweigen. Der Zuteiler, der Grütze mit einem Schuß Salsa ausgab, schnitt mir eine Grimasse und fragte nach dem Wetter, während er meinen Teller füllte. »Möchtest du Wasser in deinen Rana?« fragte er. »Eigens deines Rana wegen bin ich hierher zum Frühstück gekommen«, log ich. »Ich möchte den Schlaf vertreiben, statt ihn mit mir nach draußen zu nehmen.« Der blonde Arrar hatte eine Hand auf meinen Arm gelegt. »Weißt du, was geschehen ist?« erkundigte er sich. »Von was genau sprichst du?« »Es sind keine Hulions mehr am See der Hörner.« »Und wann sind sie verschwunden?« »Gleich nach dem Tod meines Herrn«, entgegnete er und trat näher an mich heran. Ich verließ die Reihe. Es warteten noch andere. »Setz dich zu mir«, drängte er. »Nein.« Ich schüttelte seine Hand ab und suchte mir einen freien Platz entlang der Wand, wo ich mich nach Art der Töter niederhockte und die Schüssel zwischen den Beinen hielt. »Warum erzählst du mir das?« fragte ich nach einer Weile, da er keine Anstalten machte, sich zu entfernen. Ich wünschte mir, er hätte gewartet, bis mein Kopf etwas
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klarer war. Der Rana war atemberaubend stark und dampfend heiß. Ich nippte vorsichtig. »Es betrifft dich«, antwortete er. »Du mißt mir größere Bedeutung bei als ich verdiene, Arrar.« »Das bezweifle ich.« Er grinste. Ich kam zu dem Schluß, daß er schon länger wach sein mußte als ich. »Beschreib mir den Weg zu den Fertigern«, bat ich. Er willigte ein, mich zu begleiten. Innerlich ärgerte ich mich. Es war dumm gewesen, hierher zu kommen. Ich hatte für die Zeit bis zur Rückkehr des Dharen andere Pläne gehabt. Ich trank meinen Rana und reichte ihm die leere Tasse. »Du kannst mir noch etwas davon holen, wenn es dir nichts ausmacht.« Ich wartete, bis er seinen Platz in der Reihe eingenommen hatte. Der Mann vor ihm sprach ihn an. Seine Gedanken stellten abwehrend die Stacheln auf. Nach mir fragte ihn der andere. Seine knappe Antwort verriet nichts. Inzwischen war ich richtig aufgewacht und spürte immer mehr die Crux, die die Luft um mich herum förmlich zum Knistern brachte. Jeder einzelne Nerv in meinem Körper machte sich bemerkbar. Mein Puls schlug heftig. Es gab keine Hulions mehr am See der Hörner. Bei Ghereins Tod waren sie verschwunden. Ich ermahnte mich selbst, nicht einen falschen Zusammenhang zwischen diesen beiden Vorfällen zu sehen. Und welchen Nutzen konnte ich aus dieser Information ziehen, da ich nicht wußte, in welcher Funktion sie sich am See der Hörner aufgehalten hatten? »Vielleicht hat Khys sie an einen anderen Ort gerufen«, meinte ich, als er mit zwei Tassen zu mir zurückkam. Er lachte. Der Klang gefiel mir nicht. Aber schon von Anfang an hatte mir eigentlich gar nichts an diesem hellhaarigen Seegeborenen gefallen. »Wie ist dein Name?« fragte ich, die heiße Flüssigkeit
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in der Tasse schwenkend. »Ase«, erwiderte er. Ich kannte bereits jemanden dieses Namens. Er ist nicht ungewöhnlich im Nordosten. »Ich hatte vor, die Arbeit des Dharen mit unseren neuen Gefangenen fortzusetzen«, teilte ich ihm mit. »Deshalb bin ich auf der Suche nach Carth, um die Schlüssel zu holen. Weißt du, wo ich ihn finden kann?« »Er hat sich zurückgezogen und möchte nicht gestört werden, bis Khys zurückkehrt.« Seine Befriedigung war offensichtlich. Ich fragte mich, was er so erfreulich an dem Verschwinden der Hulions finden mochte. »Ich habe nur wenig Zeit«, meinte ich entschlossen. »Ich fürchte, ich werde ihn stören müssen.« Er schaute mit zusammengekniffenen Augen auf mich hinab. Ich spürte seine suchenden Gedanken und ließ ihn sehen, was ich für richtig hielt. »Ich habe die Schlüssel«, sagte er und musterte mich nachdenklich. »Ich könnte mit dir hinuntergehen, nachdem du bei den Fertigern gewesen bist. Wir sollten Carth lieber nicht stören. Immerhin ist er ein Ratsmitglied.« Aus seiner Stimme tropfte Gift wie von den Zähnen einer Sumpfslitsa. Auf sein Wort war Verlaß. Und er war auch der Mann, den Khys mir als Ringpartner ausgesucht hatte. Es war eine überzeugende Demonstration seiner Macht: mein Leben in die Hand des bevorzugten Arrars seines Sohnes zu legen. Wir gingen eine lange Treppe hinunter. »Hol deine Ausrüstung«, drängte er mich, als wir durch die Flure gingen. »Ich möchte eine Runde mit dir versuchen.« Ich war mit Freuden bereit, seiner Aufforderung zu entsprechen. Ansonsten herrschte zwischen uns abwartendes Schweigen, das nur unterbrochen wurde, wenn unsere geistigen Pfade sich kreuzten.
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»Warum trauerst du nicht um Gherein?« fragte ich laut. »Ich führe immer noch seinen Willen aus.« Seine Stimme klang scharf. »Sobald ich meine Aufgaben zu Ende geführt habe, werde ich mir die Zeit nehmen, über ihn und seine Werke nachzudenken.« Wir kamen an eine Kreuzung von sechs Gängen. Ich sah keine Fenster. »Befinden wir uns in den Untergeschossen?« Er nickte und führte mich in den nordwestlichen Gang, der nur kurz war und von dem keine Tür abzweigte. Dafür befand sich an seinem Ende eine Stratür, die sich zu einem großen, in einzelne Gelasse unterteilten Raum öffnete. Aus einem dieser Gelasse kam auf den Ruf des Arrar eine Frau heraus. Bei ihr gab ich ein Gewand in Auftrag, gleich dem, das ich verloren hatte. Außerdem bestellte ich ein weißes Tashemd; einen Umhang mit einem Besatz aus kurzem, weißem Brist; drei lange Seidenwickeltücher, alle weiß; ein Golmesser; drei Schwerter, die ich sorgfältig auswählte, und das Lederzeug, das zu solchen Waffen gehörte. Eine der Klingen war merklich schwerer als die andere. »Die Übungsklinge sollte das gleiche Gewicht haben, wie die Waffe, die man zum Kampf trägt«, kritisierte er. »Ich habe es immer so gehalten.« Es stimmte nicht. »Mein Lehrer war Rin diet Tron von Astria. Wer war deiner?« »Seegeborene üben sich nicht in den Fertigkeiten der Töter.« Seine Stimme drückte aus, daß er mir einen Gefallen tat, daß er eine solche Beschäftigung eigentlich für weit unter seiner Würde erachtete. »Der Dharen hat mir versichert, du würdest mich nicht töten.« »Da wäre ich nicht so sicher«, meinte ich und fügte meiner Sammlung noch ein zweites Golmesser hinzu. Alles, bis auf die schwerere Klinge, ließ ich in die Wohnung des Dharen bringen, während ich sie in eine
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Hülle schob, nachdem ich mit der Spitze meinen Arm geritzt hatte. Der Seegeborene hob die Augenbrauen, als ich an der kleinen Wunde saugte. Offenbar war es am See der Hörner nicht Sitte, eine neue Klinge Blut schmecken zu lassen, bevor man sie in die Hülle steckte. »Führe mich zu euren zivilisierten und luxuriösen Gefängnissen, o Weichling«, sagte ich beleidigt. Er grinste und geleitete mich in einen Gang mit so vielen Windungen und Abzweigungen, daß ich zu fürchten begann, ich könnte in diesem Irrgarten verlorengehen. Nach entsetzlich langer Zeit gelangten wir endlich in einen Korridor mit Türen links und rechts. »Welche Zelle?« fragte er mich und zog den Schlüsselbund aus seinem Gewand. »Vierunddreißig«, sagte ich mit trockenem Mund. »Das wäre hier.« Er blieb stehen, steckte den Schlüssel ins Schloß. »Wie lange dachtest du zu bleiben?« »Eine Endh vielleicht.« »Das bedeutet eine lange Wartezeit für mich.« »Sie wird sich für dich lohnen«, versprach ich ihm. »Das möchte ich hoffen«, bemerkte er und stieß die Tür mit der Schulter auf. Er betrat die Zelle und verschwand in dem grünlichen Dämmerlicht. Ich hörte das Knistern der Schilfhalme, dann ein Geräusch wie von Fleisch auf Fleisch. »Wach auf, Arrar«, hörte ich, und dann wieder ein gedämpftes Geräusch. Ich konnte das Schilf unter meinen Füßen spüren. Angestrengt bemüht, etwas zu sehen, tastete ich mich in das Halbdunkel hinein. »Verschwinde hier«, zischte ich den massigen Schatten meines Führers an. Er verschmolz mit der Dunkelheit. Holz schabte gegen Stein, und es wurde noch finsterer. Meine Hände fanden ihn schließlich. Er flüsterte eine Begrüßung.
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Als ich seinen Gruß erwiderte, begann seine Gestalt sich in den Schatten abzuzeichnen. »Hast du Chayin gesehen?« fragte er. Sein Benehmen zwang mich Abstand zu halten, obwohl ich ihm gern den Kopf an die Brust gelegt hätte. »Ja. Er bat mich, zu deiner Hinrichtung Weiß zu tragen. Ich begreife das nicht. Ich trage keinen Reif mehr. Mit dem Arrar, der mich hergebracht hat, kann ich fertig werden. Er hat die Schlüssel.« Ich bemerkte das Eis in seinem Blick und wußte, noch während ich sprach, daß er ablehnen würde. »Noch vor Mittag wird Carth kommen, um mich zu suchen. Mit mir in deiner Gewalt würde er dir den Reif abnehmen. Du darfst hier nicht bleiben. Gherein hat ihn herausgefordert. Gherein ist tot. Die Hulions haben den See der Hörner verlassen. Khys gibt zu, daß er den Halt in der Zeit verloren hat. Sereth, erlaube mir, dich zu befreien.« »Du glaubst nicht, daß ich gegen ihn bestehen könnte?« fragte er mich sehr leise. Ich suchte seinen Blick, aber er schaute auf das Zeichen des Dharen, das von meinem offenen Hemd nur halb verdeckt wurde. »Ich begreife nicht, wozu das gut sein soll.« »Wohin kann ein Mann vor Khys fliehen? Estri, überlaß das mir. Misch dich nicht in Männerangelegenheiten. Ich will ihn herausfordern, und ich halte das für richtig. Berichte mir lieber von Ghereins Tod.« Ich erzählte es ihm. Er streckte sich auf dem Schilf aus, das unter ihm knackte und raschelte. Die Ketten klirrten. Ich wünschte mir, alles wäre vorbei und entschieden. Er fragte mich nach der Methode und Art der Konfrontation. Er fragte mich nach M'ksakka. Nicht einmal erhellte sich sein Blick, nicht einen Moment lang fand ich in ihm das, weshalb ich hergekommen war. Als ich alle seine Fragen beantwortet hatte, bat er mich zu gehen. Schweigend gehorchte ich.
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Der Arrar, dem weder mein Gesichtsausdruck noch das vorzeitige Ende meines Besuchs entging, drängte mich nicht, mein Versprechen gleich an Ort und Stelle zu erfüllen. »Sereth«, hatte ich gebettelt, »laß mich dich lieben.« »Ein letztes Mal? Nein. Wenn ich dich haben will, werde ich dich nehmen«, hatte er geantwortet. »Jetzt laß mich allein. Ich brauche Ruhe.« Die Zeit, dachte ich, als Ase mich zum Ausgang begleitete, ist außergewöhnlich widerspenstig. Ich wäre lieber anderswo gewesen als in Khys' Wohnung, um auf Carth zu warten. Doch Ase brachte mich bis zu Tür. Dann zögerte er, seiner Wege zu gehen. »Ich werde dich bedienen«, sagte ich auf der Schwelle. »Aber nicht in der Wohnung des Dharen, wenn Carth jeden Moment auftauchen muß.« Er ragte vor mir auf, sehr blond und seegeboren. »Wir werden«, gab er nach, »zu einem günstigeren Zeitpunkt zusammenkommen.« »Du hast ohnehin nichts getan, das eines Beilagers mit mir würdig wäre«, beschuldigte ich ihn. »Nein, noch war das der Grund, aus dem du den Ebvrasea aufgesucht hast. Aber du hast recht. Ich erwartete etwas von dem Augenblick, doch es trat nicht ein.« »Auch ich hatte mir von dieser Begegnung mehr erhofft.« »Davon bin ich überzeugt«, sagte er, an den Türrahmen gelehnt, »wäre der Augenblick fruchtbarer gewesen, würdest du nicht hier sein, um Carth zu treffen.« Er deutete den Gang hinunter. Wahrhaftig sah ich Carth auf uns zukommen. »Das stimmt«, entgegnete ich in dem gleichen trockenen Ton. »Vielleicht kommen wir im Ring besser zurecht. Ich für mein Teil habe Schwierigkeiten, manches zu begreifen.«
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Als Carth näherkam, schien es mir, daß er mein Schicksal mit sich brachte, gleich einem dunklen Mantel, der alles Licht um ihn aufzehrte. Carth ging in Schatten gehüllt, obwohl das Tageslicht durch die Fenster strömte, und die Sterne unter der Decke gehorsam leuchteten. Ich hörte Khys' Stimme in mir, die Gelassenheit forderte, ungeachtet der Nachricht, die Carth bringen mochte. »Du entschuldigst mich?« »Natürlich. Ich habe ein Buch zu lesen«, sagte er mit einem flüchtigen Grinsen. »Über Kandern bestimmt.« Ich las es in seinem Bewußtsein. »Tasa«, verabschiedete er sich. Offenbar legte er keinen Wert auf ein Zusammentreffen mit Carth. Er stieß sich vom Türrahmen ab und war kurz darauf um eine Biegung veschwunden. Mit einem Frösteln sah ich Carth entgegen, jetzt der Erste unter Khys' Ratsmitgliedern. »Hast du dich der gegnerischen Seite angeschlossen?« fauchte er und schob mich grob vor sich her ins Zimmer. »Khys ist noch nicht zurückgekehrt«, teilte ich ihm mit und schüttelte seinen Griff ab. Ruhe, ermahnte ich mich selbst im Angesicht von Carths furchteinflößender Laune. »Der Dharen hat mich gebeten«, stieß ich zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor, »nach Möglichkeit eine Atmosphäre der Normalität aufrechtzuerhalten, in der er mit einem Mindestmaß von Ablenkungen seinen Pflichten nachkommen kann. Du bist nicht sehr hilfreich.« Ich setzte mich auf den Rand des Lagers. Carth wanderte auf dem Teppich davor hin und her, als wäre Chayins Geist in ihn gefahren. Er schnaubte. »Und diese Atmosphäre möchtest du von unter der Erde aufrechterhalten? Ich spürte Ases
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Vorsatz im Schlaf, so stark war er. Und der deine war es gleichfalls. Glaubst du, er wußte nichts von deinem Plan? Er wartete nur darauf, um einen Grund zu haben, noch ein Kand seines Herrn einzubringen.« »Willst du mir erzählen, daß Ase mir in den unterirdischen Gängen nach dem Leben trachtete?« »Ebenso sicher, wie du bereit warst, ihn zu töten.« Carth verhielt den Schritt, um mich zornerfüllt anzustarren. Ich zuckte die Schultern. »Wir hatten beide keinen Erfolg. Sereth will Khys' Rückkehr abwarten. Chayin lehnt gleichfalls jede Hilfe ab. Warum? Was veranlaßt sie dazu?« Ich schnallte den Waffengurt ab, legte ihn beiseite. »Ihre Männlichkeit, nehme ich an.« »Männlichkeit bringt jemanden dazu, seine eigene Hinrichtung abzuwarten?« Carth stemmte die Fäuste in die Hüften. Verachtung zeichnete sein Gesicht. »Warum stößt ein Mann diesmal an seine Grenzen, und ein andermal nicht? Ich kann es nicht sagen. Was Sereth betrifft, so vermute ich, daß es mit dir zusammenhängt, und damit, was du geworden bist.« »Reden wir nicht darüber, was ich geworden bin. Davon habe ich in den letzten Endhs genug gehört.« »Wie gesagt, es ist nur eine Vermutung. Während einer Crux gibt es nur sehr wenig Klarheit. Er bringt seine Kands ein. Sie sind nicht ohne Wirkung. Seine Talente sind nicht wie unsere. Du hast die abgeschwächte Wirkung des Reifs der Stille an ihm bemerkt. Mag sein, er ist ein echter Silistrier oder ein Vorgeschmack auf das, was unsere Kindeskinder sein werden. Unter diesen Umständen, da Khys durch sein eigenes Wort verpflichtet ist, ihm dieselbe Chance zu geben wie Gherein, könnten ihm seine Fähigkeiten hilfreich sein.«
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»Du hast ihn gefangengenommen. Wie kann er vor den Kräften bestehen, über die Khys verfügt?« flüsterte ich und sah ihn vor mir, immer noch von seinen Wunden geschwächt, kalt und trotzig in seiner Zelle. »Zehn Arrars und ich waren an der Gefangennahme beteiligt. Sereth verachtet Helsarkräfte als Waffen. Und mit gutem Grund, da die meinen nicht die geringste Wirkung auf sein Bewußtsein hatten. Er forderte physischen Kampf, und es wurde gewährt. Sein Schild beschützt ihn vor allem, außer Stahl oder Stra.« In Carth Erinnerung sah ich es: Sereth und Chayin im dritten Stockwerk in die Enge getrieben. Sie lächelten nicht an jenem Tag. Zwischen Sereths Füßen lag ein übel zugerichteter Leichnam. Sereth hatte entweder seinen Schild auf Chayin ausgeweitet, oder der Cahndor hatte gelernt, selbst einen zu erschaffen. Immer wieder stieß Chayins Bewußtsein hinter dieser Barriere hervor. Einer seiner Schläge, der der räumlich begrenzten Turbulenz, wischte Carth von den Beinen und schleuderte ihn gegen die Wand. Und ich sah, wie sie in dem Ansturm der Neun untergingen. Vier weitere starben, zwei durch einen verzweifelten Hieb des Cahndor. Damit war Chayins Kraft verbraucht, und er stürzte besinnungslos über den letzten Mann, den er niedergeworfen hatte. Die fünf Überlebenden machten sich ihren Spaß mit Sereth. Ich unterbrach die Verbindung. Dabei wollte ich nicht zusehen. »Es wundert mich«, sagte Carth, »daß du dir solche Sorgen um sie machst. Hast du keine Gefühle für Khys? Für Sereth bist du schon lange keine Frau mehr. Ein Symbol für sein Versagen höchstens, für seine Demütigung, seinen Verlust.« »Wieder bei dem, was ich geworden bin? Carth, ich will es nicht hören. Was ich bin, dazu habt ihr, Khys und du, mich gemacht. Was genau das ist, weiß ich nicht. Weswegen Sereth und Chayin beleidigt sind, wenn man
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es beleidigt nennen kann, übersteigt mein Begriffsvermögen. Aber ich habe nie verstanden, was Männer so als Schicklichkeit verkünden. Es ist mir auch gleich. Ich habe Gefühle für Khys. In mancher Beziehung sind sie gemischt. Aber in einem bin ich mir ganz sicher. Er herrscht schon zu lange am See der Hörner.« Carth stand mit dem Rücken zu mir am Fenster. Seine Stimme klang sehr leise. Und sehr traurig. »Kind des Schöpfers, vielleicht erleben wir schon bald das Ende dieser Herrschaft. Und es wäre ein großer Verlust, sollte das geschehen. Es ist schade, daß niemand dir eine ausreichende Perspektive geben konnte. Andererseits«, er seufzte, »wir hatten eine Perspektive, und was hat es uns genützt? Du hast Estrazis Zielen gedient. Khys hielt dich für so schwach und zerbrechlich, daß er, obwohl er vorgewarnt war, glaubte, mit dir spielen zu können, ohne dabei Schaden zu nehmen. Er nahm einen Traum und ließ ihn Wirklichkeit werden. Aber in diesem Traum hat er sich verirrt. Und ich frage mich, ob er rechtzeitig erwachen wird.« Er drehte sich zu mir herum, die Hände rücklings auf den Sims gestützt. »Das Kind«, sagte er, »ist verschwunden.« Ganz in Gedanken an Chayin, Sereth und an das Crux schaute ich ihn an, ohne zu begreifen. Dann drangen seine Worte in mein Bewußtsein. Ich lächelte über sein ernstes und sorgenvolles Gesicht. Genüßlich reckte ich mich und stand auf. Was ich gesehen hatte, war bestätigt worden. Crux oder nicht, es paßte alles zusammen — Vorhersage mit dem aus der Zeit geborenen Augenblick. Unsere Abreise von dem See der Hörner hatte ich gesehen. Auch unser Ziel war mir gezeigt worden. Aber obwohl ich den Grund ahnte, hatte ich ihn zeitlich nicht eingepaßt. Um Ruhe hatte Khys mich gebeten. Ruhe sollte er haben. Er, der sogar gewußt hatte, daß mein unerlaub-
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ter Besuch bei Sereth Carth veranlassen würde, mich vor seiner Rückkehr aufzusuchen, konnte auf meine rückhaltlose Unterstützung in dieser Sache rechnen. »Hast du keine Tränen für deinen Sohn?« fragte Carth ungläubig. »Er war nur Gast in meinem Leib. Was sein Verschwinden betrifft, so hatte ich Khys deswegen gewarnt. Angst steht dir nicht zu Gesicht. Khys hat zweifellos seine Gründe. Wenn du ihn so sehr liebst, wie du behauptest, solltest du ihm das Vertrauen schenken, dessen er würdig ist. Er ist noch nicht gestürzt. Unsere Tränen sollten wir deshalb noch zurückhalten, damit wir nicht heraufbeschwören, was wir befürchten.« Er zog es vor, meinen Sarkasmus zu überhören, nickte nur und ließ sich auf den Kissen der Fensternische nieder, um die Ankunft des Dharen zu erwarten. Die Sonne strebte dem höchsten Punkt ihrer Reise zu. Ich suchte die Sordh. Durch die Nebel und Sümpfe der Crux kämpfte ich mich voran. Und fand schließlich eine Erinnerung. Alles, was ich über Blutschuld und Ehre gehört hatte, ließ ich an mir vorüberziehen. Nach diesen Maßstäben wog ich ab, was zwischen mir und dem Arrar Ase vorgegangen war, während wir uns gegenseitig nach dem Leben trachteten. Und die unbezahlte Blutschuld für den Dienst, den ich ihm erwies, als wir als Zeugen dem Kampf zwischen Khys und Gherein beiwohnten, fiel mir wieder ein, und auch was das bedeuten konnte, in Anbetracht einer Lektion, die ich einst bei Sereth gelernt hatte. Vor einiger Zeit hatte das Leben eines Mannes in meiner Hand gelegen. Sein Name war Lalen gaesh Satemit. Ein Crell, gebürtig aus der Stadt Stra. Er war zusammen mit anderen Dingen in meinen Besitz gekommen, als ich den Chald der Tiask Besha übernahm. Ich hatte ihn freigelassen. Später hatte er sich mehr als bereit erwiesen, mir auf eine Laune
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Sereths hin den Kopf abzuschlagen. Und ich dachte an Sereth und Chayin in ihren Zellen. Und M'tras, der sich in meiner Gewalt befand. Und ich begann zu verstehen, auf welche Art mir zu dienen erlaubt war und wie nicht. Aber ich nahm mir diese Erkenntnis nicht genug zu Herzen, indem ich sie für nichts weiter hielt als Einsicht in das, was geschehen war. Diese Information, als Belehrung und Vorbereitung gedacht, bewertete und deutete ich falsch. Ich beschloß lediglich, mich vor Ase zu hüten und behutsam mit M'tras umzugehen. Aber immer noch hatte ich nicht begriffen, daß ich mich in Chayins und Sereths Kands nicht einmischen durfte. Carths Augen, die mir Löcher in den Kopf zu bohren schienen, drängten sich in meine Konzentration. »Deine Einfältigkeit überrascht mich immer wieder«, meinte er, immer noch gereizt nach unserem langen Schweigen. »Dann schlage ich vor, daß du dich aus meinen Gedanken heraushältst, wenn sie dir schlechte Laune verursachen.« Was er darauf vor sich hin murmelte, konnte ich nicht verstehen. »Erzähl mir von den Hulions«, schlug ich vor. Ich stand auf und durchwanderte das ganze Zimmer. Als ich die Dinge, die ich bestellt hatte, auf dem Goltisch liegen sah, hob ich sie auf. Carth gab keine Antwort. Mit einem Schulterzucken trug ich die Pakete ungeöffnet zu Khys' Kleiderzimmer. Vor Carth wollte ich nicht auspacken. Unterwegs nahm ich mir noch die Klinge, der ich mein Blut zu kosten gegeben hatte, und erklärte, daß Khys einen Ringpartner für mich gefunden hatte. In der Kammer tauschte ich das Lederhemd, das ich trug, gegen das Tashemd aus. »Weiß, keine andere Farbe«, hatte der Cahndor befohlen. Außerdem nahm ich den neuen, mit weißem Bristpelz verbrämten Umhang aus dem Paket und vom
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Haken den Umhang des Schöpfers. Khys, dachte ich, würde ihn auf seiner Reise tragen wollen. Dann suchte ich noch sein zweitbestes Lederzeug heraus. Bestimmt wollte er nicht unangemessen prunkvoll erscheinen. Ich legte die Sachen über den Arm, trat an das Lager und stapelte sie dort auf, seine Ausrüstung auf der linken Seite, meine rechts. Carth schaute mir zu, wobei sein Gesicht ständig den Ausdruck wechselte. Als ich fertig war, setzte ich mich am Fußende des Lagers auf die Fersen, wie Khys es gerne sah. Ich hatte Carth im Blick und die Stelle, an der der Dharen auftauchen würde. Carth konnte Gedanken lesen. Also gab ich ihm etwas zu tun. »Estri . . .« »Carth, wenn ich in deinen Augen so wenig gelte wie in ihren, dann kann ich dieser Wenigkeit in mir wohl den Willen lassen.« Ich hatte, eigens für ihn, über Dinge nachgedacht, von denen ich sicher war, daß sie gleich geschehen würden. Sein aschgraues Gesicht bereitete mir Genugtuung, obwohl es sogleich von Khys' Gestalt verdeckt wurde. »Hast du eine Nachricht für mich?« fragte er schroff, an Carth gewandt. »Ja, Dharen.« Carth erhob sich, plötzlich unbeholfen. »Du kennst sie«, sagte er. Dann: »Das Kind ist verschwunden, keiner weiß wohin. Es geschah in dem Augenblick von Ghereins Tod, als diese Erfahrung den ganzen See der Hörner erschütterte. Es wurde nicht gleich entdeckt, und noch später erst berichtet. Alle Verdächtigen sind in Gewahrsam.« »Es gibt keine Verdächtigen«, unterbrach ihn Khys. »Niemand soll dafür zur Verantwortung gezogen werden. Carth, nach allem, was ich dich gelehrt habe, urteilst du immer noch so blind? Muß denn immer ein
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passender Sündenbock zur Hand sein? Wer soll die Wetter vor Gericht stellen? Welches Urteil willst du über den Sturm aus dem Abgrund fällen? Kannst du die Crux mit einem Reif der Stille fesseln? Carth, ich erwarte mehr von dir, als ich zur Zeit in dir finden kann. Ich ermahne dich, sei bereit für die Bürde, die du tragen wirst. Ich habe nicht mehr die Zeit, dich weiter zu unterweisen. Strebe danach zu wachsen!« Carth verließ das Zimmer beinahe laufend. Ich saß betäubt, fast überrollt von den Wogen seines Mißfallens. »Du hast es für nötig befunden, dir meine Wahrheiten von dem Ebvrasea bestätigen zu lassen. Hast du diese Bestätigung gefunden?« Er trat an das Lager, streifte sein Gewand ab und kleidete sich in die Sachen, die ich für ihn bereitgelegt hatte. »Du weißt es«, erwiderte ich leise. »Nichts kann geändert werden.« Er hatte es mir gesagt: Sereth und Chayin warteten ihre Zeit ab. Er kannte sie. Er kannte ihren Sinn für das, was angemessen war. Also hatte er mit mir darüber gesprochen, als ich meine Gedanken nicht von ihnen lösen konnte. Auch davon, wie sie mich sahen, hatte er gesprochen. Ich hatte ihm nicht glauben mögen. Doch war alles so geschehen, wie Khys es vorhergesehen hatte. Meine innere Zerrissenheit stieg würgend in mir auf, süß und erstickend. Er wirkte gelassen, entspannt, gänzlich von seiner Kleidung in Anspruch genommen. Aber ich spürte sein Tasten in meinem Kopf. »Gefällt dir, was du siehst?« fragte ich, während meine Sorge um ihn vor seinen suchenden Gedanken zurückwich. »Du hast deine Momente«, knurrte er. »Es bleibt festzustellen, ob du so viele von ihnen zusammenknüpfen kannst, wie die Zeit verlangt. Kämpfe nicht gegen das, was in dir aufsteigt. Es könnte schon bald alles sein, was dir an Nahrung bleibt.«
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»Was meinst du?« »Nur das. Mach dich fertig.« Ich gehorchte. »Also brauchst du mich nicht nur als Zeugin?« »Das kann ich noch nicht sagen. Wenn dein Vater dich so wenig achtet wie du deinen Sohn, könntest du in einiger Gefahr sein. Besinne dich auf deine Fähigkeiten. Vielleicht bin ich nicht in der Lage, dir zu helfen.« Er setzte sich auf das Lager und legte sich hin. Seine Augen gleich geschmolzenem Erz schauten in eine Ferne weit jenseits der bronzenen Decke. »Du solltest darauf vorbereitet sein, den Heimweg alleine anzutreten.« »Willst du deine Pflichten niederlegen, daß du so sprichst?« brachte ich heraus. Meine Finger an der Umhangspange waren taub und ungeschickt. »Es besteht kaum die Gefahr, diese Zeit durch ein oder zwei mißliche Worte zu ändern. Ich wollte, es wäre so einfach. Die Crux verschleiert gerade die Wahrheiten, mit denen man sich zu befassen haben wird. Sehr oft kann man über diesen blinden Fleck hinwegreichen. Aber diesmal kann ich es nicht. Daraus läßt sich eine ganze Anzahl von Schlüssen ziehen, doch das möchte ich nicht. Beschränken wir uns darauf: Vielleicht finde ich, was ich suche. Vielleicht finde ich etwas anderes als das, was ich suche. Und vielleicht tausche ich dagegen ein, was ich in der Vergangenheit gesucht habe. Oder ich verliere alles. Das ist das Crux.« »Hast du einen bestimmten Treffpunkt im Sinn?« »Wir haben einen Ort für die Auseinandersetzung festgelegt.« Er stützte sich auf die Ellenbogen, das Kinn an der Brust. »Sollte ich dich unterwegs zeitweilig verlieren, so kannst du sicher sein, daß ich dich, sobald es mir beliebt, zu mir zurückholen werde.« Er legte sich wieder zurück. »Du kannst bewaffnet gehen.« Ich lehnte ab. Es schien mir sinnlos, in einem solchen
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Kampf Stra zu tragen. Ich suchte nach dem Paket mit den von mir bestellten Sachen. Trotz Umhang, Lederund Wollzeug war mir kalt. In dem Kleiderzimmer lehnte ich mich an das glatte Nordthala. Es war die Kälte, die ich nur zu gut kannte. Ich fragte mich, ob ich je ohne diesen bedeutungsschweren Hauch im Nacken sein würde. Seine Arme legten sich von hinten um meine Hüften. Seine Kräfte, die sich für den Augenblick sammelten, wurden spürbar. Seine Bereitschaft war überwältigend. Ich drehte mich in seiner Umarmung und drückte mich an ihn. Er lächelte und hielt mich fest. Wenn er so gründlich bewaffnet ging und immer noch nicht sicher war, welchen Teil der benötigten Fähigkeiten konnte ich dann noch hinzufügen? Wieder rang ich mit meiner inneren Zerrissenheit, und ohne Erfolg. Er strich mit den Händen über meinen Rücken. Vielleicht suchte er mich oder die Sordh oder das, was geschehen würde. Ich wußte es nicht, wußte nur, daß ich nicht die Hand gegen ihn erheben konnte. Noch war es notwendig. Ich hatte bereits alles getan, was nötig war, allein indem ich war, wozu ich geboren wurde. Und Khys, der ohne Zweifel Bescheid wußte, zog mich nur noch fester an sich. Ich an seiner Stelle hätte mich getötet. Aber darin liegt vielleicht der Unterschied zwischen der männlichen und weiblichen Vorstellungswelt, der Unterschied, der mir durch die folgenden Ereignisse ein für allemal klar gemacht wurde. Aber damals wußte ich noch nichts darüber, außer dergestalt, daß alle Lebewesen, wenn auch nur vor sich selbst, zugeben, daß ihre Einzigartigkeit von den Eigentümlichkeiten ihres Geschlechts bestimmt wird. Damals stand ich nur passiv in seiner Umarmung, erregt, aber ohne den Wunsch nach Verkehr, während
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meine Gedanken von ihm zu Sereth und wieder zurück sprangen, wie ein Bondrex in einer dritirischen Fallgrube. Der Ausblick von dem einen Ort war nicht erfreulicher als von dem anderen. Mir kam der Gedanke, daß sie sich alle gegenseitig töten könnten und ich endlich frei wäre. Dann wieder bezweifelte ich, daß ich einen solchen Verlust überleben würde. »Khys«, flüsterte ich, »du mußt mir etwas versprechen. Die Ruhe, die du von mir forderst, ist so wenig greifbar wie der Siebenfältige Geist.« »Was denn?« fragte er. Da meine Wange an seiner Brust lag und mir das Haar übers Gesicht gefallen war, konnte ich ihn nicht sehen. Aber der Klang seiner Worte verriet mir das kleine Zucken seiner Lippen. Ich trat so weit von ihm zurück, wie seine Arme es zuließen. »Daß du lange genug am Leben bleiben wirst, um Sereth die Genugtuung zu geben, dich zu töten«, rief ich und machte mich von ihm los. Es hatte eine Zeit gegeben, da er mich für weniger schreiend auf die Knie gezwungen haben würde. Diese Zeiten waren vorbei. »Ich kann nicht«, sagte Khys gleichmütig. Ärgerlich starrte ich ihn an. Meine Tränen lockten ein Lächeln auf sein Gesicht. Ich wirbelte herum und drängte mich an ihm vorbei in den eigentlichen Wohnraum. Aus der Tür und auf den Gang hinaus stolperte ich auf der Suche nach wenigstens einem Augenblick Ruhe, um meine Fassung wiederzugewinnen. Vor dem Huliongobelin blieb ich stehen und wartete auf ihn. Es kümmerte mich nicht, welches Ende der Dharen fand. Oder ob er am Leben blieb. So beruhigte ich mein Herz. Aber meine Ohren hörten die Lüge und verschlossen sich ihr. Als er mich holen kam, hatte ich einen Anschein von Gelassenheit wiedererlangt, aber nicht mehr. Er betrachtete mich mit zusammengekniffenen Augen, ohne
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ein Wort zu sagen. Wir gingen über die blauen und grünen Fliesen zur Treppe und die Stufen hinab. Ich erinnere mich an jede einzelne. Klar und deutlich lag der Pfad der Crux vor mir. Die Hand leicht um meinen Arm gelegt, führte er mich die zwei Treppen hinunter und durch die Haupthalle. In dem Audienzsaal, auf dem Symbol, das Khys mit Estrazi und den Schöpfern und den Kindern von Mi'ysten gemeinsam hatte, streckte er die rechte Hand aus. Ich ergriff sie mit der Linken. »Denk daran, merk dir den Weg.« Mit der echten Gelassenheit, zu der ich immer nur bei solchen Gelegenheiten finde, versprach ich ihm, darauf zu achten. Als ich auf der Spirale stand, empfand ich nur Freude darüber, daß das Warten zu Ende war. Das, was sich seit langem ankündigte, würde endlich offen vor uns liegen. Das Abwarten, dachte ich, ist immer quälender als die Sache an sich. Dann machte ich mein Bewußtsein von allem frei. Seine Finger in meiner Hand wurden zu einem Gitter aus Licht über meinen Augen, heiß und grell. Durch die Adern in meinem Arm strömte das Gift der Macht, ein gieriges Rauschmittel auf der Suche nach meinem Selbst. Es folgte ein Zerfließen der Körper, als das Netzwerk unserer sensorischen Systeme sich vermischte. Ich fühlte uns aufsteigen gleich meinen Nerven, die glühend über meine Haut glitten, sie auflösten. Und die Knochen unter dem Fleisch leuchten golden, während die Sinne gleich rotem Feuer durch Zeit und Raum eilen, auf der Suche nach ihresgleichen, die unsichtbar das Gefüge der Schöpfung umspannen. Kette und Einschlag wurden wir. Gänzlich ausgebreitet, hörte ich uns: Als tosender Wind wehten wir über den Ort, an dem einen Moment zu verharren zu lange ist. Dann erschien das Richtfeuer, das wir gesucht hatten. In jenem Reich gibt es Geschöpfe, nach deren Funktion
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Khys den Begriff ›Sordh‹ geschaffen hatte. Eine Hand, besser geeignet, die Sintflut aufzuhalten oder irrende Sterne einzufangen, erfaßte uns. Wir lagen eine Zeitlang in Handfläche und Abgrund. Ich schaute zu dem Auge hinauf. Es schaute auf mich herab. Die Verbindung zwischen Khys und mir wurde zerbrechlicher. Ich kämpfte darum, sie aufrechtzuerhalten. Die kreisende Strömung schwemmte uns aus der eintauchenden Hand. Fällend griff er nach mir. Augen gehen nie verloren. Unsere trafen sich. Das Feuer der Väter hüllte mich ein, der Sturz war vorüber. Wir prallten nirgends auf oder überschlugen uns. Eine Welt stützte unsere Füße. Feuchter Boden unter uns. Steine drückten sich in mein Fleisch. Seine Hand war fest, seine Finger hatten Substanz und Aussehen wie es sich gehörte. Ich schaute auf sie herab, wie sie meine Hand umfaßten. Der Himmel war nicht der Himmel von Mi'ysten. Es war kein Land, das von solchen wie Khys und mir bevölkert wurde. Ich brauchte nicht erst den Himmel abzusuchen, über das Gras zu streichen. Meine Sinne gaben mir Aufschluß. Eine junge Welt war es. Oder eine sehr alte. Kein Wurm grub sich in diese Erde, kein Vogel, der ihn fraß. Blätter rauschten, man hörte den Wind, aber kein Insekt klickte mit seinen Mundgliedmaßen. Dann setzte ich mich auf. Weit draußen auf der hügeligen, grasbewachsenen Ebene entdeckte ich einen Ring von Bäumen, makellos und saftig grün. Ich sah kein einziges Unkraut, Blume oder Frucht. Die Gesetze hier, vermutete ich, mußten gänzlich anders sein. Man betrachtet das System des Lebens als ein eng verwobenes Ganzes. Hier war die Kette entweder unterbrochen oder die fehlenden Glieder noch nicht geschmiedet. Khys' Finger zuckten ruhelos in meiner Hand. Ich wollte sie zurückziehen. Er ließ es nicht zu.
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»Diese Welt ist unbewohnt, bis auf uns.« Damit unterbrach er die Stille. Ich nickte. »Und was wir hier tun, schafft Vorentscheidungen.« So beendete ich den ersten Gedankenaustausch auf dieser Welt. Zeit, wie der Mensch sie kennt, konnte jetzt ihren Anfang nehmen, dachte ich, zu diesem nie gesehenen Himmel aufblickend, der so groß und gewaltig war. Er hatte einen blauen Schimmer, der noch frostiger wirkte durch das Licht einer kühlen Sonne. »Glaubst du, daß gegenseitiger Austausch ein Vorläufer evolutionären Lebens ist?« fragte ich ihn. »Zweifellos war es der Vorläufer auf einer höheren Ebene. Ich weiß es nicht. Bist du der Ansicht, daß sie versuchen, uns mit dieser Verantwortung zu fesseln?« Er fragte mich wahrhaftig. In dem weniger grellen Licht wirkte er jung, unsicher. »Ich hoffe nicht«, erwiderte ich, um mich nicht mit meinen Vermutungen auseinandersetzen zu müssen. Khys schaute sich um. Er stand auf und musterte den Ring der Bäume. »Das«, sagte er, »ist Norden.« »Wenn es dein Wille ist«, antwortete ich und richtete den Blick pflichtbewußt auf den Punkt, den ich mir jetzt als den Wahren Erklärten Norden vorzustellen hatte. »Du hast Richtungen festgelegt«, setzte ich voraus. Richtungen machten es notwendig, daß wir unsere Anwesenheit kundtaten; wir hatten Norden bestimmt. »Estrazi«, sagte ich zu ihm, »ist schlau. Müssen wir vorwärtsgehen und beobachtende Entscheidungen treffen, um dorthin zu kommen? Kannst du sie nicht mit dem Bewußtsein suchen?«* »Versuch es doch selbst. Sie sind noch nicht anwesend, und ich erwarte sie auch nicht, bevor wir den verabredeten Ort erreicht haben.« »Du weißt, wohin das führen könnte«, warnte ich.
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Ein Wind kam auf und wehte ihm das Haar, mattes Kupfer in dem fremden Licht, über die Augen. Er hob eine Hand, um es zurückzustreichen. Hier auf dieser Welt lag nur ein ganz schwacher Glanz auf seiner Haut. Meine, stellte ich fest, als ich meinen ausgestreckten Arm betrachtete, schimmerte überhaupt nicht. Meine Beunruhigung wuchs. »Wir sind Teil dieser besonderen Schöpfung«, machte ich ihn aufmerksam. Er hatte sich die Augen gerieben, jetzt ließ er die Hand sinken. Sein Gesicht war sehr ernst. »Wer immer dies hier erschuf, wußte über uns Bescheid. Unsere Ankunft war bekannt, bevor der Fels unter uns abkühlte.« Wir stimmten überein. Die Gewißheit in mir nahm zu. Seine Augen funkelten. Das zumindest war unverändert geblieben. Er hob die linke Augenbraue. Seine Nasenflügel bebten. »Das hatte ich nicht bedacht«, gab er zu. »Ich selbst stelle nur Vermutungen an. Laß uns warten, damit wir es nicht auf uns herabbeschwören.« Ich griff nach seiner Hand, und er zog mich auf die Beine. Ich fühlte mich schwindelig, müde. Die Anziehungskraft des Bodens lastete schwer auf mir. Er nahm es besorgt zur Kenntnis. Seine Hände legten sich seitlich an meinen Hals, und ich fühlte mich merklich gekräftigt. »Das hättest du nicht tun sollen«, beschwerte ich mich, als mein Bewußtsein wieder klar genug war, um zu begreifen, was er getan hatte. »Ich habe dich hergebracht. Ich hätte vorher wissen müssen, was passieren könnte. Wir wollen uns auf den Weg machen. Der dritte Felsen, südöstlich. Kannst du gehen?« »Ja.« Die Wolken waren weiß, mit bräunlichem Rand, der Himmel blauer als die Augen eines M'ksakka. Ich ging neben ihm her. Es war die Reise, die mich so
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geschwächt hatte, redete ich mir ein, um es vielleicht nachträglich noch wahr zu machen. Wenn es stimmte, was Khys glaubte . . . Unterwegs zum dritten Felsen im Südosten bemerkte ich kein weiteres Zehren an meiner Substanz. Die Sonne schien sich parallel zu uns zu bewegen. Nicht einmal verließ sie ihren Platz über unseren Köpfen. Mehrmals blinzelte er prüfend zu ihr hinauf. Einmal betrachtete er sie sehr lange und sehr konzentriert. Die Stille dieser unbewohnten Welt bedrückte uns. Ich sah die üppige Schönheit überall und fragte mich, warum die Katalysatoren des Lebens ihr Werk nicht vollendet hatten. Aber natürlich kannte ich die Antwort. »Es gibt kein Entkommen vor den eigenen Schöpfungen«, erinnerte er mich. »Dasselbe könnte ich zu dir sagen«, gab ich zurück. »Dort.« Er streckte den Arm aus. »Was?« Ich sah nichts als hügelige Landschaft. »Der erste südöstliche Felsen«, benannte er ihn. »Wenn es dein Wille ist«, sagte ich leise und versuchte zu lächeln. Ein Schweißrinnsal lief meinen Rücken hinab. Wir gingen weiter. Der Boden war weich und federnd, das Gras so makellos, daß es sich für meine Füße wie der kostbarste Seidenteppich anfühlte. Khys beobachtete mich ebenso genau wie den Boden, über den wir wanderten. Der Anbruch der Nacht war eine Sache von Idhs. Der Sonnenuntergang war kaum der Rede wert: ein Augenblick, ein kurzes Aufflammen, schwach nur, und kühl; dann Schwärze, zerteilt von dem glänzenden Schwert der Sterne. Eine Klinge, von der im vollen Schwung die Funken sprühten, war nicht silberner als diese Schar von Sternen, die die Nacht beherrschten. Es gab keinen Mond. »Glaubst du, daß es in einer anderen Nacht einen
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Mond gibt?« fragte ich ihn hoffnungsvoll, nachdem der erste Schreck über die so plötzlich hereingebrochene Nacht abgeklungen war. »Nein«, antwortete er ruhig. »Es gibt keinen Mond. Weder in dieser Nacht noch in einer anderen. Hättest du gerne ein Feuer?« »Ja, wir sind schon zu weit gekommen, als daß es noch etwas ausmachte.« Ich hörte sein Lachen, als ich mich ins Gras kniete. Alles war farblos, nichtssagend. Er war ein dunkler Schatten über mir, umrahmt von perlschimmerndem Nebel. Er kniete sich halb abgewandt hin, um das Feuer zu entfachen. Das Siegel der Schöpfer auf dem Rücken seines Umhangs glitzerte. Ich schloß die Augen und sandte eine inständige Bitte an meinen Vater. Ich wußte nicht, was richtig oder falsch war. Ich bat nur um Angemessenheit. Ich hätte besser wählen sollen. Khys' Feuer schwebte über einer flachen Grube, die er im Boden hatte entstehen lassen. Es nährte sich von unsichtbarem Brennstoff. Kand und Sordh konnten sich ungehindert entfalten, denn niemand hatte die Welt mit seinen Vorstellungen, Gedanken und Ideen geprägt. Niemand, außer uns. Was immer uns einfiel, konnte hier verwirklicht werden, ohne das Biegen und Dehnen der Naturgesetze, wie es auf Silistra erforderlich war. Als er Feuer kanderte, setzte Khys den ersten Stein für die Mauern, die die jetzt noch frei fließende Zeit in bestimmte Bahnen lenken würden. Weniger als eine Endh (die es vor unsere Ankunft gleichfalls nicht gegeben hatte), war seit unserem Eintreffen vergangen. In uns trugen wir die Welt, die wir kannten. Und in eine kaum vollendete Natur brachten wir die Gesetzmäßigkeiten unserer Voraussetzungen. Offener vielleicht als die eines anderen, aber immer noch begrenzend. Das Feuer knisterte munter zwischen unsichtbaren
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Holzscheiten, alles verzehrend und doch nicht niederbrennend. Er saß mit untergeschlagenen Beinen, die Hände offen auf den Knien, im Feuerschein. »Wie weit ist es noch bis zu dem dritten südöstlichen Felsen?« fragte ich. »Ungefähr eine Manneslänge«, antwortete er mit einer Handbewegung in das Dunkel links von dem Feuer. Ich schaute, sah aber nichts als Finsternis. Ich legte mich auf den Rücken und beobachtete, wie der Abglanz der Flammen zu dem Schwert der Sterne hinaufleckte, die die Nacht zerteilten. »Es ist eine Welt von großer Schönheit.« »Danke«, sagte ich. »Und äußerst verlockend.« »So war es beabsichtigt.« Meine Erschaffung dieser Welt war ein Teil von Estrazis Plan gewesen. Bis jetzt hatte ich mich in acht genommen. Ich hatte nicht gekandert, ich hatte nicht erschaffen, und was mich anging, sollte es dabei bleiben. Ich hegte nicht den Wunsch, noch tiefer in das Schicksal dieser Welt verstrickt zu werden. Einst hatte ich versprochen, hierher zurückzukehren, ohne die Absicht, mein Versprechen zu halten. Ich sah, wie zwei Sterne sich vom Himmel lösten und, einen langen, funklenden Schweif hinter sich herziehend, erdwärts stürzten. »Sie kommen«, sagte ich zu ihm. Er nickte nur, der Feuerschein tanzte auf seinen Zügen. An meiner linken Seite spürte ich einen Luftzug. Er streichelte meine Wange, und ich wandte den Kopf. Dort saß er in der Gestalt eines überaus anmutigen Mannes, einen dunklen Umhang über den Schultern. Neben ihm erkannte ich Kystrai, den gütigsten der Schöpfer und Khys' Vater. Die Väter kennen keine Dunkelheit, das hatte ich vergessen. Vielleicht ist das sterbliche Bewußtsein nicht fähig, solche Bilder aufzu-
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nehmen, ohne gewisse Abstriche zu machen. Das Feuer der Väter ließ die kleinen Flammen vor uns im Gras unbedeutend erscheinen. »Estrazi«, begrüßte ich ihn. Er betrachtete mich forschend. Der ausdrucksvolle Mund wurde hart. Seine Blicke berührten mich, und ich fühlte mich gekräftigt. »Sohn meines Bruders, ich bin nicht zufrieden«, sagte Estrazi an mir vorbei. Khys saß regungslos. Er schien nicht beeindruckt. »Bist du so verinnerlicht und eigen geworden, daß du es für nötig hältst, sogar meine Vorstellung des Fleisches zu verändern, das den Geist umhüllt?« Er hob nur kurz die Hand. Das Feuer erlosch. Khys gab einen Laut von sich. Ich mußte mich anstrengen, um ihn in der Dunkelheit zu erkennen. Zuerst sah ich eine Spirale, leuchtend, halb verdeckt. Sie war so groß wie meine Handfläche. Dann hob Khys seine entblößte Brust aus den Schatten, eine Hand lag über dem gezeichneten Fleisch. Ich grub die Finger in den weichen Boden. Schweres Atmen drang an meine Ohren. Ich konnte den Blick nicht von dem Dharen abwenden, der so still saß, mit dieser wilden Furcht in den Augen. Wie er mich gezeichnet hatte, so hatte ihm Estrazi sein Siegel aufgedrückt. »Man sollte bereit sein, selbst zu ertragen, was man anderen zumutet«, bemerkte Estrazi. Er ließ die Hand in den Schoß sinken. Ich betrachtete das bronzene Leuchten, das gleich den Strömen des Lebens seine Haut überspülte. In der Tat war meine Erinnerung verblaßt. Kystrai neben ihm schaute wortlos auf seinen selbst gezeugten Sohn. Seine Sorge war offensichtlich. Den herrlichen Kopf vorgeschoben, starrte er seinen hellhäutigen Abkömmling an, als könne er ihn allein mit Blicken von jeder Schuld reinwaschen. »Es ist dir erlaubt zu sprechen«, forderte der Vater den Sohn auf.
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»Ihr habt etwas, das mir gehört. Wie kann ich es zurückbekommen?« sagte Khys sehr leise. Er hielt immer noch die Hand an die Brust. Durch die gespreizten Finger glitzerte das Mal der Schöpfer. Khys' Augen schlossen sich für einen Moment. Ich sah ihn getroffen, von seinem eigenen Schlag, der als gezähnte Klaue in der Luft erschien, sich überschlug und zu ihm zurückkam. Er warf sich hin und rollte über das Gras. Dann saß er wieder mit untergeschlagenen Beinen zu meiner Rechten, als hätte er sich nie bewegt. Seine Brust hob und senkte sich hastig, der Pulsschlag an seiner Kehle wollte sich aus dem Gefängnis des Körpers befreien. »Sei nicht albern«, bemerkte Estrazi. »Soll ich dir zeigen, was hier entschieden werden könnte? Du kommst mit falschen Vermutungen zu mir. Es ist mir ein Vergnügen, meinen Erben zu mir zu nehmen und auszubilden. Ich könnte diese Gefälligkeit auch auf seinen Vater ausdehnen.« »Beruhige dich, Khys«, riet Kystrai. Er war es, für den ich Mitleid empfand, er, dessen Sohn so weit gekommen war, um jetzt am Rand des Abgrunds zu stehen. Ihre Blicke trafen sich. »Warum hast du mich nie aufgesucht?« fragte Kystrai mit einer Stimme wie verlöschende Glut. »Dasselbe könnte ich dich fragen«, entgegnete Khys bitter. »Ist es nicht hohe Zeit«, warf Estrazi ein, »dieses monotone Gehabe von Kindern abzulegen und dich den Angelegenheiten der Erwachsenen zuzuwenden?« Khys schaute von seinem Vater zu dem meinen, dann zu mir. Endlich kehrte sein Blick wieder zu Estrazi zurück, wie die Augen einer hypnotisierten Yit. »Dies«, sagte Estrazi, »könnte dir gehören.« Der Erste der Schöpfer hob die Hand, und die Welt um uns zeigte sich an ihrem Mittag, und dieser Mittag brodelte
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vor Leben. Und wir saßen am Ufer eines Meeres. »Und dies . . .« Ich sah, was in diesem Meer schwamm. »Und dies«, sagte er und löschte die Welt aus, auf der unser Fleisch sich gelagert hatte. Wir alle schwebten im Mittelpunkt einer Kugel aus farbigen Wirbeln, durch die, gefolgt von feurigen Schweifen, die Sterne taumelten. Aus einem gemeinsamen, Leben verströmenden Zentrum kamen sie hervor und trugen uns mit sich. »Hier«, erklärte Estrazi, »nahmen wir unseren Anfang. Hierher werden wir nie wieder zurückkehren, es sei denn in Gestalt eines Stellvertreters.« Die Bilder in meinem Gehirn ergaben für mich keinen Sinn. Ich schloß die Augen vor diesem Wahnsinn. Vielleicht erblickte ich das Chaos an jenem Ort. Ich sah, was ich nicht sehen konnte. »Das fragliche Kind könnte nach der richtigen Ausbildung eine Nachricht von uns in die Heimat bringen.« Wir saßen erneut vor der Grube, die Khys für sein Feuer erschaffen hatte, und auch das Feuer brannte wieder, gelb und armselig so nah bei den Vätern. »Du hättest dort nicht länger überleben können.« Mich sprach Estrazi an. Er erschien mir betrübt. »Suchst du immer noch Erlösung von meinem Werk?« fragte er. »Ja«, gestand ich mit abgewandtem Blick. »Ich brauche Zeit zum Nachdenken.« Mein Bewußtsein verriet ihm, wonach außerdem mein Herz sich sehnte, bevor ich es zum Schweigen bringen konnte. Er küßte mich auf den Scheitel. »Ich kann dir nur wenig Ruhe geben«, sagte er. »Und es könnte sein, daß sie schwerer auf dir lastet, als dein Wirken in meinem Dienst. Solltest du glauben, nicht ausreichend gebunden zu sein, rufe mich. Ich werde dir Arbeit geben.« Kystrai stand jetzt vor Khys. Er hob seinen Sohn auf. Khys erhob sich, schüttelte aber seine Hand ab. Ich mußte ungläubig miterleben, wie Kystrai ohne ein Wort,
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eine Geste, alle nur denkbaren Beleidigungen Khys' über sich ergehen ließ. Als dem Sohn schließlich die Worte fehlten, berührte ihn der Vater nochmals an der Schulter. Khys wandte sich ab. Sein Gesicht war furchtbar anzusehen. »Wenn du es wünschst, bin ich trotzdem zu einem Zweikampf wegen des Kindes bereit«, erbot sich Estrazi, indem er sich von mir entfernte. Das bronzene Licht folgte träge seinen Bewegungen. »Ich würde dich nicht gerne verschwenden nach dieser langen Vorbereitungszeit, aber du hast die Wahl. Laß mich, bevor du antwortest, noch darauf hinweisen, daß du auf deiner Welt anderen den gleichen Spruch aufgezwungen hast. Wir sind besser gerüstet als du, ein solches Kind auszubilden.« Khys betrachtete Estrazi mit wutverzerrtem Gesicht. Einen Augenblick lang war ich überzeugt, daß er seine eigene Vernichtung herausfordern würde. Er tat es nicht. Seine Züge nahmen wieder den gewöhnlichen Ausdruck an. Nur die bebenden Nasenflügel und zusammengekniffenen Augen verrieten seinen Zorn. »Ich suche eure Belehrung nicht. Nicht für mich und nicht für meinen Sohn. Andernfalls wäre ich längst hierhergekommen. Ihr stellt uns in die Zeit, isoliert uns vom Rest der Schöpfung, ohne euch Gedanken zu machen. Mögt ihr auch einen Zweck verfolgen, wer hat das Recht, das Erbe hinauszuzögern und Wissen vorzuenthalten? Müssen wir den Aufstieg ganz unten beginnen, um etwas zu beweisen? Nur weil von euch vorausgesetzt wird, daß es so einst geschah, müssen wir eure Prüfungen nachahmen?« »Mit deinen Vermutungen, ungezogener Knabe, kommst du nicht einmal in die Nähe der Wahrheit. Es fehlte uns nicht so sehr an Gesellschaft, daß wir uns selbst in Zeit und Raum neu erschaffen wollen. Was du als Laune bezeichnest, ist ein Lernprozeß auf allen
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Ebenen.« Estrazi betrachtete Khys eindringlich, doch dieser gab keine Antwort. »Der Schöpfer«, erklärte Estrazi geduldig, »kann niemals seine eigene Schöpfung von innen erfahren. Ist er mächtig, kann er einen Eindruck der sich ständig weiterentwickelnden Schöpfung in sich aufnehmen. Aber das Leben und die Körperlichkeit kann man nicht von außen erfahren. Wir versuchten den Geschöpfen aus Raum und Zeit einen Anstoß zur Weiterentwicklung zu geben: in Richtung einer stärkeren Schöpferspezies, mit der Fähigkeit zu vielschichtiger Wahrnehmung.« Immer noch erfolgte keine Antwort von Khys. »Aus deiner Sicht ist es schön, nicht wahr?« Estrazis Handbewegung umfaßte die Welt, auf der wir uns befanden. Khys nickte nur. »Ich kann es nicht nachempfinden. Ich stehe außen davor. Ich kann mich mit einem Körper umgeben, aber immer noch weiß ich zuviel über die Beschaffenheit der Realität, als daß ich darin eintauchen könnte. Meine Tochter hier sandte mir eine Bitte um Angemessenheit.« Er wandte sich an mich. »In diesem Moment hast du dich selbst als ein Geschöpf von Zeit und Raum erklärt. Wie niemals zuvor bist du ihren Gesetzen unterworfen. Ich hatte in Erwägung gezogen, dich vielleicht aus jenen Landen herauszunehmen, denn du schienst mir nicht recht hineinzupassen. Aber das hat sich geändert.« Ich starrte zu Boden, der verlorenen Chance wegen den Tränen nahe. Doch hatte er seine Worte nicht als Tadel gemeint, ich faßte sie nur so auf. »Du hast mir keine solche Bitte vorzutragen.« Er sprach zu Khys. Dieser zögerte nicht bei der Wahl, die ihm angeboten wurde, noch überhörte er die Warnung. »Ich habe dir keine solche Bitte vorzutragen«, sagte Khys deutlich. Zwischen ihnen nahm ein Wirbel von unheilverkündenden Ausmaßen Gestalt an.
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Kystrai trat vor. Inmitten der gegenläufig rotierenden Kräfte stand er, aufrecht und streng, wo kein lebendes Wesen jemals hätte stehen können. »Khys«, sagte er, aus dem Toben des Kampfes heraus, »ich möchte das nicht miterleben. Lange hast du in den Welten der Schöpfung gewirkt. Es diente einem Zweck, groß und würdig, wenn man nach deinen eigenen Maßstäben mißt. Aber hier gibt es keine solche Unterteilung in Gut und Schlecht. Alles ist gut, von diesem oder jenem Blickwinkel aus gesehen. Nur das, was keinen Wandel erlaubt, muß sich hier Kritik gefallen lassen. Der Zerstörer und der Schöpfer sind eins. Der Katalysator löst auf und erschafft neu. Durch deine Bemühungen hat Silistra viele Veränderungen durchlaufen. Du hast all die Änderungen verwirklicht, die in deiner Vorstellung enthalten waren. Daher hast du jetzt eine absolut unhaltbare Position erreicht. Man kann alles tun, aber nicht Stasis als Dauerzustand einführen. Du kannst diese Welt nicht an deine Vorstellungen fesseln. Auf dem, was du ihnen gegeben hast, haben sie gebaut. Sie brauchen einen neuen Schöpfer, der als Fundament benutzen kann, was du in deinem langen Leben errichtet hast. Auf deinen Werken wird jener aufbauen, was du dir jetzt noch nicht denken kannst. Gib Silistra auf, wenn du es liebst. Du bist ein Hindernis auf seinem Weg. Alle Herren vergehen. Es ist Zeit für sie, aus eigener Kraft zu stehen. Und für dich, nach Erweiterung deines Vorstellungsvermögens zu streben. Und für einen Vater, die Früchte seiner Tage mit einem Sohn zu teilen, der würdig ist, sein Nachfolger zu sein.« Als er diese letzten Worte sprach, legten sich die stürmischen Wirbel des Zorns. Kystrai stand seinem Sohn von Angesicht zu Angesicht gegenüber. »Fünfzehn Menschenleben habe ich auf jener Welt verbracht. Durch mich wurde sie wiedergeboren.«
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»Das spricht dir niemand ab«, sagte Estrazi. »Raet schon.« »Laß uns nicht von Raet sprechen«, befahl Kystrai, der ihn gezeugt hatte. »Die Rivalität zwischen den Kindern auf Mi'ysten und den Kindern auf Silistra ist nicht unsere Sache.« Khys lachte verbittert. Seinen Gesichtsausdruck kannte ich nur zu gut. Er hatte seinen Standpunkt gefunden. Seine Entscheidungen, obwohl noch nicht ausgesprochen, waren getroffen. Ich schaute ihn an und wußte, daß er sich entschlossen hatte, das Recht des Lebens zu verlangen. Diese Erkenntnis weckte in mir ein Gefühl enger Verbundenheit und tiefen Respekts. Sein Blick streife mich kurz, nahm es zur Kenntnis. Ich suchte einen längeren Gedankenaustausch. Er verweigerte es mir. »Schick sie zurück«, versuchte er zu feilschen. »Du wirst bleiben?« forschte Estrazi. »Ohne die abscheulichen Alternativen?« Ich erinnerte mich entsetzlich deutlich an meine Zeit in den Gefängniswürfeln auf Mi'ysten. Über und unter mir und auf allen Seiten hatten noch andere in jenen durchsichtigen Zellen gesessen, bis man ihr Verhalten ausreichend erforscht hatte. Ein paar von uns lernten einiges während dieser Zeit, allerdings hätte ich in Anbetracht des Preises auf dieses Wissen verzichten können. Ich spürte, daß Khys meine Gedanken las, und war froh, ihn auf diesem Weg vorwarnen zu können. Ich hatte es gewußt. Aber ich hatte nicht gewußt, wie es sein würde. Der Traum fiel mir ein, und ich biß mir auf die Lippen. »Nimm sie beide, den Vater und den Sohn«, hatte ich zu Estrazi gesagt. Ist man für seine Träume verantwortlich? Ich hatte ihn gewarnt. »Schick sie zurück«, verlangte Khys ein zweites Mal von meinem Vater. »Dies ist kein unpassender Ort für sie«, antwortete
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Estrazi. »Wenn du es ehrlich meinst, tu es.« Khys' Blicke beschworen mich, zu gehen, doch ich wagte es nicht, allein den Rückweg anzutreten. »Khys«, flehte ich, »du brauchst meinetwegen keine Kompromisse zu schließen.« Estrazi trat zwischen uns. »Tochter, ich möchte mit dir allein sprechen.« Über seine Schulter hinweg sah ich, wie Khys den Mund öffnete, um etwas zu sagen. Dann war er verschwunden, wie auch Kystrai. Wir standen in dem makellosen grünen Wald. Mein Vater stand regungslos. In dem bronzenen Schimmer, der von ihm ausging, sahen die Bäume aus wie in flüssiges Erz getaucht. Dann streckte er mir die Arme entgegen. Ich flüchtete mich in seine Umarmung. Während er mein Haar streichelte, ließ ich meinen Tränen freien Lauf. »Weine nicht seinetwegen«, sagte er streng. »Er bedarf deiner Tränen nicht.« Ich gab keine Antwort. »Du konntest ihn als Gefährten nicht akzeptieren. Also kann es dich doch nicht kümmern, was ich mit ihm tue. Es gibt einige Lektionen, die er unbedingt lernen muß, und Demut ist nicht die geringste davon.« »Bestrafe ihn nicht meinetwegen«, bat ich. »Ich werde tun, was ich schon seit langem vorgehabt habe«, erwiderte Estrazi in einem Ton, der keinen Widerspruch duldete. »Was hältst du von den Fortschritten, die wir mit diesem Planeten gemacht haben?« Ich dachte an die Sonne, die uns den ganzen Tag unbeirrt gefolgt war, um dann übergangslos in das Meer der Nacht zu tauchen. Welchen Rhythmus hatten sie dieser Welt auferlegt, daß sie so bald nach ihrer Entstehung schon abgekühlt und fruchtbar dalag? »Ist es wahrhaftig die Welt, die ich erschaffen habe?« »Aber ja. Du hattest nicht die Absicht, sie zu
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vollenden, hoffe ich?« »Nein«, antwortete ich der Wahrheit gemäß. »Sie eignet sich gut als Eremitage für den Dharen. Hier kann er seine Fähigkeiten erforschen und seine Fehler machen. Es ist eine angemessene Strafe, wie ich finde.« »Er wird sich nicht darauf einlassen.« »Ich glaube doch. Was das Formen dieser Welt betrifft, so hat er bereits einen Anfang gemacht. In Ermangelung anderer Tätigkeiten wird er damit fortfahren. Und mit jeder Änderung, die er auf diesem Planeten vornimmt, wird er noch fester an ihn gebunden.« Ich zitterte in Estrazis Armen. Hier war Vergeltung. Nicht die kleinliche Rache, die ich mir vorgestellt hatte, sondern ein gerechtes und allumfassendes Gleichgewicht auf den Waagschalen der Macht. »Und wenn er diese Fesseln sprengt?« »Dann wird er geworden sein, was zu werden ihm bestimmt ist. Wir werden ihn in der Gemeinschaft willkommenheißen, die er zu verachten vorgibt, nach der er sich aber schon lange sehnt. Dann wird er bereit sein. Jetzt ist er nur ein trotziges Kind, das sich in einen künstlichen Groll hineinsteigert.« Ich erinnere mich an die stothrische Vorhersage, die Tage des Gerichts betreffend: »Doch er, der zuerst von den Höhen stürzt, wird wiederkehren und überdauern.« Estrazi strich mir das Haar von den Schultern. Ich spürte seine kühle Berührung auf dem Mal des Dharen. »Kannst du mich wieder zu dem machen, was ich war? Wirst du dieses Zeichen von mir nehmen und den Schaden, der mir von Khys und seinen Handlangern zugefügt wurde?« »Ich kann es, doch ich werde es nicht tun. Aber ich werde dich nach Silistra zurückschicken.« »Laß mich Khys Tasa sagen. Er hatte keine Möglichkeit, seine Angelegenheiten zu ordnen.«
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»Er hat keine silistrischen Angelegenheiten mehr. Es ist nicht nötig. Du wirst ihn wiedersehen.« »Und diese andere Sache, in der ich um deine Hilfe bat?« drängte ich. »Euer Verhalten wird die Entwicklung bestimmen. Ich habe in diesem Stadium keine Einwände. Aber später werde ich mich erneut eurer bedienen. Es ist keine Befreiung auf Dauer nötig, euer eigenes Naturell schließt das aus.« Sein Gesicht näherte sich dem meinen. Ich trieb in seinen Augen und versuchte zu begreifen. Es gelang mir nicht, aber ich fand Bestätigung in mir selbst. Er hielt mich von sich ab. »Ich danke dir für den Sproß deines Leibes«, sagte er förmlich in Mi'ysten. »Sei versichert, daß du uns einen großen Dienst erwiesen hast.« »Schick mich nicht zurück«, flehte ich, plötzlich haltlos in der ungebundenen Zeit schwebend, die alles andere verzehrte. Aber es war zu spät für solche Ängste.
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7 In den Abgrund
Ein kurzer Augenblick ist in meiner Erinnerung haften geblieben: vergleichbar einer Szene der stothrischen Legenden, worin Ambrae — nachdem sie in Dyin ihre wahre männliche Ergänzung gefunden und mit ihm jenen hermaphroditischen Akt vollzogen hat, der das Paar der universellen Macht öffnet — von ihm auf einen steilen Felsen geführt wird, der denselben Abgrund überragte, in dem ich jetzt schwebte. »Flieg mit mir«, forderte er, auf jenem gewaltigen Gipfel stehend, der in die Ewigkeit führt. Sie hielt Umschau an diesem Ort der Kälte und Dunkelheit. »Wie kann ich das, ohne zu sehen«, weigerte sie sich schweigend, denn ihr Kopf war mit Wollzeug umwickelt, um ihre Augen vor dem beißenden Wind zu schützen, der sie mit dem Erfrierungstod bedrohte, und sie konnte den Mund nicht öffnen, um zu sprechen. »Du mußt eine andere Möglichkeit des Sehens finden«, belehrte er sie und schnitt ein kleines Loch in ihren Handschuh, so daß die Spitze ihres kleinen Fingers hervorlugte. Das getan, hob er sich empor und zog sie mit sich in den Abgrund. Wie Ambrae fand ich in meiner Verzweiflung einen Weg, einen Teil von mir zu sensibilisieren, der gemeinhin nicht sehen kann, aber die Befähigung dazu in seiner Struktur beinhaltet. Wie sie einen Fingernagel in ein Sinnesorgan verwandelte und so die von ihrem Gefährten gestellte Aufgabe meisterte, so gelang es mir, inmitten sich ständig neu gestaltender Harmonien, den
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Weg nach Hause zu finden. Aber in zwei Punkten wich meine Reise von dem mythologischen Vorbild ab: Ich war allein. Und ich hatte mich zu lange dort aufgehalten.
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8 Das Ende von Khys
Auf den weißen Gehwegen am See der Hörner fand ich mich wieder, und sie waren rot von Blut. Überall um mich herum ertönte das Schnauben und schrille Wiehern der Threx und das Schreien von Männern und Frauen. Der Himmel war gewitterschwarz. Die Hufe eines vorbeigaloppierenden Threx rissen Erdklumpen aus dem Boden. Es lief rechts an mir vorbei. Dann wurde es von seinem Reiter angehalten und herumgerissen. Ich sprang auf die Füße und floh. Ich hastete an Leichen und ineinanderverkrallten Knäueln kämpfender Männer und Frauen vorbei. Mit einem Satz sprang ich über eine Hellseherin hinweg, die auf Parset-Art gefesselt und geknebelt am Boden lag. Ihre Augen waren weit aufgerissen. Ich sah mehr Threx und noch mehr. Lauter und lauter dröhnte der Hufschlag hinter mir. Die Stufen zum Turm des Dharen tauchten vor mir auf, als die Huija mir durch Kleid und Umhang biß. In drei Schlingen legte sich die Schnur um meinen Körper und preßte mir die Arme an die Seiten. Mit einem Aufschrei wurde ich von den Füßen gerissen. Einen Augenblick lang hing ich in der Luft, während sich die Metallzähne der Peitschenschnur tief in mein Fleisch gruben. Dann hatte der Reiter mich erreicht. Seine starken Arme warfen mich mit dem Gesicht nach unten über den Sattel des Threx. Er zerrte meine Handgelenke nach hinten, fesselte sie und löste mit einer geübten Bewegung die Schlingen der Huija. Ich stöhnte, als die in den Lederriemen eingeflochtenen Metallspitzen beim Herausziehen kleine Hautstücke aus
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meinem Körper mitnahmen. Ich bemühte mich, den Kopf zu heben, dem Mann zu erklären, wer ich war. Aber das Threx galoppierte, bockte, sprang. Eine Hand auf meinem Rücken hielt mich fest, während er sein Tier zügelte. Alles lag klar und deutlich vor mir. Zwischen den Sprüngen des Threx nach Luft schnappend, versuchte ich ihre Zahl zu schätzen. Ich kam auf mehr als eintausend Parsets. Später stellte sich heraus, daß ich zu niedrig gegriffen hatte. Der Krieger, der mich gefangen hatte, beugte sich aus dem Sattel, um einen Seegeborenen zu töten. Ich schaute in überraschte goldene Augen. Bevor er noch die Tatsache seines Todes begriff, waren wir schon davongestürmt, auf der Suche nach anderen. Ich sah eine Tiask, die sich über einen gefesselten Seegeborenen neigte. Was sie mit ihm tat auf diesem Schlachtfeld, das einst das stille Seeufer gewesen war, ließ mich würgen. Der Sattelknauf bohrte sich in meinen Bauch und erschwerte das Atmen. Die seegeborenen Verteidiger, die sämtlich zu Fuß waren, hatten keine Chance gegen die berittenen Parsets, doch schienen sie sich dessen nicht bewußt zu sein. Meine Tränen wuschen das Erbrochene vom Kinn und den Staub und Schmutz aus den Augen. Die Treppen am Turm des Dharen hinauf und durch die offene Tür hindurch, trieb der Threxreiter sein Tier. Die stahlbeschlagenen Hufe schlugen Funken aus den Archit- und Ornithalumplatten, und hallten gleich Kapuras in dem Kuppelsaal wider. Leichen schmückten ihn in seiner ganzen Länge. Ich schluchzte ohne Aufhören. Durch die Säle hetzte der Threxreiter sein Tier und mordete, was ihm vor Augen kam. Noch war er der einzige. In der siebeneckigen Audienzhalle befanden sich sechs Reiter.
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Er, über dessen Sattel ich lag, zügelte sein Threx neben ihren Tieren. Es prustete und keuchte und bespritzte mich mit Schaum. Ich hob den Kopf. Der Reiter schlug mir klatschend aufs Hinterteil. Ich zappelte noch heftiger, um seine Aufmerksamkeit zu erregen. Er stieß mir mit der Stiefelspitze gegen den Kopf. »Hast du sie gefunden?« hörte ich undeutlich. »Noch nicht. Wo soll ich die hier abladen?« sagte die Stimme meines Peinigers. »Ist sie markiert?« Wieder versuchte ich mich aufzurichten. »Weiß ich nicht.« »Laß sehen.« Der Reiter zog mich grob empor und setzte mich vor sich in den Sattel. »Bitte«, brachte ich hervor, bevor er mir die Hand auf den Mund legte. Ich biß zu. Er schrie auf und machte sich daran, mich mit meinem eigenen Haar zu knebeln. Ich setzte mich gegen ihn zur Wehr. Meine Augen richteten sich flehend auf den Jiask, der uns gegenüber auf einem braunen Threx saß. Schreie und Waffenklirren und die Geräusche der Threx hallten durch den Audienzsaal. Hinter dem Threxmann waren die Vorhänge von den Fenstern gerissen, so daß ich ungehindert die Sorgfalt bewundern konnte, mit der die Parsetstreitkräfte den See der Hörner besetzten. »Laß mich einen Blick auf sie werfen«, wiederholte der Jiask auf dem braunen Threx und glitt aus dem Sattel. Zusammengeknülltes Haar wurde mir in den Mund gestopft und mit dicken Strähnen hinten im Nacken festgebunden. »Sie gehört mir«, knurrte der Reiter, der mich festhielt. Ich hörte das Zischen, mit dem die Schwertklinge aus der Scheide fuhr. »Wenn ich mich nicht irre«, bemerkte Lalen gaesh Satemit, »gehört sie denen, die wir suchen.«
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»Jene«, grollte mein neuer Besitzer, »würde Weiß getragen haben. Die hier« — er riß mir Umhang und Oberkleid herunter — »trägt Lederzeug.« »Trotzdem«, sagte Lalen mit Lachfältchen in den Augenwinkeln, »gehört sie zu dem Cahndor und dem Ebvrasea.« Er bemerkte Khys' Zeichen auf meiner Brust. Noch übersah er meinen mit Goltropfen besetzten Chald. »Wenn sie noch am Leben sind«, grollte die Stimme noch rauher. »Und wenn du dich nicht irrst. Außerdem will ich nur wissen, wo ich sie abladen kann. Ich möchte mir noch ein paar von diesen Seefrüchten pflücken.« Lalen schaute mich an. Er zuckte die Schultern. Ich versuchte zu sprechen. Er wandte sich ab und ging zu seinem Threx. »Sie könnte wissen, wo sie sich befinden. Sie könnte uns vielleicht helfen. Aber steck sie in eine der unterirdischen Zellen zu den anderen. Nummer Vier. Drei Treppen hinunter, dann links.« Er stieg in den Sattel. »Ich glaube, ich werde mir auch noch etwas pflücken«, meinte er und spornte sein Tier an dem meines Herrn vorbei. An der Treppe war er gezwungen abzusteigen. Wir hatten kein lebendes Wesen in den Räumen gesehen, aber viele, die vor nicht langer Zeit noch am Leben gewesen waren. Er zog mich vom Sattel in die Arme. Ich konnte ihn nur mit Blicken anflehen. Das nasse Haar in meinem Mund drohte mir die Besinnung zu rauben. »Halt still«, warnte er, als ich in seinem Griff zappelte. Ich hielt still. Am Fuß der Treppe lagen die Wächter der unteren Stockwerke in ihrem Blut. Ein Jiask der Dordassa lümmelte sich vor der Tür von Zelle Vier. »Hast du sie gezeichnet?« knurrte er mürrisch. »Ich kann sie mir nicht alle merken.« Sein dunkles Gesicht trug einen übellaunigen Ausdruck.
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»Ich werde sie wiedererkennen«, sagte der Jiask. »Lalen meint, sie könnte dem Cahndor gehören. Ich möchte ihr kein Zeichen aufdrücken, bevor ich nicht genau Bescheid weiß. Hier.« Ohne weitere Umschweife legte er mich dem Posten in die Arme, der mit dem Fuß die Brettertür aufstieß. Das Gesicht meines Fängers verzog sich zu einem Grinsen, bei dem die Zähne weiß in dem dunklen Gesicht blitzten. Dann drehte er sich um und lief, zwei Stufen auf einmal nehmend, die Treppe hinauf. Ich tobte und schrie um meinen Haarknebel herum, doch ohne Erfolg. »Ruhig, kleine Crell«, sagte der Wächter und legte mich mitten zwischen vielleicht zwei Yras gefangener Frauen, von denen einige dasselbe Zeichen wie ich trugen. Ich erwog ernsthaft, mich in den Wahnsinn zu flüchten. Crell und Crell und wieder Crell. Der Wächter kehrte zu seinem Platz vor der Tür zurück. Geraume Zeit lag ich dort, während über mir der Kampf tobte. Dreimal kamen Männer mit seegeborenen Frauen, die sie erbeutet hatten. Ich versuchte, meine Hände von den geflochtenen Riemen zu befreien, mit denen sie gefesselt waren, aber der Parset hatte gewußt, was er tat. Ich vermochte sie nicht einmal ein wenig zu lockern. Lalen, dachte ich, würde bestimmt kommen. Was immer er von mir halten mochte, er konnte Chayin und Sereth nicht ihrem Schicksal überlassen. Und wenn man sie noch nicht gefunden hatte, brauchte man meine Hilfe. Ich schrie vor Zorn, aber heraus kam nur ein ersticktes Gurgeln. Wie lange ich dort lag, weiß ich nicht. In meinen Händen war kein Gefühl mehr, meine Finger nicht einmal mehr kalt, als Lalen mit einer Hellseherin in der Zelle auftauchte. Ohne ein Wort zu dem Posten, trat er ein. Dann nahm er sein Golmesser und ritzte sein Zeichen in das Hinterteil der gefesselten Hellseherin. Hilflos und ge-
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knebelt, erschauerte sie nur stumm. Er schob das Messer zurück und schaute sich um, seine Beute zu Füßen. Ich mühte mich auf die Knie. Er strich sich mit der gebräunten Hand durch das blonde Haar und lachte hämisch. Seine Haltung war überheblich, als er herankam und vor mir stehenblieb. Er machte keine Anstalten, mir die Fesseln abzunehmen. »Kennst du den Aufenthaltsort von Sereth und dem Cahndor?« fragte er. Ich stieß einige dumpfe Laute hervor und nickte heftig mit dem Kopf. Hinter ihm erschienen zwei Jiasks, gleich ihm mit zitternder Beute beladen. Beide kamen mir bekannt vor, doch konnte ich mich nicht an ihre Namen erinnern. Lalen wandte sich ab. Die Männer verglichen die Vorzüge ihrer neuen Crells. Ich erhob mich schwankend aus meiner knienden Haltung. »Ein Menetpher hat die da gefangen«, erklärte er mit einer Handbewegung in meine Richtung. Ich schloß die Augen. Tränen der Erleichterung quollen unter meinen Lidern hervor. »Sie behauptet zu wissen, wo der Cahndor ist.« »Hörst du darauf, was Crells reden, Lalen?« meldete sich der eine, der bei der Eroberung von Astria dabei gewesen war. »Es kommt mir glaubhaft vor«, sagte Lalen. »Aber ich möchte keinen Streit mit jenem Menetpher.« »Nehmen wir ihr den Knebel ab und hören uns an, was herauskommt.« Neben mir ächzte ein mit den Händen an die Fußknöchel gefesseltes Mädchen und zerrte ihre Haare unter meinem Fuß hervor. Der Sprecher kam mit dem gezogenen Golmesser auf mich zu. Ich wich zurück, wobei ich über die Beine einer an der Wand sitzenden Frau stolperte. Er schob sie mit
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einem Tritt aus dem Weg. Sie merkte es nicht einmal. Mit dem Golmesser zerschnitt er die Haarsträhnen vor meinem Mund. Ich schloß die Augen, als ich die gekürzte Locke frei über meine Wange streifen spürte. Seine Finger bohrten sich in den zusammengeballten Klumpen zwischen meinen Zähnen, während die Messerklinge an meiner Kehle lag. »Versuch nicht zu beißen«, warnte er. Ich spuckte aus, um die restlichen Haare von der Zunge zu lösen, die mich im Hals kitzelten. Lalen gaesh Satemit stellte sich mit ausdruckslosem Gesicht neben seinen Kameraden. »Weißt du, wo sie den Cahndor eingesperrt haben, Crell?« fragte er, als ich ihn nur anstarrte. »Hast du dich nicht schon genug mit mir belustigt, Aje?« zischte ich, seinen Crellnamen benutzend. »Miheja«, zahlte er mir mit gleicher Münze heim, »ich habe kaum damit angefangen. Wo sind sie?« »Sereth, als ich ihn zuletzt sah, befand sich in Nummer Vierunddreißig, in diesem Stockwerk. Den Cahndor findet ihr in der Arrestzelle im Turm, in der obersten Etage.« Alle drei wirbelten herum und liefen auf den Gang hinaus. Ich sank auf den Boden, wobei die Fesseln schmerzhaft in meine Handgelenke drückten. Der Wächter schaute herein. Er murmelte einen Fluch, weil man mich nicht wieder geknebelt hatte. Ich machte die Augen zu, um alles auszuschließen, die Parsets, die Seegeborenen, die gräßliche Auslese, die um mich herum vor sich ging. Draußen hatte ich meine Fähigkeiten nicht eingesetzt. Alles war zu schnell gegangen. Und gegen wen hätte ich die Hand heben sollen? Gegen Khys' Leute oder Chayins? Aber ich hatte nicht einmal daran gedacht. Ein weiterer Beweis der Konditionierung, der Khys mich unterzogen hatte. Ich flüchtete mich in die Angst. Von Angst beherrscht, findet
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man keinen festen Halt, der es ermöglichen würde, Entschlüsse zu fassen. Voller Angst hatte ich vor ihnen die Flucht ergriffen, wie Khys' Estri es getan haben würde, die immer noch durch meine Augen schaute. Ich stand auf. Ich hatte eine Entscheidung getroffen. Ich hatte geweint und gewinselt und mich gefürchtet, seit ich Khys in die Hände gefallen war. Das war vorbei. Bei jemandem wie Lalen würde ich meine Fähigkeiten nicht zügeln um irgendeiner rätselhaften Schicklichkeit willen. Mit dem geringen Mut, den ich aufzubringen vermochte, suchte ich Sereth. Ich fand ihn nicht in Zelle Vierunddreißig, sondern woanders. Als nächstes wandte ich meine Aufmerksamkeit den Riemen an meinen Handgelenken zu. Meine größten Talente liegen nicht eben in dieser Richtung, und ich verbrannte mir die Haut, während ich das Leder bearbeitete. Der Verstand suchte Materie zu zersetzen. Kostbare Idhs verstrichen, während ich mein Bewußtsein auf mein Vorhaben ausrichtete. Gleich darauf gaben die Riemen nach, begleitet von dem Geruch versengter Haare. Ich lehnte mich gegen die Mauer, die Hände noch hinter dem Rücken, wo ich sie gegeneinander rieb, bis sie sich belebten. Ich erinnere mich, gedacht zu haben, daß es sinnlos war, um den See der Hörner zu trauern. Und ich zwang meine Aufmerksamkeit, sich ganz auf den Augenblick zu konzentrieren. Losgelöst schwebte ich am Rand des Handelns. Dies ist jetzt. Es ist wirklich, ermahnte ich mich selbst. Sieg oder Niederlage, der Augenblick ist da. Dann schlug ich den Posten von hinten mit einem spiralförmigen Luftwirbel nieder. Ich stieß mich von der Wand ab und trat über die seegeborenen Frauen hinweg. Einige davon hatten zweifellos Khys gehört. Sie lagen da, und sie baten mich nicht, mitkommen zu dürfen. Nicht eine hob auch nur den schimmernden Kopf. Einen Moment lang wünschte ich mir, mich gleich
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ihnen ergeben zu können, nur um diesen Gedanken sogleich ärgerlich beiseite zu schieben. Mein Schlag, merkte ich, als ich den Wächter auf den Rücken drehte, war nicht hart genug gewesen. Sich selbst überlassen, würde er jeden Augenblick zu sich kommen, also versenkte ich ihn in eine tiefere Bewußtlosigkeit. Ein Stück weit den Korridor hinunter, hörte ich Stimmen und Schritte. Laufend eilte ich die Treppen hinauf. Es muß Lalen sein. Wenn er mir einen Grund gab, würde ich ihn töten. Alles, wirklich alles, ermahnte ich mich auf dem ersten Treppenabsatz. Und ich setzte alles ein, was ich hatte, an diesem Tag, und auf eine Weise, die mir angemessen schien. An der Stratür war niemand, um mich aufzuhalten. Die Threxreiter schienen nicht in der Nähe zu sein. Ich lief durch schmale Gänge, erreichte die rückwärtige Treppe aus Taernit. Meinen Spürsinn sandte ich vor mir her. Ich sah, was in der siebeneckigen Halle vor sich ging. Ich sah Lalen mit dem bewußtlosen Posten in den unterirdischen Gängen. Auf dem zweiten Treppenabsatz lächelte ich vor mich hin. Ich hörte Jaheil, bevor mein Bewußtsein ihn erkannte, doch ging ich nicht zu ihm, wo er auf seine Jiaskcahns einschrie. Wir würden uns bald genug begegnen. Im dritten Stockwerk wurde ich angerufen, wie ich es erwartet hatte. Drei Seegeborene bewachten den Eingang. Ihre Gedanken berührten mich, zogen sich zurück. Nenne den Grund für dein Hiersein, verlangten sie, doch inzwischen konnten sie mich sehen. Sie fragten nichts mehr, sondern gaben den Weg frei. Ich nahm sie kaum zur Kenntnis. Halb laufend durchquerte ich diesen Saal vor den Räumen des Dharen, zwischen den Ruhenden und den
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Verwundeten hindurch, die wie Yris-tera-Steine auf dem Boden verstreut lagen. Ausschließlich Seegeborene hier. Ich entdeckte einige Hellseherinnen. Es waren, bemerkte ich, während ich Carths Namen in den stillen Gang rief, keine Männer mit einem leichten Chald dabei. Was sich hier festgesetzt hatte, war der Widerstand, den ich auf den Gehwegen nicht erlebt hatte. Keine Feuerwirbel, keine tödlichen Schwerter aus Licht hatten Chayins Tiasks und Jiasks den Zugang zum See der Hörner verwehrt. Einige von ihnen, so schien es, hatten also doch gekämpft. Und einige, stellte ich fest, als Carth die Tür öffnete und mich grob ins Zimmer zerrte, hatten nicht gekämpft. Ich wehrte mich nicht gegen die schroffe Behandlung, denn gleich ihm hatte ich die Parsets gleich einer Felslawine auf der rückwärtigen Treppe lärmen gehört. Gleich ihm hatte ich gesehen, wie die Männer in der Halle aufstanden und sich bereit machten. Carth lehnte sich mit dem Rücken gegen die Doppeltür, die Hände an den bronzenen Klinken. Sein dunkles Gesicht war sorgenvoll, seine schwarzen Locken grau vor Schmutz. An der linken Schulter war seine Robe zerrissen und mit Blut getränkt. »Hast du eine Botschaft von ihm? Was soll ich hin?« »Übergib den See der Hörner. Khys unterwirft sich den Lehren der Väter. Beim nächsten Sonnenaufgang wird eine neue Zeit angebrochen sein, und ein neuer Dharen wird sie gestalten.« Ich schaute mich in der Wohnung des Dharen um und zählte dreiunddreißig Männer, Sereth und den Cahndor nicht mitgerechnet. Diese hier hatten noch nicht die Schwerter gekreuzt oder aber waren unverletzt davongekommen. Ich erkannte Khys' Ratsmitglieder. Ich entdeckte den blonden Arrar Ase, inmitten fast aller seiner Brüder. Sie waren schweigend beschäftigt, jeder für sich allein. Sie saßen herum, lehnten an der Wand oder standen im Zimmer gleich
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Statuen, jeder in sein Kand vertieft, losgelöst vom Fleisch. Es war eine gespannte Abwesenheit. Die Luft pulsierte und prickelte wie bei einem Hagelgewitter. Sie gefiel mir nicht, diese Art zu kämpfen. Ein Mann sollte nicht den Körper für den Geist aufgeben. In meinen Augen hatten diese Männer eine Verantwortung, der sie nicht gerecht wurden. »Sind die Arrars zu kostbar, um gegen Parsets zu kämpfen? Was tut ihr hier, während das Seeufer in Trümmer fällt?« tadelte ich, Sereth und Chayin vergessend, die mit Handschellen aneinandergefesselt auf Khys' Ruhebett lagen. Die meisten nahmen nicht einmal Notiz von mir. Ase lachte. Carth verließ die Tür und faßte nach meinem Arm. »Was sagst du, Carth«, drängte der blonde Arrar näherkommend. »Sollen wir ihnen den See der Hörner übergeben? Oder diese beiden?« Mit einem hämischen Gesichtsausdruck schaute er zu Sereth und Chayin, die hilflos auf dem Bauch lagen. Jetzt wußte ich, was sie hier tat, die Elite vom See der Hörner. In Ases starrem Blick und Carths Wortkargheit drückte sich eine noch nicht entschiedene Meinungsverschiedenheit aus. Carths Antwort ging in dem ersten Erzittern der Thalatüren unter. Lauter und lauter wurde das Dröhnen. Die großen Türflügel bebten. Ein Riß erschien, Stra blitzte. Splitter flogen. Innerhalb weniger Idhs würde die Tür Feuerholz sein, als die Jiasks sich einen Weg zu ihrem Cahndor hackten. Ich schaute von einem der Seegeborenen zum andern. Die Ratsmitglieder erhoben sich und traten zu Carth. Ihre Gesichter leuchteten vor Erregung und Schweiß. »Nein, Carth«, sagte ich ungläubig, als sein Bewußtsein mir die Absicht des Rats verriet. »Verhandle mit Jaheil! Du kannst nicht — «
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»Ase«, sagte Carth scharf. Ich wich zum Lager zurück. Die Ratsmitglieder faßten sich bei der Hand. Kein Wort wurde gesprochen. Die Arrars bildeten einen Kreis um den Rat, die Schwerter gezogen, aber nicht kampfbereit. Die Tür bebte und ächzte unter den Schwerthieben. Ase streckte die Hand aus. »Tu es nicht«, warnte ich. Er grinste. Ich fühlte den Rand des Lagers an den Kniekehlen. Ich fing einen Blick von Carth auf, bevor er die Augen schloß und sein Bewußtsein mit dem der übrigen Ratsmitglieder vereinte. Als Ase nach meinen Händen griff, begann das Schreien und ein hohes, knisterndes Winseln. Ich roch den beißenden Gestank von brennendem Fleisch. Und es war Zeit. Ich ließ es kommen; den Korridor, und Jaheils Männer schreiend auf dem Rückzug vor dem gewaltigen Feuer, das der Rat dort entfacht hatte. Von allen Seiten verfolgten die Flammen des Rats die eingekesselten Parsets. Bei Ases Berührung war ich bereit. Ich ließ mich rücklings auf das Lager fallen. Er verlor das Gleichgewicht. Ich hörte ihn stöhnen, als ich über das Lager und die Gefangenen fiel, und schleuderte ihn mit der Kraft meiner Verzweiflung mitten in die Flammen auf dem Gang. Ich sah, wie er Feuer fing. Dann roch ich das Haar, das Leder, das Fleisch, stechend, ekelerregend, und schützte meine eigenen Augen vor der Helligkeit. Aber ich war nicht dort; es war der Arrar Ase, der inmitten der von den Ratsmitgliedern erzeugten Feuersbrunst dem Tod sein Nein entgegenschrie. Mit all seinen Fähigkeiten bekämpfte er sie, und sie verloren angesichts eines der ihren den festen Halt. Die Flammen wurden schwächer, und ich sah meine Chance. Mit Ase griff ich nach dem Leben. Er rang um die Rückkehr in den Kreis. Ich unterstützte ihn, auf daß er die Raserei seines Sterbens zu ihnen bringe. Ihre
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Flammen folgten ihm in die Gemächer des Dharen, während sie noch unentschlossen schwankten. Nur das tat ich: Ihre eigene Kraft gegen sie wenden. Ases entfliehender Geist und ihre eigene Qual besorgten den Rest. In dem Augenblick, als die Feuerwirbel nach ihren Schöpfern leckten, löste ich mich von ihnen. Und sprang auf Carth zu, der stocksteif zwischen den ersten züngelnden Flammen stand. Nach Carth griff ich sowohl mit dem Körper wie auch mit dem Geist, entsetzt von der plötzlichen Erkenntnis. Ohne der Feuersbrunst zu achten, stürzte ich mich auf ihn und zerrte ihn hinter mir her, während die Flammen, genährt von dem Willen derer, die sie ins Leben gerufen hatten, wuchsen; rauchend, knisternd, grell. Dann matter, als die Sterbenden Erlösung suchten. Langsam fiel der Wirbel in sich zusammen. An seinem äußeren Rand lagen die Arrars, verbrannt, verkohlt, verstümmelt. Die Türflügel erzitterten und gaben nach. Es regnete Splitter und Holzstaub und eine Flut von Jiasks. Ich merkte es kaum. Aus schmerztrüben Augen starrte ich ihn an. Schwach, sehr schwach, regte sich noch Leben in dem Arrar Carth. Daran, daß ich ihn über den Teppich zerrte und zog, erinnere ich mich, und an den ununterbrochenen Strom meiner schluchzenden Flüche, und an das furchtbare Nachglühen des reinigenden Feuers vor meinen Augen. Geschlossen oder offen sah ich dasselbe Bild. Und wenig anderes. Gegen den glitzernden Nebel ankämpfend, beugte ich mich über ihn, der wie tot in meinem Griff hing. Ich neigte mein Gesicht zu ihm hinab und erkannte, daß ich nicht vorsichtig genug gewesen war. Stumpf hob ich den Kopf und sah die Arrars, die einigermaßen unbeschadet davongekommen waren, ihre Schwerter gegen die Masse der Feinde erheben. Stra klirrte gegen Stahl.
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Ich beugte mich wieder über Carth und flehte das Leben an zurückzukommen. Ich hatte nur wenig zu geben, konnte nur wenig entbehren. Ich suchte nach ihm. Als Belohnung erhielt ich einen kaum wahrnehmbaren Atemzug, ein flüchtiges Zucken der Augen unter geschlossenen Lidern. Einen Moment lag ich verzagend still und sammelte Kraft. Unsere Gesichter berührten sich, meine Hände lagen an seinem Hals. »Carth«, flehte ich schluchzend, »stirb nicht. Ich bitte dich. Noch nicht.« Ich hörte es und auch das nachfolgende Gemurmel, ohne zu merken, daß es meine Worte waren. Ich wußte nur, daß ich Carth um Haaresbreite vor den Reihen der Kämpfenden wegzerrte. Ich wollte das Lager erreichen. Ich wollte zu Sereth und Chayin, die immer noch den Reif der Stille trugen. »Carth«, bettelte ich, kroch über den Boden und hielt den reglosen Körper an den Armen über meinem Rücken. »Carth, bleib am Leben, für mich, wenigstens noch kurze Zeit.« Jahre schienen vergangen, bis ich ihn zum Lager geschleppt hatte. Dreimal entglitt er meinen kraftlosen Händen, als ich ihn heraufziehen wollte. Hinter mir kämpften Arrars gegen Jiasks, ihre Flüche kamen wie aus einem Traum in unnatürlich verlangsamter Zeit. Über seinen Knebel hinweg traf mich Sereths Blick. Unter Gebeten versuchte ich nochmals, Carth anzuheben. Seine Hände schienen mir zu kalt, als ich seinen Oberkörper auf das Lager zog. Ich krabbelte auf Sereths Rücken, um mehr Spielraum zu haben, und die ganze Zeit liefen mir Tränen über das Gesicht. Ein sinnloser Strom von Bitten und Forderungen floß über meine Lippen, während ich Carths Finger zu dem richtigen Muster zusammenlegte. Als es mir beinahe gelungen war, entglitt er mir. Die Arme um seine Hüften, zog ich den reglosen Körper halb über Sereth.
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Mein zweiter Versuch war erfolgreich. Mit meiner Unterstützung befreiten Carths Finger Sereth von dem Reif der Stille. Ich holte tief Luft. Dann, die Knie links und rechts neben den Hüften des Cahndor in die Kissen gestemmt, zerrte ich Carth über Sereths hilflosen Rücken zu Chayin. Verzweiflung packte mich, derweil ich mit Carths Händen hantierte. Die Daumen mußten in einem bestimmten Winkel zusammenliegen. Ich hörte Schritte. Ein Schatten fiel über uns. In diesem Moment öffnete sich der Reif um Chayins Hals. Ich versuchte die Hand abzuschütteln, die sich hart auf meine Schulter legte. »Estri«, sagte Jaheil und versuchte mich von ihnen herunterzuheben, »es ist vorbei.« »Die Reifen!« protestierte ich unter Tränen. »Du mußt mich weitermachen lassen!« Jaheil ließ mich los. »Ich weiß nichts von irgendwelchen Reifen«, knurrte er unsicher. Ich warf mich über Chayin und riß ihm das Ding vom Hals. Mit zitternden Fingern nahm ich auch Sereths Reif und schloß sie beide, so daß sie nichts als Luft umfaßten. Sie bemächtigten sich Carths. Ich merkte es erst, als sein schlaffes Bein unter mir weggezogen wurde. Ich schrie Jaheil an, aber er hörte nicht zu. Kaum noch bei Verstand kauerte ich auf dem Lager und belegte sie mit Flüchen, falls Carth sterben sollte. Jaheil, noch größer als ich ihn in Erinnerung hatte, ragte über mir auf. Erst als er mir von dem Ruhebett herunterhalf, erkannte ich das ganze Ausmaß dessen, was ich getan hatte. Heldenhaft, wie es dem Cahndor von Dordassor und Mit-Cahndor der Eroberten Länder zukam, versuchte er, den Blick von Khys' Zeichen an meiner Brust abzuwenden. Es gelang ihm nicht. »Schlüssel«, schrie er die Jiasks an, die nicht mit den Toten oder Gefangenen beschäftigt waren. Ich sorgte
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mich um Khys' rostbraunen Teppich und ob er nicht beschädigt würde. Dann mußte ich lachen und holte Khys' eigenes Schlüsselbund aus dem Bücherregal, wo sie zusammen mit seinen Karten und Schriften versteckt waren. »Holt Wasser«, hörte ich Jaheil befehlen, als ich die Wandplatte wieder vor die Regale schob, bis das Schloß einschnappte. »Wo ist Carth?« verlangte ich zu wissen, während ich ihm die Schlüssel aushändigte. »Verlier sie nicht. Das ist der einzige vollständige Satz. Es gibt nur den Satz, den der Dharen bei sich hat, und diesen hier. Die anderen sind nicht komplett.« Ich sah Lalen, der sich zu einem verwundeten Arrar gesetzt hatte, um ihn zu befragen, aufstehen. Jaheil beugte sich über den Cahndor und probierte die Schlüssel, bis er den passenden gefunden hatte. Lalen übergab seinen Gefangenen an zwei Jiasks und kam auf uns zu. Ich hob das Golmesser vom Teppich auf. Damit befreite ich sie einen nach dem anderen von ihren Knebeln, durchtrennte die Riemen und nahm ihnen die speicheldurchtränkten Tuchballen aus dem Mund. Ein Jiask reichte mir einen Wassersack. Unter seinem wachsamen Blick gab ich zuerst Chayin zu trinken. Der Cahndor knurrte und spuckte aus. »Laß mich in Ruhe!« befahl er Jaheil. »Kümmere dich um Sereth!« Die Handschellen, mit denen er gebunden gewesen war, klirrten auf den Boden. Ich bemerkte die Steifheit seiner Bewegungen. Er hatte lange mit den Händen auf dem Rücken daliegen müssen. Langsam richtete er sich auf, wobei jeder Muskel seines dunkelhäutigen Körpers sich spannte. Dann streckte er wortlos die Hand nach dem Wassersack aus. Sein Arm zitterte, und mit versteinertem Gesicht rang er um Gewalt über seinen Körper. Die Augen blieben geschlossen. Ohne ein
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Zucken der Lider schaute er mich an, und ich wagte nicht, den Blick abzuwenden. Er trank und verschüttete dabei einen Teil des Wassers, das ihm die Arme herunterlief. Die Stille im Zimmer, so schwer, wie es den blutigen Ereignissen dieses Tages angemessen war, drückte mir auf die Ohren. Selbst Sereths leises Flüstern und Jaheils Aufforderung, still zu liegen, erschienen unpassend. Ich kauerte als schweigender Beobachter am Boden, und Krämpfe durchliefen meinen Körper, als wäre ich Khys' Gedankenfessel unterworfen gewesen. Chayins Blick streifte mich. Sereth forderte Jaheil und Lalen ächzend auf, ihn in Ruhe zu lassen. Er wollte nicht daliegen und von ihnen durchgeknetet werden. Mit hängendem Kopf stützte er sich auf Hände und Knie. Die Wunden eines Mannes heilen nicht gut, wenn er einen Reif der Stille trägt. Auf Chayins Bitte hin, näherte ich mich ihm behutsam mit dem Wassersack. Ohne aufzusehen, schüttelte er den Kopf. Ich wagte nicht, ihn zu zwingen. Schweigend wandte ich mich an den Cahndor um Hilfe. Chayin drehte sich auf dem Lager, wobei er zusammenzuckte. »Trink, Mann«, drängte er, die Finger in die Seidentücher gekrallt. »Gleich. Laß mir Zeit.« Sereths Stimme war so laut, wie ein vom Wind zu Boden gewehtes Blatt. Er hob vorsichtig den Kopf, setzte sich auf und stützte sich auf die ausgestreckten Arme. Erneut bot ich ihm schweigend zu trinken an. Seine Augen wiesen mich ab. Mit einer knappen Geste deutete er zum Kopfende des Lagers. Ich hockte mich dort auf die Fersen, den Wassersack auf den Schenkeln. »Jaheil . . .« vernahm ich Chayins Stimme, die inzwischen kräftiger klang. »Geh du hinaus. Bestimmt
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gibt es noch einiges zu tun, bis der See der Hörner fest in unserer Hand ist. Kümmere dich darum. Sobald ich aufrecht gehen kann, wie es sich für einen Mann gehört, werde ich zu dir kommen.« »Wie du es wünschst, Chayin«, murmelte Jaheil. Er und Lalen tauschten verstehende Blicke. »Ich werde euch Lalen hierlassen.« Er winkte seine Männer zur Tür, die es nicht mehr gab. Die wenigen Jiasks, die noch in den Gemächern zurückgeblieben waren, nahmen ihre Verwundeten auf und gingen hinaus. »Nein«, sagte Chayin ermattet zu Jaheil. »Es soll niemand hier sein, außer uns.« Jaheil zupfte an seinem Bart. Seine Augenklappe bewegte sich im Gleichtakt mit seinen zuckenden Brauen. Dann hob er die Achseln und zog einen kleinen Beutel aus dem Gürtel. Dicht neben Chayins Knie warf er ihn auf die Seidenlaken. »Du hast es gehört«, bemerkte er zu Lalen, der noch im Zimmer stand. Lalen entfernte sich. »Und du auch, Bruder«, wiederholte Chayin unerbittlich. Der Cahndor von Dordassa näherte sich langsam dem gähnenden Loch, das einmal eine Tür gewesen war. »Mit Freuden bemerke ich, daß du noch lebst«, brummte er. »Göttlichkeit ist eine Bürde, unter der nur wenige der Brüderlichkeit pflegen.« Damit polterte er hinaus. Ich hörte, wie er im Gang die Wachen einteilte. Sereth warf den Kopf zurück und kreuzte behutsam die Beine. Chayin nahm mit geschlossenen Augen einen Schluck Uris, was ihn sehr zu beleben schien. Er grinste und reichte mir den Beutel mit Uris. Mit einer Hand tastete er nach seinem Hals. Ich erinnerte mich nur zu gut, was für ein Gefühl es gewesen war. »Ich hatte dir gesagt, du solltest Weiß tragen«, rügte
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er, während ich trank. »Am Tag von Sereths Hinrichtung«, rechtfertigte ich mich, die Zunge am Rand der Trinköffnung. Ich fragte mich, wie ich ohne hatte auskommen können. Dann gab ich den Beutel zurück. »Dies ist der Tag«, sagte Chayin. »Der drittvierte Brinar. Wo bist du gewesen, daß du das Datum nicht weißt?« Seine Hand griff nach der abgeschnittenen Haarsträhne auf meiner Wange. »Wo ich war, kann ich dir nicht sagen. An einem Ort, wo fünf Endhs gleich fünf silistrischen Tage sind. Aber ich trug Weiß, doch einer von Menetph hat es mir heruntergerissen. Und diese Haarlocke verlor ich durch einen Nemarsi. Lalen von Stra, der mir nicht beigestanden hat, würde ich gerne bestraft sehen.« Chayin lachte. »Deshalb möchtest du einen Mann bestraft sehen? Kleine Crell, ich wollte, daß du Weiß trägst, damit niemand dich beanspruchen sollte. In den unterirdischen Gängen schien mir das sicher genug. Du hättest dort bleiben sollen. Wir hätten auch ohne deine Hilfe triumphiert.« Rot vor Zorn riß ich ihm mein Haar aus den Fingern. Ich sagte nichts. Ich hatte die Zeichen in ihnen gelesen. Chayin war verbittert, weit weg. Sereth hatte das Aussehen eines Mannes, der nicht behelligt werden wollte. Verständnislos schüttelte ich den Kopf. Es war der drittvierte Brinar. Estrazis Art von Humor, vielleicht? Das Uris sang in meinem Blut. Sereth zog ein Bein an, rieb sich den Unterschenkel. Unter dem Schopf verfilzter, blutiger Haare hervor, schaute er mich an, lange und durchdringend. Ich deutete den Blick richtig. Er schätzte meinen Wert. Ich sehnte mich danach, ihn zu berühren, ihm von meiner Kraft zu geben, seine Wunden zu versorgen. »Trag zusammen, was es hier an Waffen gibt«, sagte er. »Dann bring sie her.«
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»Chayin, gib mir das.« Und er streckte dem Cahndor die Hand entgegen. Diese Hand zitterte. Trotzdem wußte ich, daß er bereits kräftiger war. Er trug keinen Reif mehr. Es schien mir, daß ich die Blutergüsse an seinem Körper verblassen sah, während er sich von innen heraus heilte. Doch seine Hand war noch nicht sicher, als er das Uris von Chayin entgegennahm. Und indem er den Beutel an die Lippen setzte, brach Sereth mit seinem lange beibehaltenen Vorsatz. Niemals, während der ganzen Zeit, die ich ihn kannte, hatte er Uris getrunken. Ich schaffte die Waffen herbei; jene, die ich bei den Fertigern ausgesucht hatte, und zwei Klingen von Khys. Während ich sie einsammelte, grübelte ich über ihr Benehmen nach. Chayin würde es merken, wenn ich in seinen Gedanken forschte. Sereth war unerreichbar hinter seinem Schild. Als ich die Waffen vor ihnen auf den Boden legte, hatte Chayin die Hand auf Sereths Rücken. Sie gaben sich gegenseitig von ihrer Kraft. Ich wickelte die Waffen, die ich ausgesucht hatte, aus der Tasdecke und fügte die beiden Klingen aus Khys' Besitz hinzu. Nach kurzem Zögern wählte Sereth die Waffe, der ich Blut aus meinem Arm zu trinken gegeben hatte, jene, die ich ihm in der Zelle hatte geben wollen. »Das ist das Schwert, das ich für dich bestimmt hatte«, sagte ich leise. Ein Hauch von Fröhlichkeit trat in seine Züge, als er sie nochmals betrachtete. »Sie hat ungefähr das Gewicht, das ich bevorzuge. Wollen wir hoffen, daß ungefähr genug ist.« Immer noch hatte er diese abweisende Haltung, die ich schon von früher her an ihm kannte — vor einem Kampf. Diese Erkenntnis ließ mich ein wenig zurückweichen. »Chayin, was kommt auf uns zu?« fragte ich flüsternd,
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als Sereth aufstand, um die Klinge und seine Glieder zu erproben. Aber Chayin gab keine Antwort. Schließlich erhob sich auch er, und gleich darauf fand ich mich verstört neben dem Lager stehend wieder. Khys schwankte mit weit gespreizten Beinen auf dem rostbraunen Teppich. Die Spirale, mit der Estrazi seine Brust gezeichnet hatte, glitzerte bösartig. Er hatte alles verloren, bis auf seinen Chald. Von seiner linken Gesichtshälfte und in einem Streifen seine Brust hinunter war der Flammenschimmer, der ihn stets eingehüllt hatte, weggerissen. Die freiliegende, stumpfe und dunkle Haut schien vor der Berührung der Luft zurückzuzucken. Seine Augen waren funkelnde Schlitze, und aus seinen Zügen sprach eine solche Qual und Wut, daß ich mich aufstöhnend abwenden wollte. Chayin legte von hinten die Arme um mich. Mit einer Hand verschloß er mir den Mund, als eben der Name des Dharen meinen Lippen entschlüpfte. »Sereth.« »Khys.« »Dachtest du, ich würde dir den See der Hörner kampflos überlassen?« »Nicht einen Augenblick.« »Bist du mit Stra einverstanden?« »Das ist die Waffe, mit der ich dir gegenübertreten möchte.« Ich öffnete die Augen. »Ich hatte dir die Wahl freigestellt«, bestätigte Khys mit fester Stimme. Doch ich kannte ihn und wußte, was die angespannten Muskeln an Kiefer und Hals und Bauch bedeuteten. Tränen fielen aus meinen Augen auf Chayins Hand, als er über den Teppich schritt. Langsam und mit großer Würde trat Khys heran, um die vereinbarte Waffe aufzunehmen. Sereth warf mit zusammengekniffenen Augen den
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Kopf zurück. Er starrte auf Khys' Rücken, während sich sein Handgelenk und Unterarm aus eigenem Antrieb kampfbereit machten. Khys, wie ich von vornherein gewußt hatte, wählte die ziselierte Klinge mit dem Griff aus einem einzigen Feuerjuwel, auf dem sich das Zeichen auf seiner Brust wiederholte. Als er sich aufrichtete, glitt sein Blick über mich hinweg. Was die Väter herbeigeführt hatten, entsetzte mich, und er wußte es. Mit Auge und Gedanken wandte er sich an Chayin. Was sie miteinander austauschten, wußte ich nicht, aber an meinem Rücken konnte ich fühlen, wie sich jede Sehne in Chayins Körper verhärtete. »Ich werde dir Schonung gewähren«, sagte Khys, sich zu Sereth herumdrehend. »Ich werde dir Schonung gewähren«, gab Sereth zurück, derweil seine geduckte Haltung ihn Lügen strafte. »Um den See der Hörner, wenn du es willst. Um ganz Silistra.« »Ich habe nichts dagegen zu setzen als mein Leben.« »Das genügt. Zeugen haben es gehört.« Ich stöhnte unter Chayins Hand und zappelte. Er legte mir auch den zweiten Arm um die Taille. Der Kampf nahm seinen Anfang. Sie umkreisten einander, und dabei merkte ich, daß ihre Schwäche sie zu ebenbürtigen Gegnern machte. Ich sah es deutlich an Khys' unsicheren Vorstößen und an Sereth, der einem Zusammenprall noch auswich. Verstört setzte ich mich mit aller Kraft gegen den Griff des Cahndor zur Wehr. »Still, Crell«, flüsterte er. »Schon bald werden wir wissen, wer dein neuer Herr ist.« Zuerst schien es kein Kampf der Gedanken zwischen ihnen zu sein. Selbst das Klirren von Stra ertönte nur in Abständen. Sie prüften, planten, während jeder auf ein
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Zeichen seines Körpers wartete. Aus tränenverschleierten Augen beobachtete ich Khys' ersten entschlossenen Angriff — ein Hieb quer über Sereths Brust. Und ein Schluchzen schüttelte mich, daß es zwischen diesen beiden zu einem Kampf auf Leben und Tod gekommen war. Die Wunde schien Sereth aufzuwecken, ihn zu befreien, als wäre sein Geist an einem gänzlich anderen Ort gewesen. Er schüttelte den Kopf. Mit einem plötzlichen Ausfall traf er Khys seitlich am Hals, ein unerwarteter Aufwärtsstoß, um Haaresbreite am Tod vorbei. Khys trat zurück. Blut lief in einem Dutzend Rinnsale über seine Brust. Der Schock der Verletzung, das Brennen, vermischt mit Überraschung über sein eigenes verletzliches, armseliges Fleisch, kamen zuerst. In seinem Innern kämpfte Ehre mit dem Recht auf Leben. Der Zwist verzehrte seinen Schild, strömte über mich hinweg, ließ meine Tränen versiegen. Er merkte es. Er konnte es sich nicht mehr leisten, seine Aufmerksamkeit auf einen Schild zu verschwenden, nicht einmal, um seine Gedanken abzuschirmen. Ein Siegesgefühl, kalter, bitterer Triumph, den sein Körper nicht begreifen konnte, durchflutete ihn, während seine fleischliche Gestalt erschreckt und zitternd am Rand des Abgrunds verharrte. Einen Moment lang bekümmerte es ihn, daß er nicht die Zeit hatte, dieser Ansammlung von Muskeln und Nerven, die um jeden Preis überleben wollten, zu erklären, daß er die Jahre, die sie noch für ihn bereithielt, eingetauscht hatte für diesen Augenblick, für Freiheit von verhaßter Manipulation, für eine Tat samt Folgen, die nur ihn allein betraf. Am Abgrund stehend, durch seinen Willen, lachte er trotz der Wogen aus Verzweiflung und Verlust und dem Entsetzen seines Körpers, daß er nicht länger auf seine Bedürfnisse Rücksicht nehmen wollte. Er lachte wieder, in der Erkenntnis, daß in diesem Moment, den er selbst
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gewählt hatte, sogar eine solch beredte Verkündigung eines vollkommen realisierten Willens zu einem bedeutungslosen Nichts verkam, denn wo er hinging, regierten keine Väter und gab es keine Erinnerung an ein früheres Selbst. Befreit von ihnen und auch von der kleinmütigen Regung seines Verstandes, der sein Vorhaben als Narrheit verurteilte, blieb nur noch übrig, die Tat selbst zu vollbringen. Verzweifelt kämpfte er darum, seine Furcht unter Kontrolle zu bringen, biß die Zähne zusammen, damit sie nicht wie im Frost aufeinanderschlugen. Denn aus seiner Voraussicht trat eine schreckliche Ahnung an ihn heran, ein gähnender Abgrund der Wahrscheinlichkeit: daß selbst diese Tat ihm verwehrt werden könnte, daß dieser Tod, auf den sein Leben hingearbeitet hatte, ihm nicht vergönnt sein würde. Mit einer Willensanstrengung, die mich besinnungslos gegen Chayins Arme ankämpfen ließ, stürzte er sich auf Sereth. Aus der schärferen Waffe inneren Aufruhrs heraus, die von einem unwandelbaren Entschluß geführt wurde, stieß er zu. Sereth hielt ihm stand. Funken flogen, als die Klinge des Dharen knirschend bis zu dem Griff von Sereths Schwert hinabglitt. Sie standen Fuß an Fuß, die Waffen zwischen sich. Ich konnte keinen Vorteil erkennen. Sie lösten sich voneinander, trafen sich erneut, als würden sie von einer Welle abgedrängt und von der nachfolgenden Dünung wieder zusammengebracht. Khys war geschickt. Er begrüßte Sereth an seiner Brust, wie einen lange vermißten Geliebten. Jetzt, in diesem Augenblick. Er forderte es vor der Zeit, befürchtend, der Gier seines Körpers nach Leben nicht länger widerstehen zu können. Ich spürte das kalte Brennen der Klingen an meiner eigenen Brust; und eine Hitze, blendend, getragen von einem tiefen, unendlich fortdauernden Seufzer in dem erstarrten Moment, da die Spitze
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das Herz durchbohrte. Die Muskelkontraktion hielt die Klinge zwischen zwei Rippen fest. Erleichterung durchströmte ihn. Es war vollbracht. Dann trennten sie sich. Khys' Finger um das Schwert, das mitten in die Spirale auf seiner Brust gedrungen war, spürten das Blut nicht. Er hustete und würgte, schluckte krampfhaft. Er schmeckte Metall und Salz und Erfolg. Sereths Brust hob und senkte sich unter tiefen Atemzügen, Schweiß strömte über seinen Rücken, staute sich glitzernd entlang der Wölbungen verkrampfter Muskeln. Das sah ich. Aber sehen war unwichtig. Ich fühlte die scharfe, klare Hitze, dann Schwindel, dann Freude, daß alles so einfach gewesen war. Der Schmerz verging, Bilder und Geräusche nahmen eine andere Färbung an. Khys fühlte seine Beine zitternd nachgeben und hörte einen weit entfernten dumpfen Laut, als sein fühlloser Körper auf den Boden prallte. Qualvoll nach Atem ringend, vereinigte ich mich mit ihm, ohne Tränen: ein Nachlassen des Pulsschlags, ein letztes, süßes Bedauern für die Dinge, die ungetan bleiben mußten. Dann verging selbst das Triumphgefühl, und es blieb nur eine leise Verwunderung darüber, was es einst bedeutet hatte. Er fühlte kaum, wie das Blut ihm entströmte, obwohl ein losgelöster Teil seines Bewußtseins das Fortschreiten des Todes zur Kenntnis nahm, und, eins nach dem andern, das Versagen jener Systeme aufzeichnete, die so lange seine Welt ausgemacht hatten. Die dunklen Flecken vor seinen Augen breiteten sich aus, vermehrten sich, zerflossen zu einem Schleier aus Farben. Ein Wind trug ihn empor und davon. Er sah uns und Sereth, dessen erhobener Arm mit dem Schwert zitterte, von einem Platz über und hinter dem Leib, den er gekannt hatte. Zärtlich nahm er Abschied von der Gestalt, die ihm so lange und gut gedient hatte. Er spürte ein schwaches, erlöschendes
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Prickeln, ein letztes Zittern von Nerven, denen er nie wieder befehlen würde. Der Widerhall tönte durch sein Bewußtsein, ein verspätetes Zurückzucken vor der Unbeweglichkeit, zu der er nun verurteilt war. Diese Entscheidung, einmal getroffen, konnte nicht wieder rückgängig gemacht werden, nicht neu überlegt, nicht einmal in Erinnerung gerufen. Zögernd tastete er nach seinem Körper, der ausgestreckt auf dem Teppich lag. Sein Versuch, ihn von der Stelle zu bewegen, wo er von der eigenen Klinge durchbohrt, niedergestürzt war, noch einmal mit den Augen des Leibes zu sehen, schlug fehl. Er konnte sich nicht der erforderlichen Fähigkeiten besinnen, einst verfügbar, ohne daß man auch nur einen Gedanken daran verschwenden mußte. Und dann gebar diese zunehmende Dunkelheit einen Wasserfall aus Licht, und aus dieser lockenden Helligkeit strömte eine Melodie, der er sich nicht entziehen konnte. Während er sich einen Weg durch all die fließende Schönheit um ihn herum suchte, steckte eine Gestalt, die er zuerst als Freund erkannte, dann als eine Frau, lange dahingegangen und länger betrauert, ihm die Hand entgegen. Als er sie ergriff, lenkte ein Geräusch wie Lichtschimmer seine Aufmerksamkeit auf eine Tür, die er zuvor nicht bemerkt hatte. Ihre Hände trafen sich. Sereth trat aus meinem Blickfeld. Khys lag klein und leblos auf dem Teppich in einem roten See aus Blut. Aus dem Siegel der Schöpfer zog Sereth das Schwert des Dharen, während aus der Wunde in immer schwächerem Quell noch sein Leben strömte. Seine Augen waren geschlossen. Um meine Trauer zu ersticken, biß ich in Chayins Hand. Sereth blieb einen Augenblick stehen, bevor er zurücktrat. Und wieder einen Schritt nach vorn tat. Um
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zu erstarren wie unter der Körperfessel, obwohl sein nächster Hieb rechtens und gnädig gewesen wäre. Estrazi erschien, bronzen und unangreifbar, die mächtigen Arme vor der Brust verschränkt. Nicht seit meiner Zeugung war der Schöpfer unter Silistriern gewandelt, und davor nicht seit zweitausend Jahren. Sereth wich einen weiteren Schritt zurück. Dort blieb er stehen und ließ sein Schwert und das des Dharen vor meines Vaters Füße fallen. Dann stützte er die Hände zu Fäusten geballt in die Hüften. Estrazi betrachtete uns, senkte den Blick zu Khys. »Ich werde ihn nehmen«, sagte mein Vater, Mitleid in seinen Augen wie Feuer. Er nahm Khys auf die Arme. Das Blut des Dharen rann über das Fleisch des Schöpfers. Wie ein Kind hielt Estrazi ihn, eine Hand über dem Siegel, mit dem er Khys gezeichnet hatte, und der Wunde darin. »Er hat dir kein leichtes Erbe hinterlassen, leiblicher Sohn«, sprach Estrazi zu Sereth. Die Flammenzungen über seiner dunklen Gestalt schienen sich zu verdichten, Khys einzuhüllen. »Du hast mir in der Vergangenheit gut gedient.« So wurde Sereth, der sich nicht regte, von Estrazi anerkannt. »Wenn du mich noch einmal für deine Zwecke benutzen willst«, meinte Sereth mit seiner gleichmütigsten Stimme, »würde ich es vorziehen, rechtzeitig davon unterrichtet zu werden.« »Das nächste Mal«, nickte Estrazi, eingehüllt in das Feuer der Schöpfung, »werde ich dich unterrichten.« Der Nachhall seiner Worte hing im Raum. Er war verschwunden. Er war gegangen ohne ein Wort an mich, seine Tochter.
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9 Das innere Gesetz
»Um den See der Hörner«, flüsterte Sereth halb zu sich selbst. Auf dem Teppich, wo Khys gelegen hatte, waren dunkle Flecken zurückgeblieben. Zwischen den feucht glänzenden Flecken lag der Chald des Dharen. Er näherte sich der Stelle mit langsamen, entschlossenen Schritten. Dann hockte er sich hin. Er nahm den Chald auf und ließ ihn durch die Hände gleiten. Dabei sprach er so leise vor sich hin, daß wir es nicht verstehen konnten und warf den Kopf in den Nacken. Mit dem Chald in der Hand kam er zu uns und setzte sich hin. »Sucht euch Arbeit, oder ich werde euch welche auftragen«, rief Chayin über die Schulter. Da erst wandte ich den Kopf und entdeckte die Jiasks in der Öffnung, wo einst die Tür gewesen war. Der Cahndor rieb sich den Nacken. Erst betrachtete er Sereth eine geraume Weile, dann den Chald. »Zeugen haben es gehört«, sagte er schließlich. »Glaubst du, er war dazu noch berechtigt?« »Nach allem Ermessen war er berechtigt. Und er machte ihn dir zum Geschenk.« Zum erstenmal hob Sereth das Gesicht zu uns. Ich sah zwei unerwartete Dinge: Tränen und Zorn. »Ich will nicht über andere herrschen. Mein ganzes Leben lang haben andere mich zu beherrschen versucht. Das Gesetz im Innern ist Fessel genug für jeden Mann.« »Es ist dein Chaldra«, bemerkte Chayin bedeutungsvoll. Er schaute auf den großen Chald von Silistra und wieder zu Chayin. Aus der Wunde an seiner Brust quoll
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eine letzte blutige Träne. »Du weißt, was ich wollte. Du hast es für mich in die Wege geleitet. Was von dem Traum noch übrig ist, werde ich mir nehmen. Und ich möchte mit ihr fortgehen, fort von den Ländern der Menschen.« »Um was zu tun?« erkundigte Chayin sich knurrig. »Jagen vielleicht. Ich weiß es nicht.« Der Kummer, der Sereth einhüllte, ließ mich auf den Knien vor und zurück schaukeln. Ich vermochte kaum den Impuls zu unterdrücken, einen Klagegesang anzustimmen. Seine Blicke wanderten über meinen Körper, nahmen jede Einzelheit in sich auf, als könnte er jetzt endlich seinen Hunger stillen. Als unsere Blicke sich trafen, konnte ich das Gefühl darin nicht benennen, denn es war aus Owkahen geboren, und dem, was mit uns geschehen war. »Es ist das Zeichen meines Vaters«, gab ich leise zu bedenken. »Es ist nicht die Prägung des Körpers, sondern die Prägung des Geistes, die mich stört.« Er stand auf. Einen düsteren Ausdruck im Gesicht, schnippte er mit den Fingern. Ich tat für ihn, was er verlangte, und was ich so oft für Khys getan hatte. »Sie ist wahrhaftig eine Crell«, meinte Chayin. Ich sah nichts als das Haar zu beiden Seiten meines Gesichts. »Das ist es nicht. Sie hat es von einem anderen gelernt, und nach dem Geschmack eines anderen. Steh auf.« Mit hölzernen Bewegungen gehorchte ich. Er grinste und zog mich an sich. Mir kam es vor, daß er mich überall berührte, wie um eine alte Bekanntschaft aufzufrischen. Ich protestierte. Unvermittelt drehte er mich zu dem Cahndor herum. »Überzeug dich selbst«, sagte Sereth zu Chayin. Ich ertrug des Cahndors Betasten, bis ich nicht mehr konnte. Dann schlug ich mit aller Kraft meines Bewußtseins zu, aber er wehrte den Schlag ab, ohne in seiner
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anderen Beschäftigung innezuhalten. »Laß es sein . . . Damit kannst du uns nicht mehr beeindrucken. Zu einem mir genehmen Zeitpunkt werde ich dafür Wiedergutmachung verlangen.« Seine dunklen Augen blickten klar. Er stieß mich von sich. Ich stolperte, fing mich und blieb aufrecht zwischen ihnen stehen. Sereths Augen waren hart und mißbilligend, aber ich hatte gesehen, was sonst noch darin verborgen lag. Ich strich mir das Haar aus dem Gesicht und straffte unter seiner Musterung die Schultern. »Sie rief Khys' Namen, als er und ich uns gegenüberstanden«, bemerkte Sereth zu Chayin. »Crells und Besitzer — so ist es oft zwischen ihnen. Wäre sie ihm weniger ergeben gewesen, würde sie dir weniger ergeben sein«, tat der Cahndor seine Meinung kund. Ich hörte lautes Gelächter der Jiasks auf dem Gang. »Aber sie hat nicht gehorcht, als ich ihr befahl, sich aus dieser Angelegenheit herauszuhalten.« »Sollen wir ihr diesen Chald abnehmen?« schlug Sereth vor. »Aber sofort«, stimmte der Cahndor zu. Mit dem Messer schnitten sie ihn entzwei. Ich erhob keine Einwände. Meine Gedanken waren voll von ihnen und was sie waren und wie recht Khys mit seiner Meinung über sie gehabt hatte. Ich begnügte mich damit, Sereth all meine Liebe mit den Augen zu zeigen, ohne ein Wort zu sprechen. Ich gehörte ihm — ein Siegespreis, Crell, wie immer er es haben wollte. Das, was ihn zu dem Zweikampf mit Khys getrieben hatte, tobte noch immer in ihm. Bestimmt war noch genügend Wut übrig, um sie an mir auszulassen. Ich verhielt mich völlig still, demütig, um ihn nicht weiter zu reizen. Ich erinnerte mich an eine Gelegenheit, bei der ich Sereth und den Cahndor die Klingen kreuzen gesehen hatte. Es war nur eine Übung gewesen. Nie hatte ich
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bessere Fechter gesehen. Vielleicht waren sie die besten von ganz Silistra. Und ich dachte an Khys, der Sereth mit dem Schwert entgegengetreten war. Obwohl er seine Fähigkeiten kannte, hatte er mit ihm gekämpft. Und es war nicht wie sonst gewesen, wenn ich Sereth die Klinge führen sah. Er hatte Khys nicht mit dem ersten oder zweiten Hieb die Waffe; aus der Hand geschlagen. Khys hatte seinen Nachfolger gewählt. Estrazi hatte die Wahl bestätigt. Und Sereth betrachtete mich unter seinem blutverklebten Haarschopf hervor und dachte nach. »Erzähl mir von der Entführung«, befahl er. »Ich würde es auch gerne hören«, fügte Chayin hinzu, der sich in die Fensternische zurückgezogen hatte. Ich dachte an die Dinge, die mich beschäftigten und noch an etwas anderes. »Sereth, welche Wahl wirst du treffen? Alles andere kümmert mich nicht. Mein Vater und Khys, beide haben Silistra in deine Hände gelegt. Wer soll die Herrschaft übernehmen? Chayin nicht, sonst wäre er den Rest seines Lebens damit beschäftigt, die Grenzen seines Reiches abzureiten.« Die Parsets glauben, daß, wenn einem etwas gehört, man es auch benutzen muß. »Erzähl mir von der Entführung«, wiederholte Sereth auffallend ruhig und kam auf mich zu. »Frag Dellin, der auch dabei war. Oder M'tras, der die Tat plante und ausführte.« Ich trat einen Schritt zurück, nur um zu erkennen, daß es keinen Sinn hatte. Er legte mir die Hände auf die Schultern. »Estri, bei Mondaufgang wirst du wünschen, daß Khys noch am See der Hörner regierte.« Seine Finger gruben sich in mein Fleisch. »Sereth«, flüsterte ich. »Geh zu den Gefängnissen. Sprich mit Dellin und M'tras in Nummer Zwölf. Hör dir an, was sie zu sagen haben. Sieh dir alles andere an, das Morden, das Blutvergießen. Und dann sage mir noch einmal, daß
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wir auf die Jagd gehen wollen, fern von den Ländern der Menschen.« »Ich werde es dir noch einmal sagen. Wir werden jagen.« Aber er stopfte Khys' Chald in den Hosenbund. Chayin verließ die Nische in einer Wolke von Kissen. Seine Züge waren grimmig. »Gehen wir also und sprechen mit Dellin und dem anderen. Sie ist immerhin die Tochter ihres Vaters. Obwohl Crell, natürlich.« Seine Augen nahmen einen unsicheren Ausdruck an. »Da genau liegt das Problem. Aber wir werden gehen.« Er hob die Schwerter vom Teppich auf. Khys' Waffe gab er Chayin, der die passende Scheide zwischen den Dolchen und Schwertern auf dem Lager fand. Ich folgte dem Cahndor und dachte an die leichte Klinge. Er legte mir den Arm um die Schultern. »Du bist wunderbar«, flüsterte er und ließ mich wieder los. Als ich von ihm zurückwich, stieß ich gegen Sereth. Mit einem Kopfschütteln wandte ich mich ab. Aber ich hätte wissen müssen, daß Chayin sah, was ich plante. Auch er war mit Sereth bei der Plünderung von Astria dabei gewesen. Diese drei Worte hielten mich aufrecht bei unserem Weg durch die Säle zu den Untergeschossen, vorbei an den Stöhnenden und den Verwundeten und denen, die nicht mehr stöhnen konnten, für die körperliches Unbehagen nicht länger von Bedeutung war. Wir gingen den Weg, für den Sereth sich entschieden hatte, die Vordertreppe hinunter und durch die Haupträume. Während wir an den noch unbeseitigten Spuren des Parset-Massakers vorbeischritten, erschienen Falten auf seiner Stirn, und immer wieder legte er die Hand an den Schwertgriff. Dreimal blieb er stehen, um Männer zu untersuchen, die Jaheils Parsets als ungefährlich hatten liegen lassen. Einen davon tötete er. Der zweite war bereits gestorben. Den dritten legte er sich über die Schulter und trug ihn zu dem siebeneckigen Raum, in
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dem die verwundeten Parsets und ein paar Gefangene untergebracht waren. Wir gingen erst weiter, nachdem er einer Hellseherin, der man die Fesseln abgenommen hatte, damit sie sich um die Verletzten kümmern konnte, Anweisungen gegeben hatte. Als er sich wieder zu uns herumdrehte, wurde eine Frau mit einem Reif der Stille um den Hals hereingetragen. Ein Schwert hatte sie durchbohrt. Chayin hielt den Mann an, der sie auf den Armen trug. Sereth näherte sich in einer unheilverkündenden Haltung. Der Mann erklärte, daß die Frau sich selbst in sein Schwert gestürzt hatte. Aufrichtige Verwunderung sprach aus seinen Worten. Sereth bat ihn, sie auf den Boden zu legen. Er beugte sich zu ihr herab und redete leise auf sie ein. Mit dem letzten Atemzug brachte sie ein paar Worte heraus. Sereth richtete sich auf. Er nahm meinen Arm und führte mich zur Tür. Der Cahndor zögerte einen Moment, dann folgte er uns. »Der Mann, der ihr den Reif umgelegt hatte, wurde getötet vor ihren Augen. Sie hatte nicht den Wunsch, so weiterzuleben.« Das erzählte Chayin, als er mich eingeholt hatte. Sereth war weit von dem Land der Sprache entfernt. »Erzähl mir von den beiden, zu denen wir unterwegs sind«, schlug Chayin vor, als wir durch die Gittertür getreten waren. Sereth wollte uns durch das Labyrinth führen, das bei den Zellen mit den hohen Nummern endete. Auf dem langen Weg hatte er ausreichend Zeit, darüber nachzudenken, was ihn beschäftigte. »Ich kann dir nur sagen, daß ihnen kein Schaden zugefügt werden darf. Khys legte M'tras' Leben in meine Hand. Da ich ihn nicht länger schützen kann, fällt euch beiden diese Aufgabe zu. Er soll zur Ebene von Astria gebracht werden. Dort wird er seinen Helsar finden. Auch Dellin soll einen Helsar nehmen.«
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»Sprich mir nicht von Khys' Wünschen, Estri. Nicht ausgerechnet jetzt.« Der Klang von Sereths Stimme ließ mich während des ganzen langen Weges schweigen. Wie in den oberen Räumen trafen wir auch hier auf Jiasks und Tiasks. Ich wunderte mich darüber, als die erste Gruppe uns grüßend anrief, aber dann erinnerte ich mich daran, daß Chayin sich am See der Hörner auskannte. Immerhin lassen sich Karten zeichnen. Richtungsangaben können ohne weiteres von einem zum anderen weitergegeben werden. An den Ufern, von denen zu sprechen nicht erlaubt ist, hatte ich einen Threxreiter gezeichnet. In seiner Zelle hatte Chayin mir versichert, daß ihm nichts zustoßen würde. Khys hatte von rebellischen Tiasks im Süden berichtet. Wir näherten uns den Zellenfluren, als mir plötzlich ein Licht aufging und ich mich zu einer Frage erkühnte. »Ich hatte gehört, im Süden seien Unruhen ausgebrochen, und Tiasks würden zu Banden zusammengeschlossen das Land durchziehen. Und trotzdem sehe ich Tiasks, wohin ich schaue. Hast du dich mit dem Anführer der Rebellion geeinigt, Cahndor?« Sein Lachen hallte von den Taernitmauern wider. Im Fackellicht blitzten seine weißen Zähne. »Dem Anführer der Rebellion. Ja, man könnte sagen, daß ich mich mit ihm geeinigt habe. Siehst du, er hatte Zugang zu meinen geheimsten Gedanken. Meine ausgeklügeltsten Pläne wurden ihm vorgelegt. Welche Schritte ich auch unternahm, um die Tiasks zu unterwerfen, er war mir immer eine Endh voraus. Mehr und mehr Jiasks sandte ich hinter den Tiasks her, aber ich trieb sie immer nur weiter nach Norden.« »Und als sie sich endlich im Nordwesten sammelten«, warf Sereth ein, »brauchte Chayin nicht länger gegen sich selbst Krieg zu führen.« Wir bogen in den von Fackeln erleuchteten Gang ein, modrig und feucht, in dem der Dharen Yits züchtete und
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Übeltäter lagerte. »Wie hast du die Lüge vor Khys aufrechterhalten können?« fragte ich. »Es war keine Lüge. Die Rebellion fand tatsächlich statt, nur ich hatte sie in die Wege geleitet. Ich hielt lediglich an meinem Kand fest. Crux besorgte den Rest.« »Du hast mich als Waffe gegen ihn benutzt«, beschwerte ich mich. Chayin hatte mir verdrehte Wahrheiten erzählt, damit Khys sie aus meinen Gedanken lesen sollte. »Er hat dich als Waffe gegen uns benutzt«, stellte Sereth richtig, während er die Zellennummern ablas. Schritte und Stimmen näherten sich uns aus dem halbdunklen Gang. Zelle Vierunddreißig stand offen. Als wir daran vorbeigingen, sprach Chayin aus, was ihn bedrückte. »Ich habe einen hohen Preis für dieses Reich bezahlt, das du nicht haben willst«, bemerkte er tonlos zu Sereth. »Als ich den Preis bedachte, nachdem ich von meiner Helsarausbildung in den Süden zurückgekehrt war, erschien er mir angemessen. Ich dachte daran, daß ich dir kein Lagergeschenk gegeben hatte. Ich hielt es damals für passend. Zu der Zeit hätte ich mich an ihm gerächt, auch wenn keiner von euch beiden mehr am Leben gewesen wäre. Ich bin nicht jemand, der Menschen verurteilt, die anders sind als ich selbst.« Sereth blieb mitten im Gang stehen. »Ich begreife nicht, was du meinst.« »Wir sind alle sehr viel anders, als wir waren. Ich sehe in diesem Unterschied eine Angleichung. Wenn du den See der Hörner nicht haben willst, ist das deine Sache.« Sie standen sich auf dem Gang gegenüber. Dann trat Chayin entschlossen an Sereth heran. »Komm mit mir in den Süden. Durchstreife die Eroberten Länder. Herrsche für mich — alles was mein ist, gehört dir. Oder
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züchte Threx auf dem Mount Opir. Das Gras ist gut dort.« »Ja, das Gras ist gut dort«, sagte Sereth ruhig. Sie umarmten sich, und ich wandte mich ab. Von den Zellen mit niedrigen Nummern näherte sich ein Trupp Jiasks. Vor jeder Zelle machten sie Halt, öffneten die Tür und schauten hinein. Vor Zelle Zwölf trafen wir mit dem Trupp Jiasks zusammen. Unter ihnen war der Menetpher, der mich gefangengenommen hatte. Von meinem sicheren Platz zwischen Sereth und dem Cahndor grinste ich ihn an. Er grinste zurück. Meine Finger tasteten unwillkürlich nach den Wunden, die die Huija mir gerissen hatte. Sie warteten schweigend auf Chayins Befehle. Er trug ihnen auf, alle die herauszusuchen, die einen Reif der Stille trugen, und sie gemeinsam unterzubringen. Die Zellendurchsuchungen, versicherte er ihnen, konnten warten. Der Anführer gab ihm die Schlüssel. Und Jaheil sollten sie suchen, um ihn für Sonnenuntergang in die Gemächer des Dharen zu bestellen. Außerdem erkundigte er sich nach den Hulions. Keiner hatte auch nur ein einziges dieser geflügelten Raubtiere zu Gesicht bekommen. Hulions bevorzugte Nahrung sind Threx. Meinem ursprünglichen Bezwinger und einem weiteren Mann trug er auf, Wachen aufzustellen, die nach den Tieren Ausschau halten sollten. Die Männer gingen auseinander, um ihren jeweiligen Befehlen Folge zu leisten. Während Chayin den passenden Schlüssel heraussuchte, bat Sereth ihn, sich keine Gedanken wegen der Hulions zu machen. Mit einer Schulter stemmte Chayin die verzogene Tür auf. Dellin und M'tras hatten sich so weit entfernt von der Tür niedergekauert, wie es nur möglich war. Eng
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beieinander saßen sie an der Wand im Schatten der Galerie. An ihren Körpern zeigten sich Spuren eines wenig rücksichtsvollen Verhörs nach Parset-Art. Ich hob den Blick zu der Galerie. Es war niemand zu sehen. Aber ein Wurfmond lag auf den Steinen, am Rand mit stumpfem Rot überzogen. Ich erfuhr es aus Dellins Gedanken, während Sereth die Waffe aufnahm, und dann die zusammengekauerten Männer betrachtete. Jiasks, drei Mann, hatten sich Zeit für Oejri-anra genommen, ein Zielwerfen mit rasiermesserscharfen Halbmonden, bei dem die Männer ihre Fertigkeit übten, die Metallsichel nach dem Flug wieder in die Hand des Werfers zurückkehren zu lassen. In diesem engen Raum verlangte das Spiel tatsächlich ein Höchstmaß an Können, wobei Dellin und M'tras die lebendigen Zielscheiben abgegeben hatten. M'tras hatte eine Fleischwunde am rechten Oberschenkel abbekommen. Das alles war vorgefallen, nachdem man sie verhört hatte. Keiner der beiden bewegte sich. Kein Winseln oder Bitten, keine Anklage, kein Widerstand. Sie warteten ab. Neben M'tras lagen zwei Ors am Boden. Eines war aufgeschlagen. Sereth hockte sich vor ihnen hin und drehte geistesabwesend den Wurfmond zwischen den Fingern. Dellin schaute von dem Cahndor zu Sereth, dann zu mir. Er dachte daran, was wir ihm getan hatten, als er das letzte Mal in unserer Gewalt gewesen war, und er betrachtete den Cahndor mit einem solchen Ausdruck des Entsetzens, daß Chayin lächelte. M'tras begnügte sich mit der Rolle des Zuschauers. Er wußte nicht genug, um Angst zu haben. Der Cahndor lehnte sich an die Wand. Sereth rief nach mir, und ich ging zu ihm. »Estri hat mir berichtet«, sagte er zu Dellin, »daß du bei ihr warst, als sie vom See der Hörner entführt wurde. Chayin besteht darauf, den Mord an seiner Lagergefähr-
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tin zu rächen. Ich suche nach einem Grund, um euch vor ihm zu schützen. Wenn du einen Vorschlag in dieser Sache zu machen hast, laß ihn hören.« Chayin knurrte etwas Unverständliches und verlagerte sein Gewicht von einem Bein auf das andere. Ich schenkte M'tras ein ermutigendes Lächeln. Dellin schloß die Augen und sagte nichts. Chayin beugte sich vor, um ihm etwas ins Ohr zu flüstern. Dellin erschauerte. Dann erzählte er alles, was er wußte: von Khys' Auftauchen in seiner Station, seiner Flucht vor dem Zorn des Dharen, M'tras' Plan, die Höhlen zu vernichten, der Beschädigung des Schiffes durch die Schutzhülle, die Silistra umgab. Dieser Punkt, und was Khys mit der Besatzung der Oniar-M sowie dem Schiff selbst getan hatte, erregte Sereths Interesse. »Chayin«, unterbrach er Dellins Redefluß, »es scheint, daß wir tatsächlich auf die Jagd gehen werden, und gemeinsam. Ich wollte schon immer wissen, wie die Welt jenseits des Embrodming aussieht.« »Dein Schwert wäre mir willkommen. Wenn es mir auch schwerfällt, muß ich meine Verpflichtung Liumas Schatten gegenüber wohl zurückstellen.« Er lächelte herausfordernd und unverhohlen grausam. Ich dachte an Khys' Worte zu den M'ksakka, als er sie in die Wildnis entließ, daß eines Tages Chayin kommen würde, um sie zu jagen. Sereth wandte sich wieder an Dellin. »Willst du mir erzählen, daß wir M'ksakka und seine Verbündeten ein für allemal los sind?« »Ich weiß nur, was er mir gesagt hat. Unsere Leute hatten eine Spanne Zeit, den Planeten zu verlassen. Am Ende dieser Frist wurde die Barriere von innen so undurchdringlich, wie sie es von außen ist. Wenn es stimmt, habt ihr jetzt die zwei letzten Außenweltler auf Silistra vor euch.« »Und warum hat man bei euch eine Ausnahme
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gemacht?« knurrte Chayin. »Ich habe keine Ahnung«, antwortete Dellin. »Er wollte, daß sie jeder einen Helsar nehmen«, erklärte ich. »Dellins Onkel wurde M'ksakkas Justierer, nachdem du Mossennen getötet hattest.« Ich sprach zu Sereth, während die Einzelteile sich in meinem Kopf zusammenfügten. »Er wollte, daß sie hierbleiben, bis sie sich genügend Fähigkeiten des Geistes angeeignet haben würden, um zu ihren Heimatplaneten zurückzukehren. Sie sind beide hoch angesehen auf ihren Welten, Dellin wegen seines Blutes, M'tras wegen seiner Talente. Sie sind seine Botschafter, die ihn überdauernden Vorantreiber seiner Kands in der Zeit. Sieh dir seinen Text über Kandern an. Er wurde für solche wie M'tras geschrieben. Wenn die Zeit gekommen ist, werden sie Khys' Werke mit nach Hause nehmen.« Als M'tras das hörte, beugte er sich vor, eine Hand auf dem Ors neben ihm. Er schüttelte heftig den Kopf, als hätte er Wasser in die Ohren bekommen. »Estri«, warnte Sereth, »ich habe es dir schon einmal gesagt: Khys' Wünsche und Pläne interessieren mich nicht.« Dann richtete sich Sereths Aufmerksamkeit auf M'tras. »Du scheinst kein M'ksakka zu sein«, meinte er. »Welches ist dein Planet?« »Yhrilliya.« »Und wie findest du Silistra?« richtete Chayin das Wort an ihn. »Ungastlich«, erwiderte M'tras, die von dunklen Ringen eingefaßten und von Blutergüssen umgebenen Augen unbewegt. »Du trägst keinen Chald«, bemerkte Chayin. »Wenn du mit einem Chaldtragenden sprichst, ist es Sitte, eine Anrede oder einen Namen zu verwenden.« Er trommelte mit den Fingern auf den Juwelengriff am Schwert des Dharen.
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»Du brauchst mir nur die richtige Anrede zu nennen, und ich werde sie benutzen«, sagte M'tras sorgfältig in seinem gestelzten Silistra. In dem Augenblick wußte ich, daß Chayin ihn, aus welchem Grund auch immer, nicht töten würde. Chayin nannte, in Anbetracht der Umstände sogar äußerst liebenswürdig, alle seine Titel. Ich rückte neben Sereth hin und her, weil ich daran denken mußte, wie M'tras mit mir umgesprungen war. Ihrer Aufforderung entsprechend, erzählte M'tras, was er getan hatte. Er sprach gut, mit der Direktheit eines Mannes, der auf seine Arbeit stolz ist. Wie er zu dem Auftrag gekommen war, erklärte er nicht. Aber alles andere berichtete er, sogar, daß er mich für zu schmal in den Hüften hielt. Die letzte Bemerkung reizte Sereth zum Lachen. Ich starrte ihn an, diesen Außenweltler, der Sereths Interesse erregt hatte. »Ich habe deine Ijiyr«, sagte ich leise zu M'tras. »Wenn du sie jemals wieder in Händen halten möchtest, zügle deine Zunge.« Vielleicht empfanden Sereth und Chayin eine geheimnisvolle Seelenverwandtschaft mit M'tras, die ich leider gar nicht nachvollziehen konnte. Der Cahndor trat heran und nahm meinen Arm. Ich schüttelte seine Hand ab. »Bring sie hinaus auf den Gang«, befahl Sereth scharf. Chayin gehorchte. »Ich kann es nicht ertragen«, zischte ich und lehnte mich an die kalte Steinwand im Gang. »Du wirst schon die Kraft aufbringen«, beruhigte mich Chayin. »Was kümmert es dich?« Meine Glieder zitterten und mein Kopf dröhnte. Er grinste. »Es ist lange her, daß ich ihn so wohl gesehen habe.«
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»Du hast Liumas Tod nicht an M'tras gerächt.« »M'tras erscheint mir bedeutend wertvoller als Liuma. Und da sind noch die anderen.« »Was soll ich tun?« »Sei still. Er wird tun, was er tun will. Warte ab.« »Wodurch ist es so weit gekommen?« Alles begann mir vor den Augen zu verschwimmen. »Durch uns«, antwortete Chayin und nahm mich in die Arme. So standen wir eine Zeitlang. Tiasks kamen den Gang entlang, singend, die Weinschläuche schwer und prall. Chayin winkte eine von ihnen heran und forderte mich auf, zu trinken. Ich ließ mich nicht zweimal bitten und nahm auch von dem Uris, das er anbot. Mit dem Geschmack kam die Erinnerung, daß Sereth am heutigen Tag Uris getrunken hatte, was bisher noch nie vorgekommen war. Ich hatte den Beutel eben zurückgegeben, als Sereth sich von Dellin und M'tras verabschiedete. »Ich habe ihm freigestellt, uns im Süden aufzusuchen, wenn er möchte«, berichtete er. Seine Augen waren die eines Fremden. »M'tras? Gut. Er ist eine Bereicherung.« Chayin ließ mich los und trat einen Schritt zur Seite. »Du hast etwas, das ihm gehört«, sagte Sereth zu mir. »Du hast es. Ich hatte es. Es befindet sich bei den Papieren des Dharen.« Ich stieß die Worte hervor, nicht eben freiwillig. Sereth und Chayin wechselten einen Blick. »Würdest du mir einen Dienst erweisen?« fragte der Ebvrasea den Cahndor sehr leise. »Wie immer«, erwiderte Chayin. »Du triffst dich bei Sonnenuntergang mit Jaheil. Bedenke dies: Es besteht keine Notwendigkeit für einen Dharen auf Silistra. Der Rat ist tot. Der Slitsa sind die Giftzähne gezogen. Die äußere Welt wird nicht zusam-
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menbrechen, wenn niemand am See der Hörner regiert. Der Wert einer solchen Herrschaft durch eine elitäre Gruppe ist fraglich. Das Blut ist wertvoll, hat man mir gesagt. Gut. Nimm die Frauen und Männer, die dir zusagen, und bring sie in den Süden. Sie werden die Fortpflanzung günstig beeinflussen.« »Einfach weggehen?« »Ihr könnt euch austoben, aber nicht zu sehr. Nehmt die besten Frauen, schwängert sie. Nehmt euch als Beute, was euch gefällt. Aber laßt nicht genug vom See der Hörner bestehen, daß die Überlebenden auf den Trümmern ein neues Reich errichten können. Ihr braucht sie nicht zu töten, jene, die euch für die Crellgruben nicht gut genug erscheinen. Vielleicht werden sie eine Stadt aufbauen. Laßt sie, mit dem, was ihr zurücklaßt, einen Brunnen einrichten. Wie das übrige Silistra sollen sie arbeiten. Sie können fliehen oder bleiben, es ist mir gleich. Ich möchte diesen Ort am liebsten Stein um Stein niedergerissen sehen und seine Bewohner über die ganze Welt verstreut.« Er grinste freudlos. »Aber das würde zu lange dauern.« »Das ist dein Wille?« »Allerdings. Wir müssen den Rhythmus durchbrechen, damit Khys uns nicht durch seine Kands weiterhin seinen Willen aufzwingt. Ich bin nicht der Verwalter seiner Pläne. Ich habe nicht vor, sie auszuführen.« »Aber du willst mit mir das Embrodming überqueren?« drängte Chayin. »Ja, das werde ich.« Ich betrachtete ihn im Licht dessen, was er preisgegeben hatte. Als er die Seegeborenen erwähnte, hatte Bitterkeit seine Kehle rauh gemacht. Ich erinnerte mich genau, was Khys zu ihm gesagt hatte: daß sein Samen minderwertig sei und er nicht würdig sei, mit einer wie mir Kinder zu zeugen. Ich erschauerte. Ich lehnte mich an die steinerne Wand. Sie war feucht und glitschig wie meine Haut.
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»Du wirst nicht mit mir zu Jaheil gehen?« »Nein, nicht jetzt. Tu mir noch einen Gefallen.« »Sag mir welchen.« »Suche Miccah, den Hohen Chaldmacher. Sorge dafür, daß er oder ein anderer, sollte er tot sein, dich zu den Reifen der Stille führt. Programmiere und schließe sie. Dank Estri ist keiner mehr da, der Ersatz schaffen könnte.« Chayin schaute auf mich, dann nickte er. »Es hat eine gewisse Angemessenheit«, meinte er. »Denk darüber nach, welches der Eroberten Länder dir zusagen würde.« Sereth lächelte. Sie tauschten einen Händedruck mit fünf verschiedenen Griffen, wie er bei Jiasks üblich war. Der Cahndor entfernte sich. Im Fackellicht schimmerte seine ranafarbene Haut so bronzen wie Estrazis. »Bei Mondaufgang, wo wirst du sein?« rief er über die Schulter zurück. »Bei der Unterweisung einer gewissen Crell, die sich in meinem Besitz befindet. Du bist eingeladen, mir zu helfen.« Sereth wickelte sich eine meiner Locken um den Finger. »Ich werde eine Mahlzeit vorbereiten lassen. Solche Unternehmen sind oft langwierig.« Der Cahndor lachte. »Das kannst du nicht tun«, stieß ich ungläubig hervor. Er wand sich die ganze Strähne um die Faust und zog mich so zu sich heran. Als ich vorschlug, Dellin und M'tras aufzusuchen, hatte ich gedacht, er würde sich der Ungerechtigkeiten um sich herum bewußt werden und sie wiedergutmachen. Er hatte nichts dergleichen getan. Vielmehr hatte er beschlossen, daß Silistra keines Dharen bedurfte. Seine Hand an dem Haaransatz meines Nackens verkrampfte sich schmerzhaft. »Estri, hör damit auf«, sagte er, einen mahnenden Ausdruck in den Augen. Als er mit Chayin sprach, hatte ich ein Lachen darin
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gesehen, das jetzt verschwunden war. Ich schaute zu ihm auf. »Ich glaubte, du würdest bei einer Frau keine Gedanken lesen«, beschuldigte ich ihn. Sein anderer Arm legte sich um meine Taille. Mein Kopf wurde gegen die Wunde gedrückt, die er vor so kurzem erst empfangen hatte. Mein Körper erkannte ihn. Ich machte mich steif und versuchte es zu ignorieren. Er hob mich hoch und trug mich an den Zellen vorbei. »Nur, wenn es nicht anders geht«, erklärte er. »Frau, was ist nur mit dir?« Und als ich nicht antwortete: »Was soll dieser dein plötzlicher Hunger nach Angemessenheit? Bist du eine von den Seegeborenen?« Er fand die Zelle, die er gesucht hatte. Es war die, in der er untergebracht gewesen war. Er legte mich auf das Schilf und schloß die Tür. Ich wußte, obwohl er im Schatten stand, daß er mit vor der Brust verschränkten Armen dagegen lehnte. Ich setzte mich auf. Die Schilfhalme waren feucht und stachelig. Nach einiger Zeit kam er näher und blieb vor mir stehen. Meine Augen, die sich an das spärliche Licht von dem winzigen Fenster gewöhnt hatten, bemerkten das Zögern, mit dem er sich entkleidete. Ich merkte plötzlich, daß ich auf den Fersen saß. Es fiel mir auf, als er vor mir niederkniete und meine Hände ergriff, die auf meinen Oberschenkeln lagen. Sein Zorn richtete sich gegen Khys und seine Lehren, aber ich spürte ihn in seinen heftigen Bewegungen. Er hielt meine Arme ausgebreitet auf dem Boden fest, während dieses ersten wortlosen Beilagers. Es war ein Akt der Besitzergreifung, Unterwerfung, des zu lange unterdrückten Verlangens, und ich weinte unter ihm und betete zu ich weiß nicht was, daß er in mir finden möge, was er suchte.
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Und es geschah, daß ich ihm vieles von meinem Denken und Fühlen offenbarte, dort in seiner Zelle. Einst war ich hergekommen und hatte versucht, ihn zu befreien. Ich hatte ihm meine Hilfe angeboten, und als er sie ablehnte, meinen Körper. Ob ich glaubte, er sei Khys nicht gewachsen, hatte er mich gefragt. Er konnte sich daran entsinnen und erinnerte mich, was er bei der Gelegenheit zu mir gesagt hatte, wenn er mich haben wolle, werde er mich nehmen. Ich sprach zu ihm darüber, wie es für mich gewesen war: daß ich so oft von ihm geträumt hatte; daß ich, selbst in meiner Ahnungslosigkeit, seine Berührung besser gekannt hatte als die von Khys; daß mein Körper sich seiner erinnerte, obwohl mein Bewußtsein ihn vergessen hatte. Und ich prägte seine leichten, kundigen Berührungen meinem Gedächtnis ein. Es kam der Augenblick während dieses Beilagers, da auch er mir erzählte, was ihn beschäftigte. Allerdings erst nachdem er sich wieder zu seiner Zufriedenheit meines Körpers vergewissert hatte. Ich lag mit dem Kopf in seinem Schoß und folgte mit den Lippen einer alten Narbe. In mein Herz war noch keine Ruhe eingekehrt. »Ich habe ein Problem mit dir«, meinte er sehr leise. »Du fragst mich, ob ich recht tue. Ob ich recht habe. Du hast dein und unser aller Leben aufs Spiel gesetzt, als du deine Kräfte gegen Khys' Ratsmitglieder zur Anwendung brachtest. Wäre Carth gestorben, würden Chayin und ich immer noch den Reif tragen. Schon vor langer Zeit, als du dich mir zu erkennen gabst, habe ich dir gesagt, du solltest deine Neigung zu voreiligem Handeln zügeln.« Ich sagte nichts. Zu der Zeit war ich sehr besorgt wegen der Probleme, die durch derartige Fähigkeiten verursacht werden könnten. Jetzt verfüge ich über ähnliche Talente, und ich mache mir immer noch Sorgen.
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»Estri, wenn du nicht gewesen wärest, hätte ich schon längst mit Khys abgerechnet. Daß du bei ihm warst, hat mich zurückgehalten. Du hast dir angewöhnt, wie die Seegeborenen einen Mann zu sehr nach der Farbe seiner Haut und der Art seiner Vorfahren zu beurteilen.« Dazu hatte ich etwas zu sagen. »Über dieses Thema schrieb ich eine Abhandlung für den Dharen. Carth hat sie zerrissen.« Sereth spuckte ein einziges Wort aus, das ihm für Khys, Carth und geschriebene Abhandlungen zu genügen schien. »Laß es mich noch einmal klar und deutlich sagen. Ich habe mich gegen Khys ganz gut gehalten. Mein Sinn für Angemessenheit ist nicht beeinträchtigt. Ich weiß, was ich tue. Ich erwarte jetzt nicht weniger von dir als damals auf dem Opir.« Ich erinnerte mich an jene Zeit. Alles hatte ich für ihn zurückgestellt. »Du hast Chayin mit der Kraft des Bewußtseins angegriffen. Solltest du das bei mir versuchen, kämest du nicht so leicht davon wie vielleicht bei ihm.« »Ich liebe dich«, flüsterte ich mit dem Mund an seinem Schenkel. »Und ich habe viele Endhs Schlaf deinetwegen verloren. Das muß aufhören. Ich weiß, daß du verwirrt bist. Mit der Zeit wird dir alles klar werden. Suche die Sordh.« Ich blieb stumm, um nicht seinen Zorn zu erregen. Außer sich stieß er mich von sich weg. »Estri, sprich aus, was du denkst. Wie kannst du es wagen, solche Angst vor mir zu haben?« grollte er und schüttelte mich an den Haaren. »Ich habe es verlernt, geradeheraus zu sprechen«, sagte ich, sobald ich dazu in der Lage war. Und: »Bitte, das ist es nicht, was ich bei dir suche.«Ich wollte nur ihn, und trotzdem schleuderte die Zeit uns gegeneinander wie steuerlose Boote auf einem tobenden Meer.
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»Dann lerne es neu, wenn möglich. Ich fürchte deine Gedanken nicht oder deine Fähigkeiten.« Er zog mich auf seinen Schoß. »Wenn einem etwas gehört, muß man auch Gebrauch davon machen.« Seine Hände an meinem Körper sind nicht etwas, das man beschreiben könnte. Neben seiner Berührung wird die eines jeden anderen unbedeutend. »Ich werde mich nicht mit weniger zufriedengeben, als ich früher schon von dir verlangt habe«, teilte er mir noch zweimal mit. »Tu mit mir, was du willst«, bettelte ich. »Ich gehöre dir. Ich bin deine Crell.« Später, als der Sturm vorüber war, wanderten wir durch den Turm des Dharen, jeder den Arm um die Hüfte des anderen. Er spürte meine Unruhe und versprach, mich den Schild zu lehren, der ihm und Chayin so gut geholfen hatte. Ich legte meinen Kopf an seine Schulter, als wir das dritte Stockwerk betraten. Die nächtlichen Sterne leuchteten durch das Fenster in dem dunklen Raum. Er führte mich hinein, ohne die gefangenen Sterne zu wecken. »Ich habe dir etwas zu sagen. Wirst du mir zuhören«, meinte er ruhig und legte ein Bein über den Sims. »Du kennst mich«, antwortete ich. »Ich kenne meine Gefühle. Es gab eine Zeit, da hättest du aus eigenem Antrieb gesprochen. Du mußt mich verstehen. Ich kenne das Kand und die Sordh; und ich weiß, wo Kandern in Erschaffen übergeht und zu einer unnatürlichen Fessel wird. Du selbst kennst die Regeln. Sogar Khys konnte sich nicht davon freimachen. Und viele nehmen jetzt einen Helsar auf. Die Zeit ist übervoll.« »Ich verstehe dich nicht«, sagte ich. »Es sind Sterne am Himmel«, erklärte Sereth. »Einst hätte ich vielleicht zu ihnen fliegen können. Khys hielt es für besser, uns zu isolieren. Jetzt kann ich mich nicht mehr zwischen den Sternen bewegen. Hör mich an,
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Ci'ves«, sagte er, während sein im Schatten liegendes Gesicht einen Moment lang zu mir herschaute, um sich dann wieder dem See der Hörner zuzuwenden. »Vielleicht will ich gar nicht gehen. Aber ich würde gern die Möglichkeit der Wahl haben. Mag sein, eines Tages werde ich mit meinem Willen die Barriere zu durchbrechen suchen. Ich kann es nicht sagen. Da ist das Embrodming-Meer, und was dahinter liegt. Ich habe dich wieder. Ich bin einigermaßen zufrieden. Mit der Zeit wirst du ganz zu deinem früheren Selbst zurückfinden. Ich werde mich darum kümmern. Deine Fähigkeiten sind nicht so sehr beeinträchtigt, wie du vorgibst. Ich fordere dich auf, sie wieder zu vervollkommnen. Ich rate es dir dringend. Wir werden alle Waffen brauchen, die wir finden können. Die Helsar-Kinder durchstreifen das Land. Das innere Gesetz wird schweren Prüfungen unterworfen werden.« Er verstummte. Ich wartete, damit unzeitige Worte ihn nicht wieder in seine Verschlossenheit zurücktrieben. Meine Hand legte sich auf seinen Oberschenkel. Mit den Fingern zeichnete er ein Muster auf den Handrücken. »Vielleicht hat er recht damit, uns von dem Universum abzuschließen«, sinnierte er. »Und vielleicht hat dein Vater recht. Aber ich glaube es nicht. Die Helsare sind erschienen, bevor die Zeit reif war. Wir werden uns mit ihnen befassen müssen, und mit der daraus folgernden Belastung Owkahens. Was Khys getan hat, richtig oder falsch, ist auf uns überkommen. Wir holen seine Ernte ein. Stürme toben in Owkahen, Orkane breiten sich aus. Der Sturm aus dem Abgrund ist hungrig. Wenn wir nicht verantwortungsbewußt sind, die Schöpfungsfähigkeiten zu beschneiden, werden sie uns vernichten. Wie sie ihn vernichteten. Ich war es nicht; ich wurde als Henker auserwählt und als Marionette. Ich war es nicht, sondern Owkahen. Seine eigenen Werke vernichteten ihn. Er benutzte die Zeit, die kommen wird, als einen Bogen. Mit
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seinem Willen legte er die Pfeile auf, wie er es für richtig hielt, bis schließlich unter der zu großen Spannung die Sehne riß. Der Bogen schnellte zurück. An uns ist es jetzt, das Beste daraus zu machen. Ich habe die Notwendigkeit erkannt, meinen eigenen Fähigkeiten Zügel anzulegen«, bekannte Sereth fast unhörbar. »Ich beschloß, mich nicht durch den Raum zu versetzen, wenn ich gehen oder reiten oder segeln kann. Ich beschloß, nichts zu erschaffen, und nicht in das Bewußtsein anderer einzudringen. Ich tue das nicht, weil ich schwach, sondern weil ich vorsichtig bin. Ich genieße meinen Körper. Ich möchte ihn behalten. Wir leben in einer Welt, die natürlichen Gesetzen unterworfen ist. Ich möchte es gar nicht anders haben. Ich finde es beruhigend, daß die Sonne regelmäßig auf- und untergeht. Es ist mir lieb zu wissen, daß der Boden sich nicht von einem Schritt zum andern unter meinen Füßen auflösen wird.« Er betrachtete mich. »Du hast den Rückprall einer unüberlegten Manipulation dieser Gesetze zu spüren bekommen. Du hast als erste zu mir von solchen Gefahren gesprochen. Khys würde sich vielleicht noch viel ausführlicher darüber äußern, hätte er sie überlebt. Aber er war wahnsinnig, zu lange auf dieser Welt. Brillant, aber wahnsinnig. Und kein Buch mit Vorsichtsmaßregeln wird die Helsarwinde beruhigen, wenn sie wehen.« Und ich sah ihn vor mir: Khys, der Türen verriegelte, obwohl keiner seiner möglichen Feinde sich davon würde aufhalten lassen; der sich mit Stra gürtete, obwohl niemand auf Silistra die Rüstung des Geistes überwinden konnte, über die der Dharen verfügte. Und ich sah die Helsare zu Tausenden auf der Ebene von Astria glitzern. Ich versuchte mit Blicken die Dunkelheit zu durchdringen, die Sereth umhüllte. Nie zuvor hatte er so mit mir
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gesprochen. Meine Hand lag schlaff auf seinem Schenkel, kühl auf seiner Hitze. Ich hob den Blick zu den dunkleren Schatten, die seine Augen verbargen. »Vielleicht werden wir lernen, unsere Fähigkeiten zu beherrschen und sie den Regeln entsprechend anzuwenden«, äußerte ich. »Jene, die es nicht tun, werden von ihren Werken vernichtet werden. Owkahen rächt sich an dem, der es beherrschen will.« Er holte zischend Atem, stieß ihn wieder aus. »Es könnte geschehen«, sagte er mit einer Stimme gleich einem Hagelsturm, »daß wir alle Ordnung auf Silistra zerstören und wie Khys jeder Wahl beraubt dastehen, umgeben von einem Chaos, das aus unserer Unverwundbarkeit entsteht. Wenn so viele sich damit beschäftigen, das Universum nach ihren Vorstellungen zu ordnen, könnte es so weit kommen, daß Silistra jeder Gesetzmäßigkeit verlustig geht — ein Planet ohne Beständigkeit, ohne etwas, worauf man sich verlassen kann. Der Mensch braucht festen Boden, auf dem er steht. Es läuft darauf hinaus: Entweder beschränken wir unsere Fähigkeiten, oder wir gehen unter in dem Crux, das wir heraufbeschwören. Und das möchte ich nicht erleben«, flüsterte er. »Noch habe ich das Bedürfnis, Verantwortung zu einem Gesetz zu erheben. Jeder muß seine eigene Wahl treffen. Solange ich zurückdenken kann, habe ich gekandert und gesordhet. Ich brauchte weder Khys noch einen Helsar, um es mich zu lehren. Der Mensch findet aus sich zu dem Kand und der Sordh. Nicht anders. Jetzt«, sagte er und berührte meine Wange, die abgeschnittene Locke neben meinem Ohr, »verstehst du wohl, warum ich nichts von Khys' oder Estrazis Plänen hören will? Wenn ich die Verantwortung für meine Taten übernehmen soll, müssen sie in meinen Augen gerechtfertigt sein. So habe ich es stets gehalten. Anders kenne ich es nicht.« Ich küßte seine Finger, die meine Lippen streichelten. 378
10 In Anerkennung Owkahens
In der Zeit vor der Morgendämmerung verließ ich sie wortlos. Eine Weile stand ich neben ihnen, wo sie in den Schatten zu einem einzigen vielfüßigen Tier verschmolzen, zu dem ich keine Beziehung hatte. Ich war sicher, daß meine Atemzüge, die mir wie ein Sturmwind in den Ohren tosten, sie wecken mußten. Und was ich sagen sollte, wenn sie mich entdeckten, überlegte ich mir. Beinahe hätte ich mich wieder zu ihnen gelegt. Wie in einem bösen Traum gefangen, holte ich mir die benötigten Dinge aus dem Kleiderzimmer. Jeden Augenblick rechnete ich damit, eine feste Hand auf der Schulter zu spüren. Und dann ihr Zorn. Aber ich hatte den Flur erreicht. Und dann lief ich, die Kleider in der Hand, die Hintertreppe hinab, jeder Atemzug mit Widerhaken besetzt, den Mund ganz trocken. Jeder Gang, jede Treppe führt unausweichlich zu den großen Türen mit ihrer Einlegearbeit aus goldenen Tiergestalten. In einer Nische bekleidete ich mich selbst mit kurzem Obergewand und Umhang und legte mir den Gürtel mit dem leichten Schwert um die Hüften. Und ich beglückwünschte mich selbst. Sereth hat einen unglaublich leichten Schlaf und Chayin das scharfe Gehör eines Wüstenbewohners. Die Wächter an der offenstehenden Tür dösten vor sich hin, bis auf zwei, die sich miteinander belustigten. Sie hoben nicht einmal den Kopf. Unbehelligt schritt ich durch die doppelt mannshohe Tür. Meine bloßen Füße tappten über die kalten Steinstufen. Brinar-Kühle lag in der Luft. Wirur, das Sternbild des geflügelten Hulion, glitzerte matt in der
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hereinbrechenden Dämmerung. Entlang der Gehwege stand eine große Anzahl Threx an ausgespannten Leinen, das Zaumzeug nach ParsetSitte vor jedem einzelnen zurechtgelegt. Sattelpacken und Sättel waren natürlich nicht dabei. Auch das ist Parset-Sitte. Ich suchte mir einen dem Anschein nach jungen Hengst aus, der im Stehen schlief. Kaum daß ich den ersten Schritt in seine Richtung machte, wachte er allerdings auf. Er musterte mich mit angelegten Ohren. Dann, als ich beruhigend auf ihn einsprach, schnaubte er leise und stellte sie auf. Er kannte mich nicht und schnappte mit den scharfen Zähnen. Aber er war interessiert. Ich habe eine gute Hand im Umgang mit Tieren. Beim ersten Licht der Morgendämmerung trug er mich fort vom See der Hörner. Ich ritt ohne Sattel, aber sein Maul war weich, und er ließ sich willig lenken. Es war unmöglich, rechnete ich mir aus, während ich mit den Knien seinen Leib umklammerte, die Bäume vor Tagesanbruch zu erreichen. Wo meine Schenkel seinen Körper berührten, war das Haar dunkel und feucht und mit weißem Schaum bedeckt. Nicht vor Tagesanbruch, dachte ich, und beugte mich tief über seinen Hals. Ich hoffte, als ich ihn zu einer schnelleren Gangart antrieb, daß die Posten, die oben auf dem Turm nach Hulions Ausschau hielten, uns nicht sahen oder aber nur ein reiterloses Threx erkennen würden, das in halsbrecherischer Geschwindigkeit dem Wald zustrebte. Wir erreichten die Bäume nicht bei Tagesanbruch. Aber es war auch nicht viel später, als wir in das Halbdunkel unter ihren Zweigen eindrangen. Ich zügelte das Tier. Wir ruhten uns aus, beide laut nach Atem ringend. Schaum und Schweiß quollen unter meinen Beinen hervor. In der unbewegten Luft stieg ein Nebel von unseren Leibern auf, der zwischen den
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Bäumen hängenblieb. Die Stämme waren gewaltig. Die ersten Zweige breiteten sich hoch über meinem Kopf. Der Tag machte sich hier kaum bemerkbar; das kühle Brinarlicht, das zaghaft durch das Laubdach strömte, hatte nicht einmal die Kraft, die Blätter zu trocknen. Mit einem Hackenstoß setzte ich den Hengst in Bewegung, damit er durch das Stehen in der feuchten Luft nicht zu Schaden kam. Er schnaubte. Der Frühtau regnete auf uns herab. Es kümmerte mich nicht. Ich gab dem namenlosen Threx den Kopf frei. Ich wußte nicht, wohin ich unterwegs war. Ich war vor Sereth geflohen. Vor Khys hatte ich nicht die Flucht ergriffen, als sich die Gelegenheit bot, auch nicht vor Chayin, obwohl ich genügend Möglichkeiten gehabt hatte, nicht einmal vor Dellin, damals, auf der Straße nach Arlet. Ich hätte gerne geweint. Außerdem wäre es mir lieb gewesen, das Threx hätte nicht eine so hervorstechende Wirbelsäule gehabt. Ich hatte nicht geglaubt, so weit zu kommen. Die grünliche Dunkelheit vertiefte sich. Das Threx schnüffelte über den Boden, während es sich seinen Weg suchte. Vor keinem von ihnen war ich davongelaufen, aber vor Sereth. An dem vergangenen Abend war viel geschehen. Sie hatten Gerechtigkeit zugemessen, auf ihre Art. Sie hatten M'tras seine Ijiyr zurückgegeben. Er dankte ihnen und spielte für sie ein düsteres, tastendes Stück ohne Abschluß. Er hatte gesagt, daß die sich selbst erneuernde Energiequelle tausend Jahre halten würde. »Und was dann?« hatte Sereth nüchtern gefragt. Chayin und Dellin hatten gelacht, M'tras stumm die Ijiyr in ihr Behältnis zurückgelegt. Dann gaben Sereth und Chayin ihnen die Threx, die sie beschlagnahmt hatten. Sereth hatte einige Zeit damit verbracht, für M'tras ein sanftes Tier ausfindig zu
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machen. Dergleichen findet sich bei Jiasks und Tiasks nicht allzu häufig. M'tras musterte das Tier zweifelnd. Er schnalzte und murmelte etwas in seiner eigenen Sprache. Die Sterne erhoben sich eben aus dem See. Der Mond, der gerade die Bäume erklomm, war blutverschmiert. M'tras' Unbehagen war keinem von uns verborgen geblieben. Wie fremdartig und furchtbar und ungeschlacht wir ihm alle vorkamen, große, blutdürstige Bestien, die auf ihresgleichen ritten. »Du mußt dich durchsetzen«, riet Dellin, sein eigenes Reittier besteigend. Nachdem er es gebändigt hatte, nahm er M'tras' Threx beim Kopfzeug. Sereth half M'tras in den Sattel. Wir sahen zu, wie sie davonritten. Dellin, der es eilig hatte wegzukommen, führte immer noch das Threx seines Gefährten, als die Dunkelheit sie verschlang. Sie machten sich mit Freuden auf den Weg zu der Station des Legaten Eins, auf der Ebene von Astria. Das letzte, was wir von ihnen spürten, war ihre Erleichterung, die wie ein Windhauch zu uns zurückwehte. Obwohl Sereth über Khys' Kands und ihre Bedeutung Bescheid wußte, sprach er zu ihnen nicht von Helsaren. Er sprach zu ihnen von den Silistriern, die auf den anderen Welten gefangen waren, zu Waisen gemacht von Khys' Barriere. Ich hatte kaum an sie gedacht — die Brunnenfrauen, die Telepathen, die Lehrer und die Botschafter des Dharen. Dellin und M'tras und Sereth und Chayin hatten lange darüber gesprochen. Mir kam einiges zu Bewußtsein, als ich mich bemühte, im Dunkel der Nacht die Umrisse von Sereths Gestalt auszumachen, während er sehnsüchtig hinter Dellin und M'tras herschaute. Ich konnte etwas von ihm auffangen, seinen Schild einen Augenblick lang niedergerissen von seinem Verlangen. Wie sehr er sie beneidete, ungebunden und frei, alles zu unternehmen,
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was ihnen in den Sinn kam. Und ich sah sein Leben, wie er es sich vorstellte — und erkannte, daß die Freiheit, die er in gewissem Sinne wiedererlangt hatte, ihm ungenügend erschien. Sereth, Kind von Owkahen, hatte seinem Herrn gut gedient, um eines Tages seiner Ketten ledig zu sein, und er war nur noch stärker gefesselt worden. In einem stillen Moment teilte ich meine Gedanken Chayin mit, der sie bestätigte: »Es hat die ganze Zeit vor uns gelegen«, stimmte er zu und räkelte sich auf den Kissen. »Wir sahen, aber wir begriffen nicht. Wir beide, die wir ihn lieben, haben versagt.« Und was wir übersehen hatten — daß es sich bei ihm in gewisser Weise um Estrazis Kand handelte, alles, wonach die Väter so lange gestrebt hatten, alles, was Khys so entschlossen zu verhindern versucht hatte —, beunruhigte uns im höchsten Maße. Er ist Hase-enor: von allem Fleisch. Bei meinen Forschungen zu Beginn meiner Schwangerschaft, hatte ich ihn nicht ausgelassen. Sereth, der von jedem Blut auf Silistra etwas in sich trägt, war mir äußerst nützlich bei meiner Kritik an der Genpolitik des Dharen. Sereth ist der Erstgekommene in Zeit und Raum, Vorbote dessen, was die Zukunft bringen könnte, wären alle Stämme Silistras frei, sich zu vermischen. Chayin und ich sind Katalysatoren, die der Zeit aufgezwungen wurden. Sereth ist ihr natürliches Kind. Er ist Owkahens Sohn. Es ist nicht ungewöhnlich, daß Väter ihren Söhnen Aufgaben stellen und ihnen schließlich ihre Zuneigung schenken. Sollte der Sohn sich würdig erweisen, ist es häufig so zwischen Vater und Sohn. Nach diesen Überlegungen wußte ich, was ich zu tun hatte. Ich zeigte ihm Khys' geheimste Karten und Papiere. Er interessierte sich nicht dafür. Er war, sagte er, gerade bei Carth gewesen. Carth, versicherte er mir, würde leben bleiben. Der Blick seiner Augen war nach
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innen gerichtet. Er hatte lange Zeit bei den Verwundeten und Verstümmelten zugebracht. Das war der Augenblick, da er uns beide des Mangels an Mitgefühl bezichtigte, und ich spürte in ihm die Mauer, die die Zeit zwischen uns errichtet hatte. Die Begegnung mit seinem Vater mußte der endgültige Stein gewesen sein. Wenn ich ihn sprechen hörte, schien es mir, daß wir den Abgrund unserer unterschiedlichen Herkunft niemals würden überbrücken können. Alles, was Khys jemals dazu gesagt hatte, fiel mir wieder ein. Ich rieb das Zeichen auf meiner linken Brust und ließ meine Augen seinen Anblick trinken, denn dieser Trunk würde lange Zeit vorhalten müssen. Er beobachtete mich aus den Augenwinkeln, machte aber keine Anstalten, mir aus dieser typisch weiblichen Grube der Selbsterniedrigung herauszuhelfen. Und Chayin erhob sich verärgert und ging mit der geknurrten Bemerkung, nach seinem Kind sehen zu müssen. Ich hatte das Kind gesehen in den Armen der Brunnenfrau, die Sereths Samen trug. Sereth schien sich kaum an sie erinnern zu können. Ich hatte mich erkundigt, was mit ihr geschehen würde und erfahren, daß sie für Nemar bestimmt war, als Crell des Cahndor. Das Threx stolperte über eine aus dem Boden ragende Wurzel. Ich tätschelte es beruhigend und trieb es weiter. Seine Schulter zuckte und bebte unter meiner Hand, aber es beschleunigte seinen Schritt. Das Brüllen des Hulion ließ das Threx so plötzlich stehenbleiben, daß ich mich an seinem Hals festhalten mußte. Mit Berührungen und leisen Worten brachte ich es zur Ruhe und glitt dann zu Boden. Der Hulion, immer wieder seine Stimme erhebend, tauchte zwischen den Bäumen auf. Das Threx, vor Angst halb wahnsinnig, ließ sich nicht mehr halten. Kaum, daß es diese golden funkelnden Augen auf sich gerichtet fühlte, stellte es sich schreiend auf die
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Hinterbeine. Die Zügel, die mir aus der Hand gerissen wurden, tanzten in der Luft. Mit einem unglücklichen Satz versuchte ich sie zu fassen. Ein stahlbeschlagener Huf streifte meinen Kopf. Lichtpunkte drehten sich vor meinen Augen. Ich spürte keinen Schmerz. Als ich wieder etwas fühlte, war es eine große rauhe Zunge, die über meinen Arm schabte. Als ich endlich wieder sehen konnte, sah ich ein Gesicht. Das Gesicht war ein heller Fleck vor dunklem Hintergrund. Ich hob die Hand an die rechte Schläfe und entdeckte dort die Hand von jemand anderem. Ich versuchte den Kopf zu heben. Die Hand wollte es nicht zulassen. Das Schaben der trockenen, kratzigen Zunge an meinem Arm hörte auf. Mein Blick richtete sich auf den hellen Kreis, der zu den Händen zu gehören schien. Nach einiger Zeit verformte er sich zu vertrauten Zügen, hinter denen die Schwärze merkwürdige Wellen schlug. Ich strengte mich an, Genaueres zu erkennen. Dann wußte ich, was ich vor mir sah und schloß die Augen. Dann hörte ich ein Gemisch von Lauten. »Kleines, sieh mich an.« Er mußte es einige Male wiederholen, bevor ich seine Worte von Sandhs beruhigendem Brummeln unterscheiden konnte. Ich öffnete die Augen wieder. Das Licht des neuen Tages, das durch das dünner werdende Laub flimmerte, überströmte sie wie fließendes Wasser. Sandh saß mit gesenktem Kopf, die Ohren seitlich gespitzt und die Vordertatzen zwischen den Hinterbeinen. Neben mir hockte Sereth, eine Hand auf meiner Stirn. »Glaubst du nicht auch«, sagte ich langsam, »daß es besser wäre, wenn wir uns trennten?« »Wenn ich das glaubte«, erwiderte er, »wäre ich nicht hier.« »Und wie hast du mich gefunden?« »Sandh.«
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»Er hat dir geholfen«, sagte ich, hob den Kopf und ließ ihn wieder sinken. Die Welt schien würdevolle Kreise zu beschreiben mit meinen Augen als Achse ihrer Drehbewegung. Er lachte. »Frag ihn.« Von Sandh empfing ich eine Begrüßung. Und eine Frage in Form einer Allegorie. Die Gedanken eines Hulion sind nicht vergleichbar den Gedanken eines Menschen. Sie benutzen keine Symbole wie wir. Ich sah einen weiblichen Hulion mit hellbraunem Fell, und erkannte in ihr Sandhs Gefährtin. Ich sah sie und ihn bei ihrem Paarungsritual. Und dann, als Überlagerung, das hellbraune Weibchen auf der Flucht. Und der Gedanke war angefüllt mit Hitze und dem Liebeswerben seiner Rasse. Als Mensch hätte er vielleicht gesagt: »Aus welchem Grund fliehst du vor ihm? Deshalb?« Aber es war die Frage eines Hulion, die Einverständnis und Harmonie mit einschloß, und die Freude an der Jagd. Ich konnte die Wahrheit nicht leugnen. Ich legte mein Gesicht in Sereths Hand und weinte, endlich. »Es gibt noch einiges zu tun«, sagte er und strich mit seinen Fingern über meine Stirn. »Setz dich auf.« Ich hob erneut den Kopf. Der Wald zerfloß zu grünem Wasser. Also legte ich mich zurück auf die braunen modernden Herbstblätter und war zufrieden damit, einfach nur dazuliegen, seine Hand auf meiner Stirn, und Sandhs Gebrumm wie rieselnde Kieselsteine in den Ohren. Mehr zu tun, überstieg meine Kräfte. »Sereth«, sagte ich, »ich kann nicht.« Ich hatte deutlich gesprochen. Meine eigenen Ohren hörten die Worte laut und klar. Aber Sereth hörte sie nicht. Er beugte sich über mich. Ich konnte seine Wimpern zählen, in den geweiteten Pupillen seiner dunklen Augen lesen. »Sag noch etwas, Ci'ves«, flüsterte er. Er legte mir eine Hand über die Augen, die andere
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unter meinen Hinterkopf. Erst dann, als Gefühl, wahrhaftiger Schmerz, mich durchströmte, fiel mir auf, daß ich vorher nichts gespürt hatte. Jetzt, als mein Rücken und meine Rippen pochten und mein linkes Bein sich meldete, war ich erschrocken, weil ich bis jetzt nichts davon gemerkt hatte. Mein ganzes Selbst zusammengeschrumpft vor Angst, versuchte ich, das verletzte Bein anzuziehen. Ich hörte ihn schnaufen. Er nahm die Hand von meinen Augen. Sandh streckte sich, Pfote vor Pfote, zu seiner ganzen Länge aus und gähnte. »Wohin wolltest du überhaupt?« fragte er. Erst jetzt war seine Verärgerung zu merken. Sie klang aus seiner Stimme, überlagert von Erleichterung. Mit seiner Hilfe setzte ich mich auf, wobei ich das linke Bein ausgestreckt ließ. »Ich weiß es nicht«, sagte ich und betrachtete das geschwollene Knie. Darunter war ein bereits verbundener Riß, der aber nichts zu bedeuten hatte. Ich legte die Hände auf das Knie und schloß die Augen. Was ich erreichen wollte, geschah. Unter meinen Handflächen wurde das Fleisch kühl, und die Schwellung ging zurück. »Ich weiß es nicht«, wiederholte ich, und bewegte das Bein versuchsweise. »Wir werden uns mit Chayin treffen«, bemerkte er ruhig. Sein Golmesser bohrte sich zwischen seinen Beinen in den Boden, als er sich niederhockte. »Es würde mir nicht gefallen, solltest du häufiger solche Ausflüge unternehmen. Ich weiß, daß du lange eingesperrt gewesen bist. Es erwarten dich noch genügend ziellose Wanderungen jenseits des Embrodming-Meeres.« »Wenn es dabei bleiben soll, daß du mit meinem Vater nichts zu tun haben willst, solltest du mir das nächste Mal nicht hinterherkommen«, sagte ich zu ihm. »Erst werden wir Sandh begleiten. Es gibt etwas, das ich mit dir teilen möchte. Dann nach Astria. Dort kannst
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du dein Kand einbringen. In Port Astrin werden wir an Bord gehen — von Chayins bestem Schiff, mit einer ausgesuchten Menetpher-Besatzung. Die Männer aus Menetph sind ausgezeichnete Seeleute.« »Wenn es dein Wille ist«, meinte ich und verlagerte vorsichtig mein Gewicht auf das linke Bein. Sereth und Sandh erhoben sich gleichzeitig. Ich schaute von einem zum anderen und tat einen prüfenden Schritt. Meine Behandlung hatte angeschlagen. »Kannst du reiten?« fragte er zweifelnd. Und es waren Hulions, Sandh und Leir, der zwischen den Bäumen gewartet hatte, die uns zu dem heiligen Berg trugen, wo die Hulions beten. Er ist ihrer Gottheit und ihrem Gottesdienst geweiht, und deshalb hat der Berg keinen Namen. Es ist nur einer von vielen dieser zerklüfteten Festung, wo kein Mensch seine Wohnstatt hat: Hulions beherrschen den uneinnehmbaren Westen. Auf dem Weg dorthin erfuhr ich, daß Sereth durch Leir zu hohem Ansehen bei ihnen gelangt war. Und daß auch die Hulions wissentlich ihren Teil zu Khys' Sturz beigetragen hatten. Sie hatten sich bereitwillig vom See der Hörner zurückgezogen. Es war zwischen ihnen und Sereth ausgemacht: Wenn das und das passiert, wird das und das getan. Aus Sandh konnte ich während dieser zwei Tage nichts über Gründe oder Motive herauslocken. Noch ließ Sereth sich überreden, mich aufzuklären, außer daß er zugab, nur ausgesuchte Hulions hätten sich am See der Hörner aufgehalten. Damit schien er andeuten zu wollen, daß die Hulions alles an Informationen sammelten, was sie betraf, indem sie scheinbar dem Dharen zu Diensten waren. Niemand wird es je genau wissen. »Ich habe mir keine Gedanken über ihre Gründe gemacht. Ich ergriff die Gelegenheit. Es war eine glückliche Entscheidung. Sie halfen mir, oder ich half
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ihnen. Oder es war ein Dienst auf Gegenseitigkeit«, meinte Sereth, als ich ihn an jenem Abend im Feuerschein darauf ansprach. Aber er war nicht ärgerlich. Wenig hätte ihn in jenem Augenblick geärgert. Vor dem Feuer räkelte er sich ebenso genüßlich auf dem kühlen Boden wie die Hulions, die sich den Bauch am Feuer wärmten. Über uns tanzte der Vollmond, aufgespießt auf einem kühn emporragenden Gipfel. Die Flammen zeigten mir das entspannte, nach innen gerichtete Lächeln auf seinem Gesicht. In jener Nacht trat wieder das Lachen in seine dunklen Augen, als hätte das Feuer seinen Geist gereinigt. Ich entsann mich dieses Blicks von unserer ersten Begegnung im Brunnen Arlet. Und dann begann ich in meinem Innern die verlöschende Glut meines eigenen Glaubens anzufachen. Wenn er Zufriedenheit in einer solchen Nacht finden konnte, durfte ich nicht als kleinliche Zweiflerin daneben sitzen. Er hatte in Owkahen geforscht und es neu und vielversprechend gefunden. Was er tun wollte, stand ihm jetzt frei zu tun, da die Cruxzeit sich aufklärte. Und er sah keinen Schatten darüberliegen, der ihn beunruhigte, obwohl meine Zuversicht von dem, was ich gesehen hatte, erheblich gedämpft worden war. Stürme kreisen Owkahen ein. Damals sahen wir sie. Heute fühlen wir sie. Doch es bleibt noch ein wenig Zeit. Das Schiff hebt und senkt sich unter mir. Die Wellen verwandeln meine noch nie sehr präzise Handschrift in ein trunkenes Geschreibsel. Der Atem der See hat während der vergangenen Spanne einen anderen Rhythmus angenommen. Chayin sagt, daß wir bald Land sichten werden. Es gibt einige Betrachtungen, die ich gerne über das anstellen würde, was geschehen ist. Aber verschiedene Dinge haben keinen rechten Abschluß gefunden. Der Cahndor behauptet, daß man nur sehr wenig im Leben
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zu ordentlichen Päckchen verschnüren kann, und schon gar nicht die Ereignisse, die ich hier niedergelegt habe. Niemand wird je erfahren, davon ist Chayin überzeugt, welches Schicksal die Väter Khys bestimmt haben. Und dennoch sah ich ihn, als wir mit den Hulions in ihrer Tempelgrotte saßen. Schimmernde Adern durchzogen den Fels mit einem grünlichen, scheinbar pulsierenden Netzwerk. Das einzige andere Licht stammte von ihren Augen — Paar um Paar glühender Teiche in allen Schattierungen vom hellsten Gelb zum tiefsten Rot. Ihr Grollen, verstärkt und zurückgeworfen von dem unterirdischen Gewölbe, hätte das Geräusch eines Planeten sein können, der sich majestätisch durch das Universum drehte. Während ich dort bei ihnen kniete, zogen einige andere Wahrheiten an mir vorbei. Darunter war das Gefühl von Khys' Gegenwart. Seit diesem Vorfall bezweifle ich die Tatsache seines Todes, obwohl ich um seinetwillen hoffe, daß ihm gewährt wurde, worum er sich so leidenschaftlich bemühte, diese unveräußerliche Freiheit, auf die wir alle ein Recht haben. Jene Lehren, die er so schätzte, jene Meister, denen er nacheiferte, drücken es viel besser aus, als ich es jemals könnte: Alle kommen zum Abgrund, um dort die Definition des Lebens zu erkennen, den Katalysator Tod, jenen Anfang, dem alles Leben entgegenstrebt. In meinen Gedanken lebte er noch. Überall auf Silistra lebt er weiter, durch die Veränderung, die er hervorgerufen hat. Wo Männer das Yris-tera-Spiel aufbauen und die Steine werfen, ist Khys. Wo Kinder empfangen werden, entsteht sein Geist neu. Auf dem Amboß des Chaldmachers wird in Ewigkeit sein Segen geschmiedet. In den Schulen der Zeithüter, den Herbergen der Töter und um die Taillen von Brunnenfrauen und Parrzüchtern und Waffenschmieden und Pelzjägern kann man ihn sehen. Sereth wog ihn und befand ihn für wahnsinnig. Es mag sein. Er war in der Tat ein Relikt
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eines längst vergangenen Zeitalters. Die Lehren, die er uns gab, waren nicht dieselben, die er gelernt hatte. In gewisser Weise war er nie einer von uns, sondern immer nur mit uns, er, der ein Stoth-Priester war, noch vor dem Holocaust. Vielleicht, wie Sereth behauptet, hat er sich nie an die Sittenlehre gehalten, die er verbreitete. Ich habe ihn dargestellt, so gut ich konnte, wie er sich mir darstellte. Ich fälle kein Urteil. Er lebte in Übereinstimmung mit der stothrischen Tradition, in die er hineingeboren worden war. Und gemäß dieser Philosophie suchte er den Tod nicht als Flucht, sondern als angemessenen Abschluß seines Lebens. Sie glauben, ich hätte überwunden, was er mir antat. Ich frage mich, ob irgendeiner von uns es je überwinden wird. Erfahrungen sind von dem Augenblick an, in dem man sie macht, ein Teil des Selbst. Ich zucke nicht mehr zusammen, wenn sich in meiner Nähe plötzlich eine Hand erhebt. Ich mache Fortschritte bei der Überwindung der Angst und Furchtsamkeit, die er mich lehrte. Doch immer noch trage ich sein Zeichen auf der Brust und auch in meinem Herzen. Stünde es in meiner Macht, würde ich ihm ein anderes Ende ermöglichen, sei es nun Tod oder Gefangenschaft oder die Qual, die ich spürte, als ich inmitten der versammelten Hulions von Silistra kniete. Warum sie ihn verließen und mit ihrem Weggang Sereths Pläne unterstützten, weiß ich nicht. Auch nicht, warum sie ihm zu Ehren einen Gottesdienst feierten und Totenwache hielten für seinen Geist. Es muß genügen, daß es so war — daß es getan wurde und ich daran teilnahm, wie auch Sereth und Chayin. Und während unter den kehligen Gesängen der Hulions der Fels vibrierte, auf dem wir knieten, übergaben wir unsere Erinnerungen an ihn einem Teich des gemeinsamen Wiedererlebens. Und als dieser Teich keinen Grund hatte und keine Oberfläche, als alles, was wir je von ihm gewußt hatten, hineingeflossen war,
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schritten die Hulions einer nach dem anderen langsam und feierlich durch die Ernte seiner Jahre. Als ich an die Reihe kam, die dunkle Vertiefung in der Mitte der Höhle zu betreten, hatte ich das Gefühl, durch kaltes, schnell fließendes Wasser zu gehen. Bei jedem Schritt den seichten Abhang hinunter stieg das prickelnde Gefühl des Eintauchens höher an meinem Körper empor. Wie ich es die Hulions tun gesehen hatte, trat ich auf das spiralförmig in die Tiefe führende Felsband und folgte dessen immer enger werdenden Windungen, bis ich in der Mitte der Grube stand. Aber davon sah ich nichts. Vielmehr sah ich Silistra, seine Gehölze und Wälder, seine Berge und Meere. Ich sah es verbrannt und rauchend, stinkende Verwesung über das Land ergießend. Und ich sah all die Jahre des Wiederaufbaus, daß es wieder mit klaren Augen zur Sonne aufschauen möge. Und dann kam er zu mir. Erst schien es, daß er sich über einen zugefrorenen See bewegte. Die Sonne verlieh dem Eis einen gelblichen Schimmer. Wenn er den Fuß hob, waren tiefe Spuren zu erkennen, als würde das Feuer seines Körpers die Oberfläche schmelzen. Und er streckte mir die Hände entgegen, das Gesicht ruhig und friedvoll, als das Eis zu knistern und knacken begann. Mit einem Geräusch von brechenden Knochen, unter einem Himmel, der dunkel geworden war und von einem prasselnden Kichern widerhallte, zerbrach die Oberfläche des Sees. Als würde ein gewaltiges Wassergeschöpf ans Licht drängen und von unten gegen die Eisplatte stoßen, breiteten die Risse sich aus, und Schollen von Manneslänge hoben sich empor, um im Niederfallen alles noch übrige Eis zu zerschmettern. Einem Tänzer gleich suchte er nach festem Halt. Mit übermenschlicher Anstrengung sprang er und kroch. Einmal sah ich ihn mit den Füßen voran zwischen das Eis stürzen. Schlagende Hände ergriffen
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die treibenden Schollen. Eine davon bekam er zu packen, zog sich hinauf und blieb mit abgewandtem Gesicht liegen. Sie zerfiel unter ihm. Dann sah ich ihn schwimmen, erst verzweifelt, bald schwerfällig, schließlich nur noch ein bloßes Schlagen der Arme. Noch einmal traf mich sein Blick. Dann war er nicht mehr. Zurück blieb der See mit kleinen Flecken von Eisschlamm, die grau auf der Oberfläche trieben. Das, und nur das, wurde mir enthüllt, während ich bei den Hulions saß, von dem Schicksal Khys', einst Dharen von Silistra. Von meinem Sohn ist nichts geblieben als ein Name: Jehsrae. Am erstersten Decra verließen wir auf dem Rücken von Hulions diesen Ort. Eine Spanne später standen wir auf der Ebene von Astria, Sereth und ich, unversehrt, wie ich es vor so langer Zeit gekandert hatte. Doch konnte ich nicht die kriechenden und klagenden Verwundeten von dem Anblick dieses Ortes trennen, und nicht die Toten, über die sie hinwegkrochen. Überall begegnete ich den Schatten unserer Toten. Wir hielten uns nicht lange auf, dort, zwischen den Helsaren. Die Hulions hatten sich geweigert, den Ort zu betreten, und warteten im Schatten der Bäume, zwischen denen Sereth im Amarsa ‚695 seine Bogenschützen verborgen hatte, um dort den Beginn der Schlacht abzuwarten. Chayin sprach es als erster aus, aber wir verspürten alle den Drang, die Ebene zu verlassen. Wie wir den Drang verspürt hatten herzukommen, um mit unserem Schweigen jene zu ehren, die in unserem Dienst das Leben verloren hatten, etwas, das uns an jenem Tag nicht gelungen war. Auf meinen Wunsch schlugen wir einen Bogen um den Brunnen Astria. Soll Vedrasts Tochter seine Geschicke lenken, was kümmert es mich. »Hüte Astria, oder du wirst es verlieren«, hatte die Brunnengründerin Astria in ihrer Warnung geschrieben. Man sollte sich
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nicht an die Freuden der Jugend klammern, über die man hinausgewachsen ist. Sereth, dem meine melancholische Stimmung nicht entgehen konnte, führte mich liebevoll von dem Feld. Die Hulions verließen uns in den Außenbezirken von Port Astrin. Mit Tränen in den Augen nahm ich Abschied von Sandh und wünschte seiner Gefährtin eine fruchtbare Geburt. Sereth vereinbarte mit Leir ein Treffen für den Macara des Jahres nach dem nächsten. Chayin übermittelte Frinhar, dem Wächter der Wolken, seine Grüße, dessen ältester Sohn ihn hergetragen hatte. Wir sahen ihnen schweigend nach, bis sie nur noch als Punkte vor dem sich grün färbenden Himmel zu erkennen waren. Wenn ein Hulion fortgeht, erscheint die Welt kleiner und stumm. Das Fehlen ihrer Gedanken verursacht eine fahle und sehnsüchtige Leere. Sie haben die Einheit, die Weisheit der Schöpfung, in sich. Sie sehen sie in den Blättern, sie erfreuen sich an ihrer Stimme in dem Donnerschlag, wenn er sein rauchendes Abbild in die Felsen gräbt. Sie sind nicht wie wir, und es gibt vieles, das wir lernen könnten, wenn Owkahen es zuläßt, von Sandh und Leir und ihresgleichen. Ich schaute auf Chayin, der sich gerade dem gewundenen Wirrwarr der regellosen Straßen Port Astrins zuwandte. Mit zusammengekniffenen Augen starrte er auf die Stadt, dann auf seine Stiefel. Er riß einen welken Grashalm aus und steckte ihn in den Mund. Die Zeichen seiner Göttlichkeit wurden von den lose fallenden Ärmeln der Winterkleidung verdeckt. Ganz in Braun war der Cahndor gekleidet, unauffällig, nur das südliche Kurzschwert und ein Golmesser am Gürtel. Aber ich wußte, welche Waffen sich in dem Besatz seines braunen Umhangs verbargen und sogar in seinen Stiefelschäften, denn ich war ähnlich ausgerüstet.
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»Hier«, sagte Sereth und hielt mir etwas entgegen. Es war ein Chald. Er setzte sich aus den Ketten zusammen, die zu tragen ich berechtigt war. Ich legte ihn mir um die Hüften. Als ich den Schlüssel in das dafür vorgesehene Versteck geschoben hatte, bemerkte ich das Flattern von Chayins Lidern. Sereth trug den Chald eines Arrar. Aber er gehörte ebensowenig ihm wie mir der Chald um meine Taille. Und er hätte einen anderen Chald tragen können, den des Dharen von Silistra. Chayin spuckte aus und stand auf. »Ich werde dich nie verstehen«, bemerkte er zu Sereth. »Du nimmst Chaldra auf und legst es ab wie andere Männer Frauen.« Die erste Handlung des Cahndor bei der Ansprache an seine siegreichen Truppen hatte darin bestanden, sich den nördlichen Chald herunterzureißen, den Khys ihm aufgezwungen hatte, und seinen eigenen anzulegen, der mit Federn und Trophäen geschmückt war. Seine Männer forderte er auf, es ihm gleichzutun. Und außerdem forderte er sie auf, sich all die neuen Gebräuche aus dem Herzen zu reißen, die man ihnen gleichfalls aufgezwungen hatte. Ich war nicht dabei gewesen, hatte aber von der leidenschaftlichen Rede des Cahndor an seine Jiasks und Tiasks erzählen gehört. »Chaldra«, erwiderte Sereth grinsend, »trägt man im Geist und nicht um die Hüften. Davon abgesehen, möchtest du, daß ich von dem ersten Töter, dem wir in der Stadt begegnen, als chaldlos niedergestochen werde?« Chayin schnaubte. »Trotzdem gefällt es mir nicht.« Mir gefiel es ebensowenig. »Solange Carth am Leben ist«, erklärte Sereth ernst, »habe ich ein Recht darauf.« Er strich mit der Hand über den geschmeidigen Chald, der sich über dem Waffengurt schimmernd an seinen Körper schmiegte. »Und
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Estri hat sich bestimmt den Chald des Boten verdient. Du würdest uns gern mit einem südlichen Chald sehen, nehme ich an.« »Es würde mich freuen«, gab der Cahndor zu. »Wenn dein Schiff und deine Mannschaft nur halb so gut sind, wie du behauptest, leben wir vielleicht lange genug, um ihn uns zu erwerben.« Er beschattete die Augen mit der Hand und schaute über die Stadt hinweg zu der Stelle, wo der graugrüne Himmel mit dem graugrünen Meer zusammenfloß. Von unserem erhöhten Standpunkt aus glich der Hafen einem Gewirr dorniger Masten. »Wir wollen uns auf den Weg machen. Ich möchte vor Anbruch der Dunkelheit an einem gedeckten Tisch sitzen.« Wir gingen die braungelben Hügel hinab, die sich zu der Stadt und dem Hafen hinuntersenkten, bis wir die breite und gepflegte Straße zum Tor der Brunnenhüterin erreichten, das so genannt wird, weil es sich nach Norden öffnet, in Richtung des Brunnens Astria. Die Straße, abgesehen von einigen Karren, war merkwürdig unbelebt für diese Endh. Und hinter dem Tor, an dem wir nicht überprüft, sondern nur von einem Wächter auf einer Wachstafel eingetragen wurden, der uns nicht einmal einer genaueren Musterung für wert hielt, konnte ich noch deutlicher erkennen, wie das Erlöschen des Sternenhandels sich auswirken würde. Geschäfte waren geschlossen. In den sandverwehten Straßen wurden Sternenwaren zu horrenden Preisen angeboten. Wo an Herbergen und Tavernen die Schilder M'ksakka- oder Itabe- oder Tothinschriften trugen, waren diese ausgelöscht. Vielleicht ein Drittel dieser Stätten war überhaupt geschlossen. Port Astrin hatte sich mehr als jede andere Stadt auf die Außenweltler eingestellt. Hier würde man am lautesten ihren Weggang beklagen. »Es scheint ungewöhnlich viele Bettler zu geben«,
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bemerkte Sereth, nachdem er einen Angehörigen dieser Zunft, der sich uns jammernd nähern wollte, mit seinem grimmigen Gesichtsausdruck in die Flucht geschlagen hatte. »Die Dinge werden schon wieder ins Lot kommen«, meinte ich. Chayin legte schützend den Arm um mich, als drei grobgesichtige Seeleute an uns vorbeigingen. Wir fanden ein Sereth bekanntes Gasthaus, das nicht geschlossen war. Es stand in dem alten Teil der Stadt hoch über dem Hafen und war aus so schweren Taernitblöcken errichtet, daß nicht einmal das Erdbeben es hatte erschüttern können. Bei einer Mahlzeit, die unseren Tisch mit dem Reichtum des Meeres deckte, sprachen sie von Schiffen und Routen, von Gezeiten und Wasserstraßen, und was uns in den unerforschten Gewässern zwischen der astrischen Küste und dem Ufer, von dem zu sprechen nicht erlaubt ist, begegnen mochte. »Wir können diese Küste nicht weiter so nennen«, beschloß Sereth, bequem auf der gepolsterten Bank sitzend und eine Pfeife in der Hand, in deren Kopf ausgezeichnetes Dannekraut rot glühte, eine Dreingabe der Wirtsmagd. »Wir sprechen doch die ganze Zeit von nichts anderem.« »Wir wollen ihr einen Namen geben, sobald wir den Fuß darauf setzen«, schlug Chayin vor. »So ist es üblich.« »Der Klagende Felsen hat einen Namen, das Ufer, wo er steht; hat einen Namen. Ist es nicht vielleicht anmaßend von uns, einen ganzen Kontinent benennen zu wollen?« Ich sagte es leise, während meine Finger die Umrisse des Klagenden Felsen in die feuchten Ringe zeichneten, die die Kifrabecher auf dem gestreiften Ragonyholz hinterlassen hatten. Die Wirtsmagd nahm den Blasebalg, um das Feuer stärker anzufachen, denn die Kühle des nahen Wassers
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machte sich immer mehr bemerkbar. Die kalten Steine neben meiner Schulter schwitzten. Von der Kalk- und Balkendecke hingen an Ketten Öllampen aus Messing, denen sich das Mädchen zuwandte, nachdem das Feuer auf dem Herdplatz richtig in Gang gekommen war. Die tanzenden Flammen hielten meinen Blick gefangen. Jeder Tanz enthält eine Geschichte, das Feuer die Runen des Lebens. Khys sah ich darin, die funkelnden Augen halbgeschlossen, wie damals über dem Feuer, das er auf dem Planeten seiner Gefangenschaft entzündet hatte. Und Sereth sah ich, und die Reise nach Sandha. Und alles, was seither geschehen war: auf Mi'ysten, in den Parsetländern; Hael, dunkel unter Raets Bild, angeleuchtet von dem Feuer des Chaldmachers; die Flammen des Helsartores, den feurigen Schmerz der Geburt; und meine Verurteilung durch den Dharen. Dann sah ich Hulion und Uritheria. Vater, gewähre uns Frieden. Und Gherein brennend in dem Feuer, das Khys auf ihn herabbeschwor. Erlöse uns von diesem blinden Streben in deinem Namen. Und Kystrai, umhüllt von einer größeren Feuersbrunst, als stünde er unter einem erfrischenden Wasserfall. Khys, meine Trauer ist endlos. Untröstliche Mitverschworene, stehe ich hier, sogar der Tränen beraubt. Lange hatten sie nach dir auf der Lauer gelegen. Ich wurde geboren, um dich zu vernichten. Goldene Wimpern, so lang, daß seine Augen rechteckig wirkten. Du wärst auch ohne mich gestürzt. Aber ich bin das Gefäß ihrer Bestrafung. Das Kraut, das gepflückt und als Gift verkauft wird, um einen alten Mann seines Besitzes wegen zu töten — kann man das Kraut des Verbrechens beschuldigen? Wenn du nur zu ihnen gegangen wärest . . . »Estri?« »Nein, Sereth. Kein Kifra mehr.« Er legte seinen Arm um meine Schultern, schweigender Trost. Er weiß, aber er will nicht davon sprechen. Er ist frei von Furcht. Mein
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Kopf an seiner Schulter gibt mir Frieden. »Und doch werde ich davon sprechen«, sagte er. »Oder es vielmehr wiederholen. Vor der Schlacht von Astria hast du es ausgesprochen: wir sind es. Se'keroth, ich habe tausendmal darüber nachgedacht und den Gedanken dann beiseitegeschoben.« Chayin schob den Kifra zur Seite und stützte die Ellenbogen auf den Tisch. »›Dreimal geleugnet und dreimal gewährt — verloren, gefunden, gebunden und gehärtet . . .‹« »›Schwert der Wandlung‹« vollendete ich, als Chayin sie abbrach, die älteste aller Prophezeiungen, deren Refrain mir nur allzu vertraut war. Ich drückte die Nase gegen Sereths Lederzeug. Meine Augen suchten das Feuer. Khys und die Kümmernisse meines Lebens waren daraus verschwunden. »Wußtest du, daß ich in Nin Sihaen geboren wurde?« fragte Sereth ernst. Nin Sihaen jenseits des Karir-Thoss ist die westlichste Stadt auf Silistra. »›Eine von Osten, geboren in Luxus und ausersehen — Einer von nördlich des Südens, göttlich, bar jeder Frage . . .‹« »›Der dritte aus dem Westen, auf einer Flutwelle des Todes‹«, zitierte Chayin. Er lächelte nicht. Es ist ein langes Epos. Alles wurde vorhergesehen. Jeder von uns kennt das Ende der Geschichte. »Ein Mann denkt«, sagte Sereth leise, »daß er es nicht sein kann, wenn sich sein Leben das erste Mal wendet, um sich den Metaphern irgendeines Metaphysikers anzupassen. Ich kann es nicht sein, dachte ich, zuerst belustigt, und später voll Angst. Ich gebe es zu. Diese alten Vorhersagen — sie sind sehr ausführlich. Das Schwert der Legende, sagt man, würde aus einem Material aus den Sihaen-Istet-Bergen geschmiedet werden. Man erzählt es den Kindern dieser Gegend. Auch mir wurde die Geschichte erzählt, denn ich bin dort aufgewachsen. Und als ich auszog, um mich für die
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Kette eines Töters zu bewerben, lachten die anderen Jungen und nannten mich ›Streber nach Wandlung‹.« Ich hob den Kopf, um sein Gesicht sehen zu können. Er und Chayin schauten sich in die Augen. Ich hatte gewußt, woher er stammte, aber ich hatte ihn nie von seiner Jugend sprechen hören. Ich erinnerte mich einer Zeit in Nemar Nord, bei Chayin, als ich ihm enthüllte, daß ich mit seinem Vater im Streit lag, dem Gott jenes Landes. Und er hatte sich selbst einen Sproß des Chaos genannt. »Aus dem Bauch der Angst bin ich gekommen«, hatte er damals gesagt. Ich fröstelte. »›Sohn dunkler Götter, Sohn des Lebens/Sie in der Mitte mit dem Licht gesegnet‹«, sagte ich. Die Worte kamen langsam und unfreiwillig aus mir heraus, wie aus einem urzeitlichen, vorherwissenden Abgrund der Erinnerung aufsteigend, wie bei einem Kind, das mit lähmender Gewißheit begreift, daß das, was im dunkeln lauert, diesmal keine Einbildung, sondern die Wirklichkeit ist. Das Schwert der Wandlung besteht aus vier Ors. Sie behandeln eine Zeit der Reinigung und Wiedergeburt, die über Silistra kommt und über das gesamte Universum. Und es befaßt sich mit den Instrumenten dieser Reinigung. Und da ist ein Schwert und eine Hülle und eine Hand, es zu führen. Da sind zwei Männer und eine Frau. Und da sind Prüfungen, deren Ausmaß die Prophezeiung über Tausende von Jahren hinweg zu einem epischen Drama ausgeweitet hat. »Manche glaubten, sie hätte sich durch die Zerstörung der Oberflächenstädte erfüllt«, meinte Chayin schließlich und bewegte sich unruhig auf seinem Sitz, vergleichbar einem Brist, dem der Wind menschliche Witterung zugetragen hat. »Ich wünschte, ich könnte das auch glauben«, sagte Sereth. »Wenn wir uns auf diese Reise begeben,
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werden wir es erfahren.« »Wenn?« fragte ich und rückte von ihm ab. Mein trockener Mund verlangte nach Kifra. Ich hob die Hand, um die Wirtsmagd heranzuwinken. Sereth rutschte tiefer auf die Bank. Er nahm sein Messer und reinigte sich mit der Klinge die Fingernägel. Es war ganz aus Stra gearbeitet, Klinge und Heft gleichermaßen. Der Knauf spiegelte den Feuerschein wider. »Wenn wir nicht aus jenen Ländern zurückkehren, können wir es nicht sein, die in der Prophezeiung erwähnt werden.« Ein Holzscheit zerplatzte und wirbelte einen Funkenregen auf. Chayin rieb sich den linken Oberarm, auf dem, jetzt von dem Lederärmel verdeckt, die Slitsa sich um eine wellige Klinge schlängelte. Die Hand wanderte zu seiner Schulter, wo sie liegen blieb. Von einem sehr kleinen Teil der Prophezeiung wußte ich, daß wir ihn erfüllt hatten. Großes Unglück war aus dem Süden über Silistra gekommen. Wir waren gekommen. Wir drei waren für mehr gewaltsame Tode verantwortlich als sie normalerweise innerhalb von zwanzig Jahren in die Rolle der Zeithüter eingetragen werden. Wir hatten nur wenig mehr als fünf silistrische Jahre gebraucht. Und das Sterben war noch nicht zu Ende. Die, die sich an den Helsaren versuchten — ein Gutteil von ihnen würde den Tod finden. Vielleicht ebenso viele, wie am See der Hörner gestorben waren. Ich hoffte nicht. Mehr als zweitausend Parsets hatten den See der Hörner angegriffen. Die Zahl der Toten war ungefähr ebenso hoch. Bei mehr als hundert der Erschlagenen hatte es sich um Kinder gehandelt. Ich war nicht bei der Feuerbestattung dabeigewesen. Es waren zu viele gewesen, um sie zu begraben, also hatte man die Leichen zusammengetragen und angezündet. Einige der Überlebenden, die den Reif der Stille trugen, hatten sich lebend in die Flammen
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geworfen. Niemand versuchte sie aufzuhalten. Es war Chayins Befehl gewesen, daß sich in das Tun und Lassen der jetzt unwiderruflich Gebundenen nicht eingemischt werden sollte. Für die, die noch am Leben sind, kann es wenig Trost geben. »Carth«, sagte Chayin, »hat selbst die Zeremonie geleitet. Gestützt von zwei seiner Arrars, weil er nicht allein stehen konnte, führte er die Seegeborenen im Gebet.« Er hatte sich lächelnd an Sereth gewandt. »Ich glaube, du hattest recht mit ihm.« Ein zweites Scheit zerplatzte. Das von Chayin heraufbeschworene Bild der Scheiterhaufen stand mir grell vor Augen. »Ich hoffe es«, erwiderte Sereth, der den Chald des Dharen in Carths Hände gelegt hatte, zusammen mit seinem Leben und dem See der Hörner. Sie beide, Sereth und Chayin, hatten Carth, dem ranghöchsten Mitglied vom Rat des Dharen, gewisse Bedingungen auferlegt. Carth hatte sie beinahe dankbar angenommen. Er regierte in Sereths Auftrag. Der Kern seiner Bemühungen sollte nicht der Wiederaufbau eines Reiches sein, sondern die Festigung des Gesetzes im Innern. Wie Khys es sich in seiner Jugend und Intelligenz vorgestellt hatte, bevor Egozentrik und Macht und Ungemach ihn seiner Objektivität beraubten, so sollte es jetzt werden. Sereth verlangte nicht von Carth, die Lehren seines Herrn zu ändern, nur daß diese Lehren wahrhaftig in die Praxis umgesetzt werden sollten. Vor Miccah, dem Hohen Chaldmacher, waren die Vereinbarungen beschworen worden. Und Sereth hatte für sich einen Chald genommen, wie ihn die Arrars trugen, und einen für mich, und er hatte Miccah gesagt, welche Änderungen er daran vornehmen sollte. Und Carth hatte seinen dunklen Kopf mit den schwarzen Haaren geschüttelt, von denen ganze Büschel weggebrannt waren, und sein Gesichtsausdruck
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hatte sich verdüstert, doch er sagte nichts. Er lebte, durch ihre Gnade. Das war ihm klargemacht worden. Und dennoch kam er mir nicht unterwürfig vor. Sereth, der mit dem Chald des Arrars spielte, musterte ihn fragend. »Hast du etwas zu sagen?« Carth, der sich so weit aufgerichtet hatte, daß er mit dem Rücken an der kahlen Wand seines eigenen kleinen Zimmers lehnte, sagte: »Soll ich in deinem Namen handeln, wie ich es für richtig halte, oder wie ich glaube, daß du es für richtig halten würdest?« Sereth betrachtete ihn mit dem ihm manchmal eigenen frostigen Gesichtsausdruck. Chayin schüttelte den Kopf, als könnte er es nicht fassen, eine solche Keckheit aus dem Munde eines Mannes zu hören, der von Rechts wegen mit seinen Brüdern hätte verbrennen müssen. »Was ich möchte«, erklärte Sereth sehr ruhig und sehr ausführlich, »ist nur mit der allergrößten Anstrengung mißzuverstehen. Da es für jeden, außer mir, unannehmbar zu sein scheint, daß es keinen Dharen auf Silistra geben soll, und da ich nicht die Absicht habe, hierzubleiben und Dharen zu sein, fällt die Aufgabe an dich. Ich kann dich töten und jemand anders damit betrauen. Lieber wäre es mir, ich brauchte es nicht zu tun. Herrsche als Dharen — nicht wie ich es für richtig halte, oder wie du es für richtig hältst, sondern wie es für Silistra am besten ist. Regiere sie mit leichter Hand. Steh den Helsar-Kindern bei, so gut du kannst, berate sie, aber laß sie vor allem nie aus den Augen. Lehre sie Zurückhaltung. Laß die Zeit für eine Weile zumindest ihre eigenen Wege gehen, damit Owkahen sich beruhigt . . .« Er brach ab, wickelte die Hand aus den Strängen des Chald und strich sich das Haar aus den Augen. Die Wunde an seinem Kopf war beinahe verheilt. Er betrachtete Carth mit gerunzelter Stirn. »Wenn ich
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glaubte, du wüßtest wahrhaftig nicht, was getan werden muß«, meinte er leise, als wäre er enttäuscht, »würde ich jemand anderen ernennen. Was wir voneinander halten, ist doch jetzt unwichtig. Du kannst über mich denken, was immer du willst, so lange deine Meinung nicht deine Urteilskraft beeinträchtigt. Wenn du mich brauchst, sende eine Nachricht. Sie wird mich erreichen.« Er stand auf. »Und bedenke stets: Es ist der Süden, in den du um Hilfe schicken mußt. Dann, und nur dann, wirst du erlauben, daß ein Mann aus dem Norden seinen Fuß in jene Gebiete setzt. Sollte es irgendwelche Zwischenfälle geben, werden wir wahrhaftig diese Gebäude niederreißen, Stein um Stein, und Silistra wird unter der gütigen Hand des Erwählten Sohnes von TarKesa weiterleben.« Carth hatte sich abgewandt, obwohl seinem von Verbänden umwickelten Körper jede Bewegung schwerfiel. Miccah war es, zu dem er sich herumdrehte. Der weißhaarige Hohe Chaldmacher, das faltige Gesicht von Kummer gezeichnet, eilte zu ihm. Sie flüsterten miteinander. Eine Wolke neidete uns sogar die schmalen Lichtstreifen, die matt durch die sechs Fensterschlitze fielen. Chayin winkte Sereth zu sich. Auch sie unterhielten sich mit gedämpfter Stimme. Das war die Angelegenheit, die uns so bald nach Khys' Totenfeier zum See der Hörner zurückgeführt hatte. Ich vermochte nur wenig Interesse für die Sache aufzubringen. Mein Körper wurde von Frostschauern geschüttelt, und ich war kaum zu mehr in der Lage, als mich in dieser oder jener Ecke zusammenzukauern. In diesem Zustand nahm ich also an Carths Übernahme des Chald des Dharen teil, eine Spanne nach meiner Flucht vor Sereth und meiner Schuld. Zum Guten oder Schlechten würde Carth, einst Crell in den Gruben von Nemar, am See der Hörner
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regieren. Am viertfünften Brinar 25 697 nahmen ein Telepath und ein Hase-enor Silistras Schicksal in die Hände. Das Schweigen dauerte lange. Weder Sereth und Chayin noch Carth und Miccah, schienen darauf bedacht, es zu brechen. »Entschuldigt ihn, Herren.« Schließlich richtete Miccah sich auf. Sein Mehrfachkinn wogte, als er krampfhaft die Lippen bewegte. Im Angesicht ihrer düsteren Autorität wollten ihm die Worte nicht von der Zunge. »Entschuldigt ihn«, wiederholte er feucht. Kleine Blasen formten sich in seinen Mundwinkeln. Seine Augen zuckten hin und her in ihren milchigen, blutunterlaufenen Teichen. »Ich bitte Euch. Carth hat nicht mehr die Kraft für Worte. Mit seinem letzten Atemzug bat er mich, Euch zu versichern, daß er demütig und nach bestem Wissen Euren Willen tun wird.« Die Worte, die alle auf einmal aus ihm herausbrachen, waren kaum zu verstehen. Mit hängendem Unterkiefer wartete Miccah ab, die Hände tief in die Lederschürze vergraben, die Beine gespreizt und leicht schwankend. Er schien sich von dem Schrecklichen noch nicht ganz erholt zu haben und immer noch um den Dharen zu trauern. Chayin hatte die Arme vor der Brust verschränkt und warf Sereth einen bedeutungsvollen Blick zu. Dann schauten beide zu Carth, der in seinem Körper lag wie eine Yra Binnirinkörner in einem Zwölfkilosack. »Das hat er gesagt?« erkundigte sich Chayin unschuldig. »Ja«, bestätigte der Hohe Chaldmacher. Wir können nur hoffen, daß Carth das Versprechen seines Bevollmächtigten hält. Was er tut, ist in Sereths Namen getan.
»Se'keroth, Se'keroth, direel b'stet Se'keroth«, grollte der Cahndor, als das Mädchen mir den bestellten Kifra
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brachte. Seine Blicke musterten sie abschätzend, während sie sich über mich beugte. Offensichtlich hatte sie etwas zu mir gesagt. Ich hatte es nicht gehört. Ich war wieder einmal in dem Feuer gefangen gewesen. »Sie fühlt sich nicht gut«, sagte Sereth, halb zu dem Mädchen gewandt und halb zu Chayin. »Werden drei Zimmer gewünscht, Se . . . Arrar?« Ich hörte ihre Stimme durch den Pulsschlag des Meeres, der sich an den Molen brach und an meinem Trommelfell. »Zwei«, erwiderte Chayin. »Mit einer Verbindungstür.« Sereths Bewegungen, als er einige Dippars aus seiner Börse kramte, hatten mehr Wirklichkeitsbezug. Ich rückte wieder näher an ihn heran. »Re Dellin ist hiergewesen und hat Anweisung gegeben, daß er als erster benachrichtigt werden sollte, würdet ihr hier übernachten.« Unter seinem Blick richtete sie sich auf und strich mit einer stämmigen Hand über ihr Haar. »Wann?« Sereth war steif geworden und gab sich ruhig. »Diesen Sonnenaufgang«, sagte sie, »wenn es Euch gefällt, Arrar.« »Und wenn nicht?« schnappte er. Sereth warf ihr drei Münzen zu. Die dritte war ein Titrium-Halbbrunnen. Das Mädchen lächelte mit züchtig gesenktem Blick. Chayin drehte sich auf der Bank herum, als sie sich nach dem Geld bückte. Sie streifte ihn und blieb stehen, die Brüste an seiner Schulter, die Finger an den Münzen. »Soll ich ihn also benachrichtigen?« fragte sie. »Nein«, sagte Sereth. »Se'keroth, wahrhaftig«, murmelte ich, als das Mädchen sich entfernte und ich den Herd wieder sehen konnte. Neue Kundschaft trat ein, um zu essen und die salzige Kälte aus den Knochen zu vertreiben.
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Meine Finger tasteten nach dem Chald des Arrar an meiner Taille und nach dem Messer in der Hülle aus Parrleder. In seinem Knauf war ein einzelner Goltropfen eingearbeitet. Ich hatte es von Sereth auf dem Mount Opir bekommen. Oder sein Gegenstück. Er hatte sie beide in Auftrag gegeben, als man mich für tot erklärt hatte. Die Goltropfen im Knauf waren ein Geschenk von einem Golachiden, dem wir geholfen hatten, hoch in den Golländern in den Sabembe-Bergen. Khys hatte sie uns weggenommen. Wir hatten, nachdem sie sich wieder in unserem Besitz befanden, herausgefunden, wie wortgetreu der Waffenschmied sich an Sereths Anweisung gehalten hatte: »Gleich gehärtet und geformt, so daß man das eine nicht von dem andren unterscheiden kann, Se'keroth.« Schließlich nahmen wir jeder eins. Wir konnten sie nicht auseinanderhalten. Die glühende Klinge muß in Eis gekühlt werden. Wir würden die östliche Küste schwerlich vor der Wintersonnenwende erreichen, am erstersten Orsai. Ich setzte mich aufrecht hin, ein Stück weit weg von Sereth. Chayin betrachtete mich erwartungsvoll. »Es gibt keinen Beweis. Hüte dich davor, Handlanger einer Prophezeiung zu werden, die nach Erfüllung strebt«, warnte ich ihn, wohl wissend, daß, wenn es jemanden gab, der solche Kräfte abwehren konnte, dieser nicht mehr unter uns weilte. Er fing meinen Gedanken auf, denn er starrte mich böse an. Unwillkürlich schrak ich vor seinem Zorn zurück. Dann straffte ich mich wieder. Ich hatte kein Geheimnis aus meiner Abneigung gemacht, diese oder eine andere Reise zu unternehmen. Sie hatten mir beide, jeder für sich, mitgeteilt, daß eine Zeit der Ruhe und des Nachdenkens nicht in der Sordh enthalten sei. Ich glaube eher, sie ist nicht in ihrem Charakter enthalten. Der Cahndor massierte seine alte Wunde, sehr oft ein
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Anzeichen dafür, daß er etwas sagen wollte. Sie schmerzte ihn schon lange nicht mehr, aber die Angewohnheit ist geblieben. Er schien gerade den Mund öffnen zu wollen, als die Wirtsmagd sich wieder näherte. Diesmal brachte sie ein zusammengerolltes Schriftstück — zwei Schriftstücke eigentlich, deren größeres als Haltestab diente, um den das kleinere herumgewickelt war. Dann war das Ganze, orangefarbenes Fax das größere, knochenweißes Pergament das andere, mit einem Streifen Tasleder zusammengebunden worden, auf dem in Gold das Siegel des Legaten Eins eingeprägt war. Einer der Neuankömmlinge brach über seinem Becher in ein grobes Lachen aus. Seine Kameraden fielen ein. Es lag auf dem gestreiften Ragony zwischen den feuchten Ringen und Krümeln unserer Mahlzeit. Sereth betrachtete das Mädchen, das, ohne ihr Schweigen zu unterbrechen, zwei Schlüssel aus Messing neben die mit Tasleder umwickelte Rolle legte. Sie schien am ganzen Leib zu zittern, gleich einem aufgeschreckten Krier, der auf unsichtbaren Flügeln über einen schlammigen Teich schwebt. »Er sagte«, brachte sie schließlich heraus, »ich sollte euch das geben, sollte eure Antwort ›Nein‹ lauten.« Ihre Augen waren so groß wie Kupferdippars. Sein Blick schien auf sie zu wirken wie eine Körperfessel. »Und das hast du getan«, meinte er, den Kopf zurückwerfend. Die Bewegung schien sie zu erlösen. Sie stolperte ein wenig, wie jemand, der sich lange gegen eine alte, widerspenstige Tür gestemmt hat, plötzlich taumelt, wenn verrostete Scharniere unvermittelt wieder die Arbeit aufnehmen. Und gleich einer solchen Tür waren die Schritte, mit denen sie sich entfernte, unbeholfen, als wäre sie ihres Körpers nicht mehr gewohnt. Sie ging zwischen den Tischen hindurch zu den Männern, die an der gegenüberliegenden Wand saßen.
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Eine geraume Weile sagte keiner von uns ein Wort. Ich schaute der Wirtsmagd nach, die sich jetzt die Stirn rieb, wie jemand, der von einem langen Fieber genesen ist. Sie hatte gesehen — was? Sie wußte es nicht: ein Glühen, wie von mehr als menschlichen Augen; zwei gewaltige Tiere im Kampf unter einem furchteinflößenden Himmel; einen siebeneckigen Raum, in dessen Mitte eine Frau in einer Flammenspirale stand. Sie zitterte. Der Schauer durchlief sie vom Kopf bis zu den Füßen, wie bei einem Dorkat, der sich das Wasser aus dem Fell schüttelt. Es war nur ein Mal, das sie gesehen hatte, ein merkwürdiges Juwelenzeichen auf der Brust der fremden Frau. Während ich mich aus ihren Gedanken löste, tasteten meine Finger nach dem Mal, das ich immer noch trug — das Siegel der Schöpfer und Khys' verwegenstes Zeichen der Mißachtung. Er hatte es sich angeeignet, wie er auch ihre Ratsversammlungen und Prüfungen nachahmte. Ich wußte, wenn ich wollte, konnte ich mich davon befreien. Bis jetzt habe ich es nicht getan. Es hat einen gewissen Wert, wie jede auch noch so schmerzhafte Erinnerung, andererseits habe ich ein Recht, es zu tragen. Und nichts derart Simples, wie das Entfernen von Khys' Wappen von meinem Körper, wird aus Chayins oder Sereths oder meinem Bewußtsein auslöschen, was Khys in seinem Kampf gegen den Willen der Väter mit uns getan hat. Was werden sie über ihn reden, solche wie diese Frau, die mich über den Gastraum hinweg immer noch betrachtete? Und über uns? Werden die unvermeidlichen Chronisten uns als Befreier oder als Schurken darstellen? Jene, für die solche Kriege geführt werden, haben jetzt noch nicht einmal ihren ersten Atemzug getan, hat Chayin zu mir gesagt. Und doch, die Tatsache von Khys' Schutzwehr um Silistra, die abschließende Prüfung der Helsare, die Verteilung der Seegeborenen über den ganzen Plane-
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ten, alles ragt unmittelbar vor uns auf; wie in Se'keroth naht es heran und bringt das Gericht mit sich, von dem alle Welt sprechen wird. Solche wie sie hätten gern eine ganze Legion von uns, mit Khys' Erbe in unseren Genen. »Was hältst du davon«, brummte Chayin, stieß mit dem Finger gegen die Botschaft, dann noch einmal, und jeder Stoß beförderte die Rolle näher an Sereth heran. »›Und alle die Welten der Schöpfung merkten auf, und manche liehen gar ihre Hand zur Erfüllung der Aufgabe. Sie mögen gesegnet sein‹«, rezitierte ich stumpf, während Sereths Straklinge das Tasleder durchschnitt und dabei das M'ksakka-Siegel in zwei Hälften teilte. Das Pergament löste sich wie von selbst von dem Mittelteil aus Fax. Er zog es heran, breitete es aus und überflog den Inhalt. Dann legte er den Kopf in die Hände. Nach einer Weile griff ich danach. Als ich gelesen hatte, gab ich das Pergament an Chayin weiter. Es hatte Feuchtigkeit von dem Tisch aufgesaugt, und einige Worte waren zerflossen. Ein verirrter Windstoß heulte durch den Kamin. Die Flammen in den Lampen duckten sich. Dellin spielte seine Rolle gut. Die Botschaft nach der einleitenden Begrüßung war knapp und klar:
Ich habe zu danken für mein Leben und das meiner Welt. Trotzdem muß ich, so lange ich lebe, meinen Pflichten nachkommen. Beiliegend Karten und Informationen die Reise betreffend, von der ich unterrichtet wurde, daß ihr sie unternehmen wollt. Ich hoffe, ihr werdet sie als das wohlmeinende Geschenk annehmen, als das sie gedacht sind, und meinen Empfehlungen Beachtung schenken. Sollten jene Männer und Frauen, nach denen ihr suchen wollt, noch am Leben sein, bitte ich euch, sie uns 410
unbeschadet zuzuführen. M'tras oder ich oder wir beide sind gerne bereit, euch zu begleiten, damit sie ohne Blutvergießen aufgespürt werden können. Tyiths Sohn befindet sich seit geraumer Zeit in meiner Obhut. Unter den Umständen, die euch noch bekannt sein müßten, fand ich keine Gelegenheit, die Sache zur Sprache zu bringen. Ich fühle mich an diese Pflicht gebunden. Ich ersuche nicht, davon entbunden zu werden, sondern will es lediglich mitteilen, damit du es nicht von anderer Seite erfährst und mein Schweigen als böse Absicht deutest. Presti, m'it tennit. Bis zum drittersten Decra werde ich beim Harthnest an der Straße der Geleise anzutreffen sein. Und am Schluß, über seinem Siegel, wünschte er Sereth Tasa. Chayin schnippte es weg. Es schwebte durch die Luft und flatterte neben meinem Fuß zu Boden. Sereth hob den Kopf und griff nach der Faxrolle. Was hatte die Wirtsmagd in uns gesehen? Sie, die jetzt neben dem Herd lehnte, was konnte sie über uns wissen? Standen wir schon so deutlich abseits, daß jeder es merken konnte? Und Dellin, dessen ganzes Wissen über Silistra in eine Kinderrassel passen würde, wie kam er dazu, dem Willen Owkahens zu dienen? »Wirst du dich mit ihm treffen?« fragte Chayin, während seine Augen die Karte des Landes verschlangen, von dem kein silistrischer Kartograph je Aufzeichnungen gemacht hatte. »Nein, ich habe, was ich brauche.« Seine Stimme hallte verloren aus dem Abgrund herauf. Ich berührte seinen Arm, er legte ihn um mich. Wir gaben einander Wärme, wie es in gewissen Augenblicken möglich ist, wenn die Mauern zwischen
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Geist und Geist durch die Erinnerung an gemeinsamen Kummer durchlässig werden. Sie ist nun für uns vorbei, die Zeit der Schmerzen. Das Meer hat unsere Wunden gesalbt. Wir haben neue Wege zueinander gefunden, die nicht von dem Gefühl des Verlusts überschattet sind. Er hat mir gesagt, ganz leise, während er mich des Nachts in den Armen hielt und der Leib der Welt uns sanft schaukelte, daß er es nicht anders haben möchte, daß er zufrieden ist. Chayin hat es ausgesprochen: Wenn Owkahen oder Prophezeiungen oder die Väter uns benutzen, was soll's? Sollten wir Werkzeuge sein, dann aus freiem Willen. So ist es immer. Es ist das Selbst, das dem Menschen sein Schicksal vorherbestimmt, das Bewußtsein, das seine Schritte lenkt. Khys unterlag Estrazi und wußte, daß es so kommen würde. So lange er sie bekämpfte, so lange bereitete er seinen eigenen Untergang vor. Ein Mann, der nachts durch einen Wald irrt, bewegt sich im Kreis und gelangt schließlich wieder zu demselben wie ein Brist geformten Felsen, von dem er aufgebrochen ist. Hätte er mich geschwängert und so vor meinen Vater gebracht, als ich damals aufbrach, das Chaldra der Mutter zu erfüllen, wäre das Ende das gleiche gewesen. Wußte er alles oder nur einen Teil? Und wie trifft man eine solche Wahl, mit welchen Gewichten wird eine solche Entscheidung gewogen? Werden wir an jenen fernen Küsten etwas über derartige Bürden erfahren? Vielleicht. Es war Khys' Wille, daß wir dorthingehen. Er nahm sich die Zeit, seine Angelegenheiten zu ordnen. Er bestimmte seinen Nachfolger. Im Einklang mit einer Melodie, die nur er hören konnte, ging er von uns. Wir müssen weiterleben, so gut wir können. Sereth und Chayin haben in endlosen nächtlichen
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Gesprächen einen Weg gesucht, die Länder zu vereinen, über die sie herrschen. Und sie haben, glaube ich, eine Grundlage geschaffen, auf der man einen derartigen Traum verwirklichen kann. Gemeinsam haben sie das Crell-System überdacht und das Schicksal der Chaldlosen im Norden. Nein, sie haben diese Zeit des Atemholens nicht verschwendet, und mit der Zeit wird Silistra die Früchte dessen ernten. Es ist in keiner Hinsicht eine ereignislose Reise gewesen, aber die launischen Attacken der Natur haben uns nicht geschwächt. Wir haben weder ein anderes Schiff zu Gesicht bekommen, noch irgendeine Spur von Menschen. Im Bereich der warmen Strömungen, allerdings nicht hier, ist das Meer reich an Leben. Es gibt ein Geschöpf, den Slitsa vergleichbar, das wir Sinetra-e'stet genannt haben, Nachtscheiner. Sie kommen in Schwärmen zu Hunderten. In einer Vollmondnacht rief Sereth mich an Deck, um sie zu sehen. Das Streifen ihrer Leiber an der Bordwand hatte mich nicht auf den Anblick vorbereitet. Sie glichen schimmernden Wogen auf dem Meer. Man hätte über sie hinwegschreiten können, so dicht an dicht standen sie an der Oberfläche, und ihre Windungen durchschimmerten die Wellen mit nicht zu benennenden Farbschattierungen. Ihre durchschnittliche Größe beträgt dreifache Manneslänge. Die Köpfe scheinen nur aus Rachen und Fühlern zu bestehen. Wir fingen ein kleines Exemplar. Die Fühler, ein Fransenbesatz an Kopf und Rücken, sehen seidenweich aus, sind aber mit Widerhaken versehen und giftig. Ich war erleichtert, als wir ihr Reich verließen, und dankbar für die Straverkleidung der Aknet und ihre Kriegsschiff-Ausstattung. Weniger froh bin ich über das Bild des Uritheria an ihrem Bug. Hier ist es kalt, und der Schnee tief und weich. Wir werden die Südküste entlangsegeln und einen freundli-
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cheren Hafen suchen. Aber sie wollten zuerst bei dem Felsen stehen und seinen Gesang hören. Vor zwei Tagen war Wintersonnenwende. Wir werden nicht vor Frühlingsanfang auf die Jagd nach den M'ksakka gehen können. Des Nachts ist der Himmel hinter dem Klagenden Felsen von Fai-Teraer Moyhe voller Licht. So weit im Norden, hat Sereth mir versichert, sind derartige Erscheinungen nicht ungewöhnlich. Er und Chayin sind wie Kinder, begierig darauf, die Wälder zu durchstreifen und zu sehen, was darin lebt. Und jenseits der Wälder. Letzte Nacht, des Schauspiels am Himmel müde, kam er früher zu mir, als er es sich zur Gewohnheit gemacht hat. »Hat die Kälte dich vertrieben?« fragte ich und legte die Arbeit nieder, mit der ich beschäftigt war. Ich hatte seine Schritte auf der Treppe erkannt. Jetzt wickelte ich mich fester in den Bristpelz um meine Schultern. »Nein«, sagte er und zog in dem niedrigen Aufgang den Kopf ein. Trotz des schweren Umhangs und der pelzgefütterten Stiefel waren seine Bewegungen flüssig wie Quellwasser. Gebückt, um sich nicht den Kopf an den Kreuzbalken zu stoßen, warf er den Umhang ab und richtete sich, mit einem vorsichtigen Blick nach oben, zu voller Größe auf, die Hände in den Rücken gestützt. »Ich bin gekommen, um dich hier herauszuholen, loszureißen von deinen verfluchten Erinnerungen. Und wenn die ganze Welt von Frost überzogen ist wie FaiTeraer Moyhe, wirst du immer noch gebückt über deinem Geschreibsel sitzen. Hätte ich vorher von diesem heimlichen Rivalen gewußt, hätte ich mir vielleicht nicht die Mühe gemacht, dich aus Khys' Händen zu befreien.« Das letzte knurrte er, während er mich auf seinen Schoß hob. Seine Finger an meinen Armen fühlten sich an wie Eissplitter. Er drückte mich an sich und zupfte irgendein Blatt aus
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dem Stapel. Zappelnd suchte ich ihm und seinem kalten Lederzeug zu entkommen. »Ist das wahrhaftig, was du von mir denkst?« wollte er wissen. »Laß mich sehen.« Ich fühlte, wie mir das Blut in die Wangen stieg. »Ja«, gab ich zu. Er hatte sich nie zuvor dafür interessiert, sondern immer nur gemurmelt, solange ich meine sonstigen Pflichten erfüllte, könnte ich in meiner Freizeit tun, was ich wollte. Und er läßt mir wenig genug. Täglich muß ich ihm und manchmal Chayin mit den Waffen gegenübertreten, die sie bestimmen. Unter ihrer Aufsicht habe ich beträchtlich dazugelernt. Und Dhara-san verlangt er von mir, das Einstimmen des Körpers, das ich lange vernachlässigt habe. »Ja«, wiederholte ich. Ohne mich loszulassen, legte er das Blatt weg und griff nach einem anderen. Belustigung zuckte in seinen Mundwinkeln. Das Schiff tauchte in ein tiefes Wellental, und die von den Balken herabhängenden Öllampen schwangen hin und her. Er zog mich mit sich auf die Pritsche, die uns in unserer beengten Unterkunft als Lager diente. »Das alles hast du niedergeschrieben«, beschuldigte er mich, während die tanzenden Schatten sich beruhigten, »und das Wichtigste ausgelassen. Das Kind von Owkahen soll ich sein? Mein Vater und meine Mutter haben es mir anders erzählt.« Er legte das Blatt zurück und faltete die Hände unter dem Kopf. »Und was ist das Wichtige, das ich nicht aufgeschrieben habe?« erkundigte ich mich, auf der schmalen Pritsche an ihn heranrückend. »Ich habe Se'keroth erwähnt. Ich habe es nicht ausgelassen.« Er stöhnte wie unter Schmerzen und legte die Hand über die Augen. Schließlich spreizte er die Finger und blinzelte dazwischen hervor. »Se'keroth, wahrhaftig. Das, Kleines, war ein Märchen
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aus Kifra und Danne, die Spinnereien zweier Männer zwischen einem Kampf und dem nächsten. Das ist alles. Komm her.« Er drückte mich an sich, und ich fühlte es, unter dem dünnen Polster, das zwei harte Bretter in ein Bett verwandelt. »Und doch hast du es behalten«, sagte ich und meinte das Schwert, das dort verborgen lag. Ich konnte sie vor mir sehen, die grade Klinge, den aus einem einzigen Feuerjuwel geschnittenen, mit Titriumdraht umwickelten Griff, Metall und Hülle mit dem Siegel der Schöpfer graviert. In die Klinge ist außerdem ein Spruch in Mi'ysten eingeritzt. Und ich erinnerte mich an den Augenblick, in dem ich es das erste Mal zu Gesicht bekam, und an den Refrain, der sich mir ungebeten aufdrängte, als ich die Hand um den Griff legte: Se'keroth. Er zuckte die Schultern. »Ich habe auch deinen Lagerbund-Chald behalten. Es scheint mir wenig genug Beute, bedenkt man den am See der Hörner aufgehäuften Reichtum.« Er stützte sich auf einen Ellenbogen. Seine Lippen berührten meine geschlossenen Lider, wanderten zu meinen Schläfen. »Was ist es dann, das ich ausgelassen habe? Was ist so wichtig?« flüsterte ich und schlang die Arme um seinen Hals. Seine Augen schauten tief in mein Inneres. »Daß Augenblicke wie dieser kostbar geworden sind«, sagte er, sein Atem ein bloßer Hauch an meiner Wange, »weil wir sie uns teuer erkauft haben. Ohne Kummer und Unbill, wie würde es sein? Wo bliebe die Süße? Und wie könnten wir Triumph empfinden ohne Niederlage? Wir selbst erschaffen sie, Ci'ves. Das einzige Unrecht ist, daß wir diese Tatsache zu leicht vergessen.« »Ich glaube, das habe ich in meinen Schriften deutlich gemacht«, wisperte ich und reckte mich nach seinen Lippen. »Doch ich würde gerne noch einige Worte von
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dir hinzufügen.« »Dann schreibe, daß wir alle gebunden sind, der Höchste nicht weniger als der Geringste.« So sage ich es zu euch, wie er es zu mir sagte, an den Ufern, von denen zu sprechen niemandem erlaubt ist. Erstdritter Orsai 25 698
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Anhang
Eine Kurzbiographie des Dharen Khys, geboren als Khys Enmies im Vorhöhlenjahr 2831, wirft einige Probleme auf, nicht zuletzt wegen der schieren Masse bemerkenswerter Taten, die man ihm zuschreibt. Hinzu kommt die Tatsache, daß der größte Teil der fruchtbaren Perioden im Leben des Dharen schon anderweitig mit einer Ausführlichkeit aufgezeichnet wurde, wie sie in dieser kurzen Niederschrift nicht einmal versucht werden soll. Seine Geburt, 760 Jahre nach der Hinrichtung Laores auf Fai Teraer-Moyhe und 738 Jahre nach der Veröffentlichung seiner Vorwarnungen, verursachte beträchtlichen Aufruhr und Skandal in der einflußreichen Enmies-Familie. Khys' Mutter, Ismarah, wurde nach zehn Jahren psychiatrischer Behandlung (beantragt von ihrem Gefährten, Braese, und vom Gericht genehmigt nach einem Gespräch mit der betreffenden Dame, bei der sie sich weigerte, ihre unbeweisbare Behauptung zu widerrufen, das Kind, das sie erwartete, sei nicht Braeses, sondern übernatürlichen Ursprungs) in die Obhut der Stoth-Priesterschaft gegeben, deren Lehren sie mit zunehmender Leidenschaft anhing, bis zu ihrem Selbstmord 2149, einen Tag nach Khys' achtzehntem Geburtstag. Khys' Vater, der sich nach dem Urteil unheilbaren Wahnsinns gegen seine erste Gefährtin noch zweimal band, bewirkte zu der Zeit einen beträchtlichen politischen Druck, um seinen Sohn aus der Hut der Stoth-Priester wieder unter seine Vormundschaft zu überführen, aber ohne Erfolg. Ismarah hatte trotz ihrer angeblichen Geistesgestörtheit abgewartet, bis Khys
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mündig war, bevor sie Hand an sich legte. Sie hatte sogar der Zeremonie beigewohnt, bei der Khys die Gelübde ablegte und die Stoth-Weihen erhielt. Vielleicht war dieser Versuch Braeses, seinen Erstgeborenen zu ›verweltlichen‹ und dem Jungen die Verantwortlichkeiten des Enmies-Vermögens aufzuzwingen, der Grund für Khys' aufsehenerregenden Entschluß, nach dem Tod des Vaters sein beträchtliches Erbe der Priesterschaft zu vermachen. Braese starb bei einem Segelunfall, genau fünf Jahre nach dem Heimgang von Khys' Mutter, der nicht nur ihn, sondern auch sämtliche anderen Anwärter auf das Enmies-Vermögen das Leben kostete. Zu diesem Zeitpunkt, Cetet 2154, machte der jugendliche Stoth-Novize die Bekanntschaft der darstigeschulten Gyneth Frein und ihres Bruders Wialer. Erstere wurde sechs Einheiten später seine Lebensgefährtin und letzterer sein geistiger Bruder und Vertrauter während der Jahre von Khys' Erforschung der Lebenswissenschaften, die zu ihrer gemeinsamen Entdeckung der Langlebigkeitsseren führte, kurz vor Haroun-Vhass. Mit dieser Entdeckung trat der Stoth-Priester, der inzwischen auch die letzten Weihen empfangen hatte, vor die Mechanistische Union und stellte den Antrag, die Droge, die den Zellverfall verlangsamte, die Fähigkeit der Zellen zur Erneuerung vergrößerte und weitreichende Immunitäten aufbaute, allen siebenunddreißig Nationen zugänglich zu machen. Die sich in Kriegen aufreibende Union lehnte, angesichts von Hungersnöten und Überbevölkerung, das Projekt nicht nur ab, sondern drückte ein Verbot der Verbreitung des Serums außerhalb der Stothhierarchie durch. Zu welcher Ausnahme sie sich aus zwei Gründen entschloß: Erstens: das Serum war in der Stothpriesterschaft, bei der es sich um eine überwiegend statische Gruppe handelte, bereits in Anwendung gebracht worden; zweitens: die
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Union fürchtete die Macht der Stothrier, die sich nicht zu schade gewesen waren, die Herrschaftsstrukturen der Mechanistischen Nationen zu infiltrieren. In allen Dingen hatte der Laonische Glaube sich seine Unabhängigkeit erhalten. Unbehelligt von weltlichem Recht und Gericht, befreit von allen Abgaben an den Staat, gepolstert von solchen Schenkungen, wie zum Beispiel den transnationalen Kartellen der EnmiesFamilie, war es die Stoth-Bruderschaft, die das Höhlensystem erdachte und ausführte. Niemand sonst hätte das vollbringen können, die Wegerechte beschaffen, Steuerfreiheit erwirken, um das Projekt finanziell tragbar zu machen und ein solch gewaltiges Unternehmen koordinieren. Irgendeiner weltlichen Macht überlassen, wären die Lebenserhaltungskomplexe unter Cliquenwirtschaft und Profitverlusten begraben worden, ein halbfertiges, stummes Denkmal der Rasse des Menschen, während Haroun-Vhass uns alle vernichtete. Während dieser Zeit intensiver Konzentration und Zurückgezogenheit bildete sich eine Kluft zwischen Khys und seiner Lebensgefährtin. Gyneth, durch eigenen Entschluß kinderlos, hatte sich nicht Khys' Neuinterpretation von Laores Lehren zugewandt, sondern hielt an den alten Bräuchen fest, dem Zölibat, dem Fatalismus der konservativen Laonier; obwohl als Angehörige des Stoth-Glaubens dazu berechtigt, verweigerte sie die Einnahme der Seren und widersetzte sich so die Arbeit ihres Bruders und ihres Lebensgefährten. So kam es, daß sie auf einer Seite des Schismas stand und die beiden Männer auf der anderen. Da es im Widerspruch zu ihrem eigenen Glaubensbekenntnis gestanden hätte, trennte sie sich weder von Khys noch suchte sie sich eine andere Unterkunft, doch wurde ihr Verhältnis zueinander immer angespannter, um schließlich ganz zu zerbrechen, als es Khys und Wialer gelang,
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ihr heimlich die Langlebigkeitsseren zu verabreichen. Von diesem Zeitpunkt an sprach sie kein Wort mehr mit ihnen, abgesehen von den kurzen Bemerkungen, die die Höflichkeit unbedingt erforderte. Sie bewahrte ihr Schweigen bis zu dem Aufruhr der Letzten Einheiten, als Khys mit Wialer und noch einigen anderen aufbrach, um Se'keroth von jenseits des Meeres zurückzuholen. Bei ihrer siegreichen Rückkehr fanden sie eine Nachricht vor, in der sie ihren Höhlenplatz zur Verfügung stellte. Angefügt war ein kurzes, tief empfundenes Gebet für ihre irrenden Seelen. Sie nahm nichts mit sich, sie hinterließ keine Spur, sie verschwand in der Masse der zum Untergang Verurteilten. Khys nahm bis zum Erscheinen Estris keine andere Frau als Lagergefährtin, sondern führte die Praxis des Gemeinschaftsbesitzes ein, was ihm ermöglichte, beinahe hundert Kinder zu zeugen. Die Art, wie er Estri behandelte, obwohl grausam nach dem weltlichen Maßstab Silistras, war nach den laonischen Doktrinen weder ungewöhnlich noch unverantwortlich, sondern eher ein Versuch von seiner Seite, sie trotz ihrer Unwissenheit und fehlenden Vorbereitung in die Elfte Stufe von Dhara-san einzuführen, jene transzendente sexuelle Ritualisierung —, von Estri als die ›Hermaphroditische Vereinigung‹ bezeichnet — wohin sie jedoch, vielleicht begreiflicherweise, nicht folgen konnte. Seine Notizen in dieser Sache sind umfangreich. Er hatte das Gefühl, nur so den Vätern entgehen zu können, die ihn so beharrlich verfolgten. Seine Vorhersagen betreffend der Folgen, sollte es ihm nicht gelingen, trafen buchstabengetreu ein. Zu diesen Schriften gehörte Gedanken über das Wesen des Todes, woraus folgender Auszug stammt: . . . die gewaltsame Ausstoßung aus dem Leib, der erste Schlag, der mit dem Atemholen einhergeht — wie 421
können wir davon wissen? Was ahnt man im sicheren Mutterleib von den Schrecken, denen man bald ausgesetzt sein wird, dem Eintritt ins Leben? Vielleicht gibt es hier eine Übereinstimmung; der gewaltsame Eintritt ins Leben und sein unweigerliches Ende, sind sie nicht vielleicht nur eine unterschiedliche Erscheinungsform desselben Prinzips? Für mich selbst betrachte ich es nicht als das letzte Geheimnis, sondern als das vorletzte, früh oder spät, erwartungsvoll und bereit — oder mit leeren Händen und unschuldig wie ein Kind, alle kommen zum Abgrund, um dort an der Definition des Lebens teilzuhaben, dem Katalysator Tod, der einen Satz beendet und den Beginn des nächsten ankündigt. Und wenn vielleicht einige mich als übereifrig bezeichnen, sollen sie. Die Antworten, die ich suche, lassen sich nicht länger in diesem Fleisch finden, das mich herumträgt wie ein geduldiges Lasttier; und dieses Tier, derweil es an die langen Jahre seines Dienstes zurückdenkt und sich nach dem Reiben des Zaumzeugs auf der Haut sehnt, weiß in seinem tiefsten Herzen, daß verbrauchte Kraft unwiederbringlich ist, außer als gewinnbringende Anlage in der Erinnerung. Und sollte es dann nicht den Blick von der Straße abwenden, mit dem weißbehaarten Maul an seinen eigenen müden Gliedern entlangschnüffeln und über alles nachdenken: das, was vorüber ist, und das, was noch kommt, und darin eine Straße finden, deren Windungen niemals enden und deren Grenzen sich dem Blick entziehen, ohne Zaun und Tor? Ich werde es sehen. Auf Estris Wunsch: Carth
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Wörterverzeichnis
(P) = Parset (S) = Silistra (St) = Stothrisch (Y) = Yhrillyisch
Archeon: (S) Ein pflanzenfressender Paarhufer mit krummen Hörnern, der als Lebensraum Sumpf- und Marschgebiete bevorzugt; Herdentier aus Galesh. Größer als ein Denter, aber kleiner als die Gaen, lebt das Archeon sowohl in Nutzviehherden als auch wild zwischen den Schlammsuhlen und Schilffeldern entlang des südlichen Karir-Thoss. Die Galeshir halten das Archeon hoch in Ehren und lassen ihren Tieren alle erdenkliche Fürsorge angedeihen. Ein Mann aus Galesh, der sich über die Vermögensverhältnisse eines Fremden klar werden möchte, betrachtet zuerst dessen Archeon und den Schmuck am Geschirr des Tieres. Archit: (P) Grünlich leuchtendes Gestein, häufig mit goldenen oder blauen Adern durchzogen, das sich zu dauerhaftem Hochglanz polieren läßt und von Steinmetzen und Bildhauern bevorzugt verarbeitet wird. Archit ist neben Ornithalum der wertvollste Baustein und findet sich überwiegend an silistrischen Verwaltungsgebäuden sowie an den Häusern der Wohlhabenden. Cetet: (S) Die neunte Einheit des silistrischen Kalenders. Chald: (S) (stothrisch: Seelen-Bindung) Ein Gürtel aus einzelnen Ketten, der gewöhnlich um die Taille getragen wird. Ci'ves: (S) Ein kleines bepelztes Raubtier aus den Sihaen-Istet Bergen und auch Nin Sihaen selbst, wo man nicht selten drei oder vier Ci'vesi in einem Haushalt findet. Dort verdienen sie sich ihren Ruf als Glücksbringer, indem sie die Wohnungen ihres Herrn von Slitsas freihalten. Obwohl die Ci'ves ein anmutiges und liebenswertes Haustier abgibt und außerdem schon durch ihren Geruch jede Ansiedlung von Yits in den Räumen, die sie als die ihrigen betrachtet, verhindert, ist es ihre natürliche Feindschaft gegen die Slitsas, die ihr einen Platz in den Herzen der Sihaenesen sichert, für die die Slitsas eine allgegenwärtige und oft tödliche Gefahr darstellen. Coryf-denne: (C) Die Coryf-denne traten unter Vorbehalt in die F. B. 423
ein, um sie bald darauf wieder zu verlassen, da nach ihrer Meinung der Mangel an Ähnlichkeiten in Phyliologie und Kultur schwerer wog als jeder mögliche Gewinn durch die Befriedigung von Neugier und Erforschung der Mentalität zwischen zwei so unterschiedlich entwickelten Rassen, womit sie alle Mitglieder der F. B. zu einer Gruppe zusammenfaßten. Weitere Überredungsversuche wurden auf einstimmigen Beschluß zurückgewiesen. Decra: (S) Zwölfte Einheit des silistrischen Kalenders. Dydian-Chromatik: (S) Die Dydian-Chromatik beruht auf der Silistrischen Grundtonleiter, jenem tonalen Gefüge, dem die verschiedenen Tonleitern und Klangfarben, die in der silistrischen Musik Verwendung finden, entstammen: Grundtonleiter
Allerdings, wie deutlich zu erkennen, ist diese Grundtonleiter keine Tonartenbasis, aus der sich diatonische Variationen entwickeln können. Silistrische Folklore gründet sich auf ›willkürlich‹ ausgewählten, mathematisch geordneten Noten (Zweigtonleitern). Eine der gebräuchlichsten dieser Zweigtonleitern ist die dydian-chromatische: Dydian-Chromatik (Ableitung)
Dyri-yiil: (S) Eine Zentralnebelwelt, umkreist von vier kleinen Satelliten mit eigener Atmosphäre, während sie selbst eine großzügige Acht um die beiden Planeten beschreibt, die sich in ihre Aufmerksamkeit teilen. Fai-Teraer Moyhe: (St: Bucht der Erneuerung; wörtlich: fai — Wiederbeginnen, teraer — Geburt, moyhe — kleine Bucht.) Die Beschaffenheit von Fai-Teraer Moyhe, wie in dem Text beschrieben, stimmt genau mit dem legendären Ort überein, an dem Laore hingerichtet wurde, nachdem man ihn wegen Zauberei, Ketzerei und Aufwiegelung verurteilt hatte, und wo er sieben Tage später wiederauferstand, um die Gespräche mit seinen wartenden Anhängern zu beginnen, die später die Grundlage stothrischen Denkens bilden sollten. Der Legende 424
nach stieg er aus dem Meer, schaute sich um und zählte zweiundvierzig Gläubige. Diese Zahl verringerte sich während der ersten Nacht um die Hälfte, als die Ängstlichen von einem schaurigen Klagen vertrieben wurden, das aus der mondlosen Nacht kam und von dem Laore sagte: »Was ihr hört, ist der erste Laut und der letzte. Geht, wenn ihr wollt, aber wisset, daß es von diesem Ort kein Entkommen gibt, nur Wiederkehr, und von diesem Lied keine Erlösung, nur für die Tauben und die Toten.« Und bei Sonnenaufgang erwachten jene, die auf Laore vertraut hatten, und sahen, daß er die Wahrheit gesprochen hatte, denn vor sich erblickten sie die durchbohrte Säule des Klagenden Felsens und an seinem Fuß zweiundvierzig Ohren, jedes Paar von des Besitzers eigener Hand abgetrennt, als Auftakt ihrer wahnwitzigen und feigen Flucht. Hase-enor: (S) ›Von allem Fleisch‹, das angestrebte Ziel von Silistras Vermischungspolitik — eine einzige homogene Rasse, in deren Genealogie sich alle auf Silistra noch vorkommenden Völkerschaften vereinen; ein Mensch, der diese Voraussetzungen erfüllt. Haroun-Vhass: (St: Fall des Menschen) Die von Silistras siebenunddreißig mechanistischen Nationen eingeleitete Katastrophe; nach Laore, die endgültige Reinigung der Erde von den ›vormenschlichen‹ Urgeschlechtern. (»Aus dem Bauch der Erde wird die Rasse neu erstehen, frei von früherer Überheblichkeit. Er, der dem Wind Zügel anlegte, die Meere schändete und den Boden kastrierte, wird umkommen durch seine eigene Hand — wahrhaftig, er wird aus den Himmeln herabstürzen, über die er sich in seinem Größenwahn zum Herrscher erklärte.« — (Vorwarnungen, Vor-Höhlenjahr 2093.) Ijiyr: (Y) Yhrillyischer Tonal-Synthesizer mit Saiten und Tastatur, der dem Musiker gestaffelten Einsatz und Frequenzauswahl ermöglicht bis zu eigenständiger Phasensynchronisierung und digitaler Verzögerungssteuerung. Früher angebotene elektronische Synthesizer (die M'ksakka- und Torthmodelle) übten auf silistrische Musiker nur geringe Faszination aus, da ihre Größe und Komplexität die entfernte, für manche sogar nur vermeintliche Verwandtschaft mit Musikinstrumenten betonte, wie Silistrier sie verstehen. Die Ijiyr allerdings, unabhängig, kompakt und wandlungsfähig, hat in weiten Kreisen Interesse erregt. Der Sieben der Musiker hat inzwischen Verhandlungen mit Trasyi von Yhrillya aufgenommen, zwecks leihweiser Überlassung eines solchen Instruments für weitere Studien. Kand, kandern: (S) Die Naturgesetze nach eigenem Willen beugen oder ändern; durch Gedankenkraft bewirken; eine in der Natur
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nicht vorgesehene Wahrscheinlichkeit verwirklichen. (Die Grenze zwischen Kandern und Erschaffen ist fließend, wo es sich um hochbegabte Wesen handelt. Die Faustregel lautet ungefähr: Wenn Naturgesetze erneuert oder völlig außer Kraft gesetzt werden, wie beim Erschaffen fester Materie, z. B. einer Frucht oder einem Stern, ist das Schöpfung. Beeinflußt man nur einen bereits existierenden Gegenstand, bringt man die Frucht oder den Stern dazu, sich im Widerspruch zu den Naturgesetzen zu verhalten, ohne aber ihre Struktur zu verändern, ist das Kandern. Frucht oder Stern, die man nach rechts oder links bewegt, bzw. am Himmel höher hinaufrückt, hätten sich ohne Kand nie so verhalten, sind aber immer noch dieselbe Frucht, derselbe Stern, wie sie gemäß den Naturgesetzen in die Zeit gehörten, bevor Kand angewandt wurde. Wenn man andererseits Frucht oder Stern erschafft, hat man durch die Erweiterung der Naturgesetze etwas entstehen lassen, was vorher nicht existierte. Man erschafft Materie. Man kandert Zeit.) Umgangssprachlich: ein Kand einbringen, Wahrscheinlichkeit beeinflussen. Krit: (S) Ein in Bäumen lebendes, bepelztes silistrisches Säugetier. Krits ›fliegen‹ von Ast zu Ast, indem sie mit ausgebreiteten Beinen durch die Luft segeln. Als Tragflächen dienen die Hautlappen zwischen den vier sechszehigen Gliedmaßen. Krit gibt es mit buschigem, yitähnlichem oder Stummelschwanz, doch alle ernähren sich von Früchten und Nüssen und halten Winterschlaf. Wetterkundige und Waldarbeiter behaupten, an den Herbstaktivitäten der Krit die Länge und Härte des kommenden Winters erkennen zu können. Litir: (S) Das am weitesten verbreitete silistrische Saiteninstrument mit gewöhnlich zweiunddreißig Griffleisten. Was Tonumfang und äußere Form der Litir betrifft, gibt es große Unterschiede. Voraussetzungen für die Zugehörigkeit zu dieser Klasse sind ein Weichholz-Klangbrett mit angefügtem Hals, der mit Metall, Webfaser oder Darm bespannt ist. Der Unterschied zwischen der Klasse Litir und der nahe verwandten Rissir besteht darin, daß die Rissir mit einem Bogen gestrichen wird. Daher sind eine ›stehende Litir‹ und eine ›stehende Rissir‹, obwohl für Auge und Ohr durchaus ähnlich, nach Ansicht der Musiker nur entfernt verwandt. Luricrium: (S) Ein sehr leicht formbares, geschmeidiges Metall, grauschwarz, das als Katalysator in der Metallverarbeitung (Ludicriumsalze) und bei Juwelieren Verwendung findet. Ludicrium ist stark leitend und wird als ›selten‹ bezeichnet, obwohl es bis zu einer Reinheit von 10 Prozent an solchen Stellen
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vorkommt, die intensiver Kernreaktion ausgesetzt waren. Nin Sihaen: (S) Silistras westlichste Stadt, Nin Sihaen, liegt über der Höhle Crill, inmitten der Sihaen-Istet-Berge, jenseits des KarirThoss. Trotz des Handels mit Stra-Erz und Juwelen ist sie seit ihrer Gründung eine unabhängige wirtschaftliche Gemeinschaft geblieben, was sowohl eine Folge der ungünstigen, schwer zugänglichen Lage ist, wie auch der bewußten — oder vorgeblichen — Anstrengungen der Brunnenhüterin, ihrer Vasallenstadt den abgeschlossenen, einsiedlerischen Status zu erhalten; Oejri-anra: (P: Wiederkehr der Monde) Eine Spielart im Umgang mit Wurfmonden, bei der die Waffe einen Kreis beschreibt und in die Hand des Werfers zurückkehrt. Die Absicht bei Oejri-anra ist nicht, die Scheibe in das Ziel eindringen zu lassen, sondern es nur zu streifen, ohne daß die Wurfrichtung dabei verändert wird. Die größte Schwierigkeit des Spiels besteht nicht darin, die Waffe so zu werfen, daß sie den erforderlichen Halbkreis beschreibt, sondern darin, sie unbeschadet wieder aufzufangen. Während der Übungsphase werden daher dicke Parrhandschuhe mit stragepanzerten Innenflächen getragen. In Mondwerfer-Kreisen allerdings wird das Anlegen eines solchen Schutzes als Feigheit betrachtet, als Zweifel an den eigenen Fähigkeiten. Für Oejri-anra wird ausschließlich der Halbmond verwendet; nur ein Narr würde diesen RückkehrWurf mit einer runden Scheibe versuchen. Ornithalum: (P) Schimmerndes Gestein in verschiedenen Blauschattierungen; Vorkommen fast ausschließlich in den südlichen Regionen. Geschätzt wegen seiner Dauerhaftigkeit und Schönheit, ist Ornithalum neben Gol das kostbarste Baumaterial. Orsai: (S) Die erste Einheit des silistrischen Kalenders; die Einheit der Wintersonnenwende, die entweder am erstersten oder erstzweiten Orsai stattfindet. Seegeborene: Gemäß den Richtlinien gezeugt, die Khys in dem Versuch aufstellte, »erstrebenswerte Ziele« festzulegen. Einfacher gesagt: die aus Inzucht hervorgegangenen Sprößlinge der Nachkommen der Schöpfer. Es ist nicht ungewöhnlich für einen Seegeborenen, zwei oder drei von Khys' eigenen Kindern unter seinen Vorfahren zu haben oder sogar über beide Elternteile mit einem einzigen Dharener oder Ratsmitglied verbunden zu sein. Se'keroth: (St) Die legendäre Klinge, von der Laore berichtete und mit der er aller Wahrscheinlichkeit nach getötet wurde. Die vormechanistische Legende unterscheidet sich erheblich von dem vierbändigen Epos, das der Stothadept in seiner Jugend
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niederschrieb und das später zu seiner Verurteilung und Hinrichtung führte, doch es ist Laores Version, einschließlich Umgestaltung und Enthüllungen, die im Text zitiert wird (siehe Anhang 1). Das Schwert selbst — Se'keroth mit dem Griff aus Feuerjuwel — wurde von Khys unter großen persönlichen Gefahren in der letzten Einheit vor Haroun-Vhass zurückerobert. Mit sechs im Rang unter ihm stehenden Priestern überquerte er das Embrodming-Meer und holte das Schwert aus dem Brinjiir Laore Museum, mitten in der Stadt des Feindes. Diese Eskapade ist niemals genau dokumentiert worden, aber Khys, der in vieler Hinsicht Laores Leben und Sterben nacheiferte, setzte seinen Höhlenplatz aufs Spiel, um die Klinge, die er für das tatsächliche Artefakt hielt, in seinen Besitz zu bringen. Seine eigenen Nachforschungen und Versuche, die Authenzität des Schwertes zu belegen, sind äußerst umfangreich und erhältlich unter dem Titel Se'keroth: Der Leitgedanke der Wandlung. »Se'keroth, direel b'estet Se'keroth«: (St) »Se‘keroth, Licht aus der Dunkelheit durch das Schwert der Wandlung«, soll der Legende nach auf der Klinge des Schwertes eingegraben sein; eine scheinbare Vereinfachung des Aphorismus' »Verwandlung/ Auflösung«, ein Vorläufer früher stothrischer Versuche, die Verwandtschaft von Substanz und Materie zu belegen. Sihaen-Istet: (S) Die Berge, von denen behauptet wird, sie seien der Geburtsort der Menschheit; einst mitten auf dem Kontinent gelegen, aber seit Haroun-Vhass die Westküste Silistras. Sinetra-e'stet: (S) Von dem Menetpherschiff Aknet auf der Reise zu der Wildnis im Osten entdeckter Meeresbewohner; eine Seeslitsa mit vorstehenden Kiefern, giftig und leuchtend, die im nordöstlichen Teil des Embrodming angetroffen wird. Sordh, sordhen: (S) (1) Die Möglichkeiten, die in einem bestimmten Zeitabschnitt enthalten sind; die Variationen der Zukunft, die dem zugänglich sind, der ausgebildet wurde, sie zu erkennen. (2) Wahrscheinlichkeiten ordnen; im voraus die verschiedenen möglichen Folgen geplanter Handlungen festlegen. Taernit: (S) Eine Abart des Minerals SiO2, braun bis rotbraun, ein attraktiver, häufiger Baustein von geringem Wert auf Silistra, aber sehr begehrt auf einigen F. B. Planeten mit nur geringem Siliziumvorkommen. Wurfmond: Von den zahlreichen Abarten des Wurfmondes wollen wir uns hier auf zwei der gebräuchlichsten Typen beschränken: die runde Scheibe, zum einmaligen Gebrauch, und den Halbmond, der in die Hand des Werfers zurückkehrt. Wie der Halbmond ist die runde Scheibe aus Stahl oder Stra
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gefertigt, der Durchmesser nie größer als die Breite einer Hand. Der Mittelteil kann bis zu fünfzigmal dicker sein als der geschliffene Rand, an dem es keinen abgestumpften Bereich gibt, um die Scheibe anzufassen oder aufzufangen, wodurch die Scheibe, im Gegensatz zum Halbmond, zu einer Waffe wird, gegen die es wenige oder gar keine Verteidigungsmöglichkeiten gibt. Sie ist eine außergewöhnlich tödliche Waffe und wird bei Wettbewerben nur gegen unbelebte Ziele geschleudert. Der Halbmond ist gleichfalls scharf geschliffen, bis auf die Mitte der inneren Biegung, kommt in verschiedenen Größen vor, ist aber selten kleiner als die runde Scheibe oder mehr als doppelt so groß. Wegen seiner ›Rückkehr‹ wird er gerne bei Wettbewerben benutzt, nicht so häufig dagegen im Kampf, da die Gefahr besteht, daß der Gegner die Waffe auffängt und zurückwirft. Wurfmonde werden gewöhnlich im Stiefelschaft getragen, obwohl manche Mondwerfer in letzter Zeit dazu übergegangen sind, fünf oder sechs der kleineren Scheiben in einer Unterarmmanschette griffbereit zu haben. Yhrillya: (Y) ein unter Vorbehalt eingetretener Planet, der für die F. B. Welten die Wirtschaftskoordination übernimmt, mit einer hoch entwickelten mechanistischen Kultur, über die nur wenig bekannt ist. Zesser: (S) Ein grünes Blattgemüse mit hohem Sodiumgehalt, bodennah in runden Köpfen, vorzugsweise auf steinigem Erdreich in gemäßigtem Klima.
Silistrischer Kalender Einheit der Wintersonnenwende
Orsai Tisera Cai Macara Detarsa Jicar Finara
Einheit der Sommersonnenwende
Amarsa Cetet Enar Brinar Decra Sisaen Laoral
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Die Kämpferinnen von Silistra Die phantastischen Abenteuer der schönsten Kurtisane auf einer fernen, barbarischen Welt.
Band 24 097 Janet Morris
Edelsteinthron Deutsche Erstveröffentlichung
Jenseits der bekannten Kontinente des Planeten Silistra liegt Bedriga, das verbotene Land. Dorthin verschlägt es Estri, die Tochter des Lichts, Kämpferin und Kurtisane, mit den Gefährten ihrer Abenteuer: Chayin, dem Sohn der Dunkelheit, und Sereth von den Tötern. In einem phantastischen Wer-Reich, bevölkert von Halbmenschen und Wesen jenseits aller Vorstellungskraft, kämpfen sie mit dem jungen Prinzen Deilcrit um das höchste aller Ziele - den geheimnisvollen EdelsteinThron.
SCIENCE FICTION