Gruselspannung pur!
Dreizehn Stunden Todesangst
von C.W. Bach Dämonenjäger
Mark Hellmann Als Ebs aus der Videothek k...
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Gruselspannung pur!
Dreizehn Stunden Todesangst
von C.W. Bach Dämonenjäger
Mark Hellmann Als Ebs aus der Videothek kam und die Treppe zu seiner Wohnung hochging, hörte er im Korridor das Telefon klingeln. Ebs spürte, wie nackte Angst in ihm aufstieg. Seine Hand, die das Leihvideo hielt, krallte sich plötzlich wie eine Schraubzwinge um die blaue Plastikhülle. Am liebsten hätte er kehrtgemacht und wäre davongelaufen. Irgendwohin, nur weit weg von diesem gräßlichen Klingeln. Doch das wäre sein Untergang gewesen! Mark Hellmann - die Gruselserie, die Maßstäbe setzt!
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Mit zittriger Hand schloß Ebs die Tür auf. Er schlüpfte in den düsteren Flur, nahm widerwillig den Hörer ab und meldete sich mit seiner Codenummer: »Sieben.« Der Anrufer nannte die Adresse eines Frisiersalons, nahe des ehemaligen Checkpoint Charly. Seine Stimme klang leise. Wie das geheimnisvolle Rauschen von Bäumen. Dann tutete es aus der Muschel, und Ebs glitt der Hörer aus der Hand. Noch zwei Stunden, dachte er, dann werde ich ein Mörder sein… In der Wohnung gab es keine Dusche. Deshalb stand Ebs vor dem Waschbecken, drehte den Hahn auf und ließ lauwarmes Wasser hineinlaufen. Durch das Fenster der benachbarten Küche strich heißer Sommerwind herein. Ebs litt unter der Hitze und dem Gedanken an die folgenden Stunden. Das Becken war nun halbvoll. Ebs drehte den Hahn zu und griff nach dem grasgrünen Waschlappen. Er rieb ihn an der billigen Nautik-Seife, bis es weiß aufschäumte. Dann seifte er sich gründlich ab, vom Kopf bis zu den Fußsohlen. Ebs war ein Mann von Mitte Zwanzig, ein Allerweltstyp. Mittelgroß, nicht dick, nicht dünn und mit einem Durchschnittsgesicht. Seine dunkelblonden Haare waren kurzgeschnitten und streng nach hinten gebürstet. Unter der schmalen Nase sproß ein dünner Oberlippenbart, der einfach nicht dichter werden wollte. Noch zwei Stunden… Er rubbelte sich trocken. Das nasse Handtuch legte er über den zylinderförmigen Bast-Wäschekorb, den er neulich auf dem Wochenmarkt im polnischen Stettin ergattert hatte. Keuchend betrachtete er sich im Spiegel. Sein schmales Gesicht war leichenblaß und wirkte verängstigt. Ebs kniff die Augen zusammen, versuchte, seinen Zügen Härte und Lässigkeit zu geben. Es waren einige Anläufe nötig, bis es endlich einigermaßen klappte. Plötzlich spürte Ebs einen widerlichen Geschmack im Mund. Auf einer selbstgefertigten Holzkonsole unter dem Spiegel standen zwei Zahnputzbecher aus Plastik. Ein grüner und ein roter. In jedem der Becher eine Zahnbürste und eine Tube Perlodont. Er starrte die Zahnbürste in dem roten Becher eine Zeitlang an. Das Teil hatte dem gutgepolsterten Mädchen gehört, das er im Berliner Olympiastadion aufgerissen hatte. Es war schon eine Weile her, so Ende Mai ungefähr. Letzter Spieltag der Bundesliga. 3
Das Stadion war ausverkauft, 76.000 Zuschauer. Hertha gewann sechs zu eins gegen den Hamburger SV. Das Mädel war dermaßen aufgedreht und happy, daß sie, ohne lange zu fackeln, mit ihm auf die Bude kam. Während Ebs seine Zähne putzte, überlegte er, wie sie hieß. Marita, Marina, Marion? Er kam nicht mehr drauf. Aber sie war wirklich gut. Unter ihren Fan-Klamotten trug sie blitzsaubere Dessous. Schwarz und überall mit Spitzen. Als sie sich auf seiner Spielwiese wälzten, hatte sie immerfort gekichert und ihn mit zotigen Sprüchen aufgefordert, mehr Action zu zeigen. Sie war der heißeste Feger, den er je auf der Matratze gehabt hatte. Und dann, nachdem sie ihm buchstäblich das Mark aus den Knochen gesogen hatte, hatte sie ihn gefragt, ob er in ihrem Club mitmischen wolle. Halb im Tran und überglücklich, ein solch prächtiges Girl am Haken zu haben, hatte er zugestimmt, ohne groß zu überlegen. Noch heute hörte Ebs seine großsprecherischen Worte: »Ein Verein, dessen Ziel es ist, Leuten Angst einzujagen? Pah was ist das schon? Natürlich bin ich dabei. Sag deinem Obermacker, er kann jederzeit mit mir rechnen.« Da hatte sie aus ihrem Rucksack ein Papier geholt. »Unterschreib hier!« Wie sie dastand, nur im BH und einem String-Tanga! Das schaltete doch den Verstand eines jeden normalen und gesunden Mannes aus! Und deshalb prangte drei Atemzüge später sein Name unter einem Text, den er nur kurz überflogen hatte. Komisch nur, daß sie seinen Finger angepiekst hatte und er mit seinem Blut schreiben mußte. Ich Idiot hab's für einen Joke gehalten! dachte Ebs und fluchte. Wütend spuckte er ins Waschbecken, zupfte den Stöpsel heraus und sah zu, wie das schäumende Wasser durch das Abflußrohr gurgelte. Noch knapp zwei Stunden… Steifbeinig ging er in die Schlafnische. Gegenüber der Spielwiese stand die Wäschekommode. Ein altes Teil, das ihm die Vormieterin für 'n Appel und 'n Ei überlassen hatte. Aus der obersten Schublade nahm er saubere Unterwäsche und zog sie an. Dann rollte er ein Paar Strümpfe auf und stieg hinein. Das heiße Girl aus dem Olympiastadion hatte er seit ihrer Jahrhundertnummer nicht wiedergesehen. 4
Statt dessen kamen diese mysteriösen Anrufe. Beim erstenmal fragte ihn eine gespenstisch klingende Stimme, ob er bereit für seine Feuertaufe sei. Aber immer! war seine selbstbewußte Antwort gewesen. Leg los, Alter! Wem soll ich 'neu Schrecken einjagen? Der Anrufer verlangte, Ebs solle ins KaDeWe fahren und sich dort zu einer bestimmten Zeit in der Nähe der Fahrstühle aufhalten. Ebs gehorchte. Noch immer hielt er alles für einen makabren Scherz. Im Kaufhaus angekommen, folgte der Schock seines Lebens. Er wurde Zeuge, wie ein Fahrstuhl im Schacht steckenblieb. Die Insassen brüllten wie am Spieß, als säßen sie in einem eisernen Käfig, zusammengesperrt mit einem leichenfressenden Ghul. Als endlich die Feuerwehrleute kamen, war das irre Kreischen in der Kabine verstummt. Eine unnatürliche Stille, die nur der Tod erzeugen konnte, erwartete die Helfer. Ebs hatte mit angesehen, wie ein halbes Dutzend verkohlter Leichen geborgen wurde. Im Fahrstuhl war ein Brand ausgebrochen. Die Ursache war bis zum heutigen Tag nicht geklärt worden. Zu allem Übel war im KaDeWe eine Panik ausgebrochen, bei der ein kleiner Junge um Haaresbreite totgetrampelt wurde. Ebs hatte beobachtet, wie der geschundene Kinderkörper auf einer Tragbahre fortgeschafft wurde. Dann, am selben Abend, klingelte das Telefon erneut. Die Stimme fragte, wie ihm die Aktion von Nummer sechs gefallen habe. Ihr seid verrückt! hatte Ebs gebrüllt. Absolut wahnsinnig! Ihr gehört eingebuchtet, bis ihr schwarz werdet! »Wieso sagst du ihr? Wir wäre angebrachter. Du gehörst doch auch zu uns.« »Niemals!« schrie Ebs. »O doch.« Der Sprecher hob seine Stimme, »du hast unterschrieben. Du bist Nummer sieben. Jetzt gibt es kein Zurück. Ich warne dich, wenn du Zicken machst, legen wir dich um. Das geht schneller, als du denkst.« »Du kannst mich nicht zwingen!« »Nein? Dann geh mal in deine Küche und halte die Augen offen.« Ebs hatte getan, was die Stimme verlangte. 5
Der Anblick, der seiner harrte, fraß sich wie Salzsäure in seine aufgewühlten Eingeweide. In der Küche spukte es! Eine unsichtbare Kraft hatte sich des Kochherdes bemächtigt. Das schwere Teil bewegte sich nach vorn, erbebte unter Erschütterungen und schwebte dann langsam in die Höhe! Die Klappe der Backröhre öffnete sich von selbst, schlug wieder zu und ging wieder auf… Am laufenden Band. Unter der Decke aus Rauhfasertapete behielt der Herd minutenlang seine schwebende Position. Auch die Rolle Küchenpapier, die an einem Holzregal hing, machte sich selbständig. Sie segelte Ebs entgegen und wickelte sich wie ein Schal um seinen Hals. Fast hätte es ihm die Luft zum Atmen abgeschnürt. Er war zurückgeprallt, wollte das dämliche Papier wegfetzen, aber bald hüllte es seinen ganzen Kopf ein. Wenig später hob sich das Linoleum vom Boden. Zuerst an den Enden. Obwohl er festgeleimt war, wurde der Bodenbelag von Unbekannt einfach aufgerollt! »Aufhören!« keuchte Ebs, »Bitte aufhören!« Wie auf Kommando verschwand der Spuk. Der Herd sank gemächlich auf seinen Platz. Das Linoleum breitete sich wieder auf dem Boden aus, und das Küchenpapier rollte sich wie selbstverständlich auf. »Wer bist du?« hatte Ebs in den Hörer gekrächzt. Die Stimme antwortete prompt: »Ich bin die Nummer eins. Noch sind wir wenige, mit dir insgesamt sieben. Aber bald wird die Zahl unserer Mitglieder in die Tausende gehen. Das Imperium der Angst wird die Macht an sich reißen. Und ich werde der Herrscher.« Ebs wollte fragen, Herrscher über wen, doch Nummer eins hatte bereits aufgelegt. Lange hatte er dagehockt, in der Küche, den Rücken gegen die Wand gelehnt und sich gefragt, ob alles nur ein böser Alptraum war. Und irgendwann war ihm die Erleuchtung gekommen. Es gab keinen Zweifel. Er hatte es mit einem übernatürlichen Geschöpf zu tun. Einem Schwarzblüter, der, warum auch immer, seinen Platz in der Unterwelt verlassen hatte und nun mitten in Deutschlands Herz das Reich der Finsternis aus dem Boden stampfen wollte. Nach all dem, was Ebs erlebt hatte, standen die 6
Chancen dieses namenlosen Ungeheuers gar nicht so übel… Unterdessen war Ebs in seine abgehalfterten Jeans und das Shirt mit Jethro Tull drauf geschlüpft. Jetzt brauchte er bloß noch den knöchellangen Mantel überzustreifen - und eine der Pillen zu nehmen, die Nummer eins ihm geschickt hatte… Noch anderthalb Stunden… Er steckte sich eine Zigarette an und ging zur Kaffeemaschine. Den Glimmstengel von einem Mundwinkel zum anderen balancierend goß er Wasser in den Tank und gab das Kaffeemehl in den Filter. Hiernach setzte er sich still an den Tisch und wartete, bis das Wasser durchgelaufen war. Während das Gerät knatterte, versuchte Ebs krampfhaft, an etwas Angenehmes zu denken. Eigentlich hieß er nicht Ebs, sondern Eberhard Weither. Als er seine Lehre als Maler begann, damals noch in der PGH Farbenskala, hatte sein Lehrmeister aus Spaß gemeint, er sähe wie eine Erbse aus. Fortan hieß er bloß noch Erbse. Alle Kollegen griffen den Spitznamen sofort auf. Erbse hier, Erbse da! Total bescheuert! Im zweiten Lehrjahr hatte er sich das nicht mehr gefallen lassen. Er hatte aufgemuckt und jeden zusammengestaucht, der ihn so nannte. Bald wurde deshalb aus Erbse Ebs. Das gefiel ihm schon besser, sogar besser als Eberhard. Seine Mutter hatte ihm den Vornamen verpaßt. Schon als kleiner Junge hatte er deswegen Probleme. Die Mitschüler hießen Mike, Ronny, Oliver, Kevin oder David. Eberhard klang dagegen total altmodisch, wie ein Knüppel auf den Kopf. Als wäre er in jungen Jahren bereits Großvater. Wenn er, Ebs, mal einen Sohn haben sollte, würde der einen vernünftigen Namen kriegen. Hm, aber welchen? Ebs sah blicklos aus dem Fenster. Auf die Schnelle fiel ihm keiner ein. Der Kaffee war fertig. Ebs stand auf und schaltete die Maschine aus. Er holte sich einen großen Keramikpott aus dem Schapp, stellte ihn auf die Spüle und goß ihn dreiviertel voll. Ein Schuß Immergut folgte. Er mochte keinen Kaffee schwarz, er trank ihn immer mit einem kleinen Schluck Immergut. Genüßlich schlürfte er an dem dampfenden Getränk. Als die Zigarette aufgeraucht war, zündete er sich eine neue an. Sobald würde er nicht wieder zum Rauchen kommen. Sein Blick fiel auf das Röhrchen Tabletten. 7
Es lag neben dem Aschenbecher. Fünf weiße, runde Pillen steckten darin. Nummer eins hatte ihm eingeschärft, nur dann eine zu schlucken, wenn ein Auftrag bevorstand. Ebs kannte die Wirkung des Präparats nicht. Bisher hatte er keinen Auftrag ausführen müssen. Wahrscheinlich sollte das Zeugs ihm helfen, seine Skrupel zu überwinden. Ebs hatte keine Ahnung, was er bei diesem verdammten Friseur sollte. Alles wird sich von selbst ergeben, hatte Nummer eins gesagt. Setz dich auf einen Stuhl und warte, was passiert! Das wirst du wohl draufhaben, oder? Jäh schlug Ebs' Herz bis zum Hals. Er saß in der Tinte, bis über beide Ohren, Tat er nicht, was der geheimnisvolle Anrufer befahl, würde der sich rächen. Das war klar wie russischer Wodka. Möglicherweise würde Ebs schon eine Stunde später mausetot sein, so wie die bedauernswerten Leute aus dem Fahrstuhl… Ebs schaute auf die Armbanduhr. Noch eine Stunde und zehn Minuten… Sei's drum! Er nahm das Röhrchen und schüttelte eine Tablette heraus. Ohne mit der Wimper zu zucken, warf er sie in den Mund, schluckte sie hinunter und schickte einen Schluck Kaffee hinterher. Die Pille war geschmacksneutral. Er stand auf, räumte den Tisch ab und nahm den Mantel vom Garderobenbrett. Draußen war es heiß wie in einer Backstube, und er sollte im Mantel durch Berlin traben. Man würde denken, er hätte nicht alle auf der Reihe. Aber da es einige davon in der neuen und alten Hauptstadt gab oder viele einfach nur anders sein wollten, würde ihn deswegen niemand ansprechen. Weltstädtische Toleranz eben. Ebs steckte Zigaretten und Feuerzeug ein. Er warf einen letzten Blick durch die kleine Wohnung und holte tief Luft. Mit einemmal war ihm nach Abschied zumute. Komisch. Dabei würde er spätestens zum Abend wieder da sein. Sein Blick blieb auf der Spielwiese hängen. Vor seinem inneren Auge sah er das Mädchen Marita oder Marion, wie sie sich zeitlupenmäßig aus ihren Klamotten pellte. Er sah, wie sie hüftwackelnd auf ihn zukam. Ihre braungebrannte Titulatur quoll ihm herausfordernd entgegen. Und an ihren glänzend roten Lippen spitzelte ihre Zunge, die sich nach einem 8
leidenschaftlichen Kuß zu sehnen schien. Abrupt wandte sich Ebs ab. Das Traumbild zerfaserte. Auf wilde Spielereien mit braungebrannten Busen würde er wohl einstweilen verzichten müssen. Vielleicht saß er abends schon als Schwerverbrecher hinter Gittern. Oder schmorte in der Hölle. Ebs' Hand zitterte, als er die Wohnungstür von draußen abschloß. Und seine Knie waren butterweich, als er die Treppe zur Haustür hinabstieg. Noch eine Stunde… * Mit der U-Bahn fuhr Ebs bis zur Station Friedrichstraße. Dort stieg er aus und marschierte über den Bahnsteig. Irgendwo gellten hypnotische Techno-Rhythmen. Jemand rief laut den Namen einer Frau. Ein Kind plärrte, weil es sich mit Softeis bekleckert hatte. Die Schultern hochgezogen, tappte Ebs zum Ausgang. Die Hände, tief in den Manteltaschen vergraben, umklammerten die Zigarettenpackung und das Feuerzeug. Als er die Halle verließ, blies ihm der unerträglich heiße Wind mitten ins Gesicht. Ebs blieb stehen und rang um Atem. Die Luft war staubig, knochentrocken und roch nach Abgasen. Der gesuchte Frisiersalon befand sich in der unteren Etage eines rekonstruierten Geschäftshauses, nur einen Steinwurf vom American Business Center entfernt. Ohne zu zögern, betrat Ebs das Geschäft. Es gab kein Wartezimmer. Die ampelroten Frisierstühle waren ringsum an den Wänden angeordnet. In der Mitte eine Reihe mit vier Waschbecken. Der Kassentisch bestand aus Chrom und strahlend weiß lackiertem Holz. Dahinter Regale bis an die Decke, in denen Shampoos, Haarwässer und ähnliche Kosmetika einsortiert waren. Ebs ging ein paar Schritte. Linkerhand stand die Garderobe. Daneben drei Sessel für die Wartenden sowie ein rundes, gläsernes Tischchen, das mit zerfledderten Illustrierten übersät war. 9
Niemand wartete. Es waren überhaupt nur zwei Kundinnen im Salon. Und beide wurden gerade bedient. Eine Frau um die Fünfzig ließ sich eine Dauerwelle verpassen. Die andere Kundin hielt ihren Kopf weit nach hinten in ein Waschbecken, und eine Friseurin im knappen Nylonkittel massierte gelangweilt ihre Kopfhaut. Ohne seinen langen Mantel auszuziehen, setzte sich Ebs in einen der Sessel. Da klimperte es in seiner Nähe. Erschrocken fuhr er zusammen und drehte sich um. Aus einem Nebenraum, dessen Eingang mit einem Vorhang aus Holzperlenschnüren verdeckt war, trat eine dritte Friseurin. Sie war um die Dreißig und hatte grellrot toupierte Haare. »Naß oder trocken?« fragte sie ihn barsch. »Wie?« »Ob Sie's naß oder trocken wollen?« fragte der Rotfuchs einen Zahn schärfer. »Trocken«, antwortete er knapp. Die Friseurin starrte ihn an. Ebs schien es, als bohrte sich ihr stechender Blick bis tief in sein Inneres. Sein Puls erhöhte sich. Er fühlte sich wie ein unmündiges Kind, das etwas sehr Dummes gesagt hatte. »Kleinen Moment noch«, bat die Friseurin um Geduld. Gemessenen Schrittes stolzierte sie an ihm vorüber. Vor einem Raumteiler in der Mitte des Salons machte sie halt. Sie bückte sich und fummelte an einem CD-Player herum. Drei Sekunden später ertönte ein Schmuse-Oldie aus den Fünfzigern. Ebs kannte den Song. Er hieß Teach Me Tiger und wurde von April Stevens gesungen. Titel aus den Fünfzigern gefielen ihm. Sie verströmten Romantik und klangen herrlich unkompliziert. Aber jetzt empfand er keine Freude an dem Song. Er war aufgeregt wie noch nie in seinem Leben. Er wußte ja nicht, was passieren würde. Er hörte einfach durch die Musik hindurch. Gleich würde ihn die Rothaarige auffordern, auf einem Frisierstuhl Platz zu nehmen. Sie würde ein Tuch über ihn werfen und es im Nacken verschnüren. Dann die obligatorische Frage: Wie hätten Sie's denn gern? Ebs überlegte, was er antworten sollte. Wieder ging die Rothaarige an ihm vorüber. So dicht, daß er ihr dezentes Parfüm wahrnahm. Mit verstohlenem Blick blickte er ihr hinterher. Sie nahm einen Besen in die Hand, um die abgeschnittenen Haare, die kreuz und quer auf dem Boden lagen, zusammenzukehren. 10
Ebs ließ sie nicht aus den Augen. Kurioserweise fiel ihm auf, daß die Frau unter ihrem dünnen Kittel nur einen winzigen Slip trug. BH hatte sie erst gar keinen an. Die Hitze verlangte halt ihren Tribut. Rasch schaute er zu ihrer jüngeren Kollegin. Auch sie hatte auf das lästige Teil verzichtet. Die Friseurin, die mit der Dauerwelle beschäftigt war, konnte er nur halb erkennen. Aber auch sie würde bei diesen Temperaturen auf alles Unnötige verzichten. Im nächsten Augenblick verfluchte er seine aufmüpfigen Phantasien. Es ging um die Wurst, und er? Schielte den anwesenden Frauen auf ihren Busen. Wirkte das rätselhafte Serum etwa schon? Er war doch alles in allem ein vernünftiger Kerl. Warum hatte er auf einmal so beängstigend wollüstige Gedanken? Und worauf, zum Teufel, sollte er eigentlich warten? Allmählich verstärkte sich sein flaues Gefühl in der Magengegend. Erneut flammte Angst in ihm auf. Ein Ring aus Gletschereis umspannte sein Herz. Er spürte, wie sein Atem zunehmend schwerer ging. Die rothaarige Friseurin trat auf ihn zu. Dicht vor seiner Nase schüttelte sie ein Frisiertuch aus und sah ihn genervt an. Ebs wartete, bis sie ihn ansprach. Die Hände noch immer tief in den Taschen vergraben, merkte er, wie ein seltsames Brausen seinen Schädel erfüllte. Es klang, als würde in der Ferne Sturm aufkommen. Die Friseurin griente verächtlich. »Haben Sie 'ne lange Leitung, Männeken. Glaubense, ich mach hier eenen auf Arbeiterdenkmal, oder wat?« »Entschuldigen Sie!« keuchte Ebs. Irgendwie brachte er es fertig, auf die Beine zu kommen. Er stand vor dem niedrigen Glastisch und versuchte, ein einigermaßen freundliches Gesicht hinzukriegen. Wahrscheinlich gelang es ihm nicht, denn plötzlich wurden die Augen der rothaarigen Friseurin weit und weiter. »Was haben Sie denn?« erkundigte er sich. Seine Stimme stockte, als er in einem der Spiegel sein Konterfei erspähte. Vor Schreck taumelte er zur Seite, warf den Glastisch über den Haufen und stolperte. Die Rothaarige ließ das Tuch zu Boden sinken. Fassungslos stierte sie ihn an. Einen Sekundenbruchteil war Ebs ebenso perplex. 11
Er prallte vor seinem eigenen Spiegelbild zurück. Und riß den Mund auf, um einen Schrei auszustoßen. Doch seine Stimmbänder schienen verklebt zu sein. Nicht einen Ton kriegte er hervor. Dann, urplötzlich, wummerte in ihm ein Gong. Es irrlichterte vor seinen Augen. Er sah Sterne wirbeln. Vor pechschwarzem Hintergrund. Sie wirbelten und blendeten so sehr, daß er die Hände vors Gesicht riß. Und dann sah er das Blut! Es war wie ein riesiger, orientalischer Wandteppich, der sich vor ihm entrollte. Statt Spiegel, weißer Wände und chromblitzenden Armaturen sah er blubberndes, tiefrotes Blut. Da tauchte zwischen den Sturzbächen ein Gesicht aus Blut auf. Das Gesicht der Rothaarigen. Ein zweiter Gong! Ebs beobachtete, wie sich weißfingrige Knochenklauen nach der Friseurin ausstreckten, sie erbarmungslos am Hals packten und sie würgten, bis ihre Zunge wie ein schlaffer Lappen aus dem Mund hing. Die Frau fiel um wie ein Kegel beim Bowling. Im Hintergrund erschollen gellende Angstschreie. Ebs federte herum. Die Frau mit der halbfertigen Dauerwelle war ohnmächtig geworden. Sie hing verkrümmt in ihrem Stuhl, als säße sie in einer Gondel der Achterbahn. Die Friseurin, die sie bediente, war es, die so gellend schrie. Wieder zuckten die Knochenhände. Ebs sah, daß sie aus seiner Richtung kamen. Schlagartig wurde ihm klar, die grausigen Klauen gehörten zu ihm. Sie gehörten zu dem gräßlich entstellten, fleischlosen Gesicht, das er eben im Spiegel erspäht hatte. Seinem Gesicht… Schon hatten Ebs' Knochenfinger den Körper der kreischenden Friseurin erreicht. Die Frau war sehr jung und trug eine moderne Kurzhaarfrisur. Man sah ihr an, sie verwendete viel Zeit und Mühe mit ihrem Make-up. Trotz der brütenden Hitze glänzte ihr Teint kein bißchen. Als Ebs ihr den Kittel vom Leib fetzte, wurde ihr hübsches Gesicht maskenhaft starr. Nur der Unterkiefer zitterte leicht. Bis auf das Höschen unbekleidet, stand sie da, stierte ihn an und versuchte offenbar zu begreifen, was hier ablief. Ebs streifte ihren nackten Körper mit einem flüchtigen Blick. Er warf ihren Kittel in eine Ecke und schlug mit dem Ellbogen gegen den großen Spiegel, vor dem die Ohnmächtige kauerte. Der 12
Wandspiegel zersprang in tausend Scherben! Mit katzenhafter Geschmeidigkeit raffte Ebs die größte Scherbe vom Boden. Sie war sichelförmig und lang wie ein Unterarm. Ratsch! Bevor die junge Friseurin Piep! sagen konnte, hatte Ebs ausgeholt. Die Frau war tot, ehe ihr Leichnam zu Boden polterte. Die Scherbe hatte ihre Halsschlagader durchtrennt… Vom Scheitel bis zur Sohle mit Blut bespritzt, drehte Ebs sich um. Er war noch nicht fertig. Im Salon gab es noch zwei Menschen. Ebs hatte das nicht vergessen. Die Kundin, die sich einer Kopfwäsche unterzogen hatte - still wie eine Maus krallte sie sich in ihren Stuhl. Als er sich ihr zuwandte, flüsterte sie: »Gott im Himmel. Bitte, bitte, tun Sie mir nichts… Ich gebe Ihnen alles, was ich habeee!!« Die letzte Silbe des Wortes hing noch in der Luft, als ihr Kopf vor Ebs' Füße fiel. Er zerrte der enthaupteten Leiche das Frisiertuch vom Körper und wischte sich kurz über sein Gesicht. Dann schmetterte er das bluttriefende Etwas weit von sich und horchte angestrengt. Von draußen erklangen Motorengeräusche. Und von drinnen ein heftiges Atmen, stoßweise und gepreßt. Untermalt von einem leisen Klimpern. In einem der vielen Spiegel erkannte Ebs, wie sich seine dämonische Fratze zu einem bösartigen Grinsen verzerrte. Das Klimpern kannte er. Vorhin, als der Rotfuchs aus dem Nebenraum kam, hatte es ebenso geklungen. Der Nebenraum mit dem Vorhang aus Holzperlenschnüren… Ohne Hast tappte Ebs quer durch den Salon. Er stieß mit einem Fuß an den umgekippten Glastisch, rammte ihn beiseite und streckte eine Knochenklaue nach dem Vorhang aus. All seine Sinne waren darauf ausgerichtet, die letzte Frau zu töten. Er schnupperte ihr Parfüm. Er hörte ihr leises Atmen und roch die unbeschreibliche Angst, die jede Faser ihres Körpers ausströmte. Und gleich würde auch sein Tastsinn befriedigt werden. Ebs riß die Perlenschnüre beiseite… * Die Kammer neben dem Frisiersalon lag im Halbdunkel. Das 13
einzige Fenster ging zum lichtlosen Hof hinaus. Gabi Burkl starb fast vor Angst. In ihren Fingerspitzen spürte die Friseurin noch die Wärme der Kopfhaut ihrer letzten Kundin. Jetzt lag das abgetrennte Haupt der Frau irgendwo im Salon herum. Über Gabis Wangen liefen Sturzbäche von Tränen. Um ihre Qual nicht laut hinauszuschreien, biß sie sich in die Daumenkuppe, bis es weh tat. Nebenan tappten die dumpfen Schritte des Mörders. Dann ein Schurren. Gabi fröstelte. Das mußte der Lesetisch gewesen sein. Die Schritte kamen näher… Gabis Kopf flog herum. Ich muß mich verteidigen! Ich brauche eine Waffe! Suchend huschten ihre Augen über das Mobiliar. Ein Tisch mit schmutzigem Kaffeegeschirr und randvollem Ascher. Drei Stühle, auf einem ein Schuhkarton mit nagelneuen Pumps. Rosi, die rothaarige Kollegin, hatte sie sich heute gekauft. Aber Rosi würde die teuren Schuhe nie mehr tragen können. Rosi lag im Salon, mit verdrehtem Hals und heraushängender Zunge. Tote brauchten keine Pumps. Hinter dem Tisch waren die Kleiderspinde. Eine Spindtür stand offen. Es war Gabis, Spind. Aus dem Hutfach hing der Träger ihres BHs herunter. Vor drei Stunden hatten die Friseurin eine alberne Wette abgeschlossen: Wer am längsten oben ohne aushält. Die Verliererin sollte drei Flaschen Rotkäppchen-Sekt springen zu lassen. Es war ein harmloser Joke, wie sie ihn öfter einmal draufhatten. Gabi sah, daß ihr Handy in einem Körbchen des Büstenhalters lag. Vorhin, als die Welt noch völlig in Ordnung war, hatte sie Tom, ihren Freund, angerufen. Er sollte ja nicht vergessen, sie heute früher abzuholen. Im Begriff, um den Tisch zu flitzen, um das Handy in ihren Besitz zu bringen, fiel ihr Blick auf das niedrige Schränkchen, das davorstand. Obendrauf eine ockergelbe Plastikschale. Darin Scheren unterschiedlicher Größe. Mit und ohne Zähne. Einen Atemzug später hielt Gabi Burkl die längste der Scheren in der Faust, gepackt wie einen Dolch. Es klimperte. Gabi fuhr herum. Den Rücken an die Wand gepreßt sah sie, wie sich die Knochenklaue tastend durch die Perlenschnüre schob. Die Gelenke der skelettierten Finger knisterten, als hätte man im 14
Kamin feuchtes Holz in Brand gesteckt. Langsam hob Gabi die Schere. Gleichzeitig drückte sie sich fester gegen die Wand. Es war, als wollte sie neue Kräfte aus der Berührung schöpfen. Gabi sammelte all ihren Mut. Mit aufeinandergebissenen Lippen starrte sie auf die Knochenklaue. Gabis Brust zog sich zusammen. Dafür schwoll ihre Luftröhre zu. Sie mußte immerzu schlucken, um genügend Luft zu kriegen. Jeden Augenblick konnte der schreckliche Mann hereinstürzen. Er würde sie ebenso kaltblütig ermorden wie die anderen Frauen. Er? fragte sich Gabi. War es überhaupt ein menschliches Wesen? Da wurden die Perlenschnüre auseinandergefetzt. Das Klimpern trommelte wie ein Schlagzeugsolo von John Bonham durch die Gehörgänge der Friseurin. Der totenköpfige Mann sprang herein. Sein langer Mantel umflatterte seinen hageren Körper. Gurgelnd schwang er die sichelförmige Spiegelscherbe. Schon holte er aus, um damit zuzustoßen. Aber Gabi war einen Tick schneller. Sie stach zu, so fest sie konnte. Der scharfe Stahl bohrte sich in weiches Fleisch. Der Totenköpfige taumelte. Gabi riß die Schere zurück, fegte einen Stuhl beiseite und rannte auf die andere Seite des Tisches. Sekundenlang stand der Totenköpfige reglos da. Er schien überrascht, selbst auch verwundbar zu sein. Gabi sah, wie er an seinem blutigen Shirt herumdrückte. Und sie sah, daß er Schmerz empfand - wie ein richtiger Mensch. Er stöhnte laut. »Du Scheusal!« fauchte sie. »Das schmeckt dir nicht, he?« Er warf seinen Kopf hin und her und brüllte. Obwohl die Angst wie ein Zweizentnersack auf ihren Schultern lag, kriegte Gabi allmählich Oberwasser. Das Monstrum war verwundbar. Sollte es doch versuchen, ihr auf den Pelz zu rücken! Sie würde sich schon ihrer Haut erwehren. Die neue Hoffnung elektrisierte die tapfere Friseurin. Wild entschlossen schwang sie ihre bewaffnete Faust. »Na, was ist?« Sie schrie ganz laut, vielleicht hörte es jemand und eilte ihr zu Hilfe. »Du kannst bloß Wehrlose killen, was? Pah und jetzt siehst du verdammt alt aus, du Miststück!« Der Totenköpfige fegte das Geschirr vom Tisch. Scheppernd knallten Tassen und Unterteller gegen den Umkleideschrank. 15
Dann packte er den Tisch, als wolle er ihn herumwuchten. Gabi Burkl zögerte nicht eine Sekunde. Wie ein Wiesel schnellte sie vor. Sie holte aus und donnerte dem Unhold die Schere in die Knochenklaue. »Schönen Gruß von Gabi Burkl!« schrie sie und wich sofort einen Schritt zurück. Die Schere hatte seine Klaue auf dem Tisch festgenagelt. Aber diesmal zeigte das Monstrum keinen Schmerz. Es legte die Spiegelscherbe beiseite und riß die Schere mit einem Ruck aus der Tischplatte. Gabi sah, daß nicht ein Tropfen Blut daran klebte. Doch viel Zeit, sich darüber Gedanken zu machen, hatte sie nicht. Sogleich würde der nächste Angriff des Totenköpfigen erfolgen. Jetzt besaß er beides: Schere und Scherbe. Er brauchte nur den Tisch wegzustoßen, dann war er bei ihr. Warum zögerte er? Gabi bemerkte, wie ein krampfartiges Zittern seinen Körper erbeben ließ. Er begann, unartikulierte Laute auszustoßen. Sie klangen fast wie »Lauf! Lauf weg, Mädchen!« Oder bildete sie sich nur alles ein? Eine Killerbestie, die ihr Opfer warnte? Idiotisch. Völlig absurd. O Gott, ich werde verrückt! schoß es ihr durch den Kopf. Unterdessen hatte sie sich ein paar Zentimeter zur Seite gemogelt. Nun stand sie unmittelbar vor dem Fenster. Das auskragende Fensterbrett drückte bereits an ihren Rücken. Sie bewegte sich weiter, Stück für Stück - und ertastete den Fensterknauf. Endlich! Die Jalousie rasselte leise. Gabi Burkl packte den Fensterknauf. Wenn es ihr gelang, das Fenster aufzureißen, konnte sie mit etwas Glück über den Hof entkommen. Es gab einen Torweg zur Straße. Und wenn sie sich erst auf der Straße befand, war sie gerettet. Dort wimmelte es von Menschen. Immerhin waren sie mitten in Berlin. Der Unhold würde es nicht wagen, ihr zu folgen. Außerdem schien er momentan mit sich selbst zu tun zu haben. Die Friseurin bog ihren Arm so weit nach oben, daß sie hörte, wie ihre Gelenke knackten. Nun noch eine kurze Drehung, und das Fenster stand offen. Sie würde die Jalousie wegraffen und blindlings hinausspringen. Alles würde gut werden… Gabi musterte den Totenköpfigen. Ihr Blick flackerte. Er gab sich den Anschein, als hätte er das Interesse an ihr verloren. Den Kopf nach vorn gebeugt, stierte er stumpfsinnig auf 16
die Tischplatte. Seine Klauen, die die Mordwerkzeuge umklammerten, schwangen hin und her, wie die Pendel einer Standuhr. Aus seinem lippenlosen Mund troff eine wasserklare Flüssigkeit. Gabi verrenkte sich fast den Arm, als sie den Fensterknauf umdrehte. Sie merkte, wie der Wind von außen gegen die Scheibe drückte. Die Jalousien raschelte lauter. Ihr Herzschlag verdoppelte sich. Ich werde bis drei zählen, nahm sie sich vor, dann drehe ich mich um, reiße das Fenster auf und springe hinaus. Die lächelnden Gesichtszüge von Tom, ihrem Freund, tauchten vor ihrem inneren Auge auf. Nicht mehr lange, und sie würde in seinen Armen liegen. Eins. Der Totenköpfige stöhnte gequält. Er hielt den Blick abgewandt und sabberte. Zwei. Er ließ die Glasscherbe und die Schere fallen. Dann hob er den schrecklichen Schädel, glotzte sie an und knisterte dabei mit seinen Fingergelenken. Drei! Gabi Burkl wirbelte herum. Jalousie weg! Fenster auf! Und hinaus! Mit einem Knie rammte sie gegen das Fensterbrett. Sie verbiß sich den aufwallenden Schmerz und zog das andere Bein nach. Hinter ihr blieb alles ruhig. Der Totenköpfige schien nicht zu reagieren. Gabi spürte. Wie ihr der heiße Wind ins Gesicht klatschte. Gabi, du wirst leben! Vor Erleichterung hätte sie aufheulen können. Nur noch ein Sprung und ein kurzer Sprint trennten sie von der Freiheit. Schon hockte sie auf dem Fensterbrett. Dann geschahen zwei Dinge zugleich: Hinter ihr, in der Kammer, klingelte das Handy. Und vor ihr, auf dem düsteren Hof, stand plötzlich eine Gestalt, die einen weiten, dunklen Mantel trug. Eine dumpfe Stimme raunte: »Hallo, ich bin Nummer sechs…« * »Du siehst aus wie ein Tuschkasten auf Beinen«, sagte ich zu Tessa Hayden. Meine Freundin warf den Lippenstift in ihre Kosmetikbox und 17
sah mich groß an. »Mich können nur Menschen beleidigen«, konterte sie brutal. Wir befanden uns in einem Hotelzimmer des Forum-Hotels, dem ehemaligen Stadt Berlin. Draußen herrschte brütende Hitze, und Tessa malte sich an wie eine Sioux auf dem Kriegspfad. Ich kippelte auf dem Stuhl, der vor dem Schreibtisch stand. Amüsiert beobachtete ich, wie sich Tessa in Schale schmiß. Wir hatten uns aufgerafft, Weimar für ein Wochenende den Rücken zu kehren. In Berlin wollten wir mal so richtig den rosaroten Drachen steigen lassen, so wie es die Puhdys in ihrem legendären Song besangen. Allerdings erst am Abend. Jetzt war es Mittagszeit, kurz vor eins. Wir beabsichtigten, einen Abstecher auf die Museumsinsel zu unternehmen. Der PergamonAltar und die Antikensammlungen übten seit jeher einen starken Reiz auf mich aus. So wie sonst nur Tessa auf mich wirkte. Sie sah wirklich zum Anknabbern aus. Der sommerlichen Temperatur angemessen, trug Tessa ein bauchnabelfreies Top und ein Röckchen, das zusammengefaltet in jede Kaffeetasse gepaßt hätte! Wie eine Fahnderin der Weimarer Kripo wirkte sie nicht gerade. Aber Dienst ist Dienst, und Schnaps ist Schnaps. »Wieso grinst du dauernd vor dich hin?« fragte sie plötzlich. »Mußte gerade an was denken«, wich ich aus. Einen Augenblick Stille. Dann: »An Clarissa Jank?« »Wie?« Ich rutschte unruhig hin und her »Das Herzchen mit dem Atombusen«, erklärte Tessa gespielt beiläufig. »Böse Zungen behaupten, das Dolly-Buster-Abziehbild hat dich mit ihrer Zwillingsschwester aufs Kreuz gelegt.« Es kostete mir einige Mühe, meine Überraschung zu verbergen. Woher wußte Tessa von den Jank-Zwillingen? Von mir jedenfalls nicht. Es war vor ein paar Wochen, als an der Ostsee eine grauenvolle Mordserie Schlagzeilen machte. Das Beil eines Scharfrichters war aus der Versenkung aufgetaucht, mit einem dämonischen Fluch beladen (Siehe MH 41!). Zufällig weilte ich gerade vor Ort… Ich stand auf. »Soll ich uns 'n bißchen Musik anmachen?« wechselte ich das Thema. »Tu, was du nicht lassen kannst.« 18
Der Klang von Tessas Stimme gefiel mir immer weniger. Was brachte sie dazu, olle Kamellen aufzuwärmen? Clarissa war doch nicht mehr als eine, hm - gute, Freundin. Außerdem hatte ich sie Tessa gegenüber mit keiner Silbe erwähnt. Dennoch schien meine Freundin bestens informiert zu sein. Verdammt! Ich biß mir auf die Unterlippe. Als ich den Fernseher einschaltete, fühlte ich, daß ich rot wurde. Vor einem inneren Auge war der Zankapfel gerade erschienen, im Evaskostüm! Eigentlich ein überaus erfreulicher Anblick. Doch ich räusperte mich unwohl. Im Nu verdrängte ich die ungebetene erotische Phantasie. Heiliges Kanonenrohr! Was war bloß mit mir los? Verwirrte die Gluthitze meinen Verstand? Ich klapperte auf der Fernbedienung herum, bis ich einen Musikkanal erwischt hatte. Ein Videoclip lief. Britney Spears und Baby One More Time. Die einleitenden, harten Pianotöne hämmerten durchs Hotelzimmer. »Toller Sound, nicht wahr?« rief ich Tessa zu. Sie gab keine Antwort. Als hinge ihr Leben davon ab, zupfte sie an den Strähnchen ihrer kurzen, braunen Haare. Unwillkürlich atmete ich auf. Als ich mir aus der Minibar eine Flasche Mineralwasser nahm, sagte Tessa: »Mark, was hältst du davon, wenn ich der Natur auch 'n bißchen auf die Sprünge helfe. So wie Britney Spears.« Ich stand wie angewurzelt. Narrte mich ein Spuk? Tessa Hayden unterm Messer des Schönheitschirurgen? Wow! Da staunten die dicksten Räucheraale. »Tess, ich glaube, mein Gehör läßt nach«, meinte ich. »Weißt du, was ich eben verstanden habe?« Tessa ging zum Spiegel, hob beide Arme und drehte sich vor ihrem Spiegelbild. Betont langsam malte sie zwei Kreise um ihren Busen und schnalzte mit der Zunge. »Ich werde mir Salzwasserkissen einsetzen lassen«, sagte sie. »Das liegt voll im Trend. In den USA bekommen die Girls ihre Implantate schon von den Eltern, als Geschenk zum Schulabschluß.« »Tess, du spinnst! Das ist pubertärer Teenie-Kram. Du bist einunddreißig, eine erwachsene, hübsche Frau.« »Höchste Eisenbahn also.« »Ich fasse es nicht. Du willst dich unters Messer legen, ohne daß eine Notwendigkeit besteht?« 19
»Nenne mir einen vernünftigen Grund, warum ich es nicht tun sollte, Mark. Der Eingriff ist ungefährlich. Die chirurgischen Techniken sind bis ins Detail ausgefeilt. Eine fraulich gepolsterte Tessa Hayden. Ist es nicht das, was du willst?« Das saß. Vor Schreck trank ich einen Riesenschluck des stark kohlensäurehaltigen Mineralwassers und mußte dann laut rülpsen. Baaahh… Ich blickte Tessa prüfend an. »Du willst mich veräppeln. Tess, das finde ich unfair. Mit solchen Dingen spaßt man nicht. Pah um ein Haar hatte ich dir diesen Firlefanz abgekauft.« Mit lauerndem Blick maß sie mich, vom Scheitel bis zur Sohle. »Firlefanz? Rate mal, weshalb ich dir vorgeschlagen habe, nach Berlin zu fahren?« »Die Museumsinsel…«, tippte ich. »Dicht daneben ist auch vorbei!« Tessa lachte triumphierend. »Von wegen Museumsinsel, Pergamon-Altar und Alte Nationalgalerie. Pustekuchen! Ich bin hauptsächlich hier, um einen Termin mit Dr. Greve von der Charite zu machen.« »Dr. Greve?« Ich war platt wie eine Flunder. »Wer, zum Henker, ist denn das schon wieder?« Tessa trat ins Zimmer. »Dr. Greve ist plastischer Chirurg. Er arbeitet nach den Prinzipien der American Society of Plastic and Reconstructive Surge-ons, ASPRS. Allein in den Staaten gibt es über fünftausend plastische ASPRS-Chirurgen…« »Halt!« Ich war auf hundertachtzig. »Jetzt reicht's mir aber. Da hab ich wohl auch noch ein Wörtchen mitzureden. Warum willst du so ein hohes Risiko eingehen. Du hast nur eine Gesundheit und kannst dir den Chirurgen aufsparen, bis dein Blinddarm mal gestrafft werden muß.« Tessa tat erstaunt. »Wie kommst du auf das schmale Brett? Was hast du mit meinem Körper zu schaffen?« Nahe dran, die Beherrschung zu verlieren, lief ich im Zimmer auf und ab. »Ich meine, du solltest dir alles noch mal gründlich durch dein hübsches Köpfchen gehen lassen, Tess. Deine Idee, dich zerschnippeln zu lassen, erscheint mir in höchstem Maße fragwürdig. Wie eine irrwitzige Trotzreaktion.« »Dr. Greve ist ein sehr guter Arzt.« »Kann schon sein«, grunzte ich. »Aber wenn ich mir vorstelle, bald eine silikonbusige Tessa im Arm zu halten, Gott im Himmel! Allein der Gedanke daran jagt mir eine Gänsehaut über den 20
Rücken. Nie und nimmer werde ich zu einem Plasikküsser!« Tessa machte die Augen schmal. »Das ist dein Problem. Ich für meinen Teil hätte damit keine Schwierigkeiten.« »Du wirst wie eine Fremde für mich sein«, gab ich zu bedenken. Tessa machte einen auf gleichgültig. »Um so besser.« Immer diese verflixten Anspielungen. Ich gab meinen Dauerlauf durchs Zimmer auf und stellte mich vors Fenster. Trübsinnig starrte ich auf das ehemalige Centrum-Warenhaus und die Überdachung der Alex-Passage. Tessa schien tatsächlich Ernst machen zu wollen. Ohne Rücksicht auf Verluste. Wie eine Zecke hatte sie sich in diese fixe Idee verbissen. Mein Handy fiepte. Es lag auf dem frisch bezogenen Bett. Ich achtete nicht darauf. »Mark!« rief Tessa. »Willst du nicht rangehen? Dein Typ wird verlangt.« Ich schwieg verbissen. Es fiepte erneut. »Markus Nikolaus Hellmann!« Tessa hatte die Stimme erhoben. »An deiner Stelle würde ich rangehen. Vielleicht ist es - Clarissa!« »Tess!« Wütend fuhr ich herum. Tessa stand da und versuchte, ihr Grinsen zu verbergen. Als sich das Handy zum drittenmal meldete, ging sie zum Bett, nahm es und drückte auf Empfang. »Ja, hallo?« Während Tessa stumm in den Hörer lauschte, beobachtete ich die Spaziergänger, die über den Alex promenierten. Plötzlich versetzte mir Tessa einen Rippenstoß. Als ich mich umdrehte, sah ich, daß sie die Stirn gerunzelt hatte. Ihr Gesicht wirkte verstört. Während sie mit der Innenseite einer Hand die Sprechmuschel verdeckt hielt, wisperte sie: »Mark, es ist für dich. Meine Güte, so eine zittrige Stimme hab ich noch nie gehört.« »Wer ist denn dran?« »Eine Frau. Kroll heißt sie. Angeblich.« »Kenne ich nicht«, sagte ich und winkte ab. »Meinetwegen erzähl der Dame, ich sei nicht da. Oder besser, sag, ich sei soeben gestorben. Erstickt an zwei Klumpen Silikon.« Tessa errötete. »Mach keinen Quatsch! Sie meint, es sei wichtig und will dir eine Botschaft übermitteln. Persönlich.« Ich dachte nach. Kroll? Irgendwo hatte ich den Namen schon mal gehört. Kroll, Kroll… Da rastete es ein. Natürlich, Kroll! Selbstredend kannte ich eine Frau, die Kroll hieß: Wilhelmine Kroll, die Hellseherin vom Schmollensee! 21
Die Okkultistin war über neunzig und wohnte allein in einem Haus am Waldrand. Als ich sie vor Monaten aufsuchte, half sie mir, das Medaillon der Sehnsüchte zu finden. Ein Kind hatte es auf dem Bansiner Friedhof entdeckt und herausgefunden, daß das Teil starke schwarzmagische Kräfte aufwies (Siehe MH 4!). Ich riß Tessa das Handy aus der Hand. »Hier Hellmann«, schnaubte ich. »Ich glaub's nicht. Sind Sie's wirklich, Frau Kroll?« »Ja«, kam es zurück. »Ich muß Sie unbedingt sprechen.« »Schießen Sie los!« »Es ist das erste Mal seit über fünfzig Jahren, daß ich telefoniere«, krächzte sie. »Ich stehe gerade auf dem Dorfplatz, in der Telefonzelle. Sie wissen ja, ich bin nicht gut zu Fuß. Unterwegs wäre ich beinahe umgefallen. Die Hitze, wissen Sie? Zum Glück kam gerade ein Nachbar vorbei. Er hat mich fast zur Zelle getragen.« Ich pumpte meine Lungen voll Luft. »Frau Kroll, Sie machen mich neugierig. Es muß von unerhörter Wichtigkeit sein, was Sie mir mitteilen wollen.« »Richtig«, bestätigte sie tonlos. »Halten Sie sich fest! Falls ein Stuhl in der Nähe ist, setzen Sie sich. Ich meine, es wird ein Weilchen dauern, bis ich Ihnen alles erörtert habe. Gottseidank hab ich genügend Kleingeld parat, um diesen geldgierigen Apparat zu füttern.« Sie räusperte sich laut. »Also gut, Mark Hellmann, hören Sie jetzt bitte genau zu!« Bereits nach ihren ersten Worten sackte ich auf einen Stuhl. »Mark«, hörte ich Tessa Haydens erschrockene Stimme. »Was ist passiert? Du bist ja ganz blaß.« Ich sah auf die Uhr. Es war 13 Uhr 10… * 13:10 Uhr. Mit unbewegter Miene verfolgte Ebs das grausige Szenario, das sich unmittelbar vor ihm abspielte. Es ging rasend schnell. Als die fliehende Friseurin vom Fensterbrett auf den Hof springen wollte, sauste plötzlich ein Messer durch die Luft. Bevor Nummer sechs der jungen Frau das Messer in den Hals stach, glänzte die Klinge noch silbrig. Danach 22
war sie blutrot und stumpf. Der eben noch strahlendweiße Nylonkittel der Friseurin ähnelte nun dem schuppigen Rücken einer garstigen Kröte. Das Blut, das sturzbachartig aus ihrer Halswunde flutete, versickerte im Nu in dem sandigen Untergrund. Die zu Tode Getroffene sank ohne einen Laut zu Boden. Ebs schaute ins Gesicht von Nummer sechs. Es glich seinem aufs Haar. Ein Totenkopf, an dem hier und da ein eitriger Fleischlappen hing. Die windschiefen Zahnreihen stachen aus dem Kiefer. Die Augenhöhlen ähnelten dunklen Löchern, aus denen funkelndes Licht zuckte. Und die Hände waren bleiche Knochenklauen, absolut fleischlos, aber dennoch mit widernatürlichen Kräften ausgerüstet. Trotz der frappierenden Ähnlichkeit wirkte die Kreatur jedoch anders als er. Schon im nächsten Moment wurde Ebs der kleine Unterschied klar: Nummer sechs war ein weibliches Wesen. Eine Frau. Sie stand ihm gegenüber, auf ebener Fläche, denn der Hof lag ungefähr auf gleicher Höhe wie der Boden des Erdgeschosses. Sie stand .einfach da, über dem entseelten Körper der Dahingemetzelten - und verzog den lippenlosen Mund zu einem Grinsen. Dann drehte sie sich um, rannte diagonal über den Hof und verschwand im dunklen Torweg. Unheimliche Stille. Auch der Rekorder im Frisiersalon gab keinen Ton mehr von sich. Die Kassette war durchgelaufen. Und das Handy, das sich eben aus dem Spind gemeldet hatte, hatte Ebs zu Plastikmüll zerquetscht. Ebs merkte, wie der dumpfe Gong in ihm erklang. Seine dämonische Energie schien zu verpuffen. Er war wieder er selbst. Unversehens packte ihn das Grauen. Mit der Rückkehr seines wirklichen Ichs kehrten auch seine eigentlichen menschlichen Gefühle zurück. Er sah nach seiner Bauchwunde. Sie war verschwunden. Nicht ein Kratzer war zu erkennen. Ebs zupfte an den Enden seines Schnurrbartes. Die Erkenntnis, sich zusammen mit einer Handvoll verstümmelter Leichname an einem Ort zu befinden, schockierte ihn. Wenn jetzt jemand kommt, bin ich geliefert. Ebs federte herum, riß die Perlenschnüre auseinander und wollte durch den Salon auf 23
die Straße stürmen. Da klingelte die Glocke an der Eingangstür des Frisiergeschäfts. Schritte schlurften herein. Ebs prallte zurück. Er schmetterte die Perlenschnüre von sich und hetzte zum Fenster der Kammer. Gelenkig schwang er sich hinaus. Er hörte, wie hinter ihm jemand hysterisch aufschrie. Seine Beine verhedderten sich in dem langen Mantel, den er trug. Um Haaresbreite wäre er lang hingeschlagen. Kurzerhand riß er sich das bluttriefende Teil vom Leib. Im Torweg gab es eine Mülltonne. Sie war .nicht verriegelt. Er stopfte den Mantel hinein, knallte den Deckel zu und rannte weiter. Bevor er auf die Straße lief, stoppte er. Einem inneren Impuls folgend untersuchte er seine Kleidung nach Blutspritzern. Er fand keine. Wie durch Zauberhand waren alle verräterischen Spuren getilgt. Jeans, Shirt und Schuhe wiesen keinen einzigen Blutfleck auf. Ebs betastete sein Gesicht. Er fühlte wieder Haut und Fleisch an seinen Backenknochen. Bisher hatte er nur angenommen, Nummer eins sei ein überirdisches Wesen, jetzt wußte er es hundertprozentig. Ich gehöre den Heerscharen des Bösen an, dachte Ebs verbittert, dem Imperium der Angst, wie es Nummer eins genannt hatte. Herrscher wollte dieses Monstrum werden… Einen Augenblick lang stützte sich Ebs an der kühlen Mauer des Torwegs. Er drückte die Stirn gegen das Mauerwerk und verfluchte das Mädchen, das ihn übertölpelt hatte. Aber was half's? Er mußte jetzt hier weg, so schnell wie irgend möglich. Vorläufig war nur das wichtig. Und er sah aus wie vor dem Massaker. Er sah aus wie früher. Wie früher? Er knirschte mit den Zähnen. Verdammt! Nichts ist wie früher. Ich bin ein Werkzeug einer satanischen Macht. Ihm wurde bewußt, die Morde, die er heute begangen hatte, würden nicht die letzten bleiben. Es hatte alles doch gerade erst begonnen… Nummer eins war unersättlich. Ebs holte tief Luft. Er riß sich zusammen und trat auf die Straße. Passanten gingen an ihm vorüber. Autos und Busse fuhren hin und her. Den Blick gesenkt, überquerte er zügig die breite Fahrbahn und marschierte, vorbei an dem Deutschen Dom und 24
dem Schauspielhaus, in Richtung Kreuzung unter den Linden. Niemand schenkte ihm Beachtung. Er war ein Durchschnittstyp, ein fünfundzwanzig Jahre alter Mann mit einem Allerweltsgesicht. Er fiel nicht auf. Er wirkte wie der nette Junge von nebenan. Je weiter sich Ebs von dem Ort des Massakers entfernte, desto ruhiger schlug sein Herz. Sein Kreislauf pendelte sich wieder ein. Er begann, das Vorgefallene zu verdrängen. Ebs spürte, wie seine Lunge pfiff. Er steckte sich eine an und rauchte. Mit jedem Zug, den er tat, schien die Erinnerung an seine Untaten zu .verblassen. Als er Minuten später den Kippen in den Rinnstein schnipste, fühlte er, daß sein Magen aufs Heftigste knurrte. Er hatte einen Bärenhunger. Ein gutes Zeichen. Er beschloß, in eine Imbißstube zu gehen. Dort würde er sich den Bauch bis zum Geht-nicht-mehr vollschlagen. Currywürste, Pommes Frites, Mayonnaise, Weißkrautsalat bis zum Abwinken. Vielleicht auch zwei, drei Bier. Aber nicht mehr. Einen schweren Kopf konnte er nicht gebrauchen. Und am nächsten Morgen einen Kater vom Alkohol schon gar nicht. Immerhin war König Alkohol mit schuld, daß er in der Klemme saß. Nüchtern hätte er vielleicht nie dieses teuflische Papier unterzeichnet. Er hätte vorher Lunte gerochen. Zu spät. Bald darauf fand Ebs ein entsprechendes Lokal. Er blieb vor dem Aufsteller stehen und überflog das Angebot. Das Wasser lief ihm im Mund zusammen. Als Ebs in die Imbißstube ging, hörte er den anschwellenden Ton einer Sirene aufheulen. Die Polente rückte an. Zum Glück war er über alle Berge. »Was bekommen Sie?« fragte ihn der Mann, der hinter der Ausgabe das Essen anrichtete. Er trug ein blauweiß gestreiftes Hemd mit aufgekrempelten Ärmeln und eine Baseballmütze, deren Schirm nach hinten zeigte. Ebs bestellte. Der Mann nickte und drehte sich um, um das Gewünschte zusammenzustellen. Es dauerte eine Weile, und Ebs hatte Zeit, sich umzuschauen. Die Imbißstube wirkte sauber und gepflegt. Die runden Sprelacart-Tischplatten glänzten vor Sauberkeit, und die großen 25
Fensterscheiben, die zur Straße hin zeigten, waren picobello gewienert. Es duftete nach fritiertem Fleisch und Bier. Bis auf einen Stehtisch im hinteren Teil des Raumes waren alle anderen Tische belegt. So schlecht konnte das Fertigfutter hier wohl doch nicht sein. Der Mann an der Essentheke schob Ebs' Bestellung über den Tisch. »Ich möchte noch 'n Kindl«, sagte Ebs. »Bier gibt's neben der Kasse, an der Zapfsäule.« Der Mann wischte sich mit dem Handrücken den Schweiß von der Stirn. »Okay.« Ebs bugsierte das Tablett mit dem Essen zur Getränketheke. Er annoncierte ein Bier, bekam es und ging zur Kasse. Hier bezahlte er, stellte das Bier aufs Tablett und trug alles zum freien Stehtisch in der Ecke. Dort angekommen, warf er einen spähenden Blick in die Runde. Niemand maß seiner Anwesenheit Bedeutung bei. Die Leute aßen, tranken und plauderten. Am Nebentisch stand ein junges Pärchen, das sich gegenseitig mit Pommes Frites fütterte. Ja, die Liebe! Das Mädchen hatte einen pinkfarbenen Rucksack auf dem Rücken. Der Griff einer Haarbürste lugte hinaus. Alles wirkte so alltäglich, daß Ebs warm ums Herz wurde. Er war einer von ihnen. Oder? Bedächtig nahm er das Bier, betrachtete es verzückt und trank einen langen Zug. Es schmeckte vorzüglich, kühl und leicht bitter. Als Ebs die Biertulpe absetzte, war nur noch Schaum im Glas. Eine wohlige Kühle breitete sich in seinem Magen aus. Gutgelaunt ergriff er Messer und Gabel und begann zu essen. Während er den ersten Bissen zerkaute, wanderten seine Blicke erneut durch den Gastraum. Nichts Verdächtiges. Alle Anwesenden waren damit beschäftigt, ihre Teller leerzuputzen. Keiner störte sich daran, daß eine Killerbestie am Nebentisch stand und in aller Seelenruhe Currywurst mit Pommes Frites verzehrte. Ebs nahm sich von dem Weißkrautsalat. Da öffnete sich die Tür. Ein braungebranntes Mädchen in Hot Pants und kurzärmligem Pulli kam herein. Ebs riß vor Entsetzen die Augen auf. .Das Mädchen aus dem Olympiastadion! Ein Fitzelchen Weißkraut gelangte in seine Luftröhre. Sofort 26
verschluckte er sich und mußte husten. Einige Umstehende schauten zu ihm herüber. Auch das Mädchen. Marita, Marion oder wie es hieß. Sein Husten hatte sie aufmerksam gemacht. Sie steuerte geradewegs auf seinen Tisch zu. Ebs starrte ihr entgegen. »Hey!« Sie lächelte ungezwungen. Ebs brachte keinen Ton heraus. Ihr unvermutetes Auftauchen hatte ihm schlichtweg die Sprache verschlagen. Auch sein unbändiger Appetit war wie weggeblasen. »Du guckst wie 'n Kater, wenn's donnert!« feixte sie. Endlich gelang es Ebs, den Bissen, der in seinem Hals festsaß, hinunterzuschlucken. Erlegte das Besteck, das er in den Händen hielt, auf den Tellerrand und schimpfte: »Du Miststück! Dir hab ich all den Schlamassel zu verdanken. Ich könnte dich umbringen, du Hexenbalg!« Das Mädchen blieb cool bis unter die Haarspitzen. Schelmisch drohte sie ihm mit dem Zeigefinger. »Immer hübsch auf dem Teppich bleiben, Süßer. Keiner hat dich gezwungen, deinen Wilhelm unter den Vertrag zu schmieren. Du hast es aus freien Stücken getan. Konntest es kaum abwarten.« »Ihr habt mich reingelegt!« Ebs ballte vor Wut die Fäuste. »Du mit deinen Strapsen und diese verdammte Nummer eins!« »An deiner Stelle würde ich noch lauter krakeelen!« Die Augen des Mädchens glitzerten wie Eiskristalle. »Damit auch der letzte Kunde mitkriegt, was hier abläuft.« Ebs biß sich auf die Lippen. Er stand stocksteif. Am liebsten hätte er sich auf sie gestürzt und ihr eine Tracht Prügel verpaßt. Allein ihr lockeres, selbstsicheres Auftreten versetzte ihn in grenzenlose Wut. Sie lächelte unvermittelt. »Wenn du willst, gehe ich nachher mit dir ins Bett.« Er bemerkte, wie sie ihren Busen herausfordernd auf die Sprelacart-Platte schob. Ihre Brustwarzen wölbten den geriffelten Stoff. Aber Ebs empfand alles andere als Begierde. »Du ekelst mich an«, preßte er hervor. Mit spitzen Fingern ergriff sie ein Kartoffelstäbchen von seinem Teller, knabberte daran und kicherte. »Es ist noch nicht lange her, da warst du völlig anderer Ansicht. Du konntest gar nicht genug kriegen von mir, Süßer. Möchtest du, daß ich dein löchriges Gedächtnis auf Vordermann bringe?« »Untersteh dich!« 27
»Na gut, wie du willst«, sagte sie leichthin. »Was ist jetzt? Nimmst du mich mit zu dir? Ich garantiere, du wirst es nicht bereuen. Ich bin in Form. Und ich habe Lust. Ich spüre schon, wie du ihn…« »Hör auf!« Ebs rang um Fassung. Er fühlte sich hintergangen und skrupellos ausgenutzt. Doch er mußte kühlen Kopf bewahren. Die Karre steckte zwar tief im Dreck, aber möglicherweise gab es doch noch einen Ausweg aus seiner Misere. Zuallererst mußte er ausbaldowern, wer die Nummer eins war. Dann, ob es eine Möglichkeit gab, sich aus dem Satanspakt herauszumogeln. »Warum tust du das alles?« forschte er, inzwischen ruhiger geworden. »Nummer eins ist ganz zufrieden mit dir. Deswegen steht dir eine Belohnung zu. Für den Anfang hast du gar keine schlechte Figur gemacht.« Sie senkte die Stimme und flüsterte: »Mal abgesehen von dem Püppchen auf dem Hof, das sich beinahe dünngemacht hätte.« »Du weißt davon, Marita?« keuchte er. »Ich heiße Ma-ri-na«, verbesserte sie und beugte sich weit über den Tisch. »Und übrigens - ich bin Nummer sechs.« Ebs wurde weiß wie die Wand. Nummer sechs! Das Höllengeschöpf, das die fliehende Friseurin auf dem Hinterhof abgestochen hatte? Ebs' Verwirrung war komplett, als das Mädchen Marina ein Röhrchen weißer Tabletten auf den Tisch legte und ihn bedeutungsvoll anstarrte. »Also los!« forderte sie ihn auf. »Gehen wir zu dir und fliegen ein paar Runden. Machen wir's den Vögeln nach…« Ebs zögerte. Marina trat zurück, bog ihr Rückgrat durch und zog den dünnen Pulli straff. Der Stoff modellierte nun ihren Busen originalgetreu nach. Ebs konnte kein Auge von dem Mädchen lassen. Das Blut in seinen Adern begann zu brodeln. Wortlos ergriff er Marinas Hand und führte sie aus dem Imbißlokal. Sie war seine einzige Chance. Er mußte Marina nur zum Reden bringen. Das würde ein hartes Stück Arbeit werden… *
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Forum-Hotel, 13:45 Uhr. Die Sonne, die durch das Fenster unseres Hotelzimmers schien, warf maisgelbe Flecken auf den Teppich. Tessa saß auf der Bettkante und sah mich mit bohrenden Blicken an. Ich knipste das Handy aus. Tessa sprang auf. »Mark!« bestürmte sie mich. »Ich halte es keine Sekunde länger aus. Diese alte Frau, was hat sie dir gesagt? Ich sehe dir doch an, daß du hin- und hergerissen bist.« Ich schaltete den Fernseher aus. Im Nu war es still, nur Tessas heftiges Atmen war zu hören. »Mark!« rief sie. »Erzähl's mir!« »Wilhelmine Kroll hatte eine Vision«, erklärte ich grübelnd. »Eine apokalyptische Vision, Tess.« »Laß dir doch nicht jedes Wort aus der Nase ziehen!« »Sorry. Ich muß mich erst mal sammeln.« »So schlimm?« Tessa tätschelte meine Wange. »Kann man wohl sagen. Unsere Zukunft steht wahrlich unter einem dunklen Stern.« Tessa seufzte und umarmte mich. Ich spürte die Wärme ihres drahtigen Körpers. Als sie zu mir aufblickte, sah ich ihre grünen Kontaktlinsen funkeln. »Die Hellseherin hat meinen Tod vorausgesehen«, ließ ich die Katze aus dem Sack. »Sie lügt!!!« Tessa prallte zurück. Plötzlich war sie wie von Sinnen. »Bei allem, was mir heilig ist, ich werd dieser alten Vettel die Augen auskratzen!« »Nein, Tess«, sagte ich beklommen. »Wilhelmine Kroll ist keine alte Vettel. Sie lügt nicht. Im Gegenteil. Sie ist eine großartige Seherin. Keine böse, sondern eine gute, verstehst du? Ich glaube ihr. Außerdem hätte sie keinen Grund, mir einen Bären aufzubinden.« Tessa trommelte mit den Fäusten auf meinen Brustkorb. Es tat nicht weh. Dennoch ergriff ich sanft ihre Handgelenke und hielt sie fest. »Das ist nicht wahr!« schrie sie im Heulton. »Die alte Hexe lügt wie gedruckt. Mark, du darfst dich nicht verrückt machen lassen.« »Sie besitzt eine magische Kristallkugel«, sagte ich leise. »Ich hab das Teil mit eigenen Augen gesehen.« »Hokuspokus!« schnaubte Tessa. »Vielleicht ein Trick, um dich 29
zu verunsichern. Mark, du mußt an dich glauben. Bisher hast du jedes Zusammentreffen mit den Mächten des Bösen…« »Tessa!« unterbrach ich sie. »Diesmal ist es anders. Wilhelmine Kroll hat auch - dich gesehen.« »Mich?« Ich nickte betrübt. »Du hattest gerade den Lokalteil der Weimarer Rundschau aufgeschlagen. Und sie blickte dir über die Schulter. Direkt auf eine Todesanzeige. Meine Todesanzeige! (Siehe Titelbild!) Tess, in der nächsten Woche werde ich den Löffel abgegeben.« Tessa gab keine Antwort. Ungläubig starrte sie mich an. Ich ließ meine Worte eine Zeitlang auf sie einwirken. Dann trat ich ans Fenster und sagte: »Die Aktivierung ihrer hellseherischen Gabe hat sie sehr geschwächt, Tess. Aber sie ist hart im Nehmen. Sie gab nicht eher Ruhe, bis sie, zumindest ansatzweise, herausfand, wer mir an die Wäsche will.« »Und?« hauchte Tessa. »Wer ist es?« »Eine Wesenheit, die dem sagenhaften Nekropolis entstammt.« »Der Totenstadt?« »Richtig. Niemand weiß, wo das rätselhafte Gräberfeld liegt. Mal vermutete man es in der Türkei, mal in Griechenland, dann wieder anderswo.« »Aber auf einem Friedhof gibt es doch nur Tote«, warf Tessa ein. »Sollte man annehmen.« Ich nestelte an den Stores. »Die Vision, die die Seherin hatte, geht aber von einer anderen Variante aus. Tief unter den Gräbern seit Jahrhunderten Verblichener soll es ein unterirdisches Imperium geben. Dort herrscht ein Wesen, das so ungeheuerlich ist, daß sogar unser Freund und Kupferstecher Mephisto vermeidet, ihm in die Quere zu kommen.« »Hat es einen Namen?« Ich schüttelte den Kopf. »Ich weiß nur, es nennt sich Nummer eins. Es ist, warum auch immer, auf die Erde gestiegen, rekrutiert seine Jünger aus der Bevölkerung und versucht, überall Angst und Schrecken zu verbreiten.« »Der dritte Antichrist?« »Möglich«, sagte ich. »Nostradamus hat sein Kommen ja für dieses Jahr, angekündigt.« Allmählich wich die Anspannung aus Tessas Gesichtszügen. »Was wirst du jetzt tun, Mark?« 30
Ich ging zum Schreibtisch, schlug die hoteleigene Briefmappe auf und nahm einen Kuli zur Hand. In sauberen Druckbuchstaben schrieb ich eine Adresse auf die oberste Seite. Tessa stellte sich neben mich und las: »Eberhard Wolther, Berlin, Schönhauser Allee. Mark, wer ist dieser Mann?« Ich zuckte die Achseln. »Wenn ich das wüßte, wäre ich ein gehöriges Stück weiter, Tess. Auf alle Fälle muß ich diesen Mann finden, um jeden Preis. Er ist der Schlüssel.« »Weiß die Seherin nichts Näheres über ihn?« »Nicht die Bohne, nur sein Name erschien ihr.« »Eberhard Weither«, sinnierte Tessa. »Noch nie gehört. Ein Name wie jeder andere. Sogar recht unauffällig. Vielleicht sollten wir Pit Langenbach anrufen. Er könnte über den Polizeicomputer präzise Nachforschungen anstellen.« Peter Langenbach war mein bester Freund und Hauptkommissar bei der Kripo in Weimar. Ich war dagegen. »Nein, Tess. Pit hat eine Familie. Eine Frau, die ihn liebt, und eine kleine Tochter, die einen Vater braucht. Ich sehe noch Susanne vor mir, als Pit den Herzstillstand hatte und sie mir vorwarf, ich hätte Schuld an seinem Tod (Siehe MH 31!).« »Susanne wußte nicht, was sie sagte«, wiegelte Tessa ab. »Außerdem hat sie sich gleich bei dir entschuldigt. Es war blanker Affekt. Völlig normal für eine Frau, die Zeugin ist, wenn die Herztöne ihres Mannes aussetzen. Ich schätze, mir würde es ebenso ergehen, Mark.« »Trotzdem«, beharrte ich. »Ich möchte, daß Pit diesmal außen vor bleibt.« »Okay«, Tessa nickte entschlossen. »Aber ich lasse mich nicht so leicht ausbooten. Du wirst dir die Zähne an mir ausbeißen.« Ich gab ihr einen Kuß. Wie ein Aal entwand sich Tessa meinem Griff, eigentlich gar nicht ihre Art, und boxte mich übermütig in die Magengegend. »Vom Alex bis zur Schönhauser sind's nur drei, vier Stationen mit der U-Bahn«, fiel ihr ein. »Wir könnten…« »Sachte, sachte.« Abwehrend hob ich die Hände. »Die Schönhauser ist ein paar Kilometer lang. Und wir haben keine Hausnummer. Stell dir das nicht so einfach vor, diesen Wolther aufzugabeln.« Tessa zupfte an ihrem Top. »Das sagst du ausgerechnet mir, einer Zivilfahnderin? Mark, ich lasse mir doch nicht von dir ein X 31
für ein U vormachen. Ich bin Profi, wenn es darum geht, irgendwelche Personen ausfindig zu machen. Und außerdem wird mir mein Ausweis so manches Türchen öffnen.« Ich gab mich geschlagen. Wenn Tessa erst einmal Blut geleckt hatte, sanken die Chancen, sie vom Gegenteil zu überzeugen, sowieso auf den Nullpunkt. Davon konnte ich ein Lied singen. Ich ging ins Vorzimmer. Aus dem Schrank holte ich meinen Einsatzkoffer, trug ihn zum Doppelbett und knipste das Schloß auf. Abwesend überprüfte ich den Inhalt. Kruzifixe unterschiedlicher Größe. Ein halbes Dutzend angespitzter Holzpflöcke. Ein Stahlhammer. Zwei Flakons mit geweihtem Wasser. Ein Notebook mit CD-Roms. Eine Schachtel mit Silberpatronen. Das Holster mit meiner SIG Sauer. In Gedanken versunken, ergriff ich das größte Kruzifix. Stumm betrachtete ich die Figur des Gekreuzigten. »Er wird auf deiner Seite sein«, murmelte Tessa. Ein seltsames Gefühl beschlich mich. Ich spürte, wie mir eine innere Stimme klanglos zu verstehen gab, auf der Hut zu sein. Denn mein Gegner war mit allen Wassern gewaschen. Diese Nummer eins war zu allem fähig. Menschenleben spielten nur eine untergeordnete Rolle. Sein Imperium der Angst war gefährlich wie die Schwarze Pest. Er wollte alles. Vor allem meinen Tod. Möglich, daß seine Häscher schon unterwegs waren. »Sei's drum, Nummer eins«, sagte ich gepreßt. »Ich nehme deine Herausforderung an. Auge um Auge. Zahn um Zahn.« Als ich das Kruzifix zurück in den Koffer legte, war mir, als würde die gemarterte Figur des Christus kurz aufglühen. Aber ich war wohl einer Sinnestäuschung zum Opfer gefallen. Meine Nerven schienen einen Tick überreizt zusein. Schon wollte ich den Koffer schließen. Da sagte Tessa: »Komisch, mir war eben fast so, als hätte die Christusfigur kurz aufgeleuchtet…« * Insel Usedom, Bansin, Ortsteil Sellin, nachmittags. 32
»Sie sollten sich eine Sänfte zulegen, Frau Kroll«, sagte Gerhard Rutter trocken. Er bugsierte gerade seine uralte, menschenscheue Nachbarin aus der Telefonzelle. Rutter war ein Mann von Ende Fünfzig. Gutmütig, mit ampelroten Pausbacken und starkem Knochenbau. Zu DDRZeiten arbeitete er in einer Feldbaubrigade. Dann hatte er umgesattelt. Rutter kutschierte jetzt Urlauber in einem Zweispänner durch die idyllische Landschaft. Trotz der Gluthitze trug er eine Manchesterhose und ein grobes, schwarz-weiß kariertes Baumwollhemd. Seine nackten Füße steckten ihn sogenannten Jesus latschen. »Eine Sänfte? Fabelhafte Idee«, krächzte die Hellseherin. »Ich werde darüber nachdenken, Gerhard.« Sie duzte ihn, weil sie ihn seit Kindesbeinen kannte. Der asphaltierte Dorfplatz lag in der prallen Sonne. Geradezu, am Ufer des nahen Schmollensees, raschelte Schilf. Rechterhand ein Privatgrundstück, an dessen Grenze übermannshohe Nadelgehölze wuchsen. Rutter reichte der Alten seinen Arm. »Hängen Sie sich ein, Frau Kroll. Es sind ja nur hundert Meter bis zu Ihrem Gehöft.« Dankbar nahm sie das gutgemeinte Angebot an. Im Schneckentempo überquerten sie den kleinen Platz mit der Bushaltestelle und dem Fernsprecher. Vom See her erklang ausgelassenes Gejauchze. Kinder in Badehosen ruderten in einem Boot. Sie bespritzten sich mit Wasser und quiekten dabei wie kleine, übermütige Ferkelchen. Wilhelmine Kroll blieb stehen. Rutter sah, daß die alte Frau schwer atmete. Dabei hatten sie höchstens dreißig Schritte zurückgelegt. »Verschnaufpause?« Sie nickte. »Tut mir leid, daß ich dir Umstände bereite.« »Aber ich bitte Sie!« Vorwurfsvoll sah Rutter sie an. »Das ist doch selbstverständlich. Verpusten Sie nur, Frau Kroll. Ich habe Zeit. Ehrlich. Meine Thea hält gerade ihr Mittagsschläfchen. Da darf ich sie ohnehin nicht stören.« Nach einigen Sekunden hatte sich die alte Frau wieder einigermaßen erholt. Als sie ihren Weg fortsetzten, fragte sie: »Wohnt eigentlich dieser DEFA-Schauspieler noch in Stoben? Ich komme momentan nicht auf seinen Namen.« »Ludwig«, half Rutter. »Rolf Ludwig hieß er. Aber der arme Kerl ist im Frühling gestorben. Auf dem Benzer Friedhof hat man ihn 33
beerdigt.« Im Gehen bekreuzigte sie sich und murmelte ein leises Vaterunser. »Ich war nur einmal in meinem Leben im Kino«, sagte sie dann. »In Bansin, Ecke Seestraße. Der Film hieß Das Feuerzeug, ein Märchen eigentlich. Rolf Ludwig hat den Soldaten gespielt, der der Hexe das Zauberfeuerzeug abgeluchst hatte…« Jetzt blieb Gerhard Rutter stehen. »Mein Sohn hat das Video von diesem Film zum Geburtstag bekommen. Wie war's? Möchten Sie sich den Film noch einmal anschauen? Nach vierzig Jahren. Das war doch 'ne Wucht, oder?« Er sah, wie die Alte betreten über ihre graugemusterte Kittelschürze strich. Sie trug mehrere Strickjacken übereinander, offenbar auch mehrere Röcke und darüber die Schürze. Unwillkürlich schnupperte er. Sie verströmte den arteigenen Geruch von Mottenkugeln, muffigen Textilien und geheimnisvollen Krautern. »Nett von dir, Gerhard«, sagte sie. »Leider muß ich dein Angebot ablehnen. Wenn ich zu Hause bin, werde ich allerhand zu tun haben.« Rutter wurde neugierig. Wie jeder im kleinen Dorf am Schmollensee wußte auch er, daß Wilhelmine Kroll absonderliche Fähigkeiten hatte. Man munkelte sogar, sie könne Geister beschwören. Thea, seine Frau, hatte einmal allen Ernstes behauptet, sie hätte mit angesehen, wie die Alte eine Fledermaus aus der Luft gegriffen hatte. Einfach so, als wäre es ein Klacks. Die Fledermaus hatte völlig entspannt von ihrer knorrigen Hand gehangen, während sie beschwörend auf das Tier einredete. Rutter glaubte nicht so recht an den Hokuspokus. Thea hatte schon immer eine blühende Phantasie. Knapp die Hälfte der Wegstrecke lag hinter ihnen. Vorn konnte man schon den Waldsaum erkennen, in dem der Trampelpfad hinter einer Kurve verschwand. Gerhard Rutter nahm sich gerade vor, seiner Begleiterin ein wenig auf den Zahn zu fühlen, da brauste ihnen ein Radfahrer entgegen. Es war Fredi Kreßmann, ein Bursche von neunzehn Jahren, mit abstehenden, roten Ohren und krummen Säbelbeinen. Fredi trat in die Pedalen, als hätte er den Leibhaftigen im Schlepptau. »He he!« grölte Rutter. »Fredi, du bemooster Tintenfisch. Du bist hier in Sellin und nicht auf dem Teterower Bergring.« Fredi stoppte. 34
Im Stile eines erprobten Stuntmans sprang er vom Fahrrad, zog wieselflink eine zerknitterte Zeitung aus seinem verschwitzten Hemd und keuchte: »Mensch, Gerhard! Das mußt du unbedingt lesen. In Berlin ist der Bär los. Hier, in der Zeitung steht es!« »Nun mal langsam, Junge«, winkte Rutter unbeeindruckt ab. »Erst mal sagt man wohl Guten Tag. Oder hat dir das dein Vater nicht eingetrichtert?« Fredi riß die Augen auf. »Menschenskind. Gerhard. Da werden Menschen dahingemordet, daß es nur so hagelt, und du? Willst, daß ich artig grüße?« »Anstand muß sein!« Rutter blieb stur. »In allen Lebenslagen.« »Aber es geht um den Tod!« Fredi zitterte vor Anspannung. Immer wieder riß er die Zeitung hoch und wedelte damit. »Lies vor, Junge!« meldete sich Wilhelmine Kroll. »Es steht auf der zweiten Seite. Es ist ungeheuerlich.« Fredi war außer Rand und Band. »Mist, ich kann diese verdammte Seite nicht finden!« Rutter schüttelte seinen Graukopf. »Du wirst sie verloren haben. Ich entsinne mich noch daran, als du zwölf warst, 1992. Da hattest du deinen Schlüsselbund verloren. Keiner kam ins Haus, und ich mußte übers Dach der Veranda durch die Bodenluke einsteigen. Dein Vater konnte das nicht. Er hatte sich den Fuß verstaucht. Beim nächsten Mal…« »Stopp mal, Gerhard!« fuhr die Okkultistin dazwischen und wandte sich an den Neunzehnjährigen. »Was ist in Berlin passiert? Rede endlich!« »Eine Mörderbande überfällt Menschen. Zuerst im Kaufhaus des Westens. Sie haben in einem Fahrstuhl einen Brand gelegt. Nicht einer hat überlebt. Und gestern flog die oberste Etage des Ermeler-Hauses am Märkischen Ufer in die Luft. Zum Glück gab es nur eine Handvoll Leichtverletzte. Und vorhin, im Radio, haben sie wieder was durchgesagt. Ein Frisiersalon, in der Nähe des ehemaligen Checkpoint Charly. Jemand kam herein, brächte alle um und flüchtete über den Hinterhof.« »Die Welt gerät aus den Angeln«, schnaubte Rutter grimmig. »Wenn schon Halbwüchsige mit Sprenggranaten ihre Schulen überfallen und ihre Mitschüler und Lehrer massakrieren. Pfui, Deibel.« Fredi suchte noch immer nach der fehlenden Seite. Er raffte 35
sein Hemd hoch und guckte sogar in seine Hose. Dann gab er es auf. »Die Seite hat sich in Luft aufgelöst«, sagte er kläglich. »Mein Gott, ich schnall es nicht!« Wilhelmine Kroll bekreuzigte sich hastig. »Hat die VP schon eine Spur?« wollte sie wissen. »VP?« Rutter winkte ab. »Volkspolizei gibt's schon seit zehn Jahren nicht mehr. Jetzt heißen die Typen Bullen.« Fredi Kreßmann ließ geringschätzig seine Zunge zwischen den Lippen flattern. »Verdachtsmomente gibt es haufenweise«, sprudelte er altklug hervor. »Terroristen und so. Aber klare Erkenntnisse? Fehlanzeige. Und Motive für diese Untaten existieren schon gar nicht.« »Was?« fragte Rutter schroff. »Keine Anhaltspunkte?« »Nein«, versetzte Fredi. »Es ist, als würden Phantome ihr Unwesen treiben.« Rutter merkte, daß die alte Frau zunehmend unruhiger wurde. Ihr runzliges Antlitz arbeitete, und ihre Augen waren zu Schlitzen geworden. Sie heckt irgendwas aus, sagte er sich. Ei, was würde ich dafür geben, mal Mäuschen zu sein, wenn sie ihre Beschwörungen macht. »Tschüs denn!« Fredi Kreßmann wendete sein Fahrrad, hüpfte auf den Sattel und sprintete den Weg zurück, den er soeben gekommen war. »Und doch hat er das Blatt verloren«, brummte Rutter. »Der Bengel wird nie erwachsen.« Er zog ein blaukariertes Taschentuch aus der Hosentasche und rieb sich umständlich den Schweiß von der Stirn. Hiernach geleitete er die alte Frau weiter. Als sie nur noch ein Dutzend Schritte von ihrem Haus entfernt waren, blieben sie wieder stehen. Abermals mußte sie sich einige Augenblicke ausruhen. Rutter unterzog das Lehmhaus, in dem Wilhelmine Kroll wohnte, einer fachmännischen Musterung. Der Putz war bröcklig, das Strohdach bemoost und das Holz der Fenster und Türen mit grünen Ablagerungen bedeckt. Innen waren dunkle Vorhänge vor die Fenster gezogen. Wahrscheinlich fiel nicht ein Sonnenstrahl ins Innere. Brrr! Unheimlich. In Gedanken überschlug er die Kosten für die Sanierung. Sein Schwager Hermann leitete in Ückeritz eine kleine Baufirma. 36
Vielleicht konnte er die Alte überzeugen, ein paar Märker zu investieren. Das Haus hatte es bitter nötig. Plötzlich riß ihn die Okkultistin aus seinen Grübeleien. »Gerhard«, sagte sie lauernd. »Früher gab es mal einen Flugplatz in der Gegend. Irgendwo hinter Zirchow. Sag mal, existiert der noch heute?« Rutter starrte sie an. »Na klar, der Flugplatz Heringsdorf. Er wurde nach der Wende erweitert und tipptopp modernisiert. Meines Wissens gibt es sogar eine Direktverbindung nach Berlin.« »Eine Direktverbindung nach Berlin«, echote die Alte leise. »Das ist gut. Sehr gut.« »Wieso fragen Sie danach?« Rutter hing an ihren Lippen. Wilhelmine Kroll heftete ihren Blick auf die kahle Hügelkuppe auf der gegenüberliegenden Seite des Schmollensees. Rutter stand steif wie ein Spazierstock. Eine ungeheuerliche Vorahnung ließ ihn erschaudern. Da drehte sich die Alte um. Aus listigen Augen blinzelte sie zu ihm auf. »Weil ich beabsichtige, eine Flugreise zu unternehmen, deswegen frage ich danach. - Was ist, Gerhard? Ich brauche noch einen tüchtigen Begleiter. Ich habe Geld. Es soll dein Schaden nicht sein. Derweil kann ja deine Thea das Fuhrwerk fahren. Ich weiß, daß sie es kann.« Gerhard Rutter sagte nichts. Ihm blieb die Spucke weg. * »Gib mir mal dein Handy!« sagte Tessa. Ich gab es ihr. »Denk an unsere Abmachung, Tess. Wir waren übereingekommen, Pit aus dem Spiel zu lassen. Ich hatte ausdrücklich gesagt, warum!« Wir waren am Eckturm der ehemaligen Schultheiß-Brauerei stehengeblieben. Die Schönhauser Allee lag im prallen Sonnenschein. »Glaubst du, ich fall dir in den Rücken?« Tessa nahm das Handy und blinzelte mich empört an. »Natürlich nicht. Ich will bloß, daß…« »Ich will, ich will, ich will!« schoß Tessa dazwischen. »Wenn ich 37
das schön höre, geht mir der Hut hoch. Mark Hellmann, du und deine Macho-Allüren. Wir kennen uns jetzt schon ein paar Jahre. Und du traust mir nicht über den Weg?« Ich sah Tessa aufmerksam an. Sie stand da, als hätte sie die Ausgangsstellung für einen bevorstehenden Karate-Fight bezogen. Die Beine leicht gegrätscht, den Oberkörper aufrecht und den Blick fest auf mich geheftet. Sie wirkte gespannt wie ein Flitzbogen. »Unfug«, meinte ich. »Klar traue ich dir. Meinetwegen ruf Pit an. So lange, wie du möchtest. Vergiß nicht, ihn zu grüßen!« »Wie großzügig.« »Aber erzähl ihm nichts von dieser - Nummer eins. Hörst du?« »Okay. Ich wollte Pit ohnehin nur bitten, uns die Adresse von diesem Wolther zu besorgen. In der Dienststelle gibt es einen heißen Draht zu sämtlichen Einwohnermeldeämtern.« Tessa deutete auf die hitzeflirrende Schönhauser. »Oder wolltest du hier jedes einzelne Haus abklappern?« Ich gab keine Antwort. Tessa blickte sich suchend um, erspähte einen dunklen Torweg in der Nähe und sagte: »Bin gleich wieder da, Mark.« »Warte, ich komme mit!« Tessa drehte sich um. »Nein«, versetzte sie schroff. »Du darfst zwar alles essen, aber nicht alles wissen.« »Jetzt wirst du albern. Seit wann hast du Geheimnisse?« »Es gibt tatsächlich Dinge, die du nicht zu wissen brauchst.« »Die wären?« Ich hielt Tessa an der Schulter fest. »Das geht dich nichts an. Es sind Dinge, die ich mit Susanne besprechen will. Von Frau zur Frau.« Ich dachte, mich tritt ein Pferd. Wir befanden uns auf verdammt heißem Pflaster, und Tessa dürstete es nach einer intimen Plauscherei mit Pits Frau? Wollten sie etwa Kochrezepte austauschen? »Toll!« Ich schüttelte den Kopf. »Das fällt dir jetzt ein? Ich muß schon sagen, dein Timing ist hochgradig verbesserungswürdig.« »Papperlapapp!« Tessa entwand sich meinem Griff und steuerte auf den Torweg zu. Ich verzichtete darauf, ihr zu folgen. Mir blieb nichts anderes übrig, als auf sie zu warten. Ich kam mir vor wie bestellt und nicht abgeholt. Typisch Tessa! Wenn sie sich etwas in den Kopf gesetzt hatte, zog sie es auch durch. Ich fragte mich bloß, warum 38
sie soviel Wind wegen eines stinknormalen Anrufs machte. Heckte sie etwas aus? Wenn ja, was war es? Ich atmete tief durch. Die Luft war stickig und glutheiß. Unter dem azurblauen Bilderbuchhimmel gab es nicht mal die Andeutung eines Wölkchens. Für einen kurzen Augenblick hätte ich für einen Trip an den Müggelsee alles gegeben. Rasch verwarf ich diese hirnrissige Idee. Immerhin schwebten Tessa und ich in großer Gefahr. Die Hitze schien bereits mein Urteilsvermögen zu vernebeln. Das dünne Shirt, das ich unterm Blazer trug, war mittlerweile klatschnaß. Ich hätte es auswringen können. Dabei hatte ich es erst eine knappe Stunde an. Schon die wenigen Minuten in der UBahn bis zum Senefelderplatz hatten ausgereicht, um das Teil in ein glibbriges Etwas zu verwandeln. Obendrein hatte Tessa im Abteil unaufhörlich auf mich eingeredet. Sie wollte mich dazu bewegen, der Kripo einen Besuch abzustatten, um Personenschutz anzufordern. Doch was sollte ich den Beamten sagen? Daß Wilhelmine Kroll, eine fast hundertjährige Okkultistin aus Sellin, eine schreckliche Vision gehabt hatte? Eine Vision, in der sie meinen alsbaldigen Tod voraussah? Pah - Starker Tobak! Womöglich wäre ich in der Ausnüchterungszelle gelandet. Es gab nicht einen Beweis für dieses haarsträubende Orakel. Es klang eher wie ein makabrer Joke. Nummer eins eine Wesenheit aus dem sagenumwobenen Nekropolis! Ich glaubte ja selbst kaum daran. Hm, vielleicht hatte sich die Seherin wirklich getäuscht? Ich beobachtete Tessa. Lässig lehnte sie an der Mauer der Durchfahrt und redete und redete. Ich hoffte bloß, daß Tessa ihr Schmollmündchen nicht zu weit aufriß und Pit haarklein auf die Nase band, wieso wir so scharf auf die Info waren. Er bekam es fertig und ließ in Weimar alles stehen und liegen, um uns auf die Pelle zu rücken. Genau das wollte ich vermeiden. Tessa hatte meinen spähenden Blick bemerkt. Sie schnitt mir eine Fratze und trat tiefer in den Torweg. Jetzt konnte ich sie nicht mehr sehen. Sie kam mir vor wie ein kleines, bockiges Mädchen, das halsstarrig auf ihrem Willen bestand. Genervt wandte ich mich ab. 39
Grübelnd befingerte ich meinem silbernen Siegelring. Der Koffer mit meinen speziellen Utensilien lehnte neben mir an einer rohen Ziegelmauer. Ich dachte an die Todesanzeige, die meinen Namen trug: Wir trauern um Mark Hellmann. Darunter meine Lebensdaten und die Namen meiner Adoptiveltern und meiner engsten Freunde. Zum Henker! Es war - auf deutsch gesagt - ein beschissenes Gefühl, auf der Abschußliste eines übernatürlichen Killerkommandos zu stehen. Überall, wo ich hinging, konnten Tod und Verderben lauern. Vielleicht sogar hier, am Prenzlauer Berg, inmitten von Berlin. Diesmal schien ich nicht Jäger, sondern Gejagter zu sein… Ich schaute auf die Uhr. 15:15 Uhr. Da hielt ein schwarzlackierter Trabi an der Bordsteinkante, nur einige Meter von mir entfernt. Beide Fenster der Rennpappe waren heruntergekurbelt. Die Insassen gestikulierten wild. Ein junger Mann und ein rothaariges Mädchen, er mit freiem Oberkörper, sie im schwarzglänzendem Bikini. Sie mußten sich anbrüllen, weil aus den Boxen hypnotische Techno-Rhythmen dröhnten. Plötzlich verklang die Musik. Das Mädchen hatte auf OFF gedrückt. Ein Radiosender brachte Nachrichten. »Halt endlich deine Gusche!« keifte sie, als er sie fragte, was los sei. Der Bursche befummelte sein stoppelbärtiges Kinn und glotzte seine kesse Beifahrerin erschrocken an. Unwillkürlich mußte ich grinsen. Aber jäh erstarb das Grinsen auf meinen Lippen. Der Nachrichtensprecher berichtete gerade von einem Terrorakt auf einen Frisiersalon in Berlin Mitte. Unbekannte waren in den Laden eingedrungen und hatten Friseurinnen und Kunden auf bestialische Weise getötet. Seit dem Überfall waren erst zwei Stunden vergangen. Das Verbrechen wurde in Zusammenhang mit ähnlichen Vorfällen. In jüngster Zeit gebracht. Von einem mysteriösen Brand in einem Fahrstuhl des KaDeWe war die Rede, und von einer Explosion am Märkischen Ufer. Ich sah, daß das Mädchen aus dem Trabi vor Entsetzen die Hände vors Gesicht schlug. Sie fing an, hemmungslos zu schluchzen. Unter ihren Fingern quollen Tränen hervor. 40
Der Trabifahrer fragte: »Was hast du denn, Katja?« Das Mädchen riß die Hände herunter. »Du fragst, was ich habe, du Pfeife?« schrie sie ihn an. »Menschenskind, Atze! Der Frisiersalon beim Checkpoint Charly! Meine Mutter arbeitet dort. Sie hatte heute Frühschicht…« Nach der Schrecksekunde gab der Fahrer Vollgas. Der VW-Motor jaulte gequält auf, und der Trabi brauste wie ein entfesselter Wirbelsturm in Richtung Friedrichstraße. Das Imperium der Angst! knatterte es durch meinen Schädel. Gütiger Gott! Es ist aktiv geworden. Die Seherin hatte recht! Sofort hielt ich nach Tessa Ausschau. Das eigensinnige Luder steckte noch immer in diesem Torweg. Doch jetzt wurde es mir zu bunt. Ob es Mademoiselle paßte oder nicht, ich würde jetzt zu ihr gehen. Unsere Lage wurde mit jeder Minute brenzliger. Für ihre kindischen Geheimniskrämereien war jetzt kein Platz mehr. Ich schnappte meinen Koffer und setzte mich in Bewegung. Das Gebäude mit dem Torweg zum Hinterhof befand sich nur ein paar Schritte entfernt. Rasch guckte ich um die Ecke - und fuhr überrascht zusammen. Die düstere Durchfahrt gähnte vor Leere. Tessa war verschwunden. Mein Herz flatterte wie ein gefangener Kanarienvogel. Ich umkrallte meinen Koffer und rannte auf den Hinterhof… * Die Frau verharrte reglos auf der ungefegten Plattform des Treppenhauses. Immer wieder hob sie die Hand, um auf den Klingelknopf zu drücken. Und immer wieder zuckte sie zurück, als würde sie gegen ein unsichtbares Hindernis stoßen. Soll ich, oder soll ich nicht? fragte sie sich zum x-ten Male. Gisela Wolther war achtundfünfzig, trug ein bunt gesprenkeltes Sommerkleid und hatte seit gestern eine frische Dauerwelle. Aus der billigen, türkisfarbenen Egelit-Handtasche, die sie trug, ragte der dunkelgrüne Hals einer Chiantiflasche. Sie hatte Eberhard, ihren Sohn, seit einem Vierteljahr nicht mehr besucht. Der verflixte Streit mit seinem Vater war daran schuld. Bei 41
ihrem letzten Zusammentreffen hatte Siegfried dem Sohn vorgehalten, er solle sich gefälligst um einen Job kümmern, statt wie ein Eremit zu Hause vor dem Videorecorder zu hocken. Gut ausgebildete Facharbeiter würden überall gebraucht. Aber Ebs hatte bloß abgewinkt. Er käme prima mit seinem ALG aus, antwortete er frech. Und Siegfried mußte sich vor Verblüffung erst einmal einen Daumenbreit Goldbrand einschenken. Leider war es, wie viel zu oft, nicht bei einem Braunen geblieben. Auch Ebs griff herzhaft zu. Der Alkohol erhitzte die Gemüter. Es dauerte nur einige Schnäpse lang, und Vater und Sohn hatten sich in den Haaren. Endeffekt: Sie, als Ehefrau und Mutter, mußte sich dazwischenwerfen, um die Kampfhähne von einem Handgemenge abzubringen. Daraufhin hatte Gisela Weither ihren Sohn aus der Wohnung komplimentiert. Und Siegfried hatte sich den Rest der Flasche einverleibt… Gisela seufzte. Abermals hob sie den Arm, noch immer unschlüssig. Unten, im Treppenhaus, wurde eine Wohnungstür aufgerissen. Eine weibliche Stimme schrie: »Nein. Nicht noch einmal, du Schürzenjäger! Ich hab deine verdammten Seitensprünge satt! Mach jetzt, daß du rauskommst!« Wieder sank Giselas Arm herab. Sie hielt den Atem an und horchte angespannt. »Aus meiner eigenen Wohnung willst du mich rausschmeißen?« polterte der Mann. »Das könnte dir so passen, Elke. - Nein, ich werde hierbleiben! Mach gefälligst die Tür zu!« »Einen Dreck werde ich tun!« Die Frau schnappte fast über. Gisela Wolther preßte sich schaudernd mit dem Rücken an die weißlackierte Wand. Es war ihr peinlich, dem Streit beizuwohnen. Schließlich gingen sie die Probleme fremder Leute nichts an. »Tür zu! Es zieht!« zischte der Mann. »Geh zu deinem Flittchen!« schrillte die Frau. »Dann mach ich die Tür zu!« »Elke!« »Hat sich ausgeelket. Wie heißt sie gleich, deine aufgetakelte Tussi? Babett, Barbara? Geh zu ihr! Hier hast du nichts mehr verloren!« »Wenn dir nicht paßt, daß ich hier bin, dann verschwinde du doch!« konterte der Mann. »Hau ab! Renne zu deiner dußligen 42
Freundin, die du bei diesem Aerobic-Kurs kennengelernt hast.« »Laß Beate aus dem Spiel!« »Seitdem du die kennst, bist du wie ausgewechselt.« »Ausgewechselt? Pff! - Beate hat mir die Augen über euch Kerle geöffnet.« »Woher kennt die Kerle?« blaffte er zurück. »Lachhaft. Selbst hat sie doch keinen, diese Emanzenhexe.« »Das nimmst du sofort zurück!« »Die Wahrheit war schon immer eine bittere Droge«, meinte der Mann und lachte heiser. »Also los! Komm endlich wieder rein, sonst denken die Leute noch, wir haben Säcke vor der Tür.« Gisela Wolther spürte ihre Wangen brennen. Heiliger Bimbam! sagte sie sich. Und ich dachte, nur in unserer Familie geht es so gemischt zu. »Gib es wenigstens zu, daß du fremdgehst!« forderte die Frau. »Und wenn? Was ändert das?« »Nichts. Aber einmal in deinem Leben kannst du ruhig mal ehrlich sein.« Diesmal antwortete der Mann nicht sofort. Gisela Wolther spitzte die Ohren. Sie hörte, wie er wesentlich leiser als zuvor sagte: »Elke, weißt du eigentlich, daß du verdammt gut aussiehst, wenn du wütend bist?« »Den Schmus kannst du dir sparen«, erwiderte die Frau. Doch ihre Stimme klang brüchig. »Deine Augen funkeln wie ein ganzer Sternenhimmel«, schmeichelte der Mann. »Du bist ein Teufel in Menschengestalt…« Die restlichen Worte gingen in leidenschaftliches Schmatzen über - und endlich wurde die Tür zugezogen. Gisela Wolther trat ans Treppengeländer und lugte vorsichtig in die Tiefe. Unten war es mucksmäuschenstill. Das streitlustige Pärchen schien das Kriegsbeil begraben zu haben. Im Ehebett, wie Gisela intuitiv vermutete. Der Ausgang des Zwistes verblüffte sie über alle Maßen. Damit hatte sie wahrlich nicht gerechnet. Der Mann hatte sein holdes Weib ausgetrickst, und die war prompt darauf reingefallen. Mit mir hättest du das nicht gemacht, du Mistkerl! sagte sich Gisela wütend. Sie wurde aus ihren Gedanken gerissen, als hinter der Wohnungstür ihres Sohnes unversehens Schritte ertönten. Jetzt oder nie! Gisela Wolther trat an die Tür und klingelte. 43
Schnell ging sie einen Schritt zurück und wartete, bis Eberhard sie hereinbat. Sie überlegte schon, was sie sagen würde, falls er fragte, warum sie käme. Möglicherweise war es das Allerbeste, wenn sie so tat, als hätte es die gräßliche Auseinandersetzung zwischen Vater und Sohn gar nicht gegeben. Ob sich Eberhard über den Chianti freuen würde? Vielleicht hatte er eine nette Freundin, mit der er den Wein trinken konnte. Niemand öffnete. Nanu? Gisela klingelte ein zweites Mal. Keine Reaktion. Merkwürdig. Sie trat ganz nahe an die Tür, preßte ein Ohr an das Holz und horchte. Drinnen war es ruhig. Aber die Frau war völlig sicher, daß vorhin jemand Geräusche im Korridor gemacht hatte. Und ein Haustier hatte Ebs nicht. Nicht mal einen Goldhamster. Demnach mußte das Geräusch von ihm stammen. Wieso ließ er sie nicht herein? »Eberhard!« Sie flüsterte fast, und klopfte dabei zaghaft. »Eberhard! Ich bin es, deine Mutter.« Als keiner antwortete, stellte sich Gisela Wolther auf die Zehenspitzen, um durch den Türspion zu spähen. Die Handtasche mit der Weinflasche störte. Rasch stellte sie das Teil auf die Fußmatte und stellte sich dann wieder auf die Zehenspitzen. Zuerst erkannte sie gar nichts. Alles war verschwommen, wie bei einem Tuschkasten, dessen Farben durcheinandergelaufen waren. Aber nach einer Weile sah sie schon einzelne Umrisse von Möbelstücken. Der klobige Schuhschrank, den sie dem Sohn vermacht hatte. Das Garderobenbrett, das er selbst als Schüler im Werkunterricht gebastelt hatte. Der ovale Spiegel mit dem imitierten Goldrahmen. Darunter die Konsole, auf der ein Trockensträußchen stand. Plötzlich glaubte sie, einen Schatten zu bemerken, der gerade vorüberhuschte. »Eberhard!« Sie drückte ärgerlich auf den Klingelknopf. »Laß doch dieses dumme Versteckspielchen. Ich habe doch gesehen, daß du zu Hause bist.« Im nächsten Moment knirschte ein Schlüssel im Schloß. »Na endlich!« Gisela Weither atmete auf. Sie nahm die Tasche vom Boden und fuhr sich mit der anderen Hand kurz übers Haar. 44
Leise knarrend ging die Tür auf. Ganz langsam, Zentimeter für Zentimeter, wie im Gruselfilm, der in falscher Geschwindigkeit ablief. Gisela machte Anstalten, über die Schwelle zu schreiten. Als sie den ersten Schritt in den Korridor tat, wurde ihr Blick starr, und sie spürte, wie ihre Beine nachgaben. »Eberhard…?« Das Geschöpf, das vor ihr, neben dem Schuhschrank, kauerte, war aber nicht ihr Sohn Eberhard. Vielmehr ähnelte es einem aufrecht stehenden Leichnam. Einem schrecklich anzusehenden Toten, der geradewegs vom Seziertisch der Pathologie entsprungen schien. Aber Tote standen nirgendwo m Korridoren herum. Und auf eigenen Beinen schon gar nicht… Schreckensbleich torkelte Gisela zur Seite. Wie von selbst öffnete sich der Griff ihrer Hände. Die Handtasche fiel zu Boden, und die Chiantiflasche rollte vor die Füße des abstoßenden Horror-Wesens. Ein eisiger Luftzug ließ Gisela Weither frösteln. Sie sah, wie die Tür zuging. Ganz langsam, ohne daß sie jemand angefaßt hätte. Dann schnappte die Tür ins Schloß. Der Schlüssel, der innen steckte, drehte sich knirschend. Der Schrei, den Gisela Wolther ausstieß, war von einer solchen Intensität, daß er sogar von der Person wahrgenommen wurde, die gerade durch die Hintertür ins Treppenhaus kam. Es war Tessa Hayden. * »Tessa?« Ich stand mitten auf dem Hinterhof. Über mir rauschten die Wipfel von knorrigen Birken, die wohltuenden Schatten spendeten. Tessa war nirgendwo zu sehen. Ziellos ging ich ein paar Schritte. In der Mitte des Hofes stoppte ich und sah mich um. Linkerhand gab es einen verwahrlosten Schuppen aus Holzlatten. Daran schloß sich ein großer Drahtkäfig an, mit einer Hundehütte darin. »Tessa!« 45
Keine Antwort. Statt dessen schlüpfte eine zottige Promenadenmischung aus dem Holzverschlag. Der Hund rannte zum Gitter, stellte sich auf die Hinterpfoten und knurrte mich giftig an. Als ich ihn links liegenließ, fletschte er wütend seine gelben Zähne und begann, laut zu kläffen. Ich schien ihm eine tödliche Beleidigung zugefügt zu haben, denn auf einmal gebärdete sich der Vierbeiner, als würde man ihn mit glühenden Eisenstangen malträtieren. Immer wieder sprang er das Drahtgeflecht an, jaulte, bellte und warf seinen Kopf hin und her. Offenbar hatte er einen Sonnenstich. Oder eine Schraube locker. »Halt dein Maul!« schnauzte ich ihn an. Augenblicklich verstummte das Gebell. Der Kläffer ließ sich auf alle viere fallen. Er hechelte. Aus seinen schwarzen Knopfaugen beobachtete er mich aufmerksam. Komisch, der Köter parierte aufs Wort. »Brav«, lobte ich ihn. Prompt wedelte er mit seinem verfilzten Schwanz. »Tessa!!!« Ich sah an der Hinterfront des Hauses hoch. Die grau verputzte Fassade glich einem Schweizer Käse. Loch an Loch. Vor einigen Fenstern hingen waghalsige Metallkonstruktionen, an denen Wäscheleinen befestigt waren. An den Leinen baumelten Waschlappen, Geschirrhandtücher, Herrenstrümpfe und XXL-Damenschlüpfer. Es gab auch eine Hintertür, mit einer Treppe aus bröckelndem Beton und verbogenem Handlauf. »Tessa?« Ich stand da wie belämmert, schrie mir die Seele aus dem Leib. »Tessaaaa!!« Über mir wurde ein Fenster aufgerissen. Der struwwelige Kopf einer rotgesichtigen Frau Mitte Fünfzig erschien. Argwöhnisch lugte sie zwischen den zum Trocknen aufgehängten Wäschestücken hindurch und keifte: »Jetzt mach mal 'n Punkt, Meesta! Schluß mit dem Rabatz, Sie, sonst hetz ick Ihnen meenen Orje uff 'n Hals. Der haut Ihnen zu Brei, Männeken. Capito?« Ich hatte schon eine unflätige Bemerkung auf der Zunge, schluckte sie aber hinunter. »Haben Sie hier eben eine junge Frau gesehen?« fragte ich den Struwwelkopf. »So zirka einssiebzig, 46
helle Jeans, Pulli und kurze, braune Haare!« Die Frau musterte mich abschätzig. »Ne, Sie. Uff 'n Hof is bloß der Harras. Keene Frau mit Pulli.« »Überlegen Sie bitte!« rief ich. »Das ist kein Spaß. Meine Freundin stand bis eben noch in Ihrem Torweg.« »Wieso meen Torweg? Det is nich meener.« »Natürlich nicht, aber überlegen Sie bitte! Vielleicht hat Ihr Orje etwas gesehen?« »Orje? Gloob ick nich. Der horcht jrade anne Matratze.« Sie krauste die Stirn und befühlte, ob die Wäsche trocken war. Dann nahm sie den riesigen Schlüpfer von der Leine. »War'n Sie schon uff de Polente, Meesta?« Ich zog meine Augenlider auf Halbmast. Ich sah ein, es war völlig zwecklos, den Dialog fortzusetzen. Ich vergeudete nur wertvolle Zeit mit dem Palaver. Die Hintertür! Vielleicht war Tessa ins Haus gegangen, weil sie irgendwas alarmiert hatte? Statt mir Bescheid zu geben, stöberte sie nun auf eigene Faust im Haus herum. Ohne zu zögern, stieg ich die Stufen hinauf, klinkte die Tür auf und trat in das muffige Treppenhaus. Scharf rechts verlief die steile Kellertreppe. Sie endete an einer Bohlentür, die mit einer Vorhängekette versperrt war. Zur Linken ging es nach oben. Vor den drei Wohnungstüren in Parterre lagen grellfarbige Fußmatten. »Tessa!« Ich spitzte die Ohren, aber das erhoffte Lebenszeichen blieb aus. Ich kletterte die Treppe bis zur ersten Plattform hinauf. Hinter den Wohnungstüren herrschte Stille. Bis auf diese wuschelköpfige Frau und ihren Orje im dritten Stock schien das Haus ausgestorben. Die Bewohner schienen auf Arbeit zu sein oder Siesta zu halten. Zum Kuckuck! Tessa wußte genau, in welcher Gefahr wir uns gegenwärtig befanden. Trotzdem hatte sie einen überstürzten Alleingang gestartet. Sobald ich sie gefunden hatte, würde ich ihr ein paar Takte erzählen. Mit jeder Stufe, die ich erklomm, verstärkte sich meine Sorge. Obgleich es im Treppenhaus einigermaßen kühl war, merkte ich unversehens, daß mir immer heißer wurde. Schockiert machte ich halt. Mein magischer Siegelring. Er strahlte Hitze aus. Und einen Tick 47
später durchrieselte das charakteristische Prickeln, das der Ring abgab, meinen Körper. Der Ring des Nostradamus kündigte eine dämonische Aktivität an. Irgendwo, hinter einer dieser verschlossenen Wohnungstüren, trieb ein Schwarzblüter sein Unwesen. Ein Dämon, dem Tessa Hayden blauäugig in die Arme gelaufen war. Der Zorn, den ich auf meine Freundin empfand, verrauchte. Was blieb, war nackte Angst. Ich dachte an das Massaker in diesem Friseurladen am Checkpoint Charly. Gottseidank hatte ich meinen Einsatzkoffer dabei. Ich zerrte meine SIG Sauer hervor, ließ die Patronen aus dem Magazin purzeln und lud neu. Mit geweihten Silberkugeln. Eine von ihnen fiel herunter, weil meine Hände zitterten. Das Projektil rollte davon und klackerte scheppernd über die Stufen zum Treppenabsatz eine Etage tiefer. Rasch lief ich, um sie aufzuheben. Ich klickte sie ins Magazin, entsicherte die Waffe und preßte das Siegel meines Ringes an das siebenzackige Hexenmal, das ich auf der linken Brust trug. Es hatte die Größe eines Fünfmarkstückes und reagierte sofort auf die Berührung des Ringes. Ein dünner, laserartiger Lichtfaden peitschte hervor. Mit den Runen des altgermanischen Futhark-Alphabetes schrieb ich das Wort Suche auf die weißgetünchte Wand. Wenig später bewegte sich der Lichtstrahl. Sekundenlang tanzte er übermütig herum. Dann zeigte er die Treppe hinauf. Die Pistole im Anschlag, folgte ich dem Lichtfaden. Stufe für Stufe tappte ich nach oben. Nur unter Aufbietung all meiner Kräfte gelang es mir, Ruhe und Übersicht zu bewahren. Ich betete, daß Tessas Verschwinden nicht tragisch endete. Nach dem, was in den Nachrichten durchgesagt wurde, gingen diese Furien, die dem Imperium der Angst angehörten, mit menschenverachtender Grausamkeit vor. Wenn Tessa in ihre Hände gefallen war, erwartete sie der sichere Tod. Noch immer regte sich nichts im Haus. Meine Schritte tönten mir übernatürlich laut in den Ohren. Als bestünden meine Absätze aus Gußeisen. Plötzlich endete der Lichtstrahl. Er zeigte mitten auf eine Wohnungstür, rechts von der 48
Plattform. Mir fiel es wie Schuppen von den Augen, als ich das Türschild las. Es war aus schwarzem Kunststoff, nicht größer als das Etikett auf einem Schulheft. Der Lichtstrahl aus meinem Ring erhellte den Namen: E. Weither. Ich war am Ziel… * Die junge Frau, die für den Mitteldienst an der Rezeption des Forum-Hotels eingeteilt war, ähnelte einer fleischgewordenen Barbie-Puppe. Auf dem Revers ihres Kostüms haftete ein Schildchen mit dem Namen Lysanne Bardol. Als Wilhelmine Kroll durch das Foyer watschelte und vor ihr stehenblieb, hob die Hotelangestellte pikiert eine Augenbraue. Dieses Großmütterchen ist ja älter als die Steinkohle, dachte sie. Mühsam beherrscht beäugte sie die vorsintflutlichen Kleidungsstücke, die die kleinwüchsige Frau anhatte. Aber rasch fing sich Lysanne wieder. Sie schaffte es sogar, ein freundliches Lächeln auf ihre Lippen zu zaubern. »Guten Tag«, flötete sie. »Kann ich Ihnen behilflich sein?« »Ja«, krächzte die Alte. »Ich brauche eine Auskunft und zwei Zimmer.« Lysanne kriegte eine Gänsehaut. Die Stimme der Alten erinnerte sie an den Horrorschocker, den sie sich am Abend im Clubkino angeschaut hatte. Frankensteins Braut. Mit Boris Karloff. »Also gut«, sagte sie. »Was möchten Sie wissen, gnädige Frau?« Anstatt zu antworten, sah sich die alte Frau um. »Gerhard, du lahme Ente!« rief sie einem Mann in verschossener Cordjacke zu, der am Eingang stehengeblieben war und sich hektisch umsah. »Gerhard, hier bin ich!« Das Gesicht des Mannes hellte sich auf. Mit schweren Schritten stapfte er auf die Rezeption zu. Neben der Alten angekommen, nickte er Lysanne flüchtig zu und grinste verlegen. »Das ist Gerhard«, stellte ihn die Alte vor. »Gerhard Rutter. Und ich bin Wilhelmine Kroll. Wir kommen aus Seilin - am Schmollensee. Ich bin seit sechzig Jahren nicht in Berlin gewesen. Beim letzten Mal wehten noch überall Hakenkreuzfahnen.« 49
Lysanne schluckte irritiert. »Tja, das ist wirklich schon 'ne Weile her.« Die alte Frau holte tief Luft. Dann sagte sie: »Ich bin hier, weil ich einen Mann suche, Fräulein. Meines Wissens logiert er in Ihrem Hotel. Ich muß ihn unbedingt sprechen. Auf der Stelle.« »Und wie heißt der Herr?« Lysanne klapperte auf der Tastatur des Computers. »Sein Name ist Mark Hellmann. Er stammt aus Weimar.« »Mark Hellmann?« Lysanne Bardol klimperte mit ihren künstlichen Wimpern. Alles hätte sie erwartet, aber daß die verschrobene, alte Vettel ausgerechnet zu dem gutaussehenden Typen von Zimmer siebenhundertvierunddreißig wollte? Das schlug dem Faß den Boden aus. »Ja«, sagte die Alte. »Mark Hellmann. So heißt er. Bitte, Fräulein. Es ist dringend.« »Tut mir leid. Herr Hellmann ist nicht im Haus«, verkündete die Hotelangestellte. »Ungefähr vor drei, vier Stunden hat er das Hotel verlassen.« »War jemand bei ihm?« Lysanne nickte. »Ja, die Dame, mit der er sein Doppelzimmer teilt. Ihr Name ist Tessa Hayden.« »Wohin sie gegangen sind, wissen Sie nicht, oder?« »Nun ja, gnädige Frau, normalerweise darf ich über Gäste, die bei uns eingecheckt haben, keine Auskünfte erteilen. Vorschrift.« Jetzt ergriff der Begleiter der Alten das Wort. »Es ist aber keine normale Angelegenheit, junge Frau.« »Worum geht es denn?« erkundigte sich Lysanne. Die alte Frau und der Mann wechselten stumme Blicke. Dann krächzte sie: »Um Leben und Tod. Der Mann, den ich suche, schwebt in großer Gefahr.« »Natürlich.« Die gestylte Hotelangestellte spürte Unbehagen in sich aufsteigen. Die beiden Prollis haben nicht alle Tassen im Schrank, fuhr es ihr durch den Kopf. Zu lange in der Sonne gewesen! Schon wie diese Provinzler aussehen! Wie zwei Mumien. Und jetzt spielten sie sich obendrein als Lebensretter auf. Agent Scully und Agent Mulder auf Europatour. Das ist ja zum Piepen! »Tut mir leid«, sagte sie, »Ich darf Ihnen keine Auskunft geben. - Was ist nun mit Ihren Zimmern?« Der Mann mit der Cordjacke erledigte die Formalitäten. Als die Angestellte ihm das Formular über die Theke reichte, sah sie zu, wie er ungelenk seinen Namen unter das Papier kritzelte. Lysanne 50
wandte sich ab, um die Chipkarten aus dem Fach zu entnehmen. Da brach an der Hallenbar die Hölle los. Das Spektakel des Grauens spielte sich in atemberaubend kurzer Zeit ab. Gerade als der Barkeeper einem langaufgeschossenen Gast, der ungeachtet der Hitze einen langen Lodenmantel trug, einen Longdrink vorsetzte, passierte es. Lysanne Bardol traute ihren Augen nicht. Der Mann im Mantel packte den Barkeeper am Schlawittchen. Wie ein Blitz aus heiterem Himmel. Er zerrte den verblüfften Kollegen, der gut und gerne achtzig Kilo wog, mit unglaublicher Leichtigkeit über den blankpolierten Bartresen. Dann trieb er dem Barkeeper ein Messer in die Brust. Die übrigen Bargäste schrien auf. Sie sprangen von ihren Sitzen und wichen schockiert zurück. Der Mann im Mantel schmetterte den leblosen Körper des Barmannes ins Foyer. Und schon wirbelte sein blutbeflecktes Messer erneut in der Luft. »Gütiger Gott!« murmelte Lysanne Bardol. Sie sah, wie sich der Mantelmann auf das nächste Opfer stürzte. Ein vornehm gekleideter Herr, mit Designerbrille und Kavalierstuch in der Brusttasche des Sakkos. Lysanne kannte den Mann. Es war Pan Ryszard Wojciechowski aus Warschau, Polen. Ein Topmanager aus der Schwerindustrie, der wegen seiner Unkompliziertheit beim Hotelpersonal sehr beliebt war. Er fiel gerade unter einen Tisch und blutete entsetzlich. Mit abgewandtem Blick tastete Lysanne nach dem Notschalter der unter der Theke installiert war. Sie drückte den Knopf so fest sie konnte. In wenigen Sekunden würden Männer des hoteleigenen Security-Dienstes im Foyer auftauchen. Doch die Killerbestie war schnell wie eine Katze. Der Mantelmann schwang sein Messer und stürzte auf eine Schar Jugendlicher zu, die sich in einem Winkel der Hallenbar zusammendrängten. Als er auf sie zujagte, erhob sich ein vielstimmiges Kreischen. Die Teenager umarmten sich, hoben abwehrend die Hände und trampelten mit den Füßen. Zwei der Mädchen fielen ohnmächtig in die Arme geistesgegenwärtiger Burschen. Niemand wagte es, sich dem Rasenden in den Weg zu stellen. Gleich würde er die Gruppe erreicht haben und ein entsetzliches Massaker anrichten. Lysann merkte, wie sich ihre Augen mit 51
Tränen füllten. Wo blieben bloß die Männer vom Sicherheitsdienst? Die Kantine, wo sie üblicherweise hockten, war doch gleich um die Ecke. Ein Katzensprung. Lysann spürte, daß der Boden unter ihren Füßen nachgab. Da beobachtete sie, wie die verhutzelte, kleine Frau aus dem Dörfchen Seilin eine fast fußballgroße Kristallkugel in die Höhe hielt. Offenbar hatte sie das Teil ihrer bauchigen Reisetasche entnommen. Die Kugel funkelte in allen Regenbogenfarben. Geblendet beschatteten die Umstehenden ihre Augen. Die Hände der Alten zitterten, und der Mann, der sie begleitete, mußte sie jetzt stützen. Lysann ahnte nicht im entferntesten, was das alles bedeutete. Urplötzlich flammten sämtliche Lampen in der Halle auf. Oberlicht, Punktstrahler, Stehlampen. Keine einzige blieb dunkel. Der CD-Player an der Hallenbar jaulte gequält auf und spielte verrückt. Der Song, der gerade auflag, schmetterte durch den Raum, ohrenbetäubend laut und in einem wahnwitzigen Tempo. Die Instrumente, die Stimmen der Sänger, alles verschmolz miteinander. Die Bässe dröhnten dabei so intensiv, daß der Fußboden und die Decke vibrierten. Die Anwesenden hielten sich die Ohren zu. Das Getöse hätte ihnen sonst die Trommelfelle zerschmettert. Dann flog die Kristallkugel, wie aus einer Kanone abgefeuert, durch die Luft. Bevor die Leute wußten, wie ihnen geschah, hatte die Kugel ihr Ziel erreicht. Volltreffer! Die Kugel knallte an den Kopf des messerschwingenden Mantelmannes. Durch die unerhörte Wucht, die von der Kugel ausging, wurde die Killermaschine nach vorn geschleudert. Er hob ab und krachte kopfüber gegen die große Fensterscheibe aus Panzerglas. Dort sackte er zusammen. Reglos blieb er liegen. Eine Sekunde lang herrschte Grabesstille. Dann brüllte unzählige Stimmen durcheinander. Eine von ihnen konnte die Hotelangestellte Lysanne Bardol besonders deutlich verstehen. »Der Kerl ist kein Mensch! Zum Henker, seht nur! Er hat ja einen Totenkopf…!«
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* Die Angst um Tessa raubte mir fast den Verstand. Obwohl ich keinen blassen Schimmer hatte, was mich hinter der Wohnungstür erwartete, blies ich zum Sturmangriff. Ich warf mich gegen die Tür, bis sie aufsprang. Ich trat in den Korridor. Der Ring an meiner Hand strahlte noch einmal auf. Dann versiegte das Glimmen ebenso wie das Prickeln. Entweder war seine Energie aufgebraucht oder…? Die Tür, hinter der offensichtlich die Wohnstube lag, war nur angelehnt. Sie bewegte sich kaum merklich. Irgendwoher erklangen verzerrte Musikfetzen. Wahrscheinlich stand ein Fenster offen, und die Geräusche kamen von draußen herein. Die Pistole im Anschlag, verpaßte ich der Tür einen sachten Stoß. Sie schwang auf. Ich spähte in das Zimmer. Mein Blick fiel auf den leblosen Körper einer Frau im geblümten Sommerkleid. Die Frau lag auf dem Bauch, zwischen einer Anrichte und dem Fernsehschrank. Über ihr flimmerte der Bildschirm der Glotze. Ein Werbespot lief, allerdings war der Ton abgestellt. »Tessa?« keuchte ich. Niemand gab Antwort. Außer der Frau am Boden schien die Wohnung verwaist. Ich schob mich langsam in das Zimmer. Mein Finger lag am Abzugsbügel. Ich war gespannt bis unter die Haarwurzeln. Was würde mich erwarten? Neben der Frau ging ich in die Hocke. Behutsam tippte ich sie an die Schulter. Die Frau rührte sich nicht. Aber sie atmete. Dem äußeren Anschein nach hatte sie keine Verletzungen. Es gab weder Blut, noch irgendwelche Prellungen. Sie wirkte, als würde sie friedlich ein Nickerchen machen. Aber kein Mensch legte sich mitten auf den Teppich, um auszuruhen. Vorsichtig drehte ich sie auf die Seite. Ihr Kopf war ohne Halt. Ihr Gesicht maskenhaft starr und weiß wie Kreide. Ich beschloß, sie anzusprechen. »Hallo!« Ich rüttelte sie. »Wachen Sie auf!« Abgesehen von einem leisen Stoßseufzer reagierte sie nicht. Ich startete gerade einen neuen Versuch, als ein Telefon klingelte, 53
ganz in der Nähe. Alarmiert schnellte ich in die Höhe. Der Apparat stand in der Diele, unter dem Garderobenbrett. Wie ein Trompetensolo gellte das Klingeln in meinem Ohr. Ich nahm den Hörer ab. »Ja, hallo?« Eine Stimme, die aus den finstersten Abgründen der Hölle zu kommen schien, flüsterte: »Ich habe Tessa.« Fast wäre mir der Hörer aus der Hand geglitten. Meine schlimmsten Befürchtungen hatten sich bewahrheitet. Tessa, dieses leichtfertige Ding, war geradewegs in die Höhle des Löwen getappt, wie ein ahnungsloser Unschuldsengel. »Wer bist du?« schnaufte ich. »Nummer eins«, kam es dumpf zurück. »Und die süße Tessa wird die Nummer acht sein.« Ich kämpfte um Fassung. Die Karre steckte, wie so oft, tief im Dreck. »Ich glaube dir kein Wort«, raunte ich in den Hörer. »Du bluffst. Aber ich werde dir auf die Schliche kommen, mein Freund. Sieh dich vor!« Das Lachen, das aus der Hörmuschel ertönte, brachte mich in Harnisch. Dieses Mistding am anderen Ende der Leitung verspottete mich. Ich umkrampfte den Hörer so fest, daß er beinahe splitterte. »Willst du ihre Stimme hören?« jauchzte es. »Ich werde gnädig sein. Immerhin ist es das letzte Mal, daß du die Stimme deiner Freundin hören wirst.« Ich schwieg zähneknirschend. Dann schreckte ich zusammen. »Mark?« erklang es weinerlich. »Ich bin's, Tess. Ich habe Mist gebaut. Jetzt sitze ich in der Patsche.« »Wo bist du, Tess?« »Ich weiß nicht. Es ist stockdunkel. Ich sehe nichts. Mir ist, als wäre ich schwerelos.« »Was ist passiert?« »Als ich Pit anrief, hörte ich einen Streit im Treppenhaus. Naja, weil ich nicht genau verstand, bin ich ein paar Schritte auf den Hinterhof gegangen. Dann war da dieser Schrei, aus einer Wohnung, ziemlich weit oben. Der Schrei einer Frau. Ich rannte die Treppe hoch. Jemand zerrte die schreiende Frau in eine Wohnung. Ich konnte nicht mal erkennen, wer. Ich eilte ihr zur Hilfe. Auf einmal tauchte dieser Totenkopf auf…« »Was für ein Totenkopf?« Ich war baff. 54
»Nun ja«, druckste Tessa. »Genau hab ich es nicht ausmachen können. Ich weiß bloß noch, daß ich plötzlich umgefallen bin. Es ist mir jetzt noch völlig schleierhaft, wie das passieren konnte.« »Da hat sich jemand in dein Gehirn eingeloggt.« »Das denke ich auch, Mark. Ich…« Tessas Stimme verstummte. Statt dessen sprach Nummer eins: »Bitte keine Beleidigungen, Hellmann! Sonst lege ich dein Zuckerpüppchen sofort um. Kapiert?« Ich zerquetschte einen Fluch. Die Lage, in der sich Tessa und ich befanden, war prekär. Zudem durfte ich Nummer eins nicht unnötig reizen. Er hatte Tessa in seiner Gewalt. »Was willst du von mir?« fragte ich. »Nicht viel - nur deinen Tod!« »Da bin ich aber beruhigt«, sagte ich in einem Anfall von schwarzem Humor. »Ich dachte schon, es wäre was Ernstes.« »Spotte nur! Wer zuletzt lacht, lacht am besten. Und das werde ich sein. Da geb ich dir Brief und Siegel drauf.« »Du willst meinen Tod«, überlegte ich. »Heißt das, wenn ich mir die Radieschen von unten anschaue, läßt du Tessa frei?« »Ich gebe dir mein Wort darauf.« »Dein Wort? Pfff. Ich weiß ja nicht mal, mit wem ich es zu tun habe.« »Ich bin Nummer eins.« »Die Litanei kenne ich schon. Wer bist du aber wirklich?« Einige Atemzüge lang herrschte Schweigen. Mir war, als würde ich im Hintergrund Tessas verängstigtes Seufzen hören. Ein kalter Schauder überkam mich. Selten fühlte ich mich so hilflos. Ich schaute auf meinen Einsatzkoffer, dessen Inhalt mir bislang so hervorragende Dienste geleistet hatte. Aber irgendwie fühlte ich, daß mir diesmal weder Kruzifix, noch Silberkugeln aus der Klemme helfen würden. Ich mußte einen anderen Weg finden. »Wer ich bin, spielt keine Rolle«, preßte der Anrufer hervor. »Du kannst mich Nummer eins nennen. Die Nummer eins des Imperiums der Angst. Das sollte dir genügen. Kennst du nicht das Sprichwort: Was ich nicht weiß, macht mich nicht heiß?« Das Ekel bombardierte mich mit Sprichwörtern! Ich widerstand meinem Drang, den Hörer aus dem Apparat zu reißen und aus dem Fenster zu schmeißen. »Wieso bist du so scharf darauf, mich aus dem Weg zu schaffen?« fragte ich ihn. »Wenn du angeblich die Nummer eins 55
bist, könnte ich dir doch schnuppe sein.« Geflissentlich überhörte er meinen Einwand. Sogleich schöpfte ich neuen Mut. Es mußte da etwas geben, was ihm nicht in den Kram paßte. Etwas, das ich bei mir hatte, und das er unter allen Umständen an sich bringen wollte. Etwas, das ihm kolossalen Respekt einjagte. Aber was? »Wie lautet deine Entscheidung, Hellmann?« wollte er wissen. »Du oder Tessa. Das ist mein Angebot.« »Laß Tessa Hayden laufen«, forderte ich. »Was das für dich bedeutet, weißt du.« »Laß sie frei!« »Also gut«, entgegnete er. »Du brauchst nichts weiter zu tun, als dort, wo du dich gerade aufhältst, zu warten. Den Rest erledige ich. Hast du verstanden?« »Und woher weiß ich, daß du mich nicht betrügst?« »Du hast mein Wort.« »Wow! Das ist nicht gerade viel.« »Hellmann, du hast keine andere Wahl. Deine Laufbahn als Dämonenjäger«, er zog das Wort abwertend in die Länge, »ist ein für allemal zu Ende. Es sei denn, du riskierst, daß ich deine Freundin in Streifen schneide, bei lebendigem Leibe. Wenn du willst, kannst du sogar dabei zuhören. Ich bin ja gar nicht so.« »Du bist ein Scheusal!« fluchte ich. »Ich weiß«, sagte er leise. »Ich weiß.« * »Wo gehen wir hin?« fragte Ebs. Marina hakte sich bei ihm unter. »Nicht weit. Laß uns bummeln.« Sie schlenderten über den Alexanderplatz. Vor ihnen ragte der Telespargel in den wolkenlosen, blauen Himmel. Die Sonne brannte unbarmherzig auf das Straßenpflaster. »Ich muß immerzu an meine Mutter denken«, sagte Ebs. »Wie?« »Meine Mutter«, fuhr er fort. »Ich sehe sie noch vor mir, wie sie in den Flur kam, die Handtasche mit dem Chianti in der Hand. Die 56
Augen vor Schreck aufgerissen. Das Bild läßt mich nicht los.« »Seit wann bist du ein Muttersöhnchen?« Marina warf ihm einen geringschätzigen Blick zu. »Ich denke, du findest deine Eltern zum Kotzen. Hast du selber gesagt.« Durch Ebs Körper ging ein Ruck. Er blieb stehen. Die Ereignisse der letzten Stunde entrollten sich vor seinem geistigen Auge. Sie hatten im Bett gelegen, Marina und er. Die Lust, die sie füreinander empfanden, war unbeschreiblich gewesen. Und plötzlich hatte das Mädchen eine Idee gehabt. Splitternackt stand sie vor ihm, als sie vorschlug, eine der geheimnisvollen Pillen zu schlucken, aber keine ganze, sondern nur ein kleines Eckchen. Sie war neugierig, was dann mit ihnen passierte. Er war strikt dagegen, hatte versucht, es ihr auszureden. Doch auf die Dauer war Ebs dem listigen Mädchen nicht gewachsen. Marina hatte ihn übertölpelt. In dem Gin Tonic, den sie ihnen mixte, war eine der magischen Pillen aufgelöst. Die Wirkung war phänomenal. Nach einigen Minuten verwandelten sich ihre Gesichter in furchteinflößende Höllenfratzen. Ihre Körper wurden schwerelos, ihre Begierde uferte geradezu aus. Wie Raubtiere waren sie übereinander hergefallen, beseelt von unaussprechlicher Wollust! Dann schlug die Wohnungsklingel an. Ebs Mutter tauchte auf. Als sie Marina in ihrer teuflischen Gestalt ansichtig wurde, schrie sie wie am Spieß. Und dann war da diese fremde Frau mit der braunen Kurzhaarfrisur. Was danach kam, wußte Ebs nicht mehr. Erst auf der Straße setzte sein Erinnerungsvermögen wieder ein. In seinem Gedächtnis klaffte ein schwarzes Loch. Er zog die Schultern hoch und schaute Marina an. »Wie soll es eigentlich weitergehen?« forschte er. »Womit?« »Mit all den verdammten Dingen, die wir für Nummer eins tun müssen.« Er dämpfte seine Stimme. »Diese grauenvollen Morde und so. Irgendwann wird man uns schnappen und einen Kopf kürzer machen. - Du, Marina, was hältst du davon, wenn wir aus dem ganzen Schlamassel einfach aussteigen?« Sie starrte ihn an. »Das ist unmöglich.« »Überleg doch mal«, argumentierte Ebs. »Das ist doch alles purer Schwachsinn. Nummer eins ruft an. Wir bringen Leute um. Und was haben wir im Endeffekt davon? Ich sag's dir: Nicht das 57
Schwarze unterm Nagel. Wir stehen mit leeren Hände da.« »Nicht mehr lange«, sagte Marina. »Dann werden wir groß herauskommen.« »Als Jahrmarkts-Monster im Plänterwald, oder wie?« »Quatschkopp! Hab Geduld. Nummer eins weiß genau, was er tut. Bald werden wir die Kings sein.« »Kings?« Ebs lachte verächtlich. »Ich fühle mich eher wie ein ausgemachter Trottel. Oder noch besser, wie eine ferngesteuerte, obertrottelige Killermaschine.« »Halt die Luft an!« fuhr ihm Marina über den Mund. »In einer Woche stehen wir ganz oben. Nummer eins hat's mir versprochen. Nur noch ein paar Einsätze, und die Stadt liegt zu unseren Füßen.« »Das halte ich für ein Gerücht.« »Natürlich nicht offiziell«, räumte Marina ein. »Es wird weiter Politiker, Polizei und all die Leute an den Schaltknüppeln geben. Aber alle die Typen werden genau das tun, was Nummer eins verlangt. Das Imperium der Angst wird die Herrschaft übernehmen.« »Dein Wort in Gottes Ohr«, meinte Ebs. Das Mädchen fuhr herum. In ihren Augen glitzerte kalte Wut. »Dieses Wort, das du da eben von dir gegeben hast, benutze es gefälligst nie wieder! Okay?« »Und warum nicht?« »Frag nicht so blöde. Weil ich es dir sage, darum nicht.« Allmählich geriet Ebs in Rage. Marina behandelte ihn wie einen dummen Jungen. Das paßte ihm nicht. Er war fünfundzwanzig, ein erwachsener Mann also, und er legte Wert darauf, daß man ihn auch so behandelte. Schon wollte er ihr die Meinung geigen, aber im letzten Moment hielt er inne. Es wäre unklug und in höchstem Maße gefährlich, jetzt Zirkus zu machen. Nummer eins würde seinen Zwergenaufstand schon im Ansatz ersticken. Ebs gab sich geschlagen. »Mal was anderes«, meinte er. »Wann kann ich eigentlich in meine Bude zurück?« »Später«, wich Marina aus. »Wann später? Heute abend, morgen, übermorgen?« Marina runzelte unwillig die Stirn. »Ich werde es dir schon rechtzeitig sagen, du Nervensäge.« Sie gingen ein paar Schritte, bis eine Telefonnische auftauchte. 58
Marina blieb stehen und wartete. Wie auf Kommando klingelte das Telefon. Ehe Ebs sich versah, war das Mädchen hineingehuscht und hatte den Hörer von der Gabel gerissen. Als er ihren verkniffenen Gesichtsausdruck sah, ahnte er, wer der Anrufer war. Diese verdammte Nummer eins war überall und nirgends. Egal, wo man sich befand, Nummer eins schien anwesend. Ebs kam die Galle hoch. Angewidert spuckte er aus. Wer war Nummer eins? Er zermarterte sich das Gehirn. Ohne Erfolg. Grübelnd beobachtete er, wie das Mädchen Marina aufmerksam in den Hörer lauschte. Dann sprach sie selbst. Alles deutete darauf hin, daß sich ein neuer Auftrag anbahnte. Als Marina einhängte und auf ihn zukam, fröstelte Ebs, mitten auf dem sonnenüberfluteten Alexanderplatz. * Wilhelmine Kroll hatte einen Schwächeanfall. Sie war in die Arme ihres Begleiters gesunken. »Kann ich helfen?« fragte Lysanne Bardol. Gerhard Rutter hob die zierliche, alte Frau hoch und trug sie wie eine Puppe auf das nächstgelegene Ledersofa. Die Hotelangestellte tippelte aufgeregt hinterher. Unterdessen war eine starke Polizeitruppe eingetroffen. Sie hatten das Terrain rund um die Hallenbar mit einer rot-weißen Banderole abgeriegelt. Vor dem Eingangsportal standen schwer bewaffnete Posten. Scharen von Rettungssanitätern wuselten durch das Foyer und kümmerten sich um die Verletzten. Die Toten waren bereits durch den Hinterausgang fortgeschafft worden. Auch der Urheber des Massakers war unter ihnen. Die Kristallkugel hatte seinen Schädel zertrümmert. Behutsam bettete Gerhard Rutter die alte Frau auf das Sitzmöbel. Lysanne sah, daß er nach einer Unterlage für ihren Kopf Ausschau hielt. Sofort raffte sie ein Tischtuch an sich, rollte es zusammen und schob es der Alten unters Genick. »Danke«, sagte Rutter rauh. »Ich werde einen Arzt anfordern«, bot Lysanne an. »Nicht nötig«, wisperte die Alte. »Ich bin nur ein wenig 59
schwach, Fräulein. Das geht vorüber. Ich kennen meinen Körper, seit über neunzig Jahren. Ein paar Minuten Ruhe, und ich bin munter wie ein Fisch im Wasser. Sie haben doch nichts dagegen, daß ich es mir hier auf den teuren Polstern bequem gemacht habe?« »Ich bitte Sie!« Lysanne wurde puterrot. Die Frau ist ein Phänomen, sagte sie sich. Ich wette meine letzte Puderdose, sie ist eine Okkultistin. Ein gewöhnlicher Mensch hätte es nie fertiggebracht, diese Kugel durch die Gegend zu schmettern. Lysanne brannte eine Frage auf der Zunge. »Wie haben Sie das bloß angestellt? Ich meine, vorhin, das mit der Kristallkugel. Das war ja heller Wahnsinn. Sie haben einer Menge Leute das Leben gerettet.« Wilhelmine Kroll schloß die Augen. »Ist er tot?« fragte sie. Die Hotelangestellte nickte. »Das Ungeheuer wird nie mehr mit einem Messer auf jemanden losgehen.« »Dann ist es gut«, sagte die Alte und seufzte. »Ich werde doch nach einem Arzt sehen.« Gerhard Rutter schüttelte den Kopf. »Vergebene Liebesmüh. Frau Kroll ist auf Arzte nicht gut zu sprechen.« Unversehens trat ein korrekt gekleideter Mann in grauer Anzughose, Krawatte und kurzärmeligem Hemd auf sie zu. Er wandte sich an Lysanne Bardol und zückte seinen Dienstausweis. »Ich bin Hauptkommissar Grundmann«, stellte er sich vor. »Man sagte mir, die Person, die den Täter ausgeschaltet hätte, hält sich hier irgendwo auf. Können Sie mir einen Tip geben, wo ich sie finde?« »Sie stehen direkt vor ihr«, antwortete Lysanne. »Äh, wie bitte?« Lysanne zeigte auf Wilhelmine Kroll. Der Hauptkommissar guckte dumm aus der Wäsche. Sein ungläubiger Blick blieb sekundenlang auf der ausgestreckten Gestalt der alten Frau haften. »Hm«, sagte er rauhhalsig. »Meine Kugel«, krächzte Wilhelmine Kroll. »Ich muß meine Kugel zurückhaben.« »Tut mir leid«, meinte der Beamte. »Ihre Kugel ist ein wichtiges Indiz. Ich fürchte, Sie werden einige Zeit auf sie verzichten müssen. Die Kriminaltechniker beschäftigen sich gerade mit ihr.« Die Alte versuchte, sich aufzurichten. In ihren Augen glomm 60
blankes Entsetzen. »Geben Sie mir meine Kugel wieder!« flehte sie. »Sie brauchen sich nicht unnötig zu ängstigen, gute Frau. Wir wollen Ihnen das gute Stück ja nicht wegnehmen. Es dient lediglich für einige routinemäßige Untersuchungen.« »Ich will sie aber sofort zurück«, beharrte die Alte. Der Hauptkommissar legte die Stirn in Falten. »Die Kugel ist eine Tatwaffe. Das müssen Sie berücksichtigen. Immerhin kam ein Mensch durch sie zu Tode.« »Wollen Sie etwa damit sagen…?« Gerhard Rutter war außer sich. Seine Gedanken galoppierten schneller, als er reden konnte, und der Hauptkommissar unterbrach ihn abrupt. »Erklären Sie mir bitte erst einmal, wie Sie das angestellt haben, die Kugel aus dieser Entfernung durch die ganze Halle zu schleudern«, fragte er Wilhelmine Kroll. »Das sind ja fast dreißig Meter. Finden Sie diesen Vorgang nicht auch äußerst merkwürdig?« »Nein«, hauchte die alte Frau. »Aber das Teil wiegt gut und gern seine drei Kilo. Und es hatte eine Wahnsinnspower, als es den Täter traf. Sein Schädel muß wie eine Walnußschale zerknackt sein.« »Er war ein Handlager des Bösen«, flüsterte die Alte. Grundmann fuhr sich übers Gesicht. »Meine Güte«, seufzte er. »Bitte nicht schon wieder. Einer der Zeugen hat gerade behauptet, der Kerl hätte einen Totenkopf gehabt.« »Und Sie glauben ihm nicht, hab ich recht?« Wilhelmine Kroll stützte sich auf einen Ellbogen. »Ich sage Ihnen eines: Geben Sie mir meine Kristallkugel zurück, sonst wird ein Unglück geschehen, daß das eben bei weitem übertrifft.« »Wollen Sie mir drohen?« »Gott bewahre! Nein, ich will Sie warnen.« »Wovor?« Der Hauptkommissar beobachtete seine schwerbewaffneten Leute, die emsig durch die Hotelhalle wuselten. Dann sah er die alte Frau scharf an. »Wovor wollen Sie mich warnen?« Wilhelmine Kroll atmete schwer. Lysanne Bardol hatte Mitleid mit ihr. Die alte Frau hatte soeben eine Heldentat vollbracht, lag nun fix und fertig auf der Matte, und dieser ignorante Polizist löcherte sie mit geistlosen Fragen. Rutter schien genauso zu denken, denn er sagte:.»Ich schlage 61
vor, Sie verschieben Ihre Befragung auf einen späteren Zeitpunkt, Herr Hauptkommissar. Sie sehen doch, wie schwach Frau Kroll ist.« »Wie Sie wollen.« Grundmann entfernte sich. »Ein ungehobelter Patron«, sagte Lysanne, als er außer Sicht war. »Er tat ja gerade so, als hätten Sie ein schändliches Verbrechen begangen.« Rutter nickte beifällig. »Des Menschen Wille ist sein Himmelreich. - Ich meine, Fräulein, es ist an der Zeit, daß wir uns endlich auf unsere Zimmer begeben.« Er machte Anstalten, Wilhelmine Kroll aufzurichten, aber die Alte schüttelte seine Hand ab. »Nichts da!« gurgelte sie. »Zuerst brauche ich meine Kristallkugel wieder.« »Aber warum, um alles in der Welt?« Lysanne blinzelte nervös. »Das Ding hat doch seine Pflicht getan.« »Von wegen«, schnaufte die alte Frau. »Es ist so sicher wie das Amen in der Kirche, daß dieser gräßliche Kerl in dem langen Mantel Spießgesellen hat.« Entsetzt trat Lysanne einen Schritt zurück. Die Alte setzte noch einen drauf: »Und es wird nicht lange dauern, bis diese Bestien auftauchen.« »Hier, im Hotel?« Die .Hotelangestellte schauderte. »Ich denke, ja.« »Aber«, Lysann deutete auf die Polizisten. »Es wimmelt hier von Bewaffneten. Niemand wird auf die hirnrissige Idee verfallen, hier hereinzuspazieren, um ein zweites Blutbad anzurichten. Sie würden auf der Stelle festgenommen werden.« »Mark Hellmann muß her!« forderte die Alte und starrte die Hotelangestellte durchdringend an. »Sagen Sie mir endlich, wo ich ihn erreichen kann!« »Warten Sie! Ich gebe Ihnen seine Handynummer«, bot Lysanne hilfsbereit an. »Die hab ich selbst. Aber er geht nicht ran. Weiß der Teufel, was da passiert ist. - Es hilft alles nichts. Ich brauche die Kugel, um jeden Preis!« »Verlassen Sie sich auf mich!« Gerhard Rutters Augen wurden dunkel. »Ich hole sie Ihnen. - Und wenn es das letzte ist, was ich in meinem Leben tue!« Auf dem Absatz machte er kehrt und stapfte, die Hände zu Fäusten geballt, davon. 62
* Nachdem ich die ohnmächtige Frau auf das Bett gelegt hatte, starrte ich durch Wolthers Wohnzimmerfenster auf den Hinterhof. Ich fühlte mich wie ein Lamm, das sich freiwillig auf die Schlachtbank begab. Wenn ich fortging, würde Tessa sterben. Blieb ich hier, wäre ich an der Reihe. Wilhelmine Krolls Prophezeiung würde wahr werden. In ein paar Tagen würde Tessa meine Todesanzeige lesen. Ein geflügeltes Wort von Woody Allen fiel mir ein: Ich habe keine Angst vor dem Sterben. Ich möchte nur nicht dabeisein, wenn es passiert. Mark Hellmann, reiß dich am Riemen! puschte ich mich auf. Solange du atmest, lebst du. Und bisher ist dir immer etwas eingefallen. Du bist der Kämpfer des Rings. Du hast einen Auftrag. Seit wann überläßt du deinen Gegnern kampflos das Feld? Doch guter Rat war in der Tat teuer, schier unbezahlbar. Ich saß in der Zwickmühle. Mein Blick verschwamm. Vor meinem geistigen Auge zogen einige meiner bislang erlebten Abenteuer vorüber. Alles fing mit den Schreckenstagen von Weimar an, vor knapp einem Jahr, als der Dämon Dracomar aus der Versenkung auftauchte, um mich allezumachen. Seit ich den Ring des Nostradamus besaß, den mein Adoptivvater mir übergab, überstürzten sich die Ereignisse. Es verging keine Woche, in denen nicht eine übernatürliche Kreatur aufkreuzte, um den Menschen auf der Erde das Leben zu vergällen. Sogar bis nach Schottland und Norwegen hatten mich Aufträge geführt. Im skandinavischen Gebirge wäre ich um Haaresbreite einem riesigen Werwolf zum Opfer gefallen. Allein der Tolpatschigkeit und Beherztheit meines Freundes Vincent van Euyens hatte ich es zu verdanken, daß der mörderische Fight mit der Blutbestie nicht in die Hosen ging (Siehe MH 44!). Aber diesmal war ich völlig auf mich allein gestellt. Weder von Vincent van Euyen, noch von meinem Freund Fit 63
Langenbach konnte ich Unterstützung erhoffen. Sie waren weit weg vom Schuß, in Weimar. Und Tessa, die ebenfalls schon Kopf und Kragen für mich riskiert hatte, befand sich in den Blutklauen von Nummer eins. Nummer eins! Wieso hatte dieses Wesen keinen richtigen Namen? Normalerweise hielten Schwarzblüter sehr viel von sich selbst. Sie nutzten jede Gelegenheit, um herumzuprotzen und einem ihren Namen um die Ohren zu hauen. Nummer eins bildete eine Ausnahme. Und er hatte Muffensausen vor einem gewissen Stück, das ich bei mir hatte. Ich wandte mich vom Fenster ab. Zum x-ten Mal unterzog ich die Utensilien aus meinem Einsatzkoffer einer eingehenden Musterung. Wenn Nummer eins hier aufkreuzte, konnte ich unmöglich jedes Teil an ihm auf seine Wirksamkeit ausprobieren. Im Handumdrehen würde er mich auslöschen. Ich ergriff das Kruzifix, betrachtete es und legte es wieder weg. Dann nahm ich die Flakons mit dem Weihwasser, betrachtete sie und legte sie wieder weg. Am geeignetsten erschien mir noch meine SIG Sauer, die mit Silberkugeln geladen war. Ein paar Kugeln im Schädel hatten schon so manchen schwarzmagischen Unhold zur Räson gebracht. Mein innerer Ratgeber riet mir jedoch, die Pistole zu den Akten zu legen. Sie schien nicht das richtige Instrument zu sein, um Nummer eins ins Jenseits zu verfrachten. Ich drehte meinen Siegelring um den Finger. Er war zwar keine Waffe, mit der ich meine Rivalen umpusten konnte, aber er speicherte Kräfte, die mich vor denen schützten und verteidigten. Beispielsweise konnte ich eine Pergola aus Licht um mich herum erreichen, die minutenlang nicht durch äußere Einflüsse durchbrochen werden konnte. Der Nachteil: Wenn die Energie des Rings versiegte, war es Essig. Mein Gegner brauchte nur abzuwarten, bis es soweit war, um mir daraufhin den Todesstoß zu versetzen. Ein wahrlich zweischneidiges Schwert. Probehalber aktivierte ich das siebenzackige Mal auf meiner Brust. Ich hatte vor, noch einmal das Wort Suche zu schreiben. Aber der erhoffte laserartige Lichtfinger zeigte sich nicht. Die Energie des Ringes war begrenzt, und gerade jetzt war sie verbraucht. Es konnte eine Weile dauern, bis das magische Teil 64
wieder funktionstüchtig war. Und jeden Moment konnte diese Nummer eins zur Tür hereinkommen. Kuckucksei und Wiedehopf! Sollte ich mit bloßen Fäusten auf ihn losgehen? Um meine Nervosität loszuwerden, tigerte ich durch die Wohnung. Vom Wohnzimmer ins Bad, in den Korridor, zurück ins Wohnzimmer. Dann in die Küche. Am Küchentisch blieb ich stehen. Gedankenlos ergriff ich den Packen Wurfsendungen, der hier abgelegt worden war. Das oberste Blatt warb für einen Baumarkt im Bezirk Marzahn. Das nächste, das ich in die Hand nahm, suggerierte dem Betrachter, Möbel aus dem Hause Soundso wären der absolute Hammer. Als ich die Prospekte wieder auf den Tisch legte, wurde ich auf ein Tablettenröhrchen aus durchsichtigem Glas aufmerksam. Es hatte unter dem Papier gelegen. Das Röhrchen hatte kein Etikett, dafür aber eine eigenartig verdrehte Form. Ich bemerkte, daß eine Pille fehlte - und daß mein Ring den Bruchteil einer Sekunde aufglühte. Und zwar so schmerzhaft und grell, wie ich es selten zuvor wahrgenommen hatte. Was hatte es mit diesem Präparat auf sich? Wofür oder wogegen wurde es eingenommen? Hatte dieser Weither, der hier wohnte, die fehlende Tablette geschluckt? Stand er auf der Gehaltsliste von Nummer eins? Hinter mir erklangen Schritte. Tapsig und unbeholfen. Ich wirbelte herum und sah, daß die Frau im geblümten Kleid taumelnd auf mich zusteuerte. Sie fuhr sich mit den Händen durch ihre Dauerwelle und fragte mich: »Sagen Sie mal, junger Mann! Was tun Sie denn in der Wohnung meines Sohnes? Ich kenne Sie nicht.« Als ihr Blick auf den Ballermann in meiner Faust fiel, schüttelte sie den Kopf. »Würden Sie mir mal erklären, was hier eigentlich vor sich geht?« »Gern. Aber ein andermal, ja? Ich schätze, in der Hütte wird gleich der Teufel los sein. Am besten, Sie machen sich aus dem Staub, bevor die ersten Fetzen fliegen.« »Ich verstehe kein Wort.« »Ihr Sohn«, meinte ich. »Haben Sie mit ihm heute gesprochen?« 65
Die Frau massierte ihre Stirn. »Nein«, murmelte sie. »Seltsam. Wieso habe ich auf dem Bett gelegen? Ich kann mich gar nicht daran entsinnen, daß ich mich hingelegt habe.« »Sie lagen ohne Bewußtsein auf dem Fußboden, als ich hereinkam.« Sie kramte in ihrem Gedächtnis. »Ich erinnere mich, ich hatte an der Tür geklingelt. Niemand machte auf. Aber von drinnen hatte ich Geräusche gehört. Ich rief meinen Sohn. Dann ging die Tür auf. Aber Eberhard war nicht da.« »Und wer hat Ihnen geöffnet?« »Ssss! Wenn ich das wüßte. Irgendwas muß mir einen höllischen Schrecken eingejagt haben. Ich habe laut aufgeschrien, und dann war da diese Dame mit dem hellen Pulli und dem braunen Pagenkopf…« Ich packte ihre Hand. »Das war meine Freundin Tessa. Ich suche sie die ganze Zeit. War außer ihr noch jemand da?« Wolthers Mutter zuckte die Achseln. »Wie gesagt, ich sah Sterne und kippte dann wahrscheinlich aus den Pantinen. - Meine Güte, hab ich einen Brummschädel!« »Bitte denken Sie nach!« bedrängte ich sie. »Jedes noch so winzige Detail kann sehr wichtig sein.« »Tut mir leid.« Ich zog ein enttäuschtes Gesicht, und sie trat ans Waschbecken, um sich ein paar Spritzer Wasser ins Gesicht zu schleudern. Als sie sich abrubbelte, klingelte das Telefon. Ich riß den Hörer vom Apparat. »Ja?« Eine wohlbekannte, aber zittrige Stimme fragte: »Sind Sie's, Herr Hellmann?« »Donnerlittchen!« Ich stand wie in Stein gemeißelt. »Wie haben Sie diese Nummer herausbekommen?« »Gerhard hat mir meine Kristallkugel wiedergebracht«, hüstelte Wilhelmine Kroll. »Aber das ist eine lange Geschichte! Fangen wir mit dem Wichtigsten an: Ich bin hier, in Berlin…« »Gütiger Gott!« Mir war, als fiele ich über Bord eines Luxusliners. * »Was hat er gewollt?« fragte Ebs. 66
Marinas Kaumuskeln arbeiteten. »Nummer fünf ist tot. Dieser Idiot hat sich umlegen lassen.« Ebs erstarrte. Bisher war er der Meinung, unüberwindlich zu sein, wenn seine Verwandlung vollzogen war. Die Aussicht, während eines Auftrages selbst ins Gras zu beißen, flößte ihm Angst ein. »Wie geht es weiter?« forschte er. Das Mädchen bog ihr Rückgrat durch. Ihr Shirt spannte, und einigen vorübergehenden Männern traten die Augen aus den Höhlen. Marina bemerkte die anerkennenden Blicke und grinste. Dann drehte sie sich zu Ebs. »Hast du deine Pillen dabei?« »Klar«, antwortete er und griff in seine Hosentasche. Als er sie leer fand, faßte er in die andere. Auch leer. Bedeppert zog er seine Zigaretten hervor und zündete sich eine an. »Wo sind sie?« Marina verengte ihre hübschen Augen. »Zu Hause. Wahrscheinlich auf dem Küchentisch. Ich hab sie liegenlassen.« »Hast du 'nen Knall?« fauchte Marina. »Was ist, wenn die Dinger jemand findet?« »Ist doch keiner da.« »Doch, deine Mutter, du Gehirnakrobat!« Marina schäumte vor Wut. »Hätte ich deine Alte bloß…« Ebs packte ihren Arm. »Noch ein Wort, und ich hau dir eine rein. Ist mir egal, daß du 'n Mädel bist.« »Laß mich los, du!« »Nur, wenn du meine Mutter aus dem Spiel läßt.« »Krieg dich ein!« fauchte Marina. »Ich meinte ja bloß, es ist verflixt leichtsinnig von dir, die Dinger einfach so herumliegen zu lassen.« »Brauchen wir denn jetzt welche?« Marina nickte. »Nummer eins will, daß wir 'ne alte Oma killen. Nichts Gefährliches.« Ebs schluckte. »Und wo?« »Forum-Hotel. Darin haben sie auch Nummer fünf abgemurkst.« »Dann wird's dort von Bullen nur so wimmeln«, wand er ein. »Wenn wir jetzt dort aufkreuzen, nehmen sie uns gleich hops.« »Vergiß es«, meinte Marina. »Natürlich werden wir nicht durch die Hotelhalle hereinspazieren. Im Hotel arbeitet 'ne knorke Kumpeline von mir. Susi Schuster. Sie macht einen auf 67
Hotelfachfrau. Susi ist mir noch 'nen Gefallen schuldig.« »Du meinst, wir sollen durch den Dienstboteneingang rein?« »Bingo, Süßer. Allmählich schnallst du, wie der Hase läuft. Also los! Machen wir uns auf die Strümpfe!« Er rauchte hastig. »Und die Pillen?« Marina klopfte vielsagend auf das Täschchen in ihrem Rock. »Für einen Durchgang reicht's noch.« * Wilhelmine Kroll saß auf der Bettkante ihres Hotelzimmers und telefonierte mit Mark Hellmann. Die Klimaanlage summte leise. Ein Fenster war angekantet. Als die Okkultistin dem Mann aus Weimar all die Dinge mitgeteilt hatte, die ihr auf dem Herzen lagen, atmete sie tief durch und legte den Hörer auf. Geistesabwesend blickte sie in eine Zimmerecke. Jetzt kam alles auf Gerhard Rutter an. Die zurückeroberte Kristallkugel im Gepäck, war der Selliner im gestreckten Galopp unterwegs zum Prenzlauer Berg. Wenn Mark Hellmann das von weißmagischer Energie strotzende Relikt an sein Hexenmal drückte, würde es ihm gelingen, ein unüberwindliches Energiefeld zu schaffen. Dieses Feld würde die Macht von Nummer eins in kürzester Zeit neutralisieren. Und die gleißenden Sonnenstrahlen würden ein übriges tun. Nummer eins war ein Geschöpf der Finsternis. Magisches Licht war reines Gift für ihn. Sein Imperium der Angst würde auf Nimmerwiedersehen dorthin verschwinden, von wo es stammte. In die Stadt der Toten. Nach Nekropolis. Die alte Frau rieb sich vergnügt ihre gichtigen Hände. Der Gedanke, daß dieses blutrünstige Subjekt bald von der Bildfläche verschwinden würde, gab ihr neue Kraft. Ihre Prophezeiung würde sich nicht erfüllen. Sie selbst hatte dem Schicksal einen Streich gespielt. »Lauf, Gerhard!« Wilhelmine Kroll rappelte sich auf. Aus der Minibar des Kühlschrankes holte sie sich ein kleines Fläschchen Cognac. Es war ein Martell Noblige. Zwar bevorzugte sie Remy Martin und Courvoisier, aber ein Martell war auch nicht 68
übel. Als sie den Metallverschluß aufgeschraubt hatte, tappte sie zu dem quadratischen Tisch am Fenster. Sie ergriff eines der blitzblanken Gläser, die dort umgestülpt standen, und goß die Hälfte des Cognac-Fläschchens hinein. Das Glas war zwar alles andere als ein Snifter, der typische Cognacschwenker, aber Not macht erfinderisch. Wilhelmine Kroll hob das Glas in die Höhe und beäugte die bernsteinfarbene Flüssigkeit befriedigt. »Cheerio, altes Mädel!« ächzte sie, prostete dem Fenster zu und nippte am Glasrand. Sie spürte, wie der Cognac wohlig in ihrem Innern brannte. Auf der Stelle fühlte sie sich besser. Die Kälte, die noch eben durch ihre Adern geströmt war, verging. Sie stellte das Glas beiseite, ging zur Tür, überprüfte, ob sie verriegelt war, und öffnete den Kleiderschrank. Aus dem verborgenen Fach eines lädierten Täschchens beförderte sie eine Packung Zigarillos und ein altes DDR-Benzinfeuerzeug. Umständlich schob sie den Glimmstengel zwischen ihre Lippen und gab sich Feuer. Dann paffte sie genüßlich, eine Angewohnheit, die noch aus dem Jazz-Zeitalter, den zwanziger Jahren des Jahrhunderts, stammte. Ein Zigarillo pro Woche hatte noch keinem geschadet. Zudem rauchte sie nicht Lunge, sondern bloß Backe. Genießerisch sog die alte Frau am Zigarillo. Das Zimmer begann, sich mit bläulichem Qualm zu füllen. Der Rauch stieg an die Decke, und sie sah, daß er bizarre Wölkchen bildete. Der hereinströmende Wind fetzte sie jedoch augenblicklich auseinander. Die Klimaanlage tat ein übriges. Wilhelmine Kroll goß den Rest des Martells in den Becher. »Gib ihm Saures, Mark Hellmann!« wisperte sie, bevor sie trank. Als sie das Glas absetzte, schnupperte sie. Es roch nach Rauch. Nach Rauch, der nicht von ihrer Zigarillo stammte… * Gerhard Rutter sprang aus der U-Bahn. Er schubste einen Mann beiseite, rannte einen zweiten über den 69
Haufen, hörte hinter sich wütendes Gebrüll, und stürzte, ohne auf die vorüberbrausenden Fahrzeuge zu achten, wie ein angestochenes Kalb über die breite Straße. Der Selliner wußte, daß das Leben Mark Hellmanns und vieler anderer unschuldiger Menschen am seidenen Faden hing. Und ausgerechnet er, Droschkenkutscher und ehemaliger LPG-Bauer, würde das Zünglein an der Waage sein. Noch vor zwei Tagen hätte er jedem hämisch ins Gesicht gelacht, der ihm gesagt hätte, übermorgen würde er, Gerhard Rutter, mitten in Deutschlands Hauptstadt einen Dämonen jagen. Aber wie fast immer kam es erstens anders, und zweitens als man denkt. Rutter rannte und rannte. Aber er war kein junger Hüpfer mehr. Er war über Fünfzig, übergewichtig und alles andere als fit. Jede Woche trank er eine Kiste Pilsener. Sein Bauch hatte den Umfang eines mittleren Partyfasses. Trotzdem lief er wie Zatopek. Doch seine Schritte wurden immer kürzer, immer langsamer. Er bekam Seitenstechen. Die Luft zum Atmen wurde immer knapper. Er prustete wie ein Walroß. Als Rutter um eine Ecke bog, sah er vor sich das Repräsentationsgebäude der ehemaligen SchultheißBrauerei. Gleich hab ich's geschafft! dröhnte es in seinem Kopf. Nur noch ein paar Dutzend Schritte. Instinktiv befühlte er Wilhelmine Krolls Kristallkugel, die in weiche Tücher gehüllt, in einer Alditüte ruhte. Er wollte einen Zahn zulegen, sein Tempo verschärfen, einen blitzsauberen Endspurt hinlegen, denn es war nicht mehr weit. Er konnte schon den. Torweg des Gebäudes erkennen, in dem Mark Hellmann sehnsüchtig auf ihn wartete. Da passierte es! Ein Inline-Scater rollte auf ihn zu. Es war ein ungefähr dreizehnjähriger Bengel, in abgeschnittenen Jeans und zerfranstem Muskelshirt. Mit halsbrecherischer Geschwindigkeit fegte er über den Gehsteig. Um einen Zusammenstoß mit dem Scater zu vermeiden, blieb Rutter sicherheitshalber stehen. Er wollte warten, bis der Junge mit den Rollerblades an ihm vorübergesaust war. Vorsicht ist die Mutter der Porzellankiste! Plötzlich sträubten sich Rutters Nackenhaare. Wie ein Sputnik preschte der Scater auf ihn zu, packte die Tüte, die der Selliner in der Hand hielt, und wollte sich mit seiner Beute aus dem Staub machen. 70
Ein Straßendieb! Gerhard Rutter war nicht der Mann, der sich die Butter vom Brot nehmen ließ. Bevor der dreiste Tütenräuber das Weite suchen konnte, stellte er ihm ein Bein. Der Junge schrie auf. Er verlor das Gleichgewicht und schlug lang hin. Die Plastiktüte mit der Kristallkugel flog in hohem Bogen durch die Luft. Im Rinnstein blieb sie liegen. »Verdammter Bengel!« Rutter stürzte auf die Straße, ungeachtet des fließenden Verkehrs. Am Rand seines Gesichtsfeldes bemerkte er, daß der Junge Fersengeld gab. Er kümmerte sich nicht um ihn. Am wichtigsten war die Tüte. Alles andere war Katzendreck. Als Gerhard Rutter sie aufheben wollte, quietschten Bremsen. Ganz nah. Rutter riß den Kopf hoch. Er starrte in ein verblüfftes Gesicht, hinter der Windschutzscheibe eines dunklen Autos. Rutter wollte rufen, schreien, mit den Armen wedeln. Der Aufprall! Gerhard Rutter hob ab und segelte wie eine Mauerschwalbe durch die Luft. Instinktiv streckte er die Arme aus, um den Sturz nicht mit dem Kopf zu bremsen. Dann schlug er auf dem Asphalt auf. »Die Tüte«, japste er. »Die Tüte…« Rutter versuchte, auf die Beine zu kommen. Die Tüte lag jetzt mitten auf der Fahrbahn. Wenn jemand darüber hinwegfuhr, war endgültig Feierabend. Wenn die Kristallkugel zerstört werden würde, konnten sie einpacken! Rutter stand. Irgendwie hatte er es geschafft, auf die Füße zu kommen. Er schwankte auf die Straße wie ein Schlafwandler. Er ignorierte das wilde Gehupe um ihn herum. Blindlings tappte er auf die Tüte zu. Der Selliner hatte nur einen einzigen Gedanken: Die Tüte retten, um alles in der Welt! Rutter war ein halsstarriger Vorpommer. Wenn er sich was in den Kopf gesetzt hatte, dann führte er es auch durch. Und wenn er auf dem Zahnfleisch die Treppe zur Wohnung emporkroch, in der dieser Hellmann wartete. Als er sich nach der Tüte bückte, schoß ein stechender Schmerz durch seinen Kopf. Er spürte, wie Blut über sein Gesicht lief. Er sah es auf seine Cordjacke tropfen. 71
Es war viel Blut. Rutter riß die Tüte hoch - und starrte in die aufgeblendeten Scheinwerfer eines auf ihn zurasenden Porsche… * Hinter mir, in der Küche, erklang ein mörderisches Gepoltere. Als ich mich umsah, dachte ich, ich bekäme einen Herzkasper. Wolthers Mutter lag bäuchlings auf dem Küchentisch. Ihr Kopf zuckte wild hin und her, und ihr ganzer Körper erbebte unter enormen Erschütterungen, so als hätte sie einen epileptischen Anfall. Alle Gegenstände, die auf dem Tisch standen, fegte sie mit ruckartigen Armbewegungen auf den Fußboden. Ich hatte keine Ahnung, was mit ihr passierte. Eben war sie noch völlig normal gewesen. Sicherheitshalber ergriff ich meine Pistole. Geduckt sah ich zu, wie sich ihre Hände in das Tischtuch krallten. Sie knüllte es zusammen, als hätte sie große Schmerzen. Ich sah ihre Hände. Es waren Knochenklauen geworden… »Frau Weither!« schrie ich. Zwecklos. Jetzt war sie nicht mehr Frau Wolther, sondern eine Kreatur des Grauens. Sie hatte keine menschlichen Gesichtszüge mehr. Die Vorderhälfte ihres Kopfes bestand nur noch aus bleichen Knochen. Ihr Unterkiefer wippte. Ihr Angriff wurde von einem gurgelnden Schrei begleitet. Als würde sie sich von einem Sprungbrett abstoßen, wirbelte sie vom Tisch empor. Ein schneller Blick, und schon hielt sie ein Hackebeilchen hoch, wie man es zum Zerkleinern von größeren Fleischstücken benützt. Das Beil pfiff durch die Luft. Ich wich einige Schritte zurück. Die totenköpfige Frau tappte auf mich zu. Ich fragte mich, welcher Umstand ihre plötzliche Verwandlung hervorgerufen hatte. Einen Tick später wußte ich den Grund, und zwar, als unter ihren Fußsohlen Glassplitter zerbarsten. Das Röhrchen mit den Pillen! Offenbar hatte sie geglaubt, es wäre Aspirin und hatte prompt eine dieser Tabletten geschluckt. »Bleiben Sie mir vom Acker!« brüllte ich sie an. »Keinen Schritt 72
näher!« Sie scherte sich einen Dreck darum. Lauernd wie ein Panther glitt sie immer näher, jeden Augenblick bereit, mir das Beil über den Scheitel zu ziehen. Ich riß die SIG Sauer hoch, zielte auf ihren Kopf. Aber ich wußte, ich würde es nie fertigbringen, einen Schuß auf diese Frau abzufeuern. Andererseits... Sie hatte ausgeholt. Das Beil sauste horizontal auf mich zu. Ich zog den Kopf zwischen die Schultern. Und spürte, wie das Mordwerkzeug meine Haare streifte. Verdammt! Das war knapp! Blitzartig rief ich meine Karate-Kenntnisse in mein Gedächtnis zurück. Gemeinsam mit Pit Langenbach hatte ich so manche Trainingseinheit beim Weimarer Polizeisportverein abgerissen. Möglich, daß mir dieser Umstand jetzt das Leben rettete. Natürlich wollte ich sie nicht umbringen. Aber vielleicht gelang es mir, ihre Angriffslust mit einem gutgezielten Schlag zu lähmen. Ich nahm Grundstellung ein. Ich aktivierte jeden Muskel. Jetzt! Ich riß das linke Bein in die Luft, drehte meine Hüfte ein und beschrieb einen waagerechten Halbkreis mit dem Fußballen. Ein sogenannter Fußtritt um die Ecke. Wenn ich traf, würde der Hieb ihre Mordlust zügeln. Dachte ich. Aber ich hatte nicht getroffen! Mein Bein schwang ins Leere. Mit einem Affenzahn war die rasende Frau zurückgewichen. Zum Glück verlor ich nicht die Balance. Sonst wäre es mein Totenschein gewesen. Ich schmetterte einen Stuhl beiseite und floh vor ihren neuerlichen Beilhieben. Der Stuhl prallte gegen den Tisch, auf dem mein Einsatzkoffer stand. Durch den Stoß fiel er auf den Boden, und das Kruzifix mit der Figur des Christus plumpste heraus. Ich sah, wie das Höllenwesen den Kopf in den Nacken warf und ein schauerliches Geheul ausstieß. Auf gut Glück katapultierte ich mich auf den Boden, riß im Fallen das heilige Kreuz an mich und sprang wieder auf die Füße. Dann streckte ich der Totenköpfigen das Kreuz entgegen. »Vaterunser, der du bist im…« Weiter kam ich nicht. Durch die Wohnungstür, die ich eingetreten hatte, schleppte sich ein Mann, den ich nicht kannte. Er trug eine verschossene Cordjacke, war blutüberströmt und brach im Korridor zusammen. Am Boden liegend, schob er eine Plastiktüte auf mich zu. 73
»Hellmann«, röchelte er. »Nehmen Sie! Die Kristallkugel…« Mir gefror das Blut in den Adern. Das mußte Gerhard Rutter sein! Aber um zu ihm zu gelangen, mußte ich an der beilschwingenden Frau vorbei. Sie stand genau zwischen uns, in der Mitte! Und schon wandte sich das Schreckgespenst dem Selliner zu… * Wilhelmine Kroll sah, daß unter den Türritzen Qualm ins Zimmer quoll. Der Hotelgang stand in Flammen! Der Teppich begann zu schwelen. Die sengende Glut fraß immer größer werdende Löcher in das Gewebe. So schnell sie konnte, watschelte die alte Frau in die Naßzelle. Sie riß den Duschvorhang auf, drehte das Wasser auf und hielt den Strahl der Brause gegen die Tür. Der Rauch wurde dichter. Sie quälte sich zum Fenster und schlug es zu, damit das Feuer keine Sauerstoffnahrung bekam. Nun warf sie die Bettdecke zurück, packte ihr Nachthemd und schlang es sich um den Hals. Das Telefon. Als sie den Hörer hochriß und auf den Tasten herumhämmerte, merkte sie, daß der Anschluß gestört war. Sie ließ den Hörer fallen und hetzte in den Korridor zurück. Wild entschlossen riß sie die Schranktür auf, fetzte ihre über den Bügel gehängten Kleidungsstücke heraus und warf sie auf den schwelenden Teppich. Der Rauch wurde immer dichter, immer dunkler. Wilhelmine Kroll hustete. Sie spürte, wie der beißende Qualm durch das Nachthemd, mit dem sie ihre Atemwege schützte, drang. Der Gedanke, bei lebendigem Leibe zu verbrennen, erfüllte sie mit schierem Entsetzen. Inquisition an der Schwelle des neuen Millenniums… Unter ihren Füßen platschte das Wasser, das ungehindert aus der Brause lief. »Hilfe!!!!« Sie trommelte mit den Fäusten gegen die Tür. Niemand schien sie zu hören. Selber öffnen wollte sie die Tür nicht. Sie hegte die 74
Befürchtung, daß sich ein Feuerball ins Zimmer wälzen würde. Aber irgend jemand mußte doch bemerken, daß es im Hotel brannte. »Hil…!« Ihr Schrei brach ab. Sie hatte zuviel Rauch geschluckt. Ein Hustenanfall ließ ihren schmalen Körper erzittern. Mit letzter Kraft schleppte sie sich in Richtung Fensterfront. Bevor ich wie eine Hexe jämmerlich verbrenne, sagte sie sich, springe ich aus dem Fenster. Als sie hinaussah, war sie nicht mehr so überzeugt, daß sie es tatsächlich wagen würde, in die Tiefe zu springen. Die Menschen, die da unten über den Alexanderplatz liefen, schienen nur ameisengroß zu sein. Wilhelmine Kroll schloß die Augen und betete. * Ich sah, wie Gerhard Rutter den Kopf hob. Die Plastiktüte, in der sich die Umrisse der magischen Kugel gut sichtbar abzeichneten, war völlig verdreckt, und ein Henkel war abgerissen. Koste es, was es wolle! Ich mußte das Teil unbedingt an mich bringen. Leichter gesagt, als getan. Aber da mußte ich durch. Wenn ich weiter zögerte, würde die Totenköpfige aus Gerhard Rutter falschen Hasen machen. »Schaffen Sie mir dieses Monstrum vom Hals, Hellmann!« Das Gesicht vor Schmerz verzogen, richtete Rutter sich auf. Das Frauen-Ding im geblümten Kleid stieß ein drohendes Brüllen aus, wie eine Löwin, deren Jungen man zu nahe kam. Ich riß die Pistole hoch. Ein Schuß peitschte durch die Wohnung, und der gelbliche Schirm der Deckenlampe in der Küche zerplatzte. Ein Scherbenregen ergoß sich über die messerschwingende Totenfratze. Ich sah, wie einige Glassplitter in ihrem Haar steckenblieben. Rutter starrte zu ihr auf. »Es juckt sie nicht! Verdammt! Hellmann, stehen Sie nicht da wie ein Ölgötze. Pusten sie dem Monstrum das Gehirn aus dem Schädel!« Ich gab einen zweiten Warnschuß ab. Diesmal zischte die Silberkugel nur Millimeter an ihrem Ohr vorbei und schlug in die Tür eines Wandschrankes. Die Totenköpfige drehte sich nicht mal um. Offenbar war sie 75
gegen Silberkugeln immun. Statt dessen bückte sie sich, um nach dem Henkel der Tüte zu fassen. Rutter, zwar infolge seiner Verletzungen arg gehandicapt, bewahrte kühlen Kopf. Ein Ruck ging durch seinen Körper. Er zog die Tüte an sich, sicherte sie mit einer Hand und fummelte mit der anderen darin herum. Die Totenköpfige bückte sich tiefer. Ich sah, wie sie das Messer hob. Ich mußte alles auf eine Karte setzen. Es war wie beim Skat, wenn man ohne drei gereizt hatte und im Skat den Kreuz-Jungen fand. Einer inneren Eingebung folgend, riß ich das Kruzifix an mich, federte in den Knien und sprang, das Kreuz Gottes vorangestreckt, wie ein Känguruh auf meine Gegnerin zu. Doch ihr teuflischer Instinkt kündigte mein Kommen an. Bevor ich sie zu Boden reißen konnte, um mein Heil im Clinch zu versuchen, wirbelte sie um die eigene Achse. Das Messer pfiff, und schon spürte ich den kalten Luftzug des Todes. Im Begriff, einen Arm schützend vors Gesicht zu reißen, bemerkte ich plötzlich, daß das Kruzifix kurz aufglimmte. Ein Zeichen? Schon trafen Kreuz und Messer aufeinander Metall schabte an Metall. Funken stoben, als hätte man eine Wunderkerze angezündet. In dem Augenblick, als die Berührung erfolgte, verspürte ich so etwas wie einen kurzen elektrischen Stromschlag. Die Totenköpfige wich zurück. Auch sie schien einen Schlag abbekommen zu haben. Die Stelle, an der das Kruzifix ihr Messer gestreift hatte, war schwarz und schartig. Der Geruch verglühten Metalls erfüllte den Raum. Für den Bruchteil einer Sekunde wirkte das Frauen-Ding verunsichert. Das nutzte ich aus! Mein Handkantenschlag, der ihr Gelenk traf, war kurz und trocken. Eigentlich hätte er ausreichen müssen, daß sich ihre Knochenklauen öffneten und sie ihre Waffe fallen ließ. Aber wieder mußte ich mich eines Besseren belehren lassen. Das Messer blieb weiterhin, wo es war. In ihrer Faust. Sie stach zu. Ich tänzelte beiseite, riß das Kruzifix hoch und drosch es mit aller Kraft auf das Messer. Klappernd fiel das Messer zu Boden. Endlich! Die erste Hürde war genommen. Ich wollte schon aufatmen, da packte mich eine Knochenklaue an der Gurgel. Die Totenfratze zog ihren lippenlosen Mund breit. Eine Zunge, blutegelartig und 76
verschuppt, glitt hervor, so lang, als würde sie von einer Kabelrolle stammen. Und so rauh, daß ich spürte, wie die Haut auf meinem Jochbein aufplatzte. Ich versetzte der Totenköpfigen einen Preßluftschlag, mit beiden Händflächen auf die Ohren. Dann tat ich einen raschen Schritt nach hinten, um mit dem gestreckten Arm die würgende Klaue wegzufegen. Im Gegenschwung wirbelte meine Handkante an ihre Schläfe. Meine verzweifelte Attacke zeigte Wirkung. Das Höllengeschöpf wurde zurückgeschleudert - direkt auf Gerhard Rutter zu, der sich unterdes aufgerappelt hatte und sich nun erneut anschickte, mit dem Fußboden Bekanntschaft zu machen. Der stuckige Selliner taumelte gegen den Türrahmen. Zum Glück blieb er auf den Beinen. Ich sah, daß er Wilhelmine Krolls Kristallkugel aus der Tüte geholt hatte. Mit beiden Händen reckte er das magische Teil in die Höhe. Die Totenköpfige zitterte. Sie preßte sich rücklings an einen der Hängeschränke. »Fang!« rief Rutter mir zu. Die Kristallkugel sauste mir entgegen. Ich riß die Arme hoch. Da erscholl hinter mir ein ohrenbetäubendes Getöse. Das Fenster, das zum Hinterhof hinausging, zerplatzte. Und der Rahmen, an dem es verankert war, krachte gleich mit in das Zimmer. Im selben Augenblick, als ich die Kugel aus der Luft riß, fiel ein riesiger Schatten in die Wohnung. Es war, als ob ein geflügelter Todesengel erschienen war. Ein Wesen, gigantisch wie ein Flugsaurier aus dem Dino-Park. Ein Wesen aus dem sagenhaften Nekropolis? Nummer eins? Ich sah, daß Gerhard Rutter leichenblaß auf die Knie sank. »Mein Gott!« hauchte er. * Wilhelmine Kroll atmete ruckweise. Das Zimmer war voller Rauch. Das Luftholen wurde mit jedem 77
Atemzug schwieriger. Zudem konnte sie kaum noch etwas erkennen. Und dazu diese ungeheure Hitze! Ich werde sterben, dachte sie, und zwar hier, in einem Hotel am Alexanderplatz, nicht in Sellin, wie ich es mir immer gewünscht habe. Nur ein verkohlten Klumpen wird von mir übrigbleiben… Da hörte sie, wie die Tür zum Hotelgang aufschwang. »Frau Kroll!« schrie eine Stimme. Das nette Fräulein vom Empfang, schoß es der alten Frau durch den Kopf. »Ich bin hier!« ächzte sie. »Am Fenster.« Lysanne Bardol rannte durch das brennende Zimmer. Sie hatte sich in einen pitschnassen Fenstervorhang gehüllt. Wilhelmine Kroll sah, wie die Hotelangestellte. Vor ihr auftauchte, ihr ein Stück des Vorhangs überwarf und sie bei den Händen nahm. »Kommen Sie!« schrie Lysanne. »Wir müssen hier weg!« »Wo bleibt die Feuerwehr?« wisperte die Alte. »Sie sind da. Aber jemand versperrt ihnen den Weg!« Lysanne zog die alte Frau durch die Flammenwand. Es zischte, prasselte und fauchte um sie herum, als bewegten sie sich in einem Kessel siedenden Bratfetts. »Fräulein! Ich schaffe es nicht!« Wilhelmine Kroll schien jede Sekunde zusammenzusacken. »Und ob Sie's schaffen! Nur noch drei Schritte, und wir sind an der Tür!« Drei Schritte! Als sie die rettende Zimmertür erreichten, knallte die plötzlich ins Schloß. Vom Hotelgang erklang dumpfes Geheul. »Was ist das?« fragte Wilhelmine Kroll. Lysanne fummelte am Türknauf. »Ich weiß nicht!« schrie sie. »Vielleicht die beiden irren Typen, die die Feuerwehrleute angegriffen haben!« Wilhelmine Kroll erlitt einen Hustenanfall. Sie spürte, wie das Wasser, das aus der Dusche quoll, unter ihren Füßen quatschte. Das Gesicht der Hotelangestellten verzerrte sich. Immer wieder rammte sie den Fuß gegen die Tür. Die Absätze ihrer Pumps brachen ab. Die anthrazitfarbenen Strumpfhosen, die sie trug, glichen zerhäckseltem Laub. Aber Lysanne Bardol gab nicht auf. »Werfen Sie sich gegen die Tür!« keuchte die Alte. »Mit dem ganzen Körpergewicht!« Lysanne nickte. Sie trat einen Schritt zurück, riß beide Arme vor 78
die Brust und warf sich gegen das sture Holz. Die Tür splitterte, aber sie blieb verschlossen. Und wieder flog Lysanne Bardol gegen die Tür. »Hilfeee!« Sie schrie aus Leibeskräften. Das Feuer prasselte höhnisch. Die Nässe des Vorhangs verdampfte nach und nach, und die gierigen Feuerzungen lechzten nach neuer Nahrung. Menschlicher Nahrung. Voller Verzweiflung trommelte Lysanne Bardol mit den Fäusten gegen die Tür. »Holt uns raus!« jammerte sie. »Wir verbrennen!« Schockiert sah Wilhelmine Kroll, wie sich auf dem puppenartigen Gesicht der selbstlosen Hotelangestellten die ersten Brandmale abzeichneten. Indessen brannte der Fenstervorhang, der wie ein Leichentuch über ihren Köpfen hing, lichterloh. Instinktiv riß Wilhelmine Kroll den glühenden Stoff von ihren Schultern. Sie sah, daß die elegante Kostümjacke der jungen Frau Feuer gefangen hatte. Vor Entsetzen schlug sie die Hände vors Gesicht. Die tapfere Hotelangestellte tat ihr furchtbar leid. So ein hübsches Ding, sie war höchstens Mitte Zwanzig und hatte das ganze schöne Leben noch vor sich. Garantiert hatte sie einen gutaussehenden Freund, der sie abends vom Dienst abholte. Oder gar ein kleines, niedliches Baby, das nun vergeblich auf seine Mutter wartete… Und jetzt sollte sie den Flammentod erleiden? Ein entsetzliches Los! Wilhelmine Kroll schickte einen anklagenden Blick an die Decke des Vorraums. »Herr«, flüsterte sie. »Was du gerade zuläßt, ist Frevel, so ungerecht, daß ich's nicht glauben kann. Nimm mein Leben, wenn du magst, aber verschone dieses junge Ding!« Die Antwort ließ nicht lange auf sich warten. Hinter den beiden Frauen, die, dem Erstickungstod nahe, an der Zimmertür niedergesunken waren, erscholl ein kreischendes Geräusch. Krrrch! Wumps! Wilhelmine Kroll drehte sich nicht um. Sie wußte auch so, was eben passiert war. Im Zimmer war die Decke eingestürzt. Blindlings tasteten ihre knorrigen Finger nach der kochendheißen Hand der Leidensgenossin. 79
»Ich will nicht sterben«, flehte die weinende Lysanne. Wilhelmine blieb ihr die Antwort schuldig. Was hätte sie auch sagen sollen? Sie drückte die Hand der Weinenden, so fest sie konnte. Es war zu Ende. Das Böse triumphierte… * Ebs kam sich vor wie ein harpunierter Wal. Mit einem Ruck wurde er in die Realität zurückgerissen. Der Gong, der seine abrupte Zurückverwandlung ankündigte, dröhnte in seinem Gehörkanal. Gleichzeitig setzten all seine menschlichen Sinne und Empfindungen wieder ein. Ebs befand sich auf dem Hotelgang, in dem, wo man auch hinsah, schwarzer Rauch tanzte und Flammen knisterten. Links und rechts die Türen zu den Gästezimmern. Außer einer Zimmerfrau, die schreiend davongerannt war, schien niemand auf der Etage zu sein. Auch Marina war nirgends zu sehen. Wahrscheinlich prügelte sie sich noch immer mit den Feuerwehrmännern. Oder sie war geflohen. Die alte Frau, die sie auf Geheiß der Nummer eins töten sollten, schien bereits ihr Leben aushaucht zu haben. Marina hatte das Feuer direkt vor ihrem Zimmer gelegt. Ebs beschloß, sich aus dem Staub zu machen. Er rannte den Gang zum Treppenkarussell entlang. Als er die Stufen hinunterrennen wollte, hörte er schrille Hilferufe und das Trommeln von Fäusten gegen eine Tür. Ebs stoppte. Unschlüssig sah er sich um. Er war in Gewissensnot. »Hilfe!!!« Wenn ich jetzt abhaue, bin ich ein Schwein. Ebs krallte sich ans Treppengeländer. Nie wieder werde ich einem Menschen in die Augen blicken können. Von unten donnerten die Stiefel der Feuerwehrleute. Er würde ihnen in die Arme laufen. Sie würden Fragen stellen. Und hinter ihm schrie eine Frauenstimme in Todesangst. Das Abbild seiner Mutter erschien vor seinem inneren Auge. Sie lächelte ihn an, ihre Lippen formten zärtlich seinen Namen: Eberhard. Dann sah er sich selbst, als kleinen Jungen, mit einem blauen Auge. Ein Schulkamerad hatte ihm aufgelauert und am Spielplatz ein Veilchen verpaßt. Mutter tröstete ihn, bis er nicht 80
mehr weinte. Dann schaltete sie den Fernseher an. Gemeinsam sahen sie sich die lustigen Streiche von Clown Ferdinand an. »Hil…!!« Der Schrei brach ab. Ebs Weither wirbelte herum. Jetzt stand sein Entschluß fest, unumstößlich. Mit zwei, drei Sätzen hetzte er die Stufen zum Gang hinauf. Obwohl sich die Feuerwalze in atemberaubendem Tempo ausbreitete, jagte er mitten hinein. Er hatte etwas gutzumachen. Endlich stand Ebs vor der Tür, hinter der das Trommeln erklungen war. Jetzt war es still. Ebs riß seinen rechten Arm hoch und knallte seine Faust gegen das Furnier. Es war ein Schlag aus der Hüfte, mit unglaublicher Kraft ausgeführt. Die Tür splitterte. Ebs riß seinen Arm zurück, schlug ein zweites Mal zu. Beim drittenmal klaffte ein Loch in der Tür. Ebs drosch auf die Tür ein wie ein Wahnsinniger, bis seine Knöchel blutig und von Brandblasen übersät waren. Das Loch vergrößerte sich mit jedem Schlag. Ebs brüllte vor Schmerz. Dann hörte er im Innern des Zimmers Geräusche. Stoßweises Atmen, Winseln, Schluchzen und Beten. Ohne zu zögern, griff er durch das Loch, hinein in das Zimmer. Er spürte einen Widerstand. Den Körper eines Menschen! Von drinnen erschollen hysterische Rufe. Die Eingeschlossenen schöpften neuen Lebensmut. »Ich rette euch!« schrie Ebs. Nach diesem Satz glaubte er es beinahe selbst. Seine Fingerspitzen ertasteten Stoff. Er packte zu, warf sich nach hinten und zog mit aller Kraft an dem Stoff. Er spürte, daß der Stoff mürbe war, hörte, wie er zerriß. Aber dennoch gelang es ihm, die Frau durch das Loch auf den Gang zu ziehen. Es war eine junge Frau, mit versengtem Blondhaar und kohlrabenschwarzem Gesicht. Sie starrte ihn entgeistert an. Ebs wollte sie fortziehen, in Richtung Treppe, weg von dem Feuer. Aber die Frau entwand sich seinem Griff. »Nein! Nein!« kreischte sie. »Da drinnen ist noch jemand!« Ebs spürte, wie der Schmerz in ihm an Intensität zunahm, als würde auch ein Feuer in seinen Gedärmen aufflammen. Sein Selbsterhaltungstrieb meldete sich. Lauf fort! Noch ist es Zeit! Lauf zur Treppe. Dort bist du in Sicherheit… Doch Ebs lief nicht fort. Abermals steckte er einen Arm in die Türöffnung. Mit abgewandtem Gesicht versuchte er, im Innern etwas zu erfühlen. Die Frau, die er gerettet hatte, stierte ihn aus 81
geweiteten Augen an. Es waren sehr schöne Augen. Dann stießen Ebs Finger auf etwas Lebendiges. Er packte zu. Er zog und zog. Zum Glück war der zweite Körper nicht so schwer wie der erste. Fast fühlte er sich wie der eines Kindes an. Ebs zog so lange, bis eine kleine, verhutzelte Gestalt vor ihm auf den Gang plumpste. Die Frau, die wir umbringen sollten! jagte es durch seinen Schädel. Ich hob sie gerettet. Da rollte ein glühender Feuerball auf ihn zu. Ebs wollte aufspringen, davonrennen. Aber seine Muskeln gehorchten ihm nicht mehr. Die Rettung der Frauen forderte ihren Tribut. Sein letztes Quentchen Energie war verbraucht. Sein Tank war leer. Ebs riß den Kopf hoch, rieb seine Augen und sah, wie die zwei Frauen, die größere stützte die kleine, in Richtung Treppe torkelten. Dann waren da die Männer mit den Helmen. Verzweifelt kroch er den Männern entgegen, auf allen vieren. Doch statt die Entfernung zwischen ihnen zu verringern, schien er sich immer weiter fort zu bewegen. Völlig ausgelaugt fiel er auf den Bauch. Er wollte sich aufrappeln, konnte es aber nicht mehr… * Während Rutter wie ein Kleinkind auf dem Hintern saß und mit den Zähnen klapperte, starrte ich das Ding an, das uns da eben ins Haus geflattert war. Das Fabelwesen schien geradewegs einem Freddy-KrügerAlptraum entsprungen zu sein. Mein Geist sträubte sich, das Bild, das meine Augen ihm übermittelten, zu akzeptieren. Ich stand wie angegossen, das Ding fasziniert anstarrend. Das Wesen war eine perverse Mischung zwischen Vogel Greif, Mensch und Insekt. Auf den ersten, flüchtigen Blick sah es aus, als würde der Rumpf eines wohlgenährten Wrestlers an zwei gigantisch ausladenden Flügeln hängen. Aber statt Fleisch und rosiger Haut war der Körper des Wesens mit einer schimmligen Schicht bedeckt, wie sie zu DDR-Zeiten auf Bier vorkam, das eine Woche stand. Seine Schwingen glichen denen von Fledermäusen, ungefiedert und von schwärzlichen Adern durchzogen. Allerdings waren diese Adern wie Schiffstaue. Durch sie floß etwas, das ihn befähigte, mühelos 82
durch geschlossene Fenster zu fliegen. »Cherub…«, hörte ich Rutter murmeln. Der Selliner hatte recht. Die Kreatur ähnelte in der Tat den zeitgenössischen Darstellungen dieses biblischen Engels. Ich sah, daß das Monstrum auf Füßen stand, die riesigen Vogelklauen ähnelten. Sie mündeten in gebogene, rasiermesserscharfe Krallen, die sich in den Teppich gegraben hatten. Aber der Kopf des Wesens stellte alles in den Schatten. Ein menschlicher Totenschädel, in dem die Facettenaugen eines Insekts rollten. Dort, wo man Nase und Mund vermutete, stachen schuppige Fühler hervor, die wie Peitschen hin- und herschwangen. Das Ding genoß das Entsetzen, das sein Anblick bei uns auslöste. »Ich bin Nummer eins«, teilte es uns mit. Ich hatte keinen blassen Schimmer, wie es die Worte zustandegebracht hatte. Ich wußte auch nicht, wodurch es sprach. Sein Mund hatte sich nicht bewegt. Nur die Fühler pendelten. Ich spürte, wie mein Herz in die Hose rutschte. Das Ding da war eine Nummer zu groß für mich. Da konnte ich seitenweise Beschwörungsformeln murmeln. Zu allem Übel hatte mein Ring, wenn auch nur vorübergehend, den Geist aufgegeben. Ich fühlte mich wie ein Gladiator zu Spartakus' Zeiten, den man nackt und bloß in eine Arena gescheucht hatte, in dem ein Rudel halbverhungerter Löwen auf ihn lauerte. Doch neben meiner Furcht gab es noch ein anderes Gefühl: grenzenlose Neugierde. »Wer bist du wirklich?« keuchte ich. »Nummer eins ist doch kein Name. Und ein jeder, der aus der Hölle kommt, hat einen Namen. Einen richtigen Namen«, fügte ich schnell hinzu. Das Wesen stieß sonderbare Laute aus. Allem Anschein nach belustigten ihn meine Worte. »Ihr Menschen seid noch dümmer, als ich dachte«, raunte es. »Aber warum?« »Ich komme nicht aus der Hölle.« Ich war perplex, »Und woher dann?« »Ihr Erdenwürmer glaubt, es gäbe nur eine einzige Schöpfung auf der Welt. Und nur eine einzige Hölle. Seit zweitausend Jahren glaubt ihr den Kram. Aber ihr irrt euch. Sieh mich an. Ich bin der 83
Beweis.« »Du hast meine Frage nicht beantwortet.« »Ich komme aus Nekropolis«, ließ mich die Kreatur wissen, und seine Stimme klang ein wenig pathetisch. »Nekropolis?« meldete sich Rutter. »Die Stadt des Todes«, bekräftigte das Wesen. »Dann hast du einen langen Weg hinter dir«, sagte ich. »Wie man annimmt, soll Nekropolis im Norden Ägyptens, in Griechenland oder in der Türkei liegen.« Das Wesen ratschte mit seinen Flügeln an die Wände. Die Tapeten zerschrammten, und Putz rieselte. »Ich sagte ja, ihr Menschen seid dumm. Auch du, Mark Hellmann. Glaubst du, ich hätte mich aus Ägypten auf den Weg gemacht, um ausgerechnet hier aufzutauchen? Zähle nur eins und eins zusammen, dann hast du das Resultat.« Staunend riß ich die Augen auf. »Heißt das, die Stadt des Todes liegt gleich - um die Ecke?« Der Alptraum mit Flügeln gab keine Antwort mehr. Mir schien, als würde sich der Blick seiner Facettenaugen auf die Kristallkugel heften, die ich in Händen hielt. Ein undefinierbares Geräusch entschlüpfte einer seiner Körper-Öffnungen. Ich spürte, daß das Wesen gleich auf mich losgehen würde. »Was ist mit Tessa!?« fuhr ich ihn an. »Du hast mein Wort. Wenn du tot bist, gebe ich deine Freundin frei. Aber sie wird mir dienen, wie viele andere es auch tun werden.« Hinter meinem Rücken erklang ein hysterischer Ausruf. Ich wagte nicht, mich umzudrehen. Aber es mußte die Frau im geblümten Kleid, Wolthers-Mutter, sein. Offenbar ging es ihr wieder besser. Ich hoffte, sie kam mir nicht in die Quere. Ein Wirrwarr von Gedanken fegte durch meine graue Zellen. Ich hörte deutlich, wie Wilhelmine Krolls Stimme sagte: Du hast die Kugel, Kämpfer des Rings! Nutze nun die Macht, die dir Nostradamus gab! Vernichte das Ungeheuer. Zuerst nenne ihn beim Namen… Aber wie lautete sein Name? Ich schwitzte Blut und Wasser. Das Fabelwesen schwang seine Flügel. Die Kristallkugel! Intuitiv riß ich das magische Teil empor, streckte sie dem geflügelten Monstrum entgegen, ohne zu wissen, welche geheimnisvolle Macht von ihr ausging. »Presse sie an deine Brust, Hellmann!« Das war Rutter. Seine 84
Stimme klang, als würde er mit brennenden Zigarettenkippen gurgeln. Blitzschnell tat ich, was er sagte. Im selben Augenblick bäumte sich das Alptraumwesen auf. Es schwang seine Flügel kräftiger, warf den Kopf zurück, und seine Fühler, die bisher nur leicht gependelt hatten, wurden lang wie Wäscheleinen. Sie schossen auf mich zu! Ich sah, wie ihre rüsselartigen Öffnungen meinen Körper berührten. Aber ich fühlte keinen Schmerz, ja nicht mal die Berührung spürte ich. Ich kam aus dem Staunen nicht heraus. Irgendwas ging da mit mir vor. Die wirren Gedanken, die eben noch meine Sinne vernebelten, waren schlagartig klar wie - die Kristallkugel. Und dann war da dieses Wort, das mein Gehirn wie ein Skalpell durchschnitt. SRP! Ich schrie es laut hinaus. »SRP! Du hast zu hoch gepokert. Dem Imperium der Angst wird nie…« Das Wesen heulte auf. Seine Fühler wirbelten mit einemmal wie Propeller durch die Luft. Die Adern in seinen Flügeln zuckten. Schon fingen sie an zu flattern, mit schier unglaublicher Frequenz. Sie entfesselten einen Orkan, mitten in der Wohnung. Das Wesen erhob sich ein Stück in die Luft. Die spitzen Klauen hakten aus dem Teppichgewebe und rissen dabei handtellergroße Löcher hinein. Bevor ich wußte, wie mir geschah, flog ich wie ein Schneeball durch die Luft. Auch die Möbel hielten der enormen Druckwelle nicht stand. Der klobige Schrank wankte wie ein Betrunkener. Seine Türen sprangen auf. Schubladen polterten. Bücher, Teller, Tassen, Gläser und Nippes purzelten heraus. Ein mörderischer Krach, als würde jemand eine Schnellfeuerkanone abfeuern, zerschmetterte die Luft. Der Fernseher implodierte. Der Tisch und Teile der Sitzgruppe knallten mit vollem Karacho gegen Wand und Zimmerdecke. Als sie zu Boden fielen, waren sie bloß noch wertloser Sperrmüll. Ich landete bäuchlings auf einem Küchenschemel. Er quittierte meinen Aufprall, indem er alle viere gerade sein ließ. Als ich mich hochrappelte, schlang das Wesen Srp einen Fangarm um meinen Hals. Ich fühlte mich wie ein Mustang, der von einem Cowboy mit dem Lasso eingefangen wird. Die Kugel fest gepackt, versuchte ich, mich der Schlinge zu widersetzen. 85
In diesem Augenblick reagierte die Kugel. Wahrlich! Keine Sekunde zu spät. Sonst hätte mir die Schlinge unweigerlich das Genick gebrochen. Die Kristallkugel erstrahlte in goldgelbem Glanz. Glitzernde Lichtfäden verließen ihr Inneres, tanzten in der zertrümmerten Wohnung herum und vereinigten sich schließlich wie auf Kommando mitten auf der Stirn der selbsternannten Nummer eins. Es mußten wohl einige Dutzend Strahlen sein, die sich auf einem Punkt, nicht größer als ein Daumennagel, konzentrierten. Das Wesen Srp zog pfeilschnell die Tentakel ein, um seinen Kopf zu schützen. Es stieß Laute aus, so schrill und gräßlich, daß sich meine Schädeldecke zu heben schien. Die goldglitzernden Lichtfäden machten kurzen Prozeß! Zuerst zerfetzten sie die Tentakel, die Nummer eins zum Schutz zurückbeordert hatte. Zwei, drei Stücke der ekelhaften Überreste segelten mir an den Kopf. Ich spürte, wie mir das Glibberzeug übers Gesicht lief. Nach dem Geschrei zu urteilen, was Rutter und Wolthers Mutter ausstießen, ging es ihnen kein Deut anders. Ich hielt den Atem an. Die Strahlen, die der Kristallkugel entströmten, bohrten sich unbarmherzig in den Schädel des Ungeheuers. Ich sah, wie eines der Facettenaugen einriß, wie eine bräunliche, schleimige Masse vorquoll und wasserfallmäßig über die untere Hälfte des greulichen Schädels sickerte. Dann knirschten Gelenke und Knochen, als wäre Sand in ein Getriebe gelangt. Ich beobachtete, wie das goldene Licht durch die schwarzen Adern der Flügelschwingen floß. Es schien die Kraft in den Schwingen zu lahmen. Schon wurden die Bewegungen langsamer. Das Wesen Srp kreischte in schrillen Tönen. Am liebsten hätte ich beide Fäuste an die Ohren gepreßt, um nicht taub zu werden. Doch dann hätte ich die Kugel aus der Hand legen müssen. Plötzlich verstummte das Kreischen. Das Ungeheuer wandte sich um, schlug halbherzig mit den Flügeln und trat den Rückzug an. Als es am Loch in der Mauer angekommen war, breitete es seine Schwingen vollends aus. Das Licht durchflutete mittlerweile die Adern seines ganzen Körpers. Es machte ihn transparent. Man konnte in ihn hineingucken wie in ein Aquarium. 86
Ein gläsernes Monstrum… Ich kam aus dem Staunen nicht heraus. Dann, mit letzter Kraft, erhob sich das Ungeheuer in die Luft. Durch das Loch in der Außenwand sah ich, wie es mit schwerfälligem Flügelschlag davonflog. Fassungslos starrte ich ihm hinterher, bis nur noch ein winziges Pünktchen am Himmel von ihm übrigblieb. Dann verschwand auch das Pünktchen. »Uff!« faßte Gerhard Rutter seine Gedanken zusammen. Als wäre dieser Ausruf ein Signal, erlosch das goldgelbe Licht, das die Kristallkugel erhellte. Wir hatten es geschafft! Die Nummer eins war über alle Berge, wahrscheinlich auf dem Rückflug ins geheimnisumwitterte Nekropolis. Demnach mußte auch seine Macht über die Menschen, die es für seine schändlichen Zwecke mißbraucht hatte, gebrochen sein. Jetzt fehlte mir nur noch eines zum Glücklichsein: Ein Ding, das Tessa Hayden hieß. * Es war mitten in der Nacht, gegen zwei Uhr, als ich erlöst wurde. Ich saß in voller Montur auf dem Sessel, vor dem Schreibtisch unseres Hotelzimmers. Stundenlang hätte ich vor mich hingebrütet. Ich wartete auf Tessa, so sehnsüchtig wie noch nie. Würde das Wesen Srp zu seinem Wort stehen? Die ersten Stunden hatte ich mir damit vertrieben, all meinen Freunden auf den Wecker zu fallen. Pit Langenbach, seiner Frau Susanne, dann Vincent van Euyen. Mein Schulkumpel Berti Latotzki, der mir sofort freudestrahlend berichtete, daß seine Bizeps wiederum um zwei Zentimeter an Umfang zugenommen hätten. Natürlich vergaß ich auch Ulrich und Lydia, meine Adoptiveltern, nicht. Sogar mit Max Unruh, für den ich gelegentlich Zeitungsartikel schrieb, hielt ich ein banales Schwätzchen. Dennoch, die Zeit verging überhaupt nicht. Ich versuchte auch gar nicht erst zu schlafen. Die Eindrücke, die sich tagsüber in mir aufgestaut hatten, hätten mir einen Alptraum nach dem anderen beschert. Ich dachte voller Dankbarkeit an die 87
unverwüstliche Wilhelmine Kroll, die mit Brandverletzungen in der Charite lag. Dann kreisten meine Gedanken um den tapferen Gerhard Rutter. Ich sah ihn noch vor mir, als die Polizei anrückte. Mit stolzgeschwellter Brust erklärte er: »Ich bin ein Selliner.« Der Kommissar hat ganz schön dumm aus der Wäsche geguckt. Ebenso warm wurde mir ums Herz, als ich an die tollkühne Rettungsaktion der Hotelangestellten Lysanne Bardol dachte. Unter Einsatz ihres Lebens hatte sie versucht, die alte Wilhelmine aus dem brennenden Zimmer zu holen. Auch Ebs Weither fiel mir ein, und die anderen Nummern des Angstimperiums, die das Wesen Srp ins Verderben gestürzt hatte. Ebs hatte seine Brandwunden nicht überlebt. Seine Mutter mußte jetzt sehr stark sein. Arme Frau… Apropos Frau. Als Tessa endlich auftauchte, ahnte sie wohl, daß sie mich völlig niedergeschmettert antreffen würde. Sogleich überschüttete sie mich mit einer Wagenladung guter Laune. »He, Mark!« trompetete sie. »Wieso sitzt du hier herum und bläst Trübsal? Es ist doch fast alles hervorragend gelaufen.« Ich flog ihr entgegen. Dann stutzte ich: »Wieso fast?« »Nun ja«, feixte sie, »bis auf den Termin bei Dr. Greve, du weißt schon, den Chirurgen, der einem den Busen polstert…« »Tess?« Ich verstummte. »War doch nur 'n Gag, Markus Nikolaus. Glaubst du etwa, ich lasse mir meinen sauer antrainierten Körper verhunzen?« Ich atmete tief durch. Als ich Tessa in die Arme nahm, sah ich, wie strahlender Sonnenschein aus ihren Augen brach. Nach dreizehn Stunden Todesangst meldete sich nun ein anderes Gefühl, und das ziemlich heftig…
ENDE
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